Karlheinz Barck Aisthesis Wahrnehmung Heute Oder Perspektiven Einer Anderen Asthetik [PDF]

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Zitiervorschau

Aisthesis Wahrnehmung heute oder Perspektiven einer anderen Ästhetik Reclam Leipzig

AISTHESIS W A H R N E HMU N G H E U T E

Reclam

~ K U NSTWI S SENS CHAFTE N

AISTHESIS

Wahrnehmung heute oder Perspektiven einer anderen A"sthetik Essais

1990 Reclam- Verlag Leipzig

Herausgegeben von Karlheinz Barck, Peter Gente, Heidi Paris, Stefan Richter Mit 13 Künstlersprüchen

ISBN 3-379-00607-6 © Reclam-Verlag Leipzig 1990 (Auswahl und Anhang) Ausgabe für den gesamten deutschsprachigen Raum und die Länder des Rates für gegenseitige Winschaftshilfe Quellen- und Rechtsnachweis für die Texte siehe Anhang Reclam-Bibliothek Band 13 52 1. Auflage Umschlaggrafik: Jochen Stankowski, Köln Lizenz Nr. 363. 340/106/90 . LSV 8101 Vbg. 27,9 Printed in the German Democratic Republic Dresdner Druck- und Verlagshaus GmbH Gesetzt aus Garamond-Antiqua Bestellnummer: 661 5 17 4 7,50 .

Statt einer Einleitung

Der maskierte Philosoph Gespräch mit Christian Delacampagne

Wir haben es hier mit einem nicht unbekannten französischen Schriftsteller zu tun, der mehrere Bücher veröffentlicht hat, die auch weit über die Grenzen Frankreichs hinaus einigen Erfolg hatten. Ein unabhängiger Denker, der mit keiner Mode oder Partei verbun­ den ist. Gleichwohl hat er es nur akzeptiert, mit uns ein Gespräch über den Status des Intellektuellen und den Ort der Kultur und der Philosophie zu führen, wenn eine Bedingung eingehalten wird: daß seine Anonymität gewahrt bleibt. Warum die Diskretion? Aus Scham, aus Berechnung oder aus Furcht? Die Frage verdient gestellt ZU werden, selbst wenn am Ende dieser Unterhaltung sich für die pfiffigsten Leser das Geheimnis wahrscheinlich aufgelöst haben wird. Gestalten Sie mir zunächst, Sie zu fragen, warum Sie sich entschie­ den haben, anonym zu bleiben? Sie kennen sicher die Geschichte von jenen Psychologen, die in ein Dorf im hintersten Winkel Afrikas gekommen waren, um einen kleinen Test-Film zu zeigen. Anschlie­ ßend bitten sie die Zuschauer, die Geschichte so zu erzäh­ len, wie sie sie verstanden haben. Na ja, in dieser story mit drei Pasonen hatte diese nur eines interessiert: das Gleiten der Schatten und Lichter durch die Bäume. Bei uns bestim­ men die Personen die Wahrnehmung. Die Augen richten sich mit Vorliebe auf Gestalten, die kommen und gehen, auftauchen und verschwinden. Warum ich Ihnen nahegelegt habe, daß wir die Anonymität benutzen? Aus Sehnsucht nach der Zeit, in der - da ich völ­ lig unbekannt war - das, was ich sagte, einige Chance hatte, 5

Gehör zu finden. Die Berührungsstelle mit dem möglichen Leser war nicht vorgezeichnet. Die Wirkungen des Buchs tauchten an unerwaneten Onen auf, und es zeichneten sich Formen ab, an die ich nicht gedacht hatte. Mit dem Auto­ rennamen macht man es sich einfach. Ich schlage ein Spiel vor: das des "jahres ohne Namen". Ein jahr lang würde man Bücher ohne Autorennamen veröffentlichen. Die Kri­ tiker hätten mit einer rein anonymen Produktion klarzu­ kommen. Aber vielleicht - wie mir gerade einfällt - hätten sie nichts zu sagen: alle Autoren würden das nächste jahr abwanen, um ihre Bücher zu publizieren.

Würden Sie sagen, daß die Intellektuellen heute zu viel reden? Daß sie uns mit ihren Diskursen bei jeder passenden und unpauenden Gelegenheit überschütten? Intellektueller scheint mir ein seltsames Wort zu sein. Intel­ lektuelle - ich habe noch nie welche getroffen. Ich habe Leute getroffen, die Romane schreiben, und andere, die mit Kranken arbeiten. Leute, die ökonomische Analysen ma­ chen, und andere, die elektronische Musik komponieren. Ich habe Leute getroffen, die lehren, Leute, die malen, und Leute, bei denen ich nicht so recht verstanden habe, ob sie überhaupt etwas machen. Aber Intellektuelle, nie. Ich habe indessen viele Leute getroffen, die über den Intellektuellen reden. Und durch vieles Zuhören konnte ich mir ein Bild davon machen, was dieses Lebewesen sein mag. Das ist nicht schwer, es ist der, der schuld hat. Schuld an allem Möglichen: zu sprechen, zu schweigen, nichts zu tun, sich in alles einzumischen . . . Kurz, wo es um Rechtsfindung, Abuneilen, Veruneilen und Ausschließen geht, muß der Intellektuelle her. Ich finde nicht, daß die Intellektuellen zu viel reden, für mich gibt's sie ja nicht. Ich finde, daß der Diskurs über die Intellektuellen stark um sich greift und wenig Anlaß zu Ruhe gibt. Ich habe eine gräßliche Angewohnheit. Wenn die Leute so daherreden, versuche ich mir vorzustellen, was das, umge­ schrieben in die Realität, ergäbe. Wenn sie irgendeinen "kritisieren", wenn sie vor seinen Ideen "warnen", wenn sie "veruneilen", was er schreibt, stelle ich sie mir in der idea­ len Situation vor, da sie alle Macht über ihn hätten. Die 6

Wöner, die sie benutzen, lasse ich ihren Lauf zurück in ei­ nen ursprünglichen Sinn nehmen: "zerstören", "schlach­ ten", "zum Schweigen bringen", "begraben". Und ich sehe den strahlenden Staat am Horizont, in dem der Intellektu­ elle im Gefängnis säße und natürlich aufgehängt würde, wenn er außerdem noch Theoretiker ist. Zugegeben, wir le­ ben nicht in einem Regime, wo man die Intellektuellen zur Reisernte schickt; aber haben Sie nicht auch schon von ei­ nem gewissen Toni Negri reden gehön? Befindet er sich nicht im Gefängnis, insofern er ein Intellektueller ist?

WaJ hat Sie aiJo dazu gebracht, Jieh hinter der Anonymität zu ver­ Jchanzen? Daß PhiloJophen ihren Namen zu einem Markenartikel machen oder machen laJJen? Das stön mich überhaupt nicht. Ich habe in den Gängen meines Gymnasiums große Männer in Gips gesehen. Und jetzt sehe ich unten auf der ersten Seite der Zeitungen das Foto des Denkers. Ich weiß nicht, ob sich die Ästhetik ver­ bessen hat. Die ökonomische Effizienz dagegen ganz si­ cher . . . Sehr ergreifend ist für mich ein Brief, den Kant in einem schon fortgeschrittenen Alter geschrieben hat: er beeile sich, erzählt er, gegen das Alter und die schlechterwerden­ den Augen und die sich verwirrenden Gedanken ankämp­ fend, eines seiner Bücher zur Leipziger Messe fertigzustel­ len. Ich erzähle das, um zu zeigen, daß es völlig unerheblich ist, ob Publicity oder nicht, ob Messe oder nicht, das Buch ist etwas ganz anderes. Nie wird man mir weismachen, daß ein Buch schlecht ist, weil sein Autor im Fernsehen zu sehen war. Aber nie ist es aus ebendiesem Grunde auch schon gut. Ich habe die Anonymität nicht etwa gewählt, diesen oder jenen zu kritisieren - das tue ich nie. Es ist ein Weg, mich direkter an den eventuellen Leser zu wenden, an die einzige Person, die mich interessien: "Da Du nicht weißt, wer ich bin, bist Du nicht der Versu­ chung ausgesetzt, nach den Gründen zu suchen, warum ich sage, was Du liest; nimm Dir die Freiheit, Dir ganz einfach zu sagen: das ist wahr, das ist falsch. Das gefällt mir, das ge­ fällt mir nicht. Punkt, Schluß." 7

Aber erwartet das Publikum nicht von der Kritik, daß sie ihm ge­ naue Einschätzungen gibt über den Wert eines Werkes? Ich weiß nicht, ob das Publikum wirklich erwartet, daß der Kritiker über die Werke oder die Autoren sein Urteil fällt. Die Richter gab es wohl schon, bevor noch das Publikum hat sagen können, wozu es Lust hat. Courbet soll einen Freund gehabt haben, der nachts aufwachte und schrie: "Richten, ich will richten." Kaum zu glauben, wie scharf die Leute darauf sind, zu richten. Überall und partout wird ge­ richtet. Wahrscheinlich handelt es sich hier um eines der einfachsten Dinge, wozu die Menschheit imstande ist. Wie Sie wissen, wird der letzte Mensch, wenn endlich eine letzte Strahlung seinen letzten Feind zu Asche gemacht haben wird, einen wackeligen Tisch nehmen, sich dahinter stellen und beginnen, dem Verantwortlichen den Prozeß zu machen. Ich kann nicht umhin, an eine Kritik zu denken, die nicht versuchte zu richten, sondern die einem Werk, einem Buch, einem Satz, einer Idee zur Wirklichkeit verhilft; sie würde Fackeln anzünden, das Gras wachsen sehen, dem Winde zuhören und den Schaum im Fluge auffangen und wirbeln lassen. Sie häuft nicht Urteil auf Urteil, sondern sie sammelt möglichst viele Existenzzeichen; sie würde sie her­ beirufen, sie aus ihrem Schlaf rütteln. Mitunter würden sie sie erfinden? Umso besser, umso besser. Die Kritik durch Richtspruch langweilt mich; ich möchte eine Kritik mit Funken der Fantasie. Sie wäre weder souverän noch in roter Robe. Sie wäre geladen mit den Blitzen aller Gewitter des Denkbaren.

Es gibt also so viel kennenzulernen, so viele intereJJante Arbeiten, daß die Medien in einem fort von Philosophie reden sollten? Sicher gibt es ein traditionelles Unbehagen zwischen der "Kritik" und denen, die Bücher schreiben. Die einen fühlen sich schlecht verstanden und die anderen glauben, daß man sie bei der Stange halten will. Aber so ist das Spiel. Mir scheint, daß wir uns heute in einer recht eigenartigen Situa­ tion befinden. Wir haben Institutionen des Mangels, wäh­ rend wir uns in einer Situation der Überfülle befinden. Je8

der hat den Überschwang erlebt, der oft die Publikation (oder Neuauflage) von - übrigens manchmal interessan­ ten - Büchern begleitet. Zumindest sind sie stets "die Sub­ version aller Codes", das "totale Nein zur zeitgenössischen Kultur", die "radikale Infragestellung aller unserer Denkge­ wohnheiten". Ihr Autor muß ein verkannter Outsider sein. Und dafür ist es natürlich nötig, daß die anderen in die Nacht verwiesen werden, aus der sie niemals hätten auftau­ chen dürfen; sie waren nur der Abschaum "einer Mode, für die man nur ein müdes Lächeln übrig haben kann", nichts als ein Produkt der Institution etc. Typisch für Paris, sagt man, und oberflächlich. Ich nehme darin eher die Wirkung einer tiefen Unruhe wahr. Das Gefühl des "kein Platz", "er oder ich", "jeder ist mal dran". Man steht in einer Schlange wegen der extremen Enge der Räume, in denen man hören und sich Gehör verschaffen kann. Daher eine Art Angst, die sich an tausend Symptomen zeigt, drolligen und weniger komischen. Daher bei denen, die schreiben, das Gefühl ihrer Ohnmacht angesichts der Medien, denen sie vorwerfen, die Welt der Bücher zu be­ herrschen und die, die ihnen gefallen oder mißfallen, exi­ stieren oder verschwinden zu lassen. Daher auch bei den Kritikern das Gefühl, daß sie sich kein Gehör verschaffen können, es sei denn, sie werden frecher oder zaubern jede Woche ein Kaninchen aus ihrem Hut hervor. Daher auch eine Pseudopolitisierung, die hinter der Notwendigkeit, den "ideologischen Kampf" zu führen und "gefährliche Ge­ danken" aufzuspüren, die tiefe Angst verbirgt, nicht gele­ sen und nicht gehört zu werden. Daher auch die phantas­ matische Phobie vor der Macht: wer schreibt, übt eine beunruhigende Macht aus, die man, wenn man ihr kein Ende machen kann, wenigstens in ihre Schranken weisen muß. Daher gleichermaßen die ein wenig beschwörende Behauptung, daß gegenwärtig alles leer, öde, uninteressant und unbedeutend sei: eine Behauptung, die offensichtlich von jenen kommt, die, da sie selbst nichts machen, finden, daß die anderen überflüssig sind.

Glauben Sie nicht auch, daß es unserer Zeit in der Tat an Geistern und großen Schriftstellern fehlt, die aufder Höhe ihrer Probleme wä­ ren? 9

Nein, ich glaube nicht an die alte Leier von der Dekadenz, vom Mangel an Schriftstellern, von der Sterilität des Den­ kens, von dem verhangenen und düsteren Horizont. Ich glaube im Gegenteil, daß es eine Überfülle gibt. Und daß wir nicht an einer Leere leiden, sondern daran, daß es zu wenig Mittel gibt, um all das zu denken, was geschieht. Und dies in einer Zeit, in der es einen Überfluß an Dingen gibt, die man wissen will: wesentliche und schreckliche, wunder­ bare, ulkige, winzig kleine und ausschlaggebende, alles gleichzeitig. Und außerdem gibt es eine gewaltige Wißbe­ gierde, ein Bedürfnis oder einen Wunsch nach Wissen. Man beklagt sich immer, daß die Medien die Leute manipulieren. Etwas Menschenverachtung steckt in dieser Vorstellung. Demgegenüber glaube ich, daß die Leute reagieren; je mehr man sie überzeugen will, desto mehr stellen sie sich Fragen. Der Geist ist nicht weich wie Wachs. Er ist eine reaktive Substanz. Und der Wunsch, mehr und besser und anderes zu wissen, wächst in dem Maße, wie man die Schädel vollstopft. Wenn Sie das zugestehen und dem noch hinzufügen, daß sich an der Universität und anderswo eine Masse von leu­ ten bildet, die als Drehscheibe zwischen dieser Masse von Dingen und dieser Wißbegierde dienen können, folgern Sie daraus schnell, daß die Arbeitslosigkeit der Studenten die absurdeste Sache ist, die es gibt. Das Problem besteht darin, die Informationskanäle, -brücken, -mittel, die Radio- und Fernsehnetze, die Zeitungen zu vervielfältigen. Die Wißbe­ gierde ist ein Laster, das nach und nach vom Christentum, von der Philosophie und sogar von einer bestimmten Wis­ sensehaftskonzeption stigmatisiert worden ist. Wißbe­ gierde, Nichtigkeit. Dennoch gefällt mir das Wort; es sugge­ riert mir etwas anderes: es evoziert die "Sorge"; es evoziert, daß man sich um das was existiert und was existieren könnte bemüht; ein geschärfter Sinn fürs Wirkliche, der aber niemals vor ihm zur Ruhe kommt; eine Bereitschaft, das was uns umgibt, fremd und einzigartig zu finden; eine gewisse Versessenheit, uns von unseren, nicht nur farqiliä­ ren Gewohnheiten zu lösen und die gleichen Dinge anders zu betrachten; eine Leidenschaft, das was kommt und geht zu ergreifen; eine Ungezwungenheit hinsichtlich der tradi­ tionellen Hierarchien von wichtig und wesentlich. 10

Ich träume von einem neuen Zeitalter der Wißbegierde. Man hat die technischen Mittel dazu; das Begehren ist da; die zu wissenden Dinge sind unendlich; es gibt die Leute, die sich mit dieser Arbeit beschäftigen möchten. Woran lei­ det man? Am "Zuwenig": ungenügende, quasi-monopoli­ siene, kurze, enge Kanäle. Es geht nicht darum, eine pro­ tektionistische Haltung anzunehmen, um zu verhindern, daß die "schlechte" Information durchkommt und die "gute" erstickt. Man müßte eher die Hin- und Her-Wege und -Möglichkeiten vermehren. Kein Merkantilismus a la Colben auf diesem Gebiet. Was nicht heißen soll, wie man es oft befürchtet, Uniformisierung und Nivellierung von unten aus. Sondern im Gegenteil, Differenzierung und Gleichzeitigkeit unterschiedlicher Netze.

Ich kiinnte mir vorstellen, daß aufdieser Ebene Medien und Univer­ sität, statt weiterhin gegeneinanderwarbeiten, dahin kommen könn­ ten, komplementäre Rollen 'l.U spielen. Sie erinnern sich sicher an das herrliche Won von Sylvain Uvi: Lehre ist, wenn man einen Hörer hat; sobald man zwei hat, ist es Vulgarisierung. Bücher, Universität, wissen­ schaftliche Zeitschriften sind auch Medien. Man muß sich hüten, als Medien nur jene Informationskanäle zu bezeich­ nen, zu denen man keinen Zugang haben will oder kann. Das Problem ist, zu wissen, wie man die Differenzen spie­ len lassen kann; zu wissen, ob man einen reservienen Be­ reich einrichten muß, einen "Naturschutzpark" für die zer­ brechliche Gattung der von den großen Raubvögeln der Information bedrohten Wissenschaftler, während der Rest des Raums ein riesiger Markt für wenlose Produkte wäre. Eine solche Einteilung scheint mir der Realität nicht zu ent­ sprechen. Schlimmer noch: überhaupt nicht wünschenswen zu sein. Damit fruchtbare Differenzierungen ihr Spiel trei­ ben, darf es keine Teilung geben.

Wagen wir ein paar konkrete Vorschläge. Wo soll man anfangen, wenn alles schlecht läuft? Aber nein, es läuft nicht alles schlecht. Ich glaube jeden­ falls, daß eine fruchtbare Kritik nicht mit den ständigen 11

Klageliedern der Leute zu vermengen ist. Was die konkre­ ten Vorschläge angeht, so können sie nur wie Gadgets er­ scheinen, wenn man nicht zuerst einige allgemeine Prinzi­ pien zugesteht. Und vor allem dies: daß das Recht auf Wissen nicht einem Lebensalter und bestimmten Katego­ rien von Individuen vorbehalten sein darf, sondern daß man es ohne Stillstand und in vielfältigen Formen muß aus­ üben können.

11t dimr WimnJdurJt nkht zweideutig? WaJ Jollen die Leute denn J(hließlich mit all dem Wimn machen, daJ Jie bekommen? WaJ kön­ nen Jie damit anfangen? Es war eine Hauptfunktion des Unterrichts, die Bildung des Einzelnen mit der Bestimmung seines Platzes in der Gesell­ schaft zu verbinden. Heute müßte man den Unterricht so gestalten, daß er dem Einzelnen ermöglicht, sich nach eige­ nem Ermessen zu verändern, was aber nur unter der Bedin­ gung möglich ist, daß die Lehre eine "permanent" angebo­ tene Möglichkeit ist.

Kurz, Jind Sie für eine Gmluchajt der Kenner? Ich sage, daß der Anschluß der Leute an die Kultur nicht aufhören darf und so polymorph als möglich sein soll. Es sollte nicht einerseits jene Bildung geben, die man erfährt, und andererseits jene Information, der man ausgeliefert ist.

WaJ wird in dimr GmllIchajt der Kenner aUJ der ewigen PhiloJo­ phie? Braucht man Jie noch, Jie und ihre Fragen ohne Antwort und ihr Schweigen angnichtJ dn Unerkennbaren? Die Philosophie, was ist sie, wenn nicht eine Weise, nicht so sehr über das was wahr oder falsch ist zu reflektieren als über unser Verhältnis zur Wahrheit. Man beklagt sich manchmal, daß es in Frankreich keine herrschende Philoso­ phie gibt. Umso besser. Keine souveräne Philosophie, das stimmt; aber immerhin eine Philosophie oder besser: Philo­ sophie als Aktivität. Denn Philosophie ist eine Bewegung, mit deren Hilfe man sich nicht ohne Anstrengung und ZÖ12

gern, nicht ohne Träume und Illusionen von dem freimacht, was für wahr gilt, und nach anderen Spielregeln sucht. Phi­ losophie ist jene Verschiebung und Transformation der Denkrahmen, die Modifizierung etablierter Werte und all der Arbeit, die gemacht wird, um anders zu denken, um an­ deres zu machen und anders zu werden als man ist. Unter diesem Gesichtspunkt waren die letzten dreißig Jahre eine Zeit intensiver philosophischer Aktivität. Die Interferenz zwischen der Analyse, der Forschung, der "wissenschaftli­ chen" bzw. "theoretischen" Kritik und den Veränderungen im Verhalten, im wirklichen Verhalten der Leute, in ihrer Art und Weise zu sein, in ihrem Verhältnis zu sich selbst und anderen ist bemerkenswert und war stets vorhanden. Ich sagte eben, daß die Philosophie eine Weise war, über unsere Beziehung zur Wahrheit zu reflektieren. Das muß vervollständigt werden; sie ist eine Weise sich folgendes zu fragen: wenn dies das Verhältnis ist, was wir zur Wahrheit haben, wie müssen wir uns verhalten? Ich glaube, daß ge­ genwärtig und von jeher eine bemerkenswerte und vielfäl­ tige Arbeit geleistet wird, die gleichzeitig unser Verhältnis zur Wahrheit und unsere Verhaltensweisen verändert. Und zwar verbinden sich dabei eine Reihe von Forschungen und ein Ensemble von sozialen Bewegungen auf komplexe Weise miteinander. Das ist das Leben der Philosophie selbst. Man versteht, daß einige über die gegenwärtige Leere jam­ mern und wünschen, daß es in der Ordnung der Ideen ein wenig Monarchie gäbe. Aber die, die einmal in ihrem Le­ ben einen neuen Ton, eine neue Weise zu blicken, eine an­ dere Art zu tun gefunden haben, sie, so glaube ich, werden niemals das Bedürfnis verspüren zu (be)jammern, daß die Welt ein Irrtum und die Geschichte vollgestopft von Nicht­ Existenzen ist und daß es Zeit sei, daß die anderen ver­ stummen, um - endlich - die Glocke ihrer Verdammung zu hören . . .

Aus dem Französischen von Peter GenIe

H A N N E S B Ö H R I N G ER

Attention im Clair-obscur: Die Avantgarde Die Welt ist helldunkel. Manches ist klar, vieles unklar. Was klar ist, wird bei genauerem Hinsehen unscharf, das Dunkle auf die Dauer ein wenig deutlicher. Einiges scheint gut, anderes schlecht zu sein. Auch hier verschwimmen die eindeutigen Grenzen unter einer verschärften Beobach­ tung. Das Dunkle hellt sich auf, das Helle wird fleckig. Die Wirklichkeit ist gemischt, helldunkel. Die Erkenntnis versucht, Unterscheidungen zu treffen, Grenzlinien zu ziehen. Sie will aufklären und findet Eintrü­ bungen, stößt auf unmerklich fließende Übergänge, Grau­ zonen, U nbestimmtheiten, Interferenzen. Die Erkenntnis selbst gehört zum Helldunkel der Wirklichkeit, leuchtet sie unterschiedlich aus und schattiert sie dementsprechend. Wie kann man beobachten, was die Aufklärung im Dunklen läßt, wenn man nicht auf die Unschärfen am Rande achtet? Im Durcheinander von Hell und Dunkel ist man auf Beob­ achtung und Aufklärung angewiesen, auch wenn sie selbst nicht ganz aufgeklärt sind. Die Aufklärung für ein marschierendes Heer übernahm in früheren Zeiten die Vorhut, die Avantgarde.! Sie muß die Bewegungen des kaum sichtbaren Feindes aufklären und ihm gegenüber die eigenen verdunkeln. Ihre Aufgabe be­ steht darin, das Heer zu sichern, das marschiert und darum nicht sofort schlagfertig ist, weil es Zeit braucht, aus der Marsch- in eine Schlachtordnung überzugehen. Die Avant­ garde sichert durch Aufklärung. Doch um aufklären zu kön­ nen, muß sie sich selbst sichern, verschleiern. Die Avant­ garde steht im Clair-obscur und versucht, das Helldunkel umzukehren. Wie alle Aufklärungssysteme sind Avantgar­ den besonders empfindlich, anfällig und deshalb besonders sicherungsbedürftig, denn sie müssen verläßlich sein. Das Ereignis der französischen Revolution setzt die Avant­ garde als Metapher frei. Die schwerbeweglichen Revolu­ tionsheere, die sich von Avantgarden sichern lassen muß­ ten, sehen sich in ihrer propagandistischen Selbstdarstel­ lung weltgeschichtlich auf dem Vormarsch, um den 14

Fortschritt, die Ideen von Freiheit, Gleichheit und Brüder­ lichkeit, in alle Welt zu tragen. Der Vormarsch des Fort­ schritts scheint so unwiderstehlich zu sein, daß er von einer Avantgarde weniger gesichert, als vielmehr verkündet zu werden braucht. Im Anschluß an die große Revolution, aber nun als Siche­ rung des Fortschritts vor den Schrecknissen einer erneut drohenden Revolution, werben die Saint-Simonisten auch die Künstler als Avantgarde ihres Sozialismus an, nachdem andere Berufsstände an dieser Funktion keinen Gefallen ge­ zeigt hatten, und schleusen damit die Avantgarde-Metapher in die Kunsttheorie ein. "Wir sind es, die Künstler, die als Avantgarde dienen werden", läßt der Saint-Simon-Schüler Rodriguez einen Künstler sprechen, "wir haben Waffen al­ ler An; wenn wir neue Ideen unter den Menschen verbrei­ ten wollen, schreiben wir sie auf Marmor oder auf lein­ wand. Wir bringen sie unter das Volk durch Poesie und Gesang. Wir greifen zur Leier oder zur Flöte, zur Ode oder zum Lied, zur Geschichte oder zum Roman. Die dramati­ sche Szene steht uns offen ..."2 Ohne die für die Partei be­ setzte Metapher zu benutzen, schreibt der sozialistische Realismus d�ese Theorie der Avantgarde fort. Die Kunst als Propaganda muß eindeutig und allgemeinver­ ständlich sein, sie setzt eine intakte traditionelle Rhetorik und Ikonographie voraus. Als Avantgarde zu dienen, heißt, dem philosophischen Oberbefehl gehorchen zu müssen. Gerade das aber weigert sich die moderne Kunst zu tun. Als Avantgarde fühlt sie sich der Nachhut des philosophi­ schen Begriffs immer schon voraus. Sie versteht sich in der Tradition der romantischen Kunsttheorie als "progressive Universalpoesie", "unendliches Gedicht" (F. Schlegel), als Versuch einer neuen, individuellen Mythologie, als speku­ lative Kunst in Analogie zur Magie und Alchimie. Diese Kunstmetaphysik geht nun in der Theorie der modernen, avantgardistischen Kunst eine Verbindung mit der Ge­ schichtsphilosophie und ihrem Fonschrittsbegriff ein: als Chiffre des Absoluten muß die Kunst modern, d. h. neu sein, geistesgegenwärtig für den katastrophalen Augenblick der Weltgeschichte. Das avantgardistische Kunstwerk mate­ rialisiert "das fortgeschrittenste Bewußtsein der Widersprü15

che im Horizont ihrer möglichen Versöhnung" (Adorno). In der Finsternis der Geschichte erspäht die Avantgarde ei­ nige gebrochene Strahlen messianischen Lichtes. Die Rede vom Ende der Avantgarde signalisiert nicht nur den Verschleiß des geschichtsphilosophischen Fortschritts­ begriffs, sondern auch den Zweifel, ob es einen Fortschritt in den Künsten, ob es einen erkennbaren Stand des künstle­ rischen "Materials" (Adorno) gebe, hinter den man nicht zurückfallen dürfe. Die Entwicklungen erscheinen zu ver­ schlungen, um einen klaren Frontverlauf des Fortschritts ausmachen zu können. Die Kunst zieht sich aus der Modernität und Weltge­ schichte in den postmodernen Salon, die Ästhetik aus der Geschichtsphilosophie in die Systemtheorie zurück, die verspricht, die verwirrende Komplexität zu reduzieren. Auf diesem Rückzug scheint die Avantgarde als "historische Avantgarde" auf dem verlorenen Posten der Moderne zu­ rückgelassen worden zu sein. Aber vielleicht ist diese Hi­ storisierung nur eine letzte List der geschichtsphilosophi­ schen Vernunft, der Avantgarde unbemerkt den Rückzug in das Feldlager des Systems zu sichern. Ein System ist etwas, das sich selbst aufbaut und in Gang hält, indem es sich von dem unübersehbar vielen anderen unterscheidet und mit der ständigen Reproduktion dieser Differenz zur Umwelt die Elemente reproduzieren kann, aus denen es besteht. Ein solches Gebilde, das die System­ theoretiker "autopoietisch" und "selbstreferentiell" nennen, ist auch das soziale System Kunst: ein geschlossener Kreis.3 Kunst baut auf Kunst auf. Kunst ist Kunst, weil sie im so­ zialen System Kunst als Kunst auftaucht. Die Kunst ist au­ tonom, zirkulär und konzeptuell. Sie definiert sich selbst durch sich selbst. Sie bestimmt selbst, was Kunst ist, durch Ausschluß von Nichtkunst. Die Kunst produziert nicht nur Kunstwerke, sondern mit ihnen zugleich produziert sie auch Erwartungen, wie es mit der Kunstproduktion weitergehen könne, reizt auf diese Weise die Produktion von Anschlußelementen an und er­ möglicht so die ununterbrochene Reproduktion des Sy­ stems. Zu den sich mit den Kunstproduktionen wandeln­ den Erwartungen gehört als Konstante immer auch die Erwartung von Abwechslung, Überraschung, von etwas 16

Neuern. Nur muß die Diskontinuität im Rahmen bleiben, das Neue immer noch anschlußfähig sein mit dem Alten, mit Stilrichtungen der Kunstgeschichte, und als Ausdruck eines Zeitgeistes mit Gegenwärtigem. Ständig wird in diesen Erwartungshorizont des Systems hinein Kunst produziert und angeboten, abgetastet, sortiert und ausgemustert, werden Produktionen getestet, ob sie sich zu einem neuen Trend, einer Mode oder sogar viel­ leicht zu einem Stil hochschaukeln, der sich selbst durch all­ gemeine Aufmerksamkeitszuwendung verstärkt und andere Anschlußmäglichkeiten unterdrückt. Auf der Documenta 1982 ließ Lawrence Weiner an der Fas­ sade des Ausstellungsgebäudes den weithin lesbaren Satz anbringen: "Viele farbige Dinge nebeneinander angeordnet, bilden eine Reihe vieler farbiger Dinge." Der Satz reflek­ tiert die Zirkularität, die tautologische Selbstdefinition der Kunst: Kunst ist, was die Institution, das System Kunst als Kunst wahrnimmt. Innerhalb ihrer Bannmeile sind farbige Dinge im Zweifelsfall Kunstwerke. Zugleich klingt in Weiners Satz eine versteckte Kritik an den vielen farbigen Dingen in der damaligen Ausstellung an, der Welle der neuen Malerei, von der die Konzeptkunst eines Weiner überspült wurde: ob nicht der Rückgriff auf das Tafelbild und auf traditionelle Kompositionstechniken hinter das Reflexionsniveau der peinture conceptuelle und der conceptual art zurückfalle, die das Tafelbild längst in ih­ rem Dingcharakter erkannt, analysiert und ausprobiert hat­ ten. Doch zum Trost findet die Institution führende Künst­ ler einer aus der Mode geratenen Richtung mit frühzeitiger Musealisierung ab. Auch das bringt Weiners Satz zum Aus­ druck. Und er zeigt an, daß die bildende Kunst das Publi­ kum immer mehr in eine Analyse und Reflexion involviert hat, was Kunst ist, und daß in dieser Entwicklung der Blick immer stärker vom einzelnen Kunstwerk abgelenkt wird hin zum Ereignischarakter einer Ausstellung und über sie hinaus zum autopoietischen und selbstreferentiellen Repro­ duktionscharakter der Institution, zu einer "soziologischen Ästhetik" (G. Simmel). Die Konzeptualität macht die Kunst "kommentarbedürftig" (Gehlen) und verwickelt das Publikum ins Nachdenken, Reden und Diskutieren. Dabei greift es unweigerlich auf 17

den Stilbegriff zurück, der ursprünglich normativ, zu einem Epochenbegriff geworden ist. Mit ihm lassen sich die ein­ zelnen Kunstwerke diachron und synchron verorten. Mit ihm beginnt oft erst eine Diskussion, weil man über ihn den Weg von der Sprachlosigkeit vor dem einzelnen Kunst­ werk zum Allgemeinen findet: Ist die Postmoderne das Ende der Moderne, ein neuer Stil oder eine vorüberge­ hende Mode? Ist die Moderne überhaupt eine Epoche? Von wann bis wann? Wollte die Moderne nicht das Ende aller Stilkunst sein? Will nicht auch die Postmoderne das Ende des Stils, des Stilzwangs zur Moderne sein? Ist die Postmo­ derne eine Metamorphose oder Metastase der Moderne? War die Moderne vielleicht immer schon postmodern? Usw. Das Clair-obscur der historischen Phänomene und Begriffe macht die Kontroversen unentscheidbar. Machtbewußte Gruppen versuchen, Begriffe zu besetzen, ihre Definitio­ nen durchzusetzen und stoßen dabei auf den Widerstand anderer. Der Streit vergesellschaftet. Es kommt auch für das soziale System gar nicht auf Einigung an, sondern auf Kom­ munikation. Und sie wird durch die Unschärfe der Begriffe und Gegenstände eher intensiviert als geschwächt. Die Kunst als soziales System baut sich auf und erhält sich als fonwährende Kommunikation über Kunst. Die Kunst­ werke liefern den Gesprächsstoff. Ihre Ausstellungen bie­ ten eine Gelegenheit, sich zu treffen und zu unterhalten. Der Schwerpunkt verlagert sich vom Hersteller zum Zu­ schauer, von der Produktions- zur Rezeptionsästhetik. Die von der kommentar bedürftigen konzeptuellen Kunst pro­ vozierte Partizipation scheidet das Publikum in die Masse derer, welche die Museen und Kunsthallen füllen, und den kleinen Kreis derer, die im Betrieb mitreden. Die "Inklu­ sion des Publikums" (Luhmann) führt zur Exklusivität des professionellen und kompetenten Publikums. Entgegen den institutionskritischen Absichten der concep­ tual an hat die Beteiligung des Publikums das soziale Sy­ stem Kunst gefestigt. Der Zuschauer wurde nur stärker von der Institution einverleibt. Die Wahrnehmung integriert das, was sie wahrnimmt, und sie integriert in das, was sie wahrnimmt. Der Beobachter steht drinnen, ehe er sich ver­ sieht. Seine Beobachtung wird zur Selbstbeobachtung des 18

sozialen Systems. Von der vorherrschenden Kunstproduk­ tion zu einer bestimmten Aufmerksamkeitsrichtung und Erwartungshaltung angeregt, hält sie nach Anschlußproduk­ tionen Ausschau, stimuliert sie dadurch und verstärkt so die kommunikative Selbstorganisation des Systems. Indem das kundige Kunstpublikum mehr und mehr das Funktionieren des Systems wahrnimmt, entdeckt es das Sy­ stem selbst als ein konzeptuelles Kunstwerk, seinen Perfor­ mance- und Eventcharakter, die Poesie seiner Autopoiesis, den ästhetischen Reiz seiner Selbstbezüglichkeit und die ei­ gene Werkimmanenz. Die einzelnen Kunstwerke werden zu austauschbaren Münzen in einem Automaten, der sich selber komponiert. Das soziale System ist heute mit größe­ rem Recht das, was Friedrich Schlegel vom Kunstwerk sagte: "eine ferne Nachbildung vom unendlichen Spiele der Welt, dem sich selbst bildenden Kunstwerk". 4 System und Kommunikation sind Betrieb, Gerede und Ge­ rücht. Das Gerücht ist das im Gerede erzeugte Ereignis, das durch das Gerede zu einem wesentlichen Element des Betriebs wird. Das Gerede hält den Betrieb aufrecht, indem es nach Anschlußelementen, nach neuen Ereignissen ver­ langt und sie gerüchteweise selbst produziert. Schließlich ist das Gerede selbst eine Form des Betriebs: Betriebsam­ keit. Das Gerede erhellt und verdunkelt. Als Rede ist es die ur­ spüngliche "Erschlossenheit" der Welt. Doch "das Erschlie­ ßen verkehrt sich zu einem Verschließen" 5. Das Gerede dichtet den Betrieb zu einem geschlossenen System ab, das die Komplexität auf ein Weltbild reduziert und die Beob­ achtung seiner Differenz zum Sein vergißt. 6 Im geschlosse­ nen seinsvergessenen System aber nehmen Betriebsamkeit, Gerede, Verfahren, unverweiltes Herumfahren, Neugier und Zerstreuung überhand. Es sind die Ausdrucksformen der acedia, des alten Lasters der Langeweile und des Über­ drusses. ? Der Unfähigkeit des azediösen Mönches, ruhig mit sich allein in seiner Zelle zu bleiben, entsprechen die von Heidegger diagnostizierte Betriebsamkeit des neuzeitli­ chen Menschen in einem System, das sich verschließt und die Welt zu seinem Bild macht, und die Langeweile, die Luhmann sich einschleichen sieht im zirkulären, selbstrefe19

rentiellen System der Kunst. Die Kunst als geschlossener Kreislauf ist eine Junggesellenmaschine. Die Kommunikation über Kunst muß also immerfort gegen den Überdruß an der Kunst anreden. Die Neugier, die un­ aufhörliche Erwartung nach Anschlußmöglichkeiten und Suche nach einer neuen, jungen Kunst, ist die ständige Furcht vor der Langeweile, die den Betrachter bei jeder neuen Kunst alsbald wieder einholt. Als Betrieb gehört die Kunst zur wachsenden Kultur- und Freizeitindustrie, zu den Subsystemen, die unaufhörlich die von dem großen geschlossenen System Gesellschaft er­ zeugte Langeweile absorbieren und wenn möglich recyclen sollen, als Gerede steht sie in der Tradition des adelig-bür­ gerlichen Salons und des fürstlichen Hofes. Wie das Leben am Hof ist die Kunstszene, die Kommunikation über Kunst, "ein ernstes, melancholisches Spiel" (La Bruyere). Wie der traurige und gelangweilte König, von dem Pascal spricht, oder der entmachtete Adel zerstreut sich heute das Kunstpublikum durch die Jagd, die Jagd nach dem Neuen, nach einer neuen Kunst- und Stilrichtung, einem neuen Ge­ sprächsstoff. Der Künstler spielt die Rolle des Wildes, der Jagdbeute. Seine Klugheit besteht darin, sich aufspüren und entdecken zu lassen, seinen Jägern den Spaß nicht zu verderben, es ih­ nen nicht allzu leicht zu machen - sonst wenden sie sich zu schnell gelangweilt ab -, aber auch nicht ganz unmöglich sonst bleibt er unentdeckt. Auf dieses Treiben muß der Künstler sich vorbereiten. Er muß es sehen und daran vorbei sehen lernen, es ernst neh­ men und zugleich die unvermeidliche Rolle spielen, ohne sie sich zu Herzen zu nehmen. Der Künstler braucht also zumindest vorübergehend ein Asyl, einen Elfenbeinturm, ein funktionstüchtiges Aufklärungs- und Sicherungssystem: die Avantgarde. Aus der Weltgeschichte ins System zurückgezogen hat sich, scheint mir, die Avantgarde als verstecktes Subsystem von Schutz- und Beobachtungskapseln, die sich um Künstler, meistens um kleinere Gruppen von jüngeren Künstlern bil­ den können. Die Avantgarde im sozialen System Kunst ist 20

die immunisiene Selbstbeobachtung des Systems. Die Ein­ kapselung dient dem Schutz der inwendigen Beobachter, die Beobachtung aber der Selbstorganisation des ganzen Sy­ stems, vor dessen Zudringlichkeit die Einkapselung si­ ehen. Das Kunstsystem hat also zwei interne Beobachter: das Pu­ blikum und die Avantgarde, die in einem ständigen Aufklä­ rungsgefecht begriffen sind. Das publikum ist neugierig, es sucht eine neue Kunst, die Avantgarde. Hat es sie aufgestö­ ben, so hält die Kapsel dem direkten Kontakt nicht stand. Die Avantgarde löst sich auf. Deshalb muß sie sich unsicht­ bar machen, immunisieren, einkapseln und durch die Kap­ sel die Kommunikation filtrieren, um so den Lockrufen der Jagdgesellschaft zu widerstehen und die Komplizenschaft von Jäger und Beute, die Korrespondenz der Gier zu ent­ decken und entdeckt zu werden, außer Kraft zu setzen, bis sich das Immunsystem der Kapsel im einzelnen Künstler aufgebaut hat. Der entscheidende Sprung einer Kapselbildung ist das Sich­ ausschließen von der Geschlossenheit des Systems, um in­ nerhalb ihrer geschlossenen Welt, aber doch abgeschieden von ihr, die Zirkulation ihrer Kommunikation wie in einem Faradayischen Käfig außen vorbei- und abfließen zu lassen, damit drinnen sich aus Gerede und Betrieb Sprache und Ar­ beit, Arbeit an der Sprache, an der Artikulation wiederher­ stellen und erneuern können. Die Kapsel unterbricht und filtrien die Kontakte nach außen und sorgt innen für Stille. Die Binnenatmosphäre reinigt sich, das Helldunkel klän sich auf. Erkenntnis setzt ein, die Arbeit an der Artikula­ tion, die Differenzierung der Unterscheidungen. Erkennen, beobachten, wahrnehmen heißt in erster Linie unterscheiden. Die Unterscheidung reduzien die unüber­ sehbare Komplexität auf das, was wichtig ist, auf die Unter­ scheidung, welche Unterscheidungen wichtig sind und wel­ che nicht. So, sagen die Systemtheoretiker, baut sich ein System auf: es trifft eine Unterscheidung zwischen sich und der Umwelt und erhält sich dadurch, daß es diese "System/ Umwelt-Differenz" (Luhmann) ständig reproduzien. Das "Komplexitätsgefälle" zwischen der Umwelt und sich s�lbst aber kompensien es durch innere Ordnung. 21

Der Begriff der Autopoiesis, des Selbstaufbaus, der Selbst­ entstehung durch Differenzierung, verrät die Herkunft der neueren Systemtheorie aus der Biologie und über sie hinaus aus der Naturphilosophie: Leben entsteht aus Leben, es produzien und reproduzien sich selbst. Die lebendige Na­ tur ist schöpferisch, eins und vieles zugleich, eins in ihrer Produktivität und vieles als Produkt. - Die herkömmliche Philosophie einer schöpferischen Natur ist eine Einheits­ spekulation in der Tradition des Neuplatonismus. Das, was sich durch Unterscheidung konstituien und selbständig macht, verlien doch nicht ganz seine Identität mit dem, woraus es letzten Endes hervorgegangen ist. In seiner Un­ terschiedenheit bleibt es irgendwie ununterschieden. So be­ zeichnet Sc helling die Natur, ihre Produkte und ihre Pro­ duktivität als Indifferenz von Identität und Differenz.8 Im Gegensatz zu einer solchen identitätsphilosophisch orien­ tienen Natur- und Lebensphilosophie beschreibt die neuere Systemtheorie eine Natur, die in eine Vielfalt selbst­ bezogener Gebilde zerfallen ist. Systeme haben in ihrer Selbstbezogenheit keinen Sinn mehr für eine ursprüngliche Identität, sie bauen sich auf der "Differenz von Identität und Differenz"9 auf. Die Kunst der Avantgarde besteht darin, die Mitte von Dif­ ferenz und Indifferenz zu treffen. Von ihren Aufklärungs­ satelliten aus ist mit unbewaffnetem Auge nichts mehr zu erkennen. Die Beobachtung wird mit Hilfe von Apparaten künstlich erzeugt. Mit ihr experimentien die Avantgarde in Versuchsreihen: Wahrnehmungen werden auseinanderge­ nommen und probe halber wieder zusammengesetzt. Große Entfernung wie auch extreme Annäherung, Teleskopie und Mikroskopie relativieren den gewöhnlichen Blick, legen den Herstellungscharakter der Wahrnehmung, das Poieti­ sche der aisthesis bloß und verflüssigen ihre Unterschei­ dungen. Die Kunst ist eine Kunst des Unterscheidens. Eine neue Kunst macht neue Unterschiede sichtbar, analysien und re­ lativien alte und veränden dadurch zugleich die Unter­ scheidung zwischen Kunst und Nichtkunst, den Wahrneh­ mungshorizont des sozialen Systems Kunst, ihre .. System/ U mwelt-Differenz". 22

Wenn nun die Avantgarde die Mitte von Differenz und In­ differenz trifft, dann gelingt es ihr, in der Unterscheidung ihre Willkürlichkeit, ihren Reduktionismus und Herstel­ lungscharakter zu reflektieren und zum Ausdruck zu brin­ gen. Die Kontur ihrer Zeichnung gewinnt einen fast un­ merklichen Hof. Die Reflexion des Komplexitätsgefälles kann den verlorenen Reichtum als Vieldeutigkeit, kalkulier­ te Unschärfe am Rande, als mitschwingende Irritation der in­ neren Ordnung indirekt wieder aufbauen. So gewinnt die Un­ terscheidung ein Ich-weiß-nicht-Was, ein presque rien10, wel­ ches das, was sie unterscheidet, nicht ausschließt. Durch Zu­ nahme an diffusem Licht, an Helldunkel, gewinnt sie an Dif­ ferenzierung. Diese differenziene Unterscheidung ist Dis­ kretion, Bescheidenheit gegenüber der Komplexität.ll In der Bildung von Avantgarden gewinnt die Kunst die Selbstdistanz zur differenzienen Selbstbeobachtung, zur Beobachtung ihrer System/Umwelt-Differenz. Zwischen der Kunst und ihrer Umwelt, d. h. zwischen Kunst und le­ ben aber muß Diskretion herrschen. Die Kunst braucht die Differenz und die Indifferenz gegenüber dem Leben. Erst durch Ausdifferenzierung gewinnt sie die Selbständigkeit eines geschlossenen Kreises. In ihrer Geschlossenheit aber benötigt sie die Transparenz der Umweltkomplexität. Im Offenhalten der Grenzen zwischen Kunst und Leben scheint die Lebenskraft des sozialen Systems zu liegen, seine autopoietische Energie zur fonwährenden Selbster­ neuerung. Die Avantgarde akkumulien in ihrer Kapsel einen Reich­ tum und Mehrwen der Anikulation. Von ihm zehn die Kommunikation im sozialen System, bis er im Betrieb zer­ redet, die Transparenz seiner System/Umwelt-Diskretion einbüßt. Spätestens dann muß die Anikulation erneuen und eine neue Avantgarde aufgetrieben werden. Die Wirklichkeit ist durch und durch gemischt, helldunkel, die Avantgarde nicht die reine Aufklärung, das System nicht die schiere Finsternis. Es funktioniert in der Unvoll­ kommenheit seiner Operationen. Die Avantgarden fallen den immer empfindlicheren Sensoren des Betriebes zum Opfer, bevor sie eine gründlich gereinigte Binnenat­ mosphäre erzeugen konnten. So verstehen sie sich zu sehr 23

als bloße Selbsthilfegruppen. Direkt funktional ausgerich­ tet, wollen sie sich im Betrieb durchsetzen. Das Immunsy­ stem Kunst wiederum hat eine geringe Toleranz gegenüber inneren, scheinbar parasitären Einkapselungen, löst sie zu früh auf und zwingt ihre Elemente zur Anpassung an die Erwanungen oder scheidet sie aus. Und gelingt es einer Avantgarde allen Widerständen zum Trotz, ein filtrienes Binnenklima aufzubauen, genügt in diesem sensitiven Be­ reich der kleinste Defekt, die Atmosphäre hoffnungslos zu vergiften. Doch reichen offenbar wenige funktionstüchtige Momente, daß ein Künstler sein Leben lang daraus Kraft schöpfen und das System sich konzeptuell erneuern kann. Die Avantgarde siehen durch Aufklärung, ihre System/Um­ welt-Beobachtung dient der Selbsterhaltung des Systems. Wie aber siehen sieh die Avantgarde als kleine unterlegene Einheit vor dem System? - Durch verschärfte Beobachtung und größere Beweglichkeit. Beweglich und reaktionsschnell wird die Beobachtung Aufmerksamkeit, Geistesgegenwan und Scharfsinn. Die Kapsel ist wie eine Klause oder ein Kloster, das sich von der Welt abschließt, von ihrer Verschlossenheit aus­ schließt. In der Abgeschiedenheit verstärken sich die Ver­ suchungen. Den Einsiedler fallen die Dämonen an. Sie flü­ stern ihm Gedanken und Vorstellungen ein, aus denen die Laster entstehen: Langeweile, Trübsinn, Eitelkeit, Geldgier usw. Der Mönch muß dagegen ankämpfen. Dieser Dämo­ nenkampf wird als Avantgardegefecht gefühn, als reiner Be­ obachtungskrieg. Der unsichtbare Dämon belauen den Mönch und greift ihn in unaufmerksamen Augenblicken mit Versuchungsgedanken an, der Mönch beobachtet wach­ sam seine Gedanken und fastet (um nüchtern zu werden) und betet (bittet um Hilfe). "Die Aufmerksamkeit kämpft gegen die Sünde wie ein Aufklärer oder Vorposten. Dann kommt das Gebet, das mit Hilfe der Aufmerksamkeit - al­ lein kann sie es nicht - die Versuchungsgedanken aus­ schließt und zunichte macht", schreibt Symeon, der neue TheologeY Die Kunst der wachsamen Aufmerksamkeit übernahmen die Mönche von den Stoikern. Die hatten in ihrem Ausnah24

mevorbild, dem Kyniker, eine kataskopos, einen Späher ge­ sehen.13• Der stoische Späher ist aufmerksam, er beobachtet seine Wahrnehmung, den Gebrauch, den er von seinen Ein­ drücken macht, wie sie zu festen Vorstellungen werden. Sie bauen ein (Schein-) System auf, die Welt des einzelnen, seine Gefühlswelt und das korrespondierende Bild, das er sich von einer Außenwelt macht. Sich von den selbstge­ machten, den autopoietischen Vorstellungen nicht hinrei­ ßen zu lassen, sondern sie womöglich sogar neu und richtig wiederaufbauen zu können, setzt die Fähigkeit voraus, die eingefahrene Aufeinanderfolge, den Anschlußzwang der Vorstellungen, durch die sich die Vorstellungswelt unauf­ hörlich verkettet und zusammenschließt, zu unterbrechen, das System einstürzen zu lassen und in der ständigen Pro­ duktion und Reproduktion alter Vorstellungen, Bilder und Erwartungen innezuhalten. Dieses Anhalten und Unterbre­ chen übten die alten Philosophen und Mönche in der Ver­ gegenwärtigung des Todes. Auch die Avantgarde galt in früheren Zeiten als "verlorener Haufen"14. Feste Vorstel­ lungen, Erwartungen und Unterscheidungen zu lockern und zu verflüssigen, schärft aber die Beobachtung zur Auf­ merksamkeit und setzt Scharfsinn, Geistesgegenwart und Schlagfertigkeit frei: Fertigkeiten, die Avantgarden brau­ chen, um sich gegen eine feindliche Übermacht zu si­ chern. Am Leitfaden der Aufmerksamkeit (prosoche) gerät die Spur der Avantgarde-Metapher in einen der großen Be­ griffsstrudel der Philosophie und Theologie. Die Aufmerk­ samkeit schärft das Bewußtsein, das Gewissen, die "Selbst­ bewachung" (syneidesis, synteresis).15 Zugleich aber ist die synteresis im Menschen der göttliche Funken (sdntilla ani­ mae), die Spitze des Geistes (ades mentis), im Innersten der Seelenburg das gewisse Etwas (aliquid in anima), das je ne sais quoi, die Reduktion auf die Komplexität des ganz Einfachen, wo die Unterscheidungen von Mensch und Gott, Schöpfer und Geschöpf flüssig und unscharf werden, der Seelen- und Erfahrungsgrund Gottes, des Komplexen schIech thin.16 Das Ich-weiß-nicht-Was aber braucht Obacht und Obhut. So entgeht es dem grellen Licht der Wissenschaft und ver­ birgt (und zeigt sich) im Helldunkel der Kunst. Die wie25

derum muß vor dem Betrieb und Gerede geschützt werden. Die Avantgarde zieht sich in die Kapsel zurück und sichert ihre Zugänge durch Schleusen und Verschlüsselungen. Die Avantgarde muß vorsichtig und klug sein. Klugheit entsteht aus Vorsicht, prudentia aus providentia, Vor-sicht aber ist nichts anderes als Avant-garde. In einem geschlossenen Kreis, der die interne Kommunika­ tion in hoher Geschwindigkeit zirkulieren läßt, muß sich die Kunst durch Klugheit sichern. Sie kann sich dabei auf die Strukturähnlichkeit von Kunst und Klugheit besinnen, die in aller Schärfe wiederum in der geschlossenen Gesell­ schaft am Hof gesehen wurde. Hier muß man auf die Erwar­ tungen eingehen, damit man sie durchkreuzen kann. Kunst und Klugheit sind eine elegante Art der Täuschung, deren Enormität von der Eleganz der Performance entschuldigt wird. Die Kunst ist eine List, eine Kunst der Vortäuschung, der Vorspiegelung, des Scheins. Kunst gleich Leben heißt also nicht nur, auf die metaphysi­ schen Indifferenzen in den Differenzen zwischen Kunst und Leben zu achten, sondern auch auf die Verwandtschaft von Kunst und Lebensklugheit: Kunst gleich Lebens­ kunst. Die Angleichung von Kunst und Klugheit ist bereits früh, von den Stoikern und dann verstärkt von den Neuplatoni­ kern, dadurch angebahnt worden, daß sie die aristotelische Unterscheidung von poiesis und praxis einebneten. Die Klugheit (phronesis. prudentia) bezieht sich auf das Han­ deln (praxis). Das aber wurde immer mehr in Analogie zum Technischen und Poietischen als ein Machen, eine einüb­ bare, fachmännische, auf Vervollkommnung ausgerichtete Herstellung verstanden.I? In exemplarischer Weise vermischen sich Handeln und Herstellen im Krieg. In ihm stoßen mit aller Gewalt das ra­ tionale Kalkül und Konzept, die Planung, Vorbereitung, Er­ wartung, die Beherrschung des Technischen mit dem Un­ vorhergesehenen zusammen, dem Zufall, der Situation, dem Ereignis. Je mehr das Handeln auf ein umstandsloses technisches Herstellen reduziert wird, desto dringender be­ darf es zum Ausgleich der Geistesgegenwart für die Peri­ stase, die Friktion, den plötzlichen Augenblick. Deshalb muß der Feldherr Genie haben, und deshalb ist der Krieg 26

eine Kunst. Und so kann Gradan die Lebenskunst, die Kunst der Klugheit, nach dem Vorbild der Kriegskunst ver­ stehen: "Ein Krieg ist das Leben des Menschen gegen die Bosheit des Menschen. Die Klugheit führt ihn . . . Nie tut sie, was sie vorgibt, sondern zielt nur, um zu täuschen . . . Eine Absicht läßt sie erblicken, um die Aufmerksamkeit des Gegners dahin zu ziehen, kehrt ihr aber gleich den Rücken und siegt durch das, woran keine gedacht. Jedoch kommt ihr andererseits ein durchdringender Scharfsinn durch seine Aufmerksamkeit zuvor ... stets versteht er das Gegen­ teil von dem, was man ihm zu verstehen gibt . . . Die erste Absicht läßt er immer vorübergehen, wartet auf die zweite, ja auf die dritte. Indem jetzt die Verstellung ihre Künste er­ kannt sieht, steigert sie sich noch höher und versucht, durch die Wahrheit selbst zu täuschen . . . Aber die beob­ achtende Schlauheit ist auf ihrem Posten, strengt ihren Scharfblick an und entdeckt die in Licht gehüllte Finsternis; sie entziffert jenes Vorhaben, welches je aufrichtiger desto trügerischer war . . . .'