Handbuch Qualitative Forschung in der Psychologie
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Zitiervorschau

Günter Mey · Katja Mruck (Hrsg.) Handbuch Qualitative Forschung in der Psychologie

Günter Mey Katja Mruck (Hrsg.)

Handbuch Qualitative Forschung in der Psychologie

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar.

1. Auflage 2010 Alle Rechte vorbehalten © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2010 Lektorat: Kea S. Brahms VS Verlag für Sozialwissenschaften ist eine Marke von Springer Fachmedien. Springer Fachmedien ist Teil der Fachverlagsgruppe Springer Science+Business Media. www.vs-verlag.de Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen, Handelsnamen, Warenbezeichnungen usw. in diesem Werk berechtigt auch ohne besondere Kennzeichnung nicht zu der Annahme, dass solche Namen im Sinne der Warenzeichen- und Markenschutz-Gesetzgebung als frei zu betrachten wären und daher von jedermann benutzt werden dürften. Umschlaggestaltung: KünkelLopka Medienentwicklung, Heidelberg Druck und buchbinderische Verarbeitung: Ten Brink, Mepel Gedruckt auf säurefreiem und chlorfrei gebleichtem Papier Printed in the Netherlands ISBN 978-3-531-16726-8

Inhaltsverzeichnis

5

Inhaltsverzeichnis

Katja Mruck & Günter Mey 110 Einleitung

11

Teil 1: Positionen und Traditionen – Theoretische und methodologische Grundlagen Franz Breuer Wissenschaftstheoretische Grundlagen qualitativer Methodik in der Psychologie

35

Ralph Sichler Hermeneutik

50

Gerhard Kleining Qualitative Heuristik

65

Rainer Winter Symbolischer Interaktionismus

79

Herbert Fitzek Gestaltpsychologie

94

Jürgen Straub Handlungstheorie

107

Rainer Winter Sozialer Konstruktionismus

123

Jürgen Straub Erzähltheorie/Narration

136

Norbert Groeben & Brigitte Scheele Das Forschungsprogramm Subjektive Theorien

151

Morus Markard Kritische Psychologie

166

Carlos Kölbl Kulturhistorische Schule

182

6

Inhaltsverzeichnis

Jürgen Straub & Pradeep Chakkarath Kulturpsychologie

195

Anna Sieben Feministische/queere Perspektiven

210

Teil 2: Methodologische Ziellinien und Designs qualitativpsychologischer Studien Philipp Mayring Design

225

Margrit Schreier Fallauswahl

238

Thomas Burkart Qualitatives Experiment

252

Margrit Schreier & Özen Oda! Mixed Methods

263

Uwe Flick Triangulation

278

Andreas Witzel Längsschnittdesign

290

Irena Medjedovi" Sekundäranalyse

304

Timo Gnambs & Bernad Batinic Qualitative Online-Forschung

320

Jarg Bergold & Stefan Thomas Partizipative Forschung

333

Carolyn Ellis, Tony E. Adams & Arthur P. Bochner Autoethnografie

345

Mary M. Gergen & Kenneth J. Gergen Performative Sozialwissenschaft

358

Ernst von Kardorff & Christine Schönberger Evaluationsforschung

367

Inhaltsverzeichnis

7

Mechthild Kiegelmann Ethik

382

Uwe Flick Gütekriterien qualitativer Forschung

395

Franz Breuer & Margrit Schreier Lehren und Lernen qualitativer Forschungsmethoden

408

Teil 3: Erhebung Günter Mey & Katja Mruck Interviews

423

Aglaja Przyborski & Julia Riegler Gruppendiskussion und Fokusgruppe

436

Alexander Kochinka Beobachtung

449

Stefan Thomas Ethnografie

462

Klaus Konrad Lautes Denken

476

Harald Witt Introspektion

491

Brigitte Scheele & Norbert Groeben Dialog-Konsens-Methoden

506

Martin Fromm Grid-Methodik

524

Iris Stahlke Rollenspiel

538

8

Inhaltsverzeichnis

Teil 4: Auswertung Udo Kuckartz Typenbildung

553

Heidrun Schulze Biografische Fallrekonstruktion

569

Gabriele Lucius-Hoene Narrative Analysen

584

Philipp Mayring Qualitative Inhaltsanalyse

601

Günter Mey & Katja Mruck Grounded-Theory-Methodologie

614

Aglaja Przyborski & Thomas Slunecko Dokumentarische Methode

627

Arnulf Deppermann Konversationsanalyse und diskursive Psychologie

643

Lars Allolio-Näcke Diskursanalyse

662

Rudolf Schmitt Metaphernanalyse

676

Herbert Fitzek Morphologische Beschreibung

692

Elfriede Billmann-Mahecha Auswertung von Zeichnungen

707

Thorsten Dresing & Thorsten Pehl Transkription

723

Udo Kuckartz & Stefan Rädiker Computergestützte Analyse (CAQDAS)

734

Inhaltsverzeichnis

9

Teil 5: Ausgewählte Anwendungsfelder Günter Mey Entwicklungspsychologie

753

Christian Gudehus, David Keller & Harald Welzer Sozialpsychologie

761

Michael Dick, Hartmut Schulze & Theo Wehner Arbeits-, Organisations- und Wirtschaftspsychologie

768

Jörg Frommer & Julia Lange Psychotherapieforschung

776

Ernst von Kardorff Rehabilitation

783

Özen Oda! & Margrit Schreier Medienpsychologie

791

Ulrike Popp-Baier Religionspsychologie

799

Ina Hunger Sportpsychologie

806

Heinz Jürgen Kaiser Verkehrspsychologie

813

Autorinnen und Autoren

821

Sachregister

827

Personenregister

834

Einleitung

11

Katja Mruck & Günter Mey

Einleitung 1

Wozu ein Handbuch „Qualitative Forschung in der Psychologie“?1

Die Beziehung von qualitativer Forschung und Psychologie und die Frage nach dem Stellenwert qualitativer Methoden innerhalb der psychologischen Forschung, Praxis und Lehre haben eine lange Geschichte. Darin finden sich diverse Positionierungsversuche und Positionsbestimmungen: Zuweilen trifft man auf unerfreuliche, manchmal unnötige Grabenkämpfe, dann aber auch auf überraschende Annäherungen und produktive Bezugnahmen. Dass angesichts dieser Geschichte und der Debatte um die Psychologie und ihre Methoden erst jetzt mit dem „Handbuch Qualitative Forschung in der Psychologie“ ein umfassendes Überblickswerk vorliegt, mag überraschen – generell, aber auch angesichts der Verbreitung qualitativer Forschungsmethoden in diversen Arbeitsfeldern und unterschiedlichen sozialwissenschaftlichen Disziplinen. So wurde bereits vor zwei Jahrzehnten erstmals ein „Handbuch Qualitative Sozialforschung“ (Flick, von Kardorff, Keupp, von Rosenstiel & Wolff 1991) mit einer umfassenden Darstellung zu qualitativer Forschung in deutscher Sprache vorgelegt, an der aufseiten der Herausgebenden und der Beitragenden viele Psycholog/innen beteiligt waren (im Unterschied zu dem komplett neu ausgerichteten Nachfolgeband „Qualitative Forschung: Ein Handbuch“ von Flick, von Kardorff & Steinke 2000, der mittlerweile in der 6. Auflage erschienen ist). Solche allgemeinen Methodendarstellungen reichen jedoch nicht aus, sondern es sind – mit Blick auf die Erfordernisse einzelner Disziplinen und deren Geschichte, Theorien, Anwendungsfelder und Forschungsgegenstände – systematisierende Überblicke notwendig. Werden Methoden aus anderen Disziplinen importiert, müssen sie für (sub-) disziplinäre Belange spezifiziert und gegebenenfalls modifiziert werden. Entsprechend finden sich verschiedene solcher Bände, die auf besondere Fachwissenschaften zugeschnitten sind: Friebertshäuser und Prengel veröffentlichten schon 1997 das „Handbuch Qualitative Forschungsmethoden in der Erziehungswissenschaft“, das soeben in einer überarbeiteten Neuauflage (Friebertshäuser, Langer & Prengel 2010) erschienen ist. Seit kurzem liegt auch ein „Handbuch qualitative Methoden in der Sozialen Arbeit“ (Bock & Miethe 2010) vor. Bereits 2005 wurden mit „Qualitative Medienforschung – Ein Handbuch“ (Mikos & Wegener) und 2007 mit den beiden Handbüchern „Qualitative Marktforschung“ (Buber & Holzmüller sowie Naderer & Balzer; beide Bände sind bereits in der 2. Auflage verfügbar) einige Anwendungsfelder systematisch hinsichtlich der Verwendung qualitativer Methodik durchleuchtet.

1 Unser herzlicher Dank an Franz Breuer, Carlos Kölbl, Morus Markard, Margrit Schreier und Jürgen Straub für ihre hilfreichen Anmerkungen zu einer früheren Fassung dieses Beitrags.

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12

Katja Mruck & Günter Mey

Diese Handbücher sind, wie weitere Sammelbände und Monografien zu qualitativer Forschung, Ausdruck einer zunehmenden Ausweitung und einer gewachsenen Selbstverständlichkeit in der Begründung, Entwicklung und Anwendung qualitativer Verfahren. Jenseits dieser Veröffentlichungen sind der Entwicklungsstand und die Einbettung qualitativer Forschung in die universitäre Forschung und Lehre in den sozialwissenschaftlichen Disziplinen sehr unterschiedlich. So ist für einige Disziplinen eine relative Gleichberechtigung qualitativer und quantitativer Ansätze zu konstatieren. Das sicherlich beste Beispiel ist hier die Soziologie, sowohl bezüglich empirischer Forschung und wissenschaftlicher Theoriebildung als auch bezüglich der institutionellen und fachpolitischen Präsenz qualitativer Methoden bzw. ihrer Vertreter/innen (siehe ausführlicher Hitzler 2007 zu einer „tour d’horizon“ durch neuere Entwicklungen in der deutschsprachigen Soziologie und einigen ihrer Nachbardisziplinen; außerdem Hitzler 2002 und Reichertz 2007, 2009).2 Anders verhält es sich mit der Psychologie. Eine Systematisierung in Handbuchform fehlt bislang, wenngleich vor einem Jahrzehnt ein erster Versuch einer Bestandsaufnahme für die deutschsprachige Psychologie unternommen wurde (Breuer, Mruck & Ratner 2000)3 und zumindest mit dem „Handbuch Qualitative Entwicklungspsychologie“ (Mey 2005) eine systematische Auseinandersetzung mit den theoretischen und methodologischen Essentials und Einsatzmöglichkeiten qualitativer Methoden für ein Teilgebiet der Psychologie vorliegt. Obwohl „qualitatives Denken“ für psychologische Fragestellungen eminent wichtig ist, kommt qualitativen Methoden in Forschung und Lehre eine nur marginale Rolle zu. In der Fachgruppe „Methoden und Evaluation“ der Deutschen Gesellschaft für Psychologie (DGPs)4 ist qualitative Forschung nur sehr randständig vertreten. Die (wiederkehrende) Hoffnung, dass die „‚frische Brise‘ einer qualitativ-methodischen Ausrichtung“ (Breuer & Mruck 2000, Abs. 2) die (institutionalisierte) akademische Psychologie erreichen möge, ist bis heute unerfüllt geblieben. Groeben (2006) hat in diesem Zusammenhang – frei nach Kant – die Frage gestellt, warum es der qualitativen Psychologie nicht gelungen sei, einen Ausgang aus ihrer „selbstverschuldeten Irrelevanz“ zu finden. Selbstverschuldet sei die Lage, so Groeben, weil ihr aktueller Status nicht einfach dem „Hegemonialstreben des quantitativen Paradigmas“ zugerechnet werden könne. Vielmehr hätten die Vertreter/innen des „qualitativen Offstream“ erstens versäumt, „eine irgendwie geartete gemeinsame Gegenposition zum herrschenden quantitativen Paradigma aufzubauen“ (Groeben 2006, Abs. 8; unsere Hervorhebung), und zwar bezogen auf Bestimmungen des zu untersuchenden Gegenstandes wie auf die zu dessen Untersuchung hinzuzuziehende Methodik. Die resultierende „Heterogenität“ sei zwei2 Allerdings fällt eine Beurteilung der Lage der Soziologie unter einer nicht nur deutschen Perspektive weniger einheitlich aus. So ist die Etablierung in der European Sociological Association relativ weit fortgeschritten: Neben einem eigenen Research Network „Qualitative Methods“ existiert bspw. ein weiteres, ganz überwiegend qualitativ ausgerichtetes Research Network „Biographical Perspectives on European Societies“ (siehe http://www.european sociology.org/index.php?option=com_content&task=category§ionid=1&id=3&Itemid=29). Die American Sociological Association kennt hingegen nur eine (faktisch nahezu komplett quantitativ ausgerichtete) Sektion „Methodology“ (http://www.asanet.org/sections/list.cfm); Anstrengungen zur Einrichtung einer eigenen qualitativen Sektion werden derzeit (wieder) unternommen. 3 Diese Sammlung von insgesamt knapp 30 Texten zu (traditionsreichen) Forschungsstilen, empirischen Einzelprojekten und einzelnen Methoden (-entwicklungen) hat allerdings keinen Handbuchcharakter (der zum damaligen Zeitpunkt/in dem damals gewählten Kontext auch nicht intendiert war). 4 Siehe zur Fachgruppe Methoden http://www.dgps.de/dgps/fachgruppen/methoden/. Die DGPs ist aus der Gesellschaft für experimentelle Psychologie hervorgegangen, einen Überblick gibt das Kalendarium der Psychologiegeschichte, http://vs.fernuni-hagen.de/dgps/.

Einleitung

13

tens in „Zersplitterung“ gemündet, da unterschiedlichste qualitative Varianten ihr je eigenes Gegenstandsverständnis kultiviert und sich gegen andere Richtungen abgeschottet hätten: „Die Überzeugung, die bessere Psychologie zu treiben, führt zu destruktiver Konkurrenz innerhalb des qualitativen wie in Relation zum quantitativen Paradigma“. Heterogenität, Zersplitterung und Konkurrenz sind allerdings scheinbar keine Spezifika qualitativer Psychologie. Hitzler (2002, Abs. 9) hat die Lage der deutschsprachigen interpretativen Soziologie wie folgt skizziert: „Jeder versucht jedem einzureden, worüber schon immer, jetzt aber endlich wirklich einmal – und zwar ernsthaft – geredet werden müsse. Keiner versteht, wie der andere überhaupt tun kann, was er tut, ohne das geklärt zu haben, was längst hätte geklärt werden müssen. Die einen pochen auf die Notwendigkeit einer Grundlagendebatte. Die anderen plädieren für die Verfeinerung des Methodenarsenals. Die dritten wollen zurück zu den empirischen Gegenständen. Und die vierten konstatieren, dass gerade diese endlich theoretisch zu verorten seien. Die fünften kommen kaum noch aus dem Feld heraus. Die sechsten kommen kaum noch ins Feld hinein. Viele erfinden manches neu. Manche monieren, dass vieles Neue altbekannt sei. Niemand begreift, warum niemand ihm folgt auf dem richtigen Weg zu den verlässlichen Daten, zu den gültigen Deutungen, zu den relevanten Erkenntnissen. Fast alle reden über Regeln. Fast keiner hält sich an die, die andere geltend zu machen versuchen.“

Wieso dann aber eine deutschsprachige interpretative Soziologie auf Augenhöhe mit ihrem quantitativen Gegenpart auf der einen und eine deutschsprachige qualitative Psychologie, die sich in den „Marginalisierungsstrategien“ des quantitativen Mainstream verfängt, auf der anderen Seite? Ist, wie Schreier und Breuer (2006, Abs. 5) schreiben, die qualitative Psychologie, „quasi methodologisch betrachtet“, möglicherweise „so etwas wie ein Extremfall, ein ‚worst case‘“ mit Blick auf die „Grundgesamtheit sozialwissenschaftlicher Disziplinen“? Die hier aufgeworfene Frage, wie und wie unterschiedlich historische Entwicklungslinien qualitativer Forschung in Psychologie, Soziologie, Erziehungswissenschaft, Politikwissenschaft, Völkerkunde/Ethnologie usw. verlaufen sind und mit welchen Ergebnissen und Desiderata, harrt weiter einer systematisch vergleichenden Untersuchung.5 Mit diesem Handbuch – und einigen nun folgenden Anmerkungen – werden wir versuchen, einige Einblicke in Genese, Zustand und Perspektiven der Psychologie zu geben.

2

Historische Anmerkungen: die lange Suche nach Identität

Beispielhaft für frühe, auch methodische Definitionsversuche in der Psychologie steht Ebbinghaus, der Begründer der experimentellen Gedächtnisforschung, der zugleich treffend 5 Die Intention, durch einen ersten Einblick in disziplinäre und nationale Perspektiven qualitativer Forschung überhaupt ein Gespräch über Einzeldisziplinen und über Ländergrenzen hinweg führen zu können, war Ausgangspunkt für die Gründung der Open-Access-Zeitschrift Forum Qualitative Sozialforschung / Forum: Qualitative Social Research (FQS), in der seit 2000 neben Themenschwerpunkten z.B. zum Stand qualitativer Forschung in Europa oder Iberoamerika disziplinäre Schwerpunkte u.a. zu Kulturwissenschaft, Kriminologie, Sportwissenschaft, Markt-, Medien- und Meinungsforschung und eben zur qualitativen Psychologie veröffentlicht wurden (siehe http://www.qualitative-research.net/index.php/fqs/issue/archive für alle bisher in FQS veröffentlichten Schwerpunktausgaben; alle Artikel sind online frei zugänglich). Eine solche Zusammenschau ist eine wesentliche Voraussetzung für eine systematisch-vergleichende Beschäftigung, ersetzt diese aber keinesfalls.

14

Katja Mruck & Günter Mey

und auf eine spezifisch verkürzte Weise Anfang des letzten Jahrhunderts angemerkt hatte, die Psychologie habe „eine lange Vergangenheit, aber nur eine kurze Geschichte“ (1908, S.1): treffend, weil er als Basis und Ziellinie der sich in ihren Anfängen abzeichnenden, eigenständigen akademischen Disziplin6 Psychologie !!"#$%µ&, also Wissen, gegen '()*, bloßes Meinen, gegen Metaphysik und Religion, abgrenzte; verkürzt, weil dies nur um den Preis einer neuen '()* möglich schien, nämlich die Annahme einer „strengen Gesetzmäßigkeit allen seelischen Geschehens und also auch der völligen Determiniertheit unserer Handlungen“ (S.1f). Und er vertraute (eine ebenfalls eher dem Bereich der '()* zugehörige Operation) in naturwissenschaftliche Experimente, in die „kunstvolle Herstellung“ von Untersuchungssituationen mit dem Ziel möglichst „genauer Messung der Resultate und ihrer Ursachen“ (S.10).7 Diese Verengung in Richtung einer bestimmten Methodik bedeutete zugleich eine Zurichtung des „psychologischen Gegenstands“: Ebbinghaus selbst hatte als Charakteristika des Psychischen noch 1. „unablässige Wechsel“, „Flüchtigkeit“ und die „ungeheure Verwicklung“ des „Seelenlebens“, 2. die nur scheinbare und oberflächliche Vertrautheit und Geläufigkeit des Seelischen insbesondere auch infolge selbstverständlicher und alltagsweltlicher Begriffsbildungen und 3. die Befangenheit und Interessengebundenheit menschlicher Beobachter/innen genannt. Mit der experimentellen Methodik wurde das unhandliche „Seelenleben“ jedoch durch vermeintlich messbare (psychische) Strukturen, Prozesse und Funktionen als Gegenstand der Psychologie abgelöst. Die Anstrengungen um die Einheit der Psychologie als Wissenschaft sind in der Frühgeschichte der institutionalisierten Disziplin zwar in Abgrenzung insbesondere gegen die Philosophie8 erfolgreich gewesen, hatten aber zugleich die Zerrissenheit innerhalb der Psychologie und fortdauernde Kämpfe zur Folge: Gegen die „Zergliederung des Seelischen“ gerichtete Zugangsweisen und Methoden, von denen viele heute als „qualitativ“ aufgefasst würden, waren zahlreich und ebenfalls bereits in den Anfängen der Psychologiegeschichte erkennbar. So benannte z.B. Wundt (1906 [1863]) noch zwei exakte Methoden, die experimentelle für „einfache“ und die (Selbst-) Beobachtung für „höhere“ psychische Vorgänge (inklusive einer Interpretationslehre, die heute wieder mehr Aufmerksamkeit erlangt und durchaus ein Verständnis nahe legt, das sich in qualitative Forschung fügt; dazu Fahrenberg 2008). Neben (quantitativ) experimentellen Ansätzen existierten biografische Ansätze, projektive Verfahren oder die Traum- und Schriftdeutung (vgl. dazu im Überblick Fahrenberg 2002), und auch die stärker explorativ-heuristisch ausgerichteten Zugänge der sogenannten Würzburger Schule (Bühler, Külpe; dazu Diriwächter & Valsiner 2008) und der 6 Siehe für u.a. philosophische Vorläufer der Psychologie Jüttemann (1995 [1988]) sowie Jüttemann, Sonntag und Wulf (1991). 7 Es sei angemerkt, dass Ebbinghaus selbst hier durchaus differenzierte: Zwar hätten „die glänzenden Erfolge, die das Messen und Rechnen der Naturforschung gebracht hatte, ... die Überlegung [nahegelegt], ob sich für die Psychologie nicht Ähnliches tun lasse“ (S.8), allerdings habe eine zu starke Orientierung an Physik und insbesondere Mechanik zunächst dazu geführt, dass „damit vielfach den Dingen Gewalt angetan und ihre Betrachtung in die Irre geleitet wurde“ (S.9). 8 Zuvor war die Behandlung psychologischer Themen insbesondere der Philosophie vorbehalten, z.T. auch anderen traditionellen Fakultäten wie z.B. der Medizin und der Theologie. Der für Psycholog/innen überwiegend – allerdings nicht ausschließlich in der Psychologie – vergebene Titel „Dr. phil“ bzw. „Dr.in phil.“ verweist noch immer auf diese Herkunft. In der Theologie ist die Psychologie heute nicht mehr systematisch verankert, sondern spielt eine eher periphere Rolle in den Varianten moderner Religionskritik; siehe für einen Überblick Heft 1/2 2009 der Zeitschrift Psychologie & Gesellschaftskritik zum Thema „Religion“ sowie Heft 16(3) des Journal für Psychologie. Überschneidungen der Psychologie mit der Medizin gibt es vor allem noch immer in Psychiatrie, Klinischer Psychologie und Psychotherapie.

Einleitung

15

Gestaltpsychologie (Wertheimer, Köhler; dazu Diriwächter 2009) weisen u.a. durch ihre Anwendung introspektiver Verfahren ebenfalls deutliche Bezüge zu qualitativen Vorgehensweisen auf (vgl. Kleining 1995). Bühler nutzte in der „Krise der Psychologie“ (1927) die Metapher des „Turmbaus zu Babel“ mit Blick auf die Vielfalt nebeneinander existierender „Psychologien“: Es handele sich, so Bühler, allerdings um eine „Aufbaukrise“, denn es sei der „noch unbewältigte Reichtum neuer Gedanken, neuer Ansätze und Forschungsmöglichkeiten“, der „den krisenhaften Zustand der Psychologie heraufbeschworen“ (Bühler 2000 [1927], S.1) habe, einen Zustand, den Bühler zu bessern suchte, u.a. indem er mit Blick auf Behaviorismus, Psychoanalyse und Experimentalpsychologie drei komplementäre Grundmethoden postulierte, nämlich zur Erforschung des Verhaltens, des inneren Erlebens und der Ergebnisse von Aktivitäten.9 Diese integrierende Position konnte sich nicht durchsetzen, und in den Folgejahrzehnten wurde der Turm größer und die Lage des Faches Psychologie zugleich übersichtlicher und unübersichtlicher: Während des deutschen Faschismus wurden auch Psycholog/innen ermordet oder emigrierten (wie etwa viele Gestaltpsychologen/innen und Psychoanalytiker/innen), manche wie z.B. Martha Muchow vom Hamburger Institut, das William Stern bis zu seiner Entlassung leitete, töteten sich selbst, andere zogen sich zurück und wieder andere folgten der nationalsozialistischen Propaganda, gestalteten sie mit und arbeiteten führer- und kriegsdienlich an/in Rassenlehre, Diagnostik und/oder Arbeitsdiensten und Wehrpsychologie.10 Die meisten von ihnen blieben nach Ende des Zweiten Weltkrieges weiter im Amt, eine Entnazifizierung fand kaum statt (Ash & Geuter 1985). Zugleich fanden während des Krieges entwickelte Verfahren insbesondere aus Nordamerika erstmals Eingang in die deutsche Fachöffentlichkeit (siehe hierzu Métraux1985). Letztere verdrängten dann zunehmend auch jene Verfahren, die dem heutigen Verständnis nach „qualitativen“ Methoden entsprächen und in der Lehre und Forschung bis dahin (und das meint bereits vor, während und nach der Zeit des Nationalsozialismus) deutlichen Niederschlag gefunden hatten. Trotz dieses sukzessiven Verdrängungsprozesses bleibt es auch weiter, so BillmannMahecha (2001, S.118), „eine seltsame Dichotomisierung ..., die sich durch die Geschichte der Psychologie des 20. Jahrhunderts zieht. Es ist die Rede von: naturwissenschaftlich vs. geisteswissenschaftlich, objektivierend vs. subjektivierend, nomothetisch vs. idiographisch, erklärend vs. verstehend und in jüngerer Zeit qualitativ vs. quantitativ“.

So wurde in den 1950er Jahren vehement und öffentlich die Frage der Messbarkeit von Persönlichkeit debattiert (Wellek 1956; Hofstätter 1956). Es ging hierbei – wie in später folgenden Auseinandersetzungen, bei denen, teilweise anknüpfend an den Positivismus9 Zeitgleich mit Bühler (aber unabhängig von ihm) befasste sich Lew Wygotski (1985 [1927]) mit der Krise (in) der Psychologie, und er stellte nicht nur die Frage nach ihrem „Gegenstandsverständnis“, sondern forderte auch ganzheitliche, weniger zergliedernde Vorgehensweisen. Von den „Krisen“-Überlegungen ausgehende Vorschläge für eine angemessene Konzeptualisierung der Psychologie finden sich bspw. bei Lewin (und in dessen Unterscheidung von aristotelischem und galileischen Denken, 1931); siehe auch die spätere Debatte zwischen Rogers und Skinner (1956). 10 Freud hatte hier mit Blick auf Militärpsychologen und -psychiater schon im Ersten Weltkrieg den Begriff der „Maschinengewehre hinter der Front“ geprägt (Eissler 1979).

16

Katja Mruck & Günter Mey

streit in der deutschen Soziologie, um die (Ir-) Relevanz akademisch psychologischer Forschung gestritten wurde – immer wieder um die Wissenschaftlichkeit der Psychologie.11 Und immer wieder wurde diese Frage am Maßstab der „richtigen“ – mathematischnaturwissenschaftlichen – Methodik entschieden, die nach 1945 an den deutschen Universitäten zunehmend über (Nicht-) Zugehörigkeit entschied, begleitet von und in Auseinandersetzung mit immer neuen Sub- und Nebenkulturen.12 Zunächst fand mit Blick auf qualitative Forschung insbesondere Hans Thomae, der die psychologische Biografik mitbegründet hat (z.B. Thomae 1952), breitere Erwähnung; und dies vor allem auch wegen seiner Bemühungen um eine Verknüpfung qualitativer und quantitativer Methodik. Allerdings war Thomae zunehmend an der Einordnung in das nomologische Paradigma interessiert und verlor in der Folge den Anschluss an die in der interpretativen Soziologie aufkommende Biografieforschung (Straub 1989): Im Zuge der Renaissance qualitativer Forschung innerhalb der deutschsprachigen Sozialwissenschaften (eingeleitet insbesondere durch die Arbeitsgruppe Bielefelder Soziologen 1973) waren zu Beginn der 1970er Jahre neue Anschluss- und Einsatzmöglichkeiten entstanden; insbesondere nordamerikanische symbolisch-interaktionistische oder ethnomethodologische Ansätze wurden (re-) importiert und breit rezipiert (vgl. exemplarisch Hopf & Weingarten 1979). Und sie erreichten eben auch die Psychologie und eröffneten theoretische und methodische Neuorientierungen, und dies teilweise auch jenseits der eigenen frühen geisteswissenschaftlichen Tradition der Disziplin. Kritisch diskutiert wurden u.a. !

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11

die „Methodeninversion“ (Jüttemann 1983), d.h. die sich durchsetzende methodische Zurichtung psychologischer Forschung noch vor jeder inhaltlichen Gegenstandsbestimmung (so etwa in der Erlanger Arbeitsgruppe um Hans Werbik; vgl. zusammenfassend z.B. Aschenbach, Billmann-Mahecha, Straub & Werbik 1983); das hiermit verbundene „Problem der Relevanz psychologischer Forschung für die Praxis“ (Holzkamp 1970; siehe Markard 2009 zur Entstehung der Kritischen Psychologie); im Rahmen psychoanalytischer Sozialforschung und rückgreifend u.a. auf Freud, Lorenzer und Arbeiten aus dem Umfeld der Ethnopsychoanalyse die Standortgebundenheit von Forschung und die Verknüpfung von Psycho- und Sozio-Logik (Leithäuser & Volmerg 1988; Leithäuser 1991); Fragen des Sinnverstehens und der Sinnkonstruktion, bei denen neben psychoanalytischen und interaktionistischen Ansätzen auch eine phänomenologische Herangehensweise wesentlich war (siehe für einen Überblick Graumann, Métraux & Schneider 1991) und

Siehe zu den Krisen der 1950er und 1970er Jahre zusammenfassend Billmann-Mahecha (2001) sowie Maiers (1988), zum Positivismusstreit in der Soziologie Adorno et al. (1972 [1969]). 12 Nitzschke (1989) konstatiert in diesem Zusammenhang gegenläufige Bewegungen entlang der Pole Einheit – Vielfalt für Psychoanalyse und akademische Psychologie. Da die Psychoanalyse zu Beginn, hier der akademischen Psychologie vergleichbar, um ihre Identität habe ringen müssen, sei Freuds Theorie der zentrale Bezugspunkt gewesen, Abweichler/innen drohte der Ausschluss aus der psychoanalytischen Vereinigung. Erst nach Freuds Tod sei die Psychoanalyse pluraler geworden, ehemals Dissidentes wurde eingemeindet, wenn auch teilweise nun anders bezeichnet. Die Entwicklung der akademischen Psychologie sei hingegen von Vielfalt zu Einheit verlaufen, eine Analyse, die nur trägt, wenn die zahlreichen Sub- und Nebenkulturen (auch in den Universitäten) ausgeblendet werden.

Einleitung

!

17

anknüpfend insbesondere an in der Soziologie geführte Debatten Fragen der Individualisierung und der Erosion der „Normalbiografie“ u.a. im Rahmen einer reflexiven Sozialpsychologie (Keupp 1993).

Im Zuge gesamtgesellschaftlicher Demokratisierungsbestrebungen, mit der Gründung neuer Hochschulen, der Einrichtung bzw. dem Ausbau psychologischer Institute und der Neubesetzung von Lehrstühlen hatte diese Kritik sukzessive auch Eingang in den wissenschaftlichen Elfenbeinturm gefunden. Die Frage, welche Themen/Personen/Methoden dem Fach zugerechnet wurden (und sich selbst zurechneten), schien nicht mehr so vorentschieden wie in den Jahrzehnten zuvor – u.a. Psychoanalyse, Kritische Psychologie, feministische Ansätze, Aktionsforschung und Handlungsforschung bildeten einen Teil der (damaligen) akademischen deutschen Psychologie. Deren naturwissenschaftlich orientiertem Mainstream standen also sehr verschiedene Ansätze gegenüber, die zum Teil an sozialwissenschaftliche Debatten und Methoden (-entwicklungen) anschlossen, zum Teil an geisteswissenschaftliche Ansätze aus der Frühphase der Psychologie, zum Teil an neuere philosophische Strömungen wie den Erlanger und dann den Konstanzer Konstruktivismus.13 Allerdings sind ein gemeinsames und selbstbewusstes Nachdenken über die methodischen und theoretischen Bestände und eine gemeinsame Lösungssuche für die vielen auch gesellschaftlichen Aufgaben weder den Vertreter/innen beider Lager („qualitativ“ und „quantitativ“) noch den verschiedenen Ansätzen, die eine Bezugnahme auf „qualitative Forschung“ einte, gelungen14. Versuche, dem Dilemma zwischen (naturwissenschaftlicher) Exaktheit einerseits und Sinnverstehen und Relevanz andererseits durch Kompromisse zu begegnen, blieben hilflos, so wenn u.a. Michaelis (1986) einen (natur-) wissenschaftlichen Studiengang für Lehre und Forschung und einen „lebenspraktisch orientierten“ für Anwendungsfelder vorschlug. Nach heftigen Debatten15 kam es 1991, ausgehend von einer 1989 gestarteten „Initiativgruppe Erneuerung der Psychologie“, die die Unzufriedenheit mit der Politik und Wissenschaftskonzeption der DGPs einte, zu der Gründung der Neuen Gesellschaft für Psychologie (NGfP).16 Für diese Entscheidung war der Wunsch ausschlaggebend, den wissenschaftlichen Diskurs und die wissenschaftliche Praxis unter Hinzuziehung pluraler Ansätze und Methoden zu erweitern. Doch anders als der psychologische Mainstream, der – in der DGPs organisiert – „bei aller Binnenkonkurrenz ... außerordentlich homogen und hegemonial“ agierte (Groeben 2006, Abs. 5), ist qualitative Forschung in der Psychologie sehr heterogen und kaum in der Lage gewesen, den Marginalisierungsstrategien17 vonseiten des Mainstream auch nur annähernd wirkungsvoll entgegenzuarbeiten. Auch deshalb ist die zur Zeit der Gründung der NGfP vielfach formulierte Hoffnung auf die Erschließung neuer Forschungs(förderungs)-, Lehr- und Ausbildungsmöglichkeiten mit Ende der Tätigkeit der damals wirksamen akademischen Psycholog/innen unerfüllt geblieben. 13

Siehe für einen kurzen Überblick insbesondere zum Erlanger Konstruktivismus Villers (2005). Sie bspw. zum „Fortleben des Phantoms der Störungsfreiheit“ aufseiten qualitativer Forschung Mruck und Mey (1996). 15 Vgl. u.a. die Beiträge von Heiner Legewie und Theo Herrmann in Report Psychologie (1991). 16 http://www.ngfp.de/; siehe Volmerg (1992) „Zur Gründung der Neuen Gesellschaft für Psychologie (NGfP)“; außerdem Seel (2000). 17 Groeben (2006, Abs. 6) spricht in diesem Zusammenhang von einem „pragmatischen Paradox“ bzw. einem „Double bind“: Einerseits werde mittlerweile vielfach verbal Pluralismus und Vielfalt vertreten: „Explizit, mit großem Nachdruck: Ihr gehört dazu, zur Psychologie! Implizit, mit großer Konsequenz: Ihr gehört nicht dazu, zur Wissenschaft!“ 14

18

Katja Mruck & Günter Mey

Die meisten Lehrstühle wurden nach deren Emeritierung eben nicht wieder mit Vertreter/innen qualitativer Ansätze besetzt (dem damaligen wissenschaftlichen Nachwuchs, jener Generation also, die in qualitative Forschung hineinsozialisiert worden war und begonnen hatte, diese mitzuformen), sondern angesichts der neu aufkommenden Orientierung an „Neuroscience“ in entsprechende Lehrstuhlprofile umgewandelt oder gestrichen. Psychologie jenseits der methodischen (und teilweise thematischen) Monokultur taucht nun an anderen Stellen auf, u.a. an den sogenannten Hochschulen für angewandte Wissenschaft (früher als Fachhochschulen bezeichnet) oder in interdisziplinären Studiengängen, die qualitative Forschung wie selbstverständlich voraussetzen und an denen sich auch Forschungsbemühungen mit Praxisbezug finden.

3

Aktuelle Situation: gegenläufige Bewegungen

Auch wenn sich eine qualitative Orientierung in der institutionalisierten Psychologie nicht dauerhaft etablieren konnte, ist ab Mitte der 1980er Jahre eine Reihe wichtiger Veröffentlichungen erschienen. Exemplarisch erwähnt seien die Sammelbände von Bergold und Flick (1987) sowie Jüttemann (1985). In letzterem finden sich u.a. die Beiträge zur „Qualitativen Inhaltsanalyse“ (Mayring 1985) und zum „Problemzentrierten Interview“ (Witzel 1985), beides Verfahren, die heute zum geteilten Fundus der qualitativen Forschung gerechnet und in allen Übersichtsbänden erwähnt werden (wenn auch in der Soziologie und Erziehungswissenschaft zuweilen als theorielose „Ad-hoc“-Methoden eingeordnet; vgl. Reichertz 2007). Die 1995 erstmals von Flick vorgelegte Monografie „Qualitative Forschung“ verstand sich explizit als Einführung in „Theorie, Methoden, Anwendung in Psychologie und Sozialwissenschaften“; erst mit der Neuausgabe 2002 wurde der Band disziplinunspezifischer benannt und ausgerichtet. Andere Bücher sind auf die Anwendung speziellerer Verfahren bzw. Verfahrensgruppen zugeschnitten, siehe z.B. Breuer (1996, 2009) zur Grounded-Theorie-Methodologie, Jüttemann und Thomae (1998) zu biografischen Methoden sowie Fahrenberg (2002) zu biografischer Interpretation; wieder andere haben einen dezidiert subdisziplinären Fokus, z.B. Mey (2005) die Entwicklungspsychologie und Faller und Frommer (1994) die Psychotherapieforschung. Hinzu kommen theoretische Grundlegungen psychologischer Forschung u.a. von Groeben (1986), Holzkamp (1983), Laucken (1974) und Straub (1999), sowie für qualitative Forschung bedeutsame Elaborationen von Themen, Arbeitsfeldern und Methoden bspw. in der narrativen, diskursiven und Kulturpsychologie, für die neben Bruner (1990) auch Boesch (1991) wichtige Beiträge geleistet hat. Zudem finden qualitative Methoden nun öfter als früher auch Eingang in psychologische Standardlehrbücher, so in „Forschungsmethoden und Evaluation“, ein Lehrbuch, das von Bortz und Döring verfasst seit 2006 in der nunmehr vierten Auflage vorliegt,18 wenngleich qualitativer Forschung darin immer noch die Eigenständigkeit abgesprochen wird.19 18

Hier ist allerdings kritisch anzumerken, dass sie es unterlassen haben, das etwa 50seitige Kapitel zu qualitativer Forschung seit der Erstfassung von 1995 wesentlich zu aktualisieren. Es wird angesichts einer in Bewegung befindlichen Landschaft (auch) qualitativer Forschungsmethoden ein veralteter Stand verbreitet, u.a. wenn Ansätze wie die Metaphernanalyse oder die Diskursanalyse keine angemessene Berücksichtung finden, ganz abgesehen von im hiesigen Sprach-/Denkraum erst langsam ins Blickfeld rückenden „postmodernen“ Ansätzen. 19 Siehe dazu etwa auch Sullivan (2007) mit Blick auf den von Howitt und Cramer (2005) vorgelegten Einführungsband „Introduction to Research Methods in Psychology“, in dem qualitative Forschungsmethoden ebenfalls

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Eine systematische Perspektive auf (quantitative und qualitative) Forschungsmethoden leistet dagegen das gerade erschienene Lehrbuch von Hussy, Schreier und Echterhoff (2010; siehe auch die drei Bände zu „Forschungsmethoden der Psychologie“ von Kempf 2003, 2008 und Kempf & Kiefer 2009). Trotz dieser Hinweise auf eine sich teilweise veränderte Veröffentlichungspraxis ist die aktuelle Situation der deutschen qualitativen Psychologie (und damit der Psychologie als Gesamtdisziplin) mit Blick auf die wissenschaftspolitische Lage und institutionelle Verankerung in Universitäten problematisch. Zwar findet qualitative Forschung weiterhin beim wissenschaftlichen Nachwuchs – ein wenig immer auch Seismograf – regen Zuspruch. Studierende verlangen nach qualitativer Forschung, auch weil sie in ihren Qualifikationsarbeiten (Bachelor, Master, Diplom, Dissertationen) Fragen aufwerfen, die einen qualitativen Zugang erfordern. Sie gehen diesen Fragen dann aber mit meist großem Enthusiasmus, oft jedoch geringer Methodenkenntnis nach. Denn Methodencurricula bilden ganz weitgehend die quantitative Monokultur ab, qualitative Methoden-Pflicht-/Leistungskurse sind in den letzten Jahren immer seltener geworden. Damit mangelt es zugleich – entsprechend der Personalpolitik des Mainstream – zumeist an wissenschaftlichem Personal und an Expertise, qualitative Methodik angemessen zu vermitteln (Mey 2008). Dass eine Ausbildung in qualitativen Methoden spezifische Anforderungen mit sich bringt, zeigt das 2008 aus dem Berliner Methodentreffen Qualitative Forschung hervorgegangene „Memorandum für eine fundierte Methodenausbildung in den Human- und Sozialwissenschaften“20, das von 19 Fachgesellschaften aus Deutschland, Österreich und der Schweiz ratifiziert wurde (darunter allerdings keine der großen psychologischen Fachgesellschaften). Essenziell wichtig wäre es hiernach, flächendeckend – d.h. jenseits bestehender Nischen aufgrund lokaler Zufälligkeiten und selbstgeschaffener Enklaven – Ausbildungsprogramme sowie Lehr- und Arbeitsstrukturen zu schaffen, die dem spezifischen disziplinären Bedarf genügen.21 Andernfalls bleibt es bei einer – in der Konsequenz für die Psychologie als ganze und für die Abnehmer/innen psychologischen Wissens – schwerwiegenden Selbstbeschneidung, die sich notwendig von der Lehre in die Forschung fortsetzt: Da nur die DGPs in die Wahl der Fachgutachter/innen bei der Deutschen Forschungsgemeinschaft involviert ist und aufseiten der dort organisierten Psycholog/innen, die die traditionelle akademische Sozialisation durchlaufen haben, Kompetenzen im Bereich qualitativer Methodik oft eher gering sind, haben genuin qualitative Forschungsvorhaben in der Psychologie denkbar schlechte Erfolgsaussichten. Zumeist bleibt deshalb in Forschungsprojekten das Repertoire qualitativer Methoden auf die qualitative Inhaltsanalyse und sog. „qualitative Leitfadeninterviews“ beschränkt. Wenn in solchen Projekten Mixed-Method-Designs zum Einsatz kommen, werden qualitative Ansätze in der Regel auf explorative Hilfsfunktionen für die „eigentlichen“, d.h. quantitativen Methoden reduziert. Gut ausgearbeitete und fundierte Vorschläge wie die des in die Soziologie ausgewanderten Psychologen Udo Kelle (2007) zur Frage der ausgiebiger als früher behandelt werden (dies gilt auch für die zweite Auflage von Langdridge & Hagger-Johnson 2009). 20 http://www.qualitative-forschung.de/methodentreffen/memorandum/, siehe in ähnlicher Intention für die Schweiz das 2010 verabschiedete „Manifest zur Bedeutung, Qualitätsbeurteilung und Lehre der Methoden qualitativer Sozialforschung“, http://www.sagw.ch/de/sagw/oeffentlichkeitsarbeit/publikationen/publis-wiss-pol.html. 21 Siehe hierzu auch die „FQS-Debatte: Lehren und Lernen qualitativer Methoden“, http://www.qualitativeresearch.net/index.php/fqs/search/sections.

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„Integration qualitativer und quantitativer Methoden in der empirischen Sozialforschung“, die weit über vereinfachende und dichotome Vorschläge hinausgehen, finden kaum Anwendung (siehe dazu auch den immer noch sehr empfehlenswerten „Ordnungsversuch“ von Nigel Fielding und Margrit Schreier 2001). Fehlen qualitative Forschungsprojekte, dann fehlt es an Orten – und an der Ermöglichung praktischer Erfahrung – für die Entwicklung/Verbreiterung von Methodenkompetenz. Ein Circulus vitiosus. Wichtiges Wissen, Erfahrung und Innovationspotenziale für die Psychologie als ganze gehen verloren. Dass dies so nicht sein (und bleiben) muss, zeigt ein Blick in den angelsächsischen Raum, für den sich eine zunächst der deutschen Entwicklung ähnliche Ausgangslage findet: Auch hier sind Anstrengungen um eine plurale Ausrichtung der Psychologie oft folgenlos geblieben: Exemplarisch erwähnt sei das Resümee von Rijsman und Stroebe zu einem 1989 von ihnen herausgegebenen Sonderheft des European Journal of Social Psychology, es gebe zwei Sozialpsychologien inkl. entsprechender Methodengruppen, nämlich eine am „alten“, naturwissenschaftlichen Paradigma orientierte und eine „neue“, die soziales Handeln als diskursive und sinnkonstruierende Aktivität verstehe. Zugleich sind aber seit Mitte der 1990er Jahre ein deutlicheres Bemühen um eine Rückbesinnung auf qualitative Forschungsmethoden und damit einhergehende Versuche einer theoretischen Grundlegung erkennbar, programmatisch formuliert als „Rethinking Psychology“ und „Rethinking Methods in Psychology“ (Smith, Harré & Langenhove 1995a, 1995b; siehe dazu Mey & Mruck 1997). Zudem finden sich Elaborationen qualitativer Methodik, z.B. ausgerichtet an der Phänomenologie (Fisher 2006) oder, breiter angelegt, in dem Sammelband zu „Qualitative Research in Psychology“ (Camic, Rhodes & Yardley 2003), der unter dem Dach der American Psychological Association entstanden ist und eine Zusammenstellung von (aus der Perspektive der Herausgeber/innen) „eingeführten“ qualitativen Ansätzen und Verfahren bietet.22 Ebenfalls erwähnenswert sind, neben dem einen oder anderen Sammelband oder Einführungsbuch zu qualitativer Methodik mit explizitem Fokus auf psychologischer Forschung, das 2008 von Carla Willig und Wendy Stainton-Rogers herausgegebene „SAGE Handbook of Qualitative Research in Psychology“ und das 2004 gegründete Journal „Qualitative Research in Psychology“23. Die zunehmende Verfügbarkeit und Relevanz von Veröffentlichungs-, Rezeptionsund Identifikationsorten für qualitative Psycholog/innen geht mit ebenfalls zunehmenden Anstrengungen um wissenschaftspolitische Sichtbarkeit und Wirksamkeit einher. 2008 wurde die „Qualitative Methods in Psychology Section“ der British Psychological Society (BPS) gegründet, die jüngste und mit über 1.000 Mitgliedern größte Sektion der BPS24. Ebenfalls 2008 brachten 847 Mitglieder der American Psychological Association (APA) eine „Petition for a Division for Qualitative Inquiry“ ein.25 Dieses Unterfangen wurde ins22

In der Anlage erinnert der Band ein wenig an die erste Auflage des Handbuches von Denzin und Lincoln (1994), die weniger „postmodern“ orientiert war als die 2005 erschienene 3. Auflage. 23 Siehe http://www.slu.edu/organizations/qrc/QRjournals.html für eine kontinuierlich wachsende (nicht auf die Psychologie beschränkte) Liste an Fachzeitschriften mit dezidiert qualitativem Fokus bzw. mit einer gegenüber qualitativer Forschung freundlichen Veröffentlichungspolitik (wozu auch der American Behavioral Scientist gehört, in dem bereits 1965 ein Beitrag von Glaser & Strauss zur Grounded-Theory-Methodologie publiziert wurde). 24 http://www.bps.org.uk/qmip/qmip_home.cfm 25 Siehe hierzu den „2009 Annual Report of the American Psychological Association“ (http://www.apa.org/pubs/ info/reports/2009-annual.pdf).

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besondere von der Division 5 („Evaluation, Measurement, and Statistics“) teilweise scharf attackiert26, ein Selbstverteidigungsversuch möglicherweise for dem Hintergrund einer 2006 eigens eingesetzten „Task Force for Increasing the Number of Quantitative Psychologists“27. Angesichts der großen Zahl der Unterzeichnenden der Petition riet Neal Schmitt, Präsident der Division 5, in deren Newsletter zu einer Strategie der Schadensbegenzung auf, nämlich dem Einrichten einer qualitativen Sektion unter dem Dach der Division 5 statt der Einrichtung einer eigenen Divison auf Augenhöhe und – falls dies Scheitern sollte – zur Zusammenarbeit ... 28

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Ausblick: wohin des Weges, (qualitative) Psychologie?

Das Fach ist also (wieder einmal) in Bewegung geraten, und diesmal trifft diese Bewegung die angelsächsischen und nordamerikanischen Zentren der Mainstream-Psychologie. Es wird sich weiter bewegen müssen, so Kenneth Gergen, der Begründer des Sozialen Konstruktionismus (u.a. 1999), der auch in die aktuellen Anstrengungen für eine Institutionalisierung der nordamerikanischen qualitativen Psychologie involviert ist, „weil die intellektuelle Welt außerhalb der Psychologie bereits in Bewegung geraten ist“ – gemeint sind all jene Veränderungen, die „die Disziplin mit der Tatsache der Differenz konfrontieren – der kulturellen, ethnischen, ideologischen usw.“ (in Mattes & Schraube 2004, Abs. 37). Die Psychologie wird diesen Veränderungen Rechnung tragen müssen, „oder sie wird verschwinden wie die Dinosaurier“, so Gergen an gleicher Stelle. Und weil die Orientierung insbesondere an Nordamerika eine zentrale Rolle für die deutschsprachige MainstreamPsychologie gespielt hat und immer noch spielt, dürften Änderungen in der institutionalisierten Fach(politischen)-Landschaft dort auch zu Irritationen hier führen. Und auch die qualitative Forschung ist in Bewegung: Ältere Ansätze haben sich verändert, neuere sind hinzugekommen. Insoweit ist qualitative Forschung mehr denn je ein Sammelbegriff für sehr unterschiedliche Verfahren inkl. der dahinter stehenden Theorien/Basisannahmen mit vielfältigen Anwendungsmöglichkeiten in den unterschiedlichsten Themenfeldern, die unter einer internationalen Perspektive wegen ihrer Leistungsfähigkeit viel selbstverständlicher genutzt werden als es aufgrund der hiesigen Situation mitunter erscheint. Dass qualitative Forschung in der deutschsprachigen Psychologie keine einfach „nachzuerzählende“ Geschichte ist (siehe Mey 2007), haben wir anzudeuten versucht. Denn es gibt mindestens (!) zwei mögliche Narrative: Das eine Narrativ (das wir hier deutlicher bedient haben) kündet von dem „Schattendasein“ und den „Grabenkämpfen“. Das zweite Narrativ (das sich immer wieder angedeutet hat) bedient eher eine Art positiv konnontierte Darstellung der stetigen Zunahme und des Bedeutungszugewinns. Das zweite Narrativ gelingt mit Blick auf die deutsche Situation allerdings weniger angesichts der fehlenden Versorgung mit qualitativen Lehr- und Forschungsstellen, verglichen etwa mit jenen in den 1990er Jahren noch existierenden lokalen Zentren qualitativer Forschung in Berlin, Bochum, Bremen, Erlangen, Hannover, München, Tübingen (siehe zusammenfassend Mey & 26 Mitglieder der Division 5 versuchten u.a., aus Webseiten und Veröffentlichungen der Petitionsunterzeichner/innen Hinweise auf deren „antiquantitative sentiments“ zusammenzustellen (Lyons 2009). 27 http://www.apa.org/research/tools/quantitative/index.aspx 28 http://www.apa.org/divisions/div5/pdf/april08score.pdf

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Mruck 2007). Doch welches Narrativ auch immer gewählt werden mag: Es muss in beiden um die besondere method(olog)ische Herausforderung im Zuge der disziplinäre Verortung gehen. Im vorliegenden Falle bedeutet dies, qualitative Forschung in ihrer Psycho-Logik auszubuchstabieren –, ohne starr disziplinär zu agieren. Und es fällt – wieder mit Blick auf die deutsche Situation – ein deutlicher Kontrast der Binnenordnung der Psychologie im Vergleich zur Soziologie auf. Hitzler (2002, Abs. 9) setzte die eingangs erwähnte Zustandsbeschreibung der deutschsprachigen interpretativen Soziologie wie folgt fort: „Alle reden ‚pro domo‘. Und alle reden durcheinander. Kurz: Es geht zu wie bei anderen ‚familiären Tischgesprächen‘.“ Es ist kein harmonisches Tischgespräch, das Hitzler skizziert, aber es ist ein Gespräch in einem gemeinsamen Haus, der Soziologie. Und es wäre eine Kultur des gemeinsamen Gesprächs statt hermetischer Grenzziehungen – innerhalb der qualitativen Psychologie und zwischen qualitativ und quantitativ orientierten Psycholog/innen – die das Fach Psychologie in Zeiten beschleunigten gesellschaftlichen Wandels, von Globalisierung, veränderten disziplinären Zuständigkeitsbereichen und dem Sichtbarerwerden lokalen Wissens dringend benötigen würde. Denn die Ausgrenzung qualitativer Psychologie aus den Universitäten bedeutet nicht nur massive Verluste für die wissenschaftliche Erkenntnisbildung, sondern auch für die Möglichkeit der Nutzung dieser Erkenntnisse in unterschiedlichsten Praxisfeldern, und dies bei stetig wachsendem Bedarf u.a. in der Markt- und Meinungsforschung, der Evaluation(sforschung), der Politikberatung und allgemeiner mit Blick auf die Sinnfragen (post-) moderner Gesellschaften, ihrer Mitglieder und Institutionen. Was ist zu tun? Kant schrieb, die „Unmündigkeit“ – bei Groeben einseitig übersetzt in die „Irrelevanz des qualitativen Offstreams“ – sei „das Unvermögen, sich seines Verstandes ohne Leitung eines andern zu bedienen. Selbstverschuldet ist diese Unmündigkeit, wenn die Ursache derselben nicht aus Mangel des Verstandes, sondern der Entschließung und des Mutes liegt, sich seiner ohne Leitung eines andern zu bedienen“ (1978, S.481). Aus unserer Perspektive sind die „Entschließung“ und der „Mut“ nicht nur der qualitativen Psycholog/innen, sondern der gesamten Disziplin erforderlich. Qualitative Methoden und eine genuin qualitative Sichtweise bereichern die Disziplin. Auf sie zu verzichten wäre fahrlässig.

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Übersicht über den Band

Wir wollen mit diesen Handbuch eine systematische Darstellung vorlegen, „ein Basisbuch“, das sich mit einem Überblick über den „State of the Art“ qualitativer Psychologie an Forschende, Lehrende und Studierende der Psychologie richtet, aber auch anregend sein kann für Interessierte aus verwandten Disziplinen. Auch wenn das „Handbuch Qualitative Forschung in der Psychologie“ mit 60 Beiträgen sehr umfangreich geworden ist, hätte es weitere Beiträge geben können, und zwar in allen fünf Teilen, die das Handbuch mit Blick auf die intendierte systematische Übersicht gliedern: 1.Theoretische und methodologische Grundlagen, 2. Methodologische Ziellinien und Designs qualitativ-psychologischer Studien, 3. Erhebung, 4. Auswertung und 5. Ausgewählte Anwendungsfelder.

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5.1 Theoretische und methodologische Grundlagen Eine ausführliche Darlegung wissenschaftstheoretischer Positionen und qualitativpsychologischer Grundlagentheorien ist aus unserer Perspektive zwingend für eine eigenständige disziplinäre Verortung. Denn nur durch die Auseinandersetzung mit den hinter den Methoden stehenden Annahmen, Konzepten und Theorien wird deutlich, dass qualitative Forschung auch in der Psychologie nicht lediglich eine Anwendung offener Verfahren, ein beliebiges Entleihen aus anderen disziplinären Kontexten oder ein „Basteln“ mit „Werkzeugen“ meint. Um dies zu leisten, werden nach einer Einführung in „Wissenschaftstheoretische Grundlagen und Konstruktionen des Forschungsobjekts“ (Franz Breuer) neben großen alten „Theoriefamilien“ – wie Gestaltpsychologie (Herbert Fitzek), Hermeneutik (Ralph Sichler) und der Kulturhistorischen Schule (Carlos Kölbl) – Erzähltheorie/Narration, Handlungstheorie (Jürgen Straub), Feministische Perspektiven (Anna Sieben), das Forschungsprogramm Subjektive Theorien (Norbert Groeben & Brigitte Scheele), Heuristik als Basismethodologie (Gerhard Kleining), Kritische Psychologie (Morus Markard), Kulturpsychologie (Jürgen Straub & Pradeep Chakkarath) sowie Sozialer Konstruktionismus und Symbolischer Interaktionismus (Rainer Winter) ausführlich auch mit Blick auf die jeweils bedeutsamen Arbeiten und ihr zurechenbare Forschende vorgestellt. Auf diese Weise soll die Grundlegung für die nachfolgenden Kapitel in den Teilen 2-5 und so eine Verbindung zur qualitativen Forschungspraxis ermöglicht werden. Gemeinsam ist diesen grundlagentheoretischen Ansätzen, dass sie – wenn auch mit teilweise sehr unterschiedlichen Akzenten – von einem (selbst-) reflexiven Subjekt ausgehen (und zwar aufseiten der Forschenden und Beforschten), das in Austausch mit der sozialen und materialen (Um-) Welt ist und diese (mit-) gestaltet; ein kommunikatives Subjekt, das sich (auch) sprachlich verständigt, sich selbst entwirft und biografisiert, d.h. konstruiert und rekonstruiert. 5.2 Methodologische Ziellinien und Designs qualitativ-psychologischer Studien Die Auseinandersetzung mit den generellen Anforderungen an die Anlage von qualitativen Studien geht Hand in Hand mit dem Stellenwert von qualitativer Forschung, wenn und weil sie nicht nur eine „Hilfsfunktion“ wahrnehmen soll. Dies betrifft zunächst allgemeine Kennlinien qualitativ orientierter Forschungsdesigns (Philipp Mayring), Fragen der Fallauswahl und der Stichprobenbildung (Margrit Schreier) sowie zentrale Strategien wie Längsschnittstudien (Andreas Witzel) und Sekundäranalysen, also die Nutzung bereits erhobener Daten für neue Fragestellungen und Reanalysen (Irena Medjedovi+). Die zuletzt genannten Ansätze finden, verglichen mit ihrer Bedeutung, bisher nicht nur in der Psychologie, sondern auch allgemein in der qualitativen Sozialforschung zu wenig Beachtung. Ähnliches gilt für die qualitative Onlineforschung (Timo Gnambs & Bernad Batinic): Hier existieren zwar international zunehmend relevante Beiträge (siehe exemplarisch Mann & Steward 2000; Domínguez et al. 2007), die nationale Rezeption hinkt aber bisher hinterher. National und international fast keine Erwähnung und kaum Einsatz findet, verglichen mit experimentellen quantitativen Designs, das qualitative Experiment (Thomas Burkart),

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das in der Psychologie selbst eine lange Tradition aufweist, aber weitgehend unbeachtet und in seiner heuristischen Funktion verkannt bleibt. Ausgesprochen prominent sind hingegen sogenannte „Mixed Methods Designs“ (Margrit Schreier & Özen Oda,), die eine Fülle an Möglichkeiten bieten, um Forschungsarbeiten methodenintegrativ zu gestalten, und die irrtümlicherweise recht häufig auf die Nutzung qualitativer Ansätze in Vorstudien verengt werden. Zunehmend Beachtung findet auch die „Triangulation“ (Uwe Flick), d.h. die systematische Kombination von Daten, Methoden, Theorien, Perspektiven. Triangulation wurde lange als Strategie der Geltungsbegründung erachtet, geht mittlerweile aber deutlich darüber hinaus. Die Frage der Gütekriterien (Uwe Flick) ist eine der nach wie vor zentralen Herausforderungen, und ihr kommt mit der damit einhergehenden Entwicklung eigener Kriterien für die weitere Etablierung qualitativer Methodik im Sinne einer systematisch nachvollziehbaren Forschungsstrategie eine besondere Bedeutung zu. Solche auch „technischen“ Fragen verweisen zudem auf weitere, spezifische Ansätze und Designs z.B. im Kontext qualitativer Evaluationsforschung (Ernst von Kardorff & Christine Schönberger) oder partizipativer Forschung (Jarg Bergold & Stefan Thomas). Gerade im letzten Fall geht es um die „Selbstermächtigung“ der Forschungssubjekte, d.h. darum, nicht nur qualitative Forschung über die Beforschten, sondern Forschung mit ihnen zu machen, eine Perspektive, die zugleich die für qualitative Forschung essenzielle Frage der Ethik (Mechthild Kiegelmann) berührt, da z.B. „dichte Beschreibungen“ (Geertz 2003 [1983]) von Milieus und (lokalen) Kulturen oder biografische Analysen, um nur zwei sehr naheliegende Beispiele zu nennen, besondere Anforderungen an Forschende stellen. Weil dies so ist, und weil qualitative Forschung insgesamt eben nicht nur das schnelle Erlernen standardisierter „Kochrezepte“, sondern die sorgfältige Sozialisation in einen spezifischen, qualitativen Forschungsstil erfordert, beschäftigt sich ein weiterer Beitrag in diesem Abschnitt mit der Frage einer angemessenen Behandlung qualitativer Methodik in der Lehre (Franz Breuer & Margrit Schreier). Mit Autoethnografie (Carolin Ellis, Tony Adams & Art Bochner) und Performativer Sozialwissenschaft (Mary & Ken Gergen) finden sich dann gleich zwei Ansätze, die im deutschsprachigen Raum noch weitgehend unbekannt sind, im nordamerikanischen und angelsächsischen Raum aber zunehmend dem Kanon qualitativer Forschung zugehören und die (z.T. deutlicher als andere qualitative Ansätze) akzentuieren, wie Standortgebundenheit und individuelle Erfahrung genutzt werden können, um kulturelle Erfahrung zu verstehen und für ein breites Publikum zu vermitteln (siehe für innovative Nutzungsbeispiele neuer Medien Jones et al. 2008). 5.3 Erhebung Erhebungsmethoden, die der qualitativen Forschung zugehören, sind vor allem anderen Interviews (allerdings in der akademischen Psychologie zumeist relativ standardisiert und strukturiert im Rahmen von „Leitfadeninterviews“) und (teilnehmende) Beobachtung. In beiden Fällen handelt es sich um „Klassiker“, die in allen Lehr- und Handbüchern der qualitativen Forschung dargestellt werden, so auch hier (Interview: Günter Mey & Katja Mruck; Beobachtung: Alexander Kochinka). Hinzukommen mit Ethnografie (Stefan Thomas) sowie Gruppendiskussion und Fokusgruppen (Aglaja Przyborski & Julia Riegler) weitere Erhebungsverfahren, die im Kontext qualitativer Sozialforschung zum Standard

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gehören, jeweils mit Verweisen auf verschiedene Varianten, Hinweisen zur Durchführung und mit Bezug zu psychologischen Denk- und Arbeitstraditionen. Darüber hinaus haben wir einige genuin psychologische Methoden aufgenommen: mit Introspektion (Harald Witt) und lautem Denken (Klaus Konrad) zwei Verfahren, die bereits in den Anfängen der akademischen Psychologie zentral waren, dann aber zu Unrecht mehr oder weniger aus deren Kanon verschwunden sind und eher in Nebenkulturen weitergepflegt und -entwickelt wurden, außerdem Rollenspiel (Iris Stahlke), Dialog-Konsens-Methoden (Brigitte Scheele & Norbert Groeben) und die Repertory-Grid-Methodik (Martin Fromm). Durch die Berücksichtigung dieser Verfahren soll nicht nur die Relevanz eines psychologischen Handbuches unterstrichen werden, sondern es sollen Ansätze mit Blick auf den Gesamtkanon qualitativer Forschung überhaupt erst bekannt(er) und damit auch für andere, nicht-psychologische Belange nutzbar gemacht werden. 5.4 Auswertung Es sind bisher nur wenige Verfahren, die aus der Psychologie heraus Eingang in den Fundus qualitativer Sozialforschung gefunden haben. Hierzu gehören insbesondere das problemzentrierte Interview (zur Auswertung Witzel 1996) und die qualitative Inhaltsanalyse, die auch in diesem Band mit einem eigenen Beitrag vertreten ist (Philipp Mayring). Letztere hat sich auch in der akademischen Psychologie seit Beginn der 1980er Jahre sehr schnell etabliert, insbesondere weil hier manifeste Inhalte im Vordergrund stehen und zudem die Möglichkeit der Quantifizierung gegeben ist. Andere genuin psychologische Auswertungsverfahren wie die der morphologischen Psychologie (Herbert Fitzek) sind weder in der akademischen Psychologie noch in der qualitativen Sozialforschung präsent, obwohl sie z.B. in der Marktforschung sehr erfolgreich angewandt werden. Auch andere Verfahren wie die Metaphernanalyse finden eher zögernd Eingang: Obwohl bereits Bühler sich im Rahmen seiner Sprachpsychologie mit der psychischen Funktion von Metaphern beschäftigt hatte, gelangte die Metaphernanalyse erst über Linguistik und Sprachphilosophie durch die Arbeiten insbesondere von Michael Buchholz (1993) und Rudolf Schmitt, der den Beitrag für dieses Handbuch verfasst hat, zu einer Weiterentwicklung für psychologische Fragestellungen; in Standardwerken der qualitativen Sozialforschung findet sie bisher, obwohl ein elaborierter und eigenständiger Ansatz, noch kaum Beachtung. Anders die Diskursanalyse (Lars Allolio-Näcke), deren Entwicklung und Adaption gerade im deutschsprachigen Raum zeigt, dass ein Ansatz in vergleichsweise kurzer Zeit von der Peripherie ins Zentrum qualitativ-sozialwissenschaftlicher Forschung und Debatten gelangen kann (siehe Bührmann et al. 2007). Konversationsanalyse (Arnulf Deppermann) und Narrationsanalyse (Gabriele LuciusHoene) hingegen werden, beide mit Berührungspunkten zu den Sprachwissenschaften, als etablierte qualitative Verfahren sehr breit genutzt und rezipiert, letzteres trifft uneingeschränkt auch für die Biografieanalyse (Heidrun Schulze) und die Typenbildung (Udo Kuckartz) zu, die zudem bereits in der Frühzeit der Psychologie eine nicht unwesentliche Rolle spielten. Aus der Soziologie stammende Ansätze sind schließlich die Grounded-TheoryMethodologie (Günter Mey & Katja Mruck) und die dokumentarische Methode (Aglaja Przyborski & Thomas Slunecko), die zunehmend für psychologische Fragestellungen genutzt werden. Insbesondere für die Grounded-Theory-Methodologie, die international am

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weitesten verbreitete Forschungs- und Auswertungsstrategie, ist mittlerweile eine Vielzahl an Vorgehensweisen zu verzeichnen. Ihre Prominenz verdankt sie in Teilen, hier der qualitativen Inhaltsanalyse vergleichbar, der Tatsache, dass für beide eine computergestützte Analyse möglich ist, eine Zugangsweise, für die ein eigenes Kapitel (Udo Kuckartz & Stefan Rädikter) in den Band aufgenommen wurde, ebenso zu Transkribieren (Thorsten Dresing & Thorsten Pehl), ein Beitrag, der für überwiegend mit textuellem Material operierende qualitative Forschungsarbeiten unerlässlich ist. Als Beispiel für den Umgang mit nichttextuellem Material wurde schließlich ein Beitrag zur Auswertung von Zeichnungen (Elfriede Billmann-Mahecha) einbezogen, ein Ansatz, der insbesondere in der Entwicklungspsychologie eine lange Tradition hat und in der aktuellen Hinwendung qualitativer Forschung zu visuellen Daten (s. exemplarisch Knoblauch, Baer, Laurier, Petschke & Schnettler 2008) möglicherweise mehr als bisher – und im Falle der (Kinder-) Zeichnungen wieder aus einem genuin psychologischen Kontext stammend – Beachtung finden könnte. 5.5 Ausgewählte Anwendungsfelder Abschließend werden einige Anwendungsfelder mit Blick auf die Nutzung(spotenziale) qualitativer Methodik betrachtet. Hierzu gehören „große“ Grundlagenfächer wie Entwicklungspsychologie (Günter Mey) und Sozialpsychologie (Christian Gudehus, David Keller & Harald Welzer) ebenso wie Anwendungsbereiche der Arbeitspsychologie (Michael Dick, Hartmut Schulze & Theo Wehner), Psychotherapieforschung (Jörg Frommer & Julia Lange), Rehabilitationspsychologie (Ernst von Kardorff), Medienpsychologie (Özen Oda, & Margrit Schreier), Sportpsychologie (Ina Hunger) und Verkehrspsychologie (Heinz Jürgen Kaiser); schließlich – in der deutschen akademischen Psychologie im Unterschied bspw. zu Nordamerika und den Niederlanden noch vergleichsweise unbekannt – Religionspsychologie (Ulrike Bopp-Baier). In allen Beiträgen werden neben einer historischen Einordnung der aktuelle Stellenwert qualitativer Methodik in der jeweiligen Subdisziplin bzw. in dem jeweiligen Anwendungsfeld sowie relevante Akteure und Themen skizziert. Auf diese Weise sollen bestehende Schwerpunktbildungen, subdisziplinäre/methodische „Einbahnstraßen“ und auch Ansätze für eine elaboriertere qualitativ-psychologische Forschung veranschaulicht werden. 5.6 Was fehlt Zusätzlich zu den in das Handbuch aufgenommenen Beiträgen waren in systematischer Absicht einige weitere geplant oder wären wünschenswert gewesen. Dazu gehört zunächst die in diesem Beitrag nur angedeutete Einführung in die Geschichte qualitativer Methoden in der Psychologie. Als Grundlagentheorien einer qualitativen Psychologie hätten Phänomenologie und die beiden „alten Schulen“ Psychoanalyse und Humanistische Psychologie wichtige Bezüge geliefert. Bei der Fülle an Erhebungs- und Auswertungsverfahren ist zunächst insbesondere an objektive Hermeneutik und Tiefenhermeneutik zu denken sowie an Verfahren der Video- und Bildanalyse. Schließlich wäre, um den besonderen Ertrag qualitativer Forschung kenntlich zu machen ein Blick in die Persönlichkeitspsychologie und

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-diagnostik sowie in Klinische, Gemeinde-, und Gesundheitspsychologie besonders lehrreich gewesen. Diese – und einige weitere – Beiträge hatten wir in unserem ursprünglichen Konzept vorgesehen, zum Teil auch mit Beitragenden vereinbart; sie waren aber zum Zeitpunkt der Drucklegung nicht oder noch nicht verfügbar. Mit dem Verlag haben wir – auch mit Blick auf eine mögliche Zweitauflage – verabredet, dass später vorliegende Beiträge auf der Webseite des Verlags zugänglich gemacht werden. Weitere Hinweise und Anregungen sind willkommen.

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Danksagung

Im Frühjahr 2008 hat uns der VS Verlag eingeladen, das hier vorliegende Handbuch zu konzipieren. Wir möchten uns herzlich für diese Gelegenheit bedanken, die auch im eigenen Fach eine, wie wir glauben, wichtige Ausstrahlung haben könnte. Besonderer Dank gilt der uns betreuenden Lektorin, Kea Brahms. Allen Autorinnen und Autoren möchten wir ebenfalls herzlich danken, dass sie nicht nur unserer Einladung, sich an dem Handbuch zu beteiligen, gefolgt sind, sondern sich an die mit der Einladung vorgesehene Struktur und Anlage der Einzelbeiträge gehalten haben. Dieser Vorgabe zu folgen ist nicht immer leicht gefallen, war uns in Absprache mit dem Verlag aber besonders wichtig, um eine möglichst übersichtliche und systematische Aufbereitung einer qualitativen Psychologie zu leisten, die Noviz/innen eine Orientierung bei der Aneignung qualitativer Theorietraditionen, Methoden und Forschungsstile an die Hand geben und anderen, die schon vertraut mit qualitativer Forschung sind, einen zusätzlichen Überblick bieten soll. Wir hoffen, dass es in dieser gemeinsamen Umsetzung mit allen daran Beteiligten gelungen ist, ein wichtiges und hilfreiches Buch für die Ausbildung, für Forschungskontexte und für verschiedenen Praxisfelder der Psychologie zur Verfügung zu stellen. Literatur Adorno, Theodor W.; Dahrendorf, Ralf; Pilot, Harald; Albert, Hans; Habermas, Jürgen & Popper, Karl R. (1972). Der Positivismusstreit in der deutschen Soziologie. Neuwied: Luchterhand. [Orig. 1969] Arbeitsgruppe Bielefelder Soziologen (Hrsg.) (1973). Alltagswissen, Interaktion und gesellschaftliche Wirklichkeit. Hamburg: Rowohlt. Aschenbach, Günter; Billmann-Mahecha, Elfriede; Straub, Jürgen & Werbik, Hans (1983). Das Problem der Konsensbildung und die Krise der „nomothetischen“ Psychologie. In Gerd Jüttemann (Hrsg.), Psychologie in der Veränderung. Perspektiven für eine gegenstandsangemessenere Forschungspraxis (S.103-144). Weinheim: Beltz. Ash, Mitchell G. & Geuter, Ulfried (Hrsg.) (1985). Geschichte der deutschen Psychologie im 20. Jahrhundert. Ein Überblick. Opladen: Westdeutscher Verlag. Bergold, Jarg (2000). Über die Affinität zwischen qualitativen Methoden und Gemeindepsychologie. Forum Qualitative Sozialforschung / Forum: Qualitative Social Research, 1(2), Art. 28, http://nbn-resolving.de/urn:nbn:de:0114-fqs0002283. Bergold, Jarg & Flick, Uwe (Hrsg.) (1987). Ein-Sichten. Zugänge zur Sicht des Subjekts mittels qualitativer Forschung. Tübingen: DGVT-Verlag.

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Katja Mruck & Günter Mey

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Einleitung

Teil 1: Positionen und Traditionen – Theoretische und methodologische Grundlagen

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Wissenschaftstheoretische Grundlagen qualitativer Methodik in der Psychologie

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Franz Breuer

Wissenschaftstheoretische Grundlagen qualitativer Methodik in der Psychologie 1

Zum Status wissenschaftlicher Erkenntnis und zur Entwicklung der wissenschaftstheoretischen Diskussion in der Psychologie

Die wissenschaftliche Psychologie besitzt seit ihren institutionellen Anfängen im späten 19. Jahrhundert eine charakteristische Doppel- bzw. Mehrdeutigkeit: Sie gilt sowohl als Naturwie auch als Geisteswissenschaft (oder auch als Sozial- bzw. Kulturwissenschaft, wie es heutzutage häufig heißt). Von hierher haben sich mehrere gegenstandstheoretische und methodologische Stränge entwickelt, die zu unterschiedlichen Zeiten und an verschiedenen Orten miteinander koexistierten und kooperierten oder sich wechselseitig bekämpften und zu verdrängen suchten. In der deutschen akademischen Psychologie ist die Situation bis in die 1960er Jahre noch von einer starken Fraktion „interpretativ“ ausgerichteter Vertreter/innen gekennzeichnet; später dominierte – in Anlehnung an US-amerikanische Vorbilder – eine naturwissenschaftlich-experimentelle Ausrichtung. In der heutigen Landschaft der Psychologie sind interpretative bzw. „qualitative“ Methodologien an den Rand gedrängt: in Deutschland weitgehend ausgemerzt, in den USA randständig, aber zunehmend hörbar, in Großbritannien stärker etabliert – national bzw. regional also unterschiedlich ausgebaut. Vertreter/innen einer qualitativ-sozialwissenschaftlichen Wissenschaftsauffassung haben sich in der Psychologie heute mit einem Mainstream von auf Gesetzeserkenntnis nach dem naturwissenschaftlichen Modell orientierter Methodologie auseinanderzusetzen und ihr gegenüber zu rechtfertigen. In einigen sozial- bzw. kulturwissenschaftlichen Nachbardisziplinen verhält sich das durchaus anders: Ethnologie, Pädagogik, Kommunikationswissenschaft, Soziologie u.a. sind in dieser Hinsicht toleranter und pluralistischer aufgestellt, dort ist aktuell eine lebhafte Diskussion und Entwicklung qualitativer Forschungskonzepte und Methoden zu beobachten. Das Zustandekommen des lokal-historischen Profils eines disziplinär konfigurierten Mischungsverhältnisses praktizierter Methodologien ergibt sich jeweils aus einem vielschichtigen Gefüge erkenntnistheoretisch-philosophischer Traditionen, fachspezifischer Gegenstandsauffassungen, nationaler bzw. lokaler (Vor-) Geschichten und Profilierungen, (gesellschafts-) politischer Bewegungen, (trans-) disziplinärer Vernetzungen und Rezeptionszirkel. Jede Darstellung des wissenschaftstheoretischen Hintergrunds qualitativer Methodologie und Methoden bewegt sich in einem solchen Kontext und ist von hierher in ihren Selektionen und Fokussierungen geprägt. So steht die folgende Präsentation vor einer Landschaft der Mainstream-Psychologie an deutschsprachigen Universitäten, die sich – nicht allzu vergröbernd ausgedrückt – durch eine nomothetisch-naturwissenschaftliche

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Franz Breuer

Grundausrichtung sowie durch Ignoranz und Verdrängung hermeneutisch-qualitativer Denkweisen und Methoden auszeichnet. Wissenschaftliches Wissen hebt sich – so die verbreitete Ansicht – durch einen besonderen Erkenntnisanspruch aus profaneren Wissenssorten heraus. Für die Wissenschaftstheorie des 20. Jahrhunderts, soweit sie die empirischen Wissenschaften betraf und in der Diskussion in der Psychologie eine Rolle gespielt hat, war die Frage wesentlich: Wie muss Wissenschaft bzw. wissenschaftliche Forschung (auf-) gebaut sein, um Erkenntnisgewissheit zu gewährleisten? Dieser Gedankenweg läuft auf eine präskriptive Methodologie hinaus – auf Richtlinien, wie die Systematik von Aussagegefügen aus theoretischen und empirischen Sätzen ohne logische Schwachstellen und Widersprüche konfiguriert werden kann. Hier spielten und spielen häufig Wissenschaftslehren eine Rolle, die mit Verweis auf ihre philosophischen Vorläufer als (neo-)positivistisch und wegen ihrer Ausrichtung auf Natur-/Gesetzeserkenntnis als nomothetisch gekennzeichnet werden. Dabei geht es um Möglichkeiten des Wahrheitsnachweises von Allgemeinaussagen (Gesetzen, Theorien) durch (logisch stimmiges) In-Beziehung-Setzen mit spezifischen Sachverhalten oder Ereignissen. Ging man in der Lehre des Logischen Empirismus noch davon aus, durch oftmaliges Aufweisen bestimmter empirischer Phänomene eine theoretische Verallgemeinerungsaussage (induktiv) rechtfertigen zu können, so verwarf der Kritische Rationalismus (Gründer und Hauptvertreter: Karl R. Popper; vgl. 1973 [1934]) diese Zielsetzung aus forschungslogischen Gründen und ging stattdessen nur noch von der Möglichkeit eines Falschheits-Nachweises (der „Falsifikation“) von Allgemeinaussagen bei Vorliegen widersprechender empirischer Befunde aus. Auf dieser Ideenbasis wurde eine Methodologie „kritischer Prüfung“ von Hypothesen durch die Konfrontation mit Daten entwickelt. Diese stellt vom Prinzip her auch die Grundlage für das in psychologischer Forschung übliche statistische Hypothesentesten dar. Seit den 1970er Jahren ist diese Sichtweise vielfältig in Zweifel gezogen worden. Eine beunruhigende Feststellung war, dass „erfolgreiche“ Wissenschaft offensichtlich nicht so funktioniert, wie es sich die Vertreter/innen der Popper-Schule vorstellten. Ihrer normativ ausgerichteten Auffassung von Wissenschaftstheorie wurde eine deskriptiv-analytische Perspektive entgegengesetzt, die sich vor allem auf historische Studien wissenschaftlicher Theorienentwicklung stützte. Dabei spielte das Buch Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen von Thomas Kuhn (1967 [1962]) eine wesentliche Rolle. Durch den veränderten Blick kamen u.a. wissenschaftssoziologische Untersuchungen realer Forschungsabläufe ins Spiel (Latour, Woolgar, Knorr-Cetina u.a.; vgl. Felt, Nowotny & Taschwer 1995, S.134ff.). Nun taten sich immer mehr Beispiele und Argumente auf, die die unter empirisch forschenden Wissenschaftler/innen populäre Falsifikationsmethodologie als irreführende Idealisierung erscheinen ließen. Es kam zu einer Reihe von Neuentwürfen des Theorie-EmpirieVerhältnisses, bei denen versucht wurde, realistischer mit der Frage ihres Abgleichens umzugehen (vgl. Breuer 1991, S.175ff.). Die erkenntnistheoretische Diskussion zum Ausgang des 20. Jahrhunderts wandte sich verstärkt der Position des erkennenden Subjekts zu: Welche Rolle spielt der/die Forschende als biologisches, personales, sozial und kulturell geprägtes Wesen? In konstruktivistisch ausgerichteten Ansätzen unterschiedlicher Spielarten wurden Lösungen für diese Fragen entworfen (philosophische, linguistische, soziologische, psychologische Varianten; vgl. Knorr-Cetina 1989; Gergen 2002; Hirschauer 2003): Die Erschaffung des Gegenstands im kognitiven System, im sozialen Diskurs, durch den forschungsmethodischen Zugriff wurde

Wissenschaftstheoretische Grundlagen qualitativer Methodik in der Psychologie

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nun in den Mittelpunkt gerückt (Breuer 1999, 2005), wodurch das komplexe Verhältnis von Forschungsobjekt, Forschungssubjekt und Forschungsprozess eine neue Austarierung erfuhr (vgl. Mruck 1999). Im Mainstream der Psychologie erstarben – nach einigen Jahren relativ lebhaften Interesses – die wissenschaftstheoretischen Diskussionen in den 1990er Jahren, und im Gefolge verloren solche Themen auch ihren Stellenwert in den Fachcurricula. Psycholog/innen, die sich mit überdauerndem Engagement Fragen sozialwissenschaftlicher Erkenntnistheorie widmeten und einschlägige Diskussionen aus den benachbarten Sozial- und Kulturwissenschaften zu importieren versuchten, wurden vom harten Kern der universitären Mainstream-Psychologiegemeinde marginalisiert: In den Lehrbüchern fanden sie sich in die Abteilung „Geschichte“ umsortiert. Und ähnlich ambitionierter Nachwuchs hatte (und hat) kaum eine Chance. Die heutigen Voraussetzungen, um in einer Laufbahn der akademischen Psychologie voranzukommen, kennzeichnet der namhafte US-Psychologe Kenneth Gergen in einem Interview (mit Mattes & Schraube 2004, Abs. 16) so: „[...] fast der einzige Weg dahin führt noch immer über die alten engen Pfade: experimentelle Arbeiten veröffentlichen oder untergehen. Wer das Wissenschaftsverständnis des Faches in Frage stellt und andere Denk- und Forschungsweisen entdecken möchte, gefährdet sein berufliches Weiterkommen.“

2

Charakteristika qualitativer Methodenkonzeptionen

„Sozialwissenschaftlich-qualitative Methodik“ ist ein Sammelbegriff für eine Vielzahl methodologischer Denkformen, Forschungsstile und Instrumentarien. Solche Konzeptionen wurden in verschiedenen Disziplinen hervorgebracht – u.a. in der Psychologie (vgl. Breuer 1996; Mruck, Bergold, Breuer & Legewie 2000; Breuer, Mruck & Ratner 2000; Camic, Rhodes & Yardley 2007; Willig & Stainton-Rogers 2008). Bei der Ausdifferenzierung spielen zudem unterschiedliche theoretische Traditionen sowie nationale Besonderheiten mit hinein (vgl. Kleining 1995; Hitzler & Honer 1997; Fahrenberg 2002; Hitzler 2007). Wenn im Folgenden von wissenschaftstheoretischen Grundlagen der qualitativen Methoden die Rede ist, handelt es sich also um eine idealisierende Verallgemeinerung. Dennoch werden in Überblicksdarstellungen gewisse paradigmatische Gemeinsamkeiten qualitativer Forschungskonzeptionen unterstellt, allerdings unterschiedlich spezifiziert (vgl. etwa Flick, von Kardorff & Steinke 2000; Lamnek 2005; Mruck & Mey 2005). Unter wissenschaftstheoretischem Blickwinkel möchte ich hier die folgenden verbindenden Grundelemente herausstellen und anschließend einige Aspekte vertiefend behandeln: !

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Das Forschungsinteresse, das einem qualitativen Forschungsstil zugrunde liegt, richtet sich auf „natürliche“ – besser: alltags- bzw. lebensweltliche – Phänomene, Probleme und Prozesse sowie deren Ausdruck in den Sichtweisen, Aushandlungs- und Präsentationsformen der involvierten Akteure. Die Datenerhebung erfolgt üblicherweise durch (teilnehmende) Feldbeobachtungen, Gespräche bzw. Interviews mit Feldakteuren sowie über autonome Produktionen des

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Feldes (sog. „nichtreaktive“ Datenquellen: [Re-] Präsentationen im Internet, Akten, Umweltgestaltung, Bilder etc.). So gewonnene Daten werden auf dem Weg über eine technische (Audio- oder Video-) Aufzeichnung textförmig (als Transkripte, Protokolle u.Ä.) dokumentiert. Diese Texte stellen die Basis für die Auswertungsarbeit dar. Die Auswertung der Daten (Kodierung, Interpretation, Modellbildung) setzt aufseiten der Forschenden bestimmte Kompetenzen voraus, die in alltagsweltlicher Sozialisation und der persönlichen Lebensgeschichte erworben worden sind: interpersonal-kommunikatives „Verstehen“. Im Rahmen ihrer wissenschaftlichen Verwendung sollen diese Fähigkeiten nicht – wie im alltagsweltlichen Gebrauch üblich – quasi automatisch und zumeist ohne Selbstaufmerksamkeit, sondern (möglichst weitgehend) in bewusster Fokussierung und mit (selbst-) reflexiver Haltung eingesetzt werden. Sie werden im Rahmen eines methodologischen Regelwerks expliziert und ausgebaut. Die verwendeten Prozeduren werden als sozialwissenschaftliche Hermeneutik bezeichnet. Ein Merkmal des qualitativen Forschungsstils ist die Intention des Entdeckens von theoretisch Neuem. Ausgehend von bestimmten empirischen Phänomenen wird nach Abstraktionen und Verallgemeinerungen (Konzepten, Typen, Strukturen etc.) gesucht. Qualitative Methoden besitzen den Charakter einer Heuristik: Es geht um das (Er-) Finden bisher noch unbekannter oder unausgearbeiteter Ideen. Daher wird diesen Forschungsansätzen zumeist die Eigenschaft theoretischer Offenheit (bzw. das Bemühen darum) zugeschrieben. Die Überzeugung, dass die Person des/der Forschenden sowie die Interaktion zwischen Forschenden und Forschungspartner/innen im gesamten Forschungsprozess eine wichtige erkenntnisbezogene Rolle spielen und methodischer Aufmerksamkeit und Berücksichtigung bedürfen, ist ein Kennzeichen vieler Ansätze qualitativer Sozialforschung. Die Fokussierungen der Forschenden in Bezug auf ihren Forschungsgegenstand (Neugier, persönliche Berührung und Verquickung etc.) können in Zusammenhang mit ihren Präkonzepten und individuellen Neigungen stehen. Die Person des/der Forschenden besitzt im Kontakt mit dem Gegenstand und den Akteuren im Untersuchungsfeld bestimmte „Reizwerte“, die die Interaktion beeinflussen. Der/die Forschende ist dort präsent und wirkt. Zur Programmatik qualitativer Methodik gehört es, solche Charakteristika zu thematisieren und sie von einer Störgröße zu einer produktiven Erkenntnisgelegenheit umzudeuten. In Ansätzen qualitativ-methodischer Ausrichtung beschäftigt man sich häufig mit den (Vor-) Annahmen bezüglich der Charakteristik des Gegenstands. Im Rahmen sozialwissenschaftlicher Humanforschung geht es dabei um das Menschenbild, das in einer Forschungskonzeption zustande kommt. Mit der Wahl einer Methodik sind Selektionen und Fokussierungen von Gegenstandsmerkmalen verknüpft: Worauf kommt es (uns) an? Ein Gegenstandsmodell, ein Bild der anderen wird entworfen.

Qualitative Methoden als Entdeckungsverfahren

Die Methodenlehre des Kritischen Rationalismus geht von der Idee einer Prüfung vorgegebener Theorien aus. Sie stützt sich dabei auf die logische Argumentationsfigur der Deduktion, die Erkenntnisgewissheit verspricht: Ausgehend von Allgemeinaussagen (Theorien, Hypothesen) werden spezifische Vermutungen abgeleitet („deduziert“) und mit empiri-

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schen Daten (bzw. „Basissätzen“) verglichen. Wie man sich das Erfinden und Entwickeln von Theorien vorzustellen hat, spielt in dieser Konzeption eine ganz untergeordnete Rolle. In dieser Hinsicht ist die sozialwissenschaftlich-qualitative Methodologie anders aufgestellt. Der Aspekt der Entdeckung besitzt zumeist Vorrang gegenüber der Idee der Theorienprüfung. Die einzelnen Schulen und Verfahren unterscheiden sich allerdings darin, inwieweit sie eine elaborierte Methodologie bereithalten, die sowohl auf das Zustandekommen wie auf die Prüfung und Absicherung von Theorien ausgerichtet ist. Den Ausgangspunkt der Theorieentwicklung stellen in der Regel in alltagsweltlichen Kontexten hervorgebrachte Daten dar, die Forschende für interessant erachten. Auf dieser Basis geht es dann darum, zu Verallgemeinerungen bzw. zu theoretischen Konzepten zu gelangen. Die Denkfigur, die dabei zur Anwendung kommt, ist die der Transzendenz des Besonderen/Empirischen hin zum Allgemeinen/Theoretischen. Derartige Schlussfolgerungen werden häufig mit dem Begriff Induktion gekennzeichnet: Die Geschehensbeobachtung in einem Einzelfall lässt Wissenschaftler/innen vermuten, es könnte sich in einem nächsten Fall genau so verhalten, in einem übernächsten ebenfalls – und noch einige Zeit so weiter. Und in diesem Prozess würde die Schlussfolgerung zur Gewissheit: In allen Fällen verhält es sich in der festgestellten Weise. Eine Wiederkehr von Konstellationen beobachteter Phänomene kann jedoch, wie sich in der wissenschaftstheoretischen Debatte herausstellte, lediglich als psychologischer Anstoß für eine Regelhaftigkeitserwartung verstanden werden; eine logisch-argumentativ untermauerte Begründung bzw. Gewissheit kommt so nicht zustande. Theoretische Erfindungen, die in solchen Kontexten hervorgebracht werden, sind jedoch selten von der Art der skizzierten linearen Fortschreibung von Ereignisketten in die Zukunft. Vielmehr handelt es sich um komplexere gedankliche Vorgänge, die kreative Anteile besitzen. Diese Art von „Erfindungskunst“ wird auch als Heuristik bezeichnet. Einige Theoretiker/innen des qualitativ-sozialwissenschaftlichen Methodenansatzes stellen gerade dessen Rolle und Bedeutung für die Theoriegenese, seine heuristische Komponente, in den Vordergrund (etwa Kleining 1995 und in diesem Band). Die gedankliche Figur der Entdeckung des Neuen wird auch mit dem Begriff der Abduktion gekennzeichnet, und es wird eine eigenständige logische Abduktions-Figur in Abgrenzung von Induktion und Deduktion unterstellt. Das Konzept wird bei der Entfaltung der wissenschaftstheoretischen Grundlagen qualitativer Methoden vermehrt ins Spiel gebracht (vgl. Reichertz 2003). Kurz und einfach gesagt geht es dabei darum, aus vorhandenen empirischen Daten sowohl einen theoretischen Kode (eine Kategorie, einen Begriff) wie eine Regel (einen gesetzesartigen Erklärungszusammenhang) für ihr Zustandekommen zu generieren. Es ist unstrittig, dass es sich dabei nicht um eine beweiskräftige logische Ableitung, sondern um einen hinsichtlich des Wahrheitswerts riskanten Entwurf handelt, bei dessen Zustandekommen Kreativität erforderlich ist und auch der Zufall eine Rolle spielt. Der heuristische Aspekt qualitativer Methodik wird von Vertreter/innen einer auf Theorieprüfung ausgerichteten Orientierung zumindest in Grenzen wertgeschätzt, weil hier angeleitete Verfahren für die Gewinnung neuartiger Hypothesen in Aussicht stehen. Qualitative (Entdeckungs-) Methoden stellen unter diesem Blickwinkel allerdings lediglich ein Propädeutikum „eigentlicher“ Wissenschaft dar – zwar kreativ, aber ohne Prüf-Siegel der Resultate. In der Sicht der Vertreter/innen qualitativer Methodologie spricht vom Prinzip her nichts dagegen, ihre Methodik gemeinsam und koordiniert mit quantitativen Verfahren

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zu verwenden. Dazu sind jedoch Untersuchungsdesigns erforderlich, bei denen beide Konzeptionen in ein rechtfertigungsbedürftiges Verhältnis zu bringen sind, wobei Propädeutik nur eine unter mehreren Möglichkeiten ist. In jüngerer Zeit wurden unter dem Stichwort Mixed Methods entsprechende integrative Modellvarianten ausgearbeitet (s. Schreier & Oda! in diesem Band). Ein anderes Argument gegen die Tragfähigkeit des Induktionsgedankens im Rahmen wissenschaftlicher Begründungszwecke ist auch für die Entdeckungskomponente qualitativer Methodik von Bedeutung: „Reine“ Induktion ohne jegliche Voraussetzung erscheint unmöglich. Jede Form menschlichen Erkennens muss von bestimmten Präformationen unseres Wahrnehmungsinstrumentariums und -hintergrundes (Sinnesausstattung, begriffliche Vorprägungen, Vorerfahrungen etc.) ausgehen. Insofern ist Erkenntnis auf apriorische Strukturen angewiesen. In qualitativ-methodischen Forschungsansätzen wird – in gewissem Gegensatz dazu – das Postulat der theoretischen Offenheit vertreten: Ohne vorformulierte Hypothesen o.Ä. soll an ein Forschungsgebiet herangegangen werden. In dieser Hinsicht kann sinnvollerweise allerdings nicht von „absoluter“, sondern nur von einer „relativen“ und – im idealen Fall – von einer reflektierten Offenheit gesprochen werden: Es ist nötig – und darin besteht eine gewisse Paradoxie –, dass Forschende sich um die Explikation und Aufklärung ihrer Erkenntnisvoraussetzungen bemühen, um diese im Forschungsprozess anschließend zu hinterfragen (zu „befremden“, „einzuklammern“), was bei entsprechender selbstbezüglicher Reflexion in Grenzen gelingen mag (vgl. Amann & Hirschauer 1997). Dies bleibt jedoch stets eine problematische und prekäre Prämisse.

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Qualitative Methoden als Interpretationsverfahren

Die Schnittstelle zwischen der Welt der Ideen und der Welt der beobachtbaren bzw. messbaren Gegenstände – methodologisch ausgedrückt: zwischen Theorien und Daten – ist eines der Grundprobleme der Erkenntnistheorie. Im neopositivistisch-nomothetischen Diskurs des 20. Jahrhunderts wurde dieses Thema als Zwei-Sprachen-Problem behandelt: In wissenschaftlichen Aussagensystemen sollte möglichst eindeutig zwischen einer sogenannten Beobachtungssprache und einer theoretischen Sprache unterschieden werden. Es wurden vielerlei methodologische Anstrengungen unternommen, die Kluft zwischen den beiden Sprachstufen durch Zuordnungs- bzw. Korrespondenzregeln zu überbrücken. Prototypisch geschieht dies bei der „empirischen Interpretation“ von Konstrukten durch ihre Verknüpfung mit Beobachtungs- bzw. Mess-Operationen („Operationalisierungen“). Diese Vorstellung beinhaltet mancherlei Komplikationen, durch die die Eindeutigkeit der Prüfung von Geltungsbehauptungen in Frage gestellt wird (Breuer 1991, S.114ff.). Als Problem stellte sich u.a. die Konzeption einer „reinen“ Beobachtungssprache heraus: Auch derartige Aussagengebilde kommen nicht ohne „sprachliche Universalien“, ohne Ausdrücke mit theoretischem Gehalt aus. So dass die Unterscheidung der beiden Ebenen gar nicht absolut durchzuhalten ist, sondern – gewissermaßen als Hilfslösung – relativiert auf den Kontext einer spezifischen Theorie getroffen werden muss (vgl. Breuer 1991, S.36f.; Groeben 1986, S.67ff.). Wir begegnen hier dem epistemologischen Fundamentalproblem, dass beim menschlichen Wahrnehmen alle „Perzepte“ in bereits (durch Sinnesmodalitäten, Wahrnehmungsschemata, begriffliche Konzepte, gedankliche Rahmungen etc.) kodierter Weise vorliegen.

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Wir erkennen niemals „Dinge an sich“, sondern stets „Dinge für uns“. Und wenn es um die wissenschaftliche Erkenntnis der sozialen Welt geht, werden die Verhältnisse noch voraussetzungsbeladener. In ihren alltags- und lebensweltlichen Erscheinungsweisen haben wir es dann bereits mit Deutungsvorgängen der reflexiven Mitspielenden aus Subkulturen und „Sinnprovinzen“ zu tun: Die Daten sind wesentlich geprägt durch die Bedeutungszuschreibungen der Kontext-Akteure (sog. „Interpretationen erster Ordnung“). Als Forschende können wir uns ohne (i.w.S.) theoretische Voraussetzungen, die (auch) an eigene (sub-) kulturelle Erfahrungen gebunden sind, in solchen Situationen gar nicht zurecht finden – wir wären gewissermaßen „seelenblind“. Und erst recht könnten wir ohne (reflektierten) Gebrauch derartiger Präkonzepte kein sozialwissenschaftliches Verständnis („Interpretationen zweiter Ordnung“) zustande bringen. Der qualitativ-methodischen Forschungskonzeption liegt die Erkenntnisfigur der Hermeneutik bzw. des sog. hermeneutischen Zirkels (besser: der hermeneutischen Spiralbewegung) zugrunde, bei der die subjektseitigen Voraussetzungen des Erkenntnisprozesses fokussiert und methodisch bearbeitbar gemacht werden (Kurt 2004; Sichler in diesem Band). Es wird hier davon ausgegangen, dass jeder Wahrnehmungs- und Verstehensakt ein Vorverständnis voraussetzt, das ein Erkennen erst ermöglicht, dieses aber auch einschränkt und begrenzt. Durch Kontakt mit der sozialen Wirklichkeit kommen wir zu Erfahrungen und Daten, die wir in bestimmter Weise interpretieren und die wir in die Vorverständnis-Basis integrieren, wobei diese verändert wird. Einen nächsten Erkenntnisakt vollziehen wir dann auf der Grundlage des modifizierten (Vor-) Verständnisses – und spiralhaft so weiter. Mit dieser Sichtweise ist das methodologische Postulat verbunden, die reflexive Aufmerksamkeit nach zwei Seiten hin auszurichten: auf die Welt dort draußen, das intentionale Gegenstandsgebiet, die inhaltliche Forschungsfrage – sowie auf die Welt hier drinnen, die subjektseitigen, persönlichen Erkenntnisvoraussetzungen, deren Konstitution und Wandel. Hermeneutik wird mitunter als Interpretationskunst bezeichnet. Darin liegt eins ihrer methodologischen Probleme: Die Kunstfertigkeit bzw. eine entsprechende Begabung sind nicht allen Ausübenden in gleicher Weise gegeben, und die Möglichkeiten ihrer Kodifizierung in Regelwerken sind beschränkt. Heilige Schriften, lyrische Texte und alltagsweltlichinteraktives Handeln zu verstehen und zu deuten, erfordert eine gewisse Sensitivität und Expertise. Zudem ist nicht zu gewährleisten, dass es stets nur ein „richtiges“ Verständnis eines Text- oder Handlungssegments gibt oder dass die Interpretierenden sich auf ein solches einigen können. Allen Ansätzen sozialwissenschaftlicher Hermeneutik ist die Annahme gemeinsam, dass derartige Interpretationen sozial-kulturell einsozialisierte Verstehensfähigkeiten voraussetzen. Die elaborative Transzendenz dieser alltagsweltlichen Elementarkompetenz fällt in den Schulen allerdings unterschiedlich aus – sie reicht von einer intensiven Einübung mit hohen Selbstreflexions-Anteilen unter der Mentorschaft eines „Meisters“ (Prototyp: eine „Lehranalyse“) über die gemeinsame Reflexion in einer Gruppe von Mitforschenden („Forschungswerkstatt“) bis zum allgemein bleibenden Selbstreflexions-Appell (s. Breuer & Schreier in diesem Band). Der Vorgang qualitativ-methodischer Auswertung bzw. Interpretation textförmiger Dokumente sozialer Phänomene bzw. Ereignisse (v.a. Gesprächstranskripte und Beobachtungsprotokolle) wird üblicherweise als Kodieren bezeichnet. Beim Kodieren werden Textausschnitten (unterschiedlicher Größenordnung) bestimmte (Be-) Deutungen zugeschrieben, die für das Untersuchungsthema und den theoretischen Zugriff (potenziell) relevant sind. Diese Bedeutungsverleihung geschieht durch die Koppelung mit begrifflichen Kon-

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zepten. Welche Fokussierungen von Gegenstandscharakteristika und welche Begrifflichkeiten dabei zustande kommen, hängt auch von den theoretischen Hintergründen und Vorgaben sowie den Themeninteressen der Kodierenden ab. Bei einigen methodischen Prozeduren kann das Inventar der Kodes/Kategorien bereits vorgängig eingegrenzt sein (etwa bei bestimmten Formen von Inhaltsanalyse), bei anderen entwickeln sich die Kodes/Kategorien im interaktiven Prozess zwischen Forschenden und Daten (Prototyp: Grounded TheoryMethodik und deren „Emergenzprinzip“; s. Mey & Mruck in diesem Band). Die Glaubwürdigkeits-Absicherung derartig zustande kommender Kodierungen kann auf unterschiedlichen Wegen geschehen. Verbreitet ist die Praxis, die Deutungsprozeduren durch mehrere Kodierer/innen parallel – sei es je für sich oder im kommunikativen Austausch in Gruppen – vornehmen zu lassen und die Resultate zu vergleichen. Die CoKodierenden können geschulte Hilfspersonen oder Mitglieder der Forschungsgruppe sein, es kann sich u.U. auch um Untersuchungspartner/innen aus dem Forschungsfeld handeln. In diesem Zusammenhang können die Konzepte Triangulation (s. Flick in diesem Band) und kommunikative Validierung (s. Scheele & Groeben in diesem Band) ihren Stellenwert besitzen. Verschieden sind allerdings die Interpretationsmöglichkeiten von Divergenzen in den Kodierer/innenurteilen: Die Unterschiede lassen sich als Mangel an Objektivität bzw. Reliabilität auffassen, aber auch als Hinweise auf differentielle Verstehensperspektiven, die themen- und theoriebezogen weiter exploriert werden können (vgl. Breuer 1999). Eine Absicherung von Interpretationen bzw. Kodierungen ist auch dadurch möglich, dass die begrifflichen Konzepte, die auf die skizzierte Weise hervorgebracht werden, in ein theoretisches Modell eingeordnet werden und in dem so gestifteten Gesamtzusammenhang ihre Passung und Stimmigkeit erweisen. Ganz grundsätzlich bleibt bei dieser methodologischen Konzeption eine Ungewissheit: Die finale, abschließende Deutung eines sozialen Sachverhalts oder Ereignisses (bzw. der entsprechenden Daten) gibt es nicht. Stets haben wir es mit Lesarten zu tun, die an Verstehenshorizonte von Beteiligten und Beobachter/innen gebunden sind. Diese können unauflöslich divergent ausfallen, und sie können sich – mit unterschiedlichen Zeitdistanzen, im Lichte eines veränderten Interpretationshintergrunds – wandeln.

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Subjektivität, Perspektivität und Interaktivität sozialwissenschaftlicher Forschung

Die methodologische Berücksichtigung der Rolle der Forschenden im Erkenntnisprozess sowie der interaktiven Konstellation und Dynamik der Untersuchungssituation sind Anliegen, die in qualitativ-methodischen Konzeptionen – mehr oder weniger elaboriert und exponiert – herausgehoben werden. Lässt man sich vom nomothetischen Wissenschaftsideal leiten, stellt die Idee objektiver Erkenntnis eine Zielvorstellung dar: Wissenschaftliche Erkenntnis soll unabhängig von der Person sein, die dieses Wissen besitzt oder hervorbringt. Erkenntnis-Protagonist/innen treten unter dieser Voraussetzung nicht als Individuen mit Eigenschaften und Besonderheiten auf, sondern sie müssen als Non-Personen agieren oder sich im Idealfall in der Erhebungssituation unsichtbar machen. In qualitativen Methodologien wird dieser Auffassung eine Programmatik gegenüber gestellt, bei der der Person des/der Forschenden sowie der Interaktion zwischen Forschenden und Untersuchungspartner/innen konstitutive Bedeutung

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dafür zugeschrieben wird, wie sich der Erkenntnisprozess vollzieht und was dabei heraus kommt. Die Rolle und der Einfluss der Forschenden wird nicht schamhaft als (zu kontrollierende) Störgröße behandelt, sondern offensiv auf die Vorderbühne gestellt. Als zentrale erkenntnistheoretische Konzepte kommen die der Subjektivität und der Perspektive ins Spiel: Alle menschliche Erkenntnis (in alltagsweltlichen wie in wissenschaftlichen Zusammenhängen) ist durch Vorprägungen, Standpunkte, Eingebundenheiten etc. der erkennenden Person bedingt – sie wird von einer spezifischen Erkenntnisstruktur hervorgebracht und ist daher unaufhebbar perspektivisch (Breuer 1989, 2003). Erkenntnistheoretisch mag man diese Tatsache bedauern, stellt sie doch eine Verletzung unseres Gewissheitsbedürfnisses dar. In Konzeptionen qualitativer Methodenlehre hat man sich häufig von der Idee des einen privilegierten Zugangs zur wahrheitsgemäßen Abbildung der Realität verabschiedet. Stattdessen wird die Auffassung vertreten, dass es grundsätzlich von Interesse ist, gegenstandsbezogene Beschreibungen von verschiedenen (Beteiligten-) Standpunkten aus einzuholen und die zustande kommenden Varianten zueinander ins Verhältnis zu setzen. Aus ihrem Vergleich, gerade auch aus ihren Differenzen und ihrer Vielstimmigkeit, lassen sich Erkenntnisse über den fokussierten Gegenstand wie auch über die besonderen Strukturcharakteristika und Standpunkte der Auskunft gebenden Untersuchungspartner/innen gewinnen. In einer Reihe erkenntnistheoretischer und methodologischer Schulen unterschiedlicher (Fach-) Richtungen (Konstruktivismus, Diskurstheorie, Semiotik u.a.; vgl. etwa die Übersichten bei Gergen 2002; Zielke 2004) wird die Bereitschaft unterstützt, aus heterogenen Darstellungen von Welt und Weltausschnitten einen Wissensgewinn zu ziehen. Alle diese Rahmenkonzeptionen unterstellen die epistemologische Interessantheit eines Spektrums von (Re-) Präsentationen und deren kommunikativer und dynamischer (Be-) Deutungskonstitution sowie die damit einhergehende Aussicht auf theoretischen (Tiefen-) Gewinn – ohne dass ein Vereinheitlichungs- und Stillstellungszwang ausgeübt wird. Zudem spielt hier die Tatsache eine wesentliche Rolle, dass es sich bei sozialwissenschaftlichen Forschungssituationen um Formen leibhaftiger interpersonaler Begegnung bzw. sozialer Interaktion zwischen Forschenden und beforschten Untersuchungspartner/innen handelt. Personen und ihr Handeln üben in der Begegnung differentielle Wirkungen aus, sie berühren und beeindrucken sich wechselseitig. Georges Devereux (1984 [1967]) ist ein grundlegender Theoretiker eines solchen Forschungsverständnisses, der seine innovative methodologische Konzeptionalisierung auf einem psychoanalytischen Theoriehintergrund entworfen hat. Bezogen auf die interpersonale Konstellation sozialwissenschaftlicher Untersuchungssituationen (zwischen dem „Objekt“ und dem „Beobachter“) unterscheidet er drei Ebenen, auf denen die zustande gekommenen bzw. erfassten Daten betrachtet werden können: „1. Das Verhalten des Objekts. 2. Die ‚Störungen‘, die durch die Existenz und die Tätigkeit des Beobachters hervorgerufen werden. 3. Das Verhalten des Beobachters: seine Ängste, seine Abwehrmanöver, seine Forschungsstrategien, seine ‚Entscheidungen‘ (d.h. die Bedeutung, die er seinen Beobachtungen zuschreibt)“ (Devereux 1984, S.20).

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Das Originelle an der Konzeption ist, dass Devereux die Aspekte (2) und (3) gegenüber der vom wissenschaftlichen Blick üblicherweise fokussierten Ebene (1) aufwertet und für die Erkenntnisbildung in den Vordergrund stellt. Aspekt 2 bezieht sich auf die häufig auch als „reaktive Effekte“ bezeichneten Phänomene aus der Interaktion zwischen Forschenden und Beforschten: Die soziale Situation in einem Untersuchungsfeld wird durch das Hinzutreten fremder Beobachter/innen verändert, die (Beobachtungs- und/oder Gesprächs-) Interaktion zwischen den Protagonist/innen wird von den Eigenschaften und Handlungsweisen der Forschenden beeinflusst. Die Untersuchungspartner/innen reagieren auf den Reizwert der Forschenden – auf der Basis einer (Be-) Deutung(-sverleihung) (etwa hinsichtlich Geschlecht, Alter, Status, Rolle, Habitus etc.). Eine reflexive Analyse des so fokussierten interaktiven (Re-) Agierens der Beteiligten in der Forschungssituation vermag gegenstandsbezogene Erkenntnisse zutage zu bringen, die aus dem Verhalten des Objekts allein (etwa aus expliziten Auskünften in einem Interview) u.U. nicht zu entnehmen sind. Ebene 3 kommt als Gesichtspunkt – gemessen am methodologischen Standardverständnis – noch ungewöhnlicher daher: Die „Resonanzen“ (i.w.S.) aufseiten der Forschenden (Appetenzen, emotionale Reaktionen, lebensgeschichtliche Beziehungs-Reinszenierungen u.Ä.) sowie damit zusammenhängende (methodische) Entscheidungen können als nützliche Informationsquellen in Bezug auf den Forschungsgegenstand angesehen werden. Wenn Forschende diesbezüglich angemessen sensibel, selbstaufmerksam und verständnissinnig persönlich-idiosynkratische Reaktionen aus dem Kontakt mit dem Forschungsgegenstand (Thema, Personen, Ereignisse, Phänomene) in den Blick nehmen können, lassen sich diese als Auslösungen des Untersuchungsobjekts „am eigenen Körper“ lesen und für eine Themenaufklärung nutzen. Derartige Resonanzen werden in Analogie zur Idee der „Gegenübertragung“ aus der psychoanalytischen Behandlungslehre fokussiert und ausgeleuchtet. Den so aufkommenden Ideen und Assoziationen kann durch weitere bzw. andere explorative Maßnahmen und Verfahren nachgegangen werden. In einer Reihe von Ansätzen wird versucht, diesen Grundgedanken der Reflexivität der Forschenden methodisch zu nutzen. Hier geht es um eine im wissenschaftlichen Erkenntnisprozess mitlaufende selbstbezügliche Aufmerksamkeit und deren theoretische Umsetzung. Der Reflexivitäts-Begriff ist dabei durchaus mehrdeutig und wird hinsichtlich seiner Rolle in der sozialwissenschaftlichen Forschung unterschiedlich eingeordnet (vgl. Langenohl 2009). Wir haben eine Konkretisierungsdimension vorgeschlagen (Lettau & Breuer 2007), deren eines Ende durch subjektseitige Bedingungen gekennzeichnet ist, die sich aus der Mitgliedschaft bzw. Verwobenheit in Gesellschaft, (Sub-) Kultur, Sprache, Geschichte, Denkweise ergeben; das andere Ende ist durch das Eigene in Gestalt des Privaten, Intimen, Biografischen, Familiären etc. gekennzeichnet. Im Prozess und Handlungskontext wissenschaftlicher Forschung lässt sich – etwa hinsichtlich der Methodenwahl, der Gestaltung der Interaktion mit den Untersuchungspartner/innen und der „Berührung“ durch das Forschungsthema – (selbst-) reflexive Aufklärung in beide Ausprägungsrichtungen anstellen (vgl. auch Leithäuser & Volmerg 1988). Die konkreten Umsetzungsversuche dieser Konzeptionen sind durch Offenheit und Entwicklung gekennzeichnet – und die Vorgehensweisen werden wohl immer eine stark person- und projektbezogene Note behalten (Breuer 2003). Bei Finlay und Gough (2003) finden sich Erfahrungsberichte aus Projekten unterschiedlicher Disziplinen, die mit dieser Idee operieren. Einige Lehrbuchtexte psychologischer Provenienz sind einer so ausgerichte-

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ten Herangehensweise unter dem Gesichtspunkt der Anleitung und Begleitung reflexiver Forschungsaktivität gewidmet (Mruck & Mey 2007; Breuer 2009, S.115ff.). Der innovative Forschungsansatz der Autoethnografie (Ellis 2004; Chang 2008; s. Ellis, Adams & Bochner in diesem Band) erhebt die selbstreflexive Erkenntnisfigur zum konstitutiven methodologischen Prinzip und berührt dabei die Grenze zur literarisch-künstlerischen Produktion: Das eigene persönliche Erleben und Verarbeiten der Forschenden in „intimen“ lebensweltlichlebensgeschichtlichen Situationen und Kontexten wird in seinen Bezügen zu soziokulturellen Mustern beleuchtet.

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Qualitative Methodik und Gegenstandskonstitution

Forschungsmethodik liefert ein Wahrnehmungsraster, das darüber entscheidet, was vom Objekt der wissenschaftlichen Neugier in den Blick gerät, was für existent, wichtig, interessant etc. gehalten wird und was nicht. Mithilfe methodischer Instrumente wird der wissenschaftliche Erkenntnisgegenstand konstituiert und konstruiert. Der, die, das andere ist nicht unzweideutig (vor-) gegeben, sondern wird in der und für die wissenschaftliche Repräsentation per Methodik erschaffen (vgl. Geertz 1990; Berg & Fuchs 1993). Für die Humanwissenschaften bedeutet das: Es wird ein Menschenbild entworfen (vgl. Breuer 1999, 2005), und mit der Methodenwahl werden gewissen Festlegungen a priori getroffen: Besitzt der in der Forschung fokussierte Mensch ein kognitives und emotionales Innenleben? Verfügt er über einen freien Willen, über Kompetenzen der Welt- und Selbstdeutung? Hat er eine Seele? Oder zeigt er lediglich „Verhalten“? Im Rahmen qualitativer Methodologie ist in diesem Zusammenhang die Überlegung charakteristisch, die Wahl der Methode mit einer explizierten und theoretisch reflektierten Menschenbild-Vorstellung abzugleichen. Es wird das Prinzip der Gegenstandsangemessenheit der Methodenwahl herausgestellt. Mitunter wird dabei die Annahme einer Strukturgleichheit der anthropologischen Voraussetzungen aufseiten der Forschenden und ihres „Forschungsobjekts“ zum Maßstab gemacht (Holzkamp 1972; Groeben & Scheele 1977; Laucken 2003; s. Groeben & Scheele in diesem Band): Beide sind gleichermaßen menschliche Wesen mit bestimmten Kompetenzen – wie Sinndeutungs-, Selbstauskunfts-, Reflexionsfähigkeit und (potenziell) Rationalität. Dass sie im Forschungskontext die Position als Erkenntnissubjekt und Erkenntnisobjekt einnehmen, basiert auf einer Verabredung – die Rollen sind prinzipiell vertauschbar. Psychologische Untersuchungen können an diesem Maßstab gemessen werden: Wird die Strukturgleichheitsannahme im Forschungsdesign bzw. durch die Methodenapplikation berücksichtigt? Inwieweit repräsentieren Untersuchungsszenarien den Handlungsraum „natürlich“-alltagsweltlicher Situationen, für den eine Geltungsbehauptung aufgestellt wird? „Unterschreitungen“ dieses Prinzips sind im Rahmen psychologischer Forschungsarbeiten u.U. möglich und legitim – doch sind sie bezüglich der gegenstandsbezogenen Repräsentanz explikations- und begründungsbedürftig (Groeben 1986, S.336ff.). Von „Versuchspersonen“ im psychologischen Laborexperiment werden charakteristischerweise bestimmte Reaktionszeiten, elektrophysiologische Messwerte oder reizevozierte Verhaltensäußerungen registriert. „Untersuchungspartner/innen“ in qualitativ-sozialwissenschaftlichen Forschungsinteraktionen werden demgegenüber programmatisch für (selbst-) reflexiv und kommunikationstüchtig gehalten. Sie können Beschreibungen und Sinndeu-

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tungen erlebter sozialer Situationen, Interaktionen, Lebensgeschichten u.Ä. liefern. Qualitative Forschungsmethoden bieten und ergreifen oftmals die Möglichkeit, in den Forschungsarrangements Realisierungs- oder Entwicklungsspielräume für die Deutungs- und Reflexionsfähigkeiten der Untersuchungspartner/innen bereitzustellen. Auf diese Weise lassen sich u.U. deren Kompetenzen und Perspektiven erweitern bzw. entwickeln sowie (etwa als Expert/innenwissen) auch für die wissenschaftliche Theoriebildung nutzen. Es besteht die Möglichkeit, sie in stärkerem Maße partizipativ bzw. kooperativ in die wissenschaftliche Erkenntnisbildung einzubeziehen (s. auch Bergold & Thomas in diesem Band).

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Wandel der Epistemologien und der disziplinären Kultur

Methodische Entscheidungen können niemals auf eine einzige verbindliche Weise getroffen werden, und sie bleiben nicht auf lange oder gar ewige Dauer gültig. Hierfür spielen Gründe aus den gehobenen Sphären der Erkenntnistheorie sowie auch solche aus den Niederungen der praktischen Umstände und der institutionellen Kontextualisierung von Forschungsarbeit eine Rolle. Die einschlägig gefundenen Antworten wandeln sich im Laufe der Wissenschafts- und Disziplingeschichte. Mit Zeitgeist-Strömungen und theoretischen Moden, Varianten von Beurteilungs-/Evaluationskriterien, mit unterschiedlichen (wissenschafts-) politischen Rahmungen und Ausrichtungen, aufgrund der Entwicklung bzw. Verfügbarkeit bestimmter technologischer Instrumentarien und Verfahren verändern sich die Ansichten darüber, was methodisch angesagt, (un-) möglich, richtig und falsch ist. Die institutionelle Einbettung der Ausbildung von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern in spezifischen Fachrichtungen (ihre Lehrstuhlprofile, Curricula, Freiheitsgrade etc.) bahnt oder behindert methodenbezogene Vorlieben. Manche Disziplinen sind in dieser Hinsicht offener und pluralistischer eingestellt – andere Fachkulturen präsentieren sich dagegen hermetisch und dogmatisch. Diese Charakteristik ist an bestimmte Orte (z.B. Hochschultypen, Universitätsstandorte, Länder, Kontinente) und Zeitpunkte gebunden. Aus der prekären Lage der Psychologie hinsichtlich ihrer Gegenstandskonstitution und -verankerung zwischen Geistes- und Naturwissenschaft, zwischen Biologie, Wirtschafts-, Kultur- und Sozialwissenschaft ergeben sich in der Disziplingeschichte oftmals Brüche ihrer Identität und Kontinuität: Auf der Basis neuer Gegenstandszugänge (beispielsweise neuer Apparaturen und technologischer Verfahren) erwächst die Illusion, immer wieder ganz von vorn beginnen und nun den „wahren“ psychologischen Gesetzmäßigkeiten auf die Spur kommen zu können. Im Windschatten politisch-administrativer Neukalibrierungen des Ausbildungs- und Forschungswesens an Universitäten und Hochschulen erleben wir gegenwärtig in dieser Hinsicht einen geradezu kulturrevolutionären Umbruch der Disziplin. Das pluralistische Gegenstands- und Methodenverständnis, das die deutschsprachige Psychologie in der Vergangenheit zumeist ausgezeichnet hat, geht dabei verloren. Wir stehen vor der Gefahr einer intellektuellen Verarmung der Psychologie, einer Dezimierung ihrer theoretischen und methodologischen Vielfalt sowie des Verlusts ihres – produktiv zu deutenden – internen Spannungsverhältnisses als Wissenschaft, in deren traditionellem Verständnis sowohl die biologisch-physiologischen wie die sozial-kulturellen Seiten des Gegenstands als dazugehörig angesehen wurden. Ein Zerbrechen dieses Selbstverständnisses zeichnet sich ab, ein Auseinanderdriften in „zwei Kulturen“, die sich in

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getrennten disziplinären Kontexten und in einer gewandelten Fächersystematik neu konfigurieren. Wenn man sich der Mainstream-Ausrichtung und Engführung des Fachs nicht anschließen mag, gibt es in der gegenwärtigen Lage genügend gute Gründe, sich von der akademisch-universitären Psychologie abzuwenden, sie ihrem neurowissenschaftlichen und mathematisierenden Aufspreizen sowie ihrem Spagat zwischen nivellierender Modularisierung und profilbeanspruchender Exzellenz-Inszenierung zu überlassen. Andererseits kann man – und dafür ist dieses Handbuch ein Zeichen – mit mindestens ebenso guten Gründen tatkräftig auf einem Gegenstands- und Methodenverständnis der Psychologie insistieren, das auch ihren sozial- und kulturwissenschaftlichen Traditionen verpflichtet ist und das nahe legt, Entwicklungen benachbarter Fachkulturen in der psychologischen Forschung aufzugreifen. Die neueren Ansätze qualitativer Methodik sind ein wichtiger Teil dieser übergreifenden sozialwissenschaftlichen Dynamik. Weiterführende Literatur Breuer, Franz (2005). Konstruktion des Forschungsobjekts durch methodischen Zugriff. In Günter Mey (Hrsg.), Handbuch Qualitative Entwicklungspsychologie (S.57-102). Köln: Kölner Studien Verlag. Devereux, Georges (1984). Angst und Methode in den Verhaltenswissenschaften. Frankfurt/M.: Suhrkamp. Geertz, Clifford (1990). Die künstlichen Wilden. Der Anthropologe als Schriftsteller. München: Hanser. Strübing, Jörg & Schnettler, Bernt (Hrsg.) (2004). Methodologie interpretativer Sozialforschung. Klassische Grundlagentexte. Konstanz: UVK.

Literatur Amann, Klaus & Hirschauer, Stefan (1997). Die Befremdung der eigenen Kultur. Ein Programm. In Stefan Hirschauer & Klaus Amann (Hrsg.), Die Befremdung der eigenen Kultur. Zur ethnographischen Herausforderung soziologischer Empirie (S.7-52). Frankfurt/M.: Suhrkamp. Berg, Eberhard & Fuchs, Martin (Hrsg.) (1993). Kultur, soziale Praxis, Text. Die Krise der ethnographischen Repräsentation. Frankfurt/M.: Suhrkamp. Breuer, Franz (1989). Die Relativität der Realität. Zur erkenntnis- und praxisbezogenen Produktivität differentieller Sehweisen der „Wirklichkeit“. In Irmtraud Beerlage & Eva-Maria Fehre (Hrsg.), Praxisforschung zwischen Intuition und Institution (S.57-69). Tübingen: DGVT. Breuer, Franz (1991). Wissenschaftstheorie für Psychologen. Eine Einführung (5. Auflage). Münster: Aschendorff, http://nbn-resolving.de/urn:nbn:de:0168-ssoar-9656. Breuer, Franz (Hrsg.) (1996). Qualitative Psychologie. Grundlagen, Methoden und Anwendungen eines Forschungsstils. Opladen: Westdeutscher Verlag, http://www.qualitative-forschung.de/ publishing/modelle/psychologie/index.php. Breuer, Franz (1999). Probleme human- und sozialwissenschaftlicher Erkenntnismethoden: Viel Verwirrung – einige Vorschläge. In Norbert Groeben (Hrsg.), Zur Programmatik einer sozialwissenschaftlichen Psychologie. Band I, Metatheoretische Perspektiven; 2. Halbband: Theoriehistorie, Praxisrelevanz, Interdisziplinarität, Methodenintegration (S.193-309). Münster: Aschendorff.

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Grundgedanke, Entstehungsgeschichte und historische Relevanz

1.1 Der Grundgedanke der Hermeneutik Eine Auseinandersetzung mit den Grundlagen qualitativer Forschung in der Psychologie kann zumindest an einer sozialwissenschaftlich ausgerichteten Hermeneutik (vgl. Soeffner 2004) kaum vorbeikommen. Obwohl diese vornehmlich in Philologie, Theologie, Jurisprudenz und Philosophie beheimatete Domäne sich äußerst heterogen darstellt, steht in ihrem Kern die Frage nach dem Verstehen verschiedener Manifestationen menschlichen Daseins. Dies ist aber ebenso die Schlüsselfrage, welche für die Konstitution qualitativer oder interpretativer Orientierungen in der Psychologie sowohl in theoretischer als auch in methodologischer Hinsicht von hoher Relevanz ist. Denn das Verstehen und Auslegen von menschlichen Äußerungen und Handlungen weist eine spezifische Charakteristik auf, welche von der Hermeneutik im Rahmen einer eingehenden Grundlagenreflexion der interpretativen Rekonstruktion psychosozialer Realität thematisiert wird. Der Gegenstandsbereich der Hermeneutik ist die durch menschliche Sinndeutungen hervorgebrachte und rekonstruierbare Wirklichkeitsdimension (vgl. Jung 2001, S.14). Er kann damit von all jenen Teilen der Realität unterschieden werden, die durch naturwissenschaftliche Erklärungsmodelle erschlossen werden. Die naturwissenschaftliche Rekonstruktion der Wirklichkeit stellt zwar kein sinnfreies Unterfangen dar, aber der Sinn der Weltaneignung wird dort meist nicht ausdrücklich thematisiert oder gar vertieft, sondern schlicht vorausgesetzt. Qualitative Forschung fokussiert demgegenüber die Dimension des sprachlich-symbolisch erschlossenen Sinns von Wirklichkeit. Sie versucht, die spezifische Bedeutung menschlicher Äußerungen oder Handlungen einschließlich der damit verbundenen sozialen, kulturellen und individuellen Rahmenbedingungen interpretativ zu erschließen. Verstehen stellt vor diesem Hintergrund ein universales Phänomen menschlicher Welterschließung und Selbstvergewisserung dar. Menschen sind „verstehende Tiere, auf Gedeih und Verderb darauf angewiesen, sich die Symbole zu entschlüsseln, in denen die Welt für sie da ist“ (S.8). Die Hermeneutik macht diese Grundsituation zur Basis ihres Selbstverständnisses und setzt bei den alltäglichen Verstehensleistungen des Menschen an. Sie entwickelt aus der Basiskompetenz jedes Menschen, Äußerungen und Handlungsvollzüge anderer verstehen zu können, eine Kunstlehre, um auch dort Einsicht zu ermöglichen, wo auf den ersten Blick Unverständnis oder falsches Verstehen herrschen.

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1.2 Entstehungsgeschichte und historische Relevanz Historisch gesehen kann die Entwicklung der Hermeneutik in drei unterschiedliche Phasen eingeteilt werden: 1.

2.

3.

Zu Beginn verstand sich die Hermeneutik vor allem als Methodenlehre der sachgerechten Auslegung von Texten (vgl. Jung 2001, S.20f.; Grondin 2009, S.9f.). Diese „Deutungskunst“ hatte sich vor allem in Wissenschaftsdisziplinen entwickelt, die mit der Interpretation bestimmter Textsorten zu tun hatten und von deren Ergebnis die richtige Auslegung des mehr oder weniger offenkundigen oder verborgenen Sinns abhing (z.B. in der Theologie, der Jurisprudenz und der Philologie). Die Hermeneutik übernahm dabei eine Hilfs- und Orientierungsfunktion bei der Bereitstellung von Regeln und Richtlinien zur Interpretation insbesondere bei zweideutigen, schwierig zu deutenden oder anstößigen Textstellen. Diese Tradition erlebte ihren ersten Aufschwung in der Spätantike und eine weitere Blütezeit während des Zeitalters der Reformation. Daran anschließend entwickelte sich die philosophische Hermeneutik als methodologische Grundlagenreflexion über den Wahrheitsanspruch und den wissenschaftlichen Status der Geisteswissenschaften (vgl. Jung 2001, S.21f.; Grondin 2009, S.10f.). Dieser Diskurs setzte während der Romantik mit Friedrich Schleiermacher ein und erlebte später – Einsichten des Historismus im 19. Jahrhundert verarbeitend – seinen Höhepunkt in der Philosophie der Geisteswissenschaften von Wilhelm Dilthey. Allerdings konnte Dilthey seinen Entwurf der Hermeneutik – wie übrigens schon Schleiermacher – nicht mehr vollenden (vgl. Grondin 2001, S.129). Aus der Auseinandersetzung mit dem Vermächtnis Diltheys ging die hermeneutische Philosophie (vgl. Jung 2001, S.22; Grondin 2009, S.11) als Konzeption einer universellen Interpretationsphilosophie hervor. Wegbereiter und fortwährender Bezugspunkt für nahezu alle folgenden Entwürfe ist Martin Heidegger. Er verlegte das ursprünglich geisteswissenschaftliche Problem der Interpretation in den menschlichen Lebensvollzug selbst. Diese Version einer aus der Existenzweise des Menschen herausdestillierten Pragmatik des Verstehens steht im Hintergrund für viele weitere philosophische Lesarten der hermeneutischen Problemstellung bis heute. Die prominenteste Weiterverarbeitung darf Hans-Georg Gadamer zugeschrieben werden. Auch der sozialwissenschaftlich-methodologische Diskurs der Gegenwart setzt vielfach an diesen hermeneutisch-philosophischen Entwürfen an, weil dort nicht isoliert der erkenntnistheoretische Status des geisteswissenschaftlichen Sinnverstehens thematisiert wird, sondern der Bezug zum Verstehen und zur Selbstreflexion der sozialen Akteure in der Alltagsund Forschungssituation hergestellt wird.

Obwohl das mehr oder minder regelgeleitete Bestreben, den Sinn von Texten und Handlungen möglichst adäquat zu verstehen, nahezu so alt ist wie die Auseinandersetzung der Menschen mit ihren eigenen symbolischen Erzeugnissen, entstand die Wortschöpfung Hermeneutik erst relativ spät. Dannhauer war der erste, der 1654 den Terminus hermeneutica im Titel seines die Auslegung der Heiligen Schrift fokussierenden Werkes führte (vgl. Grondin 2001, S.77ff.). Eine Betrachtung des semantischen Kerns des Begriffs zeigt allerdings, dass die Hermeneutik ein generelles Grundproblem sprachlich-symbolischer Interak-

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tion thematisiert. Das griechische Verb hermeneuein beinhaltet zwei Bedeutungsmomente (vgl. Grondin 2009, S.13f.): 1. 2.

Zum einen bezeichnet es den Ausdrucksprozess, der vom Gedanken zur Rede führt, damit wird die Sprechweise, der Vortrag oder die Rede fokussiert. Zum anderen wird der Prozess des Verstehens oder der Übersetzung bezeichnet, welcher so in der umgekehrten Reihenfolge vom Ausdruck zurück zum ursprünglichen Gedanken führt.

Die Hermeneutik thematisiert vordergründig vorwiegend den zweiten Bedeutungskern. Gleichwohl hat die erste Lesart, wie sie etwa in Aristoteles’ Schrift „Peri hermeneias“ oder in vielen Ansätzen der Rhetorik entwickelt wurde, die Entwicklung der Hermeneutik maßgeblich beeinflusst. Denn das griechische Verständnis des Begriffs zeigt, dass der Vorgang der Deutung an den Vorgang der Produktion einer interpretativ zu erschließenden Äußerung anknüpft und ihn zu erhellen sucht. Im Kern hat eine Interpretation „nicht mehr und nicht weniger zu leisten […] als die Umkehrung des Redevorgangs selbst, der von der ‚inneren Rede‘ (logos endiathetos) zur ‚äußeren Rede‘ (logos apophantikos) geht“ (Grondin 2009, S.14). Das hermeneutische Bemühen um Sinnklärung ist damit mit dem rhetorischen Bemühen um überzeugende Darstellung der eigenen Intentionen verwandt und setzt dieses gewissermaßen voraus. „Man kann einen Ausdruck nicht interpretieren wollen, um den Sinn zu verstehen, ohne vorauszusetzen, dass er etwas ausdrückt und dass er insofern der Ausdruck einer inneren Rede ist“ (a.a.O.). So war es auch kein Zufall, dass die ersten Leitgedanken und kanonischen Richtlinien zur Interpretation von Texten der Rhetorik und ihren Figuren entnommen wurden. Vor diesem Hintergrund entstand eine Unterscheidung, welche die Entwicklung der Hermeneutik bis auf den heutigen Tag entscheidend geprägt hat, nämlich die Differenzierung zwischen wörtlichem Sinn (Literalsinn) und tieferem, eigentlichem Sinn. Ohne diese Unterscheidung ist eine Hermeneutik als Kunstlehre des (tieferen) Verstehens nicht zu legitimieren. Nur wenn angenommen wird, dass sich der Sinn sprachlicher und nichtsprachlicher Äußerungen nicht unmittelbar erschließen lässt, entsteht die Notwendigkeit eines Kanons, der es ermöglicht, den verborgenen, tieferen Sinn zu entschlüsseln. Dieser Grundgedanke stand bereits Pate bei den hermeneutischen Anfängen spätantiker Philologen wie etwa Philo von Alexandria und floss in das Deutungsverfahren der Allegorese ein. Diese sich aus den Begriffen „Allegorie“ und „Exegese“ zusammensetzende Wortschöpfung steht für ein Deutungsverfahren, das „auf die Erschließung eines tieferen, im Wortsinn bildhaft verkleideten Sinns zielt“ (Jung 2001, S.33). Die Unterscheidung zwischen Literalsinn und tieferem Sinn ist mit einer Reihe von für den hermeneutischen Diskurs kennzeichnenden Problemen verbunden. Worin besteht etwa bei einem Text der literale und worin der tiefere Sinn? Vorausgesetzt diese Frage lässt sich (hermeneutisch) lösen, dann tritt ein weiteres Problem auf den Plan: Wie lässt sich der tiefere Sinn erkennen? Und wie kann eine Deutung gegenüber anderen als angemessener oder zutreffender ausgewiesen werden? Man sieht, dass aus dieser Unterscheidung die Notwendigkeit der Hermeneutik entspringt, aber auch ihre Probleme erwachsen. In diesem Kontext ist auch die sogenannte hermeneutische Differenz als Grundproblem der sprachlichen Kommunikation wie der reflektierten Interpretation zu sehen: Was verstanden werden soll, ist zunächst fremd und entzieht sich einer Deutung. Es muss erst im

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Zuge der Interpretation angeeignet werden. In der gewohnten Alltagskommunikation wird die hermeneutische Differenz nicht oder nur im Falle einer Störung erfahren. Hier bedarf es in der Regel keiner Hermeneutik. Auf der anderen Seite ist dort Hermeneutik unmöglich, wo die Differenz unendlich wird: etwa bei einer Äußerung in einer völlig unbekannten Sprache. Hermeneutik findet daher, einer bekannten Formulierung Gadamers folgend, „zwischen Fremdheit und Vertrautheit“ statt: „In diesem Zwischen ist der wahre Ort der Hermeneutik“ (Gadamer 1986 [1960], S.300). Mit der Unterscheidung zwischen Literalsinn und tieferem Sinn entsteht aber auch das Interpretationsproblem selbst. Sie konstituiert gewissermaßen die hermeneutische Einstellung, welche zum vermeintlich tieferen Sinn vordringen will. Die Lösung des Interpretationsproblems wird in der Regel durch eine Hintergrundtheorie herbeigeführt. Dies ist bereits für die Frühzeit der Hermeneutik nachweisbar. So griff Philo von Alexandria auf eine Analogie zwischen dem Literalsinn und dem verborgenen Sinn einerseits und dem Körper und der Seele andererseits zurück. „Der unmittelbare Text verhält sich zur wahren Bedeutung wie der menschliche Körper zur menschlichen Seele“ (Jung 2001, S.34). Diese logische Grundfigur, nämlich die Konzeption des Interpretationsprozesses als eines Schlusses vom manifesten Ausdruck auf latente Inhalte oder Strukturen, findet sich bis heute in vielen qualitativ-methodischen Zugängen der Sozial-, Geistes- und Kulturwissenschaften.

2

Theoretische und methodologische Grundannahmen

2.1 Der Begriff der Hermeneutik Eine möglichst kurze und prägnante Definition nennt die Hermeneutik „die Lehre vom Verstehen“ (Jung 2001, S.7). An anderer prominenter Stelle wird sie – eher die Praxis des Auslegens fokussierend – als „die Kunst, Texte richtig zu deuten“ (Grondin 2009, S.9) bezeichnet. Beide Bestimmungen enthalten einige Kernmomente, welche die Konzeption der Hermeneutik von Anbeginn nachhaltig beeinflusst haben und immer noch prägen. Manche dieser Momente weisen einen in sich ambivalenten Grundzug auf, der wiederum für die hermeneutische Reflexion charakteristisch ist. 1. 2.

3.

Der Ausdruck Lehre verweist auf eine mehr oder weniger eingehende, explizit und gewissenhaft geführte, theoretische sowie philosophische Auseinandersetzung mit dem Phänomen des Verstehens. Verstehen ist die zentrale kognitive Tätigkeit, mit der sich die Hermeneutik auseinandersetzt. Darum versammeln sich verwandte Begriffe wie Interpretation, Deutung, Auslegung und andere, die ebenfalls im Rahmen von theoretischen und praktischen Zugängen der Hermeneutik thematisiert werden. Der Ausdruck Kunst verweist auf eine bestimmte Form von Praxis, welche in einem problematischen Verhältnis zur methodischen Konstitution der Hermeneutik steht. In einigen Konzeptionen wird Hermeneutik als Methode, als Organon oder Kanon von Regeln begriffen, die zu befolgen sind, damit Verstehen überhaupt möglich wird. Andere Zugänge setzen auf die von „methodischen Fesseln“ entledigte, im weitesten Sinn offene und kunstfertige Auseinandersetzung mit den Phänomenen.

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4.

Der Hinweis, dass Hermeneutik versucht, (sprachliche) Äußerungen richtig zu deuten, beinhaltet einen zumindest implizit erhobenen Geltungsanspruch auf wahre Deutungen. Demgegenüber erweist sich gerade die Hermeneutik als äußerst sensibel gegenüber allzu rigiden, absolut erhobenen Formen von Wahrheit und uneingeschränkter Geltung. Gegenstand des Verstehens sind in erster Linie Texte, aber auch Handlungen und deren Ergebnisse, die vielfach analog zum Medium der Sprache gedacht werden. Gleichzeitig kommt der Hermeneutik eine Tendenz der Transzendierung des manifesten sprachlichen Sinns zu.

5.

Alle genannten Kernmomente sind Teil des hermeneutischen Diskurses. In Abhängigkeit von der jeweils vorliegenden Konzeption hermeneutischen Denkens werden sie unterschiedlich ausgelegt, zudem differiert ihr Stellenwert zwischen den verschiedenen Ansätzen. Die folgende Darstellung orientiert sich an diesen konstitutiven Merkmalen und versucht, die für den hermeneutischen Diskurs kennzeichnende Grundlinie nachzuzeichnen. 2.2 Sinnverstehen als Ausgangspunkt Das Verstehen als Basisoperation der Hermeneutik richtet sich auf den Sinn menschlicher Äußerungen. Die zugrunde liegende Prämisse lautet: „Was verstanden werden kann, ist immer sinnhaft“ (Jung 2001, S.12), denn was als sinnhaft gelten kann, bezieht sich auf menschliche Deutungen der Wirklichkeit. Insgesamt lassen sich drei aufeinander bezogene Aspekte des Sinnbegriffs unterscheiden (nach Jung 2001, S.13): 1. 2. 3.

der sprachlich-symbolische Sinn (die Bedeutung einer sprachlichen Äußerung), der Handlungssinn (der Sinn einer Handlung etwa als Befolgung einer Regel, als Erfüllung eines Zwecks oder als Teil einer Geschichte, vgl. Straub 1999, S.96ff.), der Lebenssinn (die übergreifenden Orientierungen der Lebenspraxis eines Individuums oder einer sozialen Gruppe, thematisiert etwa im Rahmen der Biografie- oder Milieuforschung).

Gemeinsam ist diesen Aspekten des Sinnbegriffs der Umstand, dass jede Form von sozialer Realität nicht einfach widergespiegelt, sondern im Rahmen symbolischer Repräsentationsformen erschlossen und gedeutet wird (vgl. Jung 2001, S.13). Es geht um „symbolisch vorstrukturierte Wirklichkeit“ (Habermas 1982, S.547). Als Paradigma für den gesamten Objektbereich der interpretativen Sozialwissenschaften kann das Modell des Textes (Ricoeur 1972) betrachtet werden. Dabei dient der Weg über den Text als Vehikel zu einer verstehend-reflektierten Betrachtung des jeweiligen Handlungs- und Lebenskontextes. Handlungen als Textanaloga zu begreifen ist von unmittelbarer Konsequenz für die Hermeneutik als Basismethodologie der Sozialwissenschaften. Insbesondere im Rahmen einer kulturwissenschaftlich ausgerichteten Psychologie stellt die Methodologie der Textauslegung das zentrale Paradigma für die zu leistende Interpretationsarbeit dar (vgl. dazu Straub 1999). Wer verstehen will, was Menschen tun oder bewegt, aus welchen Gründen und Hintergründen heraus sie handeln oder etwas erleben, ist darauf angewiesen, die damit im Zusammenhang stehenden sprachlichen Äußerungen, und damit Texte, zur Grundlage

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von Interpretationen heranzuziehen. Psychologie als interpretative Handlungs- und Kulturpsychologie ist somit textwissenschaftlich zu konstituieren. Der hermeneutische Diskurs thematisiert die dazu erforderlichen metatheoretischen Grundlagen und methodologischen Basiswerkzeuge. 2.3 Zum Begriff des Verstehens Als Kunstlehre des Verstehens hat die Hermeneutik mit der Interpretation, Deutung oder Auslegung von Äußerungen in Texten oder menschlichen Handlungen zu tun. Dabei unterscheidet der hermeneutische Diskurs u.a. zwischen Verstehen und Interpretation. Die Begriffe „Auslegung“ und „Deutung“ werden meist synonym zum Begriff der „Interpretation“ gebraucht, allerdings werden sie manchmal auch auf den Prozess des Verstehens bezogen (vgl. etwa Jung 2001, S.19). Als Basisausdruck dient der Begriff des Verstehens. Soeffner (2004, S.165) nennt Verstehen einen Vorgang, „der einer Erfahrung Sinn verleiht“. Diese Bestimmung entspricht der oben gegebenen Definition von Hermeneutik. Allgemeiner wird Verstehen als kognitive Grundoperation gefasst, die eine elementare Struktur aufweist: nämlich „etwas als etwas“ auffassen (vgl. Jung 2001, S.17ff.). Diese Charakterisierung fokussiert vor allem den sprachlich-symbolischen Raum, in dem sich jedes Verstehen vollzieht. Wer versteht, expliziert oder erläutert gegebene Textinhalte oder andere Objektivationen menschlichen Handelns durch Charakterisierungen, die zugrunde liegende Sinngehalte oder Sinnstrukturen der zu deutenden Äußerung offenlegen. Das Herstellen von Verständnis ist eine elementare Alltagskompetenz, die für viele soziale Situationen unverzichtbar ist. Dilthey (1970 [1927], S.255ff., vgl. auch Lamnek 2005, S.68f.) hat insbesondere solche Verstehensoperationen elementares Verstehen genannt, die nicht mit einem ausdrücklichen Bemühen um Einsicht verbunden sind, sondern sich in Alltagsinteraktionen von selbst einstellen (etwa beim Erwidern eines Grußes im gleichen Kulturkreis oder beim adäquaten Reagieren auf ein Verkehrszeichen). Mit dieser Bestimmung macht Dilthey darauf aufmerksam, dass das gesamte soziale Zusammenleben auf solche sozusagen „selbstverständliche“ Formen des Austausches zwischen Menschen angewiesen ist. Getragen wird das elementare Verstehen durch ein Medium von Gemeinsamkeiten, die eine Gesellschaft oder soziale Gruppe teilen. Auch die sozialwissenschaftliche und psychologische Forschung beruht insbesondere dort, wo sie auf Verstehen als Basismethodologie zurückgreift, auf solchen elementaren Formen des Verstehens: Interpretationsgemeinschaften greifen auf einen in Alltag und Wissenschaft konstituierten impliziten paradigmatischen und methodologischen Konsens als unhintergehbare Grundlage ihrer Deutungsleistungen zurück. Dem elementaren Verstehen stellt Dilthey (1970 [1927], S.258ff.) das höhere Verstehen gegenüber (vgl. auch Lamnek 2005, S.69f.), das bei den elementaren Formen ansetzt, diese aber transzendiert und eine intensive Auseinandersetzung und Verstehensbemühungen voraussetzt. Höheres Verstehen wird vor allem dann erforderlich, wenn elementares Verstehen nicht gelingt, Missverständnisse vorliegen und eine aus sich selbst heraus nicht verstehbare oder missverstandene Äußerung in einen größeren Zusammenhang (etwa in den sozialen Kontext oder Lebenszusammenhang eines Individuums) eingebettet wird. Dadurch erhöht sich die Aussicht auf Verstehen.

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Dilthey hat diese Form des Verstehens vor allem im Spätwerk als Sinn-Verstehen ins Zentrum seiner Konzeption der Hermeneutik gestellt. Zugleich hat er durch verschiedene Versionen des Verstehens-Begriffs auch einer psychologistischen Lesart Vorschub geleistet: Zum einen ist Verstehen für ihn ein Vorgang, „in welchem wir aus Zeichen, die von außen sinnlich gegeben sind, ein Inneres erkennen“ (Dilthey 1957 [1900], S.318); dies kann so gelesen werden, dass sich Verstehen durch ein Nachempfinden der inneren Vorgänge der Zeichenproduzent/innen einstellt. Zum anderen hat Dilthey seine Konzeption des Verstehens an das Erleben des Urhebers/der Urheberin einer Äußerung oder Handlung gebunden und im Rahmen des höheren Verstehens dem Hineinversetzen, Nachbilden und Nacherleben eine entscheidende Rolle zugebilligt (vgl. Dilthey 1970 [1927], S.263ff.). Allerdings – und darauf hingewiesen zu haben, ist eine der großen Leistungen Diltheys – kann die Verbindung von Erleben und Verstehen nur über Äußerungen des Innenlebens hergestellt werden. Gerade im unvollendet gebliebenen Spätwerk hebt Dilthey mehrfach hervor, dass das Erleben, auf das sich das Verstehen richtet, nicht als solches gegeben ist, sondern nur durch die Art und Weise, in der es sich äußert, erschlossen und damit auch verstanden werden kann. Diese in der Literatur zur Hermeneutik oft als Trias von Erlebnis, Ausdruck und Verstehen (vgl. etwa Grondin 2009, S.27) charakterisierte Denkfigur ist als richtungsweisend für die weiterführende Auseinandersetzung mit dem Problem des Verstehens in der Methodologie der Geistes-, Sozial- und Kulturwissenschaften zu sehen. Diese Trias verdeutlicht auch, dass das hermeneutisch ausgerichtete Erkenntnisinteresse immer das jeweils Geäußerte bzw. Gegebene zu überschreiten intendiert. 2.4 Zum Begriff der Interpretation Eine Unterscheidung zwischen Verstehen und Interpretieren zu treffen, ist nicht leicht, denn beide Begriffe weisen in die gleiche Richtung. So wird die oben für den Begriff des Verstehens gegebene strukturelle Charakterisierung, „etwas als etwas“ aufzufassen, von Abel (1993) zur Bestimmung des Terminus „Interpretation“ herangezogen. Er unterstreicht damit den grundlegend interpretativen Zugang zur Welt. Menschliches Erkennen, Handeln und Sprechen sind nur im Zuge einer Praxis der Interpretation von Symbolen möglich, die den Menschen im Rahmen ihrer Lebensvollzüge zur Verfügung stehen. Wie Straub (1999, S.206) hervorhebt, wird damit der Begriff der Interpretation erweitert und zum erkenntnistheoretischen Basisbegriff, der dem Begriff des Verstehens vorgelagert ist. Auf diese Weise wird allerdings eine neue Dimension des Verstehensproblems in der Hermeneutik erschlossen, und nicht von ungefähr war diese Perspektive auch die Basis des Hermeneutikverständnisses von Heidegger und Gadamer. Heidegger betrachtete den von Dilthey erörterten epistemischen Grundzug des Verstehensproblems als sekundär (Heidegger 1984 [1927], 1988 [1923]). Seine eigene, gewissermaßen pragmatische Lesart des Verstehens entwickelte er am Ausdruck „sich auf etwas verstehen“, den er mehr als ein Können und als ein Wissen auslegte (vgl. Grondin 2009, S.38). In ihm kommt, gleichsam als praktische Kompetenz, die Fähigkeit des Menschen zum Ausdruck, eine besondere Art des „Sichauskennens“ in der Welt zu entwickeln (vgl. Grondin 2001, S.135). Schon die menschliche Lebenspraxis selbst weist damit hermeneutische Züge auf, nicht erst die sprachlich-symbolische Rekonstruktion der Lebenswelt. Menschen nehmen die Welt nicht zunächst neutral-kognitiv zur Kenntnis, um sie danach in ihrer Bedeutsamkeit zu verstehen

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zu versuchen. Es verhält sich vielmehr genau umgekehrt: „Nur als von Lebensinteressen gedeutete und deshalb bedeutsame sind die Fakten des Lebens überhaupt für uns da. Menschen sind daher von Geburt an Hermeneutiker, und der Grundmodus ihres In-der-WeltSeins ist das Verstehen“ (Jung 2001, S.95). Damit transformiert sich die Hermeneutik von der Grundlagenreflexion der Geisteswissenschaften zur hermeneutischen Philosophie. Für das Verhältnis von Verstehen und Interpretation bedeutet dies, dass der in der traditionellen Texthermeneutik entfaltete Modus, durch die kundige, regelgerechte Auslegung zum Verständnis zu gelangen, radikalisiert wird. Die primäre Tätigkeit ist nun das Verstehen als Deutung der Lebens- und Reflexionspraxis des interpretierenden Subjekts selbst. Sie dient letztlich dazu, das je eigene Dasein diesem „selbst zugänglich zu machen, mitzuteilen, der Selbstentfremdung, mit der das Dasein geschlagen ist, nachzugehen. In der Hermeneutik bildet sich für das Dasein eine Möglichkeit aus, für sich selbst verstehend zu werden und zu sein“ (Heidegger 1988 [1923], S.12). Die mit dieser Denkfigur verbundene Problemkonstellation wurde durch Heideggers Schüler Gadamer (1986) unter dem Titel des Horizontcharakters des Verstehens noch eingehender erörtert. Alles, was Menschen verstehend für sich zu erschließen suchen, ist von einem „Hof impliziter Welterschließung umgeben“ (Jung 2001, S.114), welcher die Art und Weise präformiert, in der die Objekte des Verstehens aufgefasst und verarbeitet werden. Dieses universale Kontextualitätsprinzip muss als geschichtlich gewordener Sinnhorizont begriffen werden: Jede Form von expliziertem Verstehen und Wissen wird von einem Vorverständnis getragen, das selbst nicht vollständig offen gelegt werden kann! Dies wiederum inkludiert eine starke Aufwertung der historisch-kulturellen Tradition, in der Einzelne stehen. Gadamer setzte mit seiner Konzeption der Hermeneutik deutlicher als Heidegger an der zuletzt von Dilthey geführten Diskussion der erkenntnistheoretischen Grundlagen der Geisteswissenschaften an, gab aber der damit verbundenen Problemstellung eine neue Wendung: Nach Gadamers Verständnis hat Dilthey seinen Lösungsansatz noch zu sehr am Methodenideal der Naturwissenschaften ausgerichtet. Es gehe aber den Geisteswissenschaften nicht um die Erzeugung und Verknüpfung objektivierbarer Fakten, ihr Ziel sei vielmehr „die Bildung und Erziehung des Menschen durch die Entwicklung seiner Urteilskraft“ (Grondin 2009, S.53). Gadamer hatte zwar keine generellen Bedenken gegen systematisch gewonnenes Wissen, „er befürchtet aber, dass die ausschließliche Herrschaft dieses Erkenntnismodells uns für andere Wissens- und Wahrheitserfahrungen blind machen kann“ (a.a.O.). In seiner Version hermeneutischer Erfahrungsbildung tritt demgegenüber ein Bildungsideal in den Vordergrund, das beispielsweise die Auseinandersetzung der Menschen mit Werken der Kunst leite und bei dem die Erhebung über die Privatheit und Borniertheit von Interessen und Vorlieben im Zentrum stehe. Dies mache offen für andere Horizonte des Verstehens und lehre, Abstand von sich selbst zu gewinnen (Gadamer 1986 [1960], S.41). Diese Neuausrichtung der Hermeneutik hatte unmittelbare Konsequenzen für den Begriff der Interpretation. Im Zentrum der Bestimmungen aus dem Feld der Sozialwissenschaften und der Psychologie steht vielfach das in absichtsvoller und bewusster Einstellung realisierte, explizierte und methodisch kontrollierte, auf Transparenz und intersubjektive Zustimmungsfähigkeit angelegte Bemühen um das Verstehen von Texten, Handlungen und anderen praktischen Aspekten der menschlichen Existenz (Straub 1999, S.211). Dieses Verständnis macht deutlich, dass für Interpretationen gute Gründe gegeben werden sollten,

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sie sollten durch theoretische Perspektiven, methodische Verfahren und praktische Konsequenzen legitimiert sein. Dies würde auch Gadamer nicht in Abrede stellen. Gleichwohl ist darauf aufmerksam zu machen, dass es sich bei der Interpretation (von Texten) nicht um eine vollständig kontrollierbare Praxis handelt, sondern im Fortgang der Auslegung durchlaufen die Interpret/innen einen vielschichtigen Prozess der Auseinandersetzung mit den Gegenständen ihrer Bemühungen um Verstehen sowie der Reflexion auf den Deutungsvorgang selbst. Dies und die damit verbundenen Besonderheiten spiegeln sich im Begriff des hermeneutischen Zirkels. 2.5 Der hermeneutische Zirkel Die Denkfigur des hermeneutischen Zirkels durchzieht die Geschichte der Hermeneutik und ist vielleicht ihr bedeutsamstes Charakteristikum. Im Sinne einer einfachen Definition bedeutet „hermeneutischer Zirkel“ zunächst, dass das Einzelne nur aus dem Ganzen und das Ganze nur aus dem Einzelnen verstanden werden kann (vgl. Gadamer 1986 [1960], S.296). Diese Denkfigur wurde bereits im Zeitalter der Reformation von Melanchthon beschrieben: Im Zuge seiner an der Rhetorik entfalteten hermeneutischen Analysen wies er auf die Notwendigkeit hin, den Sinn des gesamten Textes einschließlich seiner relevanten Bezüge zu erfassen, um von dort ausgehend die einzelnen Textelemente prüfen und analysieren zu können (vgl. Grondin 2001, S.64). Diese Vorformulierung des hermeneutischen Zirkels ist noch didaktisch gehalten im Sinne einer Einführung in die Interpretationskunst. Ähnlich wurde noch zu Beginn des 19. Jahrhunderts (etwa von Friedrich Ast; vgl. Jung 2001, S.57f.) herausgestellt, wie sich Teilbedeutung und Gesamtbedeutung wechselseitig bedingen, wobei bei profunder Kenntnis des Gesamtkontextes der Sinn der Teilelemente sich unschwer entziffern lasse. Auch bei Schleiermacher wurde das Verhältnis von Teil und Ganzem im zu deutenden Text als eine im Interpretationsprozess mehrfach zu durchlaufende Struktur ausgewiesen, die den Verstehensfortgang eher befördere als behindere. In diesem Sinne hatte er das Bild der Spirale, das Offenheit, Revisionsbereitschaft und ein Fortschreiten im Verstehen impliziert, dem des geschlossenen Kreises vorgezogen (vgl. Jung 2001, S.66). Die Figur des Zirkels erfährt eine signifikante Umwandlung in der Hermeneutik des 20. Jahrhunderts. Im Unterschied zu den früheren Versionen der Kreisbewegung des Verstehens weisen nun nicht nur die Relationen im Gegenstand des Verstehens eine zirkelförmige Struktur auf. Vielmehr ist ebenso die Beziehung des Subjekts des Verstehens zu seinem Erkenntnisobjekt in den Kreislauf der Textauslegung einzubeziehen. Diese Lesart des Zirkels ist vor allem von Gadamer im Rahmen seiner Erörterung des Verhältnisses von Verstehen und Vorverständnis ausgeleuchtet worden. Dabei erfuhr der durch die Aufklärung diskreditierte Begriff des Vorurteils eine deutliche Aufwertung, Gadamer zufolge sind Vorurteile sogar „Bedingungen des Verstehens“ (Gadamer 1986 [1960], S.281): Ein von allen Vorurteilen befreites Verstehen, ein Verstehen ohne das Vorverständnis der Interpret/innen sei nicht möglich. Vor diesem Hintergrund hat Gadamer das Verstehen als Teil der das Subjekt und dessen Reflexionsmöglichkeiten überschreitenden Wirkungsgeschichte begriffen und es auch als „ein Einrücken in ein Überlieferungsgeschehen, in dem sich Vergangenheit und Gegenwart beständig vermitteln“ (S.295), bezeichnet.

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Allerdings ist die Zirkelmetapher irreführend: Sie erweckt den Eindruck eines geschlossenen Prozesses im Sinne eines Zirkelschlusses. Das hermeneutisch orientierte Verstehen von Texten und Handlungen schließt aber die Dimension des Neuen, Überraschenden und Unvorhersehbaren mit ein und führt damit auch zu einer Erweiterung und Veränderung des Vorverständnisses. Um diesem Zuwachs an Verständnis und Wissen im Zuge des Durchlaufens beider Zirkel – jenem von Vorverständnis und Textverständnis und jenem von Teil und Ganzem (vgl. Lamnek 2005, S.62ff.) – besser gerecht zu werden, bietet sich als zutreffenderer der von Schleiermacher schon ins Auge gefasste Terminus hermeneutische Spirale an (vgl. Bolten 1985 sowie Lamnek 2005, S.64).

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Aktueller Stellenwert und zentrale Diskussionen in der Psychologie

Gegenwärtig kann die Hermeneutik nicht als eine der führenden Basismethodologien der Psychologie bezeichnet werden. Häufig wird auf sie eher am Rande verwiesen, als dass ihr Begründungspotenzial grundlegend erörtert und entfaltet wird.1 Dort, wo die Geschichte der Psychologie thematisiert wird, wird auf die hermeneutische Erfahrungsbildung als vor allem der Vergangenheit angehörende Erkenntnisform psychologischer Forschung verwiesen, meist jedoch ohne systematische Auswirkungen auf das Erkenntnis- und Methodenideal der Psychologie der Gegenwart.2 Einige wenige Gesamtdarstellungen der Psychologie behandeln und diskutieren das hermeneutische Denken und Methodologiespektrum meist in Abgrenzung zum vorherrschenden cartesianischen oder nomothetischen Wissenschaftsverständnis (vgl. etwa Legewie & Ehlers 1992 oder Straub, Kempf & Werbik 1997). Auch dort, wo im Rahmen einer Erneuerung der Psychologie (Legewie 1991) oder der Weiterentwicklung einer geisteswissenschaftlich orientierten Psychologie (Jüttemann 1991) versucht wurde, das Verstehen und die Interpretation zu anerkannten methodischen Zugangsweisen in der psychologischen Forschung zu erheben, nimmt der hermeneutische Diskurs meist keinen zentralen Stellenwert ein. Gelegentlich wird sogar davor gewarnt, die Psychologie einseitig am methodischen Ideal der Interpretation auszurichten; die daraus resultierenden Gefahren seien vergleichbar jenen im Bereich der ausschließlich naturwissenschaftlich orientierten psychologischen Forschung (Jüttemann 1992, S.83f.). Vielfach wird im Zuge der Diskussion um das Selbstverständnis der Psychologie auch nicht ausschließlich auf den hermeneutischen Diskurs zurückgegriffen, sondern im Verbund mit anderen philosophischen und wissenschaftstheoretischen Ansätzen versucht, eine spezifische Ausrichtung zu generieren.3 Eine genuin psychologische Lesart der Hermeneutik oder ein spezifisch psychologisches Verständnis des Begriffs der Interpretation auszuarbeiten, ist mehrfach versucht worden. Die vorliegenden Ergebnisse sind unterschiedlich zu beurteilen. Schon Schleiermacher (1977 [1838], S.169ff.) hatte im Rahmen seiner posthum veröffentlichten Vorlesungen zur 1 In bekannten und breiter angelegten Darstellungen der wissenschaftstheoretischen Grundlagen der Psychologie spielt die Hermeneutik ebenfalls keine oder nur eine untergeordnete Rolle (vgl. etwa Schneewind 1977; Kriz, Lück & Heidbrink 1990; Breuer 1991; etwas ausführlicher bei Walach 2005). 2 Vgl. etwa Pongratz (1984), der in einem Kapitel seiner „Problemgeschichte der Psychologie“ die Relation von Erleben und Verstehen erörtert, oder Schönpflug (2000), der die Hermeneutik an einigen Stellen eher erwähnt als eingehend beschreibt. 3 Dabei wird etwa auf die Phänomenologie (vgl. dazu Smith, Flowers & Larkin 2009) oder die Linguistik und Zeichentheorie (vgl. Legewie & Ehlers 1992) zurückgegriffen.

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Hermeneutik das Konzept der psychologischen Auslegung beschrieben und damit etliche Charakteristika psychologischen Verstehens benannt, die vielfach auch heute noch die Grundidee von interpretativer psychologischer Forschung im Kern bestimmen: Im Unterschied zum „grammatischen Verstehen“, das den allgemeinen und überindividuellen Sinn eines Textes zu ermitteln sucht, ziele die psychologische Interpretation auf den „individuelle[n] Ausdruck einer Seele“ (Grondin 2009, S.19). Auf literarische Texte bezogen bedeutet dies, dass die Hermeneutik „den ganzen inneren Verlauf der komponierenden Tätigkeit des Schriftstellers auf das vollkommenste nachzubilden“ (Schleiermacher 1977 [1838], S.321) intendiere. Höchste Vollkommenheit in der Auslegung ist nach Schleiermacher dann erreicht, wenn durch die Interpretation der Autor bzw. die Autorin besser verstanden wird, als er/sie von sich selbst Rechenschaft geben könne (Jung 2001, S.64). Im Gefolge der Dilthey-Interpretation der Schleiermacherschen Hermeneutik wurde der psychologische Aspekt der Auslegung mehr und mehr isoliert. Es entstand das Zerrbild einer „Empathie-Hermeneutik“ (Jung 2001, S.63), welche auf dem methodisch nicht kontrollierbaren Sich-Einfühlen einer Seele in eine andere Seele beruht. Im Zuge der Trennungsgeschichte der geistes- und naturwissenschaftlichen Denkstile der Psychologie zu Beginn des 20. Jahrhunderts (vgl. Schmidt 1995) war es leicht, vor dem Hintergrund des Methodenideals experimenteller und exakter Forschung das Paradigma des Verstehens und der Interpretation als unwissenschaftlich zu diskreditieren. In gewisser Weise bestimmt dieses Bild vielfach bis heute auch dort die Diskussion, wo eine Aufwertung hermeneutisch orientierter Forschung versucht wird. So spricht Norbert Groeben (1986) im Rahmen eines einheitlichen Forschungsprogramms der Hermeneutik einen bedeutenden Stellenwert im Prozess psychologischer Erfahrungsbildung zu. Gleichzeitig erfährt aber der auf dem Verstehen beruhende Schritt im Forschungsprozess eine deutliche Einschränkung, da die Prüfung und Sicherung der Erkenntnis wiederum nur im Rahmen des deduktiv-nomologischen Paradigmas erfolgen kann. In gewisser Weise wird hier das bereits von Barton und Lazarsfeld (1955) entwickelte Phasenmodell, demzufolge qualitative Studien der Hypothesengenerierung und sich anschließende quantitative Studien der Hypothesenprüfung dienen sollen, fortgeschrieben. Demgegenüber erhält bei Fahrenberg (2002) die Interpretation einen eigenen Platz im Methodenkanon der Psychologie. Psychologisches Verstehen und Interpretierenwird von ihm weniger als Intuition oder Deutungskunst, sondern als lehr- und lernbare Methodik im Sinne eines Handwerks begriffen. An mehreren Beispielen psychologischer Forschung (z.B. Autobiografie, Biografik, Trauminterpretation, Textanalyse, Schriftinterpretation) wird ein „nüchterner Begriff von Interpretation“ (Fahrenberg 2002, S.374) entfaltet, der auf den Diskurs der Hermeneutik nur am Rande bezogen wird. Insgesamt wird die hermeneutische Tradition als wenig brauchbar für die Entwicklung einer einheitlichen allgemeinen Interpretationslehre eingestuft. Denn die in der hermeneutischen Reflexion verwendeten Begriffe seien „durch ihre Tradition und durch uferlose Kontroversen so belastet, dass sie keinen prägnanten Bezugsrahmen für die Methodologie einer empirischen Disziplin geben können“ (a.a.O.). So bleibt allerdings unklar, auf welche Weise die an mehreren Stellen angeführten Prinzipien, Strategien und Regeln für die psychologische Interpretation – darunter auch hermeneutische Regeln – legitimiert werden können. Demgegenüber greift Straub (1999, S.201ff.) insbesondere auf den Diskurs der hermeneutischen Philosophie zur methodologischen Grundlegung einer textwissenschaftlichen Handlungs- und Kulturpsychologie zurück. Er verweist auf die Notwendigkeit einer Klä-

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rung des Interpretationsbegriffs und nutzt die Hermeneutik als Kunst der Problematisierung des Unverständlichen oder allzu Selbstverständlichen. Die Diskussion und Weiterführung des hermeneutischen Denkens erfolgt in drei unterscheidbaren, aber aufeinander beziehbaren Hinsichten. Thematisiert werden Sinn und Bedeutung eines Interpretandums für den Autor/die Autorin (intentio auctoris), für den Text selbst als autonome Struktur (intentio operis) und für die Rezipient/innen (intentio lectoris). Während im Rahmen der ersten Dimension vor allem intentionalistische und objektivistische hermeneutische Ansätze einer deutlichen Kritik unterzogen werden, führt Straub zur Darlegung der Texthermeneutik einen eindringlichen Dialog mit Gadamer.4 Dabei werden Prinzipien der interpretativen Sozialforschung (etwa das Prinzip der Offenheit, vgl. Hoffmann-Riem 1980) auf Grundeinsichten der hermeneutischen Philosophie entlang der ansatzweise auch hier entwickelten Kernelemente der Hermeneutik Gadamers systematisch bezogen. Gleichzeitig wird versucht, den Zugang Gadamers in jenen Punkten weiterzuführen, wo – wie etwa beim Konzept der Horizontverschmelzung – substanzielle und universalistische Annahmen einfließen. Gerade für eine kulturpsychologisch ausgerichtete Hermeneutik sind deshalb die beiden anderen genannten Intentionsdimensionen – die intentio auctoris und die intentio lectoris – stets mit einzubeziehen, wenn es darum geht, die freilich immer perspektivisch zu verstehende Interpretationswahrheit einer menschlichen Äußerung oder Handlung zu ergründen.

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Stärken und Schwächen: Kritik der Hermeneutik – Hermeneutik als Kritik

Wie jeder philosophische Diskurs blieb auch die Hermeneutik nicht ohne Kritik. Neben prinzipiellen Einwänden aus Sicht der analytischen Philosophie (vgl. etwa Stegmüller 1986), können die Gegenargumente grob in zwei Gruppen aufgeteilt werden: Deutliche Kritik durch Habermas (1982) erntete die von Gadamer vorgenommene Aufwertung der Vorurteile und des Traditionszusammenhangs im Prozess der Auslegung. Habermas zufolge verkannte Gadamer die dem Verstehen innewohnende Kraft der Reflexion und Kritik bestehender Verhältnisse. Wenn eine Deutung ihre Voraussetzungen nicht zu erkennen in der Lage und lediglich in den Traditionszusammenhang eingeschrieben sei, könne falsches Bewusstsein, das mit gesellschaftlichem Scheinkonsens einhergehe, nicht erkannt werden. Heute wird die Gadamer-HabermasKontroverse eher als Scheindisput aufgefasst (vgl. Straub 1999, S.265). Dafür sprechen gewisse Tendenzen der Annäherung bei beiden Autoren in der Folgezeit sowie die von beiden getragene Einsicht, dass der hermeneutische Diskurs in der Fähigkeit der Sprache begründet liege, sich selbst zu überschreiten, und dass kritische Reflexion auf Prozessen der Verständigung beruhe (vgl. Grondin 2009, S.73ff.). Aus dem Umkreis der Postmoderne und des Dekonstruktivismus hielten Autoren wie Jean-François Lyotard (1986) und Jacques Derrida der Hermeneutik eine totalitäre Tendenz vor (vgl. Grondin 2009, S.97ff.). Im Sinne einer „singularisierenden Hermeneutik“ (Marquard 1981) werde dem Textkorpus ein universelle Geltung beanspru4

Der dritte Ansatzpunkt für die Textinterpretation wird am Beispiel der Tiefenhermeneutik entfaltet.

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chender Sinn übergestülpt. Der metaphysische Wille zur Macht werde in der Horizontverschmelzung Gadamers perpetuiert, Differenz werde negiert oder unterdrückt. Der Pluralität von Spiel- und Lesarten postmoderner menschlicher Existenz könne die Hermeneutik damit nicht gerecht werden. Diesem Vorwurf begegneten verschiedene Autor/innen mit einer auf Pluralität und Perspektivität setzenden Version hermeneutischen Denkens (vgl. etwa Marquard 1981; Sichler 1994). Ferner wurde u.a. von Gadamer selbst (vgl. Grondin 2001, S.164ff.) versucht aufzuzeigen, dass die Konzeption des Verstehens in einem dialogischen Gesprächsmodell begründet liege, das Verständigung über unterschiedliche kulturelle Traditionen erst ermögliche und Differenz nie endgültig aufhebe (vgl. Jung 2001, S.136). Eine weitere Strategie der Verteidigung hermeneutischer Orientierung in Philosophie und Wissenschaft setzt auf deren inhärentes, gegebenenfalls noch zu explizierendes kritisches Potenzial (vgl. Kinsella 2006; Kögler 1992). Eine differenzierte Betrachtung von Objekten des Verstehens in ihrem jeweiligen sozialen und kulturellen Kontext und die Reflexion auf den Prozess des Verstehens selbst sind jedenfalls ohne Kritik kaum vorstellbar. Insbesondere die Weiterentwicklung der Hermeneutik zur Tiefenhermeneutik (vgl. Lorenzer 1988; Straub 1999, S.280ff., bei der im szenischen Verstehen die Text-Interpret/in-Interaktion und die Dimension des Unbewussten im Objekt und Subjekt der Deutung in das Selbstverständnis der Hermeneutik einbezogen wird, ermöglicht die Entfaltung kritischer und utopischer interpretativer Sprachspiele (vgl. dazu Sichler 2009). Wie immer auch Konzepte und Methoden der interpretativen Sozialforschung ausgearbeitet werden, eine Auseinandersetzung mit den relevanten Grundlagen der Textauslegung erscheint unumgänglich. Ein Forum für eine daran anknüpfende Beurteilung qualitativer Forschung in der Psychologie bietet der nach wie vor lebendige, auch Gegenstimmen mit einbeziehende, hermeneutische Diskurs. Weiterführende Literatur Eco, Umberto (1992). Die Grenzen der Interpretation. München: Hanser. Lenk, Hans (1993). Philosophie und Interpretation. Vorlesungen zur Entwicklung konstruktionistischer Interpretationsansätze. Frankfurt/M.: Suhrkamp. Ricoeur, Paul (2005). Vom Text zur Person. Hermeneutische Aufsätze (1970-1999). Hamburg: Meiner.

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Qualitative Heuristik 1

Entstehungsgeschichte und historische Relevanz

Die Methodologie der qualitativen Heuristik geht zum einen auf die Arbeiten von Psychologinnen und Psychologen aus dem deutschsprachigen Raum zurück, die seit 1933 bzw. 1938 in die USA auswanderten oder flüchteten, zum anderen auf die Anwendung klassischer anthropologischer Methoden auf den amerikanischen Alltag vor allem in Städten. Die Entwicklung der Methoden wurde wesentlich gefördert durch die Arbeit von Emigranten und Emigrantinnen zur Analyse der amerikanischen Propaganda im zweiten Weltkrieg. Bei den österreichischen Wissenschaftler/innen bestand von Anfang an eine Einheit von akademischer und kommerzieller Forschung, was sich schon in der „Österreichischen wirtschaftspsychologischen Forschungsstelle“ in Wien unter der Leitung von Paul Lazarsfeld und unter Förderung von Karl und Charlotte Bühler (bis 1938) verwirklichte. Dort wurden kommerzielle Untersuchungen ausgeführt, aber auch die „Marienthal-Studie“ (Jahoda, Lazarsfeld & Zeisel 1969 [1933]). Deren Methoden wurden in den USA im Lazarsfeld-Kreis weiterentwickelt. Besonders wichtig für die Methodologie waren die von der Sozialpsychologin Herta Herzog in New York initiierten Verfahren: qualitatives Interview (Herzog 1941), focus interview, focus group u.a.; siehe Merton, Fiske & Kendall 1956, S.5). Die zweite Quelle für die Methodologie der qualitativen Heuristik waren die (kultur-) anthropologischen Methoden von W. Lloyd Warner, praktiziert u.a. von „Social Research Inc.“ in Chicago (dort der Anthropologe Burleigh Gardner, die klinische Psychologin Harriett B. Moore, der Soziologe Lee Rainwater u.a., z.B. Hess & Handel 1959; Rainwater 1960). Diese Forschungsrichtung ist repräsentiert in den Bänden der „Yankee City Series“ (Warner 1959) und zahlreichen kommerziellen Arbeiten, etwa für die Chicago Tribune (Martineau 1957). In die Untersuchungen der interdisziplinären Gruppe gingen neben einem genuin kulturwissenschaftlich-anthropologischen Anliegen Einflüsse aus der soziologischen Chicago-School und sozialpsychologische Konzepte ein. Stärker psychoanalytisch orientiert waren die für die „Authoritarian Personality“ erstellten Analysen (vor allem der Analytikerin und Psychologin Else Frenkel-Brunswik), die mit einem freudschen Ansatz, aber gleichem Anliegen der Entdeckung arbeiteten (Adorno, Frenkel-Brunswik, Levinson & Sanford 1950). Alle genannten Richtungen haben sich sowohl qualitativer als auch quantitativer Daten und darauf abgestellter Analyseverfahren bedient. Die Methodologien waren – ohne diesen Begriff zu verwenden, weil er damals selbstverständlich war – „entdeckend“, d.h. ergebnisund anwendungsbezogen. Die Gemeinsamkeit der genannten Methodologien wurde von Gerhard Kleining um die entdeckenden Methoden der klassischen deutschen Psychologie erweitert – der Frankfurter Gestaltpsychologie und die Würzburger Denkpsychologie samt ihren Vorläufern

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Gerhard Kleining

Franz Brentano (1973 [1874]) und Ernst Mach (1980 [1905]) – und zu einer „qualitativheuristischen“ Methodologie vereinigt. Sie wurde 1982 als „Umriss“ und 1995 als „Lehrbuch“ vorgestellt. (Zu den biografischen Umständen der Rezeption vgl. Witt 2004.) Die „Hamburger Forschungswerkstatt Psychologie und Sozialwissenschaften“ entwickelt die heuristischen Konzepte weiter. Sie befasst sich z.B. mit der Wiedererschließung der klassischen psychologischen Methode der Introspektion als entdeckendem Verfahren unter den heutigen methodologischen Anforderungen (Burkart, Kleining & Witt 2010; Witt in diesem Band) und den Vorarbeiten zu einer umfassenden, dialogischen Theorie der Gefühle (Burkart 2005). Friedrich Krotz (2005) hat verschiedene heuristische Ansätze verglichen.1

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Theoretische und methodologische Prämissen und Grundannahmen

2.1 Eine Definition Heuristische Forschung ist der reflektierte und systematisierte Einsatz von Such- und Findeverfahren zur Gewinnung von Erkenntnis durch Empirie. „Forschung“ gilt als intentionale Handlung und ist an ihrem Ziel zu messen, dem Entdecken als Ergebnis eines nachprüfbaren Prozesses. Probleme des Realitätsverständnisses sind Themen der Erkenntnis- und Wissenschaftstheorie. Jedoch hat auch die Forschungspraxis eine Reihe entdeckender Verfahren unterschiedlicher Effizienz hervorgebracht. Sie bilden die Grundlage für die heuristische Methodologie. Qualitative Heuristik ist eine allgemeine und umfassende Forschungsstrategie. Sie ist besonders für qualitative Daten geeignet, aber nicht auf sie beschränkt (vgl. Kleining & Witt 2001). Sie kann auch auf Fragestellungen der Sozial- und Textwissenschaften angewandt werden (siehe Abschnitt 2.7). Wissenschaftsstrategisch unterscheidet sie sich sowohl von erklärenden (deduktiv-nomologischen) als auch beschreibenden (induktiven) bzw. deutenden (hermeneutischen) Aufgabenstellungen (vgl. Kleining 2007, S.216). Von anderen entdeckenden Verfahren (Blumer 1973 [1969]; Glaser & Strauss 1967) setzt sie sich ab durch die Einbeziehung der klassischen mitteleuropäischen Psychologie bis 1933/1938, durch ein erweitertes Methodenspektrum, durch die Nutzung dialogischer Erhebungsmethoden und die daraus entstehende Chance zur immanenten Kritik sowie auf der praktischempirischen Seite durch eine vereinfachte Analysetechnik. 2.2 Die Grundannahmen Grundlegend für die Heuristik ist die Überzeugung, dass „Entdeckung“ durch eine Systematisierung der entdeckenden Forschungsverfahren optimiert werden kann. Die Heuristik ist nicht auf Intuition angewiesen (Popper 1994 [1934], S.6), sondern zumeist Ergebnis intensiver Planung und geduldiger Arbeit am Detail. Einige Verfahrensregeln haben sich als anderen überlegen erwiesen, so z.B. die Variation, die schon durch Wundt in die experi1 Siehe zur allgemeinen Information http://www.heureka-hamburg.de, http://www.introspektion.net und http://de. wikipedia.org/wiki/Qualitative_Heuristik.

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mentelle Psychologie eingeführt wurde oder der Vergleich, ein seit der Romantik verwandtes geisteswissenschaftliches Verfahren, das in vielen Wissenschaftsrichtungen eingesetzt wird. Ein Kernpunkt der qualitativen Heuristik ist die Richtung des Vergleichs: Ein Vergleich auf Differenzen führt zu bis ins Unendliche reichenden Kombinationsmöglichkeiten und verlangt die Legitimation der jeweils gewählten – letzten Endes subjektiven – Auswahl, während die Analyse auf Gemeinsamkeiten beabsichtigt, komplexe Datensätze auf nachvollziehbare Weise auf ihre Struktur zurückzuführen. Ein anderes Erkenntnis generierendes Verfahren kann der Dialog sein, wobei auch ein „Dialog“ gegenüber und mit Dingen gedacht und praktiziert werden kann, also eine Ausweitung und spezifische Anwendung der Frage, deren heuristische Bedeutung schon die klassische griechische Philosophie erkannte. Zu den Grundannahmen gehört, dass „Entdeckung“ ein Alltagsprozess ist, dessen Praktizierung ein selbstbestimmtes Leben erst ermöglicht: Die frühen Erfahrungen eines Menschen beinhalten, sich selbst und die Umwelt zu entdecken und sie sich anzueignen in einem beständigen, dialogischen Prozess. Die Menschheit hätte nicht überleben können ohne den psychologischen Vorgang der Entdeckung. Die Regeln des erfolgreichen Suchens und Findens stammen aus der Alltagserfahrung, sie werden wissenschaftlich verwendbar, wenn sie reflektiert und mit nachvollziehbaren Abläufen eingesetzt werden. Dass entdeckende Verfahren nicht nur, wie vorgeschlagen, in der qualitativen Psychologie und Sozialforschung verwendet werden, sondern auch in den Naturwissenschaften – spätestens seit Galilei – üblich sind, sollte nur diejenigen Forschenden abhalten, sie einzusetzen, die eine grundlegende Andersartigkeit der verschiedenen Wissenschaftsrichtungen unterstellen – tatsächlich sind (entdeckende) Psychologie und (entdeckende) Naturwissenschaften sehr ähnlich (vgl. Mach 1980 [1905]). 2.3 Die heuristische Methodologie Mancherlei Verfahren können die Entdeckungschance für einen als Problem erkannten Zusammenhang erhöhen. Ohne übergreifende Methodologie besteht jedoch die Gefahr gravierender Fehler, z.B. ein Detail zu finden, das man für das Ganze hält oder wichtige Aspekte zu übersehen. Die erste Forderung an eine entdeckende Methodologie ist deswegen, den ganzen Forschungsprozess auf das Erkennen des Forschungsgegenstandes im Subjekt-Objekt-Verhältnis zu optimieren. Als Zweites soll die Methodologie praktikabel sein, also mit möglichst geringem Aufwand Erkenntnisse erbringen. Der Vorschlag einer „qualitativ-heuristischen“ Methodologie war sich dieser Prämissen bewusst (Kleining 1982, 1994, 1995, 2007; Hagemann & Krotz 2003; Krotz 2005; Kleining 2010). Das Suchverfahren gibt an, wie die Chance erhöht werden kann, den Forschungsgegenstand aufzuklären. Die Methodologie ist vielfach erprobt und verlangt nur, bestimmte Regeln zu beachten. 2.4 Die heuristischen Regeln Die heuristische Methodologie verwendet vier Regeln, die zusammenspielen. Sie sind als Verläufe zu verstehen, im Sinne von „in Richtung auf ...“:

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Regel 1: Offenheit der Untersuchungsperson, Regel 2: Offenheit des Untersuchungsgegenstandes, Regel 3: Maximale strukturelle Variation der Perspektiven, Regel 4: Analyse auf Gemeinsamkeiten.

Die beiden ersten Regeln reflektieren das Subjekt-Objekt-Verhältnis und sollen die Chance verbessern, den Forschungsgegenstand als eigenständig zu erfassen. Die beiden folgenden Regeln beziehen sich auf Datenerhebung und Analyse des Gegenstandes in gleicher Absicht: Regel 1 verlangt von der Forschungsperson Offenheit für Neues: Erbringt die Untersuchung anderes als das, was ihr über den Gegenstand schon bekannt ist, soll sie ihre Meinung dem neuen Kenntnisstand anpassen. Die Regel verlangt keine Tabula rasa, die weder möglich noch erstrebenswert ist, weil Vorverständnisse auch gegenstandsadäquat sein können. Sie wird nur aufgerufen, wenn eine gravierende Differenz zu den Daten auftritt (vgl. Kleining 2001). Regel 2 öffnet das Bild des Gegenstandes. Präsentiert sich das Thema im Laufe der Forschung in neuem Zusammenhang, so sollte der Gegenstandsbegriff modifiziert oder geändert werden. Er sollte deswegen schon von Anfang an als „vorläufig“ gelten. Erst am Ende der Forschung ist er ganz bekannt. Das kann bei durch Drittmittel finanzierten Untersuchungen zu Schwierigkeiten führen, wenn der Geldgeber erwartet, ein Thema beantragungsgemäß abzuarbeiten, während sich der Erkenntnisstand im Verlauf der Forschung ändert. Tritt das vermeintliche Dilemma ein, ist das Verhandlungsgeschick der Forschungsperson gefragt. Regel 3 über Datenerhebung oder das Sample verlangt, den (vorläufigen) Forschungsgegenstand von möglichst „allen“ Seiten zu betrachten oder betrachten zu lassen. Sichtweisen werden gesucht, die bekanntermaßen oder vermutlich voneinander verschieden sind, ob tatsächlich, weiß man erst nach Erhebung des Materials. Hinweise auf alternative Sichtweisen können Alltagskenntnisse geben oder bisherige Forschungsergebnisse, Befragung von Experten/Expertinnen, Angaben in der Literatur oder vorläufige Beobachtungen im Feld. Die Differenzen sollen sich – in letzter Instanz – als „maximale strukturelle Perspektiven“ darstellen. Man beginnt im kleinen Maßstab und mit dem Offensichtlichen, zunächst mit zwei, möglichst deutlich voneinander abweichenden Perspektiven. Immer sollten die Methoden variiert werden – zwei für den Anfang – und wenn möglich die Personen, Zeit, Ort und Umstände. Die Variationen hängen vom Forschungsgegenstand und von den Zugangsmöglichkeiten ab. Bei sozialpsychologischer Forschung kann z.B. mit Extremgruppen-Samples gearbeitet werden. Klinische Forschung gewinnt Kriterien für die Beurteilung des Einzelfalles aus den extremen Ausprägungen der jeweiligen Konstitution oder der Person in extremen Situationen. Gedankenexperimente gehen Realexperimenten voraus. Die Daten werden dokumentiert und separat analysiert. Nach Regel 4 über Datenanalyse werden die Gemeinsamkeiten der unterschiedlichen Sichtweisen gesucht. Dies bedarf einiger Übung, weil man „gegen den Strich“ die offensichtlichen Differenzen in den Daten zu überwinden trachtet. Hilfreich ist das Nachanalysieren von Beispielen (z.B. Kleining 1994). Ähnlichkeiten und Analogien sind Gemeinsamkeiten, aber auch Negationen als gekonterter Ausdruck eines Inhalts. Der Weg geht von den verschiedenen Formen des Konkreten zu immer höherer Abstraktion. Das Ziel ist, alle Daten unterzubringen (die sogenannte „100%-Regel“ oder „0%-Abweichung“). Abstraktion

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von Konzepten heißt nicht Reduktion, sondern Zusammenfassung und Bündelung. Die abstrakteste Form von konkreten Fällen ist nicht ein einzelner Begriff, sondern die Wiedergabe von Verhältnissen oder Beziehungen (vgl. auch die Abschnitte 2.6 und 2.7). Die Kombination der Regeln 3 und 4 entspricht der Kombination der unterschiedlichen Empfindungen der Sinnesorgane zu einem einheitlichen Erleben der „Welt“. Dieser für das Überleben sowohl des Individuums als auch der Gattung wichtige Prozess wirft Licht auf die anthropologische Basis der Entdeckungsregeln. 2.5 Experiment und Beobachtung sind Grundmethoden Alle Handlungen repräsentieren die Abfolgen von aktiven und rezeptiven Akten. Die Wahrnehmung beispielsweise kombiniert (aktive) „Beobachtung“ und (rezeptives) „Gewahr-Werden“, das Sprechen ist verbunden mit Hören, das Handeln mit Reflexion und Kontrolle, Experiment und Beobachtung sind demnach Grundmethoden entdeckender Forschung (vgl. Kleining 1986). Entdeckende Untersuchungsverfahren stammen aus der historischen Forschungsliteratur (wie das qualitative Experiment oder die Introspektion; dazu Burkart bzw. Witt in diesem Band), sind durch eine Variation der bestehenden Methoden herzustellen (wie das rezeptive Interview; dazu Mey & Mruck in diesem Band) oder ergeben sich aus scheinbar ungewöhnlicher Kombination (wie die Anwendung von Experiment und Beobachtung auf Texte; siehe Kleining 1994). Vor allem das Fehlen des (qualitativen) Experiments als reales oder Gedankenexperiment oder dessen Verweis auf eine Nebenrolle statt der einer grundlegenden Entdeckungsmethode ist ein gravierender Mangel von Methodologieentwürfen – Forscher und Forscherinnen sollten sich nicht mit einem reduzierten Angebot von Methoden zufriedengeben. 2.6 Der heuristische Forschungsprozess Gleichgewicht der Regeln: Die vier Regeln unterstützen sich gegenseitig. Es gibt keine Hierarchisierung der Wichtigkeit und keine festgelegte Abfolge. Nur scheinbar geht die Datenerhebung der Analyse voran, weil ihr schon die Gedankenanalyse vorgeschaltet ist. Sobald die ersten Informationen existieren, beginnt die reale Analyse, deren (vorläufiges) Ergebnis wieder auf die weitere Datenerhebung einwirkt, sodass Erhebung und Analyse sich verschränken. Die Datenerhebung ist bei entdeckender Forschung integrierter Teil des Entdeckungsprozesses, nicht hierarchisch primär oder sekundär. Man beginnt mit kleinen Samples und weitet je nach Erkenntnisstand aus auf die noch nicht erkundeten Fragestellungen und Forschungsbereiche. Da alle Felddaten ernst genommen werden, sind auch Einzelfälle oder sehr kleine Extremgruppen-Samples bedeutend. Alles bleibt im Fluss bis zum Ende. Dabei ist nicht nur das Denkgerüst der formalen Logik gefragt, sondern alle Denk-, Wahrnehmungs- und Empfindungsarten sind aufgerufen, sich an der Suche zu beteiligen (Beispiele in. Kleining 2003). Dialogprinzip: Der Forschungsprozess wird durch „Fragen“ an den Forschungsgegenstand in Bewegung gesetzt. Dies können gesprochene Fragen in einer realen Situation an eine Person sein, gedachte Fragen an eine Person oder an Gegenstände oder Texte, die

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mit dem Forschungsgegenstand in Verbindung stehen oder ihn repräsentieren. Die „Antworten“ – real oder gedacht – werden protokolliert und führen zu weiteren „Fragen“, sodass eine Frage-Antwort-Abfolge entsteht. Die Fragen sollen die Perspektiven, unter denen der Forschungsgegenstand gesehen wird, möglichst stark variieren. Das Material wird dokumentiert und später separat analysiert (siehe zur empirischen Begründung Kleining 1994, S.47-65). Intersubjektivität: Das Entdecken der Gemeinsamkeiten in der Vielgestaltigkeit der Daten überführt die subjektive Sicht aus der Einzelperspektive in die Gemeinsamkeit des Intersubjektiven. Die Abfolge konkret ! abstrakt ! konkret: Der Forschungsprozess abstrahiert Gemeinsamkeiten aus den konkreten Daten und kehrt von der Abstraktion wieder zurück zum Konkreten, das jetzt in neuer Gliederung erscheint. Das Chaos des Anfangs verwandelt sich in Struktur und Ordnung. Das Modell ist dialektisch, es bindet Widersprüchliches durch immanente Bewegung. Es geht einen Schritt über Simmels (1958 [1908]) „Wechselwirkung“ hinaus, die Gegensätzliches aufeinander bezieht, aber keine Veränderung impliziert. Es öffnet sich gegenüber den Fakten, distanziert sich vom alleinigen Bezug auf formale Logik wie auch vom Selbstbezug der zirkulären Deutung (vgl. die philosophische Dialektik, im Einzelnen Marx 1972 [1857]). Ein Bespiel: Auf meinem Schreibtisch befinden sich viele Gegenstände: zwei PCs, verschiedene Uhren, etwa 20 Bücher, Schreibgeräte, viel Papier, beschrieben und leer. Ich nenne die Gegenstände „konkret“. Was ist gemeinsam? Ich gruppiere sie z.B. in: die Arbeitsgeräte, die Hilfsmittel, die Arbeitsergebnisse oder: die großen und kleinen Gegenstände, die neuen und älteren, die mit deutscher und englischer Aufschrift, die schönen und hässlichen etc. etc. Wenn ich jetzt abzähle, wie viele Elemente in jede Kategorie fallen, gehe ich den Weg der Quantifizierung. Der „qualitative“ entsteht wieder durch die Frage nach Gemeinsamkeit. Was ist in jeder Gruppe und darüber hinaus in allen Gruppen gemeinsam? Z.B.: alle Gegenstände sind hier und jetzt auf dem Schreibtisch, alle haben eine Funktion, alle sind hergestellt und hierher gebracht worden, für alle wurde bezahlt. Das sind alles Abstraktionen – Begriffe, die jeweils verschiedene Ausprägungen des Merkmals beinhalten. Nehmen wir nur das letzte: den Kauf oder die (Ver-) Kaufbarkeit. Dahinter steht eine bestimmte Form der Fertigung, des Vertriebs und des Verbrauchs, der Umwandlung von Material in (Ver-) Kaufbares durch Nutzung von Arbeitskraft. Sie ist kennzeichnend für die derzeitige Gesellschaftsform, aber auch für mich. Die Ökonomen des 17.-19. Jh. nannten das „Wert“ oder „Tauschwert“. Gekauft habe ich die Gegenstände aber wegen ihres Nutzens für mich hier und jetzt, genannt „Gebrauchswert“. Ich habe auch eine Fotografie auf meinem Tisch, ein Geschenk, das nur „Gebrauchswert“ zu haben scheint. Aber auch es ist industriell gefertigt und hat irgendwo Geld gekostet und Arbeitskraft absorbiert. Ich könnte das im Einzelnen nachweisen. Wenn ich mit diesem abstrakten Ergebnis wieder zurück zu den konkreten Gegenständen meines Arbeitsplatzes gehe, kann ich sie jetzt nicht nur unter dem Gesichtspunkt der individuellen Nützlichkeit, sondern auch unter dem gesellschaftlichen Gesichtspunkt der Produktion und des Konsums sehen. Ich bin auf ein Strukturmerkmal gestoßen, das zeigt, dass ich trotz individueller Interessen Teil eines Gesamt bin, als Einheit, aber auch zu Zeiten im Widerspruch zum Gemeinwesen, weil ich nicht immer in Übereinstimmung bin mit den Produkten und Ideologien, die mir vorgesetzt oder zum Kauf angeboten werden. Wir nennen das ein dialektisches Verhältnis. Umgekehrt kann ich natürlich auch die Gegenstände unter dem Gesichtspunkt des Gebrauchswertes auf

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mich als dem Gemeinsamen beziehen, als jemand, zu dessen Arbeitsplatz und Lebenswelt sie gehören und daraus Schlüsse ziehen auf die vermutlichen Persönlichkeitsmerkmale des Verwenders. Nach der Analyse haben sich die Gegenstände verwandelt in vielfach verflochtene Verhältnisse und Beziehungen. Anfang und Ende: Weil alle Daten in einen Gesamtzusammenhang eingeordnet werden sollen, ist der Anfang beliebig. Man beginnt dort, wozu man Lust hat oder wo der Zugang zum Material einfach erscheint, ähnlich wie bei einem Kreuzworträtsel oder Puzzle. Man endet, wenn alles aufgeklärt ist und neue Daten, trotz weiterer Variation, keine neuen Erkenntnisse produzieren. Umschlag in Kritik: Endet die Forschung mit der Erkenntnis der Struktur eines Forschungsgegenstandes, können weitere Fragen an sie immanente Probleme verdeutlichen. Die Bewertung der Ergebnisse erhält eine neue Dimension, wenn die Faktoren einbezogen werden, auf die der Forschungsgegenstand wirkt oder von denen er bestimmt wird. Dadurch kann sich die Prognose über zukünftige Chancen und Risiken verbessern (vgl. Kleining 1988). 2.7 Textanalyse Bei verschriftlichten Forschungsdaten stellt sich das Problem der Analyse. Wegen des Offenheits-Postulats (Regeln 1 und 2) arbeitet die heuristische Textanalyse nicht mit vorgefertigten Analyseprogrammen. Sie muss von qualifizierten Personen ausgeführt werden – „Analyse ist Chefsache“. Der Knackpunkt ist die Analyse auf Gemeinsamkeiten. Wer es noch nicht gemacht hat, kann es üben (Beispiele in Kleining 1995, sie beziehen sich auf Fragebogenerhebungen, Dialoge, Reden, Trivial- und künstlerische Gedichte. Der Band enthält ebenfalls Beispiele für Textbeobachtung und Textexperimente). Die heuristische Textanalyse ist die Anwendung der heuristischen Methodologie auf Texte. Ziel ist es, die Struktur der Texte zu erkennen. Gegenstand sind Texte beliebiger Herkunft, beliebigen Inhalts und Umfangs: gesprochene und geschriebene, alltägliche und künstlerisch gestaltete, wissenschaftliche, Protokolle jeder Art, auch solche, die Forschungsarbeiten dokumentieren, bürokratisierte wie amtliche Dokumente, Gesetzestexte, Gebrauchsanweisungen, ebenfalls Reden, Dialoge, Texte in unterschiedlichen Gestaltungsformen. Im Allgemeinen werden mündliche Äußerungen zur besseren Handhabung in die schriftliche Form überführt, sofern nicht linguistische Aufgaben anstehen. Verwendet werden die originalen Formulierungen, bei Befragungen verbale Protokolle, ohne weitere Signaturen. Der erste Schritt ist die Bestimmung der zu analysierenden Texte. Auch wenn die Abgrenzung klar zu sein scheint – etwa 20 Protokolle oder 50 Beobachtungen, ein Prosaband oder ein einzelnes Gedicht – sollte man im Auge behalten, dass sich der Forschungsgegenstand im Laufe des Entdeckungsprozesses verändern kann, sodass die Definition des Untersuchungsgegenstandes zunächst vorläufig bleibt (Regel 2 der heuristischen Methodologie). Der Text wird in einen analysierbaren Zustand gebracht, sodass er für die Forschungsperson überschaubar ist. Sind es zu viele oder zu lange Texte, als dass sie sich diese in der verfügbaren Zeit aneignen kann, wählt sie Teile aus. Außer bei methodologisch gesteuerten Experimenten werden Texte nicht verändert, etwa, indem man „nur das Wichtigste“ berücksichtigt, das „Nebensächliche“ weglässt, vermeintliche Wiederholungen streicht

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oder Texte nacherzählt, zusammenfasst oder erläutert. Texte werden durch die Forschungsperson grundsätzlich nicht verändert. Heuristik ist keine Hermeneutik (SubjektivitätsProblematik). Die Auswahl von Texten soll Extremgruppensamples entstehen lassen, d.h., man stellt die Textteile nach ihrer vermeintlichen Unterschiedlichkeit zusammen (Regel 3). Mit zwei oder drei dem Eindruck nach verschiedenen Textteilen kann man schon beginnen. Sehr kurze Texte müssen möglicherweise durch andere Originaltexte ergänzt werden, etwa einzelne Briefe, Epigramme, Tagebuchnotizen, generell bei literaturwissenschaftlichen Analysen. Man sucht zunächst nach vergleichbaren Texten im engeren Sinne – Produktionen desselben Autors/derselben Autorin, aus derselben Zeit, mit gleicher Funktion etc. – und später nach Produktionen aus der gleichen Kultur, wobei man mit den möglichst direkt vergleichbaren beginnt. Um Textstellen bei der Analyse leichter auffinden zu können, empfiehlt sich eine Zeilen-Nummerierung. Analyse und Sampling von Texten gehen ineinander über und befruchten sich gegenseitig in einem dialogischen Prozess. Während des Analysevorganges und besonders dann, wenn sich neue Bereiche auftun, die mit den vorhandenen Daten nicht ausreichend erschlossen werden können, kann man weitere Daten aus dem Umfeld der Problembereiche heranziehen. Dies können schon vorhandene Texte sein oder auch neu erhobene Daten, die fragliche Themen aufklären. Die für die Analyse vorbereiteten Texte sind der (vorläufige) Gegenstand der Forschung. Die Analyse selbst folgt der Regel 4 der Methodologie, d.h. versucht die Gemeinsamkeiten in den unterschiedlichen Textteilen zu entdecken. Man beginnt bei den Textteilen, bei denen eine Ähnlichkeit mit anderen am offensichtlichsten ist. Dazu kann man die Texte mit der Frage lesen: „Sagt ein Text etwas aus, das ich so oder so ähnlich in einem anderen Textteil schon gelesen habe?“ Die Gemeinsamkeit notiere ich mir (erkennbar so, dass sie von mir stammen, damit ich sie nicht mit Stellen aus dem Text selbst verwechsle). Der Prozess ist der der Abstraktion, d.h. ich ziehe aus einem komplexen Text die Merkmale heraus, die ich bei einem anderen Textteil auch vorzufinden meine. Dabei reicht zunächst eine Vermutung und eine vorläufige Formulierung der Gemeinsamkeit aus – im fortschreitenden Prozess der Analyse wird sich die Vermutung bestätigen oder korrigiert werden müssen. Hier ein vereinfachtes Beispiel, um den Analyseprozess zu verdeutlichen. Mehrere Personen2 äußern sich über ihr Angsterleben: 1. Angst vor Spinnen, Mäusen, Schlangen, 2. Angst vor Einbrechern, 3. Angst vor dem Zahnarzt/der Zahnärztin, 4. Platzangst, vor engen/weiten Räumen. Man wird die einzelnen Ängste explorieren und die Angaben dokumentieren. Dann werden die Texte analysiert. Dies geschieht, indem die Forschungsperson die Daten „befragt“, und zwar nach Gemeinsamkeiten. Man kann die Ängste, die auf Grund der Beschreibungen ähnlich erscheinen, zuerst zusammenfassen, beispielsweise 2. und 3., weil es sich hier um Personen handelt, die dem Subjekt vermutlich Schmerzen zufügen oder die Lebewesen der 1. Gruppe, vor denen es sich „ekelt“, und diese Ängste mit der Platzangst in Verbindung bringen, weil sie beide die Sicherheit und Autonomie des Subjekts infrage stellen und zwar auf einer emotionalen, nicht nur rationalen Ebene. Diese Gemeinsamkeit könnte im übertragenen Sinne auch auf die Ängste in 1. zutreffen, sodass wir hier eine Aussage über alle Ängste haben, nicht nur über ihre jeweils spezifische Ausprägung. Dann gibt es noch weitere Gemeinsamkeiten, wie das Erleben von Angst, die physischen 2 Man kann die Ängste auch einer einzelnen Person zuschreiben, aber das Beispiel soll eher „normale“, nicht pathologische Ängste reproduzieren.

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Begleiterscheinungen, Schweißausbruch, Herzklopfen etc. Alle Analyseaspekte werden nur durch Gruppierung der tatsächlich erhobenen Daten gewonnen, die nicht nur auf einer einmaligen Auskunft beruhen, sondern weitere Personen, Situationen, Auslöser, Verläufe, Begleiterscheinungen etc. einschließen. Die Daten können aus verschiedenen Quellen stammen, aus Befragungen, Beobachtungen, Dokumenten, oder sie können experimentell hergestellt werden (Regel 3 über Variation). Der Analyseprozess geht vom Konkreten aus und führt über mehrere Stufen zur Abstraktion. Man kann auch sagen, er beginnt mit dem Besonderen und führt zum Allgemeinen oder auch: er beginnt mit der Beschreibungen der Symptome und arbeitet das Gemeinsame, das Phänomen heraus.3 Nachdem die Abstraktion hergestellt wurde, ist die Reise zurück anzutreten. Man endet wieder bei den Symptomen oder den Ausgangsdaten. Sie erhalten aber unter Kenntnis des Allgemeinen einen spezifischen Charakter und können, anders als zu Anfang möglich, auf der Folie der allgemeinen Bedingungen des Themas beurteilt und, bei diesem Beispiel, auch behandelt werden. Dabei kann sich die Thematik wesentlich verändern, z.B. von den Spinnen, Mäusen und Schlangen zur Identitätsproblematik des betroffenen Subjekts übergehen. Das ist im Prinzip auch das Verfahren der (analytischen) Psychotherapie. Abbildung 1:

Der Analyseprozess ABSTRAKT Phänomen Angst (1+2+3+4)

KONKRET 1 Symptome Angst 1/2/3/4

KONKRET 2 Symptome Angst auf Basis Phänomen Angst z. B. (1+2) / 3 / vs. 4

Anmerkung: Die Zahlen beziehen sich auf die Aussagegruppen des Beispiels auf S. 72 unten.

Die Methoden der heuristischen Textanalyse sind entweder die Beobachtung von Texten oder das Experimentieren mit Texten. Im Allgemeinen „beobachtet“ man zunächst die Texte und setzt die Textexperimente erst ein, um bestimmte Detailfragen zu klären. Beobachtung und Experiment arbeiten mit der Frage-Antwort-Abfolge und sind dialogische Prozesse. Der Analysevorgang ist abgeschlossen, wenn alle Textteile untergebracht sind („100%-Regel“).

3 Vgl. zum Vorgehen Simmel (1958 [1908], S.11): „An den komplexen Erscheinungen wird das Gleichmäßige wie mit einem Querschnitt herausgehoben, das ungleichmäßige an ihnen – hier also die inhaltlichen Interessen – gegenseitig paralysiert.“

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Werden schriftliche Berichte über die Analyse und deren Ergebnisse angefertigt, so arbeitet man am besten mit Überschriften, welche die Ergebnisse der Teilanalysen formulieren, und mit den jeweiligen Belegen aus den Texten versehen sind. Beispiele siehe unter www.heureka-hamburg.de. 2.8 Prüfverfahren Aus der psychologischen Testtheorie stammen Maße zum Grad der Übereinstimmung von Testerhebungen mit externen Variablen („Validität“) und zur Stabilität z.B. bei Split-halfoder wiederholter Anwendung („Reliabilität“). Sie werden bei quantitativen Daten und deduktiver Methodologie angewandt. In die heuristische Methodologie sind dagegen die Validitäts- und Reliabilitätsprüfungen schon eingebaut, sie ergeben sich durch den Forschungs- und Analyseprozess selbst. Validität: Regel 3 über die „maximale strukturelle Variation der Perspektiven“ verlangt, zunächst als „äußerlich“ angesehene Informationen in die Datenerhebung aufzunehmen, auch auf Verdacht, und sie auf Übereinstimmungen mit anderen Aspekten des Forschungsgegenstandes zu prüfen (Regel 4, „Analyse auf Gemeinsamkeiten“). Dadurch werden sie, im positiven Fall, zu „inneren“ Kriterien („innere Validität“). Die Unsicherheit in diesem Teilbereich liegt darin, dass ein relevanter „äußerer“ Aspekt nicht berücksichtigt wird, weil er nicht entsprechend gewürdigt wurde oder überhaupt nicht bekannt ist – dies betrifft aber die deduktive Testtheorie in gleicher Weise. Reliabilität: Auch die Verlässlichkeitsprüfung ist bei heuristischer Forschung in die Datenerhebung integriert. Wie bei einem Legespiel oder Kreuzworträtsel werden die neuen „Teile“ in die bestehenden Strukturen eingepasst, wobei sich diese verändern können, bis ein in sich stimmiges Gesamtbild, eine „Struktur“ entsteht, in der alle Teile ihren Platz haben („100%-Regel“). Die geglückte Analyse – das schlussendliche Zusammenpassen aller Aspekte – wird im Forschungsprozess zunehmend genauer und damit mit gleichem Ergebnis wiederholbarer. Range, Reichweite oder Geltung der Ergebnisse sind, anders als in der Testtheorie, wo sie als „Grundgesamtheit“ gesetzt, aber nicht hinterfragt werden, bei heuristischer Untersuchung Ergebnis der Forschung. Die ergebnisrelevanten Extrempositionen des Samples markieren die jeweilige Reichweite. Deren Grenzen können geprüft werden (testing the limits). Alle psychologischen Daten und Erkenntnisse gelten zunächst nur für die erhobenen Fälle und die Bedingungen, unter denen sie erhoben wurden. Alle Behauptungen über erweiterte Reichweiten müssen belegt werden, gegebenenfalls durch Erweiterung der Samples. Dass „extreme“ Fälle einbezogen werden oder die Analyse auf sie gründet, ist eine von der Medizin bekannte und augenscheinlich „entdeckende“ Forschungsstrategie, sie bezieht die „zwischen“ den Extremen liegenden Fälle in den größeren Symptombereich ein. Die Notwendigkeit, die jeweilige Geltung von Ergebnissen zu bestimmen, warnt vor der Annahme von „Universalien“ (Talcott Parsons) und erinnert daran, dass Menschen historische Wesen sind, die in jeweils bestimmten gesellschaftlichen Verhältnissen leben.

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Aktueller Stellenwert und zentrale Diskussionen in der Psychologie

Die frühe Entwicklung der „qualitative Heuristik“ genannten, entdeckenden Forschungsrichtung hat in der klassischen deutschen und österreichischen Psychologie (einschließlich Piaget in der französischen Schweiz und Paris) stattgefunden. Sie hat sich wesentlich innerhalb der kommerziellen Forschung etabliert. Trotz gelegentlicher Veröffentlichungen von Methoden und Ergebnissen ist die Rezeption in der akademischen Psychologie lange Zeit schwach geblieben: Die Verfahren, die zum Teil schon in der Vorkriegszeit entwickelt und angewandt wurden und Mitte des letzten Jahrhunderts voll entwickelt waren, damals zum Teil selbst journalistische Präsenz als „Motivforschung“ erreichten, sind erst in den 1980er Jahren weitgehend zögernd von der akademischen Psychologie zur Kenntnis genommen worden. Die neueren psychologischen Standard-Lehrbücher umgehen zumeist die „qualitativ“ genannte Psychologie und Soziologie,,wie sie auch die Klassiker allenfalls in ihrer historischen Dimension würdigen, ohne auf ihre weitgehend entdeckende Methodologie als Anregung und Ansporn für die gegenwärtige Forschungsgeneration einzugehen. Dieses cultural lag mag verursacht gewesen sein durch den seit Mitte des letzten Jahrhunderts akademisch dominanten Behaviorismus und die deduktiv-nomologische Methodologie sowie den mit ihnen, unbegründeter Weise, in Verbindung gebrachten Glauben an einen höheren Grad an Objektivität durch das Ausdrücken von Verhältnissen durch Zahlen. Forschungspersonen, die sich heuristischer Forschung bedienen, können sich zwar auf große Praxisnähe der Methoden verlassen, müssen aber nach wie vor akademischer Zurückhaltung gewärtig sein. Die Integration der Verfahren in die akademische Psychologie bleibt gleichwohl ein bedeutendes Anliegen, umso mehr, als frühere Reaktionen auf offensichtliche Defizite in der Psychologie eher zu einer Abspaltung der Lösungswege und der Methoden geführt haben als zu einer Einbeziehung in den akademisch gelehrten Korpus, wie am Beispiel der Psychoanalyse, der Gestalt-, Denk- oder phänomenologischen Psychologie erkennbar ist. Die Weiterentwicklungen der Methodologie werden unter diesen Umständen auf absehbare Zeit vor allem aus der Praxis zu erwarten sein, wie sie ja auch schon früher durch die Bildung von mehr oder weniger autonomen Gruppen, Instituten und Forschungseinrichtungen erfolgten, die nur lose mit den akademischen Institutionen verbunden waren, trotz aller Gefahr des Abgleitens in die bloße Kommerzialisierung. Die erwähnte „Hamburger Forschungswerkstatt Psychologie und Sozialwissenschaften“ versteht sich als eine solche informelle Einrichtung von empirisch Forschenden.

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Stärken, Schwächen und Desiderata

Die qualitative Heuristik sucht die Spaltung der Methoden zu überwinden, die seit Diltheys Proklamierung der Eigenständigkeit der geisteswissenschaftlichen Methoden eingetreten ist. Forschen heißt entdecken, für beide Wissenschaftsrichtungen. Die qualitative Heuristik nutzt ebenfalls die entdeckenden Potenziale der mitteleuropäischen Psychologie und Sozialwissenschaft bis zum Eintritt der Nazibarbarei, die sich zum Teil nicht wieder in die Nachkriegs-Entwicklung der akademischen Psychologie integrieren konnten. Dies zeigt sich etwa im gegenüber dem amerikanischen Ableger der qualitativen Forschung erweiterten Methodenspektrum, beispielsweise dem qualitativen Experiment

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oder der Introspektion und dem grundlegend kritischen Anspruch der Heuristik, da eine Entdeckung immer den bisherigen Wissensstand infrage stellt. Jede entdeckende Forschung riskiert, dass sie nichts oder schon Bekanntes entdeckt. Vor Ersterem sollte die systematische Anwendung von Entdeckungsstrategien schützen. Das Entdecken von etwas schon Bekanntem ist dagegen eine Bestätigung, dass man auf dem richtigen Wege ist und ein Ansporn, den nächsten Schritt zu tun. Entdeckungen sind nur selten die sofortige umfassende Lösung aller Aspekte eines Problems, wobei die Bestimmung des Problems selbst Teil seiner Lösung ist. Entdeckungen sind selbst ein Prozess, der als dialogisch angesehen werden kann, als Interaktion der Forschungsperson mit dem jeweiligen Stand der Problemsicht und dem Status der Aufklärung. Zu wünschen bleibt Vieles. Hier nur drei Hoffnungen: zunächst die auf eine weitere Verbreitung und Nutzung der entdeckenden Methoden trotz der institutionellen Schwierigkeiten, die „reformierte“ und verschulte Universitäten gegen selbstbestimmte Praxis der Forschung produzieren. Zweitens, im weiteren Sinne, eine verbesserte Kenntnis der Geschichte der eigenen Wissenschaft einschließlich ihrer Methoden und drittens, im weitesten Sinne, den Abbau des Vorurteils, die Naturwissenschaften seien eine bessere oder auch nur andere Wissenschaft als die Psychologie, die Sozial- und die anderen Geisteswissenschaften, und dürften sich zum Nutzen oder zum Schaden der Menschheit der entdeckenden Verfahren bedienen, während diese auf eine Interpretation des wie immer definierten naturwissenschaftlichen Weltbildes zurückgesetzt seien. Weiterführende Literatur Burkart, Thomas; Kleining, Gerhard & Witt, Harald (Hrsg.) (2010). Dialogische Introspektion. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften. Kleining, Gerhard (2010). „Vertrauen“ in den Medien und im Alltag. In Maren Hartmann & Andreas Hepp (Hrsg.), Die Mediatisierung der Alltagswelt (S.127-146). Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften. Mach, Ernst (1980). Erkenntnis und Irrtum. Skizzen zur Psychologie der Forschung (Nachdruck der 5. Aufl.). Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft. [Orig. 1905]

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Symbolischer Interaktionismus 1

Die Tradition des symbolischen Interaktionismus

1.1 Transdisziplinäre Orientierung Der symbolische Interaktionismus war im 20. Jahrhundert eine der einflussreichsten Traditionen in der Sozialpsychologie und in der Soziologie. Die qualitative Forschung verdankt ihm wichtige Impulse, Grundlagen und Perspektiven. Seine Ideen und Methoden haben unser Denken und unsere Forschung massiv verändert, Disziplinen wie die Soziologie entscheidend transformiert und in der Psychologie deutlich gezeigt, dass die Grenzen zur Soziologie überschritten werden müssen, wenn das menschliche Handeln verstanden und seine Logik beschrieben werden soll: Individuum und Gesellschaft lassen sich nicht trennen. 1.2 Merkmale Der Ausgangspunkt des symbolischen Interaktionismus ist die Fähigkeit des Menschen, Symbole produzieren und verwenden zu können. Mittels Sprache können Erfahrungen ausgetauscht und Bedeutungen geteilt werden. Stimulus-Response-Reaktionen werden überwunden, eine Kultur entsteht. So gilt das Interesse dieser Denktradition den Prozessen, in denen Menschen sich selbst definieren, ihre Absichten und Gefühle, Situationen und die Welt, die sie umgibt, sprachlich interpretieren. Sie bilden geteilte Bedeutungen, Routinen und Gewohnheiten aus, schaffen eine (temporäre) gemeinsame Kultur: Diese ist Veränderungsprozessen unterworfen und wird in Interaktionen ständig transformiert. Der symbolische Interaktionismus zeigt, wie wir mit anderen Bedeutungen verwenden und modifizieren, wie wir sie nutzen, um unsere Handlungen und unser Leben zu beschreiben und zu verstehen. Er betont, dass Bedeutungen nicht fixiert und stabil sind, sondern sich verändern, oft mehrdeutig sind und wie neue Bedeutungen entstehen. Deshalb erforscht er z.B., wie die Interpretation von Situationen wechseln oder eine Biografie nach epiphanischen Momenten anders verstanden werden kann (Denzin 1989). Er interessiert sich für die Prozesse der Veränderung im kulturellen und gesellschaftlichen Leben. Im Zentrum des symbolischen Interaktionismus steht weder das Individuum noch die Gesellschaft. Es sind die Interaktionen, in denen Bedeutungen ausgehandelt werden, Ordnung entsteht und sich in der Auseinandersetzung mit anderen das eigene Selbst ausbildet. Deshalb ist die soziale Wirklichkeit ein emergenter und sich andauernd verändernder Prozess.

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1.3 Historische Positionierung im Kontext von Psychologie und Soziologie Von Anfang an stand der symbolische Interaktionismus mit seiner Orientierung am Verstehen von Symbolen und der sozialen Interaktion zwischen Individuen in Opposition sowohl zu den Strömungen der Psychologie, die sich als Naturwissenschaft verstehen, als auch zu dem die Soziologie lange Zeit dominierenden Strukturfunktionalismus von Talcott Parsons, für den die Stabilität des gesellschaftlichen Lebens, die Konsistenz verinnerlichter Normen und die soziale Integration zentral waren.1 Beeinflusst durch den Pragmatismus in der Philosophie und in der Psychologie betrachten symbolische Interaktionist/innen die Gesellschaft und auch das Selbst als fragile und kontingente menschliche Schöpfungen. Ihr Interesse gilt der sozialen Veränderung und der demokratischen Transformation von Lebenszusammenhängen. Dabei sind sie nicht auf der Suche nach beständigen Strukturen, das Handeln determinierenden Normen oder universellen Gesetzen, sondern erforschen die Spannungen, Ambivalenzen, Konflikte und Aushandlungen sozialer Welten. Im Zentrum ihrer Analysen und empirischen Forschungen stehen nicht die integrierte Person oder ein die „Normalität“ und den statistischen Durchschnitt der Bevölkerung repräsentierendes psychologisches Subjekt, sondern oft Außenseiter/innen, Underdogs oder Exot/innen, die von der Norm abweichen wie z.B. Vagabundierende, Kleinkriminelle, Spieler/innen, Jazzmusiker/innen, Hippies oder Schwule, die überwiegend als Helden ihres Alltags geschildert und auf diese Weise romantisiert werden. So begreifen symbolische Interaktionist/innen sich selbst bisweilen als kulturelle Romantiker/innen, was sie positiv bewerten (Denzin 2000). Sie lehnen den Zwang zur Generalisierung und Standardisierung ab und versuchen dagegen, die Einzigartigkeit, Singularität und Prozesshaftigkeit menschlicher Phänomene zu erfassen. 1.4 Der symbolische Interaktionismus heute Auch in der ersten Dekade des 21. Jahrhunderts ist der symbolische Interaktionismus eine vitale, intellektuell fruchtbare, methodisch innovative und experimentelle Denk- und Forschungsrichtung, die vor allem im Bereich der qualitativen Forschung ihre eigenen Wege geht und sich szientistischen Konzeptionen von Psychologie und Soziologie weiter konsequent verweigert. Die die disziplinären Felder dominierenden Traditionen übernehmen auf der einen Seite seine Ideen (vgl. Atkinson & Housley 2003), marginalisieren bzw. verdrängen aber den symbolischen Interaktionismus als eigenständige Tradition in der Psychologie oder Soziologie. Trotz aller Vereinnahmungsversuche und Totsagungen lebt er aber fort und hat seit Mitte der 1990er Jahre die qualitative Forschung in den USA radikal und entschieden aus dem Korsett von Positivismus und Postpositivismus gelöst (Denzin & Lincoln 1994, 2005; Lincoln & Denzin 2003). Die qualitative Forschung orientiert sich nun nicht mehr an naturwissenschaftlichen Idealen und Kriterien, sondern setzt die „humanistische“ Tradition interaktionistischen Denkens fort, indem sie ihre eigenen methodischen und methodologischen Vorgehensweisen (weiter-) entwickelt. 1 Mullins und Mullins (1973) bezeichneten den symbolischen Interaktionismus als „loyale Opposition“ zum Mainstream. Wie Blumer (1969a) beklagte, haben Parsons und seine Schüler/innen die Sozialpsychologie von Mead nicht verstanden.

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Entstehung und Ursprünge des symbolischen Interaktionismus

Der symbolische Interaktionismus entstand im Kontext des amerikanischen Pragmatismus.2 Das zweibändige Werk „The Principles of Psychology“ (1890) von William James, John Deweys innovativer Artikel „The Reflex Arc Concept in Psychology“ (1896), Charles Horton Cooleys „Human Nature and the Social Order“ (1902) sowie die Beiträge von George Herbert Mead (1934) begründeten erstmals die interaktionistische Perspektive, die sich auf die subjektive Dimension der menschlichen Erfahrung richtete und diese verstehen wollte. Gleichwohl orientierten sich diese Autoren insofern an den Naturwissenschaften, als sie eine objektive Wissenschaft des menschlichen Verhaltens anstrebten. Für den Pragmatismus, der eine äußerst vielschichtige, komplexe und oft unterschätzte Denktradition darstellt, ist charakteristisch, dass er das Hauptaugenmerk auf die Aktivität und Kreativität jedes menschlichen Wesens legt, auf seine Fähigkeiten, in der Interaktion mit anderen Probleme lösen zu können, Handlungen zu koordinieren und das eigene Tun selbstreflexiv zu erfassen und zu bestimmen. Diese Perspektiven und Themen wurden vom symbolischen Interaktionismus aufgenommen. In seiner phänomenologisch orientierten Psychologie arbeitete William James die Plastizität menschlicher Antriebe heraus, indem er zeigte, wie habits sich auf der Grundlage vergangener Erfahrungen herausbilden, sich verfestigen und so die ursprünglichen Instinkte kanalisieren. Er unterschied zwischen dem I, dem Zentrum des kontinuierlichen und bei jeder Person einzigartigen „Bewusstseinsstroms“, und dem me, dem Selbst als Objekt, die in der Erfahrung miteinander interagieren. Das Selbst, das verschiedene Dimensionen hat (z.B. materielle, geistige oder soziale), begriff er als die Summe dessen, was ein Individuum ausmacht (James 1890, S.291). Wie viele soziale Selbste jemand ausbildet, hängt nach James von den Bezugsgruppen ab, mit denen er oder sie interagiert und die sich ein Bild von ihm/ihr gemacht haben (S.294). Auch der Philosoph, Psychologe und Pädagoge John Dewey, dessen Intention es war, die Philosophie so zu rekonstruieren, dass sie Lösungen für alltägliche Probleme anbieten kann, betonte die Bedeutung der sozialen Interaktion für Erfahrung und Handeln. Sein bahnbrechender Artikel „The Reflex Arc Concept in Psychology“ (1896) stellte eine Fundamentalkritik an dem den Mainstream der Psychologie dominierenden dualistischen Modell von Stimulus und Response dar, das die beobachtbaren Bedingungen des Verhaltens ins Zentrum rückt. Dewey legte dar, dass ein Organismus Stimuli nicht passiv rezipiert, sondern sich mittels erworbener habits aktiv mit Situationen auseinandersetzt: Die Anpassung des Organismus an die soziale Umgebung lässt sich als Interaktion von „Geist“ und Umgebung konzipieren. Wie Mead hob Dewey hervor, dass in phylogenetischer Sicht die Sprache es erlaubt, menschliche von nicht-menschlichen Tieren zu unterscheiden. Sie ermöglicht es, Gedanken, Vorstellungen und Gefühle, die in der Auseinandersetzung mit der sozialen Umgebung entstehen, im eigenen Selbst oder dem von anderen zu lokalisieren. Erst die Kommunikation schafft die Grundlagen für die soziale Konstitution des Selbst und die sinnhafte Erfahrung der Welt. Charles Horton Cooley (1902) konzipierte die Interaktion als ein vermittelndes Band zwischen Individuen und ihrer sozialen Umgebung, die beide in der Gesellschaft wechsel2 Ausführliche Darstellungen des pragmatistischen Hintergrunds des symbolischen Interaktionismus finden sich bei Rock (1979), Joas (1988) und Helle (2001).

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seitig voneinander abhängig sind. Die menschliche Natur betrachtete er als formbar. Vor allem Kinder zeichnen sich, so Cooley, durch eine erstaunliche Fähigkeit zum sozialen Lernen aus: Sie haben dann ein Gefühl für die eigene Identität ausgebildet, wenn sie erkennen, dass ihr Selbstbild die Imaginationen ihrer Bezugspersonen über das, was ihr Selbst ausmacht, reflektiert. Wie später Mead ging auch Cooley davon aus, dass das Kind sich zuerst des Selbst von anderen bewusst wird, bevor es ein eigenes Selbst ausbildet. Methodologisch trat Cooley für eine einfühlende Introspektion ein, die die Bedeutungen und Interpretationen der Teilnehmenden von Interaktionen erfassen sollte. George Herbert Mead, ein enger Freund von Dewey, war einer der Begründer der Sozialpsychologie. Er lehrte in Chicago und entfaltete dort einen großen Einfluss. Mead (1934) arbeitete systematisch heraus, wie das Selbst in der sozialen Interaktion, im menschlichen Gruppenleben, entsteht. Er begriff das Selbst als einen Prozess, das den Menschen mit der Fähigkeit zur Selbst-Interaktion und somit zur Selbstreflexivität ausstattet. Menschen sind hiernach keine kausal durch die Umwelt gesteuerten Organismen; sie werden auch nicht durch eine psychische Struktur determiniert, vielmehr handeln sie auf der Basis von Interpretationen, indem sie die potenziellen Reaktionen anderer auf das eigene Verhalten antizipieren. Es sind Symbole, die die Herausbildung wechselseitiger Verhaltenserwartungen erlauben, die jedoch in Interaktionen wieder verändert werden können. Zentral für die Meadschen Überlegungen ist, dass die soziale Interaktion ein formender Prozess ist, der auf Interpretation aufbaut und als eigenständiges Phänomen untersucht werden muss. Die Phase des frühen Interaktionismus wurde nicht nur durch die Philosophie und Psychologie pragmatistischer Autor/innen geprägt, sondern auch durch die Chicago School, die lange Zeit die dominierende Richtung in der amerikanischen Soziologie gewesen ist.3 Sowohl deren Theorie als auch ihre Favorisierung des empirischen Vorgehens gehen auf den Pragmatismus zurück: Der von der Ethnologie und der Völkerpsychologie kommende W. I. Thomas beschäftigte sich mit den situationalen und kulturellen Einflüssen auf das Verhalten. Er hob hervor, dass es die Situationsdefinitionen unterschiedlicher Menschen seien, die die „wirklichen“ Tatsachen hervorbringen – Situationen, die als real definiert werden, sind auch real in ihren Konsequenzen. Dabei treten immer Situationen auf, für die es noch keine Definitionen gibt. Methodologisch trat Thomas wie Robert Park für eine ethnografische Vorgehensweise ein, die sich nun auf die eigene Gesellschaft und Kultur richtete. In der berühmten Studie „The Polish Peasant in Europe and America“ (Thomas & Znaniecki 1918) verwandte er die Methode der „einfühlenden“ Introspektion. Auch Robert Park favorisierte die Ethnologie der eigenen Kultur, insbesondere die qualitative Erforschung städtischer Lebenswelten. Zusammenfassend kann festgehalten werden, dass die frühen symbolischen Interaktionist/innen die Bedeutung von Gruppenfaktoren und des sozialen Zusammenlebens als Bedingungen für das individuelle Handeln hervorhoben. Gruppen setzen sich hiernach aus miteinander interagierenden Individuen zusammen, die Vorstellungen und Bedeutungen teilen. Daher lehnten die frühen Interaktionist/innen die Auffassung ab, dass Individuen abgeschlossene Einheiten seien, deren Handeln durch interne oder externe Faktoren, auf die sie keinen Einfluss haben, gesteuert würde. Sie arbeiteten heraus, welch wichtige Rolle die Interaktionen, die Individuen und soziale Gruppen verknüpfen, und die Reflexion spielen, und richteten ihr Interesse auf die Formen menschlicher Assoziation und Sozialität, um menschliches Handeln verstehen zu können. 3

Zur Tradition der Chicago School vgl. Smith (1988) und Tomasi (1998).

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Theorie, Perspektiven und Methodologie des symbolischen Interaktionismus

3.1 Das theoretische Programm von Herbert Blumer Es war der in Chicago lehrende Herbert Blumer4, der ausgehend vom Werk der frühen Interaktionist/innen den Begriff des symbolischen Interaktionismus prägte und zur Herausbildung und Kanonisierung dieser Tradition beitrug. Vor allem George Herbert Mead, dessen Vorlesungen in den 1930er Jahren veröffentlicht wurden und dessen Nachfolge er antrat, hat seiner Ansicht nach die Grundlagen des symbolischen Interaktionismus geprägt, den Blumer als Sozialpsychologie begriff. Er beruht auf drei Grundannahmen (Blumer 1969b [1937], S.2): „The first premise is that human beings act toward things on the basis of the meanings that the things have for them [...] The second premise is that the meaning of such things is derived from, or arises out of, the social interaction that one has with one’s fellows. The third premise is that these meanings are handled in, and modified through, an interpretative process used by the person in dealing with the things he encounters“.

Die erste Prämisse plädiert dafür, den Bedeutungen, die „Dinge“ (objects) für Menschen haben, zentrale Aufmerksamkeit zu schenken. In der psychologischen und soziologischen Forschung wird dies oft nicht gemacht. Man konzentriert sich z.B. in der Psychologie auf Stimuli, Einstellungen, Motive oder kognitive Faktoren, mit denen Handeln erklärt werden soll. Ein Verstehen ist aber nur dann möglich, wenn die soziale Genese von Bedeutungen untersucht wird. Diese entstehen im Prozess der Interaktion zwischen Menschen (S.4), der eine formierende Kraft besitzt. Sie sind soziale Produkte, die durch die Aktivitäten von Menschen, die miteinander interagieren, geschaffen und verändert werden. Diese lernen die Bedeutung von „Dingen“ also dadurch, dass sie erfahren, wie andere ihnen gegenüber in Bezug auf die „Dinge“ handeln. Blumer (S.5) zeigte, dass dies aber nicht bedeutet, dass erworbene Bedeutungen in der Folge einfach angewandt werden. Vielmehr werden diese Bedeutungen angesichts neuer Situationen einem Prozess der Interpretation unterworfen. In einem Prozess der Selbst-Interaktion, der symbolisch vermittelt ist, werden Bedeutungen ausgewählt, überprüft, modifiziert, verworfen oder transformiert. Dieser selbstreflexive Prozess ist mit der sozialen Interaktion verbunden und gestaltet diese situativ mit. Das Individuum muss die Welt interpretieren, um überhaupt handeln zu können. Zentral für das interaktionistische Denken ist auch Blumers Konzeption der sozialen Welt. Diese besteht nach Blumer aus „Dingen“, die in sozialen Interaktionen entstanden sind. Unter „Dingen“ werden nicht nur materielle Objekte verstanden, sondern auch soziale Objekte (wie z.B. Professor/innen, Polizist/innen, Väter oder Kinder) und abstrakte Objekte (wie z.B. moralische Prinzipien oder Ideen, philosophische Doktrinen etc.): „It is the world of their objects with which people have to deal and toward which they develop their actions. It follows that in order to understand the action of people it is necessary to identify their world of objects“ (S.11).

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Ab 1952 lehrte Blumer an der Universität von Kalifornien in Berkeley.

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Mead folgend, bestimmte Blumer auch das Selbst als ein „Ding“, das im Prozess der sozialen Interaktion entsteht und so von den „Definitionen“ der anderen mitbestimmt wird. In Prozessen des role-taking betrachten Menschen sich „von außen“ und machen sich selbst zu „Dingen“. 3.2 Die naturalistische Methodologie von Blumer Der symbolische Interaktionismus zeigt, dass es gemeinsame und andauernde soziale Aktivitäten sind, auf deren Basis Menschen interpretieren und Handlungen entwerfen. Die geformten und vollzogenen Handlungen bringen die sozialen Welten hervor, in denen Menschen leben. Den unterschiedlichen Formen von Kollektivität gilt das qualitativ-empirische Interesse des symbolischen Interaktionismus. Blumer (S.21ff.) grenzt sich deutlich von statistischen und quantitativen Techniken ab, die seiner Ansicht nach den spezifischen Charakter empirischer Welten nicht erfassen können. Ihm zufolge müssen nicht nur die verwandten Methoden, sondern jeder Aspekt einer wissenschaftlichen Untersuchung muss einem Wirklichkeitstest unterworfen und auf diese Weise validiert werden: Die vorab aufgestellten Annahmen über soziale Welten dürfen nicht als selbstverständlich hingenommen werden, wie es in vielen psychologischen und soziologischen Untersuchungen getan wird. Deshalb forderte Blumer, ins Feld zu gehen und die jeweiligen empirischen Welten direkt aus einer Innenperspektive zu erforschen: „What is needed is a return to the empirical social world“ (S.34). Die natürlich sich vollziehenden Interaktionen und das Leben in Gruppen in unterschiedlichen empirischen Feldern müssen sensibel und detailliert erforscht werden, um verstehen zu können, was in empirischen Welten eigentlich passiert: „If one is going to respect the social world, one’s problems, guiding conceptions, data, schemes of relationship and ideas of interpretation have to be faithful to that empirical world“ (S.38). Es lässt sich deshalb nicht vorab bestimmen, welche Methoden angewandt werden, sondern sie hängen von der untersuchten empirischen Welt ab, über die sich die Forschenden Klarheit verschaffen möchten. Blumer führt als mögliche methodische Zugänge u.a. die direkte Beobachtung, Interviews, biografische Ansätze oder die Dokumentenanalyse an (S.41). Er plädiert für eine Untersuchungsweise, die die Elemente ihrer Analyse durch die sorgfältige Untersuchung der Instanzen in der empirischen Welt gewinnt. Denn die Validität von Annahmen über die empirische Welt kann Blumer zufolge nicht durch Laborexperimente und das Testen von Hypothesen geprüft werden, sondern nur durch die direkte Untersuchung der symbolischen Interaktionen in der jeweiligen sozialen Welt, indem man sich in sie begibt und die Position des jeweiligen Individuums oder Kollektivs einnimmt, um zu verstehen, wie es seine Welt sieht. Es sind also Formen der Introspektion nötig, um sich den Standpunkt einer Person (oder Gruppe) zu eigen zu machen und deren Bedeutungswelt zu eruieren. Blumers kraftvoll elaborierter theoretischer Entwurf des Programms des symbolischen Interaktionismus begründete dessen Chicago School.5 In diesem Programm wurden Vor5

Daneben gab es auch die von Manford Kuhn (1964) ins Leben gerufene Iowa School, die im vorliegenden Zusammenhang aber weniger interessant ist, weil sie einer positivistischen quantitativen Methodologie verpflichtet war und eher eklektizistisch interaktionistisches Gedankengut verwendete. Dem logischen Positivismus folgend, forderte Kuhn eine einheitliche Methodologie für alle Wissenschafte; es ging ihm um die universale Voraussage menschlichen Handelns. Nach dem frühen Tod von Kuhn begründetet Carl Couch (Couch, Saxton & Katovich

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stellungen eines determinierten Handelns abgelehnt; Handeln habe vielmehr eine nicht vorhersehbare, schöpferische und prozesshafte Dimension. Im Zentrum stehen die Prozesse symbolvermittelter Interaktion zwischen Menschen bzw. deren Prozesse der SelbstInteraktion. In diesen Prozessen werden Entscheidungen getroffen, Handlungsabläufe entworfen und Handlungen koordiniert. Es geht darum zu untersuchen, wie sich diese Prozesse vollziehen, wie Erfahrungen strukturiert sind und gelebt werden. Blumer plädierte für sensitizing concepts, die in der subjektiven Erfahrung gründen und anders als definierende Konzepte keine eindeutigen Grenzen haben. Sie sollen Perspektiven und Rahmen eröffnen, müssen aber am Einzelfall präzisiert werden. Er strebte eine naturalistische Methodologie an, um möglichst realistisch die soziale Welt wiederzugeben. Deren Merkmale sind, so Blumer, nicht a priori gegeben, sondern müssen in ihrem prozesshaften Charakter erforscht werden. Handlungen, „Dinge“ und Menschen entwickeln seiner Ansicht nach lokale und miteinander verschränkte Bedeutungen, die sich nur im Feld erschließen lassen. 3.3 Die Untersuchung sozialer Welten In der Folge wurde die ethnografische Feldarbeit zum bevorzugten empirischen Vorgehen im symbolischen Interaktionismus. Sie ist qualitativ orientiert, lässt sich von dem, was im Feld passiert, überraschen und versucht, die beobachteten Phänomene analytisch zu erfassen und zu vertiefen. Sie kann auf unterschiedlichen Methoden aufbauen, so z.B. auf Interviews, auf der Analyse biografischer und lebensgeschichtlicher Kontexte oder der teilnehmenden Beobachtung, die zur wichtigsten Forschungsstrategie wurde. Sie verlangt von den Forschenden zur selben Zeit Beobachtung und Teilnahme an sozialen und symbolvermittelten Prozessen. Das Selbst der Forschenden wird zur deren Werkzeug, um soziale Welten zu erkunden und zu erforschen. Nicht eine vorab definierte Methode oder aufgestellte Hypothesen, sondern die unmittelbare Erfahrung wird zum Fundament ihrer Wissensproduktion: Erst die ethnografische Arbeit kann zeigen, wie eine soziale Welt aufgebaut ist und welche Probleme sich in ihr finden. Dabei gehen symbolische Interaktionist/innen nicht davon aus, dass „Daten“ gegeben sind und nur entdeckt werden müssen. Vielmehr werden sie in den symbolischen Interaktionen im Feld durch die Forschungspraxis geschaffen. Dies bedeutet auch, dass es verschiedene Wirklichkeiten mit einem Wahrheitsanspruch geben kann. Unterschiedliche Fragen im Forschungsprozess können zu unterschiedlichen Darstellungen der sozialen Welten führen; es interessiert nicht, ob eine Darstellung wahrer als die andere ist, weil es kein externes Kriterium der Beurteilung geben kann. Es gibt nur die Erfahrung der konkreten Wirklichkeit, die plural, vieldimensional und unausschöpflich ist (vgl. Stone & Farbermann 1970). So wird der symbolische Interaktionismus von einem pluralistischen Realismus im Sinne von Dewey (1922) getragen.

1986) eine neue Iowa School, indem er sowohl an Kuhn als auch an Blumer anknüpfte. Er kehrte auch zu den Entwürfen und Vorschlägen von Simmel und Mead zurück, eine naturalistische Wissenschaft sozialer Formen zu entwickeln. Mitte der 1970er Jahre entstand auch eine California School, die mit unterschiedlichen theoretischen Perspektiven vor allem das Alltagsleben untersuchte (Adler, Adler & Fontana 1987).

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Es ist eine Fülle an Arbeiten zu unterschiedlichen sozialen Welten entstanden, die ein großes Publikum fanden.6 Howard Becker hat z.B. in seiner klassischen Studie „Outsiders“ (1963) den Marihuana-Gebrauch unter Jazzmusiker/innen untersucht und drei Phasen eines Lernprozesses unterschieden: Zunächst musste die entsprechende Technik erlernt werden, dann mussten die Effekte wahrgenommen und in einem weiteren Schritt erlernt werden, die Wirkungen zu genießen. Becker (1963, S.9) zeigte überzeugend, dass Devianz nicht die „Eigenschaft“ einer Handlung oder Person ist, sondern die Folge einer Anwendung von Regeln und Sanktionen gegenüber einem Verursachenden. In anderen Studien wurde herausgearbeitet, dass soziale Organisationen nicht durch eindeutige normative Regeln strukturiert sind, sondern Felder von Interaktionen zwischen Individuen und Gruppen darstellen, in denen Bedeutungen ständig ausgehandelt werden. So beschrieben Anselm Strauss, Schatzman, Ehrlich, Bucher und Sabslin (1963) das Krankenhaus als negotiated order: Regeln sind hiernach nicht festgelegt, Ziele bleiben oft unklar. In unterschiedlichen informellen Prozessen kommt es zu Aushandlungen, Übereinkünften und Kompromissen. So werden Organisationen im Handeln immer wieder neu konstituiert. Jede soziale Ordnung wird in Aushandlungsprozessen geschaffen und konstruiert. Außerdem wurden unterschiedliche Formen kollektiven Handelns (z.B. im Bereich der Mode oder sozialer Protestbewegungen) sowie Rituale und Kulte untersucht (vgl. Lofland 1977; Blumer 1978). Insbesondere die Phase zwischen 1971 und 1980 wurde von Norman K. Denzin (1992, S.13) als die „ethnografische Periode“ des symbolischen Interaktionismus bezeichnet. So entstanden auch eine Soziologie des Alltagslebens (Adler et al. 1987) und ein Projekt, das sich der Untersuchung des urbanen Lebens widmete. 3.4 Die postmoderne Wende In den 1980er Jahren begann dann eine intensive Beschäftigung mit postmodernen und poststrukturalistischen Ansätzen (Dickens & Fontana 1991). Die im US-amerikanischen Kontext entstandene postmoderne Ethnografie (Clifford & Marcus 1986) stellte den realistischen Anspruch ethnografischer Repräsentationen infrage. Die Formen des Forschens und Schreibens und auch die Macht des Forschers/der Forscherin wurden problematisiert: Gender und race wurden kritisch in ihrer Einbindung in Macht- und Herrschaftsverhältnisse erörtert. In Auseinandersetzung mit den Cultural Studies wurde die Rolle der Medien zum Thema, insbesondere deren dominant-ideologische Bedeutungen, die in der Regel nicht hinterfragt im Alltag kursieren. Zudem wurde untersucht, was zeitgenössische Hollywoodfilme zur Konstitution eines postmodernen Selbst (Denzin 1991) beitragen. Im Bereich der Methoden ist es in der Folge zu Formen der Bricolage und des Experiments gekommen. Die Autoethnografie entwickelte sich (Bochner, Ellis & Adams in diesem Band) und mit ihr Formen des literarischen Schreibens (Richardson 2000). Damit verbunden ist eine Hinwendung zu lokalen Erzählungen und Geschichten, in denen Menschen über ihre Erfahrungen berichten, sie darstellen und interpretieren (vgl. Holstein & 6 An dieser Stelle ist auch Erving Goffmans Studie „Asylums“ (1968) zu erwähnen. Er entwickelte in Auseinandersetzung mit dem symbolischen Interaktionismus einen eigenen Ansatz und untersuchte auf der Basis von teilnehmender Beobachtung und informellen Interaktionen mit Patient/innen einer psychiatrischen Klinik, wie durch die Form der Behandlung, durch die Professionalisierung von Kontrollmechanismen und die Etablierung einer moralischen Ordnung ein konformes Verhalten der Insass/innen erzeugt wurde.

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Gubrium 2000). Hier gibt es enge Verbindungen zu den psychologischen Ansätzen der narrativen Psychologie und des sozialen Konstruktionismus. Schließlich haben einige symbolische Interaktionist/innen eine performative Wende vollzogen, die in Formen von Gesellschafts- und Kulturkritik mündet (vgl. Denzin 2003; Winter & Niederer 2008; Jones et al. 2008). Es ist vor allem Norman K. Denzin und seinen Kollegen und Kolleginnen zu verdanken (vgl. Denzin & Lincoln 2005), dass der symbolische Interaktionismus im 21. Jahrhundert theoretisch und methodisch neue Wege gegangen ist, die jedoch seinen Ursprüngen verbunden bleiben. Sowohl die pragmatistische Philosophie und ihr Wahrheitsbegriff als auch Blumers Kritik am Szientismus und seine Forderung nach einer spezifischen Methodologie, um symbolvermittelte Kommunikation erforschen zu können, beeinflussen bis heute das interaktionistische Denken und Forschen. Deweys Ablehnung einer Korrespondenztheorie der Wahrheit und seine Konzeption, dass sich Wahrheit in ihren Konsequenzen im Handeln offenbare, prägen z.B. die performative Ethnografie, die Wirklichkeiten aufführt, um im Dialog mit dem Publikum die „Wahrheit“ von Erfahrungen zu bestimmen (Denzin 2007, 2008; Winter & Niederer 2008). Auch die Auffassung von Dewey, dass Wahrheit ein öffentliches Gut in einer demokratischen Gesellschaft sein solle, taucht in der Forderung, qualitative Forschung als Werkzeug zur Herstellung sozialer Gerechtigkeit und einer radikalen Demokratie zu nutzen, wieder auf (vgl. Denzin & Giardina 2009).

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Die poststrukturalistische Transformation des symbolischen Interaktionismus

In „Symbolic Interactionism and Cultural Studies“ (1992) entfaltet Denzin wie Blumer in den 1930er Jahren ein Programm für den symbolischen Interaktionismus, das sich auf Diskussionen und Auseinandersetzungen im Kreis amerikanischer Interaktionist/innen stützt. Vor dem Hintergrund, dass James Carey (1989, S.96) der Auffassung war, der symbolische Interaktionismus sei eine amerikanische Variante von Cultural Studies, weil er die kulturelle und soziale Bedeutung von Symbolen untersucht, öffnete Denzin ihn für die oft gesellschaftskritisch orientierten Perspektiven und Konzepte der britischen Cultural Studies. Vor allem die in Birmingham entstandenen Arbeiten von Stuart Hall und seinen Mitarbeiter/innen, die selbst wiederum zum Teil vom symbolischen Interaktionismus geprägt worden waren,7 galt sein Interesse. Daneben hat sich Denzin zusammen mit Kolleg/innen sehr früh mit der postmodernen Theorie von Lyotard und Baudrillard auseinandergesetzt (vgl. Dickens & Fontana 1991) und sich der Herausforderung durch die Arbeiten von Jacques Derrida gestellt. Denzin sieht in der Ablehnung totalisierender, „großer“ Theorien des Sozialen eine Parallele zwischen postmodernen/poststrukturalistischen Autor/innen und den Interaktionist/ innen (1992, S.23): Auch sie präferieren lokale Erzählungen und untersuchen sie mittels unterschiedlicher qualitativer Methoden (z.B. Ethnografien, Lebensgeschichten, Interviews 7 So betrachtet z.B. Stuart Hall (1980) in seinem berühmt gewordenen Encoding-decoding-Modell die Medienrezeption als Aushandlungsprozess von Bedeutungen. Die ethnografischen Studien von Paul Willis zu Arbeiterjugendlichen (1977) sind an der Chicago School und am symbolischen Interaktionismus orientiert. Die Studie „Der produktive Zuschauer. Medienaneignung als kultureller und ästhetischer Prozess“ (Winter 2010) knüpft sowohl an den symbolischen Interaktionismus als auch an die Cultural Studies an.

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oder Filmanalysen). Es gehe nicht darum, aus anderen Disziplinen Theorien oder Modelle zu importieren und eine umfassende Theorie des Sozialen zu konstruieren, sondern zu zeigen und zu untersuchen, wie Menschen zusammen etwas tun (Becker 1986). Biografische Zugänge und gelebte Erfahrungen sollen im Zentrum stehen. Dabei ist die poststrukturalistische Einsicht Ernst zu nehmen, dass die Texte der Forschenden erst die „Dinge“ hervorbringen, über die sie schreiben. Die Produktion kultureller Bedeutungen rückt ins Zentrum der Betrachtung. Texte haben immer plurale Bedeutungen, verwenden unterschiedliche rhetorische Strategien und sind offen für vielfältige Lesarten. Es gibt keine wahre Bedeutung eines Textes, allerdings starke bzw. weniger überzeugende Interpretationen. Im Anschluss an die Cultural Studies forderte Denzin (1992, S.83f.), dass gerade die existenziellen Momente (wie z.B. Epiphanien oder kritische Lebensereignisse) untersucht werden sollten, in denen Individuen über ihre gelebten Erfahrungen berichten, sie in Beziehung zu kulturellen Texten (wie z.B. Filmen) und umfassenderen ideologischen Strukturen setzen. Eine Kontextualisierung der Texte im Alltagsleben ist die Voraussetzung für die systematische Dekonstruktion ihrer Mythen und Vorstellungen. Auf diese Weise könne zum einen ein Einblick in kulturelle und gesellschaftliche Prozesse gewonnen werden. Zum anderen könne durch die Artikulation von Unbehagen deutlich werden, dass persönliche Probleme in politische Auseinandersetzungen einbezogen sind. Dabei haben die existenziellen Momente (wie z.B. kritische Lebensereignisse) zentrale Bedeutung, in denen Menschen ihr Leben neu ordnen und anders gestalten, nachdem sie erkannt haben, wie ihre gelebte Erfahrung durch umfassendere textuelle und kulturelle Bedeutungen geprägt und eingeschränkt wird (vgl. Denzin 1989). Die Dekonstruktion der „Mythen des Alltags“ (Barthes 1964) ist die Voraussetzung für das Erleben von Differenz und Wendepunkten sowie die Voraussetzung für Veränderungen. Denzin (1992, S.65ff.) knüpft auch an die feministisch orientierten Arbeiten von Patricia Clough (1992) an, die die verwandten Formen realistischer Darstellung in den Arbeiten von Blumer, Becker und Goffman dekonstruierte. Sie zeigte, wie die drei Autoren den voyeuristischen Blick des Forschers privilegierten, der verborgene „Dinge“ enthüllt. Dabei knüpften sie an Formen des Realismus an, die sich z.B. im Roman oder im Kino finden. Der Leser/die Leserin sollte den Eindruck gewinnen, er/sie könne sehen und erleben, was die Forschenden selbst wahrgenommen und beobachtet haben. Erfahrungen können aber nie vollständig präsent sein. Sie werden durch Texte nicht nur wiedergegeben, sondern auch neu geschaffen. Deshalb fordert Denzin eine intensive Auseinandersetzung mit den textuellen Grundlagen und Konventionen wissenschaftlicher Arbeit. Er plädiert auch für Schreibexperimente, die das Verhältnis von Text, Autor/in und Untersuchten neu konzeptualisieren. Hierzu zählen poetische, autoethnografische und aufführungsorientierte Texte (Denzin 2003) sowie das spielerische Element der mystory, in der persönliche Erfahrungen oft multimedial in kulturelle Texte übersetzt werden. Diese werden aufgeführt und sollen Kritik an gesellschaftlichen Zuständen üben. Durch diese eigenen Versionen des Realen stellen sich Forschende in ihrer universalen Singularität dar. Diese Argumentation entwickelte Denzin in „Interpretive Ethnography“ (1997) ausführlich. An die Stelle des klassischen realistischen ethnografischen Textes sollten neue ethnografische Texte treten. Ethnograf/innen bzw. qualitativ Forschende sollten nicht mehr davon ausgehen, dass es eine objektive Darstellung der Erfahrung des/der Anderen geben könne. Diese hätten eigene Auffassungen davon, wie er/sie repräsentiert werden möchte. Deshalb seien dialogische Texte erforderlich, die nicht nur die Stimmen der Schreibenden,

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sondern auch die der Untersuchten zu Wort kommen lassen: „Ethnography is that form of inquiry and writing that produces descriptions and accounts about the ways of life of the writer and those written about“ (S.XI). Die Stimmen, die in Texten zu Wort kommen, seien jedoch textuelle und performative Schöpfungen und Kreationen. Für Denzin ist die neuere Ethnografie vor allen Dingen dadurch geprägt, dass sie marginalisierten und lange Zeit vom Diskurs ausgeschlossenen Gruppen der globalen, postmodernen Welt hilft, sich zu artikulieren (vgl. Denzin 2005). So setzt er sich mit verschiedenen Standpunkt-Epistemologien auseinander, die Schreibende und ihre Position ins Zentrum des Textes rücken. Auch hier weist Denzin darauf hin, dass es problematisch ist, davon auszugehen, es gebe einen direkten Zugang zur gelebten Erfahrung, der die Basis für das Schreiben sein könne: „The writer cannot write from experience itself. Writing (and filmmaking) are built on the representations of experience“ (Denzin 1997, S.85). Dennoch schließt sich Denzin der Forderung an, dass Ethnograf/innen oder qualitativ Forschende von einer historisch und kulturell situierten Position aus Erfahrungen beschreiben und analysieren. Dabei spiele das Persönliche, das in seiner politischen Dimension betrachtet wird, eine entscheidende Rolle. So schreibt Denzin (2005, S.936): „I endorse a critical epistemology that contests notion of objectivity and neutrality. I believe that all inquiry is moral and political. I value autoethnographic, insider, participatory, collaborative methodologies.“ Deshalb plädiert er im Anschluss an Richardson (2000) für kritische persönliche Erzählungen (Kurzgeschichten, Selbstzeugnisse, Ich-Erzählungen, persönliche Essays, fotografische Essays etc.), die z.B. in kolonialen, patriarchalen oder neoliberalen Kontexten zu Gegenerzählungen werden können, die die dominanten Ideologien und Interpretationsrahmen infrage stellen. Denzin (1997, 1999, 2003, 2009) entwickelte eine interpretativ und performativ orientierte Ethnografie, die die Beobachtenden als Interpretierende versteht und sich Aufführungstexten zuwendet, um die Logik des Voyeurismus zu überwinden und eine Vielfalt von Perspektiven zur Darstellung zu bringen. So können im Feld geführte Interviews in zur Aufführung bestimmte Texte, in poetische Monologe transformiert werden. Sie zeigen, wie Menschen in sozialen Kontexten Geschichte schaffen, und können die inspirierende Grundlage für die Transformation konkreter Situationen durch Akte des Widerstands sein (vgl. Denzin 2006, S.331). Denzin betont, dass vor allem autoethnografische Zeugnisse eine wichtige Dimension der performance ethnography seien, weil sie soziale Missstände kritisieren, Kultur in Bewegung bringen und dem Publikum Erfahrung und Teilhabe ermöglichen können. In einem pragmatistischen Sinne bemisst sich die Wahrheit dieser Aufführungen an ihren Folgen, so an der Betroffenheit und dem Erfahrungsaustausch, an den moralischen und politischen Diskursen, die sie auslösen, und an den sozialen Allianzen, die sie hervorbringen. Sie möchten nicht die Welt darstellen, wie sie „wirklich“ ist, sondern intervenieren und ermächtigend wirken (vgl. Denzin 2007, 2009).

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Stärken, Schwächen und Desiderata

Der symbolische Interaktionismus hat durch seine Verankerung im Pragmatismus, seiner Orientierung am Verstehen von persönlichen und sozialen Wirklichkeiten und seinen demokratischen Intentionen von Anfang an eine alternative Konzeption von Psychologie und Soziologie verkörpert. Er war neben den Cultural Studies und dem sozialen Konstruktio-

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nismus auch die Tradition, die den Poststrukturalismus intensiv rezipiert und sich seiner Radikalität gestellt hat. Die Vitalität und Vielfalt der qualitativen Forschung in den USA, die sich im Rahmen dieser Denktradition oder eng beeinflusst durch sie entwickelt hat, ist beeindruckend (vgl. Denzin & Lincoln 2005). Die damit verbundene vehemente Kritik an positivistischen und postpositivistischen Vorgehensweisen sowie die Infragestellung traditioneller „wissenschaftlicher“ Auffassungen, deren ideologische Implikationen und Verankerung in Machtstrukturen aufgezeigt werden, führen dazu, dass im deutschsprachigen Raum die neueren Entwicklungen des symbolischen Interaktionismus kaum zur Kenntnis genommen werden. Weiterhin gehen viele Forschende davon aus, dass es eine Wirklichkeit gibt, die „objektiv“ und nicht wertgeladen wissenschaftlich untersucht werden kann. Die Einstellungen, Motive und die Biografie der Forschenden spielen hierbei, so diese Auffassung, keine Rolle; die Wissenschaft stelle einen Spiegel der Natur dar. Dagegen gehen symbolische Interaktionist/innen davon aus, dass es keine objektive Beschreibung geben kann (Denzin 2000, S.147). Die Welt ist immer schon durch Diskurse, Bilder und Narrationen vermittelt. In der Forschungspraxis verschmelzen theoretische, ethnografische, ästhetische und politische Perspektiven. „Qualitative Forschung ist, wie die Kunst, immer politisch“ (a.a.O.). Nicht alle Vertreter/innen des Interaktionismus teilen diese Auffassungen: Teilweise werden die neuen Formen des Schreibens und der Selbstthematisierung abgelehnt und auf einer strikten Grenzziehung zwischen Wissenschaft und Fiktion beharrt. Als wesentliches Thema des symbolischen Interaktionismus gilt ihnen die Erforschung der gelebten Erfahrung mittels teilnehmender Beobachtung (vgl. Prus 1996); es wird mehr oder minder an den traditionellen Formen der Feldforschung festgehalten. Dieser „Streit um die Wahrheit“ (Denzin 2000, S.148f.) wird immer wieder geführt. Aus psychologischer Sicht ist vor allem zu bemängeln, dass die Rolle der Emotionen, die affektive Dimension menschlichen Handelns, nur wenig berücksichtigt wird (als eine der wenigen Ausnahmen vgl. aber Denzin 1984). Ebenso sollte eine Theorie der Person entwickelt werden. Hierzu ist es erforderlich, die soziale Konstitution von Emotionen in Interaktionen zu untersuchen. Dabei ist es auch wichtig, individuelle Differenzen in der Erfahrung und im Erleben herauszuarbeiten. Auf diese Weise kann der symbolische Interaktionismus um eine wichtige psychologische Dimension erweitert werden. Blumer kämpfte gegen Behaviorismus und Experimentalpsychologie und entwickelte eine neue Methodologie für das Verstehen menschlicher Erfahrungen. Denzin und seine Kolleg/innen attackieren den szientistischen Mainstream, treten für ein „humanistisches“ Verständnis qualitativer Forschung ein und erobern Freiräume des Denkens, des Dialogs und des Forschens. Ohne die Opposition der symbolischen Interaktionist/innen wäre unsere wissenschaftliche Welt wesentlich ärmer und langweiliger. Weiterführende Literatur Atkinson, Paul & Housley, William (2003). Interactionism. An essay in sociological amnesia. Thousand Oaks, CA: Sage. Denzin, Norman K. (1992). Symbolic interactionism and cultural studies. The politics of interpretation. Oxford: Blackwell.

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Herbert Fitzek

Herbert Fitzek

Gestaltpsychologie 1

Geschichtlicher Hintergrund

Das Gestaltkonzept formierte sich zu einer Zeit, als die Ablösung der Psychologie als akademische Disziplin aus der Philosophie mit den Mitteln der (Natur-) Wissenschaft noch in vollem Gange war. Ihren Rang hatte sich die Psychologie gegen Ende des 19. Jahrhunderts erworben, weil sie nachweisen konnte, dass der menschliche Seelenhaushalt mithilfe einer naturgesetzlichen Modellierung der Abläufe des Erlebens und Verhaltens und unter Einsatz exakter Methoden darstellbar ist. Die erste Generation der Gestaltpsychologie rekrutierte sich beinahe selbstverständlich aus Wissenschaftlern, die die klassischen Themen der philosophischen Reflexion auf den Boden empirischer (natur-) wissenschaftlicher Forschung stellten: Die Themen der Erkenntnistheorie firmierten zu Beginn des 20. Jahrhunderts unter den Fragestellungen der Wahrnehmungspsychologie, die Kritik der Vernunft wurde zum Gegenstand der empirischen Denkpsychologie; mit der Genese des Handeln-Könnens beschäftigten sich die Darstellungen und Experimente der Lerntheoretiker. In der Rückschau auf die ersten Jahrzehnte selbstständiger empirischer Arbeit wird oft übersehen, dass die Modellierung des psychischen Gegenstandes der philosophischen Diskussion eng verhaftet blieb. Das galt für die elementaristischen Konzepte – im Anschluss an die mechanische Seelenlogik von Aufklärung und Materialismus – ebenso wie für die an die naturphilosophische Tradition von Herder, Goethe und Schelling anknüpfende Ganzheits- und Gestaltpsychologie. Bei aller Differenziertheit sind Goethes Wissenschaftsentwurf und Gestaltkonzept zumindest implizit für alle weiteren Konzepte der Ganzheits- und Gestaltpsychologie richtungsweisend geblieben: Um den entwicklungsträchtigen Gegenständen der lebendigen Natur sachgerecht zu folgen, müssen sich die wissenschaftlichen Methoden „selbst so beweglich und bildsam […] erhalten nach dem Beispiele, mit dem sie uns vorgeht“ (zit.n. Fitzek 1994, S.45). Insoweit setzen sich die Begriffe von „Ganzheit“ (Krueger, Sander), „Gestalt“ (Wertheimer, Köhler), „Struktur“ (Dilthey, Wellek), „Feld“ (Lewin) und „Figuration“ (Salber) gemeinschaftlich von einem statischen Modell der Elemente und Assoziationen ab und modellieren seelisches Geschehen als Ausdruck der Eigenlogik eines dynamischen Gestaltungsgeschehens. Da die entsprechenden Begriffe in den historischen gestaltpsychologischen Werken fortlaufend diskutiert und modifiziert wurden, einer Klärung der ideengeschichtlichen Verwandtschaften und Unterschiede aber eher im Wege stehen, verfolge ich hier die Entwicklungsgeschichte des gestaltpsychologischen Denkens im Hinblick auf seine praktische Nutzbarmachung und sehe von terminologischen Positionskämpfen ab – etwa um die aktuelle oder überdauernde, phänomenale oder transphänomenale Wirksamkeit von Strukturtendenzen (vgl. dazu die Ausführungen in Fitzek & Salber 1996, S.109ff.).

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Gestaltpsychologie

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Jenseits der sich (durch-) kreuzenden Definitionsversuche sind historisch – und auch regional nach ihren Ursprungsorten Graz, Leipzig und Berlin – drei „Schulen“ der Gestaltpsychologie unterscheidbar: 1.

2.

Als Initialzündung des Gestaltkonzepts in der Psychologie gilt unumstritten ein Text, der sich noch vollständig in die philosophische Tradition des 19. Jahrhunderts fügt und frei ist vom empirischen Ehrgeiz späterer Forschungsgenerationen. Christian von Ehrenfels machte in einem kleinen Zeitschriftenaufsatz „Über Gestaltqualitäten“ (1890) darauf aufmerksam, dass die Elementenlogik der seelischen Erscheinungen von übergreifenden Rahmenmotiven überlagert wird, die in der Musik etwa als die alles Einzelne organisierende und damit überhaupt erst Wirkung erzielende Melodie erfahrbar werden. Gestaltqualitäten sind durch den doppelten Charakter der Übersummativität (mehr und anders als die Summe der Teile) und der Transponierbarkeit (übertragbar auf andere Reihen/Gebilde) gekennzeichnet und finden sich in allen Bereichen des Erlebens und des Handelns (z.B. im „Gang“, im „Stil“, im „Habitus“ der Menschen). Das war ein bescheidener Anfang zu einem Konzept, in dem statt isolierbarer Einzelreize nunmehr konfigurierende Muster den psychischen Gegenstand ausmachen. Ehrenfels ist mit seinem frühen Aufsatz als Gründer der Gestaltpsychologie in Erscheinung getreten; zugleich stand er in enger Korrespondenz mit der um Alexius Meinong zentrierten Grazer Tradition der Gestaltpsychologie, die den Gestaltgedanken zwar aufgriff, aber nicht wie Ehrenfels im Sinne der Ersetzung der Elementenlogik, sondern (lediglich) als Überlagerung der („fundierenden“) Elementenebene durch eine andersartige gestalthafte Organisation („Produktionstheorie“). Möglicherweise aufgrund dieser paradigmatischen Unentschiedenheit entfaltete sie eine eher regionale Wirkung (besonders nach Italien hinüber; vgl. Boudewijnse 1999). Als zweite Schule der Gestaltpsychologie bildete sich zunächst informell in Frankfurt/Main, später institutionell in Berlin um Max Wertheimer eine Gruppe, die Gestaltqualitäten von vornherein als selbstständige Grundlage aller seelischer Prozesse ansah und den Beweis auf ihre Unabhängigkeit mit den Mitteln des klassisch (naturwissenschaftlich-) experimentellen Vorgehens antrat. In Anlehnung an den gleichzeitig aufkommenden Kinematografen orientierten sich Wertheimer und seine Mitarbeiter (Köhler, Koffka) an der psychologischen Eigenständigkeit von Bildfolgen: Wahrnehmung ist von vornherein nicht als Kette von Einzelereignissen angeordnet, sondern als Organisationsprozess mit einer spezifischen gestalthaften Entwicklungsdynamik. Im „Phi-Phänomen“ konnte Max Wertheimer nachweisen, dass getrennt voneinander dargebotene Lichtreize in der Wahrnehmung zu einem Gesamtgefüge zusammentreten, dessen psychologische Eigenart sich von der physikalischen Reizgrundlage ablöst und völlig selbstständige (Übergangs-) Qualitäten hervorbringt: Raum-zeitlich separierte Lichtpunkte erscheinen unter bestimmten Reizbedingungen phänomenal überhaupt nicht als solche; sie werden vielmehr als Bewegung eines einzigen Lichtpunktes wahrgenommen, die von den Beobachtenden je nach raum-zeitlichen Verhältnissen als „fließend“, „glatt“ oder aber als „holprig“, „stockend“ oder „sprunghaft“ beschrieben wird. Der experimentelle Nachweis der Eigenlogik von Gestalten machte die Gruppe um Wertheimer, Köhler und Koffka zur hoffnungsvollsten Keimzelle des Gestaltdenkens in der Psychologie der 1920er Jahre (Berliner Schule der Gestalttheorie; vgl. zu deren Historie besonders Ash 1995).

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3.

Was Wertheimer in den Experimenten eher am Rande entdeckt und beiläufig angemerkt hatte – der als „Holpern“, „Stutzen“ oder „Hüpfen“ zu charakterisierende, „gefühlsartige“ Beigeschmack der Gestalterscheinungen –, wurde einer dritten Richtung des gestaltpsychologischen Denkens zum ausschlaggebenden Kennzeichen für die Kategorisierung der übergreifenden seelischen Sinnzusammenhänge. Die Leipziger Schule der genetischen Ganzheits- und Strukturpsychologie sah in den Färbungen und Tönungen des Erlebens die „Ganzqualität“ eines sich aktuell entfaltenden, realen „Strukturzusammenhangs“, in dem die Herrschaft der Gefühle über das Gesamtbewusstsein den Beleg für den Primat des Ganzheitlichen gegenüber allen einzelnen Erfahrungsmomenten liefert. Gegenüber der Dichte und Intensität ontogenetisch und aktualgenetisch früher Erlebensphasen erscheinen die Gestaltverhältnisse der Wahrnehmung sekundär im zeitlichen wie auch im funktionalen Sinne (vgl. das Sammelwerk von Sander & Volkelt 1962; zum aktuellen Interesse an der Aktualgenese vgl. Abbey & Diriwächter 2008). Sander und seine Schüler legten zur Theorie der sogenannten „Vorgestalten“ experimentelle Untersuchungen vor, in denen die Nachhaltigkeit komplexer, oft stofflich-materialer Grundqualitäten (Krueger: „Komplexqualitäten“; Volkelt: „Umgangsqualitäten“) für kurzzeitige und ausgedehnte Entwicklungsprozesse bis hin zur gefügten („kalten“) Endgestalt nachgewiesen wurde. Was das Entwicklungsdenken an Gewinn in die Gestaltpsychologie einbrachte, wurde ihr andererseits durch die ontologische Grundüberzeugung der Leipziger Ganzheitstheoretiker, allen voran ihres Gründers und späteren Vorsitzenden der Deutschen Gesellschaft für Psychologie, Felix Krueger, genommen: Unter seinem Einfluss verstrickten sie sich nicht nur in unhaltbare metapsychologische Grundannahmen, sondern wurden zudem anfällig für das Einsickern holistischer, auch nationalsozialistischer Ideologie in psychologisches Denken (vgl. Harrington 1996).

In doppelter – ideengeschichtlicher wie institutionspolitischer – Hinsicht mieden die führenden Köpfe der Gestalttheorie den Kontakt zu den aus der rivalisierenden Wundt-Schule hervorgegangenen (Leipziger) Ganzheitspsychologen und grenzten das auf die gleichen naturphilosophischen Grundlagen (bei Goethe, Dilthey, Ehrenfels) zurückgehende „Ganzheits“- und „Struktur“-Konzept nach Kräften aus dem Kern des gestaltpsychologischen Paradigmas aus. Dabei wies deren Entwicklungsdenken – in dem Gestalt in unmittelbarem Anschluss an Goethe als genetisches Prinzip der Formenbildung aus entwicklungsträchtigen „Vorgestalten“ modelliert wird – in eine Richtung, die von den zunächst eng am Wahrnehmungsgeschehen haftenden Berlinern erst noch erobert werden musste und heute gerade unter methodologischem Gesichtspunkt für die qualitative Psychologie wiederentdeckt wird (vgl. Fitzek & Salber 1996; Diriwächter & Valsiner 2008). Dass sowohl die Gestalttheorie wie die Ganzheitspsychologie um die Mitte des 20. Jahrhunderts in die Krise gerieten, ist aber weniger internen Animositäten anzulasten als vielmehr den gewaltigen (und gewalttätigen) politischen Veränderungen in Deutschland, die Menschen jüdischer Herkunft und (Links-) Intellektuelle vom öffentlichen, auch wissenschaftlichen Leben ausschlossen und die Wissenschaftskultur letztlich irreparabel schädigten. Max Wertheimer in Frankfurt musste ebenso emigrieren wie Kurt Lewin in Berlin; Wolfgang Köhler wollte sich mit dem Willkürstaat nicht arrangieren und folgte auf spektakuläre Weise wenig später in die Vereinigten Staaten. Für die vom Exodus ihrer jüdischen Kolleginnen und Kollegen scheinbar unbeeindruckte Grazer und Leipziger Professoren-

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schaft kam der Bruch nach dem Weltkrieg (mit der Zerstörung der Institutionen und persönlichem Berufsverbot) und hinderte somit – hier tragischerweise, dort völlig zu Recht – beide Gruppen an einer unmittelbaren Fortsetzung ihrer wissenschaftlichen Tätigkeit (vgl. Ash 1995; Harrington 1996). Beides hat einen kontinuierlichen Ausbau der Gestaltpsychologie nachweislich gestört oder gar verhindert; im Folgenden will ich zeigen, dass sich die Qualität des Konzeptes auf Nebenwegen dennoch fortgesetzt und bis heute bewährt hat.

2

Theoretische Grundlagen – methodische Konsequenzen

In seiner berühmt gewordenen Psychologiegeschichte hat der Amerikaner E.G. Boring bereits 1950 ein abschließendes Urteil über die Gestaltpsychologie gesprochen. Die sei in ihren Resultaten so erfolgreich gewesen, dass sie von der übrigen Psychologie absorbiert wurde – womit er den konzeptuellen Rahmen gleichsam stillschweigend als überflüssig deklarierte (vgl. Boring 1950, S.600). Daran wird die Gestaltpsychologie bis heute gemessen, und deshalb gilt sie in den Lehrbüchern der Psychologie als psychologische Schule, die einige inhaltliche Entdeckungen zur Wahrnehmungspsychologie und zum „Produktiven Denken“ erbracht habe und wegen ihrer „vagen“ Begriffe und ihrer unausgereiften Methodik ansonsten überholt sei. Dabei verstanden sich weder die (Berliner) Gestalttheorie noch die (Leipziger) Ganzheitspsychologie als wahrnehmungspsychologische Schulen. Besonders in Berlin wurden die Experimente früh auf die Zusammenhänge des Lernens, Denkens und Problemlösens ausgedehnt und bald auch auf die Handlungs- und Affektpsychologie (Wertheimer 1985 [1924]; Lewin 1926; Koffka 1935). Demnach regulieren die Gestaltgesetze nicht bestimmte Funktionen im seelischen Apparat, sondern die Organisation der psychischen Wirklichkeit im Ganzen – mit einer gesetzmäßigen Sicherheit, die dem Wirken der Naturgesetze entspricht und die Psychologie damit vom Nimbus einer Naturwissenschaft zweiter Klasse zu befreien versprach. Selbstbewusst besetzte die Gestaltpsychologie eine Position zwischen Natur- und Geisteswissenschaft – mit gelegentlichen Rückfällen in die doppelte Buchführung einer psychologisches und physikalisches Geschehen parallelisierenden „Isomorphie“ (Köhler 1917). Es war zunächst Wolfgang Köhler, der kurz vor dem Ausbruch des 1. Weltkrieges unverhofft die Gelegenheit erhalten hatte, Gestaltverhältnisse im Handlungsfeld von verwandten, als weniger komplex strukturiert verstandenen Lebewesen zu beobachten (Köhler 1963 [Orig. 1921]). Köhlers innovativen Anthropoidenversuchen auf Teneriffa wird mit dem Klischee vom weisen Affen, der statt auf Versuch und Irrtum vom („Aha-“) Erlebnis einer inneren „Einsicht“ geleitet wird, die Spitze genommen. Denn Köhler ging es nicht um die Intellektualisierung von (tierischem) Verhalten, sondern um die Übertragbarkeit der Wahrnehmungsgesetze in den Handlungsraum. Über die experimentelle Variation von Problemlöseaufgaben wies er nach, dass Handlungsfelder wie der Wahrnehmungsraum nach den Gestaltgesetzen von Nähe, Geschlossenheit und durchgehender Linie organisiert werden, die Unterstellung (einfacher) Prägnanztendenzen bei komplexen Sinnbildungen aber zu kurz greift: Um „gute Gestalten“ zu erzielen, müssen erprobte und bewährte Muster umzentriert oder aufgebrochen werden. „Lernen“ meint Umstrukturierung der Sinnrichtungen im Handlungsraum im Sinne prägnanter Gestaltbildungen, in denen sich Bildungs- und Umbildungstendenzen komplementär ergänzen.

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Von hier aus führt ein direkter Weg zu den epochalen Untersuchungen Kurt Lewins und zur sogenannten „Willenspsychologie“ im Berliner Laboratorium der 1920er Jahre. Schon in der Benennung der Zielintention (auf Handlungen und Affekte) deutet sich an, dass Lewin – jenseits der klassischen Aufteilung in Willens- und Vornahmehandlungen – die Eigengesetzlichkeit und Dynamik aktueller seelischer Produktionen im Blick hatte (Lewin 1926). Er fand für die aktuellen Bedingungslagen der Lebenswelt den Begriff der Handlungsganzheit, der die einheitliche Verfasstheit von Arbeits- und Alltagstätigkeiten als dynamisches Spannungsfeld bezeichnet. In seiner „Feldtheorie“ wird der Gestaltgesichtspunkt zum Hinweis auf die Einordnung physikalischer Feldbedingungen („Kräfte und Energien“) in den Bedingungszusammenhang einer psychologischen Gesamtorganisation. Bedürfnisse, Intentionen, räumliche, dingliche und soziale Gegebenheiten werden in diesem Feld zu förderlichen oder feindlichen Valenzen für das Anlaufen und den Fortgang, die Stabilität oder Störbarkeit von Handlungsverläufen. Mit seinem Bekenntnis zum psychologischen Feld überwand Lewin die physikalistische Anbindung der Gestaltpsychologie – und blieb der Fiktion einer Entsprechung psychologischer Gesetzmäßigkeiten und physikalischer Kausalitäten trotzdem unverbrüchlich verhaftet. So konnte leicht übersehen werden, dass sich sein Feldkonzept schon im Zuge des Berliner Experimentalprogramms zunehmend Erkenntnissen der Psychoanalyse geöffnet hatte und die Störbarkeit, Ersetzbarkeit und Verwandelbarkeit von Handlungen unter komplizierenden Rahmenbedingungen – wie Überlastung, Sättigung und Ärger – thematisierte. Als Immigrant in Amerika überschritt Lewin rasch die experimentelle Bindung an Handlungsfolgen (von „Wille“ und „Affekt“) und verfolgte die feldtheoretische Modellierung von Wirkungsräumen in persönlichkeits- und gruppenpsychologischen Fragestellungen. Jenseits der sich formierenden Sozialpsychologie faszinierten Lewin die Einheitlichkeit und Profiliertheit des Gruppengeschehens („Klima“, „Atmosphäre“). Neben seinem Feldmodell der Persönlichkeit und den grundlegenden Arbeiten zur Gruppendynamik interessierte ihn die psychologische Konstitution kultureller und subkultureller Kontexte, die das Bild der amerikanischen Gesellschaft in den dreißiger und vierziger Jahre des letzten Jahrhunderts dominierten (Marrow 2002). Sein zunehmender Sinn für die Vielschichtigkeit des seelischen Geschehens und sein Talent beim Aufspüren lebenspraktischer Fragestellungen („Nichts ist praktischer als eine gute Theorie!“) machten Lewin zu einem der wirksamsten und nachhaltigsten Psychologen der alten wie der neuen Welt (vgl. Lück 2001). Im Auftrag verschiedener staatlicher und privater Institutionen beschäftigte sich Lewin mit Themen, die das tradierte Gegenstandskonzept der Psychologie sprengten – mit Führungsstilen in Unternehmen, der Integration von Schwarzen und Weißen in Wohnsiedlungen, mit Change Management, mit Interventionen bei Jugenddelinquenz, der strategischen Beratung von Regierungsstellen – und die auch nicht mehr mit klassischen experimentellen Methoden zu untersuchen sind. Für die qualitativen Methoden vorbildlich wird sein Modell der Aktionsforschung, in der Forschende und Beforschte sich als Partner eines gemeinsam modellierten Wirkungsfeldes verstehen (siehe dazu den Beitrag von Bergold & Thomas in diesem Band). Auch nach seinem plötzlichen Tod im Jahre 1947 bildete Lewins Sichtweise und die seiner Schülerinnen und Schüler ein reizvolles und wirkungskräftiges Gegengewicht zu der zunächst noch stark behavioristischen, später zunehmend kognitivistischen MainstreamPsychologie. Von hier weist der Weg zurück zu seinem ersten psychologischen Aufsatz

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über „Kriegslandschaften“ und weiter in seine letzten wissenschaftlichen Arbeiten, deren phänomennahe Beschreibungen die Kulturpsychologie in ihrer Darstellung von „Lebensräumen“, „Handlungsfeldern“ und der „symbolischen Ordnung der Dinge“ gelegentlich fortsetzt, ohne zu bemerken, dass sie sich auf gestalt- bzw. feldtheoretischem Boden bewegt (vgl. die entsprechenden Ausführungen in Boesch 1992).

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Aktuelle Diskussionen und Ansätze: Lewin und die Kulturpsychologie

Dass Borings vernichtendes Urteil über das Ende der Gestaltpsychologie – trotz seiner oberflächlichen Plausibilität – zu keiner Zeit gerechtfertigt war und auch heute nicht zutrifft, kann hier nur beispielhaft an der Aktualität von Lewins gestalt- und feldtheoretischen Konzepten gezeigt werden; es wäre analog auch für Wertheimer und Köhler in der englischsprachigen, für Krueger und Sander in der deutschsprachigen Tradition zu demonstrieren (vgl. Ash 1995; Harrington 1996). Lewins Perspektive auf Gesamtqualitäten des Gruppengeschehens („Klima“, „Atmosphäre“) ist zu einem entscheidenden Anstoß für die Entwicklung einer Kulturpsychologie geworden, die sich auf die apersonale Ausrichtung von Wirkungsfeldern und ihre (gestaltpsychologische) Eigendynamik bezieht. Ernst Boesch schreibt seine „Einführung in die Kulturpsychologie“ als umfangreiche Auseinandersetzung mit Lewins „Lebensraum“-Konzept und kennzeichnet die eigenen und fremden Kulturen, mit denen sich die Kulturpsychologie beschäftigt, als symbolische Lebenswelten oder „Biotope“ (Boesch 1980, siehe auch Straub & Chakkarath in diesem Band sowie die ökologischen Konzepte des Lewin-Schülers Roger G. Barker und des entscheidend von Lewin geprägten Urie Bronfenbrenner). Innerhalb der aktuellen Kulturpsychologie ist es besonders Wilhelm Salber, dessen „Morphologie des seelischen Geschehens“ (1965) ausdrücklich an Lewins Konzept der Handlungsganzheit anknüpft und ganzheits- und gestaltpsychologisches Denken als Grundlage einer Psychologie der Alltagskulturen ausbaut. Kulturen organisieren die Lebenswelt, weil sie selbst dynamisch strukturierte Gestaltbildungen sind – und die Annahme eigenständig handelnder „Subjekte“ als Agenten des seelischen Geschehens damit erübrigen (Fitzek 2000; vgl. schon Wertheimer 1985 [1924]). Aus der Perspektive der morphologischen Psychologie sind es gestalthaft verfasste Kultivierungsprogramme, die den Lebensalltag in seinen konkreten, auch banalen Erscheinungen prägen. Boesch wie Salber verankern psychologisches Wissen in den historischen Kultivierungsmustern, die in den Mythen und Märchen der Völker dargestellt und weitergegeben werden. Die Zeit der großen Systeme ist, soweit sah es Boring richtig, vorbei. Doch sind die Systeme damit nicht schon überholt und erledigt. Unter dem Etikett aktueller Forschungsthemen und innovativer Fragestellungen werden viele der traditionell entwickelten Konzepte fortgesetzt. So sind die kulturpsychologischen Folgerungen aus Lewins feldpsychologischem Ansatz in der amerikanischen Wirtschaftspsychologie der nächsten Generation aufgegriffen worden, ohne dass dies im „Output“-orientierten Fachdiskurs zur Kenntnis genommen wurde. Den Hintergrund für die Renaissance des Gestaltdenkens in der Wirtschaft bildete das bis in die achtziger Jahre des letzten Jahrhunderts als unschlagbar geltende amerikanische Wirtschaftsmodell, das unter dem Druck japanischer Erfolge unversehens in die Krise geraten war. Im persönlichkeits- und gruppenübergreifenden Kulturkontext gewann die Wissenschaft einen Fokus, der das Scheitern des Self-Made-Optimismus erklärte und

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sich zu einem Forschungsprogramm verdichtete, aus dem die Mängel des individuenzentrierten Ansatzes und die Chancen des Denkens in Kulturen ableitbar wurden. Edgar H. Schein (1969, 1992) formte daraus das Forschungsprogramm der Organisationskultur und erschloss mit der Umorientierung von „Unternehmerpersönlichkeiten“ auf „Unternehmenskulturen“ eine scheinbar neuartige Perspektive. Hier wurden das Gestaltdenken und Lewin quasi wiederentdeckt, um rationale, ökonomische Wirtschaftsmodelle im Hinblick darauf zu ergänzen, was die Entwicklung von Institutionen tatsächlich (gestalt-) psychologisch ausrichtet. Schein führte Lewins Gedankengänge nicht nur implizit fort, sondern verwies ausdrücklich auf die Herkunft seiner Lehrer (D. McGregor und A. Bavelas) aus der LewinSchule (vgl. Schein 1995). Die Kennzeichnung von Organisationskulturen als steuernde Motive der Unternehmensentwicklung griff Lewins Entdeckung des Gestaltungsraumes („Klimas“) sozialer Gebilde auf, das Gruppen, Verbände und Organisationen im Ganzen wie in allen ihren Funktionsträgern prägt. Für Scheins Konzept sind drei Ebenen charakteristisch, auf denen er Organisationskulturen ansiedelte (vgl. Fitzek 2007): 1.

2. 3.

die Ebene ihrer gegenständlichen Manifestationen oder „Artefakte“ – wie etwa die Gestaltung von Werk- und Büroräumen, die vorfindbaren Zeremonien und Rituale, die Aufmachung von Rundbriefen und Mitteilungen an die Angestellten oder auch der Umgang mit betrieblichem und privatem Eigentum; die Ebene ihrer als „Werte“ bezeichneten kulturellen Orientierungsmuster – Absichten, Maxime, Ideale und Abneigungen sowie zuletzt und vor allem die Ebene sogenannter basic assumptions, mit denen Schein die konstituierenden Mythen einer Institution anspricht (Beispiele aus der Literatur: „Dionysos“, „Apollo“, „Zeus“, „Mammon“).

Dabei erinnern die Ebenen der Darstellung von Organisationskultur an die Merkmale des gestaltpsychologischen Denkens, die oben als Gestaltqualitäten, Wirkungsfelder und Kultivierungsmuster charakterisiert wurden. In diesem Sinne verweisen 1. die Artefakte auf den phänomenalen Vorrang des ganzheitlichen Erscheinungsbildes (der „Gestaltqualität“) im Erleben. Ihre Bestimmung kann für Organisationskulturen zum Schlüssel werden, das scheinbar disparate Gegenständliche der Institution von einem symbolischen Blickwinkel aus aufzuarbeiten: Menschen, Strukturen, Gebäude und „Privates“ (Büroausgestaltungen, Witze, Feiern) werden durch Gestaltbildungen zusammengehalten. Der Hinweis auf Werte als Orientierungsmuster lässt sich 2. mit der von Lewin herausgestellten Einbindung in dynamische Spannungssysteme zusammenbringen. Demnach geht es bei den Meinungen, Haltungen und Befindlichkeiten der Belegschaft nicht um mehr oder weniger individuelle Ansichten vom Unternehmen; diese sind vielmehr als Repräsentationen (oder Ausdrucksbildungen) einer Wirkungswelt aufzufassen, in der spezifische Ausgangsrichtungen, Valenzen, Widerstände und Barrieren als „Feld“-Bedingungen virulent werden. Auf dem Hintergrund des Gestalt-Konzepts machen 3. die basic assumptions darauf aufmerksam, dass das Gesamtgeschehen nicht nach Maßgabe rational agierender Personen gesteuert wird, sondern von (unbewussten) Kultivierungsmustern einer überindividuellen Gesamtregie. In den von Schein als letzte und fundamentale Ebene der Organisationskultur identifizierten Grundprämissen laufen alle Wirksamkeiten im Unternehmen zusammen.

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Doch erschließen sie sich wegen ihrer hintergründigen (und ungeliebten) Wirkungsmacht nicht über offizielle Selbst- oder Leitbilder, sondern über randständige, häufig ungewollte Äußerungen (wie Sprüche oder Anekdoten der Mitarbeiter/innen). Im Folgenden will ich anhand eines konkreten Fallbeispiels darstellen, wie das Forschungsprogramm der Organisationskulturen zum Ausgang eines gestaltpsychologischen Forschungs- und Beratungskonzeptes ausgestaltet werden kann. Im Konzept der „Wirtschaftsmorphologie“ sind die grundlegenden Denkkategorien der Gestaltpsychologie nicht nur in methodische „Versionen“ der Analyse und Beratung von Unternehmen und Institutionen übersetzt (Grundqualitäten, Wirkungsräume, Verwandlungsmuster). Hier können sie am Beispiel eines Prozesses von Aktionsforschung und Prozessberatung von Organisationskulturen in ihrem konkreten Zusammenwirken verfolgt werden (vgl. dazu meinen Beitrag zur morphologischen Datenauswertung in diesem Band).

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Anwendungsbeispiel: das Forschungsprogramm „Organisationskultur“

Bei der in Auftrag gegebenen Organisationsentwicklung handelt es sich um ein jahrzehntelang als Familienbetrieb geführtes Maschinenbau-Unternehmen, dessen Selbstverständnis durch eine unvermittelt einbrechende Dynamik von Verkäufen und Veränderungen verlorengegangen zu sein schien. Dem Wechsel in einen Maschinenbaukonzern folgte schon kurze Zeit darauf die Übernahme in einen Mischkonzern, dann die Veräußerung an einen ausländischen Investor und schließlich die Umwandlung in eine Aktiengesellschaft – alles in einem Zeitraum von nicht einmal zwei Jahrzehnten. Die Beschwerden der Belegschaft gruppierten sich geradezu verführerisch plausibel um das Motiv der verlorenen Einheitlichkeit einer „guten“ Gestalt, die durch rücksichtslose Neuerungen und durch räuberische Eingriffe zerstört worden sei. Diesen Eindruck galt es in der mehrdimensionalen Analyse der Organisationskultur mithilfe der von uns durchgeführten Tiefeninterviews im Hinblick auf gestalthafte Wirkungsmomente zu durchdringen. 1. Die Architektur der Erzählungen – wie der von uns besichtigten Werksniederlassungen – zeigte sich beherrscht von der (Gestalt-) Qualität der Abgeschlossenheit eines Drinnen von einem Draußen, die den Beschäftigten Sicherheit versprach und der Geschäftsführung klare Positionen. Wie in den Gestaltgesetzen der Wahrnehmung hob sich die „gute“ Ordnung von einer als chaotisch erlebten Umgebung ab. Die empfundene Binnenwelt war überschaubar und stellte sicher, dass alle jederzeit wussten, wo sie „hingehörten“ und was sie von anderen zu erwarten hatten. Die Firmenphilosophie – ablesbar in soliden Gebäuden wie in der geschlossenen Werksstruktur vor Ort – wies den Einzelnen einen Platz an, an dem sie sich orientieren und ihre Stellung zum Ganzen bestimmen konnten. Hier zeigt sich jedoch zugleich die Kehrseite der geschützten Binnenwelt: Was intern Zusammenhalt und Rückhalt verhieß, machte es schwer, sich Neuem und Andersartigem zu öffnen. Was in den „einfachen“ Wahrnehmungsgestalten als prägnante Ordnung erschien, offenbarte in der komplexen Lebenswelt spürbare Kehrseiten. Die gelebte Geschlossenheit drohte sich abzuschotten und „dicht zu machen“ – nach dem Motto: „Wir kommen auch

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ohne Euch zurecht.“ Was von vielen als „Insel der Glückseligen“ empfunden wurde, entpuppte sich bei genauerem Hinsehen als „Schmoren im eigenen Saft“.1 Die wiederholten Klagen über den Zugriff von außen verdichteten sich zu einer Mauer, hinter der sich eine diffuse, aber zerstörerische Gefahr auftürmte: „Draußen herrscht Krieg“. Es machte den Eindruck, als seien mit dem Verlassen der eigenen (Ein-) Stellung unglaubliche Risiken verbunden: „Hebt man den Kopf, wird er gleich abgeschlagen.“ Da blieb nur: „Eingraben und in Deckung gehen – gucken, dass die Lage sich beruhigt.“ Das erlebte „Draußen“ stand dabei für eine Welt, die im Grunde unbekannt war („ich verstehe nicht, wer hier genau was tut“), vor der man sich aber fürchtete und in den Schutz der vertrauten Ordnung zurückzog: „Das fordert unterm Strich, dass jeder für sich denkt.“ 2. Die Werte der Beschäftigten, ihre Vorlieben und Abneigungen waren widersprüchlich. Stolz und Unbehagen, Skepsis und Zuversicht, Zustimmung und Kritik streuten scheinbar wahllos in der Belegschaft. Die auf Vorstandsinitiative veranlasste Auswertung einer betriebsinternen Befragung hinterließ Ratlosigkeit. Gestaltpsychologisch ordnet sich das scheinbare Meinungschaos – in Ablösung von individuellen Wertungen – sehr deutlich im Spannungsfeld zwischen einem geliebten „Früher“ und einem beklagten „Heute“: „Früher kannte man alle mit Namen. Heute kennt man sich noch vom Sehen.“ „Früher waren wir ein eigenes Unternehmen, heute sind es viele Waben.“ „Das frühere Zuviel an Emotion wurde heute durch Rationalität ersetzt.“ Im Gegensatz zur formal überaus differenzierten Unternehmenshierarchie sahen die Beschäftigten bis weit in Führungspositionen hinein einen untergründigen Gegenlauf von Management und Produktion. Entsprechend wurden je nach Stellung Stärken und Schwächen der Organisation benannt. Auch die am Gesamtunternehmen beteiligten Branchen und Sparten wurden polarisiert: in alt und neu, produktiv und unergiebig, substantiell und peripher. Aufteilungen zogen sich scheinbar wahllos und widersprüchlich durch die Repräsentanten verschiedener Bundesländer, Standorte, Werke und selbst durch einzelne Interviews; einmal ging es um das Oben und Unten, dann um das Alte und das Neue, in wieder anderen Fällen um Produktion und Verwaltung, um Männer und Frauen: „Wie komisch so Frauen sind, worüber die alles reden können, denen fällt noch was ein, wenn sonst keinem mehr was einfällt, Frauen sind einfach so anders, mit denen könnte man nie arbeiten.“ Dabei zeigten sich in den Dichotomien durchaus Ansätze einer gestalthaften Umzentrierung: Wie wäre es, die andere Seite zu leben, die Distanz zwischen Oben und Unten zu überwinden, die Grenzziehung zu dem oder der „Anderen“ zu lockern oder aufzugeben? Was sich in den ersten Interviews als eher tastende Suche nach möglichen Grenzüberschreitungen erwies, ließ sich im weiteren Verlauf der Untersuchung allmählich zu einer Entwicklungsperspektive für die Organisationskultur ausbauen (s.u.). 3. Die Kennzeichnung der Unternehmenskultur als geschlossene Binnenwelt, die durch den Gegenlauf freundlicher und feindlicher Valenzen dynamisiert wurde, konnte in einem dritten Schritt der gestaltpsychologischen Analyse um ein Kultivierungsmuster zentriert werden, das über Wirkungsrichtungen im Feld von „guter“ und schlechter Ordnung hinausgeht. Kultivierung hängt ganz grundsätzlich davon ab, dass Bestände gesichert und Gefährdungen abgewehrt werden. Hier drehte es sich besonders um ein Kultivierungsmuster der Sicherung von „Eigenem“ und der Abschirmung gegen „Fremdes“. Dabei offenbarte die Tendenz zur prägnanten Gestalt ein komplexitätsgefährdendes Moment: Im Dienst 1 Diese und die im Folgenden genannten Zitate stammen aus den unveröffentlichten Tiefeninterviews/Untersuchungsprotokollen.

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des Geschlossen-Haltens wurde Unbeweglichkeit als Hinweis auf die „gute alte Ordnung“ geschätzt, während riskante Entwicklungen von vornherein als feindlicher Übergriff gebrandmarkt und abgewehrt wurden. Alles Förderliche wurde in die Logik des geliebten Eigenen gebracht; Anstöße von außen wurden als von außen Auferlegtes etikettiert. Als äußere Zumutung kategorisiert, entzog sich Schädliches demzufolge der kritischen (Selbst-) Reflexion. Lewins Ausweitung des Gestaltparadigmas führte auf dem beschriebenen Weg von den einfachen Gestalten der Wahrnehmung zu komplexen Kultivierungsprogrammen, deren konstruktiver Kern – wie bei Schein (1992) angedeutet – letztlich durch narrative Gestaltmuster geklärt werden kann (vgl. auch Geertz 1987; Polkinghorne 1998). In der Wirtschaftsmorphologie sind es die Märchen, deren narrativer Kern das Gefüge spezifischer (Organisations-) Kulturen erschließen (vgl. meinen Beitrag zu morphologischer Beschreibung in diesem Band). Für die Darstellung der unser Unternehmen kennzeichnenden vereinnahmenden und zugleich abweisenden Binnenlogik wurde das Märchen vom „Wolf und den sieben Geißlein“ herangezogen (vgl. Salber 1999). Die Gestaltlogik eines gefährdeten Geschlossenhaltens von Bewährtem und eines verführerischen Aufschließens für Neues wird in diesem Märchen anhand eines liebend-gehassten Mutter-Wolfes durchgespielt. Im Märchen wird eine friedvolle „alte“ Ordnung vermeintlich wehrlos einer gefräßig von außen eindringenden Schreckensgestalt ausgesetzt. Gestaltlogisch ist das „Fremde“ das fremd „Gemachte“ einer hermetischen Ordnung, die ängstlich abwehrt, was nicht ins Schema passt. Der Wolf ist nichts Äußeres, er ist die Mutter in anderer Gestalt – dem Märchen ist die unvollständige Aufspaltung von Mütterlichem und Wölfischem deutlich anzumerken (an der Sprachverwirrung, der Täuschung usw.). Das Konzept wirksamer übergreifender „Klimata“ (Lewin) oder „Kulturen“ (Schein) bleibt nicht bei einfachen Gestaltbildungen stehen. Lewin wie Schein weisen auf die komplexe, überdeterminierte Eigenart der Gestalten im Kultivierungszusammenhang hin. „Der Wolf und die sieben Geißlein“ stellt ein Trennungsproblem von geliebtem Eigenem und gefürchtetem Fremdem heraus. Eigenes macht sich fremd, um sich nicht den Herausforderungen der Verwandlung stellen zu müssen: lieber träumen von früheren Möglichkeiten als sich dem befremdenden Wandel auszusetzen. Der „Mutter-Wolf“ des Märchens (und seine Emergenz in der exemplarisch dargestellten Unternehmenskultur) ist letztlich gar nicht weit entfernt von den paradoxen Kippfiguren im Wahrnehmungsraum (wie Borings berühmt gewordene Illustration der „Braut und Schwiegermutter“).

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Stärken, Schwächen und Desiderata

Wegen der historischen Frakturen und Verwerfungen in der Psychologiegeschichte findet die Aktualität der Gestaltpsychologie ihren stärksten Ausdruck in Konzepten, die den frühen Arbeiten von Wertheimer, Köhler und Lewin konzeptuell und methodisch verbunden bleiben – oftmals ohne die Quellen zu kennen oder sie zu benennen. Gerade die Herkunft der qualitativen Psychologie ist ohne den Beitrag dieser ersten grundlegenden Arbeiten nicht rekonstruierbar. Blickt man darüber hinaus auf die explizite Rezeptionsgeschichte der Gestalttheorie, so kann – jenseits ihrer unbestreitbaren Ausstrahlung auf die Humanwissenschaften im Allgemeinen – für die Psychologie ein dreifaches Resümee gezogen werden:

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1.

2.

3.

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Gestaltpsychologisches Denken ist nach wie vor – und stärker denn je – weltweit verbreitet im Bereich der klassischen Forschungsgegenstände der frühen Gestaltpsychologie, weit voran in der Wahrnehmungspsychologie. Davon legt nicht nur die große Anzahl an Veröffentlichungen ein beredtes Zeugnis ab, in denen die Theorie und Praxis der visuellen Gestalten fortgesetzt wird, sondern auch die Reihe der von der „Gesellschaft für Gestalttheorie und ihre Anwendungen“ prämierten Metzger-Preisträger (vgl. Sundberg 2007; v. Leeuwen 2007; Pinna 2009). Unstrittig ist auch die erfolgreiche Ausweitung des Ansatzes auf Gegenstände, die den experimentell orientierten Begründern des Konzeptes in Graz, Berlin und Leipzig nicht methodisch verfügbar und letztlich auch nicht interessant genug erschienen: wie die erstmals von Lewin erschlossenen Felder der Persönlichkeits-, Sozial- und Wirtschaftspsychologie. Einen ungefähren Eindruck von der Fülle der Anwendungen vermitteln außer der Zeitschrift „Gestalt Theory“ die Übersichtsbände von Fitzek und Sichler (2005) sowie von Metz-Göckel (2008). Besonders erwähnt werden kann hier auch die in Deutschland und Österreich entwickelte gestalttheoretische Psychotherapie, die sich in Abgrenzung von der Gestalttherapie (von Fritz Perls) besonders auf Wolfgang Metzger und Hans-Jürgen Walter stützt (vgl. dazu Kästl & Stemberger 2005). Im Hinblick auf die (qualitative) Methodologie muss erwähnt werden, dass sich die Gestaltpsychologie trotz der zweifelsfreien methodologischen Kompetenz ihrer Gründer (Lewin 1981 [1931]; Köhler 1933) nach einer kurzen Phase der Selbstreflexion (Kebeck 1983; Kebeck & Sader 1984) in Schweigen zurückgezogen hat. War das Konzept ursprünglich erfolgreich gegen philosophisch-spekulative oder naturwissenschaftlich-empiristische Selbstbeschränkungen der akademischen Psychologie gesetzt worden, so verlagerte es sich mit dem Rückzug der Gründer in praktische Feldarbeit und vernachlässigte seine heute noch aktuelle methodologische Tiefgründigkeit. Mit M. Sader und N. Groeben halte ich es für wichtig, die Chancen des Konzeptes an der Schnittstelle zwischen naturwissenschaftlicher Exaktheit und kulturwissenschaftlicher Sinnorientierung zu nutzen und für den Methodendiskurs der qualitativen Psychologie neu zu erschließen (Sader 1988; Groeben 1997; vgl. dazu auch Fitzek 2008).

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Herbert Fitzek

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Handlungstheorie

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Jürgen Straub

Handlungstheorie 1

Entstehungsgeschichte, historische Bedeutung und disziplinäre Einordnung

Handlungstheorien sind so alt wie die europäische Philosophie und Wissenschaft (Aristoteles 1983, [1139ab22-b 5], S.155). Aristoteles stellte seine Überlegungen im Kontext der philosophischen Anthropologie und Ethik an. Wesentliche Elemente seiner Definition – allen voran die mit dem ziel- bzw. zweckgerichteten Handeln intentionaler, reflexiver Subjekte verbundene Wahl- und Entscheidungsfreiheit – sind bis heute aktuell. Das gilt ebenso für Aristoteles’ Unterscheidung zwischen praxis (!"#$%!, griechisch: Handeln, Tun, Tätigkeit, Handlung, Tat u.a.) und poiesis (!&'()%*, Tun, Machen, Hervorbringen, Herstellen, Anfertigen u.a.), durch die er einen weiten Begriff symbolisch-kommunikativer Praxis vor der Reduktion auf poietisches, herstellendes Handeln im Sinne eines technischen Vorgangs bewahrte (Werbik 1985). Die wichtigste Quelle handlungstheoretischen Denkens im 20. Jahrhundert stellt der amerikanische Pragmatismus dar (vgl. Joas 1992a). In den einschlägigen Schriften von Charles Sanders Peirce, John Dewey, William James und George Herbert Mead wird die theoretische Aufmerksamkeit auf das symbolisch vermittelte Handeln gerichtet. Wie insbesondere Mead darlegte, ist das Handeln in Interaktionszusammenhänge eingebettet, in der die – immer voraussetzungsvollere – Verwendung von Gebärden und signifikanten Gesten und schließlich der Sprache die entscheidende Rolle spielt. Handlungsfähige Personen reagieren nicht unmittelbar und nicht notwendigerweise so oder so auf (externe oder interne, aus der Umwelt kommende oder im Organismus entstehende) „Reize“. Handlungen sind keine Wirkungen determinierender Ursachen, sondern haben Gründe (und Hintergründe), die analysiert und verstanden werden können. (Hinter-) Gründe konstituieren Sinn und Bedeutung. Qualitative, rekonstruktive oder interpretative Forschungen stehen vor der Aufgabe, mögliche und tatsächlich maßgebliche (Hinter-) Gründe von Handlungen zu untersuchen. Sie stützen sich dabei auf mehr oder weniger elaborierte Theorien und Methodologien des methodisch kontrollierten Fremdverstehens. Der Handlungsbegriff impliziert notwendigerweise die Aufgabe des Verstehens (Straub 2006; Sichler in diesem Band). Die Vertreter/innen des Pragmatismus grenzen sehr systematisch nicht allein das symbolisch vermittelte Handeln vom rein reaktiven (und auch vom instinktiven) Verhalten ab. Sie schaffen überdies in innovativer Weise Raum für ein theoretisches Denken, das den Handlungsbegriff von seinen überlieferten, noch heute wirkmächtigen Engführungen (vor allem) auf zielgerichtetes und zweckrationales Handeln befreit. Hans Joas (1992b; dazu Straub 1992a, 1999) hat dargelegt, dass die gängigen Vorstellungen sowohl im Sinne des intentionalistischen oder teleologischen Rationalmodells, als auch des regelorientierten bzw. normativen Modells im Pragmatismus in eine differenziertere, komplexere Handlungstheorie integriert sind (s.u.). In dieser Theorie steht die Kreativität des Handelns mit

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Jürgen Straub

im Zentrum der Aufmerksamkeit. Im Übrigen sind es wiederum vornehmlich pragmatistische und von dieser Strömung beeinflusste Autorinnen und Autoren, die den für die moderne Psychologie so typischen Individuozentrismus überwinden und jedes Handeln stets auch vom geschichtlichen, kulturellen, sozialen und konkret-situativen Kontext her auffassen, in dem Akteure ihr wechselseitig aufeinander bezogenes Handeln entwerfen, vollziehen und koordinieren. In manchen Punkten ähnlich dachten die hier lediglich erwähnten Vertreter der sog. Kulturhistorischen Schule der russischen Psychologie – Lev Vygotskij, Alekseij Leont’ev und Aleksandr Lurija (Kölbl in diesem Band) –, deren praxis- bzw. tätigkeitstheoretischer Ansatz nicht nur für die heutige Kulturpsychologie (siehe den Beitrag Straub & Chakkarath in diesem Band), sondern auch für psychologische Handlungstheorien (z.B. von Holzkamp 1983) von Bedeutung ist. Der Pragmatismus geht stringent vom Prinzip einer primären Sozialität und Kulturalität menschlichen Handelns aus und bettet dieses in dynamische Verhältnisse praktischer Intersubjektivität ein (Joas 1980; Habermas 1988; Straub 1989, S.36ff.), ohne die mögliche Individualität von Handlungen und Personen zu verkennen.1 Die gleichzeitige Beachtung der sozio-kulturellen Konstitution der Person – ihres zeitlebens veränderlichen, sich entwickelnden Selbst bzw. ihrer Identität – und ihrer Individualität im Sinne der Einzigartigkeit und Unberechenbarkeit einer durch keinerlei kulturelle oder soziale Strukturen und Prozesse völlig festgelegten agency trägt zu einer bis heute ungebrochenen Attraktivität dieses Ansatzes bei. Meads Handlungstheorie ist, wie der gesamte Pragmatismus, anticartesianisch. Geist und Bewusstsein sind Errungenschaften einer Lebensform, die keine Monaden kennt, sondern leibliche Menschen, die an Sprachspielen (sensu Wittgenstein) teilzuhaben lernen und in Geschichten verstrickt sind, in denen stets auch (signifikante) Andere wichtige Rollen spielen und unweigerlich Teile des eigenen Selbst werden. In der Psychologie wurde das Erbe des Pragmatismus nur vereinzelt zur Kenntnis genommen und als Grundlage einer handlungstheoretisch orientierten Forschung ausgewiesen (Straub 1989, 1999). Die direkten Quellen der psychologischen Handlungstheorien des 20. Jahrhunderts liegen anderswo: Diese Theorien, die in seinerzeit kaum wahrgenommenen Ausnahmefällen bereits in den 1950er Jahren Gestalt annahmen (vgl. Boesch 1983, 1988, der an Pierre Janet, Kurt Lewin u.a. anknüpft), im großen Stil jedoch erst seit den 1970er Jahren Verbreitung fanden (s. etwa Boesch 1980; Cranach & Harré 1982; Cranach & Tschan 1997; Gauld & Shotter 1977; Werbik 1978), waren im Wesentlichen eine Folgeerscheinung der „halbherzigen“ kognitiven Wende der 1960er Jahre. Dies plausibilisiert eindrücklich ein Rückblick Jerome Bruners (1990a, 1990b; dazu Straub 1992b). Bruner, der selbst maßgeblich an der cognitive revolution beteiligt war, berichtet, dass sich eine Gruppe erfinderischer Köpfe bereits in den 1950er Jahren in radikaler Weise vom behavioristischen Programm verabschieden wollte. Man hielt, wie früher, mentale Termini (wie Wunsch, Intention, Absicht, Plan etc.) für unabdingbar, sobald es um angemessene psychologische Beschreibungen und Erklärungen spezifisch menschlichen Erlebens und Handelns gehen sollte. Anders als es Bruner und einige Mitstreiter/innen von Anfang an im Sinn hatten, führte die kognitive Wende allerdings keineswegs zu einer am alltäglichen Erleben und 1 Dies wird nicht zuletzt in Meads berühmt gewordener Theorie des Selbst deutlich (ohne die seine Handlungs-, Kommunikations- bzw. Interaktionstheorie nur unzureichend zu begreifen ist). Mead bestimmte das Self als eine temporale und dynamische, fragile und dennoch integrative Struktur, die in sich differenziert ist. Wir haben es hier mit dem Musterbeispiel einer Theorie zu tun, die die partiell autonome Person und deren agency als permanente (psychische) Synthesis des Heterogenen konzeptualisiert (Ricœur 1996 [1990]; Straub 2004; vgl. auch Joas 1980; Straub 1989, S.34ff.).

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Handeln interessierten, sozial- und kulturtheoretisch ausgerichteten Psychologie. Sie brachte vielmehr einen informationstheoretisch verengten „Computationalismus“ hervor, der den human mind nur so weit erforschen konnte, wie es die computationalen Modelle eben erlaubten (im Prinzip und je nach ihrem aktuellen technischen Entwicklungsstand; vgl. Zielke 2004). Die kulturelle und soziale Praxis sowie das individuelle Tun und Lassen handlungsfähiger Personen blieb weitgehend außen vor. Es lag auf der Hand, dass aus der Enge der (experimentellen) kognitiven Psychologie – die selbst die Sozialpsychologie in eine Ansammlung von „individuozentrischen“ social cognition approaches verwandelte – nur eine neue, insbesondere eine dezidiert handlungstheoretische Ausrichtung der Psychologie würde herausführen können. Man wollte die alltägliche Handlungs- und Lebenspraxis ganz gewöhnlicher Leute studieren, deren sinnhaftes und bedeutungsvolles Erleben, Tun und Lassen. Nichts von all dem, was Menschen umtreibt und beschäftigt, sollte fortan ausgelassen werden. Die Handlungstheorie sollte dabei im Rahmen einer sozial- und kulturwissenschaftlichen Psychologie platziert werden. Praxis und Sprache sowie andere symbolische Formen wurden die Leitbegriffe für die methodisch vielfältigen Analysen von acts of meaning (Bruner 1990b) und (informellen oder institutionalisierten) pragma-semantischen Netzwerken (Straub 2010a; Weidemann 2009).2 Bruner und einige andere schlugen einen solchen Weg ein und erarbeiteten jene „soziozentrischen“ Ansätze, die heute in vielerlei Varianten verfügbar sind (Zielke 2004; vgl. auch Winter in diesem Band). Bruner selbst gilt, neben Boesch, seit Jahrzehnten als einer der bedeutendsten Repräsentanten einer handlungstheoretisch orientierten Kulturpsychologie – die ebenso gut als kulturtheoretisch fundierte Handlungspsychologie bezeichnet werden kann. Dieser Ansatz ist jedoch keineswegs die dominierende Variante im Feld der handlungstheoretisch ausgerichteten Psychologie. Psychologische Handlungstheorien entwickelten sich vielmehr meistens in den Bahnen einer theoretisch, methodologisch und methodisch noch stark vom Behaviorismus geprägten Wissenschaft. Der Behaviorismus war dabei lediglich die stärkste und einflussreichste Ausprägung eines „szientistischen“ Denkens, das gewisse Vorstellungen einer „objektiven Naturwissenschaft“ propagierte und für allgemein verbindlich hielt.

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Darin kann man im Rückblick eine verbreitete Tendenz in den zunächst individuozentrischen Kognitionswissenschaften sehen (vgl. Varela 1990; dazu Straub 1992c). – Es ist unschwer zu erkennen, dass sich in der heute dominierenden neurowissenschaftlichen Ausrichtung der Psychologie etwas wiederholt, was die Kognitionswissenschaften als eigenen Irrtum eingesehen haben. Zwar ist in den neurosciences längst anerkannt, dass Kultur, Gesellschaft und andere Dimensionen des Sozialen schon deswegen nicht vernachlässigt werden dürfen, weil sie die Entwicklung des (für alles Erleben und Verhalten des Menschen „maßgeblichen“) Gehirns mitbestimmen. Sie verkennen jedoch, dass wissenschaftliche Erklärungen der Handlungs- und Lebenspraxis des sprachbegabten Tiers unweigerlich eines theoretischen Vokabulars bedürfen, mit dem sich pragmatische und semantische Sachverhalte und deren dynamische Relationen angemessen artikulieren und analysieren lassen. Das lässt sich auch im Rahmen einer strikt neurowissenschaftlichen Terminologie natürlich nicht bewerkstelligen.

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Theoretische und methodologische Prämissen und Grundannahmen

2.1 Zweierlei Richtungen Obwohl sich psychologische Handlungstheorien von den Verhaltenstheorien behavioristischer Provenienz kritisch absetz(t)en (sowie von deren anthropologischen Vorannahmen und Implikationen; vgl. dazu Groeben 1986; Groeben & Erb 1997; Groeben & Scheele in diesem Band), teilen sie mit diesen doch so manche Überzeugungen und Orientierungen. Dazu gehören sehr häufig etwa ! ! !

die theoretische Fokussierung des Individuums bei gleichzeitiger Ausblendung oder Marginalisierung des historischen, kulturellen und sozialen Kontexts sowie des situierten sowie interaktiven bzw. kommunikativen Charakters menschlichen Handelns, das Interesse an einer vermeintlich universalen, kausalen Mechanik menschlichen Handelns (und seiner Bedingungen und Folgen), die methodische Ausrichtung an (quasi-) experimentellen Untersuchungsdesigns, die ! die Favorisierung vermeintlich „objektiver“ Verfahren impliziert und, komplementär dazu, ! die Ausblendung der Subjektivität der Forschenden und deren Rolle im Forschungsprozess (und ggf. ebenso der Besonderheit eines Forschungsteams; Mruck & Mey 1998) sowie ! die Ignoranz gegenüber der hermeneutischen Dimension psychologischer Erfahrungs- und Erkenntnisbildung.

Schaut man sich gängige Handlungstheorien und korrespondierende empirische Forschungen in der Psychologie genauer an, lassen sich diese Punkte leicht entdecken. Kuhl und Waldmann (1985) haben, als der Aufstieg psychologischer (und anderer) Handlungstheorien bereits seinen Zenit erreicht hatte (vgl. z.B. Greve 1994; Lenk 1981, 1984), eine kritische Bilanz gezogen und vorgeschlagen, vom „Experimentieren mit Perspektiven“ doch endlich abzulassen und möglichst bald fruchtbare „Perspektiven fürs Experimentieren“ einzunehmen und forschungspraktisch umzusetzen. Sie beziehen sich dabei auf Ansätze, die sie selbst favorisieren. Im Rahmen der nomologisch-experimentellen Handlungspsychologie unterscheiden sie vier Theoriegruppen: ! !

!

Analysen des molaren Handlungsstromes, die sich mit dem fortwährenden Wechsel und Ineinanderübergehen von (zielorientierten, zweckgerichteten) Handlungen befassen; Analysen von Handlungsregulationsprozessen, die auf der Annahme basieren, dass sich Handlungen in einzelne Bestandteile zerlegen lassen, die als interne, weitgehend automatisierte und nicht-bewusste Teilaspekte für die kontrollierende und regulierende Strukturierung des (wiederum zielorientierten, zweckgerichteten) Handlungsvollzugs maßgeblich sind (man denke an Rückkoppelungsschleifen, wie sie aus kybernetischen Modellen bekannt sind); Analysen von Selbstkontrollprozessen, die eine für die Ausführung ausgewählte Handlungstendenz gegen konkurrierende Alternativtendenzen „abschirmen“ (sodass es tatsächlich zum intendierten Handeln kommen kann);

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entscheidungstheoretische Analysen der motivationalen Determinanten der Zielbildung.

Kuhl und Waldmann (1985) unterscheiden sodann einzelne Ansätze (auch innerhalb einer Gruppe) anhand verschiedener Kriterien, die sich beziehen auf den „theoretische[n] Status der verwendeten Konstrukte (z.B. deskriptiv vs. erklärend), die formale Kohärenz der Annahmen, die Art der nahegelegten empirischen Überprüfung (z.B. Experiment, Protokollanalysen) und die (Art und Enge der) Beziehung zwischen den theoretischen Annahmen und den empirischen Überprüfungsmethoden“ (a.a.O.). Im Folgenden werden die genannten Theoriegruppen und einzelne Forschungen, die den angeführten Hauptthemen gewidmet sind, nicht näher betrachtet. Sie wurden hier erwähnt, um an wesentliche thematische Interessen und Perspektiven der nomologischexperimentellen Handlungspsychologie zu erinnern und die Art und Weise zu vergegenwärtigen, in der Handlungstheorien dort verwendet und geprüft werden (vgl. auch Heckhausen & Heckhausen 1985; Kuhl & Beckmann 1985). Diese (Teil-) Theorien beanspruchen allesamt, im Rahmen des experimentellen Paradigmas empirisch prüfbar zu sein. Auf diesem Weg des empirisch-experimentellen Tests von operationalisierten theoretischen Hypothesen soll unser Wissen über menschliches Handeln sukzessive erweitert werden (Wie schirmt ein Akteur eine Handlungstendenz erfolgreich gegen interferierende, störende Alternativen ab? Wie optimiert man Handlungsabläufe durch effiziente und schnelle Regulationsprozesse? Wie setzen sich Personen tatsächlich Handlungsziele, in einem Meer von möglichen Vorhaben? usw.). In Untersuchungen dieses Typs mögen hie und da zwar auch „qualitative“ Methoden Verwendung finden (z.B. Verfahren der Datenerhebung, die auf die Selbstbeobachtung und das „laute Denken“ von Personen setzen; dazu Konrad in diesem Band; bezüglich der Auswertungsmethodik denke man an Verfahren der qualitativen Inhaltsanalyse; Mayring in diesem Band). Allerdings stößt man hier nirgendwo auf ein genuines Feld qualitativer Forschung. Letztlich sind die angestrebten Theorien nomologische Aussagensysteme, die auf quantitativen Analysen empirischer Daten beruhen (und insbesondere kausale bzw. korrelative Beziehungen identifizieren sollen). Das ist ganz anders in jenen Handlungstheorien, welche in methodischer Hinsicht konsequent an den Einsatz qualitativer, rekonstruktiver oder interpretativer Verfahren gekoppelt sind. Vertreter/innen dieser (bei Kuhl und Waldmann kaum wahrgenommenen) Gruppe bilden und testen ihre Theorien nicht nur auf andere Art und Weise – nämlich nicht im Rahmen experimenteller Settings unter möglichst standardisierten, kontrollierten und reproduzierbaren (Labor-) Bedingungen –, sondern weisen ihnen auch eine andere Funktion zu. (Selbst die interessierenden Themen und Fragestellungen verändern sich merklich; man lese einmal nach, womit sich Bruner z.B. 2002 oder Boesch z.B. 2005 beschäftigen; vgl. auch Lonner & Hayes 2006.) Wenn im Rahmen hermeneutischer, semiotischer oder interpretativer Ansätze beispielsweise Überlegungen angestellt werden, die sich auf begriffliche Zusammenhänge z.B. zwischen „Handlung“ und „Wissen“, „Ziel“/„Zweck“ und „Mittel“ beziehen, tut dies niemand, um die theoretisch analysierten und ausgewiesenen Zusammenhänge empirisch auf ihre Triftigkeit zu prüfen. So fragt niemand (ernsthaft): Ist es tatsächlich wahr – empirisch zutreffend –, dass handelnde Personen Ziele zu erreichen oder Zwecke zu erlangen suchen? Selbstverständlich können Akteure mit ihrem Handeln (bestimmte) Ziele verfolgen (und ihr Handeln dabei als zweckdienliches Mittel begreifen, begründen,

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rechtfertigen etc.). Das gehört zur Pragma-Semantik des (intentionalen) Handelns. So ist der (intentionalistische) Handlungsbegriff definiert. Die angeführte Annahme hält der Alltagserfahrung stand. Sie bedarf keiner empirischen Prüfung. Sie bringt „lediglich“ zum Ausdruck, wie wir – in Lebenswelt und Wissenschaft – üblicherweise vom „Handeln“ und von „Handlungen“ sprechen. Solche Einsichten eröffnen grundlegende heuristische Perspektiven für die erfahrungswissenschaftliche, qualitativ-empirische Analyse konkreter Handlungen (Analysen von Zielbildungsprozessen, Entscheidungskonflikten usw.). Die theoretische Reflexion und Präzisierung des Handlungsbegriffs führt dabei womöglich zu Differenzierungen, die weit über das heuristische Potenzial des Begriffs intentionalen, zielorientierten oder zweckrationalen Handelns hinausgehen. Die empirisch-hermeneutische Forschung gelangt auf der Grundlage verfügbarer theoretischer Handlungsbegriffe auf erfahrungswissenschaftlichen Wegen zu Erkenntnissen, die etwas über den Zusammenhang zwischen bestimmten (Typen von) Handlungen und bestimmten (Typen von) Wissensbeständen aussagen (s.u.). Sie nimmt die Einsicht in die symbolische, pragma-semantische Struktur allen Handelns ernst und rückt demgemäß die hermeneutische Problematik des Sinnverstehens ins Zentrum methodologischer Reflexion. 2.2 Allgemeine Begriffsbestimmungen Handlungsfähige Personen können bedenken und wählen, wie sie unter gegebenen Umständen auf die für sie bedeutsamen Aspekte einer Situation antworten. Im Rahmen der ihnen gegebenen Möglichkeiten und offen stehenden Spielräume setzen reflexive Handlungssubjekte eigene Akzente (Waldenfels 1990a). Dazu müssen sie mehr oder minder komplexe Deutungs- bzw. Verstehensleistungen erbringen. Wer handelt, tut dies zwangsläufig auf der Grundlage eines – oft implizit bleibenden, routinierten und habitualisierten – Verständnisses der gegebenen (Rahmen-) Bedingungen und eigener Ressourcen. In jedem Fall ist menschliches Handeln hermeneutisch vermittelt. Wissenschaftliche Repräsentationen dieses Handelns sind demnach hermeneutische, interpretative Rekonstruktionen eines selbst schon in Deutungs- und Verstehensleistungen begründeten Handelns (vgl. Giddens 1984). Handlungen sind sinn- und bedeutungsstrukturiert, sie schaffen Sinn und Bedeutung und sind selbst als acts of meaning (Bruner 1990b) zu konzeptualisieren. Sie stehen für eine theoretische Position, in der Personen „trotz“ ihrer primären Sozialität und Kulturalität als partiell autonome Subjekte aufgefasst werden können. Der Handlungsbegriff ist der theoretische Statthalter einer „Freiheit“ von Menschen, die in ihrer Fähigkeit, präsentative und sprachliche Symbole zu verwenden (Langer 1965 [1942]), begründet ist, mithin in der vor allem in ihrer Sprachfähigkeit verwurzelten Begabung, sich von sich, ihrem Tun und Lassen distanzieren zu können. Dieses Vermögen der Abstandnahme ist die Voraussetzung für das, was gemeinhin Reflexionsfähigkeit und Handlungspotenzial genannt wird. Mit produktiven Handlungen nehmen Akteure Einfluss auf die Welt, einschließlich des eigenen Selbst, und verändern sie und sich; mit präventiven Handlungen beugen sie solchen (erwarteten, befürchteten) Veränderungen vor. Das eigene Selbst ist von den Handlungen eines Akteurs immer tangiert, die materielle, kulturelle oder soziale Welt ist es nicht unbedingt. Das Handeln führt zu einem bestimmten Ergebnis – der Handlung – und es zeitigt bestimmte interne und externe Folgen (und Neben-

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folgen, intendierte oder unbeabsichtigte). Wirkungen des Handelns können in Form der Innen- und Außendimension differenziert werden. Externe Wirkungen werden häufig Objektivationen genannt, interne Wirkungen können als Objektivierungen oder, dem „Objekt“ angemessener, als Subjektivierungen bezeichnet werden. Ein Tisch oder Maschinengewehr, eine Kirche oder Partitur sind Objektivationen menschlichen Handelns. Aspekte des Selbst oder der Identität wie Gelassenheit oder Selbstsicherheit einer Person können häufig als Subjektivierungen dechiffriert werden. Menschen schaffen sich zwar nicht selbst – vollkommen aus sich heraus, aus eigenen Kräften –, sie sind keine bloßen producer of his/her own development. Sie sind aber auch nicht unbeteiligt, sobald es um das eigene Selbst und die personale Identität geht. Als handlungsfähige Subjekte gestalten sie diese mit. Sie haben ein Mitspracherecht in Fragen der eigenen Lebensführung. Entsprechend sind sie mitverantwortlich für das Subjekt, das sie (geworden) sind und sein werden. Nicht nur die Wirkungen können als extern oder intern klassifiziert werden – wobei Handlungen meistens beide Arten von Folgen nach sich ziehen –, sondern auch die Handlungen selbst. Neben externalen Handlungen – Holz hacken, ein Bild malen, jemanden küssen – kennen wir internale Handlungen, die der Beobachtung verschlossen bleiben. Denkhandlungen und viele Tätigkeiten unserer Fantasie und Imaginationskraft zählen dazu (sofern wir eine gewisse Kontrolle auf sie ausüben, sie gestalten können). Das gilt bekanntlich sogar für Tagträume (nicht jedoch für die Träume, die, wie Sigmund Freud sagte, den Schlaf hüten und unser Bewusstsein ruhen lassen).3

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Aktueller Stellenwert, wichtige Themen, zentrale Diskussionen

3.1 Handeln und Lassen Nichts von dem, was bislang ausgeführt wurde, ist veraltet. Ich trage nun noch einige terminologische Unterscheidungen nach, die auf besonders aktuelle Debatten verweisen: Nicht zu handeln, wo man hätte handeln können oder sollen, ist nichts weiter als eine spezielle Form des Handelns. Wir sprechen gemeinhin von einer Unterlassung (etwa im Fall einer moralisch verwerflichen und/oder juristisch belangbaren „unterlassenen Hilfeleistung“). Von hier aus erstreckt sich ein in der psychologischen Theoriebildung noch weitgehend brach liegendes Feld. Es stellt sich nämlich, sobald man von Unterlassungen spricht, schnell die Frage, wie es denn in den verfügbaren Handlungstheorien um eine Haltung bestellt ist, die eher mit dem Lassen oder Sein-Lassen zu tun hat als mit dem produktiven und präventiven Handeln (im engeren Sinn). Zwar gibt es in der abendländischen Tradition – sowohl in religiösen bzw. theologischen als auch in philosophischen und literarischen Kontexten – reichlich Überlegungen zur Gelassenheit als einer (demütigen und zugleich vernünftigen) Haltung gegenüber dem Unverfügbaren. Gelassenheit empfiehlt sich, wo immer die Dinge beim besten Willen nicht zu ändern sind. Vom Lassen und Sein-Lassen ist jedoch eher wenig die Rede, sodass man sagen kann, dass Handlungstheorien eine aktivistische Schlagseite haben, die ein zentrales Merkmal der abendländischen Kultur bzw. des in ihr dominierenden Denkens widerspiegelt. 3 Zum besonderen Status von (an andere adressierten) sprachlichen Handlungen bzw. Sprechakten vgl. Straub (1999, S.34ff.).

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Handlungstheorien sind häufig Bestandteile einer epistemischen Praxis, die auf Kontroll- und Verfügungsgewalt im Zeichen einer zweckrational verengten, instrumentellen bzw. strategischen Vernunft aus ist. Kritische Korrekturen an dieser Tradition nehmen jedoch solche Handlungstheorien vor, die Handlungstypen an verschiedene Formen einer in sich differenzierten Vernunft binden. Das ist etwa bei Jürgen Habermas (1981) der Fall, dessen Konzeption einer „mehrstimmigen Vernunft“ das instrumentelle Denken in seine Schranken verweist. Auch in der Psychologie finden sich rationalitätstheoretisch differenzierte Handlungstypologien (Aschenbach 1984). Radikaler noch als Habermas kritisierte Waldenfels (1990b, 1999) gewisse Engführungen, Einseitigkeiten und Reduktionismen überlieferter Handlungstheorien. Seine Phänomenologie geht mit jeder Form des überzogenen Aktivismus und Rationalismus ins Gericht und bietet oft komplexere, unserer Praxis angemessenere Möglichkeiten zu konzeptualisieren, was wir in Zwischen- und Übergangsfeldern, in denen unsere leibliche Vernunft ebenso zu Hause ist wie das vielfältige „Andere der Vernunft“, so alles tun und lassen, erleiden und zu Wege bringen. Die aktivistische und rationalistische Schlagseite der meisten Handlungstheorien wird im Übrigen besonders deutlich, wenn man den Blick in Kulturen schweifen lässt, die vor allem das Sein-Lassen bedenken und achten. Der (Zen-) Buddhismus bezieht seine Attraktivität in der westlichen Welt nicht zuletzt aus dieser ihm zugewiesenen kontrastiven Funktion, die das Selbst- und Weltverhältnis des „abendländischen“ Menschen und die spezifische Form der „aktivischen Vernünftigkeit“ zu hinterfragen, zu korrigieren und zu erweitern gestattet – ohne sie ganz zu verabschieden. 3.2 Handeln, Freiheit, Autonomie Handlungen sind als Statthalter einer gewissen Freiheit und partiellen Autonomie des Menschen (Straub & Zielke 2005) das begriffliche Gegenstück zu Widerfahrnissen, also einem Geschehen oder Ereignis, das sich ohne Zutun und Verantwortung einer Person einstellt und von dem diese gleichwohl betroffen ist (in ihrem Erleben und Leben; vgl. Junge, Šuber & Gerber 2008). Während uns Widerfahrnisse zustoßen – wie ein misslicher Unfall, ein glückliches Geschick oder ein sonstiges kritisches Lebensereignis –, vollziehen wir Handlungen proaktiv und selbsttätig. Widerfahrnisse werden erlitten, Handlungen ausgeführt (mitunter nach reiflicher Überlegung, komplizierten Entscheidungen und detaillierten Planungen). Handlungstheorien sollten idealiter im engeren Sinn praktische und pathetische Aspekte unserer Existenz integrieren (Straub 1999, S.41ff.). Im Normalfall handeln wir zwar unter Bedingungen aller Art – die unsere Möglichkeiten und Spielräume sowohl eröffnen als auch limitieren –, aber dennoch aus freien Stücken. Die Grenzen zwischen dieser Freiheit und Verhältnissen, die uns Zwang auferlegen oder zumindest unter Druck setzen, dies zu tun und jenes zu lassen, sind freilich fließend. Subtilere Handlungstheorien kennen im Übrigen auch widerfahrnisartige Momente im Handeln selbst. Und sie wissen, dass Widerfahrnisse ihrerseits in ihrer Qualität und Wirksamkeit von Wahrnehmungen, mithin von Deutungs- und Verstehensleistungen der Betroffenen abhängig sind, die Handlungscharakter haben (s. Straub 1999, S.41ff.). Die Aktualität von (psychologischen) Handlungstheorien besteht nicht zuletzt darin, dass sie jenseits der Alternative deterministischer Konzeptionen radikaler Heteronomie (wie sie etwa der Behaviorismus oder neurowissenschaftliche Ansätze vertreten) einerseits, idealistischen Vorstellun-

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gen des „starken Subjekts“ andererseits (vgl. Straub 2002, 2010b) denken und komplexere Modelle vorschlagen. Theo Herrmann (1987) hat übrigens zu Recht darauf hingewiesen, dass Handlungstheorien wegen ihrer ontologischen und anthropologischen Voraussetzungen – ihres logisch implizierten Welt- und Menschenbildes – mit einigen, nomologischen Wissenschaften zugrunde liegenden Ideen unvereinbar sind. Wer glaubt, das menschliche Handeln sei wie beliebige sonstige Ereignisse erklärbar – also im Sinne der bedingungsanalytischen Subsumtionstheorie der Erklärung auf deterministisch formulierbare (Natur-) Gesetze zurückzuführen –, braucht sich mit Spielräumen des Handelns, mit Freiheit, Würde und Verantwortung nicht weiter aufzuhalten (s. Holzkamp 1986). Uwe Laucken (1989, S.188f.) geht mit guten Gründen davon aus, dass der „Seinsentwurf der Bedingungsanalyse […] mit dem Seinsentwurf, der Handlungstheorien ihrer logischen Voraussetzung nach möglich macht, unverträglich ist. Eine Handlung ist nicht bestimmbar als raum-zeitliche Ereigniseinheit, sondern nur als passende Verweisungseinheit einer stimmigen Verweisungskonfiguration.“ Dazu bedarf es der Deutung oder Interpretation. Handlungen werden verstehend identifiziert, beschrieben und erklärt. Das kann allerdings in verschiedenen, gleichermaßen präzise explizierbaren Formen bewerkstelligt werden. Das Verstehen bzw. verstehende Beschreiben und Erklären von Handlungen ist plural verfasst. Es gibt nicht bloß einen Weg des Verstehens – ebenso wenig wie wir nicht allein eine einzige Form menschlichen Handelns kennen. Die im Folgenden noch kurz skizzierte Handlungstypologie ist diesem Gedanken verpflichtet. Sie geht davon aus, dass zu unterscheidende theoretische Handlungsbegriffe verschiedenen Formen oder Schemata der hermeneutischen Handlungserklärung korrespondieren. 3.3 Dreierlei Handlungsbegriffe und Schemata der hermeneutischen Handlungserklärung 3.3.1 Zielgerichtetes Handeln und das intentionalistische Modell der Handlungserklärung Der Begriff des ziel- oder zweckgerichteten Handelns firmiert unter den Bezeichnungen des intentionalistischen oder teleologischen Modells (intentio, lateinisch: Absicht; télos, griechisch: Ziel, Zweck). Er setzt ein Subjekt voraus, das Intentionen hegt, sich nach einer getroffenen Entscheidung zwischen Alternativen das ausgewählte Ziel vornehmen und dieses auf der Grundlage des Wissens über Zweck-Mittel-Zusammenhänge bewusst und planvoll verfolgen kann. Diesem zweckrational vorgehenden Akteur dient das eigene Handeln als ein subjektiv für angemessen gehaltenes Mittel, um eine Absicht zu verwirklichen und das gesteckte Ziel zu erreichen. Dieses instrumentelle Handeln muss faktisch nicht zweckmäßig bzw. zielführend sein. Der hier verwendete Wissensbegriff umfasst also empirisches Wissen ebenso wie Glaubensüberzeugungen oder Meinungen. Akteure wissen, glauben oder meinen, dass das eigene Handeln bestimmte Zwecke erfüllt bzw. Ziele erreicht, also bestimmte Ergebnisse und Folgen zeitigen wird. Deshalb handeln sie, wie sie eben handeln. Intentionale Subjekte haben Gründe für ihr Handeln. Fast alle psychologischen Handlungstheorien sind diesem intentionalistischen Handlungsbegriff verpflichtet – und verabsolutieren ihn (Beispiele und kritische Analysen finden sich bei Straub 1999). Besonders gut ausgearbeitet und mit einer darauf zugeschnittenen

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Methodologie und Methodik des Verstehens und Erklärens von Handlungen verbunden ist das intentionalistische Modell im Rahmen des „Forschungsprogramms Subjektive Theorien“ (Groeben & Scheele in diesem Band; vgl. Straub & Weidemann 2010). Für die hier verfolgten Zwecke genügt abschließend eine knappe Wiedergabe der einfachsten Variante des Schemas einer intentionalistischen oder teleologischen Handlungserklärung nach Georg H. von Wright (1974). Demnach verstehen und erklären wir ziel- oder zweckgerichtete Handlungen, indem wir die Prämissen (in Gestalt des motivational-volitional-kognitiven Komplexes) sowie die daraus folgende Konklusion rekonstruieren: Abbildung 1:

Intentionalistische bzw. teleologische Handlungserklärung nach von Wright (1974 [1971], S.83; zu Differenzierungen dieses Schemas, auch im Hinblick auf „unbewusste Motive“, vgl. Straub 1999, S.101ff.).

___________________________________________________________________________ P1 A beabsichtigt, p herbeizuführen. P2 A weiß (glaubt, meint), dass er p nur herbeiführen kann, wenn er a tut. -------------------------------------------------------------------------------------------K Folglich macht sich A daran, a zu tun.

3.3.2 Regelgeleitetes Handeln und das regelbezogene Modell der Handlungserklärung In der Diskussion des einflussreichen Buches von v. Wright wurde schnell klar, dass es nicht besonders fruchtbar ist, sich als Handlungstheoretikerin oder empirischer Handlungspsychologe allein im begrifflichen und heuristischen, hermeneutischen und explanativen Rahmen des intentionalistischen Modells zu bewegen. Wer Passant/innen beiläufig mit einem Handzeichen grüßt, verfolgt damit meistens keine besonderen Ziele oder Zwecke, sondern befolgt eine eingespielte soziokulturelle Regel. In diesem und zahllosen anderen Fällen muss man entsprechend just solche Regeln rekonstruieren, wenn man die betreffende Handlung als Handlung bestimmter Art identifizieren und beschreiben, verstehen und erklären will. Man weist sie damit als integrale Bestandteile einer Lebensform und gegebenenfalls eines dazu gehörenden Sprachspiels aus. Genau das hatte Peter Winch (1966 [1958]) im Sinn, als er im Anschluss an Ludwig Wittgensteins Analyse des „Regelfolgens“ die Soziologie und Sozialpsychologie (sowie verwandte Disziplinen) darauf verpflichtete, sich aus emischer Perspektive um eine derartige Explikation handlungskonstitutiver oder handlungsregulativer Regeln zu kümmern. Die Unterscheidung zwischen konstitutiven und regulativen Regeln stammt von John Searle (1990 [1969]). Während erstere bestimmte Handlungen überhaupt erst möglich machen – man denke an einen beliebigen Zug einer Figur im Schachspiel –, modulieren die regulativen Regeln ein Handeln, dass auch ohne sie ausgeführt werden könnte (in Gestalt einer Verkehrsregel etwa geben sie die Geschwindigkeit an, mit der wir laut Gesetz durch eine bestimmte Kurve fahren dürfen). Bekanntlich können Regeln verletzt (und verändert) werden. Häufig halten sich Menschen jedoch daran. Anders wären koordiniertes Handeln und das Zusammenleben kaum denkbar. Regeln spielen in ganz verschiedenen Lebensbereichen und Handlungsfeldern eine wichtige Rolle: Technik, Ethik, Moral, Recht, Ästhetik, Spiel sind Beispiele dafür. Wir unterscheiden u.a. allgemeine von bereichsspezifischen Regeln, universale (wie die Menschenrechte) von solchen, die lediglich für einen bestimmten Adressat/innenkreis gelten usw. Für die Psychologie besonders interessant sind jene (oft

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sanktionierten) Regeln, welche gemeinhin als kulturelle oder soziale Normen bezeichnet werden. Wie diese, so sind auch andere Regeln oftmals nicht explizit, sondern implizit. Sie sind in Form von Dispositionen Bestandteil des praktischen Selbst- und Weltverhältnisses einer Person. Sie gehören zu deren sozialem Habitus (im Sinne Pierre Bourdieus), sind dem Sprechen und Handeln inhärent und lassen sich mitunter keineswegs so einfach identifizieren. (Weswegen die zuständigen Wissenschaften auf den Plan gerufen werden, etwa im Fall verzwickter interkultureller Konflikte, in denen Handelnde nicht miteinander vereinbarten Regeln folgen.) Auf detaillierte Ausführungen dazu, auf Überlegungen zum Zusammenhang zwischen Normen und Werten sowie auf genauere Bestimmungen des allgemeinen Regelbegriffs – der strikt vom statistischen Begriff einer Regelmäßigkeit abzugrenzen ist – muss hier verzichtet werden (vgl. Straub 1999, S.113ff.). Ich begnüge mich wiederum mit der Wiedergabe eines Schemas, das nun der verstehenden Erklärung von Handlungen durch die Bezugnahme auf handlungsleitende Regeln dient: Abbildung 2:

Modell der Handlungserklärung durch Bezugnahme auf Regeln

___________________________________________________________________________ P 1 Akteur A gehört zur Teilmenge Ego der Gruppe oder Gesellschaft G. P2 Akteur A befindet sich zum Zeitpunkt t in einer Situation der Klasse s. P 3 In G besteht die Regel r, die besagt, dass Ego in Situationen der Klasse s Handlungen der Klasse a ausführen (unterlassen) kann oder soll. ---------------------------------------------------------------------------------------------------------------K Akteur A vollzieht (unterlässt) eine Handlung der Klasse a (in einer Situation der Klasse s zum Zeitpunkt t).

3.3.3 Temporalität und Kreativität des Handelns: die narrative Handlungserklärung Beide bislang vorgestellten Handlungsbegriffe und Erklärungsmodelle sehen davon ab, dass eine Handlung als Bestandteil einer zeitlichen Ordnung und in ihrer eigenen Temporalstruktur aufgefasst werden kann. Außerdem ignorieren sie die Kreativität menschlichen Handelns. Handlungen können Ordnungen, die Welt und das Selbst, schöpferisch und innovativ ändern (Joas 1992b; Waldenfels 1990b). Diese Aspekte berücksichtigt allein das narrative Handlungsmodell (vgl. Straub 1999, S.141ff.). Erzählungen erlauben es, eine Handlung in ihrer zeitlichen Extension zu beschreiben, als einen womöglich allmählichen und temporal äußerst komplexen Vorgang. Man denke etwa an Handlungen wie „studieren“ oder „eine Weltreise machen“, die jeweils viele Teilhandlungen integrieren und sich über einen gewissen Zeitraum erstrecken. Außerdem implizieren sie Veränderungen, die handlungstheoretisch mitunter besonders relevant sind. Der Akteur hat früher – wiederum beispielsweise – noch nie eine Weltreise unternommen, war nicht drogenabhängig etc. Handlungen als derartige „temporal komplexe“, Veränderungen implizierende Phänomene lassen sich gewiss auf verschiedene Weise darstellen. Wenn jedoch die in diesem Handeln implizierte Veränderung interessiert, lassen sie sich nicht anders beschreiben (und uno actu erklären) als durch die Erzählung jener Geschichte, die zur besagten Veränderung führte. Handlungen sind häufig erst dadurch in ihrer besonderen Qualität beschreibbar, verstehbar und erklärbar, dass sie als Geschichte ausgeschrieben oder als Elemente einer erzählbaren Geschichte ausgewiesen werden (z.B. also biografisch oder historisch kontextualisiert werden). Sinn und Bedeutung der Teilnahme an einem

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„Ostermarsch“ oder einem öffentlichen Protest gegen die Verhaftung von Regimegegner/innen im heutigen Iran sind Beispiele dafür. Wie die Zeitlichkeit und Geschichtlichkeit, so verweist auch die Kreativität des Handelns auf die Kontingenz und Dynamik unserer Praxis. Während die oben skizzierten Begriffe und Modelle davon ausgehen, dass das Handeln entweder als Verfolgen vorab bestehender Intentionen (Ziele, Zwecke) oder als Befolgen vorgängiger Regeln aufzufassen ist, berücksichtigt eine Theorie der Kreativität des Handelns, dass (und wie) Intentionen und Regeln im Vollzug des zeitlich strukturierten, dynamischen Handelns entstehen oder modifiziert werden können. Kreatives Handeln folgt nicht nur einem Logos, es schafft auch „seinen eigenen Logos“ (Waldenfels 1980, S.265). Auch dieser schöpferische Aspekt zwingt die Handlungspsychologie dazu, sich des narrativen Modells zu bedienen. Erzählungen bzw. narrative Erklärungen bewahren Kontingenz und lassen Raum für die Thematisierung der Entstehung von Neuem. Wie Arthur Danto (1980 [1965]) in seiner bahnbrechenden Studie gezeigt hat, erfüllt das Erzählen von Geschichten eine deskriptive und zugleich eine autoexplanative Funktion, ohne Kontingenz und Spontaneität, Kreativität und Innovation zu eliminieren. Erzählungen liefern Beschreibungen und Erklärungen (auch) von temporal komplexen bzw. geschichtlich situierten Handlungen, die wiederum auf keine andere Beschreibungs- und Erklärungsform reduzierbar sind. Wichtig ist, dass jede Erzählung eine Veränderung bzw. einen Wandel thematisiert, beschreibt und erklärt. Ihr Explanandum lässt sich demgemäß so formulieren: Abbildung 3:

Modell der narrativen Erklärung nach Danto (1980 [1965], S.376)

„E: x ist F in t1 und x ist G in t2. F und G sind Prädikatsvariable, die jeweils ersetzt werden müssen durch entgegengesetzte Prädikate [z.B. abstinent, drogensüchtig; J.S.]; und x ist eine individuelle Variable, die durch einen Eigennamen zu ersetzen ist, der das Subjekt der Veränderung bezeichnet“ (Danto 1980 [1965], S.156; t1 und t2 sind verschiedene Zeitpunkte). Das Schema einer narrativen Erklärung lässt sich folgendermaßen wiedergeben: _____________________________________________________________________________ „Der Wandel von F-G ist die Veränderung in x, die Erklärung verlangt. Doch um den Wandel zu erklären, bedarf es der Beziehung auf etwas, das in t2 mit x geschieht, ein Ereignis, von beliebigem Komplexitätsgrad, das die Veränderung in x verursachte. Ich biete daher folgendes Modell, das die Struktur einer erzählenden Erklärung wiedergeben soll: (1) x ist F in t1 (2) H ereignet sich mit x in t2 (3) x ist G in t3 (1) und (3) bilden zusammen das Explanandum, (2) ist das Explanans. Die Hinzuziehung von (2) ergibt die Erklärung für (1)-(3).“ _____________________________________________________________________________

Danto hebt hervor, dass dieses Schema klar mache, wieso die angebotene Erklärungsform die Gestalt einer Erzählung besitzt: (1), (2) und (3) besäßen nämlich ganz offenkundig die Struktur der Erzählung: Sie hat einen Anfang (1), einen Mittelteil (2) und ein Ende (3) (vgl. hierzu Straub zu Erzählung/Narration in diesem Band).

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Wer Handlungen eines bestimmten Typs – nämlich temporal komplexe, geschichtlich situierte oder unter dem Aspekt ihrer Kreativität interessierende Handlungen – erklären will, muss unweigerlich eine Geschichte erzählen. Insgesamt lässt sich festhalten: Die Handlungstheorie in der Psychologie ist differentiell anzulegen. Sie operiert mit eigenständigen, nicht aufeinander zurückführbaren begrifflichen Handlungstypen und Typen der Handlungserklärung. Die getroffenen Unterscheidungen schließen nicht aus, dass das konkrete Handeln einer Person (oder auch einer Gruppe) im Rahmen mehrerer Modelle beschrieben und verstehend erklärt werden kann – und im Übrigen immer wieder anders dargestellt und plausibilisiert wird, als es bislang getan wurde. Handlungen sind nachträglich revidierbare und reformulierbare Deutungs- oder Interpretationskonstrukte. Sie sind auch deswegen (und nicht nur wegen ihrer Überdeterminiertheit) polyvalent.

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Polyvalenz des Handelns, Pluralität von Beschreibungen und Erklärungen – Stärke oder Schwäche?

Die Vorstellung, jede Handlung müsse einen Grund, einen Sinn und eine Bedeutung haben, wird damit obsolet. Handlungstheoretiker/innen sind nicht auf exklusive Beschreibungen und monolithische (monokausale etc.) Erklärungen verpflichtet. Sie brauchen im Übrigen nicht vor dem nur allzu realistischen Eingeständnis zurückscheuen, dass oft nicht zu entscheiden ist, welcher von mehreren denkbaren der maßgebliche Grund einer Handlung ist, wo ihre zentrale Bedeutung liegt etc. Das ist keine Kapitulation vor der Komplexität unseres Handelns, sondern eine Einsicht, die die empirisch-qualitative Forschung nur bereichern kann. Perspektivenvielfalt stellt Konkurrenz nicht still, sondern regt die fortwährende Suche nach dem best account, der überzeugendsten und hilfreichsten verstehenden Erklärung menschlichen Handelns erst an. Dies ist keine Schwäche einer „weichen“ Theorie, sondern eine Stärke, die der Wirklichkeit menschlichen Handelns Rechnung trägt. Ein wichtiges Desiderat einer dem interpretativen Paradigma verpflichteten Handlungspsychologie kann demnach vor allem darin gesehen werden, dieser Einsicht breite Geltung zu verschaffen und ihr durch eine konsequente Differenzierung und undogmatische Pluralisierung theoretischer Handlungsbegriffe, korrespondierende Modelle der verstehenden Handlungserklärung und darauf zugeschnittene qualitative Forschungsmethoden gerecht zu werden. Weiterführende Literatur Boesch, Ernst E. (1991). Symbolic action theory and cultural psychology. Berlin: Springer. Bruner, Jerome S. (1990). Acts of meaning. Cambridge, MA: Harvard University Press. Straub, Jürgen (1999). Handlung, Interpretation, Kritik. Grundzüge einer textwissenschaftlichen Handlungs- und Kulturpsychologie. Berlin: de Gruyter.

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Sozialer Konstruktionismus

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Sozialer Konstruktionismus 1

Die Herausbildung des sozialen Konstruktionismus

1.1 Disziplinäre Einordnung Der soziale Konstruktionismus ist eine Richtung der Psychologie, die sich in den achtziger Jahren des 20. Jahrhunderts als theoretische und methodologische Alternative zur naturwissenschaftlich orientierten Psychologie herausgebildet hat (Gergen 1982). Er artikuliert ein deutliches Unbehagen und eine fundamentale Kritik an der ihre vielfältigen Ursprünge verleugnenden, Differenzen unterdrückenden und relativ einheitlichen Entwicklung der Psychologie, die sie durch ihre Fixierung auf die Naturwissenschaften im 20. Jahrhundert und durch ihre gesellschaftliche Funktion als Diskurs sozialer Überwachung und Kontrolle im Kontext des (staatlichen) „Psy-Komplexes“ genommen hat (vgl. Rose 1985). Der soziale Konstruktionismus plädiert für ein plurales Verständnis von Psychologie, das sich der Kritik und der Emanzipation verpflichtet fühlt, Bedingungen individueller und gesellschaftlicher Veränderung aufzeigen sowie neue Handlungsmöglichkeiten offenlegen möchte (vgl. Gergen 2002, Kap. 3; Gergen & Gergen 2003a). In oppositioneller und kritischer Weise problematisiert der soziale Konstruktionismus die im Positivismus und Empirismus für selbstverständlich gehaltenen Auffassungen der (psychischen) Realität, indem er zu einem radikal anderen Verständnis psychologischer und sozialer Phänomene einlädt. Sein Ausgangspunkt ist nicht das Individuum, sondern das Soziale, die Beziehungen zwischen Menschen. Wissen, Erfahrung und das Selbst sind stets sozial verankert. Vor diesem Hintergrund geht der soziale Konstruktionismus davon aus, dass wissenschaftliche Beobachtungen nicht den Charakter der Realität enthüllen können, denn sie sind immer schon sprachlich vermittelt und verweisen auf die kulturellen und sozialen Kontexte ihrer Entstehung. Der soziale Konstruktionismus hat vielfältige Ursprünge in den Sozial- und Kulturwissenschaften und sich in unterschiedlichen Ausprägungen entwickelt (vgl. Burr 2003 Nightingale & Cromby 1999; Holstein & Gubrium 2007; Zielke 2007). So gibt es keine einheitliche und singuläre Position mit einem expliziten Programm. Gleichwohl gibt es geteilte Perspektiven auf psychologische und soziale Phänomene sowie grundlegende Annahmen, die bei allen Unterschieden zu Ähnlichkeiten und Übereinstimmungen in der Argumentation und Vorgehensweise führen. Die unterschiedlichen Formationen dieser Richtung stehen in einem Dialog miteinander, dessen Basis das Projekt einer Erneuerung und kritischen Transformation der Psychologie ist.

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1.2 Merkmale Die Diskussionen um den Konstruktionismus, die sich in unterschiedlichen Bereichen wie z.B. der Therapie (Gergen 2006) oder der Organisationsforschung (Gergen 2001a, S.137ff.) entfaltet haben, problematisieren fundamentale Annahmen unseres modernen Wissenschafts- und Weltverständnisses (Gergen 2001b). Während der Mainstream der Psychologie kulturelle, soziale und historische Zusammenhänge weitgehend ausblendet und tabuisiert (Gergen 1973), sind im sozialen Konstruktionismus ihre Berücksichtigung und Analyse die Voraussetzung für ein angemessenes Verständnis psychischer Phänomene, von menschlichen Beziehungen und der Konstitution des Selbst. Das Selbst z.B. ist nicht naturgegeben, sondern das Produkt sozialer und kultureller Prozesse, es entsteht und entwickelt sich in sozialen Beziehungen, die sich voneinander unterscheiden und auch verändern können (Cromby & Standen 1999). Daher wird die oft zu findende Auffassung, dass Menschen relativ feststehende innere Eigenschaften, Einstellungen oder Charakterzüge haben, die ihr Verhalten bestimmen und verantwortlich dafür sind, was sie sagen und tun, im sozialen Konstruktionismus abgelehnt. Das Interesse verschiebt sich auf die sozialen Praktiken, die Menschen vollziehen, und auf ihre sozialen Interaktionen. Deshalb werden die Diagnose psychischer Störungen als persönliche Probleme und die daran anschließenden, auf das Individuum konzentrierten Formen der Behandlung heftig kritisiert. Stattdessen werden diese als Konstruktionen betrachtet, die in den dynamischen Prozessen der Interaktion gemeinsam hergestellt werden. Der grundlegende Anspruch der Psychologie, universale Eigenschaften des Menschen beschreiben und seine wahre Natur entdecken zu können, erweist sich in der antiessenzialistischen Perspektive des sozialen Konstruktionismus als Selbstmissverständnis einer Disziplin, die nicht erkennt, dass das von ihr produzierte Wissen stets historisch und kulturell spezifisch ist. So kann es kein objektives Wissen geben, das sich auf die direkte Wahrnehmung und Beobachtung der Realität stützt. Der Anspruch der positivistisch orientierten Psychologie, objektive Fakten sowie kausalursächliche Zusammenhänge zu entdecken, lässt sich nicht aufrechterhalten, denn das geschaffene Wissen ist immer perspektivisch, partiell und von Interessen geprägt. Es entsteht in Prozessen und Formen des Austausches zwischen Gruppen von Wissenschaftler/innen, die bestimmte Auffassungen und methodologische Vorgehensweisen miteinander teilen. Auf diese Weise fordert der soziale Konstruktionismus die individualistische Sicht der Wissensproduktion heraus. Auch das Verständnis von „Wahrheit“ ist an interaktiv hergestellte und akzeptierte Formen des Verstehens gebunden, und in sozialen und kulturellen Praktiken werden geteilte lokale Versionen des Wissens konstruiert. Der Konstruktionismus betrachtet die Sprache als eine Form sozialen Handelns. Sie drückt nicht Emotionen oder Denken auf sekundäre und passive Weise aus, sondern gestaltet und artikuliert sie. Sprache bildet nicht die Wirklichkeit ab, sondern bringt diese hervor. So gilt das Interesse der Struktur und dem performativen Charakter von Sprache, den Sprachspielen und ihrer wirklichkeitsschaffenden Kraft.

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Ursprünge des sozialen Konstruktionismus

Ein wesentliches Merkmal des sozialen Konstruktionismus ist, dass der Ansatz im Dialog zwischen wissenschaftlichen, philosophischen und auch künstlerischen Richtungen entstanden ist. Deshalb zeichnet er sich durch Offenheit, Pluralität, Flexibilität und Neugier in der wissenschaftlichen Auseinandersetzung aus. Er öffnet die Psychologie für Erkenntnisse und Perspektiven aus anderen Disziplinen und entfaltet so ein Gegenprogramm zu dem oft zu beobachtenden Monolog dieser Disziplin mit sich selbst. Dabei steht die im 20. Jahrhundert vollzogene linguistische Wende im Zentrum seiner Betrachtung. Auch die daran anschließende kulturelle Wende im Kontext von Poststrukturalismus und Postmoderne wurde intensiv rezipiert und als eine Herausforderung für das Selbstverständnis der Psychologie betrachtet (Gergen 2001b). Die linguistische Wende führte zu einer Krise der Repräsentation: Die sprachlichen Beschreibungen wurden nicht länger als externer Ausdruck eines menschlichen Geistes aufgefasst, der als Spiegel der Welt betrachtet wird, wie es typisch für viele Erkenntnistheorien war (vgl. Rorty 1981). Es war vor allem der späte Wittgenstein (1953), der gezeigt hat, dass die Sprache ihre Bedeutung im (sozialen) Gebrauch erhält. Zum einen betonte er die Vielfältigkeit der Sprache, zum anderen hob er aber die Regelmäßigkeiten und die Übereinstimmungen im Sprachgebrauch in einer Lebensform hervor. Hiernach verleiht Begriffen nicht ihr Bezug zur externen Realität oder zu einem Gegenstand ihre Bedeutung; sie erhalten diese im Kontext ihrer Verwendung in Sprachspielen. Wissen entsteht in sprachlichen, sozialen Praktiken. Während Wittgenstein die Regelmäßigkeit unserer sprachlichen Einteilungen hervorhob, lotet der soziale Konstruktionismus die Möglichkeiten alternativer Sprachverwendungen aus. Die Studie „Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen“ (1973 [1969]) von Thomas S. Kuhn hat ebenfalls eine wichtige Bedeutung für den Konstruktionismus gewonnen. Kuhn zeigte, dass ein Paradigma, eine Gedankenstruktur, deren Annahmen und Praktiken geteilt werden, die Voraussetzung für die Schaffung von Wissen und die Produktion von Wahrheit ist. Dabei generieren unterschiedliche Paradigmen auch unterschiedliche wissenschaftliche Realitäten. Auf diese Weise machte Kuhn auch deutlich, dass wissenschaftliches Wissen auf der Teilnahme an Gemeinschaften beruht. Während seine Arbeiten historisch angelegt sind und die Produktion von Wissen retrospektiv betrachten, wird in den wissenssoziologischen science studies herausgearbeitet, wie beispielsweise auch im naturwissenschaftlichen Labor die Produktion von „objektivem wissenschaftlichem Wissen“ in dynamische und offene Prozesse eingebunden ist (Knorr-Cetina 1984). Es ist das Resultat von strategischen Konstruktionen, von Selektionen und von Verhandlungen. Auch die wissenssoziologischen Studien „Ideologie und Utopie“ von Karl Mannheim (1952 [1929]) oder „Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit“ von Peter Berger und Thomas Luckmann (1969) arbeiteten heraus, dass Wissen in sozialen Prozessen entsteht und die soziale Wirklichkeit gemeinsam konstruiert wird. Vor allem der symbolische Interaktionismus betont, wie in sozialen Interaktionen Bedeutungen ausgehandelt werden, Ordnung entsteht und sich in Auseinandersetzung mit anderen das eigene Selbst ausbildet (dazu der Beitrag von Winter in diesem Band). Auch die Ethnomethodologie (Garfinkel 2003) und die Konversationsanalyse sind für den sozialen Konstruktionismus von wichtiger Bedeutung (vgl. Potter 1996): Sie zeigen, wie in den Konventionen alltäglicher Gespräche Methoden enthalten sind, mittels derer Ereignisse, Objekte und Institutionen als Realitäten

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hervorgebracht werden. Sie machen auch deutlich, wie viel Vertrauen aufgebracht werden muss, um den gemeinsamen Regeln der Realitätskonstruktion zu folgen und eine soziale Wirklichkeit zu schaffen. Wesentlich für den sozialen Konstruktionismus wurden darüber hinaus die Dekonstruktion von Jacques Derrida (1976) und die Diskursanalyse von Michel Foucault (1974). Ausgehend von der textuellen Konstruktion der Wirklichkeit zeigen dekonstruktive Verfahren, wie Diskurse Realität und Subjektivität konstruieren. Wie für Wittgenstein ist auch für Derrida die Sprache unhintergehbar. In Abgrenzung zum Strukturalismus zeigte er, dass eine Sprache nicht als ein abgeschlossenes und fixiertes System betrachtet werden kann. Die möglichen Differenzierungen in einer Sprache, die unendlich sind, führen zu neuen Bedeutungen und Sinnrahmen. Gerade dieser Aspekt, dass die Strukturen einer sozial geteilten Sprache (neue) Phänomene produzieren, gewinnt im sozialen Konstruktionismus zentrale Relevanz. Hier schließt auch die Rezeption der Arbeiten von Michel Foucault an. Insbesondere seine Konzeption des Diskurses (Foucault 1974) wird intensiv rezipiert. In historischen Analysen der Psychiatrie, der Klinik und des Gefängnisses zeigt er, dass diese Institutionen von Anfang an Diskurse produzieren, die neue „Objekte“ konstituieren, die dann beschrieben, analysiert und Formen der Behandlung bzw. der Bestrafung unterzogen werden. Ein Beispiel hierfür ist die Schizophrenie, die identifiziert, kontrolliert und mit dem „Normalen“ verglichen wird. Diskurse bringen neue Weisen des Aussagens, des Denkens und der Klassifikation hervor, die zu neuen Entitäten führen. Damit verbunden sind entsprechende Subjektpositionen. So ermöglicht es z.B. der psychiatrische bzw. psychologische Diskurs, sich als Depressive/r, als Borderliner/in oder als Zwangsneurotiker/in zu artikulieren. Foucault macht deutlich, dass die Produktion von „Wahrheit“ immer an spezifische soziale Arrangements gebunden ist. Es sind aber nicht nur die Entwicklungen in der Philosophie und in der Soziologie, die den sozialen Konstruktionismus prägen. Auch in der Psychologie gibt es Vorläufer und parallele Entwicklungen (vgl. Flick 2000). So hat George A. Kelly (1986 [1955]) eine Psychologie der persönlichen Konstrukte entwickelt, die er als Bedeutungsdimensionen begreift. Menschen haben hiernach das Bedürfnis, ihre Umwelt zu erklären, um Kontrolle und Sicherheit zu erlangen. Sie antizipieren Ereignisse, indem sie deren über Situationen hinweg konstant bleibenden Eigenschaften zu identifizieren versuchen. Dabei entwickeln Menschen unterschiedliche Muster, die Welt zu konstruieren, die dazu führen, dass sie in verschiedenen Welten leben. Die Voraussetzung für Sozialität ist, dass jemand sich bemüht, die Konstruktionsprozesse anderer zu konstruieren. Ähnliche Konstruktionen können dazu führen, dass Ereignissen eine ähnliche Bedeutung zugewiesen wird. Im Anschluss an Kelly beschäftigt sich der Konstruktionismus vor allem damit, wie Konstruktionen der Welt und des Selbst verändert werden können, um neue Handlungsmöglichkeiten und Weisen des Selbstverständnisses zu entwickeln. Auch der radikale Konstruktivismus geht davon aus, dass die Welt von Menschen konstruiert wird und gerade deshalb einen so stabilen Eindruck vermittelt. Ernst von Glasersfeld (1985) schlägt den Begriff der „Viabilität“ vor, um die Passung zwischen Realität und Erkenntnis zu bezeichnen. Sowohl im Alltag als auch in der Wissenschaft können Konstruktionen und Theorien nicht auf ihre Korrespondenz mit der Realität hin überprüft werden. Lediglich die Nützlichkeit des von ihnen bereitgestellten Wissens kann zu ihrer Beurteilung herangezogen werden. Bei Humberto Maturana (1982) steht ebenfalls die Position

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der (wissenschaftlichen) Beobachter/innen im Zentrum der epistemologischen Analyse. Jede Erkenntnis geht – wie schon bei Kelly – auf deren Unterscheidungen zurück. Hier werden die Unterschiede zwischen den Denkrichtungen deutlich. Während der radikale Konstruktivismus zu erklären versucht, wie ein einzelnes Individuum eine unabhängige Realität wahrzunehmen und zu verstehen versucht, geht der soziale Konstruktionismus vom Sozialen aus, von den Beziehungen zwischen Menschen und den gemeinschaftlichen Konstruktionen von Bedeutung. Für ihn sind Handelnde nicht „Herr/innen“ ihrer Konstruktionen: „Für Konstruktivisten und Konstruktivistinnen ist der Prozess der Konstruktion der Welt ein psychologischer; er spielt sich im ‚Kopf‘ ab. Für Sozialkonstruktionistinnen und -konstruktionisten ist dagegen das, was wir für real halten, eine Folge sozialer Beziehungen“ (Gergen 2002, S.293f.). Auch die Herausbildung einer narrativen Psychologie (Sarbin 1986) wirkte inspirierend auf den Konstruktionismus und ist vielfältige Verbindungen mit ihm eingegangen. So hat Bruner (1997 [1990]) gezeigt, dass die Erzählung die wichtigste Methode ist, um Erfahrungen zu strukturieren und zu organisieren. In gewisser Weise erzählen wir, um zu sein. Durch das Erzählen von Geschichten werden kulturelle Bedeutungen aktualisiert und Leben verstehbar (siehe Straub, Erzähltheorie/Narration in diesem Band). Die narrative Vorgehensweise legt bisweilen nahe, dass es nur eine (biografische) Geschichte zu erzählen gebe. Der soziale Konstruktionismus betont jedoch, dass sich hinter jeder Geschichte andere Geschichten verbergen, deren narrative Komplexität und Alternativen der Selbst- und Welterschließung er offenlegen möchte.

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Theorie, Perspektiven und methodologisches Vorgehen des Sozialen Konstruktionismus

3.1 Die Krise der Repräsentation und ihre Bedeutung für die Psychologie Die Krise der Repräsentation, die zunächst in der Philosophie diskutiert wurde, war grundlegend für die Neukonzeptualisierung der Psychologie im sozialen Konstruktionismus. Die in psychologischen Ansätzen implizit vorhandene Abbildtheorie der Sprache wurde durch eine performative und soziopragmatische Sprachauffassung ersetzt (vgl. Gergen 1994, Kap. 2; Zielke 2004, S.228ff.). Es wird die Vorstellung verabschiedet, Wissenschaft könne objektive Beschreibungen der Welt hervorbringen. Die Sprache kann nicht auf neutrale Weise die Wahrheit transportieren. Dies führt zu verschiedenen Annahmen und Folgerungen. Die Beschreibungen und Darstellungen der Welt und von uns selbst werden nicht durch die Objekte, die wir beschreiben, vorgegeben oder angeleitet (Gergen 1994, S.49). Sie entstehen in der menschlichen Koordination von Handlungen bzw. Praktiken. So sind die Bedeutungen von Wörtern „interindividuell“ (Bachtin 1986), sie werden im sozialen Kontext von Beziehungen gebildet. Dabei sind Formen des Verstehens in Traditionen eingebettet und auf diese Weise kulturell verankert. Trotzdem verändern sie sich auch in alltäglichen Interaktionen, in den sprachlich vermittelten Beziehungsmustern. In diesen werden Wörter und Handlungen auf eine relativ stabile Weise miteinander verbunden. So sind z.B. für Psychoanalytiker/innen oder für Experimentalpsycholog/innen die Glaubwürdigkeit und Akzeptabilität von wissenschaftlichen Äußerungen an die Beziehungen und den Austausch mit ihren Kolleg/innen gebunden, in deren Rahmen sie erfolgt sind und Sinn

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machen (Gergen 1994, S.53). Deshalb lehnt der soziale Konstruktionismus die individuelle Sicht des Wissens ab und plädiert für eine relationale Psychologie (Gergen 2009). 3.2 Formen von Kritik Gleichzeitig stellt der soziale Konstruktionismus die dominanten Realitäten und die mit ihnen verbundenen Lebensformen infrage, weil er von der Intention getragen wird, Veränderungen im persönlichen und gesellschaftlichen Leben herbeizuführen. Da „Wertneutralität“ und „Objektivität“ in seiner Sicht rhetorische Konstruktionen von Gemeinschaften von Wissenschaftler/innen sind, fordert er eine kritische Analyse der ethischen und politischen Fragen, die mit dem wissenschaftlichen Tun verbunden sind (Gergen 1994, S.57ff.). Eine interne Kritik soll die Konstruktionen der Psychologie (z.B. im Bereich der Psychopathologie) sowie ihre Folgen im sozialen Feld (z.B. in den Behandlungsformen) analysieren. So sollen die internen Werte der Disziplin und ihre gesellschaftliche Funktion thematisiert werden. Gleichzeitig fordert der soziale Konstruktionismus eine kulturelle und gesellschaftliche Kritik, die neue Möglichkeiten der Realitätskonstruktion und des Miteinanderlebens eröffnen soll. Jede Form von Wissenschaft folgt implizit Werten und Interessen, auch wenn sie dies nicht reflektiert. Es ist Aufgabe der Ideologiekritik, wie sie z.B. die Frankfurter Schule (Habermas 1968) ausgebildet hat, dies zu zeigen: „Die ideologische Kritik legt nahe, dass die Worte dieser Autoritäten [Wissenschaftler/innen, Verfassungsrichter/innen oder Religionsführer/innen] keine exakten Abbildungen der Realität sind. Ihre persönlichen Interessen bringen sie dazu, bestimmte Aspekte in den Vordergrund zu stellen und andere weitgehend außer Acht zu lassen“ (Gergen 2002, S.36).

Der Konstruktionismus gründet seine Formen von Kritik explizit auf der Forderung nach sozialer Gerechtigkeit, Gleichheit, Anerkennung von Minderheiten, Konfliktreduktion etc. Er möchte scheinbar unveränderliche soziale Realitäten und starre Beziehungen aufbrechen, den konstruierten und von Interessen geleiteten Charakter dominanter Diskurse aufzeigen und Handlungsoptionen offenlegen. Veränderte Wirklichkeitskonstruktionen können zu neuen Handlungsentwürfen führen. 3.3 Dekonstruktion und Rekonstruktion Da kulturelle Praktiken aus der Perspektive des sozialen Konstruktionismus überwiegend kontingent sind, können sie prinzipiell auch verändert werden (Gergen 1994, S.59). Um dies bewirken zu können, benötigen wir neue Vokabularien und Rahmen, um uns und die Welt anders verstehen zu können. Gergen (S.60) führt in diesem Zusammenhang den Begriff der „generativen Theorie“ ein: „I proposed the term generative theory to refer to theoretical views that are lodged against or contradict the commonly accepted assumptions of the culture and open new vistas for intelligibility.“ Zusammenfassend zeichnet sich in der Perspektive von Gergen der soziale Konstruktionismus durch drei entscheidende Merkmale aus:

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„[...] deconstruction, wherein all presumptions of the true, the rational, and the good are open to suspicion-including those of the suspicious; democratization, wherein the range of voices participating in the consequential dialogues of the science is expanded, and reconstruction, wherein new realities and practices are fashioned for cultural transformation“ (S.62f.).

Er beschränkt sich also nicht auf eine kritische und dekonstruktive Analyse der positivistischen Psychologie, die auf Quantifikation setzt, sondern bemüht sich um deren Rekonstruktion in einem interpretativen Rahmen. Beispielsweise wird der traditionelle Persönlichkeitsbegriff, der von Merkmalen oder Eigenschaften einer Person ausgeht, die ihre Emotionen und ihr Handeln bestimmen sollen, problematisiert, in dem gezeigt wird, dass Handeln von den Kontexten abhängt, in denen wir agieren. Der Bezug auf eine Innenwelt, der durch den gewöhnlichen Sprachgebrauch nahegelegt wird, verschließt den Blick auf die Rolle von Beziehungen in der Formung unseres Verhaltens. Der Gebrauch der Sprache zur Beschreibung von Emotionen macht nicht innere Zustände sichtbar, er gibt vielmehr den Anreiz, Emotionen in der sprachlich vorgegebenen Weise zu erfahren. Dabei dient der Begriff der Persönlichkeit im Alltag dazu, das eigene Handeln und das von anderen zu erklären. Wir handeln in der Perspektive des sozialen Konstruktionismus so, als ob wir und die anderen eine Persönlichkeit hätten. Was wir aber unter einer bestimmten Persönlichkeit verstehen, wie sie die Welt und sich selbst erfährt, lässt sich nur durch unseren kulturell geprägten Sprachgebrauchs verstehen. Dieser rekonstruierte Persönlichkeitsbegriff macht nicht nur die Funktion des Begriffs in alltäglichen Interaktionen sichtbar. Es geht also darum, für selbstverständlich gehaltene Konzeptionen des Psychischen zu dekonstruieren und ihre soziale Genese offenzulegen. Persönlichkeit wird in Beziehungen konstituiert, in denen Menschen Bedeutungen teilen, schaffen und aufrechterhalten. 3.4 Diskurse, Macht und Handlungsfähigkeit Vor allem in der diskursiven Psychologie, die sich als eine Formation des sozialen Konstruktionismus betrachten lässt, wird untersucht, wie Menschen aktiv Darstellungen und Erklärungen konstruieren, um ihre Identität in der Interaktion mit anderen zu formieren und zu stabilisieren (Potter & Wetherell 1987). Dabei kann es auch zu Auseinandersetzungen und zu einem Kampf um Bedeutungen kommen. Wie in der Ethnomethodologie geht es darum, die Methoden zu erforschen, mittels derer das Alltagsleben geschaffen und sinnhaft erfahren wird. Hierzu werden kulturelle Texte wie z.B. Zeitungsartikel oder Gespräche in natürlichen Settings analysiert. Die diskursive Psychologie geht davon aus, dass Wirklichkeit durch Sprache und Diskurs erst konstruiert wird; es gibt kein Wissen außerhalb der Sprache, die gebraucht wird, um Wissen zu beschreiben und zu konstituieren. Im Zentrum der Analyse stehen die sprachlichen Ressourcen, die kulturelle sowie soziale Bedeutungen organisieren und jeweils zur Konstruktion von Ereignissen und Objekten zur Verfügung stehen. Potter und Wetherell (1995, S.89) bezeichnen diese kulturell geteilten Rahmen als „interpretative Repertoires“: „By interpretative repertoires we mean broadly discernible clusters of terms, descriptions and figures of speech often assembled around metaphors or vivid images [...] They are available resources for making evaluations, constructing factual versions and performing particular actions.“ Sie können zu vielfältigen Zwecken genutzt werden. Ebenso kann eine Person in unterschiedlichen Kontexten ver-

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schiedene Repertoires aktualisieren, die sich auch widersprechen können. Die damit verbundenen Konstruktionen der Welt und des Selbst führen zu entsprechenden Formen des sozialen Handelns, die sprachlich und diskursiv vermittelt sind. Die eng an Foucaults Machtanalysen (Foucault 1977, 1978) anschließende kritische Diskursanalyse (dazu Allolio-Näcke in diesem Band) hebt hervor, dass Definitionen und Repräsentationen immer perspektivisch und mit der Konstitution eines je spezifischen Wissens verbunden sind. Werden z.B. aus der Position der Normalität andere als verrückt klassifiziert, dann entsteht eine Machtasymmetrie. Mit der Klassifikation sind auch Formen sozialer Praktiken wie z.B. Praktiken der Einschließung oder Behandlung mit Psychopharmaka verbunden. Da es aber immer mehrere Diskurse gibt, die die Bedeutung von Objekten festlegen und Handlungsoptionen implizieren, muss ein dominanter Diskurs stets mit Infragestellung und Widerstand rechnen. Der soziale Konstruktionismus geht nicht davon aus, dass Personen „innere“ psychische Eigenschaften haben, sondern dass ihre Identität durch die Verbindung verschiedener diskursiver Praktiken (z.B. in den Bereichen Alter, Gender, kulturelles Kapital, Ethnizität etc.), an denen sie teilnehmen, konstituiert und rekonstituiert wird. Dabei greifen Personen die kulturell verfügbaren Interpretationsrahmen auf: Diskurse geben bestimmte Subjektpositionen vor und beschränken damit auch die Möglichkeiten der Erfahrung und der Selbstentfaltung (Willig 1999). Einige dieser Positionen werden nur vorübergehend eingenommen, sie sind nicht stabil, sondern flüchtig. In Interaktionen gehen Personen aktiv mit Diskurspositionen um und stellen sie auch infrage. Daher steht die Identität einer Person nie fest und ist immer offen für Veränderungen. Sie hängt von den jeweiligen Positionen ab, die in diskursiven Praktiken verfügbar sind (Davies & Harré 1990). Subjekte können durch verschiedene Diskurse positioniert werden, mit denen unterschiedliche Rechte, Verpflichtungen und Handlungsmöglichkeiten verknüpft sind. Die subjektive Erfahrung wird durch die jeweils eingenommenen Subjektpositionen bestimmt. Ein geschickter und kompetenter Gebrauch von Diskursen in interpersonalen Beziehungen kann helfen, sich selbst oder die Kontexte, in denen man lebt zu verändern. Eine kritische Analyse der Diskurse, die die Realitätskonstruktion bestimmen, kann die Voraussetzung für Widerstand und Wandel sein. Dabei können marginalisierte oder minoritäre Diskurse Alternativen für Identitätskonstruktionen anbieten. Der soziale Konstruktionismus hebt hervor, dass Diskurse in Beziehungen und Interaktionen genutzt werden. Wie im symbolischen Interaktionismus rücken die gemeinsamen Handlungen (joint actions) ins Zentrum der Aufmerksamkeit, in denen Menschen aufeinander zugehen, sich aufeinander beziehen und einen gemeinsamen Erfahrungs- und Handlungsraum schaffen (vgl. Shotter 1995). Was wir sagen und tun, ist nicht durch unsere Persönlichkeitsmerkmale bestimmt, sondern wird gemeinsam vollbracht. Wenn wir die Weisen, wie wir über uns und die Welt sprechen, verändern können, können wir unsere Beziehungen umgestalten und neue Formen des (Zusammen-) Seins kreieren (vgl. Shotter 1993). In diesem Zusammenhang verwendet vor allem Kenneth Gergen (2002, S.179ff.) den Begriff des Dialogs. Er lehnt die individualistische Auffassung der Person, die das westliche Denken prägt, ab. Stattdessen plädiert er für eine relationale Sichtweise, die Personen als eine Funktion ihrer Beziehungen mit anderen betrachtet (Gergen 2009). Unser Selbst konstituiert sich im interpersonalen Austausch, in Prozessen des Dialogs und des Aushandelns. Jede neue Beziehung, die wir eingehen, wird durch unsere früheren Beziehungen geprägt. So werden wir von einer Vielzahl von Selbsten bevölkert, die uns zu multiplen,

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fragmentierten und inkohärenten Personen machen, was nicht negativ betrachtet wird, sondern als Möglichkeitsraum beschrieben wird. Erst Erzählungen über uns oder das Schreiben von autobiografischen Texten vermitteln uns den Eindruck von Kohärenz und Kontinuität. Narrative Formen, die z.B. unsere Erfahrungen in Geschichten darstellen, strukturieren diese (vgl. Sarbin 1986; im Band die Beiträge von Straub sowie Lucius-Hoene). Sie haben einen Anfang, einen Mittelteil und ein Ende. Sie wählen Ereignisse aus dem Lebenslauf aus und präsentieren diese räumlich und zeitlich verankert. Dabei ist die Anzahl der grundlegenden Geschichten in einer Kultur begrenzt (z.B. Tragödie, Satire oder eine romantische Geschichte). In einer konstruktionistischen Perspektive ist entscheidend, welches generative Potenzial Erzählungen enthalten. Können sie z.B. Menschen helfen, ihr Leben zu verändern? Mary und Kenneth Gergen (1986) weisen darauf hin, dass wir Erzählungen benutzen können, um eine Vielfalt von Geschichten über uns selbst zu erzählen. Autobiografische Erzählungen sind Ressourcen, die wir in Interaktionen verwenden können, um uns selbst sinnvoll darzustellen und Möglichkeiten unseres Selbst auszuloten.

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Neue Perspektiven der qualitativen Forschung im sozialen Konstruktionismus

Die sozialkonstruktionistische Forschung ist in den USA Teil einer Erneuerungs- und Reformbewegung innerhalb der qualitativen Forschung (vgl. Denzin & Lincoln 2005), die nicht mehr davon ausgeht, dass wissenschaftliche Forschung objektiv und realistisch die Welt, wie sie ist, repräsentieren kann. Ebenso wenig kann Sprache die individuelle Erfahrung adäquat abbilden. Denzin und Lincoln (1994) sprechen von einer Krise der Validität in Bezug auf wissenschaftliche Praktiken, weil es kein Kriterium gibt, das es erlaubt, eine wissenschaftliche Untersuchung auf ihre Kohärenz und Übereinstimmung mit der Realität hin zu prüfen. Im Bereich der qualitativen Forschung entstand eine intensive Debatte darüber, wie darauf reagiert werden kann, dass wissenschaftliche Untersuchungen nicht mehr die Wahrheit entdecken (können). Gergen und Gergen (2003b, S.579ff.) unterscheiden zwischen vier methodologischen Innovationen, die aus sozialkonstruktionistischer Sicht relevant sind und die bereits erwähnten diskursiven und narrativen Zugänge ergänzen sollen. Dies betrifft zunächst die erhöhte Reflexivität, die den Lesenden die historische und lokale Situiertheit einer Studie sowie das persönliche Engagement des Forschers/der Forscherin näherbringt. Damit verbunden ist eine Hinwendung zu autoethnografischen Betrachtungen, die reflektieren sollen, wie die persönliche Geschichte mit der Untersuchung verbunden bzw. wie diese persönlich, kulturell und historisch lokalisiert ist. In der Zwischenzeit ist die Autoethnografie auch zu einer eigenen Methode geworden (Bochner & Ellis 2002; Ellis, Adams & Bochner in diesem Band). Eine zweite Perspektive ist die der Vielstimmigkeit. So können in einem Forschungsbericht z.B. die Untersuchten für sich selbst sprechen. Eine weitere Möglichkeit ist, dass die Plausibilität verschiedener und zum Teil sich widersprechender Interpretationen dargestellt wird. Eine dritte Antwort auf die Kritik an der traditionellen Form von Validität sind literarische Schreibweisen. Diese verlassen den realistischen Diskurs und wenden sich der Fiktion, der Poesie und autobiografischen Experimenten zu. Auch Texte in Collageform

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oder multimediale Arrangements sind möglich. Die vierte Antwort stellt die performative Wende der neueren qualitativen Forschung dar (vgl. Denzin 2003; Winter & Niederer 2008). Ergebnisse qualitativer Forschung sollen nicht nur in schriftlicher Form vermittelt werden, sondern auch als Performance, die auf unterschiedliche künstlerische Mittel und audiovisuelle Medien zurückgreifen kann. „In effect, the performance provides the audience with possibilities for a rich engagement with the issues, but leaves them free to interpret as they wish“ (Gergen & Gergen 2003b, S.583; siehe viele Beispiele in Jones et al. 2008). Insgesamt betrachtet erfordern diese methodologischen Neuerungen ein neues Verständnis qualitativer Forschung, das diese an den Handlungsmöglichkeiten misst, die sie den Forschenden und ihrem Publikum ermöglicht, z.B. im Bereich der EmpowermentForschung. Deshalb schlagen Gergen und Gergen (2003b, S.597f.) eine relationale Forschung vor, die das Publikum zu einem Dialog unter Gleichberechtigten einlädt.

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Stärken, Schwächen und Desiderata

Der soziale Konstruktionismus ist neben dem symbolischen Interaktionismus und den Cultural Studies (vgl. Winter 2001) die einzige Richtung in den Sozialwissenschaften, die sich intensiv mit dem Poststrukturalismus auseinandergesetzt und versucht hat, von ihm zu lernen. Wenn dieser zeigt, dass Realität und Realitätserfahrung durch Texte und Diskurse kulturell vermittelt sind, so dient ihm die Kategorie des Realen, die Jacques Lacan (1999) eingeführt hat, zur Bezeichnung des Bereiches, der nicht kulturell vermittelt ist und von dem wir keine Vorstellung haben. Der Konstruktionismus legt sein Augenmerk auf die symbolische Ordnung, die einen Zugang zur sozialen Realität ermöglicht, tabuisiert aber das Reale, so die unerträgliche Erfahrung von Tod, Schmerz und Verlust, die wir kulturell zu glauben wissen, aber nicht kennen, bis wir selbst betroffen sind. Für Lacan markiert die Abwesenheit des Realen den Tod des Subjekts. An anderer Stelle beschreibt er das Reale als das „Mysterium des sprechenden Körpers“, als „Mysterium des Unbewussten“ (Lacan nach Belsey 2005, S.51). Die Lacansche Perspektive macht deutlich, dass Konstruktionen nur einen Teil der menschlichen Existenz ausmachen. Der soziale Konstruktionismus sollte dies in seine Überlegungen miteinbeziehen.1 In eine ähnliche Richtung weist die Frage nach dem Platz des Körpers in der Theoriebildung, die in vielen Richtungen neuerdings gestellt wird. Vor allem Phänomenolog/innen verweisen auf die leibliche Erfahrung als Fundament für Konstruktionen. Durch sie erfahren wir die Welt auf nicht kognitive Weise und drücken dies aus. Für Burr (2003, S.198) sind diese Erfahrungen außerhalb des Diskurses und der Sprache: „We can ‚speak‘ of experiences and of the conditions under which we live and these expressions cannot be silenced or reframed by discourse. The expressivity of the body can therefore be subversive.“ Ihrer Ansicht nach ist es ein Manko des sozialen Konstruktionismus, dass er (bisher) individuelle Differenzen in der subjektiven Erfahrung der leiblichen Verankerung, des eigenen Selbst, des Begehrens und von Emotionen nicht angemessen berücksichtigt hat. Für ein Verständnis der unterschiedlichen und sich auch widersprechen könnenden Subjektpositio1

Vgl. zur Kritik und Weiterentwicklung auch die Beiträge in der FQS-Debatte zum sozialen Konstruktionismus ab Vol. 9, No.1; http://www.qualitative-research.net/index.php/fqs/search/sections.

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nen, die eine Person erfahren und leben kann, scheint auch ein Rückgriff auf eine Konzeption des Unbewussten sinnvoll, das freilich nicht essenzialistisch verstanden werden sollte. Dieses kann eine affektive Verankerung der Person bewirken (vgl. Walkerdine 1997). Im sozialen Konstruktionismus wurde bisher wenig untersucht, welchen Einfluss die materielle Welt auf soziale Konstruktionen hat. Welche Einschränkungen und Möglichkeiten ergeben sich durch sie? Auch strukturelle Merkmale von Gesellschaften, die sich z.B. in Formen kultureller und sozialer Ungleichheit äußern, werden in ihrer soziale Konstruktionen gestaltenden Form oft ausgeblendet (vgl. Cromby & Nightingale 1999). Allerdings versuchen kritische Psychologinnen und Psychologen dieses Manko zu beheben, indem sie den sozialen Konstruktionismus mit Konzeptionen des kritischen Realismus verbinden, der die Bedeutung realer Prozesse und Strukturen betont (vgl. Willig 1999). Zweifellos liegt die große Stärke des sozialen Konstruktionismus in der radikalen Kritik der Fundamente der traditionellen Psychologie, die er überzeugend dekonstruiert. Er konzipiert keine grand theory menschlichen Verhaltens, sondern entwickelt unter postmodernen Bedingungen ein plurales Theorieverständnis, das die Stärken der Psychologie im Dialog mit anderen Disziplinen entfalten soll: „This will be a psychology replete with conceptual resources, sensitive to ideology and history, innovative in its methods of inquiry, and a continuing font of new and effective practices“ (Gergen 2001b, S.812). Der soziale Konstruktionismus stellt neue Fragen, erprobt vielfältige Methoden der Welterzeugung und entfaltet ein anderes Verständnis von Psychologie. Er sensibilisiert für die Möglichkeiten individueller und gesellschaftlicher Veränderung. Dabei betrachtet er seine eigene Theorie als Form diskursiven Handelns (Gergen & Zielke 2006), als eine Praktik, die zu Anschlusspraktiken in Gemeinschaften einlädt, die seine sozialen Konstruktionen teilen. Weiterführende Literatur Gergen, Kenneth J. (2002). Konstruierte Wirklichkeiten. Eine Hinführung zum Sozialen Konstruktionismus. Stuttgart: Kohlhammer. Gergen, Mary M. & Gergen, Kenneth J. (Hrsg.) (2003). Social construction. A reader. London: Sage. Zielke, Barbara (2007). Sozialer Konstruktionismus. Psychologische Diskurse. Göttingen: Vandenhoek & Ruprecht.

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Jürgen Straub

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Erzähltheorie/Narration 1

Entstehungsgeschichte, historische Bedeutung und disziplinäre Einordnung

1.1 Homo narrator: Erzählen als Anthropologikum Mit leichter Feder notierte Roland Barthes vor einigen Jahrzehnten, die Erzählung schere sich nicht „um gute oder schlechte Literatur“. Sie sei „international, transhistorisch, transkulturell, und damit einfach vorhanden wie das Leben selbst“ (Barthes 1988, S.102). Er berichtete sodann von Erzählungen in „nahezu unendlichen Formen zu allen Zeiten, an allen Orten und in allen Gesellschaften“ (a.a.O.). Er hatte wohl recht damit, im Erzählen von Geschichten eine anthropologische Konstante zu sehen. Die vielfältige narrative Praxis gehört zur conditio humana: „Homo narrator est“ (Boesch 2000). Diese von weit her kommende Definition des Menschen wirkt bis heute unverbraucht. Sie gilt nicht zuletzt in der (narrativen) Psychologie unserer Tage als ein im Leben von jedermann und jederfrau verwurzelter „Grund-Satz“. Ohne Bezugnahme auf das Erzählen liefen Begriffe wie „Erinnerung“ und „Gedächtnis“, „Erfahrung“ und „Erwartung“, „Handeln“ und „Erleiden“, „Geschichte“ und „Lebensgeschichte“ oder „Selbst“ und „Identität“ Gefahr, ihren vollen Bedeutungsgehalt zu verlieren. Sie würden partiell unverständlich. Die Narration ist „grundlegend für die Organisation, Transformation und Kommunikation von Erfahrung“ (Stierle 1979, S.92). In der Tat sehen wir Dinge und Ereignisse, andere Menschen und „uns selbst in unserer Lebenswelt immer schon im Zusammenhang von Geschichten“ (a.a.O.). Der Inhalt und zuvor schon die dramatische Form oder Struktur erzählter Geschichten liefern wichtige Kriterien für das, was uns an unseren Erlebnissen bedeutsam erscheint und schließlich den Status mitteilbarer Erfahrungen erhält. Relevant ist, „was sich zu Geschichten ordnet und in ihnen zugleich eine prägnante Zeitgestalt gewinnt“ (a.a.O.). Das Erzählen ist zwar nicht der einzige, aber ein herausragender sprachlicher Modus, aus Erlebnissen intersubjektiv kommunizierbare und reflektierbare Erfahrungen und Erwartungen zu formen. In Erzählungen entwerfen, artikulieren und gestalten Erzählende ihre Welt, indem sie Geschehenes zeitlich ordnen (in linearen Sequenzen und beliebig komplexen, nicht-linearen Verweisungszusammenhängen, die auch Bezugnahmen auf antizipierte, befürchtete oder erhoffte Ereignisse und Entwicklungen einschließen können). Geschichten sind eine in ihrer praktischen, kulturellen, sozialen und psychischen Bedeutung kaum zu überschätzende Artikulationsform des Menschen (zum Begriff der Artikulation vgl. Arnold 2010, S.70ff.). Der Mensch ist unweigerlich in Geschichten verstrickt und zeitlebens mit diesen Verstrickungen befasst. Er ist das Wesen, das nicht nur erzählen, sondern vom Erzählen erzählen und sich noch zu dieser reflexiven Struktur bewusst verhal-

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Erzähltheorie/Narration

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ten kann. Das Erzählen ist eine anthropologische Universalie und für jede Wissenschaft, die an den Erlebnissen bzw. den Erfahrungen und Erwartungen von Menschen interessiert ist, von eminenter Bedeutung. Empirische Forschung ist demnach nicht zuletzt als Analyse von Erzählungen anzulegen. Dabei sind auch psychologische Erzählanalysen in hohem Maße auf den Einsatz qualitativer, rekonstruktiver oder interpretativer Methoden angewiesen (siehe Lucius-Hoene, in diesem Handbuch). 1.2 Rehabilitierung des Erzählens in der Philosophie und den Wissenschaften Der Mensch ist ein Geschichtenerzähler: Solche und verwandte Einsichten zirkulieren heute in mannigfachen Gestalten in der Philosophie und den Wissenschaften. Sie zeugen von einer Rehabilitierung des Erzählens in jüngerer Zeit. Die Narration besaß in diesen Gefilden nämlich keinen besonders guten Ruf. Aus dem Feld einer genuin wissenschaftlichen Erfahrungs- und Erkenntnisbildung war die Erzählung als eine spezifische Sprachform und kommunikative Gattung seit Längerem weitgehend verbannt. Auch in der Psychologie war kaum vom Erzählen und seiner Bedeutung für die dynamischen, praktischen Selbst- und Weltverhältnisse von Personen die Rede. Insbesondere mit dem Siegeszug der nomologischen Wissenschaften in der Neuzeit ist die Kritik am Erzählen als einer Praxis oder gar eines Verfahrens der wissenschaftlichen Erfahrungs- und Erkenntnisbildung, speziell der wissenschaftlichen Erklärung, stetig gewachsen. Das Erzählen von Geschichten gilt in den nomologischen Wissenschaften und der ihnen zur Seite gestellten Wissenschaftstheorie bis heute als alltagsweltliche, minderwertige Form der Darstellung und Kommunikation. Oder man betrachtet es als eine literarische Praxis, die die Kunst strikt von der Wissenschaft scheidet – keinesfalls aber dazu taugt, Verbindungen und Verwandtschaften auszumachen, zumal solche, die von einem geteilten Interesse am Erzählen und vielleicht sogar davon herrühren, dass zumindest manche Sozialund Kulturwissenschaften ebenso wie die schöne Literatur und andere Künste vom Erzählen abhängig sein könnten. Provozierende Einsprüche gegen diese traditionelle Verachtung der doxa und speziell gegen die Vertreibung des Erzählens aus den modernen Wissenschaften wurden über Säkula hinweg von einer defensiven und marginalisierten Position aus vorgetragen. Sie schienen das theoretische und methodische Fundament wissenschaftlichen Denkens zu untergraben. Diese etwas starre Sicht der Dinge änderte sich im Laufe des letzten halben Jahrhunderts erheblich. Die treibende Kraft war dabei keineswegs die Literaturwissenschaft, die sich selbstverständlich stets mit dem Erzählen, seinen literarischen Formen, Verfahren und Resultaten, befasst hat, sondern die Geschichtstheorie bzw. Geschichtsphilosophie. Die narrative Struktur historischer Erkenntnis galt zunehmend und gilt noch heute als weitester Rahmen und unhintergehbare Bedingung der Geschichtswissenschaft und, so kann man diese Einsicht generalisierend ergänzen, ebenso aller anderen Disziplinen, die – wie die Psychologie – mit temporal komplexen Phänomenen, kurz: mit Veränderungen befasst sind. Das haben etwa folgende prominente Beiträge gezeigt: !

Paul Ricœurs bis heute unübertroffene Analysen des inneren Zusammenhangs zwischen Zeit und Erzählung (z.B. 1988 [1983], 1991 [1985]);

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die narrativistischen Arbeiten Jörn Rüsens (z.B. 1990), der das Erzählen ebenfalls für unverzichtbar hält, sobald Zeit in Gestalt wechselseitiger Beziehungen zwischen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft thematisch wird und dadurch bedeutungsstrukturierte bzw. sinn-volle Zeit-Zusammenhänge entworfen werden; die subversiven Schriften Hayden Whites, der in „Metahistory“ (1991 [1973]) seiner Zunft vorhielt, der Kunst und ihren literarischen Verfahren der Fabelbildung näher zu stehen als den strengen Wissenschaften, da die Geschichtsschreibung am Ende doch nur Geschichten erzähle, seien es Tragödien, Komödien, Romanzen, Satiren oder Varianten dieser bekannten Plotstrukturen; später kritisierte er diese erzählerische Ausrichtung der Geschichtswissenschaft vehement und empfahl ihr eine Ausrichtung an der seines Erachtens realitätsgerechteren Form der Chronik (White 1990 [1987]); die ebenfalls besonders wichtigen Beiträge aus der Analytischen Philosophie, die Arthur Dantos (1974 [1965]) luziden Untersuchungen folgen und im Erzählen einen genuinen und unersetzbaren Modus auch der wissenschaftlichen Erklärung temporal komplexer Phänomene erkennen. Solche Phänomene, die stets Veränderungen darstellen oder beinhalten, sind nur durch die narrative Entfaltung einer Geschichte zu beschreiben und uno actu zu verstehen und zu erklären. Entsprechend sprach Danto vom Schema einer narrativen Erklärung, das aus dem formalisierten Modell einer Kausalerklärung im Sinne der nomologischen Subsumptionstheorie ausschert. Wiederum lässt sich ergänzen: Die narrative Erklärung bietet in allen interpretativen Sozial- und Kulturwissenschaften eine wichtige Ergänzung zu den Formen sowohl der kausalen (bzw. korrelationsstatistischen) als auch der intentionalistischen Erklärung sowie zu jenem Erklärungsschema, in dem die Bezugnahme auf Regeln die entscheidende Rolle spielt (vgl. Straub 1999, S.141ff.; sowie den Beitrag Handlungstheorie in diesem Band).

Parallel und komplementär zur vornehmlich zeit- und geschichtstheoretischen Rehabilitierung des Erzählens (Angehrn 1985) stieg das Interesse am Erzählen in anderen Disziplinen. Die in der interpretativen Soziologie angesiedelte Entwicklung der Technik des narrativen Interviews durch Fritz Schütze (s. dazu Mey & Mruck, in diesem Handbuch) ist das in den Sozialwissenschaften wohl prominenteste Beispiel dafür.1 Das einzige Exempel ist es kei1 Schützes Begründung für die Entwicklung gerade dieses Erhebungsverfahrens war mehrgliedrig, vernachlässigte aber spezifisch zeittheoretische Argumente oder streifte sie allenfalls. Wichtiger war ihm die (sozial-) anthropologische Feststellung, dass alle (sprachfähigen) Menschen (Selbst-) Geschichten erzählen können. Demgemäß wurde das narrative Interview auch als jenes Verfahren etabliert, welches in herausragender Weise geeignet sei, alltagsweltliche Erfahrungen aus der Perspektive der betroffenen bzw. handelnden Subjekte und obendrein in deren eigener Sprache zu rekonstruieren. Bekanntlich wurde diese wichtige Einsicht in die prekäre Gestalt einer oft kritisierten Homologiethese überführt (Bude 1985), nach der „Zugzwänge des Erzählens“ und andere Eigenheiten dieses „Sachverhaltsdarstellungsschemas“ angeblich dafür sorgen, dass das erzählte Leben dem tatsächlich gelebten quasi entspricht. Das Erzählen wurde hier auch deswegen nobilitiert, weil es die facta bruta eines gelebten Lebens – die ehemaligen Erlebnisse, Wahrnehmungen, Gedanken, Gefühle, Absichten, Handlungen einer Person, etc. – angeblich noch im Nachhinein adäquat wiederzugeben vermag. Der/die autobiografische Erzähler/in wurde gewissermaßen als exklusiv autorisierte/r Repräsentant/in nackter lebensgeschichtlicher Tatsachen konzipiert. Damit wurde nicht allein die für die Darstellung sog. Fakten konstitutive Funktion sprachlicher Formen und speziell narrativer Schemata unterschlagen, also auf vereinfachende Weise von der poetischen und hermeneutischen Dimension der Sprache abstrahiert. Darüber hinaus unterschätzte Schützes und Kallmeyers Erzähltheorie (Schütze 1987) das Geschick von Menschen, fingierte Ereignisse als Tatsachen zu repräsentieren, ohne die verbindlichen Regeln einer kulturell eingespielten Narrationsgrammatik zu verletzen. – Schützes Auffassung, dass die universale narrative Kompetenz im Grunde genommen relativ schichtenunabhängig verteilt sei (und auch durch andere sozio-

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neswegs, zog diese innovative Methode, die bald schon in sehr verschiedenen Untersuchungsfeldern angewandt wurde, eine ganze Reihe kreativer Ideen nach sich. In den Sozialund Kulturwissenschaften bahnte sich ein sog. narrative turn an, der eine höchst innovative und schöpferische Konzentration auf die vielfältigen Potenziale des Erzählens mit sich brachte. Dies betraf nicht nur die methodische Ebene der Datenerhebung (narratives Interview u.a.), sondern auch sehr grundsätzliche (theoretische) Aspekte, vor allem im Bereich ! !

! !

einer narrativen Anthropologie, in der das eingangs erwähnte Menschenbild des homo narrator immer genauere Züge annahm, einer im engeren Sinne narrativen Psychologie, in der nun sukzessive alle möglichen kulturellen, sozialen und psychischen Phänomene – einschließlich der „klassischen“ psychischen Strukturen und Funktionen wie Wahrnehmung, Denken, Gedächtnis und Erinnerung, Emotion, Motivation, Volition und Handeln – in ihrem Zusammenhang mit dem Erzählen untersucht wurden (s.u.), einer Epistemologie, in der das Verhältnis zwischen Sprache (speziell dem Erzählen) und nicht-sprachlicher Wirklichkeit (einschließlich des Zeiterlebens) eingehend bedacht wurde (s.u.), sowie einer interpretativen Methodologie, die erzählanalytische Ansätze und zunehmend raffiniertere, auf Erzähltexte (und andere symbolische Medien) gemünzte Auswertungsverfahren hervorbrachte (Lucius-Hoene, in diesem Handbuch).

Die Psychologie spielte bei diesen Entwicklungen die Rolle eines Nachzüglers (vgl. Bruner 1998, S.52, Fn.13). Sie hat vieles, bevor sie sich selbst als narrative Psychologie formierte (z.B. Bruner 1986; Polkinghorne 1988, 1998; Sarbin 1986; Straub 1989; Wiedemann 1986; zum Überblick: Echterhoff & Straub 2003, 2004), nur zögerlich zur Kenntnis genommen. Wichtige Argumente, die die Genese der interdisziplinären und internationalen „narrativen Strömung“ plausibilisierten, wurden häufig einfach ignoriert. Dies war längere Zeit sogar in der psychologischen Biografieforschung der Fall, wo erzähltheoretische Reflexionen, die die überlieferten Konzeptionen und Verfahren infrage stellten, besonders nahe lagen. Als sich narrative Ansätze in der durch Schützes Arbeitsgruppe beflügelten soziologischen Biografieforschung (und bald auch in der erziehungswissenschaftlichen) zu etablieren begannen, blieben produktive Kooperationen aus. Hans Thomae etwa wollte die eng mit seinem Namen verbundene „biographische Methode“ für die Psychologie reserviert wissen und steckte so ein disziplinäres Reservat ab, in dem kaum Gedanken an die wirklich neuen Einsichten einer narrativen, interpretativen Biografieforschung verschwendet wurden (vgl. Straub 1989, S.9ff.). Andere Beiträge aus der Psychologie befassten sich zunächst vorwiegend aus gedächtnis- und erinnerungstheoretischer Perspektive mit dem Erzählen (und anderen Formen der retrospektiven Repräsentation vergangener Ereignisse, speziell ehemaliger Erlebnisse). Sie zogen aus dem vielfach replizierten Befund, dass das autobiografische (episodische) Gekulturelle Differenzierungen wie Geschlecht, Generation oder Milieu vergleichsweise unbeeinträchtigt bleibe), hatte übrigens eine heute oft vergessene, macht- und herrschaftskritische Note. Erzählen kann (so gut wie) jede/r, sobald diese Kompetenz erst einmal erworben worden ist. Das narrative Interview war, lange vor den postcolonial studies unserer Tage, eines der ersten Erhebungsverfahren, deren Einsatz mit der Absicht des voicing einhergehen konnte (nicht musste): Geschichten erzählen zu lassen konnte bedeuten, Menschen eine Stimme zu geben und sie öffentlich vernehmbar zu machen im Rahmen einer Art „Sozialwissenschaft von unten“ (oral history, oral sociology, oral psychology etc.).

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dächtnis keineswegs „objektive“ Abbilder oder mimetische Reproduktionen der Vergangenheit abzuspeichern und abzurufen in der Lage ist, skeptische Schlüsse (z.B. Strube & Weinert 1987). Man misstraute dem Erzählen, weil es sich als unzuverlässiger und invalider Zeuge erwies, sobald es darum ging wiederzugeben, was einst tatsächlich geschehen war. Die dramatisierende Erzählung schien bloß dazu beizutragen, die Erinnerungen eines ohnehin lücken- und fehlerhaften Gedächtnisses vollends ins Reich des realitätsverzerrenden Wunschdenkens zu befördern. Die auf autobiografische Erzählungen gestützte Forschung schien deswegen weitgehend auf Sand gebaut.

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Spezielle theoretische Grundannahmen

Die zentrale epistemologische Voraussetzung dieses ziemlich negativen Urteils war offenkundig, dass man die mimetische Funktion einer „realitätsgetreuen Wiedergabe“ des Vergangenen für möglich und obendrein als zentrale Aufgabe von Gedächtnis, Erinnerung und Erzählung ansah. Das menschliche Gedächtnis fungiert in der angedeuteten theoretischen Perspektive als eine Art (technisch unzulänglicher) Rekorder, der vornehmlich für visuelle und auditive (aber auch für olfaktorische, gustatorische, taktile/haptische) Sinneseindrücke empfänglich ist und diese aufzuzeichnen hat, dabei aber fehlerhaft funktioniert und lediglich allzu begrenzte Speicherkapazitäten besitzt. In analoger Weise gelten Erinnerungen als störanfällig und unzureichend – gemessen am technomorphen Ideal einer möglichst „totalen“ sowie „direkten“ Aufzeichnung und Wiedergabe beliebiger Ereignisse. Dabei unterschätzt(e) man die philosophischen Probleme, die diesem zweifelhaften „Ideal“ innewohnen (zur Kritik s. etwa Rorty 1981 [1979]). Nur allmählich setzte sich die auch in der Psychologie spätestens seit Frederik Bartlett (1932; Kölbl & Straub 2010) verfügbare Einsicht durch, dass (subjektive) Repräsentationen ehemaliger Geschehnisse aus prinzipiellen Gründen niemals diesen Ereignissen selbst vollkommen entsprechen können (im Sinne eines Abbildes oder „Spiegels der Natur“). Erinnerungen sind u.a. hermeneutisch und narrativ vermittelt. Sie transformieren, zumal als sprachlich artikulierte Erinnerungen, Geschehnisse und Ereignisse unweigerlich in symbolisch strukturierte Erfahrungen. Im Übrigen sind sie intendierte bzw. (unbewusst) motivierte Akte. Als Erinnerungshandlungen können wir ihnen Intentionen und Motive, Anlässe und Gründe, Ziele und Zwecke zuweisen. Jede Repräsentation von Vergangenem – auch und gerade in Gestalt persönlicher, stets an kulturelle und soziale Vokabulare, Schemata, Scripts etc. gebundener Erinnerungen – ist eine (Re-) Konstruktion, die vom Standpunkt und in der Perspektive einer Gegenwart vorgenommen wird. Diese Gegenwart ist konstitutiv für das, was wir Vergangenheit nennen, als solche identifizieren, beschreiben, verstehen oder erklären und vom ehemaligen Geschehen begrifflich unterscheiden (Stierle 1973; Straub 1993, 1998, S.83ff.). Im Unterschied zu dem, was unwiderruflich geschehen ist, verändern sich Vergangenheiten im Licht einer sich wandelnden Gegenwart (und damit verwobener Zukunftserwartungen). Vergangenes als symbolische Repräsentation des Geschehenen ist im Fluss und demgemäß in gewisser Weise unbestimmt (Hacking 2001). Dies heißt – einem verbreiteten Missverständnis zum Trotz – jedoch keineswegs, dass allein die Gegenwart maßgeblich dafür sei, was Menschen retrospektiv und retrodiktiv als Vergangenheit rekonstruieren und repräsentieren. Eine derartige präsentistische Überzeichnung einer wichtigen Einsicht ist ebenso verfehlt wie die groteske Idee, die nicht hintergehbare, konstitutive Funktion der Gegenwart

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für jeden Akt der Artikulation, der Bildung und Umbildung von Vergangenheit, mache solche (Re-) Konstruktionen zu bloßen Inventionen (vgl. Hacking 1999). Vergegenwärtigungen von Vergangenem beziehen sich stets auf etwas (Geschehnisse, Ereignisse, Erlebnisse), das nicht in der Gegenwart angesiedelt ist und in ihr aufgeht. Sie sind mit Ansprüchen auf empirische Triftigkeit und Geltung verknüpft, die sich – im Prinzip, allerdings nicht restlos – überprüfen und kritisieren lassen. Gewiss enthalten alle – zumal die narrativen – Repräsentationen von Vergangenheiten fiktionale Elemente. So sind etwa jeder Anfang und jedes Ende einer erzählten Geschichte Resultate poetischer Akte, für die die Erzählenden verantwortlich sind, nicht aber das in eine Geschichte und schließlich (womöglich) in den Text der Geschichte verwandelte Geschehen selbst (Straub 1993, 1998, 2000; White 1991 [1973]). Deswegen ist aber nicht gleich die ganze Geschichtserzählung fiktiv, bloß erfunden, reine Einbildung eines seiner Gegenwart und nichts als dieser verhafteten Subjekts. Die komplexen Relationen zwischen Vergangenheit und Gegenwart (und Zukunft) klären differenzierte philosophische Theorien der Bezugnahme (z.B. Ricœur 1991 [1985]). Solche Theorien der „indirekten Referenz“ zeigen, dass es eine Vergangenheit ohne ehemalige Geschehnisse, auf die wir uns in unseren hermeneutischen, z.B. narrativen Retrospektiven beziehen können, nicht gibt und geben kann. Erinnerte Vergangenheiten, die wir mit einstigen Ereignissen bzw. Erlebnissen verbinden – auch weil ihre Spuren womöglich in unserem Leib oder dem Leib anderer Menschen präsent sind, nicht zuletzt in den „Schädelstätten der Geschichte“ (Hegel) –, unterscheiden sich von den fiktionalen Produktionen in der Literatur und anderen Gefilden künstlerischer Phantasie und profaner Einbildungskraft. Darüber sollten partielle Gemeinsamkeiten zwischen Erzählungen dieser oder jener Art nicht hinwegtäuschen. Vergangenheit – auch die im grammatischen Modus des Futurum exaktum vorausentworfene, erwartete Vergangenheit bzw. vergangene Zukunft – wird nicht zuletzt in Geschichten repräsentiert. Das Erzählen ist notwendig für die Repräsentation von Vergangenem, insofern es um die Vergegenwärtigung von Zeit-Zusammenhängen geht. Es verrät mitunter über die in einer Gegenwart lebenden Erzählenden, ihre Motive und Intentionen sowie über den kulturellen und sozialen Kontext des Erzählens ebensoviel wie über das, was einst geschehen und erlebt worden sein mag. Das ist freilich kein Defizit der Erzählung. Es macht sie als eine unverwechselbare Sprachform vielmehr besonders interessant – gerade für die Psychologie. Die Erzähltheorie und die empirische Analyse von Narrationen sind deswegen vorrangige Betätigungsfelder nicht zuletzt dieser Disziplin.

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Aktueller Stellenwert, wichtige Themen und zentrale Diskussionen

Manche historische Betrachtungen der Sozial- und Kulturwissenschaften lassen dem linguistic und interpretive turn einen narrative turn (sodann einen pictorial, einen spatial, einen cultural turn u.a.m.) folgen.2 Wie sehr die Konzentration auf das (alltägliche) Erzählen und Rezipieren von Geschichten im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts die gängige Auffassung des „Gegenstandes“ der Sozial- und Kulturwissenschaften prägte, wie sehr die Erforschung 2 Einen Überblick über die schwindelerregenden Wenden, die, ungeachtet des suggestiven new speech aus den rhetorisch aufgerüsteten Marketingabteilungen des Wissenschaftsbetriebs, häufig eher Aufmerksamkeitsverlagerungen und neue Akzentsetzungen darstellen als „revolutionäre Paradigmenwechsel“ oder dergleichen, bietet Bachmann-Medick (2006).

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von Narrationen und verwandten Phänomenen die theoretischen Überzeugungen und das methodische Selbstverständnis zahlreicher Vertreter/innen der Humanities beeinflusste, belegen längst eine ganze Reihe einschlägiger Sammelbände und Monografien (Bamberg 1997; Green 2002; McQuillan 2000; Nünning & Nünning 2002). Die Forschungsschwerpunkte verschoben sich sukzessive „von formal bzw. ästhetisch inspirierten Fragestellungen hin zur Diskussion erkenntnistheoretischer, psychologischer, sozialer und kultureller Aspekte oder ‚Leistungen‘ von Erzählungen“ (Seitz 2003, Kap. 3.3). Die mittlerweile weitverzweigte narrative Psychologie ist alles andere als homogen. Als Sammelbezeichnung und Synthese heterogener theoretischer Positionen, verschiedener methodischer Perspektiven und wissenschaftlicher Praktiken ist sie zunächst einmal bloß durch das gemeinsame Interesse am Erzählen und an Erzählungen charakterisiert. Sie erstreckt sich quer über alle traditionellen Teildisziplinen und die neuesten psychologischen Forschungsfelder (vgl. zum Folgenden zahlreiche Literaturhinweise in Echterhoff & Straub 2003, 2004). So reichen entsprechende Ansätze ! ! ! ! ! ! ! ! !

von allgemeinpsychologischen Teilgebieten wie der Gedächtnispsychologie, Sprachpsychologie, Handlungstheorie und der Methodenlehre, über die Entwicklungspsychologie, die Persönlichkeitspsychologie, die Sozialpsychologie, bis hin zur Klinischen Psychologie und Psychotherapie (-forschung), schließlich zu Gebieten wie der denkbar breit angelegten Biografie- und Identitätsforschung, einer Psychologie des Geschichtsbewusstseins, oder der thematisch wiederum sehr differenzierten Kulturpsychologie (vgl. den Beitrag „Kulturpsychologie“ in diesem Handbuch).

Sieht man sich einschlägige Arbeiten etwas näher an, fällt schnell auf, dass die Bezeichnung „narrative Psychologie“ eigentlich irreführend ist. Genauer betrachtet handelt es sich um eine vielfältige und facettenreiche Psychologie des Narrativen, der Narration und der Narrativität, nicht aber um eine Psychologie, die sich selbst des Erzählens als eines sprachlichen Modus des systematischen Denkens, der methodischen Beschreibung sowie des wissenschaftlichen Verstehens und Erklärens bediente. Eine Disziplin, die sich durch das Adjektiv „narrativ“ selbst qualifizierte – und nicht nur ihren Forschungsgegenstand –, sucht man bis heute beinahe vergeblich. Es handelte sich dabei um eine Wissenschaft, die nicht bloß Traditionen wie z.B. die (nie ganz verblasste) klinische Kasuistik bereichern würde, sondern in neuartiger, radikaler und umfassender Weise Potenziale einer erzählenden Wissenschaft auszuloten trachtete (und so unweigerlich die eingeschliffenen Grenzen zwischen Kunst und Wissenschaft antasten müsste, ohne sie vollständig einreißen zu wollen). Was unter dem Titel einer narrativen Psychologie erforscht und verhandelt wird, ist nur noch schwer zu überblicken. Der folgende Einblick ist an zwei Fragen orientiert: was ist eine Erzählung und welche psychologisch interessanten Funktionen erfüllt dieser Modus menschlichen Denkens und Sprechens, der für unser Fühlen, Wünschen, Wollen und Han-

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deln von kaum zu überschätzender Bedeutung ist?3 Antworten darauf machen klar, warum sich die zeitgenössische Psychologie mittlerweile so eingehend mit Narrationen befasst (hat) – und wieso diese Beschäftigung auch in einem Handbuch für qualitative Methoden ihren Platz haben muss. 3.1 Was ist eine Erzählung? „Erzählung“ und „Narration“ können den Akt des Erzählens und/oder die dabei gebildete „Geschichte“ meinen (im Sinne von Fabel, story, plot, intrigue, wovon der Kollektivsingular „die Geschichte“ [im Sinne der Historie oder Biografie] als Gesamtheit bestimmter Geschehnisse oder Ereignisse abgegrenzt ist; vgl. Straub 1998). Vorschläge zur begrifflichen Bestimmung von Erzählungen gibt es viele (z.B. Lucius-Hoene & Deppermann 2002). Im Folgenden werden einige wichtige Merkmale einer Erzählung angeführt. Dabei wird ein elementarer Prototyp skizziert, der als Ausgangspunkt für ein flexibles und kontextsensitives Verständnis dienen kann. Erzählungen entfalten Ereignis- und Handlungsverläufe. Handlungen menschlicher Protagonist/innen, aber auch andere Ereignisse, werden dabei in einer symbolischen und zeitlichen Ordnung dargestellt. Sie folgen nicht unverbunden aufeinander (wie in einer Chronik; White 1990 [1987]), sondern stehen untereinander in vielfachen Beziehungen (z.B. kausalen, argumentativen, korrelativen). Eine Erzählung oder Geschichte lässt sich in größere Untereinheiten zergliedern, in jedem Fall in Anfang, Mitte und Ende (eine differenzierte Gliederung bietet Kochinka 2001). Die Erzählung erhält ihre spezifische Struktur oder Form, aber auch ihre Dynamik, durch den „Plot“. Dieser bestimmt, welche Rolle Ereignisse im Rahmen einer Erzählung spielen, welche Bedeutung ihnen in ihr zugeschrieben werden kann – ob sie aus der Perspektive des oder der Handelnden beispielsweise als Störung, Hindernis oder Glücksfall gelten. Der Plot legt nicht zuletzt fest, auf welchen Endpunkt die Erzählung zuläuft. Zentrale, psychologisch besonders wichtige Bestandteile eines Plots sind die Versuche eines oder mehrerer Akteure, Intentionen oder Absichten zu verwirklichen, also Ziele oder Zwecke unter den jeweils gegebenen, situativen und kontingenten Bedingungen durch geeignete Handlungen zu erreichen, sowie die Ergebnisse und Folgen dieser Handlungen. Narrationen sind mit Motiven, Wünschen, Sehnsüchten und Bestrebungen sowie dem Gelingen oder Scheitern menschlichen Handelns befasst. Eine Geschichte schildert häufig ein Hindernis zwischen einem Ausgangs- und einem Zielzustand, sodass per Definition ein Problem vorliegt (eine Komplikation oder Krise, ein Plan-Bruch, etc.). Man hat es demnach nicht mit einer Geschichte zu tun, wenn ein Anfangszustand bloß durch einen natürlichen, zwangsläufigen oder gewohnten Gang der Dinge in einen Endzustand übergeht, wie beispielsweise in der Ereignisfolge „Sokrates wurde geboren, er führte sein Leben und starb schließlich“. Dabei handelt es sich allenfalls um eine narrative Abbreviatur, die auf Erzählenswertes und Erzählungen verweist, ohne selbst schon eine Narration zu sein. Die Komplikation wird in der Regel durch ein kontingentes, unerwartetes und oft unvorhersehbares Ereignis hervorgerufen, ein destabilisierendes Element, das den beteiligten 3 Ausführlicher wurden diese Fragen in anderen Arbeiten bearbeitet, aus denen hier ein paar Formulierungen übernommen werden (z.B. Echterhoff & Straub 2003, 2004).

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Protagonist/innen eine Reaktion zum Zweck der Realisierung ihrer Intentionen oder Wünsche abverlangt. Labov und Waletzky (1967) haben frühzeitig eine idealtypische Struktur erzählter Geschichten in Gestalt einer von ihnen so genannten narrativen „Normalform“ formuliert. Ihre formale linguistische Analyse der Strukturebenen, Elemente und Erzeugungsregeln von Narrationen ergab folgende Phasen einer Erzählung: 1. 2. 3. 4. 5.

Orientierung (Einleitung und Informationen zum Setting, bestehend aus Angaben zu Personen, Ort, Zeit und Situation), Komplikation (Problem, Barriere zur Zielerreichung, Handlungsmotivation), Evaluation (Bedeutungsstiftung durch Perspektiveinnahme oder Betroffenheit), Auflösung (Ergebnis der Handlungen, Rückwirkung auf Problemstellung) und Coda (abschließende Bemerkungen, Perspektivwechsel von der Ereignisfolge hin zur Gegenwart).

Weitere empirische Untersuchungen haben jedoch deutliche Abweichungen von der postulierten Normalform ergeben. Dennoch waren Labovs und Waletzkys Arbeiten maßgeblich für die Entwicklung differenzierter Geschichtengrammatiken (vor allem in der Linguistik) und Geschichtenschemata (vor allem in der kognitiven Psychologie) (z.B. Mandler 1984; zum Überblick wiederum Echterhoff & Straub 2003, 2004). Die Komplikation oder Krise behielt in fast allen erzähltheoretischen Modellen ihre herausragende (nicht zuletzt psychologische) Bedeutung. Das krisenhafte, komplizierende, destabilisierende Ereignis erzeugt Spannung und Unsicherheit und hat dadurch häufig eine affektiv-emotionale Wirkung; es kondensiert die Sinnstiftungsbemühungen von Erzähler/innen und Rezipient/innen. Viele Modelle zur Geschichtenstruktur betrachten die Komplikation als dynamisch-dramatischen Scheitel- oder Höhepunkt (highpoint), von dem ausgehend sich das gesamte Erzählpotenzial entfalten lässt. Aus demselben Fundus bekannter Ereignisse können durch unterschiedliche emplotments verschiedene Erzählungen entstehen (z.B. Komödien, Tragödien, Romanzen und Satiren; Boothe [1992, S.13ff.] differenziert die Spannungsorganisation formal als Klimax oder Antiklimax, restitutio ad integrum nach einer Desintegration oder nach einer Klimax, als Approbation, Frustration, Chance, Antichance oder Enigma). Bereits die skizzierte (struktur-) theoretische Vorstellung einer prototypischen Erzählung macht klar, warum Erzählanalysen als via regia speziell der psychologischen Erfahrungs- und Erkenntnisbildung gelten dürfen. Diese Einsicht lässt sich präzisieren, indem einzelne (mögliche) Funktionen des Erzählens unter die Lupe genommen werden. Durch die Identifikation wesentlicher Funktionen wird nicht zuletzt auf wichtige Fragestellungen einer erzähltheoretisch fundierten Psychologie hingewiesen, die sich vorrangig qualitativer Methoden bedient. 3.2 Funktionen des Erzählens Das Erzählen von Geschichten kann psychischen, kommunikativen, sozialen und kulturellen Funktionen dienen. Auf alle diese Funktionen können qualitative Erzählanalysen ihr Augenmerk richten. Manche von ihnen wurden bereits genannt. Das gilt gleich für die ersten beiden:

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1. 2. 3.

4.

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Temporalisierung und Dramatisierung der menschlichen Welt; narrative Konstitution von Sinn und Bedeutung, Erzählen als Praxis des meaning making; Kontingenzbearbeitung: In einer Zeitlichkeit entwerfenden und selbst der Zeit unterworfenen narrativen Ordnung dreht sich vieles, oft das Wesentliche, um den Einbruch von Kontingenz in die Welt des Menschen. Das Erzählen macht es möglich, Kontingenz, mithin den Zufall, zu thematisieren und zu bearbeiten, zugleich aber zu transformieren und zu reduzieren. Die Erzählung macht aus der „wilden“, „irrationalen“ Kontingenz auf der Ebene des unentwegt Geschehenden eine narrativ „geregelte“, „intellegible“, in nunmehr bestimmter Weise sinnhafte und bedeutungsvolle Angelegenheit. Damit wird der Zufall auf sprachsymbolischer Ebene, ohne auf ein Gesetz oder eine Regel zurückgeführt worden zu sein, selbst zum Bestandteil einer geregelten, eben narrativen Struktur und in dieser Form psychisch verarbeitbar; allgemeine psychische Funktionen: ! Steuerung und Strukturierung der Wahrnehmung bzw. Rezeption beliebiger Ereignisse (auch im Rahmen des Sprach- und Textverstehens); ! Denken und Urteilen: Erzählen stiftet Einsicht, es verkörpert eine besondere, eben narrative Intelligenz und phronetische Vernunft (vgl. Straub 1998, S.151ff.). Narratives Denken schafft eine wichtige kognitive Grundlage für die Orientierungsbildung in einer von Kontingenz durchsetzten Praxis. Die erzählerische Repräsentation und Integration von Sachverhalten kann der Einschätzung von Situationen und Problemen dienen, moralische Urteile und praktische Orientierungen begründen. Erzählungen helfen auch bei der Einschätzung und Beurteilung anderer Personen und bei Attributionen im sozialen Kontext; ! Gedächtnis und Erinnerung: Die Frage der „Speicherung“ und Bewahrung vergangener Erfahrungen (allgemeiner: die Gedächtnis- und Erinnerungsfunktion narrativer Strukturen und Praktiken) steht seit Bartletts (1932) wegweisenden Studien mit im Zentrum der narrativen Psychologie. Die Einsicht in die erzählerische Gestaltung von Erinnerungen in Gesprächen bzw. im sozialen Kontext geht einher mit der in jüngerer Zeit stärker beachteten Kokonstruktivität oder Kommunikativität des Erinnerns; ! Motivation und persönliche Ziele: Motive lösen die (unbewusste) Bereitschaft aus, Handlungen auszuführen, die Individuen bestimmten (zumeist positiv bewerteten) Zielzuständen näher bringen. Auch das Erzählen von Geschichten kann als ein motivierender Schritt bzw. als „Mittel“ zur Erreichung von Zielen dienen. Die einschlägige Forschung hat sich nicht zuletzt mit spezifischen Motiven beschäftigt, aus denen Menschen erzählen und (ihrerseits motivierende) Geschichten bilden; ! Emotion und Affekt: Die Produktion und Rezeption von Erzählungen können eine breite Palette von emotionalen Funktionen erfüllen (man denke etwa an Gefühle der Erleichterung, an die Entlastung von Schuld oder Scham, den Abbau von Angst oder Furcht, an Vertrauensbildung). Es liegt auf der Hand, dass dem Erzählen in der klinischen Literatur auch eine hilfreiche oder heilende, therapeutische Wirkung zugesprochen wird. Es kann jedoch auch zu belastenden Retraumatisierungen führen, sodass das Geschichtenerzählen sicherlich nicht als universell einsetzbares Therapeutikum gelten darf;

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Identitätsbildung und Identitätspräsentation: Diese Funktion schließt viele der oben genannten ein. Die Identität einer Person geht keineswegs vollständig in erzählten (Selbst-) Geschichten auf, gibt es doch auch andere Modi der Identitätsbildung und -präsentation. Die zeitliche Dimension personaler Identität ist jedoch unweigerlich an das Erzählen von Geschichten gebunden. Diese sprachliche Praxis ist der bis heute am besten untersuchte Modus einer auf Kontinuität und Identität zielenden Synthese temporaler, lebensgeschichtlicher Differenz (Brockmeier & Carbaugh 2001; McAdams 1993). Dabei implizieren die Begriffe „Kontinuität“ und „Identität“ keinerlei bleibendes Substrat oder gar die „Behauptung eines angeblich unwandelbaren Kerns der Persönlichkeit“ (Ricœur 1996 [1990], S.11; Straub 2004). Selbst-Erzählungen sind Artikulationen einer ersehnten Identität, ohne die Frage, wer jemand (geworden) ist und sein möchte, jemals definitiv beantworten zu können. Die Beschäftigung mit Selbst-Erzählungen markiert nicht zuletzt eine methodische Herausforderung der (qualitativen) empirischen Erzählund Identitätsforschung (s. Lucius-Hoene, in diesem Handbuch); ! Erwerb narrativer Kompetenz (durch die sukzessive Rezeption/Produktion von Geschichten): Dazu liegen zahlreiche Arbeiten vor (z.B. Boueke, Schülein, Büscher, Terhorst & Wolf 1995; Habermas & Bluck 2000). Narrative Kompetenz, die zur Konstruktion einer Lebensgeschichte und narrativen Identität erforderlich ist, trägt nicht zuletzt zur Entwicklung von anderen Fähigkeiten bei, etwa der moralischen Urteilskompetenz oder der Kommunikationsfähigkeit; kommunikative und sozial-interaktive Funktionen des Erzählens: Diesbezüglich lassen sich im Anschluss an Quasthoff (2001) die inhaltsbasierten Funktionen, die sich in den kommunikativen und pragmatischen Wirkungen des Erzählten zeigen, von den formbasierten Funktionen unterscheiden, die jenseits der erzählten Inhalte das sozialinteraktive Beziehungsfeld prägen, im Einzelnen: ! kommunikative, rhetorische und pragmatische Wirkungen auf die Adressat/innen: Informieren, Überzeugen, Überreden (vgl. z.B. Seitz 2003, der Ansatzpunkte einer auf solche Wirkungen zugeschnittenen Zuhörer/innenpsychologie skizziert); ! sozial-interaktive und phatische Funktionen: solche adressat/innenbezogene Funktionen des Erzählens zielen auf die Herstellung oder Gestaltung einer sozialen Beziehung zwischen Produzent/innen und Rezipient/innen, wobei bereits der Vorgang des Erzählens selbst z.B. der Steigerung des Ansehens der/des Erzählenden sowie der Stiftung oder Veränderung anders charakterisierter sozialer Beziehungen dienen kann; ! Erzählungen und Geschichten verkörpern Angebote an die Adressat/innen, sich auf eine gemeinsame soziale Realität einzulassen und weiterhin an der Kokonstruktion einer interaktiv validierten Realitätssicht teilzuhaben, in deren Rahmen sie ihre künftigen Wahrnehmungen, Urteile und Handlungen koordinieren können; ! das Erzählen kann nicht zuletzt zur sozialen Integration beitragen und Gemeinschaft stiften. Interaktives Erzählen ist – z.B. in Kontexten interkultureller Kommunikation – womöglich auch ein geeignetes Mittel, um Gesprächspartner/innen in die Schaffung einer zwar gemeinsamen, dabei aber Differenzen artikulierenden, bewahrenden und zugleich durch wechselseitige Anerkennung überbrückenden Welt zu verwickeln.

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5.

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Stärken, Schwächen und Desiderata

Erzähltheoretische Überlegungen haben in den letzten Jahrzehnten ein weites Spektrum an produktiven Perspektiven und Fragestellungen eröffnet. Höchst vielfältige empirische Forschungen haben in kurzer Zeit eindrucksvolle Fortschritte speziell im Feld der narrativen Psychologie erbracht. Vieles wäre ohne den Einsatz qualitativer Methoden, insbesondere die Entwicklung narrativer Erhebungstechniken und erzählanalytischer Auswertungsverfahren, nicht möglich gewesen. Es ist offenkundig, dass diese erfreuliche Geschichte heute noch nicht zu Ende erzählt werden kann. Narrative Ansätze haben wesentlich dazu beigetragen, dass auch in der wissenschaftlichen Psychologie die lebensweltliche Handlungsund Lebenspraxis sowie damit verwobene psychische Strukturen und Funktionen heute so intensiv erforscht werden wie nie zuvor – und zwar auf einem noch vor wenigen Jahrzehnten kaum zu erahnenden Niveau. Die heute vorhandenen theoretischen und methodischen Instrumente sind außerordentlich weit entwickelt. Sie eignen sich nicht zuletzt in hervorragender Weise dazu, empirische Forschungen (auch) aus der emischen Perspektive zu betreiben, also die Welt- und Selbstverständnisse handelnder und von Widerfahrnissen betroffener, bisweilen leidender Personen (sowie Gruppen jedweder Art) einzubeziehen. In einmaliger Weise berücksichtigen narrative Ansätze die zeitliche Dimension kultureller, sozialer und psychischer Phänomene. Begrüßenswert ist außerdem die oftmals enge Verflechtung grundlagentheoretischer und anwendungsorientierter Forschungen sowie psychologischer Praxisfelder (z.B. in der narrativen Psychotherapie; Freedman & Combs 1996). Viele dieser Stärken narrativer Ansätze verdanken sich nicht zuletzt ihrer außerordentlichen interdisziplinären und internationalen Vernetzung. Keines der in diesem Beitrag erwähnten Forschungsgebiete ist heute bereits „abgegrast“. Die Entwicklung narrativer Forschungsmethoden – vor allem von qualitativen Auswertungsverfahren – ist in der Psychologie noch immer voll im Gang. Zahlreiche extrem komplexe Themenfelder – wie z.B. die „Entwicklung narrativer Kompetenz“, „Identität und Narrativität“, „Erzählung, Erinnerung und Gedächtnis“, „kulturelle Formen der (Selbst-) Erzählung“, „autobiografisches Bewusstsein und Geschichtsbewusstsein“, „Erzählung und Trauma“, „Narration und Emotion/Motivation“ – bieten zahllose Möglichkeiten für weiterhin innovative Forschungen. Ein noch lange bleibendes Desiderat stellt auch die Herausforderung dar, psychologische Ansätze noch stärker auf die Beiträge aus anderen Disziplinen und auf neue Perspektiven zu beziehen. So ließe sich die ohnehin interdisziplinäre Struktur der theoretischen, methodologischen und empirischen Narratologie oder Erzählforschung festigen und auch in der Psychologie weiter fruchtbar machen. Naheliegend sind etwa noch intensivere und systematischere Auseinandersetzungen mit sog. „postklassischen“ Erzähltheorien, die (bei Nünning & Nünning 2002) etwa in Gestalt feministischen Denkens, kulturgeschichtlicher Perspektiven, der postkolonialen Erzähltheorie und pragmatischen Narratologie oder der postmodernen/poststrukturalistischen (Dekonstruktion der) Narratologie auf die Bühne der Gegenwart treten. Weiterführende Literatur Narrative Inquiry, http://www.clarku.edu/faculty/mbamberg/narrativeINQ/index.htm (seit 1991; bis 1997 unter dem Titel Journal of Narrative and Life History)

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Erzähltheorie/Narration

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Das Forschungsprogramm Subjektive Theorien

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Norbert Groeben & Brigitte Scheele

Das Forschungsprogramm Subjektive Theorien 1

Das epistemologische Subjektmodell als anthropologischer Ausgangspunkt

Das Forschungsprogramm Subjektive Theorien (FST) geht explizit von Menschenbildannahmen als Grundlage sowohl der theoretischen Modellierung als auch der einzusetzenden Methoden aus. Es greift historisch auf die Konzeption von G. A. Kelly (1955) zurück, der seiner Theorie der persönlichen Konstrukte das Menschenbild des man the scientist zugrunde gelegt hat. Wie Kelly postuliert das FST, dass das Erkenntnis-Objekt (EO) der Psychologie parallel zum (wissenschaftlichen) Erkenntnis-Subjekt (ES) konzipiert werden sollte (Groeben, Wahl, Schlee & Scheele 1988, S.11ff.). Und zwar primär aus moralischen Gründen: weil es nicht gerechtfertigt ist, aus lediglich methodologischen Zielsetzungen heraus dem EO grundlegend andere Merkmale, insbesondere weniger Kompetenzen, zuzuschreiben als dem ES (Groeben 1979). Diese (problematische) Strategie ist am deutlichsten im behavioristischen Ansatz enthalten, für den unter dem Zielkriterium der optimalen (externen) Beobachtbarkeit vor allem Verhaltensdimensionen des EO im Mittelpunkt stehen, die aber eine Vernachlässigung von internalen Kognitionsaspekten bedeuten. Außerdem wird das EO damit primär als reaktiv konzipiert, d.h. die Forschung fragt in erster Linie nach der Kontrolle des (menschlichen) Verhaltens durch Umweltreize und -kontingenzen. Dieses behavioristische Menschenbild („Subjektmodell“: Groeben & Scheele 1977) stellt aus Sicht des FST eine (ungerechtfertigte) Reduktion um höhere geistige Prozesse und Fähigkeiten dar, die sich am augenfälligsten darin zeigt, dass damit die (kognitiven) Prozesse des ES nicht erklärt werden können (a.a.O., S.14ff.). Der darin implizierten widersprüchlichen Asymmetrie der Menschenbilder setzt das FST dezidiert die Anforderung der Selbstanwendung entgegen. Das für das EO angesetzte Subjektmodell sollte so weit wie möglich dem Selbstbild des ES entsprechen, nicht zuletzt auch, um unnötiges Leid (z.B. durch die Theorienanwendung) zu vermeiden; Abweichungen von dieser Parallelität sind explizit zu rechtfertigen. Im Mittelpunkt des wissenschaftlichen Selbstbilds und damit dieser Parallelität steht die grundlegende Fähigkeit des Menschen zur (Selbst-) Erkenntnis. Das darauf ausgerichtete Menschenbild nennen wir deshalb epistemologisches Subjektmodell (a.a.O., S.22ff.; Groeben et al. 1988, S.15f.). Es setzt als zentrale anthropologische Merkmale des Menschen an: Sprach- und Kommunikationsfähigkeit, Reflexivität, potenzielle Rationalität und Handlungsfähigkeit. Dabei stellt die Handlungsfähigkeit den dezidierten Gegenpol zum (primär) reaktiven Verhalten dar. Handeln ist eine intentionale Aktivität; Intentionalität (Absichtlichkeit) ist das Kernmerkmal, aus dem sich alle anderen Charakteristika von Handlungen ergeben (Groeben 1986). Absichtlichkeit impliziert, dass mit dem Handeln ein Sinn verbunden, ein Ziel angestrebt wird. Es werden Wahlmöglichkeiten unterstellt, die zur Entscheidung für eine bestimmte Aktion

G. Mey K. Mruck (Hrsg.), Handbuch Qualitative Forschung in der Psychologie, DOI: 978-3-531-92052-8_10, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2010

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Norbert Groeben & Brigitte Scheele

führen, deren Ausführung geplant und kontrolliert wird; für diese Entscheidung und Planung sind Situationskontexte genauso wie Normen- und Wertsysteme relevant. In all diesen Aspekten manifestiert sich, dass für Handeln eine komplexe, differenzierte, kognitivreflexive Innensicht konstitutiv ist, die es in die Forschung einzubeziehen gilt. Das FST weist deshalb Überlappungen vor allem mit der philosophischen (analytischen) Handlungstheorie (vgl. u.a. Lenk 1978) und den darauf aufbauenden psychologischen Ansätzen auf. Die komplexe kognitive Innensicht (des EO) wird im FST also in Parallelität zum (wissenschaftlichen) ES als kognitive (Erkenntnis-) Tätigkeit verstanden, die zu einer Form des alltäglichen Theoretisierens führt. Dieses erfüllt (wie wissenschaftliche Theorien) die Funktionen der Erklärung, Prognose und Technologie (Theorienanwendung in der Praxis: hier Handlungsleitung). Auch das EO stellt also (analog zum ES) Theorien auf, um sich die Welt (und sich selbst darin) zu erklären, um Vorhersagen zu treffen und aufgrund solcher Erklärungen/Prognosen Handlungsentscheidungen zu treffen, Handlungspläne abzuleiten und durchzuführen (Groeben et al. 1988, S.17ff.). Allerdings kann es sich dabei unter dem Handlungsdruck der Alltagsrealität selbstverständlich nicht um systematisch abgesicherte intersubjektive Theorien (wie in der Wissenschaft) handeln, sondern nur um solche aus der je individuellen, subjektiven Sicht. Wir nennen die komplexen reflexiven Kognitionen, die als Sinndimension des Handelns für das EO die Funktionen der Erklärung, Prognose und Handlungsleitung erfüllen, daher „Subjektive Theorien“ (ST).

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Grundannahmen des Forschungsprogramms Subjektive Theorien

Das Konstrukt der ST verdeutlicht sowohl die Möglichkeiten als auch die Grenzen der reflexiven Sinndimension menschlichen Handelns. Der Theorieaspekt bildet das menschliche Streben nach Welt- und Selbsterkenntnis ab, das auch für das Alltagsdenken gilt. Diese Reflexivität zeitigt komplexe Kognitionsstrukturen, die eine Benennung als (subjektive) Theorie rechtfertigen. Damit führt das FST eine Binnenstrukturierung für das Konzept der Kognition(en) ein, in der zwischen (niedrig komplexen) Kognitionen (wie Begriffe, Sätze etc.) einerseits und (hoch komplexen) STn (als Aggregaten von Begriffen und Sätzen) unterschieden wird. Durch diese Binnendifferenzierung wird die nach der kognitiven Wende in der Psychologie zu beobachtende Überdehnung des Konzepts „Kognition“ zumindest in einem ersten Schritt aufgehoben (Groeben et al. 1988, S.47ff.). Der Subjektivitätsaspekt macht allerdings klar, dass diese hoch komplexen Theorien nicht einen vergleichbaren Grad an Explizitheit, Präzision und Systematik aufweisen können wie (intersubjektive) wissenschaftliche Theorien. Insofern können für STn nur parallele bzw. analoge Strukturmerkmale wie für wissenschaftliche Theorien angesetzt werden. Das betrifft in erster Linie die Ableitungsstruktur von Hypothesen, die in wissenschaftlichen Theorien explizit, präzise, systematisch vorgenommen werden muss. In STn wird man sich diesbezüglich realistischerweise mit der analogen Anforderung begnügen müssen, dass eine argumentative Verbindung zwischen den (subjektiven) Hypothesen vorliegen muss, wobei diese Verbindung auch durchaus implizit bleiben kann (und erst im Forschungsprozess bei der dialogkonsensualen Erhebung der ST expliziert wird; vgl. den Beitrag von Scheele und Groeben in diesem Band). Damit lässt sich als grundlegendes, umfassendes Bedeutungspostulat für das Konstrukt „Subjektive Theorie“ festhalten (Groeben et al. 1988, S.19):

Das Forschungsprogramm Subjektive Theorien

ƒ ƒ ƒ ƒ

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Kognitionen der Welt- und Selbstsicht als komplexes Aggregat mit (zumindest impliziter) Argumentationsstruktur, das auch die zu objektiven (wissenschaftlichen) Theorien parallelen Funktionen der Erklärung, Prognose und Technologie erfüllt.

Dies ist das weite Verständnis von ST, das z.B. auch alle klassischen Attributionsansätze mit umfasst, die sich allerdings auf die Funktion (subjektiver) Erklärung/en konzentrieren, die das EO vornimmt. Paralleles gilt für die Theorie persönlicher Konstrukte, bei der lediglich die Funktion der Prognose im Mittelpunkt steht. Das FST ist, wie beschrieben, von der anthropologischen Kernannahme Kellys (nämlich der Strukturparallelität des ES und EO) ausgegangen, hat seinen Ansatz aber erweitert um die Berücksichtigung aller Erkenntnisfunktionen des reflektierenden Subjekts. Insofern verfügt das FST über ein erhebliches Integrationspotenzial, da es alle mit dem auf Reflektieren, Erkennen und Handeln ausgerichteten Ansätze der (kognitiven) Psychologie in einer einheitlichen theoretischen Modellierung zusammenführen kann (a.a.O., S.245ff., 310ff.; Groeben & Scheele 2002). Dass dabei die Anforderungen an STn nur analog zu wissenschaftlichen Theorien anzusetzen sind, berücksichtigt vor allem in realistischer Weise die Grenzen der (prinzipiellen) Rationalitätsfähigkeit und Handlungskompetenz des Menschen. Das epistemologische Subjektmodell behauptet nicht, dass der Mensch immer und überall rational handelt. Wenn man unter Rationalität ganz basal (zumindest) Realitätsadäquanz der Kognitionen versteht, wäre es auch völlig unplausibel, für ST nicht die Irrtumsmöglichkeit anzusetzen, die wir für wissenschaftliche Theorien seit jeher annehmen. Der Mensch kann sich als Subjektive/r Theoretiker/in irren, nicht zuletzt vor allem auch über sich selbst. Das geschieht z.B., wenn sich eine Person die eigenen Motive nicht (realitätsadäquat) eingesteht und daher ihr Denken eine Rationalisierung (im psychoanalytischen Sinn) darstellt. Man kann diese Variante zwischen (umweltkontrolliertem) Verhalten und (umweltkontrollierendem) Handeln ansiedeln und als Tun bezeichnen (Groeben 1986). Allerdings ist es nicht sinnvoll und nicht legitim, diese Möglichkeit (des rationalisierenden Tuns) als (normalen) Standardfall menschlichen Agierens zu konzipieren, wie dies die Psychoanalyse tut (a.a.O.; Erb 1997). Das FST hält in Abgrenzung zum pessimistisch-destruktiven Menschenbild der Psychoanalyse (die alle menschlichen Prozesse vom Krankhaften her versteht) daran fest, dass der Mensch prinzipiell zu rationalem (realitätsadäquatem) Handeln fähig ist, und konzediert zugleich, dass es bestimmte Situationen/Bedingungen gibt, in denen ein solches Handeln nicht vorliegt, also auch das FST keine Anwendung finden kann und soll (Groeben et al. 1988, S.35ff.). Das trifft vor allem auf Reflexe zu, z.T. auf eingeschliffene Automatismen, auf Intransparenz-Situationen (in denen nicht genügend Informationen vorliegen, um rationale Reflexionen aufzubauen) sowie auf Situationen der Desintegration von Emotion und Kognition (wie z.B. Panik, Phobien, Zwänge etc.). Allerdings ist vom Selbstanwendungspostulat des Subjektmodells her zu fordern, dass das Vorliegen solcher Bedingungen (und damit der Übergang von der Gegenstandseinheit Handeln auf Tun oder Verhalten) explizit begründet und gerechtfertigt wird. Damit ist deutlich, dass die weite Begriffsvariante von STn für eine präzisere Spezifizierung dieses Konstrukts um zwei weitere Merkmale ergänzt werden muss. Das ist einmal der Rückgriff auf die subjektive intentionale Sinndimension des Handelns, die nicht von außen beobachtbar, sondern nur von der/dem Handelnden kommunikativ mitteilbar ist. Die (wissenschaftliche) Erhebung dieser Sinndimension (als ST) erfordert daher eine systemati-

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Norbert Groeben & Brigitte Scheele

sche Verstehensmethodik, die unter Rückgriff auf das dialog-konsenstheoretische Wahrheitskriterium als Dialog-Konsens-Verfahren ausgearbeitet worden ist (siehe dazu Scheele & Groeben in diesem Band). Im Dialog-Konsens werden die Inhalte sowie die Struktur der subjektiv-theoretischen Reflexionen, die der Handlungsentscheidung, -planung und -ausführung zugrunde liegen, expliziert und rekonstruiert. Allerdings impliziert die Möglichkeit, dass diese Reflexionen auch inadäquat sein können, das weitere Merkmal, dass die Realitätsadäquanz der ST geprüft werden muss, d.h. die Frage, ob bzw. inwieweit z.B. die (subjektiven) Motive und Zielsetzungen, die der/die Handelnde mit der thematischen Handlung verbindet, auch als wissenschaftliche (intersubjektive) Erklärung akzeptierbar sind. Es resultiert damit (durch die Hinzufügung von zwei weiteren Merkmalen) folgende spezifischere (engere) Begriffsexplikation von „Subjektiver Theorie“ (Groeben et al. 1988, S.22): ƒ ƒ ƒ ƒ ƒ ƒ

Kognitionen der Welt- und Selbstsicht, die im Dialog-Konsens aktualisier- und rekonstruierbar sind als komplexes Aggregat mit (zumindest impliziter) Argumentationsstruktur, das auch die zu objektiven (wissenschaftlichen) Theorien parallelen Funktionen der Erklärung, Prognose und Technologie erfüllt, deren Akzeptierbarkeit als „objektive“ Erkenntnis zu prüfen ist.

In diesen beiden Merkmalen kommt die zweiphasige Forschungsstruktur des FST zum Ausdruck (Groeben 1986; Groeben et al. 1988, S.24ff., 126ff.). In der ersten (dialoghermeneutischen) Phase der Erhebung/Beschreibung der intentionalen Innensicht der/des Handelnden geht es um das Verstehen der Gründe und Ziele des EO (aus der Perspektive der ersten Person). Die Erhebungs-Methodik muss die Rekonstruktionsadäquanz der wissenschaftlichen Beschreibung (von Seiten des ES, also der Perspektive der zweiten Person) sichern; sie tut das durch die kommunikative Validierung des Dialog-Konsens. Dem schließt sich aber als zweite Phase die Prüfung an, ob die subjektiven Gründe und Ziele auch als „objektive“ Ursachen und Wirkungen der Handlung/en feststellbar sind; dies ist nur aus der Beobachtungsperspektive der dritten Person möglich. Hier geht es also um die Realitätsadäquanz der ST und damit die explanative Validierung (vgl. Abb. 1). Diese zwei Phasen der kommunikativen und explanativen Validierung stellen die Verbindung von Innen- und Außensicht dar, die für die Erforschung von (intentional-reflexiven) Handlungen unverzichtbar ist. Dabei ist die Phase des dialog-konsensualen Verstehens vorgeordnet, weil nur durch sie der subjektiv gemeinte Sinn der Handlung feststellbar ist; komplementär ist die Phase des systematischen Beobachtens übergeordnet, weil nur durch sie die intersubjektive Akzeptierbarkeit der Handlungserklärung sicherbar ist. Durch diese Überordnung wird auch nicht (wie dies bisweilen kritisiert worden ist, vgl. Flick 1991a; dagegen Groeben 1992) die Phase der kommunikativen Validierung desavouiert oder gar destruiert, weil das Wissen um den Handlungssinn auch bei Realitätsinadäquanz der subjektiven Reflexion/en eine notwendige Bedingung zur (wissenschaftlichen) Erklärung der zu erforschenden menschlichen Tätigkeiten bleibt (s.u., Abschnitt 3).

Das Forschungsprogramm Subjektive Theorien

Abbildung 1:

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Die zweiphasige Forschungsstruktur des FST: kommunikative und explanative Validierung (Groeben 1986, S.326)

Die Phase der kommunikativen Validierung besteht, um Überforderungen des EO zu vermeiden, aus zwei Schritten: der Erhebung der Kognitionsinhalte (zumeist per halbstandardisiertem Interview) sowie der dialog-konsensualen Strukturrekonstruktion (mithilfe eines Struktur-Lege-Leitfadens; vgl. im Einzelnen Groeben et al. 1988, S.126ff.). Für die Phase der explanativen Validierung sind drei mit der Beobachtung aus der Perspektive der dritten Person arbeitende Ansätze elaboriert worden (a.a.O., S.180ff.): Korrelations-, Prognoseund Modifikationsstudien. Bei Korrelationsstudien werden die Inhalte der (individuellen) ST mit entsprechenden beobachtbaren Verhaltensdimensionen verglichen; es ist dies der

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Norbert Groeben & Brigitte Scheele

ökonomischste Ansatz, mit dem aber nicht (zureichend) nachgewiesen werden kann, dass die ST kausal relevant für das Handeln ist. Die aufwändigere Prognosestudie erlaubt dagegen schon eine gewichtigere Stützung der potenziellen Handlungsleitung der ST. Dabei werden aus der ST z.B. für konkrete Situationsklassen Prognosen bestimmter Handlungen (des jeweiligen EO) abgeleitet; die Beobachtung der in der Tat eintretenden Aktivitäten ermöglicht dann eine Abschätzung der explanativen Validität. Um potenzielle Verzerrungen (z.B. dadurch, dass das EO um seine Prognose weiß und das Handeln danach ausrichtet) zu vermeiden, kann man auch Retrognosen abfragen bzw. die Prognosen oder Retrognosen von „Doppelgänger/innen“ generieren lassen, die sich im Rollenspiel die thematische ST kognitiv zu eigen gemacht haben. Die aufwändigste, aber auch am ehesten kausal interpretierbare Variante der explanativen Validierung besteht in der Modifikation der ST (z.B. von einem ineffektiven zu einem effektiveren Zustand) mit anschließender Überprüfung, ob sich auch das entsprechende Handeln verändert hat. Unter Rückgriff auf das konstruktive anthropologische Menschenbild (des epistemologischen Subjektmodells) sind hier aber moralisch nur Modifikationen in Richtung auf eine Verbesserung der STn zulässig, sodass nur eine quasi-experimentelle (nicht vollständig experimentelle) Variation der „Variable“ ST vorliegt. Darin manifestiert sich eine unvermeidbare und durchaus gewollte Abgrenzung dieser Validierungsansätze gegenüber dem quantitativen Paradigma, das keine Verbindung von Innen- und Außensicht anstrebt (wie sie vom FST in dieser integrativen Kombination von qualitativer und quantitativer Methodik realisiert wird).

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Anwendungsfelder des Forschungsprogramms Subjektive Theorien

Die Einsatzbereiche des FST reichen von der (allgemein-, sozial-, entwicklungs- und differentialpsychologischen) Grundlagenforschung über die klassischen psychologischen Anwendungsfächer (der Pädagogischen und Klinischen Psychologie) bis hin zu benachbarten Disziplinen (wie Fremdsprachenphilologie, Wirtschaftswissenschaften, Psychosomatik etc.). Entwickelt wurde das FST zunächst im Rahmen der allgemein- und sozialpsychologischen Grundlagenforschung, in der die Gegenstände z.B. von Ironie (erster mit der „Heidelberger Struktur-Lege-Technik“ untersuchter Problembereich: Groeben & Scheele 1986) über Selbstständigkeit (Schmid-Furstoss 1990), Zivilcourage (Kapp & Scheele 1996) und Aggression (Scheiring 1998) bis zu (entwicklungs- und differentialpsychologischen) Aspekten von Identitätsentwürfen und -prognosen (Obliers 2002) reichen. Dabei steht zunächst häufig einfach die Frage im Vordergrund, welche Reflexionen bestimmte Alltagspsycholog/innen zu dem thematischen Problem haben. Allerdings weist schon diese Frage schnell Weiterungen auf. Der handlungstheoretische Ausgangspunkt des FST impliziert grundsätzlich ein Einsetzen beim Einzelfall, eine idiografische Perspektive, die beim Überprüfen der Handlungsleitung auch prävalent bleibt. Sollen aber vor allem die Inhalte und Struktur/en von STn in einem Gegenstandsbereich aufgeklärt werden, ergibt sich unweigerlich die Frage nach überindividuellen Ähnlichkeiten/Gemeinsamkeiten der erhobenen STn. Dies ist ein Übergang zur nomothetischen Perspektive, der zunächst aus der systematischen Zusammenführung mehrerer Subjektiver Theorien zu einer Struktur, z.B. zu einer sogenannten Modalstruktur, besteht (s. den Überblick bei Schreier 1997). Zudem ermöglicht die postulierte (und über die Erhebungsmethodik realisierte) Parallelität von STn und intersubjektiv-wissenschaftlichen Theorien auch einen Austausch zwi-

Das Forschungsprogramm Subjektive Theorien

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schen beiden, der für das FST anthropologisch wie methodologisch essenziell ist (vgl. schon Groeben & Scheele 1977). Das betrifft zum einen die Möglichkeit, dass STn dort, wo es noch keine (zureichend) ausgearbeiteten „objektiven“ Theorien gibt, als Heuristik eingesetzt werden; in diesem Fall lernen sozusagen die ES von den EO. Zum anderen ist aber selbstverständlich auch der komplementäre Fall möglich und angestrebt, dass die Subjektiven Theoretiker/innen von den wissenschaftlichen Theorien lernen: dort, wo diese weiter und rationaler ausgearbeitet sind. Hier führt der Austausch von STn und „objektiven“ Theorien zur Modifikation der STn, die im FST einen zentralen Ansatz der praktischen Anwendung darstellt (s.u.). Diese primär deskriptiven Fragestellungen beschränken sich häufig auf die (dialogkonsensuale) Rekonstruktion der STn, ohne die zweite Phase der explanativen Validierung anzuschließen. Diese Phase ist dann allerdings für die Anwendungskontexte entscheidend, in denen die Handlungsleitung der STn (durch externe Beobachtung) überprüft wird. Das trifft vor allem für die Pädagogische Psychologie zu (als einem klassischen, auf Praxis ausgerichteten Anwendungsfach der Psychologie). Die pädagogisch-psychologische Unterrichtsforschung stellt daher den bedeutendsten Schwerpunktbereich dar, in dem das FST eingesetzt worden ist (vgl. z.B. Barth 2002; Dann 1992, 1994; Dann & Krause 1988; Lehmann-Grube 2000; Schlee & Wahl 1987; Wahl 1991; Wahl, Schlee, Krauth & Mureck 1983). Es gibt aber auch erfolgreiche Anwendungen in der Klinischen bzw. Medizinischen Psychologie (vor allem zu Subjektiven Krankheitstheorien, vgl. Barthels 1991; Flick 1991b; Kaerger & Obliers 2004; Kaerger-Sommerfeld, Diedrich, Obliers & Köhle 2003; Wagner 1995) und der Sportpsychologie (Lippens 1992, 2004). In all diesen Anwendungskontexten ist es von besonderem Interesse aufzuklären, wodurch problematisches Handeln (oder Verhalten) aufseiten der Lehrkräfte bzw. betreuenden, versorgenden Expert/innen zustande kommt: durch inadäquate, wenn auch handlungsleitende STn oder im Gegenteil dadurch, dass adäquate STn nicht in Handlungen umgesetzt werden. Im Prinzip lassen sich in Bezug auf die Rationalität der STn vier Möglichkeiten der (In-)Adäquanz unterscheiden, wobei sowohl die subjektiv-theoretischen Annahmen über die Ursachen des Handelns (Motive) als auch das Wissen über die Wirkungen berücksichtigt werden müssen (Groeben et al. 1988, S.70ff.). Den optimalen Fall stellt dann sicherlich die vollständig (motiv- und wissens-) rationale ST dar, in der sowohl die Ursachen als auch Wirkungen des (eigenen) Handelns adäquat repräsentiert sind. Partiell rationale Varianten sind zum einen die motivrationale, aber wissensirrationale ST, zum anderen der komplementäre Fall der wissensrationalen, aber motivirrationalen ST. Am problematischsten ist selbstverständlich der Fall einer motiv- und wissensirrationalen ST; gleichwohl ist es absolut wertvoll, die (falschen) Reflexionen zu kennen, die der/die Handelnde mit den eigenen Handlungen verbindet. Allerdings muss dann das ES für die Erklärung dieser Aktivitäten andere Erklärungshypothesen heranziehen, und zwar entweder in Bezug auf (der/dem Handelnden verborgen bleibende) Motive (im Sinne des „Tuns“) oder auf Kontrolle durch die Umwelt (im Sinne des „Verhaltens“). Dabei hat die auf Beobachtungsdaten zurückgreifende explanative Validierung gerade im pädagogisch-psychologischen Bereich durchaus zeigen können, dass mit Kenntnis der STn der Handelnden eine bessere Voraussage möglich ist als ohne diese Kenntnis (z.B. Wahl 1991; Dann, Diegritz & Rosenbusch 1999). Es bleibt aber selbstverständlich das Problem, dass manche STn nicht (optimal) valide sind, also verbessert werden können. Diese Verbesserung stellt denjenigen Austausch zwischen STn und wissenschaftlichen Theorieansätzen dar, der als Modifikation von STn die

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wichtigste praktische Konsequenz des FST gerade im Bereich der Pädagogischen Psychologie bildet (Schlee & Wahl 1987; Mutzeck, Schlee & Wahl 2002). Modelle der kooperativen bzw. kollegialen Beratung für pädagogische Berufe auf der Grundlage des FST haben in der Praxis einen besonders großen Erfolg, weil sie auf die Probleme und Reflexionen der Betroffenen in intensiver Weise eingehen (Mutzeck 1988, 1996; Schlee 2004). Der Modifikationsansatz des FST greift hier klassische Entwürfe der Aktionsforschung (vgl. z.B. Lewin 1948; Moser 1977) auf und führt sie weiter. Wie in der Aktionsforschung sind die Problemstellungen der Betroffenen der (einzig) legitime Ausgangspunkt für die intendierte Verbesserung der STn (und ihrer Handlungsleitung). Die Methodologie des FST gewährleistet bei diesem Modifikationsprozess so weit wie möglich ein gleichberechtigtes Gewicht der Subjektiven Theoretiker/innen und der systematischen Kontrolle der Verbesserungseffekte. Die Praxisrelevanz des FST dürfte auch der wichtigste Grund dafür sein, dass es erhebliche interdisziplinäre Resonanz erfahren hat. Das betrifft z.B. neben den Wirtschaftswissenschaften (Unternehmensorganisation, z.B. Weber 1991), der Konsument/innenforschung (z.B. Geise & Westhofen 2006) und dem Coaching von Führungskräften (z.B. Riedel 2003) vor allem die Fremdsprachenphilologie (z.B. Kallenbach 1996; Grotjahn 1998, 2005). Beim Fremdsprachenunterricht geht es darum, nicht nur die STn der Lehrenden, sondern auch der Lernenden zu berücksichtigen und in Bezug auf die Lerninhalte wie den Lernprozess zu untersuchen, ggf. zu verändern. Die Interaktion zwischen diesen Reflexionsbereichen des Lehr-Lern-Prozesses dürfte eine wichtige Bedingung zu dessen Optimierung darstellen (im besten Fall in Form eines konstruktiven, von Passung gekennzeichneten Zusammenspiels), und die Erfahrungen mit dem FST in solchen interdisziplinären Kontexten können zu einer produktiven Rückkoppelung qua theoretischer Ausdifferenzierung und empirischer Komplettierung führen.

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Untersuchungsbeispiel als paradigmatische Veranschaulichung

Zur Veranschaulichung sei die bisher umfangreichste Untersuchung innerhalb des FST komprimiert zusammengefasst, die zu Gruppenarbeit im Schulunterricht durchgeführt worden ist (Dann, Diegritz & Rosenbusch 1999). Es handelt sich um eine interdisziplinäre Studie unter Beteiligung von Psychologie, Linguistik und Pädagogik. Dabei wird unter Gruppenarbeit (bzw. Gruppenunterricht) eine Sozialform des kooperativen Lernens verstanden, in der für eine begrenzte Zeit der Klassenverband in Kleingruppen aufgeteilt wird, in denen die Schüler/innen möglichst selbstständig ein bestimmtes Thema bearbeiten (Kap. 1). Dementsprechend werden drei Phasen des Gruppenunterrichts unterschieden: Arbeitsauftrag, Gruppenarbeit und Auswertung (als Präsentation der Arbeitsergebnisse der Kleingruppe vor dem Klassenplenum). Für alle drei Phasen werden Daten sowohl aus der Außensicht (Beobachtung aus der Perspektive der dritten Person) als auch der Innensicht erhoben (STn, allerdings aus Gründen der Praktikabilität nur der Lehrkräfte), sodass auch ein Vergleich zwischen den Subjektiven Theorien und dem realen Handeln der Lehrpersonen (explanative Validierung) möglich ist. Die Fragestellungen beziehen sich demgemäß auch auf die damit thematischen drei Ebenen: nämlich welche interaktiven Kommunikationsprozesse ablaufen; mit welchen Intentionen (Subjektiven Theorien) die Lehrkräfte in Richtung auf den Gruppenunterricht agieren; und in welchem Ausmaß diese Aktionen mit den Sub-

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jektiven Theorien übereinstimmen (a.a.O). Die Untersuchung wurde an 16 Hauptschulklassen des nordbayerischen Raums durchgeführt, wobei sowohl männliche als auch weibliche Lehrpersonen einbezogen waren, die entweder geringe oder große Berufserfahrung hatten. Zur Rekonstruktion der Innensicht (in Form von STn) wurde die ILKHA eingesetzt („Interview- und Legetechnik zur Rekonstruktion kognitiver Handlungsstrukturen“), mit der besonders gut das handlungsnahe Herstellungswissen der Lehrkräfte (im Sinn der prototypischen Situations-Handlungsabläufe) abgebildet werden konnte (Kap. 5). Es handelt sich um ein post-aktionales Legeverfahren, bei dem durch „Nachträglich Lautes Denken“ (siehe Konrad in diesem Band) die Kognitionsinhalte erhoben werden, die dann mit einem Regelsystem, das die zentralen formalen Bestimmungsstücke eines Flussdiagramms enthält, in die Struktur einer ST überführt werden. Die resultierenden STn können zum einen nach formalen, zum anderen nach inhaltlichen Aspekten ausgewertet werden. Inhaltlich geht es in diesem Fall vor allem um die Anforderungen an die Lehrkräfte: in der Phase des Arbeitsauftrags, während der Gruppenarbeit und während der Auswertungsphase (a.a.O.). Durch eine inhaltsanalytische Auswertung der STn lassen sich damit individuelle, aber auch überindividuelle (subjektiv-theoretische) Strukturen herausarbeiten. Für die Außensicht-Beobachtung wurden 150 Unterrichtsstunden (per Video) aufgenommen und transkribiert. Die resultierenden Daten wurden auf drei Ebenen mit zunehmendem Auflösungsgrad aufgearbeitet (Kap. 2): als quantitative Grobanalyse in Form eines Interaktogramms (der Gruppenarbeit), auf mittlerem Konkretheitsniveau eine Schüler/innenprofilanalyse (in Bezug auf Inhalts-, Beziehungs- sowie Prozessaspekte) und auf der Mikroebene eine qualitative Verlaufsanalyse des kommunikativen Handelns. Auf dieser Grundlage wurden die Intragruppenprozesse der Schüler/innen bei der Gruppenarbeit analysiert (Kap. 3), ebenso wie das Lehrer/innenhandeln (bei den Arbeitsaufträgen, bei Interventionen während der Gruppenarbeit und bei der Gestaltung der Ergebnispräsentation(en). Es resultierte eine Vielzahl von Ergebnissen, die vor allem auch die problematischen Punkte des lehrer/innenseitigen Umgangs mit der Unterrichtsform Gruppenarbeit identifizierten: zum Beispiel, dass die Lehrer/innen ein zu hohes Kontroll- und Lenkungsbedürfnis aufwiesen, dadurch zu häufig intervenierten, sich bei ihren Interventionen nicht genügend über den Stand der Gruppenarbeit informierten etc. (Kap. 4). Unter der Perspektive des FST ist der Vergleich von Innensicht (STn) und Außensicht (Beobachtungsdaten) zentral, um die Handlungsleitung der STn (explanative Validierung) zu bestimmen (Kap. 7). Dazu wurde das Retrognose-Modell verwendet, indem zwei Beobachter/innen gemeinsam für die aufgezeichneten Gruppenunterricht-Szenen gemäß den Regeln der ILKHA rekonstruierten, welche Entscheidungspfade in der jeweiligen Szene von der Lehrperson realisiert worden waren, sodass die (später erhobene) ST direkt mit der beobachteten Handlungsstruktur vergleichbar war. Es zeigten sich im Durchschnitt fast 90 Prozent Übereinstimmungen, was vor allem auch darauf zurückzuführen ist, dass die ILKHA bewusst handlungsnahes Herstellungswissen erhebt. Bezüglich der Differenzen zwischen STn und beobachteter Handlungsstruktur wird zwischen Abweichungen (andere beobachtete Handlung als subjektiv-theoretisch intendiert), Blindstellen (beobachtbare Prozesse, die in der ST nicht enthalten sind) und Sprüngen (fehlende Konzeptverbindungen in der ST) unterschieden. Das erlaubt die Identifizierung spezifischer Differenzen in den einzelnen Phasen des Gruppenunterrichts, z.B. dass in der Phase der Ergebnisrepräsentation vor allem Blindstellen auftreten, weil die Lehrkräfte schüler/innenseitige Störungen (Lärm, Schwätzen etc.) (zu lange) ignorieren (Kap. 8.). Diese Diagnose spezifischer Einschrän-

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Norbert Groeben & Brigitte Scheele

kungen der Handlungsleitung ermöglicht dann natürlich gezielte Maßnahmen zur Verbesserung (sowohl der ST als auch deren Handlungsleitung).

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Entwicklungsstand des Forschungsprogramms

Der Entwicklungsstand des FST ist durch divergierende Dynamiken gekennzeichnet. Im deutschen Sprachraum hat sich von der Benennung her das zentrale Konzept der „Subjektiven Theorie“ vielerorts durchgesetzt (vgl. König 2002). Es besitzt ersichtlich eine gewisse Attraktivität, weil es die Parallelität zum wissenschaftlichen Denken („Theorie“) mit der Subjektivität des Alltagsdenkens vereint. Deshalb wird es mittlerweile deutlich öfter verwendet als alternative Benennungen wie „Naive (Verhaltens-) Theorien“ (Laucken 1974), „Laien-Theorien“, „implizite Theorien“ oder „intuitive Theorien“ (die vor allem im inhaltlichen Bereich der theory of mind vorkommen: z.B. Doherty 2008). Allerdings ist mit dieser begrifflichen Attraktivität auch bisweilen ein recht untechnischer Gebrauch verbunden, der jegliche Art und Inhalte von Alltagsreflexionen als STn bezeichnet, ohne sich um die Sicherung von (subjektiven) Theorie-Merkmalen zu kümmern; es handelt sich dann eher um einen Gegenstand, für den nicht einmal der Begriff „Alltagstheorien“ sinnvoll ist, sondern eher Alltags- bzw. Laienpsychologie. Im anglo-amerikanischen Sprachraum ist die terminologische und konzeptuelle Repräsentation des mit subjective theory explizierten Konstrukts (vgl. z.B. Dann 1990; Groeben 1990) wegen der Bedeutungsvariation von subject und subjective ungleich schwieriger. Bisweilen wird intuitive theory in vergleichbarer Bedeutung gebraucht, zumeist ist, wenn es um die Alltagsreflexionen von Akteur/innen geht, von folk psychology die Rede (vgl. Hutto & Ratcliffe 2007). Damit aber ist eindeutig eine eher abwertende Konnotation verbunden, die den Aspekt der „Subjektivität“ in den Vordergrund rückt und die theorieparallelen Leistungen des alltäglichen Reflektierens kaum berücksichtigt. Gerade der anthropologische Ausgangspunkt einer strukturellen Parallelität zwischen alltäglichem und wissenschaftlichem Denken hat sich im anglo-amerikanischen Mainstream der Psychologie (bisher) nicht durchsetzen lassen. Das liegt zum einen daran, dass die herrschende kognitionswissenschaftliche Richtung der Computermetapher des menschlichen Geistes (sei es in der starken Version der Artificial Intelligence oder der schwachen des sogenannten Informationsverarbeitungs-Ansatzes) unter anthropologischer Perspektive lediglich die Fortsetzung des Behaviorismus mit anderen Mitteln ist (auch wenn sie selbst mit dem Terminus der „Kognitiven Wende“ einen anderen Eindruck zu erwecken versucht: s. Erb 1997). Im Vergleich zur kognitionswissenschaftlichen Behandlung des menschlichen Denkens beharrt das FST einfach zu sehr auf den spezifisch menschlichen, positiven Merkmalen von Subjektivität qua Personalität. Trotz dieser (positiven) Bewertungsperspektive findet das FST allerdings auch unter dem (erstarkenden) Dach einer „Positiven Psychologie“ keine problemlose Heimat. Denn diese anthropologisch passende Psychologie konzentriert sich weitgehend auf emotional-motivationale Dimensionen, setzt dem herrschenden Mainstream (mit seiner scheinbaren kognitiven Wende) eine (existenziell verstandene) emotionale Wende entgegen (vgl. Snyder & Lopez 2005). Dadurch sitzt das FST sozusagen zwischen allen Stühlen, was aber für eine Nebenströmung der qualitativen Forschung nicht so überraschend ist und im Prinzip auch ein erhebliches Reformpotenzial besitzt. Dieses Potenzial besteht im Falle des FST darin, die Verbindung zwischen einer „positiven“, auf die konstruktiven Möglichkei-

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ten des Menschen ausgerichteten Anthropologie und den kognitiven Dimensionen und Prozessen herzustellen und auszuarbeiten. Dazu gehört dann auch die ausstehende theoretische Weiterentwicklung, das Konstrukt der „Subjektiven Theorie“ von überindividuellen Konstrukten wie „soziale Wissensrepräsentationen“ etc. abzugrenzen sowie zu ihnen in Beziehung zu setzen; diese Theorie-Elaboration könnte und müsste auch die Relation zu der Konzeption einer „Narrativen Psychologie“ klären (die sich in den letzten zwei Jahrzehnten als starke Variante des qualitativen Paradigmas etabliert hat: s. Bruner 1990; Straub 1998 und in diesem Band). Neben diesen Interrelationen zu qualitativen Ansätzen eröffnet der weite Begriff der „Subjektiven Theorie“ auch die Möglichkeit, die klassischen (quantitativen) Ansätze der Attributionstheorie unter der Binnendifferenzierung von subjektiven Konstrukten, Hypothesen, Erklärungen, Prognosen, Technologie etc. zu rekonstruieren. Damit gäbe es ein einheitliches Theoriegerüst für alle Modelle der kognitiven Psychologie, die sich mit Kognitionen/Reflexionen in der Komplexität von Satzsystemen beschäftigt haben. Das würde nicht nur eine konzeptuelle Vereinheitlichung bedeuten, sondern auch eine Zusammenführung von empirischen Datenkorpora und methodologischen Traditionen (Groeben & Scheele 2002). Und gerade in Bezug auf die methodologische Dimension impliziert die Berücksichtigung der zwei konzeptuellen Varianten von „Subjektiven Theorien“ eine (konstruktive) Verbindung von qualitativen und quantitativen Ansätzen. Das betrifft zunächst einmal die Erhebungsmethoden, bei denen innerhalb des FST zur Rekonstruktion der Sinndimension von Handlung/en mit der Dialog-Hermeneutik eine systematische Form von Verstehensmethodik ausgearbeitet worden ist, die allerdings auch quantitative inhaltsanalytische Auswertungen enthält. Sodann impliziert das methodologische Konzept der zweiphasigen Forschungsstruktur (mit der zweiten Phase einer explanativen Validierung) darüber hinaus auch eine Verbindung von qualitativer und quantitativer Versuchsplanung (als möglichst umfassender Berücksichtigung der menschlichen Anthropologie: vgl. Schreier 2006). Und aus dieser Verbindung folgt als letzter Schritt notwendigerweise auch die Ausarbeitung von entsprechenden statistischen Auswertungsmodellen. Das FST enthält durch die Verbindung von kommunikativer und explanativer Validierung eine starke Dynamik zur Überwindung der unsinnigen Entgegensetzung von qualitativer Tradition und statistischer Auswertungskomplexität. Gerade im Gegenteil wird durch diese Verbindung der Validierungsarten deutlich, dass die quantitativ-experimentelle Tradition eher mit Standardvarianten von (varianzanalytischen) Auswertungsmodellen auskommt, während die (integrative) qualitative Forschung die sophistizierteren statistischen Auswertungsansprüche erfüllen muss (vgl. Groeben 2006; Oldenbürger 2004). Um dieses methodologische Reformpotenzial des FST erfüllen zu können, bedarf es allerdings in Zukunft verstärkt methodologischer Evaluationsstudien sowohl zu klassischen Gütekriterien (wie Objektivität, Reliabilität, Validität) als auch zu spezifischen Zielkriterien des qualitativen Paradigmas (wie gleichgewichtige Interaktion von Gegenstand und Methode, soziale Relation von EO und ES, Ethik empirischer Forschung). Dazu gehören dann auch metatheoretische Diskussionen, die den in der Mainstream-Psychologie zu beobachtenden Graben zwischen wissenschaftstheoretischen Einsichten und methodologischer Praxis zu überwinden vermögen (vgl. Groeben 1993, 1995, 2006). Ein paradigmatisches Problem ist diesbezüglich, dass die Methodenlehre des (herrschenden) quantitativen Paradigmas immer noch als zentrales Kriterium ansetzt, dass psychologische Beobachtungsund Erhebungsverfahren den Gegenstand nicht beeinflussen dürfen, obwohl die wissen-

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schaftstheoretische Diskussion längst gezeigt hat, dass jede Beobachtung den Gegenstand verändert. Aus dieser metatheoretischen Einsicht der unvermeidbaren Beeinflussung hat das FST die Konsequenz gezogen, dass es besser ist, das EO als „Gegenstand“ in Richtung auf die positiven Entwicklungsmöglichkeiten des Menschen (wie eben Reflexivität, Rationalität etc.) zu beeinflussen (vgl. Groeben et al. 1988, S.206ff.). Daher bedeutet die Rekonstruktion von STn immer auch eine konstruktive Arbeit des ES mit dem EO an dessen Kognitionssystem. Empirische Forschung ist im FST also kein testing the limits, sondern eher testing the possibilities (des Menschen). Neben der kritisch-konstruktiven Diskussion mit dem quantitativen Paradigma impliziert das aber auch die Klärung innerhalb des qualitativen Ansatzes, ob in solchen grundlegenden (anthropologischen) Fragen eine einheitliche Position erreichbar ist.

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Morus Markard

Morus Markard

Kritische Psychologie: Forschung vom Standpunkt des Subjekts 1

Entstehungsgeschichte und Ausgangsprobleme

Mit „kritischer Psychologie“ bzw. critical psychology wird eine Vielzahl von Arbeitsrichtungen in der Psychologie bezeichnet, von gemeindepsychologischen über psychoanalytische, kulturpsychologische, feministische bis zu „poststrukturalistischen“ Richtungen (vgl. Billig 2006). Ihr kleinster gemeinsamer Nenner besteht darin, sich nicht dem experimentellstatistisch orientierten Mainstream der Psychologie zuzurechnen und sich mit irgendeinem Aspekt des gesellschaftlichen Status quo auseinanderzusetzen. In diesem Beitrag geht es um die von Klaus Holzkamp u.a. an der Freien Universität Berlin begründete „Kritische Psychologie“ – einen in erster Linie inhaltlichen Ansatz, dessen Entwicklung jedoch immer mit methodologischen Analysen und Vorschlägen verbunden war. Diese nahmen ihren Ausgang von einer Kritik des experimentell-statistisch orientierten Mainstreams der Psychologie, an der sich in der ersten Phase chronologisch drei Argumentationsebenen hervorheben lassen. Deren erste verdankt sich zwei Monografien, die Holzkamp zu der Zeit verfasste, in der er selbst noch als Experimentalforscher tätig war (1964, 1968), und betrifft, wie er später resümierte, die immanent nicht lösbare „Diskrepanz zwischen der Eingeschworenheit auf einen engen, pseudoexakten Kanon statistischer Prüfmethodik einerseits und der Oberflächlichkeit und Ungenauigkeit bei der begrifflichen Fassung dessen, was da eigentlich untersucht werden soll“ (Holzkamp 1981, S.276f.). Ein ebenso gravierendes Problem sah Holzkamp – das ist die zweite Ebene – in den wiederum methodologisch induzierten „verborgenen anthropologischen Voraussetzungen der allgemeinen Psychologie“, die er mit folgender Argumentation aufzeigte: Im Versuchspersonen (Vp)-Versuchsleiter (Vl)-Verhältnis, das „Ergebnis einer sozialen Rollenzuweisung oder Rollenübernahme“ sei (1972/2009, S.45), werde die Umkehrbarkeit und Gleichberechtigung einer dialogischen Beziehung aufgegeben. Die experimentelle Forschung gehe „von der Idee einer Art ‚Norm-Versuchsperson‘“ aus, die ein bloß „gedachtes“ Individuum sei, das „Umweltbedingungen ausgesetzt ist, die es nicht selbst geschaffen hat, deren Eigenart und Zustandekommen es nicht – oder nicht voll – durchschauen kann und die es als unveränderbar vorgegeben hinnimmt“ (S.58f.; Herv. entfernt, MM). Mit dem Konzept der Norm-Vp sollten „Individuen, die in der außerexperimentellen Realität sich – der Möglichkeit nach – wie ‚Menschen‘ verhalten können, im Experiment dazu gebracht werden […], sich wie ‚Organismen‘ zu verhalten.“ (S.54f.; Herv. entfernt, MM): Insofern basiere eine so verfahrende Psychologie auf einer organismischen Anthropologie.

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eine Methodik entwickelt, die über die Wissensproduktion nicht nur Partei ergreift, sondern ebenso für praktische Veränderungen eintritt. Aktionsforschung verstand sich unter dem Anspruch der Demokratisierung und Emanzipation von ungerechten, menschenunwürdigen, repressiven Verhältnissen daher als „Methode sozialer Veränderung“. Die Verbesserung der Lebensumstände von sozial benachteiligten Bevölkerungsgruppen machte es demzufolge notwendig, diese als aktiv Mitwirkende in den Forschungsprozess einzubeziehen, wohingegen die Forschenden ihre Dominanzrolle aufgeben sollten. Etwa zur gleichen Zeit entstand in Lateinamerika auf dem Hintergrund der Erfahrung von Armut und Unterdrückung und von Initiativen, die dagegen ankämpften, ebenfalls ein partizipativer Forschungsansatz. Ziel war es u.a., „enlightenment and awakening of common peoples“ (Fals Borda 2001, S.27-37) zu ermöglichen. Die Entwicklung wurde auch durch die Gemeindepsychologie vorangetrieben, deren grundlegende Konzepte von Partizipation und Empowerment partizipative Forschungsstrategien nahe legten. Dies betrifft vor allem Studien über Empowerment, in welchen zusammen mit den beteiligten Subjekten Formen der Selbstermächtigung untersucht wurden. Durch das Mitreden und Gehörtwerden sollten sie in die Lage versetzt werden, eine eigene Stimme zur Artikulation ihrer Interessen zu entwickeln, um bewusst auf ihre Lebenspraxis Einfluss zu nehmen (für einen internationalen Überblick siehe Reich, Riemer, Prilleltensky & Montero 2001). Bergold (2000) hat mit den Stichworten Alltagsnähe und Komplexität, Mehrperspektivität, Parteilichkeit, Partizipation, Empowerment und Prozesshaftigkeit die enge konzeptuelle Verzahnung von qualitativen und partizipativen Forschungsmethoden und der Gemeindepsychologie aufgezeigt. Einen weiteren, grundlegenden Anstoß zur Entwicklung gaben feministische Forschungsansätze (siehe Kiegelmann in diesem Band). Besonders durch das Konzept der Parteilichkeit wurden Neutralität und Werturteilsfreiheit von Forschung prinzipiell infrage gestellt (Harding 1986). Ebenso erlangte für die Kritische Psychologie die methodische und theoretische Qualifizierung der „Versuchsperson“ als Mitforscher/in mit dem Ziel der Schaffung eines metatheoretischen Verständigungsrahmens besondere Wichtigkeit (siehe Markard in diesem Band). Auch aus den Notwendigkeiten der Praxis entstand eine Reihe von partizipativen Ansätzen. In England wurde auf einem humanistischen Hintergrund und auf Grundlage von Arbeiten zu action science (Argyris & Schön 1974) der Ansatz der co-operative inquiry entwickelt (Reason & Bradbury 2008). In Deutschland entstand der Ansatz der „Praxisforschung“ (Heiner 1988; Beerlage & Fehre 1989). Hier wurden Funktions- und Wirkungsweise professionellen Handelns unter der Perspektive ihrer sachgerechten Reflexion, Anpassung und Weiterentwicklung untersucht. Aktuell wird unter einer sozialkritischen, feministischen, postkolonialen und phänomenologischen Perspektive ein besonderer Nachdruck auf Subjektivität, Erleben, biografische Erfahrung und individuelle Sichtweisen gelegt (Denzin & Lincoln 2005). Unter dem Anspruch performativer Sozialforschung wird eine Verbindung von Forschung mit politischem, kulturellem und künstlerischem Engagement befürwortet (siehe Gergen & Gergen in diesem Band). In der Autoethnografie verschmelzen schließlich die arbeitsteilig getrennten Rollen von Forscher/in und Informant/in (Ellis, Adams & Bochner in diesem Band). Dies gilt auch für die Methode der Introspektion, einer frühen Tradition psychologischer Forschung, die von der Arbeitsgruppe um Kleining wieder aufgenommen wurde (Witt in diesem Band).

Partizipative Forschung

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Zudem ist eine Wiederentdeckung von partizipativen Forschungsstrategien im Rahmen der Evaluationsforschung zu beobachten (siehe von Kardorff in diesem Band). Hier lassen sich zwei recht verschiedene Positionen registrieren. Auf der einen Seite finden sich im US-amerikanischen Raum Vertreter/innen einer Position, die durch eine konsequente Beteiligung von Betroffenen eine Zunahme an Selbstbestimmung und Selbstreflexion (Fetterman 2002) erwarten. Auf der anderen Seite ist im Bereich der Entwicklungszusammenarbeit, in der partizipative Strategien durch die Weltbank und in Deutschland durch das Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (BMZ) bereits seit vielen Jahren gefordert werden, ein eher pragmatischer Umgang zu finden (Caspari 2006). Ähnliches lässt sich bei den inzwischen groß angelegten Evaluationen von sozialpolitischen Programmen (siehe z.B. Haubrich 2009) und in der Gesundheitsforschung (Unger, Block & Wright 2007) beobachten. Interessant erscheint, dass partizipative Strategien inzwischen in viele Forschungsfelder Eingang gefunden haben, in denen die unterschiedlichen Perspektiven der Beteiligten wichtig sind, beispielsweise in der Kindheitsforschung, der Sozialgeografie, der Zukunftsforschung, bei der Forschung mit behinderten Menschen, in Public Health usw. Die nachfolgende Grafik soll einen Eindruck der Vielfalt von Bereichen vermitteln. Die einzelnen Beiträge können hier aus Platzgründen nicht einmal zitiert werden. Auch bei den Veröffentlichungen hat sich die Idee der Partizipation durchgesetzt. Es lässt sich feststellen, dass viele Beiträge im Internet publiziert werden, da so Zugänglichkeit und eine offene Diskussion besser gewährleistet sind. Abbildung 1:

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Anwendungsbereiche partizipativer Forschung

Theoretische und methodologische Grundannahmen

Partizipative Strategien zielen auf einen gemeinsamen Erkenntnisprozess von Forschenden und Mitforschenden, der über Kommunikation gesteuert wird (Kemmis & McTaggart

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2005). Partizipative Forschung bedeutet daher, mit den Forschungspartner/innen in ein Gespräch über ihre Lebenspraxis zu gelangen, um das, was die Praxis implizit und praktisch längst weiß, zu explizieren, von irrationalen Verkürzungen zu befreien und in einer systematischen Begrifflichkeit aufzuheben. Wenn es der Wissenschaftsseite gelingt, den Entscheidungs- und Handlungsdruck zu mäßigen und aus dem kooperativen Forschungsprojekt zurückzudrängen, kann im Idealfall ein Arbeitszusammenhang entstehen, in dem Praxiswissen und Theoriewissen in ein produktives Austauschverhältnis zueinander geraten (siehe auch Moser 2008). 2.1 Bestimmung von Partizipation und die Bedeutung von Macht Zunächst ist Partizipation ein Begriff aus der Demokratietheorie. Im Mittelpunkt steht die Frage, wie ein möglichst großer Kreis von Stimmberechtigten in alle für sie relevanten Entscheidungen einbezogen werden kann. Dabei ist eine unterschiedlich intensive Beteiligung nicht unabhängig von Unterschieden in der Ressourcenausstattung der Bürger/innen zu sehen. Die Auseinandersetzung mit Partizipation erfordert notwendigerweise die Auseinandersetzung mit institutionellen Machtstrukturen (Gaventa & Cornwall 2001). Eine Analyse der Machtstruktur stellt daher einen notwendigen ersten Schritt bei der Implementierung von partizipativen Forschungsprojekten dar. Es ist zu fragen, in welcher Weise die Machtstruktur das Teilnehmen von Menschen an Entscheidungen und Aktionen erlaubt, verhindert oder unterdrückt, und welche Position die Akteure in dieser Machtstruktur einnehmen, über welche Machtressourcen sie verfügen oder welche ihnen ermangeln. Für die partizipative Forschung wird dies wichtig, weil Macht oft nicht direkt sichtbar wird; vor allem strukturelle Macht setzt sich hinter dem Rücken der Beteiligten durch. 2.2 Formen der Beteiligung und ihre Voraussetzungen Im Gegensatz zur nomothetischen Forschung, welche zumeist Wertfreiheit postuliert, geht der partizipative Forschungsansatz davon aus, dass Forschung immer interessengeleitet und wertgebunden ist. Das Moment der Wertentscheidung und der politischen Stellungnahme wurden besonders in frühen Ansätzen der Aktionsforschung in Deutschland herausgearbeitet und spielt auch in der gegenwärtigen Diskussion eine wichtige Rolle (z.B. Boog 2003; Gergen 2003). In die Entscheidung zu partizipativen Ansätzen gehen je nach Position der Vertreter/innen partizipativer Forschung unterschiedliche Grundannahmen ein: ! ! ! !

auf der „erkenntnisbezogenen“ (epistemologischen) Ebene wird Kritik an dem gängigen, positivistischen Wissenschaftsmodel geäußert; unter der „lebensweltlichen“ Perspektive wird die Eigenstrukturiertheit von Alltag und Praxis betont; vor dem Hintergrund eines „humanistischen“ Menschenbildes wird auf individuelles Wachstum und Selbstverwirklichungspotenziale verwiesen; auf einer „politischen“ Ebene wird die Frage nach gerechten Lebensverhältnissen, sozialer Teilhabe und demokratischen Einflussmöglichkeiten in den Vordergrund gestellt.

Partizipative Forschung

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Zur Durchführung von konkreten Forschungsprojekten scheint es nützlich, zwei Dimensionen der Beteiligung zu unterscheiden: Es ist zu fragen, ob 1. die institutionellen Rahmenbedingungen die Partizipation fördern oder hemmen und ob 2. einzelne Menschen und/oder Gruppen über ausreichende Ressourcen verfügen, um partizipieren zu können. Ad 1: Die kontextuellen Bedingungen für Partizipation sind vielfältig. Hierzu gehören alltägliche Umgangsformen genauso wie rechtliche Regelungen (von Verwaltungsvorschriften bis zum Verfassungsrecht), aber auch Forschungsmoden. Solche kontextuellen Bedingungen können Einstellungen von Machtträger/innen (z.B. Institutionsleiter/innen, Verwaltungsbeamt/innen, Politiker/innen, DFG-Gutachter/innen usw.), Vereinssatzungen, Hausordnungen, Verwaltungsvorschriften, Gesetze usw. sein. Es ist unabdingbar, sehr genau zu untersuchen, inwieweit der jeweilige Kontext Partizipation ermöglicht oder verhindert. Ad 2: Hier muss beachtet werden, ob ausreichende Ressourcen bei allen Beteiligten zur Verfügung stehen. So gibt es z.B. divergierende Zeitressourcen und -horizonte von Wissenschaft und Praxis, und es gibt unterschiedliche persönliche, räumliche, zeitliche und finanzielle Voraussetzungen bei allen Beteiligten. Bei der Frage nach Ressourcen ist auch nach den psychologischen Voraussetzungen zu fragen, welche die Beteiligten mitbringen müssen, um tatsächlich teilnehmen zu können. Allerdings hat die Psychologie ihre eigenen theoretischen Konzepte zum Verständnis von Partizipation noch kaum nutzbar gemacht. Es ginge z.B. darum, inwieweit aufgrund entwicklungspsychologischer und sozialpsychologischer Befunde etwas über Kooperation als Grundlage von Partizipation gesagt werden kann, ob psychologische Überlegungen zur Selbstwirksamkeit zum Verständnis des Partizipationsprozesses beitragen können, ob psychologische Handlungstheorien und sozialpsychologische Theorien über Gruppenprozesse Beschreibungen des gemeinsamen partizipativen Handelns liefern können usw. Partizipation erfolgt nicht nach dem Alles-oder-Nichts-Prinzip. In der Literatur besteht Einigkeit darüber, dass es verschiedene Formen der Partizipation gibt. Dies wird in dem weitverbreiteten Stufenmodell deutlich, das Arnstein bereits 1969 vorgelegt hat. Er unterscheidet drei Abstufungen, die jeweils noch weiter unterteilt sind: Nicht-Beteiligung/Beratung (Manipulation, Therapie), Schein-Beteiligung (Information, Anhörung/Beratung, Beschwichtigung) und Partizipation (Partnerschaft in Aushandlungssystemen, partielle Entscheidungskompetenzen durch Machtübertragung, volle Entscheidungskompetenz durch Bürgerkontrolle). Allerdings ist vor einer zu weiten Verwendung des Begriffs partizipative Forschung zu warnen. Dies scheint uns vor allem deshalb betonenswert, weil scheinpartizipative Ansätze gerade in der Praxis- und Evaluationsforschung sowie in der Politikberatung zunehmend Verbreitung finden (Caspari 2006). Hier wird der Partizipationsanspruch lediglich als Mittel genutzt, um durch den Einbezug von Akteuren und Praktiker/innen Praxiswissen einfacher „abgreifen“ zu können. 2.3 Perspektivenverschränkung und Selbstreflexion Die Grundintention des partizipativen Forschungsprozesses ist die Konstituierung eines kommunikativen Raums, einer öffentlichen Sphäre, in der mit allen Beteiligten und Betroffenen die gemeinsam gelebte Alltags- und Arbeitspraxis erforscht werden kann. Unter dem Gesichtspunkt der Partizipation sollen alle Beteiligten die Bereitschaft mitbringen, die Perspektive der jeweils anderen anzuerkennen und einzunehmen, sodass als allgemeines Er-

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kenntnisziel eine gemeinsam erarbeitete Sach-, Handlungs- und Problemanalyse steht. Die Ansprüche an einen offenen Diskurs werden, so die Grundthese, durch die Beteiligung der Wissenschaft gefördert (Kemmis & McTaggart 2005, S.576f.). Durch sie werden Erkenntnis- und Verallgemeinerungsstandards in den Verständigungsprozess eingeführt, die intersubjektive Nachvollziehbarkeit und prinzipielle Kritisierbarkeit fordern. Entscheidend ist, dass alle Stimmen im Forschungsfeld im Sinne eines multi-voicing einbezogen werden, d.h. dass alle Beteiligten ihre Meinung frei äußern, gleichberechtigt teilnehmen und mitentscheiden können. Anstatt Methodisierung und „Manualisierung“ steht die Initiierung eines offenen Prozesses der zielorientierten Interaktion und der selbstkritischen Reflexion im Vordergrund. Für einen solchen Prozess müssen prozedurale Vorkehrungen zur Sicherung von Partizipation immer wieder neu ins Spiel gebracht werden. Für das Gelingen des partizipativen Gruppenprozesses ist daher auch eine besondere Sensibilität für Gruppendynamiken und die Vermeidung von sozialen Ausschlussformen erforderlich. Der hohe Grad des Involviert- und Engagiertseins im Feld kann allerdings auch dazu führen, dass sich die beteiligten Wissenschaftler/innen von den Denkweisen und Konzepten des Forschungsfeldes zu stark einnehmen lassen (going native). Zur Qualitätssicherung müssen Forschende daher Reflexions- und Distanzierungsinstrumente zur Verfügung haben, die es gestatten, über die persönlichen Interessen und blinden Flecken und über die Beziehungen zu den Forschungspartner/innen nachzudenken und zur Forschungssituation eine kritische Distanz herstellen zu können. Hierzu gehören Verfahren zur Förderung der Selbstreflexion wie Forschungstagebücher, Memos, Forschungssupervision für Einzelne und Gruppen, Forschungswerkstätten (siehe Mruck & Mey 1998 und Mey & Mruck in diesem Band), Austausch mit Kolleg/innen in Kolloquien, interne und externe Audits usw.

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Der Forschungsprozess

Zunächst ist festzustellen, dass es in der partizipativen Forschung keine speziellen, nur dort genutzten Forschungsmethoden gibt. Im Prinzip sind alle Verfahren der Datenerhebung und Datenauswertung Teil des Methodenkanons, der im Rahmen partizipativer Strategien eingesetzt werden kann. Dies trifft sowohl für quantitative als auch für qualitative Methoden zu. Häufiger werden allerdings Themenbereiche erforscht, in denen noch wenig Forschung vorliegt und daher explorative, qualitative Untersuchungen erforderlich sind. Die methodischen Entscheidungen in der partizipativen Forschung werden jedoch nicht allein auf Grundlage von Erkenntnisinteresse und Fragestellung getroffen. Es sollten vor allem solche Methoden eingesetzt werden, welche die jeweiligen Mitforschenden verstehen und durchschauen und an deren spezieller Weiterentwicklung im Rahmen der Forschungsfrage sie teilnehmen können. Partizipation erfordert die Vermittlung von analytischen Kompetenzen und theoretischen Konzepten, damit alle Beteiligten auf gleicher Augenhöhe mitreden können. Nützlich ist hier eine Systematisierung des Zusammenhangs zwischen Alltagsmethoden und wissenschaftlichen Methoden, die von Kleining (1995) vorgeschlagen wurde. Ergebnisse und Interpretationen werden, soweit dies möglich ist, in Methodenworkshops gemeinsam erarbeitet. Das Ziel ist es, Akteure und Praktiker/innen in die Lage zu versetzen, ihr praktisches, kontextuelles Wissen auszudrücken, in Form von (Praxis-) Theorien zu verallgemeinern und zu verdichten und über den Gebrauch der Ergebnisse mitzubestimmen (siehe Bergold & Thomas 2010).

Partizipative Forschung

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3.1 Einstieg in das partizipative Forschungsvorhaben Partizipative Forschung beginnt bereits lange bevor der erste Kontakt zwischen den Forschungspartner/innen stattfindet. Daher muss bei allen Beteiligten zum Wunsch nach Wissen über einen bestimmten Gegenstandsbereich auch die Überzeugung hinzukommen, dass Partizipation in der jeweiligen Forschungssituation angemessen, erkenntnisträchtig und moralisch gerechtfertigt ist und dass das angezielte Wissen nur gemeinsam mit Anderen hergestellt werden kann. Wie immer in der Forschung stellt der Einstieg ins Feld einen entscheidenden Schritt im Verlauf des Forschungsprozesses dar. Der Beginn der Zusammenarbeit bietet bereits die Chance, viel über das Feld und seine Struktur zu erfahren, insbesondere durch eine Analyse der Machtverhältnisse im Feld (Selvini Palazzoli et al. 1984). Es ist daher immer zu fragen, wie die unterschiedlichen Beteiligten zusammengekommen sind, welche Motive und welche treibenden Akteure dabei beteiligt sind. Es ist zu untersuchen, wer ein Problem mit dem bisherigen Ablauf der Tätigkeiten formuliert, ob dies durch die unmittelbar Beteiligten im Feld geschieht oder aus dem politischen oder Verwaltungskontext, in den das Feld eingebunden ist. Abbildung 2:

Der partizipative Forschungsprozess (Bergold & Hermann 2006, Bergold 2007, angeregt durch Wadsworth 1998)

In ähnlicher Weise ist zu untersuchen, wer in das partizipative Forschungsprojekt einbezogen wird. Guba und Lincoln (1989, S.40f.) haben das Konzept der stakeholder in der Evaluationsforschung entwickelt. In Anlehnung daran sind hier drei Gruppen von „Beteiligten“ zu unterscheiden: 1. die professionell Tätigen, 2. die Nutzer/innen und 3. die Opfer. Die ersten beiden Beteiligtengruppen werden traditionellerweise berücksichtigt. Die Gruppe der

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Opfer, d.h. diejenigen, welche negative Konsequenzen befürchten, werden häufig nicht einbezogen. Sie wird meistens erst dann sichtbar, wenn das Projekt von Mitgliedern dieser Gruppe angegriffen oder sogar verhindert wird. Der Erkenntnisprozess in der partizipativen Forschung wird typischerweise als spiralförmig charakterisiert. Er beginnt paradoxerweise mit einer Unterbrechung des Routineablaufs der Handlungen (siehe z.B. Wadsworth 1998). Irgendetwas läuft nicht so, wie erwartet, oder man ist unzufrieden mit dem bisherigen Ablauf. Dies löst Fragen nach den Ursachen aus. Das Feld wird nach Informationen durchsucht, um ein Verständnis der problematischen Aspekte zu entwickeln. Daraus werden Antworten und Veränderungsideen generiert, die umgesetzt und überprüft werden. Dann tritt der Prozess in eine neue Phase und beginnt möglicherweise von vorne, wenn die Veränderungen noch unbefriedigend sind. In der nachfolgenden Darstellung wurde die Forderung nach „Transparenz“ besonders hervorgehoben, weil anzunehmen ist, dass dies die Voraussetzung für jegliche Partizipation darstellt. 3.2 Datenerhebung Auf dem Hintergrund der bisherigen Überlegungen wird verständlich, dass bei der Datenerhebung nicht nur auf „Standardverfahren“ zurückgegriffen werden kann, wie sie in der qualitativen Forschung üblicherweise genutzt werden. Die jeweilige Methode der Datenerhebung muss die Ausdrucksmöglichkeiten der Mitforschenden berücksichtigen. Es wird also eine gemeinsame Kreativität bei der Entwicklung neuer, dem Gegenstand, der Fragestellung und den beteiligten Mitforschenden gemäßer Erhebungs-, Auswertungs- und Darstellungsmethoden gefordert. Aus diesem Grund ist es hier nicht möglich, eine Liste von Erhebungsmethoden anzugeben, sondern nur Anregungen für mögliche Suchrichtungen anzudeuten. Wichtig erscheint es, Datenformen/Informationsmedien aufzugreifen, welche den jeweiligen Forschungspartner/innen aus ihrem Alltag vertraut sind, und diese gemeinsam mit ihnen weiterzuentwickeln und zu systematisieren. !

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Im Bereich sprachgebundener Daten lassen sich sicherlich die traditionellen Erhebungsinstrumente wie Interviews und Gruppendiskussionen einsetzen. Es lassen sich aber auch eine Reihe von alltäglichen Kommunikationsformen aufgreifen, z.B. das Erzählen von Geschichten über erlebte Situationen, Ereignisse aus der Vergangenheit usw. Hier eignet sich beispielsweise das Modell der Erzählwerkstätten aus der „oral history“-Forschung. Auch das Schreiben von Tagebüchern ist u.U. eine vertraute Form des Festhaltens von Erlebnissen und Eindrücken, die heute bei jüngeren Forschungspartner/innen möglicherweise durch das Verfassen von „Blogs“ u.ä. im Internet abgelöst worden ist. Dokumente ganz unterschiedlicher Art sind häufig in der Lebenswelt der Forschungspartner/innen verfügbar. Ereignisse haben sich in Form von Briefen, vielfältigem Schriftverkehr, Zeitungsberichten u.ä. niedergeschlagen, welche genutzt werden können. Artefakte aus dem Alltag und der Umwelt der Forschungspartner/innen (z.B. Denkmäler, Gebäude und ihre architektonischen Besonderheiten, Einrichtungen von Wohnräumen und Institutionen usw.) können wichtige Informationen über die Geschichte

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und die Entwicklung bieten und gemeinsam mit den Forschungspartner/innen zum Sprechen gebracht werden. Performative Erhebungsmethoden geben den Forschungspartner/innen u.U. bessere Möglichkeiten, sich auszudrücken (siehe Überblicke z.B. bei Jones et al. 2008; Liamputtong & Rumbold 2008; Gergen & Gergen in diesem Band). ! Die Fotografie hat sich hier als ein nützliches Medium erwiesen. Fotos können z.B. helfen, überhaupt ins Gespräch zu kommen. ! Zeichnungen und Bilder, die speziell als Antworten auf Forschungsfragen hergestellt wurden, lassen sich gemeinsam interpretieren und auswerten. ! Improvisierte Darstellungen von Lebens- und Problemsituationen als Theater oder Videosequenz geben u.a. Jugendlichen die Möglichkeit, ihre Perspektive sichtbar zu machen.

3.3 Datenauswertung Die Herausforderungen an Partizipation im Forschungsprozess sind angesichts der divergenten Zeitperspektiven und des unterschiedlichen Kenntnisstandes bei der Datenauswertung sicherlich am größten. Hier wird die Anwendung von pragmatisch gehaltenen Beteiligungsverfahren und reduzierten Auswertungsverfahren notwendig. Bei der Auswertung von numerischen Daten, wie sie z.B. in Fragebögen oder mittels Beobachtungsbögen erhoben werden, stehen die klassischen Statistikverfahren und -programme zur Verfügung. Zumindest in Grundzügen sollte allen Teilnehmenden die Logik dieser Verfahren erläutert werden. Wichtiger noch sind die Präsentation der Auswertungsergebnisse in verständlicher Sprache und ihre grafische Aufbereitung etwa in Tabellen und Diagrammen (Chambers 2008). Mehr noch werden in der partizipativen Forschung aber interpretative Verfahren angewandt, die auf die Exploration von Neuland zielen. Die Erarbeitung der Ergebnisse erfolgt auch hier idealerweise in gemeinsamen Methoden- und Auswertungsworkshops. Auch wenn grundsätzlich analytische Verfahren wie die Grounded-Theory-Methodologie, hermeneutische Verfahren oder die qualitative Inhaltsanalyse für die Auswertung als Leitmodelle dienen, so kommen bei der kollaborativen Auswertungsarbeit eher „abgespeckte“ Versionen zum Einsatz. Wahrscheinlich muss der größere Teil der Aufbereitung der Daten von den professionell Forschenden übernommen werden. Dennoch sollten einzelne Schritte der Kodierung und Kategorisierung immer wieder im Gesamtteam durchgeführt werden. Das angestrebte Ergebnis muss nicht immer eine völlig entwickelte Theorie sein. Oft reicht die Formulierung von Teilbereichstheorien und systematisierten Zusammenhangsannahmen aus, welche Ausschnitte aus dem Phänomenbereich fokussieren. 3.4 Gütekriterien Partizipative Forschung muss zunächst den Gütekriterien von Forschung allgemein genügen, in diesem Fall vor allem der qualitativen Forschung (siehe Steinke 1999 und Flick in diesem Band). Darüber hinaus ist aber eine „Entspezifizierung“ des Forschungsprozesses notwendig, indem die Erfordernisse der „reinen“ Erkenntnisgewinnung pragmatisch mit

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den konkreten Fähigkeiten und Interessen des Feldes vermittelt werden. Eine Ergänzung durch spezielle Gütekennzeichen, die sich auf den Prozess der Partizipation beziehen, scheint daher sinnvoll. Es ist zu sichern, ! ! ! ! !

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dass alle Betroffenen im Prinzip Zugang zu dem Forschungsprozess und den dort anstehenden Entscheidungen haben; dass die Stimme jedes und jeder Beteiligten gehört wird und in die Entscheidung eingeht; dass das Ziel der Forschung die Erweiterung des Wissens und der gemeinsamen Handlungsfähigkeit aller Beteiligten ist; dass die Ergebnisse verständlich und in ihren Konsequenzen durchschaubar sind und allen zur Verfügung stehen; dass sie nützlich und anschlussfähig an die Praxis und an die wissenschaftlichen Theorien sind.

Stärken, Schwächen und Desiderata

Der Grundgedanke partizipativer Forschung, die Einbeziehung aller Beteiligten auf gleicher Augenhöhe, stellt die Stärke und gleichzeitig die Schwäche dieser Forschungsstrategie dar. Die Unterschiedlichkeit der Partner/innen kann den großen Vorteil haben, dass die Chance gegeben ist, ein vollständigeres und tieferes Wissen über den untersuchten Gegenstandsbereich zu erhalten. Sie kann aber auch dazu führen, dass man sich auf dem kleinsten gemeinsamen Nenner trifft und ein Wissen produziert wird, das durch die Machtverhältnisse im Feld verzerrt ist, keine Handlungsrelevanz besitzt und folgenlos bleibt. Problempunkte bei der partizipativen Forschung lassen sich grob in methodologische/ methodische, praktische und wissenschaftspolitische unterteilen. Zu den methodologischen/ methodischen Problemen zählen die Fragen nach dem erkenntnistheoretischen Status der Befunde, nach der Reichweite ihrer Gültigkeit, nach den angemessenen Qualitätskriterien usw. (z.B. Caspari 2006). Zu den praktischen Problemen zählen Fragen nach der Beteiligungstiefe, d.h. welche Personen in welchem Ausmaß an welchen Punkten beteiligt werden, und ob ihnen für diese Beteiligung ausreichende persönliche, finanzielle, zeitliche, institutionelle usw. Ressourcen zu Verfügung stehen. Wissenschaftspolitische Probleme ergeben sich bei Fragen nach der Anerkennung partizipativer Forschung im Wissenschaftsbetrieb, der von einem nomothetischen Forschungsansatz dominiert wird. Dies hat erhebliche Konsequenzen für die Chancen einer Drittmittelfinanzierung und die Anerkennung der Forschung im akademischen Rahmen von Qualifizierungsarbeiten und Lehrstuhlbesetzungen. Zu den unumstrittenen Stärken des partizipativen Forschungsansatzes gehört, dass die gewonnen Erkenntnisse lebenswelt- und praxisbasierte Evidenz aufweisen, der Gegenstand durch die Fülle der Perspektiven aus Wissenschaft und Praxis vollständiger (re-) konstruiert wird und die kooperative Forschungsarbeit zu einer Selbstverständigung und Selbstermächtigung der beteiligten Personen sowie einer Verbesserung der Praxis selbst führt. Schließlich gibt es u.E. für Wissenschaftler/innen kaum etwas Spannenderes, als in einem sachlich fundierten Diskurs gemeinsam mit den Akteur/innen und Praktiker/innen die Bedingungen ihrer sozialen Lebenswelt auch in Hinsicht auf Möglichkeiten einer Verbesserung zu erforschen und zu erhellen.

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Weiterführende Literatur Kemmis, Stephen & McTaggart, Robin (2005). Participatory action research. Communicative action and the public sphere. In Norman K. Denzin & Yvonna S. Lincoln (Hrsg.), Handbook of qualitative research (3. Aufl., S.559-603). Thousand Oaks, CA: Sage. Reason, Peter & Bradbury, Hilary (Hrsg.) (2006). Handbook of action research: Participative inquiry and practice (2. Auf.). London: Sage. Unger, Hella von & Wright, Michael T. (2008). „An der Schnittstelle von Wissenschaft und Praxis“ – Dokumentation einer Tagung zu partizipativer Forschung in Public Health. Berlin: Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung, http://skylla.wzb.eu/pdf/2008/i08-307.pdf.

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Carolyn Ellis, Tony E. Adams & Arthur P. Bochner

Autoethnografie1 1

Entstehungsgeschichte und historische Relevanz

Autoethnografie ist ein Forschungsansatz, der sich darum bemüht, persönliche Erfahrung (auto) zu beschreiben und systematisch zu analysieren (grafie), um kulturelle Erfahrung (ethno) zu verstehen (Ellis 2004; Holman Jones 2005). Er stellt kanonische Gepflogenheiten, Forschung zu betreiben und zu präsentieren, infrage (Spry 2001) und behandelt Forschung als einen politischen und sozialen Akt (Adams & Holman Jones 2008). Forschende nutzen Grundsätze der Autobiografie und Ethnografie, um Autoethnografie zu betreiben und zu schreiben. Daher bezeichnet Autoethnografie sowohl eine Methode/einen Prozess als auch ein Produkt. Die vom Postmodernismus der 1980er Jahre inspirierte crisis of confidence erbrachte neue Möglichkeiten, die Ziele und Formen sozialwissenschaftlicher Forschung zu überdenken: Wissenschaftler/innen zeigten sich zunehmend beunruhigt über deren ontologische, epistemologische und axiologische Beschränkungen (Ellis & Bochner 2000) und begannen aufzuzeigen, wie die „gefundenen“ „Fakten“ und „Wahrheiten“ untrennbar mit dem Vokabular und den Paradigmen verbunden waren, die die Forscher/innen nutzten (Kuhn 1996; Rorty 1982). Sie begannen, die Grenzen großer, universeller Erzählungen zu erkennen (de Certeau 1984; Lyotard 1984) und über neue Beziehungen zwischen Autor/innen, Leser/innen und Texten nachzudenken (Barthes 1977; Derrida 1978; Radway 1984). Es entstand das Bedürfnis, sich kolonialistischen und „sterilen“ Forschungsintentionen zu widersetzen, die in fremde Kulturen eindrangen, deren Mitglieder ausnutzten und dann gingen, interessiert an eigenem materiellen oder professionellen Nutzen und ohne Rücksicht auf Beziehungen, die im Verlauf der Forschung entstanden waren (Conquergood 1991; Ellis 2007; Riedmann 1993). Sozialwissenschaftler/innen fragten sich auch, was aus ihren je konkreten Herkunftsdisziplinen werden würde, wenn diese der Literaturwissenschaft näher stünden als der Physik, wenn sie Erzählungen anstatt Theorien bevorzugten und wenn sie bewusst wertorientiert wären, anstatt zu behaupten, wertfrei zu sein (Bochner 1994). Viele dieser Wissenschaftler/innen wendeten sich der Autoethnografie zu, da sie sich um eine positive Antwort auf die Kritik an den kanonischen Vorstellungen, was Forschung ist und wie Forschung betrieben werden sollte, bemühten. Im Besonderen wollten sie sich auf Möglichkeiten konzentrieren, bedeutsame, zugängliche und sinnhafte Ergebnisse hervorzubringen, die auf persönlicher Erfahrung gegründet und respektvoll gegenüber fremder Erfahrung ist (Ellis & Bochner 2000). Dies bedeutet zugleich zu reflektieren, in welcher Weise persönliche Erfahrung den Forschungsprozess beeinflusst: Forschende entscheiden beispielsweise, wen oder was, wann, wo und wie sie jemanden oder etwas untersuchen. 1

Aus dem Englischen übersetzt von Paul Sebastian Ruppel und Katja Mruck.

G. Mey K. Mruck (Hrsg.), Handbuch Qualitative Forschung in der Psychologie, DOI: 978-3-531-92052-8_24, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2010

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Carolyn Ellis, Tony E. Adams & Arthur P. Bochner

Diese Entscheidungen sind an institutionelle Voraussetzungen (z.B. Begutachtungsgremien), Ressourcen (z.B. Finanzierung) und persönliche Umstände (z.B. Krebsforschung aufgrund persönlicher Erfahrung mit Krebs) gebunden. Obwohl einige Forscher/ innen immer noch annehmen, Forschung könne von einem neutralen und objektiven Standpunkt aus betrieben werden (Atkinson 1997; Buzard 2003; Delamont 2009), halten die meisten dies mittlerweile für nicht machbar (Bochner 2002; Denzin & Lincoln 2000; Rorty 1982). Des Weiteren haben Wissenschaftler/innen zunehmend akzeptiert, dass verschiedene Menschen verschiedene Weltanschauungen, Sprech- und Schreibweisen, Bewertungs- und Glaubensformen etc. haben, die u.a. resultieren können aus Rasse (Davis 2009), Gender (Keller 1995), Alter (Paulson & Willig 2008), Klasse (Dykins Callahan 2008), Bildung (Valenzuela 1999) oder Religion (Droogsma 2007). Diejenigen, die für kanonische Formen von Forschung plädieren, vertreten hingegen implizit eine weiße, maskuline, heterosexuelle, christliche und nicht-behinderte Perspektive der Mittel- und Oberschicht, die andere Formen von Wissen ausklammert bzw. als unzulänglich und ungültig erscheinen lässt. Autoethnografie hingegen will zu einem breiteren Blick auf die Welt verhelfen, der auf rigide Definitionen von „richtiger“ Forschung, ihrem Prozess und ihren Ergebnissen, verzichtet.

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Der autoethnografische Arbeitsprozess

Als Methode verbindet die Autoethnografie Merkmale der Autobiografie und Ethnografie. Wenn Autor/innen eine Autobiografie verfassen, schreiben sie nachträglich und selektiv über vergangene Erfahrungen. Für gewöhnlich durchleben sie diese Erfahrungen nicht (nur) mit dem Ziel der Veröffentlichung: Erfahrungen werden vielmehr im Nachhinein zusammengefügt (Bruner 1993; Freeman 2004). Während des Schreibens können dann z.B. andere Personen interviewt (Foster 2006; Tillmann-Healy 2001) oder Texte, Fotos oder Zeitschriften hinzugezogen werden, um sich besser zu erinnern (Delany 2004; Goodall 2006). Am häufigsten schreiben Autobiograf/innen über „Epiphanien“ – erinnerte Momente, die als besonders bedeutsam wahrgenommen werden (Bochner & Ellis 1992; Denzin 1989), oder existenzielle Krisen, die eine Auseinandersetzung erzwingen (Zaner 2004). Obwohl es sich um Phänomene handelt, bei denen eine Person eine Erfahrung als verändernd ansehen mag, während eine andere dies vielleicht nicht tut, wird in ihnen ersichtlich, wie Menschen „intensive Situationen“ erleben und deren Folgen, die noch lange nach dem eigentlichen Ereignis nachwirken (können), bewältigen (Bochner 1984, S.595). Wenn Forscher/innen Ethnografie betreiben, untersuchen sie kulturelle Praktiken, d.h. kulturell geteilte Werte, Überzeugungen und Erfahrungen, um Mitgliedern der Kultur und kulturfremden Personen zu helfen, eine Kultur besser zu verstehen (Maso 2001). Ethnograf/innen tun dies, indem sie teilnehmende Beobachter/innen in der Kultur werden, d.h. sie fertigen Feldnotizen zu kulturellen Ereignissen, ihrer eigenen Rolle und der Beteiligung von anderen Personen an (Geertz 1973; Goodall 2001). Ethnograf/innen können auch Mitglieder einer Kultur interviewen (Berry 2005; Nicholas 2004), deren Sprechweisen und Beziehungsformen untersuchen (Ellis 1986; Lindquist 2002), Verwendungen und Vorstellungen von Raum und Ort erforschen (Makagon 2004; Philipsen 1976) und/oder Artefakte wie etwa Kleidung und Architektur (Borchard 1998) oder Bücher, Filme und Fotos analysieren (Goodall 2006; Neumann 1999; siehe zur Ethnografie Thomas in diesem Band).

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Autoethnograf/innen schreiben retrospektiv und selektiv über herausragende Ereignisse, die daraus resultieren, dass sie Teil einer Kultur sind und/oder eine bestimmte kulturelle Identität besitzen. Sie sind jedoch (häufig) durch sozialwissenschaftliche Veröffentlichungskonventionen gefordert, Erlebtes nicht nur zu erzählen, sondern auch zu analysieren. „Otherwise [you’re] telling [your] story – and that’s nice – but people do that on Oprah [eine Talkshow] every day. Why is your story more valid than anyone else’s? What makes your story more valid is that you are a researcher. You have a set of theoretical and methodological tools and a research literature to use. That’s your advantage. If you can’t frame it around these tools and literature and just frame it as ‚my story‘, then why or how should I privilege your story over anyone else’s I see 25 times a day on TV?“ (Mitch Allen, persönliches Interview, 4. Mai 2006)

Autoethnograf/innen müssen sich zur Analyse nicht nur ihrer methodologischen Werkzeuge und der Forschungsliteratur bedienen, sondern sie müssen persönliche Erfahrungen auch nutzen, um Facetten kultureller Erfahrung Insidern und Outsidern zu veranschaulichen. Um dies zu erreichen, kann es erforderlich sein, persönliche Erfahrung mit bestehender Forschung zu vergleichen und zu kontrastieren (Ronai 1996) oder, wie zuvor erwähnt, Mitglieder einer Kultur zu interviewen und/oder relevante kulturelle Artefakte zu untersuchen (Boylorn 2008; Denzin 2006).

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Das autoethnografische Produkt

Im Falle von Autobiografien wird von den Autor/innen in den meisten Fällen erwartet, dass sie über ausgezeichnete Schreibtechniken verfügen (Adams 2008; Lorde 1984; siehe Gergen & Gergen in diesem Band zu Möglichkeiten performativer Forschung): Eine Autobiografie sollte ästhetisch und plastisch sein, Leser/innen fesseln und von Konventionen der Erzählkunst wie Figur, Szene und Handlungsentwicklung (Ellis & Ellingson 2000) und/oder einem chronologischen oder fragmentarischen Erzählverlauf (Didion 2005; Frank 1995) Gebrauch machen. Sie sollte außerdem neue Sichtweisen auf persönliche Erfahrung – auf Epiphanien – aufzeigen bzw. „Lücken“ in bestehenden verwandten Erzählungen schließen (Couser 1997; Goodall 2001). Um Texte ästhetisch und plastisch zu gestalten und Leser/innen mit dem Schauplatz des Geschehens (und insbesondere mit Gedanken, Emotionen und Handlungen) vertraut zu machen (Ellis & Bochner 2006), können Techniken des „Zeigens“ (Adams 2006; Lamott 1994) angewendet werden. Es kann z.B. Konversation genutzt werden, um Ereignisse fesselnd und emotionsreich zu schildern. „Erzählen“ ist eine weitere Strategie des Schreibens, die eine gewisse Distanz zu den beschriebenen Ereignissen verschafft, sodass über Ereignisse auf abstraktere Weise nachgedacht werden kann. Einer Geschichte, die „zeigt“, durch „Erzählen“ zu ergänzen, ist eine wirkungsvolle Art, für das Verständnis erforderliche Informationen zu vermitteln, die nicht der Unmittelbarkeit von Dialog oder sinnlicher Anteilnahme bedürfen. Es ist auch möglich, die Erzählperspektive zu wechseln. So wird meist die 1. Person verwendet, um eine Geschichte zu erzählen, die persönlich beobachtet oder durchlebt wurde und Charakteristika eines „Augenzeugenberichts“ (Caulley 2008) hat. Sollen Leser/innen in eine Szene hineinversetzt werden, um mit der Autorin oder dem Autor eine Erfahrung intensiv mitzuerleben und Teil eines Geschehens zu sein, empfiehlt sich die

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Verwendung der 2. Person; diese Erzählperspektive kann auch genutzt werden, um Momente zu beschreiben, die zu behaupten als zu schwierig empfunden wird (Glave 2005; McCauley 1996). Manchmal verwenden Autobiograf/innen auch die 3. Person, um z.B. den Handlungskontext oder Ergebnisse darzustellen (Caulley 2008). Wenn Forscher/innen Ethnografien schreiben, fertigen sie „dichte Beschreibungen“ an (Geertz, 1973, S.10), um eine Kultur oder kulturelle Praktiken besser verstehbar zu machen. Hierzu werden (induktiv) erkannte Muster kultureller Erfahrung durch Feldnotizen, Interviews und/oder Artefakte usw. belegt (Jorgenson 2002). Wenn Forscher/Innen Autoethnografien schreiben, bemühen sie sich um ästhetisch und plastisch dichte Beschreibungen persönlicher und zwischenmenschlicher Erfahrungen. Sie erreichen dies, indem sie zuerst Muster kultureller Erfahrung erkennen, durch Feldnotizen, Interviews und/oder Artefakte belegen, und diese Muster dann mithilfe von Facetten der Erzählkunst beschreiben, „zeigen“, „erzählen“ und die Erzählperspektive wechseln. Sie versuchen dies mit dem Ziel, auch ein breiteres und heterogeneres Publikum zu erreichen, das traditionelle Forschung üblicherweise außer Acht lässt, um zu persönlicher Veränderung und sozialem Wandel für möglichst viele Menschen beizutragen (Goodall 2006; Hooks 1994).

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Autoethnografische Herangehensweisen

4.1 Formen von Autoethnografie Autoethnografien unterscheiden sich darin, wie stark der Akzent auf die Beforschung anderer oder die Forscher/innen selbst und deren Interaktion, auf traditionelle Analysen und den Interviewkontext und/oder auf Machtbeziehungen gesetzt wird. So werden z.B. indigene Ethnografien genutzt, um Macht in der Forschung zu thematisieren und zu unterbinden, insbesondere den Anspruch autoritativer (außenstehender) Forscher/innen, (exotische) „Andere“ zu beforschen. Einst im Dienste der (weißen, maskulinen, heterosexuellen, christlichen und nicht-behinderten Mittel- und Oberschicht-) Ethnografen, arbeiten indigene Ethnograf/innen nun daran, ihre persönlichen und kulturellen Erzählungen zu konstruieren (siehe Denzin, Lincoln & Smith 2008). Narrative Ethnografien sind in Erzählform verfasste Texte, die die Erfahrungen der Forschenden enthalten, die Betonung liegt aber auf der ethnografischen Beforschung anderer Menschen. Hierzu wird bspw. das Zusammentreffen zwischen der/dem Forschenden und Mitgliedern der beforschten Gruppe(n) beschrieben (Tedlock 1991), wobei Erzählungen häufig mit Analysen von Mustern und Prozessen kombiniert werden. Reflexive, dyadische Interviews nehmen die interaktiv hergestellten Bedeutungen und emotionalen Dynamiken des Interviews selbst in den Fokus. Obwohl der Hauptaugenmerk auf den Beforschten und deren Geschichte liegt, werden Gedanken und Gefühle der Forscher/innen ebenfalls berücksichtigt (z.B. die persönliche Motivation, ein Projekt durchzuführen, eigene Erfahrungen mit dem behandelten Thema, emotionale Reaktionen auf das Interview und aus ihm möglicherweise resultierende Veränderungen für die Interviewenden/Forschenden). Auch wenn deren Erfahrungen nicht den Hauptfokus bilden, stellen persönliche Reflexionen einen zusätzlichen Kontext für die Erzählungen über die Beforschten bereit (Ellis 2004).

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Reflexive Ethnografien dokumentieren, wie sich Wissenschaftler/innen durch ihre Feldforschung verändern. Reflexive/narrative Ethnografien bilden ein Kontinuum, beginnend bei Forschung, die ihren Ausgangpunkt in der Biografie der Ethnograf/innen nimmt, über Berichte von Ethnograf/innen, die ihr Leben und das von Mitgliedern einer spezifischen Kultur beforschen, bis hin zu ethnografischen Memoiren (Ellis 2004, S.50) oder confessional tales (Van Maanen 1988), bei denen die ethnografischen Forschungsbemühungen hinter den Kulissen im Zentrum stehen (Ellis 2004). Sog. layered accounts zielen häufig auf die Erfahrung der Autor/innen und heben den Prozesscharakter von Forschung hervor. Ähnlich der Grounded-Theory-Methodologie (GTM) soll so veranschaulicht werden, wie Datenerhebung und -analyse gleichzeitig voranschreiten (Charmaz 1983, S.110); bereits verfügbare Forschung wird in diesem Zusammenhang eher als Quelle für Fragen und Vergleiche statt als eine Art „Wahrheitsmaß“ (S.117) genutzt. Anders als bei der GTM kommen aber Vignetten, multiple Stimmen und Introspektion (Ellis 1991) zum Einsatz, um Lesenden zu ermöglichen, der emergenten Erfahrung, Forschung zu betreiben und (darüber) zu schreiben, beizuwohnen (Ronai 1992, S.123). Interaktive Interviews vermitteln ein tief greifendes Verständnis von emotionsgeladenen und sensiblen Themen (Ellis, Kiesinger & Tillmann-Healy 1997, S.121). Hier geht es darum, dass Forschende und Forschungsteilnehmende im gemeinsamen Gespräch über bestimmte Themen (z.B. Essstörungen) forschen. Interaktive Interviews erstrecken sich üblicherweise über mehrere Sitzungen; im Unterschied zu traditionellen Einzelinterviews mit Fremden ist für sie die (teilweise über die Zeit erst entstehende) vertrauensvolle Beziehung zwischen den Beteiligten charakteristisch (Adams 2008). Hier sind neben den Geschichten und Erfahrungen, die von beiden bereits in die Forschungsbegegnung mitgebracht werden, die Interaktionen im Interviewsetting Gegenstand der Analyse. Ähnlich wie interaktive Interviews nutzen auch sog. community autoethnografies persönliche Erfahrung von Forscher/innen in einem kollaborativen Forschungsprozess, um aufzuzeigen, wie sich bestimmte soziale/kulturelle Praktiken in einer Gemeinschaft manifestieren (z.B. whiteness, siehe Toyosaki, Pensoneau-Conway, Wendt & Leathers 2009). Sie fördern so nicht nur gemeinschaftsbildende Forschungspraxen, sondern schaffen auch Möglichkeiten für kulturelle und soziale Interventionen (S.59). Ko-konstruierte Erzählungen veranschaulichen Beziehungserfahrungen, z.B. wie Menschen Ambiguitäten, Unsicherheiten und Widersprüche bewältigen, die aus Freundschaft, Familie und/oder Partnerschaft erwachsen. Dabei werden Beziehungen als gemeinsam hervorgebracht, unvollständig und historisch situiert verstanden; aus der gemeinsamen Beschäftigung mit ihnen erwachsen ko-konstruierte Forschungsprojekte: Jede Person schreibt zuerst ihre oder seine Erfahrung auf – diese handelt oft direkt oder indirekt von einer Epiphanie –, teilt diese mit und geht auf die Erzählung ein, die die andere Person zeitgleich geschrieben hat (siehe Bochner & Ellis 1995; Vande Berg & Trujillo 2008). In persönlichen Erzählungen setzen sich die Autor/innen mit sich selbst, ihrem akademischen und Privatleben auseinander (z.B. Berry 2007; Tillmann 2009). Dies sind für traditionelle Sozialwissenschaftler/innen oftmals die kontroversesten Formen von Autoethnografie, insbesondere wenn sie nicht von herkömmlichen Analysen und/oder Bezügen zu wissenschaftlicher Literatur begleitet werden. Persönliche Erzählungen beabsichtigen, ein Selbst oder Aspekte eines Lebens, das in einem spezifischen kulturellen und sozialen Kontext stattfindet zu verstehen. Leser/innen sollen eingeladen werden, die „Welt“ der Autorin

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bzw. des Autors zu betreten, um über ihr eigenes Leben nachzudenken, es zu verstehen und zu meistern (Ellis 2004, S.46).

4.2 Schreiben als Therapie Schreiben ist eine Art des Wissens, eine Untersuchungsmethode (Richardson 2000). Mithin kann das Schreiben persönlicher Erzählungen therapeutisch wirken, da wir schreiben, um uns selbst und unsere Erfahrungen zu verstehen (Kiesinger 2002; Poulos 2008), um uns zu entlasten (Atkinson 2007) oder um kanonische Erzählungen zu hinterfragen – konventionelle, autoritative und projektive Erzählhandlungen, die kartieren, wie „mustergültige“ Menschen leben sollten (Tololyan 1987, S.218; Bochner 2001, 2002). Auf diese Weise können Beziehungen besser verstanden und/oder verbessert (Adams 2006; Wyatt 2008), Vorurteile abgebaut (Ellis 2002a, 2009), persönliche Verantwortung und Handlungsfähigkeit bestärkt (Pelias 2000, 2007) und kultureller Wandel vorangetrieben werden (Ellis 2002b; Goodall 2006). Persönliche Geschichten können auch für Forschungsteilnehmer/innen und Leser/innen eine therapeutische Wirkung haben. Die Feministin Betty Friedan (1964) erkannte z.B. während der 1960er Jahre in den Vereinigten Staaten eine diffuse Unzufriedenheit, die viele weiße Frauen aus der Mittelschicht erlebten, weil sie sich nicht mit ihrer persönlichen Entwicklung beschäftigen und vor allem keiner außerhäuslichen Arbeit in einem gleichberechtigten, unterstützenden Arbeitsumfeld nachgehen konnten (Wood 2009, S.78). Isoliert bei der Hausarbeit für den größten Teil des Tages, erlebten diese Frauen ihre Isolation und ihre Gefühle als persönliche Probleme. Friedan wandte sich daher dem Schreiben zu, um Geschichten von Frauen vorzustellen und an ihnen teilzuhaben. Ihre Schriften wirkten für viele Frauen nicht nur therapeutisch, sondern regten auch einen bedeutenden kulturellen Wandel im Umgang mit Frauenrechten an. Persönliche Geschichten ermöglichen das „Bezeugen“ (Denzin 2004; Ellis & Bochner 2006), d.h. Probleme zu erkennen, sie zu benennen und öffentlich zu machen – gleich ob es um die Verschwörung einer Regierung (Goodall 2006), die Isolation, die eine Person nach der Diagnose einer Krankheit empfinden mag (Frank 1995) oder um benachteiligende Gender-Normen (Crawley 2002; Pelias 2007) geht.

4.3 Beziehungsethik Forscher/innen leben eingebunden in soziale Netzwerke mit Freund/innen und Verwandten, Partner/innen und Kindern, Arbeitskolleg/innen und Studierenden. Folglich werden andere Menschen in die (Veröffentlichung über die) Forschung verwickelt. Werden z.B. in einer Universität Anti-Rauch-Kampagnen untersucht und entwickelt, könnten Tabakfirmen von finanziellen Zuwendungen an diese Universität absehen. Ähnlich sind in traditionellen Ethnografien die Wohnorte der Gemeinschaften, über die geschrieben wird, meist identifizierbar, ebenso einige der Teilnehmer/innen in Feldforschungsprojekten (siehe Vidich & Bensman 1958). Die Frage der Beziehungsethik stellt sich für Autoethnografien noch verstärkt (Ellis 2007). Indem sie persönliche Erfahrung nutzen, beziehen Autoethnograf/innen nicht nur

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sich selbst in ihre Arbeit ein, sondern auch andere nahe stehende und vertraute Personen (Adams 2006; Trahar 2009). Wird z.B. die eigene Mutter erwähnt, dann ist es schwer, diese „zu tarnen“, ohne den Sinn und die Bedeutung der Geschichte zu verändern; ähnlich wie in kommunalen Studien z.B. Bürgermeister/innen oder andere gewählte Amtsträger/innen, ist auch die Mutter des Autors/der Autorin leicht identifizierbar. Wird über rassistische Handlungen eines bestimmten Nachbarn geschrieben, dann betrifft ihn dies, selbst wenn sein Name nicht erwähnt wurde. Zwar kann die Ortsangabe der Gemeinde verändert werden, aber es bedarf keiner großen Mühe, den Wohnort des Autors/der Autorin herauszufinden und folglich den Nachbarn zu identifizieren (Ellis 2009). Des Weiteren halten Autoethnograf/innen Beziehungen mit den Forschungsteilnehmer/innen häufig über längere Zeiträume aufrecht, was ethische Fragen kompliziert. Teilnehmende sind bereits zu Beginn der Forschung befreundet oder werden es im Forschungsverlauf, sie sind keine „gesichtslosen Subjekte“, die nur Daten liefern sollen. Ethische Fragestellungen in Verbindung mit Freundschaft werden so zu einem wichtigen Teil des Forschungsprozesses und seiner Ergebnisse (Tillmann-Healy 2001; Tillmann 2009). Autoethnograf/innen betrachten Beziehungsbelange als eine äußerst wichtige Dimension der Untersuchung (Ellis 2007, S.25; Trahar 2009), die während des gesamten Forschungsprozesses der Aufmerksamkeit bedürfen. Dies verpflichtet sie in vielen Fällen dazu, anderen, die mit ihren Texten in Verbindung stehen oder gebracht werden können, ihre Arbeit zu zeigen, damit diese reagieren und ggf. widersprechen können. Ähnlich wie traditionelle Ethnograf/innen müssen Autoethnograf/innen gegebenenfalls die Privatsphäre anderer schützen, indem sie Merkmale, die eine Identifizierung erlauben würden, abwandeln. Obwohl die Sinnhaftigkeit der Forschungserzählung wichtiger ist als die genaue Wiedergabe von Einzelheiten (Bochner 2002; Tullis Owen, McRae, Adams & Vitale 2009), muss Autoethnograf/innen bewusst sein, wie diese Schutzmaßnahmen sowohl die Integrität ihrer Forschung beeinflussen können als auch die Art und Weise, wie ihre Arbeit interpretiert und verstanden wird.

4.4 Reliabilität, Generalisierbarkeit und Validität Autoethnograf/innen schätzen narrative Wahrheit mit Blick auf das, was eine Erzählung auslöst – wie sie verwendet und verstanden wird, wie Autor/innen, Teilnehmer/innen, Publikum usw. auf sie reagieren (Bochner 1994; Denzin 1989). Dabei wird anerkannt, dass das, was als „Wahrheit“ bezeichnet wird, sich mit dem Genre des Schreibens oder Darstellens von Erfahrung verändert (z.B. Romanliteratur oder Sachbücher; Memoiren, Geschichtsbücher oder wissenschaftliche Literatur). Außerdem wird die Bedeutung von Kontingenz akzeptiert: Erinnerung ist fehlbar, und es ist unmöglich, Ereignisse so „abzubilden“, wie sie erlebt und empfunden wurden; meist erzählen Menschen, die das „selbe“ Ereignis erlebt haben, verschiedene Geschichten über das Geschehene (Tullis Owen et al. 2009). Wenn Begriffe wie Reliabilität, Validität und Generalisierbarkeit auf Autoethnografie angewendet werden, verändern sich folglich der Kontext, die Bedeutung und der Nutzen dieser Begriffe. Fragen der Reliabilität beziehen sich in der Autoethnografie auf die Glaubwürdigkeit der Erzählenden. Können sie in Anbetracht verfügbarer „faktischer Beweise“ die beschriebenen Erfahrungen gemacht haben? Glauben sie, dass dies wirklich das ist, was ihnen passiert ist? (Bochner 2002, S.86) Oder haben sie die „literarische Freiheit“ so weit getrieben,

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dass es sich eher um Dichtung als um einen (der Intention nach) wahrheitsgemäßen Bericht handelt? In engem Zusammenhang zur Reliabilität stehen auch Fragen der Validität. Für Autoethnograf/innen bedeutet Validität, dass ein Werk sich um Wahrscheinlichkeit bemüht; es ruft in den Leser/innen das Gefühl hervor, dass die beschriebene Erfahrung glaubhaft und möglich ist, dass das, was dargestellt worden ist, wahr sein könnte. Die Geschichte sollte deshalb kohärent sein, Autor/innen und Leser/innen verbinden und ihren Leben Kontinuität verleihen. Sie sollte den Leser/innen ermöglichen, in die Welt der Erzähler/innen „einzutauchen“ und sie mit deren Augen zu sehen, auch wenn diese Welt nicht „der“ Wirklichkeit entspricht (Plummer 2001, S.401). Eine Autoethnografie kann auch danach beurteilt werden, ob sie Leser/innen hilft, mit Menschen, die anders sind als sie zu kommunizieren, oder ob sie Möglichkeiten eröffnet, das Leben (von Forschungsteilnehmer/innen, Leser/innen, Autor/innen) zu verbessern (Ellis 2004, S.124). Es geht insbesondere darum, wie nützlich eine Geschichte ist und wofür sie verwendet werden kann (Bochner 2002). Auch Generalisierbarkeit ist für Autoethnografie wichtig, jedoch nicht in der traditionellen, sozialwissenschaftlichen Bedeutung, die sich auf große Stichproben bezieht. In der Autoethnografie verschiebt sich der Fokus der Generalisierbarkeit von den Befragten zu den Leser/innen: Sie wird von Letzteren auf die Probe gestellt, wenn diese feststellen, ob eine Geschichte an eigene Erfahrungen oder an die Erfahrung von anderen Menschen, die sie kennen, anschließt. Die Generalisierbarkeit ist auch abhängig davon, ob es gelingt, unbekannte kulturelle Prozesse so zu beleuchten, dass Leser/innen darüber nachdenken, inwiefern Leben einander ähnlich und verschieden sind und spüren, dass sie Neues über unbekannte Menschen oder Leben erfahren haben (Ellis 2004, S.195).

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Autoethnografie im Lichte der Kritik

Da Autoethnografie sich teils die Ethnografie und teils die Autobiografie zunutze macht, möchten Kritiker/innen sie häufig für die (Nicht-) Einhaltung von Kriterien zur Rechenschaft ziehen, die entweder auf traditionelle Ethnografien oder auf autobiografische Schreibstandards angewendet werden: Autoethnografie wird entweder dafür kritisiert, zu künstlerisch und nicht wissenschaftlich oder zu wissenschaftlich und nicht genügend künstlerisch zu sein. Der traditionellen Ethnografie ist die Autoethnografie, bezogen auf sozialwissenschaftliche Standards, nicht genügend streng, theoretisch und analytisch bzw. zu ästhetisch, emotional und therapeutisch (Ellis 2009; hooks 1994; Keller 1995). Autoethnograf/innen werden kritisiert, weil sie zu wenig Feldforschung betreiben, zu wenige Mitglieder einer Kultur beobachten oder nicht genug Zeit mit (fremden) Menschen verbringen (Buzard 2003; Fine 2003; Delamont 2009). Stattdessen werde auf persönliche Erfahrung zurückgriffen, es würden „verzerrte“ Daten (Anderson 2006; Atkinson 1997; Gans 1999) verwendet, und Autoethnograf/innen seien „Nabelschau betreibende“ (Madison 2006), von sich selbst eingenommene Narzisst/innen, die die wissenschaftlichen Pflichten des Hypothetisierens, Analysierens und Theoretisierens nicht erfüllten. Umgekehrt wird Autoethnografie, bezogen auf autobiografische (Schreib-) Standards, oft als nicht genügend ästhetisch, literarisch und künstlerisch abgetan. Es werde versucht, durch Rückgriff auf literarische Formen wissenschaftliche Legitimität zu erlangen, während

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„echte“ Imagination und künstlerische Qualitäten und Talente außer Acht gelassen würden (Gingrich-Philbrook 2005). Moro (2006) zum Beispiel meint, nur „verdammt gute“ Autor/innen seien in der Lage, Autoethnografie zu betreiben. Beide Kritiken positionieren Kunst und Wissenschaft in einem Widerspruchsverhältnis, ein Zustand, den Autoethnograf/innen zu beheben versuchen bzw. sie bemühen sich darum, gerade diese Dichotomie von Wissenschaft und Kunst aufzulösen: Forschung kann strikt theoretisch und analytisch und emotional, persönlich und therapeutisch sein. Autoethnograf/innen schätzen auch die Möglichkeit und Notwendigkeit, Forschung auf plastische und ästhetische Art und Weise zu schreiben und darzustellen (z.B. Ellis 1995, 2004; Pelias 2000), ohne dass deshalb Belletristik zitiert werden muss oder eine Ausbildung in Literaturwissenschaft oder darstellender Kunst erforderlich wäre. Die wichtigsten Fragen für Autoethnograf/innen sind: Wer liest unsere Arbeiten, wie sind die Leser/innen davon betroffen und wie halten die Arbeiten das Gespräch/Diskurse in Gang? Darüber hinaus finden es Autoethnograf/innen vergeblich, in einer Welt voller (methodologischer) Differenz darüber zu diskutieren, ob Autoethnografie ein zulässiger Forschungsprozess oder ein berechtigtes Forschungsprodukt ist (Bochner 2000; Ellis 2009). Sofern wir uns nicht auf ein Ziel einigen, können wir uns auch nicht auf die Bedingungen einigen, nach denen wir beurteilen können, wie es zu erreichen ist. Einfach ausgedrückt heißt das, dass Autoethnograf/innen eine andere Perspektive auf den Gegenstand der Sozialwissenschaften einnehmen. Nach Rorty handelt es sich bei diesen unterschiedlichen Sichtweisen nicht nur um Probleme, die gelöst werden müssten, sondern um Differenzen, mit denen es zu leben gilt (1982, S.197). Autoethnograf/innen betrachten Forschung und Schreiben als Akte der Teilhabe an sozialer Gerechtigkeit; statt der Beschäftigung mit Exaktheit ist das Ziel, analytische und zugängliche Texte zu verfassen, die beitragen wollen, uns und die Welt, in der wir leben, zum Besseren zu verändern (Holman Jones 2005, S.764).

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Mary M. Gergen & Kenneth J. Gergen

Mary M. Gergen & Kenneth J. Gergen

Performative Sozialwissenschaft1 1

Geschichte und disziplinäre Verbreitung

Der Begriff „performativ“ stammt aus J.L. Austins Werk „How to do Things with Words“ (1962) [dt. „Zur Theorie der Sprechakte“], in welchem er auf die Art und Weise Bezug nimmt, wie Äußerungen über die Vermittlung von Inhalt hinaus mannigfaltige soziale Funktionen erfüllen. Performative Sozialforschung umfasst die Verwendung verschiedener Formen künstlerischer Darstellung in der Durchführung von wissenschaftlichen Projekten (M. Gergen 2001), die Malerei, Theater, Dichtung, Musik, Tanz und Multimedia beinhalten können (Madison & Hamera, 2006). Performance-orientierte Forschung kann in Textform, aber ebenso auch live vor einem Publikum präsentiert oder in Filmen, Fotografien oder mittels Webseiten vermittelt werden. In den Sozialwissenschaften, insbesondere in Anthropologie und Soziologie, haben Forscher/innen in zahlreichen kulturellen Settings Rituale, Spiele, Tänze und Schauspiele – zumeist in traditioneller Textform – untersucht. Diese Arten performativer Studien werden im Folgenden vernachlässigt, da sie in sich selbst keine Beispiele für performative Forschung sind (vgl. Carlson 1996; Conquergood 1992; Schechner 1985, 2002; Turner 1986). Die Erkundung von performativen Forschungspraktiken befindet sich in ihrer Anfangsphase; die meisten Hauptwerke sind in den letzten zwei Jahrzehnten erschienen. Das Interesse an performativer Forschung hat jedoch rasch zugenommen, begleitet von lebhaften Kontroversen über die Beschaffenheit von Wissenschaft (Marcus 1994). Auch machten solche anfänglichen Nutzungen darauf aufmerksam, dass es sich bei allen Methoden der Forschung und bei der Darstellung ihrer Ergebnisse in vielerlei Hinsicht um Performances handelt. Hierdurch ergaben sich Fragen nach der Wirksamkeit wissenschaftlicher Arbeiten auch für das Erreichen sozialer Zielsetzungen (K. Gergen 2009). Der Einsatz von Theater zur Kommunikation über das Wesen des Vorurteils hat zum Beispiel eine weitaus andere Wirkung auf das Publikum als grafische oder statistische Darstellungsformen. Eine performative Forschungsorientierung stützt sich in ihrem Zugang zu menschlichem Handeln häufig auf dramaturgische Theorien, obwohl ein solcher Rückbezug bzw. eine solche Einbettung nicht per se erforderlich ist (Goffman, 1959; Newman & Holzman, 1996). Ein performativer Zugang in der Sozialforschung hat viele unterschiedliche Wurzeln sowohl innerhalb als auch außerhalb der Sozialwissenschaften. In der Philosophie wurde die Unterscheidung zwischen Wissenschaft und Kunst schon lange hinterfragt: Wissenschaftler/innen haben hierbei auf die verschiedenen Arten und Weisen verwiesen, in denen wissenschaftliche Theorien und Beschreibungen von literarischen Tropen wie beispielsweise Metaphern oder Erzählungen durchzogen sind und sich von bildlichen Darstellungen wie 1

Aus dem Englischen übersetzt von Paul Sebastian Ruppel und Katja Mruck.

G. Mey K. Mruck (Hrsg.), Handbuch Qualitative Forschung in der Psychologie, DOI: 978-3-531-92052-8_25, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2010

Performative Sozialwissenschaft

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Wellen oder Matrizen leiten lassen. In diesem Sinne ist Wissenschaft nicht durch ihren Gegensatz zur Performance definiert; sie ist selbst eine Form der Performance (siehe zum Beispiel Arnheim 1969; McCloskey 1985). Soziolog/innen haben ebenfalls Interesse an performativer Forschung gezeigt; das Feld der visuellen Soziologie, das Fotografie als Hauptmittel zur Erforschung sozialer Welten erachtet, ist dabei nur ein besonders prominentes Beispiel (siehe die International Visual Sociology Association2): So hat Mark de Rond (2008a) in seiner ethnografischen Forschung über das Ruderteam der Universität Cambridge beispielsweise das Flash Video „From Nausea to Method: The Dark Night of the Ethnographer’s Soul“ produziert und das Fachbuch „The Last Amateurs: To Hell and Back with the Cambridge Boat Race Crew“ (2008b) geschrieben. Seine performative Arbeit beschreibt de Rond als „sinnliche Soziologie“. Außerdem haben Soziolog/innen, die sich für Befreiungsbewegungen einsetzen, die Theatervorstellung als zentrales Mittel erkannt, um Menschen für Wandel zu begeistern. Die Arbeit von Augusto Boal (1995) kann in diesem Zusammenhang als richtungweisend gelten; auch Jonathan Shailors Arbeit mit Gefängnisinsassen (im Druck) stellt eine aktuelle Realisierung dieser Forschungsorientierung dar. Viele Forscher/innen, die sich einem partizipativen Forschungsansatz oder Formen von Aktions- und Handlungsforschung verpflichtet fühlen, vertrauen in ihrer Arbeit auf performative Praktiken (siehe Reason & Bradbury 2000 und Bergold & Thomas in diesem Band). Brinton Lykes zum Beispiel macht in ihrer Arbeit mit unter Gewalt leidenden guatemaltekischen Frauen intensiven Gebrauch von Fotografie.3 In der Psychologie nutzten insbesondere Therapeut/innen zuerst performative Forschungs- und Darstellungsstrategien. Jacob Moreno (1947), Joseph Wolpe (1969), Eric Berne (1964) und George Kelly (1955) spielten eine wichtige Rolle dabei, aufzuzeigen, wie Performance für die Erkundung sowohl individueller Biografien als auch für das Erkennen von Möglichkeiten zukünftigen Handelns eingesetzt werden kann. Und auch außerhalb der Sozialwissenschaften haben performative Anstrengungen im späten 20. Jahrhundert auf die Potenziale aufmerksam gemacht, Kunst und Sozialkritik für das Initiieren von sozialem Wandel zu verbinden (Carlson 1996). Diese frühen Beiträge ebneten den Weg für das Aufblühen performativer Forschung in einer Vielzahl von Disziplinen in jüngerer Zeit. In der Frauenforschung sind solche Entwicklungen im Besonderen durch die Betrachtung von Gender selbst als einer kulturellen Performance – im Gegensatz zu einer biologischen Gegebenheit – vorangetrieben worden (siehe insbesondere Butler 1990, 1993): Kulturell „angemessenes“ Geschlechterrollenverhalten zu zeigen bedeutet hiernach, Rollen zu spielen, die im Laufe der Biografie erlernt/erworben wurden. Andere Feministinnen haben Sexualität, Embodiment und Macht mit performativen Mitteln erforscht (Lockford 2004; Ronai 1992). Die Themen Gesundheit und medizinische Behandlung von Frauen mit Brustkrebs bildeten den Schwerpunkt einer kanadischen Theaterproduktion; diese Arbeit, in der Patientinnen Rollen mit Bezug zu ihrer eigenen Krankheit spielten, wurde später als „Standing Ovation“ (Gray & Sinding 2002) veröffentlicht. Ebenso sind performative Forschungsstrategien in den Gay and Lesbian Studies eingesetzt worden: Nachdem beispielsweise die Wähler/innen aus Colorado Homosexuelle von den Antidiskriminierungsgesetzen des Bundesstaats ausgeschlossen hatten, nutzte die Psychologin Glenda Russell (2000; Russell & Bohan 1999) gefilmte Interviews von diesem Ereignis für einen Fernsehbeitrag „Inner Journeys, Public Stands“, der dann 2 3

http://www.visualsociology.org/ http://www2.bc.edu/~lykes/voices.htm

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landesweit ausgestrahlt wurde. Das Interviewmaterial diente auch als Grundlage für das Oratorium „Fire“, das von Bob McDowell komponiert und zu mehreren Anlässen aufgeführt wurde (siehe Russell 2000). In den Kommunikationswissenschaften sind wichtige Entwicklungen performativer Forschung aus ethnografischen Studien erwachsen. Hier wurde insbesondere im Rahmen des autoethnografischen Ansatzes mit verschiedensten Ausdrucksformen experimentiert (Ellis 1991; Ellis & Bochner 1996; McCall 2000; Peliaas 1999; siehe auch Ellis, Adams & Bochner in diesem Band). Hierzu gehört beispielsweise die Nutzung literarischer Stilmittel für autoethnografische Arbeiten (Ellis 2004; Richardson 1997). Ein anderes Beispiel ist James Scheurich, der mit seinen Student/innen ein „Research Happening“ produziert hat, um Thematiken der Immigration zu beleuchten, indem das Publikum unmittelbar mit mexikanischen Immigrant/innen interagiert; ähnlich der Film „Labores de la Vida/The Labors of Life“ über zugewanderte Farmarbeiter/innen, den Scheurich mit Miguel Guajardo und anderen produziert hat (Scheurich, Guajardo, Sanchez & Fineman 1999). Einen sehr ausgereiften performativen Ansatz verfolgt Johnny Saldaña, der eine Geschichte aus seiner Jugend in ein Theaterstück namens „Second Chair“ (2008) mit eigener Musik und eigenen Texten umgearbeitet hat. Und Online-Präsentationen ermöglichen mit vielfältigen dramatischen Formen, mit Musik, Bildern und Texten, zusätzliche visuelle und akustische Eindrücke (siehe hierzu exemplarisch die Schwerpunktausgabe „Performative Sozialwissenschaft“ in der Zeitschrift Forum Qualitative Sozialforschung / Forum: Qualitative Social Research mit 42 Beiträgen zu performativen Forschungsprojekten; Jones et al. 20084). In der nordamerikanischen Psychologie wurden performative Studien bereits zwischen 1995 bis 1999 im Rahmen von Symposien bei Jahrestagungen der American Psychological Association präsentiert. Die Symposien beinhalteten dramatische Monologe, Tanz, Multimedia-Präsentationen, Schauspiele und Gedichte, jeweils bezogen auf relevante psychologische Themenstellungen. Eine ebenfalls wesentliche innovative Funktion im Kontext performativer Forschung kommt dem East Side Institute5 zu, für das Inszenierungen ein integraler Bestandteil der Ausbildung und der therapeutischen Arbeit sind (Newman & Holzman 1996). Kenneth J. Gergen (2009) hat zusammen mit der Künstlerin Regine Walter grafische und dichterische Repräsentationen für theoretische Ansätze geschaffen. Mary Gergens dramatische Monologe und Textformate im Schnittfeld zwischen sozialem Konstruktionismus und Feminist Studies gehörten zu den ersten performativen Präsentationen in der Psychologie (K. Gergen & M. Gergen, 2001; M. Gergen, 2001). Wie viele qualitative Forscher/innen mittlerweile anerkennen, sind die traditionellen Unterscheidungen zwischen verschiedenen Wissensformen und disziplinären Feldern künstlich und selektiv. Folglich entsteht eine Vielfalt nicht-disziplingebundener Präsentationsorte und -modi. Beispielhaft hierfür sei der „International Congress of Qualitative Inquiry“6 genannt, der von Norman Denzin jährlich an der University of Illinois organisiert wird. Über 2000 Forscher/innen kommen hier zusammen, um ihre Arbeiten zu präsentieren, von denen viele einen performativen Charakter haben. Die Themen der Konferenz zeugen auch von der Idee, dass qualitative Sozialforschung zu sozialer Gerechtigkeit beitragen sollte.

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http://www.qualitative-research.net/index.php/fqs/issue/view/10, siehe auch Kip Jones, http://kipworld.net/ http://www.eastsideinstitute.org/ 6 http://www.icqi.org/ 5

Performative Sozialwissenschaft

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Theoretische und methodologische Prämissen

Die Entwicklung performativer Forschung wurde vor allem durch das Aufkommen einer sozial-konstruktionistischen Alternative zur traditionellen, empirizistischen Sicht der Wissenschaft angeregt. Vom konstruktionistischen Standpunkt aus gibt es keine grundsätzlichen und per se festgelegten Anforderungen an die Kommunikationsformen, die genutzt werden sollten, um Beobachtungen angemessen zu repräsentieren. Es gibt keine Worte – oder andere symbolische Repräsentationen – die einzig geeignet wären, um zu „protokollieren“, was „existiert“. Von diesem Standpunkt aus ist die Forschung eingeladen, sich mit den Begrenzungen der traditionellen Formen des Schreibens in den Sozialwissenschaften zu befassen (zusammen mit grafischen und tabellarischen Darstellungen der Welt), sie ist eingeladen, die Potenziale alternativer Ausdrucksweisen zu erkunden. Die Verwendung performativer Ansätze in den Sozialwissenschaften beruht weitgehend auf den folgenden Überlegungen: ƒ

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Die traditionelle Kommunikation in den Sozialwissenschaften ist hoch spezialisiert. Theorie und Forschungsergebnisse sind größtenteils unverständlich für ein fachfremdes Publikum. Wenn ein wissenschaftlicher Text von der breiten Öffentlichkeit mühelos gelesen werden kann, wird er üblicherweise als „unwissenschaftlich“ angesehen und von den Gatekeepern einer Disziplin nicht berücksichtigt. Somit unterdrücken Sozialwissenschaftler/innen zum größten Teil nicht nur Präsentations- und Kommunikationsformen, die die Teilnehmenden an Studien miteinbeziehen könnten, sondern ihre Arbeit wird auch allgemein von denjenigen nicht beachtet, die die Zukunft der Gesellschaft beeinflussen. Indem sie die Darstellungsmöglichkeiten erweitern – zum Beispiel durch die Verwendung von Theater, Kunst oder Multimedia – laden Wissenschaftler/innen zu einer umfassenderen und körperlichen Reaktion ihres Publikums ein. Performances können effektiver Interesse wecken und zum Handeln motivieren und sie können Dialoge zu wichtigen gesellschaftlichen Themen fördern. Alle Formen der Darstellung und Beschreibung stellen Handlungsmodelle bereit. In diesem Sinne eröffnen standardisierte Schreibweisen in den Sozialwissenschaften ein sehr begrenztes Handlungsrepertoire; sie schränken sich im Großen und Ganzen auf nur einen rhetorischen Stil ein. Durch den Einbezug zusätzlicher Forschungsansätze und Darstellungsweisen erweitern die Wissenschaften das Repertoire für soziales Handeln. Die Verwendung von Theater oder Film zum Beispiel bringt den Rezipient/innen nicht nur ein bestimmtes Thema näher, sondern stellt auch neue Bilder für die Repräsentation und das Handeln bereit. Traditionelle Darstellungsformen in den Sozialwissenschaften haben eine realistische Rhetorik. Sie legen nahe, dass es sich bei den verwendeten Diskursen um Reflexionen (d.h. Spiegelbilder) existierender Realitäten handelt. Durch den Gebrauch von Performance als Kommunikations- und Darstellungsmodus werden diese Annahmen untergraben. Die Verwendung von Theater, Literatur, Dichtung oder bildender Kunst verweisen mit deren ästhetischem Charakter darauf, dass diese von Menschen geschaffen wurden und kein „Spiegel der Natur“ sind. Auf diese Weise sind performative Darstellungen imstande, „Wahrheitssinn“ zu vermitteln und ihm gleichzeitig den Boden zu entziehen. Sie sind weniger Aussagen darüber, was der Fall ist, als vielmehr Einladun-

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gen, die Welt und individuelles und soziales Handeln in der Welt auf eine spezifische Art und Weise bzw. auf unterschiedliche Weisen zu sehen. So werden die Unterscheidungen zwischen Wissenschaft und Kunst, zwischen Ernsthaftigkeit und Spiel, zwischen Wahrheit und Imagination hinterfragt. Traditionelle Formen wissenschaftlichen Schreibens beschneiden die Möglichkeiten der Sprache radikal. Sie beruhen normalerweise auf deklarativer Prosa. Eine performative Orientierung lädt die Autor/innen ein, das ganze Potenzial eines Mediums einschließlich beispielsweise Ironie, Metapher, Humor und mehr zu erkunden. Während traditionelles Schreiben anstrebt, den gesamten Inhalt in ein logisch kohärentes Ganzes zu bringen, lädt eine performative Orientierung ein zu Explorationen von Ambiguität, subtiler Nuance und Widerspruch. Traditionelle Kommunikationspraktiken in den Wissenschaften unterdrücken oder ignorieren die Werte- und Standortgebundenheit von Wissenschaft; sie halten die irreführende Annahme einer wertfreien Forschung aufrecht. Performative Kommunikationsmodi machen die Involviertheit der Forschenden und die kontextuellen Implikationen einer Arbeit normalerweise sichtbar. Sie setzen oft auf dramatische Spannung, um ihre Botschaft zu transportieren und zeigen so, dass die beteiligten Wissenschaftler/innen sich selbst sorgen, von einem Thema berührt sind und ihre Besorgnis mit anderen teilen möchten. Wenn performativ orientierte Arbeit in akademischen Settings – zum Beispiel im Hörsaal oder einer Fachzeitschrift – verwendet wird, stellt sie die Traditionen infrage, die diese Orte als „Zonen der Wahrheit“ definiert haben, sprich als Orte, die Aussagen derer würdigen, die über die Wahrheit verfügen. Die Wissenschaften werden so offener für die Einbeziehung auch alternativer Traditionen, sie werden mehrstimmiger, dialogischer und demokratischer. Performative Sozialforschung ermöglicht die enge Zusammenarbeit zwischen unterschiedlichen disziplinären Feldern aus den Human- und Geisteswissenschaften, ebenso wie aus anderen (Natur-)Wissenschaften (Jones 2006).

Stärken, Schwächen und Desiderata

Obwohl sie von einer reichen Geschichte schöpfen, befinden sich die performativen Sozialwissenschaften im Anfangsstadium ihrer Entwicklung. Dabei hat die Zahl der Zeitschriften, die qualitative Forschungsarbeiten veröffentlichen, rasch zugenommen; exemplarisch erwähnt seien The Journal of Qualitative Inquiry, Qualitative Research in Psychology, Text and Performance Quarterly und die Online-Zeitschriften Forum Qualitative Sozialforschung / Forum: Qualitative Social Research, International Journal of Qualitative Methods, Qualitative Sociology Review und The Qualitative Report. Alle diese Zeitschriften veröffentlichen auch experimentelle Schreibweisen, Dichtung, visuelles Material, Theaterskripte und andere Ausdrucksweisen performativer Forschung. Mittlerweile existieren auch reguläre Orte der Einbindung performativer Ansätze in die universitäre Lehre und Forschung, so bietet beispielsweise das Centre for Qualitative Research der School of Health and Social Care an der britischen Bournemouth University ein eigenes Graduiertenstudium

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mit einer performativen Ausrichtung an7 und betreibt eine Mailingliste „Performative Social Science“.8 Ein gleichnamiger Method Space ist über eine Webseite von Sage Publications verfügbar.9 Sowohl der Enthusiasmus für performative Arbeit als auch ihr Beitrag zu aktuellen sozialwissenschaftlichen Debatten ist beachtlich und gibt reichlich Grund zum Optimismus hinsichtlich zukünftiger Anstrengungen und ihrer Früchte. Dies betrifft nicht nur die gegenwärtige Blüte qualitativer Forschung quer durch die Sozialwissenschaften, sondern auch die Möglichkeiten, die aus performativer Forschung für Nachwuchswissenschaftler/innen erwachsen: Sie lädt, wie wir gesehen haben, Forschende ein, sich mit Themen zu befassen, die auch von großer persönlicher Bedeutung sind. Anstatt also von der Profession gezwungen zu werden, Dialogen zu folgen bzw. sich an Dialogen zu beteiligen, deren Inhalte und Rahmen schon festgelegt sind, lädt performative Sozialwissenschaft Forschende zu leidenschaftlicher Beschäftigung mit relevanten Untersuchungsfragen ein. Und sie erlaubt, Kommunikationsformen und -fertigkeiten zu nutzen (z.B. in Musik, Kunst, Theater, Tanz), die sonst aus dem Berufsleben ausgeschlossen wären. Das heißt nicht, dass die Zukunft eines performativen Ansatzes in den Sozialwissenschaften im Allgemeinen und in der Psychologie im Besonderen unproblematisch ist, denn unter allen Entwicklungen innerhalb der qualitativen Forschung sind die performativen Praktiken die radikalsten. Dies ist so, weil sie im Gegensatz zu den meisten qualitativen Methoden die Identität der Disziplin herausfordern. Indem sie die Grenze zwischen Kunst und Wissenschaft, Fakt und Fiktion, Ernsthaftigkeit und Spiel verwischen, stellen sie die Aktivitäten und Standards der „normalen Wissenschaft“ infrage. Und auch im Binnenverhältnis bestehen weiterhin wichtige offene Fragen: Eine Frage betrifft die Beurteilung der Qualität bzw. des Wertes von performativ orientierten Arbeiten, denn traditionelle Standards zur Bewertung von Forschung (beispielsweise Testgütekriterien wie Validität und Reliabilität) sind nicht geeignet und neue und mehrdeutige Kriterien müssen in Betracht gezogen werden. Alternativ werden derzeit Standards wie beispielsweise kulturelle Bedeutung, kommunikative Stärke und ästhetischer Wert diskutiert. Eine jüngst an der University of Bournemouth fertiggestellte Dissertation (Zoë Fitzgerald Poole 2008) veranschaulicht einen produktiven Umgang mit dieser Herausforderung: Eine mit einem Namensschild aus Messing versehene Holzkiste enthielt zwei Bücher, die (mit farbenprächtigen grafischen Darstellungen illustriert) die Ergebnisse der Interviews dokumentierten, die die Autorin in dichterischer Form zusammengestellt hatte. In der Kiste befanden sich auch DVDs mit visuellem und Audiomaterial; zusätzlich, als Geschenke für die Leser/innen, Musik, die Figur einer Meerjungfrau, eine große Puppe, die einen biederen, altmodischen Professor darstellte, Pralinen und hunderte winziger eingewickelter Bänder mit je einem in eleganter Kalligrafie geschriebenem Sprichwort. Zusätzlich gab es eine Karte, die über den Sinn und die Verwendung dieser Sammlung, die in kleine Holzabschnitte in der Kiste geordnet war, informierte (die mündliche Aussprache verlief dann allerdings etwas kontrovers, als Fragen zum wissenschaftlichen Wert des Forschungsprozesses und der Ergebnisdarstellungen aufkamen). Eine weitere Frage betrifft die Wissensanhäufung und den Fortschritt der Disziplin, Ziele, die für die traditionelle Sozialwissenschaft sehr hoch gewichtet werden. Performative 7

http://www.bournemouth.ac.uk/cqr/rescqrpss.html https://www.jiscmail.ac.uk/cgi-bin/webadmin?SUBED1=performsocsci&A=1 9 http://www.methodspace.com/group/performativesocialsciences 8

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Ansätze sind diesen Zielen weniger verpflichtet, sie fokussieren eher die Relevanz von Forschung und ethische Fragen in Bezug auf den Forschungsprozess selbst (Keen & Todres 2007). Zwar mag es bei performativer Forschung „Wissensanhäufungen“ in Sinne von kommunikativer Wirksamkeit geben, aber das Interesse an Wissenszugewinn und am Fortschritt der Disziplin wird typischerweise ersetzt durch das Anliegen, einen unmittelbaren Einfluss von kultureller Bedeutung auszuüben: Performativ orientierte Wissenschaftler/innen halten die Idee der Akkumulation von Wissen zumeist für irreführend, da sich die Muster des Soziallebens unaufhörlich wandeln. Die Sozialwissenschaften erlangen ihre Bedeutung nicht, indem sie versuchen, die Zukunft auf Grundlage von Beobachtungen der Vergangenheit vorherzusagen, sondern weil sie an den Prozessen teilhaben (wollen), die diese Zukunft erschaffen.

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Performative Sozialwissenschaft

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Evaluationsforschung

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Ernst von Kardorff & Christine Schönberger

Evaluationsforschung 1

Gesellschaftlicher Kontext

Evaluation und Evaluationsforschung haben Konjunktur: Evaluationsergebnisse sind in öffentlichen Diskursen präsent, ob es sich um die Auswahl der besten Schulen, die Beurteilung erfolgreicher Unterrichtsformen, die Suche nach geeigneten Therapien, den Kauf von Produkten oder um die Qualität von Dienstleistungen handelt. Kulturell und mentalitätsgeschichtlich verdankt sich diese Konjunktur dem auf die Aufklärung zurückgehenden Fortschrittsglauben an die technisch-rationale Herstellbarkeit einer besseren Zukunft. So wird verständlich, dass die Nachfrage nach Evaluation im Zusammenhang mit der Überprüfung und Legitimation staatlicher Reformprogramme entstanden ist. Inzwischen gehört sie zum festen Bestandteil institutionalisierter und ritualisierter gesellschaftlicher Selbstbeobachtung (vgl. von Kardorff 2006). Psychologisch ließe sich die gesteigerte Aufmerksamkeit der Individuen für Rankings, Qualitätsvergleiche, Beliebtheitsskalen und Umfragewerte als Reaktion auf die Unübersichtlichkeit und Flüchtigkeit der globalisierten Moderne deuten. Die Orientierung an medial propagierten Standards hilft den Einzelnen, sich im sozialen Raum zu positionieren und Identitätsentwürfe zu überprüfen. In soziologischer Sicht sind moderne Gesellschaften zu ihrer Legitimation darauf verwiesen, Leistungen von Staat, Wirtschaft und Individuen anhand nachvollziehbarer Kriterien zu dokumentieren, zu objektivieren, zu standardisieren, zu überwachen und öffentlich zu kommunizieren – eine selbstverstärkende Praxis, die nach beständig neuen Daten verlangt. Und in der modernen Wissensgesellschaft steigt der Bedarf nach wissenschaftlicher Expertise. Evaluation(sforschung) soll vieles leisten: Komplexität reduzieren und Unsicherheit absorbieren, Kosten abschätzen und Transparenz herstellen, also eine Art TÜV für die Rationalität und Akzeptanz von Entscheidungen. Nachdem sich die direkte Steuerung sozialer Prozesse oder individuellen Verhaltens weitgehend als Illusion und politisch als ambivalent erwiesen hat, zeichnen sich gegenwärtig zwei Entwicklungslinien ab: erstens lässt sich weltweit eine Akzentverschiebung staatlicher Politik von einer vorrangigen Inputsteuerung („Programme“, „Modelle“) zu einer indirekten, mit Anreizen verbundenen Outcomesteuerung beobachten, für die im Bildungssystem die PISA-Studien und die Entwicklung nationaler Bildungsstandards stehen. Der Bedarf an Erfolgs- und Vergleichsdaten favorisiert dabei eine überwiegend quantitative Evaluation, die beansprucht, Effekte eindeutig nachweisen und auf das jeweilige Programm zurückführen zu können, Standardisierungen voranzutreiben und Benchmarks zu setzen. Daneben haben sich zweitens Ansätze einer nutzen- und beteiligungsorientierten, intervenierenden, prozessbegleitenden und -entwickelnden Evaluationsforschung herausgebildet, die aus einer anderen Perspektive agieren: Den demokratischen Werten von Selbstbestimmung, Autonomie und Willensfreiheit des Subjekts verpflichtet (Guba & Lincoln 1989;

G. Mey K. Mruck (Hrsg.), Handbuch Qualitative Forschung in der Psychologie, DOI: 978-3-531-92052-8_26, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2010

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Ernst von Kardorff & Christine Schönberger

Fetterman, Kaftarian & Wandersman 1994; Chelimsky & Shadish 1997; Patton 2002; Preskill & Tzavaras Catsambas 2006) ist es ihr Anliegen, den Prozess- und Aushandlungscharakter sozialer Veränderungen unter Einbeziehung aller Beteiligten zum Kern des forschenden Handelns zu machen (Kuipers & Richardson 1999). Evaluationsforschung als „praktische Klugheit“ (Schwandt 2002) soll zivilgesellschaftliche Teilhabe stärken (Fetterman & Wandersman 2005). In dieser Tradition finden sich überwiegend qualitative und interpretative Ansätze, Methodologien und Verfahren.

2

Begriffliche Vorklärungen

Ganz allgemein bezeichnet Evaluation sowohl den Vorgang als auch das Ergebnis einer Bewertung: der funktionalen oder ästhetischen Qualitäten eines Produkts, der Leistungsfähigkeit und Servicefreundlichkeit einer Organisation, der Leistungen von Menschen in Schule und Beruf oder ihrer Selbstdarstellung im Alltag. Bewertungen stellen stets Vergleiche her zwischen den bewerteten Objekten, Prozessen und Zuständen auf der einen und den angestrebten Veränderungen oder Normen auf der anderen Seite. Ihre Bezugsgrößen sind Kriterien und Standards, die entweder vorgegeben oder im Evaluationsprozess mit den Beteiligten gemeinsam entwickelt werden. Bewertungen sind meist Vorher-NachherVergleiche auf einer Dimension (z.B. Lernzuwachs) oder Vergleiche zwischen konkurrierenden Objekten, Prozessen oder Zuständen. Spezifischer – und damit kommt die Evaluationsforschung ins Spiel – geht es um den wissenschaftlich begründeten Nachweis der Wirksamkeit, des Nutzens und der Effizienz von Maßnahmen und Programmen, um den Prozess ihrer Implementation, um Wirkmechanismen und die Rolle externer Einflussgrößen sowie um ihre Einbettung in das jeweilige institutionelle, organisatorische und soziokulturelle Umfeld. Ihr Aufgabenspektrum umfasst darüber hinaus Zielklärung und Machbarkeitsstudien, Begleitung von Modellprojekten, Audits zu Organisationsabläufen, Delphi-Studien zur Generierung von Expertenstandards, Entwicklung und Monitoring von Qualitätsindizes, Kosten-Nutzen-Analysen, Befragungen zu Akzeptanz und subjektiver Erfolgsbeurteilung, Meta-Evaluationen, Selbstevaluation professioneller Praxis oder partizipative Projektentwicklung mit Zielgruppen in der Aktionsforschung. Betrachtet werden dabei auch unbeabsichtigte Nebenwirkungen und kontraintentionale Effekte; so können Programme zur Förderung der Bildungsbeteiligung von der Zielgruppe schlicht abgelehnt werden oder pädagogische Interventionen zur Reduktion von Schulabsentismus Reaktanz hervorrufen. Interventionen können summativ (Endpunkt- oder Outcomemessung) und/oder formativ (prozessbegleitend) evaluiert werden. Im ersten Fall werden die meist in quantitativen Kennwerten präsentierten Ergebnisse im Vergleich zum Anfangszustand oder zu anderen Bezugsnormen bewertet. Im zweiten Fall wird der Prozess der wechselseitigen Beeinflussung zwischen untersuchtem Programm, beteiligten Gruppen und der Forschung dokumentiert. Um wissenschaftlich begründete Urteile und Empfehlungen abgeben zu können, greift die Evaluationsforschung auf das gesamte Arsenal der Perspektiven, Verfahrensweisen und Instrumente der empirischen Sozialforschung und ihrer Disziplinen zurück, seien es experimentelle, standardisierte und quantifizierende und/oder ethnografische, interpretative und rekonstruktive Vorgehensweisen. Insofern ist Evaluationsforschung multidisziplinär und multiprofessionell und auch keiner Einzeldisziplin zuzuordnen.

Evaluationsforschung

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Evaluator/innen agieren in sozialen Feldern, die durch Traditionen, Werte, Gewohnheiten, formale Strukturen und informelle Hierarchien, konkurrierende Interessengruppen („Stakeholder“) und nicht zuletzt durch persönliche Empfindlichkeiten bestimmt sind. Evaluationsforschung ist damit unvermeidlich Teil sozialer Veränderungsprozesse, in denen eine Verständigung über Ziele, Umfang der Datenerhebung, Belastungen für die Beteiligten, bis hin zur Verwendung und Darstellung der Ergebnisse ausgehandelt werden muss. Darüber hinaus sind ethische Grundsätze und rechtliche Vorgaben zu beachten. Dies alles verleiht ihr zusammen mit Auftragsbindung, dezidierter Praxisorientierung und oft engen inhaltlichen wie zeitlichen Vorgaben den Status eines eigenständigen Forschungstypus, Evaluationsforschung hat sich inzwischen auch in Deutschland als eigenständige Disziplin und Profession etabliert: mit eigenen Studiengängen, einer Fachgesellschaft (DeGEval – Gesellschaft für Evaluation e.V.1), Standards, Ethikkodices, einer Fachzeitschrift, Tagungen und Forschungseinrichtungen (vgl. Stockmann 2004) sowie einschlägigen Lehr- und Handbüchern (z.B. Bortz & Döring 2006; Wottawa & Thierau 2003; Stockmann 2007; Flick 2006a; Kuckartz, Dresing, Rädiker & Stefer 2007; Widmer, Beywl & Fabian 2009; Stockmann & Meyer 2010)). Nicht zuletzt wegen ihrer Abhängigkeit von diversen Auftraggebern versteht sich der Mainstream der Evaluationsforschung als Dienstleistung (vgl. Beywl 2006). Wie diese Rolle wahrzunehmen ist und auf welcher Seite man dabei steht (Becker 1967), ist Gegenstand kontroverser forschungspolitischer und -ethischer Debatten.2 Kontrovers ist auch das Verhältnis von Forschung und Evaluation. Hirschauer (2006, S.406) merkt an: „Erstaunlich [...] dass die Evaluationsforschung überhaupt ‚Evaluationsforschung‘, heißt. Denn anders als bei der ‚Familienforschung‘ [...] wird mit ‚Evaluation‘ gar nicht der Gegenstand sondern der Zweck der Forschungstätigkeit bezeichnet. Gemeint ist eine evaluierende Forschung, bzw. eine forschungsgestützte Evaluation“ (Herv. i. Orig.; zum kontroversen Status von „Forschung“ in der evaluierenden Forschung vgl. Lüders 2006).

In der Praxis beeinflussen Bewertungsfragen den Forschungsprozess von der Fokussierung der Aufgabe bis zur Präsentation der Ergebnisse. In der formativen Evaluation werden durch beständige Rückkoppelungsschleifen Bewertungen erzeugt, ausgehandelt und bewusst reflektiert. Um dies zu kontrollieren und nicht zuletzt um Seriosität und Glaubwürdigkeit zu belegen, spielen methodologische Entwicklung und methodische Genauigkeit eine wichtige Rolle. Qualitative Evaluationsforschung folgt aber keiner methodolatry (Chamberlain 2000, S.286), wie dies in der Psychologie mit ihren hoch differenzierten Methoden oft der Fall ist, sondern sucht nach pragmatischen Wegen, wissenschaftliche Strenge mit Erfordernissen der Praxis, Reflexivität mit politischen Entscheidungszwängen, Kontextsensibilität mit generalisierbaren Elementen, wissenschaftliche Deutungen mit alltagsweltlichen Sichtweisen zu verbinden.

1

http://www.degeval.de/ Vgl. das Special Issue „Ethics in Evaluation“ der Zeitschrift Evaluation and Programm Planning (2007), Boman und Jeyne (2000), Shaw (2003) sowie Ethikstandards für Evaluation z.B. der DeGEval. 2

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3

Ernst von Kardorff & Christine Schönberger

Theoretische und methodologische Prämissen

Die theoretischen Grundlagen, methodologischen Prämissen und die Mehrzahl der (Erhebungs-) Verfahren der qualitativen Evaluationsforschung stammen aus der Soziologie und Ethnografie und dem dort entwickelten „interpretativen Paradigma“, das inzwischen auch von Teilen der Erziehungswissenschaft, der Sozialpädagogik, der Psychologie und der Pflegewissenschaft übernommen, weiterentwickelt und mit qualitativen Ansätzen aus den jeweiligen eigenen fachspezifischen Tradition verknüpft wird. Dies gilt für das Verständnis von Wirklichkeit, für Methodologie, Methodenentwicklung und Interpretationsansätze. Während sich aus experimenteller Perspektive alle Bemühungen auf eine Kontrolle „externer“ Einflüsse richten, gelten diese in qualitativen Ansätzen nicht als Fehler oder Konfundierung, sondern sie sind konstitutiver und zu analysierender Bestandteil der Interaktion zwischen „Feld“, Programm und Evaluationsforschung. Dabei gewonnene Erkenntnisse ermöglichen die Entwicklung theoretischer Konzepte und geben Impulse für Entwicklungen in der Praxis. Im Spannungsfeld unterschiedlicher (Be-) Deutungen bilden sie eine nachvollziehbare Grundlage für weitergehende Aushandlungsprozesse. Dabei muss qualitative Evaluationsforschung ihre Ergebnisse einem Publikum präsentieren, das auf leicht lesbaren Output wie eindeutige Kennziffern hin orientiert ist. Komplexe und nicht selten vielschichtige Ergebnisse benötigen dazu eine eigene Sprache und geeignete Darstellungsformen, um an bereichsspezifische Denkmuster oder den öffentlichen Diskurs und die Politik anschließen zu können (Hearn, Lawler & Dowswell 2003). Das Besondere qualitativer Evaluationsforschung liegt nicht in erster Linie in ihren Methoden, sondern in ihrem Wirklichkeitsverständnis, ihrem Menschenbild, in der Form ihrer Theoriebildung, der Art ihres Praxisbezugs und in ihren besonderen Gütekriterien.

3.1 Wirklichkeitsverständnis Qualitative Forschung geht davon aus, dass Wirklichkeit das Ergebnis von soziokulturell fundierten Interaktions- und Kommunikationsprozessen ist. Demnach lassen sich „multiple soziale Wirklichkeiten“ (Schütz 1973) als sozialkonstruktiv, interaktiv, prozessorientiert und durch subjektive Deutungen bestimmt charakterisieren. Für die Evaluationsforschung hat dies drei zentrale Konsequenzen: ƒ

ƒ ƒ

Wirklichkeit wird kontextbezogen aus den vorhandenen Sinndeutungen verstanden, um daraus Erklärungen zu entwickeln. Dazu dient eine „naturalistische“ Beobachtung in der künstlichen Haltung einer oder eines Fremden und die kommunikative Erschließung des Untersuchungsfeldes mithilfe Sensibilisierender Konzepte (Blumer 1973). Wirklichkeit wird als Resultat sozialer Konstruktionsprozesse aufgefasst, die in der formativen Evaluation rekonstruiert und analysiert werden müssen und damit zur Geltungsbegründung ihrer Ergebnisse beitragen. Die Responsivität des Feldes und die Reflexivität der darin interagierenden Personen wird als Bestimmungsmoment des zu evaluierenden Programms systematisch einbezogen und reflektiert (vgl. Stake 2004).

Evaluationsforschung

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3.2 Menschenbild und Akteursmodelle In der qualitativen Sozial- und Evaluationsforschung werden Menschen als aktiv handelnde Personen verstanden, die Ereignisse und Situationen vor dem Hintergrund sozialer Normen, institutioneller Kontexte, kollektiver und individueller Erfahrungen und wahrgenommener Durchsetzungschancen sinnvoll rahmen, ihre eigenen Lebenspläne, Interessen und Wünsche darauf einstellen und mit relevanten Anderen aushandeln: Ihren Handlungen und Planungen liegen Annahmen über kausale Wirkmodelle (Kelle 2006) zugrunde, die sich auf individuelle und kollektive, z.B. generationentypische Erfahrungen, allgemeine Wissensbestände und wissenschaftliches Wissen gründen. In ihren Entwürfen und Handlungen zeigt sich die agency (Handlungsmächtigkeit) aktiver, empfindender, reflektierender und auf Andere bezogener Subjekte. Handlungen sind immer auch spontan, sie unterliegen emotionalen Befindlichkeiten und Gewohnheiten, den habits of the heart (Bellah, Madsen, Sullivan, Swidler & Tipton 1985) ebenso wie der sozialen Kontrolle. Daher wirken Programme nicht „einfach“ auf die Personen ein: Beschäftigte können beispielsweise auf eine Neuorganisation im Unternehmen sehr unterschiedlich reagieren: mit Rückzug und „innerer Kündigung“, mit einem neuen Motivationsschub, manche organisieren vielleicht Widerstand und andere entwickeln psychosomatische Belastungsreaktionen. Aus dieser Vielfalt lernt die Evaluationsforschung am meisten über generelle oder auch sehr spezifische Bedingungen, unter denen und wodurch ein Programm wirkt, Erfolg hat oder scheitert.

3.3 Theorieverständnis In den Routinen der überwiegend von privaten Forschungsinstituten, von Interessenverbänden und von einigen staatlichen Projektträgern durchgeführten Evaluationsforschung bleiben die theoretischen und methodologischen Grundannahmen, auf denen die jeweiligen Techniken und Interpretationsstrategien beruhen, vielfach implizit; zuweilen werden auch Erhebungsverfahren ad hoc kreiert, Abkürzungsstrategien werden verschwiegen. Der oft fehlenden theoretischen Fundierung der Evaluationsforschung hält Chen (1997) das Postulat einer theory driven evaluation entgegen mit ausdrücklicher Benennung von Akteursmodellen und theoriegeleiteten Annahmen z.B. über sozialen Wandel oder Funktionsprinzipien von Organisationen. Nur so ließen sich tragfähige und verallgemeinerbare Erkenntnisse über programminduzierte Wirkungen wissenschaftlich begründen. In der qualitativen Evaluationsforschung liegt der Akzent allerdings nicht auf der Testung vorab formulierter Hypothesen; aber auch für die Suche nach Theorie generierenden Konzepten, die sich aus ihrem erkundenden und interaktiv angelegten Prozesscharakter ergeben, müssen die theoretischen Hintergrundannahmen explizit formuliert werden: Da qualitative Evaluationsstudien oft lange Feldaufenthalte erfordern, bietet die Vielfalt an Material und Sichtweisen die Chance zu einer gegenstandsbezogenen Theoriebildung. Praktisch bedeutet dies, im beständigen Rückbezug auf die Daten geeignete Konzepte oder alternative Interpretationsangebote zu entwickeln, so in der Gesundheitspsychologie in der Auseinandersetzung mit dem deutungsmächtigen Medizinsystem oder in der Gemeindepsychologie in der Auseinandersetzung mit unterschiedlich mächtigen Interessengruppen.

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Ernst von Kardorff & Christine Schönberger

Erst über theoretische Konzepte vermittelt gewinnen in einem spezifischen Kontext gewonnene Ergebnisse den Generalisierbarkeitsgrad, der ihnen über die Auftragssituation hinaus Relevanz verleiht. Als Beispiele seien genannt: ƒ

ƒ ƒ

ƒ

ƒ

Subjektive Theorien von Akteuren in ihrem Handlungs- oder Lebensfeld – von Fachkräften über alte Menschen, von chronisch Kranken über ihre Krankheit, von Manager/innen über ihre Organisation – erschließen die innere Logik des Handelns und bieten Erklärungen dafür, warum Menschen mit Veränderungen in einer bestimmten Weise umgehen. Das Wissen um den Einfluss situativer Konstellationen und Rahmungen zeigt, warum z.B. die psychologische Gesprächskompetenz der ärztlichen Fortbildung im konkreten Beratungsgespräch kaum umgesetzt wird. Die Rekonstruktion individueller und familialer Biografien oder kollektiver Erfahrungszusammenhänge erlaubt eine kontextualisierte Analyse, zum Beispiel, weshalb Kinder mit Migrationshintergrund durch Gesundheitsprogramme nur schwer erreichbar sind. Die Identifikation von bereichsspezifischen Interpretations- und Handlungsmustern auf der Grundlage materialgestützter Kodierungen etwa von Beobachtungsprotokollen ermöglicht systematische Vergleiche, etwa wie ausgebildetes und angelerntes Pflegepersonal Heimbewohner/innen pflegt. Theorien über Mechanismen sozialer Reproduktion und Transformation bieten Erklärungen über die oft ungleichzeitige und zuweilen gegenläufige Dynamik von Veränderungsprozessen und Beharrungstendenzen.

Zur Theorieentwicklung lassen sich bereits entwickelte Konzepte aus qualitativen Studien als Heuristik bei der Materialanalyse nutzen, um zu bereichsspezifischen Arbeitshypothesen und Lesarten zu gelangen und zu überprüfen, ob sie an bestehende Theorien anschlussfähig sind, so z.B. aus klassischen Studien: Bewusstheitskontext (Glaser & Strauss 1995), Verlaufskurven (Corbin & Strauss 2003) oder Erziehungsstil oder Heimlicher Lehrplan (Jackson 1968). Um Auswirkungen sozialer Kontexte auf Identität und Verhalten zu analysieren, bieten sich z.B. Konzepte wie Stigma (Goffman 1973) oder erlernte Hilflosigkeit (Seligman 1979) an.

3.4 Praxisbezug und Forschendenrolle Aus dem expliziten Prozesscharakter ergeben sich Implikationen für das Verhältnis von Forschung und Praxis, aber auch für das Rollenverständnis der Evaluierenden. Sie werden unvermeidlich in den Verlauf der Implementation, in Erfolge und Stagnation, in Interessenkonflikte und externe Einwirkungen verwickelt. Sie können in Loyalitätskonflikte geraten und sind divergierenden Anforderungen ausgesetzt. Anders als traditionelle Ethnograf/innen werden sie selbst zu Akteuren in einem zielgerichteten Prozess, schon dadurch, dass sie Zwischenergebnisse und Bewertungen präsentieren oder kritische Punkte benennen. Evaluationsforschung wirkt also an der Entwicklung einer untersuchten Maßnahme mit, was sich im Begriff der Begleitforschung ausdrückt und als Potenzial kreativer Transformation gesehen wird. Entwicklungsaspekte stehen häufig im Mittelpunkt qualitativer

Evaluationsforschung

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Evaluationsforschung, wobei die Evaluierenden als Katalysator, als „Ermöglicher“ oder als socratic guide (Abma & Widdershoven 2005) fungieren bzw. selbst aktiv mit den Zielgruppen soziale Prozesse gestalten, wie dies in der Aktionsforschung (Moser 2003; Reason & Bradbury 2007) der Fall ist (siehe auch Abschnitt 5.1).

3.5 Generalisierbarkeit und Qualität Bei vielen Evaluationsprojekten geht es vor allem um den Erfolg und die Passfähigkeit einer Maßnahme in einem spezifischen Kontext. Die Frage nach Verallgemeinerbarkeit richtet den Blick darauf, welche Elemente oder methodischen Prinzipien eines Programms sich für wiederkehrende Organisationsabläufe, vergleichbar gerahmte Situationen wie Erstgespräche oder Reaktionsformen von Personen als übertragbar erweisen. Hier kann Evaluationsforschung ein umfassendes Bild von Kontexten und Entwicklungen zeichnen und auf der Basis einer Rekonstruktion methodisch präziser Beobachtungen und Textanalysen latente Muster (etwa die soziale Reproduktion von Konflikten) identifizieren und damit neues Wissen generieren, das alle Beteiligten instruieren und zur kommunikativen Weiterentwicklung eines Programms motivieren kann. Die Gütekriterien des quantitativen Paradigmas sind nicht ohne weiteres übertragbar. In Anlehnung an Patton (2002) gelten für die qualitative Evaluationsforschung folgende Qualitätsmerkmale als spezifisch: Glaubwürdigkeit, Durchführbarkeit, Angemessenheit, Nutzen, Genauigkeit, Transparenz und Fairness (siehe zu Gütekriterien in der qualitativen Forschung auch Flick in diesem Band). Mittlerweile gibt es eine Reihe für die qualitative Evaluationsforschung entwickelter „Checklisten“3. Als hilfreiche Orientierung erlauben sie eine formale Kontrolle, ob alles Erforderliche bedacht wurde. Ein routineförmiges Abhaken garantiert die Qualität der Evaluationsforschung so wenig oder so viel wie das Qualitätssiegel eines zertifizierten Altenheims die Lebensqualität seiner Bewohner/innen; letztlich ist Qualität eine Frage beständiger verantwortungsvoller Reflexion und Abwägung im Team, nicht zuletzt mithilfe unbeteiligter Wissenschaftler/innen, entlang der Programmziele und des Verlaufs des Forschungsprozesses (vgl. Flick 2006b).

4

Die Entwicklung qualitativer Evaluationsforschung in der Psychologie

Die Psychologie hat zunächst in den Anwendungsfeldern Schule (Binets Intelligenz- und Entwicklungsskalen), Militär (Army-Alpha-Test) und Organisation (Hawthorne-Studie), später in der Therapieerfolgs- und -vergleichsforschung (Fonagy & Roth 2004) Fragen der Wirksamkeit, des Nutzens und des Erfolgs von Testverfahren und psychologischen Interventionen untersucht, ohne dies Evaluationsforschung zu nennen, und eine nachträgliche Subsumption unter dieses Etikett erscheint wenig sinnvoll. Wohl aber lassen sich theoretische Modelle und vor allem Methoden der Psychologie benennen, die in der Evaluationsforschung heute routinemäßig eingesetzt werden.

3 Z.B. Patton (2003) oder Spencer, Ritchie, Lewis und Dillon (2003). Siehe zur vergleichenden Übersicht über evaluation designs Stufflebeam (2004), zu allgemeinen Standards der Evaluationsforschung Sanders (2006).

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Guba und Lincoln (1989) unterscheiden vier Generationen der Evaluationsforschung, an denen v.a. die Pädagogische Psychologie sowie die Arbeits- und Organisationspsychologie beteiligt waren. In der ersten Phase des Messens vom Beginn des 20. Jahrhunderts bis Mitte der 1930er Jahre standen Fragen der Quantifizierung von Schulleistungen im Vordergrund. Die zweite Phase bis Ende der 1950er Jahre sehen sie vor allem in der Beschreibung des Zuschnitts und der Implementation von Programmen und der Klärung ihrer Wirkungsweisen. Die dritte Phase der Beurteilung befasste sich mit den Auswirkungen nationaler Reformprogramme im Bildungs- und Sozialwesen. Sie ist zugleich der Beginn einer regelrechten Evaluationsindustrie, die in Deutschland erst in den 1970er Jahren, ebenfalls mit staatlichen Reformprogrammen verbunden, in Gang kam (Stockmann 2004). Die Mehrzahl dieser Evaluationsprojekte setzt bis heute überwiegend auf (quasi-) experimentelle Forschungsdesigns, standardisierte Erhebungsverfahren und quantitative Analysemethoden (vgl. z.B. Wottawa & Thierau 2003 oder Wittmann 1985); qualitative Verfahren werden oft nur in der Anfangsphase zur Felderkundung, als Ergänzung oder illustrativ genutzt. Zur qualitativen Evaluationsforschung, die sich parallel dazu, auch als Reaktion auf den Mainstream herausgebildet hat und die Guba und Lincoln als vierte Generation bezeichnen, ergeben sich aus psychologischer Perspektive Anknüpfungspunkte an die von Kurt Lewin (1946) entwickelte Aktionsforschung, die neben qualitativen Forschungsmethoden eine breite Palette kreativer Gruppenverfahren von der Zukunftswerkstatt bis zur Planungszelle nutzt. Hierbei geht es um Methoden der Konsensfindung mit dem Ziel einer transparenten und wirkungsvollen Partizipation (siehe Bergold und Thomas in diesem Band). Anders als in der deutschsprachigen Psychologie – mit Ausnahme der Gemeindepsychologie – besitzt die Aktionsforschung vor allem in den USA auch eine wissenschaftlich und öffentlich anerkannte Rolle innerhalb der Evaluationsforschung (vgl. das Journal Action Research).

5

Psychologische Perspektiven in der Evaluation – qualitative Evaluationsforschung in der Psychologie

Es lassen sich erstens psychologische Aufgaben- und Problemstellungen innerhalb des Rollenspektrums Evaluierender, zweitens die psychologische Expertise bei disziplinspezifischen Fragestellungen und drittens psychologische Arbeitsfelder, in denen qualitative Evaluationsforschung eine bedeutsame Rolle spielt, unterscheiden.

5.1 Psychologische Aufgaben und Problemstellungen Evaluationsforscher/innen bewegen sich, Ethnolog/innen vergleichbar, in einem zunächst unbekannten sozialen Kontext, dessen Gepflogenheiten, Beziehungsmuster und Hierarchien sie kennen und verstehen lernen müssen (siehe Thomas in diesem Band). Dies geht nicht ohne die Herstellung von Vertrauen als Voraussetzung für eine fruchtbare Kooperation (für die Evaluation in einem Wirtschaftsunternehmen: Froschauer & Lueger 2006; für sozialpsychiatrische Dienste: Flick 1997). Auch und gerade bei einer auftragsgebundenen Forschung kann der Feldzugang schwierig sein, denn die Mitglieder eines Feldes haben nicht selten aus ihrer Sicht berechtigte Vorbehalte gegen ein Bewertungsverfahren. Evaluator/innen müssen deshalb eine Rolle finden, die vom Feld akzeptiert und legitimiert ist.

Evaluationsforschung

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Typischerweise wird z.B. ihre Loyalität auf die Probe gestellt, indem ihr Umgang mit Informationen genau beobachtet wird. Im weiteren Verlauf ist eine Verwicklung in Beziehungen und Konstellationen typisch (Sharkey & Sharpless 2008), wie dies u.a. die systemisch orientierte Organisationsforschung gezeigt hat (Kühl, Strodtholz & Taffertshofer 2009). Evaluationen lösen oft unvorhersehbare Dynamiken aus. So können latente Konflikte aufbrechen, wenn Ziele genau bestimmt werden und sich beteiligte Personen auf Prioritäten, und damit immer auf die Verteilung von Ressourcen und Positionen, einigen müssen. Aufgrund dieser Erfahrungen wird die Forschendenrolle zunehmend weiter gefasst: Evaluierende sind nicht nur Forschende, sondern sie sollen die von ihrem Vorhaben ausgelösten sozialen Dynamiken mit gestalten und steuern; als responsive evaluators (Abma & Widdershoven 2005, S.105) antworten sie auf das Feld und gehen mit Widerständen und Vorbehalten um. Dafür eignet sich die Rolle als Moderator/in bei der Präsentation von Zwischenergebnissen, bei Zielbestimmungen in Untergruppen eines sozialen Kontextes oder als Begleiter/in bei der Implementation eines Verfahrens, z.B. des selbstgesteuerten Lernens bei Kindern mit Lernschwierigkeiten. Evaluator/innen müssen Beziehungen gestalten können, deshalb werden Aufgaben im Zusammenhang mit Gefühls- und Beziehungsarbeit als selbstverständlicher und für das Gelingen von Veränderungsprozessen unverzichtbarer Anteil gesehen (zusammenfassend: Sharkey & Sharples 2008). Prozesse zwischen den Akteuren sind auszuhandeln, ihre Motivation braucht immer wieder Impulse, Konflikte müssen versachlicht werden, jemand muss den Überblick behalten und die Stränge wieder zusammenführen. Unter dem Stichwort negotiation wird die partizipative Gestaltung von Innovationen und Verhaltensänderungen im Rahmen komplexer Programme thematisiert, bei der es um eine nachhaltige Veränderung und Akzeptanz geht. Durch interaktive Kompetenzen wie aktives Zuhören, Empathie, Reflexionsfähigkeit, Feedback, Verbalisieren und ganz allgemein emotionale Intelligenz sind Psycholog/innen in besonderer Weise für die Doppelaufgabe als Forscher/in und Kommunikator/in, das heißt hier: als Mitgestaltende sozialer Prozesse mit hoher Dynamik, geeignet. Für eine erfolgreiche und nachhaltige Implementierung von Programmen und Interventionen ist entscheidend, Teilnehmende nicht nur als Adressat/innen zu sehen, sondern sie in die Gestaltung des Programms wie in den Ablauf der Forschung einzubeziehen. Sharkey und Sharples (2008) argumentieren mit Shapiro (2006), dass das Eingehen auf und das Arbeiten mit Emotionen (Klose 2009), zu denen Wertschätzung, Autonomie, Nähe, Anerkennung von Status und Rolle gehören, zum Kern von Aushandlungsprozessen zählen und messen ihnen deshalb einen herausragenden Stellenwert innerhalb der Evaluation(sforschung) zu. Evaluationsforschung oszilliert zwischen einer Grundhaltung, die Patton (2002) mit empathischer Neutralität bezeichnet hat, und einem engagierten Mitgestalten aus der Forscher/innenrolle in der Aktionsforschung.

5.2 Disziplinspezifisches Veränderungswissen Psycholog/innen können ihr Wissen und die in der Disziplin gebräuchlichen Theoreme bei der Begleitung von Veränderungsprozessen nutzen. So kann das psychologische Konzept der Reaktanz, das in Verbindung mit Selbstwerterhalt steht, erklären, warum eine TopDown-Strategie zu geringer Nachhaltigkeit und Selbstverinnerlichung und sogar zu innerer Distanzierung beitragen kann. Das Wissen über die Mechanismen der Kausalattribution

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kann negative Selbstzuschreibungen und Sozialisationserfahrungen zueinander in Beziehung setzen und z.B. bei einer Schulevaluation Erklärungen für individuelle Entwicklungsblockaden liefern. Eine weitere Stärke der Psychologie bei einer Evaluation ist der empirisch gesicherte und konzeptualisierte Wissensbestand zu generellen Mechanismen und situationsabhängigen Bedingungen individuellen und gruppenspezifischen Handelns. Veränderungen und Bewertungen, wie sie mit jeder Evaluation verbunden sind, sind zunächst Störungen von sozialer Ordnung und von Routinen – mögen die Ziele noch so „positiv“ sein. Sie lösen deshalb immer individuelle und kollektive Orientierungsreaktionen aus, weil es stets auch um soziale Positionierung und Anerkennung geht. Der Umgang mit solchen Befürchtungen und Ängsten in Kenntnis der zugrunde liegenden Ursachen ist Bestandteil einer erfolgreichen Evaluation, die in ihrem Selbstverständnis nicht nur qualitativ hochwertige Daten erheben möchte, sondern darüber hinaus um eine gelingende Implementation und Nachhaltigkeit von Maßnahmen und Programmen bemüht ist. Damit liegt die Chance einer psychologischen qualitativen Evaluationsforschung zugleich darin, diese Mechanismen systematisch in ihren Auswirkungen auf das von einer Maßnahme betroffene soziale System und die beteiligten Individuen zu dokumentieren und zu analysieren, um damit das Wissen über Erfolgsbedingungen in Veränderungsprozessen weiterzuentwickeln. Theoretisch liegen Verbindungen zu interaktionstheoretischen Ansätzen nahe, die menschliches Handeln weniger individuumszentriert sondern, sehr verkürzt gesagt, eher in den Blick nehmen, wie Menschen den Wandel in und von Strukturen in der Interaktion mit anderen gemeinsam gestalten. Die psychologische qualitative Evaluationsforschung kann ihre disziplinspezifischen Theoreme mit anderen sozialwissenschaftlichen Konzepten verknüpfen, die in den Feldern Gesundheit, Pflege, Pädagogik und Gemeinwesenarbeit gebräuchlich sind. Darüber hinaus ermöglicht sie Einblick in das, was mit dem Begriff der „Prozessqualität“ nur unscharf gefasst ist: in das Wie der Herstellung und die subjektive Begründung von Handeln. Erst Interviews geben zum Beispiel Aufschluss darüber, wie, mit welchen Techniken, Strategien oder Arbeitsteilungen es Familien gelingt, mit schwierigen Alltagssituationen zurechtzukommen – sei es in Pflegekonstellationen oder im Umgang mit einem verhaltensauffälligen Kind. Und erst mit diesem Wissen lässt sich bewerten, wie ein spezifisches Programm, z.B. die Zusammenarbeit mit Fachkräften bei der häuslichen Pflege, an selbst gefundene Routinen und individuelle Vorstellungen von richtiger Erziehung und guter Pflege angepasst werden muss, um akzeptiert und wirksam zu sein.

5.3 Psychologische Arbeitsfelder Wo immer es sich um Themen gesellschaftlich geforderter Anpassung, um Krisenbewältigung oder individuell erfolgreiche Lebensführung handelt, geht es letztlich um die Suche nach einem befriedigenden Balancierungsverhältnis zwischen individuellen Bedürfnissen und gesellschaftlichen Anforderungen. Sozialwissenschaftliche Fragestellungen sind nicht nur der Analyse, sondern auch der Lösungssuche verpflichtet. Insofern untersucht qualitative Evaluationsforschung die Wirkung von situativen Parametern und Konstellationen auf Handeln, auch wenn, anders als in der Laborsituation, die Zielgruppe hierbei nicht als „Versuchspersonen“, sondern als mitgestaltende Teilnehmende gesehen wird. Welchen Effekt hat die Ganztagsbetreuung auf die Konzentrationsfähigkeit von Kindern? Welche

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Anreize verändern Essgewohnheiten nachhaltig? Wie lassen sich Aggressionen auf dem Schulhof reduzieren? Diese psychologischen Untersuchungsthemen werden zur Evaluationsforschung, sobald sie Teil einer zu überprüfenden Intervention werden und ein Auftraggeber Bewertungen und Empfehlungen erwartet. Spezifisch wird psychologische Evaluationsforschung erst durch eine disziplinbezogene Fragestellung und Rahmung. Es ist ein Unterschied, die psychologischen Mechanismen der Gruppendynamik auf dem Schulhof zu untersuchen, die Gewalt eskalieren lassen, oder soziologisch zu untersuchen, wie sich soziale Ordnung bei Jugendlichen über die Ausübung von Gewalt herstellt. Die spezifische Stärke der psychologischen Herangehensweise liegt in der Verbindung von Diagnostik, Intervention und Evaluation: damit entsteht eine kontinuierliche, wissensund forschungsbasierte Rückmeldungsschleife. Psychologische Evaluationsforschung ist folgerichtig vor allem in den Arbeitsfeldern der Angewandten Psychologie zu finden, wo disziplinspezifische Interventionsmodelle auf ihre Wirksamkeit überprüft werden; zu nennen sind in erster Linie die Arbeits- und Organisations-, die Pädagogische und die Gemeindepsychologie oder das große Querschnittsthema Gesundheit. Es geht im Kern um Passungsverhältnisse: wie Einzelne oder eine Gruppe in einem spezifischen sozialen Umfeld – Schule, Betrieb, Gemeinde – erfolgreich und sozial integriert eigene Bedürfnisse und Vorstellungen mit den gesellschaftlichen Erwartungen und Anforderungen zur Deckung bringen und wie im besten Falle beides partizipativ weiterentwickelt werden kann. Auch lassen sich die Ebenen Intervention und Evaluationsforschung in der Psychologie kaum trennen. So stehen bei der Arbeits-, Betriebs- und Organisationspsychologie vor allem die interpersonalen Beziehungen und ihre Auswirkungen auf Arbeitsklima, Erfolg, Zufriedenheit, Identifikation mit den Unternehmenszielen oder die Leistungsmotivation im Fokus (von Rosenstiel 2009). Die Evaluation von eignungsdiagnostischen Verfahren zeigt z.B. bei der Analyse von Einstellungsinterviews, wie stark die Auswählenden von unbewussten Stereotypen geprägt sind (Kolominski 2009), Studien zur Arbeitszufriedenheit identifizieren die Verletzung der Gerechtigkeitsnorm als einen zentralen Faktor für Unzufriedenheit (Menz 2009) und innere Kündigung (Stahlmann & Wendt-Kleinberg 2008). Die Gemeindepsychologie (Rappaport & Seidmann 2000) verfolgte von Anbeginn einen kontextbezogenen und lebensweltorientierten Ansatz: so hat Sarason (1974) das einflussreiche Konzept des sense of community entwickelt, das sowohl das Feld der „Gemeinde“ für die Forschung aufschließt als auch die Bedeutung subjektiv erlebter Einbettung in den lokalen Lebenszusammenhang beschreibt. Mit dem Blick auf Ressourcen wird untersucht, wie soziale Netzwerke zur Lösung von Konflikten oder zur sozialen Unterstützung beitragen können (Röhrle, Sommer & Nestmann 1998). Rappaport (2000) hat mit seinem Konzept der Rekonstruktion von community narratives die Frage nach den identitätsbildenden Aspekten kontinuierlicher lokaler Erfahrungszusammenhänge als Voraussetzung für Engagement und Solidarität, aber auch für auf den ersten Blick unverständliche oder verdeckte Konfliktlinien herausgearbeitet – eine wichtige Voraussetzung, um Reaktionen von Bürger/innen auf Programme verstehen zu können. Zudem agiert Gemeindepsychologie seit je partizipationsorientiert (siehe Bergold & Thomas in diesem Band).

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Desiderata

Auch und gerade in ihren Anwendungsgebieten muss sich jede unabhängige Wissenschaft die Frage stellen, für wen und in welchem Interesse sie ihr Wissen zur Verfügung stellt. Dies gilt für die Psychologie, die in Verbindung mit den Neurowissenschaften zu einer Leitdisziplin der Gegenwart zu werden scheint, in einem besonderen Maß, denn sie setzt, vergleichbar nur der Medizin, mit ihrer Macht Deutungs- und Interpretationsrahmen für „richtiges“ und „falsches“ Handeln von Individuen und sozialen Gruppen. Daraus ergeben sich wichtige Aufgaben für die Weiterentwicklung der psychologischen Evaluationsforschung: Sie muss zum einen benennen, welche ethischen Grundsätze sie ihrem eigenen Handeln zugrunde legt, und wie diese etwa von Fachgesellschaften wie der DeGEval formulierten Prämissen und Standards mit dem Selbstverständnis des Faches verbunden werden können. Dazu gehört die Reflexion über das Verhältnis einer auftragsgebundenen zu einer unabhängigen Forschung, also darüber, ob sich Forschende als Dienstleister/innen im Sinne der Auftragsgebenden verstehen, die die Geschmeidigkeit bei der Umsetzung eines Programms erhöhen, oder ob sie sich als Expert/innen betrachten, die Wissen dafür bereitstellen, gemeinsam mit den Zielgruppen in einer Art experimentierender Erprobung für bessere, gerechtere und gemeinsam gestaltete Lebensbedingungen einzutreten. In dieser Perspektive sind Menschen nicht Hindernisse für Programme, sondern Programme ggf. hinderlich für die Entfaltung von Menschen und ihren Bedürfnissen (Kushner 1996). Letzteres heißt konkret, dass man sich die kritische Expertise vorbehält, ein Programm ggf. ablehnend zu beurteilen. Zum zweiten ist es für eine Profilierung der qualitativen Evaluationsforschung erforderlich, das Zustandekommen von Bewertungsprozessen selbst zum Thema zu machen (Hirschauer 2006). Als Evaluation der Evaluation (vgl. Hager, Patry & Brezing 2000) muss sie das eigene Verhältnis zu dem Spagat zwischen systematisierender, wissenschaftlicher Analyse und einer immer auch werte- und normgebundenen Beurteilung reflektieren. Ein Thema hierbei ist die Entwicklung von Verfahren der Qualitätssicherung, um zu gewährleisten, dass die in die Beurteilung/Bewertung eingehenden Stimmen und Meinungen von Akteuren und Stakeholdern Gewicht erhalten, ohne dass wissenschaftliche Erkenntnisse zum Spielball von Mehrheitsentscheidungen oder machtvollen Interessen werden. Die qualitative Perspektive der Evaluationsforschung kann einen Beitrag zur praktischen Klugheit im Sinne der aristotelischen „phronesis“ (vgl. Schwandt 2002) und damit zu besseren Entscheidungen „begrenzter Rationalität“ (Pawson & Tilley 1997) liefern. Ihre Verwicklung in das untersuchte Feld und die beteiligten Interessen erlauben ihr allerdings keine Objektivität im traditionellen wissenschaftlichen Sinne. Vielmehr bleibt sie als angewandte Forschung eine wissenschaftliche Kunstlehre.

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Mechthild Kiegelmann

Mechthild Kiegelmann1

Ethik 1

Historische Relevanz und disziplinäre Einordnung

Ethisch begründete Regeln sind in der westlichen Welt seit zweieinhalb Jahrtausenden bekannt. Bereits der Hippokratische Eid legte unter anderem fest, dass nur zum Wohle, nicht zum Schaden und ohne Ansehen der Person behandelt werden muss, und dass die Behandlung der Schweigeverpflichtung unterliegt (Diller 1994). Diese Regeln reflektierten bereits, dass im Falle von Personen, die mit ihrem Wissen in das Leben einer anderen Person eingreifen, ein Machtgefälle existiert, welches den beteiligten Expert/innen ein hohes Maß an ethischer Verantwortung auferlegt. Die mit Hippokrates begründete Diskussion forschungsethischer Fragen gewinnt derzeit in der westlichen Welt vor allem in der Medizin und Pharmakologie große Bedeutung, weil hier Gefährdungen für Forschungsteilnehmende besonders deutlich wahrnehmbar sind. In Anlehnung an die medizinische Ethik wird inzwischen auch in der Psychologie der Umgang mit Forschungsteilnehmenden geregelt, wobei qualitative Forschungen in der akademischen Psychologie oft nur randständig behandelt werden (z.B. Bortz & Döring 2006; vgl. auch Groeben 2006). Dabei sind ethische Fragen für die psychologische Forschung besonders relevant. Bereits einige klassische Experimente, beispielsweise das Milgram-Experiment (Milgram 1974; vgl. Maxwell & Loomis 2003) oder die Gefängnisstudie von Zimbardo2 zeigten dies in aller Deutlichkeit: In beiden Studien handelten Versuchspersonen so, wie sie außerhalb des Forschungskontextes nicht gehandelt hätten; Zimbardo brach seine Untersuchung aus ethischen Gründen deshalb vorzeitig ab. Das Thema Ethik erhält auch institutionelle Bedeutung, weil zunehmend Ethikkommissionen zu einer Instanz werden, die Forschungsdesigns und Forschungsanträge begutachten (vgl. Roth 2004 und die FQS-Debatte Ethik3). In Nordamerika werden diese von Forscher/innen oft als bürokratische Hürden wahrgenommen (Silverman 2009, Kapitel 10.6 „Research Governance“). In Deutschland gibt es erst beginnende Tendenzen, psychologische Forschung durch Ethikkommissionen genehmigen zu lassen. Der Berufsverband der Psycholog/innen (BDP) und die Deutsche Gesellschaft für Psychologie (DGPs) haben Ethikrichtlinien verfasst. Darin heißt es: „Psychologische Forschung ist auf die Teilnahme von Menschen als Versuchspersonen angewiesen. Psychologen sind sich der Besonderheit der Rollenbeziehung zwischen Versuchsleiter 1 Dieser Beitrag wurde mehrfach ausführlich mit der Linguistin Uta Kurz diskutiert und ihre Vorschläge sind in die Überarbeitung eingeflossen. 2 Vgl. die aktuelle Multimedia-Darstellung des Experiments: http://www.prisonexp.org/psychology/38. 3 http://www.qualitative-research.net/index.php/fqs/search/sections

G. Mey K. Mruck (Hrsg.), Handbuch Qualitative Forschung in der Psychologie, DOI: 978-3-531-92052-8_27, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2010

Ethik

383 und Versuchsteilnehmer und der daraus resultierenden Verantwortung bewusst. Sie stellen sicher, dass durch die Forschung Würde und Integrität der teilnehmenden Personen nicht beeinträchtigt werden. Sie treffen alle geeigneten Maßnahmen, Sicherheit und Wohl der an der Forschung teilnehmenden Personen zu gewährleisten und versuchen, Risiken auszuschließen.“ (DGPs, 2004, Abschnitt C.III4)

Die US-amerikanischen Ethik-Richtlinien der „American Psychological Association“ (APA)5 fordern ausdrücklich eine informierte Einwilligung, den sogenannten informed consent, und legen dessen Inhalt fest. Die aktuellen Ethikrichtlinien für Psycholog/innen weltweit sind das Ergebnis einer transdisziplinären Kooperation zwischen empirischer Psychologie und der philosophischen Subdisziplin „Ethik“. Letztere beschäftigt sich mit dem sittlichen Handeln von Menschen, mit deren Moral und Begründbarkeit. Eine ihrer Grundfragen lautet: Wie können und sollen Handlungen, einschließlich dazugehöriger Absichten und Wertvorstellungen, beurteilt werden? Der berühmte kategorische Imperativ von Immanuel Kant (1785) – „Handle nur nach derjenigen Maxime, durch die du zugleich wollen kannst, dass sie ein allgemeines Gesetz werde“ (zitiert nach Weischedel 1977, S.51) – hat durch die Forschungsethik Eingang in die wissenschaftliche Psychologie gefunden. Kants revolutionäre Aussage ist, dass ein ethischer Grundgedanke unabhängig von der Benennung konkreter inhaltlicher Werte formuliert werden kann. Übertragen auf ethische Entscheidungen in der Psychologie heißt das: Forschungskriterien können abstrakt formuliert werden. Regeln für eine Forschung sind dann nicht mehr nur punktuell, sondern auch auf Entscheidungsprozesse anwendbar. Statt also ein konkretes Verhaltensgebot auszusprechen (z.B. „Wenn eine Testperson zu weinen beginnt, muss abgebrochen werden“), kann eine allgemeine Regel zur Entscheidungsfindung formuliert werden (z.B. „Das Wohlbefinden der Proband/innen hat stets Vorrang vor den Forschungszielen“). Eine solche Regel schließt den oben genannten Fall ein, deckt aber darüber hinaus eine Vielzahl anderer möglicher Situationen ab und kann zudem Entscheidungsprozesse innerhalb einer Forschung definieren. Unter qualitativ forschenden Psycholog/innen gibt es eine Diskussion um Inhalt und Ausgestaltung von Gütekriterien (siehe auch Flick in diesem Band). Diese berührt auch Fragen der Forschungsethik: In quantitativen Studien gelten Reliabilität, Validität und Objektivität als Kriterien der Geltungsbegründung. Für die qualitative empirische Forschung stellt sich die Frage nach Qualitätsstandards ebenso, wenn auch auf andere und weitergehende Weise. Die Frage nach Nutzen bzw. potenziellem Schaden der Forschungsdurchführung für mittelbar und unmittelbar von der Forschung berührte Personen erhält ein besonderes Gewicht durch die Nähe und Intensität der Forschungsbeziehungen. Und es macht Sinn, dass Forschende versuchen, sich nicht von eigenen persönlichen Wertvorstellungen den Blick auf zunächst unerwartete Forschungsergebnisse verstellen zu lassen. Dieses Problem wird u.a. auch als researcher bias bezeichnet, also die Möglichkeit einer verzerrten Wahrnehmung empirischer Daten durch die forschende Person aufgrund von deren Wertvorstellungen. Qualitative Forscher/innen sollten deshalb ihre Wertvorstellungen offenlegen, um deren Einfluss überprüfbar zu halten. 4 5

http://www.dgps.de/dgps/aufgaben/003.php http://www.apa.org/ethics/code/index.aspx

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Ethische Grundfragen

Wer Ethik im Zusammenhang mit qualitativer Sozialforschung diskutiert, muss berücksichtigen, dass es die eine qualitative Psychologie nicht gibt, sondern eine Vielzahl divergierender Ansätze. Reichertz (2007, S.197) benennt diese Unterschiedlichkeit wie folgt: „Es gibt also aus meiner Sicht keine (kleine) Schnittmenge, die allen qualitativen Methoden gemein ist (z.B. die Ausrichtung auf den Akteur und seine Intentionen), sondern es gibt Ähnlichkeiten und Überschneidungen, aber auch Widersprüche und Gegensätze.“ Ganz grundsätzlich gilt jedoch, dass in qualitativ-psychologischen Studien die Forschungsbeziehungen oft intensiver, die menschlichen Erwartungen, auch vonseiten der Teilnehmenden, größer sind als in vielen quantitativen Untersuchungen. Menschen erwarten, nicht nur austauschbares Mittel zum Zweck der Forschung zu sein (Kiegelmann 2002a), sie gehen soziale Beziehungen ein, die, je länger und intensiver sie sind, im Leben aller Beteiligten Spuren hinterlassen. Bestimmte gesellschaftliche Gruppen werden durch qualitative Forschung genauer beachtet und besser verstanden als dies ohne die Forschung der Fall wäre. Das gilt insbesondere für sogenannte vulnerable Populationen. „Entdeckung“ oder „Entlarvung“ aufgrund der Forschung kann hier Konsequenzen für die Forschungsteilnehmenden haben, auch für ihr soziales Umfeld. Beispielsweise könnten Drogenkonsument/innen wegen illegaler Handlungen der Polizei bekannt werden, Menschen ohne gültige Aufenthaltsdokumente könnten des Landes verwiesen werden, Angehörige von sexuell missbrauchten Kindern könnten in Maßnahmen zur Beendigung des sexuellen Missbrauchs hineingezogen werden – was sowohl eine Chance für die Opfer des Missbrauchs sein kann als auch ein Problem für unzulässig beschuldigte Personen. Ziel der psychologischen Forschung muss es daher sein, immer dann, wenn Forschungsbeziehungen eingegangen werden, jenseits des eigentlichen Forschungsziels das Wohl aller Beteiligten im Blick zu haben. Grundsätzliche Themen für die Regelung von Forschungsbeziehungen in der psychologischen Ethikdiskussion sind: die informierte Einwilligung (siehe Abschnitt 2.1), die Freiwilligkeit der Teilnahme (Abschnitt 2.2), die Antizipation und größtmögliche Vermeidung von Schadenrisiken für alle von der Forschung mittelbar oder unmittelbar betroffenen Personen (Abschnitt 2.3), die Vermeidung von Täuschung (Abschnitt 2.4), die Wahrung der Anonymität und die Vertraulichkeit von Daten (Abschnitt 2.5), das Beachten der Vereinbarkeit von Ethikrichtlinien mit dem jeweils geltenden Recht (Abschnitt 2.6), Objektivität und Selbstreflexion (Abschnitt 2.7), Prozessethik (Abschnitt 2.8) sowie der interdisziplinäre Diskurs (Abschnitt 2.9). In der Praxis kann das Bemühen, diese Kriterien in der eigenen Forschung zu erfüllen, schnell an Grenzen stoßen; Checklisten, die an konkrete inhaltliche Werte gebunden sind, helfen nur bedingt weiter. Die Problemstellungen, die sich bei der Arbeit ergeben, erfordern vielmehr Lösungen, die nicht konkrete Antworten für Beispielfälle geben, sondern Prozesse der Entscheidungsfindung regeln. Die folgenden Ausführungen sollen dies erläutern.

2.1 Informierte Einwilligung Eine informierte Einwilligung liegt vor, wenn die Forscher/innen genau über die Bedingungen und Auswirkungen einer Teilnahme am Forschungsprojekt informiert haben, bevor

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sich Personen für das Eingehen einer Forschungsbeziehung entscheiden. Dies kann in ähnlicher Weise erfolgen wie die schriftliche Aufklärung über Rechte und Risiken vor medizinischen Eingriffen oder auch durch ausführliche Gespräche. Die US-amerikanischen Ethik-Richtlinien der „American Psychological Association“ (APA) formulieren: „When psychologists conduct research or provide assessment, therapy, counseling, or consulting services in person or via electronic transmission or other forms of communication, they obtain the informed consent of the individual or individuals using language that is reasonably understandable to that person or persons except when conducting such activities without consent is mandated by law or governmental regulation or as otherwise provided in this Ethics Code.“6

Die schriftliche Form der informierten Einwilligung hat den Vorzug der Verbindlichkeit und Nachprüfbarkeit, sie kann allerdings abschreckend und wenig vertrauenserweckend wirken, wenn sie mit dem Kleingedruckten bei Kaufverträgen assoziiert wird. In vielen Forschungskonstellationen stellt sich darüber hinaus jedoch die Frage nach den notwendigen Voraussetzungen dafür, „informiert“ einwilligen zu können. Vermeintlich einfache und klare Erklärungen seitens der Forschenden werden möglicherweise deshalb von den Forschungsteilnehmenden nicht verstanden oder beachtet, weil deren Lebenswirklichkeit in die Erklärungen der Wissenschaftler/innen zu wenig einbezogen wurde. Wenn gemeinsam mit Kindern, kognitiv eingeschränkten Erwachsenen oder Kranken Forschung betrieben werden soll, stellt sich die Frage nach deren Einwilligungsfähigkeit auf eine noch grundsätzlichere Weise (Bobbert 2008). Zudem ist es mit Information und Einwilligung zu Beginn eines Forschungsprojekts häufig nicht getan. Nicht immer können Forschende den genauen Verlauf von Untersuchungen im Vorhinein übersehen. Am Fall eines Forschungsprojekts mit wohnsitzlosen Jugendlichen im öffentlichen Raum beschreibt dies Uwe Flick (2009, S.38) eindrücklich: „Treten während der Interaktion zufällig und spontan andere Personen hinzu, stört es den Forschungsprozess, wenn die stattfindenden Interaktionen durch die Einholung einer Einwilligung von diesen neuen Personen unterbrochen werden müssen.“ Ein unterschriebenes Formular der informierten Einwilligung schützt also nicht vor ethischen Herausforderungen, die sich im Laufe des Forschungsprozesses ergeben können. Ethische Reflexion bleibt im gesamten Forschungsprozess von Bedeutung.

2.2 Freiwilligkeit Immer dann, wenn Forschung im Kontext von sozialen Gruppen stattfindet, in denen zwischen den Beteiligten Abhängigkeitsbeziehungen bestehen, wird der Begriff der Freiwilligkeit unscharf. Dies gilt beispielsweise für die Arbeit in sozialen Organisationen. Selbst wenn die Personen einer Forschungsteilnahme zustimmen, ist der Grad der Freiwilligkeit unter Berücksichtigung von möglichem Gruppendruck zumindest kritisch zu hinterfragen. Ist die Einwilligung zur Teilnahme an einer Forschung einmal erfolgt und sind die Daten gesammelt und veröffentlicht, können Forschungsteilnehmende ihre Zustimmung in der Regel nicht mehr zurückziehen. Denn einmal veröffentlichte Daten entziehen sich der Kon6

http://www.apa.org/ethics/code/index.aspx

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trolle der Autor/innen, selbst wenn ab einem bestimmten Zeitpunkt die weitere Verbreitung abgebrochen wird.

2.3 Vermeidung von Schaden In der Forschung kann es vorkommen, dass Forschungsteilnehmer/innen, ggf. sogar die Forschenden selbst, Schaden nehmen. Eine konstruktive ethische Reflexion kann helfen, potenzielle Auswirkungen der Art und Weise, wie Forschende in qualitativer Sozialforschung Beziehungen eingehen, verantwortlich zu planen. Ziel von qualitativer psychologischer Forschung ist es häufig, Menschen dazu anzuregen, eigene Selbsttäuschungen zu erkennen und zu überwinden. Geschieht dies innerhalb von Forschungsbeziehungen mit vulnerablen Populationen, ohne dass gleichzeitig für eine Vermittlung von ggf. benötigter psychologischer Betreuung und Begleitung gesorgt wird, kann bleibender Schaden entstehen. Zudem kann nicht immer vorhergesehen werden, welche Dynamiken sich im Forschungsverlauf entwickeln. Wird innerhalb bestimmter sozialer Gruppen geforscht, kann es passieren, dass durch die Intervention in der Gruppe Themen angesprochen werden, die vorher tabuisiert waren, wodurch nun offene Konflikte ausgelöst werden können. Auch Personen aus dem Umfeld der Beforschten, die keinen direkten Kontakt zum Forschungsteam haben, können Nachteile dadurch erleiden, dass sich ihre Bezugspersonen durch die Beziehung zum Forschungsteam verändern. Der potenzielle Schaden für gar nicht antizipierte Forschungsteilnehmende ist im Vorhinein schlecht zu benennen und folglich auch nicht auszuschließen (Nespor & Groenke 2009). Nespor und Groenke weisen zudem darauf hin, dass Individuen und soziale Gruppen auch vom Fehlen von Forschung zu ihren Problemen berührt werden können. Die Frage der Reichweite von Forschungsbeziehungen ist also ebenso ethisch zu reflektieren. Herausforderungen aufseiten von Forschenden illustriert Tietel beispielhaft (2000), indem er komplexe Prozesse von Enttäuschung und Abwertung der Kompetenz der Forschenden in einem qualitativ-psychologischen Forschungsprojekt diskutiert. Kommt es in einer Forschungsbeziehung zu Irritationen und Verletzungen der beteiligten Personen, steht die Zumutbarkeit der Interaktion infrage. Es entsteht eine Situation von hoher ethischer Brisanz.

2.4 Täuschung Grundsätzlich ist Täuschung eher ein Phänomen in quantitativen Studien. Sie ist dort gewollt, wenn versucht wird zu vermeiden, dass Untersuchungsteilnehmer/innen ihr Verhalten aufgrund der Kenntnis der Forschungsfragen beispielsweise im Sinne von sozialer Erwünschtheit anpassen. Ethisch ist die gezielte Täuschung von Proband/innen fragwürdig und wird auch von quantitativ orientierten Psycholog/innen kontrovers diskutiert (Lindsey 1984). Schließlich stehen Informationspflicht für die informierte Einwilligung und Täuschung im Widerspruch. Obwohl Täuschung in der Sozialforschung abzulehnen ist, können sich qualitative Psycholog/innen nicht einfach auf einem Vorteil von täuschungsfreier Forschung ausruhen.

Ethik

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Denn es kann auch in qualitativen Untersuchungen sinnvoll und wichtig sein, dass Forschende ihr Gegenüber bezüglich der „eigentlichen“ Ziele und Analyseschritte der Forschung im Unklaren lassen. Dies kann beispielsweise bei der Biografieforschung der Fall sein, wo die Interviewten ihre Geschichte ganz unbeeinflusst von den Interviewer/innen erzählen sollen. Duncombe und Jessop (2002) sprechen in diesem Zusammenhang von geheuchelter Freundschaft. Hier ist sorgfältig und verantwortungsbewusst abzuwägen.

2.5 Anonymität Vollständige Anonymität zu versprechen, ist nicht empfehlenswert. Besser ist es, die vertrauliche Behandlung der Daten zuzusagen. In einigen Ländern bestehen z.B. Gesetze über eine Meldepflicht für den Fall, dass sich ein Verdacht auf sexuellen Missbrauch von Minderjährigen ergibt. Psycholog/innen, die dieser Meldepflicht unterliegen, machen sich strafbar, wenn sie solchen Hinweisen nicht nachgehen – ob sie Anonymität zugesichert haben oder nicht. Forscher/innen haben durch ihre Tätigkeit in der Wissenschaft kein Recht auf Zeugnisverweigerung und können so in Konfliktfällen nicht wie Ärzt/innen auf einer vertraulichen Behandlung der Informationen bestehen (Hopf 2000, S.595). Hopf weist außerdem darauf hin, dass der Schutz von personenbezogenen Daten in der qualitativen Forschung besonders aufwendig ist, weil beispielsweise die Anonymisierung nicht einfach durch das Weglassen von Namen und Orten erreicht werden kann; manchmal sind es Kleinigkeiten, die eine Person tatsächlich oder vermeintlich identifizierbar machen: Ich wurde z.B. einmal von einer Forschungsteilnehmerin gebeten, ein Kleidungsstück ihrer Mutter unbedingt nicht zu nennen. Ohne diesen Hinweis wäre ich nicht auf die Idee gekommen, dass ich ein identifizierendes Detail erwähnt hatte. Ähnlich können typische Redewendungen in vermeintlich anonymisierten Daten einen Rückschluss auf die Identität von Sprechenden ermöglichen. Ggf. müssen in Interviewtranskripten Änderungen eingebracht werden, um die Vertraulichkeit der Aussagen zu schützen (siehe den Beitrag von Dresing & Pehl in diesem Band). Es gilt also, sorgfältig zu antizipieren, welche Risiken zur Identifikation von Teilnehmer/innen im Rahmen einer Forschung bestehen.

2.6 Ethikrichtlinien und Recht Es ist selbstverständlich, dass Ethikrichtlinien für Forschungsprojekte mit dem bestehenden Recht abzugleichen sind. Die psychologische Forschung interessiert sich jedoch häufig auch für Milieus am Rande der Legalität. Sobald Regeln für Forschung, die ihre Grundlage in der westlich-rationalistischen Wissenschaft haben, auf das Recht von Ländern anderer kultureller und/oder religiöser Traditionen treffen, ergibt sich Konfliktpotenzial. Ziel der Forschenden muss es in diesen Fällen sein, Lösungen innerhalb des Forschungskonzepts zu finden, welche nationales Recht, Respekt vor unterschiedlichen kulturellen Traditionen und die Ziele der Forschung integrieren.

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2.7 Objektivität und Selbstreflexion Jenseits der Reflexion des Verhältnisses zwischen Forschenden und Beforschten erlaubt die transdisziplinäre Kooperation von Psychologie und philosophischer Ethik eine grundlegende Reflexion über die Bedingungen und Ziele empirischer Forschung. Vielen Ansätzen innerhalb der qualitativen Sozialforschung kommt das Verdienst zu, die Beziehungen zwischen Forschenden und Forschungsteilnehmer/innen gezielt zu analysieren (vgl. zusammenfassend für die Ausgaben der Zeitschrift FQS7 zum Thema Subjektivität und Selbstreflexivität Mruck & Breuer 2003). Die explizite Offenlegung eigener Vorannahmen und der ihnen zugrunde liegenden Wertvorstellungen ist kennzeichnend für viele qualitativ-empirische Studien (Maxwell 2005). Redwood und Todres (2006) beispielsweise legen einen Prozess ethischer Entscheidungsfindung in qualitativer Forschung offen. Statt Objektivität der Forschung zu postulieren, um Gütekriterien zu erfüllen, hinterfragen viele qualitative Forscher/innen den Anspruch auf und das Streben nach Objektivität. Sie diskutieren das Phänomen der Selbstreflexivität und zeigen Möglichkeiten auf, die subjektiven Perspektiven der Forschenden ausdrücklich für den Forschungsprozess nutzbar zu machen (Mruck & Breuer 2003). Die Frage nach einer Alternative zu den in quantitativen Studien verwendeten Gütekriterien Objektivität, Reliabilität und Validität wurde und wird ausführlich diskutiert (siehe Flick in diesem Band). Maxwell (2005) schlägt vor, zur Validitätssicherung qualitativer Forschung die eigenen Interessen selbstkritisch zu prüfen. Lather (2008) geht noch einen Schritt weiter, wenn sie das kritische Hinterfragen der eigenen Perspektive als genuinen Prozess der qualitativen Forschung gerade dann als konstruktiv einschätzt, wenn der eigene Standpunkt hierbei aufgelöst wird. Sie spricht hier von einer Methode des getting lost, also der ausdrücklichen Infragestellung der eigenen, bisher vertrauten Denkweisen und Selbstverständlichkeiten.

2.8 Prozessethik Sehr wichtig ist, Ethik auch in Bezug auf Entscheidungsprozesse und -verfahren zu reflektieren (Mieth 2004; Welch 1992; Gahleitner & Kiegelmann 2005). Ähnlich wie im Zusammenspiel von quantitativer und qualitativer psychologischer Diagnostik kann auch zwischen prozessbezogener und inhaltlicher ethischer Reflexion unterschieden werden. Ethik kann auf statischen Inhalten und Normen aufbauen (normatives Denken bezüglich konkreter Wertvorstellungen) oder aber Prozesse menschlichen Erlebens in den Blick nehmen und unterstützen. Ziel einer Prozessethik ist es, Entscheidungswege zu reflektieren und festzulegen. So ist es möglich, auch bei unerwarteten ethischen Herausforderungen Entscheidungen zu fällen, selbst wenn für die konkrete Frage noch keine Verhaltensregel vorgegeben ist. Prozesse stehen im Mittelpunkt qualitativer Forschung und unterscheiden sich vom Vergleich von Varianzen als zentraler Analyse in quantitativer Forschung (Maxwell 2005). Auch in einer Ethik als Theorie über Prozesse der Entscheidungsfindung stehen Prozesse im Mittelpunkt (Mieth 2000). Eine interdisziplinäre Zusammenarbeit bietet sich somit an.

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http://www.qualitative-research.net/

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2.9 Interdisziplinärer Diskurs Wie fruchtbar die große inhaltliche Nähe zwischen philosophischer Ethik und Psychologie sein kann, zeigt sich beispielhaft an der Weiterentwicklung der theoretischen Grundannahmen von Kohlberg und Piaget durch Carol Gilligan (1982) zum Thema der psychologischen Entwicklung des moralischen Urteilsvermögens: Kohlberg ist ein Vertreter der westlich orientierten Entwicklungspsychologie. Seine theoretischen Grundannahmen zum Konzept von Moralentwicklung haben einen Bezug zu Piagets (1972) Erklärungen zur Kognitionsentwicklung. Komplexes moralisches Denken zeichnet sich bei Piaget und Kohlberg durch die Freiheit von Fremdbestimmung und durch Autonomie aus (Kohlberg, Althof, Noam & Oser 1996). Gilligan sieht bei Kohlberg die grundlegende Eingebundenheit von Menschen in soziale Bezüge durch Kohlbergs Betonung von Autonomie als Entwicklungsziel vernachlässigt. Diese Verkürzung kritisiert sie als Ausdruck einer unhinterfragten Übernahme von westlichen Werten, insbesondere Autonomie und Streben nach Unabhängigkeit stünden für die geringe Reflexion von soziokulturell bedingten Annahmen aufseiten der Forschenden (Gilligan 1982; Kiegelmann 2009). Übertragen auf die forschungsethische Diskussion unterstützt Kohlbergs Autonomiegedanke die wissenschaftliche Zielperspektive, sich frei von Zwängen z.B. durch theoretische Schulenbildungen oder unabhängig von inhaltlichen Ergebniswünschen von Geldgebern bewegen zu können. Gilligans Betonung von Beziehungen und sozialer Eingebundenheit, angewendet auf die Ethikdiskussion, verweist darauf, dass Forschungsbeziehungen auf individueller und gesellschaftlicher Ebene reflektiert werden müssen. Die psychologischphilosophische Lehre der Moralentwicklung kann also dazu beitragen, die Forschungsprojekten zugrunde liegenden Wertvorstellungen und Forschungsziele kritisch zu hinterfragen. Die genannten Beispiele zeigen, dass die ethische Betrachtung von qualitativer Psychologie für jedes spezifische Forschungsprojekt eigens durchzuführen ist und schlecht mithilfe von einfachen, generalisierten Wertsetzungen gelöst werden kann.

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Zentrale Diskussionen

3.1 Ethik als Herausforderung nicht nur vor der Empirie Nachdem Ethikkommissionen vor allem in nordamerikanischen Forschungsinstitutionen die Regel sind, wird auch in Deutschland die Einhaltung von ethischen Richtlinien zunehmend institutionell überprüft. So verlangt die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) u.a. für Forschungen am Menschen „die Stellungnahme einer örtlichen Ethik-Kommission“8. Ethikkommissionen in den großen Standesorganisationen haben Richtlinien für Forschung und psychologische Praxis verfasst. Sie sind mit weitreichenden Kompetenzen ausgestattet und können bei Verstößen gegen die Ethik-Codes Mitglieder ausschließen oder Forschungsgenehmigungen verweigern.9 8

DFG-Vordruck 1_02, S.18: http://www.dfg.de/download/programme/sachbeihilfe/antragstellung/1_02/1_02.pdf. Vgl. die Mustergeschäftsordnung zur Einrichtung lokaler Ethikkommissionen der Deutschen Gesellschaft für Psychologie vom März 2009: http://www.dgps.de/meldungen/detail.php?id=3356. 9

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Ethikkommissionen sind aus verschiedenen Gründen umstritten: Wird ein so wichtiger Aspekt wie der der Ethik in der Forschung an Institutionen mit erheblichen Befugnissen delegiert, kann ein Klima der Kontrolle, sogar der Zensur entstehen, das eher vorauseilenden Gehorsam fördert als zur kritischen Auseinandersetzung oder zum transdisziplinären Dialog mit Theorien und Erkenntnissen aus der philosophischen Ethik anregt. Die bürokratischen Abläufe verbrauchen wichtige Energie. Zudem können Ethikkommissionen nur dadurch, dass sie Forschungsdesigns überprüfen und Forschung genehmigen, letztlich keineswegs sicherstellen, dass ein Forschungsprojekt tatsächlich nach ethischen Standards durchgeführt wird. Ähnlich kritisch sind Checklisten zum Thema, in denen beispielsweise der informed consent gefordert wird. Solche Listen können suggerieren, dass der Komplex Forschungsethik zu einem bestimmten Punkt, meist zu Beginn der Forschung, „abgehakt“ werden kann. Weil das Interesse qualitativ-forschender Psycholog/innen jedoch auf die psychischen Prozesse von Individuen in den jeweiligen sozialen Kontexten (insbesondere hierbei auf das subjektive Erleben) gerichtet ist, sind sie auf das Vertrauen der Forschungsteilnehmenden angewiesen. Forschungsethische Überlegungen beim Design und während der gesamten Durchführung von Untersuchungen bilden deshalb eine Grundlage für aussagekräftige Daten und Analysen und tragen so zur Qualität der Forschungsergebnisse bei. So wenig es ausreicht, das Thema Ethik mittels Kommissionen und Checklisten zu erledigen, so wenig zielführend wäre es zu versuchen, diese Instrumente zu umgehen. Vielmehr sollten Forschende die Chancen einer konstruktiven Auseinandersetzung mit und um Ethik über den gesamten Forschungsprozess nutzen.

3.2 Machtgefälle Das Machtgefälle zwischen Forschenden und Beforschten ist seit Hippokrates ein Thema. Die sozialen Bewegungen der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts haben es verstärkt in den Fokus genommen. Neben den Bedingtheiten der Rollenzuordnung hat sich die Erkenntnis durchgesetzt, dass auch die soziale und kulturelle Verwurzelung der Forschenden Macht induzieren können. Ein möglicher Weg damit umzugehen, ist der Versuch, das Machtgefälle zu reduzieren oder gar zum Verschwinden zu bringen. Vertreter/innen der kritischen Psychologie beispielsweise messen der subjektiven Perspektive von Forschungsteilnehmenden eine zentrale Rolle bei (siehe Markard in diesem Band): Statt bestehende Machtunterschiede zu verfestigen, laden sie Forschungsteilnehmende zur aktiven und verantwortlichen Teilhabe an den Forschungsprozessen ein. Rückmeldungen der Forschungsteilnehmenden werden gezielt zur kommunikativen Validierung der Ergebnisse eingesetzt (Held 2000). Manche Anthropolog/innen beschreiten den Weg des going native. Going native bedeutet hier, dass Forschende im Verlauf z.B. einer Feldforschungsstudie aufhören, Personen oder eine bestimmte soziale Gruppe nur zu beobachten und stattdessen versuchen, Mitglied der vormals beobachteten Gruppe zu werden. Das Phänomen des going native ist auch für qualitative Studien in der Psychologie denkbar. Jedoch halte ich es aufgrund der Möglichkeit eines späteren Wiederausstiegs aus der Gruppe für unmöglich, potenzielle Machtgefälle aufzuheben, selbst wenn die forschende Person zum Gruppenmitglied wird. Die ehema-

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ligen Psycholog/innen verfügen auch weiterhin über potenziellen Zugang zu ihren ursprünglichen sozialen und gesellschaftlichen Netzen und werden den Mitgliedern der beforschten Gruppe daher nie ganz gleich. Es gibt Ansätze in der qualitativen Psychologie, bei denen sich die Rollen von Forschenden und Erforschten sehr stark überlappen, genannt sei hier die Aktionsforschung (Lewin 1946; Heiner 1988; siehe Bergold & Thomas in diesem Band) oder parteiliche Forschung, die stark in soziale Bewegungen eingebunden ist (etwa feministische Ansätze, dazu Sieben in diesem Band), Autoethnografie (in der die Forschenden sich selbst gleichzeitig zu Forschungsteilnehmenden machen, dazu Ellis, Adams & Bochner in diesem Band) oder Arbeiten aus dem Zwischenbereich von Wissenschaft und darstellender Kunst, der sogenannten performativen Sozialforschung (Gergen & Gergen in diesem Band). Aufgrund der verschiedenen Perspektiven von Forschenden und Forschungsteilnehmenden gehe ich allerdings davon aus, dass das Überwinden von Differenzen für die meisten Forschungsprojekte nur schwer möglich sein wird und plädiere daher für ein Offenlegen von Unterschieden (Kiegelmann 2002b).

3.3 Forschen und Helfen Immer dann, wenn Forschung dort stattfindet, wo Psycholog/innen auch helfend tätig sind, also etwa in der klinischen, der Arbeits- und Organisations- und der pädagogischen Psychologie, kann es zu einem Konflikt zwischen Handeln und Helfen kommen. Gerät ein/e Forscher/in in einen solchen Konflikt erscheint es geboten, die Forschung abzubrechen und Personen an kompetente Psychotherapeut/innen zu vermitteln (Gahleitner & Kiegelmann 2005). Ich plädiere für eine strikte Trennung von Forschen und Helfen in der Psychologie und schlage vor, potenzielle Interessenkonflikte zwischen Forschungsteilnehmenden und Forschenden bei der Gewinnung von Forschungsteilnehmenden ausdrücklich mit zu beachten.

3.4 Kontextgebundene Ethikdiskussion Forschung in unvertrauten sozio-kulturellen Räumen stellt nochmals erhöhte ethische Anforderungen an die Forschenden und ihre Designs. Gemeint sind hier nicht nur unterschiedliche Ethnien, sondern alle sozialen Gruppen, die sich durch Wertesysteme konstituieren, die von denen der Forschenden abweichen. Das können Straßenkinder oder Erzieher/innen sein, aber auch Angehörige alter Adelsfamilien oder Soldaten. Insbesondere Untersuchungen über Menschen am Rande der jeweiligen Gesellschaft werden oft mit qualitativen Methoden durchgeführt. Dies liegt auch daran, dass Techniken der Gewinnung von Forschungsteilnehmer/innen (Sampling) der quantitativen Psychologie oft nicht in der Lage sind, Forschungskontakte zu sogenannten vulnerablen Populationen aufzubauen (Lee 1993, Kapitel 4). Denzin (2003) kritisiert, dass die Grundlagen ethischer Entscheidungsfindungen insbesondere in fachwissenschaftlichen Ethikkommission in den USA von westlicher, d.h. rationalistischer, von den Prinzipien der Aufklärung geprägter Kultur bestimmt sind und damit den Entscheidungstraditionen anders geprägter Kulturen nicht gerecht werden können. Er

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empfiehlt, die Interessen und Traditionen von beforschten Personen und Kulturen ausdrücklich in die ethischen Entscheidungsprozesse mit einzubeziehen. Nimmt man jedoch die normative Festlegung von inhaltlichen moralischen Werten kritisch in den Blick, erscheint es mir fraglich, ob der erwünschte Effekt, in diesem Fall einer Entkolonialisierung der verwendeten Entscheidungsprozesse, durch einfache Addition von moralischen Inhalten und Werten weiterer Kulturen erreicht werden kann. Eine schlichte Addition von Werten wäre jedenfalls nicht in Denzins Sinne.

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Stärken, Schwächen und Desiderata

Zusammenfassend bleibt festzustellen, dass die Beachtung von Forschungsethik empirische Arbeiten stärken kann. Eine aktive Auseinandersetzung mit Forschungsethik in qualitativpsychologischer Forschung ist zwar eine aufwendige, transdisziplinäre Aufgabe, die sich aber im Verlauf der Forschungsdurchführung darin auszahlt, dass Entscheidungswege bei vorhersehbaren und vor allem unvorhersehbaren ethischen Herausforderungen vorab geklärt werden konnten. Die Stärke einer bewussten Auseinandersetzung mit Forschungsethik ist, dass ein unbedarftes Hineinstolpern in moralische Dilemmata vermieden werden kann. Manche Forscher/innen brechen zwar aufgrund von sich ergebenden ethischen Problemen ihre Forschung ab und veröffentlichen dann lediglich eine Beschreibung von aufgetretenen Problemen. Durch solch einen Bericht können dann die Veröffentlichungslisten der Autor/innen erweitert werden, die ethischen Probleme, die zum Scheitern einer Forschung beigetragen haben, werden jedoch nicht gelöst (vgl. Millstein Dare-Winters & Sullivan 1994 als ein Beispiel für den Ersatz eines Forschungsberichts durch die „Beichte“ aufgetretener Probleme). Hindernisse für eine angemessene Berücksichtigung forschungsethischer Belange resultieren vor allem aus den verwaltungstechnischen und forschungspolitischen Rahmenbedingungen. Zum einen kann der Versuch der Vereinfachung durch Nutzung von Checklisten eine reflektierte Auseinandersetzung mit ethischen Lösungsprozessen und Entscheidungswegen überlagern, wenn nicht sogar verhindern. Zum anderen besteht die Gefahr, dass Ethikkommission mit dem Genehmigungsverfahren auch die Vereitlung von Ressourcen steuern und dabei Kriterien ansetzen, die wenig mit Ethik zu tun haben. Zu wünschen bleibt eine ausdrückliche Schulung von Nachwuchswissenschaftler/innen in Grundgedanken philosophischer Ethik, die dann von den Psycholog/innen als Basis für die Erlangung der Kompetenz zur Forschungsplanung und Forschungsdurchführung genutzt werden kann, in der ethische Entscheidungsprozesse ein immer mitlaufendes Querschnittsthema sind.

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Gütekriterien qualitativer Forschung

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Gütekriterien qualitativer Forschung 1

Entstehungsgeschichte und disziplinäre Einordnung

1.1 Kriteriendiskussion als durchgängiges Thema Der Ansatzpunkt und die Vorgabe für diesen Beitrag sind Gütekriterien qualitativer Forschung in der Psychologie. In anderen Kontexten wird zwar mittlerweile ein breiterer Zugang zu der im Hintergrund virulenten Fragestellung gewählt. So beschäftigt sich Seale (1999) explizit mit der Qualität qualitativer Forschung,1 und diese wird auch im Fokus des Qualitätsmanagements in der Forschung weiterverfolgt (Flick 2008a). Im Kontext qualitativer Forschung in der Psychologie wird jedoch der Ansatzpunkt der Kriterien häufiger gewählt (vgl. Steinke 1999, 2008). Dies und die nach wie vor im Raum stehende und auch von außen an die qualitative Forschung herangetragene Frage nach Kriterien lassen es sinnvoll erscheinen, in diesem Beitrag die Problematik der Qualität qualitativer Forschung unter der Überschrift und mit dem Fokus „Kriterien“ zu behandeln. Die Frage nach der Bewertung bzw. Qualität qualitativer Forschung stellt sich seit Langem (vgl. die relativ frühen Diskussionen, die in dem Band von McCall und Simons [1969] zusammengefasst wurden). Nachdem die auch in der Psychologie vorliegenden phänomenologischen bzw. verstehenden Forschungsansätze zunächst durch die Entwicklung standardisierter Ansätze zurückgedrängt worden waren und qualitative Forschung dann in den 1970er Jahren wieder an Bedeutung gewonnen hatte, wurde die Qualitätsfrage immer wieder neu gestellt. Die Auseinandersetzung mit der Qualität qualitativer Forschung vollzieht sich vor dem Hintergrund eines weitgehenden Konsenses in der quantitativen Forschung über die zu erfüllenden „klassischen“ Gütekriterien Reliabilität, Validität und Objektivität, die dort für alle Ansätze als akzeptiert anzusehen sind. Inwieweit dieser Konsens auf die sozialwissenschaftliche Forschung insgesamt – also einschließlich qualitativer Ansätze – übertragen werden kann, ist eine Kernfrage der Diskussion.

1.2 Kriteriendiskussion als spezifisches Thema der Psychologie In der Psychologie stellt sich die Frage der Kriterien bzw. Qualität qualitativer Forschung noch einmal besonders zugespitzt, da die Psychologie sich durch ihr elaboriertes Methodenverständnis von den Nachbar-Disziplinen abgrenzt. Da hier Gütekriterien nicht nur in Bezug auf die Haltbarkeit von Forschungsergebnissen, sondern auch in Bezug auf die Ver1 Siehe hierzu auch die Debatte zu „Qualitätsstandards qualitativer Sozialforschung“ in der Zeitschrift „Forum Qualitative Sozialforschung / Forum: Qualitative Social Research“, http://www.qualitative-research.net/index.php/ fqs/search/sections.

G. Mey K. Mruck (Hrsg.), Handbuch Qualitative Forschung in der Psychologie, DOI: 978-3-531-92052-8_28, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2010

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lässlichkeit diagnostischer Entscheidungen auf der Basis von Forschungsinstrumenten (z.B. Tests) relevant werden, hat sich in der Psychologie der Kriteriendiskurs besonders stark entwickelt (vgl. Steinke 1999 als Überblick für die qualitative Forschung). Vor diesem Hintergrund ist in der Psychologie eine eigene, z.T. sehr spezifische Diskussion entstanden, gerade wenn es um die Fragen der Geltungsbegründung und Qualitätssicherung qualitativer Forschung geht, die von den anderen Disziplinen in der Landschaft qualitativer Forschung nur begrenzt aufgegriffen wird. Dabei haben sich eigenständige Ansätze wie das „Forschungsprogramm Subjektive Theorien“ von Groeben und Scheele (z.B. 1982 und in diesem Band) herausgebildet. In solchen Kontexten wird die Frage der Kriterien in besonderer Weise beantwortet.

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Theoretische und methodologische Prämissen und Grundannahmen

2.1 Subjektive Theorien als spezifisches Thema qualitativer Forschung in der Psychologie Qualitative Forschung in der Psychologie hat sich mit besonderem Interesse Fragen der Subjektivität und insbesondere der Rekonstruktion von Alltagswissen gewidmet. Hierbei lässt sich eine Entwicklungslinie von Kellys (1955) Idee des „Menschen als Wissenschaftler“ bis hin zum „Forschungsprogramm Subjektive Theorien“ (vgl. Scheele & Groeben in diesem Band) ziehen: Im Vordergrund steht die Frage, wie Individuen sich einen bestimmten Gegenstandsbereich erklären und welche Rolle solche Erklärungen für ihr Handeln spielen. Eine subjektive Theorie wird dabei verstanden als „ein Aggregat (aktualisierbarer) Kognitionen der Selbst- und Weltsicht mit zumindest impliziter Argumentationsstruktur, die eine (zumindest partielle) Explikation bzw. Rekonstruktion [...] in Parallelität zur Struktur wissenschaftlicher Theorien erlaubt“ (Groeben & Scheele 1982, S.16). Bei der entsprechenden Forschung werden zur Datenerhebung v.a. Leitfadeninterviews eingesetzt.

2.2 Anwendbarkeit der klassischen Kriterien Inwieweit subjektive Sichtweisen, Alltagswissen (oder andere Gegenstände qualitativer Forschung) verlässlich ermittelt werden und darüber Aussagen mit einer ausreichenden Gültigkeit zum Untersuchungsthema getroffen werden können (um die Grundbedeutung von Reliabilität und Validität heranzuziehen), stellt sich als Frage für jede Untersuchung. Auch sollten im Sinne traditioneller Gütekriterien die erhobenen Daten und gezogenen Schlussfolgerungen in ausreichendem Maße unabhängig sein von der konkreten Person, die sie erhoben bzw. gezogen hat (als ganz allgemeine Bedeutung der Idee der Objektivität von Forschung). Wenn dies akzeptiert wird, ist das Problem eher, inwieweit die in anderen Zusammenhängen zur Beantwortung dieser Fragen verwendeten Kriterien sich mit den Besonderheiten bzw. Eigenschaften qualitativer Forschung vereinbaren lassen. Entsprechend diskutieren Steinke (1999) oder Kirk und Miller (1986) Reliabilität und Validität in ihrer Anwendbarkeit für qualitative Forschung. Zum einen wird dabei deutlich, dass die Reliabilität von Daten und Verfahren im traditionellen Sinne – als die Stabilität von Daten und Ergebnissen bei mehreren Erhebungen – für die Bewertung qualitativer

Gütekriterien qualitativer Forschung

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Daten eher ungeeignet ist: Die identische Wiederholung einer Erzählung bei wiederholten narrativen Interviews ist eher ein Hinweis auf eine „zurechtgelegte“ Version als auf die Verlässlichkeit des Erzählten. Validität (vgl. Kvale 1995) wird ebenfalls häufiger für die qualitative Forschung diskutiert. Kirk und Miller (1986, S.21) fassen die Frage der Validität darin zusammen, ob „der Forscher sieht, was er [...] zu sehen meint“. Hier ergeben sich ebenfalls Probleme bei der unmittelbaren Anwendung klassischer Validitätskonzeptionen. Interne Validität wird etwa erhöht bzw. sichergestellt, indem ausgeschlossen werden soll, dass andere als die in der Untersuchungshypothese enthaltenen Variablen den beobachteten Zusammenhang bestimmen (z.B. Bortz & Döring 2006, S.53). In diesem Verständnis liegen bereits die Probleme bei der Übertragung auf qualitative Forschung begründet: Interne Validität soll durch eine möglichst umfassende Kontrolle der Kontextbedingungen in der Untersuchung erhöht werden. Zu diesem Zweck wird die weitgehende Standardisierung der Erhebungs- bzw. Auswertungssituation angestrebt. Der dafür notwendige Grad an Standardisierung ist jedoch mit dem größten Teil der gängigen qualitativen Methoden nicht kompatibel bzw. stellt ihre eigentlichen Stärken infrage. Ähnlich lässt sich für die anderen Formen der Validität aufzeigen, warum sie nicht direkt auf qualitative Forschung übertragen werden können (vgl. Steinke 1999, Kap. 5). Objektivität wird als Kriterium auf qualitative Forschung eher selten angewendet. Von Madill, Jordan und Shirley (2000) wird Objektivität ausschließlich an der Analyse qualitativer Daten festgemacht und mit der Frage, ob zwei Forschende zu gleichen Ergebnissen bei der Analyse vorliegender qualitativer Daten kommen und damit mit der „Konsistenz der Bedeutung durch die Triangulation der Ergebnisse zweier unabhängiger Forscher“ (S.17) gleichgesetzt. Insgesamt findet sich zwar gelegentlich der Anspruch, qualitative Forschung müsse sich zumindest den Fragen stellen, die mit Konzepten wie Reliabilität und Validität (z.B. bei Morse 1999, S.717) oder Objektivität (Madill et al. 2000) verknüpft sind. Jedoch wird die Anwendung klassischer Kriterien auf qualitative Forschung seit Längerem infrage gestellt, da „das Wirklichkeitsverständnis“ beider Forschungsrichtungen dafür „zu unterschiedlich“ (Lüders & Reichertz 1986, S.97) sei. Ähnliche Vorbehalte finden sich schon bei Glaser und Strauss (1979, S.92), die „bezweifeln, ob der Kanon quantitativer Sozialforschung als Kriterium [...] auf qualitative Forschung [...] anwendbar ist. Die Beurteilungskriterien sollten vielmehr auf einer Einschätzung der allgemeinen Merkmale qualitativer Sozialforschung beruhen – der Art der Datensammlung […], der Analyse und Darstellung und der [...] Weise, in der qualitative Analysen gelesen werden.“

Diese Skepsis hat zu zwei Alternativen der Auseinandersetzung mit Gütekriterien in der qualitativen Forschung geführt: einerseits die Modifikation oder Reformulierung der Konzepte, andererseits Vorschläge, „methodenangemessene Kriterien“ (Flick 1987) zu entwickeln und diese an die Stelle von Kriterien wie Objektivität, Validität und Reliabilität zu setzen. Diese Diskussionen werden in der qualitativen Forschung über die Disziplingrenzen hinweg geführt etwa in der Soziologie, Erziehungswissenschaft oder Ethnologie, können aber auch für die Psychologie und ihre qualitative Forschung relevant werden.

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2.3 Reformulierung herkömmlicher Kriterien Die Reformulierung von Reliabilität im Sinne einer stärker prozeduralen Konzeption zielt darauf ab, das Zustandekommen der Daten so zu explizieren, dass überprüfbar wird, was Aussage noch des jeweiligen Subjekts ist und wo die Interpretation der Forschenden schon begonnen hat. Hierzu gehören etwa exakte und einheitliche Vorgaben, wie Interviews oder Gespräche transkribiert werden sollen (vgl. hierzu Kowall & O’Connell 2008 und Dresing & Pehl in diesem Band) oder die Kennzeichnung von wörtlich wiedergegebenen Aussagen in Feldnotizen in Abhebung von Zusammenfassungen oder Paraphrasen durch die Forschenden. Schließlich soll sich die Reliabilität im gesamten Prozess durch dessen reflexive Dokumentation erhöhen (vgl. hierzu auch Seale 1999). Speziell in der Psychologie wird als eine Reformulierung der Validitätsbestimmung die Analyse der Interviewsituation ausgehend von Habermas’ Theorie des kommunikativen Handelns (1981) vorgeschlagen (Legewie 1987). Geltungsansprüche im Interview werden dabei differenziert in den Inhalt des Gesagten, die Angemessenheit der Beziehung und die aufrechte Selbstdarstellung der Interviewpartner/innen. Validierung erfolgt über eine Analyse der Interviewsituation auf Auffälligkeiten und Verzerrungen und auf das Vorliegen eines Arbeitsbündnisses und einer nicht-strategischen Kommunikation. Ein Problem bei diesem Ansatz ist die (zumindest implizite) Annahme einer „richtigen“ bzw. „gültigen“ Version der Erzählung, wodurch sich die Validitätsfrage auf die Bestimmung der Abweichungen von dieser Version bzw. auf die Identifizierung von Hinweisen auf potenzielle Abweichungen („Verzerrungen“) reduzieren lässt.

2.4 Kommunikative Validierung – das „Forschungsprogramm Subjektive Theorien“ als Beispiel Die Zustimmung der Untersuchungsteilnehmer/innen nach Abschluss des Interviews – als kommunikative Validierung oder member checks (vgl. Lincoln & Guba 1985) bezeichnet – wird als eine weitere Form der Validierung diskutiert (für allgemeinere Diskussionen vgl. Terhart 1995, S.388ff.). Im eingangs erwähnten „Forschungsprogramm Subjektive Theorien“ von Scheele und Groeben wird dies zu einem ersten Ansatzpunkt der Validierung. Dabei gehen Scheele und Groeben davon aus, dass eine subjektive Theorie nach ihrer Rekonstruktion (mittels eines Leitfaden-Interviews) einerseits einer kommunikativen Validierung mit dem oder der Befragten unterzogen, andererseits aber auch einem „Validierungsexperiment“ (Wahl, Schlee, Krauth & Mureck 1983) durch standardisierte Beobachtung ausgesetzt werden sollte. Darin wird das „falsifikationstheoretische Wahrheitskriterium der externen Beobachtung, [das] die empirische Methodologie der heutigen Psychologie prägt“ (Scheele & Groeben 1988, S.24), angewendet. Somit wird ein „qualitativ-interpretatives“ Verfahren zur Erhebung der subjektiven Theorie(n) (S.68) verwendet: Methodischer Zugang ist ein teilstandardisiertes Interview sowie eine „dialog-hermeneutische“ Lege-Technik (vgl. Scheele & Groeben in diesem Band). Dabei werden den Befragten ihre Aussagen noch einmal vorgelegt mit der Bitte, diese zu konsentieren (zu akzeptieren, ggf. zu modifizieren oder zurückzuweisen). Liegt die Zustimmung vor, wird dies als eine kommunikative Validierung der Interviewaussagen und damit der Daten durch die Befragten verstanden. Basis ist der Dialog-Konsens mit den

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Befragten. Der Gültigkeitsanspruch dieser Validierung wird auf die „Rekonstruktionsadädquanz“ beschränkt, nicht jedoch auf die eigentlich zu prüfende „Realitätsangemessenheit“ der subjektiven Theorie bezogen. Letzteres wird wiederum an der Frage festgemacht, ob die Befragten ihrer subjektiven Theorie entsprechend handeln. Um dies zu beantworten, wird „externe Beobachtung“ in einem standardisierten Design im Rahmen von „Korrelations-, Prognose- und Veränderungsstudien“ (Scheele & Groeben 1988, S.24) eingesetzt. Im ersten Fall wird untersucht, ob sich zwischen den Bestandteilen einer subjektiven Theorie und beobachteten Verhaltensweisen Korrelationen ergeben, mit denen die Bestandteile der subjektiven Theorie im Handeln bestätigt werden können. Im zweiten Fall werden aus (Bestandteilen) der subjektiven Theorie Prognosen abgeleitet und es wird untersucht, ob diese sich im (zukünftigen) Handeln bestätigen. Im dritten Fall wird versucht, die subjektive Theorie gezielt (etwa durch Fortbildung etc.) zu verändern und daraufhin entsprechende Änderungen im Handeln nachzuweisen. In allen Fällen ist jedoch von vornherein festgelegt, dass das interpretative Verfahren und seine Ergebnisse – die rekonstruierte subjektive Theorie – einer Validierung unterzogen werden. Das Beobachtungsexperiment dient dabei der externen Validierung der vorangegangenen Rekonstruktion – es ist nicht nur zeitlich nachgeordnet, sondern auch von seinem Stellenwert her übergeordnet (S.19ff.). Ergeben sich Diskrepanzen, so werden diese einseitig ausgelegt – die vorangegangene Rekonstruktion der subjektiven Theorie ist damit falsifiziert. Nicht infrage stehen dabei jedoch Aussagekraft und Angemessenheit der Beobachtungsdaten. Damit ist jedoch die prinzipielle Zirkularität externer Validierung per Vorab-Setzung und nicht durch eine inhaltliche Begründung ausgeschaltet. Die Zirkularität bezieht sich auf die Tatsache, dass beim Rückgriff auf andere Methoden und Ergebnisse zur Validierung einer Methode und ihrer Ergebnisse immer unterstellt werden muss, dass die andere Methode valide Ergebnisse produziert hat. Um mittels Verhaltens-Beobachtung die rekonstruierten subjektiven Theorien zu verifizieren bzw. zu falsifizieren, muss man unterstellen, dass die Beobachtungsdaten valide und dem untersuchten Gegenstand gerecht geworden sind, um damit die angepeilte Entscheidung treffen zu können. Die andere Möglichkeit – dass die subjektive Theorie angemessen rekonstruiert ist, obwohl sie dem Falsifikationsversuch durch Verhaltensbeobachtung nicht standgehalten hat – schließen Scheele und Groeben per definitionem aus, indem sie die Verhaltensbeobachtung von vorneherein „überordnen“ und in diesem Fall die Validität nicht infrage stellen. Nun ließe sich einwenden, dass die Entscheidung, ob die Beobachtungsdaten valide sind, ebenfalls über den Rückgriff auf andere Methoden und Ergebnisse getroffen werden könnte. Doch damit verschiebt sich das Problem nur, da sich auch hier das Problem der ersten Validierungsschleife wiederholt: Der Rückgriff auf andere Methoden und Ergebnisse zur Validierung setzt voraus, dass diese valide sind etc. Solche Schleifen lassen sich prinzipiell fast unbegrenzt einführen, bis zum Schluss nur noch ein Außenkriterium übrig bleibt, für das es dann keine Möglichkeit zur Hinzuziehung weiterer Außenkriterien mehr gibt. Scheele und Groeben legitimieren ihre Vorab-Setzung und ihre Validitäts-Unterstellung für das gewählte Außenkriterium nicht zuletzt darüber, dass sie auf eine Methode zur Validierung zurückgreifen, die die „empirische Methodologie der heutigen Psychologie prägt“ (S.24). Damit werden ihre Ausführungen jedoch auch zum Beleg für die Feststellung von Wilson (1982, S.502), dass „objektive Erkenntnis nicht aus Aussagen mit einem verbrieften Wahrheitsanspruch besteht, sondern aus dem, was eine gegebene wissenschaftliche oder gelehrte Gemeinschaft ihren Mitgliedern als ernstzunehmende Ausgangspunkte für

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ihre eigene Arbeit zumutet“. Ähnlich kritisiert etwa Terhart (1981, S.778) an der Umsetzung des Ansatzes von Scheele und Groeben bei Wahl et al. (1983), dass „eine festgestellte Deckung von Prognose und Handlung nicht mit Sicherheit die korrekte Rekonstruktion“ der subjektiven Theorie belegen könne, da diese durch den Forschungsprozess „in Aufbau sowie Inhalt“ verändert werde und damit keine „stabile Basis für Ableitungen und Prognosen vorhanden“ sei. D.h., damit die subjektive Theorie im skizzierten Validierungsprozess geprüft werden kann, muss sie künstlich festgeschrieben und „objektiviert“ werden – allein schon für die Durchführung der notwendigen Korrelationen. Für eine allgemeinere Anwendung solcher Strategien sind drei Fragen noch nicht befriedigend beantwortet: 1. Wie ist das methodische Vorgehen bei der kommunikativen Validierung zu gestalten, damit es den untersuchten Sachverhalten und der Sicht der Subjekte tatsächlich gerecht wird? 2. Wie lässt sich jenseits der Zustimmung der Subjekte die Frage der Geltungsbegründung weitergehend beantworten? Hierzu sind andere Qualitätsprüfungen notwendig, die kommunikative Validierungen ergänzen, auch wenn diese möglicherweise nicht den Vorschlägen von Scheele und Groeben entsprechen müssen. 3. Inwieweit sind die kurz behandelten Vorschläge für kommunikative Validierung auf andere Forschungsansätze übertragbar? (Vgl. als Überblick Flick 1987.) Die Versuche der Verwendung oder Reformulierung von Validität und Validierung haben insgesamt mit verschiedenen Problemen zu kämpfen: Die formale Analyse des Zustandekommens von Daten in der Interviewsituation beispielsweise sagt noch nichts über Inhalte und ihre angemessene Behandlung im weiteren Verlauf der Forschung aus. Das Konzept der kommunikativen Validierung bzw. von member checks ist mit dem Problem konfrontiert, dass die Zustimmung dort als Kriterium schwierig ist, wo die Sicht des Subjekts systematisch überschritten wird – in Interpretationen, die ins soziale oder psychische Unbewusste vordringen wollen oder sich gerade aus der Unterschiedlichkeit verschiedener subjektiver Sichtweisen ableiten. Aus diesem Grunde wird dieses Kriterium von verschiedenen Seiten auch immer wieder vehement infrage gestellt. Die behandelten Reformulierungen des Validitätskonzepts zeichnen sich insgesamt durch eine gewisse Unschärfe aus, die der Forschungspraxis durch ihre generelle Problematisierung und Programmatik nicht unbedingt eine Lösung für die Frage der Geltungsbegründung anbietet. Als gemeinsame Tendenz ist jedoch eine Verlagerung von Validität zur Validierung und von der Beurteilung des einzelnen Schritts oder Bestandteils der Forschung zur Herstellung von Transparenz über den Forschungsprozess festzuhalten.

2.5 Formulierung alternativer, methodenangemessener Kriterien Der dritte Ansatz der Bewertung qualitativer Forschung – neben der Anwendung klassischer Kriterien oder ihrer Reformulierung – ist die Suche nach alternativen, methodenangemessenen Kriterien. Dabei ist der Gedanke leitend, dass die Frage nach der Qualität grundsätzlich durch die Formulierung und Anwendung von Kriterien beantwortet werden kann und sollte, dass jedoch die klassischen Kriterien an den Charakteristika qualitativer Forschung und Methoden vorbeizielen. Lincoln und Guba (1985) propagieren Glaubwürdigkeit; Vertrauenswürdigkeit, Übertragbarkeit, Zuverlässigkeit und Bestätigbarkeit als Kriterien qualitativer Forschung, wobei das erstgenannte zum zentralen Kriterium wird. Um die Glaubwürdigkeit qualitativer For-

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schung, Daten und Ergebnisse zu erhöhen, skizzieren sie verschiedene Strategien. Dazu zählen neben einem „verlängerten Engagement“ im Feld und „ausdauernden Beobachtungen“ (S.303) die „Triangulation verschiedener Methoden, Forscher und Datensorten“ (S.306, vgl. auch Flick in diesem Band), das peer debriefing (regelmäßige Besprechungen mit anderen Forschenden zur Aufdeckung „blinder Flecke“) sowie die Analyse abweichender Fälle und die Überprüfung der Angemessenheit von Interpretationen und member checks im Sinne der kommunikativen Validierung von Daten und Interpretationen. Damit sind verschiedene Ansatzpunkte für die Sicherung und Überprüfung von Qualität im qualitativen Forschungsprozess aufgezeigt. Auf diesem Weg lassen sich Vorgehen und Durchführung im Verlauf der Forschung offen legen und beurteilen. Unter dem Blickwinkel der produzierten Erkenntnisse lassen sich die Fragen, die ein solcher Prozess der Überprüfung beantworten soll, nach Huberman und Miles (1998, S.202) allgemeiner zusammenfassen: Sie richten sich auf die Begründetheit der Erkenntnisse in den Daten und der Schlüsse, die Angemessenheit der Kategorienstruktur, und sie sollen prüfen, ob Forschungsentscheidungen gerechtfertigt waren und ob Strategien zur Erhöhung der Glaubwürdigkeit angewendet wurden. Dabei sind zwar die Ergebnisse Ausgangspunkt der Bewertung der Forschung, die zu ihnen geführt hat; jedoch wird diese Frage in der Verbindung einer ergebnisorientierten Sichtweise mit einem prozessorientierten Herangehen zu beantworten gesucht. Die bislang skizzierten Strategien zielen auf die Formulierung von Kriterien, die analog zu den in der quantitativen Forschung etablierten Kriterien in der qualitativen Forschung in der Psychologie eingesetzt werden können. In den hier kurz vorgestellten Vorschlägen tauchen jeweils verschiedene Probleme auf. Einerseits ist es bei diesen Kriterien – anders als bei der Reliabilitätsbestimmung in der quantitativen Forschung – schwierig, Grenzwerte oder Punkte zu definieren, die zwischen guter und schlechter Forschung unterscheiden: Im Beispiel der Glaubwürdigkeit werden von Lincoln und Guba lediglich Strategien formuliert, wie diese hergestellt bzw. erhöht werden kann. Die Forschenden, die diese zur Sicherung von Qualität und Glaubwürdigkeit auf ihre Forschung anwenden möchten, sind mit ihren Fragen ebenso allein gelassen wie die Lesenden, die einen Forschungsbericht anhand dieses Kriteriums bewerten möchten: Welche Resultate müssen peer debriefing und/oder member checks bringen, damit sie ein Indikator für die Glaubwürdigkeit der damit überprüften Forschung sind? Müssen alle dabei Befragten zu einheitlichen Einschätzungen kommen – etwa was die Plausibilität der Resultate angeht – oder reicht es, wenn die Mehrheit oder bestimmte Personen diese Plausibilität bestätigt? Ist etwa die Bestätigung seitens bestimmter Personen anders zu gewichten als die Ablehnung durch z.B. andere Befragte? Zum Problem wird dies, da ohne die Angabe von Grenzwerten die Idee der Kriterien häufig zu gut gemeinten Absichtserklärungen verkommt (vgl. Lüders 2008). Andererseits sind all diese Vorschläge jeweils vor dem Hintergrund eines bestimmten Ansatzes formuliert und in ihrer Anwendung auf andere Ansätze eher begrenzt (vgl. Lüders 2003).

2.6 Standards nicht standardisierter Forschung als Alternative zu Kriterien? Bohnsack (2005) diskutiert, inwieweit sich Standards nicht-standardisierter Forschung identifizieren lassen bzw. herausgebildet haben. In den dabei entwickelten Thesen geht er davon aus, dass sich die Standards bei nicht-standardisierter Forschung nicht „am grünen

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Tisch“ entwickeln, sondern quasi im Nachgang aus der Rekonstruktion nicht-standardisierter bzw. qualitativer Forschungspraxis ableiten und explizieren lassen. Gleiches gelte auch für die Methoden qualitativer Forschung selbst: „These 1: Die Methoden und Standards qualitativer Forschung werden auf der Grundlage einer empirischen Rekonstruktion der Forschungspraxis entwickelt“ (S.65). Dass die vorliegenden Methoden der qualitativen Forschung sich aus konkreten Forschungsfragen und -projekten entwickelt haben, lässt sich gut nachvollziehen. Mittlerweile haben sich allerdings zahlreiche, mehr oder minder kanonisierte Methoden in der qualitativen (bzw. nicht-standardisierten oder rekonstruktiven) Forschung entwickelt und etabliert, sodass Forschende heute häufig entscheiden müssen, welche davon sie anwenden wollen für die Beantwortung ihrer Forschungsfragen; auch sind methodische Neuentwicklungen aus der Praxis eher die Ausnahme. Hier stellt sich dann die Frage, worin sich gute von weniger guten Anwendungen bestimmter Methoden unterscheiden lassen. Standards in der nicht-standardisierten Forschung stellen nach Bohnsack Standards zweiten Grades dar, die aus der Auseinandersetzung mit den natürlichen Standards (ersten Grades) entwickelt werden sollen. Folgt man diesem Ansatz und der darauf bezogenen Argumentation bei Bohnsack, so lassen sich Standards qualitativer Forschung aus der Analyse alltäglicher Standards der Kommunikation entwickeln und darüber die Kriterien Gültigkeit und Zuverlässigkeit in der qualitativen Forschung rekonstruieren (S.76). Nach Bohnsack ist die wesentliche Bezugsebene für die Formulierung von Standards die methodologische und theoretische Begründung des jeweiligen Vorgehens. Es wird dabei weiter ausgeführt, dass bei qualitativen Methoden zwischen offenen und rekonstruktiven Verfahren unterschieden werden sollte, wobei nur die letzteren den von Bohnsack entwickelten Qualitätsstandards entsprechen (vgl. These 7, S.74). Der Ansatz von Bohnsack liefert eine ganze Reihe von theoretisch und methodologisch aufschlussreichen Vorschlägen für eine meta-theoretische Fundierung der Diskussion über die Qualität qualitativer Forschung. Allerdings bleiben verschiedene Fragen offen. Hierzu gehört zunächst, ob die Formulierung von Standards in einem derart heterogenen Feld wie der qualitativen Forschung (überhaupt bzw. schon zum gegenwärtigen Zeitpunkt) realisiert werden kann – wenn noch nicht mal Einigkeit über die Bezeichnungen (qualitativ, interpretativ, rekonstruktiv) und Zugehörigkeiten zum Feld besteht. Zweitens laufen Formulierungen von Standards in der Regel Gefahr, Standardisierung (von Vorgehensweisen und Prozeduren) mit sich zu bringen – was den Ansatz nicht-standardisierter Forschung zumindest in einen Widerspruch verwickelt. Drittens, und das ist in unserem Kontext das entscheidende Argument, wird über den Weg der Formulierung von Standards, den Bohnsack einschlägt, die Frage der Geltungsbegründung von der Ebene der Qualitätsbestimmung praktischer Vorgehensweisen im Feld auf die Ebene der Angemessenheit ganzer Forschungsprogramme verlagert. Wendet man Bohnsacks Vorschlag an, weiß man zwar, dass bestimmte Ansätze – rekonstruktive Verfahren – den (?) Standards qualitativer Forschung entsprechen, andere – offene Verfahren – dagegen nicht. Weniger hilfreich sind diese Vorschläge aber bei der Suche nach Antworten auf die Frage, wonach die konkreten Anwendungen und Verfahrensweisen in einem Forschungsprojekt oder Artikel zu bewerten sind.

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Aktuelle Diskussionen

Die Frage nach den Kriterien zur Bewertung qualitativer Forschung wird (anders als etwa in den 1980er Jahren) nicht nur intern – in einem einzelnen Projekt oder innerhalb der qualitativen Methodendiskussion – gestellt. Aktuell lassen sich fünf Kontexte der Diskussion ausmachen, in denen sie aufgeworfen wird: ƒ ƒ ƒ ƒ ƒ

Forschungspraxis: Was ist gute Forschung? Antragstellung und Förderung: Was ist ein guter Antrag? Forschungsbewertung: Was ist ein gutes Projekt? Publikation: Was ist ein guter Artikel? Lehre: Was ist ein gutes Beispiel?

Damit wird die Frage nicht nur ein methodisches Thema, sondern auch eines, von dem die ökonomische Relevanz qualitativer Forschung abhängt – bekommt sie Zugang zu Fördermitteln (Reichertz 2000), Publikationsmöglichkeiten (insbesondere im Kontext von PeerReview-Journals) und politischen Umsetzungsfeldern? In diesem Zusammenhang ist die qualitative Forschung selbst einem – für die Kriteriendiskussion nicht unerheblichen – Wandel unterworfen. Gerade die fortschreitende Differenzierung qualitativer Forschung wirft neue Fragen für die Formulierung von Kriterien (oder alte Fragen neu) auf.

3.1 Diversifizierung qualitativer Forschung als Kontext der Kriteriendiskussion Jenseits der Psychologie hat qualitative Forschung sich in verschiedenen Kontexten entwickelt. Hier sind einerseits theoretische und methodologische Schulen zu unterscheiden, die jeweils bestimmte Grundannahmen, Forschungsinteressen und – in der Regel, aber nicht immer daraus resultierend – Methoden(-präferenzen) kennzeichnen bzw. unterscheiden. So ist der ursprünglich in den USA entstandene Ansatz der gegenstandsbegründeten Theoriebildung (grounded theory) im englischen, aber auch im deutschen Sprachraum als eigener Ansatz zu verzeichnen, dessen Interesse sich in der Regel auf die Entwicklung von Theorien über einen bestimmten Gegenstand aus empirischem Material bzw. aus dessen Analyse konzentriert (dazu Mey & Mruck in diesem Band). Gerade in der englischsprachigen Diskussion wird dieser Ansatz in der Psychologie verstärkt aufgegriffen. Ähnliches gilt für die Biografieforschung, die einerseits diesseits und jenseits der Sprachgrenze(n) an der Analyse von Lebensgeschichten mit dem Ziel theoretisch relevanter Verdichtungen orientiert ist. Andererseits sind hier die Traditionen in der Psychologie (z.B. Jüttemann & Thomae 1987) von den soziologischen Ansätzen in der Tradition von Schütze (1983) zu unterscheiden (siehe Schulze in diesem Band), die jedoch beide nicht dieselbe Entwicklung in der englischsprachigen Diskussion entfaltet haben wie im deutschen Sprachraum. Andere Ansätze bzw. Schulen sind spezifisch für bestimmte Kontexte und spielen dort eine zentrale Rolle, während sie in anderen Kontexten kaum wahrgenommen werden bzw. eine Rezeption dort auch nicht suchen. Beispiele sind hier etwa die objektive Hermeneutik oder die hermeneutische Wissenssoziologie, die ihre Wirkung (und Publikationsaktivitäten) fast ausschließlich im deutschen Sprachraum entfalten (vgl. Reichertz 2008). Ähnliches gilt für die im englischen Sprachraum sich differenzierenden Formen der Diskursanalyse, die etwa in England

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eine starke Dominanz in der Diskussion entwickelt haben, hierzulande aber außerhalb der internen Diskurse kaum rezipiert werden (dies auch, weil der Begriff der Diskursanalyse hier mit anderen Wurzeln assoziiert ist; dazu Allolio-Näcke in diesem Band). Das heißt, die Diskussion über qualitative Forschung ist durch unterschiedliche Differenzierungen gekennzeichnet – Schulen auf der einen Seite, sprachraumbezogene Schwerpunkte und Unterschiede auf der anderen Seite (vgl. hierzu auch Flick 2005 sowie Knoblauch, Flick und Maeder 2005 für Überblicke). Dazu kommen noch (mindestens) zwei weitere Differenzierungen. Einerseits sind disziplinspezifische Entwicklungen zu verzeichnen: Der Diskurs in der Erziehungswissenschaft (über qualitative Forschung) entwickelt sich z.B. in mehr oder minder enger Verzahnung (oder mehr oder minder unabhängig) von dem in der Soziologie oder in der Psychologie.

3.2 Anwendungsfelder als Bezugspunkt Ebenso relevant für die Frage nach Kriterien wird andererseits in den letzten Jahren die Differenzierung der unterschiedlichen Anwendungsfelder qualitativer Forschung. Zu nennen sind hier Bereiche wie die Gesundheitsforschung (vgl. Schaeffer & Müller-Mundt 2002), die qualitative Management- und Organisationsforschung (Cassell & Symon 2004) oder die qualitative Evaluationsforschung (Flick 2006). In diesen Feldern beginnt sich die methodische Diskussion über qualitative Forschung und mehr noch über „gute“ qualitative Forschung langsam zu verselbständigen. Dies hat auch mit den Bedingungen zu tun, unter denen qualitative Forschung hier durchgeführt wird: In der Regel handelt es sich um Auftragsforschung, die mit spezifischen Erwartungen hinsichtlich der Ergebnisse und vor allem ihrer praktischen Relevanz verknüpft ist und häufig unter anderen Rahmenbedingungen realisiert werden muss als qualitative Grundlagen- bzw. Qualifikationsforschung. Zu nennen ist hier etwa der zeitliche Rahmen, dessen Folgen sich u.a. an der Diskussion über die Legitimität von „Abkürzungsstrategien“ (vgl. Lüders 2008) bei der Verwendung qualitativer Methoden in solchen Kontexten festmachen lassen oder auch an der Frage der Überzeugung von – außerwissenschaftlichen – Zielgruppen mit den gefundenen Ergebnissen (vgl. hierzu Lüders 2006). Diese knappe, sicherlich unvollständige Skizzierung der Diversifizierung qualitativer Forschung verweist auf ein Dilemma, in dem die hier interessierende Diskussion über die Gütekriterien qualitativer Forschung steckt: Die Frage nach der angemessenen Bestimmung, Sicherung oder Verbesserung dieser Qualität stellt sich über alle der genannten Bereiche hinweg. Die Lösungswege, die dabei beschritten werden, unterscheiden sich aber ebenso wie die Klärungsnotwendigkeiten und die gefundenen bzw. vorgeschlagenen Lösungen. Daraus lässt sich die Frage ableiten, ob es erwartbar (und sinnvoll) ist, über die verschiedenen Bereiche und Kontexte hinweg eine gültige Antwort auf die Qualitätsfrage zu finden oder nicht. Kaum umstritten ist, dass qualitative Forschung eine Antwort auf diese Frage finden muss. Jedoch herrscht wenig Einigkeit darüber, wie diese Antwort aussehen soll: Liegt sie darin, Gütekriterien zu formulieren, die idealerweise Grenzwerte oder Benchmarks zur Unterscheidung von guter und weniger guter Forschung „mitliefern“? Dann lautet die erste Frage, welche Kriterien hierfür geeignet sind, und die zweite, ob sie für „die“ qualitative Forschung gültig sein sollen oder für bestimmte Richtungen in der qualitativen Forschung. Wenn Kriterien, sollen sie dann auf eine Grounded-Theory-Studie

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gleichermaßen anwendbar sein wie auf eine Untersuchung, die auf Fallrekonstruktionen im Sinne der objektiven Hermeneutik basiert – oder auch auf eine Fallstudie zur Evaluation einer Institution? Oder stellt sich die Frage der Qualität bei qualitativer Forschung grundsätzlich anders – jenseits von Kriterien? Dann wäre zu fragen, was an die Stelle von Kriterien treten soll und kann.

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Stärken, Schwächen und Desiderata

Die vorangegangen Ausführungen sollten verdeutlichen, dass es unterschiedliche Vorschläge gibt, wie Gütekriterien für qualitative Forschung in der Psychologie bzw. generell formuliert werden könnten. Es hat sich aber bislang gezeigt, dass 1. diese Kriterien in sich begrenzt stimmig sind. Die bislang vorliegenden Kriterien sind 2. nicht unbedingt von dem Kontext, in dem sie entwickelt wurden, auf andere methodische Herangehensweisen oder Anwendungsfelder übertragbar. Entsprechend zeichnet sich 3. auch kein Konsens in „der“ qualitativen Forschung hinsichtlich der Kriterienfrage ab, wie er in der quantitativen Forschung festzustellen ist. Wenn die vorliegenden Vorschläge oder noch zu entwickelnde Alternativen die Funktion von Kriterien und die damit verknüpften Erwartungen (auch von Förderinstitutionen, Zeitschriften etc.) erfüllen sollen, müssen zwei Probleme gelöst werden, damit sie eine ähnliche Rolle spielen können wie die Kriterien in der standardisierten Forschung: 1. Das Benchmarkproblem muss geklärt werden (z.B.: wie viel Glaubwürdigkeit ist notwendig, wie viele Befragte müssen zustimmen, damit daraus die Gültigkeit von Aussagen abgeleitet werden kann?). 2. Die Kriterien müssen so formuliert werden, dass sie auf jede Form qualitativer Forschung angewendet werden können bzw. für jeden Ansatz qualitativer Forschung akzeptabel sind. Erst dann werden sie eine ähnlich klärende und legitimierende Funktion nach innen und vor allem auch nach außen für die qualitative Forschung übernehmen können, wie dies die klassischen Kriterien für die standardisierte Forschung tun. Wenn diese beiden Probleme nicht gelöst werden können – und es gibt berechtigte Zweifel, ob dies ohne Aufgabe wesentlicher Eigenschaften und Stärken qualitativer Forschung gelingen wird –, bleibt weiter über Alternativen zu Kriterien nachzudenken. Hier bieten möglicherweise Strategien der Qualitätsentwicklung qualitativer Forschung eine Alternative – von der Verwendung der Triangulation als Erweiterung des Zugangs zum untersuchten Feld bzw. Gegenstand (vgl. Flick 2008b und in diesem Band) bis hin zum Qualitätsmanagement in der Forschung (vgl. Flick 2008a).

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Franz Breuer & Margrit Schreier

Franz Breuer & Margrit Schreier

Lehren und Lernen qualitativer Forschungsmethoden 1

Psychologische Forschungsmethodik im institutionellen Kontext

Die Methodik besitzt in der akademischen Psychologie und ihrer institutionalisierten Ausbildung von Studierenden traditionell einen hohen Stellenwert. In den universitären Curricula im deutschen Sprachraum äußert sich das in der herausragenden Gewichtung von Kursen in mathematisch-statistischer Datenauswertung. Diese Ausrichtung ist gekoppelt mit vorwiegend naturwissenschaftlich und/oder experimentell ambitionierten Denk- und Vorgehensweisen. Innerhalb des Mainstreams werden Repräsentant/innen und Repräsentationen qualitativer Methodik häufig mit Ignoranz, Randständigkeit oder einem ambivalenten Image von „Alternativität“ konfrontiert. Es lässt sich derzeit als Zeichen von Liberalität im Rahmen psychologischer Methodenlehre deuten, wenn in einem Standard-Lehrbuch ein Übersichtskapitel zu qualitativen Methoden enthalten ist, und deren Berücksichtigung im Rahmen der Psychologieausbildung vorgeschlagen wird (vgl. etwa Bortz & Döring 2006). Kaum ein Lehrbuch thematisiert beide Ausrichtungen in vergleichbarer Gründlichkeit (als Beispiel für eine Ausnahme: Hussy, Schreier & Echterhoff 2010). Das hat zur Konsequenz, dass Psychologiestudierende im etablierten Fachcurriculum keinen selbstverständlichen Zugang zu Möglichkeiten der Aneignung qualitativer Methodik bekommen. Sie müssen sich entsprechende Kenntnisse in anderen Fächern, durch Selbststudium oder in Form von Tagungen und Workshops aneignen. Eine kompetente fachliche Betreuung von Forschungsarbeiten (Diplomarbeit bzw. Magister-, Bachelor-, MasterThesis, Dissertation), die auf der Basis qualitativer Methodik operieren, ist im Rahmen eines Psychologiestudiums hierzulande und heutzutage selten möglich. In einer Liste qualitativ-methodischer „Forschungswerkstätten“ im deutschsprachigen Hochschulraum, die sich u.a. der Betreuung von Qualifikationsarbeiten widmen, gibt es z.Zt. nur eine einzige Psychologie-Adresse unter 32 aufgeführten Angeboten.1 Unter den aktuellen Umwälzungsbedingungen im Hochschulwesen wird die Situation noch prekärer: Bei der Modularisierung, Ausdünnung und Komprimierung des Wissensbestandes im Rahmen der Bachelor-Studiengänge konzentriert man sich auf den „Kernbestand“ des Mainstreams – und dazu gehören in der Psychologie (gegenwärtig) die qualitativen Methoden nicht.2

1 Vgl. http://www.qualitative-forschung.de/information/akteure/forschungswerkstaetten/forschungswerkstaetten. pdf, Stand: 7.12.2009. 2 Diese Tatsache kommt auch darin zum Ausdruck, dass das vom „Berliner Methodentreffen Qualitative Forschung“ ausgehende „Memorandum für eine fundierte Methodenausbildung in den Human- und Sozialwissenschaften“ (http://www.qualitative-forschung.de/methodentreffen/memorandum/), das für eine Hochschulausbil-

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Die Mehrdeutigkeit von Forschungssituationen

Qualitative Methodik ist von ihrer Programmatik her durch ein Offenheits- und Flexibilitätspostulat gekennzeichnet. Adaptivität, Wahlentscheidungen und Wandelbarkeit gehören von vornherein und konstitutiv zu den normalen Anforderungen des Forschungsgeschäfts. Aus dieser Kennzeichnung ergibt sich ein hohes Maß an Freiheit und Verantwortung für Forschende: Unterschiedliche Herangehenswege sowie verschiedene „Lesarten“ von Daten können sinnvoll und interessant sein. Die Person des/der Forschenden „zählt“. Qualitativ Forschende haben vielfältig mit Mehrdeutigkeiten, mit Ambiguität, zu tun. So ist mitunter nicht klar zu bestimmen, was in einer Situation (einer beobachteten Interaktion, einem geführten Interviewgespräch o.ä.) „der Fall“ bzw. „gemeint“ ist, und es ist nicht eindeutig, welche Deutung hier angemessenerweise zum Zuge kommen soll. Die Tatsache, dass unterschiedliche Beteiligte und Beobachter/innen nicht zur übereinstimmenden Charakterisierung eines Geschehens kommen (können), ist möglicherweise nicht mit methodischen Mitteln zu eliminieren. Vielmehr können derartige Uneindeutigkeiten charakteristische und konstitutive Merkmale von sozialen Situationen, Konstellationen und Ereignissen eines bestimmten Typs ausmachen (z.B. im Fall sozialer Konflikte). Für Lernende bzw. Anfänger/innen sind Postulate qualitativer Methodenlehre wie theoretische Offenheit, multiple perspektivische Deutbarkeit und flexible Regelanwendung nicht leicht nachzuvollziehen und einzulösen. Noviz/innen im Handlungsfeld Forschungsmethodik möchten häufig einfache und klare Verhaltensleitlinien. Von Lehrenden verlangen sie verbindliche Auskünfte über richtige und falsche Vorgehensschritte, Interpretationen, Schlussfolgerungen; insbesondere, wenn sie zuvor bereits in quantitativer Methodenappliaktion ausgebildet sind (Bogard & Wertz 2006; Glesne & Webb 1993). Ein gewisses Maß an Ambiguitätstoleranz ist jedoch aufseiten der Lernenden unabdingbar: Unsichere Situationen und Prozesse mit ungewissem Ausgang müssen über einige Zeit lang ausgehalten werden können (Bogard & Wertz 2006; Hein 2004; Kleinmann, Copp & Henderson 1997; Poulin 2007; Rogers 2003). Die Möglichkeiten des Rückzugs auf feste „Standards“ sind im Rahmen qualitativer Forschungsmethodik begrenzt.

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Schulen und Realisierungsweisen qualitativer Methodik

Bisher ist von der qualitativen Methodik die Rede gewesen – als ob es sich hierbei um ein homogenes Gefüge handeln würde. Dies ist jedoch eine Idealisierung, die die Verhältnisse nur unzulänglich kennzeichnet. In aktuellen Ansätzen finden wir im Spektrum der qualitativen Methodenlehre beispielsweise die „Tiefenhermeneutik“, die „objektive Hermeneutik“, die „Strukturlegetechnik“, die „qualitative Inhaltsanalyse“, die „Diskursanalyse“ und die „Grounded-Theory-Methodik“ (um nur einige exemplarisch zu nennen; vgl. zur Übersicht über die Vielfalt Hitzler & Honer 1997; Mruck, Bergold, Breuer & Legewie 2000; Camic, Rhodes & Yardley 2007; Holstein & Gubrium 2008; Willig & Stainton-Rogers 2008). Jede dieser Richtungen besitzt (mehr oder weniger entschieden und elaboriert) ihre eigenen Vorstellungen und Konzepte zur Vermittlung des Ansatzes und zur Ausbildung „zertifizierdung auch in qualitativer Methodik plädiert, zwar von den wesentlichen Fachgesellschaften der deutschsprachigen Soziologie, jedoch nicht von den entsprechenden Mainstream-Psychologie-Vereinigungen unterstützt wird.

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ter Repräsentanten“. Angehörige der „zweiten Generation“ einer Methodenschule haben ihre Einsozialisation „von der Hand“ des Schulengründers bzw. der -gründerin erhalten und legitimieren sich von dort aus. Wir haben es hier mit der Lehr-Lern-Figur der Meister/in-Schüler/in-Beziehung zu tun, wie dies häufig in der Ausbildung von Künstler/innen, Handwerker/innen oder in religiösen Kontexten Praxis ist. Das bei der Unterweisung transferierte Charisma verblasst in der Regel von Generation zu Generation. Mit fortschreitender Zeit, Konzeptelaboration und Institutionalisierung wird nicht mehr von den Meister/innen persönlich, sondern von ihren direkten Schüler/innen, später von Schüler/innen zweiten Grades und schließlich in „akkreditierten“ Fortbildungsprogrammen und aus Lehrbüchern gelernt. Eine andere Differenzierung des Feldes qualitativer Methoden ist die nach dem Umfang ihrer Realisierung. Wird qualitative Methodik – bzw. eine bestimmte Richtung oder Schule – in ihrem gesamten „methodologischen Bogen“ (gewissermaßen von A bis Z) verwendet? Oder werden nur gewisse Ausschnitte bzw. Elemente (z.B. Kodierverfahren) für bestimmte Zwecke zur Anwendung gebracht? Wir haben in einem Aufsatz über Lehren und Lernen (Breuer & Schreier 2007) zwei Realisierungsweisen qualitativer Methodik typisierend einander gegenübergestellt. Am einen Pol befindet sich eine ganzheitlich durchkomponierte – gewissermaßen paradigmaförmige – Konzeption, die häufig auch eine identifikatorische Komponente besitzt, am anderen Pol eine Konzeption, die durch situativ-pragmatisch und opportunistisch gewählte methodische Praktiken und eine „technokratische“ Haltung gekennzeichnet ist. Im ersteren Fall können wir an Modelle interpersonaler Co-Konstruktion (etwa cognitive apprenticeship – Collins, Brown & Newman 1989 – oder einen begleitend-kooperativen Stil wie bei Roth 2006) denken. Dort sind die Arbeits- und Betreuungsverhältnisse idealerweise zwischen Kolloquium, Supervision und Interpretationswerkstatt konzipiert (vgl. Mruck & Mey 1998). In der zweiten Variante geht es darum, das Inventar qualitativer Methoden in seiner Sortierung in einem Instrumentenkoffer kennenzulernen, wobei man sich daraus in pragmatischer und eklektizistischer Manier – passend für den Forschungszweck und die Umstände – bedient. Typisch für qualitativ Forschende ist die Auffassung von der Umsetzung eines ganzheitlichen Forschungsstils. Daraus folgt, dass auch die Lehre qualitativer Forschung sich nicht in der Vermittlung von Methoden als Techniken erschöpft, sondern auf die Aneignung einer „qualitativen Einstellung“, einer „qualitativen Weltsicht“ abzielt (vgl. z.B. Breuer 1996, S.171ff.; 2009; Poulin 2007; Rogers 2003). Die Auffassungen darüber, inwieweit eine solche Einstellung tatsächlich lehrbar ist, gehen auseinander und stehen mit je unterschiedlichen Konzeptualisierungen der Anwendung qualitativer Methoden in Zusammenhang (Hammersley 2004; Ruckdeschel & Shaw 2002). Fasst man qualitatives Forschen als Kunst auf, die entsprechendes Talent voraussetzt und von individueller Intuition geleitet wird, so sind der Lehr- und Lernbarkeit Grenzen gesetzt (vgl. Rist 1983). Eine Sichtweise qualitativen Forschens als Handwerk geht demgegenüber von einer stärkeren Regelgeleitetheit aus, ohne dass intuitive Komponenten gänzlich verbannt wären. Unter dieser Perspektive bildet sich mit zunehmender Expertise eine bestimmte Einstellung gegenüber dem Gegenstand heraus (Josselson, Lieblich & Rogers 2003; Rogers 2003; Ruckdeschel & Shaw 2002). Das Ziel, eine bestimmte Einstellung zu vermitteln, wird zu einem wesentlichen Merkmal qualitativer Methodenlehre. Das geschieht in einem Prozess des Einsozialisierens der qualitativen Methoden-Lehrlinge.

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In der Literatur zur Didaktik qualitativer Methoden finden sich immer wieder Hinweise auf die Andersartigkeit von Veranstaltungen zur qualitativen – gegenüber der quantitativen – Methodenlehre (z.B. Glesne & Webb 1993; Hopkinson & Hogg 2004; Kleinmann et al. 1997; Rogers 2003). Folgende Konkretisierungen werden dabei ins Feld geführt: Lehrende betonen die Bedeutung von Reflexivität (so Hopkinson & Hogg 2004; Kleinmann et al. 1997; Navarro 2005) sowie – unter Hinweis auf die Flexibilität des qualitativen Forschungsprozesses – von Ambiguitätstoleranz (s. oben; Kleinmann et al. 1997; Poulin 2007; Rogers 2003). Auch die Fähigkeiten zum Zuhören (Poulin 2007), zum „richtigen“ Stellen von Fragen (Strauss 1988), zum Aushalten von und Umgang mit Komplexität (Kleinmann et al. 1997; Poulin 2007; Rogers 2003) und zum kritischen Denken (Glesne & Webb 1993) werden herausgestellt. Der Gesichtspunkt des Einsozialisierens kommt in der Konzeptualisierung von Lehrveranstaltungen vielfältig zum Tragen (einschlägige Beschreibungen finden sich u.a. in Ballard & Jensen 2007; Ellis 2004; Flick & Bauer 2005; Harlos, Mellon, Stablein & Campbell 2003; Hopkinson & Hogg 2004; Nyden 1991; Page 1997; Poulin 2007; Strauss 1988). Durchgängig enthalten die Veranstaltungen ein Anwendungselement, d.h. die Studierenden sind angehalten, den Prozess qualitativen Forschens selbst zu erfahren, etwa im Rahmen eines eigenständig oder eines gemeinschaftlich konzipierten und durchgeführten Forschungsvorhabens. Der Schwerpunkt liegt auf dem eigenen und gemeinsamen Tun der Lernenden. Sie erfahren dabei auf vielfältige Weise Unterstützung: Die Lehrenden fungieren als Vorbilder – sei es, indem sie ihr eigenes Forschungshandeln darstellen und kritisch diskutieren (z.B. Janesick 1983), oder indem sie mit den Studierenden an der Durchführung der Forschungsvorhaben beteiligt sind (z.B. Nyden 1991). Eine weitere wichtige Maßnahme ist das Feedback an die Studierenden (z.B. Glesne & Webb 2003; Rogers 2003). Vielfach ist auch die wechselseitige Unterstützung durch die Lernenden selbst im Sinne einer Lerngemeinschaft von Peers vorgesehen (Glesne & Webb 1993; Kleinmann et al. 1997; Navarro 2005).

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Vermittlungsformen qualitativer Methoden in unterschiedlichen Kontexten

In der Praxis ist das Lehren und Lernen qualitativer Methoden wenig kanonisiert. Es gibt eine große Vielfalt von Formen und Weisen, einschlägige Kompetenzen zu erwerben und zu entwickeln sowie diese zu vermitteln und zu lehren. Hier spielen disziplinäre Kulturen, historische Konjunkturen, curriculare Rahmensetzungen, lokale Besonderheiten und motivationale Gegebenheiten aufseiten der Lehrenden und Lernenden eine Rolle. Es können individuell-eigenständige Aneignungen und solche in institutionalisierten Lehr-Lern-Arrangements unterschieden werden. Vermittlungen können in Universitätsveranstaltungen und in „externen“ Seminaren arrangiert sein. Sie können durch eine Lehr-Autorität angeleitet werden oder sich im Kontext gleichrangiger Peers vollziehen. Die Interaktionen unter Lehrenden und Lernenden können im Vis-à-vis-Kontakt oder per Internet-Kommunikation stattfinden. Und alle diese Aspekte können in multiplen Kombinationen auftreten. Wir skizzieren in einer stark vereinfachenden Übersicht einige typisierte Formen des Lehrens und Lernens qualitativer Methoden:

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Qualitative Methoden im Lehrplan eines Psychologiestudiums: Bis in die 1970er Jahre gab es an deutschsprachigen Universitäten auch eine ausgebaute Methodologietradition „psychologischer Interpretation“ (vgl. etwa Fahrenberg 2002). Im Zuge der (neo-) positivistischen Umorientierung der Disziplin jener Zeit verschwanden die Protagonist/innen dieser Ausrichtung – und mit ihnen die einschlägigen Lehrveranstaltungen – aus den Psychologie-Curricula. Qualitative Methoden finden heutzutage allenfalls „gnädige“ Erwähnung im Kontext einer quantitativen Methodenlehre, werden jedoch nur in Ausnahmefällen detaillierter gelehrt. Die Lehrenden bedienen das Thema gewissermaßen nebenbei, sie verbinden damit keine Eigenpraxis und Identifikation. Qualitative Methoden in Lehrforschungsprojekten im Rahmen eines PsychologieCurriculums („Forschungsorientierte Vertiefungen“ o.Ä.): Hier ist seitens des/der Lehrenden eine größere Methodenkenntnis und eine entsprechende Bereitschaft zu erwarten, sich auf den Denk- und Arbeitsstil einzulassen. Im Rahmen üblicher Psychologieausbildungen dürfte diese Form einen relativ seltenen und glücklichen Fall des Kennenlernens der qualitativen Methodenorientierung darstellen – Learning by Doing im Kontext eines themenbezogenen Forschungsprojekts, dabei Einsozialisation in einen Forschungsstil. Bei dieser Vermittlungs- und Aneignungsweise steht in der Regel eine bestimmte Konzeption (eine „Schule“) im Mittelpunkt, und es kann nicht gleichzeitig noch ein systematischer Rundblick auf den qualitativen Verfahrensreichtum gegeben werden. Für Psychologiestudierende zugängliche Veranstaltungen zu qualitativen Methoden im Rahmen eines multidisziplinären Methoden-Moduls: Dabei handelt es sich typischerweise um Überblicksveranstaltungen, häufig im Rahmen von Magister-Studiengängen. Eine Schwierigkeit ergibt sich hier aus der Heterogenität des Hintergrunds der Studierenden in disziplinärer Hinsicht: Studierende der Politikwissenschaften interessieren sich mehr für Fallstudiendesigns und für diskursanalytische Verfahren; Studierende der Soziologie würden gerne einen stärkeren Schwerpunkt auf ethnografische Methoden legen; Studierende der Kommunikationsund Medienwissenschaften beklagen, dass Verfahren der Analyse visueller Daten zu wenig behandelt werden. Die Interessen und Bedürfnisse von Studierenden der Psychologie bilden hier nur einen Gesichtspunkt unter vielen. Erschwerend kommt hinzu, dass die Lernenden sich, vor allem in MA- und Ph.D.-Studiengängen, in ihren forschungsmethodischen Vorkenntnissen stark unterscheiden. In MA-Veranstaltungen ergibt sich außerdem ein Spannungsverhältnis zwischen der Zielsetzung, eine qualitative Einstellung zu vermitteln, und dem Bedürfnis der Studierenden nach Aneignung von Verfahren, die sie in ihrer anschließenden Berufstätigkeit unmittelbar einsetzen können. Angesichts dieser Heterogenität muss in entsprechenden Lehrveranstaltungen ein oft unzureichender Kompromiss eingegangen werden. Jedoch bilden qualitative Methoden hier immerhin einen festen Bestandteil des Curriculums, auch wenn ihre Vermittlung oftmals nicht optimal erscheint. Angebote von Einführungsveranstaltungen für Studierende und Postgraduale jenseits von Hochschulcurricula: Hier treffen wir auf eine Vielfalt von Varianten: Einführungen in die Interviewmethodik, in Gruppendiskussion, in die Grounded-Theory-Methodologie oder die Inhaltsanalyse, etwa bei der GESIS in Mannheim; Vorstellung diverser Ansätze in Work-

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shops des „Berliner Methodentreffens“; Einüben von Methodenkonzeptionen beim Jahrestreffen der qualitativen Sportwissenschaftlerinnen an der Universität Osnabrück; die Einladung von Expert/innen zu Vorträgen und Tagesworkshops zu einer spezifischen Methodik – um nur einige Beispiele zu nennen. Dabei handelt es sich um eine intensive und seitens der Beteiligten auf allen Seiten erwartbar gut motivierte LehrLern-Situation. In kurzer Zeit können Interessierte einen methodischen Ansatz oder ein Verfahren durch identifizierte und erfahrene Vertreter/innen kennenlernen, einen Einstieg gewinnen, einen Impuls zur weiteren und vertiefenden Auseinandersetzung erhalten. Derartige Veranstaltungsangebote treffen oft auf große Nachfrage, v.a. im Zusammenhang mit der Vorbereitung oder Durchführung von Qualifikationsarbeiten. Es sind hauptsächlich diese Kontexte, in denen Kompensationen des unzulänglichen Lehrangebots in den einschlägigen Studiengängen an den Hochschulen geleistet werden (Mey 2008). Angebote zur Präsentation und Diskussion eigener qualitativ-methodischer Forschungsarbeiten in Tagungszusammenhängen: Hierzu gehören beispielsweise die Veranstaltungen des „Zentrums für Sozialweltforschung und Methodenentwicklung“ in Magdeburg oder die Tagungen des „Center for Qualitative Psychology“; es gibt einschlägige Forschungswerkstätten beim „Berliner Methodentreffen“ u.ä. Es besteht dort Gelegenheit, Beratung und Rückmeldung zum eigenen Forschungsprojekt durch qualitativ-methodische „Autoritäten“ und Peers zu erhalten, die von ähnlichen Problemlagen und Bemühungen getragen sind. Das Besprechen des eigenen Ansatzes, die Kontrastierung und Auseinandersetzung mit den Projekten anderer, die in verwandten Forschungssituationen arbeiten, sowie das Miterleben der Umgangsweisen erfahrener Forscher/innen bieten Chancen auf eine Bereicherung der eigenen Sichtweise. Geleitete Forschungswerkstätten an verschiedenen Orten zur Begleitung eigener Forschungsarbeiten: Dabei handelt es sich um eine kontinuierliche Supervisions- und Mentoring-Situation wie bei der Betreuung von Qualifikationsarbeiten, ergänzt durch das Feedback und die Anregungen einer Peer-Gruppe (s. auch Fußnote 1). Probleme können in der Relationierung von Mentoring- und Begutachtungskontext entstehen: Ist der Mentor/die Mentorin zugleich Gutachter/in der Qualifikationsarbeit? Wenn der Mentor/die Mentorin der Universität X angehört, die fertige Arbeit später jedoch von anderen Gutachter/innen an der Universität Y beurteilt wird, kommt es mitunter zu Abstimmungsschwierigkeiten. Die Koordinierung von Sichtweisen kann in diesem Zusammenhang eine aufwendige Anforderung sein. In jüngerer Zeit wird forschungspolitisch auch die Einrichtung sogenannter Graduiertenkollegs (größerer thematisch einigermaßen kohärenter multidisziplinärer Forschungsverbünde von Lehrstühlen und Doktorand/innen, häufig mit eigenem Fortbildungsprogramm) gefördert, die im Idealfall einen ähnlichen Mentoring- und Supervisionscharakter besitzen können.3 Lokale Selbstorganisation der Vernetzung qualitativ Forschender: Diese Lehr- und Lernform erfordert eigenständige Such-, Etablierungs- und Stilbildungsaktivitäten, verlangt und ermöglicht aber zugleich eine engagierte, motivierende

3 Siehe die Liste der von der Deutschen Forschungsgemeinschaft geförderten Graduiertenkollegs aus den Geistesund Sozialwissenschaften: http://www.dfg.de/forschungsfoerderung/koordinierte_programme/graduiertenkollegs/ liste/gk_gs_nr.html.

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und identifikatorische Peer-Zusammenarbeit. Hier ist ein breites Spektrum von Kooperationsweisen möglich – etwa das auf wechselseitige Projektunterstützung angelegte gemeinsame Auswerten bzw. Kodieren eigenen und fremden Datenmaterials bis zur dauerhaften Einrichtung einer Peer- oder Kolloquiumsgruppe, die einen spezifischen Forschungsstil und eine eigene Gruppenidentität herausbildet. Bei dieser Organisationsform bieten sich Möglichkeiten interdisziplinärer Vernetzung mit anderen sozialund kulturwissenschaftlichen Disziplinen bzw. Projekten an. Online-Begleitung von Forschungsprojekten: Im Rahmen bestimmter Projektbegleitungsangebote wird eine ortsunabhängige moderierte Peer-Kooperation mittels internetbasierter Medien etabliert.4 Trotz dezentraler Situiertheit der Mitglieder ist dort ein enger und regelmäßiger Austausch möglich, bei dem hohe Gruppenkohärenz entstehen kann (vgl. Mey, Ottmar & Mruck 2006). Die gemeinsame Arbeit in Kleingruppen und die während der Forschungsarbeit anstehenden Fragen werden über Mailinglisten in asynchroner und in verabredeten und moderierten Chats in synchroner Kommunikation organisiert. Darüber hinaus gibt es zusätzliche Werkzeuge: Dateiablagen, Online-Bibliothek, Linksammlung etc. Schließlich besteht die Möglichkeit der Kombination mit Vis-à-vis-Kontakten in Gruppentreffen und Workshops.

Anregungen für eine Didaktik qualitativer Methoden

Als ein wesentliches Ziel der Lehre qualitativer Methoden haben wir die Vermittlung einer qualitativen Einstellung herausgestellt. Die meisten Übungen, die hierauf ausgerichtet sind (vgl. Aronson-Fontes & Piercy 2000; Janesick 1998; Poulin 2007), arbeiten mit dem Prinzip, die Selbstverständlichkeiten unseres Alltagshandelns infrage zu stellen und so einen veränderten Blick auf soziale Wirklichkeit möglich zu machen sowie diese Erfahrung anschließend zu reflektieren. Poulin (2007) integriert entsprechende Übungen in ihre Veranstaltung, wenn sie die erste Sitzung des Semesters damit beginnt, dass sie die Studierenden auffordert, sich vorzustellen – selbst jedoch nichts zur eigenen Person sagt. Nach Abschluss der Vorstellungsrunde thematisiert sie die Normverletzung und die Reaktionen der Studierenden. Derartige Übungen zur Initiierung einer qualitativen Einstellung überschneiden sich mit solchen, die auf die Förderung von Reflexivität ausgerichtet sind. Als Mittel wird häufig das Forschungstagebuch eingesetzt (Hein 2004; Janesick 1983; Kleinman et al. 1997; im Überblick: Glesne & Webb 1993): Parallel zur Konzeptualisierung und Durchführung einer eigenen Studie werden die Lernenden angehalten, ihre Gedanken, Erfahrungen und Gefühle schriftlich festzuhalten. Kleinman et al. (1997) sehen in diesem Zusammenhang beispielsweise eine Seminardiskussion der Gefühle der Studierenden gegenüber den Personen im Feld vor, um so verschiedene Grundhaltungen zu identifizieren und deren Einfluss auf die Forschungsaktivitäten und das Datenmaterial herauszuarbeiten. Zusätzlich zum Forschungstagebuch lassen Kleinman et al. (1997) „Notizen-über-Notizen“ erstellen. Damit wird ein weiterer Reflexionsschritt eingeführt: Die Lernenden setzen sich nicht nur mit ihren Reaktionen in der Forschungssituation und auf die Personen dort auseinander, son4

Siehe z.B. die NetzWerkstatt unter http://www.methodenbegleitung.de/.

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dern entwickeln darüber hinaus ein Bewusstsein dafür, wie diese Reaktionen ihre Aktivitäten beeinflussen. Eine Form der Aneignung qualitativer Methoden und ihrer Mentalitäten ist die Auseinandersetzung mit einschlägigen Klassikern aus der Geschichte der Sozialforschung. Ein herausragendes Beispiel dieser Art ist die Feldforschungsstudie „Die Arbeitslosen von Marienthal“ von Jahoda, Lazarsfeld und Zeisel (2007 [1933]). Hierzu existieren ausführliche Veranschaulichungsdokumentationen und Lehreinheiten im Internet, die v.a. an den Universitäten Graz und Hannover ausgearbeitet worden sind,5 sowie zwei Dokumentarfilme („Marienthal 1930-1980“ der „Gruppe SYNC“ von 1980 und „Einstweilen wird es Mittag“ von Karin Brandauer 1987).6 Lehrveranstaltungen zur qualitativen Methodik zielen in der Regel auch darauf ab, Wissen über Erkenntnistheorie und Methodologie, über das Spektrum qualitativer Ansätze sowie konkreter Methoden und deren Anwendung zu vermitteln. Als besonders schwierig erweist sich dabei die Lehre über erkenntnistheoretische Positionen und qualitative Methodologie. Probleme machen hier sowohl die Unübersichtlichkeit von Positionen als auch die Notwendigkeit, innerhalb der gegebenen Rahmenbedingungen zwischen der Vermittlung von Methodologie und (Anwendungs-) Wissen über Methoden abzuwägen (Rogers 2003; Ruckdeschel & Shaw 2002). Zu diesem Thema liegen nur wenige Anregungen in der Literatur zur Didaktik qualitativer Methoden vor. Eine Ausnahme bildet die Konzeptualisierung einer Einführungsveranstaltung über qualitative Methoden von Poulin (2007), die fast ausschließlich auf die Vermittlung von Erkenntnistheorie und Methodologie ausgerichtet ist. Zur Präsentation verschiedener erkenntnistheoretischer Positionen nutzt sie u.a. den Spielfilm Mindwalk (1990; Regie: Bernt A. Capra; deutscher Titel: „Wendezeit“): Ein Dichter, ein Politiker und ein Quantenphysiker diskutieren über die Vor- und Nachteile einer positivistischen im Vergleich zu einer holistisch-systemischen Weltsicht. Eine ganz andere Vorgehensweise wählt Page (1997) in einem Veranstaltungsmodul zum Thema Validität. Sie lässt die Studierenden zunächst einen Text von Wolcott aus dem Jahr 1983 über dessen berüchtigte Untersuchung zu Sneaky Kid Brad lesen und über Validitätsaspekte reflektieren. Für die darauf folgende Woche sind die Studierenden angehalten, einen Folgetext zum selben Thema vom selben Autor aus dem Jahr 1990 zu lesen. Hier berichtet Wolcott über Brads Versuch, ihn (Wolcott) zu ermorden und legt offen, dass er mit Brad eine sexuelle Beziehung eingegangen war. Diese Informationen sowie die Kontrastierung der beiden Wolcott-Texte erlauben eine differenzierte Diskussion über die Bedeutung von Validität und Validitätskriterien in der qualitativen Forschung. Ferner sind hier auch forschungsethische Gesichtspunkte von Bedeutung (vgl. Roth 2003). Forschungsansätze werden meist vertieft im Rahmen einzelner Lehrveranstaltungen vermittelt und durch eigene Forschungsaktivität erfahrbar gemacht (zur Vermittlung der Ethnografie: Janesick 1983; Kleinmann et al. 1997; Rist 1983; der Grounded-TheoryMethodologie: Strauss 1988; der Autoethnografie: Ellis 2004; der narrativen Forschung: Josselson et al. 2003). Deutlich schwieriger ist es dagegen, den Studierenden in einer Veranstaltung einen Einblick in die Vielfalt qualitativer Forschungsansätze zu geben. Harlos et 5

http://agso.uni-graz.at/marienthal/studie/studie0.htm; http://www.sozpsy.uni-hannover.de/marienthal/ Vgl. http://www.sozpsy.uni-hannover.de/marienthal/archiv/archiv4.html#1; http://agso.uni-graz.at/marienthal/ studie/05_08_03_00_Einstweilen_wird_es_Mittag.htm; http://www.medienwerkstatt-wien.at/cataloge/katalog.php ?seite=marienthal. 6

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al. (2003) konzentrieren sich in einem vierwöchigen Veranstaltungsmodul auf drei Ansätze: Grounded-Theory-Methodologie, interpretative Sozialforschung und kritische Diskursanalyse. In den ersten drei Wochen wird je ein Vertreter bzw. eine Vertreterin dieser Ansätze in die Veranstaltung eingeladen und gebeten, den jeweiligen Ansatz vorzustellen und dabei auch auf die eigene biografische Forschungsentwicklung einzugehen. In einer abschließenden Sitzung werden alle drei Vertreter/innen zu einer Veranstaltung eingeladen, in der sie gemeinsam mit Studierenden Material bearbeiten und diskutieren; dabei stellen sie dar, welche Aspekte des Materials sie vor ihrem jeweiligen Theoriehintergrund akzentuieren und wie sie es interpretieren. Für die anschauliche Vermittlung und Einübung konkreter Erhebungs- wie Auswertungsmethoden liegt ein großer Fundus an Vorschlägen und Übungen vor (s. die Zusammenstellungen bei Ballard & Jensen 2007; Janesick 1998). Für ein Erlernen des Führens von Interviews schlägt Janesick (1983) beispielsweise vor, dass die Studierenden zunächst eine Person, die sie gut kennen, über ein persönliches Thema interviewen und anschließend eine ihnen unbekannte Kommilitonin zu einem eher unpersönlichen Thema befragen. Diese Übung vermittelt nicht nur Erfahrung mit Interviews, sondern kontrastiert darüber hinaus unterschiedliche soziale Forschungssituationen und den Umgang damit; sie beinhaltet also neben dem methodischen auch ein methodologisches Element.

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Probleme und Herausforderungen

Das Lehren und Lernen qualitativer Methodologie und Methodik wird in Kontexten und Curricula der akademischen Psychologie im deutschen Sprachraum – moderat ausgedrückt – derzeit wenig berücksichtigt und begünstigt. Insofern befinden sich Psychologiestudierende, die solche Herangehensweisen kennenlernen oder in eigener Forschung (etwa im Rahmen von Qualifikationsarbeiten) anwenden möchten, im Verhältnis zum disziplinären Mainstream stets in einer Randlage und besitzen einen gewissen Pionier-Status. Einschlägig interessierte und ambitionierte Lernende sind unter den beschriebenen Voraussetzungen zumeist darauf angewiesen, sich Angebote in außercurricularen oder in nachbarwissenschaftlichen Zusammenhängen zu suchen. Dabei ist viel Eigeninitiative und Improvisation erforderlich. Im Zuge des derzeitigen Umbaus der Universitäts- und Hochschulstrukturen werden die Spielräume, in denen derartige kreative Eigensinnigkeiten möglich sind, zunehmend enger. Um so mehr ist hier auf institutioneller Ebene, in hochschul- und fachpolitischer Hinsicht, ein Umdenken und Umsteuern nötig, damit dieser Forschungsstil nicht – zusammen mit anderen überkommenen akademischen Freiräumen – gänzlich aus der Psychologie eliminiert und der interdisziplinäre Bezug zu benachbarten Sozial- und Kulturwissenschaften nicht abgeschnitten wird. Entsprechend dem o.g. „Memorandum für eine fundierte Methodenausbildung in den Human- und Sozialwissenschaften“7 sind u.E. im Rahmen der Lehrpläne an Hochschulen und Universitäten folgende (Minimal-) Angebote notwendig: 7 Siehe Fußnote 2. Ein „Manifest“ zu den „Methoden qualitativer Sozialforschung“, Anfang 2010 herausgegeben von der „Schweizerischen Akademie der Geistes- und Sozialwissenschaften“, enthält ähnliche Maximen bezüglich der Frage: „Wie sollen Methoden der qualitativen Forschung gelehrt werden?“, s. http://www.qualitative-research. ch/docs/Manifest_Qualitative_Sozialforschung_online.pdf.

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Es sollten wissenschaftstheoretische und allgemein-methodologische Grundlagen sowie ethische Leitlinien sozialwissenschaftlich-empirischen Forschens sowohl unter quantitativ wie qualitativ ausgerichteten Konzeptionen vermittelt werden; weiterhin sind Überblickskenntnisse über die wichtigsten qualitativen Verfahren, deren Eignung für Forschungsgegenstände und Fragestellungen sowie deren Koordinierbarkeit mit quantitativ orientierten Forschungsschritten erforderlich; es muss möglich sein, ein ausgewähltes qualitatives Verfahren einzuüben, einschließlich der Einsozialisation in den Forschungsstil anhand der Bearbeitung einer spezifischen empirischen Fragestellung, im besten Fall in einer angeleiteten und supervidierten Projektgruppe; Studienabschlussarbeiten unter einem qualitativen Forschungsstil müssen möglich sein, sie müssen kompetent begleitet und beraten werden; eine interdisziplinäre Vernetzung und Kooperation qualitativen Methodenlernens und Forschens im Rahmen von Lehrplänen, Projektgruppen, Forschungswerkstätten etc. sollen ermöglicht und gefördert werden.

Auf einer solchen Basis institutioneller Grundsicherung der Ausbildungsmöglichkeiten in qualitativer Methodik lassen sich detailliertere hochschuldidaktische Überlegungen zur curricularen Anlage, zur Vorlesungs- und Seminargestaltung, zur Arbeit in und Betreuung von Projektgruppen sowie zum Anfertigen von Studienabschlussarbeiten entwickeln. Im englischsprachigen Raum finden sich zahlreiche Veröffentlichungen zur und Anregungen für eine Didaktik qualitativer Sozialforschung unter Berücksichtigung der besonderen Charakteristika qualitativer Methoden. Speziell für die Psychologie existieren allerdings auch dort nur wenige Publikationen (etwa Aronson-Fontes & Piercy 2000; Navarro 2005; Rogers 2003). Ressourcen für die Lehre qualitativer Methoden in der Psychologie werden lediglich auf der Webseite der British Psychological Society8 zur Verfügung gestellt, während die Webseite der American Psychological Association9 sowie die Homepage der Deutschen Gesellschaft für Psychologie10 keinerlei Hinweise zu qualitativen Methoden und ihrer Didaktik enthalten (vgl. dagegen die Sammlung von Materialien zur Lehre qualitativer Methoden der American Sociological Association, inzwischen bereits in der vierten Auflage: Ballard & Jensen 2007; sowie die „Leseliste“ empfohlener Grundlagenliteratur zu qualitativen Methoden der Sektion „Methoden der qualitativen Sozialforschung“ der Deutschen Gesellschaft für Soziologie).11 Weiterführende Literatur Ballard, James David & Jensen, Vickie (Hrsg.) (2007). Teaching qualitative methods. A collection of syllabi and instructional methods (4. Aufl.). Washington, DC: ASA. Glesne, Corinne & Webb, Rodman (1993). Teaching qualitative research: Who does what? Qualitative Studies in Education, 6(3), 253-266.

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http://www.psychology.heacademy.ac.uk/s.php?p=123 http://www.apa.org 10 http://www.dgps.de/dgps/fachgruppen/methoden/presse.php 11 http://www.soziologie.de/index.php?id=236 9

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Franz Breuer & Margrit Schreier

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Lehren und Lernen qualitativer Forschungsmethoden

Teil 3: Erhebung

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Entstehungsgeschichte und historische Relevanz

Das Interview gehört in der Psychologie zu den gängigsten Verfahren der qualitativen Forschung. Die Arbeiten von Charlotte Bühler zum Lebenslauf (1933) und vor allem ab den 1950er Jahren die Einführung der „biografischen Methode“ durch Hans Thomae (1952) haben dem Interview schon früh zum Durchbruch verholfen. Auch das „psychologische Gespräch“ war und ist insbesondere im Kontext der Klinischen Psychologie für Anamnese, psychologische Beratung und Therapie selbstverständlich; gleichwohl verläuft hier zuweilen eine deutliche Trennlinie zwischen in der Praxis angewandten Gesprächen und dem Interview als Forschungsinstrument: Für die Forschung wird in der Gesamtdisziplin und in vielen Forschungsfeldern eher auf sogenannte „halbstrukturierte Interviews“ zurückgegriffen (quasi als Abfrageinstrumente ohne theoretischen Unterbau). Eine solche Selbstbeschränkung verkennt, dass theoretisch fundierte Interviewformen in der Psychologie selbst hervorgebracht wurden, und dass auch aus anderen Disziplinen wie insbesondere der Soziologie stammende Verfahren für psychologische Fragestellungen genutzt werden und zum Teil methodische Leerstellen für die Erforschung psychologischer Phänomene füllen helfen (können).

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Interviewverfahren

Mittlerweile existiert im deutschsprachigen Raum eine Fülle an Interviewvarianten, die sich unter Einbezug einer internationalen Perspektive noch zusätzlich erweitert.1 In vielen Einführungsartikeln oder Lehrbüchern zu qualitativer Forschung findet sich deshalb eine mehr oder weniger begründete Auswahl an Verfahren, und es finden sich zusätzlich einige Überschneidungen, die auf einen scheinbar kanonisierten Grundbestand qualitativer Interviews verweisen. Ein solcher Grundbestand lässt sich mit Blick auf die Psychologie wie folgt skizzieren.

1 Für einen Überblick siehe Kvale (1996) sowie Fontana und Frey (2005). Eine umfassende Dokumentation bietet das „Handbook of Interview Research“ von Gubrium und Holstein (2001), das allerdings weniger die für den deutschsprachigen Raum typische Darstellung spezieller Verfahren bietet, sondern die Diskussion verläuft eher über das Interviewen als Tätigkeit.

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2.1 Die wichtigsten Verfahren im Überblick Narratives Interview: Als auf Erzählung zielendes Verfahren gilt zuvorderst das „narrative Interview“ von Fritz Schütze. Entwickelt in den 1970er Jahren zunächst für die Erhebung politischer Entscheidungsstrukturen, avancierte es als „narrativ-biographisches Interview“ (Schütze 1983) zur zentralen Interviewtechnik innerhalb der soziologischen/erziehungswissenschaftlichen Biografieforschung und fand auch eine angemessene Berücksichtigung in Teilen der Psychologie (z.B. Wiedemann 1986); abgewandelt fand es auch im nichtdeutschsprachigen Raum Anwendung (Wengraf 2001).2 Das narrativ-biografische Interview sensu Schütze verläuft in drei Phasen („Eröffnung“, „Nachfrageteil“, „Bilanzierung“). In der Regel wird kein Leitfaden eingesetzt, denn Schütze vertraut ganz auf die „Zugzwänge“ des Erzählens: Hiernach sind die Interviewten „gezwungen“, subjektiv Bedeutsames hervorzuheben („Relevanzsetzung“) und zu raffen („Kondensierung“), aber auch so detailliert und ausführlich zu sein (unter Darstellung der wesentlichen Schauplatzcharakteristiken, der beteiligten Akteure und der eigenen SelbstPositionierung), dass die Erzählung für Zuhörende verständlich wird („Detaillierung“). Und sie sind „gezwungen“, ihre (Lebens-) Geschichte vom (durch die Interviewenden gesetzten zeitlichen) Beginn bis zum Ende zu erzählen, damit diese nachvollziehbar wird („Gestaltschließung“). Über die Erzählungen werden Schütze zufolge die Deutungsmuster („subjektive Theorien“) und die Prozessstrukturen des Lebenslaufs (institutionelle Ablauf- und biografische Handlungsmuster sowie Verlaufskurven und Wandlungsprozesse) zugänglich. Schütze geht hierbei von der Homologie von Erzähltem und Erlebten aus (zur Kritik siehe früh schon Bude 1985). Bei der Anwendung des narrativen Interviews wird sehr viel Wert auf die „erzählgenerierende“ Eröffnungsfrage gelegt, die eine Stegreiferzählung hervorrufen soll. Auch im Nachfrageteil sollen durch sog. „immanente Nachfragen“ weitere Erzählungen generiert werden. Erst der dritte Teil des Interviews zielt auf eine abstraktere Darstellung und auf andere Textsorten (insbesondere Argumentationen und Begründungen statt Erzählung). Die Rolle der Interviewenden besteht zunächst darin, interessiert zuzuhören und das Erzählverhalten durch eine wohlwollende Haltung und mittels nonverbaler Signale zu fördern. Im Interviewverlauf können sie dann zu interessiert Nachfragenden werden, und erst zum Schluss („Bilanzierung“) sollen sie aktiver in die Gesprächsgestaltung eingreifen. Rezeptives Interview: Eine dem narrativen Interview ähnliche (allerdings nicht erzähltheoretisch fundierte) Variante hat Gerhard Kleining (1994) vor dem Hintergrund seines heuristischen Ansatzes (siehe Kleining in diesem Band) mit dem „rezeptiven Interview“ vorgeschlagen: In dieser explizit einseitig konzipierten Kommunikation sind Interviewende fast ausschließlich wohlwollend Zuhörende in unmittelbar sozialen Situationen, die Interviewpartner/innen sind die eigentlichen Akteure von der Themenauswahl bin hin zur konkreten Gesprächsgestaltung, da für Kleining das explorative Potenzial des Interviews im Mittelpunkt steht und der Einfluss der Interviewenden möglichst gering gehalten werden soll. Ethnografisches Interview und ero-episches Gespräch: Offene, nicht vorab strukturierte Gespräche sind besonders in der Feldforschung wesentlich, so das „ethnografische Inter2 Das narrativ-biografische Interview sollte nicht mit dem „biografischen Interview“ von Hans Thomae verwechselt werden, einem Versuch, sehr systematisiert und theoriegeleitet Lebensgeschichten und darin vorkommende Ereignisse zu erfragen.

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view“ (Spradley 1979) oder das „ero-epische Gespräch“3 (Girtler 2002). Das ethnografische Interview entsteht zumeist unmittelbar in informellen Feldforschungssituationen, wobei anders als beim rezeptiven Interview Forschende entlang ihrer Interessen und Fragen den Gesprächsverlauf durchaus strukturieren. Girtler zielt – anders als Kleining – gemäß dem Prinzip der Egalität auf die gleichberechtigte Kommunikation zwischen Forschenden und Beforschten, mit der die „künstliche Interviewsituation“ zugunsten der Nähe zum Alltag aufgegeben werden soll. Es wendet sich damit allgemein gegen den Begriff und das Konzept des Interviews und im Besonderen gegen das narrative Interview oder gegen „Tiefeninterviews“ wegen der dort aufgehobenen Reziprozität und wegen des Verstoßes gegen die Konventionen von Alltagsgesprächen. Problemzentriertes Interview: Wie das narrative Interview in der Biografieforschung, so ist das „problemzentrierte Interview“ von Andreas Witzel (1982, 2000) in den Sozialwissenschaften und – weil es zuweilen irrtümlich als halbstrukturiert eingeführt wurde und Witzel zudem Psychologe ist – auch in der Psychologie sehr weit verbreitet. Das problemzentrierte Interview gründet u.a. auf ethnomethodologische Überlegungen sowie auf die Vorarbeit Cicourels (dazu Witzel & Mey 2004) und grenzt sich explizit gegen das narrative Interview ab, da die Interviewsituation viel deutlicher als bei Schütze als kommunikatives Geschehen verstanden wird: Während Fragen im narrativen Interview als die Erzählung „störend“ bzw. als Ablenkung der Interviewten vom eigenen Erleben gelten, kommt ihnen nach Witzel eine aktive, das Gespräch mitgestaltende Explorationsfunktion zu. Zu den Fragetypen, durch die das Interview „gesteuert“ und (gemeinsam mit den Befragten) gestaltet werden kann, gehören insbesondere die „allgemeinen Sondierungen“, die im Dienste der „Materialgenerierung“ stehen („Sachnachfragen“ und „Erzählaufforderungen“) und die „spezifischen Sondierungen“, die basierend auf gesprächspsychologischen Überlegungen auf eine „diskursive Verständnisgenerierung“ zielen („Zurückspiegelung“, „Verständnisfragen“ und „Konfrontation“). Das problemzentrierte Interview hat keinen festen Ablauf (auch wenn ein dem narrativen Interview vergleichbarer Erzählbogen wünschenswert ist), sondern die Interviewenden können schon sehr früh strukturierend und nachfragend in das Gespräch eingreifen, Themen einführen, Kommentare und Bewertungen erbitten oder im Sinne eines dialogischdiskursiven Vorgehens bereits im Interview selbst beginnen, die eigenen Interpretationen kommunikativ zu validieren (siehe für einen detaillierten Vergleich des problemzentrierten und des narrativen Interviews Mey 2000). Sie sollten das Gespräch im Sinne eines dialogisch-diskursiven Vorgehens dabei natürlich trotzdem nicht dominieren. Der für das Interview zu nutzende Gesprächsleitfaden dient nach Witzel lediglich als Gedächtnisstütze für die Interviewenden. Zusätzlich wird ein Kurzfragebogen (wahlweise vor oder nach dem Interview) eingesetzt, mit dem wesentliche Rahmendaten erhoben und Faktenfragen behandelt werden können. Fokussiertes Interview: Ein Grundkonzept des Nachfragens ist bereits in der „Urfassung“ aller Leitfadenbasierten Interviews, dem „fokussierten Interview“ von Merton und Kendall (1979 [1946]), enthalten, für das erstmals systematisch Ziellinien des Interviewens (allerdings nicht in Form von Handlungsanleitungen) benannt wurden. Demnach richten sich alle (Nach-) Fragen auf Spezifität (Hinausgehen über die Ebene allgemein gehaltener Aussagen), auf die Erfassung der relevanten Aspekte/Themen (von den Interviewenden 3

Zusammengesetzt aus erotan – fragen und eipon (epos) – reden, mitteilen, siehe auch http://www.qualitativeforschung.de/fqs-supplement/members/Girtler/girtler-10Geb-d.html.

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„vorgegeben“ und von den Interviewten „eingebracht“), auf eine affektive, kognitive und evaluative Vertiefung über „kürzelhafte“ Benennungen hinaus und auf eine Exploration des biografischen Hintergrundes (bzw. des „personalen Kontexts“) als Voraussetzung für eine angemessene Interpretation. Partnerschaftliches Gespräch: Mittlerweile finden sich einige Varianten, die dem problemzentrierten Interview ähnlich sind, aber mit etwas anderen Akzentuierungen versehen werden und damit verdeutlichen, wie sich das Spektrum an Interviewformen ausdifferenziert hat. Ähnlich wie Witzel hat Wilhelm Kempf (1987) mit dem „partnerschaftlichen Gespräch“ vorgeschlagen, stärker auf eine klient/innenzentrierte Interviewführung abzuheben. Er begründet dies damit, dass es in psychologischen Kontexten immer um eine Bereitschaft zur „Preisgabe privater Realität“ gehe, was eine besondere emotionale und kommunikative Beziehung zwischen Forschenden und Beforschten voraussetze und eine deutliche Sichtbarkeit der Forschenden und ihre (Forschungs-) Interessen auch in der Interviewsituation impliziere. Episodisches Interview: Mit der Einführung des „episodischen Interviews“ zielt Uwe Flick (2002) auf eine systematischere Verknüpfung von Textsorten (als es ihm im problemzentrierten Interview gegeben scheint), um „narrativ-episodisches Wissen“ über Erzählungen (Episoden) und „semantisches Wissen“ über konkret-zielgerichtete Fragen zugänglich zu machen. Themenzentriertes Interview: Ariane Schorn (2000) will mittels des „themenzentrierten Interviews“ – der tiefenhermeneutischen Perspektive der Autorin verpflichtet und ähnlich dem „szenischen Interview“ oder anderen „Tiefeninterviews“ aus dem Umfeld der psychoanalytischen Sozialforschung – über die Erhebung subjektiver und manifester Sinnbezüge hinaus auch „abgewehrte“ und latente Sinngehalte erschließen (siehe zu psychoanalytischen Interviews zusammenfassend Kvale 1999). Personzentriertes Interview: Claudia Woelfer (2000) wiederum differenziert für ihr „personzentriertes Interview“ unter Bezug auf die klient/innenzentrierte Gesprächsführung à la Rogers, die auch für Witzel leitend ist, spezifische Frage- und Interventionsformen (so etwa „Symbolisieren“, „Spiegeln“, „Differenzieren“, „Initiativfragen“ etc.), mit denen das Gespräch gestaltet werden soll. Systemisches Interview: Schorn und Mey (2005) argumentieren ähnlich für den Einbezug von systemischen und zirkulären Frageformen, die üblicherweise im Kontext der Beratungsarbeit (vgl. v. Schlippe & Schweitzer 1999) Anwendung finden, um differenzierte Darstellungen zu erhalten. Mit systemischen Fragen lassen sich Sachverhalte aus der ersten, zweiten oder dritten Wahrnehmungsposition erfragen: In der ersten Wahrnehmungsposition beschreiben die Interviewten den Sachverhalt aus der eigenen Sicht, in der zweiten wird die Perspektive gewechselt und aus der Sicht vertrauter Anderer beschrieben, in der dritten aus der „Vogelperspektive“ bzw. aus der Perspektive unbeteiligter Dritter. Ähnliche (zirkuläre) Fragetypen sind „Klassifikationsfragen“ („Wer freut sich am meisten darüber, dass ...?“), „hypothetische Fragen“ („Einmal angenommen, es wäre ...., was wäre dann anders?“), „Kontextualisierungsfragen“ („Wie verhält sich ...?“), Fragen nach Visionen oder Utopien („Welches Leben würden Sie führen, wenn ...?“) und „Metaphernfragen“ („Wenn Sie versuchen würden, ein Bild oder eine Überschrift für die beschriebene Situation zu finden, ...“). Halbstrukturiertes Interview: Das „halbstrukturierte Interview“ (Groeben & Scheele 2000) beinhaltet zwei Teile: Im ersten Teil, dem eigentlichen halbstrukturierten Interview,

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werden über offene Fragen explizit verfügbare Annahmen und Bestandteile „subjektiver Theorien“ erfragt. Dabei werden stärker implizite Wissensbestände über theoriegeleitete Fragen und schließlich über Konfrontationsfragen eruiert, um die sich entwickelnden subjektiven Theorien selbstkritisch zu „prüfen“. Im zweiten Teil werden dann mittels der sog. Struktur-Lege-Technik die Aussagen aus dem ersten Interview gemeinsam strukturiert und kommunikativ validiert. Am Ende steht eine ausgearbeitete subjektive Theorie zu dem untersuchten Themenbereich (siehe ausführlicher Groeben & Scheele in diesem Band). Konfrontationsinterview: Ähnlich – wenn auch nicht dem Anspruch auf Theorie so stark verpflichtet, aber nach kritischer Auseinandersetzung mit dem Ansatz des „Lauten Denkens“ (s. Konrad in diesem Band) – ist das „Konfrontationsinterview“ ausgerichtet, das Franz Breuer (1995) im Kontext von Beratungsgesprächen entwickelte. Darin werden den Interviewten (i.d.R. per Video aufgezeichnete) Interaktions-/Handlungssequenzen vorgeführt mit der Bitte, diese hinsichtlich der (erinnerten) „inneren Handlungsanteile“ zu erläutern, um so deren subjektive (Mikro-) Perspektive zu erfassen. Struktur-Dilemma-Interview: Die Grundidee, ein Interview mit vorgegebenem „Reizmaterial“ zu eröffnen, findet sich bereits beim „fokussierten Interview“, in dem – da in der Medienrezeptionsforschung begründet – zumeist Filme oder Zeitungskommentare genutzt wurden. Diese Idee fand auch Eingang in das „Struktur-Dilemma-Interview“ der psychologischen Moralforschung (siehe Kohlberg 1995), in dem Dilemmata (Geschichten) aus miteinander unvereinbaren Werten oder Handlungsoptionen vorgegeben und Gründe für deren Lösung durch systematische Nachfragen exploriert werden. Carol Gilligan (1988), eine langjährige Mitarbeiterin von Kohlberg, die sich insbesondere für die weibliche Moralentwicklung interessierte, nutzt im Unterschied hierzu leitfadenorientierte Interviews, die an den realen Lebenssituationen ausgerichtet sind (siehe Kiegelmann 2009 im Gespräch mit Gilligan). Expert/inneninterview: Bei dem „Expert/inneninterview“, das von Michael Meuser und Ulrike Nagel (1991) eingeführt wurde, tritt die Biografie (und damit der/die Interviewte als „Person“) in den Hintergrund: die Interviewten werden – die wissenssoziologische Unterscheidung von „Laie/Laiin“ und „Experte/Expertin“ sowie „Allgemeinwissen“ und „spezialisiertem Wissen“ vorausgesetzt – als Akteure in dem von ihnen repräsentierten Funktionskontext angesprochen (siehe dazu auch die frühen Überlegungen zum elite interviewing, Dexter 2006 [1970]). Allerdings bleibt trotz der wissenssoziologischen Fundierung in der Forschungspraxis recht oft vage, wer als Experte/Expertin bzw. Spezialist/in anzusehen ist und wer nicht. Die wenig klaren Kriterien werden noch weiter unterlaufen durch eine von Jochen Gläser und Grit Laudel (2004) vorgenommene konzeptionelle Ausdehnung über den „engen“ Expert/innenbegriff hinaus. Die Rede, dass alle Befragten „Experten ihrer Selbst und ihrer Lebenswelt“ sind, trifft zwar den Kern qualitativer Forschung, taugt aber nicht im Zusammenhang mit dem Expert/inneninterview, sondern verwässert den Expert/innenbegriff: Wer Experte/Expertin ist und um wessen Spezialwissen es geht, lässt sich nur aufgrund der Forschungsfrage bestimmen (siehe dazu Littig 2008). 2.2 Probleme der Auswahl Interviews sind eine Verfahrensgruppe, die entlang der Dimensionen Interviewsteuerung (Standardisierung/Strukturierung) und evozierte Textsorte (Erzählung, Bericht, Argumenta-

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tion, Sachdarstellung, Kenndaten, Meinungen etc.) geordnet werden kann. Je nach Forschungsinteresse und Anwendungsbereich ist die Auswahl bestimmter Interviewvarianten nahe liegender als andere. Die Auswahl ist entsprechend immer wieder neu zu begründen; Festlegungen auf die eine „gute“ Interviewvariante sind wenig sinnvoll. Ratsam ist dagegen, begründet (und entsprechend dokumentiert) zu entscheiden, ob und in welcher Weise Verfahrenselemente (Fragetypen und einzubeziehendes „Reizmaterial“) kombiniert werden können. Vor dem Hintergrund der hier kurz skizzierten Verfahren wird auch deutlich, dass es für Forschende mitunter schwierig ist, die Übersicht zu behalten und eine begründete Auswahl aus der Vielfalt verfügbarer Interviewvarianten zu treffen: Teilweise sind die Bezeichnungen recht unscharf (z.B. „problemzentriertes“ oder „themenzentriertes“ Interview, denn in gewisser Weise werden in allen Interviews „Themen“ behandelt und oft sind Probleme Ausgangspunkt für die Zentrierung von Gesprächen); teilweise werden gleiche Namen für unterschiedliche Verfahren verwandt (so im Falle von sogenannten halbstrukturierten, biografischen oder Tiefeninterviews). Auch ist zuweilen die Differenz zwischen den einzelnen Verfahren auf der Ebene der Interviewführung oder der Frageelemente weniger groß, als die den Verfahren jeweils unterlegten Basistheorien (Hermeneutik, Tiefenhermeneutik, Erzähltheorie, Wissenssoziologie etc.) und die jeweils angestrebten „Textsorten“ (Erzählungen, Sachverhaltsdarstellungen, Kenndaten, Argumentationen, Berichte etc.) vermuten lassen: „Konfrontationsfragen“ finden sich z.B. bei halbstrukturierten Interviews und dem problemzentrierten Interview; insbesondere problemzentrierte, partnerschaftliche und personzentrierte Interviews greifen auf die Gesprächspsychologie zurück, um Verständnis zu generieren und die „Sicht des Subjekts“ kennenzulernen. Auch mag je nach Fragestellung mitunter eine Kombination von Elementen unterschiedlicher Interviewverfahren sinnvoll erscheinen, zumal es im Rahmen eines qualitativen Forschungsstils erforderlich ist, Methoden mit Blick auf die jeweilige Untersuchungsfrage ggf. anzupassen und zu modifizieren, wenn es die methodologischen Basisannahmen erlauben und die getroffenen Entscheidungen hinreichend plausibilisiert werden. Verwirrung stiftet jedoch, wenn zuweilen die kombinierten Verfahrenselemente selbst als neue Methoden benannt werden. Einige dieser Varianten haben sich zwar durchsetzen können, sind aber so speziell, dass sie höchstens in sehr eng umgrenzten Feldern genutzt werden und Anerkennung finden, so das Adult-Attachment-Interview (George, Kaplan & Main 2001) im Kontext der Bindungsforschung und – noch deutlich begrenzter – das IdentityStatus-Interview in der Identitätsforschung (bzw. in dem Teil der Identitätsforschung, die sich dem dazugehörigen Identity-Status-Modell von Marcia verpflichtet fühlt, siehe dazu die Diskussionen in Watzlawik & Born 2007 und Mey 2007). Für andere Verfahren wie das „erinnerungszentrierte Interview“, ein Leitfadeninterview zur Exploration von Erinnerungen, oder das „Erwachseneninterview“ (das Fragen zu Vorstellungen über das Erwachsensein beinhaltet) sind die Grenzen bzw. ist gerade die Unbegrenztheit solcher „Erfindungen“ offensichtlich (siehe dazu Mey 2005a).

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Zentrale Fragen zur Interviewdurchführung

Bezogen auf den Einsatz von Interviews finden sich für den gesamten Ablauf – von der Entscheidung für eine Interviewform bis zur Aufbereitung der Gespräche inklusive der

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darin zu treffenden Entscheidungen und Vorgehensweisen – vielfältige Herausforderungen (dazu ausführlich Reinders 2005; im Überblick Mey & Mruck 2010). Einigen herausgehobenen Fragen möchten wir kurz nachgehen. 3.1 Interviewarrangement Interviews werden in der Regel als Dyade geführt mit einer Person, die interviewt und einer Person, die interviewt wird. Teilweise werden aber auch zwei Interviewende eingesetzt, ein Vorgehen, das als „Tandeminterview“ bezeichnet wird (Hoff 1985). Dies ist dann zu vermeiden, wenn durch die Überzahl aufseiten der Interviewenden Assoziationen zu einem „Verhör“ hervorgerufen oder wenn intimere Details, die eine vertrauensvolle Situation voraussetzen, ausgespart werden würden. Vorzüge von Tandeminterviews sind insbesondere – vorausgesetzt beide Interviewende harmonieren –, dass mit erhöhter Aufmerksamkeit gearbeitet wird, dass mögliche Auslassungen eher auffallen können oder dass bei „Krisen“ im Gespräch der/die Fragende wechseln kann. Michael Dick (2006) schlägt im Kontext seiner Arbeiten zur Organisationsforschung „Triadengespräche als Methode“ vor, wobei die dritte Person als Laie/Laiin in Bezug auf das Thema gilt: Sie gehört dem „gemeinsamen“ Handlungsfeld des/der Befragten („Experte/Expertin“) und des Interviewers/der Interviewerin („Novize/Novizin“) nicht an und fungiert ausschließlich als Zuhörer/in. Dick argumentiert, dass den Interviewten durch die beiden Zuhörenden unterschiedliche Anforderungen vermittelt werden: Während für den fachlichen Part (Interviewer/in als Novize/Novizin) die Relevanz und Nützlichkeit des Dargestellten bedeutsam ist, ist für die zuhörende dritte Person (Laie/Laiin) dessen Verständlichkeit zentral. Die Einführung der „dritten Person“ dient also dazu, Darstellungen zu elizitieren, die sonst in der Selbstverständlichkeit und Routine verborgen bleiben könnten. Doch die Daten, die am Ende eines Interviews vorliegen, sind nur zu einem Teil der Methode und dem formalen Interviewarrangement im engeren Sinne geschuldet: sie hängen viel mehr als zumeist zuerkannt wird von der je konkret zwischen zwei (möglicherweise sehr eigenwilligen) Subjekten stattfindenden Begegnung ab. Interviewende und Interviewte begegnen sich als Angehörige gleicher/unterschiedlicher soziokultureller Milieus, als gleichaltrig oder aus verschiedenen Alterskohorten stammend (und damit als Generationenangehörige mit gleichem/unterschiedlichem Erfahrungswissen); als dem gleichen oder verschiedenen Geschlechtern zugehörig. Diese je spezifischen Konstellationen sind (zusätzlich konturiert z.B. durch den Grad an Sympathie oder Attraktivität) mitverantwortlich für die Darstellungen im Interview: Interviewte und Interviewende sind Gegenüber mit einem je eigenen „Reizwert“, wie der Ethnopsychoanalytiker Georges Devereux es nennt (1973 [1967], S.49). Dieser Reizwert – „Ausstrahlung“/„Wirkung“/„Erscheinung“ – ist mitentscheidend, ob Befragte bereit sind, ausführlich zu erzählen, oder ob sie es bei der Mitteilung des Nötigsten belassen. 3.2 Setting Interviews finden meist als Gespräche in einem geschlossenen Raum statt. Für viele Interviews ist der konkrete Ort auszuhandeln; die Vorschläge und getroffenen Wahlen (Privat-

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wohnung, Hochschulräume, andere öffentliche Räume) sind zu reflektieren und können interessante Hinweise für die Untersuchung geben. Eine freie Ortswahl entfällt immer dann, wenn es Vorgaben gibt, die es notwendig machen, dass das Interview an einem bestimmten Ort geführt wird, also z.B. in einem „Studio“ mit zusätzlichen Aufzeichnungsmöglichkeiten oder im Falle ethnografischer Interviews, die sich „im Feld“ ereignen. Seit ungefähr einem Jahrzehnt haben neben der traditionellen Face-to-face-Erhebung als in Raum und Zeit synchroner Kommunikation zusätzliche Interviewformen stärkere Verbreitung gefunden. Hierzu gehört insbesondere das Telefoninterview als zeitlich synchrone, aber an verschiedenen Orten stattfindende Kommunikation (siehe Burke & Miller 2001) oder das E-Mail-Interview, das zeitlich wie örtlich asynchron geführt wird (siehe Bampton & Cowton 2002; Houston 2008); verglichen damit sind Interviews in synchronen Chatrooms oder via MSN Messenger noch selten (einen Vergleich bietet Opdenakker 2006; siehe auch Gnambs & Batinic in diesem Band). Die zeitlich/örtlich versetzte Erhebung hat insbesondere praktische Vorzüge, dass nämlich ohne Zeitverlust große Distanzen überwunden und zudem Kosten für Reisen/Hotels usw. gespart werden können (bei E-Mail-Interviews und Chats mit Protokollfunktion entfallen zusätzlich auch noch die Kosten für die Transkription). Zu empfehlen sind diese beiden Interviewvarianten dann, wenn die mit ihnen einhergehenden Nachteile an Informationsverlust nicht besonders schwer wiegen (bei Telefoninterviews entfallen visuelle Informationen, bei E-Mail-Interviews zudem Informationen über den situationalen Kontext und die Spontaneität unmittelbarer Kommunikation). 3.3 Leitfadeneinsatz In vielen Interviews (außer insbesondere dem narrativen und dem rezeptiven Interview sowie dem ero-epischen Gespräch) werden Leitfäden verwandt, die mehrere Funktionen erfüllen können: Im Vorfeld eines Interviews helfen sie den Forschenden, das eigene Wissen zu organisieren, zu explizieren und mit Teamkolleg/innen zu diskutieren. Kurz vor dem Interview können die wichtigsten Fragen(bereiche) nochmals in Erinnerung gerufen werden. Im Gespräch selbst sollte auf den Leitfaden – auch um die häufig angeführte „Leitfadenbürokratie“ (Hopf 1978) zu vermeiden – nur dann zurückgegriffen werden, wenn das Gespräch sehr stockt oder die Interviewenden den „Faden“ verloren haben. Am Ende des Interviews kann der Leitfaden im Sinne einer Checkliste dazu dienen zu prüfen, ob alle wichtigen Fragen gestellt bzw. im Interview angemessen angesprochen wurden. Als Faustregel gilt – folgt man Gläser und Laudel (2004) –, dass ein Leitfaden nicht mehr als zwei Seiten mit ca. acht bis fünfzehn Fragen umfassen sollte, am besten übersichtlich sortiert. Zur Reduzierung des Leitfadens empfiehlt es sich, Witzels Vorschlag eines Kurzfragebogens zu folgen, der wahlweise vor oder nach dem Interview eingesetzt werden kann, um wesentliche Rahmendaten zu erheben und Faktenfragen zu stellen. Ob im Leitfaden selbst Fragen auszuformulieren sind, wird in der Literatur unterschiedlich beantwortet: Während z.B. Helfferich (2005) sich für Stichworte ausspricht, plädieren Gläser und Laudel für ausformulierte Fragen. Entscheidendes Kriterium sind hier die Präferenzen der Interviewenden – einige arbeiten wegen der damit verbundenen flexiblen Formulierung von ad hoc einzubringenden Fragen lieber mit einem in Stichworten organisierten Leitfaden, andere Interviewende fühlen sich mit ausformulierten Fragen sicherer. Ungeachtet der Präferenz

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ist es sinnvoll, Fragen vor dem Interview zumindest einmal auszuformulieren, um ein Gespür für den Fragegehalt zu bekommen und „weil man auf diese Weise gezwungen ist, über die Formulierung der Frage nachzudenken“ (Gläser & Laudel 2004, S.140). Im Falle von Forschungsteams oder beim Einsatz von mehreren Interviewenden sollte ein „Manual zur Interviewführung“ erstellt werden, das das Interviewverhalten regelt und die „Logik“ des Leitfadens expliziert, z.B. für welche Bereiche Erzählungen und wann Tiefeninformationen zwingend erforderlich sind bzw. welche Themenbereiche zentral oder eher peripher sind; die Reglements sollten aber nicht zu rigide formuliert sein. 3.4 Aufzeichnung, Mitschrift, Prä- und Postskripte In der Regel sollten Interviews aufgezeichnet werden. Für die meisten Forschungsfragen reicht eine Audioaufzeichnung vollkommen aus. Die Videoaufzeichnung empfiehlt sich nur dann, wenn visuelle Daten (also Mimik, Gestik) wirklich für das Erkenntnisinteresse bedeutsam sind und in die Auswertung einbezogen werden sollen. Die Aufzeichnungsgeräte selbst sind mittlerweile sehr klein, sodass sie kaum auffallen oder stören; dies gilt auch für die Mikrofone. Entsprechend ist ihr Einfluss eher gering und meist verliert sich nach einigen Minuten das Gefühl, „aufgezeichnet“/„beobachtet“ zu werden. Wenn es sich im Gesprächsverlauf jedoch (wieder) einstellt, dann ist dies möglicherweise ein Hinweis auf „heikle“ Themen oder auf Verunsicherung (ggf. kann angeboten werden, das Band auszuschalten). Wenn eine Tonbandaufzeichnung nicht gewünscht oder aufgrund von technischen Problemen nicht machbar ist, müssen die Inhalte und der Ablauf des Gesprächs protokolliert werden. In diesen Fällen sollten Notizen (Stichwörter, zum Teil ergänzt um wörtliche Rede) relativ bald nach dem Interview protokolliert werden. Hierbei ist zu beachten, dass nur das in die Auswertung einbezogen werden kann, was auch erinnert/niedergeschrieben wurde. Mittlerweile gehört es zum Standard, ein Postskript anzufertigen; es dient zum Festhalten von Eindrücken, Auffälligkeiten und Befindlichkeiten, die sich auf das Interview selbst und auf die (nicht aufgezeichnete) Zeit vor und nach dem Interview beziehen. Dazu kann eine standardisierte Vorlage (mit den für die Analyse wesentlichen Punkten) vorgegeben oder das Postskript kann frei angelegt werden. Noch selten werden Präskripte verfasst, also Notizen im Vorfeld des Interviews, in denen die Erwartungen an das konkrete Interview formuliert oder auch eigene Befindlichkeiten festgehalten werden. Solche „Fixierungen“ sind sinnvoll, denn über sie werden Informationen verfügbar, die sonst für die Forschungssupervision oder den Auswertungsprozess nicht zugänglich wären.

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Stärken, Schwächen und Desiderata

Interviews sind als „Instrument“ zum Abfragen von (Fakten-) Wissen wenig geeignet (dies kann ein gut konstruierter Fragebogen viel besser und zuverlässiger leisten), sondern sie helfen, Erzählungen zu generieren, Argumente und Begründungen zu explorieren oder ausführliche Beschreibungen einzuholen, die (anders als Tagebuchaufzeichnungen oder andere schriftliche Dokumente) in einem Dialog hervorgebracht werden. Zudem sind Inter-

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views (auch in Abgrenzung z.B. zu Fokusgruppen) immer dann zu wählen, wenn es um persönliche Narrationen bzw. um Themen geht, die ein vertrauensvolles Gesprächsklima voraussetzen. Prinzipiell können Interviews mit allen Altersgruppen und allen Sozialgruppen durchgeführt werden. Allerdings resultieren aus der Bindung an Sprache und Ausdruckfähigkeit immer auch Grenzen. So wird in der Literatur häufig problematisiert, dass ungeübte Befragte nicht zu längeren Narrationen in der Lage seien, und noch mehr, dass mit Blick etwa auf das narrative Interview als eine besonders anspruchsvolle Interviewform gar nicht jede(r) Befragte die „Bereitschaft sowie die (sprachliche und soziale) narrative Kompetenz [habe], [ihre/]seine ‚Geschichte‘ zu erzählen“ (Spöhring 1989, S.175; kritisch dazu Mey 2000). Als Gruppe, die in einer Interviewsituation eher einem Frage-Antwort-Schema folgt oder sich dem narrativen Interview „entzieht“, werden in dieser Diskussion um „inkompetente“ Erzähler/innen immer wieder Jugendliche genannt. Statt solche Gruppen per se auszuschließen, sollten Interviewende jedoch die Ansprüche, Herausforderungen und Voraussetzungen spezifischer Interviewverfahren in dem jeweiligen Untersuchungskontext auszuloten und zu reflektieren versuchen. Dies ist offensichtlich bei Kindern, bei denen die Gestaltung der Interviewsituation auf die speziellen Bedürfnisse hin abzustimmen ist (Pausen, Herumlaufen, Einbezug zusätzlicher Elemente aus der kindlichen Erfahrungswelt usw.; siehe im Überblick Mey 2005b). Statt der Konstruktion von „Spezialfällen“ (Kinder, Alte etc.) ist es generell angezeigt, immer wieder zu reflektieren, wer im Interview überhaupt aufeinander trifft. Jede dieser Begegnungen erbringt anderes Material, das für die Beantwortung der Untersuchungsfrage wichtig sein kann; dies setzt aber voraus, dass das kommunikativ produzierte Material unter den Bedingungen der konkreten Herstellung und gemeinsamen Konstruktion betrachtet (und ausgewertet) wird. Ob ein weitgehend passives Zuhören wie im Falle des narrativen Interviews als Desinteresse und das Stellen von Fragen beim problemzentrierten Interview als Unterbrechung erlebt wird, ergibt sich weniger aus den methodischen Verfahrensregeln als aus der Interviewsituation, in der Forschende und Beforschte sich als Subjekte (mit allen erdenklichen Selbst- und Fremdzuschreibungen) begegnen. Diese Form der wechselseitigen Wahrnehmung und Zuschreibung ändert sich auch nicht, wenn Interviews per E-Mail, am Telefon oder im Chat stattfinden, Medien, die jedes für sich unterschiedliche Vorzüge und eigene „Regeln“ haben. Der Grundzug bei jedem Interview bleibt: Es ist ein soziales Arrangement, in dem sich Interviewte und Interviewende als Subjekte und soziale Akteure begegnen. Die mit dem „sozialen Arrangement Interview“ verbundenen Besonderheiten erfordern über methodische Reflexionen hinaus auch praktische Konsequenzen. Da die methodische Ausbildung oft wenig praktische Übungen aufweist, sollten vor allem unerfahrene Interviewerinnen und Interviewer angeleitete Schulungen wahrnehmen, insbesondere solche mit Interviewübungen. Über solche vorbereitenden Schulungen hinaus erscheint eine wiederkehrende Supervision, eingebettet in Methodenberatungen, durchaus sinnvoll, denn aus Interviews als sozialen Situationen können immer wieder neue Herausforderungen resultieren, oder es schleichen sich Gewohnheiten in die Interviewführung und -gestaltung ein, die es – um die Potenz qualitativer Methodik für die je interessierende Fragestellung tatsächlich auszuschöpfen – zu reflektieren gilt. Solche Trainings und Schulungen dürfen auf Dauer nicht aufgrund wissenschaftspolitischer Konstellationen außerhalb der universitären Lehre verbleiben: Das Schaffen von

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Lehr- und Arbeitsstrukturen, die den spezifischen Anforderungen qualitativen Forschens im Allgemeinen und denen qualitativen Interviewens als einer so hervorgehobenen Strategie der Datensammlung im Besonderen genügen, ist eine weiterhin zentrale und uneingelöste Herausforderung (in) der Psychologie (siehe dazu auch der Beitrag von Breuer & Schreier in diesem Band). Weiterführende Literatur Gubrium, Jaber F. & Holstein, James A. (Hrsg.) (2001). Handbook of interview research. Context and method. London: Sage. Helfferich, Cornelia (2005). Die Qualität qualitativer Daten. Manual für die Durchführung qualitativer Interviews (2. Aufl.). Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften. Reinders, Heinz (2005). Qualitative Interviews führen mit Jugendlichen. Ein Leitfaden. München: Oldenbourg.

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Aglaja Przyborski & Julia Riegler

Aglaja Przyborski & Julia Riegler

Gruppendiskussion und Fokusgruppe 1

Historische Relevanz und (sub-) disziplinäre Einordnung

Gruppenförmige Settings bei der Datenerhebung haben in den letzten zehn Jahren stark an Bedeutung gewonnen und nehmen heute einen festen Platz im qualitativen Methodenkanon ein. Das gilt für die kommerzielle, vor allem marktpsychologische Forschung ebenso wie für die akademische: z.B. für die Entwicklungspsychologie, die Kindheits- und Jugendforschung sowie zunehmend für die Kulturpsychologie. Die Beschäftigung mit Gruppendiskussionen und Fokusgruppen reicht etwa 60 Jahre zurück und verläuft sowohl in Nordamerika als auch in England und im deutschen Sprachraum recht unabhängig. Die ersten Anregungen aus Nordamerika stammen aus Untersuchungen zu Reaktionen auf Propagandafilme: Wie bei so vielen modernen Methoden empirischer Sozialforschung hat Lazarsfeld – v.a. ganz zu Beginn – auch hier Impulse gegeben (u.a. Lazarsfeld & Merton 1943). Erwähnt soll er auch deshalb sein, weil er das Verfahren durch sein fächerübergreifendes Wirken mit der Psychologie verband, hatte er doch vor seiner Emigration in den Jahren 1929-1933 als Assistent des Ehepaars Bühler am Psychologischen Institut der Universität Wien gearbeitet. Aus einer kritischen Auseinandersetzung seiner sehr direktiven Form der Moderation einer ersten Gruppendiskussion entwickelten Merton, Fiske und Kendall (1956) schließlich eine frühe Form eines non-direktiven Interviewstils. Merton und Kendall (u.a. 1979 [1946]) verwendeten den Terminus focus group (oder auch focus group interview) in enger Verknüpfung mit dem Begriff des focused interview. Ihr Augenmerk richtete sich auf die Gruppe als solche. Mit ihrer Hilfe sollte möglichst reichhaltiges Material zu einem Stimulus gewonnen werden, den alle Interviewten erlebt hatten, etwa einem Film, einer Radiosendung, einem Buch oder auch einem psychologischen Experiment (vgl. Merton et al. 1956, S.3). Ziel war es, Erinnerungsleistungen zu stimulieren; wesentlich waren die Nicht-Beeinflussung der Interviewten und die Spezifität der Interventionen in Richtung des Stimulus. Diese Überlegungen geben bis heute wichtige Anregungen für die qualitative Forschung (vgl. Przyborski & Wohlrab-Sahr 2009, S.145155), denn im Kern des Verfahrens steht ein qualitatives Forschungsinteresse: die Erfahrungen und Situationsdefinitionen der Untersuchten. Dennoch wurde es einer quantitativen Forschungslogik untergeordnet. Seine Stärke wurde im kreativen Teil, im Vorfeld der eigentlichen, quantitativen Untersuchungen gesehen, etwa für die Generierung neuer Forschungsfragen. Mit ihren prominenten Arbeiten knüpften Morgan (u.a. 1988) sowie Krueger und Casey (u.a. 2009) an die Arbeiten von Merton und Kendall an und machten focus groups für die Marktforschung populär. Methodisch wird das Verfahren hier aber nach wie vor als mangelhaft eingestuft (u.a. Sweeny & Perry 2004; Puchta & Potter 2003; Macnaghten &

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Gruppendiskussion und Fokusgruppe

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Myers 2007). Es existiert zwar eine Fülle an Literatur, die Faustregeln und Rezepte für die Erhebung anbietet. Die Frage der Auswertung geht jedoch häufig über vage Hinweise – meist in Richtung Inhaltsanalyse – nicht hinaus. Eine methodologische und metatheoretische Diskussion zu einer Theorie der Gruppe, des Diskurses oder ganz allgemein zur Gegenstandsbestimmung fehlt weitgehend – ganz zu schweigen von einer methodologisch stringenten, komplexeren Fundierung. Diese Kritik gilt nicht für die britische Tradition der Cultural Studies (u.a. Willis 1977; Morley 1980, 1996), die vor allem im interdisziplinären Bereich der Medienforschung angesiedelt ist. Group discussions wurden vor allem von Morley methodologisch begründet: Er arbeitete den interaktiven Charakter von Sinnzuschreibungen und Bedeutungskonstitutionen im Zuge der Medienrezeption heraus, die im Verfahren zum Tragen kommen. Wichtiger ist jedoch, dass die Gruppen als Repräsentanten von umfassenderen (makrosozialen) Entitäten („Klassen“) verstanden werden: Ihre spezifischen „interpretativen Codes“ (Sinnzuschreibungen) werden also nicht je situativ produziert, sondern im Diskurs reproduziert und somit repräsentiert. Wir haben es also mit einem Repräsentanzmodell zu tun (vgl. Loos & Schäffer 2001). Das Frankfurter Institut für Sozialforschung kann als Wiege des „Gruppendiskussionsverfahrens“ im deutschen Sprachraum gelten. In den 1950er Jahren fragte man sich dort, „was auf dem Gebiet der politischen Ideologie in der Luft liegt“ (Pollock 1955, S.34), eine Formulierung, in deren Metaphorik das Interesse an einen kollektiven Gegenstand zum Ausdruck kommt. Entsprechend grenzte man sich auch vom „Summenphänomen“ (S.20ff.) der Meinungsforschung ab, also vom Mittelwertsvergleich abfragbarer Meinungen Einzelner. Die Auswertung hielt mit dem intendierten kollektiven Fokus jedoch nicht Schritt: Wie das Frankfurter Instituts für Sozialforschung insgesamt, war sie psychoanalytisch ausgerichtet und setzte bei der individuellen psychischen Dynamik an. Die Redebeiträge wurden voneinander getrennt und in Bezug zu einzelnen Sprecher/innen und deren Abwehrmechanismen und Rationalisierungen analysiert. Einen nächsten Schritt innerhalb des Frankfurter Instituts für Sozialforschung vollzog Mangold (1960) in „Gegenstand und Methode des Gruppendiskussionsverfahrens“. Er kam zu dem Schluss, dass dem Verfahren für die „Untersuchung individueller Bewusstseinsund Verhaltensphänomene [...] erhebliche Grenzen gesetzt sind“ (S.28). Zugleich entdeckte er in homogenen, z.B. ausschließlich aus Bergarbeitern zusammengesetzten Gruppen systematische „Integrationsphänomene“ (S.39) im Diskurs: Äußerungen und Satz(-teile) wurden von mehreren Teilnehmenden syntaktisch richtig und inhaltlich stimmig gemeinsam produziert, ohne dass diese sich je zuvor gesehen hätten. Diese Beobachtungen führten ihn zu seinem Konzept der „Gruppenmeinung“. In diesem Konzept ist der Gegenstand konsequent kollektiv konzipiert, denn „Gruppenmeinung“ ist nach Mangold nicht eine „Summe von Einzelmeinungen, sondern das Produkt kollektiver Interaktionen“ (S.49). Weder die konkrete Gruppe noch ihre Interaktion oder die Reaktion auf einen Stimulus stellen den Forschungsgegenstand dar, vielmehr repräsentiert die Gruppe ihn: Denn die Gruppenmeinung darf „nicht als Produkt der Versuchsanordnung, nicht als Endresultat eines aktuellen Prozesses gegenseitiger […] Beeinflussung in der Diskussionssituation selbst verstanden werden“, sondern hat sich „in der Realität unter den Mitgliedern des betreffenden Kollektivs bereits ausgebildet“ (Mangold 1967, S.216). Die Frage, ob die Kollektivität nun normativen äußeren Zwängen geschuldet ist, die in Gruppen wirksam werden, wie Horkheimer und Adorno im Vorwort zu Mangolds Dissertation anmerkten, oder ob sie im Individuum

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verankert ist, bildet ein wiederkehrendes Spannungsverhältnis in Mangolds Arbeit. Festzuhalten bleibt: Die Zusammensetzung der Gruppe und ihre Interaktion werden zu konstitutiven Momenten der Methodologie. Kritisch setzten sich Leithäuser und Volmerg (1979) aus einer sozialpsychologisch motivierten psychoanalytischen Perspektive mit dem am Frankfurter Institut für Sozialforschung entstandenen Konzept der Gruppendiskussionsmethode auseinander. Aus ihrer Perspektive war diese zu stark an das sozialpsychologische Gruppenexperiment gebunden und berücksichtigte die Muster des alltäglichen Sprechens zu wenig (Leithäuser 2009). Zudem kritisierten sie die Annahme, dass im Rahmen von Gruppendiskussionen aktiviert wird, was die Gruppe in der Realität ohnehin schon als informelle Meinung, wenn auch nicht artikuliert, besitzt (Leithäuser, Volmerg, Salje, Volmerg & Wutka 1977, S.20). Vielmehr seien Meinungen „kontextabhängig“ und somit „abhängig von der jeweiligen Stellung des Individuums in seiner konkreten sozialen Umgebung“ (S.190); sie emergierten aus der Erhebung.1 Ausgehend von dieser Problematisierung modifizierten Leithäuser und Volmerg das Verfahren im Rahmen einer „Theorie des Alltagsbewusstseins“ (Leithäuser et al. 1977), einer psychoanalytischen Sozialpsychologie (Leithäuser & Volmerg 1988) und des interpretativen Paradigmas, das vor allem die situative Aushandlung von Bedeutung fokussiert. Ihr Ansatz zielt darauf ab, „mehr zu verstehen als die im Text repräsentierten manifesten und latenten Sinngehalte“. Dieses „mehr“ hebt auf die „aus der Sprache ausgeschlossenen unbewußten Gehalte[...] des Textes“ ab. Gegenstand sind also die psychosozialen Strukturen und Mechanismen, „die das sprachliche Geschehen gleichsam als ihre Unterwelt bewegen“ (S.253). Die Ergebnisse entfalteten ihre Relevanz in der konkreten erwachsenenpädagogischen Arbeit mit den jeweiligen Gruppen (z.B. Volmerg, Volmerg & Leithäuser 1983; Volmerg, Senghaas-Knobloch & Leithäuser 1986). Insofern die klassischen Gütekriterien als Postulate eines „normativen Paradigmas“ (Leithäuser et al. 1977, S.127) verstanden werden, können die Ergebnisse von Gruppendiskussionen in dieser Perspektive weder als reliabel noch als valide gelten (Nießen 1977; Leithäuser et al. 1977)2 – eine Kritik, die dem Instrument Gruppendiskussion unabhängig von seiner methodologischen Ausrichtung oft unreflektiert bis heute anhaftet. In den 1980er Jahren entwickelte Bohnsack das Gruppendiskussionsverfahren, anfangs in direkter Zusammenarbeit mit Mangold, weiter. Es ging vor allem darum, die interaktiven, diskursiven Phänomene, die auf Kollektivität hinweisen, theoretisch zu fassen – jenseits eines Modells, das kollektive Leistungen ausschließlich als von außen induziert begreifen kann. Dies gelang auf der Basis der Theorie der dokumentarischen Methode (u.a. Bohnsack 2003; Przyborski & Wohlrab-Sahr 2009, S.271ff.) im Sinne von Mannheim (u.a. 1964 [1921-1928], 1980 [1922-1925]; vgl. dazu Bohnsack 1989, S.12ff., 2003) und mithilfe der – damals – neuen Methoden der Textinterpretation (Schütze 1978; Przyborski 2004). Mannheims (1980 [1922-1925]) Konzept des „konjunktiven Erfahrungsraums“ löst Kollektivität sowohl vom Individuum als auch von der konkreten Gruppe und verbindet diejenigen, die Erfahrungen in strukturidentischer Weise machen. Sie teilen dann auf dieser Basis bestimmte Wissens- und Bedeutungsstrukturen. Diese Kollektivität ist nun keine 1 Die methodologische Debatte zwischen Emergenz und Repräsentanz wird in der Marktforschung bisher nicht geführt. Man gibt sich mit dem Hinweis auf eine methodologische Unzulänglichkeit zufrieden. 2 Das Verfahren wurde in dieser Tradition methodisch nicht weiterentwickelt (zu einem ausführlicheren Rückblick vgl. Loos & Schäffer 2001).

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mehr, die Einzelne zwingt oder einschränkt (durch Moral, Normen oder Regeln), sondern eine, die Interaktion und alltägliche Praxis überhaupt ermöglicht. Auf der Ebene des Gesprächs zeigt sich diese gemeinsame Teilhabe an handlungspraktischem Wissen im „Einander-Verstehen im Medium des Selbstverständlichen“ (Gurwitsch 1976, S.178), d.h. in der unmittelbaren interaktiven Bezugnahme aufeinander und der wechselseitigen Steigerung im Diskurs. Dieses Phänomen ist sowohl für Gesprächspartner/innen, die einander kennen, als auch für andere soziale Einheiten, die zuvor keinen Kontakt hatten zu beobachten. Jede/r einzelne hat teil an mehreren Erfahrungsräumen, beispielsweise auf der Grundlage von Geschlecht, Bildungsmilieu und Generation (Przyborski 2004, S.31). Die konkrete Gruppe ist – im Unterschied zur Perspektive von Leithäuser und Volmerg – gerade nicht der soziale Ort der Emergenz von kollektiver Erlebnisschichtung, sondern derjenige der Artikulation und Repräsentation gemeinsamer Erfahrung (vgl. Bohnsack 2000, S.378). Der Gegenstand von Gruppendiskussionen sind in dieser Perspektive mithin kollektive Wissensbestände und kollektive Strukturen, die sich auf der Basis von existenziellen Gemeinsamkeiten (in konjunktiven Erfahrungsräumen) bereits gebildet haben. Sie werden in Gruppendiskussionen artikuliert. Bohnsack (1989, S.200) bezeichnet dieses Wissen als „kollektive Orientierungen“. Die Methode erfährt dadurch eine grundlegend praxeologische Wendung und zielt auf ein „in der gelebten Praxis angeeignete[s] und diese Praxis zugleich orientierendes Wissen“ (Bohnsack 2001, S.331). Dieses Wissen liegt in erster Linie als atheoretisches, nicht als begrifflich-theoretisch gefasstes vor. Die Aufgabe einer dokumentarischen Interpretation (vgl. Przyborski & Slunecko in diesem Band), die ursprünglich ganz wesentlich im Zusammenhang mit der Weiterentwicklung des Gruppendiskussionsverfahrens für die qualitative Sozialforschung fruchtbar gemacht worden ist, ist es nun u.a., dieses Wissen auf den Begriff zu bringen. Dabei nutzt sie Befunde aus der Gesprächsforschung und der Diskursanalyse und entwickelt sie laufend weiter (u.a. Przyborski 2004; Bohnsack & Przyborski 2010). Realgruppen lassen sich in dieser Perspektive als „Epi-Phänomene“ (Bohnsack 2000, S.378) unterschiedlicher Erfahrungsräume und ihrer eingelagerten Wissensbestände begreifen: In ihrer spezifischen Konkretion sind sie bei der Anwendung des Gruppendiskussionsverfahrens nur ein Mittel, um Zugang zu bestimmten impliziten Wissensbeständen zu bekommen, nicht jedoch Gegenstand des Erkenntnisinteresses. Diese Wissensbestände sind durch gemeinsame Erfahrungen strukturiert und damit davon abhängig, welche Erfahrungen den Gruppendiskussionsteilnehmenden tatsächlich gemeinsam sind.3

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Theoretische und methodologische Prinzipien und ihre forschungspraktische Umsetzung

Die weit gespannten Entwicklungslinien der Gruppendiskussion zeigen, dass sie in ganz unterschiedliche Theorietraditionen und Forschungspraxen eingebettet ist. 3 Aus dieser Perspektive erklärt sich der Umstand, dass ein und dasselbe Individuum in verschiedenen Diskussionen verschiedene „Meinungen“ äußern kann, folgendermaßen: Was auf der Ebene eines manifesten Sinns (also auf der Ebene von Meinungs- und Einstellungsäußerungen) als Widerspruch erscheinen kann, kann auf der Ebene des impliziten Wissens auf ein und dieselbe Handlungsorientierung oder auch auf ein und dasselbe handlungspraktische Dilemma verweisen.

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Das Gruppendiskussionsverfahren in der dokumentarischen Methode verbindet seine Forschungspraxis systematisch mit seiner theoretisch-methodologischen Verankerung in einem Repräsentanzmodell: Der Diskurs repräsentiert unterschiedliche Formen von Kollektivität. Dort, wo den Diskussionsteilnehmenden Erfahrungen gemeinsam sind, lassen sich ihre kollektiven handlungsleitenden Orientierungen, d.h. kollektive Wissensbestände, als Ergebnis des Verfahrens herausarbeiten. Gegenwärtig bringt dieser Ansatz eine Fülle an sozialwissenschaftlichen, gegenstandsbezogenen und an (empirisch) methodologischen Arbeiten hervor (s.u.). Das Gruppendiskussionsverfahren in der dokumentarischen Methode hat also kollektive Wissensbestände und Strukturen zum Gegenstand, die in der gelebten Praxis angeeignet werden und diese zugleich auch orientieren. Damit ist es im konkreten Fall davon abhängig, welche Erfahrungen den Gruppendiskussionsteilnehmenden tatsächlich gemeinsam sind. Insofern ist das Verfahren der Prämisse verpflichtet, dass es bei qualitativer Forschung um die Rekonstruktion der Relevanzsysteme der Erforschten (und nicht jener der Forschenden) geht. Aus diesen Überlegungen ergeben sich Konsequenzen für die Schritte der Erhebung und Auswertung von Gruppendiskussionen: Gruppendiskussionen werden an jenen Stellen interaktiv dicht, wo sich die Teilnehmenden auf der Basis strukturidentischer Erfahrungen bewegen, z.B. dem Erleben des Geschlechterverhältnisses in einer bestimmten Entwicklungsphase, in einer bestimmten Zeit, in einem bestimmten Milieu (u.a. Przyborski 2004, S.126ff).4 Dieses Einpendeln auf Zentren des gemeinsamen Erlebens kann nur dann gelingen, wenn die Gruppe nicht allzu sehr durch die Diskussionsleitung irritiert wird. D.h., kollektive Orientierungen bzw. kollektives Wissen können lediglich auf der Basis von wechselseitigen Bezugnahmen der Teilnehmenden ausgewertet werden. Die Diskussion muss sich daher selbstläufig gestalten; die Teilnehmenden müssen zumindest phasenweise ohne Eingriffe der Forschenden miteinander sprechen können. Hierin liegt eine der methodologischen Begründungen für die bei Gruppendiskussionen anzustrebende Selbstläufigkeit (vgl. Przyborski 2004, S.31ff. und 55ff.; Bohnsack & Przyborski 2007). Ein weiterer Grund für die Selbstläufigkeit liegt darin, dass die Teilnehmenden quasi erst herausfinden müssen, ob und wo gemeinsame Erfahrungen gegeben sind. Das geschieht in der Regel in Form eines vorsichtigen Abtastens, bis sich das Gespräch dann phasenweise lebendig bis hitzig gestaltet. Die Diskussion pendelt sich auf Erlebniszentren ein, in denen „der Fokus kollektiver Orientierungen gefunden wird“ (Bohnsack 2000, S.379). In diesen metaphorisch oft sehr aufgeladenen und in der Form der Interaktivität auffälligen Passagen, den „Fokussierungsmetaphern“ (Bohnsack 2003, S.67), kommen kollektive Orientierungen besonders gut zum Ausdruck. Sie bilden mithin Schlüsselstellen der Auswertung. Häufig wird angenommen, dass gerade in heterogenen Gruppen viel debattiert wird und sie daher ergiebig sind. Dies ist jedoch nicht zwingend der Fall; empirische Ergebnisse sprechen sogar für die entgegengesetzte Richtung: Hier hat man sich meist recht wenig zu sagen. Es fehlen Themen und Anknüpfungspunkte. Das wenige Material besteht in der Regel aus einem Austausch von Stereotypen (vgl. Loos & Schäffer 2001, S.44). Bei bestehenden Gruppen kann davon ausgegangen werden, dass sie durch existenzielle Gemeinsamkeiten verbunden sind bzw. sich aus diesem Grund konstituiert haben. Hier 4 Eine Ausnahme bilden machtstrukturierte Diskurse (vgl. Przyborski 2004, S.252ff. sowie Bohnsack & Przyborski 2010).

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stellt sich meist fast von selbst ein lebendiges Gespräch ein. Realgruppen bieten sich von daher für Phänomene an, die auch aus alltäglicher Perspektive Element von Gruppenbildung sind, wie es z.B. bei Hooligans (Bohnsack, Loos, Schäffer, Städtler & Wild 1995), Clubmitgliedern, Musikgruppen (Schäffer 1996), Fans (Fritzsche 2001), Männern (u.a. Meuser 1998), Jugendlichen (Bohnsack 1989) oder verschiedenen Computer-Usergruppen (Schäffer 2003) der Fall ist, wenn sich das Interesse auf weiter gefasste Zusammenhänge richtet. Auf der Grundlage der Gruppendiskussionen lässt sich nun herausarbeiten, welche Orientierungen und Wissensbestände diese sozialen Zusammenhänge kennzeichnen. Über Realgruppen lassen sich zudem Kristallisationskerne und Grenzen neuer bzw. im Entstehen befindlicher Milieus identifizieren (vgl. Przyborski & Slunecko 2009a) – eine Leistung, die in einer ([sozial-] räumlich, bildungsmilieutypisch etc.) mobilen Gesellschaft nicht zu unterschätzen ist. Homologe Erfahrungen müssen nicht gemeinsam gemacht werden. Ausschlaggebend ist die Strukturidentität der Erfahrungen. Wenn schon zu Beginn der Untersuchung bekannt ist, welche Erfahrungen für das Erkenntnisinteresse wesentlich sind, kann man eine Gruppe aus Personen zusammenzusetzen, denen diese Erfahrungen gemeinsam sind. Sie müssen sich zuvor nicht kennen. Derartige Gemeinsamkeiten können durch die Sozialisationsgeschichte, die Berufsausübung, durch Erfahrungen mit bestimmten Leidenszuständen (Riegler & Przyborski 2009) und dergleichen mehr bestimmt sein. Wenn entsprechende Gemeinsamkeiten gegeben sind, dann beziehen sich auch die zentralen Passagen des Diskurses auf diesen Bereich. Folgende „reflexive Prinzipien der Initiierung und Leitung von Gruppendiskussionen“ (Bohnsack 2003, S.207; Przyborski & Wohlrab-Sahr 2009, S.107ff.), die auf Erkenntnissen aus der Konversationsanalyse (u.a. Sacks 1995 [1964-1972]) basieren, sind entscheidend für das Gelingen der Erhebung in diesem Sinne: ! !

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Interventionen sollten sich immer an die ganze Gruppe richten, denn die Verteilung des Rederechts an einzelne Gruppenteilnehmer/innen strukturiert den Diskurs nachhaltig. Der Verzicht der Moderation auf die Teilnehmendenrolle steht ebenfalls im Dienst der Selbstläufigkeit. Das Rederecht sollte erst dann ergriffen werden, wenn das Gespräch zwischen den Teilnehmenden zum Erliegen kommt, denn die Diskutierenden sollen sich aufeinander – und nicht auf den/die Moderator/in – beziehen. Essenziell ist zudem, dass die Gruppe Themen selbstständig abschließt, da dies ein wesentliches Element der Auswertung von Gruppendiskussionen ist (vgl. Przyborski 2004). Von dem/der Moderator/in eingebrachte Themen sollten möglichst keinen inhaltlichen Orientierungsrahmen in Bezug auf das Thema beinhalten, sondern im Idealfall nur dem Interesse an der Entfaltung des jeweiligen Themenfeldes dienen. Unterstützt wird eine detaillierte Entfaltung der Relevanzsetzungen und Erfahrungen durch eine demonstrativ vage Initiierung von Themen. Fragen werden vorsichtig formuliert und mit leicht variiertem Schwerpunkt reformuliert. Darin drückt sich auch die Haltung methodisch kontrollierter Fremdheit aus. Detailreiche Darstellungen5 ermöglichen den Zugang zur (Rekonstruktion der) Handlungspraxis.

Vgl. Sacks (1995 [1964-1972], S.561ff.), Bohnsack (2003, S.209) und Przyborski (2004, S.81ff.).

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Bei der Auswertung werden entsprechend der dokumentarischen Methode zwei Sinnebenen getrennt: der immanente, kommunikativ generalisierte Sinngehalt, das „was“ gesagt wird, von der Ebene des konjunktiven Wissens, d.h. jener Sinnebene, auf der diejenigen, die gemeinsame Erfahrungen haben, einander unmittelbar verstehen. Dies sind jene kollektiven Orientierungen, die der gemeinsamen Praxis ihre Struktur geben bzw. von dieser strukturiert wurden (vgl. zur Auswertung den Beitrag zur dokumentarischen Methode von Przyborski & Slunecko in diesem Band). Anders gestaltet sich der Einsatz von Gruppendiskussionen in der Konzeption von Leithäuser und Volmerg. Entsprechend der spezifischen Gegenstandsbestimmung soll hier das Alltagsbewusstsein mit seinen unbewussten Dimensionen in seiner situationsspezifischen Konkretionen rekonstruiert werden (Leithäuser et al. 1977, S.123). Zentral bei der Erhebung ist eine spezifische Haltung seitens der Diskussionsleitung. Sie orientiert sich an der von Ruth Cohn (1976) entlehnten „themenzentrierten Interaktion“, die ursprünglich als psychotherapeutische Methode entwickelt wurde. Die Diskussionsleitung ist hier nicht in erster Linie an der Herstellung und Aufrechterhaltung eines selbstläufigen Diskurses der Teilnehmenden orientiert, sondern nimmt z.T. deutlich steuernd an der Diskussion teil. Die Offenheit der Diskussionsleitung soll unausgesprochene hemmende Einflüsse, Vorbehalte und unbewusste Widerstände ausräumen und ein möglichst freies und lebendiges Gespräch im Bezug auf das vorgegebene Thema eröffnen. Eine zweite Person unterstützt die Diskussionsleitung, indem sie die Diskussion beobachtet, während sie in einer zurückhaltenden Form an ihr teilnimmt (Leithäuser 2009). Die Auswertung, die „psychoanalytischen Textinterpretation“ (siehe v.a. Leithäuser & Volmerg 1988), vollzieht sich in einer Interpretationsgruppe und zielt auf das Erschließen verschiedener Sinngehalte oder -schichten des Textes. Mittels sogenannter Sinnerschließungsfragen wird der Weg vom „logischen Verstehen“, das auf den Inhalt des Textes abzielt, über das „psychologische Versehen“, welches auf den metakommunikativen bzw. Beziehungsgehalt zielt, zum „szenischen Verstehen“ beschritten, das seine Aufmerksamkeit auf das „Wie“ richtet (Leithäuser 2009). Hierbei soll durch das Auffinden struktureller Ähnlichkeiten hinsichtlich der Art und Weise der Themenbehandlung ein tieferes Verständnis ihrer Funktion und Bedeutung erlangt werden. Das „tiefenhermeneutische Verstehen“ fragt schließlich danach, warum in einer bestimmten Weise gesprochen wird, um die latenten, unbewussten Intentionen der Erforschten zu entschlüsseln.

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Aktueller Stellenwert und wichtige Einsatzfelder

Nach wie vor werden Gruppendiskussionen in ihrem klassischen Anwendungsfeld, der psychologischen Marktforschung, breit eingesetzt; meist allerdings (wie bereits im ersten Abschnitt dargelegt) in einer methodisch-methodologisch nicht stringent durchdachten Weise (u.a. Sweeny & Perry 2004). In den letzten Jahren finden sich aber auch in diesem Feld anspruchsvolle Studien und methodische Auseinandersetzungen, die auch – was für dieses Feld wichtig ist – Ökonomisierungsstrategien verdeutlichen (vgl. hierzu Bohnsack & Przyborski 2007). Im deutschsprachigen Raum findet seit den späten 1980er Jahren das Gruppendiskussionsverfahren, wie es in der dokumentarischen Methode ausgearbeitet wurde, ausgehend von mehrjährigen sozialwissenschaftlichen, meist interdisziplinären Forschungsprojekten

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zunehmend stärkere Verbreitung. Hauptthemenfelder finden sich in der Generations-, Milieu- und Kulturforschung (u.a. Bohnsack 1989; Bohnsack et al. 1995; Schäffer 1996; Weller 2003), deren grundlagentheoretische Ergebnisse und Überlegungen in jüngerer Zeit vermehrt die Kulturpsychologie (u.a. Slunecko & Przyborski 2009; Przyborski & Slunecko 2009b) und die Geschlechterforschung (u.a. Behnke, Loos & Meuser 1998; Meuser 1998; Riegler & Przyborski 2009) beeinflussen; wichtige Arbeiten finden sich auch in der Jugendforschung (u.a. Bohnsack et al. 1995; Asbrand 2005; Przyborski & Slunecko 2009a). Gerade durch den Praxisbezug bereichert das Gruppendiskussionsverfahren zudem die Medienforschung, insbesondere Forschung zu Medienpraxiskulturen (vgl. Schäffer 2003; Fritzsche 2001) und die (medienpsychologische) Rezeptionsforschung (u.a. Michel 2006). Ein weiterer Bereich, in dem das Gruppendiskussionsverfahren erfolgreich eingesetzt wird und der auch für die Psychologie immer wichtiger wird, ist die Evaluationsforschung (Bohnsack & Nentwig-Geseman 2010) und im Zuge dessen auch die Organisationsberatung und -forschung sowie die Organisationskulturforschung (u.a. Liebig 2001). Im Kontext von Studien zur Mentalitäts- und Milieuanalyse hat Bremer (2004) eine Weiterentwicklung der Gruppendiskussion eingesetzt – das Verfahren der sogenannten mehrstufigen Gruppenwerkstatt. Es ist speziell für die Analyse von Habitusmustern und deren Aktualisierung in spezifischen gesellschaftlichen Feldern entwickelt worden. Im Bereich der Entwicklungspsychologie sind v.a. die Arbeiten von Billmann-Mahecha beispielsweise zur Entwicklung moralischen Wollens bei Kindern zu erwähnen (BillmannMahecha & Horster 2003). Mit dem Einsatz der Gruppendiskussion bei Kindern im Rahmen der dokumentarischen Methode hat sich v.a. Nentwig-Gesemann (z.B. 2002) beschäftigt. Ebenfalls unter Verwendung von Gruppendiskussionen und vor dem Hintergrund des theoretischen Konzepts des positioning untersuchte Bamberg die Identitätsentwicklung in der Adoleszenz sowie Praxen der Identitätsbildung bei Adoleszenten in Familie, Schule und peer group (z.B. Korobov & Bamberg 2004). Einen entwicklungspsychologischen Beitrag zur Erforschung jugendlichen Geschichtsbewusstseins unter Einsatz von u.a. Gruppendiskussionen mit Schüler/innen hat Kölbl (2004) vorgelegt. Seit den 1980er Jahren werden Fokusgruppen darüber hinaus v.a. im angloamerkanischen Raum in der Gesundheitsforschung und hier insbesondere in der präventiven Gesundheitserziehung und der Gesundheitsförderung eingesetzt, außerdem in den vergangenen Jahren in der Gesundheitspsychologie (z.B. Wilkinson 1998) und der Psychotherapieforschung (Thurn & Wils 1998; Piercy & Hertlein 2005).

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Forschungsbeispiel

In den Entwicklungslinien der Gruppendiskussion nimmt die Rezeptionsstudie von Liebes und Katz (1993) eine besondere Stellung ein. Sie lässt sich nicht vollständig in eine angloamerikanische Tradition einordnen und schlägt zugleich eine Brücke zur Diskussion im deutschsprachigen Raum und darüber hinaus zu Themen, die wohl auch für die Psychologie weiter ins Zentrum rücken werden: Kultur und Medien. Die Studie wurde unter dem Titel „The Export of Meaning – Cross-Cultural Readings of Dallas“ veröffentlicht und widmete sich der Fernsehserie „Dallas“ zur Geschichte der fiktiven millionenschweren Familie Ewing aus der gleichnamigen texanischen Stadt. Wahrscheinlich weil die Publikation nicht übersetzt wurde, ist sie im deutschsprachigen Raum

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verhältnismäßig wenig bekannt. Veröffentlichungen aus dem angloamerikanischen Raum lassen diese umfangreiche Studie dagegen so gut wie nie unerwähnt und werten sie als eine der einflussreichsten (u.a. Macnaghten & Myers 2007, S.65). Sie basiert ausschließlich auf Gruppendiskussionen; es wurden 66 Diskussionen in Japan, Amerika und vier unterschiedlichen israelischen Bevölkerungsgruppen erhoben. Liebes und Katz (1993, S.4) setzten mit einer Kritik an der herkömmlichen medienpsychologischen Forschung an: „We argue that ideology is not produced through a process of stimulus and response but rather through a process of negotiation between various types of senders and receivers. To understand the messages perceived by viewers of a television program, one cannot be satisfied with abstract generalizations derived from content analysis, however sophisticated. ... In the case of Dallas, the challenge is to observe how the melodrama of a family in Texas is viewed, interpreted, and discussed by real families throughout the world, in the light!"#!he drama of their own lives ...“.

Es geht also um eine gemeinsame Rezeptionspraxis („viewed, interpreted, and discussed“) innerhalb sozialer Einheiten (Familien) auf der Basis existenzieller Gemeinsamkeiten („real families“, „the drama of their own lives“), und nicht wie im alten Ansatz der Medienpsychologie darum, wie ein bestimmter „Reiz“ eine „Einzelpsyche“ beeinflusst. In der methodischen Konzeption der Auswertung findet dies zwar kaum Widerhall; sie beschränkt sich vielmehr auf ein (wenn auch sehr detailreiches) inhaltsanalytisches Vorgehen, das dann wiederum mit den spannenden Ergebnissen nicht recht in Einklang gebracht werden kann: Die einzelnen Kulturen (s.o.) unterscheiden sich nämlich ganz deutlich in ihren Rezeptionsformen. Während die einen z.B. ein Familiendrama sehen, sehen die anderen eine Propagandasendung amerikanischer Ideologie. Dies drückt sich auch in der formalen Diskursproduktion aus. Während sich die einen eher im Format der Erzählung befinden, basiert die Darstellung der anderen auf dem Format der Argumentation. Gegen Ende der ausführlichen Darstellung finden sich vermehrt Hinweise auf die Wichtigkeit der Formalstruktur des Diskurses auch für die weitere methodische Ausarbeitung des Verfahrens. Diese Ergebnisse setzen die aus der experimentalpsychologischen Methodologie entlehnte Grundvorstellung, derzufolge „Kultur“ nur der Platz der unabhängigen Variable zukommen kann, deren Variation (Kultur A versus Kultur B) in Bezug auf alle möglichen Parameter und Eigenschaften untersucht wird, einer schweren Prüfung aus, denn wir finden auf dem Platz der unabhängigen Variable entweder Kultur A oder Kultur B. Kulturelle Interaktion, auch medienvermittelte, kann diese methodologische Idylle nur stören. Auch eine Kulturtheorie braucht es dazu nicht; vielmehr ist die in der psychologischen Kulturforschung endemische Gleichsetzung von „Kultur“ und „Nation“ nur unter großzügiger Ausblendung kulturtheoretischer Überlegungen möglich. Gerade das Gruppendiskussionsverfahren vermag durch seine Fokussierung der kollektiven Grundlage individuellen Verstehens und Handelns und durch seine traditionelle Verankerung in der Kultur- und Medienforschung für die Psychologie neue (grundlagentheoretische) Türen zu öffnen (vgl. Slunecko & Przyborski 2009).

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Stärken, Schwächen und Desiderata

Wo liegen nun die Möglichkeiten und Grenzen des Verfahrens im Hinblick auf zu bearbeitende Erkenntnisinteressen? Thematisch gibt es keine Einschränkungen. Auch wenn unsere

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Argumentation deutlich gemacht hat, dass die konkrete Gruppe nicht der Forschungsgegenstand ist, wird das Gruppendiskussionsverfahren auch als eine Methode eingesetzt, die für konkrete handlungspraktische Felder Relevanz hat, etwa im Bereich der psychologischen Marktforschung, der Evaluationsforschung oder der Organisationskulturforschung. Die Grenzen des Verfahrens lassen sich wie folgt umreißen: Auch wenn in Gruppendiskussionen individuelle Meinungen formuliert werden und durchaus Bruchstücke biografischer Erzählungen vorkommen können, eignet sich das Verfahren nicht zur Bearbeitung von Fragen, bei denen Individuen die zu untersuchende Einheit darstellen. Überall dort, wo individuelles Handeln, individuelle Biografien, Entscheidungsprozesse oder Haltungen Untersuchungsgegenstand sind, ist das Gruppendiskussionsverfahren für die Erhebung ungeeignet. Die Erhebung in der Gruppe lässt die Untersuchten sich als Teil kollektiver Zusammenhänge artikulieren. Individuelles kann nicht in seiner Eigengesetzlichkeit untersucht werden, sondern nur in Relation zum kollektiven Geschehen. Ebenso verhält es sich mit der Handlungspraxis. Das Reden über die Handlungspraxis fokussiert einen anderen Aspekt des Handelns als die (Beobachtung der) Handlungspraxis selbst. Zwar ist auch das Reden in seinem Vollzug eine Handlungspraxis, und es ist gerade dieser performative Aspekt, dem beim Gruppendiskussionsverfahren Rechnung getragen wird. Dennoch ist das Reden selbst in der Regel ja nicht der – oder zumindest nicht der einzige – Untersuchungsgegenstand. In der Jugendforschung z.B. lässt sich das „Miteinander-Reden“ in Mädchengruppen immer wieder als zentrale gemeinsame Handlungspraxis rekonstruieren; in Jungengruppen ist dies im Vergleich dazu wesentlich seltener der Fall (u.a. Bohnsack et al. 1995). Obgleich wir im Gespräch eine Menge über die fokussierten Handlungspraxen wie das Musikmachen, das Fußballspielen oder Tanzen erfahren, erfahren wir andere Aspekte als bei der Beobachtung dieser Praxis selbst. So fehlen oft gerade diejenigen Aspekte, die für die Betreffenden ganz selbstverständlich (und damit nicht erwähnenswert) sind. Im Sinne einer Methodentriangulation können daher Beobachtungsdaten Gruppendiskussionen in fruchtbarer Weise ergänzen. Auch für die Erhebung von Prozessen bzw. Prozessstrukturen über einen längeren Zeitraum (Jahre) hinweg ist das Gruppendiskussionsverfahren nicht gut geeignet. Gruppen können zwar auf frühere Phasen zurückblicken, längere Entwicklungen werden aber kaum selbstläufig erzählt. Hier hat das narrative Interview ein unvergleichbar größeres Potenzial. Ist man auch an derartigen Prozessstrukturen interessiert, empfiehlt sich von daher eine Triangulation mit dem narrativen Interview. Die Auswertung von Gruppendiskussionen ist sehr stark von der Analyse der Formalstruktur des Diskurses abhängig. Wir wissen in dieser Hinsicht eine Menge im Bereich der westlichen (indoeuropäischen) Sprachen (Przyborski 2004), über andere Sprachfamilien und damit auch Kulturzusammenhänge, z.B. die austronesischen Sprachen, wissen wir im Bereich von Formalstrukturen noch kaum etwas. Bei einer systematischen Integration von Produktanalyse und Rezeptionsanalyse, die in der Medienforschung immer wieder gefordert, empirisch bisher aber kaum geleistet wurde, mag dem Gruppendiskussionsverfahren in näherer Zukunft noch eine wichtig Bedeutung zukommen, womit sich ein Kreis zu schließen scheint, denn wie eingangs erwähnt liegen die Anfänge der Gruppendiskussion in der Medienforschung.

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Einleitende Bemerkungen zum Begriff der Beobachtung und zur Geschichte sozialwissenschaftlicher Beobachtung

1.1 Zum Begriff Beobachtung ist – wenn man den Begriff nicht verengt – eine Grundoperation jeder empirischen Wissenschaft, nicht nur der Sozialwissenschaften. Auch das Ablesen von Thermometer und Barometer (oder eines anderen Messinstrumentes) ist eine Beobachtung; ebenso das Abzählen von Blütenstempeln oder Insektenbeinen, um Klassifikationen alles Lebendigen zu erarbeiten. Als Kepler Anfang des 17. Jahrhunderts die drei Gesetze der Planetenbewegung aufstellte, die seinen Namen tragen, nutzte er dafür die von ihm selbst und von Tycho Brahe über Monate und Jahre hindurch festgehaltenen Positionen der Planeten am Nachthimmel – auch dies natürlich Beobachtungen. Beobachtungen stellen erst den Zusammenhang her zwischen den Erfahrungswissenschaften und den empirischen Gegenständen, über die diese etwas aussagen wollen. Manches, was im Folgenden über Beobachtungen im sozialwissenschaftlichen Kontext gesagt wird, über ihre Stärken und Schwächen, ließe sich wohl auf einen solchen umfassenden Beobachtungsbegriff übertragen. In einem engeren Wortsinn und im Kontext der Sozialwissenschaften spricht man von „Beobachtung“ als einer Datenerhebungsmethode wie etwa Interviews oder Fragebögen. Allein um diesen Begriff der Beobachtung – als sozialwissenschaftliche oder, enger noch, als psychologische Datenerhebungsmethode – geht es im Weiteren. Nach einer viel zitierten Bestimmung kann unter sozialwissenschaftlicher Beobachtung eine absichtliche und zielgerichtete, dabei bewusst selektive Form des Wahrnehmens verstanden werden (vgl. Graumann 1966) – auch wenn der Grad an Zielgerichtetheit und Selektivität je nach Beobachtungsform durchaus variiert. Damit hat die Beobachtung ihre Wurzeln in einer alltäglichen, menschlichen Handlung – als wissenschaftliche Beobachtung bemüht sie sich jedoch darum, diese im Alltag weit verbreitete Praxis zu reflektieren, zu optimieren und methodisch zu kontrollieren.

1.2 Zur Geschichte Obwohl die Beobachtung als Methode so alt ist wie die Psychologie selbst, hat sie nicht von Anfang an die volle Aufmerksamkeit der Forschenden erregt. Das ist durchaus ver1 Einige Passagen dieses Textes gehen zurück auf eine Darstellung von Beobachtungsmethoden im Kontext interkultureller Forschung (Kochinka 2007).

G. Mey K. Mruck (Hrsg.), Handbuch Qualitative Forschung in der Psychologie, DOI: 978-3-531-92052-8_32, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2010

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ständlich, interessieren doch zunächst die Ergebnisse einer Beobachtung, ehe die verwendete Methode selbst in den Fokus rückt. Wenn die obige Behauptung zutrifft, nach der Beobachtung eine Grundoperation empirischer Wissenschaft darstellt, dann muss sie sich – in der einen oder anderen Form – auch in allen Bereichen der Psychologie finden lassen. Ohne Anspruch auf Vollständigkeit und zu exemplarischen Zwecken sei an einige Arbeiten und Forschungsfelder erinnert: Mit der „Tagebuchmethode“ arbeiteten einige „Klassiker“ der Entwicklungspsychologie (z.B. Preyer 1882; Stern 1987 [1914]). Damit ist nichts anderes gemeint, als dass die Autorinnen und Autoren über Jahre hinweg ihre Kinder und deren Aufwachsen beobachtet, die Gespräche mit ihnen protokolliert und dies in Tagebuchform festgehalten haben. Dabei finden sich durchaus methodologische Überlegungen zur „Beobachtung“, darunter überraschend zeitgemäße, wenn etwa Stern dafür plädiert, „streng zwischen dem wirklich wahrgenommenen äußeren Tatbestand (der gesehenen Handlung oder Ausdrucksbewegung des Kindes, dem gehörten Wort usw.) und den daran geknüpften Deutungen“ zu unterscheiden (S.14, Hervorh.i.Orig.). Allerdings bleiben diese Überlegungen in der Regel auf den eigenen Forschungsgegenstand bezogen. Die frühe Arbeit Preyers hat eine Reihe weiterer, ähnlich angelegter Studien angeregt (von denen Stern [a.a.O., S.5] einige auflistet). Aber es gibt auch Untersuchungen, die unmittelbare „Nachfolger“ zwar kaum oder gar nicht auf den Plan riefen, aber dennoch innovative Beiträge zur Differenzierung der Beobachtungsmethode leisteten, z.B. die Studie zum „Lebensraum des Großstadtkindes“ von Martha und Hans Heinrich Muchow (1978 [1935]). Um zu ermitteln, in welchen städtischen Teilräumen sich Kinder aufhalten, wie sie diese Räume erleben und mit Leben füllen, wurden diese nicht nur befragt oder gebeten, in Stadtplänen bestens und weniger gut bekannte Straßenzüge zu markieren. Vielmehr wurden auch „eingehende, über Jahre hinaus ausgedehnte, alle Tageszeiten, Wochentage, Witterungsverhältnisse usw. berücksichtigende Beobachtungen über das Verhalten der Kinder und über ihren Umgang mit dem betreffenden Stück Großstadtumgebung angestellt“ (S.39). Ein anderes, prominentes Beispiel ist die Untersuchung von Jahoda, Lazarsfeld und Zeisel (1975 [1933]) über die „Arbeitslosen von Marienthal“, einem Ort in Niederösterreich, in dem es zu Beginn der 1930er Jahre durch die Schließung einer Textilfabrik zu Massenarbeitslosigkeit kam. Obgleich diese Untersuchung nicht alleine psychologische Fragestellungen verfolgte und auch nicht ausschließlich mit Beobachtungen arbeitete, ist sie noch immer ein Lehrstück für Feldforschung und kreative Methodenentwicklung: ersteres bspw. durch den Zugang der Forschenden zum und ihre Rolle im Feld, in dem die Beteiligten auch eine Funktion in der Dorfgemeinschaft übernahmen, und letzteres etwa durch die vielfältige Verschränkung qualitativer und quantitativer Daten sowie die einfallsreiche „Operationalisierung“ mancher interessierender Phänomene – exemplarisch sei an die Messung der Gehgeschwindigkeit erinnert, die als Ausdruck eines unter dem Einfluss der Arbeitslosigkeit veränderten Zeiterlebens diente (vgl. auch Thomas in diesem Band). Beispiele für den Einsatz von Beobachtungsmethoden finden sich jedoch auch in ganz anderen Teilbereichen der Psychologie. So hat sich etwa der Behaviorismus explizit und forschungsprogrammatisch auf beobachtbares Verhalten (als Gegenstand der Psychologie) beschränkt, obwohl diese Gegenstandssetzung kaum entsprechende methodologische Überlegungen nach sich gezogen zu haben scheint. Wie dem auch sei: Beobachtet wurde natürlich trotzdem, einfache Abfolgen von Reizen und Reaktionen oder von Verhalten und Konsequenzen ebenso wie komplexes Ausdrucksverhalten. Die berühmte Skinner-Box (vgl.

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Ferster & Skinner 1957, S.14ff.), bei der – z.B. auf einer Papierwalze – aufgezeichnet wird, wann, wie oft und bei Vorliegen welcher Reize eine Taube einen Taster drückt (sowie zusätzlich, wann darauf eine Konsequenz erfolgt, z.B. ein Futterkorn in einen Ausgabeschacht fällt), ist nichts anderes als eine technische Apparatur zur Aufzeichnung eines sehr spezifischen Verhaltens, ein Gerät zur Verfertigung eines Beobachtungsprotokolls. Und die nicht minder berühmte Studie über den „kleinen Albert“, in der mithilfe klassischer Konditionierung die Entstehung einer Phobie „nachgestellt“ werden sollte, kommt nicht ohne die Beobachtung einer „Angstreaktion“ aus. So dokumentierten Watson und Rayner (1920, S.2) rund zwei Monate vor Beginn der Konditionierungsphase die Wirkung des lauten Geräusches (ein Hammerschlag auf eine aufgehängte Stahlstange von gut einem Meter Länge und knapp zwei Zentimetern Durchmesser), das später als aversiver Reiz eingesetzt wurde, auf die knapp neun Monate alte „Versuchsperson“: „The child started violently, his breathing was checked and the arms were raised in a characteristic manner. On the second stimulation the same thing occurred, and in addition the lips began to pucker and tremble. On the third stimulation the child broke into a sudden crying fit“.

Die Frage, ob von einem solchen Verhalten (oder den späteren Beobachtungen während und nach der Konditionierung) umstandslos auf das Vorliegen auch eines inneren Erlebens, eines Gefühls wie „Angst“ geschlossen werden kann, wird freilich (ganz konform mit behavioristischen Grundsätzen) nicht weiter problematisiert. Auch in einer Reihe klassischer, experimenteller Studien spielten Beobachtungsmethoden eine wichtige Rolle. Man denke etwa an das Experiment von Schachter und Singer (1962), die sich für die Aktualgenese von Emotionen interessierten und davon ausgingen, dass jedes Gefühl seine Grundlage in einer unspezifischen, physiologischen Erregung hat, welche dann auf spezifische Weise interpretiert und so zu einem bestimmten Gefühl wird. Zur experimentellen Überprüfung variierten sie einerseits das Ausmaß der physiologischen Erregung ihrer Versuchspersonen durch die Injektion von Adrenalin oder Kochsalzlösung sowie andererseits durch zutreffende oder unzutreffende Informationen über die Folgen der Injektion das Ausmaß, in dem die Versuchspersonen ihre körperliche Erregung auf die tatsächliche Ursache zurückführen konnten. Abhängige Variable war Art und Ausprägung der Gefühle der Versuchperson, erhoben als Selbstauskunft über einen Fragebogen – aber auch in einer (halb-) standardisierten, kategoriengeleiteten Beobachtung (zu den Kategorien vgl. S.386f.). Ein letztes Beispiel betrifft ein berühmt gewordenes sozialpsychologisches Experiment von Stanley Milgram (1997 [1974]). In einem als Lernexperiment getarnten Versuchsaufbau wurde untersucht, ob und inwieweit die Probanden bzw. Probandinnen den Anweisungen eines Versuchleiters (d.h. einer Autorität) folgten, auch wenn dies bedeutete, dass sie einer anderen Person dem Anschein nach schmerzhafte, ständig an Stärke zunehmende und schließlich vermeintlich sogar lebensbedrohende Stromstöße erteilen mussten. (In der Standardversuchsbedingung taten das rund zwei Drittel der Versuchspersonen, ein noch immer nachdenklich machender Befund; vgl. auch Burger 2009.) Obwohl als abhängige Variable zunächst lediglich interessierte, bis zu welchem Punkt die Anweisungen befolgt wurden – und demzufolge erhoben wurde, ob der Höchstschock dreimal gegeben wurde (kein Abbruch), oder aber, nach welcher Schockstufe sich die Probanden und Probandinnen erfolgreich weigerten, weiterzumachen (Abbruch) –, stellte Milgram auch Beobachtungen der Versuchspersonen an, bei denen er häufig Nervosität und Spannungszustän-

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de zu registrieren meinte. Über einen fünfzigjährigen Mann heißt es bspw.: „Das Experiment beginnt er in ruhiger Haltung, wird jedoch im weiteren Verlauf zunehmend verkrampft. Nachdem er den 180-Volt-Schock gegeben hat, rutscht er auf seinem Stuhl herum, schüttelt den Kopf und spricht aufgeregt auf den Versuchsleiter ein“ (Milgram 1997, S.92). Diese Beobachtungen unterstützten Milgram wesentlich bei der Konstruktion eines Erklärungsmodells für seine Befunde: Er postulierte einen „Agens-Zustand“ für die „Funktion“ eines Individuums in hierarchischen Kontexten, der vom Zustand während der Funktion als autonomes Individuum maßgeblich unterschieden werden und – ist er einmal „eingeschaltet“ – im Rahmen von sozialen Situationen, die durch Autorität gekennzeichnet sind, nur sehr schwer wieder verlassen werden könne (vgl. Kochinka & Straub 1998). Ohne die Beobachtung von Spannungszuständen hätte Milgram zwar (durch einige Versuchsvarianten, etwa Experiment 11, in dem die Versuchsperson die Schockstufe frei wählte) ebenfalls alternative Erklärungen – bspw. Sadismus der Untersuchungsteilnehmenden – ausschließen, kaum jedoch seine Vorstellungen vom „Agens-Zustand“ entwickeln können. Solche und weitere, vielfältige Spuren aus den heterogenen Bereichen der Psychologie müssten aufgenommen und systematischer verfolgt werden, um eine Geschichte der Beobachtungsmethode zu zeichnen. Und dabei wäre noch gar nicht berücksichtigt, dass wichtige Entwicklungen gar nicht in der Psychologie, sondern in anderen (im weitesten Sinne sozialwissenschaftlichen) Disziplinen stattfanden (vgl. Legewie 1995). Gerade „offenere“ Varianten der Beobachtung – prototypisch etwa die teilnehmende Beobachtung in einem natürlichen Forschungsfeld – wurden zunächst in der Ethnologie eingesetzt. Bekannt sind hier die Arbeiten Malinowskis (z.B. 1922) über die Trobriander, die Bewohnerinnen und Bewohner eines Archipels östlich von Neuguinea (vgl. Stagl 1995). Auch die Beobachtung von tierischem Verhalten – man denke etwa an die berühmt gewordenen Studien Goodalls (z.B. 1986; vgl. Wickler 1995) an frei lebenden Schimpansen – leistete einen Beitrag zur Entwicklung und Differenzierung der Methode. Diesen Beitrag gilt es nicht zuletzt deshalb ebenfalls zu beachten, weil zentrale Annahmen und Prinzipien der tierischen Verhaltensforschung durch die Humanethologie ja auch auf menschliches Verhalten übertragen worden sind (vgl. etwa Eibl-Eibesfeld 1984). Innerhalb der Soziologie entwickelte sich in den 20er Jahren des 20. Jahrhunderts ein Ansatz – die Chicagoer Schule –, der explizit dazu aufforderte, die interessierenden sozialen Phänomene dort zu untersuchen, wo ihr „natürlicher“ Ort ist, also „ins Feld“ zu gehen und dabei ähnliche Methoden zur Anwendung zu bringen wie die Ethnologie. Die Chicagoer Schule erbrachte nicht nur eine Reihe nach wie vor lesenswerter Untersuchungen über „Gegenstände“, die bis dahin eher weniger im Fokus der Soziologie und Sozialpsychologie standen – etwa „Obdachlose, Cliquen krimineller Jugendlicher, das Ghetto, Streiks, Tanzhallen etc.“ (Legewie 1995, S.190) –, sondern führte auch zur Entwicklung grundlegender theoretischer Ansätze wie den symbolischen Interaktionismus oder die Ethnomethodologie. Die Konfrontation mit „dem Fremden“ – sei es als Anthropologin mit einer balinesischen Kultur, sei es als Soziologe mit Obdachlosen – schließlich kann zu Reaktionen führen, die (und deren Hintergründe) den Forschenden selbst nicht mehr vollständig bewusst sind, z.B. zu Angst und zu ihrer psychoanalytisch verstandenen Abwehr. Devereux (1973 [1967]) hat eine große Zahl solcher Reaktionen gesammelt und dokumentiert. Diese Reaktionen nun nicht mehr als Störungen eines hypothetischen, „idealen“ Erkenntnisvermögens zu betrachten, sondern selbst zum Instrument der Erforschung der sozialen Welt zu machen, ist das Ziel der Ethnopsychoanalyse.

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Grundannahmen: Verschiedene Formen der Beobachtung

Heute werden mithilfe dimensionaler Unterscheidungen verschiedene Formen der Beobachtung voneinander abgegrenzt (vgl. Lamnek 1998, S.247ff.; Appelsmeyer, Kochinka & Straub 1997, S.723f.): 1. Man unterscheidet nach dem Grad der Anleitung bei der Durchführung zwischen strukturierter (auch: standardisierter, kontrollierter) und unstrukturierter (freier, offener) Beobachtung. Die Auswahl denkbarer Beobachtungen im Feld und ihre Aufzeichnung – also das Protokollieren von Beobachtungsdaten – kann auf verschiedene Weise erfolgen: etwa durch Beschreibung in natürlicher Sprache, durch Strichlisten, die die Häufigkeit des Auftretens interessierender Verhaltensweisen dokumentieren, oder durch Ratingskalen, auf denen ein Verhalten auch in seiner Intensität protokolliert wird. Man spricht in diesem Zusammenhang von Beobachtungssystemen (und zwar – bezogen auf die genannten Beispiele – von einem Verbal-, einem Zeichen- oder Index- und einem Dimensionalsystem; vgl. Faßnacht 1995, S.172ff.). Je restriktiver ein Beobachtungssystem vorschreibt, welche Verhaltensweisen wie zu beobachten (und zu dokumentieren) sind und welche nicht, je genauer schon vorab der Beobachtungsgegenstand im Forschungsfeld bestimmt und begrenzt wird, um so strukturierter ist eine Beobachtung. Eine unstrukturierte, offene Beobachtung verzichtet darauf, im Vorhinein den Gegenstand der Beobachtung zu fixieren oder die zu erfassenden Verhaltensweisen zu beschränken – erkauft sich diese Offenheit aber damit, dass ihre Resultate weniger für die Testung von Hypothesen in Frage kommen und für manche Auswertungsverfahren nicht geeignet sind. Nicht selten findet sich daher das Plädoyer, im Forschungsprozess von unstrukturierten zu strukturierten Beobachtungen voranzuschreiten (z.B. Atteslander 1993, S.108). 2. Je nach Grad der Involviertheit der Beobachtenden in das Beobachtungsfeld spricht man von teilnehmender und nicht teilnehmender Beobachtung, im Falle der teilnehmenden Beobachtung noch genauer von aktiv teilnehmender und passiv teilnehmender Beobachtung. Bei der teilnehmenden Beobachtung sind die Beobachtenden selbst ein Teil der zu beobachtenden Situation: Sie sind zumindest anwesend und für die anderen sozialen Akteure wahrnehmbar (passive Teilnahme), oder aber sie werden darüber hinaus aktiv, beteiligen sich an den Interaktionen und Handlungen, die in ihrer Gesamtheit den Beobachtungsgegenstand konstituieren (aktive Teilnahme). Aktiv teilnehmend wäre beispielsweise die Beobachtung von Schulunterricht (oder einiger seiner Aspekte) durch die unterrichtende Lehrkraft selbst. Passiv teilnehmend wäre dieselbe Beobachtung, wenn sie durch Referendare bzw. Referendarinnen vorgenommen würde, die hinten im Klassenzimmer sitzen. Eine passiv teilnehmende Beobachtung kann, wie dieses Beispiel ebenfalls zu illustrieren vermag, jederzeit zu einer aktiv teilnehmenden werden, falls soziale Akteure im Beobachtungsfeld dies erzwingen, in unserem Beispiel also ein Schüler oder eine Schülerin die bis dahin Unbeteiligten ins Unterrichtsgeschehen verwickelt. Bei der nicht teilnehmenden Beobachtung befinden sich die Beobachtenden nicht mit im Beobachtungsfeld; prototypisch könnte man an die nachträgliche sozialwissenschaftliche Auswertung von Videoaufnahmen denken, die zu ganz anderen Zwecken entstanden sind (etwa zur Überwachung der Sicherheit auf U-BahnStationen oder zur Strafverfolgung bzw. Verhinderung von Straftaten bei Demonstrationen usw.). Jede dieser Formen der Beobachtung hat ihre Stärken und Schwächen. So verringert sich durch eine nicht teilnehmende Beobachtung das Risiko für die Forschenden, sich allzu sehr mit den Untersuchten zu identifizieren, ihre Wertvorstellungen und Maßstäbe zu über-

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nehmen (bis hin zum going native; vgl. z.B. Scholz 2005, S.389; Lueger 2000, S.63) und am Schluss vielleicht gar nicht mehr richtig zu erkennen, was an ihnen „anders“, beobachtungswürdig und erklärungsbedürftig – kurz: wissenschaftlich interessant – ist. Umgekehrt lassen sich jedoch (z.B. subkulturelle) Beobachtungsfelder denken, die für eine nicht teilnehmende Beobachtung gar nicht zugänglich sind, wo man also nicht abseits stehen und „draufschauen“ kann, sondern „mitmachen“ muss – oder eben nichts zu sehen bekommt. Als Beispiel hierfür lässt sich an einen „Klassiker“ wie Whytes „Street Corner Society“ (1996 [1943]) denken, in dem der Autor um 1940 herum das Verhalten italienischer Einwanderer in Boston untersuchte und dazu in ein „italienisches Viertel“ zog, um dort zwei Jahre mit ihnen zu leben und buchstäblich „um die Häuser“ zu ziehen. 3. Man unterscheidet offene (wissentliche) Beobachtung von verdeckter (unwissentlicher) Beobachtung, je nachdem, ob die „Beforschten“ wissen, dass sie Gegenstand wissenschaftlichen Interesses sind, oder nicht. Auch hier gilt, dass jeweils charakteristische Vorteile der Varianten spezifischen Nachteilen gegenüberstehen. Natürlich ist eine verdeckte, also „heimliche“ Beobachtung zunächst einmal ethisch problematisch. Allerdings tritt diese Problematik vor allem in privaten – und erst recht in intimen oder sonst wie stärker abgegrenzten – Handlungsfeldern auf, weniger in öffentlichen Räumen (einer Fußgängerzone, einem Bahnhof), wo jeder und jede ohnehin damit zu rechnen hat, beobachtet zu werden. Ein gewichtiger Vorteil verdeckter Beobachtung besteht demgegenüber darin, Probleme zu vermeiden, die durch die Reaktivität der Untersuchten entstehen – also darin, ausschließen zu können, dass jemand nur deshalb etwas tut oder sagt (oder dies unterlässt), weil er/sie weiß, dass er/sie im Zentrum wissenschaftlicher Aufmerksamkeit steht. Derartige Vor- und Nachteile gilt es abzuwägen, wenn man sich zwischen verdeckter und offener Beobachtung zu entscheiden hat – nicht zuletzt auch durch die Antizipation der Folgen, die es haben kann, wenn eine verdeckte Beobachtung unfreiwillig zur offenen wird, falls es zur „Enttarnung“ des oder der Forschenden kommt. 4. Von unvermittelter bzw. vermittelter Beobachtung spricht man im Hinblick darauf, wie Beobachtungsdaten gesammelt und festgehalten werden. Sind es alleine die Beobachtenden, die in einer spezifischen Situation Augen und Ohren offenhalten, um im Anschluss (und zwar möglichst bald) Beobachtungsprotokolle der einen oder anderen Art anzufertigen, handelt es sich um eine unvermittelte Beobachtung. Setzen sie bereits bei der Beobachtung eine Kamera oder ein Audioaufnahmegerät ein, liegt eine (technisch) vermittelte Beobachtung vor. Man könnte hier einwenden wollen: Einerseits ein Individuum mit all seinen „blinden Flecken“ und Vorlieben, andererseits eine unbestechliche Videokamera – sollte nicht letztere Beobachtung die direktere, validere sein? Es müsste dann daran erinnert werden: Mit der Videoaufzeichnung – auch diese im übrigen abhängig von Material und Licht, Blickwinkel und Objektiv – liegt noch keine Beobachtung vor; zur Beobachtung wird das alles erst, wenn jemand die Aufzeichnung ansieht. Ein solcher Beobachter oder eine solche Beobachterin also ist zwingend notwendig – ob er oder sie das Geschehen nun direkt (unvermittelt) oder per Aufzeichnung (vermittelt) beobachtet.2 Eine vermittelte Beo2

Zudem beschränkt eine Kameraaufzeichnung die Sinnesmodalitäten, die für die Beobachtung genutzt werden können. Damit ist in einem trivialen Sinne gemeint, dass wir beim Betrachten einer aufgezeichneten Interaktion nicht wahrnehmen können, wie es am Ort der Szene roch (oder wie die Interagierenden rochen). In einem weniger trivialen Sinne sind jedoch auch bestimmte Formen ganzheitlicher Wahrnehmung betroffen, wie sie etwa in phänomenologischen Kontexten behandelt werden. Wie nehmen wir beispielsweise beim Betreten eines Raumes sofort auf, welche Stimmung in einer dort befindlichen Gruppe herrscht? Wir sehen die Position und die Körperhaltung der Beteiligten, Teile ihrer Mimik und Gestik, hören die Lautstärke und den Tonfall ihrer Stimmen – aber

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bachtung bietet dabei den Vorteil der Wiederholbarkeit; allerdings kann eine Aufzeichnung in der zu beobachtenden Situation auch störend sein oder, in Extremfällen, verhindern, dass bestimmtes Verhalten auftritt. 5. Je nach dem Ort der Beobachtung lassen sich Labor- von Feldbeobachtungen abgrenzen. Während Laborbeobachtungen in kontrollierten Situationen durchgeführt werden (und in der Regel auch standardisiert sind), finden Feldbeobachtungen in der sozialen Wirklichkeit statt, also in Bereichen, in denen sich soziales Interagieren, Handeln und Sprechen auch unabhängig und vor jeder Forschung ereignen (vgl. Longabaugh 1980). Ein Beispiel für eine Laborbeobachtung stellt das bereits erwähnte Experiment von Schachter und Singer (1962) dar, für eine Feldbeobachtung lässt sich an die angesprochene Studie Whytes (1996 [1943]) über die „Street Corner Society“ erinnern. Mithilfe solcher Unterscheidungen lassen sich die vielfältigen Formen der wissenschaftlichen Beobachtung ordnen – was natürlich nicht ausschließt, dass auch Zwischenund Mischformen vorkommen. Zudem kann für eine derartige Taxonomie nicht unterstellt werden, dass sämtliche Unterscheidungskriterien voneinander unabhängig sind, dass also sämtliche sich kombinatorisch ergebenden Beobachtungsformen von vergleichbarer Bedeutung sind.

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Aktueller Stellenwert: Wann werden wissenschaftliche Beobachtungsverfahren eingesetzt?

Grundsätzlich lassen sich wohl die meisten Fragestellungen zumindest auch mithilfe von Beobachtungen bzw. durch sie gewonnener Daten bearbeiten. Darüber hinaus gibt es jedoch Fälle, in denen alternative Datenerhebungsverfahren ungeeignet oder unmöglich sind und daher ausscheiden: 1. Die „Datenlieferanten“ bzw. „-lieferantinnen“ sind nicht dazu in der Lage, Daten auf andere Weise zu produzieren. Vielleicht interessiert im Rahmen der Bindungsforschung das Verhalten eines einjährigen Kleinkindes in Situationen, in denen es von der Mutter (oder dem Vater) getrennt wird. Befragungen scheiden schon deswegen aus, weil das Kind eben erst zu sprechen beginnt. Beobachtungen dagegen sind möglich und auch in der ganzen Bandbreite zwischen offenen und standardisierten Verfahren eingesetzt worden: bereits in der Frühphase der Bindungsforschung direkte Beobachtungen der Interaktionen von Müttern und Kindern im natürlichen Feld, durchgeführt von Ainsworth (1967) in den 1950er Jahren in Uganda, die dazu ihrerseits angeregt worden war durch James Robertsons Beobachtungen in einer Klinik (vgl. Dornes 2001, S.46f.). Der daraufhin entwickelte „Fremde-Situation-Test“ (vgl. Ainsworth, Blehar, Waters & Wall 1978) steht für ein standardisierteres Vorgehen, nicht etwa, weil ihm ein detaillierter Katalog von Beobachtungskriterien zugrunde läge, sondern weil die Beobachtung selbst nicht mehr im natürlichen Feld vorgenommen wird, sondern in einer Laborsituation, in der eine Aufeinanderfolge von acht je dreiminütigen Episoden inszeniert wird (1: Bezugsperson, Kind und Versuchsleitung [Vl] betreten den Raum gemeinsam, 2: Vl geht, Bezugsperson und Kind bleiben allein schon eine vollständige Auflistung all dessen, was wir gleichsam in einem Moment sehen, hören oder sonst wie wahrnehmen (bis hin zur sprichwörtlichen „dicken Luft“), wird kaum gelingen. Es darf angenommen werden, dass derartige Fälle von Wahrnehmung stark behindert (oder sogar verhindert) werden, wenn wir, anstatt einen Raum zu betreten, die Bilder (und Töne) einer Überwachungskamera studieren.

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im Raum, 3: fremde Person kommt hinzu usw.), während derer das Verhalten des Kindes beobachtet wird. Beim „Bindungs-Q-Sort“ (Waters & Deane 1985) finden die Beobachtungen zwar bei einem Hausbesuch und damit in einer natürlichen Umgebung statt, die Auswertung und Ermittlung eines Bindungstyps erfolgen jedoch in normierter Weise durch die Sortierung von 90 Kärtchen mit vorgegebenen Aussagen über das kindliche Verhalten nach dem Ausmaß ihres Zutreffens. Das Beispiel Bindungsforschung illustriert: Wo die Erhebung verbaler Daten nicht (oder noch nicht) möglich (und die Erhebung physiologischer Daten alleine von recht begrenzter Aussagekraft) ist, sind Beobachtungen ein unverzichtbarer Zugang zum Forschungsgegenstand – in welcher Form auch immer sie vorgenommen werden. 2. Das interessierende Phänomen, der Untersuchungsgegenstand, ist so komplex, dass andere Methoden ihn lediglich indirekt erfassen könnten. Ein solches Phänomen ist beispielsweise die Interaktion mehrerer Menschen, d.h. ein über eine gewisse Zeit ablaufender, sprachlicher und auch nicht-sprachlicher Prozess. Natürlich kann man die Beteiligten anschließend befragen und aus ihren Antworten den Untersuchungsgegenstand, die Interaktion, zu rekonstruieren versuchen. Aber zum einen verfügt jede und jeder Beteiligte eben nur über eine Teilsicht aus der eigenen Perspektive, zum anderen ist bereits diese unvollständig – niemand kann schließlich das eigene Handeln und Sprechen in einer Interaktion komplett steuern, niemandem ist es vollständig bewusst oder gar später erinnerlich. Nur in der Beobachtung zeigt sich hier das interessierende Phänomen – die Interaktion – direkt und unvermittelt. Wie komplex dieser Gegenstand ist, macht der Blick auf ein bekanntes Verfahren zu seiner Beobachtung deutlich: die Interaktionsprozessanalyse von Bales (1950, 1968). Dieses Verfahren, geeignet zur Analyse von Interaktionen in aufgabenorientierten Gruppen, kategorisiert vor allem sprachliche Interakte – wenngleich es nicht-sprachliche nicht von vorneherein ausschließt. Doch obwohl die Aufgabe, jede relevante Handlung in der Gruppe richtig zu interpretieren und einer von zwölf Kategorien3 zuzuordnen, hohe Anforderungen an die Beobachtenden stellt und längere Übung voraussetzt, zeigt sich im Protokoll „nur ein kleiner Ausschnitt aus dem Geschehen in einer Gruppe“ (Dechmann 1978, S.217). 3. Das interessierende Phänomen ist seiner Natur nach eher verborgen und privat, so dass der Zugriff mit anderen Methoden misslingt, weil die Akteure ihr Handeln einstellen oder zumindest verändern, sobald sie bemerken, dass sie Gegenstand sozialwissenschaftlichen (oder sonstigen) Interesses geworden sind. Man denke etwa an illegale oder sozial sanktionierte Handlungen oder an Praktiken in Subkulturen, die sich nach außen hin stark abschirmen. Derartige Handlungen und Praxen können nicht mit Interview oder Fragebogen untersucht werden – aber auch nicht mit einer Beobachtung per Videokamera. Bei der teilnehmenden Beobachtung (s.o.) jedoch verschwimmt die Grenze zwischen den beobachteten Akteuren einerseits und den beobachtenden Sozialwissenschaftlerinnen und -wissenschaftlern andererseits. Insofern die Beobachtenden hierbei zu den Beobachteten gehören, die Beobachtung also sozusagen von innen und nicht von außen erfolgt, wird sie auch Ereignisse und Handlungen registrieren können, die ihr sonst verborgen blieben. Studien über die Drogenszene (Gerdes & von Wolffersdorf-Ehlert 1974) oder den Straßenstrich (Girtler 3

Diese Kategorien sind paarweise bestimmten Problemen (oder Themen) zugeordnet; jedes Paar bildet dabei die positive und die negative Ausprägung der Kategorie ab. Das „Problem der Orientierung“ wird beispielsweise durch die Kategorien sechs („orientiert, informiert, wiederholt, klärt, bestätigt“) und sieben („erfragt Orientierung, Information, Wiederholung, Bestätigung“) gebildet; das „Problem der Integration“ durch „zeigt Solidarität, bestärkt den anderen, hilft, belohnt“ und „zeigt Antagonismus, setzt andere herab, verteidigt oder behauptet sich“ usw. (vgl. Bales 1968, S.154f.).

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1988) gehören zu den illustrativen Beispielen. Gerade die teilnehmende Beobachtung kann daher den Zugang zu ansonsten schwer untersuchbaren Forschungsfeldern eröffnen – dabei sei nicht verschwiegen, dass ethische Probleme die Folge sein können, wenn Forschende an fragwürdigen Praktiken teilnehmen (bzw. zum Zwecke des Erkenntnisgewinns teilnehmen müssen; vgl. auch Kiegelmann in diesem Band).

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Stärken und Schwächen

In der Darlegung der Beobachtungsmethode bis zu diesem Punkt schienen bereits etliche ihrer Stärken auf, die hier deshalb nur noch knapp rekapituliert werden müssen: Erstens ist diese Methode der Datenerhebung ubiqitär, d.h. ohnehin überall vorfindbar. Als eine Grundoperation empirischer Wissenschaft ist sie unverzichtbar – und es ist tatsächlich schwer vorstellbar, wie eine Wissenschaft Aussagen über empirische Gegenstände treffen soll, ohne auf Beobachtungen zurückzugreifen. (Und das gilt natürlich insbesondere dann, wenn auf den einleitend skizzierten, umfassenden Beobachtungsbegriff rekurriert wird.) Zweitens finden sich darüber hinaus einige Forschungsfelder, in denen es kaum oder gar keine Alternativen zur Beobachtung (im sozialwissenschaftlichen Sinne) gibt. Dies gilt bspw. für komplexe, soziale Interaktionen oder für das Verhalten nicht- oder vorsprachlicher Lebewesen – im vorangegangenen Abschnitt war davon die Rede. Drittens sind Beobachtungen auf ganz unterschiedlichen Ebenen vorstellbar und durchführbar. So unterschieden Barker und Wright (1954, S.178) molekulare von molaren Einheiten des Verhaltens und damit der Verhaltensbeobachtung (vgl. auch Faßnacht 1995, S.277). Molekulare Einheiten (oder „Aktone“) sind demnach z.B. das Beugen des Ellenbogens, das Kontrahieren der Streckmuskeln der Finger, das visuelle Fixieren – die entsprechende molare Einheit (oder „Aktion“) besteht im „Grüßen der Flagge“. Und beides kann – je nach Fragestellung und Erkenntnisinteresse – sinnvoller Gegenstand einer Beobachtung sein. Die Unterscheidung zwischen molaren und molekularen Einheiten illustriert darüber hinaus einen Punkt, der für das Nachdenken über sozialwissenschaftliche Beobachtung generell – vor allem aber für ihren Einsatz in qualitativen Kontexten – von Bedeutung ist: Prinzipiell beobachtbar sind ja ganz unterschiedliche Ereignisse oder Vorgänge, z.B. Veränderungen in unserer „dinglichen“ Umwelt – etwas das Schmelzen von Schnee an einem warmen Frühlingstag – oder Vorkommnisse in unserer sozialen Umwelt – etwa das gegenseitige Begrüßen zweier Bekannter, die sich zufällig auf der Straße begegnen. Wo es sich bei den Gegenständen der Beobachtung um menschliche Handlungen handelt, also nicht um „bloße“ Vorgänge, sondern um Vorgänge, die mit Sinn und Bedeutung gleichsam „aufgeladen“ sind, neigen wir dazu, diesen Sinn und diese Bedeutung bereits auf der Ebene der Beobachtung sozusagen „einzuschreiben“ (und dementsprechend molare Beobachtungen durchzuführen). Wir beobachten also nicht, wie Hans den Blick auf Sabine richtet, die Hand hebt, die Mundwinkel und die Augenbrauen nach oben schiebt und etwas sagt – wir beobachten vielmehr, wie Hans Sabine auf der Straße trifft, ihr zuwinkt, sie anlächelt und begrüßt. Sich dieses Unterschiedes bewusst zu sein, also nicht zu vergessen, dass der Beobachtung selbst oft interpretative Komponenten eingeschrieben sind, kann die Qualität wissenschaftlicher Beobachtung verbessern. Denn wenn auch jede Beobachtung von Handlungen notwendig Sinnzuschreibungen umfasst, so sollte daraus nicht das Plädoyer abgeleitet werden, lediglich molekulare Einheiten zu beobachten – das bloße Beugen des Ellenbogens, das Kontrahieren

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der Streckmuskeln der Finger und das visuelle Fixieren sind nämlich häufig von geringerem sozialwissenschaftlichen Interesse als das Grüßen der Flagge (vgl. dazu etwas ausführlicher Kochinka 2007).4 Diesen Stärken der Beobachtung stehen einige ihrer Merkmale gegenüber, die man (zumindest aus einer bestimmten Perspektive) als Schwächen auffassen kann: Denn jede Beobachtung ist grundsätzlich selektiv und kann typischen Fehlern unterliegen. Zunächst zur Selektivität: In jedem denkbaren Beobachtungsfeld gibt es eine sehr große Zahl potenziell beobachtbarer, d.h. wahrnehmbarer Sachverhalte. Das menschliche Wahrnehmungsvermögen unterliegt dagegen Beschränkungen; wir können noch nicht einmal allen Sinneskanälen gleichzeitig die maximale Aufmerksamkeit schenken. (Viele Menschen schließen z.B. die Augen, wenn sie besonders gut hören wollen; und wenn sie sich etwas besonders genau anschauen, hören sie nicht mehr so genau hin.) Nicht alles Wahrnehmbare können wir also tatsächlich wahrnehmen – und nicht alles, was wir wahrgenommen haben, können wir uns dann auch dauerhaft merken. Nicht jede Information, die wir in einer Situation aufnehmen, können wir so bearbeiten, dass sie uns eine halbe Stunde später, also z.B. nach Abschluss einer Beobachtungseinheit, noch verfügbar ist. Eifriges Mitprotokollieren oder der Einsatz technischer Aufzeichnungsmedien, wenn möglich, mag diese Verluste von Information zwar vermindern; die Begrenztheit der menschlichen Aufnahmewie Weiterverarbeitungskapazität limitiert dennoch grundsätzlich die Informationen, die durch Beobachtung gewonnen werden können. Eine weitere Quelle der Selektivität sind motivationale Verzerrungen. Menschen nehmen nicht alles, was wahrnehmbar ist, mit der gleichen Sensibilität wahr: Aktuelle Vorstellungen, Erwartungen und Wünsche beeinflussen die Beobachtung. Die meisten Menschen nehmen leichter wahr, was sie erwarten oder wünschen, und übersehen leicht, was unerwartet ist. Aber nicht nur die Selektivität jeder Beobachtung markiert Grenzen, darüber hinaus gibt es spezifische „Beobachtungsfehler“, von denen einige wichtige hier knapp angesprochen seien (weitere finden sich bei Greve & Wentura 1997, S.56ff., und bei Faßnacht 1995, S.220ff.): ƒ

ƒ

Unter dem „Primacy-Effekt“ (oder Ersteindruckseffekt) versteht man die Tatsache, dass die Beobachtenden nicht alle Wahrnehmungen gleich gewichten, sondern den ersten besondere Bedeutung zumessen. Weitere Wahrnehmungen und ihre Bewertung richten sich dann am „ersten Eindruck“ aus. (Der „Recency-Effekt“ postuliert entsprechend ein besonderes Gewicht der letzten Beobachtung[en] in einer Reihe.) Auch im alltäglichen Denken kennen wir die besondere Bedeutung des „ersten Eindrucks“ – kritisch ist das natürlich vor allem dann, wenn bei einer Beobachtung die ersten Wahrnehmungen zufällig Unwichtigem oder Untypischem gelten. Der Primacy-Effekt lässt sich abschwächen, wenn man den eigenen ersten Eindrücken systematisch misstraut, die Urteilsbildung zurückstellt und die resultierende Unsicherheit toleriert. Als „Halo-Effekt“ – benannt nach dem Hof, den der Mond bei bestimmten Witterungsbedingungen zeigt – wird das „Ausstrahlen“ einer auffälligen Eigenschaft oder

4 In diesem Sinne geht auch der oben erwähnte Hinweis Sterns, bei der Beobachtung zwischen beobachteten Handlungen und ihrer Deutung zu unterscheiden, zwar in die richtige Richtung, aber nicht weit genug. Denn schon einen bestimmten Vorgang als Handlung zu beobachten, impliziert Deutungen – ohne eine Deutung ist das Beobachtete keine Handlung, sondern allenfalls Verhalten.

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eines ausgeprägten Merkmales auf andere bezeichnet. So schätzten in einer Studie von Nisbett und Wilson (1977) Beobachtende die äußere Erscheinung oder den Akzent einer Person eher als ansprechend ein, wenn diese sich freundlich gab (vgl. Greve & Wentura 1997, S.61). Der Halo-Effekt gehört wie der Ersteindrucks-Effekt zu den Konsistenzeffekten. Beobachtungsfehler durch implizite Persönlichkeitstheorien werden gelegentlich auch als „logische“ oder „theoretische“ Fehler bezeichnet. Eine implizite Persönlichkeitstheorie könnte z.B. Universitätsprofessoren oder -professorinnen als intelligente, aber zerstreute Menschen charakterisieren, kenntnisreich in ihrem engen Fachgebiet und gleichzeitig in lebenspraktischen Vollzügen umständlich oder gar untauglich. Wenn Beobachtende bei der Interpretation von Beobachtungsdaten – oder schon bei ihrer Auswahl – „zielsicher“ und glatt ein entsprechendes Bild zeichnen, könnte eine implizite Persönlichkeitstheorie wirksam sein. Im Extremfall wird sogar von einigen beobachteten auf eine Anzahl unbeobachteter Eigenschaften geschlossen, weil diese im Alltag in Wahrscheinlichkeitsbeziehungen zueinander stehen. (Aber ganz abgesehen davon, wie diese Wahrscheinlichkeiten im Alltag ermittelt worden sind: Ein korrelativer Zusammenhang ist eben kein notwendiger, so dass es durchaus Universitätsprofessoren oder -professorinnen geben kann, die alltägliche Lebensvollzüge ohne fremde Hilfe bewältigen.)

Obwohl diese Phänomene in der Regel als „Fehler“ bezeichnet werden, muss man viele von ihnen eher als spezifische Charakteristika und Leistungsmerkmale der menschlichen Wahrnehmung begreifen. Zum Fehler werden sie erst auf der Folie einer Idealvorstellung – nämlich einer „objektiven“, von Menschen unabhängigen und irgendwie „technischen“ Beobachtung –, von der in Teilen, insbesondere wo menschliche Wahrnehmung demgegenüber mit Sinnzuschreibung verknüpft ist, völlig unklar ist, wie wir sie uns vorzustellen hätten. Es ist unklar, wie eine technische oder maschinelle Beobachtung unterscheiden sollte zwischen einerseits dem Heben einer Hand, von Mundwinkeln und Augenbrauen und andererseits Hans, der Sabine begrüßt. Die Rede von „Beobachtungsfehlern“ diskreditiert daher die menschliche Wahrnehmung, ähnlich wie es diejenige von optischen „Täuschungen“ tut. Wenn bei speziell konstruierten Abbildern z.B. gleich große Figuren irrtümlich als verschieden groß wahrgenommen werden, weil wir durch Zentralperspektive, Texturgradienten und ähnliches mehr irregeleitet werden und räumliche Tiefe in das Abbild „hineininterpretieren“, dann gerät leicht aus dem Blick, dass dieselben Leistungen der Wahrnehmung, die hier einmalig und intentional getäuscht werden, uns im alltäglichen Normalfall eine Orientierung in der Welt ermöglichen, die zu simulieren Ingenieurwissenschaften und Artificial Intelligence noch immer große Mühen haben. Die meisten „Beobachtungsfehler“ lassen sich dementsprechend nicht einfach ausschalten. Aber sie zu kennen und sich ihrer bewusst zu sein, kann immerhin ermöglichen, ihre Wirkung abzuschwächen und selbstkritisch nach ihren Auswirkungen zu fahnden, um so eine im Grundsatz alltägliche Leistung – die Beobachtung – für wissenschaftliche Kontexte zu systematisieren, zu differenzieren und methodisch zu kontrollieren.

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Die Lebenswelt als Forschungsfeld

Die Distanz zwischen Ethnografie und Psychologie scheint größer kaum sein zu können. Auf der einen Seite finden wir einen in der Sozialanthropologie und Soziologie bewährten und anerkannten Ansatz, der uns durch seine Forschungsresultate mit der Lebenswelt und Sozialstruktur von Kulturen und Lebensgemeinschaften vertraut gemacht hat, die bis dato weitgehend unbekannt waren. Viele Studien wurden zu Zeugnissen nun längst untergegangener Gesellschaftsformen, ob es sich um Bronislaw Malinowskis Forschungsreise (1922) an die Südseestrände in der Westpazifischen Karibik handelt; um die soziologische Studie „Middletown“, in der Robert und Helen Lynd (1929) über das soziale Leben einer mittelgroßen US-amerikanischen Stadt berichten; um die Innenansichten, die William F. Whyte (1981 [1943]) in die soziale Organisationsstruktur eines italienischen Immigrant/innenviertels in Boston gibt; um die Dokumentation des Niedergangs indigener Kulturen aufgrund westlicher Kultureinflüsse im Zuge von Kolonialisierung und Globalisierung bei Claude Lévi-Strauss (1978 [1955]); oder um die ironische Selbstbeschreibung der Sozialanthropologie als eine zunehmend orientierungslose und verunsicherte Wissenschaftsdisziplin durch Clifford Geertz (1983). Auf der anderen Seite finden wir die Psychologie, die ihre disziplinäre und methodische Selbstverortung ganz überwiegend durch experimentelle Untersuchungen gewinnt. Hier ist die Forschung zum Zweck der Situations- und Bedingungskontrolle nicht selten in die Kellerräume, wo sich die Laboratorien psychologischer Institute vielfach finden, verbannt. Fernab von Lebenswelt und Alltag, weil sich menschliche Subjektivität nur im strikten Rahmen der Versuchsanordnung artikulieren darf, werden Fragen aufgeworfen und beantwortet, deren Bezug zur wirklichen Welt in viel zu vielen Fällen von fraglicher Natur ist. Das Erkenntnispotenzial, das wir durch die methodische Zurichtung des Forschungsgegenstandes in der Psychologie verschenken, hat Aaron Cicourel einmal in einem Seminar durch den Vergleich mit den Geschichtswissenschaften veranschaulicht. Was würden wohl Historiker/innen darum geben, wenn sie die Möglichkeit hätten, mit den Menschen, über die sie forschen, wirklich in Kontakt zu treten, um Lebensweise, Kultur und Sitte längst vergangener Epochen aus erster Hand kennenzulernen? Die Psychologie dagegen öffnet diese Tür zur Lebenswelt der von ihr untersuchten Menschen aus epistemologischen Gründen erst gar nicht.

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Entstehungsgeschichte und (sub-)disziplinäre Einordnung

2.1 Ethnografie in der Sozialanthropologie und Soziologie Die Geschichte ethnografischer Reiseberichte lässt sich bis in die Antike zurückverfolgen (Wax 1971, S.21ff.). Doch wird der Beginn der wissenschaftlichen Ethnografie als eigenständige Forschungsmethode gemeinhin in Bronislaw Malinowskis Studien über die seefahrenden Völker auf den Trobiand-Inseln in den Jahren 1916-1918 verortet. In der Einführung in die Monografie „Argonauts of the Western Pacific“ (1922) wurde das erste Mal von participant observation gesprochen. Bis zu dieser Zeit war es unüblich, dass Wissenschaftler/innen die Anstrengungen und Beschwerden langer Reisen auf sich nahmen, aber mehr noch, dass sie ihre Zelte in den Dörfern der untersuchten Stämme und Völker aufschlugen, um dort über Monate hinweg Feldforschung zu betreiben. Sozialanthropolog/innen beschränkten sich bis dahin vorwiegend auf Armchair-Wissenschaft, welche die Reiseberichte von Kaufmännern, Kolonialherren oder Missionaren studierten, um darauf ihre kulturwissenschaftlichen Theorien aufzubauen. Das Aufkommen ethnografischer Forschung lässt sich als traditionelle Phase in der Methodenentwicklung charakterisieren (vgl. Denzin & Lincoln 2005a). Anfang des 20. Jahrhunderts wurde den Sozialanthropolog/innen deutlich, dass sie sich in einem nicht gewinnbaren Wettrennen gegen die Zeit befanden. Die Zahl der Völker und Kulturen, die noch weitgehend unberührt vom Einfluss westlicher Gesellschaften und Lebensstile zu untersuchen waren, nahm rapide ab. Besonders in den USA unter der Ägide von Boas, aber auch durch Radcliffe-Brown wurde die neue Methode der Feldforschung unter Studierenden propagiert. In der Soziologie dagegen wird die Initialzündung zur Etablierung ethnografischer Feldarbeit als eigenständige Forschungsstrategie allgemein den Arbeiten des Department of Sociology der University of Chicago zugeschrieben; der „Chicago-School“ (Lindner 2004, S.113ff.). Dort vollzog sich seit 1917 unter dem besonderen Einfluss von Robert E. Park und Ernest W. Burgess eine Hinwendung auf die empirische Exploration und Erfassung sozialer Lebenswelten, die in den US-amerikanischen Großstädten anzutreffen waren (vgl. Burgess 1984). Eine erste Entwicklungslinie der methodischen Selbstverortung in der Ethnografie, die ihre Geltung bis in die Gegenwart behaupten kann, hatte ihren Ausgangspunkt in jener modernistischen Phase, die sich insbesondere in den 1960er und 1970er Jahren Geltung verschaffte. Das Erkenntnisinteresse war auf naturalistische Beschreibungen sozialer Lebenswelten fokussiert, die in ihrer methodischen Strenge durch Methodisierung und Formalisierung an die Standards und Gütekriterien der quantitativen Methodik Anschluss finden sollten (McCall & Simmons 1969). Dieser Entwicklungsschub in der methodologischen Debatte führte zur endgültigen Etablierung und Verwissenschaftlichung der Ethnografie, dem „Goldenen Zeitalter“, was Studien umfasst wie „Boys in White“ (Becker, Geer, Hughes & Strauss 1961) oder „Soulside“ (Hannerz 1969). Hieran schloss sich eine Phase der weiteren Konsolidierung und Ausarbeitung einer qualitativen, interpretativen Methodologie an, die noch bis heute währt (Atkinson, Coffey, Delamont, Lofland & Lofland 2001; Robben & Sluka 2007). Im deutschsprachigen Raum ist ein bekannter Vertreter des ethnografischen Forschungsansatzes Girtler (1995), der die verschiedensten Randkulturen unserer Gesellschaft untersucht hat; produktive Akzente finden sich auch in den Arbeiten von Hitzler (2008) zur

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Techno-Szene oder von Honer (1993), die Ethnografien der kleinen Lebenswelten von Bodybuilder/innen und Heimwerker/innen erstellte; schließlich ist noch Knoblauch (2005) mit seinem methodischen Diskussionsbeitrag zur fokussierten Ethnografie zu erwähnen. Eine zweite Entwicklungslinie brach dagegen völlig mit dem Selbstverständnis klassischer Ethnografie, d.h. mit dem Wissenschaftsmodell einer naturalistischen Lebensweltforschung. Insbesondere in den USA kamen unter dem Einfluss der „Writing Culture“-Debatte (Clifford & Marcus 1986) prinzipielle Zweifel an dem wissenschaftlichen Repräsentationsmodell der Sozialwissenschaften auf (vgl. hierzu Berg & Fuchs 1993). Demnach bezeichnet „Krise der Repräsentation“ die teils schockierende Einsicht, dass Ethnografie weniger in der Lage zu einer objektiven Wiedergabe von Realität ist, als dass es sich um einen Konstruktionsprozess handelt, aus dem sich die Forschenden nicht als nüchterne (unattachted) Beobachter/innen herausnehmen können, sondern an dem sie zentral beteiligt sind. Die Legitimität klassischer Objektivität und Wissenschaftlichkeit wird weitgehend infrage gestellt. Das Zerbrechen des ethnografischen Realismus mündete schließlich in eine neue Nachdenklichkeit und Selbstreflexivität (Geertz 1983), in deren Folge eine Vielzahl an Ansätzen hervorgebracht worden ist: auto-, art-based, feminist, critical ethnography (Denzin & Lincoln 2005b; siehe zu „autoethnography“ Ellis, Adams & Bochner in diesem Band). Zusammenfassend lässt sich sagen, dass Ethnografie angesichts der Globalisierung sozialen Lebens immer weniger auf das aus westlicher Perspektive stilisierte Fremde, Andere und Exotische zielt. Vielmehr rücken Sozialmilieus und kleine Lebenswelten in der jeweils eigenen Kultur in den Interessenfokus. 2.2 Ethnografie in der Psychologie In der Psychologie muss Ethnografie dagegen in weiten Teilen noch als Methode entdeckt werden. Schon die von Wundt entworfene Programmatik einer Völkerpsychologie, woraus sich Anschlüsse an ethnografische Forschung hätten ergeben können, muss als verpasste Chance gelten. Es verhält sich eher umgekehrt, dass psychologische Theorien, insbesondere die Psychoanalyse, durch die Sozialanthropologie aufgegriffen worden sind. Malinowski bezog sich in „Sex and Repression in Savage Society“ (1927) explizit auf psychoanalytische Grundbegriffe. Bei Margret Mead (1935), die sich mit der psychosexuellen Entwicklung heranwachsender Mädchen in unterschiedlichen Kulturen beschäftigte, floss nicht nur Freuds Werk als Hintergrundtheorie ein, sondern sie verwendete wie viele andere Sozialanthropolog/innen psychologische Testverfahren zur Persönlichkeitsdiagnostik. Umgekehrt findet sich eine methodische Öffnung gegenüber der Ethnografie aufseiten der Psychoanalyse, wobei den Forschungsarbeiten von Georges Devereux ein besonderer Verdienst zukommt (1985 [1951]). Im deutschsprachigen Raum konnte sich im Anschluss an Paul Parin, Fritz Morgenthaler und Goldy Parin-Matthèy in Form der Ethnopsychoanalyse schließlich eine eigenständige Theorie- und Methodentradition durchsetzen (vgl. Reichmayr 2003). Bekannt wurden die methodologischen Überlegungen von Mario Erdheim (1988) und die Studie von Maya Nadig (1986) über „Die verborgene Kultur der Frau“ in Mexiko. Erst viel später kam es über die Psychoanalyse hinaus mit der Herausbildung einer psychological anthropology zu einer ernsthaften Beschäftigung mit Ethnografie (D’Andrade 1995).

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Offenheit für einen ethnografischen Ansatz kann zumindest in der Frühphase der Entwicklungspsychologie ausgemacht werden, die hier im Sinne einer „Ethnografie des Kindesstubenlebens“ betrieben wurde (Mey 2003). Dabei wurde nicht so sehr das Individuum in seinem sozialkulturellen Lebenszusammenhang erforscht, sondern die Aufmerksamkeit galt der individuellen Entwicklung. William und Clara Stern hielten etwa das Heranwachsen ihrer Kinder in umfänglichen Tagebuchaufzeichnungen fest. Martha und Hans Muchow (1935) führten Beobachtungsstudien zu räumlichen Aneignungs- und Spielformen von Großstadtkindern durch. Im pädagogischen Umfeld finden sich zudem ethnografische Studien in den Bereichen der Schul- und Unterrichtsforschung (Helsper & Böhme 2008), aber auch der Sozialisations-, Kindheits- und Jugendforschung (Hünersdorf, Müller & Maeder 2008). Im Schnittbereich von Sozialpsychologie und Soziologie ist besonders auf die Marienthal-Studie (Jahoda, Lazarsfeld & Zeisel 1975 [1933]), aber auch auf die Institutionsforschung in Psychiatrien von Goffman (1973) zu verweisen. In der Arbeits- und Organisationspsychologie finden sich ethnografische Forschungselemente etwa in der HawthorneStudie (Roethlisberger & Dickson 1939) und in der Aktionsforschung bei Kurt Lewin. Legewie (1987) hat eine gemeindepsychologische Studie über den Berliner Stephankiez durchgeführt, wo er gesellschaftliche Wandlungs- und Verdrängungsprozesses aus der Innenansicht der Bewohner/innen untersuchte. Auch im Bereich der transkulturellen klinischen Psychologie und Psychiatrie finden sich vereinzelt ethnografische Studien (vgl. Angermeyer & Zaumseil 1997).

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Theoretische und methodologische Prämissen und Grundannahmen

3.1 Die methodologische Selbstverortung Ethnografie ist die klassische Methode zur Erforschung der sozialen Lebenswelt. Der Aufgabenbereich der ethnografischen Methode besteht darin, Instrumentarien und Verfahrensweisen zur methodisch angeleiteten und reflektierten Kartografierung kultureller Welten bereitzustellen. Dabei lässt sich eine Vielfalt von Begriffen zur Beschreibung ganz ähnlicher methodischer Vorgehensweisen finden: field work, participant observation, teilweise auch case study etc. Im deutschsprachigen Raum wurden lange Zeit nur die Ausdrücke „Feldarbeit“ oder „Feldforschung“ gebraucht; die Bezeichnung Ethnografie kam erst später hinzu. Feldforschung bzw. teilnehmende Beobachtung gehören zum festen Kernbestandteil jeder ethnografischen Studie (Gobo 2008, S.4f.). Denn die Untersuchung richtet sich auf das „wirkliche“ Leben, wie es von den Menschen in ihrer Alltagswelt erlebt und gelebt wird (Blumer 1969; Cicourel 1964, S.28). Die Möglichkeit, das „wirkliche Leben“ objektiv zu erfassen, wird zwar kontrovers diskutiert (Hammersley 1992, S.43ff.). Aber in jedem Fall ziehen die Ethnograf/innen in die Welt, um ihre eigenen Beobachtungen und Erfahrungen beim Kennenlernen und Untersuchen einer (Sub-) Kultur zu machen: „The ethnographer participates, overtly or covertly, in people’s daily lives for an extended period of time, watching what happens, listening to what is said, asking questions; in fact collecting whatever data are available to throw light on the issues with which he or she is concerned“ (Hammersley & Atkinson 1983, S.2).

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Ethnografie lässt sich aber keineswegs auf die Anwendung von Feldforschung und teilnehmender Beobachtung reduzieren. Das Erkenntnisinteresse ist ambitionierter: Es werden nicht allein einzelne lebensweltliche Ausschnitte, Situationen und Ereignisse untersucht. Vielmehr porträtiert eine Ethnografie das soziokulturelle Leben einer besonderen Gruppe von Menschen, wobei sowohl soziale Strukturen, Weltanschauungen, Diskurse, Werte als auch Interaktionen, Kognitionen, Gefühle, Lebensgeschichten und Handlungen von Interesse sind. Für Ethnograf/innen besteht die Herausforderung darin, das „wirkliche“ Leben als eine kulturelle Welt, die als Wirklichkeitstotalität für sich steht, zu erfassen. Der erkenntnislogische Anspruch ethnografischer Forschung ist ein zweiseitiger: Die Situierung des Forschungsprozesses im „wirklichen“ Leben ist einerseits notwendig, weil Forschende in der Regel nur im geringen Maße mit der übergreifenden Kultur und sozialen Praxis der beforschten Welt vertraut sind. Sie versuchen, „den Bezugsrahmen zu entdecken und zu explizieren, in dem das ... beobachtete Verhalten als soziales, d.h. sinnvolles Handeln im Kontext spezifischer Kultur-, Milieu- und Situationszusammenhänge beschreibbar wird“ (Schmitt 1992, S.28). Durch die Teilnahme an dem kulturellen Leben gewinnen sie die einzigartige Möglichkeit, die Menschen und ihre Wirklichkeit durch die Übernahme einer Innenperspektive zu ergründen: „to grasp the native’s point of view, his relation to life, to realise his version of his world“ (Malinowski 1922, S.25). Andererseits konstituiert sich aus einer mikrosozialen Perspektive die Wirklichkeit gerade erst über die kleinen Interaktionen, kurzen Handlungssequenzen und situationsspezifischen Geschehensverläufe, wie diese sich an dem Ort der Beobachtung ereignen. Das einzelne Wort, die für sich stehende Handlung, das isolierte Ereignis, jeweils zu unscheinbar und unwichtig, um protokolliert und festgehalten zu werden, schichtet sich schließlich zu jener Dichte des Alltags auf, in der sich die untersuchte Lebenswelt selbst erblickt. Ethnografie ist dem Anspruch verpflichtet, die strukturelle Fremdheit, die der Untersuchungsgegenstand für die Wissenschaftler/innen hat, in einer methodisch reflektierten Weise zu überwinden und in ein positives Wissen über die andere Lebensform zu verwandeln. Die Exploration einer kulturell fremden Welt macht daher eine besondere Haltung der Forschenden gegenüber dem Untersuchungsfeld notwendig. Während die meisten Methoden der Sozialforschung von der Fiktion ausgehen, dass man die Anderen schon irgendwie verstehen wird, geht Ethnografie von der Annahme einer strukturellen Differenz von Wissenschaftler/in und Alltagsmensch aus. Eine ganz wesentliche Bedeutung kommt dabei dem „Fremdheitspostulat“ bzw. einer Haltung der „Befremdung“ (Hirschauer & Amman 1997, S.12) zu. Indem die Wahrnehmung der im Feld stehenden Personen als Fremde angestrebt wird, wird der Gefahr vorgebeugt, die unbekannte Lebenswelt innerhalb des eigenen Verständnishorizontes einfach zu subsumieren und zu vereindeutigen. Vielmehr geht es darum, was sich generell als Grundanspruch qualitativer Sozialforschung formulieren lässt, dem Leben der Anderen zum eigenen Recht zu verhelfen. 3.2 Der methodische Werkzeugkoffer Das breit gefächerte Interesse der Ethnograf/innen an der Lebenswelt anderer Menschen findet seine Entsprechung in der Triangulation von Methoden und Daten. Daher bezeichnet Ethnografie kein einzelnes Verfahren, sondern es handelt sich vielmehr um einen Sammelbegriff, der die Anwendung des ganzen Arsenals an Methoden unterstützt, welche die Sozi-

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alforschung zu bieten hat, unabhängig davon, ob diese dem qualitativen oder quantitativen Paradigma zuzuordnen sind. Durch das methodenplurale Vorgehen der Ethnografie wird der Anspruch nach Gegenstandsangemessenheit der Methodik am strengsten gewährleistet. Methodische Entscheidungen, Abgrenzungen und Ausschlüsse werden nicht ad hoc vollzogen, sondern die Festlegung der methodischen Umsetzung entwickelt sich im sukzessiven Fortschreiten des Forschungsprozesses. Dennoch kommt keine Ethnografie ohne den direkten Feldkontakt qua teilnehmender Beobachtung aus. Über die sich spontan ergebenden Erzählungen, Diskussionen und Fragemöglichkeiten hinaus wird dies häufig mit der Erhebung von Fragebögen, Interviews, Bildern und Videos, Dokumenten und Artefakten aller Art verbunden. Diesen „ergänzenden“ Forschungsmethoden ist jedoch gemeinsam, dass diese sehr viel weniger innerhalb des „wirklichen“ Lebens situiert sind. Denn selbst bei Interviewstudien ist der Feldkontakt auf wenige Stunden beschränkt. Fragebögen eignen sich beispielsweise, um repräsentative Erhebungen über die statistische Verteilung wichtiger Merkmale in der untersuchten Gesamtpopulation durchzuführen. Auch subjektive Sichtweisen, Einstellungen und Überzeugungen sind nicht allein über die teilnehmende Beobachtung zu erhalten. Vielmehr werden Interviews durchgeführt, um abseits von den „normalen Störungen“ des Feldes eine ausführliche und konzentrierte Themenexploration zu ermöglichen (Spradley 1979). Insbesondere biografische Erzählungen brauchen Ruhe und Zeit, um den lebensgeschichtlichen Faden in aller Ausführlichkeit und Detailliertheit verfolgen zu können. Gruppeninterviews sind besonders gut dazu geeignet, den Diskurs zu fixieren, der unter den Akteur/innen im Feld zu einem spezifischen Thema geführt wird. Schließlich vergegenständlicht sich die soziale Praxis immer auch in kulturellen Artefakten (alle Formen von im Alltag gebräuchlichen Kulturgegenständen) und Dokumenten (etwa Briefe, Tagebücher, Zeugnisse, Urkunden auf der persönlichen Ebene, Schriften aller Art – Zeitungen, Bücher, Akten, Reporte – mit Blick auf Öffentliches) (Gobo 2008, S.129f.). 3.3 Das produktive Spannungsverhältnis von teilnehmender Beobachtung Für die Ethnografie wird in jedem Fall das Spannungsverhältnis, das sich zwischen den widersprüchlichen Anforderungen von Teilnahme und Beobachtung entwickelt, virulent. Einerseits ist eine empathische Teilnahme an der Lebenspraxis notwendig, andererseits die auf Distanz gehende Beobachtung von alltäglichen Gegebenheiten und Vorkommnissen im Forschungsfeld. Die Beobachtung versucht das soziale Leben unabhängig von den Selbstverständnisformen und subjektiven Sichtweisen der Akteure und Akteurinnen im Forschungsfeld zu untersuchen. Methodisch wird zwischen Einstellungen – warum man glaubt, etwas zu tun – und dem wirklich beobachtbaren Verhalten unterschieden. Die Beobachtungen dienen dazu, Daten zur Beantwortung von Fragen nach der Art zu generieren: Wie wird tatsächlich gehandelt? Wie ist die Situation zu beschreiben? Welche Situationsmerkmale definieren den (Handlungs-) Kontext? Dementsprechend wird gerade zu Beginn auf die Verwendung von strukturierten Beobachtungsleitfäden verzichtet, um eine möglichst unvoreingenommene Haltung gegenüber dem sozialen Leben einzunehmen. Die Relevanzstrukturen der beobachtenden Lebenswelt sollen gleichsam von selbst hervortreten.

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Feldforschung möchte aber in der Regel mehr, als nur vom äußeren Standpunkt der unbeteiligten Beobachtenden Einblicke in fremde Lebenswelten zu gewinnen. Erst die Teilnahme an dem Forschungsfeld ermöglicht es den Forschenden, hinter ihre kulturell und wissenschaftlich geprägten Vorannahmen und Vorurteile zurückzutreten, um sich die fremde Welt in ihrer Eigenwilligkeit und Eigenstrukturiertheit aus der „Sicht des Subjekts“ zu erschließen. Die Teilnahme zielt auf den Aufbau einer kommunikativen Forschungssituation, in der die individuellen Sicht-, Begründungs- und Reflexionsformen zur Sprache gebracht werden. Das Erlernen der Rolle des Teilnehmers/der Teilnehmerin durch den Ethnografen bzw. die Ethnografin erfordert einen Forschungsprozess, der sich Zeit nimmt, den Kontakt zu den Menschen sucht, ihr Vertrauen gewinnt, um im Gespräch zu gemeinsamen Situationsdeutungen zu gelangen, die sich zugleich im Alltag praktisch bewähren. Sicherlich verändert die Anwesenheit der Forschenden die Reaktions- und Verhaltensweisen des Feldes. Andererseits wird es möglich, systematisch zu untersuchen, wie die Akteure auf äußere Störungen typischerweise reagieren (vgl. Devereux 1973 [1967], S.29). Die über die Kommunikations- und Verständnisprozesse zu erfassenden Daten sollen daher eine Antwort auf folgende Fragen liefern: Wie stellt sich die Welt vom Standpunkt des Akteurs/der Akteurin dar? Wie beurteilen diese ein Ereignis, eine Handlung oder eine besondere Situation? Welche Absichten und Ziele werden in der Situation verfolgt? Erst die Konvergenz von Innen- und Außenperspektive ermöglicht das analytische InBeziehung-Setzen von Handlung und Sinn. Während die Beobachtung einen direkten Blick auf Situation und Handlung eröffnet, ist der subjektive Sinn, den Lebenswelt und Lebenspraxis für die Handelnden haben, allein durch die kommunikative Verständigung über Sichtweisen und Intentionen möglich. Das Vertrautwerden mit den Selbstverständlichkeiten und Basisprinzipien der untersuchten Lebenswelt wird als zweite Sozialisation bzw. in eher abfälliger Weise als going native bezeichnet. Der Anspruch nach Nähe, um die Sozialwelt durch die empathische Identifikation mit den Handelnden von innen kennenzulernen, und der Anspruch nach Distanz, um die kritische Haltung außenstehender Betrachtung zu wahren, verhalten sich gegensätzlich. Trotz des Versuchs, dieses methodische Dilemma über die Typisierung verschiedener Ausprägungsverhältnisse des Zueinanders von Teilnahme und Beobachtung zu überwinden (Gold 1969), ist eine prinzipielle Aufhebung dieses inhärenten Widerspruchs kaum denkbar. Das Sich-Einmischen in die Lebenswelt bringt ein hohes Maß an Reaktivität des Untersuchungsfeldes auf die Intervention der Forschenden mit sich. Deshalb muss in Bezug auf Fragestellung und Gegenstand das Verhältnis von Nähe und Distanz im Forschungsprozess immer wieder neu reflektiert und austariert werden.

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Stationen des ethnografischen Forschungsprozesses

4.1 Der Feldzugang Zu Beginn des ethnografischen Forschungsprozesses ist entscheidend, dass der Feldzugang gelingt, um sich in der untersuchten Lebenswelt als teilnehmende/r Beobachter/in zu etablieren. Zunächst setzt dies die Identifikation des Forschungsfelds/der Untersuchungsgruppe voraus, wobei schon diese Abgrenzung Probleme bereiten kann. Forschende haben es im Feld mit natürlichen Sozialeinheiten wie etwa Dorf- und Stadtgemeinschaften, Straßengangs,

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Schulklassen, Firmenabteilungen etc. zu tun. Aufgrund der Verstricktheit in heterogene Netzwerke ist oftmals nicht leicht zu überblicken, wer zur Untersuchungsgruppe gehört. Nach Bestimmung der potenziellen Untersuchungseinheiten sind aus der Gesamtstichprobe die relevanten Personen und Ereignisse auszuwählen. Eine repräsentative Erhebung ist in der qualitativen Forschung in der Regel nicht zu erreichen, sodass nach theoretischen und pragmatischen Erwägungen eine Auswahl anhand der Frage erfolgt: Welche Personen und welche Ereignisse können mir Informationen liefern, die meine Erkenntnisse über das Feld erweitern? Sind Forschungsfeld und zu untersuchende Stichprobe schließlich eingegrenzt, wird es dann in einem weiteren Schritt möglich, den Feldzugang zu klären. Oftmals übernehmen einzelne Personen, die im Feld eine herausgehobene Position innehaben, die Funktion eines gate-keepers (Burgess 1991; Girtler 1984, S.84f.). Das auf das Untersuchungsfeld bezogene „to get in and to keep in“ hängt bei der Feldforschung daher ganz von der Akzeptanz der Forschenden als Person ab. Dagegen interessieren sich die Feldangehörigen oftmals gar nicht für die thematischen Details der Feldforschung: „If I was all right, then my project was all right; if I was no good, then no amount of explanation could convince them that the book was a good idea“ (Whyte 1981 [1943], S.300). 4.2 Die Rolle der Forschenden im Feld Die teilnehmende Beobachtung kennt keine optimale Rolle, die während des Forschungsprozesses anzustreben wäre, sondern erfordert ein flexibles und situationsangemessenes Reagieren. Dies steht dem Versuch der methodischen Formalisierung und Standardisierung der Feldforschung konträr gegenüber. In Abhängigkeit von der gerade aktuellen Situation, von den anwesenden Personen, von den angeschnittenen Gesprächsthemen, muss entschieden werden, wie die Rolle als Teilnehmer weiter ausgestaltet wird, ob es die des Forschenden selbst, des guten Bekannten, vertrauensvoll-freundschaftlicher Gesprächspartnerschaft etc. ist. Daher muss die eingenommene Rolle auch vor dem Hintergrund kritisch reflektiert werden, welche Ausschnitte des Feldes überhaupt in den Blick gelangen und von welchen Ansichten und Ereignissen man grundsätzlich ausgeschlossen bleibt. Im Mittelpunkt des Feldeinstiegs steht der Aufbau einer Vielzahl von Kontakten, sodass die Anwesenheit des Forschenden bald allgemein bekannt und akzeptiert ist. Das Verhältnis zu den Informationspartner/innen soll sich durch Loyalität und Verschwiegenheit auszeichnen. In institutionellen Praxiszusammenhängen scheint speziell die Praktikant/innen- bzw. Hospitant/innen-Rolle für die Durchführung von Feldforschung ideal zu sein, weil man die Menschen in ihrem Lebensweltkontext bei der Ausübung ihrer Tätigkeit möglichst wenig stört, die ganze Zeit interessiert zuschauen kann und keine Frage „zu dumm“ ist, als dass sie nicht gestellt werden dürfte. Aufgrund dieser harmlosen Identifikationsmöglichkeit ist es viel weniger zu befürchten, in Auseinandersetzungen, Konflikte und Streitereien hineingezogen zu werden, gerade weil man als neutrale Person gilt. Zugleich kann Neutralität auch bedeuten, dass für die Feldangehörigen unklar bleiben muss, ob sich Forschende als loyal und vertrauenswürdig erweisen, sodass diese von heiklen Feldeinsichten ausgeschlossen bleiben.

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4.3 Forschungsphasen Eng verknüpft mit der Frage nach der Teilnehmendenrolle ist der Wechsel der Forschungsphasen. Auf einer horizontalen Achse werden mit dem Fortschreiten des Forschungsprozesses zu unterschiedlichen Zeitpunkten verschiedene Arten der Teilnahme möglich und – je nach Erkenntnisinteresse – auch erforderlich. Zu Beginn jeder Untersuchung beginnen die Forschenden vordergründig als passive Beobachter/innen des sozialen Geschehens. Wenn dann im weiteren Verlauf vertrauensvolle Beziehungen etabliert werden, kann die Rolle „reiner“ Beobachtung zurückgelassen werden, ohne dass man aber umfassend ins Feld integriert ist. Die anfänglich geringe Identifikation mit der Teilnehmendenrolle muss kein Manko sein, sondern bietet den Forschenden die Gelegenheit zu Beobachtungen, die noch nicht durch die sich einschleichende Alltagsblindheit, durch das „going native“ verzerrt sind. Jedoch erst mit wachsender Einbindung in das soziale Feld können sich die Forschenden aktiver an den sozialen Lebensformen beteiligen und allmählich zu ebenbürtigen Teilnehmenden „aufsteigen“. Durch die Kombination der verschiedenen Rollenkonfigurationen wird es möglich, sich als Teilnehmer/in in der fremden Lebenswelt zu qualifizieren und zugleich als Beobachter/in wieder vom eigenen Engagiertsein zurückzutreten, um aus wohlwollend-kritischer Distanz das soziale Leben zu betrachten. Die Beobachtungsperspektive ändert sich aber auch, weil die offene Haltung, die die Ethnograf/innen zu Beginn der Untersuchung einnehmen, zunehmend auf für ihre Forschungsfrage relevante Themenbereiche zu konkretisieren und in einzelne Untersuchungsdimensionenen auszudifferenzieren ist. Die Feldforschung beginnt daher idealtypisch mit einer orientierenden und explorativen Anfangsphase, in der alle Beobachtungen zunächst wichtig genommen werden, geht über in eine fokussierende Phase, um sich auf jene Ereignisse und Phänomene zu konzentrieren, die sich als zentrale Aspekte der Forschungsarbeit erwiesen, um schließlich in der selektiven Phase ergänzende Details zu erheben. 4.4 Dokumentation Feldforschung lässt sich nicht auf den Akt der Datenerhebung reduzieren. Ebenso wichtig ist die Dokumentation in Beobachtungsbögen und Feldtagebüchern (Emerson, Fretz & Shaw 1995). Hier entscheiden Forschende darüber, welche Eindrücke und Ereignisse der Flüchtigkeit des Augenblicks enthoben werden. Damit stellt sich die Frage, was denn überhaupt protokolliert werden soll. Der schlichte Verweis darauf, dass die Feldprotokolle eine Antwort auf die Frage: „What is going on?“ geben sollen, greift zu kurz. Den Beobachtenden wird sofort deutlich, dass angesichts der unendlichen, unabgeschlossenen Fülle an Begebenheiten, Situationsmerkmalen und Handlungsformen es nicht auf der Hand liegt, was in die Protokolle einbezogen werden soll (Charmaz & Mitchell 2001). Die Dokumentation von Daten sollte sich an folgenden Fragen orientieren: Was ist für die Forschenden neu, überraschend, außergewöhnlich, erstaunlich? Was ist an Hintergrundwissen notwendig, damit auch Außenstehende verstehen können, wie die Menschen im Forschungsfeld ihre Welt sehen? Welche verschiedenen Beobachtungsebenen sind aufgrund der Forschungsfrage zu berücksichtigen? Es soll dabei sowohl das Neue zur Darstellung gebracht werden, weil es über das beschränkte Vorverständnis und Allgemeinwissen der Forschenden hinausweist, als auch das nur schwer zu explizierende tacit knowledge,

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über welches in ihre Lebenswelt sozialisierte Mitglieder einer fremden Sozialgemeinschaft verfügen. Das einzelne Ereignis, eingebettet in seinem kulturellen Bedeutungshorizont, ist besonders gut in Situationen zu beobachten, die Agar (1996) als rich points des Forschungsprozesses bezeichnet. Bei den rich points handelt es sich um Begebenheiten, aufgrund derer Forschende mit einem Mal, wie bei einer optischen Kippfigur, einen neuen Blick auf das Forschungsfeld gewinnen. Bei der Explikation dieser rich points besteht in besonderer Weise die Notwendigkeit, die Hintergrundüberzeugungen und Kontextbedingungen des Feldes soweit zu explizieren, dass auch die Lesenden das Augenfällige, Überraschende, Exemplarische des Ereignisses verstehen. Die Dokumentation der Beobachtungsdaten erfolgt durch die Anfertigung von Beobachtungsprotokollen bestenfalls im direkten Anschluss an den Feldaufenthalt. Die ersten Aufzeichnungen macht man sich – etwa auch unter Einsatz eines Diktiergerätes – schon auf dem Nachhauseweg, um für die weitere Protokollierung eine Skizze der wesentlichen Begegnungen und Vorfälle zur Hand zu haben. Man sollte mindestens so viel Zeit für das Schreiben aufwenden, wie man sich selbst im Feld aufhielt. Ziel ist eine deskriptive Protokollierung der erlebten Ereignisse in chronologischer Ordnung. 4.5 Datenauswertung Was macht man nun aber mit der großen Menge an erhobenen Daten? Für die Ethnografie gibt es nicht das eine Auswertungsverfahren (siehe ausführlich den 4. Teil zu Auswertungsverfahren in diesem Band). In jedem Fall beschränkt sich der Anspruch von Ethnografie in der Regel nicht auf die deskriptive Darstellung der untersuchten Sozialwelt. Ethnografie verfolgt nach Burawoy (1991) einen zweifachen Erkenntnisanspruch: eine verstehende, immanente Deskription des Feldes aus der Innenansicht und eine erklärendanalytische Rekonstruktion der psychischen und sozialen Struktur aus der Außenperspektive. In der analytischen Theoriegenerierung wird ausgehend von der Sammlung empirischer Phänomene und Fälle über einen abstrahierenden Theoriegeneseprozess ein systematisierendes Begriffssystem entwickelt. Schließlich wird die „dichte Beschreibung“ von Geertz (1983) nach wie vor als zentraler Bezugspunkt für die Datenauswertung angesehen. Die einzelne Beobachtung erlangt hier den Status eines paradigmatischen Ereignisses, woran der kulturelle Kontext expliziert wird, um verstehen zu können, warum an dem untersuchten Ort und zur untersuchten Zeit genau die beobachtete Kulturform als Antwort auf existenzielle Herausforderung aufgetreten ist.

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Wichtige Themen und zentrale Diskussionen

In der Psychologie liegt die Vernachlässigung von Ethnografie nur zu einem Teil an dem dezidiert quantitativen Selbstverständnis weiter Teile der akademischen Psychologie. Es finden sich daneben Anwendungs- bzw. Übertragungshindernisse, die in der Methode selbst begründet liegen. Hier muss zuvorderst geklärt werden, was Forschungsthemen der Psychologie sein können, die den Einsatz der Ethnografie notwendig machen. Denn in der Psychologie würde ja nicht die Erforschung von Kultur, Lebensgemeinschaften oder Sozialwelt im

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Mittelpunkt stehen. Vielmehr gilt es die soziale Situierung, die Wahrnehmung, die Handlungsweisen des Individuums als Gegenstandsebene herauszuheben. Damit würde Ethnografie die Möglichkeit einer Rejustierung psychologischer Forschung auf die konkrete Alltagswelt des Individuums bieten als der vorgegebenen Lebensbedingung, auf die das gesamte menschliche Wahrnehmen, Fühlen, Denken und Handeln zielt. Das Individuum wäre hier nicht mehr die solipsistische Monade, die in die artifiziellen Welten experimenteller Situationskontrolle eingeschlossen ist. Insbesondere könnte sich durch die Einbettung des Individuums in seinen sozialen Kontext die Chance ergeben, an die Gegenwartsdiagnosen der Sozialwissenschaften – Individualisierung, Subjektivierung von Arbeit, Prekarisierung etc. – anzuschließen. Hierdurch ergäbe sich ein Forschungsprogramm, in dem die psychische Seite, d.h. die Auswirkungen moderner Lebensverhältnisse auf Subjektivität, zu untersuchen sind (Thomas 2009). Die Anwendung der Ethnografie in der Psychologie braucht eine konzeptuelle Rahmung, die auch dem psychologischen Gegenstand entspricht. Die Diskussion zentraler Konzepte, die einer psychologischen Ethnografie zugrunde gelegt werden können, würde Themenstellungen wie Bewusstsein, Sinn, Identität, Motivation oder Handlung, d.h. ganz unterschiedliche Interpretationsparadigmen denkbar machen. Als Beispiel möchte ich das Interpretationsparadigma vorstellen, dass ich in einer ethnografischen Studie über „Exklusion und Selbstbehauptung“ junger Menschen entwickelt habe (Thomas 2010). Die Fragestellung richtete sich auf die Herstellung und Bewältigung von Alltag unter der Bedingung von Armut und sozialem Ausschluss am Berliner Szenetreffpunkt „Bahnhof Zoo“. Zur Rekonstruktion der psychischen Situation wurden drei kategoriale Elemente in die Analyse einbezogen: Lebenswelt, Sinn und Handlung. Es wurde zuerst die soziale Strukturierung der individuellen Position innerhalb der Lebenswelt in Form von vorgegebenen Handlungsmöglichkeiten und -beschränkungen untersucht, wie diese sich etwa in den Chancen auf dem Arbeitsmarkt zeigen. An der Erfassung und Beschreibung der Lebenswelt schloss sich dann die subjektive Situationsanalyse an: Bei den Jugendlichen kam es zur Dissoziation subjektiver Sinnbezüge, sodass sozialer Ausschluss vor allem als tiefe Verunsicherung des eigenen Welt- und Selbstverhältnisses erfahren wurde. Drittens wurden die individuellen Handlungsmotive rekonstruiert: Für die Bahnhofsgänger/innen wurde der Rückzug in die subkulturelle Jugendgemeinschaft zu einer funktionalen Strategie der Alltags- und Armutsbewältigung.

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Stärken, Schwächen und Desiderata

Die Ethnografie verfügt über Potenziale und Leistungsmerkmale, die ihr nicht nur einen festen Platz im sozialwissenschaftlichen Methodenarsenal, sondern auch in der Psychologie zuweisen. Die Stärken finden sich in der Situierung des Forschungsprozesses in der realen Lebenswelt, der Rekonstruierbarkeit real beobachtbarer Handlungsweisen, dem Interesse an den Bedeutungs- und Handlungsstrukturen des Feldes, an den Sinnzuschreibungen und alltäglichen Lebenspraxisformen der Akteure. Ein besonderer Stellenwert wird der Gegenstandsangemessenheit der Theoriebildung durch das Fremdheitspostulat und die prozessurale Entfaltung des Forschungsprozesses gegeben. Zu den Schwächen zählen der hohe Ressourcen- und Zeitaufwand für die Durchführung einer ethnografischen Studie. Dabei sind Forschende nicht nur mit dem sich in seiner

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gesamten Komplexität vergegenwärtigenden Untersuchungsfeld konfrontiert. Vielmehr müssen sie sich überhaupt eine gewisse Zeit im Feld aufhalten, um über eine sekundäre Sozialisation mit der Insider-Perspektive des Feldes vertraut zu werden. Eine weitere Schwäche ist der schwierige Status der eigenen Subjektivität im Forschungsprozess, der m.E. als unvermeidbar für jede Sozialforschung anzusehen ist, aber sich als praktisch zu lösende Aufgabe in besonderem Maße in der teilnehmenden Beobachtung stellt. Zur Verunsicherung der Forschenden trägt sicherlich auch die unabgeschlossene Diskussion über die Herausforderungen des ethnografischen Schreibens bei. Vor dem Hintergrund der prävalenten Schwächen sollten einer weiteren Klärung zumindest folgende drei Problempunkte zugeführt werden: Erstens kann die Objektivitätsfrage im Umgang mit Reaktivität und Subjektivität sicherlich nicht auf der Ebene des einzelnen Forschungsprojekts zu lösen sein, sondern erfordert eine methodologische Debatte grundsätzlicher Art. Zweitens wäre mit Blick auf wissenschaftliche Objektivierungsformen zu fragen, wie eine Berücksichtigung der verschiedenen Perspektiven des Feldes methodisch ermöglicht werden kann, um eine ethnozentrische Vereindeutigung der untersuchten Lebenswelt zu vermeiden. Drittens sollte insbesondere im Hinblick auf die Psychologie eine Debatte über sinnvolle Anschluss- und Konzeptualisierungsmöglichkeiten ethnografischen Forschens geführt werden. Weiterführende Literatur Atkinson, Paul; Coffey, Amanda; Delamont, Sara; Lofland, John & Lofland, Lyn (Hrsg.) (2001). Handbook of ethnography. London: Sage. Emerson, Robert M. (Hrsg.) (2001). Contemporary field research. Perspectives and formulations. Prospect Hights, IL: Waveland. Girtler, Roland (1984). Methoden der qualitativen Sozialforschung. Anleitung zur Feldarbeit. Wien: Böhlau.

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Lautes Denken 1

Entstehungsgeschichte und historische Relevanz

1.1 Begriffsklärung Die Methode „Lautes Denken“ ermöglicht es, Einblicke in die Gedanken, Gefühle und Absichten einer lernenden und/oder denkenden Person zu erhalten. Durch Lautes Denken soll der (Verarbeitungs-) Prozess untersucht werden, der zu mentalen Repräsentationen führt. In der Literatur finden sich weitere Begriffe, die sich definitorisch gesehen nur in Nuancen unterscheiden, wie Denke-Laut-Methode, Gedankenprotokoll, „Thinking Aloud Protocol“ (TAP), „Talk Aloud Interview“, „Think Aloud“ oder „Verbal Protocol“ (Buber 2007). Alle diese Termini stehen für die Produkte des Lauten Denkens, d.h. für die Verbalisierungen (verbal statements) der Untersuchungsteilnehmer/innen, die als Daten systematisch dokumentiert, ausgewertet und interpretiert werden müssen. Theoretischer Hintergrund des Verfahrens sind die „introspektiven Erhebungsmethoden“ (Heine & Schramm 2007), deren gemeinsames Merkmal darin besteht, dass die beteiligten Individuen zur Verbalisierung ihrer Gedanken, Wahrnehmungen und Empfindungen aufgefordert werden. Um Fehleinschätzungen speziell in der Zuordnung zum qualitativen Forschungsparadigma zu vermeiden, ist an dieser Stelle der Hinweis erforderlich, dass Lautes Denken häufig in strukturierten Kontexten zur Anwendung kommt (siehe Abschnitt 3.1), die sich gravierend von den im Rahmen der qualitativen Forschung intendierten natürlichen Situationen unterscheiden. Eine qualitative Methodik, deren Erkenntnisresultate sensu Breuer (2000) an die alltägliche Erfahrungswelt der Untersuchten (ihre Problemwahrnehmungen, Konzeptualisierungsweisen, ihr Vokabular etc.) anknüpfen, tritt in Untersuchungen zum Lauten Denken oftmals in den Hintergrund. Lautes Denken kann drei verschiedene Formen annehmen: Introspektion (augenblickliche Verbalisierung), unmittelbare Retrospektion (die sich zeitlich direkt an die Introspektion anschließt) und verzögerte Retrospektion (die direkt nach der Bearbeitung aller Aufgaben ! etwa der Textlektüre oder der Erprobung einer Software !, oder sogar erst einige Tage später stattfinden kann), wobei klar ist, dass in der Praxis eine klare Trennung zwischen diesen oft ineinander übergehenden Ansätzen nicht immer möglich ist. In Abschnitt 3.1 wird dieser Tatbestand im Detail thematisiert. Wie Ericsson und Simon (1993) feststellten, ist die engste Verbindung zwischen Denken und verbalen Berichten dann nachweisbar, wenn das Individuum seine Gedanken unmittelbar im Zuge der Aufgabenbearbeitung in Worte fasst („Introspektion“). Eine prototypische Aufgabenstellung aus dem Mathematikunterricht soll dies veranschaulichen. Ausgangspunkt ist die folgende Bitte an eine Schülerin:

!"#$%&#'"#$()*+#,-(./"01#!"#$%&'()*&"+,-"-,./)0123'(),#)$/2)536'(1+14,/1#2345#6789:9;:;=98?:@1## A#BC#B%(DE/#FG(#CHIJEDKJ..%L.*MEFN%L#O#CP(JL/%(#QE*MR%SJ%L#TJ%.UES%L#!RU-#=>#

Lautes Denken

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„Sprich bitte alles aus, was dir in den Sinn kommt und durch den Kopf geht, während du die Aufgabe löst. Dabei ist es wichtig, dass du nicht versuchst, zu erklären oder zu strukturieren, was du tust. Stell dir einfach vor, du bist allein im Raum und sprichst mit dir selbst“ (Heine & Schramm 2007, S.178).

Das Beispiel illustriert einige Besonderheiten der simultanen Form des Lauten Denkens: Zum einen hat die Schülerin keine Gelegenheit zur Reflexion dessen, was sie tut, weil sie nahezu die ganze bewusste Anstrengung auf die Bearbeitung der aktuellen Aufgabe richtet. Zum zweiten interpretiert das Mädchen weder seine Gedanken, noch sieht es sich genötigt, sie in eine vorherbestimmte Form zu bringen, wie es bei strukturierten Techniken (z.B. Fragebogen) der Fall ist. Wie im Weiteren (siehe Abschnitt 2.1) zu zeigen sein wird, definiert sich introspektives und retrospektives Lautes Denken nicht nur über die Verortung auf einem zeitlichen Kontinuum, sondern auch über die Inhalte der jeweiligen Verbalisierung: Introspektion bezeichnet die unmittelbare Verbalisierung von Inhalten des Kurzzeitgedächtnisses, die schon in oral enkodierter Form vorliegen. Unmittelbare Retrospektion umfasst die Beschreibung und Erklärung von Gedankeninhalten, die in nicht-sprachlicher Form existieren und erst noch oral enkodiert werden müssen; die verzögerte Retrospektion beinhaltet schließlich die Erklärung von Gedanken und Gedankenprozessen. 1.2 Entstehungsgeschichte Die Methode des Lauten Denkens hat in der Lern- und Denkpsychologie eine ebenso lange wie kontroverse Geschichte (van Someren, Barnard & Sandberg 1994; Ericsson 2006). Den Beginn markiert die psychologische Forschung des frühen 20. Jahrhunderts, wobei der Selbstbeobachtungsmethode eine herausragende Bedeutung zukam. In der klassischen Selbstbeobachtung, wie sie Psycholog/innen in den 1920er Jahren und 1930er Jahren verwendet haben, wurde die Person dazu ermuntert, einen genauen, vollständigen und zusammenhängenden Bericht über ihren kognitiven Prozess zu geben. Der Hauptunterschied zur Laut-Denken-Methode besteht darin, dass letztere eine gleichzeitige Verbalisierung verlangt und die Interpretation seitens der Person einschränkt. Infolgedessen sind introspektive Berichte lesbarer als zeitgleich entstandene Protokolle; sie enthalten aber auch mehr Erinnerungsfehler und Missdeutungen bzw. Fehlinterpretationen (van Someren et al. 1994). Die Methode wurde wegen der heftigen Kritik des Behaviorismus – introspektiv gewonnene Daten seien nicht intersubjektiv überprüfbar – mehrere Jahrzehnte lang praktisch nicht mehr verwendet. Vertreter/innen des Behaviorismus wollten das Bewusstsein nicht als legitimen Forschungsgegenstand der Psychologie anerkennen und behandelten die Vorgänge, die sich zwischen Reizen und Reaktionen abspielen, so, als wären sie in einer black box verborgen und empirisch nicht untersuchbar. Am Ende der 1960er Jahre wuchs das Interesse an internen kognitiven Prozessen und damit auch an Methoden, die Daten über diese Prozesse zur Verfügung stellen konnten (Ericsson 2002). Laut-Denken-Protokolle werden seit Anfang der 1970er Jahre in der Problemlöseforschung vermehrt eingesetzt (Dörner, Kreuzig, Reither & Stäudel 1983; Lüer 1973), weil das Bedürfnis nach Datenquellen wuchs, in denen prozedurale und dynamische Aspekte kognitiver Prozesse sichtbar werden. Zu den innovativen Ereignissen dieser Epoche zählten die Arbeiten von Newell und Simon (1972), die Protokolle des Lauten Denkens

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mit Computermodellen zum Problemlösen kombinierten, um auf diese Weise komplexere Ansätze des Handelns und Denkens zu entwickeln. In den 1980er Jahren begannen Computerwissenschaftler/innen mit der Entwicklung von Expertensystemen. Unter Verwendung von Techniken der Künstlichen Intelligenz konzipierten sie Programme, die sich auf dem Leistungsniveau von Expert/innen bewegten. Mithilfe der Laut-Denken-Methode gelang es, Expert/innen zur Vermittlung von Erfahrungen bzw. Wissensbeständen zu animieren, denen sich diese bewusst waren; zugleich konnte das verwendete freie Format die Wiedergabe verzerrter und falscher Repräsentationen verhindern. Zum gegenwärtigen Zeitpunkt wird das Laute Denken von zahlreichen Professionen (siehe Abschnitt 3.2) und in mehreren Forschungsfeldern als ein nützliches Datenerhebungsverfahren akzeptiert. Aktuelle Anwendungen liegen im Lernstrategietraining, der Problemlöseforschung sowie der Mensch-Computer-Interaktion.

2

Grundannahmen

2.1 Das theoretische Modell Die theoretischen Wurzeln des Lauten Denkens liegen in Ansätzen der menschlichen Informationsverarbeitung. Darin werden spezifische kognitive Strukturen des menschlichen Gedächtnisses sowie vom Individuum steuerbare Prozesse postuliert, anhand derer die Informationsverarbeitung aktiv und kontrolliert erfolgt (Ericsson & Simon 1993). Das in Abbildung 1 dargestellte Drei-Speicher-Modell liefert ein Schema zum Verständnis des Ablaufs von Informationsaufnahme und -speicherung im Gehirn. Es unterscheidet 1. sensorische Register, 2, Arbeitsspeicher (Ultrakurzzeit- und Kurzzeitgedächtnis) und 3. Langzeitspeicher (Langzeitgedächtnis). Abbildung 1:

Gedächtnismodell

Lautes Denken

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Nach diesen Modellvorstellungen werden Informationen aus der Umwelt über die Sinnesorgane aufgenommen und in den sensorischen Registern für wenige Sekunden modalitätsspezifisch gespeichert. Über Aufmerksamkeitsprozesse gelangt nur ein Bruchteil dieser Information in kodierter Form in das Kurzzeitgedächtnis mit stark begrenzter Aufnahmekapazität und Speicherdauer. Zwar können darin die aktuellen Informationen durch stetige Wiederholung theoretisch beliebig lang gehalten werden, in der Regel werden sie jedoch entweder durch neue Informationen aus dem Kurzzeitspeicher verdrängt oder aber weiter verarbeitet. Wird die Information zum Beispiel entsprechend lange wiederholt, erfolgt eine Speicherung im Langzeitgedächtnis mit unbegrenzter Speicherkapazität und -dauer. Wesentlich effektivere Enkodierprozesse, mittels derer die Informationen vom Kurz- ins Langzeitgedächtnis transportiert werden, stellen jedoch die Elaborations- und Organisationsstrategien dar. Dafür müssen wiederum Wissenselemente aus dem Langzeitgedächtnis abgerufen bzw. in das Kurzzeitgedächtnis transferiert werden (Bannert 2007). In dieser Perspektive lassen sich nur die bewussten Inhalte aus dem Kurzzeitgedächtnis in Worte fassen. Inhalte des Langzeitgedächtnisses können folglich nicht direkt verbalisiert, sondern müssen hierfür zuerst in das Kurzzeitgedächtnis transferiert werden. Auch die automatisierten mentalen Aktivitäten sind nicht unmittelbar verbalisierbar. Im Rahmen dieses Modells menschlicher Informationsverarbeitung differenzierten Ericsson und Simon (1993) drei Ebenen der Verbalisierung: 1. 2.

Verbalisierungsebene (talk aloud): Auf dieser Ebene werden die im Kurzzeitgedächtnis in verbal kodierter Form vorliegenden Informationen einfach nur laut ausgesprochen (Level 1 bei Ericsson & Simon 1993, S.17). Verbalisierungsebene (think aloud): Auf der zweiten Ebene liegen die Inhalte im Kurzzeitgedächtnis noch nicht in verbal kodierter Form vor, sondern müssen hierfür zuerst enkodiert werden. Diese Enkodierprozesse brauchen Zeit, was dazu führt, dass die Bearbeitung der Primäraufgabe insgesamt länger dauert (Level 2 bei Ericsson & Simon 1993, S.17).

Obwohl die verbalen Berichte die am Verhalten beteiligten Prozesse verlangsamen, ändern sich die kognitiven Vorgänge im Rahmen der Verbalisierung gemäß Ericsson und Simon (1993, S.18) auf Ebene 1 und 2 nicht. Auch die zeitliche Abfolge bleibt unverändert; zusätzliche Informationen sind nicht erforderlich (Sasaki 2003, S.3). Entsprechend betrachten Ericsson und Simon die durch die Verbalisierung auf Niveau 1 und 2 hervorgerufene Information als unmittelbare Repräsentation der kognitiven Prozesse des Kurzzeitgedächtnisses. 3.

Verbalisierungsebene (reflection prompts): Verbalisationen der dritten Ebene werden gewonnen, indem Teilnehmende an wissenschaftlichen Versuchen (im Unterschied zu den in der qualitativen Forschung oft intendierten „natürlichen“ Situationen) explizit aufgefordert werden, ganz bestimmte Aspekte zu erklären, zu interpretieren oder zu hinterfragen (Level 3 bei Ericsson & Simon 1993, S.17). Diese zusätzlichen Vorgänge benötigen nicht nur mehr Bearbeitungszeit; weit wichtiger ist, dass sie die kognitiven Prozesse bei der Bearbeitung der Primäraufgabe beeinflussen können (Bannert 2007; Pressley & Afflerbach 1995). Die im Kurzzeitgedächtnis gespeicherten Informationen werden sich damit verändern.

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Ausgehend von dieser Differenzierung mahnen Ericsson und Simon Forschende zur Vorsicht im Umgang mit Protokollen der auf der 3. Ebene angesiedelten kognitiven Prozesse. Zugleich betonen sie, dass interpretierende Beschreibungen und Erklärungen kognitiver Prozesse den jeweiligen Forschenden (und nicht etwa den für diese Aufgabe als weniger kompetent eingeschätzten Lai/innen oder Expert/innen aus der pädagogischen Praxis) vorbehalten bleiben sollten (Ericsson & Simon 1987; Pressley & Afflerbach 1995). 2.2 Methodologische Überlegungen Unter methodologischen Gesichtspunkten stellt sich die Frage der Zuordnung zum quantitativen und/oder qualitativen Forschungsparadigma. Auch wenn die Mehrzahl der vorliegenden theoretischen und empirischen Abhandlungen eine besondere Nähe zu qualitativen Forschungsprogrammen nahelegt, lässt sich die Methode des Lauten Denkens per se weder einem qualitativen noch einem quantitativen Paradigma zuordnen; sie kann sowohl explorativ/deskriptiv als auch interpretativ und/oder hypothesentestend (Cohen 1996; Würffel 2001) eingesetzt werden und qualitative wie auch quantitative Formen der Datensammlung und -analyse benutzen oder vereinen. Forscher/innen, die die Methoden des Lauten Denkens in einem stärker quantitativen Forschungsrahmen anwenden, teilen in der Regel nicht mehr die Euphorie der Kognitionspsychologen Ericsson und Simon (1993). Sie gehen zwar auch davon aus, dass mithilfe der Methode auf kognitive Prozesse geschlossen werden kann, haben aber starke Bedenken im Hinblick auf die für das analytisch-nomologische Forschungsparadigma geltenden Kriterien der Objektivität, Reliabilität und vor allem der Validität (siehe z.B. Yang 2003). Solchen Ansprüchen kann nach Ansicht kritisch eingestellter Autor/innen allenfalls bei der Untersuchung wohlstrukturierter Lern- oder Problemlösesequenzen entsprochen werden. Bei der Analyse weniger strukturierter Verhaltensprozesse erscheinen die Ergebnisse dagegen oft mehr rituell (im Sinne der routinemäßigen Anwendung standardmethodischer Vorgehensschablonen; siehe dazu die Diskussion bei Dobrin 1994) als durch Ergebnisse gerechtfertigt. Kritiker/innen bezweifeln offenbar nicht nur die Objektivität des Lauten Denkens im Sinne der Neutralität der beteiligten Personen (Forscher/innen und Forschungsteilnehmer/innen; Würffel 2001, S.170); sie mahnen auch an, dass dieses Verfahren oft nicht vollständig kontrollierbar, nur bedingt reproduzierbar und vor allem wenig valide sei (siehe Abschnitt 5.2). Für Forschende mit einem qualitativen Forschungshintergrund stellen diese angeblichen Schwachpunkte der Methode zum Teil eher Stärken dar. So führen Huber und Mandl (1994, S.16) aus: „Wenn die Verbalisation von Kognitionen im Kontext von Handlungen uns auch nicht notwendig die ‚wirklichen‘, objektiven Handlungsursachen erschließt, so doch die subjektive Sicht des Handlungszusammenhangs – und damit die Orientierung der Person auch in vergleichbaren Situationen“. Wie insgesamt in der qualitativen Forschung wird die fehlende Neutralität der Untersuchungsteilnehmer/innen nicht als Störfaktor, sondern als relevante Informationsquelle gesehen. Gleichwohl werden die Schwierigkeiten der Reliabilität und Validität der Daten keineswegs verschwiegen oder unterschätzt. Es wird aber weniger der Versuch unternommen, diesem Problem durch die Standardisierung der Datensammlung und -analyse zu

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entgehen. Schließlich strebt die qualitative Forschung ausdrücklich danach, Repräsentativität und Standardisierung durch Reichhaltigkeit, Offenheit, Breite, Detaillierung, Betroffenheit und Expertise zu ersetzen (Witt 2001; Früh 2007). Entsprechend ist die Erwartungshaltung gegenüber der Aussagekraft der Daten eine andere. Qualitativ orientierte Forschende gehen letztlich davon aus, dass sich auf der Grundlage der Ergebnisse von Protokollen des Lauten Denkens tatsächlich allgemeingültige Modelle der menschlichen Kognition erstellen lassen. Auch wenn nicht alle Forschenden dem folgen wollen (Weidle & Wagner 1994, S.83), teilt doch die Mehrzahl von ihnen die Überzeugung, mit Laut-Denken-Protokollen interessante und aufschlussreiche Daten zu gewinnen, die nicht anders erhoben werden könnten, und die am ehesten die Möglichkeit bieten, handlungssteuernde Kognitionen zu beleuchten.

3

Aktueller Stellenwert und zentrale Diskussionen

3.1 Arten des Lauten Denkens Eine erste Unterscheidung des Lauten Denkens zielt auf den Grad der Strukturiertheit. Unstrukturierte Laut-Denken-Protokolle ermöglichen einen unmittelbaren Eindruck in die Entscheidungsoperationen (wie z.B. vergleichen, verwerten, Alternativen eliminieren) der Untersuchungsteilnehmer/innen (Kaas & Hofacker 1983, S.82). Von strukturierten LautDenken-Protokollen ist die Rede, wenn diese sich im Lerngeschehen mit spezifischen Aufforderungen oder Anweisungen konfrontiert sehen (prompted protocol; Kaas & Hofacker 1983, S.82; siehe auch das guided questioning von King 1999). Das durch prompts strukturierte Laute Denken ist ökonomischer, weil wesentlich weniger Daten anfallen. Allerdings ist die Wahl des Zeitpunkts für die Aufforderungen zum Lauten Denken schwierig zu bestimmen, und es besteht hierbei die Gefahr, dass wichtige Daten nicht erfasst werden (Bannert 2007, S.137). Wie in Abschnitt 1.1 angemerkt wurde, kann zum zweiten nach dem Zeitpunkt des Einsatzes der Methode im Entscheidungsprozess zwischen simultan (concurrent protocol oder Instrospektion) und ex-post erhobenen Laut-Denken-Protokollen (retrospective protocol oder Retrospektion) unterschieden werden (Sasaki 2003, S.2). Beim simultan erfassten Laut-Denken-Protokoll erfolgt die Aufzeichnung der Gedanken der Untersuchungsteilnehmer/innen zur Zeit der Entscheidung, zum Beispiel wenn das Individuum während der Nutzung einer Textverarbeitungs- oder Statistiksoftware einen Menüpunkt aufruft. Im Unterschied dazu berichten Teilnehmende beim ex-post erhobenen Protokoll über eine Entscheidung oder eine Erfahrung, die sie in der Vergangenheit getroffen oder gemacht haben (Sheth, Mittal & Newman 1999, S.195). Eine mögliche Erleichterung bietet hier die nachträgliche mediale Unterstützung: Beispielsweise kann die beteiligte Person mit einer Videoaufzeichnung ihres Verhaltens konfrontiert und dabei gebeten werden, die Gedanken, die ihr während der ursprünglichen Handlung durch den Kopf gegangen sind, wiederzugeben. Ein entsprechendes Vorgehen wählt beispielsweise Breuer (2000) im klinischen Kontext mit dem sogenannten Selbstkonfrontations-Interview. Dabei führen Psycholog/innen ihren Klient/innen ein zuvor aufgezeichnetes Behandlungsgespräch abschnittsweise wieder vor und bitten sie, dieses hinsichtlich ihrer (erinnerten) „inneren Handlungsanteile“ zu kommentieren.

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In der Unterrichtsforschung wird ein stimulated recall bevorzugt (häufig auch als „Videokommentiertechnik“ bezeichnet; Funke & Spering 2006), bei dem einzelne, besonders auffällige oder kritische Stellen durch Video wiedergegeben werden, um daran abgelaufene handlungssteuernde und -begleitende Kognitionen zu erfragen (Wahl, Wölfing, Rapp & Heger 1992, S.46f.). Eine dritte Variante des Lauten Denkens betont den Austausch und Dialog zwischen Lernpartner/innen. Dialogdaten unterscheiden sich deutlich von individuellen verbalen Berichten. Sie haben insbesondere den Vorteil, dass sie unter natürlichen Verhältnissen aufgezeichnet oder registriert werden können (Kucan & Beck 1997, S.271). In Abgrenzung von einer am Individuum orientierten Betrachtungsweise, die Lautes Denken als (unter günstigen Bedingungen stattfindende) direkte Repräsentation kognitiver Prozesse versteht, begreifen Vertreter/innen der sozio-kulturellen Theorie (Vygotsky 1987) verbale Berichte als sozial situierte Konstrukte (z.B. Witte & Cherry 1994; Smagorinsky 1998, 2001). In dieser Sichtweise können kognitive Vorgänge nicht losgelöst von sozialen Kontexten verstanden werden. Vielmehr handelt es sich um sozial situierte Tätigkeiten, die ihre Wurzeln im kulturellen und sozialen Umfeld des Individuums haben. Um Missverständnissen vorzubeugen, ist hier allerdings anzumerken, dass die kommunikative Weiterentwicklung im Umgang mit der Methodik von den Vorgaben in der Forschungsliteratur zum Lauten Denken abweicht: Es wird nämlich eine gänzlich andere Datenart elizitiert, und die Methode wird an die Umstände (hier: Lernen in Austausch und Dialog) angepasst. Statt auf die Lösung der Aufgabe verschiebt sich die Aufmerksamkeit der Untersuchungsteilnehmenden auf die Mitteilung dessen, was er oder sie gerade tut oder erlebt (Heine & Schramm 2007). Die Daten sind damit keine selbstadressierten Laut-Denken-Protokolle mehr, sondern erhalten den Charakter von fremdadressierten simultanen Verbalprotokollen. 3.2 Aktuelle Anwendungen Lautes Denken kommt aktuell in zahlreichen Forschungsbereichen zum Einsatz. Zu den prominentesten Forschungsfeldern, die sich des Lauten Denkens bedienen, zählen die Problemlöseforschung (Funke & Spering 2006), die Spracherwerbs- und Leseforschung (Afflerbach 2000; Pritchard 1990), die Unterrichtsforschung (Weidle & Wagner 1994; Wahl 2006), die Entscheidungsforschung (Backlund, Skånér, Montgomery, Bring & Strender 2003), die Medienforschung (Eveland & Dunwoody 2000), die Forschung zur MenschMaschine-Interaktion (Pauli 1998; Stebler 1999) und der Einsatz als Usability-Testmethode (Yom, Wilhem & Gauert 2007). Zwei Anwendungen des Lauten Denkens, welche die aktuelle Diskussion adäquat widerspiegeln, sollen hier erläutert werden. Lautes Denken in Strategietrainings: Lautes Denken wird in Strategie-Trainingsprogrammen verwendet, um Verstehensprozesse zu modellieren und zu diagnostizieren (etwa in der Modelling-Phase der prominenten Kognitiven Meisterlehre ! einer interaktiven Lernmethode zwischen Lernenden und Expert/innen, die, wenn auch verändert, das traditionelle „Meister-Lehrling-Verhältnis“ auf kognitive Lernziele anwendet. Ziel ist die Vermittlung von implizitem Praxiswissen. Dabei dient der Experte/die Expertin als Modell: Er/sie zeigt die Lösung eines Problems und verbali-

Lautes Denken

483

siert seine/ihre Vorgehensweise; siehe zu cognitive apprenticeship Collins, Brown & Newman 1989). Die damit etablierte Intervention fördert das Konstruieren/Formulieren von Vorhersagen, das Visualisieren interner oder externer Prozesse, die Verknüpfung neuer mit vorhandenden Wissensbeständen, die Überwachung des Verstehens und die Überwindung von Problemen, die mit der Erinnerung oder dem Verständnis von Lerninhalten einhergehen. Die Vorzüge dieses Strategietrainings liegen auf der Hand: Indem Lernende laut denken, lernen sie, wie man lernt. Im Idealfall werden die Schüler/innen oder Studierenden in die Lage versetzt, wie Expert/innen zu denken. Durch wechselseitiges Mitteilen werden am Lernen beteiligte Denkprozesse und angewandtes Wissen öffentlich und damit verhandelbar (Beck, Guldimann & Zutavern 1996). Zugleich liefert die Methode wertvolle diagnostische Informationen, etwa hinsichtlich der strategischen Präferenzen der lernenden Personen. Lautes Denken als Usability-Testmethode: Ein weiteres Einsatzfeld des Lauten Denkens sind Usability-Tests. Dabei besuchen Nutzende aus der je interessierenden Zielgruppe eine bestimmte Webseite oder verwenden eine Software und kommentieren alle Handlungen und Gedanken laut. Sie werden beispielsweise gebeten, eine Aufgabe auf einer Webseite zu bearbeiten (z.B. nach spezifischen Informationen zu suchen) und dabei alles auszusprechen, was ihnen durch den Kopf geht, was ihnen positiv oder negativ auffällt, was ihnen unverständlich oder optimierungsbedürftig erscheint. Die solche Aktivitäten begleitenden Gedankengänge, Eindrücke, Empfindungen, Absichten und Probleme vermitteln Softwareanbietern oder Administrator/innen interessante Einblicke in Motivation, Strategieanwendung, in Verhaltensmuster und Probleme ihrer Zielgruppen (Yom et al. 2007). Diese und andere Applikationen unterstreichen das beachtliche Potenzial des Lauten Denkens für zahlreiche Forschungs- und Praxisfelder. Eine Einschränkung der empirischen Interessen und praktischen Anwendungen ergibt sich allerdings aufgrund der Verankerung der Methode in der Denk- und Problemlöseforschung (siehe Abschnitt 1.2), die auf die Aktualisierung und Untersuchung bewusster kognitiver Prozesse abzielt (Funke & Spering 2006).

4

Anwendungsfeld: Lautes Denken aus lernpsychologischer Sicht

Das folgende Beispiel entstammt einem Forschungsprogramm zum Textverstehen. Das Projekt vermag die Bedeutung des Lauten Denkens für lernpsychologische Erkenntnisinteressen in zweifacher Weise zu unterstreichen: Zum einen liefert es Belege dafür, dass die Methode valide Indikatoren des strategischen Lernens offenbaren kann. Es ist demnach möglich, die im Lauten Denken repräsentierten individuellen und sozialen Kognitionen der Lernenden als Schlüsselaspekte der Konstruktion von textbezogenem Wissen, Bedeutung und Verstehen zu analysieren. Zum zweiten können Protokolle des Lauten Denkens veranschaulichen, welche Textinformationen in den Fokus der Aufmerksamkeit der Person geraten; entsprechende Befunde bieten Chancen, das Textlernen zu beschreiben und auf der Grundlage dieser Beschreibungen Regelmäßigkeiten zu entdecken.

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Hauptsächliches Anliegen dieser Studien war die Klärung der Bedingungen, Prozesse und Effekte (meta-) kognitiver Strategien für den Erwerb und Transfer konzeptuellen Wissens im Umgang mit Texten (Konrad 2006, 2007). Dazu wurden offene und strukturierte sowie individuelle und kooperative Formen des Lauten Denkens verglichen (siehe Abschnitt 2.1 und Abschnitt 3.1). Teilnehmende waren Studierende aus mehreren Teilstichproben, deren Größe zwischen 40 und 104 Personen variierte; die Untersuchungsteilnehmer/innen waren zwischen 19 und 39 Jahre alt. Es wurden die folgenden Forschungsschritte realisiert: 1.

2.

3. 4.

Theoretische Vorentscheidung: In Anlehnung an aktuelle theoretische – vor allem metakognitionspsychologische – Vorstellungen wurde Lernen im Rahmen des Projekts als zyklisches und in Phasen verlaufendes Konstrukt konzipiert (Konrad 2005; Goos, Galbraith & Renshaw 2002). Annahme war, dass Lernende in der Auseinandersetzung mit Texten ihr Vorgehen planen, die Aufgabe durchführen („handeln“), ihr Lernen überwachen und ihre Lösung bzw. ihren Wissensstand bewerten. Definition einer Lernaufgabe, die von Studierenden individuell oder (alternativ) in Lerntandems laut denkend bearbeitet werden sollte: Aufgabe der Teilnehmenden war es, einen Text abschnittweise zu lesen, die Inhalte gründlich zu verstehen und sie schließlich in Form einer Konzeptmap zu visualisieren. Texte, Kärtchen, Stifte und Plakate wurden den beteiligten Studierenden vorab zur Verfügung gestellt. Der Zeitrahmen für die gesamte Aufgabe umfasste 120 Minuten. Tabelle 1 informiert über die verbalen Aussagen eines Teilnehmers. Dieses Fragment thematisiert die Bemühungen des Studenten, wesentliche Textelemente zu verstehen. Datenauswertung: Das methodische Kernstück der zur Auswertung herangezogenen inhaltlich strukturierenden Inhaltsanalyse war ein Kategoriensystem mit der dazugehörenden Kategorienexplikation. Die Auswertung der Laut-Denken- und Dialogprotokolle umfasste – in Anlehnung an die Empfehlungen anderer Autor/innen zur Analyse von Laut-Denken-Protokollen (z.B. Yang 2003) – die folgenden Schritte: 1. Festlegung der Einheiten (grundsätzlich wird zwischen Auswahl-, Analyse- und Auswertungseinheit unterschieden); 2. Ausgliederung der erhobenen Laut-Denken- und Dialogprotokolle, die untersucht werden sollten (Analyseeinheit, Auswahleinheit) und 3. Auswertung der Textbestandteile (z.B. in Form von Fallbeispielen oder Häufigkeitsdarstellungen).

Wie in Tabelle 1 zu sehen ist, bemühte sich die Person um die Klärung unbekannter Begriffe („metakognitive Prozesse“). Augenfällig sind mehrere Aktivitäten des Sinnverstehens sowie metakognitive Überwachungs- und Bewertungssequenzen. Am Ende evaluierte und kontrollierte der Befragte sein Vorgehen. Illustriert wird damit eine theoretisch plausible Sequenz des Lehr-/Lerngeschehens: die gegenwärtige Aufgabe analysieren, einen Plan entwickeln, Lernaktivitäten durchführen und das Ergebnis bewerten.

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Tabelle 1: Beispiel einer Verstehens-Sequenz eines Lernenden. Komponenten des Kategoriensystems (Analyseeinheiten = Sinneinheiten): AUF = Oberflächenbearbeitung, BED = Sinnentnahme, PLA = Planen, ELA = Elaborieren, EVAL = Evaluieren, UEB = Überwachen. Zeile

Sinneinheit

Kode

1

Also was mache ich jetzt zuerst?

[PLA]

2

Ich lese, dann schreibe ich etwas auf.

[PLA]

3

[liest aus dem Text]

[AUF]

4

Mit den metakognitiven Prozessen habe ich meine Probleme.

[EVAL]

5

Was bedeutet „metakognitive Prozesse?“

[BED]

6

Also ich verstehe darunter Wissen über mich selbst.

[BED]

7

Also wie lerne ich.

[BED]

8

Wie ich ein Buch lese, irgendwie.

[BED]

9

Oder auch sich selber dabei beobachten.

[BED]

10

Das hängt irgendwie mit Reflexion zusammen.

[ELA]

11

Ist das wirklich so?

[UEB]

12

Ich weiß es nicht.

[EVAL]

13

Ich mach mal weiter.

[PLA]

14

Das wäre im Prinzip jetzt der erste Abschnitt.

[EVAL]

15

[liest aus dem Text]

[AUF]

16

Ich verstehe es noch nicht so richtig.

[EVAL]

17

Das schreibe ich mir auch dazu. [schreibt]

[AUF]

5

Stärken und Schwächen

5.1 Stärken Laut-Denken-Protokolle gelten heute als differenzierte Beschreibungen der individuellen Informationsverarbeitung, speziell wenn es sich um erwachsene Personen handelt, die zur Selbstreflexion in der Lage sind (Goos & Galbraith 1996; Buber 2007). Wie bereits zuvor betont (siehe Abschnitt 3.2), gibt es nur wenige Methoden, die Aufschluss über die während einer Handlung ablaufenden bewussten kognitiven Inhalte geben (z.B. Aufzeichnung von Blickbewegungen, Hand- und Körperbewegungen, Mimik, physiologische Korrelate; siehe Funke & Spering 2006). Zu den wesentlichen Vorzügen des Lauten Denkens zählt ferner seine ausgeprägte Prozessbezogenheit. Entsprechend eröffnen verbale Protokolle die

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Möglichkeit, Informationen über Prozesse oder zeitliche Veränderungen zu gewinnen (Matsuta 1995, S.69). Laut-Denken-Protokolle geben schließlich Auskunft hinsichtlich vielfältiger strategischer Aktivitäten, wie sie vor allem in der Expert/innen-Noviz/innenoder der Problemlöseforschung von Interesse sind (a.a.O.). 5.2 Schwächen Kritische Anmerkungen zu Laut-Denken-Protokollen zielen nicht zuletzt auf drei Problembereiche: 1.

2.

3.

Verbalisierung und Artikulation: Hinsichtlich der Validität der Gedankenprotokollierung ist die Grundannahme umstritten, dass Individuen die bei einer Entscheidung ablaufenden kognitiven Prozesse, insbesondere solche höherer Ordnung (z.B. Strategien der Informationsverarbeitung), mit ausreichender Sicherheit artikulieren können. Lautes Denken erfordert geeignete Konzepte und treffende Bezeichnungen, denn es gilt, dass „der Mensch an seinem inneren Tun wie an seinem äußeren genau so viel zu sehen vermag, als er an Begriffen und Schemata besitzt“ (Aebli 1980, S.28). Vollständigkeit: Wenn das Ziel der Untersuchung Kognitionen sind, an denen unbewusste Prozesse beteiligt sind (zum Beispiel routinisierte oder impulsive Entscheidungen), kann nicht von einer Vollständigkeit der Berichte ausgegangen werden (Stebler 1999). Damit in Einklang weist Waern (1988) darauf hin, dass automatisierte geistige Operationen für gewöhnlich nicht mit bewusster Aufmerksamkeit belegt werden. Beispiele aus dem Bereich des Textverstehens unterstreichen, dass hierarchieniedrige Prozesse – im Unterschied zu strategisch-zielbezogenen, hierarchiehohen Verarbeitungsprozessen des Lesens – eher automatisch ablaufen (Grütz 2004) und damit nicht verbalisiert werden (van Someren et al. 1994, S.33f.). Veränderung kognitiver Leistung: Schließlich steht die Frage im Fokus, ob Verbalisierung während des Problemlöseprozesses zu einer Veränderung kognitiver Leistungen führt. Hintergrund der Überlegungen zum Einfluss des Lauten Denkens auf den Lern- oder Denkprozess ist das von Ericsson und Simon (1980) postulierte Prozessmodell des Lauten Denkens (siehe Abschnitt 2.1), demzufolge Inhalte, die bereits im verbalen Code existieren, ohne zusätzlichen Aufwand in sprachliche Äußerungen umgesetzt werden können. Dagegen ist für Inhalte, die noch nicht im verbalen Code vorliegen, ein zusätzlicher Rekodierungsschritt erforderlich, der eine verlangsamte Aufgabenbearbeitung und somit eine Interferenz der Versprachlichung mit dem Problemlöseprozess zur Folge haben kann (Funke & Spering 2006).

Im Gesamtüberblick kommen Studien zum Einfluss des Verbalisierens auf die kognitive Leistung zu widersprüchlichen Ergebnissen. Es wurden entweder 1. keine Reaktivität/keine Performanzunterschiede (z.B. Biggs, Rosman & Sergenian 1993; Veenman 1993), 2. ein positiver Effekt, vor allem die Förderung eines analytischen Urteils oder ein deutlicheres Denken (z.B. Franzen & Merz 1988; De Groot 1978) oder 3. ein negativer Effekt, d.h. schlechtere Leistung, zum Beispiel beim Lösen von Einsichtsproblemen (Schooler, Ohlsson & Brooks 1993), festgestellt.

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5.3 Grenzen minimieren – Vorzüge optimieren Hauptsächliches Anliegen des Lauten Denkens ist es, Daten über kognitive Prozesse zu gewinnen. Deshalb erscheint es ratsam, die Situation so zu gestalten, dass dieses Ziel in optimaler Form stattfinden kann. Etwaige Störungen des Prozesses des Lauten Denkens sollten minimiert werden. Aufgaben sollten zudem verbalisierbar sein, d. h. sie sollten die verbalisierbaren Inhalte im Arbeitsgedächtnis betreffen, nicht zu schnell ablaufen, eine enge Koppelung von Informationsaufnahme und Verbalisierung anbieten, eine Synchronisation erlauben und keine Überlastung des Arbeitsspeichers verursachen (Silberer 2005, S.264). Bei der Aufhebung vorhandener Einschränkungen können ein zielgruppenorientiertes Training oder die Instruktion der Untersuchungsteilnehmer/innen hilfreich sein. Zu empfehlen sind einfache Aufwärmaufgaben wie das Durchführen einer Multiplikation (Ericsson & Simon 1998, S.181), die Erstellung einer angemessenen Erhebungssituation, Maßnahmen zur Aufrechterhaltung der Laut-Denken-Bedingung sowie die Besprechung, wie die Teilnehmenden die Situation erlebt haben (van Someren et al. 1994, S.42ff). Probleme der Wahrhaftigkeit, der Vollständigkeit sowie der Motivation lassen sich eingrenzen, wenn Teilnehmende zur Mitarbeit motiviert und vom Nutzen der jeweiligen Handlung überzeugt werden. Entlastend kann an dieser Stelle der Hinweis wirken, dass es primär um die Aufgabenbearbeitung und erst in zweiter Linie um das Laute Denken geht. Als Resümee bleibt festzuhalten, dass Laut-Denken-Protokolle ein sinnvolles Verfahren vor allem für explorative Untersuchungen darstellen, obgleich in solchen Fällen die Auswertung der Daten schwierig ist. Laut-Denken-Daten können zudem in Kombination mit anderen prozessorientierten Methoden eingesetzt werden. Wie die aktuelle Forschung belegt, wird die Generalisierbarkeit einer Studie bzw. von deren Ergebnissen erhöht, wenn bei der Untersuchung eines Phänomens unterschiedliche Methoden (Triangulation) zum Einsatz kommen. Dabei können verschiedene Perspektiven miteinander verglichen werden. Stärken und Schwächen der jeweiligen Analysewege können aufgezeigt und schließlich zu einem kaleidoskopartigen Bild zusammengesetzt werden. Weiterführende Literatur Afflerbach, Peter & Johnston, Peter H. (1986). What do expert readers do when the main idea is not explicit? In James F. Baumann (Hrsg.), Teaching main idea comprehension (S.49-72). Newark, DE: International Reading Association. Chi, Micheline T.H.; Bassok, Miriam; Lewis, Matthew; Reimann, Peter & Glaser, Robert (1989). Self explanations: How students study and use examples in learning to solve problems. Cognitive Science, 13, 145-182. Russo, Joseph E.; Johnson, Eric J. & Stephens, Debra L. (1989). The validity of verbal protocols. Memory and Cognition, 17, 759-769.

Literatur Aebli, Hans (1980). Denken: Das Ordnen des Tuns (Bd. 1: Kognitive Aspekte der Handlungstheorie). Stuttgart: Klett.

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Introspektion

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Harald Witt

Introspektion 1

Historischer Hintergrund

Die Introspektion wurde um 1900 von vielen noch heute renommierten Forschern als Standardmethode verwendet, von Brentano (1973 [1874]) und Wundt (1888, 1918 [1896]) bis zu Titchener (1907 [1886]) und der Würzburger Denkpsychologie (Bühler 1907). Schon damals gab es viele Varianten der Methode, die entweder auf unterschiedliche Forschungsfragen zurückgingen oder die Schwachstellen der Methode (siehe Abschnitt 3) zu kompensieren versuchten. In den Kästen 1 und 2 werden zwei experimentelle Anordnungen beschrieben, wie sie seinerzeit zur Untersuchung innerer Vorgänge benutzt wurden, zum einen die Experimente von Wundt (Leipzig, um 1907) zur Untersuchung von Empfindungen, zum anderen Bühlers Denkexperimente (Würzburg, um 1907). Kasten 1: Introspektionsexperiment von Wilhelm Wundt Wundt (1832-1920) und seine Schüler führten in dem berühmten Leipziger Laboratorium eine Vielzahl von Experimenten durch, die am Vorgehen der Naturwissenschaft orientiert waren. Insbesondere die Orientierung an der Chemie findet sich in seinem auf Elemente des Bewusstseins ausgerichteten Vorgehen. Um kontrollierbare Expositions- und Antwortbedingungen zu haben, wurden Instrumente wie optische Verschlüsse oder elektrisch gesteuerte Zeitmessungen eingesetzt. Als ein Prototyp dieser Experimente wird hier eine Anordnung von Scripture (1907, S.51ff.) dargestellt, weil sie ausnahmsweise auch eine Beschreibung der äußeren Bedingungen enthält. Es kamen optische, akustische und taktile Reize zum Einsatz, die in der Regel vier Sekunden exponiert wurden. Die Exposition wurde jeweils zwei Sekunden vorher durch das Wort „Jetzt“ angekündigt. Während der Expositionszeit sollte die Versuchsperson alle assoziierten Vorstellungen mitteilen. Sie saß während der Versuche in einem mit Tüchern abgedunkelten Kasten. Begriffe wurden als geschriebene Worte, gesprochene Worte oder als Bilder präsentiert, Gegenstände mussten im Dunklen ertastet werden. Es ging in diesen Assoziationsversuchen um die Frage: Wie ist der assoziative Verlauf von Vorstellungen? Beispiel 1 Reiz: gesprochenes Wort: Palme Assoziation: „Erinnert an eine Landschaft in den Tropen, stammt von einem Bild“ Beispiel 2 Reiz: Tasteindruck von einer Haarnadel Assoziation: „Zuerst kam der Tasteindruck; zu diesem gesellten sich dann die Tast- und Gesichtsvorstellungen eines gekrümmten Drahtes. Die Gesichtsvorstellung wurde immer stärker, und die Tastvorstellung verschwand sehr rasch. Endlich war die Vorstellung des Drahtes zu einer Haarnadel geworden.“

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Harald Witt

Ergebnis der Versuche waren Aussagen über den Inhalt und Verlauf von Vorstellungen, über den Zusammenhang von Reiz und Empfindung (Psychophysik) und die Unterscheidung von gebundenen Vorstellungen (Wahrnehmungen, Anschauungen und Perzeptionen) und freien bzw. selbständigen Vorstellungen. Wundt wollte die beiden für ihn zentralen Probleme klären: „Welches sind die Elemente des Bewußtseins? Und: Welche Verbindungen gehen diese Elemente ein, und welche Verbindungsgesetze lassen sich hierbei feststellen?“(Wundt, 1918 [1896], S.28).

Kasten 2: Introspektionsexperiment von Karl Bühler Ganz anders geartet waren die Untersuchungen von Karl Bühler (1879-1963), der im Psychologischen Institut in Würzburg im Rahmen seiner Habilitation Experimente über das Denken machte. Versuchspersonen waren häufig der Institutsleiter Külpe und andere Kollegen. Es ging um die Frage: Was erleben wir, wenn wir denken? Gegenstand waren komplexe Bewusstseinsinhalte. Die prägnanteste Beschreibung von Bühlers Experimenten findet sich bei Wundt:“Der Experimentator liest der Versuchsperson jedes Mal einen mehr oder minder schwierigen Satz aus einem möglichst nach dem Geschmack und der Gedankenrichtung dieser Person ausgewählten Schriftsteller vor (z.B. Nietzsche, der Ebner-Eschenbach, Rückert). Die Versuchsperson hat dann mit Ja oder Nein zu antworten, wobei dieses Ja oder Nein je nach vorheriger Verabredung entweder bedeutet, dass sie den Gedanken des Satzes verstanden hat oder nicht verstanden hat, oder dass sie ihm zustimmt oder nicht zustimmt. Nach dem Versuch werden jedes Mal die Erscheinungen protokolliert, die in der Selbstbeobachtung vorgekommen sind. Auch wird mit der Fünftelsekundenuhr die Zeit annähernd bestimmt, die zwischen Frage und Antwort verflossen ist“ (Wundt, 1907, S.304). Die Versuchsperson saß am Tisch, der Versuchsleiter in der Nähe. In der Regel waren es recht schwierige Fragen oder Aphorismen, die Zeit bis zur Antwort konnte recht lang sein (z.B. 45 Sek.), war aber auch bei schwierigen Fragen oft erstaunlich kurz. Beispiel 1: Frage: „Können wir mit unserem Denken das Wesen des Denkens erfassen?“ Antwort: „Ja (6 Sek.). – Die Frage berührte mich erst komisch; ich dachte, es sei eine Vexierfrage. Dann fiel mir plötzlich ein, was Hegel Kant vorgeworfen, und dann sagte ich mit Entschiedenheit: ja. Der Gedanke an Hegels Vorwurf war ziemlich reich, ich wußte momentan genau, auf was es dabei ankommt, gesprochen hab’ ich nichts dabei, auch nichts vorgestellt, nur das Wort Hegel klang mir nachträglich an (akustisch-motorisch)“ (Bühler, 1907, S.304f.). Beispiel 2: Frage: „Können Sie die Geschwindigkeit eines frei fallenden Körpers berechnen?“ Antwort: „Ja (5 Sek.). – ... – „ Den Satz sofort verstanden. Habe gleich an die Formel gedacht und gewusst, dass ich sie nicht in extenso gegenwärtig habe (vorgestellt habe ich nichts dabei). Es war zugleich ein unbehaglicher Zustand. Dann kam eine Erinnerung an M...[Name] ganz komplex, dabei nur M. gesprochen. Dann das Bewußtsein: ich könnte sie mir gleich vergegenwärtigen, wenn ich mich darauf besänne. Einen Moment Schwanken, ob ich’s tun solle, dann gleich ja“ (Bühler, 1907, S.304f.). Ergebnis der Versuche waren Aussagen über die Bestandteile und die Struktur von Denkprozessen (Gedanken, Gedankentypen) und über die Konstitution dieser Bestandteile (Gedanken = Bestandstücke der Denkerlebnisse; Gedankentypen sind das Regelbewusstsein, das Beziehungsbewusstsein und die Intention; Bühler, 1907, S.314ff.).

Introspektion

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Wundt und Bühler kritisierten gegenseitig ihre jeweiligen Experimente aufs Schärfste. Wundt stellte der experimentellen Selbstbeobachtung die reine Selbstbeobachtung gegenüber (beiläufig, spontan und nicht provoziert) und hielt eine provozierte Selbstbeobachtung, die das Bearbeiten einer Aufgabe und das gleichzeitige Beobachten der inneren Vorgänge erforderte, für nicht möglich bzw. für fehl