Integration durch Wohnungspolitik?: Zum Umgang mit ethnischer Segregation im europäischen Vergleich 3531175629, 9783531175621 [PDF]


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Cover......Page 1
Integration durch Wohnungspolitik?: Zum Umgang mit ethnischer Segregation im europäischen Vergleich ......Page 3
ISBN 9783531175621 ......Page 4
Danksagung......Page 6
Inhaltsverzeichnis......Page 8
Abkürzungsverzeichnis......Page 14
1. Einleitung......Page 16
2. Segregation und ihre Folgen Einführung in den Forschungsstand......Page 32
2.1 Segregation: Definitionen und Messmethoden......Page 33
2.2 Die Sozialökologie als zentrale Forschungstradition......Page 35
2.3.1 Makrosoziologische Erklärungen......Page 36
2.3.2 Mikrosoziologische Erklärungen Wohnstandortentscheidungen der Mehrheitsgesellschaft......Page 38
2.4 Verwendung des Ghetto-Begriffs für europäische Einwandererviertel......Page 40
2.5 Die vermeintlichen Folgen von Segregation: Die umstrittenen Nachbarschaftseffekte......Page 41
2.5.1 Dimensionen der Nachbarschaftseffekte......Page 44
2.5.2 Kritik an der Quartierseffektsforschung......Page 48
2.6 Fazit......Page 50
3. Die Konstruktion sozialer Phänomene als soziale Probleme......Page 52
3.1 Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit......Page 53
3.2 Die konstruktionistische Soziologie sozialer Probleme......Page 55
3.3.1 Der reflexive Ansatz......Page 59
3.3.2 Das strikte Programm......Page 60
3.3.3 Verortung der vorliegenden Arbeit im kontextuellen Konstruktionismus......Page 61
3.4 Kritik am Konstruktionismus......Page 63
3.4.1 Der Relativismus-Vorwurf......Page 64
3.4.2 Stnikturalistische undpostmoderne Kritik......Page 65
3.4.3 Kann der Konstruktionismus kritisch sein?......Page 66
4. Interpretative Weiterentwicklung der Policy Forschung......Page 68
4.1 Entstehung, Kritik und Weiterentwicklung der Policy-Forschung......Page 69
4.2 Die Entdeckung von Ideen29 in der Policy-Forschung......Page 71
4.3 Die interpretative Wende in der Policy-Forschung......Page 75
4.3.1 Dvora Yanows Ansatz einer interpretativen Policy-Analyse......Page 77
4.4 Die narrative Poliey-Analyse nach Deborah Stone......Page 81
4.5 Die argumentative Wende in der Policy-Forschung......Page 84
4.5.1 Die veränderte Rolle des Policy-Forschers......Page 85
4.5.2 Inhaltliche Neuausrichtung......Page 87
4.5.3 Kritik an den Arbeiten der argumentativen Wende......Page 97
4.6 Die Wissenspolitologie nach Nullmeier/Rüb......Page 99
4.7 Die soziale Konstruktion von Zielgruppen nach Schneider/Ingram......Page 104
4.8 Potenziale und Leerstellen des gewählten Analyserahmens......Page 108
5.1.1 Korijunktur der Methode......Page 110
5.1.2 Abstraktionsebenen des Vergleichs......Page 111
5.1.4 Besonderheiten der international vergleichenden Wohnforschung......Page 112
5.1.5 Qualitative Policy-Vergleiche......Page 113
5.1.6 Häufige Schwierigkeiten komparativer Arbeiten......Page 115
5.1.7 Konsequenzen./Ur die vorliegende Arbeit......Page 117
5.2 Diskursanalyse als empirische Methode......Page 119
5.2.1 Definition undAbgrenzung......Page 120
5.2.2 Forschungspraktische Umsetzung......Page 122
6.1.1 Das dominante......Page 126
6.1.2 Der Integrationsbegriffim niederländischen, britischen und deutschen Kontext......Page 149
6.2 Vergleich der nationalen Wohnungspolitiken......Page 171
6.2.1 Wohnungspolitik als Reaktion aufgesellschaftliche Destabilisierung......Page 172
6.2.2 Gemeinsame Trends......Page 174
6.2.3 Aktuelle Anbieterstrukturen......Page 179
6.2.4 Vergabekriterien im sozialen Sektor......Page 182
6.2.5 Aktuelle Entwicklungen......Page 183
6.2.6 Fazit......Page 184
6.3.10 Fazit......Page 199
6.3.1 Deutschland und die Niederlande: Vom Wohnheim in den privaten Altbau......Page 186
6.3.3 Niederlande und Großbritannien: Eigentumserwerb als Notlösung......Page 187
6.3.4 Deutschland: Die 1980er Jahre im Zeichen von Sanierung und Wohnungsnot......Page 188
6.3.6 Kontinuität der schlechteren Wohnbedingungen im Großbritannien der 1980er Jahre......Page 190
6.3.7 Aktuell: Ausstattung der Wohnungen Deutschland......Page 191
6.3.8 Obdachlosigkeit......Page 194
6.3.9 Verteilung der Minderheiten aufdie verschiedenen Wohnungsmarktsektoren Sozialwohnungen......Page 195
6.3 Die Wohnqualität als Integrationsmaßstab......Page 185
6.4.1 Regionale Verteilung der Zuwanderer......Page 200
6.4.2 Ausmaß der ethnischen Segregation......Page 202
6.4.3 Unterschiede zwischen den Migrantengruppen......Page 203
6.4.4 Aktuelle Trends......Page 204
6.4.5 Fazit......Page 206
7.1 Deutungsmuster zur Entstehung von ethnischer Segregation......Page 208
7.1.1 Der vermeintliche Rückzug in eigenethnische Enklaven als dominanterDiskurs......Page 209
7.1.2 Alternative Interpretationen......Page 220
7.1.3 Fazit......Page 252
7.2 Deutungen zu den Folgen ethnischer Segregation......Page 253
7.2.1 EinjUhrung......Page 254
7.2.2 " Gefahr durch soziale Segregation"......Page 255
7.2.3 Segregation als Hindernis für die individuelle Integration .........Page 258
7.2.4 Risikenfür den gesellschaftlichen Zusammenhalt.........Page 267
7.2.5 Befürchtete Risikenfür das Quartier......Page 279
7.2.6 Alternative Deutungen......Page 285
7.2.7 Fazit: Diffuse Ablehnung der Sichtbarkeit......Page 291
7.3 Wohnungspolitische Reaktionen auf ethnische Segregation......Page 292
7.3.1 Einbettung in den historischen Diskurs zu sozialer Mischung......Page 294
7.3.2 Steuerungsversuche au/nationaler Ebene......Page 297
7.3.3 Durchmischungsstrategien aufkommunaler Ebene......Page 336
7.3.4 Strategien der Wohnungsanbieter......Page 374
7.3.5 Kritik an den gängigen Policies Mangelnde empirische Basis......Page 389
7.3.6 Fazit......Page 397
7.4.1 " Mantra der Mischung" statt speaking truth to power......Page 400
7.4.2 Austausch von Ideen unter wohnungspolitischen Praktikern......Page 410
7.4.3 Vage storylines als Klammerfür heterogene Positionen......Page 413
7.4.4 Konvergenz trotz eines geringen internationalen Austauschs......Page 415
7.4.5 Fazit......Page 418
7.5 Konstruktion der Zielgruppen durch Mischung......Page 421
7.5.1 Migranten: Zuverlässig, aber nicht erwünscht......Page 422
7.5.2 Intolerante Unterschicht und wertvolle Mjttelschicht......Page 425
7.5.3 Wohnungsanbieter als Frühwarnsystem und "Reparaturkolonne"......Page 427
7.5.4 Fazit......Page 429
8. Zusammenfassung und Ausblick......Page 430
Bibliographie......Page 444
Verzeichnis der Interviewpartner......Page 484
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Integration durch Wohnungspolitik?: Zum Umgang mit ethnischer Segregation im europäischen Vergleich
 3531175629, 9783531175621 [PDF]

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Zitiervorschau

Sybille Münch Integration durch wohnungspolitik?

Sybille Müncl1

Integration durch wohnungspolitik? Zum Umgang mit ethnischer Segregation im europäiscl1en vergleich

I I

VS VERLAG

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar.

Zug!. Dissertation an der Technischen Universität Darmstadt, 2010 D 17

1. Auflage 2010 Alle Rechte vorbehalten © VS Verlag für Sozialwissenschaften I Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2010 Lektorat: Dorothee Koch / Tanja Köhler VS Verlag für Sozialwissenschaften ist eine Marke von Springer Fachmedien. Springer Fachmedien ist Teil der Fachverlagsgruppe Springer Science+Business Media. www.vs-verlag.de Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen, Handelsnamen, warenbezeichnungen usw. in diesem Werk berechtigt auch ohne besondere Kennzeichnung nicht zu der Annahme, dass solche Namen im Sinne der Warenzeichen- und Markenschutz-Gesetzgebung als frei zu betrachten wären und daher von jedermann benutzt werden dürften. Umschlaggestaltung: KünkelLopka Medienentwicklung, Heidelberg Druck und buchbinderische Verarbeitung: STRAUSS GMBH, Mörlenbach Gedruckt auf säurefreiem und chlorfrei gebleichtem Papier Printed in Germany ISBN 978-3-531-17562-1

Danksagung

Die vorliegende Arbeit ist die überarbeitete Fassung einer am 26. Januar 2010 an der TU Dannstadt am Institut für Politikwissenschaft verteidigten Dissertation. Sie ist als eine von sieben Dissertationen im Rahmen eines Vorhabens der vier raumwissenschaftlichen Einrichtungen der Leibniz-Gemeinschaft zum demographischen Wandel gefördert worden und am Leibniz-Institut für Länderkunde (ItL) in Leipzig entstanden. Aufrichtig danken möchte ich meinem Erstgutachter Hubert Heinelt für seine Hilfestellung insbesondere bei der Bearbeitung des politikwissenschaftlichen Analyserahmens. Sebastian Lentz danke ich herzlich für seine Betreuung als Zweitgutachter sowie für die vielfältige Unterstützung, die mir im Rahmen meiner Forschung am ItL zuteil geworden ist. Meine besondere Dankbarkeit gilt hier insbesondere Sabine Tzschaschel, deren inhaltlicher Rat und kontinuierliche Ermunterung einen wichtigen Beitrag zum Gelingen der Arbeit geleistet haben. Danken möchte ich zudem meinen zahlreichen Interviewpartnem, die mir mit ihrer Zeit und Offenheit die Bearbeitung meiner Fragestellungen überhaupt erst ermöglicht haben. Ein großes Dankeschön sei auch all denjenigen Freunden und Kollegen ausgesprochen, die mir behilflich gewesen sind, im einzelnen Bettina Bruns, Petra Makowski, Kirsten Rowedder, Christian Smigiel, Sonja Smalian und Ada von Oppen. Ein besonderes Verdienst für das Zustandekommen dieser Arbeit trägt auch Sibylle Richter-Salomons, deren Überzeugungskraft mich darin bestärkt hat, mein Interesse für das Thema in einer Dissertation weiter zu verfolgen. Für seine Zuversicht, Geduld und persönliche Unterstützung möchte ich schließlich Lorenz Riemer von Herzen danken. Gewidmet ist die Arbeit meiner Familie, insbesondere meinem Vater Alfred Münch, der mir alles ermöglicht hat.

Inhaltsverzeichnis

Abkürzungsverzeichnis

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1. Einleitung

15

2. Segregation und ihre Folgen - Einführung in den Forschungsstand •.• 31 2.1 Segregation: Definitionen und Messmethoden 32 2.2 Die Sozialökologie als zentrale Forschungstradition 34 2.3 Ursachen ethnischer Segregation 35 2.3.1 Makrosoziologische Erklärungen 35 2.3.2 Mikrosoziologische Erklärungen 37 2.4 Verwendung des Ghetto-Begriffs für europäische Einwandererviertel 39 2.5 Die vermeintlichen Folgen von Segregation: Die umstrittenen Nachbarschaftseffekte 40 2.5.1 Dimensionen der Nachbarschaftseffekte 43 2.5.1.1 Soziale Dimension 43 2.5.1.2 Symbolische Dimension 45 2.5.1.3 Materielle Dimension 46 2.5.1.4 Politische Dimension 47 2.5.2 Kritik an der Quartierseffektsforschung 47 2.6 Fazit 49 3. Die Konstruktion sozialer Phänomene als soziale Probleme 3.1 Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit 3.2 Die konstruktionistische Soziologie sozialer Probleme 3.3 Die zentralen Strömungen einer konstruktionistischen Problemsoziologie 3.3.1 Der reflexive Ansatz 3.3.2 Das strikte Programm 3.3.3 Verortung der vorliegenden Arbeit im kontextuellen Konstruktionismus

51 52 54 58 58 59 60

3.4 Kritik am Konstruktionismus 3.4.1 Der Relativismus-Vorwurf 3.4.2 Strukturalistische und postmoderne Kritik 3.4.3 Kann der Konstruktionismus kritisch sein?

62 63 64 65

4. Interpretative Weiterentwicklung der Policy-Forschung 67 4.1 Entstehung, Kritik und Weiterentwicklung der Policy-Forschung 68 4.2 Die Entdeckung von Ideen in der Policy-Forschung 70 4.3 Die interpretative Wende in der Policy-Forschung 74 4.3.1 Dvora Yanows Ansatz einer interpretativen Policy-Analyse 76 4.4 Die narrative Policy-Analyse nach Deborah Stone 80 4.5 Die argumentative Wende in der Policy-Forschung 83 4.5.1 Die veränderte Rolle des Policy-Forschers 84 4.5.2 Inhaltliche Neuausrichtung 86 4.5.2.1 Die Untersuchung von Policy-Narrativen nach Kaplan 87 4.5.2.2 Die Untersuchung von "Rahmen" nach Rein/Schön 88 4.5.2.3 Policy-Diskurse nach Hajer 90 4.5.2.4 Abgrenzung der Diskurskoalitionen von den Advokaten-Koalitionen 93 4.5.3 Kritik an den Arbeiten der argumentativen Wende 96 98 4.5.4 Anknüpfungspunktefür die vorliegende Arbeit 4.6 Die Wissenspolitologie nach Nu1lmeierlRüb 98 4.7 Die soziale Konstruktion von Zielgruppen nach Schneider/Ingram 103 4.8 Potenziale und Leerstellen des gewählten Analyserahmens 107 5. Methodische Operationalisierung der Fragestellung 5.1 Besonderheiten interpretativer, ländervergleichender PolicyForschung 5.1.1 Konjunktur der Methode 5.1.2 Abstraktionsebenen des Vergleichs 5.1.3 Vergleichstrategien - von Ähnlichkeit zu Differenz 5.1.4 Besonderheiten der international vergleichenden Wohnforschung ..... ....... ..... 5.1.5 Qualitative Policy-Verg1eiche 5.1.6 Häufige Schwierigkeiten komparativer Arbeiten 5.1.7 Konsequenzenfür die vorliegende Arbeit 5.2 Diskursanalyse als empirische Methode 5.2.1 Definition und Abgrenzung 8

109 109 109 110 111 111 112 114 116 118 119

5.2.2 Forschungspraktische Umsetzung

6. Kontextualisierung der Mischungsdiskurse 6.1 Lesarten von Migration und Integration im Vergleich 6.1.1 Das dominante framing von Migration 6.1.1.1 Deutung der Migration in Deutschland 6.1.1.2 Deutung der Migration in den Niederlanden 6.1.1.3 Deutung der Migration in Großbritannien 6.1.2 Der Integrationsbegriff im niederländischen, britischen und deutschen Kontext 6.1.2.1 Historische Wurzeln 6.1.2.2 Integration - Die länderspezifische Semantik eines verbreiteten Begriffs 6.1.2.3 Pfadabhängigkeiten gesellschaftlicher Integrationskonzepte 6.1.2.4 Das "Ende des Multikulturalismus" 6.1.2.5 Fazit 6.2 Vergleich der nationalen Wohnungspolitiken 6.2.1 Wohnungspolitik als Reaktion auf gesellschaftliche Destabilisierung 6.2.2 Gemeinsame Trends 6.2.2.1 Eigentumsförderung 6.2.2.2 Deregulierung 6.2.2.3 De- und Rezentralisierung 6.2.3 Aktuelle Anbieterstrukturen 6.2.3.1 Unterschiede der Sozialwohnungen 6.2.3.2 Die schwarzen Wohnungsbauvereinigungen als britische Besonderheit 6.2.4 Vergabekriterien im sozialen Sektor 6.2.5 Aktuelle Entwicklungen 6.2.6 Fazit 6.3 Die Wohnqualität als Integrationsmaßstab 6.3.1 Deutschland und die Niederlande: Vom Wohnheim in den privaten Altbau 6.3.2 Großbritannien in den 1960er Jahren: Diskriminierung und Öffnung der Sozialwohnungen 6.3.3 Niederlande und Großbritannien: Eigentumserwerb als Notlösung 6.3.4 Deutschland: Die 1980er Jahre im Zeichen von Sanierung

121

125 125 125 126 136 141 148 149 150 153 158 167 170 171 173 173 174 177 178 178 180 181 182 183 184 185 186 186

9

und Wohnungsnot 6.3.5 Die Niederlande der 1980er Jahre: Gradueller Zugang zu Sozialwohnungen 6.3.6 Kontinuität der schlechteren Wohnbedingungen im Großbritannien der 1980er Jahre 6.3.7 Aktuell: Ausstattung der Wohnungen 6.3.8 Obdachlosigkeit 6.3.9 Verteilung der Minderheiten auf die verschiedenen Wohnungsmarktsektoren 6.3.10 Fazit 6.4 Ausprägungen von ethnischer Segregation im Ländervergleich 6.4.1 Regionale Verteilung der Zuwanderer 6.4.2 Ausmaß der ethnischen Segregation 6.4.3 Unterschiede zwischen den Migrantengruppen 6.4.4 Aktuelle Trends 6.4.5 Fazit

187 189 189 190 193 194 198 199 199 201 202 203 205

7. Konstruktion und Bearbeitung des Problems Segregation ..•.•..•.•....•.• 207 7.1 Deutungsmuster zur Entstehung von ethnischer Segregation 7.1.1 Der vermeintliche Rückzug in eigenethnische Enklaven als dominanter Diskurs 7.1.1.1 Deutschland: "Unter sich bleiben" 7.1.1.2 Großbritannien:"Very worrying drift towards self-segregation" 7.1.1.3 Niederlande: "Ethnische Segregation durch soziale Segregation" 7.1.2 Alternative Interpretationen 7.1.2.1 Deutung von Segregation als Ergebnis wohnungsund sozialpolitischer Entscheidungen 7.1.2.2 Deutung von Segregation als Folge direkter Steuerung durch die Kommune 7.1.2.3 Deutung von Segregation als Folge des Geschäftssinnes der privaten Vermieter 7.1.2.4 Deutung von Segregation als Folge von Zugangsschwierigkeiten im privaten Sektor 7.1.2.5 Deutung von Segregation als Ergebnis bewusster Segregierung durch Wohnungsanbieter 7.1.2.6 Deutung von Segregation als Folge der Benachteilung als Eigentümer 10

207 208 208 213 216 219 220 234 237 238 241 242

7.1.2.7 Deutung von Segregation als Ergebnis der Strategien der Mehrheitsgesellschaft 243 7.1.2.8 Deutung von Segregation als Folge des demographischen Wandels 248 7.1.3 Fazit 251 7.2 Deutungen zu den Folgen ethnischer Segregation 252 7.2.1 Einführung 253 7.2.2 "Gefahr durch soziale Segregation" 254 7.2.3 Segregation als Hindernis für die individuelle Integration 257 7.2.3.1 "durch erschwerten Spracherwerb" 257 7.2.3.2 "durch Behinderung der kulturellen und sozioökonomischen Integration" 260 7.2.3.3 "durch Schulsegregation" 263 7.2.4 Risiken für den gesellschaftlichen Zusammenhalt 266 7.2.4.1 "durch zu große Sichtbarkeit der Minderheiten" .. 266 7.2.4.2 "durch Konkurrenz" 268 7.2.4.3 "durch Vorurteile" 271 7.2.4.4 "durch ,Rassenunruhen" 271 7.2.4.5 "durch hohe Infrastrukturkosten" 276 7.2.5 Befürchtete Risiken für das Quartier 278 7.2.5.1 Stigmatisierung 278 7.2.5.2 Kriminalität 282 7.2.6 Alternative Deutungen 284 7.2.6.1 Folgenlosigkeit von ethnischer Segregation 284 7.2.6.2 Chancen für die individuelle Integration 286 7.2.6.3 Chancen für das Quartier 288 7.2.7 Fazit: Diffuse Ablehnung der Sichtbarkeit 290 7.3 Wohnungspolitische Reaktionen auf ethnische Segregation 291 7.3.1 Einbettung in den historischen Diskurs zu sozialer Mischung 293 7.3.2 Steuerungsversuche auf nationaler Ebene 296 7.3.2.1 Deutschland: Das Leitbild der "gesunden Mischung" 296 7.3.2.2 Großbritannien: Symbolische Auseinandersetzung seit den 1960er Jahren 300 7.3.2.3 Die Niederlande: Glaube an social engineering 312 7.3.2.4 Die Niederlande und Großbritannien: Wahlfreiheit ersetzt Bewohnerauswahl 315 7.3.2.5 Verteilung von Flüchtlingen, Asylbewerbern und 11

Spätaussiedlern 7.3.2.6 Verhinderung von Segregation durch Diskriminierungsschutz 7.3.3 Durchmischungsstrategien auf kommunaler Ebene 7.3.3.1 Kommunales Handlungsfeld I: Zugang beschränken 7.3.3.2 Kommunales Handlungsfeld 11: Angebot erweitern 7.3.3.3 Kommunales Handlungsfeld III: Soziale Mischung erhöhen 7.3.4 Strategien der Wohnungsanbieter 7.3.4.1 Die deutsche Wohnungswirtschaft als zentraler Akteur 7.3.4.2 Die Haltung der britischen Wohnungsbauvereinigungen 7.3.4.3 Die Haltung der niederländischen Wohnungsbauvereinigungen 7.3.5 Kritik an den gängigen Policies 7.3.6 Fazit 7.4 Diskurspartner und Wissensquellen 7.4.1 "Mantra der Mischung" statt speaking truth to power 7.4.2 Austausch von Ideen unter wohnungspolitischen Praktikern 7.4.3 Vage storylines als Klammerfür heterogene Positionen 7.4.4 Konvergenz trotz eines geringen internationalen Austauschs 7.4.5 Fazit 7.5 Konstruktion der Zielgruppen durch Mischung 7.5.1 Migranten: Zuverlässig, aber nicht erwünscht 7.5.2 Intolerante Unterschicht und wertvolle Mittelschicht 7.5.3 Wohnungsanbieter als Frühwarnsystem und "Reparaturkolonne" 7.5.4 Fazit

319 325 335 336 355 359 373 373 382 386 388 396 399 399 409 412 414 417 420 421 424 426 428

8. Zusammenfassung und Ausblick

429

Bibliographie

443

Verzeichnis der Interviewpartner

483

12

Abkürzungsverzeichnis

• • • • • • • • • • • • • • • • • • • • • • • • • • •

A8 [GB]= Neue EU-Mitgliedsstaaten ABG Holding = Aktienbaugesellschaft Frankfurt Holding Wohnungsbau- und Beteiligungsgesellschaft mbH ACF = Advocacy-Koalitionsansatz AGG = Allgemeines Gleichbehandlungsgesetz BBR = Bundesamt für Bauordnung und Raumforschung BGW = Bielefelder Gemeinnützige Wohnungsgesellschaft BMBF = Bundesministerium für Bildung und Forschung BME [GB] = Black or Minority Ethnic BNP [NL] = British National Party CBL [GB] = Choice Based Lettings CDA [NL] = Christen Democratisch Appel CIC [GB]= Commission on Integration and Cohesion CIH [GB]= Chartered Institute ofHousing CLIP = Cities for local integration policies C ofE [GB] = Church ofEngland CRE [GB]= Commission for Racial Equality CU [NL] = ChristenUnie DCLG [GB]= Department ofCommunities and Local Govemment Difu = Deutsches Institut für Urbanistik EU = Europäische Union EUMC = European Monitoring Centre on Racism and Xenophobia FBHO [GB] = Federation ofBlack Housing Organisations GB = Großbritannien GBG = Mannheimer Wohnungsbaugesellschaft mbH GdW = Bundesverband deutscher Wohnungs- und Immobilienuntemehmen Gewobau = Gemeinnützige Wohnungsbaugesellschaft der Stadt Rüsselsheim mbH GEWOS = Institut für Stadt-, Regional- und Wohnforschung

• • • • • • • • • • • • • • • • • • • • • • • • • • • • • • • •

14

GLC [GB] = Greater London Council HLM = Habitation loyer modere IBA = Internationale Bauausstellung ID = Dissimilaritätsindex IdeA [GB] = Improvement and DevelopmentAgency ILS = Institutfür Landes- und Stadtentwicklungsforschung NRW InWIS = Institut:für Wohnungswesen, Immobilienwirtschaft, Stadt- und Regionalentwicklung IRB = Innerstädtische Raumbeobachtung LEG = Landesentwicklungsgesellschaft NRW GmbH LGA [GB] = Local Government Association LPF [NL] = Lijst Pim Fortuyn NASS [GB] = National Asylum Support Service NGO = Nichtregierungsorganisation NL = Niederlande NRW = Nordrhein-Westfalen PvdA [NL] = Partij van de Arbeid RLW = Ruhr-Lippe-Wohnen RRA [GB] = Race Relations Act RRB [GB] = Race Relations Board RVK [NL] = Regeling Rijksvoorkeurswoningen SCP [NL] = Sodal and Cultural Planning Office SED = Sozialistische Einheitspartei Deutschlands SOEP = Sozioökonomisches Panel SWSG = Stuttgarter Wohnungs- und Städtebaugesellschaft VdW Rheinland Westfalen = Verband der Wohnungs- und Immobilienwirtschaft Rheinland Westfalen VdW südwest = Verband der Südwestdeutschen Wohnungswirtschaft e.Y. VEB = Volkseigener Betrieb vhw = Bundesverband :für Wohnen und Stadtentwicklung VVD [NL] = Volkspartij voor Vrijheid en Democratie VINEX [NL] = Vierte außerordentliche Note zur Raumordnung WoBauG = Wohnungsbaugesetz WWR [NL] = Wissenschaftlicher Ratfür Regierungspolitik

a

1. Einleitung

"One of the most significant developments in the social geography of major West European cities during the past few decades has been the settlement of large and diversified ethnic minority populations" halten Kestelootlvan WeeseplWhite (1997: 100) fest. Doch während die enge Verbindung von Migration und Stadt zu den Gemeinplätzen von Sozialgeographie und Soziologie gehört (FischerKrapohllWaltz 2007: 8; Häußermann/Siebel200 I :68) und viele Städte mittlerweile ihre Attraktivität fiir Zuwanderer' in Zeiten von Globalisierung und demographischem Wandel als Standortfaktor erkannt haben, ist diese scheinbar natürliche Symbiose in den meisten Staaten nicht selbstverständlich. Verbreitet ist das Deutungsmuster, die Integration der ethnischen Minderheiten sei mangelhaft, ihre räumliche Konzentration in bestimmten Stadtteilen nehme zu und wirke sich wiederum negativ auf die Integration der Bewohner aus. Problemaufriss Die Existenz von Nachbarschaften mit einem hohen Anteil Migranten2 wird weltweit in sehr unterschiedlichen Staaten als Problem wahrgenommen. So verschiedene Länder wie das weitgehend ethnisch homogene Finnland (Vilkarna 2007) und das liberale Wohlfahrtsregime des Einwanderungslandes USA teilen Versuche, durch den Abbau von ethnischer Segregation und die Herstellung einer ethnischen Mischung Integration fördern zu wollen. Maßnahmen reichen von strengen Obergrenzen und Quotierungen bis zu US-amerikanischen Mobilitätsprograrnmen (Gautreaux, Moving to Opportunity)3, die über die Vergabe von Gutscheinen an 1 2 3

Die weibliche Form sei in der folgenden Arbeit stets mitgedacht. Die Begriffe Zuwanderer und Migrant sowie Person mit Migrationshintergrund werden synonym verwendet. Durch eine Klage der Stadtteilaktivistin Dorothy Gautreaux kam es 1969 zu einem Gerichtsentscheid mit dem Verbot an die Stadt, Sozialwohnungen nur in schwarzen Innnenstadtbezirken zu bauen. Das Verteilungsprograrnm lief bis 1998 mit etwa 25.000 Teilnehmern und wurde insofern kritisiert, als ohnehin nur "gute" Mieter einen Gutschein bekamen (Atkinson 2005: 21). Moving to Opportunity wird seit 1994 in fiinf US-Städten durchgefiihrt. Untersuchungen kamen zu dem Ergebnis, dass das Sicherheitsempfinden der schwarzen Familien in ihrem neuen Wohnurnfeld zugenommen habe und es keine negativen Wirkungen auf ihre Netzwerke gegeben habe (a.a.O.: 25).

S. Münch,Integration durch Wohnungspolitik?, DOI 10.1007/978-3-531-92571-4_1, © VS Verlag flir Sozialwissenschaften I Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2010

schwarze Haushalte den Fortzug in weiße Stadtteile fördern sollen (Goetz 2007). Viele Staaten mit Einwanderung verfolgen Desegregations- und Verteilungsstrategien zur Herstellung von ethnischer und sozialer Durchmischung in den Quartieren ihrer Städte, wobei sich zu Beginn des 21. Jahrhundert im Zuge der Politisierung des Integrationsthemas ein neues Interesse an diesen zum Teil seit den 1960er Jahren diskutierten Strategien zeigt: "As questions of migrant integration have become increasingly politicised, we have seen a renewed commitment, across countries, to policy approaches believed to promote ethnic desegregation, common values, stability and national unity" (phillips 2006a: 2). Zu den europäischen Ländern mit desegregativen Wohnungspolitiken zählen Deutschland, die Niederlande, Belgien, Großbritannien, Schweden, Dänemark, Finnland, Dänemark und Frankreich (Musterd 2005: 340; Ministeriet for Flygtninge, Indvandrere og Integration 2005). In der vorliegenden Arbeit soll der wohnungspolitische Umgang mit ethnischer Segregation in der Bundesrepublik (BRD), den Niederlanden (NL) und Großbritannien (GB) verglichen werden. Dabei ist zu differenzieren zwischen nationalen und kommunalen Steuerungsversuchen sowie dem Belegungsmanagement der Wohnungsunternehmen. Begründung der Fallauswahl Der Untersuchung dienen Deutschland, die Niederlande und Großbritannien4 als Vergleichsfalle. Aufgrund des qualitativen Analyserahmens handelt es sich um einen fallorientierten - im Gegensatz zum generalisierenden variablenorientierten Vergleich, der der Komplexität des Einzelfalls Rechnung trägt. GB mit seinem hohen Anteil an Wohneigentum, einem residualistischen Sozialwohnungssektor und seiner längeren Einwanderungstradition soll als besonders kontrastierender Fall fungieren. Es wird erwartet, dass die in der BRD oftmals stigmatisierende Untertöne aufweisende Problematisierung ethnisch geprägter Nachbarschaften hier aufgrund der multikultura1istischen, die diversity betonenden Tradition und des höheren Organisationsgrades der Minderheiten auf größeren Widerspruch stößt. Zugleich ist zu vermuten, dass aufgrund des hohen Anteils von Wohneigentum andere Policies greifen müssen als im Mieterland Deutschland. Zudem liefert GB insofern eine gänzlich andere Ausgangssituation, als die enge Verknüpfung von sozialer und daraus folgender ethnischer Segregation wie im 4

Im Bezug auf die Wohnungspolitik wäre es eigentlich angemessener, von ,,England" zu sprechen, da

es in diesem Politikfeld Unterschiede zu Schottland gibt (Norton 1990: 9). Ebenso erreicht Zuwanderung traditionell eher England, während Wales und Schottland einen geringen Migrantenanteil etwa dem ostdeutschen Anteil entsprechend aufweisen. In der vorliegenden Arbeit wird jedoch überwiegend von Großbritannien gesprochen, da Diskurse und Policies zu Migration und Integration an diese Ebene geknüpft sind.

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deutschen Fall nicht gegeben ist: "Some ofthe most difficult estates (...) ha[ve] virtually no ethnic minority populations" (power 1998: o.S.). Die Beschäftigung mit dem britischen Fall wird auch insofern für fruchtbar gehalten, als die Debatte um Desegregation in Form der Förderung von community cohesion eine im Vergleich zu Deutschland und den Niederlanden jüngere Debatte ist - obgleich das viktorianische England als Mutterland der Idee der sozialen Mischung gilt (Sarkissian 1976: 234). Während im deutschen Fall argumentiert werden könnte, dass sich das seit den 1970er Jahren haltende Leitbild der ethnischen Mischung aufgrund von Steuerungsverlusten und vor dem Hintergrund des demographischen Wandels überholt hat, verdeutlicht der britische Fall die weiterhin gültige Aktualität derartiger Mischungskonzepte. Während es in der Vergangenheit in GB kaum Akteure gab, die die Konzentration nicht-weißer Gruppen grundsätzlich negativ einschätzten (Harrison 2005: 92), haben zunächst die Unruhen in Nordengland im Jahr 2001 und die islamistischen Anschläge in London im Sommer 2005 die Furcht vor der unterstellten "Selbst-Segregation" der Minderheiten angeheizt. Die Niederlande wurden als Vergleichsland gewählt, da sie lange Zeit in Deutschland als Vorbild für erfolgreiche Integrationspolitik galten. Hier hat der Wohlfahrtsstaat einen starken Einfluss auf die Wohnsituation, wobei der Umgang mit ethnischer Segregation eine dynamischere Entwicklung genommen hat und im Verlauf der vergangenen 30 Jahre größeren Veränderungen ausgesetzt war, als dies in der BRD der Fall gewesen ist. Die politische Bewertung von Segregation als Problem und die daraus folgenden Konzepte scheinen hier stärker als in der BRD politischen Konjunkturen unterlegen gewesen zu sein. Weitere Differenzen zwischen den drei Untersuchungsländern sind aufgrund unterschiedlicher Minderheitendefinitionen zu erwarten. Während sich in Deutschand die Mischungsstrategien offiziell auf die Gruppe der rechtlichen Ausländer beziehen, wobei hier Einschränkungen gegenüber EU-Bürgern gelten, kann eine solche staatsbürger8chaftsbezogene Zuschneidung in GB und NL nicht greifen, da viele Migranten durch die koloniale Vergangenheit und eine andere Einbürgerungskultur den Pass des Ziellandes besitzen. Zudem ist zu erwarten, dass die ethnischen Minderheiten durch ihre Stimme bei politischen Wahlen ein größeres Gewicht besitzen als dies in der BRD der Fall ist. Weitere Differenzen in den Mischungsstrategien lassen sich aufgrund weiterer gravierender Unterschiede im Wohnungssektor vermuten. So verfUgen zwar sowohl GB als auch die Niederlande über einen im Vergleich zu Deutschland deutlich größeren Sozialwohnungssektor, doch unterscheiden sich beide erheblich in denAllokationskriterien: Im universalistischenAnsatz der Niederlande wird die Bereitstellung von Wohnraum als öffentliche Verantwortung verstanden, die von gemeinnützigen Organisationen geleistet wird, während der britische Sozial17

wohnungssektor als residualistisch zu bezeichnen ist (Czischke 2007: 8). Dementsprechend dürfte es Unterschiede im Ausmaß geben, in dem die Vergabe von Sozialwohnungen als Instrument der Mischung herangezogen werden kann. Deutschland befindet sich auf dem Kontinuum zwischen einem universalistischen und einem residualistischen Ansatz etwa im Mittelfeld, da die wohnungspolitische Förderung von breiten Teilen der Bevölkerung mittlerweile durch eine Unterstützung für diejenigen abgelöst wurde, die sich nicht selbst am Markt versorgen können. Als Ausgangsthese lässt sich festhalten, dass sich die Ablehnung von ethnischer Segregation offenbar mit offiziell gänzlich unterschiedlichen Integrationskonzepten vereinbaren lässt (Multikulturalismus in NL und GB sowie ein eher assimilationistisches Verständnis in der BRD), wobei sich in den meisten Staaten Europas ein Trend hin zu einem rigideren Integrationsverständnis abzeichnet (vgl. Musterd 2005: 340). Forschungslücke Trotz der Verbreitung der Maßnahmen zur ethnischen Mischung, die im 21. Jahrhundert selbst in Ländern mit multikulturalistischer Tradition Fuß gefasst haben, sind die Mischungspolicies und die Problemdeutungen, in die sie eingebettet sind, nur in sehr geringem Maße wissenschaftlich beachtet worden. In Untersuchungen zur Entstehung und zu den Folgen von ethnischer und sozialer Segregation weist die deutsche Forschung bislang einen blinden Fleck für die spezielle Rolle der Wohnungspolitik auf (Bürkner 2002: 92). Zwar gibt es seit den 1970er Jahren verschiedene Untersuchungen zu den Verteilungsmustem von Migranten im städtischen Raum sowie den Folgen von ethnischer Segregation für die Integration von Migranten (siehe 2.5), gleichwohl impliziert die Übertragung US-amerikanischer Konzepte wie der Sozialökologie der Chicagoer Schule, die in vielen Arbeiten mitschwingt, einen marktwirtschaftlichen Wohnungssektor und somit, dass ein Zusammenspiel aus sozioökonomischen Zwängen und Diskriminierung auf der einen und persönlichen Präferenzen der Zuwanderer auf der anderen Seite Migranten in bestimmte Wohnquartiere filtere (Dangschat 1997: 623). Steuerungsversuche durch die Wohnungspolitik (national und kommunal) und das Belegungsmanagement großer institutioneller WohnungsanbieterS wurden bislang kaum untersucht (Ausnahmen bilden Planerladen 2004; 2005; ILS 2006). Insofern hat die vorliegende Arbeit auch einen in Teilen explorativen Charakter, da insbesondere die Strategien der Wohnungsanbieter wenig transparent sind. 5

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Wenn im folgenden von Wohnungsanbietem die Rede ist, sind damit nicht die privaten Kleinanbieter oder Amateurvermieter gemeint, in deren Besitz sich etwa 14 Millionen der insgesamt 23 Millionen deutschen Mietwohnungen befinden, sondern die professionell-gewerblichen Anbieter.

Trotz der seit gut drei Jahrzehnten anhaltenden Versuche, durch wohnungspolitische Eingriffe der als Problem wahrgenommenen ethnischen Segregation zu begegnen, sind diese Policies ein "in weiten Bereichen unzureichend ausgeleuchtetes Untersuchungsfeld" (Planerladen 2005a: 36). Einerseits scheint das weitgehende Desinteresse an ethnischen Mischungsversuchen durch Wissenschaft und Öffentlichkeit eine Spezifik des deutschen Falles zu sein, während sich die überwiegend niederländische, britische und schwedische Wohnforschung deutlich häufiger mit derartigen Maßnahmen auseinandersetzen. 6 Andererseits stellt Rowland Atkinson (2005: 3) in einem umfassenden Review fest, dass es weltweit ausgesprochen wenige Studien gebe, die sich explizit mit dem Thema "Mischung" befassen und weitaus mehr, die die Nachbarschaftseffekte segregierter Gebiete behandeln. Auch der Europäische Verbindungsausschuss zur Koordinierung der Sozialen Wohnungswirtschaft CECODHAS (2007: 11) kommt zu dem Ergebnis: "Overall, we found that despite the extensive information available on immigration and integration policies, it is very difficult to find explicit links between these policies and housing policies or measures - or even with a housing dimension ofthe issues dealt with." Das weitgehende Desinteresse der sozialwissenschaftlichen Forschung am Themenkomplex "Wohnen und Integration" steht im Kontrast zur Praxis, wo zu Beginn des 21. Jahrhunderts in allen hier untersuchten Ländern Vertreter von Wohnungsunternehmen in die Entwicklung von Integrationsstrategien eingebunden sind. So war der Bundesverband deutscher Wohnungs- und Immobilienunternehmen (GdW) in einer Arbeitsgruppe des Nationalen Integrationsplans vertreten, die Vorsitzende des Dachverbandes der Amsterdamer Wohnungsbauvereinigungen ist Vorsitzende des städtischen Diversitätsbeirats und der stellvertretende Vorstandsvorsitzende der englischen Regulierungsbehörde für die sozialen Wohnungsbauvereinigungen (Housing Corporation) war Mitglied der Commission on Integration and Cohesion der britischen Regierung. Das im neuen Jahrtausend gewachsene Interesse am migrantischen Wohnen drückt sich auch in den Bemühungen aus, auf europäischer Ebene einen Austausch von best practice anzuregen (vgl Die Beauftragte 2005: 67).7 Ebenso wie es eine Diskrepanz zwischen den wohnungspolitischen Steuerungsversuchen und dem weitgehenden Desinteresse insbesondere der deutschen Forschung an ihnen gibt, klafft eine Lücke zwischen dem beachtlichen Output der 6 7

Als Beleg können die Teilnehmer des International Research Network on Housing, Ethnicity and Policy gelten sowie das Sonderheft der Fachzeitschrift Housing and the Built Environment vom Dezember 2009. Beispielsweise widmete sich der erste Themenblock des European Network of ewes for Local Integration Policies for Migrants (CLIP) dem Themenkomplex Wohnen (European Foundation 2007a).

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Segregations- und Quartierseffektsforschung einerseits und der mangelnden Beachtung dieser Erkenntnisse durch die wohnungspolitische Praxis. Die Einheitlichkeit der Ablehnung von ethnischer Segregation durch viele wohnungspolitische Akteure in Europa überrascht nämlich insofern, als eine akademische Bewertung der Folgen von ethnischer Segregation in sämtlichen europäischen Staaten mit Zuwanderung ausgesprochen ambivalent ausfällt. Wissenschaftlich ist es keineswegs hinreichend geklärt, ob und gegebenenfalls auf welche Weise das Wohnviertel die individuellen Lebenschancen seiner Bewohner beeinflusst. Dies gilt für die Wirkungen von Armut und Kriminalität, noch mehr aber für Annahmen bezüglich einer Wirkung der "ethnisch" geprägten Nachbarschaft (Söhn/Schönwälder 2007: 73; Ouwehand/van der Laan Bouma-Doff2007: 9; Musterd 2005: 342; Dangschat 2007: 180). "A clear problem for those who have consistently asked for more socially diverse communities as the basis for sustainability and social equity is that this position has relied on an intuitive rather than explicit evidence-base" (Atkinson 2005: 27). Forschungsanstoß Dieses Spannungsverhältnis zwischen einer klaren Ablehnung von ethnischer Segregation durch (kommunal-) politische und wohnungswirtschaftliche Akteure aufder einen Seite und einer weitaus positiveren Einschätzung insbesondere durch Sozialwissenschaftier auf der anderen Seite hat den Impuls für die vorliegende Arbeit gegeben. Anstoß waren die Erfahrungen, die die Autorin als wissenschaftliche Referentin im BMBF-geförderten Projekt "Zuwanderer in der Stadt" gesammelt hat. Hier hatte sich gezeigt, welch große Bedeutung auf kommunalpolitischer und insbesondere wohnungswirtschaftlicher Seite den Versuchen, auf Quartiersebene eine ausgewogene ethnische Mischung herzustellen, beigemessen wird. Im Rahmen des Verbundvorhabens von Schader-Stiftung, Deutschem Städtetag, GdW - Bundesverband deutscher Wohnungs- und Immobilienunternehmen, dem Deutschen Institut für Urbanistik und InWIS hatte ein Expertenforum, besetzt mit Vertretern aus Kommunalverwaltungen, der Wohnungswirtschaft und Stadtforschern, ,,Empfehlungen zur stadträumlichen Integrationspolitik" erarbeitet. Diese wurden in einem zweiten Schritt an acht deutsche Großstädte weitergeleitet, die sich im Vorfeld bereit erklärt hatten, auf Grundlage der Empfehlungen eigene Strategien zu hinterfragen und weiterzuentwickeln. Dabei erhielten überraschenderweise weniger die Empfehlungen selbst eine hohe Aufmerksamkeit, als diejenigen Ausführungen, die eigentlich vor allem die Prämisse des Projektes darlegen sollten: Der Slogan "Integration statt Segregation" sollte ausdrücken, dass die Integration von Zuwanderern trotz ihrer Konzentration in bestimmten Nachbarschaften möglich sei. Der Versuch, Integration allein durch die "gesunde Durchmischung" der 20

Wohnbevölkerung erreichen zu wollen, werde angesichts abnehmender Steuerungsmöglichkeiten scheitern. Das Verbundvorhaben war in der Konsequenz mit einer Reihe von unerwartet heftigen Reaktionen konfrontiert (detailliert in Höbel et al. 2007). Die Ausgangsüberlegung des Projektes stieß bei einigen Rezipienten auf Widerstand, da sie als Anstoß für eine gezielte Herstellung segregierter Strukturen missverstanden wurde. Doch auch von zahlreichen anderen Akteuren in den Kommunalverwaltungen und Wohnungsunternehmen des "Praxis-Netzwerks", die die Parole "Integration trotz Segregation" nicht derartig missdeuteten, wurde sie abgelehnt. Die Kritik bezog sich zum einen auf die operative und zum anderen auf die inhaltliche Ebene. Verschiedene Akteursgruppen in unterschiedlichen Städten vertraten die Position, dass Segregation nicht hingenommen werden sollte und durchaus durch Quotenregelungen bzw. Belegungssteuerung beeinflusst werden könne. 8 Insbesondere die Vertreter der Wohnungswirtschaft lehnten die positive Diskussion von Segregation mehrheitlich ab, da sie befürchteten, dass diese ihre auf ausgewogene Mischungsverhältnisse abzielende Belegungspolitik konterkariere. Gleichzeitig erkannten jedoch insbesondere die größeren, kommunalen Wohnungsunternehmen, dass sie auch mit ihrer Belegungspolitik Segregation nicht (überall) verhindern können. Neben dem Hinweis aufdie weiterhin bestehende Handhabbarkeit des Mischungsinstrumentariums wurde die Ausgangsüberlegung des Projektes jedoch auch auf inhaltlicher Ebene mit dem Hinweis kritisiert, Segregation gehe mit einer Abschottung der Quartiersbewohner einher. Der Slogan "Integration trotz Segregation" wurde als Kapitulation vor den migrationsbedingten Problemen und als Rückzug der Politik aus ihrer Verantwortung interpretiert. Die Ablehnung der Ausgangsbeobachtung hatte mancherorts grundsätzliche Folgen für den weiteren Projektverlauf. In Berlin-Mitte wurde die Umsetzung der "Empfehlungen" vor allem auch wegen ihrer Prämisse als ungeeignet abgelehnt und daher nicht weiter verfolgt. In FrankfurtJMain brach die Unternehmensfiihrung eines Zusammenschlusses von sechs Wohnungsunternehmen die Beteiligung am Projekt ab. In anderen Städten signalisierten die Vertreter der Kommunalverwaltungen zwar Zustimmung zur Aussage, dass Integration auch trotz Segregation gelingen könne und gelingen müsse, sprachen sich aber gegen eine Diskussion des Themas aus. Den Anstoß für einen Vergleich der in verschiedenen europäischen Staaten üblichen Desegregationspolitiken erhielt die Autorin durch die Reaktionen auf einen Vortrag im Rahmen der dänischen Anti-Ghetto-Initiative im Herbst 2006. 8

In der Diskussion um Belegungssteuerung wurde nach Einschätzung der Begleitforscherinnen von Difu und InWIS mehrheitlich nicht zwischen sozialer und ethnischer Segregation differenziert.

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Während die dänische Regierung ethnische Segregation als Problem ausgemacht hat, das es mit wohnungspolitischen Eingriffen - bis hin zu Abrissen und Umsiedlungen - zu beheben gelte, reagierten hier insbesondere die Vertreter der Wohnungswirtschaft verwundert über die Auskunft, in der BRD erfolge eine explizit ethnische Mischung. In Dänemark wird nämlich, wie in anderen europäischen Ländern auch, die ethnische Mischung über eine soziale Mischung operationalisiert, da Verfassung und politische Kultur eine Ungleichbehandlung der Migranten verbieten. Die vermeintliche Konvergenz der wohnungspolitischen Strategien übersieht also wichtige Unterschiede in der Problematisierung und politischen Bearbeitung von ethnischer Segregation, die in der vorliegenden Arbeit aufgezeigt werden sollen (vgL Arthurson 2005: 520).

Theoretischer Zugang zum Untersuchungsgegenstand Die Beobachtung, dass es keine Einigkeit darüber gibt, ob ethnische Segregation als ein Problem zu begreifen sei oder nicht, hat die vorliegende Arbeit zu einem konstruktionistischen9 Zugang aus der Soziologie sozialer Probleme bewegt (siehe Kapitel 3). In einem solchen Verständnis handelt es sich bei sozialen Problemen, also in diesem Fall ethnische Segregation, nicht um Phänomene, die von sich aus problematisch wären. Vielmehr muss dieser Charakter erst über gesellschaftliche Definitionsprozesse aktiv hergestellt werden. Es geht in der vorliegenden Arbeit daher um die Wahrnehmung der Akteure und ihre Kausalannahmen bei der Konstruktion und politischen Bearbeitung des "Problems" Segregation (vgl. Gadinger 2003: 12). Die Erkenntnis der Konstruiertheit von sozialen Problemen zieht einen Bruch mit der Rolle der ,,klassischen" Policy-Analyse als traditioneller "Problemlösungswissenschaft" nach sich. Die Dissertation nutzt Ansätze der interpretativen PolicyAnalyse, durch die sich über die Begriffe "Ideen", "Argumente" und "Interpretationen" - also Wissen im weitesten Sinne - der Durchbruch zur Offenheit gegenüber allen Formen der Konstruktion von Wirklichkeit in der Politikwissenschaft vollzogen hat (Kapitel 4). Im Zentrum der Arbeit stehen dementsprechend die Produktion und Wirkung politisch relevanter Deutungsmuster im Umgang mit ethnischer Segregation (vgl. Lepperhoff2006: 252).

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Während in anderen Kontexten meist von Spielarten des Konstruktivismus die Rede ist, hat sich in der Problemsoziologie der BegriffKonstruktionismus eingebürgert (Schmidt 2000: 153).

Fragestellung und Abgrenzung Die vorliegende Arbeit nähert sich ihrer Themenstellung mit folgenden Forschungsfragen, die komparativ fiir Deutschland, Großbritannien und die Niederlande beantwortet werden: • Was sind die zentralen Interpretationsangebote fiir die Verursachungsmechanismen und Folgen von ethnischer Segregation? • Wie werden diese Elemente miteinander verknüpft, welche kausalen und politischen Verantwortungszuschreibungen werden vorgenommen und welche Konsequenzen fiir wohnungspolitische Praktiken werden daraus abgeleitet? • Wie sind Unterschiede und Gemeinsamkeiten zwischen denjeweiligen nationalen Interpretationsrepertoires sowie im Zeitverlauf zu erklären, zum Beispiel durch kulturelle Traditionen, politische und rechtliche Gelegenheitsstrukturen und Problembetroffenheit (vgl. Keller 2004: 204)? • Welche Diskurskoalitionen (Hajer 2003) lassen sich beobachten und auf welchen Wissensquellen basiert das von ihnen "FÜTWahrgehaltene"? • Welche Zielgruppenkonstruktion (Schneider/Ingram 1993) geht mit den Deutungsund Lösungsmustern einher? Damit grenzt sich die Themenstellung ab von empirizistischen Arbeiten zum Stand der sozialräumlichen Integration, zu den Nachbarschaftseffekten ethnisch segregierter Quartiere sowie von einer Erklärung der Wohnstandortverteilung der Migranten. Im Gegensatz zu Hanhörster (1999) wird in der vorliegenden Arbeit nicht untersucht, wie die wohnungspolitischen Strategien die kleinräumige Segregation der Migranten beeinflussen. Es wird also offen gelassen, ob die Maßnahmen ihr Ziel, Segregation zu vermeiden, erreicht haben. Ebenso wird eine Bewertung der jeweiligen Herangehensweise hinsichtlich ihrer integrationsfördernden Wirkung ausbleiben müssen. Gleichermaßen wird darauf verzichtet, sich dem Themenkomplex migrantisches Wohnen und Integration unter architektonisch-gestalterischen Aspekten zu nähern (zu Gestaltung und Zusammenleben siehe Brech 2005). Zudem beschränkt sich der Vergleich auf wohnungspolitische Eingriffe mit unterstellten Folgen fiir die sozialräumliche Verteilung der Minderheiten. Das ohnehin fließende Grenzen aufweisende Politikfeld Wohnen (vgl. Heinelt 2004: 46) wird hier insofern sehr weit gefasst, als auch Zuzugssperren als vor allem aufenthaltsrechtliche Maßnahmen darunter fallen, sofern sie sich dezidiert auf die Wohnstandortverteilung der Migranten beziehen. Auf die Darstellung von Versuchen, der ebenfalls problematisierten Schulsegregation entgegenzuwirken, wird hingegen ebenso verzichtet wie auf eine Analyse kompensatorischer Maßnahmen, die keinen Anspruch auf eine Veränderung der Bevölkerungszusammensetzung der Nachbarschaft erheben. Stadtteilentwicklungsprogramme wie die "Soziale Stadf' oder das (sozialarbeiterische)

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Engagement von Wohnungsuntemehmen in ihren Nachbarschaften werden dementsprechend ausgeblendet. Die Autorin ist sich darüber im Klaren, dass unter dem Schlagwort "Integration" der Faktizität des Einwanderungslandes nur sehr einseitig Rechnung getragen werden kann, da die Dimensionen Chancengleichheit und Teilhabe im alltäglichen Begriffsgebrauch häufig hinter der einseitigen, einem Containermodell-Denken verhafteten Forderung zurückbleiben, die "Zuwanderer" mögen sich an die "Einheimischen" oder die "Aufnahmegesellschaft" anpassen (Hess/Moser 2009: 14). Das Konzept wird hier dennoch genutzt, um vor allem das den Diskurs dominierende Verständnis von gesellschaftlicher Inklusion abzubilden.

Auswahl der Vergleichseinheit Eine Arbeit, die den Umgang mit ethnischer Segregation in Nachbarschaften und Stadtteilen analysiert, muss die berechtigte Frage antizipieren, warum sie die Definitionsprozesse und daraus abgeleiteten Policies zwischen verschiedenen Staaten vergleicht und nicht die Strategien verschiedener Städte. Bislang gibt es nur wenige vergleichende Studien im Bereich des Wohnens oder der Wohnungspolitik, die die regionale oder die lokale Ebene miteinander vergleichen (Matznetter 2006: 4). Matznetter (2007: 2) führt dies darauf zurück, dass die vergleichende Policy-Forschung zu einer Zeit entstanden ist, in der der nationale Wohlfahrtsstaat aufder Höhe seiner Entwicklung angekommen war. Erst seit kurzem haben die starken Variationen zwischen lokalen Wohnungsmärkten und Maßnahmen, die sich selbst innerhalb zentralistischer Nationalstaaten wie Schweden und im Vereinigten Königreich zeigen, Forscher zu einem Vergleich der lokalen Ebenen bewegt. Ein Hauptargument dafiir lautet, dass sich mit dem in vielen Ländern zu beobachtenden Rückzug des Staates aus der Wohnungspolitik und der voranschreitenden Kommodifizierung des Wohnens regionale oder lokale Unterschiede stärker ausprägen und dementsprechend dezidiert regionale oder städtische Wohnungspolitik den spezifischen Problemen begegnen müsse (a.a.O.: 3). Schlagworte im Zusammenhang mit ethnischen Mischungspolitiken wie ,,Frankfurter Vertrag" oder ,,Rotterdamer Modell" verdeutlichen, dass auch in diesem konkreten Fall Städte unterschiedliche Wege gehen. Im Mittelpunkt dieser Arbeit stehen dennoch Produktion und Wirkung der nationalen Interpretationsrepertoires im Umgang mit ethnischer Segregation, da eine erste Bearbeitung des Themas deutlich gemacht hatte, dass die Unterschiede innerhalb eines Landes in der Regel weniger gravierend sind als die Unterschiede zwischen den Staaten. lO Dies gilt umso mehr fiir das in wohnungspolitischen Fragen

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Für die heterogenen Positionen der niederländischen Städte gilt dies in geringerem Maße.

zentralistischere GB. Obgleich sie auf die Mikroebene des Stadtteils bezogen sind, sind die verschiedenen Strategien zur Herstellung von sozialer Mischung nicht oder nicht ausschließlich der lokalen Ebene zuzuordnen. In allen drei Fallstudienländern gehen damit national spezifische Leitbilder einher, die etwa im deutschen Beispiel auch durch das Bundesbaugesetz oder das nationale Wohnraumfördergesetz verankert sind. So wenig die desegregativen Mischungsstrategien einem klar begrenzten Politikfeld (Integrationspolitik, Wohnungspolitik, Stadtentwicklungspolitik) zugeordnet werden können, so wenig ist auch eine Einordnung auf der kommunalen, föderalen oder bundesstaatlichen Ebene möglich, wie ein Blick auf das Fallstudienland Deutschland verdeutlicht: Einerseits ist die Regelung der Zuwanderung in der BRD eine klare Bundesaufgabe, die zugleich wesentliche Integrationsbedingungen bestimmt, zugleich sind es vor allem die großen Städte Westdeutschlands gewesen, die versucht haben, durch kommunale Konzepte die mangelnde Kohärenz bundesdeutscher Integrationspolitik aufzufangen. Einerseits zeugen der Nationale Integrationsgipfel und die vom Bundesinnenminister einberufene Islamkonferenz davon, dass das Thema Integration nun auch auf der Bundesebene Einzug gehalten hat, zugleich ist mit der Verantwortung für den Neubau von Sozialwohnungen durch das 2002 in Kraft getretene Wohnraumfördergesetz ein wichtiges Steuerungsinstrument im Umgang mit Segregation den Bundesländern übertragen worden. 11 Anmerkungen zur Untersuchungsmethode Die Arbeit beruht entsprechend dem Anspruch der interpretativen PolicyForschung auf qualitativen Methoden der Datenerhebung (Yanow 2003): ,,Politische Programmentwürfe, policyrelevante Stellungnahmen und öffentliche Äußerungen sowie die verabschiedeten Gesetzestexte und spezifizierten Verwaltungsvorschriften werden als Text, als Narrative, als Ideenskripte oder als Ausdruck von Grundüberzeugungen bzw. von handlungssteuernden 'Rahmen' und als Einsatz bzw. Ergebnis von diskursiven Praktiken zur Generierung von politischen Problemdeutungen und Verantwortungszuweisungen interpretiert" (Schneider/Janning 2006: 171).

Neben dieser Auswertung von Primärquellen wie beispielsweise von kommunalen Integrationskonzepten, Ausschussanhörungen zu Gesetzgebungsprozessen, Stellungnahmen und Auftragsarbeiten der Wohnungswirtschaft sowie insbesondere

11 Auch wenn die Finanzierung der Wohnraumförderung mittlerweile vollständig Sache der Länder ist, wird über Ausgleichszahlungen weiterhin eine finanzielle Beteiligung des Bundes bestehen. Eine Verlagerung der wohnungspolitischen Verantwortung auf die Länder und auf die kommunale Ebene wird von vielen begrüßt, um der Ausdifferenzierung der Wohnungsmärkte in Deutschland in den letzten Jahren Rechnung zu tragen (Harms 2007: 56).

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im britischen Fall von offiziellen Berichten und Handreichungen für Kommunen und Sozialwohnungsanbieter stützt sich die Arbeit aufhalbstrukturierte Interviews mit insgesamt 44 Experten und Akteuren, die im Sommer und Herbst 2008 und im Frühjahr 2009 in der BRD, GB und NL geführt wurden (siehe Liste der Interviewpartner). Insbesondere im Fall der Niederlande, wo aufgrund mangelnder Niederländischkenntnisse der Autorin überwiegend auf die Analyse von Dokumenten verzichtet werden musste, konnten durch die Interviews nicht nur Sachfragen geklärt, sondern auch Einblicke in tiefer liegende Handlungslogiken und -zusammenhänge relevanter Akteure gewonnen werden. Zur Auswertung der Daten nutzt die Arbeit die Diskursanalyse (siehe Kapitel 5.2), die antritt, "Prozesse der sozialen Konstruktion, Objektivierung, Kommunikation und Legitimation von Sinnstrukturen auf der Ebene von Institutionen, Organisationen bzw. kollektiven Akteuren zu rekonstruieren und die gesellschaftlichen Wirkungen dieser Prozesse zu analysieren" (Keller 1998: 34). Dabei unterscheidet sich die Diskursanalyse von der Inhaltsanalyse durch die spezifische perspektivische Kontextualisierung der analysierten Materialien (KellerNiehöfer 0.1.: o.S.). In der vorliegenden Arbeit sollen Diskurse als mehr oder weniger erfolgreiche Versuche verstanden werden, Sinn-Ordnungen zumindest auf Zeit zu stabilisieren und dadurch eine kollektiv verbindliche Wissensordnung zu institutionalisieren (Keller 2004b: 7). Dabei wird davon ausgegangen, dass der Kembestand an Grundaussagen, der hier als Interpretationsrepertoire bezeichnet wird, im gesellschaftlich-kulturellen Wissensvorrat verfügbar sein muss (Keller 1998: 36), dass eine Deutung also auf "wohlfahrtskulturelle Resonanz" (Lepperhoff 2006: 259) treffen muss, um diskursbestimmend werden zu können. "In der Rekonstruktion der Diskurse wird untersucht, inwieweit je unterschiedliche, reflexiv verfügbare soziokulturelle Traditionen und institutionelle Verfestigungen des gesellschaftlichen Naturbezugs die Diskurse über die Probleme prägen" (a.a.O.: 33). Anders formuliert fungiert der Diskurs als Index des kulturellen Kontextes, in den Policies eingebettet sind (Smith 1989: 108).J2

Aufbau der Arbeit Kapitel 2 widmet sich der Systematisierung des Forschungstands zur Entstehung von Segregation und ihren Folgen, die von Arbeiten zu den Quartierseffekten 12 Dabei ist es fiir den britischen Fall einfilcher, einen kohärenten Diskurs auszumachen, da die Regierung seit den "Rasssenunruhen" in Nordengland im Jahr 2001 eine Community-CohesionAgenda aufgelegt hat, die den Rahrnen fiir die Diskussion setzt und auf die die Diskursteilnehmer explizit bezugnehmen. Die Rekonstruktion eines Mischungs-Diskurses ist hingegen insbesondere im deutschen Fall deutlich schwerer, da sich hier keine kohärente Debatte abzeichnet, sondern eine Vielfalt an über Jahrzehnten lokalisierbaren Aussagen.

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untersucht werden. Das Kapitel stellt eine ländembergreifende Einführung in das wissenschaftliche framing des Themenkomplexes dar und zeigt Definitions- und Messprobleme auf. Ziel des Kapitels ist eine Unterfütterung der bereits eingangs erwähnten Ausgangsbeobachtung, dass die verbreitete Ablehnung von ethnischer Segregation, die die Grundlage für die verschiedenen Mischungspolicies legt, von empirischer Forschung stark in Zweifel gezogen wird. Ausgehend von diesem Spannungsverhältnis zwischen politischer Problematisierung und wissenschaftlichem Gegenstandpunkt wird in Kapitel 3 der sozialkonstruktivistische Zugang zum Untersuchungsgegenstand erarbeitet, der die Definition von Problemen und ihre Konstituierung in sozialen Prozessen ins Zentrum stellt. Zu diesem Zweck soll zunächst in die Grundlagen des Konstruktionismus (3.1) und eine durch ihn geprägte Soziologie sozialer Probleme (3.2) eingeführt werden. Anschließend werden die zentralen Strömungen innerhalb dieses Ansatzes (reflexives, striktes und kontextuelles Programm) kritisch diskutiert, und es erfolgt eine Verortung der vorliegenden Arbeit im kontextuellen Konstruktionismus. Das Kapitel schließt mit einer Auseinandersetzung mit den wesentlichen Kritikpunkten an den konstruktionistischen Prämissen, denen ein immanenter Relativismus und die Nichtbeachtung struktureller Problemursachen unterstellt und denen vorgehalten wird, ob eine konstruktionistische Gesellschaftskritik möglich sei. Durch den konstruktionistischen Rahmen erfolgt ein Bruch mit einem traditionellen Politikverständnis, wonach soziale Probleme Bestandteil einer gegebenen Wirklichkeit seien, auf die Policies lediglich reagierten (Schram 1993: 252). In Kapitel 4 werden daher zunächst die Entstehung und Grundlagen der traditionellen Policy-Forschung dargestellt, um deren positivistische Prämissen mit konstruktionistisch inspirierten Ansätzen der interpretativen Policy-Forschung zu kontrastieren, die sich seit den 1990er Jahren verbreitet haben. Im Anschluss sollen die Arbeiten der zentralen Autoren der verschiedenen Strömungen innerhalb des interpretativen Paradigmas vorgestellt und kritisiert sowie jeweils Anknüpfungspunkte für die vorliegende Arbeit aufgezeigt werden. Das Kapitel schließt mit einer Diskussion der Potenziale und blinden Flecken des gewählten Ansatzes. In Kapitel 5 werden die zentralen Methoden der Arbeit, nämlich der qualitative Vergleich und die Diskursanalyse eingeführt sowie das mit ihnen verbundene Vorgehen erläutert. Dies soll nicht nur die Forschungspraxis transparent machen, sondern darüber hinaus eine theoretische Auseinandersetzung mit den Methoden anregen. Trotz der Verbreitung der Methode des Vergleichs erfolgt eine dezidierte Beschäftigung mit dem ländembergreifenden, fallorientierten Vergleich außerordentlich selten, denn qualitative Texte neigen dazu, den Ländervergleich zu vernachlässigen, während Ländervergleiche häufig zu einer variablenorientierten, 27

auf Generalisierbarkeit abzielenden Herangehensweise tendieren (vgl. Mangen 1999: 109). Ebenso erscheint eine Einführung der Diskursanalyse als Methode notwendig, da die deutsche Politikwissenschaft - im Gegensatz zur englischsprachigen post-positivistischen Policy-Forschung - sie bislang kaum rezipiert und reflektiert hat. Die Forschungsaufgabe für eine Arbeit, deren Prämissen im Konstruktionismus begründet sind, besteht in der Analyse von Definitionsleistungen in ihrem kulturellen und sozialstrukturellen Kontext (Schmidt 2000: 165). Dieser wird in Kapitel 6 beleuchtet. Da in der vorliegenden Arbeit davon ausgegangen wird, dass sowohl die Problematisierung eines Phänomens selbst, als auch die zu seiner Bearbeitung herangezogenen Policy-Instrumente kontingent sind und an bestehende Ideen erfolgreich anknüpfen müssen, werden die jeweils nationalen Deutungsmuster zu Migration (6.1.1), zum Integrationsverständnis (6.1.2) sowie die in der Wohnungspolitik (6.2) geronnenen Ideen analysiert. Da als Kontext auch die problematisierten Phänomene selbst in Betracht kommen - auch wenn der Sozialkonstruktivismus ihren Einfluss auf die Problemkonstituierung als vergleichsweise gering veranschlagt - sollen zudem die Wohnsituation der Migranten als Integrationsindikator (6.3) sowie Ausmaß und Muster der ethnischen Segregation (6.4) dargestellt werden. Kapitel 7 widmet sich der Analyse der Deutungsmuster ethnischer Segregation in Deutschland, Großbritannien und den Niederlanden. Dabei soll zunächst (7.1) verglichen werden, welche Entstehungszusammenhänge von ethnischer Segregation sich im jeweiligen nationalen Diskurs als dominant behaupten können. Es folgt ein Vergleich der Folgen, die der ethnischen Segregation in den drei untersuchten Ländern nachgesagt werden. In 7.3 werden die Policies analysiert und miteinander verglichen, die wohnungspolitische Reaktionen auf ethnische Segregation darstellen. Dabei wird differenziert zwischen nationalen und kommunalen Policies sowie den Steuerungsversuchen der Wohnungsanbieter. Zudem wird die Kritik an den verschiedenen Ansätzen dargestellt und die Unterschiede und Gemeinsamkeiten der Policies zwischen den drei untersuchten Ländern beleuchtet. Eine interpretative Arbeit, die die Relevanz von Deutungen und Ideen für die politische Bearbeitung von Problemen unterstreicht, muss versuchen, Erklärungen anzubieten, woher die relevanten Akteure ihr Wissen beziehen. In Kapitel 7.4 soll daher der Frage nachgegangen werden, welche Ideen sich zur ethnischen Mischung behaupten können, wie die unterschiedlichen Fähigkeiten der Akteure einzuschätzen sind, ihr Wissen am "Wissensmarkt" zu platzieren und welche Diskurskoalitionen sich zum Thema ethnische Mischung aufzeigen lassen. In Kapitel 7.5 soll inAnlehnung an die sozialkonstruktivistischen Policy-Forscherinnen Schneider/Ingram (1993) untersucht werden, welche Konstruktion der Ziel-

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gruppen mit den Policies einhergeht, also welche Rollen den Zuwanderern sowie der Mehrheitgesellschaft zugewiesen werden und welche Verantwortlichkeit zur Lösung des Problems konstruiert wird. Das Schlusskapitel dient einer Gesamtschau der Ergebnisse und ihrer Rückbindung an den Analyserahmen. Dabei orientiert sich die Gliederung des Kapitels an den Forschungsfragen, die die Untersuchung angeleitet haben. Die Arbeit schließt mit einem Rückblick auf offene Fragen und Ausblick auf lohnende Gegenstände künftiger wissenschaftlicher Beschäftigung mit ethnischer Segregation und Desegregationsversuchen.

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2. Segregation und ihre Folgen - Einführung in den Forschungsstand

Menschliches Zusammenleben ging seit jeher mit einer Hierarchisierung des Raumes einher (Dangschat 1997: 619). Dementsprechend zentral für die Stadtforschung jeglichen disziplinären Hintergrundes ist die Beschäftigung mit Segregation 13, definiert als disproportionale Verteilung von Bevölkerungsgruppen über ein Gebiet. Während Friedrichs (1988: 56) die residentielle Segregation, die er als Zusammenhang zwischen sozialer und räumlicher Ungleichheit begreift, als zentrale Forschung der Stadtsoziologie bezeichnet, werfen Brown und Chung (2006: 125) die rhetorische Frage auf: "What could be more inherently geographical than segregation?" Eine politikwissenschaftliche Auseinandersetzung mit dem Themenfeld, wie sie in der vorliegenden Arbeit stattfindet, ist ausgesprochen selten, obgleich die durch wohnungs- und stadtpolitische Entscheidungen bedingten Makrobedingungen in den meisten Arbeiten als Erklärungsfaktor herangezogen werden (vgl. Friedrichs 1988: 56). Das folgende Kapitel dient als eine länderübergreifende Einführung14 in den aktuellen Forschungsstand und wissenschaftlichen Diskurs zu ethnischer Segregation und ihren potenziellen Folgen. Hier sollen zunächst die in der internationalen Forschung anzutreffenden Erklärungen für die Entstehung von ethnischer Segregation sowie ihre Messung kritisch diskutiert werden. Dies erfolgt weitgehend losgelöst von den national spezifischen Deutungsmustern zur Entstehung von Migrantenvierteln, wie sie in Kapitel 7.1 auf Grundlage der Experteninterviews und Auswertung der Policy-Dokumente miteinander verglichen werden. Obgleich sich europäische Wissenschaftler in der Regel darüber einig sind, dass der Begriff Ghetto der Beschreibung ethnisch segregierter Nachbarschaften in europäischen Städten nicht gerecht wird (Schönwälder 2006: 21), hält sich diese Bezeichnung sowohl in der öffentlichen Wahrnehmung als auch im politischen Diskurs in allen untersuchten Ländern. Daher soll in einem zweiten Schritt erläu13 In der vorliegenden Arbeit wird der Begriff neutral verwendet und nicht als Gegensatz zur Integration im Sinne der Segmentation. 14 Südeuropäische Staaten werden jedoch bislang in der Konstruktion einer "European metaphor of segregation" kaum berücksichtigt (Arbaci 2007: 403).

S. Münch,Integration durch Wohnungspolitik?, DOI 10.1007/978-3-531-92571-4_2, © VS Verlag flir Sozialwissenschaften I Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2010

tert werden, warum dieses Konzept ungeeignet ist, Segregationstendenzen in Europa zu erfassen und warum dementsprechend in der vorliegenden Arbeit auf diesen Terminus verzichtet wird. Abschließend wird in diesem Kapitel der Frage nachgegangen, welche negativen Folgen der ethnischen Segregation in der wissenschaftlichen Literatur zu den Nachbarschaftseffekten diskutiert werden. Dies erscheint notwendig, da bereits eingangs darauf hingewiesen wurde, dass die weitgehend einheitliche politische Ablehnung von ethnischer Segregation in den meisten europäischen Ländern durch empirische Forschungsergebnisse ausgesprochen wenig Rückendeckung erhält (Atkinson 2005: 27). Dabei werden an dieser Stelle die nationalspezifischen Deutungsmuster der drei Fallstudienländer noch nicht berücksichtigt, da zunächst herausgearbeitet wird, wie ambivalent die vermeintlichen Folgen von Segregation in der Forschungsliteratur bewertet werden.

2.1 Segregation: Definitionen und Messmethoden In Forschungsarbeiten wird zwischen sozialer, ethnischer oder demographischer Segregation unterschieden, wobei mit letzterem die unterschiedliche Verteilung verschiedener Altersgruppen bezeichnet wird (Erdmann 2001: 146).15 Segregation kann sowohl zwischen Stadt und Umland, zwischen Stadtteilen als auch innerhalb einer Nachbarschaft beobachtet werden (van Kempen/Özüekren 1998: 1632). Wenn relativ stark segregierte Minderheiten mehrheitlich in nur wenigen Gebieten der Stadt leben, spricht man von Konzentration (Sturm 2007: 245). Dabei müssen sich Mischung und Konzentration nicht widersprechen, wenn etwa zehn verschiedene Gruppen jeweils einen Anteil von 10% an der Bevölkerung des Stadtteils stellen, aber beispielsweise alle Chinesen in diesem Stadtteil leben (van Kempen/ Özüekren 1998: 1633). Segregationsindizes sind die klassischen, aus der nordamerikanischen Stadtsoziologie stammenden, aber nicht unumstrittenen Verfahren zur Messung von Segregation. Der Segregationsindex (IS) misst die Differenz in der räumlichen Verteilung einer Bevölkerungsgruppe im Vergleich zur Restbevölkerung, der Dissimilaritätsindex (ID) die unterschiedliche Verteilung zwischen zwei Gruppen (Domburg-De RooijlMusterd 2002: 114). Dabei beschreibt der ID-Wert 0 einen Zustand, bei dem die Zusammensetzung der Einwohner jedes Stadtteils dem der Stadt insgesamt exakt entspricht, während steigende Werte eine steigende Abwei15 Ist in einem Quartier die überlappung aller drei Dimensionen festzustellen, wird dies oftmals als Verbleib der "A-Gruppen" - Arme, Alte und Ausländer - bezeichnet.

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chung der Siedlungsmuster signalisieren. Bei einem Wert von 100 würden die beiden Vergleichsgruppen in unterschiedlichen Vierteln jeweils vollkommen getrennt von einander leben (Schönwälder/Söhn 2007: 40). Segregation wird nach dem Segregationsindex also gefasst als Prozentsatz derer, die umziehen müssten, um ein Gleichgewicht herzustellen. Der IS bezieht die gesamte Bevölkerung einer Stadt in den Vergleich ein, während mit dem ID auch zwei ausgewählte Gruppen miteinander verglichen werden können. Dementsprechend sind ID und IS deckungsgleich, wenn beispielsweise Ausländer und Deutsche mit einander verglichen werden. Aus normativer Sicht wird am Segregationsindex kritisiert, dass er eine Wertung impliziere, obwohl eine empirische Forschung im Sinne des Kritischen Rationalismus wertfrei sein müsste (Dangschat 1997: 630): "This phrasing, which can sound so neutral and merely statistical to some ears, to others carries objectionable white integrationist assumptions. Why construct an index of segregation tbat pietures the Blacks as rnoving while the Whites stay where they are? Really to achieve lower racial concentration, don 't both groups have to rnove? The definition oftbe index also suggests that the desirable goal is a proportionate rnixing of whites and people of colour through all residential areas" (Young 2000: 199).

Problematisch am Segregationsindex ist zudem auf der operativen Ebene, dass die Höhe der Indexwerte sowohl von der Größe als auch von der Anzahl der zugrunde gelegten Teilgebiete abhängt (ILS 2006: 96). Zum einen steigt der Index, je kleiner die Einheit gewählt wurde, zum anderen sind kleinräumige Daten in den meisten Staaten selten (Benenson/Omer 2002: 11; Dangschat 1997: 627). Zudem ist nicht zu erkennen, aufGrundlage welchen Ausmaßes der Konzentration einer Bevölkerungsgruppe der Durchschnittswert zustande gekommen ist (Dangschat 1997: 623). Dementsprechend schwierig gestaltet sich auch der internationale Vergleich von Segregationsindizes angesichts unterschiedlicher Minderheitendefinitionen, verschiedener Größen des zugrunde liegenden Raums, unterschiedlicher Zuwanderergruppen (Gastarbeiter, Asylbewerber, high potentials, Bürger ehemaliger Kolonien) mit unterschiedlicher Aufenthaltsdauer (Domburg-De Rooij/Musterd 2002: 114). Ab wann ein Segregationsindex eine "hohe" Siedlungskonzentration anzeigt, kann außerdem nicht länderübergreifend oder an einem objektiven Schwellenwert festgemacht werden (Schönwälder/Söhn 2007: 41). Während Friedrichs (1995: 80) vorschlägt, einen ID bzw. IS-Wert ab 40 als hoch zu bewerten, werden dem britischen Geographen Peach (2007: 14) zufolge Werte bis 39 als niedrig, Werte zwischen 40 und 49 als moderat, von 50-59 als gemäßigt hoch, von 60 bis 69 als hoch und ab 70 als sehr hoch interpretiert.

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2.2 Die Sozialökologie als zentrale Forschungstradition Während in den USA Segregationsmuster schon seit den I 920er Jahren untersucht wurden, widmete man sich in Europa erst seit den späten 1970er Jahren diesem Thema (Özüekren/van Kempen 2003: 162). Dementsprechend bilden die Pionierarbeiten US-amerikanischer Stadtforscher bis heute die ideelle Grundlage vieler europäischer Forschungsarbeiten. Die Arbeiten der Chicagoer Schule genießen weiterhin Zuspruch in der Sozialökologie, polit-ökonomischen Geographie und Kultursoziologie (Dangschat 1997: 621). Die Chicagoer Sozio10gen 16 konzipierten die Stadt als Mosaik verschiedener Lebenswelten und entwickelten damit ein Grundmuster der Integration, dass sich auf die Formel "Integration durch Segregation" bringen lässt (Siebel 2006: 11). Park (1974: 90; 100) bediente sich Durkheims Methode der Überführung nicht beobachtbarer sozialer Tatbestände (Konstrukt) auf beobachtbare Phänome (Indikator) und begriff physische Distanz zwischen Wobnstandorten als Ausdruck sozialer Distanz. Es wurde von Park als möglich erachtet "all die Dinge, die wir normalerweise als sozial bezeichnen, schließlich in den Begriffen von Raum und Positionsveränderung (...) zu fassen und zu beschreiben" (a.a.O.: 96). Die beobachtete Äußerungsform wurde so zum Element der Erklärung erhoben, ohne dass der Zusammenhang zwischen Form und gestalterischer ,,Kraft" zuvor differenziert geklärt worden wäre (Weden 2005: 17f.). Integration begriff Park als Gewöhnungsproblem, bei dem soziale und räumliche Nähe-Distanz-Beziehungen zentral seien. So sei das Leben in der natural area17 , der Schutz der ethnic village, Voraussetzung dafür, dass sich Migranten in einer fremden Welt eingewöhnen können (Dangschat 2000: 192). Wenn innerhalb von zwei oder drei Generationen der Aufstieg gelinge, könne in ein gemischtes Gebiet gezogen werden, wobei dieser Schritt die Voraussetzung für die Assimilation sei (Park 1974: 94). Park gehörte damit im von Rassentrennung geprägten Amerika zu den innovativen Anhängern der melting-pot-Idee, die Integration durch das Verschmelzen unterschiedlicher Gedanken, Handlungsweisen und schließlich Genen erwartete (Dangschat 2007: 177). In diesem Sinne entwickelten die Sozialökologen orientiert an biologistischen Analogien den Kreislauf eines Invasions- und Sukzessionszyklus als induktives, mechanistisches Stufenmodell ohne Blick auf spezifische Bedingungen (Eichener 1988: 149). Diese race-relation16 Laut Bürkner (1987: 8) hat sich die Geographie erst recht spät mit dem Thema Immigration auseinandergesetzt und dementsprechend andere sozialwissenschaftlicher Konzepte übernommen, da der geographische Theoriefundus nicht angemessen gewesen sei. 17 Die von jeweils einer dominanten Zuwanderergruppe geprägten eities within the city oder natural areas fasste Park als Weberschen Idealtypus, den es in der Realität Chicagos nicht gebe (Dangschat 1998: 31).

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cycle-Studien beschreiben jedoch lediglich den Prozess der Eingliederung, ohne ihn wirklich erklären zu können (Alpheis 1990: 152). Zudem zweifelten bereits Parks afroamerikanische Schüler die Übertragbarkeit seines race-relation-cycle auf die Afroamerikaner an (Dangschat 1998: 41). Trotz ihres bis heute andauernden Einflusses auf die Segregationsforschung sind die Erklärungsmuster US-amerikanischer Konzepte wie der Chicagoer Schule nur sehr bedingt geeignet, das Entstehen von ethnischer Segregation im europäischen Kontext zu erklären (Welz 2002: 80). Die sozialökologischenAnsätze implizieren nämlich einen marktwirtschaftlichen Wohnungssektor und somit, dass ein Zusammenspiel aus sozioökonomischen Zwängen und Diskriminierung auf der einen und persönlichen Präferenzen der Zuwanderer auf der anderen Seite Migranten in bestimmte Wohnquartiere filtere (Dangschat 1997: 623). Zudem gehen die Chicagoer Soziologen von einem beständigen Wachstum der Stadt aus (Park 1974: 91), das in Europa nicht gegeben ist. Ferner sind die meisten europäischen Nachbarschaften insofern durch eine hohe Heterogenität der Wohnverhältnisse gekennzeichnet, als sich in ihnen eine Mischung aus Eigentums- und Mietwohnungen finden lässt. O'Loughlin (1987: 56-57) vermutet daher, dass es in den USA eher den Versuch gebe, wegen des bei weißen Amerikanern dominanten Wohneigentums im Interesse des Wertes der eigenen Immobilie das Prestige der Nachbarschaft aufrecht zu erhalten, indem das Quartier gegen den Zuzug von ethnischen Minderheiten abgeschottet wird. Im Folgenden werden aktuelle makro- und mikrosoziologische Erklärungen fiir das Entstehen von ethnischer Segregation diskutiert, wobei die spezifische Rolle der europäischen Wohlfahrtsstaaten angemessen berücksichtigt werden soll.

2.3 Ursachen ethnischer Segregation Klassische Erklärungen fiir die Ursachen und Prozesse von ethnischer Segregation bewegen sich im Spannungsfeld von choices and constraints, verweisen also auf das Zusammenspiel von Makroebene (Sozial- und Einkommensstruktur gesellschaftlicher Gruppen) und Mikroebene (Wahlmöglichkeiten) (Welz 2002: 79).

2.3.1 Makrosoziologische Erklärungen

In makrosoziologischen Erklärungen ist der Grad der Segregation abhängig vom durch die sozioökonomische Lage bedingten Grad der Wahlmöglichkeiten auf dem Wohnungsmarkt, der Dauer des Aufenthaltes sowie dem Ausmaß der Diskri35

minierung (Domburg-De RooijlMusterd 2002: 110). Damit ist das Haushaltseinkommen nur ein Aspekt, denn auch bei gleichem finanziellen Spielraum haben Minoritäten eine geringere Chance, in Wohngebiete der Mehrheit zu ziehen. Die Zugänglichkeit der Wohngebiete ist der Miethöhe vorgeschaltet. ,,Die Diskriminierung oder die Macht der Majorität, Angehörige der Minorität aus ihren Gebieten fernzuhalten, ist eine der am häufigsten formulierten Hypothesen, um die Segregation zu erklären", konstatiert Friedrichs (1988: 58). In anderen, makrosoziologischenArbeiten dominieren Strukturwandel und Globalisierung als Erklärung fiir wachsende, sich auch im Stadtbild niederschlagende Ungleichheit. Domburg-De Rooij und Musterd (2002: 110) haben zu Recht bemängelt, dass bei diesen Erklärungsmustern die Rolle des Wohlfahrtsstaates im Allgemeinen und seine unterschiedlichen staatlichen Entwicklungen im Bereich von Wohnungs- und Sozialpolitik im Speziellen vernachlässigt würden. Die spezifischen Ausprägungen der nationalen Wohnungspolitik, der Grad der Einkommensverteilung sowie der Zugang zur Staatsangehörigkeit und zu Gütern und Dienstleistungen wie Erziehung und Gesundheitsversorgung sind zentrale Faktoren, die die Segregationsmuster prägen (Arbaci 2007: 403). In stark dekommodifizierenden Wohlfahrtsstaaten besteht empirisch ein geringerer Zusammenhang von Typ, Qualität und Ort des Wohnraums und dem Haushaltseinkommen (DomburgDe RooijlMusterd 2002: 113), während Städte in liberalen Wohlfahrtsstaaten die stärksten sozialen Segregationstendenzen aufweisen (Arbaci 2007: 410). Neben den allgemeinen wohlfahrtstaatlichen Rahmenbedingungen ist die Dekommodifizierung des Wohnens durch den sozialen Wohnungsbau zentral fiir die jeweils nationalen Ausprägungen von sozialer und damit auch ethnischer Segregation. Wesentliche Unterschiede ergeben sich allerdings aufgrund der Größe des Sozialwohnungssektors sowie zwischen unitarischen oder dualistischen Wohnungsmärkten. Im dualistisch organisierten Mietwohnungssystem wird der soziale Wohnungssektor staatlicherseits kontrolliert und residualisiert, sodass dem unregulierten privaten Sektor keine Konkurrenz droht. Dies ist der Fall in Großbritannien, Irland, Finnland, Spanien, Portugal und Griechenland. Im universalistischen Mietsystem hingegen, wie es vor allem in sozialdemokratischen oder korporatistischen Wohlfahrtsstaaten zu finden ist, ist die Wahrscheinlichkeit einer sozialen Mischung höher, da der Sozialwohnungssektor prinzipiell fiir die breiten Schichten der Bevölkerung konzipiert wurde (Arbaci 2007: 416). Dabei wird von Arbaci allerdings übersehen, dass sich in der Bundesrepublik in den vergangenen Jahren eine Änderung in Richtung engerer Zugangskriterien zum Sozialwohnungssektor ergeben hat, auf die später (Kapitel 6.2.4) noch einzugehen sein wird. Die Größe des jeweiligen nationalen Sozialwohnungssektors ist nämlich nicht statisch zu begreifen: Während in einigen Ländern wie Belgien der Sozialwohnungsbestand 36

seit jeher gering war, wird in anderen Ländern gezielt versucht, den Anteil von höherwertigem Wohnraum - bis zum Abriss von Sozialwohnungen - zu erhöhen, um die Konzentration von Sozialwohnungen und somit die soziale Segregation zu verringern (Özüekren/van Kempen 2003: 167). Während diese segregationsbezogenen Auswirkungen der Wohnungs-(markt-) politik insgesamt in europäischen Arbeiten seit den 1990er Jahren Berücksichtigung finden, werden die Folgen konkreter Steuerungsversuche durch die Wohnungspolitik und das Belegungsmanagement großer institutioneller Wohnungsanbieter in der Regel komplett übersehen (Ausnahmen bilden Planerladen 2004; 2005; ILS 2006). Selbst in den wenigen verfügbaren Untersuchungen werden lediglich die Inhalte, nicht aber die segregationsbezogenen Folgen dieser Policies untersucht. Sicherlich ist es schwerlich möglich, aufgrund der multikausalen Ursachen von Segregation die Folgen solcher Steuerungsversuche empirisch nachzuweisen. Auch in der vorliegenden Arbeit ist dies aufgrund der konstruktionistischen Fragestellung nicht angedacht. Nichtsdestotrotz sollten derartige Rahmenbedingungen in einer europäischen Auseinandersetzung mit Segregation nicht übersehen werden (vgl. Özüekren/van Kempen 2003: 168).

2.3.2 Mikrosoziologische Erklärungen Wohnstandortentscheidungen der Mehrheitsgesellschaft Ein mikrosoziologischer Ansatz, der die Entstehung von ethnischer Segregation über die Entscheidung einzelner Haushalte der Mehrheitsgesellschaft erklärt, ist die von Schelling (1978) entwickelte tipping-point-Theorie. Die tipping-pointTheorie lässt ökonomische und soziale Einflussfaktoren unberücksichtigt und versucht, die Dynamik der Segregationsprozesse über eine statistische Analyse zu erfassen. Damit geht es ihr vor allem um den Zusammenhang von individuellem Handeln und dessen kollektiven Folgen. Unter der Annahme eines Bevölkerungsdruckes der Minderheit auf die Wohngebiete der Mehrheit nimmt Schelling an, dass der Prozess des Wandels nicht linear ist, sondern es eine Art Umschlagpunkt gebe. Die Abwanderung der Mehrheit steige steil an, wenn innerhalb eines Quartiers der Anteil der Minorität einen bestimmten Schwellenwert erreicht habe. Zum Verlassen des Wohngebietes komme es dann, wenn von einer kritischen Schwelle an die Minderheit als Gruppe wahrgenommen und kategorisiert werde, "so daß die durch unterschiedliche Verhaltenstraditionen hervorgerufenen Nachbarschaftskonflikte von Individualebene auf Gruppenniveau transferiert werden" (Kecskes/ Knäble 1988: 293). Der Zuzug werde für die Majorität ebenfalls unattraktiver, sodass freiwerdende Wohnungen fast ausschließlich von der Minderheit besetzt 37

würden. Da die Erwartungen über Entscheidungen anderer eine wichtige Rolle im individuellen Entscheidungsprozess spielen, können auf der Aggregatsebene vom Individuum unerwartete oder unerwünschte Effekte im Sinne einer self-fulfilling prophecy entstehen. Schelling geht davon aus, dass jedes Mitglied der Majorität einen individuellen tipping-out-point hat. Die zuerst Ausziehenden haben wiederum Einfluss auf das Verhalten der anderen, die dann etwas später ihren eigenen tipping point erreichen (a.a.O.: 295). Verschiedene Autoren haben auf die Probleme der Übertragbarkeit dieses USamerikanischen Ansatzes auf die europäische Situation hingewiesen: Durch die optischen Unterschiede zwischen Schwarzen und Weißen wie bei Schelling in den USA sei leichter zwischen Minderheit und Mehrheit zu unterscheiden als beispielsweise zwischen Ausländern und Deutschen (a.a.O.: 298). Zudem entstünden fiir Mieter - wie sie etwa in Deutschland und den Niederlanden die Mehrheit bildenkeine Vermögensnachteile durch den Zuzug unerwünschter Minderheiten, sodass ein kurzfristiges "Umkippen" des Stadtteils unwahrscheinlicher sei (Eichener 1988: 151). Da der Schwellenwert zudem von verschiedenen Faktoren wie der Wohnungsstruktur, dem Bezugsraum sowie der Minoritätengruppe abhänge, würden allgemeingültige Feststellungen erheblich erschwert (ILS 2006: 25). Dennoch wird in vielen Kommunen und Bereichen der Wohnungswirtschaft in der BRD mit derartigen Schwellenwerten gearbeitet. Auf diese soll im empirischen Teil dieser Arbeit dezidiert eingegangen werden. Wohnortpräjerenzen der Minderheit Neben den beschränkenden Rahmenbedingungen, die die Wahlmöglichkeiten am Wohnungsmarkt fiir viele Migrantenhaushalte einengen, gibt es durchaus die Entscheidung, in der Nähe von Landsleuten zu wohnen (Özüekren/van Kempen 2003: 168). Behavioralistische Erklärungen fiir die Entstehung von ethnischer Segregation ziehen explizit die Präferenzen, Wahrnehmungen und Entscheidungen der Individuen sowie ihre Reaktionen auf push- und pul/-Faktoren mit ein. Eine Untergruppe zu diesen Untersuchungen bildet der ethnisch- kulturalistische Ansatz, der davon ausgeht, dass sich Wohnbedingungen und Wohnmuster zwischen Gruppen auf Grundlage ihrer kulturellen Differenzen voneinander unterschieden. Vor allem die Präferenzen fiir Wohneigentum werden nach diesem approach kulturell erklärt (van Kempen/Özüekren 1998: 1638-1639). Ein Vergleich von Siedlungsmustem und Wohnpräferenzen zwischen verschiedenen Ländern offenbart indes die Schwächen solcher Erklärungen, da deutlich wird, in welchem Maße die Wohnbedingungen von der jeweiligen Wohnungsmarktsituation im Aufnahmeland sowie deren Wohnungspolitik abhängt. Unterschiedliche Grade der Wohneigentumsbildung sowie des Wohnens der Migranten in Sozialwohnungen zwischen

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verschiedenen Ländern, manchmal sogar zwischen den Städten eines Landes, liefern hierfür Belege. Für die Ausprägungen des Phänomens, das als freiwillige Segregation der Minderheit bezeichnet wird, finden sich in der Literatur verschiedene Bezeichnungen, denen die Abgrenzung vom negativ besetzten Begriff "Ghetto" gemein ist. Peter Marcuse (1998: 186) hat hierfür den Begriff der Enklave geprägt: "Eine Enklave ist ein Gebiet, in dem Mitglieder einer bestimmten Bevölkerungsgruppe, definiert nach Ethnizität, Religion oder anderen Merkmalen, auf einem bestimmten Raum zusammenkommen, um ihre ökonomische, soziale, politische und/oder kulturelle Entwicklung zu fördern" (ebd.). Die Enklave ist damit positiv besetzt und dient dem empowerment ihrer Bewohner, während das Ghetto die Benachteiligung seiner Bewohner verstärkt (Young 2000: 203). Während in der angelsächsischen Literatur für den gleichen Sachverhalt auch die Bezeichnung congregation (Andersson 2007a: 84; van Kempen/Özüekren 1998: 1633) geläufig ist, hat sich in der BRD Heckmanns (1998) Terminus ethnische Kolonie durchgesetzt. Nach Esser (1986: 109) entstehen ethnische Kolonien nicht automatisch, sondern sind mehr oder weniger reflektiert geschaffene Sozialbeziehungen zur Bewältigung der Migrationssituation, wobei die Koloniebildung vor allem die Bleibeabsicht ihrer Mitglieder verdeutliche. Bei der Rede von "freiwilliger Segregation" wird jedoch häufig vernachlässigt, dass Segregation ein zweiseitiger Begriff ist: Es sind nicht nur die ethnischen Minderheiten segregiert, sondern vor allem die "weiße" Mittelschicht. Die freiwillige Segregation der Mehrheitsgesellschaft kann zur unfreiwilligen Segregation der Minderheit in erheblichem Maße beitragen, wenn in einem entspannten Wohnungsmarkt diejenigen, die es sich leisten können, den Stadtteil verlassen oder in einem angespannten Markt durch Gentrifizierung weniger zahlungskräftige Bewohner verdrängt werden.

2.4 Verwendung des Ghetto-Begriffs für europäische Einwandererviertel Eines der beharrlichen Merkmale des europäischen Umgangs mit ethnischer Segregation ist die geläufige, aber unangemessene Verwendung des GhettoBegriffs (O'Loughlin 1987: 53). Der Ausdruck "Ghetto" ist nicht nur historisch bedenklich, er verdeckt auch die Unterschiede zwischen Ghettos in den USA und den Strukturen europäischer Quartiere mit hohem Zuwandereranteil. Die meisten europäischen Autoren weisen daraufhin, dass ein Migrantenanteil von 20 bis 40% kein hinreichendes Merkmal für die Definition eines Ghettos darstelle (ebd.). Im angelsächsischen Raum hat sich mittlerweile eine duale Definition durchgesetzt. In der vierten Auflage des Dictionary 0/Human Geography wird das Ghetto defi39

niert als ,,[a]n extreme form of residential concentration; a cultural, religious, or ethnic group is ghettoized when (a) a high proportion ofthe group lives in a single area, and (b) when the group accounts for most of the population in that area" (Johnston et al. 2000: 312). Es ist also nicht nur ein Gebiet, das überwiegend von einer Minderheit bewohnt wird, sondern es ist auch nötig, dass ein substanzieller Anteil dieser Minderheit in dem besagten Gebiet lebt. Nach einer Definition von JohnstonIPoulsenIForrest (2006a: 320) bedeutet Ghetto, dass die Minderheit mit mindestens 60% im Stadtteil vertreten ist und zudem mehr als 30% der gesamtstädtischen Gruppe im Stadtteil lebte. Viele europäische Einwandererquartiere sind hingegen in der Zusammensetzung ihrer Bewohnerschaft multiethnisch, wobei der Anteil an Bewohnern ohne Migrationshintergrund hoch bleibt und diese Konzentrationsgebiete zudem meist relativ kleinräumig sind (Mahnig 2001: 2). Die meisten Ghetto-Definitionen beziehen den Aspekt der Unfreiwilligkeit mit ein: "Ein Ghetto ist ein Gebiet, in welchem Raum und Rasse miteinander verbunden sind, um eine bestimmte Bevölkerungsgruppe, die von der herrschenden Gesellschaft als minderwertig angesehen und dementsprechend behandelt wird, zu definieren, zu isolieren und einzugrenzen" (Marcuse 1998: 179). Auch van Kempen/ Özüekren (1998: 1634) greifen den Aspekt der Erzwungenheit auf ,,[I]t should (...) be dear that we should not consider every area that is inhabited by an ethnically, racially or religiously defined group as a ghetto. (...) The involuntary aspect is a very important dimension." Damit impliziert der Begriff "Ghetto", dass die einmal zugezogenen Migranten nicht mehr - oder nur unter großen Schwierigkeiten - aus dem Stadtteil fortziehen können. Diese Annahme sollte nicht ohne weiteres für deutsche "Ausländerviertel" übernommen werden, gibt es doch Untersuchungen, die in deutschen Nachbarschaften eine höhere Fluktuation der ausländischen Bewohner im Vergleich zu ihren deutschen Nachbarn feststellen. Eine Untersuchung zum im Volksmund als "Ghetto" gebrandmarkten Borsigplatzviertel in Dortmund deckte beispielsweise auf, dass in einer Zeitspanne von 16 Jahren 90% der ausländischen Bewohner das Viertel wieder verlassen hatten (Caesperlein/Gliemann 2002: 7).

2.5 Die vermeintlichen Folgen von Segregation: Die umstrittenen Nachbarschaftseffekte Weitaus kontroverser als die konkurrierenden Erklärungen für die Entstehung und Persistenz von Segregation fällt die wissenschaftliche Analyse der vermeintlichen Folgen von ethnischer Segregation aus: "The idea that living in an area in which a high share of the population is disadvantaged will also have negative effects on 40

other individuals in the vicinity seems to originate from the United States but has been copied for use in the European context" (Andersson/Musterd 2005: 378). Seit Jahrzehnten wird aufbeiden Seiten des Atlantiks eine Debatte darüber geführt, ob ethnische Kolonien eine wesentliche Komponente vielfältiger Gesellschaften seien, Brücken in die Aufnahmegesellschaft darstellten und die Integration der Neuzuwandemden erleichterten, oder ob sie als eine Mobilitätsfalle und ein Symptom für gefiihrliche gesellschaftliche Spaltungen zu begreifen seien. Im sozialökologischen Modell der Assimilationstheorie wird eine inverse Beziehung zwischen Segregation und Integration unterstellt, wonach also die Assimilation umso geringer ausfällt, je größer die Segregation ist (Häußermann 2007: 234). Da in den meisten Fällen ethnische und soziale Segregation nur schwer zu trennen sind, überschneiden sich diese Überlegungen mit Debatten zu den Effekten von Armut und Arbeitslosigkeit. Insbesondere zu diesem zweiten Aspekt finden sich in der US-Literatur eine Vielzahl von Arbeiten, die unterschiedliche Facetten wie die Auswirkungen der Nachbarschaft auf Arbeitsmarktkarriere, Kriminalität, Devianz, Gesundheit, Teenager-Schwangerschaften, Bildungserfolge und soziales Kapital untersuchen (Musterd/Andersson 2006: 121). Die empirische Forschung bearbeitet dabei Fragen der Nachbarschaftseffekte mit zwei unterschiedlichen methodologischen Herangehensweisen, einerseits in Form der ethnologischen Nachbarschaftsfallstudie, bei der die Individuen im Mittelpunkt stehen, andererseits in Form statistischer Langzeitstudien (Friedrichs/GalsterlMusterd 2003: 801). Die US-Forschung hat dabei durchaus Effekte fiir sozial benachteiligte Quartiere nachgewiesen, die aber nicht so stark waren wie der Elterneinfluss, individuelle Merkmale oder makroökonomische Bedingungen (a.a.O.: 800). Zentral fiir die Forschung zu den Kontexteffekten von Migrantenquartieren ist die Annahme, dass Nachbarschaften durch die Selektivität der Kontakte die Beziehungen ihrer Bewohner organisieren. Dieses Verständnis ist eine wesentliche Prämisse fiir den Versuch, aus der räumlichen Verteilung einer ethnischen Minderheit Schlussfolgerungen über ihre soziale Integration in die Mehrheitsgesellschaft zu ziehen. Nachbarschaftseffekte können indes nur dann Geltung besitzen, wenn sich die Erfahrungsräume und Kontaktnetze der Bewohner tatsächlich auf das Quartier konzentrieren. Verschiedene Autoren bezweifeln jedoch, ob diese Annahme in Zeiten verbesserter Transport- und Kommunikationsmöglichkeiten gerechtfertigt ist (Drever/Clark 2006: 3; van Santen/Seckinger 2005: 51).18 Beispielsweise ergab die Auswertung des US-General Social Survey zwischen 1974 18 Möglicherweise bestehen hier Unterschiede zwischen den Millionenstädten in den USA und London aufder einen und den eher überschaubaren Großstädten der Niederlande und Deutschlands auf der anderen Seite.

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und 1996 eine ständige Bedeutungsabnahme der nachbarschaftlichen Netze bei langsamem Anwachsen außemachbarschaftlicher Netze (Bridge 2002: 6). Andere haben daraufhingewiesen, dass es eine wachsende Zahl von ethnischen communities gebe, die nicht auf räumliche Nähe angewiesen seien (communities without propinquity) (Drever/Clark 2006: 6). Sie wenden ein, dass im Allgemeinen die Nachbarschaft keinen besonderen Einfluss auf die Reichweite und Zusammensetzung der Verkehrskreise habe. Für Kontakte sei die Status-Homogenität wichtiger als die räumliche Nähe (ILS 2006: 21). Insbesondere in Arbeiten zu ethnischer Segregation wird häufig übersehen, dass räumliche Nähe nicht mit sozialer Nähe einhergehen muss (Häußermann 2007: 234). Auch in größtenteils deutschen Nachbarschaften überwiegen nur Grußkontakte (Bürkner 1987: 233). Bürkner (1987: 238) unterstreicht, dass segregiertes Wohnen nicht mit Binnenintegration gleichzusetzen ist. Viele Einwandererquartiere in Kontinentaleuropa sind nämlich multiethnisch und ihre Bewohner haben häufig nur wenig gemein, außer ihrer Migrationserfahrung (Schönwälder 2006). In Alpheis Worten: Nicht alles, was anders ist, als man selbst, gleicht sich (Alpheis 1990: 181). Andererseits ist bekannt, dass die Netze beispielsweise von Unterschichtsangehörigen lokal stark eingegrenzt sind (ILS 2006: 21; Bridge 2002: 4). Gerade im Hinblick aufnicht berufstätige Frauen und Kinder, aber auch angesichts mangelnder Integration von Zuwanderern in den Arbeitsmarkt wird argumentiert, dass die Nachbarschaft eine wachsende Bedeutung für die Integration trage. Angenommen, es gebe in der Tat eine enge monoethnische Gemeinschaft auf Stadtteilebene, so kommen selbst in diesem Fall Untersuchungen zur gesellschaftlichen Teilhabe der Betroffenen zu widersprüchlichen Prognosen. So unterstreicht Salentin (2005: 8), dass eine Zunahme innerethnischer Beziehungen mit der Zunahme intraethnischer Beziehungen einhergehe. Personen, die sich in eigenethnischen Vereinen engagierten, wiesen eine engere Beziehung zur MehrheitsgeseIlschaft, ein größeres Interesse an der gesellschaftlichen Mitgestaltung und mehr informelle Kontakte zu Deutschen auf. Zhou (1997) kam mit Blick auf die Asiaten in den USA zu dem Schluss, dass es in den ärmeren ethnisch gemischten Gebieten zu einer Abwärtsassimilation kommen könnte, während ethnische Strukturen eine Aufwärtsorientierung bewahren helfen. Norbert Wiley (1967) hingegen fasste den Begriff der ethnischen Mobilitätsfalle in das Bild eines Baumes, wobei nur die Mehrheitsgesellschaft (der Stamm) einen wirklichen Aufstieg ermöglicht, während die Migrantengesellschaft lediglich die Zweige darstellt und damit nur eine begrenzte Aufwärtsbewegung erlaubt.

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2.5.1 Dimensionen der Nachbarschaftseffekte Die ambivalent ausfallenden Untersuchungen zu den Kontextwirkungen segregierter Nachbarschaften beziehen sich auf die sozialen, symbolischen, politischen und materiellen Effekte. Dabei wird deutlich, dass sich viele Untersuchungen vor allem auf die soziale Segregation beziehen.

2.5.1.1 Soziale Dimension Segregierten Nachbarschaften werden negative Effekte für die Sozialisierung der Bewohner nachgesagt. In der handlungstheoretischen Assimilationstheorie gehen sozial-räumliche Strukturen als Kontexteffekte in die Situationsdefinition der Akteure ein und kreieren nicht-assimilative Handlungsanreize. Diese Überlegungen werden von der Prämisse geleitet, dass räumliche Nähe mit einer hohen Binnenintegration einhergehe, wodurch eine starke soziale Kontrolle entstehe und eigenethnische Normen stärker aufgezwungen werden könnten (vgl. ILS 2006: 21). Das Leben in einer ethnisch geprägten Nachbarschaft ermögliche die Fortsetzung des Lebensstiles aus dem "Heimatland", die Abschottung oder sogar eine Radikalisierung (van Kempen/Özüekren 1998: 1634; Esser 1986: 115). Analog zur Konzentration von ethnischen Minderheiten wird auch der Konzentration von ökonomisch schwachen Personen ein negativer Effekt auf die Zukunftschancen der Quartiersbewohner zugeschrieben: Als Bestandteil einer ,,Kultur der Armut" seien in benachteiligten Nachbarschaften Verhaltensweisen funktional und daher verbreitet, die sich bei Kontakten mit der Mehrheitsgesellschaft als kontraproduktiv erweisen. Als weiterer negativer Quartierseffekt wurde von Wilson (1987) angeführt, dass Jugendlichen in Quartieren, in denen erwerbstätige Erwachsene eine Randerscheinung darstellen, ein positives Rollenvorbild für die Orientierung aufArbeit fehle. Aus einem benachteiligten Quartier werde so ein benachteiligendes Quartier. In wissenschaftlichen Untersuchungen fallen die Ergebnisse zur Arbeitsmarktbeteiligung von Migranten in ethnisch geprägten Quartieren ambivalent aus. Während es in der BRD Hinweise darauf gibt, dass traditionelle Ausländerhochburgen eine unterdurchschnittliche ausländische Armutsquote aufweisen (für Hamburg siehe Erdmann 2001: 148), kamen Musterd, Andersson, Galster und Kauppinen (2008) zu dem Befund, dass eigenethnische Enklaven die Einkommensaussichten ihre Bewohner nur dann erhöhten, wenn sie als Sprungbrett für eine Karriere im gesamtgesellschaftlichen Arbeitsmarkt genutzt würden. In ihrer methodisch anspruchsvollen Längsschnittsuntersuchung in drei schwedischen Metropolregionen fanden sie Hinweise darauf, dass Migranten von 1999 bis 2002 43

einen hohen Preis im Hinblick auf die Höhe ihres Arbeitseinkommens zahlten, wenn sie 1999 in einer Gegend gelebt hatten, in der ein substanzieller Anteil ihrer Nachbarn zur selben ethnischen Gruppe zählte. Es scheine, als hätten arbeitende Migranten unter den Nachbarn - selbst wenn sie aus einern anderen Herkunftsland kämen, einen positiven Effekt auf die Arbeitsmarktintegration der Neuzuwanderer, aber einen negativen Einfluss, wenn sie selbst arbeitslos seien (a.a.O.: 797). Ähnlich ambivalent wird auch die Rolle der ethnischen Ökonomie bewertet. Sie biete zwar eine wichtige Alternative zur Arbeitslosigkeit, könne aber zugleich den Weg in den regulären Arbeitsmarkt versperren und biete häufig nur eine prekäre Existenz, die sich durch schlechte Bezahlung und lange Arbeitszeiten auszeichne (JanßenIPolat 2005: 164). Andererseits ergab eine in FrankfurtIMain durchgeführte Befragung von Lehrern, dass Kinder von selbstständigen Migranten eher an höheren Schulformen vertreten und dort erfolgreich waren. Dies wurde darauf zurückgeführt, dass sie sich tagsüber im Geschäft der Eltern aufhielten und dadurch vor Verwahrlosung bewahrt waren (Kontos 2005: 215). Andere wissenschaftliche Untersuchungen beschäftigen sich mit den sozialen Netzwerken im Stadtteil und gehen der Frage nach, welchen Zugang zu Ressourcen sie eröffuen. Während die Netzwerkanalyse die Rolle der Nachbarschaft schwinden sieht, betonen Untersuchungen zum Sozialkapital ihre Rolle (Bridge 2002: 18). Gemeinhin wird davon ausgegangen, dass heterogene Netzwerke ein reicheres soziales Kapital darstellten (Häußermann 2007: 236). Ein sozial gemischtes Quartier gilt in diesem Verständnis als Ressource, wenn es beispielsweise um die Vermittlungen von Wohnraum oder Arbeitsmöglichkeiten geht (JanßenIPolat 2005: 132). Ein sozial benachteiligtes Quartier könne seine Bewohner zusätzlich benachteiligen, da ein niedriges soziales Kapital, dem es an Zugängen zum Arbeitsmarkt fehlt, prekäre Lebenslagen noch verfestige. Dabei wird in Ahnlehnung an Granovetter (1973) darauf hingewiesen, dass ein dichtes Netzwerk, das sozial homogenen Nachbarschaften unterstellt wird, im Hinblick auf die Verfiigbarkeit von Ressourcen ungünstig sein könne. Bei dichten Netzen kenne jeder jeden und Informationen würden daher geteilt, mit der Folge, dass Informationsquellen etwa zu verfiigbaren Stellen - auch leicht ausgeschöpft sein können (Bridge 2002: 20). Andererseits gilt, dass ein heterogenes, lockeres Netzwerk zwar einen größeren Zugang zu diversen Ressourcen bieten könne, Beziehungen zu ähnlichen Personen hingegen Verständnis und persönliche Unterstützung (Cattell 2001: 1502). Die Nähe zu Landsleuten, so die Fortfiihrung dieser Überlegung, könnte also gerade Neuzuwanderem ein Gefiihl von Vertrautheit ermöglichen. Ein ethnisch geprägtes Quartier könne also insofern positiv sein, als Identität und Selbstbewusstsein gestärkt würden (Esser 1986: 111).

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2.5.1.2 Symbolische Dimension Ein weiteres Argument gegen die Konzentration von Zuwanderern behauptet, die Konzentration von "Fremden" erhöhe ihre Sichtbarkeit und könne Distanz und Fremdenfeindlichkeit befördern (Häußermann 2007: 236; Alpheis 1990: 152; Esser 1986: 110). Hier wird deutlich, dass es also nicht um den Grad der Absonderung und Segregation geht - die Oberschicht ist weitaus stärker sozial segregiert als die ethnischen Minderheiten - sondern um die Akzeptanz der dadurch sichtbar werdenden Lebensstile (Siebel/Häußermann 2001: 75). Die Stigrnatisierung eines Stadtteils gilt dabei als Ursache und Folge des sozialen Abstiegs (Wassenberg 2004: 223). Friedrichs (1988: 58) konstatiert, dass je höher der Anteil der Minorität und das Ausmaß der Segregation seien, umso größer falle auch die Konkurrenz um bezahlbaren Wohnraum aus. Je höher wiederum der Wettbewerb unter den verschiedenen Gruppen sei, umso stärker sei die Furcht der Mehrheit vor der Minderheit, wodurch wiederum deren Diskriminierung zunehme, was wiederum ihre Zugangsmöglichkeiten zu den Wohngebieten der Majorität verringern würde. Vorurteile seien in Wohngebieten mit mittlerer Segregation am stärksten. Die Ausländerfeindlichkeit ohne einen nennenswerten Anteil von Ausländern, die sich in den Neuen Ländern beobachten lässt, deutet jedoch darauf hin, dass eine Ablehnung der Minderheit auch ohne tatsächliche Konkurrenz möglich ist (Die Sächsische Ausländerbeauftragte 2007: 15). Auch in anderen Ländern wie GB ist eine ablehnende Haltung gegenüber Migranten insbesondere in Regionen mit geringer tatsächlicher Zuwanderung anzutreffen: "Tolerance correlates with high levels of ethnic pluralism in different parts of the country. Thus MORI19 data from 2000 showed that some 75 per cent ofthose in the north-east feit that 100 much is done to help immigrants, compared with just 39 per cent of those in London, where the proportion of ethnic minorities is much higher" (Saggar 2003: 185).

In Befragungen in ländlichen Gebieten Englands überschätzte die Mehrheitsbevölkerung ebenso wie in Ostdeutschland den Migrantenanteil ihrer Region erheblich (Thränhardt 2007: 28).

19 Ipsos MORI ist ein global agierendes Forschungsinstitut mit zahlreichen Auftragsarbeiten fiir verschiedene britische Regierungen (http://www.ipsos-mori.com).

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2.5.1.3 Materielle Dimension Die spatial-mismatch-These wird vor allem in den USA diskutiert und besagt, dass der Strukturwandel die überwiegend von ethnischen Minderheiten bewohnten innerstädtischen Nachbarschaften von den Peripheriearbeitsplätzen trenne (Friedrichs/GalsterlMusterd 2003: 797). Europäische Autoren haben diesbezüglich die Unterschiede zwischen den armen Innenstädten in den USA und der armen Peripherie in Europa betont (a.a.O.: 798). Zudem wurde die Tragfähigkeit dieser These angezweifelt, da sie nicht erklären könne, warum es :für Afroamerikaner schwieriger sei als :für Hispanics oder Asiaten, in Innenstädten niedrig qualifizierte Arbeitsplätze zu finden. Verwiesen wird dabei auf die unterschiedlichen Nischen, die die verschiedenen Minderheitengruppen auf dem Arbeitsmarkt einnehmen. Wie könnten Afroamerikaner Opfer der Deindustrialisierung sein, wenn sie in Industriearbeitsplätzen ohnehin unterrepräsentiert gewesen seien (MusterdlDeurloo 2002: 490)? Ein weiteres Argument gegen die Konzentration von Migranten und Annut in bestimmten Stadtteilen lautet, dass sie zur Abwanderung detjenigen Bewohner führe, die es sich finanziell leisten können. Der Kaufkraftverlust könne durch Deinvestitionen und Gewerbeleerstand eine weitere Abwanderung und somit eine Abwärtsspirale :für das Quartier in Gang setzen. Auch :für die öffentlichen Dienste werden Nachteile unterstellt, da residentielle Segregation beispielsweise mit Schulsegregation einhergehe. Schu1en in Stadtteilen mit hohem Anteil ärmerer Zuwanderer seien überfordert, da sie nicht nur eine umfassendere Förderung gewähren müssten, aber dabei keine außerschu1ischen Ressourcen mobilisieren könnten, wie dies an Schu1en mit einem hohen Anteil von besserverdienenden Elternteilen der Fall sei (Häußermann 2007: 236). Diese Aussage mag in unterschiedlichem Maße :für verschiedene Länder gelten. Da beispielsweise in den USA Schu1en über die Kommunalsteuer finanziert werden, hat hier die soziale Lage im Quartier einen unmittelbaren Einfluss auf die Ausstattung der Schu1e. In NL hingegen erhalten Schu1en eine zusätzliche finanzielle Unterstützung :für jeden Schüler, dessen Eltern über einen geringen Bildungsstand verfugen (Böcker/Groenendijk 2004: 324). Ein neueres Argument gegen Segregation wird von Musterd (2006) diskutiert. Demnach versuchten heute viele Städte :für neue High-Tech-Industrien und Dienstleistungsunternehmen attraktiv zu sein. In diesem Bestreben sei die Idee entstanden, dass segregierte, ku1turell und sozial scWecht integrierte Städte diesen Ansprüchen nicht entsprechen (a.a.O.: 1325). Diese Überlegung scheint bislang keinen empirischen Rückhalt zu finden, da etwa in den USA der 1990er Jahre manche besonders segregierten US-Städte ein besonders großes Wachstum zeigten (a.a.O.: 1329). 46

2.5.1.4 Politische Dimension Zudem wird ein politisches Argument gegen Segregation vorgebracht: Durch erfolgreiche Mischung blieben auch benachteiligte Bevölkerungsgruppen im Bewusstsein der (politischen) Eliten (Siebel/Häußermann 2001). Zudem erzeuge eine Konzentration von nicht-wahlberechtigten Zuwanderern in einem Stadtteil ein demokratisches Vakuum, das dazu führen könnte, dass das betroffene Quartier politisch nicht mehr ausreichend repräsentiert sei. In ihrem Vergleich zweier Stadtteile in Hannover (Vahrenheide-Ost und Linden-Nord) kamen die Autorinnen Janssen und Polat (2005: 166) jedoch zu dem Ergebnis, dass sich aus fehlender politischer Beteiligung keine unmittelbar benachteiligenden Effekte :für die Bewohner ergeben. Während das innerstädtische Altbauquartier Linden-Nord aufgrund der sozialen Mischung ein hohes kulturelles Kapital besitze, von dem die Migranten profitieren können, fehle dieses kulturelle Kapital zwar in VahrenheideOst. Sozialstaatliche Verantwortung und das öffentliche Interesse an der Großsiedlung führten aber dazu, dass sie nicht von der Politik vernachlässigt werde. Auch Häußermann (2006: 18) konnte keine deutlichen Unterschiede in der sichtbaren politischen Einflussnahme zwischen privilegierten und marginalisierten Stadtteilen feststellen, trotz enormer Unterschiede in der Wahlbeteiligung. Aus demokratietheoretischer Sicht hat Iris Marion Young (2000: 208) ein weiteres Argument gegen Segregation ins Feld geführt: Durch Segregation würden Strukturen von Privilegierung und Benachteiligung verstärkt und vor allem die eigene Privilegierung in den Augen der Bessergestellten durch mangelnde Vergleichsmöglichkeiten verschleiert.

2.5.2 Kritik an der Quartierseffektsforschung Unklar bleibt in den meisten Arbeiten, von welcher Maßstabsebene und in welchem Zeitraum Effektefür die Bewohner ausgehen. Roger Andersson (2007b: 1) vermutet, dass endogene Nachbarschaftseffekte bei Einflüssen aus der unmittelbaren Umgebung stärker seien. Zudem kritisiert er, dass Zeitfragen nicht genug beleuchtet würden: Wie schnell werden die vermeintlichen Effekte wirksam, :für wie lange halten sie an? Zur Beantwortung dieser Fragen wäre es zudem notwendig zu wissen, wie lange die Menschen schon in diesen Nachbarschaften leben und ob es schwer ist, aus ihnen fort zu ziehen (a.a.O.: 8). Zudem besteht eine Herausforderung im Endogenitätsproblem: "If certain individual characteristics are simultaneously the cause and effect of a person's residence in a disadvantaged area, and such endogeneity is not accounted for in the multivariate model, then the neighbourhood 47

effect is likely 10 be overestimated" (Oberwittler 2007: 9). Wenn beispielsweise eine Migrantenfamilie bewusst in einen ethnisch geprägten Stadtteil zieht, um ihre kulturelle Identität zu bewahren, kann das Ausblenden des Erziehungsstils aus der Untersuchung die vermeintlichen integrationshemmenden Effekte der Nachbarschaft überbewerten (ebd.). In der BRD haben insbesondere die Stadtsoziologen Häußermann und Siebel (2001: 74) die Mängel der Diskussion aufgezeigt: Physische Nähe erkläre nicht die Qualität sozialer Beziehungen. Es handele sich um einen Denkfehler, mit räumlichen Faktoren soziale Phänomene erklären zu wollen (Siebel 2006: 12). Insbesondere von sozialgeographischen Autoren wurde zudem das den meisten Arbeiten zugrunde liegende Raumverständnis kritisiert. In der deutschen Forschungsliteratur problematisiert insbesondere Andreas Pott (2001: 60) die Praxis, bestimmte soziale Unterscheidungsmerkmale über ihre Merkmalsträger und deren Wohnort im Stadtraum zu verorten, um dann über Analysen ihrer Verteilung zu Aussagen hinsichtlich der sozialen Situation der Bewohner zu kommen. Die Segregationsforschung, so sein Einwand, schließe an das verbreitete physikalischphilosophische Modell des substantiellen Behälterraums an, indem sich die Forscher an den administrativ vorgegebenen Ausschnitten der Erdoberfläche orientierten. In seiner konstruktivistischen Konzeption betont er, dass Räume nicht für sich genommen existierten, sondern in Abhängigkeit von sozialen Kontexten, Beobachtungsverhältnissen und Interessen sehr unterschiedlich hergestellt und reproduziert würden (a.a.O.: 59). Damit schließt er an Werlens (2005: 16) Standpunkt an, der dazu Folgendes konstatiert: "Um räumlichen Kontexten und Bezügen sozialen Handeins angemessen Rechnung tragen zu können, sind diese (...) selbst als Elemente sozialer Praxis zu begreifen und nicht als physisch-materielles Behältnis." Nach diesem Verständnis wird deutlich, dass möglicherweise die tatsächlich relevanten Räume der Untersuchten regelmäßig ignoriert werden, da alltägliche Raumbezüge nur wenig mit administrativen Grenzen zu tun haben müssen. In der Forschung finde eine "eigentümliche Verschmelzung" der behälterf'ormigen Ausschnitte und der Personen mit den ihnen zugeschriebenen sozialen Bedeutungen statt. Die Formierung sozialer Identitäten vollziehe sich indes durch die Teilhabe an ganz verschiedenen Kontexten, nicht nur über den Wohnort (Pott 2001: 63). Häußermann (2007: 235) weist zudem auf den Unterschied zwischen Kompositions- und Kontexteffekten hin. Wenn in einer Nachbarschaft viele kriminelle Jugendliche wohnen, so lasse sich die Kriminalitätsbelastung des Stadtteils aus der Zusammensetzung der Bewohner erklären, nicht aber durch zusätzliche kollektive Effekte. Während in den frühen sozialökologischen Studien Merkmale von Gebieten mit den Verhaltensmerkmalen von Kollektiven in diesen Gebieten in 48

Verbindung gebracht und daraus auf Wirkungen eines Gebietes auf das Verhalten der dort wohnenden Individuen geschlossen wurde, sei dies längst als "ökologischer Fehlschluss" erkannt worden.

2.6 Fazit Die wissenschaftliche Bewertung der Folgen von Segregation im Allgemeinen, gerade aber auch der Folgen von ethnischer Segregation fällt ausgesprochen ambivalent aus und weist zudem unterschiedliche Ergebnisse in unterschiedlichen nationalen Kontexten auf (MusterdiAndersson 2006). Dementsprechend haben verschiedene Autoren in ihren Untersuchungen von Nachbarschaftseffekten unterstrichen, dass Versuche der Segregationsbekämpfung ohne empirische Basis seien. Armutsbekämpfung solle lieber direkt angegangen werden, als auf einen "dubiosen Nachbarschaftseffekt" zu warten (OstendorflMusterdide Vos 2001: 371). ,,A clear problem for those who have consistently asked for more socially diverse communities as the basis for sustainability and social equity is that this position has relied on an intuitive rather than explicit evidence-base" (Atkinson 2005: 27). Gleiches gelte auch für die ethnische Segregation: "As can be shown through the types of policy responses in European countries (tenure mix policies, allocation policies), there is also a widespread belief that high levels of [ethnic] segregation are related to low levels ofparticipation in society, even though this belief may be challenged" (Musterd 2005: 342). Wissenschaftlich ist es also keineswegs hinreichend geklärt, ob und gegebenenfalls aufweIche Weise das Umfeld eines Wohnviertels die individuellen Lebenschancen seiner Bewohner beeinflusst. Dies gilt für die Wirkungen von Armut und Kriminalität, noch mehr aber für Annahmen bezüglich einer Wirkung des "ethnisch" geprägten Umfelds (Söhn/Schönwälder 2007: 73).

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3. Die Konstruktion sozialer Phänomene als soziale Probleme

Wie im vorangegangenen Kapitel dargestellt, fiUIt die wissenschaftliche Bewertung von ethnischer Segregation äußerst ambivalent aus. Dementsprechend fällt am politischen Umgang mit ethnischer Segregation in vielen europäischen Staaten die Vehemenz auf, mit der viele politische und wohnungswirtschaftliche Akteure unterstellen, Segregation sei abträglich für die Integration der Zuwanderer und die Stabilität von Stadtteilen. Es gibt also keine Einigung darüber, ob Segregation als soziales Problem zu begreifen ist oder nicht. Diese Diskrepanz hat die vorliegende Arbeit motiviert, einen sozialkonstruktivistischen Ansatz aus der Soziologie sozialer Probleme zugrunde zu legen. In einem sozialkonstruktivistischen Verständnis handelt es sich bei sozialen Problemen, also in diesem Fall ethnischer Segregation, nicht um Phänomene, die von sich aus problematisch wären. Vielmehr muss dieser problematische Charakter erst über gesellschaftliche Definitionsprozesse aktiv hergestellt werden. Konstruktionistische Analysen sozialer Probleme bestreiten nicht den RealitätsgehalfO der so bezeichneten Phänomene, sondern unterstellen, dass unser Zugang zur realen Welt sozial vermittelt ist. Probleme sind in diesem Verständnis selbstverständlich konstruiert, aber diese Konstruktionen haben weitreichende Konsequenzen, da Policies und Strategien auf ihnen aufbauen. Obgleich die Identifizierung und Definition von Problemen durch politische Akteure in Politikprozessen eine entscheidende Rolle spielen (Heinelt 1993a: 309), wurde dieser Aspekt von der Politikwissenschaft lange Zeit weitgehend ausgeblendet: ,,[p]roblem definition remains an immature analytic construct, productive of only a modest amount of scholarship that is lacking a coherent shared framework" (Rocheford/Cobb 1993: 56). In der vorliegenden Arbeit sollen daher Lücken der politikwissenschaftlichen Debatte durch die Beiträge einer konstruktionistischen Problemsoziologie geschlossen werden. 20 Die Debatte zwischen Konstruktivisten und Realisten wird häufig dadurch verwirrt, dass der Begriff Realität auf drei verschiedene Arten verwendet wird: Realität (im Sinne von Wahrheit) gegen Falschheit; Realität im Sinne von Materialität versus Illusion und Realität (als Essenz) versus Konstruktion (Hurr 2003: 101).

S. Miinch, Integration durch Wohnungspolitik?, DOI 10.1007/978-3-531-92571-4_3, © VS Verlag flir Sozialwissenschaften I Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2010

Zu diesem Zweck soll zunächst in die Grundlagen des Konstruktionismus und eine durch ihn geprägte Soziologie sozialer Probleme eingeführt werden. Im Anschluss erfolgt eine kritische Diskussion der zentralen Strömungen innerhalb dieses Ansatzes (reflexives, striktes und kontextuelles Programm) und eine Verortung der vorliegenden Arbeit im kontextuellen Konstruktionismus. Das Kapitel schließt mit einer Auseinandersetzung mit den zentralen Kritikpunkten an einer konstruktionistischen Problemsoziologie, namentlich dem immanenten Relativismus, der strukturalistischen Kritik sowie der Möglichkeit einer konstruktionistischen Gesellschaftskritik.

3.1 Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit Unter dem Sammelbegriff des social constructionism werden im angelsächsischen Sprachraum eine Vielzahl von sozialwissenschaftlichen Perspektiven miteinander verknüpft, die sich auf unterschiedliche Weise mit der Herstellung von Wissen durch soziales Handeln befassen. Der Begriffder Konstruktion steht dabei als Metapher für den Aspekt der Tätigkeit und das "Gemacht Sein" durch Menschen, ohne diesen dabei einen entsprechenden Plan zu unterstellen (Keller 2005a: 36). Während in anderen Kontexten meist von Spielarten des Konstruktivismus die Rede ist, hat sich in der Problemsoziologie der Begriff Konstruktionismus eingebürgert (Schrnidt 2000: 153). "Construct[ion/iv]ism: Pick One ofthe Above" lautet der Titel eines Aufsatzes, der auf eine zentrale Konfliktlinie zwischen den beiden anti-realistischen Strömungen verweist. Der radikale Unterschied liegt im Verhältnis zwischen Wissen und Wirklichkeit. Während der radikale Konstruktivismus die individuellen Erfahrungen als Grundlage für die Wissenskonstruktion begreift und dafür häufig als solipsistisch kritisiert wurde, wird im wissenssoziologischen Konstruktionismus Wissen als Funktion von äußeren, sozialen Umständen betrachtet (Choe 2005: 21; 44). Werden Fragen nach dem Status menschlichen Wissens im Konstruktivismus also auf die individuelle Bewusstseinsebene verfrachtet (Knorr-Cetina 1989: 90), so ist Wissen im konstruktionistischen Verständnis nichts Individuelles, sondern etwas Soziales sui generis, das in sozialen Prozessen entsteht und sich verändert (Choe 2005: 35). Wenn in der vorliegenden Arbeit von konstruktivistischen Zugängen die Rede ist, so sind damit stets sozialkonstruktivistischelkonstruktionistische Ansätze gemeint. Die Grundlagen für eine sozialkonstruktivistische Wissenssoziologie wurden 1966 mit der "Gesellschaftlichen Konstruktion der Wirklichkeit" von BergerlLuckmann gelegt. 21 Sie beschäftigen sich darin mit Prozessen der Generierung, 21 Der soziale Konstruktionismus entstand als Reaktion auf die Hegemonie positivistischer Strömungen in der angewandten Sozialforschung. Seine philosophischen Vorläufer umfassen den phäno-

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Objektivierung und Institutionalisierung von Wissen als objektive Wahrheit (Keller 2005b: Absatz 6). In ihrem Verständnis existiert kein begreifbares "an sich" der Welt ,jenseits der Bedeutungszuschreibungen, auch wenn ihre materiale Qualität uns durchaus Widerstände entgegensetzt, Deutungsprobleme bereitet und nicht jede beliebige Beschreibung gleich evident erscheinen lässt" (Keller 2005a: 40). Berger/Luckmann untersuchten, wie die Welt zwar einerseits in sozialen Praktiken von Menschen konstruiert wird, aber zugleich von diesen als objektiv, äußerlich und quasi naturgegeben wahrgenommen wird (Burr 2003: 13; KnorrCetina 1989: 87). "Man kann auch sagen, der Sozialkonstruktivismus versucht eine Klärung des ontologischen Status sozialer Realität durch Rekurs auf deren Vorgeschichte" (Knorr-Cetina 1989: 88). Da sozialkonstruktivistische Ansätze also von der Annahme ausgehen, dass "there is nothing in the world whose meaning resides in the object itself' (Loseke 2003: 18), unterstellen viele Kritiker fälscWicherweise, dass der Konstruktionismus die Existenz einer objektiven materiellen Welt negiere. Aus der lTberlegung, dass Objekte nur über ihre Kategorisierung und Definition erfasst werden könnten, wurde abgeleitet, die Konstruktion von X bedeute, dass X nicht wirklich existiere und lediglich konstruiert sei (Groenemeyer 2003: 7). Dabei lautet die Behauptung in den meisten Arbeiten nur, dass Bedeutung durch Individuen und Gruppen generiert werde. Anstatt also anzunehmen, dass Fakten gegeben sind und durch wissenschaftliche Untersuchungen "entdeckt" werden können, gelten sie dem Konstruktionismus als kontingent, umkämpft und einer Vielzahl von Interpretationen ausgesetzt (Jacobs/Kemeny/ Manzi 2004: 3). Die Debatte wird mit der Unterscheidung zwischen epistemologisch und ontologisch erhellt: ,,[A] constructionist might point out that Nottingham is a city by virtue of a text (i.e. by royal decree) and that its boundaries - where it begins and ends - are also a matter for negotiation and agreement. The argument is not, therefore, that Nottingham doesn't really exist, but that it does so as a socially constructed reality" (Burr 2003: 92f).

Übertragen auf einen konstruktionistischen Zugang zu sozialen Problemen geht es also gar nicht darum, die Existenz der objektiven Bedingung in Frage zu stellen, sondern darum, ihre soziale Bewertung als Problem in den Blick zu rücken (Albrecht 2001: 118).

menologischen Ansatz, die verstehende Soziologie Max Webers und die linguistisch orientierte Philosophie (Jacobs/K.emeny/Manzi 2004: 8).

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3.2 Die konstruktionistische Soziologie sozialer Probleme Mit dem Einfließen sozialkonstruktivistischer Überlegungen in die Soziologie sozialer Probleme ist ein Forschungsfeld entstanden, das völlig losgelöst von der Ursachen-, Verbreitungs- und Behandlungsforschung existiert. Einflüsse kamen dabei vor allem aus der Labe/ing-Tradition der Interaktionisten22 , die argumentierten, Devianz nicht als objektives Faktum zu handhaben, sondern den Fokus auf diejenigen interpretativen Vorgänge zu richten, in denen Devianz "erkannt", also ,,konstruiert" werde (Travers 2004: 21). In den mehr als 30 Jahren seit dem Erscheinen von Blumers Social Problems as Collective Behavior im Jahr 1971 hat sich in der US-amerikanischen Soziologie sozialer Probleme der soziale Konstruktivismus zur führenden theoretischen Leitperspektive entwickelt (Groenemeyer 2003: 3), wohingegen er in der BRD weiterhin eine eher nachrangige Position einnimmt (Schmidt 2000: 153). Während die Soziologie sozialer Probleme traditionell auf die Erforschung von objektiv feststellbaren Problemlagen konzentriert war, stehen seither die Definition von Problemen und ihre Konstituierung in sozialen Prozessen im Zentrum. In Abgrenzung zu den bis dato prominenten funktionalistischen und normativen Ansätzen, die soziale Probleme als Form der Fehlfunktion, Desorganisation oder Abweichung fassten (Blumer 1971: 298), kommt der Theorie sozialer Probleme nun die Aufgabe zu, das Aufkommen, die Beschaffenheit und die Fortsetzung der Definitionsleistungen zu erklären (Schmidt 2000: 155). Im funktionalistischen Verständnis hatten sich soziale Probleme aus dem Versagen von Institutionen ergeben und wenn Gesellschaftsmitglieder nicht mehr die gleichen Werte teilten (Loseke 2003: 165). Hieran kritisierten konstruktionistische Autoren, dass die Festlegung eines Standards nötig sei, um ein Phänomen als Abweichung kategorisieren zu können, und dies stets der persönlichen und nicht überprüfbaren Einschätzung des Forschers überlassen bliebe. Zudem könnten sich Dysfunktionen auf einige Institutionen negativ auswirken, aber positiv für andere sein (Spector/Kitsuse 2006: 25f). Blumer widersprach als einer der ersten dagegen, soziale Probleme in der objektiven Realität suchen zu wollen: ,,Instead, social problems have their being in a process of collective definition. This process determines whether social problems will arise, whether they become legitimated, how they are

22 Frühe konstruktionistische Arbeiten zu sozialen Problemen waren durch den symbolischen Interaktionismus und die Labeling-Theorie beeinflusst, und erst später, unter der linguistischen Wende, wuchs der Einfluss der Diskursanalyse (K.emeny 2004: 50). Der linguistic turn in den Sozialwissenschaften wird charakterisiert als a turn away from linguistics, conceived as an independently formed discipline, towards examining the mutual coordination of language and praxis (Burkitt 1999: 69).

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shaped in discussion, how they come to be addressed in official policy, and how they are reconstitute