Grundrechte als Institution  german
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Zitiervorschau

Schriften

zum

Öffentlichen Band 24

Recht

Grundrechte als Institution Ein Beitrag zur politischen Soziologie

Von

Niklas Luhmann

Zweite Auflage

DUNCKER &

HTJMBLOT

/ BERLIN

Unveränderter Nachdruck der 1965 erschienenen ersten Auflage Alle Rechte vorbehalten © 1974 Duncker & Humblot, Berlin 41 Gedruckt 1974 bei fotokop, W i l h e l m weihert, Darmstadt Printed in Germany ISBN 3 428 00959 2

Inhaltsübersicht Einführung 1. Kapitel: Das politische System in der differenzierten Sozialordnung ..

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2. Kapitel: Die Legeshierarchie und die Trennung von Staat und Gesellschaft 26 3. Kapitel: Naturrechtliche und geisteswissenschaftliche Grundrechtsbegründung 38 4. Kapitel: Die Individualisierung der Selbstdarstellung: Würde und Freiheit 53 5. Kapitel: Die Zivilisierung der VerhaltenserWartungen: Kommunikationsfreiheit 84 6. Kapitel: Die Monetisierung der Bedarfsdeckung: Eigentum und Beruf 108 7. Kapitel: Die Demokratisierung der Herrschaft: politisches Wahlrecht .. 136 8. Kapitel: Die Begründung der Staatsentscheidungen: Gleichheit vor dem besetz 162 9. Kapitel: Theorie der sozialen Differenzierung

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10. Kapitel: Soziologie und Grundrechtsdogmatik

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Sachverzeichnis

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Einführung Die großen Themen des neueren Rechts- und Staatsdenkens sind soziologisch keineswegs uninteressant. Sie sind nicht nur Dogmen und als solche der Interpretation und der historischen Erklärung zugänglich. Sie haben zumeist einen Realitätssinn oder beziehen sich auf Realitäten in einer Weise, die mehr Aufmerksamkeit verdiente, als sie gegenwärtig findet. Die einfache Entgegensetzung von Dogma und Realität ist in sich selbst natürlich unbefriedigend, ja fast nichtssagend, da keine Interpretation ganz irreal und keine Realität ganz uninterpretiert erscheint. Die Unterscheidung gewinnt eine gewisse Schärfe erst dadurch, daß sie Ansatzpunkte verschiedener Methoden trennt. Der Sinn von Dogmen wird ausgelegt, wird hermeneutisch entfaltet; Realitäten werden auf empirisch nachprüfbare Kausalbeziehungen und deren Alternativen hin erforscht. Diese Methodentrennung spännt weit divergierende Verständnishorizonte auf, sie scheidet Wissenschaften, ja ganze Gedankenwelten voneinander und fordert dem Forscher eindeutige Zuordnungsentscheidungen ab: Er muß seine Methode angeben und sich auf ein bestimmtes grundbegriffliches Bezugssystem festlegen; sonst kann er weder Klarheit noch Verständlichkeit erreichen. Rechtsdogmen sind, schon wegen ihrer komplizierten Sinnverflechtung, in die man nur durch langes Spezialstudium einzudringen vermag, eine Domäne der juristischen Interpretation. Sie werden von den empirischen Sozialwissenschaften mit einer gewissen Scheu gemieden . Diese Vorsichtsgrenze läßt sich auch in anderen Regionen verfolgen, etwa im Verhältnis der Soziologie zu den Wissenschaften vom rationalen Wirtschaften und vom rationalen Organisieren . Die Wissenschaften vom 1

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Vgl. David Riesman, Toward an Anthropological Science of Law and the Legal Profession, The American Journal of Sociology 57 (1951), S. 121—135, neu gedruckt in: ders., Individualism Reconsidered and other Essays, Glencoe 111. 1954, S. 440—466. In diesem Falle hängt die Zurückhaltung der Soziologie offenbar mit einer Uberschätzung des empirischen Gehaltes der reinen ökonomischen Theorie zusammen. Dazu vgl. Hans Albert, Nationalökonomie als Soziologie: Zur sozialwissenschaftlichen Integrationsproblematik, Kyklos 13 (1960), S. 1 bis 43. Siehe z. B. Renate Mayntz, Die Organisationssoziologie und ihre Beziehungen zur Organisationslehre, in: Erich Schnaufer/Klaus Agthe (Hrsg.), Organisation, Berlin und Baden-Baden 1961, S. 29—54. 2

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Einführung

faktischen Verhalten und seinen sozialen Beziehungen erheben, um ihre „Wertfreiheit" besorgt, keinen Anspruch auf Feststellung richtigen Verhaltens. Sie sparen jene Themen, bei denen es um normative Modelle, um Dogmeninterpretationen oder um Rationalisierungstechniken geht, sorgfältig aus. Allenfalls übernehmen sie anerkannte Resultate, die in die Tat umgesetzt worden sind — so wie der Begriff der „formalen Organisation" die Ergebnisse der klassischen betriebswissenschaftlichen Organisationslehre in die Organisationssoziologie einführt ; aber sie enthalten sich eines eigenen kritischen Urteils über die Richtigkeit des Handelns. 4

Die Rechtswissenschaft ist dagegen dogmatisch geblieben, auch wenn sie es zunehmend lernt, die Funktion ihrer Dogmen in einem Problemlösungszusammenhang selbst zu analysieren. Faktenveränderungen, die sich ihr aufdrängen, werden als Hilfsvorstellungen bei der Normauslegung hinzugezogen. Welche Fakten aber und in welchem Grade sie Berücksichtigung finden, hängt ab vom Unbestimmtheitsgrad der jeweils interpretierten Norm und von der Beweglichkeit der anerkannten Auslegungsmethoden. Deshalb muß „die Frage nach den Grenzen der Rezeption der Sozialordnung durch die Grundrechtsnorm . . . weitgehend offen und dem Einzelfall überlassen bleiben" . 5

Die Fixierung solcher Themen wie der Grundrechte in der Verfassung entzieht sie der Diskussion, mögen sie auch Gegenstand achtungsvoller Auslegung bleiben. Ihre dogmatische Behandlung als unantastbare Werte verstärkt dieses Tabu und gibt ihm eine moralische Weihe. Die Soziologie eröffnet dagegen mit ihrer Frage nach der Funktion den Blick auf andere Möglichkeiten. Sie behandelt Heiligtümer als variabel, um in den Bedingungen ihrer Ersetzbarkeit den Sinn ihrer Realität zu finden. Sie sucht Erkenntnissicherheit nicht mehr in unwandelbaren, höchsten Begriffen, sondern durch Einsicht in die Struktur eines Feldes von Variationsmöglichkeiten. Mit ihrem Vordringen setzt eine neue Vernunft des Vergleichens sich an die Stelle der alten Vernunft des Vernehmens. Was da als Mangel an Ehrfurcht erscheint, könnte aber in Wahrheit ein neuer Denkstil sein, der den Ausdruck seiner Ehrfurcht 4

Dabei unterlaufen begreiflicherweise Mißverständnisse, wenn Soziologen normativ oder strategisch gemeinte Modelle als Wirklichkeitsbeschreibungen kritisieren; so in der Kritik der rationalen Organisationslehre — dazu Martin Irle, Soziale Systeme: Eine kritische Analyse der Theorie von formalen und informalen Organisationen, Göttingen 1963, insb. S. 15 ff. •—, und oft auch in der Kritik der reinen Wirtschaftstheorie. 5

Christian Graf von Pestalozza, Kritische Bemerkungen zu Methoden und Prinzipien der Grundrechtsauslegung in der Bundesrepublik Deutschland, Der Staat 2 (1963), S. 425—449 (440). Vgl. dazu auch Hans W. Baade, Social Science Evidence and the Federal Constitutional Court of West Germany, The Journal of Politics 23 (1961), S. 421—461.

Einführung

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noch zurückhält. Denn die Sprache der Ehrfurcht ist durch den Untergang der Metaphysik diskreditiert. Für welche Seite soll das Staatsdenken sich entscheiden? Angenommen, die Alternative von dogmatischer Auslegung und funktionaler Sozialwissenschaft sei sinnvoll gestellt, dann kann man dieser Frage nicht ausweichen — es sei denn, daß man zwei Staatswissenschaften konzediert , die, auch wenn von einer Fakultät, nicht miteinander verkehren. Das gegenwärtige deutsche Staatsdenken ist in weitem Umfange Staatsrechtswissenschaft. Es hat sich dogmatisch-interpretativen Methoden verschrieben und sucht seine Entwicklung innerhalb des so gesteckten Rahmens durch eine Ausweitung des argumentativen Stils der Interpretation voranzutreiben. Nicht nur die streng juristischen, sondern auch weitergreifende, freiere, geisteswissenschaftliche oder historische Verfahren der Sinndeutung gelten, wenn auch umstritten , als legitim. Diese Erweiterung scheint jedoch, obwohl die geistigen Fronten schon in den zwanziger Jahren festgelegt worden sind, das B e dürfnis nach Fortschritt und Modernität zu absorbieren. Die revolutionierenden Forschungen und Theorieversuche auf den Gebieten der Politikwissenschaft, der politischen Soziologie und der Organisationswissenschaft gelten, sofern man von ihnen überhaupt Notiz nimmt, als Themen anderer (hauptsächlich „amerikanischer") Wissenschaften und werden damit aus dem Blickfeld geschoben. 6

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Darin liegt die Gefahr einer bedenklichen Isolierung gegenüber jenen Forschungszweigen, die im letzten Jahrzehnt die stärksten Entwicklungen aufzuweisen haben und, wenn nicht alles täuscht, auf internationaler Ebene die Führung an sich reißen werden. Durch breite Sicherheitsgräben der Unkenntnis geschützt, droht die Staatsrechtslehre sich in eine Diskussion von Auslegungsfreiheiten und -methoden und in den Aufbau einer kunstvollen Dogmatik des Grundrechtsteils des Verfassungsgesetzes zu verlieren. Andererseits fehlt den vorwärtsstürmenden 0

Noch versöhnlicher Konrad Hesse, Die normative Kraft der Verfassung, Tübingen 1959, der beide Aspekte in einer einheitlichen Staatslehre vereinigen will. Auch auf Seiten der Politikwissenschaft gibt es solche Bestrebungen. Vgl. Kurt Sontheimer, Politische Wissenschaft und Staatsrechtslehre, Freiburg/Br. 1963. Siehe namentlich die Alarmrufe, die Forsthoff den allzu sorglos Werte auswertenden Geisteswissenschaftlern nachgesandt hat: Ernst Forsthoff, Die Umbildung des Verfassungsgesetzes, Festschrift für Carl Schmitt, Berlin 1959, S. 35—62; ders., Zur Problematik der Verfassungsauslegung, Stuttgart 1961; ders., Der introvertierte Rechtsstaat und seine Verortung, Der Staat 2 (1963), S. 385—398, die erste und dritte Studie neu gedruckt in ders., Rechtsstaat im Wandel, Stuttgart 1964. Vgl. auch die nach beiden Seiten kritische Würdigung durch Peter Lerche, Stil, Methode, Ansicht, Deutsches Verwaltungsblatt 76 (1961), S. 690—701, und die in e i n e r (der Forsthoffschen) R i c h t u n g kritische Würdigung durch Alexander Hollerbach, Auflösung der rechtsstaatlichen Verfassung, Archiv des öffentlichen Rechts 85 (1960), S. 241—270. 7

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Einführung

Sozialwissenschaften der Kontakt mit jenem Erbgut an Kenntnissen und Erfahrungen, das bei uns in Gestalt von Dogmen und Verfassungsartikeln gepflegt und immer wieder neu poliert wird. So hätte, um nur ein Beispiel zu geben, die funktionale Soziologie mit einem Blick auf die Geschichte des ius eminens bzw. des Staatsnotrechtes erkennen können, daß die Formel ,vom „Bestand" eines sozialen Systems kein scharfes, deduktiv ergiebiges Kriterium ist, und sich damit eine lange, unfruchtbare Diskussion ersparen können . Wer seine Geschichte vergißt, ist, nach dem Wort Santayanas, dazu verurteilt, sie neu zu durchleben. 8

In dieser allgemeinen Situation dürfte sich der Versuch lohnen, damit zu beginnen, den Trenngraben zuzuschaufeln, der mitten durch das einheitliche Wissenschaftsthema des neuzeitlichen Staates läuft und Empirie und Dogmatik, Verhaltenswissenschaften und „verstehende" Sinnwissenschaften voneinander scheidet. Dabei muß ein rein eklektisches Verfahren und jeder Anschein von Methodensynkretismus vermieden werden; denn mit einer Verunklärung der Fronten wäre nicht geholfen. Ein solches Unternehmen kann nur gelingen, wenn seine Ausgangspunkte, seine Fragestellung und sein begrifflicher Bezugsrahmen hinreichend präzise angegeben werden. Deshalb wählen wir nicht den Weg einer umfassenden Synthese, sondern den Weg einer exemplarischen Analyse, die — so ist zu hoffen — verständlich und nachprüfbar bleiben wird. Wir beginnen auf dem Ufer der Soziologie politischer Systeme und setzen hier die Anwendbarkeit des soziologischen Systembegriffs auf Staatsbürokratien voraus . Das geschieht, weil die funktionale Systemanalyse jene Variante der soziologischen Forschung ist, welche die Politikwissenschaft, insbesondere ihre vergleichenden Forschungen, so stark beeinflußt, daß die Grenzen zwischen beiden Forschungsbereichen gegenwärtig kaum zu ziehen sind . Außerdem stellt die funktionale 9

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Dazu näher Niklas Luhmann, Funktion und Kausalität, Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie 14 (1962), S. 617—644 (629 ff.). Einige Bemerkungen dazu in meinem Aufsatz Zweck — Herrschaft — System: Grundbegriffe und Prämissen Max Webers, Der Staat 3 (1964), S. 129—158. Vgl. zu diesen Abgrenzungsproblemen besonders Reinhard Bendix/Seymour M. Lipset, Political Sociology: A Trend Report and Bibliography, Current Sociology 6 (1957), S. 79—169, und Seymour M. Lipset, Sociology and Political Science: A Bibliographical Note, American Sociological Review 29 (1964), S. 730—734; weiter die Aufsätze im Band 8, Heft 3 (1956) der Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie; Otto Stammer, Gesellschaft und Politik in: Werner Ziegenfuss (Hrsg.), Handbuch der Soziologie, Stuttgart 1956, S. 530—611; Hans-Peter Schwarz, Probleme der Kooperation von Politikwissenschaft und Soziologie in Westdeutschland in: Dieter Oberndörfer (Hrsg.), Wissenschaftliche Politik: Eine Einführung in Grundfragen ihrer Tradition und Theorie, Freiburg/Br. 1962, S. 297—333; W. G. Runciman, Social Science and Political Theory, Cambridge, England, 1963. Als neuere Beispiele für Theoriebildung und Forschungstendenzen David Easton, An 9

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Einführung

Systemtheorie den Forschungsansatz dar, mit welchem sich die Soziologie am stärksten den Wissenschaften vom rationalen Handeln zu nähern scheint . 11

Als Thema unserer Untersuchungen sei ein Problem des gegenüberliegenden Ufers der dogmatischen Staatsrechtswissenschaft anvisiert: die Institution der Grundrechte. Diese Auswahl erfolgt aus verschiedenen Gründen: Einerseits scheinen die Grundrechte, im Gegensatz etwa zum Organisationsteil der Verfassung, sich besonders schlecht für eine erfahrungswissenschaftliche, nichtnormative Analyse zu eignen. Jedenfalls spielen sie bisher in der Bürokratieforschung keine Rolle. Wir stehen hier vor einem noch unbestrittenen Reservat der Jurisprudenz , dessen soziologische Erschließung, wenn sie gelingt, besondere Aufschlüsse verspricht. Außerdem stehen die Grundrechte zur Zeit im Mittelpunkt des dogmatischen Interesses, sei es, weil der verfassungsgerichtliche Rechtsschutz hier seinen Schwerpunkt hat, oder auch, weil die Grundrechtsauslegung besonders schwierig und besonders reizvoll ist. Schließlich ist für diese Themenwahl bestimmend, daß es bisher mit rein interpretativen Methoden nicht recht gelungen ist, den Sinnzusammenhang des Grundrechtsteils mit den sonstigen Verfassungsvorschriften in einer einheitlichen Theorie darzustellen . Gelänge es, vom Boden 12

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Approach to the Analysis of Political Systems, World Politics 9 (1957), S. 383—400; David E. Apter, A Comparative Method for the Study of Politics, The American Journal of Sociology 64 (1958), S. 221—237; Gabriel A. Almond, Introduction: A Functional Approach to Comparative Politics, in: Gabriel A. Almond/James S. Coleman (Hrsg.), The Politics of Developing Areas, Princeton N. J. 1960, S. 3—64; Fred W. Riggs, The Ecology of Public Administration, London 1961; Herbert J. Spiro, Comparative Politics: A Comprehensive Approach, The American Political Science Review 56 (1962), S. 577—595; William C. Mitchell, The American Polity: A Social and Cultural Interpretation, New York-London 1962; Francis X. Sutton, Social Theory and Comparative Politics, in: Harry Eckstein/David E. Apter (Hrsg.), Comparative Politics, New York-London. 1963, S. 67—81; S. N. Eisenstadt, The Political Systems of Empires, London 1963, und eine Anzahl von Studien in: Joseph LaPalombara (Hrsg.), Bureaucracy and Political Development, Princeton N. J. 1963. " Diese Vermutung habe ich näher zu begründen versucht in: Funktionale Methode und Systemtheorie, Soziale Welt 15 (1964), S. 1—25. Für die Schrift von Erich Fechner, Die soziologische Grenze der Grundrechte, Tübingen 1954, würde ich nur sehr zögernd eine Ausnahme einräumen. Sie zieht soziologisches Gedankengut zwar heran, benutzt es aber, ohne Kontakt mit den neueren Entwicklungen der funktionalen Systemtheorie, lediglich unter dem Gesichtspunkt einer kausalen Erklärung der Entstehung und Gefährdung der Grundrechte durch Kräfte der Sozialordnung. So kann Fechner ein unsoziologisches „Bekenntnis" zu Grundrechten nicht entbehren. In der hier vorgelegten Untersuchung soll dagegen eine soziologische Analyse der Funktion von Grundrechten versucht werden. Dafür sind in dem Jahrzehnt, das seit Fechners Schrift verstrichen ist, die wichtigsten Voraussetzungen geschaffen worden. Siehe dazu Horst Ehmke, Prinzipien der Verfassungsinterpretation, Veröffentlichungen der Vereinigung der Deutschen Staatsrechtslehrer 20 (1963), S. 53—102 (insb. 89 ff.) und ders., Wirtschaft und Verfassung, Karlsruhe 1961, 12

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Einführung

der funktionalen Systemtheorie aus zu verdeutlichen, daß Grundrechte nicht einfach überpositive Normen geheimnisvoller Herkunft sind, welche die Natur dem Staat als Recht aufoktroyiert, sondern daß sie für den Staat eine wesentliche Funktion erfüllen, wäre damit zugleich ein wichtiger Beitrag zum Gesamtverständnis des politischen Systems unserer Sozialordnung und seiner Rechtsverfassung geleistet, ein Beitrag, der dann vielleicht auch die interpretierende Dogmatik befruchten könnte. In soziologischer Sicht erscheinen die Grundrechte als Institution. Dieser Begriff bezeichnet in der Soziologie nicht einfach einen Normenkomplex , sondern einen Komplex faktischer Verhaltenserwartungen, 14

S. 56 ff. mit dem Vorschlag, die Brücke nach amerikanischem Muster im Kompetenzgedanken zu suchen. Ob der Kompetenzbegriff jedoch interpretativ besonders ergiebig ist, mag bezweifelt werden. Im übrigen ist dieser Gedanke getragen durch die alte „government" Konzeption, die man in Amerika gerade aufzugeben und durch die des „political System" zu ersetzen im Begriff ist. Dies muß ausdrücklich hervorgehoben werden, da der Begriff der Institution namentlich seit Maurice Hauriou auch in der juristischen Dogmatik als eine Art Kontaktbegriff zur sozialen Realität verwendet wird. So neuerdings besonders Peter Häberle, Die Wesensgehaltsgarantie des Art. 19 Abs. 2 Grundgesetz: Zugleich ein Beitrag zum institutionellen Verständnis der Grundrechte und zur Lehre vom Gesetzesvorbehalt, Karlsruhe 1962. Wegen dieser Kontaktfunktion bleibt der juristische Institutionsbegriff jedoch mit erheblichen Unklarheiten belastet. Wie auch der Begriff des Rechtsinstituts (dazu neuerdings Jens Meyer-Ladewig, Justizstaat und Richterrecht: Zur Bindungswirkung richterrechtlicher Institute, Archiv für die civilistische Praxis 161 (1962), S. 97—128 (100 ff.)) scheint er lediglich einen Normenkomplex zu bezeichnen, der unter bestimmten Konsistenzforderungen steht, die von der sozialen Realität ausgehen. Dabei wird unterstellt, daß die Norm unabhängig vom faktischen Konsens „gilt". Dadurch geht das Charakteristische des soziologischen Institutionsbegriffs verloren: daß Institutionen durch Verbreitung des Konsenses eine Konsensvermutung legitimieren und dadurch eine tragfähige Handlungsgrundlage abgeben, solange niemand erfolgreich eine gegenteilige Einstellung behauptet und seiner Kontaktbereitschaft zugrunde legt. 14

Die historische Ursache für diese Diskrepanz scheint unter anderen in Haurious Auffassung der Institution als Rechtsquelle zu liegen, die eine neuthomistische Deutung nahelegt, ferner in seinen unglücklichen Polemiken gegen Duguit, die ihm auch den Zugang zu Dürkheim versperrten. Spätere Umdeuter wie Santi Romano, L'ordinamento giuridico I, Pisa 1918 oder Georges Renard, La théorie de l'institution: Essai d'ontologie juridique, Bd. I, Paris 1930, haben diese Kluft nicht mehr überbrücken können bzw. verstärkt (obwohl bei Romano die entscheidenden Korrekturen — Kritik der Rechtsquellentheorie und der Auffassung des Rechts bzw. der Institution als Normenkomplex; Auffassung der Institution als Struktur eines sozialen Systems — eigentlich vorliegen). Dazu auch Julius Stone, Two Theories of „the Institution", in: Essays in Jurisprudence in Honor of Roscoe Pound, Indianapolis — New York 1962, S. 296—338. Zur Verschiedenheit des juristischen und des soziologischen Institutionsbegriffs vgl. ferner einige Bemerkungen bei Carl Schmitt, Verfassungsrechtliche Aufsätze, Berlin 1958, S. 172 f., während eine ältere Arbeit von Helmut Schelsky, Die Aufgaben einer Familiensoziologie in Deutschland, Kölner Zeitschrift für Soziologie 2 (1949—50), S. 218—247 (238 ff.) damals noch weitgehende Übereinstimmung feststellen zu können glaubte.

Einführung

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die im Zusammenhang einer sozialen Rolle aktuell werden und durchweg auf sozialen Konsens rechnen können . Die Grundrechtsschlagworte „Eigentum", „Meinungsfreiheit", „Gleichheit" usw. und die entsprechenden Verfassungsartikel symbolisieren institutionalisierte Verhaltenserwartungen und vermitteln ihre Aktualisierung in konkreten Situationen. Die Institutionalisierung der Grundrechte ist mithin, darüber darf auch die Aufnahme der Grundrechte in das Verfassungsgesetz nicht hinwegtäuschen, zunächst ein faktisches Geschehen, das wir auf seine Funktion in der modernen Sozialordnung (und also nicht allein: auf seinen gemeinten normativen Sinn) hin untersuchen wollen. 15

Institutionen sind zeitlich, sachlich und sozial generalisierte Verhaltenserwartungen und bilden als solche die Struktur sozialer Systeme. Insofern — und nur insofern — sind sie möglicher Gegenstand rechtlicher Positivierung. Zugleich sind sie als Strukturkomponenten der Frage nach ihrer Funktion in der Sozialordnung ausgesetzt, die ihrerseits eine gedankliche Kontrolle des Vorgangs der Rechtspositivierung ermöglicht. Auf diesem Zusammenhang beruht unsere These, daß eine Grundrechtsanalyse mit den Mitteln der strukturell-funktionalen Systemtheorie die Grundrechtsdogmatik befruchten könnte.

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G e n a u g e n o m m e n ist sozialer K o n s e n s als V a r i a b l e z u v e r s t e h e n . U m das zum Ausdruck zu bringen, wird in der neueren Soziologie oft auch von „Institutionalisierung" (von Handlungen, Erwartungen, Rollen) gesprochen.

Erstes Kapitel

Das politische System in der differenzierten Sozialordnung Man kann sehr Verschiedenes als „Staat" bezeichnen. Eines ist jedoch sicher: daß die öffentlichen Angelegenheiten unserer Sozialordnung nicht mehr im alten und undifferenzierten Sinne als res publica zu verstehen sind. Unseren Verhältnissen würde es wenig entsprechen, im Staat die res publica der Sozialordnung, das volle Gemeinwohl oder auch nur die hierarchische Spitze der Gesamtgesellschaft zu erblicken . Tatsache ist, daß sich in der Gesellschaft besondere Sozialsysteme gebildet haben, welche die relativ spezifische Funktion erfüllen, verbindliche Entscheidungen zu treffen und dadurch soziale Probleme zu lösen . In dem Maße, als der Differenzierungsgrad der Sozialordnung es erlaubte, sind überall. Staatsbürokratien entstanden, welche die Verwaltung der öffentlichen Angelegenheiten in Abtrennung von religiösen, wirtschaft1

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Den Staat als „Selbstorganisation der Gesellschaft" zu bezeichnen, ist nicht nur empirisch falsch, sondern auch als Tendenzannahme verfehlt und schließlich auch deshalb wenig nachahmenswert, weil Carl Schmitt durch diesen Gedanken zum „totalen Staat" hingeführt wurde; vgl. Der Hüter der Verfassung, Tübingen 1931, S. 79. Für die Grundrechte folgte daraus ihre Darstellung als „fundamentales Verteilungsprinzip" (C. Schmitt, Verfassungslehre, München-Leipzig 1928, S. 158), also willkürliche politische Entscheidung. Nahestehende Formulierungen findet man z. B. bei Almond (Einf. Anm. 10); Spiro (Einf. Anm. 10); Riggs, in: Fred W. Riggs/Edward W. Weidner, Models and Priorities in the Comparative Study of Public Administration, Chicago 1963, S. lO.f.; Stephane Bernard, Esquisse d'une théorie structurelle-fonctionelle du Systeme politique, Revue de l'Institut de Sociologie 36 (1963), S. 569—614. Andere Autoren bestimmen die Funktion des Politischen durch Konsensbeschaffung bzw. Legitimierung der Macht (zu verbindlichem Entscheiden). Wie der Klammerzusatz schon zeigt, kommt darin keine sachliche Divergenz zum Ausdruck, sondern nur die unglückliche Doppeldeutigkeit des Begriffs „politisch", der als Gegensatz zur Verwaltung, aber auch sie einschließend verstanden werden kann. Das Abstellen auf „Problemlösung" durch Entscheidung hat den Vorzug, die Blicke der Forschung auf die Umwelt des politischen Systems zu lenken, die Probleme stellt und Lösungen abnimmt. Dieser Ansatz hat sich in der vergleichenden Forschung als fruchtbar erwiesen, weil er den Sinn für historisch oder regional bedingte Unterschiede der Problemstellung, und demgemäß: der Strukturierung politischer Systeme schärft. Er fügt sich gut in die entstehende Theorie sozialer Differenzierung ein. Und er bezeugt schließlich, auf allgemeiner Ebene, ein Umdenken des Systembegriffs, der heute bereits in vielen Disziplinen nicht mehr als Ordnung von Teilen zu einem Ganzen, sondern als teilweise selbstgesicherte Identität in einer komplexen und veränderliehen Umwelt aufgefaßt wird. 2

l.Kap.: Politisches System in der differenzierten Sozialordnung

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liehen und kulturellen Belangen in der Form verbindlichen Entscheidens zum Gegenstand kontinuierlichen berufsmäßigen Handelns von dazu bestimmten Personen machen. Daneben, und in bezug darauf, hat sich ein besonderes politisches Leben entfaltet, das sich relativ abgetrennt von sonstigen sozialen Rollen an einer eigentümlichen, spezifisch-politischen Rationalität mit eigenen Erfolgskriterien und eigenen Sanktionen orientiert. Diese Staatsorganisationen und der sie umgebende politische Handlungskreis können anhand ihrer spezifischen Funktion in der Sozialordnung begriffen und rationalisiert werden; sie können nicht mehr mit der Sozialordnung gleichgesetzt werden: weder durch Identifikation als res publica, noch durch die Zweckbestimmung „Gemeinwohl", noch durch das Oben/Unten-Schema des Hierarchiemodells. Sie sind als funktional-spezifische Untersysteme der Gesamtordnung ausgebildet und setzen andersartige Untersysteme neben sich voraus. Das Zusammenschrumpfen des politisch Bedeutsamen auf spezifizierte Entscheidungszusammenhänge ist ein typisches Merkmal des allgemeinen geschichtlichen Prozesses der sozialen Differenzierung — in ähnlicher (und damit zusammenhängender) Weise auch zu beobachten als Präzisierung der religiös relevanten Themen durch organisierte Interpretation oder als Funktionsverluste der Familie. An die Stelle älterer, relativ geschlossener, umfassender institutioneller Orientierungen treten abgegrenzte Kommunikationssphären, die alternativenbewußt an spezifischen Funktionen ausgerichtet und für sich allein daher nicht sinnvoll sind. Diesen faktischen Prozeß der Einschrumpfung und Spezifikation hat die deutsche Staatsvorstellung nicht mitvollzogen. In ihr ist der alte, umfassende Ordnungsanspruch des Politischen noch aufspürbar, obwohl er sich nicht mehr als Wahrheit zur Geltung bringt. Man hat auch den Eindruck — empirische Untersuchungen fehlen leider —, daß dieser Staatsbegriff als historisch geprägte Erwartenshaltung die Stellungnahme zu den heutigen Problemen der staatlich-politischen Ordnung noch weitgehend dirigiert: wenn zum Beispiel das politisch motivierte Handeln häufig in Gefahr ist, als illegitim oder doch unsauber zu gelten; wenn die Verfassungsdogmatik ihren Gesetzestext auf Werte bezieht, die sie nicht nur als Entscheidungsregeln, sondern als letzte, höchste Sinn vorgaben verstanden wissen will; wenn Ausmaß und Intensität des notwendigen Wechselhandelns zwischen Politik und Verwaltung noch weithin verkannt werden und statt dessen der Staatsapparat, Parlamente und Gerichte eingeschlossen, als der eigentliche, politisch neutrale Vertreter des Gemeinwohls angesehen wird; wenn man für die besondere Moral der Machtbildung entweder zu wenig oder zu viel Verständnis aufbringt; wenn man gegen die „Interessenten" in der „pluralistischen" Gesellschaft polemisiert . 3

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Siehe hierzu auch den Essay „Demokratie und Sozialstruktur in Deutsch-

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l.Kap.: Politisches System in der differenzierten Sozialordnung

Im Fortschreiten der sozialen Differenzierung sind jedoch Funktionsabgaben in allen Teilsystemen der Gesellschaft unvermeidlich, und solche Funktionsverluste müssen zu einer Umorganisation der leitenden Normen und Wertvorstellungen dieser Untersysteme führen. Wo dies nicht hinreichend oder nicht rechtzeitig geschieht, bilden sich romantische Ideologien, die als „Index unvollständiger Institutionalisierung umstrukturierter Werte" von soziologischem Interesse sind. Die Übertragung des alten Ordnungsideals der res publica auf den modernen politisch-administrativen Entscheidungsapparat ist jedoch nicht nur ein Irrtum ungeschichtlichen Denkens (gerade übrigens auch: des Historismus!), sondern hat zudem gefährliche Konsequenzen. Die Spezialisierung des politischen Systems auf Problementscheidungsaufgaben bedeutet einerseits eine funktionale Spezifikation, also einen Funktionsverlust gegenüber älteren weniger differenzierten Sozialordnungen; andererseits — und das ist kein Widerspruch, sondern gerade das Kennzeichen dieser Umstrukturierung — eine gewaltige Steigerung der Staatsauf gaben und des Staatseinflusses. Denn in einer differenzierten Sozialordnung entwickeln sich zahlreiche Spannungen und ein solcher Alternativenreichtum, daß in allen Sphären der Gesellschaft mehr Probleme durch Entscheidung gelöst werden müssen. Die wachsende Macht, Komplexität und Bewußtheit des Staates ist nicht als ein Hineinwachsen in das alte Ordnungsideal zu deuten, sondern gerade durch dessen Zerlegung bedingt. Die Übernahme der traditionellen Gesamtkonzeption politisch-menschlicher Ordnung auf den Staat mußte diesen nicht nur überlegitimieren, sondern zugleich den Blick für die spezifischen Bedingungen seiner effektiven Rationalisierung trüben — namentlich im Bereich des eigentlich politischen Handelns. Die funktionsspezifische Rationalisierung der politischen Prozesse und des amtlichen Entscheidungsvorganges geben dem politischen System heute mehr Macht, als einer Politeia zukömmlich gewesen wäre. 4

Das deutsche Staatsdenken scheint in dieser Spannung von alten Wahrheiten und neuen, komplizierteren Wirklichkeiten zwischen Ideoland" von Dahrendorf, neu gedruckt in Ralf Dahrendorf, Gesellschaft und Freiheit, München 1961, S. 260—299. Mit Recht sieht Dahrendorf im deutschen Staatsbegriff eine der Komponenten im Scheitern der Weimarer Demokratie. Die von ihm und zuvor von Talcott Parsons, Demokratie und Sozialstruktur in Deutschland vor der Zeit des Nationalsozialismus, Dt. Ubers, in: Talcott Parsons, Beiträge zur soziologischen Theorie, Neuwied-Berlin 1964, S. 256—281, analysierten Strukturbedingungen des Versagens der deutschen Demokratie würden wahrscheinlich schärfer zusammengefaßt und pointiert werden können, wenn man am Staatsbegriff nicht nur die „utopische Haltung zu sozialen und politischen Konflikten" (so Dahrendorf a.a.O., S. 278) auszusetzen hätte, sondern das, was diese Haltung erst utopisch macht: das Überholtsein durch den Entwicklungsstand der sozialen Differenzierung. Wie Talcott Parsons, Some Considerations on the Theory of Social Change, Rural Sociology 26 (1961), S. 219—239 (238), unnachahmlich formuliert. 4

l.Kap.: Politisches System in der differenzierten Sozialordnung

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logisierung und überbewußten Ernüchterungen zu oszillieren. Mit Recht ahnt man einen unverzichtbaren Kern in dem an den Staatsbegriff geknüpften Ordnungspostulat. Das Problem liegt in der Adresse. Als an „den Staat" adressierte Herstellungserwartung setzt sie eine Einsichtsund Entscheidungszentralisierung voraus, die in der modernen, differenzierten Sozialordnung nicht gegeben ist, ja nicht sinnvoll sein kann. Es ist denn auch kein Zufall, daß die Wahrheitsmöglichkeiten der Wissenschaften vor dieser Aufgabe versagen . Über den Platz, den bei uns der Staatsbegriff besetzt hält, ohne darin durch die Entwicklung des Denkens und der Institutionen noch gehalten zu sein, muß anders verfügt werden, vermutlich durch eine soziologische Theorie der differenzierten Gesellschaft, welche einen Einblick in das komplizierte Geflecht von Institutionen ermöglicht, die zur Erhaltung, zur Stabilisierung und zur Rationalisierung (Problementlastung) einer solchen Sozialordnung erforderlich sind. Erst im Rahmen einer derartigen Theorie können die besonderen Aktionsbedingungen und Leistungen des politischen Systems, das mit dem Staatsbegriff gemeint war, ermittelt werden. 5

Hellers Auffassung des Staates als „organisierte Entscheidungs- und Wirkungseinheit" hatte diese Reduktion der politischen Ordnung auf spezifische Funktionen bereits treffend charakterisiert . Aber die vollen Konsequenzen dieser Konzeption lassen sich erst heute übersehen. Zu ihrem Verständnis ist die soziologische Orientierung unentbehrlich. Die Staatslehre mußte stehen bleiben und abwarten, bis die soziologische Theorie nachgereift war. Denn die Probleme, welche eine funktionalspezifische Staatsorganisation als besonderes Aktionssystem in der Sozialordnung aufwirft, ergeben sich aus der allgemeinen soziologischen Problematik der gesellschaftlichen Differenzierung. Die Ausbildung eines relativ autonomen Systems berufsmäßiger Verwaltung von Entscheidungskompetenzen ist ein Teil des allgemeinen Prozesses gesellschaftlicher Differenzierung . Sie ist nur möglich, wenn die Sozialordnung insgesamt die Voraussetzungen für funktional-spezifische Differenzierung erfüllt; und sie ist zum Scheitern verurteilt, wenn der gesell6

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Auch die in sehr viel bescheidenerem Rahmen geführte amerikanische Diskussion der „public interest"-Formel — siehe dazu den Überblick bei Glendon Schubert, The Public Interest, Glencoe III. 1960 —, muß als gescheitert angesehen werden, gescheitert an derselben Überanstrengung. In hochdifferenzierten Sozialordnungen ist es nicht möglich, Strukturprobleme und -bedingungen adäquat in Entscheidungsinstruktionen wiederzugeben. Man muß lernen, diese beiden Ebenen der Generalisierung zu unterscheiden. Hermann Heller, Staatslehre, Leiden 1934, insb. S. 228 ff. Siehe dazu den allgemeinen Aufriß einer evolutionären Theorie der sozialen Differenzierung von Talcott Parsons in: Talcott Parsons/Edward Shils/ Kaspar D. Naegele/Jesse R. Pitts, Theories of Society: Foundations of Modern Sociological Theory, New York 1961, Bd. I, S. 236—264, und ders., Evolutionary Universals in Society, American Sociological Review 29 (1964), S. 339—357. 6

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l.Kap.: Politisches System in der differenzierten Sozialordnung

schaftliche Entwicklungsstand dafür nicht ausreicht, wenn, mit anderen Worten, die politische Sphäre gewaltsam aus einer noch relativ undifferenzierten Sozialordnung herauslöst und verfrüht autonom gesetzt wird . 8

Die Gründe für diesen Zusammenhang der Herausbildung einer besonderen Staatsbürokratie mit der allgemeinen gesellschaftlichen Differenzierung lassen sich genauer angeben. Jede soziale Ordnung muß, will sie fortbestehen, eine Reihe von Problemen lösen. In bezug auf solche Probleme spricht man von gesellschaftlichen Funktionen. Gesellschaftliche Funktionen lassen sich wirksamer und rationaler erfüllen, wenn sie als solche erkannt, als Aufgabe formuliert und zum Gegenstand eines besonderen Einsatzes von Handlungen gemacht werden . Bei etwas umfangreicheren Aufgaben führt dieses Gesetz der Spezialisierung zu Formen sozialer Kooperation, die bei einiger Dauer den Charakter von besonderen sozialen Systemen annehmen. Deren Funktion für die Sozialordnung wird dann in einer besonderen Form, nämlich als Leistung an eine Umwelt, erbracht . Im Blickfeld auf diese Leistung kann das System sich intern rationalisieren, und zugleich ist die Leistung der Gesichtspunkt, unter dem das spezialisierte System von seiner Umwelt toleriert, gefördert, erhalten oder seinerseits mit Leistungen versorgt 9

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Vgl. die Untersuchungen von Eisenstadt (Einf. Anm. 10) über die Bedingungen des Aufstiegs und Verfalls geschichtlicher bürokratischer Reiche. Das gleiche Problem behandeln zahlreiche Berichte aus Entwicklungsländern, welche die Spannung aufdecken, die eine nach modernem Muster aufgestellte Staatsbürokratie in einer sie noch nicht tragenden Sozialordnung erzeugt. Als eine theoretisch durchgearbeitete Version dieses Themas vgl. Riggs (Einf. Anm. 10); ders., Agraria and Industria, in: "William J. Siffin (Hrsg.), Toward the Comparative Study of Public Administration, Bloomington Ind. 1957, S. 23—116; ders., Prismatic Society and Financial Administration, Administrative Science Quarterly 5 (1960), S. 1—46; ders., An Ecological A p proach: The „Sala" Model, in: Ferrel Heady/Sybil L. Stokes, Papers in Comparative Public Administration, Ann Arbor 1962, S. 19—36 und — in unseren Untersuchungen noch nicht berücksichtigt — ders., Administration in Developing Countries: The Theory of Prismatic Society, Boston 1964. Als Vorläufer siehe auch die ältere Studie von Sutton (Einf. Anm. 10). Hiermit ist keineswegs gesagt, daß alle Funktionen auf diese Weise in Aufgaben umgewandelt werden müßten oder auch nur könnten. Dazu sind die Bedürfnisse der Gesellschaft zu komplex. Jedes Streben nach Vollständigkeit würde die erkannten Aufgäben in hohem Maße mit inneren und äußeren Widersprüchen belasten und ihre Rationalisierungsfunktion, die auf eindeutige Zwecksetzungen angewiesen ist, zunehmend einschränken. Es wird daher immer latent bediente Funktionen geben, welche in anderen Zwecken gewidmetem Handeln unbeachtet miterfüllt werden. Die Auswahl der anerkannten Aufgaben gibt der Sozialordnung ihre Struktur und ein Netz von offenkundigen, rechtfertigungsfähigen Rollen, deren Durchführung den Handelnden jedoch stets in nur implizierte Rollen mit latenten Funktionen verflicht. Auf die damit angedeutete Spannung von funktionalen Bedürfnissen und Strukturierungsmöglichkeiten kommen wir im 9. Kapitel zurück. Zu bemerkenswerten Parallelen beim Aufbau biologischer Systeme vgl. Wolfgang Wieser, Organismen, Strukturen, Maschinen, Frankfurt 1959, S. 70 f. 9

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wird. Dabei trennen sich die Probleme interner Rationalität von denen des externen Leistungsgleichgewichts. Jene mögen in die Form der Zweckrationalität, diese in die Form des Tausches gebracht werden; aber auch andere Formen der Problemlösung sind denkbar. Entscheidend ist, daß eine Innen/Außen-Differenz, eine Systemgrenze, gezogen und stabil gehalten wird; denn das ist die Voraussetzung für eine rationale Differenzierung von Problemlösungstechniken. Daran schließen dann unterschiedliche Arten des Erwartens und Zumutens, des Einflußnehmens und Motivierens und unterschiedliche Auswahlgesichtspunkte für Erfahrung und Kommunikationen im Innen- und Außenbereich an, deren Aufgliederung das Erreichen einer größeren Intensität in der Einzelleistung ermöglicht. Eine funktional-spezifische Differenzierung der Gesellschaft führt mithin zu einer eigenartigen Strukturierung der Sozialordnung: zur Bildung von leistungsorientierten Untersystemen, deren Grenzen als Leistungsschwellen konstant gehalten werden und der Rationalisierung dienen . Wegen ihrer höheren Rationalität verdrängt die funktional^spezifizierte Struktur mit ihren verschiedenartigen Untersystemen nach und nach den älteren Strukturtypus bloßer Segmentierung, welcher die Gesellschaft in eine Vielzahl gleichartiger Untersysteme (Prototyp: Familie) aufteilt . Diese Umstrukturierung intensiviert die Interdependenzen in der Gesellschaft^ und damit wachsen die Kommunikationslasten so erheblich, daß ganz neuartige, generellere, abstraktere, indirekter wirkende Kommunikationsweisen ausgebildet und institutionalisiert werden müssen . 11

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In bezug auf dieses Problem der Grenzerhaltung habe ich die Funktion der „formalen Organisation" zu klären versucht in: Niklas Luhmann, Funktionen und Folgen formaler Organisation, Berlin 1964. Vgl. zu dieser Unterscheidung Emile Dürkheim, De la division du travail social, 7. Aufl. Paris 1960, S. 149 ff. und nach ihm besonders Talcott Parsons/ Neil J. Smelser, Economy and Society, Glencoe III. 1956, S. 255 f.; Talcott Parsons, An Outline of the Social System, in: Talcott Parsons/Edward Shils/ Kaspar D. Naegele/Jesse R. Pitts, Theories of Society, New York 1961, Bd. I, S. 30—79 (44 f.); ders. (Kap. 1 Anm. 7 — 1964 —), S. 346. 12

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Der Begriff der sozialen Differenzierung dient der funktionalen Soziologie als Strukturbegriff und als Entwicklungsbegriff zugleich. Die Probleme der Differenzierung strukturieren Chancen und Gefahren der gesellschaftlichen Entwicklung. Vgl. die Ausarbeitung dieses Themas bei Neil J. Smelser, The Sociology of Economic Life, Englewood Cliffs N. J. 1963, S. 105 ff. und S. N. Eisenstadt, Social Change, Differentiation and Evolution, American Sociological Review 29 (1964), S. 375—386. Damit versucht man nicht etwa eine Wiederbelebung des Evolutionismus des 19. Jahrhunderts, den der Funktionalismus gerade überwunden hatte. Der Unterschied liegt im Verzicht auf die Thesen kausaler Determination (historischer Gesetzlichkeit) auf makrosoziologischer Ebene und im Verzicht auf die Annahme einer streng linearen, universell gültigen Entwicklung. Soziale Differenzierung wird als eine vorteilhafte Gesellschaftsstruktur angesehen, die von verschiedenartigen Ausgangskonstellationen aus zustande kommen, z.B. im religiösen, politischen

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Die differenzierte Gesamtordnung prägt die Bedingungen der Kommunikation auch für den Fall, daß das gesellschaftliche Interesse an verbindlichen Problementscheidungen zur Ausdifferenzierung eines relativ autonomen, leistungsfähigen politischen Systems treibt. Eine als Aktionssystem eigener Art aufgebaute politische Ordnung muß demnach nicht nur in sich selbst funktionsadäquat organisiert sein, das heißt hier: verbindliche Entscheidungen treffen können. Sie muß nicht nur in der Lage sein, durch die Art ihrer Leistungen Beitragswilligkeit und Anerkennung (Legitimität) für ihre Entscheidungen zu erreichen. Sie muß außerdem sehr viel fundamentalere, von den Wellenschlägen einzelner politischer Ereignisse kaum berührter Voraussetzungen der allgemeinen Differenzierbarkeit der Sozialordnung beachten. Das politische System ist ein Untersystem nicht nur auf der Ebene eines funktionierenden Leistungsaustausches mit anderen Bereichen der Sozialordnung. Auf dieser Ebene des bewußt gesteuerten Zweckhandelns kann ein Gleichgewicht sich nur einspielen, wenn zuvor die Sozialordnung im ganzen differenzierungsbereit ist. Als Untersystem der Sozialordnung hängt das politische System primär davon ab, daß allgemeine Erlebensund Verhaltensbereitschaften in geeigneter Weise vorstrukturiert sind. Den Zugang zu diesen Vorbedingungen können wir uns durch eine hochabstrakte Zwischenüberlegung erleichtern. Die allgemeine Theorie sozialer Systeme, ja die Systemtheorie schlechthin, ist nicht zufällig in einer Zeit entstanden, die zugleich der zwischenmenschlichen Kommunikation wachsendes theoretisches Interesse zuwendet. Obwohl es an einer anerkannten Synthese beider Theoriebereiche auf allgemeinster begrifflicher Ebene noch fehlt und der Begriffsapparat der meisten Forscher entweder der einen oder der anderen Theorie nahesteht, drängt sich ihr enger Zusammenhang doch auf . Handlungssysteme sind Systeme nicht durch die physischen Handlungszusammenhänge der Einheit des Organismus oder des wechselseitigen Sichanstoßens, sondern durch den kommunikativen Sinn des Handelns, mag er wie beim Sprechen oder Schreiben, Hauptinhalt des Handelns sein oder nicht, mag er intentional oder 14

oder wirtschaftlichen Funktionsbereich beginnen kann, die aber, wenn dies geschieht und wenn Institutionen geschaffen werden, die die Folgeprobleme der Differenzierung erfolgreich meistern, kaum mehr reversibel ist — es sei denn als Folge des Zusammenbruchs jener Institutionen.' Die Hypothese einer bestimmten Reihenfolge der Ausdifferenzierung funktionsspezifischer Untersysteme findet sich bei Parsons (Kap. 1 Anm. 7 — 1961 —): zuerst religiös oder politisch, dann wirtschaftlich, und in detaillierterer Form bei Bert F. Hoselitz, Economic Policy and Economic Development, in: Hugh G. J. Aitken (Hrsg.), The State and Economic Growth, New York 1959, S. 325—352 (333 ff.). 14

Und vielleicht ist gerade diese Kongruenz der Grund, weshalb Forscher, die von der Systemtheorie ausgehen, die Kommunikationstheorie vernachlässigen können und umgekehrt. Im Bezugsrahmen der einen sind die Begriffe der anderen implizit schon enthalten.

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unbewußt-expressiv zustande kommen . Kommunikationen sind das systembildende Moment am faktischen Handlungsvollzug, wie umgekehrt Systeme die Kommunikationsprozesse strukturieren und dadurch überhaupt erst intersubjektiv verständlich machen. Wenn dieser allgemeine Ausgangspunkt richtig ist, muß die Problematik der sozialen Differenzierung sich in den Kommunikationsprozessen wiederfinden und in den Anforderungen an das gesellschaftliche Kommunikationswesen zum Ausdruck kommen. Funktional-spezifische Differenzierung ist nur möglich, wenn eine gewisse „Freizügigkeit" der Erwartungsbildung und der Kommunikation institutionalisiert ist; wenn der Einzelne seine Rollenpartner in gewissem Umfange wählen und im Zusammenhang damit über seine Selbstdarstellung, seine_sonstigen Mitteilungen und über die Erwartungen, die er an andere richtet, verfügen (oder durch andere verfügen lassen) kann . Dazu gehört die Einstellung auf rollenspezifischen (und insofern „unpersönlichen") sozialen Verkehr , Verständnis für ein hohes Maß an Rollentrennung in 16

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Obwohl die Kommunikationstheorie sich bisher hauptsächlich mit absichtlichen, zumeist sogar nur mit sprachlichen Mitteilungen befaßt hat, — als typisches Beispiel siehe etwa Hans Gerth/C. Wright Mills, Character and Social Structure: The Psychology of Social Institutions, New York 1953, S. 81 ff. —, läßt sich diese Beschränkung auf der hier gewählten Ebene der Abstraktion nicht halten, weil man bedenken muß, daß sprachliche und nichtsprachliche, intendierte und unbewußt-expressive Sinnübermittlungen im Rahmen eines Systems funktional äquivalent sein können. Als Beispiel für das wachsende Interesse an unbeabsichtigten kommunikativen Darstellungen sind besonders die Schriften von Erving Goffman zu nennen; vgl. namentlich: The Presentation of Self in Everyday Life, 2. Aufl. Garden City N. Y. 1959; Encounters, Indianapolis Ind. 1961; Stigma: Notes on the Management of Spoiled Identity, Englewood Cliffs N. J. 1963 und Behavior in Public Places: Notes on the Social Organization of Gatherings, New York-London 1963. Vgl. auch die eigens auf dieses Problem bezogene Studie von Gregory P. Stone, Appearance and the Self, in: Arnold M. Rose (Hrsg.), Human Behavior and Social Processes, Boston 1962, S. 86—118. Eisenstadt (Einf. Anm. 10); — vgl. auch ders., Bureaucracy and Bureau- i cratization, Current Sociology 7 (1958), S. 99—164 und ders. (Kap. 1 Anm. 13), S. 376 f. — spricht in bezug hierauf verschiedentlich von „free floating resources". Gemeint ist etwa: Die Befreiung der Handlungsorientierung aus partikularen Bindungen an bestimmte Personen oder Personengruppen. Siehe außerdem den Begriff der „uncommitted resources", den Karl W. Deutsch, The Nerves of Government: Models of Political Communication and Control, New York-London 1963, S. 96, 164 seiner Theorie der Lernfähigkeit von Systemen zugrunde legt. Manches dazu auch bei Talcott Parsons, Some Principal Characteristics of Industrial Societies, in: Cyril E. Black, The Transformation of Russian Society, Cambridge Mass. 1960; ähnlich auch in: Talcott Parsons, Structure and Process in Modern Societies, Glencoe 111. 1960, S. 132—168. 16

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Vgl. hierzu die vergleichende Untersuchung von Arbeitsorganisationen nichtindustrieller Sozialordnungen von Stanley H. Udy, Jr., Administrative Rationality, Social Setting, and O r g a n i z a t i o n a l Development, T h e A m e r i c a n Journal of Sociology 68 (1962), S. 299—308, mit dem Ergebnis, daß in der Spezifizierbarkeit von Rollen und Motivationsstrukturen die wichtigste ge-

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den sozialen Beziehungen , die gleichsam automatische Beachtung der entsprechenden Kommunikationsschranken und die Ausrichtung an sachlichen (statt an persönlichen) Handlungszusammenhängen in allen Kontakten außerhalb der Intimsphäre. Solch ein Zuschnitt der Kontakte auf spezifische Rollen und Aktionszusammenhänge limitiert Konsensbedarf und Konsenschancen auf Minimalerfordernisse. Man braucht und sucht für die Mehrzahl der Kontakte nur noch einen begrenzten modus vivendi, findet diesen leichter und rascher und lernt im übrigen darüber hinwegzusehen, daß man in allen anderen Hinsichten, auf die es hier und jetzt nicht ankommt, weit divergiert. Ansichten und Verhaltenserwartungen, die in bestimmten Situationen keine Konsenschancen haben, werden gar nicht erst geäußert, und diese soziologische Parallele zur innerpsychischen Verdrängung gestattet eine reibungslose Kontaktführung, ohne daß die Verschiedenartigkeit der Erlebnishorizonte laufend zu Konfliktsentscheidungen zwänge. Die Sicherheit des sozialen Verhaltens beruht dann nicht mehr auf innerem Vertrauen in eine fundierende Gemeinsamkeit der Erfahrung und der Weltsicht, sondern auf spezifischen Systemgarantien, die in den jeweiligen Rollenzusammenhängen korrespondierende Verhaltensmotive sicherstellen. Die Durchbildung solcher Einstellungen zu sozial erwartbaren Verhaltensmustern erfordert die Fähigkeit und Bereitschaft, sich an indirekten Rücksichten zu orientieren, im normalen Verkehr den unmittelbaren Ausdruck von persönlichen Bedürfnissen und Gefühlen zu beherrschen und in einem relativ weitgespannten Zeithorizont die Lebensführung zu planen. Erhöhte Disponibilität der Kommunikation und entsprechend gesteigerte Selbstdisziplin sind die fundamentalen Verhaltensaspekte des allgemeinen Prozesses zivilisatorischer Differenzierung . 18

sellschaftliche Vorbedingung organisatorischer Rationalität liege. Manche treffenden Feststellungen auch bei Riggs (Kap. 1 Anm. 8 — 1957 —). Rollentrennung besagt, daß nicht ohne weiteres von einer Rolle einer Person auf andere Rollen derselben Person geschlossen werden kann oder darf (und zwar weder im Sinne einer Vorhersage noch im Sinne einer normativen Verhaltenszumutung), bloß weil es sich um verschiedene Rollen ein und derselben Person handelt. Mit anderen "Worten: Die Identität der Person dient nicht mehr wie in allen elementaren Gesellschaften zugleich als Garant eines sozialen Rollenzusammenhanges. Rollentrennung ist zunächst vom expressiven Stil her als „unpersönliches" Verhalten beschrieben worden — so namentlich durch Max Weber. Aber der Begriff des „Unpersönlichen" ist als Negativbegriff unbestimmt und unbestimmbar, zumal er natürlich nicht sagen will, daß das Verhalten sich überhaupt nicht mehr auf Personen beziehen lasse. So bringt die Ablösung des Weberschen Begriffs der Unpersönlichkeit durch den der Rollentrennung eine wesentliche Klärung. Vgl. dazu auch Roy G. Francis/Robert C. Stone, Service and Procedure in Bureaucracy, Minneapolis 1956. Vgl. dazu Norbert Elias, Uber den Prozeß der Zivilisation, 2 Bde., Basel 1939. 18

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Diese allgemeinen Vorbedingungen der sozialen Differenzierung, deren Analyse wir in den folgenden beiden Kapiteln noch vertiefen wollen, bilden sich im Verlauf der geschichtlichen Entwicklung, im Zuge des Aufbaus und Verfalls von Organisationen mit aus. Der Staat allein erzeugt und gewährleistet sie nicht. Sie sind nicht das Ergebnis von Rechtsgewährung und Problementscheidung. Aber sie gehören auch nicht einer „rein gesellschaftlichen" Sphäre an, die den Staat „nichts anginge". Die Staatsbürokratie muß an ihren Grenzen auf Gefahren der Entdifferenzierung, der Reibung und der Strukturverschmelzung achten, welche das allgemeine Differenzierungspotential der sozialen Ordnung mindern und damit, von allem anderen abgesehen, in einer Kette mittelbarer Rückwirkungen auch die Leistungsfähigkeit der Bürokratie untergraben könnten. Auf diese Gefahr der Entdifferenzierung bezieht sich — das ist das Thema unserer Untersuchung — die Funktion der Grundrechte. Grundrechte dienen als eine unter vielen funktional äquivalenten Institutionen der industriell-bürokratischen Sozialordnung dazu, das Kommunikationswesen so zu ordnen, daß es im großen und ganzen für eine Differenzierung offen bleibt. Die Garantie von Freiheiten ist nichts anderes als eine Garantie von Kommunikationschancen. Sie hat_zwar nicht den erklärten Zweck, wohl aber die latente Funktion, eine^gewisse Disponibilität und damit Motivierbarkeit von Kommunikationen sicherzustellen. Sie setzt eine Entbindung der Kommunikationsmöglichkeiten aus allzu engen persönlichen, gruppenmäßigen, emotional_stabilisierten Ausdrucksbahnen voraus. Auf diesen gesellschaftlich-zivilisatorischen Entwicklungsstand beziehen sich die Grundrechte—sie sind deshalb alles andere als „ewige Menschenrechte" — und sie bestätigen ihn, indem sie gewissen Rückfalltendenzen zu begegnen suchen, die in solch einer Ordnung angelegt sind . Sie verhindern die_Ausrichtung aller Kommunikationen an den besonderen Handlungszwecken der Staatsbürokratie und ermöglichen gerade dadurch die Rationalisierung dieser Zwecke im Sinne einer funktional-spezifischen Leistung, die immer andere Leistungen, andere Systeme der Interessenverfolgung, andere Quellen der Macht und des Sozialprestiges in der Sozialordnung voraussetzen muß. 20

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Auch Eisenstadt (Kap. 1 Anm. 13), S. 381 f., sieht in den Expansionsbestrebungen des politischen Systems Tendenzen zur Entdifferenzierung der Sozialordnung. Siehe dazu auch die durch Immigrationsprobleme in Israel angeregten Studien über Tendenzen zur Verschmelzung von Bürokratie und Gesellschaft: S. N. Eisenstadt, Bureaucracy, Bureaucratization, and Debureaucratization, Administrative Science Quarterly 4 (1959), S. 302—320 und Elihu Katz/S. N. E i s e n s t a d t , S o m e Sociological O b s e r v a t i o n s on the R e s p o n s e of Israeli Organizations to New Immigrants, Administrative Science Quarterly 5 (1960), S. 113—133.

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Die Gefahr der Entdifferenzierung, der Politisierung des gesamten Kommunikationswesens, ist in der gesellschaftlichen Emanzipation und Autonomsetzung des politischen Systems angelegt, ist mithin ein Merkmal des Differenzierungsprozesses selbst. Die ausdifferenzierte politische Ordnung weist Tendenzen zur Unstabilität auf, nämlich durch 1. die Unbestimmtheit dessen, was ein politisch entscheidungsbedürftiges Problem werden kann — die politische Funktion ist keine inhaltlich fest umrissene Sachaufgabe, sondern ihre Thematik hängt davon ab, welche Probleme jeweils politisiert werden, weil keine besseren Lösungen institutionalisiert sind , 21

2. die Zentralisierung der legitimen Macht zu verbindlichem Entscheiden, 3. die Generalisierung dieser Macht, ihre Verwendbarkeit für viele und auswechselbare Zwecke, 4. die Abstrahierung einer eigentümlich politischen Rationalität, einer politischen Sondersprache, in die Erwägungen anderer gesellschaftlicher Sphären erst übersetzt werden müssen, um politisches Gewicht zu erhalten, und 5. durch das Fluktuieren der politischen Unterstützung, deren Beweglichkeit durch die Konstruktion einer allgemeinen Wählerrolle — in Abtrennung von sonstigen sozialen Rollen des Wählers — institutionalisiert ist, um die Möglichkeit des Machtwechsels zu erhalten. Das Zusammenwirken dieser Komponenten begründet die Autonomie des politischen Systems und begründet zugleich die Möglichkeit des unerwarteten Ausbrechens aus dem gesellschaftlichen Rahmen . Die Erhaltung der sozialen Differenzierung erfordert daher korrigierende und blockierende Institutionen, die dieser Gefahr entgegenwirken. Die Gewaltentrennung ist eine der bekanntesten; die Trennung von Politik und Verwaltung , die schon Goodnow der Gewaltentrennung vorzog, eine der wirksamsten. Allen voran ist jedoch die Institution der Grundrechte zu nennen, die von der neueren deutschen Verfassungslehre mit Recht in den Mittelpunkt ihrer Staatskonzeption gestellt wird. 22

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Bernard (Kap. 1 Anm. 2), S. 582, weist mit Recht darauf hin, daß die Problemstellung und damit auch die Grenzen des politischen Systems eine Sache der gesellschaftlichen Einstellungen seien, geschichtlich und vergleichsweise wechselten und theoretisch nicht generell festgelegt werden könnten. Dies ist auch der Grund, weshalb die Auffassung des politischen Systems als Problementscheidungssystem sich so gut als Modell für vergleichende Forschungen eignet. Siehe auch die Rückführung der Möglichkeit politischer „crazes" auf diese Strukturbedingungen bei Neil J. Smelser, Theory of Collective Behavior, New York 1963, S. 180 ff. Dazu eingehender unter S. 148 ff. Frank J. Goodnow, Politics and Administration: A Study in Government, New York-London 1900. 22

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Eine solche Deutung der Grundrechte als Institution der Erhaltung einer differenzierten Kommunikationsordnung wird nur akzeptierbar sein, wenn man die Bedeutung der zwischenmenschlichen Kommunikation richtig einschätzt. Kommunikation ist der elementare soziale Prozeß der Konstitution von Sinn in zwischenmenschlichem Kontakt, ^ ohne welchen weder Persönlichkeiten noch Sozialsysteme denkbar sind . Die allgemeine Kommunikationstheorie bietet für das Verständnis der Grundrechte ein tragfähiges Fundament, das die bisherigen Deutungsversuche aufnehmen kann, zugleich eine präzisere Ausarbeitung erlaubt und es außerdem möglich macht, den in der juristischen Dogmatik verlorenen Kontakt mit den empirischen Wissenschaften wiederzugewinnen. 25

Um den Sinn und die Tragweite dieser Umdeirtung klar hervortreten zu lassen, werden wir die nächsten beiden Kapitel den metajuristischen Grundlagen der herrschenden Grundrechtsdogmatik widmen und sie auf System- und kommunikationstheor^tische Problemformulierungen zurückführen. Im wesentlichen haben wir es mit zwei Vorstellungen zu tun, die, wie die Grundrechte selbst, im Prozeß der Auflösung der mittelalterlichen Lehre von der Rechtsquellenhierarchie entstanden sind und dieser Übergangssitution ihre eigentümliche Problematik verdanken: zum ersten die Theorie der Trennung von Staat und Gesellschaft, die eine vorläufige und noch inadäquate Formulierung des Problems der Differenzierung von Kommunikationssphären gibt; zum anderen die Versuche einer nicht mehr onto-theologischen Grundrechtsbegründung, unter denen nach dem Zusammenbruch des Vernunftsrechts der Äufklärungszeit heute die werttheoretische bzw. geisteswissenschaftliche Dogmatik hervorragt, die eine vorläufige und noch inadäquate Formulierung des Problems der Generalisierung von Kommunikationen gibt.

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Siehe den Überblick über wichtige Entwicklungsstationen dieses Gedankens bei Hugh Dalziel Duncan, Communication and Social Order, New York 1962. Manche gute Beiträge finden sich auch in dem Sammelband Arnold M. Rose (Hrsg.), Human Behavior and Social Processes: An Interactionist Approach, Boston 1962.

Zweites Kapitel

Die Legeshierarchie und die Trennung von Staat und Gesellschaft Die Entstehung des neuzeitlichen Staates als speziell politische Organisation in der Gesellschaft, als besonderes Sozialsystem zur Anfertigung verbindlicher Entscheidungen, hat sehr bald bewußten und aufmerksamen Widerhall in der Staatslehre gefunden. Unabweisbar drängte die Einsicht vor, daß der neue Staat nicht als das öffentliche Wesen des Menschen, des zoon politikon, verstanden werden könne; daß er sich andererseits aber auch nicht erschöpfe in den traditionellen Rollenbildern des Herrschers und seines Haushalts, seiner Ratgeber und seiner Truppe, oder in den republikanischen Ämtern antiker Tradition. Existenz und Entscheidungen des Staates werden als begründungsbedürftig empfunden. Jede Begründung aber hat sich abzustützen in Haltepunkte eines anderen Bereichs; denn „der Grund fällt, zufolge des bloßen Denkens eines Grundes, außerhalb des Begründeten" . 1

Die Versuche der Begründung können wir im einzelnen hier nicht nachzeichnen. Sie lösen sich nach und nach von dem überkommenen hierarchischen Rechtsquellendenken, der Ordnung von lex divina, lex aeterna, lex naturalis und lex positiva, ab und steuern zu auf die Dichotomie von Staat und Gesellschaft, die, weil weniger integrierend, der neuartigen Systemdifferenzierung angemessener zu sein scheint . Die an antike und mittelalterliche Lehren nur äußerlich anknüpfenden neuen Staatsvertragslehren, die puritanische Auffassung des Staates als In2

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1

Johann Gottlieb Fichte, Erste Einleitung in die Wissenschaftslehre, § 2. Ausgew. Werke (Hrsg. Medicus), Darmstadt 1962, Bd. 3, S. 8. 2

Ein typisches und besonders wirksames Beispiel: Die Ablehnung der Unterscheidung von naturrechtlicher und positivrechtlicher Rechtsbegründung als Kriterium des Eigentumsschutzes gegenüber dem Staat bei Hugo Grotius, De iure belli ac pacis libri tres, lib. II c. 14 § 7. Weitere Hinweise bei Otto von Gierke, Johannes Althusius und die Entwicklung der naturrechtlichen Staatstheorien, 5. Aufl., Aalen 1958, S. 268 ff. Zur Unangemessenheit dieser Unterscheidung für das Verständnis der I öffentlichen Ordnung des Mittelalters und zu ihrem Aufkommen im Zeitalter des Absolutismus vgl. Otto Brunner, Land und Herrschaft: Grundfragen der territorialen Verfassungsgeschichte Südostdeutschlands im Mittelalter, 3. Aufl., Brünn-München-Wien 1943, S: 124 ff. 3

2. Kap.: Legeshierarchie und Trennung von Staat und Gesellschaft

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strument zur Verwirklichung der Freiheit in Form von Rechten, die schottische Soziologie leiten über . Letztlich ist es die Notwendigkeit der Begründung, deren tiefe Wurzeln in der Scheidung von Sein und Denken hier nicht freigelegt werden können, die mit bohrender Kraft die soziale Wirklichkeit aufspaltet in eine Sphäre des Staates und eine Sphäre der Gesellschaft. Der Staat hat sich in der Gesellschaft und an der Gesellschaft zu rechtfertigen. (Die Auffassung Hegels, die das Trennschema übernimmt, aber das Begründungsverhältnis umkehrt, blieb ohne reale Folgen.) 4

In dieser geschichtlichen Situation des Übergangs aus dem legeshierarchischen Denken in die Dichotomie von Staat und Gesellschaft sind die Grundrechte geboren worden. Sie sind Ausdruck einer tiefreichenden Umorientierung vom alten ethischen Bindungsdenken zu einem neuen Anspruchsdenken, mit welchem die Lehre von Politik und Staat auf die Zerstörung ihrer Wahrheitsgrundlagen durch die strenge Wissenschaftskonzeption der Neuzeit reagiert . Selbst Freiheit — Bindungslosigkeit — wird jetzt als Recht vorstellbar, und Bindungen müssen in Rechtsgrenzen, in auferlegte Schranken umgedacht werden. Das Umdenken wird aber vorerst noch vom Glauben an die Vernunft getragen. 5

Dieser einmaligen, unwiederholbaren Konstellation verdanken die Grundrechte ihre Prägung, verdanken sie die Möglichkeit, hohes Rechtspathos in den Dienst einer trennenden Dichotomie zu stellen, verdanken sie Ausdrucksform und Ideologie — aber nicht ihre Funktion. Wir können die Funktion der Grundrechte daher weder mit dem legeshierarchischen Modell noch mit dem Modell der Trennung von Staat und Gesellschaft zureichend erfassen. Beide Modelle bestimmen zwar nicht mehr als Glaubensartikel, wohl aber als Frageschema unser Denken. Sie müssen umgangen werden, wenn man ein zeitnahes Verständnis der Grundrechte gewinnen will. Die erkannte Unzulänglichkeit der legeshierarchischen (oder in weiterem Sinne: naturrechtlichen) Staats- und Rechtsbegründung be4

Vgl. die dogmengeschichtlichen Hinweise bei Herbert Krüger, Allgemeine > Staatslehre, Stuttgart 1964, S. 341 ff., ferner Adalbert von Unruh, Dogmenhistorische Untersuchungen über den Gegensatz von Staat und Gesellschaft vor Hegel, Leipzig 1928; Horst Ehmke, „Staat" und „Gesellschaft" als verfassungstheoretisches Problem, Festgabe für Rudolf Smend, Tübingen 1962, S. 23—49, und Erich Angermann, Das Auseinandertreten von Staat und Gesellschaft im Denken des 18. Jahrhunderts, Zeitschrift für Politik 10 (1963), S. 89—101. Vgl. dazu Michel Villey, Leeons d'histoire de la Philosophie du droit, Paris 1957, S. 249 ff. Zur Bedeutung von Hobbes für diese Wendung vgl. Leo Strauss, The Political Philosophy of Hobbes: Its Basis and its Genesis, 2. Aufl. Chicago 1952, S. 155 ff., und ders., Naturrecht und Geschichte, Stuttgart 1956, insb. S. 188 f. Zur Ambivalenz der Übergangszeit vor Hobbes treffend Roman Schnur, Individualismus und Absolutismus: Zur politischen Theorie vor Thomas Hobbes' (1600—1640), Berlin 1963. 5

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2. Kap.: Legeshierarchie und Trennung von Staat und Gesellschalt

steht in der Unmöglichkeit, das Sein von höherrangigem Recht mit Methoden zu beweisen, die im Sinne der neuzeitlichen Wissenschaftsauffassung zu wahren Erkenntnissen führen können. Wir können zum Naturrecht nicht zurückkehren — auch deshalb, weil unser Horizont sich erweitert hat und wir die Möglichkeit der Auswahl nicht mehr los werden. Nur die Problemstellung bleibt erhalten. Die Abhängigkeit vom legeshierarchischen Frageschema dauert fort. Sie zeigt sich einmal daran, daß wir nach wie vor den Gedanken der „Quelle" des Rechts von dem der Rechtsgeltung nicht zu trennen vermögen, obwohl die Voraussetzung dieser Einheit, die Auffassung der Wahrheit als Erscheinen des Seins, die wir der griechischen Philosophie verdanken, längst zerfallen ist . Vor allem aber wirkt die Hierarchievorstellung darin nach, daß die Rechtfertigung von Staat und Recht weiterhin in höherrangigem Recht gesucht, wird; daß — mit anderen Worten — das Rechtfertigen überhaupt am hierarchischen Modell orientiert wird . 6

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Die hierarchische Orientierung überlebt vermutlich deshalb, weil sie den wichtigen Vorzug hat, ein Schema begrenzter Flexibilität und Änderbarkeit des Rechts anzubieten. Sie kommt damit einem wichtigen Bedürfnis differenzierter Sozialordnungen entgegen. Diese müssen in ihren Normordnungen unterschiedliche Ebenen der Generalisierung institutionalisieren in dem Sinne, daß niedrigere Normen spezifiziert und nach Bedarf geändert werden können, ohne daß höherrangige Werte dadurch in Frage gestellt würden . Der Wunsch nach Rechts ander ung 8

6

Das wird man trotz aller neueren Bemühungen um eine phänomenologische Philosophie sagen dürfen. In der heutigen kritischen Wissenschafts Philosophie ist man jedenfalls nicht mehr bereit, die alten „Quellen" des wahren Wissens: Erfahrung und Vernunft, unbesehen auch als Rechtfertigungsgründe zu akzeptieren. Gerade der Dualismus dieser Quellen und die sich daran anschließende Diskussion hat zu dieser Trennung gezwungen. Dem Begriff der Rechtsquelle ist eine ähnliche Zersetzung bisher erspart geblieben, obwohl auch hier die Identifikation von Quelle und Grund zu wohl unlösbaren Schwierigkeiten und zu weit divergierenden, vielfach auch „pluralistischen" Rechtsquellentheorien geführt hat. 7

Wichtig wäre, hierbei die allgemeine Neigung des ontologischen Denkens zu bedenken, sich die Seinsfrage durch eine Rangeinteilung des Seienden zu erleichtern — und zu verstellen. Dazu Gutes bei Eugen Fink, Alles und Nichts: Ein Umweg zur Philosophie, Den Haag 1959. Unter die historischen Vorläufer der modernen rationalen Rechtskultur sind daher nicht nur römische Begriffsschärfe und frühneuzeitliches Systemdenken zu rechnen, sondern gleichrangig auch die mittelalterliche Anwendung der elastischen Hierarchievorstellung auf das Recht, die die Mobilisierung und Positivierung des Rechts eingeleitet hat. Zur soziologischen Seite vgl. auch Smelser (Kap. 1 Anm. 22), S. 278 ff., der die Institutionalisierung eines Unterschiedes von Normen und Werten als ein erhaltungswichtiges Merkmal differenzierter Sozialordnungen und zugleich als strukturelle Vorbedingung sozialer Reformbewegungen behandelt. Siehe zur Künstlichkeit dieser Unterscheidung ferner Robert N. Bellah, Religious Aspects of Modernization in Turkey and Japan, The American Journal of Sociology 64 (1958), S. 1—5. 8

2. Kap.: Legeshierarchie und Trennung von Staat und Gesellschaft

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darf nicht gleich Hochverrat sein; er muß sich im Rahmen anerkannter Werte legitim ausdrücken lassen. Der ständige Rekurs auf Werte (statt auf Normen!) in der heutigen Grundrechtsdiskussion ist deshalb funktional sinnvoll, selbst wenn er sich wissenschaftlich nicht ausreichend explizieren und begründen läßt. Die Unzulänglichkeit der Trennung von Staat und Gesellschaft ist besonders durch das starke Anwachsen der Interdependenzen zwischen beiden „Sphären" deutlich geworden. Im Hinblick darauf wird eine Überwindung des Gegensatzes proklamiert . In Wahrheit folgt man weiterhin dem Sog des zugrunde liegenden Frageschemas, solange man das dichotomische Kontrastmodell in der einen oder anderen Form, als Individuum vs. Kollektiv, als Freiheit vs. Planung etc. weiterpflegt. Dem schließt sich für gewöhnlich die Auffassung an, daß der Bürger vom Staat zunehmend abhängig werde und der Staat zunehmend abhängig vom Bürger, soweit dieser sich in Form von Interessenverbänden organisieren kann; und beides wird gleicherweise für bedrohlich gehalten — vermutlich einfach deshalb, weil Lebensgefühl und Denkmodelle noch nicht auf das Phänomen wachsender Differenzierung und wachsender Interdependenz in der gesamten Sozialordnung eingestimmt sind. Unser Grundproblem: die Erhaltung des Differenzierungspotentials der Gesellschaft erhält dann die zu einfache Fassung, die Gehlen ihm gibt: Was hindert den Staat, in der Vielzahl seiner gesellschaftlichen Funktionen aufzugehen? 9

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Ferner lebt die These der Trennung von Staat und Gesellschaft unerkannt in unserem Rechtsstaatsbegriff fort. Seinen eigentümlich unpolitischen Charakter verdankt er vor allem dem Umstand, daß die Gesellschaft in Abtrennung vom Staat nicht mehr als politisches Gemeinwesen (societas civilis) gesehen wurde, andererseits aber auch noch keine überzeugende soziologische Konzeption vorhanden war, die Funktion und Grenzen des politischen Systems in der Gesellschaft hätte deutlich machen können. So blieb der Gesellschaft nur ein Angstkomplex vor der Politik: Sie mußte dem Staat überlassen und alsdann von außen gedrosselt werden. 11

Die Formel der Trennung von Staat und Gesellschaft ist außerdem deshalb ein unzureichendes Vorstellungsmodell, weil sie ihre Ver9

Siehe z. B. C. Schmitt (Kap. 1 Anm. 1 — 1931 —), S. 73 ff.; Karl Mannheim, Freedom, Power, and Democratic Planning, New York 1950, S. 42 ff.; Hans Huber, Recht, Staat und Gesellschaft, Bern 1954, S. 27f.; Arnold Gehlen, Industrielle Gesellschaft und Staat, Wort und Wahrheit 11 (1956), S. 665—674 (669); Hans Freyer, Das soziale Ganze und die Freiheit des Einzelnen unter den Bedingungen des industriellen Zeitalters, Göttingen-Berlin-Frankfurt 1957. (Kap. 2 Anm. 9), S. 667. Dazu nochmals unten S. 137. 1 0

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2. Kap.: Legeshierarchie und Trennung von Staat und Gesellschaft

ständnismöglichkeiten und ihre begrifflichen Hilfsmittel mit der These der Trennung verausgabt. Sie kann die Trennung selbst und die gesellschaftlichen Bedingungen ihrer Möglichkeit nicht analysieren, sondern nur registrieren, wie weit sie reicht. Es fehlt ihr auch der begriffliche Bezugsrahmen, mit dem sie erläutern könnte, was denn nun eigentlich getrennt wird: Handlungen oder Erwartungen, Systeme oder Institutionen, Gruppen oder Loyalitäten. Und weil sie den Angelpunkt der behaupteten Trennung nicht spezifiziert, fehlt es ihr an Verständnis für das Entscheidende: daß Trennung im Sinne funktionaler Differenzierung eine verstärkte wechselseitige Abhängigkeit des Getrennten zur Folge hat, daß also Trennung und Abhängigkeit sich nicht gegeneinander aufheben, sondern miteinander wachsen. Damit steht im engen Zusammenhang, daß subjektive Rechte, besonders Grundrechte, zwar als Grenzen des staatlichen Gesetzgebungsvorgangs vorstellbar sind, der Gesetzgebungsvorgang aber von diesen Grenzen her nicht gesteuert und rationalisiert werden kann (was man eigentlich von „Grenzen" erwarten müßte). Beachtung der Grundrechte ist noch keine Richtigkeitsgarantie. Insofern ist eine Funktion verloren gegangen, als man die hierarchische Kontrolle der Rechtspositivierung mittels übergeordneten objektiven Rechts aus höherrangigen Quellen durch die Grundrechtskonzeption verdrängte. Diese Lücke kann heute durch eine soziologische Analyse der Grundrechtsfunktion geschlossen werden. Die funktionale Systemtheorie ermöglicht ein Abwerfen dieser alten Fragestellungen und damit ein unbefangenes Neuprüfen der Sachverhalte. Sie behandelt die politische Sphäre nicht mehr, wie die ältere politische Soziologie, als ein „Epiphänomenom der Gesellschaft" , nicht nur als Resultat und Faktor gesellschaftlicher Kräfte (und insofern das Trennschema Staat — Gesellschaft in Form des Unterschieds von Ursache und Wirkung voraussetzend); sondern sie sieht gerade umgekehrt den neuzeitlichen Staat als Ausbildung der politischen Sphäre zu relativer gesellschaftlicher Autonomie, als Untersystem der Gesellschaft, das eine spezifische Funktion in der Gesamtordnung erfüllt und dafür ausdifferenziert und freigestellt ist . Das Verständnis der Autonomie des Politischen setzt das Verständnis gesellschaftlicher Differenzierung voraus. So kann die Theorie sozialer Systeme den eigentlichen Stein des Anstoßes: die wachsende Differenzierung und Interdependenz, unmittel12

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Nach einer Formulierung von Siegfried Landshut, Zum Begriff und Gegenstand der politischen Soziologie, Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie 8 (1956), S. 410—414 (413). Daß diese Sicht für die neuere politische Soziologie charakteristisch ist, bezeugt auch Seymour M. Lipset, Soziologie der Demokratie, Dt. Übers. Neuwied und Berlin-Spandau 1962, S. 16 f. 13

2. Kap.: Legeshierarchie und Trennung von Staat und Gesellschaft

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bar zum Thema machen, und zwar in der Form eines Systemproblems, für das eine Sozialordnung, will sie fortbestehen, Lösungen finden muß. Damit zugleich werden jene Denkansätze, auf denen die Ausdrucksform der Grundrechte und ihre Auslegung beruht, verlassen. Die Grundrechte werden durch die Frage nach ihrer Funktion hintergangen; sie werden an ihnen inkongruenten Perspektiven gemessen. Und gerade dadurch reichert sich unser Verständnis an. Soziale Differenzierung setzt Generalisierbarkeit von Kommunikationen voraus . Das heißt: Kommunikationen müssen einen Sinn vermitteln können, der allgemein ist insofern, als er in verschiedenen Situationen trotz Wechsels der Umstände als derselbe festgehalten werden kann. Daraus ergibt sich die Möglichkeit der Wiederholung von Erfahrungen, der Einprägung, des Lernens . Bestimmte Symbole, aber auch vage erfaßte Hintergrundsvorstellungen oder Verhaltensmotive, sind in verschiedenen Situationen brauchbar und werden durch Wiederholung zu einem gefestigten Bestandteil der Erlebnisstruktur, die die Auswahl der täglichen Erlebnisthemen leitet und daher nicht leicht in Frage gestellt werden kann. 14

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Elementarste Vorbedingung für die Generalisierung von Kommunikationen ist die Sprache, das heißt: die Strukturierung zwischenmenschlichen Verhaltens durch die Differenz von allgemein feststehenden Bedeutungen (code) und konkretem Ausdruckshandeln, das diese Bedeutung in unzähligen Konstellationen aktualisiert . Mit Hilfe dieser Differenz ist es möglich, die Fesseln der konkreten Situation abzuwerfen (ohne deswegen weniger konkret zu handeln) und die Einmaligkeit der Situation in einer Form auszudrücken, die auch zu anderer Zeit, in andersartigen Situationen, für andere Menschen denselben Sinn gibt. 18

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Das ist eine Grundthese der Parsonsschen Soziologie; vgl. z. B. Talcott Parsons, The Point of View of the Author, in: Max Black (Hrsg.), The Social Theories of Talcott Parsons, Englewood Cliffs N. J. 1961, S. 311—363 (343 f.). Das bringt in der behavioristischen Theorie des Lernens der Begriff des „generalized reinforcers" zum Ausdruck. Vgl. z. B. die Darstellung von Alfred Kuhn, The Study of Society: A Unifled Approach, Homewood III. 1963, S. 84 ff.; ferner allgemein Franz Josef Stendenbach, Soziale Interaktion und Lernprozesse, Köln-Berlin 1963, insb. S. 90 ff., und zur Herkunft des Gedankens I. P. Pavlov, Conditioned Reflexes, Engl. Ubers. Oxford 1927, S. 110 ff. Dahinter steht der allgemeine Gedanke, daß ein Handlungssystem sich nur durch eine gewisse Indifferenz gegen Unterschiede in der Umwelt als identisches System erhalten könne, daß es also in jeder Beziehung von System und Umwelt „generalisierende Mechanismen" geben müsse. In diesem Sinne spielt der Begriff in der Systemtheorie von Talcott Parsons eine zunehmend wichtige Rolle. Siehe z.B. Talcott Parsons, The Social System, Glencoe III. 1951, S. 10 f., 201 ff.; Talcott Parsons/Edward A. Shils (Hrsg.), Toward a General Theory of Action, Cambridge Mass. 1951, insb. S. 126 ff.; Talcott Parsons/ Robert F. Bales/Edward A. Shils, Working Papers in the Theory of Action, Glencoe III. 1953, z. B. S. 41 f., 81. Vgl. dazu z. B. Roman Jakobson/Morris Halle, Fundamentals of Language, Den Haag 1956, S. 5. 15

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2. Kap.: Legeshierarchie und Trennung von Staat und Gesellschaft

Sprache ermöglicht eine Abstraktion von Situationsrelevanzen unter spezifischen Gesichtspunkten und damit die Zusammenordnung verschiedener Situationen unter gemeinsamen Leitgedanken. Alle soziale Differenzierung gruppiert in dieser Weise Situationen unter Relevanzgesichtspunkten (die immer zugleich auch Regeln des Ausschlusses von Irrelevantem, also Regeln der Grenzziehung sind). Soziale Differenzierung erfordert stets einen Verhaltenskodex, der die prinzipielle Form der Sprache hat und dadurch Kommunikationen generalisiert. Doch das allein ist nicht genug. Wenn die soziale Differenzierung den Weg funktional-spezifischer Untersystembildung gehen soll, ist zur Generalisierung von Kommunikationen mehr als nur Sprache erforderlich. Untersystembildung differenziert die sozial angebotenen Ausdrucksbahnen so stark, daß die Wahl zum Problem wird; daß die Definition der sozialen Situation nicht mehr allein der gemeinsamen Sprache überlassen werden kann, sondern zusätzliche soziale Mechanismen das kommunikative Verhalten steuern müssen. Situationsrelevanzen müssen in hohem Maße durch sehr viel indirektere Systemrelevanzen ersetzt werden. Und deren Aktualisierung kann nicht mehr allein dem spontanen Einfall oder dem momentanen Bedürfnis überlassen bleiben; sie muß gesteuert werden. Andererseits ist in anbetracht der Einheit und Unzerreißbarkeit der Person, die von verschiedenen unkoordiniert nebeneinanderwirkenden Systemen aus angesprochen wird, an Steuerung durch einfachen Zwang nicht zu denken. Differenzierte Systeme können noch viel weniger als undifferenzierte Systeme jede Intensität und Richtung der Mitteilungen, die sie benötigen, mit Zwangsmitteln motivieren; denn Zwang macht schweigsam. Sie müssen sich weitgehend auf die Selbststeuerung des kommunikativen Verhaltens verlassen, das heißt: darauf, daß dieses sich von selbst an Systemrelevanzen generalisiert. Die Alternative von spontaner Freiheit und auferlegtem Zwang ist als Verständnisgrundlage für diesen Vorgang unzureichend, ja deplaciert. Das soziale Terrain muß, damit funktional-spezifische Untersysteme sich ansiedeln können, durch Institutionen gestaltet werden, die weder aus Freiheit noch aus Zwang entstehen und deren Verständnis nur verdunkelt wird, wenn man versucht, sie unter diese Rubriken zu bringen. Es handelt sich um Zusatzinstitutionen der Sprache. Ein solcher Ausbau der Sprache, der die Generalisierungs- und Differenzierungsfähigkeit der sozialen Kommunikationen sicherstellen soll, erfolgt in der allgemeinen Richtung der Entbindung und Befreiung des kommunikativen Verhaltens aus allzu engen Fesseln sozialer oder emotionaler Art . Dem liegt ein breitfließender zivilisatorischer Prozeß 17

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Siehe hierzu eine Feststellung, die häufig gemacht worden ist: daß diffuse, nichtdisponible Bindungen an Familienzusammenhänge, die den Einzel-

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der Mobilisierung von Sachbindungen und Personbindungen zugrunde, der sich in dem Maße auswirkt, als Sachbindungen durch Geld und Personbindungen durch Mitgliedschaft in Organisationen vermittelt werden. Dadurch wächst das Kommunikationspotential der Gesellschaft und ihYe Fähigkeit zu unterschiedlichen, wechselnden Situationsdefinitionen. 18

Die bloße Auflösung partikularer Bindungen reicht jedoch — das wissen wir seit Dürkheim — nicht aus, um eine differenzierte Sozialordnung zu erhalten. Die Freiheiten des Vertragsabschlusses setzen die soziale Normierung nichtdisponibler Vertragsbestandteile voraus. Die in einer differenzierten Sozialordnung benötigten Wahlfreiheiten und Verfügbarkeiten erfordern die Institutionalisierung korrespondierender Rechte und Pflichten sowie zahlreicher Vermittlungsmechanismen, von denen wir soeben Geld und disponible Mitgliedschaften erwähnten. Solche Vermittlungen lösen die alten, starren Rollenbedingungen ab. Sie machen es möglich, daß der Einzelne in verschiedenen, je spezifischen Funktionszusammenhängen (z. B. Familie, Beruf, Politik, Vereinswesen) mitwirkt, ohne daß die eine Mitwirkung nach Art oder Erfolg Bedingung für die Zulassung zur anderen wäre. Trotz dieses Verzichts auf feste Verknüpfung ist durch eine übergreifende Ordnung der Verhaltenserwartungen dafür gesorgt, daß die Anforderungen und Tätigkeiten im wesentlichen kompatibel bleiben . 19

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Damit zugleich muß das Unterscheidungsvermögen im Wahrnehmen, Erklären (Zurechnen) und Reagieren wachsen, so daß Enttäuschungen auf medizinischem Gebiet nicht ohne weiteres der Politik, Enttäuschungen auf familiärem Gebiet nicht ohne weiteres der Religion, Enttäuschungen auf wirtschaftlichem Gebiet nicht ohne weiteres dem Bereich kultureller Symbole und Werte zur Last gelegt werden, sondern dies allenfalls geschieht, wenn spezifische Gründe für solche Zusammennen voll beanspruchen, ihm aber auch in allen Lebenslagen Sicherheit gewähren, der fortschreitenden Industrialisierung und allgemeiner: der sozialen Differenzierung, hemmend im Wege stehen. Vgl. z. B. Marion J. Levy, The Family Revolution in Modern China, Cambridge Mass. 1949; Wilbert E.Moore/ Arnold S. Feldman (Hrsg.), Labor Commitment and Social Change in Developing Areas, New York 1960, S. 314 ff. Siehe dazu aber auch unten S. 103 ff. J Die These, daß eine solche Mobilisierung zugleich eine Vermehrung der Kommunikationen im System darstelle und deshalb sozial nützlich sei, die bei Karl Deutsch oft anklingt — vgl. z. B. Nationalism and Social Communication: An Inquiry into the Foundations of Nationality, New York-London 1953, S. 100 — hat manches für sich, bedarf aber noch sorgfältiger empirischer Prüfung. Es darf jedenfalls nicht übersehen werden, daß Disponibilität auch als solche schon nützlich ist. 8

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Siehe besonders Dürkheim (Kap. 1 Anm. 12). Dieser Feststellung gibt Talcott Parsons besonderen Nachdruck. Vgl. z. B. Parsons (Kap. 1 Anm. 4), S. 229 ff. 20

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2. Kap.: Legeshierarchie und Trennung von Staat und Gesellschaft

hänge aufweisbar sind — im Zweifel also nicht —, während in diffus institutionalisierten, unistrukturellen Sozialordnungen die Vermutung / für einen solchen Deutungszusammenhang spricht . Die Notwendigkeit solcher Separatbehandlung von kommunikativen Zusammenhängen zwingt ferner dazu, die expressiven Komponenten des Verhaltens schärfer in die Kontrolle zu bekommen, zumindest in den Bereichen außerhalb von Intimgruppen. Das alles kann nicht der Einzelperson überlassen bleiben. Soziale Institutionen müssen Verhaltensstützen gewähren. Aus sich selbst heraus würde der Einzelne solchen Anforderungen nicht genügen können, ständen nicht vorgeformte Rollen und Deutungsschablonen für ihn bereit, die ihm die Erfindung passender Verhaltensmöglichkeiten weitgehend abnehmen. 21

In einer differenzierten Sozialordnung reichen also weder Zwangsgewalt noch partikulare Bindungen als Motivationsgrundlage aus. Beide enthalten in bezug auf das Handeln, das sie kontrollieren, funktional unspezifische Sanktionsmittel, deren Wirkung sich nicht auf eine ausdifferenzierte Kommunikationssphäre beschränken läßt. Zwang läßt sich zur Motivation fast aller menschenmöglichen Handlungen einsetzen und schafft dabei einen Brennpunkt primär emotionaler Probleminteressen, der sich nicht auf bestimmte Sachzusammenhänge isolieren läßt. Auch Bindungen der Loyalität und Treue wirken in diesem Sinne funktional diffus. Eine weitblickende Rationalisierung des Handelns ist nur möglich, wenn statt dessen in getrennt bleibenden Kommunikationssphären je spezifische Rationalitätskriterien und Sanktionsmechanismen entwickelt werden. Das führt zu indirekter und komplexer wirkenden Motivationsstrukturen und zugleich zur Spezifikation der Ziele und Risiken. Dem dienen zum Beispiel im Bereich der persönlichen Selbstdarstellung das Kriterium des Ansehensgewinnes oder -Verlustes, im Bereich der Wirtschaft das Kriterium des Geldgewinnes oder -Verlustes, im Bereich der Politik das Kriterium des Machtgewinnes oder -Verlustes, die alle relativ getrennt operieren, ohne sich wechselseitig zu stören, und jeweils nur den ihnen zugeordneten Handlungsbereich sanktionieren. Differenzierte Sozialordnungen haben somit die Tendenz, nur noch Teilschicksale zuzulassen, die von je konstant bleibenden Strukturen aus überwacht und repariert werden können. Dadurch ist eine langfristige und weiträumige Berechenbarkeit der Handlungsfolgen erreichbar, ohne daß partikulare Mechanismen wie der Druck ausgesprochener Befehle und Sanktionsdrohungen oder eine Erwartungssicherheit auf Grund persönlicher Bekanntschaft oder lebenslänglicher Treue vorausgesetzt werden müßten; sie werden entbehrlich. 21

Siehe hierzu Parsons Ausführungen über die „Beweislast"-Regel als Kriterium der Abgrenzung von „specificity" und „diffuseness" in: Parsons/ Shils (Kap. 2 Anm. 15), S. 87. Zu diesen Begriffen ferner unten Kap. 8 Anm. 17.

2. Kap.: Legeshierarchie und Trennung von Staat und Gesellschaft

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Alle Einzelsysteme, Personen ebenso wie Organisationen, können durch Spezifikation ihrer Interessen und dank der Voraussehbarkeit ihrer Umwelt sich einen weiten Bereich der Indifferenz gestatten, der sie koalitionsfähig macht . Sie fügen sich so ohne große Spannungen, also ohne Inanspruchnahme von Gefühlen, ineinander. Die generalisierte Bereitschaft, Rollen zu übernehmen und sie nach den Anforderungen der Organisation, in die man eintritt, zu erfüllen, zeichnet die industrielle Arbeitswelt auf der personalen Seite aus . Auf Seiten der Organisation entspricht dem die wachsende Unabhängigkeit von individuellen und damit unterschiedlichen Motivationsstrukturen: Die benötigten Leistungen werden als Mitgliedspflichten formalisiert und zur Bedingung der Fortsetzung der Mitgliedschaft gemacht . Natürlich bleiben der Indifferenz Grenzen gesetzt. Aber wo die Toleranzschwelle erreicht wird, ist ein Wechsel der Beziehung leicht möglich. Der Gewinn an Freiheit ist beträchtlich. 22

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In der Tat stoßen wir hier auf einen Aspekt des Freiheitsproblems . Bestimmte Institutionen der Differenzierung müssen dafür sorgen, daß

die Untersysteme der Gesellschaft füreinander disponibel bleiben, denn nur dadurch wird wechselseitige Interdependenz möglich. Dies geschieht zum Teil durch Normierung wechselseitiger Rechte und Pflichten, zum Teil durch Erzeugung ungebundener Leistungsüberschüsse (politisch nicht festgelegte Macht, emotional nicht gebundene Interessen, abschöpfbare wirtschaftliche Gewinne usw.), vor allem aber auf allgemeinerer

Ebene durch Institutionalisierung von Freiheiten in den einzelnen Untersystemen. Wo die Institutionalisierung von Freiheiten gelingt, ist damit ein Bereich der Indifferenz geschaffen, dessen Ausgestaltung fremden Interessen folgen kann, ohne durch deren Auswahl dem institutionalisierenden System zu schaden. Dadurch entsteht in der Gesamtordnung innere Elastizität. Die Gewährleistung von Freiheiten der 22

Einsichtige Bemerkungen zum Zusammenhang wachsender Voraussehbarkeit des Verhaltens mit wachsender Toleranz und stärkerem Verlaß auf indirekte Motivationsmittel finden sich bei Michel Crozier, Le phénomène bureaucratique, Paris 1963, S. 244, 370, 378. Vgl. dazu Luhmann (Kap. 1 Anm. 11), S. 89 ff., mit Literaturhinweisen (S. 93 Anm. 5 und 6), ferner Daniel Katz, The Motivational Basis of Organizational Behavior, Behavioral Science 9 (1964), S. 131—146 (insb. 135 ff.). Dazu Luhmann (Kap. 1 Anm. 11), S. 89 ff., 377 ff. Siehe die Verwendung des Fechnerschen Schwellenbegriffs im Sinne einer Indifferenzgrenze (Grenze der Möglichkeit, Verschiedenes als gleich zu behandeln) bei William Stern, Person und Sache: System des kritischen Personalismus, Bd. I (2. Aufl. Leipzig 1923), S. 353 ff., Bd. II (3. Aufl. Leipzig 1923), S. 190 ff., Bd. III (Leipzig 1923), S. 301. Neben der Indifferenzfunktion der Freiheit, die die Anpassung erleichtert, bleibt die Autonomiefunktion z u beachten, die d e r I n t e g r a t i o n dient. Diese Unterscheidung folgt aus der Innen/Außen-Differenz, die mit jeder Systembildung gegeben ist. 23

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2. Kap.: Legeshierarchie und Trennung von Staat und Gesellschaft

politischen Entscheidung (Macht), der Disposition über Geld oder über eigene Arbeitsleistung im Vertragsschluß, des Anschlusses an meinungsbildende Gruppen usw., bezieht sich primär auf das Handeln in spezifischen Teilsystemen der Gesellschaft, garantiert aber zugleich, indem sie einen Spielraum des Nichtfestgelegtseins institutionalisiert und in diese Systeme einbaut, die wechselseitige Beeinflußbarkeit und Anpassungsfähigkeit der Teilsysteme. Freiheiten des einen Bereichs sind Einflußchancen, sind Möglichkeiten der Inpfhchtnahme für den anderen. In diesem Sinne wird in differenzierten Sozialordnungen Freiheit zur Notwendigkeit. Und umgekehrt wird soziale Handlungsfreiheit erst durch Differenzierung des sozialen Systems möglich . 27

Von vornherein ist nicht zu erwarten, daß der Ausbau der Sprache durch Zusatzinstitutionen der beschriebenen Art einen einzigen und geraden Weg nimmt, soll doch auf diese Weise gerade der sozialen Differenzierung Rechnung getragen werden. So handelt es sich nicht um eine einzige Institution, vielmehr um ein kompliziertes Geflecht von Einrichtungen, deren je besondere Funktion sich daraus ergibt, daß sie zwischen verschiedenen Untersystemen zu vermitteln haben. In diesem Sinne wirken so heterogen anmutende Einrichtungen zusammen wie: die wachsende Selbstdisziplin und Ausdruckskontrolle angesichts von bewußt erkannten Alternativen, das Geldwesen, die Mobilität der Mitgliedschaften, die Institutionen, welche eine Meinungsbildung trotz Kenntnis anderer Möglichkeiten erleichtern (Institutionen der Autorität und der selektiven Informierung) und nicht zuletzt die Formen der Unterstützung politischer Macht. Wie schon diese Aufzählung deutlich macht, stehen die Grundrechte in enger Beziehung zu allen diesen Medien generalisierender Kommunikation. Deren Vielzahl, letzlich also die soziale Differenzierung, erklärt die Vielzahl der Grundrechte und die Unmöglichkeit, sie auf eine einzige ideologische oder dogmatische Formel zu bringen. Deshalb kann es kein dogmatisches „System der Grundrechte" geben und deshalb sollte die Auslegung der Grundrechtsbestimmungen das soziologische Vorfeld nicht länger vernachlässigen. 27

Wir berühren uns hier eng und bestätigend mit der marxistischen These, daß die wirkliche Freiheit des Individuums vom Entwicklungsstand der Gesellschaftsordnung abhängt. So richtig dies ist, so unzulänglich ist es, die gesellschaftliche Entwicklung lediglich in der Auflösung des Eigentums zu erblicken. Dabei handelt es sich um einen wichtigen Schritt sozialer Differenzierung, nämlich um die Trennung von Persönlichkeitsinteressen und Entscheidungsrechten im Wirtschaftssystem, bei weitem aber nicht um den Gesamtprozeß der sozialen Differenzierung. So gibt der Marxismus in ähnlicher Weise wie die Theorie der Trennung von Staat und Gesellschaft einem grob vereinfachten und verabsolutierten Ausschnitt aus dem Gesamtkomplex sozialer Differenzierung, zu deren Vorläufer-Theorien beide zu rechnen sind, ein unberechtigtes Monopol.

2. Kap.: Legeshierarchie und Trennung von Staat und Gesellschaft

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Eine differenzierte Gesellschaftsordnung wird in mindestens vier Sphären Mechanismen der Generalisierung von Kommunikationen gewährleisten müssen: in bezug auf die Selbstdarstellung der Person; in bezug auf die Bildung verläßlicher Verhaltenserwartungen; in bezug auf die wirtschaftliche Bedarfsbefriedigung; und in bezug auf die Möglichkeit, gemeinsam-verbindliche Entscheidungen zu treffen . Die Grundrechte haben nicht die Funktion, generalisierende Mechanismen in diesen Sphären zu schaffen. Sie setzen einen gesellschaftlichen Entwicklungsstand voraus, in dem es sie gibt, und sie dienen lediglich dazu, ihre Korrumpierung durch das politische System zu verhindern. Wir müssen, um ein ausreichend durchgezeichnetes Bild zu gewinnen, auf diese vier verschiedenen Richtungen der Grundrechtsfunktion näher eingehen. Dabei wird zu zeigen sein, wie das überlieferte Muster der Grundrechtstypen sich in diesem soziologischen Bilde wiederfindet und aus ihm heraus verständlich wird. Bevor wir uns im vierten bis siebten Kapitel dieser Aufgabe zuwenden, muß jedoch unsere Auseinandersetzung mit den Grundlagen der herrschenden Verf assungsdogmatik durch einen weiteren Gedankengang vervollständigt werden. 28

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Diese Aufzählung ist hier zunächst induktiv gemeint. Die Erörterung einer Möglichkeit ihrer theoretischen Rechtfertigung wird weiter unten folgen (Kap. 9).

Drittes Kapitel

Naturrechtliche und geisteswissenschaftliche Grundrechtsbegründung So deutlich, wie man es sich wünschen möchte, wird die Frage nach der gesellschaftlichen Funktion der Grundrechte selten gestellt. Ein typisches Beispiel für diese Fragestellung gibt die Staatslehre von Herbert Krüger . Aber sie gibt zugleich einen Beleg dafür, daß die herkömmliche Disziplin der „Allgemeinen Staatslehre" sich damit selbst überfragt. Die Erörterung bemüht sich um den Nachweis, daß Grundrechte nicht nur eine Funktion für das Individuum in seiner gesellschaftlichen Sphäre, sondern als Integrationsfaktoren auch eine Funktion für den Staat haben. Sie läßt sich dabei leiten von der Orientierung am Gegensatz der liberalen, zunächst naturrechtlichen, dann positivistischen juristischen Methode einerseits, der geisteswissenschaftlich-wertethischen Methode andererseits. Aber sie verfügt weder über eine ausgearbeitete, kritisch durchdachte Methodologie der funktionalen Analyse noch über empirisch kontrollierbare Problemreferenzen. Und, wie jetzt gezeigt werden soll, reicht auch ihr begrifflicher Bezugsrahmen mit wenigen einfachen Dichotomien und Grundannahmen über Naturrecht, Menschenwesen und „geistige" Wirklichkeit nicht aus, um die Fülle der Folgeprobleme gesellschaftlicher Differenzierung und darin vor allem: der Staatsbildung, einzufangen. Der Gegensatz von naturrechtlicher und geisteswissenschaftlicher Grundrechtsbegründung — den dazwischenliegenden juristischen Positivismus können wir hier übergehen, da er auf eine Grundrechtsbegründung bewußt verzichtet — spielt auf 1

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Krüger (Kap. 2 Anm. 4), S. 536 ff. Siehe ferner die Betonung der Grundrechtsfunktion bei Häberle (Einf. Anm. 14), S. 8 ff. und passim. Der Funktionsbegriff selbst bleibt dabei Undefiniert. Der Zusammenhang läßt jedoch erkennen, daß der durch Leon Duguit in die Jurisprudenz eingeführte Durkheimsche Funktionsbegriff ( = „objektiver" Zweck) gemeint ist, den die Soziologie außerhalb Frankreichs wegen seiner teleologischen Implikation seit langem aufgegeben hat. Vgl. auch Albert Pierce, Dürkheim and Functionalism, in: Kurt H. Wolff (Hrsg.), Emile Dürkheim, 1858—1917, Columbus, Ohio 1960, S. 154—169. Dazu ist jedoch eine Anmerkung nötig: Weil wir im folgenden die Positivität der Grundrechte scharf akzentuieren und darüber hinaus Recht in einer differenzierten Sozialordnung nur als positives Recht für funktions2

3. Kap.: Naturrechtliche und geisteswissenschaftliche Begründung

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jener Ebene der in sich selbst ruhenden Dogmatik, von der wir unsere Darlegungen abheben wollen. Den Titel „naturrechtlich" kann nur eine Theorie beanspruchen, die es unternimmt, Aussagen über das Sein von Rechtsnormen als wahr zu beweisen. Dieses Unternehmen ist jedoch durch die Einengung des neuzeitlichen Wahrheitsbegriffs auf intersubjektive Gewißheit in Schwierigkeiten geraten, welche unter anderem in der Grundrechtslehre zutage treten. Den Versuch, aus der Basis einer empirischen Faktenwissenschaft eine normative Staatslehre abzuleiten, wie es in komplizierten, schwer zu entlarvenden Denkschritten Hobbes noch einmal unternommen hatte, wird heute niemand mehr ernsthaft beginnen. Man weiß nicht zuletzt dank Kelsen im voraus, daß das nicht geht . So bleibt vom Naturrecht nur das normative Postulat unverletzlicher und unveräußerlicher Grundrechte, zu denen sich das Grundgesetz (Art. 1 Abs. 2) im Namen des deutschen Volkes „bekennt". 3

Der das Naturrecht tragende Gedanke der Wahrheitsfähigkeit des Rechts bezeugte eine relativ undifferenzierte Vorstellungsordnung, in der die Sozialwissenschaft (und der Sozialwissenschaftler!) für dieselben Gedankeninhalte kompetent war wie die Religion, die Moral und das Recht. Diese einheitliche Vorstellungswelt mußte im Wesentlichen als unveränderlich konzipiert sein, weil sie nämlich nicht so differenziert fähig halten, sei hier einer Verwechselung vorgebeugt: Wir vertreten damit nicht etwa den juristischen Positivismus im Sinne einer Theorie des Rechts, die glaubte, die Frage nach dem Grunde der Rechtsverbindlichkeit nicht stellen zu können bzw. zu dürfen. Der Grund des Rechts liegt in seiner Funktion, das heißt: in den Bedingungen, die die Ersetzbarkeit des Rechts regeln. Und diese Bedingungen lassen sich nur soziologisch klären. Vgl. für diese von Kelsen immer wieder prononciert vorgetragene These z. B. Hans Kelsen, Hauptprobleme der Staatsrechtslehre entwickelt aus der Lehre vom Rechtssatz, 2. Aufl. Tübingen 1923, insb. S. 7 ff., oder ders., Reine Rechtslehre, Leipzig-Wien 1934, S. 4 ff. Im Grunde weiß man das, wenn man will, aber schon seit Kant. Auch in der Nationalökonomie gibt es übrigens eine entsprechende Kritik der naturrechtlichen Seinsbewertung: Vgl. Gunnar Myrdal, Das politische Element in der nationalökonomischen Doktrinbildung, 2. Aufl. Hannover 1963. 3

Kern dieses Trennungsdenkens ist jedoch nichts weiter als die Wechsel- f seitige logische Unableitbarkeit von Sein und Sollen. Diese Einsicht verbietet nur eine spezifische Art der Verbindung von empirischer und normativer Wissenschaft; sie schließt andere nicht aus. Sie schließt insbesondere eine funktionale Verbindung nicht aus, die darin bestehen könnte, daß die Faktenwissenschaften die Bezugsprobleme definieren, im Hinblick auf welche die Funktion des Normativen schlechthin sowie die Funktion bestimmter Normen untersucht werden kann. Eine solche Vorstellung trägt diese Arbeit. Sie liegt m. E. auch dem Versuch von Ryffel zugrunde, Bezugspunkt für die Begründung der Richtigkeit des Rechts in anthropologischen Einsichten über die fehlende Instinktausstattung und daher: Weltoffenheit des Menschen zu finden. Vgl, z. B. Hans Ryffel, Der Mensch als politisches Wesen, Festschrift Emge, Wiesbaden 1960, S. 56—71. Siehe auch Heinrich Popitz, Soziale Normen, Europäisches Archiv für Soziologie 2 (1961), S. 185—198 (186 ff.).

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3. Kap.: Naturrechtliche und geisteswissenschaftliche Begründung

war, daß Teile ohne Rückwirkung auf andere Teile hätten geändert werden können. Deshalb erscheint ihre Gesamtproblematik im Horizont der „Natur". Solch eine Immobilisierung der Kultur ist für stärker differenzierte Sozialordnungen untragbar. Die Ablösung des Rechts von religiösen, moralischen und wissenschaftlichen Vorstellungs- und Begründungszusammenhängen und seine Positivierung ist eine neuzeitliche Errungenschaft . Sie läßt sich nicht rückgängig machen. Wäre sie nicht schon eingetreten, würde man sie fordern müssen. Nur auf diese Weise kann das Recht als autonome Normordnung funktional spezifiziert und rational gesteuert werden . Und gerade auch die Grundrechte erfordern diese Positivierung, sollen sie an spezifischen Brennpunkten unserer Sozialordnung bestimmte Probleme lösen und dafür möglichst treffsicher ausgerüstet werden . 4

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Andererseits ist nicht zu verkennen, daß die Positivierung dem Recht gewisse Funktionen nimmt, die es in einer funktional-diffus institutio4

Wichtigste geschichtliche Vorbereitung dafür war: die Ausbildung des römischen Rechts als einer von der Religion zunehmend abgetrennten Sphäre normativer Ordnungsbegriffe und Entscheidungsregeln, die den Zusammenbruch der alten Welt überlebten und sich nach ihrer Rezeption systematisieren ließen. Dabei war zweifellos bedeutsam, wenn nicht ausschlaggebend, daß die Ausarbeitung dieses autonomen Rechtsgebäudes durch Rechtsgelehrte in Sonderrollen erfolgt, so daß die gefährliche, für ältere Zeiten völlig undenkbare politische Zentralisierung der Rechtsetzung zunächst nicht nötig war: Der neuzeitliche „Staat" konnte die Positivierung des Rechts mit „Kodifikationen" einleiten. Die Ablösung des Rechts von seinen religiösen Grundlagen und die Positivierung des Rechts hätten wohl niemals gleichzeitig durchgeführt werden können. Sehr instruktiv ist hierzu die genaue Parallele zur Entwicklung des Geldwesens, auf die wir unten S. 112 f. zurückkommen werden. Auch das Geld ist erst dadurch in die volle rationale Kontrolle geraten, daß man darauf verzichtete, Geldsymbole als eine Art naturgeschaffenes Tauschgut oder als Wert zu behandeln. In beiden Fällen bedeutet die Wertkonzeption eine Bindung an Vorgegebenes und damit an etwas, das man sich als unbeherrschbar vorstellt. Um so fragwürdiger ist der Versuch des Grundgesetzgebers, das von ihm geschaffene positive Recht auf Naturrecht zu stützen. Einmal setzt er sich durch Bezugnahme auf seiendes Recht, das er nicht selbst geschaffen hat, dem Nachweise des Irrtums aus. Zum anderen wird die Geltungsfrage dadurch logisch zu einer formal unentscheidbaren Aussage, ohne daß diese Paradoxie wie in manchen Logiksystemen unausweichlich wäre (hierzu namentlich Kurt Gödel, Über formal unentscheidbare Sätze der Principia Mathematica und verwandter Systeme I, Monatshefte für Mathematik und Physik 38 (1931), S.173—198). Denn Geltung kraft Seins und Geltung kraft Entscheidung schließen sich wechselseitig aus — schon weil beiden Geltungsgründen unvereinbare Formen der Widerlegung zugeordnet sind. Positives Recht, das behauptet, es sei Naturrecht, ist eben damit kein positives Recht, so daß die Behauptung keine Geltung hat, es also doch wieder positives Recht sein könnte, wenn es nicht behaupten würde . . . Man kann sich diesem Dilemma nur entziehen, wenn man entweder von dem guten Recht des Juristen Gebrauch macht, auf logische Genauigkeit zu verzichten, oder wenn man die Bezugnahme auf das Naturrecht als ein unverbindliches, die Rechtsetzungsabsicht nicht tragendes Glaubensbekenntnis des Grundgesetzgebers ansieht. Beide Auswege befriedigen wenig. 5

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3. Kap.: Naturrechtliche und geisteswissenschaftliche Begründung

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nalisierten Sozialordnung miterfüllen konnte, und daß man sich insofern nach Ersatzleistungen umsehen muß. Die Positivierung ist nur durch Überantwortung der Rechtsetzung an das politische System möglich und dadurch droht das Recht seine alten Funktionen, politische Macht zu legitimieren und zu begrenzen, zu verlieren. Der Staat, der Recht setzt, kann sich nicht mehr auf Recht berufen. Nichts in der gegenwärtigen geistigen Situation deutet darauf hin, daß diese Gefahr rechtsimmanent, durch überzeugende gedankliche Begründung des Rechts, gebannt werden könnte, von Versuchen, das Naturrecht wiederzubeleben, ganz zu schweigen . Sie kann nicht durch Restauration und nicht mehr mit so einfachen Mitteln wie der alten Rechtsquellenlehre behoben werden, sondern nur auf eine Art und Weise, die dem erreichten Grad sozialer Differenzierung angemessen ist: durch Zusammenwirken zahlreicher sozialer (und keineswegs nur: rechtlicher) Institutionen, welche die Differenzierung der Sozialordnung als solche stabilisieren, die notwendigen Freiheiten, Elastizitäten, Auswahlmechanismen und Interdependenzen erhalten und in diesem Rahmen das politische System auf seine spezifische Funktion beschränken. Im Zusammenhang dieser Institutionen, von denen wir einige untersuchen werden, behalten die Grundrechte ihre alte Funktion, die Staatsmacht zu begrenzen, auch und gerade dann, wenn diese Funktion als positive und stets prekäre Leistung des politischen Systems selbst begriffen werden muß. 7

Die Funktion der Staatsmachtbegrenzung enthält mithin den fortwirkenden Kern der älteren „naturrechtlichen" Grundrechtstheorie. Sie bleibt sich gleich und kann in ihren Denkvoraussetzungen dargestellt werden, auch wenn man die Frage der Begründung des normativen Postulats offen läßt oder mit wechselnden Meinungen zudeckt. Auch hier zwingen uns aber neuere Erkenntnisse der Sozialwissenschaft, die Prämissen des naturrechtlichen Problemverständnisses zu korrigieren. Hinter dem Bestreben, die Staatsmacht zu begrenzen, stand die Vorstellung einer Konfliktssituation, eines diametralen Interessengegensat7

Daß man nach 1945 Sicherheit vor einer Wiederkehr des „totalen Staates" im Naturrecht suchte, war nicht nur eine wenig überzeugende, sondern zugleich eine politisch gefährliche Illusion: Sie lenkte von der Einsicht ab, daß solche Sicherheit nur in den politischen Institutionen selbst, letztlich nur im politischen Handeln gefunden werden kann. Überzeugend ist auch der Hinweis von Martin Draht, Grund und Grenzen der Verbindlichkeit des Rechts, Tübingen 1963, S. 13 ff., daß diese Auffassung letztlich bei einem naturrechtlichen Widerstandsrecht des Individuums — als Einzelnen! — gegen das positive Recht endet und die faktischen Verhaltensmöglichkeiten in ihrem sozialen und politischen Kontext völlig außer acht läßt, — ein Beispiel für die auch sonst, z. B. in den Entscheidungstheorien, aufgedeckte Überforderung ; des Individuums durch den vorsoziologischen Rationalismus. Siehe dazu auch das erregende Experiment von Stanley Milgrgtm, Some Conditions of Obedience and Disobedience to Authority, Human Relations 18 (1965), S. 57—76 : mit seinen nachdenklich stimmenden Ergebnissen.

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3. Kap.: Naturrechtliche und geisteswissenschaftliche Begründung

zes von Staat und Bürger. Daß der Staat auch Rechtsschutz- und Wohlfahrtszwecke erfüllt, daß er die Interessen seiner Bürger auch fördert, ist natürlich niemals bestritten, ja nicht einmal als problematisch angesehen worden. Als Problemfall galt der Konfliktsfall, und auf ihn allein bezog die naturrechtliche Grundrechtskonzeption den Sinn der Rechtsordnung, deren Funktion in der Programmierung von Konfliktsentseheidungen gesehen wurde. Nur weil sie verletzt werden kann, wird die Natur des Menschen in einzelnen Aspekten als „unverletzlich" normiert. Der tief angelegte Versuch des 18. Jahrhunderts, das Verhältnis von Mensch und Staat im Horizonte der Natur aus Vernunft in Rechtsform zu bringen, wird mit jenen Einseitigkeiten bezahlt, die sich aus der Faszination des Rechts durch den Konfliktsfall ergeben. Dem entspricht, daß die Politikwissenschaft Macht als Übermacht im Konflikt (und nicht einfach als veranlassende Kommunikation) deutet. Die Beurteilung des Machtwertes von Situationen, Handlungen und Ereignissen geht dabei von der Machtsummenkonstanz-Hypothese aus, wonach der eigene Machtverlust automatisch einen entsprechenden Machtgewinn des Gegners mit sich bringt und vice versa . Die Grundrechte werden wie das Prinzip der Gewaltenteilung und die Volkswahl von Staatsorganen als Gewicht zur Äquilibrierung eines Machtverhältnisses verstanden, welche das Mißbrauchspotential staatlicher Übermacht institutionell eindämmt. Die scharfe Konsequenz, die Hobbes aus dem Konfliktsbegriff der Macht zieht, wird durch Grundrechte und ähnliches praktisch wirkungsvoll aber theoretisch unerklärbar aufgehoben. 8

Die nebenherlaufende Kritik dieser Konzeption hat ihr trotz dieser offensichtlichen Mängel das Wasser nicht ganz abgraben können. Die Polemik hat zumeist mit den Modevorwürfen des Rationalismus oder gar des mechanistischen Denkens gearbeitet und damit das Entscheidende verfehlt. Wenn man, statt solcher Angriffe von umgekehrten Prämissen des „Geschichtlichen" oder „Geistigen" aus zu führen, das Problem der politischen Macht als Kommunikationsproblem behandelt, tritt die Eigenart der „klassischen" Grundrechtskonzeption deutlich vor Augen: Sie orientiert sich einseitig an einem kommunikationstheoretischen Grenzfall, dem direkten Konflikt in einem geschlossenen System, in dem der Überlegene immer ganz überlegen ist und deshalb durch das Recht in Schranken gehalten werden soll. Der Grund des Grundrechtsschutzes ist dann die Notwendigkeit einer Machtregelung. 8

Zur Kritik dieser These vgl. etwa Franz L. Neumann, Zum Begriff der politischen Freiheit, Zeitschrift für die gesamte Staatswissenschaft 109 (1953), S. 25—53 (41). Auf diese Konstanzprämisse ist es auch, wie wir weiter unten ( ausführen werden, zurückzuführen, daß die herrschende Auffassung sich ! nicht vorstellen kann, daß der Staat selbst die gegen ihn gerichteten GrundI rechte setzt.

3. Kap.: Naturrechüiche und geisteswissenschaftliche Begründung

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Ohne daß wir den Rang dieses Problems und seiner Lösung abschwächen wollen, läßt uns der Grenzfallcharakter dieser Theorie doch vermuten, daß sie die Funktion der Grundrechte nicht vollständig beschreibt. Sie mögen in Konfliktssituationen eine Brems- und Abwehrfunktion haben, aber das allein erschöpft ihre Bedeutung nicht. Schon eine kurze Überlegung: daß die Garantie von Grundrechten das Vertrauen in den Staat stärken und dessen Macht dadurch steigern kann, dürfte davon überzeugen. Die Machtsummenkonstanzthese setzt besonders strukturierte Situationen voraus, wie sie sich im freien Feld des sozialen Lebens kaum ergeben . Sie versagt jedenfalls, wenn es Einrichtungen gibt, welche die Macht der beiden potentiellen Gegner zugleich stärken, also der Intensivierung des wechselseitigen Einflusses dienen. Zu diesen Einrichtungen zählt die Institution der Grundrechte. Grundrechte schützen nicht nur das Individuum vor dem Staat; sie strukturieren ineins damit die Umwelt der Staatsbürokratie in einer Weise, die den Bestand des Staates als Untersystem der Gesellschaft festigt und insgesamt eine wirksamere und einflußstärkere Kommunikationstätigkeit ermöglicht. 9

Denn uneingeschränkte, „absolute" Macht ist keineswegs mächtiger als eingeschränkte Macht. Vielleicht gilt sogar typisch das Gegenteil . Kommunikationen haben Machtwert nur in einer dafür aufgeschlossenen Umwelt, und zu dieser Erschließung gehört: daß sie verstanden und befolgt werden können, daß gewisse Rolleneinstellungen, gewisse generalisierte und disponible Motivationsstrukturen institutionalisiert sind und daß der Machtgebrauch in diesem Rahmen erwartbar und beeinflußbar ist. Nur so ist zu verstehen, daß die Grundrechte im Widerspruch zu der Konfliktskonzeption, die ihnen zugrunde liegt, ein gemeinsamer Erfolg von Staat und Bürger geworden sind. 10

Die zweite Grundrechtstheorie, mit der wir uns auseinanderzusetzen haben, versucht den politischen Pragmatismus und die rein positivrechtliche Betrachtungsweise, in die das Naturrecht auszulaufen droht, zu überwinden. Sie bezeichnet sich als „geisteswissenschaftlich" und kann als herrschende Lehre gelten. Sie hat eine ernstzunehmende Aus9

Ein Beispiel wäre: die Wahl von Kandidaten im Zweiparteiensystem, wo jeder Stimmgewinn der einen Partei genau entsprechenden Stimmverlust, für die andere bedeutet. Siehe dazu auch Talcott Parsons, On the Concept of Influence, Public Opinion Quarterly 27 (1963), S. 37—62 (59 ff.). Im übrigen sind die Grenzen solcher Nullsummenthesen namentlich im Rahmen der Spieltheorie diskutiert worden. Vgl. z. B. Thomas C. Schelling, The Strategy of Conflict, Cambridge Mass. 1960, S. 83 ff., wo dargelegt wird, daß selbst im Rahmen der Konfliktstheorie die Nullsummenprämissen keine brauchbaren Ergebnisse bringt, wenn die Gegner wechselseitig voneinander abhängig sind. So namentlich Riggs (Kap. 1 Anm. 8 — 1957 —). Vgl. auch Crozier ( K a p . 2 Anm. 22) mit Ausführungen über den Zentralismus der französischen Bürokratie: Deren Zentralgewalt sei „à la fois absolue et paralysée (S. 107). 1 0

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3. Kap.: Naturrechtliche und geisteswissenschaftliche Begründung 11

arbeitung in der Integrationslehre von Rudolf Smend erfahren , lebt aber heute fast nur noch von dem Wohlklang des Wertbegriffs und mangelnder Konkurrenz . Es genügt für unsere Zwecke, wenn wir sie in der Smendschen Version zur Diskussion stellen, da die heutige Werttheorie sich unter Verzicht auf eine vollständige Staatslehre in eine Dogmenanalyse des Grundrechtsteils der Verfassung zurückgezogen hat und ihre Besonderheit nur noch darin findet, daß sie freiere, vor allem historisch orientierte Auslegungsmethoden anwendet. 12

Unter Integration versteht Smend die Konstitution einer übergreifenden geistigen Einheit im Erleben von Individuen, und zwar vornehmlich die Begründung der geistigen Wirklichkeit des Staates in ständigem Neuerleben seiner Sinneinheit und Wertfülle. Der Staat lebt danach eine rein geistige Existenz im Erleben von Individuen. Politische Ereignisse und Machtkämpfe, Akte der Willensbildung und Entscheidung, Wertsetzungen, Symbole und Rituale haben neben ihren intendierten Zwecken eine mehr oder weniger latente Bedeutung für die Integration des Staates. Unter diesem Gesichtspunkt reihen sich auch 13

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11

Rudolf Smend, Verfassung und Verfassungsrecht, 1928, zitiert nach: ders., Staatsrechtliche Abhandlungen und andere Aufsätze, Berlin 1955, S. 119—276; ders., Integrationslehre, Handwörterbuch der Sozialwissenschaften, Bd. 5 (1956), S. 299—302. Wir wenden uns hier selbstverständlich nicht gegen den Wertbegriff als Begriff, sondern nur gegen seine Mystifikation und gegen seine gedankenlose Verwendung zur Verschönerung von Argumenten und zum Nachweis guter Absichten. Selten findet man in der Grundrechtsdiskussion Werttheoretiker, die sich mit der nötigen Härte klar machen, daß Werte Regeln des Vorziehens, also Regeln des Verzichtens sind. Als Regeln für wählende Entscheidungen sind Werte unentbehrliche Orientierungsgesichtspunkte menschlichen Handelns und gerade in einer zunehmend rationalisierten Welt, die fast für jede Situation Handlungsalternativen offen hält, von unabschätzbarer Bedeutung. Vgl. Niklas Luhmann, Wahrheit und Ideologie, Der Staat 1 (1962), S. 431—448. Grundrechte sind zweifellos Werte in diesem funktional verständlichen Sinne. Worin aber ihr Besonderes liegt — im Gegensatz zu Produktionsplänen, Verkehrszeichen, Parteiprogrammen, militärischen Schlachtplänen oder Vergnügungszielen — läßt sich aus dem Wertbegriff nicht entnehmen. Und gerade darauf kommt es an. Die Abgrenzung zu anderen geistigen Akten der Sinnkonstitution bleibt unklar, und schon dadurch verfehlt Smend das Wesen des Politischen. Der Staat wird lediglich auf der Ebene des konstituierten Sinnes als eine besondere Art von geistiger Wirklichkeit ausgewiesen. Der Rückgriff auf das konstituierende Erleben trägt zum Verständnis seiner Besonderheit nicht bei, sondern dient lediglich dem Verschmelzen von Problemen und Widersprüchen zu einer undifferenzierten Sinnganzheit. Was Smend meint, wenn er von Leben oder lebendiger Wirklichkeit spricht, wird nicht klar. Daß er damit nicht die Kompetenz der Biologie für Probleme des Staatswesens anerkennen will, ist sicher. Im Gegenteil dient ihm der Begriff des Lebens gerade zur Vermeidung von wissenschaftlich schon bearbeiteten Seinsbegriffen (besonders der empirischen Kausalwissenschaften) und damit der Flucht vor empirischer Kontrolle. Auch in der heute toten Lebensphilosophie hat der Begriff des Lebens über diese Abwehrfunktion hinaus keinen verständlichen Inhalt gewonnen. 12

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die Grundrechte als integrierende Sachgehalte in eine geschlossene geisteswissenschaftliche Theorie des Staates ein. Unbefriedigt läßt, daß die begriffliche Fassung dieser Lehre keine ausreichende Nachprüfung ermöglicht . Der Grundvorgang der Integration läßt sich nicht mehr aufbrechen, nicht weiter analysieren. Sein Bezugsbegriff der „geistigen Wirklichkeit" ist dazu zu elastisch, und auch die hegelartige „Aufhebung" des Gegensatzes von Individuum und Kollektiv in einer notwendigen dialektischen Polarität schluckt widerstandslos jeden Versuch der Differenzierung. Die Unterscheidung einzelner Integrationsfaktoren vermag diesen Mangel nicht zu beheben, da sie, eine kausale Deutung sorgsam vermeidend, in einer äußerlichen Beschreibung stecken bleibt. Die Integration ist als Integration immer dieselbe. Smends Analysen bleiben daher notgedrungen deskriptiv. 15

Die undifferenzierte Ganzheitlichkeit dieser Lehre ist in ihrem Ansatz zwingend angelegt; denn sobald man Integration, wie es zumeist geschieht, präziser als notwendige Funktion oder gar als Leistung versteht, kann man der verhängnisvollen Folgerung nicht mehr ausweichen, daß die integrierenden Faktoren wirksame, funktional äquivalente Mittel sind und daß, wie geschehen, Grundrechte durch Paraden ersetzt werden können. Will man dieses Abgleiten vermeiden, dann wird der Integrationsvorgang als geheimnisvolles Lebensagens des Staates unverständlich — oder man muß ihm die Prätention einer alleinigen Basis der Staatswirklichkeit absprechen und ihn, etwa auf dem Boden einer soziologischen Systemtheorie, mit einer Vielzahl andersartiger funktionaler Bedürfnisse konfrontieren. Die äußeren Gründe dieser Problematik der Integrationslehre wurzeln, wie es scheint, im ungleichen Entwicklungsstand der Sozialwissenschaften in den zwanziger Jahren, vor allem in der Unausgereiftheit der damaligen soziologischen Theorie und Methode . Hauptursache 16

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Das ist der führende Gesichtspunkt in der Kritik der „geisteswissenschaftlichen" Methode durch die analytische Erkennenstheorie — vgl. Karl R. Popper, The Poverty of Historism, London 1957, oder Hans Albert, Probleme der Wissenschaftslehre in der Sozialforschung, in: René König (Hrsg.), Handbuch der Empirischen Sozialforschung Bd. I, Stuttgart 1962, S. 38—63 (38 ff.), und ders. in seiner Einführung zu dem von ihm herausgegebenen Sammelband: Theorie und Realität, Ausgewählte Aufsätze zur Wissenschaftslehre der Sozialwissenschaften, Tübingen 1954, S. 3—70. Diese Kritik ist vernichtend und doch nicht überzeugend, weil sie die besonderen Schwierigkeiten der positivistischen Methodenlehre auf dem Gebiete der Handlungswissenschaften entweder übersieht oder — so z. B. Ernest Nagel, The Structure of Science: Problems in the Logic of Scientific Explanation, New York 1961 — vor ihnen halt macht. 19

Siehe auch kritische Bemerkungen von Helmut Schelsky, Über die Stabilität von Institutionen, besonders Verfassungen, Jahrbuch für Sozialwissenschaft 3 (1952), S. 1—21 (12), über die bei Smend fehlende Berücksichtigung anthropologischer und soziologischer Strukturzusammenhänge.

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jener einfarbigen Geistigkeit ist die absichtliche und durchgehaltene Ablehnung des kausalen Denkmodells, das als mechanisch charakterisiert und verworfen wird. Dessen Umformung durch die funktionale Methode war für Smend noch nicht sichtbar. Mit der Unterscheidung von Ursachen und Wirkungen geht jedoch eine bisher unersetzbare innere Kontrollstruktur der wissenschaftlichen Forschung über Bord, die der Analyse zugleich als Schema der Differenzierung dient. Dazu kommt, daß die Frage, auf die Smend antwortet (und die infolgedessen seine Untersuchung entscheidend bestimmt) trotz aller dialektischen Vermittlung immer noch das alte Problem des Verhältnisses von Individuum und Kollektiv ist. Solange diese Fragestellung offen oder heimlich herrsehte, konnte keine Handlungswissenschaft entstehen; denn sie schiebt, ganz deutlich bei Smend, den Handlungsbegriff in eine ungünstige Position auf der Seite des Individuums — nur Individuen können handeln —, während alles Überindividuelle als rein geistige Wirklichkeit erscheint. So ist es für Smend nicht denkbar, den Staat als System spezifischer Handlungen von Individuen in besonderen Rollen zu begreifen. 17

Trotz allem hat die Integrationslehre ihr Schicksal, als Hintergrundsicherung einer geistesgeschichtlichen Dogmenanalyse der Grundrechte fortzuvegetieren, nicht verdient. Ihr geschieht Unrecht, wenn man sie in den Dienst einer angeblich vorgegebenen Wertordnung stellt und sie so in eine Abart des Naturrechts zurückbiegt. Integration meinte Konstitution, nicht Verehrung von Sinn. Smend hatte ein zentrales staatsbildendes Phänomen gesehen, das genauer analysierbar wird, sobald man es von der Ebene des Erlebens in die Ebene des informativen Verhaltens transponiert, sobald man es nicht nur beschreibt, sondern seine Funktion für Problemlösungen in Handlungssystemen zu klären sucht. Integration ist ohne Kommunikation nicht nur undenkbar; sie ist nichts anderes als ein informatives Geschehen, ist Konstitution von Systemen durch Kommunikation von Sinn in sozialen Kontakten. Ob diese Kommunikation absichtlich erfolgt oder nicht, ob also eine Mit17

Besonders dem Rollenbegriff der neueren Soziologie ist die theoretische Überwindung der alten Antithese von Individuum und Kollektiv zu danken. Das wird fast in jeder grundsätzlichen Exposition des Rollenbegriffs festgestellt. Vgl. z. B. Daniel J. Levinson, Role, Personality, and Social Structure in the Organizational Setting, The Journal of Abnormal and Social Psychology 58 (1959), S. 170—180, und aus der deutschen Literatur etwa Helmuth Plessner, Soziale Rolle und menschliche Natur, in: Festschrift für Theodor Litt, Düsseldorf 1960, S. 105—115, oder Ralf Dahrendorf, Homo Sociologicus: Ein Versuch zur Geschichte, Bedeutung und Kritik der Kategorie der sozialen Rolle, 3. Aufl. Köln-Opladen 1961. Dahinter steht die Einsicht, daß die Generalisierung von Verhaltenserwartungen zu Rollenkomplexen für den intersubjektiven Kommunikationsprozeß, und damit sowohl für die Strukturierung der Sozialordnung als auch für die Konstitution individueller Persönlichkeiten von tragender Bedeutung ist.

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teilung von Sinn intendiert ist oder dem Verhalten nur abgelesen werden kann und ob die Mitteilungsabsicht mitausgedrückt oder verschwiegen wird, ist dabei von sekundärer Bedeutung. Auch das Systembewußtsein — im Unterschied zur bewußten Vorstellung des unmittelbaren Kommunikationsinhalts und des Kommunikationszweckes — kann unterschiedlich stark ausgebildet sein oder ganz fehlen. Der Bewußtheitsgrad des Integrationsprozesses kann in gewissen Grenzen zunehmen, ohne daß die Funktion dadurch beeinträchtigt würde. Die integrierende Funktion der Kommunikationsprozesse besteht darin, daß ihr Mitteilungssinn direkt oder indirekt auf Handlungssysteme verweist; daß im sprachlichen und im nichtsprachlichen Ausdrucksverhalten die Existenz bestimmter Handlungssysteme impliziert und dargestellt wird, so daß im Austausch der Kommunikationen mehr oder weniger bewußt zugleich eine Verständigung über das Vorausgesetzte, eine Konstitution des Systems erfolgt. Auf dieser begrifflichen Grundlage läßt sich der Integrationsvorgang als Generalisierung von Kommunikationen begreifen. Die darstellenden, sinnvermittelnden, informativen Aspekte des Verhaltens im politischen Raum werden durch die Herausdifferenzierung eines autonomen politischen Systems zugleich „generalisiert", also, wie erörtert , aus partikularen, emotionellen, gruppenmäßigen Bindungen gelöst und auf das politische System als System bezogen. Ohne das System zu implizieren, ist keine sachliche Äußerung möglich. Jede Sachdarstellung enthält aber zugleich eine Selbstdarstellung des Handelnden. Diese wird durch den Sog der Ausdrucksbedingungen mitgeneralisiert. Die Chancen für verständliche, sinnvolle Kommunikation in politisch relevanten Angelegenheiten ( z . B . in Wahlen, in einer Kommentierung politischer Ereignisse, im Bezug staatlicher Leistungen, in der Benutzung legaler Abwehrmittel oder in der Beteiligung oder Mchtbeteiligung an Entscheidungen) sind so strukturiert, daß ihre Ausnutzung, wie auch immer man sich entscheidet, eine Art Selbstverpflichtung auf das System zum Ausdruck bringt und den Handelnden an diese seine Selbstdarstellung fesselt. Er kommt von ihr, ohne sich selbst durch Widersprüche zu diskreditieren, nicht wieder los. Selbst vollständige Passivität, zur Schau getragene Indifferenz hat den Effekt einer Bestätigung des Status quo. Und nicht abgegebene Stimmen kommen der Mehrheit zugute. 18

Das Zwangsläufige am Integrationsprozeß ist nicht ein Gefälle zum Optimum an Wertverwirklichung ; es liegt in der Tatsache, daß alles 19

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Vgl. oben S. 31 f. So Smend (Kap. 3 Anm. 11 — 1955 —), S. 170; s. aber auch die stärkere A k z e n t u i e r u n g d e r S p a n n u n g zwischen N o r m a t i v e m und P a k t i s c h e m bei Smend (Kap. 3 Anm. 11 — 1956 —), die Zweifel aufkommen läßt, ob Smend an der zitierten Formulierung festhalten würde. 19

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Verhalten im staatlichen Relevanzbereich einen generalisierten, systembezogenen Ausdruckswert hat, ob es will oder nicht, weil die Kommunikationschancen entsprechend strukturiert und institutionalisiert sind. Diese Darstellungsgeneralisierung — und das gilt für jede Generalisierung durch spezifische Systeme — erfaßt das menschliche Verhalten jedoch nur partiell, nur in einer spezifischen Rolle. Neben seiner Rolle als Bürger hat der Mensch auch andere Rollen zu spielen. Er muß an mehreren Untersystemen der Gesellschaft teilnehmen. Deren Differenzierung spiegelt sich in den Schwierigkeiten seiner Rollenverwaltung. Er muß im Wirtschaftssystem mitproduzieren, Kultur überliefern, in zahlreichen unpolitischen öffentlichen Angelegenheiten mitwirken, ein Familienleben führen und dies alles ohne zu zerfallen, ohne von widerstreitenden Verhaltenspflichten zerrissen zu werden. Das kann er nur, wenn er in allen Rollen sich selbst als ein und derselbe darstellen kann. Dazu benötigt er ein eigenes generalisierendes System, eine individuelle Persönlichkeit, welche eine besondere Rollenkombination in der persönlichen Ausformung verschiedener Rollen als sinnvoller Lebenszusammenhang plausibel machen kann . 20

Umgekehrt gesehen, benötigen differenzierte Sozialordnungen eine Vielheit unterschiedlicher Persönlichkeiten für die zahlreichen speziellen, auseinandergelegten Funktionen, die sie erfüllen müssen. Auf der Basis der uniformen Persönlichkeitsstrukturen einfacher Sozialordnungen würden sie verkümmern, weil ihnen die nötige Vielfalt an Arten von Begabungen, Einstellungen und Motivationen fehlen würde. Daher müssen sie die Unterschiedlichkeit der einzelnen Persönlichkeiten legitimieren und als Recht auf Individualität bewußt machen. Es ist vermutlich kein Zufall, daß der abendländische Individualismus aus dem mittelalterlichen Dualismus von Staat und Kirche hervorgetrieben wurde , von dem sich bald darauf noch autonome Rollenanforderungen des wirtschaftlichen Sektors ablösten. Die drei Stände: 21

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Wir rühren hier an alte soziologische Einsichten in den Bedingungszusammenhang von sozialer Differenzierung und Individualismus. Siehe z. B. Georg Simmel, Über sociale Differenzierung, Leipzig 1890, insb. S. 45 ff., und ders., Soziologie, 2. Aufl. München-Leipzig 1922, S. 527 ff.; Dürkheim (Kap. 1 Anm. 12), insb. S. 336 ff., 398 ff.; Cecil C. North, Social Differentiation, Chapel Hill — London 1926, S. 14 f.; ferner etwa Gerth/Mills (Kap. 1 Anm. 15), S. 100 ff. oder Peter Heintz, Einführung in die soziologische Theorie, Stuttgart 1926, S. 185 ff. (190). 21

Dieser Dualismus ist nur möglich geworden, weil auch die Religion nun Züge eines exklusiven Systems annimmt. Damit wird im Bereich der Religion individuelle religiöse Entscheidung, Aktivität und Verantwortung für das eigene Heil als Prinzip unvermeidlich, auch wenn ursprüngliches religiöses Erleben immer wieder über die Grenzen dieses Prinzips hinausblickt — vgl. z. B. Claudels Soulier de Satin.

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der Status ecclesiasticus, politicus und oeconomicus treten als verschiedene Hierarchien nebeneinander. Weil nun die divergierenden Verhaltenszumutungen auf der Ebene der Sozialordnung nicht mehr in einer einheitlichen Struktur ausgeglichen werden konnten, mußten zunehmend individuelle, persönliche Problemlösungen gefunden werden, für die man nicht mehr auf unbestrittene institutionelle Verhaltensmuster zurückgreifen konnte. Die besondere Intensivierung von Freundschaften in der Übergangszeit des 18. und 19. Jahrhunderts ist von Tenbruck aus dieser Problemkonstellation heraus verständlich gemacht worden. Am Ende dieser Entwicklung findet man im 19. Jahrhundert die Soziologie und den Dandy. Die Persönlichkeit wird nun als Individuum idealisiert (und nicht nur in 'der Optimalerfüllung sozialer Rollen: als Held, Heiliger, Künstler oder Philosoph), weil sie als Individuum für die strukturelle Koordination der Sozialordnung funktionswichtig wird. Der Einzelne macht sich selbst zu einem konsequent durchgehaltenen Selektionsprinzip: Er ist Designer, wählt sozialdemokratisch, fährt einen Porsche, trägt ein Béret usw. Die funktionale Sinngebung des Individualismus baut also durchaus auf der Verschiedenheit des Individuellen auf; sie ist nicht, wie der rationale Individualismus des 18. Jahrhunderts, genötigt, zur Begründung der Möglichkeit einer Sozialordnung die Gleichheit der Individuen in ihrer höchsten Möglichkeit: der Vernunft zu postulieren. Der neuzeitliche Rationalismus hatte das Problem des Individualismus zunächst als Problem der Freiheit von sozialer, vornehmlich politischer Bestimmung aufgefaßt und deshalb den Anforderungen des sozialen Zusammenlebens nur über die These der Gleichheit der Individuen gerecht werden können. Diese Problemstellung ist, besonders seit Dürkheims bahnbrechenden Forschungen über die Notwendigkeit institutioneller Stützen des Individualismus , überholt. Damit wird auch das Problem der Integration, bei Dürkheim wie bei Smend der Mittelpunkt des theoretischen Interesses, in tieferem Sinne faßbar. Es geht dabei letztlich um die Frage der „Institutionalisierung des Individualismus" , 23

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Zu dieser lutherischen Ständelehre vgl. Ernst Troeltsch, Die Soziallehren der christlichen Kirchen und Gruppen, Ges. Schriften Bd. I, Neudruck Aalen 1961, S. 522 f. mit weiteren Hinweisen. Sie war jedoch noch als personale, nicht als rollenmäßige Ordnung gedacht. Friedrich H. Tenbruck, Freundschaft: Ein Beitrag zu einer Soziologie der persönlichen Beziehungen, Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie 16 (1964), S. 431—456. Siehe namentlich Emile Dürkheim, Le suicide: Etude de sociologie, Paris 1897. Auch Robert K. Merton, Social Structure and Anomie, in ders., Social Theory and Social Structure, 2. Aufl. Glencoe III. 1957, S. 131—160, trifft auf dieses Problem, behandelt es jedoch nicht ausgesprochen unter dem Gesichtspunkt des Individualismus. 23

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E i n e Formulierung von Talcott Parsons, Durkheim's Contribution to the

Theory of Integration of Social Systems, in: Kurt H. Wölfl (Hrsg.), Emile Dürkheim, 1858—1917, Columbus Ohio 1960, S. 118—153 (146).

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um die Frage nach den sozialen Institutionen, die notwendig sind, damit der Einzelne als konkretes'Individuum (und nicht nur in vorgezeichneten Rollen oder durch Ausführung von Vorschriften).. Funktionsträger der Sozialordnung sein kann. Einfache Sozialordnungen, in welchen die Persönlichkeiten sich in typischen Rollen und strukturell festliegenden Rollenkombinationen darstellen, hätten eine solche Betonung der Individualität des Einzelmenschen vermutlich als fragwürdige Abstraktion erlebt. Sie hatten keine Möglichkeit sich eine persönliche Eigenart des Einzelnen, die nur ihm zugehört, unabhängig von einem sozialen Kontext zu veranschaulichen. In differenzierten Sozialordnungen erscheint dagegen gerade umgekehrt das Individuum als das Konkrete, von dem in sozialen Rollen stets nur spezifische und insofern abstrakte Ausschnitte sichtbar werden. Und gerade deshalb, weil die Struktur unserer Sozialordnung das Erleben und die Erlebniserwartungen auf die konkrete Einmaligkeit des Menschen lenkt, finden wir da unsere Enttäuschungen. Das unentwegte Suchen nach „echten Persönlichkeiten" und der Jammer mit dem „Massenmenschen" sind Folgen dieser sozial präformierten Optik. Individuelle Selbstbewußtheit kann die soziale Bestätigung einzelner Handlungen, kann einzelne Selbstdarstellungserfolge in eine Bestätigung der ganzen eigenen Person transformieren. Die daraus fließende Selbstsicherheit vermag den Außenhalt an genau definierten sozialen Erwartungen, Rollen und Institutionen mehr oder weniger weitgehend zu ersetzen und den Menschen in diesem Sinne innerlich frei zu machen. So ist ein hohes Maß an Regulierbarkeit der Angst auch in sozial nicht eindeutig determinierten Situationen erreichbar; und Angstbeherrschung ermöglicht, nach allem, was man davon weiß, ein emotional entspanntes, „objektives" Auftreten, eine Orientierung an allgemeinen sachlichen Kriterien und spezifischen Relevanzen, ein Akzeptieren von Tatsachen und eine Entlastung der Erlebensverarbeitung von defensiven, selbstbezüglichen Funktionen — alles Verhaltensqualitäten, die in einer differenzierten Sozialordnung zunehmend wichtig werden, weil sie deren strukturellen Anforderungen entsprechen. Andererseits ist aus genau den gleichen Gründen eine Entpersönlichung des Alltagsverhaltens erforderlich . Weil die sozialen Rollen 26

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Vgl. dazu als Darstellung dieser Ambivalenz der individuellen Freiheit durch einen Psychologen Erich Fromm, Die Furcht vor der Freiheit, Dt. Übers. Zürich 1945. Dort auch ein guter Überblick über die kulturhistorische Individualismus-Diskussion (S. 48 ff.). Interessant ist ferner die Erörterung eines Kompensationszusammenhanges von neuartigen Sicherheiten (das sind: Systemsicherheiten) mit Selbstbewußtsein und Entpersönlichung, der die alte Geborgenheit in immobilen kleinen Gruppen (Familien) ersetzt, bei James S. Plant, Personality and the Cultural Pattern. New York — London 1937, S. 149 ff.

3. Kap. : Naturrechtliche und geisteswissenschaftliche Begründung 51 unkoordiniert an den Einzelnen herangetragen werden, kann in einzelnen Rollen kein allzu persönliches, die Selbstdarstellung allzu sehr bindendes Auftreten erwartet werden. Eine Sozialordnung, welche die individuelle Persönlichkeit strukturell strapaziert, muß sie zugleich entlasten, indem sie ihre Anforderungen begrenzt. Außerdem kann der Einzelne, je individueller er sich versteht, desto weniger allgemeines Interesse für seine Individualität in allen sozialen Kontakten voraussetzen; er muß gerade deshalb unpersönlich auftreten. Wenn er zu viel von sich selbst redet, wirkt er unkultiviert. Es wird, wie schon erwähnt, weithin ein „unpersönlicher" Verkehrston institutionalisiert, die Konsenspflichten werden spezifiziert, und es wird ein hohes Maß an persönlicher Indifferenz in der Rollenausführung toleriert, ja sogar erwartet. Der Einzelne kann seiner Selbstdarstellung Rückzugsmöglichkeiten offen halten, indem er zeigt, wie stark sein Verhalten durch „sachliche" Zusammenhänge regiert wird, so daß es ihm selbst nicht angerechnet werden kann. Daneben bürgert sich eine äußere Verhaltenskonformität ein, die konventionell akzeptiert wird, ohne daß man den wahren inneren Einstellungen nachspürt: Sie sind als Vertrauensgrundlage entbehrlich . 27

Die Gleichzeitigkeit eines hochgetriebenen Persönlichkeitsindividualismus und eines weithin unpersönlichen Verhaltens ist nur scheinbar ein widerspruchsvoller Befund . Das anders nicht auflösbare Paradox bekräftigt vielmehr unsere Diagnose: daß die Darstellungsanforderungen durch ein einheitliches Grundproblem, nämlich die soziale Differenzierung, regiert werden. Eine soziologische Einsicht, die sich auch sonst vielfach bewährt, besagt, daß gegenläufige Tendenzen funktional äquivalent sein können, daß sie sich entweder ablösen oder sich bedingen, wenn ihnen ein und dasselbe soziale Problem zugrunde liegt. 28

Unter derartigen sozialstrukturellen Funktionsanforderungen und Verhaltensbelastungen benötigt die individuelle Persönlichkeit (nicht zuletzt in ihrer Freiheit zur Unpersönlichkeit) besonderen Schutz. Damit wären wir erneut beim Problem der Grundrechte angelangt. Inzwischen hat sich unsere These, daß Grundrechte der Erhaltung eines sozialen 27

Die sogenannte Soziologie des abweichenden Verhaltens sucht diesem Phänomen dadurch gerecht zu werden, daß sie die alte Dichotomie Übereinstimmung/Abweichung verfeinert und mehrere Abweichungs- bzw. Konformitätstypen unterscheidet; so Robert K. Merton, Social Conformity, Deviation, and Opportunity-Structures: A Comment on the Contributions of Dubin and Cloward, American Sociological Review 24 (1959), S. 177—189 (178 ff.), z. B. Einstellungskonformität, Ausdruckskonformität und Handlungskonformität. Darin kommt zum Bewußtsein, daß das Individuum unter komplexen gesellschaftlichen Anforderungen sich verschiedener Strategien bedienen kann, um seine Identität zu bewahren. Ähnlich urteilt Arnold Gehlen, Mensch trotz Masse, Wort und Wahrheit 7 (1952), S. 579—586. 28

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3. Kap.: Naturrechtliche und geisteswissenschaftliche Begründung

Differenzierungspotentials und insofern der Stabilisierung einer differenzierten Sozialstruktur dienen, mit einigen Vorstellungen angereichert. Es mag sich lohnen, diesen Gedanken im Hinblick auf die Einzelformen des Grundrechtsgedankens näher auszuarbeiten.

Viertes Kapitel

Die Individualisierung der Selbstdarstellung: Würde und Freiheit Die Grundlage für eine Erörterung der Probleme persönlicher Selbstdarstellung, in einer differenzierten Gesellschaftsordnung haben wir im vorigen Kapitel bereits gelegt. Darauf können wir hier aufbauen. Von jedem Menschen wird unter den genannten gesellschaftlichen Bedingungen erwartet, daß er imstande sei, sein Handeln auf mehrere soziale Systeme zu beziehen und deren unausgeglichene Anforderungen in einer persönlichen Verhaltenssynthese zu vereinen. Er kann dies tun in dem Maße, als er in die Lage versetzt wird, seinem Verhalten in den verschiedensten sozialen Situationen eine durchgehende persönliche Linie zu geben und diese zu sozialer Darstellung und Anerkennung zu bringen. Diese Linie muß nicht originell und einmalig sein. Für fast alle Probleme gibt es Vorbilder und Muster. Sie muß jedoch persönlich sein in dem Sinne, daß sie auf die individuelle Konstellation sozialer Anforderungen paßt, in der ein Mensch sich jeweils findet. Für Standardprobleme genügen Standardlösungen , genügt eine Persönlichkeit von der Stange. Aber die Erfahrung lehrt, daß manchen Menschen etwas Besonderes gelingt , ein Mehr an Persönlichkeit, und daß sie damit auch ungewöhnlich schwierige Lagen auf einleuchtende Weise meistern können . Sie 1

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Ein gutes Beispiel dafür: die Erörterung des Selbstverständnisses und der Ideologie des amerikanischen Geschäftsmannes durch Francis X. Sutton/Seymour E. Harris/Carl Kaysen/James Tobin, The American Business Creed, Cambridge Mass. 1956, die sich mit ihren Prämissen genau in den hier zugrunde gelegten theoretischen Bezugsrahmen einfügt. Das Problem scheint mithin umgekehrt zu liegen, als düstere Prognosen eines „Massenzeitalters" uns glauben machen wollen: Die moderne Sozial-' Ordnung stellt strukturell mehr Chancen für Individualität bereit, als durch \ Persönlichkeiten verarbeitet werden können, so daß nach wie vor nur eine i Elite die Individualisierung ihrer Selbstdarstellung schafft. Diese optimi- ' stische Sicht teilt auch Richard F. Bohrend, Dynamische Gesellschaft, BernStuttgart 1963, S. 52 ff. Bezeichnend femer die Ausführungen über „Ersatzindividualität" von Karl Bednarik, Der junge Arbeiter von heute — ein neuer Typ, Stuttgart 1953, S. 33 ff. In der soziologischen Rollentheorie ist diese Konfliktlösung durch P e r s ö n lichsein bisher nicht ausreichend gewürdigt worden. Man erörtert vor allem Techniken der Trennung von Situationen und Zuschauern, des Rückzugs aus 2

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erreichen ein persönliches Verhaltensniveau, das als Entscheidungsgrundlage überzeugt. Ich, Adam Kunze, mache das so! Und ich habe auf Grund meiner Lebens- und Leistungsgeschichte, meines Aussehens und meines Auftretens, meiner Ausbildungszertifikate, meiner Erfolge und meiner Intelligenz, meiner Beziehungen und meiner inneren Unabhängigkeit ein Recht, in dieser Entscheidung respektiert zu werden. Solche von persönlichem Niveau getragenen Entscheidungen werden immer wieder akzeptiert, gerade wenn die innere persönliche Konsequenz an ihnen deutlich wird und damit zugleich deutlich wird, daß man die Entscheidung nicht ablehnen kann, ohne die Person abzulehnen. Zu einer derart „langfristig" wirkenden Ablehnung besteht im Einzelfall zumeist kein hinreichender Anlaß. So kann, wer den Mut hat, persönlich aufzutreten und sich als verwundbar zu zeigen, gerade damit seine sensible Umgebung tyrannisieren, weil er ihnen auf diese Weise die so unangenehme Entscheidung über eine kränkende Ablehnung zuschiebt. Eine gewisse Sensibilität in bezug auf das Persönliche muß freilich in der Sozialordnung und durch sie gewährleistet sein; anderenfalls hat man nur die Möglichkeit, seine Persönlichkeit auf dem Wege des Heroismus, durch Überleistung in festgelegten Rollen, triumphieren zu lassen. Es besteht kein Grund zu meinen, daß unsere Sozialordnung persönlichkeitsfeindlich institutionalisiert sei . Eher trifft das Gegenteil zu . 4

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Rollenbeziehungen, des Kompromisses, der Ausnutzung von Machtdifferenzen in der Umwelt, der Bestimmung von Wertprioritäten usw. Vgl. als repräsentative Beispiele für diese Forschung Robert K. Merton, The Role-Set: Problems in Sociological Theory, The British Journal of Sociology 8 (1957), S. 106 bis 120, und William J. Goode, A Theory of Role Strain, American Sociological Review 25 (1960), S. 483—496. Der viel benutzte Begriff der Rollenlast (role strain) bringt jedoch das hier Gemeinte indirekt zum Ausdruck : daß die Sozialordnung in unterschiedlichem Maße ungelöste Probleme auf den Einzelnen abwälzt und damit dessen individuelle Persönlichkeit als Problemlösungssystem einspannt. Siehe dazu auch Alvin L. Bertrand, The Stress/Strain Element of Social Systems: A Micro Theory of Conflict and Change, Social Forces 42 (1963), S. 1—9, und als stimulierende Einzeluntersuchungen etwa William F. Whyte, Human Relations in the Restaurant Industry, New YorkToronto-London 1948 (Kellnerinnen betreffend) und Oscar Grusky, Managerial Succession and Organizational Effectiveness, The American Journal of Sociology 69 (1963), S. 21—31 (Baseball team manager betreffend). — Wesentlich darüber hinausführend Gerhard Wurzbacher, Sozialisation — Enkulturation — Personalisation, in: ders. (Hrsg.), Der Mensch als soziales und personales Wesen, Stuttgart 1963, S. 1—34, mit der Einsicht, daß Personalisation und Sozialisation nicht allein aus der Mitgliedschaft in Primärgruppen ableitbar sind, sondern ihre Funktion gerade aus dem Rollenpluralismus differenzierter Sozialordnungen gewinnen. -

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Das wird jedoch sehr häufig als Selbstverständlichkeit gleichsam im Nebensatz behauptet. Typisch etwa Josef M. Wintrich, Zur Problematik der Grundrechte, Köln-Opladen 1957, S. 14. An diesem Vorurteil ist einmal die unklare Vorstellung eines „Massenmenschen" schuld, die offenbar deshalb unausrottbar ist, weil in unserer Sozialordnung jedermann mit mehr Men-

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Jede differenzierte Gesellschaft, die soweit entwickelt ist, daß sie zentral nicht mehr ausreichend koordiniert werden kann, muß sich auf Persönlichkeiten als Knotenpunkt sozialer Anforderungen stützen. Das führt zu erhöhten Investitionen in den Einzelnen. Die Dynamisierung seiner Ansprüche wird sozial legitimiert. Es entwickelt sich eine gesteigerte Sensibilität gegenüber persönlichen Verhaltensbedingungen und Schonungsbedürfnissen. Takt, Toleranz und psychologisches Einsichtsvermögen gewinnen ersichtlich an Boden. Die Situation, in denen man andere grob behandeln und dabei auf die Zustimmung der Umstehenden rechnen kann, nehmen ab. Selbst das Strafrecht und das Strafverfahren werden humanisiert . Die Entwicklung geht nicht den oft angeprangerten Gang vom stolzen Individuum zum Massenmenschen. Sie nimmt den Weg zu bewußterer Selbstdarstellung und damit zugleich zu bewußte6

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sehen Kontakt hat, als er persönlich kennen kann. Zum anderen wirkt das „heroische" Persönlichkeitsbild nach, das in Wirklichkeit ein sehr schematisches, unpersönliches Rollenbild war und nur durch den Roman für kurze Zeit individualisiert wurde; siehe aber die literarische Behandlung des Heldenthemas von Tolstoi über Shaw bis Anouilh. Zur Entartung des Helden auch: Orrin E. Klapp, Heroes, Villains, and Fools: The Changing American Character, Englewood Cliffs N. J. 1962. Heute sind Helden selbst im Krieg nur noch bedingt tauglich. So z. B. Friedrich Karrenberg, Verantwortung und Möglichkeiten des Einzelnen in der modernen Gesellschaft, Festschrift Gerhard Weisser, Berlin 1963, S. 229—248, oder Dietrich von Oppen, Das personale Zeitalter, StuttgartGelnhausen 1960. Es genügt jedoch nicht, mit einer gewissen Wärme auf die Bedeutung der individuellen Persönlichkeit hinzuweisen. Die Kontroverse Massenmensch oder Persönlichkeit wird viel zu allgemein und daher unentscheidbar geführt. Die interessante Frage lautet, welche Chancen der Persönlichkeitsbildung durch die Struktur des industrialisierten Systems eröffnet (bzw. verbaut) werden, und wie es um die psychischen Möglichkeiten steht, sie zu nützen. Ich erinnere die Glosse einer juristischen Fachzeitschrift, die mit Berufung auf die Würde des Menschen und die Grundrechte forderte, daß der Strafrichter den Angeklagten (wie auch den Staatsanwalt!) mit „Herr" anrede. Daran ist weniger die juristische Deduktion als das Ausmaß sozial erwartbarer Selbstbeherrschung zu bewundern. In bezug auf Strafgefangene siehe dazu das Urteil des Oberlandesgerichts Hamburg vom 14.12.1964, Neue Juristische Wochenschrift 18 (1965), S. 647 (ablehnend). Weil in einer differenzierten Sozialordnung die Darstellungsanforderungen wachsen, gehen die expressiven Aspekte des eigenen Selbst zunehmend in das Selbstbewußtsein ein. Wir können deshalb die romantische Auffassung von Max Scheler, Der Formalismus in der Ethik und die materiale Wertethik, 4. Aufl. Berlin 1954, S. 511 f., nicht teilen, daß der Eigenwert der Person sich direkter Intention entziehe. Zwar setzt jeder intentionale Akt ein im gleichen Augenblick nicht intendiertes Agens voraus. Die Grenzen der SelbstBewußtheit und Selbst-Intention sind aber durchaus variabel, wie namentlich die Erfolge der Psychotherapeutik bei ihrer Verschiebung beweisen. Von einem bloß mitlaufenden Bewußtsein der eigenen Vorhandenheit kann der Mensch zu hoher Bewußtheit der Probleme seiner Persönlichkeitsstruktur und, was hier interessiert, der Weise, wie er auf andere wirkt, gelangen. Er kann dann mit Umsicht die kommunikativen Aspekte seines Selbst überwachen und auf eine Linie bringen. Dabei darf er natürlich die Bewußtheit seiner Selbstdarstellung nicht mitdarstellen, denn damit würde er zu er5

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ren Komplexeinstellungen gegenüber dem anderen Menschen als einem besonderen System — einen Weg, den wir mit dem Kennwort Generalisierung der Darstellung zu bezeichnen suchten. Erste und wichtigste Vorbedingung dieses zivilisierten Gesellschaftszustandes ist — um bekannte Gedanken kurz zu skizzieren — die Zentralisierung der Entscheidungen über die Anwendung physischer Gewalt . Sie erst gewährt ein ausreichendes Maß an Sicherheit der Verfügung über den eigenen Körper (vor allem, aber nicht nur, als Darstellungsmittel und Persönlichkeitssymbol). Sie erst erlaubt eine affekt-neutrale, entspannte Durchführung der Normalkontakte. Erst unter dieser Voraussetzung ist es einigermaßen wahrscheinlich, daß Menschen sich zueinander „objektiv" einstellen . 8

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Die Zentralisierung der Gewaltanwendungsentscheidungen läßt sich nur durch Ettisdieidufigszentralisierung (niemals: als Gewaltantuendunc/szentralisierung) durchführen. Sie erfordert außerdem effektive Herrschaft über ein hinreichend großes Territorium bzw. Pazifizierung der gesamten Umwelt. Um dieser Bedingung willen kann sie nur durch Aufbau einer staatlichen Organisation zur Anfertigung verbindlicher Entscheidungen erfolgen, die in der Lage ist, politische Unterstützung für ihre Entscheidungsprogramme zu mobilisieren. All diese Gründe haben den Staat in die Form eines funktional-spezifischen Handlungssystems der Entscheidungsfertigung gedrängt. Als solches ist er konstikennen geben, daß er auch anders sein könnte, also unzuverlässig ist, und würde so seine eigene Darstellung diskreditieren. Schelers Theorie von der Nichtintendierbarkeit des Selbstwertes ist nur als Theorie der Nichtdarstellbarkeit der Intention des Selbstwertes haltbar, ist im Grunde also nur der Widerhall einer sozialen Norm der Selbstdarstellung, ein Ausdruck des sozialen Wunsches nach Stabilität. — Im übrigen ist die Funktion eines nichtintendierbaren Wertes nicht verständlich zu machen, von seinem „Sein" ganz zu schweigen. Die Kritik an SchelgtJiängt eng damit zusammen, daß wir seine Unterscheidung von Sozialperson und Intimperson als ontischen Unterschied nicht anerkennen können (vgl. unten Anm. 26). Letztlich geht sie darauf zurück, daß wir an die Stelle der noch ontologisch-substantiell ausgerichteten Werttheorie eine funktional orientierte Kommunikationstheorie gesetzt haben. Vgl. dazu besonders Elias (Kap. 1 Anm. 19) Bd. II. Zur wichtigen Ausnahme der Familie vgl. unten Kap. 7 Anm. 15. Die Bedeutung dieser Grundvoraussetzung gesicherten Friedens wird, weil uns selbstverständlich geworden, leicht unterschätzt. Doch lassen sich auch in unserer Zeit aufschlußreiche Gegenbeispiele finden. Siehe z. B. die hervorragende Arbeit von Germán Guzman/Orlando Fals Borda/Eduardo Umaña Luna, La Violencia en Colombia: Estudio de un Proceso Social, Bogotá 1962, mit dem wichtigen Ergebnis, daß permanente, staatlich nicht kontrollierbare Gewaltanwendung nicht etwa, wie Hobbes meinte, jede Ordnung auflöst, sondern ein darauf eingestelltes soziales System hervorbringt, das vom Standpunkt der offiziellen staatlichen Ordnungsideologie aus als korrumpiert erscheint, in sich selbst aber durchaus Züge einer problembezogenen sozialen Ordnung aufweist. 8

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tuierendes Moment jenes Dauerfriedens, in dem allein Zivilisation sich entfalten kann. Damit allein wird das Problem der Generalisierung von Selbstdarstellungen und Einstellungen zwar nicht gelöst; aber ihre Vorbedingungen bekommen — und auch das ist eine kennzeichnende Funktion sozialer Differenzierung, die sehr allgemeine Bedeutung besitzt — eine konzentrierte, spezifisch greifbare und damit rational lösbare Fassung. Auf den Staat können sich nun die Bemühungen um Sicherheit dessen, was man Freiheit nennt, zentrieren. Die Grundrechte werden angesetzt, um die Freiheit gegen den Staat zu sichern; aber das setzt voraus, daß zunächst einmal eine Gegeninstanz, ein Monopol auf Freiheitsbedrohung, geschaffen ist, mit deren Bändigung man nicht ins Leere greift, sondern den positiven Erfolg, die Freiheit, wirksam herstellen kann. Der Staat ist, was immer wieder vergessen wird, Vorbedingung aller Freiheit ; nicht weil er sie schon partiell oder in elementaren Vorformen gewährleistet, sondern weil sie in der Form des Entscheidungsprogramms für staatliche Organisation rational regulierbar wird. Der Staat faßt das Potential an Freiheitsbedrohung, das in der Gesellschaft diffus und ungreifbar verstreut vorhanden ist, zusammen und macht die Freiheitsfrage entscheidbar — was im Einzelfall Gewinn oder Verlust der Freiheit bedeuten kann. 10

Was aber ist „Freiheit"? Und was ist „Würde" des Menschen? Welchen Sinn können diese Begriffe in einer industriell-bürokratischen Gesellschaft haben? Und welche Funktion haben die durch sie bezeichneten Tatsachen in einer differenzierten Sozialordnung? Die heutige Verfassungsdogmatik interpretiert diese Begriffe erstaunlicherweise ohne jede Rücksicht auf die Wissenschaften, welche sich mit dem Menschen und der menschlichen Gesellschaft befassen . Sie ist aristotelisch geblieben . Gewisse Modifikationen, gewisse Unterschiede 11

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Siehe dazu Krüger (Kap. 2 Anm. 4), S. 537 f. Das beklagt mit ganz anderen Intentionen auch Wilhelm Wertenbruch, Grundgesetz und Menschenwürde, Köln-Berlin 1958, z. B. S. 170, 183 ff., ohne selbst jedoch einen Augenblick daran zu denken, die zuständigen Fachwissenschaften zu befragen; statt dessen kehrt er zur Theologie und zum legeshierarchischen Denken des Mittelalters zurück. Immerhin scheint die Notwendigkeit, die Wertfrage wieder durch die Wahrheitsfrage zu ersetzen, in Theologenkreisen stärker empfunden zu werden. Vgl. auch Ernst Wolf, Die Freiheit und Würde des Menschen, in: Hermann Wandersieb (Hrsg.), Recht-StaatWirtschaft Bd. 4, Düsseldorf 1953, S. 27—39 (38). Aber von dort führt sie nicht in die empirischen Wissenschaften. 11

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Im übrigen ist sie gerade dann, wenn sie sich verehrungsvoll in die große ontologische Rechtstradition des Abendlandes hineinstellt — als Beispiel siehe e t w a R e n é M a r c i e , D e r u n b e d i n g t e R e c h t s w e r t des M e n s c h e n : S e i n e W ü r d e

und Freiheit als präpositive Strukturelemente der positiven Rechtsordnung, Festgabe für Eric Voegelin, München 1962, S. 360—394 — am wenigsten in der

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der Lesart, die sich im Laufe der Jahrhunderte ausgebildet haben, und selbst die Übernahme des erst im 19. Jahrhundert aufgekommenen, also ganz modernen Wertbegriffs, haben die traditionellen Annahmen über die menschliche Natur und das ihr Geschuldete kaum beeinflußt. Das heißt vor allem: daß die menschliche Persönlichkeit nach wie vor als Substanz gedeutet wird — als Seiendes, das in einer Weise ist, die seine Negation ausschließt. Dadurch fällt der Tod und mit ihm auch das Gewissen aus dem Kreis der Tatbestände heraus, die der Menschenwürde das Profil geben. Als Substanz ist der Mensch zunächst er selbst. Das aber bedeutet, daß die soziale Natur des Menschen erst nachträglich hinzugedacht werden kann . Man mag ihre Wichtigkeit und Unausweichlichkeit noch so sehr unterstreichen, sie wird doch immer nur als Bedingung seiner Lebenshaltung, als Schranke seiner Selbstentfaltung oder als idealistische bzw. normative Überformung seiner existentiellen Persönlichkeit zur guten, richtigen Persönlichkeit gesehen; aber nicht als konstituierende Sphäre seiner Individualität selbst (wie etwa: Zeit und Raum). 13

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Lage, ein Gespräch mit den Denkern der Vergangenheit zu führen, das ihrem Rang angemessen wäre. Verständnis setzt In-Frage-Stellen, setzt Einsicht in Alternativen voraus. Und zwar durchaus im Sinne der Schulphilosophie als individuelle Substanz rationaler Natur; siehe etwa Thomas von Aquino, Summa Theologiae I q. 29 Art. 1 (ed. Caramello, Turin-Rom 1952 Bd. I, S. 155 f.) unter Berufung auf Boethius. Dieser Festlegung liegt — und das gilt selbst für die Anthropologie Arnold Gehlens noch — die Frage nach dem Unterschied des Menschen vom Tier zugrunde. Mehr Sinn, als in der Frage enthalten war, vermag sie nicht zu erschließen. Ob wir aber fortfahren sollen, das Wesen des Menschen in seinem Abstand zum Tier zu erblicken, ist seit Heidegger fragwürdig geworden. Vgl. näher unten S. 76 f. Selbst Heideggers radikale Kritik der ontologischen Interpretation des „Daseins" als Selbstsein und ihrer neuzeitlichen Ausformung zur Subjektität des Selbstbewußtseins geht an der Sozialdimension vorbei, läßt sie nur für das „alltägliche" und uneigentliche Dasein gelten, und darum wird Sprachphilosophie bei Heidegger zur Seinsmystik. Vgl. insb. Sein und Zeit I, 6. Aufl. Tübingen 1949, S. 113 ff. Siehe dazu auch Werner Maihofer, Recht und Sein: Prolegomena zu einer Rechtsontologie, Frankfurt 1954, und ders., Vom Sinn menschlicher Ordnung, Frankfurt 1956, dessen Kritik an Heidegger zwar zu der notwendigen Aufwertung der Sozialdimension menschlicher Existenz führt, sich aber ihrerseits verfängt in einer „Existentialdialektik" von Individualperson und Sozialperson und einem entschlossenen „sowohl — als auch", in Banalitäten also, über welche die empirische Forschung längst hinaus ist. Hierzu als ein Beispiel für viele: Walter Hamel, Die Bedeutung der Grundrechte im sozialen Rechtsstaat: Eine Kritik an Gesetzgebung und Rechtsprechung, Berlin 1957, mit all den Unklarheiten, die entstehen, wenn man einerseits auf der scholastischen Linie ens et verum et bonum convertuntur argumentiert und andererseits den damit nicht zu vereinbarenden Wertbegriff verwendet. Das Ergebnis ist, daß Art. 2 Abs. 1 GG nicht die Freiheit der Persönlichkeit, sondern die christliche Persönlichkeit schützt. Eine vorsichtige und unverbindliche Kritik dieser Tendenzen findet man in dem Vortrag von Wilhelm Weischedel, Recht und Ethik, Karlsrühe 1956. 13

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Dieser Ausgangspunkt erschließt eine bestimmte Fragestellung, ein Auffassungsschema, das sich durch die genannten Denkvoraussetzungen als ohtolögisch) ausweist. Die Grundrechtsargumentation erhält von da her jene wohlbekannte „Zwar-aber"-Struktur, die sich zum Beispiel in Art. 2 Abs. 1 GG formuliert findet, die der Auslegung aber auch sonst durchweg als Vorstellungsmodell dient: Der Mensch ist zwar (von sich aus) frei bzw. zur Freiheit berechtigt, aber er hat die Rechte anderer zu respektieren; er hat zwar Eigentum, muß aber im Gebrauch seines Eigentums soziale Bindungen akzeptieren. Selbst kräftige Schübe, die den Pflichtgehalt der Rechte und ihre sozialen Bindungen bis in das Rampenlicht der Verfassungsartikel gebracht haben — es sei nur an Friedrich Naumann erinnert —, haben sich darauf beschränkt, das „aber" zu betonen, und haben das zugrunde liegende Vorstellungsmodell eben damit akzeptiert. Im Ergebnis wird dadurch die Entscheidung über den Sinn der Grundrechte vertagt und delegiert, denn wenn ein Widerspruch in die Prämissen eingebaut wird, ist jede Deduktion möglich . So müht sich die Dogmatik wie Sisyphus, die von den Gipfeln der Grundrechte herabrollende Problematik aufzufangen und wieder nach oben zu wälzen, stets in Versuchung, schon auf halber Höhe ein Pathos anzuwenden, das nur Göttern ziemt. Die Wesensgehaltsperre des Art. 19 Abs. 2 GG bietet dabei kaum eine Hilfe, denn der Wesensbegriff ist ebenfalls durch die Auflösung der ontologischen Denkvoraussetzungen unseres Philosophierens betroffen und zur „Leerformel" geworden . Das Wesen des Wesens 17

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Solche Widersprüche trüben auch an anderen Stellen die Argumentation; so wenn Hans Carl Nipperdey, Die Würde des Menschen, in Franz L. Neumann/Hans Carl Nipperdey/Ulrich Scheuner (Hrsg.), Die Grundrechte Bd. II Berlin 1954, S. 1—50 folgert: Die Würde ist das Wesen des Menschen, also hat der Mensch ein Recht auf Würde; denn beide Sätze schließen sich wechselseitig aus. Man kann Rechte nur haben auf etwas, was man verlieren kann; als Wesen wird aber gerade die unverlierbare Eigenart einer Substanz bezeichnet. Beispiele für solche Gedankenlosigkeit in Grundfragen ließen sich beliebig vermehren. Vielleicht sind manche Autoren sich der Tatsache bewußt, daß es für die integrierende Funktion der Grundrechte auf die Korrektheit des Denkens nicht ankommt. 18

Das zeigt sich besonders deutlich an dem umstrittenen Versuch des Bundesgerichtshofs — siehe insb. den Beschluß vom 17.10.1955, Die öffentliche Verwaltung 8 (1955), S. 729 ff. —, dem Wesensbegriff mit Hilfe des „Erforderlichkeitsprinzips", also einer Abwägungsformel, praktikablen Inhalt zu geben. Dazu kritisch Peter Lerche, Ubermaß und Verfassungsrecht: Zur Bindung des Gesetzgebers an die Grundsätze der Verhältnismäßigkeit und der Erforderlichkeit, Köln — Berlin — München — Bonn 1961, S. 34 ff. mit Hinweisen auf den Stand der Diskussion. Auf gleicher Linie liegt der Versuch von Häberle (Einf. Anm. 14), das Güterabwägungsprinzip als immanente (!) Schranke und damit als Wesen der Grundrechte auszugeben. Ähnlich Eike von Hippel, Grenzen und Wesengehalt der Grundrechte, Berlin 1965. Im G r u n d e läuft d a s a u f die paradoxe — u n d d a h e r j e d e b e l i e b i g e F o l g e r u n g

zulassende — These hinaus, daß die Relation das Wesen der Substanz sei. Selbst der scheinbar so bestechende Interpretationsvorschlag von Günter

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ist unbekannt. Was hilft, ist allein das Erreichen von Konsens in der Dogmendiskussion und die Rechtskraft verfassungsgerichtlicher Entscheidungen. 19

Was radikaler helfen könnte, wäre eine Umbesinnung in den Grundfragen. Die neuzeitliche Wissenschaft hat im Grunde seit langem die Prämissen der ontologischen Metaphysik gesprengt. Der Funktionsbegriff impliziert eine Umkehrung der Denkvoraussetzungen des Substanzbegriffs, nämlich eine Ausrichtung der menschlichen Vernunft (und damit letztlich: des menschlichen Selbstverständnisses) auf das, was anders sein könnte . Der Sinn des Identischen liegt nicht mehr im InSich-Selbst-Ruhen, sondern in seiner Kraft, andere Möglichkeiten zu ordnen . Nicht ohne Zusammenhang damit beginnen in der modernen Psychologie, Anthropologie und Soziologie Theorien an Boden zu gewinnen, welche die Selbstidentifikation des Menschen als Vorgang begreifen, der sich im sozialen Kontakt — und in Auseinandersetzung mit den dadurch eröffneten Gefährdungen — vollzieht, also im Wissen darum, daß man mit jeder einsehbaren Lebensäußerung absichtlich oder unabsichtlich eine Aussage über sich selbst verbindet. Die Unterscheidung von Sein und Schein — ebenfalls ein ontologisches Denkschema — ist für das Verständnis dieses Vorgangs ungeeignet. Der Mensch wird die Persönlichkeit, als welche er sich darstellt . 20

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Dürig, Der Grundrechtssatz von der Menschenwürde, Archiv des öffentlichen Rechts 81 (1956), S. 117—157 (136 ff.): eine Wesensverletzung liege vor, wenn der Grundrechtsträger vom Staat lediglich als Objekt behandelt wird, erweist sich als Leerformel, da man Menschen überhaupt nur als Objekt behandeln kann, denn jedes Behandeln setzt Vergegenständlichung voraus. Es bleibt weiterhin Dürig oder anderen überlassen zu entscheiden, wann ein solches Behandeln so skandalös ist, daß eine wesentliche Grundrechtsverletzung vorliegt. Leerformeln verdecken zumeist apokryphe Normen oder, was schlimmer ist, Normbildungskompetenzen. Das schält sich immer deutlicher als ultima ratio der modernen Methodendiskussion heraus. Vgl. z. B. den Begriff der „Ansichtendeckung" bei Lerche (Einf. Anm. 7) oder das Abstellen auf den „Konsens aller ,Vernünftig- und Gerechtdenkenden' " bei Ehmke (Einf. Anm. 13 — 1963 —), S. 71 f. Dazu auch Graf von Pestalozza (Einf. Anm. 5), S. 429 ff. und die Gedankenentwicklung bei Reinhold Zippelius, Wertungsprobleme im System der Grundrechte, München — Berlin 1962, von vorgefundenen Aufgaben der Interessenabwägung über Wertungsprobleme zu einer „herrschenden Rechtsmoral". Doch fasziniert diese Umdeutung von Methodenschwierigkeiten in Konsensprobleme, die man seit Hume kennt, immer nur ein begrenztes Publikum. Dazu etwas ausführlicher Luhmann (Einf. Anm. 8), S. 639 ff. und (Kap. 3 Anm. 12). Whitehead hat diesen schon in Leibnizens Monadologie angelegten Gedanken durch den Begriff des „prehension" formuliert. Vgl. Alfred N. Whitehead, Science and the Modern World, 1925, Mentor Book Ausgabe New York 1954, S. 70 ff., und ders., Process and Reality: An Essay in Cosmology, Cambridge Mass. 1929, insb. S. 24 ff., 309 ff. Der Kürze halber überspringt diese Skizze ein wichtiges Zwischenstadium der Entwicklung der funktionalen Persönlichkeitstheorie. Eine ältere, 19

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Es ist nicht schwer, von hier aus die Begriffe Freiheit und Würde ziemlich klar und mit Bezug auf empirische Forschungen bzw. Forschungsmöglichkeiten zu bestimmen. Beide Begriffe bezeichnen Grundbedingungen des Gelingens der Selbstdarstellung eines Menschen als individuelle Persönlichkeit . Als Organismus ist der Mensch schon Individuum (weil er als System zur Umwelt in einem Verhältnis relativ unabhängiger Variabilität existiert) — aber nur individuelles Objekt. Selbstbewußte Individualität gewinnt er nur dadurch, daß er sich als Interaktionspartner selbst darstellt. Er muß dabei nicht nur mitteilen, was er ist, sondern in dem, was er von sich selbst erkennen läßt, zugleich in Aussicht stellen, daß er die Erfordernisse kommunikativer Kontakte beachten wird, daß er Interesse an Interaktionen hat, daß er sich ihren Normen fügen wird und — was das Wichtigste ist — daß er als Individuum konsequent, erwartbar, zuverlässig auftreten wird: daß er in seiner Individualität konsistent bleibt. Die Notwendigkeiten und Bedingungen der Interaktion individualisieren und sozialisieren den Menschen zugleich . Der Mensch gewinnt seine Individualität als Persönlich23

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an den Naturwissenschaften des 19. Jahrhunderts orientierte Psychologie funktionalisierte den Persönlichkeitsbegriff durch die Vorstellung knapper oder doch konstanter psychischer Energie, wobei der Energiebegriff (wie immer) keine qualitative Aussage, sondern nur die Konstanzprämisse selbst fixierte. Diese Prämisse erklärt auch den oft „armseligen" Eindruck älterer psychoanalytischer Theorien. Sie wird heute zunehmend ersetzt durch den Identitätsbegriff, der System/Umwelt-Probleme zum Angelpunkt der funktionalen Persönlichkeitsanalyse macht. Dadurch rücken Darstellungsfragen in den Mittelpunkt des wissenschaftlichen Interesses. 23

aber wie gesagt: funktional, nicht substantiell! Wir können in diesem Zusammenhang keine adäquate psychologische Persönlichkeitstheorie bieten und müssen deshalb auch auf eine Auseinandersetzung mit dem wohl wichtigsten Problemkomplex dieser Theorie, den Fragen der internen Differenzierung der Persönlichkeitsstruktur, verzichten. Daß Persönlichkeiten differenzierte Systemstrukturen sind, kann als weithin akzeptiert gelten; es sei nur auf die bahnbrechenden Theorien des Persönlichkeitsaufbaus von Sigmund Freud und George H. Mead verwiesen. Ohne selbst eine strukturell differenzierte Einheit zu sein, könnte die menschliche Persönlichkeit sich nicht in einer differenzierten Umwelt als relativ autonomes System konstituieren. Die Art der Strukturierung, vor allem die Funktion des bewußt vergegenständlichten Ichs und seiner sozial orientierten Darstellung für den Gesamtaufbau und der Umfang von Kompensationsmöglichkeiten zwischen den einzelnen Sphären der Persönlichkeit, ist derzeit noch so umstritten, daß wir nicht auf anerkannte Gesamtkonzeptionen verweisen können. Wir begnügen uns deshalb im folgenden mit den groben Begriffen „Persönlichkeit" und „Selbstdarstellung" und setzen voraus, daß darunter eine hochkomplexe und differenzierte Struktur der Erlebnisverarbeitung verstanden wird, die in einem bestimmten Augenblick weder in vollem Umfange bewußt, noch in vollem Umfange sozial dargestellt werden kann. 24

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Um nur ein erläuterndes Beispiel zu geben: Nachlässige Kleidung, situationsmäßig nicht zu begründende Unsauberkeit sind unwürdig nicht nur deshalb, weil sie mangelnde S e l b s t a c h t u n g z u b e k u n d e n scheinen. Sie stellen — untrennbar damit verbunden — zugleich mangelnde Bereitschaft zur Interaktion zur Schau. Die Einstellung zu sich selbst wird typisch aus Symbolen

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keit nur im sozialen Verkehr , indem auf seine Selbstdarstellung, sei es durch Konsens, sei es durch Dissens, eingegangen wird . 27

Die im sozialen Verkehr, das heißt: durch Rollenspiel, konstituierte persönliche Identität darf jedoch nicht mit der situationsgebundenen Rollenidentität verwechselt werden — eine Gefahr, die ein verwirrender Sprachgebrauch in der neueren amerikanischen Forschung heraufbeschwört . Man verliert seine Identität nicht, wenn man falsch handelt, wenn man in eine falsche Rolle gerät oder sich in einer richtigen Rolle falsch bewegt — wenn man etwa als Dame versehentlich einen für Herren reservierten Raum betritt. Ein solcher Mißgriff kann nicht als Rollenfehler, sondern nur deshalb in peinliche Verlegenheit bringen, weil er die Möglichkeit in sich birgt, daß der sich Vergreifende, der sich überall und immer als derselbe präsentieren muß, nach Maßgabe dieses Verhaltens identifiziert wird, die Schande also an ihm haften bleibt. Nicht nur die Zukunft der Situation, sondern die Zukunft der Persönlichkeit steht auf dem Spiel, wenn auch der Mißgriff beide zuweilen so verbindet, daß nur beide zugleich gerettet werden können — zum Bei28

abgelesen, die zugleich die Einstellung zur Interaktion bezeugen. Man schließt deshalb aus unziemlichem Verhalten auf mangelnde Selbstachtung und wird so dem nicht gerecht, der seine Selbstachtung gerade durch unziemliches Verhalten ausdrücken möchte. Daß jener Schluß auch gezogen wird, wenn er falsch ist, beweist im übrigen, daß er, wenn er zutrifft, nicht deswegen gezogen wird, weil er zutrifft. Ob falsch oder richtig, der Schluß verrät das soziale Interesse an der Protektion fremder Selbstdarstellungen. 26

Deshalb können wir auch hier — wie schon in der Frage der Bewußtheit — der Wertethik Schelers nicht folgen, die den Unterschied von Intimperson und Sozialperson als „ontischen" Unterschied substantialisiert. Siehe Scheler (Kap. 4 Anm. 7), S. 567. Anzuerkennen ist natürlich, daß mit diesen Begriffen ein bedeutsamer Darstellungsunterschied bezeichnet werden kann. Daß man seine Selbstdarstellung auch im Dissens bestätigt finden kann — jedes Kind im Trotzalter versucht diesen Weg — steht einer allzu oberflächlichen sozialkonformistischen Persönlichkeitstheorie im Wege. Nicht der soziale Konsens mit Einzelhandlungen oder Verhaltenserwartungen (darüber im nächsten Kapitel) ist das konstituierende Moment, sondern die soziale Anerkennung der Person als Generalisierungszentrum, die darin besteht, daß Partner sich — zustimmend oder ablehnend — auf eine projizierte Situationsdefinition oder Rollenauffassung einlassen. Ähnlich unterscheidet Plant (Kap. 3 Anm. 26), S. 94 ff. zwei Ebenen der sozialen Bestätigung, die sich darauf beziehen kann, was und wer jemand ist. 27

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Gemeint ist die Beschränkung des Begriffs der „Identität" auf die Einheit von je situationsmäßigen Rollenerfordernissen mit der mehr oder weniger deutlich ausgesprochenen Implikation, daß darin sich die Substanz des „Selbst" konstituiert — ausdrücklich ausgesprochen z. B. bei Edward Gross/Gregory P. Stone, Embarrassment and the Analysis of Role Requirements, The American Journal of Sociology 70 (1964), S. 1—15 (3). Vgl. auch Anselm Strauss, Mirrors and Masks: The Search for Identity, Glencoe 111. 1959. So fruchtbar der Gedanke ist, die Konstitution des Selbst im „identityswitching" bzw. in einer „Karriere" wechselnder Identitäten zu erforschen, so unnötig ist es, durch den Begriff der Identität die wechselnden gesellschaftlichen Situationsmoralen zu ontiflzieren.

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spiel durch Weglaufen. Selbstdarstellung läßt sich — das ist für unser Argument entscheidend wichtig — nicht in Rollenspiel auflösen, obwohl sie immer im Rollenspiel erfolgt. Sie projiziert eine Persönlichkeit dadurch, daß sie eine rollenverbindende und rollenkonkretisierende, ja unter Umständen auch Rollenpflichten verletzende Identität darstellt. Freiheit und Würde sind Vorbedingungen dafür, daß der Mensch sich in diesem Sinne als Individuum sozialisieren (bzw. als Interaktionspartner individualisieren) kann. Sie beziehen sich auf spezifische Kommunikationsprobleme, die stets zu erwarten sind, wenn ein Handeln Symbolwert für die Präsentation eines Systems haben soll. Dazu muß das Handeln nämlich Aspekte aufweisen, die nicht als unmittelbar umweltveranlaßt erscheinen; es muß in diesem Sinne „frei" sein. Und es muß eine gewisse Darstellungskonsistenz aufweisen. Es darf nicht erkennbar widersprüchlich oder fehlerhaft sein, keine nachteiligen Einblicke freigeben. Es muß in diesem Sinne „Würde" prästieren. Die Begriffe Freiheit und Würde sind, wie wir näher ausarbeiten müssen, werthaft formulierte Bezeichnungen für die Außen- bzw. die Innenproblematik menschlicher Selbstdarstellungen. 29

Freiheit ist keine Sache der Kausalität , nicht einfach eine Unterbrechung des Kausalzusammenhanges durch originären Ursacheneinsatz, sondern eine Frage der Zurechnung . Das Freiheitserleben richtet sich danach, ob das Handeln einem personalen oder einem sozialen Aktionssystem und welchem es zugerechnet wird. Das Determinismus/ Indeterminismus-Problem läßt sich letztlich in ein Problem der Systemreferenz auflösen . Die Bedeutung der Freiheit liegt nicht in der Ebene 30

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Damit distanzieren wir uns auch von einer modernen Auffassung der Psychologie und Anthropologie, die menschliche Freiheit als Unabhängigkeit von instinktmäßigen Handlungsbestimmungen versteht. Vgl. z. B. Fromm (Kap. 3 Anm. 26) oder Arnold Gehlen, Der Mensch: seine Natur und seine Stellung in der Welt, 6. Aufl. Bonn'""1958. So richtig diese Auffassung des Ursprungs möglicher Freiheit ist, so wenig besagt sie für die Funktion der anerkannten Freiheit im Raum des sozialen Erlebens. Dieser Satz klingt sehr nach Kelsen — vgl. Hans Kelsen, Kausalität und Zurechnung, österreichische Zeitschrift für öffentliches Recht 6 (1955), S. 125 bis 151 •—, meint aber etwas ganz anderes. Kelsen versteht unter Zurechnung lediglich die gesollte Verknüpfung von Unrecht und Unrechtsfolge, also eine dem Kausalnexus entsprechende Relation, in der die Naturnotwendigkeit durch die Norm ersetzt ist. In Wahrheit ist jedoch Normanwendung keine Zurechnung, sondern setzt sie voraus.. Die vorausgesetzte Zurechnung der Handlung auf den Handelnden kann, braucht aber keineswegs im Dienste sanktionierender Rechtsanwendung stehen; sie kann, braucht aber keineswegs selbst normiert zu sein. Sie besteht aus den Sozialprozessen, die Freiheit konstituieren. Kelsen selbst kommt dieser Einsicht zuweilen sehr nahe, z. B. in Vergeltung und Kausalität, Den Haag 1941, S. 43 ff. So beruht auch die durch den deutschen Idealismus ausgelöste Kontroverse, ob Freiheit in Handeln nach Lust oder Handeln nach Pflicht bestehe, auf einem heimlichen Austausch der Systemreferenz des Freiheitsbegriffs: Statt Freiheit auf den Aktionsspielraum der Person zu beziehen und die 30

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des Herstellens, sondern in der Ebene der symbolischen Präsentation, also in der Ebene des sozialen Kontakts oder der Kommunikation. Daher besteht jener enge Zusammenhang der Freiheit mit der Allgemeinheit, die niemals bewirkt, wohl aber aufgezeigt werden kann. 32

Freiheit und Zurechnung bezeichnen dasselbe Problem . Deshalb konnte die traditionelle Rechts- und Sozialphilosophie ohne Risiko und mit Überzeugung sagen, daß nur freies Handeln vorwerfbar, nur ein „voluntarium" zurechenbar sei. Darauf gründet sie ihre Straftheorie, ohne sich durch die daraus folgernden Konstruktionsschwierigkeiten bei Fahrlässigkeitstaten und Unterlassungsdelikten beirren zu lassen . Sie äußerte damit nur eine Tautologie und ließ offen, welche Handlungen als frei bzw. zurechenbar gelten sollten. Diese Handlungen wählte man, durch die tautologische Begründung gedeckt, nach latenten sozialen Normierungsinteressen aus. Die kausale Auslegung der Freiheit hatte dabei die Funktion, eine „natürliche" Grundlage des Urteils zu suggerieren, die Tautologie gegen Entlarvung und die wirklichen Zurechnungsnormen gegen Aufdeckung zu schützen. Es handelte sich mithin um einen charakteristischen Fall vorsoziologischer Rationalisierung von Perspektiven und Einstellung des täglichen Lebens: Unerwartetes, unwillkom33

Funktionsbedingungen des sozialen Systems als Schranken zu empfinden, sah man nun plötzlich die Schranken in den Funktionsbedingungen des personalen Aktionssystems (seinen Gefühlen oder Leidenschaften). So ist es nur konsequent, wenn der dialektische Materialismus die Freiheit nicht mehr auf die individuelle Persönlichkeit bezieht, sondern auf das soziale System, das sie „verwirklicht". Inzwischen wäre es aber an der Zeit, die Kontroversen i selbst zu durchschauen: Die Wahl einer Systemreferenz ist eine abstrahierende Entscheidung, keine Erkenntnis/und kann deshalb andere Systemi referenzen nicht ausschließen. Kant definierte zwar die Person durch Zurechnung und bezog Freiheit nur auf die „moralische" Person (im Unterschied zur psychologischen Person); vgl. Metaphysische Anfangsgründe der Rechtslehre. Einleitung in die Metaphysik der Sitten IV, Philos. Bibliothek Bd. 42 (Hrsg. v. Kirchmann) Leipzig 1870, S. 23 f. Aber die Unterscheidung von moralischer und psychologischer Person bleibt abstrakt, weil jeder Mensch zugleich beides ist. Sie stützt bei Kant den Versuch, das Wesen des Menschen aus seiner höchsten Möglichkeit: der Freiheit in Vernunft, zu bestimmen. Die Zurechenbarkeit des Handelns rückt dadurch, obwohl sie den Oberbegriff der „Person" definiert, in die sekundäre Position einer Ableitung aus dem Freiheitsbegriff. Zur Dogmengeschichte vgl. namentlich Werner Hardwig, Die Zurechnung: ein Zentralproblem des Strafrechts, Hamburg 1957. Ob man allerdings der Ethik des Aristoteles dadurch gerecht werden kann, daß man ihn unter die Vorläufer der Vertreter des Prinzips der Willensfreiheit und der Auffassung des Handelns als Bewirkens von Wirkungen einreiht, ist mir nicht sicher. Vgl. auch H. L. A. Hart, The Ascription of Responsibility and Rights, in: Antony Flew (Hrsg.), Essays on Logic and Language, Oxford 1951, S. 145—166, der aus der Sicht des britischen Juristen bezweifelt, ob das Prinzip des freien Willens (im Sinne eines bestimmten psychischen Tatbestandes) die Gründe der juristischen Zurechnung zutreffend erfaßt. Zur neueren deutschen Diskussion vgl. auch Karl Engisch, Die Lehre von der Willensfreiheit in der strafrechtsphilosophischen Doktrin der Gegenwart, Berlin 1963. 3 2

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menés, normwidriges Handeln wird, da es aus den erwarteten Situationskonstanzen herausfällt und sich nicht einordnen läßt, als erklärungsbedürftig erlebt, dem Handelnden als freiwillig zugerechnet , und die Philosophie der Freiheit gibt dieser „Erklärung" ihren Segen, statt die dadurch stabilisierten sozialen Normen aufzudecken und zu begreifen. Eben deshalb vermochte die Philosophie der Freiheit die politischsoziale Freiheit nicht wirklich zu fördern. Erst wenn man diesen zirkulär in sich geschlossenen Argumentationszusammenhang aufbricht, erst wenn man die Freiheit nicht als „natürliche", ontisch vorgegebene Kausalrelation, sondern als symbolische Implikation des Handelns versteht, kann man die Aufgabe ermessen und anpacken, die einer Sozialordnung gestellt ist, welche die Freiheit des Menschen ermöglichen will. 34

Soziales Handeln erschöpft sich nicht im Augenblick. Sobald es von anderen Menschen (oder auch in Refiektion von dem Handelnden selbst) wahrgenommen werden kann, erhält es einen Ausdruckswert, der den Handlungsvollzug transzendiert. Es bekommt einen verständlichen Sinn und wird dadurch in weitere Zusammenhänge eingeordnet ; denn nur durch eine solche Generalisierung kann die notwendige Komplementarität des menschlichen Rollenverhaltens gesichert werden. Diese Einordnungsvorgänge sind als Prozesse symbolischer Zurechnung nicht nur Thema sozialphilosophischer Spekulation, sondern durchaus empirischer Erforschung zugänglich. Sozialpsychologische Untersuchungen haben zeigen können, daß der Ausdruckswert des vorgeschriebenen, sozial standardisierten, rollenmäßigen Verhaltens, das offenkundigen Erwartungen entspricht, nicht der Person zugerechnet wird . Sie zeigt 35

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Vgl. hierzu die Beziehung des Zurechnungsproblems auf gestörte Normalitätserwartungen bei Felix Kaufmann, Methodenlehre der SozialWissenschaften, Wien 1936, insb. S. 181 ff. Vgl. dazu Alfred Schütz, Der sinnhafte Aufbau der sozialen Welt: Eine Einleitung in die verstehende Soziologie, Wien 1932; George Herbert Mead, Mind, Self, and Society, Chicago 1934; ders., The Philosophyl of the Act, Chicago 1938, als wegweisende, wenn auch in manchen Einzelheiten veraltete Ausarbeitungen dieses Gedankens. Zu der damit angedeuteten Problematik vgl. Parsons/Shils (Kap. 2 Anm. 15), S. 141, 65, 105, 153 f., 175, 190 f., 350 u. ö.); Siegfried F. Nadel, The Theory of Social Structure, Glencoe 111. 1957, S. 50 ff.; Alvin W. Gouldner, The Norm of Reciprocity A Preliminary Statement, American Sociological Review 25 (1960), S. 161—178. Wir selbst werden im nächsten Kapitel näher darauf eingehen. Vgl. namentlich Edward E. Jones/John W. Thibaut, Interaction Goals as Bases of Inference in Interpersonal Perception, in: Rena to Tagiuri/Luigi Petrullo (Hrsg.), Person Perception and Interpersonal Behavior, Stanford Cal. 1958, S. 151—178, und Edward E. Jones/Keith E. Davis/Kenneth J. Gergen, Role Playing Variation and their Informational Value for Person Perception, The Journal of Abnormal and Social Psychology 63 (1961), S. 302—310. Siehe zur Entpersönlichung durch Rollenorientierung auch H e l e n M. Lynd, On Shame and the Search for Identity, London 1958, S. 186 ff. Man könnte ferner den Gehlenschen Gedanken einer „Entlastung" des Menschen durch Institu35

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sich nicht als sie selbst, wenn sie rollenmäßig, also selbstverständlich handelt. Dagegen wird sie in der Art, wie sie ihre Rolle konkret moduliert, in ihren Initiativen und besonders in abweichendem Handeln, das andere enttäuscht und gegen sie aufbringt, persönlich sichtbar . Aus diesen Gründen gibt zum Beispiel hoher Status mehr Chancen zur Persönlichkeitsentfaltung (und wird deshalb gesucht bzw. gefürchtet), weil er mehr Gelegenheit zur individuellen Rollenstilisierung und zu initiativenreichem oder abweichendem Verhalten bietet . 38

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Selbstdarstellung setzt mithin Freiheit von offensichtlichem Zwang und Freiheit von genau durchgezeichneten sozialen Erwartungen voraus , nicht aber Freistellung von latenter Determination. Die Entdekkung einer Vielzahl von sozial latenten oder gar unbewußten Verhaltensmotiven durch die neuere Sozialwissenschaft und Psychologie macht die hier vorgenommene Umdeutung des Freiheitsbegriffs, seine Verlagerung von der Ebene reiner Kausalität in die Ebene der sozialen Kommunikation unausweichlich. Freiheit kann heute nicht mehr Freiheit von jeder wissenschaftlich aufdeckbaren Ursache des Handelns bedeuten, denn dann gäbe es keine, sondern nur: Freiheit von sozial manifesten Außenursachen , weil nur diese die persönliche Zurechnung des Handelns einschränken und damit die Selbstdarstellung der Person, die soziale Konstitution einer individuellen Persönlichkeit behindern. 40

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tionsbildung (vgl. Arnold Gehlen, Urmensch und Spätkultur, Bonn 1956) hier heranziehen. Institutionen entlasten nicht nur von schwierigen Verhaltensentscheidungen im Einzelfall, sondern damit zugleich von der Verantwortlichkeit für die Selbstdarstellung im präformierten Handeln. Zu solchen Gründen persönlicher Zurechnung des Handelns als „absichtlich", „böswillig", „freiwillig" vgl. Fritz Heider, Social Perception and Phenomenal Causality, Psychological Review 51 (1944), S. 358—374. Vgl. auch ders., The Psychology of Interpersonal Relations, New York-London 1958, insb. S. 79 ff. Siehe ferner Strauss (Kap. 4 Anm. 28), S. 45 ff., über die Notwendigkeit der Beischaffung persönlicher „Motive" für problematisches, nicht-selbstverständliches Handeln. Dadurch läßt sich erklären, daß hoher Status des Handelnden die Wahrnehmung seiner Handlungen in Richtung auf persönliche Zurechnung beeinflußt. Vgl. John W. Thibaut/Henry W. Riecken, Some Determinants and Consequences of the Perception of Social Causality, Journal of Personality 24 (1955), S. 113—133. Daran liegt es, daß die Mitgliedschaft in großen Organisationen der Selbstdarstellung besondere Schwierigkeiten bereitet, eine Einsicht, die zumeist mit dem Begriff „Entfremdung" ausgedrückt wird.. Vgl. Luhmann (Kap. 1 Anm. 11), S. 390 ff. Angemerkt sei, daß diese Grenze zwischen manifesten und latenten Ursachen keineswegs ein für allemal feststeht, sondern kulturell variabel ist. Der Zug der modernen Wissenschaften zur Aufdeckung immer weiterer Latenzbereiche und zu ihrer Publizierung und Popularisierung führt seinerseits zu einer Wandlung der Freiheitskonzeption, weil die Entscheidung, welche Handlungsaspekte persönlich zugerechnet werden, damit aus dem unmittelbaren sozialen Rollenkontext herausgelagert und wissenschaftlich überprüfbar wird. Am deutlichsten kann man diese Wandlung vielleicht an der Psychiatrisierung der schwierigeren Strafverfahren ablesen. 38

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SelbstdarStellungen sind jedoch, nicht allein von außen bedroht; sie in sich selbst schwierig und stets dem Scheitern nah. Die Innengefährdung rührt daher, daß über ein Aktionssystem, besonders über einen Menschen, stets mehr Informationen verfügbar sind, als die Darstellung des Systems aufnehmen, integrieren und idealisieren kann. Selbstdarstellung ist daher, bewußt oder unbewußt, stets eine selektive Leistung und infolgedessen stets durch inkonsistente und daher peinliche Informationen bedroht . Mit jeder Kommunikation riskiert der Mensch seine Würde. In Anwesenheit anderer muß er sich zusammennehmen. Er kann nicht jede Körperbewegung vpllziehen, nicht jedem Bedürfnis nachgeben. Er hat seine Worte abzuwägen und nicht zu viel von sich selbst preiszugeben. Und er muß gegen Einsicht schützen, was verborgen bleiben soll. sind

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Selbstdarstellungen sind in aller Regel, besonders aber in zivilisierten Sozialordnungen, so kunstvoll gebaut, sind in ihrer Integrität und Eindruckskraft von so vielen Voraussetzungen abhängig, daß sie gegen Entgleisungen des Ausdrucks und gegen Indiskretionen äußerst empfindlich sind. Sie können in dieser Form ohne disziplinierte soziale Kooperation weder Zustandekommen noch erhalten~werden. Dem.'dient vor allem die Institutionalisierung gewisser Wahrnehmungs- und Kommunikationsschranken, welche die Intimsphäre schützen—intim ist eben jener Komplex von Informationen, der nicht öffentlich zugänglich gemacht werden kann, ohne die öffentliche Selbstdarstellung zu diskreditieren — und ferner das Gebot taktvollen Verhaltens. Man stellt keine peinlichen Fragen, dringt nicht ungerufen in „private" Räume ein, in denen Darstellungen vorbereitet oder aufgefrischt werden oder Nichtdarstellbares getan werden muß. Man behandelt die Darstellung ariderer als volle Wirklichkeit, solange es irgend geht, und überhört geflissentlich falsche Töne. Solche Konventionen können ein so hohes Maß an Verläßlichkeit gewinnen, daß man sie als Fundament für um so kühnere Bauten der Selbstdarstellung benutzen kann. Das gilt vor allem, wenn die Scham des anderen als eigene Peinlichkeit einverseelt ist und deshalb auch dann nicht provoziert wird, wenn institutionelle Verbote fehlen . 43

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Dazu finden sich gedanken- und materialreiche Ausführungen in fast allen Veröffentlichungen von Erving Goffman. Vgl. besonders: On Face Work, Psychiatry 18 (1955), S. 213—231; Embarrassment and Social Organization, The American Journal of Sociology 62 (1956), S. 264—271; (Kap. 1 Anm. 15, 1959 und 1963). Auch in der gehobenen Sphäre der Philosophie von Karl Jaspers erscheint der Gedanke, daß der Mensch seine Würde aus mehr oder weniger existentiellen Gründen durch Kommunikation aufs Spiel setzt — vgl. Karl Jaspers, Philosophie, 2. Aufl. Berlin-Göttingen-Heidelberg 1948, S. 361 ff. « Vgl. dazu die Ausführungen von Elias (Kap. 1 Anm. 19), Bd. II, S. 397 ff., über das Vorrücken der Scham- und Peinlichkeitsschwelle im Laufe des Zivilisationsprozesses. Dieses Vorrücken zeugt davon, daß Darstellungen per-

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Mehr noch als „Freiheit" ist „Würde" ein Wunschbegriff, der — das Problem nicht nennend, weil schon das ein Darstellungsfehler wäre — die gelungene Selbstdarstellung bezeichnet. Die Würde des Menschen ist keineswegs eine Naturausstattung wie vermutlich gewisse Grundanlagen der Intelligenz. Sie ist auch nicht einfach ein „Wert", den der Mensch wegen einer bestimmten Naturausstattung „hat" oder „in sich trägt" . Die überlieferte Beschreibung der Würde als Wesenszug des Menschen entspricht allerdings einem Darstellungserfordernis: Alle Idealisierungen müssen den Aspekt des Lernens und Herstellens unterdrücken, weil dessen Mitdarstellung Zweifel aufkommen läßt. Deshalb gilt Würde als Eigenschaft des Menschen, obwohl im Grunde nur das Problem, nicht der Erfolg universell ist. 44

Würde muß konstituiert werden. Sie ist das Ergebnis schwieriger, auf generelle Systeminteressen der Persönlichkeit bezogener, teils bewußter, teils unbewußter Darstellungsleistungen und in gleichem Maße Ergebnis ständiger sozialer Kooperation, die ebenfalls bewußt oder unbewußt, latent oder durchschauend — niemals aber in Form offener 45

sönlicher und individueller werden, daß daher auch Reaktionen auf Darstellungen persönlicher werden und mithin ein gemeinsames Interesse daran besteht, die bruchlose Kontinuität der ineinander verzahnten Darstellungen zu sichern. Denn wenn einer seine Würde verliert, flattert die Würde seiner Partner plötzlich im Leeren. Sie sind in ihrer Selbstdarstellung ebenfalls gefährdet, zumindest der Frage ausgesetzt, wie sie mit so jemandem verkehren konnten. Außerdem ist das Vordringen des Peinlichkeitsbewußtseins ein Indiz dafür, daß die Regieanforderungen der Selbstdarstellung wachsen und schließlich nicht mehr ganz der unbewußten Steuerung überlassen bleiben können. In der juristischen Literatur wird zuweilen versucht, aus diesem Phänomen der Peinlichkeit (der Scham für andere) zu folgern, daß das Recht auf Menschenwürde kein individuelles, sondern ein allgemein-menschliches Bezugsobjekt habe und daß der Einzelne deshalb nicht wirksam auf seine Würde verzichten kann, weil das dem Mitmenschen die Peinlichkeit nicht erspart. Siehe Fritz Münch, Die Menschenwürde als Grundforderung unserer Verfassung, o.O., o.J. (1951), S. 8. Konsequent durchdacht, würde dieses Argument dahin führen, daß das Bezugsobjekt des Würdeschutzes die KommunikationsOrdnung ist (und nicht etwa: ein „Wert"). So die herrschende Auffassung. Vgl. statt anderer Günter Dürig, Die Menschenauffassung des Grundgesetzes, Juristische Rundschau 1952, S. 259— j 263, und ders. (Kap. 4 Anm. 18), S. 125 ff. Die Folge dieses Ansatzes ist eine merkwürdige Statik und Abstraktheit des Würdebegriffs. Es scheint sich um eine angeborene Wertqualität zu handeln, die immer schon da ist und mithin nur (!) Respektierung verlangt. Damit kommt man jedoch gerade an das Phänomen nicht heran, das man bannen will: daß der Staat den Menschen zur Selbstentwürdigung bringen kann. Dagegen ist mit unveränderlichen Wertideen nichts zu machen. Nur ein dynamischer Würdebegriff, der Würde als Leistung in ihrer Labilität voll aufdeckt, kann den Boden bereiten für eine wirklichkeitsnahe, problembezogene juristische Abwehrtechnik. 44

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Wie bei der Freiheit ist auch bei der Würde das Bewußtseinsmoment eine sozio-kulturelle Variable. Und vielleicht kann man auch hier ein unmerkliches Vorrücken der Würdebewußtheit feststellen, etwa von Hindenburg zu Heuss.

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Kommunikation, weil das ein Darstellungsfehler wäre — praktiziert werden kann. Sie ist eines der empfindlichsten menschlichen Güter, weil sie so stark generalisiert ist, daß alle Einzelheiten den ganzen Menschen betreffen. Eine einzige Entgleisung, eine einzige Indiskretion kann sie radikal zerstören. Sie ist also alles andere als „unantastbar". Gerade wegen ihrer Exponiertheit ist sie einer der wichtigsten Schutzgegenstände unserer Verfassung. Daß sie zahlreiche Sicherungen benötigt, in gewissem Umfange mit rationalen Mitteln geschaffen und erhalten werden kann, und daß sie sogar von manchen kulturellen Requisiten, z. B. von Kleidung , abhängt, sollte Anlaß sein, nicht geringer, sondern höher von ihr zu denken. Denn Selbstdarstellung ist jener Vorgang, der den Menschen in Kommunikation mit anderen zur Person werden läßt und ihn damit in seiner Menschlichkeit konstituiert. Ohne Erfolg in der Selbstdarstellung, ohne Würde, kann er seine Persönlichkeit nicht benutzen. Ist er zu einer ausreichenden Selbstdarstellung nicht in der Lage, ^scheidet er als Kommunikationspartner aus und sein mangelndes Verständnis für Systemanforderungen bringt ihn ins Irrenhaus . 46

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Die natürliche Reaktion auf eigenen Würdeverlust ist demnach, daß der Betroffene seine Persönlichkeit aus dem Verkehr zieht. Er schränkt seine Kommunikationstätigkeit ein, vor allem auf Partner in ähnlicher Lage, und bemüht sich um Wiederherstellung seiner Würde in engem Kreise und nach Maßgabe von besonderen Darstellungsbedingungen. Er verzichtet auf die Freiheit der Kontaktwahl, führt seine. Freiheit sozusagen auf das Maß seiner Würde zurück. Er erholt sich in seiner Familie. Oft eröffnen die Umstände des Würdeverlustes ihm auch den Zugang zu exzentrischen Kreisen der Halbwelt, die durch Institutionalisierung von Kontaktgrenzen und durch einen bis in Sprache und Gestik hineinreichenden absonderlichen Verhaltensstil in der Lage sind, gebrochenen Existenzen eine neue Würde zu verleihen . Solche Würde48

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Es sei erinnert an Thomas Carlyles Sartor Resartus, wo Kleidung — wie wir in Anlehnung an eine weiter unten (Kap. 6 Anm. 5) zitierte Formulierung von Kenneth Burke sagen könnten — als „technical Substitute for god" behandelt wird. Wenn man darin die Formulierung einer Frage sehen darf, so hätte sie philosophischen Rang, was man der Bestimmung der Würde durch den Wertbegriff kaum nachsagen kann. 47

Gerade dort, wo sie nicht erfüllt werden können, hat Erving Goffman deshalb wesentliche Studien über die hohen Normalanforderungen der Selbstdarstellung getrieben. Vgl. insb. Asylums, New York 1961. Daß in solchen Kreisen die verlorene Freiheit in der Gesellschaft als Freiheit von der Gesellschaft zum Stilmoment ausgebaut wird, ist bezeichnend genug und bringt die Ersatzfunktion dieser „Subkulturen" deutlich zum Ausdruck. Der Bohemien z. B. ist eine Variante der bürgerlichen Kultur — und zwar nicht im Sinne einer Revolte — das ist seine Selbstdarstellung •—•, sondern im Sinne eines Selbstdarstellungsasyls — das ist seine Funktion. 4 8

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Asyle sind Extremfälle der allgemeinen Regel, daß jeder seine Kontakte nach Maßgabe seiner Darstellungschancen aussucht. Die Sozialordnung, und besonders die differenzierte, mobile Individuen erfordernde Sozialordnung, ist jedoch daran interessiert, Persönlichkeiten intakt und kontaktfähig zu erhalten, und zwar nicht nur für ein unpersönliches Auftreten als Passant in der Öffentlichkeit, sondern auch für soziale Zusammenhänge, in denen die individuelle Persönlichkeit Orientierungsfaktor für andere wird. Sie diskreditiert daher jene Auswege der Selbstdarstellung, die mehr oder weniger interaktionsunfähig machen und Würdeverluste mit Freiheitsverzichten kompensieren. Sie erreicht dieses Ziel vor allem dadurch, daß sie Freiheit und Würde im Sinne einer uneingeschränkten Kontaktfähigkeit der Persönlichkeit als Werte institutionalisiert: Der Mensch soll sich vor jedermann sehen lassen können! Nach diesen Darlegungen läßt sich vielleicht deutlicher erkennen, daß und weshalb Freiheit und Würde des Menschen einander wechselseitig bedingen. Es handelt sich nicht um angeborene natürliche Qualitäten des Menschen und auch nicht (oder nur bei sehr oberflächlicher Betrachtung) um sich implizierende Werte , sondern um die äußeren und inneren Vorbedingungen der Selbstdarstellung als individuelle Persönlichkeit im Kommunikationsprozeß. Freiheit hätte keinen Sinn, wenn sie nur zu inkonsistenten Selbstdarstellungen oder zu solchen führte, mit denen der Mensch sich nirgendwo sehen lassen kann. Und Würde fände kein Darstellungsmaterial, wenn es keine freien Handlungen oder Handlungsaspekte gäbe . Auf diesem Zusammenhang beruht denn auch die bekannte Möglichkeit, sich den beträchtlichen Anforderungen einer individuellen Würde-Regie durch Flucht in die vorgeprägte — und insofern unfreie — Form zu entziehen, sei es durch Flucht in die gesellschaftliche Pose oder, heute zunehmend, durch Flucht in die funktionale Rolle. 49

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In Freiheit und mit Würde kann der Mensch eine generalisierte Einstellung zu sich selbst entwickeln und seinem kommunikativen Verhalten in den verschiedenartigsten sozialen Situationen zugrunde legen. In dem Maße, als dies gelingt, kann er ziemlich heterogene Rollen übernehmen, wenn sie ihm nur genug Darstellungsspielraum gewähren. Durch mehr Achtsamkeit und Ausdrucksdisziplin und durch Eingewöh49

So die wohl vorherrschende Auffassung. Vgl. z. B. Theodor Maunz/Günter Dürig, Grundgesetz, München-Berlin ab 1958, Art. 2, Rdnr. 1 ff. Es sei nochmals erwähnt, daß wir FreiheiLals_. symbolischen Aspekt des Handelns definiert haben. Daraus folgt für die Würdepröblerhätik, daß es darstellbare Freiheitsverzichte gibt, die mit der Würde durchaus vereinbar sind, z. B. Ordensgelübde. Wesentlich für die Würde ist dann aber, daß die Durchführung dieses Verzichts nicht erzwungen werden darf wie im Falle der Sklaverei. Der Verzicht muß als kontinuierlich frei darstellbar sein. 50

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nung eines Verhaltensstils, der zu ihm selbst und seiner Darstellungsgeschichte paßt, kann der Mensch auch sehr widerspruchsvolle soziale Anforderungen erfüllen, indem er zum Beispiel einmal unpersönlichsachbezogen, im anderen Falle liebevoll und zärtlich und dann wieder geistvoll-sarkastisch handelt und dabei seinen eigenen Charakter jeweils so mitdarstellt, daß die Verschiedenheiten der Handlungen den Situationen, ihre innere Zusammengehörigkeit aber ihm selbst zugerechnet werden. So ist es auch in differenzierten Sozialordnungen, die keine personalen Rollenkombinationen mehr institutionalisieren können , noch möglich, sich an personvermittelten Zusammenhängen (und nicht nur an Sach- und Leistungszusammenhängen) auszurichten und damit in die Sachstrukturen Querverbindungen hineinzulegen, die als Orientierungshilfe dienen und wichtige Koordinationsfunktionen erfüllen. Der beste Beweis dafür ist, daß gerade in großen Bürokratien ein zwar affektneutrales, aber dennoch sehr intensives Interesse an Personen lebendig bleibt. Wir haben gesehen, daß kunstvoll-konsistente individuelle Selbstdarstellungen nur möglich sind, wo der Staat den Frieden garantiert; und daß andererseits die funktional-spezifische Ausdifferenzierung eines dazu fähigen Staatsapparates differenzierte Loyalitäten erfordert und damit die Gesellschaft vor ein Problem stellt, das letztlich nur in individuellen Verhaltenssynthesen gelöst werden kann. Staat und individuelle Persönlichkeit bezeichnen verschiedene Richtungen der Generalisierung von Kommunikationen, verschiedene Systembüdungen, die sich wechselseitig zwar voraussetzen, sich aber nicht in vollem Umfange bewirken und gewährleisten können. Das gleiche Bild werden wir in den nächsten beiden Kapiteln gewinnen ^wenn wir das Verhältnis des politischen Systems zu den \Kommunikationsprozessen der Erwartungsbildung und der Bedarfsbefriedigung daraufhin überprüfen. Diese Einsicht ist nichts anderes als die Erkenntnis des Strukturprinzips funktional-spezifischer Differenzierung, der Bildung von funktional differenzierten Untersystemen in der Gesellschaft, und muß sich deshalb, wenn unser theoretischer Ausgangspunkt zutrifft, als durchgehender Befund aufweisen lassen. Gerade daraus ergibt sich nun die Funktion der, Grundrechte: Sie bezieht sich 'nicht auf die Herstellung der Differenzierung in relativ autonome Kommunikationsstrukturen , sondern auf die Erhaltung der 51

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Siehe auch unten S. 180. Die gegenteilige Meinung: daß der Staat durch Grundrechte autonome Lebensbereiche schaffe, wird in Deutschland häufig vertreten. Vgl. z. B. Erich Kaufmann, Grundrechte und Wohlfahrtsstaat, in: Hermann Wandersieb (Hrsg.), R e c h t — S t a a t — Wirtschaft, B d . 4, Düsseldorf 1953, S. 77—87 (79 i.). Sie geht letztlich auf Hegels Konzeption des Verhältnisses von Staat und Gesellschaft zurück. 52

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4. Kap.: Würde und Freiheit

die Gesamtordnung konstituierenden Differenzierung gegenüber Gefährdungen, die aus den Systemtrennungen und den damit verbundenen wechselseitigen Abhängigkeiten entstehen. Grundrechte gewährleisten weder Freiheit noch Würde. Das steht nicht in der Macht des Staates. Dieser muß voraussetzen, daß der Mensch genug Verstand und Erfahrung besitzt, um seine Persönlichkeit richtig zu handhaben. Insofern ist es sinnvoll, Freiheit und Würde als vorstaatliche Rechtsgüter zu betrachten. Der geisteswissenschaftliche oder rechtsdogmatische Sinn derartiger Charakterisierungen der Grundrechte als vorstaatlich, allmenschlich, naturrechtlich, nicht disponibel mag .unklar und umstritten sein und bleiben. Die Funktion dieser Symbolik ist eindeutig. Sie interpretiert und veranschaulicht unausweichliche Folgeprobleme des Strukturprinzips unserer Sozialordnung, vor allem die Tatsache, daß die strukturelle Differenzierung der Sozialordnung Bedingung der Möglichkeit des Staates, nicht aber umgekehrt der Staat Entscheidungsinstanz für die Wahl des Strukturprinzips ist. Soziologisch gesehen spiegelt sich in dieser Grundrechtssymbolik mithin die Ausdifferenzierung und funktionale Spezifikation des Staates als Handlungssystem eigener Art in der Gesellschaft. Die gesellschaftliche Differenzierung tendiert dazu, ihre eigenen Grundlagen zu korrumpieren. Ihr Ausbau läßt Folgeprobleme entstehen und bedarf zunehmend künstlicher Absicherungen. Die Einrichtung eines relativ autonomen Handlungssystems für die Herstellung verbindlicher Entscheidungen kann die Chancen zu persönlicher Selbstdarstellung gefährden. Vor allem in ihren Außenbedingungen; denn im Akzeptieren verbindlicher Entscheidungen ist man nicht frei, ja sogar als unfrei sichtbar. Und daran ändert die Kompensation der Annahmebereitschaft durch Mitwirkungschancen am Prozeß der politischen Entscheidungsvorbereitung nicht das geringste. Denn, wie wir noch sehen werden , bietet die politische Mitwirkung, jedenfalls in ihrer offiziellen Form: den Wahlen, der Selbstdarstellung wenig Chancen. Daher braucht die „demokratische" Ordnung, die sich mit zunehmender sozialer Interdependenz überall einstellt: der Eintausch der selbständigen Freiheit gegen Mitwirkung, der unabhängigen Macht gegen Kommunikationsprivilegien (namentlich: Status), gewisse korrigierende „liberale" Begleitinstitutionen — eine Einsicht, die in der politischen Literatur vor allem auf dem von Rousseau geschaffenen Forum diskutiert wird. 53

Hier ordnen sich die Freiheitsrechte des Grundgesetzes und sein normatives Bekenntnis zur Menschenwürde ein und erhalten eine sinnvolle Funktion. S3

Vgl. unten S. 148.

4. Kap.: Würde und Freiheit

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Daß Freiheit besser normierbar ist als Würde, die das Grundgesetz nur einmal (Art. 1 Abs. 1), nur als normatives Leitbild, ohne jede Vorschau auf ein konkretes Handeln und ohne jede Einschränkung (also: entsprechend unbestimmt!) nennt, das dürfte nach den vorangegangenen Erwägungen ohne weiteres einleuchten. Als Freiheit soll ein Spielraum eigenen Handelns abgesteckt werden, der gegen Übergriffe juristisch abgesichert werden kann. Würde dagegen verliert man durch symbolische Implikationen des eigenen Verhaltens in einer Weise, die staatlich schwer zu erfassen und zu beeinflussen ist . Das liberale Verfassungsrecht hatte deshalb die äußeren Bedingungen der Selbstdarstelluiig,' die Freiheitsproblematik, ernstgenommen, die inneren Probleme der Würde dagegen ganz dem Individuum überlassen. Erst der „totale" Staat ist hinterlistig in die Regie der Würde eingedrungen, indem er zum Beispiel „freiwilliges" Handeln veranstaltet, das gänzlich unpersönlich und unindividuell ist, von unbezahlten Sonderleistungen angefangen bis zu Schuldbekenntnissen vor Gericht. Freiheit unter Fremdregie ist das Ende der Würde, jedenfalls der öffentlichen Würde des Menschen , weil sie ihn zu persönlichen Darstellungen veranlaßt, die ihn in die Alternative zwingen, entweder inkonsistent zu sein und in ein öffentliches und ein privates Selbst zu zerfallen oder seine Eigenheit ganz zugunsten der geforderten Linie aufzugeben. Dazu kommt die Verbindung öffentlicher Verleumdung, die es überall gibt und die als 54

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Seine Würde hat der Mensch also in erster Linie selbst zu verantworten. Da gerade diese Verantwortung die Würde ist, können ihr direkte Angriffe zumeist nichts anhaben. Es ist deshalb falsch, schon in Handlungen, die Ausdruck einer Mißachtung sind, eine Verletzung der Menschenwürde zu erblicken. Eine solche liegt nur vor, wenn der respektlos Behandelte dadurch in Korrespondenzrollen gezwungen wird, die er mit einer achtungswürdigen Selbstdarstellung nicht vereinbaren kann; ferner natürlich bei allen Eingriffen in die private Regie der Selbstdarstellung, z. B. durch unerlaubte Veröffentlichung privater Aufzeichnungen, der Ergebnisse medizinischer Untersuchungen, durch unbemerkte Tonbandaufnahmen usw. Die herrschende Meinung, die Würde als objektiven Wert auffaßt, kann diesen Unterschied nicht machen. Ihre Kasuistik — vgl. z. B. die Übersicht bei Andreas Hamann, Das Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland vom 23. Mai 1949, 2. Aufl. Neuwied-Berlin 1960, Art. 1 Anm. B — gerät in das Dilemma, die praktische Würdeproblematik entweder im Rückzug auf einen tiefliegenden Wesenswert zu unterschätzen oder bei der Ausarbeitung auf Schlangenlinien um die unvermeidlichen Beeinträchtigungen herumzuführen und so jede dogmatische Konsistenz zu verlieren. 55

Man darf natürlich nicht verkennen, daß im „totalen" Staat die Sensibilität für Darstellungen sich d e n Gegebenheiten anpaßt u n d in eine Richtung verfeinert wird, die zum Beispiel den Ankömmlingen aus den westlichen Siegerstaaten im Jahre 1945 gänzlich unverständlich bleiben mußte. So gab es im „Dritten Reich" zahlreiche Variationen des Hitlergrußes, von denen einige recht eindeutig waren; und Möglichkeiten, sein „freiwilliges" Handeln so zu stilisieren, daß die Unfreiwilligkeit erkennbar wurde, ohne zur Rede gestellt werden zu können. Doch w a s half d a s ! G e r a d e diese E r i n n e r u n g e n zeigen, wie stark die Ausdrucksmittel der Würde u n d damit sie selbst beschnitten werden können, wo es keine Freiheit gibt.

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4. Kap.: Würde und Freiheit

solche die Würde nicht tangiert, mit einem Monopol auf öffentliche Kommunikation. Das macht es möglich, Menschen so wirksam zu diskreditieren, daß sie kein Echo für ihre eigene Selbstdarstellung mehr finden. Derartigen Entwürdigungen ist die juristische Tatbestandstechnik der liberalen Verfassungskonstruktion nicht gewachsen , und auch das Bonner Grundgesetz vermag sie im Grundrechtsteil nur zu perhorreszieren, während die wirklichen Sicherungen im Organisationsrecht liegen. 56

Dennoch besteht kein vernünftiger Grund, an der Juridifizierbarkeit des grundrechtlichen Würde-Schutzes zu zweifeln oder die Würde des Menschen zwar als normativen Leitgedanken, nicht aber als Grundrecht anzusehen . Man muß nur darauf verzichten, die gesetzliche Bestim57

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Das gilt um so mehr, wenn man Würde als Wert des Menschen deutet. Zu den daraus sich ergebenden Schwierigkeiten tatbestandsmäßiger Aufgliederung vgl. Josef M. Wintrich, Die Bedeutung der „Menschenwürde" für die Anwendung des Rechts, Bayerische Verwaltungsblätter 5 (1957), S. 137—140 (138). Ebenso wenig ergibt die von der herrschenden Meinung rezipierte Regel der Kantischen Ethik: der Mensch dürfe nicht als Mittel zu einem außer ihm selbst liegenden Zweck benutzt werden, irgendwelche Entscheidungshilfen. Diese Regel ist nur unter zwei Voraussetzungen instruktiv: wenn man die universelle und stets relative Anwendbarkeit des Zweck/Mittel-Schemas verkennt; und wenn man sie nicht auf den empirischen Menschen, sondern auf ein ideales Menschenbild bezieht, dem man, ohne auf Widerspruch zu stoßen, | zudiktieren kann, was sein Selbstzweck zu sein hat — zum Beispiel: als Soldat sein Vaterland zu verteidigen! Zur Kritik jener Kantischen Interpretation vgl. Weischedel (Kap. 4 Anm. 16), S. 10ff.; ferner Peter Badura, Generalprävention und Würde des Menschen, Juristenzeitung 19 (1964), S. 337—344 (339 ff.), der unter Verzicht auf eine sächlich fundierte Begriffsdeutung als Auslegungsmaßstäbe die historischen Gefahrpunkte heranzieht, gegen die man den Satz über die Würde, des Menschen aufgestellt hat. Das überzeugt jedoch nur, solange man nichts Besseres weiß. 57

So jedoch eine oft vertretene Meinung. Vgl. z. B. Münch (Kap. 4 Anm. 43), S. 4; Hermann von Mangoldt/Friedrich Klein, Das Bonner Grundgesetz, 2. Aufl. Berlin-Frankfurt (Main) ab 1955, Art. 1 GG Anm. III 2; Dürig (Kap. 4 Anm. 18); Wertenbruch (Kap. 4 Anm. 11), S. 29 ff. Dagegen mit Recht Konrad Löwe, Ist die Würde des Menschen im Grundgesetz eine Anspruchsgrundlage? Die öffentliche Verwaltung 11 (1958), S. 516—520. Wenn Dürig (Kap. 4 Anm. 18), S. 119, meint, daß durch jene Interpretation die spezifische Anspruchsgrundlage zwar verloren gehe, aber eine „Basis für ein ganzes Wertsystem" gewonnen werde, so würde ich vom praktisch juristischen Standpunkt aus diesen Tausch für glatt unvorteilhaft halten. Wieso ein Wertsystem, zumal ein „lückenloses" (S. 122), überhaupt einer „Basis" bedarf, ist unklar. In welchem Sinne Werte überhaupt ein „System" bilden können (außer im Sinne einer Hierarchie von Vorzugsregeln für Konfliktsentscheidungen) ist schwer zu erkennen. Daß Wertbegriffe bei der Verwendung in logischen Schlüssen (jedenfalls in den zur Zeit bekannten Logiken) außerordentliche Schwierigkeiten bereiten, ist bekannt. Am ehesten könnte man noch aus dem umgekehrten Befund: aus der Annahme einer ganz lockeren und deduktiv unbrauchbaren Wertegruppierung, folgern, daß eine einheitliche Phrasierung der Grundrechtsrhetorik vom Würdegedanken h e r einen gewissen dogmatischen und forensischen Wert haben kann. Siehe auch die kritischen Ausführungen von Badura (Kap. 4 Anm. 56), S. 339 ff.

4. Kap.: Würde und Freiheit

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mung mit Pathos zu überlasten, denn mit Bannsprüchen allein ist kein Prozeß zu gewinnen. Hier wie auch sonst muß die juristische Dogmatik an meta juristische, regelungsbedürftige Probleme anknüpfen, und sie findet diese Problematik nicht in der fundamentalen Natur grundsätzlicher Werte, sondern im sozialen Leben . Das Problem der Würde aber ist die Schwierigkeit einer konsistenten und überzeugenden Selbstdarstellung und die Eigenverantwortung des Menschen für die Lösung dieser Aufgabe. Über ihm zurechenbare Darstellungen muß der Mensch selbst entscheiden können, denn nur er kann bestimmen, was er ist . Darin gewährt die Verfassung ihm Schutz vor dem Staat . 58

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Beim Hochtreiben des Würde-Wertes kommt es im übrigen nicht selten zu einer bezeichnenden Geringschätzung menschlicher Fähigkeiten — so wenn Max Schreiter, Gehorsam für automatische Farbzeichen, Die öffentliche Verwaltung 9 (1956), S. 692—694, glaubt, daß der Mensch nicht imstande sei, vor automatisch geschalteten Verkehrszeichen anzuhalten, ohne seine Würde zu verlieren. Gegen solche Thesen sollte man im Namen des Menschen protestieren — und nicht im Hinblick auf eine gebotene Güterabwägung (so Hans Peter Bull, Verwaltung durch Maschinen: Rechtsprobleme der Technisierung der Verwaltung, Köln 1964, S. 93 ff.), womit man implizit eine Verletzung der „unantastbaren" Menschenwürde bejaht. 59

So ist denn mit Recht das auch für freiheitliche Demokratien heikle Paradebeispiel die Würdebedrohung im Strafverfahren, und zwar besonders in bezug auf die Techniken der Geständniserwirkung und des Aufdeckens von Lügen durch Kontrolle organischer Körperfunktionen. Durch Art. 1 Abs. 1 GG ist es verboten, Kommunikationen zu erwirken, die der Täter nicht in seine Selbstdarstellung eingliedern kann. (Vgl. die Entscheidung des Bundesgerichtshofs vom 16. 2.1954, BGHSt 5, S. 332 ff., und § 136a StPO.) Ihm muß die Möglichkeit gelassen werden, seine Selbstprojektion mit den nachweisbaren Fakten selbst in Einklang zu bringen. Auch ein Einverständnis des Beschuldigten mit dem Gebrauch solcher Mittel ist unzulässig — nicht weil er selbst über seine Würde nicht verfügen könnte, sondern weil aus der Verweigerung des Einverständnisses Rückschlüsse gezogen werden könnten. Für unsere Theorie ist dies ein repräsentatives Anwendungsbeispiel, während die herrschende Auffassung nicht so recht verständlich machen kann, warum gerade damit die Würde des Verbrechers in so besonderer Weise getroffen wird. Zum Gesamtkomplex und zu weiteren Würdeproblemen des Strafverfahrens vgl. Hubert Schorn, Der Schutz der Menschenwürde im Strafverfahren, Neuwied-Berlin 1963. Ein anderes Beispiel: Die Fernsehüberwachung von Arbeitsräumen, wird von Bull (Kap. 4 Anm. 58), S. 137, gegen Dieter Gaul, Rechtsprobleme der Rationalisierung mit ihren Lohn- und Personalfragen, Heidelberg'1961, S. 211 ff., mit Recht für problematisch gehalten, weil sie dem Menschen die Möglichkeit nimmt, sich begrenzt auf Beobachtung einzustellen, ihn vielmehr in die Dauerspannung eines ununterbrochenen Darstellungszwangs versetzt. Zum interessanten Grenzfall psychologischer Eignungsprüfungen bei der Zulassung zum Führen von Kraftfahrzeugen vgl. die Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts vom 20. 12. 1963, Neue Juristische Wochenschrift 17 (1964), S. 607 f. = Deutsches Verwaltungsblatt 79 (1964), S. 938 ff. Dazu R. Hörstel, Wird die Würde des Menschen durch psychologische Untersuchungen im Auftrage der Verwaltung angetastet? Deutsches Verwaltungsblatt 79 (1964), S. 1009—1014. Man wird nach unserer Theorie des Würdeproblems darauf abstellen, ob der Test spezifische Fähigkeiten oder die Gesamtpersönlichkeit betrifft und ob er symbolischkommunikativ isoliert werden kann. 60

Und zwar: nur vor dem Staat. Daß die Würde jedes Menschen jeden

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4. Kap.: Würde und Freiheit

Beachtenswert ist in diesem Zusammenhang der Versuch von Scholler , die hier behandelte Problematik des Schutzes einer geheimen Intimsphäre dem Art. 4 Abs. 1 GG (Gewissensfreiheit) zu unterlegen. Daß Würde und Gewissen eng verbundene Tatbestände sind, ist evident. Unter Gewissen wird man jedoch nicht die Geheimsphäre als solche zu verstehen haben . Das reine Geheimhalten ist für sich selbst nicht schutzwürdig, es sei denn, daß man im Sinne der Mystik das Geheimnis als Symbol für die Unnennbarkeit von etwas anderem auffaßt. Das Gewissen betreut einen sozialen, kommunikativen Tatbestand. Es wird angerufen in dem Bewußtsein, daß der Mensch mit bestimmten kritischen Verhaltensweisen etwas darüber aussagt, was er ist, die Erwartungen in bezug auf sich selbst im Ablauf des Lebens zu Tatsachen macht und dadurch die eigene Person unwiderruflich identifiziert. Das Gewissen stellt das eigene Sein zur Entscheidung. Daher spricht es nur im Blick auf den Tod. Es muß ihn erwägen als Alternative zu einem Handeln, das es als eigenes nicht wollen kann. Rentenkonkubinate zum Beispiel sind niemals eine Gewissensfrage. 61

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Menschen verpflichtet, ist unvorstellbar — es sei denn mit Hilfe eines überzogenen, von aller Empirie abgelösten Würdebegriffs. Warum und wie soll ich als Privatmann gehindert werden, jemanden, der seine Würde zu sehr aufbläst, mit sanfter Hand auf Glatteis zu führen? Man kann diese These nur vertreten — und die herrschende Meinung tut das leider —, wenn man zugleich auf einen empirisch präzisierten Würdebegriff verzichtet und sich darauf beschränkt, Achtung vor Werten zu proklamieren. Damit wird aber der Würde gegen Anfechtungen durch private Tücke wenig geholfen, und der viel wichtigere Schutz gegenüber dem Staat ins Konturlose verunsichert. Im übrigen wäre es sinnlos, dem Staat nicht nur die Achtung, sondern auch den Schutz der Menschenwürde aufzugeben, wenn ohnehin jedermann rechtlich verpflichtet wäre, sie zu achten. Vielmehr hat der Staat — ggf. auch durch Rechtsetzung, die konkrete Pflichten der Bürger gegeneinander statuiert — leigens und im Rahmen seiner Möglichkeiten dafür zu sorgen, daß im gesellschaftlichen Verkehr die Menschenwürde nicht untergeht. Dem dient z. B. das zivilrechtliche Persönlichkeitsrecht, das auch einen gewissen Schutz gegen besonders krasse Formen der Indiskretion gewährt, ohne damit freilich die faktische Würdeproblematik in voller Breite zu erfassen. Vgl. dazu etwa Heinrich Hubmann, Der zivilrechtliche Schutz der Persönlichkeit gegen Indiskretion, Juristenzeitung 12 (1957), S. 521—528. 61

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Heinrich J. Scholler, Die Freiheit des Gewissens, Berlin 1958.

Sogar Scholler selbst kann seinem Begriff nicht treu bleiben. Er füllt ihn heimlich mit Mystik und Wärme, so daß das Heimliche eine heimelige Note bekommt. So kann er auch Gewissenlosigkeit ablehnen (z.B. S. 195), ohne daran zu denken, daß er darunter eigentlich nur die Publizität des Innenlebens versteht. Er folgert aus der Gewissensfreiheit die Versammlungsfreiheit (S. 209), wobei er offenbar nicht nur schweigende Quakerversammlungen im Auge hat. Und die Auffassung des Sittengesetzes als „Pflicht zur Gewissensanspannung" (S. 203) soll das Sittengesetz sicher nicht auf Geheimschutzvorkehrungen reduzieren. Überhaupt stößt sich diese Gleichsetzung von Gewissen und Geheimsphäre hart an der Tatsache, daß das Grundgesetz vom Kriegsdienstgegner gerade die Offenbarung seiner Gewissensentscheidung verlangt.

4. Kap.: Würde und Freiheit

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Es ist aber nicht unverständlich, daß man in diesen und ähnlich entlegenen Bereichen nach Gewissensproblemen sucht. Echte Gewissenssituationen, in denen der Mensch ernsthaft den eigenen Tod als Alternative erwägen muß, sind selten geworden. Man braucht das Gewissen eigentlich nur noch als Argument bei Verteilungsverhandlungen. Der Vorrat an Handlungsalternativen ist so groß, daß es fast immer vertretbare Auswege gibt. Und die ärgste Feindin des Gewissens, die Gewissensfreiheit, verhindert nach Möglichkeit, daß der Mensch überhaupt in Situationen kommt, in denen er die Gewissensentscheidung zu treffen hat . Von Gewissensnot wird er durch die Struktur der differenzierten Gesellschaft normalerweise entlastet. Denn der Tod hat keine Funktion. So kann unter den Bedingungen einer Sozialordnung, die Grundrechte kennt, das Gewissen in die breitere, alle Einzelheiten des sozialen Rollenspiels erfassende Würdeproblematik des Menschen aufgelöst — und sein Tod vorläufig ignoriert werden. 03

Unsere Interpretation des Würdebegriffs und seines Bezugsproblems leistet etwas, was der herrschenden Werttheorie nicht gelungen ist: eine klare Abgrenzung des Würdebegriffs und des Freiheitsbegriffs und damit der Art. 1 Abs. 1 und 2 Abs. 1 GG voneinander zu ermöglichen, eine Abgrenzung, die zugleich die eigentümliche Interdependenz, das Aufeinanderangewiesensein beider verständlich macht. Die Würde bezieht sich auf die inneren, die Freiheit auf die äußeren Bedingungen und Probleme der Selbstdarstellung als individuelle Persönlichkeit. Die Gefährdungen der Selbstdarstellung und die Richtungen ihrer Hilfsund Sichexungsbedürftigkeit unterscheiden sich deutlich, weil alle Handlungssysteme, auch das der menschlichen Persönlichkeit, sich durch eine Innen/Außen-Differenz konstituieren. Das geschützte Rechtsgut aber ist in beiden Fällen dasselbe: die sich in ihrer Selbstdarstellung individuell konstituierende Persönlichkeit. Während in der Behandlung des Würde-Phänomens ein Blick auf soziologische und sozialpsychologische Erkenntnisse uns von den Grundannahmen der herrschenden Verfassungsinterpretation weit abgeführt hat, ist dies bei den Freiheitsrechten weniger zu befürchten. Auch hier wäre grundsätzlich zwar zu sagen, daß Freiheit als „Wert" nicht ausreichend charakterisiert ist, weil jeder Wert Freiheit, nämlich Freiheit zur Wahl, schon voraussetzt . Doch abgesehen von dieser Frage letzter 64

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Zu dieser Interpretation des Grundrechts der Gewissensfreiheit, das Gewissensentscheidungen ersparen (nicht: fördern!) soll, weil sie zu unberechenbaren Unterbrechungen in den Rollenbeziehungen führen, vgl. meinen im Archiv des öffentlichen Rechts erscheinenden Aufsatz: Die Gewissensfreiheit und das Gewissen. Daß Freiheit als Wert proklamiert und zur Geltung gebracht werden kann, um Entscheidungen auf das Bewirken oder Fördern der Freiheit hin 64

zu orientieren, sei nicht bestritten. Aber diese Entscheidungen müssen schon frei sein, wenn die Frage der Geltung des Wertes der Freiheit diskutiert

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4. Kap.: Würde und Freiheit

begrifflicher Verankerung gibt uns die rechtsstaatliche Doktrin der Freiheitsrechte und ihre positivrechtliche Ausformung im Grundgesetz eine treffliche Illustration des soziologischen Problems und seiner Lösungsmöglichkeiten. Sinn der Freiheitsrechte, die das Grundgesetz mit einem glücklichen Griff in Art. 2 Abs. 1 wie in einem Brennpunkt zusammengezogen und als Recht auf die freie Entfaltung der Persönlichkeit umschrieben hat, ist vor allem die Gewährleistung eines Handlungsspielraums, dessen Ausfüllung dem Menschen als Person zurechenbar ist. Ihm ist dadurch die Möglichkeit gegeben, sich selbst nicht nur als veranlaßte Handlungsserie, sondern als identische Persönlichkeit zu begreifen und in den symbolischen Implikationen seines Handelns sozial zu konstituieren. Freiheit ist Handlungsfreiheit, ist aber nicht um der Beliebigkeit des physischen Handlungsvollzug oder um dessen physischer Wirkungen willen gewährt, sondern als Zurechnungsgrund für den kommunikativ erfaßbaren Sinn des Handelns. Auch hier können aus psychologischen und soziologischen Vorerwägungen Ansätze zu einer Präzisierung der dogmatischen Fragestellungen gewonnen werden. Wenn es gelingt, den Persönlichkeitsbegriff des Art. 2 Abs. 1 GG auf einen wirklichkeitswissenschaftlichen Tatbestand , zu beziehen, braucht man die genannte Bestimmung nicht länger als Gewährleistung der allgemeinen Handlungsfreiheit zu verstehen, also zu einer pathetischen Wiederholung des Prinzips der Gesetzmäßigkeit der Verwaltung und der Verfassungsmäßigkeit der Gesetzgebung zu entleeren —was dem Persönlichkeitsbegriff des Grundgesetzes jede charakteristische Bedeutung nimmt und außerdem den unerwünschten Effekt hat, die Verfassungsbeschwerde wegen Grundrechtsverletzung zu einer allgemeinen Gesetzmäßigkeitskontrolle des Staatshandelns auszuweiten . Auf der anderen Seite können auch die Unbestimmtheiten und wertethischen Einseitigkeiten der sagenannten Persönlichkeitskerntheorie, vor allem ihre Beschränkung des Persönlichkeitsbegriffs auf ein sittliches Leitbild bestimmter Ausprägung, vermieden werden. Eine Theorie, die den Persönlichkeitsbegriff normativ anreichert, kann^ 65

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wird. Der Wertbegriff verstellt den Zugang zu einer viel ursprünglicheren und tieferen Freiheitskonzeption, weil er sie impliziert, aber nicht entfaltet. Und zugleich schneidet die Dogmatik sich den Kontakt mit den Sozialwissenschaften ab, wenn sie Werte als letzte Grundbegriffe behandelt und die Frage nach der Funktion von Werten als Profanierung des Höchsten, mit einem Tabu belegt. Dieser Einwand auch bei von Mangoldt/Klein (Kap. 4 Anm. 57) Art. 2 GG Anm. III 6a. So bekanntlich die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts seit der Entscheidung vom 16.1.1957, BVerfGE 6, S. 32 ff., und im Schrifttum z. B, Wintrich (Kap. 4 Anm. 4), S. 22 ff.; Maunz/Dürig (Kap. 4 Anm. 49) Art. 2 GG, Rdnr. 6 ff. 65

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4. Kap.: Würde und Freiheit

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nicht recht verständlich machen, wieso das Persönlichkeitsrecht noch der Einschränkung durch die Rechte anderer, die verfassungsmäßige Ordnung und das Sittengesetz bedarf . Zwischen diesen beiden Polen, welche die dogmatische Diskussion des letzten Jahrzehnts bestimmt haben, kann man mit Hilfe eines wirklichkeitswissenschaftlichen Kompasses hindurchsteuern (ohne daß der Charakter der Verfassungsbestimmung, als einer Norm dadurch in irgendeiner Weise angetastet würde). Das Recht auf freie Entfaltung der Persönlichkeit ist das Recht des Menschen auf eine ihm zurechenbare Handelnssphäre, die er braucht, um sich als Persönlichkeit, als selbstbewußte individuelle Einheit darstellen zu können. 67

Dieser Bedarf an selbstbezüglicher Symbolik ergreift selbst das scheinbar so physikalische oder doch biologische Recht der freien Bewegung des eigenen Körpers. Es heißt nicht zufällig „Freiheit der Person" (Art. 2 Abs. 2 GG), denn es ist das Basisrecht der Selbstdarstellung, die sich primär durch Verfügung über Aufenthalt, Haltung und Ausdruck des eigenen Körpers vollzieht . Glaubens- und Meinungsfreiheit, die Freiheiten der Kontaktaufnahme, des Erwerbens und Besitzens und der politischen Mitwirkung schließen sich an. Sie alle haben eine Funktion als Garantie von Ausdruckschancen der Persönlichkeit. Sie schützen die symbolisch-expressiven Komponenten des freien Handelns und sind insofern auf das allgemeine Recht der freien Persönlichkeitsentfaltung zurückbezogen. Die besonderen Freiheitsrechte sind mithin, in der Perspektive der allgemeinen Freiheitsklausel des Art. 2 Abs. 1 GG gesehen, Chancen der absichtlichen und unabsichtlichen Kommunikation des individuellen Wesens der eigenen Persönlichkeit und damit Chancen, für die eigene Selbstauffassung soziale Anerkennung und Bestätigung zu gewinnen. 68

Sie sind jedoch weit mehr als das. Ihre Auffächerung in Einzelgrundrechte spiegelt außerdem die soziale Differenzierung in mehrere relativ autonome Sphären gesellschaftlicher Sinnbildung wieder. Sie haben nicht allein die genannte Funktion für die Selbstdarstellung der Persönlichkeit — das dafür spezifisch ausgesonderte Grundrecht ist das der Verfügung über den eigenen Körper —; sondern sie reichen in jene anderen Sondersphären der Gesellschaft, nämlich die der Meinungsbildung (Kultur, Institutionen), der Kapitalbildung (Wirtschaft) und der Machtbildung (Staat) hinein, deren Behandlung wir für die nächsten 67

Vgl. namentlich Hans Peters, Die freie Entfaltung der Persönlichkeit als Verfassungsziel, Festschrift für Rudolf Laun, Hamburg 1953, S. 669—678, und ders., Das Recht auf freie Entfaltung der Persönlichkeit, Köln-Opladen 1963; Hamel (Kap. 4 Anm. 16), S. 30 ff. Siehe dazu eine bedenkenswerte B e m e r k u n g v o n P a r s o n s (Kap. 3 Anm. 9) S. 47, wonach der Sinn der Gefängnisstrafe hauptsächlich in der Beschränkung und Kontrolle von Kommunikationsmöglichkeiten bestehe. 6 8

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4. Kap.: Würde und Freiheit

Kapitel zurückgestellt haben. Jene Sphären stellen eigene Anforderungen an die Generalisierung von Kommunikationen, die sich von denen der persönlichen Selbstdarstellung wesentlich, zuweilen kraß, unterscheiden, die in unserer Verfassungsordnung aber ffotedem durch die Institution der Freiheitsrechte mitgesichert werden. Die Beziehung der Freiheitsrechte auf das Grundrecht der Persönlichkeitsentfaltung und damit auf die Selbstdarstellungsproblematik ist mithin nur eine von mehreren gleichwichtigen Untersystem-Referenzen in der Gesamtgesellschaft. Diese multifunktionale Verwendung der Grundrechtsinstitution in einer differenzierten und daher von komplexen, widerspruchsvollen Untersystembedürfnissen regierten Sozialordnung ist einer der bezeichnendsten Charakterzüge unserer politischen Verfassung und damit unseres Gesellschaftssystems. Er wird verfehlt, wenn man alle Freiheitsrechte unter das Persönlichkeitsrecht des Art. 2 Abs. 1 GG oder unter den Würdewert des Art. 1 Abs. 1 GG subsumiert und sie von da her dogmatisch systematisiert. Damit greift man an allem, was wir heute über den Menschen wissen, vorbei. Eine unbefangene Analyse der menschlichen Persönlichkeit, ihrer Struktur, ihrer Probleme und Bedürfnisse, ihres Erlebnis- und Erlebensverarbeitungspotentials würde niemals zu dem Grundrechtskatalog mit seinen Aufteilungen und Akzentsetzungen führen. Die Annahme, daß er als „System" von Werten aus dem Wesen des Menschen folge, ist schlechthin illusionär. Legt man sie zugrunde, dann interpretiert man, ohne andere Möglichkeiten zu sehen, den Freiheitsschutz lediglich von angenommenen Interessen der individuellen Persönlichkeit her. Man muß dann alle Interessen der Gesellschaft im ganzen oder ihres politischen Systems als Gegeninteresse formulieren, die sich als Grundrechtseinschränkungen gegen eine vermutete Freiheit des Individuums juristisch durchzusetzen haben — immer in Gefahr, daß ein Individuum seine Persönlichkeit entfaltet und die öffentlichen Interessen in die enger und enger geflochtenen Maschen des Verfassungsrechts treibt. Die in der dogmatischen Jurisprudenz heute herrschende Auffassung geht diesen Fehlweg — und ein gewisses Recht dazu kann man ihr angesichts der Vorstellungswelt des Verfassungsgebers kaum abstreiten. Sie deutet das Persönlichkeitsgrundrecht des Art. 2 Abs. 1 GG als eine Generalklausel, als Grundsatzbekenntnis zur Freiheit, das dann in den besonderen Freiheitsrechten konkretisiert und juristisch griffig ausgemünzt wird . Man denkt von vornherein dogmatisch in Begriffsverhältnissen, nicht soziologisch in Handlungssystemreferenzen, und hat 69

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Siehe z. B. von Mangoldt/Klein (Kap. 4 Anm. 57), Art. 2 GG Anm. III, insb. 1 und 5c.

4. Kap.: Würde und Freiheit

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daher auch keine Möglichkeit, soziologische Analysen in eine wirklichkeitsbezogene juristische Dogmatik (die selbst natürlich nie soziologisch arbeiten kann!) umzudenken. Man bekennt sich zwar durchaus zu dem Gedanken, daß die Freiheit des Einzelnen auch der Gesellschaft im ganzen diene, hat für diesen Gedanken aber eigentlich nur die alten Denkmodelle des Staatsvertrages oder des wie auch immer umrahmten Laissez-faire — Automatismus zur Verfügung. So dient er allenfalls zur Rechtfertigung der Institution der Grundrechte (falls diese nicht als Werte jedem Rechtfertigungsbedürfnis enthoben werden), nicht aber als Leitfaden ihrer Interpretation. Der Blick auf komplizierter gebaute neuere soziologische Theorien wird blockiert durch Orientierung an den einfachen Dichotomien von Gesellschaft und Staat oder von Individualinteresse und sozial gebotener Einschränkung. Wir gehen auf den gegenwärtigen Stand der Grundrechtsdogmatik nicht so sehr in polemischer Absicht ein als vielmehr, um die innere Konsequenz dieser Position deutlich zu machen: Die Freiheitsrechte werden deshalb auf einen einzigen Zentralpunkt, das Persönlichkeitsrecht des Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG, hin ausgerichtet, weil die Dichotomie von Staat und Gesellschaft keine andere Wahl läßt. Diese Ausrichtung zwingt einerseits dazu, den Bezugspunkt, das Freiheitsrecht der individuellen Persönlichkeit, vieldeutig, unbestimmt und tiefsinnig auszulegen, damit er als Quelle aller Freiheitsrechte glaubhaft wird. Damit verliert die Dogmatik den Kontakt mit den wissenschaftlich kontrollierbaren Wahrheiten, mit der Persönlichkeitstheorie, wie sie in der Psychologie und in den Sozialwissenschaften ständiger Überprüfung und Verfeinerung unterworfen ist. Sie bevorzugt statt dessen vorwissenschaftliche Dogmen über die Natur des Menschen. Und andererseits nötigt diese Polarisierung auf ein einheitliches Freiheitsprinzip dazu, die sich aufdrängenden Probleme mit Hilfe der Dichotomie von Individualrecht und Sozialbindung zu explizieren. Die Erläuterung dieses Zusammenhanges der Freiheitsrechte und ihrer Einschränkungen ist nur mit sehr elastischen Methoden der Textinterpretation oder der Werteinterpretation zu bewerkstelligen, welche die nun unvermeidliche Interessenabwägung faktisch auf den Richter delegieren. Die Geschlossenheit dieses Vorstellungszusammenhanges wird erst bei einer Betrachtung von außen sichtbar, und diese leitet, wenn ihr Standpunkt richtig gewählt ist, unversehens seine Überwindung ein. Nicht jede Soziologie kann freilich diese Orientierungsaufgabe erfüllen. Besonders jene Sozialphilosophien und frühsoziologischen Theorien, welche die Gesellschaft als Agglomerat kausal wirkender Kräfte betrachteten, die in Form von Bedarfsanmeldungen und Interessengruppierungen gegen den hoheitsvoll abwartenden Staat anbranden, vermochten

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4. Kap.: Würde und Freiheit

der Verfassungsdogmatik wenig zu geben; sie bekräftigten die wechselseitige Isolierung vom Methodischen her und bauten die Unterscheidung von Staat und Gesellschaft zu einer Unterscheidung von Staatswissenschaften und Gesellschaftswissenschaften aus . 70

Die moderne Strukturtheorie gesellschaftlicher Systeme eröffnet ganz andere Möglichkeiten. Sie läßt jene traditionellen Dichotomien von oikos und polis, Land und Herrschaft, civil society und government, Gesellschaft und Staat, die der Politikwissenschaft bisher den Rahmen gaben, hinter sich . Statt dessen stellt sie jene Probleme in den Mittelpunkt, die sich aus dem Ausbau des gesellschaftlichen Leistungspotentials durch funktional-spezifische Differenzierung ergeben. Sie kommt dadurch zu einem relativ komplizierten Verständnis sozialer Vorgänge und Sinnbeziehungen, dem die System- und Problemrelativität der funktionalen Methode am besten'zu entsprechen scheint. 71

In diesem Kapitel haben wir, um diese Zwischenbilanz zu ziehen, erst eine gesellschaftliche Sphäre behandelt, die mit dem Problem der individuell-persönlichen Selbstdarstellung bezeichnet ist. Die Grundrechte der Freiheit und Würde haben eine wichtige Funktion des Schutzes dieser Sphäre gegen staatliche Eingriffe, welche das symbolischkommunikative Ausdruckspotential der Persönlichkeit entscheidend lähmen könnten. Ein bedeutsamer Vorgang der Gerreralisierung von Kommunikationen, der Sinngebung durch Systemreferenz, wird damit abgesichert. Doch ist das individuell-persönliche Aktionssystem keineswegs das einzige Untersystem, das in einer differenzierten Gesellschaft Schutz verdient, und seine Selbstdarstellung nicht die einzige Form der Kommunikationsgeneralisierung, die wir beachten müssen. Die funk70

Vgl. Robert von Mohl, Gesellschafts-Wissenschaften und Staats-Wissenschaften, Zeitschrift für die gesamte Staatswissenschaft 7 (1851), S. 1—71; ders., Die Geschichte und Literatur der Staatswissenschaften, Erlangen 1855, Bd. I, S. 67 ff., und die Gegenschrift von Heinrich von Treitschke, Die Gesellschaftswissenschaft, Leipzig 1859. Bald darauf wurde dieser Gegensatz durch die juristische Ausrichtung der Staatswissenschaft so selbstverständlich, daß er nicht mehr diskutiert werden brauchte, obwohl die „Allgemeine Staatslehre" seit Georg Jellinek bereits wieder mit nichtjuristischen sozialen Gegebenheiten und Prozessen zu liebäugeln begann. 71

Daß die Vorstellung des politischen Systems als Untersystem der Gesellschaft gerade in Amerika entwickelt werden konnte, ist freilich nicht zuletzt der dafür günstigen Ausgangslage in der Dichotomie von civil society und government zu danken. (Zu deren Unterschied im Vergleich zur deutschen Auffassung des Gegensatzes von Staat und Gesellschaft vgl. Ehmke (Kap. 2 Anm. 4).) Gleichwohl handelt es sich um einen völlig neuen Ansatz. Er geht nicht von Reflektionen über die menschliche Natur, sondern vom Handlungsbegriff und von einer bestimmten Systemkonzeption aus und übertrifft daher im Abstraktionsgrad, in der Kompliziertheit und im Problemreichtum alle bisherigen Theorien. Um so seltsamer berührt, daß die angelsächsische „governmenf'-Konzeption gerade jetzt, wo man sie aufzugeben beginnt, in Deutschland Anklang zu finden scheint.

4. Kap.: Würde und Freiheit

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tionale Differenzierung der Gesellschaft geht mit einer strukturellen Differenzierung einher und setzt daher typverschiedene Untersystembildungen in einer Mehrheit von gesellschaftlichen Sphären voraus. Wir werden uns daher, um ein vollständiges Bild zu gewinnen, anderen Sphären zuwenden und die dort benötigten Einrichtungen der Systembildung und Kommunikationsgeneralisierung studieren müssen.

Fünftes

Kapitel

Die Zivilisierung der Verhaltenserwartungen: Kommunikationsfreiheit Eine Sozialordnung kann sich nicht damit begnügen, der individuellen Selbstdarstellung Chancen zu eröffnen; sie muß außerdem für ein ausreichendes Maß an Komplementarität der Verhaltenserwartungen sorgen. Sie muß die Erwartungshorizonte in bezug auf eigenes und fremdes Handeln so koordinieren, daß zueinander passende Handlungen verläßlich erwartet werden können. Jeder braucht für die Durchführung seiner Rollen Partner in entsprechenden Korrespondenzrollen, die anders, aber sinnbezüglich handeln. Nicht daß alle dasselbe tun müssen, sondern daß alle verschieden handeln, sich in der Erwartung des Verschiedenen aber abstimmen müssen, ist das Problem. Und das bedeutet, daß die notwendige Koordination nicht auf der Ebene des Handelns, sondern nur auf der Ebene eines differenzierten und generalisierten Erwartens von Handlungszusammenhängen erzielt werden kann; denn Übereinstimmung läßt sich wegen der unüberwindbaren Ich-Du-Verschiedenheit nicht im Handeln, sondern nur in Verhaltenserwartungen erreichen. 1

Daß die Abstimmung des Handelns nicht durch Angleichung der Handlungen, sondern abstrakter durch Angleichung von Verhaltenserwartungen erfolgt, eröffnet den Entfaltungsbereich für soziale Differenzierung. Dadurch ist es vor allem möglich, die Individualisierung der Persönlichkeiten und die Institutionalisierung eines immer komplizierteren Netzes von Rollen, Erwartungen und Symbolen nebeneinander zu entwickeln. Es liegt aber auf der Hand, daß die Förderung individueller Selbstdarstellungen und der Bedarf an Komplementarität in Verhaltenserwartungen unterschiedliche, ja divergierende Anforderungen stellen. In sehr einfachen Sozialordnungen bleibt diese potentielle Diskrepanz latent. Es gibt nur wenige Rollentypen. Diese sind mangels Alternativen fest institutionalisiert und einverseelt. Sie erhalten ihre Einheit von der Anschaulichkeit des konkreten und bekannten Handelns her und nicht durch relativ abstrakte, zum Beispiel auf innere (morali1

Vgl. zu diesem Begriff die Literaturhinweise oben Kap. 4 Anm. 36.

5. Kap. : Kommunikationsfreiheit

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sehe) Einstellungen, Zwecke oder Mitgliedschaftsbedingungen bezogene Erwartungen. Und wie der Bedarf an Abstraktion, so ist auch der Bedarf an individueller Stilisierung der eigenen oder fremden Persönlichkeit gering. Mit zunehmender Differenzierung der Gesellschaft tritt jedoch die latente Diskrepanz des Selbstdarstellungsinteresses und der Komplementaritätserfordernisse immer stärker hervor und schließlich ins Bewußtsein. Zwar gilt nach wie vor ein zusammenhaltendes Gesetz: daß Selbstdarstellungen nur im sozialen Kontakt, also nur auf der Grundlage komplementärer Verhaltenserwartungen erfolgen können. Aber die Vielfalt der Möglichkeiten erfordert nun einerseits mehr bewußte Individualität und führt andererseits dazu, daß der soziale Konsens nicht mehr mit jedem Kontakt von vornherein als gesichert angenommen werden kann, also besonders gesucht, hergestellt und immer wieder getestet werden muß. Mit dem Ausbau der Gesellschaftsordnung in Richtung auf funktionalspezifische Differenzierung und der damit zunehmenden Rationalität der Lebens- und Handlungsauffassungen werden in mehr und mehr Situationen Wahlmöglichkeiten eröffnet. Für die Gesamtordnung ist es sinnvoll, den Einzelnen mit offenen Verhaltensaltemativen zu konfrontieren, die so strukturiert sind, daß es für die Gesellschaft insgesamt verhältnismäßig belanglos ist, welche Alternative er wählt. Die Sozialordnung verwendet, wie ein kybernetisches System, limitierten Zufall als konstruktives Element, um Komplexität zu reduzieren. Für den Einzelnen werden damit aber nicht nur seine eigenen Wahlen (die er durch seine, individuelle Persönlichkeit als Selektionsprinzip ordnen kann), sondern mehr noch die Wahlen seiner Partner zum Problem; hat er es doch immer wieder mit Menschen zu tun, die von ihrer individuellen Persönlichkeit besessen sind. Es entsteht, da die Komplementarität gefährdet ist, eine Verhaltensunsicherheit, der die Sozialordnung entgegenwirken muß (selbst wenn sie den Einzelentscheidungen gegenüber indifferent bleiben kann), da es nicht in der Kraft der Persönlichkeit liegt, die Folgeprobleme mangelnder Komplementarität in sich selbst auszutragen . 2

Eine Reihe von Einrichtungen der „Generalisierung von Kommunikationen", die auf dieses Problem bezogen sind, gehören deshalb zur notwendigen Ausstattung differenzierter Sozialordnungen. Besonders die sachliche Generalisierung von Verhaltenserwartungen im Rahmen 2

Natürlich gibt es auch individuelle Verhaltensstrategien, die auf das Problem mangelnder Komplementarität bezogen sind. Siehe dazu die Untersuchung von John P. Spiegel, The Resolution of Role Conflict within the Family, Psychiatry 20 (1957), S. 1—16.

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5. Kap.:

Kommunikationsfreiheit

dessen, was Anthropologen Kultur nennen, die Spezifizierung des Konsensbedarfs, die Mobilisierung der Kontakte und Zusammengehörigkeiten sowie gewisse Formen der Organisation des öffentlichen Kommunikationswesens haben in diesem Problemkontext eine wichtige Funktion. In einzelnen Sozialordnungen mag der eine oder andere Mechanismus der Generalisierung dominieren und die Gesellschaft in erster Linie prägen — so für die bürgerliche Zivilisation im beginnenden 19. Jahrhundert zweifellos die „Kultur"; ganz fehlen wird in einer voll differenzierten Sozialordnung keiner, weil sie sich wechselseitig als funktional äquivalent entlasten und das Bezugsproblem zu wichtig ist, als daß man auf die eine oder andere Erleichterung verzichten könnte. Auch hier wird uns die Frage beschäftigen müssen, welche Schranken dem politischen System dadurch gezogen werden, daß diese Einrichtungen mit der einen oder anderen Schwerpunktbildung funktionsfähig erhalten werden müssen. Zuvor sind jedoch einige Erläuterungen zu den einzelnen Generalisierungsmechanismen notwendig. Sachlich generalisiert sind Verhaltenserwartungen, wenn sie um Kernvorstellungen geordnet sind, die das Verhalten als zusammengehörig, als Ausfluß eines Grundgedankens erweisen, es aber im einzelnen nicht spezifisch festlegen . Die Komplementarität, die unbedingt gesichert sein muß,, wird sozusagen auf einen Rollenkern beschränkt, so daß man sich auf das „Wesentliche" verlassen und die Einzelheiten dem Kontakt in der konkreten Situation, also dem Wechselspiel der Selbstdarstellungen, überlassen kann. 3

Als sachlich generalisierende Rollenkerne dienen zum Beispiel Einstellungserwartungen: Man erwartet je nach der Situation verschiedenartige Handlungen, die auf eine bestimmte „innere" Einstellung — etwa: des guten Vaters oder des nationalgesinnten Bürgers — zurückgeführt werden können und sie durchgehend ausdrücken und symbolisieren . Sobald man sich auf die „rechte Gesinnung" verlassen kann, ist ein hohes Maß an Toleranz für unterschiedliche Rollenausführung, ja selbst für gelegentliche Entgleisungen möglich. Die Verinnerlichung der Moral 4

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Wie hier nicht näher dargelegt werden kann, korrespondiert die sachliche Generalisierung als Prinzip der Rollenbildung mit der zeitlichen Generalisierung als Prinzip der Normbildung und der sozialen Generalisierung als Prinzip der Institutionsbildung. Dazu näher Luhmann (Kap. 1 Anm. 11), S. 54 ff. Die Begriffe Norm, Rolle und Institution werden hier nach Maßgabe der dort gegebenen funktionalen Bestimmungen gebraucht. Vgl. dazu William J. Goode, Norm Commitment and Conformity to RoleStatus Obligations, The American Journal of Sociology 66 (1960), S. 246—258 (249, 256 f.); Friedrich H. Tenbruck, Zur deutschen Rezeption der Rollentheorie, Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie 13 (1961), S. 1—40 (12 ff.); Ralf H.Turner, Role-Taking: Process Versus Conformity, in: Arnold M. Rose (Hrsg.), Human Behavior and Social Processes, Boston 1962, S. 20—40 (28). 4

5. Kap.: Kommunikationsfreiheit

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im Laufe der abendländischen Kulturgeschichte ist ein typisches Korrelat des Prozesses sozialer Differenzierung, zunächst: der Trennung von Politik und Religion. Ein weiteres Beispiel für generalisierende Rollenkerne ist überlegener Rang, der als sozialer Status institutionalisiert wird. Auch er tendiert dazu, sich im Gesamtverhalten eines Rollenzusammenhanges durchzusetzen ungeachtet der Sachfragen, um die es im einzelnen geht. Deshalb können Rangdifferenzen als relativ konstantes Strukturprinzip benutzt werden. Auch das ist in differenzierten Sozialordnungen ein unentbehrliches Mittel generalisierter Orientierung und Integration. Außerdem lassen sich Rollen durch Zweckbestimmungen generalisieren. Sie erhalten ihren Sinn dann durch spezifische Wirkungen, die im Hinblick auf einen Wert geschätzt werden, ungeachtet der Mittel, die je nach den Umständen angewendet werden müssen, um den Zweck zu erfüllen. Die dem zugrunde liegende Auslegung des Handelns als Bewirken einer Wirkung hat genau diesen Sinn einer Generalisierung der Handlungsorientierung durch Folgenspezifikation: Sie neutralisiert einen Teil der Folgen der Mittel, so daß sie für die Entscheidung irrelevant werden . Nicht zufällig beherrscht gerade diese Handlungsauslegung die zivilisierte Sozialordnung der Neuzeit und hat ein unbestrittenes Monopol darauf, als rational zu gelten (das heißt: der eigentlichen Bestimmung des Menschen zu entsprechen). In dieser Form werden namentlich Berufsrollen generalisiert. Schließlich muß auch die Mitgliedschaft in Gruppen, sofern sie unter spezifische Eintritts- und Austrittsbedingungen gestellt wird, als eine Form sachlicher Rollengeneralisierung von ungewöhnlicher Elastizität und Variierbarkeit erkannt werden. Denn Mitgliedschaft kann als solche motiviert und so attraktiv gemacht werden, daß die Mitglieder relativ indifferent dagegen werden, was sie im Einzelfall tun müssen, 5

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