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Thorsten Gerald Schneiders (Hrsg.)
Islamfeindlichkeit Wenn die Grenzen der Kritik verschwimmen
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar.
1. Auflage 2009 Alle Rechte vorbehalten © VS Verlag für Sozialwissenschaften | GWV Fachverlage GmbH, Wiesbaden 2009 Lektorat: Frank Engelhardt VS Verlag für Sozialwissenschaften ist Teil der Fachverlagsgruppe Springer Science+Business Media. www.vs-verlag.de Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen, Handelsnamen, Warenbezeichnungen usw. in diesem Werk berechtigt auch ohne besondere Kennzeichnung nicht zu der Annahme, dass solche Namen im Sinne der Warenzeichen- und Markenschutz-Gesetzgebung als frei zu betrachten wären und daher von jedermann benutzt werden dürften. Umschlaggestaltung: KünkelLopka Medienentwicklung, Heidelberg Umschlagfoto: Thorsten Gerald Schneiders Druck und buchbinderische Verarbeitung: Krips b.v., Meppel Gedruckt auf säurefreiem und chlorfrei gebleichtem Papier Printed in the Netherlands ISBN 978-3-531-16257-7
Inhaltsverzeichnis Inhaltsverzeichnis
Thorsten Gerald Schneiders Einleitung.............................................................................................................. 9
Kapitel I: Ausgangspunkte islamfeindlichen Denkens in der deutschen Gesellschaft Thomas Naumann Feindbild Islam – Historische und theologische Gründe einer europäischen Angst............................................................................................. 19 Claudio Lange Die älteste Karikatur Muhammads. Antiislamische Propaganda in Kirchen als frühes Fundament der Islamfeindlichkeit ...................................................... 37 Almut Höfert Die „Türkengefahr“ in der Frühen Neuzeit: Apokalyptischer Feind und Objekt des ethnographischen Blicks................................................................... 61 Gerdien Jonker Europäische Erzählmuster über den Islam. Wie alte Feindbilder in Geschichtsschulbüchern die Generationen überdauern ...................................... 71 Hamid Tafazoli „Sie meinen, die Christen hätten einen falschen Glauben […].“ Zum Islambild in der deutschen Literatur am Beispiel einiger Persienberichte des 17. Jahrhunderts .................................................................. 85 Kai Hafez Mediengesellschaft – Wissensgesellschaft? Gesellschaftliche Entstehungsbedingungen des Islambildes deutscher Medien ............................. 99
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Werner Ruf Muslime in den internationalen Beziehungen – das neue Feindbild................. 119 Dieter Oberndörfer Einwanderung wider Willen. Deutschland zwischen historischer Abwehrhaltung und unausweichlicher Öffnung gegenüber (muslimischen) Fremden ............................................................................................................ 127
Kapitel II: Zur aktuellen Lage der Islamfeindlichkeit Jürgen Leibold Fremdenfeindlichkeit und Islamophobie. Fakten zum gegenwärtigen Verhältnis genereller und spezifischer Vorurteile............................................. 145 Mario Peucker Islamfeindlichkeit – die empirischen Grundlagen ............................................ 155 Heiner Bielefeldt Das Islambild in Deutschland. Zum öffentlichen Umgang mit der Angst vor dem Islam ................................................................................................... 167 Navid Kermani „Und tötet sie, wo immer ihr sie findet.“ Zur Missachtung des textuellen und historischen Kontexts bei der Verwendung von Koranzitaten................... 201 Y. Michal Bodemann und Gökçe Yurdakul Deutsche Türken, jüdische Narrative und Fremdenangst: Strategien der Anerkennung .................................................................................................... 209 Stefan Muckel Zur christlich-abendländischen Tradition als Problem für den Islam in deutschen Verfassungen und Gesetzen......................................................... 239 Jochen Hippler Gestörte Kommunikation. Wie grundlegende Fehler im internationalen Dialog zwischen westlich und muslimisch geprägten Gesellschaften gegenseitige Ressentiments schüren ................................................................. 259
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Monika Schröttle Gewalt gegen Frauen mit türkischem Migrationshintergrund in Deutschland. Diskurse zwischen Skandalisierung und Bagatellisierung................................ 269 Yasemin Karakaolu Islam als Störfaktor in der Schule. Anmerkungen zum pädagogischen Umgang mit orthodoxen Positionen und Alltagskonflikten.............................. 289 Siegfried Jäger Pressefreiheit und Rassismus. Der Karikaturenstreit in der deutschen Presse. Ergebnisse einer Diskursanalyse....................................................................... 305 Franc Wagner „Die passen sich nicht an“. Exkurs über sprachliche Mechanismen der Ausgrenzung von Muslimen............................................................................. 323 Markus Gerhold Islam-bashing für jedermann. Leserbriefe und Onlinekommentare als Orte privater Stimmungsmache ........................................................................ 331
Kapitel III: Institutionalisierte Islamfeindlichkeit Sabine Schiffer Grenzenloser Hass im Internet. Wie „islamkritische“ Aktivisten in Weblogs argumentieren .................................................................................... 341 Mohammed Shakush Der Islam im Spiegel der Politik von CDU und CSU. Aspekte einer komplizierten Beziehung ........................................................... 363 Wolf-Dieter Just Der Islam und die Evangelische Kirche in Deutschland. „Klarheit und gute Nachbarschaft“?................................................................................................ 377 Jobst Paul Die katholische Kirche auf dem Weg zur ‚robusten Ökumene‘? Vernunft und Glaube in Regensburg ................................................................ 389
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Kapitel IV: Personelle Isalmfeindlichkeit Thorsten Gerald Schneiders Die Schattenseite der Islamkritik. Darlegung und Analyse der Argumentationsstrategien von Henryk M. Broder, Ralph Giordano, Necla Kelek, Alice Schwarzer und anderen...................................................... 403 Birgit Rommelspacher Islamkritik und antimuslimische Positionen – am Beispiel von Necla Kelek und Seyran Ate................................................................................................ 433 Martin Riexinger Hans-Peter Raddatz: Islamkritiker und Geistesverwandter des Islamismus ..... 457 Micha Brumlik Das halbierte Humanum – Wie Ralph Giordano zum Ausländerfeind wurde .. 469
Die Autorinnen und Autoren ............................................................................ 477
Einleitung Thorsten Gerald Schneiders
„In einer großen Zeitung erscheint ein langer Artikel über die Stellung der Juden in Deutschland heute. Darin heißt es: ‚Während ein nicht unbedeutender Teil der Juden sich in die deutsche Gesellschaft integriert, ist das bei vielen anderen nicht festzustellen. Viele Juden meinen, sie kämen auch ohne Deutschkenntnisse aus. Schulische Aktivitäten, wenn sie denn einmal auf einen Samstag fallen, werden boykottiert. Frauen sind im Judentum auch heute noch Bürger zweiter Klasse.‘ Besonders besorgt drückt sich der Autor darüber aus, dass einige ultra-zionistische, nicht offen operierende Organisationen Mitglieder in Deutschland anwerben und für ihre Zwecke, ein theokratisches Groß-Israel, Geld sammeln. Gerade auch die russisch-jüdischen Einwanderer hätten sich in großstädtischen Ghettos isoliert, abgeschottet von der deutschen Umwelt und ohne Interesse an unserer Kultur und Lebensweise. Ein Artikel dieser Sorte, erschiene er denn in einer deutschen Zeitung, würde eine Welle der Entrüstung hervorrufen. Der Chefredakteur müsste sich umgehend für den ‚bedauerlichen Ausrutscher‘ entschuldigen, dem verantwortlichen Redakteur würde vermutlich fristlos gekündigt. Wenn wir in diesem Bericht jedoch das Wort ‚Juden‘ durch die Wörter ‚Muslime‘ oder ‚Türken‘ ersetzen und den Inhalt etwas umschreiben, dann liegt die Sache ganz anders. Solche Berichte lesen wir fast täglich, sie sind, trotz ihrer Halbinformiertheit, das Selbstverständlichste der Welt.“ Mit diesen Worten beginnt Michal Bodemann, der als Professor für Soziologie an der Universität Toronto unter anderem zum Thema Juden in Deutschland forscht, einen Beitrag für die Süddeutsche Zeitung am 20./21. November 2004. Der Artikel sorgte für Aufsehen. Allerdings weniger wegen der islamfeindlichen Agitationen, auf die er hinweisen will, als mehr wegen des Vergleichs von Muslimen und Juden in diesem Kontext. Eine solche Gegenüberstellung trage dazu bei, monierten Kritiker, das Leid der jüdischen Bevölkerung in Deutschland zu relativieren. Ähnliche Aufregung bewirkte Ende 2008 die Tagung „Feindbild Muslim – Feindbild Jude“ des Zentrums für Antisemitismusforschung der Technischen Universität Berlin. Die Einrichtung unter ihrem Leiter, Prof. Dr. Wolfgang Benz, wollte mit dieser Tagung die Parallelen zwischen Antisemitismus beziehungsweise Antijudaismus und Islamfeindlichkeit thematisieren. Die Wissenschaftler haben nach eigenen Angaben in der Auseinandersetzung mit der Religion des
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Islam Stereotype und Konstrukte beobachtet, die seit langem als Instrumentarium bekannt sind, um gegen Juden Stimmung zu machen. Dazu gehörten Verschwörungsfantasien ebenso wie die Behauptung vermeintlicher Grundsätze und Gebote der Religion, schreibt Benz im Vorwort zum 17. Jahrbuch für Antisemitismusforschung. Seit Jahrhunderten werde in kulturellen oder religiösen Traditionen von Juden nach Argumenten gegen selbige gesucht, das gleiche geschehe nun im Hinblick auf den Islam, führte er in einem Interview mit dem Deutschlandradio Kultur am 5. Dezember 2008 aus. So wie man Juden Aussagen aus dem Talmud vorhalte, halte man Muslimen Aussagen aus dem Koran vor. Vergleichbar sei außerdem, dass beide Religionen beschuldigt würden, bösartig und inhuman zu sein und unmoralische Verhaltensweisen gegenüber Andersgläubigen zu verlangen. Juden habe man stets vorgeworfen, dass sie sich als auserwähltes Volk betrachteten, deren Religion es ihnen gebiete, gegen Nichtjuden feindselig zu sein und ihnen erlaube, sie zu betrügen. Solche Vorwürfe fänden sich ebenso in den Islam-Debatten wieder, heißt es beim Zentrum für Antisemitismusforschung. Wer sich heute in Deutschland auf die Spuren der Islamkritik im Internet, in den Medien oder in ausgewählten Büchern begibt, der mag sich in der Tat wundern, welche Äußerungen gegenüber einer Gruppe von Menschen trotz der Erfahrungen des vergangenen Jahrhunderts immer noch möglich sind und aus der Mitte der Gesellschaft Zustimmung erfahren. So erschreckend dies aber sein mag, die derzeitige Situation mit der Barbarei in der deutschen Geschichte des Antisemitismus zu vergleichen oder gar gleichzusetzen, wäre nicht nur historisch falsch, sondern unzweifelhaft eine Bagatellisierung der unmenschlichen Verbrechen der Vergangenheit. Nach eigener Darstellung ging es dem Zentrum für Antisemitismusforschung nicht um eine derartige Generalisierung oder gar Gleichsetzung. Wolfgang Benz erklärt: „Als Vorurteilsforscher muss ich doch die Chance nutzen, wenn ich mich […] seit Jahr und Tag mit dem ältesten und folgenreichsten, historischen, politischen, kulturellen Vorurteil, nämlich dem gegen die Juden beschäftige, […] zu lernen, ob nicht mit demselben Mechanismus auch gegenüber anderen Minderheiten, gegenüber anderen Gruppen Unheil gestiftet werden kann.“ (dradio.de, 5.12.08). Islamfeindschaft in Deutschland ist kein Konstrukt, sie findet tagtäglich statt. Die übelste Hetze gegen diese Religion und ihre Anhänger hat ihren Platz im Internet eingenommen. Im Zeitalter von Web 2.0, das jedem Menschen mit Zugang zum Internet die Möglichkeit bietet, seine Meinung online zu veröffentlichen, Bilder und Videos hochzuladen oder sich mit Gleichgesinnten zu unterhalten, stößt man auf derbe Schmähungen, die sich an der Grenze zur Volksverhetzung und bisweilen auch jenseits davon bewegen. In Weblogs liest man: „Islam ist eine freiwillige Geisteskrankheit“. „Ich will nicht, daß wenn ich Blut spende mein Blut irgendwann einem Musel das Leben rettet und genausowenig
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will ich dass in meinen Adern Muselblut fliesst.“ „Wie verbläst man eigentlich einen […] Türken waidgerecht? Da gibt es nichts zu verblasen, Jagdhornbläser verblasen jagdbares, erlegtes Wild, kein Ungeziefer!“ Solche tagtäglich getroffenen Äußerungen stammen nicht aus versteckten rechtsextremistischen Foren, sondern aus einem der mittlerweile erfolgreichsten Weblogs Deuschlands, über das Henryk Broder einmal geschrieben hat, man könne darüber sehr geteilter Meinung sein: Politically Incorrect. Zu den Postings in solchen Internetplattformen treten Polemiken, einseitige Debattenbücher, persönliche Erfahrungsberichte und sonstige Stellungnahmen von prominenten oder durch ihre „Islamkritik“ prominent gewordenen Protagonisten wie eben Henryk Broder, Ralph Giordano, Necla Kelek, Hans-Peter Raddatz, Alice Schwarzer, Leon de Winter oder Ayaan Hirsi Ali, Oriana Fallaci, Theo van Gogh, Irshad Manji, Ibn Warraq, Geert Wilders, Bat Ye’or und andere, die Muslime bisweilen als „Ziegenficker“ zu beschimpfen pflegten (Theo van Gogh; de Volkskrant, 3.11.04) oder den Koran, „ähnlich wie ‚Mein Kampf‘“, als „ein faschistisches Buch“ verbieten lassen wollen (Geert Wilders; Wiener Zeitung, 21.2.08). Weiteren Nährboden findet das negative Islambild in einzelnen Medienberichten. Nachdrücklich in Erinnerung geblieben sind die Titelgeschichten des Nachrichtenmagazins Der Spiegel „Papst contra Mohammed“ (38/2006), „Mekka Deutschland. Die stille Islamisierung“ (13/2007) und „Der Koran. Das mächtigste Buch der Welt“ (52/2007), deren Aufmachung erstaunlich identisch jeweils vor einem bedrohlich schwarzen Hintergrund gestaltet worden war. Nicht weniger voreingenommen fragte im gleichen Zeitraum die Illustrierte Stern: „Wie gefährlich ist der Islam?“ (38/2007). Bereits 2004 hatte das Nachrichtenmagazin Focus den Muslimen ihren Platz in der deutschen Gesellschaft zugewiesen. Dem Titel von Ausgabe 48 zufolge sind sie nämlich nach wie vor – selbst wenn sie hier geboren wurden: „Unheimliche G ä s t e . Die Gegenwelt der Muslime in Deutschland. Ist die Integration gescheitert?“ [Hervorhebung von mir] Solche in der breiten Öffentlichkeit wahrgenommenen Angriffe auf die Religion des Islam und ihre Anhänger animieren wiederum gesellschaftliche Institutionen und Organisationen wie die christlichen Kirchen, ihr Profil zu schärfen, oder die politischen Parteien, Wählerstimmen auf sich zu vereinen. Papst Benedikt XVI., der auch andere Glaubensgemeinschaften schon mehrfach mit Aussagen und Entscheidungen brüskierte, zuletzt die Juden, indem er unter anderem die Exkommunikation des Holocaustleugners und Bischofs der traditionalistischen Priesterbruderschaft St. Pius X., Richard Williamson, aufhob, empfing schon kurz nach Beginn seines Pontifikats die italienische Journalistin Oriana Fallaci, eine bekennende Atheistin, die gerade mit dem Buch Die Wut und der Stolz reüssiert hatte. Das Buch basiert auf Aussagen im Stil des folgenden Zitats: „Unsere ‚ausländischen Arbeiter‘ […] vermehren sich wie die Ratten. Mindestens die Hälfte
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aller moslemischen Frauen, die man auf der Straße sieht, sind von Kinderhorden umgeben und schwanger.“ (2002: 139) Eben dieses Buch wird in der Zeitschrift Die politische Meinung (1/2003) wohlwollend rezensiert vom Mitglied des Bundesvorstands der CDU und früheren Fraktionsvorsitzenden im Berliner Abgeordnetenhaus, Friedbert Pflüger. Am Ende kommt er – nach kleinen Abstrichen an Aussagen wie der soeben zitierten – zu dem Ergebnis: „Oriana Fallacis Buch spricht unbequeme Wahrheiten aus. Das Buch ist ein ‚Weckruf für Europa‘“. Die Erstauflage war nicht nur in Italien ein Verkaufsschlager. Auch in Deutschland schaffte es das Werk auf Platz 1 der von Media Control im Auftrag des Focus ermittelten Sachbuch-Bestsellerliste – noch vor dem Dalai Lama und dem Duden. Die ungezügelte Gehässigkeit Fallacis gipfelte in der Interviewaussage: „[Ü]berall wollen sie so verdammte Moscheen hinbauen. Wenn ich das noch erlebe, dann geh ich zu meinen Freunden […]. Mit deren Hilfe schnappe ich mir Sprengstoff. Ich lass euch in die Luft fliegen. Ich spreng die Dinger! […] Ich will diese Moschee nicht sehen, die wäre ganz in der Nähe von meinem Haus in der Toskana.“ (Die Weltwoche, 27.7.06) Islamfeindlichkeit ist breit aufgestellt und reicht in alle Gesellschaftsschichten. Auf der Straße findet sie besonders in Protesten gegen Moscheebauten ihren Ausdruck. „Je weniger Muslime in Europa als Teil der jeweiligen Mehrheitsgesellschaft empfunden werden, desto stärker bildet sich Widerstand gegen ihre Moscheen“, beobachtet der Architekt und Soziologe, Prof. Dr. Salomon Korn: „Ähnlich wie das Sein das Bewusstsein bestimmt, bestimmt auch das Bewusstsein unsere Wahrnehmung. Goethe zufolge sieht man, was man weiß. Was aber, wenn dieses Wissen lückenhaft ist oder an dessen Stelle Vorurteile, gar Ängste treten?“ (FAZ, 27.10.08). In Köln treffen sich regelmäßig mehrere Dutzend Demonstranten mit „Wir-sind-das-Volk“-Rufen unter wehenden Deutschlandfahnen vor der Zentrale der Türkisch-Islamischen Union der Anstalt für Religion (DITIB), deren bisheriges Gebäude – eine ehemalige Fabrikhalle – bis 2010 einer Moschee mit Minaretten weichen soll. Das Motto am 13. Dezember 2008 lautete „Gegen Türkisierung und Islamisierung. Köln darf nicht Istanbul werden“ – angesichts solcher Vorgaben hilft es auch nicht, demonstrativ eine Israelfahne zu zeigen, um Rassismusverdacht vorzubeugen. Diese Abneigung gegenüber dem Islam ist keine Neuerscheinung, die mit den Terroranschlägen vom 11. September 2001 oder mit dem Mord an Theo van Gogh am 2. November 2004 neu entstanden ist. Islamfeindlichkeit ist ein historischer Makel, der sich seit Jahrhunderten tief in die europäische Seele eingebrannt und bis in unsere Tage sein hässliches Gesicht nie wirklich verloren hat. Die beiden Stichtage im Herbst 2001 und 2004 haben letztlich nur eine Stimmung revitalisiert, die in der Geschichte zahlreiche Marksteine hat. Die bekanntesten sind die Kreuzzüge und die Türkenkriege. Sie haben allerlei Hasstiraden auf
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Muslime hervorgerufen. Die so entstanden Vorurteile wurden im Laufe der Zeit durch die Theologie und die Literatur bis in die Gegenwart fortgetragen. Bernard von Clairvaux predigte den Krieg gegen die Muslime, der heilige Franz von Assisi ihre Mission. Petrus Venerabilis, der Abt von Cluny, sah im Islam gar ein tödliches Virus, das bereits den halben Erdkreis infiziert habe, wie er im Prolog zu Contra sectam Saracenorum, seinem Traktat gegen die Sekte der Sarrazenen, zu Papier bringt. Papst Innozenz III. mutmaßte in einem Kreuzzugsaufruf von 1213, dass die Herrschaft des Propheten Muhammad bald untergehen werde. Muhammad sei das in den Johannes-Offenbarungen erwähnte „Tier der Apokalypse“, das bekanntlich die Zahl 666 kennzeichne. In Jahren gerechnet werde der Islam dementsprechend lang existieren, behauptete der Papst und schlussfolgerte, diese Zeit müsste also noch vor Ende des 13. Jahrhunderts ablaufen. Auch Martin Luther sah 300 Jahre später in Muhammad den Antichristen. Der Reformator ließ sich vor dem Hintergrund der Eroberungen osmanischer Heerscharen in Ungarn besonders reichhaltig über den Islam und seinen Stifter aus. In seiner Vermahnung zum Gebet wider den Tuerken 1541 heißt es etwa: „…wir wollen […] gedencken zu wehren dem Tuerken, das er seinen Teuffelsdreck und lesterlichen Mahmet nicht an unsers lieben HErrn Jesu Christi stat setze.“ Ein Jahr später berichtet Luther in einem Brief an den Rat zu Basel hinsichtlich des Koran, „wie gar ein verflucht, schendlich, verzweivelt buch es sey, voller lugen, fabeln und aller grewel.“ 1543 findet sein Zorn im Traktat Von den letzten Worten Davids weiteren Niederschlag, indem er über Muhammad festhält: „[I]m Hurnbette […] hat er am meisten studirt, wie er sich rhuemet, der schendliche unflat.“ Das erste vollständige Druckwerk Gutenbergs war bezeichnender Weise keine Bibel, sondern ein so genannter Türkenkalender, der zum Kampf gegen die Osmanen/Muslime aufrief. Begleitet wird die religiöse Auseinandersetzung mit dem Islam in Europa durch die Literaturgeschichte. Dante Alighieri sah in Muhammad den ewigen Höllenbewohner, der unsäglichen Qualen ausgesetzt ist. Ein weiterer ‚Meilenstein‘ der antimuslimischen Literaturgeschichte in Europa ist Ende des 17. Jahrhunderts Humphrey Prideaux’ Die wahre Natur des Betrugs. Vollständig veranschaulicht am Leben Muhammads. Das damals weit verbreitete Werk war eine der Hauptquellen für den französischen Aufklärer Voltaire, der die Überzeugung vertrat, dass der gesunde Menschenverstand bei jeder Seite erbebe, die man im Koran, jenem unverdaulichen Buch, umschlage, und dass Muhammad nichts weiter sei als ein Tartuffe mit dem Säbel in der Hand. Das schrieb er jedenfalls 1740 an den „Alten Fritz“, Preußenkönig Friedrich II., dessen persönliche Bekanntschaft Voltaire nur drei Monate zuvor auf Schloss Moyland am Niederrhein gemacht hatte. Die genannten Personen sind nur einige derjenigen, die für bitterböse Vorbehalte in bestimmten historischen Zeiträumen gegenüber Muslimen stehen.
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Die Idee für den vorliegenden Sammelband entstand unter dem Eindruck, dass der Umgang mit Muslimen in einigen Teilen der deutschen Bevölkerung derzeit wieder stark rassisierende und menschenfeindliche Züge angenommen hat. Die aktuellen Debatten um den Islam und die Muslime in Deutschland, um deren Integrationsfähigkeit in die bundesdeutsche Gesellschaft und das politische System werden an vielen Stellen von Ideologien und Vorurteilen getragen. Ziel dieses Buches ist es, diese Strömungen unter wissenschaftlichen Vorzeichen aufzuspüren und zu dokumentieren. Die verschiedenen Autoren wollen aber auch zum Nachdenken anregen und haben sich in Historie und Gegenwart auf die Suche nach endogenen Erklärungsansätzen für die Auswüchse der neuen europäischen Islamfeindlichkeit in diesem Jahrzehnt begeben. Der geografische Bezugsraum für alle Beiträge ist Deutschland beziehungsweise Europa. Wie dieses Buch aufzuzeigen vermag, erledigt sich ein Großteil der hervorgebrachten Islamkritik von selbst. Viele Aspekte fallen durch das Raster, weil sie die Grenzen konstruktiver Kritik überschreiten, indem sie politischen Zielen dienen oder unsachlich sind. Oft steckt hinter der Kritik die wohlbekannte europäische Malaise im Umgang mit dem Islam, in der das von Psychologen, Soziologen und Ethnologen als existenziell bewertete Abgrenzungsbestreben von anderen Menschen zum Vorschein kommt, oder es geht schlicht um die Festigung europäischer/westlicher/christlich-abendländischer Interessen. Das Buch trägt dazu bei, die Debatte von dem Ballast zu befreien, der den Blick auf jene Aspekte des Islam und des Denkens mancher seiner Anhänger verstellt, die angesichts der Herausforderungen der Moderne tatsächlich einer Weiterentwicklung bedürfen. Das Buch hilft also, die unberechtigte von der berechtigten Kritik zu trennen, es liefert Anregungen für eine Versachlichung der öffentlichen Diskussionen und stellt ein Plädoyer für den Einzug der Vernunft in die Auseinandersetzungen um die Religion des Islam in Deutschland dar. Vor diesem Hintergrund wurde auch ein zweiter Sammelband erarbeitet, der sich gegen das andere Extrem richtet. Er trägt den Titel Islamverherrlichung – Wenn die Kritik zum Tabu wird und erscheint ebenfalls im Wiesbadener VS Verlag. Nicht zuletzt wegen der zahlreichen Anfeindungen verfolgen manche (vor allem konservative) Muslime in Deutschland eine bisweilen dogmatische Verteidigungshaltung, der zufolge jede Form von Kritik und jeder Ansatz von Wandel reflexartig abgelehnt wird. Während Band 1 einen Bogen vom europäischen Islamhass früherer Jahrhunderte bis zur heutigen Hetze im Cyberspace spannt, greift der zweite Band Aspekte islamischen Glaubens und islamischen Lebens heraus, die manche Gläubige einer kritischen Betrachtung am liebsten entziehen würden oder die von bestimmten Seiten bewusst oder unbewusst verklärt werden. Der zweite Teil legt folglich den Finger in die Wunden, indem er auf wichtige theologische Fragen und gesellschaftliche Missstände hinweist. Probleme, Streitpunkte oder Herausforderungen sollen offen und kritisch ange-
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sprochen werden. In der Fortführung des ersten Bandes zeigen die Beiträge ebenfalls einen Weg durch das Dickicht von Populismus, Polemik und Pauschalisierung. Zugleich bieten sie aber auch Muslimen Anregungen sowohl für eine Weiterentwicklung ihrer Glaubensgrundlagen als auch für eine Behebung der sozialen Defizite, von denen sie zwar jeweils nur zu einem gewissen Teil betroffen sind, deren bloße Existenz aber das Ansehen aller beeinflusst. Beide Bände beschreiten dabei einen im Wissenschaftsbetrieb eher steinigen und damit eher selten gegangenen Weg. Anders als oft vorgegeben, betrachten sie das Thema tatsächlich fächerübergreifend. Die Bände vereinen zusammen mehr als zwölf Wissenschaftsdisziplinen miteinander und helfen sich gegenseitig, über den Tellerrand hinauszuschauen. Inhaltlich wird das Thema aus historischer, islamwissenschaftlicher, theologischer, philosophischer, religionswissenschaftlicher, kulturwissenschaftlicher, sprachwissenschaftlicher, politologischer, soziologischer, rechtswissenschaftlicher, pädagogischer und psychologischer Perspektive in Augenschein genommen. Viele der hier versammelten Autoren gehören zu den führenden Vertretern ihres Faches im deutschsprachigen Raum und darüber hinaus. Die klare Sprache der Texte, die Aufmachung und die Mischung aus wissenschaftlichen Fachbeiträgen sowie essayistischen und feuilletonistischen Artikeln öffnen das Buch für ein breites Publikum. Der hier vorliegende erste Band ist in vier Kapitel aufgeteilt. Diese folgen dem Argumentationsstrang: Grundlagen – Belege – Beispiele. Kapitel I beschäftigt sich mit verschiedenen Fundamenten für islamfeindliches Verhalten in Deutschland. Es liefert Erklärungsansätze, wie einseitige und unreflektierte Islamkritik in unsere heutige Gesellschaft hinein gelangt ist. Kapitel II legt dar, dass Islamfeindlichkeit in Deutschland beziehungsweise in Europa einen realen Hintergrund hat und keine Einbildung ist, wie aus islamkritischen Kreisen mitunter verlautet. Die Beiträge zu diesem Kapitel liefern empirische Daten und weisen schlaglichtartig auf bestimmte Strukturen hin. Kapitel III und IV führen konkrete Beispiele für Fälle an, in denen die Grenzen der Kritik auf irgendeine Art verschwimmen oder die zum Zwecke anderer Ziele instrumentalisiert werden. Dabei orientiert sich Kapitel III an Institutionen oder Organisationen und Kapitel IV an einigen ausgewählten Einzelpersonen. Das Gesamtwerk wurde am Centrum für Religiöse Studien der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster erarbeitet und vom Vorstand dieser wissenschaftlichen Einrichtung finanziell gefördert. Beratend wirkten an der Konzeption unter anderem Prof. Dr. Assaad Elias Kattan, Prof. Dr. Muhammad Sven Kalisch und insbesondere Lamya Kaddor mit. Thorsten Gerald Schneiders Münster, 2009
Kapitel I: Ausgangspunkte islamfeindlichen Denkens in der deutschen Gesellschaft
Feindbild Islam – Historische und theologische Gründe einer europäischen Angst Thomas Naumann
Die öffentliche Wahrnehmung des Islam und islamischer Themen als „Kette von Problemfällen“ sorgt dafür, dass die Verunsicherungen und Ängste der Deutschen gegenüber der islamischen Religion deutlich zunehmen. Der islamistische Terrorismus verstärkt diesen Trend, bringt ihn aber nicht hervor. Waren es nach einer 1997 vom Fernsehsender „Arte“ durchgeführten Befragung noch 47 Prozent der Deutschen, die angaben, Angst vor dem Islam zu haben, so ergab eine Studie des Allensbacher Instituts von 2006, dass 80 Prozent der Befragten der Meinung sind, der Islam sei eine fanatische und gewalttätige Religion. Die neuesten empirischen Untersuchungen zum Islambild der Deutschen wurden jüngst von Heiner Bielefeldt dargestellt und im Hinblick auf notwendige Handlungsoptionen ausgewertet (siehe seinen Beitrag in diesem Buch). In den gegenwärtigen Verunsicherungen gerät etwas aus dem Blick, dass das problematische Verhältnis der Europäer gegenüber der islamischen Religion und islamischen Welt eine historische Tiefendimension hat, die auch dann unsere Wahrnehmung steuert, wenn sie nicht mehr bewusst ist. Fanatismus, Kriege und Gewalttaten im Namen der Religion kennen wir in Europa in unserer eigenen Vergangenheit zur Genüge. Es ist noch nicht so lange her, dass erbitterte Religionskriege im Namen des Christentums geführt wurden, und noch im Ersten Weltkrieg zogen Deutsche gegen Franzosen, jeder im Namen des christlichen Gottes, in den Kampf. Heute beurteilen wir solches gern als Missbrauch der christlichen Religion zu machtpolitischen Zwecken, als Widerspruch zur christlichen Botschaft der Nächstenliebe. Im Fall des Islam legen wir unwillkürlich andere Maßstäbe an. Gewalt im Namen Gottes – Fanatismus und Radikalität, Intoleranz gegen Andersgläubige, Unterdrückung der Frauen – das scheint nach altbewährtem europäischem Urteil geradezu zum Wesenskern der islamischen Religion zu gehören. Auch wer weder den Koran noch Muslime näher kennt, ist davon überzeugt, dass keine Religion so zur Gewalt gegen Andersgläubige ermuntert wie der Islam, dass keine Religion so grundsätzlich unfähig zur Toleranz gegenüber Andersgläubigen ist wie die Anhänger Allahs. Weder der Hinduismus noch der in Europa attraktive Buddhismus, weder der Shintoismus oder eine der vielen ethnischen Religionen auf der Welt setzen so viel angstbesetzte Emotio-
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nen frei wie der Islam. Die Gründe dafür liegen – anders als wir oft denken und empfinden – nicht in unserer Gegenwart. In einigen kurzen und knappen1 Streifzügen erinnere ich an historische und theologische Konstellationen, die dafür verantwortlich sind, dass der Islam als Religion und die islamischen Machtzentren in der europäischen Wahrnehmung stets als Gegenbilder zur eigenen Identität und christlicher Werte konstruiert wurden. Und vielleicht lässt sich so erkennen, dass es häufig die vorgefassten Meinungen sind, die es Völkern und Kulturen so schwer machen, einander zu verstehen, und die es ihnen so leicht machen, einander zu verachten. Denn vorgefasste Meinungen sind wie Brillen. Sie verengen den Blick, sie steuern die Wahrnehmungen. So sieht man nur das, was man sehen will, nur das, was das Vorurteil bestätigt und was man schon immer wusste. Auch deshalb sind vorgefasste Meinungen so „enttäuschungsfest“ stabil und so schwer zu verändern.
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Der Schock der islamischen Expansion im 7. Jahrhundert nach Christus
Zu Beginn des 4. Jahrhunderts n. Chr. war es der mittlerweile sich über dreihundert Jahre hinweg ausbreitenden Bewegung des Christentums gelungen, zur Staatsreligion des römischen Reiches zu werden. In den folgenden drei Jahrhunderten beschleunigte sich die weitgehende Christianisierung nahezu aller Teile der damals bekannten Welt. Zwar war die Christenheit in eine Vielfalt unterschiedlicher Kirchen und Lehrmeinungen zerfallen und in heftige dogmatische Auseinandersetzungen verwickelt. Und es gab auch gewalttätige Auseinandersetzung zwischen der lateinisch sprechenden Kirche des weströmischen Reiches und dem griechisch sprechenden oströmischen Machtbereich mit seinem Zentrum in Konstantinopel. Aber die Chronisten der Zeit sehen das Christentum theologisch und politisch auf einem weltgeschichtlichen Erfolgskurs. Sein exklusiver Anspruch, die einzige Heilswahrheit für alle Menschen zu besitzen, war gewissermaßen an den weltgeschichtlichen Realitäten ablesbar. Die Entstehung einer neuen Heilslehre durch den arabischen Kaufmann und Propheten Muhammad im teilweise christianisierten zentralarabischen Karawanenort Mekka am Anfang des 7. Jahrhunderts wurde von den Christen in den machtpolitischen Zentren zunächst kaum bemerkt. Die sich bildende muslimische Bewegung und ihre Kämpfe wurden als innerarabische Stammesfehden angesehen und als bedrohlicher Machtfaktor kaum wahrgenommen. Dann ging 1
Das Fragmentarische und Vergröbernde meiner Darstellung ist mir bewusst. Die Literaturhinweise laden zur vertiefenden Wahrnehmung ein. Vgl. etwa Colpe 1989; Hourani 1994; Hagemann 1999; Raeder 2001; Cardini 2000; Heine 2002.
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alles sehr schnell. Die Heere der byzantinischen Herrscher, im Dauerkampf mit den Persern geschwächt, wurden von den Muslimen in mehreren Schlachten besiegt, ebenso die der Perser. Dazu wurden Jerusalem und Damaskus eingenommen.2 Alsbald ging es weiter in Richtung Ägypten und Afrika, nach Norden in Richtung Konstantinopel und nach Osten. Einhundert Jahre nach der Entstehung der muslimischen Gemeinschaft in Mekka beherrschte die Dynastie der Omayyaden von Damaskus aus ein Weltreich, das in seinen Ausmaßen das größte der bisherigen Weltgeschichte war. 711 n. Chr. wurde der Indus erreicht, das Ende der Welt im Osten, und 719 n. Chr. wurde am westlichen Ende das Emirat in Cordoba in Südspanien eingerichtet, was die fast 800-jährige maurische Geschichte Spaniens einleitet. Nachdem sich das Christentum drei Jahrhunderte lang machtvoll ausgebreitet hatte, verlor es nun innerhalb weniger Jahrzehnte nahezu alle Gebiete, die als die Wiege der Christenheit zu bezeichnen sind, und in denen das Christentum tiefer verankert war als anderswo, nämlich Syrien und Palästina, das Zweistromland und Nordafrika.
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Abraham, Ismael und der Wüstensturm der Sarazenen
Die Geschwindigkeit der Expansion eines Gegners, den man bisher überhaupt nicht kannte, der aus der Wüste kam und in wenigen Jahrzehnten Herrscher eines Weltreichs wurde, war für die staatskirchliche Macht in Byzanz und Rom eine unvorstellbare Bedrohung – in machtpolitischer wie in theologischer Hinsicht. Die christlichen Chronisten begriffen diese muslimische Bewegung mit biblischen und theologischen Kategorien. Nach der Bibel gilt Ismael der erstgeborene Sohn des Patriarchen Abraham mit der ägyptischen Sklavin Hagar, als Stammvater der nordarabischen Völker, die wie Wildesel in der Wüste leben (Gen 16,12), während Isaak, der Sohn Saras, zum Stammvater der Juden avanciert. Im neutestamentlichen Galaterbrief findet sich eine Interpretation dieser Geschichte durch den Apostel Paulus, in der er feststellt, dass Gott mit seinem Segen und mit seinem Heil allein bei den Kindern Saras bleibt, während er Ismael, den Sohn der Sklavin, verworfen und von Gottes Heil ausgeschlossen habe (Gal 4,21-31). Im Licht dieser Deutungen verstand das Christentum die islamische Expansion als Sturm der Söhne Ismaels aus der Wüste auf das Bollwerk der Christenheit. In der biblischen Gestalt Ismaels und der Ismaeliten verband sich die Abscheu vor dem 2
632 n.Chr. – Tod Muhammads; Juli 634 – Sieg über die Byzantiner; 635 ergibt sich Damaskus; 636 – entscheidende Niederlage der Byzantiner am Jarmuk und die Expansion in Palästina; 638 kapituliert Jerusalem nach zweijähriger Belagerung; 639 – Beginn der Expansion in Ägypten und Nordafrika.
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von Gott verworfenen Abrahamsohn mit der Angst vor dem politisch übermächtigen Gegner. Aller Goldglanz und Weihrauchduft, den die Antike mit einem glücklichen Arabien (arabia felix) in Verbindung brachte, war dahin. Das bis heute unterschwellig wirksame Bild, das sich ein erschrecktes Abendland bereits im 7. und 8. Jahrhundert vom Islam und von den Arabern bildete, arbeitet sich an der Gestalt Ismaels ab und tröstet sich mit Paulus, wonach der Sohn der Sklavin Hagar und eben deshalb auch dessen islamische Nachfahren keinen Anteil am Gotteserbe habe.3 Und noch später, während der kriegerischen Auseinandersetzungen der Kreuzzüge, schöpfte man aus dem Bild der freien Herrin Sara und der unfreien Sklavin Hagar Motivation, Legitimation und Hoffnung. Interessant sind dabei die ethnischen Begriffe, welche die Christen ihren muslimischen Gegnern beilegten. Über das Selbstverständnis des Islam als Religion wusste man fast nichts und man vermied bewusst Bezeichnungen, die an eine Religion erinnern. Die Muslime werden Ismaeliten beziehungsweise Söhne Ismaels genannt oder Hagarenen – Nachkommen der Hagar.4 Die gängigste mittelalterlicher Bezeichnung aber ist „Sarazenen“. Der Begriff ist ursprünglich eine antike arabische Stammesbezeichnung ungewisser Herkunft. Da er aber lautlich auch an Abrahams Frau Sara erinnert, entwickelt der Kirchenvater Isidor von Sevilla gerade noch in vorislamischer Zeit den Gedanken, die Araber hätten sich diese Bezeichnung mit der Absicht zugelegt, um ihre Abstammung von Sara vorzutäuschen, wo sie doch richtiger von der Sklavin Hagar abstammen und daher Hagarenen (Agarenen) zu nennen seien.5 Die heute geläufige Angstvorstellung vom „Islam auf dem Vormarsch“ gibt es nicht erst seit der Revolution der iranischen Ayatollahs. Die VormarschMetapher ist fester Bestandteil bereits der alteuropäischen Wahrnehmung des Islam. Gleiches gilt für die Vorstellung vom sarazenischen Völkersturm aus der Wüste, die das europäische Bild von der Expansion des Islam schon seit Jahrhunderten prägt. Selbstverständlich taucht es auch im 16. Jahrhundert wieder auf, als die osmanischen Türken mit ihren Armeen tief nach Europa vordrangen. Die Angst vor dem Arabersturm begleitet auch die Kolonialgeschichte. Und wenn die U.S.-Amerikaner am Ende des 20. Jahrhunderts den zweiten Golfkrieg gegen den Diktator in Bagdad „Operation Wüstensturm“ nennen, dann klingt in der Kampfparole auch die alte Angst wieder an.
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Für diesen frühen Zeitraum detailliert aufgearbeitet von Rotter 1986; 1993; ferner Colpe 1989. Zur christlichen Wahrnehmung der islamischen Frühgeschichte vgl. die Quellen bei Crone/ Cook 1977 sowie Hoyland, 2001. Isidor konnte für seine eigenwillige Etymologie teilweise schon auf den Kirchenvater Hieronymus im 4. Jh. zurückgreifen.
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Mit dem Koran und dem Schwert gegen die Ungläubigen
Die europäische Geschichtsschreibung blieb bis ins 20. Jahrhundert von den Stereotypen eines aggressiven Islam bestimmt, dem es einzig darum ging, unter dem religiösen Diktat des „Heiligen Krieges“ den neuen Glauben mit Schwert und Zwang zu verbreiten. Wer nach den Wurzeln dieses Geschichtsbildes fahndet, landet alsbald bei dem einflussreichen englischen Historiker Edward Gibbon (1737-1794). Gibbon lehrte in Oxford und legte unter Benutzung der in Europa überlieferten lateinischen Quellen eine bis heute berühmte Darstellung der Frühgeschichte des Islam vor.6 Er beschreibt darin, wie „Mohammed, das Schwert in der einen, den Koran in der anderen Hand, seinen Thron über den Trümmern des Christentums und Roms“ errichtete.7 Historisch gesehen ist an dieser Aussage nahezu alles falsch, denn der Islam verbietet den Zwang in religiösen Dingen ausdrücklich, und sowohl Rom als auch das Christentum haben die islamische Expansion überlebt und Juden wie Christen lebten und leben in islamischen Mehrheitsgesellschaften bis heute. Aber Gibbons Formel ist ein Wort von elementarer Einprägsamkeit und mythischer Wucht, das die Angst nährt, und das sich wie kein anderes ins europäische Unterbewusstsein gesenkt hat. So ist es kein Wunder, dass diese Vorstellung noch bis in die 80er Jahre des 20. Jahrhunderts die Darstellung der islamischen Expansion in den deutschen Schulbüchern bestimmt hat: islamische Expansion gleich Glaubenszwang (siehe auch den Beitrag von Jonker in diesem Buch). Wie kommen die Historiker der frühen Neuzeit zu diesem Bild, kann man fragen? Sie konnten sich die Ausbreitung des Islam vermutlich nur nach den Analogien der christlichen Expansion vorstellen. Das 17. Jahrhundert hatte die äußerst gewaltsame christliche Rückeroberung des maurischen Spanien und die Christianisierung Lateinamerikas vor Augen. Es war die christliche Expansionspraxis, die den religiösen Minderheiten nicht selten allein die Wahl ließ zwischen Zwangstaufe, Auswanderung oder Tod. Das historisch wahrscheinliche Bild der rasanten muslimischen Expansion im 7. Jahrhundert sieht anders aus: Die Byzantiner hatten einen Teil der orientalischen Kirchen als Häretiker hart unterdrückt, und sie hatten die jüdische Minderheit mit Zwangsbekehrungen zum Christentum bedroht. Dadurch hatten sie 6
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„History of the Decline and Fall of the Roman Empire“, 6 Bde., 1776-87. Vgl. Lewis 1996: 170: „Gibbons Einfluß auf die westliche Wahrnehmung des Propheten und des Islam ... war enorm. Aus entlegenen und gelehrten Büchern, die auf lateinisch geschrieben und außerhalb der kleinen Welt von Klerikern und Gelehrten kaum bekannt waren, vermochte er ein Bild vom Propheten und vom Aufstieg des Islam zu geben, das klar, elegant und vor allem überzeugend war.“ So beginnt das Muhammad gewidmete 5. Kapitel im 3. Hauptteil. Zitiert in der Übersetzung von R. Scoos nach Edward Gibbon (2002): Der Sieg des Islam, Essen, S. 288 (Der Titel dieses modernen Nachdrucks ist so typisch wie aufschlussreich.)
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unfreiwillig die Voraussetzungen dafür geschaffen, dass ein nicht geringer Teil der Bevölkerung die muslimischen Heere als Befreier vom byzantinischen Joch dankbar begrüßte, oder zumindest den neuen Machthabern aufgeschlossen gegenüberstand (Dagron 1994: 71ff.; Troupeau 1994: 392ff.).8 Die islamische Religion selbst ermöglicht trotz verschiedener Kritikpunkte ein positives Verhältnis zur christlichen und zur jüdischen Religion, denn Muhammad, der selbst sehr viel Umgang mit Christen und Juden hatte, verstand sich selbst in der Reihe der jüdischen und christlichen Propheten und Offenbarungsträger von Abraham bis zu Jesus. Nach dem Koran gelten Juden und Christen nicht als Ungläubige, sondern als Besitzer von heiligen, geoffenbarten Schriften (Tora und Evangelium). Dieser Status schließt besondere Schutzrechte mit ein, welche den Christen und Juden unter muslimischer Oberherrschaft gegen die Zahlung einer besonderen Steuer zwar nicht gleiche Rechte wie den Muslimen zugestanden und Aufstiegsmöglichkeiten im Staat verwehrten, aber doch Rechtssicherheit und die freie Ausübung ihrer Religion ermöglichten. Aus diesem Grund sind christliche Kirchen und jüdische Gemeinden9 seit den frühesten Tagen des Islam selbstverständlicher Bestandteil islamisch beherrschter Staaten gewesen. Die islamische Expansion, so schrieb Albrecht Noth, Göttinger Orientalist und Spezialist für die islamische Frühgeschichte, ging nach einigen entscheidenden Schlachten deshalb so schnell vonstatten, weil die Araber die Fähigkeit besaßen, mit der mehrheitlich christlichen und jüdischen Bevölkerung der eroberten Gebiete variable und flexible Verträge zu schließen, die jenen oft mehr Schutz und weniger Steuern brachten, als sie dies unter byzantinischer Oberherrschaft kannten, und die ihnen darüber hinaus ermöglichten, ihre religiöse Eigenständigkeit zu bewahren (Noth 1991). Denn die muslimischen Eroberer verzichteten auf die Zerstörung der in Besitz genommenen Länder und schonten, wenn die Machtfrage geklärt war, in der Regel die dort verwurzelten Kulturen. Gewaltsame Bekehrungen zum Islam, wie die Zwangstaufen im Christentum, kennt die islamische Welt nicht, auch wenn es in späteren Jahrhunderten und in manchen Krisenzeiten islamischer Oberherrschaft auch zu teils schweren Unterdrückungen religiöser Minderheiten gekommen ist. Das noch gegenwärtig virulente Vorurteil, keine Religion lehne derart grundsätzlich Andersgläubige ab wie der Islam und mache einen echten Dialog über Kulturgrenzen hinweg unmöglich, hat weder Anhalt am theologischen Sys8 9
Zu den Lebensbedingungen der orientalischen Kirchen in den Einflussgebieten der islamischen Welt durch die Jahrhunderte vgl. auch Raeder 2001: 133ff. Zur Geschichte der Juden in der islamischen Welt vgl. Lewis 1987. Der gegenwärtig verbreitete Antisemitismus in bestimmten islamischen Milieus ist eine moderne Erscheinung und verdankt sich vorwiegend dem Palästina-Konflikt, vgl. Kiefer 2002.
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tem des Islam, trotz manchen sehr harten Aussagen gegen Ungläubige im Koran, noch hat es Anhalt an der historischen Realität der islamischen Expansion und imperialen Machtentfaltung in den islamisch geprägten Weltreichen. Auch hier entsteht wieder der Eindruck, dass in Europa die traditionelle christliche Vorstellung extra ecclesia nulla salus (außerhalb der Kirche kann es kein Heil geben), auf die islamische Religion projiziert worden ist. Auch die Vorstellung, dass die herrschende Religion den Landeskindern nur die Chance zwischen Konversion oder Flucht lässt, ist im christlichen Europa entstanden. Dies führt uns von der geschichtlichen noch einmal auf die theologische Ebene der Betrachtung zurück. Ein Problem des Christentums mit dem Islam liegt weniger darin, dass diese beiden Religionen einander so fremd sind, sondern darin, dass sie einander so ähnlich sind. Beide sind prophetische Offenbarungsreligionen in der jüdischen beziehungsweise jüdisch-christlichen Tradition, die sich mit Sonderoffenbarungen gegenüber ihrer Vorgängerreligion absetzen und einen universalen Geltungsanspruch formulieren.
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Die theologische Verwandtschaft und Vergleichbarkeit von Christentum und Islam
Nach seinem eigenen Selbstverständnis gehört der Prophet Muhammad in die Reihe der biblischen Propheten, die Gott zu den Menschen sandte, um sie wieder auf den rechten Weg des Glaubens zu bringen. Der Islam bestreitet nicht den Offenbarungswert der jüdischen Tora oder des christlichen Evangeliums, behauptet aber, dass die Offenbarungen im Koran gleichsam als ein neues Neues Testament sowohl die jüdische Tora als auch das christliche Evangelium überbieten und korrigieren. Die prophetischen Offenbarungen Muhammads, die im Koran niedergelegt sind, werden zudem als abschließend verstanden. Sie können nicht ihrerseits durch weitere neue prophetische Offenbarungen überboten werden. Denn Muhammad gilt zwar nicht als der erste, wohl aber als letzter der Propheten (das Siegel der Propheten), nach dem jeder weitere Prophet nur ein falscher sein kann. Dieser Anspruch Muhammads, dass erst in seinen Offenbarungen die jüdisch-christliche Heilsgeschichte ihren Höhepunkt erreicht hat, kollidiert mit dem Christentum, dass davon ausgeht, dass mit Jesus Christus die Heilsgeschichte und Gottes Plan mit der Welt ihr Ende erreicht hat, und dass jemand, der nach Jesus Christus mit abweichenden Lehren auftritt, kein echter Prophet sein kann. Anders als das Judentum oder auch die fernöstlichen Religionen verstehen sich Christentum und Islam als Heilslehren für alle Menschen, nicht nur für bestimmte Gruppen oder Regionen. Sie treten also beide mit einem konkurrierenden,
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universalen Wahrheitsanspruch auf, wobei der Islam sich als Korrektur und Überbietung der älteren christlichen Offenbarung versteht. Wer dies bedenkt, erkennt im theologischen Programm des Islam eine strukturelle theologische Demütigung für das Christentum. Sie besteht darin, dass der Islam die vertraute Heilsgeschichte sprengt und nun auf demselben universalen Wahrheitsspruch beharrt, den das Christentum für sich und seinen Christusglauben reklamiert. Ein wichtiger Unterschied besteht jedoch darin, dass der Islam als nachgeordnete Offenbarungsreligion dem Christentum als Vorläufer ein relatives Recht in seinem System einräumen konnte, während dies umgekehrt für das Christentum kaum oder doch nur sehr schwer möglich ist. Der Islam hat hier im Grunde ein vergleichbares Problem, weil auch er eine dem Koran nachgeordnete prophetische Offenbarung, sofern sie abweichende Haltungen vertritt, ablehnen muss.10 Von hier aus wird überdies verständlich, warum die mittelalterliche Christenheit den Islam theologisch nicht als Heidentum, sondern als eine christliche Irrlehre, als eine Häresie, begreift, die durch einen falschen Propheten in die Welt gesetzt wurde, um die Gemeinde in die Irre zu führen. Das Ganze gilt als umso verabscheuungswürdiger, da Muhammad gerade kein unwissender und daher unschuldiger Heide war, sondern die christliche Wahrheit kannte und doch eigentlich hätte akzeptieren können.11 Wir verstehen jetzt einen der inneren Gründe für die große propagandistische Anstrengung, welche im christlichen Europa über viele Jahrhunderte hin zur Diffamierung des Islam und seines Propheten unternommen wurde. Besonders die Gestalt Muhammads war Zielpunkt einer in der Religionsgeschichte vermutlich beispiellosen Gräuelpropaganda zur Diffamierung des ideologischen und politischen Gegners. Der arabische Prophet wurde im wahrsten Sinne des Wortes verteufelt, wobei „Teufel“, „Antichrist“ „Ketzer“, „Lügner“, „Heuchler“ zu den milderen Bezeichnungen gehörten, mit denen man ihn bedachte. Keine Sünde, keine moralische Verfehlung, keine sexuelle Abartigkeit, die man ihm nicht zugeschrieben hätte. Dies zieht sich durch viele Jahrhunderte. Auch die neuzeitliche europäische Geschichtsschreibung hat sich lange Zeit, das heißt noch während der Blüte der historischen Forschung im 19. Jahrhundert von diesen Negativklischees nur schwer lösen können, so dass sie uns in sublimierter Form auch
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Dies zeigt sich etwa in der Härte, mit der islamisch und prophetisch inspirierte Religionsformen wie Ba ’hais, Sikhs, Ahmadiyya von orthodoxen Sunniten und Schiiten abgelehnt werden. In einem Leserbrief der Siegener Zeitung las ich vor einiger Zeit: Christentum und Islam müssen sich unversöhnlich gegenüber stehen, denn „Muhammad führe die Menschen von Jesus Christus weg“. Und weil das so ist, nütze auch die größte Hochschätzung des Propheten Jesus im Koran nichts mehr. Hier spricht sich diese strukturelle Differenz in schlichten Sätzen aus.
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heute noch vielfältig begegnen, auch wenn sie aus den Untersuchungen mit wissenschaftlichem Anspruch im 20. Jahrhundert verschwunden sind.
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Islam und Europa – machtpolitische Gegnerschaft und Kulturkontakt
Das mittelalterliche Europa hatte im 8. bis 11. Jahrhundert insgesamt kaum Kontakt mit der islamischen Welt. Unter den arabischen Dynastien der Omayyaden und Abbassiden hatten es die muslimischen Kalifen geschafft, über fünf Jahrhunderte ein einzigartiges stabiles Großreich und Machtgebilde zu regieren, das große Teile der damals bekannten Welt umspannte, geeint durch die arabische Sprache und die Idee eines einzigen islamischen Gemeinwesens, das gleichwohl Raum für unterschiedliche Kulturen und Religionen bot. Dieser Raum blieb auch dann erhalten, als später im 14. Jahrhundert die türkischen Osmanen die arabischen Dynastien ablösten und wiederum eines der mächtigsten und langlebigsten Großreiche im Zeichen des Islam bildeten, das zwar bis 1924 formal bestand, aber unter dem Eindruck der Expansion Europas im 17. Jahrhundert den Zenit seiner Machtentfaltung überschritten hatte. Aber für ungefähr tausend Jahre war diese Welt unter islamischer Herrschaft nicht nur ein permanenter Angstgegner der einer solchen Weltmacht hoffnungslos unterlegenen europäischen Mächte, sondern zugleich der Motor der Weltzivilisation, der Wirtschaft und des Handels, der Künste und der Wissenschaft. Europa verdankt dieser Epoche und diesem Kulturraum erheblich mehr als es sich heute eingesteht: Durch Muslime lernte man die Schriften der griechischem Philosophen, Mediziner und Mathematiker kennen, die vielfach nur in den arabischen Bibliotheken zu finden waren, und die in der arabischen und persischen Philosophie breit rezipiert wurden. Durch arabische Mathematiker vermittelt, lernte Europa zum Beispiel die Logarithmen kennen oder die Null, eine Errungenschaft der indischen Mathematik, die es viel leichter machte, schwierige Rechenoperationen durchzuführen. Dazu kamen Wissenschaften wie Astronomie oder Medizin. Auch die Erkenntnis, dass man Kranke in speziellen Häusern pflegen und heilen kann und nicht einfach in Siechhäusern sterben lassen muss, kam aus dem arabischen Orient, dazu empirische Verfahren in der Wissenschaft, die soziologische Analyse von Gesellschaftssystemen,12 Kunst und Architektur und natürlich die Luxusgüter der weiten Welt: Weihrauch aus 12
Als einer der Väter der Soziologie kann der arabische Historiker und Geschichtsphilosoph Ibn Chaldun (1332-1406) aus Nordafrika gelten. Sein originellstes Werk ist die Einleitung (arab. muqaddima) zu seiner Universalgeschichte, in der er die Methodik zur Erfassung sozialer Erscheinungen in einer Weise beschreibt, die weit über die bis dahin gepflegten historiographischen Verfahren hinausgehen.
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Arabien, Gewürze aus Indien, Papier aus China, Edelsteine und Gold aus dem Kaukasus, dies alles und noch mehr bekam das christliche Europa von der islamischen Welt vermittelt. Mit dieser Welt kamen die Europäer mit zahlenmäßig größeren Kontingenten erstmals in der Zeit der Kreuzzüge in Kontakt. Der Begriff „Kreuzzug“ wird in den Diskussionen der Gegenwart gern symbolisch aufgeladen: 1. Denjenigen Europäern, die daran gewöhnt sind, sich ihrer Geschichte zu schämen, gelten die Kreuzzüge als eine Vorübung für den späteren Imperialismus der westlichen Welt oder als mutwillige und raubgierige Aggression der damaligen europäischen Mächte gegen die muslimischen – oder, wie manche heute sagen würden, arabischen – Länder. Diese Version wird auch in der modernen arabischen Welt gern in Kreisen wiederholt, die sich bevorzugt als Opfer geschichtlicher Prozesse betrachten. 2. Für das europäische Selbstverständnis in der Neuzeit ist eine andere Perspektive bestimmend geworden, die sich wiederum bis ins 18. Jahrhundert und zu dem schon erwähnten englischen Historiker Edward Gibbon zurückverfolgen lässt. Nach Gibbon sind die Kreuzzüge Ausdruck eines großen weltgeschichtlichen Streits zwischen Christentum und Islam, gewissermaßen ein Kampf auf Leben und Tod an der zentralen Konfliktachse der beiden benachbarten Weltkulturen. Das klingt schon im 18. Jahrhundert nach Samuel Huntington. Aber dieser Mythos vom großen Streit zwischen Christentum und Islam, darin sind sich die Historikerinnen und Historiker heute einig, ist eine neuzeitliche Erfindung Europas. Die zeitgenössischen Quellen vermitteln ein ganz anderes Bild: Aus christlich-europäischer Sicht waren die Kreuzzüge keine Heiligen Kriege zum Kampf gegen die islamische Welt und Religion, sondern religiös motivierte, bewaffnete Pilgerfahrten nach Palästina, mit dem Ziel, die heiligen Stätten der Herrschaft der Sarazenen zu entreißen und wieder christlicher Herrschaft zu unterstellen. Wer die zahlreichen arabischen zeitgenössischen Quellen durchmustert,13 bekommt dazu noch ein anderes Bild: Die Araber haben die religiöse Komponente dieser Kämpfe überhaupt nicht bemerkt. Sie kämpften wie gewohnt gegen den alten byzantinischen Feind an den Grenzen des Reiches, neben dem nun einige Hilfstruppen auftauchten, die sich Franken nannten, und die aus einem den Arabern völlig unbekannten Winkel der Welt kamen. Die Zeit der Kreuzzüge (1098-1291) darf man sich überdies nicht als einen permanenten Kriegszug vorstellen (Mayer 2000). Mindestens in den langen Zeiten der Waffenruhe war sie eine Zeit, in der an der syrisch-palästinischen Levante ein intensiver Kulturkontakt gepflegt wurde, der sich für die Europäer später als außerordentlich fruchtbar erweisen sollte. Mit unverhohlenem Staunen und 13
Deutschsprachige Ausgaben arabischer Quellen bei Gabrieli 1974; Maalouf 1996.
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Bewunderung begegneten die Franken den Leistungen der arabisch-islamischen Zivilisation und wurden ihrer eigen kulturellen Unterentwicklung gewahr. Und auch die muslimische Strenge in der religiösen Lebensführung (Beten, Fasten, wallfahren) findet lobende Erwähnung. Und selbst der eigentliche Kreuzzugsgedanke, nämlich das Grab Christi und die anderen heiligen Stätten nicht den Ungläubigen zu überlassen, verwandelte sich nicht selten in die Achtung vor der Haltung und Gesinnung der Andersgläubigen und in ganz pragmatische Lösungen bei der friedlichen Teilung der Heiligen Stätten.14 Eine Folgewirkung dieser Kreuzzüge war die Entdeckung des Orients und des gelebten Islam durch die Europäer, aber auch die Begegnung mit der islamischen Philosophie, und die zunehmende, aber zögerliche Entdeckung Europas durch die Araber. Nutznießer dieses Kulturkontakts waren die Händler, allen voran die aus Venedig. Nutznießer waren aber auch die Universitäten, allen voran diejenige in Paris.15 Weder die erste Renaissance des europäischen Denkens im 12. Jahrhundert noch die Renaissance der Künste in Italien im 15. und 16. Jahrhundert lässt sich ohne diese Kulturbegegnung mit der islamischen Welt verstehen. Im Abendland treten seit dem 12. Jahrhundert Gelehrte auf, die sich aus christlich-apologetischen Gründen für den Koran interessieren. 1143 erscheint die erste lateinische Übersetzung des Koran. Es gibt Dichter und Künstler, die nicht mehr bereit sind, die alten Klischees zu bedienen. Doch bleiben sie Ausnahmen, denn die kulturell und militärisch überlegenen islamischen Großreiche bleiben die politischen Angstgegner der Europäer, und besonders die türkischen Osmanen, die im 15. und 16. Jahrhundert größere Teile Südosteuropas besetzten und für viele Jahrzehnte ihrer Herrschaft unterwarfen. Die Schriften Martin Luthers angesichts der europäischen Türkengefahr – die Türken standen 1529 vor Wien – geben einen guten Einblick, wie die mittelalterlichen Stereotype in der aktuellen Situation weiter wirkten, aber auch modifiziert wurden.16 Martin Luther unterschied deutlich zwischen politischen und religiösen Aspekten der islamischen Herausforderung. In mehren Schriften unterstützte er den militärischen Abwehrkampf gegen die Türken. Allerdings sollte 14
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Vgl. einige Quellenbeispiele bei Colpe 1989: 17-20; darin der Hinweis auf den Vertrag von 1229 zwischen dem Sultan Malik al-Kamil und Kaiser Friedrich II., der zugleich König von Jerusalem war. Der Vertrag regelte die Aufteilung der Heiligen Stätten in Jerusalem auf Christen (Heiliges Grab) und Muslime (Felsendom und Tempelplatz) und die Freiheit der Pilgerfahrt. Vgl. Libera 2003, der auf S. 75-109 zeigt, dass sich die europäische Philosophie und die Geburt der europäischen Universitäten und des europäischen Denkens im 12. Jahrhundert der Begegnung mit der islamischen (Ibn Ruschd) und jüdischen Philosophie (Maimonides) und Denktradition verdankt. Zum Thema Luther und Islam vgl. die Überblicke von Hagemann 1999: 81-95; Raeder 2005: 224-231 und jetzt vor allem die umfassende Studie von Ehmann 2008 (mit ausführlicher Darstellung der Forschungsgeschichte und der verfügbaren Literatur).
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dieser Abwehrkampf nicht mehr im Namen des christlichen Glaubens als „Heiliger Krieg“ im Auftrag Gottes geführt werden, wie die mittelalterliche Kreuzzugspropaganda es wollte, sondern gemäß Luthers Unterscheidung von den beiden Reichen als politisches Projekt unter der Führung der weltlichen Macht des Kaisers verstanden werden. Ganz in biblisch-prophetischer Manier sah Martin Luther in dem Ansturm der Türken eine Strafe und Züchtigung Gottes, welche die Christen (besonders das römische Papsttum) durch ihre Undankbarkeit gegenüber dem Evangelium verdient hätten.17 Da die islamische Bedrohung aber von Gott selbst geschickt wurde, ist ihr allein militärisch nicht beizukommen, sondern nur durch Buße, Gebet und Erneuerung des christlichen Glaubens. Die konkrete und strenge Glaubenspraxis der Muslime, die selbst über die religiöse Praxis Jesu und seiner Jünger hinausging, beeindruckte Luther zunächst sehr und er sah sie turmhoch überlegen über die verfehlte Glaubenspraxis der römischen Kirche. Aber es fehlt gerade das (für Christen) Entscheidende, die Botschaft von Gottes freier Gnade, Rechtfertigung und Erlösung, die in der Auferstehung Jesu Christi gründet. So wird Luthers theologische Beurteilung und schließlich scharfe Ablehnung18 der islamischen Religion ganz vom Zentrum seines reformatorischen Denkens her entwickelt und zugespitzt unter dem Eindruck, in einer apokalyptischen Endzeit zu leben. Von diesem Zentrum aus aber rücken Islam, Judentum und Papsttum und alles, was es sonst noch außerhalb des wahren Evangeliums gibt, in die gleiche Linie – als Variationen des einen Unglaubens, der sich am deutlichsten aber im römischen Papsttum ausgebildet findet.
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Die Epoche der europäischen Expansion bis zum 20. Jahrhundert
Im Schatten der europäischen Auseinandersetzung mit dem Osmanenreich begann bereits im 16. und 17. Jahrhundert eine andere Epoche, die der europäischen Seefahrt. Erst dadurch wurde die europäische Expansion der folgenden 17
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Die Auseinandersetzungen der Reformationszeit zwischen Katholiken und Protestanten werden von den gegenseitigen Vorwürfen begleitet. Die jeweils andere Seite habe durch ihr Verhalten Gottes Zorn so sehr erregt, dass er die Türken als Geißel einer sündhaften Christenheit auf den Plan der Weltgeschichte gerufen hat. Dieses „geschichtstheologische“ Argument, das den Islam als Gottesplage nach der biblischen Analogie der „ägyptischen Plagen“ begreift, und kritisch gegen das sündhafte Christentum wendet, findet sich als „Lues Saracenorum“ (Sarazenenseuche) schon in europäischen Quellen des 8. Jahrhunderts, vgl. Rotter 1993: 53. Ähnlich wie Luthers Äußerungen über Juden und Judentum sind auch seine Auslassungen über den Islam und Muslime vor den besonderen historischen Voraussetzungen seines Denkens zu verstehen und haben für evangelische Christen in der Tradition Luthers keine normative Bedeutung. Vgl. etwa Wallmann 1986: 56: „Sie (die evangelische Christenheit) kann gar nicht entschieden genug allen Versuchen widerstehen, durch das Auskramen von Luthers zeitbedingten endzeitlichen Äußerungen über den Islam Angriffe auf die unter uns lebenden Moslems zu rechtfertigen“.
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Jahrhunderte möglich, und zwar unter Umgehung der Einflussgebiete des osmanischen Imperiums, wo die großen Handelswege zu Land nach Süden und Osten verliefen und kontrolliert werden konnten. Während Europa zur Weltmacht aufsteigt, während Russland in die islamisch geprägte Kaukasusregion und nach Mittelasien ausgreift, geht der weltpolitische Einfluss des islamischen Orients zunehmend zurück. Dadurch verändern sich die europäischen Perspektiven noch einmal. Theologische Vorurteile werden zunehmend durch politische, moralische oder geschichtsphilosophische Vorurteile ersetzt. Die Angst- und Bedrohungsmetaphorik tritt in den Hintergrund und macht der Gewissheit Platz, dass Europa dem Islam wie den anderen außereuropäischen Kulturen haushoch überlegen ist. Dies wirkt sich besonders auf die Wahrnehmung des Islam aus. Hierzu einige Beispiele: 1. Die politische Philosophie der frühen Neuzeit arbeitet seit Niccolò Machiavelli ihr Verständnis von den Gestaltungsmöglichkeiten des Staates und den Eigenschaften eines guten Fürsten an einem großen Gegenbild ab – der orientalischen Despotie. Diese wird verkörpert in der Gestalt des osmanischen Sultans, der als „Konstrukt des Anderen“ alles in sich vereint, wovor sich ein europäischer Herrscher hüten muss, wenn er ein guter Herrscher sein will. Einmütig gilt den Autoren der Zeit der Sultan als despotischer, launischer Autokrat, den kein Gesetz in der Willkür seiner Machtausübung einschränkt. Skrupellosigkeit, absolute Macht und hemmungslose sexuelle Ausschweifungen sind seine Kennzeichen und die Eigenschaften der Türken überhaupt. Es hat den Anschein, als habe das moderne Europa dieses Feindbild der osmanischen Türken zur Depotenzierung des mächtigen Gegners und zur inneren Konturierung und Selbstbestätigung gebraucht. Zwar haben Orientreisende und manche Autoren solchen Urteilen immer wieder entschieden widersprochen und zum Beispiel auch auf die religiöse Toleranz hingewiesen, welche die osmanischen Herrscher praktizierten, während in Europa Katholiken und Protestanten über einander herfielen. Weiter lobten die europäischen Reisenden die türkische Ehrlichkeit und Gastfreundschaft, die sie erlebt hatten. Aber bestimmend wurde dies nicht. Der jüdische Orientalist Bernard Lewis schreibt: „Bei den Fehlern und Lastern, die dem Türken [im 17. und 18. Jahrhundert] zugeschrieben wurden, standen zwei Themen im Vordergrund: Willkür der Machtausübung und hemmungslose sexuelle Lust. Diese Themen waren dermaßen verbreitet und die Begriffe, in denen sie in der Literatur wie in den bildenden Künsten artikuliert wurden, dermaßen kraß, daß man sich genötigt sieht, die Erklärung hierfür in der europäischen, nicht in der türkischen Psyche zu suchen. Immerhin haben wir Abendländer mehr als einmal unsere geheimsten Hoffnungen und Ängste auf fremde Völker projiziert.“ (Lewis 1996: 141)
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2. In der Epoche der Aufklärung zeigen sich erstmals deutlichere Ansätze, fremde Kulturen aus sich selbst heraus zu verstehen. Das Fremde, insbesondere der Orient, weckte Interesse, das sich jedoch häufig zwischen der Faszination am Exotischen und seiner Idealisierung sowie der Angst vor dem Befremdlichen bewegte. 3. Andererseits entwickelt sich seit dem späten 18. und frühem 19. Jahrhundert ein Fortschrittsglaube, der die Weltgeschichte in Stufen einteilt und das europäische Christentum als universal gedachte Vernunftreligion nun an die Spitze dieser Entwicklung zur Erziehung des Menschengeschlechts setzt. Die sich herausbildende Geschichtswissenschaft lernt nun auch die hohe Bedeutung der islamischen Zivilisation während des Mittelalters zu würdigen. Aber das sind tempi passati (vergangene Zeiten), die gewürdigt werden können, weil sie eben vorbei sind. Und vor dem bornierten Fortschrittsglauben der Zeit und den erkennbaren technologischen und wissenschaftlichen Errungenschaften, erscheint nun der gegenwärtige Orient als rückständige, träge Barbarei, als eine Kulturstufe, die die Europäer längst hinter sich gelassen haben. Erst jetzt ist eine europäische These möglich, die bis heute wiederholt wird, und die im Mittelalter völlig undenkbar war, dass nämlich der Islam als Religion verantwortlich ist für Armut, Despotismus und Unterentwicklung, während das Christentum als Quelle und Garant des wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Fortschritts erscheint. Der Philosoph Georg Friedrich Wilhelm Hegel bringt diesen Sachverhalt in seinen Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie, die er zwischen 1822 und 1830 gehalten hat, markant zum Ausdruck. Historisch kann er die besonderen Leistungen der Araber bei der Vermittlung der Wissenschaften und Künste und selbst die „freie, glänzende, tiefe Einbildungskraft“ (Hegel 1982: 27) der arabischen Philosophen würdigen. An anderer Stelle urteilt er über die weltgeschichtliche Rolle des Islam, indem er eine Verbindung zwischen dem Islam und der Französischen Revolution herstellt. Wie diese, so war der Islam ursprünglich die reinigende Revolution des Orients. Doch das Feuer des Fanatismus ist nun verbraucht und in lasterhafte Sinnlichkeit umgeschlagen. Im Europa des 19. Jahrhunderts, das sich auf dem Höhepunkt seiner technologischen und politischen Machtentfaltung befindet, das selbst das einstmals mächtige osmanische Reich nur noch als einen Schatten einstiger Größe kennt, ist man sich im Grunde darin einig, dass die Zeit des Islam weltgeschichtlich vorbei ist. Die Angst vor dem einst mächtigen Feind und vor dem theologischen Anspruch, die christliche Religion zu überbieten, schlägt um in eine europäische Geste herablassender Überlegenheit oder einfach in schlichte Verachtung. Diese selbstverständliche Herablassung ist auch ein Grundzug in den orientalischen Erzählungen und Romanen von Karl May, die im deutschsprachigen Raum eine enorme Breitenwirkung erzielten und das Orient- und Islambild nachhaltig prägten. Im Orient Karl Mays tritt der deutsche Held Kara Ben Nemsi als
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Kämpfer Christi den muslimischen Finsterlingen gegenüber, die vor allem durch ihre Verkommenheit und Gewalttätigkeit hervortreten. Sein islamischer Begleiter Hadschi Halef Omar ist dankbarer Adressat von Kara ben Nemsis religiösen Beweisführungen über die Überlegenheit des Christentums. Am Schluss der Erzählung „Mater Dolorosa“ (1892) bekennt er: „Sihdi, einst wollte ich dich zum Moslem machen, es ist das Gegenteil erfolgt. Auch ich glaube, daß das Kreuz mächtiger ist als Mohammed.“ Bei Karl May ist Kara ben Nemsi nicht bloß körperlich und waffentechnisch, sondern auch geistig unschlagbar. Er kennt den Koran besser als alle Muslime, die ihm begegnen. Wie in der mittelalterlichen Polemik ist Muhammad auch bei Karl May ein Gewaltmensch und Ketzer. Der Koran wird als Sammelsurium von christlichen, jüdischen und heidnischen Gedanken vorgestellt. Muslime sind bei Karl May oft brutal, rückständig und lasterhaft. Und sie sind Verlierer: Sie haben die schlechtere Bildung und die schlechteren Waffen. „Und kämt ihr zu Hunderttausenden, so hast du gar keine Ahnung, wie schnell wir mit euch aufräumen würden“, heißt es im den Schilderungen aus dem „Lande des Mahdi“. Auch wenn einem Teil der Karl-May-Forschung19 zuzugestehen ist, dass Karl Mays Kennzeichnung des Islam den gängigen populären Beschreibungen seiner Zeit entspricht, dass sein Orientbild teilweise auch dem Bedürfnis entspringt, in den „korrupten Beamten“ und „überheblichen Militärs“ und „bigotten, stumpfsinnigen Orientalen“ deutsche und christliche Missstände zu karikieren; und dass insbesondere der späte Karl May von einer Versöhnung der Religionen im Zeichen von „Liebe und Gerechtigkeit“ träumte, ist durch seine Romane die Geste der herablassenden Beurteilung des islamischen Orients außerordentlich verstärkt worden. In Karl Mays Orient-Phantasien kommen der theologische Absolutheitsanspruch des Christentums und der politisch-ökonomische Überlegenheitsanspruch Europas im 19. Jahrhundert zusammen. Der Letztere ist gewissermaßen die säkularisierte Form des Ersteren und lebt gegenwärtig vor allem im selbstverständlichen Führungsanspruch europäischer Errungenschaften und westlicher Werte fort. Heute ist viel von Integration und Begegnung der Kulturen die Rede. Aber im Grunde können wir uns beides nur so vorstellen, dass fremde Kulturen und Religionen unsere europäischen oder westlichen Werte übernehmen. Wir halten uns schon für tolerant, weil wir die Fremden einladen, so zu werden oder zu leben wie wir. Toleranz aber ist meines Erachtens etwas ganz anderes und hat mit dem Aushalten, dem Respektieren und der Achtung von kulturellen Unterschieden in einem gemeinsamen Rechtsraum zu tun.
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Die vielleicht zu einseitigen, kritischen Arbeiten von Hofmann/Vorbichler 1979 sowie Hörner 1993 sind in Arbeiten aus dem Umkreis der Karl-May-Gesellschaft kritisiert worden, die ihrerseits nicht frei von apologetischen Interessen sind, vgl. Bach 1981; Koch 2003: bes. 134-178.
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Gegenwärtige Herausforderungen
Die ‚Rückkehr des Islam‘ auf die weltpolitische Bühne ab den 70er Jahren des 20. Jahrhunderts, die ihre Ursache m.E. weniger im arabischen Ölreichtum als im Scheitern säkularer Befreiungsideologien im vorderen und mittleren Orient hat, trifft auf ein Europa, das schlecht darauf vorbereitet ist, der islamischen Religion und Kultur in ihren vielfältigen Ausprägungen auf Augenhöhe zu begegnen. Die verstärkte Präsenz von Muslimen in Deutschland und nicht zuletzt der islamistische Terrorismus haben alteuropäische Ängste und Feindbilder wieder an die Oberfläche gebracht. Vorurteile, auch wenn sie tief im kulturellen Gedächtnis verankert sind, sind jedoch keine archetypischen Unabänderlichkeiten, an die wir ewig gefesselt wären, sondern sie sind der Veränderung und dem Wandel unterworfen. Sie lassen sich bearbeiten, durch kritische Reflexion und durch Entmythologisierung, vor allem aber durch unvoreingenommene Begegnung mit Menschen muslimischen Glaubens. Und irgendwann verlieren sie ihre Bedeutung. Es gibt dafür auch positive Beispiele. So wurde der politische Begriff des „Erbfeindes“ in der europäischen Neuzeit am türkischen Osmanenreich entwickelt, bevor er auf europäische Mächte übertragen wurde. Noch vor hundert Jahren galt Frankreich als Erbfeind Deutschlands und kaum jemand konnte sich vorstellen, dass diese ‚ewige Feindschaft‘ jemals zu Ende sein könnte. Heute, nach 50 Jahren intensiver Begegnung beider Völker, spielt dieses alte Klischee nahezu keine Rolle mehr. In der Diskussion nach Vorträgen wird mir manchmal vorgeworfen, ich würde den Europäern einseitig die Schuld für das problematische Verhältnis zum Islam geben und die Muslime vorbehaltlos in Schutz nehmen. Das ist nicht meine Absicht. Ich habe hier nur den europäischen Anteil am Problem in den Blick genommen, der uns selbst betrifft. Feindbilder und Stereotypen auf islamischer Seite wären am besten von muslimischen Autorinnen und Autoren aufzuarbeiten.20 In der Bereitschaft und Fähigkeit, sich selbstkritisch mit der eigenen Vergangenheit und den sie tragenden Traditionen und Werten auseinander zu setzen, und sich nicht ein Vergangenheitsbild zu konstruieren, das dem eigenen Selbstbild schmeichelt und es durch ‚Feindbilder‘ stabilisiert, sehe ich eine besondere Verpflichtung. Wir werden mit unseren Islam-Ängsten besser umgehen und sie überwinden lernen, wenn wir ihre Ausprägungsformen und Genese kennen. Wer seinen eigenen Projektionen auf die Schliche kommt, wird frei, in der Begegnung mit Muslimen und in der Auseinandersetzung mit ‚islamischen Sachthemen‘ mit Genauigkeit und Sorgfalt zu agieren.
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Vgl. aus nichtmuslimischer Perspektive vorläufig Rotter 1993; Spuler-Stegemann/Schirrmacher 2004.
Feindbild Islam – Historische und theologische Gründe einer europäischen Angst
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Die älteste Karikatur Muhammads Antiislamische Propaganda in Kirchen als frühes Fundament der Islamfeindlichkeit
Claudio Lange
„Sie lehnen den Gedanken, dass die moderne Technik Angriffscharakter habe, ab. Aber sie hat ihn, und darum hat ihn auch die neuzeitliche Naturwissenschaft und Historie.“ Martin Heidegger, Brief vom 21. September 1949 an Karl Jaspers
1 Bis heute ist die Frage vom Beitrag islamischer Kulturen zur westeuropäischen Geschichte unbefriedigend beantwortet.1 Bei der Bestimmung der Bedeutung islamischer beziehungsweise arabischer Kultur für westeuropäische Philosophie, Naturwissenschaft, Kunst oder Poesie wird islamischen Kulturen, von Ausnahmen abgesehen, Eigenes, Neues, Kreatives ab- und die Rolle von einfachen „Vermittlern“ zwischen Weltepochen und -kulturen zugesprochen. Ich werde meine Zweifel und Einwände dagegen hier nicht vorbringen. Was ich zeigen will, ist die Bedeutung vom, seit der Entstehung des Islam angespannten, (grundsätzlich negativen) Verhältnis aller großen christlichen Staaten in Ost und West im Lichte einer revidierten kunstgeschichtlichen Konstruktion. Ein oft übermächtiger Islam hatte vor allem negativ prägenden Charakter für das Christentum, das bis heute darauf unter anderem mit irreführender pseudowissenschaftlicher Terminologie reagiert.2 Ich selbst habe einige zirkulierende Falschmünzen in meiner Arbeit ersetzt, und ich bin damit sicherlich noch nicht 1 2
Siehe dazu und auch für weitere Verweise auf die Aktualität einer solchen Revision: Belting 2008. Ein solches semantisches Durcheinander erschwert heute auch die Bewertung zeitgenössischer Phänomene. Bei der Ausstellung „Babylon“ im Pergamon-Museum Berlin taucht natürlich nicht auf, dass (die Hure) Babylon etwa für das antiislamische Spanien über Jahrhunderte Córdoba, die Hauptstadt des iberisch-islamischen Emirats beziehungsweise Kalifats, meinte. Am Mailänder Dom findet sich im Kontext weiterer Antiislamismen eine kleine Darstellung des Turms zu Babel als Inbegriff des Hochmuts (Todsünde Nr. 1) und des Islam. Das methodische Ausblenden jeder „islamischen Konnotation“ ist ein wichtiger Teil der westlichen antiislamischen Grundstruktur.
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am Ende. Zu den zahlreichen vorwissenschaftlichen Begriffen, deren Erfolg sich daraus herleitet, dass sie das Verständnis der heute wieder heiklen Sache des Verhältnisses von Islam und Christentum verschleiernd manipulieren,3 gehört auch der Begriff „Mittelalter“. Dieser Begriff, der eine Zeitperiode als eine Art Mittelding charakterisiert, entstammt der Feder eines unauffälligen deutschen Mönchs namens Keller, der seine Zeit (die Renaissance) als bevorstehende Wiederkunft Christi sah. „Mittelalter“4, der Name der einem ganzen Jahrtausend Bedeutung und Originalität absprechen sollte, avancierte in der westlichen Geschichtsschreibung bald zum pseudowissenschaftlichen Fachbegriff und verschleiert so bis heute genau die Periode, in der der Islam (für den Westen) die Hauptrolle spielte.5 So entsteht eine Art „christliche Wissenschaft“6, der es nicht gelingt, Anfang, Verlauf oder Ende des gemeinten Mittelalters zu definieren: Die Vorstellung vom „hohen“, „tiefen“ (dunklen, hellen?) Mittelalter sind pseudopoetisch, und der Begriff verschleiert damit Regressionen beziehungsweise Verwurzelungen der Aktualität hier und dort in jener Zeit. Juden-, Hexenverfolgung, Religions- und heilige Kriege (Revolutionen), Dogmen päpstlicher Unfehlbarkeit, Marias Himmelskönigtum, Jungfräulichkeit der Großmutter Christi wurzeln wie Nationalsozialismus und Faschismus samt der „mittelalterlichen“ Begriffe wie „3. Reich“, „Tausendjähriges Reich“, „SS-Orden“ usw.7 in eben jener Periode. Dabei gibt es keine bessere Definition einer Zäsur und für das Ende der Spätantike und den Beginn einer Zeit, die wohl der Begriff „Mittelalter“ meint und zugleich verschweigt, als das Erscheinen des Islam im 7. Jahrhundert. Mit ihm 3
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„Eroberung“ nennt der Westen die Ausrottung der amerikanischen Urbevölkerung, „Säuberung“ Stalins Morde wie das Massaker einst an der Bevölkerung Jerusalems 1099. Irreleitende Begriffe sind auch „Gotik“, „Kubismus“, „Chaos-Theorie“ et cetera Gotik war ein Schimpfwort Vasaris gegen einen „internationalen französischen Baustil“, Kubismus log den Ausbruch aus dem Eurozentrismus als ein „zurück zu Cezanne“ um; Chaos-Theorie meint eigentlich nur unerklärliche Ordnungen. Sprachliche Deformationen sollte man nicht unterschätzen. Im Wort „Mittelalter“ (eigentlich Mittelzeitalter) spiegelt sich wenig historische Realität wieder, weswegen nicht zufällig eine Vorstellung von Lebensabschnitt (Kindesalter, Greisenalter, Erwachsenenalter) durchscheint. Der Begriff „Mittelalter“ passt auffällig gut mit der von Freud so genannten (asexuellen) „Latenzzeit“ zusammen. Eine ganz andere sprachliche Abnormität betrifft „Antijudaismus, Antisemitismus, Antiislamismus“. In den Todeslagern der Nazis wurden bekanntlich die vom Tod Gezeichneten „Muselmänner“ genannt. Obwohl es dort kaum Muslime gab, waren sie offenbar „unbewusst“ mitgemeint. Es passt dazu, dass die Abkürzung „KZ“ für Konzentrationslager, eigentlich KL, besser auf Kreuzzug passt. Für die Geschichte von Byzanz oder Chinas spielt der Begriff „Mittelalter“ (oder „Renaissance“) keine Rolle. So relativ unvollkommen im Westen die Trennung von Kirche und Staat vollzogen wurde, so relativ unvollkommen ist hier die Trennung von Religion und Wissenschaft. Charles Chaplins Film Der Große Diktator hat das „Mittelalterliche“ im Nationalsozialismus erfasst. Theorien der „verspäteten Nation“, der „Inflation“ oder vom „Dolchstoß“ vermögen die mitwirkenden Regressionskräfte nicht zu erkennen.
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ihm ändern sich die Parameter, Byzanz kämpft nun statt gegen persische zorastrische Sassaniden gegen einen monotheistischen Islam.8 Der Begriff „Mittelalter“ verweigert dem Islam seine epochale Kraft,9 historische Tatsachen werden umsortiert zugunsten einer so gewöhnlich wie militanten antiislamischen Denkart.10 Es geht im Antiislamismus zu wie im Witz:11 „Eine wirkliche Wichtigkeit hat der Islam nicht, wer aber seine Wichtigkeit bestreitet, ist ein Feind des Westens.“ Die bloße Existenz des Islam ist der Skandal – angesichts der wiederholten Ausrottungsversprechen seitens der Christen. Geben wir also den scheinheiligen Begriff „Mittelalter“ auf und ersetzen ihn durch den operativeren Begriff eines „christlich-islamischen“ Zeitalters. Wir werden sehen, wie sich durch den Gebrauch adäquater Begriffe und Namen Entscheidendes erhellt.12 2 Ende der 80er Jahre des 20. Jahrhunderts begann ich über christliche Kirchenskulpturen zu forschen. Gegen tausend Einwände und aus Gründen, die ich hier nicht alle darlege, führte ich das Thema unter dem Titel „antiislamisches Europa“. Was ich vor 20 Jahren allerdings nicht wusste, war, dass es einen ausgewiesenen wissenschaftlichen Ansatz zur Erforschung des klar definierten Sachverhalts des westlichen Antiislamismus schon gab,13 ich meine das epochale und ins Deutsche nicht übersetzte Werk von Norman Daniel Islam and the West (1960). N. Daniel war der (West-)Zeit voraus. Ich selbst erfuhr von ihm erst um die Jahrtausendwende,14 als meine eigene Theorie allerdings längst feststand. Meine 8
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Dass das Jahr 622 sowohl den Sieg von Byzanz über die Sassaniden wie auch den Beginn des islamischen Kalenders (Muhammads Flucht von Mekka nach Medina) bezeichnet, legt – neben vielem anderen – vor allem nahe, dass 622 ein neues Zeitalter aufgeht – das christlichislamische. Siehe dazu auch Lange (2004). Der Islam ist bis heute nicht zu einer Sammlung archäologischer Fundstätten und philologischer Probleme zusammengeschlagen worden. Gerade bei der Lösung der Probleme des Westens wird er nicht zu ignorieren sein. Ein weiteres unbearbeitetes Forschungsfeld des Antiislamismus stellt das westliche Operngenre dar, in dem, ausgehend von Tassos Jerusaleme Liberata und Ariosts Orlando Furioso hunderte von antiislamischen Geschichten abgehandelt wurden – bis hin zu Parsifal. Skulpturen an Kirchen des 11. und 12. Jahrhunderts, die meine These des westlichen Antiislamismus ins Leben riefen, kann man auch als härteste, zotige „Muslimwitze“ bezeichnen. Ob und wann solch ein „christlich-islamisches Zeitalter“ zu Ende ging, wie seine Etappen aussahen, darüber lohnt es sich nachzudenken. Festhalten will ich, dass auch eine erhellende Wirkung eintritt, wenn der Begriff „romanisch“, der seinerseits der Feder eines französischen Kulturamateurs des 19. Jahrhunderts entstammt, durch „antiislamisch“ ersetzt wird. Dass Antisemitismus-Forschung nur sporadisch und ausnahmsweise auf „Antiislamisches“ stieß, macht das Ausmaß deutlich, in dem die Geschichtsschreibung revisionsbedürftig ist. Norman Daniel hat Nachfolger in der Antiislamismus-Forschung: Edward Said, Victor Tolan und Tomaz Mastnak.
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Forschungen über brutal obszöne Erscheinungen in sakraler Skulptur seit dem 11. Jahrhundert hatten mich gelehrt, weitgehend auf die üblichen christlichjüdischen Interpretationen bisheriger Geschichts- und Kunstwissenschaft verzichten zu müssen.15 Um 1990 definierte ich den Sinn christlicher Kirchenskulpturen um 1100 als „antiislamisch“. Unglücklicherweise aber gab es bis zum Anschlag 2001 auf das World Trade Center in New York gewissermaßen weder einen wirklich problematischen Islam noch einen, trotz Norman Daniel, problematischen Antiislamismus. Immer wieder waren es die auffällig irreführenden Namen wie „Romanik“, die von offizieller Wissenschaft unbelästigt einer militant christlichen (pseudo-) Wissenschaft massiv Vorschub leisteten und zu analytischer Impotenz einluden, die mich zur vorurteilslosen Betrachtung der Kirchenskulpturen zwangen. Die „romanische Renaissance“ im 11. Jahrhundert (nach Karolingern und Ottonen die dritte Wiedergeburt Europas – ?) wäre eine des Römischen gewesen, obwohl es gerade solche obszönen Skulpturen in Rom nie gegeben hat. Dass Kirchenportale den Namen Romanik rechtfertigen, da sie den römischen Halb- und Siegesbogen verwendeten, ist wahrlich kein Grund für einen Namen des Phänomens, das sich ja vorrangig auf die Wiederkehr des Bildhauerischen bezieht. Da in jenem Jahrhundert eine wunderbar neuartige (Liebes-)Dichtung im Westen entstand, die nicht auf römisch (Latein), sondern in südfranzösischer Umgangssprache (langue d’Oc) gesungen wurde,16 habe ich mich doch fragen müssen, was der Begriff „Romanik“ seinerseits verdecken beziehungsweise suggerieren will. Je mehr ich mich in die Skulpturen-Renaissance des 11. Jahrhunderts vertiefte, umso mehr, einmal abgesehen vom Kunsthandwerk im Dienste des Triumphalismus17, wurde ihre Originalität deutlich: Solches hatte es noch nirgend15
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Eine sehr unvollständige Liste der Ausnahmen von dieser Regel habe ich am Schluss von Der nackte Feind (2004) genannt. Weitere wissenschaftliche Gewährsmänner sind unter anderem Gómez Moreno und Torres Balbás. Die immer wieder abgewürgte Diskussion über arabisch-andalusische Ursprünge der südfranzösischen Troubadour-Lyrik soll mich hier nicht beschäftigen. Nicht alles was geschrieben ist, ist Literatur – ein banaler Satz. Doch genauso müsste einsehbar sein, dass nicht alles, was Bild ist, Kunst ist. Die Herstellung etwa von Sieges- und Triumphikonen darf aus vielen Gründen, die ich hier nicht anführen kann, eigentlich nicht Kunst genannt werden. Hätte man sich daran gehalten, gäbe es zum Beispiel die unsinnigen Begriffe „faschistische“ oder „stalinistische“ Kunst nicht. Der älteste Ursprung der als „Kunst“ fälschlich bezeichneter staatlich-triumphalistischer Bildmachwerke wie etwa gefesselte Kriegsgefangene (Ägypten), abgeschlagenen Köpfe oder von Löwen gefressene Besiegte (Babylonien, Ägypten), sie zertrampelnde Ritterpferde (Persien), Tribut entrichtende Unterworfene (Rom) oder Lasten tragenden Atlanten (Griechenland) ist bis heute nicht wissenschaftlich aufbereitet. Es handelt sich dabei, allgemein gesprochen, um dem jeweiligen Staat dienende Bildnisse. Ein Teil der Renaissance im 11. Jahrhundert verdankt sich solch triumphalistischem Bildhandwerk, sichtbar angebracht an den Gebäuden der einen heiligen Krieg führenden Kirche; kein Grund allerdings um hier, wie es immer wieder gerne geschieht, von persischen, ägyptischen, griechischen, babylonischen oder römi-
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wo gegeben, einen solchen Mut, eine solche Lust zum Bild. Dass an Kirchen so radikale, bedingungslose Bilder entstanden, in denen Abstoßendes, Erotisches, Obszönes und Pornografisches sich entfaltete, hatte andere Gründe, als eine Theorie einer angeblichen Renaissance Roms es behauptet. Es galt also die Bedeutung der einzelnen Bildnisse zu entziffern und es galt ihr Erscheinen im 11. Jahrhundert an sich zu erklären, beides hängt miteinander zusammen. Die allgemeinen historischen Voraussetzungen dafür sahen (Lange u.a. 1994, Lange 2004), zusammengefasst, folgendermaßen aus: In Spanien hatte sich die christliche Reconquista (Rückeroberung) seit dem 8. Jahrhundert vom nördlichen Galizien und Asturien aus Richtung Süden siegreich entfalten können.18 Im 11. Jahrhundert verwickelte sich das Kalifat Andalusien in einen internen Bürgerkrieg, der unter anderem zur Folge hatte, dass 1087 Toledo, die ehemalige Hauptstadt des Westgotenreiches, ohne Gegenwehr in christliche Hände fiel.19 Cluny dagegen, neben Santiago de Compostela das zweite Gehirn des Christentums im Westen, profitierte finanziell vom Erfolg der spanischen Reconquista, überwand die römische „Pornokratie“ (Gregorovius 1925, 1. Teil, S. 204ff.) und blockierte endgültig die kaiserlichen Ansprüche der Nordspanier.20 Cluny richtete den antiislamischen Gotteskrieg nach Osten. Ich behaupte, wie teilweise Tomaz Mastnak (2002), dass innere Befriedung und Flucht aus Verelendung weitere Motoren der französischen Kreuzzugsidee waren. Die Reorganisationsmaßnahmen im Inneren wurden durch den Kampf gegen den erfundenen, äußeren Feind Islam erleichtert.21 Es ging dabei um nichts weniger als um die Geburtsstunde des Westens: Die gregorianische Reform suchte unter ande-
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schen „Einflüssen“ zu sprechen. Die das tun, sehen vor Bäumen den Wald nicht, und sehen meist auch die Neuerungen dieser Kriegskunst gegenüber der triumphalistischen Tradition nicht. Die Ursprünge des spanischen Kampfes gegen die iberischen Muslime warten selbst auf eine neue Interpretation. Kurz nach der Niederlage von Navas de Tolosa 1212 und bis 1492 war Andalusien ein tributpflichtiger islamischer Reststaat auf der iberischen Halbinsel. Das über Jahrzehnte „pornokratische“ Rom war faktische Grundlage von bis heute immer gern übersehenen (dazu: A. Castro) Ansprüchen seitens des militant erfolgreichen antiislamischen Spanien, das galizische Santiago mit dem (angeblichen) Grab des Apostels Jakobs zu einem neuen Sitz des westlichen Kaisertums und zum apostolischen Sitz des Papstums zu machen. Dafür schuf das asturianische Königtum und die mozarabische Kirche die Legende, der Kriegsheilige und Maurentöter Santiago Matamoros sei nicht nur der Apostel Jakob der Ältere und Missionar in Spanien gewesen, sondern vor allem ein Zwillingsbruder Christi. Damit kam er in der Hierarchie über die römischen Märtyrer Peter und Paul zu stehen. Das erklärt auch die Nachhaltigkeit des heute noch amtierenden spanischen Nationalheiligen, zu dem so gern gepilgert und über den so erfolgreich gebestsellert wird. Im Zuge der cluniazensischen Veränderungen und Kreuzzüge wurden die alten spanischen Ansprüche bald entmachtet. Jakob, der antiislamische Kriegsheilige und Zwilling des Herrn wurde durch Cluny zur Touristenattraktion, zum Patron der Pilger und Ersatzdienstler. Der bewaffnete Wehrdienst ging jetzt nach Vorderasien. Der Begriff „Kreuzzug“ taucht bekanntlich später auf.
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rem gegen zum Teil heftigen Widerstand des Klerus und auch um den Preis des Bruches mit der griechisch-orthodoxen Kirche, das Zwangszölibat einzuführen, was ihr rechtlich 1139 gelang. Der Außenkrieg war da ein gutes Ventil. Man darf sich das damalige Westeuropa – verglichen mit Byzanz, Córdoba oder Bagdad – als eine Art Dritte Welt beziehungsweise eine „Schwellenwelt“ vorstellen, mit entsprechendem Elend, innerem Unfrieden, Hunger, Seuchen, Gewalttätigkeit. Die seit dem Ende des 10. Jahrhunderts an verschiedenen Orten von der Kirche eingeführte (göttliche) pax beziehungsweise treuga dei hatte die Entwicklung von Zivilgesellschaften im Westen theokratisch zu befördern versucht und die Massen tatsächlich begeistert. Doch ihre Maßnahmen waren spätestens um 1030 wirkungslos. Darauf tat Cluny, neben der Reform zur Zwangsvermönchung, Beichte und Abschaffung der Simonie (Ämterkauf), den zweiten Schritt zur inneren Befriedung: Cluny erfand den Kreuzzug nach Jerusalem als „bewaffnete Pilgerreise“, Verniedlichung für einen Angriffskrieg im Namen Gottes (deus le veult) gegen die Muslime.22 Die Heiligsprechung des Krieges gegen den Islam sah sich so als Fortsetzung der spanischen Reconquista, während Cluny die „unbewaffneten Pilgerreisen“ nach Santiago de Compostela installierte, Spanien touristisch und kommerziell entschädigte und die mozarabischen Ansprüche, ihre Kultur sowie ihren Ritus abschaffte und durch den römischen Ritus ersetzte. Der kriegerische Antiislamismus von Cluny ist eingebettet im Willen und in der Fähigkeit zu großen inneren theologischen, politisch-ökonomischen und sozialen Reformen. Dabei handelt es sich um keinen irgendwie gearteten Verteidigungskrieg, sondern („Gott will es“) um einen Krieg zur Erreichung einer neuen, inneren und äußeren Identität.23 Muslime gaben da nur den Sündenbock ab: An die Stelle des „gerechten“ Verteidigungskrieges war der Kriegswille Gottes getreten. Der bald heilig gesprochene Bernhard von Clairvaux24 wird wenige Jahrzehnte nach dem Massaker bei der Eroberung Jerusalems (1099) dies auf den Punkt 22
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Siehe auch oben. Im 20. Jahrhundert hat Victor Klemperer solche Verniedlichungen in seinem LTI festgehalten. Dass das Außen gewissermaßen auch Innen sein muss, zeigt sich etwa, wenn 1102 „ein Papst die ‚militia Christi’ als Zwangsinstrument gegen zu Ketzern erklärten Christen anwendet“ (Dinzelbacher 1998, S. 135). Dreißig Jahre später wird Papst Innozenz einen weiteren Kreuzzug gegen Christen ausrufen (ebd. S. 164). Damit waren die kommenden Massaker im Namen Gottes an christlichen Albigensern und Katharern im 13. Jahrhundert vorbereitet und die Todesstrafe gegen Häretiker legalisiert (1231). Kurz: 1088 begann mit Cluny III der Bau der größten Kirche der Christenheit, der durch die Reichtümer, die dem kastilischen König Alfonso VI. durch die Eroberung Toledos zugefallen waren, finanziert wurde. Byzanz durch die Kreuzzüge gegen die Muslime zu Hilfe zu eilen, ist reine Propagandalüge. Die Versuche im Westen, den Kreuzzug als Verteidigungs- und „gerechten Krieg“ hinzustellen, blieben relativ bescheiden. Bernhard von Clairvaux wurde heilig gesprochen, der große katholische Theologe und Menschenrechtler des 16. Jahrhunderts aber, Bartolomé de las Casas, über den ich 1972 promovierte, wurde bisher und trotz jahrelanger Lobbyarbeit nicht heilig gesprochen – kann aber noch kommen.
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bringen: Antiislamische Verbrechen gegen die Menschlichkeit sind legitim, da Muslime Teufel, Dämonen, „das an sich Böse“, unmissionierbar seien. Sie zu töten war daher nicht homicide (Mord), sondern malicide, Tod des Bösen.25 Es ging weder um Verteidigung noch um Zurückeroberung, sondern um die um Rom und Cluny neu vereinte Christenheit des Westens, die den Islam – außer an den Mittelmeerküsten – kaum kannte: ein Krieg im Namen Gottes, dessen Schauplätze „theologisch“ gerechtfertigt und tausende Kilometer weit weg lagen. So startete die französische Kirche in der ersten Hälfte des 11. Jahrhunderts ihre Mobilisierung durch Bilder zu einem neuartigen Krieg mittels neuartiger Steinbilder an Kapitellen, Portalen und Kragsteinen, eine bildliche Propaganda gegen Muslime, die erniedrigt, hassenswert, entmenscht, besiegbar, abscheulich, lebensunwert und lächerlich dargestellt wurden.26 Es gibt für diese Fülle und Radikalität der neuen Bilder viele und doch keine Vorbilder, und es gibt keine 25
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Mit Bernhard setzt die gelehrte Argumentation für den totalen heiligen Krieg ein: Dazu Mastnak (2002), z.B. S. 125. Bald nach der Bilderflut erschien dieser Bernhard von Clairvaux, ein zerstörerischer, selbstzerstörerischer adeliger Mönch, theoretischer Mystiker und mitreißender Schriftsteller. Bernhard wird die Bildskulpturen, die er als „deformis formositas ac formosa deformitas“ bezeichnet, nie verstehen. Dabei ist da ein deutlicher Zusammenhang zwischen der Drastik der antiislamischen Sprache und den obszönen Bildern, die beide die christliche Weltherrschaft aufbauen wollen durch „Unflat austilgen“ (Dinzelbacher 1998. 305). Für den opportunen Verteidiger „gottesmörderischer“ Juden, war gleichzeitig ein Lachen Sünde. Er war Wunderheiler, und sein „Ansatz zur Geschichte der Liebe („Die Braut sind wir“) war so bestürzend neu, wie der des ersten Trobadors, Wilhelm IX. von Aquitanien (1071-1127) oder der ältesten Tristandichtung“. (ebd., S. 178) Auf dem Hintergrund der Ideologie des verderbten Diesseits (inklusive der Kirche) werden ihm, dem „Feindbruder Abaelards“ (ebd., S. 227) irdische Belange aber dann doch wichtig: er leitet Kreuzzüge nach Palästina und gegen Slaven, natürlich „aus Liebe und Dankbarkeit“. Ich verweise hier ausführlicher auf Bernhard, weil man merkt, wie bis heute die Geschichtsschreibung weder ihm noch dem Zeitalter, um das es geht, gerecht wird. Dinzelbachers jüngstes weniger konsistentes als anregendes materialreiches Porträt des Bernhard zeigt einen der lautstärksten Propagandisten eines Völkermords an Muslimen, der gleichzeitig nichts von Bildern verstand oder wissen wollte und der alle Bilder muslimisch-zisterziensisch verbannte. Dinzelbacher zeigt den Hauptverantwortlichen für die Grundverfassung der Templer, wo kämpfender Ritteradel und christliches Mönchtum antiislamisch in eins schmelzen, um „die Söhne des Unglaubens […] auszurotten“. „Heiden“, schreibt Bernhard und meint die Muslime, „sind dämonengleich, und haben nichts, was als ‚fides’, Glaube, gelten könnte“ (ebd., S. 118). So wird man nur durch genaues Ansehen der Kirchenskulpturen die gemeinten „Dämonen“ eruieren. Der Totalitarismus findet sich allerdings in Bild und Diskurs des Antiislamismus und ist einfach zu erkennen. Wichtiger für die Frage nach Bernhards Einschätzung der offenbar immens feigen Muslime ist deren Gleichsetzung mit Tieren – damit ist ihre Schlachtung auf eine andere, untermenschliche Ebene verlegt (ebd., S. 121). „Muslimwitze“ kamen sicherlich auch aus dem spanischen Volksmund nach Frankreich, um dort zu Bildern zu werden. Die spanische Kunsthistorikerin Inés Monteira unterstützt diesbezügliche Überlegungen und erklärt den Erfolg der agitatorischen Skulptur an spanischen Kirchen damit, dass es in Spanien auch immer eine starke Neigung zu Kriegsunlust und modi vivendi mit den Muslimen gab. Dem hätten die Bilder entgegenarbeitet. Siehe dazu die Akten des CSIC-Kongresses vom März 2007: „An den Rand gedrängt – Marginalität in der mittelalterlichen Kultur“.
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andere Erklärung, als sie als Teil eines neuartigen, umfassenden heiligen Krieges im Namen Christi und der Jungfrau Maria zu verstehen, der zugleich einer Kulturrevolution gleichkommt, die alle Medien (Musik, Poesie, Handel, Architektur, Skulptur) verändern sollte.
3 Anfang der 90er Jahre hatte ich gegen die geltende Fachliteratur die Überzeugung gewonnen: Der unübersehbare antiislamische Triumphalismus war das unbestreitbare Movens der Steingestalten an Kirchen ab dem 11. und 12. Jahrhundert. Nur, die bisherigen Studien zum Antiislamismus bei Norman Daniel und Nachfolgern (Edward Said, Victor Tolan und Tomaz Mastnak) richteten ihr wissenschaftliches Augenmerk ausschließlich auf Texte, in denen sich das negative Verhältnis der Christen zum Islam artikuliert.27 Meine These, dass die neuen Bildnisse nicht nur Antiislamismus transportieren, sondern auch aus Antiislamismus entstanden, hat somit keinen, zumindest keinen direkten Rückhalt bei der wissenschaftlichen Tradition, die Daniel begründete.28 Dennoch verdanke ich der auf Texte bezogenen Antiislamismus-Forschung gewisse Antworten und Orientierungen in eigenen ikonologischen Fragen. Einen solchen Fall will ich hier vorführen und an der Figur des „Akrobaten“ erläutern.29 Einer der Eckpunkte meiner Theorie ist die These, dass sich die seit 1020 an Kirchen30 erscheinenden Steinfiguren nicht den inneren Feinden (Sünden, Dämonen), sondern dem äußeren Feind (Islam) zuwenden. Daher gerät meine These in Widersprüche angesichts von Figuren, die man nicht als bildnerische Ausnahmen oder Nebendiskurse, die es immer gibt, wird verorten können. Das ist zum Beispiel der Fall bei der allgegenwärtig erscheinenden Figur des so genannten Akrobaten, eine körperlich sich verrenkende Figur. Diese erscheint schon im 9. Jahrhundert am Portal der militant antiislamischen nordspanischen Kirche von San Miguel de Lillo, dann wieder im frühen 11. Jahrhundert in unfertigen und 27
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Für meine Fragestellung ist die Tatsache bedauerlich, dass die in Texten erhaltenen extrem pornographischen oder phantastischen christlichen Vorstellungen über den Islam bisher für die Forschung keine Rolle spielten. Es gibt (vermutlich) keine negativ-extreme Umschreibung des Islam, die nicht Steinbild einer Kirche geworden ist. Dabei waren entscheidende Zusammenhänge zwischen christlicher Kunst und politischen und staatlichen Interessen dank der Untersuchungen Andre Grabars längst bekannt. Schon den allerersten „Akrobaten“, also den am Portal von San Miguel de Lillo (Asturien) aus dem 9. Jahrhundert würde ich als Urknall der Muhammad-Karikaturen sehen. Doch das gehört in meine ausstehende Neuinterpretation der Geschichte des nordspanischen Widerstands gegen den Islam. An Kapitellen der Krypta der Kathedrale von Dijon, etwas später am Vorbau von St. Benoît sur Loire, beide Frankreich.
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fertigen Kapitellen der Krypta von San Benigne in Dijon.31 Schließlich fehlt der Akrobat auch nicht an einem Kapitell des Vorbaus von Saint Benoît sur Loire. Bis mindestens 118732 finden sich an den meisten Kirchen diese männlichen oder weiblichen Figuren, die ihre Körper verrenken. Nun ist ganz sicherlich der Akrobat ein Feind des mönchischen Verhaltenscodes, Allegorie leiblicher Sünden, eine Randgestalt aus der Gemeinde, die das Gegenteil von Zurückhaltung und Diskretion praktiziert, nämlich Exhibition und Leiblichkeit. Die Figur des Akrobaten ist so eine Grundfeste der üblichen Bildinterpretationen, die in den Kirchenskulpturen, von der bildhaften Heilsgeschichte abgesehen, eine Kritik an Sünden und unerwünschten Verhaltensweisen sehen wollen und zugleich einen Anstoß zum tugendhaften christlichen Leben. Doch die Ungereimtheiten auf der Seite dieser gängigen Interpretation sind gleichfalls vorhanden. Ich muss daher, um später wieder auf den Akrobaten zurückzukommen, auf einige dieser Ungereimtheiten eingehen.33 Die übliche Hermeneutik der frühen steinernen Kirchenfiguren klassifiziert sie grob in erzählende (historiés) und ornamentale Bilder. Zweierlei soll hier dazu gesagt werden(Lange 2004): 1.
Die Bilder in erzählenden Kapitellen (chapiteaux historiés) erweisen sich bei genauerem Hinschauen meistens als „inszeniert“. Es erscheinen da figürliche Merkmale, die den Fluss von Text zu Bild unterbrechen. Die Bildererzählung macht dadurch deutlich, dass sie nicht als bloße Illustration eines Textes gesehen werden will. Das Bild weicht vielmehr humoristisch oder zotig von seiner Textvorlage ab. Das geschieht weder zufällig noch sporadisch, vielmehr regelmäßig und absichtlich. Auch verdankt es sich nicht der gern bemühten Unfähigkeit oder Ignoranz der Bildhauer: Die angeblichen „Steinmetze“ hat man heute oft genug als Künstler anzusehen.34 Die Abweichungen vom Text
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Der Volksmund beziehungsweise der Kirchendiener, der unseren Besuch der Krypta von Dijon 1990 beaufsichtigt hatte, nannte diese Figuren unaufgefordert „betende Muslime“. 1187 fällt Jerusalem, seit 1099 in Hand der Kreuzfahrer, wieder in die Hand der Muslime. Diese Niederlage im Krieg im Namen Gottes ist ein völlig unterbewertetes, ein entscheidendes Ereignis im Werdegang des Westens, das ihn auch ideologisch umkrempeln wird. Zumindest in der bildenden Kunst wird daraufhin erstmalig ein leidender Christus erscheinen: Die Gotik wird nun mit ihren Kreuzzügen gegen Juden und/oder gegen andere Christen beginnen. Eine entscheidende Differenz zwischen der alten und meiner Bildwissenschaft ist die inzwischen allgemein zugegebene Tatsache, dass die steinernen Bildnisse jener Zeit nicht, wie bis vor kurzem angenommen, folkloristisch anonym, sondern eben signiert sind. Man kennt mehr als 500 Signaturen von Bildhauern, die bis vor vierzig Jahren als „Steinmetze“ gehandelt wurden. Die Bildhauer- und Architektensignaturen sind älter als die von Musikern oder Malern. Das unterstreicht den avantgardistischen und bewusst kreativen Charakter der Skulptur jener Zeit. Die sich zumindest selbst als solche sahen. Sie schafften neue Bilder eines bewegenden Antiislamismus, die, wenn sie Anklang fanden, alsbald an anderen Kirchen nachgemacht wurden.
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schafften einen gewissen Raum. Und in dieser Differenz zwischen Bild und Text nistet mal mehr, mal weniger deutlich die antiislamische Information, Grund und Begründung für die Anwesenheit solcher Bildererzählung. Diese Inszenierungen sind unübersehbar und häufig genial.35 Und der Widerspruch zwischen erzählenden und agitierenden Bildern neigt sich auch bei dieser Art von Bild gegen Null. Ähnlich verhält es sich mit dem Ornament.36 Das so ästhetisch scheinheilig daherkommende Ornamentale damaliger christlicher Kunst enthält deutlich messbare Hinweise und Spuren des Antiislamischen. Nachweislich sind es dieselben christlichen Bildhauer, die pseudo-islamisches Ornament und antiislamische Figürlichkeit hervorbringen (San Pedro de Cervatos). Korinthischen Kapitelle in Saint Benoît sur Loire, Hufeisenbögen oder andere abstrakte Muster (Schachbrett), Kragsteine verweisen zumindest semantisch (wenn auch nicht immer akkurat kunsthistorisch) etwa auf die Moschee und Paläste von Córdoba,37 ein Inbegriff des mächtigen Islam. Kopien und Zitate an christlichen Kirchen (Cluny) machten sie zu einem Steinbruch des Trophäalen. Das „fremdstämmig“ Ornamentale, gemeinhin nach Herkunft klassifiziert (arabisch, persisch et cetera) verdankt sich vorrangig nicht, wie durchweg behauptet, irgendeinem unerklärlichen ästhetischen „Einfluss“, sondern folgt dem trophäalen Ideengut im Kontext des heiligen Kriegs gegen den Islam, der eben gern als Babel, Córdoba oder Persien konnotiert wird.38 Die Idee vom „Einfluss“ ist unter Bedingungen eines totalen antiislamischen Krieges nicht nachvollziehbar. Sie ist vielmehr absurd und gehört zu der Sorte Begriffe, die irreführen sollen. Auch das Ornamentale dient wie alle anderen Bilder in der Regel dem heiligen Krieg: Wer im Krieg Gottes trophäal Ornamentales vorzeigt, ist äußerst geeignet, ins Paradies zu kommen.39 Klassische Beispiele für die „bild-inszenatorische“ Differenz zum heiligen Urtext sind die drei Weisen aus dem Morgenland. Sie mutierten schon in frühbyzantinischer Zeit zu drei Königen, deren Aufgabe im Bild es war (wie das Andre Grabar (1967) meisterhaft zeigt) einen Sieg über die Perser, ihre Unterwerfung unter die christliche Herrschaft (Maria mit dem Kind) zu präsentieren. Wie sich dann diese Bildversion (Könige) gegen den ursprünglichen Text entfaltet hat, zeigt die Macht und das Autonomiestreben von (ursprünglich politischen) Bildern. Die Kunstgeschichte arbeitet heute noch an einer Erklärung, weshalb das Ornament sozusagen einen Freipass in die Welt des Körpers und des Sakralen besitzt. Das kann hier nicht weiter verfolgt werden. Man kann getrost davon ausgehen, dass alles, was bisher aus so genanntem „islamischen Einfluss“ in die damalige Kirchenkunst Einlass fand, wegen seines trophäalen Charakters da ist – das gilt für Frómista und Cervatos in Spanien wie für Maillezais in Frankreich. Alles andere ist schizophren. Wer wird einen heiligen Krieg gegen, sagen wir, Chinesen führen durch Aufführung von Szenen der Peking Oper – es sei denn in trophäaler Semantik, die besagen würde, wir können das so gut wie die.
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Keine dieser Bildarten, ob nun historié oder ornamental, verleugnet seinen antiislamischen Antrieb. Doch ein Weiteres kommt hinzu. Denn es war bald offensichtlich, dass die Bilderflut des 11. Jahrhunderts groteske und obszöne Bilder hervorbrachte, die in keine der erwähnten Kategorien passten. Daraufhin unternahm die akademische Kunstwissenschaft – ich weiß weder wann noch durch wen – hilflose Versuche, für sie weitere Schubladen zu erfinden. Gewalttätiges ordnete man einem allegorischen Kampf zwischen Tugend und Laster (nach der Psychomachia des Prudentius) bei; Obszönes bezog man auf die Gestalten vorchristlicher Mythologien wie Baubos, Sheila Nags, Priapos; Masken und Akrobaten ordnete man dem Karneval, dem Theater und den Festen zu.40 3940 All diese Erklärungen versuchten und versuchen die Peinlichkeit hinwegzureden, dass der aufgeklärte Westen die eigene Geschichte weder erinnert noch versteht. Die systematische Irreführung angesichts der neuen Skulpturen durch die gängige christliche Pseudowissenschaft, Aussetzen des Gedächtnisses so wie der einfachen Wahrnehmung, deutet auf ein unvordenkliches traumatisches (Kriegs-) Erlebnis des Westens, durch den selbst verschuldeten totalen heiligen Krieg gegen den Islam. Der war über Jahrhunderte geträumt, 1187 vorerst ausgeträumt. Nicht nur der Osten, auch und vor allem der Westen hat sich bis heute von alldem nicht wirklich befreit. Kreuzzüge gelten weiter als x-beliebige Kriege, denen wie dem Islam keine Epoche machenden Energien zugestanden werden. Vermönchung, Ritterorden, Zwangszölibat haben weiterhin nichts mit neuen Feindbildern zu tun,41 christliche Bildnisse bleiben die angebliche „Bibel für Analphabeten“, die Texte illustrieren.42 39
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Im Kloster Las Huelgas (Burgos, Spanien) werden arabisch beschriftete Tücher gezeigt, die christlichen adligen Kämpfern gegen den Islam als Leichentücher dienten. Solche Trophäen aus antiislamischem Krieg waren Visa fürs Paradies. Man hat die megaphallischen Figuren auch freudianisch „Exhibitionisten“ genannt oder in ihnen eine Aufforderung, Kinder zu kriegen gesehen. Priapos an Kirchen, griechische Baubos aus Entgegenkommen an professorale Bildungsbeflissenheit? Weitere mystifizierende Erklärungen bleiben heute willkommen, die Kirche als Stätte der Versöhnung mit dem Heidentum, als Hort freier, surrealer Kunstausübung. Rührdanz schrieb in „Wandlungen des Feindbildes Islam, vom europäischen Mittelalter bis zum ‚American Empire’“, in: Marxistische Blätter 4 (2005), dass ich, Claudio Lange, zum ersten Mal das Ganze und die Teile der „romanischen Renaissance“ mit Antiislamismus und Kreuzzügen in Verbindung gebracht habe. In den Kreuzzügen ging – will ich frei nach Heraklit hinzufügen – das „Furchtbare“ mit dem „Fruchtbaren“ einher. Auch der 30-jährige Krieg, der halb Europa mordete, stellte ja den modernen Rechtsstaat auf die Beine. Genug Kriege bringen allerdings nichts Nennenswertes, außer unendlichem menschlichen Leid zustande. Bei den „heraklitischen“ Kriegen darf man sich allerdings fragen, ob es nicht anders gegangen wäre. Dieser Methode gehorcht letztlich die Ikonologie von Panofsky, die für die Skulptur des 11. und 12. Jahrhunderts weitestgehend unbrauchbar ist. Dass „das Wort“ im Christentum nicht einfach die Schrift, sondern Christus ist, ist eine zentrale theologische Voraussetzung für den Umgang mit Bildern und „heiligen“ Texten. Bilder, die die Inkarnation des Göttlichen zur Grundlage haben,
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Überraschend setzte sich dann für jene Bildnisse, die in der Kirche weder erzählen noch verschönern, ein neuer Begriff in der Kunstgeschichte durch, der mit dem Topos „dunkles Mittelalter“ exakt korrespondiert. Er definiert skandalöse Bildgestalten in der Regel als „apotropäisch“, als Gegenzauber gegen Dämonen. Diesem heute gültigen Begriff ist jedoch mit einfachsten Mitteln beizukommen. Warum sollte – das apokalyptische Jahr 1000 und der Weltuntergang waren gut überstanden – plötzlich eine bildnerisch maßlose Dämonenangstkur in Gang kommen? Das ist die erste Frage, die nach dem Interesse an solchen Bildern. Zweitens muss religionshistorisch gefragt werden, wer oder was diese Dämonen eigentlich waren, heidnische Götter, Göttinnen, Märchengestalten, Sünden, Krankheiten, Gottesstrafen und woran kann man das erkennen beziehungsweise unterscheiden? Die Ideologen des Apotropäischen bleiben meist beide Antworten schuldig. Das Argument des Apotropäischen ist eine Sackgasse, in der die Kunstgeschichte es sich bequem eingerichtet hat, ein terminus technicus griechischer Herkunft, der das brutale und revolutionäre christlich-islamische Zeitalter verschleiern und missverstehen soll. Die Theorie des „Apotropäischen“, wonach die neuartigen Steinbilder die Dämonen vertreiben sollen, ist dabei nur eine Ergänzung des kunsthistorischen Axioms, welches behauptet, dass diese Figuren die festlichen oder karnevalistischen Sünden der christlichen Gemeinde anprangern, und nicht einen äußeren Feind (Islam). Wie austauschbar allerdings beide Seiten, innen und außen sein können, zeigt Dinzelbacher (1998: 118): „Wie die Moscheen in der Kreuzzugsliteratur als ‚Teufelshäuser‘ bezeichnet wurden (‚domus diabolicae‘), so wurden die Muslime besonders in der volkssprachigen Kreuzzugsdichtung als Dämonen angesprochen.“43 So kann man abschließend sagen, die neuen Gestalten gehorchten einer Apotropäik. Nur, die dargestellten Dämonen werden nicht aus christlichen Sünden geboren, sondern es sind die Muslime, gegen die Gott selbst den Krieg erklärt, gegen die leibhaftigen Nachfolger des Satans und des Antichrist. 1.
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Die Mobilisierung zur „bewaffneten Pilgerfahrt“ nach Jerusalem inauguriert um 1030 eine noch nie gesehene Bilderkampagne, durch die die westliche Bevölkerung antiislamisch indoktriniert, der Islam, in dessen Hand Jerusalem ist, bestialisiert und dämonisiert wird. Die Theorie des Antiislamischen spielen da eine andere Rolle als in Islam oder Judentum. Christus gleich Logos gibt den christlichen Texten ihrerseits die großzügigste Übersetzungs- und Deutungserlaubnis. Dass sich Inneres und Äußeres vermischen, austauschen, gegenseitig bedingen ist, wie bei Bürgerkriegen und Kriegen gut zu studieren, nichts neues. Es macht hier aber eine genaue Deutung der Skulpturen notwendig, die ab 1187 zwischen der polemischen Darstellung innerer (Ketzer, Juden, Hexen) und äußerer Feinde (Muslime, Slawen, Türken, Heiden) hin und her pendeln wird.
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sieht sowohl im Ursprung wie in der Bedeutung der neuen Skulpturen, die Vorbereitung, Konsequenz und Durchführung des heiligen Krieges. Sie käme einerseits ohne Apotropäik aus, weiß aber andererseits von der Gleichsetzung von Teufel, Dämonen mit Islam. Deren Interpretation als ein Angriff auf die inneren Feinde des Christentums, gegen die Sünden und den Teufel in uns, sind neben denen gegen Juden und Ketzer im Prinzip erst für Bilder nach 1187 zutreffend. Seit 1030 (Dijon, Saint Benoît, Frómista, Toulouse, Jaca) erscheinen in Frankreich und Spanien zahllose nie gesehene Steinbilder. Die Zahl neuer Kirchenbauten beweist gleichzeitig, dass alles im Zeichen einer Willensbekundung zum Kreuzzug entsteht. Viele dieser neuen Kirchen darf man als Gestelle für antiislamische Bildpropaganda sehen. In der neuen Kreuzzugsidee sticht der unmissionierbare Islam alle anderen Feinde des Christentums – Heiden, Ketzer, Juden, Sünder – aus. Der Muslim avanciert zum Inbegriff des Feindes, zum Satan mit seinem Dämonenheer. 1095 ruft Papst Urban II. in Clermont-Ferrand zum Kreuzzug, im Januar 1099 wird Jerusalem massakriert. Es folgen die westchristlichen Reiche in Kleinasien und meist erfolglose Kreuzzüge. 1187 ist Jerusalem wieder in islamischer Hand und die jüngste Ideologie eines totalen Gotteskrieges gegen den Islam in einer gewaltigen Krise. Nun werden die Raubzüge des Deutschritterordens gegen die Slawen zu Kreuzzügen.44 Umfassend organisiert sich westliche Identität nun neu als „Gotik“ mit leidendem und beweintem Christus (der leidende Christus ist Jerusalem unter muslimischer Herrschaft), Antisemitismus und mitreißendem Mariakult. Man verzichtet dabei keineswegs auf Feindbildenergie. Ab 1187 projiziert sie einfach den Antichristen nicht mehr nur auf den Islam, sondern auf „erfundene“ innere Feinde. 1204 werden im 4. Kreuzzug die christlichen Brüder in Byzanz überfallen und ausgeraubt,45 wenig später die südfranzösischen christlichen Katharer ebenfalls in offiziellem Kreuzzug massakriert. Auch die Inquisition wird gegen innere Feinde in Gang gesetzt. Der gelungene islamische Widerstand gegen die Kreuzzügler hat den Westen in eine Epoche machende Krise versetzt und ihn zumindest über dessen historische Grenzen aufgeklärt. Der antiislamischen Theorie zufolge ist zwischen 1020 bis 1187 jeder kirchlichen Steinfigur abzulesen, dass sie dazu da ist, um gegen einen äußeren islamischen Feind zu agitieren. Dabei muss der Formenreichtum der Skulptu-
Die Figur des „Roland“ ist das nicht klar erkannte Emblem der christlich antislawischen Kreuzzugskampagnen. Sterile Jahrzehnte wird Byzanz von Westlern regiert werden.
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ren als Propaganda christlicher Politik nicht immer, aber häufig, ganz neu erfunden werden.46
4 Die Figur des „Akrobaten“, kein Dämon, aber immerhin ein Gegner der inneren christlich mönchischen Gesellschaftsordnung, so wie Gaukler und Hexen, erscheint sehr viel früher als die Gotik. Kommen wir also auf unsere Frage zurück: Ist es möglich die Figur des „Akrobaten“ als äußeren Feind, als Muslim zu deuten? Und wie fügt sich der „Akrobat“ in ein antiislamisches Bildprogramm? Kennt man die antiislamischen Argumente christlicher Texte, lautet die Antwort „Ja“. Der Akrobat47 entpuppt sich als ikonische Formel und älteste Karikatur vom Propheten Muhammad selbst. Man sehe einmal die Figur mit den leiblichen Verrenkungen als Epileptiker. Dann wird der so genannte Akrobat zu der ältesten Charakteristik des Propheten des Islam. Muhammad war Epileptiker, das hat der Grieche Theophanes (752-817) in seiner Chronographia behauptet, ein Werk das bald auch im Westen bekannt wurde. Muhammad, ein Fallsüchtiger, ein Epileptiker, das wurde endlos wiederholt.48 Akrobatik würde Mohammed im Glieder verrenkenden epileptischen Anfall zeigen, in dem er, wie noch Ricoldo von Montecroce im 14. Jahrhundert behauptete, Allahs Engelsworte zu hören glaubt.49 Stimmt 46
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Meine Lieblingsdefinition für das 11. und 12. Jahrhundert, welche Troubadoure, polyphone Schriftmusik, neue Skulptur, Angriffskrieg im Namen Gottes hervorbrachten, lautet „Medienbzw. Kulturrevolution“. 1994 habe ich in meinem stark gekürzten Essay erstmals darüber geschrieben. Siehe oben den Hinweis auf den Akrobaten von 848 in San Miguel de Lillo. Saint Benoît ist nicht nur ein wenig später als Dijon, sondern auch reiferer Antiislamismus. Dijon zeigt sein Bildwerk propagandistisch unfunktional in der Krypta, Saint Benoît in aller Öffentlichkeit, wie später die Kragsteine. Denn Propagandabilder sollen so vielen wie möglich sichtbar sein. Es gibt auch Hadithe, die von merkwürdigen Krankheitsbildern des Propheten erzählen. Es kommt uns hier nicht auf die medizinische Diagnose, sondern auf die Bedeutung einer Kunstfigur an. Das Heilige und das Dämonische sind dazu in der Epilepsie bekanntlich nicht weit entfernt. Der Koran als Hirngespinst eines Epileptikers (daher in der Hand eines Affen, wie in Maillezais, Frankreich) ist eine humoristische agitatorische Aussage des „Akrobaten“. Die Legende vom Propheten als Epileptiker taucht, wie Daniel und auch Tolan herausstellen, in allen christlichen Biographien Muhammads auf. Der Ursprung dieser Beurteilung ist aber schon koranisch, wo sich häufig der Vorwurf Dritter gegen Muhammad artikuliert, Muhammad sei kein Prophet sondern besessen, beziehungsweise er sei „nicht besessen“ und habe keinen Dschinn in sich (Sure 34., Ausgabe Rudi Paret). „Du bist Dank der Gnade deines Herrn nicht besessen (wie die Ungläubigen behaupten) (Sure 68. Siehe auch Sure 69, 81). Am Ende der Sure 68 erscheint die Aussage über die Besessenheit Muhammads als wesentlichste Grundüberzeugung der Ungläubigen. In diesem Sinne kolportiert der Koran dazu, man behaupte von Muhammad, er sei ein Zauberer, Wahrsager, Dichter (Sure 51, 52). Das Bild von Muhammad als Epileptiker findet sich in den Kragsteinen. Es hatte sich griechisch beziehungsweise kleinasiatisch verbrei-
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das, dann ist der so genannte Akrobat im antiislamischen Bildprogramm gerechtfertigt; zweitens ist er eines der ältesten antiislamischen Bildnisse überhaupt und drittens wäre ikonologisch alles „Akrobatische“ als „Epileptisches“ zu deuten, als die lächerliche Figur des Propheten des Islam und seiner Anhänger überhaupt. Alles Islamische wäre ikonologisch mit dieser Krankheit behaftet, die vielfältigen Verrenkungen zahlreicher Steinfiguren wären, was wir nicht wussten oder vergessen hatten, Synonym für einen Muslim, der der Lehre eines Besessenen Folge leistet.50 Zwischenruf: Kleine Presseschau aus Tagesspiegel, Taz, Focus Der Prophet Muhammad wäre „im heutigen System ein Kinderschänder“. Über diese und andere Behauptungen von Susanne Winter diskutiert man seit der Jahreswende 2007/2008 in Österreich. Das Publikum des Schwarzl-Zentrums in Unterpremstätten tobte vor Begeisterung, als Frau Winter beim FPÖ-Neujahrstreffen, wo kurz darauf ein Gemeinderat gewählt wurde, gegen den Islam vom Leder zog. Während sie auch gegen Bettler wetterte, bezeichnete sie den Propheten als „Feldherrn, der den Koran in epileptischen Anfällen“ schrieb! Das alles habe, sagte Frau Winter, nichts mit Volksverhetzung zu tun. Montagabend widmete dann das österreichische Fernsehen diesem Thema eine Sondersendung, in der der Epilepsie Dachverband Österreich (EDÖ) gegen die Aussage, Muhammad hätte den Koran unter epileptischen Anfällen geschrieben, protestierte. „Damit wird nicht nur eine Weltreligion ins schlechte Licht gerückt, sondern auch deren Existenz dem Ergebnis epileptischer Anfälle zugeschrieben und suggeriert, dass von der Epilepsie nichts Gutes kommen kann – für Patienten wie Gläubige untragbar und diskriminierend. Einerseits ist die Epilepsie mit einem sozialen Stigma behaftet, sie gilt jedoch andererseits als Erkrankung besonders begabter Menschen. So wird vermutet, dass Alexander der Große, Julius Cäsar, Napoleon Bonaparte, Isaac Newton sowie der Apostel Paulus und der Prophet Mohammed epileptische Anfälle hatten.“
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tet, um über Spanien bis nach Frankreich zu kommen. Im 19. Jahrhundert wird Muhammads Epilepsie auch positiv verwendet. Da spricht Dostojewski vom „Glück, das wir Epileptiker kurz vor einem Anfall empfinden! Mohammed versichert in seinem Koran, dass er das Paradies erblickt habe und dort weilen durfte. Alle Neunmalklugen sind der Auffassung, er sei ein Lügner und ein Betrüger. Nein, nein, er hat nicht gelogen.“ (siehe Bobzin 2006). In der Folge dieses Essays arbeitete ich einen mündlichen Dia-Vortrag für Mostar (10.-12. August 2008, Bosnien) aus, in dem ich auf die ikonischen Verzweigungen des Akrobatischen aufmerksam mache. Akrobatisches mischt sich der polemischen Darstellung des Obszönen, des Koitus, des Fassträgers (koranisches Alkoholverbot) wie der Proskinese des islamisch Betenden bei. Das Cover meines Der nackte Feind zeigt auf der Rückseite einen solchen muslimisch betenden, obszönen Akrobaten eines Kapitells aus dem Kreuzgang des Großmünsters (1200) Zürich.
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5 Hrotsvitha oder hin zu einem neuen Exkurs über die Ottonik51 Der besondere Umgang des Christentums mit Bildern verdankt sich der Tatsache, dass im 4. Jahrhundert die paradoxe Inbesitznahme des römischen Staates durch die christliche Religion beziehungsweise die paradoxe Übernahme des Christentums durch das polytheistische und polyreligiöse Rom stattfand. Dabei war Christus in jenem Jahrhundert, wie der Traum Konstantins vor der Schlacht an der Milvischen Brücke zeigt, niemand weiß wie, zum Kriegs- und Siegesgott avanciert. Wenige Jahrhunderte später wird seine heilige Mutter ihn nachahmend selbst zur wichtigsten Kriegs- und Siegesgöttin. In diesem historischen Zusammenhang entsteht grob gesagt das erste staatsreligiöse Zwangsbild des christlich-römischen Staates: „Maria mit dem Kind“, als autoritativer Beweis der offiziellen Linie, die Christus als inkarnierten Logos und Maria als Mutter Gottes (theotókos – Gottesgebärerin) durchpeitschte. Maria wurde bald im Christentum übergewichtig52 und emanzipierte sich schließlich weitgehend von jeder textlichen Grundlage und Christologie. Maria konstituiert sich als neuartige weibliche Gottheit und gerät im 13. Jahrhundert als gekrönte Himmelsgöttin ins Zentrum des christlichen Pantheons. Die Mutter Gottes schlug und gewann schon seit dem 6. Jahrhundert für Byzanz die Schlachten, wie einst Astarte oder Athene, sie führte die Byzantiner auch gegen die Perser zum Sieg. Auch der nordspanischen Reconquista hat sie in Covadonga, noch vor der Erfindung des apostolischen Jakobs des Maurentöters, im antiislamischen Kampf beigestanden. Jakob hat die Kriegsgöttin Maria später ersetzt, um dann im Zuge der französischen Kreuzzüge von Cluny der Himmelsgöttin wieder weichen zu müssen. Maria hat den ersten Kreuzzug so wie den Sieg über die Türken in Lepanto angeführt. Dies vorausgesetzt, kommen wir zu einer Autorin der zweiten Hälfte des 10., dem so genannten ottonischen Jahrhundert,53 deren marianischer Diskurs mit 51
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Eine im Licht des christlich-islamischen Zeitalters neu bewertete Ottonik steht an; man siehe den in Widersprüchen strahlenden Aufsatz von Walther (1985) über einen gescheiterten Dialog zwischen Ottonik und Islam. Auch Anna, der Großmutter Christi mütterlicherseits, hat das römische Dogma die Jungfräulichkeit zugeschrieben. Hrotsvitha ist Ottonikerin und den Liudolfingern treu ergeben – siehe ihre Gesta Ottonis. Wie bedeutend die ottonisch/byzantinische Vormacht des Kaisers gegenüber dem Papst für eine politische Legitimation neuer Bilder war, machte Grabar deutlich, als er eine ottonische Auferstehung als erste bekannte Darstellung der Auferstehung deutet. Die brach mit dem Gesetz, dass nur ins Bild kommen durfte, was menschliche Augen gesehen hatten. Die ottonische Auferstehung zeichnet nun aber – was die leidenden Atlanten im Bild verdeutlichen – nicht eine theologische korrekte Überwindung des Todes, sondern feierte schlicht den Sieg des „wieder aufer-
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radikalstem und nachhaltigstem Antiislamismus zusammen geht. Gemeint ist Hrotsvitha von Gandersheim54, von der ein Literaturpreis, der ihren Namen trägt, behauptet: „Sie gilt als erste deutsche und erste christliche Dichterin des Abendlandes“55. Hrotsvithas Autorenschaft marianischer und antisemitischer Werke sei hier festgestellt. Neben einem kleinen marianischen Werk hat Hrotsvitha in ihrem Theophilus ein gewaltiges Stück Marienkult geschrieben – das zugleich eine Bearbeitung des Fauststoffes ist. Diese bedingungslose Marianistin nahm es dabei mit der Orthodoxie nicht so genau und verwendete apokryphe Quellen, angeblich „aus Unwissenheit“.56 Im Pelagius verfasste Hrotsvitha dagegen den ersten antiislamischen Diskurs in der Literatur des Abendlandes. Es passt zu den innovativen Kräften der Ottonik, dass die früheste antiislamische Dichtung aus dem Bereich der spanischen Reconquista kommt und im deutschen und westlichen Raum entstand. Dieser Pelagius der Hrotsvitha ist in ihrem Gesamtwerk eine Ausnahmeerscheinung, da die Autorin für ihn nicht einen Text, sondern einen mündlichen Bericht zugrunde legt.57 Hrotsvithas Pelagius dramatisiert die Berichte über die Leidensgeschichte eines galizischen Prinzen, dessen Martyrium sich im Jahre 925 ereignet. Die älteste, von dem spanischen Geistlichen Raguel verfasste, uns erhaltene Vita des Pelagius ist dagegen erst nach 960 entstanden (Hrotsvitha 1973: 115). Sie erwähnt auch, wie schon die frühere pelagische Festliturgie, die Schönheit des Knaben und die Lasterhaftigkeit des muslimischen Versuchers. Extrem abscheulich wie im 150 Jahre später verfassten Rolandslied erscheint bei Hrotsvitha der Muslim in der Gestalt des Abdrahemen (Abderrahman) beschrieben.
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standenen“ christlichen Kaisertums gegen die Ungarn – politische Kunst im Gewand des Leben Jesu. Nichts anderes passiert hundert Jahre später in den „erzählenden“ Kapitellen (historiées) durch antiislamische Akzentuierung. Ihr Geburts- und Todesjahr sind unbekannt (* etwa 935); siehe Hrotsvitha (1973); dass Homeyer (ebd., S. 113) anstatt richtig von Toledo, von Córdoba als „Hauptsitz der westgotischen Könige“ spricht, ist symptomatisch. Der Preis ging seit 34 Jahren an 33 deutschsprachige Schriftstellerinnen. Man fragt sich, welche und wie diese bekannten Autorinnen die große christliche Chauvinistin gelesen haben. Hrotsvitha 1973: 63-64. Bis zu Bernhard von Clairvaux sollte sich der Doppelcharakter von solch radikaler Marianistik und Antiislamik nicht mehr wiederholen. Bedingungslose Marienverehrung äußert Hrotsvitha auch in ihrer Maria, wo die Mutter Gottes gerade als „Phantasieund Fiktion-Gestalt“ Karriere macht: „Größeres gibt es nicht – wo fände wohl Größ’res der Glaube! – als dass die Jungfrau im magdlichen Leibe getragen den, der die Welt einst erschuf, der zugleich ihr eigener Schöpfer“ (1973: 75). Hrotsvitha (1973), S. 33 und S. 113ff.: „Der Augenzeuge, der Hrotsvitha über das Martyrium des Pelagius unterrichtete, wird ein Mitglied der ersten oder zweiten Gesandtschaft des Kalifen an Otto I. i.J. 951-953 gewesen sein […]. Die irrigen Vorstellungen, die Hrotsvita über den Islam hat, teilt sie mit den zeitgenössischen christlichen Theologen und Historikern“. Keine Ausnahme ist Pelagius insofern, als dass in ihm das Lob der Jungfräulichkeit gesungen wird.
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Der König von Córdoba, mit dem die Ottonischen Herrscher durchaus in Kontakt standen, ist bei Hrotsvitha ein „Heide“, ein „Barbar“, „Tyrann“ und „Teufelsanbeter“, „fleischlichen widernatürlichen Lüsten“ ergeben, für „schön gestalte Knaben“ entbrannt: Er dient „heidnischen Göttern und gottlosen Bräuchen und Sitten“ und betet aus „Gold gefertigte Bilder der Götter“ und „marmorne Statuen“ an (Hrotsvitha 1973: 106f.). Dagegen steht christlicherseits der Held und Märtyrer Pelagius,58 Sohn eines Fürsten aus Galizien. Pelagius steht an Stelle des alten Vaters den Muslimen als Geisel zur Verfügung, wodurch sein Martyrium seinen Lauf nimmt. Wir zitieren die Textstelle, in der Pelagius’ Widerstand gegen die Vergewaltigung durch den muslimischen Herrscher ihm den Märtyrertod einbringt (Hrotsvitha 1973: 121f.). „Unverzüglich befahl er, Pelagius zum Throne zu bringen, leidenschaftlich verlangt’ ihn, des Knaben Nähe zu fühlen. Sich ihm neigend bedeckt’ er mit Küssen Ihn und umschlang den Hals des Begehrten. Solche Beweise der widernatürlichen Neigung Wies entschieden zurück der Streiter für Christus; Listig bot er sein Ohr dem Gelüste des Königs, hielt ihn zum Narren, indem er den Mund ihm versagte und verwies ihm sein Tun mit vortrefflichen Worten: ‚Nicht geziemt’s einem Mann, der auf Christi Namen getauft ward, seinen züchtigen Leib der Umarmung von Heiden zu schenken. Nie darf ein Christ, der gesalbt mit dem Chrisam, Küsse von einem Teufelsverehrer empfangen. Geht und umarmt jene Toren, die mit Euch verehren Eure nutzlosen Götzen mit Opfergeschenken, habt ihr doch Freunde genug, die vor heidnischen Bildern sich neigen.’“
Dieser abgründige Diskurs besagt – vorausgesetzt die Übersetzung stimmt –, dass „widernatürliche Liebe“, hier männliche Homosexualität, weniger gravierend ist als der unüberbrückbare Abgrund zwischen der christlichen und der islamischen Religion: Die Idee des totalen Krieges gegen die Unmissionierbaren (Bernhard von Clairvaux) wird hier geboren. Abdrahemen: „zog mit der Rechten den Mund des Pelagius näher zu sich, mit der Linken ihn enger umschlingend, um den ersehnten Kuss dem Geliebten endlich zu rauben.“59 58 59
„Als er nunmehr inmitten der Höflinge weilte, übertraf er die andern an strahlender Schönheit.“ Hrotsvitha (1973), S. 124. Männliche Homosexualität gehört wie etwa der Drogenkonsum, der auch in Saint Benoît erscheint, oder eben der sexualisierte Lebenswandel zu den Standards an-
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Pelagius schlägt Abdrahemen ins Gesicht, wird zum Tode verurteilt. Einmal ermordet, werden seine Gebeine Jahrhunderte lang Wunder und Heilung erbringen, wie das eben nur das Märtyrergebein kann. In einem Kapitell des Vorbaus von Saint Benoît (Mitte des 11. Jahrhundert) sehen wir eine seltsame Komposition:60 Unterhalb arabisch grüßender Personen schiebt ein Löwe einer Löwin (oder einem Löwen) seine Tatze ins Hinterteil. Im Zentrum dieses ganz frühen obszönen Bildes befindet sich dann eine Szene mit einem älteren und einem jüngeren Mann. Ich halte diese Komposition in ihrer Mischung von Obszönität, islamischen Grußformen und Gewalt für eine geniale Darstellung der Szene vom Vergewaltigungsversuch an Pelagius. Könnte Hrotsvithas Geschichte des berühmten Märtyrers Pelagius61 nicht 60 Jahre später in einem skulpierten Kapitell im antiislamischen Bildprogramm von Saint Benoît erscheinen? Gandersheim und Saint Benoît waren weder räumlich noch zeitlich weit entfernt. Ein paar Meter von der Pelagiusszene tanzt eine Frau einen obszönen arabischen Schwerttanz; dann ist da die Verdammte, eine Atlantin, die älteste nackte Frauenskulptur des christlichen Okzidents; und dazwischen verrenkt sich eine akrobatische Figur ihre Körperglieder, der epileptische Prophet des Islam.
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tiislamischer Verurteilungen. Im antiislamischen Bilddiskurs lassen sich durchaus Szenen von Männerliebe finden, die ich somit antiislamisch – und nicht etwa antisemitisch oder antiketzerisch – zu deuten empfehlen würde. In Lange 2004 unkommentiert abgedruckt. Noch im 16. Jahrhundert als in Córdoba die Kathedrale mitten in die Umayyaden-Moschee gebaut wurde, sorgte man dafür, dass eine ihrer Kapellen Pelagius gewidmet war.
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6 Bildbeispiele für Akrobaten = Epileptiker Die heutige Kirche von San Miguel de Lillo ist der übrig gebliebene Westbau der königlichen Basilika des ersten nordspanischen Königtums der Reconquista. Von Ramiro I. von Asturien gebaut, im Jahr 848 geweiht, liegt sie außerhalb Oviedos (Asturien, Spanien) und bildet, gemeinsam mit dem 150 Meter entfernten Königspalast von Santa María del Naranco, das Herz des ältesten politischen Antiislamismus Iberiens. Dieser gern „präromanisch“ genannte Bau blieb, was Architektur und Skulptur angeht, bis heute unerklärt und originell: Reliefs an einigen Säulenbasen im Inneren der Kirche, das dreiteilige Relief am Eingang der Kirche. Dessen Mittelteil zeigt den hier abgebildeten Akrobaten. Es ist nicht auszuschließen, dass hier erstmals bildhaft die antiislamische Ideologie durch eine Karikatur des epileptischen Anfalls transportiert worden ist.
An einigen Kapitellen in der Krypta von Saint Benigne (erste Hälfte des 11. Jahrhunderts, Dijon, Frankreich) finden wir mehrere, teilweise unbeendete Darstellungen einer sich verrenkenden menschlichen Figur. Die äußerst früh skulpierten Kapitelle stehen in einem nicht geklärten, aber anzunehmenden Zusammenhang mit Kapitellen am Vorbau von Saint Benoît sur Loire. Der Volksmund (in Gestalt des Kirchendieners von Saint Benigne) nannte diese Figuren „betende Muslime“ – nicht das einzige Mal, das ich der die akademische Wissenschaft irritierenden oral tradition bei den Recherchen zum Antiislamismus begegnete.
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Die Skulpturen an den Vorbaukapitellen von Saint Benoît sur Loire (Mitte des 11. Jahrhundert) halte ich für das älteste antiislamische Bildprogramm Frankreichs und Westeuropas. Der Akrobat von Saint Benoit.
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In dieser Szene eines Vorbaukapitells von Saint Benoît sur Loire sehen wir ein Panorama der Lüsternheit (ein Hauptkritikpunkt am Islam) in dem zwei Löwen ihre Zungen rausstrecken, deren Tatzen auf einem Menschen ruhen, ein dritter Löwe von rechts seine Tatze einem Löwen/in ins Hinterteil schiebt. Ein Paar ist da zu sehen – hier nur die eine Figur – mit (falschem, linkshändigen) Arabergruß: Hand auf der Brust, eine oft zu findende ikonische Geste. Links dieser Figur sieht man ein ungleiches männliches Paar, das ich für die zentrale Verführungsszene von Pelagius halte.
Kragsteinskulpturen aus der Apsis der Colegiata de San Pedro de Cervatos (um 1120, Kantabrien, Spanien). Von links nach rechts, neben dem hier kaum identifizierbaren halben Maskenträger, der Akrobat. Daneben der Haschischraucher (niemand schlägt die Beine derart übereinander beim „Trompete spielen“ beziehungsweise „Hornblasen“); dann eine Alraune – kurz, ein kleines Panoptikum der Muslimwitze, das lauten würde: Muslime sind geil, falsch, drogensüchtig, schwul, folgen einem falschen Propheten, der Epileptiker ist.
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I. Das westeuropäische Islambild wurde ab dem 15. Jahrhundert entscheidend durch das neue Medium des Buchdruckes geprägt. Noch bevor Johannes Gutenberg seine Bibel fertig gestellt hatte, kam im Dezember 1454 – anderthalb Jahre nach der osmanischen Eroberung Konstantinopels – eine kleine, neun Textseiten umfassende Flugschrift auf den Markt, die als eines der frühesten Druckzeugnisse gilt. In diesem sogenannten Türkenkalender mit dem Titel Eyn manung der christenheit widder die durken (Türken) werden Papst, Kaiser, Könige, Fürsten und Städte der Christenheit entlang der zwölf Kalendermonate dazu aufgerufen, sich gegen die „Türken“ in einem Kriegszug zu vereinigen und damit die Gefahr von der Christenheit abzuwenden (Geldner 1975; Simon 1988). Es ist kein Zufall, dass ein sogenanntes Turcicum (Türkendruck) mit am Beginn des Buchdruckzeitalters stand. Wir werden sehen, dass dieses neue Medium für die christlichen Vorstellungen über die Muslime in vielerlei Hinsicht eine wichtige Rolle spielte: Ab dem 15. Jahrhundert wurden viele überlieferte Motive der mittelalterlichen Islamvorstellungen übernommen, sie verdichten sich jedoch durch das Medium des Buchdruckes zu einem Diskurs mit einer neuen Qualität. Die osmanische Eroberung Konstantinopels am 29. Mai 1453 unter Sultan Mehmed II. hatte das Byzantinische Reich bis auf einige Restposten, die nur noch wenige Jahrzehnte Bestand haben sollten, nach fast einem Jahrtausend von der politischen Landkarte gelöscht. Auch wenn Byzanz zu diesem Zeitpunkt aus nicht viel mehr als der Hauptstadt Konstantinopels, dem Hinterland und einiger Enklaven bestand und Griechen und Lateiner über Jahrhunderte hinweg ihre wechselseitigen Rivalitäten gepflegt hatten, wurde der „Fall Konstantinopels“ in der lateinischen Christenheit als überaus bedeutendes Ereignis empfunden. Konstantinopel war eines der fünf alten christlichen Patriarchate (neben Jerusalem, Alexandria, Antiochia und Rom), und das Byzantinische Reich hatte sich stets als direkte Fortsetzung des Römischen Reiches gesehen. In der christlichen Heilsgeschichte galt jedoch das Römische Reich als das letzte der großen Weltreiche (nach Babylon, Persien und dem Reich Alexander des Großen), unter dessen Herrschaft Jesus Christus geboren worden war, der mit dem Neuen Bund den Christen die Erlösung verheißen hatte. Texte aus der Bibel – vor allem die
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Prophezeiung Daniels und die Johannesapokalypse – waren schon seit langem in einer apokalyptischen Tradition interpretiert worden. Danach hatte Gott das Römische Reich zum letzten der Heilsgeschichte bestimmt, an dessen Ende der Antichrist auf Erden kommen und in letzten Zerstörungen und Christenverfolgungen sein Unheil treiben, bevor in einer Endschlacht Christus schließlich siegen und das Jüngste Gericht stattfinden würde. In der apokalyptischen Tradition war es dabei ein altes Muster, muslimische Eroberungen als Zeichen der Endzeit und als Wirken des Antichrist zu deuten. Wie John Tolan bemerkte, war das mittelalterliche Islambild daher in wesentlichen Zügen schon geformt worden, bevor es den Islam überhaupt gab. Auf die ersten arabischen Eroberungen im 7. Jahrhundert, dem große Teile des byzantinischen Reiches zum Opfer gefallen waren, hatten griechisch-orthodoxe Christen (anders als die monophysitischen Christen im Nahen Osten, für die die muslimische Herrschaft mehr Glaubensfreiheit bedeutete) mit apokalyptischen Interpretationen reagiert, in denen die muslimischen Siege als die teuflischen Verheerungen der Endzeit gedeutet wurden. Diese Texte fanden auch im lateinischen Europa große Verbreitung (Tolan 2002). Da die Apokalyptik im gesamten Mittelalter fortgeführt und dabei sowohl nichtchristliche wie christliche Gegner als Vorläufer oder Verkörperung des Antichrist gedeutet wurden, war es nicht verwunderlich, dass sich Papst Nikolaus V. in seiner Kreuzzugsbulle vom 30. September 1453, in der er die Christenheit zum Türkenkrieg aufrief, in diese Tradition einreihte. Dabei zog er eine Linie von den frühen arabischen Eroberungen des „überaus grausamen Verfolgers der christlichen Kirche, Mahomet [der Prophet Muhammad], Sohn des Teufels“ bis zum osmanischen Eroberersultan Mehmed II.: „ein zweiter Mahomed, der der Ruchlosigkeit des Ersten nacheifert, der christliches Blut vergießt und die Christen mit großem Feuer vernichtet (…) [und] wahrlich der Vorbote des Antichrist ist (…).“ (Weigel/Grüneisen 1969: 63) Die Eroberung Konstantinopels und die osmanische Expansion, die unter Sultan Mehmed II. (gest. 1481) weiter zügig voranschritt, wurden in Europa als eine heilsgeschichtliche Bedrohung der gesamten Christenheit gedeutet. Aus heutiger Sicht sieht es so aus, dass im Mittelmeerraum die Ansprüche der einzelnen europäischen Mächte und der Osmanen aufeinander trafen und es nicht angebracht ist, einer der beiden Seiten eine einseitige Legitimität auf eine Expansion zuzugestehen und der anderen Seite diese zu entziehen. Auf der christlichen Seite waren jedoch vor allem der Papst und der Kaiser daran interessiert, den Krieg gegen den „türkischen“ Erbfeind als gerecht und heilsnotwendig darzustellen und sich als Anführer der Christenheit zu positionieren. Während im Mittelalter die Muslime in europäischen Quellen Ismaeliten (von Ismael, Sohn Abrahams abstammend) oder Sarazenen (mit Bezug auf Sarah) genannt wurden, stand vom 15. bis zum 18. Jahrhundert die Bezeichnung
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der Türken als allgemeiner Oberbegriff für die Muslime im Vordergrund. Es ist daher falsch, für diese Zeit diesen Begriff für die Osmanen zu gebrauchen. Der Begriff der Türken wurde im Rahmen einer postulierten heilsgeschichtlichen Türkengefahr als ein pejorativer Gegenbegriff zu den Christen gebraucht. Als Türken wurden die Muslime als teuflische Vorboten des Antichrist gedeutet, die die Christenheit zu überrollen und damit nicht nur die physische Existenz der Christen, sondern auch ihr Seelenheil mit einer falschen Religion zu gefährden drohten. Die Türkengefahr war dabei eines der herausragenden Themen der frühneuzeitlichen Christenheit, die in den unterschiedlichsten Kontexten beschworen wurde (zum frühneuzeitlichen Islambild Schwoebel 1967; Preto 1975; Schulze 1978; Matar 1999; Tinguely 2000; Guthmüller 2000; Soykut 2001; Höfert 2003; MacLean 2007; Meserve 2008). Weil die osmanische Expansion de facto jedoch gar nicht ganz Europa betraf, betonten die Protagonisten im Zeichen der Türkengefahr, dass die Kräfte aller Christen im Türkenkrieg gefordert seien. Papst Pius II., der 1459 versuchte, auf einem Kongress in Mantua die christlichen Fürsten zum Kreuzzug gegen die Türken zu bewegen, betonte angesichts der enttäuschend geringen Besucherzahl die Gefahr, die nicht nur für die Anrainerstaaten des Osmanischen Reiches, sondern für alle Christen von den Türken ausging: „Seht, in welcher Lage, in welcher Gefahr wir sind, und wie sehr wir von den Türken bedrängt, bedroht und angefeindet werden. (…) Aber lasst uns, wenn dies so erlaubt ist, die alte Schande, die alten Schäden nicht beachten, und es soll uns nicht bedrängen, was uns früher gequält hat. Ganz Asien mag an uns vorbeigehen, [sowie] ganz Afrika: Wir wollen wenigstens Europa anschauen und über die Meinung unserer Zeit Rechenschaft ablegen. (…) Die Spanier und Franzosen mögen zwar dieses [die Gefahr durch die Türken] nicht fürchten, ebenso wenig die Deutschen, die am Rhein wohnen oder die Engländer, die vom Meer umgeben sind. (…) Hört, oh Ihr vortrefflichsten und edelsten Männer, aus welchen Gründen es nötig ist, gegen die Türken zu kämpfen: Sowohl die erduldeten Leiden [der Christen in der Gegenwart] machen dies dringend erforderlich, ebenso wie Sorge für die Christen in der Zukunft zu tragen ist, die von diesem Schicksal noch nicht betroffen sind. Das Gesetz Mahomets [= der Islam] ist überaus schändlich, weil es nicht nur die Göttlichkeit Christi verwirft, sondern voll unzähliger weiterer Irrtümer ist.“ (Oratio 1459, Sp. 207-222).
Mit dem Buchdruck wurde es nun möglich, das Motiv einer allgegenwärtigen Türkengefahr in einer bisher ungekannten Kommunikationsdichte zu verbreiten (Göllner 1961ff.). War am Anfang die heilsgeschichtliche Bedrohung durch die Türken hauptsächlich von den Kanzeln der Kirchen verkündet worden, weitete sich mit den zahlreichen Flugschriften die Debatte exponentiell aus. Das Motiv, dass alle Christen von der Türkengefahr betroffen waren, wurde dabei immer wieder betont, wie eine Flugschrift von 1542 zeigt:
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„Wohin wir auch schauen, [sehen wir,] wie der wütende Feind, der Türke, täglich und je länger, je mehr die Länder und Wohnorte des Christlichen Volkes, unserer Brüder, bekriegt, einnimmt und so viele Christenleute so jämmerlich ermordet, Jungfrauen, Frauen und Kinder erbärmlich zu ewiger Sklaverei wegschafft und wie das Vieh hält und missbraucht (…). Dabei ist es klar, was wir tun müssen und wofür wir uns bereit halten müssen. Denn wenn wir uns nun jetzt dieser Christenleute, unserer Brüder, aus christlicher brüderlicher Liebe nicht erbarmen, so wird sich auch Gott der Allmächtige künftig unserer nicht erbarmen. (…) Denn es ist bekannt, dass die jetzt bedrängten Christenleute vor wenigen Jahren sich auch nicht [um ihre bedrängten Brüder] sorgten, als die Tyrannei des Türken noch bei ihren Nachbarn oder viel weiter weg war“ (Ermanung 1542; Göllner 1961: Nr. 770).
Neben der Teilnahme am Türkenkrieg, die auch im übertragenen Sinne durch das eifrige Zahlen von Türkensteuern erfolgen konnte, waren die schrecklichen Zeitläufte auch eine Strafe für den sündigen Lebenswandel der Christen: „Es ist kein Wunder, (…) dass der Türke so stark und grausam in der Lage ist, die Christenheit zu überrollen, zu verfolgen und zu verderben (…). Sehen wir nur die große Untreue, die in der ganzen Welt unter Jungen wie Alten regiert und verwurzelt ist! Seht die große Hurerei, das schändliche Saufen, das lästerliche, unselige Fluchen und Schwören, das tägliche Lügen und Betrügen, wie so gar keine Wahrheit, keine Liebe, ja wie so gar keine Gottesfurcht bei den Menschenkindern mehr zu finden ist!“ (Cantzler, Staatsbibliothek Berlin; Göllner 1961: Nr. 428).
In diesem Zusammenhang wurde auch der Europabegriff wieder prominent, der im Mittelalter zwar von den Karolingern (8. bis10. Jahrhundert) verstärkt benutzt worden, danach aber wieder in den Hintergrund getreten war. Der Europabegriff kam nun verstärkt mit der Christenheit in Zusammenhang zur Geltung, wobei er mit der apokalyptischen Dynamik der Türkengefahr verbunden wurde: „Den größten Teil Europas haben wir verloren; Mahaumet [Mohammed] hat uns in eine Ecke gedrängt.“ (Rede „Quamvis“ von Enea Silvio Piccolomini in Regensburg am 16. Mai 1454; Weigel/Grüneisen 1969: 268, Nr. 34,1). Europa wurde nun als das bedrohte Territorium der Christenheit gesehen und als christliche Verteidigungs- und Offensivgemeinschaft verstanden: „ein Europa in Waffen, gerichtet vor allem gegen den Islam.“ (Helmrath 2005). Über die Türken selbst brauchte man in den Schriften, die die Türkengefahr beschworen, nicht viel Informationen – es reichten meistens die Nachrichten von den Kriegsschauplätzen, wobei die Grausamkeit der Türken und die Drangsal der Christen immer wieder betont wurden. Eine Flugschrift von 1526 berichtete aus Ungarn folgendes: „Am achten Tag des Monats September hat der Türke und sein Volk nach der oben erwähnten Schlacht die Städte Pest und Ofen eingenommen. Dabei eroberte er Pest
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in einer Stunde, verbrannte es und zerhackte alles Volk, das in der Stadt gewesen war, zu Tode und erschlug es. (…) Er rückt täglich weiter und zieht im Land überall herum. (…) [Dabei] verbrennen sie [die Türken] geradezu das einfache Volk. Wenn sie junge Frauen und Mädchen erwischen, treiben sie es mit ihnen, wie es ihnen gefällt und schenken sie einander. Wenn sie dann davon genug haben, schlagen sie ihnen die Köpfe ab. Dabei ist gar nicht in Worte zu fassen, wieviel Leid und Elend [von den Türken] verbreitet wird, sondern sie handeln [in Wirklichkeit] noch viel hündischer und tyrannischer.“ (Hernach 1526; Göllner 1961: Nr. 254).
II. Im Rahmen der Türkengefahr kam aber noch eine andere Art von Schrifttum auf. Vor allem in Venedig, dessen Seereich durch die osmanische Expansion im 15. und 16. Jahrhundert nach und nach zerschlagen wurde, war man bestrebt, so viel wie möglich über die Osmanen zu erfahren (Pertusi 1977). Dabei wurde die Frage aufgeworfen, weshalb die Türken so unglaublich erfolgreich seien. Der venezianische Drucker und Gelehrte Francesco Sansovino veröffentlichte 1560/61 ein dreibändiges Kompendium über die Türken, in dem er Reiseberichte über das Osmanische Reich, christliche Abhandlungen über die osmanische Geschichte und die Berichte von den Kriegsschauplätzen zusammenstellte (Sansovino 1560f.). Diese eingehende Beschäftigung mit ethnographischen und historischen Schriften über das Osmanische Reich hatte ein differenzierteres Urteil über die Türken zur Folge. Im Vorwort seiner Textsammlung äußert Sansovino Bewunderung für den raschen Aufstieg des Osmanischen Reiches, macht aber auch klar, dass diese Expansion mit der Verbreitung einer verdammenswerten Religion verbunden sei: „Unter den Fürstentümern der Welt, von denen wir heute wissen, habe ich stets das Reich des Fürsten der Türken für sehr bemerkenswert gehalten. Denn seine unendliche Größe, der durchgängige Gehorsam des Volkes und die glückliche fortune der ganzen türkischen Nation sind eine wunderbare Sache, wenn man bedenkt, in welcher Art und wie leicht diese Nation in nur kurzer Zeit zu solch einer Höhe des Ruhms und des Namens aufgestiegen ist. (…) Dabei sieht man allerdings bedauerlicherweise, dass ihre Sache täglich anwächst. Weil jeder weiß, wie sehr sie [die Türken] darum besorgt sind, die frevelhafte Sekte ihres schändlichen Propheten zu vergrößern, haben viele (…) Männer über ihre Dinge geschrieben und behandeln mal die Kriege, mal die Religionen [leggi] und die Sitten (…).“ (Sansovino 1560f .: Bd. 1, Fol. *2r, Fol. *3r.)
Die Autoren der Reiseberichte über das Osmanische Reich (siehe auch den Beitrag von Tafazoli in diesem Buch) stehen aber auch im allgemeinen Kontext einer enormen Wissensexpansion im Zeichen des Buchdruckes. Während bis zum 15. Jahrhundert verhältnismäßig wenig neue, empirisch gewonnene Infor-
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mationen über die Lebensweise anderer Völker Eingang in das gelehrte Buchwissen gefunden hatten, stieg die Zahl der Reiseberichte und ethnographischen Kompendien im Zeitalter der „Entdeckungen“ und des Buchdrucks nun sprunghaft an. Antike Schriften wie die Geographie des Ptolomäus standen dabei Pate, wie beispielsweise bei der Kosmographie von Sebastian Münster, der sein Werk wie folgt erläuterte: „Die ganze Welt zu beschreiben, (…) [ist] mein Vorhaben in diesem Buch (…]. (…] Zu unseren Zeiten ist es sehr von Nöten, dass du weit hin und her auf der Erde umherschweifst, um die Lage der Länder, Städte, Gewässer, Berge und Täler zu besichtigen und darüber [etwas] zu erfahren. Auch die Sitten, Gebräuche, die Religion [gesetz] und Regierung der Menschen, die Beschaffenheit und Natur der Tiere, Bäume und Kräuter [gehören dazu]. Du kannst diese Dinge in den Büchern lesen und daraus über dieses oder jenes Land mehr lernen und erkennen, als jemand, der dort lange gelebt hat.“ (Münster 1550: Fol. aijr, Fol. aiijv).
Die Reiseberichte über das Osmanische Reich entstanden zwar unter der Ägide der Türkengefahr (was in den jeweiligen Vorworten zum Ausdruck kommt), waren aber vor allem Teil des zeitgenössischen ethnographischen Wissenskorpus, in dem es darum ging, ein im damaligen Interessenhorizont möglichst breites Spektrum über die „Dinge“ (so der einschlägige zentrale Begriff) zu präsentieren. Das Hauptaugenmerk dieser ethnographischen Beschreibungen lag daher anders als bei den Texten, die vor allem die Türkengefahr beschworen, weder auf den Kriegszügen und Grausamkeiten der Türken noch auf dem Zustand der bedrohten Christenheit, die sich zum Kampf zusammenschließen oder von ihren Sünden ablassen müsse. Stattdessen schrieben die Reisenden über die Hochzeitsbräuche im Osmanischen Reich, über Ess-Sitten, Ausstattungen der Häuser, Kleidung und Haartrachten, die Ämterhierarchie im Serail vom Wesir bis zum letzten Hilfsgärtner, religiöse Glaubensinhalte und -praktiken, über Christinnen und Juden und so fort (ausführlichere Beschreibung bei Höfert 2003). In diesen Berichten werden die Muslime nicht als blutdürstige, fanatische Christenmörder dargestellt, sondern in ihrem Alltagsleben beschrieben, wobei die Autoren zuweilen auch anerkennende Worte der Bewunderung finden können: „[Die Türken beten] mit viel Andacht fünfmal täglich. Das erste Gebet am Morgen nennen sie Tumzit, das zur neunten Stunde Huylleyn, das zur Vesper chedi, das zum Avemaria Axumi und das zur Schlafenszeit Iactin. (…) Bevor sich die Türken [zum Gebet] verneigen, sind sie durch ihre Religion [legge] verpflichtet, die Füße, Hände, Augen und Ohren zu waschen. Wenn sie essen und trinken, sitzen sie stets auf dem Boden oder knien. Wenn sie den ersten Bissen nehmen und wenn sie mit dem Essen aufhören, sagen sie dreimal halla halla, was Gott Gott bedeutet, womit sie ihn verehren und ihm Dank für die erhaltenen Wohltaten abstatten [Hervorhebungen v. mir].“ (Ramberti 1539: Fol. 28r; auch abgedruckt in Sansovino 1560f., Bd. 1: Fol. 120r-v.)
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„Die Türken machen bessere Einlegearbeiten als jede andere Nation, aus Marmor, Elfenbein und Holz. Man findet kleine Kästchen für Goldschmuck, die 20 Dukaten pro Stück kosten. Die Fenster von Kairo und Konstantinopel haben Intarsien aus verschiedenen Farben von Elfenbein (…).“ (Belon 1554: Fol. 206v). „Es gibt dort die Taptà Callà, das sind Speisewirtschaften, wo sie jeweils zwei frittierte Eier und Fleisch nach persischer Art zubereiten. Sie benutzen zum Fleischbraten einen großen Eisentopf, wie ein Bottich, auf dessen Boden brennende Kohlen sind, über die ein Eisenrost befestigt ist (…). Kalbfleisch essen sie nicht, weil sie sagen, dass die Kühe Milch verlieren würden, wenn man ihnen die Kälber wegnehmen würde, und dann müssten sie auf die Butter verzichten (…) [Hervorhebung v. mir].“ (Bassano 1545: Fol. 35v-36r).
Dabei handelt es sich um keine „objektiven“ Beschreibungen, wie in der älteren Forschungsliteratur häufig betont wird (Schwoebel 1967: 208; Göllner 1961: 413; Schulze 1978: 53). Jedes Beschreibungsmuster einer Gesellschaft ist an bestimmte Vorgaben gebunden – das gilt für die Frühe Neuzeit ebenso für osmanische wie für europäische Quellen (und ist darüber hinaus als Prinzip allgemein gültig). Weil diese Berichte jedoch den Gestaltungsregeln des großen Projektes der Völker- und Länderbeschreibungen folgten, ging es nicht darum, in jedem Detail nachzuweisen, dass es sich bei den Türken um teuflische Ungläubige handelte. Allerdings tauchte diese Wertung ausnahmslos in jedem Bericht zumindest an exponierten Stellen auf – das Urteil, dass es sich bei der „türkischen Religion“ um den falschen Glauben handelte, durfte letztlich auch in keinem Reisebericht fehlen: „Oben habe ich ihre Religion, so, wie ich sie gesehen habe, beschrieben, die der Klarsichtige nur als Schleier und Nebel bezeichnen kann, mit denen sie [die Türken], allen Lichtes beraubt, bedeckt sind.“ (Menavino 1548: 81) „(…) wer könnte die Grausamkeit und die überaus schändlichen Mißbräuche sowohl in den weltlichen Dingen als auch den Zeremonien des mahommedanischen Glaubens aufzählen, wie es ihr, meine Leser, nun von ihrer Waschung und Reinlichkeit erfahren habt, worin sie glauben, die Hoffnung ihres Seelenheils zu finden, wenn sie diese praktizieren, während sie innerlich mit dem Beistand ihres verblendeten Führers Mehemmet mit jeder Unflätigkeit von Freveln angefüllt den unsterblichen Gott erzürnen.“ (Georgejevi 1544: Fol. D3v.)
Im Rahmen des ethnographischen Wissenskorpus war es also üblich, aufgrund empirischer Beobachtungen vor Ort sowie anderen Reiseberichten und zuweilen auch mit Hinweisen auf antike Schriftsteller ein differenziertes Bild des Lebens im Osmanischen Reich und anderen Ländern unter muslimischer Herrschaft zu erstellen. Insofern unterscheiden sich diese Texte von den Schriften der Türkengefahr grundlegend – in letzteren ging es vor allem darum, den heilsgeschichtli-
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chen Gegensatz zwischen den grausamen, ungläubigen Türken und den bedrängten, rechtgläubigen Christen zu entwerfen. Dabei ist es bemerkenswert, dass der Sammeleifer der Ethnographen den theologischen Antagonismus der Türkengefahr in gewisser Weise unterlief. Im Rahmen des großen Projektes frühneuzeitlicher Völkerbeschreibungen bildete sich nach und nach ein Kanon allgemeiner Kategorien heraus, die als allgemeiner Leitfaden für einen ethnographischen Text dienten, anhand dessen eigene wie fremde Gesellschaften beschrieben wurden. Dieser Kanon bestand vor allem aus folgenden Punkten: geographische Verhältnisse, Herrschaftsverhältnisse („Regiment“, „Regierung“), Militärwesen, Sitten und Gebräuche sowie Religion. Mit der Kategorie der Religion wurde dabei ein grundlegender Wandel eingeleitet, denn auf der Ebene der ethnographischen Beschreibungsmuster waren die christliche und die türkische Religion nun auf einmal gleichgestellt. Diese formale Gleichstellung wurde aber insofern relativiert, weil gerade die Religion als ein zentraler Punkt diente, an dem der Unterschied zwischen dem rechten und unrechten Glauben stets markiert wurde. Damit wurde auch in den ethnographischen Texten zum Islam in der Frühen Neuzeit eine langfristig wichtige Weichenstellung in der europäischen Begrifflichkeit eingeleitet (die natürlich auch von anderen Faktoren bestimmt wurde): Zum einen führte die Entwicklung zum modernen Universalbegriff der „Religion“ zur Möglichkeit, von einer Pluralität von „Religionen“ auszugehen, denen (grundsätzlich) der legitime Anspruch auf ihre jeweilige Glaubenswahrheit zugestanden wird. Auf der anderen Seite hat die Religionssoziologie in letzter Zeit herausgearbeitet, dass der moderne Religionsbegriff die christliche Entwicklung zur „Säkularisierung“ zugrunde legte und anders verlaufene Modelle als defizitär qualifizierte (Asad 1997; Koenig 2007): „Die Selbstreflexion des Christentums als ‚wahre‘ Religion im Kampf oder in Konkurrenz mit anderen Religionen, wie sie die christliche Theologie entwickelt hat, legt damit die Fremdwahrnehmung anderer ‚Religionen‘ und letztlich auch die Art soziologischen Redens über sie fest.“ (Hahn 1993: 7). Da der Islam neben dem Judentum die wichtigste „andere“ Religion für das europäische Christentum war, spielte dieser als Gegenbegriff und negatives Spiegelbild eine durchgehend wichtige Rolle in diesem Prozess. Die lange Tradition, für den Islam von einer grundlegenden Alterität gegenüber dem christlichen Europa auszugehen und den Islam damit „überzuislamisieren“ (Al-Azmeh 1996), hat daher zu einem beträchtlichen Teil ihre Wurzeln im theologischen Antagonismus des Mittelalters und der Frühen Neuzeit.
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Europäische Erzählmuster über den Islam Wie alte Feindbilder in Geschichtsschulbüchern die Generationen überdauern Gerdien Jonker
Der Islam hat einen spezifischen Platz im europäischen Gedächtnis. Seine Wahrnehmung ist allerdings eine konfliktgeladene, die vor allem die bewaffneten Auseinandersetzungen aufzählt. Der Islam, ob nun in Gestalt von Arabern, Osmanen, Tartaren oder Türken, wird darin „als der gefährlichste und dauerhafteste Feind Europas empfunden, als Europas Antithese und Negation“ (Francois/ Schulze 1999: 25). Nicht nur die beiden Historiker Francois/Schulze kamen zu dieser Schlussfolgerung. Eine lange Reihe Wissenschaftler, die sich im Laufe des 20. Jahrhunderts mit dem nunmehr tausendjährigen Corpus europäischer Quellentexte über Muslime, darin abwechselnd „Sarazenen“, „Hagarener“, „Heiden“, „Musulmaner“, „Mooren“ oder „Türggs“ genannt, auseinandersetzte, stellte fest, dass die muslimischen Bevölkerungen an den Rändern Europas stets den Katalysator für die europäische Selbstwahrnehmung bildeten. Muslime galten als ‚nicht wir‘ und wurden als die ‚Anderen‘ schlechthin dargestellt, als der Feind vor den Toren Europas. Die Soziologie bemerkt dazu kühl, ohne Abgrenzung sei eine kollektive Identität nun einmal nicht zu haben. In diesem, für jede Gruppenbildung also unabdingbaren Abgrenzungsprozess galten Muslime somit als eine ‚nicht wir‘Gruppe. Die Grenzziehung zwischen der als ‚eigen‘ verstandenen Gruppe und den Fremden verlief allerdings nicht nur zum Süden hin – zum muslimischen Spanien, zur europäischen Türkei und zum anderen Ufer des Mittelmeers –, sie verlief ebenfalls quer durch die europäischen Städte und Landstriche. Hier verfolgte sie das Ziel, die jüdischen Gemeinden als nicht zugehörig darzustellen. Beide Wahrnehmungen und die damit verbundenen Ausgrenzungen komplettierten einander. Sie haben – jede auf ihre eigene Art – dazu beigetragen, Formulierungen dafür zu finden, was Europa ist, wo es liegt und welches seine Werte sind. Dieser Beitrag handelt vom engen Verhältnis zwischen den Fremdbildern Europas, welche den Muslimen einen bestimmten, außerhalb des Kontinents gelegenen Ort zuwiesen, und den Selbstbildern Europas, die durch jene Fremdbilder überhaupt erst ihre Konturen erhielten. Als Quellenmaterial wurden unter anderem die Narrative über die Muslime und den Islam in europäischen Ge-
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schichtsschulbüchern herangezogen. Geschichtsschulbücher enthalten Vorstellungen darüber, woher wir kommen und wohin wir gehen, wer wir sind und wie wir uns von anderen unterscheiden. Sie repräsentieren das, was gesellschaftlich an die nächste Generation weitergegeben wird und vermitteln somit einen Kernbestand von Wissen, Weltbildern und Regeln. Historisch gesehen wurden Europas Bewohner erst durch den nationalen Geschichtsunterricht zu Bürgern (citizens), die eine gemeinsame Sprache sprechen, dasselbe Territorium bewohnen und eine Geschichte teilen. Auch heute noch entstehen Bürger im Medium der (Geschichts-)Schulbücher, in denen nationale Narrative verdichtet und vermittelt werden. Daher lassen sich Schulbücher auch wie Klassifikationsschemata betrachten, wie kognitive Karten des Verstehens. Für das Studium von Selbst- und Fremdbildern bieten sie eine unverzichtbare Grundlage. Bevor wir einen Rundgang durch die verschiedenen Quellenlagen machen, noch ein Wort zu den Eigenschaften von Selbst- und Fremdbildern. Das wichtigste ist wohl: Selbst- und Fremdbilder sind kollektive Bilder. Kollektive Bilder sind wiederum Vorstellungen, die mit Hilfe spezifischer Sprachwendungen immer wieder in Erinnerung gerufen und damit gleichsam „gemacht“ werden. Sie fassen das Wesentliche zusammen ohne sich um Zwischentöne oder gar Abweichungen zu kümmern und werden bei Bedarf in jeder Lage wiederholt. Indem ‚wir‘Gruppen ‚Anderen‘ stets zuschreiben, was sie selbst nicht sind (sein wollen), bestätigt ihre Fremdbeschreibung fortlaufend ihre Selbstbeschreibung. Man könnte sagen, dass ein Fremdbild nichts anders als eine Funktion des Selbstbildes ist. Erkenntnisse über die andere Gruppe bringen sie in nur sehr geringem Maße. Selbstbeschreibungen sozialer Gruppen sind per Definition normativ and damit auch konstitutiv. Die Gruppe legt fest, wie sie sein soll, und stellt damit die Weichen für die entsprechenden Sozialstrukturen, die die Umsetzung ihrer Vorstellungen ermöglichen sollen. Systemtheoretiker erklären daher, dass die Grenze zum ‚nicht wir‘ durch die Sozialstrukturen gezogen werde. Wenn sich die ‚wir‘-Gruppe zum Beispiel als demokratisch und modern beschreibt, als individuell und den Menschenrechten verpflichtet, dann müssen ihre Sozialstrukturen garantieren, dass dem auch so ist. Ihre Gegenspieler, die so genannten ‚Anderen‘, bekommen inzwischen die Etikette, die das ‚Wir‘ partout nicht haben will: mittelalterlich und autoritär, rechtlos, gewalttätig und in einer instrukturellen Ungleichheit verhaftet. Akzeptieren diese ‚Anderen‘ das ihnen Zugeschriebene nicht, so entstehen Spannungen. Man spricht von contested stereotypes, die wiederum drei Eigenschaften zu haben scheinen: sie entstehen in bestimmten historischen Situationen, sie sind langlebig und sie weisen eine ausgeprägte Dynamik auf. In den meisten Fällen sind beide Parteien, die ‚wir‘-Gruppe und die als anders Etikettierten, eng miteinander verflochten, zum Beispiel die europäi-
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sche Kultur: „der Aufklärung verpflichtet“ und der Orient, dem Europa im Laufe der Zeit ein wahres Potpourri an negativen Eigenschaften in die Schuhe geschoben hat: barbarisch und exotisch, rückständig und fremdartig, nicht vertrauenswürdig und mit einem generischen Zug zur Gewalt ausgestattet. In gebotener Kürze sollen im Folgenden die europäischen Erzählmuster über den Islam in drei Schritten skizziert werden. Der erste Schritt stellt das tausendjährige Wissen über Muslime in Europa vor: Was wusste man zu welcher Zeit und was wurde mit diesem Wissen gemacht? Der zweite bietet einen Einblick in das Kaleidoskop europäischer Schulbucherzählungen über den Islam: Was wird wo erzählt? Der dritte verortet das Islam-Narrativ der gegenwärtigen deutschen Geschichtsschulbücher in diesen beiden Kontexten. Das Erkenntnisinteresse des Beitrags liegt darin, in Erfahrung zu bringen, inwiefern, mit welchen Mitteln und zu welchen Zwecken Europäer seit nunmehr tausend Jahren ihre muslimischen Nachbarn als generisch anders, oftmals auch als feindlich definieren. Die Leitfrage lautet: Ist das historische Erbe heute noch relevant für Repräsentationen der Zugehörigkeit zu Europa?
I.
Wissen über Muslime in Europa
Gab es eigentlich in Europa vor den Kreuzzügen Wissen über Muslime, und wenn ja, welches? Die Crónica mozarabe von 754 berichtet zwar über den Widerstand der Karolinger bei Tours und Poitiers gegen die arabischen Streifzüge, aber dem Historiker Michael Borgolte zufolge war ‚Poitiers‘ keineswegs die Entscheidungsschlacht zwischen Christen und Muslime, zu der sie im 19. Jahrhundert stilisiert wurde. Die arabischen Streifzüge fielen zwischen den vielen Einwanderern und Plünderern an Europas Grenzen kaum ins Gewicht (Borgolte 2006: 259). „Nein“, folgert auch Almut Höfert in ihrem grundlegenden Werk über die „Türkengefahr“ (Höfert 2003). Erst mit den militärischen Raubzügen Richtung Jerusalem entstand ein kriegerisches Epos, was verdecken sollte, dass die Franken in den Augen der Muslime als rohe Zeitgenossen galten und dass die Konfrontation mit der orientalischen Kultur auf europäischer Seite Unterlegenheitsgefühle ausgelöst hatte (Fontana 1995; Cardini 2000). Europas ‚Andere‘ waren zunächst die kultivierten und gelehrten Araber in Spanien und Süditalien, die die Lateiner zwar philosophi nannten, denen sie aber dennoch den Besitz einer Religion eifersüchtig absprachen. Spätestens seit die Türken vor Wien standen, begann Europa, „den Feind zu beschreiben“ (Höfert 2003) und sich zudem in der Retrospektive als christlich zu definieren (Borgolte 2006: 300). Infolge dessen bekam auch der ‚Feind‘ einen religiösen Anstrich, was sich alsbald zu einer Essentialisierung ausweitete. Der französische Histori-
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ker Fernand Braudel schrieb dieses Spezifikum der europäischen Wahrnehmung auch den muslimischen Nachbarn zu: „Die islamische Welt verhält sich zum Okzident wie die Katze zum Hund. Es ließe sich auch von einem GegenOkzident reden, wobei die Zweideutigkeit jenes tiefen Gegensatzes, der zugleich Gegnerschaft, Feindschaft und Anleihe bedeutet, mitschwingen. Germaine Tillion würde von ‚komplementären Feinden‘ reden. Sie sind tatsächlich gewaltige Feinde und Rivalen. Was der eine tut, tut auch der andere.“ (1958) In der Konfrontation mit Muslimen in Palästina, auf Sizilien und in Spanien blitzt zum ersten Mal der Gegensatz christlich-nicht-christlich als bedeutungsvolles Moment der Selbstvergewisserung auf. Es geht zunächst mit der Vorstellung vom „Abendland“ als Bezugspunkt für kollektive Selbstbeschreibungen einher. Diese Verschiebungen vollziehen sich langsam und unstetig. Das Wort Europa als Selbstbezeichnung kommt erst in einem späteren Stadium hinzu (Burke 1980). Wann aber erhält der Begriff Europa eine neue Stellung? Dafür sind die folgenden Konstellationen relevant:
Gegenüber der Türkengefahr treten Unterschiede zwischen Ost- und Westkirche zurück, und Europa wird als christliches Territorium beschrieben. Mit der Eroberung neuer Weltregionen erfolgt die Verschiebung des Horizonts – weg von Südost- und Osteuropa mit seinen orthodoxen und muslimischen Bevölkerungen hin zu Westeuropa. Die konfessionellen Spaltungen des 16. und 17. Jahrhunderts stellen einen tiefen Einschnitt und eine Zerrreißprobe dar. In dieser Umbruchzeit entsteht Europa als christliche Selbstvergewisserung und in Abgrenzung vom Islam.
Die Türkengefahr setzt dabei neben einer äußeren auch eine innere Abgrenzung in Bewegung. In den Reiseberichten und Wissenskompendien des Mittelalters wurden die Muslime bereits als leibhaftige Teufel und der Koran als ein Blendwerk voll von Lügen dargestellt. Als aber ab Mitte des 15. Jahrhunderts die lateinische Christenheit sich mit militärisch überlegenen Osmanen konfrontiert sah, bildete das überlieferte Wissen fortan die Folie, auf der empirische Berichte und damit neues Wissen über die Osmanen präsentiert wurden. Im Zeichen der Medienrevolution um 1500, die neue Vervielfältigungsmöglichkeiten und die rasante Verbreitung des medial propagierten Türkenbildes ermöglichte, verdichtete sich dieses zu einem „Antagonismusnarrativ“ (Höfert 2003; siehe auch ihren Beitrag in diesem Buch), einer Erzählung also, die gerade zum Ziel hat, der Antithese und der Negation der als anders erfahrenen ‚Anderen‘ Ausdruck zu verleihen. Das erste vollständige Produkt der Druckerpresse im Oktober 1454 war nicht etwa die Bibel, sondern ein Turcicum, ein so genannter Türkenkalender, das früheste gesicherte Druckwerk, das zur Propagierung eines Kriegs gegen die Türken diente: Eyn manung der cristenheit widder die durken. Ihm folgte im
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Dezember des gleichen Jahres der Türkenkalender für 1455 (Höfert 2003:58). Anschaulich wird hieran auch die von Benedict Anderson vertretene These der Allianz von Buchdruck und Reformation, also die enge Koppelung von konfessioneller Spaltung und Medienrevolution (1991). Diese Grenzziehungen sind gleichwohl nicht eindeutig. Auf dem Frontispiz vom „Theater wichtiger Städte der Welt“ von Georg Braun (1594), auf dem weibliche Gestalten die Kontinente und prächtig gekleidete Männer die zivilen Bürger der Zeit verkörpern, wird zum Beispiel ein Osmane in einem intensiven Gespräch mit seinen beiden Nachbarn dargestellt (Schneider 2006:13). Schneiders Rundgang durch die Enzyklopädien der Frühen Neuzeit macht klar, dass die Osmanen zugleich der zivilisierten Welt zugerechnet wurden. Im Übergang zum 18. Jahrhundert findet der bewundernde Blick – mit abschätzigen Meinungen vermischt – Eingang in Darstellungen, die die Osmanen als exotisch und effeminiert hochstilisieren (Exotische Welten).1 In diesem Jahrhundert der Aufklärung und Zivilisation, der Rationalität und der Wissenschaft setzt sich die gelehrte Welt auch mit dem Koran auseinander, insbesondere durch die Übersetzungstätigkeit. Im Urteil der Übersetzer, das stets im Vorwort kundgetan wird, dominiert zwar über den Islam das Wort Lügengespinst, es setzt sich aber zugleich auch der Versuch durch, sich dem Werk objektiv, also wissenschaftlich zu nähern (Rehrmann 2001). In Deutschland wird hiermit die Basis für die philologische Arbeit mit dem Corpus der islamischen Tradition gelegt. In Frankreich und den Niederlanden vermischt sich die Beschäftigung mit den Erfahrungen (empirisches Wissen!) der Kolonialverwaltungen. Es bleibt gegenwärtig schwierig einzuschätzen und stellt ein Desiderat dar, wie diese unterschiedlichen Überlieferungsstränge der Literaten, Philologen und Philosophen im 19. Jahrhundert ins Wissen Eingang fanden. Das reich bebilderte Buch Mythen der Nationen illustriert jedoch, dass der Islam im Zuge der Nationalstaatenbildung bereits einen spezifischen Platz in der Populärkultur vieler europäischer Länder zugewiesen bekommen hatte (Flacke 1998). Der Charakteristik nach handelte es sich bei diesen Darstellungen um die bereits eingangs erwähnte konfliktgeladene Wahrnehmung, in der sich vor allem die bewaffneten Auseinandersetzungen aneinander reihten. Der Islam – gemeint waren die Bevölkerungen, die mehrheitlich muslimisch waren – wurde darin als Feind Europas empfunden. Damit war Europas alter ego – was es selbst nicht sein wollte – fest in der Selbstwahrnehmung verankert. Den Wissenschaftlern blieb somit nur noch festzustellen, dass die muslimischen Bevölkerungen an Europas Grenzen einen Katalysator für die Selbstwahrnehmung bildeten. Insbesondere die südosteuropäische Grenze hielt die ungesicherte Identität Europas wach (Todorova 1
Exotische Welten (1987): Exotische Welten, europäische Phantasien. Ausstellung des Instituts f. Auslandsbeziehungen. Aug.-Nov. 1987. Stuttgart-Bad Canstatt: ed. Cantz.
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1997), aber auch die Selbstwahrnehmung der christlichen Spanier, die das muslimische Spanien bis heute größtenteils aus dem kollektiven Gedächtnis bannen (Viladrich-Grau 2009) sowie die zahllosen Versuche des russischen Zentrums die Alleinherrschaft einer orthodoxen Identität zu installieren und jede Erinnerung an seine umfangreichen autochthonen muslimischen Bevölkerungen auszumerzen (Gibatdinov 2009). Schließlich sei angemerkt, dass die zweite Medienrevolution am Ende des 20. Jahrhunderts die alte Wahrnehmung mit einer neuen Bilderflut überlagerte, deren Niederschlag auch in den heutigen Geschichtsschulbüchern zu finden ist (siehe unten). In der Forschung wird daher die Frage verhandelt, ob das Muster des früheren „Antagonismusnarrativs“ die Kriterien für die Auswahl neuer Bilder über Muslime (Fundamentalismus, Terror) weiterhin anleitet (Hafez/Richter 2007). Bietet das ‚alte‘ europäische Wissen über den Islam Sedimente, die durch gegenwärtige Herausforderungen (Stichwort: 11. September 2001) und demographische Veränderungen (Migration) lediglich aktualisiert werden? Oder werden sie durch EU-Normen allmählich überlagert? ‚Passt‘ das historische Erbe noch?
II. Das Kaleidoskop der europäischen Schulbucherzählungen In den europäischen Schulbüchern folgt das Thema „Islam“ den Fußspuren dieser althergebrachten Wahrnehmung (siehe für den folgenden Abschnitt auch Jonker 2008). Es wiederholt Erzählfetzen kollektiver Erinnerungen und historischer Phantasien, die zwar praktisch überall in Europa negativ geprägt waren, aber dennoch in Süd- oder Nord-, Ost-, Zentral- oder Westeuropa mit jeweils anderen historischen Eindrücken angefüllt worden sind. Die arabische Expedition, die 732 bei Poitiers und Tours scheiterte, wurde 1851 von Edward S. Creasy als einer der 15 „entscheidenden Schlachten der Welt“ gekürt, als „Europas Rettung vor dem zivilen und religiösen Joch des Koran“ (Creasy 1994: 157). Seitdem findet sie Aufnahme in den deutschen Schulbüchern, nicht aber in französischen oder spanischen. Der Mythos der Kreuzzüge ist seit dem 19. Jahrhundert ein Dauerbrenner in polnischen, österreichischen, deutschen und niederländischen Geschichtsbüchern, nicht aber in den skandinavischen Ländern oder in Italien. Russische, baltische und polnische Geschichtsbücher assoziieren „Islam“ zuallererst mit „Tataren“, jener mittelalterlichen Bezeichnung der Gruppe von Mongolen, die bis ins westliche Polen vorgedrungen waren (tartarus = Hölle). Niederländer, Engländer und Franzosen wissen nicht um diese europäische Wahrnehmung, sondern betrachten die islamische Welt durch die Linse ihrer Kolonialvergangenheit.
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Italiener und Spanier, aber auch Norweger und Schweden verbinden mit „Islam“ den freien Handelaustausch. Die ersten beiden betrachten heute nur zögernd die Orte und Zeiten, in denen sie selber zur pax arabica gehörten, als Teil der eigenen Geschichte. Schon das allein ist wiederum für die Griechen ein Ding der Unmöglichkeit. Dementsprechend gehört die vierhundertjährige Periode der osmanischen Herrschaft im griechischen Schulbuch nicht zur eigenen Geschichte und verschwindet in äußerst knapp gehaltenen ‚Feind‘-Beschreibungen. Island ist das einzige europäische Land, das bisher kein Islam-Narrativ in seinen Schulbüchern anbietet. Der Grund dafür dürfte sein, dass die Insel nicht nur keine historischen Erfahrungen mit fernen, andersgläubigen Nachbarn hatte, sondern dass die Isländer in ihrer Geschichte auch kein Interesse an einer Abgrenzung verfolgten. Diese verschiedenen Narrative über den Islam bilden kleine Erzählblöcke im Gesamtnarrativ der nationalen Geschichtsschulbücher. Der Lehrstoff für die sechste Klasse beginnt in der Regel mit der Steinzeit („Wo kommen wir her?“), um sich dann der „Wiege der Zivilisation“ zuzuwenden: dem alten Griechenland und dem römischen Reich, der Zeit der Völkerwanderung mit der Ankunft der Germanen in Europa und deren Verortung in einer christlichen Gemeinschaft. Ist dieser Bogen gespannt, dann haben die arabischen Stämme ihren Auftritt als „Eroberer“ an den Küsten Europas oder als eine der „drei Weltreligionen“. Das begleitende Bildmaterial zeigt meistens die Kaaba, Massenansammlungen von betenden Gläubigen, berühmte Moscheen und verschleierte Frauen. Auf dieser historischen Grundlage, die sich örtlich vom 17. Jahrhundert bis in die Gegenwart nachvollziehen lässt (siehe unten), halten seit dem 11. September 2001 neue Erzählungen Einzug in die Schulmedien. Islamismus, Terrorismus, rauchende Türme, schwarz verhüllte Frauen, abgehackte Hände und Steinigungen werden als Sinnbilder des Islam dargestellt. Die alte Essentialisierung des „Anderen“ als religiös, rückständig und nicht kompatibel mit europäischen und „westlichen“ Werten erfuhr damit einen neuen Aufschwung. Zusammenfassend kann erstens festgehalten werden, dass die unterschiedlichen Regionen Europas bis heute ihre Klischees und Stereotype über die muslimischen Nachbarn weitervermitteln, ohne sich über deren Herkunft und Sprengkraft groß Gedanken zu machen. In Österreich hat seit 2003 die Erzählung Hilfe, die Türken kommen! Eingang gefunden. In den polnischen Geschichtsbücher schauen neben Usama bin Laden die schwarz verhüllten Frauen von den Seiten hoch. In Russland rösteten die Tataren nach wie vor die armen Russenkinderchen am Spieß. In England stellt man Muslime gleich mit dem Mittelalter. Spanien wartet mit Karten der Vertreibung auf und die Niederländer – und nicht nur sie – diskutieren „van Gogh“ – Theo van Gogh, den 2004 ermordeten „Islamkritiker“. Es scheint so, als seien die europäischen Schulbuch-Erzählungen über den Islam Facetten eines europäischen Gründungsnarrativs, dessen Elemente und
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aktuelle Anreicherungen in einer longue durée verankert sind. In ihr haben verschiedene lokale historische Erfahrungen ihre Spuren hinterlassen. Ihre vorläufige Kartografie in den verschiedenen Teilen Europas zeigt uns ein kaleidoskopisches Bild. Südliche Länder (Spanien, Italien) integrieren die Begegnungen im Mittelmeerraum und die Reconquista. Die zentraleuropäischen Länder der ehemaligen Österreichisch-Ungarischen Monarchie halten die Erinnerung an die Türkengefahr wach. Die östlichen Länder Russlands bringen gegenwärtig (wieder) alte Bilder von blutrünstigen Tataren zur Darstellung. Die westlichen Länder (England, Frankreich, Niederlande) vermischen koloniale Erfahrungen mit der Realität der Migration.
III. Muslime und Islam in den deutschen Geschichtsschulbüchern Das gegenwärtige deutsche Narrativ fußt auf einem Erzählmuster, das in den ersten deutschen Geschichtsschulbüchern, die nach dem dreißigjährigen Krieg überall in Nord- und Mitteldeutschland erschienen, entwickelt worden war. Die flexible Fortschreibung dieser Texte scheint typisch für die protestantische Produktion von Geschichtsbüchern in den deutschen Ländern zu sein. Außer Berlin haben wir Erfurt, Helmstedt, Gotha und Nürnberg als Produktionsorte von Geschichtsbuchgenealogien identifizieren können (siehe für den folgenden Abschnitt auch Jonker 2008). Geschichte war bis dahin eine Art Rumpelkammer gewesen, die dazu gedacht war, das Fach Latein mit Faktenwissen zu unterstützen (Fuhrmann 1999: 126). Die vielen Auflagen und die weite Verbreitung von Geschichtskompendien a studioso iuventute aus der Hand spätantiker Autoren zeugen indes davon, dass die Annäherung an die Geschichte hernach in den Schulen in Gebrauch blieb. Daneben entstanden in lutherischen Städten wie Gotha, Erfurt, Jena, Nürnberg, Helmstedt und Berlin aber auch Cluster von Gelehrten, die unter der Schirmherrschaft eines Fürsten ein neues Geschichtsbuch für „ihre“ Schule schrieben. Mit dabei waren meistens der Rektor des Gymnasiums, der örtliche Pfarrer, ein Theologe, ein Spezialist für antike Sprachen und ein Verleger; die Co-Autoren fanden meist in der Widmung eine Erwähnung, so zum Beispiel im frühesten Geschichtswerk lutherischer Provenienz, der Historicae Geographicae von Sebastian Schröter, das bereits 1614 in Erfurt verlegt wurde. In diesen Büchern fand nicht nur die Faktenanhäufung über Kreuzzüge, Sarazenen und Türkenkriege aus dem evangelischen Geschichtskalender einen Platz, sondern es wurden auch wiederholt Versuche unternommen, das gesamte historische Wissen übersichtlich und sinnvoll zu ordnen. So entstanden Geschichts- und Geographiekompendien, die über mehrere Generationen immer wieder von neuem geordnet
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und fortgeschrieben wurden, bis sich ein ‚Master-Narrativ‘ abzeichnete, das den Vorstellungen der lutherischen Fürsten und Experten entsprach. Wie das im Einzelnen ablief, soll im Folgenden am Beispiel der Geschichtsbücher des Joachimthalschen Gymnasiums in Berlin erklärt werden. 1682 publizierte der Rektor des Joachimthalschen Gymnasiums eine kleine Abhandlung, in der er die Geschichte der gesamten Welt ins Auge fasst (Wilhelmi 1682). Offensichtlich hatte das Büchlein seine Leserschaft auch über das Gymnasium hinaus erlangt, jedenfalls ergriff der Verleger einige Zeit später die Initiative, die ursprüngliche Ausgabe von 154 Seiten auf nunmehr 1.070 Seiten auszudehnen (Wilhelmi 1696). Der Text wurde inhaltlich in fünf Weltreiche unterteilt, das Resultat erscheint aus heutiger Sicht dennoch als unübersichtliche Anhäufung biblischen, antiken und kirchengeschichtlichen Wissens. Hinzu kam ein Sammelsurium an Kalendereintragungen aus neuerer Zeit, von den Kreuzzügen über osmanische Niederlagen zu Felde bis hin zur Sichtung eines Kometenschweifs in Form eines türkischen Säbels. Es waren allesamt kurze, zusammenhangslose Eintragungen nach dem folgenden Erzählmuster: „Unter Pabst Urbano Anno 1095 haben die Christen das heilige Land wieder erobert/ und es 88 Jahr einbehalte. In dieser Zeit ist der Ordo Canonicorum seu Regularium aufkommen Anno 1070/ wie auch die Karteuser von Brunone.“ (Wilhelmi 1696: Monarchiae Quartae/Imperatores Christiana) Die zweite Ausgabe war aber offensichtlich kein Erfolg; sie wurde zumindest nicht wieder aufgelegt. Dafür erschien bereits 1723 aus der Hand von Hilmar Curas, Lehrer am selbigen Gymnasium, eine Einleitung zur Universalhistorie, die die Arbeit seines Vorgängers wieder aufnahm. Statt der Einteilung in Weltreiche, wählte der Autor diesmal eine teleologische, heilsgeschichtliche Strukturierung (Curas 1723). Curas teilte die Vergangenheit in drei übersichtliche Epochen, welche der christlichen Heilsgeschichte Zentralität einräumten, nämlich: „Von der Erschaffung der Welt biß auf die Sündfluth“; „Von der Sündfluth biß auf die Geburt Christi“, sowie „Von Christi Geburt biß auf diese Zeit“. Den jeweils anfallenden Stoff teilte er in Fragen und Antworten. Auf diese Weise kam er auch auf die Türken zu sprechen: „Was ist vom Constantino Paleologo zu merken? Er ist der letzte christliche Kayser gewesen, und zu seiner Zeit haben die Türken Constantinopel erobert. / Wie gieng es dem Kayser bey der Übergabe? Er kam in der Übergabe um das Leben, sein Haupt wurde auf eine Stange gesetzt und von den Türken herum getragen. Die Stadt wurde geplündert, alles niedergemachet, und grausam gehauset.“ (Curas 1723: 88) Diese kurze Eintragung schien aber doch auf ein Bedürfnis nach mehr Information zu stoßen. Jedenfalls fügte der Autor dem Buch noch einen achtseitigen Anhang hinzu, dem er den Titel Von den Türken gab. Hier findet sich der Beginn der Schulbucherzählung über „den Islam“. Curas Fragen und Antworten produ-
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zieren ein Erzählschema, das das Islam-Narrativ in den deutschen Geschichtsschulbüchern bis heute bestimmt. Seine Frage „Wer war dieser Mohamet?“ betraf das Leben des Propheten. Auf: „Wie befestigte er diese Religion?“ folgte eine Pauschalbeurteilung des Islam. Curas dritte Frage: „Wie fieng es weiter an?“ führte zur Geschichte der frühen Reiche. Mit: „Welche Länder bemächtigten sich die Saracener?“ leitete er zum arabischen Angriff auf die europäischen Küsten im Mittelmeer über. Zahlreiche Fragen über Die türkische Bedrohung gaben ihm zudem Gelegenheit, die „Aggression“ der Angreifer im Detail darzulegen. Ein halbes Jahrhundert später wurde das Werk erneut fortgeschrieben. Diesmal war es der Theologe und Historiker Matthias Schröckh, der sich daran machte, die schlichten Fragen und Antworten seines Vorgängers in einem zweibändigen, 900 Seiten umfassenden Werk umzuschreiben, das später mit dem Titel Weltgeschichte für Kinder bis weit in das 19. Jahrhundert nachgedruckt werden sollte (Schröckh 1774). Die Erzählung Über den Türken wird darin unter dem Titel Über den Araber fortgeführt. Ende des 18. Jahrhunderts war die akute Kriegsdrohung der Türken bereits in zeitlich weite Ferne gerückt; die lutherischen Bildungsschichten interessierten sich so für den Islam eher als eine „natürliche Religion“ und für die Osmanen eher als Produzenten exotischer Kulturgüter. Türkische Alltagsszenen wurden in Meißener Porzellanfiguren abgebildet. Der preußische König schenkte dem türkischen Gesandten einen islamischen Friedhof in Berlin (Rehrmann 2001). Schröckh schrieb eine weitgehend säkularisierte Weltgeschichte. Darin stellte er den Islam im Kontext der Weltreligionen dar und betrachtete ihn unter rationalen, fast wissenschaftlichen Gesichtspunkten. Das Erzählschema blieb jedoch einfach gestrickt und orientierte sich im Wesentlichen an dem seines Vorgängers. Es umfasste die Schritte: (a) Mohammed steht für eine neue Religion; (b) dies führte zu Angriffen auf Europa; (c) dagegen mussten sich die Europäer mit Hilfe der Kreuzzüge verteidigen. Mit einer Erzählung von 50 Seiten nahm Schröckh übrigens auch jene ausgedehnten Erzählungen über „den Islam“ vorweg, die im 19. Jahrhundert die Geschichtsbücher dominieren sollten; Ludwig Bauer etwa widmete dem Thema insgesamt 160 Seiten (Bauer 1836). Das gegenwärtige Narrativ führt Teile dieses historischen Erzählmusters fort. Seit den 1990er Jahren ist es um eine Erzählung über „Gastarbeiter“ aus der Türkei ergänzt worden, die von „Frauen“ und „Fundamentalismus“ flankiert wird. Demnach umfassen die gegenwärtigen Erzählelemente folgende Einheiten:
Mohammed und die Entstehung des Islam Der Koran und die religiösen Pflichten Dschihad and arabische Kultur in Spanien Die Kreuzzüge, gefolgt vom „Leben im Heiligen Land“ Die Begegnung der Religionen früher und heute
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Gegen Ende der Gesamterzählung, wenn die Geschichtsbücher den Stoff für die 10. Klasse bereitstellen, folgt in manchen Werken ein Kapitel über „Reislamisierung und Fundamentalismus“. Andere wenden sich an dieser Stelle aktuellen Debatten zu, deren Themenpalette vom „Kopftuchstreit“ über „Moscheebau in deutschen Städten“ bis zur Frage reicht, ob die Türkei Teil der Europäischen Union sein könne. Die neuesten Bücher zeigen Fotos von Usama bin Laden sowie die brennenden Twin-Towers nach den Anschlägen vom 11. September 2001 und diskutieren den clash of civilizations.
Zum Schluss Ohne Selbstbeschreibung kann sich weder kollektive Zugehörigkeit noch Integration artikulieren. Die Niederländer grenzen sich von den Deutschen ab und die Belgier wieder von den Niederländern. Die Briten ziehen eine Grenze zwischen sich und dem „Kontinent“ und dem neu erwachten russischen Patriotismus erscheint es im Augenblick eine Notwendigkeit zu sein, sich von Westeuropa abzugrenzen. Die Amerikaner ziehen seit dem 11. September eine Grenze quer über den Globus, auf der einen Seite sehen sie ihre friends, auf der anderen Seite die rogue states. Europa grenzt sich von seinen muslimischen Nachbarn am anderen Ufer des Mittelmeers ab und zieht allerlei Grenzen quer über den Balkan, die seine Distanz zur Türkei zum Ausdruck bringen sollen. Manche dieser Grenzziehungen finden in diesem Augenblick statt, andere schauen auf eine lange Tradition zurück. Was sie gemein haben ist, dass sie in Zeiten von Spannung, der Empfindung von Bedrohung oder Kriegsgewalt entstanden sind. Kollektive Erinnerungen, die durch Angst hervorgerufen wurden, haben bekanntlich einen langen Schatten, länger als die längsten Zeiten friedlicher Koexistenz. Dennoch verschieben sich solche Grenzziehungen ständig. Solange sie die gegenwärtige Selbstwahrnehmung unterstützen und für die ‚wir‘-Gruppe nützlich sind, können historische Sedimente mit Aktualität aufgeladen werden. Verlieren sie diese Rolle, so verschwinden auch die Feindbilder. Niederländer porträtieren den Deutschen gerne als Nazi-Schurken, der vor siebzig Jahren das Land besetzt hielt, aber wenn es um Geschäftspartner oder Ferienbegegnungen geht, lassen sie diese Zuschreibung schleunigst fallen. Großbritannien portraitiert sich selbst gerne als weltweites empire, das der EU finanziell haushoch überlegen ist, doch seit Beginn der Finanzkrise 2007/2008 überlegt es sich, dem Euroraum vielleicht doch beizutreten. Die muslimischen Nachbarn Europas haben ihre Spuren in den kollektiven Erinnerungen hinterlassen. Mit dem Ende des OstWest Konflikts, Anfang der 1990er Jahre, als man feststellte, dass im erweiterten Europa circa 22 Millionen Muslime leben, begannen EU-Politiker und Wissen-
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schaftler, Nichtregierungsorganisationen und Nachbarschaftsinitiativen, Muslime und Nichtmuslime aktiv darüber nachzudenken, wie sich das Bild, das die einen vom anderen haben, in eine ‚wir‘-Empfindung ummünzen lässt. Sind aber die europäischen Erzählmuster über den Islam, die die Darstellungen über Muslime in Geschichtsschulbüchern beeinflussen, nun Ausdruck einer allgemein vorherrschenden Islamfeindlichkeit? Ich meine, dass sie vor allem Ausdruck althergebrachter Vorbehalte sind, die ihren Ursprung in längst vergessenen Ängsten haben. Dieses historische Erbe kann durch Aktualität durchaus neu entstehende Ängste unterfüttern. Die Aktualität kann sich aber auch dahingehend entwickeln, dass das Erbe seine Bedeutung verliert und verblasst. Entscheidend wird sein, wie sich Europa in den kommenden Jahren auf globaler Ebene definieren wird: als Draufgänger, als Kolonialmacht oder als eine unter vielen Weltregionen, die sich ihrer Abhängigkeit von anderen Teilen der Erde bewusst ist.
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Europäische Erzählmuster über den Islam
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„Sie meinen, die Christen hätten einen falschen Glauben […].“1 Zum Islambild in der deutschen Literatur am Beispiel einiger Persienberichte des 17. Jahrhunderts Hamid Tafazoli
Ein Mensch nimmt sich mit, wenn er wandert.2 (Ernst Bloch)
Seit der Ausbreitung des Islam über den Vorderen Orient bildet seine Darstellung ein wesentliches Teilgebiet der Orient-Bilder. Die islamische Religion hat sich somit zu einer unverzichtbaren Komponente im Diskurs über den Orient3 entwickelt wie die Sprache, die Literatur und die Politik.4 Im November 2007 erschien ein aus einer Bielefelder Tagung hervorgegangener Sammelband mit dem Schwerpunkt auf der Auseinandersetzung mit den islamischen und nichtislamischen Kulturen des Orients. Der Herausgeber betrachtet die „Voraussetzungen eines Dialogs“ in der „Fähigkeit zur Unterscheidung zwischen Religion und Kultur“ (Bogdal 2007: 7); anderenfalls bildeten sich klischeehafte Wahrnehmungen, setzte man die Entwicklung unterschiedlicher Kulturräume des 1 2 3 4
Mandeville 2004: 160. Bloch 1970: 49. Hier: Reiseform des Wissens, Faustplan. S. stellvertretend in den neueren historisch orientierten literatur- und kulturwissenschaftlichen Arbeiten Ardalan 2003: 199-242 und Calikbasi 2004: 103-126. Der Diskurs über den Orient widmet sich nicht nur der Weltanschauung und Philosophie der orientalischen Kulturräume, sondern auch deren Sprache, Literatur, Politik und Religion. Als literaturwissenschaftliche Theorie, die den Orient als einen kollektiven Kulturraum zum Gegenstand der Untersuchung macht, ist er ein Begriff, der sich präziser bestimmen lässt, und er kann in literatur- und kulturwissenschaftlichen Arbeiten die traditionelle Bezeichnung der Orientalistik als Wissenschaft mit verschiedenen Subdisziplinen ersetzen (vgl. Tafazoli 2007: 3236, 72-76). Die Orientalistik umrahmt zum einen diejenigen Forschungsbereiche, die ihren Schwerpunkt auf das orientalische Gebiet nach der Herausbildung des Islam legen, womit ihre religiös dominierende Dimension unmittelbar zusammenhängt. Neben den sich an geographischen Bestimmungen orientierenden Einschränkungen wurde die Orientalistik, vor allem im ausgehenden 20. Jahrhundert, auf Teildisziplinen Iranistik, Arabistik, Islamwissenschaft, Turkologie und Semitistik aber auch Afrikanistik, Archäologie und Kunstgeschichte erweitert (vgl. nun die Dissertation Ellingers 2006: 2).
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Orients mit der des Islam gleich. Konfliktreicher werde eine nur religiös geprägte Auseinandersetzung mit den orientalischen Kulturen auch deshalb, weil die ersten Kulturkontakte zwischen Orient und Okzident unter „ungünstigen Bedingungen der Kreuzzüge“ stattgefunden haben (Bogdal 2007: 8). Zu solchen „ungünstigen Bedingungen“ muss man aber auch die so genannten Türkenkriege zählen, die die Basis zur Darstellung eines abendländischen Türken-Bildes, eingehüllt in ein islamisches Feindbildkonstrukt, bildeten (Calikbasi 2004: 105). So treffend Bogdals Hinweis auf religiöse Feindbilder sein mag, so fraglich scheint seine Bemerkung dazu, ob eine solche strikte Trennung – zumindest in den seit dem 10. Jahrhundert andauernden kulturhistorischen Studien – überhaupt möglich ist. In Anbetracht der Problematik in dem gegenwärtigen Dialog zwischen Okzident und Orient, aber auch zwischen Vertretern eines und desselben Kulturraums, fällt es uns doch schwer, eine Trennlinie zwischen Religion und Kultur zu ziehen, zumal die Religion in einen kulturellen Kontext gehört und mitunter eine Reihe von öffentlich-gesellschaftlichen Konflikten verursacht.5 Außerdem sind religiöse Texte ein Bestandteil der Literatur und somit auch der Kultur. Einer Kultur angehören heißt, gemeinsame Werte vertreten; aus der Gemeinsamkeit rührt ein kollektives Handeln her; kollektiv handeln können wir überhaupt nur durch Identifikation mit bestimmten kulturellen Gruppenwerten; und Religion ist einer dieser Werte. Mit der Kultur der Aufklärung unvereinbar ist jedoch, den Wert eines Menschen nur auf die starre Form des religiösen Glaubensbekenntnisses zu reduzieren und den gesamten Kulturbereich durch eine religiöse Brille zu betrachten. Die Relativierung und Beseitigung von Vorurteilen, Klischees und Verherrlichungen der eigenen Kultur, aber auch der anderen Kulturen und Religionen ist das Hauptanliegen eines wissenschaftlichen Dialogs jenseits von populistischen Talkshows und politischen Roundtables, die sich um höhere Einschaltquoten und Stimmen bringende Wahlkampfthemen bemühen. Das Thema Religion – weniger das Christentum und Judentum als vielmehr der Islam mit seinen unterschiedlichen Glaubensrichtungen – sowie die Frage nach dem Zusammenleben verschiedener Religionen in einer pluralistischen Gesellschaft bilden spätestens seit dem 11. September 2001 den wesentlichen Bestandteil kulturwissenschaftlicher Arbeiten, die deutlich vor Augen führen, dass eine Reihe von Vorurteilen 5
Der Historiker Peter Claus Hartmann verlangt im Hinblick auf das vereinte Europa und auf die EU-Erweiterung die intensive Beschäftigung mit unterschiedlichen Kulturen der EUMitgliedsstaaten, um die Identität der Regionen und Staaten zu bewahren. Das wesentliche Fundament der europäischen Kulturen sei die Religion (Christentum). In den Kulturen Europas hat sich nicht nur das Christentum in verschiedenen Konfessionen entwickelt; das Judentum und der Islam sind ebenfalls vertreten. Eine historische Analyse des „Wechselspiel[s] von Religion und Kultur“ sei deshalb grundlegend für die Identitätsbewahrung der jeweiligen Kulturen (vgl. 2006: 7).
„Sie meinen, die Christen hätten einen falschen Glauben […].“
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und Stereotypen – sie können positive oder negative Konnotationen hervorrufen – eine historische Dimension hat und unter anderem auch in der Literatur vorkommt. Aus diesem Blickwinkel wird hier das Islam-Bild (oder besser formuliert, die Islam-Bilder) in den Anfängen seiner Entstehung in der deutschen Literatur in einem kursorischen Vergleich am Beispiel Persiens untersucht. Mit der Entstehungsfrage des Islam-Bildes sind unmittelbar verbunden die Frage erstens nach dem Medium, durch das ein Islam-Bild überhaupt verbreitet werden konnte, zweitens nach dem Zeitraum, in dem dies geschah und drittens nach der Qualität des Islam-Bildes in den Anfängen seiner Entstehung.
I.
Reiseberichte als Medium zur Verbreitung fremder Bilder
Seit der Antike ist das Reisen die Möglichkeit par excellence, um sich fremden Kulturräumen zu nähern. Als ebenfalls traditionsreich zeichnet sich der Reisebericht als Medium der Vermittlung von Erfahrungen und Erlebnissen auf einer Reise aus. Mit dem Reisen verband man schon im Zeitalter der Entdeckungen neben der Erfüllung von missionarischen, wirtschaftlichen und politischen Aufträgen auch die Absicht, Neues zu sehen, zu erfahren und kennen zu lernen. Im Vordergrund stand auch, wie viel Nutzen der Reisende aus der Reise für das eigene Leben und Vaterland ziehen konnte (Beller 2006: 105-124). Dieser Nutzen lag zum Teil in der Veröffentlichung der Erlebnisse und Erfahrungen auf der Reise und am Reiseziel in Form von Reiseberichten. Als „sprachliche Darstellung authentischer Reisen“ (Brenner 1989a: 9) reicht die Tradition des Reiseberichts bis in die griechische Antike zurück und gehört somit zu den ältesten Gattungen der abendländischen Literatur. Sowohl für die Antike als auch für die mittelalterliche Literatur galten das Reisen als Schlüsselaspekt und die Reiseberichte als einziges Medium zur „Darstellung soziokultureller Andersartigkeit“ (Harbsmeier 1982: 15). Insbesondere der mittelalterlichen Reiseliteratur misst Paul Gerhard Schmidt die Eigenschaft einer an „Mobilität gebundenen Literatur“ (1999: 157) bei, denn bei der Bewegung zwischen der so genannten Heimat und der Fremde agiert der Reisende als Produzent und Rezipient zugleich. Diese Eigenschaft lag den frühneuzeitlichen Reisen und den zeitgenössischen Reiseberichten zugrunde, so dass diese als das „Medium der Welterfahrung“ und als „Informationsmonopol“ galten, in dem sich Vorstellungen und Wahrnehmungen über fremde Länder und Gesellschaften finden ließen (Brenner 1989b: 38). Das frühneuzeitliche Zeitalter ist für die deutschsprachige Reiseliteratur insofern von Bedeutung, als sich hier eine literarische Gattung zu manifestieren begann, deren Tradition bereits mit den Pilgerreisen im 14. Jahrhundert als der ersten Möglichkeit einer geographischen und kulturellen Grenzüberschreitung begonnen hatte
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Hamid Tafazoli
(Brenner 1990: 1); ihren Höhepunkt wird sie im 18. Jahrhundert erreichen. Festzuhalten ist, dass Reiseberichte als Texte Erfahrungen von reisenden Autoren vermitteln, die ihren eigenen Kulturraum verlassen und geprägt von Vorstellungen und Kenntnissen der Ausgangskultur einen bisweilen fremden Kulturraum betreten. An ihnen zeigt die Literaturforschung jedoch weniger Interesse hinsichtlich ethnohistorischer Sachfragen, denn die subjektive Denkweise und die egozentrische Betrachtungsweise von Reiseberichtautoren bei der Wahrnehmung kultureller Andersartigkeit stellen meistens bei einer objektiven Berichterstattung über das bereiste Land und dessen fremder Kultur große Hindernisse auf, weswegen auch Reiseberichte mit viel quellenkritischer Vorsicht zu genießen sind. Wie jeder andere literarische Text werden auch Reiseberichte in ihrem Produktions-, Rezeptions- und Wirkungsprozess untersucht. So stellen sich etwa die Fragen, inwiefern das Bild, das ein Reisender von fremden Menschen oder Gesellschaften zu vermitteln versucht, von dem Bild gefärbt ist, das er von sich und seiner eigenen Gesellschaft hat; von welchen Kriterien die Beschreibungssituation, die sich zwischen dem Selbstbild des Eigenen und dem Fremdbild des Fremden bewegt, beeinflusst wird. Wie glaubhaft ist das Bild der Fremde überhaupt, das der Reisende schildert? Die Wirklichkeitsauffassung und Wirklichkeitswahrnehmung des Reisenden und die Authentizität des Reiseberichts sind also relevante Aspekte in den literaturwissenschaftlichen Untersuchungen.6 Ein Maß an Glaubwürdigkeit wird Reiseberichten verliehen, wenn sie als „eigentliches Erkenntnisobjekt“ betrachtet werden und nicht als „Quelle zu den beschriebenen Ländern oder der literarischen Phantasie ihrer Autoren“; mit anderen Worten sind sie als „Zeugnisse für die spezifische Denkungsart des Verfassers“ und „für die Mentalität seines Heimatlandes anzusehen“ und sie werden in diesem Sinne als „eine Art unfreiwilliger kultureller Selbstdarstellung der Ausgangskultur verstanden.“ (Harbsmeier 1982: 1f) Bei der Beschreibung fremder Kulturen scheinen Autoren einen Dualismus der Ausgangskultur und der Zielkultur darzustellen. Dieser Dualismus bildete bereits bei Herodot die Perspektive auf die Fremde, wenn immer er etwa von Griechen und Barbaren sprach. In einer solchen dichotomischen Denkstruktur von Wir und den Fremden spiegelt die Fremde im Grunde die kulturelle Selbstdarstellung nicht allein des Autors, sondern auch seines Publikums wider. Die Darstellung der Fremde in Reiseberichten unterliegt also „Vorstellungen, welche die eigene Kultur [des Reisenden] hervorgebracht hat.“ (Brenner 1989b: 15) Demnach beschreiben Reiseberichte nicht allein eine fremde Kultur, sondern auch eine „Vielzahl der Verflechtungen und Abhängigkeiten“, die einerseits zwischen den fremden Kulturen untereinander und andererseits im „Verhältnis zur Ausgangs6
Zur Frage der Authentizität des Reiseberichts in den literaturwissenschaftlichen Studien vgl. Stewart 1978: 101-186.
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kultur bestehen.“ (Harbsmeier 1982: 13) Dieser Verhältniskomplex werde laut Michael Harbsmeier im Rahmen der internationalen Kommunikation und Interaktion durch kulturelle Erscheinungen gestaltet, zu denen „Krieg, Mission, Handel, Diplomatie, Kolonialismus, Pilgertum, Imperialismus, Entwicklungsbeistand oder auch Massentourismus“ zählen, die Harbsmeier als „unabdingbare Bedingung und Voraussetzung für das Wachstum der Gattung der Reisebeschreibung“ bezeichnet (ebd.). Die von Harbsmeier genannten Kriterien erweitern bei der Untersuchung der Reiseberichte die Perspektive auf kulturwissenschaftlich relevante Fragestellungen. Zum einen berichtet der Reisebericht über die Mentalität und die Ausgangskultur seines Verfassers, zum anderen auch über Hintergründe der „internationalen Beziehungen und globalen politisch-ökonomischen Zusammenhänge“ (ebd.). Beide Aspekte verleihen Reiseberichten in der Kulturbeziehungsforschung einen hohen Stellenwert, so dass sie hier neben Briefen und Periodika die dritte Quellengruppe darstellen (Krasnobaev 1980: 7). Die Erfahrung der Fremde, als das „inspirierende Moment“, das dem Reisebericht seine wesentlichen Impulse gibt (Brenner 1990: 1), unterliegt diesem Dualismus und geht deshalb auf zweifache Weise in den Reisbericht ein. Dieses Verhältnis prägt ex aequo die Wahrnehmung des reisenden Autors wie die Darstellung, in der er sie gestaltet. Das Verhältnis zwischen der Wahrnehmung und ihrer Vertextung leitet zu den Fragen nach der Entstehung des Fremden im Reisebericht als „Objekt interkultureller Wahrnehmung“ und nach der Entfaltung seiner Konstitution aus „den eigenkulturellen Voraussetzungen“ des Autors (Brenner 1989b: 16). Die Erfahrung der Fremde ist also ein Prozess, in dem sich jene Wahrnehmungsformen der Fremderfahrung herausbilden, die in real- und ideengeschichtliche Entwicklungen des eigenen Kulturraums eingebettet sind. Die Fremde selbst ist keine fossilisierte Konstituente, sondern ihre Gestalt wandelt sich im Verlaufe jenes Prozesses. Dieser Wandel hängt vom Weltbild und von der Wirklichkeitsauffassung der Ausgangskultur ab. Historisch betrachtet, heißt das, dass die Relation zwischen Eigenem und Fremdem bis in die Frühe Neuzeit als fundamentaler Gegensatz verstanden wurde, und zwar in der starren Form der sozialen, kulturellen und vor allem religiösen Konfrontation. Im Verhältnis zwischen Eigenem und Fremdem erschien die Fremde immerfort als eine abschätzige, gleichgültige, geächtete, respektlose und zur eigenen Kultur stark abgrenzbare Komponente. Erst am Übergang von der Frühen Neuzeit zum Zeitalter der Aufklärung wandelte sich die Richtung dieses Prozesses von einer Kategorie der „dualistischen Dichotomisierung“ zu einer der „Homogenisierung der Wirklichkeit“ (Brenner 1989b: 18f., hier 19); wobei das Fremde nicht verschwand; es erfuhr innerhalb dieser homogenisierten Weltvorstellung lediglich eine andere Akzentsetzung. Dieser Wandel hat in literarischen Zeugnissen des Entdeckungszeitalters und in den Berichten über Entdeckungs-
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reisen seinen ersten Keim und wirkt in der Neubestimmung der eigenkulturellen Selbstwahrnehmung sowie der Auffassung des Fremden in der Frühen Neuzeit mit neuen und entscheidenden Impulsen fort.
II. Der Zeitgeist und die Islam-Bilder Der frühneuzeitliche Kulturkontakt zwischen Okzident und Orient war geprägt von wirtschaftlichen und politischen Machtverschiebungen in orientalischen Gebieten sowie von der Konfessionalisierung politischer Auseinandersetzungen. Die deutschen Fürstentümer betraten verhältnismäßig spät die außenpolitische Bühne. Dokumentiert sind ihre Beziehungen zu Persien, das sich mit dem Osmanischen Reich im Krieg befand, an eine europäische Großmacht (Russland) grenzte und eine charakteristisch ausgeprägte eigene Zivilisation besaß, erst seit dem 17. Jahrhundert (Tafazoli 2007: 98-130). Schon zu Beginn des 16. Jahrhunderts entwickelte sich das islamisierte Persien zu einem Nationalstaat mit außenpolitischen Interessen. Hier fanden also die ersten deutschen Reisenden nicht nur eine Hofkultur vor, die ihrer Vorstellung von gesellschaftspolitischer Ständeordnung entsprach, sondern auch ein Machtzentrum im orientalischen Großraum. Das Persische einerseits, das Orientalisch-Islamische andererseits ging als eine persisch-islamische Kulturmischung in ihre Reiseberichte ein. Über das Persische an den Persern und an ihrem Land wusste man kaum etwas; das Persische war das Islamische und das Nicht-Türkische. Bis vor 1700 stand das Bild des Islam unter dem Zeichen einer völligen Abwertung als eine antichristliche Religion, als Abweichung von der christlichen Lehre und somit als eine Irrlehre; so etwa in Schriften von Johannes von Damaskus (gest. ca. 749), Petrus Venerabilis (1094-1156) und Thomas von Aquin (1225-1274). Selbst das Islam-Bild Martin Luthers (ca. 1483-1546), das sich unter den drei Aspekten Dämonisierung, Apokalyptisierung und innerkirchlicher Funktionalisierung subsumieren lässt, muss in doppelter politischer Frontstellung interpretiert werden: gegen Rom und gegen das Osmanische Reich.7 Das 17. Jahrhundert liegt an der Schnittstelle zwischen einerseits einer von der wissenschaftlich fundierten abendländischen Theologie geprägten Wahrnehmungstradition sowie einem von den Kreuzzügen herrührenden polemischen Feindbildcharakter des Islam und andererseits einem arabisch-griechisch-persischen Kulturtransfer bei der Entstehung der Bilder vom islamischen Kulturraum als Wiege der Philosophen. Zugleich wird im 17. Jahrhundert durch führende Mächte im Okzident und im Orient ein gemeinsamer Handelsweg ausgebaut, der beide Kulturräume 7
Vgl. zum Islam-Bild in der Geschichte des christlichen Europas Daniel 1993; Watt 2001; siehe auch den Beitrag von Naumann in diesem Buch.
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trotz der noch bestehenden Feindbildvorstellungen einander näher bringen sollte, bevor das 18. Jahrhundert das Bild einer orientalischen Traumwelt entwarf, das mit der Realität wenig zu tun hatte (Ellinger 2006: 278-292). Der deutsche Weg zu diesem vom Handel abhängigen Kulturkontakt ging über Persien. Hier sahen deutsche und europäische Reisende des 17. Jahrhunderts eine günstige „Beschaffenheit der Zielregion“ und die Möglichkeit zur Erfüllung ihrer Absichten und Erwartungen (Osterhammel 1989: 225f.). Unter allen deutschen Persien-Reisenden der Frühen Neuzeit8 zählen Adam Olearius (1603-1671) und Engelbert Kaempfer (1651-1716) zu den Reisenden, die jene Schnittstelle markieren. Sie bilden die erste Kategorie eines deutschen Grenzgänger-Typus, der sich zwischen heterologen Kulturen bewegt. Nicht nur ein Hauptwerk barocker Prosa, sondern auch den besten, kartographisch und typographisch oft zitierten Persienbericht mit einem landeskundlichen Umfang von 152 Seiten schrieb Adam Olearius (Osterhammel 1989: 232-235; Haberlands 1986: 13-46). Aus welcher Perspektive nahmen die reisenden Autoren im fremden Kulturraum Persien die islamische Religion wahr und wie beschrieben sie sie? Was für eine Qualität hat ihr Islam-Bild? Der erste deutsche Persienreisende Georg Tectander (1581-1614) aus Sachsen verweilte von Anfang August bis Ende des Jahres 1603 in Persien. Sein Reisebüchlein9 erschien im Jahre 1608 in der ersten Auflage. Bereits zu Beginn wird deutlich, dass ein christlicher Reisender in ein heidnisches Land reist, ohne der Landessprache mächtig zu sein. Die Reise wird als eine Mission betrachtet, die der „gantzen Christenheit“ (GT, Vorrede, unpag.) dienen soll. Zu den Christen aber zeigt der Reisende ein durchaus gespaltenes Verhältnis. In einer Kirche in der Nähe Moskaus begegnet er Christen bei der Ausübung ihres Gottesdiensts; nur Verachtung empfindet er für sie, weil die „Mascowitter“ keineswegs die christliche Religion der Deutschen akzeptieren und sie „schlechtesweg Paganos, ist so viel alß ein Vnchrist“ nennen (GT, 44). Bei den armenischen Christen im persischen Tabriz jedoch fühlt er sich relativ wohl (GT, 113). Heinrich von Poser (1599-1661), der am 13. Juni 1621 in Isfahan ankam, reiste ebenfalls als gläubiger Christ. Vor seiner Abreise am 20. Januar 1621 aus Konstantinopel betete er zu Gott mit folgenden Worten: „Du […] / gütigster Gott / laß mich in dieser Reise nichts als dich suchen / und unter den Heiden / alles anklebende Heidnische Wesen unter meine Füsse treten. Dein Willen sey meine Leitschnur / mein Willen dein täglich[e]s Opfer. Ich werde überall frembde seyn. Du aber bleib mit mir / daß ich in dir / überall / als in meinem Vaterlande ruhig seyn könne.“10
8 9 10
Siehe zu den Reisenden, ihren Reisen und Missionen Tafazoli 2007: 143-207. Tectander 1610 (künftig als GT, Seitenzahl). Weitere Auflagen folgten in den Jahren 1609 und 1610. Poser 1675. Diese Ausgabe (künftig als HP, Kapitel, Abschnitt) ist unpaginiert. Hier HP, II, 1.
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Posers Begegnungen mit den Christen in der Fremde rufen in ihm, anders als bei Tectander, vaterländische Gefühle hervor. Er berichtet über den guten Umgang der in Isfahan lebenden Christen und behält seinen Besuch bei den Armeniern im Isfahaner Stadtteil Djulfa in bester Erinnerung. Während seines kurzen Aufenthalts in Isfahan lernte er bei einem armenischen Lehrer die persische Sprache (HP, II, 1). Über den Islam aber erfährt man kaum verbindliche Nachrichten. Auch Olearius sieht sich in seiner Reise nach Russland und Persien (8. November 1635 – 1. August 1639) als Christ11 im Besitz der rechten Religion. Sein Reisebericht weist in einer Zeit, in der es bei den Europäern um Kenntnisse über Persien sehr schlecht bestellt war, große Lücken in den Beschreibungen über Religion auf. In der Vorrede an den günstigen Leser beschreibt Olearius den Zustand der christlichen Religion in Russland und betont dabei die historischkulturelle Entwicklung sowohl in Russland als auch in Persien. Ihm ist bewusst, dass man „vunter den jeßigen vnalten Persern / so wol im gemeinen Leben als Religion“ beachtliche Unterschiede findet; und dies sei kein einfacher Zustand, wolle man ein Land und seine Kultur historisch erforschen (AO, Vorrede, unpag.). In Persien selbst, heißt es, hätten die Gesandten Enttäuschungen erleben müssen, weil sich ihre aus den antiken Büchern stammenden ideellen Bilder von Persien nicht bestätigt hätten. Persiens alter Zustand hat sich in einem Maße gewandelt, dass man „Persien in Persien suchen und nicht finden“ (AO, 4) sollte. Das Abbild der Fremde ist also kaum bestimmbar. Aber während Reisende vor Olearius fremde Völker eher als bedrohlich empfanden, relativiert dieser die Dichotomie des Eigenen und des Fremden in Anlehnung an einen Lehrspruch des persischen Dichters Sadi: „Man kan von frembden Völkern allezeit / wenn man nur wil / etwas gutes lernen; Seynd ihre Sitten und Gebräuche tugendhafft und löblich / folget man ihnen billich / seynd sie Lasterhafftig / oder stehen ihnen nicht wol an / sol man einen abschew dafür haben / daß Widerspiel thun / und sein Vaterland in solchen fall glückseliger als Jene schäßen.“ (AO, 2) Zwei Aspekte verdeutlichen besonders die Weltanschauung des Autors: Tugendhaftigkeit (christlich) und das nationale Bewusstsein (deutsch); aus dieser Perspektive wird nur das beschrieben, was ihm „denkwürdig“ (AO, 5) vorkommt. Hierzu zählen Olearius Besuche bei den Armenieren während der Ausübung ihrer Zeremonien. Er erzählt beispielsweise vom Fest des Eintauchens des Kreuzes ins Wasser am 5. Januar 1637 in Schemacha: Beim Marsch der Armenier zu einem Fluss seien sie auf Befehl des dortigen Stadthalters von Soldaten begleitet worden, „damit [sie] nicht etwa von dem losen Gesinde der Muslimannen oder Mahumedisten [...] überlästiget vnd beschimpfet wurden.“ (AO, 428) 11
Olearius 1656: 1f. (künftig als AO, Seitenzahl).
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Wie wird eigentlich die Religion dieser feindlich gesinnten „Mohammedaner“ wahrgenommen? – In drei Kategorien entwerfen die Reisenden ihre Islam-Bilder: Geschichte und Politik, Zeremonien (Wallfahrten, Feste und Feiertage) und Gebete, Heirat und Scheidung. Über die Religion und Gottesdienste der Perser habe Tectander nichts anderes erfahren, als dass sich die Perser „die rechten Türcken“ (GT, 98-100, hier 98) nennen; somit macht er die Religion zu einem Herkunftsund Nationalthema, von dem er auch den Unterschied zwischen den Sunniten und Schiiten ableitet und ihn in politischen Streitigkeiten zwischen Persien und dem Osmanischen Reich erörtert. Er fügt durch das Kontrastieren des Russland-Bildes eine weitere Abgrenzung an: Die Perser seien „vungeachtet / daß sie Heyeden sein / vile höfflicher vnnd vbertreffen in allen die Moscowiter“ (GT, 107). Die Moskauer sind zwar Christen, werden jedoch von Tectander nicht anerkannt. Die Perser sind Heiden; der Reisende ist aber von ihrer Höflichkeit überrascht. Olearius blickt zwar anders auf das Thema Religion, kann jedoch nicht umhin, auf die religiöse Feindschaft zwischen den Türken und den Persern einzugehen. Nicht die altiranische, sondern die neupersische Religion ist aus seiner Sicht die Instanz der Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen ihnen. Die Perser folgten wie die Türken der „verführischen Lehre des Mahumeds“. Beide hätten einen „Alcoran“, den sie heilig schätzten (AO, 675); daher auch die kollektive Bezeichnung „Muselman“ (AO, 676) für beide Völker. Dieser sei derjenige, der ruft: „Kein ander als ein einiger Gott / vnd Mahumed Gottes Apostel“ (AO, 676). Zu Gemeinsamkeiten der Perser und Türken gehörten auch die Beschneidung der Männer. Hinsichtlich der Feindschaft zwischen ihnen verweist Olearius anfangs auf ein Gespräch eines türkischen Wesirs mit Augerius Gislenus Busbequius (1522-1592): Die Türken hassten die Perser und hielten sie für „viel vngläubiger als die Christen“ (AO, 675). Olearius thematisiert das türkisch-persische Religionsproblem nicht nur in der Frage nach Muhammads Nachfolger (AO, 676), sondern auch durch die Aufzählung der unterschiedlichen Auffassungen in der Auslegung des Koran, die Reihenfolge von Imamen und Heiligen, den Bau der Moscheen und durch die Zeremonien sowie die Wunder, die islamische Heilige hervorbrachten. Sodann erläutert er die schiitische Glaubensrichtung in Abgrenzung zu der sunnitischen (AO, 677-680), ohne jedoch diese Begriffe zu nennen. Und all das erfuhr er von den „Persern theils mündlich / theils schriftlich / theils auch Augenscheinlich“ (AO, 676). Die Herrschaft des ersten nach dem schiitischen Glauben rechtmäßigen Imam Ali verlief mit Kriegen. Unter ihm blieben Muhammads Lehre sowie der Koran, den Olearius als dunkles Geschichtsbuch bezeichnet (AO, 679), unverändert, bis im 14. Jahrhundert in Ardebil, einer Stadt im Nordwesten Persiens, ein
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Gelehrter namens Scheich Safi,12 ein Heiliger aus Alis Geschlecht, sich der religiösen Fragen annahm und zu predigen begann. Erst seine Studien beleuchteten die persisch-türkischen religiösen Konflikte (AO, 677-679). Fast 50 Jahre später erwähnt Kaempfer, dass die Einführung des Islam als Staatsreligion auf Betreiben des Schah Islamil I. (1501-1524) aus dem safawidischen Geschlecht geschehen sei, und zwar durch das Verbot der „bei den Türken verbreitete[n] mohammedanische[n] Glaubensform, die Sunna“.13 Die zwei Glaubensrichtungen, deren Unterschied Kaempfer in der Streitfrage nach Muhammads Nachfolger erörtert, werden zum Anlass genommen, um die Feindschaft zwischen den Persern und den Türken zu begründen. Ein weiterer Aspekt der Islam-Bilder sind religiöse Zeremonien und Gebete. Von Olearius werden Zeremonien als „essentialstücken [sic.] des Glaubens“ bezeichnet (AO, 680). Von jedem Reisenden wird die Beschneidungszeremonie als religiöses Fest mit fast gleicher Intensität beschrieben. Als Tectander von dem persischen „Sontag“ (GT, 103) – tatsächlich Freitag – erzählt, erwähnt er, dass am Tage davor bei den Türken wie bei den Persern die Beschneidungszeremonie stattfände; das Zeichen dafür sei, dass Lampen in ihren Gemächern brennen würden. Zu Muslime würden die Kinder, sobald sie beschnitten seien, heißt es bei Olearius. Deshalb gehöre das Beschneiden der Kinder, das im siebten, achten oder neunten Monat geschähe (AO, 676), zu einer religiösen Zeremonie. Als der Schweizer Uhrmacher Rudolf Stadler einen muslimischen Dieb getötet hatte, er verhaftet und zur Todesstrafe verurteilt worden sei, allerdings hätte er die Gnade des Königs erlangen können, „wenn er sich wolte beschneiden lassen / vnd den Persischen Glauben annehmen“ (AO, 520-524, hier 521), was er nicht tat. Zu religiösen Zeremonien gehören auch Gebete und Besuche von Moscheen sowie die Beschreibung wie sich etwa ein Perser auf das Gebet vorbreitet und was für Unterschiede es zwischen der persischen und türkischen Art und Weise der Gebetserrichtung gibt. Ihre „Kirchen“ betreten Frauen und Männer getrennt und beten auch getrennt, schreibt Tectander (GT, 102).14 Aber: „Es dürfen aber die Weiber in den Städten nicht in die Kirche kommen / damit sie nicht den Mannes Personen Ursache zu bösen Gedanken geben sollen“, heißt es bei Olearius (AO, 691). Morgens, mittags und abends schreiten die Perser diese Wörter „Halla, Halla, Halla, Keckvva“ (womit vermutlich Allahu akbar ,Gott ist groß‘ gemeint ist); sie „brauchen die Wort[e] als wir bey unns Christen der [sic.] Glo-
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Gemeint ist Scheich Safi ad-Din (1252-1334), der Begründer des Sufi-Ordens. Auf ihn geht die Dynastie der Safawiden zurück. Kaempfer 1977: 176. (künftig als EK, Seitenzahl). Im Allgemeinen werden Moscheen als Kirchen bezeichnet, so auch bei Olearius, der sie auch Madresse (Schule) nennt, weil dort eine Art Unterricht stattfindet (vgl. AO, 612f.).
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cken“ (GT, 101). Auch in der Vorbereitung und Ablegung der Gebete werden die Perser mit den Türken verglichen (AO, 680-683). Am 7. Februar 1637 durfte Olearius an einer Zeremonie anlässlich von Alis (um 600-661 n. Chr.) Todestag teilnehmen. Ebenfalls teilnehmen durfte er an einem Fest, das nach der Oase Ghadir al-Kumm genannt ist. An diesem Tag soll nach der schiitischen Auffassung der Prophet Muhammad die Nachfolge an Ali übergeben haben (AO, 432-437). Am 14. Mai ist Olearius Zeuge, wie die Perser des Todestags des dritten Imams gedenken. Das Trauerfest dauert zehn Tage und wird „jährlich von den Persern / vnd sonst keiner anderen Nation Mahumedisch[en] Glaubens gehalten.“ (AO, 456) Sie haben in dieser Zeit Trauerkleid an, sind „betrübet / lassen kein Schermesser / welches sie sonst fast täglich gebrauchen / ans Haupt kommen / leben messig / trincken keinen Wein / behelfen sich mit Wasser.“ (AO, 456) Er erzählt, wie Hussein zu Tode kam und bezieht sich dabei auf historische Berichte. Im Gegensatz zu ihm listet Kaempfer die religiösen Feiertage der Perser in einer chronologischen Reihenfolge nach dem Mondkalender auf und erläutert kurz den Grund des Festes und die Art und Weise des Feierns. Merkwürdig ist jedoch, dass religiöse Feiertage nicht als gesellschaftliche Ereignisse aufgefasst, sondern unter Wichtige Eigenschaften des persischen Hofes zusammengefasst werden. Der Bezug zur Gesellschaft wird eingeleitet mit dem kurzen Satz: „Der Perserhof bekennt sich wie das einfache Volk zum Islam in der Form der Schi‘a“ (EK, 171-235, hier 176). Dies rührte eben daher, dass dem König als der höchsten Instanz der Staatsmacht, als Vater des Volkes, Heiligkeit beigemessen wurde, vor allem auch deshalb, weil die Vorfahren des Begründers der Safawidendynastie Scheich Safi auf die schiitischen Imame zurückgeführt würden. Daher werden die Safawidenkönige von Olearius dem Brauche der Zeit nach und ihrer Religion zu Ehren „Sofianer“ (AO, 404, 632, 677) genannt. So fungiert auch der islamische Prophet als die Gestalt, auf die sich die Legitimität des Königs zurückführen lässt. Kaempfer spricht von einer eingeborenen Heiligkeit, die der König durch seine Abstammung von Muhammad besitze, wofür die Titel des Königs ein beredtes Zeugnis ablegten (vgl. EK, 21-24, 26f., 76, 126). In demselben Kapitel kommen merkwürdigerweise auch Themen vor wie die Verabscheuung der Christen. Dabei geht es hauptsächlich um die „Einwände zuallererst gegen die Fleischwerdung des Gottessohnes, indem sie [die Perser] – wie übrigens sämtliche Moslems – bestreiten, daß Christus Gottes Sohn sei.“ (EK, 180) Den dritten Punkt, der in den Reiseberichten zumindest in einer Abhängigkeit von der Religion angesprochen wird, bilden Ehe und Scheidung nach dem islamischen Recht. Auch hier liefert Olearius die wichtigsten Informationen, denn bei Kaempfer rückt das Thema in die Beschreibungen über den Hofbereich, und zwar über den königlichen Harem (EK, 227-235). Als charakteristisch für
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die Perser bezeichnet Olearius die Polygamie, die von Muhammad und dem Koran erlaubt sei (AO, 602). Alles Weitere gilt der Beschreibung von Heiratszeremonien über fünf Seiten; die Eheschließung erfolge durch einen geistlichen Richter (AO, 606), und durch eben solch einen Richter könne eine Ehe auch wieder aufgelöst werden (AO, 610).
III. Ausblick Die obigen Darstellungen zeigen, dass Reiseberichte grenzübergreifende subjektive Erfahrungen vermitteln. Sie sind das Medium, das indirekt Einblicke in die Denkungsart des Verfassers und der Ausgangskultur verschaffen, was durch die Perspektive des Reisenden sowie durch den Wissensmangel bestätig wird. Den Kontrastpunkt zur Religionsdarstellung bilden kartographische, architektonische und historische Beschreibungen; hierbei werden nämlich oft die antiken Autoren konsultiert. Aus einer frühneuzeitlichen, noch religiös geprägten Perspektive zeichnet sich die Religion der Nicht-Christen bei der Darstellung der Fremde als ein wesentlicher Aspekt aus. Die Beispiele führen aber auch vor Augen, dass der Persien-Reisende bestimmte Erfahrungen mit sich trägt, an denen er die Fremde misst. Wenig wird über den Islam selbst berichtet; folglich lässt der Reisebericht kein einheitliches Islam-Bild erschließen, sondern ein Konstrukt eigen- und fremdkultureller Reibungsmomente, die aus einer subjektiven, nicht zwingend kenntnisreichen Wahrnehmungsfähigkeit herrühren. In Persien mit seiner präislamischen und islamischen Kultur tritt die Haltung des Reisenden gegenüber dem Islam besonders zutage. Während der Reisende dank griechischer und lateinischer Quellen mehr oder minder Kenntnisse über das antike Persien besaß, wusste er kaum etwas über das islamische Persien, das er bereiste. Daher auch das scharfe Urteil Olearius’, man müsse Persien in Persien suchen. Das Bild des Islam bewegt sich auf einer dichotomen Vergleichsebene zwischen dem Bild des Eigenen und des Fremden. Insbesondere in den Streitigkeiten zwischen den schiitischen Persern und sunnitischen Türken wird der Islam polemisch als eine kriegerische und zerstörerische Macht aufgefasst. Er gilt dem Reisenden als Grund für die Entwicklung der persischen Geschichte und gehört als bestimmender Faktor in die Gesamtdarstellung des Lebens. Das eigene gelebte Christentum wird nicht nur vom Islam getrennt, sondern auch von den Christen in der Ferne. Gerade das eigene, zumeist protestantische Christentum schränkt die Wahrnehmungsfähigkeit des Reisenden ein. Die Wahrnehmung selbst, wissen wir seit Platon, erzeugt nicht Wissen, sondern täuschende Meinungen. Und da, wo es kein Wissen herrscht, entstehen Vorurteile, von denen das deutsche Islam-Bild noch lange nicht befreit ist. Auch die Aufwertung des
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Islam durch Gotthold Ephraim Lessing (1729-1781) und zum Teil durch die Romantiker ist von Vorurteilen nicht freizusprechen, dies jedoch zugunsten des Islam und dessen Verherrlichung.
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Mediengesellschaft – Wissensgesellschaft? Gesellschaftliche Entstehungsbedingungen des Islambildes deutscher Medien Kai Hafez
Das Islambild in westlichen Medien ist seit Jahrzehnten ein Gegenstand der internationalen wissenschaftlichen Forschung. Zahlreiche Studien in den USA, in europäischen Staaten, in der islamischen Welt und darüber hinaus haben mit Hilfe verschiedener Methoden und mit unterschiedlichen inhaltlichen Akzenten auf islamophobe Tendenzen in der westlichen Medienberichterstattung hingewiesen (Hafez 2002; Klemm/Hörner 1993; Hafez/Richter 2007; Thofern 1998; Halm 2006; Schiffer 2005; Glück 2008; bastianhofmann.de; Medienprojekt 1994; Stern 2003; Hoffmann 2004. Eine kleine Auswahl internationaler Studien: Said 1981; Poole 2002; Deltombe 2005). Der Gegenstand ist heute ein etablierter Wissenschaftstopos mit zahlreichen Forschungsarbeiten, Lehrveranstaltungen und Konferenzen weltbekannter Wissenschaftseinrichtungen (wie beispielsweise die Konferenz „Mutual Misunderstandings: Muslims and Islam in the European Media. Europe in the Media of Muslim Majority Countries“ des European Studies Centre und des Reuters Institute der Oxford-Universität vom 22. bis 23. Mai 2007). Es kann daher nicht verwundern, dass eine Reihe prominenter Persönlichkeiten und Institutionen bereits vor Verzerrungen des Islambildes der westlichen Öffentlichkeit und insbesondere westlicher Medien gewarnt haben. Der frühere Generalsekretär der Vereinten Nationen, Kofi Annan, wies nach den Attentaten des 11. Septembers 2001 auf die wachsende Islamophobie des Westens hin, die er ebenso verurteilte wie den noch immer vorhandenen Antisemitismus (islam.de/1122.php). Der British Council hat Aufklärungshandbücher für Journalisten herausgegeben, in denen eine differenzierte Deutung des Islam und der islamischen Welt vorgestellt wird (Masood 2006), und die OECD betreibt ähnliche Projekte. Der frühere Vorsitzende des Zentralrates der Juden in Deutschland, Ignatz Bubis, meinte, dass dem negativen Islambild der deutschen Öffentlichkeit die gleichen Fehlinformationen zugrunde lägen, die früher zur Verachtung der Juden geführt hätten (Hafez/Steinbach 1999: 6). Verschiedene deutsche Präsidenten, vor allem Roman Herzog und Johannes Rau, zielten in dieselbe Richtung (zu Rau vgl. Hafez 2003), und die Zahl der Tagungen, die von deutschen und internationalen Akademien, Stiftungen und anderen gesellschaft-
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lichen Organisationen zur Problematik des Islambildes deutscher und westlicher Medien durchgeführt wurden, ist kaum noch zu überschauen. Die Frage der Wahrnehmung des Islam in deutschen und anderen westlichen Medien ist heute ebenso ein Politikum wie ein Forschungsgegenstand – und dies zu Recht, denn die demoskopische Lage verweist auf ständig wachsende Ängste und Aversionen der deutschen Bevölkerung mit Blick auf den Islam (Noelle-Neumann/Köcher 1997: Bd. 10, S. 62; NRZ-online, 27.9.06; SWR online, 9.1.07; (s.a. die Beiträge von Leibold und Peucker in diesem Buch). Zwar ist der Begriff der „Islamophobie“ als solcher wegen seiner Unterstellung einer psychologisch fundierten kategorischen Abwehrhaltung umstritten, da nicht jede Form einer Fehldeutung der islamischen Welt systemisch intendiert sein muss, sondern auch nicht-intendierte Fehlinformationen eine Rolle spielen. Dennoch lassen sich viele Strukturmerkmale der Medienberichterstattung in unterschiedlichen westlichen Mediensystemen nachweisen, die darauf schließen lassen, dass eine selektive Wahrnehmung negativer Ereignisse und Entwicklungen vorherrscht – ein typisches Merkmal eines „Feindbildes“ also. Der deutsche Mediendiskurs weist keine propagandistische Einheitlichkeit auf und es fehlt auch eine aggressive Handlungsdimension, die von einer vollständigen Ausprägung des in der Soziopsychologie angesiedelten Feindbildbegriffs zeugen würde. Dennoch ist gerade das Verhältnis des Fortlebens zentraler alter Klischees des Islam bei gleichzeitiger Differenzierung des Islambildes in einigen Randbereichen das eigentliche Signum der Medienberichterstattung. Der Islam hat im Westen seit 1400 Jahren eine schlechte Presse, und die moderne Mediengesellschaft hat mit dieser Tradition nicht gebrochen, sondern sie revitalisiert die alte Vorstellung vom Orient-Okzident-Gegensatz in der Gegenwart ständig. Es gibt durchaus differenzierende kleinere Medien: das Internet, einen heterogenen Buchmarkt wie auch gelegentlich antizyklische Tendenzen im Diskurs der großen Massenmedien über den Islam. Das Gesamt der Medienberichterstattung verkörpert jedoch eher eine Form der „aufgeklärten Islamophobie“ als eine Trendwende zur echten Aufklärung des über Jahrhunderte einseitig negativ geprägten Islambildes, das im Westen nach wie vor das internationale und das innenpolitische Klima beeinträchtigt. Der folgende Beitrag gibt einen knappen Überblick über einige Inhaltstendenzen des Islambildes deutscher Medien und über dessen Entstehungsbedingungen. Es wird deutlich gemacht werden, dass sicherlich keine einfachen Kausalitäten wirken, sondern ein ganzes Geflecht von Einflüssen besteht, die das heutige Medienbild des Islam prägen. Dabei machen sich nicht nur kulturell erlernte Stereotype bemerkbar, die der einzelne Journalist in die Berichterstattung einbringt. Die Medien unterliegen auch den Zwängen, Routinen und Interessen der heutigen Medienökonomie sowie deren komplexen Interaktionen mit
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politischen und gesellschaftlichen Systemumwelten, die letztlich auch den Medienrezipienten einschließen und Fragen nach dem Entwicklungstand der deutschen multikulturellen Gesellschaft aufwerfen, einschließlich der primären und sekundäre Sozialisation in Familie, Schule, Berufsleben und sozialem Umfeld. Auch die Rolle deutscher Eliten und Meinungsführer wird zu reflektieren sein, die nicht in ihrer Gesamtheit als „globale Eliten“ betrachtet werden können und die häufig zu Stichwortgebern bei der medialen Reproduktion des „Feindbildes Islam“ werden.
Islambild – Islamdiskurs Mediendiskurse zeichnen sich sowohl durch Mikro- als auch durch Makrostrukturen aus. Als Mikrostrukturen bezeichnet man alle inhaltlichen Merkmale eines Textkorpus, die im einzelnen Text nachweisbar sind, also etwa im einzelnen Zeitungsartikel oder im Radio- oder Fernsehbeitrag. Makrostrukturen sind solche, die entweder die durch Vergleich gewonnene systematische Beschreibung der Gesamtmenge der Texte ermöglichen oder aber Beziehungen und Interaktionen zwischen Texten in den Vordergrund rücken. Nur wenn man alle Ebenen im Blick behält, lassen sich generalisierbare Aussagen über das Islambild deutscher Medien formulieren. Es macht wenig Sinn, im Rahmen eines Kurzüberblicks auf die Problematik der oft unscharfen definitorischen Abgrenzungen der theoretischen Konstrukte von textlichen Mikrostrukturen einzugehen. Insbesondere die in der Soziopsychologie häufig verwendeten Begriffe des „Stereotyps“ und die in der modernen Medienwissenschaft heute übliche Terminologie des „Frames“ sind eigentlich nie klar bestimmt worden (Hafez 2002: Bd. 1, S. 35ff.). Aus den Forschungstraditionen beider Richtungen lässt sich jedoch ableiten, dass das Framing-Konzept eine Weiterentwicklung der Stereotypenlehre darstellt, da Textmerkmale differenzierter erfasst werden. Während die ältere Stereotypenforschung vor allem oberflächliche attributive und sprachlich manifeste Merkmale erfasste (zum Beispiel „der fanatische Muslim“), ist ein Frame ein ganzes Argument in einem Text, das den Sinn der Aussage markiert und „einrahmt“ (to frame). Schon bei den Analysen des Schweizer Feindbildforschers Daniel Frei, der sich in den 1980er Jahren mit Wahrnehmungen im Kalten Krieg beschäftigt hat, lässt sich ein Übergang von der klassischen Stereotypen- zur komplexeren Framingforschung erkennen, etwa wenn Frei feststellt, dass im Westen vielfach die Vorstellung einer Kluft zwischen sowjetischer Führung und Volk vorherrschte (1985; 1989) – ein Bild das deutlich differenzierter war als die Vorstellung vom bösen bolschewistischen Russen. An diesem Beispiel sieht man schon, dass theoreti-
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sche Konstrukte und methodische Instrumente nicht unterkomplex sein dürfen, weil die Wissenschaft sonst nach Art einer sich selbst erfüllenden Prophezeiung auch nur reduzierte Islambilder aufspüren könnte und empirische Ergebnisse systematisch verzerren würde (Hafez 2002, Bd. 1, S. 35 ff.). Es ist unmöglich, alle Mikrostrukturen zu ermitteln. Nachweisbar aber ist, dass in den großen deutschen Print- und elektronischen Medien bis heute Bilder und Argumentationen verbreitet sind, die auf ein hochgradig selektives und negativ vereinheitlichendes Islambild hinweisen. Verschiedene Arbeiten haben sich mit zeithistorischen Islamdiskursen der Medien beschäftigt, etwa anlässlich der Iranischen Revolution von 1978/79 (Hafez 2002, Bd. 2, S. 207ff.), oder aber sie haben die aktuelle Medienlandschaft diskursanalytisch untersucht (Schiffer 2005). Die Iranische Revolution war das Erweckungserlebnis für die deutschen Medien. Bis dahin gab es zwar Nahostberichterstattung, aber der Islam war ein Randthema (Hafez 2002, Bd. 2, S. 57). Das Aufkommen des politischen Islam hat dies grundsätzlich verändert. Die diskursiven Mikrostrukturen, die während der Revolution entwickelt wurden, haben sich mit Modifikationen bis heute erhalten. Immer wieder findet man etwa seitdem in deutschen Medien die Annahme einer Untrennbarkeit von Politik und Religion im Islam (die auch umstrittene Orientalisten wie der Berater von George W. Bush, Bernhard Lewis, vertreten). Verbreitet ist auch die Gleichsetzung von politischem Islam mit radikalem Fundamentalismus und von Fundamentalismus mit Terrorismus und Extremismus (ebd.). Sabine Schiffer hat sich mit den Selektionsmechanismen des Ausblendens, Hervorhebens, Wiederholens und des pars-pro-toto-Symbolismus ausgiebig beschäftigt (Schiffer 2005; 2005a). Es gehört wohl zu den absoluten Ausnahmen, wenn gerade die letzten beiden Phänomene in deutschen Medien sprachlich und argumentativ auseinandergehalten werden. Hier herrscht nicht nur eine selektive Wahrnehmung, sondern auch eine Psycho-Logik im Sinne von worst-case-Annahmen vor. Wenn nämlich der Islam gleichzusetzen ist mit Politik, die Politik identisch ist mit Fundamentalismus und dieser mit Extremismus, dann ist die Folgerung logisch, dass dem Islam in seiner Gesamtheit Gewaltbereitschaft unterstellt werden muss – womit man die Verbindung zwischen dem aktuellen Mediendiskurs und der verbreiteten These Samuel Huntingtons vom „Kampf der Kulturen“ gefunden hat. Huntington behauptet ja nichts anderes als einen grundsätzlichen und gewaltsamen Antagonismus zwischen dem Islam und dem Westen (Die „blutigen Grenzen“ des Islam) (Huntington 1996) – eine essentialistische Position, die politisch einseitig ist, weil sie kooperative Interaktionen ausblendet, und die kulturtheoretisch naiv ist, weil sie subkulturelle Differenzen (des Islam) negiert. Ein markanter Unterschied zwischen Wahrnehmungen im Kalten Krieg und dem zeitgenössischen Islambild kommt auch in der Bildsprache der Medien zum
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Ausdruck. In einer nahezu identischen Ikonographie werden hier seit der Iranischen Revolution Bilderwelten entfaltet, die von Motiven wie radikalisierten islamischen Massen, blutigen Geißelprozessionen und tief verschleierten Frauen geprägt sind. Ein Vergleich der Ausgaben der deutschen Illustrierten Stern 1979 und heute würde das rasch belegen – zum Beispiel die Titelgeschichte Islam – Die unheimliche Religion des Stern-Ablegers View von Oktober 2006 (siehe auch Hafez 2002, Bd. 2, S. 234). Die inhaltlich vorbereitete These der Untrennbarkeit von Religion und Politik wird hier subtil durch die Kennzeichnung der religiösen Irrationalität des Gegenübers gestützt. Während die Sowjetunion als Staat wahrgenommen wurde, dessen Führung zwar ideologische Ziele hegte, darüber hinaus aber als moderner Staat fungierte, ist im Islambild die staatliche Akteurskomponente auch bildlich aufgelöst. Neben bestimmten Führungsfiguren (zum Beispiel Usama Bin Ladin) werden „die Muslime“ visuell inszeniert, was suggeriert, dass eine Kluft zwischen Staat und Volk, die in der westlichen Wahrnehmung des Kalten Krieges vorherrschte, beim Islam nicht existiert. Aus dem Feindbild des staatlichen Gegenübers wird also ein Kollektivbild mit kryptorassistischen Zügen (Link 1993; Gerhard/Link 1993), wobei der Kulturalismus einer einheitlichen Sicht einer Religion und ihrer Angehörigen den älteren biologischen Rassismus ersetzt: ein Vorgang, den Étienne Balibar bereits vor zwei Jahrzehnten als „Rassismus ohne Rassen“ bezeichnet hat (1989). Dennoch ist, wie bereits ausgeführt, diese Art der inhaltlichen Analyse nur ein erster Schritt zum Verständnis des medialen Islambildes, denn solche Untersuchungen sagen nichts über die Häufigkeit und Gewichtung entsprechender Konstruktionen im gesamten Mediendiskurs aus. Mediendiskurse sind komplexer und bilden nicht nur die entsprechenden Strukturen ab. Es ist daher unmöglich, von solchen Fallstudien zu Gesamtaussagen über das Islambild deutscher Medien zu gelangen. Dies ist um so schwieriger, als sich im modernen Mediendiskurs auch immer wieder alternative Frames nachweisen lassen, die zielgenau die Versäumnisse des etablierten Mediendiskurses aufdecken und sich um eine neue Differenzierung nach dem Motto „Islam ist nicht gleich Islam“ bemühen, etwa als die Zeitschrift Die Woche nur zehn Tage nach den Attentaten des 11. September 2001 in einem Leitartikel „Feindbild Islam“ vor ideologischer Aufrüstung warnte (Die Woche, 21.9.01). Setzen solche neueren positiven Tendenzen die negative Psycho-Logik des Gewaltbildes des Islam außer Kraft? Sicherlich nicht, sie sind bestenfalls Ausweis einer aktuellen Rivalität zwischen alten Feindbildern, die ständig aktualisiert werden, und neueren Gegendiskursen. Dass sich hieraus noch lange kein allgemeiner Pluralismus ableiten lässt und ein Medienbild des Islam entsteht, bei dem man es bewenden lassen könnte, zeigt ein anderer methodischer und theoretischer Zugang zu der Materie, der als Thematisierungs- oder Agenda-Ansatz bezeichnet wird. „Themen“ sind Cluster
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von Frames, die sich um klar, das heißt physisch und zeitlich abgrenzbare Ereignisse ranken oder aber allgemeine Problemstrukturen beschreiben (zum Beispiel Menschenrechte), die eine den Diskurs ordnende Funktion haben. Themen bestimmen nicht, was wir sagen (dafür gibt es die Frames), aber sie zeigen an, worüber wir reden, beziehungsweise im vorliegenden Fall: worüber die Medien reden, was auf der Medienagenda steht und was nicht. In der modernen Kommunikationswissenschaft ist das „Agenda-Setting“ das zentrale Paradigma der Medienwirkung geworden, weil es nicht behauptet, dass die Medien das Denken und Verhalten von Menschen vollständig beeinflussen können, wohl aber, dass sie eine steuernde Wirkung auf die soziale und öffentliche Kommunikation ausüben. Von den Themen der Islamagenda der Medien darf man daher annehmen, dass sie beeinflussen, worüber die Menschen beim Thema Islam nachdenken und was sie mit dem Islam assoziieren. Eine Langzeituntersuchung der deutschen überregionalen Presse im Zeitraum der 1940er bis 1990er Jahre (n>12.000) hat ergeben, dass etwa die Hälfte aller Beiträge den Islam im Kontext eines Gewaltereignisses oder eines entsprechenden Themas (etwa Terrorismus) erörtern. Weitere etwa zehn Prozent thematisieren den Islam im Zusammenhang mit Konflikten, die allerdings ohne physische Gewalt ablaufen können (etwa Repression durch Tradition) (Hafez 2002, Bd. 2, S. 92ff.). Dieser Negativwert ist der höchste aller anderen erhobenen Themen der Berichterstattung über Nordafrika sowie Nah- und Mittelost. Eine aktuelle Studie über das Islambild bei ARD und ZDF der Jahre 2005 und 2006 zeigt, dass diese Tendenz im Fernsehen nach den Ereignissen des 11. September 2001 noch höher auszufallen scheint. Bei mehr als 80 Prozent aller Sendungen und Beiträge über den Islam in öffentlich-rechtlichen Magazinsendungen stehen negative Themen wie Terrorismus, internationale Konflikte, religiöse Intoleranz, Fundamentalismus, Frauenunterdrückung, Integrationsprobleme und Menschrechtsverletzungen im Vordergrund (Hafez/Richter 2007). Wir dürfen also mit Fug und Recht schlussfolgern, dass im heutigen Mediendiskurs über den Islam zwar gelegentlich aufgeklärte Meinungen in Erscheinung treten, dass aber Menschen, oder genauer gesagt: Medienrezipienten in überwältigender Weise dazu bewogen werden, den Islam mit Negativthemen in Verbindung zu bringen. Anders ausgedrückt: Die Medien vermeiden die explizite Gleichsetzung von Islam und Gewalt, wahrscheinlich aus Gründen politischer Korrektheit, aber sie legen diese Annahme strukturell sehr nahe. Denn welche andere Schlussfolgerung soll bei der Erörterung von Themen wie „Islam und Terrorismus“ – letztlich einem absoluten Minderheitenphänomen, das aber in deutschen Medien das größte Einzelthema darstellt – herauskommen als die, dass vom Islam eine akute Gefahr ausgeht? Bei gelungener Kommunikation über das Thema mag man das Phänomen des Terrorismus besser verstehen. Aber eine positive Wertigkeit lässt sich dem Thema wohl kaum abgewinnen.
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Schon eine große UNESCO-Studie zum Vergleich der Auslandsberichterstattung in verschiedenen Ländern hat nahegelegt, dass das Hauptproblem der Auslandsberichterstattung nicht die Tatsache ist, dass über Negatives, sondern dass viel zu wenig über Neutrales und Positives berichtet wird. Dem zugespitzten Islambild deutscher Medien fehlt ein relativierender Informationskontext, der den Rezipienten in die Lage versetzt, den Stellenwert eines solchen Phänomens wie des religiösen Extremismus richtig einzuordnen. Um nur ein Beispiel zu nennen: Die noch immer starken Traditionen des gewaltfreien Widerstandes im Islam sind eigentlich nie Thema in den westlichen Medien (Abu-Nimer 2003). Den Hindu Mahatma Gandhi kennt im Westen jeder. Kaum jemand aber kennt Badschah Khan: ein Muslim, der in Pakistan zigtausende Menschen zu friedlichen Protesten mobilisierte, der einer der engsten Weggefährten Gandhis war und 1985 für den Friedensnobelpreis vorgeschlagen wurde (Easwaran 1999). Deutsche Medien widmen sich intensiv der Frage der islamistischen Selbstmordattentate. Selten allerdings wird die tägliche gewaltfreie Widerstandsarbeit auch vieler islamistischer Organisationen in Demonstrationen, Sitz- und Hungerstreiks erwähnt. Die Genese des Islambildes deutscher Medien zeigt ein ganz überwiegendes Desinteresse am Islam als Religion und der Vielfalt seiner gesellschaftlichen Äußerungsformen. Dies gilt übrigens analog für die Wahrnehmung des Judentums, das vielfach auf Holocaust und Zionismus beschränkt wird (Hafez 2002, Bd. 2, S. 118f.). Das Medieninteresse konzentriert sich in hohem Maß auf radikale Facetten des Islam; einer Religion, die im Wesentlichen die Funktion zu haben scheint, als radikaler ideologischer Gegenentwurf zur westlichen Gesellschaft zu dienen. Erneut zeigt sich hier, wie Huntingtons Kulturenkampf kommunikativ konstruiert wird. Aus dieser Situation scheint es nur zwei logische Auswege zu geben: Entweder verschwindet der politische Islam wieder von Bildfläche, was Autoren wie Gilles Kepel für möglich halten (2002). Den deutschen Medien würde dann die thematische Anreizstruktur fehlen, der Islam wahrscheinlich wieder in der medialen Versenkung verschwinden und der Weg möglicherweise frei für positive Bilder des Orients. Oder aber es gelingt, mit Hilfe der auf und in den Medien wirkenden Gesellschaftskräfte eine Normalisierung des Islamdiskurses auch unter den Bedingungen der Re-Islamisierung herbeizuführen (siehe unten). Die erste Entwicklungsvariante nimmt Bezug auf die Tatsache, dass der Islam im heutigen Mediendiskurs eine außergewöhnlich hohe Beachtung erfährt, die, aus historischer Warte betrachtet, keineswegs kulturpermanent ist. Vor der Iranischen Revolution von 1978/79 wurde über den Islam in deutschen und anderen westlichen Medien kaum berichtet, sieht man von wenigen Ausnahmen wie der Pilger- oder Fastenzeit ab. Orientberichterstattung, die es reichlich gab, war keine Islamberichterstattung, sondern sie orientierte sich an einer Vielzahl von
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Themen- und Ereignisstrukturen. In den fünfziger Jahren etwa herrschte der exotische Orientalismus in den deutschen Medien vor, etwa wenn die Liebesbeziehungen des iranischen Schahs Mohammed Reza Pahlevi oder des Aga Khan Titelgeschichten bei Der Spiegel oder Stern auslösten. Derlei Berichte waren zwar Klischee beladen, aber sie waren auch unterhaltend und wurden positiv aufgenommen. Die Unterhaltungsberichterstattung über den Orient verschwand in „Schockwellen“ aus der deutschen Presse, die sich vom Sechs-Tage-Krieg im Nahen Osten1967 über die Iranische Revolution bis zum 11. September 2001 ausbreiteten. Bei der Diskussion des medialen Islambildes darf dennoch nicht außer Acht gelassen werden, dass dieses nur einen Teilbereich der deutschen Orientberichterstattung ausmacht, die, im historischen Längsschnitt betrachtet, erheblichen thematischen Schwankungen unterlag. Zwei Bereiche sind zu erkennen, die es erschweren, die Eigenschaften des heutigen negativen Islambildes der Medien als konstantes Phänomen zu bezeichnen (vgl. in diesem Zusammenhang auch Dröge 1967: 151):
Das Medienbild des Islam weist zeitgenössische Schwankungen auf, wobei ein Vergleich vor und nach der Iranischen Revolution nahe legt, dass sich ein Feindbild des Islam im vollen Umfang lediglich in Zeiten hoher Politisierung (politischer Islam) herausbildet. Auch innerhalb politisierter Phasen des Islambildes – im vorliegenden Fall also seit 1978/79 bis in die Gegenwart – kann der Mediendiskurs über den Islam kurzfristig Strömungsunterschiede etwa im Rechts-Links-Gefüge der Medien ausprägen. Solche „Strömungsdebatten“ konnten etwa in der Affäre um Salman Rushdie (Hafez 1996), während der Kontroverse um die deutsche Orientalistin Annemarie Schimmel (Hafez/Ahmed 1995) oder im jüngeren „Karikaturenstreit“ (siehe hierzu auch den Beitrag von Jäger in diesem Buch) nachgewiesen werden. Sie weisen auf unterschiedliche Sensibilitäten hin. Die Rücksichtnahme auf religiöse Symbole etwa ist im konservativen Lager oft größer als im links-progressiven Lager. Strömungsdebatten eröffnen kurzfristig auch den „kleinen Traditionen“ der deutschen Orientbetrachtung, etwa der deutschen Orientalistik, die Möglichkeit, sich in den Medien zu äußern, da sie in diesen Zeiten aktiv als Gesprächspartner gesucht werden.
Ob von solchen kurzfristigen Öffnungen der Medien für differenziertere Islambilder eine breite aufklärende Gesellschaftswirkung ausgeht, ist zu bezweifeln, zumal sich derartige Diskurse vor allem in der Elitenpresse niederschlagen, aber nicht in der Boulevardpresse. Allerdings zeigt die große Nachfrage nach orientalistischen und anderen relevanten Studiengängen und Abschlüssen, die solchen Kontroversen folgt, oder die Vielzahl der nachfolgenden Konferenzen, die im so
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genannten intermediären Sektor der Öffentlichkeit (Stiftungen, Vereine et cetera) abgehalten werden, dass sich eine minoritäre, aber zum Teil bildungselitäre Gegenöffentlichkeit ständig neu bildet und verjüngt.
Mediengesellschaft – Wissensgesellschaft Es macht wenig Sinn, die Debatte über das Islambild deutscher Massenmedien aus dem wesentlich breiteren Kontext des deutschen Islambildes insgesamt herauszulösen. Die strukturellen Ursachen, die zur derzeitigen Islamberichterstattung geführt haben, liegen nämlich nur zum Teil bei den Medien selbst. Aus historischer Perspektive ist sehr leicht nachzuweisen, dass die meisten heute bestehenden medialen Negativbilder des Islam in nuce bereits seit Jahrhunderten im deutschen Kulturraum virulent sind (Hafez/Ahmed 1995: 411ff.). Ein synchroner Vergleich des Medienbildes mit anderen Segmenten der Gesellschaft – dem Islambild von Politik, Bildungseinrichtungen, Kirchen und anderen intellektuellen Eliten und, was heute nicht außer Acht zu lassen ist, mit dem über das Internet popularisierten Islamdiskurs – würde sehr rasch zeigen, dass die Massenmedien Fernsehen, Rundfunk und Presse lediglich ein Baustein einer kompletten Wissensgesellschaft sind, die mehrheitlich dazu tendiert, den Islam als Negativ- oder Feindbild der Moderne zu konservieren. Man kann aus theoretischer Sicht Einflüsse auf Medieninhalte auf drei verschiedenen Ebenen ansiedeln (Hafez 2002, Bd. 1):
Mikroebene: Einflüsse der im Journalismus handelnden Individuen, vor allem der Journalisten selbst, deren individuelle wie auch berufliche Sozialisation sich in der Medienproduktion bemerkbar macht; Mesoebene: Einflüsse der Medienorganisationen, ihrer Ressourcen, Informationsprozesse und sozialen Interaktionen, die sich auch typologisch unterscheiden lassen, etwa im Rahmen des Dualismus von privaten und öffentlich-rechtlichen Medien; Makroebene: Einflüsse der Gesellschaft auf die Medien, wobei zwischen den Interaktionen mit so genannten Systemumwelten (etwa Bürger- und Elitenmeinungen) und mit Umweltsystemen (politisches System, Wirtschaftssystem et cetera) zu unterscheiden ist.
Die Kritik am Islambild deutscher Massenmedien hat in den letzten Jahrzehnten vor allem auf der theoretischen Mikroebene angesetzt. Mit Nachdruck sind gerade in den neunziger Jahren die Stereotype führender deutscher Journalisten kritisiert worden, allen voran Peter Scholl-Latour und Gerhard Konzelmann, die über
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Jahrzehnte die deutsche Nahostberichterstattung des Fernsehens dominiert haben (Klemm/Hörner 1993; Rotter 1992). Sendereihen wie Das Schwert des Islam von Peter Scholl-Latour während des Golfkrieges von 1991 lassen schon im Titel die Dominanz kulturalistischer und essentialistischer Weltbilder (der Islam als Akteur, die Einheitlichkeit des Islam et cetera) erkennen. Weitergehende Untersuchungen haben bestätigt, dass sich die Annahme, deutsche Journalisten ließen in ihre Islamberichterstattung persönliche Klischees einfließen, auch im Werk anderer Journalisten nachweisen lässt (Hafez 2002, Bd. 1: S. 73ff.). Einer der Gründe für den hohen Eigenanteil der ideologischen Prägung journalistischer Arbeit dürfte in der Tatsache zu suchen sein, dass aus der professionellen Journalistenausbildung in aller Regel kein Korrektiv erwächst. Die stereotype Grundhaltung der primären und sekundären Sozialisation in Familie, Schule und sozialen Milieus wird durch die professionelle Sozialisation des Journalismus nicht ausgeglichen. Während Journalisten zwar allgemeine Maximen der Neutralität, Objektivität und Ausgewogenheit erlernen, fehlt ihnen in aller Regel das Hintergrundwissen, um alternative Standpunkte zum Islam zu entwickeln, die sie zu pluralistischer – kritischer wie auch würdigender – Berichterstattung befähigen könnten. Keine der deutschen Journalistenschulen bietet heute regelmäßig Schulungen zum Thema Islam an. Insbesondere die Auslandsberichterstattung ist zunehmend zu einer „Restgröße“ des deutschen Journalismus geworden (Meckel 1998), was sich auch in der handwerklichen Ausbildung niederschlägt. Inwieweit einschlägige Fachstudien, die Journalisten vielfach vor ihrem Volontariat oder einer anderen Ausbildung absolvieren, entsprechendes Wissen bereitstellen, müsste im Einzelnen noch untersucht werden, da der Anteil der Islamexpertise etwa im Rahmen einer politologischen Ausbildung je nach Hochschulstandort sehr unterschiedlich ausfallen kann. Fachstudien über den Islam sind bei deutschen Journalisten aber sicher randständig. Mikrotheoretische Betrachtungen, die den Journalisten ins Zentrum stellen, liefern keine hinreichenden Erklärungen für den derzeitigen Zustand des Islambildes deutscher Medien. In der Journalismustheorie fragt man sich seit langem, ob das Individuum der Medienorganisation oder die Organisation dem Individuum überlegen ist, wenn es um das Geltendmachen von Einflüssen geht (Hafez 2002, Bd. 1). Der Grund für die Unsicherheit liegt im spezifischen Charakter des heutigen Journalismus begründet, der als Grenzberuf zwischen freier individueller Profession und industrieller Lohnabhängigkeit fungiert. Während der Journalismus einerseits wie andere Professionen nur der eigenen Standesethik Rechenschaft schuldet und die Selbststeuerung durch Berufsverbände und Presseräte hoch entwickelt ist, ist es die Medienorganisation, die ihm andererseits den materiellen Rahmen vorgibt, ohne den er nicht publizieren kann. Anders ausgedrückt: Das Medienunternehmen ist zwar auf die kreative, intellektuelle und sprachliche
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Eigenständigkeit seiner Journalisten angewiesen, kann aber im Falle einer als zu groß befundenen Abweichung von der Betriebsnorm mit materiellen Sanktionen drohen, die vom Journalisten ganz überwiegend antizipiert und durch selbstzensorisches Verhalten vermieden werden. Auch der aufgeklärteste Journalist kann daher an den Apparaten der Medien scheitern oder in ihnen eine Randexistenz fristen, vor allem wenn die kommerziellen Entscheidungen eines Mediums in eine andere Richtung weisen; der Online-Journalismus ist hier teilweise anders zu beurteilen (siehe unten). Nur so ist es auch zu erklären, dass zwar die Ära der Dominanz einiger weniger Auslandsjournalisten in Deutschland seit Jahrzehnten vorbei ist, weil es immer mehr Medienprodukte gibt und heute ein breiter Strom von Journalisten im Print- und elektronischen Sektor an der Konstruktion des Islambildes beteiligt ist, aber eine Zunahme an individueller Freiheit nicht zu erkennen ist. Die alten Themen- und Diskursmuster des Islambildes der Medien funktionieren auch unter sich permanent erneuernden Produktionsbedingungen. Nicht einmal die leicht zunehmende Zahl von gelernten Arabisten, Orientalisten sowie von muslimischen Einwanderern hat daran substantiell etwas ändern können. Zum einen sind die genannten Gruppen zahlenmäßig noch immer eine kleine Minderheit. Zum anderen unterliegen auch sie organisatorischen Interessen und Pressionen. Ein Medium wie die Illustrierte Stern, das in den letzten Jahren einige Orientalisten engagiert hat (Christoph Reuter und zeitweise auch Albrecht Metzger), muss sich in letzter Instanz am Markt verkaufen und behaupten. Gerade unter dem Druck der „Pressekrise“ und der wirtschaftlich begründeten Boulevardisierung (taz, 17./18.11.07) schwinden die durch berufliche Qualifikation hinzugewonnenen Freiheiten gleich wieder. Nichts dürfte dem Islambild deutscher Medien mehr schaden und es stärker einer negativen Einseitigkeit aussetzen als die Tatsache, dass der berühmte Nachrichtenwert „Konflikt“ sich auch bei wechselndem Personal kontinuierlich systemisch in den Medien auswirkt. Marktlogiken wirken sich auch in einem anderen Bereich aus, etwa bei den immer knapper werdenden Ressourcen für Auslandskorrespondenten und der dadurch gestärkten Stellung von Nachrichtenagenturen als externen Informationsquellen. Es sind diese Agenturen und Knotenpunkte des Mediendiskurses, die maßgeblich dafür verantwortlich sind, dass das Islambild der großen deutschen Massenmedien so einförmig von wenigen sich ständig wiederholenden Themen und Argumentationsmustern beherrscht wird. Agenturen leisten zwar durch das Zur-Verfügung-Stellen von zentralen Themen und Materialien einen wichtigen Dienst für die Entstehung eines „öffentlichen Gesprächs“, dessen Bildung und Genese durch zu große thematische Heterogenität und eine zu radikale Definition journalistischer Eigeninteressen gefährdet würde. Es besteht allerdings zugleich die Gefahr, dass unter dem Zeit- und Finanzdruck der Medien Sekundärquellen
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der Agenturen weder ordentlich überprüft noch vielfältig und intensiv interpretiert werden. Die entstehenden Abschreiberituale des Journalismus, in der älteren Kommunikationswissenschaft häufig noch euphemistisch als „sekundäres Gatekeeping“ (secondary gatekeeping) tituliert (Sreberny-Mohammadi 1985: 50), sind nicht nur im Bereich des Islambildes zu vermerken und fördern die inhaltliche Stagnation der Profession, die heute ganz offen von kritischen Journalisten beklagt wird (ndr.de, 30.1.08). Es kommt ein weiterer Aspekt hinzu, der häufig übersehen wird. Journalisten orientieren sich nicht nur an externen Informationsquellen, sondern auch in hohem Maß an sich selbst. Innerhalb des Journalismus sind journalistische Meinungsführerschaften ausgeprägt, was gemäß der regelmäßig durchgeführten empirischen Untersuchungen darauf hinausläuft, dass Medien wie Der Spiegel, die Süddeutsche Zeitung und seit einigen Jahren auch Bild Themen und Meinungsbilder vorgeben, die im Rest der etablierten Massenmedien aufgegriffen und dupliziert werden (Weischenberg 1994). Zwar schließt die Orientierung an innerjournalistischen Meinungsführern Eigenpositionierungen nicht aus, die etwa aus der weltanschaulichen Differenzierung der Medien und einem entsprechenden Profilierungsbedarf im Rechts-Links-Spektrum der Gesellschaft resultieren können, aber thematische Impulse dürften sich stark durchsetzen: Themen, die Der Spiegel groß aufgreift, am besten als Titelgeschichte, lösen vielfach öffentliche Debatten aus; Themen, die ignoriert werden, sterben schnell ab. In jüngeren Jahren bediente etwa der SpiegelTitel Mekka Deutschland – Die stille Islamisierung das Bild einer islamischen Unterwanderung Deutschlands (Der Spiegel, 26.3.07). Das Beispiel ist umso bedeutsamer, als mehrere Studien nachgewiesen haben, dass gerade Der Spiegel den Islam mit Vorliebe in Verbindungen mit den klassischen Negativthemen der Gewalt, des Terrors, der Unterdrückung und religiösen Prägung von Gesellschaften bringt (Thofern 1998; Röder 2007; Gehrs 2005: 258 ff.). Neben den Einflüssen durch Agenturen und Meinungsführerschaften machen sich im Inneren der Medienorganisationen vielfach hierarchische Machtkonstellationen bemerkbar, die oft eine aus der Perspektive der Qualitätssicherung sehr fragliche Wirkung entfalten. Empirisch ist nachgewiesen worden, dass etwa im Bereich der großen überregionalen Zeitungen und politischen Zeitschriften die reguläre Tagesberichterstattung über den Islam in den Händen des jeweiligen Ressorts liegt (was allerdings nicht bedeutet, dass hier zwangsläufig Islamexperten tätig sind, aber zumindest ist die Ressortkompetenz sichergestellt). Gerade auf den Höhepunkten von Krisen und großen Debatten jedoch, die sich um den Islam ranken – zum Beispiel in der Rushdie-Affäre, im Karikaturenstreit und ohnehin nach dem 11. September – schalten sich die Chefredakteure und Leitartikler als Hüter eines dezidiert Islam-kritischen und oft sehr verallgemeinernden Status quo der gesellschaftlichen Wahrnehmung ein (Hafez 2002, Bd. 2,
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S. 172, 305). Ob der Chefredakteur der Zeit, Theo Sommer, während der Rushdie-Affäre 1989 vor den „Ableger fremder Kulturen“ in unserer Mitte warnte (Die Zeit, 24.2.1989) oder der Herausgeber der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, Frank Schirrmacher, fast zwanzig Jahre später junge Muslime zur Hauptgefahr der Jugendkriminalität erklärt (FAZ, 15.1.08) – stets ist es dasselbe Muster nach dem sich strukturkonservative Kräfte ihre publizistische Hegemonie in den entscheidenden Momenten sichern. Auf dem Titel und im Leitartikel die pauschale Islamkritik, auf „Seite 3“ dann – wenn man Glück hat – ein differenzierender Artikel und an einem sehr außergewöhnlichen Tag im Feuilleton auch noch ein Beitrag eines wissenschaftlichen Experten: Hier sind die zumindest auf den Höhepunkten von Debatten gelegentlich erkennbaren Stärken, aber auch die sich selbst reproduzierenden Schwächen eines journalistischen Laientums in einer Kurzformel zusammengefasst. Der so entstehende hegemoniale Diskurs wird durch ein Netzwerk informeller Beziehungen gestützt, des zwischen manchen Massenmedien und Intellektuellen besteht, die als Autoren auf Buch-, Presse- und Rundfunkmärkten reüssieren, die in den Chefetagen der großen Medienhäuser hohes Ansehen als Prominente genießen und denen daher breiter Raum zur Darstellung ihrer sehr häufig nachdrücklich islamkritischen Positionen gegeben wird wie zum Beispiel Ralph Giordano etwa in der Zeitung Die Welt. Medien sind zur Legitimation und Fundierung ihrer Berichterstattung auf außermediale Eliten angewiesen, die sich nicht durch Bindungen zu spezifischen anderen Gesellschaftssystemen (wie etwa Parteien, Kirchen) auszeichnen und daher den Nimbus der geistigen Unabhängigkeit genießen. Sie fungieren quasi als die grauen Eminenzen des öffentlichen Diskurses. Problematisch an diesen Beziehungen ist allerdings bisweilen, dass die meisten bekannten Intellektuellen nicht dem etablierten Wissenschaftssystem entstammen, sondern mehr oder weniger Privatgelehrte ohne Qualitätssicherung durch eine akademische Gemeinschaft sind. Dies muss die Qualität ihrer vielfach originellen Analysen nicht zwangsläufig beeinträchtigen – eine Garantie, dass ihre Essays und Einwürfe auf der Höhe des wissenschaftlichen Forschungsstandes sind, gibt es allerdings nicht. Im Bereich des deutschen Islambildes tun sich in den letzten Jahren gerade ehemals eher linke Intellektuelle als vielfach fundamental islamkritisch hervor, etwa Alice Schwarzer, Ralph Giordano, Henryk M. Broder, Hans Magnus Enzensberger oder Günther Wallraff (siehe auch den Beitrag von Schneiders in diesem Buch). Als besonderes Problem erweist sich, dass diese Leitfiguren progressiver Gesellschaftskritik beim Thema Islam den Schulterschluss mit der konservativen Sichtweise einer primär christlichen (oder christlich-jüdischen) Prägung der westlichen Politik und Gesellschaft üben. Diese Sichtweise wird seit Jahrzehnten etwa von der Spitze der deutschen Evangelischen Kirche vertreten
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(Micksch 2007 siehe auch den Beitrag von Just in diesem Buch) sowie von führenden Politikern von Helmut Kohl bis Helmut Schmidt (etwa in der Frage der Türkeimitgliedschaft der EU). Henryk Broder warnt im Spiegel wie auch in seinen Büchern plakativ vor einer „Kapitulation“ vor dem Islam. Ralph Giordano wendet sich gegen den Bau von Moscheen, weil er die Integration des Islam für gescheitert hält (taz, 19./20.5.07). Alice Schwarzer spricht vor einer islamischen „Unterwanderung“ des deutschen Rechtssystems. Die Gründe, die gerade diese früheren Vordenker einer modernen deutschen Toleranz- und Emanzipationskultur dazu veranlasst haben, ehemals rechtskonservative Positionen zu vertreten, sind sicher vielfältig, liegen aber wohl unter anderem in der Tatsache begründet, dass sie die einmal errungenen Tugenden (zum Beispiel Emanzipation, Aussöhnung mit den Juden) nicht mehr durch häufig noch sehr viel konservativere Einwanderer gefährdet sehen möchten: eine Einstellung, die nicht berücksichtigt, dass sich demokratische Öffentlichkeit ständig erneuert und gerade dadurch eine gesellschaftsintegrative Wirkung entfalten kann. Die einseitige Meinungsführerschaft einer hegemonialen Bildungselite hat einen großen, wenn nicht gar bestimmenden Einfluss auf das Islambild der Medien, was natürlich auch bedeutet, dass es besonders wichtig wäre, gerade mit diesen Kreisen einen intensiven Dialog über den Islam zu beginnen, der über die großen und aufgeregten Debatten hinaus weist. Zwar gibt es ohne Frage eine Vielzahl von publizistischen Stimmen, die auf ein ausgewogenes Islambild drängen – man denke stellvertretend an den deutsch-iranischen Intellektuellen Navid Kermani. Diese Persönlichkeiten verfügen jedoch bei weitem nicht über den Bekanntheitsgrad, die Präsenz und den meinungsführenden Einfluss wie die oben genannten Intellektuellen. Während mit dem Nachdenken über die Rolle von Meinungseliten bereits die Ebene der makrotheoretischen Betrachtung erklommen wurde, so wäre weiterhin zu fragen, welchen Einfluss etwa das politische System auf das Medienbild des Islam ausübt (siehe hierzu auch den Beitrag von Shakush in diesem Buch). Das politische System ist im systemtheoretischen Sinn ein Umweltsystem der Medien. Die Zusammenhänge sind auch hier sehr vielfältig, zumal viele markante Äußerungen von Politikern über den Islam auch ihren Weg in die Medien finden: man denke nur an die häufigen Ausführungen des Innenministers Wolfgang Schäuble über die terroristische Gefahr, die von islamischen Konvertiten ausgehe. Belege für solche Stereotype und Feindbilder im politischen Raum ließen sich beliebig vermehren, belegt etwa durch die Äußerungen des damaligen bayrischen Innenministers Günther Beckstein über die „anatolische Bauform“ einer geplanten Moschee, die nicht zum „Empfinden eines halbwegs normalen Menschen“ passe (Süddeutsche Zeitung, 4.12.06). Allerdings besteht in der veröffentlichten politischen Meinung zum Islam in Deutschland keineswegs ein islamophober Konsens. Nicht nur die auf Ausgleich mit dem Islam zielenden
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Positionen der Bundespräsidenten Herzog und Rau, sondern auch zahlreiche andere politische Stellungnahmen zum Islam aus unterschiedlichen politischen Lagern lassen und ließen neben oft generalisierender Kritik auch Respekt und Dialogbereitschaft erkennen. Innenminister Schäuble ist auch hier ein Beleg, etwa in seinem Versuch, mit der Deutschen Islam Konferenz die gesellschaftliche Anerkennung voranzutreiben. Schäuble verkörpert paradigmatisch eine Kultur des politischen Establishments, in der ein undifferenziertes Islambild zwar missbraucht wird, zugleich aber verbesserte Beziehungen zu Muslimen und die Anerkennung des Islam in Deutschland gesucht werden. Dieser pragmatische Stil der politischen Eliten weist auf die Tatsache hin, dass das politische System in der Außenpolitik über gute Beziehungen zu zahlreichen islamisch geprägten Staaten verfügt und in der Innenpolitik Kontakt zur muslimischen Gemeinschaft zumindest in seinen organisierten Teilen zunehmend herstellt. Jochen Hippler hat unter Hinweis auf die amerikanische Politik eine ähnliche funktionale Duplizität herausgearbeitet. Das „Feindbild Islam“, so Hippler, sei kein durchgehendes Ideologem der amerikanischen Politik, sondern es werde situativ nur dann konstruiert, wenn es gelte, die eigene Bevölkerung im Konflikt mit einem islamisch geprägten Staat zu mobilisieren (Hippler 1993). Was in dieser Analyse erkennbar wird, ist die Koexistenz eines latent vorhanden Feindbildes in Medien und Öffentlichkeit mit einem rational aufgeklärten politischen Apparat. Diese Grundanalyse wird durch die Vielfalt der Islamäußerungen auch im deutschen politischen System gestützt, muss allerdings in mancher Hinsicht differenziert und ergänzt werden. Erstens gibt es auch Beispiele dafür, dass die Medien die Aktivitätsrichtung des politischen Handelns umdrehen können: etwa während des so genannten „kritischen Dialogs“ der Bundesregierung mit Iran in den 1990er Jahren, als erst eine negative Stimmungslage in der Öffentlichkeit die Bundesregierung zu einem Abrücken von diesem Prozess veranlasste (Hafez 1997) – ein eher seltener Mechanismus, der die prinzipielle Möglichkeit starker politischer Medieneffekte in ganz spezifischen Situationen (geringe politische Involvierung, Distanz von akuten Sicherheitskrisen) erkennen lässt. Zweitens liegen bis heute keine Untersuchungen darüber vor, inwieweit Islamophobie auch bei einzelnen Politikern politische Entscheidungen beeinflussen kann. Die Vorstellung vom politischen System und dem in ihm agierenden Personen als rationalen Akteuren ist theoretisch umstritten, da Werte, Perzeptionen und Sozialisation ein Bestandteil politischen Entscheidungshandelns sind. Drittens entsteht die politische Versuchung einer Funktionalisierung eines Negativbildes des Islam nicht vollständig willkürlich und utilitaristisch, wie Hippler suggeriert, da bestimmte politische und ideologische Konstellationen der Instrumentalisierung des Feindbildes Islam Vorschub leisten können: etwa die Existenz eines islami-
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schen Fundamentalismus oder die Konjunktur von Kulturkampfideologien (à la Samuel Huntingtons „Kampf der Kulturen“). Ohne Fundamentalismus und westliches Kulturkampfdenken wäre das Islambild deutscher Medien wohl kaum so zugespitzt, wie es derzeit ist. Gerade den letzten Aspekt könnte man als „Zeitgeist“-Faktor beschreiben, an dessen Ausprägung die Medien maßgeblich beteiligt sind. Als abschließender Aspekt der Entstehungsbedingungen des Islambildes deutscher Medien muss die Wechselwirkung von Medien und Gesellschaft näher beleuchtet werden. Zu fragen ist, ob die heutigen Medien in einem zivilgesellschaftlichen Umfeld operieren, das man als halbwegs aufgeklärt mit Blick auf den Islam betrachten kann. Eine kritische und differenzierte Systemumwelt würde es den Massenmedien von Presse, Radio und Fernsehen erschweren, vereinfachte Sichtweisen zu kolportieren und darüber hinaus Stimuli für eine pluralistische Debatte in das Mediensystem übersenden. Wie, so könnten andererseits Journalisten fragen, soll sich ein ausgewogener Journalismus entwickeln, solange kulturalistische Streitschriften wie Oriana Fallaci Wut und Stolz oder Samuel Huntingtons Kampf der Kulturen an jedem Bahnhofskiosk reißenden Absatz finden? Die Lage der Zivilgesellschaft ist zu komplex, um hier zufrieden stellend beantwortet zu werden. Vorhandene Demoskopie weist uns allerdings darauf hin, dass Aversionen und Ängste gegenüber dem Islam bei etwa zwei Dritteln der deutschen Bevölkerung sehr ausgeprägt sind (siehe oben). Schulbuchuntersuchungen der achtziger Jahre ergaben eklatante Mängel bei der Vermittlung relevanten Wissens in deutschen Schulen (Falaturi 1986ff.; siehe auch den Beitrag von Jonker in diesem Buch) – eine Situation, die sich in einigen Fächern und Lehrplänen mancher Bundesländer verbessert hat, die aber einer grundsätzlichen Evaluation bedarf (s.a. den Beitrag von Jonker in diesem Buch). Die Schule ist der Ort, an dem der heranwachsende kritische Medienkonsument entsteht – oder eben auch nicht. Hier müssen die intellektuellen Grundlagen eines kritischen, aber pluralistischen Islamverständnisses gelegt werden. Die deutsche Bildungsgesellschaft, dies gilt auch zum Teil für die Wissenschaft, steht hier noch eher am Anfang der Entwicklung solider Wissenskulturen, die sich auch gegen im Kulturerbe tief verwurzelte Islambilder durchsetzen müssen; man denke nur an Martin Luthers Islamapologetik (Kuschel 1998) oder Max Webers umstrittene Islamrezeption (zur Kritik an Weber vgl. Salvatore 1997). Ob die neue Ära der vermeintlichen Globalisierung hier Abhilfe schaffen wird, ist fraglich. Menschen reisen zunehmend, aber ob der Tourismus generell zu einem Abbau von Stereotypen beiträgt ist sehr umstritten, da entscheidend ist, welche Art von Kontakt mit der „fremden“ Kultur hergestellt wird. Geht es um Natur und antike Kultur (die Pyramiden?) oder um Land und Leute, und wenn ja, um welche Leute und wie wird der Kontakt kommunikativ gestaltet? Andere
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Interaktionsmöglichkeiten stimmen hoffnungsvoller, etwa die Ausweitung einer Internet-Öffentlichkeit, die differenzierte Gegenöffentlichkeiten entstehen lassen könnte. Schon heute haben es Informationen, die von den klassischen Medien nicht aufgegriffen werden, leichter, sich über das Internet zu verbreiten, das allerdings zugleich ein Einfallstor für extreme Islamophobie ist (siehe auch den Beitrag von Schiffer in diesem Buch).
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Muslime in den internationalen Beziehungen – das neue Feindbild Muslime in den internationalen Beziehungen – das neue Feindbild
Werner Ruf
Mit dem Ende des Kolonialismus und dem wirtschaftlichen Aufschwung in Westeuropa nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs ist „der Islam“ „im Westen“ angekommen: Millionen Menschen, die aus Ländern mit muslimischen Mehrheiten stammen, haben in Westeuropa, aber auch in den USA und Kanada ihren Wohnsitz und sind – je nach geltendem Staatsbürgerschaftsrecht – gleichberechtigte Bürger oder auch nicht, wie beispielsweise in Deutschland. In den Vorstädten von Paris und London stellen Menschen, die „aus der Migration stammen“ Mehrheiten, Berlin ist die viertgrößte türkische Stadt, wenn man denn so rechnen will. Diese Menschen haben für sich und ihre nachfolgenden Generationen eine Wahl getroffen. Zugleich haben sie eine für ihre Identität wichtige Geschichte, deren Ausformung wesentlich davon abhängt, wie die Mehrheitsgesellschaft mit ihnen umgeht, denn die Konstruktion des „Wir“ bedarf immer eines „Anderen“, von dem das Wir sich positiv absetzt, indem es dem Anderen negative Charakteristika zuschreibt (Ruf 2006). Die Herstellung von Identität bedarf der Abgrenzung des „Wir“ von den „Anderen“. Fremdheit speist sich aus der Entgegensetzung zum Eigenen, wobei dem „Wir“ ganz selbstverständlich positive Attribute zugewiesen werden, dem Fremden dagegen negative (Rommelspacher 2002: 9ff.; Beck 1996; Hobsbawm 2005: 7; siehe hierzu auch den Beitrag von Jonker in diesem Buch). So benötigt das „Wir“ die „Anderen“ als Projektionsfläche für die eigene Identitätsstiftung. Und in diesem wechselseitigen Prozess sagt meist die Ausmalung des „Anderen“, des „Fremden“ mehr über die Befindlichkeit des „Wir“ aus als über diesen „Anderen“, von dem es sich abzugrenzen versucht. Zugleich werden die den Kollektiven zugehörigen Individuen in ihren grundlegenden Eigenschaften definiert, in essentiellen Charakteristika gleichgesetzt. Dieser Mechanismus führt nicht nur dazu, dass die Trennlinien zwischen den Kollektiven klar gezogen werden können, sondern auch, dass den jeweiligen Mitgliedern der Kollektive – eben den Völkern oder neuerdings auch den Kulturen – gemeinsame Eigenschaften und ihr Handeln und ihre Denkweise determinierende Verhaltensweisen ebenso wie fundamentale wechselseitige Loyalitäten unterstellt werden können: Eine solcherart gewissermaßen ontologisch vorgegebene Identität erscheint dann – von innen wie von außen – als feste und bere-
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chenbare Größe. Und immer kleiden sich kollektive Identitäten in moralisierende Gewänder, definieren „gut“ und „böse“, „Wert“ und „Unwert“. Dieses „Wir und die Anderen“ wurde in der jüngsten Zeit sehr unterschiedlich interpretiert und genutzt. Es ist schon beinahe faszinierend festzustellen, wie es binnen einer Zeitspanne von gerade einmal anderthalb Jahrzehnten gelungen ist, einen in sich extrem heterogenen und widersprüchlichen Kulturkreis zu einer ubiquitären Bedrohung aufzubauen, denn den Islam gibt es so wenig wie d as Christentum oder das Judentum, ja die islamische Welt ist mit ihren zwei wichtigsten Konfessionen, sunna und shi’a, mit ihren vier Rechtsschulen, mit unzähligen Formen eines von den Schriften weit entfernten Volksislam, vor allem aber mit ihren zahlreichen säkularen Gruppen noch weniger geeint als „das Christentum“ mit all seinen Varianten von Bigotten und Fundamentalisten bis zur (katholischen!) Befreiungstheologie. Wie in allen Glaubensrichtungen gibt es allerdings auch im Islam Phasen und Dimensionen einer Politisierung, die jedoch nur aus dem historischen Kontext heraus zu verstehen sind. Der politische Islam oder Islamismus, der heute in Erscheinung tritt, muss verstanden werden als eine Reaktion auf den Imperialismus und die koloniale Expansion Europas in den Orient, eine Reaktion auf die auch mit christlichem Sendungsbewusstsein vorgetragene „zivilisatorische Mission“ des Westens. Ein religiös fundiertes anti-imperialistisches Programm formulierten erstmals die Muslim-Brüder (gegründet 1928 in Ägypten), die sich allerdings primär gegen die säkularen politisch-militärischen Eliten ihrer Länder richteten, denen sie die Abkehr vom Glauben und damit die Unterwerfung unter die westliche Dominanz vorwarfen. Diese säkularen Eliten erhielten während des Kalten Krieges in ihrem Kampf gegen den Kolonialismus und die Dominanz des Westens die Unterstützung der Sowjetunion. Das Zweckbündnis mit dem „realen Sozialismus“ hinderte sie jedoch nicht daran, in ihren Ländern die Kommunisten und die linke Intelligenz gnadenlos zu bekämpfen und Hunderte, ja Tausende von Menschen zu ermorden oder hinzurichten, wie vor allem in Ägypten, Syrien, Irak. Dennoch lieferte die Sowjetunion aufgrund von machtpolitischen und geostrategischen Überlegungen weiterhin politische Unterstützung und Waffen. Seit Beginn der 70er Jahre des vorigen Jahrhunderts – also lange vor dem Krieg gegen die Sowjetunion in Afghanistan und den dort von der CIA mit saudischem Geld aufgebauten islamistischen Brigaden – erfuhren die Islamisten zunehmend Unterstützung sowohl seitens der USA wie der meisten Regime der Region, galten sie doch vor allem an den Universitäten und in der gewerkschaftlichen Arbeiterschaft als nützliches Gegengewicht gegen die „atheistische“ Linke: So wurden islamische Gewerkschaften gegründet und die Zellen der Muslimbrüder an den Universitäten unterstützt. Damals förderte auch Israel die aus der unbedeutenden palästinensischen Muslimbruderschaft hervorgegangene Hamas, um ein Gegengewicht gegen die PLO zu schaffen, ihr geistiges Oberhaupt Sheikh
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Yassin (im März 2004 von Israel ermordet) war gern gesehener InterviewPartner im israelischen Fernsehen. Mit dem realen Zusammenbruch des Sozialismus sowjetischer Prägung verlor der Westen zugleich seinen Feind und sein Feindbild. Diese Lücke füllte Samuel P. Huntington mit seinem Epoche machenden (und drei Jahre später zu einem Buch erweiterten) Aufsatz The Clash of Civilizations? (1993: 22ff.) Begierig griffen die militaristischen Kreise des Westens das neue Feindbild auf, ging es doch um ihre Legitimation und vor allem um die der NATO, die bereits im November 1991 ein neues strategisches Konzept verabschiedete, in dem sie „potenzielle Bedrohungen aus dem Nahen Osten“ ortete. Schon 1994 stellte das französische Verteidigungsweißbuch (S. 18) fest: „Der islamistische Extremismus stellt ohne Frage die beunruhigendste Bedrohung dar. (…) Er nimmt oft den Platz ein, den der Kommunismus innehatte als Widerstandsform gegen die westliche Welt.“ Und der damalige NATO-Generalsekretär Willi Claes legte flugs in einem Interview mit der britischen Tageszeitung The Independent am 8. Februar 1995 nach, indem er erklärte, dass der islamische Fundamentalismus möglicherweise eine größere Bedrohung darstelle als dies der Kommunismus je war. Und der (damalige) deutsche Inspekteur des Heeres, Helge Hansen, kleidete Huntingtons kulturologische Ergüsse in militärisch-politische Denkmuster, wobei er das alte Klischee vom irrationalen Orientalen gleich mit bediente: „Abschreckung war bisher bestimmt von rationaler abendländischer Logik, wenn auch im Osten ideologisch geprägt. Nach dem Ende des Ost-West-Konflikts und dem Wegtreten einer Weltund Ordnungsmacht ist dies jetzt anders. Ausgangspunkte künftiger Konflikte sind Irrationalität, nicht vorhandenes Risikobewusstsein und nahezu unbegrenzte Risikobereitschaft. Abschreckung in der klassischen Form kann und wird daher schlicht nicht mehr funktionieren, zumindest nicht, um vom Einsatz konventioneller Waffen abzuhalten. (…) Sicherheit bedeutet dann nicht nur die territoriale Integrität und den Schutz vor direkten militärischen Angriffen, sondern beinhaltet – weiter gespannt – den Erhalt unserer Werteordnung und des politischen, wirtschaftlichen oder sozialen Systems.“ (Hansen 1993: 34f.) Hier klingt erstmalig jener erweiterte Sicherheitsbegriff an, der in der NATO schon seit Beginn der 90er Jahre entwickelt wurde: Angesichts des Fehlens einer territorial verorteten und militärisch bedrohlichen Großmacht, wurden nun die so genannten neuen Risiken entdeckt und beschworen, wie Ökologie, Migration, Terrorismus, internationale Kriminalität et cetera, wie sie im deutschen Verteidigungsweißbuch von 1994 und von 2006 nachzulesen sind. In einem zweiten dem Thema „Wir und die Anderen“ gewidmeten Aufsatz The West Unique, not Universal, der den Herrschaftsanspruch „des Westens“ mit Verweis auf dessen „überlegene Kultur“ zu rechtfertigen versucht, vertritt Huntington die These, dass die westliche Kultur einzigartig ist, weil nur sie das Erbe der griechischen Philosophie rezipiert habe, weil nur sie geprägt sei vom Christen-
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tum, weil die europäische Sprachenvielfalt ein Unikat darstelle, weil es nur dem Westen gelungen sei, geistliche und weltliche Autorität zu trennen, weil nur im Westen Rechtsstaatlichkeit herrsche, weil es nur dort sozialen Pluralismus und Zivilgesellschaft, repräsentativ gewählte Körperschaften und Individualismus gebe (1996: 30ff.). Demgegenüber habe der Islam nur den Koran und die shari’a (ebd.). Diese Argumentation deckt sich in verblüffender Weise mit Ernest Renan, dem Ahnvater des Orientalismus, der 1883 in seiner Vorlesung „über die semitischen Völker“ erklärt hatte, dass „die Semiten“ zu wissenschaftlichen und künstlerischen Leistungen unfähig seien wegen „der schrecklichen Schlichtheit des semitischen Geistes, die den menschlichen Verstand jeder subtilen Vorstellung, jedem feinsinnigen Gefühl, jedem rationalen Forschen unzugänglich macht, um ihm die immer gleiche Tautologie ‚Gott ist Gott‘ entgegenzuhalten“ (1984, Bd. 2, S. 333). So kommt Huntington zu dem Schluss: All diese Eigenarten „machen die westliche Kultur einzigartig, und die westliche Kultur ist wertvoll, nicht weil sie universell ist, sondern weil sie einzigartig ist.“ (Huntington 1996: 35) Dies ist Rassismus, der das alte antisemitische Klischee auf „den Islam“ projiziert: Im Unterschied zu den Nazis ist die ‚Argumentation‘ nun nicht mehr rassistischbiologisch, sondern kulturalistisch. Einerseits wird der Orient zum Reich der Untermenschen herabgewürdigt, andererseits ist er aber auch Projektionsort von Sinnlichkeit und Lüsten, die im strengen Moralkodex des Christentums keinen Platz haben. Diesen beiden Charakteristika ist gemeinsam, dass der Orient zum Gegenteil von Vernunft, Freiheit und Veränderbarkeit stilisiert werden kann, wie es Aziz El Azmeh auf den Punkt bringt: „Der Vernunft entsprach enthusiastische Unvernunft, politisch übersetzt als Fanatismus, eines der Hauptanliegen der Wissenschaftler und Kolonialisten des 19. Jahrhunderts wie der zeitgenössischen Fernsehkommentatoren. Dieser Begriff liefert eine Erklärung für den politischen und sozialen Antagonismus zu kolonialer und nachkolonialer Herrschaft, indem politische und soziale Bewegungen auf Beweggründe reduziert werden, die Menschen mit Tieren gemeinsam haben. […] Die Zivilgesellschaft, der Ort, an dem individuelle Bedürfnisse rational koordiniert werden, und welche den Staat hervorbringt, ist undenkbar. […] Islam, als Anomalie […] wird als Anachronismus betrachtet, seine Charakteristika – Despotismus, Un-Vernunft, Glauben, Stagnation, Mittelaltertum – gehören zu Stadien der Geschichte, deren Inferiorität eine zeitliche Dimension erhält. […] Niedergang wird so nicht zu einem Tatbestand historischer Prozesse, sondern ein vorhersehbares Ereignis der metaphysischen Ordnung.“ (1993: 130f.) Der 11. September 2001 lieferte dann den endgültigen Beweis für den auf planetarischer Ebene entbrannten „Kampf der Kulturen“ und den daher notwendigen, weltweit zu führenden „Krieg gegen den Terror“. Solche Kriegführung passt sich den Erfordernissen der globalisierten Welt an: Bis zum Ende der Bipolarität standen sich Staaten mit ihren Gewaltmonopolen auf klar definierten Ter-
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ritorien gegenüber. Mit der Globalisierung expandieren nun nicht nur Finanzkapital und Märkte weit über staatliche Grenzen (und Regulation) hinaus, auch die Transnationalisierung von Migration, Lebensstilen und Kulturmustern sind wesentliches Merkmal dieser sich herausbildenden neuen Weltgesellschaft. Das Feindbild Islam trägt dieser neuen Realität in geradezu perfekter Weise Rechnung: Der Feind steht nicht mehr an den Grenzen, er bedroht „uns“ nicht mehr mit klassischen Armeen – er ist hier, unter uns, überall. Soziale Ängste, ihrerseits Folgen der neoliberalen Globalisierung, und unterschwelliger Rassismus lassen sich verschmelzen mit neo-imperialistischen Strategien zur Sicherung „unserer“ Rohstoffe, wie dies bereits in den deutschen verteidigungspolitischen Richtlinien vom 26. November 1992 festgeschrieben wurde. Und die beschworene Bedrohung wird dazu genutzt, das Völkerrecht in einem Zug mit der Rechtsstaatlichkeit im Inneren zu demolieren. Letzteres stellt nicht nur eine Gefahr für unseren Rechtsstaat dar, es wird auch zur Gefährdung des inneren Friedens, wenn Muslime generell als „nicht integrationsfähig“ bezeichnet und darüber hinaus unter den Verdacht grundsätzlicher Gewaltbereitschaft gestellt werden: Dieser reicht von der Unterstellung religionsspezifischer „Ehrenmorde“ (siehe hierzu auch den Beitrag von Schröttle in diesem Buch) bis zu Sympathien mit „dem Terrorismus“; der grässliche Brauch, den ‚Verlust der Ehre‘ einer Familie durch den Mord an jungen Frauen zu heilen ist allerdings keine islamische ‚Tradition‘: Er existiert in allen patriarchalischen Gesellschaften des Mittelmeerraums, auch in christlich geprägten; allerdings käme niemand auf die Idee, jene Bluttaten in die christliche Tradition zu stellen, die, als Folge gestörter Paar-Beziehungen in der Ermordung der gemeinsamen Kinder, der Ehefrau und der Selbsttötung des Täters enden. Mit kollektiven kulturspezifischen Unterstellungen arbeitet auch Alice Schwarzer, die zugleich den Islam in die Nähe des Nationalsozialismus rückt: „Mir war klar, dass die es ernst meinen. Ganz wie Hitler 1933.“ (FAZ, 4.7.06; siehe hierzu auch den Beitrag von Schneiders in diesem Buch). Dann folgen Pauschalisierungen und Verdrehungen, die flugs eine fremdenfeindliche Konnotation erhalten: „Seit Mitte der Achtziger […] gilt Deutschland Experten als europäische ‚Drehscheibe des islamischen Terrorismus‘. Die islamistischen Terroristen aller Länder haben bei uns Asyl erhalten.“ Die Gründe hierfür: „Doch es gibt ein besonderes deutsches Problem: dieses deutsche Minderwertigkeitsgefühl, das leicht in Größenwahn umschlagen kann. Diese Fremdenliebe, die Verherrlichung des Fremden ist ein Resultat dieser mangelnden Selbstachtung. Da spielt in Deutschland […] eine fatale Rolle […] das schlechte Gewissen wegen der Nazizeit.“ (FAZ, 4.7.06) Diese Unterstellungen und vor allem das Schlagwort vom ‚Islamfaschismus‘, dessen Benutzung immer weiter um sich greift (zum Beispiel bei Josef Joffe, Herausgeber der Zeit oder dem Politikwissenschaftler Francis Fukuyama), entbehren nicht nur jeder realen Basis, viel schlimmer ist, dass sie die Einzigar-
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tigkeit der physischen Vernichtung des europäischen Judentums durch die Nazis relativieren. So ist dann der Weg nicht weit, die neue Weltordnung der USA und ihre Kriegsverbrechen in Irak und Afghanistan als Bollwerk „gegen den Faschismus“ zu feiern (Erdem 2006: 929f., Anm. 9). Die Begriffskeule „Islamfaschismus“ teilt ganz einfach die Gesellschaften in „gut“ und „böse“ und schafft eine unüberwindbare Dichotomie zwischen „uns“ und „den Anderen“, die schicksalhaft in einer Kultur der Barbarei verwurzelt sind und bleiben. Zugleich verkleidet sie neo-imperiale Ziele und die dafür geführten Kriege als zivilisatorische Taten, wie sie im Slogan der Bush-Administration vom Democratizing the Middle East zum Ausdruck kommt. Wie kaum ein Anderer hat hierzulande Ralph Giordano, einst selbst Opfer der nazistischen Judenverfolgung, dieses Klischee vom fanatisch-irrationalen (und vor allem in sich geschlossenen) „Islam“ und die Parallelen zum Faschismus bedient: „Erster Aspekt: Ein riesiger, revolutionsüberreifer Teil der Menschheit, die ‚Umma‘, also die gesamte Gemeinschaft der Muslime, so differenziert sie auch in sich ist, droht an ihrer eigenen kultur- und religionsbedingten Rückständigkeit und Unbeweglichkeit zu ersticken. Gleichsam ein dröhnendes Ausrufezeichen dazu: die gespenstische Existenz, die Talmiwelt der Öl-Billionäre am Golf, das Fettauge auf der Bodenlosigkeit eines goldstrotzenden Zynismus – das kann nicht gut gehen. Der zweite Aspekt: Die tiefsten Wurzeln des weltweit ausgeübten Terrors im Namen Allahs liegen in den ungeheuren Schwierigkeiten, die der Islam bei seiner Anpassung an die Moderne hat – der Terror ist das Ziehkind seiner Krise! Und drittens: Immer dunkler fällt über das gerade begonnene 21. Jahrhundert ein Schatten, von dem es sich tödlich bedroht sieht – der Schatten eines neuen, eines – nach Hitler und Stalin – dritten Totalitarismus.“ (Giordano 2008) Es scheint unfasslich, wie hier „Terror“ – gemeint sind wohl die Anschläge des 11. September 2001 – undifferenziert, beleidigend, ja hetzerisch auf eine Religionsgemeinschaft projiziert wird. An diesem Tatbestand ändert auch Giordanos nur scheinbar relativierende Äußerung nichts, wenn er begeistert über die ausländerfeindliche und anti-islamische Öffentlichkeit feststellt: „Heute kann mit Genugtuung gesagt werden, dass der inzwischen bundesweit gestreute Protest gegen die Absichten einer schleichenden Islamisierung das Problem endlich aus der Schmuddelecke des deutschen Rechtsextremismus und -populismus herausgeholt und ihn zu einer seriösen Institution des öffentlichen Diskurs gemacht hat.“ (ebd.; zu Giordano siehe auch den Beitrag von Brumlik in diesem Buch) Hier muss doch gegengefragt werden: Kam nicht auch der Antisemitismus aus einer Schmuddelecke und wurde dann zu einer fürchterlichen „seriösen Institution des öffentlichen Diskurses“? Wie kann ein einstmals Verfolgter zu solcher Sprache finden? Wo ist sie denn, die „schleichende Islamisierung“ unserer Gesellschaft? Nur weil eine religiöse Minderheit ihr grundgesetzlich verbrieftes Recht auf freie Religionsausübung fordert und neben den zahllosen Kathedralen
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und Kirchen und den wenigen (verbliebenen oder wieder aufgebauten) Synagogen eigene Gebetshäuser errichten will? Wohin geraten wir gut zwei Jahrhunderte nach der Aufklärung, als Lessing Nathan der Weise und Goethe den Westöstlichen Diwan schrieb, als ein absolutistischer König, Friedrich II. von Preußen, erklären konnte: „Alle Religionen sind gleich und gut, wenn nur die Leute, die sich zu ihnen bekennen, ehrliche Leute sind; und wenn die Türken (und Heiden) kämen und wollten das Land bevölkern, dann wollen wir ihnen Moscheen (und Kirchen) bauen“? In nur anderthalb Jahrzehnten ist es nicht nur gelungen, den Islam zu einem neuen und affektiv hoch besetzten Feindbild zu machen, sondern ihn mit dem Begriff des Terrorismus zu assoziieren, ja oftmals gleichzusetzen. Damit wird nicht nur Angst erzeugt, es wird auch eine Gefahr ausgemalt, die zwar irreal ist, aber sehr aktuelle reale Ängste und alte rassistische Klischees zugleich bedient. In dieser Atmosphäre allgemeiner Hysterie wird der völlig inakzeptable Vergleich von Faruk en erklärbar, wenn auch nicht entschuldbar, in dem er die Situation der Türken mit der der Judenverfolgung vor dem Zweiten Weltkrieg verglichen hat (Süddeutsche Zeitung, 26.6.08). Das Feindbild Islam verbindet Innen- mit Außenpolitik. Das Kernproblem ist eben nicht der Islam, sondern die westlichen Politik, die gebetsmühlenhaft Demokratie (nicht aber Rechtsstaatlichkeit!) einfordert – und zugleich den Anderen die Gleichberechtigung verweigert (siehe auch den Beitrag von Hippler in diesem Buch). Am Augenfälligsten ist dies in der islamischen Welt selbst: Bei wirklicher Demokratisierung kämen jene Kräfte an die Macht, die die konsequente Kontrolle der jeweiligen nationalen Ressourcen fordern. Deshalb verlangt der Westen zwar verbal den Respekt vor Menschenrechten und Demokratie, tatsächlich aber unterstützt er die despotischen, repressiven und korrupten Regime der Region, die immerhin „Stabilität“ zu garantieren scheinen, nachdem sie jede und gerade auch demokratische oppositionelle Bewegungen brutal vernichtet haben (Bensedrine 2005). So erscheinen in den Augen der nahöstlichen Bevölkerung die Schlagworte „Befreiung“ und „Demokratisierung“ nur als verlogene Feigenblätter zur Kaschierung des imperialen Griffs nach dem Öl. Und die Art der Kriegführung in Irak und Afghanistan liefert den Beleg für diese These. Dies ist der äußere, die neuen Konfliktstrukturen im internationalen System bestimmende Aspekt. Eng verbunden ist damit die innenpolitische Dimension: Wir leben in einer Zeit des globalen Systemwandels, in dem sich die Welt zunehmend von einem internationalen zu einem transnationalen oder weltgesellschaftlichen System wandelt. Und dieser Wandel impliziert, dass diese Weltgesellschaft multikulturell geworden ist. Hieraus ergeben sich unvermeidlich Spannungen, die meist soziale Ursachen haben, dann aber auf der emotionalkulturellen Ebene ausgetragen werden. In diese Welt passt hervorragend das neue Feindbild vom Islam, das so prächtig international, transnational wie innerstaatlich instrumentalisiert werden kann. Die in ihrer Mehrzahl sozial Benachtei-
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ligten werden nun nicht mehr als Teile eines (so gar nicht mehr vorhandenen) Proletariats definiert, sondern als eine fremde Gruppe, die „unsere“ Zivilisation weltweit ebenso wie vor unserer Haustür bedroht. Dass Globalisierung und Neoliberalismus die Antagonismen zwischen arm und reich – weltweit – verschärfen, kann nicht bestritten werden. Die Instrumentalisierung von Fremdenhass zur Ablenkung von der Krisenhaftigkeit unserer Sozialsysteme wie der internationalen Ordnung ist ein altes, schlechtes und gefährliches Rezept, weil es auf beiden Seiten nur die Radikalisierung fördert und in diesem Sinne wie eine sich selbst erfüllende Prophezeiung funktionieren kann. Gerade deshalb ist es an der Zeit, dass wir uns jener Werte erinnern, die von der Aufklärung gedacht und universell gemeint sind: Respekt und Toleranz – gerade auch gegenüber dem Anderen.
Literatur Azmeh, Aziz El (1993): Islams and Modernities. London. Beck, Ulrich (1996): „Wie aus Nachbarn Juden werden. Zur politischen Konstruktion des Fremden in der reflexiven Moderne“, in: Max Miller/Hans-Georg Soeffner (Hrsg.): Modernität und Barbarei. Frankfurt a.M., S. 318-343. Bensedrine, Sihem/Omar Mestiri (2005): Despoten vor Europas Haustür. München. Erdem, Isabel (2006): „Anti-deutsche Linke oder anti-linke Deutsche“, in: Utopie kreativ 192 (2006), S. 926-939. Giordano, Ralph (2008): „‚Nicht die Migration, der Islam ist das Problem‘. Eröffnungsrede zur ‚Kritischen Islamkonferenz‘ [Köln]“, in: www.hpd.de/node/4706, 2.6.08. Hansen, Helge (1993): „Das deutsche Heer auf dem Weg in die Zukunft“ [Rede vor der Gesellschaft für Wehr- und Sicherheitspolitik, Koblenz 15.4.1993], in: Presse- und Informationsamt der Bundesregierung: Stichworte zur Sicherheitspolitik, 5(1993). Hobsbawm, Eric (2005): Nationen und Nationalismus. Mythos und Realität seit 1780. 3. Aufl., Frankfurt u.a. Huntington, Samuel P. (1993): „The Clash of Civilizations?“, in: Foreign Affairs, Sommer (1993), S. 22-49. Huntington, Samuel P. (1996): „The West Unique, not Universal“, in: Foreign Affairs, Nov/Dec. (1996), S. 28-49. Renan, Ernest (1948): „De la part des peuples sémitiques dans l’histoire de la civilisation“, in: Oeuvres complètes. Paris. Rommelspacher, Birgit (2002): Anerkennung und Ausgrenzung. Deutschland als multikulturelle Gesellschaft. Frankfurt u.a. Ruf, Werner (2006): „Barbarisierung der Anderen. Barbarisierung des Wir“, in: Utopie kreativ 185(2006), S. 222-228.
Einwanderung wider Willen Deutschland zwischen historischer Abwehrhaltung und unausweichlicher Öffnung gegenüber (muslimischen) Fremden Dieter Oberndörfer
Klassische Einwanderungsländer wie die USA, Kanada oder Australien werben um Zuwanderer. Sie sehen in ihnen einen Gewinn für die Nation und begrüßen ihre Integration in das Staatsvolk. Sie gewähren ihnen das Recht auf dauerhaften Verbleib – auf Einwanderung. Für die in Deutschland dominierende Politik galt jedoch: Zuwanderung nur vorübergehend und nicht auf Dauer – die Integration in das Staatsvolk wurde nicht gewollt. Als eine große Zahl der im Land lebenden Ausländer wider Erwarten nicht in die Ursprungsländer zurückkehrte, wurde diese „faktische“ Einwanderung als etwas Widernatürliches und Illegitimes wahrgenommen. Einwanderung und ihre Integration durften daher für die Politik kein Thema sein. Zudem wurde behauptet, die Migranten seien weder willens noch fähig, sich in die deutsche Mehrheitsgesellschaft einzufügen. In den neunziger Jahren des letzten Jahrhunderts wurde in einer erbitterten innenpolitischen Auseinandersetzung versucht, Deutschland für Einwanderung nach den Mustern der Migrationspolitik der USA, Kanadas und Australiens zu öffnen. Dieser Versuch ist gescheitert. Nach dem Wanderungssaldo, dem Saldo der Zu- und Fortzüge, ist Deutschland heute nicht einmal mehr ein „faktisches Einwanderungsland“. Trotz dieser Absage erhielt die Integration der bisher eingewanderten Menschen in der von Bundeskanzlerin Angela Merkel geführten Großen Koalition zum ersten Mal seit Bestehen der Bundesrepublik Deutschland einen hervorgehobenen politischen Stellenwert. Erstmals gab es Forderungen nach einer nationalen Integrationspolitik. Diese und die sich in der Folge abzeichnenden Integrationsprozesse markieren einen tiefen Einschnitt in der Migrationsgeschichte Deutschlands. Besonders betroffen von der negativen Einstellung gegenüber Einwanderung sind Muslime (Oberndörfer 2004a). Ein Großteil der Migranten ist muslimischen Glaubens und der überwiegende Teil der Muslime in Deutschland ist ausländischer Herkunft. Flankiert von der Aufmerksamkeit, die das Thema Islam seit einigen Jahren erlangt hat, werden somit Probleme oder Herausforderungen durch Migration oftmals auf die Zuwanderer aus dem islamischen Kulturkreis projiziert. Mitunter lässt sich in der Öffentlichkeit beobachten, dass die Bedeu-
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tung des Begriffs „Ausländer“ mit all seinen negativen Konnotationen in der deutschen Geschichte auf den Begriff „Muslime“ überzugehen scheint (siehe auch den Beitrag von Leibold in diesem Buch). Im Folgenden wird zunächst die lange Blockade von Einwanderung und Integration behandelt. Anschließend wird die Integrationspolitik der Regierung Merkel thematisiert und bilanziert. 1. Ungewollte faktische Einwanderung im Schatten völkischen Nationalismus Die Migration von Ausländern nach Deutschland erfolgte vorwiegend nach dem Gastarbeitermodell in der Form streng überwachter kürzerer Aufenthalte, über Familienzusammenführung und über Flüchtlingszuzug. Die Zuwanderer sollten im Rahmen zeitlich befristeter Verträge als „Gäste“ in Deutschland beschäftigt werden – von Gästen erwartet man bekanntlich in vornehmer Form die Rückkehr in die „Heimat“. Es ist aufschlussreich, dass der Begriff des Gastarbeiters in Deutschland geprägt wurde und auch nur hier verwendet wird (zur Vorgeschichte des Gastarbeitermodells vgl. Bade 2000; Herbert 2001; Oltmer 2005; zur neueren und neuesten Geschichte der Zuwanderung nach Deutschland vgl. Bade/Oltmer 2004; Meier–Braun 2003; zur Einordnung der Zuwanderung nach Deutschland in das internationale Migrationsgeschehen vgl. Süssmuth 2006). Als Gastarbeiter kamen seit den 60er Jahren des letzten Jahrhunderts 20 bis 25 Millionen Migranten meist vorübergehend in die Bonner Republik. Genaue Zahlen gibt es nicht. Was die Türken als größte Gruppe unter ihnen betrifft, so kehrten nach türkischer Quellen vier Millionen wieder zurück in ihre Heimat; diese Zahl ist vermutlich zu niedrig, nach anderer Schätzung sind es circa sechs Millionen gewesen. Maßgeblich für die Gastarbeiteranwerbung war das Interesse der Wirtschaft an schnell und flexibel einsetzbaren Arbeitskräften, maßgeblich war aber auch das noch tief sitzende überlieferte ethnische nationale Selbstverständnis der Deutschen. Zur Nation sollten nach diesem Selbstverständnis nur Menschen deutscher Kultur und mit deutschen Vorfahren gehören. Für ausländische Zuwanderer war daher in der Nation kein Platz (vgl. dazu auch Oberndörfer 1993; 1996; 1999; 2004; 2007). Die Grundlagen für diese ideologische Prämisse der Abwehr von Einwanderung wurden im ausgehenden 18. und im beginnenden 19. Jahrhundert im deutschen Idealismus und der deutschen Romantik, insbesondere von den Philosophen Herder, Fichte und Schelling geschaffen. Bereits Fichte opferte die republikanischen Grundrechte dem Ziel eines starken „national-völkischen“ Staates. Seine Vorstellung von der Erziehung der Deutschen sind schreckliche Wahnideen eines totalitären Jakobiners. (Oberndörfer 1993:41f.) Der völkische
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Nationalismus entwickelte seine vulkanische politische Kraft und Dynamik zuerst in den Freiheitskriegen gegen Napoleon. Der Ideologie nach können nur Angehörige des Staatsvolkes und ihre Nachkommen wirklich vollberechtigte Staatsbürger sein. Da die Zugehörigkeit zum Staatsvolk durch das „richtige Blut“ begründet wird, ist in diesem Gedankenkonstrukt immanent eine rassistische Komponente angelegt. Die Einwanderung und Einbürgerung von Menschen fremder Volkszugehörigkeit sind mit der Idee der Volksnation nicht vereinbar. Welche Bedeutung hat nun aber dieser ethnische Nationalismus, der ideologische Leim des Staatsverständnisses des Zweiten Deutschen Reichs, der Weimarer Republik und des unrühmlichen Dritten Reichs heute noch? Die für das nationale Selbstverständnis der Deutschen bestimmend gewordenen gedanklichen Grundmuster und die in ihm eingebaute Dynamik der Selbsthomogenisierung wirken bis in die Gegenwart nach. So ist der völkische Nationalismus beispielsweise als wirksames Traditionsrelikt in das Grundgesetz eingegangen und damit in der politischen Kultur der Bundesrepublik verankert geblieben. Der westliche deutsche Teilstaat wurde nach dem Zweiten Weltkrieg als Republik für „Deutsche“ gegründet. Das neue staatliche Konstrukt war dem Selbstverständnis nach lediglich eine provisorische Ordnung für die in Freiheit lebenden „Deutschen“. Die Präambel des Grundgesetzes billigte ihr nur „für eine Übergangszeit“ Geltung zu. Die Wiedervereinigung des „deutschen Volkes“ erhielt den Rang eines Verfassungsauftrags: „Das gesamte Deutsche Volk bleibt aufgefordert, in freier Selbstbestimmung die Einheit und Freiheit Deutschlands zu vollenden“, hieß es in der Präambel. Des Weiteren wird in Artikel 1 zwar die Würde „des Menschen“ als Fundament aller Grundrechte genannt – und auch die folgenden drei Artikeln beziehen sich auf „alle“ und „jeden“ –, aber demgegenüber ist in späteren Bestimmungen nur noch von Versammlungs-, Vereinigungs- und Berufsfreiheit, Freizügigkeit und Auslieferung „für alle Deutschen“ die Rede. Gerade hier offenbart sich der völkische Kern im Republikverständnis des Grundgesetzes. Nach Artikel 116 etwa sind deutsche Staatsbürger nur Personen, die die deutsche Staatsangehörigkeit schon besitzen – im Jahr der Verabschiedung des Grundgesetzes waren dies durchweg Menschen deutschen Volkstums, ferner Nachkommen der im Gebiet des deutschen Reichs vom 31. Dezember 1937 schon Ansässigen sowie „Flüchtlinge oder Vertriebene deutscher Volkszugehörigkeit“. Bis heute führt diese Vorstellung beispielsweise dazu, dass Aussiedler mit deutschen Vorfahren gegenüber anderen Zuwanderern bevorzugt werden. Wenn es dabei jedoch um Wiedergutmachung für nationalsozialistisches Unrecht geht: Warum nicht auch Wiedergutmachung für die Völker Süd- und Südosteuropas? Außer im Grundgesetz und in der Einstellung zum Bürger- und Bleiberecht von Gastarbeitern zeigte sich der völkische Nationalismus gerade auch in der Pra-
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xis des deutschen Asylrechts und färbte zudem die Einstellungen zum Dienst von Ausländern in der Bundeswehr (Oberndörfer 1993: 70ff.). Erst jüngst meldete die Süddeutsche Zeitung (15.1.09), dass deutsch-türkische Doppelstaatler laut den amtlichen Statistiken des Verteidigungsministeriums „auffällig selten“ zum Wehrdienst eingezogen würden. Von 2.600 für tauglich befundene Personen mussten in den Jahren 2000 bis 2008 nur 35,2 Prozent ihren Dienst tatsächlich antreten. Die Einwanderung fremder Menschen und die Integration der ehemaligen Gastarbeiter und ihrer Nachkommen werden angesichts solcher Relikte der völkischen Überlieferung zu einer schwer zu bewältigenden Herausforderung. Die Sehnsucht nach religiöser und kultureller Homogenität ist nach wie vor virulent, obwohl es sie gerade in Deutschland mit seiner konfessionellen Gespaltenheit nie gab. Die Andersartigkeit von Religion und Kultur weckte und weckt immer noch Ängste und Unsicherheiten. Noch in der Vorkriegszeit und in der ersten Nachkriegsphase waren sogar Menschen europäischer Nachbarstaaten für viele Deutsche unbekannte Wesen. Besucher aus Übersee waren Exoten. Auch die aus den ehemaligen Ostgebieten vertriebenen Deutschen stießen bei ihrer Ansiedlung in Westdeutschland auf Ablehnung. Heute – vor allem nach dem 11. September 2001 – offenbart sich der intolerante Wunsch nach kultureller Einheitlichkeit in der Islamkritik (siehe hierzu auch den Beitrag von Schneiders in diesem Buch) und in den hysterischen Polemiken gegen Multikulturalismus. Soziale und kulturelle Probleme – wie Ausländerkriminalität, Zwangsheirat, Ehrendelikte, Islamismus in „Parallelgesellschaften“ dienen als Bestätigung für den eigenen Kampf gegen das Schreckgespenst einer „Vielvölkerrepublik“. Mit Blick auf den Islam entfaltete sich eine neue Komponente der Rechtfertigung für gruppenbezogene Feindschaft. Den negativen Reaktionen gegenüber Anhängern des Islam wird eine Aura der legitimen, ja geradezu notwendigen Abwehrhaltung beigemessen. Da diese nicht mehr öffentlich mit ethnischer Herkunft begründet werden, sondern mit dem Kampf gegen religiöse Überzeugungen, auf die sich Terroristen und Verbrecher weltweit berufen, scheinen sie nicht nur legitim, sondern auch dem öffentlich verpönten völkischen Nationaldenken enthoben zu sein. Letztlich aber handelt es sich doch nur um die andere Seite der gleichen Medaille – insbesondere wegen der inhärenten verallgemeinernden Ressentiments! Islam und Islamismus werden gleichgesetzt, obwohl letzterer im europäischen und auch im weltweiten Islam meist nur von einer kleinen Minderheit propagiert wird. Die verbreitete Praxis der Kritik des Islam, die „die“ europäische Kultur mit Humanität und Toleranz gleichsetzt und sie mit „der“ angeblich kollektiven Intoleranz des Islam und anderer außereuropäischer Kulturen kontrastiert, offenbart schlimme Gedächtnislücken für die vielfältigen Verbrechen des Westens gegen Menschlichkeit und Toleranz in Vergangenheit und Gegenwart (siehe auch den Beitrag von Hippler in diesem Buch). In Wirklichkeit findet sich all
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das, was an bestimmten Manifestationen des Islam kritisiert wird, wie zum Beispiel Unterordnung der Frau oder heilige Kriege, ebenso bis in die jüngste Zeit auch in der westlichen Geschichte. Es sei hier nur an die europäischen Religionskriege und ihre blutigen Spuren bis in die Gegenwart etwa Nordirlands oder Srebrenicas erinnert. Doch auch heute noch wird selbst von renommierten Historikern wie Hans-Ulrich Wehler oder Heinrich August Winkler der angeblich kollektiven europäischen Humanität und Toleranz die angeblich kollektive Inhumanität und Intoleranz des Islam gegenübergestellt (Oberndörfer 2003). Angesichts der Verbrechen des westlichen Imperialismus, zweier von Europa ausgehender Weltkriege und ihrem Ende im Holocaust sind solche holzschnittartigen Pauschalurteile für muslimische Intellektuelle eine schwer verkraftbare, schamlose Provokation. Im Übrigen war und ist der republikanische Verfassungsstaat – auch dies wird von den Kritikern des Islam und den Propagandisten angeblich spezifischer europäischer Tugenden vergessen – nicht das quasi genetisch vorgegebene Endergebnis der europäischen Geschichte, Kultur und Aufklärung. Er musste vielmehr erst in langen Kämpfen gegen dominante Überlieferungen durchgesetzt und vor ihnen gerettet werden. In Deutschland gelang dies im und nach dem Zweiten Weltkrieg nur mit Hilfe der Alliierten.
Politik im Schatten wirtschaftlicher und demografischer Zwänge Neben dem völkischen Denken, das vor allem als ideologischer Hintergrund wirkte, war es vordergründig die Rezession in Deutschland, die beginnende Automatisierung der Arbeit und die einsetzende Globalisierung (so zum Beispiel im Kohleabbau), weswegen schon 1973 auf weitere Anwerbung von Gastarbeitern verzichtet wurde. Über einen Anwerbestopp sollte der weitere Zuzug verhindert und mit „Rückkehrprämien“ eine freiwillige Heimkehr erreicht werden. Der Stoppbeschluss scheint die Rückwanderung aber eher verlangsamt zu haben. Viele blieben nunmehr in Deutschland, da sie wussten, dass sie bei einer Ausreise in ihre Heimatländer keine Chancen mehr hatten, nach Deutschland zurückkehren zu können. Durch „Familienzusammenführung“, den Nachzug von Familienangehörigen, und den Zuzug von Flüchtlingen hielt die Zuwanderung ungeachtet des Anwerbestopps aber dennoch in großem Umfang an. Schon in den 90er Jahren des vergangenen Jahrhunderts wurde so ein Höchststand von sieben Millionen Menschen erreicht; etwa zweieinhalb Millionen davon kamen aus der Türkei. Da die deutsche Wirtschaft auf die Gewinnung ausländischer Arbeitskräfte angewiesen blieb, wurde das Gastarbeitermodell auch nach dem Anwerbestopp weiterpraktiziert (Oberndörfer 2000; 2005a). Seit 1984 holte der Staat über die
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so genannte Anwerbestoppausnahmeverordnung immer wieder ausländische Arbeitskräfte in beträchtlicher Zahl für zeitlich befristete Tätigkeiten im Gesundheitswesen und anderen Bereichen ins Land. 2003 erhielten jährlich 300.000 bis 350.000 Menschen befristete Arbeitserlaubnisse unterschiedlichen Typs. Dazu kam eine große Zahl von Arbeitskräften über Werkverträge ausländischer Subunternehmen und zeitlich befristete Visen. Die illegale Migration – ihre Zahl wird auf bis zu eine Million geschätzt – wird zum Teil von den Behörden hingenommen, da es für sie wie etwa in der Altersversorgung auf dem deutschen Arbeitsmarkt keinen Ersatz gibt. Dass es angesichts der anhaltenden faktischen Einwanderung in der deutschen Bevölkerung zu negativen Reaktionen kam, ist an sich nicht erstaunlich. Hier handelt es sich um typische gruppenpsychologische Mechanismen gegen eine tatsächliche oder vermeintliche Bedrohung der eigenen wirtschaftlichen Lebenschancen und des sozialen Status. Solche Wirkungen finden sich auch in der amerikanischen Geschichte oder in der Geschichte anderer klassischer Einwanderungsländer. Öffentlich wahrnehmbar richten sich die Ressentiments zumeist gegen die größten Einwanderergruppen – etwa die Latinos in den USA oder die Muslime/Türken in Deutschland; mitunter kann sich die Feindseligkeit aber auch gegen erfolgreiche Migrantengruppen richten. Die große psychologische und politisch-historische Distanz, die für das Verhältnis der deutschen Mehrheitsgesellschaft zu ihren ausländischen Zuwanderern in den vergangenen Jahrzehnten maßgeblich war und die Integration in die Nation blockierte, wird durch die Bedingungen für Einbürgerung veranschaulicht. Die Aufnahme von Ausländern in das deutsche Staatsvolk wurde bis 1991 nur in wenigen Ausnahmefällen als Akt des „Ermessens“ nach dem Kriterium des öffentlichen Interesses gewährt, so etwa hochkarätigen Wissenschaftlern oder medaillenverdächtigen Hochleistungssportlern. Einbürgerung war kein Rechtsanspruch. Dazu wurde sie erst 1992 auf Initiative des damaligen Bundesinnenministers Wolfgang Schäuble. Immerhin konnte seit dem die Einbürgerung von ausländischen Zuwanderern nach 15-jährigem Aufenthalt in Deutschland juristisch eingefordert werden. Später unter der Regierung von Bundeskanzler Gerhard Schröder wurde die für Einbürgerung erforderliche Aufenthaltsdauer von 15 auf acht Jahre verringert. Ferner wurde in Deutschland geborenen Kindern von Ausländern unter bestimmten Voraussetzungen des Aufenthalts ihrer Eltern die Möglichkeit der Einbürgerung gewährt (ius soli). Die rechtlichen Voraussetzungen von Einbürgerung und die Einbürgerungspraxis wurden allerdings seither wieder zunehmend restriktiv gestaltet: So wird die Einbürgerung heute unter anderem an die Voraussetzung bestimmter Kenntnisse der deutschen Sprache, der Politik und der Allgemeinbildung geknüpft. Ferner wird seit dem 1. Januar 2005 von neuen Zuwanderern, die Teilnahme an Integrationskursen für das Erlernen der deut-
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schen Sprache und zum Erwerb von Kenntnissen der politischen Bildung eingefordert. Auch subjektive Bewertungen der Einbürgerungsbewerber durch die zuständigen Behörden kommen nun ins Spiel. Die Regierung Schröder versuchte Deutschland für Einwanderung nach dem Muster der Einwanderungsländer USA, Kanada und Australien zu öffnen. Für Schröders Green Card etwa, einer Sonderregelung für die Anwerbung von Fachkräften der Informationstechnologie, war allerdings wieder das alte Gastarbeiterprinzip entscheidend. Die Arbeitserlaubnis wurde auf jeweils fünf Jahre und auf die bloße Tätigkeit im IT-Bereich begrenzt. Im Unterschied zur amerikanischen Green Card wurde den angeworbenen Fachkräften und ihren Angehörigen allerdings kein Verbleib auf Dauer und keine Genehmigung für die eigene Berufswahl oder für unternehmerische Aktivitäten gewährt; im internationalen Wettbewerb um Fachkräfte waren diese Bedingungen für Spitzenkräfte wenig konkurrenzfähig. Der Bericht der Süssmuth-Kommission, einem Gremium von Experten unter dem Vorsitz der ehemaligen Präsidentin des Deutschen Bundestags, Rita Süssmuth, machte die Öffnung für Einwanderung im Jahr 2003 für wenige Monate zu einem zentralen auch von der politischen Opposition positiv bewerteten Thema (Müller/Bosbach/Oberndörfer 2001). Aber schon im ersten Regierungsentwurf eines Zuwanderungsgesetzes des damaligen Bundesinnenministers Otto Schily waren für die Mehrheit der vorgesehenen Zuwanderer nur Arbeitsverträge für einen Zeitraum von jeweils drei Jahren vorgesehen. Mit dem zuletzt von der Regierung Schröder gemeinsam mit der damaligen Opposition der Unionsparteien verabschiedeten „Zuwanderungsbegrenzungsgesetz“ und dessen am 1. Januar 2005 in Kraft getretenen Version gewann die Abwehr von Einwanderung die Oberhand. Die Vorschläge der Süssmuth-Kommission für eine planmäßig gestaltete Immigration nach den Modellen klassischer Einwanderungsländer wurden nicht berücksichtigt. Der Anwerbestopp blieb erhalten. Eventuelle Einwanderung wurde auf einen winzigen Kreis von Unternehmern oder hoch bezahlten Fachkräften mit einem jährlichen Mindesteinkommen von 85.000 Euro beschränkt. In diesem Rahmen kamen dann 2006 gerade Mal 900 Migranten nach Deutschland (nach einer vertraulichen Quelle sollen es sogar nur 700 gewesen sein). In der Schweiz fanden im gleichen Jahr 13.000 deutsche Fachkräfte Arbeit. Dies wie auch die vorläufige Blockade von Einwanderung aus den neuen Mitgliedsstaaten der Europäischen Union nach Deutschland bis 2011 – was im Gegensatz dazu vor allem in Großbritannien, Schweden, Spanien und Italien in großem Umfang akzeptiert wurde – veranschaulichen erneut die Gründlichkeit, mit der der Zuzug neuer Mitbürger bis dato abgewehrt wird; besonders „erfolgreich“ war die Abwehr übrigens gerade auch in einem anderen Bereich: Beantragten bis 1997 jährlich mehr als 100.000 Asylbewerber und Flüchtlinge eine Aufnahme, verringerte sich diese Zahl in den folgenden Jahren
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rapide; bis 2006 gab es nur noch 21.000 Antragssteller, von denen ein Bruchteil als Asylberechtigte mit Bleiberecht anerkannt wurde; eine zahlenmäßig signifikante Nettozuwanderung nach Deutschland gibt es daher schon seit Jahren nicht mehr (Oberndörfer 2007). Versuche in neuerer Zeit, die Zuwanderung qualifizierter Arbeitskräfte zu liberalisieren sind immer wieder politisch gescheitert, obwohl es in Deutschland in verschiedenen Wirtschaftssektoren und Regionen immer wieder einen beträchtlichen, die weitere wirtschaftliche Dynamik hemmenden Arbeitskräfterespektive Fachkräftemangel gab, der aus dem einheimischen Arbeitsmarkt nicht bedient werden konnte. Sowohl im Hinblick auf die demografische Entwicklung Deutschlands, der Alterung und Schrumpfung der Bevölkerung bei zunehmendem Arbeitskräftebedarf, konnte die bisherige Politik der Abschottung allerdings nicht durchgehalten werden. Dies zeichnet sich jetzt schon in den neuen Beschlüssen der Bundesregierung vom Juli 2008 ab, nach denen der deutsche Arbeitsmarkt ab 2009 für qualifizierte Arbeitskräfte aus den neuen Mitgliedsstaaten der EU geöffnet und die bisher geforderte jährliche Einkommenshöhe für Einwanderer auf 65.000 Euro abgesenkt wird. Diese im Vergleich mit der Zuwanderungspolitik Großbritanniens, Schwedens und Spaniens eher sehr bescheidenen Schritte einer erstmaligen Öffnung sowie der Zeitpunkt des Beschlusses – kurz vor Beginn des politischen Tiefschlafs in der Sommerpause, – verdeutlichten die immer noch vorhandene Kraft der Abwehr von Einwanderung in der politischen Kultur Deutschlands. Diese und die anhängigen Diskussionen in der Öffentlichkeit über „Zuwanderungsbegrenzung“ und „Leitkultur“ fördern in den Köpfen Vieler immer wieder die Beständigkeit historischer Abwehrhaltungen gegenüber Fremden. Dabei ist gerade die Akzeptanz von Einwanderern in den Aufnahmegesellschaften – dass sie nicht als Fremdkörper oder als oder Minderheit, sondern als gleichberechtigter Teil der Gesellschaft wahrgenommen werden und sich selbst auch so sehen können – fundamental für eine erfolgreiche Integration. Allerdings ist der Ausbruch aus wirtschaftlicher und sozialer Marginalität hierfür nur e in e wichtige Voraussetzung. Das Schicksal der Juden in der neueren deutschen Geschichte zeigt besonders deutlich, dass politische Akzeptanz durch sozioökonomischen Erfolg allein nicht gesichert wird. Trotz formaler staatsbürgerlicher, sozialer und kultureller Gleichberechtigung wurden jüdische Deutsche im Kaiserreich und in der Weimarer Republik von einflussreichen Akteuren und Segmenten der bürgerlichen Gesellschaft nicht als echte Deutsche anerkannt. Trotz ihres Patriotismus und ihrer bedeutenden Leistungen in Wirtschaft, Wissenschaft und Kultur blieb ihre politische Integration in die deutsche Gesellschaft ein Einwegunternehmen. Eine unabdingbare Voraussetzung für Integration in Gestalt der Akzeptanz von ursprünglich Fremden oder Minoritäten ist ein republikanisches, für kultu-
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relle Vielfalt offenes pluralistisches Staatsverständnis. Erst ein solches Staatsverständnis bietet die Grundlage, dass auch Muslime als „normale“ Staatsbürger akzeptiert werden können. Die Aneignung dieser Haltung ist im Übrigen eine Forderung, die sich nicht nur an die Aufnahmegesellschaft, sondern ebenso an die Einwanderer richtet.
2. Erste Schritte zur Integration Auf der Ebene der Bundespolitik erhielt die Integration der Zuwanderer erst in neuerer Zeit mit Beginn der von Angela Merkel geführten Großen Koalition ab 2005 einen hervorgehobenen politischen Stellenwert. Angezeigt wurde dies unter anderem durch die Ernennung von Maria Böhmer zur Staatssekretärin im Bundeskanzleramt als Beauftragte der Bundesregierung für Migration, Flüchtlinge und Integration sowie den im Juli 2007 in Gegenwart der Bundeskanzlerin verabschiedeten Nationalen Integrationsplan. Von großer Bedeutung für die mit ihm verbundene neue Politik der Planung und Bündelung von Integration waren vor allem auch die von Bundesinnenminister Wolfgang Schäuble einberufenen Konferenzen zur Integration der Muslime Deutschlands. Ferner wurde das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge in Nürnberg als zentrale Implementierungsbehörde der Integrationskurse und anderer Integrationsdienstleistungen ausgebaut, die nunmehr von Migranten eingefordert werden. Zudem hatten sich verschiedene große Kommunen schon vorher um eine verbesserte Integration ihrer Zuwanderer gekümmert und dafür beachtliche Planungs- und Implementierungseinrichtungen geschaffen. Zu erwähnen ist hier vor allem die recht erfolgreiche Integrationsarbeit der Kommunalverwaltungen Stuttgarts (Meier-Braun 2008), Frankfurts, Berlins, Münchens, Duisburgs und Kölns. In NordrheinWestfalen wurde erstmals ein eigenes Integrationsministerium für die Koordinierung und Intensivierung der Integrationspolitik der verschiedensten Ministerien des Landes geschaffen. Der wichtigste Grund für das Interesse von Bund, Länder und Kommunen an der Integration ist wohl, dass angesichts des Umfangs der Zuwanderung ein zunehmender Stau sozialer Probleme befürchtet wurde. Negative Aspekte der Zuwanderung sollen jetzt durch „Integration“ aufgearbeitet werden. „Nachholende Integration“ (Bade/Hiesserich 2007) wurde zum Programm. Den Umfang der Zuwanderung und die mit ihm verbundenen Integrationsaufgaben veranschaulichen folgende Daten: Nach Angaben des statistischen Bundesamtes vom Mai 2007 haben rund 19 Prozent der Bevölkerung Deutschlands
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einen „Migrationshintergrund“, das heißt, sie sind selbst Zuwanderer oder in Deutschland geborene Kinder mit mindestens einem zugewanderten Elternteil oder einem als Ausländer in Deutschland geborenen Elternteil (Netzwerk Migration in Europa 2007: 2; auch für die folgenden Zahlenangaben). Von den Menschen mit Migrationshintergrund haben 6,7 Millionen Personen einen ausländischen Pass, eine Million sind eingebürgerte Ausländer und rund sieben Millionen zugewanderte ethnische Deutsche („Aussiedler“ und „Spätaussiedler“). Da die Zuwanderer statistisch jünger sind als die Mehrheitsgesellschaft und ihre Frauen eine höhere Fertilität aufweisen, wird ihr Anteil an der Gesamtbevölkerung auch ohne weitere Zuwanderung erheblich wachsen. Die Migranten wohnen nicht gleichmäßig verteilt in den verschiedenen Regionen Deutschlands, sondern leben konzentriert in Zentren wirtschaftlicher Aktivitäten, vor allem in Groß- und Mittelstädten. Dies verstärkt ihr potentielles politisches und soziales Gewicht. Die Veränderungen der Bevölkerungsstruktur, die damit vorgezeichnet sind, verdeutlicht der Anteil der unter Fünfjährigen mit Migrationshintergrund. Er beträgt in sechs Großstädten Deutschlands mehr als 60 Prozent, in Düsseldorf und Stuttgart 64 Prozent, in Frankfurt 65 Prozent und in Nürnberg 67 Prozent. Schon in drei bis vier Jahren wird in den deutschen Großstädten die Hälfte der unter 40-Jährigen einen Migrationshintergrund haben (Die Welt, 15.3.06). Die möglichen sozialen Probleme und Konflikte der neuen Bevölkerungsstruktur werden durch statistische Angaben zur sozialen Situation der Migranten veranschaulicht (Beauftragte 2007): Ihre Arbeitslosigkeit ist doppelt so hoch wie die der deutschen Mehrheit, unter jugendlichen Migranten liegt sie in einigen Regionen bei mehr als 50 Prozent, auch die Zahl der Schulabbrecher jugendlicher Migranten ist doppelt so hoch wie unter endogenen deutschen Jugendlichen. Diese und andere soziale Defizite wurden von den Migranten nicht verschuldet, sondern lassen sich aus der Anwerbung für einst boomende, inzwischen aber durch Mechanisierung und Globalisierung geschrumpfte Industrien erklären; in der politischen Debatte werden die statistischen Durchschnittswerte hoher Arbeitslosigkeit und anderer sozialere Defizite der Zuwanderer gewöhnlich mit den Durchschnittswerten der Gesamtbevölkerung verglichen; dabei wird übersehen, dass sich die oft als „Verschulden“ kritisierten Defizite im Bereich der alten Industrien oder in den neuen Bundesländern unter der deutschstämmigen Bevölkerung häufig in noch größerem Umfang finden. Außerdem kamen die meisten Gastarbeiter nur mit einem niedrigen Bildungsniveau – oft ohne Schulabschluss, Ausbildung; einige Familienangehörige kamen bisweilen sogar ohne Alphabetisierung – nach Deutschland, um Arbeiten zu verrichten, die viele Deutsche nicht machen wollten. Viele Probleme, die damit erzeugt wurden, hätten durch eine rechtzeitige Integrationspolitik, durch Bildungs- und Sozialpolitik, abgemildert werden können.
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Integration? Was ist in der Debatte über Migration mit Integration eigentlich gemeint? Meist wird der Begriff unreflektiert gebraucht und es wird so getan, als ob jeder wüsste, was mit ihm bezeichnet wird. In der Praxis sind damit unterschiedliche und sogar konträre normative Optionen für die wünschenswerte Struktur von Politik und Gesellschaft verbunden. Bei einem liberalen Politikverständnis wird den zu integrierenden Zuwanderern ein weiter Spielraum individueller Selbstgestaltung für ihre Integration in die Gesellschaft gewährt. Autoritäre Politik versteht hingegen Integration als fugenlose Unterordnung unter die von ihr selbst dekretierten Ziele. Was die praktischen Schwerpunkte der in Deutschland einsetzenden oder geplanten Integrationspolitik betrifft, so gehört dazu primär die Vermittlung von Deutschkenntnissen und die Verbesserung der beruflichen Ausbildung. Ohne letztere hat die Jugend der Migranten auf dem Arbeitsmarkt keine Chancen. Einen weiteren Schwerpunkt bilden der Dialog der Politik mit den Zuwanderern und die Förderung ihrer politischen und kulturellen Akzeptanz. Dieser Dialog, der den Minderheiten aus ihrer Abseitsposition in Politik und Gesellschaft heraushelfen soll, wurde insbesondere im nationalen Aktionsplan und in den Aktivitäten der Integrationsbeauftragten, Maria Böhmer, begonnen. Für den längst notwendigen Dialog mit den drei Millionen Muslimen Deutschlands hatten die von Bundesinnenminister Schäuble einberufenen Islamkonferenzen eine Bahn brechende Bedeutung. Mit der Erklärung Minister Schäubles, der Islam sei wegen der großen Präsenz in der Bundesrepublik ein Teil Deutschlands (Die Welt, 1.3.08), wurde diese Religion als Teil der Kultur Deutschlands anerkannt. Schäubles Äußerungen markieren einen revolutionären Bruch mit der in der Politik bisher vorherrschenden simplen und einseitigen Identifikation der Kultur Deutschlands mit christlichen Überlieferungen. Manche verstehen unter Integration von Zuwanderern Assimilation, ihr Unsichtbarwerden innerhalb der deutschen Mehrheit – ihre „Eindeutschung“ wie es der Publizist Arnulf Baring einmal gefordert hat. Mit solcher Integration im Sinne von Assimilation werden Erwartungen propagiert, die auch in klassischen Einwanderungsländern nur selten und auch dann meist nur in mehreren Generationen erfüllt wurden. Als nicht eingelöste Forderung verstärken sie daher zwangsläufig negative Einstellungen gegenüber den Zuwanderern. Unter den Migranten selbst bewirkt der Versuch oktroyierter Assimilation eher Abschottung als Eingliederung, insbesondere wenn damit die Aufgabe eigener kultureller Überlieferungen verlangt wird. Forderungen nach kultureller Assimilation, nach „Eindeutschung“ der Zuwanderer setzen voraus, dass „die“ deutsche Kultur für alle Staatsbürger verbindlich definiert werden kann. Wie die deutsche Geschichte und jüngst die
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innerdeutsche Debatte über Leitkultur jedoch zeigen, ist dies nicht möglich. Nur das Grundgesetz und die Rechtsordnung sind der verbindliche Rahmen der Kultur Deutschlands (Oberndörfer 2001). Sie schützen die Freiheit des Kultus, der Weltanschauung und des religiösen Bekenntnisses. Innerhalb des durch das Grundgesetz und die Rechtsprechung ermöglichten und durch sie auch begrenzten kulturellen Pluralismus haben die Bürger Deutschlands einen weiten Spielraum für individuelle kulturelle Selbstbestimmung. Deutsche dürfen sich daher ursprünglich fremden Religionen und Konfessionen zuwenden. Forcierte kulturelle Assimilation ist demgegenüber unvereinbar mit dem Schutz individueller kultureller Selbstbestimmung. Sie widerspricht auch der kulturellen Dynamik der sich in ihren Lebensformen und Stilen ständig weiter pluralisierenden Gesellschaft Deutschlands (Oberndörfer 2005). Die Kultur Deutschlands kann letztlich nur die Kultur seiner Bürger sein. Von Migranten muss die Akzeptanz der Verfassung und der Rechtsordnung des Aufnahmelandes gefordert werden. Die normativen Fundamente des republikanischen Verfassungsstaates geben die notwendige politische Orientierung für die Integration von Einwanderern vor. Der Verfassungsstaat muss wehrhaft sein. Er darf intolerantem Fundamentalismus gleich welcher Couleur – sei er christlich oder islamisch – keine Freiräume geben. Die Übernahme der Sprache hingegen darf nicht erzwungen werden. Auch „Deutsche“ haben das Recht, in fremden Sprachen zu denken und sich in ihnen zu verständigen, wenn sie in der Lage dazu sind. Da Migranten ohne Kenntnisse der deutschen Sprache allerdings nur geringe Chancen auf wirtschaftlichen Erfolg haben und die Kosten ihres ökonomischen Scheiterns im Sozialstaat von den Steuerzahlern übernommen werden, kann eine dauerhafte Verweigerung des Erwerbs von Kenntnissen der deutschen Sprache politisch kaum akzeptabel sein.
3. Ausblicke Welche Erfolgschancen hat die von der Politik nunmehr gewünschte wirtschaftliche, soziale und politische Integration? Historische Erfahrungen in Einwanderungsländern dokumentieren, dass die Einstellung zu Zuwanderern wesentlich von den Entwicklungen auf dem Arbeitsmarkt abhängt. Bei Verknappung der Arbeitsplätze nimmt der in allen Gesellschaften vorhandene Bodensatz von Fremdenfeindlichkeit zu – aber insbesondere dann, wenn es eine ausgeprägte Tradition völkischen Denkens gibt. Ohne verbesserte Ausbildung und ohne Chancen auf dem Arbeitsmarkt wird die wirtschaftliche, soziale und politische
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Integration bislang marginalisierter junger Migranten ebenso wie die der marginalisierten jungen Einheimischen wenig Erfolg haben. Für nachhaltige Erfolge wären eine revolutionäre Konzentration und eine Umlenkung öffentlicher Mittel auf die Bildungseinrichtungen erforderlich. In den Schulen, dem Fundament des Bildungswesens muss endlich für kleinere Klassen und besser ausgebildete Lehrer gesorgt werden (siehe den Beitrag von Karakaolu in diesem Buch). Das Gelingen der Integration durch verbesserte Ausbildung und verbesserte Chancen auf dem Arbeitsmarkt aber sind eingebunden in die Erfolge der Finanz- und Wirtschaftspolitik. Trotz der langen Geschichte negativen Denkens gegenüber Fremden in Deutschland und der Beständigkeit von Abwehrhaltungen in Teilen der Bevölkerung ist ein friedliches Zusammenleben von Menschen unterschiedlicher Herkunft möglich. Im Sinne sozialer Akzeptanz durch die Mehrheitsgesellschaft – sie bildet das eigentliche Messkriterium der Integration in Einwanderungsgesellschaften –, lässt sich in Deutschland auch Positives beobachten: Umfragen belegen einen bemerkenswert hohen Grad der Akzeptanz der Zuwanderer in Städten und Regionen mit positiven wirtschaftlichen Rahmenbedingungen – so zum Beispiel in Stuttgart, Köln oder München. Im Verbund mit wirtschaftlicher Dynamik scheinen gerade bei hohen Anteilen von Zuwanderern Gewöhnungsprozesse einzusetzen. Die Migranten sind hier nicht mehr Fremde, sondern werden als selbstverständlicher Teil des Lebensalltags erfahren. Demgegenüber kommt Ablehnung – bis hin zu extremer Fremdenfeindlichkeit – vor allem in wirtschaftlich perspektivlosen ländlichen Gebieten Ost- und Westdeutschlands zum Ausdruck – obgleich ihre Präsenz dort äußerst gering ist. Zuwanderer werden hier als angebliche Verursacher der eigenen Misere verteufelt. Für diese Regel gibt es nach den vorliegenden Umfragedaten kaum Unterschiede zwischen Ost- und Westdeutschland. Gruppen der extremen politischen Rechten haben immer wieder versucht, Fremdenfeindlichkeit zu schüren. Diese Brandstifter blieben in Deutschland trotz einiger schlimmer örtlicher Schwerpunkte eine Minderheit ohne breiten politischen und intellektuellen Rückhalt. Dass es zuletzt zu offenen politischen Konflikten zwischen Vertretern der Migranten und amtlichen Stellen kam, zeigt ebenfalls einen Fortschritt an, denn es ist charakteristisch für Prozesse demokratischer Interessenvermittlung, wenn sich Integration nicht mehr einfach als Vollzug der Wünsche der Mehrheitsgesellschaft gestalten lässt. Aus dieser Perspektive kann auch die Weigerung deutschtürkischer Organisationen, am Integrationsgipfel der Bundeskanzlerin im Sommer 2007 teilzunehmen, als positives Signal eingeordnet werden. Ihre Absage war eine durchaus legitime Form des demokratischen Interessenaustrags (Der Tagesspiegel, 12.07.07; Spiegel online, 12.07.07).
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Viele Migranten haben inzwischen in der Politik, in der Wirtschaft, in der Kultur, in der Wissenschaft und den Medien Deutschlands bedeutende Karrieren gemacht. Sie symbolisieren als angesehene Abgeordnete im Bund, in den Ländern und den Kommunen, als erfolgreiche Unternehmer in der Wirtschaft und als prominente Akteure in der Kultur, der Wissenschaft und den Medien beruflichen und sozialen Erfolg. Sie können dadurch zu Mittlern zwischen ihren Gruppen und der Mehrheitsgesellschaft werden. Diskriminierende überlieferte Bilder von „den“ Migranten werden durch sie in Frage gestellt. Menschen mit Migrationshintergrund werden nun zunehmend Partner und Lobbyisten im Integrationsprozess. Die soziale und politische Integration der Migranten wurde bisher von der Öffentlichkeit eher unterschätzt. Sie hat schon seit längerem eingesetzt. Zugleich beginnen inzwischen auch die meisten Menschen der Mehrheit sich in die abzeichnende neue Einwanderungsgesellschaft zu integrieren. Integration verlangt von den „einheimischen“ Deutschen vor allem eine Änderung ihrer tiefverwurzelten negativen Einstellungen gegenüber Ausländern. Der völkische Nationalismus hat zwar in der Bundesrepublik an Legitimität verloren, dennoch steckt er bis zu einem gewissen Grad in uns allen. Trotz aller Bekenntnisse zu einer liberalen Haltung fällt es gerade Deutschen innerlich immer noch schwer, einen Staatsbürger ausländischer Herkunft als „echten“ Deutschen anzuerkennen. Daran gilt es weiter zu arbeiten. Integration kann letztlich nur gelingen – dies sei nochmals unterstrichen – wenn Zuwanderern kulturelle Freiheit gewährt wird. Nicht die Erhaltung und Sicherung diffuser und unterschiedlich interpretierter Vorstellungen vorgeblich „deutscher“ Kultur, sondern der Einsatz für Recht und Freiheit, der Verfassungspatriotismus, muss angesichts unserer von Globalisierung geprägten Welt bestimmend für das politische Handeln sein. Integration darf und soll in einer Einwanderergesellschaft keine Einbahnstraße sein. In die neue Zuwanderungsgesellschaft müssen sich alle Bürger Deutschlands integrieren.
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Kapitel II: Zur aktuellen Lage der Islamfeindlichkeit
Fremdenfeindlichkeit und Islamophobie Fakten zum gegenwärtigen Verhältnis genereller und spezifischer Vorurteile Jürgen Leibold
Seit mehr als dreißig Jahren werden Einstellungen und Verhaltensweisen gegenüber Menschen mit Migrationshintergrund im deutschen Sprachraum aus dem Blickwinkel der Vorurteilsforschung wissenschaftlich untersucht. Die Forschung ist bis heute eng mit Begriffen wie Ethnozentrismus, Xenophobie, Ausländerund Fremdenfeindlichkeit verbunden. In den letzten Jahren ist es im Hinblick auf Vorurteile gegenüber Muslimen zu einer sprachlichen Präzisierung gekommen. Zum einen wurde dies durch öffentliche Auseinandersetzungen zum Beispiel um Wahrnehmbarkeit und Etablierung islamischer Religiosität in Form von Kopftüchern, Religionsunterricht und Minaretten und zum anderen durch gestiegene Aufmerksamkeit gegenüber international agierenden Extremisten islamischer Prägung verursacht. Die bis dahin verwendeten Begriffe für Vorurteile einer autochthonen Bevölkerung gegenüber Personen mit Migrationshintergrund wurden für diese neuen Sachverhalte als zu unspezifisch empfunden. Um die begriffliche Fassung exakter zu gestalten, wird seit wenigen Jahren hauptsächlich unter dem Etikett Islamophobie1 seltener unter Islamfeindlichkeit zu generell ablehnenden Einstellungen gegenüber muslimischen Personen beziehungsweise Glaubensrichtungen, Symbolen und religiösen Praktiken des Islam geforscht (vgl. Leibold/Kühnel 2003). Hintergrund für diese Forschung ist die Tatsache, dass sich im Verlauf der zurückliegenden Jahrzehnte die Bundesrepublik durch Einwanderung von einer tendenziell homogenen in eine ethnisch und religiös pluralisierte Gesellschaft gewandelt hat. Es leben heute etwa 3,5 Millionen Menschen zumeist türkischer Herkunft in Deutschland, die sich zu einer der verschiedenen Glaubensrichtungen des Islam bekennen. Nicht erst seit September 2001 sind die Muslime hier1
Der Begriff islamophobia wurde erstmals in Großbritannien verwendet, um nach der iranischen Revolution und speziell im Anschluss an die Fatwa gegen Salman Rushdie 1989 zwischen generell fremdenfeindlichen Einstellungen und der wachsenden Feindseligkeit gegenüber Muslimen zu unterscheiden. In der amerikanischen und europäischen Forschung hat sich der Terminus islamophobia beziehungsweise Islamophobie für die Beschreibung von Vorurteilen und diskriminierenden Verhaltensweisen gegenüber muslimischen Personen etabliert.
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zulande mit Vorurteilen und Diskriminierungen konfrontiert, schon davor kam es zu kulturell-religiösen Konflikten zwischen muslimischer Minderheit und der christlich geprägten Mehrheitsgesellschaft (vgl. Nirumand 1990, Muckel 1998, Jonker 1999, Schröder u.a. 2000, Tezcan 2000). Anlass für die Auseinandersetzungen waren und sind die wechselseitigen Anerkennungsforderungen im Rahmen eines voranschreitenden Integrationsprozesses. Denn die Mehrheit steht ebenso wie die Minderheit vor der Aufgabe, Integration und damit eine durch Einwanderung veränderte Gesellschaft zu gestalten. Integration ist in diesem Zusammenhang für alle beteiligten Gruppen mit Veränderung verbunden, die im Regelfall auch Widerstände hervorruft, denn insbesondere veränderte Rahmenbedingungen machen mehr oder weniger hohe Anpassungsleistungen erforderlich. Fremdenfeindlichkeit ist ein Indiz für Widerstände gegenüber zuwanderungsbedingten Veränderungen, die oft auch als Ausdruck einer Ideologie der Ungleichwertigkeit gewertet werden müssen (vgl. Heitmeyer 2002). Das Konzept der Ungleichwertigkeit kann im Kern auf ein Denken in Out- und Ingroupkategorien zurückgeführt werden, das mit der Betonung von wahrnehmbaren oder auch nur zugeschriebenen Unterschieden einhergeht. Tritt im Kontext der beschriebenen gesellschaftlichen Veränderungsprozesse ein spezifisches Kennzeichen einer Gruppe stärker hervor, dann lässt dies – dem Gedanken der Ungleichwertigkeit folgend – die Betonung der Differenz und die Abwertung beziehungsweise Ablehnung des Anderen wahrscheinlicher werden. Im Falle der Integration der Muslime in eine christlich geprägte säkulare Aufnahmegesellschaft scheint eben dieser Mechanismus zu greifen. Nachdem in der Phase der Einwanderung die religiösen Überzeugungen der sogenannten Gastarbeiter keine wesentliche Rolle gespielt hatten, entwickelte sich im Zuge der beginnenden Integrationsdebatte auf Seiten der Mehrheitsgesellschaft langsam die Wahrnehmung einer kulturell-religiösen Spannungslinie. Durch die öffentliche Auseinandersetzung mit Themen rund um die Integration der Muslime kam es auch dort zu einer Ausweitung der Vorurteile, wo die religiöse Differenz bis dahin nicht beachtet worden war. Heute finden wir bei repräsentativen Befragungen im deutschsprachigen Raum weitverbreitete Vorurteile gegenüber Muslimen, die in hohem Maß mit Fremdenfeindlichkeit korreliert sind (vgl. Heitmeyer 2002, Stolz 2006, Leibold/Kühnel 2003; 2006; 2007). Es ist davon auszugehen, dass die Berichterstattung über den islamistischen Terror die Wahrnehmung von Unterschieden zusätzlich verstärkt hat, aber bei der Erklärung islamophober Einstellungen in der Bundesrepublik spielt die terroristische Bedrohung eine eher untergeordnete Rolle (vgl. Kühnel/Leibold 2007). Entsprechend der Logik einer Konkretisierung von allgemein fremdenfeindlichen Vorurteilen im Bereich eines kulturell-religiösen Spannungsverhältnisses zwischen Mehr- und Minderheit sollten viel eher Konflikte, die sich im Kern um grundle-
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gende Norm- und Wertvorstellungen beider Seiten drehen, von größerer Bedeutung sein. Dabei verfolgen die Konfliktparteien in der Regel das Interesse, ihre spezifischen kulturell-religiösen Vorstellungen zu erhalten (vgl. Esser 1997). In modernen und offenen Gesellschaften wird im Prozess einer geregelten Konfliktaustragung eine Einigung üblicherweise ausgehandelt, ob aber ein Verhandlungsergebnis erzielt werden kann, ist nicht zuletzt davon abhängig, inwieweit es sich im Sinne Albert O. Hirschmans um einen teilbaren oder unteilbaren Konflikt handelt. Steht im Zentrum des Konflikts eine Frage nach dem Entweder-Oder-Prinzip, dann ist eine Einigung sehr viel schwieriger, als wenn es um einen teilbaren Konflikt in Form einer Mehr-oder-Weniger Entscheidung geht (vgl. Hirschman 1994). Speziell Konflikte, die auf eine Entscheidung nach dem Entweder-Oder-Prinzip hinauslaufen und zudem Identitätsfragen betreffen, werden schnell als bedrohlich empfunden. Dabei ist es nicht so wichtig, ob die Positionen tatsächlich miteinander unvereinbar sind, es reicht aus, wenn sie als solche gewertet werden. In diesen Fällen ist eine rein sachliche Auseinandersetzung fast unmöglich geworden und die Wahrscheinlichkeit, Bedrohungsgefühle zu wecken, steigt erheblich an. Diese Bedrohungsgefühle können Grundlage für Vorurteile sein, so führt Jörg Stolz in seinen theoretischen Analysen zur Soziologie der Fremdenfeindlichkeit aus, dass Vorurteile unter anderem dann entstehen, wenn eine Bedrohung von Kultur, Gemeinschaft und sozialem Frieden wahrgenommen wird (vgl. 2000: 63f.).2 Daraus lässt sich die Vermutung ableiten, dass eine wahrgenommene Bedrohung grundsätzlicher Positionen im Zuge der Integration des Islam in die deutsche Aufnahmegesellschaft islamophobe Einstellungen in der Mehrheitsbevölkerung fördern könnte. Welches Gewicht einem solchen Bedrohungsempfinden hinsichtlich der Erklärung von Vorurteilen gegenüber muslimischen Personen zukommt, wenn gleichzeitig fremdenfeindliche Einstellungen berücksichtigt werden, soll im empirischen Teil des vorliegenden Beitrags untersucht werden. Es ist allerdings davon auszugehen, dass die Fremdenfeindlichkeit nicht nur das Bedrohungsempfinden, sondern auch die Islamophobie, als unspezifischere Form der Vorurteile gegenüber eingewanderten Muslimen, weiter direkt beeinflusst. Zur Beantwortung dieser Forschungsfrage werden zunächst die zugrundeliegenden Operationalisierungen und die damit ermittelten Messungen vorgestellt, um daran anschließend die Beziehungen zwischen Fremdenfeindlichkeit, Bedrohungsempfinden und Islamophobie einer eingehenderen Analyse zu unterziehen.
2
In diesem Sinne lassen sich zum Beispiel die Konflikte hinsichtlich der doppelten Staatsbürgerschaft oder der Kopftuchdebatte interpretieren.
148
Jürgen Leibold
Messung und Verbreitung fremdenfeindlicher und islamophober Einstellungen Die folgenden Analysen beruhen auf den seit 2002 durchgeführten Umfragen zur Langzeitbeobachtung Gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit (GMF) des Instituts für Interdisziplinäre Konflikt- und Gewaltforschung der Universität Bielefeld. Vor dem Hintergrund des Konzepts einer „Ideologie der Ungleichwertigkeit“ werden im Rahmen dieses Forschungsprojektes unter anderem die Entwicklung vorurteilsbezogener Einstellungen wie Fremdenfeindlichkeit, Rassismus, Antisemitismus, Islamophobie und Sexismus in der Bundesrepublik über zwölf Jahre hinweg beobachtet. Bei der gleichzeitigen Erfassung dieser Reihe von Vorurteilen wird davon ausgegangen, dass Ungleichwertigkeit „den gemeinsamen Kern aller genannten Elemente ausmacht“ und wesentliche Verbindungen zwischen den Einzelaspekten bestehen (Heitmeyer 2002: 21). Fremdenfeindlichkeit als allgemeinste, der in diesem Beitrag betrachteten Formen Gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit, wird bei den Erhebungen über zwei Aussagen gemessen, die in ähnlicher Form bereits 1996 in der Allgemeinen Bevölkerungsumfrage der Sozialwissenschaften (ALLBUS) zum Einsatz gekommen sind:
„Es leben zu viele Ausländer in Deutschland.“3 „Wenn Arbeitsplätze knapp werden, sollte man die in Deutschland lebenden Ausländer wieder in ihre Heimat zurückschicken.“
Die Aussagen zielen auf die in Aufnahmegesellschaften häufig verbreitete DasBoot-ist-voll-Mentalität ab, wobei beide Items im Sinne eines utilitaristischen Kalküls auch eine dehumanisierende Einteilung in entbehrliche und nützliche Zuwanderer vornehmen. Seit der Erhebung des GMF-Surveys 2003 steht auch zur Messung der Vorurteile gegenüber Muslimen eine Skala zur Verfügung, die über zwei Aussagen die generelle Ablehnung muslimischer Personen thematisiert:
„Durch die vielen Muslime hier fühle ich mich manchmal wie ein Fremder im eigenen Land.“ „Muslimen sollte die Zuwanderung nach Deutschland untersagt werden.“
Während die erste Aussage Muslimen eine „Fremdartigkeit“ im Verhältnis zur autochthonen Bevölkerung unterstellt, werden im zweiten Item muslimische 3
In den computergestützten Telefoninterviews zum GMF-Projekt bestand bei den hier vorliegenden Aussagen für die Befragten die Möglichkeit, der jeweiligen Aussage voll und ganz, eher, eher nicht oder überhaupt nicht zu zustimmen.
Fremdenfeindlichkeit und Islamophobie
149
Immigranten als unerwünscht in Deutschland dargestellt. Gemein ist beiden Aussagen, dass die Befragten im Falle der Zustimmung Muslimen gegenüber ein Denken in eher ablehnenden Outgroupkategorien zum Ausdruck bringen. Für die Erfassung der wahrgenommenen Bedrohung durch den Islam werden im Folgenden zwei Aussagen verwendet, die nur in der Befragung 2005 gemeinsam erhoben wurden:
„Die vielen Moscheen in Deutschland zeigen, dass der Islam auch hier seine Macht vergrößern will.“ „Die hier lebenden Muslime bedrohen unsere Freiheiten und Rechte.“
Beide Formulierungen drücken ein durch Muslime respektive den Islam hervorgerufenes Bedrohungsszenario aus, das in engem Zusammenhang zu den durch Integration bedingten Veränderungsprozessen zu sehen ist. In Tabelle 1 sind für die Querschnittserhebungen von 2003 bis 2007 die Prozentwerte zustimmender Angaben der Befragten zur jeweiligen Aussage wiedergegeben. Hinsichtlich der Fremdenfeindlichkeit zeigt sich über die Jahre hinweg ein relativ stabiles Bild entsprechender Einstellungen, allerdings auf hohem Niveau, wobei 2007 eine leichte Abnahme der Zustimmung zu verzeichnen ist. Wodurch diese Verringerung der fremdenfeindlichen Vorurteile verursacht wird, kann auf Basis von Querschnittsdaten nicht entschieden werden, da hierzu die individuellen Veränderungen über die Zeit betrachtet werden müssten. Es ist sogar denkbar, dass keine wesentliche Veränderung der Vorurteile vorliegt, aber die Messung mit ihrem tendenziellen Bezug zum Arbeitsmarkt durch die positive wirtschaftliche Entwicklung beeinträchtigt wird, weil im Sinne des Konstrukts in Phasen eines Aufschwungs Immigranten auch von Personen mit Vorurteilen als „nützlicher“ empfunden werden könnten. Für die Islamophobie ergibt sich ein etwas anderes Bild, denn im Verhältnis zur Fremdenfeindlichkeit ist ein niedrigeres Niveau festzustellen, dessen Entwicklung allerdings nach einer Phase zwischen 2003 und 2005 mit eher geringen Veränderungen seit 2006 von einem Anstieg beider Indikatoren gekennzeichnet ist. An dieser divergierenden Entwicklung von Fremdenfeindlichkeit und Islamophobie wird deutlich, dass bei allen Gemeinsamkeiten zwei voneinander zu unterscheidende Konstrukte erfasst werden, denn in der Tendenz erscheinen die Einstellungen gegenüber Muslimen in der Bevölkerung von den allgemein fremdenfeindlichen zumindest teilweise abgekoppelt zu sein. Es besteht die Möglichkeit, dass dieser Prozess der Entkopplung sich weiter fortsetzen wird, wenn nämlich die kulturellreligiöse Spannungslinie im Verlauf der Integration noch stärker in den Vordergrund der öffentlichen Debatte treten und zudem die Wahrnehmung hier lebender Muslime als Teil der deutschen Gesellschaft sich langsam in den Köpfen
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Jürgen Leibold
durchsetzen sollte. Beide Entwicklungen würden die Gemeinsamkeiten von Fremdenfeindlichkeit und Islamophobie auf Dauer reduzieren. Für die Messung der wahrgenommenen Bedrohung durch den Islam liegt leider keine vergleichbare Zeitreihe vor. Die beiden Items wurden nur 2005 gemeinsam erhoben, was eine Analyse der Entwicklung unmöglich macht. Auf den ersten Blick ist zu erkennen, dass der Aussage zur Machtausdehnung des Islam mit 57,9 Prozent erheblich mehr Personen zustimmen als der Aussage über die Bedrohung der Rechte und Freiheiten durch Muslime (23,7 Prozent). Tabelle 1: Zustimmung in Prozent zu Aussagen, die Fremdenfeindlichkeit, Islamophobie und Bedrohung durch den Islam messen 2003-2007 (gewichtete Daten, Fallzahlen in Klammern) 2003
2004
2005
2006
2007
zu viele Ausländer
59,1 (2643)
59,8 (2597)
61,2 (1781)
59,3 (1672)
54,7 (1744)
Remigrationsforderung
30,1 (2650)
36,0 (2581)
36,1 (1752)
35,3 (1666)
29,7 (1730)
Überfremdung durch Muslime
31,0 (2629)
35,1 (2569)
33,7 (1760)
39,2 (1674)
39,0 (1743)
keine Immigration von Muslimen
26,4 (2600)
24,1 (2613)
24,3 (1749)
28,5 (1658)
28,9 (1731)
Islam will hier Macht vergrößern
51,7 (2580)
nicht erhoben
57,9 (1756)
nicht erhoben
nicht erhoben
Muslime bedrohen Freiheiten und Rechte
nicht erhoben
nicht erhoben
23,7 (1714)
nicht erhoben
nicht erhoben
Fremdenfeindlichkeit
Islamophobie
Bedrohung durch Islam
(Eigene Berechnungen auf Basis der GMF-Surveydaten 2003, 2004, 2005, 2006, 2007)
Insgesamt lassen die Werte erkennen, dass es in der Bundesrepublik ein erhebliches Maß an Vorurteilen gegenüber Immigranten gibt und dass sich auch große Teile der Bevölkerung Muslimen gegenüber ablehnend äußern. Allerdings ist die reine Betrachtung der Antwortverteilungen immer mit Problemen behaftet, denn die interessierenden Inhalte können nicht eindeutig von Konnotaten getrennt
Fremdenfeindlichkeit und Islamophobie
151
werden, die über die jeweilige Formulierung mit erfasst werden. Darüber hinaus ist es nur mit Hilfe multivariater Verfahren möglich zu entscheiden, welche Verbindungen zwischen den einzelnen Konstrukten bestehen.
Analyse der Zusammenhänge von Fremdenfeindlichkeit, Bedrohung und Islamophobie Ausgehend von der dargestellten Ausweitung allgemeiner Fremdenfeindlichkeit auf spezifischere Aspekte, die im Rahmen der Integration von Immigranten in eine Aufnahmegesellschaft Relevanz erlangen können, wurde eingangs ein Modell beschrieben, das implizit Annahmen zu den Beziehungen von Fremdenfeindlichkeit, Bedrohung und Islamophobie nahelegt. Demnach sollten fremdenfeindliche Einstellungen direkt eine Erhöhung der wahrgenommenen Bedrohung durch den Islam zur Folge haben und gleichzeitig die Ablehnung von Muslimen fördern. Das Empfinden einer Bedrohung durch den Islam sollte seinerseits höhere Islamophobiewerte nach sich ziehen, wobei der indirekte Effekt der Fremdenfeindlichkeit über das Bedrohungsempfinden in Rechnung zu stellen ist. Zur Prüfung des beschriebenen Kausalmodells wurden mit den Indikatoren der GMF-Qureschnittserhebung 2005 ein Strukturgleichungsmodell spezifiziert und geschätzt, dessen standardisierte Koeffizienten in Abbildung 1 wiedergegeben sind.4 Die Kennwerte zur Modellanpassung geben zunächst darüber Auskunft, dass das spezifizierte Modell gut mit den empirischen Daten im Einklang steht und die postulierte Beziehungsstruktur somit als bestätigt betrachtet werden kann. Die aufgeführten standardisierten Effekte zeigen, wie sehr sich eine Änderung der erklärenden Größe auf das abhängige Konstrukt auswirkt. Wie erwartet fördert eine fremdenfeindliche Einstellung sowohl die Islamophobie als auch die Wahrnehmung einer Bedrohung durch den Islam. Auffällig ist dabei, dass der Einfluss auf die Islamophobie (.34) sehr viel schwächer ausfällt als jener auf die wahrgenommene Bedrohung (.87). Das Konstrukt der Islamophobie wird direkt stärker durch das Bedrohungsempfinden (.66) bestimmt, allerdings ist hierin die indirekte Auswirkung der Fremdenfeindlichkeit über die Bedrohungswahrnehmung enthalten. Der standardisierte indirekte Einfluss der Fremdenfeindlichkeit auf die Islamophobie liegt im geschätzten Modell mit .58 erheblich über dem des direkten Effekts.
4
Die Berechnung erfolgte mit dem Programm Interactive LISREL, Version 8.72. Die Modellparameter wurden mit der asymptotisch verteilungsfreien Schätzmethode WLS berechnet, da die vier Antwortvorgaben eher eine ordinal- als eine metrisch-skalierte Messung von Vorurteile darstellen.
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Jürgen Leibold
Abbildung 1:
Effekte der Fremdenfeindlichkeit und der wahrgenommenen Bedrohung durch den Islam auf die Islamophobie chi-square = 3,82 df = 3 p-value = 0.282 rmsea = 0.013 p-close = 0.97
1.0 Fremdenfeindlichkeit
.34
.87
Bedrohung durch den Islam
.07
Islamophobie
n = 1607
.66
.24
(eigene Berechnungen, GMF-Surveydaten 2005)
Insgesamt gesehen ist das geschätzte Modell sehr gut mit den theoretischen Erwartungen zu vereinbaren und unterstreicht die starke Position der Fremdenfeindlichkeit bei der Erklärung von Vorurteilen gegenüber Muslimen und dem Islam. Je fremdenfeindlicher eine Person ist, umso stärker neigt sie dazu, den Islam in Deutschland als Bedrohung wahrzunehmen und umso stärker fallen ablehnende Einstellung gegenüber Muslimen aus. Die Wahrnehmung einer Bedrohung durch den Islam vermittelt den Ergebnissen zufolge in erheblichem Umfang die Wirkung fremdenfeindlicher Einstellungen auf die Islamophobie.
Diskussion Ausgangspunkt der vorgestellten Analysen war die Frage, ob die wahrgenommene Bedrohung durch den Islam einen wesentlichen Einfluss auf Islamophobie besitzt, wenn gleichzeitig Fremdenfeindlichkeit bei der Erklärung berücksichtigt wird. Die empirischen Ergebnisse zeigen eindrücklich, dass im Kontext von Vorurteilen der Mehrheitsbevölkerung gegenüber Muslimen und dem Islam Fremdenfeindlichkeit eine zentrale Stellung einnimmt. Islamophobie wird zwar von der wahrgenommenen Bedrohung durch den Islam erheblich beeinflusst, allerdings ist das Bedrohungsempfinden selbst sehr stark vom Ausmaß der fremdenfeindlichen Einstellungen bestimmt. Über die Analyse der kausalen Zusammenhänge hinaus finden sich in den deskriptiven Ergebnissen Hinweise für ein allmähliches Auseinanderdriften von Fremdenfeindlichkeit und Islamophobie.
Fremdenfeindlichkeit und Islamophobie
153
Hierfür dürfte gegenwärtig die im Verlauf der voranschreitenden Integration stärkere Thematisierung einer kulturell-religiösen Spannungslinie zwischen muslimischer Minderheit und christlich geprägter säkularer Mehrheitsgesellschaft ausschlaggebend sein. Mittelfristig wird durch die genannten Begleitumstände des Integrationsprozesses ein weiterer Anstieg islamophober Einstellungen wahrscheinlich nicht zu vermeiden sein, was für einen konstruktiven Verlauf der Integration ein hohes Maß an selbstkritischer Aufrichtigkeit und Sensibilität auf beiden Seiten erfordern wird.
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154
Jürgen Leibold
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Islamfeindlichkeit – die empirischen Grundlagen Mario Peucker
Einer Verkäuferin wird gekündigt, weil sie ein muslimisches Kopftuch trägt; zwar ist die Geschäftsleitung nicht islamfeindlich, doch man fürchtet finanzielle Einbußen. Ein Arbeitgeber stellt einen jungen Türken nicht ein, weil er denkt, türkische Männer sind generell nicht teamfähig. Laut einer wissenschaftlichen Untersuchung ist fast jeder dritte Deutsche der Meinung, dass es besser wäre, wenn Muslimen der Zuzug nach Deutschland untersagt würde (siehe den Beitrag von Leibold in diesem Buch). Dies sind keine konstruierten Fälle, sondern belegte Tatsachen, die zeigen, dass Islamfeindlichkeit und Diskriminierung von Muslimen Teil der gesellschaftliche Realität sind. Die Messung von Diskriminierung aufgrund der ethnischen Herkunft oder der Religion ist ebenso komplex und vielschichtig wie das Phänomen der Diskriminierung selbst; dies gilt in besonderem Maß für die Ungleichbehandlung von Muslimen, einer äußerst heterogenen Minderheitengruppe, die sich nur indirekt statistisch erfassen und kaum klar definieren lässt. Will man einen Einblick in den aktuellen Kenntnisstand zu Islamfeindlichkeit und Diskriminierung von Muslimen in Deutschland geben, ist daher Bescheidenheit angebracht, denn das genaue Ausmaß ist nicht bekannt und wird es wohl auch nie sein. Dennoch lassen sich qualitative Beweise und quantitative Indizien für eine besondere Benachteiligung von muslimischen Migranten finden. Ob diese Ungleichbehandlung in erster Linie in dem „Muslim sein“ begründet liegt (also im engeren Sinn antiislamisch motiviert ist) oder primär mit ethnischen und kulturellen Zuschreibungen zusammenhängt, muss meist offen bleiben. Aus konzeptioneller Sicht ist es daher wichtig, zwischen religiöser Diskriminierung von Muslimen im engeren Sinn und ethnischer Diskriminierung von muslimischen Migranten im weiteren Sinn zu differenzieren.1 Dieser weiter gefassten Definition folgend, lassen sich verschiedene Forschungsergebnisse und Informationsquellen heranziehen, um die Problematik Islamfeindlichkeit und Diskriminierung von Muslimen herauszuarbeiten. 1
Das Deutsche Institut für Menschenrechte grenzt Islamophobie von religiöser Diskriminierung im engeren Sinne ab; Islamophobie wird dabei als ein Phänomen konzeptualisiert, das sich manifestiert „in stigmatisierenden Zuschreibungen, die gegenüber Menschen aufgrund ihrer Herkunft bzw. Gruppenzugehörigkeit stattfinden“ (siehe den Beitrag von Bielefeldt in diesem Buch).
156 1.
Mario Peucker
Offizielle Statistiken zeigen deutlich benachteiligte Positionen
Arbeitsmarkt-, Bildungs- und allgemeine Bevölkerungsstatistiken (zum Beispiel Mikrozensus, Sozio-oekonomisches Panel) weisen auf eine zum Teil drastisch benachteiligte Position von Migranten in zentralen Bereichen des gesellschaftlichen Lebens hin; dies gilt auch und im Besonderen für Migranten muslimischen Hintergrunds, wie etwa die meiten türkischstämmigen. Diese erreichen unterdurchschnittliche Bildungsabschlüsse (Konsortium Bildungsberichterstattung 2006: 148f.), sind im (dualen) Ausbildungssystem deutlich unterrepräsentiert und besonders stark von Arbeitslosigkeit betroffen; auch die Wohnsituation (zum Beispiel Wohnraum pro Kopf) ist bei türkischen Migranten im Schnitt nicht nur wesentlich schlechter als bei Deutschen, sondern auch als bei anderen Migrantengruppen (Frick 2004). Ansätze zur Erklärung dieser Disparitäten sind komplex und müssen eine Vielzahl von Faktoren berücksichtigen – vom Einfluss der Sprachkenntnisse, des Qualifikationsniveaus und von sozialen Netzwerken bis hin zu Informationsdefiziten und Unterschieden in den sozialen, kulturellen und familialen Ressourcen. Ein unmittelbarer kausaler Zusammenhang mit direkter Diskriminierung oder Islamfeindlichkeit ist aus diesen statistischen Ungleichheiten nicht ableitbar. Dennoch deuten solche Statistiken auf das Vorliegen diskriminierender Mechanismen hin. In empirischen Untersuchungen (meist multivariate Regressionsanalysen) wurde mehrfach nachgewiesen, dass sich die benachteiligte Position von Migranten oft nicht allein mit so genannten humankapital-bezogenen Faktoren (zum Beispiel Qualifikationen, Deutschkenntnisse) erklären lassen: Selbst wenn diese Faktoren, die unter diskriminierungsfreien Umständen einen Einfluss auf die Positionierung in gesellschaftlichen Kerninstitutionen haben, statistisch kontrolliert werden, verschwinden die Disparitäten meist nicht vollständig; es bleibt ein statistisch „unerklärlicher Restfaktor“, der darauf hindeutet – nicht aber endgültig beweist –, dass direkte Diskriminierung von Migranten am Wohnungs- und Arbeitsmarkt, sowie im Schulsystem und bei der Ausbildungsplatzsuche eine Rolle spielt (Alba/Handl/Müller 1994; Clark/Drever 2001).2 Die meisten empirischen Studien, in denen nationalitätenspezifische Disparitäten berücksichtigt werden, weisen nach, dass Türken beziehungsweise türkische Migranten besonders betroffen sind, dass heißt, dass sich ihre benachteiligte Position in signifikanter Weise nicht allein mit ihrem geringeren „Humankapital“ erklären lässt (Müller/Stanat 2006, Granato 2006; Granato/Kalter 2001). 2
Zu besonders überzeugenden Ergebnissen führte dieser statistische Analyseansatz im Bereich des Übergangs von Schule zu Ausbildung. Die Hamburger ULME-Untersuchung zum Zugang zur beruflichen Ausbildung hat nachgewiesen, dass Migrantenjugendliche bei gleichem Niveau der Fachleistungen eine deutlich geringere Chance haben, eine vollqualifizierende Berufs(fach)schule zu besuchen, als Jugendliche ohne Migrationshintergrund (Lehmann u.a. 2004).
Islamfeindlichkeit – die empirischen Grundlagen
2.
157
Belege aus der Forschung: Testing-Verfahren und qualitative Studien
Was solche statistische Analysen lediglich vermuten lassen, nämlich das verdeckte Wirken diskriminierender Mechanismen, versuchen andere empirische Studien genauer zu untersuchen. Zwei Ansätze haben sich dabei als besonders Erfolg versprechend erwiesen, um ethnische Diskriminierung aufzudecken: zum einen so genannte discrimination testing-Verfahren, zum anderen qualitative Interviews mit Gatekeepern, Personen, die über den Zugang zu bestimmten Positionen oder Gütern (zum Beispiel Wohnungen) entscheiden. Wenngleich bislang nur sehr wenige Untersuchungen dieser Art in Deutschland durchgeführt worden sind, so zeigen die vorliegenden Ergebnisse eindeutig, dass direkte Diskriminierung von Migranten mit muslimischen Hintergrund ein reales Problem darstellt.
Discrimination testing in Deutschland Die Grundidee dieses Untersuchungsansatzes ist einfach und überzeugend: Zwei speziell ausgewählte Personen bewerben sich in einem experimentähnlichen Setting auf eine reale, öffentlich ausgeschriebene berufliche Stelle. Beide Personen sind hinsichtlich ihrer Eignung (zum Beispiel Qualifikation, Sprachfähigkeit, Alter) völlig identisch und unterscheiden sich nur darin, dass Person A im Experiment einen deutschen Namen trägt und Person B einen nicht-deutschen, also einen Angehörigen einer Minderheitengruppe repräsentiert. Unter kontrollierten Bedingungen wird beobachtet, wie der für die Personalauswahl verantwortliche Gatekeeper auf die Bewerbung der beiden Testpersonen reagiert. Ohne Diskriminierung müssten beide Bewerber aufgrund ihrer exakt gleichen Eignung die gleichen Chancen haben, in die nächste Runde des Bewerbungsverfahrens eingeladen zu werden. Die International Labour Organisation (ILO) beauftragte vor einigen Jahren das deutsche Forscherteam um Goldberg und Mourinho mit der Durchführung einer solchen Untersuchung in Nordrhein-Westfalen.3 Die beiden Test-Bewerber waren beide männlich, zwischen 20 und 25 Jahre alt, sprachen einwandfreies Deutsch und hatten die gleichen Qualifikationen (einschließlich einer Schullaufbahn in Deutschland) vorzuweisen. 175 Stellenausschreibungen wurden telefonisch getestet. In 19 Prozent der Fälle stellten die Forscher eine diskriminierende Ungleichbehandlung der „türkischen“ Testperson gegenüber dem „deutschen“ Test-Bewerber fest, dass heißt 33 Mal wurde lediglich der „Deutsche“ zu einem 3
Ähnliche testings wurden inzwischen in folgenden Ländern ebenfalls von der ILO in Auftrag gegeben: Belgien, Dänemark, Italien, den Niederlanden, Spanien, der Schweiz, Frankreich, Spanien und den USA.
158
Mario Peucker
persönlichen Vorstellungsgespräch eingeladen, während diese Chance dem „Türken“ verwehrt wurde. Besonders häufig war ein solches diskriminierendes Verhalten bei Stellen im Dienstleistungsbereich zu beobachten (Goldberg/Mourinho 2000).4 Mit ähnlichen Studien wurde auch der Zugang von Migranten zum Wohnungsmarkt untersucht. So testete der in Dortmund ansässige Verein Planderladen im Jahr 2006 mehr als hundert Wohnungsanzeigen von Wohnungsgesellschaften, Maklern und privaten Vermietern in Nordrhein-Westfalen – mit dem Ergebnis, dass mehr als 40 Prozent der Wohnungsanbieter „türkische“ Wohnungssuchende gegenüber „deutschen“ Wohnungsinteressenten benachteiligten (Planerladen 2007).
Qualitative Interviews mit Gatekeepern Um die Gründe und Motive von Gatekeepern für die Benachteiligung von Migranten beziehungsweise bestimmter (ethnischer oder religiöser) Minderheiten zu untersuchen, gibt es letztlich nur einen methodischen Weg: qualitative Interviews mit den Gatekeepern selbst. Im Jahr 2006 legte eine Forschergruppe der Universität Oldenburg die Ergebnisse einer empirischen Untersuchung zu Integrations- und Ausgrenzungsprozessen von türkischen Migranten der zweiten Generation vor (Gestring/Janßen/Polat 2006). Mit einem komplexen Methodenrepertoire wurde im Rahmen dieser Studie die Position von Migranten türkischer Herkunft auf dem Arbeits- und Wohnungsmarkt analysiert; dabei wurden auch rund 40 Gatekeeper des Arbeits- und Wohnungsmarkts intensiv befragt. Wenngleich die Resultate nicht statistisch repräsentativ sind, tragen sie doch wesentlich zu einem besseren Verständnis von Diskriminierungspraktiken bei. Die Ergebnisse zeigen deutlich, dass direkte Diskriminierung – neben Humankapital-bezogenen Faktoren – den Zugang zum Arbeitsmarkt negativ mitbestimmt. Zwar wird die Beschäftigung von türkischen Migranten nicht grundsätzlich abgelehnt, doch nutzten nahezu alle befragten Gatekeeper „ihre Handlungsspielräume zu ungunsten der türkischen Migranten“ (ebd., S. 162). Bewerbern mit türkischem Hintergrund werden häufig negativ konnotierte Eigenschaften (zum Beispiel kein Interesse an Weiterbildung, mangelnde Arbeitsmoral, Unzuverläs4
Ähnlich angelegte, neuere testing-Verfahren in anderen europäischen Staaten weisen ebenfalls direkte Diskriminierung von Migranten mit muslimischem Hintergrund im Bewerbungsverfahren nach. In Frankreich kommt die ILO im Jahr 2006 zu dem Ergebnisse, dass Personen mit einem (nord-)afrikanischen Namen in rund 20 Prozent der Fälle eine benachteiligende Reaktion der Personalverantwortlichen erfahren (Taran 2007).
Islamfeindlichkeit – die empirischen Grundlagen
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sigkeit) kollektiv zugeschrieben.5 Türkischen Männern wird etwa „machohaftes Auftreten“ und „fehlende Teamfähigkeit“ unterstellt; insbesondere als Verkäufer würde ihnen die „professionelle Demut“ fehlen. Türkische Frauen, die ein Kopftuch tragen, sind in besonderem Maß mit diskriminierenden Barrieren konfrontiert. Die Mehrheit der interviewten Gatekeeper lehnt eine Beschäftigung dieser Musliminnen explizit ab oder steht dieser zumindest sehr skeptisch gegenüber. Begründet werden diese Vorbehalte auf unterschiedliche Weise: Während einige Gatekeeper die Benachteiligung offen mit ihren persönlichen Antipathien begründen, erklären andere, dass sie ökonomische respektive soziale Probleme und Konflikte mit Dritten – seien es Kunden oder die eigenen Mitarbeiter – befürchten. Diese meist auf kulturellen, ethnischen oder religiösen Stereotypen und Vorurteilen basierenden Attributierungen erschweren den Zugang von türkischen Migranten zum Arbeitsmarkt – im Dienstleistungsbereich mit Kundenkontakt stärker als in der Industrie, in kleineren Unternehmen stärker als in größeren.6
3.
Antiislamische und islamfeindliche Einstellungen
Während die Diskriminierung von Muslimen nur schwer unmittelbar messbar ist, lässt sich die Islamfeindlichkeit als „negativ-stereotype Haltungen gegenüber dem Islam“ (siehe den Beitrag von Bielefeldt in diesem Buch) methodisch deutlich einfacher ermitteln; zentrale Bedingung ist eine Festlegung von Frage-Items, die islamfeindliche Haltungen adäquat abbilden.7 Die Langzeitstudie zu Gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit von Wilhelm Heitmeyer und seinem Forscherteam untersucht unter anderem das Phänomen der Islamophobie, definiert als „Ablehnung und Angst vor Muslimen, ihrer Kultur und ihren politischen und religiösen Aktivitäten“ (Heitmeyer 2007: 17; 5
6
7
Diskriminierung dieser Art ist nicht zwangsläufig fremdenfeindlich motiviert. Es ist vorstellbar, dass die Ungleichbehandlung aus einem Mangel an Informationen über den einzelnen Bewerber resultiert; dabei werden Merkmale, die der jeweiligen Gruppe zugeschrieben werden, zur Bewertung des Einzelnen verwendet (sogenannte statistische Diskriminierung; Arrow 1973). Die Übergänge zu einer fremdenfeindlich motivierten Ungleichbehandlung sind jedoch fließend, sobald die zugeschriebenen Eigenschaften durchgängig negativ geprägt sind (Wrench 2007). Beim Zugang zum Wohnungsmarkt kommt die Oldenburger Forschergruppe zu dem Schluss, dass türkische Migranten häufig mit institutionalisierten, diskriminierenden Barrieren konfrontiert sind – Barrieren, die von den Betroffenen meist selbst nicht persönlich erfahren werden, da die Ungleichbehandlung üblicherweise im Verborgenen abläuft. Fast alle befragten Wohnungsunternehmen verfolgten bei der Belegung von Mietwohnungen – soweit der lokale Wohnungsmarkt dies erlaubt – eine Strategie der Quotierung, die den Anteil von Migranten in den Mietshäusern unter einem bestimmten Niveau halten soll (Gestring/Janßen/Polat 2006, 70ff.). Einschränkend sei hier auf die üblichen Schwächen von Einstellungsmessungen im Rahmen von Befragungen hingewiesen (zum Beispiel Verzerrung vor allem im Sinn der sozialen Erwünschtheit).
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Mario Peucker
siehe auch den Beitrag von Leibold in diesem Buch). Seit Einführung der neuen Islamophobie-Skala im Jahr 2004 wird eine ansteigende Tendenz registriert. In der letzten Befragungswelle (2006) stimmten rund vier von zehn Befragten „voll und ganz“ (20 Prozent) oder „eher“ (19,2 Prozent) der Aussage zu, „durch die vielen Muslime hier fühle ich mich manchmal wie ein Fremder im eigenen Land“. Fast 30 Prozent der Befragten gaben an, dass Muslimen die Zuwanderung nach Deutschland untersagt werden soll (16,7 Prozent stimmten „eher“ zu, 11,8 Prozent „voll und ganz“). Auf ähnlich negative Einstellungen gegenüber Muslimen und dem Islam deuten auch die Ergebnisse verschiedener Meinungsumfragen hin – dazu nur zwei Beispiele:
In September 2004 veröffentlichte die Frankfurter Allgemeine Zeitung die repräsentativen Ergebnisse einer Allensbach-Umfrage zum Thema Islam. Auf die Frage, was man mit dem Islam assoziiere, nannten 93 Prozent „Unterdrückung von Frauen“ und 83 Prozent „Terror“; lediglich 6 Prozent fanden den Islam „sympathisch“. Kurze Zeit später veröffentlichte die FAZ die Ergebnisse einer weiteren Allensbach-Umfrage, wonach 55 Prozent der Befragten „eine friedliche Koexistenz von christlichem und islamischem Glauben“ aufgrund der großen Differenzen nicht für möglich halten; es werde daher „immer wieder zu schweren Konflikte kommen“.8
Es ist vielfach belegt, dass die Ergebnisse solcher Einstellungsmessungen keine direkten Rückschlüsse auf das tatsächliche (diskriminierende) Verhalten zulassen (Heckmann 1992: 125ff.). Dennoch kann ein gesellschaftliches Klima der Islamfeindlichkeit und der generalisierenden Skepsis gegenüber Muslimen dazu beitragen, dass Gatekeeper Muslime diskriminierend behandeln, um antizipierte Konflikte mit Dritten beziehungsweise ökonomische Einbußen zu vermeiden. Ferner legen qualitative Studien nahe, dass islamfeindliche oder antiislamische Einstellungen auch direkt als Motive für eine benachteiligende Behandlung von Muslimen fungieren und sich so unmittelbar auf das Verhalten auswirken können. In (seltenen) Extremfällen eskalieren solche antiislamischen Feindseligkeiten – meist gepaart mit allgemeiner Fremdenfeindlichkeit und Gewaltbereitschaft – und führen sogar zu physischen Angriffen, Bedrohungen und Belästigungen 8
Dieses von negativen Assoziationen und Stereotypen geprägte Bild des Islam, das in der deutschen Bevölkerung weit verbreitetet zu sein scheint (vgl. auch den Beitrag von Bielefeldt in diesem Buch), scheint entscheidend mitgeprägt von der medialen Berichterstattung, die die muslimische Religion überwiegend als irrational, gewalttätig, rückständig und bedrohlich darstellt. Durch eine solche einseitige Darstellung wird ein „Feindbild Islam“ suggeriert und weiter gefördert (Jäger/Halm 2007; siehe auch den Beitrag von Hafez in diesem Buch).
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von Muslimen. Wenngleich solche islamfeindlichen Übergriffe hierzulande relativ selten sind, insbesondere im Vergleich zu einigen anderen europäischen Ländern (vgl. EUMC 2006; OSCE/ODHIR 2006), so wird auch in Deutschland gelegentlich von offenkundig islamfeindlichen Beleidigungen oder Übergriffen auf Muslime im öffentlichen Raum berichtet. So wurden in den Monaten nach der Ermordung des islamkritischen holländischen Filmemachers van Gogh durch einen fanatischen Islamisten im Herbst 2004 auch in Deutschland Brandschläge auf Moscheen (in Sinsheim und Usingen) verübt.9
4.
Subjektive Diskriminierungserfahrungen
Es gibt zwei relevante (quantitative) Informationsquellen zu subjektiven Diskriminierungserfahrungen von (muslimischen) Migranten: zum einen die Ergebnisse von Befragungen, zum anderen die Dokumentation von Diskriminierungsbeschwerden. Das „Zentrum für Türkeistudien“ befragt seit 1999 jährlich rund 1.000 türkischstämmige Migranten in Nordrhein-Westfalen unter anderem zu ihren persönlichen Diskriminierungserfahrungen. Die für die türkischstämmige Bevölkerung in NRW repräsentativen Ergebnisse zeigen, dass rund drei Viertel (2006: 73 Prozent) der Befragten im alltäglichen Leben die Erfahrung von Diskriminierung gemacht haben, am häufigsten am Arbeitsplatz, in der Schule oder an der Universität und bei der Arbeits- oder Wohnungssuche. Diejenigen, die sich selbst als sehr oder eher religiös einschätzen, erfahren Diskriminierung geringfügig häufiger (74,1 Prozent) als diejenigen, die sich für eher nicht oder gar nicht religiös halten (71,0 Prozent). In welchem Umfang diese subjektiv wahrgenommenen Diskriminierungserlebnisse auf das „Muslim-sein“ zurückzuführen sind, lässt sich zwar nicht beantworten, doch unterstreichen die Ergebnisse deutlich, dass sich türkischstämmige (muslimische) Migranten sehr häufig mit Diskriminierung konfrontiert sehen (Sauer 2007). Das „Antidiskriminierungsnetzwerk Berlin“ (ADNB) des „Türkischen Bundes Berlin-Brandenburg“ (TBB) führte zwischen September 2004 und September 2005 eine (nicht-repräsentative) Fragebogenumfrage unter Migranten und „People of Colour“ durch. Dabei wurden rund 500 Personen zu ihren persönlichen Diskriminierungserfahrungen in den letzten vier Jahren befragt. Die Fragebögen von 452 Befragten konnten ausgewertet werden, davon fast die Hälfte muslimischen Glaubens. Rund 45 Prozent aller Befragten gaben an, im sozialen 9
Im Dezember 2007 wurde eine Moschee in Lindau mit ausländerfeindlichen und nationalsozialistischen Symbolen beschmiert – ein Verbrechen, dass nicht nur von einer xenophoben, sondern auch von einer islamophoben Einstellung geprägt zu sein scheint.
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Nahraum und in öffentlichen Transportmitteln Diskriminierung erfahren zu haben, gefolgt von dem Bereich Arbeits- und Wohnungssuche und private Dienstleistungen (zwischen 30 und 40 Prozent). Obwohl Religion als Diskriminierungsgrund weniger bedeutend wahrgenommen wurde als Nationalität/Ethnizität und Hautfarbe, gaben immer noch 104 (mehrheitlich muslimische) Befragte an, aufgrund ihrer Religion diskriminiert worden zu sein (ADNB 2005). Ein ähnliches Bild zeichnet sich ab bei der Analyse von Statistiken zu Diskriminierungsbeschwerden, dokumentiert und ausgewertet von Antidiskriminierungsbüros (zum Beispiel ADB Sachsen, ADB Köln) oder städtischen Beschwerdestelle für Diskriminierungsfälle (zum Beispiel AMIGRA in München): Migranten mit muslimischem Hintergrund fühlen sich überdurchschnittlich häufig diskriminiert; allerdings registrieren diese Stellen nur in sehr wenigen Fällen Religion als Grund der empfundenen Ungleichbehandlung. Auch die vorläufigen Zahlen der Antidiskriminierungsstelle des Bundes, die im Zuge der Umsetzung der EU-Richtlinie 2000/43/EG eingerichtet wurde, unterstreichen, dass Diskriminierung aufgrund der ethnischen Herkunft deutlich öfter erfahren wurde als Ungleichbehandlung aufgrund der Religion. Einschränkend ist darauf hinzuweisen, dass solche Daten zu subjektiven Diskriminierungserfahrungen keine direkten, verlässlichen Rückschlüsse auf tatsächliche Diskriminierung zulassen; zum einen bleibt ungerechtfertige Ungleichbehandlung sehr oft von den Betroffenen selbst unentdeckt und damit undokumentiert, zum anderen ist es wahrscheinlich, dass es sich bei manchen Fällen wahrgenommener Diskriminierung um einen faktisch diskriminierungsfreien Auswahlprozess gehandelt hat. Dennoch können diese Daten zur subjektiven Einschätzung wichtige Anhaltspunkte für besonders diskriminierungssensible Lebensbereiche liefern. Ferner sind diese Informationen von zentraler Bedeutung bei der Untersuchung spezieller Forschungsfragen, wie etwa nach den individuellen Bewältigungsstrategien von Migranten als Reaktion auf erfahrene Ungleichbehandlung (Skrobanek 2007).
5.
Gerichtsurteile: Qualitative Beweise aus der Rechtsprechung10
Auch die Analyse von Gerichtsverfahren liefert keine repräsentativen Erkenntnisse über das Ausmaß der Diskriminierung von Muslimen oder (muslimischen) Migranten; allerdings bietet sich dabei die auch aus wissenschaftlicher Sicht wertvolle Chance, individuelle Diskriminierungsfälle unzweifelhaft zu belegen und dahinter liegende Motivstrukturen und Mechanismen aufzudecken.10 10
Weitgehend unberücksichtigt bleibt hier die Thematik der Diskriminierung von Musliminnen durch gesetzliche Regelungen, insbesondere die sogenannten Kopftuch-Verbote in mehreren
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Die Rechtsprechung zu Fällen ethnischer Diskriminierung ist in Deutschland nach wie vor unterentwickelt, wenngleich sich die gesetzlichen Grundlagen und rechtlichen Möglichkeiten, gegen Ungleichbehandlung gerichtlich vorzugehen, mit der Einführung des Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetzes (AGG) im August 2006 deutlich verbessert haben.11 Nichtsdestotrotz finden sich vereinzelt Gerichtsfälle, die sich mit der Frage der ungerechtfertigten Ungleichbehandlung aufgrund der Zugehörigkeit zum Islam beschäftigt haben. Das wohl prominenteste Urteil wurde im Oktober 2002 vom Bundesarbeitsgericht gesprochen (Az: 2 AZR 472/01). Die Kündigung einer türkischstämmigen Verkäuferin aus dem hessischen Schlüchtern, die nach Beendigung ihres Erziehungsurlaubs ihre Arbeitstelle mit einem muslimischen Kopftuch wieder angetreten hatte, wurde in letzter Instanz unter Hinweis auf das grundgesetzliche Gebot der Religionsfreiheit für rechtswidrig erklärt. Der Arbeitgeber hatte argumentiert, er befürchte ökonomische Einbußen, wenn die Verkäuferin ihr Kopftuch nicht abnähme; dies ließ das Bundesarbeitsgericht nicht gelten, da diese antizipierten Schäden nicht belegt werden konnten, und stärkte damit das grundgesetzliche Gebot der Religionsfreiheit und Gleichbehandlung (Lasowski 2003).
Schlussbemerkung Die hier vorgestellten Daten- und Informationsquellen lassen keinen Zweifel daran, dass Migranten von ethnischer Diskriminierung betroffen sind. Einige Indizien sprechen ferner dafür, dass muslimische Migranten in qualitativ und quantitativ besonderer Weise mit Benachteiligung konfrontiert sind; allerdings bleibt die Trennlinie zwischen ethnischer Diskriminierung und Diskriminierung
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Landesschulgesetzen (siehe auch die Beiträge von Shakush und Mai in diesem Buch). Sowohl das Bundesverfassungsgericht (Az.: 2BvR 1436/02; 24.9.2003) als auch das Bundesverwaltungsgericht (Az.: BVerwG 2 C.45.03; 24.6.2004) haben das Gebot der rechtlichen Gleichbehandlung unterschiedlicher Religionsgruppen betont, halten aber ein Kopftuch-Verbot im Rahmen einer generellen Gleichbehandlung aller religiöser Symbole für verfassungskonform. Diesem Grundsatz folgend, erlaubte das Verwaltungsgericht Stuttgart (18 K 3562/05; 7.7.2006) einer muslimischen Lehrerin trotz eines bestehenden gesetzlichen Kopftuch-Verbots im Landesschulgesetz das Unterrichten mit Kopftuch. Das Verwaltungsgericht Düsseldorf (Az.: 2 K 6225/06; 5.6.2007 und Az.: 2 K 1752/07; 14.7.2007) sowie das Arbeitsgericht Herne (Az.: 4 Ca 3415/06; 3.3.2007) hingegen untersagten muslimischen Lehrerinnen das Tragen eines Kopftuchs in der Schule. Bisher liegt lediglich ein (derzeit noch nicht rechtskräftiges) Urteil zum AGG vor, das sich mit der Thematik Diskriminierung aufgrund der Religion auseinandersetzt: Im Dezember 2007 hat das Arbeitsgericht Hamburg einer Muslimin türkischer Herkunft, deren Bewerbung bei einer christlichen Wohlfahrtsorganisation explizit aufgrund ihrer Nicht-Zugehörigkeit zur christlichen Kirche abgelehnt worden war, eine Entschädigung von 3.900 € zugesprochen. Das Gericht sah darin eine Diskriminierung aufgrund der Religion.
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aufgrund des muslimischen Glaubens in den allermeisten Fällen unscharf – auch für die Betroffenen selbst. Aussagen über das quantitative Ausmaß von Diskriminierung von (muslimischen) Migranten erscheinen derzeit unmöglich. Dieser Mangel an repräsentativen Informationen ist einer der Gründe, warum ethnische und religiös bedingte Diskriminierung in Deutschland bislang von der Öffentlichkeit und der Politik kaum als Problem – weder aus integrationspolitischer noch aus menschenrechtlicher Sicht – wahrgenommen worden ist. Um dies zu ändern, muss zum einen die Politik die vielen empirischen Indizien für Diskriminierung zur Kenntnis nehmen und diese Problematik mit in die intensiv geführte Integrationsdebatte aufnehmen. Zum anderen ist die Wissenschaft gefordert, die Analyse der Phänomene Islamfeindlichkeit und Diskriminierung von Muslimen konzeptionell weiter zu schärfen und mehr belastbare empirische Belege dazu vorzulegen.
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Das Islambild in Deutschland Zum öffentlichen Umgang mit der Angst vor dem Islam* Heiner Bielefeldt
Repräsentative Umfragen aus Deutschland zeigen, dass in der Bevölkerung starke Vorbehalte gegenüber dem Islam bestehen, die in den letzten Jahren allem Anschein nach zugenommen haben. Der Islam wird offenbar von vielen Menschen mit Fundamentalismus, Gewaltneigung und der Unterdrückung der Frau in Verbindung gebracht. Gleichzeitig klagen Menschen mit muslimischem Familienhintergrund – unabhängig davon, ob sie sich als praktizierende Muslime verstehen oder nicht – über Diskriminierungen und Ausgrenzungen, die sich aus dem generell negativen Image des Islam ergeben. Für die Integrationspolitik stellt dieser Befund eine große Herausforderung dar. Der vorliegende Aufsatz geht den Ursachen für das verbreitete Unbehagen gegenüber dem Islam nach und benennt Kriterien für einen angemessenen Umgang mit bestehenden Ängsten. Der Text besteht aus vier Teilen: Kapitel I identifiziert unterschiedliche Motive, die hinter der skeptischen oder ablehnenden Einstellung gegenüber dem Islam stehen. In Kapitel II werden sodann zentrale Kriterien für eine den Postulaten der Aufklärung verpflichtete öffentliche Debattenkultur dargestellt. Kapitel III beschäftigt sich mit dem Begriff der Islamophobie, der derzeit kontrovers diskutiert wird, weil er im Verdacht steht, von islamistischen Organisationen als Mittel zur Tabuisierung von Kritik am Islam eingesetzt zu werden. Der Aufsatz endet in Kapitel IV mit einigen knappen Schlussfolgerungen. Im Umgang mit Minderheiten, in diesem Fall muslimischen Minderheiten, zeigt sich immer zugleich das Selbstverständnis einer Gesellschaft im Ganzen. Nicht zuletzt steht auch das Verständnis von Aufklärung mit auf dem Spiel: Es geht näherhin darum, eine an den Menschenrechten orientierte freiheitliche Diskussionskultur von solchen Konzepten abzuheben, in denen sich der Anspruch der Aufklärung zu einem Topos kulturkämpferischer Polarisierung und Ausgrenzung verhärtet.
*
Überarbeitete Fassung eines vom Deutschen Institut für Menschenrechte veröffentlichten Essays (Berlin 2007).
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Heiner Bielefeldt
Verbreitete Skepsis gegenüber dem Islam
Laut einer im Mai 2006 veröffentlichten Allensbach-Umfrage stimmten 83 Prozent der Befragten der Aussage zu, der Islam sei fanatisch, 62 Prozent betrachteten ihn als rückwärtsgewandt, 71 Prozent als intolerant und 60 Prozent als undemokratisch. Sogar 91 Prozent der Befragten gaben an, dass sie beim Stichwort Islam an die Benachteiligung von Frauen dächten. Als Ergebnis ihrer Untersuchung halten Elisabeth Noelle und Thomas Petersen fest: „Die Vorstellungen der Deutschen über den Islam waren bereits in den vergangenen Jahren negativ, doch haben sie sich in der jüngsten Zeit noch einmal spürbar verdüstert.“ (FAZ, 17.6.06) Verschlechtert hat sich das Bild des Islam in Deutschland auch nach den Ergebnissen der vom Bielefelder Institut für interdisziplinäre Konflikt- und Gewaltforschung durchgeführten Langzeituntersuchung über gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit. Etwa drei Viertel der im Rahmen dieser Untersuchung im Juni 2005 befragten Personen ließen erkennen, dass ihrer Ansicht nach die islamische Kultur nicht – oder zumindest eher nicht – in „unsere westliche Kultur“ passe (Leibold/ Kühnel 2006: 142f.). Eine solche abwehrende Haltung ist kein spezifisch deutsches Phänomen. Nach einem Ende 2006 veröffentlichten Bericht des European Monitoring Centre on Racism and Xenophobia (EUMC)1 sind „islamophobe“ Tendenzen derzeit in allen Ländern der Europäischen Union zu verzeichnen (S. 60). Die Ursachen für die in den letzten Jahren gestiegenen Vorbehalte gegenüber Muslimen sind komplex: Bei lokalen Moscheebaukonflikten mischen sich Überfremdungsgefühle, die oft auch politisch angeheizt und ausgebeutet werden, typischerweise mit sozialer Frustration in niedergehenden Stadtvierteln. Integrationsprobleme in Schule, Nachbarschaft und Beruf verstärken existierende Ressentiments gegenüber Menschen mit Migrationsgeschichte. In der Kontroverse um das Kopftuch kommen Besorgnisse zu Wort, dass mühsam erarbeitete emanzipatorische Errungenschaften wie die Gleichberechtigung der Geschlechter durch religiös gestützte autoritäre Milieustrukturen konterkariert werden, unter denen vor allem Frauen und Mädchen leiden. Die nach der Ermordung der jungen Berlinerin Hatun Sürücü (Februar 2005) einsetzende öffentliche Debatte über Zwangsverheiratungen und Gewalt im Namen der „Ehre“ in Deutschland hat solchen Besorgnissen weiter Auftrieb gegeben. Fernsehbilder von einer offenkundig gesteuerten militanten Empörung über die Muhammadkarikaturen in der islamischen Welt wecken Befürchtungen, die Präsenz des Islam könnte die liberale Kultur der westlichen Gesellschaften unterminieren – eine Befürchtung, die für manche wiederum zum Anlass wird, die Veröffentlichung der Karikatu1
Die vormalige European Monitoring Centre on Racism and Xenophobia ist im März 2007 in der EU-Grundrechtsagentur (EU Fundamental Rights Agency) aufgegangen.
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ren zum Testfall liberaler Selbstbehauptung zu stilisieren. Es gibt Berichte, dass in manchen Moscheegemeinden anti-westliche und antisemitische Hasspredigten stattfinden. Über all dem schwebt schließlich die Angst vor terroristischen Gewaltakten, die die Islamdebatte seit dem 11. September 2001 überschattet. Laut Allensbach stimmten 42 Prozent der Befragten der Aussage zu: „Es leben ja so viele Moslems bei uns in Deutschland. Manchmal habe ich direkt Angst, ob darunter nicht auch viele Terroristen sind.“ (FAZ, 17.6.06)2 Skepsis gegenüber dem Islam findet sich mittlerweile in allen politischen Lagern und in den verschiedensten Milieus der Gesellschaft. Dies hat damit zu tun, dass hinter den Vorbehalten gegenüber dem Islam ganz unterschiedliche Motive stehen, die von konservativen Ängsten um die gewachsene kulturelle Identität dieser Gesellschaft über weit verbreitete Befürchtungen hinsichtlich der inneren Sicherheit bis hin zu Sorgen um die Wahrung emanzipatorischer Errungenschaften reichen. Während manche islamkritischen Äußerungen an alte Muster einer Abgrenzung des christlich geprägten Abendlands gegenüber dem Orient anknüpfen (Hillgruber 1999: 538-547), sehen andere im Islam eine Gefährdung moderner Aufklärung und Liberalität.3 In beiden Fällen steht der Islam für „das Andere“: entweder für eine fremde Religion aus dem Osten oder für den Autoritarismus vormoderner Lebensformen. Vor allem in rechtskonservativen Kreisen verbindet sich die Angst vor dem Islam mit demographischen Krisenszenarien, die unter Hinweis auf unterschiedliche Geburtenraten von Muslimen und Nicht-Muslimen eine „schleichende Islamisierung“ der Gesellschaft prognostizieren (Ulfkotte 2007: 20ff.; siehe auch den Beitrag von Schneiders in diesem Buch). Hinter manchen ablehnenden Äußerungen über Muslime verbirgt sich auch eine eher „links“ intonierte Religionskritik, womöglich mit Relikten marxistischer Ideologie gespickt, für die der Islam mittlerweile weit mehr als das Christentum das Paradigma militanter Religiosität abgibt (Kohlhammer 1996). Auch in den offiziellen Äußerungen der christlichen Kirchen kommen islamkritische Positionierungen neuerdings schärfer als zuvor zu Wort. Die im November 2006 unter dem Titel „Klarheit und gute Nachbarschaft“ veröffentlichte Handreichung des Rates der EKD zum christlich-islamischen Dialog in Deutschland unterscheidet sich von früheren Verlautbarungen der EKD zum selben Thema durch ihren distanziert-kühlen Grundton (Kirchenamt 2006; siehe dazu auch den Beitrag von Just in diesem Buch). Muslimische Verbände haben
2
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Auch Leibold/Kühnel 2006: 151 betonen die offenbar weit verbreitete Assoziation von Islam und Terrorismus. „Problematisch erscheint in diesem Zusammenhang, dass mehr als 60 % unserer Befragten vermuten, viele Muslime hegten Sympathien für islamistische Terroristen.“ Dafür stehen insbesondere die Schriften von Bassam Tibi, vgl. zum Beispiel Tibi 1998 und 2003.
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auf die Veröffentlichung der Handreichung mit Enttäuschung und teilweise Verbitterung reagiert. Es fällt auf, dass die verschiedenen Motive, in denen sich Vorbehalte gegenüber dem Islam artikulieren, oft ineinander übergehen, wodurch politische Rochaden und ungewohnte Allianzen entstehen. Beispielsweise wurde Anfang 2006 ein vom baden-württembergischen Innenministerium ausgearbeiteter Leitfaden für Einbürgerungsbehörden bekannt, der – de facto auf Muslime zielend – unter anderem die Akzeptanz gleichgeschlechtlicher Lebensgemeinschaften als Voraussetzung für die Einbürgerung aufführte.4 Dass ausgerechnet ein konservativ geführtes Ministerium die ja auch in der Mehrheitsgesellschaft keineswegs bereits durchgängig akzeptierte Gleichberechtigung von Homosexuellen zum Kriterium staatsbürgerlicher Reife erhob, löste Verwunderung aus; es erklärt sich wohl aus dem Interesse daran, gegenüber muslimischen Einbürgerungswilligen klare Grenzen zu ziehen beziehungsweise hohe Hürden aufzurichten (siehe auch den Beitrag von Shakust in diesem Buch). Umgekehrt klingen in Stellungnahmen linker Autorinnen und Autoren zum Islam gelegentlich ungewohnt „abendländische“ Töne an. So hat der renommierte linksliberale Sozialhistoriker Hans-Ulrich Wehler in einem Zeitungsinterview unter Berufung auf Samuel Huntingtons These vom clash of civilizations behauptet, dass Muslime nicht in die freiheitliche Verfassungsordnung integrierbar seien, weil sie „einen militanten Monotheismus“ repräsentieren, „der seine Herkunft aus der Welt kriegerischer arabischer Nomadenstämme nicht verleugnen kann“ (taz, 11.9.02). Die fließenden Grenzen zwischen ganz unterschiedlichen Motiven in der Skepsis gegenüber dem Islam machen Phänomene wie den Aufstieg des populistischen niederländischen Politikers Pim Fortuyn möglich, der im Mai 2002 von einem fanatisierten Tierschützer ermordet wurde (Mak 2005: 51). Fortuyn wusste ein niederländisches Identitätsbewusstsein, das sich aus dem Stolz auf liberale Errungenschaften – darunter die Gleichberechtigung der Geschlechter und die Anerkennung sexueller Minderheiten – speist, als Medium einer antiliberalen, autoritären Ausgrenzungsrhetorik gegen muslimische Migrantinnen und Migranten zu mobilisieren; diese Verbindung von Liberalismus mit Antiliberalismus machte das „Schillernde“ seiner politischen Rhetorik aus. Obwohl es Politiker mit dem populistischen Charisma eines Pim Fortuyn hierzulande derzeit nicht gibt, ist das für seine politische Agenda tragende rhetorische Muster auch in 4
Die baden-württembergische Landesregierung stellte angesichts der kritischen öffentlichen Diskussion im Januar 2006 klar, dass der Leitfaden unabhängig vom religiösen Bekenntnis oder Hintergrund der Antragsteller Anwendung finden soll; sie hat damit die ursprüngliche Position des Innenministeriums korrigiert, das die spezifische Ausrichtung des Fragebogens auf Muslime zunächst ausdrücklich betont hatte. Die Art der Fragen lässt aber nach wie vor erkennen, dass der Leitfaden insbesondere von Zweifeln an der kulturellen und verfassungspolitischen Integrationsbereitschaft muslimischer Einbürgerungswilliger inspiriert wurde.
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Deutschland durchaus präsent. Der Anspruch der offenen, liberalen Gesellschaft gerät dabei paradoxerweise zu einem Topos scharfer, anti-liberaler Grenzziehung gegenüber Menschen mit muslimischem Hintergrund.5
II. Elemente einer aufgeklärten Diskussionskultur Es ist weder hilfreich noch angemessen, die Äußerung von Skepsis, Kritik oder auch Angst gegenüber dem Islam pauschal ins Unrecht zu setzen. Vielmehr geht es darum, mit den weithin existierenden Vorbehalten und Befürchtungen sorgfältig umzugehen, sie auf ihren möglichen Sachgehalt hin kritisch zu prüfen, stereotype Darstellungen und Erklärungen zu überwinden und Diffamierungen klar entgegenzutreten. Die für eine liberale, aufgeklärte Diskussionskultur entscheidende Trennlinie verläuft deshalb nicht zwischen freundlichen und weniger freundlichen Darstellungen des Islam und seiner Angehörigen, sondern zwischen Genauigkeit und Klischee. Hinter dem Postulat der Genauigkeit steht letztlich das Gebot der Fairness, das die Grundlage einer aufgeklärten Diskussionskultur bildet. Angesichts einer überhitzten Debatte, in der vielfach bloße Gerüchte kolportiert werden, journalistische Schnellschüsse auf Kosten professioneller Sorgfaltspflichten gehen und pauschale Zuschreibungen stattfinden, ist es notwendig, an diese elementare Einsicht zu erinnern. Drei Aspekte eines angemessenen Umgangs mit Ängsten vor dem Islam möchte ich in diesem Kapitel ansprechen. Es sind dies (1) der Verzicht auf monokausale Erklärungen, insbesondere solcher Erklärungen, die einseitig bei kulturellen oder religiösen Faktoren ansetzen; (2) die Überwindung kulturessentialistischer Vorstellungen von einem zeitlosen Wesen des Islam; (3) ein Verständnis von Aufklärung, das diese als unabgeschlossene gesamtgesellschaftliche Lerngeschichte begreift.
1. Zur Notwendigkeit komplexer Ursachenanalyse Dass sich die Integrationsdebatte hierzulande sehr stark auf den Islam konzentriert, ist einerseits verständlich; denn an Kopftüchern und Minaretten wird der tief greifende Wandel, den die deutsche Gesellschaft innerhalb weniger Jahrzehnte durch die Einwanderung erfahren hat, unmittelbar sichtbar. Die Fixierung der Integrationsdebatte auf den Islam birgt andererseits aber auch die Gefahr von Fehlwahrnehmungen. Denn auf diese Weise verfestigt sich das Vorurteil, die 5
Vgl. etwa den Untertitel des Buchs von Lachmann 2005: Die Muslime und unsere offene Gesellschaft, S. 276.
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vielfältigen Probleme und Aufgaben der Integration seien in erster Linie durch die „andersartige“ Religion und Kultur der Eingewanderten bedingt. Die Rolle sozialer, ökonomischer und politischer Faktoren kommt dabei oft zu kurz. Die Konzentration von Migrationsfamilien in bestimmten Vierteln von Berlin-Neukölln oder Duisburg-Marxloh und die damit einhergehenden Integrationsprobleme in Stadtvierteln und Schulen lassen sich jedoch nicht primär aus religiöser oder kultureller „Andersartigkeit“ oder aus einem etwaigen Interesse an geschlossener religiös-kultureller Gemeinschaftsbildung erklären. Sie haben vermutlich weit mehr mit Entwicklungen auf dem Wohnungsmarkt zu tun: Die im Durchschnitt finanziell eher schlecht gestellten Migrantinnen und Migranten siedeln sich in aller Regel dort an, wo der Wohnraum preisgünstig ist, während all diejenigen, die es sich leisten können (darunter auch finanzkräftigere Familien mit Migrationsgeschichte), in gutbürgerliche, teurere Wohnbezirke wegziehen (Heitmeyer/Anhut 2000). Ähnliches gilt auch für die Auswahl von Schulbezirken, bei der mittlerweile die bildungsnahen Schichten (darunter wiederum Migrantenfamilien mit hohen Bildungserwartungen für ihre Kinder) die treibenden Kräfte etwaiger sozialer Segregationsprozesse sind. Nicht zu vergessen sind auch die Auswirkungen des hoch-selektiven deutschen Schulsystems (Motakef 2006). All dies ist bestens bekannt. Und doch erwecken etliche Debattenbeiträge den Eindruck, wir hätten es bei den genannten Phänomenen mit den Ergebnissen einer gezielten religiös-kulturellen Eroberung zum Zwecke der Errichtung einer islamischen „Parallelgesellschaft“ zu tun (Kritisch dazu: Der Tagesspiegel, 14.1.07). „Wer auch immer aus einem muslimischen Land nach Berlin gekommen ist“, behauptet etwa Günther Lachmann, „sucht die Stadtteile, in denen die Glaubensbrüder und Glaubensschwestern sind, und bleibt dort wohnen.“ (2005: 75) Lachmanns Fazit: „Die Heimat der Muslime in Deutschland ist das Ghetto.“ (ebd.) Komplexe Prozesse sozialer Segregation werden so schlicht als religiöskulturelle Landnahme gedeutet. Ein weiteres Beispiel: Bürgerversammlungen, in denen sich der Widerstand mancher Altansässiger gegen Moscheebauprojekte Luft schafft, sind regelmäßig zugleich Foren sozialen Protests (grundlegend dazu: Schmitt 2003; Hüttermann 2006). Die Erbitterung, die man bei solchen Versammlungen erlebt, richtet sich typischerweise auch gegen eine Stadtpolitik, von der man sich schon lange im Stich gelassen fühlt. Dass nun auch noch eine Moschee in der Nachbarschaft errichtet werden soll, ist dann, wie man in empörten Leserbriefen immer wieder nachlesen kann, der sprichwörtliche „Tropfen, der das Fass zum Überlaufen bringt“ (Bielefeldt/Heitmeyer 2000: 150ff.). Wer lokale Konflikte um Moscheebauprojekte als Religionskonflikte zwischen Christen und Muslimen beschreibt, greift daneben. Zugespitzt formuliert, geht es in den Auseinandersetzungen weniger um die Verteidigung des dreieinigen Gottes gegen die islamische Variante des Monotheismus als vielmehr um die notorische Knappheit an Parkplätzen oder den
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alltäglich erfahrbaren Vandalismus in „abgehängten“ Stadtvierteln. Gleichzeitig haben die genannten Konflikte insofern auch eine im weitesten Sinne des Wortes „kulturelle“ Dimension, als bei allen Beteiligten Ansprüche auf lebensweltliche Beheimatung mit im Spiel sind: Das Interesse an der Wahrung eines traditionell vertrauten Lebensumfeldes steht in Konflikt mit dem Anspruch muslimischer Verbände, nach Jahrzehnten des Lebens in Deutschland endlich ebenfalls ein Heimatrecht durch den Moscheebau symbolisch sichtbar zu markieren. Mit einem clash of civilizations zwischen Christentum und Islam hat dies alles wenig zu tun. Das hier vorgetragene Plädoyer für die Berücksichtigung sozialer und ökonomischer Faktoren heißt nicht, dass Kultur und Religion in der Beschreibung der einschlägigen Problembereiche ausgeblendet werden könnten. Selbstverständlich haben sie Einfluss. Zum Beispiel hängen die autoritären Familienstrukturen, wie sie in einigen Migrantenmilieus bestehen, offenkundig mit kulturellen Vorstellungen vom Verhältnis der Geschlechter zusammen, die im Verständnis vieler Menschen auch religiös gestützt sein mögen. All dies spielt derzeit in der öffentlichen Diskussion über Zwangsverheiratungen und Gewalt im Namen der „Ehre“ zu Recht eine wichtige Rolle (Terre des femmes 2002; Toprak 2007; siehe auch den Beitrag von Schröttle in diesem Buch). In diesem Zusammenhang auf einschlägige Koranverse zu verweisen, wie dies gern geschieht,6 reicht zur Erklärung aber bei weitem nicht aus und führt zuletzt in die Irre. Denn kulturelle Vorstellungen von Geschlechterrollen entwickeln sich in Abhängigkeit auch von sozialen und politischen Rahmenbedingungen. So kann das Leben in einer modernen liberalen Gesellschaft einerseits zur Öffnung von Familienstrukturen bei Migrantinnen und Migranten beitragen – etwa wenn Mädchen und Frauen gesellschaftlich verfügbare Bildungsoptionen zur Emanzipation von überkommenen Rollenmodellen nutzen. Vor allem bei männlichen Modernisierungsverlierern kann dies andererseits aber auch dazu führen, dass sie sich erst recht an überkommene Vorstellung von „Mannesehre“ klammern (King 2005) – ein Phänomen, das sich übrigens auch bei manchen deutschen Hooligans beobachten lässt und nichts spezifisch „Islamisches“ an sich hat. Wie Seyran Ates schreibt: „Die Männer verlieren ihre Rolle als Ernährer, und sie müssen erleben, dass Frauen besser und erfolgreicher schon in der Schule sind. Die letzte Bastion der Männlichkeit ist die Gewalt.“ (zit. n. taz, 2.9.06) Generell gesagt: In einer angemessenen Problembeschreibung autoritärer Familienstrukturen sollten die Aspekte von Kultur und Religion, bei aller Bedeutung, die ihnen unbestritten zukommt, niemals isoliert werden (so aber die Tendenz bei Necla Kelek 2005 und 2006). Vielmehr sind immer auch diejenigen sozialen Faktoren 6
Vgl. zum Beispiel: BDB 2004. In dieser Broschüre werden Zitate aus dem Koran unmittelbar bestimmten Artikeln des Grundgesetzes beziehungsweise internationaler Menschenrechtskonventionen entgegengesetzt; siehe hierzu auch den Beitrag von Kermani in diesem Buch und zum BDB. den Beitrag von Schiffer.
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mit zu berücksichtigen, die dafür sorgen, dass überkommene kulturelle Vorstellungen über das Verhältnis der Geschlechter im Handeln der Menschen eine praktische Relevanz behalten – oder unter Umständen neu gewinnen. Dies gilt entsprechend auch für die Analyse des islamistischen Terrorismus und seines sympathisierenden Umfelds. Dass religiöse Legitimationsmuster hierbei eine entscheidende Rolle spielen, ist wiederum offenkundig. Dazu zählen die Abwertung der „Ungläubigen“ im islamistischen Schrifttum, militante Vorstellungen vom Dschihad und die Verklärung des „Märtyrertums“, untermalt mit von Macho-Phantasien diktierten Paradieseserwartungen. Für all dies gibt es Anhaltspunkte in Koran und Sunna, die in der Rezeption dschihadistischer Bewegungen radikalisiert werden (Heine 2003). Eine angemessene Beschreibung des islamistischen Terrorismus und seines Umfelds kann sich aber nicht darauf beschränken, einschlägige Zitate aus den Quellen des Islam zusammenzustellen, sondern muss auch die politischen und sozialen Bedingungen in islamisch geprägten Ländern in das Gesamtbild mit einbeziehen. Dazu zählen die Enttäuschungen nach dem Scheitern diverser ökonomischer Entwicklungsstrategien, der Eindruck einer doppelzüngigen Politik westlicher Staaten im Nahen Osten, die Perspektivlosigkeit großer Teile der Jugend, Gefühle kultureller Demütigung durch einen übermächtigen Westen, dessen Dominanz mit den eigenen Ansprüchen auf religiös-moralische Überlegenheit kontrastiert (Steinberg 2003). Das Internet sorgt dafür, dass antiwestliche und antisemitische islamistische Botschaften auch in der muslimischen Diaspora in Europa Verbreitung finden (Mekhenet u.a. 2006: 156ff.). 2. Überwindung der Semantik vom „eigentlichen Islam“ Es wäre falsch zu behaupten, in der öffentlichen Diskussion bestünde generell keine Bereitschaft zur differenzierten Betrachtung des Islam. Im Gegenteil war nach den Terroranschlägen des 11. September 2001 zu beobachten, dass Politikerinnen und Politiker, die sich zum Thema äußerten, regelmäßig auf die Notwendigkeit einer Unterscheidung zwischen Islam, Islamismus und Terrorismus hinwiesen. Wie Christopher Allen und Jorgen Nielsen in ihrem im Frühjahr 2002 veröffentlichten Bericht für das „European Monitoring Centre on Racism and Xenophobia (EUMC)“ schreiben, wurde die politische Verurteilung des terroristischen Massenmords europaweit vielfach mit Solidaritätsaufrufen zugunsten der in Europa lebenden muslimischen Minderheiten verbunden.7 Dass die große 7
Vgl. EUMC 2002: 46: „The vast majority of politicians across the EU were immediate in providing a response to the attacks on the US. Many combined condemnation with a call for solidarity with Muslim communities in the West and for the need to differentiate between Muslims/Islam and terrorists/terrorism.“
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Mehrheit der Muslime nicht mit religiösem Fanatismus oder gar Terrorismus in Verbindung gebracht werden darf, ist seitdem zum Bestandteil öffentlicher politischer Rede in Deutschland geworden. Die Ergebnisse der oben zitierten Allensbach-Umfrage zeigen, dass auch in der Bevölkerung im Prinzip durchaus eine Bereitschaft zur differenzierten Betrachtung besteht. Auf die Frage „Halten Sie den Islam insgesamt für eine Bedrohung, oder sind das nur einzelne radikale Anhänger dieser Religion, von denen eine Bedrohung ausgeht?“ gaben immerhin zwei Drittel der Befragten an, die Gefahr gehe ihrer Ansicht nach nur von einzelnen Radikalen aus. Und dennoch formulieren Noelle und Petersen als Fazit ihrer Untersuchung: „das Grundgefühl ist ein anderes“, und sie kommen zu der skeptischen Einschätzung, in den Köpfen der Menschen habe der Kampf der Kulturen bereits begonnen (FAZ, 17.6.06). Bei der Beobachtung der öffentlichen Islamdebatte gewinnt man in der Tat den Eindruck, dass begriffliche Differenzierungen wie die zwischen Islam, Islamismus und Terrorismus zwar vielfach vorgenommen werden, oft aber eigentümlich folgenlos bleiben. Allem Anschein nach gibt es – eben darauf weisen auch die Ergebnisse der Allensbach-Umfrage hin – eine Diskrepanz zwischen mittlerweile weithin bekannten und akzeptierten theoretischen Differenzierungen und einer praktischen Irrelevanz solcher Differenzierungen für die generelle Einstellung gegenüber dem Islam, die vielfach gleichwohl ambivalent bis negativ bleibt. Der Grund dafür könnte darin bestehen, dass Erscheinungsformen eines religiösen Autoritarismus oder einer religiös motivierten terroristischen Gewalt als besonders symptomatisch für den Islam angesehen werden, dessen „wahres Wesen“ sich darin zeige.8 Die Tatsache, dass eine große Mehrheit der Muslime nicht islamistisch eingestellt ist, nichts von erzwungenen Heiraten hält, geschweige denn Sympathien mit religiös motiviertem Terrorismus hegt, wird damit als schieres Faktum zwar nicht bestritten, entfaltet jedoch in einer solchen Sichtweise keine systematische Bedeutung. Die unterschiedlichen Formen muslimischen Lebens und muslimischen Selbstverständnisses – von mystischen Ausprägungen über die traditionelle Volksfrömmigkeit bis hin zu Projekten eines dezidiert liberalen oder auch feministisch inspirierten Reformislam – verbleiben im Schatten des vermeintlich „eigentlichen“ Islam, der nach wie vor mit Fanatismus, Autoritarismus und Militanz assoziiert wird.9 Da der Islam an sich in der Öffentlichkeit oft mit antiliberalen Haltungen und Praktiken in Verbindung gebracht wird, müssen vor allem liberale Musli8 9
Zur Kritik an der Vorstellung eines vermeintlich zeitlosen „Wesens“ des Islam Al-Azmeh 1996; Würth 2003. Vgl. z.B. Glagow1999: 20: „Der Islam hat – zurückgehend auf viele Koranverse und auf die Vorbildfunktion seines Propheten als Feldherr und Kämpfer für den Islam – ein anderes Verhältnis zur Gewalt als andere Religionen.“
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minnen und Muslime immer wieder erleben, dass man entweder ihre (hier im weitesten Wortsinne verstandene) Liberalität oder ihre islamische Identität nicht wirklich ernst nimmt. Im ersten Fall erscheint ihre liberale Einstellung und Lebensweise als zweifelhaft oder potenziell gefährdet – so als drohe ihnen infolge ihrer religiösen Prägung gleichsam natürlicherweise stets der Rückfall in autoritäres Denken und Handeln. Im zweiten Fall müssen sie sich anhören, dass sie doch gar keine „echten“ Muslime mehr seien. Eine solche (gelegentlich auch als Kompliment gemeinte) Zuschreibung berührt sich ironischerweise mit den Vorwürfen, die liberalen Musliminnen und Muslimen aus dem traditionalistischen oder fundamentalistischen Milieu-Umfeld entgegenschlagen. Mit anderen Worten: Liberale Muslime (und Ähnliches lässt sich auch über gemäßigt Konservative sagen) werden entweder im Vorfeld eines „eigentlichen“, vermeintlich militanten Islam verortet, oder sie gelten als dem Islam bereits weitgehend entfremdet. Die Realität eines liberalen Islam wird in solcher Sichtweise zwar nicht als Faktum geleugnet, aber doch in ein eigentümliches Zwielicht gerückt. Dass in Deutschland und anderen europäischen Staaten zahlreiche Menschen leben, die sich als Muslime verstehen und gleichzeitig zu freiheitlichen Verfassungsprinzipien bekennen und ein solches Bekenntnis mit völliger Selbstverständlichkeit auch lebenspraktisch realisieren, wird durch die leitende Vorstellung eines „eigentlich“ antiliberalen Islam aus dem Zentrum der Wahrnehmung abgedrängt. Diese Semantik der „Eigentlichkeit“ im Diskurs über den Islam stellt ein Haupthindernis für die differenzierte Wahrnehmung des Islam und der Muslime dar. Sie sorgt jedenfalls dafür, dass Differenzierungen, sofern sie vorgenommen werden, oft abstrakt und folgenlos bleiben, als seien sie letztlich ohne Belang.10 Dies wiederum birgt die Gefahr, dass Menschen – Muslime oder Nicht-Muslime –, die sich über die Jahre hinweg öffentlich für eine angemessen differenzierte Sicht des Islam eingesetzt haben, mit der Zeit aufgeben, weil sich in ihnen das Gefühl festsetzt, dass sie mit ihren Argumenten nicht wirklich durchdringen. Zurück bleiben Resignation und nicht selten Verbitterung. Muslimisches Leben in Deutschland bewegt sich natürlich nicht nur zwischen den Polen von Liberalität und Fundamentalismus. Es gibt – im Grundsatz nicht anders als in der Mehrheitsbevölkerung – eine Vielfalt von Lebensweisen und die unterschiedlichsten Einstellungen zu Politik, Gesellschaft und Religion (Amman 2004: 91ff.). Neben praktizierenden Muslimen gibt es religiös indifferente oder areligiöse mit muslimischem Familienhintergrund oder auch solche 10
Eine Semantik der Eigentlichkeit ist – mit umgekehrten Vorzeichen – auch bei Muslimen verbreitet, die den „wahren Islam“ als friedlich, ökumenisch und menschenfreundlich beschreiben. Infolgedessen findet eine innerislamische kritische Auseinandersetzung mit der empirischen Realität des islamischen Fundamentalismus und Autoritarismus zu wenig statt. Vielfach bleibt es bei abstrakten Abgrenzungen; siehe hierzu auch den zweiten Band dieses Buches Thorsten Gerald Schneiders (Hrsg.): Islamverherrlichung. Wenn die Kritik zum Tabu wird. Im Druck.
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Menschen, deren religiöse Praxis nach persönlicher Lebenslage, dem Wechsel religiöser Feiertage, der Intensität familiärer Mitwirkungserwartungen und nicht zuletzt dem Lebensalter mehr oder weniger großen Schwankungen ausgesetzt ist. Unter den Frommen finden sich solche mit Humor und völlig Humorlose, Liberale und Konservative, Gelassene wie Verbissene, Ideologen und Pragmatiker, Menschenfreunde und Misanthropen; und nichts Anderes gilt auch für die Unfrommen oder die Gelegenheitsfrommen. Die Formen religiöser Praxis reichen von striktem Legalismus in der Auslegung religiöser Vorschriften über lebensweltlichpragmatische Arrangements aller Art bis hin zu mystischer Weitherzigkeit. In der muslimischen Jugend lassen sich neuerdings verstärkt Einflüsse eines „Pop-Islam“ verzeichnen, der einen konservativ eingefärbten islamischen life style – zu dem das Kopftuch gehören kann, aber nicht gehören muss – mit ganz selbstverständlicher Integration in die westliche Gesellschaft verbindet (Gerlach 2006). Während manche Muslime für sich einen engen Zusammenhang zwischen religiöser Überzeugung und politischer Orientierung sehen, dürfte bei der Mehrheit der Muslime das Verhältnis zwischen Religion und Politik weniger eindeutig sein; manche legen ausdrücklich Wert darauf, beide Bereiche auseinander zu halten. Auch bezüglich der Scharia – ihrer inhaltlichen Bestimmung und ihres praktischen Stellenwerts für das Leben innerhalb einer säkularen Rechtsordnung (Rohe 2001) – bestehen höchst unterschiedliche Positionen (Bielefeldt 2003: 59ff., 94ff.). Mit islamistischen Phantasievorstellungen von der Errichtung eines künftigen deutschen Scharia-Staates hat die große Mehrheit der in Deutschland lebenden Muslime jedenfalls nichts im Sinn. Quer zu den verschiedenen persönlichen Einstellungen zu Religion, Politik und Gesellschaft verlaufen schließlich auch noch die „klassischen“ konfessionellen Grenzen zwischen Sunniten, Schiiten und Aleviten – wobei die Aleviten sowohl in der Türkei als auch in Deutschland seit den 1990er Jahren verstärkt dazu übergegangen sind, sich vom sunnitischen Mehrheitsislam scharf abzugrenzen (Tan 1999). Die Vielfalt der Vorstellungen, Grundhaltungen und Lebensformen zeigt sich auch im Hinblick auf die oben exemplarisch angesprochenen Problembereiche. Nehmen wir das Beispiel patriarchalischer Familienverhältnisse. Während manche Muslime überkommene Vorstellungen von Geschlechterehre als Bestandteil einer traditionellen religiös-kulturellen Lebenswelt übernehmen, (Toprak 2007) legen andere Wert darauf, zwischen Islam und patriarchalischen Traditionen klar zu unterscheiden. Liberale Musliminnen und Muslime bemühen sich teilweise auch um eine Neulektüre des Korans, um von dorther religiöse Rückendeckung für die Forderung nach effektiver Gleichberechtigung der Geschlechter zu gewinnen und bestehende Praktiken von innerfamiliärer Gewalt oder Zwangsverheiratungen religiös zu de-legitimieren (Rumpf u.a. 2003). Andere Menschen mit muslimischem Familienhintergrund – womöglich die Mehrheit unter ihnen – wiederum haben wenig Interesse an religiösen oder politischen
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Grundsatzdebatten. Sie mögen ihren Weg darin sehen, sich mit traditionellen religiös-kulturellen Ansprüchen aus ihrem familiären Umfeld pragmatisch zu arrangieren oder sich solchen Ansprüchen innerlich zu entziehen. Einige gehen wiederum einen anderen Weg und entscheiden sich – eventuell gegen enormen Widerstand – für einen klaren Bruch mit der überkommenen Religion. Man muss davon ausgehen, dass für die ganz überwiegende Mehrheit der in Deutschland lebenden Muslime Zwangsverheiratungen und andere Verbrechen im Namen der „Ehre“ gänzlich inakzeptabel sind. Dasselbe gilt für die Einstellung zum internationalen islamistischen Terrorismus. Die über die Medien verbreiteten terroristischen Drohbotschaften und die Bilder von gedemütigten und verängstigten Geiseln, die vor laufenden Kameras um ihr Leben betteln müssen, lösen in der muslimischen Bevölkerung ebenso Abscheu und Empörung aus wie bei Nicht-Muslimen. Muslimische Verbände in Deutschland haben religiös motivierte terroristische Gewaltakte wiederholt öffentlich verurteilt.11 Immer wieder gibt es irritierende Berichte darüber, dass islamistische Webseiten, in denen Enthauptungsszenen und andere Gewaltakte gezeigt werden, offenbar starke Nachfrage finden. Der menschenverachtende Voyeurismus, den sie bedienen, ist aber kein irgendwie „islamisches“ Phänomen, sondern Ausdruck einer Verrohung, die mittlerweile große Teile der Gesellschaft erfasst hat. Während sich manche Muslime aktiv gegen bestehende religiöse Rechtfertigungen von Gewaltakten wenden, beschränken sich andere auf eine gefühlsmäßige Abwehr. Manche reagieren auch verärgert über die Zumutung, dass sie sich – nur weil sie Muslime sind oder einen muslimisch klingenden Namen tragen – ständig von Selbstmordaktionen im Irak oder in Afghanistan distanzieren sollen, die ihnen ähnlich fern liegen mögen wie einer durchschnittlichen deutschen Katholikin oder einem deutschen Protestanten der Nordirlandkonflikt.12 Ein differenziertes Bild des Islam in Deutschland, seiner verschiedenen Strömungen, der vielfältigen Einstellungen und Lebensformen hier ansässiger Muslime und vor allem einer in den meisten Fällen unproblematischen „Normalität“ muslimischer Präsenz in dieser Gesellschaft öffnet den Blick für eine im Grunde triviale Einsicht, die zugleich die Prämisse jedweder Aufklärung bildet: Es ist dies die Einsicht, dass Menschen auch hinsichtlich ihrer religiösen Einstellungen und Praktiken handelnde Subjekte sind. Menschen sind nicht nur „Ange11
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Beispielsweise betont der Zentralrat der Muslime in Deutschland (in einer Pressemitteilung vom 11. März 2007) bezogen auf die Entführung zweier Deutscher im Irak: „Diese Geiselnahme ist ein verabscheuungswürdiger und durch nichts entschuldbarer und durch nichts zu rechtfertigender krimineller Akt.“ zentralrat.de/8093.php. Vgl. Navid Kermani in Die Zeit 40 (2006: 51): „In dem Augenblick, wo ich mich distanziere, billige ich dem Gegenüber das Recht zu, mich zu verdächtigen. Zu den Aufgaben und Pflichten muslimischer Organisationen gehört es, sich öffentlich zu bekennen, aber wenn ich als Individuum qua Religion oder Herkunft verdächtigt werde, die Barbarei zu unterstützen, sollte ich mir lieber gleich einen neuen Kontinent suchen …“.
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hörige“ einer Religion, deren Vorgaben sie passiv übernehmen, sondern sie verändern und entwickeln sich in ihren religiösen Mentalitäten und Identitäten – sei es durch bewusste Auseinandersetzung, sei es (vermutlich sehr viel öfter) durch alltägliche lebenspraktische Lernprozesse. Veränderungen religiöser Selbstverständnisse sind nicht immer leicht und stoßen oft auf Hindernisse und Widerstände. Männer und insbesondere Frauen, die sich entweder aus dem traditionellen islamischen Kontext herauslösen wollen13 oder stärker emanzipatorischen Verständnissen des Islam den Weg bahnen möchten, berichten nicht selten von einem massiven Mobbing.14 Muslimischen Frauen und Männern, die sich womöglich gegen interne Widerstände ihres Umfelds für mehr Gleichberechtigung und Selbstbestimmung einsetzen, nun außerdem noch von Seiten der Mehrheitsgesellschaft ihre islamische Identität abzusprechen, weil sie nicht in das übliche Bild des Islam passen, wäre in diesem Zusammenhang aber weder fair noch sachlich angemessen (Razack 2004). Es wäre das Gegenteil der Anerkennung und Solidarität, die sie benötigen. 3. Aufklärung als unabgeschlossener Lernprozess Deutschland versteht sich als ein Land, dessen öffentliche Kultur von Postulaten der Aufklärung geprägt ist. Eine lebendige Debattenkultur, der Pluralismus der Überzeugungen und Lebensweisen, der sukzessive Abbau patriarchalischer Familienstrukturen, rechtsstaatliche Standards und Institutionen, eine Bereitschaft zur Auseinandersetzung mit diktatorischer Vergangenheit, insbesondere mit der nationalsozialistischen Barbarei – solche Errungenschaften der Aufklärung sind es wert, bewahrt und gegen etwaige Erosionstendenzen in Teilen der Gesellschaft verteidigt zu werden. Eine Verteidigung der Aufklärung kann aber nur im Geiste der Aufklärung gelingen, das heißt im Bemühen um sorgfältige Analyse, in der Kritik stereotyper Verallgemeinerungen und in der Bereitschaft zu kommunikativer Auseinandersetzung. Mit anderen Worten: Die Bewahrung der Aufklärung und ihrer Errungenschaften ist nur als Fortsetzung der Aufklärung möglich, die sich auf diese Weise einmal mehr als unvollendet erweist. Diese Klarstellung richtet sich gegen die verbreitete Vorstellung, die Mehrheitsbevölkerung in den westlichen Gesellschaften habe die Aufklärung bereits 13 14
Im Frühjahr 2007 hat sich in Deutschland ein „Zentralrat der Ex-Muslime“ gebildet, dessen bekannteste Mitglieder Drohbriefe erhalten haben, vgl. Berliner Zeitung, 3.4.07. Nachdem die muslimischen Bundestagsabgeordneten Lale Akgün und Ekin Deligöz muslimische Frauen öffentlich aufgefordert hatten, das Kopftuch abzunehmen, erhielten sie zahlreiche islamistische Schmähbriefe und zum Teil Drohungen. Einige Vertreter muslimischer Organisationen in Deutschland haben diese Bedrohungen der beiden Abgeordneten öffentlich verurteilt, vgl. Berliner Zeitung, 28.10.06.
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hinter sich, während „der Islam“ den Prozess der Aufklärung noch kaum begonnen habe. Bei einer solchen Selbstverortung des Westens in der Post-Aufklärung und der gleichzeitigen pauschalen Verortung des Islam – und auch der in Deutschland lebenden Musliminnen und Muslimen – in der Prä-Aufklärung gerät der Begriff der Aufklärung zu einer Grenzmarkierung zwischen „dem Eigenen und dem Fremden“. Dass die Berufung auf die Aufklärung eine solche ausgrenzende Funktion annehmen soll, wird selten so unverblümt ausgesprochen wie von dem Philosophen Hans Ebeling. Gegen muslimische Migrantinnen und Migranten mobilisiert er eine „Aufklärung“, die nicht nur von vornherein exklusiv eurozentrisch definiert ist, sondern zugleich geradezu mit militärischen Konnotationen aufgeladen wird. Ebelings Streitschrift kulminiert in der Forderung, „dass heute die Aufklärung eine Funktion übernehmen muss, die spätestens seit Karl Martell und der Schlacht zwischen Tours und Poitiers (732) auf der Länge eines nicht unbedeutenden Jahrtausends gerade das Christentum wahrgenommen hatte“ (1994: 75).15 Die ausgrenzende Funktion mancher Aufklärungsrhetorik kann sich in unterschiedlichen Argumentationsmustern darstellen. Oft wird dem Islam eine gleichsam wesenhafte Aufklärungsresistenz entgegengehalten, etwa mit dem Hinweis, im Islam gelte – anders als in Judentum und Christentum – die heilige Schrift wortwörtlich als von Gott diktiert und als menschlicher Interpretationsentwicklung nicht zugänglich.16 Damit wird Muslimen generell abgesprochen, dass sie im Horizont ihres Glaubens überhaupt substanzielle Lernfortschritte in Richtung Liberalisierung und Aufklärung leisten können. Andere plädieren demgegenüber gerade für einen aufgeklärten Islam – im Anschluss an Bassam Tibi gern auch „Euro-Islam“ genannt –, definieren dabei den einzuschlagenden Weg sowie die Kriterien gelungener Aufklärung jedoch so, dass ein Erfolg von vornherein wenig wahrscheinlich oder sogar praktisch unmöglich ist.17 Man mag es 15
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Auch Bassam Tibi verwendet den Begriff der Aufklärung häufig in scharf-polarisierender Weise. In seinen Büchern erfährt die umstrittene Huntington-These vom clash of civilisations zwischen Westen und Islam eine gleichsam modernisierungstheoretische Wendung als Antagonismus zwischen westlicher Moderne und islamischer Vormoderne, vgl. Tibi 1995. Vgl. zum Beispiel Kelek 2005: 164: „Unbestreitbar gibt es auch in der Bibel eine ganz Menge frauenfeindlicher Aussagen. Aber im Gegensatz zum Koran ist die heilige Schrift der Christen nicht das letzte Wort; kaum jemand in Westeuropa käme heute auf die Idee, sie wortwörtlich zu nehmen und sein Leben daran auszurichten. Anders die gläubigen Muslime. Für sie ist der Koran wörtlich zu nehmen, und viele versuchen, ihm nachzuleben.“ Unabhängig von der Frage, wie die islamische Lehre von der Verbalinspiration des Koran zu verstehen ist, lässt sich allerdings feststellen, dass Interpretationen bei der Koranlektüre in jedem Fall faktisch stattfinden. Es gibt keine Text-Rezeption ohne Interpretation, bei der sich – gewollt oder ungewollt – Plausibilitäten der jeweiligen Gegenwart Geltung verschaffen können. Vgl. Tibi 2003: 286ff. Ambivalent ist der Begriff des Euro-Islam insofern, als er einerseits für einen Islam steht, der mit dem in Europa herrschenden Typus freiheitlicher Verfassung kompatibel ist, andererseits von Bassam Tibi für eine bestimmte theologische Denkrichtung in Anspruch genommen wird, die die „theozentrische“ Perspektive des Islam überwinden möchte.
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beispielsweise für eine attraktive Zukunftsvision halten, dass in Moscheen irgendwann einmal öffentliche Lesungen von Salman Rushdies Satanische Verse stattfinden könnten. Wer die Durchführung solcher Lesungen – hier und heute – als Testfall von Integrationsbereitschaft und Aufklärungsfähigkeit einfordert, baut jedenfalls gewollt oder ungewollt Hürden auf, die aller Voraussicht nach auch dezidiert liberale Muslime zum Stolpern bringen müssen. Es lässt sich nicht übersehen, dass der Begriff der Aufklärung in zahlreichen aktuellen Debattenbeiträgen zum Umgang mit muslimischen Minderheiten eine immer schärfere aggressiv-kulturkämpferische Zuspitzung erfährt. Das Beharren auf Genauigkeit und differenzierte Darstellung findet dabei wenig Wertschätzung. Und wer auf die Einhaltung professioneller – wissenschaftlicher oder journalistischer – Sorgfaltspflichten pocht, gerät schnell in den Verdacht, lediglich verflossenen Multikulti-Illusionen nachzuhängen. In einer zunehmend polarisierten Debatte dient die Berufung auf die Aufklärung vielfach sogar dazu, erarbeitete Sensibilitäten im Umgang mit religiös-kulturellen Minderheiten als vermeintliche Tabus der so genannten political correctness zu entlarven und einer provokativen Klartextsemantik die Bahn zu brechen, die selbst das öffentliche Spiel mit Ressentiments nicht scheut.18 Eine „Aufklärung“, die sich vom Anspruch analytischer Präzision, der Wahrung professioneller Sorgfaltspflichten und vor allem von Fairnessgeboten im Umgang mit Minderheiten dispensiert sieht, hat allerdings mit jener aufgeklärt-humanistischen Tradition, auf der die Menschenrechte sowie die Normen und Institutionen des demokratischen Rechtsstaats ruhen, nichts gemein (Bielefeldt 1998). Wer die Aufklärung zur Grenzmarkierung im Kulturkampf gegen Muslime einsetzt, verkehrt den Anspruch der Aufklärung ins Gegenteil, indem er daraus einen Vorwand für Selbstgerechtigkeit und mentale Abschottung macht. Navid Kermani entlarvt die kränkende Arroganz, die aus einer solchen Haltung spricht, mit dem ihm eigenen Sarkasmus: „… wenn ich meine Frau nicht schlage und meine Tochter nicht zwangsverheirate und abends im Eigelstein keine Selbstmordattentate begehe, dann liegt es nur daran, dass ihr mich erzogen habt im Geiste der Toleranz und Aufklärung, gereinigt von meiner fundamentalistischen Tradition …“ (taz, 20.11.04). Auch die Verengung der Aufklärung zu einem exklusiven Erbe des Westens, das lediglich gegen Bedrohungen von außen zu verteidigen sei, verstößt gegen den Geist der Aufklärung, den Kant in seinem berühmten Traktat als „Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit“ bestimmt hat (1784: 35). So verstanden ist Aufklärung eine unabgeschlossene individuelle und gesellschaft18
Verwiesen sei nur auf die Website Politically Incorrect, die sich vor allem dem Kampf gegen den Islam verschrieben hat, vgl. pi-news.de; siehe auch den Beitrag von Schiffer und Schneiders in diesem Buch.
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liche Lerngeschichte, in der es Fortschritte und Rückschritte geben mag, aber eben keine absolute Dichotomie zwischen einem Endstadium der Post-Aufklärung und einem Nullpunkt angeblicher Nicht-Aufklärung. Und auch wenn es im Prozess des Ausgangs aus der selbstverschuldeten Unmündigkeit sicherlich unterschiedliche Stadien gibt, lassen diese sich nicht pauschal auf kulturelle Großräume – „den Westen“ und „den Islam“ – projizieren und einander entgegensetzen. Natürlich sind Zwangsverheiratungen, religiöser Fundamentalismus und Gewaltverherrlichung mit dem Anspruch von Aufklärung völlig unvereinbar; denn sie negieren die Kernidee der Aufklärung: die Mündigkeit des Menschen. Sofern solche Erscheinungsweisen in muslimisch geprägten Milieus hierzulande verstärkt vorkommen, muss dies offen und kritisch angesprochen werden – mit dem Ziel, angemessene Maßnahmen zu ihrer Bekämpfung zu finden und durchzuführen (Schröttle 2007). Produktiv sein kann eine solche Kritik aber nur dann, wenn sie Pauschalisierungen und vorschnelle Erklärungen vermeidet. Dabei auf Selbstgerechtigkeit zu verzichten und die notwendige Kritik an konkreten aufklärungsresistenten Einstellungen innerhalb bestimmter muslimischer Milieus mit der Bereitschaft zur Selbstkritik zu verbinden, hat nichts mit einer in Europa bestehenden „Lust am Einknicken“ zu tun, wie Henryk M. Broder uns neuerdings weismachen will (2006), sondern ist ein Gebot von Ehrlichkeit, Fairness und Glaubwürdigkeit. Leitend dafür ist ein Verständnis von Aufklärung als Lernprozess, der für niemanden als schlechthin abgeschlossen gelten kann. III. Die schwierige Grenze zwischen Islamkritik und Islamophobie 1. Zum Begriff der Islamophobie Vorbehalte und Ängste gegenüber dem Islam können sich zu einer Haltung pauschaler, diskriminierender Ablehnung von Menschen mit muslimischem Familienhintergrund verhärten, die seit einigen Jahren unter dem Begriff der „Islamophobie“ thematisiert wird. Dieser Begriff scheint sich auch im deutschen Sprachraum langsam durchzusetzen. Gemeint sind damit nicht etwa generelle Ängste vor dem Islam (wie dies das Wort fälschlich suggeriert), sondern negativ- stereotype Haltungen gegenüber dem Islam und seinen tatsächlichen oder mutmaßlichen Angehörigen.19 Eine islamophobe Einstellung kann sich unter anderem in verbalen Herabsetzungen und Verunglimpfungen, strukturellen Diskriminierungen oder auch tätlichen Angriffen gegenüber Menschen mit muslimischem Hintergrund ausdrücken. 19
Als Analogie kann der ebenfalls zunächst im Englischen etablierte Begriff der homophobia gelten, mit dem eine feindliche, diskriminierende Haltung gegenüber Schwulen und Lesben angesprochen wird.
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Im Unterschied zu religiöser Diskriminierung im engeren Sinne, die sich auf das individuelle Glaubensbekenntnis und die persönliche religiöse Praxis bezieht, manifestiert sich Islamophobie in stigmatisierenden Zuschreibungen, die gegenüber Menschen aufgrund ihrer Herkunft beziehungsweise Gruppenzugehörigkeit stattfinden. Von Islamophobie können daher auch Menschen betroffen sein, die sich selbst überhaupt nicht als Muslime verstehen, aber zum Beispiel infolge ihres Namens oder ihres Familienhintergrunds mit dem Islam in negativer Weise in Verbindung gebracht werden. In einer solchen entindividualisierenden und depersonalisierenden Sichtweise besteht die Analogie zu rassistischen Stereotypen, in denen Menschen auf mehr oder weniger austauschbare Exemplare ihrer biologisch oder kulturell definierten „Herkunftsgruppe“ reduziert werden. Islamophobie wird deshalb gelegentlich auch als eine Variante von Kulturrassismus bezeichnet.20 Einer breiteren Öffentlichkeit wurde der Begriff durch den 1997 publizierten Islamophobia Report des britischen Runnymede Trust bekannt (1997). Das von der Europäischen Union eingerichtete EUMC hat sich dieses Konzept zu eigen gemacht und mittlerweile zwei Berichte zur Islamophobie (Mai 2002 und Dezember 2006) veröffentlicht. Auch die im Rahmen des Europarats operierende European Commission against Racism and Intolerance (ECRI) verwendet den Begriff, der beispielsweise auch im letzten ECRI-Deutschlandbericht vorkommt.21 Der Sonderberichterstatter der Vereinten Nationen zu zeitgenössischen Formen des Rassismus, Doudou Diène, spricht von Islamophobie im Zusammenhang mit anderen, auf religiöse oder ethnische Gruppierungen gerichteten Formen der Diskriminierung wie Antisemitismus und „Christianophobie“22 – letzterer Begriff ist bislang noch kaum etabliert. In der deutschen Diskussion hat der Begriff der Islamophobie unter anderem im Forschungsverbund zur „gruppenbezogenen Menschenfeindlichkeit“ Aufnahme gefunden, der vom Institut für interdisziplinäre Konflikt- und Gewaltforschung an der Universität Bielefeld koordiniert wird.
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Dass der Rassismus nie nur eine biologistische Ideologie war, sondern immer auch kulturalistische Komponenten hatte, zeigt die Studie von Priester 2003; vgl. auch Terkessidis 2004. Vgl. ECRI (2004), Randnummer 67. In der deutschen Übersetzung ist der Begriff islamophobia fälschlich mit Angst vor dem Islam wiedergegeben worden. Vgl. Doudou Diène (UN Special Rapporteur on contemporary forms of racism, racial discrimination, xenophobia and related intolerance): Defamation of religions and global efforts to combat racism: anti-Semitism, Christianophobia and Islamophobie (E/CN.4./2005/18/Add.4).
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2. Ein Instrument zur Durchsetzung von Zensurmechanismen? Der Begriff der Islamophobie stößt teilweise auf starke Bedenken. Im Kontext des Streits um die Muhammad-Karikaturen publizierte die französische Wochenzeitschrift Charlie Hebdo im März 2006 einen offenen Brief von zwölf bekannten Schriftstellerinnen und Schriftstellern, die vor Einschränkungen der Meinungsfreiheit unter dem Vorwand der Bekämpfung von Islamophobie warnen; zu den Unterzeichnenden zählen Ayaan Hirsi Ali, Bernard-Henri Levy, Taslima Nasreen und Salman Rushdie. Im Brief heißt es: „Wir lehnen es ab, unseren kritischen Geist aus Angst davor aufzugeben, der Islamophobie beschuldigt zu werden, einem miserablen Konzept, das Kritik am Islam als Religion und Stigmatisierung von Personen, die daran glauben, verwechselt.” (BBC online, 1.3.06) Auch in Deutschland warnen manche vor dem Begriff der Islamophobie, den Bassam Tibi als „eine Waffe der Muslimbrüder in einem Propagandakrieg des politischen Islam gegen Europa und den Westen” bezeichnet hat (Vorwort zu Ulfkotte 2007: 10). Für eine solche strategische Verwendung des Begriffs Islamophobie gibt es Beispiele. So bringt die Organisation der Islamischen Konferenz (OIC), eine Staatenorganisation mit derzeit 57 Mitgliedstaaten, in den Menschenrechtsgremien der Vereinten Nationen seit einigen Jahren regelmäßig Resolutionen ein, in denen es um die „Bekämpfung der Diffamierung von Religionen“ – und in diesem Zusammenhang insbesondere um den Kampf gegen Islamophobie – geht.23 Unter menschenrechtlichen Gesichtspunkten sind diese Texte in doppelter Hinsicht problematisch: Zum einen erwecken sie den Eindruck, Religionen als solche könnten unmittelbar Subjekte menschenrechtlichen Schutzes sein, was dem Menschenrechtsansatz widerspricht.24 Zum anderen geben die Resolutionsvorlagen der OIC Anlass zu der Befürchtung, dass hier Einschränkungen der Meinungsfreiheit zumindest in Kauf genommen, wenn nicht sogar direkt politisch intendiert werden. Offenkundig ist die politische Instrumentalisierung des IslamophobieVorwurfs auch im Falle des im Januar 2005 gegründeten Projekts Islamophobia Watch. Dass das Projekt als ein ideologisches Kampfinstrument gegen den Westen fungieren soll, ist auf der Webseite klar nachzulesen, wo es heißt: „Islamophobia Watch ist mit der Bestimmung gegründet worden, der rassistischen Ideologie des westlichen Imperialismus zu verwehren, allgemeine Verbreitung 23 24
Menschenrechtskommission vom 12.4.05: „Combating defamation of religion“. Unmittelbare Träger menschenrechtlicher Ansprüche sind die Menschen, deren individuelle und gemeinschaftliche Selbstbestimmung durch Menschenrechte Achtung und Schutz erfährt; nur indirekt, nämlich vermittelt über den Anspruch auf freie Selbstbestimmung der Menschen in Fragen von Religion und Weltanschauung, kommen religiöse Überzeugungen und Praktiken überhaupt in den Fokus menschenrechtlicher Überlegungen.
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mit ihrer Dämonisierung des Islam zu finden.“ (islamophobia-watch.com, abg. 15.1.07). Mit aggressiven Medienkampagnen macht immer wieder die in Großbritannien ansässige Islamic Human Rights Commission (IHRC) auf sich aufmerksam. Sie verleiht jährlich Spottpreise aufgrund angeblicher Islamophobie an Prominente in Politik und Medien, um Druck auf die Öffentlichkeit auszuüben.25 Inwieweit der öffentlich erhobene Vorwurf der Islamophobie tatsächlich dazu führt, dass kritische Berichte und Debatten unterdrückt werden, mag hier dahin gestellt bleiben. Dass eine solche Wirkung von Organisationen wie Islamophobia Watch und der Islamic Human Rights Commission beabsichtigt ist, kann indes keinem Zweifel unterliegen. Die Kritik, dass es diesen Organisationen darum geht, öffentliche Zensur zu üben, Mechanismen der Selbstzensur durchzusetzen und verkappte oder auch offene Drohungen auszusprechen, ist daher berechtigt (The Guardian, 7.1.07). Noch in einem anderen Sinne wird der Begriff der Islamophobie missbraucht. Wenn etwa der britische Publizist Ziauddin Sardar nach seiner Reise durch einige kontinentaleuropäische Länder, darunter Deutschland, einen neuen Holocaust prognostiziert, der demnächst an Muslimen verübt werden würde, nimmt der Begriff der Islamophobie in seiner Darstellung eine eindeutig antisemitische Schlagseite an (New Statesman, 5.12.05). Sardars monströse Verschwörungsphantasien verdecken nicht nur die reale Lage muslimischer Minderheiten in Europa, sondern dienen gleichzeitig dazu, die Einzigartigkeit der industriell durchgeführten Vernichtung der europäischen Juden zu bestreiten.26 Warnungen vor einem Missbrauch des Begriffs der Islamophobie – dies zeigen bereits die wenigen hier aufgeführten Beispiele – sind also in der Tat angebracht. Dass ein Begriff noch so eindeutig missbraucht wird, muss allerdings kein Grund sein, ihn nicht zu verwenden. Letztlich ist kein politisch relevanter Begriff – bekanntlich auch nicht der Begriff der Menschenrechte – davor geschützt, instrumentell-strategisch eingesetzt zu werden. Die Feststellung, dass dies gerade im Falle der Islamophobie in massiver Form geschieht, sollte daher gewiss Anlass sein, sich vor problematischen Allianzen zu hüten und sich gegen Beifall von der falschen Seite zu verwahren. Einen zureichenden Grund dafür, den Begriff generell aus dem politisch verwendbaren Vokabular einer freiheitlichen Gesellschaft zu streichen, stellt die Beobachtung des Missbrauchs allein aber noch nicht dar. 25
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Als most islamophobic international politician wurde beispielsweise 2003 der damalige israelische Ministerpräsident Ariel Scharon ausgerufen, vgl. Islamic Human Rights Commission, Press Release: „IHRC announces winners of ‚The Annual Islamophobia Award‘“, 31.5.03, ihrc. org.uk, abg. am 9.1.07; vgl. kritisch dazu Malik 2005. Zum Antisemitismus im islamischen Kontext: Zentrum für Antisemitismusforschung 2003; Benz 2004: 186ff.
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Kritikerinnen und Kritiker des Konzepts der Islamophobie beschränken sich allerdings nicht darauf, dessen missbräuchliche Verwendung aufzuzeigen. Sie gehen vielfach einen Schritt weiter, indem sie argumentieren, dass das Konzept aufgrund seiner semantischen Unschärfe zu solchem Missbrauch geradezu einlädt.27 Dass der Begriff der Islamophobie ohne eine klare Abgrenzung von allgemeiner Religions- beziehungsweise Islamkritik gegen missbräuchliche Verwendung kaum geschützt ist, wird auch im letzten Islamophobie-Bericht des EUMC betont (2006: .13, 62 und öfter). Es stellt sich daher die Aufgabe, dem Begriff präzisere Konturen zu geben. Dies hatte bereits der Runnymede Trust in Angriff genommen. Der von ihm erarbeitete Islamophia Report aus dem Jahre 1997 differenziert zwischen open views of Islam und closed views of Islam. Auch dezidiert kritische Einschätzungen sollen demnach nicht als islamophob gelten, sofern sie mit Offenheit für die innere Vielfalt des Islam und islamischer Entwicklungen verbunden sind. Der EUMC-Bericht knüpft an diesen Vorschlag an und bezeichnet solche Formen massiver Vorbehalte gegen Muslime als islamophob, die keinen Raum für die Darstellung innerislamischer Differenzen und für die Würdigung individuellen Handelns geben.28 Ähnlich wie rassistische Einstellungen bestehe Islamophobie aus negativen Pauschalisierungen, die den betroffenen Menschen den Status handelnder Subjekte implizit oder explizit absprechen und oft auch mit praktischen Diskriminierungen einhergehe.29 27
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So bemängelt Daniel Pipes, dass im Vorwurf der Islamophobie Sorgen vor islamistischem Extremismus und unbegründete Vorurteile gegenüber dem Islam schlicht miteinander gleichgesetzt würden, um Kritiker des ideologischen Islamismus öffentlich zu diskreditieren: „... while prejudice against Muslims certainly exists, ‚Islamophobia’ deceptively conflates two distinct phenomena: fear of Islam and fear of radical Islam“, New York Sun, 25-10.2005, in: danielpipes.org (abg. am 9.1.07). Der EUMC-Bericht von 2006 verweist in diesem Zusammenhang auf mehrere einschlägige Allgemeine Politik-Empfehlungen der im Rahmen des Europarats operierenden ECRI, vgl. S. 13f. Eine weitere Schwierigkeit im Umgang mit dem Begriff der Islamophobie liegt laut EUMC (2006) darin, dass oft unklar bleibt, ob öffentlich registrierte Diskriminierungen mit der (tatsächlichen oder zugeschriebenen) Zugehörigkeit der Betroffenen zum Islam zusammenhängen oder durch andere Faktoren – ethnische Herkunft, Sprache, sozialer Status und so weiter – bedingt sind. Auch deshalb sei die Klassifizierung einzelner Vorfälle als Ausdruck von Islamophobie in concreto oftmals zweifelhaft. Im Versuch, die Diskriminierung von Muslimen im Wohnungsbereich, auf dem Arbeitsmarkt oder im Bildungswesen zu diagnostizieren, bleibt dem EUMC oft nur die Notlösung, allgemein diskriminierende Strukturen zu beschreiben und dabei eine im Einzelnen nicht näher quantifizierbare islamophobe Komponente als involviert zu unterstellen. Schließlich bestehe das Problem, dass es in den EU-Mitgliedstaaten generell nur wenig aussagekräftige Statistiken über die Präsenz religiöser Gruppierungen gebe. Der Bericht kommt daher zu der Schlussfolgerung, dass die Kenntnis von Umfang und Ursachen der Islamphobie in Europa derzeit noch sehr lückenhaft ist, und empfiehlt die Förderung entsprechender Forschungen.
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3. Die Trennlinie zwischen Provokation und Diffamierung Es muss in einer freiheitlichen Gesellschaft möglich sein, kritische Positionen zugespitzt zu formulieren, zu provozieren oder zu polarisieren. Sowohl das Bundesverfassungsgericht als auch der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg haben dies in ihrer Rechtsprechung zur Meinungsfreiheit durchgängig klargestellt. Die Meinungsfreiheit umfasst, so eine Formulierung des Gerichtshofs, auch solche Informationen oder Vorstellungen, „die den Staat und einen Teil der Bevölkerung beleidigen, schockieren oder verstören“ (EGMR 7.12.1976, Handyside, Ser. A/24, Erw.Nr. 49). Dieses weite, offene Verständnis der Meinungsfreiheit gilt auch hinsichtlich religiöser Themen, die dem öffentlichen Meinungsstreit keineswegs entzogen sind und einen legitimen Gegenstand auch von Satire und Karikatur darstellen. Es wäre falsch, in diesem Zusammenhang ein Spannungsverhältnis zwischen Meinungsfreiheit und Religionsfreiheit zu behaupten. Denn die Religionsfreiheit beinhaltet keinen „Ehrschutz“ für Religionen, sondern gewährleistet die Freiheit der Menschen, sich in Fragen von Religion und Weltanschauung selbstbestimmt zu orientieren und – individuell und gemeinsam mit anderen Menschen – ihren eigenen Weg zu gehen. Wie die Sonderberichterstatterin der Vereinten Nationen für Religionsfreiheit, die pakistanische Rechtsanwältin Asma Jahangir, in ihrem Bericht für den UN-Menschenrechtsrat klargestellt hat, gehören Religionsfreiheit und Meinungsfreiheit als geistig-kommunikative Freiheitsrechte aufs engste zusammen und dürfen nicht abstrakt gegeneinander ausgespielt werden (UNO 2006: 10). Wer die Religionsfreiheit als Anspruchsnorm für religiös motivierte Zensurforderungen ins Feld führt, wie dies im Kontext des Streits um die Muhammad-Karikaturen gelegentlich vorkam, muss sich daher vorhalten lassen, den menschenrechtlichen Sinn der Religionsfreiheit – nämlich ihren Charakter als Freiheitsrecht – nicht verstanden zu haben.30 Zwar gilt das Recht auf Meinungsfreiheit nicht schrankenlos. Die im Grundgesetz beziehungsweise den internationalen Menschenrechtskonventionen enthaltenen Beschränkungsmöglichkeiten (Grundgesetz Art. 5, Europäisch Menschenrechtskonvention Art. 10, Internationaler Pakt über bürgerliche und politische Rechte, Artikel 19, 20) sind allerdings eng auszulegen. Sie können nur auf der Grundlage eines förmlichen Gesetzes geltend gemacht werden, müssen mit dem 30
So heißt es im Bericht von Asma Jahangir (UNO 2006: 10): „As such, the right to freedom of religion or belief, as enshrined in relevant international legal standards, does not include the right to have a religion or belief that is free from criticism or ridicule. […] While the exercise of freedom of expression could in concrete cases potentially affect the right to freedom of religion of certain identified individuals, it is conceptually inaccurate to present this phenomenon in abstracto as a conflict between the right to freedom of religion or belief and the right to freedom of opinion or expression.”
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Selbstverständnis einer freiheitlichen, demokratischen Gesellschaft kompatibel sein und außerdem legitimen Zwecken dienen sowie für die Erreichung dieser Zwecke geeignet, erforderlich und verhältnismäßig sein.31 Das Bundesverfassungsgericht sowie der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte haben die Grenzen der Meinungsfreiheit dementsprechend sehr behutsam gezogen. Das subjektive Gefühl, beleidigt oder in den eigenen religiösen Überzeugungen verunglimpft worden zu sein, kann für die Schrankenziehung kein ausreichendes Kriterium sein; denn sonst geriete die Meinungsfreiheit in Abhängigkeit von persönlichen oder kollektiv orchestrierten Empörungsgefühlen. Die Grenze legitimer Meinungsfreiheit ist jedoch dort erreicht, wo eine Meinungsäußerung, aus der Perspektive nicht-betroffener Dritter beurteilt, mit anderen menschenrechtlichen Ansprüchen wie beispielsweise dem Recht eines Betroffenen auf persönliche Ehre oder der gebotenen Ächtung von Hasspropaganda unmittelbar kollidiert. So verurteilte das Amtsgericht Lüdinghausen im Februar 2006 einen Mann zu einer einjährigen Freiheitsstrafe auf Bewährung sowie zu 300 Tagen gemeinnütziger Arbeit, weil er Toilettenpapier mit der Aufschrift „Koran, der heilige Koran“ bedruckt und an die Medien sowie an verschiedene Moscheegemeinden verschickt hatte (FAZ, 24.2.06). In diesem Vorgehen sah das Gericht eine pauschale Verunglimpfung, die nicht mehr als Bestandteil legitimer Provokation im demokratischen Streit der Meinungen gelten könne. Gerichtliche Sanktionen gegen pauschale islamophobe Äußerungen sind wohl nur in solchen bizarren Extremfällen denkbar. Weitergehend sind die Möglichkeiten gerichtlichen Vorgehens in Fällen individueller, persönlicher Beleidigung. Ansonsten wird man die Entscheidung, ob bestimmte Aussagen über Muslime als fair oder unfair, zumutbar oder völlig überzogen, islamkritisch oder islamophob angesehen werden sollen, dem politischen Meinungsstreit überlassen müssen.32 Mit anderen Worten: Die schwierige Grenzziehung zwischen Islamkritik und Islamophobie muss innerhalb der öffentlichen Auseinandersetzung immer wieder konkret erarbeitet werden. Es geht in dieser Auseinandersetzung weniger um die Bestimmung äußerer rechtlicher und gegebenenfalls gerichtlich durchsetzbarer Schranken der Meinungsfreiheit als vielmehr um die Entwicklung einer inneren Sensibilität für den sinnvollen Gebrauch der Meinungsfreiheit. Wer behauptet, dass in einer aufgeklärten Debattenkultur solche Sensibilität nicht nötig oder – als angebliche Verbeugung vor bloß äußerlicher political cor31 32
So die Schrankensystematik der Europäischen Menschenrechtskonvention. Siehe dazu im Vergleich zum Grundgesetz Grote 2006: 895ff. Vgl. UNO 2006: 8: “…it is essential to make a careful distinction between forms of expression that should constitute an offence under international law, forms of expression that are not criminally punishable but may justify a civil suit and forms of expression that do not give rise to criminal or civil sanctions but still raise a concern in terms of tolerance, civility, and respect for the beliefs of others.”
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rectness – sogar sinnwidrig sei, vertritt ein merkwürdig reduziertes Verständnis von Aufklärung. Eine Aufklärung ohne Sensorium für die Grunddifferenz zwischen Fairness und Unfairness beziehungsweise zwischen sachlich vertretbarer, womöglich auch provokativ zugespitzter Kritik und populistischer Diffamierung verkäme schließlich zum Gestus des beherzten Tabubruchs. Gewiss wird in vielen Fällen umstritten bleiben, wo im Einzelnen die Trennlinie zwischen vertretbarer Provokation und bloßer Diffamierung verläuft (Seidel 2003). So mag man darüber streiten, ob es angebracht ist, das Titelblatt des Nachrichtenmagazins Der Spiegel, in dem – unter der Überschrift Mekka Deutschland. Die stille Islamisierung – ein Halbmond über dem Brandenburger Tor schwebt (13/2007), als islamophob zu bezeichnen, oder ob man sich damit begnügt, es „reißerisch“ zu nennen. Es gibt aber auch Fälle eindeutiger Diffamierung und Angstpropaganda, die in der derzeit immer stärker emotionalisierten und polarisierten Debatte offenbar zunehmen; dies offen anzusprechen, heißt damit übrigens noch lange nicht, rechtliche Sanktionen zu fordern - für die gibt es aus guten Gründen hohe Hürden. Hier nur einige, wenige Beispiele: Eindeutig überschritten ist die Grenze zur Islamophobie meines Erachtens etwa beim Cover des Buches von Günter Lachmann, auf dem die deutsche Flagge von einem islamischen Halbmond zerschnitten wird. Die ausgrenzende Wirkung des Bildes ergibt sich vor allem in Verbindung mit dem Titel des Buches Tödliche Toleranz. Die Muslime und unsere offene Gesellschaft. Der Begriff der „offenen Gesellschaft“ wird dabei mit einem Possessivpronomen belegt (sie ist die „unsere“) und „den Muslimen“ pauschal entgegengesetzt. Ein sehr viel drastischeres Beispiel islamophober Propagandaliteratur bieten die von Udo Ulfkotte gezeichneten monströsen Angstszenarien. Ulfkotte meint, dass in Europa ein „Eurabien“ in der Entstehung begriffen sei (2007: 19ff.). Unter Berufung auf amerikanische Quellen behauptet er, dass etwa im Jahre 2040 die Scharia in Europa eingeführt werde (2007: 24). Ulfkotte zitiert (ohne Distanzierung) einen amerikanischen Journalisten, der die angebliche Islamisierung Europas mit der Wirkung der Neutronenbombe vergleicht: „Europa wird am Ende des Jahrhunderts einem Kontinent nach dem Einschlag einer Neutronenbombe gleichen: Die großen Gebäude werden immer noch stehen, aber die Menschen, die sie ursprünglich errichtet haben, werden verschwunden sein.“ (So der Journalist Mark Steyn, zit. n. Ulfkotte 2007: 23f). Die Sprache des Islamkritikers Rolf Stolz überschreitet immer wieder die Grenze zum rechtsextremen Schrifttum – etwa wenn er muslimische Einwanderung als Raub der Heimat bezeichnet33 und vor einem „aus der Retorte gezauberten
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Vgl. Stolz 1997: 307: „… hier soll einem ganzen Volk sein Land geraubt werden – das von seinen Vätern und Vorvätern erarbeitete Erbe, die Herzenssache Heimat“.
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multikulturellen Plastik-Volk“ warnt, „dessen Maßstäbe zwischen postmoderner Beliebigkeit und vormoderner islamischer Rigidität oszillieren“ (1997: 350). Großen Zuspruch findet derzeit das Internetforum Politically Incorrect, in dem apokalyptische Szenarien entwickelt werden und nicht selten blanker Hass gegenüber Muslimen zu Wort kommt; die professionell gestaltete Seite wird bis zu 40.000 Mal pro Tag aufgerufen (Süddeutsche Zeitung, 31.8.07). Über islamophobe Verbalattacken hinaus gibt es schließlich auch islamophobe politische Projekte wie beispielsweise die von mehreren rechtspopulistischen Parteien nach dem Vorbild der schweizerischen SVP vorgelegten Gesetzesinitiativen zum Verbot des Baus von Minaretten (Süddeutsche Zeitung, 2.8.07). Im buchstäblichen Sinne fatal wird es, sobald die „taqiyya“ ins Spiel kommt – eine, wie Ralph Giordano behauptet, „ausdrücklich religiös sanktionierte Erlaubnis zu Täuschung und Verstellung in der Auseinandersetzung mit ‚Ungläubigen‘“ (FAS, 12.8.07). Wenn bestimmten muslimischen Organisationen und ihren Vertretern Unwahrheiten, ideologische Verdrehungen oder Täuschungsmanöver konkret nachgewiesen werden können oder es zumindest nachvollziehbare Anhaltspunkte dafür gibt, muss dies – genauso wie bei allen anderen gesellschaftlich relevanten Organisationen – in der Öffentlichkeit kritisch thematisiert werden. Muslimen aufgrund ihrer religiösen Überzeugung und Prägung vorab eine gleichsam strukturelle Verlogenheit zu unterstellen, heißt demgegenüber, ihnen den Status als Teilnehmende am öffentlichen Diskurs, die wie alle anderen Anspruch auf Mitsprache und Gehör haben, pauschal abzusprechen. Wer im öffentlichen Meinungsstreit mit dem Vorwurf der taqiyya operiert, bahnt damit einer islamophoben Logik des Verdachts den Weg, aus der es, wenn man sich einmal auf sie eingelassen hat, kein Entrinnen mehr gibt. Denn solcher Verdacht gründet sich nicht auf nachvollziehbare und gegebenenfalls auch widerlegbare Tatsachen, sondern auf die Zuschreibung einer in religiöser Mentalität verankerten prinzipiellen Unwahrhaftigkeit, die den Betroffenen von vornherein jede Chance nimmt, sich überhaupt als vertrauenswürdige Gesprächspartner zu präsentieren. Gewiss: Wer den Vorwurf der Islamophobie erhebt, muss damit rechnen, Beifall auch von solchen Organisationen zu erhalten, die mit demokratischer Streitkultur nichts im Sinn haben, sondern die Grenze zwischen Islamkritik und Islamophobie absichtlich verwischen. Dagegen hilft wiederum nur Klarheit – nämlich die Kritik an der Instrumentalisierung des Islamophobie-Begriffs durch Propaganda-Institutionen wie Islamophobia Watch. Aus der Angst vor ungebetenem Beifall von vornherein gar nicht über Islamophobie zu sprechen, wäre aber die falsche Konsequenz. Im Grunde liefe dies darauf hinaus, die von islamistischen Ideologen betriebene Entdifferenzierung zwischen Islamkritik und Islamophobie mit umgekehrten Vorzeichen fortzusetzen und damit zu bekräftigen. In der Praxis hieße dies vor allem, islamistischen Organisationen ein Monopol in der Artikulation islamophober Diskriminierung zuzuspielen, die von vielen Mus-
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limen ja tatsächlich erfahren wird (IHF 2005). Die Tabuisierung des Islamophobie-Begriffs, für die Islamkritiker wie Tibi und Ulfkotte plädieren (Ulfkotte 2007: 92ff; Tibi im Vorwort zu ebd.: 10), würde damit paradoxerweise islamistischen Organisationen zu einem Deutungsmonopol für existierende Diskriminierungsund Ausgrenzungserfahrungen von Muslimen verhelfen.34 Wer an klaren kulturkämpferischen Frontstellungen interessiert ist, mag dies begrüßen. Im Interesse einer aufgeklärten Diskussionskultur kann dies jedoch nicht sinnvoll sein. Gerade wer sich für offene Debatten ausspricht und deshalb aus guten Gründen vor undifferenzierten Islamophobie-Behauptungen warnt, kann nicht seinerseits den Begriff der Islamophobie mit einem Tabu belegen. So schwierig es deshalb in vielen Fällen auch sein mag, die Grenze zwischen Islamkritik und Islamophobie oder auch zwischen Provokation und Diffamierung zu ziehen, so ist das immer wieder neu zu leistende Geschäft solcher Grenzbestimmung doch zugleich unverzichtbar. Es bildet einen Bestandteil jener unabgeschlossenen gesellschaftlichen Selbstaufklärung, der es um die sukzessive Überwindung von Stereotypisierungen und Ausgrenzungen geht.
IV. Schlussfolgerungen Am Bild des Islam in Deutschland wirken viele mit: Schulen und andere Bildungsinstitutionen, Medien und NGOs, unterschiedliche Wissenschaftsdisziplinen, Organisationen von Migrantinnen und Migranten, die christlichen Kirchen und andere Religionsgemeinschaften, darunter natürlich auch die islamischen Verbände selbst, schließlich im weitesten Sinne all diejenigen – Muslime wie Nicht-Muslime –, die an der aktuellen Islamdebatte beteiligt sind oder sich jedenfalls daran beteiligen könnten. Eine besondere Verantwortung trägt der Staat, kommt ihm doch aufgrund verfassungsrechtlicher und völkerrechtlicher Vorgaben eine Garantenfunktion für die Menschenrechte und damit auch für die Durchsetzung des menschenrechtlichen Diskriminierungsverbots zu. Vor allem der Staat ist infolgedessen gefordert, gegen Diskriminierungen aktiv vorzugehen und dazu beizutragen, dass deren gesellschaftliche Ursachen – Vorurteile und stereotype Wahrnehmungen – überwunden werden können (Nii Addy 2005). Dies betrifft die Kultur- und Bildungspolitik genauso wie die Politik der inneren 34
Vgl. IHF (2005:7): „As pointed out by Muslim and civil liberties organizations, the fact that Muslims have increasingly experienced hostility, discrimination and exclusion since September 11 may enhance their susceptibility to propaganda by organizations that advocate violent methods to protest injustices suffered by Muslims. Hence, it is only by scrupulously defending the rights of their Muslim minorities that the EU member states can retain the confidence of their minorities and fruitfully promote their integration in the long run, including by undermining the appeal of extremist organizations.”
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Sicherheit, die Ausgestaltung des Aufenthaltsrechts genauso wie die Einbürgerungspolitik oder die Gesetzgebung zu religiösen Symbolen in der öffentlichen Schule und nicht zuletzt natürlich die gesetzgeberische und administrative Ausgestaltung des allgemeinen Diskriminierungsverbots. In all diesen und weiteren Politikbereichen kann staatliches Handeln dazu beitragen, bestehende Ängste gegenüber dem Islam abzubauen oder sie zu verstärken. 1. Der Islam als selbstverständlicher Bestandteil der deutschen Gesellschaft Prämisse aller Bemühungen um die Überwindung islamophober Stereotype muss die Anerkennung der schlichten Tatsache sein, dass der Islam zu einem dauerhaften Bestandteil der deutschen Gesellschaft geworden ist. Diese Realität war bekanntlich bis in die 1990er Jahre hinein verdrängt worden. Über Jahrzehnte hinweg war man in Deutschland auf allen Seiten davon ausgegangen, dass es sich beim Islam hierzulande um eine vorübergehende „Gastarbeiterreligion“ handelte, deren nachhaltige Integration in die Gesellschaft kein Thema sein müsste. Die sprichwörtlichen Hinterhofmoscheen standen symbolisch für eine provisorische religiöse Selbstversorgung am Rande der Gesellschaft und zunächst ohne Perspektive der Dauer. Erst in den letzten Jahren hat sich in der Breite der Gesellschaft die Einsicht durchgesetzt, die Bundesinnenminister Schäuble im Vorfeld des von ihm einberufenen ersten Islamgipfels wie folgt formuliert hat: „Im Land leben rund drei Millionen Muslime, aber wir haben keine Beziehung zur vielfältigen muslimischen Gemeinschaft, obwohl sie ein fester Teil unserer Gesellschaft ist.“ (Der Spiegel, 38/2006). Bei der politischen Anerkennung dieser Realität dauerhaften muslimischen Lebens in Deutschland darf es keine Zweideutigkeiten geben. Abstrakte Grundsatzdebatten darüber, ob der Islam in die westliche Gesellschaftsordnung hineinpasse und überhaupt mit der Werteordnung einer liberalen Demokratie kompatibel sei, sind wenig hilfreich, aber nach wie vor sehr beliebt. Sie können eine gefährliche Signalwirkung entfalten, wenn sie den Eindruck erwecken, es gebe politisch verantwortbare Wege, die Etablierung einer islamischen Minderheit in Deutschland in Frage zu stellen oder gar praktisch zu revidieren. Hinter die von Schäuble formulierte Einsicht, dass Muslime ein „fester Teil unserer Gesellschaft“ sind, kann es kein Zurück geben, und politische Stellungnahmen, die daran irgendwelche Zweifel wecken, wären verantwortungslos. Die Anerkennung der Präsenz des Islam in Deutschland impliziert auch die Akzeptanz seiner öffentlichen Sichtbarkeit. In einer den Menschenrechten verpflichteten freiheitlichen Gesellschaft ist Religion – entgegen einem verbreiteten Vorurteil – eben nicht nur Privatsache. Dass sich religiöse Überzeugungen und religiöses Leben auch öffentlich sichtbar darstellen können, ist vielmehr Bestand-
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teil der verfassungsrechtlich und völkerrechtlich verbürgten Religionsfreiheit.35 Sieht man einmal von der seit Jahren kontrovers diskutierten Spezialfrage, ob Lehrerinnen im öffentlichen Schuldienst das Kopftuch tragen dürfen, ab (Oestreich 2004; siehe auch den Beitrag von Mackel in diesem Buch, gilt die Einsicht, dass ein freiheitlicher Rechtsstaat keine Kleiderordnung vorschreiben kann. Auch der Bau repräsentativer Moscheen findet Rückhalt in der Religionsfreiheit.36 Die Einsicht in die dauerhafte Präsenz muslimischer Minderheiten steht im Hintergrund auch der aktuellen Bemühungen um die Einführungen eines islamischen Religionsunterrichts als ordentliches Lehrfach (Stock 2004). In der politischen Diskussion um die Integration muslimischer Minderheiten wird diesem Thema zu Recht ein hoher Stellenwert eingeräumt, hängt doch die langfristige Entwicklung des Islam in Deutschland entscheidend davon ab, wie die islamischen Lehren und Lebenspraktiken von Generation zu Generation weitergegeben werden. Für viele muslimische Eltern ist die Einführung eines islamischen Religionsunterrichts in der Schule ein wichtiges Anliegen. Auch islamische Verbände treten seit Jahren für ein solches Unterrichtsfach in deutscher Sprache ein. Auf einer grundsätzlichen Ebene ist der islamische Religionsunterricht zugleich zum Testfeld dafür geworden, ob es gelingt, die Kooperationsstrukturen zwischen Staat und Religionsgemeinschaften, die sich historisch im Gegenüber des Staates zu den christlichen Kirchen entwickelt haben, auf den entstandenen religiösen Pluralismus hin zu öffnen und dem Islam als einer mittlerweile hierzulande heimisch gewordenen Religion angemessenen Raum zu geben (Hense 2001).
2. Differenzierte Wahrnehmung als Fairness-Gebot Während man noch in den 1980er Jahren religiöse Interessen der damaligen „Gastarbeiter“ kaum zur Kenntnis genommen hatte, hat man sich in Deutschland 35
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Paradigmatisch zeigt sich dies in der Formulierung der Religionsfreiheit durch die Europäische Menschenrechtskonvention. Artikel 9, Absatz 1 lautet: „Jede Person hat das Recht auf Gedanken-, Gewissens- und Religionsfreiheit; dieses Recht umfasst die Freiheit, seine Religion oder Weltanschauung zu wechseln, und die Freiheit, seine Religion oder Weltanschauung einzeln oder gemeinsam mit anderen öffentlich oder privat durch Gottesdienst, Unterricht oder Praktizieren von Bräuchen und Riten zu bekennen.“ Der Sache nach verbürgt das Grundgesetz in Artikel 4 die Religionsfreiheit in derselben inhaltlichen Reichweite. Die von der Religionsfreiheit her entwickelte Säkularität des Rechtsstaats hat deshalb mit einer von Staats wegen forcierten „Privatisierung“ des Religiösen nichts gemein. Die Gewährleistung der Religionsfreiheit kann im Übrigen nicht davon abhängig gemacht werden, ob in den Herkunftsländern der hier lebenden Muslime die Religionsfreiheit ebenfalls geachtet wird. Denn der Status der Religionsfreiheit als Menschenrecht schließt es aus, dass religiöse Minderheiten als Pressionspotenzial zur Durchsetzung außenpolitischer Interessen, mögen diese auch noch so legitim sein, eingesetzt werden.
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seit den 1990er Jahre daran gewöhnt, Migrantinnen und Migranten vor allem in ihrer (vermeintlichen oder tatsächlichen) religiösen und kulturellen „Besonderheit“ wahrzunehmen. Dies ist Fortschritt und Rückschritt zugleich. Die falsche Ignoranz von damals ist mittlerweile durch eine ebenso falsche, weil einseitige Fixierung auf Religion und Kultur ersetzt worden. Dies wiederum führt dazu, dass die offenkundigen Probleme der Integrationspolitik, deren Ursachen vielfältig sein können, oft vorschnell als Ausdruck religiös-kultureller Fremdheit interpretiert werden – so als sei beispielsweise die Konzentration von Familien mit Migrationsgeschichte in sozialen Brennpunktgebieten schlichtweg Folge einer sich verfestigenden „islamischen Parallelgesellschaft“. Sobald der Islam ins Spiel kommt, gibt es offenbar eine verbreitete Neigung, Religion und Kultur als wichtigste Ursachen für die Erklärung von familiärem Autoritarismus, Segregationstendenzen und anderen Fehlentwicklungen anzuführen. Berechtigte Forderungen nach einer Veränderung patriarchalischautoritärer Familienstrukturen geraten dann schnell zum Kulturkampf gegen den Islam. In der Sache helfen solche kulturalistischen Klischees nicht weiter; sie verstärken lediglich islamophobe Stereotypisierungen. Von daher ist es wichtig, religiöse und kulturelle Faktoren in der Integrationsdebatte nicht isoliert, sondern stets in Verbindung mit anderen – sozialen, ökonomischen, politischen – Faktoren zu thematisieren. Zu einer differenzierten Sichtweise gehört auch die Bereitschaft, innerislamische Unterschiede mehr als bisher zur Kenntnis zu nehmen und angemessen zur Sprache zu bringen. Der für Deutschland relevante innerislamische Pluralismus besteht einerseits in klassisch-konfessionellen Differenzen (Sunniten, Schiiten, Aleviten, Ahmadis und so weiter) und andererseits – gewiss nicht weniger wichtig – in einer Mannigfaltigkeit muslimischer Lebenswirklichkeiten, die sich quer zu diesen konfessionellen Strömungen entwickelt haben. Die dazu oben gemachten Ausführungen sollen hier nicht wiederholt werden. Obwohl diese Vielfalt im Prinzip längst bekannt ist, bleibt das Problem bestehen, dass sie immer wieder von einer Semantik der „Eigentlichkeit“ überlagert wird, die die militanten und autoritären Formen muslimischer Religiosität mit erhöhter Aufmerksamkeit prämiert, weil sich darin angeblich das „wahre Wesen“ des Islam zeige. Die journalistische Erfahrungsregel, dass vor allem dramatische Negativmeldungen in den Medien Schlagzeilen machen (bad news is good news), gilt im Grunde zwar für alle thematischen Felder, wirkt sich aber in der Islamberichterstattung besonders gravierend aus. Gegen Fernsehbilder einer fanatisierten Gruppe junger Pakistanis, die ein Bild des Papstes verbrennen, haben islamische Verbände in Deutschland mit de-eskalierenden Stellungnahmen kaum ein Chance, öffentlich wahrgenommen zu werden, geschweige denn, den Diskurs über den Islam mitbestimmen zu können. Interreligiöse oder interkulturelle Dialogini-
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tiativen müssen immer wieder erleben, dass die Ergebnisse jahrelanger vertrauensbildender Arbeit durch Negativmeldungen und oder auch bloße Gerüchte in kürzester Zeit zunichte werden. Um solche Arbeit über die Jahre hinweg fortzusetzen, braucht es viel Frustrationstoleranz und gute Nerven. Obwohl es in einer polarisierten Debatte schwierig sein mag, elementare Sorgfaltspflichten zu beherzigen, gibt es indes keine vertretbare Alternative zum Bemühen um Genauigkeit und Differenzierung. Die Kenntnisnahme innerislamischer Differenzen und des innerislamischen Pluralismus ist dabei nicht nur ein Gebot analytischer Präzision. Wichtiger noch ist, dass nur dadurch die betroffenen Menschen überhaupt als Subjekte eigenverantwortlicher Lebensführung – und eben nicht lediglich als Exponenten unveränderlich vorgegebener religiöskultureller „Mentalitäten“ – in den Blick kommen können. Dies aber ist die unhintergehbare Prämisse einer jeden der Aufklärung verpflichteten Debattenkultur. Die Sonderberichterstatterin der Vereinten Nationen für Religionsfreiheit, Asma Jahangir, hat deshalb die Forderung bekräftigt: „Aus der Perspektive der Menschenrechte sollten Anhänger von Religionen oder Glaubensgemeinschaften […] nicht als Teile homogener Einheiten angesehen werden.“ (UNO 2006: 8). Dies muss selbstverständlich auch für Muslime gelten. In ihrer Allgemeinen Politikempfehlung Nummer 5 benennt dementsprechend auch die Europäische Kommission gegen Rassismus und Intoleranz die Überwindung deterministischer Sichtweisen des Islam – also die Eröffnung einer Perspektive auf die handelnden Subjekte – als die zentrale Aufgabe bei der Bekämpfung islamophober Ausgrenzung (ECRI 2007).
3. Das Grundgesetz als selbstverständliche Grundlage des Zusammenlebens Nicht weniger selbstverständlich als die Anerkennung der dauerhaften Präsenz des Islam in Deutschland ist die Einsicht, dass das Grundgesetz die normative Grundlage des Zusammenlebens in dieser Gesellschaft darstellt. Bei der Formulierung dieser im Grunde wiederum trivialen Einsicht kommt es häufig zu kommunikativen Fehlleistungen. Dies geschieht schon dadurch, dass man die Anerkennung der Verfassungsordnung als eine politische Forderung formuliert und speziell an Muslime adressiert. Gerade liberale Muslime reagieren oft verärgert, wenn auf diese Weise der Eindruck erweckt wird, als müsse man die Muslime erst eigens für die Werte der freiheitlichen Verfassung erziehen und noch einmal speziell auf das Grundgesetz verpflichten. Ein Beispiel für eine solche kommunikative Fehlleistung bietet der eingangs erwähnte baden-württembergische Leitfaden für Einbürgerungsbehörden, der durchgängig von einer skeptischen Haltung gegenüber Muslimen geprägt ist.
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Das Problem des Leitfadens liegt nicht eigentlich in seiner inhaltlichen Ausrichtung, sondern in seiner kommunikativen Signalwirkung. Das von seinen Befürwortern angeführte Argument, der Leitfaden enthalte lediglich selbstverständliche Normen des Zusammenlebens in einer freiheitlichen Gesellschaft, verweist unfreiwillig genau auf das entscheidende Problem. Denn gerade Menschen, die die Normen des Grundgesetzes für sich selbst längst als Selbstverständlichkeit betrachten und dies auch in ihrem alltäglichen Leben zeigen, dürften es als ärgerlich empfinden, wenn man ihnen abverlangt, dass sie dies, nur weil sie Muslime sind oder einen irgendwie „muslimisch klingenden“ Namen tragen, noch einmal ausdrücklich bekräftigen und gegen skeptische Rückfragen erläutern sollen. Die staatliche Verwaltung gibt sich auf diese Weise dazu her, den permanenten Erklärungsdruck, den viele Menschen mit muslimischem Hintergrund als alltägliche gesellschaftliche Diskriminierung erleben, fortzusetzen und zu verstärken (Bielefeldt 2007: 183ff.). Wenig durchdacht wirken auch manche integrationspolitisch motivierten Aufrufe zum „Dialog mit dem Islam“ (Tezcan 2006). Auf Kommunikation zu setzen ist im Prinzip natürlich immer sinnvoll. Verwirrung, Frustration und im Ergebnis womöglich neues Misstrauen entstehen aber dann, wenn in Dialogveranstaltungen das Grundgesetz zunächst dem Koran gegenüber gestellt wird, um auf dieser Grundlage sodann in ein Gespräch zu treten. Das Grundgesetz erhält in solcher Kontrastierung zum Koran fast zwangsläufig die Funktion eines Dokuments kulturpolitischer Selbstvergewisserung für die irgendwie christlich geprägte Mehrheitsgesellschaft – und zwar eben auf Kosten seiner Funktion als gemeinsame verfassungsrechtliche Grundlage des Zusammenlebens. Komplementär zu einer solchen zivilreligiösen Aufladung des Grundgesetzes wird dem Koran, wenn man ihn kategorial auf eine und dieselbe Ebene mit der Verfassungsordnung stellt, genau jene Rolle als integrales religiös-politisches Alternativmodell attestiert, wie dies in den Propagandaschriften des ideologischen Islamismus aufscheint. Der Dialog hat dann die paradoxe Aufgabe, kulturelle Gräben zu überwinden, die durch die Formulierung der Dialogziele teilweise erst geschaffen oder ungewollt vertieft werden. Dass das Grundgesetz die normative Grundlage des Zusammenlebens in unserer pluralistischen Gesellschaft bildet, ist eine pure Selbstverständlichkeit. Diese Selbstverständlichkeit sollte ihren Ausdruck darin finden, dass man darauf verzichtet, sie gegenüber Muslimen immer wieder mit auffälliger Emphase anzumahnen oder zum Ziel interkultureller Dialogprojekte zu stilisieren. Wo es gegenüber einzelnen Gruppierungen und ihren Angehörigen Gründe zum Zweifel an der Verfassungstreue gibt, muss dies konkret auf die betreffenden Gruppierungen hin – aber eben nicht pauschal als Problem „des Islam“ oder der muslimischen Bevölkerung in Deutschland – angesprochen werden. Angemessen ist
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es ansonsten, bei den hier lebenden Muslimen – nicht anders als bei der nichtmuslimischen Mehrheitsbevölkerung – eine verfassungspolitische Loyalität generell als gegeben zu unterstellen. Mit naiver „Multikulti-Seligkeit“, die die Augen vor konkreten Gefahren für die offene Gesellschaft verschließt, hat dies nichts zu tun. Es geht stattdessen um die grundlegende Einsicht, dass der Kampf um die offene Gesellschaft vorerst verloren ist, wenn sich erst einmal eine Logik des Verdachts ausgebreitet hat, die Angehörigen einer Minderheit von vornherein jede Chance nimmt, überhaupt als Partner im öffentlichen Diskurs Gehör zu finden. Literatur Amman, Ludwig (2004): Cola und Koran. Das Wagnis einer islamischen Renaissance. Freiburg i.Br. Aziz Al-Azmeh, Aziz (1996): Die Islamisierung des Islam. Imaginäre Welten einer politischen Theologie. Frankfurt a.M. Benz, Wolfgang (2004): Was ist Antisemitismus? München. BDB [Bundesverband der Bürgerbewegungen zur Bewahrung von Demokratie, Heimat und Menschenrechten e.V.] (2004): Bedrohte Freiheit. Der Koran in Spannung zu den Grund- und Freiheitsrechten in der Bundesrepublik Deutschland sowie zu internationalen Rechtsnormen und Verträgen. Arbeitshilfe für die geistige Auseinandersetzung mit dem Islam, 3. Aufl., Berlin. Bielefeldt, Heiner (1998): Philosophie der Menschenrechte. Darmstadt. Bielefeldt, Heiner/Wilhelm Heitmeyer (2000): „Konflikte um religiöse Symbole. Moscheebau und Muezzinruf in deutschen Städten“, in: Journal für Konflikt- und Gewaltforschung 2/2000, S. 150-165. Bielefeldt, Heiner (2003): Muslime im säkularen Rechtsstaat. Integrationschancen durch Religionsfreiheit. Bielefeld. Bielefeldt, Heiner (2007): Menschenrechte in der Einwanderungsgesellschaft. Plädoyer für einen aufgeklärten Multikulturalismus. Bielefeld. Broder, Henryk M. (2006): Hurra, wir kapitulieren! Von der Lust am Einknicken. Berlin. Ebeling, Hans (1994): Der multikulturelle Traum. Von der Subversion des Rechts und der Moral. Hamburg. ECRI [European Commission against Racism and Intolerance] (2007): General policy recommendation No. 5: Combating intolerance and discrimination against Muslims. Straßburg. ECRI (2004): Third report on Germany. Adopted on 5 December 2003. Straßburg: ECRI. EUMC [European Monitoring Centre on Racism and Xenophobia] (2006): Muslims in the European Union. Discrimination and Islamophobia, Wien. EUMC (2002): Summary Report on Islamophobia in the EU after 11 September 2001. Wien. Gerlach, Julia (2006): Zwischen Pop und Dschihad. Muslimische Jugendliche in Deutschland. Berlin.
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„Und tötet sie, wo immer ihr sie findet.“1 Zur Missachtung des textuellen und historischen Kontexts bei der Verwendung von Koranzitaten Navid Kermani
Eine Szene aus dem Alltag des deutschen Islamdialogs: Zwei deutsche IslamExperten diskutieren mit einem Muslim die so genannte Islamische Charta, in der sich der Zentralrat der Muslime in Deutschland zu den Grundsätzen der deutschen Verfassung bekennt, so zur Demokratie, zu den Menschenrechten und einem säkularen Rechtssystem. Auf dem Podium belehren die beiden Experten den Muslim, dass seine Charta überhaupt nicht mit dem Islam zu vereinbaren sei. Der Islam, so sagt einer der beiden Experten, kenne keine Trennung von Staat und Religion. Deshalb müssten Muslime wesentliche Teile ihres Glaubens aufgeben, wollten sie tatsächlich das Grundgesetz anerkennen. Zum Kernbestand des Islam gehöre, ergänzt der zweite Experte, dass jeder Muslim verpflichtet sei, den Islam gewaltsam zu verbreiten. Der Muslim widerspricht heftig. Predigt der Koran die Gewalt? Die beiden Experten belegen ihre These mit Versen aus dem Heiligen Buch der Muslime, so wie es deutsche Diskutanten stets tun: Kaum eine öffentliche Veranstaltung zum Islam, bei der die deutschen Dialogpartner und, wenn nicht sie, dann zwei, drei Zuhörer aufspringen und den muslimischen Rednern aggressive Verse aus dem Koran entgegenhalten. Gerade im Internet sind Dutzende von beängstigenden Äußerungen im Umlauf. Viele davon sind schlicht erfunden oder tendenziös übersetzt. Aber die korrekten Zitate genügen, um die islamische Gefahr zu beschwören, so der Verweis auf Sure 4:81 „Kämpfe nun um Gottes Willen! Und feuere die Gläubigen an.“ Ein anderer Vers, der im Dialog mit „den Muslimen“ selten fehlt, ist Sure 2:191: „Und tötet sie (die Heiden), wo immer ihr sie findet.“ Noch häufiger zitiert, ja wahrscheinlich der im Westen bekannteste Vers des Koran ist Sure 8:12, gewöhnlich als einfaches „Schlagt sie tot“ übersetzt: „Haut ihnen (den Heiden, Ungläubigen) auf den Nacken und schlagt zu auf jeden Finger von ihnen.“ Solche Zitate werden von Muslimen am liebsten mit anderen Zitaten beantwortet. Um im interreligiösen Dialog zu bestehen, verweisen sie auf die Barmherzigkeit Gottes, die der 1
Grundlage dieses Beitrags ist mein Artikel „Predigt der Koran Gewalt? Einführung für Laienexegeten“, der am 4. Februar 2003 in der Süddeutschen Zeitung erschienen ist.
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Koran am Anfang jeder Sure hervorhebt, oder auf das Wort „Islam“, das sich von der Wurzel salama ableitet, mithin vom Wort Frieden. Unter den Versen, die Muslimen zum Nachweis ihrer eigenen Friedfertigkeit dienen, ist der beliebteste gewiss Sure 2:256: „Kein Zwang in der Religion“. Auch Sure 5:32 scheint den Humanismus des Islam zu unterstreichen: „Wenn man einen Menschen tötet, ist es, als töte man die ganze Menschheit.“ Man kann ein solches Surenpingpong beliebig fortsetzen. Nur über den Koran selbst erfährt man dabei nichts. Einzelne Verse, aus ihrem textuellen und historischen Kontext gerissen und von ihrer Rezeptionsgeschichte abgetrennt, sagen nichts aus, weder über die Friedfertigkeit noch über die Gewalt des Koran. Den Koran als Steinbruch zu behandeln, aus dem man sich nimmt, was einem gerade passt, widerspricht seiner sprachlichen und kompositorischen Struktur. Zugleich steht es den wichtigsten Deutungstraditionen des Islam entgegen. So gedankenlos man heute auch in der islamischen Welt selbst mit dem Koran umgeht, da es CD-ROM und das Internet erlauben, ihn nach beliebigen Stichwörtern zu durchsuchen, so war sich doch die islamische Theologie immer bewusst, dass der Koran nur in der Gesamtheit seiner Aussagen und mit Blick auf die Bedingungen seiner Genese verstanden werden kann. Man wusste, dass er die Sammlung der deutungsbedürftigen und vieldeutigen Offenbarungen ist, die der Prophet Muhammad im Verlaufe von dreiundzwanzig Jahren in spezifischen historischen Situationen empfangen hat; die islamische Theologie hat die Aussagen des Koran immer vor dem Hintergrund dieser Situationen gedeutet, denen sich ein eigener Zweig der Koranwissenschaft widmet, die Wissenschaft von den „Anlässen der Offenbarung“ (asbâb an-nuzûl). Das ist noch keine historischkritische Betrachtungsweise, bedeutet aber nichts anders, als dass die islamische Theologie die Botschaft des Koran von Beginn an im Kontext ihrer Entstehung verstanden hat. Dadurch konnte sie auch mit jenen Widersprüchen umgehen, die unauflösbar erscheinen, wenn man nur einzelne Zitate gegeneinander hält. Insbesondere in der ersten Verkündigungsperiode hat der Koran die Anwendung von Gewalt zur Ausbreitung des Glaubens ausdrücklich verboten. Wer die Toleranz des Islam zu belegen sucht, wird daher vorzugsweise in diesen frühen Suren fündig werden. In Medina wird das Gewaltverbot an einer Stelle explizit aufgehoben, nämlich in Sure 4:77: „Denjenigen, die gegen die Ungläubigen kämpfen, ist die Erlaubnis zum Kämpfen erteilt worden, weil ihnen vorher Unrecht geschehen ist“, heißt es dort. Die Erlaubnis ist ihnen für diesen Fall „erteilt worden“, das heißt, vorher war ihnen die Anwendung von Gewalt verboten gewesen. Wie man aus der Sure weiter erfahren kann, waren die Muslime über diese Änderung zunächst irritiert; offenbar schreckten sie davor zurück, die alten Stammesbrüder nun militärisch zu bekämpfen: „Hast du nicht jene gesehen, zu denen man anfänglich sagte: Haltet eure Hände vom Kämpfen zurück und
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verrichtet das Gebet und gebt die Almosensteuer? Als ihnen dann vorgeschrieben wurde zu kämpfen, fürchtete auf einmal ein Teil von ihnen die Menschen.“ An dieser Stelle, als sich der Konflikt zwischen dem Aufrührer Muhammad und den mekkanischen Eliten zugespitzt hat, kommt nun die Aufforderung, sich zur Wehr zu setzen. Die beliebten Zitate wie Sure 8:12 – „Haut ihnen auf den Nacken!“ – haben hier ihren historischen Kontext. Sie wurden vom Hauptstrom der islamischen Theologie immer auf die damaligen Umstände bezogen und nicht als eine generelle Aufforderung verstanden, Ungläubige zu bekämpfen. Die Aufgabe der Theologie bestand gerade darin, die allgemeine und zeitlose Haltung des Schöpfers zu verstehen, die unter verschiedenen historischen Bedingungen zu unterschiedlichen Aussagen führt. Dass die übergeordnete Botschaft des Koran auf den Frieden zielt, wie die islamische Theologie stets befand, ist keine bloße Floskel für den Dialog der Religionen; die Dialektik von Wehrhaftigkeit und Ausgleich, die die historische Situation der frühen Muslime widerspiegelt, zieht sich durch die gesamte Offenbarungsgeschichte hindurch, um immer wieder darauf zu verweisen, dass das Gewaltmonopol bei Gott liegt: Der Mensch darf nicht tun, was Gott vorbehalten ist. Dutzende Verse im Koran betonen, dass der Ungläubige die Strafe schlimmer erfahren wird, als je ein Mensch sie ihm zufügen könnte: nämlich im Jenseits. Aber es gibt auch zwei eindeutige Ausnahmen vom Tötungsverbot: zum einen die Bestrafung des Mörders, zum zweiten das Töten im Kampf zur Verteidigung. Der Koran predigt also keineswegs den Pazifismus, setzt der Anwendung von Gewalt aber klare Grenzen. Nun bestehen Religionen nicht nur aus den Buchstaben, die Gott offenbart hat, sondern auch aus denen, die der Gläubige ignoriert. Bevor ich Islamwissenschaft studierte, wusste ich nichts von den Koranversen, die zur Gewalt aufrufen. Obwohl ich in einem religiösen Haus groß geworden bin, in dem täglich gebetet wurde und wird, bin ich genau sowenig damit konfrontiert worden wie evangelische Kinder im Konfirmandenunterricht mit, sagen wir, dem Gesetzbuch Moses oder der Offenbarung des Johannes. In den Gebeten tauchen diese Passagen nicht auf, und die Religiosität meiner Eltern und Großeltern wirkte auf mich so tolerant und friedliebend, dass es für mich völlig natürlich war zu glauben, dass „die Wege zu Gott so zahlreich wie die Atemzüge des Menschen“ sind, wie ich es in einem Prophetenspruch oft zu hören bekam. Ich hatte durchaus kritische Fragen, aber die betrafen weniger die Gewaltverse, die ich ja nicht kannte, als die martialischen Strafen der Scharia, von denen ich auch in meinem christlichen Religionsunterricht in der Schule gehört hatte. Als ich mich vor einiger Zeit mit meiner Mutter darüber unterhielt, weil die Zeitung an dem Tag von einer Steinigung in Iran berichtete, erfuhr ich, dass sie die Antworten, die sie mir als Kind gegeben hatte, selbst als Kind von ihrem Vater gehört hatte. Vater, was ist denn das für eine Religion, fragte sie als junges Mädchen meinen Großvater, dass sie Steini-
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gungen vorsieht? Dann wurde Großvater zornig, nicht über seine Tochter, sondern über jene Mullahs, die schon damals die Steinigungen wieder einführen wollten. Diese drakonischen Strafen sind dafür da, jede einzelne von ihnen, niemals vollzogen zu werden, sagte er erregt, und ging für jede einzelne die Bedingungen durch, für das Abhacken der Hand, das Schlagen der Ehefrau und die Steinigung bei Ehebruch. Das Handabhacken dürfe man nicht mehr wörtlich verstehen, mit dem Schlagen der Ehefrau sei nur ein symbolischer Schlag mit einem Zahnstocher auf den Handrücken gemeint, wie es der Prophet vorgeführt habe, und die Steinigung erklärte er meiner Mutter etwa in den folgenden Worten (an seinen dringlichen Duktus in Angelegenheiten des Glaubens und der Moral kann auch ich mich noch gut erinnern): – Es müssen vier Zeugen beim Vollzug des Ehebruchs nicht nur anwesend sein, sondern sie müssen eine Schnur ziehen zwischen den beiden Verdächtigen, und die Schnur muss hängen bleiben. Was soll das wohl bedeuten, na? Ist das realistisch? Kann man sich eine Situation vorstellen, in der vier männliche Zeugen einen Mann und eine Frau beim Liebesakt erwischen und die beiden seelenruhig aufeinander liegen bleiben, damit zwischen ihnen eine Schnur durchgezogen werden kann, die sich dann verheddert? Verstehst du denn nicht, dass der Sinn einer solchen Bedingung der ist, dass sie sich niemals erfüllt? Was sollte das vor tausend Jahren signalisieren? Hast du dich jemals erkundigt, wie die Araber vor dem Islam den Ehebruch bestraft haben? … – Als Islamwissenschaftler weiß ich, dass die Antwort meines Großvaters weder historisch noch theologisch ganz einwandfrei ist. Aber sie ist für eine muslimische Erziehung mit Sicherheit typischer als die Fatwas muslimischer Fundamentalisten und westlicher Islamexperten, die den Islam zu einer Karikatur seiner selbst machen, wenn sie den Koran auf ein wörtlich anzuwendendes Gesetz reduzieren. Nicht nur mein Großvater argumentierte so, ich habe es von meinen Eltern und anderen Verwandten ähnlich oft gehört, als ich so alt war wie damals meine Mutter: Berücksichtige den Kontext, begreife die überzeitliche Bedeutung, denk immer daran, dass der Koran uns zu guten Taten anleiten will, zu Taten der Barmherzigkeit und Mildtätigkeit, die guten Taten stehen sogar über den Gebeten. Abgesehen davon stand von der Steinigung ohnehin nichts im Koran, wie Großvater betonte, aber die Pfaffen wollten es nicht begreifen, wollten nicht wahrhaben, was in ihren eigenen Bücher stand, für sie war Gott nicht zuallererst der Erbarmer, der Barmherzige, sondern ein Scharfrichter und sie die Henker. Das brachte ihn zur Weißglut, wie ich selbst vor Augen habe. Und jetzt stand in der Zeitung, dass in Iran die Steinigung wieder eingeführt worden sei. Das ist doch unfassbar, murmelte meine Mutter, da bleibt doch nichts übrig von der Ehre des Islam.
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Tatsächlich hatte das positive Islambild meiner Kindheit schon Risse bekommen, lange bevor deutsche Islamexperten den Koran so darstellten, als bestünde er nur aus Aufrufen zu Mord und Totschlag. Es war einfach nicht zu übersehen – nicht einmal für einen Dreizehn-, Vierzehnjährigen –, dass die Gewaltherrschaft in Iran sich mit dem Koran und der islamischen Tradition legitimierte. Wegen der religiösen Diktatur emigrierte die Mehrheit meiner Familie nach Amerika, manche mussten auf abenteuerliche Weise über die kurdischen Berge fliehen, ein Cousin saß jahrelang im Gefängnis, der Schwager meiner Tante wurde hingerichtet. Das alles geschah in unserer eigenen Familie, die so große Hoffnung auf die Revolution gesetzt hatte, und man wird sich die Erbitterung vorstellen können, mit der in den abendlichen Runden über die politischen Zustände debattiert wurde und wird. Zugleich konnte ich – und zwar nicht nur aus emotionalen Gründen – die Werte meiner eigenen religiösen Erziehung nicht vergessen und das Beispiel an Güte nicht übersehen, das mir manche ältere und besonders fromme Verwandte weiterhin waren. Natürlich gibt es eine Reihe von koranischen Aussagen, die im Widerspruch zur Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte stehen. Dieser Widerspruch löst sich auch nicht immer mit Blick auf die Offenbarungsgeschichte auf. Wenn man im Falle des Koran allein die bekannten hudûd-Strafen nimmt, eben jenes Abhacken der Hand bei Diebstahl etwa, dann hilft alles Dialogisieren nicht darüber hinweg, dass sie im Koran ausdrücklich vorgesehen sind. Die Frage ist aber, wie sich Muslime zu diesen Versen verhalten, wie sie Aussagen, die in einem bestimmten historischen Kontext als göttlich herab gesandt worden sind, auf eine andere Zeit beziehen: Der einzelne Gläubige mag sie ignorieren, speziell in der Erziehung seiner Kinder. Theologie hingegen kommt um diese Frage nicht herum. Das Spektrum der Antworten reicht im Islam von der unbedingt wörtlichen Auslegung bis zu Interpretationen, die dem Koran jegliche Relevanz für die Gesetzgebung absprechen. Im Christentum ist das nicht grundsätzlich anders, und zwar nicht nur mit Blick auf das Alte Testament. Auch das Neue Testament fordert Rechtsnormen, die Bereitschaft zur Selbstaufgabe und eine religionsgeschichtlich einzigartige Anstrengung zur Mission, die sich gegen dialogisches Geplänkel sperren. Und nicht anders als bei den islamischen Terroristen wurde auch das Schwert, das Jesus in Matthäus 10:34 zu bringen verkündet, im Christentum bis in die jüngste Zeit immer wieder wörtlich verstanden, wenn man an die religiöse Verbrämung der Apartheid in Südafrika denkt, an die christliche Argumentation der serbischen Extremisten, die Ankündigung Silvio Berlusconis, die islamische Welt „zu erobern“, oder die christliche Weihe, mit der ranghohe Vertreter der orthodoxen Kirche den russischen Krieg in Tschetschenien versehen haben.
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Religionen sind schroff, allein schon ihr Anspruch auf absolute Wahrheit ist an sich ein Skandal. Darin liegt ihre Gefahr, darin läge zugleich auch jenseits allen Relativierens heute die Kraft des offenbarten Wortes: dass es aus einer anderen Welt zu stammen scheint und nicht einfach sagt, was wir ohnehin denken. In seiner ganzen Gewaltigkeit, Anmaßung und Absolutheit kann es sich allerdings erst entfalten, sofern es nicht staatliches, die Andersdenkenden verpflichtendes Gesetz ist. Das heißt, die Religionen selbst bedürfen des säkularen Rahmens, wenn ihre Aussagen nicht soweit nivelliert werden sollen, dass von ihrer Botschaft ein allgemeines Gutmeinen übrig bleibt. Ihren Anspruch können sie nur in einem Staat zur Geltung bringen, der selbst religiös neutral ist, wo es also auch das Recht gibt, diesen religiösen Anspruch zu ignorieren oder abzulehnen. Glaube darf niemals mehr die Unfreiheit des Ungläubigen bedeuten. Ohnedies ist Wahrheit erst dann absolut, wenn kein Mensch sie für sich gepachtet hat. Die gegenwärtige Misere des Islam wurzelt, verallgemeinernd gesagt, hier: in der bislang nur bedingt vollzogenen – oder häufig sogar rückgängig gemachten – Säkularisierung und Offenheit der religiösen Hermeneutik. „Der Koran ist eine Schrift zwischen zwei Buchdeckeln, die nicht spricht; es sind die Menschen, die mit ihm sprechen“, sagt Imam Ali, der vierte Kalif des Islam. Die Offenbarung bedarf der Interpretation, und erst mit Blick auf die verschiedenen Lesarten und ihre realpolitische Wirkung lässt sich über den Islam sprechen. Dass Religionen aus der Gesamtheit ihrer Lesarten bestehen, gilt für jede Religion, wurde aber außer im Islam wohl nur im Judentum so klar benannt. Ein klassischer Korankommentar enthält stets mehr als nur eine Deutung. Erst nachdem der Exeget die möglichen Interpretationen aufgezählt hat, stellt er seine eigene vor, um mit der Floskel wa-llâhu a´lam abzuschließen, „Und Gott weiß es besser“. Eben weil der Koran als das reine göttliche Wort gilt, ist nach traditioneller islamischer Auffassung jede Auslegung menschlich und daher notwendig relativ. Dass niemand über die absolute Deutung verfügt, mehr noch: es diese eine Deutung gar nicht geben dürfe, gehört zu den Grundannahmen der klassischen muslimischen Exegese, die im theologischen Disput zwar immer schon übergangen, aber niemals so konsequent bestritten wurden wie heute von muslimischen Fundamentalisten und westlichen Experten, die mit dem Koran in der Hand Muslime darüber belehren, wie streng ihre Religion sei. Ein Großteil dessen, was heute als islamische Kultur begriffen wird, die Meisterwerke der Poesie, Architektur, bildenden Kunst, Musik, Mystik und Philosophie haben nicht nur außerislamische Einflüsse aufgenommen – nein, viele ihre Werte und Motive stehen in offenem Widerspruch zu den Normen, die der Koran vorgibt, ohne dass sie deswegen von einer Mehrheit als häretisch aufgefasst worden sind. Man denke nur an das zentrale Motiv des Weins oder der gleichgeschlechtlichen und promiskuitiven Liebe in der Dichtung, an den strengen Rationalismus der Philo-
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sophie, an den Prunk der Moscheen, die ekstatischen Gesänge und das Bekenntnis zur Gleichwertigkeit der Religionen in der islamischen Mystik, die Verspottung aller Autoritäten einschließlich der göttlichen durch die prominenten Narren der verschiedenen Volksliteraturen. Ein Hauptanliegen von Fundamentalisten ist gerade, die „göttliche“ Religion von der „menschlichen“ Kultur zu säubern, gerade von seiner religiösen Kultur. Sie wollen zurück zur nackten Schrift und verstehen alle historischen Erscheinungen, die ihr nicht entsprechen, als Ketzerei. Dass darin eine reale Bedrohung liegt, demonstriert der kulturelle und religiöse Bildersturm, wie ihn die Wahhabiten in Saudi-Arabien oder die Taliban in Afghanistan exzessiv betrieben haben. Aber noch ist die Lebensrealität der meisten Muslime eine andere. Man muss nur einmal nach Kairo, nach Teheran, nach Istanbul reisen, um zu begreifen, wie sehr sich die muslimischen Gesellschaften von dem Bild unterscheiden, das sie der Schrift nach abgeben müssten. Was Islam ist, das wird dort ungleich integrativer, durchlässiger verstanden als im deutschen Dialog mit dem Islam – noch jedenfalls. Eine repräsentative Umfrage brachte kürzlich zutage, dass trotz der eher zunehmenden Religiosität der Bevölkerung immer noch 85 Prozent der Türken jemanden, der das Ritualgebet nicht einhält oder Alkohol trinkt, als guten Muslim betrachten. Wohlgemerkt: als guten Muslim. Überrascht kann darüber nur sein, wer nicht mit dem Islam aufgewachsen ist. Man kann den Islam verstehen, wie Tilman Nagel ihn versteht, einer der beiden Experten auf dem eingangs erwähnten Podium der Hans Seidel-Stiftung; anders als sein Mitdiskutant Hans-Peter Raddatz (siehe den Beitrag von Riexinger in diesem Buch) ist Nagel kein Eiferer und steht er auf philologisch sicherem Grund, mehr noch: Er ist einer der bedeutendsten Islamwissenschaftler Deutschlands, dessen jüngst erschienene Muhammad-Biographie nur Bewunderung hervorrufen kann. Doch zum Glück für die Menschen scheren sich Geschichte und Gegenwart des Islam nicht durchweg um die Dogmen, die Nagel aus dem Koran ableitet – will sagen: der Islam lebt wie jede andere Religion gerade in dem Spannungsverhältnis zwischen den Texten und ihren Lesern. Wenn man Nagel folgt, müsste man die Mehrheit der Leser – jene Muslime also, die aus den gleichen Quellen andere, aus Sicht Nagels: falsche Schlüsse ziehen – zu Ungläubigen erklären. Das haben die Muslime nicht nötig. Von solchen Kapazitäten haben sie selbst genug.
Deutsche Türken, jüdische Narrative und Fremdenangst: Strategien der Anerkennung1 Y. Michal Bodemann und Gökçe Yurdakul Einleitung Seit den Anfängen der Soziologie in Nordamerika wurde in der Literatur über Migration, Ethnizität, citizenship, Fremdenangst und Multikulturalismus untersucht, wie sich Einwanderer integrieren, wie sie sich in einzelne Nationalstaaten einfügen, in deren Wirtschaft, deren Gesellschafts- und Klassenstrukturen. Auch ging man den Fragen nach, in welcher Form ihre Aufstiegschancen begrenzt werden und wie sie sich über mehrere Generationen assimiliert haben. Obwohl sich die Form der ethno-kulturellen Integration aber in der Regel grundlegend von Staat zu Staat unterscheidet, wurde nur selten danach gefragt, wie eine typische Eigenart der eingewanderten Ethnie durch die Gruppe selbst geformt wird – durch ihre Führer und Organisationen –, und zwar nicht bloß im Verhältnis zu Staat und Gesellschaft, sondern insbesondere im Verhältnis zu anderen Minderheiten oder Einwanderergruppen. Dabei orientieren sich Einwanderergruppen und Minderheiten, häufig in unmittelbarer gesellschaftlicher Nähe zueinander verortet, nicht nur aneinander, sondern die Neu-Einwanderer nehmen in ihrem Verhalten die „Erzählungen“, die Narrative ihrer Vorgänger zum konkreten Vorbild; manchmal stellt die ältere Einwanderergruppe im Gegenzug Ansprüche an das Verhältnis zu jüngeren Einwandergruppen. Der bekannteste Fall, in dem sich eine Gruppe die Narrative einer anderen Gruppe aneignete und sich mit ihr identifizierte, ist wohl die Einbeziehung der amerikanischen Juden in die NAACP und die Bürgerrechtsbewegung der USA.2 Im vorliegenden Beitrag wollen wir versuchen zu zeigen, wie sich die interethnischen Beziehungen zwischen Türken3 und Juden in Deutschland gestalten. Vor allem untersuchen wir, wie die zahlenmäßig größte und jüngste Einwande1 2
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Autorisierte Übersetzung aus dem Englischen von Thorsten Gerald Schneiders. Die Beteiligung der Juden an der Bürgerrechtsbewegung entsprach allerdings einer anderen Ausprägung und war weitgehend „altruistisch“ gekennzeichnet. Sie wurde eher als Unterstützung für die Afro-Amerikaner wahrgenommen. Im Zeichen des Widerstands gegen die Diskriminierung von Juden – selbst in den 1960er Jahren – war der Einsatz für Bürgerrechte zu der Zeit trotzdem wichtig für die soziale Stellung der jüdischen Bevölkerung. (Mendelsohn 1993: 133ff.). Wenn nichts anderes angegeben ist, soll „türkisch“ hier eine Person bezeichnen, deren Ursprung in der Türkei liegt, ungeachtet ihrer Volkszugehörigkeit.
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rergruppe, die Türken, die kleine – obschon historisch und kulturell bedeutsame – jüdische Minderheit (bedeutsam sowohl wegen ihrer langen deutschen Geschichte als auch wegen ihrer katastrophalen jüngeren Vergangenheit) als Vorbild für die eigene Inkorporation in die deutsche Gesellschaft nimmt; dies geschieht insbesondere im Kontext des Rassismus dem sich die Türken ausgesetzt sehen. Am prägnantesten hat Riva Kastoryano diesen Zusammenhang ausgedrückt: In Deutschland sehen türkische Einwanderer in den Juden hinsichtlich ihrer Geschichte und ihrer Organisation ein anschauliches Beispiel für die Existenz einer Minderheit (2002). Die folgenden drei Fälle legen darüber exemplarisch Zeugnis ab: Beispiel 1 Gegen Ende des Jahres 2004 entwickelte sich vor dem Hintergrund der Diskussionen um einen Beitritt der Türkei zur Europäischen Union in der Öffentlichkeit und in den Medien eine Debatte über die angeblich fehlende Assimilationsfähigkeit der türkischen/muslimischen Minderheit in die deutsche Gesellschaft und das Entstehen türkischer/muslimischer „Parallelgesellschaften.“4 Anlässlich der Verleihung des jährlichen Preises für Verständigung und Toleranz an Altbundespräsident Johannes Rau hielt der damalige Bundeskanzler Gerhard Schröder die Laudatio. Demonstrativ appellierte er an die türkische Gemeinschaft, sie möge sich integrieren. Die Symbolik in seinem Appell war nicht zu übersehen: Schröder sprach im Jüdischen Museum in Berlin.5 Beispiel 2 In seiner Ausgabe vom 23. September 2004 veröffentlichte das Magazin stern einen Comic. Er zeigt einen Türken mit dichtem, buschigem Schnurrbart, der durch die Katzenklappe einer Tür kriecht, um nach Europa zu gelangen. Auf der Tür steht ‚Europäische Union‘ geschrieben, über der Katzenklappe ist eine imitierte arabische Schrift in Form eines Verses zu erkennen. In dieser Karrikatur zeigt sich nicht nur eine orientalistische, sondern auch eine gängige antisemitische Tiefenstruktur: das Bild des jüdischen Untermenschen, der die deutsche Gesellschaft unterwandert. Während die deutsche Öffentlichkeit wenig Notiz 4
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Der berüchtigtste Medienbeitrag war die Titelgeschichte des Nachrichtenmagazins Der Spiegel vom 15. November 2004. Sie trug den Titel: „Allahs rechtlose Töchter. Muslimische Frauen in Deutschland“. Eher zufällig in diese Zeit fallen Artikel von Navid Kermani in Die Zeit, 18.11.2004; Dick Pels in Die Tageszeitung, 23.11.2004; Pascal Beucker in ebd., 22.11.2004; Jens Jessen in Die Zeit, 18.11.2004; Ulrich Beck und Michal Bodemann in Süddeutsche Zeitung, 20./21.11.2004; Zafer enocak in Die Tageszeitung; 22.11.2004; Leitartikel in Berliner Zeitung, 15.11.2004; Annette Ramelsberger in Süddeutsche Zeitung, 17.11.2004; Neuköllns Bürgermeister Heinz Buschkowsky in Der Tagesspiegel, 13.11.2004. archiv.bundesregierung.de/bpaexport/rede/32/748232/multi.htm
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von diesem klischeehaften und rassistischen Comic nahm, brandete unter Türken ein Sturm der Entrüstung auf. Vural Öger, ein prominenter deutsch-türkischer Geschäftsmann und Parlamentsabgeordneter, verfasste einen offenen Brief an den stern. Darin bezeichnete er die Karikatur als diffamierend, obszön und ein willkommenes Futter für die Nazipropaganda. Öger schloss mit den Worten: „Ein junger Türke mit deutschem Pass, nicht nur hier geboren sondern auch aufgewachsen, hatte im Geschichtsunterricht über die Anfänge Hitlers gehört. Er meinte, diese Zeichnung sähe genauso aus wie die in der Propagandazeitschrift Der Stürmer. Nur dass die Juden damals andere Nasen bekommen hätten. Im stern wurde die Nase durch den Schnurrbart ersetzt. Aber alles andere ist derselbe rassistische Mist.“ (Hürriyet, 2.10.04) Dieser Fall zeigt in aller Kürze, wie sowohl der junge Deutschtürke als auch die politische Leitfigur der türkischen Gemeinschaft den deutsch-jüdischen Tropos entweder als Instrument gegen die Minderheit der Türken in Deutschland oder als Instrument gegen das deutsche Polit- und Medienestablishment benutzen. Beispiel 3 Am 22. November 2002 erinnerte der Türkische Bund Berlin-Brandenburg (im folgenden TBB) an den 10. Jahrestag des Pogroms von Mölln, einer von mehreren ausländerfeindlichen Brandanschlägen, die seit dem Fall der Berliner Mauer in Deutschland verübt wurden. In der Nacht zum 23. November 1992 steckten Skinheads ein Haus in der norddeutschen Stadt Mölln in Brand. In dem Feuer kamen drei Mitglieder einer türkischen Familie ums Leben: eine 51-jährige Frau, deren zehnjährige Enkelin und deren 14-jähriger Neffe. Dieser sowie die Angriffe in Solingen, Rostock und anderswo bewirkten eine breite Protestbewegung in der deutschen Bevölkerung; sie zogen die Aufmerksamkeit auf die steigende Zahl rassistischer Attacken gegen Einwanderer. In Berlin schlossen 1993 türkische Kaufleute für eine Stunde ihr Geschäft und hingen Plakate in die Schaufenster, auf denen sie Sicherheit und gleiche Rechte für Einwanderer in Deutschland forderten. Die Parallelen der TBB-Veranstaltung zu den Gedenkfeiern für die „Reichskristallnacht“, den Novemberpogromen gegen Juden 1938, waren augenscheinlich.6 Los ging es mit einer Kranzniederlegung am Mahnmal für die Opfer von Krieg und Gewaltherrschaft, der zentralen deutschen Gedenkstätte unter den Linden in Berlin; dieser Ort soll an alle Menschen gleichsam erinnern – von den gefallenen deutschen Soldaten und den Opfern der Bombardierungen durch die Alliierten bis hin zu den getöteten Widerstandskämpfern und Opfern des Genozids an den Juden. Die Zeremonie ging dann im Berliner Rathaus weiter. Die Gästeliste umfasste sowohl die Berliner Gesundheitssenatorin Dr. Heidi 6
Zur Geschichte der Gedenkveranstaltungen anlässlich der „Reichskristallnacht“ in Deutschland, siehe Bodemann (1996).
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Knake-Werner und Leah Rosh, die Vorsitzende des Förderkreises zur Errichtung eines Denkmals für die ermordeten Juden Europas, als auch den Berliner Senatspräsidenten, den früheren Regierenden Bürgermeister von Berlin, Walter Momper. In den ersten Reihen saßen führende Mitglieder der Jüdischen Gemeinde und des Jüdischen Kulturvereins. Als der Sprecher des TBB, Safter Çnar, seine Rede begann wurde deutlich, dass die Anwesenheit von Angehörigen der jüdischen Gemeinschaft nicht zufällig war. Çnar verwendete in seiner Ansprache die Jüdischen Tropen: Er bemühte die Geschichte des jüdisch-deutschen Verhältnisses, um zur Geltung zu bringen, dass Deutsche Türken Deutsche seien, Çnar verglich den Pogrom in Mölln mit den antisemitischen Vorfällen in Deutschland zur Zeit der Nazis. Während er das Publikum an den Holocaust erinnerte, unterstrich Çnar, dass Deutsche Türken als Einwohner Deutschlands bereit sein sollten, diesen Teil der deutschen Geschichte zu schultern. Çnar bezog sich an dieser Stelle auf das viel zitierte Wort von der „Gnade der späten Geburt“ des Altkanzlers Helmut Kohl, wonach die jüngeren Generationen der Deutschen nicht für die antisemitische Vergangenheit verantwortlich seien, da sie zu dieser Zeit nicht gelebt hatten. Çnar, der sich selbst einer links-liberalen Einstellung in Deutschland zugehörig fühlt, betonte, dass es weder eine Gnade der späten Geburt noch eine Gnade des fremden Geburtsortes gebe. Seiner Ansicht nach sind auch Türken, wenn sie in Deutschland wohnen wollen, mitverantwortlich für die deutsche Geschichte. Ergo haben sie auch das nationale deutsche Andenken auf sich zu nehmen: „Wir müssen als Bewohner dieses Landes den Anteil an Verantwortung für die Verbrechen der Vergangenheit tragen. Ich weiß nicht, wie dieser Anteil zu definieren ist – wahrscheinlich braucht er gar nicht definiert zu werden – aber wir müssen diesen Anteil an Verantwortung übernehmen und wir sind dazu bereit, diese Verantwortung zu tragen. Ich möchte das, meine Damen und Herren so formulieren: Es gibt keine Gnade der späten Geburt […] und es gibt keine Gnade des anderweitigen Geburtsortes!“.7 Jeweils alle drei Fälle, die wir hier zusammengefasst haben, beinhalten das jüdische Narrativ und berichten uns davon, wie dieses Narrativ verwendet wird. Mit dem ‚jüdischen Narrativ‘ meinen wir ein Repertoire an Elementen jüdischer Erzählungen, das den jüdischen Minderheitenstatus und die Geschichte der Juden in Deutschland, speziell die Shoah, in sich birgt. Beim ersten Beispiel appellierte Altkanzler Schröder an Muslime/Türken sich in die deutsche Gesellschaft zu integrieren. Dies vor der Kulisse des Jüdischen Museums und anlässlich einer Preisverleihung für „Verständigung und Toleranz“; in Deutschland evozieren diese beiden Begriffe beständig die Jüdische Frage und den Antisemitismus; außerdem erhielt Altbundespräsident Rau den Preis in erster Linie aufgrund 7
Zafer enocak hat diese These in seinem Atlas des tropischen Deutschland (1992) ebenfalls aufgestellt.
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seines Engagements für die jüdische Gemeinschaft und für Israel und aufgrund seines Kampfes gegen Antisemitismus. Der Hintergrund dieser Episode ist folglich ein jüdischer, und so lautete die erste Botschaft an die Muslime/Türken, sie mögen die historische jüdische Integration in die deutsche Gesellschaft – auch wenn diese in Wirklichkeit romantisiert ist – als Modell begreifen. Die zweite Botschaft lautete: Wir Deutsche leisten unseren Anteil, wir haben es mit unseren guten Taten gegen Antisemitismus und Rassismus bewiesen. Nun ist der Ball in eurer – der türkischen – Spielhälfte: Nun müsst ihr euren Beitrag leisten. Die Assoziation mit Juden und dem jüdischen Narrativ ist somit offensichtlich. Das zweite Beispiel erscheint wie eine vorweggenommene Antwort auf Schröder: Die Reaktion auf die anti-türkischen Karikaturen im stern demonstriert, dass Deutschtürken das jüdisch-deutsche Narrativ nicht nur bekannt ist, sondern dass sie auch gelernt haben, es effizient zu benutzen. Deutsche per se eines antitürkischen Rassismus anzuklagen ist nur teilweise wirkungsvoll. Rhetorisch weitaus effektiver ist es, türkische Belange mit denen der Juden in Verbindung zu bringen, weil türkische Intellektuelle der Meinung sind, man würde ihnen zuhören, wenn Parallelen zu Juden gezogen werden, da die deutsche Öffentlichkeit bei solchen Vergleichen hellhörig werde. Auch dieses Beispiel repräsentiert folglich die grundsätzliche Anwendung des jüdischen Narrativs durch führende Vertreter der Deutschtürken. Zugleich sehen wir aber auch, wie der Orientalismus in dieser Karikatur der Nazipropaganda gegen Juden gleicht: Die ‚jüdischen Schädlinge“ schleichen sich in die deutsche Gesellschaft ein. Im dritten Beispiel sehen wir zwei teilweise widersprüchliche Elemente. Einerseits schaffen türkische Führungspersönlichkeiten durch die Gedenkveranstaltung für Mölln eine exakte Vergleichbarkeit, wenn nicht sogar eine Gleichsetzung mit dem heutigen Judentum und dem jüdischen Narrativ. Zugleich versetzen sich die Türken dennoch voll und ganz in die Lage der Deutschen, indem sie die Mitverantwortung für die deutsche Geschichte und den Holocaust übernehmen. Es gibt keine überzeugendere Art, um Solidarität mit Deutschen zu bekunden, als ebenfalls der Nazi-Verbrechen zu gedenken. Umgekehrt unterstreicht dies, wie wichtig ein Element wie der Holocaust, und was wir das ‚jüdische Narrativ‘ nennen, für das nationale Selbstverständnis in Deutschland geworden ist. Kurzum, das Beispiel eins zeigt, als eines von vielen, die Allgegenwart des jüdischen Narrativs in der nationalen Selbstbeschreibung der Deutschen – eine Selbstbeschreibung, die die politische Führung auch den neuen Einwanderern auferlegt. Die Beispiele zwei und drei zeigen, wie türkische Organisationen das jüdische Narrativ als Entsprechung für ihre eigene missliche Lage übernommen haben und versuchen, sich selbst mit der jüdischen Minderheit gleichzusetzen; gleichwohl kann es aber gut sein, dass türkische Führungskräfte das jüdische Narrativ auch benutzen, um ihren Status als ‚ganz normale‘ Bürger innerhalb der deutschen Gesellschaft zu untermauern.
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Ideologie-Arbeit: Minderheiten Die Idee der Narrative, die von Minderheiten und möglicherweise von Einwanderern zur Sprache gebracht werden, weist zurück auf den Gedanken der Ideologie-Arbeit (ideological labour), an der sich Minderheiten beteiligen (Bodemann 1996; 1996a). Meistens offenbart sich die Andersartigkeit des Anderen in wirtschaftlichen, kulturellen und sozialen Praktiken. Diese wiederum begründen den Unterschied, zwischen den Anderen und der dominierenden Gruppe. Typischerweise werden die Praktiken der Anderen als unterlegen angesehen oder man versteht sie als gegensätzlich zu den eigenen Werten: Der Andere hat keine angemessene Sprache, sondern einen „Jargon“ und betätigt sich in stigmatisierten oder „unsauberen“ Aktivitäten wie dem jüdischen Zinswucher im Mittelalter oder dem (jüdischen) Gerben von Leder in Indien. Weit verbreitet ist auch das Festhalten an der „Unterlegenheit“ der religiösen Überzeugungen der Anderen – wie die der Jesiden, der „Teufelsanbeter“ in der Türkei. Alle diese Praktiken laufen denen der dominierenden Gruppe zuwider und bestätigen im Umkehrschluss deren Praktiken – als solche sprechen wir von ihnen als ideologische oder weltanschauliche Arbeit. Weltanschauliche Arbeit ist folglich eine definierte Aktivität, die von einer untergeordneten Gruppe ausgeht. Kulturelle Praktiken von Afroamerikanern werden beispielsweise auf der einen Seite von der dominierenden weißen Umgebung als Instinkt-getrieben und „faul“ ausgelegt, im Gegensatz zu der sittenstrengen Kultur der (weißen) amerikanischen Gesellschaft. Auf der anderen Seite bekräftigen Afroamerikaner, ihre bloße Anwesenheit und ihre Kämpfe in der amerikanischen Gesellschaft seien ein sichtbares Zeichen für den fundamentalen amerikanischen Grundsatz, wonach „alle Menschen gleich geschaffen sind“. Auf Rasse basierende Sklaverei und Ungleichheit stellten eine Vergangenheit dar, die in den USA überkommen worden sei. Auf die gleiche Weise umfasst die weltanschauliche Arbeit der Juden in der gegenwärtigen deutschen Gesellschaft die Rolle der ‚Gedächtniswächter‘, nicht bloß in ihrem eigenen Interesse, sondern ebenso im Interesse ihrer deutschen Umgebung: Die heutige Präsenz von Juden in Deutschland rufe die Erinnerung an die „ruhmreiche deutsch-jüdische Vergangenheit“ vor 1933 wach; ihre Präsenz sei „Beweis“ dafür, dass der Nationalsozialismus überwunden wurde und sich die deutsche Gesellschaft zu einer echten Demokratie gewandelt habe, die mit ihren Außenseitern tolerant verfahre. Einwanderer und Minderheiten unterscheiden sich in dieser Beziehung: Im Regelfall können Minderheiten Bewahrer der nationalen Erinnerung sein, während Einwanderer, die in jüngerer Zeit in eine neue Umwelt gezogen sind, dies (bislang noch) nicht können. Die weltanschauliche Arbeit der Einwanderer ist weniger differenziert als die der Minderheiten, vor allem deshalb, weil es ihnen an einer tieferen Verwurzelung in eine gemeinsame Geschichte mit dem auf-
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nehmenden Land fehlt. Dennoch würden wir argumentieren, dass sich Einwanderer oft eine bestimmte historische Minderheit als Modell wählen, um ihre Inkorporation in ein bereits existierendes politisch-historisches Paradigma auszuhandeln. Es reicht deshalb nicht, nur Makrostrukturen wie die politischen eines Aufnahmelandes oder die Mehrheits-Minderheits-Verhältnisse zu analysieren. Stattdessen müssen wir ein System entwickeln, das sowohl zwischen unterschiedlichen Typen von Minderheiten unterscheidet als auch die Bandbreite der Beziehungen zwischen Einwanderern und Minderheiten erkundet. Dies erlaubt es uns im Gegenzug, Strategien auszumachen, die Einwanderer entstehen lassen, um sich in den mainstream der Gesellschaft einzugliedern. Dennoch sollten wir uns veranschaulichen, dass der Unterschied zwischen Einwanderern und Minderheiten nicht immer eindeutig festzulegen ist. Die diversen Einwanderergruppen gliedern sich nicht unbedingt auf die gleiche unilineare und entwicklungsgemäße Art in die gastgebende Gesellschaft ein. Russlanddeutsche sind beispielsweise völlig anders in Deutschland eingegliedert als russische Juden, die das Land als Kontingentflüchtlinge betreten haben. Einwanderer aus der Mittelschicht verhalten sich anders als Einwanderer aus der unteren Schicht oder als bäuerliche Migranten. In einigen Fällen betrachten sich selbst die Kinder der zweiten und dritten Einwanderergeneration ebenso als Fremde wie es Migranten in europäischen Staaten wie Frankreich, die Niederlande oder Deutschland tun (Pogge 2003). Ganz ähnlich werden sich Einwanderer wahrscheinlich als Minderheit neu konstruieren, wenn sie sich selbst als ghettoisiert empfinden oder wenn ihr religiöser Hintergrund sich von dem der aufnehmenden Gesellschaft abgrenzt. Genau das bestätigen die Deutschtürken: Diese neue Einwanderergruppe schließt sich mit einer etablierten Minderheit zusammen und behauptet, dass die Art und Weise, wie sie in ihrer Umgebung behandelt wird, dem gleichen Rassismus entspreche, wie er sich früher bereits gegen die alteingesessene Minderheit in diesem Land gerichtet habe. Gleichzeitig entstehen häufig Rivalitäten zwischen Minderheiten und jüngeren Einwanderergruppen (Lipset/Raab 1970). Alle diese Unterschiede und Rivalitäten zwischen- oder untereinander demonstrieren ein Verhältnis, das gewöhnlich in der Literatur übersehen wird. Um dieses Thema in die Diskussion einzuführen, wollen wir die jüdische und die türkische Gemeinschaft in Deutschland kurz vorstellen.
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Deutsche Juden und deutsche Türken Die Juden Die deutsche Staatsangehörigkeit zu erlangen, was für andere Einwanderergruppen einen komplizierten Prozess darstellt, ist für viele Juden weniger schwierig.8 Das deutsche Gesetz begünstigt frühere Staatsbürger (sowie deren Nachfahren), und das betrifft meistens Juden, die während der Nazizeit verfolgt wurden. Bei ihnen spielt es keine Rolle, welche andere Staatsangehörigkeit sie zum gegenwärtigen Zeitpunkt besitzen (Artikel 116 Absatz 2 Grundgesetz). Außerdem wurden mit Blick auf den Holocaust besondere Bedingungen geschaffen, um jüdische Einwanderung nach Deutschland anzuregen. Diese neuen jüdischen Einwanderer sind berechtigt, sich für ein beschleunigtes Einbürgerungsverfahren anzumelden. Die neuen jüdischen Einwanderer in Deutschland, in der Regel aus den früheren Sowjetrepubliken, definieren die Bedeutung des Judeseins in Deutschland derzeit neu und zwar auf der Basis ihrer eigenen Traditionen, Glaubensüberzeugungen, sozialen Hintergründe und ihrer Volkskultur (Kaminer 2002; Bodemann 2005). Herausgefordert durch diese neuen Siedler fragen sich die Juden, die aus der Emigration nach Deutschland zurückgekehrt sind, und die polnischen Juden, die nach dem Krieg ins Land kamen, wie „jüdisch“ die russischen Juden wirklich sind. Viele russische Juden stehen unter dem Verdacht, gefälschte Papiere zu besitzen oder Teil der russischen Mafia zu sein (Kaminer 2002). Rassistische Erzählungen über russische Juden sind unter Deutschen wie unter alteingesessenen Juden gleich weit verbreitet.9 Vor dem Zustrom der sowjetisch-jüdischen Migranten nach Deutschland hieß es noch, Deutschland sei das letzte Land in dem Juden leben möchten (Fleischmann 1986). Innerhalb der letzten Jahrzehnte hat sich Deutschland nun in ein Land der Holocaust-Gedenkstätten gewandelt. Darunter befindet sich das Denkmal für die ermordeten Juden Europas in Berlin, das sich über eine Fläche von zwei Fußballfeldern in der Nähe des Brandenburger Tores erstreckt. Es ist symbolisch und materiell gesehen gewiss eines der wertvollsten Grundstücke aus dem Bestand der bundesdeutschen Liegenschaften. Eine weitere Stätte des Gedenkens ist das Jüdische Museum in Berlin, das 2001 für die Öffentlichkeit freigegeben wurde. Das Gebäude, vom jüdischen Architekten Daniel Libeskind entworfen, ist an das frühere Berlin-Museum angegliedert. Verbindungsgänge sollen symbolisieren, dass jüdische Geschichte in die Geschichte der Stadt ein8 9
Für Näheres zum Thema Staatsangehörigkeit siehe die Kapitel von Schoeps, Glöckner und Kessler in Bodemann 2008. Für Näheres, speziell zu den Demografien siehe das Kapitel über die russischen Juden in Bodemann 2008.
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gebettet ist (Young 2004). Ungeachtet der geringen Einwohnerzahl von Juden besteht die jüdische Vergangenheit im heutigen Deutschland im Wesentlichen aus Museen und Monumenten (Bodemann 1996; 1996a), allerdings oftmals unter Polizeischutz und manchmal eingezäunt mit Stacheldraht (Legge Jr. 2003). Trotzdem sitzen deutsche Juden heutzutage nicht mehr auf „gepackten Koffern“ und insbesondere für russische Juden ist Deutschland ein attraktives Land geworden. Bundesweit florieren jüdische Organisationen wie der Zentralrat der Juden oder die Zentralwohlfahrtsstelle der Juden in Deutschland ebenso wie die örtlichen jüdischen Gemeinden, Vereine und Kulturzentren in Berlin oder anderswo (zum Beispiel der Jüdische Kulturverein). Zeitungen (zum Beispiel Jüdische Allgemeine, Jüdische Zeitung), Buchhandlungen, Synagogen, Restaurants und Museen prosperieren, Friedhöfe werden unterhalten. Die Juden haben ihre „Kirchensteuer“, die der Staat von Mitgliedern der Glaubensgemeinschaft einzieht, um deren Gemeinden zu finanzieren. Der Zentralrat der Juden, einige Rabbiner und Gemeindevorstände genießen bundesweit politische Anerkennung. Der Jüdische Kulturverein in Berlin genauso wie andere jüdische Gruppen organisieren spezifische jüdische Kulturveranstaltungen. Juden haben ferner das Recht, die schechita (das Schächten) zu praktizieren, und sie unterhalten ihre eigenen religiösen Schulen. Dieweil sie somit einen gewissen Grad an institutionalisierter Abgrenzung aufrecht erhalten, sei es dahingestellt, ob oder inwiefern sie sich in Deutschland zuhause fühlen. Manche Diskussionen im Jüdischen Kulturverein drehen sich jedenfalls darum, ob sich Juden selbst überhaupt als Deutscher/ Deutsche bezeichnen sollten.10
Die deutschen Türken 17 Jahre nachdem die Juden in den Konzentrationslagern ermordet worden sind, begannen Türken nach Deutschland einzuwandern.11 Als Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg Arbeiter zum Wiederaufbau des Landes benötigte, entschied die Regierung, Erwerbskräfte aus nah gelegenen Staaten wie die Türkei ins Land zu holen (Çalar 1994). Die türkischen Arbeitsmigranten waren gewöhnlich unausgebildete oder lediglich angelernte Bauern, die vor fehlenden Chancen, vor Landknappheit, Arbeitslosigkeit und vor unzureichenden Sozialleistungen flie10
11
Dies wird näher besprochen in Bodemann 2002, S. 185ff. und an anderen Stellen. Die zuletzt deutlichste Äußerung stammt von Micha Brumlik (2004), der sich in seinem Artikel „Dies ist mein Land“ in Jüdische Allgemeine, 51(2004) äußerst dezidiert mit dem deutsch-jüdischen Patriotismus auseinandergesetzt hat. Der Titel erinnert an Lea Fleischmanns Buch Dies ist nicht mein Land (1986). Einwanderung aus der Türkei nach Deutschland betrifft nicht nur Türken, sondern auch Kurden und andere ethnische oder religiöse Minderheiten wie Aleviten oder Jesiden.
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hen wollten (Berger 1975). Während es einige von ihnen im Zuge des Familiennachzugsgesetz von 1972 so regelten, dass sie ihre Familien in Deutschland wieder zusammenführten, entschieden sich andere dazu, nur für sich selbst einen dauerhaften Aufenthalt zu beantragen und ihre Familien in der Türkei zu belassen (Brouwer/Prister 1983); bis 1980 lebten ungefähr 115.000 Türken allein in Berlin (Greve 2001: 30). Mit der Einführung eines neuen Staatsangehörigkeitsgesetzes hat Deutschland die Idee eines ius sanguinis (ein auf Abstammung basierendes Staatsangehörigkeitsgesetz) zum Teil verworfen und damit begonnen, die Migrantenbevölkerung einzubürgern (Joppke 2003). Gemäß der Novelle wird Kindern von Einwanderern, die nach 2000 in Deutschland geboren wurden, zusätzlich zu der ursprünglichen Staatsbürgerschaft der Eltern die deutsche Staatsbürgerschaft gewährt. Allerdings muss ein in Deutschland geborenes Einwandererkind die Staatsbürgerschaft des Geburtslandes seiner Eltern im Alter zwischen 16 und 23 Jahren aufgeben, wenn es die deutsche behalten will (Schirmer 2002; Joppke 1998; 2003; Beauftragte der Bundesregierung für Migration 2000). Schätzungen aus Dezember 2002 zufolge leben 7,34 Millionen Migranten in Deutschland. Die größte Gruppe davon machen die Türken mit 1,998 Millionen Menschen aus (Statistisches Bundesamt 2002). Nach Schätzungen aus 2003 hielten sich 565.766 Türken mit deutscher Staatsbürgerschaft in Deutschland auf (Statistisches Bundesamt/TBB 2003), das entspricht etwa einem Viertel der gesamten türkischen Einwanderungsbevölkerung. Mit dem Fall der Berliner Mauer führten chaotische soziale Zustände und billige Arbeitskräfte aus Ostdeutschland zu Massenarbeitslosigkeit in den westlichen Stadtteilen Berlins (Joppke 2003). Folglich wurden nach 1989 viele Türken, die in den 60er und 70er Jahren nach Deutschland gekommen waren, zunehmend abhängig von staatlichen Hilfen. Nicht mal zehn Jahre später waren etwa 18 Prozent und mehr der Berliner Türken erwerbslos (Landesarbeitsamt 1997). Im Februar 2000 erklärte die Ausländerbeauftragte der Bundesregierung, Marieluise Beck, die Arbeitslosigkeit unter Migranten liege bei fast 20 Prozent, ausländische Frauen und Männer seien nach wie vor doppelt so häufig von Arbeitslosigkeit betroffen wie deutsche (EFMS 2000). Das Problem der Arbeitslosigkeit wird durch Diskriminierung von Einwandererkindern im deutschen Bildungssystem verschärft (siehe auch den Beitrag von Karakaolu in diesem Buch). Deutsche Bürger der zweiten und dritten Generation mit türkischem Migrationshintergrund beklagen ebenso wie türkische Einwandererkinder, dass sie im Bildungssystem nicht die gleichen Chancen hätten (Die Tageszeitung, 21.2.02). Während bei deutschen Jugendlichen und jungen Erwachsenen nur acht Prozent ohne Ausbildung bleiben, liegt die Quote bei türkischen Jugendlichen fünfmal höher und rangiert bei etwa 40 Prozent (The Federal Government’s Commissioner for Foreigners’ Issues 2000).
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Islamophobie, Antisemitismus und der Fallout des 11. September 2001 Wie überall in westlichen Staaten haben die Angriffe auf das World Trade Center in New York auch einen dunklen Schatten über alle Muslime in Deutschland geworfen. Zugleich haben die Attacken – vielleicht paradoxerweise – den Antisemitismus verstärkt; mithin waren interethnische Beziehungen im Allgemeinen betroffen. Viele Muslime, türkische eingeschlossen, beschuldigten Juden, für den 11. September verantwortlich zu seien. Kurz nach den Angriffen übernahmen sie die weit verbreitete Verschwörungstheorie, wonach Juden, die im World Trade Center gearbeitet hätten, zuvor darüber informiert worden seien, dass Flugzeuge in die beiden Türme stürzen würden. Aus diesem Grund seien sie an jenem Tag angeblich auch nicht zur Arbeit erschienen (Lerner 2002). Deutschtürken ebenso wie Türken in der Türkei stellen eine bunt gemischte Gruppe dar. Einige von ihnen haben im Hinblick auf die israelische Politik gegenüber den Palästinensern zusammen mit Arabern Partei gegen Juden ergriffen, wohingegen sich andere, westlich orientierte türkische Muslime mitfühlend gegenüber Juden zeigten. Die Nachwirkungen des 11. September haben also auch die Solidarität zwischen Türken und Juden in Deutschland gestärkt, sodass sich viele Türken von arabischen Einwanderern distanzierten. Obgleich die Türken wie die Araber größtenteils dem Islam angehören, wollte die Türkei vor dem Hintergrund der Modernisierung durch die Kemalisten stets als Teil der westlichen Welt wahrgenommen werden. Die Politik der jüngsten türkischen Regierungen12 war immer verhalten pro-israelisch und tendenziell antiarabisch. Die Türken haben bei vielen Anlässen mit Israel zusammengearbeitet, unter anderem bei der Gefangennahme des Kurdenführers Öcalan 1999 in Kenia (Turkish Daily News, 18.2.1999). Die antiarabischen Einstellungen in der Türkei wurden 2003 durch die verheerenden Bombenanschläge auf Synagogen in Istanbul verschärft (Hürriyet, 15.11.03). Um gegen diese Attentate zu protestieren, hatte eine Gruppe von Einwanderern in Berlin anlässlich eines Jahrestages des Mölln-Pogroms am 22. November eine Migrantische Initiative gegen Antisemitismus ins Leben gerufen. Sie organisierte eine Demonstration, die den Schulterschluss mit den Juden in Deutschland zeigen sollte. Mit dieser Aktion wollte man hervorheben, dass die Juden mit ihren Bemühungen gegen den Antisemitismus nicht alleine stünden. TBB-Sprecher Safter Çnar schickte dem monatlichen Bulletin der Jüdischen Gemeinde zu Berlin, Jüdisches Berlin, eine Mitteilung und erklärte darin, die Türken erwiesen den Juden ihre Solidarität (Ausgabe 6, 59 von 2003). 12
Die pro-israelische Einstellung der türkischen Regierung spiegelt nicht zwangsläufig die Ansichten und Werte der türkischen Bevölkerung gegenüber Israelis und Juden wider. Viele Türken unterstützen weder die israelische Politik, noch sind ihnen Juden sonderlich sympathisch.
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In der folgenden Ausgabe des Jüdischen Berlin wurden Interviews mit und Artikel über Türken und türkische Juden veröffentlicht sowie Fotos einer gemeinsamen Chanukah-Feier, zu der der Jüdische Kulturverein geladen hatten (Jüdisches Berlin, 7,60(2004): 15). Die Artikel und Interviews bezogen sich auf die Zeit des Osmanischen Reichs und dessen millet-System, in dem die türkische/muslimische Mehrheit friedlich mit Juden und anderen ethnischen und religiösen Minderheiten koexistierte (Tulgan 2004). Des Weiteren wurde betont, dass Juden, die nach 1933 aus Deutschland und nach 1492 vor der spanischen Inquisition geflüchtet waren, einst in der Türkei und im Osmanischen Reich Zuflucht gefunden hatten (Shaw 1991). So verurteilte das Bulletin Jüdisches Berlin die Angriffe auf die Synagogen in Istanbul und bot den Türken öffentlichen Raum, um sich solidarisch mit Juden zeigen zu können (Yilmaz 2004). Das jüdische Master-Narrativ: Gemeinsamkeit im Kampf gegen Rassismus und Antisemitismus Der Fallout des 11. September brachte zwei Herausforderungen für die türkische Führung in Deutschland: Sie musste vermeiden, vom antiarabischen und antimuslimischen Strom erfasst zu werden, und gleichzeitig war sie gefordert, den Antisemitismus in den eigenen Reihen zu bekämpfen, der sowohl bei türkischen Einwanderern als auch bei der radikalen Rechten eine neue Intensität angenommen hatte. Unter den Rechten ging die Zunahme des Antisemitismus einher mit einem wachsenden Rassismus gegenüber Muslimen. Graffitis von Neonazis nach der Art: „Was die Juden hinter sich haben, haben die Türken noch vor sich“ (Kastoryano 2002: 132) zwangen deutschtürkische Führungspersönlichkeiten geradezu in eine Allianz mit den Juden – gemäß dem Theorem: „Die Feinde meines Feindes sind meine Freunde.“ In diesem Zusammenhang steht auch ein Foto, das während eines Protestmarschs in Berlin aufgenommen und im Jüdischen Museum Berlin bei einer Wechselausstellung zur jüdischen Geschichte in Deutschland ausgehangen wurde. Das Bild zeigt eine Gruppe türkischer Einwanderer, die ein Transparent trägt, auf dem der Schlachtruf zu lesen ist: „Wir wollen nicht die Juden von morgen sein.“13 Mit anderen Worten, die Neonazis benutzen das jüdische Narrativ in seiner negativen Form und die Einwanderer reagieren darauf, in dem sie das kulturelle Repertoire14 der jüdisch-deutschen Beziehungen für ihre eigenen Zwecke in einer positiven Form einsetzen. 13
14
Die Transparente der türkischen Einwanderer bei einem Protest gegen Rassismus in Deutschland sind bei Jonker 2002 abgebildet. Der Fall, der im Jüdischen Museum gezeigt wird, ist vor dem Hintergrund der geteilten ähnlichen Erfahrungen ein Anzeichen für die Affinität beider Gruppen zueinander. Zur Idee des kulturellen Repertoires nach Charles Tilly, siehe Swidler 2002.
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Der TBB, als säkulare und sozialdemokratisch orientierte Vereinigung türkischer Einwanderer, benutzt das jüdische Narrativ um zu zeigen, dass Rassismus in Deutschland eine Fortsetzung der antisemitischen Geschichte ist. Die Parallele zwischen jüdischen und türkischen Vereinigungen wird dadurch gekennzeichnet, dass der TBB in seinen Bestrebungen darauf abzielt, junge Deutschtürken für die Organisation zu werben. Der TBB will seine konzeptionelle Ausrichtung reformieren und sich selbst von dem engen Image einer ethnischen Organisation befreien und damit ebenfalls versuchen, eine Gemeinsamkeit mit jüdischen Organisationen zu finden. Diese Gemeinsamkeit besteht im Verhältnis von Antisemitismus, Rassismus und dem Status, eine Minderheit in Deutschland zu sein. Der Sprecher des TBB, Safter Çnar, erläutert: „Viele junge Deutschtürken wären gerne in die deutsche Gesellschaft eingebunden, in politische Parteien und Institutionen. Wir werden diese jungen Leute verlieren, wenn wir in die Falle tappen und uns nur als ethnische Zusammenschlüsse organisieren. Wir tun dies aber, weil wir uns selbst als ethnische Einwanderer wahrnehmen. Wenn wir uns jedoch aufgrund eines sozialen Problems organisieren würden, würde sich unsere Situation ändern. Es gibt ein soziales Problem [das heißt, Rassismus] und um dieses herum organisieren wir uns.“ (Interview mit Safter Çnar, Sprecher des TBB, 3. November 2002). Junge, in Deutschland geborene Türken in türkische Migrantenorganisationen einzubinden ist auch deshalb wichtig, wie Safter Çnar argumentiert, weil es helfen könnte, die derzeitigen ethnischen Vereinigungen in eine NGO umzuwandeln, die soziale Probleme wie Rassismus bekämpft. Mit diesem Wandel könnte man der Vorstellung einer sich abgrenzenden türkischen Gesellschaft entgegentreten und eine assimilierte türkische Gesellschaft anstreben, die in Deutschlands Problem des Rassismus eingebunden und zugleich von ihm betroffen ist. So wie eben deutsche Juden sich gegen Antisemitismus vereinigen, könnten sich Deutschtürken gegen den Rassismus gegenüber Türken zusammentun. Der TBB hat bereits bei verschiedenen antisemitischen Vorfällen seine Solidarität mit der Jüdischen Gemeinde zu Berlin bewiesen. Ein Beispiel für die Zusammenarbeit beider Organisationen konnte man während der Bundestagswahl 2002 beobachten, als der FDP-Politiker Jamal Karsli die Vorgehensweisen der Israelis im Westjordanland mit „Nazi-Methoden“ verglich. Der damals stellvertretende Vorsitzende der Freien Demokratischen Partei, Jürgen Möllemann, fuhr damit fort, das führende Mitglied des Zentralrats der Juden in Deutschland, Michel Friedman, mit den Worten zu beleidigen, sein Verhalten beflügele den Antisemitismus. Mit dieser antiisraelischen und antisemitischen Taktik erhofften sich Karsli und Möllemann im rechten Lager und unter Muslimen Stimmen für ihre Partei zu gewinnen (The New York Times, 7.6.02). Als Antwort darauf beteiligten sich Mitglieder des TBB vor der Parteizentrale in Berlin an einer Protestkundgebung der jüdischen Gemeinde gegen diese Wahlkampagne (Der Spiegel,
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24,2002). Die Europa-Ausgabe einer großen türkischen Zeitung verurteilte Möllemanns antisemitische Strategie zur Wahlwerbung unter Muslimen in scharfem Ton (Hürriyet [Europa-Ausgabe], 10.6.02). Als Gegenleistung für die erwiesene Solidarität erhielt der TBB eine positive Resonanz der jüdischen Gemeinde. Die oben erwähnte Gedenkveranstaltung für die Mölln-Pogrome ist ein Beispiel für die jüdische Unterstützung der türkischen Gemeinschaft. Ein paar jüdische Abgesandte nahmen an der Veranstaltung teil und überbrachten Grußworte im Namen ihrer Organisationen. Als der TBB darüber hinaus das Antidiskriminierungsnetzwerk ins Leben rief, um den Vorbereitungsprozess für das neue Antidiskriminierungsgesetz zu beeinflussen, und aus diesem Anlass eine Informationsveranstaltung für die Öffentlichkeit abhielt, waren ebenfalls Mitglieder der jüdischen Gemeinde anwesend. In diesen aber auch in noch anderen vergleichbaren Projekten hat der TBB mit der Jüdischen Gemeinde zu Berlin gegen Diskriminierung und Rassismus kooperiert (Hürriyet [Europa-Ausgabe], 17.7. 01).
Mit dem jüdischen Modell von der Einwanderung zur Diaspora Während der TBB versucht, eine Allianz mit der jüdischen Gemeinschaft zu bilden und dabei das jüdische Narrativ in seinem Inhalt benutzt, benutzt das „Cemaat“, das islamische Gegenstück zur Jüdischen Gemeinde zu Berlin, das Jüdischsein als Organisations-Form: Das Cemaat konzentriert sich auf die institutionellen jüdischen Strukturen und ahmt diese nach, um die Anerkennung für die religiösen Rechte von Muslimen in Deutschland zu erlangen.15 Dementsprechend sehen sich (türkische) Muslime erstmals selbst als Diaspora und haben sich auf der Suche nach einem Modell für ein diasporisches Leben begeben. Der stellvertretende Vorsitzende des Zentralrats der Muslime in Deutschland, Hobohm, konstatierte, dass den Muslimen eine Theologie der Integration fehlt. Die alten Schriften gäben wenn überhaupt nur spärliche Hinweise darauf, wie man sich in nicht-muslimischen Gesellschaften verhalten solle.16 Die institutionellen Strukturen der Juden werden als Modell für türkische religiöse Organisationen angewandt. Ziel ist es, die Solidarität und Geschlossenheit untereinander zu erreichen, von denen die türkischen Organisationen (fälschlicherweise) annehmen, dass sie in jüdischen Zusammenschlüssen gegeben seien. Obwohl jüdische Vereinigungen unterschiedliche Interessen verfolgen und 15
16
Es ist offensichtlich, dass die binäre religiöse/nicht-religiöse Organisationsstruktur der Türken in Deutschland die Situation eines strikt säkularen Staats und einer beträchtlichen religiösen Bevölkerung in der Türkei widerspiegelt. Mohammed Aman H. Hobohm, zit. in Die Welt, 16.11.2004.
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oft im Konflikt miteinander stehen, sind ihre inneren Kontroversen in den Massenmedien oder bei Außenstehenden wenig präsent. Ahmet Ylmaz, Vorstandsmitglied des Cemaat, ist sich der Auseinandersetzungen innerhalb der jüdischen Vereinigungen offensichtlich nicht bewusst und gilt zudem nicht unbedingt als Freund von Juden. Trotzdem rühmt er die starke Verbundenheit, die er sich unter den Juden vorstellt: „Ich wünsche mir von Allah, dass kein anderes Volk die Schwierigkeiten durchmachen muss, die das jüdische Volk erfahren hat. Aber [ich wünsche mir von Allah, er würde] alle mit der Solidarität ausstatten, die er den Juden gegeben hat. Es gibt eine jüdische Gemeinde, die für alle Juden spricht. Mein Herz sehnt sich danach, dass alle türkischen Organisationen unter einem Dach zusammenkommen und den gleichen Abstand zu allen [politischen] Parteien [in Deutschland] einnehmen würden.“ (Interview mit Ahmet Ylmaz, Vorstandsmitglied der Türkischen Gemeinde zu Berlin, 8. Mai 2003). Obwohl Ylmaz Sehnsüchte bislang nicht realisiert wurden, hat seine Organisation, das Cemaat, seine Organisationsstruktur nach dem Vorbild der jüdischen Gemeinde gestaltet. Das gilt sowohl für die hierarchische als auch für die religiöse Orientierung. Beispielsweise wurde der offizielle Name des Cemaat, „Türkische Gemeinde zu Berlin“, vom Namen „Jüdische Gemeinde zu Berlin“ inspiriert.17 Einige Mitglieder des Cemaat fordern offen, die gleichen religiösen Rechte ein, wie sie die Juden besitzen. Gemeint ist damit, dass die staatlichen Behörden in Deutschland die religiösen und kulturellen Eigenarten der sunnitischtürkischen Einwanderer anerkennen sollten.18 So verlangen des Cemaat und andere religiöse Zusammenschlüsse von Türken etwa die Erlaubnis zum Schächten, die Erlaubnis zum öffentlichen Gebetsruf oder solche Bestattungsvorschriften, die auch dem islamischen Ritus Raum geben.19 Ein weiterer Unmut verursachender Unterschied zwischen den jüdischen und muslimischen Zusammenschlüssen ist ihr Finanzstatus. Während Kirchen und Synagogen als Körperschaften des öffentlichen Rechts Kirchensteuer erhalten, besitzen Moscheen dieses Privileg nicht. Dieser Aspekt verursacht erheblichen Groll unter den Muslimen in Deutschland (Laurence 2001), insbesondere deshalb, weil ihre Anzahl die der Juden bei weitem übertrifft; sie haben sich allerdings auch noch nicht so vereinheitlicht, wie es nötig wäre, um eine politische Lobby zu bilden und den Status als Körperschaft des öffentlichen Rechts einfordern zu können. 17 18
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Die Präposition „zu“ in der Namensbezeichnung ist etwas antiquiert und kommt seltener vor, aus diesem Grund ist es bemerkenswert, dass das Cemaat diese Form übernimmt. Dieser Teil der Diskussion schließt bewusst andere religiöse Gruppen, die neben den sunnitischen Muslimen aus der Türkei nach Deutschland eingewandert sind wie Aleviten, Jesiden und Aramäer, aus. Für eine vollständige Liste muslimischer Forderungen s. die Islamische Charta des Zentralrats der Muslime in Deutschland (2002).
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Die augenscheinlichsten Beispiele für das Aufstellen religiöser Forderungen im Zusammenhang mit dem jüdischen Narrativ folgen aus Themen wie den öffentlichen Diskussionen über die religiöse Erziehung von türkisch-muslimischen Kindern, über das Tragen des Kopftuchs und die Auseinandersetzungen mit dem Recht, rituell geschlachtetes (halal) Fleisch zu essen. Die religiöse Erziehung von türkischen Einwandererkindern in Deutschland ist bereits über Jahre ein viel diskutiertes Problem. Während Kinderkurse für Koranrezitation20 in vielen sunnitischen Moscheen als Gemeindearbeit rechtlich zugelassen sind, bemüht sich das Cemaat, auch Einfluss auf die Einführung eines islamischen Religionsunterrichts an öffentlichen Schulen zu nehmen.21 Juden ist indes eine selbstständige religiöse Erziehung in Deutschland gestattet, einschließlich an Gymnasien. Mit der Problematik des Islamunterrichts in weiterführenden Schulen brach in der Öffentlichkeit eine kontroverse Debatte darüber aus, ob muslimische Lehrerinnen im Schulunterricht oder im öffentlichen Dienst ein Kopftuch (türkisch: baörtü oder türban) tragen dürfen. Das Bundesverfassungsgericht hielt dazu in einem Urteil aus dem Jahr 2003 fest, dass jedes einzelne Bundesland selbst über ein mögliches gesetzliches Verbot des Kopftuchs in öffentlichen Schulen entscheiden müsse. Die meisten Bundesländer sprachen sich in der Folge für das Verbot aus, insbesondere solche, die von der CDU/CSU regiert werden, wie etwa Baden-Württemberg (Deutsche Welle, 25. 11.03; siehe auch die Beiträge von Schneiders und Muckel in diesem Buch). Türkische Einwandererorganisationen teilen sich in zwei Strömungen auf, einmal in eine religiöse und einmal in eine säkulare. Die religiösen Einwandererorganisationen wie das Cemaat spielten in der öffentlichen Kontroverse um das Kopftuchverbot die MultikulturalismusKarte. Sie argumentierten, dass die religiösen und kulturellen Eigenarten von Einwanderern als politische Rechte betrachtet werden sollten. Muslimische Frauen dürften aus diesem Grund nicht davon abgehalten wurden, ihre Religion im öffentlichen Raum zu praktizieren. In der Tat wäre es bis vor kurzem undenkbar gewesen, etwa einen Juden zu fragen, ob er seine Kippa abnehme. Der doppelte Standard, jüdische Praktiken zu tolerieren und gleichzeitig türkischmuslimischen entgegenzutreten, ist auch ein Grund, warum Türken anfänglich den Kontakt zu Juden gesucht haben, um die entsprechende Anerkennung in der Öffentlichkeit zu fordern. Anders als die religiösen unterstützten die säkularen Einwanderergruppen wie der TBB, der sich mit dem jakobinischen Geist der
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Lesen und Auswendiglernen von Koranversen in Arabisch. Die Islamische Föderation Berlin (IFB) ist bislang der einzige islamische Verband, der das Privileg hat, an weiterführenden Schulen Islamunterricht in deutscher Sprache zu erteilen. Derzeit nehmen etwa 1.600 Schüler, zur Hälfte Jungen und Mädchen, am islamischen Religionsunterricht teil. 74 Prozent davon sind türkischer und 21 Prozent arabischer Abstammung (IFB 2004).
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türkischen Verfassung identifiziert, ein Verbot aller religiösen Symbole in der Öffentlichkeit. Die Erlaubnis zu Schächten stellte für die türkischen Einwanderer in Deutschland eine wichtige kulturelle Auseinandersetzung dar. Halal geschlachtetes Fleisch erfordert es, dass dem Tier bei vollem Bewusstsein die Kehle mit einem scharfen Messer durchtrennt wird, sodass das Blut aus den Gefäßen fließen kann. Dieser Brauch widerspricht den heutigen deutschen Gesetzen, nach denen das Tier vor der Tötung zunächst per Elektroschock betäubt werden muss. Da es den Juden jedoch erlaubt ist, eine ähnliche Art der Schlachtung (schechita) zu praktizieren, wurde das Thema zum offenen Streitpunkt; insbesondere im Monat Ramadan und vor dem Opferfest, bei dem es für gläubige Muslime üblich ist, Schafe oder Rinder zu schlachten. Vor einiger Zeit kämpfte ein türkischer Metzger, Rüstem Altnküpe, dafür, seine Kunden während der Fest-Zeiten mit halal-Fleisch zu versorgen (Evrensel Daily Newspaper [Europa-Ausgabe], 16.1.02). Unterstützt wurde er von verschiedenen türkischen und muslimischen Organisationen, die auf das Recht pochten, ihre Religion in Deutschland praktizieren zu dürfen. Nach tagelangen Kampagnen in den Medien und bürokratischen Auseinandersetzungen mit deutschen Behörden erhielt der Metzger am Ende unter strengen Auflagen das Recht, Tiere auf rituell vorgeschriebene Art und Weise zu schlachten.22 Offensichtlich ging es hier nur vordergründig um das Schlachten von Tieren und das Verzehren von Fleisch. Vielmehr ging es um die Anwendung religiöser Gebote, was Christen und Juden in Deutschland ganz selbstverständlich frei steht. Obgleich sich Juden und Muslime oft uneinig gegenüberstehen, weisen deutsche Türken auf die Parallelen mit deutschen Juden hin, wenn sie vom Staat die Billigung ihrer religiösen Rechte einfordern. Mustafa Yenerolu, Leiter der Rechtsabteilung bei der Milli Görü, hält es für selbstverständlich, mit der jüdischen Gemeinschaft in Deutschland in diesen oder vergleichbaren Belangen zu kooperieren.23 In einer Podiumsdiskussion in Nordrhein-Westfalen verteidigte er das Recht der Muslime, gemäß islamischem Recht schlachten zu dürfen: „Ich habe mit ihnen [den Diskussionsteilnehmern] mehrere Stunden gesprochen. Ich haben ihnen rationale Argumente gegeben. [Sie erklärten,] du musst dich in diese Gesellschaft integrieren. Meine Argumente zählten für sie nicht. Dann ergriff der Rabbi, der neben mir saß, das Wort. Er sagte: Ihr [die Deutschen] habt nicht das Recht so zu sprechen. Ihr habt meine Vorfahren massakriert.‘ Daraufhin waren 22 23
Kurz darauf wurde auf Altnküpes Geschäft ein Brandanschlag verübt. Die Täter sind unbekannt (IGMG, 26.11.04). Obwohl Yenerolu erklärt, dass es selbstverständlich sei, mit der jüdischen Gemeinschaft in Deutschland zusammenzuarbeiten, fügte er in seinen späteren Reden ebenso hinzu, für Milli Görü sei es unmöglich, mit deutsch-jüdischen Vereinigungen zu kooperieren, weil sie das israelische Vorgehen in Palästina unterstützten, und das sei für diese muslimische Gemeinschaft inakzeptabel.
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die Deutschen still. Sie konnten nichts mehr sagen. Er hat sie dermaßen fertig gemacht, wäre ich an ihrer Stelle gewesen, hätte ich all seine Affronts nicht ertragen können. Ich wäre aufgestanden und gegangen. Aber das ist sein [des Rabbis] Kapital.24 Sie [die Deutschen] haben sechs Millionen Menschen umgebracht, sie können es nicht wagen, den Raum zu verlassen [während der Rabbi spricht]. Für die Zeitungen wäre das ein Skandal. [Die Deutschen] hörten [dem Rabbi] bis zum Ende zu. Als wir die Veranstaltung verließen, sagte ich zu ihm [dem Rabbi]: ‚Haben Sie vielen Dank. Sie können auf diese Art handeln. Aber wir wissen nicht, wie wir es machen sollen.‘ Darauf entgegnete er: ‚Ich weiß, dass diese Deutschen einen Groll gegen mich hegen. Das ist beinahe in ihren Genen. Das Beste, was Ihr tun könnt, ist, euch eng neben uns [den Juden] zu stellen. Wir können zusammen [gegen die Deutschen] kämpfen. Unser Wort ist hier nämlich etwas wert, eures ist es nicht.“ (Interview mit Mustafa Yenerolu, Rechtsabteilung der Milli Görüs, Köln , 27. Juli 2004).
Die türkische Fragmentierung und der Mythos von der Einheit der Juden Es wird argumentiert, dass wenn die Türken mehr einheitliche und zentrale Organisationen, auch für örtliche Lobbyarbeit hätten, könnten sie wie die Juden von ihren religiösen und kulturellen Aktivitäten profitieren (Laurence 1999: 6). In der korporativ geprägten deutschen Demokratie würden die Behörden eine starke Interessenvertretung der türkischen Einwanderer gewiss begrüßen – Organisationen, die gemeinsame Ziele vertreten und ihr Klientel gleichzeitig disziplinieren; aber die türkischen Einwandererorganisationen sind noch weit davon entfernt, mit einer Stimme zu sprechen. Die Kontroverse über das Kopftuch ist nur ein Beispiel. Die Kampagnen des TBB wandten sich scharf gegen eine Verschleierung der Frau, das Cemaat hingegen unterstützte sie nicht nur durch öffentliche Aktionen, sondern auch indem es Kopftuchträgerinnen mit Sozialleistungen versorgte oder ihnen bei der Suche nach einem Arbeitsplatz behilflich war. Ergebnis dieser türkischen Fragmentierung ist, dass die deutschen Behörden die Rolle der Einwandererorganisationen als Gesprächspartner herunterspielen, (während sie gleichzeitig die Fragmentierung der jüdischen Gemeinschaft in Deutschland ignorieren). Manche politische Leitfigur aus der türkischen Einwanderergesellschaft wie die Integrationsbeauftragte des Berliner Bezirks Tempelhof-Schöneberg, Emine Demirbüken, ärgert sich über die politische Uneinigkeit unter den türkischen Migrantenverbänden. Demirbüken zeichnet Parallelen zwischen Juden sowie jungen Türken und betont dabei, es sei unentbehrlich, der deutschen Gesellschaft 24
Im türkischen Original heißt es: „Ama bunun sermayesi o“.
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das wirtschaftliche und intellektuelle Potenzial der Türken zu demonstrieren: „Die jüdische Gesellschaft verbindet die Wirtschaftskraft mit der Intelligenz ihrer Mitglieder. Auch Türken haben ökonomische Macht in diesem Land. Wir haben viele Menschen, die zweisprachig aufgewachsen sind. Sie sprechen perfekt deutsch und türkisch. Warum können wir unsere Wirtschaftskraft und unsere Intelligenz nicht zusammenbringen? Warum zeigen wir den Deutschen nicht unser Potenzial? Warum können wir sie nicht zwingen, uns ernst zu nehmen? Wenn uns das in Zukunft nicht gelingen wird, werden sie uns ewig mit dem Stereotyp belegen, dass wir Mitglieder einer Gesellschaft sind, die kein Deutsch lernen will, deren Frauen von ihren Ehemännern geschlagen und deren Töchter zuhause eingesperrt werden.“ (Interview mit Emine Demirbüken, Integrationsbeauftragte des Berliner Stadtbezirks Tempelhof-Schöneberg, 4. März 2003). Demirbüken ist überzeugt, eine Konsolidierung der Organisationsstruktur würde zu einer Veränderung der alten Klischees vom türkischen Gastarbeiter führen. Trotz ihrer wirtschaftlichen Leistungen verfolgen immer noch viele Türken in Deutschland traditionelle Verhaltensweisen wie Gewalt gegen Frauen oder konservative Erziehungsmethoden. Darüber hinaus sind viele Einwanderer – gezwungenermaßen oder aus freien Stücken – von der deutschen Gesellschaft isoliert (siehe den Beitrag von Schröttle in diesem Buch). Viele sprechen nicht einmal Deutsch. Diese Probleme werdenheute als signifikant für die Parallelgesellschaft angesehen. Im Vergleich zu ihren eingewanderten Eltern aber sind junge Türken besser ausgebildet, verfügen über bessere Sprach- und soziale Kompetenzen. Demirbüken zufolge werden die Deutschen die türkische Gemeinschaft erst dann stärker respektieren, wenn sie mehr mit jungen Türken als Gesprächspartner in den Einwandererverbänden zu tun haben werden. Sie hält daher Ausschau nach wirtschaftlich und gesellschaftlich leistungsfähigen Menschen, die ebenso wie in den jüdischen Verbänden an die Spitze der türkischen Gesellschaft rücken sollen. Die jüdisch-türkische (Fehl-)Beziehung: ein literarischer Exkurs Wir haben in diesem Aufsatz festgehalten, dass Soziologen in der Vergangenheit selten untersucht hatten, inwiefern sich neue Einwanderergruppen an dem Verhalten solcher Gruppen orientieren, die bereits vor ihnen im jeweiligen Land angekommen waren. Es ist hedoch klar, dass sich sowohl Einwanderer als auch Minderheiten an anderen Minderheiten oder Einwanderergruppen orientieren. Soziale Strukturen werden nachgebildet, was den ethno-kulturellen Gemeinschaften trotz Globalisierung ihren spezifischen Charakter in Nationalstaaten verleiht. Wir konnten bislang ebenfalls feststellen, dass türkische Führungskräfte Notiz vom Verhalten der Juden genommen und die jüdische Führung dasselbe bei den Türken getan hat.
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Die Präsenz prominenter Juden bei türkischen Gedenkveranstaltungen wie im oben beschriebenen Fall Mölln muss allerdings nüchtern betrachtet werden: jüdische Präsenz zu solchen Anlässen ist insgesamt doch immer noch sehr selten, und während Juden für Deutschtürken einen wichtigen Bezugspunkt darstellen, nehmen Türken in jüdischen Debatten im Grunde nur eine Randbedeutung ein – es sei denn, sie sind als Zielscheibe für Neo-Nazis25 Leidensgenossen oder sie erweisen sich als religiöse Gemeinschaft, die zeitweilig oder unter bestimmten Umständen ähnliche politische oder rechtliche Forderungen stellt. Das trifft speziell dann zu, wenn man die jeweiligen religiösen Bedürfnisse vom deutschen Staat anerkannt haben will. Einzelne Juden spielen im Kampf gegen den Rassismus, gegen den Neonazismus und ebenso beim Vorantreiben enger Beziehungen zur türkischen und/oder muslimischen Gemeinschaft wichtige Rollen. Zwei davon sind Anetta Kahane, die infolge mehrerer rassistisch motivierter Morde von Skinheads die Amadeu Antonio Stiftung in Berlin gründete, und Irene Runge, die ebenfalls in Berlin den Jüdischen Kulturverein ins Leben rief, der überwiegend auf russische Einwanderer und ostdeutsche Juden ausgerichtet ist. Es ist allerdings bezeichnend, dass die beiden Frauen – vermutlich wegen ihrer jüdischen Herkunft aus Ostdeutschland – auf der Führungsebene der Berliner Juden und der bundesweiten jüdischen Gemeinschaft weitgehend unbedeutend geblieben sind. Aus kultureller Sicht und bezüglich ihres gesellschaftlichen Standes bewohnen Türken und Juden zwei unterschiedliche Welten. Die meisten Juden gehören zur Mittelklasse, in den meisten Fällen haben sie höhere Schulbildung und besitzen häufig auch eine akademische Ausbildung. Eine kleine aber bedeutsame Zahl von Juden ist in der deutschen Öffentlichkeit als Intellektuelle anerkannt. Die meisten Türken jedoch kamen als Gastarbeiter und sind proletarisierte Bauern mit geringem Bildungsstand. Wie Navid Kermani beobachtet hat, sind anders als in Großbritannien und Frankreich so gut wie keine muslimischen Eliten in Deutschland eingewandert.26 Selbst unter den in Deutschland geborenen Türken 25
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Gleichwohl hallten die anti-türkischen Pogrome bei einzelnen Juden nach. Bodemann (2005: 22) berichtet über solch eine Begebenheit, in der ein junger Jude durch das Mölln-Pogrom sehr aufgewühlt worden war. Siehe seinen Artikel „Distanzierungszwang und Opferrolle“ in Die Zeit, 18.11.04. Über Jahre hat eine bedeutsame Anzahl türkischer Ingenieure und Ökonomen an deutschen Universitäten studiert und in deutschen Fabriken gearbeitet; Necmettin Erbakan, der Gründer der Milli Görü, ist einer davon. Viele dieser Personen werden in der Türkei als technokratische Intellektuelle angesehen (Göle 1986). Darüber hinaus kamen viele türkische Intellektuelle nach Deutschland, um vor dem Militärputsch 1980 in der Türkei wegzulaufen. Was Deutschland dennoch fehlte, im Gegensatz zu Frankreich und Großbritannien, waren Eliteschulen, an denen die Schüler in der Sprache und der Kultur ihrer Heimatländer unterrichtet wurden; viele von ihnen landeten am Ende in Frankreich oder in England, wo sie sich hinsichtlich Sprache und Kultur komplett anpassten.
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und den Muslimen im Allgemeinen weichen sozialer Status und Bildungsstand deutlich von demjenigen der Juden ab. Dennoch hat sich mittlerweile – der jüdischen Seite nicht unähnlich – eine kleine aber signifikante Mittelklasseschicht aus gebildeten Türken entwickelt, auch wenn sie weiterhin in anderen Welten leben und ihre Kontakte mit Juden dünn gesät sind. Angesichts des angespannten Verhältnisses zwischen Juden und Deutschen nach dem Holocaust bleiben die Türken in der deutschen Gesellschaft weiterhin die natürlichen Partner der Juden so wie auch all die anderen „Fremden“, die nicht den historischen Ballast des deutschen Judentums mit sich tragen. Die Deutschtürken sind außerdem keine Enkel der Täter, was ein überwiegend unbekümmertes Verhältnis beider Minderheiten zueinander zulassen könnte. Der jüdische Schriftsteller Maxim Biller beschwor diese Solidarität zwischen Minderheiten und Einwanderern gegen die deutsche Mehrheitsgesellschaft (Biller 2001: 86ff.). Und Navid Kermani hat den Weg, dem deutschtürkische Intellektuelle in Zukunft vielleicht folgen könnten, bereits skizziert. In einem neueren Essay über die deutsche Literatur, begreift Kermani beispielsweise Franz Kafkas deutsche kulturelle Bildung ebenso wie die anderer deutscher Schriftsteller im Exil, die meistens jüdischen Ursprungs sind und am Rande der Gesellschaft verortet werden, als identisch mit seiner eigenen; sozusagen als Ausgangspunkt für sein eigenes literarisches Schaffen (Süddeutsche Zeitung, 21.12.06). Gegenwärtig halten es Deutschtürken für wichtiger, von der Mehrheitsgesellschaft statt von den Juden anerkannt zu werden, zumal Allianzen mit Juden voller Ambiguität stecken. Für anatolisch-„orientalische“ Islamisten sind Juden mit Blick auf den Staat Israel die größten Feinde des Islam, und der Antisemitismus unter ihnen ist stark ausgeprägt. Säkular geprägte europäische Türken und solche mit moderaten und modernen religiösen Auffassungen machen bei sich eine gewisse Affinität gegenüber Juden aus: Als Kemalisten in der Türkei und als Zionisten in Israel versteht man beide Gruppen als europäischen Außenposten in einer „orientalischen“ sowie zumeist arabischen Welt; zudem verbreiten Juden in Deutschland ein Modell der Mehrheits-Minderheits-Verhältnisse. Türken sind sich nicht immer der außergewöhnlichen historischen Stellung der Juden bewusst. Auf jüdischer Seite kommen einem zwei Romane in den Sinn, in denen Türken charakteristische Rollen spielen. Der erste stammt von Doron Rabinovici (1999), der 1961 in Israel geboren wurde und heute in Wien lebt. In seinem Buch Suche nach M., ein surrealistischer Kriminalroman, konzentriert sich Rabinovici auf das Leben zweier junger jüdischer Männer, deren Eltern HolocaustÜberlebende aus Osteuropa sind. Ein zentrales Kapitel des Werks beschreibt die flüchtige Bekanntschaft einer der beiden jüdischen Protagonisten mit Gülgün. Gülgün war eine Kommilitonin von Dani Morgenthau. Vermutlich stammt sie
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aus der höheren Mittelschicht Istanbuls und besuchte dort eine deutsche Schule. Anschließend studierte sie Wirtschaftswissenschaften in einem nicht weiter benannten deutschsprachigen Land. Eine Rückkehr in die Türkei kam für sie nicht mehr in Frage. Dani fühlte sich zwar zu Gülgün hingezogen, war aber zu schüchtern, um zu handeln. Zu diesem Zeitpunkt hatte sie einen deutschen Liebhaber, der Jura studierte. Später heiratete sie Yilmaz, einen Kellner und Musiker, der ihr vom sozialen Stand her offensichtlich unterlegen war, und von dem sie in Istanbul niemals auch nur Notiz genommen hätte. Yilmaz wurde beschuldigt, im Rotlicht- und Spielermilieu der Stadt einen türkischen Bekannten in einer Bar niedergeschossen zu haben. Während des Gerichtsprozesses beschreibt der Richter, ein falscher Freund für Türken und Juden, den Vorfall als eine ‚türkische Geschichte‘ – eine Strategie der Ausgrenzung, die der Richter auch im Bezug auf Juden angewandt hätte. Viele Jahre nachdem ihm Yilmaz und Gülgün über den Weg gelaufen sind, trifft Morgenthau, der nun Geschworener ist, Yilmaz in eben jenem Prozess vor Gericht wieder. Türken und Juden werden auch noch auf andere Weise miteinander verknüpft: Das Rotlicht- und Spielermilieu mit den Türken spielt auf ähnliche Milieus der osteuropäischen Juden nach der Shoah in Deutschland an. Die nichtjüdische Umwelt ist auf vergleichbare Art vorurteilsbehaftet gegenüber Türken und Juden. Beide, der Jude Dani und Yilmaz, der Türke und angeklagte Mörder, leben in Eintracht und im „Widerhall fremder Melodien“. Ebenfalls ähnlich der Juden möchte Gülgün eine „Kosmopolitin“ sein – für andere aber ist sie einfach nur gewöhnlich, ihrer eigenen Traditionen beraubt. Andernorts im Roman spielen Türken für die Juden eine periphere, obgleich häufig verwandte Rolle; allerdings zu weit voneinander entfernt, um eine Beziehung wie die zwischen Gülgün und Dani Morgenthau zustande kommen zu lassen. Maxim Billers Roman Esra folgt einer vergleichbar triadischen Form. Die Geschichte dreht sich um die unglückliche Liebe des Ich-Erzählers zu einer türkischen Frau. Sie ist die Tochter einer komplizierten, herrschsüchtigen und prominenten Mutter. Esra ist oder wird für eine Dönme, eine Nachkommin von Juden, gehalten – ein Aspekt, der für den Erzähler von solch großer Bedeutung ist, dass für ihn die Zukunft dieser Beziehung davon abhängt. Mit Esra stellt sich der Ich-Erzähler ein Deutschland im reinsten Sinne vor: Beide sprechen ein klassisches Deutsch ohne den platten Umgangssprachenausdruck, den ihre deutsche Umgebung pflegt. Für beide ist es wichtig, dass sie sich von ihrer Umgebung abheben: „Es war uns klar, dass wir selbst anders waren – darum waren wir auch überzeugt davon, dass es uns in einem anderen Land viel besser ginge.“ (S. 88). Es schien ihnen also, als würde ihre Beziehung außerhalb Deutschlands am besten funktionieren; zudem erinnerte Esras türkische Heimatstadt den Ich-Erzähler an Israel. Dennoch möchte er nicht riskieren, dass Esra schwanger wird, mögli-
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cherweise auch, weil er Angst vor weiteren Komplikationen angesichts der losen Verbindung und ihres zweifelhaften jüdischen Hintergrunds hat; vielleicht aber auch, weil er nicht noch mehr Chaos in seinem eigenen Leben haben wollte. Esra antwortet: „Manchmal bist du sehr deutsch“, und er entgegnet: „Und du … du bist sehr orientalisch.“ Ihre gemeinsame Einstellung gegenüber ihrer deutschen Umwelt erweist sich als fragil und so verfallen sie wieder in die Wahrnehmung des Gegenübers als die/den er „Anderen“. Am Ende zeigt sich Esras distanzierte Beziehung zu ihrem Ehemann, einem Deutschen mit Namen Frido, als solider. Beide haben bereits eine gemeinsame Tochter und Esra erwartet ein zweites Kind von ihm. Der Ich-Erzähler wird somit zum außen stehenden Beobachter verbannt. Später wird er sogar Trauzeuge bei Esras und Fridos Hochzeit. Die türkisch-jüdisch-deutsche Rivalität und die Dreiecksbeziehung ist nicht nur ein Thema unter deutschen Juden; Türken bringen diese Dreiecksbeziehungen ebenso klar und deutlich zum Ausdruck. In Yadé Karas Selam Berlin beispielsweise haben wir die Geschichte von Hasan, einem jungen Kreuzberger Ghetto-Jungen, der von der Filmbranche entdeckt wird. Im Laufe seiner neuen Karriere trifft er auf Cora, der Partnerin von Wolf, einem Regisseur der gerade in Kreuzberg einen Film dreht. Cora und Hasan starten ein leidenschaftliches Verhältnis von kurzer Dauer. Nachher, sehr zum Verdruss Hasans, beginnt Cora eine neue Affäre, diesmal mit Vladimir, einem (jüdischen) Geigenspieler aus Riga. In einem rassistischen Gewaltakt wird ein Freund von Hasan zusammengeschlagen. Zudem kommt Hasan bald nicht mehr umhin, festzustellen, dass Türkischsein in Kreuzberg offenbar nicht länger schick ist, denn Cora und Wolf bereiten gerade einen Film über den Violinenvirtuosen Vladimir und dessen neues Leben im Westen vor. Dabei stellt Wolf fest, dass jüdische Musik, jüdische Kultur viel spannender ist als türkische: „Die Juden geben jetzt die Richtung vor“, das türkische Motiv ist zu ausgelutscht; „die Türken lassen sich nicht integrieren“. Auch Hasans engste deutsche oder deutschtürkische Freunde finden die jüdische Kultur nun ebenfalls aufregender. Sie entdecken die Welt des „einfachen, armen Juden“ vor der Nazizeit und singen „ein jemenitisches Lied, ‚Im nin’ Alu‘ von Ofra Haza“. Hasan selbst wird währenddessen in einer deutschen Kneipe für einen Juden gehalten und angegriffen. Er fährt mit der U-Bahn hin und her und fühlt sich an eine (jüdische) Frau erinnert, über die er einst etwas gelesen hatte. In der „Reichskristallnacht“ hatte sie die U-Bahn von einem Ende zum anderen Ende der Stadt genommen, um keine Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. In all diesen Fällen dient die jüdische Geschichte, das heißt das jüdische Narrativ, als Modell für die türkische Existenz in Deutschland. Gewiss hat kein anderer deutscher Autor so pointiert über die türkischjüdisch-deutsche Dreiecksbeziehung geschrieben wie Zafer enocak. enocaks Roman Gefährliche Verwandtschaft bringt das triadische Gespräch deutlich zum
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Ausdruck, hält es dabei aber anders als die oben angesprochenen Autoren. Der Erzähler, Sascha Muhteem,27 ist Enkel eines Türken, der möglicherweise als Soldat am armenischen Genozid im Ersten Weltkrieg verwickelt und der ein prominentes Mitglied im Kreis von Kemal Atatürk war. Zugleich ist Sascha jedoch Enkel eines liberalen jüdischen Geschäftsmannes, der mit seiner Frau und seiner Tochter – Saschas Mutter – während der Naziherrschaft München verlassen und ins türkische Exil gegangen war. Über die Familien trafen sich dann Saschas deutsch-jüdische Mutter und sein kemalistischer Vater in Istanbul. Bezeichnenderweise wurde Sascha in der Türkei gezeugt und 1954 in Deutschland geboren. Sascha selbst hat keine Identität (S. 47). Bei seiner Rückkehr nach Berlin von einer Lehrtätigkeit in den USA verkündete er in den 90er Jahren, er wolle seine familiären Ursprünge erkunden und nicht länger ohne Wurzeln sein. (S. 118) Das Türkische in ihm war bis dato nur „ein Fenster mehr in dem Haus“, das er sich in Deutschland aufgebaut hatte, „ein Fenster mit Ausblick auf einen Teil meiner Kindheit“. (S. 107) Er hätte ein Jude sein können und wäre auf diese Weise noch interessanter gewesen (S. 127). Sascha beschäftigt sich mit dem bourgeoisen Erbe seines türkischen Großvaters, aber dieses Erbe ist durch und durch europäisch; der Gebrauch des Osmanisch-Arabischen und des Russisch-Kyrillischen macht aus ihm einen Mittelsmann zwischen den Kulturen. Hauptmotiv des Romans ist das, was Zafer enocak als „Trialog“ zwischen dem Türkischsein, dem jüdischen und deutschen/christlichen Element beschreibt; Sascha befindet sich irgendwo inmitten dieser Dreiecksbeziehung. Da ist der osmanische, europäisch orientierte Großvater auf türkischer Seite und der liberal-jüdische, aufgeklärte Großvater mit dem obligatorischen Weihnachtsbaum auf deutscher Seite. Da ist aber auch die enge, Jahrhunderte alte Brüderlichkeit zwischen Juden und Türken, die beiderseits den Hass der Christen zu spüren bekommen hatten: Juden und Türken wurden gemeinsam aus Thessaloniki vertrieben, Juden wurde während des Nationalsozialismus eine zweite Heimat in der Türkei gewährt und im heutigen Deutschland begegnet man Juden schlicht und einfach mit einer Hassliebe und Türken mit Hass (S. 65). Juden und Türken sind in Deutschland durch ein spezielles Verhältnis gekennzeichnet (S. 92). Türken und Deutsche ähneln sich jedoch weitaus mehr, als sie es selbst zuzugeben mögen. Mutig erklärt Sascha (oder enocak): „Im Deutschland von heute stehen Juden und Deutsche einander nicht mehr allein gegenüber. Vielmehr ist eine Situation eingetreten, die meiner persönlichen Herkunft und Situation entspricht. In Deutschland entsteht jetzt ein Trialog zwischen Deutschen, Juden und Türken, zwischen Christen, Juden und Muslimen. Die Auflösung der deutsch-jüdischen Dichotomie könnte beide Parteien, Deutsche und Juden, von ihren traumatischen Erfahrungen erlö27
„Muhteem“ bedeutet im Türkischen „ausgezeichnet“; man könnte spekulieren, dass hier der türkische Background des Erzählers bekräftigt werden soll, analog vielleicht zu black is beautiful.
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sen. Dazu müssten sie aber die Türken in ihre Sphäre aufnehmen“ (S. 89)28. Hier wird zunächst angedeutet, dass auch die Türken mit der deutschen Mission betraut sind, um den Deutschen am Ende etwas von ihrer historischen Last im Verhältnis zu den Juden abzunehmen. Der Erzähler wischt diese Idee aber gleichzeitig als Fantasie vom Tisch. Seine Fantasie ist die Vision eines gleichberechtigten Trialogs in dem der türkische Partner so respektiert wird wie die anderen beiden; das schließt die vollwertige Anerkennung der türkisch-osmanischen Vergangenheit ein. Seine Vision transzendiert folglich die Idee eines jüdischen Diskurses als Modell für Deutschtürken, bestätigt es jedoch zur gleichen Zeit, weil die türkische Kultur als Minderheitenkultur in Deutschland auf einer Ebene mit der jüdischen entworfen wird.
Schluss Wir haben versucht zu zeigen, dass Einwanderergruppen durch ihre Führer andere Minderheiten, die seit längerem im aufnehmenden Land etabliert sind, als Master-Narrative und als politisches Modell benutzen, um ihr Verhältnis zum aufnehmenden Staat zu definieren. Solche Narrative sind die weltanschauliche Arbeit (ideological labour), die von den Minderheiten für den Staat und seine Gesellschaft zur Verfügung gestellt wird. Wir haben versucht zu zeigen, dass das Verhältnis der Einwanderergesellschaften untereinander für das Verständnis des Immigrations- und Integrationsprozesses in das aufnehmende Land wichtig ist: Einwandererorganisationen beziehen sich außerdem auf ältere Minderheiten als Vorbild, um sich für ihre eigene Auseinandersetzung mit Diskriminierung zu rüsten und um politische Forderungen zu stellen. Türkische Einwanderer in Deutschland benutzen also die besondere Position der deutschen Juden, um ihre eigenen Institutionen herauszubilden, um Diskurse und Strategien gegen Rassismus – inklusive Antisemitismus – auszuarbeiten und um Forderungen an deutsche Behörden zu stellen. Säkulare türkische Organisationen formieren dabei ihre Diskurse analog dem deutsch-jüdischen Narrativ, wohingegen die religiösen 28
Wir haben einerseits die Übersetzung bei Adelson (2000: 124) benutzt. Adelsons Essay ist eine Pionierarbeit, die sich mit der Frage nach türkischen Tropen in deutschen Diskursen beschäftigt. Ein früher Essay von Jeffrey Peck stellt andererseits heraus, wie Deutsche die jüdische Trope im Verhältnis zu Türken benutzt haben. Das Narrativ der Shoah (Reichskristallnacht, Pogrome, Judenverfolgungen) wurde speziell nach Solingen, Mölln und anderen Fällen von rassistischer, antitürkischer Gewalt auf die Türken übertragen. Man kann darüber diskutieren, dass türkische Führungspersönlichkeiten das jüdische Narrativ möglicherweise indirekt aus dem antirassistischen Diskurs in Deutschland aufgegriffen haben, siehe Peck 1998. Zafer enocak (taz, 22.11.04) hat erst kürzlich aufgezeigt, wie Deutsche sich die Muster des antisemitischen Diskurses ausleihen und auf Muslime anwenden.
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Organisationen versuchen, die institutionelle Struktur der jüdischen Gemeinschaft in Deutschland nachzuahmen. Zweifellos ist der Fall der Juden in Deutschland ein historisch determinierter und besonderer. Ergo ist es nicht ausreichend, die Mehrheits-Minder-heitsVerhältnisse in einem Land zu analysieren, um den Inkorporationsprozess der Einwanderer zu verstehen. Wir müssen ebenso beobachten, wie sich Einwanderer im Verhältnis zu anderen Minderheiten selbst wahrnehmen und wie sie sich auf historische Muster im Aufnahmestaat stützen, Muster die von und mit alteingesessenen Minderheiten entwickelt wurden. Die Analyse einiger Werke der türkischen und jüdischen Literatur untermauert unsere Forschungsergebnisse: Türken und Juden sehen sich selbst in einem triadischen Verhältnis zusammen mit den Deutschen, zudem neigen Türken als die ‚Newcomer‘ dazu, zum deutschen Judentum aufzuschauen und es in seinen Beziehungen zur deutschen Gesellschaft nachzubilden. Auf lange Sicht wird es interessant sein zu sehen, ob der Versuch der deutschtürkischen Führung, ein Narrativ zu übernehmen, das jenes der Juden imitiert, eine effektive Strategie ist, um das Verhältnis zum deutschen Staat weiterzuentwickeln. Überdies besteht auf jeden Fall die Möglichkeit, dass durch das Nachahmen der Juden die numerisch stärkste Minderheitengruppe in Deutschland eine Allianz mit der historisch wichtigsten und symbolträchtigsten Gruppe entfalten wird. Vor dem Hintergrund der unvergleichlich größeren Anzahl sowie des wachsenden wirtschaftlichen und politischen Einflusses der Türken, wird diese Allianz auch für Juden von zunehmendem Interesse sein. Diese Allianz wird selbstverständlich von Zeit zu Zeit konfliktreich werden und voll von Hindernissen stecken. Der Wunsch nach größerer Einheit unter den Türken und ihren Organisationen, der Aufstieg der extremen Rechten, der sowohl Juden als auch Türken betrifft, sowie die Aufstieg des Rassismus und des Antisemitismus, wie wir ihn heute erfahren, dürfte diesen Typ von Koalitionen unter Minderheiten aber dennoch deutlich beschleunigen.
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Zur christlich-abendländischen Tradition als Problem für den Islam in deutschen Verfassungen und Gesetzen Stefan Muckel Gesetzen I. Einführung Der Islam bereitet Probleme. Das ist die gängige Sichtweise der Politik in Deutschland, die sich inzwischen auf allen Ebenen, von der global ausgreifenden Außen- und Bündnispolitik der Bundesregierung (auch der europäischen Institutionen) bis zur Kommunalpolitik, mit ihm auseinandersetzt. Nur allmählich verändert sich die Perspektive. Nicht mehr nur Probleme mit dem Islam werden aufgearbeitet, sondern auch Probleme für den Islam. Nur die Frage zu stellen „Wie dem Islam begegnen?“ (Orth 2008: 541) oder gar festzustellen „Islam in Sicht“ (Süddeutsche Zeitung, 25./26.10.08, mit Blick auf die Eröffnung der Großmoschee in Duisburg-Marxloh) ist zu wenig. Den Islam wahrzunehmen und ihm die Möglichkeit zu geben, wahrgenommen zu werden, ist beziehungsweise war hierzulande nur der Beginn auf dem noch immer langen Weg zu einer gelungenen Integration dieser Religion und ihrer Anhänger in die deutsche Gesellschafts-, aber auch Rechtsordnung. Wer auf diesem Weg mehr erreichen möchte, muss den Blick weiten. Er darf auf den Islam nicht nur als das Andere schauen oder ihn zum Anlass nehmen, die eigenen, sich vom Islam unterscheidenden religiösen Grundlagen zu reflektieren und ihn als „positive Provokation“ (Rheinische Post, 5.12.08, Interview mit Kurienkardinal Walter Kasper) betrachten. Eine Lösung der gesellschaftlichen und rechtlichen Probleme, die der Islam hierzulande aufgeworfen hat, kommt nicht ohne einen Perspektivwandel aus. Deshalb nehmen die folgenden Überlegungen – die allerdings nur juristischen Problemen gewidmet sind – zumindest nicht nur die Perspektive des Staates und des staatlichen Rechts ein, sondern auch die des Islam.
II. Die christliche Prägung der Rechtsordnung in Deutschland Die juristischen Probleme für den Islam beginnen bereits mit der Bezeichnung des Teils der Rechtsordnung, der in Deutschland den Umgang des Staates mit Religion und Religionsgemeinschaften sowie ihren Mitgliedern regelt, traditionell: „Staatskirchenrecht“. Mit Blick auf die Pluralisierung des religiösen Le-
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bens, vor allem wegen des Islam wird seit Jahren vorgeschlagen, statt von „Staatskirchenrecht“ von (staatlichem) „Religionsrecht“ oder „Religionsverfassungsrecht“ zu sprechen (zu dieser Diskussion Heinig/Walter 2007). Der Begriff des Staatskirchenrechts ist in der Tat ungenau. Da aber die Gegenvorschläge mitunter erkennbar von antikirchlichen, teilweise auch antireligiösen Motiven getragen werden (Czermak 2008: Rn. 26f.), rufen sie Beharrungsreaktionen hervor, die einem „modernen Verständnis des Staatskirchenrechts als Religionsverfassungsrecht“ (so immerhin das führende Lehrbuch von v. Campenhausen/de Wall 2006: 40) weithin entgegenstehen. Vor diesem Hintergrund wird die juristische Integration islamischer Glaubensentfaltung also schon im terminologischen Ansatz durch überkommene Denkmuster gestört. Deshalb kann es nicht überraschen, dass der Islam in Deutschland auf eine Rechtsordnung trifft, die für Muslime zahlreiche Probleme bereithält. Sie ist unter dem Einfluss des Christentums und seiner Kirchen entstanden. Vor allem die römisch-katholische Kirche, aber auch die evangelischen Kirchen haben die Entwicklung Mitteleuropas in einem Maße beeinflusst, das nicht zu überschätzen ist. Im Vorwort eines unlängst erschienen populär-wissenschaftlichen Buches zur Kirchengeschichte findet sich einmal mehr dieser hinlänglich bekannte, im Kern zutreffend umschriebene Befund: „Die christliche Kirche erlebte einen rasanten Aufstieg von einer kleinen jüdischen Sekte zur römischen Staatsreligion bis hin zur Institution als Reichskirche, die die Politik und den Lauf der Geschichte in Europa mitbestimmte, und bis zur Weltkirche heute, die von ihrer Mitgliederzahl her die größte der Weltreligionen darstellt. Die Kirche prägte wesentlich die Kultur unserer westlich-abendländischen Gesellschaft, die Geschichte Europas ist ohne die Kirche nicht denkbar.“ (Peters 2008: 7). Als elementarer Ausdruck der hiesigen Kultur hat auch und gerade die Rechtsordnung zahllose Prägungen erfahren, die christlichen Ursprungs sind. Sie waren lange Zeit so selbstverständlich, dass Juristen sie nicht oder nur ansatzweise reflektierten. Das hat sich gerade in der Begegnung mit dem Islam geändert. Sie führte zu intensiven Bemühungen um die christlichen Ursprünge und Wurzeln des geltenden Rechts (vgl. Scholler 1996; s.a. Göbel 1990: 19ff.; Di Fabio 2008: 129). Abgeschlossen ist dieser Vorgang freilich noch lange nicht.
1. Verfassungsrechtliche Grundentscheidungen Der moderne, freiheitliche Verfassungsstaat ist säkular. Dieser auf die weltliche Seite von Politik und Gesellschaft beschränkte Staat ist in Mitteleuropa hervorgegangen aus dem „Ringen und im Bündnis mit Kirche und Religion, in der Einheit und der Trennung beider Sphären, in wechselseitigen Übergriffen, aber
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ebenso in der Kooperation des sich respektierenden Miteinanders“ (Di Fabio 2008: 129). Das Jesus-Wort „Gebt dem Kaiser, was des Kaisers ist, aber gebt Gott, was Gottes ist!“ (Mt. 22, 21) gilt als ideengeschichtliche Grundlage für die in Europa heute im Grundsatz nicht mehr umstrittene Trennung von Staat und Religion. Es dauerte bekanntlich viele Jahrhunderte, bis die heutige Trennung, ja schon die Unterscheidung von Staat und Kirche, in Europa an die Stelle der antiken und auch noch mittelalterlichen Idee einer Einheit der Christenheit treten konnte. Seit dem Investiturstreit war diese Entwicklung nicht mehr aufzuhalten. Die Reformation setzte sie dann längst voraus, wenn sie auch mit dem landesherrlichen Kirchenregiment eine neue Verbindung von Staat und Kirche formte. Aber erst das 20. Jahrhundert brachte eine für ganz Deutschland geltende verfassungsrechtliche Vorgabe, die Vorschrift in Artikel 137 Absatz 1 der Weimarer Reichsverfassung von 1919 (WRV), die nur festzustellen scheint: „Es besteht keine Staatskirche“, in ihrer juristischen Bedeutung aber ein Verbot staatskirchlicher Verbindungen von Religion und Politik ausspricht (siehe auch v. Campenhausen/de Wall 2006:90ff. mit weiteren Nachweisen). Auf den Dualismus von Staat und Kirche geht im Letzten auch die Unterscheidung von Staat und Gesellschaft zurück. Sie wird – ungeachtet mancher Zweifel an ihr in der jüngeren Soziologie und Politologie – vom Grundgesetz, ja der gesamten Rechtsordnung, stillschweigend vorausgesetzt. Das kanonische Recht der katholischen Kirche, das in seiner klassisch gewordenen Form (Gratian 1140ff.) auf zahlreiche Anleihen aus dem Römischen Recht zurückgriff, wird von manchen Autoren als die Grundlage der modernen Rechtswissenschaft angesehen (Di Fabio 2008: 133 m.w.N.). Das mag etwas überspitzt sein; aber die Einflüsse der – rechtlich ausgeformten – Kirche, ihrer Lehre und ihrer Strukturen auf die weltliche Herrschaft sind nicht zu bestreiten. Besonders deutlich ist bis heute der Einfluss des christlichen Denkens und des Kirchenrechts auf das staatliche Familienrecht. Die monogame Ehe, die auf freiem Entschluss beider Partner beruht, die sich als rechtlich gleichgestellt gegenüber stehen, beruht unmittelbar auf christlich-kirchlichen Vorgaben. Die christliche Ehe musste sich in einem langwierigen Prozess gegen anders lautende heidnische Vorstellungen behaupten. Es dauerte lange, bis die Kirche sich hier durchzusetzen begann – neueren Analysen zufolge bis weit ins Hochmittelalter (10. Jahrhundert) (vgl. Di Fabio 2008: 135f. m.w.N.). Die christliche Prägung des Familienrechts klingt auch in der aktuellen Diskussion um die Reform des Personenstandsrechts an. Der Bundesgesetzgeber hat die bisher in Paragraf 67 Personenstandsgesetz bestehende Rechtspflicht für Brautleute, zunächst die Ehe nach staatlichem Recht (vor dem Standesamt) zu schließen und falls gewünscht erst anschließend religiös, insbesondere kirchlich zu heiraten, aufgehoben. Die christlichen Kirchen hatten das aus dem Kulturkampf Bismarcks stammende so genannte Voraustrauungsverbot immer wieder kritisiert. Wenn jetzt diskutiert wird,
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ob überhaupt und gegebenenfalls wie das Verhältnis von ziviler und religiöser Eheschließung in Zukunft rechtlich zu regeln sei, dann klingt in manchen Stellungnahmen deutliche Distanz gegenüber dem Islam und seinem Eheverständnis an, das sich von dem der christlichen Kirchen unterscheidet – beispielsweise bei Winfried Aymans, emeritierter Professor für Kirchenrecht, der in einem Beitrag für die FAZ (17.7.08) die bisherigen gesetzlichen Vorgaben betont: „Einehe, Ehemündigkeitsalter und so weiter“, oder in „Die Angst vor dem Islam macht blind“ (FAZ, 28.11.08) nach den Beweggründen für eine Gesetzesinitiative des Bundesrates zur Wiederherstellung der bisherigen Rechtslage fragt und ausführt: „Allem Anschein nach waren es Sorgen wegen der von abendländischen Standards deutlich abweichenden Ehevorschriften und die Ehe betreffenden Gewohnheiten im Islam. Laut der Katholischen Nachrichtenagentur möchte der Bundesrat Zwangsverheiratungen bekämpfen. Auch das Problem der Vielehe muss gesehen werden“; mit Blick auf die Neuordnung des Personenstandsrechts allerdings möchte Aymans solchen Befürchtungen nicht folgen. Auch das Verfassungsrecht der deutschen Bundesländer weist zahlreiche Bezüge zu seinen christlich-kirchlichen Ursprüngen auf. Die Landesverfassungen sehen durchweg ein Staatskirchenrecht vor, das dem des Grundgesetzes inhaltlich entspricht oder es sogar förmlich übernimmt. Verbreitet sind auch besondere landesverfassungsrechtliche Akzente, insbesondere im Schulwesen und auf den Gebieten von Kunst und Wissenschaft, die ergänzt werden durch eine Verweisung auf das Grundgesetz beziehungsweise auf das Weimarer Staatskirchenrecht, das durch Artikel 140 aufgenommen worden ist, etwa in Artikel 22 der Landesverfassung von Nordrhein-Westfalen: „Im Übrigen gilt für die Ordnung zwischen Land und Kirchen oder Religionsgemeinschaften Artikel 140 des Bonner Grundgesetzes für die Bundesrepublik Deutschland vom 23. Mai 1949 als Bestandteil dieser Verfassung und unmittelbar geltendes Landesrecht.“ Ganz abgesehen davon, dass im Landesverfassungsrecht wesentlich klarer als im Grundgesetz auf die christlichen Kirchen ausdrücklich Bezug genommen wird (etwa in Art. 14, 19 bis 23 LVerf NRW), knüpfen mitunter schulrechtliche Bestimmungen deutlich an christliche Vorgaben an. So Artikel 7 Absatz 1 der Landesverfassung NRW mit der in der Liste der Erziehungsziele an erster Stelle genannten „Ehrfurcht vor Gott“ und ebenso Artikel 12 Absatz 6 mit der hier vorgesehenen christlichen Gemeinschaftsschule: „In Gemeinschaftsschulen werden Kinder auf der Grundlage christlicher Bildungs- und Kulturwerte in Offenheit für die christlichen Bekenntnisse und für andere religiöse und weltanschauliche Überzeugungen gemeinsam unterrichtet und erzogen.“ Das Bundes-verfassungsgericht hat diese Bestimmung (BVerfGE 41, S. 88) – und ähnliche Vorschriften in den Ländern BadenWürttemberg (BVerfGE 41, S. 29) und Bayern (BVerfGE 41, S. 65) – zwar als verfassungsgemäß bezeichnet (mit der Maßgabe, dass die religiös-weltanschauliche Neutralität des Staates gewahrt und die negative Religionsfreiheit von Eltern
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und Schülern geschützt werde). Aber das christliche Grundverständnis des Verfassunggebers spiegelt sie gleichwohl wider. 2. Einzelfragen Die christliche Prägung des deutschen Rechts kommt auch in einer Reihe von Einzelbestimmungen zum Ausdruck, von denen hier einige aufgeführt seien. Die Würde des Menschen, deren Schutz in pathetischer Form an den Anfang der deutschen Verfassung gestellt worden ist (Art. 1 Abs. 1 GG), geht in ihrer philosophischen Reflexion vor allem auf Giovanni Pico della Mirandolas – später von seinem Neffen so genanntes – Werk De dignitate hominis (Über die Würde des Menschen, veröffentlicht 1496) zurück. Die Grundidee wurzelt in der Gleichheit der Menschen, die unmittelbar auf die christliche Botschaft zurückgeht, ja – bei näherem Hinsehen – wohl schon durch die Anfänge der jüdischen Tradition vorgezeichnet ist, in der Vorstellung nämlich, dass der Mensch als Ebenbild Gottes gesehen werden muss (Gen. 1, 27; Di Fabio 2008: 162). Samuel Pufendorf hat den Bezug zur christlichen Botschaft später ganz deutlich herausgestellt. Er sah in der Würde des Menschen die Grundlage für seine Befähigung zu Regeln und Ordnungen. „Und so hat der Mensch eine außerordentliche Würde, weil er eine Seele besitzt, die unsterblich ist“ (Pufendorf 1711: Achtes Buch, 1. Kap., § 5). Hier hat zugleich die europäisch Menschenrechtsidee ihren Ursprung. Der moderne Staat und seine Rechtsordnung haben in größtem Maße aus dem Christentum geschöpft. Zwar haben durchaus auch antikes (römisches und griechisches) sowie islamisches Denken („arabische Zahlen“) zu seinem rechtskulturellen Programm beigetragen (Di Fabio 2008: 139), aber die christlichjüdische Tradition steht eindeutig im Vordergrund. Erwähnt werden sollen hier nur noch die moderne Rechtsprechung „ohne Ansehen der Person“ (vgl. Dtn. 1,17: „Schaut im Gericht nicht auf die Person, den Geringen höret genauso an wie den Großen; […]!“, ferner 1. Petrus 1,17: „Und da ihr den als Vater anruft, der ohne Ansehen der Person einen jeden nach seinem Werke richtet“), das Streben nach Frieden (Lk. 24,36: „Friede sei mit euch!“) und wohl auch der Leistungsgrundsatz, der Arbeit verlangt und nicht Müßiggang (2. Thess. 3,10-11: „Wir haben euch ja, als wir bei euch waren, diesen Grundsatz eingeschärft: wer nicht arbeiten will, soll auch nicht essen. Wir haben nämlich gehört, dass einige unter euch einen faulen Lebenswandel führen, nichts arbeiten, sondern sich unnütz machen.“). Alles in Allem ist die westliche Rechtskultur ohne das Christentum historisch nicht erklärbar und aktuell nicht denkbar. Ihre Prägung durch das Christentum ist eindeutig. So kann es nicht überraschen, dass eine in ihrer Herkunft fremde Religion wie der Islam in Deutschland auf Schwierigkeiten stößt.
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III. Probleme für den Islam aufgrund der christlichen Prägung deutschen Rechts 1. Verfassungsrechtliche Eckpunkte Im Hinblick auf die wichtigsten religionsrechtlichen Grundlagen des deutschen Rechts sind die Entfaltungschancen des Islam – es kann hier wohlgemerkt nur um die rechtlichen, nicht gesellschaftspolitischen (siehe den Beitrag von Shakush in diesem Band) oder wirtschaftlichen Chancen gehen – durchaus günstig. Die freiheitliche, durch das Grundgesetz fundierte Rechtsordnung stellt sich dem Spannungsverhältnis zwischen ihren christlichen Ursprüngen und den damit verbundenen Prägungen einerseits sowie der Offenheit für Neues – auch und gerade in religiöser Hinsicht (man muss nur die Diskriminierungsverbote in Artikel 3 Absatz 3 und Artikel 33 Absatz 3 des Grundgesetzes betrachten) – andererseits. Die Ursprünge und die inhaltliche Prägung unserer Rechtsordnung sind zwar christlich, aber sie sind freiheitlich und diskriminierten den Islam nicht. Das sind die Ausgangspunkte: Das Grundgesetz eröffnet dadurch, dass es den Staat zur Neutralität in Fragen der Religion verpflichtet, allen Religionen in rechtlicher Hinsicht gleiche Entfaltungschancen. Alle staatlichen Stellen sind von Verfassungs wegen verpflichtet, sich religiös-weltanschau-lich neutral zu verhalten. Der Staat darf sich deshalb nicht mit einer bestimmten Religion oder Religionsgemeinschaft identifizieren, für sie Partei ergreifen, sich auf ihre Seite stellen – deshalb war zum Beispiel die Vorschrift im bayerischen Schulrecht, derzufolge in jedem Klassenzimmer ein Wandkreuz anzubringen ist, verfassungswidrig; das Bundesverfassungsgericht hat dies 1995 – begleitet von den wohl heftigsten Protesten, die es je gegen eine seiner Entscheidungen gegeben hat – im Kern richtig gesehen (BVerfGE 93, S. 1ff.). Das Grundgesetz gewährt allen Religionen und ihren Angehören Religionsfreiheit (Art. 4 Abs. 1 u. 2). Es kommt nicht darauf an, wie die Rechtslage im – muslimisch geprägten – Ausland ist. Alle genießen in gleichem Maße und gleicher Weise Religionsfreiheit, wie mit einem ergänzenden Blick auf die verfassungsrechtlichen Gleichbehandlungsgebote und Diskriminierungsverbote (Art. 3 Abs. 1 u. 3, Art. 33 Abs. 2 u. 3, Art. 140 GG in Verbindung mit Art. 136 Abs. 2 WRV) festgehalten werden kann. Ferner sind alle Religionsgemeinschaften berechtigt, ihre eigenen Angelegenheiten selbstständig zu regeln (Art. 140 GG in Verbindung mit Art. 137 Abs. 3 WRV). Alle Religionen und Religionsgemeinschaften sind, wie erwähnt, gleichberechtigt – so genannte religionsrechtliche Parität. Besonderheiten für die christlichen Kirchen sieht das deutsche Staatskirchenrecht nur dort vor, wo es um die Rechtsstellung von Religionsgemeinschaften als Körperschaften des öffentlichen Rechts geht. Artikel 140 des Grundgesetzes in Verbindung mit Arti-
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kel 137 Absatz 5 Satz 1 der Weimarer Reichsverfassung legt fest, dass „die Religionsgesellschaften“ Körperschaften des öffentlichen Rechts bleiben, „soweit sie solche bisher waren“. Diese Bestimmung ist 1919 für die christlichen Kirchen geschaffen worden – an den Islam dachte damals in Weimar niemand – und ihnen bei der Übernahme in das Grundgesetz 1949 ein weiteres Mal zugute gekommen. Ungeachtet dessen und, wie in den Weimarer Verhandlungen der Verfassunggebenden Deutschen Nationalversammlung nachgelesen werden kann (Bd. 336), ausdrücklich zur Verwirklichung religionsrechtlicher Parität sieht die Vorschrift in Satz 2 vor, dass auch andere Religionsgemeinschaften die Rechte einer Körperschaft des öffentlichen Rechts erwerben können. Dies ist inzwischen vielen gelungen, spektakulär zuletzt den Zeugen Jehovas (BVerfGE 102, S. 370 ff.). Alles in allem ist die Rechtslage in den zentralen verfassungsrechtlichen Ausgangspunkten für den Islam günstig, zumindest nicht ungünstiger als für andere Religionen. Hier besteht also ein deutlicher Bruch zwischen der historischen, auch rechtshistorischen Entwicklung und Prägung des deutschen Staatskirchenrechts durch das Christentum einerseits und der aktuellen Rechtslage, die das Christentum und die Kirchen behandelt wie jede andere Religion und religiöse Institution. 2. Problemfelder Doch erklärt die historisch bedingte Prägung des deutschen Staatskirchenrechts die – durchaus vielfältigen – Probleme, vor denen Muslime in Deutschland dennoch stehen. Sie ergeben sich im Wesentlichen auf drei Gebieten. Erstens geht es um Fragen der grundrechtlich geschützten Religionsfreiheit, wenn Muslime aus religiösen Gründen mit den Vorgaben des staatlichen Rechts in Konflikt geraten, zum Beispiel wenn es um das Schächten geht, um die Errichtung von Moscheen, um islamische Bestattungen oder um das Kopftuch der muslimischen Lehrerin. Zweitens geht es um islamische Bildungsstätten und -inhalte, vor allem um Religionsunterricht an öffentlichen Schulen, der zwar von vielen Seiten – längst nicht mehr nur von Muslimen – gewünscht wird, aber bislang nicht eingeführt worden ist. Drittens – zusammenhängend mit dem zweiten Gebiet – geht es um Fragen des Organisationsrechts, also darum, wie Muslime sich in Deutschland in Gemeinschaften zusammenschließen können. a) Religionsfreiheit nach Artikel 4 Absatz 1 und 2 des Grundgesetzes Die Probleme, die Muslime im rechtlichen Umfeld der Religionsfreiheit haben, ergeben sich aus einer Reihe von Einzelfragen. Diese haben gemein, dass Muslime
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sich gegen staatliche Vorgaben wehren und sich dabei inhaltlich auf besondere religiöse Vorstellungen und rechtlich auf die Religionsfreiheit aus Artikel 4 Absatz 1 und 2 des Grundgesetzes berufen. Verschiedene Aspekte seien im Folgenden beispielhaft und damit ohne jeden Anspruch auf Vollständigkeit aufgeführt. Rituelles Schlachten: Nach Paragraf 4a Absatz 1 des Tierschutzgesetzes darf ein warmblütiges Tier nur geschlachtet werden, wenn es vor Beginn des Blutentzugs betäubt worden ist. Unter den islamischen Gruppierungen in der Bundesrepublik Deutschland wird die Frage, ob eine vor der Schlachtung vorgenommene Betäubung des Tieres mit den religiösen Geboten des Islam vereinbar ist, zwar unterschiedlich beurteilt, von einem nicht unerheblichen Teil der Muslime aber wird das Fleisch von Tieren nur dann als zum Verzehr geeignet angesehen, wenn auf eine Betäubung verzichtet wurde (Islamrat 2000). Das Tierschutzgesetz sieht in Paragraf 4a Absatz 2 Nummer 2 für religiös motivierte Schlachtungen eine Ausnahme vom Betäubungszwang vor. Nach dieser – umständlich formulierten – Vorschrift kann die zuständige Behörde für eine Schlachtung ohne Betäubung eine Ausnahmegenehmigung erteilen, soweit dies erforderlich ist, um den Bedürfnissen von „Angehörigen bestimmter Religionsgemeinschaften“ zu entsprechen, denen zwingende Vorschriften ihrer „Religionsgemeinschaft“ das Schächten auferlegen (Alternative 1) oder den Genuss von Fleisch nicht geschächteter Tiere untersagen (Alternative 2). Diese Regelung nützt Muslimen nichts. Sie ist mit Blick auf die religiösen und rituellen Wünsche von Juden geschaffen worden. Muslimen nützt sie nichts, weil es – bisher – keine islamischen Religionsgemeinschaften gibt. Der Islam braucht keine Organisationen. Der Muslim hat eine unmittelbare Beziehung zu Gott. Das Bundesverfassungsgericht hat den Muslimen deshalb beim Schächten geholfen. Das Gericht hat in seiner Entscheidung vom 15. Januar 2002 der Sache nach eine verfassungskonforme (extensive) Auslegung der Ausnahmeregelungen vorgenommen (BVerfG 2002: 665f.; Ogorek 2002: 163ff.), die darauf hinausläuft, dass eine Religionsgemeinschaft im Sinne von Paragraf 4a Absatz 2 Nummer 2 des Tierschutzgesetzes nicht eine solche im traditionellen staatskirchenrechtlichen Sinne sein muss, sondern jede „Gruppe von Menschen [...], die eine gemeinsame Glaubensüberzeugung verbindet“ (BVerfG 2002: 665). In der Konsequenz dieser Entscheidung ist die Ausnahmegenehmigung zum Schächten häufig zu erteilen, wenn sie von Muslimen unter Hinweis auf religiöse Gründe beantragt wird. Den Behörden bleibt nur, durch Nebenbestimmungen und im Wege der Überwachung darauf hinzuwirken, dass die Belange des Tierschutzes so weit als möglich gewahrt werden (BVerfG 2002: 666; aus dem Kreis der kritischen Stimmen zu der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts sei verwiesen auf Kästner 2002: 491ff.; Tillmanns 2002: 578ff.; Volkmann 2002: 332ff.).
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Der verfassungsändernde Gesetzgeber hat nach der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 15. Januar 2002 (BVerfG 2002:663ff.) die Regelung des Grundgesetzartikels 20a in der Weise ergänzt, dass nunmehr auch der Tierschutz verfassungsrechtlich eindeutig anerkannt ist. Dies geschah durchaus als politische Reaktion auf das Urteil des Bundesverfassungsgerichts (Heinig/Morlok 2003:781, Fn. 58). In seiner neuen Fassung soll der Artikel dem Tierschutz verfassungsrechtlich stärkeres Gewicht verleihen – nicht zuletzt im Verhältnis zu den religiösen Freiheitsrechten aus Artikel 4 Absatz 1 und 2 des Grundgesetzes. Ob dieses Ziel in der Praxis erreicht werden kann, bleibt abzuwarten. Islamische Bestattungen: Auch die islamische Bestattung wirft in Deutschland Probleme auf, weil Muslime sie häufig nach Regeln vornehmen möchten, auf die die traditionelle Friedhofspraxis nicht eingerichtet ist, die teilweise auch nicht im Einklang mit dem Friedhofs- und Bestattungsrecht der Länder stehen (zu den islamischen Vorstellungen AfG 1997: 20ff.; Khoury 2000: 116ff.; Lemmen 1999: 16ff.; Hertlein 2001: 890f.; Zacharias 2003: 149ff.). Viele Muslime wünschen etwa, dass ihre Toten nach einer rituellen Waschung ohne Sarg auf eigenen Friedhöfen oder zumindest räumlich gesonderten Gräberfeldern bestattet werden, und zwar innerhalb von 24 Stunden. In der Praxis sind unterdessen bereits vielfach Lösungen gefunden worden, um den Wünschen der Gläubigen Rechnung zu tragen. Auf zahlreichen Friedhöfen stehen beispielsweise Räumlichkeiten zur Verfügung, in denen die rituelle Leichenwaschung erfolgen kann (Bundesregierung 2000: 22f.). Im Hinblick auf die Beisetzung ohne Sarg besteht unter Muslimen offenbar die Auffassung, dass eine Bestattung im Sarg ausnahmsweise zulässig ist, wenn zwingende gesetzliche Vorschriften oder die Friedhofsordnung dies vorschreiben (Lemmen 1999: 41f.). Inzwischen ist der Sargzwang nicht mehr in allen Bundesländern vorgesehen. Auch kann zum Beispiel in NordrheinWestfalen seit dem Inkrafttreten des neuen Bestattungsgesetzes 2003 gemäß Paragraf 13 Absatz 2 eine Erdbestattung in Ausnahmefällen schon vor Ablauf der an sich einzuhaltenden 48-Stunden-Frist vorgenommen werden. Schließlich haben nicht wenige Kommunen derweil auf ihren Friedhöfen islamische Gräberfelder ausgewiesen (Lemmen 1999: 31f.; s.a. die Auflistung S. 48ff.). Die Errichtung von Moscheen: In Deutschland gibt es bereits zahlreiche große Kuppelbau-Moscheen mit Minarett und noch weit mehr sonstige islamische Gebetshäuser (Pastoralblatt 2001: 192; Leggewie 2002). Für Bauvorhaben der Religionsgemeinschaften gelten grundsätzlich die bauplanungs- und bauordnungsrechtlichen Vorschriften wie für säkulare Vorhaben auch (Oebbecke 2000: 299). Bei der Auslegung und Anwendung der Vorschriften des öffentlichen Baurechts ist zu beachten, dass die Religionsausübungsfreiheit aus Artikel 4 Absatz 2 Grundgesetz das Recht der Religionsgemeinschaften umfasst, Gebäude zu errichten, die nach ihrem Selbstverständnis für die individuelle Religionsaus-
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übung durch die Mitglieder erforderlich sind (BayVGH 1997: 144, 145; zust. OVG Rh.-Pf. 2001: 934). Da für praktizierende Muslime das Freitagsgebet in der Moschee zum religiösen Minimum gehören dürfte, genießt der Bau von Moscheen grundrechtlichen Schutz – dasselbe gilt für den Bau von Minaretten (vgl. BayVGH 1997: 145f.; OVG Rh.-Pf. 2001: 934). Das heißt noch nicht, dass die Moschee gebaut werden darf, und dann so, wie die muslimischen Bauherren es wünschen. Es ist zunächst nur der so genannte Schutzbereich des Grundrechts berührt. Das heißt: Das Vorhaben der Muslime genießt im Ansatz Grundrechtsschutz – dieser kann aber auf einer zweiten Stufe der Prüfung eingeschränkt werden. Es muss dabei nach den Schranken des Grundrechts gesucht werden. Das zählt zu den juristisch schwierigsten Problemen um den Islam in Deutschland. Das Bundesverfassungsgericht geht in ständiger Rechtsprechung davon aus, dass sich die Schranken der grundrechtlichen Religionsfreiheit aus der Verfassung selbst ergeben müssen. Nur verfassungsrechtlich verankerte Rechtswerte oder Grundrechte Dritter können danach die Religionsfreiheit der Muslime einschränken. Das bedeutet für das Beispiel des Moscheebaus: Die grundrechtlich abgesicherten Wünsche der Muslime stoßen erst dort an ihre Schranken, wo Verfassungswerte oder wo Grundrechte Dritter, zum Beispiel von Christen, sie ziehen. Dem Bauvorhaben kann danach im Einzelfall etwa entgegen gehalten werden, dass es nicht hinreichend sicher ist hinsichtlich Statik, Standsicherheit et cetera. Denn dies betrifft die grundrechtlich geschützten Rechtsgüter Leib und Leben Dritter aus dem Grundgesetzartikel 2 Absatz 2. Eine sachgerechte Stadtplanung (etwa zum Friedhofsund Bestattungswesen vgl. Morlok 1996: Rn. 103; Müller-Volbehr 1994: 312) dagegen ist verfassungsrechtlich nicht geeignet, die grundrechtlich geschützten religiösen Interessen der Muslime einzuschränken. Fragen des Gewerberechts (auch Konkurrenzschutz) und des Bauplanungsrechts beispielsweise können nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts die Religionsfreiheit der Muslime grundsätzlich nicht einschränken – eine andere Auffassung vertrat zuletzt Uhle (2008: 6). In der Praxis hat sich allerdings auch gezeigt, dass das öffentliche Baurecht mitunter als Vorwand genutzt wird, um unerwünschte Moscheebauten, die rechtlich nicht unzulässig sind, zu verhindern (Leggewie u.a. 2002: 53ff.). Gerade im Hinblick auf den Moscheebau sind Gesprächsbereitschaft, Offenheit und Kompromissbereitschaft unverzichtbar, um – für die verschiedenen Beteiligten – zufriedenstellende Ergebnisse zu erzielen. Vorgaben des Schulrechts: Zu Problemen für muslimische Kinder führt mitunter das Schulrecht. Zum Sportunterricht für muslimische Mädchen hat das Bundesverwaltungsgericht schon in den 90er Jahren entschieden, dass die Mädchen zwar nicht völlig freigestellt werden müssen, dass aber der Unterricht nicht
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koeduktiv durchgeführt werden darf (wenn die betroffenen Mädchen sich dagegen wehren). Hier gibt es mit dem staatlichen Bildungs- und Erziehungsauftrag nach Artikel 7 Absatz 1 des Grundgesetzes eine klare Schranke für das Grundrecht der Religionsfreiheit. Gegenstand heftiger Diskussionen ist in Deutschland seit einigen Jahren die Frage, ob Lehrerinnen im Unterricht an öffentlichen Schulen ein Kopftuch tragen dürfen. Auslöser war der Fall einer deutschen Muslimin afghanischer Herkunft, der das Land Baden-Württemberg nach erfolgreichem Abschluss des Vorbereitungsdienstes eine endgültige Übernahme in den staatlichen Schuldienst versagte (VG Stuttgart 2000: 959; VGH Bad.-Württ. 2001: 2899; Alan/Steuten 1999: 209ff.; Bader 1998: 361 ff.; Battis 1998: 529ff.; Jestaedt 1999: 261ff.; Oebbecke 2002: 311f.). Nachdem sie den verwaltungsgerichtlichen Rechtsweg erfolgreich durchschritten hatte, erhob die – fachlich unstreitig hinreichend qualifizierte – Lehrerin Verfassungsbeschwerde vor dem Bundesverfassungsgericht und hatte formal Erfolg. Das Bundesverfassungsgericht hob mit seinem Urteil vom 24. September 2003 (BVerfG 2003: 3111ff.) die verwaltungsgerichtlichen Entscheidungen auf und verwies die Sache zurück an das Bundesverwaltungsgericht. Tragende Erwägung war für das Bundesverfassungsgericht, dass es in BadenWürttemberg an einer hinreichend bestimmten gesetzlichen Grundlage für ein Verbot des Kopftuchs einer Lehrerin in der Schule fehle (ebd.). Inzwischen gibt es diese Grundlage – ganz ähnlich wie in Nordrhein-Westfalen, für das die badenwürttembergische Regelung Vorbild war. Aber es treten neue Probleme auf. Denn die Landesgesetzgeber haben sich (zum Teil) bemüht, hier das Christentum zu privilegieren, indem sie vorsahen, dass die „Darstellung christlicher und abendländischer Bildungs- und Kulturwerte oder Traditionen“ zulässig bleibt (§ 57 Abs. 4 Satz 3 Schulgesetz NRW). Das Bundesverfassungsgericht hatte demgegenüber in seiner Kopftuchentscheidung von 2003 sehr deutlich ein „striktes Gebot der Gleichbehandlung“ aller Religionen betont. Das Bundesverwaltungsgericht musste bemüht werden, um klarstellen zu lassen, dass jede Privilegierung des Christentums ausgeschlossen ist (BVerwGE Bd. 121, S. 140). Ungeachtet dessen führt ein Verbot des Kopftuchs und folglich der Ausschluss mancher muslimischen Lehrerin vom Lehramt an öffentlichen Schulen zu rechtlichen Problemen im Hinblick auf Artikel 33 Absatz 3 Grundgesetz. Danach darf niemandem aus seinem religiösen Bekenntnis ein Nachteil beim Zugang zum öffentlichen Dienst erwachsen. Das Bundesverfassungsgericht ist in seiner Entscheidung zum muslimischen Kopftuch auf diese Regelung nicht näher eingegangen. Wer aber die Bestimmung ernst nimmt, wird an der Einschätzung nicht vorbeikommen, dass einer Muslima nicht wegen eines Kopftuchs der Zugang zum Lehramt verwehrt werden darf (Näheres – auch zur gegenteiligen Auffassung – bei Muckel 2003: 331ff. m.w.N.). Der Frau erwächst daraus, dass
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sie sich zum Islam bekennt und damit die Verpflichtung verbindet, in der Öffentlichkeit stets ein Kopftuch zu tragen, der Nachteil, nicht zum Lehramt an öffentlichen Schulen zugelassen zu werden. Das kommt in seiner Wirkung einem Berufsverbot nahe (Debus 2001: 1355f.).
b) Islamischer Religionsunterricht Nach Artikel 7 Absatz 3 Grundgesetz ist der Religionsunterricht in den öffentlichen Schulen mit Ausnahme der bekenntnisfreien Schulen ordentliches Lehrfach. Unbeschadet des staatlichen Aufsichtsrechts wird der Religionsunterricht in Übereinstimmung mit den Grundsätzen der Religionsgemeinschaften erteilt. Inhalte des Islam werden inzwischen in einer Reihe von Bundesländern an öffentlichen Schulen unterrichtet (Bundesregierung 2000: 41). Das geschieht traditionell im Rahmen des muttersprachlichen Ergänzungsunterrichts. In NordrheinWestfalen gibt es seit einigen Jahren Islam-Unterricht in deutscher Sprache als ordentliches Lehrfach (MSWF 1999: 96; Emenet 2003, pass.). Dabei handelt es sich aber nicht um den Religionsunterricht, wie ihn sich das Grundgesetz vorstellt, sondern um Islamkunde, deren Inhalte also von staatlicher Seite festgelegt werden. Islamischer Religionsunterricht im Sinne des Grundgesetzartikels 7 Absatz 3 wurde bisher in keinem Bundesland eingerichtet – notabene hat NordrheinWestfalen allerdings im Schuljahr 2008/2009 an mehreren Schulen den alevitischen Religionsunterricht eingeführt. Mit dem Begriff des Religionsunterrichts in Artikel 7 Absatz 3 ist ein Schulfach gemeint, das einerseits auf Wissensvermittlung ausgerichtet ist und an höheren Schulen sogar auf wissenschaftlichem Niveau in die Lehre des Bekenntnisses einführt, das aber andererseits auch Elemente der Glaubensverkündigung aufweist. Religionsunterricht ist also ein bekenntnisgebundenes Fach (BVerfGE Bd. 74, S. 253 m.w.N.). Es geht über eine bloße Religionskunde hinaus, die sich auf die Vermittlung von Informationen über die Religionen, ihr Kulturgut und ihre sozialen Auswirkungen beschränkt. Die Bezeichnung als ordentliches Lehrfach stellt klar, dass der Religionsunterricht eine staatliche Aufgabe und Angelegenheit ist. Mit der Stellung eines islamischen Religionsunterrichts als ordentliches Lehrfach wäre verbunden, dass der Unterricht in deutscher Sprache abgehalten wird. Erforderlich wäre überdies, dass die Reli-gionslehrer über eine hinreichende Qualifikation verfügen. Im Hinblick auf die nähere Ausgestaltung des Religionsunterrichts führt diese verfassungsrechtliche Konzeption für den Islam zu schwer überwindbaren Problemen. Nach Artikel 7 Absatz 3 werden die Inhalte des Religionsunterrichts von den Religionsgemeinschaften bestimmt. Das ist verfassungsrechtlich durch-
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aus konsequent, weil der religiös-weltanschauliche Staat selbst keinen bekenntnishaften Unterricht inhaltlich ausprägen kann. Das Problem für Muslime besteht darin, dass an die Religionsgemeinschaften – denen die Erteilung von Religionsunterricht im Sinne dieser Grundgesetzbestimmung zu gestatten ist – eine Reihe von Anforderungen gestellt werden, die sich aus der verfassungsrechtlichen Konstruktion des Religionsunterrichts in Artikel 7 Absatz 3 ergeben. Die Religionsgemeinschaft – die für Muslime zu bilden ohnehin schon sehr schwierig ist (siehe oben zu Paragraf 4a Tierschutzgesetz) – muss zunächst über exakte Mitgliedschaftsregelungen verfügen. Das ergibt sich daraus, dass der Religionsunterricht als ordentliches Lehrfach Pflichtfach ist (Robbers 1999: Rn. 136 m.w.N.). Zwar können die Eltern ihre Kinder – später die Schüler sich selbst – vom Religionsunterricht abmelden (Art. 7 Abs. 2 GG), doch knüpft die Schulpflicht zunächst einmal an die Mitgliedschaft in der Religionsgemeinschaft an und verlangt von dem Schüler die Teilnahme am Unterricht. Sodann muss die Religionsgemeinschaft kooperationsfähig und -bereit sein, um in der Zusammenarbeit mit staatlichen Stellen den Unterricht inhaltlich zu gestalten. Sie muss dazu über eine Institution verfügen, die für den Staat als Ansprechpartner fungiert und befugt ist, für die Gemeinschaft verbindliche Erklärungen abzugeben und Aufgaben wahrzunehmen (Näheres zu den Anforderungen an islamische Religionsgemeinschaften bei Coumont 2008: 557ff. m.w.N.). c) Islamische Gemeinschaften Artikel 140 des Grundgesetzes in Verbindung mit Artikel 137 Absatz 2 und 7 der Weimarer Reichsverfassung gewährleistet die Freiheit der Vereinigung zu Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften. Dabei versteht man unter einer Religionsgemeinschaft einen Verband, der die Angehörigen ein und desselben Glaubensbekenntnisses – oder mehrerer verwandter Glaubensbekenntnisse – zu allseitiger Erfüllung der durch das gemeinsame Bekenntnis gestellten Aufgaben zusammenfasst (so die grundlegende Definition von Anschütz 1933: 633, Fn. 2; aufgegriffen etwa von Kirchhof 1994: 680f., Fn. 147). Davon zu unterscheiden sind religiöse Vereine, deren Gründung durch die allgemeine Vereinigungsfreiheit aus Artikel 9 Absatz 1 Grundgesetz geschützt wird (andere Auffassung in BVerfGE Bd. 83, S. 355, hier wird das Recht zur Gründung religiöser Vereine aus Art. 4 GG abgeleitet). Religiöse Vereine haben – anders als Religionsgemeinschaften – hinsichtlich der Pflege des religiösen Lebens ihrer Mitglieder nur eine partielle Zielsetzung. Sie erheben nicht wie die Religionsgemeinschaften den Anspruch, alle wesentlichen Fragen des menschlichen Daseins zu behandeln, sondern beschränken sich auf einzelne Aufgaben, zum Beispiel Sozialdienst oder Mission. Muslimische Gemeinschaften können sich ohne weiteres als religiöse
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Vereine organisieren, etwa nach Maßgabe des zivilrechtlichen Vereinsrechts gemäß der Paragrafen 21 und folgende des Bürgerlichen Gesetzbuches. Auch können sie in der Organisationsform des eingetragenen Vereins Religionsgemeinschaften bilden. Allerdings kann ein solcher Verein, nachdem der Gesetzgeber das so genannte Religionsprivileg im früheren Paragrafen 2 Absatz 2 Nummer 3 des Vereinsgesetzes durch Gesetz vom 4. Dezember 2001 (BGBl. I, S. 3319) gestrichen hat, unter den Voraussetzungen des Grundgesetzartikels 9 Absatz 2 und des Paragrafen 3 Vereinsgesetz verboten werden, wie dies im Hinblick auf eine Reihe islamistischer Vereine auch schon geschehen ist – etwa beim „Kalifatstaat“ (BVerwG 2003: 986). Wie dargelegt, stellt der Begriff der Religionsgemeinschaft bei der Einrichtung islamischen Religionsunterrichts nach Artikel 7 Absatz 3 einen Schlüsselbegriff dar, dessen Anforderungen muslimische Organisationen derzeit offenbar nur ausnahmsweise erfüllen können. Der Begriff ist erwachsen aus dem Gegenüber von Staat und christlichen Kirchen, auf die aber aus Gründen der religionsrechtlichen Parität und der religiös-weltanschaulichen Neutralität des Staates die verfassungsrechtlichen wie einfachrechtlichen Gewährleistungen nicht begrenzt sein können. Während die Weimarer Reichsverfassung von 1919 noch den etwas distanzierten Begriff der Religionsgesellschaft verwendet hat, gebraucht das Grundgesetz den der Religionsgemeinschaft (Art. 7 Abs. 3 Satz 2 GG). Die Frage nach einer Religionsgemeinschaft im rechtstechnischen Sinne stellt sich im heutigen Verfassungsrecht vor allem auch im Zusammenhang mit dem Körperschaftsstatus. Nur Religionsgemeinschaften können die Rechtsform einer Körperschaft des öffentlichen Rechts erwerben (Art. 140 GG in Verbindung mit Art. 137 Abs. 5 Satz 2 WRV). Mit diesem Status sind zahlreiche Privilegien verbunden, wie das Recht zur Erhebung von Steuern (Art. 140 GG i.V.m. Art. 137 Abs. 6 WRV), die Befugnis, Beamte zu haben und öffentlich-rechtliche Dienstverhältnisse zu begründen (die nicht dem Arbeits- und Sozialversicherungsrecht unterliegen), Vergünstigungen und Befreiungen im Steuer-, Kosten- und Gebührenrecht sowie verstärkte Einflussmöglichkeiten im Bereich des Rundfunks und der Jugendfürsorge (v. Campenhausen/de Wall 2006: 251ff.; Jeand’Heur/Korioth 2000: Rn. 240ff., jeweils m.w.N.). Mehrere muslimische Vereinigungen haben bei den zuständigen Kultusverwaltungen der Länder Anträge auf Verleihung der Körperschaftsrechte gestellt, doch blieben diese Anträge bislang ohne Erfolg (Bundesregierung 2000: 35). Dabei war durchweg schon die erste Voraussetzung, nämlich die der Religionsgemeinschaft, eine für muslimische Vereinigungen unüberwindbare Hürde. Immerhin ist das Bundesverwaltungsgericht in einer Entscheidung von 2005 – anders als bis dahin die Oberverwaltungsgerichte – dem Interesse muslimischer Vereinigungen insoweit entgegen gekommen, als Dachverbände Religionsgemeinschaften im Sinne des Grundgesetzes bilden können (BVerwG 2005:
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2101). Das Bundesverwaltungsgericht betont, es bedürfe keiner gelebten Gemeinschaft natürlicher Personen auf der Ebene des Dachverbandes. Die oberste Ebene habe typischerweise Leitungsaufgaben. Das Gemeinschaftsleben in der Gesamtorganisation werde dadurch verwirklicht, dass alle von ihr erfassten Menschen vom einfachen Gemeindemitglied bis zum Vorsitzenden des höchsten Dachverbandes sich der gemeinsamen religiösen Sache verpflichtet fühlten und auf dieser Grundlage die ihnen gesetzten Aufgaben erfüllten. Allerdings reicht auch nach dieser großzügigen Rechtsprechung nicht die „Vertretung gemeinsamer Interessen nach außen“ oder die „Koordinierung von Tätigkeiten der Mitgliedsvereine“. Wesentlich sei, dass dem Willen der vereinten Gläubigen Rechnung getragen werden solle. Die gemeinschaftliche Pflege eines Bekenntnisses äußert sich nach Ansicht des Bundesverwaltungsgerichts „typischerweise und hauptsächlich in Kultushandlungen wie z.B. Gottesdienst, Gebeten, dem Feiern von religiösen Festen, aber auch in der Verkündung des Glaubens und der Glaubenserziehung“. Charakteristisch sei auch „das Wirken eines geistlichen Oberhaupts, das die Gemeinschaft regiert und dessen Weisungen die Amtsträger und Gläubigen am Ort unterworfen“ seien. Die Tätigkeit des Dachverbandes müsse „sich als Teil eines gemeinsamen, alle diese Gläubigen umfassenden Glaubensvollzugs“ darstellen. Für die damals klagenden Dachverbände – den Zentralrat der Muslime in Deutschland und den Islamrat – konnte das Bundesverwaltungsgericht jedoch noch nicht erkennen, dass diese Voraussetzungen erfüllt sind, es mochte dies aber auch nicht ausschließen und verwies die Sache an das Oberverwaltungsgericht Nordrhein-Westfalen zurück. Die Religionsgemeinschaft, die Körperschaft des öffentlichen Rechts werden möchte, muss nach Organisation, Ausstattung und Mitgliederzahl die Gewähr der Dauer bieten (vgl. BVerfGE Bd. 102, S. 384f.; Weber 1989: 350). Dabei wird zunächst eine Organisationsstruktur gefordert, die das Verfahren der Willensbildung regelt, Organe erkennen lässt und Instanzen benennt, die dem Staat als Ansprechpartner zur Verfügung stehen und befugt sind, verbindlich über Lehre und Ordnung der Religionsgemeinschaft zu entscheiden (Tillmanns 1999: 445; Hollerbach 1989: §138, Rn. 135). Auch dies ist eine Anforderung, die sehr deutlich aus dem Gegenüber staatlicher Stellen mit christlichen Kirchen entstanden ist. Die Gewähr der Dauer bietet eine Religionsgemeinschaft überdies erst, wenn sie über einen gewissen Zeitraum bestanden hat. Die Verleihungspraxis der Länder geht dabei davon aus, dass die konkrete Organisation im Regelfall über einen Zeitraum von 30 Jahren bestanden haben muss. Der Mitgliederbestand muss nach den Empfehlungen der Kultusministerkonferenz über die Verleihung der öffentlichen Körperschaftsrechte an Religionsgesellschaften und Weltanschauungsvereinigungen (abgedruckt bei Weber 1989: 377f.) in dem einzelnen Bundesland so groß sein, dass die Organisation eine gewisse Bedeu-
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tung im öffentlichen Leben erlangt hat. Die Verleihungspraxis der Länder ist nicht einheitlich. Als Richtwert gilt ein Promille der Bevölkerung des jeweiligen Bundeslandes (Bundesregierung 2000: 36; Weber 1989: 354f.). Viele muslimische Gemeinschaften verfügen nach eigenen Angaben über einen derart großen Mitgliederbestand (vgl. die Zahlenangaben bei Abdullah 1993: 38ff.). Fraglich ist aber mitunter, ob die Religionsgemeinschaft über hinreichend klare Mitgliedschaftsregelungen verfügt. Nur dann kann ihre Mitgliederzahl wirklich erfasst werden. Im Übrigen bergen Unklarheiten in den Mitgliedschaftsregelungen die Gefahr in sich, dass die Religionsgemeinschaft als Körperschaft des öffentlichen Rechts Hoheitsrechte gegenüber Nichtmitgliedern ausübt.
IV. Schluss Muslime und muslimische Gemeinschaften stoßen im Staatskirchenrecht der Bundesrepublik Deutschland auf Schwierigkeiten. Das ist angesichts der kulturellen und historischen Grundvoraussetzungen des deutschen Staatskirchenrechts, das über viele Jahrhunderte hinweg nahezu ausschließlich auf das Christentum bezogen war, nicht überraschend. Bei formaler Betrachtung sind die rechtlichen Chancen für alle Religionen und Religionsgemeinschaften gleich. Aber die zentralen Rechtsbegriffe sind in Auseinandersetzung mit dem Christentum entstanden – auch in ihrem (weitgehend unangefochtenen) Verständnis. Der Begriff der Religionsgemeinschaft lässt dies in besonderem Maße deutlich werden. Er ist in Deutschland entstanden mit Blick auf die christlichen Kirchen. So wird er auch ausgelegt. Das könnte anders gehandhabt werden. Die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zum Schächten zeigt dies (jede „Gruppe von Menschen […], die eine gemeinsame Glaubensüberzeugung verbindet“). Aber das ist in der Rechtsprechung ein Sonderfall geblieben. Die zentralen verfassungsrechtlichen Regelungen stehen derzeit fest gefügt und auch die wesentlichen Elemente ihrer Interpretation. Auf absehbare Zeit führt kein Weg an der Einsicht vorbei: Wenn Muslime und ihre Organisationen an den Gewährleistungen des deutschen Staatskirchenrechts teilhaben wollen (zum Beispiel mit Religionsunterricht), müssen sie sich den rechtlichen Regelungen in ihrer herrschenden Deutung anpassen. Sie müssen also zum Beispiel Religionsgemeinschaften bilden. Das verlangt viel von ihnen. Aber es ist zu erwarten, dass Muslime, wenn sie auf dem Weg dahin weitergehen und sich nicht resignierend zurückziehen, erkennen werden: Das deutsche Staatskirchenrecht, das dann wohl in der Tat „Religionsverfassungsrecht“ genannt werden sollte, bietet ihnen enorme Entfaltungschancen. Sie sind hierzulande so groß wie in kaum einem anderen Land.
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Gestörte Kommunikation1 Wie grundlegende Fehler im internationalen Dialog zwischen westlich und muslimisch geprägten Gesellschaften gegenseitige Ressentiments schüren Jochen Hippler
Im Irak herrscht weiter Krieg und Bürgerkrieg. Als der US-Präsident George W. Bush in Mai 2003 triumphalistisch verkündete, die Eroberung des Irak sei erfolgreich abgeschlossen („mission accomplished“), standen die eigentlichen Herausforderung um die Kontrolle des Landes erst noch bevor. Auch die Zahlen an zivilen Opfern sollten sich nach dem vermeintlichen Kriegsende wesentlich höher erweisen, als während des völkerrechtswidrigen Kriegsabenteuers selbst: Heute liegen sie bereits im oberen sechsstelligen Bereich. Die Situation in Afghanistan kann ebenfalls nicht als Erfolgsmodell von Außen- und Sicherheitspolitik betrachtet werden. Waren die Taliban im Herbst 2001 politisch schwach, in der Bevölkerung diskreditiert und kaum noch handlungsfähig, vermochten sie sich seit 2004 immer stärker zu reorganisieren und wieder zur Offensive überzugehen. Afghanistan wurde zum ernsten Streitfall in der NATO, quasi zur „entscheidenden Bewährungsprobe“ für das westliche Militärbündnis. Vom früheren Optimismus ist mittlerweile kaum etwas geblieben, es herrschen Ernüchterung und Besorgnis vor. Das Bild bestimmen Durchhalteparolen und eine höhere Dosis alter Rezepte. In beiden Ländern kam es zu menschenrechtsverletzenden Praktiken der westlichen Führungsmacht USA, die deren Politik weltweit diskreditierten: Folter, Entführungen und andere Skandale, die sich hinter Orten wie Abu Ghraib, Guantanamo und Bagram verbergen, wurden zu Symbolen für den Missbrauch von Macht. In Palästina stellen darüber hinaus die fortgesetzte Besatzungssituation mit ihren Menschenrechtsverletzungen und die israelische Siedlungstätigkeit weiterhin einen dauerhaften Konfliktherd dar, der die westlich-arabischen Beziehungen belastet. Und die zuletzt von den USA und einigen Regierungen in Europa (einschließlich der deutschen Bundeskanzlerin) unterstützten Kriege im Libanon 2006 und im Gazastreifen 2008/2009 unterstrichen 1
Überarbeitete Version meines Beitrags „Dialog als Ausweg? Anmerkungen zu einem interkulturellen Dialog zwischen westlichen und muslimisch geprägten Gesellschaften“, in: Hans J. Gießmann/Götz Neuneck (Hrsg.) (2008): Streitkräfte zähmen, Sicherheit schaffen, Frieden gewinnen. Festschrift für Reinhard Mutz. Baden-Baden: Nomos, S. 272-281.
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erneut, dass von einer ausgewogenen und völkerrechtsorientierten Politik des Westens im Nahen und Mittleren Osten nicht wirklich die Rede sein kann. In den zwei Jahrzehnten nach Ende des Kalten Krieges kam es zu einer neuen, scharfen Konfrontation – nicht zwischen „dem“ Westen und „dem“ Islam, aber doch zwischen starken politischen Kräften in Nordamerika und Europa einerseits, und offensichtlich weit schwächeren Kräften im Nahen und Mittleren aber auch Fernen Osten andererseits. Aufgrund der asymmetrischen Machtverhältnisse – allein der Militärhaushalt der USA macht heute rund die Hälfte aller weltweiten Rüstungsausgaben aus, dazu kommen die der übrigen NATO-Staaten und ihre westlichen Verbündeten wie Japan, Australien – nimmt diese politische und gewaltsame Auseinandersetzung nicht die Form konventioneller Kriege an, sondern äußert sich durch Aufstände, paramilitärische Einsätze, Guerillakämpfe und durch den internationalen Terrorismus. Die Verbrechen des 11. September 2001, die späteren Bluttaten in Madrid und London belegen die Gefährlichkeit auch relativ kleiner, gewaltbereiter Gruppen in solch asymmetrischen Konflikten. Diese Konfrontation hinterlässt Spuren im Denken und Fühlen der Öffentlichkeit sowohl in Nordamerika und Europa als auch im Nahen und Mittleren Osten. Wechselseitige Bedrohungsvorstellungen geraten zunehmend ins Zentrum der Politik. Sie können durchaus auf reale Gewalterfahrungen verweisen – die erwähnten Anschläge, Kriege und Besatzungssituationen liefern reichlich Beispiele für die Gefährlichkeit der jeweils „anderen Seite“. Noch komplizierter aber wird die Lage dadurch, dass die realen machtpolitischen Konflikte immer stärker kulturalisiert und zu Identitätsfragen umgeformt werden: Hier wird ein clash of civilizations diskutiert, dort ein „Krieg gegen den Islam“ unterstellt. Solche Kulturalisierungen führen dazu, die komplexen Konflikte noch schwieriger lösbar werden zu lassen, als sie es ohnehin schon sind. Zudem animieren sie die Scharfmacher, in den Massenmedien oder im Internet dazu, die Feindlichkeit gegenüber der Religion des Islam und deren Anhänger sowie umgekehrt die Feindlichkeit gegenüber dem Westen und den dort lebenden Menschen anzuheizen. Im Zentrum der damit verbundenen Debatten stand und steht die Frage der politischen Gewalt. Im Westen geraten Muslime unter Generalverdacht, gewaltbereit oder gewalttätig zu sein – die emotionalisierenden Bilder des 11. September sind für viele Amerikaner und Europäer fest mit „dem“ Islam verknüpft (siehe auch den Beitrag von Gerhold in diesem Buch. Im Nahen und Mittleren Osten machen säkulare und religiöse Kräfte die USA beziehungsweise „den Westen“ für bombardierte Hochzeitsgesellschaften, getötete Frauen und Kinder in Afghanistan, für Gefangenenmissbrauch oder Folter im Irak, und im Grunde für das erschreckende Ausmaß an zivilen Opfern durch Kriege und Besatzungen insgesamt verantwortlich. Seit dem 11. September dreht sich die internationale Politik verstärkt um die Frage des Umgangs mit politischer Gewalt, um Terrorismus und Krieg. Diese Aspekte polarisieren.
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Wer heute an einem besseren Verständnis und einer Verbesserung der Beziehungen zwischen westlich und muslimisch geprägten Ländern interessiert ist, der muss zum einen über die Lösung der konkreten Gewaltkonflikte nachdenken, die das Verhältnis vergiften, und der kommt zum anderen nicht um das Problem der kulturalisierenden Konfliktwahrnehmung herum. Dabei reicht es bei weitem nicht aus, über die vorgeblich so unterschiedlichen „Werte“ von westlich und muslimisch geprägten Gesellschaften zu räsonieren. Im Zentrum der Überlegungen muss die Frage des Umgangs mit der Gewalt stehen; auch ein interkultureller Dialog darf dies nicht vermeiden, wenn er nicht von vornherein als ideologisches Ablenkungsmanöver erscheinen soll. Der interkulturelle Austausch sollte kein Selbstzweck sein, sondern in den Zusammenhang von ziviler Konfliktbearbeitung und den Möglichkeiten ziviler Gewaltprävention eingebettet werden. Es ist zwar selbstverständlich, dass die konzeptionelle Bearbeitung konfliktverschärfender Kulturalisierung für sich genommen Gewalt weder vermeiden noch beenden kann, aber in Verbindung mit anderen Ansätzen der Konflikt- und Gewaltbearbeitung – politischer, ökonomischer, sozialer, sicherheits- und friedenspolitischer Art – kann sie einen relevanten Beitrag dazu leisten. In den letzten Jahren war bereits häufig von einem „Dialog mit der islamischen Welt“ die Rede, der das gegenseitige Verständnis verbessern und langfristig neuer Gewalt vorbeugen sollte. Häufig waren diese Dialogversuche wenig hilfreich, weil sie sich zu oft auf die Beteuerung von Kooperation und die wechselseitige Versicherung beschränkt hatten, dass sowohl „der Westen“ als auch „der Islam“ eigentlich ganz friedfertig seien. Ein höflicher Austausch von Beschwörungsformeln durch die Wohlmeinenden beider Seiten hat gewiss nicht geschadet – genutzt hat er allerdings kaum. Dafür gibt es vor allem drei Gründe: 1. Die Deklaration beiderseitiger Friedfertigkeit steht offensichtlich im Widerspruch zu den Tatsachen. Die sehr realen Erfahrungen von Terrorismus und Krieg lassen es nicht zu, durch die Erklärung guter Absichten über die harten Fakten hinwegzutäuschen. Es fällt auf, dass terroristische Verbrechen nur zu häufig im Namen „des Islam“ oder beispielsweise der völkerrechtswidrige Irakkrieg im Namen „der westlichen Werte“ (wie Demokratie) begangen wurden. Hinweise, wonach die westlichen Werte der Aufklärung und des Humanismus oder die Werte des Islam jeweils friedlich seien, überzeugen dann lediglich die eigene Seite und wirken für die andere hohl. 2. Die Dialoge litten – und leiden – daran, dass sie nicht außerhalb der politischen Realität stattfinden können. Jeder neue Terrorakt und jeder neue Luftangriff auf arabische oder afghanische Zivilisten demonstriert, dass gut gemeinte Worte an der Substanz politischer Interessenkonflikte und an militärischen Absichten allein nichts ändern. Anders ausgedrückt: Der Dialog findet in einem engen Käfig konfrontativer politischer Rahmenbedingungen statt, die ihn an der
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Entfaltung hindern. Solange reale politische Gewalt die Verständigungsabsicht immer wieder dementiert, wird ein Dialog nur sehr geringen Spielraum haben. 3. Die Wahl der Dialogthemen trug dazu bei, die Wirksamkeit des Gedankenaustauschs zu vermindern. Anstatt die konkreten Interessen und Konflikte ins Zentrum zu rücken, die in aller Regel die Auslöser einer Gewalt sind, die erst im Nachhinein religiös oder durch „Werte“ gerechtfertigt wird, wurde der Dialog auf das Feld der Religion oder auf das allgemeiner und – notwendigerweise – vager „Werte“ verlagert. Auf diese Weise gelangte die Debatte häufig in ein Ghetto: Sie wurde sekundär und kaum greifbar, denn quasi-religiöse oder kulturalistische Diskurse führen meistens nur zu unverbindlichen Bekenntnissen, dem Formulieren von Meinungen und Ansichten übereinander – insgesamt also zum bloßen Austausch von Subjektivität. Ohne die harten politischen Erfahrungen und Realitäten wirkt ein Dialog schnell steril, irrelevant und als Ablenkungsmanöver. Das bedeutet nicht, dass interreligiöser (also hier: christlich-muslimischer) Dialog prinzipiell unwichtig sei – es bedeutet aber, dass er den jeweiligen Religionsgemeinschaften als Aufgabe zukommt und nicht als Instrument der auswärtigen Kulturpolitik oder der gesamtgesellschaftlichen Verständigung dienen kann. Gerade auch die Fokussierung auf interreligiöse Themen führt dazu, dass man auf „westlicher Seite“ die Christen, die Nicht-Frommen oder die säkularen muslimischen Gemeinschaften im Nahen Osten wie die Aleviten ausgrenzt oder deren Ausgrenzung fördert, und damit den religiösen Homogenisierungsdruck in der Region noch unterstützt. Das kann nicht Aufgabe eines interkulturellen Dialogs sein. Durch die Kritik an manchen Dialogströmungen ist der interkulturelle Dialog mit muslimisch geprägten Gesellschaften nicht abgetan. Es muss jetzt vielmehr darum gehen, über mögliche Wege nachzudenken, wie sich die bisherige Praxis fortentwickeln lässt. Dazu können unter anderem folgende Ansätze beitragen: 1. Dialog muss die Bereitschaft beinhalten, zuerst den Balken im eigenen Auge zu bemerken, bevor man den Splitter im fremden zum Thema macht. Westliche Dialogpartner dürfen nicht verdrängen, dass auch sie für viele Menschen des Nahen und Mittleren Ostens bedrohlich erscheinen, dass die Erfahrungen des Kolonialismus, der westlichen Dominanz, der Kriege und Besetzungen durch westliches Militär oder die Unterstützung nahöstlicher Diktatoren zu Recht als Ausdruck von Gewaltsamkeit erscheinen. Umgekehrt dürfen Partner aus dem Nahen und Mittleren Osten nicht ignorieren, dass aus muslimischen Gesellschaften Gewalttäter wie Saddam Hussein oder Usama bin Ladin erwachsen sind und dass sowohl nach innen wie nach außen grauenvolle Gewalttaten verübt wurden und werden. Gewalt ist ein gemeinsames Problem westlich und muslimisch geprägter – und aller anderen – Gesellschaften. 2. Dialog darf nicht allein auf die Gegenseite zielen, sondern muss auch die eigenen Denkvoraussetzungen reflektieren. Im Westen tun wir häufig so, als
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hätten sich aus unserer Geistesgeschichte – etwa der Aufklärung – ausschließlich Werte und Praktiken der Humanität entwickelt. Doch die westlich geprägte Moderne brachte tatsächlich auch gesellschaftliche Monstren wie den Stalinismus, Kolonialismus, den wissenschaftlichen Rassismus und den Faschismus hervor. Unsere Moderne, auf die wir oft so offensiv stolz sind, verfügt über ein Doppelgesicht von Humanität und bürokratischer Entmenschlichung, und wir sind keine glaubwürdigen Gesprächspartner, wenn wir nur unsere positive Tradition beschwören und die dunkle Seite unserer Geschichte unter den Teppich kehren. Umgekehrt ist es ebenso nutzlos, wenn Muslime reflexartig aus dem Islam beziehungsweise der muslimischen Geistestradition und Geschichte nur die Friedfertigkeit oder Verständigungsbereitschaft herauslesen wollen, und dabei Unterdrückung, Brutalität und Gewalt systematisch übersehen. Dialog heißt auch bereit sein, über sich selbst neue Sichtweisen zu lernen. 3. Dialog muss vor allem über die schwierigen und schmerzhaften Dinge sprechen. Er muss die tatsächlichen Konflikte, Auseinandersetzungen, Interessen und Probleme thematisieren, und darf sich dem nicht durch eine Flucht ins Abstrakte entziehen. Deshalb scheint es angebracht, die Gewalt ins Zentrum der Debatte zu rücken – diese bestimmt die politische Agenda, sie prägt die wechselseitigen Ängste voreinander und emotionalisiert die Beziehungen. Man darf sie nicht ausklammern, sondern muss sie – höflich und respektvoll – kritisch und selbstkritisch thematisieren. Darüber hinaus sollte der Dialog mit der Absicht konkreter Problemlösung betrieben werden und sich nicht auf bloßen Meinungsaustausch beschränken. 4. Dialoge müssen auch mit politischen Gegnern geführt werden, nicht primär mit den eigenen Spiegelbildern oder Geistesverwandten. Das galt im Kalten Krieg, als Dialog und Entspannungspolitik bedeuteten, gerade mit der Sowjetunion zu sprechen, von der sich der Westen bedroht fühlte – heute müssen auch die gesprächsbereiten islamistischen Kräfte am Dialog teilhaben. Dialog meint nicht die Übernahme gegnerischer Positionen oder die politische Verbrüderung, sondern das Ausloten von Gemeinsamkeiten und Differenzen zur Findung praktischer Lösungen – wo dies möglich ist. Gerade die Entwicklungen in der Türkei (etwa das Entstehen der gegenwärtigen Regierungspartei AKP aus der islamistischen Refah Partisi) und in einigen anderen Ländern haben gezeigt, dass auch der Islamismus kein homogener, unveränderlicher Block ist, sondern wandelbar und durchaus Reformpotential für die eigenen Gesellschaften enthalten kann. Auch deshalb wären Berührungsängste und Diskussionsverweigerungen gegenüber gesprächsbereiten islamistischen Strömungen kontraproduktiv. Wird von „westlicher“ oder „muslimischer“ Gewalt gesprochen, stellt sich sofort das Problem, wer oder was damit gemeint ist. Man neigt dazu, die jeweils andere Seite mit pauschalisierenden Begriffen zu belegen, selbst wenn man ge-
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nau weiß, dass die eigene sehr heterogen und differenziert ist. Was oder wen meinen wir eigentlich, wenn wir von „der muslimischen Welt“ sprechen? Es kann sich kaum um eine religiöse Begriffsbestimmung handeln, weil man damit religiöse Minderheiten (zum Beispiel Christen in Ägypten, Palästina, dem Libanon oder Hindus in Malaysia) ebenso ausschließen würde wie säkulare, agnostische oder areligiöse Strömungen. Außerdem: Wenn man von „der muslimischen Welt“ (oder Kultur, Zivilisation) spricht, gruppiert man sehr unterschiedliche Gesellschaften zusammen, die objektiv und subjektiv nur wenig gemeinsam haben. Die algerische, jemenitische, pakistanische und die indonesische Gesellschaft beispielsweise mögen alle vom Islam auf die eine oder andere Art geprägt worden sein, dennoch sind sie in vielen Kernbereichen kaum vergleichbar. Sie alle als Muslime zusammenzufassen kann leicht in die Irre führen und ein Merkmal betonen, das für ihr Verständnis nicht zentral sein muss. Nicht selten wehren sich arabische Intellektuelle mit gutem Grund, von Beobachtern im Westen primär als Muslime, und nicht zuerst als Intellektuelle oder als Araber, Ägypter, Marokkaner oder sonstiges wahrgenommen zu werden. Die religiösen Kräfte gehören zwar zum Dialog mit den Gesellschaften des Nahen und Mittleren Ostens dazu, sie sind aber nur ein Teil der Realität. Wenn man also verallgemeinernde Begriffe – wie „die muslimische Welt“ – verwendet, gilt es, sorgfältig im Auge zu behalten, dass man der Vielfalt und Widersprüchlichkeit der dortigen gesellschaftlichen, ethnischen, nationalen, ideologischen, religiösen, politischen und anderen Realitäten damit nicht gerecht wird. Das gilt in besonderem Maß, wenn über die Frage des Gewaltpotentials in muslimisch – oder westlich – geprägten Gesellschaften gesprochen wird. Aussagen darüber sollten also mit größter Zurückhaltung getroffen werden, wenn man sich nicht auf Klischees beschränken möchte. Ein wichtiges Hemmnis einer offenen, selbstreflektierenden Diskussion besteht in eben dieser gegenseitig oft pauschalisierten Wahrnehmung. Dabei zeigt sich, dass immer wieder gewisse Denk- und Argumentationsmuster auftreten, die eine realistische Wahrnehmung der anderen Seite behindern – was den Dialog weiter erschwert. Bezogen auf westliche Wahrnehmungskurzschlüsse lassen sich beispielhaft folgende Mechanismen aufzählen: 1. Vergleich unterschiedlicher Realitätsebenen Es wird „der Westen“ mit „dem Islam“ und „den islamischen Staaten“ verglichen. Man stellt also die gesellschaftliche Realität Europas und Nordamerikas einer Religion gegenüber. Islam und Christentum werden dagegen selten abgewogen, kaum Europa und der Nahe Osten. Dadurch entstehen Wahrnehmungsverzerrungen, die bereits in den eigenen Begrifflichkeiten angelegt sind: Wer „den Westen“ mit „dem Islam“ vergleicht, wird in letzterem reflexartig primär
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Religiöses erkennen und die Interessengegensätze, die verschiedenen Akteursgruppen sowie die im Nahen und Mittleren Osten vorhandenen säkularen Trends leichter übersehen. 2. Übernahme fundamentalistischer Erklärungsmuster Häufig werden „der Islam“ und seine Gefährlichkeit durch Zitate fundamentalistischer oder islamistischer Führer „erklärt“. Dabei übernehmen viele westliche Autoren solche Positionen und tragen sie als „islamisch“ weiter (siehe auch den Beitrag von Schneiders in diesem Buch). Das gleiche Verfahren funktioniert auch ohne Zitate, indem die Positionen von Islamisten als „der wahre Islam“ unterstellt werden. Beispiel: Religion und Politik lassen sich aus islamischer Sicht nicht trennen. Dies ist historisch gesehen eher eine neue Forderung aus dem ausgehenden 18. und beginnenden 19. Jahrhundert. In der Region ist sie höchst umstritten und stellt mehr eine Beschwörungsformel denn eine Realität dar. Wenn Muslime allerdings mit einer solchen Forderung nicht übereinstimmen, zweifeln westliche Autoren gelegentlich lieber daran, dass es sich um „richtige“ Muslime handelt, statt zu erkennen, dass auch im islamisch geprägten Kulturraum zentrale Fragen umstritten sind und unterschiedliche Sichtweisen darüber existieren können. 3. Religiöse Interpretation säkularer Politik Erklärungen nahöstlich-islamischer Akteure werden zum Nennwert genommen. Das Benutzen religiöser Formeln gilt automatisch als Zeichen von Religiosität, die Möglichkeit einer bewussten Instrumentalisierung von Religion wird ignoriert. Westliche Beobachter merken in der Regel schnell, wenn ihre Politiker christliche Formeln rhetorisch gebrauchen, sobald allerdings muslimische Politiker islamische Formulierungen derart verwenden – und das ist keine Seltenheit, sondern weit verbreitet – neigen Europäer und Amerikaner dazu, dies eher als Zeichen von Religiosität zu deuten und weniger als Zeichen politischer Absichten. 4. Die Unterstellung dessen, was bewiesen werden soll Anstatt den Anteil und die Bedeutung religiöser Aspekte in der Politik des Nahen und Mittleren Ostens zunächst zu untersuchen, wird von Vornherein eine religiöse Begründung unterstellt, um dann in einem zweiten Schritt den angeblich religiösen Charakter der Politik zu konstatieren und diesen zum Kerngegenstand der Diskussionen zu machen. Religiöse Antriebe in fremdes Verhalten hineinzuprojizieren, ist ein Fehler. Die eigenen Projektionen anschließend auch noch für Realität zu halten, ist töricht. Religiöse Aspekte mögen zwar für manch politisches Handeln eine Rolle spielen, es muss aber nicht zwangsläufig bedeuten, dass sie zugleich verursachend oder entscheidend sind.
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5. Verwechslung von Islam als Religion mit islamischer Kultur und Tradition Die gegenwärtigen Gesellschaften des Nahen und Mittleren Ostens sind überwiegend vom Islam geprägt. Diese Prägung ist in die Alltagskultur übergegangen. Viele scheinbar religiöse Äußerungen und Verhaltensweisen haben folglich mehr mit Tradition, mit Identität, auch mit Konservatismus zu tun als mit Religion. Das gilt bei Bekleidungsfragen, die bekanntlich in unterschiedlichen muslimisch geprägten Ländern, Regionen und Gesellschaftsbereichen ganz unterschiedlich beantwortet werden, aber auch darüber hinaus: Religiöse Sprache etwa ist oft ein Symbolsystem, mit dem man auch säkularen Empfindungen und Zusammenhängen Ausdruck verleihen kann – entsprechend drückt der deutschsprachige Ausruf „Gott sei Dank“ eher allgemeine Erleichterung als tiefe Frömmigkeit aus. 6. Geschichtslosigkeit Ereignisse der Gegenwart werden nicht analysiert, weil sie vermeintlich religiös erklärbar sind – und damit aus dem Koran und der Sunna abgeleitet. Die historischen Entstehungsbedingungen heutiger politischer Konflikte werden oft durch Hinweise auf die islamische Frühgeschichte ersetzt – etwa in Bezug auf den israelisch-palästinensischen Konflikt, wo sich immer wieder beobachten lässt, dass historisch-politische Ursachen in den Hintergrund treten, während religiöse betont werden. Dies ist jedoch häufig unbegründet. Auch die Motivation serbischer, kroatischer oder bosniakischer Kämpfer in den Balkankriegen werden nicht aus der Bibel und dem Koran abgeleitet, sondern muss aus den realen Interessendifferenzen und deren Genese erschlossen werden. 7. Verzicht auf Analyse von Interessen Aktuelle Dissense in der muslimisch geprägten Welt werden allzu oft ohne Analyse sozialer, wirtschaftlicher oder politischer Realitäten und Interessen schlicht durch „den Islam“ erklärt – wobei „der Islam“ nicht selten auch noch auf Schriften und Äußerungen von Theologen reduziert wird. Wer sich darum bemühen will, die Konflikte in Palästina, Afghanistan oder dem Irak zu verstehen, sollte zuerst nach den Interessen der jeweiligen Akteure fragen und erst danach deren ideologische Artikulierung dazu in Beziehung setzen. Der Sinn von Rückgriffen auf theologische Symbolsysteme bleibt so lange unverständlich, wie er von den realen Auseinandersetzungen und Interessen getrennt bleibt. 8. Kulturelle Überheblichkeit Aus der politischen, wirtschaftlichen und militärischen Überlegenheit des Westens über die Gesellschaften des Nahen und Mittleren Ostens wird die eigene kulturelle und moralische Überlegenheit geschlossen.
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9. Das Verwenden unterschiedlicher Maßstäbe Was dem Westen erlaubt ist, kann dem Nahen Osten durchaus verboten sein: etwa Atom-Waffen. Im Westen sind sie friedensstiftend, anderswo gefährlich. 10. Psychologisierung Was im Westen als „Machtpolitik“ gilt, wird im Nahen und Mittleren Osten schnell zur „Verrücktheit“, zur „Irrationalität“, zum „Größenwahn“ gestempelt. Statt Interessenkonflikte werden folglich psychologische Kategorien erörtert. Wahrnehmungsverzerrungen, wie diese zehn angeführten Mechanismen, können hier nur angedeutet werden. Im Nahen und Mittleren Osten gibt es sie fast spiegelbildliche in Bezug auf „den Westen“. Die Sprache und das Denken auf beiden Seiten von bequemen Klischees zu befreien, würde die Chancen für einen dialogischen Austausch wesentlich verbessern. Das Problem der Pauschalisierung stellt sich übrigens nicht minder bei der Verwendung von Begriffen wie „der Westen“ oder „westliche Gesellschaften“. „Westen“ klingt nach einer geographischen Bezeichnung, meint aber primär einen Typus der politischen Kultur, der sich nach überwiegender Auffassung aus der griechischen Antike über das christliche Europa des Mittelalters und die Aufklärung heraus entwickelt hat. Es gibt zwar eine geographische Dimension – eine so verstandene westliche Welt nahm in Europa ihren Ausgang und weitete sich auf andere Regionen wie Nordamerika oder Australien/Neuseeland aus –, der Fokus liegt aber auf einem bestimmten Set an Philosophie, politischkultureller Werte und gesellschaftlicher Mechanismen. Dabei ergeben sich zwei Problemebenen: 1. „Der Westen“ bleibt ebenso diffus, heterogen und widersprüchlich wie sein Gegenpart, die „muslimische Welt“. Skinheads, Punker und Londoner Bankiers, der Vatikan, Habermas, George W. Bush, Goethe und Britney Spears, Befreiungstheologen in Lateinamerika, weiße Suprematisten in den USA und europäische Atheisten – all diese und zahlreiche andere Kräfte und Persönlichkeiten gehören offensichtlich zum „Westen“. Wenn man nicht seine persönlichen ideologischen Vorlieben in den Begriff hineinprojizieren möchte, ist es ausgesprochen schwierig, ihn inhaltlich näher zu bestimmen. Nicht alle Menschen im Westen sind bedingungslose Vertreter der Menschenrechte und der Aufklärung – die übrigens selbst rassistische Denkansätze enthielt. Sind diese Menschen deshalb kein Teil der „westlichen“ Kultur? Der interkulturelle Austausch zwischen „dem Westen“ und „der islamischen Welt“ kann im eigentlichen Sinn kein Dialog, sondern nur ein Polilog sein, also ein Austausch nicht zweier sondern vieler unterschiedlicher Seiten. Diese Vielfalt macht einen „Dialog“ zwar unübersichtlich und kompliziert zu organisieren, aber sie bietet zugleich die Chance, das
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Schwarzweißdenken zu erschweren und die angebliche Konfrontation zwischen „dem Westen“ und „dem Islam“ in komplexe Auseinandersetzungen aufzulösen. Dabei dürfte sich schnell herausstellen, dass zentrale Konfliktlinien (etwa um Demokratie, Energieversorgung, good governance) nicht zwischen den Kulturkreisen, sondern innerhalb ihrer verlaufen. 2. Wer soll und kann eigentlich Subjekt interkultureller Dialoge sein? Regierungen sind selten geeignet, einen solchen Dialog der Kulturen selbst zu führen. Im Rahmen des diplomatischen Verkehrs sind Machtaspekte besonders ausgeprägt: Regierungen stellen letztlich nichts anderes dar, als eine Bündelung und Organisierung gesellschaftlicher und staatlicher Macht. Ihre Aufgabe besteht gerade darin, eigene Interessen auch gegen Widerstände nach außen zu fördern oder durchzusetzen. Wer gegen solche Dialogpartner nicht misstrauisch wäre, ist selber Schuld. Verschärft stellt sich das Problem hinsichtlich des Nahen und Mittleren Ostens. Dort besteht ein großer Teil der Regierungen aus Diktaturen oder Pseudodemokratien, die die eigene Bevölkerung von der Macht ausschließen, unterdrücken oder deren Rechte einschränken. Mit diesen Kräften zu sprechen kann zwar nützlich sein und ist oft unvermeidbar, aber Kern eines Dialogs der Kulturen können sie unter diesen Bedingungen nicht sein. Vielmehr kommt es darauf an, noch stärker als bisher einen gesellschaftlichen Austausch an die Stelle des diplomatischen zu setzen. Das hat bereits im früher so konfliktbeladenen deutsch-französischen oder auch im heutigen deutsch-israeli-schen Verhältnis zu größerem Verständnis beigetragen. Dialoge zwischen Intellektuellen in westlich und muslimisch geprägten Gesellschaften, zwischen Journalisten, Wissenschaftlern, Politikern, Schülern und Studenten, zwischen religiösen Organisationen und Gruppen der Zivilgesellschaft sind bereits im Gange. Sie sollten massiv verstärkt und verstetigt werden. Differenzierungsfähigkeit, Kontinuität und ein gewisser Mindestumfang sind wichtig, um mit interkulturellen Dialogen Wirkung zu erzielen. Dann können sie auch der Islamfeindlichkeit in den westlich geprägten Gesellschaften und der Westenfeindlichkeit in muslimisch geprägten Gesellschaften etwas entgegensetzen. Allerdings darf man von solchen Austauschen nicht zu viel erwarten, denn sie können nur gelingen, wenn auf der politischen Ebene weniger Öl ins Feuer gegossen wird, und wenn die symbolträchtigen Schlüsselkonflikte (wie Palästina und Irak) durch größeres Engagement und stärkeren Druck der internationalen Gemeinschaft friedlich gelöst werden. Wird dies versäumt oder misslingen die Versuche, können interkulturelle Dialoge nur Schaden begrenzen, aber kaum eine Verständigung zwischen beiden Seiten bewirken. Der Erfolg des interkulturellen Dialogs hängt also von der Schaffung positiver politischer Rahmenbedingen ab.
Gewalt gegen Frauen mit türkischem Migrationshintergrund in Deutschland Diskurse zwischen Skandalisierung und Bagatellisierung2 Monika Schröttle 1.
Einführung
Mit der öffentlichen Diskussion um Zwangsverheiratung und Gewalt gegen Frauen und Mädchen mit türkischem Migrationshintergrund in Deutschland werden seit Jahren stereotype Darstellungen über „die“ türkischen Migrantinnen und Migranten transportiert, die in ihrer Polarisierung und mangelnden Differenzierung nicht den empirisch feststellbaren Realitäten der aktuellen sozialwissenschaftlichen Forschung entsprechen. Die oft stark emotional aufgeladene und einseitig moralisierende Herangehensweise an die Problematik scheint mit unterschiedlichen politischen Interessen und Zielrichtungen verbunden zu sein. Auf der einen Seite steht das wichtige Anliegen, Frauen und Mädchen, die erhöhten Risiken ausgesetzt sind, Opfer von Gewalt, Zwang und psychischer wie gesundheitlicher Beeinträchtigung in Familien- und Paarbeziehungen zu werden, zu unterstützen und die Gewalt gegen sie zu beenden. Die lauter werdenden kritischen Stimmen gegen Gewalt und entsprechende Menschenrechtsverletzungen sowie das erhöhte Engagement, gerade auch von frauenbewegten Aktivistinnen mit türkischem Migrationshintergrund in Deutschland, von Migrantinnenverbänden oder türkischen Medien waren und sind eine unerlässliche Grundlage für Veränderungsprozesse. Sie leiten einen Abbau von Gewalt beziehungsweise Diskriminierung im Geschlechterverhältnis und eine bessere Unterstützung betroffener Migrantinnen ein. Auf der anderen Seite wird die Thematik jedoch von Teilen der Mehrheitsgesellschaft und der Politik zugleich instrumentalisiert, um Vorurteile gegen Migrantinnen und Migranten zu befördern und Gewalt sowie die Gleichstellungsproblematik der Geschlechter einseitig spezifischen, ethnischen Minderheiten zuzuschreiben. Fast unmerklich werden dadurch Probleme häuslicher Gewalt und die Gleichstellungsdefizite von Frauen und Männern in der deutschen Mehrheitsgesellschaft unsichtbar (gemacht) und verdeckt. Es entsteht der Eindruck, vor allem türkischstämmige Migrantinnen und solche aus Minderheiten mit islamischem 2
Der Beitrag basiert auf einem 2007 für das Deutsche Institut für Menschenrechte erstellten Artikel, der für dieses Buch überarbeitet und aktualisiert wurde (vgl. Schröttle 2007).
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Glaubenshintergrund seien als Mädchen oder Frauen in der Mehrheit von häuslicher Gewalt durch Partner und Brüder betroffen und türkischstämmige/muslimische Männer und Jungen dementsprechend regelmäßig als Gewalttäter im häuslichen Bereich und auch im öffentlichen Raum einzustufen. Obwohl solche Pauschalierungen empirisch nicht haltbar sind, setzt sich in den Köpfen die Verknüpfung durch: weiblich + türkisch/islamisch = Gewaltopfer und männlich + türkisch/ islamisch = Gewalttäter. Dass es auch in der deutschen Mehrheitsgesellschaft erhebliche Probleme von körperlicher, sexueller und psychischer Gewalt gegen Frauen in Paarbeziehungen gibt, wird auf diesem Weg zur Nebensache (erklärt), während die Angelegenheit insgesamt gleichzeitig zum einseitigen MigrantInnenproblem (gemacht) wird. Die faktisch viel differenzierter zu bewertenden Paar-, Familien- und Geschlechterbeziehungen von Menschen mit türkischem Migrationshintergrund erscheinen in den polarisierenden Darstellungen und Diskursen fast durchgängig als rückständig, traditionell und gewaltbelastet. Deutsche Paarbeziehungen wirken demgegenüber moderner und gewaltfreier als sie es tatsächlich sind. Es dürfte kein Zufall sein, dass ausgerechnet politische Kräfte, die ansonsten wenig Interesse an gleichstellungspolitischen Bemühungen und am Abbau von Gewalt im Geschlechterverhältnis zeigen, sich aktiv in diese Debatte einschalten und Gewalt nur dort benennen und bekämpfen, wo sie in islamischgläubigen Minderheiten auftritt. Fragen der (mangelnden) Integration türkischer Minderheiten in Deutschland werden vermengt mit Debatten über Islam und Islamismus, und diese wiederum ungeprüft in Verbindung gebracht mit Gewalt gegen Frauen, Gewalt in der Familie und geschlechtsspezifischen Diskriminierungen. Dies entspricht weder der Komplexität der Verbindungslinien noch den vorfindbaren Unterschieden in den Familien- und Paarbeziehungen von Migrantinnen. Einerseits werden dadurch Trennlinien zwischen in Deutschland lebenden Menschen deutscher und türkischer Herkunft aufgebaut, ohne nach Unterschieden und Gemeinsamkeiten zwischen und innerhalb der Bevölkerungsgruppen zu fragen. Andererseits besteht so die Gefahr der Banalisierung und Bagatellisierung, wenn die nachweislich erhöhte und schwerere Gewaltbetroffenheit von Frauen und Mädchen mit türkischem Migrationshintergrund geleugnet, heruntergespielt oder verschwiegen wird, wie das auch in der Migrationsforschung teilweise feststellbar war. Das wichtige Anliegen, Stigmatisierungen und Vorurteilen entgegenzuwirken darf nicht dazu führen, Menschenrechtsverletzungen und häusliche Gewalt gegen Migrantinnen zu verschleiern und den Schutzund Unterstützungsbedarf der Gewaltopfer sowie die Notwendigkeit aktiver Gewaltprävention zu übergehen beziehungsweise nicht ausreichend ernst zu nehmen. Ziel des vorliegenden Beitrages ist es, die Diskussion um Gewalt gegen Migrantinnen zu versachlichen. Anhand von empirischen Ergebnissen aus einer
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repräsentativen Umfrage zu Gewalt gegen Frauen in Deutschland soll aufgezeigt werden, wo Differenzierungen in der Diskussion über Migration, Gewalt, Geschlechterbeziehungen notwendig sind, um der Lebenssituation von Frauen und Männern unterschiedlicher ethnischer Herkunft besser gerecht zu werden. Dazu werden verschiedene Aspekte der derzeitigen Stereotypisierung der Lebens-, Paar- und Familiensituation von Menschen mit türkischem Migrationshintergrund aufgegriffen und in ihrem Realitätsgehalt überprüft und diskutiert; eingegangen wird auf das Ausmaß von Zwangsverheiratung und Gewalt in Paarbeziehungen, auf Isolation und Kontrolle der Frauen innerhalb der Familien/Paarbeziehungen, sowie die Verortung der Paarbeziehungen auf der Achse traditionell/rückständig versus modern/partnerschaftlich. Es wird gezeigt, dass diese Problembereiche erstens nicht einseitig und überwiegend Menschen mit türkischem Migrationshintergrund zuzuordnen sind, dass sie zweitens einen großen Teil der Migrantinnen und Migranten türkischer Herkunft nicht betreffen und drittens für einen nicht unerheblichen Teil der deutschen Mehrheitsgesellschaft ebenfalls relevant sind. Die im Folgenden dargestellten Ergebnisse beziehen sich auf eine repräsentative Befragung von mehr als 10.000 in Deutschland lebenden Frauen im Alter von 16 bis 85 Jahren, die von 2002 bis 2004 im Auftrag des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend durch das Interdisziplinäre Zentrum für Frauen- und Geschlechterforschung der Universität Bielefeld in Kooperation mit dem Institut für angewandte Sozialwissenschaft (infas) in Bonn durchgeführt wurde (Schröttle 2004, auch zur Methodik, zum Aufbau und zu Inhalten). Die Untersuchung thematisierte entsprechend ihres Studientitels in ausführlichen Befragungen die Lebenssituation, Sicherheit und Gesundheit von Frauen in Deutschland und war die erste deutsche Repräsentativuntersuchung, die sich schwerpunktmäßig mit Gewalterfahrungen von Frauen innerhalb und außerhalb von Familien- und Paarbeziehungen befasste. Anders als bei vielen anderen europäischen Prävalenzstudien zu Gewalt gegen Frauen (zur Vergleichbarkeit der europäischen Studien siehe Martinez 2006; Schröttle 2006a) wurden in der Untersuchung zusätzliche fremdsprachige Interviews in türkischer und russischer Sprache durchgeführt, um die größten in Deutschland lebenden Migrantinnenpopulationen – Frauen mit türkischem Migrationshintergrund und Frauen aus Osteuropa und Ländern der ehemaligen UdSSR – besser zu erfassen. Die Daten dieser Ende 2004 veröffentlichten Studie (Schröttle) wurden in den letzten Jahren weiter vertiefend sekundäranalytisch ausgewertet, unter anderem auch mit Blick auf Unterschiede und Gemeinsamkeiten von Frauen mit und ohne Migrationshintergrund (Schröttle/Condon 2005; Schröttle 2006; 2007; Schröttle/Khelaifat 2008; Schröttle/Ansorge 2009). Die ethnische Herkunft der Befragten wurde am Geburtsland ihrer Eltern festgemacht, sowie an der Staatsbürgerschaft als zweitrangigem Kri-
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terium. Dadurch konnten Migrantinnen der ersten und zweiten Generation durchgängig einbezogen werden, Migrantinnen der dritten Generation nur, wenn sie keine deutsche Staatsbürgerschaft innehatten. Im Folgenden soll zunächst auf das Ausmaß von arrangierten Ehen und Zwangsverheiratungen türkischer Migrantinnen eingegangen werden, um dann auf der Basis der Studienergebnisse Erkenntnisse zu Gewalt, Kontrolle und Isolation der Frauen in Familien- und Paarbeziehungen zu vermitteln. Anders als etwa Karakaolu/Subasi in ihrem Beitrag von 2007 vermitteln (S. 111), sind die zugrunde liegenden Daten zu Gewalt gegen Migrantinnen und zur Paar- und Lebenssituation der Frauen sehr wohl repräsentativ, wenn auch aufgrund der teilweise geringen Fallzahlen nicht für stark differenzierende multivariate Auswertungen nach Alter, sozialer Lage und Migrationsstatus geeignet. Lediglich die Daten zu Zwangsverheiratung sind nicht repräsentativ, da sie nur einen Teil der potentiell Betroffenen umfassen (Frauen, die noch in Deutschland leben, die in erster Ehe mit einem türkischstämmigen Mann verheiratet waren und die an den türkischsprachigen Interviews teilnahmen). Die Ergebnisse können allerdings vorsichtige Hinweise auf die Ausmaße für diese Teilpopulation geben und Mindestwerte anzeigen. Abschließend wird im vorliegen-den Beitrag auf die Frage eingegangen, ob und inwieweit Paare mit türkischem Migrationshintergrund als traditioneller einzustufen sind als Paare mit deutschem oder anderem ethnischen Hintergrund. Die Beschränkung der Analyse der Lebens- und Paarsituation von Migrantinnen auf Frauen mit türkischem Migrationshintergrund und solche aus Ländern der ehemaligen Sowjetunion ist studienbedingt notwendig, da nur diese durch zusätzliche fremdsprachige Interviews in ausreichender Fallzahl erfasst wurden.
2.
Hinweise auf das Ausmaß von arrangierten Ehen und Zwangsverheiratungen von Migrantinnen türkischer Herkunft in Deutschland
Generell existieren für Deutschland aufgrund des Fehlens umfangreicher repräsentativer Studien bei unterschiedlichen Migrantengruppen und aufgrund der Schwierigkeit, Dunkelfelder bei Zwangsverheiratung aus und nach Deutschland aufzudecken, keine verallgemeinerbaren Daten über das tatsächliche Ausmaß der Problematik. Eine in 2008 ausgeschriebene Studie des Bundesministeriums für Frauen, Familie, Senioren und Jugend wird hierüber aber voraussichtlich in den nächsten Jahren weitergehende Aufschlüsse geben. Das Ausmaß von Zwangsverheiratung in Deutschland wird sicherlich überschätzt, wenn in der öffentlichen Diskussion der Eindruck entsteht, die Mehrheit der Migrantinnen türkischer Herkunft in Deutschland sei davon betroffen. Auch
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ist zwischen arrangierter Ehe und Zwangsverheiratung zu unterscheiden, wenn auch die Freiwilligkeit der arrangierten Ehen durchaus und zu recht kritisch und kontrovers diskutiert wird (Kelek 2007; Karakaolu/Subasi 2007; Straßburger 2007). Dennoch stellt Zwangsverheiratung eine schwere Menschenrechtsverletzung dar und die bisherigen Hinweise auf das Ausmaß und die Verbreitung in Deutschland und Europa legen einen erheblichen Handlungs- und Unterstützungsbedarf nahe. Eine Leugnung oder Bagatellisierung der Problematik wäre auch aus menschenrechtlicher Perspektive nicht vertretbar. Die Hinweise auf die Verbreitung von Zwangsverheiratung und arrangierten Ehen unter Frauen, die mit türkischem Migrationshintergrund in Deutschland leben, basieren auf einem kleineren, gesonderten Befragungsteil der Studie von 2004. Die auf Türkisch geführten Interviews richteten sich an Frauen, die in erster Ehe mit einem türkischstämmigen Partner verheiratet waren (N=143). Ziel war es, einen ersten, vorsichtigen Einblick in das Ausmaß der Problematik unter türkischen Migrantinnen in Deutschland zu gewinnen. Die Ergebnisse verweisen darauf, dass die große Mehrheit der in Deutschland lebenden Frauen türkischer Herkunft nicht gegen ihren Willen mit einem Partner verheiratet wurde. Zugleich kann aber keine Entwarnung gegeben werden, denn immerhin fast jede elfte bis zwölfte Befragte gab an, sie hätte sich zum Zeitpunkt der Eheschließung zu der Ehe gezwungen gefühlt. Hierbei handelt es sich um Frauen, die explizit Angaben machten. Sie dürften somit den harten Kern derjenigen ausmachen, die sich auch nach mehreren Ehejahren nicht mit der Situation arrangiert haben. Darüber hinaus wäre es möglich, dass zwangsverheiratete Frauen, die stärker isoliert sind und einer höheren Kontrolle durch Familienangehörige unterliegen, in der Befragung untererfasst sind oder nicht wahrheitsgemäß geantwortet haben (die Interviews durften nur allein und in Abwesenheit Dritter durchgeführt werden). Hinzu kommt, dass die Studie keine Frauen erfassen konnte, die von Deutschland aus in andere Länder zwangsverheiratet worden waren. Es ist also davon auszugehen, dass die Ergebnisse Mindestwerte darstellen, hinter denen sich noch schwer einschätzbare Dunkelfelder verbergen. Die für eine rechtliche und inhaltliche Zuordnung wichtige Unterscheidung zwischen freiwillig arrangierter Ehe und Zwangsverheiratung sowie deren Abstufungen dürfte in der Praxis nicht immer trennscharf zu bestimmen sein, da der einzelne Grad von Zustimmung und Ablehnung, Zwang und Freiwilligkeit der Eheschließung nur schwer zu erfassen ist. In der vorliegenden Studie gibt etwa die Hälfte der befragten Frauen mit türkischem Migrationshintergrund (49 Prozent) an, sie habe den Partner allein ausgewählt. 48 Prozent erklären, der Ehepartner sei ihnen von Verwandten vorgeschlagen worden, und drei Prozent haben zu dem Thema keine Angaben gemacht. Von den Frauen, denen der Partner von Verwandten vorgeschlagen wurde:
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geben 54 Prozent an, sie hätten Gelegenheit gehabt, den Ehepartner vor der Ehe kennenzulernen (46 Prozent nicht); sind fast drei Viertel (74 Prozent) mit dem Vorgehen der Verwandten einverstanden; knapp ein Viertel (24 Prozent) gibt an, es hätte den Partner lieber selbst ausgewählt; werden knapp drei Viertel (74 Prozent) vor der Eheschließung zu ihrer Meinung zum zukünftigen Ehepartner befragt; ein Viertel (25 Prozent) nicht; geben 86 Prozent an, mit der Auswahl des Ehepartners einverstanden gewesen zu sein (acht Prozent nicht oder zuerst nicht, später aber schon) haben 18 Prozent zum Zeitpunkt der Eheschließung das Gefühl, zu der Ehe gezwungen worden zu sein.
Hieraus wird ersichtlich, dass arrangierte Ehen nicht durchgängig und generell als Zwangsehen einzustufen sind und dass sie häufig mit der Zustimmung oder dem Einverständnis der Betroffenen geschlossen werden. Bei einem nicht unerheblichen Teil der arrangierten Ehen ist die freiwillige Zustimmung aber auch fraglich. Zum einen hat die Frau in fast der Hälfte der Fälle nicht die Gelegenheit, ihren Partner vor der Ehe kennenzulernen, zum anderen ist sie zum Zeitpunkt der Eheschließung oftmals sehr jung. 50 Prozent der im Rahmen arrangierter Ehen verheirateten Frauen in dieser Studie sind 18 bis 20 Jahre alt, weitere 40 Prozent jünger als 18 (davon der überwiegende Teil zwischen 16 und 17 Jahre). Die Betroffenen befinden sich also in einem Alter, in dem viele die Tragweite der Entscheidung nicht absehen und sich nicht oder noch nicht selbstbewusst dem elterlichen oder verwandtschaftlichen Druck beziehungsweise der Beeinflussung widersetzen können. Die Auswertung zeigt für den Themenbereich „Zwangsverheiratung“ insgesamt auf, dass die Hälfte der befragten in Deutschland lebenden Migrantinnen türkischer Herkunft die Partner in erster Ehe vollständig selbst ausgewählt hat und nicht von einer angebahnten oder arrangierten Ehe betroffen ist. Die große Mehrheit der durch Verwandte arrangierten Ehen (etwa drei Viertel) wurde nach Aussagen der Betroffenen mit expliziter Zustimmung und unter aktiver Mitsprache/Beteiligung der Frauen realisiert. Etwa jede vierte bis fünfte in der Studie erfasste arrangierte Ehe ist hingegen menschenrechtlich als problematisch zu bewerten, weil man die Frau nicht nach ihrem Einverständnis gefragt hat, weil sie den Partner lieber selbst ausgewählt hätte und/oder weil sie mit der Partnerwahl nicht einverstanden gewesen ist. Eine ebenfalls nicht repräsentative Befragung von 114 Migrantinnen im Jahre 1996, die im Rahmen des Womens for Human Rights Report in Berliner Migrantinnen- und Unterstützungsprojekten durchgeführt wurde, kam bei dieser Problematik zu höheren Werten. Demnach wurden mehr als ein Drittel der arrangierten Ehen gegen den Willen der Frau durchgesetzt (Ilkaracan 1996 zit. n. Westphal/Katenbrink 2007). Dieser Unter-
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schied ist aber vermutlich auf die verschieden zusammengesetzten Befragungsgruppen zurückzuführen: Wenn in Hilfe- und Unterstützungseinrichtungen befragt wird, ist von einem höheren Anteil an Menschen in entsprechenden Problemsituationen auszugehen. Nach der hier vorliegenden Studie wird insgesamt knapp jede zehnte Migrantin türkischer Herkunft mit Zwang und/oder mangelhafter Zustimmung/Beteiligung gegen ihren Willen mit ihrem ersten Ehepartner verheiratet. Wie hoch die darunter liegende Dunkelziffer ist, lässt sich anhand der vorliegenden Daten schwer bestimmen – Frauen, die ins Ausland verheiratet werden, sind in dieser Schätzung noch nicht einbezogen. Die Ergebnisse spiegeln Tendenzen wider und sind aufgrund der geringen Fallzahlen nicht verallgemeinerbar. Um verallgemeinerbare und für die Praxis und Politik verwertbare Aussagen zu diesem Thema zu erhalten, bedarf es einer – auch quantitativ – breiter angelegten repräsentativen Studie, die weitere Untersuchungsgruppen unterschiedlicher ethnischer Herkunft einbezieht und Differenzierungen ermöglicht, zum Beispiel zur Frage, welche (anderen) ethnischen Gruppen, Altersgruppen, sozialen Statusgruppen und kulturellen Milieus besonders stark gefährdet oder betroffen sind. Zu Recht wird darauf hingewiesen, dass die Problematik nicht „dem Islam“ oder ausschließlich „Menschen mit muslimisch-türkischer Herkunft“ angelastet werden kann. Beobachtungen aus anderen Ländern verweisen darauf, dass Menschen unterschiedlicher ethnischer Herkunft und religiöser Zugehörigkeit von Zwangsverheiratung ebenso betroffen sind (Zentrum Politik 2006; zwangsheirat.ch). Neben patriarchalischen Strukturen und archaischen Traditionen scheinen auch soziale und Bildungsfaktoren eine Rolle zu spielen (siehe BMFSFJ 2007, darin speziell den Beitrag von Strobl/Lobermeier). Wichtig wäre deshalb, die Problematik der Zwangsverheiratung nicht unhinterfragt mit dem islamischen Glauben zu verknüpfen, sondern sie auch im Kontext von sozialen und Bildungsfragen zu diskutieren. Auch gibt es Hinweise darauf, dass Zwangsverheiratungen gehäuft in Familien auftreten, die durch Gewalt gegen Frauen und Kinder, sowie durch Suchtproblematiken und andere soziale Probleme (vor-) belastet sind (Strobl/Lobermeier 2007). Fest steht aufgrund empirischer Datenlage, Frauen mit türkischem Migrationshintergrund werden in Deutschland nicht mehrheitlich zwangsverheiratet. Ergebnisse aus anderen Untersuchungen zeigen zudem, die Mehrheit der Menschen türkischer Herkunft stimmt der Praktik der Zwangsverheiratung sowohl in Deutschland als auch in der Türkei nicht zu (Westphal 2007; speziell zu jüngeren Migrantinnen siehe Boos-Nünning/Karakaolu 2004). Zugleich ist davon auszugehen, dass das Ausmaß von Zwangsverheiratung in und nach Deutschland nicht unerheblich ist; entsprechender Unterstützungsbedarf wird in Praxisprojekten der Frauen- und Mädchenarbeit sichtbar. Angesichts der Schwere der Men-
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schenrechtsverletzung ist somit Hilfe für Frauen (und auch Männer), die von Zwangsverheiratung betroffen oder bedroht sind – auch unabhängig von der exakten Bestimmung der Ausmaße – dringend erforderlich. 3.
Gewalt, soziale Kontrolle und männliche Dominanz im Vergleich der Untersuchungsgruppen
Sind Gewalt, soziale Kontrolle und männliche Dominanz in Paar- und Familienbeziehungen vor allem ein Problem islamisch gläubiger ethnischer Minderheiten? Sind Frauen mit entsprechendem Migrationshintergrund mehrheitlich der Gewalt und Kontrolle männlicher Familienmitglieder ausgesetzt? Oder ist das Problem häuslicher Gewalt in Familien- und Paarbeziehungen eines, das durchaus auch die deutsche Mehrheitsgesellschaft mit ihrem christlichen Glaubenshintergrund oder ihrer nicht-religiösen Bindung ebenso betrifft? Aus der Studie liegen dazu mehrere Sonderauswertungen vor, die sich auf Frauen bezogen, die aktuell und/oder früher in einer Paarbeziehung gelebt haben, wobei je nach Altersgruppenbegrenzung jeweils 300 bis mehr als 400 Migrantinnen aus Ländern der ehemaligen UdSSR und aus der Türkei und circa 6.000 Frauen deutscher Herkunft einbezogen und vergleichend untersucht wurden. Es handelt sich dabei erstens um Teilveröffentlichungen im Rahmen eines deutschfranzösischen Kooperationsprojektes, bei dem 2005/2006 die nationalen Gewaltprävalenzstudien beider Länder verglichen wurden, um zu prüfen, ob jeweils ähnliche Tendenzen hinsichtlich der Betroffenheit von Frauen mit und ohne Migrationshintergrund durch Gewalt in Paarbeziehungen feststellbar sind (Schröttle 2006; Schröttle/Condon 2005). Zweitens handelt es sich um eine Sonderauswertung zu Migration, Gesundheit und Gewalt im Auftrag des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (Schröttle/Khelaifat 2008) und drittens um eine Analyse zu Risikofaktoren, Schweregraden und Mustern von Gewalt in Paarbeziehungen, die ebenfalls durch selbiges Ministerium gefördert und an der Universität Bielefeld durchgeführt wurde (Schröttle/Ansorge 2009); Abweichungen der Fallzahlen und leichte Abweichungen der Prävalenzen resultieren aus den unterschiedlichen Altersgruppenbegrenzungen in den Studienauswertungen.
Ausmaß, Verbreitung und Schweregrade von körperlicher und sexueller Gewalt gegen Frauen in Paarbeziehungen Die sekundäranalytischen Auswertungen ergeben durchgängig, dass Frauen türkischer Herkunft signifikant häufiger und schwerer von Gewalt durch Partner
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betroffen sind als andere Befragte; zugleich ist aber auch die Betroffenheit der Frauen deutscher Herkunft von Partnergewalt im Lebensverlauf hoch. So geben von den unter 75-jährigen Frauen, die in mindestens einer Paarbeziehung gelebt haben, 37 Prozent derjenigen mit türkischer Herkunft an, körperliche und/oder sexuelle Übergriffe durch den aktuellen und/oder einen früheren Partner erfahren zu haben; aber auch gut ein Viertel der Frauen deutscher Herkunft und der Migrantinnen aus Länder der ehemaligen Sowjetunion (26 bis 27 Prozent) sind mindestens einmal mit körperlichen und/oder sexuellen Übergriffen durch einen Partner konfrontiert worden (Schröttle/Khelaifat 2008). Die Unterschiede fallen deutlicher aus, wenn nur Gewalt durch den aktuellen Partner einbezogen wird. Bei Frauen, die zum Befragungszeitpunkt in einer Partnerschaft lebten, liegt der Anteil derjenigen türkischer Herkunft (29 Prozent) mehr als doppelt so hoch als der der Frauen deutscher Herkunft (13 Prozent). Bei Frauen aus Ländern der ehemaligen Sowjetunion trifft die Erfahrung körperlicher und/oder sexueller Übergriffe durch den aktuellen Partner auf eine Quote von 17 Prozent zu (ebd.). Eine vertiefende Analyse der Muster und Schweregrade von Gewalt durch den aktuellen Partner im Vergleich der Untersuchungsgruppen zeigt, dass Frauen mit türkischem Migrationshintergrund nicht nur anteilsmäßig stärker betroffen sind, sondern auch schwerere und häufiger auftretende Formen von Gewalt durch den aktuellen Partner erleben (Schröttle/Ansorge 2009). So geben zwei Drittel mehrere beziehungsweise mehrmalige Gewalthandlungen durch den aktuellen Partner an, während zwei Drittel der betroffenen Frauen aus den anderen Untersuchungsgruppen ausschließlich einmalige Übergriffe nennen. Von Mustern schwerer körperlicher und/oder sexueller Gewalt und Misshandlung, die häufig in Verbindung mit erhöhter psychischer Gewalt auftraten, sind 18 Prozent der in aktuellen Paarbeziehungen lebenden Frauen türkischer Herkunft, neun Prozent der Frauen aus Ländern der ehemaligen UdSSR und fünf Prozent der Frauen deutscher Herkunft betroffen. Die höhere Gewaltbetroffenheit von Frauen mit türkischem Migrationshintergrund durch aktuelle Partner dürfte vor allem darauf zurückzuführen sein, dass sie länger in gewaltbelasteten Paarbeziehungen verharren, während sich Frauen aus den anderen Befragungsgruppen schneller daraus lösen (können). Gewalt baut sich oftmals erst im Verlauf einer Beziehung auf. Dadurch erhöht sich das Risiko, schweren Misshandlungen zum Opfer zu fallen. Zugleich zeigt die Studie, dass die Mehrheit – auch der Migrantinnen türkischer Herkunft – in diesem Kontext nicht von (schwerer) körperlicher/sexueller Gewalt betroffen war oder ist. Auch das Ergebnis, wonach gut ein Viertel der Frauen deutscher Herkunft in ihrem Lebensverlauf körperliche und/oder sexuelle Übergriffe erlebt haben, widerlegt, dass sich die Problematik häuslicher Gewalt in Deutschland auf islamisch gläubige Minderheiten oder Menschen mit türkischem Migrationshin-
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tergrund begrenzt. In der Gruppe derjenigen, die ihre aktuelle Partnerin schwer misshandeln, sind Männer mit türkischem Migrationshintergrund zwar häufiger vertreten als es ihrem Anteil an der Gesamtbevölkerung entspricht, dennoch hat die Mehrheit der schwer Misshandelnden in Deutschland keinen Migrationshintergrund (Schröttle/Ansorge 2009). Wie die Risikofaktorenanalyse der Studie aufzeigt (Schröttle/Ansorge 2009), kann die höhere Betroffenheit der Frauen türkischer Herkunft von schwerer Gewalt in aktuellen Paarbeziehungen durch mehrere Ursachen erklärt werden. Die erhöhten Gewaltpotentiale lassen sich auf ihre oftmals schwierigere soziale Lage und ihre mangelnden bildungs- und ökonomischen Ressourcen zurückführen. Ihre stärkere ökonomische Abhängigkeit vom Partner und ihre oftmals fehlenden Sprachkenntnisse machen es den Frauen türkischer Herkunft schwerer, sich aus gewaltbelasteten Paarbeziehungen zu lösen. Damit steigt ihr Risiko an, von (schwerer) Gewalt betroffen zu sein. Ferner können traditionelle Werte und Normen, die eine Unterordnung von Frauen im Geschlechterverhältnis, männliches Dominanzverhalten und die Akzeptanz von Gewalt gegen Frauen in Paarbeziehungen stützen, zur Gewaltlegitimierung und zu einem breiteren Gewaltausmaß beitragen. Eine weitere zentrale Rolle spielt die intergenerationelle Vermittlung von Gewalt (über Gewalt zwischen den Eltern in der Herkunftsfamilie). Frauen türkischer Herkunft haben in der Studie zwar nicht häufiger angegeben, elterliche körperliche Gewalt im Rahmen der Erziehung erfahren zu haben, berichteten aber deutlich häufiger als andere Befragungsgruppen von Gewalt zwischen den Eltern, zumeist vom Vater gegen die Mutter. Waren Frauen unterschiedlicher ethnischer Herkunft in Kindheit und Jugend nicht mit Gewalt zwischen den Eltern konfrontiert, dann ließen sich keine signifikanten Unterschiede mehr zu den anderen Befragungsgruppen im Hinblick auf die Betroffenheit von körperlicher/sexueller Gewalt feststellen. Das weist darauf hin, dass das Miterleben von Gewalt gegen die Mutter im Elternhaus ein maßgeblicher Faktor für (die Akzeptanz von) Gewalt in späteren eigenen Paarbeziehung ist, und dass dieser Faktor zugleich die Bedeutsamkeit anderer soziostruktureller Faktoren relativiert. Eine Vielzahl von Faktoren kann also die Wahrscheinlichkeit von Gewalt in Paarbeziehungen erhöhen. Angesichts der Befunde ist es daher nicht sinnvoll, die Problematik häuslicher Gewalt ausschließlich im Zusammenhang mit Migration oder ethnischem und religiösem Hintergrund zu sehen. Um dem erhöhten Schutz- und Unterstützungsbedarf von Frauen türkischer Herkunft Rechnung zu tragen – insbesondere auch im Hinblick auf Trennungs- und Scheidungssituationen, in denen sie ebenfalls erhöhten Risiken von schwerer Gewalt durch ihre Partner ausgesetzt sind –, gilt es, die beruflichen und sozialen Situationen sowohl der Frauen als auch ihrer Partner zu verbessern. Protektive Faktoren wie Bildung
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und die berufliche Einbindung tragen einerseits zum Abbau von Gewalt bei, und befähigen die Frauen andererseits dazu, sich gegebenenfalls früher aus gewaltbelasteten Paarbeziehungen zu lösen. Die Unterschiede in der Betroffenheit von körperlicher und sexueller Gewalt, auch in ihren schweren Ausprägungen, nehmen ab, wenn die Frauen über einen höheren Schul- und Ausbildungsabschluss (Abitur/Fachabitur) verfügen und/oder in erhöhtem Maß beruflich eingebunden und/oder beruflich höher positioniert sind. Frauen türkischer Herkunft, die körperliche/sexuelle Gewalt durch den aktuellen Partner erlebt haben, verfügten fast durchgängig über keinen qualifizierten oder anerkannten Ausbildungsabschluss. Hatten sie höhere Schul- und/oder Ausbildungsabschlüsse, waren sie nicht signifikant häufiger von Gewalt betroffen als andere Befragungsgruppen. Das traf so auf ihre Partner nicht zu. Diese hatten zwar ebenfalls häufig keinen qualifizierten Schul- und Ausbildungsabschluss, waren aber auch im Falle eines höheren Grads an Bildung – wenn auch mit abnehmender Tendenz – gewaltbereiter als entsprechend höher gebildete Männer mit deutschem oder anderem ethnischen Hintergrund. Das verweist darauf – und andere Studienergebnisse bestätigen es–, dass die Bildung der männlichen Beziehungspartner kein hinreichend protektiver Faktor für die Täterschaft bei Gewalt in Paarbeziehungen ist (Schröttle/Ansorge 2009). Vielmehr scheinen Ansprüche auf männliche Dominanz und Kontrolle im Geschlechterverhältnis sowie die Nichtakzeptanz egalitärer oder sich egalisierender Geschlechterbeziehungen relevante Faktoren bei der Entstehung und Aufrechterhaltung von Gewalt in Paarbeziehungen zu sein – auch unabhängig vom ethnischen, sozialen und vom Bildungshintergrund der Männer (ebd.; Schröttle 1999).
Männliche Kontrolle, Dominanz und psychische Gewalt in Paarbeziehungen Üben Männer türkischer Herkunft mehr Kontrolle, Dominanz und psychische Gewalt gegenüber ihren Beziehungspartnerinnen aus als Männer deutscher Herkunft und ist die Frage männlicher Kontrolle und Dominanz vor allem eine des ethnischen oder des Migrationshintergrundes? In der Studie gibt es Hinweise darauf, dass Männer mit türkischem Migrationshintergrund deutlich häufiger dominant und kontrollierend der Partnerin gegenüber auftreten, aber auch darauf, dass die Problematik in den Paarbeziehungen der deutschen Mehrheitsgesellschaft eine quantitativ und qualitativ große Rolle spielt (Schröttle/Ansorge 2009). Zur Erfassung von psychischer Gewalt, Kontrolle und Dominanz in den aktuellen Paarbeziehungen wurden den Frauen verschiedene Aussagen gegeben, bei denen sie beurteilen sollten, ob sie auf den Partner ganz, teilweise oder gar nicht zutreffen, beispielsweise „ist eifersüchtig und unterbindet meine Kontakte
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zu anderen Männern/Frauen“, „kontrolliert meine Post, meine Telefonanrufe, EMails“, „sagt, ich sei lächerlich, dumm oder unfähig“ „schüchtert mich ein, wenn ich anderer Meinung bin (z.B. durch Gesten, Blicke oder Anbrüllen)“, „lässt mich spüren, dass ich finanziell von ihm/ihr abhängig bin“. Zunächst lässt sich feststellen, dass die befragten Frauen türkischer Herkunft am häufigsten über Formen von Kontrolle berichten (44 Prozent). Allerdings tritt ebendiese Kontrolle in nicht unerheblichem Ausmaß auch bei Frauen aus den Ländern der ehemaligen UdSSR (33 Prozent) und bei Frauen deutscher Herkunft (19 Prozent) auf. Die Mehrheit – auch der türkischen Befragten – beschreibt keine kontrollierenden Verhaltensweisen bezogen auf die zwischenmenschliche Beziehung. Wenn kontrollierendes Verhalten benannt wird, handelt es sich meistens um eine Kontrolle der Außenkontakte, der außerhäuslichen Aktivitäten sowie der finanziellen Ausgaben. Bei den Aussagen zur Dominanz des aktuellen Beziehungspartners von türkischen Migrantinnen zeigen sich mit 29 Prozent ebenfalls deutlich höhere Werte als bei den Aussagen von Frauen aus Ländern der ehemaligen UdSSR (21 Prozent) und Frauen deutscher Herkunft (14 Prozent). Die Ergebnisse veranschaulichen zwar, dass männliches Dominanzverhalten in Paarbeziehungen besonders häufig Frauen mit türkischem Migrationshintergrund betrifft, zeigen aber auch, dass sich die Problematik wiederum nicht exklusiv oder überwiegend auf diese Bevölkerungsgruppe konzentriert: Immerhin berichtet auch jede siebte Frau deutscher Herkunft davon, während die Mehrheit der Frauen mit türkischem Migrationshintergrund (71 Prozent) ihren Partner nicht als dominierend beschreibt. Hinsichtlich psychisch-verbaler Aggressionen durch den aktuellen Partner lassen sich bei beiden Migrantinnenpopulationen generell höhere Werte feststellen. Hoch signifikante Unterschiede können bei den meisten Aussagen allerdings nicht nachgewiesen werden. Androhungen von körperlicher Gewalt oder Mord scheinen insgesamt eine geringe Rolle zu spielen: Nur drei bis zehn Prozent der befragten Frauen machen entsprechende Angaben. Erneut erweisen sich die höheren Werte allerdings bei Frauen aus Ländern der ehemaligen UdSSR und bei Frauen türkischer Herkunft. Signifikant sind die Unterschiede jedoch nur bei letzteren, was mit ihrer generell erhöhten Gewaltbetroffenheit korreliert. Zugleich muss man aber auch hier wieder zur Kenntnis nehmen, dass die große Mehrheit der Migrantinnen türkischer Herkunft (90 Prozent) den Auswertungen zufolge nicht durch den aktuellen Partner körperlich bedroht wird (Schröttle 2006). Deutlicher ausgeprägt als die Androhung körperlicher Gewalt ist die psychische Gewalt in Paarbeziehungen. Sie ergibt sich zumeist durch ein Zusammenwirken von Kontrolle, extremer Eifersucht und Dominanz, systematischer Abwer-
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tung und Demütigung, Einschüchterung und mitunter durch Drohungen – teilweise geht die psychische Gewalt mit zusätzlicher körperlicher und/oder sexueller Gewalt einher. Die deutsche Mehrheitsgesellschaft ist bereits häufig davon betroffen, aber die Werte der beiden untersuchten MigrantInnengruppen fallen ein weiteres Mal eindeutig höher aus. Der Studie zufolge erleben 16 Prozent der Frauen deutscher Herkunft, knapp 30 Prozent der Frauen aus Ländern der ehemaligen Sowjetunion und 39 Prozent der Frauen türkischer Herkunft in ihren aktuellen Paarbeziehung mäßige bis hohe Ausprägungen psychischer Gewalt (Schröttle/Ansorge 2009). Hinsichtlich der Ursachen für psychische Gewalt, Kontrolle und Dominanz in Paarbeziehungen, weisen die Ergebnisse darauf hin, dass die besonderen Bedingungen der Migrationssituation – etwa die schwierige soziale Lage, Umbrüche in den Geschlechterbeziehungen oder verunsicherte Männlichkeit (zum Beispiel aufgrund von gesellschaftlicher Abwertung und Aufgabe der Ernährerrolle infolge von Arbeitslosigkeit) – eine höhere Relevanz haben als die spezifischen ethnischen, religiösen oder kulturellen Hintergründe der Betroffenen. Es ist ein schwieriger aber notwendiger Balanceakt, einerseits die (Re-)Traditionalisierung der Geschlechterverhältnisse und die Abwertung von Frauen und Mädchen in einigen ethnischen, kulturellen und religiös-fundamentalistischen Zusammenhängen (zu denen auch Teile der traditionellen fundamentalistisch christlich oder islamisch geprägten Milieus gehören), zu benennen und zu kritisieren, andererseits aber auch anzuerkennen, in welchem Maß andere soziale Faktoren und Diskriminierungen mit zur Entstehung und Aufrechterhaltung ungleicher Geschlechterbeziehungen beitragen können. Der Grundmechanismus der verunsicherten Männlichkeit auf der Basis traditioneller Geschlechtsrollenerwartungen und der Kompensation gesellschaftlicher und/oder (phantasierter) privater Ohnmacht durch Gewalt ist nationalitäts- und kulturübergreifend für die Entstehung männlicher Täterschaft hoch relevant und trägt wesentlich zur Kontrolle von und zur Gewalt gegen Frauen in Paarbeziehungen bei (Schröttle 1999; Schröttle/Ansorge 2009). Dieser Mechanismus muss nicht mit traditionellen oder fundamentalistischen religiösen Glaubensvorstellungen in einem direkten Zusammenhang stehen, kann aber durch diese charakteristische Ausprägungen und patriarchalisch geprägte Legitimationsmuster erfahren.
4.
Migrationshintergrund und soziale Isolation von Frauen
Auch hinsichtlich der sozialen Einbindung und Isolation von Migrantinnen in Deutschland zeichnet sich ein differenzierteres Bild ab, als es die öffentliche Diskussion häufig nahe legt. Zunächst zeigt sich nicht, dass Migrantinnen türkischer Herkunft durchgängig oder fast durchgängig sozial isoliert leben. Laut
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Studie (Schröttle 2004) schätzt der überwiegende Teil der Frauen – auch der mit türkischem Migrationshintergrund – die eigene Einbindung in soziale Bezüge positiv ein. Die meisten Frauen können demnach auf vertraute Ansprechpersonen außerhalb von Familie und Partnerschaft bei Problemen zurückgreifen, erhalten und unternehmen häufig Familien- und Bekanntenbesuche. Zudem pflegt ein nicht unerheblicher Anteil der Frauen – auch mit türkischem Migrationshintergrund (28 Prozent) – eine aktive bis sehr aktive außerhäusliche Freizeitgestaltung über Verwandten-/Bekanntenbesuche hinaus. Bei einem ebenfalls relevanten Teil der Befragten türkischer Herkunft – etwa ein bis zwei Fünftel (20 bis 40 Prozent) – treten allerdings deutliche und auch subjektiv als solche wahrgenommenen Probleme hinsichtlich mangelhafter außerhäuslicher sozialer Beziehungen und Bindungen auf: Rund ein Drittel der Frauen gibt an, zu wenig auf vertrauensvolle und verlässliche soziale Beziehungen und gute Freunde/Freundinnen zurückgreifen zu können. 38 Prozent unternehmen über Verwandten-/Bekanntenbesuche hinaus nie oder sehr selten soziale und kulturelle Freizeitaktivitäten außer Haus, so gehen etwa 35 Prozent nie ins Theater oder Kino, 18 Prozent nie in ein Café oder Restaurant. Fast einem Drittel steht bei Familien- und Partnerschaftsproblemen keine vertrauensvolle Ansprechperson außerhalb des selbigen Personenkreises zur Verfügung und bis zu 50 Prozent der in einer Paarbeziehung lebenden Frauen beklagt das Fehlen von Geborgenheit, Wärme und Wohlgefühl im eigenen sozialen Umfeld. Diese Defizite können sowohl durch restriktive und kontrollierende Familien- und Paarbeziehungen bedingt sein, als auch durch Abschottung, Diskriminierung und Isolierung durch und gegen die deutsche Mehrheitsbevölkerung. Da diese Probleme in hohem Maß auch Migrantinnen aus Ländern der ehemaligen UdSSR betrafen, ist davon auszugehen, dass migrationsbedingte Ursachen zugrunde liegen und nicht ausschließlich solche, die auf den spezifischen religiösen oder kulturellen Hintergrund der Migrantinnen bezogen werden können. Mehreres dürfte parallel wirksam sein: Fremdausgrenzung und Selbstisolation eines Teils der ethnischen Minderheiten in Deutschland, geschlechtsspezifische Kontrolle und Einschränkung eines Teils der Frauen mit Migrationshintergrund, sprachliche Probleme, die den Anschluss zu anderen Bevölkerungsgruppen erschweren und nicht zuletzt Diskriminierungs- und Ausgrenzungsmechanismen durch die deutsche Mehrheitsbevölkerung.
5.
Traditionelle versus moderne Paarbeziehungen
Ein Problem in der Diskussion zu Gewalt, Dominanz und Unterdrückung von Frauen in Paar- und Familienbeziehungen (türkisch-)muslimischer Minderheiten
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ist, dass diese häufig auf einer Achse von modernen versus traditionellen Geschlechterbeziehungen letzteren ungeprüft zugeordnet und mit einer vermeintlich fortschrittlicher deutschen Mehrheitsgesellschaft kontrastiert werden. Dadurch erscheinen die Geschlechterbeziehungen der Mehrheitsgesellschaften moderner als sie es tatsächlich sind und die Frage von ungelösten Gleichstellungsansprüchen wird einseitig einer – angeblich durchgängig rückständigen – ethnischen Minderheit, bevorzugt Muslimen, zugeschoben. Im Rahmen der vorliegenden Studie wurde deshalb anhand der Aufgabenteilung beider Partner in den Haushalten geprüft, wie sich die Paarbeziehungen von Frauen mit und ohne Migrationshintergrund in dieser Hinsicht gestalten. Die Ergebnisse legen dar, dass sich beide Gruppen nicht so stark unterscheiden, als dass eine polarisierende Zuordnung zu „modernen“ versus „traditionellen“ Beziehungsmustern gerechtfertigt erschiene. Eine vergleichende deutsch-französische Studie bestätigt ebenfalls, dass die Differenzen zwischen den Mehrheitsgesellschaften Deutschlands und Frankreichs diesbezüglich größer sind als die Unterschiede zwischen Menschen mit und ohne Migrationshintergrund innerhalb dieser Länder (Schröttle/Condon 2005). Staatliche Politik, gesellschaftliche Arbeitsorganisation und allgemeingesellschaftliche Umfelder scheinen einen größeren Einfluss auf die partnerschaftliche Gleichstellung der Geschlechter zu haben als familiäre, kulturell geprägte Umfelder auf einer individuellen und einer gruppenbezogenen Ebene. Der Grad der egalitären Haushaltsaufgabenteilung ist in Deutschland, trotz gestiegener Berufstätigkeit der Frauen, noch nicht weit vorangeschritten; zudem stellt sich die Erwerbsbeteiligung von deutschen Frauen im europäischen Vergleich noch immer als relativ gering dar (Cornelißen 2005). Gefragt nach einzelnen Haushaltsaufgaben und deren Übernahme durch die Frauen und/oder den mit ihnen in einem gemeinsamen Haushalt lebenden Partner, lassen sich bei nur knapp einem Viertel aller Befragten (24 Prozent) egalitäre Verteilungsmuster feststellen; in drei Vierteln der Fälle (75 Prozent) werden deutlich oder tendenziell mehr Aufgaben ausschließlich oder überwiegend von den Frauen übernommen und nur bei einem Prozent tendenziell oder deutlich mehr vom Partner (Schröttle/Ansorge 2009). Interessanterweise steigt die Quote der egalitären Haushaltsaufgabenteilung nur mäßig an, wenn die Frauen erwerbstätig sind (27 Prozent), etwas mehr wenn sie Vollzeit beschäftigt sind (36 Prozent). Selbst ein hoher beruflicher und ein hoher Einkommensstatus der Frauen tragen nicht dazu bei, dass mehr als 40 Prozent der Paare eine egalitäre Haushaltsaufgabenteilung praktizieren oder mehr als sieben Prozent der Partner etwas oder deutlich mehr Aufgaben im Haushalt übernehmen. In Deutschland ist eine traditionelle Aufgabenaufteilung nach Geschlechtern insofern also nicht ausschließlich oder überwiegend ein Problem ethnischer Minderheiten, sondern sie ist ebenso in der Mehrheitsgesellschaft verankert.
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Egalitäre Aufgaben- und Rollenverteilungen bei Frauen türkischer Herkunft sind mit zehn Prozent – gegenüber 24 bis 27 Prozent bei den anderen Befragungsgruppen – deutlich seltener vorzufinden. Zugleich zeigt sich bei ihnen eine erhebliche Mehrbelastung durch Haushaltsaufgaben im Vergleich zu ihren Männern. Somit lässt sich bei Frauen türkischer Herkunft häufiger eine traditionellere Geschlechterrollenverteilungen feststellen (60 Prozent) als bei Frauen deutscher Herkunft (38 Prozent) oder bei Frauen aus Ländern der ehemaligen UdSSR (30 Prozent). Die Unterschiede stehen zum Teil mit der geringeren beruflichen Einbindung insbesondere der Frauen türkischer Herkunft im Zusammenhang, sind aber damit nicht vollständig erklärbar. Die Diskrepanzen bleiben auch bei beruflich stärker eingebundenen Frauen unterschiedlicher ethnischer Herkunft bestehen. Das verweist wiederum auf traditionellere Geschlechterbeziehungen bei einem Teil der türkischstämmigen Familien- und Paarbeziehungen, die sich auch schon mit Blick auf die (Entscheidungs-)Dominanz des Partners gezeigt haben. Es bleibt festzuhalten, dass zentrale Haushaltsaufgaben wie Essen zubereiten, Wäsche waschen und Putzen auch von Frauen deutscher Herkunft wesentlich häufiger verantwortlich übernommen werden als von ihren Beziehungspartnern – und das obwohl sie häufiger erwerbstätig sind als Frauen mit Migrationshintergrund. Frauen deutscher Herkunft geben zu 73 bis 88 Prozent an, die genannten Hauhaltsaufgaben stets/meistens allein zu erfüllen; bei den türkischen Befragten liegen die Anteile mit 86 bis 90 Prozent etwas höher und bei den Befragten aus Ländern der ehemaligen UdSSR mit 70 bis 90 Prozent etwas niedriger. Insgesamt ist bei Frauen deutscher Herkunft und deren Partnern somit noch keine weitgehende Verbesserung in Richtung einer egalitären Aufgabenteilung festzustellen. Anders ist das bei Kinderbetreuung, Einkaufen, Spülen und Aufräumen nach dem Essen. Hier zeigt sich bei Frauen deutscher Herkunft (43 bis 53 Prozent) eine Tendenz zur zunehmend egalitären Aufgaben- und Rollenverteilung zwischen den Geschlechtern.
6.
Notwendige Differenzierungen
Die Ergebnisse der vorliegenden Auswertungen zeigen auf, dass einseitige Polarisierungen und Pauschalierungen weder gerechtfertigt noch realistisch sind. Frauen deutscher und türkischer Herkunft lassen sich nicht auf der Achse modern/emanzipiert/gewaltfrei = deutsch/westlich/christlich-abendländisch oder traditionell/ rückständig/gewaltbelastet = türkisch/muslimisch pauschal zuordnen. Frauen mit türkischem Migrationshintergrund sind nicht überwiegend zwangsverheiratet und/oder zum Zweck der Eheschließung aus der Türkei importiert worden (die Mehrheit der Frauen wurde in Deutschland geboren oder lebt seit mehr als 20
Gewalt gegen Frauen mit türkischem Migrationshintergrund in Deutschland
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Jahren hier und hat nach eigenen Angaben ihren Partner selbst ausgewählt oder der Auswahl explizit zugestimmt). Sie sind nicht überwiegend sozial isoliert und von außerhäuslichen Freizeitaktivitäten ausgeschlossen. Sie werden nicht mehrheitlich oder durchgängig vom Partner dominiert/kontrolliert/gewalttätig behandelt/bedroht. Weder lebt die Mehrheit der Frauen türkischer Herkunft in extrem traditionellen und gewaltbelasteten Paarbeziehungen, noch lebt die Mehrheit der Frauen deutscher Herkunft in sehr modernen, gewaltfreien, durch eine gleichwertige Aufgabenteilung im Geschlechterverhältnis geprägten Paarbeziehungen. Allerdings ist der Anteil derjenigen, die von Gewalt, Zwang und Unterdrückung durch männliche Beziehungspartner betroffen sind, unter Frauen mit türkischem Migrationshintergrund auffällig hoch. Die empirischen Daten nicht nur der hier aufgeführten Studien zeigen, dass Frauen mit türkischem Migrationshintergrund von Problemen in Paarbeziehungen gravierender betroffen sind als Frauen deutscher Herkunft und andere Migrantengruppen. Dies macht aktive Unterstützung, Intervention und präventive Maßnahmen erforderlich. Wenn fast jede dritte in Deutschland lebende Frau mit türkischem Migrationshintergrund nach eigenen Angaben körperliche und/oder sexuelle Übergriffe durch den aktuellen Partner erlebt hat und etwa jede sechste von Mustern schwerer körperlicher/sexueller/psychischer Misshandlung betroffen ist, ist das ein besorgniserregender und zum Handeln auffordernder Befund; dasselbe gilt für Hinweise darauf, dass sich jede elfte bis zwölfte der befragten Frauen bei der ersten Eheschließung zur Heirat gezwungen fühlte. Hier werden fundamentale Grundrechte von Frauen beschnitten, wofür es keine Legitimierung oder Relativierung geben darf. Neben den beschriebenen sozialen und bildungsbezogenen Hintergründen sind dafür auch traditionellere Geschlechterdiktate und teilweise offen frauendiskriminierende Werte und Einstellungen mit verantwortlich – zum Teil werden diese Einstellungen in traditionelleren Milieus auch kulturell und religiös legitimiert. Dies zu benennen, zu kritisieren und dem entgegenzuwirken ist für die Sicherheit von Frauen und Mädchen sowie für die Prävention schwerer Gewalt unerlässlich. Zugleich sind Differenzierungen notwendig, denn ein ebenfalls nicht unerheblicher Teil von Frauen der deutschen Mehrheitsbevölkerung in allen Sozialund Bildungsschichten wird in den Grundrechten auf körperliche Unversehrtheit beziehungsweise Integrität beschnitten und ist der Kontrolle, Isolation, Gewalt sowie der Dominanz durch den Partner ausgesetzt; zudem ist ein großer Teil der Frauen aus ethnischen Minderheiten von diesen Problematiken nicht betroffen. Erst eine differenzierte Betrachtung und Beschreibung von ethnischen Minderheiten und deren unterschiedlichen Lebenssituationen, sowie Vergleiche der Situation von Menschen ohne und mit differierendem Migrationshintergrund in unterschiedlichen Ländern oder Regionen ermöglichen, die Vielfalt und Unter-
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Monika Schröttle
schiedlichkeit der Gruppen wahrzunehmen und den Einfluss auch jener politischen Rahmenbedingungen zu erfassen, die über den ethnischen und religiösen Hintergrund hinaus relevant für die Lebensbedingung und die soziale Situation der Menschen sind. Es gilt, die ganze Spannbreite und Unterschiedlichkeit innerhalb der ethnischen Gruppen und auch innerhalb der keineswegs einheitlich lebenden deutschen Mehrheitsbevölkerung zu beschreiben und Unterschiede wie auch Gemeinsamkeiten von Frauen mit und ohne Migrationshintergrund wahrzunehmen. Dazu bedarf es mit Blick auf Geschlechterverhältnisse, Familien- und Paarbeziehungen sowie Gewalt gegen Frauen weiterer groß angelegter nationaler und internationaler Vergleichsstudien, die verschiedene Migrantinnengruppen auf breiter Ebene einbeziehen und differenzierte Analysen für unterschiedliche Bevölkerungsgruppen ermöglichen.
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Gewalt gegen Frauen mit türkischem Migrationshintergrund in Deutschland
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Islam als Störfaktor in der Schule Anmerkungen zum pädagogischen Umgang mit orthodoxen Positionen und 1 Alltagskonflikten
Yasemin Karakaolu 1.
Einleitung
Der Beitrag will anhand von Beispielen der Frage nachgehen, inwiefern sich Islamophobie im schulischen Umfeld äußert und inwiefern solche Haltungen die notwendige professionelle Handlungsfähigkeit in der pädagogischen Alltagspraxis hemmen können. Mit Islamophobie sind hier in Anlehnung an Jürgen Leibold und Steffen Kühnel, die das Phänomen in der Langzeitstudie Gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit untersuchen, „generell ablehnende Einstellungen gegenüber Muslimen, pauschale Abwertungen der islamischen Kultur und distanzierende Verhaltensabsichten gegenüber Muslimen“ (Leibold/Kühnel 2006: 137; siehe auch den Beitrag von Leibold in diesem Buch) sowie die grundsätzliche Negierung der von ihnen vorgebrachten Ansprüche an das Schulsystem gemeint. Hinzu kommt die Tendenz, Muslime als in sich geschlossene Gruppe wahrzunehmen.
2.
Imperative Vermittlung in Werte- und Normkonflikten
In pädagogischen Handlungsfeldern hinsichtlich von Normkonflikten zwischen Pädagogen und orthodoxen Muslimen wird in Deutschland derzeit überwiegend eine Vermittlung praktiziert, die nach Peter Bergers Klassifizierung als „imperativ“ zu charakterisieren wäre. Dabei handelt es sich um einen Prozess, der durch politische oder rechtliche Institutionen (Parlamente, Gerichte, Behörden) mit dem Ziel erfolgt, eine klare Entscheidung zu treffen, die gegenüber den beteiligten Parteien als bindend durchzusetzen ist (Berger 1997: 602ff.). Eine externe Instanz verpflichtet die Konfliktparteien auf einen gefundenen Kompromiss. Die Zustimmung aller Betroffenen wird unter Androhung von Sanktionen, im Normalfall durch Rechtsgewalt erzwungen. Das Anrufen externer Stellen verdeutlicht meines Erachtens die tiefe Verunsicherung weiter Teile der Gesellschaft im Umgang mit 1
Der Beitrag nimmt grundlegende Gedanken meines Artikels „Kopftuch, Koedukation und Sexualkundeunterricht. Wer definiert die Grenzen der Toleranz?“, in: Beiträge zur erziehungswissenschaftlichen Migrations- und Minderheitenforschung 7(1999) auf und erweitert sie um aktuelle und schulpraktische Bezüge.
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Yasemin Karakaolu
„dem“ Islam als neuen gesellschaftlichen Faktor in Deutschland, wie auch die Verunsicherung muslimischer Akteure im Umgang mit den normativen Vorgaben der staatlichen Bildungsinstitutionen. Neben den Pädagogen rekurrieren auch islamisch-orthodoxe Akteure häufig auf imperative Vermittlungsinstanzen – nicht selten im Vorgriff auf einen diskursiv zu ermittelnden gesellschaftlichen Konsens hinsichtlich ihrer an Bildungsinstitutionen herangetragenen Ansprüche. Offenbar stufen sie dialogische Verständigungsformen ebenso wenig als Erfolg versprechend ein wie eine Reihe von Pädagogen. Der Umgang mit der Religion des Islam ist in Deutschland davon geprägt, dass sie nach wie vor als Glaube einer sozial unterprivilegierten Minderheit von Arbeitsmigranten wahrgenommen wird. Als solche ist die Religion des Islam in diesem Land noch weit davon entfernt, zu einer gesellschaftlichen Selbstverständlichkeit zu werden. Für viele der hiesigen Entscheidungsträger in der Politik, für Journalisten und Pädagogen ist nicht einmal die Frage der Vereinbarkeit von Islam, Demokratie und Menschenrechten geklärt. Häufig wird auf das Selbstverständnis, Islam sei Religion und Staat, hingewiesen und damit eine grundsätzliche Unvereinbarkeit mit westlichen Vorstellungen unterstellt (Bielefeldt 2007: 99f.). Ergebnis der Verunsicherung auf beiden Seiten ist ein zunehmendes Interesse von Juristen an Fragen der rechtlichen Etablierung des Islam in Deutschland. Das gilt im Besonderen auch für den Bereich Schule (Albers 1994; Langenfeld 1998; 2008; Hillgruber 1999; siehe auch den Beitrag von Muckel in diesem Buch). Dieses Interesse wird durch Anfragen muslimischer und nichtmuslimischer Akteure im Hinblick auf eine Vermittlung in Konflikten weiter genährt. Für deutsche Gerichte ist in diesem Kontext das Säkularitätsverständnis der Bundesrepublik Grundlage der Entscheidungen. Dieses Verständnis ist vor allem dadurch gekennzeichnet, dass der Staat sich als weltanschaulich neutral definiert (Böckenförde 1997: 92). Daraus ist nicht zu schließen, dass Religion in Politik und Gesellschaft keine Rolle spielen soll. Über Religionsgemeinschaften kann sie durchaus gesellschaftliche und politische Bedeutung erlangen. Das von der Bundesrepublik übernommene Subsidiaritätsprinzip fordert sie ja sogar dazu auf, als freie gesellschaftliche Käfte im Bereich der Kinder- und Jugend- sowie der Sozialhilfe mitzuwirken (Sachße 1996: 593). Dies ist der Hintergrund, vor dem auch der Islam in Deutschland, der nicht über eine Kirchenstruktur verfügt, sondern in verschiedenen Vereinen und Dachverbänden organisiert ist, derzeit versucht, eine akzeptable Stellung im Verhältnis zum Staat zu erlangen. Die Forderungen der muslimischen Funktionäre liegen mithin auf der Ebene der gesellschaftlichen und politischen Gleichberechtigung: „Die religiösen Führer fordern vom politischen System der Aufnahmegesellschaft nur das, was ihre Stabilisierung als religiöse Gemeinschaft ermöglicht und sind zu diesem Zweck
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meist bereit, mit allen politischen Strömungen (bis hin zu rechtsextremen) Kompromisse und Absprachen einzugehen“ (Bauböck 1994: 242). Als Folge des Generationenwechsels in der islamischen Gesellschaft in Deutschland und der zunehmenden Etablierung (türkisch-)islamischer Vereine und Dachverbände als Vertreter der Interessen von Muslimen verlangt diese neue Gesellschaftsgruppe immer selbstverständlicher eine gleichberechtigte Akzeptanz ihrer religiöskulturellen Orientierung im öffentlichen Leben und im Bereich staatlicher Institutionen. Die Vereine und Verbände übernehmen dabei die Rolle der Interessenvertreter gegenüber dem Staat und seinen Einrichtungen. In diesem Zusammenhang ist das Bemühen um die Etablierung eigener Kindergärten, Sozialbetreuungseinrichtungen und eigene Schulen einzuordnen. Während die islamischen Organisationen dabei der bundesdeutschen Tradition des Subsidiaritätsprinzips folgen, warnen türkisch-laizistische Organisationen vor einem religiösen Zwang, der von islamischen Einrichtungen in Trägerschaft konservativer oder islamistischer Vereine ausgeübt werden könnte. An diesen Bedenken vorbei ist es orthodoxen Muslimen jedoch gelungen, auf gerichtlichem Weg einige Erfolge bei der Durchsetzung ihrer Interessen gegenüber dem Staat zu verbuchen. Paradoxer Weise geschah dies häufig auf Betreiben von Lehrern, die ihren Handlungsspielraum ausgeschöpft sahen und nach einer eindeutigen Lösung der Probleme mit muslimischen Schülern durch Richtersprüche verlangten.
2.1
Befreiung vom koedukativen Sportunterricht
Ein Beispiel für einen solchen Fall ist das Urteil des Bundesverwaltungsgerichts vom 25. August 1993 zur Befreiung muslimischer Mädchen vom koedukativen Sportunterricht. Zwei zum Zeitpunkt des Prozessbeginns zwölf und 13-jährige türkische Schülerinnen hatten angegeben, dass sie sich aus religiösen Gründen nicht in der Lage sähen, am gemischtgeschlechtlichen Schulsport teilzunehmen. Das Angebot der Schule, mit Kopftuch und in weitgeschnittener Kleidung zu kommen (vom Schwimmunterricht waren sie bereits befreit), akzeptierten die Mädchen und ihre Eltern nicht. Sie gaben an, die Kleidung beziehungsweise das Kopftuch könne verrutschen. Außerdem argumentierten sie, beim Sport seien unbeabsichtigte Körperkontakte mit dem Gegengeschlecht möglich. Beides würde das religiös begründete Sittlichkeitsverständnis respektive das Schamgefühl der Klägerinnen verletzen. Das Gericht entschied schließlich unter Berufung auf die hohe Bedeutung der Religionsfreiheit in Artikel 4 Grundgesetz, dass die Mädchen grundsätzlich nicht zum koedukativen Sportunterricht gezwungen werden dürften. Allerdings stehe ihnen der Anspruch auf Befreiung erst dann zu, wenn die Schule keine Alternative etwa in Form eines nach Jungen und Mäd-
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Yasemin Karakaolu
chen getrennten Sportunterrichts anbieten könne. Eine Ausweitung des Urteils auf andere Fächer wird ausdrücklich ausgeschlossen. Demzufolge ist eine Befreiung etwa vom Biologieunterricht nicht möglich, „weil es allein die dargelegten Besonderheiten des Faches Sport sind, die aus Glaubensgründen einen Anspruch der Klägerin auf Befreiung vom Unterricht in eben diesem Fach begründen; bei allen anderen Fächern sind diese Besonderheiten nicht gegeben“ (BVerwG 1994); einzelne muslimische Eltern üben vor allem wegen der Lehreinheiten Sexualkunde und Evolutionstheorie Widerstand gegen eine Teilnahme ihrer Kinder an diesem Unterricht aus.
2.2
Befreiung vom Sexualkundeunterricht
Was den Sexualkundeunterricht anbelangt, so konnte von muslimischer Seite bisher keine Befreiung erwirkt werden. Im Mai 1997 stellte das Berliner Verwaltungsgericht lediglich fest, dass im betreffenden Sexualkundeunterricht die von den Eltern beanstandeten Bilder nackter Menschen „nicht hätten gezeigt werden müssen, der Ablauf des Unterrichts daher gesetzeswidrig gewesen sei“ (Hillgruber 1999: 544). Nach aktueller Rechtsprechung kann der Staat zwar ohne Zustimmung der betroffenen Eltern Sexualerziehung in der Schule durchführen, jedoch unter Berücksichtigung des natürlichen Erziehungsrechts der Eltern und deren religiöser oder weltanschaulicher Überzeugung (ebd.). Zur Frage des Sexualkundeunterrichts gab es in den 90er Jahren bereits erste Vorschläge von islamischer Seite, wie ein Kompromiss zwischen beiden Positionen erreicht werden könnte. Adnan Aslan schlug die Beteiligung der muslimischen Seite bei der Unterrichtsgestaltung vor (1996: 50ff.) und machte damit im Sinne Bergers ein Angebot zur diskursiven Verständigung. Die Bedenken einiger muslimischer Eltern gegen Sexualkundeunterricht, wie er derzeit an den deutschen Schulen gelehrt wird, richten sich Aslan zufolge vor allem gegen seine Intention, Kinder auch auf außereheliche Beziehungen vorzubereiten. Außerdem wenden sich die Eltern, die Sexualität als innerste Familienangelegenheit betrachten, gegen die Praxis, Mädchen und Jungen in der gleichen Klasse mit dem Thema Geschlechtlichkeit zu konfrontieren und dabei entsprechend realistisches Bildmaterial zu verwenden. Es wird befürchtet, der Unterricht könne das Schamgefühl der Kinder verletzen und sie in der Folge zu promiskuitivem Verhalten verleiten. Auch die Eltern selbst sähen sich in ihrem Sittlichkeitsempfinden verletzt.
Islam als Störfaktor in der Schule
2.3
293
Kopftuchtragen bei Schülerinnen und Studentinnen
In der Frage des Kopftuchtragens von muslimischen Schülerinnen an Schulen scheint es seit Mitte der 90er Jahre in der juristischen Diskussion einen Konsens dahingehend zu geben, dass „nach deutschem Recht […] eine Schule einer islamischen Schülerin das Schleiertragen grundsätzlich nicht verbieten“ kann (Spies 1993: 640), denn die Schüler sind frei in der Wahl ihrer Bekleidung und im Ausdruck ihres religiösen Bekenntnisses, sie repräsentieren nur sich selbst. „Ein Verbot würde, nach deutschem Recht, sowohl in das Recht auf religiöse Erziehung durch die Eltern wie auch in das Recht auf freie religiöse Betätigung der Tochter eingreifen“ (ebd.). Der Staat ist also ausdrücklich nicht befugt eine Bewertung vorzunehmen, wenn Religionen ihren Anhängern eine bestimmte Kleidung vorschreiben. Entscheidend ist, „daß die religiösen Regeln für den Grundrechtsträger einen verbindlichen Teil seiner Lebensführung darstellen“ (ebd.: 638). Das muss allerdings erst nachgewiesen werden. Sollte der Beweis erfolgen, gilt die Freiheit auch für Schülerinnen, die das Gesicht mit Ausnahme der Augen vollständig verschleiern. Das geht aus einem Gutachten hervor, das anlässlich des Auftretens eines solchen Falls in Niedersachsen erstellt wurde (Mahrenholz 1998: 287). Kopftuchtragen unterliegt also bei Schülerinnen eindeutig der Religionsfreiheit. Lehrer oder Schulleiter dürfen es folglich nicht als Ausdruck eines persönlichen Bekenntnisses verbieten. In der Praxis sieht das manchmal anders aus, da Lehrende und Schulleitung es bisweilen als ihre Aufgabe anzusehen scheinen, Schulen ‚kopftuchfrei‘ zu halten und hier entsprechende Einschränkungen auszusprechen. Die Entscheidung von Studentinnen für ein Kopftuch steht gleichfalls unter dem Schutz von Artikel 4 Grundgesetz. Auch eine Universität darf ihren Studierenden keine Vorschriften bezüglich der Bekleidung machen. Studenten können also mit ihrem Outfit, zu dem auch grüne Haare, Hot Pants oder lange schwarze Ledermäntel gehören, persönliche Vorlieben oder Bekenntnisse zu bestimmten Subgruppen wie Punks, Hiphoper oder Emos offen zum Ausdruck bringen. In diesem Sinn macht auch das Kopftuch in den meisten Fällen eine innere Einstellung sichtbar, die das bewusste Bekenntnis zur eigenen Religion signalisiert.
2.4
Kopftuchtragen von Lehrerinnen
Während Schülerinnen und Studentinnen sich auf die Freiheit zur Entfaltung und zum Ausdruck persönlicher religiöser wie sonstiger weltanschauliche Vorlieben berufen können, sieht die Sachlage für Repräsentantinnen des Staates – Lehrerinnen – anders aus. In den Jahren 1998 bis 2003 veranlasste der Fall der afghanischstämmigen Lehramtsstudentin Fereshta Ludin zunächst die deutschen
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Schulbehörden, dann die breitere gesellschaftliche Öffentlichkeit und schließlich das Bundesverfassungsgericht, sich mit dem Verständnis von Säkularität intensiv auseinanderzusetzen (Karakaolu 2003, Amir-Moazami 2007, Braun/Mathes 2007: 87ff; siehe auch den Beitrag von Muckel in diesem Buch). Die Verhandlung dieses Falls auf den verschiedenen Ebenen verdeutlicht das Spannungsfeld zwischen Religionsfreiheit und dem Verständnis von Integration, das an muslimische (Neu-)Bürger von Teilen der Mehrheitsgesellschaft herangetragen wird. Der Fall Ludin zeigt, dass Repräsentanten der staatlichen Bildungsinstanz Schule aber auch weite Teile der Öffentlichkeit den Grad der Integration von Zuwanderern nicht daran bemessen, ob diese ihr Verhalten und ihre Äußerungen am Grundgesetz ausrichten, sondern vor allem daran, inwiefern sie in ihrem Lebensstil den Common sense der Mehrheit (als einer Art „Nationalkultur“) übernommen haben. Diesem Verständnis von „nationaler Kultur“ zufolge scheint es notwendig zu sein, dass sich eine säkulare Geisteshaltung, die gleichgesetzt wird mit „westlich“, auch in einem als „westlich“ empfundenen äußeren Erscheinungsbild spiegelt, um den Common sense hinsichtlich der „nationalen Kultur“ nicht zu gefährden. In pluralistischen Demokratien ist es jedoch grundsätzlich notwendig, auf eine Verbindung zwischen Staat und einer nationalen Kultur zu verzichten, um Autochthonen wie Allochthonen in gleicher Weise die Möglichkeit zu geben, an der Gesellschaft partizipieren zu können (Bauböck 1994: 254; Beck-Gernsheim 2004: 197ff.; Braun/Mathes 2007; siehe den Beitrag von Oberndörfer in diesem Buch). Das Urteil des Bundesverfassungsgerichts zum Fall Ludin vom 24. September 2003 (BVerfG 2003) brachte nicht die erhoffte Klarheit in der Frage, ob es einer Lehrerin erlaubt oder verboten sein soll, in Ausübung ihres Dienstes ein Kopftuch zu tragen. Die Richter überließen die Entscheidung mit einem Hinweis auf die erforderliche Gleichbehandlung aller Religionsgemeinschaften den jeweiligen Bundesländern. Sollten diese ein Verbot aussprechen wollen, müssten die örtlichen Gesetzgeber für die entsprechenden rechtlichen Grundlagen sorgen. Daraufhin begaben sich alle 16 Landtage in einen Prozess der Meinungsbildung und Rechtsfindung. Acht der 16 Bundesländer haben inzwischen ein Kopftuchverbot erlassen (Rhode 2006; siehe den Beitrag von Shakush in diesem Buch).
3.
Islamophobie im pädagogischen Alltag
Islamisch-orthodoxe Positionen wie der Widerstand gegen die Teilnahme am koedukativen Sportunterricht, am Schwimmunterricht, an Klassenfahrten und am Sexualkundeunterricht werden von Seiten der Lehrer sowie der Schulverwaltung vor allem als Störung des regulären und gewohnten Ablaufs im Schulalltag
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wahrgenommen. Die Reaktionen der Schulen und Schulbehörden reichen von pragmatischen Lösungen (Befreiung vom koedukativen Sportunterricht auf Antrag, Umstellung des Unterrichts auf geschlechtsgetrennte Gruppen, Begleitung von Klassenfahrten durch muslimische Elternteile) über Verweigerungshaltungen (Verpflichtung zur Teilnahme an den erwähnten Unterrichtsbestandteilen und den Schulveranstaltungen unter Androhung schlechterer Noten) bis hin zur Anrufung der Gerichte wie im Fall Ludin. Erwartet wird von den orthodoxen Muslimen im schulischen Kontext eine Angleichung an die als universal begriffene und durch Schule zu vermittelnde Allgemeinbildung. Vor diesem Hintergrund werden die in einigen Punkten abweichenden Positionen eines Teils der Zuwanderer nicht nur als inkompatibel mit geltenden Vorstellungen des Geschlechterverhältnisses, der Sozialbeziehungen in der Klasse und der Förderung selbiger betrachtet, sondern auch als Angriff auf die demokratische Ordnung. Dem Versuch von Minderheiten, die ihnen als universal gültig vorgegebenen Werte und Normen vor dem Hintergrund ihrer partikularen Vorstellungen zu hinterfragen, begegnen viele Pädagogen mit Sanktionen. Bei den zugewanderten Kindern soll eine Handlungsweise erreicht werden, die an die geltenden Vorstellungen von einem „normalen Verhalten“ angepasst sind, um die aufgetretenen Unterschiede in der Schule zu nivellieren. Bei näherer Betrachtung fällt auf, dass es bei allen drei Fragen (Koedukation, Kopftuch und Sexualkunde) um islamischorthodoxe Positionen zum gesellschaftlichen Paradigma des Geschlechterverhältnisses in der westlichen Moderne geht und um die Vermittlung dieses Paradigmas an die nachfolgenden Generationen. Diese Positionen werden von den sich als säkular verstehenden Pädagogen zumeist als nicht nachvollziehbar empfunden. Religiosität wird dann per se mit Modernitätsfeindlichkeit und Irrationalität gleichgesetzt und Moderne mit der Freiheit des Individuums jenseits der Begrenzungen durch religiöse Normen. Vor diesem Hintergrund stellen religiöse Muslime für die Pädagogen nahezu zwangsläufig Gegner ihrer Erziehungs- und Bildungsziele dar. Verschärft wird der Konflikt, wenn solche in der Öffentlichkeit oft breit diskutierten islamisch-orthodoxen Minderheitenpositionen durch fehlende Sachkenntnisse pauschal auf alle muslimischen Schüler oder deren Eltern übertragen werden. Dann wirken die Einzelfälle, in denen es tatsächlich zum religiös begründeten Widerstand gegen Teilnahmen am koedukativen Sport-, Schwimm-, Sexualkundeunterricht und an Klassenfahrten kommt, nämlich allgemein in pädagogische Settings und darüber hinaus wiederum in die Gesellschaft hinein. An vielen Schulen wird das Gesamtbild von Muslimen auf diese Weise beeinflusst, wie weiter unten zu sehen sein wird. Nicht selten werden Probleme, die im Schulalltag bei Kindern mit Migrationshintergrund wahrgenommen werden, als Ausdruck fehlender Integration interpretiert, was vor allem eine Folge religiös-kultureller Verweigerungshaltun-
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gen sein soll – insbesondere bei muslimischen Eltern. Ein Auszug aus einem gängigen Studien- und Übungsbuch Lehrer lösen Konflikte (Becker 2000) veranschaulicht dies. Hier wird auf ein „breites Verursachungsspektrum“ für Konfliktkonstellationen mit „ausländischen Mitschülern“ hingewiesen, zu dem heißt es unter anderem: „In den Familien herrscht eine andere Weltanschauung. Vor allem Immigranten, die islamischen Glaubens sind, unterliegen einer gewissen Fortschrittsfeindlichkeit. In ihrem Heimatland wurden sie vom Hodcha (Pfarrer/Vorbeter) beeinflusst, der die Beschäftigung mit den Naturwissenschaften häufig ablehnte und Lehrer mitunter als Kommunisten bezeichnete. Wenn man religiös geprägt ist und aus einem Land kommt, das noch einen hohen Prozentanteil Analphabeten aufweist, dann hat die Schule einen geringen Stellenwert.“ (S. 147) Vor dem Hintergrund solcher Einstellungen wird die kulturell heterogene Herkunft von Schülern insbesondere an so genannten Brennpunktschulen von Lehrern weniger als Herausforderung oder gar kulturelle Bereicherung gesehen, sondern vielmehr als unzumutbare, kaum zu bewältigende Bürde empfunden. Insbesondere Lehrkräfte in den höheren Jahrgangsstufen von Hauptschulen oder an berufsbildenden Schulen sehen sich aufgrund des hohen Anteils von (muslimischen) Schülern mit Migrationshintergrund häufig mit Problemen konfrontiert, die sie reflexartig als interkulturelle respektive islamische Konfliktsituation deuten. Schulen sind allerdings auch ohne den Faktor religiös-kultureller Heterogenität ein idealer Ort für die Austragung von Konflikten. Hier wird strukturelle Gewalt ausgeübt, hier sind Hierarchien wirksam. Die Akzeptanz dieser Hierarchien unterliegt einem Common sense zwischen Schulleitung und Lehrerkollegium, Kollegen unterschiedlicher Statusgruppen (Oberstudienrat/-rätin, Studienrat/-rätin, Junglehrer/-in, Referendar/-in) zwischen Lehrenden sowie Schülern, zwischen älteren und jüngeren, erfolgreichen und weniger erfolgreichen Schülern. Schule bildet mit ihrer Allokations- und Selektionsfunktion einen potentiell konfliktträchtigen Rahmen. Dem Recht der Kinder und Jugendlichen auf Beschulung steht die Schulpflicht gegenüber, die mit Rechtsmitteln auch eingefordert werden kann. Noten und Abschlüsse entscheiden über den weiteren Integrationsverlauf in der Arbeitswelt und der Gesellschaft. In diesem Rahmen sind sich Schüler mit Migrationshintergrund an Hauptschulen, im Berufsvorbereitungsjahr oder im Berufsgrundbildungsjahr ihrer – empirisch nachgewiesenen (siehe die Beiträge von Peucker und Leibold in diesem Buch) – Wettbewerbsnachteile auf dem Ausbildungs- und Arbeitsmarkt nur zu bewusst. Ihnen wird somit eine hohe Frustrationstoleranz bei der Erfüllung der Schulpflicht abverlangt. Kann die nicht aufgebracht werden, ist dies eine ideale Grundlage für die Entstehung von Konflikten. Bei der Verwendung des Begriffs „interkultureller Konflikt“ ist die Gefahr gegeben, von einer grundsätzlichen Konflikthaftigkeit des Aufeinandertreffens unterschiedlicher Kulturen auszugehen. Ihre Zuspitzung erfährt diese Sichtweise
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etwa in der Kulturkonflikttheorie. Ihr zufolge treffen Kulturen aufgrund ihrer grundsätzlich verschiedenen Symbolsysteme potenziell konflikthaft aufeinander – zum Beispiel wenn sich asiatische, kollektivistische Muster und westeuropäische, individualistische Muster begegnen. Der berühmteste Vertreter der Kulturkonflikttheorie ist Samuel Huntington (1993). Sein als Kampf der Kulturen in deutscher Übersetzung bekannt gewordenes Buch postuliert die unversöhnliche Frontstellung von klar abgrenzbaren, in sich homogenen Kulturen, etwa der freiheitlich-demokratischen westlichen und der theokratisch-kollektivistischen islamischen. Diese Sichtweise entspricht oftmals dem Alltagsdiskurs zu diesem Thema in Deutschland (siehe auch den Beitrag von Hippler in diesem Buch). Kulturen werden als klar voneinander abzugrenzende Einheiten betrachtet, die – quasi genetisch – mit unveränderlichen Charaktereigenschaften ausgestattet sind und von allen Mitgliedern der Kultur geteilt werden – so genannte Mentalitäten (siehe den Beitrag von Oberndörfer in diesem Buch). Dieses Verständnis von Kultur setzt eine enge Verbindung entweder von Kultur und Nation voraus, wie es – insbesondere im deutschen Diskurs – in Aussagen über die deutsche Kultur(-nation) zum Ausdruck kommt, oder von Kultur und Religion, wie es sich in der Bezeichnung christlich-abendländische Kultur zeigt. Besonders starke Befremdungserfahrungen werden in Deutschland hinsichtlich anderer Religionen hervorgerufen. Hier verdichten sich die Ängste vor einem Kulturverlust sowohl bei der Mehrheit wie auch bei der Minderheit. Schnell fällt dann das Schlagwort vom „Kulturkampf“, der angeblich zwischen „westlichen“ und „islamischen“ Erziehungsvorstellungen ausgefochten wird. Ein Beispiel dafür ist der Topos vom „kleinen orientalischen Macho“, der Lehrerinnen nicht als Respektspersonen akzeptieren will, da sie als weibliche Wesen in seiner Kultur keinen Respekt verdienten. So wird zum Beispiel auf das respektlose Nicht-in-die-Augen-Schauen hingewiesen. Während es von Lehrerinnen mitunter als Nicht-Achtung ihrer Persönlichkeit gedeutet wird, da in Deutschland wie in vielen anderen westlichen Ländern der direkte Blickkontakt zum Kommunikationsverhalten und zur Demonstration von Achtung einer Person gehört, gehört in orientalischen oder auch asiatischen Kulturen gerade das Nichtin-die-Augen-Schauen zu den Regeln der Höflichkeit. Dies gilt speziell im Hinblick auf Kontakte zwischen den Geschlechtern. Sowohl in vielen islamischen Ländern wie auch in der Türkei als säkularem, aber islamisch geprägtem Staat sind Lehrerinnen in den Schulen ein gewohnter Anblick. Frauen sind in dieser Stellung gesellschaftlich hoch akzeptiert. Die angeblich traditionelle Missachtung weiblicher Lehrkräfte kann also kaum die maßgebliche Ursache für flegelhaftes, sexistisches Verhalten sein. In der Regel werden die Schüler es weder selbst in ihren Ursprungsländern so erlebt haben, noch dürften ihre Eltern ähnliche Erfahrungen gemacht haben, um sie an die Kinder weitergeben oder vorleben zu können. Ein freundschaftlicher Umgangston zwischen den Generationen verbunden
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mit der Pflege flacher Hierarchien im Schulalltag kann allerdings von einzelnen Schülern als Aufhebung von Alters- und Geschlechtergrenzen fehl gedeutet werden. Das wiederum kann dann in der Folge durchaus zu Grenz überschreitendem „Macho“-Verhalten führen. Es ist möglich, dass dieser Prozess kulturell kodiert sein kann, jedoch nicht in der Form, wie es die generelle Annahme von der Nachrangigkeit der Frau in islamischen Gesellschaften nahe legt. Im Folgenden sind zwei Beispiele aus der Schulpraxis aufgeführt, die mir in Lehrerfortbildungen übermittelt wurden. Sie sollen zeigen, wie islamophobe Einstellungsmuster zu unreflektierten Ängsten vor kultureller Überfremdung in der Schule führen, den pädagogischen Handlungsspielraum der Lehrenden einschränken und schließlich die Eskalation von Konflikten auslösen können. 3.1
Kulturkampf im Klassenzimmer
Der „Kulturkampf“ ist ein beliebter Topos bei der Schilderung von konflikthaften Situationen im Schulalltag. Er wird vor allem im Rahmen des pauschal als divergierend betrachteten Geschlechterrollenverständnisses wahrgenommen und tritt insbesondere zwischen Angehörigen der muslimischen Minderheit und Lehrern auf, die überwiegend der nicht-muslimischen Mehrheit angehören. Im Rahmen einer Fortbildung mit Lehrern in der Stadt M. im Dezember 2005 zum interkulturellen Lernen schilderte ein in Migrationsfragen engagierter Lehrer eine Situation im Klassenzimmer. Er betrachtete sie als beispielhaft für den „Kulturkampf“ an seiner Schule. Der etwa 55 Jahre alte Mann wies zunächst darauf hin, dass der Anteil an Schülern mit Migrationshintergrund in den letzten Jahren überproportional gestiegen sei. Er selbst und das Kollegium fühlten sich vor diesem Hintergrund in vielen schulischen Alltagssituationen ohnmächtig. Es gebe inzwischen immer mehr interkulturelle Problemsituationen, denen sie sich als Pädagogen hilflos ausgesetzt sähen. In seinem Klassenzimmer tobe – so wörtlich – ein richtiger „Kulturkampf“. Anschließend berichtete der Mann über die folgende Begebenheit: Ein männlicher, türkischstämmiger Schüler der 8. Klasse habe sich geweigert, das Klassenzimmer auszufegen. Dies sei mit dem Hinweis darauf geschehen, dass es sich bei dieser Aufgabe um „Frauenarbeit“ handele. Dem Lehrer stieg drauf hin nach eigener Auskunft vor Wut das Blut zu Kopf. Er habe dem Schüler mit aller Nachdrücklichkeit mitgeteilt: „Wie das bei dir zu Hause läuft, ist mir egal. Wir sind hier schließlich in Deutschland. Hier herrscht Gleichberechtigung!“ Der 55-Jährige betonte, da ihn die Situation stark emotionalisiert habe, habe er die Äußerung mit Nachdruck laut ausgesprochen. Diese Reaktion empfinde er heute zwar nicht als konstruktiv, sie sei aber dennoch typisch für die Tatsache, dass zwischen ihm und seinen Schülern eine tiefe
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kulturelle Kluft bestehe, die er nicht überwinden könne und die ihn in seinem Handeln als Pädagoge behindere. So weit die Schilderung. In der gemeinsamen Analyse des Falls mit den anwesenden Lehrern kommt es zu folgenden Überlegungen: Was dieser Lehrer als Kulturkampf der Erziehungsziele bewertet, indem er auf die fehlende Gleichberechtigung von Mann und Frau in türkisch-muslimischen Familien als Merkmal der türkischmuslimischen Kultur abstellt, ist eingebunden in die Wahrnehmung einer kulturellen Überfremdung seiner Schule. So ist der Verweis auf die Zunahme der Schüler mit Migrationshintergrund zu deuten. Er sieht sich hilflos der in Gestalt türkisch-muslimischer Schüler wachsenden Hegemonie einer Kultur ausgesetzt, die in ihren „Parallelwelten“ Grundwerte der deutschen Kultur, in diesem Fall die Gleichberechtigung von Mann und Frau, außer Kraft zu setzen scheint. Dabei sieht er eine einheitlich türkisch-muslimische Kultur einer einheitlich deutschsäkularen gegenüber gestellt. Nüchtern betrachtet, könnte man die Situation jenseits des Bezugs zu kulturellen Differenzen allerdings auch als Auseinandersetzung um Macht zwischen einem 14-jährigen, pubertierenden Schüler aus sozial schwachem Elternhaus und einem 55-jährigen Angehören der Mittelschicht verstehen. Ihr Machtkampf würde dann die Ebenen berühren: 1. Mann zu Mann, 2. Schüler zu Lehrer, 3. jüngerer zu älterer Generation; 4. Angehöriger einer gesellschaftlich benachteiligten zu Angehörigem einer gesellschaftstragenden Schicht. Diese verschiedenen Ebenen in den Blick zu nehmen, hilft, die Situation kulturell und religiös zu ‚entkleiden‘ (zum Kulturkonflikt als Generationenkonflikt siehe Fechler 2004: 114f.). Pädagogisch betrachtet ist interessant, dass nicht das temporäre Fehlverhalten des einzelnen Schülers gegen die Regeln des gemeinsamen Handlungsfeldes Schule durch den Lehrer zum Thema gemacht, sondern der Gegensatz zweier Gesellschaftssysteme ins Feld geführt wird. Mit dem Verweis auf „Deutschland“ verortet der Lehrer den Schüler als nicht zugehörig, als fremd. Lehrer und Schüler werden so zu Repräsentanten des jeweils zugeschriebenen Systems. Die vermutlich in bewusst provozierender Absicht gemachte Bemerkung eines pubertierenden Schülers wird so als kulturelle Kampf-ansage einer archaischen Kultur an die Moderne mit ihren Errungenschaften interpretiert. Der Lehrer setzt sich dabei freilich als Vertreter letzterer symbolhaft in Szene. In der auf diese Weise durchgeführten Analyse der Situation, wurde deutlich, dass der Lehrer nicht hilfloses Opfer sondern Mitverursacher jenes „Kulturkampfes“ war, der sein pädagogisches Handeln behinderte. 3.2
Islamkunde als Standortnachteil
In einem anderen Beispiel, das ich hier schildern möchte, geht es – noch direkter artikuliert, um den Differenzfaktor Religion. Zu den Hintergründen des Falls: In
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Bremen gibt es einen Modellversuch „Islamkunde“, der an einem Schulzentrum durchgeführt wird. Es handelt sich dabei in Anlehnung an die Praxis in Niedersachsen um ein Unterrichtsangebot parallel zu „Biblische Geschichte und Philosophie“ – so heißt in Bremen der religionskundliche, nicht konfessionell gebundene Unterricht auf allgemein christlicher Grundlage. Die Islamkunde wird von einer deutschen Lehrerin mit türkisch-arabischer Migrationsgeschichte, die kein Kopftuch trägt, erfolgreich durchgeführt. Die Frau hat den Unterricht in Zusammenarbeit mit der Bildungsbehörde selbst entwickelt. Die islamischen Dachverbände waren an dieser Entwicklung nicht beteiligt. Die Islamkunde erfreut sich großer Beliebtheit bei den Schülern und findet auch Achtung bei den Eltern. Der Stoff wird auf Deutsch unterrichtet, der Rahmenlehrplan ist im Internet abrufbar. Ziel des Unterrichtsangebots ist es, auf einer wissenschaftlich fundierten Basis die Kenntnisse der muslimischen Kinder über ihre Religion zu verbessern. Zudem sollen sie befähigt werden, sich in deutscher Sprache mit anderen über ihre Religion auszutauschen. Islamkunde wurde von der Bildungsbehörde als integratives Element konzipiert. 2007 beschloss die Bremer Bildungsbehörde, dass der Modellversuch auf drei weitere Schulzentren mit hohem Anteil an muslimischem Schülerklientel ausgeweitet werden sollte. Über inoffizielle Kanäle wurde dieses Vorhaben auch im Kollegium der so genannten Brennpunktschule A im Stadtteil B bekannt. Noch bevor eruiert werden konnte, ob ein solches Angebot auch den Interessen der Zielgruppe entsprechen würde, formierte sich im Lehrerkollegium binnen kürzester Zeit breiter Widerstand gegen das Unterfangen. Mit Billigung des Schulleiters initiierte ein deutschstämmiger Lehrer eine Unterschriftenliste. Sie wurde im Lehrerzimmer ausgelegt, rund zwei Drittel des Kollegiums unterzeichneten das Schriftstück. Anschließend leitete die Schule es an die Behörde weiter. Der Widerstand gegen die Ausweitung des Modellversuchs Islamkunde an ihrer Schule wurde begründet mit a) der Sorge vor wachsendem Islamismus und der Befürchtung, dass dieser mit dem Unterricht noch gefördert werde, b) der einseitigen Stärkung von Muslimen und der damit verbundenen Ungleichbehandlung anderer Religionsgemeinschaften, und c) der Stärkung der Attraktivität der Schule für türkisch-muslimische Schüler und in der Folge Abwanderung leistungsstarker, nicht-muslimischer Schüler, womit das Niveau deutlich sinken würde. Indem der direkte Weg an die Behörde gesucht und kein Mitglied der muslimischen Zielgruppe (Schüler und/oder Eltern) einbezogen wurde, verfolgte die Mehrheit des Kollegiums eine imperative Vermittlungsstrategie. Eine ansonsten streng säkular orientierte Lehrerin dieser Schule mit türkischer Migrationsgeschichte versuchte mit den Kollegen ins Gespräch zu kommen. Sie wollte mehr über die Beweggründe für die Unterzeichnung der Liste erfahren. Auf die Frau wirkten die Begründungen nicht nur gegenüber den Schülern, sondern letztlich
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auch gegenüber sich selbst als Angehörige der türkischen Community ausgrenzend und stigmatisierend. Obwohl sie sich nicht als religiös sieht, empfand sie diesen massiven Widerstand gegen ein spezifisches Unterrichtsangebot für Muslime als verletzend. Die Spannungen, die infolge dieser Auseinandersetzung zwischen ihr und einem Großteil des Kollegiums entstand, kulminierten im Versetzungswunsch der Lehrerin, dem schließlich stattgegeben wurde. Islamophobe Haltungen im Kollegium, begründet in diffusen Ängsten vor dem Islam und fehlenden sachlichen Informationen über den Charakter des Projekts Islamkunde haben diesen Konflikt ausgelöst. An dieser Schule bestand die Gelegenheit, miteinander über die gegenseitigen Wahrnehmungen ins Gespräch zu kommen und eventuell seit Jahren bestehende Sichtweisen über die kulturelle Verortung der jeweils Anderen auszutauschen. Diese Chance wurde vertan. Am Ende beweist der Fall noch ein Weiteres: Islamophobe Einstellungen sind nicht auf Angehörige der nicht-muslimischen Gesellschaft begrenzt. In beiden Lagern – den Befürwortern und Gegnern eines islamkundlichen Unterrichts – gab es an dieser Schule sowohl Lehrer mit deutschem nicht-muslimischem als auch mit türkischem muslimischem Hintergrund. 4.
Schlussbemerkung
In einer multikulturellen oder einer multireligiösen Gesellschaft gehören auch in staatlichen Bildungsinstitutionen Verunsicherungen durch Konfrontation mit jeweils anderen kulturell und religiös begründeten Standards zur Tagesordnung. Diese Verunsicherungen treten auf jeder Seite in Erscheinung. Der Unterschied ist jedoch derjenige, dass die Minderheiten als Neuankömmlinge in dieser Gesellschaft mit offenbar nicht mehr zu hinterfragenden kulturellen Standards der Mehrheitsgesellschaft konfrontiert werden, an deren Weiterentwicklung und Festlegung sie nicht beteiligt waren. Ihre Versuche, mit Mitteln des Rechtsstaates eigene Standards einzubringen, stoßen in der Regel auf Unverständnis und Ablehnung. Es geht hierbei um die Verhandlung von Universal- versus Partikularinteressen, die jedoch keine Entsprechung im gesellschaftlichen und politischen Machtverhältnis der Verhandlungspartner hat. Lediglich ein Teil der Zuwanderer reagiert auf diese Situation mit der Verhärtung von Positionen. Der überwiegende Teil ist auf einen schonenden Ausgleich mit der umgebenden nicht-muslimischen Gesellschaft aus (vgl. hierzu Schiffauer 2008, S. 83ff.). Ob man das Nutzen von online abrufbaren Vordrucken für religiös begründete Anträge auf Befreiung vom koedukativen Sportunterricht oder von Klassenfahrten als legitimen Rückgriff auf in Deutschland gelernte Handlungsmuster (bürokratische Bearbeitung von Anliegen, Gebrauch von Formularen) interpretiert oder als von muslimischen Interessenverbänden zentral gesteuerte Aggression gegen die
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Werte und Normen der Schule, ist abhängig von der Einstellung des Betrachters zur Religion Islam und deren Präsenz im öffentlichen Raum. Eine für eine demokratische und pluralistische Gesellschaft im Sinne Bergers wünschenswerte, diskursive und somit dialogische Vermittlung zwischen den Positionen setzt voraus, dass alle Beteiligten – in diesem Fall die Vertreter streng säkularer wie islamisch-orthodoxer Ansichten – das Bewusstsein für die Existenzberechtigung anderer als ihrer eigenen Positionen entwickeln. Sie müssen von dogmatischen Haltungen absehen und ein von gegenseitiger Anerkennung und gegenseitigem Respekt getragenes Verständnis von Toleranz aufbauen. Konflikthafte Auseinandersetzungen dürfen darin nicht ausgeblendet werden, sondern man sollte versuchen, sie auf diskursivem Weg zu lösen (Honneth 1992). Vor dem Hintergrund dieses Toleranzverständnisses können zum Beispiel weder die Vertreter einer religiös begründeten, rigiden Geschlechtertrennung im Bildungssystem noch die Befürworter einer uneingeschränkten Koedukation letztlich Anspruch auf Ausschließlichkeit ihrer Positionen beanspruchen. Einzig ein auf der Basis der Gleichwertigkeit aller Verhandlungspartner basierendes, gemeinsames Aushandeln von Notwendigem und Tolerierbarem bietet die Chance, einen gesamtgesellschaftlichen Konsens hervorzubringen, der von der Mehrheit auf beiden Seiten getragen werden kann. Dabei sollten sich gerade Schulen ihrer besonderen Verantwortung für die Entwicklung einer differenzierten Meinungsbildung und für die Bekämpfung islamophober Haltung als einer Form von Fremdenfeindlichkeit (Leibold/Kühnel 2006: 137) bewusst sein. Islamophobie bei pädagogischen Fachkräften als Resultat von Unwissen und voreingenommenen Haltungen erweist sich jedenfalls als Hemmnis für eine diskursive Verständigung und damit für einen anerkennenden Umgang mit divergierenden Haltungen zum Stellenwert von Religionen im Alltag. Literaturverzeichnis Albers, Hartmut (1994): „Glaubensfreiheit und schulische Integration von Ausländerkindern“, in: Deutsches Verwaltungsblatt, 1. September 1994, S. 984-990. Amir-Moazami, Schirin (2007): Politisierte Religion. Der Kopftuchstreit in Deutschland und Frankreich. Bielefeld: Transcript. Aslan, Adnan (1996): Geschlechtererziehung in den öffentlichen Schulen und die islamische Haltung. Stuttgart: Islamisches Sozialdienst- und Informationszentrum. Bauböck, Rainer (1994): „Drei multikulturelle Dilemmata“, in: Bernd Ostendorf (Hrsg.): Multikulturelle Gesellschaft. Modell Amerika. München: Fink, S. 237-256. Becker, Georg E. (2000): Lehrer lösen Konflikte. Ein Studien- und Übungsbuch, 8. Aufl., Weinheim u.a.: Beltz. Beck-Gernsheim, Elisabeth (2004): Wir und die Anderen. Vom Blick der Deutschen auf Migranten und Minderheiten. Frankfurt a.M.: Suhrkamp.
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Pressefreiheit und Rassismus. Der Karikaturenstreit in der deutschen Presse Ergebnisse einer Diskursanalyse Siegfried Jäger
Meinungsfreiheit! Pressefreiheit! Keine Zensur! Anstand! Verantwortung! Keine Blasphemie! Das war der Grundtenor der Medienberichterstattung zum Streit über die rassistischen Muhammad-Karikaturen, die von der „rechts“-lastigen in Aarhus erscheinenden dänischen Tageszeitung Jyllands-Posten bereits am 30. September 2005 veröffentlicht worden waren, aber – mit ein wenig Nachhilfe – erst im Februar 2006 weltweite Empörung besonders in den arabischen Ländern auslösten. In Deutschland wie auch weltweit führte dies zu einem „diskursiven Dammbruch“1, an dem sich alle Zeitungen des „Mitte-Rechts-Links“- Spektrums beteiligten (zu den Reaktionen in Spanien, van Dijk 2007). Welche Wirkungen die mediale und politische Austragung dieses Streits in den Medien auf die Bevölkerung und ihr Verhältnis zu Menschen mit Migrationshintergrund und zu deren Herkunftsländern hatte, das interessierte Deutschlands Journalisten und Journalistinnen allerdings nicht (Weber-Menges 2005: 130). Von ein paar Ausnahmen abgesehen. Doch solche Ausnahmen fanden sich im Mehrheitsdiskurs nicht.
Diskursanalyse als Analyse der Medienwirkung Ich möchte im Folgenden daher die Wirkung der gesamten „Mitte-RechtsLinks“-(Print-)Medienberichterstattung zum Karikaturenstreit auf das Bewusstsein der deutschen Bevölkerung einer kritischen Diskursanalyse unterziehen und damit sachlich kritisierbar werden lassen. Kritische Diskursanalyse als angewandte Diskurstheorie, die sich mit Medien befasst, ist immer auch Analyse von Medienwirkung, wie andernorts aus-
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Dem ein anderer unmittelbar vorausgegangen war, nämlich die medio-hysterische Reaktion auf die Ermordung des Filmemachers und Islamkritikers Theo van Gogh; siehe dazu van Lucke 2005 und die ausgezeichnete Darstellung bei Mak 2005.
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führlicher begründet.2 Die in die Diskurse verstrickten Subjekte beziehen ihr Wissen, das letztlich auch Grundlage ihres Fühlens und Handelns ist, eben aus den diskursiven Umgebungen, in denen sie leben und gelebt haben. Das heißt, dass Diskurse wirken und Wissen und Bewusstsein formieren und Handlungen zur Folge haben (können), die sich an diesem Wissen orientieren. Diese Wirkung entsteht nicht durch einmalige und kurzfristige Konfrontation mit einzelnen Diskursfragmenten beziehungsweise Texten. Die Wirkung der Diskurse ist das Ergebnis längerer diskursiver Prozesse, in denen sich aus dem Gewimmel von Äußerungen, mit denen die Subjekte konfrontiert sind, allmählich mehr oder minder feste Wissenskerne herausbilden. Dies ist umso bedeutsamer, als dieses Wissen auch die Voraussetzung des Handelns und Verhaltens der Subjekte ist und somit letztlich auch der Gestaltung von gesellschaftlicher Wirklichkeit generell. Nun „schwimmen“ die Subjekte in einem Meer von Diskursen auf den verschiedensten Diskursebenen (Politik, Medien, Alltag und so weiter), das als Ganzes zur Herausbildung ihres Wissens und ihrer Verhaltensdispositionen beiträgt. Dennoch kann davon ausgegangen werden, dass die Medien heutzutage erheblich zur Konstituierung dieses Wissens beitragen und damit auch erhebliche Mit-Verantwortung für die zivilgesellschaftliche und menschenrechtliche Qualität dieses Wissens tragen. Ihr Einfluss auf andere Diskursebenen ist überragend. Mehr noch: Medien in-formieren nicht nur, sie formieren Bewusstsein. Sie sind eine Normalisierungsmaschinerie und üben Macht aus. Zum Wissen allgemein gehört selbstverständlich auch das in den Bevölkerungen vorhandene spezielle Wissen über Menschen mit Migrationshintergrund, deren Kultur und deren Herkunftsländer. Daher ist eine Analyse der Medien zum Thema Karikaturenstreit, bei dem fortlaufend solche Menschen und deren tatsächliche oder angebliche Eigenschaften und Verhaltensweisen sprachlich-diskursiv gedeutet werden ebenso wie die Darstellung ihrer Herkunftsländer und ihrer Besonderheiten, von Interesse. Denn dabei geht es letztlich um die Frage, ob und wie Menschen in einer zunehmend globalisierten und immer „bunter“ werdenden Welt friedlich zusammenleben können. Bei dieser Vorgehensweise kann es nicht in erster Linie darum gehen, einzelne Stereotype oder rassistische Formulierungen ausfindig zu machen, obwohl auch diese auftreten; es geht in erster Linie darum, die ideologische Qualität der Diskurse zu erfassen, die das Wissen der Menschen nachhaltig formieren, und sich damit kritisch auseinanderzusetzen. Untersucht wurden 25 Tages- und Wochenzeitungen beziehungsweise Magazine. Die Texte sind ausnahmslos ab Ende Januar bis Anfang März 2006 in Deutschland erschienen. Insgesamt wurden 254 Texte inklusive einiger Cluster 2
Vgl. dazu Jäger 2004 und 2007. Zum Stand der Medienwirkungsforschung unter besonderer Berücksichtigung der Berichterstattung über ethnische Minderheiten vgl. Weber-Menges 2005.
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von Leserbriefen analysiert. Dabei wurde versucht, das gesamte print-mediale „Mitte-Rechts-Links“-Spektrum qualitativ vollständig abzudecken.3 Der Schwerpunkt liegt allerdings mit 184 Artikeln aus zehn Publikationen bei der Presse der „Mitte“, die ich als hegemonial bezeichne. Die untersuchten Medien der „Mitte“ sind Frankfurter Rundschau (FR), Süddeutsche Zeitung (SZ), Westdeutsche Allgemeine Zeitung (WAZ), Rheinische Post (RP), Frankfurter Allgemeine Zeitung (FAZ), Die Welt, Die Zeit, Der Spiegel, Focus und Bild. Sie dominiert die Meinungsbildung der in Deutschland lebenden Bevölkerung. Daneben wurden 26 Artikel aus fünf „rechten“ Publikationen (Junge Freiheit (JF), Störtebeker, Deutsche Stimme, Nationalzeitung, Nation&Europa) und 39 Artikel aus 7 „linken“ Organen hinzugezogen (Die Tageszeitung, Jungle World, Freitag, Sozialistische Zeitung (SoZ), Das Blättchen, World Socialist Web Site (WSWS.org), Arbeitermacht. Zusätzlich wurde ein Schwerpunkt aus der Deutschlandausgabe des auch in Deutschland viel gelesenen US-Magazins Newsweek vom 23. Februar 2006 analysiert. Diese relativ geringe Anzahl von Artikeln deckt den in Zusammenhang mit dem Karikaturenstreit auftretenden Migrations-Diskursstrang qualitativ vollständig ab, indem sie alle wesentlichen „Aussagen“ (énonces) dieses Diskurses erfasst.4 Der Karikaturenstreit wurde demnach zu einem nahezu globalen diskursiven Ereignis.
Der Karikaturenstreit in den Medien als diskursives Ereignis Der eigentliche Verlauf des Karikaturenstreits ist bekannt und muss hier deshalb auch nicht im Einzelnen nachgezeichnet werden. Er ist von der „rechts“-lastigen dänischen Tageszeitung Jyllands-Posten bewusst provoziert worden, die mit der Veröffentlichung dieser rassistischen Machwerke die massive Ausländer diskriminierende Politik der dänischen Regierung und den Einfluss der „rechts“populistischen Volkspartei, nur mit deren Duldung die Regierung an der Macht bleiben kann, unterstützen wollte (Süddeutsche Zeitung, 6.2.06). Die teilweise heftigen Reaktionen in den arabischen Ländern, bei denen es auch Tote und Verletzte gab, wurden in den westlichen Medien zum Ausbruch eines aufgezwungenen „Zusammenpralls der Kulturen“ hochgejubelt, in dem es nun gelte, seine eigenen („heiligen“) abendländischen Werte zu verteidigen.
3 4
Dies gelingt dann, wenn die Analyse weiterer Texte keine wesentlichen neuen inhaltlichen und formalen Elemente zu Tage fördert. Der Diskurs wird als Kette von Aussagen beziehungsweise „Atomen des Diskurses“ aufgefasst; vgl. Foucault 1988: 117.
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Der deutsche Einwanderungsdiskurs der Medien ist etwa seit Anfang der 80er Jahre des vorigen Jahrhunderts stark rassistisch geprägt.5 Dies gilt für die Debatte zur Asylfrage seit etwa Mitte der 80er bis Mitte der 90er Jahre, danach für die angebliche „Ausländerkriminalität“, die Diskussion um eine Greencard für Spitzenkräfte aus dem Ausland und für die Berichterstattung nach dem 11. September 2001, in der Einwanderer oft pauschal in die Nähe von Fanatismus und Terrorismus gestellt wurden. Die Auseinandersetzungen in Verbindung mit den Muhammad-Karikaturen stellten einen weiteren Anlass dar, den Einwanderungsdiskurs polemisch rassistisch zu befeuern. Doch bei der Kommentierung und Berichterstattung des Karikaturenstreits kam ein sehr gefährliches Wissen massiv hinzu: Das radikale, brutale, fanatische und bedrohliche „Außen“, das in Schach gehalten werden müsse. Zwar sind „Schurkenstaaten“ nicht etwas ganz Neues, aber sie scheinen sich zu formieren und den gesamten „Westen“ in die Knie zwingen zu wollen. Eine solche Qualifikation des „Außen“ als „Schurkenstaaten“ ruft „eine ausgrenzende Stigmatisierung auf den Plan“ (Derrida 2006: 133), deren allgemeine Akzeptanz den Vorwand dafür liefern kann, vom „Recht des Stärkeren“ auch mit Gewalt und Krieg Gebrauch zu machen. Ich habe die genannten Zeitungen und Zeitschriften jeweils daraufhin befragt, wie sie in Verbindung mit der Berichterstattung zum Karikaturenstreit 1. 2.
die Muslime im eigenen Land oder auch in Europa charakterisieren, wie sie die Muslime in ihren Heimatländern darstellen.
Der Hintergrund dieser Fragestellungen ist ein kollektivsymbolischer: Die Analysen des Einwanderungsdiskurses zeigen, etwas verkürzt gesagt, dass Deutschland/Europa kollektivsymbolisch als „Innen“, als „Wir“ codiert wird, als eine Art Schutzraum mit Grenzen, der verteidigt und befriedet werden muss. Die Welt jenseits unserer Grenzen ist ein „Außen“, das als tendenziell bedrohlich und irrational wahrgenommen wird. Eine solche Diskursivierung des „Außen“ tangiert zugleich die Wahrnehmung der aus dem „Außen“ stammenden, also eingewanderten Menschen im „Innen“, da sie sich an den nationalen Einwanderungsdiskurs ankoppelt. Daher ist es interessant zu beobachten, ob und wie in den Printmedien entsprechende Zuschreibungen auftreten. Im Folgenden werde ich die Gesamt-Aussagen, die die jeweiligen Zeitungen enthalten, jeweils knapp zusammenfassen; das gesamte Material ist ausgebreitet in Jäger 2007. Um den Grundtenor der Berichterstattung zu illustrieren, füge ich an dieser Stelle nur ein (zugegeben drastisches) Beispiel aus der Tageszeitung Die Welt vom 15. Februar 2006 an. Wolfgang Sofsky nennt darin als Motive für 5
Vgl. dazu jetzt den umfassenden Überblick über entsprechende Untersuchungen bei Geißler/ Pöttker 2005.
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den Aufruhr der Muslime: „Die Masse der Frommen will ihrer ungläubigen Todfeinde habhaft werden, will sie schächten und verbrennen. Sie hat den Westen insgesamt im Visier. Die einzige Freiheit, auf welche sie aus ist, ist die Freiheit zum Töten.“ Doch es seien Halbgläubige. „Der Aufmarsch ist die Fortsetzung des Terrors mit den Mitteln der Meute, der die lebendige Beute – noch – verwehrt ist.“ „Ihre Erfüllung findet die Masse im Akt der Vernichtung.“ „Sie will das Blut des Schlachtopfers, will den Kopf des Ungläubigen, will seinen Körper verbrennen.“ „Im Feuer findet die Menge zu sich selbst.“ „In dieser Menge herrscht kein allmächtiger Gott. Hier regieren die wilden Götter des Krieges, der Furcht und des Schreckens.“
Medien der „Mitte“ – ohne Blick auf die Wirkung ihrer eigenen Berichterstattung Tendenziell rassistisch: Gesamtaussage der Medien der „Mitte“ Der printmediale „Mitte“-Diskurs kümmert sich nicht oder nur ganz am Rande um die Wirkung ihrer eigenen Berichterstattung, sondern kapriziert sich im Wesentlichen auf das Thema „unserer“ Meinungs- und Pressefreiheit, die ohne Wenn und Aber als unverhandelbares höchstes Gut dargestellt wird, das angeblich von den protestierenden Muslimen angegriffen wird. Zugleich plädiert er für die Integration der im „Innen“ angekommenen Einwanderer beziehungsweise Menschen mit Migrationshintergrund, die sich einer deutschen (Leit-)Kultur anpassen sollen und dazu auch mehrheitlich bereit seien. Das „Außen“ wird dagegen in seiner Tendenz als gefährlich, verrückt und fanatisch dargestellt. Dadurch wird die Berichterstattung rassistisch, zudem sie sich an den Diskurs der gefährlichen Fremden im „Außen“ ankoppelt. Sie trägt dazu bei, dass sich in Deutschland tendenziell rassistische Subjekttypen mit rigiden normativen Vorstellungen herausbilden können. 1. Frankfurter Rundschau: Nur auf den ersten Blick unaufgeregt und de-eskalierend Die FR versteht sich selbst als „links“-liberale unabhängige Tageszeitung und steht eher der Sozialdemokratie und inzwischen auch ein wenig den Grünen nahe. Vom 31. Januar bis 16. Februar erscheinen in der FR über 30 Artikel zum Thema. Die Berichterstattung wirkt auf den ersten Blick eher unaufgeregt und de-esklalierend. Ihr zufolge sind die Muslime in Deutschland eher moderat. Gleichwohl trägt sie, wie die genauere Analyse zeigte, insbesondere auch durch Fotos und eine Karikatur dazu bei, Muslime als zurückgeblieben und fanatisch
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zu verstehen (Verbrennen von Fahnen, Lächerlichmachen der muslimischen Aufregungen). Insgesamt gibt es ein breites Meinungsspektrum. Recht zurückhaltend ist die Zeitung auch in der Verwendung sensationalisierender Kollektivsymbolik, was allerdings nicht für eine Reihe der verwendeten Fotos gilt, wenn diese Brände und Zerstörungen von Gebäuden zeigen. Insgesamt ist die Berichterstattung und Kommentierung zwar sachlich und „normalisierend“: das Geschehen wird eher etwas erstaunt zur Kenntnis genommen, nach dem Motto: Wie kann man sich über eine solche Nichtigkeit derart aufregen! Zu beobachten ist zudem eine gewisse Tendenz, die eingewanderten Muslime der „Innen“-Welt als eher ruhig und demokratisch zu skizzieren, während die (islamische) „Außen“Welt doch tendenziell in Bildern eines Bedrohungsszenarios dargestellt wird. 2. Süddeutsche Zeitung: Kritik an den Medien mit problematischen Zungenschlägen Die in München erscheinende SZ gilt ähnlich wie die FR als „links“-liberal und gehört damit ebenfalls dem „linkeren“ „Mitte“-Spektrum der deutschen Presselandschaft an. Hervorzuheben ist für die SZ die wichtige und richtige Kritik an den Medien, die aber auch mit problematischen Zungenschlägen einher kommt: So erscheinen Muslime besonders in ihren Heimatländern als Randalierer, als wilde Bullen, die man reizen und aufhetzen kann. Zugleich hat aber auch der Hinweis auf den Rassismus der Karikaturen und ihrer Veröffentlichung sowie auf die rassisierende Berichterstattung Platz in dieser Zeitung. 3. Westdeutsche Allgemeine Zeitung: Bekannte Vorurteile Die in Essen erscheinende WAZ ist die größte Regionalzeitung in Deutschland mit Schwerpunkt in NRW und gilt als eine Art Familienzeitung der „Mitte“. Ihr Blick richtet sich primär auf den Nahen Osten und auf die „Islamisten“. In Dänemark selbst seien die Moslems größtenteils „gemäßigt“. Es werden hier die bekannten Vorurteile bedient: Gewalt und Terror, Bedrohung von außen, Drogendealer, Selbstmordattentäter, religiöser Fanatismus. Interessant ist, dass nur der Hauptartikel direkt auf den Karikaturenstreit eingeht; alle anderen nennen ihn nicht in den Überschriften, spielen aber alle auf ihn an. 4. Rheinische Post: Gute Christen – böse Muslime Die in Düsseldorf erscheinende RP, eine geringer verbreitete Regionalzeitung als die WAZ, gilt als moderat katholische Zeitung der „Mitte“. In Kommentaren der RP sind die (guten) Christen Opfer, die (bösen) Muslime sind dumm und verführbar sowie gewalttätig.
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5. Frankfurter Allgemeine Zeitung: Orientalistisch Die FAZ gilt als das überregionale Leitorgan einer konservativen „Mitte“, das sowohl radikale („rechts“)-konservative wie auch etwas liberalere Positionen vertritt. Der Karikaturenstreit ist über drei Wochen das Thema der Zeitung und erfährt nahezu hundert Artikel. Vorherrschender Tenor: Unsere eigenen Werte sind zu verteidigen, das „Innen“ ist tendenziell friedlich und zu schützen. Wer sich dieser „Leitkultur“ nicht anpasst, sollte gehen. Unterschiedliche Positionen finden sich hinsichtlich der Trennung von Kirche und Staat einerseits, andererseits wird aber auch der Islam, was dessen Ernstnehmen von Religion angeht, zu einer Art Vorbild. Die Berichterstattung der FAZ spricht konservative Intellektuelle an. Sie entgleist kaum einmal in Richtung eines offenen Rassismus, vertritt aber insgesamt eine „orientalistische“ Position im Sinne von Edward W. Said (1995), indem sie einen Orient pauschalisierend konstruiert, dessen Realität stark verzerrt ist. 6. Die Welt: Versöhnlich und hetzend Die Tageszeitung Die Welt gilt als strikt konservatives Blatt, das leicht „rechts“ von der FAZ einzuordnen ist und sich, was ihren politischen Standort angeht, mit dieser überschneidet. Einerseits wird der „Kampf der Kulturen“ zurückgewiesen, andererseits findet offene Hetze gegen den Islam statt. 7. Die Zeit: Eine schwere Last Die Zeit gilt als das intellektuelle Wochenblatt für Deutschland schlechthin. Sie zeichnet sich durch den Versuch aus, Debatten zu organisieren und unterschiedliche Positionen zu Wort kommen zu lassen. Dies geschieht allerdings nur innerhalb einer mittig-liberalen Bandbreite, so dass gelegentlich auch der Eindruck von Scheindebatten entstehen kann.6 In Die Zeit dominiert eine westliche, antiislamische Perspektive. Dies geht hin bis zur tendenziellen Vertauschung von Verursachern und Opfern des Konflikts. Alarmistisch wird behauptet, der clash of civilzations habe sowieso seine große Stunde. Interessant ist, dass die Wirkungen der Berichterstattung auf ein deutsches/europäisches Publikum nicht in einem einzigen Artikel reflektiert werden. Argumentreich wird die Position einer neoliberalen europäischen „Mitte“ vertreten. Zwar wird konstatiert, dass die Muslime in Europa, besonders aber 6
Bender 2006 attestiert der Zeitung einen Schwenk weg von einer „Heimstatt sozialliberalen Denkens“ hin zu einer „Standpunktlosigkeit als Prinzip“, ihr Profil „verschwimmt zur Unkenntlichkeit“ (S. 1057).
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in Deutschland, in mancherlei Hinsicht völlig andere Vorstellungen haben als „wir“, aber insgesamt gesehen doch relativ gemäßigt seien, die im „Außen“ eher militant, obwohl dabei durchaus je nach Interessenlagen der Herkunftsländer differenziert wird. Letztlich wird keine Vereinbarkeit gesehen, insbesondere wenn (der von Grund auf kriegerische) Islam und (das von Grund auf friedliche) Christentum gegeneinandergesetzt werden. Es entsteht der Gesamteindruck: Das ist eine schwere Last, die uns aufgebürdet ist, und derer „wir“ uns erwehren müssen. 8. Der Spiegel: Eskalierend Der Spiegel gilt immer noch als das einflussreichste deutsche politische Wochenmagazin. Das ehedem deutlich als „links“-liberal zu markierende Blatt betreibt seit einigen Jahren einen weiten politischen Pluralismus und scheut sich auch beim Thema Migration nicht vor höchst problematischen Einschätzungen. Insbesondere wegen seiner sensationalisierenden Titelkollagen gerät er häufig in die Kritik. Bei der Berichterstattung im Rahmen des Karikaturenstreits gibt sich das Magazin sehr ausführlich und geradezu enzyklopädisch. Dabei ist jedoch die Kernbotschaft nicht zu übersehen: Der Spiegel warnt allen Ernstes vor einer Eskalation im Zusammenprall der Kulturen, den er als bereits voll im Gange ansieht. Dieser gehe von den Muslimen aus, die gefährlich seien und den Westen bedroht. 9. Focus: Muslime schüren Rechtsextremismus Focus, der konservative Konkurrent des Spiegel, möchte zeigen, dass die Proteste der Muslime insbesondere einem Erstarken des „rechten“ Extremismus dienen, für das die Muslime nun auch noch verantwortlich gemacht werden. So heißt es in dem Artikel Flächenbrand wegen Karikaturen. Rechtsextreme reiben sich die Hände vom 6. Februar 2006, von Manfred Weber, Paris. Garniert ist dieser mit einem Foto von Le Pen und seiner Tochter Marine. Er referiert Umfragen aus Frankreich, aus denen hervorgehe, dass dort jeder Fünfte (22 Prozent) mit dem Front National sympathisiert, Hinweise erfolgen auf die Vorstadtunruhen, auf die Hamas, den Iran und die Karikaturen. In Frankreich herrsche Angst, der Islamophobie bezichtigt zu werden, weshalb viele Franzosen sich nicht zu äußern wagten. Auch hier erfolgt eine Umkehrung der Verursachung: Die Muslime sind an all diesen Fehlentwicklungen Schuld. Pauschalisierend wird kollektivsymbolisch ein „Flächenbrand“ gesehen. 10. Bild: Ausländerpolitik der „Mitte“ Bild ist weiterhin die größte Boulevardzeitung Deutschlands. Bei der Berichterstattung zum Karikaturenstreit folgt sie den Hauptkampflinien der deutschen Einwanderungspolitik.
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Das Blatt richtet den Blick primär auf das chaotische, gewalttätige, gefährliche und terroristische „Außen“, woraus zu schlussfolgern ist, dass man sich dagegen abschotten muss. Zugleich versucht die Zeitung zur Mäßigung im „Innen“ beizutragen, wobei zugleich rassistische Momente immer wieder hervortreten. Das entspricht der derzeitigen Ausländerpolitik im Deutschland der „Mitte“, deren Losung lautet: Integration bei hohen Auflagen mit dem Ziel der Assimilation ja, aber Abschottung gegen das gefährliche „Außen“ und möglichst keine weitere Einwanderung.
„Rechte“ Presse – Affinitäten zu Positionen der „Mitte“ Die Organe der extremen „Rechten“ sind primär antiamerikanisch, nationalistisch und teilweise offen rassistisch. Sie zeigen auch gewisse Sympathien für den Islam und seine militanten Abteilungen und bewundern seine assoziative Kraft.7 Kaum überraschend ist die Affinität zu Positionen der „Mitte“, die das „Innen“, die hier lebenden Einwanderer, gemäßigt und befriedet sehen möchten, zugleich aber eine strikte Abschottung gegen das „Außen“ betreiben, weil dies auch den Maximen der Regierungspolitik der letzten Jahrzehnte entspricht, die auch von Parteien der extremen „Rechten“ kaum überboten werden kann. Die knappe Analyse verweist darauf, dass es auch im „rechten“ Lager Kritik an Positionen gibt, die ein bisschen weniger „rechts“ sind als die eigene. 1. Junge Freiheit: Im Geist der „Konservativen Revolution“ Die JF ist eine stark „rechts“-lastige Wochenzeitung, die sich insbesondere an ein jüngeres akademisches Publikum richtet und auch einen gewissen Einfluss auf Medien und damit Bevölkerungsgruppen der „Mitte“ hat. Ihre Diskursposition lässt sich am besten damit charakterisieren, dass sie den „Rechts“-Konservatismus von „Rechts“ her kritisiert und – in grober Annäherung gesagt – Theorien der „Konservativen Revolution“ zu beleben versucht. Insgesamt ist der Karikaturenstreit in der Tat ein „gefundenes Fressen“ für die JF. Hervorzuheben ist jedoch, dass die JF im Unterschied zu den Medien der „Mitte“ sich nicht auf eine Diskussion der Frage von Presse- und Meinungsfreiheit beschränkt, sondern den Karikaturenstreit im Rahmen eines umfassenderen politischen Horizonts zu diskutieren versucht. Ihr geht es um die rechte Gestaltung deutscher Gesellschaft nach Maßgabe abendländischen Wertvorstellungen, die durch die Einwanderung und die Konzepte/Realität multikultureller Gesellschaft gefährdet sind. Das „Fremde“ und ihre Verteidiger werden teilweise ag7
Zur assoziativen, gemeinschaftsbildenden Kraft von Religion vgl. Link 2006.
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gressiv abgelehnt und denunziert, so dass man ohne Abstriche von rassistischen Darstellungen sprechen kann. 2. Störtebeker-Netz: Kritik von „Rechts“ an „Rechts“ Das Störtebeker-Netz ist eine eindeutig der extremen „Rechten“ zuzuordnende Webseite. Ein bekannter Anhänger der extremen „Rechten“, Jürgen Schwab, liefert hier regelmäßig Gastkommentare ab. Seine Kolumne Zivilisatorische Herrenmenschen vom 19. Februar 2006 ist für diese Analyse deshalb von einem gewissen Interesse, weil er die JF von weiter „rechts“ her kritisiert. Diese folge Huntington, der aber eine Propagandaschrift im Dienste der US-Weltherrschaftsbestrebungen verfasst habe und West- und Mitteleuropa mit Nordamerika als einen gemeinsamen kulturellen Raum auffasse („westliche Wertegemeinschaft“) und die Menschenrechte als Geschäftsgrundlage betrachte. Die Argumentation ist deutlich anti-amerikanisch, „rechts“-nationalistisch und rassistisch. 3. Deutsche Stimme: Probleme mit „Neger“ Die Monatszeitung Deutsche Stimme ist das Parteiorgan der NPD und wird vom Bundesvorstand der Partei herausgegeben. Der Artikel von Andreas Molau, der auch für die JF schreibt, in der Deutschen Stimme von März 2006: Die Meinungsfreiheit der Heuchler. Der Westen ermahnt den Islam und sitzt selbst im Glashaus klagt, dass „rechte“ Sprüche nicht der Meinungs- und Pressefreiheit unterliegen. So sei die Bezeichnung „Neger“ strafbar, ebenso wie möglicherweise die Einschätzung der bundesdeutschen Politik als ‚volksfeindlich‘. Damit plädiert Molau eindeutig für rassistische Zuschreibungen. 4. National-Zeitung: Zustrom stoppen Das Wochenblatt National-Zeitung wird von ihrem Verleger Dr. Gerhard Frey quasi als Parteiorgan der DVU herausgegeben und hat ihren rassistischantisemitischen Schwerpunkt bei den Themen Einwanderung und Juden. In dem Artikel Tickende Zeitbombe vor der Explosion. Die Berliner Rütli-Schule und der Multikulti-Wahn von Bernhard Barkholdt vom 7. April 2006 wird der Karikaturenstreit eher am Rande erwähnt, interessanterweise aber so, dass man mit den hier lebenden Einwanderern doch ganz gut klarkomme; der weitere „Zustrom“ müsse aber gestoppt werden. Damit nimmt diese Zeitung im Kern eine Position ein, die mit der Argumentation des Mainstream im Wesentlichen identisch ist. Der Verweis auf ein ähnlich argumentierendes Organ der „Mitte“ erfolgt durch den Abdruck eines Spiegel-Titelbildes vom 14. April 1997 Ausländer und Deutsche. Gefährlich fremd. Das Scheitern der multikulturellen Gesellschaft und die Anspielung auf die bereits dort verwendete Formulierung von der tickenden Zeitbombe.
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5. Nation & Europa: Der Feind meines Feindes … Nation & Europa gilt immer noch als das ideologische Zentralorgan der gesamten Szene der extremen „Rechten“ in Deutschland. In seiner Märzausgabe 2006 erscheint ein Artikel mit der Überschrift Karikaturenstreit, Koran, Kulturkampf: Der Islam als Feind? Ein Diskussionsbeitrag von Christoph Annhaus. Dieser Artikel zeichnet sich dadurch aus, dass er platt antiamerikanisch argumentiert. Wie die Deutschen nach dem 2. Weltkrieg umerzogen worden seien, so sollen jetzt die Muslime umerzogen werden. „Es ist [...] der Kampf des US-amerikanischen Universalismus gegen einen besonders widerspenstigen Teil der Erde mit einer vorherrschenden Religion, die Kampfeswille, Vitalität und Selbstbewusstsein zu vermitteln scheint.“ Das knüpft direkt an einen Diskurs der extremen „Rechten“ an, wie er auch in der Jungen Freiheit gefahren wird, hier nach dem Motto: Der Feind meines Feindes ist mein Freund. „Linke“ Presse – keine Scheingefechte Die „linke“ Publizistik ist wie die „Linke“ überhaupt im Karikaturenstreit keineswegs einer Meinung. Sie argumentiert teilweise ebenfalls dicht am Diskurs der „Mitte“-Medien (taz, Jungle World), teilweise fährt sie einen radikalen Gegendiskurs dazu, wobei sie sich in einigen Bereichen auf ökonomistische Argumentationen beruft (WSWS), aber auch eher neu-„linke“ und diskursanalytischkritische Ansätze zeigt (Freitag). Hervorzuheben ist, dass sie sich nicht auf die Scheingefechte um Presse- und Meinungsfreiheit einlässt, sondern primär die Auswirkungen der Provokation der Jyllands-Posten und ihrer Fortschreibung in den Medien der „Mitte“ thematisiert. 1. Die Tageszeitung: Locker bis gequält Die taz ist eine kleine bis gut verbreitete, in Stil und Aufmachung etwas aufmüpfige Tageszeitung, die (auch manchmal recht kritisch) den Grünen nahesteht und mit diesen in den letzten Jahren etwas in die „Mitte“ gerückt ist. Nach der Abwahl der rot-grünen Koalition bei der letzten Bundestagswahl bemüht sie sich wieder etwas stärker um ein „linkes“ Profil. Die taz versucht etwas locker-gequält die Veröffentlichung der Karikaturen zunächst auf die leichte Schulter zu nehmen und meint, es gehe um Meinungsund Pressefreiheit, wie die Zeitungen der „Mitte“ auch. Als sich die Affaire zuspitzt, gerät sie deutlich in das Fahrwasser des „Mitte“-Diskurses. Zwar spricht sie auch von der ausländerfeindlichen Politik der dänischen Regierung und entsprechender Berichterstattung der Jyllands-Posten, und (nur anfangs) auch einmal von Rassismus, der jedoch alsbald explizit geleugnet wird. Der taz-Diskurs verweist nach „Innen“ auf Mäßigung, nach „Außen“ auf die schrecklichen und
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fanatischen, hysterischen und zurückgebliebenen unreifen Muslime. Das korrespondiert durchaus mit der deutschen und europäischen Einwanderungspolitik: Die Muslime im „Innen“ assimilieren, von außen möglichst keinen mehr reinlassen! Über die Folgen der Art und Weise der Berichterstattung über den Streit macht sie sich im Grunde keine Gedanken. 2. Jungle World: Gequälte Ironisierung und eine klare Absage an die multikulturelle Gesellschaft Die Jungle World gilt als undogmatische „linke“ Wochenzeitung, die sich von der eher dogmatisch marxistischen Wochenzeitung Junge Welt vor einigen Jahren abspaltete. Sie ist in der (zerstrittenen) „Linken“ ziemlich umstritten und changiert zwischen „Links“ und „Links“-liberal. Die Kritik der Jungle World an den muslimischen Reaktionen auf die Veröffentlichung der Karikaturen ist heftig. Sie erklärt sich zumindest teilweise aus der pro-israelischen und gegen Antisemitismus gerichteten Haltung der Zeitung. Gleichzeitig wird multikultureller Gesellschaft relativ klar eine Absage erteilt und das „Außen“ zumindest ein Stück weit dämonisiert. Natürlich ist das nicht die JF, aber der rassistische Hintergrund des Streits bleibt völlig unbeleuchtet, eine Reflexion der Wirkung solcher gequälter Ironisierungen fehlt. Insgesamt eine schon erstaunliche Position für eine „linke“ Zeitung. 3. Freitag: Die Position der Friedensbewegung Die „Ost-West- Wochenzeitung“ gilt als „links“-intellektuell und möchte sich als gemeinsames Diskussionsforum für Ost- und Westdeutsche sehen. Die Zeitung fühlt sich einer „linken“ „Gegenöffentlichkeit“ verpflichtet. Der Freitag artikuliert die Position der deutschen Friedensbewegung und lässt sich auf das Gerede über Presse- und Meinungsfreiheit nicht ein. Das Blatt begreift die Veröffentlichung der Karikaturen eindeutig als Provokation und kritisiert die Medien der „Mitte“ als im Kern rassistisch. So spricht Sabine Kebir in dem Artikel Karikieren, zivilisieren, bombardieren vom 10. Februar 2006 von einem bewusst herbeigeführten Eklat. Der Prophet sei als Terrorist dargestellt worden. Der Feind sei gereizt und verhöhnt worden und es finde ein medialer Krieg des Westens gegen den Islam statt: „Tatsächlich unterstützen aber immer weniger Europäer – ja, immer weniger Menschen weltweit – den Heiligen Krieg des Westens gegen den Islam. Der Verdacht liegt nahe, dass bestimmte, nicht zuletzt mediale Scharfmacher deshalb ganz bewusst die Aufgabe übernehmen, augenfällige Beweise zu produzieren, dass die Muslime rückständig, gewalttätig und unberechenbar seien und deshalb vom Westen beaufsichtigt, kontrolliert, notfalls auch einmal geschurigelt werden müssten.“
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Der ‚Demokratisierungsdruck‘ auf die Muslime in Europa wachse „um so mehr [...], je spürbarer die sozialstaatlichen Integrationsmechanismen versagen“. Zugleich befürchtet die Autorin, „es wird in psychologischer Hinsicht das Terrain bereitet, um einen Schlag gegen den Iran zu führen – und es wird eine Art Weltbürgerkrieg riskiert.“ Interessant ist dieser Bezug auf das „Innen“: Der Demokratisierungsdruck auf die Muslime in Europa nimmt in der Tat zu, sie müssen gebändigt werden, sich mäßigen; aber durch die Berichterstattung über das „Außen“ würden sie zugleich rassistisch markiert. Der Islam werde in die Nähe von Terrorismus geschrieben – eine bemerkenswerte, diskursanalytisch plausible Einsicht: Der Diskurs über das „Außen“ nimmt demnach Einfluss auf den Einwanderungsdiskurs im „Innen“. 4. Sozialistische Zeitung: Ping-Pong Die SoZ ist eine „links“-sozialistische Monatszeitschrift, die der Vierten Internationalen nahe steht, jedoch einen gewissen „linken“ Pluralismus zu pflegen sucht. In dem Artikel Lehrstück Karikaturenstreit. Sowohl als auch. Weder noch. vom 5. März 2006 spricht Christoph Jünke von einem „diskursiven Ping-Pong“, vom „Spiel der Diskurse“, von der „diskursiven Falle des Karikaturenstreits“ (zwischen beabsichtigter Provokation und politischer Instrumentalisierung der Provozierten). Das habe alles mit Gefühlen ebenso wenig zu tun wie mit Pressefreiheit. Mit den Karikaturen sollten Muslime „kollektiv stigmatisiert werden“. Der Artikel sieht durchaus und auch richtig die Unterschiede der Kulturen, spricht sogar vom Zusammenprall, eskaliert aber nicht, sondern sucht nach Lösungen. 5. Das Blättchen: Spiel mit dem Krieg Die Zweiwochenschrift für Politik, Wissenschaft und Kultur sieht sich in der Tradition der von Carl von Ossietzky herausgegebenen Weltbühne aus der Weimarer Zeit, die manchmal als „das Blättchen“ belächelt wurde. Das Blatt ist klar „links“ und erscheint in (Ost-)Berlin. In dem Artikel Spiel mit dem Krieg vom 4. März 2006 von Wolfram Adolphi erfolgt eine drastische Kritik an den Medien, die auch vor dem Einsatz deutlicher Kollektivsymbole nicht zurückschreckt: Dort, „im Medienhauptsrom (werde) Öl ins Feuer gegossen, daß es nur so kracht“, es werde „angeheizt, was das Zeug hält“. Es gehe um „Meinungsfreiheit, versucht man uns weiszumachen“. Doch der Nahe Osten sei „der riesige Siedekessel, in den man die Karikaturen hineingeworfen hat, als ob man nicht wüßte, wie wenig es braucht, einen solchen Kessel zur Explosion zu bringen“. Und: „es war ja über die Jahrzehnte schon eine ganz andere Saat gelegt. Der Siedekessel war gründlich vorgeheizt worden.“ Die Kollektivsymbolik, die den Artikel prägt, wird mit der kritischen Absicht eingesetzt, vor Kriegsvorbereitung zu warnen.
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6. World Socialist Web Site (Vierte Internationale): Bild einer minderwertigen Kultur Dies ist die Internetseite des Internationalen Komitees der Vierten Internationalen. In dem Artikel Dänemark und Jyllands Posten. Die Hintergründe einer Provokation vom 9. Februar 2006 liefert Peter Schwarz eine Kritik an den „Mitte“-Medien mit einer Vielzahl von Belegen. In Dänemark werde Ausländerfeindlichkeit systematisch geschürt. Die Ursache dafür sei die soziale Krise und das Versagen der Arbeiterorganisationen. Die JP spiele dabei eine führende Rolle. Die dänische Politik sei weit nach „rechts“ gerückt. Die Karikaturen „sind eindeutig rassistisch. Sie suggerieren, dass jeder Muslim ein potentieller Terrorist sei.“ Es werde „Systematisch ein Bild einer minderwertigen Kultur erzeugt, die sich mit ‚westlichen Werten‘ nicht vereinbaren lasse.“ Er vergleicht die JPKarikaturen mit Stürmer-Karikaturen. Hier handle es sich um eine Vorbereitung „auf neue Kriege gegen Länder wie Iran und Syrien, die noch brutaler geführt werden als der Irakkrieg – bis hin zum Einsatz von Atomwaffen.“ Die JP wird folgendermaßen charakterisiert: Die Zeitung hege Sympathien für die Nazis und spiele bei der „Rechts“-Entwicklung Dänemarks eine „Schlüsselrolle“; sie sei „Sprachrohr der ausländerfeindlichen Rechten.“ Hier liegt eine klare, wenn auch polemische „linke“ Position vor, die durchaus auch ökonomistisch und dogmatisch einherkommt. 7. Arbeitermacht: Hetze Dies ist die Zeitung der Liga der trotzkistischen Abspaltung Fünfte Internationale, die eine Weltpartei der Sozialistischen Revolution aufbauen will, eine kleine „links“-kommunistisch-trotzkistische Zeitung. In dem Artikel Im Fadenkreuz des Imperialismus, Neue Internationale 108, von März 2006 betont Martin Suchanek: „Mit dem drohenden Angriff auf den Iran geht eine massive, anti-moslemische rassistische Hetze in den imperialistischen Staaten einher.“ USA-Sicht Das Beispiel des Wochenmagazins Newsweek vom 13.2.06 (Deutschlandausgabe): Nur auf den ersten Blick zurückhaltend Newsweek gilt als ein liberales und der Politik der US-Administration oftmals gelegentlich auch kritisch gegenüberstehendes politisches Wochenmagazin, das auch in Deutschland viel gelesen wird. Die Zeitung berichtet keineswegs de-eskalierend. Sie will zwar Integration und zeichnet einen modernen, sich europäisierenden Islam in Europa: Europäische Muslime begännen die Freiheiten des Westens zu schätzen; die Karikaturen-
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provokation wird entsprechend kritisiert. Gleichzeitig wird aber die Gefährlichkeit der „Islamisten“ im Nahen Osten beschworen, die mit heimtückischen Tricks und vorgeblich demokratischen Mitteln die Macht an sich reißen wollen. Auch die Iran-Frage wird nur auf den ersten Blick zurückhaltend angegangen. Ahmadinedschad wird als eine Art Außenseiter dargestellt, der eine fanatische Minderheit anführe. Dies legt durchaus nahe, ihn mit militärischen Gewaltmitteln zu beseitigen und das Volk zu „befreien“. Zu bedenken sind zudem die flammenden Fotos, die eine durchaus gefährliche „Außen“-Situation beschwören.
Die das Terrain bereiten – Fazit Es besteht kein Zweifel: Die durchaus einflussreiche dänische Zeitung JyllandsPosten, die eine tägliche Auflage von 150 000 Exemplaren hat, wollte Ausländer diskriminieren und musste damit rechnen, dass die Reaktionen der Muslime auf die Provokationen zu heftiger Gegenwehr führen würden, die dann wieder zum Anlass genommen werden könnten, eine ohnedies bereits rassistische Politik in Dänemark noch zu verschärfen.8 Die Karikaturen sind zumindest teilweise eindeutig rassistisch. Die politische Position der Zeitung entspricht dem. Weltweit haben die Medien das Thema aufgenommen, wobei sie sich im Westen besonders auf das Problem von Presse- und Meinungsfreiheit kapriziert haben, was zumindest teilweise als eine Folge professioneller Deformation anzusehen ist. Insbesondere die Medien der „Mitte“ haben es zudem versäumt, die Folgen der eigenen Berichterstattung zu reflektieren. Die Medien schüren Ängste durch die bramarbasierende Berichterstattung über die muslimischen Reaktionen auf den Abdruck der Karikaturen. Zugleich scheinen sie im „Innen“ für Mäßigung zu plädieren. Das gilt mit einigen Abstrichen sogar für die Bild-Zeitung. Das unterstützt das Bemühen um Abschottung/Begrenzung gegen das muslimische „Außen“ einerseits und propagiert die Notwendigkeit einer rigiden und schurigelnden Integration im „Innen“ andererseits. Die „rechten“ Medien schüren den Hass auf die Muslime bewusst und völlig offen. Dies ist Bestandteil ihrer politischen Programmatik, die sich gegen alles Fremde und die multikulturelle Gesellschaft richtet und insbesondere auch gegen diejenigen, die beides verteidigen: die „Linken“. Dazu gehören tendenziell auch die „linken“ Medien, obwohl deren Beeinflussung durch den medialen Diskurs der „Mitte“ gelegentlich deutlich sichtbar wird (Jungle World, taz). Sie versuchen aber mehrheitlich, nicht in die Fallen des Karikaturenstreits zu tappen 8
Am 6. Februar 2006 heißt es in der SZ: „Jyllands-Posten gab den publizistischen Begleitschutz auf diesem Weg (Dänemarks) in eine rechts-konservative Gesellschaft“, die Muslime im Lande waren für sie eine lohnenswerte Zielscheibe.
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und wenden sich insgesamt sehr viel stärker der Frage der Auswirkungen dieses Diskurses zu. Daneben zeigt die Analyse des Karikaturenstreits in den Medien der „Mitte“, auch in der Deutschlandausgabe der Newsweek, dass dieser durchaus in einem Horizont weiterer kriegerischer Auseinandersetzungen zu sehen ist. Denn sichtbar wird eine Verbindung zur Vorbereitung eines Irankrieges, für den dem Westen beziehungsweise den USA bisher die öffentliche Legitimation fehlt. Wenn der Osten/Arabien als Verein von „Schurkenstaaten“ aufgebaut wird, ist es umso leichter, dafür Rückhalt zu gewinnen und ihn auch ohne Legitimation des Sicherheitsrates anzugreifen.9 Ohne Zustimmung der Bevölkerungen ist das jedoch nicht zu machen. So erscheint die Karikaturenkampagne in einem anderen Licht. Zwar hat die Zeitung Jyllands-Posten eine derartige und globale Ausweitung so nicht gewollt und auch nicht erwartet. Sie wollte aber provozieren und zu einer Verschärfung der Ausländerpolitik und damit auch zur Stärkung der „Rechten“ in Dänemark beitragen. Diese Provokation ist von den westlichen Medien aufgenommen und verschärft worden, was zugleich muslimischen Vertretern einer Politisierung des Islam für revolutionäre Zwecke im eigenen Land zugute kam und von ihnen auch zu nutzen gewusst wurde. Gleichviel ob die Medien bewusst zur Eskalation des Streits beitragen wollten oder nur dumm und heuchlerisch agierten (indem sie die Presse- und Meinungsfreiheit in den Mittelpunkt ihrer Berichterstattung und Kommentierung stellten), der Effekt ist der oben beschriebene. Der Orient wirkt äußerst bedrohlich; ihn Mores zu lehren, in die Knie zu zwingen, leuchtet den westlichen Lesern durchaus ein. Dazu lieferten die muslimischen Reaktionen, die keineswegs in allen arabischen Ländern erfolgten, allerdings mancherlei Vorwände. Damit sind die meisten der protestierenden Muslime, sich gedemütigt und ausgebeutet fühlend, mit realem oder potentiellem Krieg überzogen, in eine wohlkalkulierte Falle gelaufen. Den Beitrag der Medien zur Legitimierung eines möglichen Krieges gegen den Iran beschreibt der Artikel von Sabine Kebir im Freitag vom 10. Februar 2006 sehr überzeugend: Die Medien bereiten das Terrain, um einen Schlag gegen den Iran zu führen. Nach „Innen“, also im Hinblick auf die hier lebenden Muslime, wirkt die Berichterstattung (besonders „Mitte-Rechts“) rassisierend und, zugleich gesetzliche Verschärfungen rechtfertigend. Die Berichterstattung über die Ereignisse im „Außen“ malt ein Bild vom gefährlichen, hysterischen, gewalt- und terrorbereiten Muslim und speist dieses Bild in den deutschen Diskurs über Einwanderung,
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Das flankiert die Bemühungen von US-Präsident Bush, „Islamisten“ in „Islamo-Faschisten“ umzutaufen.
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Flucht und Asyl ein, was die rassistische Unterfütterung dieses „Innen“-Diskurses verstärkt. Das gilt ohne Abstriche für die Berichterstattung der „Mitte“-Medien. Die „rechten“ Medien verschärfen diesen Diskurs nur und unterstützen ihn damit und auch seine Wirkung auf die Bevölkerung, insbesondere was den „rechten“ Rand der Gesellschaft angeht. Die „linken“ Medien sehen dies durchaus und üben daher wiederholt erhebliche Medienkritik, zuweilen auch etwas alarmistisch und zuspitzend, etwa so, als ob der Krieg gegen den Iran unmittelbar bevorstünde, was zu diesem Zeitpunkt zwar befürchtet werden musste, zugleich aber auch zum Beispiel wegen der Verwicklung der USA in andere Kriege (noch?) nicht aktuell ist. So nehmen zumindest einige der „linken“ Medien eher eine Warnfunktion wahr und übernehmen damit zivilgesellschaftliche Verantwortung. Der Einfluss der „linken“ Medien ist aber eher als gering einzuschätzen (kleine Auflagen, eigene Verstrickungen in den „Mitte“-Diskurs). Die Friedensbewegung ist insgesamt aufgerufen, die kriegsvorbereitende Rolle der Medien bewusster zur Kenntnis zu nehmen und öffentlich anzuprangern. Das umfangreiche Material und die große Zahl der herangezogenen Publikationen erlauben zwar eine kursorische Diskursanalyse, der es darum zu tun ist, die inhaltlichen Kerne beziehungsweise die „Aussagen“ des Diskurses zu ermitteln. Die diskursiven Wirkungsmittel konnten in diesem Artikel nicht im Einzelnen behandelt werden. Dabei spielt auch die reichhaltige Bebilderung der Berichterstattung eine große Rolle, und zwar eine durchweg sensationalisiernde, damit radikalisierende und rassisierende, die oftmals die in den Artikeln eingenommenen Positionen übersteigt. Die ständige Konfrontation mit ein und denselben Inhalten und deren durchgängig zu beobachtende politische Einfärbung übt eine normalisierende Wirkung aus und führt zu Subjektformierungen, die protonormalistischen Entwicklungen durchaus Vorschub leisten können, etwa zur Bejahung von Gewaltmaßnahmen und Kriegen, durch die Vorstellungen angeblich westlicher Normalität und westlicher Werturteile durchgesetzt werden können. Die mediale Abdeckung des Karikaturenstreits reiht sich so zuspitzend ein in die seit Jahrzehnten zu beobachtende rassistische Unterfütterung des Einwanderungsdiskurses und zugleich in die rigidere Konturierung eines Feindbildes Islam. Sie erzeugt eine allgemeine Terrorangst gegenüber dem Islam und legitimiert auf diese Weise Maßnahmen der Gegenwehr, die demokratischen und völkerrechtlichen Errungenschaften Hohn sprechen.
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„Die passen sich nicht an“ Exkurs zu sprachlichen Darstellung von Muslimen in Medienberichten Franc Wagner 1.
Einleitung
Fast täglich erreichen uns Medienberichte über den Islam und über Muslime. Neben Berichten über Selbstmordattentate und Terroranschläge in islamischen Ländern sind dies hauptsächlich Berichte über die „Probleme“ der muslimischen Mitbürgerinnen und Mitbürger in unserem Land. Dabei entsteht in der Regel das Bild einer fremden Kultur- und Religionsgemeinschaft, die sich von den hiesigen Gegebenheiten abhebt und Probleme hat, sich zu integrieren. Die Frage ist, wie dieses Bild von den Medien entworfen werden kann. In Medienberichten finden sich generell selten explizite sprachliche Diskriminierungen sozialer Gruppen, da diese sozial unerwünscht und politisch nicht korrekt sind. Diskriminierungen in Medienberichten erfolgen in der Regel subtiler, was ihre Wirkung aber nicht schmälert, sondern noch verstärkt. Berichte mit subtilen Diskriminierungen erscheinen auf den ersten Blick als neutrale Darstellungen und können enthaltene Abwertungen unbemerkt verbreiten. In diesem Beitrag soll untersucht werden, wie in Medientexten implizite Diskriminierungen und Abwertungen sprachlich realisiert werden.
2.
Kategoriale Behandlung
Die Wahrnehmung von Angehörigen anderer ethnischer oder religiöser Gruppen in Medienberichten ist oft problematisch, da diese meist als Mitglieder einer Gruppe wie zum Beispiel ‚Asylbewerber‘ oder ‚Muslime‘ präsentiert und damit aus der eigenen sozialen Gruppe ausgeschlossen werden (Galliker/Huerkamp/ Wagner 1995). Dabei besteht oft auch eine Tendenz zu latenter Abwertung (ebd.) oder zu impliziter Diskriminierung (Wagner/Galliker/Weimer 1997). Zur Zeit der Wende in Deutschland waren davon auch deutschstämmige Aussiedler aus Polen, Rumänien und der damaligen UdSSR und sogar Übersiedler aus der damaligen DDR betroffen (Galliker/Wagner 1995). Die Bezugnahme auf eine Person über eine soziale Gruppe wird als kategoriale Wahrnehmung bezeichnet.
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Mit der kategorialen Wahrnehmung einer Person geht in der Regel eine kategoriale Behandlung einher. Bei der kategorialen Behandlung wird eine Person einer sozialen Kategorie zugeordnet und diese als Angehörige [der] Kategorie behandelt statt als Individuum (Tajfel 1976; 1981). Sprachlich ist eine kategoriale Behandlung an der Bezugnahme auf eine Person mittels einer sozialen Kategorie zu erkennen. Soziale Kategorien umfassen dabei ethnische und religiöse Gruppen wie zum Beispiel ‚Türke‘, ‚Moslem‘, ‚Ossi‘ aber auch andere soziale Gruppen wie etwa ‚Lehrer‘, ,Politiker‘, ‚Leistungsträger‘, ‚Steuerflüchtling‘ oder ‚Hartz-IV-Empfänger‘. Die soziale Kategorie kann wie in den angeführten Beispielen explizit genannt sein oder sie kann implizit realisiert sein wie zum Beispiel in ‚da wo die herkommen‘, oder in ‚bei deren Religion‘. Bei sprachlich impliziter Realisierung muss die angesprochene soziale Kategorie aus dem Kontext erschlossen werden. Die Zuordnung von Individuen zu sozialen Kategorien ist im Alltag nützlich und manchmal unumgänglich. Dabei stellt sich aber die Frage, welcher Kategorie jemand zugeordnet wird. Ob dieselbe Person als ‚Familienvater‘, ‚Asylant‘ oder als ‚Anhänger des Islam‘ bezeichnet wird, hat je nach Kontext äußerst unterschiedliche Konsequenzen für das Bild, das wir uns von dieser Person machen. Wenn wir von dieser Person nichts weiter wissen als ihre Gruppenzugehörigkeit, besteht die Gefahr, dass wir die Person ausschließlich als Angehörige dieser sozialen Kategorie sehen und alle mit dieser Kategorie verbundenen Erfahrungen, Bewertungen und Vorurteile auf sie übertragen. Damit wird dieser Person eine individuelle Behandlung verweigert, die berücksichtigt, dass diese sie eigene Biographie, eigene Vorstellungen und eine eigene Meinung besitzt, um nur einige Individuationsmerkmale zu nennen. Deswegen ist eine systematische kategoriale Behandlung von Individuen, wie sie manche Zeitungen und Zeitschriften betreiben, nicht unproblematisch und kann leicht zu Abwertungen und Diskriminierungen führen.
3.
Sprachliche Diskriminierung
Eine sprachliche Diskriminierung ist eine soziale Diskriminierung, die sprachlich realisiert wird. Eine soziale Diskriminierung besteht aus der kategorialen Behandlung einer Person und einer damit verbundenen Bewertung. Die Bewertung kann sich auf die Person selbst oder auf die angesprochene soziale Kategorie beziehen. Wenn sowohl die soziale Kategorie als auch die Bewertung an der sprachlichen Oberfläche unmittelbar erkannt werden können, handelt es sich um eine explizite sprachliche Diskriminierung, in allen anderen Fällen um eine implizite. Zur Realisierung einer sprachlichen Diskriminierung stehen unterschied-
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liche sprachliche Mittel zur Verfügung (Wagner 2001). Sprachliche Bewertungen in Zusammenhang mit sozialen Kategorien können vermieden werden, indem eine neutrale Umschreibung wie „religionsbedingte Schulprobleme“ verwendet wird.
3.1
Explizite sprachliche Bewertungen
Sprachliche Bewertungen können wie erwähnt explizit oder implizit realisiert werden. Explizite Bewertungen bedienen sich meist des semantischen Mittels der Konnotation. Dabei wird mit der Äußerung eines sprachlichen Ausdrucks zusätzlich zu dessen normaler Bedeutung noch eine Einschätzung verbunden, die typischerweise mit dem geäußerten Ausdruck mitgemeint ist. Diese Konnotation ist in der Regel negativer Natur und ist meist mit der verwendeten Kategorienbezeichnung verbunden wie zum Beispiel in ‚Scheinasylant‘ oder in ‚Wirtschaftsflüchtling‘. Ein solcher Fall lag beispielsweise vor, als Ajman al-Sawahri von Al Kaida den ehemaligen Außenminister Colin Powell und die damals amtierende Außenministerin Condoleezza Rice als „Hausneger“ der USA bezeichnete (AP/News 2008). Es können aber auch negativ konnotierte Personenbeschreibungen (‚die sind unwillig‘) oder Handlungsbeschreibungen (‚die passen sich nicht an‘) verwendet werden. Die soziale Kategorie kann einer negativ konnotierten Kategorie untergeordnet (‚das sind Profiteure‘) oder die soziale Kategorie kann selbst negativ bewertet werden (‚Ausländer sind arbeitsscheu‘). Eine komplexere Form der Bewertung ist der explizite Vergleich der sozialen Kategorie mit einer anderen Kategorie (‚Ausländer arbeiten weniger als Deutsche‘). Ein Vergleich ist allerdings nur dann eine explizite Bewertung, wenn sowohl die beiden sozialen Kategorien als auch das Vergleichskriterium an der Sprachoberfläche erkennbar sind. Ist dies nicht der Fall, das heißt, ist nur eines der drei Bestandteile nicht lexikalisiert, so handelt es sich um einen (teilweise) impliziten Vergleich und somit auch um eine implizite Bewertung.
3.2
Implizite sprachliche Bewertungen
Bewertungen erfolgen in Medien selten sprachlich explizit. Implizit werden soziale Kategorien aber sehr wohl sprachlich differenziert dargestellt und bewertet. Dies konnte schon in den 80er Jahren bei der Repräsentation von Männerund Frauenrollen in Printmedientexten aufgezeigt werden (Kruse/Weimer/Wagner 1988). In Beschreibungen von zwischengeschlechtlichen Interaktionen wurden beispielsweise männliche Protagonisten häufiger über aktive, initiative
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Handlungen und weibliche Protagonisten öfter über passive, reaktive Handlungen dargestellt. Damit wurde zunächst der Eindruck erweckt, Männer seien insgesamt aktiver und initiativer als Frauen, und dadurch dann eine implizite Bewertung der Geschlechterrollen vorgenommen. Die eigentliche Bewertung besteht in der Einstufung eines Bewertungsgegenstands bezüglich eines gewählten Bewertungsmaßstabs (Sandig 1976; 2006). So wird im genannten Beispiel implizit eine Skala mit den Polen ‚aktiv‘ und ‚passiv‘ zugrunde gelegt und die Handlungen der beschriebenen Personen werden bezüglich dieser Skala eingestuft. Diese Skala ist ein Bewertungsmaßstab, denn sie enthält eine Orientierung: Eine Einstufung nahe des Aktiv-Pols wird gemeinhin als ‚positiv‘, eine Einstufung nahe des Passiv-Pols als ‚negativ‘ eingeschätzt.
3.3
Implizite Bewertungen mittels Metaphern
Ein sprachliches Mittel, mit dem in Medientexten oft sprachlich implizite Bewertungen vorgenommen werden, sind Metaphern. Dies lässt sich anhand der von Lakoff/Johnson (1980/2007) begründeten und in Lakoff (1987) sowie in Lakoff/John-son (1999) fortgeführten kognitiven Metapherntheorie erklären. Die kognitive Metapherntheorie geht davon aus, dass, wenn in einem Text mehrere Einzelmetaphern zum selben Thema vorhanden sind, diese gemeinsam ein Metaphernmodell respektive ein Metaphernszenario bilden (Wagner 2003). Ein Metaphernszenario ist ein Handlungsschema, mit dem ein Ereignis repräsentiert werden kann und das spezifische Rollen für die Protagonisten der Handlung eröffnet. Jedes Szenario enthält implizit eine Interpretation der repräsentierten Handlungen und damit einen Bewertungsmaßstab. Die Interpretation der Funktion der einzelnen Rollen innerhalb des Szenarios entspricht einer Einstufung der Rollen bezüglich des Bewertungsmaßstabs. Daraus resultiert eine Bewertung der Protagonisten, die in die einzelnen Rollen eingesetzt werden. Für Medienberichte zur Raubgold- und zur Zwangsarbeitsdebatte konnte an anderer Stelle gezeigt werden, dass zahlreiche implizite Bewertungen durch die Wahl geeigneter Metaphernszenarien sowie durch die Verteilung der Personen auf die darin vorkommenden Rollen realisiert wurden (Wagner 2006).
4.
Beispiele von Medienberichten zum Islam
Abschließend sollen exemplarisch einige Medienberichte zum Thema Islam bezüglich der verwendeten sprachlichen Mittel und der daraus resultierenden Bewertungen kurz analysiert werden.
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Bei der von der Schweizerischen Volkspartei (SVP) initiierten so genannten ‚Minarett-Initiative‘ handelt es sich um ein Thema, das in zahlreichen Medienberichten diskutiert wurde. Ziel der am 8. Juli 2008 eingereichten Volksinitiative ist ein Verbot des Baus von Minaretten mit folgender Begründung: „Der Ausländeranteil in der Schweiz steigt ständig an. Immer mehr fremde Kulturen leben in unserem Land. Dies führt zunehmend zu Schwierigkeiten – vor allem mit Angehörigen des Islam. […] Wir dürfen nicht tolerieren, dass unsere Gesetze unterlaufen werden. […] Wenn wir unsere christlich-abendländische Kultur stärken und den religiösen Frieden sichern wollen, müssen wir die Ausbreitung des Islam bremsen.“ (AP/spj/Blick 2007) Der Text entwirft ein bedrohliches Katastrophenszenario. Zunächst wird die Überfremdung genannt, die „ständig ansteigt“ wie eine drohende Hochwasserkatastrophe. Dann wird erklärt, dass „immer mehr fremde Kulturen“ in der Schweiz leben. Diese werden mit „in unserem Land“ aus der Gruppe der Personen, die rechtmäßig in diesem Land leben, ausgeschlossen und zusätzlich noch als „fremd“ bewertet. Weiter wird der negativ konnotierte Ausdruck „Schwierigkeiten“ genannt und mit der Kategorie „Angehörige des Islam“ in Verbindung gebracht, was einer expliziten Bewertung entspricht. Konkret wird ausgeführt, dass diese „unsere Gesetze unterlaufen“. Wenn wir dieses Bild weiter ausbauen, laufen die Gesetze dadurch Gefahr, ausgehöhlt und zum Einsturz gebracht zu werden. Der Islam wird somit als eine Katastrophe dargestellt, die sich immer weiter „ausbreitet“ und die wir „bremsen“ oder gar stoppen müssen. Die Konsequenzen, falls wir dies unterlassen sollten, werden nicht ausgesprochen, ergeben sich aber aus dem entworfenen Szenario: Die Flut des Islam bricht über uns herein, zerstört unsere Kultur und verursacht einen Religionskrieg (siehe auch den Beitrag von Schneiders in diesem Buch). Beim folgenden Medienbericht über den für die Arabische Halbinsel zuständigen katholischen Bischof Paul Hinder handelt es sich teils um zitierte, teils um indirekt wiedergegebene Äußerungen zum Islam: „Zur wachsenden Präsenz des Islam in Europa äußerte sich Hinder skeptisch. Als Gefahr nannte er die Möglichkeit einer ‚separaten Sonderkultur‘ innerhalb Europas und eine ‚schleichende Aushöhlung‘ der Menschenrechte durch integrationsunwillige Muslime.“ (APA/Standard 2008). Hinder bedient sich desselben Metaphernszenarios wie die SVP, wenn er von der Gefahr einer „schleichenden Aushöhlung“ spricht. Hierbei geht es allerdings nicht um die Schweizer Gesetze, sondern um die Menschenrechte. Als Verursacher der Gefahr werden „integrationsunwillige Muslime“ genannt, was sogar einer expliziten Bewertung entspricht. Die Konsequenzen der beschriebenen Gefahr sieht Hinder im Errichten einer „separaten Sonderkultur“. Dieser Ausdruck hebt das trennende Element der Kultur hervor und weist darauf hin, dass dadurch die bestehende abendländische Kultur der in Europa lebenden Menschen bedroht würde.
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In den Medien finden sich neben Berichten zum Islam und zu dessen Angehörigen auch solche über das Verhältnis, das die europäischen Länder zu ihm einnehmen. Das Verhältnis von Deutschland zum Islam wurde beispielsweise in der Bild-Zeitung wiederholt thematisiert: „Abgedunkelte Turnhallen, verbotene Kunstwerke, Weihnachtsparty abgesagt. So knicken wir schon vor dem Islam ein. Tatsächlich gibt es immer mehr Beispiele dafür, wie wir vor dem Islam kuschen“ (Bild 2006). „Knickt unsere Justiz vor dem Islam ein? Wird unsere Justiz etwa systematisch vom Islam unterwandert?“ (Bild 2007). „Galerie geschlossen! Herr Senator, gehen wir vor dem Islam-Terror in die Knie?“ (Bild 2008). Die drei in großem zeitlichem Abstand erschienenen Berichte entwerfen dasselbe mittelalterliche Kampfszenario, bei dem das Ergebnis der Auseinandersetzung allerdings vorab absehbar ist: Deutschland wird dargestellt als unterlegener Ritter, der vor dem übermächtigen Gegner ‚Islam‘ „einknickt“, „in die Knie geht“, oder gar „kuscht“.
5.
Fazit
Medienberichte enthalten oft Bewertungen und Diskriminierungen, die an der sprachlichen Oberfläche nicht sofort erkennbar sind. Sie können mit den dargestellten sprachlichen Mitteln implizit realisiert werden und sind nicht minder wirksam als explizit realisierte. Für die Analyse impliziter Bewertungen und Diskriminierungen steht mit der Theorie der Metaphernszenarien ein gut geeignetes Instrument zur Verfügung. Dieses konnte hier auf einige ausgewählte Medienberichte angewendet werden und dabei ließ sich exemplarisch aufzeigen, mit welchen Metaphern das Bild des Islam in deutschsprachigen Medientexten entworfen wird.
Literatur AP/spj/Blick (2007): „Calmy-Rey: 'Minarett-Initiative ist gefährlich'“, in: Blick [blick.ch], 23.5.07 AP/News (2008): „Al Kaida beleidigt Obama“, in: News, 10. [news-print.ch], 20.11.08 APA/Standard (2008, 12.12.): „Bischof rät Muslimen, nicht zum Christentum zu konvertieren“, in: Der Standard. [derstandard.at], 12.12.08 Bild (2006.): „So knicken wir schon vor dem Islam ein“, in: Bild-Zeitung. [bild.de], 29.9.06 Bild (2007): „Knickt unsere Justiz vor dem Islam ein?“, in: Bild-Zeitung. [bild.de], 23.3.07 Bild (2008). „Herr Senator, gehen wir vor dem Islam-Terror in die Knie?“, in: BildZeitung [bild.de], 1.3.08
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Islam-bashing für jedermann Onlinekommentare und Leserbriefe als Orte privater Stimmungsmache Markus Gerhold
Spätestens seit dem 11. September 2001 sieht sich die Öffentlichkeit weltweit einer zunehmenden Polarisierung ausgesetzt. Sie betrifft vor allem das Verhältnis des Islam und der Muslime zu anderen Religionen, Weltanschauungen und deren Anhängern. Die Frontenbildung findet auf beiden Seiten statt und wird von Gruppen, Organisationen, Regierungen und Regimes ausgenutzt, um Menschen auf die eine oder andere Seite zu bringen und deren Gefühle und Ängste für theologischen, politischen, gesellschaftlichen, wirtschaftlichen oder militärischen Machtgewinn zu nutzen. Das führt oft dazu, dass eine differenzierte Sichtweise kaum noch möglich ist oder nicht mehr wahrgenommen wird. So gehören mittlerweile Begrifflichkeiten wie „der Islam“, „die Muslime“, „das Christentum“, „die Christen“ oder „der Westen“ zum alltäglichen Sprachgebrauch (siehe hierzu auch den Beitrag von Wagner in diesem Buch). Menschen, die egal auf welcher Seite dazu aufrufen, Nuancen wahrzunehmen, sich vor Verallgemeinerungen zu hüten und jemanden erst einmal als „Mensch“ zu betrachten, statt ihn auf die eine oder andere Religion festzulegen beziehungsweise ihm nicht zuzutrauen, sich von bestimmten Haltungen oder Traditionen seiner „Glaubensbrüder“ distanzieren zu können, werden als „Gutmeiner“, „naive“ Anhänger des MultikultiGedankens oder als unverantwortlich abgetan. Wenn man westliche Medienberichte und sonstige öffentliche Äußerungen der vergangenen Jahre zum Islam, zum Islam in Europa, zu Muslimen in Europa, zu deutschen Konvertiten oder ähnlichen Themen liest, stößt man häufig zuerst auf Verallgemeinerungen, Beschuldigungen, Unterstellungen, Falschinformationen und Abneigungen, um am Ende – quasi im letzten Satz – doch noch zu erfahren, dass die Mehrheit der Muslime friedlich sei und die demokratische Werteordnung prinzipiell akzeptiere. Währenddessen nehmen viele Muslime, ob sie nun in muslimischen Ländern wohnen oder in Europa beheimatet sind, vermittelnde Stimmen auf der anderen Seite oft gar nicht mehr wahr. Europäer oder andere im Westen lebende Menschen gelten ihnen in ihren Medienberichten häufig pauschal als Personen, die Muslimen Böses wollten, die sie zu jener „Sittenlosigkeit“ und „Dekadenz“ verleiten wollten, unter der sie selbst litten, und die nicht erkennen
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könnten, dass etwa die muslimische Familie derart intakt sei, dass sie keine Alkoholiker oder Drogenabhängige hervorbringe, sondern sittsam und gut lebe! Diese Muslime fragen sich erstaunt, wie können Westler „den Muslim“ bloß dafür kritisieren, dass er etwas gegen gemischtgeschlechtlichen Schwimmunterricht hat oder nicht ausreichend am öffentlichen Leben teilnimmt? Viele solcher Einstellungen schlagen sich – im Schutze gewisser Anonymität – in Internetforen oder Leserbriefen nieder. Eine Untersuchung dieser Rubriken in Printmedien beziehungsweise in Onlineauftritten von Zeitungen, Zeitschriften oder sonstigen Medien kann aufschlussreich sein, um gewisse Stimmungen in der Bevölkerung zu eruieren. Im Gegensatz zu Leitartikeln oder zur redaktionellen Berichterstattungen sind aber Onlinekommentare oder Leserbriefe im Wissenschaftsbetrieb bislang kaum beachtet worden. Der folgende Beitrag möchte daher für diesen Bereich der Medienwelt sensibilisieren. Da sich der Text auf wenige Seiten beschränken muss, möchte ich das Thema lediglich schlaglichtartig beleuchten. Im Hinblick auf die Thematik dieses Buches beschränke ich mich auf zwei deutsche Printmedien, die auch im Internet publizieren und dort Kommentarfunktionen zu ihren Artikeln anbieten: Zum einen ist dies die Tageszeitung Die Welt, zum anderen das Nachrichtenmagazin Focus respektive deren Internetpräsenzen welt.de und focus.de. Aus diesen Quellen habe ich einige Leserkommentare ausgewählt, die hier auszugsweise vorgestellt werden sollen. Beginnen möchte ich mit einem welt.de-Artikel zur so genannten GallupStudie ( „Mehrheit der Muslime bewundert westliche Werte“, 9.3.08). Diese wurde vom amerikanischen Islamwissenschaftler John L. Esposito, Professor der Georgetown-Universität in Washington, sowie Dalia Mogahed, Analystin und Direktorin des Gallup Center für Islamstudien, durchgeführt. Das US-amerikanische Meinungsforschungsinstitut Gallup interviewte innerhalb von sechs Jahren circa 50.000 Muslime, die vor allem in islamischen Ländern von Indonesien bis Marokko lebten. Sie wurden zu ihrer Haltung gegenüber dem Westen, westlichen Werten, Demokratie, Menschenrechten, wissenschaftlichen und technologischen Errungenschaften befragt. Die Ergebnisse der Studie waren für manche durchaus verblüffend, da sich die Mehrheit der Befragten dem Westen gegenüber sehr aufgeschlossen zeigte. Die im Sinne eines Dialogs eigentlich hoffnungsvollen Ergebnisse der Studien brachten eine Person, die unter dem Pseudonym „Vive la revulotion“ (10.3.2008, 0:00 Uhr) kommentiert, zu der Erkenntnis, dass die Studie eindeutig den Sieg der Amerikanisierung (hier als etwas durch und durch Positives verstanden) belege. Die amerikanisch-europäischen Muster würden „bereitwilligst“ übernommen und kopiert. „Vive la revulotion“ wertet dies als eine positive Entwicklung für die „arabisch-archaischen Gesellschaften“. Er/Sie geht davon aus, dass die „amerikanisch-europäische Weltrevolution“ siegen
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wird. Dieser Sieg werde alle Gesellschaften befreien und allen Hasspredigern, die sämtlich zum Massenmord aufriefen, den Boden unter den Füßen wegreißen. Fazit dieses Kommentars ist, dass es zur amerikanisch-europäischen Weltrevolution keine Alternative geben könne und dass die Muslime, da ja in „arabischarchaischen Gesellschaften“ lebten, am Ende allesamt dankbar für ihre Befreiung sein würden. Trotz der heutigen Kommunikationsmöglichkeiten und einer Fülle von Medien, aus denen man Informationen ziehen kann, macht dieser Kommentar eine frappierend einseitige Weltsicht deutlich. Obwohl Muslime seit den 1950er Jahren verstärkt in Europa präsent sind, scheint das Wissen des Kommentators über islamische Gesellschaften und deren Vielschichtigkeit sehr gering zu sein. Alle Menschen werden auf einen Nenner gesetzt, kulturelle und historische Unterschiede überhaupt nicht wahrgenommen. Geht „Vive la revulotion“ wirklich davon aus, dass die Bevölkerungsmehrheit in Indonesien, Malaysia, Indien, Pakistan, Iran oder der Türkei arabisch( -archaisch) ist? Kann man Marokko oder Tunesien mit Saudi-Arabien, den Vereinigten Arabischen Emiraten oder Jemen vergleichen? Zwar leben in letzteren Ländern Araber oder zumindest ist Arabisch offizielle Landessprache, doch kulturell und wirtschaftlich weisen sie so vehemente Unterschiede auf, dass beispielsweise Konzerne diese Differenzen genau kennen lernen wollen, um dort erfolgreich Handel treiben zu können. Entsprechend arbeiten inzwischen in vielen großen Unternehmen so genannte Diversity-Manager. Die islamische Welt ist kein monolithischer Block, auch wenn das westliche Strategen oder islamische Fundamentalisten so darstellen. Die westliche Welt ist es ebenso wenig. Nicht jeder Europäer, nicht jede europäische Regierung etwa ist mit dem weltweiten Vorgehen der USA einverstanden (siehe auch den Beitrag von Hippler in diesem Buch). Vor diesem Hintergrund lässt sich also kaum von einer „amerikanisch-europäischen“ Weltrevolution sprechen. Hier noch ein weiterer Kommentar zum Bericht über die Gallup-Studie auf welt.de: „Nicht vergessen, die Muslime leben heute im Jahr 1429! Bis zur Aufklärung dauert es also noch 300 Jahre. Man muss deutlicher zwischen säkularen, und damit integrierbaren Muslimen und zwischen hinterwäldlerischen Extremisten unterscheiden, die sich auch durch starken Geburtenwachstum zu einer echten Gefahr für unsere westliche Gesellschaft entwickeln können. Soziale Diskrepanzen, Terrorismus und wachsende Unzufriedenheit auf beiden Seiten werden die Konflikte noch weiter verschärfen. Die deutsche Politik sollte hier selbstbewußter Auftreten und muss pragmatische Lösungsansätze ausarbeiten. Das dänische Modell mit der Aberkennung der Staatsbürgerschaft kann ein solches Mittel sein. Artikel 4 GG darf nicht zu einer Unterminierung anderer Verfassungsgrundsätze führen. Nur Däumchen drehen und auf den großen Knall warten, ist jedenfalls unverantwortlich. Sowohl gegenüber der deutschen ‚Urbevölkerung‘,
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als auch gegenüber dem Teil der Migranten, der bestens integriert ist.“ („Wahlvieh“; 9.3.2008, 23:48 Uhr) Integration und Assimilation sind für Muslime mit ausländischen Wurzeln eine sensible Thematik. Für manche Angehörige der Mehrheitsbevölkerung scheinen die Begriffe jedoch nach wie vor keine klare Definition zu besitzen. In zwei Leserbriefen der Printausgabe der Welt vom 13. Februar 2008 zum Artikel „Merkel kritisiert Erdogans Äußerungen zur Integration“ anlässlich des Deutschlandbesuchs des türkischen Ministerpräsidenten wird Assimilation als etwas Positives und durchaus Notwendiges dargestellt. Nach Meinung des ersten Leserbriefschreibers ist es unerhört, dass sich Reccep Tayyip Erdoan in Deutschland derart scharf gegen Assimilation gewandt hat: „Es ist schon erstaunlich, mit welcher Überheblichkeit Herr Erdogan zu seinen Landsleuten, die in unserem Rechtsstaat leben, spricht. Das kann eigentlich nur türkischer Wahlkampf auf deutschem Boden sein. Man stelle sich vor, Frau Merkel würde nach Mallorca reisen und zu den dort lebenden Deutschen einen solchen Unsinn reden. Wenn er Assimilation als ‚Verbrechen‘ bezeichnet, hat er offensichtlich keine Ahnung, wovon er spricht, und macht damit die Situation vieler hier lebenden Türken nur noch schwieriger und beeinflusst zugleich die deutsche Integrationspolitik. Denn ohne Assimilation und Integration, und dazu gehört auch die Landessprache, ist ein erfreuliches Leben im fremden Land nahezu unmöglich. Und man wird und bleibt immer ausgegrenzt.“ (siehe auch den Beitrag von Oberndorfer in diesem Buch) Der Autor des zweiten Leserbriefs beklagt ebenfalls: „Wenn der türkische Ministerpräsident von Integration spricht, dann meint er eigentlich eine Erstarkung des türkischen Bewusstseins zwecks Bildung einer Art Kolonie. Wenn er andererseits davon spricht, dass ‚Assimilation ein Verbrechen‘ ist, dann sollen sich seine Leute hier eben nicht integrieren. Sie sollen sich nicht wie alle anderen (nicht islamischen) Zuwanderer einfügen und einfach mitmachen.“ Das friedliche Zusammenleben verschiedener Kulturen ist für den zweiten Leserbriefschreiber „Traumtänzerei“. Was im Allgemeinen häufig zu beobachten ist, trifft auch hier zu: Grundsätzliche Probleme der Integration werden ohne ersichtlichen Anlass dem Islam angelastet: „Die natürliche und wunderbare Auflösung dieses Megaproblems durch eine entschiedene Hinwendung der Gutwilligen zur deutschen Gemeinschaft (die selbst schon eher eine internationale Gemeinschaft ist) wird nun tragischerweise durch die Religion verhindert.“ Im letzten Satz dieses Leserbriefs heißt es: „Der Islam gibt ‚seine‘ Leute nicht frei, genauso wenig wie Erdogan und die türkischen Nationalisten.“ In einem Leserbrief vom 31. Oktober 2007 ebenfalls an die Welt anlässlich der Aussage des Grünen-Politikers Volker Beck, der Kölner Kardinal Meisner sei ein „selbstgerechter Hassprediger“, wird das Frauen- und Familienbild von Muslimen angesprochen und als „wesentlich fundamentalistischer“ als das der katholi-
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schen Kirche dargestellt: „Gerade das Weltbild der Familie und der Frau im Islam ist wesentlich fundamentalistischer als in konservativen katholischen Kreisen, und gerade diese Weltbilder zielen konträr zum Grundsatzprogramm der Grünen, welche vehement eine Gleichstellung homosexueller Beziehungen fordern und den Feminismus weiter forcieren.“ Es sei an dieser Stelle erwähnt, dass Muslime nie ein Problem mit Ehescheidungen hatten. Indessen gibt es mehrere Fälle, in denen Erzieherinnen in einem katholischen Kindergarten ihre Stelle aufgeben mussten, weil sie sich scheiden gelassen hatten. Muslime kennen zudem keine Regelungen, die Geistlichen den Wunsch nach Ehe verweigern, und ohne die vielen Untaten im Namen des Islam rechtfertigen zu wollen, gestanden Muslime ihren Frauen schon vor 1.400 Jahren zu, den Ehepartner frei zu wählen, selbst über ihr Eigentum zu verfügen und einer Arbeit nachzugehen beziehungsweise Geschäfte zu tätigen. Welches Bild hat der Leserbriefschreiber aber vom Islam vor Augen, wenn er über das Weltbild seiner Anhänger derart einseitig urteilt? Leider liegen die Assoziationen auf der Hand. Er ist offenbar der Meinung, dass der Islam von Fundamentalisten, Islamisten und Hasspredigern dominiert werde, so dass jegliche Kritik in diese Richtung eine Gefährdung des eigenen Lebens nach sich ziehe: „Zudem ist ja auch eine Attackierung katholischer Geistlicher eine ungefährliche Sache, was man von islamischen Kreisen nicht behaupten kann. So viel Mut kann man von Claudia Roth und Volker Beck nicht erwarten.“ Die Aussagen und Artikel des Schriftstellers Ralph Giordano zum Islam stießen und stoßen nach wie vor in zahlreichen Leserkommentaren auf breite Zustimmung (zur Person Giordano siehe auch die Beiträge von Bramlik und Schneiders in diesem Buch). Er erntete lobende Worte und Verständnis. Die Stellungnahme Giordanos, in der er die Meinung vertritt, der Koran sei eine „Lektüre des Schreckens“ und das Problem sei nicht ein Moscheebau in Köln, sondern der Islam an sich, nimmt ein Leser auf welt.de zum Anlass, sein eigenes Bild vom Islam zu zeichnen: „Der Islam greift durch seine Vorschriften stark in das Alltagsleben jedes Muslim ein. Allein schon das Pflichtgebet und das Fasten im Monat Ramadan! Kann schwierig werden! Und erst die Rechtsvorschriften der Scharia, des islamischen Strafgesetzes: Dieben wird die Hand abgehackt, Abtrünnige werden mit dem Tod bedroht, Straßenräuber gekreuzigt… Keine andere Religion hat ein eigenes Rechtssystem!“ („Hierbinich“; 23.1.2008, 1:27 Uhr) Hier sehen wir uns starken Verallgemeinerungen und mittlerweile salonfähig gewordenen Klischeevorstellungen gegenüber, die selbst bei einer oberflächlichen Betrachtung der Religion und der islamischen Geschichte nicht haltbar sind. Eine bestimmte Auslegung, die zweifelsohne in radikalen islamischen Kreisen existiert, wird als „der Islam“ verstanden. Das islamische Rechtssystem und die Haltungen der Rechtsschulen werden als Gott gegeben dargestellt, was die Geschichte nicht bestätigt. Islamische Rechtsurteile galten stets als Reaktion
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auf gesellschaftliche Fragen und als Versuch, dafür einen Lösungsvorschlag aus den Quellen Koran und Sunna abzuleiten. Die Verse des Koran besitzen Offenbarungsanlässe, denen Exegeten von jeher nachgespürt haben. Einen Vers aus dem Gesamtkontext zu reißen, ohne Sachverstand und ohne Untersuchung der historischen Zusammenhänge, und diesen als die wahre Haltung des Islam vorzustellen (siehe auch den Beitrag von Kermani in diesem Buch), ist nicht nur unseriös, sondern ruft unter Umständen handfeste Gefahren für das gesellschaftliche Zusammenleben hervor. Zu einem Artikel mit dem Titel „Nur jeder 14. Muslim ist radikal“ aus der Internetpräsenz des Focus vom 29. Februar 2008 schreibt „Siebelt“ (1.3.08, 11:05 Uhr): „Das größte Problem des Islam ist der Mangel an guter Theologie. Weil der Islam niemals eine theologische Grundlage für die Freiheit entwickelte, sehen wir heute die katastrophalen Auswüchse.“ Bei aller islamimmanenten Kritik an den Glaubensüberzeugungen von Juden und Christen sowie bei allen politischen und gesellschaftlichen Auseinandersetzungen können Muslime niemals behaupten, sie hätten die einzige göttliche Offenbarung erhalten. Auf der Basis des Koran gehört es zu den sechs Glaubensgrundsätzen des Islam, an alle früheren Propheten und die ihnen offenbarten Bücher zu glauben. Muhammad ist nicht der einzige Prophet, sondern der letzte in einer Reihe von vielen. Auch aus diesem Grund wurden vor allem Christen und Juden in der Geschichte des Islam nicht primär als Ungläubige, sondern als Schriftbesitzer bezeichnet, die einen rechtlichen Sonderstatus genossen. Dieser Sonderstatus ist natürlich nach heutigen Vorstellungen nicht zufrieden stellend. Er kann lediglich als Schritt in die richtige Richtung betrachtet werden. Bei einer chronologischen Analyse der koranischen Verse fällt zudem auf, dass die Darstellung der Schriftbesitzer am Ende der sukzessiven Offenbarungen viel positiver ausfällt, als in ihrer Mitte, einer Zeit also, als die Muslime Medinas zahlreiche Auseinandersetzungen mit eben diesen Schriftbesitzern hatten. Es geht an diesen Stellen im Koran daher nicht um das Judentum oder Christentum an sich, sondern um konkrete Streitsituationen. Trotzdem fragt ein anderer Kommentator dieses Focus-Artikels: „Warum soll man einer Religion trauen und damit den Menschen, die ‚Gläubige dieser Religion‘ sind, die andere Menschen als Ungläubige bezeichnet und auf jede kleinste Kritik mit Gewalt reagiert. Wo soll denn da das Vertrauen herkommen?“ („mannstuttgart“; 1.3.08, 10:37 Uhr) Ungeachtet aller Fehler und Verbrechen, die wie in der Geschichte jeder Religion auch im Namen des Islam geschehen sind, versuchten Muslime immer eine theologische, rechtliche und praktische Basis zu finden, um mit Andersgläubigen zusammenleben zu können. Dies gilt im Hinblick auf Christen und Juden genauso wie im Hinblick auf Buddhisten und Hindus (die nicht zu den Schriftbesitzern zählen) unter den Mogul-Kaisern auf dem indischen Subkontinent, in Indonesien oder Malaysia. Diskussionen des Ur-Urenkels des Propheten
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Muhammad und des sechsten schiitischen Imams Jafar as-Sadiq mit den Atheisten ihrer Zeit, den so genannten Zanadiqa oder Dahriyun – und das sogar bei der Kaaba in der Heiligen Moschee von Mekka – wären ohne eine Theologie der Glaubensfreiheit im Islam kaum möglich gewesen. Gleiches gilt für die Schriften eines Maimonides zur Widerlegung des Koran und dem Vorrang der mosaischen Offenbarung zu einem viel späteren Zeitpunkt. Die Berichterstattung über den vom niederländischen Parlamentsabgeordneten, Geert Wilders, im Internet veröffentlichten antiislamischen Film Fitna, der mittlerweile schon wieder entfernt wurde, motivierte die Leserinnen und Leser zu zahlreichen Meinungsäußerungen. Eine davon geht auf eine kritische Stellungnahme der EU zu diesem Werk ein, die für einen Angriff von Muslimen auf die Meinungsfreiheit: „Wieso maßt sich die EU an, die Motive von Wilders zu kennen? Das ist doch nur ein Ablenkungsmanöver! Es wäre besser, wenn die EU endlich die dreisten moslemischen Angriffe auf die Meinungsfreiheit verurteilen würde.“ („Blitzlicht“; 29.3.08, 10:16 Uhr) Angesichts solcher Äußerungen stellt sich die Frage: Warum wird die Kritik über eine niveaulose Verunglimpfung einer Religion als Angriff auf die Meinungsfreiheit angesehen? Aber auch: Warum werden Muslime, die Nachbarn, Arbeitskollegen, Mitschüler, Studienkollegen und Freunde sind, pauschal als Gefahr dargestellt, die man verunglimpft, um seiner Angst Herr zu werden? Gewiss sind die revolutionsähnlichen Szenen aus muslimischen Ländern, bei denen fanatisierte Menschenmassen gezeigt werden, die Fahnen und Puppen verbrennen und den Islam durch Schreiereien verteidigen wollen, erschreckend. Aber sie werden von so genannten Gelehrten und von politischen Machthabern initiiert, die ihren Absolutheitsanspruch bei der Meinungsbildung in der islamischen Welt nicht aufgeben wollen (siehe die Diskussion um den Reformtheologen Nasr Hamid Abu Zayd). Solche Szenen sind nicht repräsentativ für Muslime. In einem Kommentar von „Plegatanus“ heißt es (29.3.08, 09:39 Uhr): „Die religiösen Führer des Islam sehen sich in der jetzigen Zeit einer neuen Herausforderung gegenüber: Das Wissen der Menschen und auch Kontakte mit Andersdenkenden nehmen zu. Da wird es immer schwerer, glaubhaft zu vermitteln, dass ein Schöpfer im Himmel aufpasst, dass man 5 [Mal] am Tag auf dem Teppich kniet, dass er mit 99 Namen angesprochen werden will, dass die Frauen ein Kopftuch tragen müssen oder sogar eine Burka (die krank macht) usw. Und dass es ihm nicht gelang, so etwas Wichtiges der Mehrheit der Menschen zu vermitteln. Sehr viele Menschen in den islamischen Ländern leben von der Religion und halten durch sie ihre Machtstellung. Das gibt man nicht einfach auf. Doch diese Art von Verfall kann nur durch Unterdrückung anderer Meinungen gestoppt werden. So kommt es zu so etwas“. „Plegatanus“ wird, wenn er über Muslime spricht, anscheinend von dem Bild eines Wilden beherrscht, der ohne jede Kultur und Zivili-
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Markus Gerhold
sation in seinen abergläubischen Vorstellungen verhaftet lebt, und diesen Vorstellungen sklavisch anhängt, ohne etwas verändern zu können oder zu wollen. Auch wenn Muslime sich nicht hinter einer „glorreichen“ Vergangenheit verstecken sollten, was sie allzu gern tun, muss noch einmal betont werden, dass sie in den ersten Jahrhunderten nach der Entstehung des Islam tatsächlich einen kulturellen und wissenschaftlichen Pluralismus hervorgebracht haben, der so noch nie da gewesen war. Es wurden wissenschaftliche und philosophische Texte aus den antiken Hochkulturen ins Arabische übersetzt, um das Wissen der alten Völker Muslimen zugänglich zu machen, ohne dabei zu zensieren. Die Basis für viele der islamfeindlichen Tiraden in Leserbriefen und Online-Kommentaren dürfte die verbreitete Unwissenheit über die Grundlagen des Islam sein. Hinweis darauf gibt jedenfalls eine Artikelreihe auf focus.de, im Rahmen derer auch der Titel „Allgemeinwissen Religion: Wie gut kennen Sie den Islam“? am 17. Februar 2005 erschienen ist. Das interaktive Angebot stieß bei den Usern auf große Resonanz und die Kommentare selbst lassen erahnen, wie viel Wissensvermittlung über den Islam und die Muslime offenbar noch erforderlich ist: „Ein guter Test. Ich muss zugeben, dass mich dieser Test dazu gebracht hat mehr über den ‚wahren‘ Islam oder wie man es auch nennen mag, kennen lernen möchte.“ („Sofi“; 19.9.07, 12:55 Uhr)
Kapitel III: Institutionalisierte Islamfeindlichkeit
Grenzenloser Hass im Internet Wie „islamkritische“ Aktivisten in Weblogs argumentieren Sabine Schiffer
Die Liste der deutschsprachigen antiislamischen Websites ist lang. Sie umfasst in etwa folgende Links: http://achgut.com/dadgdx/ Achse des Guten (Broder) http://acht-der-schwerter.freehostia.com/ (Anm. kein Impressum) http://www.akte-islam.de http://antiislamisten.blogspot.com/ Great Comments (Anm. kein Impressum) http://antiislamisten.de/ Die Antiislamisten – Antiislamistische Vereinigung in Europa AVE http://aufgewacht.wordpress.com/ (Anm. kein Impressum) http://blog.bierhalunken.de/ (Anm. kein Impressum) http://www.buergerbewegungen.de/ http://www.buerger-fuer-muenchen.de/fa5403d4-6468-43f6-983bd858c5bd6e2a.html?t=1183315320696 (u. viele ähnliche) http://christenverfolgung.blogspot.com/ (Anm. kein Impressum) http://www.citiesagainstislamisation.com/De/1 (belg. Hauptseite der Antimoscheebaubewegungen) http://www.christliche-mitte.de/ http://conservativehome.blogspot.com/ (Anm. kein Impressum) http://de.danielpipes.org/ Daniel Pipes (dtsch.) (Anm. kein Impressum) http://debatte.welt.de/weblogs/148/apocalypso http://der-fuchsbau.blogspot.com/ (Anm. kein Impressum) http://www.deusvult.info/ (Anm. kein Impressum) http://www.dialoginternational.com/dialog_international/2007/07/islamofascistna.html (Anm. kein Impressum) http://dhimmideutsch.blogspot.com/ (Anm. kein Impressum) http://dierealitaet.blogspot.com/ http://differenz.blogg.de/ Alexander und der Gordische Knoten http://doppelpass.blogg.de/index.php?cat=Zwischen+zwei+Welten+-+wer+ich+bin http://einsamerwaechter.blogspot.com/ Deathwatch http://eussner.net/ Gudrun Eussner (Anm. kein Impressum) http://fredalanmedforth.blogspot.com/ (Djihad Watch Deutschland) (Anm. kein Impressum) http://franklinrosenfeld.blogspot.com/ Si vis Pacem (Anm. kein Impressum) http://www.gegen-islamisierung.info/ (Anm. kein Impressum)
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Sabine Schiffer
http://www.gegenstimme.net/ http://geisteswelt.blogsome.com/ GeistesWelt (Anm. kein Impressum) http://www.gkpn.de/ (Sonderheft 13 Aufklärung und Kritik: Islamismus/ Broder und andere) http://www.gruene-pest.de (http://www.gruene-pest.de/index.php) (Anm. kein Impressum) http://henryk-broder.de/startseite/startseite.html http://www.honestlyconcerned.de/ http://www.ideaagentur.de/ (Evangelikale) http://isismond.a12a.de/cgi-bin/hpm_homepage.cgi?skip=38183974|||isismond Die Sichel (Anm. kein Impressum) http://www.islamforum.aks-pages.de/ http://islam-deutschland.info (http://islam-deutschland.info/forum/) http://islaminfo4u.blogspot.com/ (Anm. kein Impressum) http://www.islaminstitut.de/ (Institut für Islamfragen der Evangelischen Allianz/; sic!) www.islamisierung.info (Anm. kein Impressum und keine Quellenangabe) http:/www.islamismus.net http://kameltreiber.blogspot.com/ Eindrücke aus Arabien (Anm. kein Impressum) http://kewil.myblog.de/kewil/cat/1210569/0/Islam Fakten & Fiktionen (http://factfiction.net/) (Anm. kein Impressum) http://www.koran.terror.ms/ – statische Seite: Koranzitate (Anm. kein Impressum: – bei Rückmeldung-Anklicken: eMail-Adresse von Andreas Widmann) zit. wird: Helmut Müller, „Aktion gegen Religiöse Gewalt“, Postfach 372, 30003 Hannover http://www.kybeline.com/ (Anm. kein zulässiges Impressum) http://lizaswelt.blogspot.com/ (Anm. kein Impressum) http://minaretta.twoday.net/ Auf Tuchfühlung (Anm. kein Impressum) http://www.moschee-schluechtern.de/ (Anm. kein Impressum) http://www.moschee-wertheim.de/ http://myblog.de/derwille (Anm. kein Impressum) http://myblog.de/eurabia – mit Westergaard Bombenkopf (Anm. kein Impressum) http://heplev.myblog.de/ – 2007 (Anm. kein Impressum) (http://hrbs.myblog.de/) http://hepop.myblog.de/ Das politisch inkorrekte Wörterbuch (Anm. kein Impressum) http://backsp.wordpress.com/ Honestreporting Backspin (Anm. kein Impressum) http://myblog.de/martell (Anm. kein Impressum) http://napauleon.typepad.com/nobloodforsauerkraut/ No Blood for Sauerkraut (Anm. kein Impressum) http://nebeldeutsch.blogspot.com (Anm. kein Impressum) http://outcut.tv/ (Anm. kein Impressum) http://parteigruendung.myblog.de/ (Anm. kein Impressum) http://www.politicallyincorrect.de/ jetzt: www.pi-news.net (Anm. kein Impressum; Stefan Herre als Verantwortlicher sichtbar) http://www.politikstube.de/ Theologieforum http://www.pro-koeln-online.de/index.html http://www.pro-medienmagazin.de/ http://senordaffy.de/fdog/blog/index.php/2026/#comments FdoG Freunde der offenen Gesellschaft (Anm. kein Impressum)
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http://www.sicherheit-heute.de/ http://spiritofentebbe.blogspot.com/ (Anm. kein Impressum) http://telegehirn.wordpress.com/ (eMailadresse statt Impressum) http://terrorismus.blog.de/ (Anm. kein Impressum) http://www.thereligionofpeace.com/ http://tw24.info/ (Anm. kein Impressum) http://wadinet.de/blog/ Wadiblog (Anm. kein Impressum) http://weaponsofmoderndemocracy.blogspot.com/ WMD (Anm. kein Impressum) http://westwatch.twoday.net/ – 2007 (Anm. kein Impressum) http://wsnk.blogg.de/ Wir sind nicht korrekt (Anm. kein Impressum) http://www.zukunft-europa.info/1 (Anm. kein Impressum) [letzter Aufruf, wenn nichts anderes angegeben: 15. März 2008]
Besonders schillernd aus diesem Sammelsurium an Webpräsenzen treten Seiten wie Politically Incorrect (pi-news.net, PI) und Akte-Islam (akte-islam.de, AI) heraus, die auf Grund ihrer Besucherzahl, aber auch auf Grund der Übernahme ihrer Beiträge auf andere Seiten und eine engmaschige gegenseitige Verquickung ein gewisses Zentrum der Szene darstellen. PI ging im November 2004 nach eigenen Angaben als Antwort auf Anti-Bush-Polemiken online und will dezidiert gegen politische Korrektheit protestieren, die besonders in einer angeblichen Schonung von Muslimen vor Gericht und in den Medien zum Ausdruck komme. Der erste Eintrag auf der „Informationsseite“ AI ist auf den Dezember 2006 datiert. Besonders engagiert war auf PI und zum Beispiel dem Blog „Parteigründung“ für AI Werbung gemacht worden, was dem Blog von Anfang an hohe Besucherzahlen bescherte.2 Während PI an beiden Rändern sichtbar auf verwandte Projekte verweist, sticht AI aus der „islamkritischen“ Bloggerszene dadurch heraus, dass sie nicht die sonst üblichen Symbole und Werbebanner aufweist – was die Frage nach der Finanzierung dringender stellt als im ersten Fall. Allerdings ist auch dieser nicht uninteressant. Stefan Herre dazu: „Er sei nur der Gründer, im rechtlichen Sinne aber nicht der Betreiber von PI. Dessen Namen könne er – leider – auch nicht nennen. Und die Inhalte stünden zudem auch nicht auf einem deutschen Server.“ (Spiegel online, 30.5.08). Damit entzieht man sich eines möglichen juristischen Zugriffs aus Deutschland.
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Diese Liste wurde für einen Projektantrag beim Bundesinnenministerium zusammengestellt. http://kewil.myblog.de/kewil/art/223053392 (letzter Aufruf: 20.3.08)
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Anmerkungen zur Methodik In diesem Beitrag werden die Ergebnisse diskurstheoretischer Analysen (Nomination, Metapher, Ironie) der Argumentationsweise der genannten Seiten vorgestellt. Angesichts der Menge der täglich neu geposteten Beiträge ist dies nur an ausgewählten, möglichst prototypischen Beispielen möglich. Ziel ist es, die Qualität aufzuzeigen, die diese Art von Konstrukt hat. Auf Grund unserer Voruntersuchungen sowie einiger kritischer Publikationen zu den so genannten islamkritischen Blogs liegt der Verdacht nahe, dass der Content vor allem durch Islam und Muslime diffamierende Beiträge bestimmt wird und hochgradig diskriminierend ist. Durch Vergleiche mit dem am besten erforschten diskriminierenden Diskurs, dem antisemitischen Diskurs, soll es möglich werden, das Potenzial der expliziten Botschaften sowie der implizit vorhandenen Aufforderungen abzuschätzen (Schiffer 2005).
Allgemeines PI und AI beschäftigen sich ausschließlich mit allem, was sie dem Thema Islam im weitesten Sinne zuordnen. Während AI keine Kommentare zulässt, wird auf PI heftig – sowohl in Zahl als auch Zuspitzung – kommentiert. Ähnlich thematisch dicht – sprich: monothematisch – wie PI und AI ist die Seite des Bundesverbandes der Bürgerbewegungen (BDB), die wir in die engere Betrachtung mit einbeziehen. Ausgeschlossen ist auch nicht, dass wir dem ein oder anderen Link von einer dieser drei Seiten weg folgen – wie auch ausnahmsweise auf eine englischsprachige Seite, thereligionofpeace.com, die etwa den „Dschihad-Zähler“ zum Download anbietet, ein Tool, das die Zahl der angeblich tödlichen Angriffe islamischer Terroristen seit dem 11. Septemberg 2001 angibt. Dieser Download ist fast zum Markenzeichen für die Szene geworden. Nach welchen Kriterien er allerdings zentral von dort aus aktualisiert wird, bleibt das Geheimnis der Betreiber. Obwohl die Verbindungen in den englischsprachigen Webraum wichtig wären, können wir diesen im Rahmen dieser Arbeit nicht nachgehen. Vor allem aber sei auf die Diskurselemente verwiesen, die von Daniel Pipes, der inzwischen auch über eine deutschsprachige Webpräsenz verfügt, stammen. Als Direktor des Think Tanks „Middle East Forum“ vertritt er die Konzepte „Schmarotzertum“ (die wachsende Bevölkerungsgruppe der Muslime belaste die Sozialkassen), „Pazifismus als Schwäche des Westens“ oder „Selbsthass“ als Entwertung eines Kritikers aus den Reihen derer, die angeblich beschützt werden sollen.
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Die „Köpfe“ der untersuchten Seiten (Stefan Herre, Initiator von PI, Udo Ulfkotte, Gründer des gemeinnützigen Vereins Pax Europa, dessen Website AI ist, Willi Schwend, Vorstandsvorsitzender des BDB – wobei die letzten beiden inzwischen fusioniert sind, laut BDB)3 sind inzwischen weitgehend bekannt und werden im Folgenden keine wesentliche Rolle spielen. Sie sind, trotz ihrer inzwischen erreichten Prominenz, austauschbar, weil die von ihnen vorgebrachten Argumentationen denen der rechten über die evangelikale Szene hinweg bis hinein in Politik und Medien immer mehr ähneln (Mende 2007; Schiffer 2007: 54f). Insofern kann man dieser Form von Lobbyarbeit Erfolge bescheinigen. Womit wir bereits beim auffälligsten Punkt der Betrachtung angelangt sind – das (abweichende) Selbstbild.
Verkehrte Welt Die diskursive Vorgehensweise weist sowohl geniale wie banale bis lächerliche Züge auf. Man behauptet einfach das Gegenteil von dem, was ist, um daraus Schlussfolgerungen und eventuelle Forderungen abzuleiten, die in ihrer einfachen Logik bestechen – weil man damit die implizierte Prämisse kaum noch angreifen kann (Stichwort: linguistische Präsupposition). So wird behauptet, man sei gegen den Mainstream und dieser sei islamophil und unterwürfig. Das widerspräche natürlich unseren freiheitlichen Idealen und das wiederum könne manch einen empfänglich machen für die alarmistische Botschaft: Gegen diese „Lust am Einknicken“ müsse man etwas tun. Henryk M. Broder hat mit seinem von der Bundeszentrale für politische Bildung geadelten Buchtitel „Hurra, wir kapitulieren!“ diese Sicht der Dinge festgeschrieben und so wälzt man sich – gerne auch unter Rekurs auf ihn und seine Schriften – in dem Gefühl, im Gegensatz zu den ständig bevorzugten Muslimen benachteiligt zu werden.4 Interessant ist an dieser Stelle, dass die vorliegenden empirischen Untersuchungen etwa zur Mediendarstellung von Muslimen oder dem politischen Umgang mit dieser Minderheit sowie die Ansichten der Mehrheitsbevölkerung in Bezug auf Islam und Muslime genau das Gegenteil des Behaupteten belegen: Es
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buergerbewegung-pax-europa.de/; Udo Ulfkotte wird viel Aufmerksamkeit etwa hier gewidmet: huibslog.huibs.net/journal/2007/12/26/neu-ulfkotte-hetz-ticker-2612-de.html. Vgl. dazu zum Beispiel die Verlinkung auf Stefan Herres persönliche Homepage von der ARD-Seite aus (Monitor 24.2.05), seine zahlreichen gedruckten Leserbriefe oder das Forum, das TV-Sender dem „Terrorexperten“ Dr. Udo Ulfkotte einräumen.
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herrscht eine vor allem negative bis ablehnende Sicht auf den Islam5 – ganz so wie in den besagten Blogs. Der Verdacht liegt also nahe, dass die festgestellte selektive negative Sicht auf Islam und Muslime – gepaart mit der ebenso selektiven positiven Sicht auf sich selbst – hier lediglich eine diskursive Verstärkung erhält, aber bei weitem kein singuläres Merkmal dieser Blogs ist. Wie zugespitzt und auf Biegen und Brechen das Gegenteil von dem, was ist, beschworen wird, kann man an der Definition des Begriffs „Islamophobie“ auf der AI-Website sehen. Dort wird behauptet, dass Islamophobie eine an Wahn grenzende Angst vor dem Islam sei, die aber heute vor allem unter Muslimen verbreitet sei. Die beigefügten Bilder könnten dies bestätigen: In der Tat sind die meisten Opfer des so genannten Islamistischen Terrors Muslime und unter Auslassung des situativen Kontextes sowie unter Anwendung der Regel, dass gegen alle Muslime spricht, was einzelne tun, lässt sich diese Interpretation konstruieren. Der Definition wird eine eigene Unterseite gewidmet und bereits auf dieser wird der ironische Unterton, der die gesamte Website durchzieht, deutlich. Entsprechend logisch schießt sich ein „ironischer Selbsttest“ auf Islamophobie am Ende der Unterseite an. Der Begriff „Islamophobie“ ist tatsächlich kritikwürdig, weil er sprachlich an Xenophobie anknüpft und eine Art Ersatzbegriff für den nicht möglichen „Antiislamismus“ ist. Letzterer würde den Sachverhalt nicht treffen, weil ja nicht die Kritik am Islamismus problematisch ist, sondern eine kollektive Kritik an allen Muslimen. Knut Mellenthin schlägt darum den Begriff „Antimoslemismus“ vor (Junge Welt, 13.5.08). Auch „Islamfeindlichkeit“ soll deutlich machen, dass es sich um eine Ideologie mit historischen Wurzeln ähnlich dem Antisemitismus handelt. Und obwohl Juden und Muslime doch gänzlich unterschiedliche Minderheiten darstell(t)en, lassen sich im Diskurs durchaus vergleichbare Argumentationen finden.
Kleines Glossar antiislamischer Sprachregelung Im Vergleich zur PI-Website dominiert auf der zunächst sachlicher erscheinenden „Fallsammlung“ „muslimischer Verfehlungen“ auf AI die ironisierende Verwendung etwa von Nominationen wie „unsere Mitbürger“ oder „junge Mitbürger aus dem islamischen Kulturkreis“, womit Untaten speziell von Muslimen herausgehoben und markiert werden (siehe unten). Dazu dienen auch die Komposita „Moslem-Unruhen“, „Moslem-Schule“, „Moslem-Bande“, „Mekka5
Jäger/Halm (2007); Brettfeld/Wetzel (2007); Hafez/Richter (2007); EUMC-Bericht (2006); Institut für Demoskopie Allensbach in: FAZ, 17.5.06; Heitmeyer: „Feindselige Normalität.“ In: Die Zeit, 11.12.03; Klemm/Hörner (1993) und viele mehr.
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Betrüger“ und „Moslem-Gewalt“. So wird etwa im Fall von Vergewaltigungen eine besondere Neigung dazu bei Muslimen behauptet. Besonders empathische Begriffskombinationen wie „Terror-Scheich“ oder „Pumpgun-Moslem“ erinnern an Wortschöpfungen aus dem Nationalsozialismus wie „Bühnen-Diktator“ für Regisseur Max Reinhard oder „Relativitäts-Jude“ für Albert Einstein. Auf PI gibt es weitere neue Wortschöpfungen wie „Musel“, „Dialüg“, „Kulturbereicherer“ oder noch abschätziger „Passdeutsche“ „Friedensreligion“, „Multikultiland“ und „Migrantengewalt“ – vor allem „Bereicherer“ und ironisch „Religion des Friedens“ hat Karriere gemacht.6 Man gibt sich gebildet, indem man den arabischen Begriff „Dhimmi“ übernimmt, der eine unter muslimischer Herrschaft lebende Minderheit bezeichnet, was hier die Konnotationen von „freiwilliger Unterwerfung unter muslimische Kontrolle“ evozieren soll und wieder an das verkehrte Weltbild vom dominierenden Muslim anknüpft. Hierzu passen dann auch die Begriffe „Islam-Versteher“ oder „Appeaser“, womit wir bei den impliziten wie expliziten Nazi-Vergleichen angelangt wären, die auf der Seite sehr beliebt sind und die weiter unten ausführlicher behandelt werden. Durch Sachkenntnis besticht keine der untersuchten Seiten: so heißt es etwa auf AI Mitte April 2008 in einer Bildunterschrift zur Frage der Inhaltsstoffe einer Fertigsoße unter dem Titel „Zoff um Salatsoße“: „Für Asiaten kein Problem – aber dürfen Moslems sie nun essen oder nicht?“; die Mehrheit der Muslime sind jedoch Asiaten.
Dachorganisation der Anti-Moscheebaubewegung Im Vergleich zu den beiden genannten Seiten fällt die der BDB sowohl in Gestaltungsfragen als auch sprachlich weit ab. Sie rekurriert vor allem auf Vorformuliertes von anderen und fügt dem allenfalls von Götz Wiedenroth angefertigte Karikaturen bei, die völlig überladen eine behauptete Islamisierung mitsamt dem behaupteten Einknicken verbildlichen. In der Logik verbleibend ist das Motto der Gruppierung: „Der BDB ist ein Zusammenschluss von Bürgerbewegungen, die sich für die Bewahrung freiheitlich-demokratischer Prinzipien und gegen die Bildung einer fundamental-islamischen Parallelgesellschaft in Deutschland engagieren.“ Und: „Seit 26.04.2003 steht der BDB für den organisierten Widerstand gegen die Islamisierung.“ „Die Islamisierung“ gibt es also, wird hier so 6
Dies schlägt sich auch in dem gleichnamigen englischsprachigen Blog thereligionofpeace.com nieder, den wir darum erwähnen, weil sich hier die Bilddatei für den Terror-Counter befindet, den sowohl PI als auch einige andere antiislamischen Webseiten zeigen. Ohne die Zahl überprüfen zu können, ohne eine Erklärung darüber zu erhalten, wird von den Betreibern der englischen Seite alle paar Tage die Zahl „aktualisiert“ und automatisch auf den verlinkten Seiten sichtbar.
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ganz nebenbei mit faktizierendem Definitpartikel unterstellt. Dass der Begriff der „Bewegung“ historisch vorbelastet ist, mag man eher dem Zufall als etwa einem Bewusstsein oder gar einem möglichen Kalkül der Betreiber zurechnen, denn die explizite Anknüpfung an die antisemitische „Bewegung“ zum Ende des 19. Jahrhunderts wäre vermutlich das Aus für diesen Zusammenschluss. Der BDB gibt sich gezielt unpolemisch, wiederholt lediglich die einmal gefassten Stereotype so oft, bis sie – zumindest den Mitgliedern – plausibel erscheinen. Durch die unprätentiöse Art und zur Schau gestellte Nüchternheit ist es vielleicht nicht durchsichtig, wie er die eigenen Prinzipien verrät – die freiheitlich-demokratischen Prinzipien sollen nämlich nicht mehr für alle Menschen gleich gelten. Bei der Sammlung an Äußerungen zum Thema wird jedoch auf der Startseite bereits deutlich, dass es einen breiten Konsens einiger Politiker, Medien sowie antiislamischer Aktivisten in der Ablehnung des Islams insgesamt gibt; auch hier wiederum ein Hinweis auf den Mainstream bei gleichzeitiger Beibehaltung der Unterwerfungsbehauptung (siehe auch den offenen Brief an Innenminister Schäuble vom 26.5.2008 sowie die genannten WiederothKarikaturen). Die dezidierte Gegenposition etwa von Politikerseite finden wir heute fast ausschließlich bei Jürgen Todenhöfer, der tunlichst auf der BDB-Seite ignoriert wird – im Gegensatz zu PI, wo man sich mittels Verweis auf die Polemiken eines Henryk Broder von Todenhöfers Analyse distanziert (31.3.08). Übrigens vieles, was auf diesen Seiten steht, ist inhaltlich nicht falsch und entspricht durchaus auch innerislamischen Diskussionen. Der Islam wird jedoch statisch gedeutet, was aus der betrachtenden Außenperspektive heraus zwar verständlich, aber im Sinne einer Auseinandersetzung kontraproduktiv ist und nur zu Verallgemeinerungen und zur Verhärtung der Fronten führen kann.
Markierungen Angesichts des 2008 aufgedeckten Inzestfalles im niederösterreichischen Amstetten mutet es komisch an, dass auf PI und AI von „islamischem Inzest“ die Rede ist oder von „islamischer Vergewaltigung“, von „Migrantengewalt“7 und ähnlichen Zuweisungen. Dieses sind nur wenige der Themen, die die Autoren gerne im öffentlichen Diskurs noch mehr religiös markiert sähen, weil sie die Information der Religionszugehörigkeit für relevant halten. Übernimmt man den Vorschlag dieser Blogger – sowie einiger Journalisten –, die Markierung von 7
Die Diskussionen der letzten Zeit über „ausländische jugendliche Gewalttäter“ sind laut PI schöngefärbt und unterschlagen angeblich die Herkunft der Täter systematisch. Letzteres stimmt sogar teilweise, denn es klang nur vereinzelt an, dass etwa die Schläger in der Münchner U-Bahn in München aufgewachsen sind.
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Nationalität oder Religion zu legitimieren, entstünde tatsächlich der Eindruck einer Relevanz der Gruppenzugehörigkeit in den genannten Kontexten. Denn alles, das zusammen präsentiert wird, wird auch füreinander relevant gehalten – verstärkt durch Wiederholung. Unter Ausschöpfung dieses universellen Prinzips menschlicher Wahrnehmung würde also ein „Islamproblem“ ähnlich dem vermeintlichen „Judenproblem“ im 19. Jahrhundert geschaffen. Denn die Markierungspraxis erinnert an vergleichbare Darstellungen zu Hochzeiten des intellektuellen Antisemitismus. Als man etwa dem Berliner Journalisten Otto Glagau 1874 vorwarf, er hätte in der Gartenlaube die Juden diffamiert, konnte er darauf verweisen, dass er alle Börsenschwindler in seinen Berichten kritisiert hatte. Bei den jüdischen Beteiligten hatte er diese Gruppenzugehörigkeit lediglich zusätzlich erwähnt, indem er Hinweise einstreute wie, dass der Beschuldigte „jüdisch“ oder „mosaischen Glaubens“ sei und „wie so viele seiner Glaubensgenossen“ hier „bei uns“ sein Glück machte. Derlei Markierungen unterließ er bei den christlichen Verbrechern und so entstand der Eindruck, dass der Wirtschaftsskandal 1873 vor allem eine „jüdische“ Machenschaft gewesen sei. Die Forderung der Blogger nach weniger Political Correctness, also dass Medien sich fürderhin nicht mehr an die Presseratsrichtlinienergänzung 12.1 halten (was sowieso nicht der Fall ist) und stattdessen, Nationalität beziehungsweise Migrationshintergrund und Religionszugehörigkeit fleißig markieren sollen, verbietet sich eigentlich aus historischer Einsicht. Im Gegenteil, man müsste diese gar noch um eine Richtlinie 12.2 zur Bildverwendung abhängig vom Kontext ergänzen. Denn es hat sich an der Sprache vorbei eine Praxis eingeschlichen, alle möglichen Themen mit bildlichen Symbolen zu markieren, die eine ganze Gruppe vertreten – etwa wenn ein Terroranschlag mit Moschee- oder Gebetsbildern „geschmückt“ wird. Gerade diese Praxis hat zu einem gewissen Teil die einseitige Sicht von außen auf „den Islam“ gespeist. Diese Darstellungspraxis kommt einem Verweis gleich, der Zusammenhänge und Verantwortlichkeiten verschleiert – etwa die unserer Beteiligung am Krieg und der Unterstützung von Diktaturen. Dennoch wird sogar auch in den allgemeinen Medien und im Presserat erörtert, ob man die besagte Richtlinie nicht modifizieren solle, weil man selbst empfinde, dass man hier wichtige Informationen verschweige. Dies ist darum umso erstaunlicher, weil ja die meisten Merkmale eines Menschen unerwähnt bleiben und somit verschwiegen werden, sich dabei aber kein Unterlassungsempfinden einstellt. Nicht nur die Bestücker der besagten Websites sind also in einem Medienbereich sowieso heute gefährdet in die gleiche Markierungsfalle zu tappen, wie Ludwig Börne sie bereits vor Jahrhunderten beschrieb (zit. n. Hortzitz 1988): „Die Einen werfen mir vor, daß ich ein Jude sey, die Anderen verzeihen mir es; der Dritte lobt mich gar dafür; aber Alle denken daran. Sie sind wie gebannt in diesem magischen Judenkreise, es kann keiner hinaus.“ Statt die eigenen stereotypen
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Wahrnehmungsmuster zu reflektieren, sucht man lieber nach den Verfehlungen des Anderen – und die lassen sich freilich finden angesichts der Fülle der Auswahlmöglichkeit unter 1,2 Milliarden Muslimen. Dann ist es nur noch ein kleiner Schritt, die Verfehlung jedes Einzelnen pars pro toto als Beweis in Bezug auf die ganze Gruppe zu werten. So bestätigt man sich seine Erwartungen und wählt weiter entsprechend stereotype Beispiele aus. Bei der Lektüre der zusammengestellten Fallsammlungen auf den entsprechenden Seiten kann sich das Gefühl einer „islamischen Gefahr“ schnell einstellen, denn es werden ausschließlich Taten aufgenommen, die negativ sind und von Muslimen begangen wurden und die als exemplarisch für die gesamte „Welt des Islam“ dargestellt werden. Auswahl und Aufbereitung ermöglichen es, die Schwächen „des Anderen“ zu betonen und sich selber zu idealisieren, indem man vergleichbare Ereignisse in der eigenen Community ausblendet. Die Zielrichtung von AI verrät sich geradezu dadurch, dass es lange eine Rubrik „Fälle melden!“ gab. Welche „Fälle“? Welchen Fahndungsauftrag hat AI? Auf PI erfüllt die beigemessene Kategorie „Spürnase“ zumindest tendenziell den gleichen Zweck. Näher ist der quasi-offizielle Anstrich der AI-Fallsammlung dem der belgischen Partei Vlaams Belang. Der ehemalige Antwerpener Polizist Bart Debie, der inzwischen unter anderem wegen Rassismus rechtskräftig verurteilt wurde (nieuwsblad.be) hat als „Sicherheitsberater“ des Vlaams Belang für Bürger eine Seite errichtet, auf der sie das melden können, was sie der Polizei nicht mehr melden. Neben der Implikation „Unsere Städte sind nicht mehr sicher!“ wird gleichzeitig die Fähigkeit der Staatsmacht in Frage gestellt, seine Bürger zur schützen (criminaliteit.org.huibslog.huibs.net 1.9.08; siehe auch Neue Rheinische Zeitung 18.4.07). Auch hier übernimmt man „großzügig“ öffentliche Aufgaben. Erinnerung an alte antisemitische Mythen Nicht nur Schädlingsmetaphern, die mit Begriffen wie „Parasit“, „Schädling“ (siehe auch gruene-pest.de; eine Seite, die sich gleichzeitig auch gegen die Grünen richtet), den Verweis auf „Bakterien“ oder „Viren“, die uns „als Wirt nutzen“ und durch Komposita wie „Heuschreckenreligion“ aktualisiert werden, tauchen in diesen Teilen des antiislamischen Diskurses wieder auf. Derlei Metaphorik hat zunächst dehumanisierenden Charakter, der das Gegenüber auf eine niedrigere Stufe stellt. Diese Entwertung von Menschen stellt klassischerweise den Beginn eines faschistischen Menschenbildes dar, das Menschen in mehr oder weniger berechtigt auf Leben, Recht und Ansehen einteilt. Diese Metaphorik hat aber noch eine andere Qualität. Sie fordert uns implizit zu Folgehandlungen auf. Wenn jemand als „gefährlicher Parasit“ ausgemacht wird, der mich in meiner „Existenz bedroht“, dann kann ich mich als „angegriffen“ betrachten und es wäre
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geradezu unlogisch beziehungsweise fahrlässig, wenn ich mich „gegen diese Bedrohung“ nicht „wehren“ würde. Jedwede Maßnahme gegen die so Bezeichneten mutiert damit von einem Auswuchs rassistischer Einstellungen hin zu einem plausiblen „Schutzverhalten“, welches durchaus einmal unterhalb der rechtsstaatlichen Maßstäbe liegen kann (Lakoff/Johnson 1980). Mit der Implikatur dieses Selbstverteidigungsmythos via entsprechender dämonisierender Darstellung wird also nicht explizit, aber indirekt aufgefordert, gegen den so Bezeichneten „etwas zu unternehmen“ (andere wie das Aktionsforum gegen Islamisierung [gegen-islamisierung.info] werden da expliziter). Auch die Verurteilung des Islams als „kriminell“, „pathologisch“ oder gar „sexuell abtrünnig“ sprich: „unsittlich“ erinnert an alte antisemtische Topoi – sowie an die Vorbereiter-Kette des Clash of Civilizations von Bernard Lewis über Samuel Huntington bis Daniel Pipes. Der Katalog antiislamischer Agitation reicht demnach konsequent bis hin zur Forderung, „keine Geschäfte mit Muslimen“ zu tätigen. Der Rekurs auf alte antisemitische Mythen verblüfft darum, weil man sich dezidiert pro-israelisch und anti-antisemitisch gibt. Vor allem PI ist es gelungen, sich durch den positiven Bezug zu Judentum und USA eine Art Freifahrtschein für Beleidigungen gegenüber Muslimen erkauft zu haben (Sokolowsky 2008: 43). Dies ist jedoch keine Spezifik dieses Blogs, sondern trifft relativ weit verbreitet in der antiislamischen Bloggerszene zu. Einen idealisierenden Bezug zu Israel haben Blogs wie zum Beispiel Lizas Welt, Heplev oder auch Der Wille, der dies zugleich in einer dezidierten Grafik kundtut:
(http://www.flickr.com/photos/derwille/3289535305/)
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Kurios mutet ein neuer Webauftritt unter dem Label „Nationalsozialisten für Israel“ nur solange an, wie man diese Zusammenhänge um den Erwerb des besagten Freifahrtscheins nicht kennt (Ha’aretz, 4.6.08; heise.de, 3.6.08). Der Rekurs auf das Honest-Reporting-Projekt von Wayne Kopping weist in die gleiche Richtung, ebenso wie die Verlinkung auf Koppings Film Obsession (etwa auf der BDB-Seite), der eine wichtige Vorlage für Geert Wilders’ Film Fitna darstellt. Dies alles dürfte so manchem Muslim seine Verschwörungstheorie in Bezug auf Israel und die Juden bestätigen – in ebenso falscher Verallgemeinerung. Entsprechend zahm fallen die Verlautbarungen zum Film Fitna auf den genannten Seiten aus (siehe unten), ebenso wie auf die so genannten Muhammad-Karikaturen (siehe auch den Beitrag von Jäger in diesem Buch), welche erst den Ausschlag für den Erfolg für PI gaben. Gegenblogs wie Politisch korrekt (politischkorrekt.info) und Politically impotent (politicallyimpotent.narod.ru/) kommen dem täglichen Aufgebot von gesammelten „Fällen“ kaum bei. Politisch korrekt stellt fest: „Die PIdiotische Fangemeinde ist im Kommentarbereich der Hetzseite kaum den Beschränkungen unterworfen, die in jedem seriösen Blog von elementarer Bedeutung sind.“8 Nachdem durch Klagen von Ulfkotte gegen die Seite Watchblog Islamophobie der Druck in der Szene so erhöht wurde, dass die Betreiberin aufgab, scheint sich erneut auch im Netz Widerstand gegen AI zu formieren.9 Kürzlich tauchte auf einem Blog in Belgien unter Rekurs auf den deutschen Blog Citronengras, der sich wieder auf PI bezog, eine Gegenüberstellung von AI- und PI-Auszügen mit Textpassagen aus dem Stürmer auf. Es werden starke diskursive Parallelen in Bezug auf die Argumentationen gegen den Moschee- beziehungsweise Synagogenbau sowie in Bezug auf die behaupteten Unterwerfungsgesten ausgemacht (huibslog.huibs.net, 26.5.08; citronengras.de, 26.5.2008).
8 9
Startseite; letzter Aufruf: 28.05.08; vgl. dazu Isa Schmiedgen (2008): „Sind Blogs gefährlich?“ in: bewerberblog.de und dazu den Kommentar von DonAlphonso 7.3.8; Lüders (2007). Gegen die beklagte damalige Betreiberin findet sich immer noch der Aufruf eines nach eigener Aussage stolzen Pax Europa-Mitglieds im Netz, ihr „beruhigendes“ Schweinefleisch zu schicken: Wilhelm Entenmann/Website (13.10.07 18:34) „Schickt n'en Fresskorb nach Sonthofen, packt 'ne Schweinhaxe hinzu, tut auch Methylphenidat kaufen, dann ist vielleicht bald Ruh'.“ kewil.myblog.de, abg. am 30.5.08)
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(Der Stürmer 19/1942: 2; citronengras.de, 26.5.08)
Manche „Fälle“ auf AI erinnern ebenfalls an alte antisemitische Mythen, etwa wenn davon die Rede ist, dass ein Muslim dazu aufgerufen habe „das Blut der Ungläubigen zu trinken“ könnte der historisch Kundige an alte Ritualmordvorwürfe erinnert werden, oder wenn das (muslimische) Schächten verpönt wird.10 Auch wird der Religion unterstellt, dass ihr die Fähigkeit zur Korrektur von Entgleisungen fehle, wie Wolfgang Benz ebenfalls als Merkmal des (auch durchaus wohlmeinenden) Antisemitismus ermittelt (Benz 2001). An dieser Stelle drängt sich auch ein Vergleich so manchen Falles, der auf PI und AI vorgestellt wird, mit der Sammlung von Fällen für die Ausstellung Der ewige Jude auf, die Hans Diebow 1938 in Buchform herausgegeben hat und die die Grundlage für die antisemitische Wanderausstellung gleichen Namens bildete. Etwa auf Seite 7 werden unter der Überschrift „Die Betrüger aus dem Osten“ verschiedene „Hebräer“ vorgeführt, die entweder ein Verbrechen began10
Shai Lavi: In der Diskussion seines Vortrags über den Umgang mit dem Schächten in Deutschland beim Symposium „Juden und Muslime in Deutschland“ an der Universität Tel Aviv im April 2008 verwies der Jurist und Leiter des Taubenschlag-Instituts auf die Praxis von akteislam.de, jüdisches Schächten für legitim, muslimisches Schächten für illegitim zu erklären – was so aus juristischer Sicht nicht haltbar sei. Lavis Beitrag wird im Jahrbuch des MinervaInstituts erscheinen.
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gen hatten oder einfach nur aufgelistet wurden. In gleicher Manier verfährt Diebow auf über hundert Seiten und „belegt“ anhand der ausgewählten Beispiele, dass eine phänotypische Andersartigkeit und verwerflich völkisch-religiöse Zugehörigkeit der Juden deren Weltverschwörungsabsichten beweise.11 Ähnlich wie auf den genannten Blogs (so wie in Talk-Shows auch) mit Koranzitaten verfahren wird (siehe auch den Beitrag von Kermani in diesem Buch), ergeht es hier Zitaten aus der Torah (Noack 2001). Zwar ist diese Sammlung Diebows auf Grund des unterschiedlichen historischen Kontextes nicht vergleichbar mit den antiislamischen Blogs der Neuzeit, aber einige diskursive Parallelen lassen sich dennoch nicht leugnen: Lächerlich machende Nominationen werden verwendet wie etwa die Bezeichnung „Wollschädel“. Es wird entkontextualisiert argumentiert – nicht nur zeitlich, sondern auch räumlich alles gesammelt, was Juden diffamiert und so eine direkte Linie zwischen Beobachtungen aus dem Ghetto im Osten, jüdischen Viehhändlern in Deutschland bis hin zu Geschäftsleuten in den USA gezogen. Nur in der Zusammenschau suggerieren die geschilderten Einzelfälle (über die Jahre hinweg) eine Dichte, die die Behauptung von Weltmacht und Unterwanderungsbestrebung demonstrieren soll. Und als immerwährender Topos wird ironisierend das koschere Schächten als das „richtige“ Schlachten bezeichnet. Nicht zuletzt wird pseudo-wissenschaftlich der jüdische Glaube verunglimpft (Diebow 1938: 26): „Dr. Delitsch hat mit seinem bekannten Buche „Die große Täuschung“ die Kenntnis des alttestamentlichen Gott=Jahwe-Begriffes vertiefen helfen. Der Gott Jehowa (= Jahwe) hat mit der deutschen Religionsauffassung auch nicht das mindeste zu tun. Jahwe ist der Stammesgott der Juden und sonst nichts. Alle anderen Völker will er ausrotten oder wenigstens schädigen.“ Die anschließenden teils falsch übersetzten Talmudzitate erinnern an ähnliche Zitationen aus islamischen Quellen auf vielen Islamhasserseiten, wie auch in gängigen Medien, die sich auf „Experten“ wie zum Beispiel Hans-Peter Raddatz (siehe auch den Beitrag von Rüxinger in diesem Buch) und Matthias Küntzel verlassen. Auf AI taucht noch ein anderes historisches Motiv auf: das der Fleischbesudelung. Dieses wird in Form von „Bespuckung“ der Glasvitrinen in Metzgereien, die Schweinefleisch verkaufen, von Blog zu Blog gereicht. Der wesentliche Unterschied zum verhandelten Fall vor dem Würzburger Schöffengericht am 23. März 1901 besteht darin, dass damals behauptet wurde, Schweinefleisch sei auf Grund einer religiösen Vorschrift von Juden mit Urin beschmutzt worden.12 Die Bespuckung erweist sich bei genauerer Betrachtung ebenso als Mythos wie viele andere, 11 12
http://www.od43.com/Der_Ewige_Jude.html (letzter Aufruf: 15.03.2008) Broschüre Jüdische Schweinereien, Memminger Verlagsanstalt (Blogbelege: http://www.pinews.net/2007/02/junge-moslems-bespucken-schweinefleisch-in-metzgereien/; http://www.akteislam.de/17.html)
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die inzwischen aufgedeckt wurden, etwa in einem taz-Bericht vom 17.7.07: Sowohl die Behauptung, Banken würden aus „Rücksicht“ auf Muslime keine Sparschweine mehr ausgeben, wie auch, dass British Airways im neuen Logo das christliche Kreuz unterdrücke, haben sich als Fake erwiesen. Dass die Behauptung, Muslime würden in Österreich Gipfelhalbmonde fordern, gar ein lancierter Fake war, um die antiislamische Gutgläubigkeit rechtspopulistischer Kreise zu enttarnen, hat sich bisher noch nicht überall in den Blogs herum gesprochen. Ein erstes Fazit Insgesamt ist die Überschau über die Artikel der genannten Internetseiten ein anschaulicher Beleg für zwei Dinge: 1.
2.
Alle aufgeführten Nachrichten rekurrieren auf Berichte aus anderen Medien, sehr häufig auf Lokalberichterstattung und/oder Boulevard. Sie stellen – außer in ihrer interpretativen Zuspitzung – also keine „verschwiegenen“ Neuigkeiten dar. Sie verdichten lediglich Einzelfälle. Außerdem wird Zeugnis abgelegt, wie durch eine bestimmte selektive Vorgehensweise bei der Übernahme der gemeldeten Fakten, kombiniert mit dem Stilmittel der Übertreibung und der Ironie – wozu auch die Wiederholung von Stehsätzen wie „die friedliche Religion“ und ähnliches zählt – eine Realitätsvorstellung konstruiert wird, die nur noch wenig mit den realen Fakten zu tun hat; geschweige denn auch nur bereit wäre, plausible Begründungen aus dem situativen Kontext abzuleiten. Stattdessen wird reduktionistisch immer und ausschließlich auf das Faktum verwiesen, dass es sich beim Täter um einen Muslim („Musel“) handelte oder um die besagten Unterwerfungsgesten von Nichtmuslimen.
In dieser Logik verbleibend werden Muslime, die sich kritisch zum Islam äußern, nicht als Beleg für Pluralität, sondern als Beweis für die Verwerflichkeit der Religion eingesetzt. Die Distanzierungen von derlei rechtspopulistischen Positionen durch Arzu Toker vom Zentralrat der Ex-Muslime sowie durch Islamkritiker wie Michael Schmidt-Salomon sind in diesem Kontext wichtig (hpd.de, 10.4.07) – Schmidt-Salomon: „Rechtsausleger wie Udo Ulfkotte versuchen nun vermehrt, über eine populistisch ausgerichtete Islamkritik christlich-konservative Werte zu festigen.“ Toker: „Das entspricht aber ganz gewiss nicht unserer Zielrichtung und davon grenzen wir uns auch sehr deutlich ab! Den Islam zu kritisieren, nur um auf diese Weise fundamentalistische Varianten des Christentums zu stärken, heißt doch, die Pest gegen die Cholera eintauschen zu wollen! Da machen wir definitiv nicht mit! Wir stehen entschieden für die säkularen Werte von
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Humanismus und Aufklärung ein.“ An dieser Stelle sei vermerkt, dass das Impressum von AI als Sitz Wetzlar ausgibt – auch wenn neuerdings noch eine weitere Adresse mit aufgeführt ist. Wetzlar ist gleichzeitig der Sitz des evangelikalen Christlichen Medienverbundes KEP e.V.
Nazi-Vergleiche Auch dem Mainstream entsprechend ist ein Usus, der sich nicht nur auf den untersuchten Internetseiten zeigt: Man verwendet Nazi-Vergleiche. Und diese gehören offensichtlich zu den „legitimen“ Mitteln, wie sie sich etwa in dem Begriff „Islamo-Faschismus“ äußern. Hingegen wird nicht reflektiert, dass bereits die empfundene Legitimität eines solchen Vergleichs etwas über allgemeine Tendenzen zur Wertung innerhalb eines Kollektivs aussagt. Denn wie würden im Vergleich zum genannten Kompositum folgende Behauptungen klingen: „Diese Websites betreiben nationalsozialistische Propaganda“ oder „Guantanamo erinnert an Konzentrationslager“? Vermutlich würden diese Vergleiche nicht einmal als mögliche Diskussionsgrundlage akzeptiert. Vielleicht wären einem sogar Verunglimpfung als Geschichtsrelativierer oder gar eine Unterlassungsklage gewiss. Den iranischen Präsidenten Mahmud Ahmadinedschad mit Hitler zu vergleichen, oder gar von einem möglichen „atomaren Holocaust“ seitens seines Landes zu sprechen – vermutlich ein Spin aus dem Hause der PR-Agentur Ruder Finn (Becker/Beham 2006) –, ist hingegen allgemein akzeptiert und überhaupt nicht „politisch inkorrekt“. Der auf PI hochgelobte Wilders-Film Fitna wurde erst kürzlich von einem niederländischen Gericht vom Verdacht der Volksverhetzung frei gesprochen. Damit wurde für legitim erklärt, dass er den Islam als „faschistisch“ darstellt und Vergleiche zu Hitlers „Mein Kampf“ zieht. Sowohl das Gericht als auch etliche Interviewpartner deutscher und niederländischer Medien bescheinigten Wilders, dass er nicht zur Gewalt aufrufe und auch keinen Hass gegen den Islam schüre, dass derlei „Islamkritik“ gar ein legitimer Ausdruck freier Meinungsäußerung sei. In der gleichen Logik verbleibt AI, wo es zu dem Filmlink heißt: „Es gibt in dem Film Fitna – wenn man von einer motivisch genutzten dänischen Karikatur („Turbanbombe“) einmal absieht – keine Verächtlichmachung Mohammeds, des Korans oder der gläubigen Menschen. Der von Geert Wilders produzierte Film ist nur eine Collage des Hasses von Moslems gegen den Rest der Menschheit. Wilders hat aus Archiven und öffentlich zugänglichen Quellen Dokumente und Zitate des Hasses zusammen getragen.“13 Hier erweist es sich fast als Prob13
Die genauen Quellen und deren Bewertung lässt AI unerwähnt: die Begriffe „Archive“ und „öffentlich zugängliche Quellen“ erreichen hier den Rang von Euphemismen.
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lem, dass ein Nazi-Propaganda-Film wie Der ewige Jude für die Öffentlichkeit unter Verschluss liegt und kaum jemand die Parallelen erkennen kann, die hier deutlich zu Tage treten.14 Mit ebenso authentischem und dekontextualisiertem Filmmaterial wie bei Wilders, arbeitete auch Fritz Hippler, als er „die Juden“ „religiös“ verächtlich und staatlich „zersetzend“ darstellen sollte – freilich auf einer völlig anderen Ebene in Bezug auf ein unterstelltes Bedrohungspotenzial, aber in Bezug auf eine unterstellte kollektive Macht sowie auf eine „den gesunden Volkskörper bedrohende“ moralische Verwerflichkeit ebenso verallgemeinernd und sinn-induktiv in der Montage. Ähnlich suggestiv wie Fitna ist ein kleines Werbebanner, das mindestens bis zum 29. Mai 2008 auf PI zu sehen war. Am linken oberen Rand der Startseite erschien eine kleine Animation mit folgenden Bild- und Textbotschaften: Der Mufti von Jerusalem habe mit Hitler während des Holocaust paktiert, sowohl Ahmadinedschad als auch Mahmud Abbas seien Holocaust-Leugner, die uns einen neuen Holocaust versprechen – „G-tt bewahre!“. Das Banner appelliert: „Wach auf! Es gibt nur eine Lösung! – Click here for details.“ Und dann startet ein Film. Dieses kleine Element ist, obwohl eine Anzeige der „Jewish Task Force“, symptomatisch für die Islamhasserszene. Als der Zeit-Redakteur Jörg Lau auf Grund der Bemüllung seines Blogs mit antiislamischen Statements die Frage nach den Vorschlägen zur Behebung all der Missstände stellte,15 erhielt er als Antwort etwa von Andreas Widmann, in Vertretung des BDB, eine Auflistung von „Fakten“, warum der Islam verwerflich und die Muslime in ihrer Gänze gefährlich seien. Was aber soll die neuerliche „Aufklärung“ erreichen? Eine Antwort blieb er schuldig. Es wird bewusst vermieden, explizite Aufforderungen auszusprechen – ganz so wie dies auch der Wilders-Film nicht benötigt. Die suggerierte Aussage ist klar: Wer das alles hinnimmt, ist dumm und sollte sich lieber etwas Schlaueres überlegen! Übrigens ziert der ‚Bombenkopf‘ von Kurt Westergaard die eMail-Signatur Widmanns. Wie explizit muss also Aufstachelung zum Hass sein, damit er geahndet wird? Hinter der PI-Seite hatte sich eine US-amerikanische Seite mit dem Titel „Jews against Obama“ geöffnet. Soll das die versprochene „Lösung“ sein? Die Anzeige ist inzwischen nicht mehr sichtbar – einige Screenshots können auf Spiegel-online eingehen werden (30.5.08). 14
15
„This is perhaps my main argument for a more active use of the film „Der ewige Jude“ which gives us an X-ray of the legitimation of the Holocaust and challenges us individually with the uncomforting moral question: What would you have done? How do you react to attrocities today, which you can follow almost live on television?“ (aus: Stig Hornshoj-Moller, Copenhagen, Denmark; Beitrag für das Imperial War Museum, London, November 1997, h-net.org, abg. Am 6.5.08) Sie war hart formuliert und kann hier nur sinngemäß wiedergegeben werden. „Was sollen wir nun tun? Was schlagen Sie vor? Ausweisung, Zwangssterilisation…“
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Tendenziöse Filmkritik Interessanter als der Umgang mit Fitna sind bei PI die Äußerungen zu einem saudischen Gegenfilm Schism, der das Christentum verunglimpft. Unter dem Titel Christenhass politisch korrekt ist etwa folgende Passage zu finden: Die Welt, bezeichnet das antijüdische und antichristliche Hassvideo von Raid alSaed (33) als „einen ironischen Kurzfilm“ gegen das Christentum, der den „Stil des Anti-Islam-Filmes „Fitna“ des Niederländers Geert Wilders“ imitiere. Eine Untertreibung sondergleichen. Denn während in Fitna tatsächliche Verbrechen angekreidet werden, welche die Welt nicht sehen will, werden aus der Bibel aus dem narrativen Kontext (etwas, das der Koran gar nicht hat) gezogene Einzelpassagen herausgerissen, die beweisen sollen, wie brutal die Bibel sei. […] Der Hassfilm des saudischen Bloggers ist mehr als Ironie. Er täuscht und verdreht – er richtet sich gegen Juden genauso wie gegen Christen. Man will den Fanatismus des Christentums anhand einiger fundamentalistischer Einzelpersonen zeigen und mit zweifelhaften Aufnahmen von Soldaten die Bösartigkeit Amerikas beweisen (obwohl auf dem Video Briten in Basra 2004 zu sehen sind), nur um vom eigenen tatsächlichen Fanatismus und der wirklichen Bösartigkeit abzulenken. [Hervorhebungen von mir]
Die hervorgehobenen Teile der Analyse sind bestechend korrekt – wenn man sie in gleicher Weise auch auf Fitna beziehen würde. Selbstverteidigungsmythos, Opferkult und Verschwörungstheorien Die unflätigsten Äußerungen über Muslime, die man vor allem in den Kommentaren auf PI finden kann, ersparen wir uns hier. Einige wurden bereits in Aufsätzen von Stefan Niggemeier oder Knut Mellenthin festgehalten (FAZ, 25.10.07; Sozialistische Zeitung, 2/2007; wdr.de, 17.12.07; siehe auch den Beitrag von Schneiders in diesem Buch). Die aggressive Einteilung der Welt in „Wir = die Guten“ und „Ihr = die Bösen“ passt eigentlich nicht zum weinerlichen bis feindseligen Unterton der Onlinepranger. Von vergleichsweise harmlosen Aufforderungen, diesem oder jenem missliebigen Zeitgenossen seine Meinung zu schreiben – mitsamt der Veröffentlichung der dazugehörigen E-Mail-Adresse – reicht das Spektrum der Forderungen bis hin zu Ausrufen wie „Kanacke raus!“ oder „Rassenkrieg“. Der Ausländer, der einst Italiener war, dann Türke wurde, ist inzwischen zum Muslim mutiert, wobei sich letztere Ablehnung mit einer politischen Weltanschauung verbindet – tatsächlich wie beim Antisemitismus. Auch auf eine lange Tradition des Muslimhasses kann zurückgegriffen werden. Eine vermeintliche Kohärenz profitiert von der Ahistorizität in der Darstellung der ausgewählten Elemente und macht darum derlei Verschwörungstheorien plausibel.
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Sogar von „Ausweisung“ und „Deportation“ war bereits die Rede und es wird in entsprechenden Kreisen diskutiert, ob man nicht die Einwanderung von Muslimen gezielt beschränken, ja beenden könne. Die Politik hat das schon teilweise umgesetzt mit dem so genannten Zuwanderungsgesetz, das es Einwanderern aus der Türkei um ein Vielfaches schwieriger macht, nach Deutschland zu immigrieren, als etwa nicht deutschsprechenden US-Amerikanern, die auch nicht zur EU gehören (siehe den Beitrag von Oberndörfer in diesem Buch). Statt diese „Erfolge“ zu würdigen – es lässt sich freilich nicht mehr genau nachvollziehen, ob Mainstream-Äußerungen in die Blogs einsinken oder umgekehrt –, wälzt man sich weiter im Unterlegenheitswahn und beschwört eben mittels der dämonisierenden Metaphern und der lupenartigen Vergrößerung auch marginaler Ereignisse, wie es unsere Medien auch vermögen (van Rossum 2007), eine Verteidigungsnotwendigkeit herauf. Man schreibt sich förmlich in die Vorstellung einer permanenten Bedrohung hinein, die einem dann wahrscheinlich schon in Form einer Döner-Bude begegnet – sozusagen auf Schritt und Tritt. Dies kaschiert die Hetze, die meist implizit mitschwingt, aber auch immer wieder einmal explizit durchbricht. Niggemeier dazu: „Dieser Hass, der sich als Kampf gegen den Hass tarnt, die praktisch gelebte Intoleranz zur Verteidigung der Toleranz, scheint eine große Anziehungskraft zu haben.“ (FAS, 21.10.07). Distanzierungsformeln Natürlich gibt es auch Kritik und, um einer juristischen Belangbarkeit zu entgehen, ist es angesichts der teilweise unflätigen Kommentare auf PI durchaus sinnvoll, dass sich der Verantwortliche der Website gleich vorab von den Inhalten der Kommentare distanziert – mit dem Hinweis darauf, dass die so stark frequentiert sei und man nicht alles überblicken könne. Darum erstaunt umso mehr, dass jeglicher PI-kritische Kommentar verschwindet. Bei AI ist – wie deren gesamte antiislamische Strategie – auch die Distanzierung subtiler – aber effektiv. Man weist auf die Möglichkeit von Übersetzungsfehlern hin, weil man oft auf Lokalmeldungen aus dem Ausland rekurriere, und bittet zum einen um Verständnis und zum anderen um die Mithilfe der Besucher, Fehler zu korrigieren. Damit entzieht man sich möglicher juristischer Anfechtbarkeit – freilich nur, wenn man historische wie aktuelle Vergleiche meidet: etwa die Verurteilung von Horst Mahler für seine „volksverhetzenden Äußerungen“ Michel Friedman gegenüber (Vanity Fair, 1.11.07). An dieser Stelle distanzieren wir uns sicherheitshalber von einer möglichen eigenen Schlussfolgerung – aus den bereits genannten Gründen – und überlassen das Schlusswort den Kommentatoren eines Artikels auf haGalil online (6.7.07) zum Thema und schließen weiter unten noch eine abschließende Frage an:
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Wrote: Danke für diesen Beitrag über politicallyincorrect.de. Ich bin schon längst der Meinung, daß diese Seite Volksverhetzung betreibt. Gebetsmühlenartig wird darüber geredet, daß Deutschland aus der Vergangenheit gelernt hätte und für die Zukunft vorbereitet wäre. Wie steht es nun um die Toleranz gegenüber anderen Religionen? Gab es damals im 19. Jahrhundert nicht diese Diskussion über eine Überfremdung der Gesellschaft durch den Synagogenbau? Die deutschen Juden wollten nicht länger in den Hinterhöfen ihre Religion leben. Und Heute? Gab es damals nicht diese Diskussion über koschere Nahrung bzw Schlachtung? Gab es damals nicht diesen rationalistischen Ansatz des Antisemitismus. Der rationalistische Antisemitismus deutscher Philosophen und bibelkritischer Theologen wie Fichte, Herder, Schleichermacher und Harnack trug wesentlich zu modernen Formen des Antisemitismus in Deutschland und anderswo bei. Und Heute? Zitate aus dem Koran werden wie früher, Zitate aus der Thora und dem Tanach, verfälscht dargestellt, um den Unwert der Religion zu betonen. Die Exegese spielt keine Rolle. Mich beängstigen solche Websites. Die Methode der Ausgrenzung ist geblieben. Entstellung der heiligen Bücher, hetze gegen religöse Nahrungsvorschriften und Begriffsbesetzungen. Die Einwanderer werden als Kulturbereicherer bezeichnet. Hier müssen Muslime und Juden zusammenarbeiten. Es gilt junge Muslime aufzuklären. Die Tradition zu bewahren und gegen eine Entwurzelungen anzukämpfen ist für alle Einwanderer immer wichtig gewesen. Diese Seiten führen aber zur Ausgrenzung. 15/07/07 13:49:41 Antwort darauf: am 16/07/07 Wrote: Entschuldigung mal! Alles in PI ist nun auch nicht Müll. Es werden auch viele Nachrichten eins zu eins übernommen. Ausserdem sind viele Islamisten selbst Schuld an dieser Situation. Mit Ihrem Verhalten haben Sie sich ihr eigenes Grab geschäffelt. Und ja ich bin klarer Islam-Kritiker, wenn nicht sogar Hasser. Ich habe zwei liebe Menschen am 11.09. verlohren und für mich ist diese ganze Kultur/Religion gestorben. […] Wrote: Sehr guter Artikel. Ich nehme mir mal die Freiheit auf einen Artikel meines Blogs hinzuweisen, der dieses Thema ebenfalls aufgreift: Das Assassinentum von Politically Incorrect. Siehe auch Homepage. Grundsätzlich sehe ich Ähnlichkeiten bei der Meinungsmache von Politically Incorrect und islamistischen Webseiten. Dies betrifft die undifferenzierte und verallgemeinernde Darstellung, die Konstruktion von Feindbildern, die vollkommene Unfähigkeit zur Selbstkritik, die Angstparanoia, die produziert wird, den absolute Wahrheitsanspruch, die Selbstüberhöhung und die obsessive Opferrolle. 20/07/07 15:12:19
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Kann es sein, dass im 21. Jahrhundert noch immer das Potenzial von verletzenden und hetzerischen Worten unterschätzt wird?
Volksverhetzungsparagraph (StGB §130) (1)
Wer in einer Weise, die geeignet ist, den öffentlichen Frieden zu stören, 1. 2.
(2)
zum Hass gegen Teile der Bevölkerung aufstachelt oder zu Gewalt- und Willkürmaßnahmen gegen sie auffordert oder die Menschenwürde anderer dadurch angreift, daß er Teile der Bevölkerung beschimpft, böswillig verächtlich macht oder verleumdet, wird mit Freiheitsstrafe von drei Monaten bis zu fünf Jahren bestraft.
Mit Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren oder mit Geldstrafe wird bestraft, wer 1.
Schriften (§ 11 Abs. 3), die zum Haß gegen Teile der Bevölkerung oder gegen eine nationale, rassische, religiöse oder durch ihr Volkstum bestimmte Gruppe aufstacheln, zu Gewalt- oder Willkürmaßnahmen gegen sie auffordern oder die Menschenwürde anderer dadurch angreifen, daß Teile der Bevölkerung oder eine vorbezeichnete Gruppe beschimpft, böswillig verächtlich gemacht oder verleumdet werden, a) b) c) d)
2.
(3)
[…]
verbreitet, öffentlich ausstellt, anschlägt, vorführt oder sonst zugänglich macht, einer Person unter achtzehn Jahren anbietet, überläßt oder zugänglich macht oder herstellt, bezieht, liefert, vorrätig hält, anbietet, ankündigt, anpreist, einzuführen oder auszuführen unternimmt, um sie oder aus ihnen gewonnene Stücke im Sinne der Buchstaben a bis c zu verwenden oder einem anderen eine solche Verwendung zu ermöglichen, oder
eine Darbietung des in Nummer 1 bezeichneten Inhalts durch Rundfunk verbreitet.
Mit Freiheitsstrafe bis zu fünf Jahren oder mit Geldstrafe wird bestraft, wer eine unter der Herrschaft des Nationalsozialismus begangene Handlung der in § 220a Abs. 1 bezeichneten Art in einer Weise, die geeignet ist, den öffentlichen Frieden zu stören, öffentlich oder in einer Versammlung billigt, leugnet oder verharmlost.
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Literatur Becker, Jörg/Mira Beham (2006): Operation Balkan. Werbung für Krieg und Tod. BadenBaden: Nomos-Verlag. Benz, Wolfgang (2001): Bilder vom Juden. Studien zum alltäglichen Antisemitismus. München: C.H. Beck. Brettfeld, Katrin/Peter Wetzel (2007): Muslime in Deutschland. Berlin: BMI. Diebow, Hans (1938): Der ewige Jude. 265 Bilddokumente. München: Franz Eher. EUMC [European Monitoring Centre on Racism and Xenophobia] (2006): Muslime in der Europäischen Union. Diskriminierung und Islamophobie. Hafez, Kai/Carola Richter (2007): „Das Islambild von ARD und ZDF“, z.B. in: Aus Politik und Zeitgeschichte, 26-27(2007). Hortzitz, Nicoline (1988): „Früh-Antisemitismus“ in Deutschland(1789-1871/2). Strukturelle Untersuchungen zu Wortschatz, Text und Argumentation. Tübingen: Niemeyer. Klemm, Verena/Karin Hörner (1993): Das Schwert des Experten. Heidelberg: Palmyra. Jäger, Siegfried/Dirk Halm (Hrsg.) (2007): Mediale Barrieren. Rassismus als Integrationshindernis. Münster: Unrast. Lakoff, George/Mark Johnson (1980): Metaphors we live by. Chicago: Univ. of Chicago Press. Lüders, Jenny (2007): Ambivalente Selbstpraktiken. Bielefeld: Transcript. Mende, Claudia (2007): „Islamophob und stolz darauf“, in: qantara.de. Noack, Hannelore (2001): Unbelehrbar? Antijüdische Agitation mit entstellten Talmudzitaten. Paderborn: Univ. Press. Rossum, Walter van (2007): Die Tagesshow. Wie man in 15 Minuten die Welt unbegreiflich macht. Köln: Kiepenheuer & Witsch. Schiffer, Sabine (2005): Die Darstellung des Islams in der Presse. Sprache, Bilder, Suggestionen. Würzburg: Ergon. Schiffer, Sabine (2007): „Der Islamisten-Spin“, in: Zukunft 12(2007). Sokolowsky, Kay (2008): „Fitnazis“, in: Konkret 5(2008).
Der Islam im Spiegel der Politik von CDU und CSU Aspekte einer komplizierten Beziehung Mohammed Shakush
Die Einstellung politischer Parteien in Deutschland zum Islam ist an vielen Stellen ambivalent. Das demokratische Selbstverständnis der Parteien zielt gesetzmäßig darauf ab, möglichst viele Menschen von der eigenen Vorstellung einer Gestaltung der Gesellschaft zu überzeugen. Die wachsende Bevölkerungsgruppe der Muslime in Deutschland (Blume 2007) als potenzielle Wählerschaft übt vor diesem Hintergrund eine steigende Attraktivität aus. Gleichzeitig gibt es aber in einigen Bevölkerungsteilen Ängste vor der Verwurzelung des Islam in Deutschland, wie Beiträge in diesem Buch zeigen, und bisweilen führen sie zu groben Abwehrreaktionen. Je mehr sich die Stammwählerschaft einer Partei aus solchen Teilen der Bevölkerung rekrutiert, desto schwieriger wird der zu vollführende Spagat zwischen der Einbindung und der Abgrenzung von Muslimen. Im Zentrum dieser Problematik stehen vor allem die Christlich Demokratische Union Deutschlands (CDU) und deren Schwesterpartei die ChristlichSoziale Union in Bayern (CSU). Bülent Arslan, der Vorsitzende des DeutschTürkischen Forums in der CDU, weist seit langem unablässig darauf hin, dass die Partei ein vitales Interesse daran hat, muslimische beziehungsweise türkische Mitbürger einzubinden: „Umfragen zeigen, dass rund 50 bis 60 Prozent der in Deutschland lebenden Türken konservativ eingestellt sind, also religiöse, wertgebundene Menschen sind. Das ist meiner Meinung auch ein Potential für die CDU. […] Es gibt bundesweit heute mittlerweile 2.000 türkischstämmige CDUMitglieder – immer noch viel zu wenig, verglichen mit dem Bevölkerungsanteil“ (qantara.de, 20.10.04). Als Volkspartei im Mitte-Rechts-Parteienspektrum ist der Grundstock der CDU/CSU-Stammwählerschaft traditionell eher konservativ. Demnach wollen die meisten dieser Menschen möglichst viel vom Zustand der deutschen Gesellschaft bewahren, wie er sich in früheren Jahren gezeigt hat, etwa im Hinblick auf soziale Werte bezüglich Familie und Ehe, im Hinblick auf religiöse Überzeugungen aus römisch-katholischer und protestantischer Tradition oder im Hinblick auf der ethnische Zusammensetzung der Gesellschaft. Der Islam ist nun eine relativ junge Erscheinung in Deutschland, die in den 1980er Jahren höchstens peripher im Zusammenhang mit Einwanderern wahrgenommen wurde und sich erst seit den 90ern als Religion in das öffentliche Be-
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wusstsein gedrängt hat. Ergo liegt es in der Natur der Sache, dass konservativ ausgerichtete deutsche Kreise Schwierigkeiten haben, diese ‚Neuerung‘ zu akzeptieren (siehe hierzu auch den Beitrag von Oberndörfer in diesem Buch). Deutschland war zur Geburtstunde und in den ersten Jahren der Republik im Hinblick auf die Bevölkerungszusammensetzung ein weitgehend homogenes Land. Hier lebten Menschen, deren familiäre Wurzeln seit Generationen irgendwo in Zentraleuropa lagen. In diese Vorstellung brach nun infolge des ersten so genannten Gastarbeiter-Anwerbeabkommens vom 20. Dezember 1955 mit Italien und später mit Spanien, Portugal, Jugoslawien, Griechenland, Marokko, Tunesien und der Türkei eine fremde, neue Welt ein. Gewiss haben nicht nur konservative Kreise Schwierigkeiten, mit diesen Veränderungen umzugehen. Bezeichnend aber ist der lange Weg, den gerade die Unionsparteien – man denke an die Leitkulturdebatte – zurücklegen mussten. Im Grunde läuteten die Parteispitzen erst Anfang des neuen Jahrtausends mit der Verabschiedung des CDUPapiers „Zuwanderung steuern und begrenzen“ vom 7. Juni 2001 einen nachhaltigen Paradigmenwechsel ein (s.a. CDU 2004), nachdem zuvor in der Ära Kohl nicht einmal laut über Zuwanderung diskutiert werden durfte. Obwohl das Zuwanderungs-Papier weiterhin betont, Deutschland sei „kein klassisches Einwanderungsland“, nimmt man hier dennoch zur Kenntnis, dass sich das gesellschaftliche Gesicht des Landes ändert. Ein Eingeständnis der Parteispitze bedeutet freilich nicht, dass die Einsicht auch bei der Basis angekommen ist oder von ihr überhaupt wahrgenommen werden will. Letztlich bleibt jedoch nichts anderes übrig, als die Realität von 15 Millionen Einwanderern beziehungsweise drei Millionen Muslimen zu akzeptieren – will man nicht an die Barbarei vergangener Jahrhunderte anknüpfen. Bis es so weit sein wird, werden jedoch noch viele Wahlkämpfe ausgefochten werden. Muslimische Einwanderer fordern die CDU und die CSU in besonderem Maße heraus. Diese Menschen verändern Deutschland nicht nur durch ihre mehrheitlich andere als eine zentraleuropäische Genealogie, sondern zugleich durch ihre andere Religion. Muslime berühren somit auf der Konfliktebene allein durch ihr Dasein zwei zentrale Aspekte konservativen Denkens in Deutschland: die althergebrachte ethnische Zusammensetzung und die religiöse Prägung der „deutschen“ Gesellschaft. Es findet sich aber auch eine Ebene der Gemeinsamkeit und auf dieser sind beispielsweise die Einstellung zu sozialen Werten angesiedelt. Hier korrespondiert die Auffassung selbst vieler junger Muslime in Deutschland (z.B. Wensierski 2007) etwa mit dem im Grundsatzprogramm der CDU festgelegten Familienideal oder mit der parteilichen Wertschätzung von Religion („Christliche Werte sind den Türken lieber als Atheismus“; Bülent Arslan (33 Jahre), Berliner Zeitung, 14.3.08; „Die CDU steht für Werte wie Familie und Zusammenhalt. Da
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finde ich mich am besten wieder.“, Aygül Özkan (35), stellv. CDU-Landesvorsitzende in Hamburg, Hamburger Abendblatt, 7.7.07). Diese Gemeinsamkeiten bereiten den Boden für eine Art symbiotische Beziehung. Während Muslime in der Union auf größeres Verständnis für Forderungen hinsichtlich der Religionsausübung hoffen, sind Muslime für die beiden Parteien willkommene Mitstreiter zur Bewahrung politischer Interessen. Das gilt insbesondere auf Grund der gegenwärtigen ‚Popularität‘ des Islam in Deutschland, die sich darin zeigt, dass immer mehr Aspekte muslimischen Lebens Thema in der breiten Öffentlichkeit sind: Kopftuch, Religionsunterricht, Moscheebau et cetera. Beispielsweise stützt die muslimische Forderung nach ordentlichem Religionsunterricht im Sinne des Grundgesetzartikels 7, Absatz 3, die derzeit breiten Raum in der öffentlichen Diskussionen erhält (siehe auch den Beitrag von Muckel in diesem Buch), die von der CDU unterstütze Abwehr von Bestrebungen, Religionsunterricht gänzlich abzuschaffen und gegen Ethikunterricht, Philosophie oder Religionskunde auszutauschen. Ein aktuelles Beispiel für diese „Symbiose“ ist die Berliner Initiative „Pro Reli“ (Berliner Zeitung, 23.11.08; cducsu.de) Parteiübergreifend kommen dann wiederum zwei Aspekte hinzu, die generell für größere Distanz gegenüber dem Islam sorgen: erstens, Fälle sozialer Devianz und familiärer Gewalt in muslimischen Familien in Deutschland, zweitens, der internationale islamistische Terrorismus. Vor der Haustür sind es Praktiken wie Ehrenmord oder Zwangsheirat, die zu Antipathien gegenüber Muslimen beitragen. Dabei spielt es sowohl für viele Opfer und Täter als auch für viele Nichtmuslime keine Rolle, inwiefern diese Phänomene tatsächlich mit Theologie zu tun haben oder nicht. Viele Bundesbürger gehen einfach davon aus, dass solche Verhaltensweisen eine direkte Folge islamischer Glaubensüberzeugungen sind (Der Spiegel. „Allahs rechtlose Töchter. Muslimische Frauen in Deutschland, 47/ 2004). Gleiches gilt für Anschläge wie in New York, Bali, Madrid, London, Bombay und anderswo. Meist führen fehlendes Wissen und mangelndes Interesse in der Bevölkerung dazu, dass Pauschalisierungen und Simplifizierungen diesbezüglich auf fruchtbaren Boden fallen. Abscheu und Ängste können in der Folge negative Gefühle bis hin zum Hass verstärken, der dann bewusst oder unbewusst und in unterschiedlicher Intensität auf Muslime im Allgemeinen projiziert wird. Die meisten Parteien in Deutschland sind zwar durchaus bemüht, hier Aufklärung zu betreiben, zugleich müssen sie aber diejenigen einbinden, die diese Aufklärung nicht erreicht oder die von dieser Aufklärung nicht erreicht werden wollen – ansonsten wandert dieser Personenkreis zu radikalen Parteien ab. Es gibt somit im Hinblick auf die CDU/CSU mindestens fünf übergeordnete Bereiche, die den Umgang mit Muslimen in Deutschland betreffen: Ethnie, Religion, Konservatismus, Devianzen und islamistischer Terror. Auf einen Nenner gebracht: Vier trennende stehen einem verbindenden Elemente gegenüber. Das schlägt sich in der Politik nieder.
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Das Kopftuchverbot Die Kopftuchverbote an staatlichen Schulen – bisweilen ausgeweitet auf den öffentlichen Dienst – sowie entsprechende Gesetzesinitiativen waren bislang immer das Ergebnis der Politik von CDU/CSU (s.a. Henkes 2008; 2008a). Meistens traten beide Unionsparteien auch de facto dafür ein, eine Ungleichbehandlung im Vergleich zu Christen oder Juden rechtlich zu verankern; gegen die erlassenen Gesetze wurden zum Teil Klagen eingereicht. Deutschland hat 16 Bundesländer. In acht davon wurde zwischen 2004 und 2006 ein Kopftuchverbot für Lehrerinnen an öffentlichen Schulen beziehungsweise für Mitarbeiterinnen im öffentlichen Dienst erlassen.1 Sechs davon standen bei Beschlussfassung unter Führung einer CDU oder CSU geführten Landesregierung, in einem Bundesland war die CDU an der Regierung beteiligt. Vorreiter der Bewegung war Baden-Württemberg unter Federführung der damaligen Kultusministerin Annette Schavan (CDU). Es folgten Niedersachsen, Saarland, Hessen, Bayern und zuletzt Nordrhein-Westfalen. In NRW wurde die Rolle der CDU besonders deutlich. 2005 war zunächst ein CDU-Antrag mit den Stimmen von SPD, Grünen und FDP abgelehnt worden. Nach dem Regierungswechsel und dem Wahlsieg der Christdemokraten trat die Regelung 2006 mit den Stimmen der FDP doch in Kraft (Henkes 2008). In Bremen, wo ebenfalls ein Kopftuchverbot gilt, war die CDU als kleinerer Koalitionspartner der SPD beteiligt. Lediglich in Berlin wurde das Gesetz mit einer rot-roten Mehrheit verabschiedet. In Rheinland-Pfalz brachte die CDU einen Antrag in den Landtag ein, scheiterte damit aber am 30. November 2005 an der Mehrheit aus SPD und FDP. Auch in Schleswig-Holstein brachte die CDU eine Gesetzesinitiative ein, mit der sie sich nicht durchsetzen konnte. Alle Parteien (SPD, FDP, Grüne und SSW) stimmten am 14. Dezember 2004 in Kiel gegen den Antrag. In beiden Landtagen wurde kein Handlungsbedarf gesehen (Landtag Rheinland-Pfalz: Plenarprotokoll 14/103; Die Welt, 21.3.05; Landtag Schleswig-Holstein: Plenarprotokoll 15/130). Als die CDU nach ihrem Sieg bei der schleswig-holsteinischen Landtagswahl 2005 die Regierung stellte, kam sie schließlich mit dem Koalitionspartner SPD – 1
Baden-Württemberg: Gesetz zur Änderung des Schulgesetzes vom 1.4.2004 (GBl. S. 178); Bayern: Gesetz zur Änderung des Bayerischen Gesetzes über das Erziehungs- und Unterrichtswesen vom 23.11.2004 (GVBl. S. 443); Berlin: Gesetz zur Schaffung eines Gesetzes zu Artikel 29 der Verfassung von Berlin und zur Änderung des Kindertagesbetreuungsgetzes vom 27. 1.2005 (GVBl. S. 92); Bremen, Gesetz zur Änderung des Bremischen Schulgesetzes und des Bremischen Schulverwaltungsgesetzes vom 28. 6.2005 (Brem. GBl. S. 245); Hessen: Gesetz zur Sicherung der staatlichen Neutralität vom 18.10.2004 (GVBl. I, S. 306); Niedersachsen: Gesetz zur Änderung des Niedersächsischen Schulgesetzes und des Niedersächsischen Besoldungsgesetzes vom 29.4.2004 (Nds. GVBl. S. 140-142; Saarland: Gesetz Nr. 1555 zur Änderung des Gesetzes zur Ordnung des Schulwesens im Saarland vom 23.6.2004 (Amtsbl. S. 1510); vgl. Rohde 2007.
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entgegen ersten Ankündigungen – überein, auf ein Kopftuchverbot zu verzichten. Ein Streitpunkt war dann auch die Frage, ob ein mögliches Gesetz nicht ebenso ein Verbot christlicher Symbole umfassen müsse? (taz, 13.10.06; Hamburger Abendblatt, 18.9.06). Auch die Hamburgische Bürgerschaft hat bis heute kein Kopftuchverbot erlassen. Dort hieß es ebenfalls, das Problem sei nicht akut. Es gebe schließlich nur eine Pädagogin in einer Grundschule der Hansestadt, die ein Kopftuch tragen würde (Hamburger Abendblatt, 29.4.04). Trotz mangelnden Problemdrucks gelangte das Thema in der Legislaturperiode 2001-2004, in der es ein Dreierbündnis aus CDU, FDP und Schill-Partei (PRO) gab, per Antrag der PRO vom 28. Januar 2004 (Drucksache 17/4150) dennoch auf die Tagesordnung. Während die FDP das Vorhaben ablehnte, stieß es bei der CDU-Fraktion grundsätzlich auf Zustimmung (Hamburger Abendblatt, 29.4.04). Da die Dreierkoalition aber nur wenige Wochen später zerbrach, kam es in der Bürgerschaft nicht mehr zu einer Abstimmung über die Gesetzesinitiative. Im folgenden Wahlkampf positioniert sich die CDU weiterhin für ein Verbot (ebd.). Nachdem die Christdemokraten bei der Wahl die absolute Mehrheit errungen hatten, hieß es zunächst auch, man werde sich bis zur Sommerpause mit einer gesetzgeberischen Initiative befassen. Letztlich wurde sie dann aber doch fallengelassen. In allen ostdeutschen Flächenländern gibt es keine Kopftuchverbote. Dort ist das Thema außer in Brandenburg infolge eines Antrags der DVU auch parlamentarisch bislang nicht behandelt worden. In Brandenburg sahen die übrigen Fraktionen mit Hinweis auf bereits bestehende Regelungen zur Neutralitätspflicht ebenfalls keine Notwendigkeit für eine weitere legislative Maßnahme (Landtag Brandenburg: Plenarprotokoll 4/10). Die fehlende Notwendigkeit zu Handeln dürfte auch die Ursache für die Nichtbehandlung der Frage in den anderen vier Bundesländern gewesen sein (Henkes 2008: 131). Wie bereits erwähnt kam das Gesetz in Berlin mit den Stimmen der SPD und der damals noch als PDS firmierenden Partei Die Linke zusammen. Allein hier votierte die CDU gegen das Vorhaben, das sich wie in Hessen auf weite Teile des öffentlichen Dienstes erstrecken sollte. Das Nein der CDU gründet sich allerdings nicht auf eine Neutralitätserklärung gegenüber dem Kopftuch oder dessen Befürwortung. Anfang 2004 hatte die Partei im Berliner Senat selbst einen Gesetzesentwurf eingebracht, der an den Mehrheitsverhältnissen gescheitert war. Dass sich die Berliner Christdemokraten später gegen den Vorschlag der rot-roten Koalition aussprachen, hing damit zusammen, dass er auf alle religiösen Symbole Bezug nimmt, inklusive Kreuz, Kippa, Davidstern oder Habit. Das Gesetz sei von einem antireligiösen Staatsverständnis geprägt, kritisierte der damalige innenpolitische Sprecher der CDU-Fraktion im Berliner Abgeordnetenhaus, Frank Henkel (Die Welt, 21.1.05).
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Aufgeschlüsselt nach Parteien ergibt sich folgende Statistik: In zehn Bundesländern wurden Kopftuchverbote zur Abstimmung gestellt. Neunmal stimmten CDU/CSU Ja, einmal Nein; die SPD viermal Ja, sechsmal Nein (Ja in Berlin, Bremen, Baden-Württemberg, Saarland); die Grünen stimmten in allen Parlamenten, in denen sie vertreten waren (Ausnahme Saarland), mit Nein. Die FDP votierte dreimal Ja, fünfmal Nein; in Bayern und im Saarland waren die Freien Demokraten nicht in die Landtage gewählt worden (Henkes 2008a: 18). Das Ja der FDP erfolgte immer dann, wenn sie zum Zeitpunkt der Abstimmung mit der CDU die Regierung stellte: in NRW, Niedersachen und Baden-Württemberg. Kennzeichnend für die politische Haltung der CDU/CSU gegenüber dem Islam am Beispiel des Kopftuchs ist neben dem Abstimmungsverhalten die angestrebte Differenzierung bei der Umsetzung der Gesetzesinitiativen. In allen sechs CDU/CSU-geführten Regierungen wurde eine Ungleichbehandlung von Christentum, Judentum und Islam in irgendeiner Form zum Ausdruck gebracht oder ermöglicht. An verschiedenen Stellen im Gesetzeskanon mancher Länder bezieht man sich konkret auf christliche, jüdische, abendländische, humanistische Grund- und Bildungswerte, um direkt oder indirekt Ausnahmeregelungen mithin eine Privilegierung gegenüber dem Islam zu realisieren (siehe hierzu auch den Beitrag von Muckel in diesem Buch). In NRW beispielsweise sieht die aktuelle Fassung des Schulgesetzes in Paragraf 57 Absatz 4 Satz 3 explizit vor, dass die „Darstellung christlicher und abendländischer Bildungs- und Kulturwerte oder Traditionen“ zulässig bleibt. In Niedersachsen zielte der damals verantwortliche CDU-Kultusminister Bernd Busemann konkret auf einen Gesetzentwurf ab, der Lehrkräften zwar generell „politische, religiöse, weltanschauliche oder ähnliche Bekundungen“ untersagt um die „Neutralität des Landes“ gegenüber den Schülern nicht „in Frage zu stellen“ und „den Schulfrieden“ nicht „zu gefährden oder zu stören“, der aber gleichzeitig den Weg für „die Bekundung christlicher und abendländischer Bildungs- und Kulturwerte“ in den Schulen freimacht (Spiegel online, 20.1.04; Gesetz zur Änderung des Niedersächsischen Schulgesetzes und des Niedersächsischen Besoldungsgesetzes vom 29.4.2004, Nds. GVBl., S. 140142). In der Bewertung des damaligen Vorsitzenden der SPD-Fraktion im niedersächsischen Landtag, Sigmar Gabriel, verletzt der Gesetzestext das Gebot der Gleichbehandlung aller Religionen und ist Ausdruck der Leitkulturdebatte in der CDU (Spiegel online, 20.1.04). Hessens damaliger CDU-Ministerpräsident Roland Koch begrüßte sein Kopftuchverbot mit den Worten: „Deutschland ist kein religiös völlig neutrales Land, sondern eines, das in Verantwortung vor dem christlichen Gott gegründet worden ist.“ (roland-koch.de, 8.10.04). In Bremen billigte die CDU als Juniorpartner der SPD zwar eine religiös neutrale Formulierung des Gesetzes, in den Plenardebatten stellte die CDU-Fraktion aber klar, dass nach ihrer Interpretation eine Ungleichbehandlung möglich sei und man in der
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Praxis auch entsprechend verfahren wolle (Bremische Bürgerschaft: Plenarprotokoll 16/43: 2693ff.; Henkes 2008a: 28). Die Bedenken gegenüber dem Kopftuch erfahren in der CDU Unterstützung von ganz oben. Die damalige Bundesvorsitzende und Unionsfraktionsvorsitzende im Deutschen Bundestag, Angela Merkel, sagte Anfang 2004 im Zusammenhang mit den EU-Beitrittsbestrebungen der Türkei: „Kruzifix nein, Kopftuch ja. Das finde ich übertolerant! Gerade wir als Christen müssen uns um eine Expressivität kümmern, wenn wir nicht unter die Räder kommen wollen.“ (Die Tagespost, 4.3.04). Sie warnte vor den ökonomischen Interessen der Türkei und vor der sich im Land entwickelnden Allianz von Staat und Religion. Das sei insbesondere vor dem Hintergrund bedenklich, dass die Zahl der Christen in der deutschen Gesellschaft und in der CDU immer geringer werde, was im Übrigen auch Kardinal Ratzinger, der spätere Papst Benedikt XVI., in einem Gespräch mit ihr besorgt angemerkt habe (ebd.) Dass es allerdings auch spannend sein dürfte, andere Parteien als die CDU/CSU nach ihrer Einstellung zum Islam zu befragen, zeigt eine Aussage des damaligen Bundeskanzlers und Parteivorsitzenden der SPD. Gerhard Schröder erklärte Ende 2003: „Deutschland ist ein säkularisierter Staat. Wir sind beeinflusst von drei großen Traditionen: Der griechischrömischen Philosophie, der christlich-jüdischen Religion und dem Erbe der Aufklärung. Das hätte ich in dieser Ausprägung gern in die EU-Verfassung bekommen. Das heißt konkret: Das Bundesverfassungsgericht hat es jedem Bundesland überlassen, wie es mit der Kopftuch-Frage umgeht. Meine Ansicht ist klar: Kopftücher haben für Leute im staatlichen Auftrag, also auch für Lehrerinnen, keinen Platz.“ (Bild am Sonntag, 21.12.03)
Der „Gesinnungstest“ Auch beim so genannten Gesinnungstest für Muslime war das Land BadenWürttemberg, diesmal unter Federführung des christdemokratischen Innenministers, Heribert Rech, Vorreiter. Zum 1. Januar 2006 führte das Innenministerium den Gesprächsleitfaden für Einbürgerungsbehörden ein (siehe auch den Beitrag von Bielefeld in diesem Buch). Dieser soll den Beamten in den zuständigen kommunalen Dienststellen als Hilfsmittel dienen, um bei einem Gespräch, die Wahrhaftigkeit des Bekenntnisses eines Einbürgerungsbewerbers zur freiheitlichen demokratischen Grundordnung des Grundgesetzes für die Bundesrepublik Deutschland überprüfen zu können. Diese Gespräche sollen laut einer Pressemitteilung des Innenministeriums vom 14. Dezember 2005 ausdrücklich „mit Einbürgerungsbewerbern aus den 57 islamischen Staaten, die der Islamischen Konferenz angehören“, geführt werden. Weiter heißt es in der Pressemitteilung: „Mit
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sonstigen Einbürgerungsbewerbern werde ein solches Gespräch ebenfalls geführt, wenn bekannt sei, dass sie islamischen Glaubens seien oder bei denen im Einzelfall Zweifel an der Ernsthaftigkeit ihres Bekenntnisses bestünden.“ (Innenministerium Baden-Württemberg 2005). Hintergrund der Einführung sei, die durch das seit 1. Januar 2000 geltende Staatsangehörigkeitsgesetz geforderte „innere Hinwendung zur Bundesrepublik Deutschland“. Mittlerweile gebe es „Erkenntnisse“, so wird argumentiert, „wonach namentlich Muslime“ hier in Konflikte geraten könnten und „eventuell ein Bekenntnis ablegten, das nicht ihrer inneren Überzeugung entspreche“. Diese „Erkenntnisse“ gründet das Innenministerium auf Untersuchungen des Islam-Archivs in Soest, dem Zentrum für Türkeistudien in Essen und auf „Veröffentlichungen von Autoren wie Seyran Ateú, Necla Kelek, Ayaan Hirsi Ali, Mark A. Gabriel (Pseudonym eines ehemaligen islamischen Imams und Professors an der Al-Azhar-Universität in Kairo), Bassam Tibi sowie […] nahezu tägliche Presseberichte“ (sic!; zu den Personen siehe auch die Beiträge von Schneiders und Rommelspacher in diesem Buch). Der Leitfaden umfasst Fragen wie: „Was halten Sie davon, daß in Deutschland Homosexuelle öffentliche Ämter bekleiden?“ „Wie stehen Sie zu der Aussage, daß die Frau ihrem Ehemann gehorchen soll und daß dieser sie schlagen darf, wenn sie ihm nicht gehorsam ist?“ „Ihre volljährige Tochter/Ihre Frau möchte sich gern so kleiden wie andere deutsche Mädchen und Frauen auch. Würden Sie versuchen, das zu verhindern? Wenn ja: Mit welchen Mitteln?“ „Manche Leute machen die Juden für alles Böse in der Welt verantwortlich und behaupten sogar, sie steckten hinter den Anschlägen vom 11. September 2001 in New York? Was halten Sie von solchen Behauptungen?“ Wie schon in der Frage des Kopftuchverbots erhielt die Initiative Rückendeckung von der Parteispitze. Bundesinnenminister Wolfgang Schäuble erklärte öffentlich, der Test schüre keine Vorurteile gegenüber dem Islam: „Dass sich die Landesregierung […] Gedanken macht, ist doch wahrlich den Schweiß der Edlen wert und sollte nicht leichtfertig diffamiert werden.“ (Handelsblatt, 12.1.06). Die Einführung des Gesprächsleitfadens geht offenbar auf einen Alleingang des CDU-geführten Innenministeriums in Stuttgart zurück. Der Justizminister von Baden-Württemberg, der FDP-Politiker Ulrich Goll, sagte Medienvertretern, „dass es sich um eine interne Verwaltungsvorschrift des Innenministeriums handelt, die nicht mit dem Kabinett oder einer anderen Stelle abgestimmt worden ist.“ (Der Tagesspiegel, 5.1.06). Er begrüße zwar die Absicht, Einbürgerungswilligen ein Bekenntnis zur deutschen Grundordnung abzuverlangen, es sei aber darauf zu achten, dass ein solcher Fragekatalog für alle gleichermaßen gelte und nicht auf Muslime beschränkt bleibe. Infolge anhaltender Kritik wurde der Leitfaden zwar leicht abgeändert, blieb aber bislang im Einsatz; selbst mit Blick auf die 2008 auf Druck der Unionsländer eingeführten Einbürgerungstests (Frankfurter Rundschau, 12.6.08). Auf eine weitere behördliche Akzentuierung von
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Muslimen bei der Anwendung wurde seitens des Ministeriums hernach verzichtet. Nach Bekanntwerden des baden-württembergischen Vorgehens bekundeten die meisten Bundesländer kein Interesse an einem ähnlichen Leitfaden. Lediglich aus den CDU-Ländern Hessen und Saarland hieß es, man wolle zunächst die Erfahrungen in Baden-Württemberg abwarten und dann entscheiden (FAZ, 6.1.08). Am 14. März 2006 legte Hessen schließlich die Broschüre Wissen und Werte in Deutschland und Europa, 100 Fragen zu kulturellen, historischen und politischen Tatbeständen auf. Landesinnenminister Volker Bouffier (CDU) betonte, dass die Fragen nicht nur auf Muslime, sondern auf alle Bewerber abzielen sollten (Wiesbadener Kurier, 23.1.06).
Der Moscheebau Auch auf kommunaler Ebene lässt sich ein angespanntes Verhältnis der CDU zum Thema Islam ausmachen – Beispiel: Köln. Im Stadtteil Ehrenfeld soll eine Moschee gebaut werden. Nach der öffentlichen Präsentation des Architektenentwurfs von Paul Böhm im September 2006 zeigten zunächst alle im Rat der Stadt vertretenen Parteien mit Ausnahme der rechtsorientierten Bürgerbewegung „Pro Köln“, aber inklusive der CDU-Fraktion, die Bereitschaft, der für den Bau erforderlichen Bebauungsplanänderung zuzustimmen (Kölner Stadtanzeiger, 21.9.06); der erste Antrag zum Bau einer Kölner Moschee im Jahr 2001 ging übrigens von der CDU und der FDP aus; CDU-Stadtkämmerer Peter-Michael Soénius, betonte 2002 sogar: „Die Stadt erwartet, dass es sich um den Bau einer repräsentativen großen Moschee handelt. [Hervorhebung v. Verf.]“ (Kölner Stadtanzeiger, 28.8.08). Im Sommer 2007 brachen dann bundesweit Debatten um den Bau aus. Die massive öffentliche Kritik, die zum Teil von prominenten Personen getragen wurde, vermittelte den Eindruck, dass sich zahlreiche Bürger gegen den Moscheebau wenden würden. Laut einer repräsentativen Befragung des Kölner Stadtanzeigers vom Juni 2007 lehnten 31,4 Prozent den Neubau rundheraus ab und 27 Prozent forderten Änderungen am Entwurf (Kölner Stadtanzeiger, 19.6.07). Offenbar im Zuge dieser Debatten änderten die CDUAbgeordneten ihre Meinung. Der Ortsverband Ehrenfeld rückte in Sachen Moschee sogar dicht an die Seite von „Pro Köln“ (Kölner Stadtanzeiger, 24.3.07). Bei der am Ende entscheidenden Abstimmung über die Änderung des Bebauungsplans für das entsprechende Grundstück – also de facto über den Baubeschluss – am 28. August 2008 stimmte die CDU-Fraktion mit Hinweis auf den für sie fragwürdigen Integrationsbeitrag der Moschee angesichts der geplanten baulichen Dimension und der späteren inhaltlichen Ausrichtung gemeinsam mit Pro Köln gegen den Antrag (Rat der Stadt Köln: Wortprotokoll 43/2008: 41ff.).
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Kurz zuvor stellte der Fraktionsgeschäftsführer von Pro Köln, Manfred Rouhs, süffisant in Richtung CDU fest: „Die Veränderung in Ihrem Stimmverhalten ist einer der größten Erfolge, den Pro Köln in dieser Ratsperiode erzielt hat.“ (ebd.: 54). Ähnlich wie auf Bundes- und Länderebene musste sich die CDU vom politischen Gegner auch in der Ratsdebatte den Vorwurf der Heuchelei anhören: „Während sie auf der einen Seite immer und überall an vorderster Stelle die größte Befürworterin der Religionsfreiheit und der Kirche ist, lehnt [die CDU] die Moschee aufgrund ihrer Symbolträchtigkeit und der Höhe der Minarette ab. […] Dies ist scheinheilig“, konstatierte die Ratsfrau der Partei Die Linke, Özlem Demirel, die sich übrigens bei der abschließenden Abstimmung enthielt (ebd.: 52) Lediglich CDU-Oberbürgermeister Fritz Schramma und CDU-Ratsherr Lothar Lemper blieben ihrer Meinung treu. Während Lemper in der Ratssitzung bekundete, dass er eigentlich für den Bau sei, sich aber aus Solidarität mit seiner Fraktion der Stimme enthalten werde (ebd.: 56f.), votierte Schramma gegen seine eigenen Parteifreunde. Am Ende wurde die Bebauungsplanänderung mit deutlicher Mehrheit durch seine und die Stimmen von SPD, FDP, Grüne, Linkspartei und Kölner Bürgerbündnis angenommen (ebd.).
Die Programmatik Auch grundsätzlich lässt sich ein durchaus problematisches Verhältnis der CDU zum Islam erkennen. Ein Hinweis darauf ist in der Arbeitsgrundlage für die Zuwanderungs-Kommission der CDU Deutschlands vom 6. November 2000 niedergelegt. Integration erfordere neben dem Erlernen der deutschen Sprache, dass man sich klar für die Staats- und Verfassungsordnung zu entscheiden und in die sozialen und kulturellen Lebensverhältnisse einzuordnen habe, heißt es darin. Und weiter: „Dies bedeutet, dass die Werteordnung unserer christlich-abendländischen Kultur, die vom Christentum, Judentum, antiker Philosophie, Humanismus, römischen Recht und der Aufklärung geprägt wurde, in Deutschland akzeptiert wird.“ Was hier zugrunde liegt, ist quasi ein Streifzug durch mehrere Jahrtausende europäischer Geschichte, der im Grund alle historischen Entwicklungen und geistigen Strömungen berücksichtigt, die zunächst im Mittelmeer-Raum entstanden sind und sich von dort aus weiter über den Kontinent ausgebreitet haben, beziehungsweise die in späterer Zeit ihren Ausgang in Europa nahmen und von dort um die Welt gegangen sind, der aber mit bemerkenswerter Konsequenz die Rolle des Islam außen vor lässt. Im Grunde negiert die CDU damit nicht nur den Einfluss der jahrhundertelangen islamischen Präsenz auf der iberischen Halbinsel, in Kleinasien oder dem Balkan, sie ignoriert auch die Auswirkungen der Auseinandersetzungen während der Kreuzzüge oder der Osmanischen Eroberungen gen Westen, sie igno-
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riert den kulturellen und wissenschaftlichen Austausch durch die historische Überlieferung der Werke Platons, Euklids, Galens, durch Karl den Großen und Harun al-Raschid, durch den Hohenstauferkaiser Friedrich II. oder durch den jüdischen Gelehrten Maimonides und dessen islamischen Philosophielehrern. Sie ignoriert die Auseinandersetzung eines Martin Luthers oder eines Gotthold Ephraim Lessings, Johann Wolfgang von Goethes, Heinrich Heines mit dem Islam. Und sie ignoriert den Orientalismus in der europäischen Kunst, Musik oder Architektur (siehe auch den Beitrag von Naumann und Jonker in diesem Buch). Im Grundsatzprogramm Freiheit und Sicherheit, das 2007 vom 21. Parteitag in Hannover beschlossen wurde, halten die Christdemokraten fest: „Der politische Islamismus und der terroristische Islamismus, die jeweils ihre radikale Interpretation des Islam über unsere Verfassung stellen, sind eine besondere Gefahr für die Menschen in Deutschland, auch für die verfassungstreue Mehrheit unter den Muslimen.“ (S. 90). Der Aussage dürfte eigentlich jeder zustimmen, befremdlich ist nur der Einschub am Ende. Der ausdrückliche Hinweis auf die Mehrheit der Muslime und das Hervorheben deren Verfassungstreue wirken arg gekünstelt. Mit den islamistischen Terroranschlägen seit dem 11. September 2001 in den USA kam in westlichen Staaten eine massiv islamkritische Stimmung auf. Phänomene, die auch, aber eben nicht nur in islamischen Gesellschaften vorkommen, wurden im Zuge dessen von Teilen der Bevölkerung als charakteristisch für Muslime angesehen. Auch vor diesem Hintergrund tagte 2004 der 18. CDU-Bundesparteitag in Düsseldorf. Grobe Pauschalurteile gegenüber muslimischen Frauen, wie sie zu dem Zeitpunk in öffentlichen Diskussionen auftauchten, fanden dort Eingang in die CDU-Politik. Im Beschluss C34 zur Integrationspolitik heißt es: „Besondere Anstrengungen sind erforderlich, um die aus dem islamischen Kulturkreis nach Deutschland zugewanderten Frauen und Mädchen in unsere Gesellschaft zu integrieren. […] Wir erwarten von Zuwanderern, die in Deutschland leben wollen, das Bekenntnis zur Universalität der Menschenrechte und eine klare und praxisfeste Distanzierung von der Scharia als weltlichem Gesetz. Wir wollen, dass Zwangsverheiratung ein Straftatbestand wird“. Die Formulierungen wecken zum einen den Eindruck, alle muslimischen Einwanderer hätten grundsätzlich ein Problem mit weltlichen Gesetzen – der türkische Kemalist ebenso wie pakistanische Islamist –, und zum anderen, alle oder jedenfalls die meisten muslimischen Mädchen seien von Zwangsheirat bedroht – dabei gibt es noch nicht einmal statistische Erhebungen über das Ausmaß von Zwangsehen in Deutschland (Wenzel 2007: 66f. siehe auch den Beitrag von Schröttle in diesem Buch).
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Die Statements Verbale Angriffe oder Stigmatisierungen beziehungsweise das Herausstellen von Muslimen kommen auch in vielen persönlichen Stellungnahmen von CDU/CSUVertretern zum Ausdruck. In der Regel sind es stimmungswirksame Äußerungen, oft im Vorfeld von Wahlkämpfen. Die frühere CSU-Generalsekretärin Christine Haderthauer rief gut zwei Monate vor der Landtagswahl 2008 in Bayern die Migranten dazu auf, sich stärker auf die deutsche Alltagskultur einzulassen und ergänzte: „Leider ließen vor allem manche Muslime diese Bereitschaft oft nicht in ausreichendem Maß erkennen.“ („Forderung nach mehr Integrationsbereitschaft“ in: csu.de, 31.7.08). Bei seiner Rede zum 56. Politischen Aschermittwoch der CSU am 6. Februar 2008 in Passau rief der damalige Vorsitzende der Partei, Erwin Huber, seinen Parteifreunden zu: „Wir sind für Religionsfreiheit auch für Muslime. Sie sollen auch Moscheen bauen dürfen. Aber wir wollen, dass auch in 100 Jahren Kirchtürme und nicht Minarette unser Bayern prägen.“ (csu-teugn.de). Fast dieselben Worte hatte Huber bereits beim Kleinen Parteitag der Christsozialen am 17. November 2007 in Würzburg benutzt („Starke Kommunen, starkes Bayern“, in: csu.de). Hubers Amtsvorgänger, der ehemalige Ministerpräsident von Bayern, Edmund Stoiber, antwortete auf die Frage nach einem drohenden Verlust des konservativen Profils der Union: „Die CDU ist in der Tat gut beraten, sich auch auf ihre konservativen Wurzeln zu besinnen. Das heißt zum Beispiel: Es gibt eine in Jahrhunderten gewachsene Leitkultur in Deutschland! Also: Bei aller Toleranz: Kathedralen müssen größer sein als Moscheen!“ (Bild-Zeitung, 21.9.07) Im Wahlkampf der hessischen CDU vor den Landtagswahlen 2008 ging es nach dem Überfall zweier Jugendlicher mit Migrationshintergrund auf einen Rentner in der Münchner U-Bahn zwar hauptsächlich um Ausländerkriminalität im Allgemeinen, dennoch wurde der Islam auch hier umgehend zum Thema, manchmal ganz offen, manchmal nur unterschwellig. In einem Fernsehbeitrag der ARD am 24. Februar 2008 meinte die hessische Bundestagsabgeordnete, Kristina Köhler: „Wir stellen fest, dass es in Deutschland zunehmend auch eine deutschenfeindliche Gewalt von Ausländern gegenüber Deutschen gibt.“ Weiter erläuterte sie, dass sich ein Täter seine Opfer bei diesem Phänomen nicht zufällig aussuche, sondern „weil er [sie] für ‚Scheiß-Deutsche‘, für Schweinefleischfresser oder für ähnliches hält.“ (dokumentiert bei daserste.ndr.de/panorama, 24.1.08) In dieser Aussage spiegelt sich die beiläufige Gleichsetzung von Ausländern und Muslimen wider, denn wer außer einem Muslim würde Deutsche als „Schweinefleischfresser“ beschimpfen? Ähnlich lässt sich eine Bemerkung des damaligen hessischen CDU-Spitzenkandidaten und Amtsinhabers, Roland Koch, über seine Vorstellungen von Ausländerintegration deuten: „Die Sprache im
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Miteinander muss Deutsch sein, das Schlachten in der Wohnküche oder in unserem Land ungewohnte Vorstellungen zur Müllentsorgung gehören nicht zu unserer Hausordnung.“ (Bild-Zeitung, 3.1.08) Abgesehen von der Stigmatisierung ist die Stoßrichtung auch hier offenbar die gleiche: Nur Muslime, die Wert auf Schächten nach islamischem Ritus legen, was ihnen in Deutschland lange Zeit untersagt war, könnten in seltenen Fällen auf die Idee kommen, zuhause zu schlachten.
Das Schlusswort Eingangs wurde erwähnt, dass CDU/CSU von einem ambivalenten Verhältnis zum Islam geprägt sind. Wie gesehen, lassen sich eine Reihe islamfeindlicher Haltungen finden, aber auch zahlreiche unterstützende Momente. So ist die CDU auch die Partei, die etwa auf Betreiben von Bundesinnenminister Wolfgang Schäuble die Islamkonferenz ins Leben gerufen hat. Zugleich wird Schäuble in jüngster Zeit nicht müde zu betonen, dass der Islam ein Teil Deutschlands geworden sei (Süddeutsche Zeitung, 26.9.06; Welt online, 1.5.07; FAS, 2.3.08). Ferner kann insbesondere die CDU/CSU als Förderer der Einführung eines ordentlichen Islamischen Religionsunterrichts an staatlichen Schulen gelten (CDU 2001: 88). Damit einher geht auch die Förderung der akademischen Ausbildung künftiger islamischer Religionslehrkräfte. Zwar ist die erste universitäre Einrichtung Deutschlands unter rot-grüner Führung während der Legislaturperiode 2000 bis 2005 in NRW gegründet worden. Die zweite und dritte Professur wurde aber unter Führung der CSU in Bayern beziehungsweise der CDU in Niedersachsen etabliert, und in NRW treibt die CDU-FDP-Koalition den Ausbau der Ausbildung weiter voran. Jürgen Rüttgers, der CDU-Ministerpräsident von NRW, warb bei der feierlichen Eröffnung einer Moschee in Duisburg-Marxloh für den Bau weiterer Moscheen (Rheinische Post, 27.10.08) und sein Integrationsminister Armin Laschet, ebenfalls CDU, setzte sich unter anderem auf dem Treffen der Kölner Parteimitglieder leidenschaftlich für den Bau der Ehrenfelder Moschee ein (Kölner Stadtanzeiger, 15.8.07).
Literatur Blume, Michael (2007): „Wird Deutschland Islamisch? Zahlen, Fakten und Prognosen“, Vortrag gehalten bei der Tagung „Wird Deutschland islamisch?“ vom 23.-25.11.2007 der Evangelische Akademie Bad Boll, abgedr. in blume-religionswissenschaft.de CDU (2007): Freiheit und Sicherheit. Grundsätze für Deutschland. Beschluss des 21. Parteitags der CDU Deutschland vom 3.12.2007, Hannover.
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Mohammed Shakush
CDU (2004): Im deutschen Interesse: Integration fördern und fordern – Islamismus bekämpfen. Beschluss C34 des 18. Parteitags der CDU Deutschlands vom 6.-7.12.2004, Düsseldorf. CDU (2001): Freie Menschen. Starkes Land. Vertrag für eine sichere Zukunft Beschlüsse des 14. Parteitages der CDU Deutschlands, 2.-4.12.2001, Dresden. CDU (2001a): Zuwanderung steuern und begrenzen. Integration fördern. Beschluss des Bundesausschusses der CDU Deutschlands vom 7.6.2001, Berlin. CDU (2000): Arbeitsgrundlage für die Zuwanderungs-Kommission der CDU Deutschlands vom 6.11.2006, Berlin. Henkes, Christian (2008): „Integrationspolitik in den Bundesländern?“, in: Hildebrandt, Achim/Frieder Wolf (Hrsg.): Die Politik der Bundesländer. Staatstätigkeit im Vergleich. Wiesbaden: VS. Henkes, Christian/Sascha Kneip (2008a): „Das Kopftuch im Streit zwischen Parlamenten und Gerichten. Ein Drama in drei Akten. Paper für die gemeinsame Tagung der DVPW, ÖGPW und SVPW ‚Die Verfassung der Demokratie‘, 21.-23.11.2008, Universtiät Osnabrück“, in: dvpw.de, Berlin, S. 28. Innenministerium Baden-Württemberg (2005): „Keine Diskriminierung islamischer Einbürgerungsbewerber, Stuttgart 14.12.2005“, in: innenministerium.baden-wuerttemberg.de. Kuschel, Karl-Josef (1998): „Wahlkampf auf dem Rücken einer Muslimin. Zum Streit um das Kopftuch“, in: Imprimatur 31(1998), S. 212-215. Rohde, Ulrich (2007): „Religiöse Symbole in staatlichen Einrichtungen“, in: Krämer, Peter u.a. (Hrsg.): Recht auf Mission contra Religionsfreiheit? Das christliche Europa auf dem Prüfstand. Münster: Lit. Wensierski, Hans Jürgen von/Claudia Lübcke (Hrsg.) (2007): Junge Muslime in Deutschland. Lebenslagen, Aufwachsprozesse und Jugendkulturen. Opladen u.a.: Budrich. Wenzel, Bianca (2007): „Tatmotiv Ehre“, in: Marks, Stephan (Hrsg.): Scham, Beschämung, Anerkennung. Münster: Lit.
Der Islam und die Evangelische Kirche in Deutschland „Klarheit und gute Nachbarschaft“?1 Wolf-Dieter Just
Neuere Studien zeigen ein erschreckendes Ausmaß islamophober Stimmungen in Deutschland.2 Nachgewiesen werden ein erschreckendes Ausmaß an Vorurteilen und Unkenntnis über den Islam und seine Vielfalt in der bundesrepublikanischen Bevölkerung, mangelnde Differenzierung zwischen Islam, Islamismus und islamistisch motiviertem Terrorismus und große Kommunikationsdefizite zwischen Muslimen und autochthoner Gesellschaft. Reißerische Medienberichte über „Parallelgesellschaften“ und Ausländerkriminalität, über unterdrückte Frauen, Ehrenmorde oder Zwangverheiratungen.3 tragen zu dieser Stimmungslage bei, vermitteln das Bild einer archaischen Religion, die in der Moderne noch gar nicht angekommen ist und deren Angehörige in unsere Gesellschaft nicht integrierbar sind. In diese islamophobe Stimmungslage trifft die Handreichung des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) mit dem Titel Klarheit und gute Nachbarschaft. Christen und Muslime in Deutschland, erschienen 2006 in der Reihe EKD-Texte, Ausgabe 86. Man sollte von einer kirchlichen Stellungnahme 1
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Gekürzte und aktualisierte Fassung meines Aufsatzes von 2007: „Die EKD und die Islamophobie“ in: Jürgen Micksch (Hrsg.): Evangelisch aus fundamentalem Grund. Frankfurt a.M.: Lembeck, S. 221-237. Vgl. die Umfrageergebnisse des Instituts für Demoskopie Allensbach im Auftrag der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, am 17. Mai 2006 veröffentlicht; Leibold/Kühnel 2006; s.a. den Beitrag von Leibold und Peucker in diesem Buch sowie Just 2007. Beispiele für reißerische und undifferenzierte Darstellungen gibt es nicht nur in der BoulevardBerichterstattung, sondern beispielsweise auch immer wieder im „Spiegel“: siehe etwa die Titelgeschichten: „Allahs rechtlose Töchter“, 15.11.04 und „Mekka Deutschland. Die stille Islamisierung“, 13.3.07. – Die Erfurter Islamwissenschaftler Carola Richter und Kai Hafez (2007) haben die Darstellung des Islam in ARD und ZDF untersucht und sind zu der Feststellung gekommen, dass der Kontext, in dem der Islam thematisiert wurde, in über 80 Prozent der Fälle negativ besetzt war, wobei vor allem die Themen Terrorismus und Extremismus (23 Prozent) dominierten. Während nur knapp 20 Prozent der Sendungen den Alltag von Muslimen oder die Religiosität an sich behandelten, ließ sich das restliche Themenspektrum in Integrationsprobleme, religiöse Intoleranz, Fundamentalismus, Unterdrückung von Frauen und Menschenrechten aufteilen; siehe auch den Beitrag von Hafez in diesem Buch.
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erwarten, dass sie aus Fairness gegenüber den betroffenen Muslimen und um des gesellschaftlichen Friedens willen zum Abbau von Unkenntnis und Vorurteilen beiträgt. Offensichtlich gilt es hier ja ein erhebliches Bildungsdefizit abzubauen und Orientierung für den Umgang mit Muslimen zu vermitteln. Leistet das diese Handreichung? Der Titel bezeichne, wie es in der Einleitung heißt, „zwei miteinander verbundene Aufgaben. Zur Begegnung mit Muslimen soll ermutigt werden, um zu guter Nachbarschaft und wechselseitig bereicherndem Zusammenleben zu finden. Schwierigkeiten und Konflikte dürfen dabei nicht ignoriert, sondern müssen klar angesprochen und so weit wie möglich geklärt werden.“ (S. 11) Die erste Aufgabe entspricht den Konklusionen, die sich aus den erwähnten Untersuchungen zur Islamophobie ergeben (siehe oben). Aber auch die zweite Aufgabe kann der Überwindung von Angst vor dem Islam und seinen Anhängern dienen. Denn die Berichte über Terrorakte im Namen des Islam, über Ehrenmorde, Zwangsehen und so weiter sind in der Welt. Sie dürfen im Dialog nicht ausgespart bleiben: einmal, weil diese Berichte die Menschen bewegen und beunruhigen, zum anderen, weil ohne Klärung dieser Konfliktfelder kein differenziertes Bild des Islam in seiner Vielfalt vermittelt werden kann (siehe auch den Beitrag von Hippler in diesem Buch). Ein so genannter „Kuscheldialog“ (Bischof Wolfgang Huber, Ratsvorsitzender der EKD) – wenn es ihn denn überhaupt gibt8 – ist nicht sinnvoll, weil er auf bestehende Fragen und Ängste der Bürger beziehungsweise Gemeindemitglieder keine Antwort gibt. Von daher sind die Aufgaben, die sich die Autoren der Handreichung unter Vorsitz von Dr. Jürgen Schmude (Moers) gestellt haben, richtig und zu begrüßen. Die Verbindung dieser beiden Aufgaben ist allerdings nicht leicht. Die Pflege guter Nachbarschaft kann auf Kosten der Klärung kritischer Fragen gehen. Umgekehrt kann Kritik Vertrauen zerstören, wenn sie den Achtungsanspruch des Dialogpartners verletzt und sich im Ton vergreift. Wie hat die EKD diesen schwierigen Balanceakt bewältigt? Meines Erachtens ist er misslungen. Ich will versuchen zu zeigen, dass in der Handreichung beide Aufgaben unzureichend erfüllt werden. Das liegt unter anderem an der inneren Widersprüchlichkeit der Handreichung – den ersten drei Kapiteln, die vor allem „Klarheit“ schaffen sollen und in einem zum Teil harschen, zum Teil oberlehrerhaften Ton verfasst sind, und den letzten beiden Kapiteln, in denen es um „Ziele und Inhalte der interreligiösen Zusammenarbeit“ geht und die einen wesentlich versöhnlicheren Ton anschlagen. Die unterschiedlichen Einstellungen zum Islam in der Autorengruppe der Handreichung konnten hier 8
Wenn die oben angeführten Umfrageergebnisse zur Islamophobie in Deutschland für die Mitglieder evangelischer Kirchengemeinden nicht wesentlich anders ausfallen, wäre die Gefahr eines „Kuscheldialogs“, der die neue Handreichung der EKD Klarheit und gute Nachbarschaft motiviert hat, nicht die angemessene Problembeschreibung (siehe unten).
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allzu offensichtlich nicht ausgeglichen werden – mit der Konsequenz, dass die Handreichung auch unterschiedliche Botschaften vermittelt und so ihrer Orientierungsaufgabe nur unzureichend gerecht wird. Da es in meinem Beitrag vor allem um das Problem der „Islamophobie“ geht, konzentriere ich mich im Folgenden auf die kritischen Anfragen, die an den Islam gerichtet werden und den breitesten Raum einnehmen. Dass der ersten Aufgabe, der Förderung „guter Nachbarschaft“, nicht gedient wurde, zeigt die einhellige Ablehnung der Handreichung durch die Muslime – nicht nur durch Vertreter muslimischer Verbände, sondern auch durch nicht organisierten Muslime, mit denen seit langer Zeit der Dialog gepflegt wird (siehe Mohagheghi 2007; Zentrum für Islamische Frauenforschung 2007; Cakir 2007). Bischof Huber meint in der Einleitung, die Handreichung gehe „vom Respekt für den Glauben und die Überzeugungen der Muslime aus.“ (S. 9) Wie viel Abschätzung und unsachliche Emotionalität jedoch birgt ein Satz wie dieser: „Ihr Herz werden Christen schwerlich an einen Gott hängen können, wie ihn der Koran beschreibt und Muslime verehren“? (S. 19) Und nicht nur an dieser viel zitierten Stelle wird den Muslimen der notwendige Respekt für ihren Glauben versagt. Was soll die abwertende Bemerkung zum islamischen Menschenbild, wenn es heißt, dass „nach christlicher Auffassung dem Menschen eine unteilbare Würde zukommt, den der Islam jedoch nicht als Gottes Ebenbild betrachtet“? (S. 20) Hat der Islam nicht mit seinem Verständnis des Menschen als Treuhänder und Statthalter Gottes (Khalifa) eine ganz ähnliche Vorstellung von der Würde des Menschen entwickelt? Was soll die Bemerkung, nach der Muhammad angeblich selbst „Apostaten aufgrund ihres Glaubenswechsels getötet“ hat? (S. 37) Darf man eine für Muslime so schwer erträgliche Behauptung in den Raum stellen und einen Beleg schuldig bleiben? Was soll die Abwertung der islamischen Eheschließung, die angeblich „keine geistliche Handlung“ ist, bei der nicht um den Segen Gottes gebetet wird, sondern die lediglich „ein zivilrechtlicher Vertragsabschluss“ ist, „der mit der Regelung der ‚Abendgabe‘, dem zweiten Teil der Brautgabe, schon ganz konkret die Möglichkeit der Scheidung einrechnet“? (S. 56; siehe auch Mohagheghi 2007: 27f.; KRM 2007: 14) Was soll die ständige wertende Gegenüberstellung von Islam und Christentum, bei der der Islam regelmäßig schlecht aussieht – sei es, dass man die Gottesbilder vergleicht (S. 19), das Engagement für den Frieden, das Verhältnis zur Gewalt (S. 19f.; 45f.), den Umgang mit schuldhaften Verstrickungen in der Vergangenheit (S. 24) oder ähnliches. Die Handreichung ist leider voll von solch wertenden Urteilen über den Islam, die nicht guter Nachbarschaft dienen, aber auch nichts „klären“. Dementsprechend sind Muslime verletzt und „empfinden die HR als unsachgemäße und grenzüberschreitende Kritik an den Grundlagen ihrer religiösen Identität“ (ZIF 2007: 31).
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Die Absicht der Studie galt ganz offensichtlich mehr der zweiten Aufgabe: Klarheit zu schaffen, indem „Schwierigkeiten und Konflikte“ angesprochen werden. Ob man dadurch zu deren „Klärung“ beigetragen hat, muss ebenfalls bezweifelt werden, denn Klärung erreicht man nicht, indem man entdifferenziert und ein verzerrtes Islambild zeichnet; diese Kritik haben mehrere Autorinnen und Autoren im Rahmen einer Dokumentation zur Handreichung ausführlich entfaltet und begründet (epd 2007). Ich möchte mich darum darauf beschränken, an einigen Beispielen zu zeigen, wie diese Handreichung Ängste vor dem Islam nicht etwa abbauen hilft, sondern eher verstärkt. Da heißt es zwar: „Die Mehrheit der Muslime in Deutschland ist um Integration bemüht und bejaht die Demokratie des Grundgesetzes. Muslime wollen in Deutschland friedlich leben, ihren Glauben auch äußerlich sichtbar zeigen und ihn an ihre Kinder weitergeben. Viele engagieren sich aus Glaubensüberzeugung in vielfältiger Weise in Gesellschaft und Politik sowie als Partner im interreligiösen Dialog. Das verdient ausdrücklichen Respekt und Unterstützung.“ (S. 50) Wer nun aber erwartet, dass die Handreichung diese mehrheitlich friedliebenden und integrationsbereiten Muslime in Deutschland gegen pauschale Vorurteile und Verdächtigungen in Gesellschaft und Öffentlichkeit in Schutz nimmt, wie es christlicher Liebe zu Wahrhaftigkeit und Solidarität entspräche, sieht sich getäuscht. Statt dessen widmet sich der Text, der doch von „Christen und Muslimen in Deutschland“ handeln will, ausführlich all den Gräueln, die irgendwo auf der Welt im Namen des Islam begangen werden: eingeschränkte Religionsfreiheit in einer Reihe islamisch geprägter Länder (S. 27), „Auspeitschungen, Amputationen oder Steinigungen“ im Norden Nigerias und im Sudan (S. 34), eine von islamisch politischen Organisationen angestrebte „parallele Etablierung und […] schrittweise Durchsetzung der Scharia in europäischen Ländern“ (S. 34), Repressionen gegen Minderheiten in islamisch geprägten Ländern (S. 36f.), „Drohungen, Einschüchterung oder Anschläge auf Leib und Leben des Konvertiten“ in Ländern mit mehrheitlich muslimischer Bevölkerung (S. 37), Enterbung des Konvertiten, „Verlust seines Besitzes, seiner Arbeitsstelle und seiner Familie durch Ausstoßung oder Zwangsscheidung“ bis hin zu Gefängnis, psychiatrischer Zwangsbehandlung und Enthauptung (S. 38). Die Handreichung erwähnt Schauprozesse – insbesondere wegen Ehebruchs – in Nigeria, Saudi-Arabien, Iran und Sudan (S. 40), die Unterdrückung der Frau, die zum Teil auch auf die „unheilige“ Allianz zurückzuführen ist, die der Islam in einigen Ländern mit frauenfeindlichen Traditionen eingegangen ist – von der „Gehorsamspflicht der Frau“, über den Verkauf von Ehefrauen, dem Züchtigungsrecht gegenüber der Ehefrau, Zwangsehen, dem Recht zur Verstoßung der Frau, der Polygamie bis zu Genitalverstümmelung und Ehrenmorden (S. 39ff.) –
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man hat hier nichts ausgelassen! (siehe auch den Beitrag von Schneiders in diesem Buch). Wer das alles liest, dem kann vor dem Islam nur schaudern! Merkwürdig mutet an, wenn im gleichen Atemzug darüber geklagt wird, dass „nicht der Beitrag der Religionen zur Förderung des Friedens, sondern das von ihnen ausgehende Gefahren- und Gewaltpotential […] ins Zentrum des öffentlichen Interesses“ rückt (S. 42f.). Es kann gewiss nicht darum gehen, die Gefahren, die von islamistischem Terror und Fundamentalismus ausgehen, zu verharmlosen. Im Gegenteil: Hier ist alle notwendige „Klarheit“ angesagt, der Kampf dagegen ist jede Anstrengung wert. Aber was hat die Mehrheit der Muslime in Deutschland damit zu tun, die doch „um Integration bemüht“ ist, die „die Demokratie des Grundgesetzes“ bejaht und hier friedlich leben will? Dieser Mehrheit widmet die Handreichung wenig Aufmerksamkeit. Ergebnisse des bisherigen christlich-islamischen Dialogs in Deutschland werden nicht verarbeitet – Stellungnahmen und Distanzierungen unserer Dialogpartner interessieren wenig. Einige von ihnen bemühen sich seit längerer Zeit mit Mitteln der Hermeneutik und historischer Kritik um eine zeitgemäße Interpretation von Koran, Sunna und Scharia. Sie vertreten ein Islamverständnis, das mit Demokratie und Menschenrechten, mit Frauenrechten und Religionsfreiheit kompatibel ist (epd 2007: Kap. 1 „Reaktionen von muslimischer Seite“; Neuser 2005). Sie können dabei an die Arbeiten islamischer Reformtheologen anknüpfen, für die etwa die Ankaraner Schule steht (Körner 2006; für einen Überblick über die innerislamische Diskussion: Flores 2005). Sollten nicht diese interessanten Reformbestrebungen aufgewertet werden anstatt sie zu ignorieren? Welchen Beitrag leistet die Handreichung zu Integration und friedlichem Zusammenleben mit Muslimen in Deutschland, wenn sie den Islam auf seine traditionalistischen oder gar islamistischen Auslegungsvarianten festlegt?
Muslime als Migranten Die nicht gerade Islamophobie abbauenden, sondern eher integrationsschädlichen Aussagen der Handreichung – insbesondere in den Kapiteln 1 bis 3.1 – sind umso unverständlicher, wenn man das beachtliche Engagement der EKD im Bereich der Zuwanderungspolitik, der Integration von Migranten und der Bekämpfung von Fremdenfeindlichkeit und Rassismus betrachtet, auf das selbst hingewiesen wird (S. 46ff.). Die EKD hat – oft gemeinsam mit der katholischen Kirche – schon seit 1970 zur Ausländerpolitik aller Bundesregierungen kritisch Stellung genommen, sich populistischen Strömungen entgegengestellt und sich „links“ vom so genannten „volkskirchlichen Konsens“ positioniert. Sie hat die
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primäre Wahrnehmung von „Ausländern“ als „Gefahr“ gerügt – sei es als Gefahr für die innere Sicherheit, die nationale Identität, den Arbeitsmarkt oder die sozialen Sicherungssysteme. „Ausländerpolitik“ dürfe nicht zu einer „Gefahrenabwehrpolitik“ verkommen. Eine solche Politik verletze die Würde der Betroffenen, schade der Integration und dem friedlichen Zusammenleben in der Gesellschaft. Kritisiert wurde die bis in die späten 90er Jahre aufrechterhaltene These, die Bundesrepublik sei kein Einwanderungsland (EKD/ DBK 1997: Ziff. 58ff.; siehe auch den Beitrag von Oberndörfer in diesem Buch), man rügte die daraus folgenden Versäumnisse der Integrationspolitik, wandte sich gegen die Politik der Rückkehrförderung in den 80er Jahren, die die Fremdenfeindlichkeit stark angeheizt hat, und die immer neuen Restriktionen, die eine gesellschaftliche Eingliederung verhinderten. Schon seit den frühen 70er Jahren fordern die Kirchen von der Politik ein schlüssiges Gesamtkonzept für den Umgang mit Zuwanderung und Integration (Stellungnahme des Diakonischen Werkes und Kirchlichen Außenamtes vom 19.1.1973 – abgedruckt in: Micksch 1978: 176; EKD/DBK 1997: Ziff. 168ff.). Gleichzeitig haben die Kirchen ihren Beitrag geleistet zur Überwindung von Xenophobie in der Gesellschaft, sich als „Brückenbauer zwischen den Kulturen engagiert“ (Affolderbach 2007: 70) – und zwar nicht nur durch Stellungnahmen, sondern durch konkrete Aktionen und Projekte von Caritas und Diakonie, durch die Einführung eines „Tages der ausländischen Mitbürger“, der dann zu einer „Woche der ausländischen Mitbürger/Interkulturelle Woche“ wurde. Sie sahen in „Ausländern“ besonders benachteiligte Mitglieder unserer Gesellschaft, die – ohne eigene Macht und Lobby – besonderer Zuwendung bedürfen. Bei den Muslimen der Handreichung handelt es sich weithin um den gleichen Personenkreis, dem die EKD über Jahrzehnte so starkes Engagement gewidmet hat. Die große Mehrheit von ihnen sind Einwanderer, die meisten türkischer Herkunft.14 Wie sollen sie den völlig veränderten Ton verstehen – etwa im Vergleich zu dem 1997 publizierten Gemeinsamen Wort der Kirchen zu den Herausforderungen durch Migration und Flucht? Man beachte nur, welch zentrale Beachtung dort das Problem der „Fremdenangst“ und deren Bekämpfung findet? (insbesondere in Ziff. 6ff.; 58f.; 210ff.; 244ff.). Begründet wird dies ethisch mit den Schutzbestimmungen für die Fremden im Alten Testament (Ex 23,9; Lev 19,33f. und öfter; EKD/DBK 1997: Ziff. 98ff.), mit dem alle Grenzen – auch die Grenzen der Religion (zum Beispiel Lk 10,25ff.) – überschreitenden Gebot der Nächstenliebe (EKD/DBK 1997: Ziff. 104), mit dem eschatologischen 14
Die Bundesregierung gab im April 2007 auf eine große Anfrage der Grünen hin an, sie gehe von 3,1 bis 3,4 Millionen Muslimen in Deutschland aus. Etwa eine Million davon seien (inzwischen) deutsche Staatsbürger. Die große Mehrheit der Muslime ist im Zuge der Anwerbung ausländischer Arbeitskräfte seit den 50er Jahren nach Deutschland gekommen.
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Gericht, in dem „die Behandlung des Fremden und anderer Not leidender Menschen sogar zum entscheidenden Kriterium für das Heil oder Unheil des Menschen“ wird (Mt 25, 31ff.; EKD/DBK 1997: Ziff 107), vor allem aber mit der Gottebenbildlichkeit und Würde, die nach biblischem Zeugnis jedem Menschen zukommt, unabhängig von Nationalität, Herkunft und Religionszugehörigkeit (EKD/DBK 1997: Ziff. 113ff.). „Grundlage für alles menschliche Zusammenleben ist die Anerkennung, dass jeder Mensch seinem Wesen nach Person ist. Seine Würde liegt darin, dass er geist- und vernunftbegabt ist, fähig, nach der Wahrheit zu fragen, sie zu erkennen und sich in Freiheit für das Gute zu entscheiden.“ (Ziff. 134; siehe auch Just 2004). Diese Stellungnahme ist doch von einem anderen Geist getragen! Wenn sich die EKD darin profiliert hat, dann als „Kirche für Andere“ (Bonhoeffer), nicht als Kirche, die sich vom Anderen abgrenzt. Diese Orientierungen und Regeln christlicher Würdeethik kehren durchgängig in den Stellungnahmen der EKD zu Migrationsfragen wieder und weisen dem Engagement die Richtung. In der Handreichung spielen sie kaum eine Rolle. Haben sie für Muslime keine Geltung? Ist Islamophobie weniger bekämpfenswert als Xenophobie? Von der Gottebenbildlichkeit des Menschen ist, wenn ich recht sehe, nur einmal die Rede, und auch nur, um dem Leser mitzuteilen, dass der Islam sie nicht kennt (S. 20). Die christliche Lehre von der Gottebenbildlichkeit des Menschen, die historisch wie kaum eine andere die moderne Vorstellung von der Gleichheit aller Menschen vorbereitet hat, muss dazu herhalten, sich von Muslimen abzugrenzen und ihnen auch noch ein defizitäres Menschenbild zu bescheinigen! Ganz anders ist der Ton dieser Handreichung auch gegenüber dem der EKD-Handreichung aus dem Jahre 2000 Zusammenleben mit Muslimen in Deutschland. Gestaltung der christlichen Begegnung mit Muslimen – darauf ist wiederholt hingewiesen worden (epd 2007). Hat denn der 11. September 2001 aus den Muslimen in Deutschland andere Menschen gemacht? Haben diese nicht genauso fassungslos die Terroranschläge an ihren Fernsehern verfolgt wie alle anderen? Wir erleben zur Zeit doch keinen „Kampf der Kulturen“ oder Religionen, sondern einen Kampf innerhalb der Kulturen, einen Kampf, der mitten durch die islamische Welt geht, der sich aber auch innerhalb der westlichen Welt zeigt – wenn man zum Beispiel an die Auseinandersetzung um die Aggressivität der religiös legitimierten US-Politik denkt, an die Kreuzzugs-Rhetorik von ExPräsident Bush oder an den Streit um den Kreationismus, der inzwischen auch Deutschland erreicht hat. Am 13. September 2001, also zwei Tage nach den Anschlägen vom 11. September, schreibt Navid Kermani in seinem Beitrag „Vier aus einer Milliarde“ für die Süddeutsche Zeitung: „Es sind die Muslime selbst, die unter dem Fanatismus der Taliban, der iranischen Staatsajatollahs, der puritanischen Petromuslime auf der arabischen Halbinsel leiden, die ihn millionen-
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fach fliehen. Es sind die reichen und einst liberalen Kulturen des Islam selbst, die in Ägypten, Sudan oder Pakistan zu aller erst von der neuen Bigotterie bedroht sind. Es gibt kein Wir, das westlich, und ein Ihr, das muslimisch wäre, so tatkräftig Terroristen vom Schlage Osama bin Ladens auch an dieser Polarisierung arbeiten und so nahe sie von der westlichen Kommentierung gelegt wird.“ Was sollen also die ständigen Ermahnungen zur „Rechtstreue“ an die Adresse der Muslime (S. 24), zur selbstkritischen „Auseinandersetzung mit der eigenen Geschichte und dem in ihr begegnenden religiös motivierten Fanatismus und Fundamentalismus“ als „Voraussetzung für die Abkehr vom Gewaltpotential der eigenen Tradition“? (S. 46) Die EKD hätte sich große Verdienste erworben, wenn sie mit ihrer Handreichung die falsche, ungerechte und verhängnisvolle Frontenbildung aufgebrochen hätte. Sie hätte dabei an viele positive Erfahrungen aus ihrer Begegnung mit Muslimen und an wichtige Ergebnisse des seit Jahren geführten Dialogs mit ihnen anknüpfen können. Sie hat in der großen Mehrheit der Muslime Bündnispartner gegen Islamisten und Menschenrechtsverächter. Die Handreichung ist nicht bemüht, das in der Öffentlichkeit vorherrschende, verzerrte und Ängste schürende Islambild zu korrigieren, sondern bildet es eher ab. Die Funktion solcher Darstellungen, nämlich von eigenen Problemen abzulenken, wird offenbar nicht durchschaut. Vieles, was dem Islam angelastet wird, kommt genauso im christlich geprägten Abendland vor. „Wenn bei uns so häufig die Unterdrückung der Frau im Islam und die gegen sie gerichtete männliche Gewalt thematisiert wird, dann scheint das die Funktion zu haben, von dem im Westen gegen Frauen gerichteten Gewaltpotential abzulenken. In Wahrheit gibt es in den westlichen Haushalten ebensoviel Gewalt wie in den islamischen. Aber das Nachdenken über diese Gewalt verschwindet hinter der Erregung über die Gewalt gegen die Frau in islamischen Gesellschaften.“ (Christina von Braun im Interview mit Publik-Forum 22.6.07, S. 50; siehe auch den Beitrag von Schröttle in diesem Buch). Dies gilt ähnlich für andere Themen: So kann die Handreichung die islamische Eheschließung abwerten (S. 56) und die Krise der Ehe in den christlich geprägten Ländern unerwähnt lassen. Großes Interesse finden die Ehrenmorde von Muslimen (S. 42), die mehr als hundert rassistisch motivierten Mordtaten in Deutschland seit 1990 sind dagegen weniger interessant und diskussionswürdig. Man geißelt das Gewaltpotential im Islam und schweigt über das Ausmaß an Blutopfern amerikanischer Aggressionspolitik (Beispiel Irak!) und deren Unterstützung durch christliche Fundamentalisten. Man betont – zu Recht – die Notwendigkeit, im Dialog „auch unangenehme Wahrheiten und Realitäten auszusprechen“ (S. 13), versäumt es aber, bei sich selbst anzufangen. Dabei gehört es laut Handreichung zu den Kriterien guter Dialogpraxis, Kritik mit Selbstkritik zu verbinden (S. 113). Ich scheue mich, an
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das Jesus-Wort von dem Splitter im Auge des anderen und dem Balken im eigenen zu erinnern (Mt 7,3-5), weil es so oft zitiert wird. Wahr bleibt es doch.
Ausblick Wie wird sich die Handreichung auf den künftigen Dialog auswirken? Hier wird man zwischen den verschiedenen Ebenen unterscheiden müssen. Der Dialog zwischen Fachtheologen wird wohl kaum berührt werden. Dazu bietet die Handreichung – zumal das erste theologische Kapitel – zu wenig Substanz. Nur die in der Handreichung so problematische Verhältnisbestimmung zwischen Dialog und Mission, die zum Eklat mit den islamischen Verbänden geführt hat, wird neues Nachdenken herausfordern (epd 2007). Auf der Ebene offizieller Vertreter von EKD und Verbänden ist dem Dialog Schaden zugefügt worden. Über das Ausmaß gibt die Antwort der Verbände Auskunft (KRM 2007: 13ff.). Die Handreichung leiste kaum einen Beitrag zum Dialog. „Vielmehr scheint die EKD Wert darauf zu legen, bestehenden Vorurteilen gegenüber dem Islam eine kirchenoffizielle Bestätigung zu geben und sogar Klischees, die in evangelikalen Kreisen über den Islam verbreitet werden, einer breiteren Öffentlichkeit zugänglich zu machen.“ Die Handreichung zerrütte „das Vertrauen zwischen bisherigen (sic!) Dialogpartnern.“ (KRM 2007: 20) Über diesen Vertrauensverlust konnte man sich auch beim 31. Deutschen Evangelischen Kirchentag in Köln informieren, wo sich Bischof Huber und Vertreter islamischer Verbände trotz laufender Fernsehkameras mit unverhältnismäßiger Schärfe auseinandersetzten. Die Muslime wehrten sich gegen die Handreichung, die vor „Beleidigungen“ und „Unterstellungen“ nur so strotze. Bischof Huber wies die Kritik nicht weniger konfrontativ zurück, kritisierte unter anderem die mangelnde Religionsfreiheit in islamisch geprägten Ländern und die Ermordung dreier Christen in der osttürkischen Stadt Malatya im Mai 2007. Er verwahrte sich gegen den Vorwurf mangelnder Differenzierung in der Handreichung mit Hinweis auf die Verdienste des Vorsitzenden der Arbeitsgruppe, die den Text erarbeitet hat, Dr. Jürgen Schmude, Bundesminister a.D. Angesichts der Verhärtung der Fronten wird man wohl kaum damit rechnen können, dass sich die EKD bei den Muslimen entschuldigt oder die Handreichung zurücknimmt, wie von verschiedener Seite vorgeschlagen wurde. Befürchtet werden muss vielmehr, dass sich das Verhältnis zwischen Kirchen und Islam in Deutschland grundlegend verändern wird, dass die Muslime die bisherige Unterstützung der Kirchen, auf die sie auf Grund ihrer schwachen gesellschaftlichen Stellung angewiesen sind, verlieren werden. Man wird sie eher als Konkurrenten sehen (S. 12) und die Unterschiede betonen, um das eigene
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Profil zu schärfen. Das gilt auch für die katholische Kirche, wie die jüngsten Äußerungen Kardinal Lehmanns zeigen, wenn er sich gegen die rechtliche Gleichstellung christlicher und nichtchristlicher Religionen in Deutschland wendet. Das Christentum habe nicht nur die Geschichte Europas geprägt, sondern wirke über die europäische Rechtskultur bis in die Gegenwart hinein (FAZ, 21.6.07). In ähnliche Richtung steuert Kardinal Meisner, wenn er gegen den geplanten Bau einer Großmoschee im Kölner Stadtteil Ehrenfeld Stellung bezieht. Im Deutschlandfunk sprach er von einem „Erschrecken“ und einem „Kulturbruch“, wenn im Panorama von Köln künftig auch eine Moschee zu sehen sei (FAZ, 21.6.07; zum Thema siehe auch den Beitrag von Poulin in diesem Buch). Was wird auf der an sich wichtigsten Ebene, dem Dialog vor Ort zwischen Kirchen- und Moscheegemeinden, geschehen? Das ist nicht leicht vorherzusagen. Die Art, wie die Islambeauftragten der Landeskirchen kritisch bis empört auf die Handreichung reagiert haben, lässt vermuten, dass man den Dialog jetzt gerade verstärkt und wechselseitig um Vertrauen wirbt (epd 2007: 42, 43, 46). Der Dialog ist auf dieser Ebene oft schon über Jahrzehnte gewachsen und wird durch die Handreichung kaum zu erschüttern sein. Die Unterstellung, dieser Dialog habe harmonistische Formen angenommen und würde „gesellschaftliche und politische Kontroversthemen (Menschenrechte, säkularer Staat, Demokratie, Scharia, Religionswechsel, Frauenfrage)“ herunterspielen und verharmlosen – so die Mitautoren der Handreichung Reinhard Hempelmann und Johannes Kandel (in Berndt u.a. 2007: 60) – wird schwer zu verifizieren sein. Die genannten Themen sind eigentlich Dauerbrenner bei Dialogveranstaltungen. Anders ist dort lediglich der Stil der Auseinandersetzung – der Dialog erfolgt auf Augenhöhe, in gegenseitiger Achtung und der Wahrnehmung gemeinsamer Aufgaben, wie es in der Handreichung selbst gefordert wird (S. 13, 112). Aber wird man sich auf dieser Ebene dauerhaft gegen die Linie der EKDSpitze stemmen können? Die Proteste gegen die Handreichung – auch von namhaften Persönlichkeiten aus dem deutschen Protestantismus – sind zahlreich und deutlich. Es bleibt abzuwarten, wie sich die EKD-Synode langfristig zu diesen Fragen stellen wird. Zu wünschen ist, dass sich am Ende das Anliegen durchsetzt, das im letzten Kapitel der Handreichung formuliert wird: „Der eingangs formulierte Grundsatz gilt, dass es zu einem Dialogprozess, der gegenseitiges Verstehen, respektvollen Umgang miteinander und gute Nachbarschaft wachsen und gedeihen lässt, keine Alternative gibt. Alles Denken und Trachten, welches Gewalt, Feindschaft und Hass zwischen Christentum und Islam schafft, muss endgültig der Vergangenheit angehören.“ (S. 119)
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Die katholische Kirche auf dem Weg zur ‚robusten Ökumene‘ Vernunft und Glaube in Regensburg Jobst Paul Der Eklat Mit seiner Regensburger Rede vom 12. September 2006 kam Papst Benedikt XVI. seinem Renommee als akademischer Lehrer noch einmal entgegen, und dies mit seinem Steckenpferd, der Erzählung vom hellenistischen Christentum (Ratzinger 2006; letztgültige, mit Anmerkungen versehene Fassung der Rede). Schon in seiner Bonner Antrittsvorlesung von 1959 war diese Erzählung Thema (Ratzinger 2005). Sie fand Eingang in die Enzyklika Ratio et Fides (1998) von Papst Johannes Paul II. und in diverse populäre Darstellungen Joseph Ratzingers für den Büchermarkt. In der Erklärung Dominus Iesus von 2000 verdichtete sie sich schon zum Dogma, dem gegenüber das Dokument von der gesamten Kirchenhierarchie „Gehorsam“ einforderte. In Regensburg diente sie zur Scheidung zwischen den ‚Vernünftigen‘, die an die Geschichte vom hellenistischen Christentum glauben sollen, und – allen Anderen. Gegen die Muslime unter letzteren ließ er den byzantinisch-orthodoxen Kaiser, Manuel II., mit einer Beleidigung zu Wort kommen: An Neuem habe Muhammad „nur Schlechtes und Inhumanes“ gebracht, und ein Nebensatz erläuterte, „wie dies, daß er vorgeschrieben hat, den Glauben, den er predigte, durch das Schwert zu verbreiten“. Da habe der Kaiser aber „zugeschlagen“ – kommentierte der Papst die Bosheit, auf die er ausführlich zugearbeitet hatte, unter anderem mit Hinweisen darauf, dass der Kaiser es besser hätte wissen können. Der Kaiser habe in „erstaunlich schroffer Form“ reagiert, hieß es im Wortlaut der eigentlichen Rede. Erst in der späteren Letztfassung (Ratzinger 2006) lieferte der Papst die ursprünglich vermisste Distanzierung nach. Nun hieß es dort: „in erstaunlich schroffer, für uns unannehmbar schroffer Form“. Statt aber eine Gleichsetzung zwischen Islam und Gewalt zu dementieren, gab sich Ratzinger in Regensburg noch „fasziniert“, denn der Fürst spreche hier zum Verhältnis von Gewalt und Religion an sich. In der Textquelle (Manuel II. 1993: Bd.1, S. 241, Abs. 1.5-1.6) freilich traktiert der Kaiser allein den Islam als Gewaltreligion und setzt dem ein christliches Friedenscredo entgegen: Wer „jemanden zum Glauben führen“ wolle, brauche „die Fähigkeit zur guten Rede und ein rechtes Denken, nicht aber Gewalt und Dro-
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hung“. Gott habe „kein Gefallen am Blut“. Damit empfahl Ratzinger eine Kernaussage jüdischer Bibelweisheit aus dem Mund eines Herrschers, der – wenn auch am Ende der byzantinischen Macht – das christliche Schwert führte, auch wenn der von ihm gegen die Osmanen organisierte Kreuzzug scheiterte (Freitag, 38/2006: Interview mit Prof. Massarrat). Die Dialoge mit einem Perser, aus deren 7. Teil der Papst zitierte, entstanden aus Streitgesprächen, die Manuel II. im Herbst 1391 in Ankara mit einem türkischen Lehrer führte, und die bis in die letzten Jahre immer wieder ediert wurden (Todt 1993). In Regensburg erweckte Ratzinger dagegen den Eindruck einer Neuentdeckung, die er erst „kürzlich“ gelesen habe, und verwies auf die von Prof. Adel Theodor Khoury betreute, französische Ausgabe der Kontroverse. Nur – aus ihr konnte schwerlich auf Deutsch zitiert werden, was der Papst gleichwohl tat. Zudem zeigt ein Blick in die Bibliothekskataloge, dass Khourys Ausgabe schon 40 Jahre alt ist. Sie erschien 1966 in Paris (Anmerkung 1 der Regensburger Rede weist jetzt darauf hin), hundert Jahre nach der ebenfalls französischen Ausgabe der Opera omnia theologica (Migne 1866). Über die Natur der Dialoge ist sich die Fachwelt einig: Englischsprachige Quellen bezeichnen sie als „controversial literature“ (Streitliteratur), Todt hält sie für „Islampolemik“ (1993), Kardinal Lehmann charakterisierte sie als „kritischoffensiv“: Der inkriminierte Satz sei „gewiss nicht zwingend notwendig“ gewesen (vgl. 2006). Tatsächlich vertritt Manuel II. in der Kontroverse eine triumphalistische, mit Herabsetzungen des muslimischen Gegenübers gespickte Position. Die umgekehrte Kritik des muslimischen Gesprächspartners an der christlichen Vernunft weist Manuel II. dagegen als „Verhöhnung“ zurück (1993: Bd. I, S. 253, Abs. 3.4). Entsprechend spricht auch der Grazer Historiker und Theologe Wilhelm Braun von „traditionellen byzantinischen Anti-Islam-Polemiken“ (2002; Brauns Darstellung wurde in der Debatte um die Regensburger Rede zur wichtigen Informationsquelle im englischsprachigen Raum). Dies hinderte ihn aber nicht, im Jahr 2003 die Dialoge in Auswahl, und nun als ‚Weltliteratur‘ zu edieren, um sie mit finanzieller Unterstützung der konservativen österreichischen Regierung – Brauns Publikation wurde vom Ministerium für Bildung, Wissenschaft und Kultur unterstützt und erschien in dem von ihm selbst gegründeten und geführten Kitap-Verlag, der „im Rahmen der Kunstförderung“ wiederum vom Bundeskanzleramt in Wien gefördert wird – in den aktuellen europapolitischen Ring zu werfen. Im Vorwort heißt es: „Die Diskussion um die mögliche Aufnahme der Türkei in die Europäische Union und über die Folgen des Anschlags vom 11.9.2001 haben viele Fragen hinsichtlich der Konfrontation Europas mit dem Islam aufgeworfen. Über Jahrhunderte hindurch verteidigte das Byzantinische Reich Europa vor dem Ansturm der Araber und Türken. Kaiser Manuel II. setzte sich mit der Frage des Islam auch in einem Dialog auseinander,
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von dem hier fünf Teile in Übersetzung vorgelegt werden. […] Die vorliegende Arbeit mag verdeutlichen, dass Deklarationen des türkischen Parlaments nicht ausreichen können, die Türkei in Europa zu integrieren. Auch die Türkei muss sich der kritischen Auseinandersetzung mit ihrer Vergangenheit stellen und die Reste des orientalischen Christentums schützen. Die Ruinen der armenischen Kirchen, die zerstörten Fresken von Kappadokien und die Vernichtung von unschätzbarem Kulturgut verdeutlichen, dass es in der Türkei hier noch immer am Bewusstsein fehlt, Konsequenzen aus der Vergangenheit zu ziehen. Das Werk Manuels II. gehört zum europäischen Kulturgut; es soll daher im Diskurs der Kulturen auch in Zukunft Beachtung finden.“ (S. 6) Politisches, nicht Wissenschaftliches, so zeigt sich, stand in Regensburg im Mittelpunkt, und entsprechend ließ der Papst über die abgrenzende Polemik dem Islam gegenüber ein christliches Leitbild entstehen: „Manuel II. hat wirklich aus dem inneren Wesen des christlichen Glaubens heraus und zugleich aus dem Wesen des Hellenistischen, das sich mit dem Glauben verschmolzen hatte, sagen können: Nicht ‚mit dem Logos‘ handeln, ist dem Wesen Gottes zuwider.“ (Ratzinger 2006) Ganz zum Abschluss der Rede lobte Ratzinger schließlich noch einmal das christliche Gottesbild des Manuell II. Unter Rückgriff auf eine islamtheologische Extremposition des Mittelalters hatte er dem zuvor das Gottesbild ‚des Islam‘ gegenüber gestellt, das heißt mit fehlender Vernunft und der Tendenz nach mit Gewalt in Zusammenhang gebracht: „Für die moslemische Lehre hingegen ist Gott absolut transzendent. Sein Wille ist an keine unserer Kategorien gebunden und sei es die der Vernünftigkeit. Khoury zitiert dazu eine Arbeit des bekannten französischen Islamologen R. Arnaldez, der darauf hinweist, daß Ibn Hazn so weit gehe zu erklären, daß Gott auch nicht durch sein eigenes Wort gehalten sei und daß nichts ihn dazu verpflichte, uns die Wahrheit zu offenbaren. Wenn er es wollte, müsse der Mensch auch Idolatrie treiben.“ (ebd.) Der innerkatholisch gut informierte Stephan Baier schlug kurz danach noch tiefer in die Kerbe: „Er hat einem Gottesbild widersprochen, das die Brücke zwischen der menschlichen Vernunft und dem Allmächtigen abreißt. Er stemmte sich gegen das Bild ‚eines Willkür-Gottes […], der nicht an die Wahrheit und an das Gute gebunden ist‘. […] Der ewige und allmächtige Gott, der Schöpfer des Universums und jeder Menschenseele ist für den Muslim ganz transzendent und unerforschlich in seinem Willen, für den Christen aber unser liebender Vater.“ (Die Tagespost, 16.9.06). Am 21. September resümierte der Islamwissenschaftler Christian Troll, bis 2005 Mitglied des Päpstlichen Rates für den Interreligiösen Dialog, „dass die Flitterwochen des Dialogs in den letzten Jahrzehnten seit dem Konzil – die ja auch etwas Gutes hatten – vorbei sind.“ (Radio Vatikan, 21.9.06). Schon vor Ratzingers Deutschlandbesuch hatte der rechtskonservative Publizist Hans-Peter
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Raddatz den grundlegenden Kurswechsel des Vatikan unter Benedikt XVI. in Sachen Islam-Dialog begrüßt und sah sich nun bestätigt (2006; 2006a; zu Raddatz siehe auch den Beitrag von Riexinger in diesem Buch). Zweifellos also unternahm der Papst in Regensburg im Gewand des Wissenschaftlers eine politisch gemünzte Islampolemik, die er ‚wissenschaftlich‘ immunisierte und bis zur Schmerzgrenze ‚ausreizte‘. Angesichts der sich danach zuspitzenden weltweiten Reaktionen trat er am 20. September 2006, im Rahmen der wöchentlichen Generalaudienz in Rom, schließlich einen taktischen Rückzug an: Aus dem ‚christlichen Leitbild‘ Manuel II. wurden nun wieder „die negativen Worte“ eines „mittelalterlichen Imperators“ (vgl. Spiegel online, 20.9.06). Der „aufmerksame Leser“, an den Ratzinger in Rom appellierte, hatte also richtig verstanden. Der Politikwissenschaftler Mohssen Massarrat schließt: „Nähme man seinen Rückzieher ernst, es sei ja ein mittelalterlicher Text gewesen, den er zitiert habe, käme das dem Eingeständnis gleich, dass er geschludert hat.“ (Freitag, 38/2006) Die Diplomatie Allerdings erklärt all dies noch nicht die Bedeutung, die ein byzantinischorthodoxer Kaiser in der Rede bekommen sollte. Ratzinger rückte ihn als Repräsentanten der griechisch-orthodoxen Ostkirche ins Rampenlicht, die lange ein gespanntes Verhältnis zu Rom hatte. Todt zufolge stand Manuell II. dagegen für eine „nicht fanatische Position“ der Orthodoxie gegenüber dem Katholizismus, das heißt gar für eine „Kirchenunion“ zwischen beiden, um – zu seiner Zeit – „die Türken in Schach zu halten“ (Todt 1993). In der Tat wird das Gewicht Manuels II. in der Regensburger Rede nur vor dem Hintergrund der Anbahnung einer ‚strategischen‘ Partnerschaft zwischen Rom und der Ostkirche plausibel, die der Papst zu ‚seinem‘ Projekt gemacht hat. Die diplomatische Basis ist die Stiftung Pro Oriente, Wien, die sich der „Förderung der Beziehungen zwischen römisch-katholischer Kirche und den orthodoxen beziehungsweise altorientalischen Kirchen“ widmet. Der derzeitige Vorsitzende ist Kardinal Christoph Schönborn. Die Stiftung wurde 1964 aus Anlass des Zweiten Vatikanischen Konzils und seines Ökumenismus-Dekrets Unitatis Redintegratio gegründet (pro-oriente.at). Wie im März 2006 bekannt wurde, hatte Benedikt XVI. bei Amtsantritt im April 2005 auf den Titel ‚Patriarch des Abendlandes‘ verzichtet (FAZ, 3.3.06; ORF online, 23.3.06), was der Päpstliche Rat zur Förderung der Einheit der Christen „als ökumenisches Entgegenkommen gegenüber der Orthodoxie“ (KNA, 2.3.06) wertete. Sein Vorgänger, Johannes Paul II., war auf orthodoxer Seite wegen seiner polnischen Herkunft als ‚Hindernis‘ für eine Verständigung betrachtet worden. In
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einem Bericht des Internet-Zeitung russland.ru vom 4. April 2005 heißt es: „Wer auch immer die Rolle des neuen Papstes übernehmen wird, ein Pole wird der Globalisierung der Christen nicht wieder im Wege stehen.“ Skeptisch wurde die Entscheidung indes von Hans Küng bewertet. „Nicht der jetzt anscheinend abgeschaffte Papsttitel ‚Patriarch des Westens‘ ist für die Orthodoxen anstößig, sondern der eines römischen ‚Stellvertreters Christi‘, der eine förmliche Jurisdiktion über die gesamte Kirche (bis nach Sibirien und Ostanatolien) beanspruchen möchte. Auch wäre es höchst bedauerlich, wenn Benedikts Bemühen um Annäherung zur Orthodoxie zu Lasten der ökumenischen Beziehungen zu den Kirchen der Reformation ginge, deren Theologien wie Strukturen ihm vermutlich ferner liegen.“ (2006) Auch auf orthodoxer Seite kam es zu ähnlich kritischen Reaktionen. Entsprechend forderte etwa der russischorthodoxe Metropolit Hilarion Alfeyev den Papst direkt auf, alle Titel abzulegen, die seine „universelle Jurisdiktion und die kirchliche Doktrin, die dahinter stehe, bekräftigen“, um die „Wiederversöhnung zwischen der orthodoxen und der katholischen Kirche voranzubringen“ (Radio Vatikan, 5.4.06; für eine eingehende Analyse Die Tagespost, 10.6.06). Es gab auf orthodoxer Seite aber auch Hoffnungen, sich künftig auf „Augenhöhe mit der Schwesterkirche“ bewegen zu können (Deutsche Welle, 19.4.06). Kardinal Walter Kasper forderte im August 2005 „ein Treffen zwischen Katholiken und Orthodoxen auf höchster Ebene, in dem die Vereinigung beider Strömungen des Christentums besprochen werden soll“ (Bukalov 2005). Dabei spielte er auch auf die russisch-orthodoxe Kirche an, über welche Rom Einfluss beim russischen Präsidenten Putin gewinnen könnte – dem dieser Einfluss offenbar willkommen ist (zur diplomatischen Rolle von Kardinal Kasper Radio Vatikan, 3.7.05). Im Verlauf der weiteren Annäherung veränderte der russische Patriarch von Russland, Alexi II., im Februar 2006 seine einst ablehnende Position und rief „zur raschesten Überwindung der Probleme auf“, „die den Dialog zwischen der Russisch-Orthodoxen und der Katholischen Kirche behindern“ (russland.ru, 23.2.06). Im Mai 2006 traf sich unter dem Titel Europa eine Seele geben ein katholisch-orthodoxes Symposium in Wien. In einer Botschaft stellte der Papst fest, es ginge um „den Einsatz der Christen im Bereich des öffentlichen Lebens in Europa“, um „eine gemeinsame, mutige und erneuerte Evangelisierungstätigkeit im Europa des dritten Jahrtausends“, um das „von den Vorfahren überlieferte Erbe der Werte“ (Ratzinger 2006a); dies entspricht dem ideologischen Programm der auf Deutschland gerichteten ‚Papst-Stiftung‘, „alle möglichen Mittel der Öffentlichkeitsarbeit“ einzusetzen, um zu verhindern, „dass der alte, ehemals christlich geprägte Kontinent sich aufgibt. Die Stiftung soll helfen, dass Europa wieder in seinen christlichen Wurzeln Fuß fasst.“ (vgl. Radio Vatikan, 7.11.05; benedictus-stiftung.de). Aufgabe des Wiener Symposiums sei es, „eine gemein-
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same Analyse der Herausforderungen“ zu erarbeiten, „vor denen Europa in diesem Augenblick seiner Geschichte steht“ (Ratzinger 2006a). Nach Angaben des Metropoliten Kyrill von Smolensk und Kaliningrad wurde in Wien „ein sehr wichtiges gemeinsames Dokument“ angenommen (russland.ru, 22.6.06). Zum Fest Peter und Paul im Juni 2006 äußerte Ratzinger seine Hoffnung „auf baldige Einheit mit der Orthodoxie“ (ORF online, 29.6.06). Das von der türkischen Regierung – wie Manuel II. von den Osmanen zu seiner Zeit – auf Istanbul zurückgedrängte orthodoxe Oberhaupt, der Patriarch Bartholomaios I., hatte eine Delegation entsandt. Im Juli 2006 folgte ein Moskauer Welttreffen religiöser Führer mit einer hochrangigen katholischen Abordnung (russland.ru, 5.7.06). Im November 2006 bedankte sich der Moskauer Patriarch „emphatisch für eine 10.000-Euro-Spende aus dem Vatikan zum Wiederaufbau der St. Petersburger Dreifaltigkeitskirche“ – als „Zeichen echter Zuneigung zur russischorthodoxen Kirche“ (Süddeutsche Zeitung, 24.11.06). Soll es nach dem Sturz des Kommunismus eine christliche Offensive gegen islamische Vormachtstellungen, aber auch gegen die Bastionen des Unglaubens in Europa geben? Die Chancen für den Erfolg eines solchen roll-back beurteilt der Siegener Germanist Clemens Knobloch äußerst skeptisch. Es sei „eher unwahrscheinlich, dass sich eine neue politische Gemeinschaft der Vernunftfreunde ausgerechnet hinter der katholischen Fahne sammeln wird.“ (2006) In Regensburg demonstrierte der Papst offenbar bereits das offensive Selbstbewusstsein, das dem Bündnis zuwachsen soll. Als Morgengaben machten ‚Manuel II.‘ und wohl auch ‚Islampolemik‘ Sinn – in Richtung Belgrad, wo im September 2006 – nach sechsjähriger Pause – gerade eine entscheidende Verhandlungsrunde bevorstand. Am Abend des 12. September 2006, bei einer auf die Regensburger Vorlesung folgenden ökumenischen Vesper in Regensburg, zu der auch Vertreter der Orthodoxie geladen waren (netzeitung.de, 12.9.06), reichte Ratzinger die entsprechende Information nach. Nach einer ausladenden Adresse an die orthodoxen Vertreter verwies Ratzinger darauf, in wenigen Tagen würde „in Belgrad der theologische Dialog wieder aufgenommen“. Er „hoffe und bete“, dass die Gemeinschaft, die „uns“, das heißt Katholiken und Orthodoxe, verbinde, zur „vollen Einheit“ reife (Ratzinger 2006b). Der Vorsitzende des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland, Bischof Wolfgang Huber, bemerkte verschnupft: „Der Papst begrüßte die Orthodoxen zuerst …“ (epd, 13.9.06). Am 22. September 2006 meldeten katholische Quellen den Abschluss der Belgrader Konferenz, zu der nach einer sechsjährigen Unterbrechung wieder die katholisch-orthodoxe Dialog-Kommission zusammengekommen war (Radio Vatikan, 22.9.06). Kardinal Walter Kasper betonte das Positive: Von früheren Polemiken sei nichts mehr zu spüren gewesen. In der Sache ging es um die Auslotung der „Spannung zwischen einer synodalen und einer hierarchischen Ver-
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fassung“. Ob allerdings ‚Islam-Polemik‘ wirklich dem römisch-orthodoxen Zusammenhalt nützt, ist fraglich: Der Berliner Religionspädagoge Joachim Willems hat zum Beispiel darauf hingewiesen, dass insbesondere der russischen Orthodoxie am vertieften Dialog mit dem Islam in Russland gelegen sei (2005). Ratzingers Attacke von Regensburg verriet dagegen Hochstimmung, an die Adresse des Islam bereits eine ‚robuste Ökumene‘ vorführen zu können; den Begriff des „robusten Dialogs“ mit dem Islam prägte übrigens die Vorsitzende des Innenausschusses des Deutschen Bundestages, Cornelie Sonntag-Wolgast (SPD), am 24. September 2006 im Deutschlandfunk. Ein Korrespondent des Senders beschrieb die Funktion der geplanten Papst-Visite in der Türkei am folgenden Tag als das Zusammenführen „von Ost- und Westrom“. Viel spricht inzwischen für Selbstüberschätzung. Am 20. September 2006 hatte ein orthodoxer Sprecher den Stand der Annäherung bereits relativiert und eine stärker dezentrale und demokratische Struktur des Katholizismus eingefordert (Deutschen Welle, 19.04.06). Im Vorfeld von Joseph Ratzingers Türkeivisite dämpfte der russisch-orthodoxe Bischof Hilarion Alfeyev von Wien und Österreich am 12. November 2006 westliche Erwartungen an das Treffen zwischen Benedikt XVI. und dem Patriarchen Bartholomaios I., wonach eine gemeinsame Messe als Versuch gewertet werden sollte, den seit fast tausend Jahren bestehenden Graben zwischen West und Ost zu überwinden (ekklesia.co.uk, 20.9.06) „Wir müssen pragmatisch sein und anerkennen, dass es wahrscheinlich noch Jahrzehnte, ja vielleicht sogar Jahrhunderte dauern wird, bis es zur Wiederherstellung der Einheit kommt“, erklärte er nun in einem Interview mit der katholischen Nachrichtenagentur Zenit am 9. November 2006. Möglich sei derzeit allein die „Schaffung einer strategischen Allianz zur Verteidigung der christlichen Werte in Europa“. Hastige Kompromisse in der Lehre und das Übergehen der Protestanten lehnte er ab. Das Phänomen des „islamischen Terrors“ sei eine – nicht auf Religion gegründete – „Reaktion der zeitgenössischen islamischen Welt“ auf die Bemühungen des Westens, „seine Weltanschauung und Verhaltensnormen aufzuzwingen“. Bartholomaios I. selbst wertete am 18. November 2006 Benedikts XVI. Verzicht auf den Titel ‚Patriarch von Konstantinopel‘ negativ: Dieser Titel sei der einzige gewesen, „den wir akzeptieren konnten.“ (Radio Vatikan, 18.11.06). Noch knapp vor der Türkeivisite, am 26. November, sah sich der Vatikan genötigt, kurzerhand eine positive Haltung zur EUMitgliedschaft der Türkei zu erklären, um offenbar im Tausch Ministerpräsident Erdogan zu bewegen, dem Papst doch noch – für eine Viertelstunde – am Flughafen aufzuwarten. Die imperiale Geste von Regensburg musste schließlich in den wenigen Tagen der Türkeivisite mit Umkehr auf ganzer Linie abgebüßt werden. War die orthodox-katholische Allianz am 12. September als offensiver Coup gedacht,
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dessen bloße Vorstellung Benedikt XVI. offenbar in Hochstimmung versetzt und zu Mutwillen verleitet hatte, so musste sich der Papst nun in ‚friedenspolitische‘ Verantwortung einbinden lassen. Ratzinger stellte nicht nur – der Orthodoxie gegenüber – sein päpstliches Amt zur Disposition, sondern ließ sich über eine symbolgesättigte, gemeinsame türkisch-vatikanische Medien-Choreographie zum Vorkämpfer einer islamisch-christlichen Verständigung küren. Unversehens verwandelte er sich während der Türkeivisite zum Erben der dialogischen Axiome seines Vorgängers, zum Türöffner der Türkei nach Europa und avancierte gar zum Anwalt für einen nun konstruktiven Strategiewechsel des Westens dem Islam gegenüber: Nicht nur seine rechtskatholischen Unterstützer dürften sich die Augen gerieben haben …
Die Theologie Nicht weniger bedeutsam ist es, die inhaltlichen Aporien auszuleuchten, mit denen eine künftige katholische beziehungsweise katholisch-orthodoxe Werteoffensive befrachtet sein wird. Im Mittelpunkt steht dabei die These vom ‚hellenistischen Christentum‘. Über Kirchenpolitik hinaus galt für Jospeh Ratzinger die orthodoxe Ostkirche schon immer als Retterin des antiken Erbes (2000), dem er eine heilsgeschichtliche Bedeutung unterlegt. Dabei verweist er auf „Platons Bild vom gekreuzigten Gerechten“: Der Grieche ahne „400 Jahre vor Christus“, „dass der vollendete Gerechte in der Welt der gekreuzigte Gerechte sein muss“ (Ratzinger 1971: 213). Damit aber wird ein von Judentum und Altem Testament abgelöstes Christentum in den Raum gestellt. Bereits in seiner Bonner Antrittsvorlesung 1959 hatte Ratzinger die erstaunliche Formulierung geprägt: „Der Gott des Aristoteles und der Gott Jesu Christi ist ein und derselbe.“ (Ratzinger 2005: 16) Die päpstliche Enzyklika Ratio et Fides von 1998 fordert schließlich sogar (heutige) Philosophen auf, sie sollten ihre Argumentation „in Kontinuität mit jener großen Tradition erarbeiten […], die bei den antiken Philosophen anfängt und über die Kirchenväter sowie die Meister der Scholastik führt, um schließlich die grundlegenden Errungenschaften des modernen und zeitgenössischen Denkens zu erfassen.“ (Abs. 85) Als „authentisches Vorbild“ wird Thomas von Aquin genannt, in dessen Denken „der Anspruch der Vernunft und die Kraft des Glaubens zur höchsten Zusammenschau gefunden“ hätten, „zu der das Denken je gelangt ist.“ (Abs. 78) In der Tat sorgte Thomas von Aquin – und darum geht es – für die Übernahme und fortan für die kirchliche Festlegung auf die fatale philosophische Anthropologie des ‚Heiden‘ Aristoteles. Ihr Kern, die ‚Stufenleiter‘ menschlicher Würde-
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grade, wurde zur Definitionsmacht über Menschen und ‚Nicht-Menschen‘, zum Legitimationsinstrument politischer wie kirchlicher Macht-, Verfolgungs- und Vernichtungspraktiken über viele Jahrhunderte. Die Schulderklärungen von Johannes Paul II. legen darüber beredtes Zeugnis ab. Umso unbegreiflicher ist es, dass die Enzyklika auf dem ideologischen Kern dieser Tradition besteht und weiterhin die „Würde der Person“ von „ihrer geistigen Verfasstheit“ abhängig macht (Abs. 83 und öfter; siehe auch Paul 2004: 153ff.). Mit der Fortschreibung des Menschenbilds des europäischen Reduktionismus würde sich die katholische Kirche in der heutigen und künftigen Wertedebatte weder als Schutzmacht für eine Ethik der Gleichheit noch für das Kant’sche Instrumentalisierungsverbot empfehlen, etwa gegenüber Koma-Patienten, Demenzkranken, Alzheimerpatienten, menschlichen Embryonen oder Forschungsprobanden. Sie käme stattdessen zum Beispiel auf der Seite einer aggressiven Humanforschung zu stehen, die ihrerseits die scholastische Beweisführung längst dankbar aufgegriffen hat. Die These vom ‚hellenistischen Christentum‘ sorgte dementsprechend in der Regensburger Rede (Ratzinger 2006) für einen verwirrenden Duktus. Danach bilde dieses Christentum – einerseits – „die Grundlage dessen“, „was man mit Recht Europa nennen kann“. Andererseits sei Europa gerade nicht dem hellenistischen Vernunftbegriff („Logos“), sondern einem „Enthellenisierungsprogramm“ gefolgt, für das er unter anderem den Protestantismus, die wissenschaftliche Bibelkritik und die aktuellen Gegner der eurozentristischen Position der katholischen Kirche, aber auch Immanuel Kant verantwortlich machte. D i es habe zum ethischen Defizit geführt. Benedikt fordert somit die Verpflichtung der Weltkirche auf den europäisch-hellenistischen Geist: „Denn das Neue Testament ist griechisch geschrieben und trägt in sich selber die Berührung mit dem griechischen Geist, die in der vorangegangenen Entwicklung des Alten Testaments gereift war. Gewiß gibt es Schichten im Werdeprozeß der alten Kirche, die nicht in alle Kulturen eingehen müssen. Aber die Grundentscheidungen, die eben den Zusammenhang des Glaubens mit dem Suchen der menschlichen Vernunft betreffen, die gehören zu diesem Glauben selbst und sind seine ihm gemäße Entfaltung.“ (ebd.) Das trifft aus der Sicht des Papstes auch auf das „Ethos der Wissenschaftlichkeit“ zu, das ebenfalls in die Grundlagen Europas eingeschlossen sei: „Das Große der modernen Geistesentwicklung wird ungeschmälert anerkannt: Wir alle sind dankbar für die großen Möglichkeiten, die sie dem Menschen erschlossen hat und für die Fortschritte an Menschlichkeit, die uns geschenkt wurden. Das Ethos der Wissenschaftlichkeit ist im übrigen Wille zum Gehorsam gegenüber der Wahrheit und insofern Ausdruck einer Grundhaltung, die zu den Grundentscheiden des Christlichen gehört.“ Schon früher hatte Benedikt XVI. von den „christlichen Wurzeln“ der europäischen Technologie gesprochen. In einem Interview mit Radio Vatikan am 12. August 2005 betonte er in diesem Zusammenhang:
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„Es gab viel Krankes in allen Geschichten, auch in der unseren, die so große technische Möglichkeiten entwickelt hat“. Der Versuch Joseph Ratzingers, die Integrität der scholastisch-thomisti-schen Tradition zu retten, wird freilich noch übertroffen durch eine in der Regensburger Rede unmittelbar folgende Schuldzuschreibung, in der er „Enthellenisierung“ schließlich als ‚Judaisierung des Christentums‘ decodierte. In der annotierten Fassung der Rede lenkt er in Anmerkung 11 ausdrücklich darauf hin: „Aus der umfänglichen Literatur zum Thema Enthellenisierung möchte ich besonders nennen“, schreibt Benedikt XVI. und führt dann den Aufsatz von Grillmeier 1975 an. Der Papst kritisierte damit nicht weniger als die Hinwendung zum Stifter der eigenen Religion, „zum einfachen Menschen Jesus“, der „den Kult zugunsten der Moral verabschiedet“ habe, als „neuzeitliche Selbstbeschränkung der Vernunft, wie sie in Kants Kritiken klassischen Ausdruck gefunden hatte, inzwischen aber vom naturwissenschaftlichen Denken weiter radikalisiert wurde.“ Die Ethik des Juden Jesus als Ursache des ethischen Niedergangs Europas? Eine erstaunliche These, um so mehr, als Ratzinger zuletzt in der im Januar 2006 veröffentlichten Enzyklika Deus caritas est das genaue Gegenteil dargelegt hatte. Dort begegnet man dem ‚Logos‘ wieder, der in Regensburg für hellenistische ‚Vernunft‘ steht, hier aber als ‚christliche Liebe‘ firmiert, die überraschender Weise im Kontrast zur antiken Welt fungiert habe: „Wenn die antike Welt davon geträumt hatte, daß letztlich die eigentliche Nahrung des Menschen – das, wovon er als Mensch lebt – der Logos, die ewige Vernunft sei: Nun ist dieser Logos wirklich Speise für uns geworden – als Liebe.“ (Ratzinger 2005a: Abs. 13) Von einem ethischen Anspruch des Hellenismus ist dort keine Rede mehr, vielmehr stellt Joseph Ratzinger im Prolog fest, das Christentum habe – über die Gestalt Jesu – mit der „Zentralität der Liebe“ die „innere Mitte“ des Judentums in sich aufgenommen. „Neue Ideen“ habe das Neue Testament dem nicht hinzugefügt, allerdings den „unerhörten Realismus“ der „Gestalt Christi“ (Abs. 12). Bereits in der Rede in der Kölner Synagoge vom 19. August 2005 hatte es geheißen: „In Anbetracht der jüdischen Wurzeln des Christentums hat mein verehrter Vorgänger in Bestätigung eines Urteils der deutschen Bischöfe gesagt: ‚Wer Jesus Christus begegnet, begegnet dem Judentum‘.“ Die Regensburger Rede signalisiert – in theologischer Hinsicht – die Zuspitzung eines innerkatholischen Konflikts zwischen Unvereinbarem, zwischen jesuanischem und thomistischem Religionsverständnis, zwischen jüdischchristlicher Ethik und kirchlicher Macht in Zeiten kirchlichen Machtverlusts. Unter dessen Eindruck möchte sich der Papst offenbar als ‚Verkörperung‘ des Konflikts in die Bresche werfen und diesen über die innerkatholische ReDogmatisierung bis zur Zerreißprobe zuspitzen – eine Selbstinszenierung, die zur Farce schrumpfen könnte, sollte die allzu dick aufgetragene äußere Legitimation, das Feindbild Islam, unversehens abhanden kommen.
Die katholische Kirche auf dem Weg zur ‚robusten Ökumene‘
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