Grundlagen der Neuro-Psychopharmakologie: Ein Therapiehandbuch [1., VIII, 619 S., 146, z.T. farbige Abb. ed.] 321185472X, 978-3-211-85472-3 [PDF]

Dieses Buch behandelt umfassend grundlegende Aspekte rund um die Therapie mit Neuro-Psychopharmaka. F?hrende Experten au

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Grundlagen der Neuro-Psychopharmakologie......Page 3
Geleitwort......Page 5
Inhaltsverzeichnis......Page 7
1. Grundbedingungen der Psychopharmakotherapie......Page 9
2. Historischer Abriss: Geschichte der Psychopharmaka......Page 18
3. Neurobiologische Grundlagen......Page 37
4. Psychologische Grundlagen......Page 139
5. Methodik......Page 215
6. Pharmakokinetik......Page 287
7. Nomenklatur, Einteilung von Psychopharmaka......Page 348
8. Pharmakoepidemiologie......Page 363
9. Unerwünschte Wirkungen/ Nebenwirkungen......Page 384
10. Interaktionen......Page 397
11. Kombinationen von Psychopharmaka......Page 416
12. Kontrolluntersuchungen unter Th erapie mit Psychopharmaka......Page 441
13. Psychopharmaka und Lebensqualität......Page 455
14. Psychopharmaka und Fahrtüchtigkeit......Page 465
15. Psychopharmakotherapie bei Kindern und Jugendlichen......Page 473
16. Psychopharmaka in Schwangerschaft und Stillzeit......Page 497
17. Psychopharmaka in Geriatrie und Gerontopsychiatrie......Page 511
18. Die medikamentöse Th erapie von Missbrauch und Abhängigkeiten (Tabak, Alkohol und illegale Drogen)......Page 527
19. Gesundheitsökonomische Bewertungen......Page 546
20. Kombinierte Pharmako- und Psychotherapie......Page 563
21. Rechtliche Grundlagen der Behandlung (Einwilligung und Ersatzeinwilligung)......Page 576
22. Qualitätsmanagement, Leitlinien: Entwicklung und Implementierung von Leitlinien......Page 588
Autorenverzeichnis......Page 598
Sachverzeichnis......Page 603
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Grundlagen der Neuro-Psychopharmakologie: Ein Therapiehandbuch [1., VIII, 619 S., 146, z.T. farbige Abb. ed.]
 321185472X, 978-3-211-85472-3 [PDF]

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Zitiervorschau

W

Peter F. Riederer, Gerd Laux (Hrsg.)

Grundlagen der Neuro-Psychopharmakologie Ein Therapiehandbuch

SpringerWienNewYork

Prof. Dr. Dr.h.c. Peter Franz Riederer Klinik und Poliklinik für Psychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie, Klinische Neurochemie, Universität Würzburg

Prof. Dr. med. Dipl.-Psych. Gerd Laux Inn-Salzach-Klinikum gGmbH, Fachkrankenhaus für Psychiatrie, Psychotherapie, Psychosomatische Medizin und Neurologie, Wasserburg a. Inn · Rosenheim · Freilassing, Akademisches Lehrkrankenhaus der Ludwig-Maximilians-Universität München

Das Werk ist urheberrechtlich geschützt. Die dadurch begründeten Rechte, insbesondere die der Übersetzung, des Nachdruckes, der Entnahme von Abbildungen, der Funksendung, der Wiedergabe auf photomechanischem oder ähnlichem Wege und der Speicherung in Datenverarbeitungsanlagen, bleiben, auch bei nur auszugsweiser Verwertung, vorbehalten. © 2010 Springer-Verlag/Wien Printed in Germany Springer-Verlag Wien New York ist ein Unternehmen von Springer Science + Business Media www.springer.at Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen, Handelsnamen, Warenbezeichnungen usw. in diesem Buch berechtigt auch ohne besondere Kennzeichnung nicht zu der Annahme, daß solche Namen im Sinne der Warenzeichen- und Markenschutz-Gesetzgebung als frei zu betrachten wären und daher von jedermann benutzt werden dürfen. Produkthaftung: Sämtliche Angaben in diesem Fachbuch/wissenschaftlichen Werk erfolgen trotz sorgfältiger Bearbeitung und Kontrolle ohne Gewähr. Insbesondere Angaben über Dosierungsanweisungen und Applikationsformen müssen vom jeweiligen Anwender im Einzelfall anhand anderer Literaturstellen auf ihre Richtigkeit überprüft werden. Eine Haftung des Autors oder des Verlages aus dem Inhalt dieses Werkes ist ausgeschlossen. Umschlagbild links: medicalpicture/Isabel Christensen Umschlagbild rechts: iStock/Neurons/Kiyoshi Takahase Segundo Mit 146, z. T. farbigen Abbildungen Satz: PTP-Berlin Protago-TeX-Production GmbH, 10781 Berlin, Deutschland Druck: Strauss GmbH, 69509 Mörlenbach, Deutschland Gedruckt auf säurefreiem, chlorfrei gebleichtem Papier – TCF SPIN: 12099276 Bibliografische Informationen der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. ISBN 978-3-211-85472-3 SpringerWienNewYork

Geleitwort 1992, das ist eine geraume Zeit her, haben wir, Gerd Laux, Walter Pöldinger und Peter Riederer, Band 1 der damals konzipierten Handbuchreihe „Neuro-Psychopharmaka“ die „Allgemeinen Grundlagen der Pharmakopsychiatrie“ unter Einschluss vieler kompetenter und renommierter Autoren herausgegeben. Der geneigte Leser wundert sich wahrscheinlich, warum eine Neuauflage des Bandes solange auf sich warten lassen musste. In der Tat sind ja die anderen Bände unserer umfassenden sechsbändigen Therapie-Handbuchreihe bereits in mehreren Neuauflagen erschienen. Im Gegensatz zu psychotropen Substanzen, die bedingt durch industriellen Konkurrenzdruck relativ rasch in marktreife Produkte umgesetzt werden, sind die dafür zugrunde liegenden Erkenntnisse weniger dynamisch entwickelbar. Ebenso sind Kapitel wie klinische Prüfstudien, Compliance, juristische Aspekte, Therapie während Schwangerschaft und Stillzeit, Abusus und Abhängigkeit sowie Statistik alles Themen, die keinem starken Wandel unterzogen sind. Nun aber ist es Zeit, eine Aktualisierung vorzunehmen und grundlegende Aspekte der Neuro-Psychopharmakologie auf ein zeitgemäßes Niveau zu bringen.

Die Herausgabe von Büchern zur Fortbildung hat sich in den letzten Jahren zunehmend schwieriger gestaltet. Lassen sie uns dieses Thema in diesem Vorwort aufgreifen. Es sind eine Reihe von Faktoren, basierend auf gesellschaftlichem Wandel und veränderten Maßstäben in den Interaktionen Patient – Arzt – Regulationsbehörde – Pharmaindustrie, die einem Wandel unterliegen. Wie wurden Ärzte 1992 fortgebildet und wie sind Möglichkeiten und Anspruch heute? Geändert hat sich vornehmlich der „Wert“ eines Buchartikels für den Autor. Das Buch und der Buchartikel spielen in der bibliometrischen Erfassung (fast) keine Rolle mehr. Während bis zum Ende der 80er Jahre des vorigen Jahrhunderts das Verfassen eines Handbuchartikels eine Ehre war und man stolz darauf sein konnte, dem elitären Kreis der ausgewiesenen, erfahrenen Fachwissenschaftler anzugehören, ist heute die persönliche Meinung eines Autors zu einem Themenbereich Randerscheinung des Wissenschaftsbetriebes. Dies hängt damit zusammen, dass Buchartikel und Buch keinem peer-review-Verfahren, also Prüfung des Inhalts durch andere Spezialisten des Fachgebietes, unterliegen. Im Gegensatz zu wissenschaftlichen Originalpublikationen, für wel-

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che peer-review-System und Impact-Faktoren (IF) noch eher Sinn machen, sind wir der Meinung, dass die derzeit vorliegende bibliometrische Bewertungsart von Übersichtsarbeiten und Buchkapiteln zu einem Verlust der Standortbestimmung und -bewertung eines Themenbereiches führt. Gerade die durch einen kompetenten Experten unter Einschluss seiner klinischen Erfahrung erfolgende bewertendsynoptische Darstellung eines fast unübersehbaren Publikationsberges macht für den Leser das „Salz in der Suppe“ aus. Dem gegenwärtigen Wissenschaftssystem ist das egal – es zählt nur, was einen IF-Wert aufweist. Der Buchartikel wird für den AutorNachwuchs wertlos. Es wird daher in der Folge zunehmend schwieriger, jüngere Autoren für diesen so wichtigen Bereich der Fortbildung zu gewinnen. Dabei erfüllt gerade der Handbuchartikel die modernen Kriterien der Unabhängigkeit von der Pharmaindustrie, des Antikorruptionsgesetzes und der freien Meinungsäußerung. Im Buch kann man schmökern, „mal schnell was nachschlagen“, Analogien rasch nachgehen, alles Dinge, die selbst das Internet kaum und wenn nur bedingt bieten kann. Warum schafft man also kein eigenes Bewertungssystem für wissenschaftliche Bücher? Es ist höchste Zeit, dieses Problem zu lösen, da die von der Pharmaindustrie unabhängige Fortbildung von Ärzten zunehmend wichtiger wird. Als Herausgeber eines Viel-Autoren-Werkes und eingedenk obiger Erschwernisse freut man sich daher, so man es geschafft hat, alle WunschAutoren zur Abgabe ihrer entsprechenden Kapiteln bewegt zu haben. Dass geplante bzw. gesetzte Deadlines von einigen Autoren/Kollegen fast die Grenzen freundschaftlicher Toleranz überstiegen, sei nicht verschwiegen. Nun aber legen wir alle unser Werk vor! Der vorliegende Band beinhaltet grundlegende theoretische und therapeutische Aspekte der Psychopharmakotherapie: Zunächst werden neben einem historischen Abriss die „Grundbedingungen der Psychopharmakotherapie“, nämlich Arzt-Patienten-Beziehung, Nutzen und

Geleitwort

Risiko sowie ethische Aspekte der Pharmakopsychiatrie dargelegt. Es schließen sich die theoretischen Grundlagen von Studien am Tier, präklinischen Humanversuchen, des Pharmako-EEGs, der Pharmakopsychologie, der Psychometrie und Skalierung sowie die Darstellung des Placebo-Problems, der Compliance und der Review-/Meta-Analysenproblematik an. Des Weiteren werden juristische Aspekte sowie Ergebnisse der Pharmakoökonomie behandelt. Grundlagenkapitel beleuchten molekulare Grundlagen, Wirkmechanismen, Aspekte der Pharmakogenetik sowie Basiswissen der Pharmakokinetik. Die Perspektive der Praxis findet in den Kapiteln Psychopharmaka und Lebensqualität, Psychopharmaka und Fahrtauglichkeit, Psychopharmaka in Schwangerschaft und Stillzeit sowie in den Abschnitten Psychopharmakotherapie bei Kindern und Jugendlichen bzw. in der Geriatrie/Gerontopsychiatrie Berücksichtigung. Gesondert wird auf das Problem Abusus und Abhängigkeit, Kombination von Psychopharmaka und kombinierte Pharmako- und Psychotherapie eingegangen. Der Band schließt mit einem Kapitel über Qualitätsmanagement und Leitlinien. Die Herausgeber danken vor allem den Autoren, die die Herausgabe dieses Werkes ermöglicht haben. Besonders gedankt sei Frau I. Riederer für ihre Sekretariats-Tätigkeit sowie dem Springer-Verlag für die verständnisvolle, angenehme Zusammenarbeit und die hervorragende Ausstattung des Werkes. Für konstruktive Kritik und Anregungen sind wir aufgeschlossen. Möge mit der Herausgabe dieser Handbuchreihe auch im deutschsprachigen Raum die Forschung auf dem Gebiet der Neuro-Psychopharmakologie trotz zunehmender Hindernisse intensiviert werden. Dem in Klinik und Praxis tätigen Facharzt soll die tägliche Arbeit durch ein kompetentes Handbuch erleichtert werden. P. Riederer, G. Laux Würzburg/Wasserburg, im Herbst 2009

Inhaltsverzeichnis 1.

Grundbedingungen der Psychopharmakotherapie . . . . . . . . . . . 1 H. Hinterhuber und E. A. Deisenhammer

2.

Historischer Abriss: Geschichte der Psychopharmaka . . . . . . . . . . . . . . 11 R. Tölle und H. Schott

3. Neurobiologische Grundlagen . . . . . . 31 3.1 Neurotransmission und Signaltransduktion. . . . . . . . . . . . . 31 P. F. Riederer, A. Eckert, J. Thome und W. E. Müller

3.2 Pharmakologische Grundlagen . . . . . . .63 W. E. Müller

3.3 Verhaltenspharmakologie und typische Testmodelle . . . . . . . . . . . 99 W. E. Müller

3.4 EEG-Mapping und EEG-Tomographie in der Neuropsychopharmakologie . . . . . . . 109 B. Saletu, P. Anderer, J. Stanek und G. M. Saletu-Zyhlarz

3.5 Bildgebende Verfahren . . . . . . . . . . . . 125 H. P. Volz

4. Psychologische Grundlagen . . . . . . . 137 4.1 Neuropsychologische Grundlagen . . 137 A. Brunnauer

4.2 Persönlichkeit, Persönlichkeitsstörung und Psychopharmakaeffekte. . . . . . . . 153 H. P. Kapfhammer

4.3.1 Psychoedukation . . . . . . . . . . . . . . . . . 181 W. Kissling

4.3.2 Patientenaufklärung. . . . . . . . . . . . . . . 187 J. Bäuml

4.4 Partizipation, Integrierte Versorgung . . . . . . . . . . . . 199 W. Kissling und J. Hamann

5. Methodik. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 215 5.1 Klinische Prüfung . . . . . . . . . . . . . . . . 215 T. Reum und K. Broich

5.2 Ratingskalen und Interviews in der Psychopharmakotherapie . . . . 227 R.-D. Stieglitz

5.3 Systematische Reviews und Metaanalysen und ihre Bedeutung in der Bewertung von Psychopharmaka . . . 245 S. Leucht

VIII

Inhaltsverzeichnis

5.4 Wirksamkeitsnachweis/ Placeboproblematik . . . . . . . . . . . . . . . 255 H.-J. Möller und K. Broich

5.5 Compliance . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 279 M. Linden

6. Pharmakokinetik . . . . . . . . . . . . . . . . 289 6.1 Allgemeine Grundlagen . . . . . . . . . . . 289 W. E. Müller, C. Hiemke und P. Baumann

6.2 Spezielle Pharmakokinetik . . . . . . . . . 305 W. E. Müller, C. Hiemke und P. Baumann

6.3 Therapeutisches Drug-Monitoring . . 313 B. Pfuhlmann, J. Deckert und C. Hiemke

6.4 Pharmakogenetik . . . . . . . . . . . . . . . . . 337 P. Baumann

7.

Nomenklatur, Einteilung von Psychopharmaka . . . . . . . . . . . . . 353 G. Laux

8.

Pharmakoepidemiologie . . . . . . . . . . 369 J. Fritze

9.

Unerwünschte Wirkungen/ Nebenwirkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . 391 D. Degner, R. Grohmann und E. Rüther

10. Interaktionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 405 C. Hiemke

11. Kombinationen von Psychopharmaka . . . . . . . . . . . . . 425 Th. Messer, C. Tiltscher und M. Schmauß

12. Kontrolluntersuchungen unter Therapie mit Psychopharmaka. . . . . 451 Ch. Stuppäck, Ch. Geretsegger und Ch. Egger

13. Psychopharmaka und Lebensqualität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 465 D. Naber, M. Bullinger und A. Karow

14. Psychopharmaka und Fahrtüchtigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . 475 A. Brunnauer und G. Laux

15. Psychopharmakotherapie bei Kindern und Jugendlichen . . . . . . . . 483 C. Mehler-Wex und J. M. Fegert

16. Psychopharmaka in Schwangerschaft und Stillzeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 507 E. M. Meisenzahl

17. Psychopharmaka in Geriatrie und Gerontopsychiatrie . . . . . . . . . . . . . . . 521 H. Förstl, M. M. Lautenschlager, N. T. Lautenschlager und G. Laux

18. Die medikamentöse Therapie von Missbrauch und Abhängigkeiten (Tabak, Alkohol und illegale Drogen). . . . . . . . . . . . . . 537 O.-M. Lesch, W. Platz, M. Soyka und H. Walter

19. Gesundheitsökonomische Bewertungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 557 R. Dodel, U. Siebert und J. Wasem

20. Kombinierte Pharmako- und Psychotherapie. . . . . . . . . . . . . . . . . . . 575 G. Sachs und H. Katschnig

21. Rechtliche Grundlagen der Behandlung (Einwilligung und Ersatzeinwilligung). . . . . . . . . . . . . . . 589 N. Nedopil

22. Qualitätsmanagement, Leitlinien: Entwicklung und Implementierung von Leitlinien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 601 B. Janssen, R. Menke und W. Gaebel

Autorenverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 611 Sachverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 617

1

Grundbedingungen der Psychopharmakotherapie

H. Hinterhuber und E. A. Deisenhammer

„Das letzte und höchste Ziel aller Forschung ist die Bekämpfung der Krankheiten.“ Emil Kraepelin

1.1 Einführung In den letzten zwei Jahrzehnten haben psychopharmakologische Therapiestrategien einen beeindruckenden Entwicklungsschub vollzogen. Die derzeitige Situation ist durch folgende Gegebenheiten gekennzeichnet:  Das ärztlich-medikamentöse Armamentarium wurde und wird durch einen Anstieg neu zugelassener Arzneimittel immer mehr erweitert. Dies führt allerdings – als unerwünschte und aus ärztlicher Sicht unbefriedigende Begleiterscheinung – zunehmend dazu, dass ältere, durchaus verdiente Präparate, die bei Therapieresistenz oder als intramuskuläre Depot-Antipsychotika im ärztlichen Alltag durchaus noch ihren Stellenwert haben, aus Rentabilitätsgründen von den Herstellerfirmen vom Markt genommen werden.  Es finden zunehmend Medikamente, die bereits in der somatischen Medizin zugelassen

sind (beispielsweise Antikonvulsiva), eine Indikation im Rahmen psychischer Störungen.  Mit neuen Substanzgruppen können die für die Behandlung psychischer Erkrankungen bedeutsamen Neurotransmittersysteme und deren prä- und postsynaptische Rezeptoren – mittlerweile unter weitgehender Ausschaltung der nicht gewünschten Aktivierung anderer, vorwiegend nebenwirkungsrelevanter Transmitter – gezielter stimuliert beziehungsweise blockiert werden. Damit stehen nun für die Behandlung der Schizophrenie sowie der affektiven Störungen Medikamente zur Verfügung, die bei meist gleicher Wirkung ein deutlich günstigeres Nebenwirkungsprofil gegenüber den „alten“ Substanzen aufweisen. In der Demenzbehandlung wurden mit der Hemmung der Acetylcholinesterase und der Blockade der NMDA-Rezeptoren erstmalig spezifische Wirkansätze entdeckt. Die überwiegende Mehrzahl der neu eingeführten Substanzen basiert noch auf dem Paradigma einer Neurotransmitter-Dysbalance als biologisches Korrelat psychiatrischen Krankseins. Parallel dazu wurden jedoch – teils unabhängig, teils in Ergänzung dazu – neue Zugänge

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der Beeinflussbarkeit des Zentralnervensystems gefunden oder zumindest angedacht. Klinischepidemiologische Forschung, neuroendokrinologische und molekularbiologische Erkenntnisse tragen dazu bei, die Entstehung psychischer Krankheiten zunehmend besser zu verstehen und neue therapeutische Optionen zu eröffnen. So haben, um nur ein Beispiel zu nennen, die Beobachtungen eines späteren Erkrankungsbeginns schizophrener Psychosen bei Frauen den Zusammenhang mit dem Östrogen-System zu einem Forschungsfokus gemacht (Häfner et al. 1998; Riecher-Rössler et al. 2003, 2005). Inwieweit ein antipsychotischer Therapieansatz mit Östrogenen allerdings tatsächlich Eingang in den klinischen Alltag finden wird, wird – auch angesichts der zunehmend effizienteren Forschung zur Arzneimittelsicherheit – die Zukunft zeigen (Chua et al. 2005). In der Depressionsforschung könnte die Hypothese der frühkindlichen, chronischen oder rezidivierenden Stress-Belastung mit Autonomisierung der primär Stimulus-gesteuerten Cortisol-Ausschüttung und nachfolgender Störung des Serotonin-Haushaltes eine Art „missing link“ zwischen den (tiefen-)psychologischen Postulaten frühkindlicher Traumatisierung und korrespondierenden biologischen Vorgängen auf Rezeptor-Ebene darstellen (Van Praag 2005). Entsprechend werden antagonistisch am Corticotropin-Releasing-Hormon-Rezeptor wirkende Substanzen bereits in Studien auf ihre antidepressive Potenz untersucht (Baldwin und Thompson 2003). Ein MelatoninAgonismus oder ein Substanz-P-Antagonismus stellen weitere Beispiele für die Erweiterung und Ergänzung der Monoaminmangel-Hypothese für depressive Erkrankungen dar. Die Implosion des Dogmas von der Unfähigkeit von Nervenzellen, sich nach der Geburt noch weiter teilen und vermehren zu können, hat für das Verständnis der Entstehung, aber auch der therapeutischen Beeinflussbarkeit psychischer Krankheiten neue Wege bereitet. Im Laufe der letzten Jahre konnte zunehmend gezeigt werden, dass, zumindest in einigen Hirnarealen, das Potential zur Neubildung von Neuronen auch beim Menschen bis ins Erwachsenenalter gegeben ist. Die hippocampale Neu-

1 Grundbedingungen der Psychopharmakotherapie

roneogenese, moduliert durch biologische und psychosoziale Faktoren und damit Ausdruck der Plastizität des zentralen Nervensystems, könnte in absehbarer Zeit die postulierte Störung der Transmitter-Balance als zentrale biologische These depressiver Krankheiten ablösen (Jacobs et al. 2000). Abgesehen von einzelnen Indikationen, in denen primär andere Therapiestrategien zum Einsatz kommen, ist die Psychopharmakotherapie unzweifelhaft die zentrale Säule im multidimensionalen Behandlungsspektrum psychischer Krankheiten. Ebenso unbestritten sind allerdings die immer noch bestehenden Unzulänglichkeiten und Probleme, die mit der medikamentösen Behandlung psychischer Störungen einhergehen. Auch die neueren Antidepressiva und Antipsychotika sind mit einer Reihe von potentiellen Nebenwirkungen belastet. Früher weniger beachtete Medikamenteneffekte, wie etwa das Auftreten sexueller Dysfunktionen, cardiale oder metabolische Nebenwirkungen werden nun systematischer untersucht, was, meist fälschlicherweise, zum Eindruck einer scheinbar größeren Häufigkeit dieser Nebenwirkungen bei den neueren Medikamenten geführt hat (Deisenhammer und Hinterhuber 1999). An den unbefriedigend niedrigen Ansprechraten und den zu langen Latenzzeiten bis zum Eintritt der spezifischen Wirkung eines Medikaments hat sich substantiell noch nichts geändert. Schließlich nimmt die Akzeptanz von Psychopharmaka, deren Natur es ja ist, in die (krankhafte, aber) subjektive Art der Wahrnehmung der Umwelt und in die selbstgesteuerte Interaktion mit der Umgebung einzugreifen (und die damit nicht selten als Korrekturinstrument des individuellen Erlebens und des Ausdrucks erfahren werden), in der Bevölkerung nur langsam zu (Angermeyer und Matschinger 2005). Dies ist eng mit der Stigmatisierung psychischer Krankheiten verbunden. (Gaebel et al. 2006; Meise und Wancata 2006) Ökonomische Faktoren und politische Vorgaben beeinflussen schließlich die ärztliche Verschreibungskultur zunehmend und führen dazu, dass nicht in allen Fällen für den Patienten die beste psychopharmakologische Strategie gewählt werden kann.

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1.2 Unspezifität der Wirkung von Psychopharmaka

Die Beforschung einer Erkrankung und deren therapeutischer Beeinflussbarkeit hängt somit nicht unwesentlich von den wirtschaftlichen Interessen der pharmazeutischen Industrie ab. Der aus der Medizin der Entwicklungshilfe stammende Begriff der „orphan diseases“ (Iribarne 2003) beschreibt Krankheiten, die insgesamt wenig beforscht werden, da sie entweder selten sind oder – wie Malaria, Tuberkulose oder die Chagas-Krankheit – überwiegend Menschen betreffen, für deren Gesundheitsversorgung nur sehr limitierte Finanzmittel zur Verfügung stehen, weshalb eine Investition in eine innovative Therapieforschung keinen großen finanziellen Gewinn verspricht. Innerhalb der Psychiatrie könnte entsprechend von „orphan therapies“ gesprochen werden, wenn man etwa das Ungleichverhältnis von Forschungsarbeiten zum Thema Psychotherapie (und Soziotherapie) im Vergleich zu der Vielzahl von psychopharmakologischen Publikationen betrachtet. Unter den ersten 50 der derzeit 95 wissenschaftlichen Zeitschriften des Fachbereiches „Psychiatry“ des Journal Citation Report, Science Edition, finden sich elf mit dem Begriff „-pharmaco-“ und nur eine mit „-psychotherapy-“ im Titel. Ein Zeitschrift mit „-social-“ im Titel vermisst man gänzlich. Dieses Ungleichgewicht dokumentiert einerseits die Faszination der Psychopharmakologie, andererseits aber auch die Bedeutung der Pharma-Industrie. Nichts aber würde engagierte Psychotherapie-Forscher daran hindern, ihre Erkenntnisse – durchaus auch in hochgerankten Journalen – zu publizieren: Die Psychopharmakologische Forschung scheint jedoch – abgesehen von den zweifellos bestehenden methodologischen Unterschieden – mit deutlich höherer Attraktivität verbunden zu sein. Eine ganze Reihe von „Grundbedingungen“ und Faktoren steuern also Wirksamkeit oder Nicht-Wirksamkeit der Psychopharmakotherapie, viele davon werden implizit in anderen Kapiteln diese Buches behandelt. Hier sollen nun einige grundsätzliche Aspekte der psychiatrisch-pharmakologischen Therapieführung beleuchtet werden.

1.2 Unspezifität der Wirkung von Psychopharmaka Es ist grundsätzlich festzuhalten, dass mit pharmakologischen Therapiestrategien im Wesentlichen keine psychischen Krankheitsentitäten, sondern Symptome, bestenfalls Syndrome behandelt werden. Wir können depressive Stimmung, Ängstlichkeit oder Schlafstörungen positiv beeinflussen, inkohärentes und wahnhaftes Denken reorganisieren helfen, den Abbau von Merkfähigkeit und Konzentration verlangsamen – von einer kausalen Beeinflussung psychischer Morbidität im engeren Sinne kann aber auch mit den neuen psychopharmakologischen Ansätzen noch nicht gesprochen werden. Zum einen liegt dies in der sich erst entwickelnden Darstell- und Nachweisbarkeit psychischer Vorgänge, zum anderen tappen wir mit unseren kausalen Überlegungen zur Entstehung psychischer Erkrankungen – seien sie von biologischer, psychosozialer oder (tiefen)psychologischer Anschauung geprägt – letztlich noch zu einem Gutteil im Dunkeln. Eine Unspezifität der Behandlung ist aber auch bei somatischer Morbidität gegeben: Auch hier werden im wesentlichen Symptome wie Schmerz, Muskelspasmen, spontane synchrone Neuronenentladungen oder Zellentartungen usw. therapiert. In Weiterführung dieser Analogie – und defizitorientierte Denkschemata verlassend – könnte man psychische Symptome, etwa depressive Verstimmtheit, entsprechend den körperlichen „Krankheitszeichen“ Schmerz oder Fieber als physiologische Alarmsignale, als eine Rückmeldung des Organismus über eine „Störung im System“ bzw. eine Überforderung der individuellen Anpassungs- und Bewältigungsmechanismen auffassen. Dann bestünde der erste Schritt zur Kompensation in einer Änderung des Verhaltens: Ein Ausweichen der belastenden Situation und Stressabbau würden dann etwa der Schonhaltung bei Schmerz oder der Bettruhe bei Fieber entsprechen. Erst wenn auf sozialer Interaktion beruhende Verhaltensänderungen (Psychotherapie und physio-/ergotherapeutische Maßnahmen zeigen hier gewisse Analogien) keinen entsprechenden Erfolg bringen, käme eine – symptomatisch wirkende –

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Medikation zum Einsatz. Aus bekannten Gründen ist jedoch ein solcher Zugang zu kausal versus symptomatischen Veränderungen weder im psychischen noch im körperlichen Bereich realistisch. Schon allein der (in der Bevölkerung immer stärker werdende) Druck auf rasche Funktionswiederherstellung und Symptomeliminierung, verbunden mit einem starken magischen Denken, weist in unserer Kultur derzeit in die entgegengesetzte Richtung. Als Ziel jeder psychopharmakologischen Behandlung sollte nicht nur die Reduktion belastender psychischer Symptome, sondern die Hilfe zur Selbsthilfe und das Empowerment der Betroffenen anvisiert werden: Wesentlich ist die Hilfestellung zur Befähigung des Patienten, seine Lebensumstände selbst oder im Rahmen von sozio- und/oder psychotherapeutischen Anleitungen zu verändern. Auf tierexperimenteller Ebene entspricht dieser Ansatz der Definition von Therapieerfolg beim meist verwendeten Tiermodell für depressive Störungen und antidepressive Behandlung, dem forced-swim-test: Eine Ratte oder eine Maus wird wiederholt in ein mit Wasser gefülltes, glattwandiges Gefäß gegeben und die Zeit gemessen, wie lange sich das Tier durch Schwimmbewegungen gegen das Untergehen wehrt. Frustrierte, „depressiv gemachte“ Tiere geben früher auf, durch die Gabe von Antidepressiva lässt sich die Phase des (Über-) Lebenskampfes deutlich verlängern. Der Begriff „Wirk-Unspezifität“ von Psychopharmaka bezieht sich einerseits darauf, dass ähnliche Syndrome verschiedener Genese, die zum Teil als recht unterschiedliche Krankheitsentitäten definiert werden, mit den gleichen Medikamenten behandelt werden, andererseits auf die Beeinflussbarkeit unterschiedlicher Symptomatiken durch dieselben Substanzen. Wir setzen Antidepressiva erfolgreich nicht nur bei der uni- wie bei der bipolaren depressiven Episode (bei letzterer zumindest in Europa) ein, sondern auch beim postremissiven depressiven Erschöpfungszustand, der Dysthymie oder der depressiven Anpassungsstörung. Gleichzeitig haben sich einige Vertreter dieser Substanzklasse bei so unterschiedlichen Erkrankungen wie der Sozialphobie, der Panikstörung, der Zwangsstörung, der Bulimie oder dem chroni-

1 Grundbedingungen der Psychopharmakotherapie

schen Schmerzsyndrom als wirksam erwiesen. Atypische Antipsychotika wirken nicht nur bei der Schizophrenie, sondern auch bei der Manie und bei aggressivem Verhaltenssymptomen im Rahmen dementieller Erkrankungen und positionieren sich derzeit gerade in der Depressionsbehandlung. Die „Wirk-Unspezifität“ von Psychopharmaka spielt sich aber auch auf der molekularen Ebene ab. Heute sind etwa 80 (zumindest potentielle) Neurotransmitter mit einer Vielzahl von Rezeptoren bekannt. In den präklinischen und pharmakodynamischen Untersuchungen an neuen Medikamenten wird jedoch der Focus meist auf die wenigen, als relevant bekannten Transmittersubstanzen gesetzt. Inwieweit gleichzeitig Ko-Transmitter (v. a. Neuropeptide) die postsynaptischen intrazellulären Mechanismen beeinflussen und damit Anteil an der klinischen Wirkung eines Psychopharmakons haben, ist in vielen Fällen noch unbekannt. Immerhin konnten wir in den letzten drei Jahrzehnten die Entwicklung von den an einer Vielzahl von Rezeptoren bindenden „dirty drugs“ (Trizyklische Antidepressiva oder Clozapin) hin zu rezeptorbiologisch sehr spezifischen Substanzen erleben. Escitalopram beispielsweise scheint fast ausschließlich am Serotonin-Transporter aktiv zu sein (Sánchez et al. 2003).

1.3 Eine fundierte Psychopathologie als Grundbedingung psychopharmakotherapeutischen Handelns Nancy Andreasen ist überzeugt, dass das Fehlen psychopathologischer Kenntnisse in der Psychiatrie zwangsläufig zu einem Sistieren des neurowissenschaftlichen Fortschrittes führt und somit auch die Entwicklung der Psychopharmakologie hemmt (Andreasen 1998). Sie konfrontierte die Psychiater mit dem Vorwurf, psychopathologische Kenntnisse und Fähigkeiten verloren zu haben. Vehement beklagte sie eine bedrohliche Entwicklung innerhalb der Psychiatrie, wonach „das Erheben einer umfassenden Krankengeschichte, die auch Informatio-

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1.4 Evidence-based medicine

nen über die Familie, über soziale Beziehungen und über personale Interessen – also all jene Dinge, die den Patienten zu einem einmaligen Individuum machen – enthält, nur reine Zeitverschwendung sei. Stattdessen solle die psychiatrische Anamnese nur aus einer Symptomcheckliste bestehen, die in einen Computer eingegeben werden kann und dann als Basis für die Gewinnung einer DSM-Diagnose herhält“ (Andreasen 2002). Die Operationalisierungsund Standardisierungssysteme der WHO und der APA haben in der Tat psychopathologisches Interesse und Denken in den Hintergrund gedrängt. Skalen, Merkmalskataloge und Inventarlisten können psychopathologisches Wissen und Fragen nicht ersetzen. Psychopathologie ist stets mehr als eine „Sammelbezeichnung für die Summe symptomatologischer Auffälligkeiten, die per Skalen erhältlich sind,“ (Saß 2003) sie ist jene Wissenschaft, die der Psychiatrie als einer medizinischen Disziplin ihr begriffliches Handwerkszeug und ihr methodisches Rüstzeug liefert: Psychiater benötigen für ihre gezielten psychopharmakotherapeutischen Maßnahmen eine Ordnung des Beschreibbaren, eine Sorgfalt des Beschreibens und eine Genauigkeit der Begriffsverwendung (Scharfetter 2002). Die Psychopathologie sieht den Menschen, der in seinen lebensgeschichtlichen und soziokulturellen Zusammenhang als krank bezeichnet wird, stets als Teil eines gesellschaftlichen Kontextes mit einer Vielzahl von lebendigen Wechselbeziehungen, nie wird er isoliert betrachtet. Eine exakte beschreibende Psychopathologie ist immer die Basis für eine einfühlende, verstehende und letztendlich Erfolg versprechende therapeutische Arbeit. (Scharfetter 2002; Hinterhuber 2006) Neurowissenschafter glauben heute, durch ihre Methodik eine „objektive“, „experimentelle“ oder „konnektionistische Psychopathologie“ begründen zu können, die die „subjektive Psychopathologie“ zu ersetzen in der Lage wäre, die sich „nur“ auf die Innenperspektive des Menschen bezieht (Jacobs und Thome 2003). Naturwissenschaftliche Reduktionismen, die die in der Ersten-Person-Perspektive subjektiv erfahrenen und erlebten mentalen Zustände nicht berücksichtigen, können aber niemals als

Basis einer Diagnostik und erfolgreichen psychopharmakologischen und psychosozialen Therapie psychisch leidender Menschen dienen. Auch sind beispielsweise Endophänotypen wohl relevant für die Darstellung der molekularen Ätiopathogenese, sie sind aber kein Ersatz einer psychopathologisch begründeten Diagnose. Selbst fundierte Neurowissenschafter wie Fuchs sehen in den operationalen Definitionen und diagnostischen Algorithmen durch deren reduktionistische Tendenz die ganzheitliche, gestalthafte Erfassung des Menschen und dessen Erkrankungen in Frage gestellt (Fuchs 2003). Derzeit bemühen sich aber nicht wenige Hirnforscher zunehmend, Phänomenologie und Psychopathologie mit Molekulargenetik und den bildgebenden Verfahren in Verbindung zu bringen. Psychopathologie und Phänomenologie müssen sich in der Tat in permanenter Auseinandersetzung mit den Erkenntnissen der kognitiven Neurowissenschaften fort- und weiterentwickeln. Auch braucht die klinische Psychopathologie verfeinerte theoretische Konstrukte. Neben psychologischen Konstrukten und pharmakologischen Tiermodellen sind es neuronale Netzwerkmodelle, die die psychopathologische Forschung weiterhin befruchten werden (Spitzer 1997). Eine empirisch arbeitende, differenzierte Psychopathologie bleibt die Grundvoraussetzung für jede seriöse und somit auch erfolgreiche psychiatrische Forschung und Therapieplanung, sie darf nicht auf ein Instrument der Klassifikationsforschung und der Verfeinerung der operationalisierten Diagnostik reduziert werden: Eine differenzierte Psychopathologie ist immer die Basis jeder psychopharmakologischen Intervention.

1.4 Evidence-based medicine Obwohl viele der grundlegenden Entwicklungen in der Geschichte der Psychopharmakotherapie auf mehr oder weniger zufälligen Entdeckungen durch Einzelforscher beruhen (Hinterhuber 2005) oder aus Kleinstlabors stammen, sind richtungsweisende Neuentwicklungen in Zu-

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kunft wohl nur noch aus den großen Forschungsabteilungen, vorwiegend der pharmazeutischen Konzerne zu erwarten. Dies liegt nicht nur an dem dafür notwendigen Zusammenspiel von präklinischer und klinischer Forschung, sondern auch an den Anforderungen von FDA, EMEA und den nationalen Behörden für die Zulassung eines neuen Medikaments. Für die dazu notwendigen aufwändigen Studien fehlt in vielen Fällen die entsprechende Finanzierung aus öffentlichen Mitteln. Für die Pharma-Industrie, die in der Lage ist, solche Studien zu sponsern (bzw. in den meisten Fällen überhaupt erst initiiert), stehen aber – neben einem jeweils ins Treffen geführten selbstgestellten humanistischen Auftrag – ökonomische Interessen naturgemäß im Vordergrund. Nicht immer sind die ärztlichethischen Grundsätze des „primum nil nocere“ in Therapie und Forschung mit den Zielen und methodischen Abläufen Industrie-gesponserter Studien spannungsfrei zu vereinen. Die randomisiert-kontrollierte, doppelblind durchgeführte Wirksamkeits-Studie mit ausreichender Fallzahl wird heute allgemein als GoldStandard in der Evaluierung der therapeutischen Potenz eines neuen Arzneimittels angesehen. Mit diesem operationalisierten Vorgehen können wichtige potentiell konfundierende Faktoren wie eine unbewusste Einflussnahme des Untersuchers, die Erwartungshaltung des Patienten oder statistische Zufälle zumindestens reduziert werden. Dennoch bleiben bei einer zu einseitigen Fokusierung auf Resultate aus der evidence-based medicine – neben der Vernachlässigung des Erfahrungsschatzes klinischer Alltagsarbeit und individueller Beobachtungen – eine Reihe von Fragen auf dem Weg zum besten Einsatz medizinischen Wissens. Einer der Kritikpunkte an der auf prospektiv geplanten, großen Studien beruhenden Generierung von Evidenz äussert sich in der Skepsis, ob diese Studien tatsächlich dem klinischen „real-life“ entsprechen (Zetin et al. 2006). Im Bestreben, eine möglichst homogene (und möglichst wenig komplikationsanfällige) Studienpopulation zu definieren, werden – so die Kritik – neue Arzneimittel an Menschen untersucht, die volljährig, aber auch nicht zu alt sind, möglichst nur eine einzige psychiatrische Diagnose

1 Grundbedingungen der Psychopharmakotherapie

haben, nicht suizidgefährdet sind und keine akute körperliche Begleiterkrankung und -medikation haben. Damit sind die so rekrutierten Studienteilnehmer nicht unbedingt repräsentativ für jene Patienten, die später mit den dann zugelassenen Arzneimitteln behandelt werden (Kemmler et al. 2005; Möller und Maier 2007). Die Wirksamkeit eines Psychopharmakons und Relevanz für die tägliche klinische Praxis kann durch die kontrollierten, interventionellen Studien nicht in ausreichendem Ausmaße dargestellt werden. Aus diesen Gründen sind naturalistische Studien für die Beurteilung von Psychopharmaka von großer Bedeutung, da sie wichtige Informationen zu Krankheitsverlauf, Lebensqualität und Prognose psychiatrischer Patienten zu liefern in der Lage sind. Auch der Mangel an Daten zur Wirksamkeit von Medikamenten bei Kindern und Jugendlichen und der daraus resultierende off-label-use von Psychopharmaka in dieser Population oder die heftig diskutierte Frage, ob Antidepressiva nun Suizidalität – parallel zu den anderen depressiven Symptomen – reduzieren oder doch eher Suizidgedanken induzieren (Brent 2007; Hegerl 2007), rühren unter anderem von den beschriebenen Studien-inhärenten Einschränkungen her. Wichtige neue Erkenntnisse und Einsichten haben in den letzten Jahren zu einer etwas wohlwollenderen Einschätzung des oftmals als etwas anrüchig empfundenen und mit dem Stigma des „Patientenbetruges“ assoziierten Placebo-Effektes geführt. Zum einen macht sich zunehmend die Ansicht breit, dass eine, wenn auch pharmakologisch inerte, Substanz, die in 30 und mehr Prozent der Fälle eine klinische Wirkung hervorruft, nicht als unwirksam bezeichnet werden kann. Zum anderen haben sich von Patienten wahrgenommene Effekte auch mittels bildgebender Verfahren darstellen lassen (Mayberg et al. 2002; Wager et al. 2004). Der Placebo-Effekt beruht ganz wesentlich auf dem Glauben des Patienten, dass das verabreichte Medikament wirken wird, auch wenn er, etwa im Rahmen einer klinischen Studie, nach entsprechender Aufklärung darüber informiert ist, dass er mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit eine Placebo-Medikation erhalten wird. Ein Placebo-Effekt tritt auch bei der Gabe eines

1.5 Disease-mongering

„richtigen“ Medikamentes auf, er ist integraler Bestandteil einer jeder Arzt-Patienten-Beziehung (Deisenhammer und Hinterhuber 2003). Die Möglichkeit für den Patienten, sich durch vertrauensvolle (zumindest teilweise) Abgabe von Verantwortung an den Arzt im Sinne einer Eltern-Übertragung in eine sichere Beziehung zu begeben, und die Zuversicht und Stabilität vermittelnde Haltung des Arztes sind wesentliche Voraussetzungen für die Wirksamkeit jedweden ärztlichen Tuns. Deshalb sollte der Placebo-Effekt als ein an der Oberfläche sich manifestierender Ausdruck dieses speziellen Verhältnisses nicht gering geschätzt und als ein durchaus legitimer Teil einer psychopharmakologischen Behandlung gesehen werden. Eine nicht unwesentliche Gefahr der Fokusierung auf Resultate aus der evidence-based medicine liegt im sogenannten „publication bias“. Selbstverständlich müssen nicht alle Ergebnisse von wissenschaftlichen Studien veröffentlicht werden, sei es, weil sie nicht interessant oder wissenswert genug erscheinen, sei es, weil sich im nachhinein methodologische Fehler zeigen. Nicht nur wissenschaftliche Unschärfen, sondern auch gravierende ethische Probleme ergeben sich allerdings, wenn Studienergebnisse von neuen Prüfsubstanzen, die den Autoren oder Auftraggebern wirtschaftlich nicht gelegen sind, (weil die geprüfte Substanz sich als nicht wirksam herausstellt) der Öffentlichkeit vorenthalten werden, während „positive“ Untersuchungen sehr wohl publiziert werden. Wiederholt wurde darauf hingewiesen, dass Industrie-assoziierte Studien häufiger als „unabhängige“ Untersuchungen positive Ergebnisse zugunsten der „investigational drug“ erbrachten oder die Ergebnisse tendenziell positiver darstellten (Jørgensen et al. 2006; Etter et al. 2007; Tungaraza und Poole 2007).

1.5 Disease-mongering In den letzten Jahren wird noch ein anderes Phänomen zunehmend kritisch diskutiert: Mit dem Begriff „disease mongering“ (Moynihan et al. 2002) wird das künstliche Aufbauschen von Prävalenzzahlen als Auswuchs der Medikalisie-

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rung und Pathologisierung von nur grenzwertig krankhaften Symptomen oder überhaupt von physiologischen Zuständen beschrieben. Als wesentlicher Hintergrund des „disease mongering“ ist wohl die damit verbundene Ausweitung der Absatzmärkte für die entsprechenden pharmazeutischen Produkte anzusehen. Neben dem Colon irritabile und dem Restless Legs Syndrom werden aus der psychiatrischen Diagnosenpalette vor allem das Hyperkinetische Syndrom (attention-deficit/hyperactivity disorder, ADHD; Polanczyk et al. 2007) mit Häufigkeitszahlen bis zu 18,2 % (Smalley et al. 2007) sowie auch die Sozialphobie genannt. Gerade bei letzterer scheint die Abgrenzung zwischen weit verbreiteten Gefühlen von Unwohlbefinden und Scheuheit in bestimmten sozialen Situationen und einer tatsächlichen, mit „deutlicher Beeinträchtigung der Lebensführung“ und „erheblichem Leiden“ (DSM-IV) einhergehenden Störung schwierig zu sein. Lang und Stein (2001) weisen auf die extremen Unterschiede in den Prävalenzzahlen der Sozialphobie hin: 1,9 % bis 18,7 %, je nachdem, ob die Symptomatik „marked interference“ oder „moderate interference or distress“ hervorgerufen hatte. Oft betreffen die diskrepanten Angaben der publizierten exorbitanten Prävalenzzahlen und den im klinischen Alltag beobachteten Häufigkeiten gerade jene Störungen, für die rezent ein medikamentöser Therapieansatz entwickelt worden ist. Selbstverständlich sollen jene Betroffenen, die aufgrund des Krankheitsbildes tatsächlich unter starkem Leidensdruck stehen, die optimale Therapie erhalten. Ob die pharmakologische Behandlung von fast 20 % der Bevölkerung wegen Unruhe oder sozialer Ängstlichkeit notwendig und erstrebenswert ist oder ob sich hier (ähnlich wie bei bestimmten sexuellen Verhaltensweisen) nicht eine gewisse LifestylePharmako-Mentalität manifestiert, die auf ein medikamentös gesteuertes Multi-Funktionieren abzielt, sei dahingestellt. Es ist zumindest aus ärztlich-ethischer Sicht wichtig, sich der sinnvollen und vertretbaren Grenzen bewusst zu sein, die pharmakologisch zu behandelnden Störungen definieren. Um einen eventuell falschen Eindruck zu vermeiden, ist es bei öffentlichen Meinungsäusserungen und

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bei Therapieempfehlungen unerlässlich, dass vor allem in der klinischen Forschung tätige Ärzte transparent ihre eigenen wissenschaftlichen Interessen und ihre möglichen finanziellen Verknüpfungen mit der pharmazeutischen Industrie mit großer Offenheit darlegen (Dear und Webb 2007).

1.6 Ausblick Integrativer Bestandteil jeder psychiatrischen Therapie ist neben der optimalen psychopharmakologischen Einstellung die Einbeziehung der sozialen und psychologischen Dimension des Patienten. Grundlegend für den therapeutischen Erfolg ist die Vermittlung einer Gesundungs- und Hoffnungsperspektive: Die Gesundung unserer Patienten ist nicht nur Folge der Verordnung effizienter und möglichst nebenwirkungsfreier Medikamente, sondern – darauf aufbauend – das (Wieder-)Einüben von sozialen Fähigkeiten und Fertigkeiten, der Aufbau von Vertrauen und Verständnis sowie die Verbesserung der zwischenmenschlichen Kommunikation und die Stärkung der Frustrationstoleranz. Alle diese Faktoren werden heute mit dem Begriff „Recovery“ umschrieben. (Schrank und Amering 2007) „Recovery“ ist eine Antwort auf die oft überbetonte neurowissenschaftliche Sicht der derzeitigen Psychiatrie, die sich bemüht, durch Neuroimaging-Verfahren die Betrachtung des Patienten von außen zu optimieren, dabei jedoch die individuelle, subjektive Sichtweise der Betroffenen außer Acht lässt. Der Weg zur Gesundung ist dann erleichtert, wenn sich eine optimale psychopharmakologische Betreuung mit einer humanistischen Begleitung des Patienten verbindet, die diesen auch mit allen seinen Bedürfnissen und Einschränkungen wertschätzt.

1 Grundbedingungen der Psychopharmakotherapie

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Historischer Abriss: Geschichte der Psychopharmaka

R. Tölle und H. Schott

Wie weit reicht die Geschichte der Psychopharmaka zurück, wie lässt sie sich periodisieren, welche epochalen Wendepunkte können wir ausmachen? Die Beantwortung dieser Fragen hängt vom Verständnis dessen ab, was wir unter einem „Psychopharmakon“ verstehen. Die griechischen Wörter psyché und phármakon betreffen wissenschafts- und kulturgeschichtlich schillernde Begriffe, die im Deutschen „Seele, (Atem)Hauch, Schmetterling“ bzw. „Gift, Droge, Arznei“ bedeuten. Psychopharmakon wäre wörtlich als „Seelenarznei“ (lat. medicina animae) zu verstehen. Als Psychopharmaka wären demnach all jene Mittel anzusehen, die kranke Seelen zu heilen und schwache zu stärken vermögen. Hier findet sich bereits in der Antike ein ganzes Arsenal unterschiedlicher Mittel: religiöse, magische, philosophische, rhetorische – und nicht zuletzt auch medizinische, insbesondere diätetische. Offenbar taucht das Wort „Psychopharmakon“ vereinzelt jedoch erst im Mittelalter auf, freilich nicht im medizinischen, sondern im religiösen Zusammenhang. In dieser Ausrichtung erschien 1548 eine Sammlung von Trost- und Sterbegebeten unter dem Titel: „Psychopharmacon, hoc est: medicina animae“, die von Reinhardus Lorichius aus Hadamar herausgegeben wurde. (Vgl. Hall, 1997, S. 13; Hippius 1986)

Diese frühere Assoziation von „Psychopharmakon“ und Ars moriendi, der Sterbekunst, ist bemerkenswert. Obwohl wir in diesem Beitrag vor allem die Geschichte der Psychopharmaka nach heutigem Verständnis – ausgehend von der Entwicklung der Neuroleptika in den 1950er Jahren (siehe unten) – ins Auge fassen wollen, lohnt sich ein Rückblick in die fernere Vergangenheit. Hierbei geht es weniger um die affirmative Feststellung des wissenschaftlichen Fortschritts, als vielmehr um gedankliche Anregungen für die eigene Theorie und Praxis, welche wir unter Umständen aus historischen Quellen schöpfen können.

2.1 Heilmittel für die Seele: Zur Vorgeschichte der Pharmakopsychiatrie Welchen Stellenwert nimmt das Arzneimittel in der antiken Heilkunde ein? Der römische Enzyklopädist Celsus (1. Jh. n. Chr.) formulierte in seiner Schrift De medicina (Prooemium, 9) drei Techniken antiker Heilkunst: „Erst die Diäetetik, dann die Arzneimittellehre und schließlich

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2 Historischer Abriss: Geschichte der Psychopharmaka

Abbildung 2.1: „Die Heilung der zehn Aussätzigen und der dankbare Samariter“; Codex aureus von Echternach (1020–1030); Deutsches Nationalmuseum Nürnberg. Aus J. Neumann, 1996, pp 91 Harenberg

die Chirurgie“1. Damit sind bereits die drei Grunddisziplinen der Medizin, drei verschiedene Ansätze der Therapie angedeutet, wie sie auch heute noch erkennbar sind: Psychotherapie (Psychiatrie im buchstäblichen Sinn), bei der das gesprochene Wort, innere Medizin, bei der das zu applizierende Medikament und Chirurgie, bei der der körperliche Eingriff, die Operation, im Mittelpunkt steht. In dieser Rangfolge steht das phármakon also zwischen Psychotherapie und Chirurgie.

2.1.1 Religiöse und magische Heilmittel Die Arznei wird am sinnfälligsten dort, wo sie in Form einer stofflichen Substanz vorliegt und vom Kranken entsprechend aufgenommen, eingenommen wird: als Tablette, Zäpfchen, Injektionsflüssigkeit etc. Aber auch quasi nicht-stoffliche Substanzen können als Heilmittel wirken, als ob sie ein stoffliches Arzneimittel wären. Hierzu zählen geistige Inhalte, Vorstellungen, Worte, die von einer heilenden göttlichen Instanz oder 1

Originaltext: „Primam Διαιτητικήν Φαρμακευτικήν tertiam Χειρουργίαν“.

secundam

einer entsprechend wirksamen philosophischen Lehre ausgehen. In der Religions- und Geistesgeschichte ist dies in den unterschiedlichen Kulturkreisen dokumentiert. Ein Beispiel wäre das eingangs erwähnte Tröstungsbuch „Psychopharmakon“, das sich auf klassische antike Autoren wie Seneca beruft. In der christlichen Tradition erlangte die Heilung durch den Geist Gottes, durch die Gegenwart und die gesprochenen Worte von Jesus Christus zentrale Bedeutung. Christus medicus als „großer Arzt“, „Heiland“, wurde zum Leitbild der religiösen Heilkunde im christlichen Abendland. Wenngleich sich diese religiöse Heilkunde auf alle Krankheiten und Leiden der Menschen bezog, hatte sie zu psychischen Störungen eine besondere Affinität. Die vier Evangelisten berichten, wie Christus u. a. Gelähmte und Blinde durch seine Anwesenheit oder durch Berührung von ihren Leiden befreit hat. Was hier beschrieben wird und in erster Linie theologisch zu verstehen ist, entzieht sich der historischen Analyse, gehört aber zum christlichen Glaubensbestand. Die Bibel wurde zur „großen Hausapotheke der Menschheit“ (Heinrich Heine). Unter medizinhistorischem Aspekt ist festzuhalten, dass Christus die Exorzismus-Rituale bei

2.1 Heilmittel für die Seele: Zur Vorgeschichte der Pharmakopsychiatrie

denjenigen anwendet, deren Erkrankung er als Besessenheit begreift: „Fahre aus, du unsauberer Geist, von dem Menschen! [...] Und es war daselbst an den Bergen eine große Herde von Säuen auf der Weide. Und die Teufel baten ihn alle und sprachen: ‚Laß uns in die Säue fahren!‘ Und alsbald erlaubte es ihnen Jesus. Da fuhren die unsauberen Geister aus und fuhren in die Säue; und die Herde stürzte sich von dem Abhang ins Meer [...].“ (Mk 5, 8 u. 11–13) Heilen wurde nun zu einem christlichen Missionsauftrag, zum Handeln in der Nachfolge Christi. Diese „Imitatio Christi“ stand in der religiösen Heilkunde des Abendlandes im Mittelpunkt. Der segnende und exorzierende „Christus medicus“ wurde zu einer beliebten Gestalt der kirchlichen Kunst (z. B. Echternacher Evangelienbuch). (Vgl. Neumann, 1996) Psychotherapie lässt sich in dieser Perspektive als eine säkulare Form der „Heilung durch den Geist“ (Zweig, 1931) verstehen, als eine Nutzung der „Heilkraft“ der Suggestion (Bernheim 1888) mit Hilfe unterschiedlicher Methoden. Bernheims Schlüsselsatz: „Das Wort allein genügt“ erinnert an religiöse Traditionen, gerade auch im Umgang mit dem Geisteskranken. Magische Arzneimittel weisen eine enge Verwandtschaft mit religiösen auf: Denn ihre naturphilosophische Begründung verweist in der Regel auf den göttlichen Ursprung der Natur. Einer der wirkmächtigsten Gestalten der neuzeitlichen Medizin- und Wissenschaftsgeschichte, der sich der magischen Medizin verschrieben hatte, war Paracelsus. Am Beispiel der Anwendung der Korallen lässt sich zeigen, wie die magischen Heilmittel u. a. auch gegen (aus unserer heutigen Sicht) psychiatrische Störungen wirken. Die roten „schönen“ Korallen sind nach Paracelsus – im Unterschied zu den dunkel gefärbten (braunen oder schwarzen) – heilkräftig. In seiner Schrift „Herbarius“ legt er ausführlich dar, wie sie gegen „fantasei“ (verführerische Phantasie), „phantasmata“ (Nachtgeister), „spectra“ (Astralkörper Verstorbener) und „melancholei“ (Schwermut) wirken. All diese Krankheiten seien „natürlich“ („aus der natur und nit wider die Natur“) und so wirkten auch die Korallen als natürliche Heilmittel („eins aus natürlichen secre-

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ten“). Auf den ersten Blick könnte der Eindruck entstehen, als sei hiermit ein spezifisch „psychiatrisches“ Heilmittel angegeben. Wenn man jedoch den gesamten Kontext berücksichtigt, wird deutlich, dass hiervon keine Rede sein kann. Denn die Korallen vertreiben auch Gewitter, Schauer, Hagel und Blitz. Die Natur könne zwar ein „ungewitter machen im himel“, aber zugleich auch „ein beschirmung“ dagegen. (Paracelsus, Ed. Sudhoff, Bd. 2, S. 43) Des Weiteren würden die Korallen auch die „wilden monstra“ austilgen („ein tier, das nit in der zal der geschöpf ist“) und somit monströse Missgeburten verhindern. Sie vertrieben insbesondere den Teufel bzw. seine Geister, die den Menschen umlauern: Denn die roten Korallen, so argumentiert Paracelsus, glichen der Sonne, deren Licht der Teufel fliehe – im Gegensatz zu den braunen Korallen, die dem (dunkleren) Mondschein glichen und die entsprechenden dunklen Geister anzögen (S. 44): Gerade schwangere Frauen, die für Anfechtungen besonders anfällig seien, sollten deshalb rote Korallen tragen. Sie könnten auch alle „Flüsse“ stillen, Gebärmutterflüsse („flüß der muter“), Bauchflüsse, Blutflüsse. Dieses Beispiel macht deutlich, wie die magische Medizin die moderne Einteilung in physische und psychische Störungen und damit auch eine entsprechende psychiatrische Nosologie gleichsam überspringt.

2.1.2 Heilmittel im Sinne von Humoralpathologie und Diätetik Die antike Humoralpathologie (Säfte- bzw. Qualitätenlehre), die erstmals in den hippokratischen Schriften auftauchte, begründete in der abendländischen Medizingeschichte die maßgebliche Krankheitslehre. Nach ihrer umfassenden Kanonisierung durch den griechischen Arzt Galen (2. Jh. n. Chr.) wurde der „Galenismus“ bis weit in die Neuzeit hinein zur dogmatischen (durchaus auch flexiblen) Richtschnur medizinischer Theorie und Praxis. Die Mischung der vier Kardinalsäfte Blut, gelbe Galle, schwarze Galle und Schleim und ihre jeweilige Qualität („Reinheit“) waren ausschlaggebend: Eukrasie (gute Mischung) bedeutete Gesundheit, Dyskrasie (schlechte Mischung) führte zur Krankheit. Psychische Störungen wurden primär als Gallen-

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krankheiten begriffen: Gelbe Galle (chole) wurde nach dieser Vorstellung in der Leber gebildet, hatte eine trockene und heiße Qualität und führte – vom Bauch in den Kopf aufsteigend – zu Tobsucht (Choleriker), während schwarze Galle (melan chole) mit der Milz korrespondierte, von trockener und kalter Qualität war und als Ursache der „Melancholie“ angenommen wurde. Die „Melancholie“ galt seit der Antike als eine Hauptkrankheit, welche in besonderer Weise vom Oberbauch (hypochondrium) ausging und das Gehirn betraf. Das medizinhistorisch wichtigste Melancholie-Konzept stammt von Galen. Dieser unterscheidet drei Ursachen der Melancholie, die er als eine Affektion des Gehirns durch schwarze Galle versteht: (1) Der ganze Körper kann von der schwarzen Galle im Blut betroffen sein, und damit auch das Gehirn; (2) das Gehirn ist lokal betroffen, wenn die schwarze Galle durch örtliche Hitze aus gelber Galle produziert wird; und (3) das Gehirn wird sekundär von der schwarzen Galle affiziert, wenn das Leiden von einer Verdauungsstörung im Magen ausgeht, und es zu Blähungen, Flatulenz, Sodbrennen etc., d. h. zu einer Hypochondrie kommt. (Vgl. Siegel, 1976, S. 89–94) Dann steigt vom Oberbauch eine entsprechende schwarzgallige, rußartige Ausdünstung zum Gehirn auf und erzeugt dort die entsprechenden Symptome wie Furcht, Mutlosigkeit, Wahnvorstellungen und Todessehnsucht. Galen erklärt insbesondere die beiden erstgenannten Symptome mit der Verdunkelung des Gehirns durch die schwarze Galle, analog einer äußeren Dunkelheit, die den Menschen fürchten macht. (Vgl. Siegel, 1976, S. 93) Die Therapie reicht von Bädern und Diät bis hin zum Aderlass, der beim schwersten Krankheitszustand vorzunehmen sei, wo sich die schwarze Galle im Gehirn selbst angesammelt habe. (Vgl. Flashar, 1966, S. 105 ff.) Indem die Magengegend bzw. die Oberbauchorgane als Ursprungsort der Melancholie angesehen werden, erscheint ihre Nähe zur Hypochondrie plausibel. So erscheinen Melancholie und Hypochondrie seither eng miteinander verknüpft (Melancholia hypochondriaca) und bilden bis zum 18. Jahrhundert eine Krankheitseinheit bzw.

2 Historischer Abriss: Geschichte der Psychopharmaka

werden synonym gebraucht. (Vgl. Siegel, 1968, S. 302) Entsprechend der Humoralpathologie galten unterschiedliche Aus- und Ableitungsmethoden als angezeigt. Wichtigste Methode war die Entleerung der Verdauungsorgane, das „Purgieren“: die Entleerung nach oben durch die Ekelkur mit Erbrechen und diejenige nach unten durch Abführen mit Klistieren, der „Darmdouche“ oder durch Abführmittel (Laxantien). Die Brechmittel schienen für Rush (1825, S. 163) „am nützlichsten in der mit Hypochondrie complicirten Melancholie.“ So beschrieb Leupoldt (1837, S. 305 f.) den heilsamen Ekel durch Brechweinstein: Die Erregung des Bauchnervensystems mindere „antagonistisch die excessive Regheit des Gehirns [...] indeß durch den Brechweinstein die Irritablität überhaupt, die des Blutes und Blutgefäßsystems aber insbesondere gemindert, [...] [könnten die Kranken] selbst fügsamer und glauben gemacht werden, dass sie krank seien und ärztlicher Hülfe bedürfen.“ Auch bei dieser Ekel- und Brechkur begegnet uns jene Verknüpfung von medizinischem und moralischem Argument, das für die frühe Anstaltspsychiatrie um 1800 so typisch war. Gegen die Verstopfung der Eingeweide wurden – insbesondere in Frankreich seit dem 17. Jahrhundert – Klistiere eingesetzt. Kaempfs „Viszeralklistier“ war gegen Ende des 18. Jahrhunderts eine viel beachtete Methode, um den „Infarktus“, die „infarzirenden Blutausartungen“ zu heilen. (Kaempf, 1786, S. 2 f.) Er schildert zahlreiche Krankengeschichten, um die Wirksamkeit seiner „Viszeralklystiere“ zu dokumentieren. In der psychiatrischen Literatur des frühen 19. Jahrhunderts wurde Kaempfs populärer Vorschlag immer wieder positiv erwähnt, um insbesondere anfalls- und krampfartige Leiden zu kurieren. (Vgl. z. B. Leupoldt, 1863, S. 301)

2.1.3 Alkohol, Opium und andere Heilmittel Alkohol ist lange Zeit therapeutisch eingesetzt worden und wird gelegentlich heute noch ärztlich empfohlen. In der Psychiatrie war Alkohol als Heilmittel immer umstritten, heute ist er ob-

2.1 Heilmittel für die Seele: Zur Vorgeschichte der Pharmakopsychiatrie

solet. Entsprechendes ist von Opium-Präparaten zu sagen, die als Schlaf- und Schmerzmittel bereits im Altertum verwendet wurden. So wurden ab dem 10. Jahrhundert „Schlafmittelschwämme“ (lat. spongia somnifera) aus Opiumsamen, Mandragora- und Schierlingsblätterextrakt hergestellt, die den Chirurgen als Betäubungsmittel dienten. Auch Paracelsus empfahl das Opium als „wirksamstes Mittel“ und nannte es „Laudanum“ (lobenswert). Von der Mitte des 18. Jahrhunderts an wurde Opium gezielt bei Erregung, insbesondere bei Manie eingesetzt; später waren schwere Depressionen das Hauptindikationsgebiet. Das Hauptalkaloid der Mohnpflanze, das Morphin, konnte der junge Apothekengehilfe Friedrich Sertürner (1783–1843) 1804 in Paderborn isolieren, das er 1811 „Morphium“ nannte, nach Morpheus, dem griechischen Gott der Träume. Ab 1844 wurde diese Substanz als Schmerzmittel eingesetzt. Mehr Verwendung aber fanden Extrakte mit dem Gesamt der Alkaloide (z. B. Pantopon ab 1910). Während des 19. Jahrhunderts war Opium Hauptmittel der psychiatrischen Pharmakotherapie. Reil (1803, S. 183) empfahl „Wein und Mohnsaft“, Letzteren in kleinen Gaben. Griesinger (1845/61, S. 488 f.) erwähnt Opium neben Äther und Chloroform. Nicht wenige Autoren haben dem Opium Heilungen zugeschrieben, zugleich aber die Indikationen kritisch diskutiert im Hinblick auf die Gefahr des Missbrauchs. (Z. B. Meyer, 1860, S. 534) Opium wurde von vielen Psychiatern den chemischen Sedativa oder „Narkotika“ (s. u.) vorgezogen, so von Wille (1878b, S. 32), der die Nutzen-Schaden-Abwägung erörtert. Wie beliebt Opium blieb, zeigte sich auch später, als nach der Entdeckung der modernen Antidepressiva die Behandlung mit Opium-Tinktur nur zögernd aufgegeben wurde. Neben Opium wurde eine Vielzahl wenig wirksamer Mittel gegen psychische Krankheiten eingesetzt. Was im frühen 19. Jahrhundert gebräuchlich war, hat Schneider (1824) auf 400 Buchseiten referiert. In seinem Werk ist der allmähliche Übergang von den „Torturen“ zu den „humaneren“ Heilmitteln zu erkennen. Erstaunlich ist, wie lange sich auch wenig bewährte Medikamente halten konnten. Ein Beispiel sind die Bromide. Als chemisches Element war Brom

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seit 1826 bekannt, Brom-Kalium wurde 1827 als Sedativum und 1858 als Antikonvulsivum eingesetzt. Brom-Harnstoffderivate (z. B. Bromural) vereinigten die scheinbar vielversprechenden Substanzen Brom und Baldrian. Sie wurden bis in die 1950er Jahre trotz der erheblichen Nebenwirkungen (Bromismus) verwendet. Über nicht bewährte und verworfene Pharmaka informiert Hall (1997).

2.1.4 Heilung durch Krankheit Verschiedene Mittel sollten ihre Wirkung auf dem Wege über körperliche Gesundheitsstörungen entfalten, z. B. Emetika, Laxantien („Drastika“) und Fiebermittel. Diesen Versuchen lag die klinische Beobachtung zugrunde, dass interkurrente körperliche Krankheiten die Symptomatik einer Psychose reduzieren, im günstigen Fall sogar aufheben können. Das war seit Beginn des 19. Jahrhunderts bekannt. „Reuss sah, dass Tobsüchtige durch die Einimpfung der Pocken; Chiarugi, dass Melancholische durch Friesel und Wahnsinnige durch Flechten an den Füßen und durch die Krätze geheilt wurden“, referierte Reil (1803, S. 191) und brachte auch eigene Beobachtungen. Manche dieser Therapieversuche gehören noch zu den „Torturen“, wie Reil selbst sie nannte. Noch in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts gab es entsprechende Therapieversuche, insbesondere das Beibringen eiternder Wunden am Kopf: So praktizierte Maximilian Jacobi in seiner Siegburger Anstalt das (durchaus lebensgefährliche) „Siegburger Siegel“ (Pelman, 1912, S. 35 f.), und Heinrich Landerer beobachtete die „Heilung einer Psychose unter dem Einfluss eines Erysipels des Kopfes“ (Landerer, 1885). Die Emetika-Behandlung sah man wie eine Art Schocktherapie an. (Vgl. Müller, 1998, S. 191 f.) Wenn Abführmitteln, in drastischer Dosierung gegeben, eine spezifisch antipsychotische Wirkung zugeschrieben wurde, so beruhte diese auf der überlieferten Vorstellung, dass sich Krankheiten oder Störungen der Bauchorgane, insbesondere des Verdauungstraktes, sympathetisch auf das Gehirn und seine psychischen Funktionen auswirkten, namentlich bei der „Melancholia hypochondriaca“, die bis zur Schwelle zur Mo-

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derne als eine Hauptursache psychischer Erkrankungen galt. Eine Ableitung bzw. Ausleitung von schädlichen Stoffen bzw. angestauter Energie im Sinne der Humoralpathologie bedeutete zugleich eine Therapie psychischer Störungen. Klistiere spielten noch in der Psychiatrie um 1800 eine besonders wichtige Rolle – neben Aderlass, Blutegeln und Wassergüssen. Solche Behandlungen stießen jedoch in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts auf entschiedene Kritik. (Z. B. Wille, 1878, S. 32) Unter den interkurrenten Krankheiten schienen sich insbesondere fieberhafte Erkrankungen, z. B. Typhus, günstig auf die Psychose des Patienten auszuwirken. Solche Beobachtungen sollen seit der Antike bekannt sein. Im 17. Jahrhundert wurde psychisch Kranken Lammblut infundiert, um Fieber zu erzeugen. (Nach Linde, 1988, S. 80) 1798 erwartete man Heilungen nach Pockenimpfung. (Vgl. Linde, 1988, S. 81 f.) In der Folgezeit wurden sowohl Vakzine als auch virulente Erreger verwandt. Großen Erfolg hatte die Malaria-Behandlung bei Progressiver Paralyse. Die Fiebertherapie wurde noch bis in die 1960er Jahre bei schizophrenen und depressiven Psychosen verwandt, die anders nicht beeinflussbar waren. Hierzu wurde ein Präparat von Eiweißstoffen, die aus Coli-Bakterien gewonnen waren, benutzt. Näheres über die Fieberbehandlungen findet sich bei Hall (1997). Die Vorstellung, eine psychische Krankheit durch Hervorrufen einer körperlichen Störung therapeutisch zu beeinflussen, blieb bis in die Gegenwartspsychiatrie erhalten. Ein Beispiel ist die Schlafkur nach Klaesi, bei der der Autor über längere Zeit durch hochdosierte Barbiturate Schwäche und Hinfälligkeit bewirken wollte. Den Effekt der Elektrokrampftherapie hielt Delay für ein dienzephales Syndrom, das eine gewisse Ähnlichkeit mit einer Stressreaktion aufweise. Die Neuroleptikawirkung wurde als Stammhirntrias motorischer, vegetativer und psychischer Effekte bzw. als extrapyramidaldienzephales Syndrom beschrieben.

2 Historischer Abriss: Geschichte der Psychopharmaka

2.2 Neue Arzneimittel durch die pharmazeutischen Chemie Die pharmazeutische Chemie entwickelte sich im Laufe der Neuzeit. Einen entscheidenden Impuls gab Paracelsus mit seiner Lehre von der alchemischen Zubereitung der Arzneimittel. Die Alchemie als „Scheidekunst“ (ars spagyrica) sollte aus den Naturdingen, insbesondere aus den Metallen, die „Quintessenz“ (quinta essentia) ziehen, um so den (quasi geistigen) Wirkstoff zu gewinnen, das „Arcanum“. Dieser medizinischen Alchemie ging es um die Herstellung reinster Arzneimittel (arcana), und nicht um die Herstellung von künstlichem Gold. Solche arcana konnten aus unterschiedlichen Ausgangsstoffen (Mineralien, Perlen, Korallen, Kräutern, Blut) hergestellt werden. Mit Goldverbindungen vermischt lieferten sie das „Aurum potabile“ und galten bis zum 18. Jahrhundert als potente Arzneimittel. Die vom Paracelsismus beförderte chemiatrische Bewegung, d. h. Entfaltung der „chemischen Medizin“, führte schließlich im Verbund mit den Entdeckungen der Chemie zur Entwicklung der pharmazeutischen Chemie. Ein wichtiger Meilenstein war die Entdeckung des Sauerstoffs durch Lavoisier im Jahre 1775, womit er die organische Chemie (Biochemie) begründete. Im 17. Jahrhundert erhalten viele Apotheken chemische Laboratorien, die als Vorformen der pharmazeutischen Industrie anzusehen sind. Bis ins frühe 19. Jahrhundert findet die Arzneimittelforschung und -Herstellung, wie Sertürners Beispiel (s. o.) zeigt, in solchen Apothekenlaboratorien statt. Später, mit dem Aufschwung der Alkaloid-Chemie, verlagerte sich aus ökonomischen Gründen die Herstellung chemischer Präparate vom Apothekenlaboratorium in die chemische Fabrik. So hat der heutige Pharmakonzern Merck in der Darmstädter EngelApotheke ihren Ursprung, in deren Laboratorium Heinrich Emanuel Merck (1794–1855) ab 1827 Alkaloide herstellte.

2.2 Neue Arzneimittel durch die pharmazeutischen Chemie

2.2.1 Chloralhydrat und weitere Sedativa 1832 synthetisierte Justus von Liebig aus Äthanol und Chlor das Chloralhydrat, das aber erst wesentlich später als Schlafmittel erkannt und von O. Liebreich 1869 in der Berliner Charité als Beruhigungsmittel bei erregten Psychosekranken eingesetzt wurde. Dieses erste synthetisch hergestellte Sedativum (seinerzeit auch Narkotikum genannt) wurde ein großer Erfolg. Chloraldurat wurde in großer Menge produziert und zu hohen Preisen verkauft. Binnen weniger Jahre wurden mehrere hundert Arbeiten publiziert, von denen die meisten zustimmend (z. T. mit Einschränkungen), einige enthusiastisch und einzelne skeptisch ausfielen. Wenige Psychiater äußerten sich ablehnend, wohl weil die chemische Sedierung allzu neuartig war. (Z. B. Flemming, 1871, S. 265 f.) Psychiatriehistorisch datiert Weber (2001, S. 351) den Beginn der psychiatrischen Pharmakotherapie mit Chloralhydrat, das heute noch verfügbar ist, während alle anderen Sedativa dieser und verwandter Stoffgruppen längst aus dem medizinischen Gebrauch verschwunden sind. Die Vorteile des neuen Medikamentes lagen darin, dass es leicht herstellbar war, gut sedativ wirkte und wenig Nebenwirkungen aufwies, auch nicht den vom Chloroform bekannten und gefürchteten Rausch. Chloralhydrat wurde in der Bevölkerung bald sehr beliebt, trotz des unangenehmen Geruchs und Geschmacks. Missbrauch und Abhängigkeit, wie sie allen sedierenden Psychopharmaka eigen sind, blieben nicht aus. Wille (1878, S. 31) warnte vor der allzu großzügigen Verwendung in manchen Anstalten, Rehm (1886, S. 36 f.) vor dem süchtigen Missbrauch. Nach dem Erfolg des Chloralhydrats wurden weitere Sedativa synthetisiert und psychiatrisch verwandt. Dennoch blieben von den zuvor verabreichten pflanzlichen Beruhigungsmitteln einige im Behandlungsrepertoire. Hyoscin, ein seit der Antike bekanntes Phytotherapeutikum, wurde ab 1881 bei Epilepsiekranken eingesetzt und später in Form des chemisch definierten

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Skopolamin gegen Erregungszustände. Pharmakopsychiatrisch ist es nicht mehr gebräuchlich, wohl aber internistisch als Spasmolythikum. Atropin (Hyoscyamin), ein Alkaloid aus Stechapfel und Tollkirsche (Belladonna), fand bekanntlich vielfache therapeutische Verwendung, u. a. in der Psychiatrie bei Epilepsie und Erregungszuständen, auch bei Depressionen. Paraldehyd wurde 1848 als halogenfreie Verbindung synthetisiert und 1882 in die Psychiatrie als Tagessedativum und Schlafmittel (Hypnotikum) eingeführt. Obwohl es über die Lunge ausgeschieden wurde und einen üblen Geruch über die ganze Station verbreitete, war es der Verträglichkeit wegen lange Zeit (bis in die 1970er Jahre) ein bevorzugtes Sedativum, zumal es auch rektal gegeben werden konnte. Urethane wurden als Carbaminsäurederivate 1834 hergestellt und 1886 als Hypnotika eingesetzt. Weitere Schlafmittel waren Amylenhydrat (ab 1887 eingesetzt) und die (Di)Sulfone. Der erste Vertreter dieser schwefelhaltigen Kohlenwasserstoffverbindungen war Sulfonal, das 1886 synthetisiert und 1888 als Schlafmittel eingeführt wurde. Es folgten Trional und Tetronal. Bemerkenswert erscheint, dass bei der Einführung von Sulfonal und Amylenhydrat erstmalig in der Psychiatrie der Blindversuch (mit der einfachen Methode) eingesetzt wurde. (Vgl. Rosenbach, 1888) Die genannten und weitere Stoffe, die hier nicht aufzuzählen sind (s. Hall, 1997), wurden in der Psychiatrie allgemein verwandt. Kraepelin schrieb in den späteren Auflagen seines Lehrbuches (ab 1883) zunehmend über Pharmakotherapie. Es wurden aber auch ernstzunehmende fachliche Bedenken erhoben, nicht nur wegen Missbrauchs und Abhängigkeit, sondern weil man befürchtete, die chemischen Sedativa würden als Zwangsmittel dienen. Diese Bedenken verstummten nicht und wurden hinsichtlich der modernen Neuroleptika erneut erhoben. Aus der Sicht des Patienten sah sich Hansjakob 1894 (S. 262 und S. 316) veranlasst, Sedativa wie Paraldehyd (und auch Alkohol) gegen die Skepsis seiner behandelnden Psychiater zu verteidigen.

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2 Historischer Abriss: Geschichte der Psychopharmaka

Abbildung 2.2: Ein Päckchen Ampullen „Somnifen“ der Firma Hoffmann-LaRoche & Co AG (Historisches Archiv Roche, Basel)

2.2.2 Barbiturate, Schlafkur Barbitursäure wurde 1863 chemisch definiert, 1882 wurde als erstes Barbiturat Veronal (Diaethylbarbitursäure) synthetisiert und 1903 als Hypnotikum eingeführt, gefolgt von weiteren Barbituraten wie Luminal (1912), Somnifen (1920), Phanodorm (1925), Evipan (1932). Die Barbiturate waren bald weit verbreitet, in der Bevölkerung erfreuten sie sich großer Beliebtheit. Andererseits aber waren und blieben sie mit dem Makel von Risiken und Suizidhandlungen, Missbrauch und Abhängigkeit behaftet. „Barbituratfrei“ wurde – zu Unrecht – wie ein Freibrief für chemisch andere Sedativa und Hypnotika verstanden. Barbiturate, die zu einem lukrativen Markt der Pharmaindustrie wurden, konnte die Psychiatrie erst nach der Entdeckung moderner Tranquilizer aufgeben, länger waren sie in der Neurologie zur Anfallsbehandlung unersetzlich. Nachdem mit Sulfonal und Trional Versuche der Schlafkur unternommen worden waren, benutzte der Schweizer Psychiater Jakob Klaesi Somnifen, um psychotische Patienten für zwei Wochen in einen Schlafzustand zu versetzen und

danach in der Phase des Aufwachens und der affektiven Lockerung einen psychotherapeutischen Kontakt herzustellen, der zuvor nicht möglich war. Die Erfolge, die Klaesi 1922 beschrieb, konnten von anderen Autoren nicht repliziert werden (zusammenfassend Windholz und Witherspoon, 1993), und auch wegen der häufigen Komplikationen (Letalität von 5 %) wurde die Behandlung bereits in den 1930er Jahren aufgegeben. Die Vorstellung, durch Schlaf psychotherapeutischen Kontakt zu ermöglichen, blieb aber erhalten. So wurde in den Kriegs- und Nachkriegsjahren, zuerst bei psychotraumatischen Störungen amerikanischer Soldaten, die Narkoanalyse (auch Narkosynthese genannt) mittels Evipan-Injektionen durchgeführt, um im veränderten Bewusstseinszustand psychotherapeutisch vorgehen zu können. Auch als 1952 Chlorpromazin entdeckt wurde, war die erste Vorstellung, mit dem Medikament könne ein „Winterschlaf “ herbeigeführt werden. Traditionelle Vorstellungen vom „Heilschlaf “ spielten sicher auch bei solchen Versuchen in der Psychiatrie eine Rolle. Die therapeutische Bedeutung des Schlafs wurde in der Medizinge-

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2.3 Die Ära der modernen Pharmakopsychiatrie

schichte immer wieder hervorgehoben – vom Heilritual im Asklepioskult bis hin zum „magnetischen“ oder „hypnotischen Schlaf “ im 19. Jahrhundert, als dessen künstliche Erzeugung – auch in Form des „Somnambulismus“ – für die ärztliche Behandlung im Sinne der Psychotherapie wichtig war. In den 1930er und 1940er Jahren beanspruchten somatische Behandlungsverfahren wie Insulin- und Krampfbehandlung das Interesse der Psychiater. Über medikamentöse Weiterentwicklungen ist kaum etwas zu berichten. Depressionen wurden ab etwa 1930 mit Pervitin und anderen Analeptika zu behandeln versucht, auch mit den photobiologischen Hämatoporphyrinpräparaten, die ebenso enttäuschten wie

Hormone, Vitamine und Spurenelemente. Zu erwähnen sind auch Versuche mit Adrenalin und Histamin. 1931 gab Wuth in einem Sammelreferat über 600 Literaturstellen an, konnte aber nur über die damals bereits alten Mittel wie Brom-Salze, Barbiturate, Chloralhydrat, Paraldehyd, Opiumtinktur, Atropin und Skopolamin berichten (weitere Übersichten von Enke, 1937 sowie Enke und Dahl, 1939).

2.3 Die Ära der modernen Pharmakopsychiatrie Verstehen wir unter „Psychopharmaka“ Arzneimittel für psychisch Kranke und insbeson-

Progress in Psychopharmacology in Munich Scientic development and practical use of psychotropic substances in the University Hospital - From E. Kraepelin to the 21th century

Abbildung 2.3: Artikel „Künstlicher Winterschlaf in der Psychiatrie“ (Kolle K., Mikorey M. ) (1953) Künstlicher Winterschlaf in der Psychiatrie; Dtsch med Wochenschr; 78: 1723–1724, Georg Thieme Verlag KG Stuttgart, New York)

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dere für psychiatrische Patienten, so gibt es zwei Möglichkeiten, den Beginn ihrer Ära zu datieren: Zum einen könnte man jene Arzneimittel bzw. therapeutische Hilfsmittel verstehen, die mit der Entwicklung der Psychiatrie als medizinisches Fachgebiet im Verlauf des 19. Jahrhunderts auf den Plan traten, wobei insbesondere die Barbiturate zu nennen wären; zum anderen, und dies ist heute die vorherrschende Auffassung, könnte man die Ära der Psychopharmaka mit der erstmaligen Entwicklung von Arzneimitteln beginnen lassen, die eine spezifische Heilwirkung bei psychopathologischen Störungen entfalten, also 1952 mit der Entdeckung von Chlorpromazin.

2.3.1 Neuroleptika Mit der Entdeckung von Chlorpromazin, dem ersten gezielt auf psychopathologische Störungen einwirkenden Medikament, begann 1952 die pharmakopsychiatrische Ära der Psychiatrie. Danach, noch in den 1950er Jahren, kamen die wichtigsten modernen Psychopharmaka hinzu: 1954 Reserpin, ein andersartiges Neuroleptikum, 1957 Imipramin als erstes tricyklisches Antidepressivum und zeitgleich Iproniazid als antidepressiv wirkender Monoaminooxydasehemmer, 1958 Haloperidol als ein sehr intensives Neuroleptikum, 1960 Chlordiazepoxid als erster Tranquilizer aus der Gruppe der Benzodiazepine. Die Entdeckung dieses ersten Neuroleptikums war ganz unerwartet. Man hatte angesichts der zahlreichen Enttäuschungen mit vorher geprüften und verwandten Mitteln nicht viel Hoffnung auf besser wirkende Medikamente. Im Mittelpunkt der psychiatrisch-therapeutischen Diskussion zu Beginn der 1950er Jahre standen nach wie vor die Insulin- und Krampfbehandlungen. Die neue Stoffklasse der Phenothiazine war 1883 synthetisiert und bald in die Medizin eingeführt und zu verschiedenen Zwecken verwandt worden: zunächst als Harndesinfizienz, später in der Veterinärmedizin gegen verschiedene Erreger und auch beim Menschen gegen Oxyuren. Als der französische Pharmahersteller RhônePoulenc nach Antihistaminika und vegetativen Stabilisatoren suchte, wurde 1950 neben anderen

2 Historischer Abriss: Geschichte der Psychopharmaka

Stoffen auch ein Phenothiazin mit der Versuchsnummer 4560RP synthetisiert und geprüft. An eine psychiatrische Verwendung dachte zunächst niemand. Der französische Chirurg Henry Laborit verwandte die Substanz, die Chlorpromazin genannt wurde, zur Narkosepotenzierung und kontrollierten Hypothermie (Winterschlafbehandlung, sog. Hibernation). Er benutzte hierzu einen „cocktail lytique“, bestehend aus Chlorpromazin, Promethazin und Petin. Nach diesem Muster wurde später die Neuroleptanalgesie entwickelt. Dabei sah er dämpfende, speziell angstmindernde Wirkungen des neuen Medikamentes. Hiervon erfuhren die Psychiater der Klinik Ste. Anne in Paris, und bald verwandten Jean Delay und seine Mitarbeiter Dechamps, Deniker und Harl Chlorpromazin bei schizophrenen Kranken und erkannten rasch die neuartige gezielt-antipsychotische Wirkung. (Vgl. Dechamps, 1952; Delay et al., 1952). Nachdem weitere Phenotiazine erprobt waren, prägten die Autoren die Gruppenbezeichnung Neuroleptika (später abgelöst durch Antipsychotika). Chlorpromazin wurde als „Largactil“ (in Frankreich) bzw. „Megaphen“ (in Deutschland) und unter zahlreichen anderen Namen innerhalb kurzer Zeit weltweit vertrieben und erfolgreich eingesetzt. Die Wirkungen dieser Stoffklasse glichen nicht mehr denen der Opioide, Sedativa und Hypnotika (s. o.), sondern sie beeinflussten gezielt die Symptomatik von Schizophrenien, Manien, organischen Psychosen und anderen psychischen Störungen, ohne dass unter der Behandlung der Kontakt mit den Patienten abreißen musste (wie in der beschriebenen Schlafkur) und ohne dass ein Abhängigkeitsrisiko entstand. Insbesondere wurden Erregung und Affektivitätsstörungen, Wahn und Halluzinationen sowie Denkstörungen günstig beeinflusst, und zwar „ordnend“, nicht nur sedierend. Über diese Akutwirkungen hinaus kann mit fortgesetzter neuroleptischer Behandlung der erreichte Zustand stabilisiert werden. Bei Langzeitbehandlung werden Rückfälle (und Wiederaufnahmen in die Klinik) wesentlich seltener; Psychotherapie und Rehabilitation werden begünstigt; der Langzeitverlauf wird insgesamt verbessert.

2.3 Die Ära der modernen Pharmakopsychiatrie

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2.3.2 Weitere Neuroleptika Während das Rauwolfia-Alkaloid Reserpin als Hochdruckmittel verwandt wurde, fielen psychotrope Effekte auf, die denen des Chlorpromazin so ähnlich waren, dass der amerikanische Psychiater N. S. Kline 1954 Reserpin als Neuroleptikum einsetzte. Die schlangenähnlich („serpentina“) gebogenen Wurzeln der RauwolfiaPflanze – nach dem deutschen Arzt Leonhard Rauwolf (1540–1596) benannt – wurden bereits in der altindischen Medizin u. a. gegen Schlangen- und Skorpionbisse, aber auch gegen Geisteskrankheiten und Epilepsie verwandt. Bereits in den 1930er Jahren verwiesen indische Forscher auf die blutdrucksenkende Wirkung eines Alkaloids (Reserpin), das sie von der Rauwolfia serpentina isoliert hatten. Erst ab 1953 fand das Reserpin nach entsprechenden pharmakologischen Forschungen in der Schweiz weltweite Beachtung. In der Folgezeit wurden weitere Rauwolfia-Alkaloide isoliert, darunter Rescinnamin, Raupin, Yohimbin und Deserpidin. Besonders wichtig wurde das Raubasin („Lamuran“), das therapeutisch gegen arterielle und zerebrale Durchblutungsstörungen eingesetzt wird und ab den 1960er Jahren in der Geriatrie breite Anwendung fand. Rauwolfia-Alkaloide sind ein Musterbeispiel für die pharmakologisch nachweisbare Wirksamkeit traditioneller Heilpflanzen. Aber die Begleiteffekte des Reserpin waren so erheblich (schon bei den Hochdruckpatienten war die „Reserpin-Depression“ aufgefallen), dass diese Substanz bald aufgegeben wurde. (Eine anschauliche Beschreibung z. B. bei Schroetter und Hellfried, 1956) Weitere Neuroleptika wurden aus verschiedenen chemischen Gruppen synthetisiert: außer den Phenotiazinen auch Butyrophenone, Thioxanthene, Diphenylbutylpiperidine und Benzamine. Insbesondere die Butyrophenon-Neuroleptika erwiesen sich als stark antipsychotisch wirksam. Sie wurden aufgrund systematischer Forschungen des belgischen Pharmakologen und Unternehmers Paul Janssen entwickelt. (Hierzu Niemegeers, 1988) Auf der Suche nach Amphetamin-Antagonisten stieß Paul Janssen, der als pharmakologischer Forscher ebenso erfolgreich war wie als Unternehmer, auf das Butyrophe-

Abbildung 2.4: Paul Janssen (1926–2003) (Copyright: Janssen Cilag GmbH)

non R1625, später Haloperidol genannt, das im Tierversuch dämpfende Effekte zeigte, die an eine neuroleptische Wirkung denken ließen. Das wurde 1958 in einer ersten klinischen Prüfung bestätigt. (Vgl. Divry et al., 1958) Alle Neuroleptika zeigten neben den genannten antipsychotischen Wirkungen auch unerwünschte Effekte, die zusammenfassend akinetisch-abulisches Syndrom genannt wurden. Es handelt sich um psychisch einengende Wirkungen, gewisse Beeinflussungen des Vegetativum (auch Gewichtszunahme) und vor allem um extrapyramidalmotorische Effekte wie Frühdyskinesien, hypokinetisches Syndrom (Parkinsonoid), Akathisie und nach längerer Behandlung Spätdyskinesien (tardive Dyskinesien), Letztere sind zum Teil irreversibel. Um diese Begleiteffekte hintanzuhalten, wurden Neuroleptika sparsamer dosiert als in der Anfangszeit (auf die um 1980 zeitweise üblichen Megadosen wurde verzichtet), es wurde als Antidot Biperiden hinzugefügt, und bei der Medikamentenwahl wurden nebenwirkungsarme Neuroleptika bevorzugt. Darüber hinaus suchte man nach andersartigen

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Neuroleptika und kam 1966 auf Clozapin, das bei guter therapeutischer Wirksamkeit fast keine motorischen Effekte aufwies. Trotzdem hielt sich noch eine Zeit lang die falsche Lehrmeinung, die motorischen Effekte seien Voraussetzung für die psychische Wirksamkeit. In diesem Sinne wurden die neuen und verträglicheren Verbindungen atypische Neuroleptika genannt. Aktuell gilt das Prinzip einer „nebenwirkungsgeleiteten Therapie“.

Exkurs: Ärztliche Selbstversuche Bald nach ihrer Einführung wurden Neuroleptika von Ärzten persönlich getestet. Solche Selbstversuche haben eine lange Tradition in der Medizin. Der ärztliche Selbstversuch spielte auf zahlreichen Gebieten der Naturforschung, Diagnostik und Therapeutik eine wichtige Rolle. Zu erwähnen sind Physiologie und klinische Diagnostik (z. B. Herzkatheter), Seuchengeschichte und Infektiologie (z. B. zur Erforschung der Ansteckungswege), Pharmakologie und Toxikologie (z. B. zur Erforschung der Heilwirkung bzw. Giftigkeit von Substanzen) sowie Psychiatrie und Psychotherapie (z. B. zur Erforschung psychodynamischer Mechanismen). Im Kontext dieses Kapitels ist u. a. auf die Selbstversuche von Psychiatern (an sich selbst und/oder an Kollegen und Medizinstudenten) mit Rauschmitteln bzw. psychotropen Substanzen zu verweisen, etwa die Experimente des Heidelberger Psychiaters Kurt Beringer (1927) mit Meskalin, das er Ärzten und Medizinstudenten injizierte, um dann ihr verändertes Erleben protokollieren zu lassen. Übrigens wies der oben erwähnte Apotheker Sertürner die Wirksamkeit des von ihm isolierten Morphins 1804 – nachdem er sie in Tierversuchen demonstriert hatte – in einem Selbstversuch nach, den er – zusammen mit drei Freunden – durchführte und heil überstand. (Vgl. Schott, 1995, S. 25) Auf den Selbstversuch Sigmund Freuds mit Kokain um 1885 und seine Bedeutung für die Entstehung der Psychoanalyse kann in diesem Zusammenhang nur hingewiesen werden. (Vgl. Freud, 1885) Sulfonal wurde bereits 1888 von Ärzten im Selbstversuch geprüft. (Vgl. Linde, 1988, S. 69) Kraepelin soll Chloralhydrat erprobt haben

2 Historischer Abriss: Geschichte der Psychopharmaka

(nach Müller, 1993, S. 199), um nur wenige Beispiele zu nennen. Die Insulinbehandlung ließ der schweizerische Psychiater Andre Weil (1938) an sich selbst durchführen. Auch mit der Elektrokrampfbehandlung wurden Selbstversuche durchgeführt (Bersot 1942). Für die Selbstversuche mit Neuroleptika waren einmal die überraschenden und anfangs noch wenig überschaubaren psychischen Wirkungen Anlass, zum anderen die bald erkennbaren Nebenwirkungen (s. o.). So erprobten Ernst (1954) Chlorpromazin, Degkwitz und Mitarbeiter verschiedene Neuroleptika (vgl. Degkwitz, 1964) und auch das Antidepressivum Imipramin (vgl. Degkwitz, 1962). Die psychischen Wirkungen der Neuroleptika beschrieben diese gesunden Versuchspersonen als Müdigkeit, Denkhemmung, Antriebs- und Interessenrückgang, emotionale Indifferenz und auch misslaunige Verstimmung, zusammengefasst als emotionale und motorische Einengung, aber meist nicht stark ausgeprägt. Allerdings ist zu bedenken, dass die Versuchspersonen das Neuroleptikum einige Tage oder auch einige Wochen lang einnahmen, während Patienten in Zeiträumen von Monaten und Jahren das Neuroleptikum brauchen, so dass aus den Selbstversuchen nur bedingt auf das Erleben von Patienten Rückschlüsse möglich sind.

2.3.3 Antidepressiva Unter den zahlreichen chemischen Verbindungen, die in den 1950er Jahren auf ihre neuroleptische Qualität geprüft wurden, brachte eine Verbindung eine Überraschung: Sie wirkte nur schwach neuroleptisch, zeigte aber ganz andere, nämlich antidepressive Effekte. Es handelte sich um das Iminodibenzylderivat G22355, das später Imipramin genannt und unter dem Handelsnamen „Tofranil“ bekannt wurde. Der schweizerische Psychiater Roland Kuhn schrieb hierzu 1957, dass ihm diese unerwartete Entdeckung nur möglich gewesen sei, weil er mit unvoreingenommener Einstellung an die Prüfung herangegangen sei, wozu ihn seine daseinsanalytische Schulung befähigt habe. (Vgl. Kuhn, 1957) Es kamen ähnlich wirkende Medikamente hinzu, und die neue Gruppe wurde 1958 Thymoleptika,

2.3 Die Ära der modernen Pharmakopsychiatrie

später Antidepressiva genannt. Diese Medikamente beeinflussen gezielt depressive Störungen wie Herabgestimmtsein, Antriebsminderung und Leistungsinsuffizienz. Bei melancholischer Depression ist dieser Effekt am deutlichsten ausgeprägt. Weitere Indikationen der Thymoleptika sind Angst- und Zwangsstörungen, Entzugssyndrome sowie Schmerzbehandlung. Ungefähr gleichzeitig stieß man auf die antidepressive Wirkung eines ganz anderen Medikamentes, nämlich des Tuberkulostatikums Isoniazid. Eine chemische Weiterentwicklung dieses Stoffes, das Iproniazid, wurde 1957 in die psychiatrische Behandlung eingeführt. Ihrer neurochemischen Wirkung nach wurden diese Medikamente Monoaminooxydasehemmer (MAOH) genannt, denn sie hemmen den Metabolismus von Noradrenalin und Serotonin am Rezeptor und schützen so die freie Menge dieser Neurotransmitter, während die erstgenannten Antidepressiva diesen Effekt durch Hemmung der Wiederaufnahme von Noradrenalin und Serotonin in die Zellspeicher erreichen. Diese und weitere MAOH wurden bald verworfen, da sie nicht die antidepressive Wirksamkeit der Thymoleptika erreichten und wesentlich stärker ausgeprägte Nebenwirkungen aufwiesen, u. a. Unverträglichkeit mit Nahrungsmitteln. Auf der Suche nach verträglicheren Mitteln wurde ein selektiv und reversibel wirkender MAO-Hemmer Moclobemid entwickelt. Da auch die Thymoleptika zum Teil erhebliche Nebenwirkungen aufwiesen, die zwar größtenteils nicht gesundheitsschädlich, aber sehr unangenehm sein können, wurden von den 1980er Jahren an verträglichere Antidepressiva entwickelt, die sogenannten selektiven Serotonin-Wiederaufnahmehemmer (SSRI).

2.3.4 Phasenprophylaktika, Lithium Salze verschiedener Metalle, u. a. Magnesium, Arsen und Quecksilber wurden als psychiatrische Medikamente versucht, aber ohne Erfolg. Eines dieser Elemente wurde jedoch zu einer der bedeutendsten Entdeckungen der modernen Medizin: Lithium-Salze wirken phasenprophylaktisch bei affektiven Psychosen. Im Allgemeinen wird die Entdeckung der Lithiumwirkung

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dem australischen Psychiater John Cade (1949) zugeschrieben, der im Tierexperiment sedative Wirkungen von Lithiumcarbonat sah und diese bei der Prüfung an manischen Patienten wiederfand. Diese sedative, antimanische Wirkung wurde aber wenig genutzt, weil kurze Zeit später die Neuroleptika (s. o.) eingeführt wurden, die leichter zu handhaben waren. Die prophylaktische Wirkung des Lithium wurde nicht schon von Cade, sondern im Laufe der 1960er Jahre entdeckt, genauer gesagt: wiederentdeckt, denn sie war bereits gegen Ende des 19. Jahrhunderts erforscht worden, aber in Vergessenheit geraten. Der dänische Pathologe Carl Lange (1835–1900) referierte 1886 in der „Dänisch-Medizinischen Gesellschaft“ über Lithium. (Er war vielseitig medizinisch und literarisch interessiert und schrieb u. a. eine Monographie „Sinnesgenüsse und Kunstgenuß“, 1903 posthum erschienen.) Er hatte in 20-jähriger Arbeit an ungefähr 2000 Patienten beobachtet, dass Lithium-Carbonat das Wiederauftreten manischer oder depressiver Phasen verhindern kann. (Vgl. Lange, 1886) Zur Erklärung führte er eine Theorie der harnsauren Diathese (Kopfgicht) an, die spekulativ war und abgelehnt wurde. Damit wurden auch die klinischen Beobachtungen verworfen, die so in Vergessenheit gerieten. (Vgl. Felber, 1987) Die erwähnte antimanische Wirkung des Lithium bestätigte der Pharmakologe Mogens Schou in Aarhus/Dänemark 1954 im Doppelblindversuch (das war die erste Anwendung dieser Methode in der Pharmakopsychiatrie). In längerfristigen Untersuchungen erkannte Schou, dass die eigentlich zu erwartenden Wiedererkrankungen ausblieben und dass durch Lithium nicht nur manische, sondern auch depressive Phasen verhindert werden konnten. Damit war eine bis dahin ungeahnte Behandlungsmöglichkeit entstanden: Bei einer überwiegend genetisch bedingten und scheinbar schicksalhaft verlaufenden Krankheit wurde durch einen so einfachen Stoff wie das Element Lithium eine Phasenprophylaxe möglich, d. h. es wurden nicht nur Rückfälle, sondern auch Wiedererkrankungen verhindert. (Der Wirkungsmechanismus blieb allerdings bis heute ungeklärt.) Ungefähr gleichzeitig mit Schou beobachteten in den

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1960er Jahren der britische Psychiater G. Hartigan und der dänische Psychiater Poul Christian Baastrup diese Lithiumwirkung. Die Berichte wurden merkwürdigerweise zunächst wenig beachtet, bis eine gemeinsame Veröffentlichung den Durchbruch brachte. (Vgl. Baastrup und Schou, 1967) In den 1980er Jahren konnte gezeigt werden, dass auch gewisse Antikonvulsiva wie Carbamazepin und Valproinsäure phasenprophylaktisch wirken.

2 Historischer Abriss: Geschichte der Psychopharmaka

den 1960er Jahren unter zahlreichen Namen in unvorstellbarer Menge hergestellt und konsumiert. In den 1970er Jahren war Diazepam („Valium“) das meist verschriebene Medikament überhaupt. In den 1960er Jahren wurde ein neuartiges Hypnotikum entwickelt, das Clomethizol („Distraneurin“), das sich bei Alkoholdelirien als lebensrettendes Medikament erwies, über diese Indikation hinaus aber nicht angezeigt ist angesichts des hohen Abhängigkeitsrisikos.

2.3.5 Tranquilizer, Anxiolytika Alle Sedativa und Hypnotika, die bis ca. 1960 verwandt worden waren, zeigten wesentliche Nachteile: Sie wirkten lediglich global-sedierend, nicht aber gezielt auf die psychopathologische Symptomatik; die therapeutische Breite war gering und das Abhängigkeitsrisiko groß. In den Nachkriegsjahren 1946 bis 1950 wurden spezifisch wirkende Medikamente gefunden, und zwar unter Muskelrelaxantien. Mephenesin und dessen Weiterentwicklung Meprobamat zeigten beruhigende und dabei speziell angstlösende und schlafanstoßende Wirkungen. Die Stoffgruppe wurde Tranquilizer oder (weniger gebräuchlich) Anxiolytika genannt. Es war rasch erkennbar, welche Bedeutung dieser Stoffklasse zukam, so dass eine intensive systematische chemisch-pharmazeutische Forschung entstand, deren wichtigstes Ergebnis die Benzodiazepingruppe war. Der erste Vertreter war 1960 Chlordiazepoxyd („Librium“), 1963 gefolgt von Diazepam („Valium“). Diese Entwicklungen gehen hauptsächlich auf den polnisch-schweizerischen Chemiker Leo Sternbach (1978/88) zurück. Die nach den Tierversuchen vermuteten therapeutischen Effekte wurden in klinischen Prüfungen bestätigt. Vorzüge der Benzodiazepine liegen auch in der großen therapeutischen Breite, minimalen Toxizität und dem, verglichen mit alten Sedativa, geringeren Abhängigkeitsrisiko. Indikationen wurden Angstzustände bei verschiedenen psychiatrischen Krankheiten, Schlafstörungen und auch bestimmte Formen epileptischer Anfälle. Die Wirkungsweise scheint über das γ-Amino-buttersäureSystem (GABA) zu verlaufen, ohne dass Einzelheiten geklärt sind. Benzodiazepine wurden von

2.4 Ablehnung der Neuroleptika In Laienkreisen entstand ein ausgeprägtes Misstrauen gegenüber den modernen Psychopharmaka, insbesondere gegen die Neuroleptika. Medien und Politiker wetteiferten in Verunglimpfungen dieser Medikamentenklasse. Die Gefahr der Abhängigkeit wurde beschworen, obwohl es nie einen Anhalt hierfür gab (Tranquilizer, die je nach Stoffgruppe ein mehr oder weniger großes Risiko mit sich bringen, abhängig zu machen, zählen nicht zu den Neuroleptika). Chemische Zwangsjacke und Pillenkeule waren die medienwirksamen Stichworte. Hinzu kam der Vorwurf von Gehirnwäsche; ein hohes Gericht sprach von der „bekanntlich persönlichkeitszerstörenden Wirkung“ der Neuroleptika, ein Magazin brachte die Schlagzeile „Der sanfte Mord“. Angesichts der vorzüglichen Wirksamkeit und der sorgfältig evaluierten Behandlungen verwundern die heftigen Angriffe, die bis heute nicht ganz verstummt sind. Sie sind nicht allein durch das antipsychiatrische Programm der Jahre um 1970 erklärbar, zu dem auch die Ablehnung der Psychopharmaka gehörte. Sie griffen in einer unverantwortlichen Weise ein Wunschdenken der Betroffenen auf, das durchaus verständlich erscheint: Neuroleptika gibt man bei schweren psychischen Störungen; wenn ich kein Neuroleptikum nehme, bin ich nicht psychisch krank. Naheliegend ist dann der Gedanke: Weil ich Neuroleptika nehme, werde ich krank. Die Skepsis gegenüber Psychopharmaka teilten auch Ärzte und nichtärztliche Psychotherapeuten. Diese Einstellung ist keineswegs erst bezüglich Neuroleptika aufgekommen, sondern

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2.5 Psychotherapie und Pharmakotherapie

bereits gegenüber den sedierenden Mitteln, die im 19. Jahrhundert angewandt wurden (s. o.). Die Psychiater sahen sich schon früh den Vorwürfen pharmaka-feindlicher Kollegen ausgesetzt. Die Ablehnung z. B. von Trional ging so weit, dass der Vorwurf „chemische Zwangsjacke“ aufkam. (Vgl. Wolff, 1901) Auch wenn die heftigen Angriffe auf Neuroleptika unsachlich und falsch waren, so muss doch nach ihren Ursprüngen gefragt werden. In erster Linie gaben Unerfahrenheit und Unachtsamkeit bei den Verordnungen, besonders in der Anfangszeit, Anlass zur Kritik, des Weiteren überhöhte Dosierungen. Lange Zeit wurde zu wenig beachtet, wie sehr der Patient unter Nebenwirkungen leiden kann, auch wenn seine Krankheitserscheinungen erfolgreich neuroleptisch bekämpft wurden. Hinzu kommt die Neigung vieler Patienten, Missbefindlichkeiten und Störungen der Behandlung anzulasten, auch wenn sie Krankheitserscheinungen sind. Erschwerend wirkte sich aus, dass manche Psychoanalytiker und andere Psychotherapeuten die Devise verbreiteten: Psychotherapie statt Pharmakotherapie, eine theoretisch wie praktisch unbegründete Polarisierung, die aber unter Laien weite Verbreitung fand. Im Hintergrund stand der Missbrauch von Neuroleptika in manchen Ländern des damaligen Ostblocks. Den Angriffen auf Neuroleptika liegen also verschiedene Umstände, Überlegungen und Motive zugrunde. Erst allmählich lernte die Psychiatrie, Nebenwirkungen mehr zu beachten und die Erfahrungen der Patienten zu berücksichtigen (z. B. Windgassen, 1989) und störende Nebenwirkungen zu vermeiden bzw. hintanzuhalten (s. o.). Was die Patienten selbst angeht, stehen inzwischen den pharmaka-feindlichen Repräsentanten der Vereinigungen von „Psychiatrieerfahrenen“ ungezählte Patienten gegenüber, die eine sachliche Einschätzung gewonnen haben, ihren stabilisierten Gesundheitszustand auf Neuroleptika zurückführen und sich positiv über diese Behandlung äußern.

2.5 Psychotherapie und Pharmakotherapie Als in den 1950er Jahren die Ära der Psychopharmakotherapie begann, war die Anstaltpsychiatrie noch vom kustodialen Stil geprägt: Eine große Anzahl von Patienten wurde von einer relativ geringen Anzahl von Ärzten und anderen Fachkräften betreut, denen keine effizienten therapeutischen Mittel zur Verfügung standen. Es fehlte sozusagen der Rahmen, nämlich die soziotherapeutischen Voraussetzungen, um die neuen Neuroleptika optimal einsetzen zu können. Die zunächst noch erheblichen Nebenwirkungen gaben weitern Anlass zur Kritik. Daher führte in den 1970er Jahren die antipsychiatrische Bewegung das Anstaltselend vor allem auf die Anwendung von Psychopharmaka zurück. Ungefähr gleichzeitig gewannen die sozialpsychiatrisch eingestellten Kräfte mehr und mehr Einfluss. Heftig diskutiert wurde auch die Frage, ob psychiatrische Erkrankungen, insbesondere Psychosen, gesellschaftlich bzw. lebensgeschichtlich-psychodynamisch verursacht seien. Diese Diskussion stieß auf große Resonanz in der Öffentlichkeit. Wie stehen Pharmakotherapie und Psychotherapie in der Psychiatrie zueinander: alternativ, konfrontativ, kooperativ oder multimodal? Ein kurzer Gang durch die Geschichte zeigt, dass jede dieser Versionen vorgekommen ist. Reil hat 1803 die Richtung zu einer multimodalen psychiatrischen Behandlungskonzeption angegeben. „Welche Geisteszerrüttete müssen psychisch geheilt werden? Unter gewissen Bedingungen, alle. Doch wird auch die körperliche Kurmethode erfordert; in welchen Fällen und zu welcher Zeit?“ (S. 496) Reil stellt die „psychische Behandlung“ gleichberechtigt neben die körperlichen Behandlungsweisen. Da es im 19. Jahrhundert wohl zahlreiche Versuche, aber kaum Erfolge einer somatischen Behandlung gab, wurde der Akzent allgemein auf Psychotherapie gelegt. Das entsprach den ursprünglichen Bemühungen um eine „moralische Behandlung“. Noch 1911 musste Bleuler schreiben: „Die einzige zur Zeit ernstzunehmende Therapie der Schizophrenie im Ganzen ist die psychische [...].“ (Bleuler, 1911, S. 384)

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H. Simon (1929) gab der Psycho- und Soziotherapie in der Anstalt so entschieden den Vorzug, dass er und seine Mitarbeiter die medikamentöse Behandlung (allerdings zu der Zeit nur mit sedierenden Mitteln) ganz hintanstellten und möglichst zu vermeiden suchten. Dieser Primat der Psychotherapie blieb auch bestehen, als wirksame somatische Behandlungsverfahren eingeführt wurden. Z. B. hatte Klaesi (1922) für seine Dauerschlafbehandlung zwar eine biologische Hypothese, sein Ziel war aber die Verbesserung der Voraussetzungen für Psychotherapie. Entsprechendes gilt für die Insulinbehandlung. Selbst die Wirkung der Elektrokrampftherapie wurde auch unter psychodynamischem und psychotherapeutischem Aspekt verstanden. Als in den 1950er Jahren die modernen Psychopharmaka aufkamen, galt es als selbstverständlich, sie so zu handhaben, dass der psychotherapeutische Kontakt erhalten bleibe, möglichst verbessert werde. Diese Einstellung ist allerdings inzwischen weitgehend in Vergessenheit geraten. Erst in jüngerer Zeit sind viele Psychiater geneigt, alle Erfolge der psychiatrischen Behandlung einseitig auf Psychopharmaka zurückzuführen. Von dem gegenwärtigen Stand der Forschung und Praxis ausgehend, lassen sich die Beziehungen zwischen Psychotherapie und Pharmakotherapie in zwei Thesen zusammenfassen: (1) Somatotherapie schafft Voraussetzungen für Psychotherapie. Das haben schon die Untersuchungen von Hogarty et al. (1974) bewiesen: In vergleichenden kontrollierten Studien zur Rezidivprophylaxe bei Schizophrenen zeigte sich, dass Rückfälle unter Neuroleptika sehr viel seltener waren als unter Placebo oder unter Psychotherapie. Die wenigsten Rückfälle (also die besten Therapieergebnisse) waren aber in der Patientengruppe zu verzeichnen, die neuroleptisch und gleichzeitig psychotherapeutisch behandelt wurde. Demnach können schizophrene Patienten von Psychotherapie erst dann in optimaler Weise profitieren, wenn eine neuroleptische Behandlung die Basis bildet. (2) Psychotherapie bildet die Basis für Pharmakotherapie. Wenn Pharmakotherapie von

2 Historischer Abriss: Geschichte der Psychopharmaka

einem festen psychotherapeutischen PatientArzt-Kontakt getragen wird, wenn der Patient sich verstanden und akzeptiert fühlt, wird er eher auf die medikamentöse Verordnung eingehen und eventuelle Bedenken zurückstellen, wodurch die Effektivität der Pharmakotherapie verbessert wird. Das wird in der kooperativen Pharmakotherapie systematisch genutzt.

2.6 Zur Entdeckung und Auswirkung der Psychopharmaka Die meisten Psychopharmaka wurden nicht durch systematische Laborforschung, sondern durch klinische Beobachtung gefunden: Chlorpromazin war als Antihistaminikum, Reserpin als Antihypertonikum gedacht, Iproniazid wurde als Tuberkulostatikum verwendet. Bei den Tranquilizern war zunächst die muskelrelaxierende Wirkung aufgefallen. Lithium hatte verschiedene Indikationen, bis in der klinischen Forschung die phasenprophylaktische Wirksamkeit auffiel. Erst in der späteren Neuroleptikaforschung wurden im pharmakologischen Tierversuch die Qualitäten der Butyrophenone entdeckt. Auch die Entwicklung der Benzodiazepine war das Ergebnis fortgesetzter pharmakologischer Suche nach Tranquilizern. Bemerkenswert ist, dass nicht die Entdeckung einer dieser Psychopharmaka-Gruppen mit dem Nobelpreis ausgezeichnet wurde, wohl aber die Arbeit des schwedischen Pharmakologen Arvid Carlsson zur Einwirkung der Neuroleptika auf den Dopaminstoffwechsel im Zentralnervensystem. Geographisch gesehen fällt auf, dass sich die Entdeckungen der 1950er Jahre in den zentraleuropäischen Ländern ereigneten (außer in Deutschland), nämlich in Frankreich, Schweiz, Belgien und Dänemark, nicht aber in den angloamerikanischen Ländern. In der jüngeren Diskussion besonders der amerikanischen Psychiatrie spielt der Begriff serendipity eine große Rolle, nicht ganz richtig übersetzt mit Zufälligkeit bezogen auf die Entdeckung der Psychopharmaka. Serendipity beinhaltet verschiedene Polarisierungen, zunächst: gezielt versus zufällig. Die klinische Entdeckung

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Literatur

von Psychopharmaka war, wie gezeigt, keineswegs zufällig, aber auch nicht eigentlich gezielt. Ausgehend von einer anderen Polarisierung, nämlich gesucht versus unerwartet, ist festzustellen, dass die meisten der genannten Entdeckungen eher unerwartet waren, allerdings auf der Basis einer sorgfältigen klinischen Beobachtung zustande kamen. Demnach ist eine Gegenüberstellung angebracht: klinische Forschung am Krankenbett versus Grundlagenforschung im Labor. In dieser Perspektive ist anzumerken, dass der chemischen und pharmakologischen Forschung, die seit den 1960er Jahren enorm intensiviert wurde, nur wenige Weiterentwicklungen von therapeutischer Relevanz gelungen sind und Neuentdeckungen ausblieben. Wichtige Fortschritte wurden aber bezüglich störender Nebenwirkungen erzielt. Die moderne Pharmakotherapie hat die Psychiatrie nachhaltig beeinflusst, im therapeutischen wie im wissenschaftlichen Sinne und auch bezüglich ihrer Stellung in der Medizin. Die therapeutischen Fortschritte wurden bereits skizziert: Neuroleptika, Antidepressiva und andere Psychopharmaka entfalten, wie sehr zahlreiche Doppelblindstudien gezeigt haben, eine wesentliche Reduzierung psychopathologischer Störungen. Zu ergänzen ist, dass es seit den 1990er Jahre neue Möglichkeiten der medikamentösen Therapie bei Alzheimer-Demenz gibt, wobei insbesondere die Cholinesterasehemmer zu nennen sind. Zu den therapeutischen Erfolgen der modernen Psychiatrie haben Psychopharmaka und – in wechselseitiger Beziehung – Psychotherapie und Soziotherapie beigetragen. Ein Beispiel hierfür ist das psychoedukative Training mit dem Ziel einer kooperativen Psychopharmakotherapie: Der „aktive Patient“ lernt mit den Psychopharmaka umzugehen, die Dosis in einem vorgegebenen Rahmen dem Befinden anzupassen, somit die Compliance zu verbessern und die Rezidivneigung zu vermindern. Zudem hat die Pharmakotherapie die wissenschaftliche Entfaltung der Psychiatrie entscheidend gefördert. Neurophysiologie, Neurochemie, Neuroendokrinologie und Neuroradiologie gewannen zunehmend an Bedeutung und sind heute fest umrissene Arbeitsgebiete der Psychi-

atrie neben den traditionellen Bereichen der Neuropathologie und der psychiatrischen Genetik. Durch pharmakotherapeutische Impulse wurde auch die Methodik der klinisch-psychiatrischen Forschung verbessert, insbesondere hinsichtlich der psychopathometrischen Erfassung, Datenverarbeitung und Evaluierung langfristiger Behandlungsverläufe. Infolge dessen rückte die Psychiatrie, die zuvor von anderen Medizinern eher als randständig beurteilt wurde, mehr in den Kreis der medizinischen Fächer. Die Zusammenarbeit von Psychiatern mit Fachärzten und Fachwissenschaftlern anderer Disziplinen ist längst selbstverständlich geworden.

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3 Neurobiologische Grundlagen

3.1 Neurotransmission und Signaltransduktion P. F. Riederer, A. Eckert, J. Thome und W. E. Müller

3.1.1 Einleitung Die Neurotransmission (Riederer et al. 2007) ist innerhalb der biologischen Psychiatrie in zweierlei Hinsicht von Interesse: Einerseits bietet sie Zugang zu einem tieferen Einblick in die ätiopathogenetischen Bedingungen, die zum Entstehen psychiatrischer Erkrankungen führen, andererseits bildet sie einen wichtigen Ansatzpunkt für pharmakotherapeutische Maßnahmen zur Behandlung dieser Krankheiten (s. Müller et al. Kapitel 3.2).

Informationsverarbeitung im Zentralnervensystem Das menschliche Gehirn besteht schätzungsweise aus über 100 Milliarden Zellen (Neuronen und Gliazellen) mit unterschiedlicher und außerordentlich vielgestaltiger Morphologie, Biochemie und Funktion. Die Hauptaufgabe des Zentralnervensystems (ZNS) besteht in der Rezeption sensorischer Eindrücke, ihrer Speicherung, Auswertung und Analyse, der Generierung von Denkinhalten sowie der Initiation von aktiven Handlungsabläufen und Reaktionen, denen der menschliche Geist auf vielfältige Art und Weise Ausdruck verleihen kann. Grundvoraus-

setzung für diese komplizierten und komplexen zentralnervösen Prozesse ist die Fähigkeit zur Informationsverarbeitung. Diese findet an umschriebenen Orten des Neuronengeflechts statt, den Synapsen, wobei jede Nervenzelle etwa 10.000 unterschiedliche Synapsen trägt, sodass jede Nervenzelle von sehr vielen unterschiedlichen Neurotransmittern erreicht, aber auch die Aktivität eines einzelnen Neurons über seine Synapsen auf sehr viele andere Neurone weitergegeben wird. Diese komplexe Verschaltung der einzelnen Neurone gilt schon für den früher angenommenen Fall, dass jedes Neuron an seinen Synapsen nur einen einzigen Transmitter freisetzt (Dale-Prinzip). Die Komplexität wird aber noch dadurch vergrößert, dass viele Neurone nicht nur einen einzigen Transmitter freisetzen, sondern an ihren Synapsen neben einem primären Transmitter auch noch unter bestimmten Bedingungen einen sekundären Transmitter freisetzen können. Diese Nervenzellkonnektionen ermöglichen die interneuronale Kommunikation mittels chemischer Substanzen, den spezifisch an Rezeptoren bindenden Neurotransmittern. Jedes Neuron kann Tausende von Synapsen bilden. Daher wird die Gesamtzahl der Synapsen im ZNS auf mehrere hundert Billionen geschätzt.

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Störungen der Informationsverarbeitung Störungen der Informationsverarbeitungsprozesse des ZNS, wie sie in typischer Weise bei psychiatrischen Erkrankungen auftreten, müssen in enger Beziehung zu Alterationen der synaptischen Einheiten als morphologische und funktionelle Elemente der interneuronalen Kommunikation stehen. Dies bedeutet allerdings nicht, dass synaptische Veränderungen unbedingt auch ursächlich für die klinischen Erscheinungsformen neuropsychiatrischer Störungen verantwortlich sind. Eine gestörte Neurotransmission kann durchaus auch ein untergeordnetes Phänomen innerhalb einer pathogenetischen Kaskade sein, die ihren Ursprung an ganz anderer Stelle nimmt (z. B. Keimbahn bei hereditären Erkrankungen, extrazerebrale Lokalisation bei sog. exogenen Reaktionstypen etc.). Dennoch stellt das Verständnis der bei neuropsychiatrischen Erkrankungen auftretenden Veränderungen der synaptischen Neurotransmission einen wesentlichen Fortschritt in der Erkenntnis der Ätiopathogenese dieser Krankheiten dar. Darüber hinaus bildet es den Ausgangspunkt für bereits praktizierte und zukünftig mögliche pharmakotherapeutische Behandlungsstrategien.

Grundlagenforschung Die moderne biologische Psychiatrie als Grundlagenwissenschaft hat von der Untersuchung synaptischer Prozesse ihren Ausgang genommen und über die Entwicklung modifizierender Substanzen – Psychopharmaka – erheblichen Einfluss auf die klinisch-psychiatrische Praxis genommen. Derzeit jedoch erweitert sich das Spektrum der Forschungsbemühungen, und in das Zentrum des Interesses rücken immer mehr auch intrazelluläre Signaltransduktionsmechanismen diesseits und jenseits der Synapse. Die moderne Molekularbiologie und -genetik mit ihren vielfältigen methodischen Ansätzen wie z. B. Genexpression-, Proteom-, Transkriptionanalysen, Neurogeneseforschung u. a. liefern die Werkzeuge zur Erforschung dieser bislang unzugänglichen Bereiche zentralnervöser Funk-

3 Neurobiologische Grundlagen

tionssysteme. Hieraus werden sich in den nächsten Jahren vermutlich neue Erkenntnisse hinsichtlich Pathophysiologie, Diagnostik und möglicher Therapiestrategien neuropsychiatrischer Erkrankungen ergeben.

3.1.2 Grundprinzipien der Neurotransmission Der Grundaufbau eines Neurons besteht aus dem Zellkörper (Soma), seinen Fortsätzen (Dendriten) sowie dem Axon. Die meist mehrfach vorhandenen Dendriten vermitteln in der Regel afferente Signale („input“), während das üblicherweise singuläre, oft extrem lange Axon für die Signalefferenz verantwortlich ist („output“) und an seiner Endigung (Axonterminal) die Information synaptisch auf die nächste Nervenzelle überträgt. In diesem Zusammenhang ist anzumerken, dass die Entwicklung von Nervenfasern einschließlich Dendritenbaum zu den aktuellsten Forschungsgebieten gehört. Der Dendritenbaum eines Neurons kann sogenannte „Dornen“ (Spines) sprossen und wachsen lassen und eine Fülle neuer synaptischer Verbindungen herstellen. Die Plastizität dieses Geflechtes kann sich in Abhängigkeit von emotionalen oder physischen Erfahrungen und sogar ernährungsbedingten Gewohnheiten/Möglichkeiten während der Lebensspanne öfter ändern. Wichtig ist daher die richtige Anlage des Dendritenbaumes in Form und Zahl. Es wird also darauf ankommen, dass optimale äußere und wesensbedingte Umstände die maximale Wirkung von z. B. Nervenwachstumsfaktoren auf die Entwicklung der „Aststrukturen“ einer Nervenzelle und damit die optimale Bildung und Anordnung von Synapsen des Dendritenbaumes ermöglicht (Abb. 3.1.1 a, b). Inadäquate oder unkorrekte Synaptogenese, welche in insuffizienter Ausbildung des Dendritenbaumes mündet, kann durch unzureichende Stimulation des noch nicht entwickelten Neurons durch Wachstumsfaktoren während der Entwicklungsphase des Foetus oder in der Kindheit möglich werden. Dann werden „Entwicklungskrankheiten“ wahrscheinlich.

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3.1 Neurotransmission und Signaltransduktion

growth factor (protein)

undeveloped neuron

Das Aktionspotential wandert am Axon entlang und depolarisiert die Plasmamembran an den präsynaptischen Terminalen. Dies wiederum ermöglicht die Freisetzung von Neurotransmittern und damit über deren postsynaptische Rezeptorbindung die Kommunikation mit dem nächsten Neuron (Abb. 3.1.3). Rezeptoren besitzen 2 Hauptaufgaben:  Bindung und Erkennung des jeweils spezifischen Transmitters,  Aktivierung des Effektorneurons.

Abbildung 3.1.1 a: Dendritenbaum Der Dendritenbaum eines Neurons kann Zeit seines Lebens Verästelungen generieren, die sprossen, wachsen und eine Fülle neuer synaptischer Verbindungen herstellen. Der Prozess der Herstellung dendritischer Verbindungen auf einem unentwickelten Neuron scheint von verschiedenen Wachstumsfaktoren kontrolliert zu werden, welche den Verästelungsprozess fördern und damit die Bildung von Synapsen am Dendritenbaum (aus Stahl 2008, Fig. 2.17, mit Erlaubnis)

Aber auch normal entwickelte Dendritenbäume sind im Alterungsprozess nicht gefeit, gesund zu bleiben. Degenerative Prozesse können zu einer progredienten Schädigung der Nervenstrukturen führen und die vorwiegend im Alter auftretenden Krankheiten wie z. B. ParkinsonKrankheit und Alzheimer Demenz verursachen. Genetische Ursachen und Umweltbedingungen allein oder in Kombination sind dafür verantwortlich (Abb. 3.1.2). Typisches Merkmal der Neurone ist ihre elektrische Erregbarkeit, die ihnen Kommunikation und Informationsverarbeitung erst ermöglicht. Transmembranäre Ionenseparationsvorgänge sorgen dafür, dass Nervenzellen auf ihrer Membraninnenseite negativ geladen sind. Ionenkanäle und Ionenpumpen ermöglichen die Aufrechterhaltung dieses Ruhepotentials. Neurotransmitter können dieses elektrische Potential verändern: Exzitatorische Transmitter lösen eine Depolarisation aus; ab einem bestimmten Schwellenwert wird das sogenannte Aktionspotential erreicht. Inhibitorische Transmitter führen im Gegensatz dazu zu einer Hyperpolarisation der Neuronenmembran.

Durch die Transmitter-Rezeptor-Interaktion kommt es zu Konformationsveränderungen des Rezeptors, die in der Regel zu einer Alteration

undeveloped neuron

developmental disease or no stimulation

normal undevelopment

adult degenarative disease

Abbildung 3.1.1 b: Entwicklung und Degeneration von Neuronen Unentwickelte Neuronen mögen sich in der Kindheit nicht (richtig) entwickeln. Grund dafür kann eine Entwicklungskrankheit sein oder insuffizient neuronale oder Umweltstimulation (linker Pfeil). Im Normalfall wird das unentwickelte Neuron sich aber normal weiter entwickeln (rechter Pfeil) und diese Eigenschaften nur verlieren, wenn im Erwachsenenalter degenerative Erkrankungen auftreten (Pfeil unten Mitte) (aus Stahl 2008, Fig. 2.18, mit Erlaubnis)

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3 Neurobiologische Grundlagen

axons of presynaptic neurons

axons of presynaptic neurons

synapse synapse dendritic tree of presynaptic neurons

dendritic tree of presynaptic neurons

Abbildung 3.1.2: Neuronales Netzwerk (Verästelung) Die Abbildung stellt A eine Nervenzelle mit ungenügender Verästelung dar (Neuron A); daher gibt es wenige synaptische Verbindungen zwischen dessen Dendriten und den Axonen anderer Nervenzellen. B: Hier zeigt das Neuron gute Verästelungen und hat daher viele synaptische Verbindungen mit anderen Nervenzellen. (aus Stahl 2008, Fig. 3.1, mit Erlaubnis)

des Ionenstroms führen. Hieraus resultieren Potentialveränderungen am Effektorneuron. Sogenannte „second-messenger“-gekoppelte Rezeptoren lösen nach Transmitterbindung eine Signaltransduktionskaskade aus, durch die einerseits indirekt ebenfalls Ionenkanäle gesteuert werden können, die aber andererseits auch eine Aktivierung von Transkriptionsfaktoren verursachen kann, die ihrerseits die Expression bestimmter Proteine modulieren.

Die Neurotransmitter und ihre Rezeptoren Man schätzt, dass 50–100 verschiedene Moleküle Neurotransmittereigenschaften besitzen und zur chemischen Signalübertragung an Synapsen beitragen. Klassischerweise erfolgen diese Nervenzellkontakte von einem Axon (präsynaptisch) auf einen Dendriten oder das Soma eines nachgeschalteten Neurons (postsynaptisch): axodendritisch oder axosomatisch. Es kommen aber auch axoaxonische, dendroaxonische und dendrodendritische Synapsen

sowie Autorezeptoren vor. Letztere sorgen für „retrograden“ Informationsfluss und stellen wichtige Feedback-Mechanismen dar. Darüber hinaus kommen bei einem Neuron auch Kombinationen verschiedener Synapsentypen vor. Die Synapsentransmission erfolgt meist chemisch, d.h. durch Vermittlung von Neurotransmittern. Es gibt allerdings auch eine elektrische Neurotransmission, die ohne Intervention eines Transmitters funktioniert. Die Depolarisationswelle des Aktionspotentials kann in solchen Fällen über sog. „gap junctions“ direkt von Neuron zu Neuron wandern. Zunächst nahm man an, dass solche elektrischen Synapsen relativ selten sind und eher eine Ausnahme darstellen. Gegenwärtig häufen sich jedoch die Hinweise darauf, das sie im ZNS sehr viel häufiger vorkommen als ursprünglich angenommen. Die Rolle elektrischer Synapsen bei neuropsychiatrischen Erkrankungen ist bislang nicht zuletzt auch aufgrund methodischer Probleme kaum erforscht. In diesem Kapitel soll ausschließlich auf chemische Synapsen mit ihren Neurotransmittern und Rezeptoren näher eingegangen werden.

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3.1 Neurotransmission und Signaltransduktion

Neurotransmitter Ein Neurotransmitter ist definiert als chemische Substanz, die in einem Neuron synthetisiert und von ihm als Antwort auf einen elektrischen Impuls freigesetzt wird. Er wirkt an einem anderen Neuron, indem er dessen elektrische Eigenschaften verändert (de- oder hyperpolarisiert). Die Neurotransmission wird demnach durch folgende wesentliche Faktoren charakterisiert: Synthese des Neurotransmitters in der Zelle, Speicherung, Freisetzung, Rezeptorwirkung, Entfernung aus dem synaptischen Spalt durch Wiederaufnahme bzw. Abbau. In Tabelle 3.1.1 werden die wichtigsten Neurotransmitter zusammengefasst. Aminosäuren. Zu den wichtigsten und häufigsten Neurotransmittern des ZNS zählen Aminosäuren wie Glutamat (depolarisierendexzitatorisch) oder Glyzin und GABA (GammaAminobuttersäure, hyperpolarisierend-inhibitorisch). Diese drei Neurotransmitter kommen schätzungsweise bei 75–90 % aller Neurone des Gehirns und Rückenmarks vor. Allerdings kann aus einer solchen rein quantitativen Analyse nicht auf die physiologische und pathophysiologische Relevanz eines Neurotransmitters geschlossen werden. Eine Störung eines Transmitters, der relativ selten und in niedriger Konzentration vorkommt, kann erhebliche Funktionseinbußen des betroffenen Individuums zur Folge haben. Umgekehrt kann eine massive Reduktion eines bestimmten Transmitters häufig sehr lange toleriert werden, ohne dass es zu krankheitsrelevanten Ausfällen kommt. Acetylcholin. Es ist insbesondere als Transmitter der neuromuskulären Erregungsübertragung bekannt, besitzt aber auch in der neuronalen und interneuronalen Informationsübertragung des Gehirns Transmitterfunktion. Monoamine. Weitere relevante Neurotransmitter gehören zur Gruppe der Monoamine: die Katecholamine Dopamin und Noradrenalin sowie die Indolamine Serotonin und Melatonin. Peptide. Eine andere wichtige Gruppe stellen die Peptide dar. Ganz bestimmte Neuropeptide besitzen spezielle Neurotransmitterfunktionen für spezifische Neuronensubtypen des ZNS. Während kleine Neurotransmittermole-

küle enzymatisch synthetisiert werden, erfolgt die Neuropeptidsynthese (wie bei allen Proteinen) durch Gentranskription und Translation. Aus einem Vorläuferprotein entsteht schließlich nach Modifikationsprozessen der aktive Neurotransmitter. Diese molekularbiologischen Prozesse werden nach Entwicklung wichtiger Schlüsseltechniken (z. B. PCR) in letzter Zeit intensiv erforscht. Das Forschungsinteresse hat sich dadurch von der alleinigen Fokussierung der Synapse auf weitere Aspekte wie Genaktivierung und Signaltransduktion ausgeweitet. Weitere Transmitter. Weitere Transmitter sind das Gas NO (Stickoxid), Histamin und Purine (Adenosin).

Neurotransmitterwirkung In der Regel werden die Neurotransmitter im Zellkörper der Neurone synthetisiert. In Vesikeln erfolgt der axonale Transport zu den Nervenendigungen, wo sie für die Freisetzung gespeichert werden (synaptische Vesikel). Zumindest die niedermolekularen Transmitter können zusätzlich aber auch lokal in den Axonendigungen produziert werden. Ermöglicht wird dies durch vesikulären Transport der erforderlichen Enzyme. Erreicht das Aktionspotential das Axonterminale, erfolgt als Depolarisationsantwort die Exozytose des Neurotransmitters in den synaptischen Spalt. Dabei handelt es sich um einen Ca2+-getriggerten Mechanismus. Die freigesetzten Neurotransmittermoleküle binden dann an prä- und postsynaptische Rezeptoren. Die Neurotransmitterwirkung wird durch enzymatischen Abbau und/oder Rücktransport in die Nervenendigung („reuptake“-Mechanismen) beendet. Ursprünglich bestand in der Neurobiologie das Dogma, dass ein bestimmtes Neuron stets einen spezifischen Neurotransmitter benutzt. Entsprechend wurden cholinerge, dopaminerge, serotoninerge, noradrenerge Neurone etc. unterschieden. Heute weiß man, dass dieses sog. Dale-Gesetz keine universelle Gültigkeit besitzt. Einige Forscher vermuten sogar, dass das Phänomen, dass verschiedene Neurotransmitter in einem einzigen Neuron des ZNS ange-

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3 Neurobiologische Grundlagen

Tabelle 3.1.1 Neurotransmittler

Vorstufen Synthetisierende Enzyme

Mittel zur Beendigung der Wirkung

Rezeptoren

Agonisten

Antagonisten

Nikotinisch; muskarinisch M1, M2, M3

Karbamoylcholin; Nikotin (nikotinisch); Muskarin (muskarinisch), Oxotremorin (muskarinisch)

a-Bungarotoxin (nikotinisch); Tubokurarin (nikotinisch); Atropin (muskarinisch); Pirenzepin (M1); Scopolamin (muskarinisch)

Acetylcholin Cholin; Acetat

Cholin; Acetyltransferase

Acetylcholinesterase

Dopamin

Tyrosinhydroxylase; aromatische L-AminosäureDekarboxylase

Aufnahme; D1; D2 Monoaminoxidase, Katechol-O-Methyltransferase,

Apomorphin, 6,7-Dihydroxyaminotetralin (ADTN)

SCH23390 (D1); Domperidon (D2); Sulpirid (D2)

ExzitaGlutamin; torische 2-OxoAminosäuren glutarat (Glutamat, Aspartat)

Glutaminase; Aspartatamino- und Ornithinaminotransferasen

Aufnahme; Glutaminsynthetase (glial); Oxidation (neuronal)

NMDA (NMDA) AMPA, Quisqualat (AMPA); KA (KA); L-AP4 (L-AP4); Quisqualat, ACPD (ACPD)

MK801 (NMDA); CPP (NMDA); CNQX (AMPA und KA)

GABA

Glutamat

Glutaminsäuredekarboxylase

Aufnahme; GABAA; GABA Aminotrans- GABAB ferase; Bernsteinsäuresemialdehyddehydrogenase

Muscimol (GABAA); Bicucullin Baclofen (GABAB); (GABAA) Benzodiazepine (modulieren GABAA)

Glycin

Serin

Serinhydroxymethyltransferase

Aufnahme

Glycin

Glycin

Strychnin

Histamin

Histidin

Histidindekarboxylase

Histaminmethyltransferase, Monoaminoxidase, Aldehyddehydrogenase

H1; H2; H3

2-Methylhistamin (H1); 4-Methylhistamin (H2); Dimaprit (H2); N-Methylhistamin (H3)

Mepyramin (H1); Cimetidin (H2); Ranitidin (H2); Thioperamid (H3)

5-Hydroxytryptamine

Tryptophan

Tryptophan-5Hydroxylase; aromatische LAminosäureDekarboxylase

Aufnahme; Monoaminoxidase; Aldehyddehydrogenase

5-HT, Untergruppen A-D; 5-HT2; 5-HT3

80H-DPAT und Spiroxatrin (5-HT1A); Sumatriptan (5-HT1D); LSD (5-HT1C und 5-HT2)

Spiperon (5-HT1A und 5-HT2); Cyanopindolol (5-HT1B); Ketanserin, Mianserin und Mesulergin (5-HT1C und 5-HT2); Ondansetron (5-HT3)

Noradreanlin/ Adrenalin

Tyrosin

Tyrosinhydroxylase; aromatische L-Aminosäure-Decarboxylase; Dopaminb-Hydroxylase (Noradrenalin-NMethyltransferase)

Aufnahme; Monoaminoxidase; Katechol-OMethyltransferase; Aldehyddehydrogenase

a1; a2; b1; b2;

Isoprenalin (b); Methoxamin(a); Clonidin(a2)

Prazosin (a1); Idazoxan (a2); Propranolol (b)

Enkephalin/ Endorphin, Dynorphin



Enzyme der Eiweißsynthese

Neuropeptidasen

k, m, d

Enkephaline (d); b-Endorphin (m, d); Dynorphin (k); Morphin (m)

Naloxon

Tyrosin

NMDA; AMPA; KA; L-AP4; ACPD

3.1 Neurotransmission und Signaltransduktion

37

Abbildung 3.1.3: Klassische synaptische Neurotransmission Stimulation eines präsynaptischen Neurons, z. B. durch Neurotransmitter, Licht, Hormone, pharmakologisch wirksame Substanzen oder Nervenimpulse löst elektrische Impulse aus, die zum Axonterminalen geleitet werden. Die elektrischen Impulse werden dann in chemische Signale umgewandelt. Der Botenstoff wird freigesetzt und stimuliert Rezeptoren der postsynaptischen Nervenzelle. Obwohl also die Kommunikation innerhalb der Nervenzelle elektrisch ist, ist die Kommunikation zwischen Neuronen chemisch. (aus Stahl 2008, Fig. 3.1, mit Erlaubnis)

troffen werden können, eher die Regel als die Ausnahme ist. Meist findet man als Neurotransmitter eine Aminosäure, ein Monoamin oder Acetylcholin in Kombination mit einem Neuropeptid. Diese Kolokalisation von niedermolekularen Neurotransmittern mit einem Peptid

könnte darauf hinweisen, dass Neuropeptide eine wichtige modulierende Rolle neben ihrer Hauptfunktion der Transmission des jeweils anderen „klassischen“ Neurotransmitters spielen (z. B. Verlängerung und/oder Verstärkung des Neurotransmittersignals).

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3 Neurobiologische Grundlagen

Angriffspunkte für Psychopharmaka

Liganden-Rezeptor-Wechselwirkung

Der Neurotransmitterstoffwechsel lässt sich in 5 zentrale Schritte gliedern: Synthese, Speicherung, Freisetzung, Rezeptorwirkung und Elimination. Jeder dieser Schritte ist (zumindest theoretisch) einer pharmakologischen Beeinflussung zugänglich. Tatsächlich nutzen verschiedene Psychopharmaka diese Modulationsmöglichkeiten des Neurotransmitterstoffwechsels in unterschiedlicher Weise. Dies soll im folgenden paradigmatisch erläutert werden (ausführlich bei Müller et al. Kap. 3.2).

Otto Loewi glückte 1921 die Entdeckung der chemischen Übertragung von Nervenreizen (dazu Lembeck und Giere 1968). Im Experiment konnte er zeigen, dass bei elektrischer Reizung der vegetativen Nerven eines Froschherzens Stoffe in die Perfusionsflüssigkeit übergehen, die, einem anderen Herzgewebe zugeführt, dieselbe Wirkungen ausüben, wie die elektrische Reizung der Nerven im ursprünglichen Gewebe. Der Überträgerstoff war Adrenalin. Struktur und Funktion der Rezeptoren bilden die Grundlage der biologischen Aktivität. Die durch Exocytose freigesetzte Transmittersubstanz diffundiert durch den synaptischen Spalt und bindet mit hoher Affinität an den postsynaptischen Rezeptor. Rezeptoren sind in die Grundsubstanz der Zellmembran eingebettete Makromoleküle, Proteine, die als Folge der Wechselwirkung mit dem Transmitter zu Konformationsänderungen veranlasst werden, welche die zur Aktivitätsänderung der postsynaptischen Nervenzellen führenden Vorgänge auslösen. Sensibilisierung des Rezeptors nach Ankunft eines Signals tritt nur nach Bindung eines Agonisten ein, während ein Antagonist den Rezeptor in den inaktiven Zustand überführt.

3.1.3 Rezeptoren Ein Rezeptor ist definiert als ein Protein, das die Wirkung eines spezifischen Neurotransmitters auf das Zielneuron vermittelt (Tab. 3.1.2). Neurotransmitter binden spezifisch an bestimmte Stellen des Rezeptorproteins. Diese Bindung führt zu einer Veränderung der physikalischen Eigenschaften des Rezeptors. Das Resultat ist die Umwandlung des ursprünglich extrazellulären Signals (Neurotransmitterbindung) in ein intrazelluläres Signal, das seinerseits wiederum zu Veränderungen des funktionellen Zustands des Zielneurons führt.

Tabelle 3.1.2: Rezeptortypen verschiedener Neurotransmitter (modifiziert nach Hyman und Nestler 1993) Neurotransmitter Dopamin

Rezeptorsubtypen D1, D2, D3, D4, D5

Noradrenalin/Adrenalin

a1, a2, b1, b2, b3

Serotonin

5-HT1a, 5-HT1b, 5-HT1c, 5-HT1d, 5-HT2, 5-HT3, 5-HT4, 5-HT6, 5-HT7

Acetylcholin

Muskarinisch (M1, M2, M3, M4), Nikotinisch

Endorphine/Enkephaline

d, m, k

Glutamat

NMDA, AMPA, Kainat, metabotrop

GABA

A, B

Melatonin

MT1, MT2

Trace Amine

TAAR1, TAAR2

3.1 Neurotransmission und Signaltransduktion

Ohne Ligandenbindung, die reversibel ist, befindet sich der Rezeptor in einem Ruhe- oder Wartezustand (Müller et al. 1992). Bei der Charakterisierung der Rezeptoren in vivo geht man von der Annahme aus, dass das aktivierende Molekül komplementär zu seiner Erkennungsstelle ist. Das Problem der molekularen Erkennung ist dadurch gegeben, dass ein Rezeptor ein bestimmtes Substratmolekül aus einer großen Anzahl von Molekülen auswählen muss. Die hohe Selektivität natürlicher Systeme beruht auf einer optimalen Komplementarität zwischen Substrat und Rezeptor, die sich im Laufe der Evolution herausgebildet haben muss. Dieser Erkennungsprozess, d. h. eine sog. „Schlüssel-Schloss-Beziehung“, kann nicht auf sterisches Ineinanderpassen allein beschränkt sein, sondern muss sich auf ein ganzes Spektrum molekularer Eigenschaften beziehen. Die Erkennungsstellen selbst dürfen polare oder nicht-polare Atomanordnungen, sterische, elektrostatische, hydrophobe- oder Wasserstoffbindungen sein, die als Verankerungsstellen fungieren. Eine Feinabstimmung dieser Zentren muss aufgrund der weiten Palette der elektrischen Eigenschaften, der Zahl, Größe und Anordnung der beteiligten Atome möglich sein, d. h. aufgrund ihrer verschiedenen Elektronenpaar-Donor und -Akzeptorstärken, und so zu einer Art von Hierarchie der Erkennung durch einen Rezeptor führen. Mit Hilfe der Kenntnis der Elektronenhüllen der Liganden könnte es möglich sein, neue Vorstellungen über die Dynamik der elektronischen Veränderungen der Rezeptor-Liganden-Bindung zu entwickeln. Ausgangspunkt dieser Überlegung ist, dass die Wechselwirkung von Rezeptor und Ligand nicht direkt auf eine Moleküleigenschaft zurückgeführt werden kann, sondern erst bei der Wechselwirkung mit dem Reaktionspartner entsteht. Bei Einheiten, die aus mehreren Atomen bestehen, ist die Ausübung einer Funktion an bestimmte Stellen des Moleküls gebunden, welche als funktionsfähige Zentren bezeichnet werden. Also ein und dasselbe funktionsfähige Zentrum könnte bei Rezeptoren – vielleicht anders als das aktive Zentrum von Enzymen – je nach den Reaktionsbedingungen – zur Ausübung verschiedener Funktion befähigt sein. Der Begriff

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der Funktion von Elektronenpaar – Akzeptor bzw. – Donator bezieht sich daher nicht auf den Quotienten von Ladung und Volumen, sondern ausschließlich auf die relative Verfügbarkeit von Elektronen. Relativ einfach ist es, die Bindungseigenschaften radioaktiv markierter niedermolekularer Verbindungen an spezifischen Rezeptoren in vitro zu untersuchen. Da synaptische Rezeptoren nicht nur physiologische Bedeutung haben, sondern auch und vor allem in der Therapie Angriffspunkte verschiedener Drogen und Medikamente sind, ist die Erfassung solcher Wirkungsmechanismen besonders wichtig. Die Bedingungen, die ein Molekül erfüllen muss, um als Rezeptor zu wirken, sind unter den folgenden Punkten zusammengefasst: 1. Rezeptoren müssen hohe Selektivität und Spezifität zum Liganden zeigen und ihn an seiner Struktur erkennen. 2. Die Kinetik der Ligandenbindung ist eine Sättigungskurve, eine Langmuir’sche Adsorptionsisotherme, die anzeigt, dass die Zahl der Rezeptormoleküle in der Membran begrenzt ist. 3. Es muss Gewebespezifität vorhanden sein. Nur Zellen der Zielorgane, in denen die betreffenden ausgelösten Erscheinungen auftreten, dürfen Rezeptoren tragen. 4. Die Affinitätsparameter müssen auf die physiologischen Konzentrationen der Liganden abgestimmt sein. Die Sättigungskonzentration der Transmittersubstanzen liegt im Bereich von 10-9 bis 10-6 M. Die Dissoziationskonstante (KD) ist ein Index und gilt sowohl für die Wechselwirkung von endogenen Transmittern, als auch pharmazeutisch wirksamen Substanzen mit dem Rezeptorprotein. 5. Die Bindung des Liganden muss reversibel sein. Der physiologische Effekt muss nach Entfernung des Liganden gelöscht sein. 6. Das Ausmaß der besetzten Bindungsplätze (Bmax-Werte) kann unter Annahme einer reversiblen Gleichgewichtsreaktion, die dem Massenwirkungsgesetzt gehorcht, nach der Michaelis-Menten-Kinetik berechnet werden:

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3 Neurobiologische Grundlagen

wobei die Dissoziationskonstante KD bestimmt ist durch

setzung der Fettsäuren in der Membran, die auch die kinetischen Parameter der Rezeptoren moduliert. Erhöhung der Membranfluidität, d. h. des effektiven lateralen Diffusionskoeffizienten, beeinflusst direkt das Verhalten von z. B. Na+Kanälen (Müller et al. 1992).

KD = K-1 / K+1 = [R] . [L] / [RL] und die maximale Bindungskapazität Bmax = [RL] + [R], wobei [R] die Konzentration des freien Rezeptors und [L] die Konzentration des freien Liganden bedeutet (Müller et al. 1992).

Membranfluidität Die Zellmembran besteht aus bimolekularen, teilweise halbflüssigen Strukturlipiden, die auch pseudokristalline Bereiche umfassen, wo die Mobilität der Proteine eingeschränkt ist. Die Membranfluidität ist eine Funktion der Zusammen-

Forschung Die Erforschung der Rezeptoren stützte sich viele Jahre auf die Ergebnisse direkter Bindungsstudien mit radioaktiven Liganden in Zellmembranpräparationen. Diese Technik ermöglichte die Identifikation verschiedener Rezeptoren. Außerdem konnte die Affinität bestimmter Substanzen zu diesen Rezeptoren untersucht werden. Moderne molekularbiologische Techniken (Klonierung und In-vitro-Expression) erlauben über die Identifizierung pharmakologischer Subtypen hinaus jetzt auch die weitere genetische Subtypisierung. Die Frage, inwieweit die pharmakologischen und molekularbiologischen Ty-

Abbildung 3.1.4: Rezeptorgrundtypen: (a) G-Protein gekoppelter Rezeptor und (b) Ionophor.

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3.1 Neurotransmission und Signaltransduktion

pen miteinander korrespondieren, bleibt bislang häufig unbeantwortet, stellt aber eine wichtige Forschungsaufgabe für die kommenden Jahre dar. Die Verknüpfung und Synthese der Einzelergebnisse molekularbiologischer Forschung mit denen der klassischen Rezeptorbindungsstudien könnte zu beachtlichen Fortschritten in der psychiatrischen Grundlagenforschung hinsichtlich Ätiopathogenese psychischer Krankheiten und ihrer Pharmakotherapie beitragen. Bisher sind die genauen anatomischen und funktionellen Unterschiede der verschiedenen Rezeptorsubtypen weitestgehend unbekannt. Sinn der großen Rezeptorheterogenität scheint es zu sein, den verschiedenen Neuronen unterschiedliche Reizantworten auf denselben Neurotransmitter zu ermöglichen. Unter pharmakotherapeutischen Gesichtspunkten kann die Rezeptorheterogenität zur Entwicklung von neuen Substanzen mit höherer Spezifität genutzt werden, die effektivere und zugleich sicherere (nebenwirkungsärmere) psychopharmakotherapeutische Strategien ermöglichen. Bislang ist es in der Praxis allerdings noch nicht gelungen, aufgrund dieser theoretischen Überlegungen tatsächlich grundsätzlich neue Psychopharmaka mit erheblich gesteigerter Effektivität bei geringem Nebenwirkungsrisiko zu entwickeln.

Rezeptorgrundtypen Grundsätzlich können 2 Rezeptorgrundtypen voneinander differenziert werden: Ionophoren und G-Protein-gekoppelte Rezeptoren (Abb. 3.1.4 a, b).  Die Ionophoren besitzen transmembranäre Ionenkanäle, die durch Neurotransmitterbindung geöffnet werden können. Die transmittergesteuerten Ionenkanäle sind in geöffnetem Zustand je nach Rezeptortyp durchlässig für K+ (Eflux) und Na+ (Influx) sowie Ca2+. Manche Rezeptoren besitzen darüber hinaus regulatorische Bindungsstellen für Zn2+ und Mg2+. Der GABAA-Rezeptor, die meisten Glutamatrezeptoren und der 5-HT3-Rezeptor, ein Serotoninrezeptorsubtyp, sind z. B. Ionophoren.

 Die meisten anderen Rezeptoren, einschließlich der adrenergen und dopaminergen, besitzen keinen strukturellen Ionenkanal. Daher muss der zelluläre Effekt über intrazelluläre Transduktionsproteine (G-Proteine) vermittelt werden. Die Bindung des Neurotransmitters an seinen Rezeptor als Prozess, der an der extrazellulären Seite der Nervenzellmembran stattfindet, muss über eine Fortsetzung der Neurotransmitteraktion nach der eigentlichen Rezeptorbindung zu einer veränderten neuronalen Funktion führen. Die verschiedenen Wege, wie Neurotransmitterrezeptorinteraktionen ihre unterschiedlichen Effekte am Zielneuron ausüben können, schließen ein komplexes Netzwerk intrazellulärer Messengersysteme (G-Proteine, „second messengers“) und den Prozess der Proteinphosphorylierung ein.

Störungen der Rezeptorphysiologie Unter ätiopathogenetischen Gesichtspunkten kann die Rezeptorphysiologie im Wesentlichen auf 3 verschiedenen Ebenen gestört sein:  Es kann zu Veränderungen in der Rezeptordichte kommen.  Die Rezeptoraffinität kann verändert sein.  Es können Defekte im Bereich der Rezeptoruntereinheiten bestehen, wodurch die Signaltransduktionskaskade gestört wird. Darüber hinaus sind auch alle Kombinationen dieser 3 pathophysiologischen Alterationen denkbar.

3.1.4 Neurotransmitterrezeptorsysteme Acetylcholin Acetylcholin war die erste chemische Substanz, die als Neurotransmitter identifiziert wurde. Synthetisiert wird sie durch enzymatische Acetylierung von Cholin mittels Cholinacetyltrans-

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ferase (ChAT). Die Degradation erfolgt durch enzymatische Spaltung im synaptischen Spalt mittels Acetylcholinesterase (AChE). Freies Cholin wird dann über Transporter in die Präsynapse wiederaufgenommen und steht für die erneute Acetylcholinsynthese zur Verfügung. Die wichtigsten Kerngebiete cholinerger Projektionsneurone liegen im basalen Vorderhirn. Der Verlust cholinerger zum Hippocampus und Kortex projizierender Neurone führt zu Gedächtnisdefiziten. Solche Reduktionen der cholinergen Aktivität wurden beispielsweise bei Alzheimer-Patienten gefunden. Darüber hinaus sind cholinerge Neurone vermutlich an der Vermittlung emotionaler Stimmungszustände zum Kortex beteiligt. So finden sich cholinerge Afferenzen des basalen Vorderhirns aus dem limbischen System.

3 Neurobiologische Grundlagen

leus basalis Meynert) mit Projektionen zum zerebralen Kortex, Hippocampus und Dienzephalon sowie das laterale Tegmentum des Hirnstamms (dorsaler Pons). Darüber hinaus gibt es noch eine Reihe weiterer lokaler, intrinsischer cholinerger Zirkuits, die insbesondere innerhalb des Neostriatums liegen. Acetylcholinrezeptoren, die insbesondere in der Pathophysiologie der Alzheimer-Demenz eine wichtige Rolle spielen, werden in nikotinische (nAChR) und muskarinische (mAChR) differenziert. Während fünf verschiedene mAChRSubtypen (M1-M5) unterschieden werden können (Caulfield und Birdsall 1998), bestehen nikotinische Acetylcholinrezeptoren aus verschiedenen α- und b-Untereinheiten. Je nach der Zusammensetzung dieser Untereinheiten, entstehen funktionell und strukturell unterschiedliche nAChR-Subtypen (Dajas-Bailador und Wonnacott 2004).

Cholinerge Projektionssysteme Zu den cholinergen Projektionssystemen des Gehirns zählt das basale Vorderhirn (mediales Septumband, diagonales Band von Broca, Nuc-

Katecholamine Die wichtigsten Katecholamin-Neurotransmitter sind Dopamin und Noradrenalin. Sie wer-

Abbildung 3.1.5: Schematische Übersicht über Biosynthese und Abbaumechanismen wichtiger zentraler Neurotransmitter. Abkürzungen: 5-HT Serotonin; A Adrenalin; AADC Aromatische L-Aminosäure-Dekarboxylase; ACh E Acetylcholinesterase; AspT Aspartataminotransferase; CAT Cholinacetyltransferase; COMT Katechol-O-Methyltransferase; DA Dopamin; DBH Dopamin-beta-Hydroxylase; DDC Dopadekarboxylase; GABA Gamma-Aminobuttersäure; GABAT-T GABA-Transaminase; GAD Glutamatdekarboxylase; HD Histidindekarboxylase; MAO Monoaminoxidase; NA Noradrenalin; PNMT Phenylethanolamin-N-Methyltransferase; TH Tyrosinhydroxylase; TRYH Tryptophanhydroxylase.

3.1 Neurotransmission und Signaltransduktion

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den enzymatisch aus der Aminosäure Tyrosin synthetisiert. Abbildung 3.1.5 stellt die einzelnen Syntheseschritte dar. Tyrosin passiert die Blut-Liquor-Schranke über einen aktiven, energieabhängigen Transportmechanismus. Innerhalb der katecholaminergen Neurone ist die (gesättigte) Tyrosinhydroxylase (erster Syntheseschritt zu Dopa) das limitierende Schlüsselenzym der Katecholaminsynthese. Alle anderen Enzyme sind nicht substratgesättigt, d. h. ihr Km-Wert übersteigt deutlich die Substratkonzentration, sie liegen praktisch „im Überschuss“ vor. Abbau. Die Beendigung der Katecholaminwirkung im synaptischen Spalt erfolgt durch Wiederaufnahme über Transporter. Die Katecholamine werden in Vesikeln gespeichert oder durch Monoaminoxidase (MAO) abgebaut. Die beiden Isoenzyme MAO-A und MAO-B sind in den Mitochondrienmembranen der Präsynapse und Glia lokalisiert. Der extrazelluläre Abbau erfolgt außerdem durch Catecholamine-O-Methyltransferase (COMT). Hauptmetabolite sind Homovanillinsäure (HVS) und 3,4-Dihydroxyphenylessigsäure (DOPAC). Besonders zu berücksichtigen ist die Tatsache, dass die Gliazellen, speziell die Astroglia, maßgeblich an dem Abbau der Neurotransmitter und damit an der Modulation der Neurotransmission beteiligt sind. Diese Bedeutung in der Funktion der Glia rückt erst in letzter Zeit in den Blickpunkt des Interesses, nachdem zuvor die Rolle der Glia eher unterschätzt wurde.

System“. Von der Substantia nigra und der Formatio reticularis mesencephali führen außerdem noch Bahnen zum frontalen Kortex, zur Amygdala und zum Gyrus cinguli. Dopaminerge Zellen sind ferner in der Area tegmentalis ventralis (ATV) lokalisiert. Sie liegt in der Mittellinie des Mittelhirnes. Ihre Verbindungen zu den Septumkernen, dem Nucleus accumbens und dem N. amygdalae bilden das „mesolimbische System“. Der mesokortikale Trakt zieht zum frontalen Kortex, Gyrus cinguli, N. piriformis und zum entorhinalen Kortex. Gut erforscht ist auch noch das tuberoinfundibuläre System, das Nucleus infundibularis und Hypophyse verbindet. Dopamin spielt neben seiner Aufgabe im Bereich des extrapyramidalmotorischen Systems (Motorik) eine Rolle beim Gedächtniserwerb und in der Regulation von psychischen Funktionen, wie zu. B. Stimmungszuständen. Psychotogene Wirkungen von Stimulantien, antidopaminerge Wirkung von Neuroleptika und elektrische Selbststimulation in Tierstudien weisen auf partielle Beteiligung dopaminerger Systeme an psychischen Erkrankungen hin. Die Dopaminrezeptoren werden nach pharmakologischen und molekularbiologischen Aspekten in 2 Hauptgruppen und 5 Rezeptortypen unterteilt:

Dopamin (Abb. 3.1.6 a, b)

Wirkmechanismus. Dopamin entsteht aus den Vorstufen Tyrosin und L-DOPA unter Vermittlung der Enzyme Tyrosinhydroxylase (TH) und DOPA-Decarboxylase (AADC). D1-artige Dopaminrezeptoren (D1, D5) stimulieren nach Aktivierung unter Vermittlung des G-Proteins die Adenylatzyklase (AC). Diese ist für die Umwandlung von ATP in cAMP, das die weitere Signaltransduktion übernimmt, verantwortlich. Eine Stimulation der D2-artigen Dopaminrezeptoren (D2, D3, D4) hat eine Inhibition der Adenylatzyklase (AC) zur Folge (D2, D4) oder aber eine Alteration anderer Signaltransduktionsmechanismen (D3). Aktivierung der D2-ar-

Dopaminerge Kerne. Die wichtigsten dopaminergen Kerne des Gehirns sind die Pars compacta der Substantia nigra mit Projektionen zum Striatum, das ventrale Tegmentum mit Projektionen zum frontalen Kortex und Gyrus cinguli sowie zum Nucleus accumbens und zu anderen Teilen des limbischen Systems sowie der Nucleus arcuatus des Hypothalamus, der für die dopaminerge Regulation der Hypophyse mitverantwortlich ist. Dopaminerges System. Eine wichtige Komponente dieses Systems ist das „nigrostriatale

 Zur Gruppe der D1-artigen Rezeptoren zählen der D1- und der D5-Rezeptor.  Zur Gruppe der D2-artigen Rezeptoren gehören die D2-, D3- und D4-Rezeptoren.

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3 Neurobiologische Grundlagen

Abbildung 3.1.6 a, b: Mechanismen der neuronalen Signal-Transduktions-Kopplung. a Divergenz und Konvergenz unterschiedlicher Signalkaskaden. Einige Neurotransmittler und Rezeptoren, die an unterschiedliche G-Proteine und Effektorsysteme gekoppelt sind, können eine gemeinsame Transduktionsendstrecke besitzen. So wird der Transkriptionsfaktor CREB (cAMP „response element binding protein“) nicht nur über die cAMP-abhängige Proteinkinase (PKA) stimuliert, sondern auch durch kalziumabhängige Kinasen (CaM-K) und Kinasen des Ras-Reaktionsweges (RSK-2), der durch kalziumabhängige Kinasen (CaM-K) und Kinasen des Ras-Reaktionsweges (RSK-2), der durch bestimmte Wachstumsfaktoren aktiviert wird. Dagegen können Steroidhormone nach Bindung an ihren Rezeptor direkten Einflluss auf die Gentranskription nehmen (PLC Phospholipase C, AC Adenylatcyclase). b Regulation der Gentranskription durch „immediate early genes“ (IEG), Second messenger wie cAMP oder Kalzium aktivieren die Transkription von IEG wie z. B. der Gene c-jun und c-fos. Das Transkript, die entsprechende reife mRNA, wird aus dem Zellkern herausgeschleust. Die korreskondierenden Proteine Jun und Fos werden im Zytoplasma in den Ribosomen synthetisiert und translozieren anschließend in den Zellkern, wo sie selbst erneut als Transkriptionsfaktoren fungieren können, indem sie untereinander oder mit verwandten Proteinen Dimere bilden, die an die AP-1-Sequenz von bestimmten Zielgenen binden. Die Transkriptionsaktivität dieser Zielgene ist abhängig von der Induktion durch IEG-Proteine. Auf diese Weise werden Langzeitveränderungen der synaptischen Regulation induziert wie z. B. die Aktivierung von Tyrosinhydroxylase oder Neuropeptiden. Neben den genannten Second-messenger-Aktivierungswegen kann die Expression von c-Jun auch über die JNK-(c-Jun-NH2-terminale Kinase-) Kaskade stimuliert werden. Weitere Erklärungen sind im Text aufgeführt.

3.1 Neurotransmission und Signaltransduktion

tigen Dopaminrezeptoren führt zur Modifikation der Aktivität von Ionenkanälen, der Kalziummobilisierung und des Phophatidylinositolumsatzes. Der D2-Rezeptor ist auch präsynaptisch lokalisiert und kann die Freisetzung und Synthese von Dopamin inhibieren (Feedback-Mechanismus). Interessanterweise scheinen kontinuierliche und pulsatile Stimulationen von Dopaminrezeptoren unterschiedliche Effekte hervorzurufen. Einige Untersuchungen deuten darauf hin, dass es physiologischerweise zumindest im nigrostriatalen System einen dualen DopaminEffekt gibt, der einerseits auf einer tonischen und andererseits einer phasischen Aktion beruht (Obeso et al. 1994).

L-Dopa Bemerkenswerterweise besitzt der DopaminVorläufer L-Dopa auch eigene intrinsische Neurotransmitter-Eigenschaften (Misu et al. 1995). L-Dopa scheint als Neurotransmitter insbesondere für die Blutdruckregulation im Hirnstamm verantwortlich zu sein. Vermutlich wird er über nikotinerge, glutamaterge und GABAerge Mechanismen reguliert und scheint u. a. im Nucleus accumbens freigesetzt zu werden Abbau. Das im synaptischen Spalt befindliche Dopamin wird großteils über den Dopamintransporter eliminiert. Mit Hilfe der Enzyme MAO (intra- und extrazellulär) und COMT (extrazellulär) erfolgt die Metabolisierung zu 3,4-Dihydroxyphenylessigsäure (DOPAC, intrazellulär) und Homovanillinsäure (HVA, extrazellulär).

Noradrenalin (Abb. 3.1.6 a, b) Noradrenerge Projektionssysteme. Das wichtigste noradrenerge Projektionssystem des menschlichen Gehirns ist der Locus coeruleus am Boden des 4. Ventrikels am rostralen Teil des Pons. Er besitzt diffuse axonale Projektionen in fast alle Areale des zerebralen Kortex, des Zerebellums, der Hirnstammkerne und des Rückenmarks. Noradrenerg sind darüber hinaus die lateralen Kerne des Tegmentums und andere Regionen des Pons und der Medulla. Ihre

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Endigungen reichen in das basale Vorderhirn, den Thalamus, den Hypothalamus, den Hirnstamm und in das Rückenmark. Noradrenerges System. Noradrenalin entsteht aus L-Tyrosin. Dieses wird durch die Tyrosinhydroxylase (TH) zu L-DOPA hydroxyliert. L-DOPA wird durch die entsprechende Decarboxylase (AADC) zu Dopamin decarboxyliert, das dann seinerseits durch die Dopamin-b-Hydroxylase (DbH) in Noradrenalin umgewandelt wird. Die wichtigsten noradrenergen Kerne sind der Locus coeruleus (LC) und das Laterale Tegmentum (LT). Das noradrenerge System wirkt vorwiegend stimulierend auf die motorischen und psychischen Aktivitäten. Es regelt gemeinsam mit dem serotoninergen System möglicherweise den Schlaf-/Wachrhythmus. Durch tonische Entladung von Noradrenalin wird die Vigilanz erhöht. Phasische Entladungen stammen aus äußeren und inneren Triggern. Ein Zuwenig an Noradrenalin (NA) führt zu depressiven Zustandsbildern, während ein Überschuss manische Symptome hervorruft. Auch akute Angst scheint Folge verstärkter Aktivität des LC zu sein, wie sie unter anderem beim Entzug von Opiaten vorkommt oder durch Gabe des besonders an Autorezeptoren wirksamen a2-Antagonisten Yohimbin. GABA und Adenosin hemmen den LC. Da die GABAerge Inhibition durch Benzodiazepine verstärkt wird, sind die anxiolytischen Effekte wahrscheinlich durch inhibitorische Beeinflussung der LC-Neuronen wirksam. Coffein als Adenosin-Antagonist hingegen kann in hohen Dosen auch bei gesunden Personen Panikattacken hervorrufen (Fritze 1989). a) Locus coeruleus Ausgehend vom LC innervieren noradrenerge Bahnen über das dorsale Vorderhirnbündel Kortex und Hippocampus, wobei Noradrenalin modulierend wirkt. Der LC liegt im Hirnstamm im Boden des vierten Ventrikels und projiziert u. a. in die Groß- und Kleinhirnrinde. Über das Cingulum führt eine Verbindung zum Hippocampus. Der Thalamus, die Amygdala und das Rückenmark sind weitere Ziele von noradrenergen Bahnen aus dem LC.

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Daneben gibt es noch Verbindungen vom LC zu primär-sensorischen und assoziativen Kernen des Hirnstammes, wie zum Beispiel Nuclei cochlearii und Nucleus sensorius prinzipalis trigemini. Die Zellen des LC sind topographisch angeordnet und seine Projektionen weisen viele Kollateralen und kontralaterale Verbindungen auf. b) Laterales Tegmentum Das LT liegt ventral des LC und besitzt ebenfalls Afferenzen zur Amygdala. Beide projizieren in den dorsalen Raphekern, wodurch eine Verbindung mit dem serotoninergen System gegeben ist. Schließlich beeinflusst das LT noch Funktionen des Hypothalamus über das ventrale mediale Vorderhirnbündel. Wirkmechanismus. Postsynaptisch sind verschiedene Noradrenalinrezeptoren identifiziert worden. Stimulation der a1- und b1-Rezeptoren aktiviert die regulatorischen G-Proteine. Durch b1-Rezeptoraktivierung wird, vermittelt durch das Gs-Protein, die Adenylatzyklase-(AC-)Aktivität gesteigert, die ATP in die aktive Form des cAMP umwandelt. cAMP ist dann für die Aktivierung einer aus Proteinkinasen und Phosphorylierungsreaktionen bestehenden Signaltransduktionskaskade verantwortlich. Über die a1-Rezeptoren werden Go- und Gq-Proteine stimuliert, die ihrerseits die Phospholipase C (PLC) aktivieren. Dies hat die Umwandlung von Phosphoinositolbisphosphat (PIP2) in Inositoltriphosphat (IP3) und Diazylglyzerin (DAG) zur Folge, die als Second messengers fungieren. Demgegenüber üben die a2-Rezeptoren, ebenfalls G-Protein-vermittelt, inhibitorische Effekte auf die Adenylatzyklase (AC) aus. Insbesondere sorgen so präsynaptisch lokalisierte a2Rezeptoren vermittels inhibitorischer Gi-Proteine über einen Feedback-Mechanismus für die Hemmung einer weiteren Noradrenalinausschüttung und auch -synthese. Inaktivierung. Die Inaktivierung des Noradrenalins im synaptischen Spalt erfolgt über den präsynaptischen Noradrenalintransporter, der für die Wiederaufnahme des Noradrenalins verantwortlich ist. Noradrenalin kann durch die MAO-A intra- und extraneuronal desami-

3 Neurobiologische Grundlagen

niert werden. Das letztlich resultierende 3, 4-Dihydroxyphenylglykol (DHPG) wird dann durch Catechol-O-Methyltransferase (COMT) zu 3-Methoxy-4-hydroxyphenylglykol (MHPG) metabolisiert.

Indolamine Wichtigster Vertreter der Indolamine ist das Serotonin (Abb. 3.1.5 a, b). Es wird aus Tryptophan synthetisiert. Schlüsselenzym hierbei ist die Tryptophanhydroxylase. Serotoninsynthese. Serotonin (5-HT = 5-Hydroxytryptamin) wird nach Hydroxylierung und Decarboxylierung aus L-Tryptophan über 5-Hydroxytryptophan (5-HTP) synthetisiert. Serotoninerge Projektionssysteme. Die serotoninergen Projektionssysteme im Gehirn sind die Hirnstammkerne (v. a. dorsale und mediane Raphe) mit diffusen Projektionen in die meisten Regionen des ZNS. Weiterhin finden sich serotoninerge Zellkörper auch in anderen Regionen des Pons und der Medulla. Ihre Endigungen sind weit verteilt und reichen zum zerebralen Kortex, Thalamus, Zerebellum, Rückenmark und zu den Hirnstammkernen. Die Zellen der serotoninergen Bahnen liegen im ventralen und dorsalen Raphekern. Sie sind Teil der Formatio reticularis des Hirnstamms. Beide Kerne projizieren in das gesamte Kleinhirn, der NDR (Nucleus dorsalis raphe) auch in das Rückenmark. Ähnlich wie der LC innerviert der NVR (Nucleus ventralis raphe) Kortex, Thalamus, Amygdala und über das Cingulum den Hippocampus. Der Hypothalamus und der Cortex entorhinalis sind weitere Ziele serotoninerger Bahnen aus dem NVR. Die enge Verschaltung mit dem limbischen System ist hieraus gut erkennbar. Durch Verbindungen des NVR mit der Substantia nigra und dem Striatum entsteht eine direkte Verknüpfung mit dem extrapyramidalmotorischen System. Serotonin erhöht die Schmerzschwelle und reguliert den Schlafablauf und die Stimmung, wobei ein Mangel eine depressive Verstimmung zur Folge haben kann. Eine wichtige Funktion dürfte dem sorotoninergen System bei der Impulskontrolle als „sensorischer Filter“ zukommen. Elektrische Stimulation der Raphekerne

3.1 Neurotransmission und Signaltransduktion

erzeugt psychotische Zustandsbilder wie nach Einnahme von Halluzinogenen. Wirkmechanismus: Mit Hilfe molekularbiologischer Methoden konnten verschiedene 5-HT-Rezeptorsubtypen differenziert werden (vgl. Tab. 3.1.2).  Postsynaptisch inhibiert die Stimulation von 5-HT1A-Rezeptoren über Gi-Proteine die Adenylatcyclase (AC).  Aktivierung der 5-HT4,6,7-Rezeptoren führt hingegen zur Aktivierung der AC mit nachfolgendem Anstieg des cAMP (aus ATP).  Eine Stimulation der 5-HT2A,C-Rezeptoren führt zu einer Aktivitätssteigerung der Phospholipase C (PLC) mit konsekutivem Anstieg des Inositoltriphosphats (IP3) und Diazylglyzerins (DAG).  Der 5-HT3-Rezeptor ist ionenkanalgekoppelt. Seine Aktivierung führt zu einem Kationeneinstrom.  Präsynaptisch sorgen 5-HT1A- und 5-HT1B,CRezeptoren durch Gi-Protein-vermittelte AC-Inhibition, verminderte cAMP-Produktion und Reduktion der Impulsfrequenz zu einer verminderten Serotoninfreisetzung. Inaktivierung: Serotonin wird aus dem synaptischen Spalt durch den Serotonintransporter entfernt. Die Metabolisierung zu 5-Hydroxyindolessigsäure (5-HIAA) erfolgt durch MAO-A. Der Serotonintransport ist ein wesentlicher Wirkort verschiedener Antidepressiva, den selektiven Serotoninwiederaufnahmeinhibitoren (SSRI), sowie partiell den NaSSAs und diverser Tri- und Tetrazyklika. Die Epiphyse synthetisiert Melatonin, ein weiteres Indolamin. Bei manchen Tieren spielt es eine wichtige Rolle in der Vermittlung der zirkadianen Rhythmik. Möglicherweise ist eine Störung des Melatoninhaushalts auch an der Entstehung zyklothymer Erkrankungen beteiligt.

Glutamat Glutamat und Aspartat sind Aminosäuren, welche in spezifischen Neuronensystemen exzitatorisch wirken. Kortiko-fugale Bahnen und Assoziationsbahnen verwenden diesen Neuro-

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transmitter. Typische glutamaterge Neurone sind die Granulazellen des Kleinhirns, die Pyramidenzellen des Hippocampus, kortikale Motoneurone sowie kortikale Neurone, die in die Basalganglien projizieren. Eine wichtige Rolle zur Steuerung der Motorik kommt Glutamat als Transmitter im Rahmen der Funktion des Motorloops zu. Verbindungen von N. subthalamicus zu Substantia nigra pars reticulata und Globus pallidus internus sowie von Thalamus zu Kortex und kortiko-striatale glutamaterge Bahnen sind dabei von besonderem Interesse. Andererseits scheinen Dysbalancen dopaminerg-glutamaterger Verschaltungen in limbischen Arealen beim Entstehen von pharmakotoxischen Psychosen im Rahmen der Parkinson-Krankheit (PK) durch alle Antiparkinsonmittel und bei paranoid-halluzinatorischen Symptomen im Rahmen von Schizophrenien eine Rolle zu spielen: Erhöhte dopaminerge Aktivität durch pharmakologische Manipulation (z. B. bei Morbus Parkinson) oder durch primär geschädigtes (entwicklungsgestörtes) glutamaterges System im Bereich des präfrontalen Kortex und der area entorhinalis (Schizophrenie mit Plus-Symptomatik) kann derzeit als attraktive Hypothese produktiver Psychosen akzeptiert werden. Verminderter glutamaterger Input von area entorhinalis zu HippocampusSubarealen kann durch degenerative Prozesse im Rahmen der Alzheimer-Krankheit oder PK möglicherweise aber ebenso zur Symptomatik dieser Erkrankungen beitragen, bzw. können sie als Nebenwirkungen von Pharmakotherapie imponieren. Es sind verschiedene Glutamatrezeptoren (Abb. 3.1.7) bekannt, die nach ihren jeweils selektiven Agonisten benannt werden. Von besonderer Bedeutung ist der NMDA(N-MethylD-Aspartat)-Rezeptor. Er ist vermutlich in den Prozess der LTP („long term potentiation“) involviert. Darunter versteht man das Phänomen, dass bestimmte Neurone (insbesondere im Hippocampus) nach wiederholter Stimulation in der Lage sind, auch nach Ausbleiben dieser Stimulation über einen längeren Zeitraum „autonom weiterzufeuern“. Diese Eigenschaft ist vermutlich für bestimmte Lern- und Gedächtnisvorgänge von erheblicher Bedeutung.

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3 Neurobiologische Grundlagen

Abbildung 3.1.7: Glutamatrezeptor (IP3Inositoltriphosphat (nach Zilles und Rehkämper 1994)

Die verschiedenen Glutamatrezeptor-Familien werden derzeit folgendermaßen systematisiert: Grundsätzlich werden ionotrope (iGluRs) und metabotrope (mGluRs) Glutamatrezeptoren unterschieden. Die iGluRs können wiederum in die bereits erwähnten NMDA-Rezeptoren (NR1, NR2A, NR2B, NR2C, NR2D, NR3A, NR3B), sowie AMPA- (GluR1, GluR2, GluR3, GluR4) und Kainat-Rezeptoren (GluR5, GluR6, GluR7, KA-1, KA-2) differenziert werden. Die mGluRs werden in drei Gruppen unterteilt: Gruppe I (mGluR1, mGluR5), II (mGluR2, mGluR3) und III (mGluR4, mGluR6, mGluR7, mGluR8) (Kew und Kemp 2005). Aktivierung des NMDA-Rezeptors. Die glutamaterge Aktivierung des NMDA-Rezeptors erfordert die Erfüllung einer Reihe weiterer Bedingungen, die über die bloße Präsenz von Glutamat hinausgehen. Beispielsweise ist eine Aktivierung des NMDA-Rezeptorkanals ohne Glycin wohl nicht möglich. Außerdem kann Mg2+ den Kanal blockieren. Diese Blockade kann z. B. durch Depolarisation des Zielneurons über AMPA- oder Kainat-Rezeptoren der Postsynapse aufgehoben werden.

Glutamat und Zelltod. Bei Anoxie oder Hypoglykämie fällt der energieabhängige Prozess der Glutamatkompartimentierung in der Präsynapse aus. Innerhalb von Minuten wird Glutamat in den synaptischen Spalt ausgeschüttet, und es kommt zu einer Überaktivierung exzitatorischer Rezeptoren. Große Mengen an Ca2+ können in die Zelle einströmen. Ca2+ aktiviert eine Reihe von Enzymen (einschließlich Proteasen) und es kommt über Autodigestion zum Zelltod. Dieser Prozess wird Exzitotoxizität genannt. Einige tierexperimentelle Befunde und erste klinische Daten zeigen, dass Glutamatantagonisten eine neuroprotektive („antiexzitotoxische“) Wirkung haben könnten.

GABA und der Benzodiazepinrezeptor (Abb. 3.1.8) GABA (Gamma-Aminobuttersäure) ist einer der wichtigsten inhibitorischen Neurotransmitter. Er wird von etwa 30 % aller ZNS-Neurone benutzt. GABA wird aus Glutamat unter Vermittlung der Glutamat-Decarboxylase (GAD) synthetisiert. Zur Inaktivierung der Synap-

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3.1 Neurotransmission und Signaltransduktion

Abbildung 3.1.8: GABAerge Synapse (GABA Gamma-Aminobuttersäure, BZD Benzodiazepin). (Nach Benkert u. Hippius 1996)

seneffekte wird sie durch die mitochondriale GABA-Transaminase inaktiviert bzw. durch den GABA-Transporter wieder in die Präsynapse aufgenommen. Lokalisation. Anhäufungen GABAerger Neurone sind u. a. in folgenden Regionen zu finden: Thalamus, Basalganglien und Zerebellum. Darüber hinaus gibt es aber auch spezifische kleinere Interneurone des zerebralen Kortex, die GABAerg sind. GABAerge Neuronen projizieren aber auch vom Striatum zur Substantia nigra und sind damit wesentliche Bestandteile des nigrostriatalen (dopaminerg)-strio-nigralen (GABAergen) Regelkreises. Im Rahmen des „Motorloops“ spielt GABA durch GABAergen Input und Output von Globus Pallidussubarealen eine entscheidende Rolle. Vor allem die Vernetzung mit den exzitatorischen (glutamatergen) Nervenzellen des Nucleus subthalamicus und des Thalamus unterstreichen die Bedeutung dieses Neurotransmitters bei Erkrankungen wie z. B. Morbus Parkinson, Chorea Huntington, Hemiballismus u. a. Andererseits sind an der Funktion des GABA-A-Rezeptorkomplexes Chloridkanäle und

Benzodiazepinrezeptoren beteiligt. Die angstlösenden Eigenschaften der Benzodiazepine lassen daher vermuten, dass GABA-A-Rezeptoren, deren inhibitorische Potenz durch Benzodiazepine gesteigert wird, an nervalen Regulationsprinzipien von „Angst“ und Vigilanz teilhaben. Besonders die verstärkte Hemmung der noradrenergen Locus-coeruleus-Neuronen scheint bei der Therapie von Panikattacken möglicherweise eine hervorragende Rolle zu spielen. Es liegen genügend Hinweise dafür vor anzunehmen, dass enthemmte noradrenerge Aktivität physiologische und pathologische Angst auslösen kann. Rezeptortypen. Hinsichtlich der GABARezeptoren werden 2 Haupttypen – GABAA und GABAB – unterschieden. Der GABAA-Rezeptor überwiegt. Er ist für die rasche inhibitorische synaptische Transmission im Gehirn verantwortlich. Als Ionophor besteht er aus mehreren Untereinheiten: einer GABA-bindenden Einheit (β-Einheit), einer Benzodiazepin-bindenden Einheit (α-Einheit), einer aktivierenden γ-Einheit und einem Ionenkanal. Der im ZNS nicht so weit verbreitete GABAB-Rezeptor ist demgegenüber G-Protein-gekoppelt.

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3 Neurobiologische Grundlagen

Glycinsystem

3.1.5 Signaltransduktion

Ein weiteres inhibitorisches System ist das Glycinsystem (nicht identisch mit der Glycinbindungsstelle des NMDA-Rezeptors). Es ist verglichen mit GABA-Rezeptoren noch wenig erforscht, scheint aber eine wichtige inhibitorische Rolle insbesondere im Hirnstamm und im Rückenmark zu spielen.

Die Interaktion eines Neurotransmitters (First Messenger) mit seinem spezifischen Rezeptor stellt lediglich den ersten Schritt innerhalb einer sog. Signaltransduktionskaskade dar. Das extrazelluläre Signal (synaptischer Spalt) wird nach Neurotransmitter-Rezeptor-Bindung über spezifische Mechanismen (z. B. sog. G-Proteine) in das Zellinnere (Zytoplasma) transportiert. Hier sind sog. Second Messengers (z. B. cAMP) Träger des Signals. Über eine Reihe von weiteren Zwischenstationen wird dann das Signal in den Zellkern transportiert und auf sog. Third Messengers (z. B. CREB) übertragen, bei denen es sich meist um Transkriptionsfaktoren handelt. Transkriptionsfaktoren besitzen die Eigenschaft Genexpressionsprozesse beeinflussen zu können. Dies bedeutet, dass das ursprüngliche Signal der Neurotransmitter-Rezeptor-Interaktion kaskadenartig bis in den Zellkern weitergeleitet wird, wo es dann letztlich zu einer Modifikation der Expression bestimmter Gene kommt.

Neuropeptide Die Neuropeptide stellen eine sehr heterogene Gruppe nicht nur in Bezug auf ihre molekulare Struktur, sondern auch hinsichtlich ihrer Verteilung und ihres Wirkmechanismus dar. In letzter Zeit rücken sie verstärkt in das Zentrum des pharmakotherapeutischen Interesses. Die verschiedenen Neuropeptidsysteme stellen möglicherweise wichtige Angriffspunkte für künftige neuromodulatorisch aktive Psychopharmaka dar. Beispielsweise ist CRF („corticotropin releasing factor“) ein wichtiger Faktor in der Stressmodulation. Cholezystokinin und Neurotensin sind häufig mit Dopamin kolokalisiert und könnten für die Psychosebehandlung interessant werden.

Opioidpeptide Am besten untersucht sind die Opioidpeptide. Bisher sind mindestens 18 dieser Peptide bekannt, denen alle ein identischer Aminoterminus gemeinsam ist (Tyr-Gly-Gly-Phe, dann Met oder Leu). Zu ihnen zählen beispielsweise Endorphin, Enkephalin und Dynorphin. Als „endogene Analgetika“ sind sie an der Schmerzunterdrückung beteiligt. Darüber hinaus scheinen sie Stimmungszustände zu modulieren und sind möglicherweise auch in die Entstehung und Aufrechterhaltung von Suchterkrankungen involviert. Sie entfalten ihre Wirkung über spezifische Opiatrezeptoren, die gleichzeitig auch der Aktionsort exogener Opiate sind. Es werden 3 Klassen unterschieden: m-, d- und k-Rezeptoren.

Transduktionsmechanismen Die durch einen Agonisten ausgelöste Konformationsänderung eines Rezeptors kann über eine Reihe unterschiedlicher Transduktionsmechanismen in das rezeptive Neuron der zentralen Synapse weitergegeben werden (Abb. 3.1.6 a,b). Hierbei können unterschiedliche Rezeptoren unterschiedlicher Transmitter letztlich den gleichen Transduktionsmechanismus benutzen (Abb. 3.1.6 a, b). Dies bedeutet, dass Psychopharmaka, die mehr oder weniger spezifisch mit einem Transduktionsmechanismus interferieren, nicht die pharmakologische Selektivität erreichen können wie Psychopharmaka, die nur eine spezifische Unterklasse eines einzigen Rezeptors aktivieren bzw. blockieren. Trotz dieser verringerten pharmakologischen Selektivität gewinnt eine direkte Beeinflussung von Transduktionsmechanismen in den letzten Jahren immer mehr als potentieller Wirkungsmechanismus von Psychopharmaka an Bedeutung.

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3.1 Neurotransmission und Signaltransduktion

Vom Rezeptor zum Effektor und Bildung von „second messengern“ Löst ein Ligand nach Bindung an einen Rezeptor, d. h. einem Transmembranprotein mit Domänen auf der extrazellulären und zytoplasmatischen Seite, eine Reaktion im Zellinnern aus, bezeichnet man dies als Signalübertragung. Die Signaltransduktion ist eine Möglichkeit, das ursprüngliche Signal zu verstärken. Durch die Bindung des Neurotransmitters an die extrazelluläre Domäne des Rezeptors wird die Aktivität der Domäne der zytoplasmatischen Seite beeinflusst, der Rezeptor wird aktiviert. Im Zytosol wird ein biochemisches Signal erzeugt, dessen Amplitude sehr viel größer ist als beim extrazellulären Liganden. In vielen Fällen führt das Signal im Zytosol dazu, dass im Zellinnern die Konzentration einer niedermolekularen Verbindung ansteigt. Diese Moleküle werden als sog. „zweite Boten“ (-Stoffe) bezeichnet („second messenger“) im Gegensatz zum ersten Boten, dem extrazellulären Neurotransmitter. Verglichen mit den ionenkanalgekoppelten Rezeptoren arbeitet die Signalübertragung mit dem Second messenger verhältnismäßig langsam. Man nimmt an, dass auf diese Weise die Langzeitwirkung von Transmittern ermöglicht wird. Man unterscheidet grundsätzlich 2 Arten der Signaltransduktion:

 Der Rezeptor kann mit einem G-Protein interagieren, das mit der Membran assoziiert ist. In seiner aktiven Form besteht das GProtein aus einem GDP-gebundenem Trimer. Bei Rezeptoraktivierung wird GDP durch GTP ersetzt, die Untereinheiten des G-Proteins können daraufhin dissoziieren und reagieren mit einem oder mehreren Zielmolekülen. Rezeptoren, die über G-Proteine an ein Effektorsystem gekoppelt sind, werden auch als metabotrope Rezeptoren bezeichnet.  Der Rezeptor besitzt in seiner Zytosoldomäne eine Proteinkinase. Nach Bildung des Rezeptor-Liganden-Komplexes wird die Kinase aktiviert und phosphoryliert ihre eigene zytoplasmatische Domäne. Diese Autophosphorylierung ermöglicht es dem Rezeptor, mit einem Zielprotein eine Bindung einzugehen und es gleichzeitig zu aktivieren. Das Zielprotein wiederum kann auf neue Substrate in der Zelle einwirken. Die Kinaserezeptoren sind in der Regel Tyrosinkinasen, es gibt jedoch auch einige wenige Serin-/ Threoninkinaserezeptoren.

G-Proteine G-Proteine können Proteine oder Ionenkanäle aktivieren oder hemmen und lösen eine intrazel-

Tabelle 3.1.3: G-Proteinklassen unterscheiden sich durch ihre Effektoren und werden durch eine Vielzahl von Transmembranrezeptoren aktiviert (InsP3, Inositolbiphosphat, DAG Diacylglyzerol). G-Protein

Effektor

Second messenger

Beispiele für Rezeptoren

GS

aktiviert Adenylatzyklase

cAMP c

b-Adrenozeptor

Golf

aktiviert Adenylatzyklase

cAMP c

Olfaktorische Rezeptoren

Gi

hemmt Adenylatzyklase öffnet K+-Kanäle

cAMP T Membranpotential c

M2-Acetylcholinrezeptor

G0

schließt Ca2+-Kanäle

Membranpotential T

a2-Adrenozeptor GABA B-Rezeptor

Gt (Transducin) Gq

stimuliert die cGMPPhosphodiesterase

cGMP T

Rhodopsinrezeptor

aktiviert Phospholipase Cb

InsP3, DAG c

M1-Acetylcholinrezeptor 5-HT2-Rezeptor

InsP3 Inositoltriphosphat DAG Diacylglyzerol

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luläre Signalkaskade aus. Die G-Proteine übertragen Signale von einer Vielzahl von Rezeptoren auf viele verschiedene Moleküle. Viele klassische Neurotransmitter wirken über eine G-Protein-vermittelte Signaltransduktion. Zur Superfamilie der G-Protein-gekoppelten Rezeptoren gehören u. a. die Muskarin-, die a- und b-Adrenozeptoren und Untergruppen von glutamatergen Rezeptoren (vgl. auch Abb. 3.1.6. a und Tab. 3.1.3).

Effektoren Unter einem Effektor versteht man ein Molekül, das durch ein G-Protein aktiviert oder in selteneren Fällen inhibiert wird. Häufig handelt es sich dabei um ein anderes membranständiges Protein. Der Rezeptor befindet sich demnach „upstream“ und der Effektor „downstream“ von dem G-Protein. Als Effektormoleküle dienen v. a.  die Adenylatzyklase (AC),  die Guanylatzyklase (GC) und  die Phospholipasen A2 (PLA2) und C (PLC). Tabelle 3.1.3 gibt einen Überblick über die Effektoren, die mit verschiedenen Typen von GProteinen gekoppelt sind. Einige G-Proteine wirken auf viele Effektoren ein, die ihrerseits wiederum viele unterschiedliche Übertragungswege aktivieren. Klassische G-Proteine der Neurotransmission sind Gs und Gi: Gs aktiviert Adenylatzyklase und erhöht somit die cAMP-Konzentration, Gi hemmt umgekehrt die Adenylatzyklase und erniedrigt die cAMP-Konzentration. Es handelt sich also bei den Second messengern um Mitglieder der wichtigen Klasse der zyklischen Nukleotide. Ein weiteres klassisches G-Protein ist Gq: Es aktiviert Phospholipase C (PLC) und fördert somit die Bildung einer weiteren bedeutenden Gruppe von Second messengern, die aus kleinen Lipidmolekülen bestehen wie Inositoltrisphosphat (InsP3) und Diacylglyzerol (DAG), die aus dem Membranphospholipid (Phosphatidylinositol-4,5-Biphosphat, PIP2) gebildet werden. G-Proteine oder ihre Second messenger können auch direkt auf Kalium- oder Kalzium-

3 Neurobiologische Grundlagen

ionenkanäle wirken und diese öffnen oder schließen. Bei der Aktivierung von PLC kommt es infolge der Bildung von InsP3 zur intrazellulären Freisetzung von Kalziumionen aus dem endoplasmatischen Retikulum und wahrscheinlich über Bildung weiterer Abbauprodukte des Inositolphosphatmetabolismus (z. B. InsP4) zur Öffnung von Kalziumkanälen in der Zytoplasmamembran. Die intrazelluläre Kalziumkonzentration wird heute ebenfalls als wichtiger Second messenger der zentralen Neurotransmission angesehen.

Weitergabe des Signals von Second messengern Die gebildeten Second messenger aktivieren nun ebenfalls eine Signalkaskade, an der v. a. Kinasen, Phosphatasen und Proteasen beteiligt sind. Die Substrate dieser Enzyme befinden sich entweder in der Zellmembran, dem Zytoplasma oder im Zellkern. Eine genauere Charakterisierung der zytosolischen Kinasen erfolgt im anschließenden Kapitel. cAMP aktiviert die Proteinkinase A (PKA). Bei ansteigender cAMP-Konzentration bindet cAMP an die regulatorische Untereinheit von PKA. Dadurch wird die katalytische Untereinheit von PKA freigesetzt. Diese kann in den Zellkern wandern und phosphoryliert dort z. B. CREB (Bindungsprotein des cAMP-ResponseElements) und löst somit einen Transkriptionsprozess aus. CREB. CREB ist eines der wesentlichen Substrate der PKA im Zellkern (vgl. Abb. 3.1.6). Daneben werden Proteine von ihr phosphoryliert einschließlich spannungsabhängiger Kanäle in der Zellmembran (z. B. Na+-Kanäle, Ca2+abhängige K+-Kanäle, L-Type-Ca2+-Kanäle), Rezeptoren (z. B. GABAA-Rezeptoren, Non-NMDA-Glutamat-Rezeptoren, b-Adrenozeptoren), Na+-K+-ATPase, Synapsin I und II, Tyrosinhydroxylase, das in die Synthese der Katecholamine involviert ist. Aber auch die Expression von induzierbaren Transkriptionsfaktoren wie c-Fos werden durch CREB aktiviert. Auf diese Weise ist cAMP an der Kontrolle des Ionenstromes durch die Zellmembran, an der Neurotransmitterfreisetzung und der Funktion des Katechola-

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3.1 Neurotransmission und Signaltransduktion

minsystems sowie an der neuronalen Genregulation beteiligt. Über Phosphodiesterasen wird cAMP zu 5b-Adenosin-Monophosphat inaktiviert. Somit wird die Wirkung beendet. cGMP aktiviert die Proteinkinase G (PKG). Es existieren 2 unterschiedliche Formen der PKG, einmal in löslicher Form (Typ I) und einmal in membrangebundener Form (Typ II). Typ I ist die häufigste Form und kommt auch im Gehirn – hauptsächlich im Zerebellum – vor. Bestimmte Phosphodiesterasen werden durch cGMP aktiviert oder inhibiert. Dies erlaubt eine Interaktion zwischen dem cAMP- und dem cGMP-System. So reduziert cGMP die Effekte von cAMP, indem es dessen Wirkung durch Phosphodiesteraseaktivierung beendet. Diacylglyzerol (DAG) aktiviert Proteinkinase C (PKC). PKC stellt eine Enzymfamilie dar. PKC-Isoenzyme können kalziumabhängig sein (z. B. PKC a, b und g). Inaktive PKC kommt im Zytoplasma vor. Nach Ansteigen der intrazellulären Kalziumkonzentration transloziert PKC in die Zellmembran und bindet dort an Phospholipide. Diese Bindung ist kalziumabhängig und wird stimuliert durch DAG (Voraussetzung für die volle Enzymaktivität). Die Stimulation der PKC wird durch den Abbau der DAG und möglicherweise durch Resynthese zu PIP2 beendet. Phorbolester (z. B. Phorbol-12Myristat-13-Acetat) können den Effekt von

DAG permanent nachahmen, allerdings mit größerer Potenz und niedrigerer Metabolisierungsrate. Viele wichtige neuronale Proteine sind Substrate der PKC: spannungsabhängiger Na+-Kanal, Ca2+-abhängige K+-Kanäle, GABAA- und NMDA-Rezeptor, „growth-associated protein 43“ (GAP-43 auch als Neuromodulin oder Protein B-50 bezeichnet). Dieses Protein (GAP-43) kommt hauptsächlich in Nervendigungen im adulten Gehirn vor und scheint in Plastizitätsund Transmitterfreisetzungsprozesse involviert zu sein. Kalzium und Calmodulin aktivieren die Calcium-Calmodulin-Kinase (CaMK). Die meisten Second-messenger-Funktionen von Kalzium setzen seine Interaktion mit einem intrazellulären kalziumbindenden Protein, dem Calmodulin, voraus. In verschiedenen neuronalen Zellen wurden neben Calmodulin noch andere kalziumbindende Proteine nachgewiesen: Parvalbumin, Calbindin oder Calretinin. Im Gegensatz zu Calmodulin ist deren exakte Funktion jedoch noch weitgehend ungeklärt. Calmodulin besteht aus einer einzelnen Polypeptidkette und besitzt 4 Bindungsstellen für Kalzium. Wenn die 4 Positionen mit Kalzium besetzt sind, ist das Protein aktiviert. Der Calcium/Calmodulinkomplex (CaM) reguliert direkt viele wichtige Enzyme (Tab. 3.1.4). Neben die-

Tabelle 3.1.4: Regulation und Zielgene bzw. Zielproteine von Transkriptionsfaktoren

a

Transkriptionsfaktor

Aktivierende Kinase

Beispiele für das Zielgen bzw. Zielprotein

CREB

Proteinkinase A (PKA) Calcium-Calmodulin-Kinase (CaM-Kinase) RSK-2 (gehört zur Gruppe der Ser/Thr-Kinasen)

Somatostatin Tyrosinhydroxylase Synapsin 1 c-Fos BDNF (brain derived neurotrophic factor)

c-Fosa

Fos-regulierende Kinase (FRK)

Tyrosinhydroxylase IGF-1 NGF

c-Juna

c-Jun NH2-terminale Kinase (JNK)

Fas-Ligand (CD95) Zyklooxygenase TNF-a , TNF-b, IL-2

NFkB

IkB-Kinase (phosphoryliert Inhibitor, der somit NFκB für Translokation in den Zellkern freigibt)

IL-1, IL-2, IL-6, IL-8 TNF-a

Dimerisierungsparameter bestimmen maßgeblich, welcher Promotor aktiviert wird.

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sen Enzymen stimuliert CaM über eine CaMKinase-Kinase (CaMKK) die Wirkung von 5 Proteinkinasen. Die wichtigste davon ist die Calcium/Calmodulin-abhängige Proteinkinase II (CaMK II). CaMK II ist angereichert in zentralen Neuronen, v. a. auf der postsynaptischen Seite. Substrate sind z. B. Tyrosin- und Tryptophanhydroxylase, Phospholipase A2, Adenylatzyklase, CREB, Calcineurin und Neurofilamentproteine. Deshalb ist CaM in ähnlicher Weise wie cAMP in Prozesse der synaptischen Neurotransmission involviert, sowohl auf präals auch auf postsynaptischer Seite. CaMK II kann im aktivierten Zustand durch Autophosphorylierung in einen stimulationsunabhängigen Zustand übergehen, welcher in LTP-(„long term potentiation“-) und Plastizitätsprozesse involviert zu sein scheint.

Rezeptortyrosinkinasen Rezeptortyrosinkinasen lösen intrazelluläre Phosphorylierungskaskaden aus. Die Rezeptoren von Wachstumshormonen werden nach ihren Liganden benannt. Bei diesen handelt es sich in der Regel um kleine Polypeptide, die auch Zytokine genannt werden und die das Wachstum bestimmter Zelltypen stimulieren. Zu den Zytokinen gehören z. B.  der epidermale Wachstumsfaktor (EGF/„epidermal growth factor“),  der von Blutplättchen sezernierte Wachstumsfaktor (PDGF/„platelet derived growth factor“),  der Nervenwachstumsfaktor (NGF/„nerve growth factor“) und  Insulin. Die Bindung neurotropher Faktoren und Zytokine spielt eine sehr wichtige Rolle in der Entwicklung, Differenzierung, Funktion und Degeneration von Nervenzellen und in der Kommunikation neuronaler Netzwerke untereinander. Struktur und Einteilung. Die Rezeptortyrosinkinasen haben eine allgemeine charakteristische Struktur: Als integrale Membranpro-

3 Neurobiologische Grundlagen

teine durchqueren sie einmal die Membran und haben eine extrazelluläre N-terminale und eine intrazelluläre C-terminale Proteindomäne. Sie können aus einer einzigen Polypeptidkette (z. B. EGF) oder aus einem Dimer (z. B. Insulin) bestehen. Die Rezeptoren wirken alle auf die gleiche Weise. Sie sind Proteinkinasen, die Phosphatgruppen auf Proteine übertragen. Nach ihrer Lokalisation unterscheidet man grundsätzlich 2 Gruppen von Proteinkinasen:  Rezeptorproteinkinasen in der Membran und  zytosolische Proteinkinasen, die sich frei im Zytosol bewegen können. Zu jeder Gruppe gehören 2 Typen von Kinasen, die danach eingeteilt werden, welche Aminosäure am Zielprotein durch sie phosphoryliert wird. Bei den Rezeptoren überwiegen die Tyrosinkinasen, dagegen handelt es sich bei den zytosolischen Kinasen meist um Serin/Threoninkinasen. Zu jeder Kinase gibt es eine für die entsprechenden Aminosäuren spezifische Phosphatase, die die Phosphorylierung und somit die Aktivierung rückgängig machen kann. Wirkungsweise. Bindet ein Ligand an den Tyrosinkinaserezeptor kommt es entweder intrazellulär zur Bildung von Second messengern (v. a. Lipide, die durch die Effektorsysteme PLC, PLA2 oder PI-Kinasen aktiviert werden) oder es kommt zu einer Proteinkinasesignalkaskade, die Second-messenger-unabhängig ist. Dabei aktiviert jede Kinase die nächste, indem sie diese phosphoryliert. Die letzte Kinase phosphoryliert in der Regel Transkriptionsfaktoren, die den Phänotyp von Zellen verändern können. Ras-Reaktionsweg. Der Reaktionsweg, der bisher am besten charakterisiert wurde, wird von Rezeptortyrosinkinasen ausgelöst und aktiviert Kinasen im Zytosol: der Ras-Reaktionsweg (vgl. Abb. 3.1.6). Das Ras-Protein ist ein membrangebundenes Protein, dessen Aufgabe es ist, an der Zelloberfläche ausgelöste Proliferationssignale in das Zellinnere zu übertragen. Bei der Transduktionskaskade wird das Signal vom Rezeptor über einen Adaptor zu Ras weitergeleitet, das wiederum zu einer Reihe von Ser/Thr-Phosphorylierungen führt. Schließlich

3.1 Neurotransmission und Signaltransduktion

wird das Endglied des aktivierten MAP-Kinase(mitogenaktivierte Proteinkinase-) Reaktionswegs ERK („extracellular signal-related kinase“, ERK1 und ERK2) in den Kern eingeschleust und phosphoryliert Transkriptionsfaktoren (ELK1 und c-Myc). ERK kann außerdem im Zytosol RSK, eine Ser/Thr-Kinase, aktivieren, welche dann in den Kern transloziert und dort den Transkriptionsfaktor CREB phosphoryliert (vgl. Abb. 3.1 6). Weitere Reaktionswege. Die durch die Aktivierung von Rezeptortyrosinkinasen initiierten Signalwege können außerdem mit der apoptotischen Maschinerie interagieren und Apoptose hemmen (Abb. 3.1.9). Hierzu gehört z. B. der PI3K/Akt-Signalweg, der durch diverse

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neurotrophe Faktoren, wie z. B. Nervenwachstumsfaktor (NGF), „brain-derived neurotrophic factor“ (BDNF), „glial cell line-derived neurotrophic factor“ (GDNF) und „insulin-like growth factor-I“ (IGF-I) aktiviert werden kann. Aktive PI3K (Phosphatidylinositol-3-Kinase) bewirkt die Phosphorylierung von Akt, das wiederum phosphoryliert, und inaktiviert das pro-apoptotische Bad und Caspase-9 (vgl. Abb. 3.1.9). Durch ein ausreichendes Angebot an neurotrophen Faktoren wird außerdem die Aktivität von c-Jun-NH2-terminale Kinase (JNK) und damit ein Signal zur verstärkten Expression pro-apoptotischer Bcl-2-Proteine unterdrückt (Yuan und Yankner 2000). Andere anti-apoptotische Signale, die u. a. durch Akt und MAP-Kinasen ge-

Abbildung 3.1.9: Apoptotische Signalwege. Bei der Oligomerisierung des Todesrezeptors durch spezifische Todesliganden werden Adaptormoleküle rekrutiert, die in die Aktivierung des JNK-Signalweges und der Caspasen-8 und -2 involviert sind. Diese können nachfolgend Caspase-3 aktivieren. Durch die Bindung von neurotrophen Faktoren an ihre Rezeptoren werden intrazellulär protektive Mechanismen über PI3K/Akt und MAP-Kinasen (MEK, Erk) induziert. Dadurch werden proapoptotische Faktoren (JNK, Bax, Bad) und die Caspase-9 gehemmt. Weitere Erläuterungen sind im Text aufgeführt.

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steuert werden, basieren z. B. auf der Aktivierung von CREB und NFkB (s. o.; vgl. auch Tab. 3.1.6), die die Transkription anti-apoptotischer Proteine induzieren können (Mattson 2000). Die Schlüsselmoleküle der neuronalen Apoptose sind eine ganze Reihe von Proteasen, die sog. Caspasen, die der Zelle den Todesstoß versetzen, indem sie lebenswichtige Proteine zerstören. Die Aktivierung der Caspasen erfolgt nach dem Schneeballprinzip: Caspasen zerschneiden andere Caspasen und aktivieren dadurch deren proteolytische Funktion. Inzwischen sind 14 Mitglieder der Caspase-Familie bekannt. Die Caspasen lassen sich funktionell in Initiator- und Effektor-Caspasen unterteilen. Erstere – auch „Upstream-Caspasen“ genannt (z. B. Caspase-8; vgl. Abb. 3.1.9) – werden auf ein membranäres Signal hin aktiviert und aktivieren Caspasen der 2. Gruppe – auch als „Downstream-Caspasen“ bezeichnet –, die prinzipiell für die Spaltung von Struktur- und Regulatorproteinen verantwortlich sind (z. B. Caspase-3; vgl. Abb. 3.1.9). Apoptose wird hierbei durch die sog. Todesrezeptoren, wie z. B. dem TNF(„tumor necrosis factor alpha“-) oder Fas-Rezeptor, induziert. In den letzten Jahren gewinnt die Untersuchung der Fehlregulation apoptotischer Mechanismen bei der Schädigung von Nervenzellen zunehmend Beachtung, und eine Beteiligung bei der Pathogenese von neurodegenerativen Erkrankungen, wie z. B. AlzheimerDemenz und Morbus Parkinson, wird derzeit diskutiert.

3.1.6 Transkriptionskopplung Die phänotypische Vielfalt beruht größtenteils auf Unterschieden in der Expression proteinkodierter Gene, also solcher, die von der RNAPolymerase II transkribiert werden. Hierbei wird eine RNA-Kette synthetisiert, die einem bestimmten Strangabschnitt einer DNA-Doppelhelix entspricht. Bevor ein Gen zur Expression gekommen ist, sind die folgenden Schritte der Reihe nach notwendig:  die strukturelle Aktivierung des Gens,  die Initiation der Transkription,

3 Neurobiologische Grundlagen

 die Prozessierung des Transkripts,  der Transport des Transkripts ins Zytoplasma,  die Translation der mRNA. Die Signal-Transduktions-Transkriptions-Kopplung umfasst demnach alle Teilschritte, die von der neuronalen Erregung zur Gentranskription erfolgen. Hierbei wird die Information des ersten Reizes – wie die synaptische Stimulation durch Neurotransmitter aber auch die humorale Stimulation z. B. durch Wachstumsfaktoren – in einen von der DNA gespeicherten Molekülkode umgewandelt (Abb. 3.1.9). Die Transkription beginnt, wenn die RNAPolymerase an einen besonderen DNA-Bereich am Anfang des Gens, den Promotor bindet. Der Promotor schließt das erste Basenpaar ein, das in RNA transkribiert wird, den sog. Startpunkt. Sequenzen, die sich vor dem Startpunkt befinden, bezeichnet man als stromaufwärts („upstream“) gelegen. Mit der RNA-Polymerase II können sehr viele Faktoren zusammenarbeiten. Sie lassen sich in 3 Hauptgruppen einteilen: Allgemeine Transkriptionsfaktoren. Diese Faktoren sind an allen Promotoren zur Einleitung der RNA-Synthese notwendig, legen die Initiationsstelle fest und bilden zusammen mit der RNA-Polymerase den basalen Transkriptionsapparat. Upstream-Faktoren. Diese sind DNA-bindende Proteine, die bestimmte DNA-Sequenzen upstream vom Startpunkt erkennen. Die Aktivität der Faktoren wird nicht reguliert, sie sind ubiquitär, wirken auf jeden Promotor mit passender Bindungsstelle und erhöhen die Effizienz des Transkriptionsstarts. Wenn ein Promotor nur Elemente enthält, die von allgemeinen und Upstream-Faktoren erkannt werden, ist er für die Transkription konstitutiver Gene („housekeeping-gene“) verantwortlich. Somit kann der Promotor in jedem Zelltyp die Transkription seines Gens in Gang setzen. Induzierbare Faktoren. Diese binden ebenfalls an bestimmte DNA-Sequenzen upstream vom Startpunkt. Sie besitzen eine regulatorische Funktion. Sie werden zu bestimmten Zeiten

3.1 Neurotransmission und Signaltransduktion

oder in bestimmten Geweben synthetisiert oder aktiviert und sind zuständig für die Kontrolle sich zeitlich oder räumlich ändernder Transkriptionsmuster. Somit lässt sich die Aktivierung von Transkriptionsfaktoren und die Expression ihrer Zielgene als eine Plastizität auf der Ebene der Genexpression begreifen. Die DNA-Sequenzen, an die sie binden, werden auch als „response“-Elemente bezeichnet. Mehrere große Familien an Transkriptionsfaktoren konnten identifiziert werden, deren Einteilung sich auf die strukturellen Merkmale der Sequenzmotive bezieht, die für die DNABindung notwendig sind (z. B. Zinkfingermotiv, Leucin-Reißverschluss, Steroidrezeptoren).

Aktivitätsregulierung von Transkriptionsfaktoren Wichtig ist es, zu verstehen, dass die Bindung eines Transkriptionsfaktors an die genregulato-

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rische DNA-Sequenz mit einer Erhöhung oder Suppression der Transkription dieses Gens einhergeht. Wie in Abbildung 3.1.10 schematisch verdeutlicht, kann die Aktivität eines induzierbaren Transkriptionsfaktors auf verschiedene Weise reguliert werden:  Die Aktivität wird durch Modifikation des Faktors kontrolliert (Beispiel: AP-1, ein Heterodimer aus den Untereinheiten c-Jun und c-Fos, wird aktiv, wenn Jun phosphoryliert wird);  durch Ligandenbindung wird der Faktor aktiviert (Beispiel: Steroidrezeptor);  der inaktive Faktor ist an die Kernhülle und an das endoplasmatische Retikulum gebunden. Bei Mangel an Sterolen (z. B. Cholesterin) wird die aktive zytosolische Domäne abgespalten, die dann im Kern als Transkriptionsfaktor fungiert;

Abbildung 3.1.10: Regulation der Aktivität von Transkriptionsfaktoren z. B. durch Modifikation, durch Bindung eines Liganden oder durch Bindung eines Inhibitors.

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 der Faktor wird durch Verfügbarkeitsänderung aktiviert (z. B. NFkB wird durch das inhibitorische Protein I-kB im Zytoplasma zurückgehalten. Bei Phosphorylierung des Inhibitors wird NFkB frei). CREB. Wie schon erwähnt ist CREB ein Transkriptionsfaktor, der z. B. über die Bildung von cAMP und PKA-Aktivierung aktiviert wird. Aktiviertes CREB, d. h. phosphoryliertes CREB (cAMP „response element binding protein“), bindet an CRE (cAMP „response element“), eine kurze DNA-Sequenz bestehend aus nur 8 Nukleotiden (5b-TGACGTCA-3b), und erhöht somit die Transkription des „downstream“gelegenen Gens. CREB ist wesentlich an der Umsetzung des synaptischen Stimulationssignals im Langzeitgedächtnis beteiligt. Zielgene von CREB sind Gene, die für Transkriptionsfaktoren (z. B. c-Fos) sowie für andere Proteine kodieren (Tab. 3.1.4).

Kaskade von Transkriptionsfaktoren Transkriptionsfaktoren wirken oftmals in einer Kaskade. So induziert CREB und eine Reihe weiterer Transkriptionsfaktoren die Gruppe der „immediate-early genes“ (IEG). Dazu gehören c-fos, fosB, c-jun, junB, junD u. a. Die Produkte dieser IEG sind selbst wiederum Transkriptionsfaktoren (induzierbare Transkriptionsfaktoren wie z. B. c-Jun, c-Fos, JunB, FosB), denen eine bedeutende Rolle in der neuronalen Genregulation zukommt, da sie die Genexpression verstärken und spezifizieren. Jun und Fos, die zur AP-1-(„activator protein-1“-)Familie gehören, sind der Klasse der Leucin-Reißverschluss-Transkriptionsfaktoren zuzuordnen. Sie neigen dazu, mit sich selbst oder mit anderen Transkriptionsfaktoren (z. B. JunB, JunD, AFT-4, NFAT) Homo- bzw. Heterodimere (z. B. AP-1 bestehend aus einer c-Junund einer c-Fos-Untereinheit) zu bilden. Die Fähigkeit zur Dimerisierung ist von entscheidener Bedeutung für die Interaktion dieser Faktoren mit der DNA. Die Dimerisierungspartner bestimmen maßgeblich, welcher Promotor aktiviert wird. Der bloße Nachweis der Expression eines Transkriptionsfaktors sagt demnach

3 Neurobiologische Grundlagen

noch nichts Genaues über seinen funktionalen Zustand aus. Wie der Name schon sagt, werden IEG sehr rasch exprimiert. Schon nach 30 min werden sie als Antwort auf einen adäquaten Reiz hin exprimiert, während im Ruhezustand der Zelle, also in Abwesenheit eines Stimulus, nur sehr niedrige Spiegel an Fos und Jun vorliegen. Viele Stimuli, die Second messenger generieren (z. B. cAMP, Kalzium), können über die Aktivierung von CREB oder anderer Transkriptionsfaktoren sehr rasch die Expression von Fos induzieren (vgl. Abb. 3.1.6.b), indem sie an den c-fos-Promotor binden. Von daher können c-fos und andere IEG als wichtige Marker des neuronalen Aktivierungsgrades fungieren. Dimere. Fos vermag allein nicht an DNA zu binden, wahrscheinlich weil es – im Gegensatz zu Jun – keine Homodimere bilden kann. Das Jun-Fos-Heterodimer indes bindet mit der gleichen Sequenzspezifität an DNA wie das JunJun-Homodimer. Die Affinität des Heterodimers für die AP-1-Zielsequenz ist allerdings etwa 10mal so hoch wie die des Jun-Homodimers. Der Nachweis der c-Fos-Expression wird demnach auch als Nachweis der Aktivität von AP-1 angesehen und allgemein akzeptiert. Ähnlich CRE stimuliert die aktivierte AP-1-Bindungsstelle die Transkription des downstream-gelegenen Gens. Der Mechanismus der Aktivierung und Wirkungsweise von Fos und Jun sind in Abbildung 3.1.6 b und Tabelle 3.1.4 zusammengefasst. Ein anderes Beispiel ist die Dimerisierung von Fos oder Jun mit ATF-Proteinen, die zur Bindung an die CRE-DNA-Sequenz führt. Induzierbarkeit. Die Induzierbarkeit von c-Jun und c-Fos ist verschieden. Allgemein kann man sagen, dass c-Fos ein Mediator der synaptisch-regulierten Genexpression ist, währen cJun überwiegend degenerativ-regenerative und immunologische Signale vermittelt (die Involvierung von c-Jun, das über JNK aktiviert wurde, in neurodegenerativen Prozessen wird z. B. bei der Alzheimer-Demenz diskutiert; vgl. Tab. 3.1.4 und Abb. 3.1.10). Im Hinblick auf psychiatrische Erkrankungen bedeutet dies, dass ihre neurobiochemischen Grundlagen nicht notwendigerweise auf Neurotransmitter und ihre Rezeptoren beschränkt sein müssen, sondern auch im Bereich transsy-

3.1 Neurotransmission und Signaltransduktion

naptischer Prozesse (z. B. Signaltransduktionskaskaden) liegen können (Duman et al. 1999). Umgekehrt bedeutet dies, dass die Wirkung von Psychopharmaka nicht auf den synaptischen Spalt beschränkt ist. Vielmehr beeinflussen Medikamente, die mit der Neurotransmission interagieren, auch nachfolgende intrazelluläre Signalprozesse, einschließlich der Genexpression (Thome et al. 2000). Interessanterweise scheinen beispielsweise Antidepressiva insbesondere solche Gene zu beeinflussen, die in die Aufrechterhaltung neuronaler Plastizität involviert sind (Thome et al. 2002). Neben der erwähnten cAMP-PKA-CREB Signaltransduktionskaskade, die insbesondere bei serotoninergen und noradrenergen Neuronen eine wichtige Rolle spielt, gibt es eine Vielzahl weiterer solcher Kaskaden: Beispielhaft wären die MAPK-, p38K-, und JNK-Kaskaden zu nennen (Thome 2005).

3.1.7 Neuroanatomische Aspekte Regelkreise und Gleichgewichtshypothesen Unter physiologischen Bedingungen wird ein ungestörtes Funktionieren des Gehirns durch ein komplexes Ineinandergreifen der verschiedenen Neurotransmittersysteme und eine komplizierte Interaktion der einzelnen zentralnervösen Funktionssysteme gewährleistet („Symphonie der Synapsen“). Vermutlich haben neuroanatomische oder neurobiochemische Störungen in einem Neurotransmittersystem bzw. in einer zerebralen Funktionseinheit immer auch Alterationen in anderen Systemen zur Folge. Daher kann die Physiologie ebenso wie die Pathophysiologie des ZNS nur dann zufriedenstellend erfasst werden, wenn Modelle zur Anwendung kommen, die die Verschaltungen und Interaktionen zentralnervöser Strukturen und Transmittersysteme berücksichtigen. Die verschiedenen Transmittersysteme befinden sich in einer fein abgestimmten Balance, die mit einer Waage mit multiplen Gleichgewichten zwischen multiplen Transmittern und Modulatoren verglichen werden kann. Unter-

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schiedliche Einzeleffekte können zu ähnlichen Nettoeffekten führen. Darüber hinaus müssen zeitliche Veränderungen und die Fähigkeit zur neuronalen Plastizität berücksichtigt werden. Solche komplexen, sich aus multiplen Faktoren zusammensetzende Modelle werden den realen Verhältnissen dennoch sicher eher gerecht als einfache Monotransmittermodelle (Birkmayer und Riederer 1986). Gleichzeitig muss die neuroanatomische Strukturierung des Gehirns mit seinen verschiedenen, miteinander interagierenden und unterschiedlich vulnerablen Funktionssystemen beachtet werden.

3.1.8 Neurochemische Regelkreise Die frühen Versuche die Interaktion von Neurotransmitter zu beschreiben haben 1972 zur Arbeitshypothese einer Balance der biogenen Amine als Voraussetzung normalen menschlichen Verhaltens geführt (Birkmayer et al. 1972). Die –zig bis millionenfachen Möglichkeiten der Interaktion von Nervenzellen mit Axon, Dendritenbaum und deren „Dornen“ spiegeln dieses Konzept auch heute noch wider. Es bestehen Fließgleichgewichte innerhalb der Nervenzellen und Homöostasen. Die Interaktion der Transmitter kann zwei, drei oder mehr Nervenzellverbindungen umfassen und in Regelkreisen münden. Dadurch wird die Funktion verschiedener Gehirnregionen gekoppelt und der Output des Systems als dessen Funktionsintegral in Form von Verhalten dargestellt (Birkmayer und Riederer 1986; Alexander et al. 1986; Carlsson 1988). Dabei wird die Funktion erregender und hemmender Neurotransmitter integriert. Der wichtigste erregende Neurotransmitter ist Glutamat, der hemmende Gammaaminobuttersäure (GABA). Regelkreise, welche diese beiden Neurotransmitter interaktiv verbinden und zusätzlich mit biogenen Transmittern verknüpft sind, z. B. Dopamin, Serotonin, Noradrenalin, sind der sogenannte „Motorloop“ sowie Regelkreise, welche limbische Regionen einschließen. Alle aber benutzen die Verknüpfung kortikaler Areale mit striatalen und thalamischen Subarealen.

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Als entscheidendes Eingangsfilter sensorischer Informationen gilt der Thalamus. Über seine Subareale bedient er verschiedene Regelkreise, welche Motorik und Psyche und deren Interaktion steuern (Carlsson 2006; MehlerWex et al. 2006). Abbildung 3.1.11 beschreibt den Grundgedanken eines „BasalganglienThalamus-Kortex“ Regelkreises. Die unterschiedlichen Anteile des Striatums, Putamens und Nucleus Caudatus sind an verschiedene Regelkreise gekoppelt. Das Putamen wird mit motorischen Leistungen verknüpft, während der Nucleus Caudatus und der Nucleus Accumbens Eingangsstationen des „limbischen Regelkreises“ sind. Das Striatum bedient je nach Art des kortiko-striatalen Eingangssignals drei verschiedene anatomisch-funktionale Areale: (1) das sensorisch-motorische Areal, welches sensorische und motorische Informationen verarbeitet und weiter leitet, (2) das assoziative Areal, welches kognitive Informationen prozessiert und (3) das limbische Areal, welches emotionale und motiv-assoziierte Informationen verarbeitet (Alexander et al. 1986).

3 Neurobiologische Grundlagen

Alexander und Crutcher (1990) beschreiben fünf solcher Regelkreise, die unterschiedliche Verhaltensmuster steuern. Mittels pharmakologischer Studien und Überlegungen war es daher auch möglich, Veränderungen dieser Regelkreise bei Schizophrenie, Parkinson-Krankheit, Attention Deficit hyperactivity disorder (ADHD) und anderen zu beschreiben (Carlsson 2006; Mehler-Wex 2006; Foley und Riederer 2000). Ein wesentlicher Aspekt der Regelkreise ist die in sich gesteuerte Aktion erregender und hemmender Transmitter. Daher existieren jeweils zwei gegeneinander gerichtete parallele Bahnen, die vom Striatum ausgehen und ihre jeweilige Aktivität an die Output-Kerne der Basalganglien weiterleiten, wo sie integral verarbeitet und als Summenintegralfunktion an den Thalamus weitergeleitet werden. Die „direkte“ vom Striatum ausgehende Bahn enthält die inhibitorischen Efferenzen von GABA, ko-lokalisiert mit Substanz P. Diese Bahn übt daher einen inhibitorischen GABA-induzierten Effekt auf den Thalamus aus. Die „indirekte“ Bahn nutzt striatale Projektionen, die GABA ko-lokalisiert mit Enkephalin nutzen und den Globus pallidus internus und den Nucleus sub-

Abbildung 3.1.11: Vereinfachte Darstellung der Neuroanatomie, Neurochemie und Funktion eines neuronalen Regelkreises: die so genannte motorische Schleife (Motor Loop, nach Alexander und Crutcher, 1990), DA, Dopamin; GABA, m-Aminobuttersäure; Glu, Glutamat; GPI, Globus pallidus pars lateralis; GPm, Globus pallidus pars medialis; SNc, Substantia nigra pars compacta; SNr. Substantia nigra pars reticulata; STN, Nucleus subthalamicus

Literatur

thalamicus (GABA allein) innervieren. Dort vernetzen sie mit glutamatergen Nervenzellen, welche den Globus pallidus externus exzitatorisch versorgen. Der GABAerge Output des Globus pallidus externus wird daher von der direkten und indirekten Bahn des Striatums gesteuert. Obwohl parallel angeordnet, üben direkte und indirekte Bahn unterschiedliche Wirkung auf die Outputkerne der Basalganglien aus. So ist es möglich, dass die direkte Bahn zur positiven Rückkopplung zu präzentralen Motorarealen beiträgt, während die indirekte Bahn negative Rückkopplung stimuliert. Der motorische Regelkreis ist daher in der Lage, unerwünschte Aktivität zu verhindern und eine automatische Durchführung gewünschter Bewegungen zu ermöglichen. Aktivierung der direkten Bahn ist daher mit Bewegungszunahme verbunden, während Aktivierung der indirekten Bahn Bewegungsreduktion verursacht. Störungen der Regelkreise sind daher mit Erkrankungen motorischer Funktion wie z. B. Parkinson Krankheit und Chorea Huntington verbunden. Es ist aber wahrscheinlich, dass auch Erkrankungen wie Sucht, Schizophrenie (ähnliche Symptome), ADHD und Zwangserkrankungen mit pathologischen Veränderungen bestimmter Regelkreise einhergehen (Carlsson 2000, 2006; Mehler-Wex et al. 2006).

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3.2 Pharmakologische Grundlagen W. E. Müller

Aufgrund der zentralen Rolle der chemischen Neurotransmission und der damit verbundenen Signaltransduktionswege für die Kommunikation innerhalb des Netzwerkes von Nervenzellen in unserem Gehirn (s. Kap. 3.1) ist es folgerichtig, dass fast alle Psychopharmaka über einen Angriff in die zentrale chemische Neurotransmission wirken. Hierbei können praktisch alle prä- und postsynaptischen Mechanismen (Abb. 3.2.1) zentraler Synapsen beeinflusst werden. Daneben können Psychopharmaka auch über andere Mechanismen auf zellulärer Ebene wirken, die eher für die generelle Regelung von Erregbarkeit bzw. Hemmbarkeit von Nervenzellen verantwortlich sind. Hierzu gehören Mechanismen wie Ionenkanäle oder Ionentransporter (z. B. verschiedene Antikonvulsiva), Second Messenger-Systeme wie cAMP und cGMP (z. B. Phosphodiesterase-Hemmstoffe), Inositolphosphate (Lithium) und Steuerung der Gen-Transkription (verschiedene Hormone). Trotz großer Anstrengungen in dem Gebiet der intrazellulären Signalweitergabe, wirken allerdings die meisten unserer in die Therapie eingeführten Psychopharmaka noch über die klassischen Mechanismen der chemischen Neurotransduktion. Dies deckt sich allerdings mit der Neurophysiologie unseres Ge-

hirns, da die individuelle Steuerung der Erregbarkeit der Nervenzellen auch primär durch die extrazelluläre Neurotransmission erreicht wird, intrazelluläre Mechanismen hauptsächlich für die individuelle Antwort verantwortlich sind. Eine wichtige Ausnahme sind die meisten Phasenprophylaktika oder mood stabilizer, die meist direkt die Erregbarkeit von Nervenzellen reduzieren, häufig über Veränderungen von Ionenleitfähigkeitsmechanismen. Dies ist vor dem Hintergrund, dass die Substanzen häufig primär als Antikonvulsiva eingesetzt werden, nicht weiter verwunderlich.

3.2.1 Zentrale Angriffspunkte Transmittersynthese Veränderungen der Biosynthese von Neurotransmittern (vgl. Kap. 3.1) spielen für den Wirkungsmechanismus von Psychopharmaka nur eine geringe Rolle. Das klassische Beispiel für einen solchen Mechanismus ist die Verstärkung der relativen dopaminergen Unteraktivität im nigrostriatalen dopaminergen System durch die Gabe der DA-Vorstufe L-Dopa und deren erfolgreicher Einsatz in der Behandlung der Parkinson-Erkrankung. Man hat ver-

64

3 Neurobiologische Grundlagen

Te rminale s E nde eines A xo ns

A

B

L Mitocho ndriu m Vesikel

K

Eine Beeinflussung der Neurotransmittersynthese sieht man bei einigen „Mood Stabilizern“ (z. B. Hemmung der GABA-Synthese durch Valproinsäure, Kap. 3.2.4) und auch bei Substanzen, die als Forschungsinstrumente in der experimentellen Psychopharmakologie dienen, wie z. B. p-Chlorphenylalanin (Hemmung der Tryptophansynthese) oder α-Methylparatyrosin (Hemmstoff der Catecholaminsynthese).

C Präs yn aptische Me mb ran

I D

J H G liazelle

E G

S y n a p t is c h e r Sp a lt Pos tsy naptische Me mb ran

F

F unktio nsprinzipien einer Synapse

Abbildung 3.2.1: Schematische Darstellung einer chemischen Synapse als Kommunikationsprinzip zwischen 2 Nervenzellen. Der Transmitter oder seine Vorstufe – werden von spezifischen Systemen ins Neuron aufgenommen (A). Der aufgenommene bzw. aus der Vorstufe im Neuron synthetisierte Transmitter wird über axonalen Transport an die Nervenendigungen transporter (B) und dort in Vesikeln gespeichert (C). Durch ein Aktionspotential des Axions und ein damit verbundener Ca2+-Einstrom wird der Transmitter durch Exozytose aus den Vesikeln in den synaptischen Spalt freigesetzt (D) und kann nach Diffusion (E) mit Rezeptoren auf der post-synaptischen Seite reagieren (F). Die Inaktivierung des Transmitters erfolgt durch Abbau oder Aufnahme an der postsynaptischen Seite (G) durch Rückdiffusion (H) und Aufnahme ins präsynaptische Neuon (I) bzw. in Synapse-begleitende Gliazellen (J).

sucht, weitere ähnliche rationale Pharmakotherapien zentralnervöser Erkrankungen, bei denen als Ursache ein relativer Mangel eines bestimmten Neurotransmitters vermutet wird, zu entwickeln. Beispiele hierfür wären die Behandlung der Alzheimer-Erkrankung mit Acetylcholinvorstufen wie Cholin und Lezithin oder die Depressionsbehandlung mit L-Tryptophan bzw. 5-Hydroxytryptophan. Im Gegensatz zu den guten therapeutischen Erfolgen der L-Dopa-Behandlung des M. Parkinson haben die anderen Behandlungsstrategien keine oder nur minimale klinische Erfolge gezeigt. Ebensowenig erfolgreich waren Behandlungsversuche der Depression mit der NA-Vorstufe L-Tyrosin.

Transmitterfreisetzung Während die durch Exozytose vermittelte Freisetzung des Transmitters in die Synapse als Angriffspunkt von Psychopharmaka keine Rolle spielt, aber z. B. den Wirkungsmechanismus von Botulinustoxin an der cholinergen Synapse darstellt, ist eine Beeinflussung regulativer Faktoren der Transmitterfreisetzung als Wirkungsmechanismus von Psychopharmaka durchaus relevant. Zum Beispiel kann die Menge des synaptisch freigesetzten Noradrenalins durch inhibitorische Autorezeptoren (vom α2-Typ) im Sinne einer negativen Rückkopplung reguliert werden. Autorezeptoren können entweder die Menge des freigesetzten Transmitters beeinflussen oder können auch seine Syntheserate regulieren. Eine Blockade inhibitorischer α2-Rezeptoren und einer damit verbundenen initialen Erhöhung der NA-Konzentration an zentralen Synapsen spielt für die Wirkung des Antidepressivums Mirtazapin eine große Rolle (Kap. 3.2.3). Darüber hinaus ist eine Blockade inhibitorischer dopaminerger Autorezeptoren (vom Typ D2) im Gesamtwirkungsspektrum von Neuroleptika, v. a. bei ihrem Einsatz in niedriger Dosierung als Tranquilizer, von Bedeutung (Kap. 3.2.5). Inaktivierung Um eine repetitive Aktivierung postsynaptischer Rezeptoren zu ermöglichen, muss der in die Synapse freigesetzte Transmitter sehr schnell wieder aus der Synapse entfernt werden. Neben enzymatischem Abbau sind hier vor allen Dingen die Wiederaufnahme ins präsynaptische Neuron bzw. die Aufnahme in die Synapse umgebende Gliazellen von Bedeutung. Der Wiederaufnahme-Carrier befördert den Transmitter mit hoher Affinität. Er erlaubt ein „Recycling“

65

3.2 Pharmakologische Grundlagen

des Transmitters. Den Nachbarzellen fehlen solche hochaffinen Carrier oft, und in ihnen folgt der Aufnahme stets der Abbau. Für Dopamin, Noradrenalin, Serotonin, Glutamat, GABA und Glycin gibt es jeweils verschiedene spezifische Wiederaufnahme-Carrier im präsynaptischen Axolemm. Sie sind nicht verwandt mit den vesikulären Carriern. Der Wiederaufnahme-Transporter für Noradrenalin wird z. B. durch das Antidepressivum Desipramin, nicht aber durch Reserpin blockiert, das nur die vesikuläre Speicherung von Monoaminen (Abb. 3.2.5) zu blockieren vermag, wobei der primäre Effekt eine Hemmung des vesikulären Transporters ist. Eine Blockade dieser Inaktivierungsmechanismen stellt einen für Psychopharmaka wichtigen Angriffspunkt dar (Abb. 3.2.2). So blockieren z. B. viele klassische Antidepressiva die neuronale Wiederaufnahme der Transmitter Noradrenalin und Serotonin. Inhibitoren des u. a. in den Mitochondrien (vgl. Abb.3.2.2) lokalisierten Enzyms MAO hemmen den intra-

und extraneuronalen Abbau aminerger Transmitter. Verschiedene Substanzen, die über eine Hemmung der Acetylcholinesterase die synaptische Konzentration von Acetylcholin im ZNS erhöhen, werden z. Z. für die Behandlung der Alzheimer-Erkrankung therapeutisch genutzt.

a

b

Rezeptoren Die Informationsweitergabe wird auf der postsynaptischen Seite von Rezeptoren übernommen, die vom freigesetzten Transmitter besetzt werden und das hierüber ausgelöste Signal dann über verschiedene Transduktionsmechanismen in das rezeptive Neuron weiterleiten (Kap. 3.1). Ähnlich wie im peripheren Nervensystem ist dieser Teil der chemischen Neurotransmission im ZNS ein ganz wesentlicher Angriffspunkt für Pharmaka. Neben Agonisten, die die Funktion des physiologischen Transmitters nachahmen, gibt es hier Antagonisten, die durch eine Blockade der Rezeptoren die Informationsweitergabe unterbinden. In den letzten Jahren

α2

5- HT 1 A (s om at ode n triti sc he Au tore ze pt or en )

(s omat od en tritis ch e Aut or ez eptor en) akt iv ie r ende α1- Rez ept o ren ve siku lä r ge sp eic he rte s Nor ad r enalin (N A)

MAO -A

ve sik ul är ge sp eic he rte s Se ro to ni n (5 -H T)

M A O- A

α2

NA -T ran sp ort

5-H T -Tra ns p ort

(prä sy naptischer He te ro re zeptor )

α2

5-H T 1B (R a tte ) 5-H T 1D (M en sc h)

(p rä syna pt isc her A u to re ze pt or )

β G- P rot ei n A de nylat zy kla se

α1

5- HT 1A

PLC

G- Pr ot ein

(präsynaptischer A utorezeptor)

5- HT 2A

PLC

Ade ny la tzy kla se

Abbildung 3.2.2: Effekte verschiedener Antidepressivagruppen an noradrenergen (a) und serotoninergen (b) zentralen Synapsen.

66

bekommen sog. partielle Agonisten eine zunehmende Bedeutung. Sie können zwar den Rezeptor aktivieren, die Signalübertragung in das rezeptive Neuron ist aber abgeschwächt. In Gegenwart hoher synaptischer Konzentrationen des physiologischen Transmitters wirken sie eher als Antagonisten.

3.2.2 Adaptionsphänomene und klinischer Wirkungseintritt Die bisher beschriebenen Effekte sind alle mehr oder weniger akuter Natur, d. h. nach Applikation des Psychopharmakons sind sie in relativ kurzer Zeit nachweisbar. Dieser sehr schnellen akuten pharmakologischen Wirkung steht bei einer Reihe von Psychopharmaka als Gegensatz der Zeitver lauf der gewünschten klinischen Wirkung, die sich oft erst über einen Zeitraum von Tagen oder Wochen ausbildet. Dies hat zu der Annahme geführt, dass die oben beschriebenen akuten Effekte möglicherweise nicht den eigentlichen Wirkungsmechanismus einer Reihe von Substanzen darstellen, sondern dass sie nur den Anstoß zu adaptiven Veränderungen der Funktionalität bestimmter zentraler Neurone geben. Die extrem komplexe Verschaltung aller zentraler Neurone untereinander bringt es mit sich, dass viele zentrale Neurone zu einer Reihe von adaptiven Leistungen fähig sind, d. h. sie können ihren Funktionszustand den vorliegenden Bedingungen anpassen und damit überschießende oder ungenügende Aktivitäten in bestimmten Bereichen des ZNS kompensieren bzw. ausgleichen. Dies kann in größeren Regelkreisen erfolgen, in die verschiedene Neurone involviert sind, dies kann aber auch schon an einer einzelnen Synapse passieren, wo in vielen Fällen die postsynaptische Seite in der Lage ist, Perioden chronischer Über- bzw. Unteraktivität der Präsynapse durch bestimmte Adaptationen der Rezeptorkonzentration, aber auch der Rezeptorfunktionalität zu kompensieren. Adaptionsphänomene bei Antidepressiva Wichtigstes Beispiel dafür, dass der eigentliche Wirkungsmechanismus von Psychopharmaka

3 Neurobiologische Grundlagen

mit der Ausbildung solcher kompensatorischer Mechanismen verbunden ist, sind die Antidepressiva. Bei den Antidepressiva geht man heute davon aus, dass, z. B. angestoßen durch die akute Blockade der neuronalen Wiederaufnahme und der damit verbundenen initialen Konzentrationserhöhung der Transmittersubstanzen Noradrenalin bzw. Serotonin in den jeweiligen Synapsen, solche adaptiven Veränderungen auf der postsynaptischen Seite ausgelöst werden. Diese Veränderungen lassen sich im noradrenergen wie auch im serotoninergen System finden und betreffen Veränderungen von Dichte und Funktionalität der postsynaptischen Rezeptoren. Die heutigen Vorstellungen solcher adaptiver Veränderungen an der serotoninergen Synapse, wie sie von sehr vielen Antidepressiva ausgelöst werden, sind in Abbildung 3.2.3 zusammengefasst. Hiermit soll auch die Komplexität dieser Phänomene alleine auf der Ebene der klassischen Neurotransmission dokumentiert werden. Weitere Adaptionsphänomene Ein anderes Beispiel für adaptive Veränderungen der Funktionalität zentraler Neurone, die wahrscheinlich sehr eng mit dem eigentlichen Wirkungsmechanismus von Psychopharmaka verbunden sind, wäre der sich erst langsam ausbildende Depolarisationsblock dopaminerger Neurone des mesolimbischen bzw. nigrostriatalen dopaminergen Systems unter chronischer Therapie mit Neuroleptika (Kap. 3.2.5).

3.2.3 Psychopharmakologische Grundlagen der Antidepressiva Der Wirkungsmechanismus der Antidepressiva ist trotz intensiver Forschungsarbeiten in den letzten 50 Jahren noch nicht vollständig aufgeklärt, obwohl die neurobiochemischen Effekte antidepressiver Substanzen relativ gut bekannt sind. Jedoch herrscht über den Stellenwert dieser Wirkungen für die Beeinflussung der Depression weiterhin Unklarheit, da wegen des Fehlens valider Modelle der Depresison die biochemischen Grundlagen der Depression letzt-

3.2 Pharmakologische Grundlagen

67

Abbildung 3.2.3.: Mögliche adaptive Veränderungen verschiedener Mechanismen der serotoninergen Neurotransmission unter chronischer Gabe von Antidpressiva, 5-HT5-Hydroxytryptophan/Serotonin, MAO Monoaminoxidase, PLC Phospholipase C. (Nach Leonhard 1995, 1996; Müller und Eckert 1997).

lich noch nicht geklärt sind (Müller 1997; Frazer 1997; Leonhard 1995, 1996; Müller 2006; Ebmeier et al. 2006). Wirkung an der monoaminergen Synapse Seit der Entdeckung der thymoleptischen Wirkung von Imipramin vor über 50 Jahren steht bei der Erforschung der Wirkungsmechanismen von Antidepressiva die Übertragung an monoaminergen Synapsen des ZNS im Mittelpunkt des Interesses. Zunächst bezogen sich die biochemischen Hypothesen über die Ursachen der Depression auf einen Mangel an Transmittern im synaptischen Spalt, später auch auf eine reduzierte Sensibilität postsynaptischer Rezeptoren. Die Wirkungsweise der Antidepressiva wurde als ein spezifischer Effekt (s. u.) auf diese hypothetischen Defizite angesehen. Bis heute gibt es praktisch kein sicher wirksames Antide-

pressivum, das nicht zu mindest auch über die Monoamine wirkt (Berton and Nestler 2005). Wirkungen im gesamten neuronalen System Zunehmend wird neuerdings auch die Möglichkeit diskutiert, dass die antidepressive Wirkung der Antidepressiva monokausal nicht spezifischen synaptischen Prozessen zuzuschreiben ist. So vermuten bereits Paioni et al. (1983), dass monoaminerge Synapsen lediglich als besonders günstige Interventionspunkte zur pharmakologischen Beeinflussung neuronaler Systeme zu betrachten sind, und zwar im Sinne eines Anstoßes einer langsamen Normalisierung des zuvor gestörten Gesamtregulationssystems. Hierfür sprechen die unter allen Antidepressiva nachweisbaren adaptiven Veränderungen in vielen Neurotransmittersystemen, die häufig über primär beeinflusste Systeme hinausgehen

68

(s. o.) und die Tatsache, dass die primär von den Antidepressiva angestoßenen zentralen Transmittersysteme (Noradrenalin, Serotonin, Dopamin) modulierend viele unterschiedliche anatomische Strukturen und fast alle Funktionsabläufe des ZNS beeinflussen. Auch Stassen et al. (1996) kommen über die Auswertung von Zeitverläufen unter Antidepressiva und Placebotherapie zu dem Schluss, dass die Antidepressiva eher nur einen physiologisch ablaufenden Normalisierungsprozess beschleunigen. Neuordnung statt Defizitregulierung Dies würde bedeuten, dass weder die akut zu sehenden pharmakologischen Effekte (Aminwiederaufnahmehemmung, MAO-Hemmung) noch die mit einer gewissen Latenzzeit auftretenden adaptiven Veränderungen verschiedener Signaltransduktionsmechanismen direkt neurochemische Defizite der Depression korrigieren, sondern nur Ausdruck einer Neuordnung bestimmter Funktionen der zentralen Neurotransmission darstellen, die letztlich zur depressionslösenden Wirkung beim Patienten führen. Da viele sehr unterschiedliche Substanzklassen (Trizyklika, SSRI, MAO-Hemmer, Johanniskrautextrakt), aber auch Therapiemaßnahmen wie Elektrokrampftherapie (EKT) und Schlafentzug auf der Ebene der adaptiven Veränderungen konvergieren, könnte diese „Neuordnungshypothese“ erklären, dass viele pharmakologisch sehr unterschiedliche antidepressive Therapiemaßnahmen klinisch gesehen doch sehr analoge Wirkungen zeigen können. Ein wichtiges Argument für diese Hypothese ist auch die Tatsache, dass diese adaptiven Veränderungen auch im Tierexperiment eine gewisse Latenz zeigen (1–2 Wochen), was wiederum besser mit der verzögert auftretenden antidepressiven Wirkung am Patienten korreliert als die akuten Effekte. Wirkung durch Wiederaufnahmehemmung Das biochemische Profil der Antidepressiva wird hauptsächlich abgeleitet aus den akuten Wirkungen auf die NA- und Serotoninwiederaufnahmehemmung (Abb. 3.2.2 und 3.2.3) und den mit einer gewissen Latenz auftretenden

3 Neurobiologische Grundlagen

adaptiven Veränderungen bestimmter zentraler Signaltransduktionsmechanismen (vgl. Abb. 3.2.3 und 3.2.7). Wir unterscheiden somit zwischen  selektiven NA-Wiederaufnahmehemmern (z. B. Nortryptilin, Maprotilin und besonders Reboxetin) bzw.  hochselektiven Serotoninwiederaufnahmehemmern (z. B. alle SSRI) und  solchen Antidepressiva, die bezüglich dieser beiden Systeme z. T. auch über aktive Metabolite einen gemischten Einfluss haben (z. B. Amitriptylin, Imipramin, Clomipramin und Venlafaxin. Von den z. Z. bei uns zugelassenen Antidepressiva hemmt nur Buproprion (Gartlehner et al. 2008) in relevantem Maß die DA-Wiederaufnahme. Eine weitere Ausnahme bildet Johanniskrautextrakt, das etwa gleichstark die synaptosomale Aufnahme von Serotonin, Noradrenalin und Dopamin hemmt (Müller 2003). Wirkung auf Rezeptoren Neben diesem Charakteristikum ist aber auch der Effekt der einzelnen Antidepressiva auf die prä- und postsynaptischen Rezeptoren für das Profil zu berücksichtigen, die allerdings weniger für die antidepressive Wirkung (Ausnahme a2-Antagonismus, primärer Wirkungsmechanismus bei Mirtazapin), sondern eher für erwünschte (Sedation, Anxiolyse) besonders aber für die vielen unerwünschten (vegetativen) (Neben)wirkungen der Antidepressiva verantwortlich sind (Tab. 3.2.1 und 3.2.2). Wirkung durch verzögerten Abbau Auch die reversiblen und irreversiblen MAOHemmer passen in dieses Schema, da sie über eine Hemmung des enzymatischen Abbaus von Noradrenalin und Serotonin letztlich auch zu einer erhöhten synaptischen Verfügbarkeit beider Transmitter führen. Klinische Wirkprofile In Anbetracht der erheblichen Unterschiede in den pharmakologischen Profilen zwischen den Antidepressiva stellt sich zwangsläufig die Frage, inwieweit diese für die klinische Wirkung

69

3.2 Pharmakologische Grundlagen

Tabelle 3.2.1: Inhibitionskonstanten und Rezeptorprofile der wichtigsten Antidepressiva für die Hemmung der neuronalen Wiederaufnahme von Noradrenalin und Serotonin. Das 5HT Selektivitäts-Verhältnis gibt an, um wie viel die Substanz die Serotonin-Aufnahme stärker als die Noradrenalin-Aufnahme hemmt. NA-Auf- 5-HT-Auf- 5-HT-Senahme nahme lektivität

H1- Rezeptor

M-Rezeptor

a1-Rezeptor

a2-Rezeptor

5-HT2Rezeptor

TZA Amitriptylin

14

84

0.17

1

10

24

940

Clomipramin

28

5

5.6

31

37

38

>1000

54

Desipramin

0.6

180

0.003

60

66

100

>1000

350

Dosulepin

34

110

0.3

3.6

25

470

2400

258

Doxepin

18

220

0.08

0.2

23

24

>1000

27

Imipramin

14

41

0.3

37

46

32

>1000

150

Lofepramin

2

2400

0.001

360

67

100

2700

200

Maprotilin

7

>1000

0.002

2

570

90

>1000

120

Mianserin

42

>1000

0.01

0.4

820

34

73

7

>1000

>1000

0.5

500

500

10

5 41

Mirtazapin Nortriptylin

18

2

154

0.01

6

37

55

>1000

5000

190

26

350

>>1000

36

490

7

Trimipramin

510

>1000

0.02

0.3

58

24

680

32

Viloxazin

170

>1000

0.01

>1000

>>1000

>1000

>>1000

>1000

Trazodon

SSRI Citalopram

>1000

1

3076

470

>1000

>1000

>1000

>1000

Fluoxetin

143

14

10

>1000

590

>1000

>1000

280

Fluvoxamin

>1000

500

7

71

>1000

>1000

>1000

>1000

Paroxetin

33

0.7

47

>1000

110

>1000

>1000

>1000

Sertralin

220

3

73

>1000

630

380

>1000

>1000

Venlafaxin

210

39

5

>1000

>1000

>1000

>1000

>1000

der Präparate von Bedeutung sind. Von verschiedenen Autoren wurde versucht, die klinischen Wirkungsprofile der Antidepressiva untereinander abzugrenzen. Die bekannteste von Kielholz (1971) vorgeschlagene schematische Darstellung unterscheidet 3 Wirkungsmerkmale (Antriebssteigerung, Stimmungsaufhellung und Anxiolyse) der Antidepressiva, ohne dass es in klinischen Studien bis heute gelungen ist, Antidepressiva mit unterschiedlichem Wirkungsprofil für syndromal verschiedene Subgruppen von Depressiven eindeutig zu klassifizieren (Gartlehner et al. 2008). Auch im Hinblick auf die stimmungsaufhellende, also eigentlich antidepressive Kernwirkung, ist es nicht gelungen, quantitative Unterschiede zu belegen. Wenn man heute auch das Kielholz-Schema verlassen hat, benutzt man doch gerne Schemata wie in

Abbildung 3.2.4 gezeigt, mit bestimmten Zielsymptomen innerhalb des depressiven Syndroms für eine pharmakologische Beeinflussung der einzelnen Transmittersysteme. Diese beruhen aber auch nur auf der klinischen Wahrnehmung und Erfahrung und sind nicht Evidenz-basiert belegt. Die unterschiedliche pharmakologische Wirkung steht eher in einer Beziehung zu den typischen Nebenwirkungen als zu den therapeutischen Effekten dieser Präparate. So scheinen im Gegensatz zu den Trizyklika die SSRI weniger sedativ zu wirken und häufiger Schlafstörungen, innere Unruhe und Tremor hervorzurufen. Man geht daher heute davon aus, dass sich die Antidepressiva in ihrer eigentlichen antidepressiven Kernwirkung eher nicht unterscheiden, sich aber aufgrund ihrer unterschiedlichen

70

3 Neurobiologische Grundlagen

Tabelle 3.2.2: Mögliche unerwünschte Arzneimittelwirkungen der Hemmung der neuronalen Wiederaufnahme von Noradrenalin (NA), Serotonin (5-HT) und Dopamin (DA) und der Blockade von Neurorezeptoren Wiederaufnahmesysteme

Unerwünschte Wirkungen

NA-Wiederaufnahme

– – – – –

Verstärkung der Effekte von Sympathomimetika Tachykardie Blutdrucksteigerung Unruhe,Tremor Erektions- bzw. Ejakulationsstörungen

5 HT-Wiederaufnahme

– – – – – –

Gastrointestinale Störungen, Übelkeit, Erbrechen Unruhe, Schlafstörungen EPS Appetitminderung, Gewichtsabnahme Kopfschmerzen Sexuelle Funktionsstörungen

DA-Wiederaufnahme

– – –

Psychomotorische Aktivierung Psychoseauslösung bzw. -verstärkung Antiparkinson-Wirkung

M-

– – – – – –

trockener Mund verschwommenes Sehen, Akkomodationsstörungen Sinustachykardie Verstopfung Harnretention, Miktionsstörungen Gedächtnisstörungen

H1

– –

Neurorezeptoren



Sedation, Müdigkeit, Schläfrigkeit Verstärkung anderer zentral dämpfender Substanzen Gewichtszunahme

r1

– – – –

Orthostase, RR T Schwindel, Benommenheit, Sedation Reflextachykardie (+ α2-Blockade?) Verstärkung der Wirkung anderer α1-Blocker

D2

– – –

EPS Prolaktin c sexuelle Funktionsstörungen

5-HT2

– –

Appetitzunahme, Gewichtszunahme RR T

5-HT3

– –

Antiemetische Wirkung Anxiolyse

primär sedierenden bzw. schlafanstoßenden Eigenschaften untergliedern lassen (Abb. 3.2.5). Nur die sedierenden Substanzen lassen sich bei bestimmten Indikationen als primär Hypnotika einsetzen, während alle anderen Substanzen nur Schlafstörungen im Rahmen des depressiven Syndroms verbessern.

Wirkung auf das noradrenerge System Die traditionellen Hypothesen gingen davon aus, dass bei depressiven Patienten bzw. bei einer Subgruppe von depressiven Patienten ein Mangel des Neurotransmitters Noradrenalin in noradrenergen zentralen Synapsen besteht. Obwohl sich diese pathophysiologischen Vorstel-

71

3.2 Pharmakologische Grundlagen

M odulatio n von St im m u ng und Ve rh al te n du rc h m ono a m inerge N eurotransm itter

Do p a m i n

N o ra dr en al in

Kog ni ti on En ergi e App etit Le b ens fr eu de

In te re ss e

Vi g ila nz Ene rg ie

St i m m u ng An gs t

Se ro to n i n Zw an gs sy m p to m e

Abbildung 3.2.4: Die monoaminergen Systeme haben eine etwas unterschiedliche Wirkung in der Regulation einzelner Symptome von Stimmung und Verhalten, was in der differentialtherapeutischen Wahl eines Antidepressivums berücksichtigt werden kann. Die Evidenzen dafür sind aber sehr weich und primär auf Erfahrung und weniger auf Evidenz beruhend.

Initiale Sedierungspotenz der A ntidepressiva stark m ittel schwach fehlend

Am itriptylin Am itriptylinoxid Dosulepin Doxepin M ianserin M irtazapin Nefazodon Trazodon Trim ipram in

Clom ipram in Im ipram in Lofepram in M aprotilin

Abbildung 3.2.5: Initiale Sedierungspotenz der Antidepressiva

C italopram Tranylcyprom in D esipram in D ibenzepin F luoxetin F luvoxam in M oclobem id N ortriptylin P aroxetin S ertralin Venlafaxin Viloxazin

72

lungen heute nicht mehr halten lassen, ist eine vermehrte synaptische Verfügbarkeit von NA ein wichtiger initialer Wirkungsmechanismus viele Antidepressiva (Montgomery 1997). Eine Konzentrationserhöhung lässt sich medikamentös auf 3 Wegen erreichen. Wiederaufnahmehemmung („re-uptake-inhibition“) Verschiedene Antidepressiva hemmen relativ selektiv (z. B. Maprotilin, Nortriptylin) oder nicht selektiv (z. B. Amitriptylin, Clomipramin, Imipramin und Venlafaxin) die Wiederaufnahme des Noradrenalin in die präsynaptische Nervenendigung. Präsynaptische α2-Rezeptorblockade α2-Rezeptoren regulieren die NA-Konzentration im synaptischen Spalt in dem Sinne, dass sie bei zu hoher Konzentration die Freisetzung und die Syntheserate von Noradrenalin bei den nachfolgenden Nervenimpulsen vermindern. Die Blockade dieser Rezeptoren erfolgt z. B. durch das Antidepressivum Mianserin und noch spezifischer durch Mirtazapin. Im Gegensatz zu Mianserin antagonisiert Mirtazapin α1-Rezeptoren (Tab. 3.2.1 und Abb. 3.2.2) auf serotoninergen Neuronen nicht, so dass die erhöhte noradrenerge Aktivität auch zu einer Aktivitätszunahme des serotoninergen Systems führt. Hemmung des Abbaus Der Abbau von Noradrenalin erfolgt vorwiegend über die Monoaminoxidase-(MAO-)A. Wird diese Substanz durch selektive (Moclobemid) und nichtselektive (Tranylcypromin) MAOHemmer inhibiert, verbleibt mehr Noradrenalin in der Synapse bzw. im synaptischen Vesikel. Eine unlimitierte Erhöhung der NA-Konzentration in der Synapse gibt es aber bei keinem dieser synaptischen Eingriffe, da die Syntheserate von NA (auch bei a2-Blockade) durch polysynaptische Rückkopplungsmechanismen abnimmt. Wirkung auf das serotoninerge System Traditionelle Hypothesen gingen auch davon aus, dass bei Depressiven bzw. bei Subgruppen

3 Neurobiologische Grundlagen

von Depressiven im ZNS ein Serotoninmangel im synaptischen Spalt besteht. Obwohl sich auch diese pathophysiologischen Vorstellungen bis heute nicht belegen lassen, ist die erhöhte Verfügbarkeit von synaptischem Serotonin ein ebenfalls wichtiger initialer Wirkungsmechanismus vieler Antidepressiva (Müller und Eckert 1997). Bei der heute sehr aktuellen Gruppe der SSRI ist es der alleinige initiale Effekt. Auch an der serotoninergen Synapse (vgl. Abb. 3.2.2 greifen Antidepressiva über unterschiedliche Mechanismen ein (Müller und Eckert 1997): Wiederaufnahmehemmung („re-uptake-inhibition“) Verschiedene Antidepressiva hemmen selektiv (z. B. SSRI) bzw. nichtselektiv (z. B. Amitriptylin, Clomipramin, Imipramin und Venlafaxin) die Wiederaufnahme von Serotonin in die präsynaptische Nervenendigung. 5-HT1-Rezeptorenaktivierung Es gibt auch im serotoninergen System 5-HT1Autorezeptoren, die analog den a2-Rezeptoren im noradrenergen System die Freisetzung regulieren. Neben dem Anxiolytikum Buspiron gibt es einige Entwicklungssubstanzen (z. B. Ipsapiron), die als partielle 5-HT1A-Agonisten zwar durch Aktivierung der 5-HT1A-Autorezeptoren die Aktivität der serotoninergen Neurone senken, dafür aber postsynaptische 5-HT1A-Rezeptoren direkt aktivieren (Abb. 3.2.1), und als Antidepressiva geprüft wurden. Hemmung des Abbaus Der intra- und extraneuronale Abbau von Serotonin erfolgt auch über die MAO-A, deren Hemmung durch selektive (Moclobemid) und nichtselektive (Tranylcypromin) MAO-Inhibitoren zu einer Konzentrationserhöhung von Serotonin in der Synapse führt. Zentraler α2-Antagonismus Diese Antagonisten, z. B. das Mirtazapin, blockieren die noradrenerge Hemmung von serotoninergen Neuronen und führen so zu einer erhöhten synaptischen Aktivität des serotoninergen Systems.

73

3.2 Pharmakologische Grundlagen

Nomifensin 2 neuere Substanzen, die ebenfalls als Antidepressiva eingesetzt werden: Amineptin und Bupropion. Nur Bupropion ist inzwischen auch bei uns als Antidepressivum im Handel. Auch Johanniskrautextrakt hemmt die neuronale DA-Aufnahme etwa gleichstark wie die NA-Aufnahme (Müller 2003).

5-HT2-Antagonismus Dieser Mechanismus, z. B. auch bei Mirtazapin, kann über noch nicht abschließend geklärte Verschaltungsmechanismen zu einer Zunahme der neuronalen Serotoninfreisetzung und damit zu einer verstärkten 5-HT1-Aktivierung führen. Dieser Mechanismus gilt auch für einige atypische Neuroleptika (s. Kap. 3.2.5).

Hemmung des Abbaus Beim Menschen wird Dopamin intra- und extraneuronal durch MAO-A, hauptsächlich aber durch MAO-B abgebaut. Daher führen v. a. die älteren nichtselektiven MAO-Inhibitoren (Tranylcypromin) auch zu einer vermehrten synaptischen Verfügbarkeit von Dopamin.

Wirkung auf das dopaminerge System Das dopaminerge System (Abb. 3.2.6) ist dem noradrenergen System sehr ähnlich (Dopamin ist die Vorstufe von Noradrenalin, der Syntheseweg der beiden Neurotransmitter ist bis zu dieser Stufe gleich!). Die Wirkungen der Antidepressiva auf dieses System und ihre Bedeutung für die Beeinflussung der Depression sind weniger gut untersucht. Die meisten Antidepressiva haben keine relevante Wirkung auf die neuronale DA-Wiederaufnahme. Eine Ausnahme bilden neben dem wegen gravierender Nebenwirkungen aus dem Handel genommenen

Hemmung präsynaptischer Rezeptoren Neuroleptika blockieren in Dosierungen deutlich unterhalb der antipsychotischen Dosen präferentiell präsynaptische DA-D2-Autorezeptoren (vgl. Abb. 3.2.6), die analog wie in den anderen Systemen die Transmitterfreisetzung

P räsynap tisches Neuron D O PAC

Abbau in der G lia z u H VS

Tyrosin

Tyr

DO PA C

DA

TH

M ito

H+

D O PA M AO

activ.

Ves ikel

D DC DA

DA

-

inhib.

DA

releas e

A m phetam ine hem m en den vesikulären Transporter

D 2 -R ez eptor

Am phetam ine hem m en DAT und N ET Dopam inTransporter

G s

D 1 -, D 5 -Rezeptoren

Abbau in der G lia zu H V S (via CO M T)

DA

AC

H+ NA DA 5-H T

G i

D 2 -, D 3 -, D 4 -Rezeptoren

P ostsynaptisches Neuron Abbildung 3.2.6: Dopaminerge Synapse und Neuroleptika-Wirkung

K + - Kanäle

74

3 Neurobiologische Grundlagen

regulieren. Die damit verbundene vermehrte synaptische Verfügbarkeit von Dopamin ist die Basis des Einsatzes niedrig dosierter Neuroleptika als Anxiolytika bzw. Antidepressiva (z. B. Fluspirilen, Sulpirid, Thioridazin) (Müller 1991). Der gleiche Mechanismus ist wahrscheinlich auch für das atypische Trizyklikum Trimipramin relevant, das ein relativ starker D2-Antagonist ist. Dopaminerge Agonisten Als Nebeneffekt der Therapie bei Morbus Parkinson scheinen dopaminerge Agonisten auch zusätzliche Effekte auf die häufige komorbide Depression zu zeigen (Lemke 2008). Aber auch bei primären unipolaren oder bipolaren Depressionen werden dopaminerge Agonisten wie Pramipexol als Therapieoption diskutiert (Aiken 2007). Adaptive Veränderungen bei längerer Anwendung von Antidepressiva Wie in den vorangegangenen Abschnitten dargestellt, kommen Antidepressiva über eine ganze

Reihe unterschiedlicher Primäreffekte im ZNS zur Wirkung. Gemeinsam ist allen diesen akuten Wirkungsmechanismen, dass sie direkt nach Applikation auftreten und damit nicht mit der verzögerten Ausbildung der antidepressiven Wirkung am Patienten übereinstimmen. Man geht daher heute davon aus, dass sekundär zu diesen akuten Beeinflussungen der zentralen Neurotransmission es vor allen Dingen auf der Ebene von Rezeptoren und rezeptorgekoppelten Transduktionsmechanismen zu adaptiven Veränderungen als Antwort auf den akuten Eingriff in die zentrale Neurotransmission kommt (Abb. 3.2.7), von denen eine Downregulation von Dichte und Empfindlichkeit zentraler b-Rezeptoren am besten untersucht ist (b-Downregulation). Nicht alle Antidepressiva bewirken eine bDownregulation und viele Antidepressiva bewirken neben der b-Downregulation noch zusätzliche adaptive Veränderungen im Bereich der serotoninergen und auch der dopaminergen Neurotransmission (vgl. Abb. 3.2.7). Von solchen adaptiven Veränderungen sind mög-

Wirkungsm echanism us von A ntidepressiva – A ktueller Stand A kute Effekte N A-

5-H T-

W iederaufnahm e- W iederaufnahm eH em m ung H em m ung

M AO -A-

α 2-

5-H T 1 -

Hem m ung

R ezeptorAntagonism us

H em m ung

adaptive Veränderungen

β-

α1-

5-HT 2 -

5-HT 1 -

D1-

D 1-

D ow nR egulation

U pR egulation

D ownR egulation

Em pfindlichkeitszunahm e

Em pfindlichkeitszunahm e

D ownR egulation

Antidepressive W irkung Abbildung 3.2.7: Generelle Bedeutung von akuten Effekten und adaptiven Veränderungen für die antidepressive Wirkung

75

3.2 Pharmakologische Grundlagen

licherweise auch GABAerge Mechanismen, glutamaterge Mechanismen, die Empfindlichkeit von Glukokortikoidrezeptoren und die Regulation von Transkriptionsfaktoren betroffen. Wir sind heute nicht in der Lage, eine dieser adaptiven Veränderungen ausschließlich mit der antidepressiven Wirksamkeit in Verbindung zu bringen, sondern sehen diese im Tierexperiment bestimmbaren adaptiven Veränderungen eher als Ausdruck einer Anpassung oder funktionellen Plastizität, die möglicherweise ein direktes Korrelat der antidepressiven Wirkung darstellt (Müller 1997). Die Beobachtung. dass viele dieser adaptiven Veränderungen über die primär angestoßenen Systeme hinausgehen (Abb. 3.2.7) deckt sich mit der bereits erwähnten klinischen Einschätzung, dass sich die unterschiedlichen An-

tidepressiva nicht eindeutig bestimmten Patientengruppen zuordnen lassen. Die Erklärung liegt in der sehr komplexen Verschaltung der monoaminerge Systeme im Gehirn, so dass die Veränderung des einen Systems auch die anderen Systeme beeinflusst (Abb. 3.2.8). Auf der anderen Seite scheint der primäre Wirkungsmechanismen aber für die Bahnung der antidepressiven Wirkung wichtig zu sein (Abb. 3.2.9). Die Ebene der Transkriptionsfaktoren Während sich die bisherigen Untersuchungen zu adaptiven Veränderungen von Mechanismen der Neurotransmission nach chronischer Behandlung mit Antidepressiva im wesentlichen auf Veränderungen von Dichte und Empfindlichkeit der neuronalen Rezeptoren bzw. der direkt nachgeschalteten sekundären Trans-

Funktionelle Verschaltung der zentralen m onoam inergen S ystem e

P ostsynaptisches Neuron

Interneurone 5-H T 2A für N A Neurone 5-H T 2C für D A Neurone

Abbildung 3.2.8: Die zentralen Transmittersysteme für Serotonin (5-HAT), Noradrenalin (NE) und Dopamin (DA) sind komplex miteinander verschaltet. Eine pharmakologische spezifische Beeinflussung nur eines der Systeme (z. B. mit einem SSRI) kann daher sekundär auch zu adaptiven Veränderungen in den anderen Systemen führen (nach Blier).

76

3 Neurobiologische Grundlagen

D e pr e ssi ve Sy m p to m e na ch Se ro to nin- (T ry pt op ha nfr eier D iät) oder N oradrenalin -Verarm ung 5- H TVe ra rm un g

N AV er ar m u ng

+ +++ + + +++

+ + ++ + ++ ++

G e su nd

-

+/-

D e pr es siv, un be han de lt

-

-

R e m i ssi on un te r S S R I R e m i ssi on un te r S N RI R e m i ssi on un te r N a SSA

Abbildung 3.2.9: Die individuelle Bahnung der antidepressiven Wirkung ist für die einzelnen Antidepressivaklassen unterschiedlich. Nur bei erfolgreichen Therapien (Remission) durch einen SSRI führt eine zentrale Serotonindepletion durch eine Tryptophan-freie Nahrung zum Wiederauftreten depressiver Symptome, bei Remission unter einem SNRI kann dies nur durch Noradrenalindepletion durch α-Methylparatyrosin erreicht werden. Wird Remission durch eine duale Substanz (NSSA, Mirtazapin) erreicht treten depressive Symptome unter beiden Strategien auf. Daten nach Delgado 2000

mitter (z. B. cAMP) konzentriert hatten, gehen neuere Untersuchungen noch eine oder 2 Stufen weiter auf der Kaskade von Mechanismen, die letztlich zelluläre Funktionen unter dem Einfluss von Signaltransduktionsmechanismen kontrollieren (s. Kap. Riederer et al.). Verschiedene Arbeitsgruppen konnten zeigen, dass als mögliche Folge der Beeinflussung von sekundären Transmittern verschiedene intrazelluläre Transkriptionsfaktoren unter der chronischen Behandlung mit Antidepressiva beeinflusst werden (Torres et al. 1998; Malberg and Blendy 2005) (Abb. 3.2.10). In der aktuellen Diskussion nimmt hier v. a. das CREB („cAMP response element binding protein“) eine ganz besonders wichtige Rolle ein, da hier wieder einmal die Hoffnung auf eine gemeinsame intrazelluläre Endstrecke verschiedener Antidepressivaklassen besteht. Obwohl wir heute davon ausgehen, dass CREB als Folge der intrazellulären Bildung von cAMP aktiviert wird (Kap. 3.1), weisen die aktuellen Befunde auf eine Zunahme von CREB unter Antidepressiva hin, obwohl, wie bereits erwähnt, die Konzentration von cAMP eher herunterreguliert wird. Trotz dieser noch offenen Fragen ist die Aktivierung bestimmter Transkriptionsfaktoren, die dann gezielt die Ablesung bestimmter Zielgene und bestimmter Zielproteine aktivieren,

heute von großer Aktualität. So haben verschiedene Autoren nachweisen können, dass es nach chronischer Antidepressivabehandlung z. B. zur Hochregulation des Transkriptionsfaktores CREB und anderer Transkriptionsfaktoren kommt (Duncan et al. 1993; Hope et al. 1994; Morinobu et al. 1995). Darüber hinaus konnte gezeigt werden, dass die Überexpression von CREB in bestimmten Arealen des Rattenhirns mit einer antidepressiven Wirkung in 2 wichtigen tierexperimentellen Modellen der Depression (Porsolt-Test und erlernte Hilflosigkeit) führte (Chen et al. 2001). Damit ist in einer Zunahme der Aktivität des Transkriptionsfaktors CREB ein möglicher gemeinsamer Nenner vieler Antidepressiva zu sehen. Man sollte aber hier aus den Erfahrungen der Vergangenheit gelernt haben und auch diese Befunde mit einer gewissen kritischen Distanz interpretieren, bis diese mögliche gemeinsame Endstrecke und ihre kausale Einbindung in den antidepressiven Wirkungsmechanismus tatsächlich zweifelsfrei belegt ist. Die Ebene der neuronalen Plastizität Zu den Zielgenen bzw. Zielproteinen der CREB gehört auch der Wachstumsfaktor BDNF („brain derived neurotrophic factor“). BDNF stellt im ZNS einen wichtigen Wachstumsfaktor für die neuronale Funktion dar. Unter dem Einfluss

77

3.2 Pharmakologische Grundlagen

CA1

Hip po cam pu s

S chaffer-Kollateralen G yrus dentatus

CA3

K örnerzelle

M oosfaserprojektionen

Norm al

Stress Glukokortikoide BDNF

Norm ales Überleben und Wachstum

Atrophie oder Tod der Neuronen

CA3 Neuronen

Antidepressiva

S erotonin und NA BDNF Glukokortikoide

Steigende Überlebensrate und Wachstum

G enetische Faktoren

Andere neuronale Insulte : • Hypoxie Ischämie • Hypoglykäm ie • Neurotoxine • Viren

Verletzung oder Tod

Abbildung 3.2.10: Die neurotrophe Hypothese der Antidepressivawirkung. Unter chronischem Stress, genetischen und anderen Risikofaktoren kann es zu einer Reduktion von Synapsen- bzw. Dendritenwachstum bzw. zur Atrophie kommen, hier dargestellt für die CA3-Zellen des Hippokampus. Die Hochregulation von BDNF durch Antidepressiva könnte diesem Effekt entgegenstuern. (Nach Duman et al. 1997).

von BDNF kommt es zu Dendriten- und Synapsenwachstum neuronaler Zellen, ohne den stimulierenden Effekt von BDNF zur Atrophie bis zum Risiko des Zelltodes (Abb. 3.2.10). Die Tatsache, dass das BDNF auch ein Zielgen des Transkriptionsfaktors CREB ist, hat nun zu der Spekulation geführt, dass unter der chronischen Behandlung mit Antidepressiva die Konzentration von BDNF verändert sein könnte. Interessanterweise konnte dies bestätigt werden; verschiedene Untersuchungen konnten zeigen, dass die BDNF-m-RNA in verschiedenen Hirnarealen, hauptsächlich aber im Hippocampus unter subchronischer Behandlung mit verschiedenen Antidepressiva hochreguliert ist (Duman et al. 1997, 1999; Duman 2004). Zusammen mit aktuellen Befunden aus der modernen bildgebenden klinischen Forschung,

in der Hinweise auf neurodegenerative Veränderungen im Hippocampus depressiver Patienten beschrieben werden, hat dieser Befund zu der sog. neurodegenerativen Hypothese der Depression und der neuroprotektiven Wirkung von Antidepressiva geführt (vgl. Abb. 3.2.10). Die Perspektive aber auch die Grenzen der aktuellen Datenlage zu dieser Hypothese sind im folgenden am Beispiel von typischen Effekten im Hippocampus dargestellt, wobei besonders auf die CA3-Region eingegangen wird. Unter Normalbedingungen sieht man hier im erwachsenen Gehirn ein normales Wachstum von Dendriten und Synapsen. Es gibt nun schon seit vielen Jahren Hinweise darauf, dass chronischer Stress, verbunden mit einer Hochregulation der Glukokortikoide, neben anderen biochemischen Veränderungen (Duman et al.

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1999) auch zu atrophischen Veränderungen bzw. zu degenerativen Veränderungen besonders der CA3-Regionen führen kann (Sapolsky et al. 1985). Interessanterweise – und das bringt uns wieder auf den Wachstumsfaktor BDNF – ist unter chronischem Stress die hippocampale Konzentration von BDNF eher reduziert. Auch andere, besonders auch genetische Faktoren, die ja auch für die Depression relevant sein können, scheinen ebenfalls einen negativen Einfluss auf das Wachstum von CA3-Neuronen zeigen zu können. Welche Faktoren hier bei depressiven Patienten zusammenspielen, ist noch weitgehend Spekulation; tatsächlich weisen, wie bereits erwähnt, die modernen bildgebenden Verfahren zunehmend darauf hin, dass es im Rahmen depressiver Erkrankungen in verschiedenen Hirnregionen, u. a. auch dem Hippocampus, zu einer Volumenabnahme kommen kann (Rajkowska et al. 1999; Soares und Mann 1997; Ebmeier et al. 2006). Antidepressiva können nun über einen Eingriff in die serotoninerge und noradrenerge Neurotransmission die Konzentrationen von BDNF hochregulieren und die von Glukokortikoiden eher senken (Malberg et al. 2000). In Übereinstimmung mit dem Schema in Abbildung 3.2.10 hat man hier unter gewissen Bedingungen tatsächlich auch unter biologischen antidepressiven Therapien eine verbesserte Überlebensrate von hippocampalen Neuronen mit verbessertem Dendritenwachstum und Synapsenbildung gesehen (s. o.) und darüber hinaus Neubildung von Nervenzellen (Neurogenese), zu der allerdings nur ein relativ kleines Areal im Hippocampus (subgranuläre Zone des Gyrus dentatus) befähigt ist (Malberg et al. 2000). Trotz dieses zunächst sehr gut zusammenpassenden Schemas sind wir noch weit davon entfernt, diese sog. neurotrophe Hypothese der Antidepressivawirkung global akzeptieren zu können. Zu viele inkonsistente Befunde stehen dem noch entgegen. Einige Beispiele dazu wären die Tatsache, dass unter Elektrokrampftherapie im Tiermodell zwar eine Zunahme des Synapsenwachstums von Körnerzellen (vgl. Abb. 3.2.10) gezeigt werden konnte, Antidepressiva hier aber keinen Effekt hatten (Vaidya et al. 1999). Darüber hinaus sind die degenera-

3 Neurobiologische Grundlagen

tiven Veränderungen im Hippocampus eher auf der Ebene der CA3-Zellen (vgl. Abb. 3.2.10) zu sehen. In Übereinstimmung mit dem Schema in Abbildung 3.2.7 hat man zeigen können, dass das eher atypische Antidepressivum Tianeptin die stressinduzierte Atrophie von CA3-Neuronen hemmen konnte, der Standard SSRI Fluoxetin war allerdings hier ohne Wirkung (Watanabe et al. 1992). Auch die Frage, ob Antidepressiva tatsächlich über eine vermehrte Neurogenese antidepressiv wirken, wird unterschiedlich diskutiert (Sapolski 2004). Während Santarelli et al. 2003 nach Ausschalten der Neurogenese durch Bestrahlung keine Effekte mehr von Antidepressiva in einem Verhaltensmodell sahen, gehen Henn und Vollmayr (2004) aufgrund anderer tierexperimenteller Daten u. a. auch aufgrund der nicht übereinstimmenden Zeitverläufe eher nicht von einer direkt kausalen Beziehung aus. Damit ist auch auf experimenteller Ebene dieser neuartige Mechanismus noch lange nicht zweifelsfrei belegt. Außerdem gibt es natürlich auch von klinischer Seite Zweifel, die stark fluktuierende und phasenförmig verlaufende Erkrankung Depression mit der häufig absolut symptomfreien Remission zwischen den Phasen mit einer eher globalen degenerativen Veränderung im ZNS in Verbindung zu bringen, so dass man schon geneigt ist zu zweifeln, ob wirklich jede depressive Episode gleich mit degenerativen Veränderungen verbunden ist. Darüber hinaus ist Antidepressiva-indudzierte Neurogenese auf diese kleine Struktur des Hippocampus beschränkt, die die antidepressive Wirkung nicht allein erklären kann. Auch der Befund, dass Neurogenese in der Kindheit am ausgeprägtesten ist und im alternden Gehirn fast nicht mehr nachweisbar ist, passt nicht zu der klinischen Erfahrung einer eher schlechteren Wirkung unserer Antidepressiva bei Kindern bei weitgehend erhaltenem Ansprechen bei Patienten (Amrein et al. 2004; Pekcec et al. 2008). Attraktiv wird die neurotrophe Hypothese der Antidepressivawirkung bzw. die neurodegenerative Hypothese der Depression schon eher, wenn man sich chronifizierte Patienten betrachtet. Hier ist eher vorstellbar, dass es unter den langen Phasen der depressiven Erkrankung

3.2 Pharmakologische Grundlagen

verbunden mit der hohen Kortisolbelastung, ggf. zu neurodegenerativen Veränderungen in bestimmten Hirnstrukturen kommt; sie beeinflussen vielleicht weniger direkt kausal die depressive Symptomatik, können aber möglicherweise im Sinne einer Vulnerabilitätsnarbe das rezidivierende Krankheitsbild der Depression im Zusammenhang mit anderen Faktoren erklären. Dass hier eine chronische Therapie mit einer Aktivierung von Wachstumsfaktoren ggf. sinnvoll ist, liegt auf der Hand. Spannend wird diese Anschauung auch dadurch, dass das bewährteste Phasenprophylaktikum Lithium, aber auch andere Phasenprophylaktika wie z. B. Valproinsäure neuesten Untersuchungen zufolge nach nicht nur auf der Ebene der intrazellulären Signalmoleküle wirken, sondern auch eine sehr deutliche und schon in therapeutischen Konzentrationen nachweisbare neuroprotektive Wirkung aufweisen (Manji et al. 2000). Damit kann man spekulativ die neurodegenerative Hypothese der Depression und die neuroprotektive Wirkung von Antidepressiva bevorzugt mit chronischen Krankheitsverläufen und eher mit der rezidiv-prophylaktischen Wirkung als mit der akut antidepressiven Wirkung in Verbindung bringen. Wie weit sich dies allerdings in den nächsten Jahren bestätigen lässt, bleibt abzuwarten.

3.2.4 Psychopharmakologische Grundlagen von Lithium und anderer Phasenprophylakta bzw. „mood stabilizer“ Biochemische Wirkungsmechanismen Lithiumionen sind natürlicherweise im Organismus vorhanden, jedoch in wesentlich niedrigeren Konzentrationen als die ähnlichen Alkalimetallionen Natrium und Kalium. Die Lithiumkonzentrationen im Serum liegen unter Behandlung etwa 250mal so hoch wie im unbehandeltem Zustand. Es wird angenommen, dass die Lithiumionen in Konkurrenz zu den anderen Alkalimetall-

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ionen treten und dann sekundär die intrazelluläre Kalziumhomöostase modulieren. Darüber hinaus beeinflusst Lithium verschiedene Mechanismen der Signaltransduktion (Tab. 3.2.3). Von diesen wird die Hemmung der Inositolphosphathydrolyse als sekundärer Transmitter der Phospholipase C Stimulation und die danach auftretende relative zentrale Inositolverarmung als besonders wichtig angesehen. Als alternativer Mechanismus, besonders auch im Hinblick auf relativ gut belegte neuroprotektive Effekte von Lithium, gilt die Hemmung der Glycogen-Synthase-Kinase-3b (Gsk3b), die neben anderen Kinasen von Lithium im oberen therapeutischen Bereich gehemmt wird (Manji et al. 2000; Lenox and Manji 2005; Chuang and Priller 2006). Eine Vielzahl von experimentellen Befunden gibt weiterhin Anlass zu der Annahme, dass Lithium Einfluss auf die Empfindlichkeit verschiedener Rezeptoren hat und beispielsweise die Entwicklung von Supersensitivität bei den DA- und Muskarinrezeptoren verhindern kann (Jope and Williams 1994). Trotz oder vielleicht auch wegen der Vielzahl biochemischer Effekte des Lithiums lässt sich keine endgültige Aussage über den Wirkungsmechanismus in der Rezidivprophylaxe affektiver Psychosen formulieren. Carbamazepin Auch Carbamazepin bewirkt eine Vielzahl biochemischer Veränderungen im Organismus (vgl. Abb. 3.2.11, Tab. 3.2.3), ohne dass sich aus diesen Effekten eine allgemein akzeptierte Theorie für die antimanische oder prophylaktische Wirksamkeit ableiten lässt (Keck und McElroy 2005). Während man der Hemmung von Natriumkanälen die größte Bedeutung für die antiepileptischen Eigenschaften zuspricht, kommen den zusätzlich Effekten (z. B. Tab. 3.2.3) möglicherweise eine größere Rolle bei der phasenstabilisierenden Wirkung zu. Oxcarbazepin wirkt ähnlich. Valproinsäure Der Wirkungsmechanismus von Valproinsäure ist auch nicht sicher bekannt. Die Substanz verstärkt über mehrere Effekte die Funktion des inhibitorischen Neurotransmitters GABA (verstärk-

80

3 Neurobiologische Grundlagen

Tabelle 3.2.3.: Biochemische Effekte von Lithium und Carbamazepin, welche als potentielle Wirkungsmechanismen diskutiert werden (Keck und McElroy 2005) Lithium Plasmakonzentrationsbereich: 0,5–1,5 mmol/l 1. Hemmung der Inositolmonophosphat-Hydrolyse EC50: 0,5 mmol/l 2. Hemmung der Adenylatzyklase EC: 1 mmol/l 3. Hemmung der Guanylatzyklase biphasischer Konzentrationsbereich von 0.2–10 mmol/l 4. Hemmung der GTP-Bindung an G-Proteinen Konzentrationsbereich: 0,6–1,0 mmol/l Carbamazepin Plasmakonzentrationsbereich: 10–30 μmol/l 1. Hemmung der Adenylatzyklase signifikanter Effekt ab Konzentrationen > 100 μmol/l 2. Antagonismus am Adenosin-A1-Rezeptor Ki = 20 μmol/l 3. Hemmung der GTP-Bindung an G-Proteinen Konzentration: 1 mmol/l 4. Hemmung der Membranpermeabilität für Natrium-, Kalium- und Kalziumionen Konzentrationsbereich: 30–500 μmol/l 5. Hemmung der Guanylatzyklase EC50: 13 μmol/l

te Synthese, verlangsamter Abbau) (Abb. 3.2.11). Darüber hinaus wirkt Valproinsäure aktivierend auf Kaliumkanäle und wahrscheinlich hemmend auf Natriumkanäle (Keck und McElroy 2005). Neuroprotektive Eigenschaften der Valproinsäure hat man in den letzten Jahren auch mit einer Hemmung der Histondeacetylase in Verbindung gebracht (Berton und Nestler 2006).

heit verschiedener spannungsabhängiger Calciumkanäle (Sills 2006; Wedekind et al. 2005). Über die damit verbundene Hemmung der Neurotransmitterfreisetzung (z. B. L-Glutamat) wird auch eine spezifische anxiolytische Wirkung erreicht, die bei generalisierten Angsterkrankungen klinisch gut belegt ist (Bech 2007).

Lamotrigin, Gabapentin, Pregabalin Die pharmakologischen Angriffspunkte der auch in der psychiatrischen Pharmakotherapie verwendeten Antiepileptika Lamotrigin, Gabapentin und Pregabalin sind in Abbildung 3.2.11 schematisch dargestellt. Lamotrigin scheint besonders über eine Hemmung spannungsabhängiger Natriumkanäle die neuronale Erregbarkeit zu senken, wobei möglicherweise ein Angriff an präsynaptischen glutamatergen Ner venendigungen eine besondere Rolle spielt, so dass die erregende glutamaterge Neurotransmission reduziert wird. Während Gabapentin noch ein breiteres Wirkungsspektrum zu haben scheint, wirkt die neuere Substanz Pregabalin eher spezifisch über eine Bindung an die α2δ-Unterein-

3.2.5 Psychopharmakologische Grundlagen der Neuroleptika Wirkung auf das dopaminerge System Die Wirkmechanismen der Neuroleptika sind dank intensiver Forschungsarbeiten in den letzten 30 Jahren, insbesondere wegen der Fortschritte in der Rezeptorenforschung, relativ gut aufgeklärt. Alle heute in der Therapie der Schizophrenie eingesetzten Neuroleptika greifen in das dopaminerge System ein. Der eigentliche Interventionspunkt ist dabei der prä- und postsynaptische lokalisiert D2-Rezeptor (vgl. Abb. 3.2.5). Alle antipsychotisch wirksamen

3.2 Pharmakologische Grundlagen

81

Abbildung 3.2.11: Auch in der psychiatrischen Pharmakotherapie eingesetzte Antiepileptika senken über verschiedene Mechanismen die Erregbarkeit zentraler Neurone. Verstärkung der GABA-ergen inhibitorischen Neurotransmission: Benzodiazepine erhöhen die Öffnungswahrscheinlichkeit des GABAA-Rezeptors als ligandengesteuerter Chloridkanal; Valproat und Gabapentin steigern die GABA Synthese aus L-Glutamat; Vigabatrin hemmt die vesikuläre GABA-Aufnahme, Tiagabin den neuronalen GABA-Transporter und Vigabatrin und Valproat hemmen den GABA-Abbau zu Succinatsemialdehyd (SSA). Hemmung von Ionenkanälen: Spannungsabhängige NA+- und Ca2+-Kanäle werden in unterschiedlichem Maße von einigen Substanzen gehemmt; Lamotrigin ist relativ spezifisch für Na+-Kanäle, während Pregabalin spezifisch an der α2δ-Untereinheit angreift, die verschiedenen spannungsabhängigen Ca2+-Kanälen gemeinsam ist. Reduktion der erregenden glutamatergen Neurotransmission: Lamotrigin scheint besonders gut Na+-Kanäle zu hemmen, die präsynaptisch an glutamatergen Nervenendigungen lokalisiert sind (nicht gezeigt) mit der Folge einer reduzierten Freisetzung des erregenden Neurotransmitters L-Glutamat.

82

Präparate sind D2-Rezeptorantagonisten. Nur die Bindungsstärke zu diesem Rezeptor korreliert mit der klinischen Wirksamkeit (Seeman 1987; Müller 1998a,b; Wadenberg et al. 2001). Der gemeinsame hemmende Effekt auf die dopaminerge Neurotransmission erklärt auch, trotz aller Fortschritte bei der Therapie, gemeinsame Probleme (Stroup et al. 2006). Wieweit der Erkrankung ein dopaminerges Übergewicht zugrunde liegt, ist immer noch nicht absolut belegt (Miyamoto et al. 2003) Diese spezifische Wirkung an D2-Rezeptoren erklärt, warum zumindest bei den klassischen Neuroleptika erwünschte (antipsychotische) und einige der unerwünschten Wirkungen (z. B. extrapyramidalmotorische Störungen/EPS, Prolaktinanstieg) so eng miteinander verbunden sind. In den 3 wichtigen dopaminergen Kernsystemen des menschlichen Gehirns spielen D2-Rezeptoren eine wichtige Rolle bei der postsynaptischen Signaltransduktion (Tab. 3.2.4). Eine gewisse Ausnahme bildet der präfrontale Cortex, wo D1-vermittelte Effekte besonders relevant sind. Deren Beeinflussung besonders durch atypische Antipsychotika wird mit deren positiven Effekten auf kognitive Störungen schizophrener Patienten in Verbindung gebracht (Leuner und Müller 2007). Wirkmechanismus und Wirklatenz Die Rezeptorblockade durch die Neuroleptika erfolgt praktisch unmittelbar nach Verabreichung. Durch die Blockade präsynaptischer Autorezeptoren und die damit verbundene deutliche Zunahme der DA-Freisetzung ist aber initial die dopaminerge Transmission eher erhöht (Tab. 3.2.4). Dies hat z. B. in den Frühdyskinesien ein klinisches Korrelat. Der Eintritt der vollen antipsychotischen Wirkung ist jedoch erst nach Tagen bis Wochen beobachtbar. Tabelle 3.2.5 erläutert schematisch die Gründe für die Wirklatenz: Nach Besetzung der präsynaptischen Autorezeptoren (D2-Typ) durch Neuroleptika wird die Syntheserate des Dopamins gesteigert. Somit kann die Blockade der DA-Rezeptoren vorübergehend durch ein vermehrtes DA-Angebot an die postsynaptischen Rezeptoren kompensiert werden.

3 Neurobiologische Grundlagen

Dosierung und Wirkung Bei unter der antipsychotischen (neuroleptischen Schwelle) liegenden Neuroleptikadosierungen bleibt die vermehrte DA-Freisetzung auch langfristig erhalten (wichtig für die Anwendung niedrigdosierter Neuroleptika als Antidepressiva) bzw. Anxiolytika. Im weiteren Verlauf bei ausreichender (neuroleptischer) Dosierung nimmt aber die Impulsfrequenz der dopaminergen Neurone ab (Depolarisationsblock), der dann zusammen mit der postsynaptischen Rezeptorblockade zur Reduktion der dopaminergen Übertragung im nigrostriatalen und im mesolimbischen dopaminergen System führt. Der verzögerte Wirkungseintritt gilt weniger für die Hypophyse, wo man schon sofort den D2-Antagonismus funktionell über den Prolaktinanstieg nachweisen kann. Nach Langzeittherapie mit Neuroleptika kann es weiterhin zu Spätdyskinesien kommen, deren Mechanismus auch heute noch nicht sicher geklärt ist. Die bisherigen Betrachtungen zeigen, warum es bei den klassischen Neuroleptika nicht gelungen ist, die erwünschten von den mit dem gleichen Wirkungsmechanismus (D2-Blockade) assoziierten unerwünschten Wirkungen (EPS, Spätdyskinesien, Prolaktinanstieg) zu differenzieren. Dies gelang erst mit den sog. „atypischen“ Substanzen (s. u.).

Wirkung auf andere Transmittersysteme Auch die klassischen Neuroleptika unterscheiden sich erheblich in ihren zusätzlichen antagonistischen Eigenschaften an einer Reihe verschiedener Rezeptorsysteme. Diese zusätzlichen Eigenschaften sind wahrscheinlich für die eigentlichen antipsychotischen Eigenschaften nicht relevant, erklären aber ähnlich wie bei den Antidepressiva sehr stark die Profile der unerwünschten Wirkungen der einzelnen Substanzen, die auch innerhalb der klassischen Neuroleptika erheblich schwanken.

83

3.2 Pharmakologische Grundlagen Tabelle 3.2.4: Die wesentlichen dopaminergen Projektionsbahnen im ZNS von Mensch und Tier Name

Kerngebiet

Projektionsareale

Physiologische Bedeutung

Tuberoinfundibuläres System

Nucleus arcuatus des Hypothalamus

Eminetia medialis

Regulation der ProlaktinFreisetzung

Nigro-striatales System

Zona compacta der Substantia nigra (A9 Region)

Striatum (Nucleus caudatus Putamen) Globus pallidus

Regulation der unwillkürlichen und der willkürlichen Motorik

Mesolimbisches und mesokortikales System

Area ventralis tegmentalis (A10 Region)

Nucleus accumbens, Mandelkern, Hippocampus, Septum, kortikale Areale (frontalis, cingularis, entorhinalis)

Regulation von Affekt, Emotion, Aufmerksamkeit, Gedächtnis

Tabelle 3.2.5: Schematische Darstellungen der Neuroleptikawirkungen im Zeitverlauf der Behandlung. Effekte auf verschiedenen Ebenen (präsynaptisch, rezeptorbezogen, metabolisch, topisch und klinisch) Zeitraum

Präsynaptische Prozesse

Postsynaptische Prozesse

Unmittelbare Effekte

Besetzung der D2-Rezeptoren (Autorezeptoren) T

Blockade der D2-Rezeptoren, jedoch unvollständig wegen erhöhten Dopaminangebots

Erhöhte Impulsfrequenz T

Prolaktin im Serum vermehrt durch D2-Blockade in Hypophyse

Klinische Wirkungen Erwünschte Unerwünschte Psycho-motorische Dämpfung ggf. extrapyramidale Störungen und andereS ymptome (Dyskinesien)

Erhöhte DA-Synthese und Freisetzung (gesteigerter DopaminTurnover) Nach Tagen bis 2 Wochen

Nach längerer Zeit (frühestens 6 Monaten) bei einigen, bevorzugt älteren Patienten, auch bei Dosisreduktionen oder Absetzen

Vermehrt DA-Metaboliten Wirksame D2-Blockade (HVA und DOPAC) im Liquor Impulsfrequenz sinkt (Depolarisationsblock )

a) Hippocampus S

Dopamin-Turnover verlangsamts ich T HVA- und DOPAC-Konzentrationen im Liquor sinken ab

b) Striatum S

Im Striatum Supersensitivität der D2-Rezeptoren Neurotoxische Effekte?

Antipsychotische Wirkung S Frühdyskinesien, Parkinsonoid (bei vielen Patienten) u. andere Symptome* S

Spätdyskinesien (irreversibel)

* Vegetative kardiovaskuläre und sedative Symptome durch Interaktionen des Präparats mit Rezeptoren in anderen als dem dopaminergen System

84

3 Neurobiologische Grundlagen

Besonderheiten der atypischen Neuroleptika (Antipsychotika) Da die Blockade zentraler D2-Rezeptoren zur antipsychotischen Wirkung und zu extrapyramidalmotorischen Nebenwirkungen führt, wurde über Jahre das Dogma vertreten, dass therapeutische und unerwünschte Nebenwirkungen von Neuroleptika unabdingbar miteinander verknüpft seien. Das einzige Neuroleptikum, dessen Wirkprofil sich nicht mit dieser Annahme vereinbaren ließ, war Clozapin. Clozapin induziert kaum extrapyramidalmotorische Nebenwirkungen und keinen oder nur einen geringen Anstieg des Prolaktinspiegels. Dennoch verfügt es über eine gute antipsychotische Wirksamkeit, die pharmakologisch vermutlich ebenfalls im wesentlichen in einer Blockade von D2-Rezeptoren begründet ist (Seeman 1987). Begriffsbestimmung Clozapin wurde durch die genannten, nicht hypothesenkonformen (atypischen) Eigenschaften zum Prototyp der „atypischen Neuroleptika“. Dieser Begriff wurde unkritisch auf andere Substanzen übertragen. Im Gegensatz zum Begriff „klassische Neuroleptika“ ist er nicht klar definiert und beinhaltet heute Substanzen, die sich pharmakologisch und klinisch nicht nur von den klassischen Neuroleptika (Tab. 3.2.6), sondern auch untereinander unterscheiden (Müller 1998).

Klinische Eigenschaften Das einzige Kriterium, das sicher auf alle sog. atypischen Substanzen zutrifft, ist die Eigenschaft, keine oder weniger extrapyramidalmotorische Nebenwirkungen hervorzurufen als klassische Neuroleptika. Ein wichtiges Korrelat dieser klinischen Eigenschaft im Tierexperiment ist der Befund, dass man mit atypischen Substanzen praktisch keine Katalepsie auslösen kann (Clozapin) oder dass zur Auslösung einer Katalepsie wesentlich höhere Dosen (im Vergleich zu anderen antidopaminergen Effekten) benötigt werden (Abb. 3.2.12). Diskutierte Wirkmechanismen Grundlegend kann also die antipsychotische Wirkung sowohl der klassischen als auch der atypischen Substanzen über die Blockade von DA-D2-Rezeptoren erklärt werden. Die heute diskutierten Hypothesen zur Erklärung atypischer Eigenschaften beruhen daher meist auf der Annahme von „D2-Blockade plus zusätzliche Eigenschaft“ (Tab. 3.2.7). Eine gewisse Ausnahme ist die präferentielle mesolimbische D2Bindung einiger Substanzen. Gemeinsame Blockade von D2und Muskarinrezeptoren Die älteste Hypothese, wie atypische neuroleptische Eigenschaften erklärt werden könnten, geht von der Tatsache aus, dass Clozapin selbst sehr stark anticholinerge Eigenschaften hat und

Tabelle 3.2.6: Therapeutische Qualitäten, die atypische Neuroleptika von den klassischen Neuroleptika unterscheiden. 1. Weniger extrapyramidalmotorische Symptome

2. Bessere Wirkung bei Minus-Symptomatik

3. Bessere Wirkung bei Non-Respondern

Amisulprid

Amisulprid

Clozapin

Aripiprazol

Aripiprazol

Olanzapin

Clozapin

Clozapin

Quetiapin

Olanzapin

Olanzapin

Quetiapin

Risperidon

Sertindol

Sertindol

Risperidon

Sulpirid

Zotepin

Zotepin

85

3.2 Pharmakologische Grundlagen

Antagonismus von A mphetamin induzierter Erregung (im Verhältnis zum therapeutischen Nutzen). Neuroleptika und atypische Antipsychotika

Wirkung (%)

100

Typische Neuroleptika -induzierte Katalepsie (in Verbindung m it E PS) Atypische Antipsychotika -induzierte Katalepsie (in Verbindung m it E PS)

50 (A)

(B)

0

D osis Abbildung 3.2.12: Vergleich der Pharmakologie typischer und atypischer Antipsychotika auf der Basis von Studien an Primaten und Nagern. Bei Dosiskonzentrationen, die vergleichbar mit den zur Auslösung einer Katalepsie erforderlichen Konzentrationen sind, wirken typische Neuroleptika antagonistisch auf Amphetamin-induzierte Erregung (A). Atypische Substanzen erzielen ihre Wirkungen bei Dosierungen, die signifikant unter ihrem schwachen Potential zur Auslösung einer Katalepsie liegen (B). (Nach Ereshefsky und Lacombe 1993).

Tabelle 3.2.7: Die wichtigsten Hypothesen zum Wirkungsmechanismus der atypischen Neuroleptika. 1.

D2- und D1-Blockade Clozapin Olanzapin Quetiapin Zotepin

2.

D3- bzw.-D4-Blockade zusätzlich zu D2-Blockade Amisulprid 2) (D Sulpirid 3) (D Clozapin 4) (D

3.

D2- und 5-HT2-Blockade Clozapin Olanzapin Paliperidion Risperidon Quetiapin Sertindol Zotepin

4.

D2- und M-Rezeptor-Blockade Clozapin Olanzapin

5.

präferentielle Bindung an mesolimbische bzw. mesocorticale D2-Rezeptoren Clozapin Amisulprid Sertindol Sulpirid

6.

Partieller D2-Agonismus Aripiprazol

86

praktisch die Anticholinergikazugabe mit dem Clozapinmolekül verbunden ist. Gegen diese Hypothese spricht, dass Spätdyskinesien unter Clozapin kaum vorkommen, dieses schwerwiegende Risiko dagegen unter einer Therapie mit klassischen Neuroleptika nicht sicher durch die Zugabe von Anticholinergika vermindert werden kann. Gemeinsame Blockade von DA-D1und DA-D2-Rezeptoren Ausgehend von dem Befund, dass Clozapin in etwa gleich stark an den D1-Rezeptor wie an den D2-Rezeptor bindet, hat man vermutet, dass aufgrund der parallelen Blockade der beiden dopaminergen Rezeptoren durch Clozapin, weniger D2-Rezeptoren für eine ausreichende antipsychotische Wirksamkeit besetzt werden müssen. Diese Hypothese ist allerdings nicht unumstritten, da das eher klassische Neuroleptikum Flupenthixol auch etwa gleich stark an den D1- wie an den D2-Rezeptor bindet. Gemeinsame Blockade von Serotonin5-HT2-Rezeptoren und DA-D2-Rezeptoren Schon lange vermutet man, dass die beim Clozapin eine sehr starke Blockade von Serotonin5-HT2-Rezeptoren bei gleichzeitiger DA-D2Rezeptorblockade eine wichtige Rolle spielt für die relativ geringe Inzidenz von extrapyramidalmotorischen unerwünschten Arzneimittelwirkungen und für die bessere Wirksamkeit bei Minussymptomatik. Ein dem Clozapin ähnliches Bindungsverhalten zeigen viele verschiedene andere atypische Substanzen. Gemeinsame Blockade von D2- und 5-HT2-Rezeptoren gilt heute als primärer Wirkungsmechanismus vieler atypischer Substanzen. Die Erklärung liegt in einer Reduktion der serotoninergen Hemmung nigrostriataler dopaminerger Neurone (Abb. 3.2.13). Präferentielle mesolimbische Bindung Die letzte wichtige Hypothese, atypische neuroleptische Eigenschaften zu erklären, fußt auf Beobachtungen von Clozapin und Sulpirid. Danach blockieren beide Substanzen D2-Rezeptoren in mesolimbischen Arealen schon in einem

3 Neurobiologische Grundlagen

Dosisbereich, der nur zu einer geringen Blockade von D2-Rezeptoren in nigrostriatalen Arealen führt. Diese präferentielle Bindung an mesolimbische D2-Rezeptoren (nicht nur deren präferentielle funktionelle Blockade) ist allerdings auf molekularer Ebene z. Z. noch nicht erklärbar. Bedeutung von D3- und D4-Rezeptoren Die erst vor einigen Jahren mit Hilfe molekularbiologischer Methoden identifizierten zur D2Familie gehörenden D3- und D4-Rezeptoren (Sokoloff et al. 1990; van Tol et al. 1991) sind mit der Pharmakologie besonders atypischer Neuroleptika in Verbindung gebracht worden. Grund dafür war die relativ hohe Affinität von Benzamiden wie dem Sulpirid und dem Amisulprid zum D3-Rezeptor und die sehr hohe Affinität von Clozapin zum D4-Rezeptor. Da beide Rezeptoren auch besonders stark in limbischen bzw. kortikalen Arealen lokalisiert sind, hat man ihnen sehr schnell eine wichtige Rolle für die atypischen Eigenschaften zugesprochen. Weiterführende Bindungsstudien sprechen aber gegen eine besonders spezifische Bindung von Sulpirid an den D3-Rezeptor im Vergleich zu dem typischen Neuroleptikum Haloperidol. Auch die dominierende Bedeutung des D4-Rezeptors für die atypischen Eigenschaften des Clozapins muss heute in Frage gestellt werden. Am wahrscheinlichsten hat der D4-Rezeptor eine Bedeutung für die überlegene antipsychotische Wirkung von Clozapin, da diese atypische Eigenschaft bisher nur für diese Substanz gilt (Reynolds 1996; Müller 1998, 1998a). Gemeinsame Blockade von a-adrenergen und D2-Rezeptoren Clozapin, Risperidon und Zotepin sind starke Antagonisten an a1-adrenergen Rezeptoren, was u. a. für die sedierenden Eigenschaften, aber auch für kardiovaskuläre UAW (Orthostase) von Bedeutung ist. Es gibt aber auch Vermutungen, dass ein starker a1-Antagonismus zusammen mit der D2-Blockade atypische Eigenschaften erklären kann (Cohen und Lipinski 1986), allerdings ist dieser Ansatz in letzter Zeit nicht weiter verfolgt worden.

3.2 Pharmakologische Grundlagen

87

Abbildung 3.2.13: Die serotoninerge Hemmung der nigro-striatalen dopaminergen Neurone wird über 5-HT2a-Rezeptoren vermittelt und kann daher durch 5-HT2a-Antagonisten aufgehoben werden. Als Konsequenz ergibt sich eine höhere Affinität mit vermehrter synaptischer Dopaminfreisetzung.

Das „loose binding“ concept Schon vor über 10 Jahren wurde aus der Arbeitsgruppe von Seeman spekuliert, dass die meisten atypischen Neuroleptika eine schwache Bindungsaffinität zum Dopamin-D2-Rezeptor aufweisen und daher leichter durch endogenes Dopamin vom Rezeptor verdrängt werden. Dies sollte besonders für das Striatum gelten, wo physiologisch sehr hohe Dopaminkonzentrationen vorliegen. Dieses Konzept wurde in den letzten Jahren wieder von der gleichen Gruppe aufgegriffen und verfeinert (Kapur und Seeman 2000, 2001). Es besagt, dass sich typische und atypische Neuroleptika im Bereich der Assoziationskonstanten, die die schnelle Bindung der Substanzen an den Dopaminrezeptor bedingen, nicht unterscheiden, dass aber die meisten atypischen Neuroleptika wieder be-

sonders schnell vom Rezeptor dissoziieren, sich also von typischen Neuroleptika im Hinblick auf die Dissoziationskonstante unterscheiden. Es ist allerdings noch nicht sicher, ob sich diese neuartige und im Prinzip sehr einfache Klassifikation durchgehend aufrechterhalten lässt, da bei weitem noch nicht alle Substanzen durchgetestet sind und es eine ganze Reihe eher niederaffiner klassischer Neuroleptika gibt, die eigentlich keine atypischen Eigenschaften haben. Andererseits könnte aber eine schnelle Dissoziation vom Dopamin-D2-Rezeptor tatsächlich bei den atypischen Eigenschaften einiger Substanzen eine Rolle spielen (z. B. Quetiapin, Clozapin) und möglicherweise auch erklären, dass diese Substanzen nur zu einer geringen Prolaktinfreisetzung aus der Hypophyse führen (Abb. 3.2.14).

88

Partieller D2-Agonismus Einen anderen Weg geht die neuere Substanz Aripiprazol, die als partieller Agonist an D2Rezeptoren wirkt (Müller 2002). Durch die immer noch vorhandene leichte Aktivierung im nigo-stratialen System bleiben EPS als Nebenwirkung weitgehend aus, während die D2-antagonistische Komponente wahrscheinlich im mesolimbischen System für eine gute antipsychotische Wirkung ausreicht. Gemeinsame Endstrecke Allen Atypika gemein ist eine schwächere Wirkung auf striatale D2-Rezeptoren im Vergleich zu D2-Rezeptoren in limbischen oder cortikalen Bereichen, die mit Ausnahme des Partialagonisten Aripiprazol auch auf eine geringere striatale Bindung zurückzuführen ist (Stone et al. 2008), die sich zum einen durch die hohe Dopamin-Konzentration im Striatum erklären

3 Neurobiologische Grundlagen

lässt, die um die D2-Bindung konkurriert, besonders bei „loose-binder“ oder wenn durch 5-HT2a Antagonismus die striatalen dopaminergen Neurone ungebremst Dopamin freisetzen (Abb. 3.2.15).

3.2.6 Psychopharmakologische Grundlagen der Tranquilizer Biochemische Wirkungsmechanismen Benzodiazepine greifen über spezifische Bindungsstellen am GABAA-Rezeptorkomplex (Rezeptorgesteuerter Chloridkanal bestehend aus 5 Untereinheiten der Klassen a, b, g) an und verstärken damit den wichtigsten, zentralen inhibitorischen Transmittersystem GABA (Gammaaminobuttersäure). Die Affinität zu den

Abbildung 3.2.14: Die Beziehung zwischen der Affinität angegeben durch die Gleichgewichtsbindungskonstanten Ki (in nmol/l) und der Dissoziationshalbwertszeit koff (in min-1). Bei den meisten Antipsychotika wird die unterschiedliche Affinität durch Unterschiede der Dissoziationsgeschwindigkeit determiniert. Amisulpride, Paliperidone und Aripiprazole haben trotz relativ hoher Affinität eine schnelle Dissoziation (Daten nach Kapur and Seeman 2000, 2001; Seeman, 2005).

3.2 Pharmakologische Grundlagen

89

Abbildung 3.2.15: In einer gepoolten Analyse von D2-Rezeptor-Bindungsdaten von atypischen Antipsychotika am Menschen zeigt sich eine deutlich geringere striatale Bindung der Atypika im Vergleich zu Typika, bei einem nur geringen Unterschied beider Gruppen bei der D2-Bindung im Cortex (Daten nach Stone et al. 2008).

Rezeptoren ist unterschiedlich und korreliert hoch mit der pharmakologischen Potenz und den für die klinische Wirkung notwendigen Tagesdosen (Müller 1995). Die Benzodiazepinbindungsstellen bilden zusammen mit den GABA-Bindungsstellen und verschiedenen anderen regulatorischen Bindungsstellen eine komplexe strukturelle und funktionale Einheit (Abb. 3.2.16). Die Benzodiazepine verstärken die postsynaptischen GABA-Effekte mit der Folge, dass die Durchlässigkeit für Chloridionen durch die Chloridionenkanäle erhöht und damit die GABAerge Hyperpolarisation des Zellinnern verstärkt wird. Damit wird die Zelle weniger empfindlich für erregende Impulse. Wirkung der Benzodiazepine Praktisch alle pharmakologischen und klinischen Effekte der Benzodiazepine (Tab. 3.2.8) werden über ihren agonistischen Angriff an den „Benzodiazepinrezeptoren“ vermittelt, wobei

viele Hirnareale eine Rolle spielen. Erwünschte wie unerwünschte Wirkungen können daher durch Benzodiazepinrezeptorantagonisten (Flumazenil, Anexate) sehr schnell im Sinne eines kompetitiven Antagonismus aufgehoben werden, z. B. zur schnellen Terminierung therapeutischer Effekte oder bei Überdosierungen bzw. Intoxikationen. Antidepressiva Ältere sedierende Antidepressiva werden als Tranquilizer häufig in sehr viel niedrigeren als den antidepressiven Dosen eingesetzt (z. B. Doxepin, Trimipramin, Amitriptylin), wobei es für diese Niedrigdosisbehandlung wenige kontrollierte Daten gibt. Bei der Behandlung von spezifischen Angsterkrankungen (Panik, Zwang) werden dagegen eher gleiche z. T. auch über die antidepressive Dosis hinausgehende Dosierungen eingesetzt werden (besonders auch bei den SSRI). Wie weit hier andere Wirkungsmecha-

90

3 Neurobiologische Grundlagen

Abbildung 3.2.16: A. Schematische Darstellung des Wirkungsmechanismus und des funktionellen Zusammenhangs zwischen GABA-Benzodiazepin-Rezeptorkomplex und Chloridionenkanal. B. Elektrische Vorgänge am postsynaptischen Neuron: Rechts ist das Membranpotiential (EM) durch inhibitorischen Input (i) negativer geworden (Hyperpolarisation), so dass der Schwellenwert T) zur Auslösung eines Aktionspotentials (AP) auch bei mehrfachen exzitatorischen Input nicht erreicht wird.

Tabelle 3.2.8: Benzodiazepine: Wichtigste pharmakologische Wirkungen und therapeutische Anwendung (nach Haefely et al., 1983) Pharmakologische Wirkungen

Klinische Indikationen

Anxiolyse, Antikonflikt- und Antifrustrationswirkung; Enthemmung gewisser Verhaltensformen

Angst, Phobien, Ängstliche Depression, Neurotische Hemmungen

Antikonvulsive Wirkungen

Verschiedenste Formen epileptischer Aktivität (Epilepsien, Konvulsivavergiftungen)

Dämpfung der psychischen Reaktionsbereitschaft auf Reize (»Sedation«)

Hyperemotionelle Zustände, Erregungszustände

Schlaffördernde Wirkung

Schlafstörungen

Dämpfung zentral vermittelter vegetativ nervöser und hormonaler Antworten auf emotionelle und psychische Reize

Psychosomatische Störungen (kardiovaskuläre, gastrointestinale, urogenitale, hormonelle)

Zentrale Verminderung des Skelettmuskeltonus

Somatisch bedingte und psychogene Muskelspasmen, Tetanus

Verstärkung der Wirkung von zentral dämpfenden Pharmaka; anterograde Amnesie

Anästhesiologie für chirurgische und diagnostische Eingriffe

Fehler direkter Wirkungen außerhalb des Zentralnervensystems; ungewöhnlich geringe Toxizität

Breites Indikationsfeld wegen guter allgemeiner Verträglichkeit in therapeutischen Dosen

3.2 Pharmakologische Grundlagen

nismen als bei der Depressionsbehandlung eine Rolle spielen, ist nicht bekannt. Im Gegensatz zur Depression, wo noradrenalinbetonte und serotoninbetonte Antidepressiva eher gleichwertig sind, scheinen allerdings bei spezifischen Angsterkrankungen (z. B. Zwang) eher serotoninbetonte Antidepressiva klinisch wirksam zu sein. Neuroleptika Zum Wirkungsmechanismus der als Tranquilizer eingesetzten niedrig dosierten Neuroleptika s. Abschnitt 3.2.3. Pregabalin als Anxiolytikum Pregabalin wird in jüngster Zeit auch zur Behandlung von Angsterkrankungen, besonders generalisierter Angst eingesetzt. Als spezifischer Wirkungsmechanismus gilt eine Hemmung verschiedener spannungsabhängiger Calciumkanäle über eine ihnen gemeinsame Untereinheit vom α2δ-Typ und eine damit verbundene reduzierte Freisetzung verschiedener Neurotransmitter aus der Präsynapse.

3.2.7 Psychopharmakologische Grundlagen der Antidementiva Zur Behandlung neurodegenerativer (Alzheimer) und vaskulärer Demenzen stehen verschiedene neuere und ältere Antidementiva zur Verfügung. Ihnen gemeinsam ist das therapeutische Ziel, bei Patienten mit neurodegenerativer bzw. vaskulärer Demenz eine Verbesserung, besonders im Bereich von Kognition (Gedächtnis, Lernfähigkeit, Konzentrationsfähigkeit), zu erreichen, wenn möglich in einem Maß, dass die Altagskompetenz verbessert wird. Zur Belegung dieses therapeutischen Anspruches werden heute aufwendige klinische Studien gefordert, die mindestens in zwei von drei Bereichen eine der Placebotherapie überlegene Effektivität aufweisen müssen (kognitive Leistungsfähigkeit, globales ärztliches Urteil, Alltagskompetenz). Diese, durch die Zulassungsbehörden definierten Kriterien werden von den einzelnen Antidementiva etwas unterschiedlich erfüllt, allerdings haben alle im Folgenden aufgeführ-

91

ten Substanzen eine Zulassung bzw. eine Nachzulassung für neurodegenerative und/oder vaskuläre Demenzen bzw. Hirnleistungsstörungen im Alter (was die frühere Indikation dieser Substanzen war). Damit ist den aktuellen Anforderungen nach zwangsläufig die Datenlage für die Acetylcholinesterasehemmstoffe und Memantine besser als für die älteren Substanzen wie Nimodipin und Piracetam. Ginkgo biloba Extrakt ist die einzige der älteren Substanzen für die mehrere positive Studien entsprechend den modernen Prüfungskriterien vorliegen. Im Zeitalter der Evidenz-basierten Bewertungen schneiden daher bei vielen Einschätzungen die älteren Substanzen schlechter ab. Kritisch anmerken sollte man allerdings hier, dass schlechtere wissenschaftliche Datenlagen entsprechend modernerer Prüfungskriterien nicht zwangsläufig schlechtere Wirksamkeit bedeuten muss. Daher gibt es auch viele Stimmen, die die älteren Substanzen auch weiterhin für eine Bereicherung des therapeutischen Repertoires bei Demenzen halten. Acetylcholinesterasehemmer Die heute wichtigsten Substanzen zur Behandlung der Alzheimer Demenz (Donepezil, Rivastigmin, Galantamin) sind Hemmer des Enzyms Acetylcholinesterase, das den Abbau des Neurotransmitters Acetylcholin im Gehirn aber auch an peripheren Synapsen vermittelt. Sie sollen damit einen spezifischen Verlust bestimmter cholinerger Nervenzellen im Nucleus basalis im Verlauf der Alzheimer Erkrankung ausgleichen, der spezifisch in die Steuerung kognitiver Funktionen involviert sind. Die therapeutischen Möglichkeiten bleiben trotzdem hinter den Erwartungen zurück, weil im Rahmen einer neurodegenerativen Demenz zwar diese cholinergen Neurone überproportional stark zugrunde gehen, aber auch viele andere Neurone und Neurotransmittersysteme vom neurodegenerativen Prozess betroffen sind. Acetylcholinesterasehemmer sind darüber hinaus nicht spezifisch für die Alzheimer Demenz, da sie auch kognitive Leistungsverbesserungen bei Patienten mit vaskulärer Demenz und altersassoziierter Gedächtnisstörung (MCI) zeigen.

92

Die Substanzklasse der Acetylcholinesterasehemmstoffe zeigt spezifische UAW-Probleme (besondere Vorsicht ist geboten bei der Anwendung an Patienten mit Magen-Darm-Ulzera, asthmatischen Erkrankungen und Herzrhythmusstörungen) mit besonders häufigen gastrointestinalen Nebenwirkungen, die bei einem deutlichen Teil der Patienten die notwenige Langzeitbehandlung erschweren. Memantine Memantine ist ein Antagonist an zentralen Glutamatrezeptoren vom N-Methyl-D-AspartatTyp (NMDA) (Kornhuber et al. 1989; Müller et al. 1995). Über beide Mechanismen lassen sich die akuten leistungsverbessernden und möglicherweise auch längerfristig protektiven Wirkungen dieser Substanz erklären. Ginkgo biloba Extrakt und Piracetam Ginkgo Extrakt ist durch die darin enthaltenen Flavonoide ein recht guter Radikalfänger, während das klassische Nootropikum Piracetam die Fließeigenschaften des Blutes durch Formveränderungen der Blutzellen positiv beeinflusst. Beiden Substanzen gemeinsam ist eine Verbesserung der mitochondrialen Funktion und damit der Bereitstellung von ATP nach Schädigungen, wie sie im Rahmen des Alterungsprozesses und auch bei Demenzen auftreten (Eckert et al. 2005; Keil et al. 2006). Damit verbunden ist eine verbesserte zerebrale Leistungsfähigkeit, besonders im Bereich kognitiver Funktionen. Darüber können beide Substanzen, besonders aber EGb 761 wahrscheinlich auch über eine Verbesserung der mitochondrialen Funktion neurodegenerative Veränderungen über eine antiapoptotische Wirkung verbessern. Nimodipin Nimodipin ist ein Antagonist von spannungsabhängigen Kalziumkanälen (L-Typ) ähnlich den peripher angreifenden Substanzen Verapamil und besonders Nifedipin. Die ursprüngliche These, dass Nimodipin das ZNS vor einer Überladung mit freiem intrazellulärem Kalzium [Ca2+]i schützt, ist neueren Untersuchungen nach wahrscheinlich eine Vereinfachung (Mül-

3 Neurobiologische Grundlagen

ler et al. 1996). Möglicherweise schützt Nimodipin das alternde ZNS weniger vor einer Überladung mit [Ca2+]i als vor einer erhöhten Empfindlichkeit gegen [Ca2+]i. Darüber hinaus scheint Nimodipin eher bei vaskulären als bei neurodegenerativen Demenzen wirksam zu sein. Entwicklung neuer Therapiekonzepte Bei der Alzheimer-Demenz ist eine Beseitigung der Ursachen oder eine Prophylaxe z. Z. nicht möglich. Oberstes Ziel der Grundlagenforschung ist es demnach, nach Mechanismen zu suchen, die am neurodegenerativen Prozess beteiligt sind und somit Targets für neue Inter ventionsstrategien darstellen. Hier hat man endlich die an b-Amyloid-haltigen Plaques orientierte ältere b-Amyloid-Kaskadenhypothese dahingehend modifiziert, dass für den degenerativen Prozess eher kleine und lösliche oligomere bAmyloidaggregate verantwortlich sind und initial zu einer Störung der Synapsen-und Mitochondrienfunktion führen (Haass u. Selkoe 2007; Hauptmann et al. 2006; Leuner et al. 2007). Basierend auf der b-Amyloid-(Ab-) Hypothese der Alzheimer-Krankheit bestehen viele Forschungsansätze darin, eine Ab-bezogene Therapie zu entwickeln. So könnte die Entstehung des Ab-Proteins einerseits durch eine Reduktion der Syntheserate des Vorläuferproteins APP und andererseits durch eine Reduktion der Umwandlungsrate des APP in das Ab-Protein verlangsamt werden. Letzteres kann über die Beeinflussung der an der APP-Prozessierung beteiligten Sekretasen, die zur Bildung von Ab führen (b- und γ-Sekretase), umgesetzt werden. Neben der Produktion des Ab-Proteins erscheint es auch sinnvoll, den Degradations- und Abbauweg von Ab zu beeinflussen, der den Lebenszyklus des Ab vervollständigt. Deshalb wird auch die Entwicklung von Substanzen, die die Aggregation von Ab zu dessen Plaques verhindert, als vielversprechend angesehen. Klinische Wertungen dieser Ansätze zeigen allerdings, dass bis heute sich noch keine Substanzklasse abzeichnet als nächste Generation therapeutisch einsetzbarer Antidementiva (Schüssel u. Müller 2008; Mattson 2004). Aufsehen erregte ebenfalls eine Studie mit APP-trans-

93

3.2 Pharmakologische Grundlagen

genen Mäusen, die zeigte, dass eine auf Ab1-42 basierende Impfung diffuse Ab-Plaques entsorgen bzw. auflösen kann (Schenk et al. 1999). Die nachfolgende Humanstudie musste wegen schwerer UAW (aseptische Meningoenzephalitis als Ausdruck einer Autoimmunreaktion) abgebrochen werden. Die klinische Auswertung der Daten an den Patienten, die positiv auf die Impfung reagiert hatten (nachweisbare Antikörper), zeigte zwar eine Reduktion von b-Amyloid, aber keine klinische Besserung (Holmes et al. 2008). Zusammen üben erste negative Studien zu einem ersten γ-Sekretasehemmstoff und einem Hemmstoff der Ab-Aggregation hat damit die Entwicklung sogenannter „kausalaktiver“ Therapieansätze einen erheblichen Rückschlag hinnehmen müssen, so dass man zurzeit gespannt auf die nächsten klinischen Studien wartet. Ein weiteres Target für eine pharmakologische Intervention stellt die intrazelluläre Zelltodkaskade dar. Auf dem kontrovers diskutierten Gebiet der neuronalen Apoptose bei neurodegenerativen Erkrankungen wurden im Laufe der letzten Jahre entscheidende Forschritte beim Verständnis der Pathogenese erzielt. Neue Therapieansätze zeichnen sich ab und die ersten Substanzen, die direkt mit der Apoptosekaskade interagieren, gelangen in die Klinik. Es ist zu hoffen, dass mit der Entwicklung spezifischer Substanzen es in den nächsten Jahren gelingen wird, den neuronalen Zelltod bei Demenzpatienten wenn nicht zu verhindern, so doch zumindest verlangsamen zu können.

3.2.8 Psychopharmakologische Grundlagen der Therapie von ADHS Pharmakologische Grundlagen der Stimulantien Zur Therapie von ADHS kommen hauptsächlich die beiden Stimulantien Methylphenidat und Amphetamin und der neuere Noradrenalinwiederaufnahmehemmer Atomoxetin zum Einsatz (Rappley 2005). Während das am meisten eingesetzte Methylphenidat die neuronale Aufnahme von Dopamin stärker als von Noradrenalin hemmt, ist Atomoxetin ein selektiver Noradrenalinwiederaufnahmehemmstoff. Dass unter Atomoxetin trotzdem das für die Aufmerksamkeit wichtige präfrontale dopaminerge System beeinflusst wird, liegt an der physiologischen Besonderheit, dass im präfrontalen Kortex praktisch keine Dopamintransporter vorhanden sind, so dass die Inaktivierung freigesetzten Dopamins vom Noradrenalintransporter vermittelt wird. Daher wird dieses System auch unter Atomoxetin ähnlich wie durch Metylphenidat beeinflusst. Während Amphetamin selbst in der Behandlung von ADHS bei uns nur eine sehr untergeordnete Rolle spielt, führt die Gleichstellung beider Substanzen im Hinblick auf das mögliche Abhängigkeitsrisiko immer wieder zu einer Verunsicherung von Arzt und Patient. Hier lassen sich allerdings beide Substanzen, sowohl von der klinischen Erfahrung (unter der Therapie mit Methylphenidat

Tabelle 3.2.9: Angriffspunkte der aktuellen ADHS Therapeutika an zentralen monoaminergen Synapsen (nach Fone und Nutt 2005) Wirkstoff

Halbmaximale Hemmkonstantenkonzentration in vitro in nmol/l DAT

NET

SERT

VMAT

d-Amphetamin

400

59

> 1000

2100

Methylphenidat

34

339

> 10000

––––

1450

5

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––––

Atomoxetin

Dargestellt sind halbmaximale Hemmkonstanten (in vitro) (nmol/l) für den neuronalen Dopamin-Transporter (DAT), den neuronalen Noradrenalin-Transporter (NET), den neuronalen Serotonin-Transporter (SERT), und den zentralen vesikulären Transporter VMAT. Näheres siehe Text

94

kommen Abhängigkeitsentwicklungen so gut wie gar nicht vor), wie auch von der Pharmakologie im Hinblick auf Abhängigkeitsentwicklungen klar abgrenzen (Volkow und Swanson 2007). Während Methylphenidat nur den Dopamin- und Noradrenalintransporter hemmt (Tab. 3.2.9), damit eine Verstärkung der jeweiligen Neurotransmission abhängig von der neuronalen Entladungsfrequenz bewirkt, hemmt Amphetamin zum einen den Noradreanalintransporter stärker als den Dopamintransporter, führt aber auch zu einer Blockade der vesikulären Aufnahme beider Neurotransmitter verbunden mit einer vermehrten Freisetzung und damit einer auch dopaminergen Stimulation unabhängig von der neuronalen Entladungsfrequenz. Dies bedeutet, dass im direkten Vergleich das Abhängigkeitspotential von Methylphenidat auch im Experiment deutlich geringer ist als bei Amphetamin (Fone und Nutt 2005).

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3.3 Verhaltenspharmakologie und typische Testmodelle W. E. Müller

Die verhaltenspharmakologische Testung von Psychopharmaka im Tierexperiment hat lange Tradition und stellt auch heute noch einen wichtigen Aspekt in der Entwicklung neuer Psychopharmaka dar. Bei sachgemäßer Interpretation der so erhaltenen Daten sind verhaltenspharmakologische Modelle wichtige Bausteine im Rahmen einer weitspannenden Forschungsstrategie. Die Kritik an verhaltenspharmakologischen Tiermodellen ist weniger mit den Modellen an sich verbunden, sondern mit einer Überinterpretation der damit erhaltenen Ergebnisse, häufig dadurch bedingt, dass man bestimmte Verhaltensveränderungen vorschnell im Hinblick auf Symptome der möglicherweise zu behandelnden psychiatrischen Erkrankung interpretiert. Folgende wichtige Einschränkungen und Interpretationsprobleme sollte man immer bedenken, wenn es um die Bewertung von verhaltenspharmakologischen Daten im Tiermodell im Hinblick auf die Situation des Patienten geht. Nicht berücksichtigt werden soll in diesem kurzen Kapitel eine sehr breite wissenschaftliche Datenlage zur Beeinflussung des adäquaten tierischen Verhaltens durch Psychopharmaka, also eine tierexperimentelle Pharmakopsychologie. Diese sehr wichtige Forschungsrichtung kann natürlich auch bei vor-

sichtiger Interpretation auf die Situation am Menschen wertvolle Beiträge für die Arzneimittelentwicklung liefern. Im vorliegenden Kapitel soll der Augenmerk primär auf verhaltenspharmakologische Modelle gerichtet werden, die direkt zur klassenspezifischen Testung von Psychopharmaka eingesetzt werden. Die folgende Darstellung umfasst Tiermodelle bei Depression, Psychosen bzw. Antidepressiva, Antipsychotika und Tranquilizer. Nicht dargestellt sind pharmakologische und genetische Modelle zu neurodegenerativen Erkrankungen, z. B. Demenzen und Parkinson. Für eine tiefergehende Einführung in die Thematik sei der interessante Leser auf verschiedene Monographien und Übersichtsarbeiten verwiesen (Fuchs und Flügge 2006; Frazer und Morilak 2005; Rodgers 1997; Poling und Byrne 2000; van Haren 1993; Willner 1991).  Praktisch alle psychiatrischen Erkrankungen äußern sich zu mindestens auch in Störungen der verbalen Kommunikation bzw. benötigen verbale Kommunikation im Rahmen der anamnestischen, bzw. diagnostischen Abklärung. Es liegt auf der Hand, dass diese Ebene der Symptomatik bzw. der Symptome

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zur Erfassung von Beeinträchtigung für alle tierexperimentellen Modelle nicht zutrifft.  Im Tierexperiment können Psychopharmaka nur durch Veränderungen des Verhaltens gemessen werden. Dies kann normales spontanes Verhalten sein (Explorationsaktivität), kann situatives Verhalten sein (Vermeidung, Angst, Flucht, Aggressivität) oder kann durch eine Substanz induziertes pathologisches Verhalten sein (Amphetamininduzierte Stereotypien). In jedem Fall muss man sich vor Augen halten, dass alle diese Verhaltensmuster unserer Versuchstiere artspezifisches und häufig eher „normales“ Verhalten als Antwort auf eine besondere Situation darstellen. Diese können durch eine Reihe anderer Parameter mit moduliert werden, die zwar durch saubere experimentelle Arbeit teilweise kontrolliert werden können, aber in vielen Fällen immer noch interagierende Variablen darstellen. Typische in solchen Modellen gemessene Verhaltensweisen beziehen sich auf die Nahrungsaufnahme, auf die lokomotorische Aktivität, auf die Körperpflege, auf das Aggressions- bzw. Defensivverhalten und auf das Sexualverhalten. Alle diese Verhaltensmuster sind artspezifisch, bedeuten damit auch nicht bei jedem Tier das gleiche und können auch nicht vorschnell auf ähnliche Verhaltensmuster am Menschen bzw. am Patienten übertragen werden. In vielen Fällen testen wir die pharmakologische Beeinflussung eher normaler Verhaltensmuster unserer Versuchstiere, die durch einen positiven (z. B. Futterbelohnung) bzw. negativen (leichter Stromstoß) Reiz ausgelöst werden. Nur bei den sehr guten Verhaltensmodellen sind wir in der Lage, ein durch Training oder Selektion erreichtes, auch für die Tiere nicht mehr normales Verhalten mit Analogien zur Situation am Menschen durch unsere Substanzen dahingehend zu korrigieren, dass wieder für die Tiere adäquate Verhaltensmuster auftreten (z. B. erlernte Hilflosigkeit oder milder chronischer Stress bei den Depressionsmodellen).  In vielen Fällen wird im Tiermodell normales Verhalten (z. B. in vielen Angstmo-

3 Neurobiologische Grundlagen

dellen) pharmakologisch beeinflusst, was nicht zwangsläufig das gleiche ist wie die Behandlung von Störungen in diesem Symptombereich, wie sie bei psychiatrischen Patienten auftreten (Angsterkrankungen). D. h. Angst im Verhaltensmodell z. B. auf dem „elevates plus maze“ ist ein natürliches und nicht pathologisches Verhaltensmuster, und entspricht vielleicht der Angst eines Menschen, wenn er auf einer schmalen 2 Meter hohen Mauer laufen soll. Die Angst eines Patienten z. B. im Rahmen einer generalisierten Angsterkrankung, aber auch im Rahmen einer phobischen Angsterkrankung hat einen ganz anderen Hintergrund, auch wenn sie möglicherweise für die Reaktionsvermittlung ähnliche zentrale Schaltkreise benutzt.  Viele Verhaltensmodelle sind nicht über die Psychopathologie der mit den Substanzen zu behandelnden Erkrankungen entwickelt worden, sondern sie sind auf der Basis bereits therapeutisch geprüfter Arzneistoffe entstanden. Antidepressiva gehen auf die Zufallsentdeckung Imipramin zurück und wurden in die Therapie eingeführt, ohne dass zu dieser Zeit entsprechende Verhaltenmodelle zur Verfügung standen. Diese sind erst sehr viel später auf der Basis von Verhaltensänderungen durch Imipramin und ähnlicher Substanzen generiert worden. Der Bias, dass man stärker auf die spezifischen Eigenschaften von Imipramin-ähnlichen Substanzen testet, als auf eigentliche antidepressive Wirksamkeit, liegt natürlich auf der Hand. Ein typisches Beispiel wäre der Effekt von Trizyklika auf durch Reserpin-induzierte Veränderungen, wo die Trizyklika den Monoaminverlust durch Reserpin funktionell reduzieren, also letztlich auf einer biochemischen Ebene wirken, die möglicherweise nicht direkt mit Depressivität verbunden ist.  Praktisch allen Tiermodellen ist gemeinsam, dass sie nicht in der Lage sind, alle Aspekte einer psychiatrischen Erkrankung und ihrer therapeutischen Beeinflussbarkeit abzubilden. Aus diesem Grund hat man verschiedene Kriterien herausgearbeitet, mit deren

3.3 Verhaltenspharmakologie und typische Testmodelle

Hilfe man in der Lage ist, die Aussagekraft eines jeweiligen verhaltenspharmakologischen Modells einzuordnen. Derartige Validitätskriterien für verhaltenspharmakologische Tiermodelle sind in Tabelle 3.3.1 zusammengefasst. In den letzten 10 Jahren hat die Möglichkeit, transgene Tiermodelle für verhaltenspharmakologische Untersuchungen zu schaffen, geradezu explosionsartig zugenommen (Chen et al. 2006; Driscoll et al. 1998). Obwohl auch mit diesen Modellen zum Teil extrem wichtige Daten generiert werden können, muss man

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sich auch vor Augen halten, dass die Veränderung oder gegebenenfalls die Entfernung eines bestimmten Gens nicht zwangsläufig die gleichen zentralnervösen Symptome auslösen muss, wie eine Störung des entsprechenden Genproduktes im Rahmen psychiatrischer Erkrankungen, die häufig phasenweise verlaufen mit relativ langen Perioden fehlender zentralnervöser Beeinträchtigung. Im Bereich transgener Tiermodelle sieht man immer wieder, dass die genetische Ausschaltung eines Gens und des damit verbundenen Proteines (z. B. Rezeptor-bzw. Enzym) zu ganz anderen Verhaltensänderungen an den Tieren führt, als die akute oder auch

Tabelle 3.3.1: Validität von pharmakologischen Verhaltensmodellen für psychiatrische bzw. neurologische Erkrankungen Art der Validität

Erklärung

„Predictive“ Validität Die sogenannte „Predictive“ Validität bewertet die Vorhersagekraft eines Tiermodells auf die klinische Situation, besonders auf die Behandlung durch Medikamente. Die Bewertung betrifft damit die Wirksamkeit von Substanzen in diesem Modell im Hinblick auf ihre Vergleichbarkeit bei einer bestimmten Erkrankung am Patienten. Die „Predictive“ Validität bzw. ein Test mit sehr hoher „Predictive“ Validität kann damit im einfachsten Fall ein Screening Test sein, der idiopathogenetisch keine oder nur wenige Übertragbarkeit auf die Erkrankung haben muss. Wichtig ist, dass hier die Wirkung des Effektes (Verbesserung bzw. Verschlechterung), die Dosisabhängigkeit, gegebenenfalls auch die Zeitabhängigkeit (ist 1x Gabe wirksam oder wird Mehrfachgabe über Tage bzw. Wochen benötigt) abgebildet wird. Je besser die „Predictive“ Validität ist, desto weniger Substanzen sind falsch positiv wirksam (wirksam im Test, aber nicht am Patienten) oder sind falsch negativ wirksam (nicht wirksam im Test, aber wirksam am Patienten). Wichtige Tiermodelle mit hoher „Predictive“ Validität wären im Bereich der Antidepressiva der sogenannte Behavioral Despair-Test, wo die Immobilitätszeit der Tiere, die eigentlich nicht mit der Entschlusslosigkeit depressiven Patienten verglichen werden kann, durch fast alle Antidepressiva reduziert wird, bzw. das konditionierte Vermeidungs- (Flucht) Verhalten als wichtiger Test für neuroleptische Aktivität, der auch neuesten Untersuchungen nach eine sehr hohe „Predictive“ Validität über die Gruppen der typischen, aber auch atypischen Neuroleptika zeigt. „Face“ Validität“

Die „Face“ Validität bezieht sich auf die phänomenologische Ähnlichkeit des Verhaltens oder der Verhaltensänderung im Tiermodell zu der spezifischen Situation am Menschen. Die bereits erwähnte Wirksamkeit von Trizyklika im Reserpinantagonismus hat praktisch keine „Face Validität“, da die hier gemessenen Parameter keinen klaren Bezug zur Depression am Menschen haben. Dagegen ist die Wirksamkeit der Trizyklika im milden chronischen Stress als Modell der Anhädonie depressiver Patienten durchaus ein Modell, das deutliche Face-Validität zeigt.

„Construct“ Validität Hier wird geprüft, inwieweit das Tiermodell im Hinblick auf Pathologie und Symptomatologie der Erkrankung nahekommt und möglicherweise auch organische Veränderungen widerspiegelt, die für die psychiatrische Erkrankung typisch sind. Ein Beispiel für ein Tiermodell mit deutlicher Konstrukt „Validität“ für Depression wäre das Modell der erlernten Hilflosigkeit, da hier durch eine aufgezwungene (life event) Verhaltensänderungen nur ein Teil der Tiere tatsächlich auch depressionsähnliches Verhalten annimmt, was sich wiederum über das Verhalten hinaus in verschiedenen neurochemischen und endokrinologischen Veränderungen widerspiegelt, die in ähnlicher Weise am Patienten gesehen werden. Eine gewisse, wenn auch nur eingeschränkte „Construct“ Validität haben auch verschiedene transgene Alzheimer Tiermodelle, bei denen eine vermehrte Kumulation von ß-Amyloid-Peptid nicht nur zur Ablagerung von Plaques, sondern auch zu Anzeichen von Neurodegeneration und kognitiver Leistungseinbuße führt.

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subchronische Hemmung des gleichen Targets durch pharmakologisch wirksame Substanzen. Deutlich weiterführende Modelle sind hier transgene Tiere, bei denen die genetische Veränderung durch eine Zusatzfunktion zu unterschiedlichen Lebenszeiten des betroffenen Tieres an- oder ausgeschaltet werden kann. Es bleibt abzuwarten, inwieweit in diesen Modellen bestimmte Symptome psychiatrischer Erkrankungen besser und auch im Hinblick auf die Therapie relevanter dargestellt werden können, als es bis jetzt möglich ist.

3.3.1 Verhaltenspharmakologische Modelle zur Testung antidepressiver Wirkungen Ebenso wie die chemische Struktur sind auch die pharmakologischen Eigenschaften der als Antidepressiva eingesetzten Präparate recht unterschiedlich, wenn auch eine Erhöhung der synaptischen Konzentration von Serotonin und/ oder Noradrenalin ein gemeinsamer Nenner zu sein scheint (s. Kap. 3.2.3). Das Grundproblem der Forschung in diesem Bereich ist immer noch die eingeschränkte Validität vieler einfacher Modelle, die zum Teil aber eine hohe Praktikabilität haben (z. B. Immobilität), bzw. die eingeschränkte Praktikabilität und auch reduzierte Replizierbarkeit therapeutischer Interventionen bei den Testen, die eine höhere Validität besitzen, wie z. B. der chronisch milde Stress bzw. die erlernte Hilflosigkeit. Nach vielen Jahrzehnten Forschungsarbeit werden zur Beurteilung der Antidepressiva Eigenschaften einer Substanz daher wenn möglich immer mehrere der folgenden Tiermodelle herangezogen. Diese sind allerdings nur z.T. eigentliche „Tiermodelle der Depression“, während viele ältere eher an den pharmakologischen Eigenschaften der Trizyklika orientiert sind und primär deren NA- bzw. serotoninverstärkenden Effekte erfassen. Spontanverhalten Viele, aber nicht alle Antidepressiva, insbesondere Trizyklika, hemmen das Spontanverhalten

3 Neurobiologische Grundlagen

bei Tieren, und sie zeigen auch in mittleren und höheren Dosen andere zentral dämpfende Effekte. Damit prüft dieses Modell die eher sedierenden, nicht aber antidepressiven Eigenschaften. Im Gegensatz zu vielen Neuroleptika, die ähnliche Wirkungen hervorrufen können, bewirken viele Antidepressiva aber in höheren Dosen eine unterschiedlich ausgeprägte Steigerung der Erregbarkeit. Reserpinantagonismus Antidepressiva, insbesondere Trizyklika, heben durch Reserpin ausgelöste Effekte Wirkungen (psychomotorische Hemmung, verminderte autonome Reaktionen, Hypothermie) auf. Potenzierung von Katecholaminwirkungen Trizyklische Antidepressiva verstärken (wahrscheinlich durch die Hemmung der Rückresorption von Noradrenalin und die dadurch bedingte Konzentrationssteigerung von Noradrenalin am Rezeptor) die durch diesen Transmitter bedingten Blutdrucksteigerungen. Sowohl Reserpin-Antagonismus wie auch die Potenzierung von Catecholamin-Wirkungen sind Modelle, die spezifisch auf die Pharmakologie der älteren Trizyklika ausgerichtet sind. Sie stellen damit eigentlich keine Antidepressiva-Testsysteme dar und haben heute nur noch eine untergeordnete Bedeutung. Separationsmodell Werden Jungtiere sozial isoliert (Trennung von Elterntieren), so kommt es nach einiger Zeit zu erheblichen Aktivitätsverlusten und deutlichen Veränderungen der Körperhaltung. Diese Verhaltensweisen werden als Depressions-ähnlich interpretiert und werden durch viele Antidepressiva aufgehoben. Allerdings sind diese Modelle nicht spezifisch und haben eine begrenzte „Predictive“ Validität, da ähnliche Wirkungen auch durch andere psychotrophe Substanzen wie Alkohol, Benzodiazepine und Opiate erzielt werden können. Behavioral Despair-Test In diesem Immobilitäts-Test bzw. „Schwimmtest“ wird ermittelt, wie lange die Tiere nach Eintauchen in einem wassergefüllten Glaszylin-

3.3 Verhaltenspharmakologie und typische Testmodelle

der versuchen, an der glatten Wand hochzuklettern, bevor sie eine immobile Haltung einnehmen. Antidepressiva verringern die Zeit der Immobilität. Obwohl man die Zeit der Immobilität auch als Aufgeben und Verlust an Motivation interpretieren kann, hat dieses Modell eher eine geringe „Face“-Validität. Geht man von der ursprünglichen, nur 1-tägigen Behandlung auf eine 1 bis 2-wöchige Behandlung, gewinnt das Modell deutlich an „prädictiver“ Validität, da dann z. B. auch die moderneren Serotoninwiederaufnahmehemmstoffe wirksam werden. Chronischer Stresstest In diesem Versuch werden Ratten längere Zeit chronischem Stress (Nahrungskarenz, elektrische Schläge, Isolation, Eintauchen in kaltes Wasser) ausgesetzt. Das dadurch verminderte Explorationsverhalten wird durch Antidepressiva, insbesondere Trizyklika, partiell normalisiert. Chronisch milder Stress In diesem Modell werden sehr viel mildere Stressoren, dafür aber über längere Zeit eingesetzt. In den meisten Vorschriften des chronisch milden Stresses werden die Tiere für bis zu 3 Monaten mit wechselndem Stress belastet, wie z. B. nasser Einstreu, beschränkter Zugang zu Futter und Wasser, wechselnde Käfigpartner, unbekannte Objekte im Käfig, Unregelmäßigkeiten in der Tag- und Nachtbeleuchtung und Lärmbelastung. Durch diesen chronischen Stress verlieren die Tiere den Drang, eine Belohnung in Form einer süßen Lösung (Zucker oder auch Süßstoff ) zu suchen. Dieses Verhalten, was als Lustlosigkeit interpretiert werden kann, wird in direkter Analogie zu den wichtigen Symptomen der Anhädonie depressiver Patienten gesehen. Das Modell hat damit für diesen Aspekt sicher eine deutliche „Face“-Validität, die durch verschiedene neurobiochemische Depresssionsähnliche Veränderungen noch im Hinblick auf eine „Construct“-Validität gewinnt. Auch pharmakologisch kann dieses anhädonische Verhalten bevorzugt durch Antidepressiva beeinflusst werden. Das Modell ist trotzdem problematisch, da die Reproduzierbarkeit über verschiedene Labore relativ schwierig ist, wahrscheinlich begrün-

103

det in der Variabilität der verwendeten milden Stressoren und der damit verbundenen Schwankungen in unterschiedlichen Forschungseinrichtungen. Für eine ausführliche Bewertung dieses Modells sei auf die Übersicht von Willner (1997) verwiesen. Learned Helplessness-Test In diesem Test erlernen die Tiere durch für sie unvermeidbare Stimuli eine „Hilflosigkeit“, die sie auch nach Wegfall der Versuchssituation nicht mehr befähigt, den jetzt vermeidbaren Stimulus (meist milder Stromstoß) zu entfliehen. Diese Hilflosigkeit wird durch Antidepressiva, nicht aber durch Neuroleptika und Tranquilizer aufgehoben. Er gilt als das Depressionsmodell in vielleicht höchster „Construct“ Validität, da nur ein Teil der Tiere das hilflose, also das depressionsanaloge Verhalten annimmt, jetzt aber auch autonome und endokrine Veränderungen zeigt, wie sie auch bei depressiven Patienten gesehen werden. Ein wichtiger Nachteil dieses Modells ist die relativ geringe Vergleichbarkeit der erhobenen Befunde über unterschiedliche Labore, da das Annehmen und auch die Beeinflussbarkeit des hilflosen Verhaltens sehr stark von den individuellen Modalitäten des Experimentators beeinflusst werden (Vollmayr und Henn 2001). Bulbektomierte Ratten Ratten zeigen nach operativer Entfernung des Bulbus olfactorius verschiedene Verhaltensänderungen, die depressionsähnlich sind und durch Antidepressiva korrigiert werden können. Dieses Modell zeigt eine recht gute „Predictive“ Validität, allerdings ist der Bezug zur Pathophysiologie Depression („Face“ Validität) eher fraglich, da bei den Tieren ja ein relativ massiver neurochirurgischer Eingriff vorgenommen wird.

Mood Stabilizer Die Möglichkeit, spezifische Effekte von Mood Stabilizer (Lithium, Carbamazepin, Valproinsäure u. a.) experimentell darstellen zu können, ist begrenzt. Die meisten dieser Substanzen sind ursprünglich als Antiepileptika entwickelt wor-

104

den. Wichtige Modelle mit „Face“ Validität, um diese Substanzen zu testen, sind Anordnungen, bei denen die Tiere einer Kindling-Prozedur ausgesetzt werden (Verhaltenssensitivierung). Hierunter versteht man die fortschreitende Zunahme neuronaler Antworten (hier: Krämpfe) auf fortschreitende milde Stimulationen, die am Anfang keine Antwort auslösen. Auch bei der Pathogenese der Depression gibt es Hypothesen, die im Zusammenhang mit repetitivem chronischen Stress von einer Verhaltenssensitivierung ausgehen, die nach einer Zeit von eher mildem externen Stimulus (Stress) zu einer depressiven Symptomatik führen können. Solche Modelle werden herangezogen, die rezidiv-prophylaktische Wirkung verschiedener Antikonvulsiva bei rezidivierenden Depressionen erklären zu können. Auch Lithium passt letztlich in dieses Schema, da auch Lithium akut gegeben messbare antikonvulsive Eigenschaften besitzt.

3.3.2 Verhaltenspharmakologische Modelle zur Testung von Antipsychotika Auch bei den Neuroleptika besteht das Grundproblem, dass ein adäquates Tiermodell der Schizophrenie nicht existiert. Die meisten der folgenden (klassischen) Tiermodelle werden in der experimentellen Forschung zur Beurteilung von antidopaminergen (nicht antipsychotischen) Eigenschaften herangezogen. Sie werden komplementiert durch eine Vielzahl von biochemischen In-vitro- und In-vivo-Methoden zur Erfassung antidopaminerger Eigenschaften. Katalepsietest Neuroleptika bringen bei Versuchstieren das Spontanverhalten völlig zum Erliegen (Akinese), steigern den Muskeltonus (Rigor) und lassen die Tiere in meist unnatürlicher Haltung (gekrümmter Rumpf, weit abgestreckte Extremitäten) verharren (Katalepsie). Die benötigte Dosis zur Erzielung dieser Effekte gilt als Maß für die extrapyramidalen Nebeneffekte eines Neuroleptikums. Da Katalepsie durch eine Blockade von Dopamin-D2-Rezeptoren in den nigrostria-

3 Neurobiologische Grundlagen

talen Strukturen erklärt wird, ist der relativ einfache Katalepsietest auch in der Lage, parallel zu einem Test der Dopamin-Agonisten-induzierte Verhaltensveränderungen in eher mesolimbischen Strukturen misst, atypische von typischen antipsychotischen Eigenschaften (keine EPS versus ETS) differenzieren zu können (s. a. Tab. 3.3.2) (Wadenberg et al. 2001, 2000). Konditioniertes Vermeidungsverhalten Das konditionierte Fluchtverhalten von Tieren, z. B. das trainierte Ausweichen in die andere Käfighälfte nach Ertönen eines akustischen oder optischen Signals zur Vermeidung eines elektrischen Schlages, wird durch Neuroleptika aufgehoben und zwar in Dosen, die die Motorik noch nicht beeinflussen. Wechselwirkungen mit DA-Agonisten Hier werden Apomorphin, ein DA-Agonist mit gleicher Wirkung am Rezeptor wie Dopamin, und Amphetamin (setzt Dopamin frei und erhöht somit die Konzentration am DA-Rezeptor) eingesetzt. Sie erzeugen bei Nagern in niedriger Dosis zunächst eine Hypomotilität (als Ausdruck der Aktivierung von D2-Rezeptoren im mesolimbischen System) und in höheren Dosen stereotyp sich wiederholende Bewegungsabläufe („Stereotypien“ als Ausdruck der Aktivierung von D2-Rezeptoren im nigrostriatalen System). Bei anderen Tierarten kann durch Apomorphin eine Emesis, bei Mäusen eine gesteigerte Lauf- und Kletteraktivität erreicht werden. Alle diese beispielhaft genannten Wirkungen der DA-Agonisten werden durch Neuroleptika aufgehoben. Tierexperimentelle Modelle für Atypika Die bisherigen pharmakologischen Modelle sind im Wesentlichen auf der Basis der Eigenschaften von Chlorpromazin entwickelt worden, bilden daher primär typische Neuroleptika ab (Ausnahme Katalepsie). Einige tierexperimentellen Modelle, die eine Differenzierung der Eigenschaften typischer Neuroleptika von denen atypischer Substanzen erlaubt, sind in Tabelle 3.3.2 zusammengefasst. Andere Testanordnungen, die eine gewisse Differenzierung von Typika versus Atypika er-

3.3 Verhaltenspharmakologie und typische Testmodelle

105

Tabelle 3.3.2: Typische tierexperimentelle Modelle zur Verhaltenstestung typischer, besonders aber atypischer Neuroleptika. (Nach Nemeroff et al. 2002) Pfotenwegziehtest

– Typische Neuroleptika beeinflussen den Wegzieh-Reflex von Vorder- und Hinterpfoten nach einem Schmerzreiz – Atypische Substanzen beeinflussen die Stärke des Hinterpfotenreflexes – Indikativ für geringe EPS

Katalepsie

– Typische Neuroleptika induzieren Katalepsie bei Dosen, die dopaminerge Verhaltensmuster antagonisieren. – Atypika benötigen sehr viel höhere Dosen – Indikativ für geringe EPS

Haloperidol-sensitivierte Affen (Tiere erhalten Haloperidol bis zum Auftreten von Dyskinesien)

– Typische Neuroleptika wirken ähnlich, Atypika bewirken weniger Dyskinesien – Indikativ für geringe EPS

Durch Apomorphin und Ketamin gehemmte Reduktion des Startle“ Reflexes durch ein vorgeschaltetes Signal (prepulse inhibition)

– Atypika aber nicht Typika stellen die Reduktion des Reflexes durch ein vorgeschaltetes Signal wieder her

Soziale Isolation bei Affen

– Besonders Atypika reduzieren die soziale Isolation von Affen nach chronischer Amphetamin-Gabe

– Modell für eingeschränkte sensomotorische Kontrolle bei Schizophrenen

– Modell für schizophrene Negativsymptomatik EPS Extrapyramidalmotorische Störungen

lauben, wäre die durch NMDA-Antagonisten induzierte Veränderung der Lokomotion, die durch Atypika etwas besser aufgehoben werden kann. Als Analogie zur Erkrankung gilt hier der Befund, dass Schizophrene Symptomatik durch NMDA-Antagonisten, gegebenenfalls ausgelöst in jedem Fall am Patienten, aber verschlechtert werden kann. Auch im Modell der Präpuls-Inhibition, die als Modell für sensomotorische Gateing-Mechanismen gilt, und damit eine gewisse „Face“ Validität für die Schizophrenie hat (Ellenbroeck und Cools 1990), sind unter bestimmten Bedingungen Atypika stärker oder besser wirksam als Typika. Ähnlich aber wie bei den Antidepressiva ist vor allen Dingen durch die etwas differenzierendere Wirkung der Atypika die Verhaltenspharmakologie der Antipsychotika sehr viel komplexer geworden als es früher war, als potenter Dopamin-Antagonismus fast synonym mit neuroleptischer Wirksamkeit gesehen wurde.

3.3.3 Verhaltenspharmakologische Modelle zur Testung von Anxiolytika Ähnlich wie bei den Antidepressiva und Neuroleptika werden auch bei den Tranquilizern bestimmte Tiermodelle eingesetzt, um das Vorhandensein bzw. die Stärke der anxiolytischen und sedierenden Wirkung zu ermitteln. Im Wesentlichen sind es folgende Modelle, die zum Screening herangezogen werden. Die Messung von durch Angst ausgelösten Verhaltensänderungen ist im Tiermodell problemlos möglich. Die hier bei den Tieren zu sehende Angst ist aber in der Regel Realangst, d. h. eine Maus oder Ratte, die sich vor einem fremden Eindringling (wiederum Maus oder Ratte) in ihren Käfig flüchtet, zeigt ein normales natürliches Verhalten. Das gleiche gilt für das Tier auf dem elevated maze oder das Tier das eher in den dunklen Käfigteil geht als im hellen Käfigteil zu verweilen. Die irrationale bzw. nicht-nachvoll-

106

3 Neurobiologische Grundlagen

ziehbare Angst psychiatrischer Patienten lässt sich im Tiermodell eher schlecht darstellen. Während die Beeinflussung akuter, eher natürlicher Angst durch Anxiolytika vom Benzodiazepin-Typ problemlos möglich ist, ist dagegen die unter subchronischer Behandlung auftretende Reduktion pathologischer Angstzustände, wie sie z. B. durch SSRI erreicht werden kann, in der Verhaltenspharmakologie sehr viel schwieriger darstellbar. Im Folgenden einige wichtige Modelle anxiolytischer Effekte im Tiermodell.

grenzten Bereich aufzuhalten. Nach Gabe von Angst-lösenden Substanzen kann hier das natürliche Explorationsverhalten überwiegen, so dass die Tiere sich auch getrauen, auf die offenen Arme zu gehen, ein Verhalten, das gegebenenfalls auch durch eine Futterbelohnung unterstützt werden kann. Die Zeit, die die Tiere im offenen bzw. im geschlossenen Teil verbringen, kann nun als Maß für Angst bzw. für Angstlösung interpretiert und ausgewertet werden. Obwohl hier Realangst untersucht wird, hat das Modell eine gewisse „Face“ Validität.

Konflikttest Mit den Tieren wird trainiert, dass nach Betätigung eines Schalters eine Futterbelohnung freigesetzt wird. Ist dieses positiv verstärkte Verhalten konditioniert, werden in unregelmäßigen Intervallen nach optischer und/oder akustischer Anzeige bei Betätigung des Schalters zusätzlich zur Futterabgabe Elektroschocks verabreicht. Die Tiere geraten in eine Konfliktsituation und lernen sehr schnell, bei Wahrnehmung der Anzeige auf das Drücken des Schalters zu verzichten. Benzodiazepine erhöhen die Anzahl dieser bestraften Antworten; sie vermindern also den hemmenden Einfluss der Bestrafung auf positiv verstärktes Verhalten.

Frustrationssituationen Reduziert man bei konditionierten Tieren die Belohnungen für ein bestimmtes Verhalten, so verlieren die Tiere zunehmend das Interesse an diesen Handlungen. In diesem Modell wird durch Benzodiazepine erreicht, dass die Tiere eine erheblich höhere Frustrationsschwelle zeigen, sie lassen sich also nicht so schnell durch das Ausbleiben einer Belohnung entmutigen.

Exploratives Verhalten im Hell-Dunkel-Käfig Setzt man Mäuse in einen Käfig mit 2 Kammern, von denen eine beleuchtet, die andere aber dunkel ist, so erreicht man durch Benzodiazepine, dass die Tiere häufiger in den hellen Bereich wechseln. Elevated plus maze Dieses Modell gilt als eines der besten und auch relativ einfach und reproduzierbar verwendbaren Angstmodelle (Hogg 1996). Die Testapparatur besteht in der Regel aus einer kreuzförmigen Plattform mit Armen, die an der Seite geschlossen sind, wo also die Maus oder die Ratte nicht nach unten sehen kann und Armen, die offen sind, auf denen die Maus sich wie auf einem Balken bewegen muss. Als Angstmodell wird hier das normale Verhalten der Tiere benutzt, sich eher in dem sicheren seitlich abge-

Angst- und aggressivitäterzeugende Situationen Hier werden die psychomotorischen und emotionalen Reaktionen auf Schrecksituationen bzw. angst- und aggressivitäterzeugende Reize gemessen. Benzodiazepine dämpfen diese Reaktionen, was als sedierende Wirkung interpretiert werden kann.

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3.4 EEG-Mapping und EEG-Tomographie in der Neuropsychopharmakologie* B. Saletu, P. Anderer, J. Stanek und G. M. Saletu-Zyhlarz

3.4.1. Einleitung Seit den frühen Jahren der Neuropsychopharmakologie versucht man, medikamentös induzierte Veränderungen des Elektroenzephalogramms (EEG) zur Klassifikation psychopharmakologischer Substanzen und zur Beurteilung von deren Pharmakodynamik im Zielorgan, dem Gehirn, einzusetzen. Diesbezügliche Untersuchungen basierten ursprünglich auf visueller Evaluation (Bente und Itil 1954; Fink 1959), in den 60er und 70er Jahren auf der computergestützten quantitativen Analyse von Einzelableitungen (Fink 1975; Herrmann 1982; Itil 1974; Saletu 1976) und seit den 80er Jahren auf jener von Mehrkanalableitungen und darauf folgendem EEG-Mapping (Anderer et al. 1987; Buchsbaum et al. 1985; Dierks et al. 1993; Duffy et al. 1981; Galderisi et al. 1996; Itil et al. 1985; John et al. 1988; Lehmann et al. 1993; Maurer und Dierks 1991; Saletu et al. 1987, 1990a,b, 1991a,b, 1996a,b, 1997, 2002a; Saletu-Zyhlarz et al. 1997). So gelang es mittels des Pharmako-EEGs objektiv und quantitativ zu bestimmen, ob, wie, wann

und in welchem Dosisbereich eine Substanz eine Wirkung auf das menschliche ZNS ausübt (Saletu et al. 2002a). Vor etwa einem Jahrzehnt wurde die Methode der EEG-Tomographie, wie beispielsweise LORETA (Low-Resolution Electromagnetic Tomography), entwickelt, die es ermöglicht, den exakten Wirkort einer Substanz im Gehirn zu lokalisieren. LORETA berechnet die glatteste aller möglichen dreidimensionalen Stromdichteverteilungen, basierend auf der Annahme, dass benachbarte Neuronen simultan und synchron aktiviert werden (Pascual-Marqui et al. 1994). In einer Weiterentwicklung des Verfahrens (Pascual-Marqui et al. 1999) können nun simultan aktive elektrische Generatoren im Talairach-Koordinatensystem (Talairach und Tournoux 1988) lokalisiert werden. Dabei wird der Lösungsraum entsprechend der anatomischen Struktur auf Bereiche mit kortikaler grauer Hirnsubstanz und den Hippocampus beschränkt. Somit kombiniert LORETA die hohe zeitliche Auflösung des EEGs mit einer Quellenlokalisationsmethode, welche eine wirk-

* Vorliegender Artikel ist eine Neubearbeitung des Kapitels „Klinische Elektrophysiologie im Wachzustand“ im „Handbuch der Psychopharmakotherapie“, Holsboer F, Gründer G, Benkert O (Hrsg.) (2008) Springer Medizin Verlag Heidelberg. Mit Erlaubnis des Verlages.

110

lich dreidimensionale Tomographie der elektrischen Hirnaktivität und der intra-kortikalen Zielregionen psychotroper Substanzen ermöglicht (Saletu et al. 2002a, 2005a,b, 2006).

3.4.2. EEG-Mapping zur Klassifikation von Psychopharmaka Unsere Pharmako-EEG-Studien bei normalen Probanden zeigten, dass Vertreter verschiedener Psychopharmakaklassen unterschiedliche Veränderungen im EEG-Mapping bewirkten (Saletu et al. 2002a, 2006).

3 Neurobiologische Grundlagen

So fand sich nach sedierenden Neuroleptika, wie 50 mg Chorpromazin, eine Reduktion der Gesamtleistung, eine Erhöhung der Delta/Theta-Power, eine Verminderung der Alpha- und Beta-Power und eine Verlangsamung aller Zentroide sowie des Gesamtzentroids (Abb. 3.4.1). Das atypische Neuroleptikum Quetiapin (50 mg) induzierte – abgesehen von einer Zunahme der Alpha-Power und Beschleunigung des DeltaTheta-Zentroids – sehr ähnliche Veränderungen. Im Gegensatz dazu bewirkte das nicht-sedierende Neuroleptikum Haloperidol (3 mg) keine Veränderung der Gesamtleistung, eine Zunahme der Delta/Theta-Power (besonders der Theta), eine

Abbildung 3.4.1: Maps hinsichtlich der univariaten EEG-Unterschiede zwischen 9 repräsentativen Medikamenten der Hauptpsychopharmakaklassen und Placebo nach akuter oraler Verabreichung (Zeit des pharmakodynamischen Wirkungsmaximums; meist 2 Stunden nach Medikation). Statistical probability maps (SPM) zeigen Unterschiede in 15 EEGVariablen (von oben nach unten: Gesamtleistung, absolute Power im Delta-, Theta-, Alpha-1-, Alpha-2- und Beta-Bereich, relative Power im Delta-, Theta-, Alpha-1-, Alpha-2- und Beta-Bereich, Zentroide im Delta/Theta-, Alpha- und Beta-Bereich, Gesamtzentroid), gesehen aus der Vogelperspektive. Die weißen Punkte zeigen die Elektrodenpositionen. Die Farben Orange, Rot und Dunkelrot stellen eine signifikante (p < 0,10; 0,05; 0,01) Zunahme im Vergleich zu Placebo dar, Dunkelgrün, Hellblau und Dunkelblau eine signifikante (p < 0,10; 0,05; 0,01) Abnahme. Von links nach rechts lassen sich unterschiedliche Veränderungen nach Einzeldosen von 50 mg Chlorpromazin (n = 15), 3 mg Haloperidol (n = 20), 75 mg Imipramin (n = 15), 20 mg Citalopram (n = 20), 30 mg Clobazam (n = 15), 2 mg Lorazepam (n = 15), 20 mg Amphetamin (n = 15), 20 mg Metamphetamin (n = 20) und 600 mg Pyritinol (n = 12) erkennen. Während beispielsweise 50 mg Chlorpromazin zu einer Zunahme der absoluten Delta/Theta-Power und Abnahme der Alpha-Power führt (ZNS-Sedierung), sieht man nach 600 mg Pyritinol eine Zunahme der absoluten Alpha-1 und Beta-Power (Vigilanzverbesserung).

3.4 EEG-Mapping und EEG-Tomographie in der Neuropsychopharmakologie

leichte Abnahme der Alpha- und Zunahme der Beta-Power, während die Zentroide keine Veränderung zeigten. Sedierende Antidepressiva des ImipraminAmitriptylin-Typs reduzierten die Gesamtleistung, die absolute Delta/Theta- und Alpha-Power, die relative Alpha- und in geringerem Maße auch Beta-Power, während sie die relative Delta/Theta-Power erhöhten und das Gesamtzentroid verlangsamten. Nicht-sedierende Antidepressiva, wie beispielsweise 20 mg Citalopram, reduzierten ebenfalls die Gesamtleistung, die absolute Delta/Theta- und Alpha-Power, erhöhten jedoch die absolute und relative BetaPower, verlangsamten das Delta/Thetazentroid und beschleunigten das Alpha-, Beta- und Gesamtzentroid. Tagestranquilizer, wie 30 mg Clobazam, induzierten eine Reduktion der Gesamtleistung sowie der absoluten und relativen Delta/Thetaund Alpha-Power und eine Vermehrung der absoluten und relativen Beta-Power. Das Delta/ Theta- und teilweise das Betazentroid zeigte eine Verlangsamung, das Gesamtzentroid eine Beschleunigung. Nachttranquilizer bewirkten eine Reduktion der Gesamtleistung sowie der absoluten und relativen Alpha-Power, eine Erhöhung der absoluten und relativen Beta- sowie der relativen Delta/Theta-Power, eine Verlangsamung des Delta/Thetazentroids und Beschleunigung des Alpha- und Gesamtzentroids. Psychostimulanzien, wie 20 mg Amphetamin, reduzierten die Gesamtleistung, die absolute Delta/Theta-, Alpha- und Beta- sowie die relative Delta/Theta-Power und erhöhten die relative Alpha-Power. Das Gesamtzentroid zeigte eine Beschleunigung. Modafinil und Adrafinil induzierten occipitoparietal eine Zunahme der Alpha- und Abnahme der raschen Beta-Power sowie eine tendenzielle Reduktion der DeltaTheta-Aktivität (Saletu et al. 1986). Nootropika, wie 600 mg Pyritinol, erhöhten die Gesamtleistung sowie die absolute Alphaund Beta-Power, reduzierten die relative Delta/ Theta- und vermehrten die relative Alpha-Power, beschleunigten das Delta/Theta- sowie das Gesamtzentroid und verlangsamten das Alphazentroid. Dies stimmt mit ihrer vigilanzfördernden Wirkung auf das Gehirn überein.

111

3.4.3. EEG-Mapping zur Bestimmung der zerebralen Bioverfügbarkeit psychotroper Substanzen Zeit-Wirkungs-Beziehung Der zeitliche Ablauf der zerebralen Bioverfügbarkeit einer psychotropen Substanz im menschlichen Gehirn kann durch Veränderungen in nur einer Variable oder mittels EEG-Mapping multivariater Varianzanalysen (MANOVA) und Hotelling T2-Tests veranschaulicht werden (Abb. 3.4.2). In Phase-I-Studien können Beginn, Maximum und Ende der zentralen Wirkung eines Medikaments objektiv und quantitativ bestimmt werden (Saletu et al. 2002a, 2006). Es besteht die Möglichkeit, diese pharmakodynamischen Veränderungen mit pharmakokinetischen Daten in Beziehung zu setzen (Saletu et al. 1996b). Bei Patienten kann die Untersuchung von Einzeldosiseffekten wertvolle Hinweise auf die Prognose einer geplanten Behandlung liefern (z. B. Beta-Verminderung bei Schizophrenie (Saletu et al. 1990b), Delta-Abnahme bei Demenz (Saletu et al. 1991b)).

Dosis-Wirkungs-Beziehung Auch Dosis-Wirkungs-Beziehungen können mittels multivariater Analysemethoden (MANOVA) mit Hotelling T2-Tests und EEG-Mapping bestimmt werden (Abb. 3.4.2) (Saletu et al. 2002a, 2006). So lässt sich die minimale zentral wirksame Dosis einer Versuchssubstanz beim Menschen feststellen, wodurch in späteren offenen und doppel-blinden, placebo-kontrollierten Studien komplizierte und frustrierende Untersuchungen bei Patienten vermieden werden können. Außerdem gewinnt man Informationen über Veränderungen der ZNS-Effekte ab einer bestimmten Dosis, wie beispielsweise den Wechsel von einem aktivierenden auf einen inhibierenden Effekt nach Benzamiden oder von einem Tages- auf ein Nachttranquilizer-Profil bei Benzodiazepinen.

112

3 Neurobiologische Grundlagen

und mit jener eines bereits im klinischen Alltag erprobten Medikaments vergleichen (Saletu et al. 2002a, 2006). Dies ist von entscheidender Bedeutung bei der Bestimmung der adäquaten Dosis in späteren klinischen Studien an Patienten. Aufgrund der unterschiedlich starken Wirkung, die eine Substanz auf das ZNS normaler Probanden und Patienten ausübt, wäre es ohne derartige Berechnungen enorm schwierig, basierend auf den Ergebnissen von Phase-1-Studien an normalen Probanden die optimale Einzelund Tagesdosis für Patienten zu bestimmen.

3.4.4. EEG-Tomographie zur Lokalisation von Psychopharmakaeffekten

Abbildung 3.4.2: Maps hinsichtlich der multivariaten EEG-Unterschiede zwischen 0,1 mg, 0,2 mg und 0,4 mg Suriclon und 1 mg Alprazolam (von links nach rechts) im Vergleich zu Placebo 1, 2, 3, 6 und 8 Stunden nach Medikation (von oben nach unten), gesehen aus der Vogelperspektive (Nase oben, linkes Ohr links, rechtes Ohr rechts). Die weißen Punkte stellen die Elektrodenpositionen dar. Die Maps beruhen auf Hotelling T2-Tests basierend auf multivariaten Varianzanalysen (MANOVA) der relativen Power in 9 Frequenzbändern [ln(power %/(100-power %)) Transformation] für jede einzelne Elektrode (R-EEG, n = 15). Die Grauskala zeigt T2-Werte: > 2,96 = p < 0,10, > 4,1 = p < 0,05, > 7,98 = p < 0,01. Mit steigenden Dosen übt Suriclon im Vergleich zu Placebo eine zunehmende zentrale Wirkung aus, die sich topographisch zuerst über dem Vertex, rechts parietalen und temporalen Regionen erkennen lässt. Die encephalotrope Wirkung der Einzeldosen setzt bereits in der ersten Stunde nach Medikation ein und hält bis zur achten Stunde an. Die Referenzsubstanz 1 mg Alprazolam erzielt die stärksten ZNS-Effekte.

Bioäquipotenz Ähnlich wie die Zeit-Wirkungs- und DosisWirkungs-Beziehungen lässt sich auch die Bioäquipotenz einer Versuchssubstanz feststellen

Während es mittels des EEG-Mappings nicht möglich ist, bei Veränderungen direkt auf die darunter liegenden Strukturen als Generatoren zu schließen (da das Gehirn ein Leitungsmedium darstellt), gelingt es nun mittels der EEGTomographie, die Angriffspunkte unterschiedlicher Medikamente im zerebralen Kortex exakt zu lokalisieren (Tab. 3.4.1) (Pascual-Marqui et al. 1994, 1999; Saletu et al. 2002a, 2005a, 2006). Nach 3 mg Haloperidol p.o. zeigte die DeltaPower eine Abnahme im präfrontalen Kortex und im anterioren Gyrus cinguli sowie eine Zunahme im linken Temporallappen (Abb. 3.4.3, Abb. 3.4.8). Obwohl die Veränderungen im Omnibus-Test nicht statistisches Signifikanzniveau erreichten (Tab.3.4.1), sind sie doch von Interesse, da sie den Veränderungen bei unbehandelten Schizophrenen im Vergleich zu normalen Kontrollen geradezu entgegengesetzt waren (Abb. 3.4.8), was auch auf die Theta-, Alpha-1und Alpha-2-Aktivität zutraf (Schlüssel-SchlossPrinzip). Die Zunahme der schnellen Alpha-2-, Beta-1-, Beta-2 und Beta-3-Power erreichte hingegen Signifikanzniveau (Abb. 3.4.3). Die Alpha-2-Power zeigte eine symmetrische Zunahme in posterioren Hirnregionen sowie im limbischen System und rechts sublobulär, die Beta-Power stieg medial im Frontallappen und dem Gyrus cinguli und lateral im parietotemporalen Lappen an.

113

3.4 EEG-Mapping und EEG-Tomographie in der Neuropsychopharmakologie

Tabelle 3.4.1: Omnibus-Signifikanz-Test bezüglich EEG-tomographischer Unterschiede zwischen medikamenten- und placebo-induzierten Veränderungen basierend auf dem Binominal-Test in 7 Frequenzbändern (N = 20). tmax

LORAZEPAM NSIG Region

DELTA 1.5–6 Hz

– 2.3

78

THETA 6–8 Hz

– 6.0

2394

ALPHA-1 8–10 Hz

– 6.4

ALPHA-2 10–12 Hz

tmax

HALOPERIDOL NSIG Region

METHYLPHENIDAT tmax NSIG Region

2.8

113

2.6

178

F, T, P, L, O, S

2.6

43

-2.6

2394

F, T, P, L, O, S

1.8

0

– 3.9

1370

FL, T, O, L, PL, SL

3.4

1073

BETA-1 12–18 Hz

3.0

107

3.5 2.9

BETA-2 18–21 Hz

4.5

606

FL, TL, PL, L, SL

BETA-3 2130 Hz

4.2

319

F, PL, L

TR, FR, LR, SR

tmax

CITALOPRAM NSIG Region

2.8

173

TL, FL, PL

21

1.6

0

-2.0

0

-2.0

0

T, O, P, L, SR

2.9 2.8

147 190

TR, LR OL, TL, PL

2.9

198

TR, FR, LR, SR

137 64

F, L TL, PL

-3.0

197

FL

3.0

618

FR, TR, PR, LR, SR

4.2 3.6

190 133

TL, PL, SL F, L

2.7

114

3.7

1651

F, T, L, P, S

3.3

139

F, L

-2.5

66

3.8

1856

F, T, P, L, S

Maximale t-Werte (tmax) und die Anzahl der signifikant veränderten Voxels (NSIG von einer Gesamtzahl von 2394 Voxels) werden gezeigt (fett gedruckt falls diese über dem Signifikanz-Schwellenwert liegen). Der Spalte „Region“ können die betroffenen Hirnregionen entnommen werden (F = Frontallappen, T = Temporallappen, P = Parietallappen, O = Okzipitallappen, L = limbisches System, S = sub-lobulärer Bereich; IndexL = linkshemisphärisch, IndexR = rechtshemisphärisch, kein Index = bilaterale Veränderungen). Die Lappen sind nach der Anzahl der signifikant veränderten Voxels gereiht. Positive t-Werte bedeuten eine medikamenteninduzierte Zunahme, negative eine Abnahme zum Zeitpunkt des pharmakodynamischen Maximums (2 mg Lorazepam: 6 h, 3 mg Haloperidol: 4 h, 20 mg Methylphenidat: 4 h, 20 mg Citalopram: 6 h).

Abbildung 3.4.3: EEG-LORETA-Images der Unterschiede zwischen repräsentativen Medikamenten der 4 Hauptpsychopharmakaklassen und Placebo bei 20 normalen Probanden, projiziert auf die Kortexoberfläche. Ansicht von oben/vorne. Anatomische Strukturen sind in Grautönen dargestellt. Rote Farben zeigen eine Zunahme, blaue eine Abnahme der zerebralen kortikalen Aktivität im Vergleich zu Placebo (p < 0,05). Die akute orale Verabreichung von 3 mg des Neuroleptikums Haloperidol, 20 mg des Antidepressivums Citalopram, 2 mg des Tranquilizers Lorazepam und 20 mg des Psychostimulans Methylphenidat zeigt in den 7 dargestellten Frequenzbändern unterschiedliche regionale Effekte auf die elektrophysiologische Hirnfunktion zum Zeitpunkt des pharmakodynamischen Wirkungsmaximums (Haloperidol: 4, Citalopram: 6, Lorazepam: 6, Methylphenidat: 4 h nach Medikation). Maximale t-Werte (tmax) und Anzahl der signifikant veränderten Voxels s. Tabelle 3.4.1.

114

Nach 20 mg Citalopram p.o. fand sich eine Zunahme der Delta-Power links temporal und frontal (Abb. 3.4.3). Diese Veränderung hatte sich in der EEG-Topographie nicht gezeigt (Abb. 3.4.1). Eine Zunahme der schnellen Alpha- und Beta-1-Aktivität ließ sich vor allem in den rechts frontotemporalen kortikalen Regionen beobachten, eine Zunahme der Beta-2- und Beta-3-Aktivität über ausgedehnten Hirnregionen beidseits (Abb. 3.4.3). Nach 2 mg Lorazepam p.o. zeigte sich eine Abnahme der Theta- und Alpha-1-Power in allen kortikalen Regionen (Abb. 3.4.3). Die meisten Voxels, die in der Alpha-2-Power eine Region oberhalb des Schwellenwerts ergaben, fanden sich in der linken Hemisphäre. Die Zunahme in der Beta-2- und Beta-3-Power zeigte sich in erster Linie fronto-temporo-parietal mit Linksbetonung, aber auch im limbischen System und sublobulär. 20 mg Methylphenidat p.o. induzierte eine regionale Zunahme der Delta-Power in der basalen temporofrontalen Hirnregion und eine signifikante Abnahme der Beta-1-Power im linken präfrontalen Kortex (Abb. 3.4.3). Interessanterweise hatten sich diese regionalen Medikamenteneffekte im EEG-Mapping nicht gezeigt (Abb. 3.4.1). Die Zunahme der Alpha-2-Power stimmte jedoch mit den EEG-Mapping-Ergebnissen überein.

3.4.5. EEG-Mapping und EEG-Tomographie zur Klassifikation psychiatrischer Erkrankungen Unsere EEG-Mapping-Untersuchungen bei medikationsfreien Patienten mit verschiedenen psychiatrischen Erkrankungen im Vergleich zu normalen Kontrollen (Saletu et al. 1990b, 2005a) ergaben bei schizophrenen Patienten eine Abnahme der Alpha- und Zunahme der Betaaktivität sowie eine Beschleunigung des Betazentroids, was auf einen Zustand erhöhter Erregbarkeit schließen lässt. Während Schizophrene mit vorwiegender Negativsymptomatik zusätzlich eine bitemporale und frontale Zunahme der Delta/ Theta-Power zeigten, fand sich bei jenen mit vor-

3 Neurobiologische Grundlagen

Abbildung 3.4.4: Maps hinsichtlich der EEG-Unterschiede zwischen 9 Gruppen psychischer Erkrankungen und normalen Kontrollen. Die technische Beschreibung der Maps und die Farbskala sind Abb. 3.4.1 zu entnehmen. Von links nach rechts lassen sich unterschiedliche Veränderungen bei Patienten mit Schizophrenie mit vorwiegender Positivsymptomatik (n = 18) und vorwiegender Negativsymptomatik (n = 30), Depression (n = 60), generalisierter Angststörung (n = 41), Agoraphobie (n = 21), Zwangsstörung (n = 12), Multi-Infarkt-Demenz (n = 24), AlzheimerDemenz (n = 24), Alkoholabhängigkeit (derzeit abstinent) (n = 29) im Vergleich zu normalen Kontrollen erkennen. Schizophrene mit vorwiegender Positivsymptomatik zeigen beispielsweise eine Reduktion der absoluten Deltaund Theta-Power, während sich bei Schizophrenen mit vorwiegender Negativsymptomatik eine Erhöhung findet.

wiegender Positivsymptomatik eine Abnahme (Abb. 3.4.4). Die Zunahme langsamer Aktivitäten weist auf einen organischen Faktor in der Pathogenese des negativen Syndroms hin. In der ersten EEG-Tomographie-Studie mittels LORETA (Low-Resolution Brain Electromagnetic Tomography) (Pascual-Marqui et al. 1999)

3.4 EEG-Mapping und EEG-Tomographie in der Neuropsychopharmakologie

bei 9 medikamentennaiven Schizophrenen im Vergleich zu 36 normalen Kontrollen zeigte sich eine Hirnfunktionsstörung in Form einer Hemmung präfrontal und frontal (erhöhte Delta-Aktivität) sowie einer simultan auftretenden Übererregbarkeit rechts parietal (erhöhte Beta-1, Beta-2 und Beta-3-Aktivitäten), während links frontal, links temporal und links zentral ein Mangel an normaler Routineaktivität (Theta, Alpha-1 und Alpha-2) zu beobachten war (Abb. 3.4.8). Mientus et al. (2002) und Koles et al. (2004) bestätigten generell diese Befunde. Vom therapeutischen Standpunkt erscheint es von Interesse, dass in unseren eigenen LORETA-Untersuchungen mit dem hochpotenten Neuroleptikum Haloperidol in den obig genannten Hirnarealen gegensätzliche Veränderungen nachgewiesen werden konnten, was auf ein Schloss-Schlüssel-Prinzip von neurophysiologischen Veränderungen im Rahmen einer Erkrankung und deren Therapie schließen lässt (Saletu et al. 2005a) (s. a. Abb. 3.4.8). Bei Depression fanden sich als charakteristische Veränderungen im EEG-Mapping (Abb. 3.4.4) eine Abnahme der absoluten Power in allen Frequenzbändern, eine tendenzielle Zunahme der relativen Delta/Theta- und Beta-Power sowie Abnahme der Alpha-Power, eine Verlangsamung des Delta/Thetazentroids und Beschleunigung des Alpha- und Betazentroids, was eine Vigilanzabnahme widerspiegelt (Saletu et al. 1996a). In unseren LORETA-Studien konnten wir bei 60 unbehandelten depressiven Patientinnen im Vergleich zu 29 Kontrollen eine signifikant reduzierte LORETA-Power im Thetaund Alpha-1-Frequenzband und eine in geringerem Ausmaß regional reduzierte Delta-, Beta-1- und Beta-2-LORETA-Power nachweisen (Abb. 3.4.5). Diese Befunde reflektieren eine Abnahme der Vigilanz im Sinne von Head (1923), d. h. der Verfügbarkeit und des Organisationsgrades unseres adaptiven Verhaltens, welches vom dynamischen Zustand des neuronalen Netzwerks abhängig ist. In Korrelationsuntersuchungen konnten wir eine negative Korrelation zwischen der Theta-Power und dem Hamilton Depressionsscore (HAMD) im bilateralen orbitalen Kortex, bilateralen rostralen Gyrus cinguli anterior und rechten Inselkortex

115

sowie zwischen der Alpha-1-Power und dem HAMD-Score im rechten präfrontalen Kortex nachweisen. Diese Regionen sind identisch mit jenen, die bereits von Davidson et al. (2002) als bei affektiven Störungen am meisten betroffen beschrieben wurden. Flor-Henry et al. (2004) fanden bei EEG-Aufnahmen mit geöffneten Augen vorwiegend frontal und linkshemisphärisch eine reduzierte LORETA-Delta- und Alpha-Power, während die Beta-Power in posterioren Hirnregionen und eher rechtshemisphärisch vermehrt auftrat. Pizzagalli et al. (2001) berichteten, dass Patienten mit einer höheren LORETA-Theta-Power im rostralen anterioren Gyrus cinguli ein besseres therapeutisches Ansprechen auf eine 4-6monatige Nortriptylin-Behandlung zeigten als solche, die diese Aberration von der Norm nicht aufwiesen. Diese höhere Theta-Aktivität wurde als Überaktiviertheit des Gyrus cinguli interpretiert, welche nach Fluoxetin reduziert erschien und mit einer Zunahme der regionalen Hirndurchblutung in BA F9 und F46 und im posterioren Gyrus cinguli (BA 31) einherging (Mayberg et al. 1999). Interessanterweise fanden wir in unseren eigenen P300-LORETA-Untersuchungen nach dem Antidepressivum S-Adenosyl-L-methionin im Vergleich zu Placebo denselben Typ von Veränderungen in identischen Regionen (Saletu et al. 2002b). Patienten mit generalisierter Angststörung assoziiert mit nichtorganischer Insomnie zeigten eine Erhöhung der Gesamtleistung, der absoluten Delta/Theta- und Alpha-Power sowie der relativen Alpha-Power und eine Abnahme der relativen Beta-Power (Abb. 3.4.4), was neurophysiologisch auf eine Hypervigilanz schließen lässt (Saletu-Zyhlarz et al. 1997). Unsere LORETA-Untersuchungen ergaben, dass Patienten mit generalisierter Angststörung die Zunahme der Delta- und Theta-Power hauptsächlich occipital, die Alpha-1-, Alpha-2- und Beta-2-Zunahme frontal und occipital aufwiesen (Abb. 3.4.5). Dieses EEG-Muster zeigte Ähnlichkeiten mit jenem einer anderen Angststörung, der Agoraphobie mit und ohne Panikstörung, bei der allerdings im Unterschied zur generalisierten Angststörung auch eine Erhöhung der Betaaktivität und eine Beschleunigung des Delta/ Theta- und Alphazentroids zu beobachten war

116

3 Neurobiologische Grundlagen

Abbildung 3.4.5: LORETA-Images der Unterschiede zwischen Patienten mit generalisierter Angststörung (GAD) und normalen Kontrollen (n = 44) (oberer Teil der Abbildung) sowie zwischen depressiven Patienten (n = 60) und normalen Kontrollen (n = 29 (unterer Teil der Abbildung). EEG-tomographische Unterschiede wurden zur Darstellung auf die Kortexoberfläche der linken und rechten Hemisphäre sowie auf den medialen Anteil der linken Hemisphäre projiziert. Rote Farben stellen eine signifikante (p < 0,05) Zunahme in der LORETA-Power 7 verschiedener Frequenzbänder dar, blaue Farben eine signifikante Abnahme (p < 0,05). Anatomische Strukturen sind in Grautönen dargestellt. Während medikationsfreie GAD-Patienten eine signifikante Vermehrung der LORETA-Power im Delta-, Theta-, Alpha-1 und Alpha-2-Frequenzbereich zeigen (Hypervigilanz), weisen depressive Patienten eine Abnahme im Theta- und Alpha-1-, aber auch regional im Delta-, Beta-1- und Beta-2-Frequenzbereich auf (Vigilanzdefizit).

(Abb. 3.4.4). Bei sozialen Phobien hingegen fand sich eine Abnahme der absoluten und relativen Delta-, Theta-, Beta-1- und Beta-5 Power, eine Zunahme der absoluten und relativen Beta-2und Beta-4-Power, eine Beschleunigung des Gesamtzentroids, eine Verlangsamung des Beta-Zentroids und Abnahme seiner Variabilität (Sachs et al. 2004). Angst- (STAI-2) und Depressionsscores korrelierten positiv mit der dominanten Frequenz und dem Alpha-Zentroid und negativ mit der absoluten Theta- und langsamen Alpha-Power sowie mit dem DeltaTheta-Zentroid. Unsere EEG-Mapping-Daten demonstrierten eine ZNS-Übererregtheit bei so-

zialer Phobie, wobei die Beta-Zunahme hauptsächlich rechtshemisphärisch zu sehen war. Diese Befunde stimmen mit jenen aus PETund fMRI-Studien zu induzierter Angst überein (George et al. 1995; Canli et al. 1998; Chua et al. 1999). Zwangsstörungen ergaben ein anderes Aktivitätsmuster, welches durch eine Abnahme der Gesamtleistung, der absoluten und relativen Delta/Theta- sowie der absoluten Beta-Power und eine Zunahme der relativen Alpha-Power sowie eine Verlangsamung des Delta/Thetazentroids gekennzeichnet war (Abb. 3.4.4). Diese Befunde sprechen für eine erhöhte Vigilanz,

117

3.4 EEG-Mapping und EEG-Tomographie in der Neuropsychopharmakologie

Frequency of vigilance stage A (%)

100,0

75,0

50,0

25,0 min 1

min 2 BPD (n = 20)

min 3 OCD (n = 20)

min 4

min 5 Controls (n = 20)

Abbildung 3.4.6: Zum Zeitverlauf der Frequenzverteilung von „Vigilanzzustand A“ über 5 min bei Patienten mit Zwangsstörung (OCD) und Borderline-Persönlichkeitsstörung (BPD) sowie normalen Kontrollen (Controls). Patienten mit Zwangsstörung zeigen am häufigsten Vigilanzzustand A, gefolgt von normalen Kontrollen, während Patienten mit Borderline-Persönlichkeitsstörungen die niedrigste Vigilanz aufweisen. Alle 3 Gruppen zeigen auch einen Abfall des Vigilanzzustandes A über 5 min. Aus Hegerl et al. (2008).

die auch von Hegerl et al. (2008) bei 20 medikationsfreien Zwangsstörungspatienten im Vergleich zu Kontrollen und Patienten mit Borderline-Persönlichkeitsstörungen beschrieben wurde (Abb. 3.4.6). Bei den hypovigilanten Borderline-Patienten könnten Sensation-Seeking und Impulsivität als kompensatorische und autoregulative Verhaltensweisen gesehen werden, um eine ZNS-Aktivierung zu induzieren. Auch von Boutros et al. (2003) wurde in einem Review-Artikel eine diffuse EEG-Verlangsamung neben paroxysmalen Aktivitäten als wichtigstes neurophysiologisches Korrelat bei BorderlinePersönlichkeitsstörungen hervorgehoben. Patienten mit Demenzerkrankungen des vaskulären (Multi-Infarkt-Demenz) und des degenerativen Typs (senile Demenz vom AlzheimerTyp) zeigten in eigenen Studien eine massive Erhöhung der absoluten Delta/Theta-Power, eine Zunahme der relativen Delta/Theta, eine Abnahme der Alpha- und Beta-Power sowie eine Beschleunigung des Delta/Theta- und Verlangsamung des Alpha- und Betazentroids (Abb. 3.4.4) (Saletu et al. 1991b). Somit fand sich bei beiden Demenztypen eine Vigilanzabnahme, während sich Unterschiede zwischen

den beiden Untergruppen hinsichtlich der Asymmetrieindices und der Differenz zwischen minimaler und maximaler Leistung zeigten. Mit Hilfe neuronaler Netzwerkstatistik hinsichtlich der Ergebnisse in der absoluten Delta/ThetaPower gelang es uns, 90 % der Demenzpatienten korrekt zu klassifizieren. Alkoholabhängige Patienten zeigten vorwiegend eine Zunahme der absoluten und relativen Betaaktivität und eine Abnahme der Alphaund Delta/Thetaaktivität sowie eine Verlangsamung des Delta/Theta- und Beschleunigung des Betazentroids (Abb. 3.4.4) (Saletu-Zyhlarz et al. 2004). Diese ZNS-Übererregbarkeit – besonders in frontalen Hirnregionen – war auch ein prognostischer Faktor für Abstinenz bzw. Rückfall, wie bereits von Winterer et al. (1998) beschrieben. Basierend auf den obig genannten teilweise typischen elektrophysiologischen Veränderungen bei verschiedenen psychischen Störungen könnte das Q-EEG zu diagnostischen Zwecken und zur Therapiefindung herangezogen werden. Bei jedem einzelnen psychiatrischen Patienten ist es möglich, routinemäßig 36 Variablen umfassende EEG-Maps anzufertigen und so die

118

3 Neurobiologische Grundlagen

Abbildung 3.4.7: Zum elektrophysiologischen Schlüssel-Schloss-Prinzip in der Diagnose und Therapie psychischer Erkrankungen. Die erste und dritte Zeile zeigen die Unterschiede zwischen einer 56jährigen Patientin mit Alzheimer-Demenz (atypische oder gemischte Form) (ICD-10: F00.2) und einer altersentsprechenden normalen Kontrollgruppe, dargestellt in Z-Werten (Unterschiede zur Norm in Zahl der Standardabweichungen von der Norm) in der Gesamtleistung, absoluten Delta/Theta-, Alpha- und Beta-Power (Zeile 1) sowie im Gesamtzentroid, der relativen Delta/Theta-, Alpha- und Beta-Power (Zeile 3), die zweite und vierte Zeile die Unterschiede zwischen 600 mg Pyritinol und Placebo bei Gesunden (Gesamtleistung, absoluten Delta/Theta-, Alpha- und Beta-Power: Zeile 2, Gesamtzentroid, relative Delta/Theta-, Alphaund Beta-Power: Zeile 4). Gelb und Hellgrün stellen eine Zunahme bzw. Abnahme im Bereich von 1 Standardabweichung von der Norm dar, Ocker und Dunkelgrün Unterschiede zwischen 1 und 2 Standardabweichungen, Rot eine signifikante Zunahme von 2 oder mehr Standardabweichungen von der Norm und Blau eine signifikante Abnahme von 2 oder mehr Standardabweichungen von der Norm. Die EEG-Veränderungen bei Gesunden nach Verabreichung des Nootropikums sind den durch die Erkrankung hervorgerufenen Alterationen entgegengesetzt (Schlüssel-Schloss-Prinzip).

Unterschiede zwischen ihm und einer normalen Kontrollgruppe als Zahl der Standardabweichungen von der Norm (Z-Werte) darzustellen (Abb. 3.4.7). So weisen beispielsweise eine Zunahme der Delta/Thetaaktivität, eine Abnahme der Alpha- und Betaaktivität und Verlangsamung des Gesamtzentroids auf eine Demenzerkrankung hin (Saletu et al. 1991b). Die optimale Therapie für diesen Patienten wäre jene, die Veränderungen induziert, die den durch die Erkrankung hervorgerufenen Alterationen entgegengesetzt sind (Schlüssel-Schloss-Prinzip), wie z. B. die Gabe von Nootropika/Antidementiva (Saletu et al. 2005a) (Abb. 3.4.7).

3.4.6. EEG-Topographie und -Tomographie in der Diagnose und Therapie psychischer Erkrankungen – ein SchlüsselSchloss-Prinzip? Die Betrachtung der Unterschiede in 15 topographisch dargestellten EEG-Variablen zwischen Patienten mit psychischen Störungen und normalen Kontrollen sowie in den Pharmako-EEGMaps der Hauptvertreter der Psychopharmakaklassen lässt erkennen, dass die Unterschiede zwischen Patienten und normalen Kontrollen

119

3.4 EEG-Mapping und EEG-Tomographie in der Neuropsychopharmakologie

in vielen Fällen den durch die Medikamente induzierten Veränderungen im Vergleich zu Placebo geradezu entgegengesetzt sind (Saletu et al. 1997, 2002, 2005a; Saletu-Zyhlarz et al. 1997). Dies spricht für ein Schlüssel-Schloss-Prinzip in der Diagnose und psychopharmakologischen Therapie psychischer Erkrankungen, das bereits an anderer Stelle diskutiert wurde (Prichep et al. 2002; Saletu et al. 2005a, 2006). Die Unterschiede zwischen Patienten mit generalisierter Angststörung und normalen Kontrollen beispielsweise sind sowohl bei normalen Kontrollen als auch bei Patienten den durch anxiolytische Sedativa im Vergleich zu Placebo bewirkten Veränderungen entgegengesetzt (Tab. 3.4.2). Auch sind die Veränderungen bei Schizophre-

nie (Pascual-Marqui et al. 1999) im Delta-, Theta-, Alpha-1 und Alpha-2-Frequenzbereich den Veränderungen nach Haloperidol im Vergleich zu Placebo entgegengesetzt (Abb. 3.4.8). Letztendlich sind auch die EEG-tomographischen Befunde bei Narkolepsie im Sinne eines Vigilanzdefizits im Vergleich zu normalen Kontrollen zu verstehen, wobei Modafinil im Vergleich zu Placebo bei diesen Patienten geradezu entgegengesetzte Veränderungen induziert (Abb. 3.4.9) (Saletu et al. 2004). Tatsächlich zeigte sich auf der Verhaltensebene eine Verbesserung der kognitiven Leistungsfähigkeit, welche insbesonders mit mittels LORETA nachgewiesenen medial-präfrontalen Aktivitätsprozessen korreliert erschien (Saletu et al. 2007).

Tabelle 3.4.2: Quantitative EEG Unterschiede zwischen Insomnie Patienten mit generalisierter Angststörung (GAD) und normalen Kontrollen im Vergleich zu quantitativen EEG Unterschieden nach Behandlung mit einem anxiolytischen Benzodiazepin (Somnium; Lorazepam) versus Vorbehandlungs-Placebo. (signifikante Zunahme: + P < 0.05; + + P < 0.01; signifikante Abnahme: – P < 0.05; – – < 0.01 im Vergleich zu Kontrollen/Placebo). Q-EEG VARIABLE

GAD VS. KONTROLLEN (N = 2 x 44)

V-EEG Somnium ––

Lorazepam –

R-EEG Somnium ––

Lorazepam ––

–– –– ++

–– – ++

–– –– ++

–– – ++

++ ––

++ –– ++

– ++

++ –– ++

++

– ++ +

++ –– ––

++

++ –– ––

++

+ – – ––

–– ++ + +/– ++

– ++ – ++

–– ++ + +

–– ++ ++

V-EEG

R-EEG

TOTAL POWER

++

++

ABSOLUTE POWER: DELTA+THETA ALPHA BETA

+ +

++ ++

++ –– ++ ++

RELATIVE POWER: DELTA+THETA ALPHA BETA DOM. FREQ. (Hz) DOM. FREQ. ABS. DOM. FREQ. REL. CENTROIDE: DELTA+THETA ALPHA BETA TOTAL

+ – –

ANXIOLYTISCHE BENZODIAZEPIN THERAPIE VS. PLACEBO (N = 2 x 22)

120

3 Neurobiologische Grundlagen

Abbildung 3.4.8: Der linke Teil der Abbildung zeigt LORETA-Images der Unterschiede in der regionalen elektrischen Hirnaktivität zwischen 9 schizophrenen Patienten und 36 Kontrollen. Im rechten Teil finden sich die EEG-Unterschiede zwischen akuter Verabreichung von 3 mg Haloperidol und Placebo bei 20 gesunden Probanden. Die Images zeigen Voxel-by-Voxel t-Statistik basierend auf LORETA für die Delta-, Theta-, Alpha-1 und Alpha-2- Frequenzbänder. In der Patientengruppe signalisieren rote Farben eine Zunahme, blaue eine Abnahme der LORETA-Power im Vergleich zu normalen Kontrollen. In jeder Zeile finden sich 3 orthogonale Hirnschnitte im Talairach-Raum (geschnitten durch die Region des maximalen t-Werts), wobei das jeweilige Frequenzband rechts oben beschrieben ist. Anatomische Strukturen sind in Grautönen dargestellt. Links: horizontale Schnitte, von oben gesehen, Nase oben; Mitte: sagittale Schnitte, von links gesehen; Rechts: koronare Schnitte, von hinten gesehen. Talairach-Koordinaten: X-Achse von links (L) nach rechts (R), YAchse von hinten (P) nach vorne (A), Z-Achse von unten nach oben. Die Lokalisation der maximalen t-Werte wird in den X,Y,Z-Koordinaten im Talairach-Raum dargestellt und durch schwarze Dreiecke auf den Koordinatenachsen angezeigt. Im Vergleich zu Placebo bewirkt Haloperidol Veränderungen, die den Unterschieden zwischen medikationsfreien schizophrenen Patienten und Kontrollen entgegengesetzt sind, was die Hypothese eines Schlüssel-Schloss-Prinzips in der Diagnose und Pharmakotherapie psychischer Störungen untermauert.

3.4 EEG-Mapping und EEG-Tomographie in der Neuropsychopharmakologie

121

Abbildung 3.4.9: LORETA-Unterschiede in 7 Frequenzbändern zwischen Narkolepsie-Patienten und normalen Kontrollen (n = 2 x 16, Ruhe-EEG) (obere Bildhälfte) bzw. zwischen einer 3wöchigen Therapie mit Modafinil (400 mg) und Placebo (untere Bildhälfte). Images zeigen Statistical Parametric Maps aus verschiedenen Perspektiven und basieren auf Voxel-zu-Voxel t-Werten bezüglich der Unterschiede zwischen den beiden Gruppen (obere Bildhälfte) bzw. zwischen Modafinil und Placebo (untere Bildhälfte). Rot zeigt eine signifikante Zunahme, Blau eine signifikante Abnahme im Vergleich zu den Kontrollen bzw. Placebo. Unbehandelte Narkolepsie-Patienten weisen ein signifikantes Vigilanzdefizit – vor allem im fronto-temporo-parietalen Netzwerk des rechtshemisphärischen Vigilanzsystems – auf, während Modafinil hauptsächlich über der linken Hemisphäre, die durch die Krankheit weniger beeinträchtigt erscheint, eine vigilanzfördernde Wirkung entfaltet.

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3.5 Bildgebende Verfahren H. P. Volz

3.5.1 Einleitung In der klinischen Psychiatrie werden bildgebende Verfahren überwiegend zur Ausschlussdiagnostik verwendet. Eine gewisse Ausnahme bildet die Anwendung dieser Untersuchungsmethoden bei demenziellen Prozessen, wo über die Kombination struktureller (Magnetresonanztomographie, MRT) und funktioneller (Positronenemissionstomographie, PET) bildgebender Verfahren eine gewisse Diagnosespezifität erreicht werden kann. In der vorliegenden kurzen Übersicht soll es aber um den Einsatz bildgebender Verfahren in der Psychopharmakologie gehen. Hierbei handelt es sich ganz überwiegend um experimentelle, nicht um klinische Fragestellungen. Bevor hierauf näher eingegangen wird, soll die Methodik der einzelnen bildgebenden Verfahren kurz vorgestellt werden.

3.5.2 Einzelne Verfahren Computertomographie (CT) Die CT (eigentlich Röntgen-Computertomographie) nutzt die Absorption von Röntgen-

strahlen, die den Patienten aus unterschiedlichen Richtungen durchdringen und von Detektoren, die der Strahlenquelle gegenüber angeordnet sind, gemessen werden, um eine Grauwertverteilung in der gemessenen Schicht zu berechnen; diese Grauwertverteilung spiegelt die unterschiedlichen Röntgendichten der erfassten Gewebe wider. Die Schwächung der Röntgenstrahlen in einer umschriebenen Region wird numerisch durch den Schwächungskoeffizienten, der in Hounsfield-Einheiten (HE; bahnbrechende Arbeiten von Cormack und Hounsfield hatten die Entwicklung der CT erst ermöglicht, die Forscher wurden 1979 hierfür mit dem Nobelpreis für Medizin ausgezeichnet) angegeben. Die entsprechende Skala ist so gewählt, dass Wasser den Referenzwert 0 erhielt, Luft etwa – 1.000, Knochen ca. + 1.000. Der größte methodisch-bedingte Nachteil der CT ist die vergleichsweise geringe Differenzierung zwischen weißer und grauer Hirnsubstanz; diese Differenzierung kann durch Verwendung von Kontrastmittel und/oder der so genannten Fenstertechnik (Betrachtung eines kleinen Ausschnitts mit reduzierter Grauwertspanne) erhöht werden.

126

Magnetresonanztomographie (MRT) Die Magnetresonanztomographie (MRT) beruht auf dem Prinzip der magnetischen Resonanz (MR), ein Effekt der 1946 von Purcell und Bloch entdeckt wurde. In den siebziger Jahren konnten erstmals unter Nutzung dieses Effektes Bilder von Weichteilstrukturen mit einem Kontrast erstellt werden, der den anderer Verfahren übertraf. Weitere Fortschritte in der MR-Bildgebungstechnik führten 1983 zu Systemen, welche den menschlichen Körper mit Aufnahmezeiten abbilden konnten, die nur noch wenige Minuten betrugen. Gleichzeitig verbesserte sich das räumliche Auflösungsvermögen von 6 mm bis auf Werte unter 1 mm. Die MRT nutzt die Protonendichte im Gewebe, um Hirnstrukturen abzubilden. Protonen können als magnetische Dipole dargestellt werden. Sie befinden sich in einer ständigen kreiselartigen Eigenrotationsbewegung um die Magnetfeldachse (Spin). Der Patient liegt in einem statischen Magnetfeld, in dem die Protonen parallel und antiparallel zu den Feldlinien des Magnetfeldes ausgerichtet werden. Ein Hochfrequenzimpuls führt zur Auslenkung der Protonen aus dieser Orientierung. Während sich die Protonen in die ursprüngliche Ausrichtung zurückbewegen, emittieren sie elektromagnetische Wellen, die von Empfängerspulen registriert werden und durch Verwendung zusätzlicher Magnetfeldgradienten räumlich zugeordnet werden. Diese Information wird in tomographische Schnittbilder von Grauwertabstufungen umgewandelt. Die Bildinformation wird somit im wesentlichen durch zwei Parameter bestimmt: die Protonendichte im jeweiligen Gewebe sowie deren Relaxationszeiten (genannt T1 und T2). Die Zeitkonstanten T1 und T2 hängen von der Zusammensetzung des jeweiligen Gewebes ab und beschreiben die Zeitspanne, welche die Protonen im Gewebe benötigen, um nach erfolgter Anregung in ihr magnetisches Ausgangsfeld zurück zu kehren sowie die Tendenz der Spins, sich senkrecht zur Magnetfeldachse auseinander zu bewegen. Die Feldstärke der MRT-Magneten haben auf die Bildqualität einen wesentlichen Einfluss.

3 Neurobiologische Grundlagen

Sie werden in Tesla (T) angegeben. MRT-Geräte für die klinische Anwendung haben eine Spannbreite von 0,3 bis 3,0 T, für Forschungsvorhaben stehen Scanner mit Feldstärken bis zu 7 T zur Verfügung. In der klinischen Ausschlussdiagnostik psychiatrischer Erkrankungen bietet die MRT aufgrund ihrer deutlich überlegenen Sensitivität gegenüber der zerebralen CT klare Vorteile. Ein weiterer Vorteil ist die fehlende Strahlenbelastung für den Patienten und die damit gegebene Möglichkeit, notwendige Folgeuntersuchungen bei demselben Patienten problemlos durchzuführen.

Funktionelle Magnetresonanztomographie (fMRT) Die fMRT nutzt die Durchblutungszunahme in Gehirngebieten mit hoher neuronaler Aktivität. Physiologische Grundlage ist die Kopplung zwischen neuronaler Aktivität und regionaler Hirndurchblutung. Durch die Aktivierung von Neuronenpopulationen kommt es zu einem Anstieg des regionalen zerebralen Sauerstoffbedarfs. Die regionale Durchblutung und damit die lokale Sauerstoffkonzentration nimmt daher in diesen Arealen zu (blood oxygen level dependent, BOLD-Signal). Dadurch verschiebt sich das Verhältnis zwischen Oxy- und Desoxyhämoglobin zu Lasten des paramagnetisch wirksamen Desoxyhämoglobins, eine lokale Änderung der sogenannten magnetischen Suszeptibilität findet statt. Dieser Effekt ist mit der fMRT messbar, auch wenn er sich in der Größenordnung von nur wenigen Prozent bewegt. Die Blutflussveränderungen werden also mit dem Blut als „internem Kontrastmittel“ verfolgt. Eine Applikation radioaktiver Substanzen (wie bei der PET oder der Single-Photon-Emission-Computer-Tomography SPECT) oder Röntgenstrahlung, mit der damit verbundenen Strahlenbelastung, ist nicht notwendig. Mit der funktionellen Kernspintomographie können unter bestimmten Voraussetzungen Aktivierungsstudien durchgeführt werden, die zum Beispiel beim Bewegen der Hand die Hirnregionen erkennbar macht, die für die Ausführung der entsprechenden Bewegung verantwortlich

127

3.5 Bildgebende Verfahren

sind, für psychopharmakologische Fragestellungen sind komplexe Stimulationsparadigmen, z. B. Kognitionsaufgaben, interessanter.

 die Phospholipide und  die energiereichen Phosphate sowie anorganisches Phosphat.

Magnetresonanzspektroskopie (MRS)

Die Phospholipide bestehen aus Phosphomonoestern (PME) und -diestern (PDE). Hauptbestandteile der PME sind Phosphocholin (PC), Phosphoethanolamin (PE) und LPhosphoserin (PS). Die PDE stellen die Summe aus Glycerol-3-phosphocholin (GPC), Glycerol3-phosphoethanolamin (GPE) sowie mobilen Phospholipiden dar. PME werden als Membranaufbaubestandteile angesehen, PDE als Abbauprodukte des Membranstoffwechsels. Mit der 31P-MRS können zudem folgende Metabolite des intrazellulären Energiestoffwechsel gemessen werden: Adenosintriphosphat (ATP), Phosphokreatin (PCr) sowie anorganisches Phosphat (Pi). PCr, ATP und Pi sind Marker des sich in einem Gleichgewicht befindlichen intrazelluären Energiemetabolismus. Neben der Bestimmung relativer Molekülkonzentrationen in bestimmten Gehirnvolumina (sogenannten volume of interests) können mit dem „spectroscopic imaging“ gleichzeitig in mehreren Hirnarealen die relativen Konzentrationen von Molekülen, die ein detektierbares Atom enthalten, gemessen und so die räumliche Konzentrationsverteilung in einer Hirnschicht dargestellt werden. Diese Methode ist allerdings mit einem erheblichen Sensitivitätsverlust verbunden.

Mit Hilfe der Magnetresonanzspektroskopie (MRS) können biochemische Vorgänge im lebenden Gewebe erfasst werden. Wie die strukturelle MRT und die fMRT basiert die MRS auf dem Phänomen der nukleären magnetischen Resonanz. Im wesentlichen können relative Konzentrationen von Metaboliten, die Atome mit einem magnetischen Moment enthalten, bestimmt werden, wobei vor allem die 1H (Protonen)-MRS und die 31P (Phosphor)-MRS Bedeutung erlangt haben. Die Messung relativer Konzentrationen von Verbindungen, die Kohlenstoff (13C), Stickstoff (14N), Lithium (7Li) oder Fluor (19F) enthalten, spielt eine untergeordnete Rolle. Bei der 1H-MRS können folgende Moleküle erfasst werden:  N-Acetyl-Aspartat (NAA); NAA ist ausschließlich im ZNS nachweisbar und wird als neuronaler Marker aufgefasst.  Kreatin (Cr) und Phosphokreatin (PCr) als gemeinsamer Peak; diese Verbindungen sind v. a. für den Energiehaushalt der Zelle wichtig (s. a. 31P-MRS).  Cholin (Ch); basaler Bestandteil der Phospholipidstruktur von Zellmembranen. Weitere, in geringerer Konzentration vorkommende Moleküle im 1H-MR-Spektrum sind Laktat, Lipide, Glutamin, Glutamat und Inositol. Die 31P-MRS besitzt den Vorteil, dass sie alle im Körper vorkommenden 31P-enthaltende Metabolite vollständig erfasst, allerdings besitzt die 31P-MRS nur ca. 5 % der Sensitivität der 1HMRS. Daher müssen mit der 31P-MRS auch größere Volumina untersucht werden. Zwei große, voneinander unabhängige 31Phaltige Molekülgruppen können voneinander unterschieden werden:

Emissionstomographie Mit Hilfe der beiden EmissionstomographieVerfahren PET und SPECT können in vivo Informationen über verschiedene Abläufe im Gehirn, sei es auf geweblicher, zellulärer oder molekularer Basis, gesammelt werden. Die am häufigsten gebrauchten Tracer zusammen mit dem mit ihrer Hilfe darstellbaren zerebralen Prozess werden in Tabelle 3.5.1 zusammenfassend aufgeführt.

128

3 Neurobiologische Grundlagen

Tabelle 3.5.1: Zerebrale Prozesse und die zur Darstellung verwendeten Tracer (modifiziert und ergänzt nach Malizia, 2006) Prozess

Tracer

Perfusion

HMPO-SPECT

Perfusion

[15O]H2O PET

Blutvolumen

[11C]CO PET

Präcursor-Transport

[18F]DOPA PET

Glucosemetabolismus

[18F]FDG PET

Sauerstoffmetabolismus

[15O]O2 PET

Membran-Rezeptor-Bindung

[123I]IBZM SPECT

Membran-Transporter-Bindung

[11C]McN5652 PET

Enzymkonzentration

[11C]Deprenyl PET

Intrazelluläre Rezeptor Bindung

[11C]PK11195 PET

Intrazelluläre Transporter Bindung

[11C]Dihydrotetrabenazin PET

Second messenger-Konzentration (indirekt)

[11C]Rolipram PET

D2-Rezeptoren/Neurotransmitter release (indirekt)

[11C]Racloprid PET

D2-Rezeptoren

[11C]Methylspiperon PET

D1-Rezeptoren

[11C]Sch23390 PET

Benzodiazepin-Rezeptoren

[11C]Flumazenil PET

Abbildung 3.5.1: Darstellung der Entstehung zweier Gammaquanten (´), die sich diametral entgegengesetzt auseinanderbewegen und durch die Detektoren D 1 und D 2 gemessen werden können (Abbildung modifiziert nach Geworski und Munz, 2000).

129

3.5 Bildgebende Verfahren

Die Positronen-Emissionstomographie (PET) Bestimmte radioaktive Elemente senden Protonen aus und heißen daher Protonenstrahler. Geeignete Protonenstrahler (Tab. 3.5.1) werden dem Probanden appliziert, sie emittieren Protonen, die nach kurzer Laufstrecke auf ein Elektron treffen; hierbei werden das Proton und das Elektron im Rahmen einer sogenannten Materie-Antimaterie-Reaktion in zwei Gammaquanten umgewandelt. Diese beiden Gammaquanten bewegen sich diametral auseinander. Sie können dann von sich gegenüberliegenden Detektoren gemessen werden. Da sich beide Gammaquanten mit derselben Geschwindigkeit bewegen und diametral auf einer Gerade gelegen auseinanderstreben, kann aus der zeitlichen Information (wann trifft Gammaquant 1 auf den Detektor 1 in Relation zu Gammaquant 2 auf Detektor 2, s. Abb. 3.5.1) und der räumlichen Zuordnung (auf einer Gerade zwischen den beiden Detektoren) eine genaue räumliche Zuordnung der Materie-AntimaterieReaktion erfolgen. Mit der PET können je nach verwendetem Positronenstrahler Aussagen über die Perfusion, den Rezeptorstatus oder die Stoffwechselsituation getroffen werden. Als Perfusionstracer wird in der Regel 15O-markiertes Wasser ([15O] H2O) verwendet, das im Vergleich zu stabilem Wasser in vivo keine Unterschiede aufweist. Dieses Radionuklid wird üblicherweise zur Bestimmung des „regional Cerebral Blood Flows“ (rCBF) eingesetzt. Im Bereich der Rezeptorliganden stehen Rezeptorantagonisten zur Charakterisierung des dopaminergen Systems (11[C] Methylspiperon sowie 11[C]-Racloprid als D2Antagonisten sowie 11[C]Sch 23390 als D1-Antagonist) und des Benzodiazepinsystems (11[C] Flumazenil) zur Verfügung. Als Stoffwechseltracer wird radioaktiv markierter Sauerstoff (15[O] O2), mit dem nach Inhalation der zerebrale O2Metabolismus (einschließlich zerebrale O2-Extraktion und zerebraler O2-Verbrauch) gemessen werden kann, verwendet. 18F-markierte Fluordesoxyglucose (FDG), ein Glucoseanalogon, das nicht weiter metabolisiert wird und zunächst intrazellulär verbleibt, erlaubt die Darstellung

des zerebralen Glucosestoff wechsels. Die FDGPET ist die am häufigsten durchgeführte PETUntersuchung überhaupt und hat als einzige PET-Methode breitere Anwendung gefunden. Ein großes Problem der Durchführbarkeit von PET-Untersuchungen stellt die kurze Halbwertszeit der Positronenstrahler 18F (120 min), 11C (20 min), 13N (10 min) und 15O (2 min) dar, was zu mindestens für die drei zuletzt genannten Strahler eine unmittelbare Nachbarschaft der Untersuchungseinrichtung (PET-Gerät) und des Produktionsortes des Radiotracers (Zyklotron einschließlich entsprechender Radiochemie-Abteilung) notwendig macht.

Single Photon Emission Computer Tomography (SPECT) Die SPECT (single photon emission computed tomography) ist im Vergleich zur PET ein kostengünstiges und weitverbreitetes Verfahren, welches eine qualitative und semiquantitative Aussage über den Blutfluss sowie den Stoffwechsel definierter Hirnregionen machen kann. Bei der SPECT werden Substrate, die am Stoffwechselgeschehen des ZNS beteiligt sind, mit radioaktiven Isotopen markiert. Dadurch entstehen sogenannte Radioliganden, die intravenös appliziert über den Blutstrom und durch aktiven Transport oder Diffusion in spezifische Hirnregionen gelangen. Die Messung der von dem Radioisotop emittierten Gammastrahlung sowie die mathematische Berechnung der Lokalisation des Isotops zum Zeitpunkt der Emission liefert eine Aussage über Ort und Umsatz der Substrate. Am häufigsten werden Moleküle, die mit 99Tc (Halbwertszeit 360 Minuten) oder mit 123J (Halbwertszeit 780 Minuten) markiert sind, verwendet. Die im Vergleich zu den Halbwertszeiten der bei der PET verwendeten Tracer setzen nicht die unmittelbare Nähe zu einem Zyklotron voraus und ermöglicht so einen breiten Einsatz der SPECT verglichen mit der PET. Bei der praktischen Durchführung wird das zuvor durch eine chemische Reaktion an das Substrat gekoppelte radioaktive Isotop (Radioligand) intravenös appliziert. In der Patientenvorbereitung sollte bei Verabreichung von 123Jmarkierten Radiopharmazeutika der Applikation

130

eine suffiziente Schilddrüsenblockade vorausgehen, um die Aufnahme freien Jodids in die Schilddrüse weitmöglichst zu unterbinden.

3.5.3 Anwendung in der Psychopharmakologie Die Anwendung bildgebender Verfahren in der Psychopharmakologie ist weit verbreitet, eine große Anzahl von Untersuchungen liegt vor. Im Folgenden können nur einzelne Beispiele, die das Potential dieser Methoden im Rahmen psychopharmakologischer Fragestellungen aufzeigen, kurz dargestellt werden.

CT und morphologisches MRT Die CT weist keine Anwendungen in der Psychopharmakologie auf, während dies mit dem

Abbildung 3.5.2: Dargestellt sind hier die mittleren Änderungen (und der Standardfehler) des Volumens der grauen Substanz für die einzelnen Behandlungsgruppen (Ausgangswert, nach 12, 24, 52 bzw. 104 Wochen Behandlung) im Vergleich zu einer gesunden Kontrollgruppe (Ausgangswert, 12- und 52-Wochen-Wert). Hal = Haloperidol, Olz = Olanzapin, Con = Kontrollen) Quelle: Liebermann et al., Arch Gen Psychiatry (2005) 62: 361–370, Figure 2

3 Neurobiologische Grundlagen

zweiten zur Verfügung stehendem Verfahren, der hochauflösenden MRT, in neuester Zeit der Fall ist. Ausgehend von in erster Linie tierexperimentellen Untersuchungen, die Hinweise auf eine neurotoxische Wirkung von typischen, hingegen neuroprotektive Wirkungen von atypischen Antipsychotika ergaben, wurde in einer groß angelegten Untersuchung, in die 161 Patienten, die entweder Haloperidol (2–20 mg/Tag) oder Olanzapin (5–10 mg/Tag) über 104 Wochen erhielten und 58 gesunde Kontrollpersonen eingeschlossen wurden, gefunden, dass es im Verlauf der Untersuchung unter Haloperidol zu einer Volumenminderung der grauen Substanz der schizophren Erkrankten kam, während dies unter Olanzapin, ähnlich wie in der Kontrollgruppe (gesunde Probanden ohne psychopharmakologische Intervention) nicht der Fall war (Abb. 3.5.2; Lieberman et al. 2005). In Zukunft könnte es möglich sein, dass weitere ähnliche Befunde auch bei anderen Krankheitsbildern und anderen Interventionen (Depression – Antidepressiva, Zielregion Hippocampus; Posttraumatische Belastungsstörung – Psychotherapie; Zielregionen: Amygdala, Hippocampus) berichtet werden. Eine relativ neue Entwicklung im Rahmen der strukturellen MRT stellt das Diffusion Tensor Imaging (DTI) dar. Während mit der üblichen morphologischen MRT Volumina von grauer und weißer Substanz bestimmt werden können (s. o.), erlaubt die DTI die Darstellung der Aufenthaltswahrscheinlichkeit von Wasser in einem Raum von Biobarrieren (z. B. Myelinscheiden); damit sind indirekte Informationen über den Faserverlauf in der weißen Substanz möglich, d. h., dass u.a. auch neuronale Projektionen im Gehirn dargestellt werden können. Sollte es in Zukunft möglich sein, durch pharmakologische Interventionen neuronale Konnektivitäten zu modifizieren, böte die DTI die Möglichkeit, dies sicht- und damit nachweisbar zu machen.

fMRT Mit der fMRT sind, wie oben dargestellt, unter standisierten Stimulationsbedingungen indirekte Aussagen über die zerebrale Durchblutung

131

3.5 Bildgebende Verfahren

möglich. D. h. es können prinzipiell keine Informationen über direkte Pharmakaeinflüsse gewonnen werden, nur indirekte. Allerdings hat sich dieses Feld in den letzten Jahren breit entwickelt. Eine Reihe von Untersuchungen widmete sich so der Frage, ob es Unterschiede zwischen typischen und atypischen Antipsychotika bei Einzelgabe und auch bei subchronischer Applikation gibt. Die Hypothesengenerierung für diese Untersuchungen ging in erster Linie davon aus, dass es unter typischen Antipsychotika zu einer Verstärkung der bei schizophrenen Patienten häufig beobachtbaren Hypofrontalität kommt, während dies bei Atypika nicht der Fall sein sollte. So konnte die Arbeitsgruppe um Braus (Braus et al. 1997) an 8 gesunden Probanden zeigen, dass eine Einmalapplikation von 5 mg Haloperidol (i v.) bei einer einfachen sequenziellen Fingeroppositionsaufgabe eine akute Aktivitätsabnahme im frontalen Kortex und in den Basalganglien induzierte (Abb. 3.5.3). Die motorische Leistung der Probanden litt nicht, allerdings berichteten sie über eine größere subjektive Anstrengung bei der Ausführung der motorischen Bewegungen. vor Haloperidol

unter Haloperidol

Abbildung 3.5.3: Einfache sequentielle Fingeroppositionsaufgabe bei gesunden Probanden. Links die Probanden vor der Gabe von 5 mg/70 kg Körpergewicht Haloperidol, rechts danach. Es zeigt sich eine Aktivitätsabnahme in den Basalganglien (a) und im präfronalen Kortex (c), eine Aktivitätszunahme im Thalamus (b) (nach Braus et al. 1997).

Abbildung 3.5.4: Erhöhte Aktivierung im links-inferioren frontalen Kortex bei Quetiapin-behandelten Patienten (N = 8) im Vergleich zu Neuroleptika-naiven schizophrenen Patienten (N = 7) (Jones et al. 2004). Dieses Ergebnis deutet darauf hin, dass Quetiapin die Hypofrontalität schizophrener Patienten vermindern kann (nach Jones et al. 2004).

Eine besonders schönes Experiment, das nähere Einblicke in die hirnfunktionelle Basis der diskutierten positiven Wirkung atypischer Antipsychotika auf kognitive Defizite schizophren Erkrankter gestattet, publizierten kürzlich Jones et al. (2004). 3 Gruppen wurden mittels fMRT, das ein indirektes Maß für die Funktion des Gehirns unter kognitiver Belastung erhebt, untersucht: 7 Neuroleptika-naive schizophrene Patienten, 7 Quetiapin-behandelte schizophrene Patienten und 8 gesunde Kontrollpersonen. Diese Versuchsteilnehmer führten im Scanner liegend den Verbal Fluency Task durch. In der mit Quetiapin-behandelten und der gesunden Kontrollgruppe zeigte sich eine Aktivitätszunahme im links-inferioren frontalen Kortex, die bei den Neuroleptika-naiven Patienten nicht zur Darstellung gelangte (Abb. 3.5.4). Diese Untersuchung zeigt, dass die positive Wirkung von Quetiapin auf kognitive Prozesse durch eine Änderung der Hirnaktivität hervorgerufen worden sein könnte. Einen weiteren sehr interessanten Befund lieferten wiederum Braus et al. (2002), indem sie zeigen konnten, dass es im Laufe einer 18-monatigen Behandlung mit dem atypischen Antipsychotikum Olanzapin zu einer Normalisierung der initial gestörten fronto-parietalen Dysfunktion kommt (visuell-akustische Stimulationsaufgabe).

132

MRS Mit Hilfe der MRS können zwei unterschiedliche Zugangswege zu neuropsychopharmakologischen Fragestellungen beschritten werden: Zum einen kann der Einfluss von Substanzen auf mit Hilfe der 1H-MRS bzw. der 31P-MRS erfassbare Metabolite bestimmt werden, zum anderen kann mit Hilfe der 7Li- bzw. 19F-MRS direkt die zerebrale Konzentration von Lithium bzw. Fluor-haltigen Substanzen (z. B. Fluoxetin, Fluvoxamin, Paroxetin, Fenfluramin) gemessen werden. Für den ersten Ansatz seien beispielgebend zwei aktuellere Arbeiten kurz beschrieben: So untersuchten Szulc et al. (2005) die Konzentration von Myoinositol und NAA (N-Acetylaspartat) vor und nach einer 4-wöchigen Behandlung mit dem atypischen Antipsychotikum Risperidon in einer Gruppe von 14 schizophrenen Patienten. Im Thalamus fanden sie einen Anstieg der beiden Metabolite während der Behandlung. Die Ergebnisse wurden im Sinne eines wichtigen Einflusses von Risperidon auf thalamische Stoffwechselvorgänge gedeutet. Atmaca et al. (2007) untersuchten den Einfluss von Valproat bzw. Valproat und Quetiapin auf NAA, Cholin und Kreatin/Phosphokreatin (KRE). Medikamenten-freie Patienten wiesen signifikant erniedrigte NAA/KRE- und NAA/ Ch-Quotienten auf. Diese Ergebnisse weisen auf einen neuroprotektiven Effekt von Valproinsäure hin. Eine pharmakokinetische Untersuchung, die direkt die Konzentration von Fluoxetin im Gehirn maß, soll als Beipiel für die Anwendung der 19F-MRS kurz beschrieben werden (Henry et al. 2005). Fluoxetin ist ein Razemat und besteht aus R- und S-Fluoxetin. 13 Gesunde erhielten für 5 Wochen entweder 20 mg razematisches Fluoxetin, das aus 10 mg R- und 10 mg S-Fluoxetin besteht bzw. 80 mg oder 120 mg R-Fluoxetin pro Tag. Nach 5 Wochen wurden Gehirnkonzentrationen in den drei Gruppen von 25,5, 34,9 und 41,4 μM gemessen. Diese Untersuchung zeigt, dass sehr viel höhere R-FluoxetinDosen gegeben werden müssen, um ähnliche zerebrale Konzentrationen wie bei Gabe von razematischem Fluoxetin zu erreichen. Andere

3 Neurobiologische Grundlagen

Untersuchungen zeigten, das z. T. hohe Korrelationen zwischen den zerebralen Konzentrationen von Fluoxetin und Paroxetin mit der klinischen Response bestehen (Bolo et al. 2000; Henry et al. 2000; Strauss et al. 1997), was für Plasmakonzentrationen und Response nicht der Fall ist. Allerdings ist bei der 19F-MRS zu berücksichtigen, dass nur ungebundene Formen fluoridierter Substanzen detektiert werden; je höher der Protein-gebundene Substanzanteil ist, desto stärker wird die tatsächliche zerbrale Gesamtkonzentration der fluoridierten Substanz unterschätzt (Lyoo und Renshaw 2002). Mit Hilfe der 7Li-MRS zeigten Soares et al. (2001), dass die im Gehirn von 8 bipolaren Patienten gemessenen Lithium-Werte nur ungenau den im Serum gemessenen Werten entsprachen. So schwankte der Gehirn-Serum-Quotient zwischen 0,30 und 0,80 (mittlerer Wert 0,52 + 016). Ähnliche Befunde (d. h. unterschiedliche zerebrale Lithium-Konzentrationen bei identischen Lithium-Plasma-Konzentrationen) wurden schon von Sachs et al. (1995) publiziert.

PET Mit der PET eröffnet sich durch die Möglichkeit des Einsatzes ganz unterschiedlicher Tracer ein breites Anwendungsgebiet, bei dem direkt der Effekt von bestimmten Substanzen auf Rezeptoren, die Verteilung der Substanzen sowie zerebrale Stoffwechselzustände untersucht werden können (s. o.). In diesem Zusammenhang sind in erster Linie die klassischen Experimente zur Verteilung und der Besetzung von Dopamin D2-Rezeptoren zu nennen. Hierzu legte die Gruppe um Farde (z. B. Nyberg et al. 1996) meist mit Hilfe von [11C]Racloprid ein Reihe von Befunden vor, die zeigten, dass  eine striatale D2-Besetzung > 80 % extrapyramidal-motorische Nebenwirkungen induziert,  die meisten Antipsychotika starke D2-Antagonisten sind und, wenn sie wirksam sind, eine striatale Besetzung von über 65 % erzielen,

3.5 Bildgebende Verfahren

 einige der atypischen Antipsychotika, an erster Stelle sind hier Clozapin und Quetiapin zu nennen, Effektivität bei niederigerer D2-Okkupanz im Striatrum erreichen,  die Plasma-Halbwertszeit kürzer sein kann als die Rezeptor-Okkupans, d. h. dass größere Zeitintervalle zwischen der Applikation einzelner Dosen möglich sind, als dies aufgrund klassischer pharmakokinetischer Daten (gestützt auf Plasmaspiegelbestimmungen) zu erwarten wäre. Mit der PET sind – ähnlich wie mit der fMRT – darüber hinaus indirekte Psychopharmaka-Wirkungen auf die Glukoseutilisation (die in direktem Zusammenhang steht mit der neuronalen Aktivität) oder den Wasserumsatz, der in direkter Beziehung steht zu der Durchblutung, messbar.

SPECT Mithilfe der SPECT wurde ein klassischer Befund, die Hypofrontalität bei chronisch schizo-

133

phrenen Patienten, von Ingvar und Franzen (1974 a,b; 133Xe-Inhalations-SPECT als Maß für den regionalen Blutfluss) erstmals beschrieben. Daneben umfasst ein breites Anwendungsgebiet der SPECT die Untersuchung der striatalen Dopamin-D2-Rezeptorbindungen einzelner neuroleptischer Substanzen im Vergleich. Hier kommt in der Regel [123I]IBZM, ein RaclopridDerivat, das speziell für den Einsatz bei SPECT entwickelt wurde, zum Einsatz. Diese Substanz bindet mit einer hohen Affinität und Spezifität an striatale D2-Rezeptoren. Wird eine Substanz, z. B. ein D2-Blocker, appliziert, kann aus dem prä-post-Vergleich der Anreicherung der Substanz im Striatum auf die Potenz der applizierten Substanz, die striatalen D2-Rezeptoren zu blockieren, geschlossen werden. In einer ganzen Reihe von Untersuchungen konnte gezeigt werden, dass es z. T. gravierende Unterschiede in der striatalen D2-Bindung zwischen unterschiedlichen Antipsychotika gibt und dass ab ca. einer striatalen D2-RezeptorBlockade von 70 % motorische Nebenwirkungen in Form von extrapyramidal-motorischen

Abbildung 3.5.5: Striatale D2-Rezeptorbesetzung für einige typische und atypische Antipsychotika (nach Kasper et al. 2002).

134

Störungen (EPS) einsetzen (Kasper et al. 2002; Abb. 3.5.5). Auch geben Dosisfindungsstudien mit der SPECT erste Hinweise im Hinblick auf klinische Response der Patienten. Es hat sich gezeigt, dass klassische Neuroleptika erst ab einer Besetzung um die 60–70 % eine neuroleptische Response entwickeln. Zukünftig könnte es daher möglich sein, die SPECT als Monitorverfahren bei sogenannten „therapieresistenten“ Patienten anzuwenden, da im Einzelfall möglicherweise lediglich das „therapeutische“ Fenster – trotz höherer neuroleptischer Dosen und im Blut nachweisbarer Spiegel – nicht erreicht ist. Eine typische Anwendung der SPECT im Rahmen der Untersuchung von Antidepressiva verwendet [123I]β-CIT, ein Tracer, der an den Serotonin- (und Dopamin)Rezeptor bindet. In Abbildung 3.5.6 ist die β-CIT-Bindung von mit dem SSRI Citalopram behandelten Patienten versus Kontrollen dargestellt. Die β-CIT-Bindung unter Citalopram ist deutlich erniedrigt, da ein Großteil der Serotonin-Transporter durch das SSRI blockiert ist (Pirker et al. 1995).

3 Neurobiologische Grundlagen

Auch bei solchen Untersuchungsansätzen wäre eine Verknüpfung von Fragen der Individualresponse mit der β-CIT-Bindung interessant.

3.5.4 Fazit Bildgebende Verfahren erlauben einen direkten „Einblick“ in die Funktionsweise des Gehirns und sind somit prädestiniert für eine Anwendung in der Psychopharmakologie. Hierbei zeigen aktuelle Entwicklungen, dass selbst Hirnstrukturen psychopharmakologischen Modifikationen unterliegen können. MRS-Verfahren können Einflüsse von Pharmaka auf Hirnmetabolite erfassen oder direkt die zerebrale Konzentration von 7Li oder 19F-haltigen Substanzen messen. Die funktionellen Methoden (fMRT, PET, SPECT) können, insbesondere wenn sinnvolle Stimulationsparadigmen verwendet werden, zu Aussagen über den Einfluss von Pharmaka auf spezifische Hirnfunktionen führen (hier ist ein breiter Überlappungsbereich zu

Abbildung 3.5.6: Striatale D2-Rezeptorbesetzung für einige typische und atypische Antipsychotika (nach Kasper et al. 2002). * signifikant unterschiedlich

Literatur

den kognitiven Neurowissenschaften). Verfahren, die Rezeptoren und Transmitterprozesse darstellen können (PET, SPECT), haben – verständlicherweise – bisher zu den klarsten Aussagen im Rahmen psychopharmakologischer Fragestellungen geführt (z. B. D2-Rezeptorokkupanz durch Antipsychotika), wobei diese Entwicklung nicht abgeschlossen ist.

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135 JONES HM, BRAMMER MJ, O`TOOLE M et al. (2004) Cortical effects of quetiapine in first-episode schizophrenia: A preliminary functional magnetic resonance imaging study. Biol Psychiatry 56: 938–942 KASPER S, TAUSCHER J, WILLEIT M et al. (2002) Receptor and transporter imaging studies in schizophrenia, depression, bulimia and Tourette´s disorder – implications for psychopharmacology. World J Biol Psychiatry 3: 133–146 LIEBERMAN JA, TOLLEFSON GD, CHARLES C et al. (2005) Antipsychotic drug effects on brain morphology in first-episode psychosis. Arch Gen Psychiatry 62: 361–370 LYOO K, RENSHAW PF (2002) Magnetic resonance spectroscopy: Current and future applications in psychiatry. Biol Psychiatry 51: 195–207 MALIZIA AL (2006) The role of emission tomography in pharmacokinetic and pharmacodynamic studies in clinical psychopharmacology. J Psychopharmacol 20 (Suppl): 100–107 NYBERG S, NAKASHIMA Y, NORDSTRÖM AL et al. (1996) Positron emission tomography of in-vivo binding characteristics of atypical antipsychotic drugs. Review of D2 and 5-HT2 receptor occupancy studies and clinical response. Br J Psychiatry Suppl: 40–44 PIRKER W, ASENBAUM S, KASPER S et al. (1995) beta-CIT SPECT demonstrates blockade of 5HT-uptake sites by citalopram in the human brain in vivo. J Neural Transm Gen Sect 100: 247–256 SACHS GS, RENSHAW PF, LAFER B et al. (1995) Variability of brain lithium levels during maintenance treatment: a magnetic resonance spectroscopy study. Biol Psychiatry 38: 422–228 SOARES JC, BOADA F, SPENCER S et al. (2001) Brain lithium concentrations in bipolar disorder patients: preliminary (7)Li magnetic resonance studies at 3 T. Biol Psychiatry 49: 437–443 STRAUSS WL, LAYTON ME, HAYES CE et al. (1997) 19F magnetic resonance spectroscopy investigation in vivo of acute and steady-state brain fluvoxamine levels in obsessive compulsive disorder. Am J Psychiatry 154: 516–522 SZULC A, GALINSKA B, TARASOW E et al. (2005) The effect of risperidone on metabolite measures in the frontal lobe, temporal lobe, and thalamus in schizophrenic patients. A proton magnetic resonance spectroscopy (1H MRS) study. Pharmacopsychiatry 38: 214–219

4

Psychologische Grundlagen

4.1 Neuropsychologische Grundlagen A. Brunnauer

4.1.1 Neuropsychologie und Psychopharmakologie Die Geschichte der kognitiven Psychopharmakologie ist eng verbunden mit Entwicklungen im Bereich der experimentellen Psychologie und akademischen Psychiatrie. Es war v. a. Emil Kraepelin (1856–1926), der mit seinen pharmakologischen Experimenten den Beginn der modernen Psychopharmakologie einleitete. Als wissenschaftlicher Assistent arbeitete Kraepelin sehr eng mit Wilhelm Wundt (1832–1920) an der Universität Leipzig zusammen. Kraepelin widmete sich bereits in frühen Jahren seiner akademischen Ausbildung intensiv der experimentellen Psychologie und untersuchte Effekte psychoaktiver Substanzen auf Aufmerksamkeitsprozesse und komplexe kognitive Funktionen, wie Gedächtnis und Sprache. Eine Reihe der durch ihn eingeführten methodischen Innovationen, wie automatisierte Reaktionszeiterfassung, Placebokontrolle oder systematische Untersuchung von Dosierungsvarianten, stellten wichtige Grundlagen für die spätere psychopharmakologische Forschung dar. Ausgehend von diesen frühen Ansätzen werden in jüngster Zeit zunehmend Methoden der neurokognitiven Funktionsbeschreibung in die

Psychiatrieforschung implementiert. Der Fokus liegt mehr auf Symptom- als auf Syndrom- oder Diagnoseebene. Die klinisch-experimentelle Neuropsychologie in der Psychiatrie befasst sich mit Hirnfunktionsstörungen und deren Auswirkungen auf attentionale, kognitive und emotionale Funktionen. Im deutschsprachigen Raum trugen erstmals Lautenbacher und Gauggel (2004) Beiträge der Neuropsychologie für die Psychiatrie in einem Lehrbuch zusammen. Im Gegensatz zur „klassischen Neuropsychologie“, die sich vorwiegend als anwendungsorientierte Disziplin zur Versorgung Hirnverletzter entwickelte, muss die Neuropsychologie in der Psychiatrie auf andere Erklärungsmodelle zurückgreifen. So ist bei psychischen Störungen das Gehirn meist in seinen Netzwerkeigenschaften verändert. Auch wenn einzelne neuronale Strukturen bei Störungen der Informationsverarbeitung besonders betroffen sind, so wird immer das Netzwerk in seinen Gesamteigenschaften involviert sein (Kandel 1998; Martin 2002; Hohwy und Rosenberg 2005). Aufgrund der hohen Interkonnektivität cerebraler Strukturen geht man davon aus, dass ähnliche Funktionsstörungen unabhängig vom Ort des Geschehens auftreten können. Mit dem Modell der „final common pathway disorder“ wird diesem Um-

138

stand Rechnung getragen (u. a. Zihl et al. 1998). Dies erklärt zum Teil auch die heterogene neuropsychologische Befundlage, die für Patienten mit psychischen Erkrankungen vorliegt, ohne dass charakteristische, neurokognitive Störungsmuster für spezifische Krankheitsbilder gefunden wurden. Pharmakologische Interventionen zielen auf einen Ausgleich der neurochemischen und neuroendokrinen Imbalance bei psychischen Erkrankungen. Lange wurde die Wirksamkeit psychopharmakologischer Behandlungsstrategien primär nach dem Grad der damit einher gehenden Symptomreduktion bewertet. In den letzten Jahren sind vermehrt kognitive Funktionen und deren Bedeutung für die soziale und berufliche Funktionstüchtigkeit in den Mittelpunkt des Interesses gerückt, da diese weit mehr als etwa soziodemographische Faktoren oder die psychopathologische Symptomatik einen wesentlichen Prädiktor für den Erfolg psychosozialer und beruflicher Rehabilitationsbemühungen darstellen (Green 1996; Green et al. 2004). Klinische Neuropsychologen sind mit pharmakologischen Fragestellungen immer dann konfrontiert, wenn etwa bei Neueinstellung, Umstellung oder Dosiserhöhung von Psychopharmaka eine Bewertung der Auswirkung der medikamentösen Therapie auf kognitive Funktionen, Emotion und Motivation sowie den funktionalen Outcome gefordert ist.

4.1.2 Neuropsychologische Diagnostik Eine zentrale Aufgabe der Neuropsychologie ist die Objektivierung und Beschreibung attentionaler, kognitiver und affektiver Funktionsstörungen als Folge struktureller oder funktioneller Hirnschädigungen. Modellen der Informationsverarbeitung ist gemein, dass sie Verhalten als komplexen Informationsfluss durch ein System verschiedener Verarbeitungsstufen beschreiben. Befunde aus den Neurowissenschaften stützen die Annahme unterschiedlicher funktioneller Subsysteme, die von distribuierten cerebralen Strukturen generiert werden (u. a. Posner und Petersen 1990; Squire 2004). Neben dem Prin-

4 Psychologische Grundlagen

zip der funktionellen Spezialisierung verschiedener Hirnregionen sind zentrale Merkmale die parallele Verarbeitung von Informationen und die Tatsache, dass Funktionen auch durch die Interaktion verschiedener Hirnregionen entstehen (Ramnani et al. 2004).

Aufmerksamkeit Der Begriff „Aufmerksamkeit“ stellt ein zentrales Konzept in vielen klassischen Theorien der Informationsverarbeitung dar. Neben der Aufrechterhaltung eines Aktivitätsniveaus ist ein wichtiges Prinzip von Aufmerksamkeitsprozessen das der Selektion. Als biologische Notwendigkeit begrenzter neuronaler Verarbeitungskapazitäten muss aus der Fülle einströmender sensorischer und intrapsychischer Informationen eine Auswahl getroffen werden. Sowohl Informationsreduktion als auch Informationsintegration sind somit wesentliche Merkmale von Aufmerksamkeitsprozessen. Aufmerksamkeitsfunktionen stellen jedoch keine isolierten Leistungen dar, sondern sind an einer Vielzahl von Prozessen innerhalb der Verarbeitungsstufen beteiligt, wie Wahrnehmung, Gedächtnis oder Planen und sind deshalb sowohl konzeptuell als auch funktionell nur schwer von anderen Prozessen der Informationsverarbeitung abgrenzbar. Die nachfolgende Tabelle 4.1.1 gibt einen Überblick zu den derzeit in der Neuropsychologie diskutierten Aufmerksamkeitskomponenten. Intensitätsaspekte der Aufmerksamkeit betreffen die Aufmerksamkeitsaktivierung (Alertness) und Daueraufmerksamkeit/Vigilanz; zudem werden Selektivitätsaspekte der Aufmerksamkeit unterschieden, wie sie beim Fokussieren der Aufmerksamkeit auf relevante Merkmale (Selektive Aufmerksamkeit), beim gleichzeitigen Beachten mehrerer Informationsströme (Geteilte Aufmerksamkeit) oder der Impulskontrolle unter Zeitdruck (Exekutive Aufmerksamkeit) gefordert sind. Defizite im Aufmerksamkeitsbereich gehören neben Störungen von Gedächtnisfunktionen zu den häufigsten Beeinträchtigungen nach Hirnerkrankungen unterschiedlicher Genese und können bei den Betroffenen Einschränkungen in verschiedenen Lebensbereichen zur Folge haben.

139

4.1 Neuropsychologische Grundlagen Tabelle 4.1.1: Aufmerksamkeitssysteme Komponenten

Aufgaben

Aufmerksamkeitsaktivierung (Alertness)

Reaktionszeitaufgaben in der visuellen oder akustischen Modalität

Daueraufmerksamkeit und Vigilanz

Reaktionsbereitschaft über einen längeren Zeitraum (Daueraufmerksamkeit) oder zusätzlich unter Monotoniebedingungen (Vigilanz)

Selektive Aufmerksamkeit

Fokussieren der Aufmerksamkeit auf relevante Merkmale

Geteilte Aufmerksamkeit

Gleichzeitige Beachtung einer visuellen und auditiven Aufgabe

Exekutive Aufmerksamkeit

Wechsel des Aufmerksamkeitsfokus, Reaktionshemmung, Ausblenden von interferierenden Reizen

Auch vor dem Hintergrund der prognostischen Bewertung des funktionalen Outcome, wie etwa die berufliche (Re)Integration, kommt der differenzierten Beschreibung und Behandlung dieser Funktionen eine wichtige Bedeutung zu.

Lernen und Gedächtnis Gängige Taxonomien zu Gedächtnissystemen treffen zum einen eine Unterscheidung anhand der zeitlichen Dimension der Speicherung zwischen Kurzzeit- bzw. Arbeitsgedächtnis und dem Langzeitgedächtnis. Darüber hinaus unterteilt man die Gedächtnissysteme auch nach inhaltlichen Gesichtspunkten. Das explizite Gedächtnis umfasst episodische Informationen und semantische Gedächtnisinhalte, während das implizite Gedächtnis alle Fähigkeiten und Erinnerun-

gen umfasst, wie etwas zu tun ist, ohne dass in der Regel ein bewusster Vorgang damit verbunden ist. Es handelt sich im Wesentlichen um motorische und wahrnehmungsbezogene Fähigkeiten, die mit dem prozeduralen Gedächtnis und Primingphänomenen in Verbindung gebracht werden (s. Tab. 4.1.2). Sensorische oder intern generierte Informationen werden kurzfristig in Netzwerken des Parietal- und Frontallappens gehalten. Die weitere Bewertung setzt sich in Strukturen des limbischen Systems fort, wo Bindungs- und Assoziationsprozesse vorgenommen werden. Implizites und explizites Gedächtnis können bei gewissen Störungen dissoziieren. So zeigen Patienten mit einem Korsakow-Syndrom (z. B. infolge eines chronischen Alkoholismus) Schädigungen im Bereich des frontalen Kortex und Hippocam-

Tabelle 4.1.2: Gedächtnissysteme Komponenten

Aufgaben

Episodisches Gedächtnis

Persönliche Erlebnisse abrufen, z. B. der erste Tanzkurs – räumlichzeitliche Zuordnung ist möglich

Semantisches Gedächtnis (Wissenssystem)

Faktenwissen abrufen, z. B. mathematisches Wissen – kein zeitlichkontextueller Bezug

Perzeptuelles Gedächtnis

Bezieht sich auf Bekanntheit von Reizen, z. B. eine Frucht als Apfel erkennen, weil man schon viele Äpfel gesehen hat

Priming (Bahnung)

Assoziationen herstellen – unbewusst

Prozedurales Gedächtnis

Automatisiertes Handeln – z. B. Fahrrad fahren, Auto fahren etc. – unbewusst

140

pus. Aufgrund dieser Schädigungen sind sie nicht in der Lage, sich bewusst an Ereignisse zu erinnern (explizites Gedächtnis), zeigen aber auf implizite Art und Weise, dass sie über eine Erinnerung an das Ereignis verfügen (Squire 1992). Gedächtnisstörungen aufgrund von Funktionsstörungen des frontalen Systems sind zudem von solchen des medialen Systems unterscheidbar. Patienten mit Frontallappen-Läsionen zeigen meist keine Einbußen im Bereich der Lernleistungen jedoch bei Aufgaben mit hohen Anforderungen an umfassende Such- und Abrufprozesse, wie etwa bei freien Reproduktionsaufgaben (Shimamura 1995).

Exekutive Funktionen Diese Funktionen sind sehr heterogen und stellen Metaprozesse dar, die den Ablauf kognitiver Prozesse steuern und optimieren (s. Tab. 4.1.3). Auch das Konstrukt des Arbeitsgedächtnisses hängt eng mit Exekutivfunktionen zusammen. Kommt es zu Störungen des exekutiven Funktionssystems, wird das Verhalten unkontrolliert, enthemmt und unzusammenhängend. Bei einer Vielzahl psychischer Erkrankungen, wie schizophrenen und affektiven Psychosen (Bogerts 2002; Schneider et al. 2002), Angsterkrankungen (Wiedemann 2002) oder der Borderline- und antisozialen Persönlichkeitsstörung (Kunert et al. 2002) sind Störungen exekutiver Funktionen oftmals beobachtbar. Exekutive Dysfunktionen werden oft im Zusammenhang mit Störungen des Frontalhirns beobachtet, dürfen jedoch nicht mit präfrontalen Funktionen gleichgesetzt werden. Nicht nur aufgrund des Volumens dieser Hirnstruktur sondern auch wegen der ausgeprägten reziproken Faserverbindungen mit anderen kortikalen und subkortikalen Strukturen, gibt es kaum eine Hirnerkrankung, bei der nicht auch exekutive Funktionen betroffen sein können. Auch wenn anatomische Deutungen von Frontalhirnsymptomen auf Störungen spezieller anatomischer Strukturen hinweisen (Grafman und Litvan 1999), scheint eine Zuordnung spezifischer exekutiver Funktionen zu neuroanatomischen Strukturen oder Netzwerken eher fraglich zu sein. Shimamura (1995) sieht eine zentrale Funktion der frontalen Region in

4 Psychologische Grundlagen

der inhibitorischen Kontrolle unterschiedlicher Aspekte mentaler Funktionen. Somit generieren nicht unterschiedliche frontale Bereiche unterschiedliche kognitive Funktionen, sondern sie üben inhibitorischen Einfluss auf unterschiedliche kortikale Regionen aus, die spezifische Funktionen generieren. Exekutivfunktionen entstehen somit vermutlich als Eigenschaften der Gesamtheit oder der Interaktion zwischen verschiedenen Funktionssystemen des Gehirns.

4.1.3 Effekte von Psychopharmaka auf neurokognitive Funktionen Die meisten psychischen Erkrankungen gehen mit Beeinträchtigungen in unterschiedlichen attentionalen und kognitiven Bereichen einher. Die Bedeutsamkeit vor allem neurokognitiver Funktionen für die berufliche und soziale Wiedereingliederung hat im Bereich der Pharmaforschung dazu geführt, dass diesen Aspekten vermehrt Beachtung geschenkt wird. Die derzeit vorliegenden Ergebnisse zu Effekten von Psychopharmaka auf neurokognitive Funktionen stellen sich jedoch als sehr heterogen dar. Hauptgründe hierfür sind u. a.: 1. Methodische Einschränkungen – Mangelnde Vergleichbarkeit der eingesetzten neuropsychologischen Verfahren, keine Kontrolle von Retesteffekten 2. Stichprobenauswahl – Patienten oder gesunde Probanden, erst- oder chronisch erkrankte Patienten 3. Behandlungseffekte – Akut- oder Langzeitbehandlung, unterschiedliche Dosierungsvarianten, Trennung von Primär- und Sekundär-Effekten (z. B. Verbesserung der Kognition durch Symptomreduktion) Im Bereich der Schizophrenieforschung gibt es Bemühungen zur Vereinheitlichung neuropsychologischer Untersuchungsverfahren sowie zur Formulierung neurobiologischer Zielsubstanzen, auf die zur Messung neurokognitiver Effekte fokussiert werden soll (Marder 2006). Vergleichbare Ansätze für andere Krankheitsgruppen existieren derzeit nicht.

141

4.1 Neuropsychologische Grundlagen Tabelle 4.1.3: Einteilung exekutiver Funktionen Komponenten

Aufgaben

Aufmerksamkeit und Inhibition

Ausrichtung der Aufmerksamkeit auf relevante Informationen sowie Hemmung irrelevanter Handlungsintentionen

Ablauforganisation

Erstellung eines Ablaufschemas für komplexe Handlungen mit raschen Wechseln zwischen den beteiligten Komponenten

Planen

Mentale Sequenzierung von Handlungsschritten zur Zielerreichung

Überwachen

Überwachung von Handlungsschritten und Abgleich der handlungsleitenden Zielintentionen mit dem aktuellen Stand der Handlung

Kodieren

Protokollierung der externen Ereignisse und internen Prozesse im Arbeitsgedächtnis

Benzodiazepine Akuteffekte nach Einnahme von Benzodiazepinen auf neuropsychologische Funktionen zeigen sich dosisabhängig vor allem in einer Reaktionszeitverlangsamung, Beeinträchtigungen psychomotorischer Fertigkeiten sowie in negativen Auswirkungen auf die Konsolidierung von expliziten Gedächtnisinhalten im Sinne einer anterograden Amnesie (Curran 1986; Buffet-Jerrott et al. 1998). Kurzzeitgedächtnisleistungen scheinen hingegen ebenso wie prozedurale Gedächtnisfunktionen durch die Einnahme von Benzodiazepinen weniger betroffen zu sein (Lister und File 1984; Curran 1987). Auf pharmakologischer Ebene wird für diese Nebenwirkungen vor allem der durch Benzodiazepine stimulierte GABA-Rezeptor-Komplex verantwortlich gemacht. Es konnte gezeigt werden, dass GABA-Antagonisten wie etwa Flumazenil zu einer Blockade von Gedächtnisprozessen führen. Der Wirkmechanismus von Benzodiazepinen scheint auch anticholinerge Effekte im basalen Vorderhirn zur Folge zu haben, die ebenfalls zu mnestischen Störungen führen können. Möglicherweise handelt es sich hierbei um zwei distinkte Phänomene, so dass die mnestischen Störungen nicht als sekundär bedingt durch Aufmerksamkeitsstörungen erklärt werden können. Während in vielen Fällen eine gewisse Toleranzentwicklung bezüglich der sedierenden Eigenschaften dieser Substanzgruppe zu beobachten ist, scheinen die amnes-

tischen Effekte bestehen zu bleiben (Barbee 1993).

Langzeiteffekte Kontrovers wird diskutiert, ob auch die längerfristige Einnahme von Benzodiazepinen zu Beeinträchtigungen neuropsychologischer Funktionen führt. Vor allem konfundierende Faktoren, wie Heterogenität der untersuchten Stichproben sowie Dauer der Behandlung, erschweren die Interpretation der Befunde. So wurden in Untersuchungen zu längerfristiger Benzodiazepinbehandlung von Angstpatienten etwa keine Auswirkungen auf psychomotorische Funktionen und Gedächtnisleistungen beschrieben (Cowley et al. 1995; Kilic et al. 1999) oder sogar verbesserte kognitive Leistungen (Gladsjo et al. 2001). Dem gegenüber kommen Barker et al. (2004a) anhand einer Metaanalyse von 13 klinischen Studien zu dem Ergebnis, dass die längerfristige Einnahme von Benzodiazepinen deutliche Beeinträchtigungen kognitiver Leistungen zur Folge hat. In die Analyse wurden Studien mit Kontrollgruppendesign sowie einer Behandlungsdauer von mindestens einem Jahr eingeschlossen. Die durchschnittliche Einnahmedauer von Benzodiazepinen betrug 9,9 Jahre, mit einer mittleren Äquivalenzdosis von 17,2 mg Diazepam pro Tag. Die Autoren konnten über mehrere verschiedene kognitive Bereiche hinweg deutliche Hinweise für kognitive Beeinträchtigungen belegen. Diese Auffälligkeiten scheinen

142

auch innerhalb der ersten sechs Monate nach dem Absetzen von Benzodiazepinen, trotz partieller Verbesserung in einzelnen kognitiven Bereichen, bestehen zu bleiben (Barker et al. 2004b).

4 Psychologische Grundlagen

nisses primär die anticholinerge und weniger die sedierende Eigenschaft einer Substanz verantwortlich zu machen ist.

Tri- und Tetrazyklika Ältere Patienten Die längerfristige Einnahme von Benzodiazepinen scheint die Wahrscheinlichkeit eines kognitiven Abbaus zu erhöhen (Paterniti et al. 2002; Lagnaoui et al. 2002). Auch hier lässt die momentane Befundlage jedoch keine allgemein gültigen Rückschlüsse zu. Es fehlen weitere pharmako-epidemiologische Untersuchungen, um zuverlässige Aussagen zu diesem Problemkreis machen zu können (s. Übersicht in Verdoux et al. 2004).

Antidepressiva Die meisten der derzeit erhältlichen Antidepressiva sind weitgehend vergleichbar in Bezug auf ihre therapeutische Effektivität, so dass bei der Auswahl in erster Linie das Nebenwirkungsprofil ausschlaggebend ist (Möller 2000). Diese Substanzgruppe zeichnet sich aufgrund unterschiedlicher pharmakologischer Wirkprofile durch eine große Heterogenität aus. Primäre Indikationen für Antidepressiva sind depressive Syndrome unterschiedlicher Genese. Wichtig ist, die direkten Effekte antidepressiver Behandlung auf neuropsychologische Funktionen von den sekundären Wirkungen, die durch eine Verbesserung der psychopathologischen Symptomatik bedingt sind, zu unterscheiden. Antidepressive Substanzen, die zu kognitiven Beeinträchtigungen führen können, sind meist charakterisiert durch eine stark anticholinerge Komponente mit Auswirkungen auf Gedächtnisfunktionen und/oder antihistaminerge Effekte, die mit sedierenden Eigenschaften in Zusammenhang gebracht werden und zu einer Minderung des Arousals und der Vigilanz führen. Eine differenzierte Analyse dieser Effekte nahmen Curran et al. (1988) vor und konnten anhand des systematischen Vergleichs von Amitriptylin, Protriptylin, Trazodon und Viloxazin belegen, dass etwa für das Auftreten von Defiziten im Bereich des episodischen Gedächt-

Es besteht allgemeiner Konsens, dass die akute Verabreichung von Antidepressiva mit anticholinergen und sedierenden Eigenschaften eine Beeinträchtigung neuropsychologischer Funktionen zur Folge hat. Diese wirken sich vor allem auf die Bereiche Psychomotorik und Gedächtnis aus. Insbesondere tri- und tetrazyklische Antidepressiva (TZA) weisen im Gegensatz zu vielen neueren, selektiven Antidepressiva auf ein ungünstigeres kognitives Nebenwirkungsprofil hin. Die längerfristige Verabreichung von Antidepressiva führt oftmals parallel zur Symptomreduktion zu einer Verbesserung der kognitiven Funktionen, wobei antidepressive und kognitionsfördernde Effekte von Psychopharmaka möglicherweise nicht identisch sind (Übersichten in Stein und Strickland 1998; Edwards 1995; Amado-Boccara et al. 1995; Knegtering et al. 1994).

Selektive Antidepressiva Innerhalb der Gruppe der selektiven Antidepressiva zeichnet sich anhand der bisher vorliegenden Studien kein einheitliches Bild ab. Eine Vielzahl der Untersuchungen zu Effekten von neueren Antidepressiva auf kognitive Funktionen wurde an gesunden Probanden unter Einmalgaben durchgeführt. Placebokontrollierte Untersuchungen in klinischen Populationen, in denen die Effekte auf neuropsychologische Funktionen untersucht wurden, sind nur vereinzelt vorhanden. Es ist jedoch zu erwarten, dass auf Grund der deutlichen Unterschiede im Wirkprofil innerhalb der neueren Antidepressiva auch Unterschiede in den Effekten auf psychomotorische, attentionale und kognitive Funktionen auftreten, wenngleich sich diese in der Ausprägung möglicherweise subtiler als beim Vergleich von neueren Antidepressiva mit Trizyklika darstellen (Hindmarch 1995; Kerr und Hindmarch 1996). So hat etwa Fluoxetin innerhalb der Gruppe der selektiven Serotonin-Wiederaufnahme-Inhibi-

143

4.1 Neuropsychologische Grundlagen

toren (SSRI) eine höhere Affinität zum 5HT2c Rezeptor, Paroxetin wiederum verursacht eine Blockade des Acetylcholin-Rezeptors und Citalopram (SSRI) hat die höchste Affinität zum H1 Rezeptor, mit anzunehmenden unterschiedlichen Wirkungen auf kognitive Funktionen. Eine gewisse Sonderstellung innerhalb der SSRI scheinen Substanzen einzunehmen mit höherer dopaminerger Aktivität und damit einhergehenden modulierenden Effekten auf exekutive Funktionen (Übersicht in Lane und O‘Hanlon 1999). In diesem Zusammenhang ist interessant, dass Remission, Verlauf sowie das Ansprechen auf eine antidepressive Behandlung vor allem mit exekutiven Funktionen diskutiert werden. Dysfunktionen in diesem Bereich erhöhen die Wahrscheinlichkeit eines Rückfalls und erneuten Auftretens depressiver Symptome (Simpson et al. 2001; Alexopoulos et al. 2002; Potter et al. 2004).

Ältere Patienten Sedierende Antidepressiva können bei älteren Personen spezifische kognitive Beeinträchtigungen auslösen. Diese Effekte treten bei neueren und weniger sedierenden Substanzen meist nicht auf. Beim Vergleich von Sertralin (SSRI) mit Fluoxetin (SSRI) und dem mehr aktivierenden Nortriptylin (TZA) zeigten sich bei einem Vergleich von 444 älteren depressiven Patienten in der akuten Behandlungsphase Verbesserungen bezüglich verbaler Gedächtnisleistungen und psychomotorischer Fähigkeiten vor allem unter Sertralin, gefolgt von Nortriptylin und Fluoxetin (Doraiswamy et al. 2003). Die längerfristige Behandlung mit Citalopram (SSRI) oder Sertralin über einen Zeitraum von einem Jahr führte bei älteren Patienten mit depressiver Symptomatik zu einer signifikanten Verbesserung der kognitiven Leistungsfähigkeit und psychosozialer Outcome-Parameter (Cassano et al. 2002; Rocca et al. 2005). Bei älteren Patienten mit MCI (mild cognitive impairment), das oftmals im Prodromalstadium einer demenziellen Erkrankung zu beobachten ist, konnte eine Verbesserung der Gedächtnisfunktionen und Leistungen im MMSE unter Fluoxetin gezeigt werden. Die Autoren diskutieren diesen Befund vor

dem Hintergrund einer Aktivierung der Neurogenese im Hippocampus durch die antidepressive Behandlung (Mowia et al. 2007).

Antipsychotika Prinzipiell lässt sich der Einwand, kognitive Störungen schizophrener Patienten seien wesentlich durch Medikamenteneinflüsse bedingt, schon aus rein historischen Gründen entkräften, da bereits vor Einführung der Therapie mit Psychopharmaka neuropsychologische Funktionseinbußen bei diesen Patienten beschrieben wurden (Goldberg und Gold 1995). Auch belegen Untersuchungen an ersterkrankten, bisher unmedizierten schizophrenen Patienten, ein ähnliches kognitives Defizitprofil, wie bei langjährig antipsychotisch behandelten Erkrankten (Bilder et al. 2000). Obwohl den meisten der derzeit erhältlichen Antipsychotika ein D2-Rezeptor-Antagonismus gemein ist, unterscheiden sie sich doch wesentlich hinsichtlich des neuropharmakologischen Wirkmechanismus und somit wahrscheinlich auch im Wirkspektrum auf kognitive Funktionen. Mögliche molekulare Ziele um kognitive Störungen bei Schizophrenen zu behandeln sind die Dopaminrezeptoren, speziell im präfrontalen Cortex, die Serotoninrezeptoren im präfrontalen Cortex und im anterioren Cingulum, excitatorische Glutamatsynapsen, Acetylcholinrezeptoren im Hippocampus sowie das GABAerge System (Tamminga 2006).

Typika versus Atypika In einer Vielzahl von Untersuchungen wurde gezeigt, dass konventionelle Antipsychotika (Typika), trotz erwiesener Effektivität bei der Behandlung der Positivsymptomatik, nur geringe Auswirkungen auf die Modulation kognitiver Funktionen haben (Übersichten u. a. in Keefe et al. 1999; Naber et al. 2002; Green 2002; Kasper und Resinger 2003; Peuskens et al. 2005; Bowie und Harvey 2006). Demgegenüber weisen Mishara und Goldberg (2004) in ihrer Metaanalyse darauf hin, dass ältere Neuroleptika zumindest in einigen kognitiven Bereichen zu moderaten Verbesserungen führen. Für Aufmerksamkeitsleistun-

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gen, Sprachfunktionen, intellektuelle Kapazitäten und Gedächtnisfunktionen konnten sie leichte bis moderate Effekte nachweisen. Nur geringe Verbesserungen zeigten sich im Bereich oculomotorischer und exekutiver Leistungen, die vor allem mit Funktionen des präfrontalen Cortex diskutiert werden. Negative Auswirkungen zeigten sich im Bereich motorischer Funktionen, die mit striatalen Komponenten in Zusammenhang stehen und sehr sensitiv auf eine D2-Blockade reagieren. Als mögliche Gründe der beschriebenen geringeren Effektivität von Typika gegenüber Atypika werden von den Autoren die oftmals hohen Dosierungen von konventionellen Neuroleptika in den Studien sowie die meist zusätzlich verabreichte anticholinerge Medikation zur Behandlung der extrapyramidalmotorischen Nebenwirkungen (EPM) angeführt. Es konnte jedoch auch in Untersuchungen an ersterkrankten Schizophrenen unter einer geringen Dosierung des konventionellen Neuroleptikums Haloperidol (im Mittel 4,87 mg/Tag) im Vergleich zu dem Atypikum Olanzapin (im Mittel 11,3 mg/Tag), trotz Steigerung der kognitiven Leistungen in beiden Gruppen, ein signifikanter Vorteil unter der Behandlung mit Atypika nach 12 und 24 Wochen beobachtet werden (Keefe et al. 2006). Insgesamt weisen die vorliegenden Untersuchungen darauf hin, dass Atypika die kognitiven Funktionen günstiger beeinflussen als Typika. Negative Effekte auf die Kognition sind vor allem Folge der durch ältere Substanzen verursachten EPM-Symptomatik, die sich in erster Linie bei zeitabhängigen Tests auswirkt (Fagerlund et al. 2004). Zudem kann die zusätzliche Gabe von Antiparkinsonmitteln und deren anticholinergen Effekte zu Beeinträchtigungen von Lern- und Gedächtnisleistungen führen. Kritisch ist bei der Bewertung der vorliegenden Untersuchungsergebnisse zu Effekten von Atypika auf kognitive Funktionen anzumerken, dass viele Studien methodische Probleme aufweisen, wie etwa fehlende Kontrolle von Übungseffekten, die gerade bei einer Vielzahl vor allem psychomotorischer Tests nicht unerheblich sind (s. hierzu ausführlich Keefe et al. 1999). Dies erklärt auch die teilweise widersprüchlichen Ergebnisse zu den verschiede-

4 Psychologische Grundlagen

nen Substanzgruppen. Es liegen eine Reihe von offenen aber auch Placebo-kontrollierten Studien hinsichtlich der Effekte neuerer Antipsychotika auf neuropsychologische Funktionen vor. Trotz der oben beschriebenen Vorteile von Atypika auf kognitive Funktionen darf nicht übersehen werden, dass das Leistungsniveau Gesunder auch bei guter Compliance meist nicht erreicht wird. Die Unterschiede zwischen verschiedenen Atypika scheinen eher marginal zu sein und weisen eine hohe interindividuelle Variabilität auf.

Clozapin Clozapin wird häufig mit Verbesserungen vor allem in geschwindigkeitsabhängigen Leistungen wie Reaktionszeiten und Wortflüssigkeit in Zusammenhang gebracht (Buchanan et al 1994). Moderate Evidenz ergibt sich für eine Verbesserung exekutiver Funktionen (Meltzer und McGurk 1999). Inkonsistent ist die Datenlage bezüglich verbaler Gedächtnisleistungen. Hier scheinen die anticholinergen Effekte der Substanz zu einer Beeinträchtigung vor allem visueller Gedächtnisleistungen zu führen (Goldberg et al. 1993). Einen Vorteil bietet Clozapin vor allem bei bisher therapieresistenten Patienten. Es konnte bei diesen Patienten unter stabiler Medikation eine Besserung zahlreicher kognitiver Funktionen erreicht werden (Hagger et al 1993).

Risperidon Die Datenlage bezüglich neuropsychologischer Effekte von Risperidon weist vor allem auf eine positive Modulation der Exekutivfunktionen, des Arbeitsgedächtnisses sowie von Aufmerksamkeitsfunktionen hin (Rossi et al. 1997; Kern et al. 1998). Auch mit dieser Substanz konnte bei therapieresistenten schizophrenen Patienten eine Steigerung der Arbeitsgedächtnisleistungen erzielt werden (Green et al. 1997). Inkonsistent ist die Datenlage bezüglich der verbalen Lernund Merkfähigkeit. Die verbale Flüssigkeit scheint durch Risperidon nicht positiv beeinflusst zu werden (Meltzer und McGurk 1999).

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4.1 Neuropsychologische Grundlagen

Olanzapin Purdon et al. (2000) konnten für Olanzapin über verschiedene psychomotorische und kognitive Funktionen hinweg einen Vorteil gegenüber Risperidon und Haloperidol nachweisen. Olanzapin scheint, unabhängig von Verbesserungen in der psychopathologischen Symptomatik, vor allem positive Effekte auf verbale Gedächtnisleistungen und exekutive Funktionen zu haben (Stratta et al. 2005; Cuesta et al. 2001; Bilder et al. 2002). Die Bereiche Aufmerksamkeit, Arbeitsgedächtnis und visuelles Gedächtnis weisen demgegenüber auf eine nur geringe Beeinflussung durch Olanzapin hin (Meltzer und McGurk 1999). Demgegenüber konnten McGurk et al. (2004) vor allem in der selektiven Aufmerksamkeit, den verbalen Lern- und Gedächtnisleistungen und der Wortflüssigkeit signifikante Verbesserungen unter Olanzapin nachweisen. In keinem der eingesetzten kognitiven Tests war eine Verschlechterung der Leistungen zu beobachten.

Quetiapin Sax et al. (1998) berichten deutliche Verbesserungen in Aufmerksamkeitsfunktionen unter der Behandlung mit Quetiapin. Längerfristige Effekte konnten Purdon et al. (2001) in einer randomisierten, doppelblinden Untersuchung zeigen. Mit Quetiapin behandelte schizophrene Patienten erzielten vor allem in den Bereichen verbale Flüssigkeit, verbales und non-verbales Kurzzeitgedächtnis sowie exekutive Funktionen signifikante Leistungssteigerungen. Vergleichbare Ergebnisse zeigten Good et al. (2002) bei ersterkrankten schizophrenen Patienten. Nach sechs bzw. zwölf Monaten Behandlungsdauer mit Quetiapin konnten signifikante Verbesserungen der Aufmerksamkeit, der verbalen Flüssigkeit sowie exekutiver Funktionen beobachtet werden. Das Fehlen einer Kontrollgruppe lässt offen, in welchem Ausmaß hierbei Übungseffekte mit zum Tragen gekommen sind. In einer weiteren Studie wurden die Effekte von Quetiapin oder Haloperidol untersucht nach 24 Wochen Behandlungsdauer auf Aufmerksamkeit, Gedächtnis und exekutive Funktionen (Velligan et al. 2002). Unter Behandlung mit 600 mg

Quetiapin pro Tag konnten günstigere Auswirkungen auf kognitive Leistungen beobachtet werden als unter Haloperidol oder unter geringeren Dosen Quetiapin (300 mg/d).

Ziprasidon In einer von Harvey et al. (2004a) durchgeführten Studie wurden schizophrene Patienten randomisiert entweder mit Olanzapin oder Ziprasidon über sechs Wochen hinweg behandelt. Es kam in beiden Gruppen zu signifikanten Steigerungen in den Bereichen Psychomotorik, Aufmerksamkeit, Gedächtnis, exekutive Funktionen/Arbeitsgedächtnis und Wortflüssigkeit. Unterschiede zwischen den beiden Behandlungsgruppen ergaben sich nicht. Bei ambulanten Patienten, die wegen einer Medikamentenunverträglichkeit von konventionellen Neuroleptika, Risperidon oder Olanzapin auf Ziprasidon umgestellt wurden, war eine generelle Leistungssteigerung in den kognitiven Parametern zu beobachten (Harvey et al. 2004b).

Aripiprazol und Amisulprid Zu beiden Substanzen existieren nur wenige Untersuchungen, in denen der Frage der Beeinflussung kognitiver Funktionen in klinischen Stichproben nachgegangen wurde. Kern et al. (2006) konnten beim Vergleich von Aripiprazol mit Olanzapin, über einen Behandlungszeitraum von 26 Wochen, deutliche Verbesserungen in einem kognitiven Globalscore nachweisen, jedoch nicht im Bereich exekutiver Funktionen. Für verbale Gedächtnisleistungen zeigte sich im Gruppenvergleich ein signifikanter Vorteil unter Aripiprazol. Zu bemerken ist, dass die Drop-out Rate unter Aripiprazol deutlich erhöht war. In einer randomisierten Studie wurden schizophrene Patienten entweder mit Olanzapin oder Amisulprid behandelt. Eine umfassende neuropsychologische Untersuchung wurde zu Beginn sowie nach vier und acht Wochen durchgeführt. Moderate kognitive Verbesserungen wurden in beiden Gruppen beobachtet; signifikante Unterschiede zwischen den beiden Medikamenten ergaben sich nicht (Wagner et al. 2005).

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Antidementiva Von der europäischen Zulassungsbehörde (EMEA) wird für den Wirksamkeitsnachweis einer antidementiven Substanz, neben den positiven Wirkungen auf kognitive Funktionen und den klinischen Gesamteindruck, auch eine Verbessserung im Bereich der Aktivitäten des alltäglichen Lebens gefordert. Nachweise dieser Art liegen vor allem für die Acethylcholinesterase-Hemmer (AchEH) Donepezil, Galantamin und Rivastigmin vor sowie für den NMDA-Hemmer Memantin. Für ältere Antidementiva (Nootropika) existieren Wirksamkeitsnachweise nach diesen strengeren Kriterien nicht.

Acetylcholinesterase-Hemmer (AchEH) Bei der Behandlung leichter kognitiver Störungen konnte ein Fortschreiten des kognitiven Abbaus durch die Behandlung mit Donepezil leicht verzögert werden, jedoch nicht über einen Zeitraum von drei Jahren (Petersen et al. 2005). Auch unter Rivastigmin und Galantamin zeigten sich bei Demenzpatienten Verbesserungen der kognitiven Leistungsfähigkeit im Vergleich zur Placebobehandlung (Corey-Bloom et al. 1998; Tariot et al. 2000). In einer Cochrane-Metaanalyse analysierte Birks (2006) Daten aus 13 doppelblinden, placebokontrollierten Studien zu Donepezil, Galantamin und Rivastigmin, die über einen Beobachtungszeitraum von mehr als sechs Monate konzipiert waren. Dem Analysesample lagen insgesamt mehr als 7000 Personen mit leichtem bis schwerem demenziellen Syndrom zu Grunde. Birks konnte signifikante Verbesserungen in den kognitiven Leistungen, gemessen mit der ADAS-cog-Skala (Alzheimer‘s Disease Assessment Scale-cognitive subscale) nachweisen. Deutliche Unterschiede zwischen den Substanzen ergaben sich nicht (s. Abb. 4.1.1). In der ADAS-cog lagen die Behandlungseffeke zwischen –1,4 und –3,9 Punkte auf der Gesamtskala, die von 0 bis 70 Punkte reicht, wobei ein höherer Wert eine größere Beeinträchtigung bedeutet.

4 Psychologische Grundlagen

NMDA-Hemmer Eine Verbesserung der Lern- und Gedächtnisleistungen bei Patienten mit schwerer Demenz mit dem NMDA Rezeptorantagonisten Memantin konnten in der Untersuchung von Winblad und Poritis (1999) belegt werden. Eine aktuell durchgeführte Cochrane Analyse zu Memantin (McShane et al. 2006) bestätigt für mittelschwere bis schwere Demenzen im Beobachtungszeitraum von sechs Monaten eine Verbesserung der kognitiven Leistungen um durchschnittlich 2,97 Punkte auf der 100 Punkte SIB Skala (Severe Impairment Battery) belegen. Diese Leistungssteigerungen spiegelten sich auch im Bereich der Alltagsaktivitäten sowie im klinischen Gesamteindruck wieder. Bei leichten bis mittelschweren Demenzen zeigten sich diskrete kognitive Verbesserungen, die sich jedoch nicht in den Ergebnissen der klinischen Ratings niederschlugen.

Antioxidantien Die Datenlage für das Phytopharmakon Ginkgo biloba ist sehr inkonsistent. Ein Hauptproblem ist die ofmals mangelnde Studienqualität. Le Bars et al. (1997) konnten nach einem Behandlungszeitraum von 52 Wochen lediglich eine Abnahme um 1,4 Punkte im ADAS-cog-Score im Vergleich zur Placebobehandlung zeigen. Im Bereich der klinischen Gesamtbeurteilung ergaben sich keine Unterschiede zur Vergleichsgruppe. Birks et al. 2002 weisen in ihrer Cochrane Analyse auf die mangelhaften Methoden vieler älterer Studien zu Gingko biloba hin und einen möglicherweise vorhandenen Publikationsbias. Für den Bereich der kognitiven Leistungsfähigkeit und auch den Bereich der Alltagskompetenzen zeichnet sich vor allem bei den neueren Studien ein nicht einheitliches Bild bezüglich positiver Effekte der Behandlung ab. Auch für den Einsatz von Vitamin E oder Selegilin (MAOB-Hemmer) fehlen bisher eindeutige Wirksamkeitsnachweise auf kognitive Funktionen und funktionalen Outcome bei Patienten mit Alzheimer-Demenz (Birks und Flicker 2003; Tabet et al. 2000).

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4.1 Neuropsychologische Grundlagen

Abbildung 4.1.1: Vergleich Acetylcholinesterase-Hemmer versus Placebo anhand des Gesamtscores der ADAS-cog. Gewichtete mittlere Differenzen der Baselineerhebung und nach > 6 Monaten Behandlung (Mod. nach Birks 2006)

4.1.4 Synopsis der Befundlage zu neurokognitiven Effekten Eine Synopsis der derzeitigen Befundlage ist in Tabelle 4.1.4 dargestellt. Angesichts der bereits genannten methodischen Einschränkungen vorliegender Untersuchungen und der damit verbundenen Heterogenität der Befundlage, kann es sich dabei lediglich um eine Ordnungsstruktur

der vorhandenen Datenbasis handeln. Wichtig ist zu beachten, dass es innerhalb der Substanzgruppen teilweise große Schwankungsbreiten bezüglich der Effekte auf neuropsychologische Funktionen gibt, die bei der Bewertung eines Psychopharmakons auf kognitive Funktionen berücksichtigt werden müssen. Nicht unerwähnt bleiben soll ebenfalls die hohe interindividuelle Variabilität der Reaktionen von Patienten auf

Tabelle 4.1.4: Synopsis pharmakologischer Effekte auf neuropsychologische Funktionen

Benzodiazepine

Psychomotorik

Aufmerksamkeit

Gedächtnis

Exekutive Funktionen

↓↓



↓↓



Antidepressiva Tri-/Tetrazyklika*

↓↓



↓↓



Selektive Antidepressiva

∅/?

∅/?

+/?

∅/?

Typika

↓↓



+

+ +

∅/↓**

Atypika

+/?

+



+

+

+

Antipsychotika

Antidementiva

+ = positive Effekte, ∅ = keine negativen Effekte berichtet; ↓ = Hinweise auf negative Effekte; ↓↓ = Hinweis auf deutliche Beeinträchtigungen, ? = geringe bzw. inkonsistente klinische Datenbasis. * v. a. sedierende Tri- und Tetrazyklika, **abhängig von anticholinerger Begleitmedikation

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ein Psychopharmakon, die immer eine individuelle Einschätzung erforderlich machen. Nicht zuletzt ist die Einteilung, der der Behandlung zu Grunde liegenden Krankheitsbilder anhand der gängigen Klassifikationssysteme in Frage zu stellen. Eine Betrachtung und Bewertung dieser Ergebnisse ist insbesondere auch im Hinblick auf die differenzialtherapeutische Entscheidung unter Praxisbedingungen notwendig. Benzodiazepine führen dosisabhängig in den meisten Fällen zu Gedächtniseinbußen, v. a. Konsolidierungsprozesse im expliziten Gedächtnis sind hiervon besonders betroffen. Bei akuter Verabreichung treten zudem Beeinträchtigungen psychomotorischer und attentionaler Funktionen auf, die sich im Behandlungsverlauf auf Grund von Toleranzentwicklung teilweise abschwächen. Eine längerfristige Einnahme von Benzodiazepinen kann auch nach Absetzen der Substanzen zu überdauernden, allgemeinen kognitiven Einbußen führen. Ein besonderes Augenmerk sollte den älteren Patienten gelten. Auch wenn die Evidenzlage bezüglich längerfristiger Benzodiazepineinnahme und kognitivem Abbau nicht eindeutig ist, so weisen epidemiologische Daten doch darauf hin, dass Benzodiazepine einen potenziellen Risikofaktor auf Grund additiver Effekte in dieser Altersgruppe darstellen. Tri-, Tetrazyklika und selektive Antidepressiva haben Akuteffekte auf psychomotorische Funktionen vor allem auf Grund ihrer antihistaminergen Eigenschaften. Die anticholinerge Wirkung dieser Substanzgruppe führt zudem zu Gedächtnisbeeinträchtigungen, die oftmals auch im Verlauf der Behandlung bestehen bleiben. Demgegenüber zeichnen sich SSRI vor allem in der akuten Behandlungsphase durch ein günstigeres Nebenwirkungsprofil auf neuropsychologische Funktionen im Vergleich zu Trizyklika aus. Die vorliegenden Vergleichsstudien unterstützen die Ansicht, dass antidepressive und kognitionsfördernde Effekte von Psychopharmaka nicht identisch sind. Gerade bei älteren Patienten sollten Antidepressiva mit stark sedierenden oder anticholinergen Eigenschaften vorsichtig eingesetzt werden. Spezifische Aussagen zu differenzialtherapeutischen Überlegungen innerhalb der Gruppe der neueren, selektiven Antidepressiva können anhand der derzeit vorliegenden Unter-

4 Psychologische Grundlagen

suchungen nicht gemacht werden. Es ist jedoch davon auszugehen, dass die unterschiedlichen Wirkprofile innerhalb der neueren Antidepressiva auch differenzielle Einflüsse auf neuropsychologische Funktionen aufweisen. So haben etwa Substanzen mit einer Aktivierung des DopaminWiederaufnahme-Transporters vor allem modulierende Auswirkungen auf Exekutivfunktionen, die wiederum in verschiedenen Untersuchungen mit der Prädiktion von Response und Rezidivwahrscheinlichkeit bei depressiven Patienten diskutiert werden. Antipsychotika nehmen in der Behandlung schizophrener Patienten eine zentrale Rolle ein. Vor allem die Forschungsbemühungen Anfang der 90er Jahre, in denen systematisch Zusammenhänge zwischen kognitiven Funktionen und funktionalem Outcome untersucht wurden, führten in der pharmakologischen Forschung dazu, neuropsychologische Funktionsbereiche als wichtige klinische Zielgröße zur Beurteilung der Effektivität einer Substanz zu beachten. Neuroleptika der ersten Generation, sogenannte Typika weisen in den meisten Fällen eine geringere Effektivität bei der Behandlung neuropsychologischer Funktionsstörungen auf als Atypika. Vor allem in den Bereichen Motorik und exekutive Funktionen zeigen sich hier die deutlichsten Unterschiede. Hinzu kommt, dass es wegen der oftmals auftretenden EPM-Symptomatik und der in Folge notwendigen Behandlung mit Antiparkinsonmitteln zu Beeinträchtigungen von Gedächtnisfunktionen kommen kann. Innerhalb der neueren Substanzen sind die Unterschiede bezüglich motorischer, attentionaler und kognitiver Funktionen nicht eindeutig und spiegeln neben den unterschiedlichen pharmakologischen Wirkmechanismen auch die große Heterogenität dieses Krankheitsbildes wieder. Eine mögliche Zielgröße für die Überprüfung zukünftiger Behandlungsstrategien könnte vor allem das Konzept des Arbeitsgedächtnisses und das der exekutiven Funktionen sein, die stark mit psychosozialen Outcome-Parametern korrelieren. Arbeitsgedächtnisleistungen scheinen zudem genetisch determiniert zu sein und einen potentiellen Endophänotyp schizophrener Erkrankungen darzustellen (Peuskens et al. 2005).

Literatur

Für Antidementiva, in erster Linie für die AchEH und NMDA-Hemmer, wurden Wirksamkeitsnachweise sowohl auf der Ebene der kognitiven Leistungsfähigkeit, als auch im Bereich der Alltagsaktivitäten und dem klinischen Gesamtbild erbracht. Dabei darf nicht unerwähnt bleiben, dass es sich bei der Behandlung zerebraler Abbauprozesse um eine Verlangsamung der Progredienz der kognitiven Symptome und der Verschlechterung im Bereich der Alltagsbewältigung handelt und nicht um eine Restitution kognitiver Funktionen. Viele der älteren Antidementiva (Nootropika) erfüllen nicht die von den Fachgesellschaften geforderten Wirksamkeitsnachweise auf den unterschiedlichen Beobachtungsebenen. Dies gilt zum Teil auch für das Phytopharmakon Ginkgo biloba.

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4.2 Persönlichkeit, Persönlichkeitsstörung und Psychopharmakaeffekte H. P. Kapfhammer

4.2.1 Einleitung Das Konzept Persönlichkeit zielt in einer ersten Bestimmung auf die Summe von zeitlich überdauernden Eigenschaften und Verhaltenstendenzen, die einem Menschen seine ganz charakteristische und einmalige Individualität verleihen. Die relative Zeitstabilität dieser Persönlichkeitsmerkmale stellt sich als integratives Ergebnis einer genetisch vermittelten Disposition, einer Reifung in biologischen Programmen sowie einer biographischen Entwicklung in psychosozialen Kontexten dar. Die Persönlichkeit eines Individuums lässt sich in einzelnen Persönlichkeitsmerkmalen sowie in definierten Grunddimensionen aber auch mit den Persönlichkeiten anderer Individuen vergleichen. Persönlichkeitspsychologie einerseits, Differenzielle Psychologie andererseits setzen sich mit den Aspekten Einmaligkeit versus Vergleichbarkeit von Persönlichkeiten mit wissenschaftlichen Methoden auseinander. Das Konzept der Persönlichkeitsstörung nimmt seit den Anfängen der modernen Psychiatrie eine bedeutsame Rolle ein. Die Geschichte der sukzessiv in das wissenschaftliche Denken der Psychiatrie einfließenden theoretischen Modellvorstellungen zu Persönlichkeitsstörungen ist

wechselhaft und hat in den aufeinanderfolgenden offiziellen Klassifikationssystemen ihren beredten Niederschlag gefunden (Bronisch et al. 2008). Im Versuch einer operationalen Definition von „Persönlichkeitsstörung“ betonen die beiden derzeit gültigen Klassifikationssysteme von ICD-10 und DSM-IV dauerhafte innere Erfahrungs- und Verhaltensmuster, die im Vergleich zu einer soziokulturellen Norm charakteristisch in Kognition, Affektivität, Impulskontrolle und zwischenmenschlicher Beziehungsgestaltung abweichen. Diese Abweichung definiert sich über eine Unflexibilität und Unangepasstheit in zahlreichen persönlichen und sozialen Situationen. Hieraus können sowohl ein bedeutsames subjektives Leiden als auch nachteilige Folgen für die soziale Umwelt erwachsen. Die Rigidität und Unangemessenheit im Erleben und Verhalten zeigt bereits Anzeichen in der frühen individuellen Entwicklung, beginnt sich zunehmend deutlicher in den Adoleszenzjahren auszuformen und besteht im Erwachsenenalter langfristig fort. In einer ätiopathogenetischen Perspektive wird heute ein multifaktorielles Bedingungsmodell für die Persönlichkeitsstörungen favorisiert. Unterschiedliche theoretische Modelle fokussieren differenziell auf biologische, psychologische und soziale Einflussfakto-

154

ren in der Entwicklung von Persönlichkeitsstörungen. Die Relevanz von Persönlichkeitsstörungen für ein Gesundheitssystem kann nur nachhaltig unterstrichen werden:  Zunächst belegen epidemiologische Studien, dass Persönlichkeitsstörungen in der Allgemeinbevölkerung sehr häufig sind. Die ermittelten Prävalenzraten schwanken von 4,4 % bis 14,6 % (Coid et al. 2006; Lenzenweger 1999; Maier et al. 1992; Samuels et al. 2002; Togersen et al. 2001; Zimmerman und Coryell 1989).  Die Häufigkeit von koexistenten Persönlichkeitsstörungen bei Patienten mit unterschiedlichen psychischen Störungen liegt noch um ein Vielfaches höher (Herpertz et al. 1994; Oldham et al. 1992; Loranger et al. 1994; Zimmerman et al. 2005). Hierbei ist klinisch bedeutsam, dass durch eine Zusatzdiagnose Persönlichkeitsstörung der allgemeine Krankheitsverlauf von psychischen Störungen in aller Regel negativ beeinflusst wird. Auch können die Chancen eines Ansprechens auf verfügbare Therapiemaßnahmen entscheidend gemindert werden (Khan et al. 2005; Kool et al. 2005; Mulder 2002; Mulder et al. 2006; Tyrer et al. 1997).  Umgekehrt weisen Patienten mit Persönlichkeitsstörungen auch eigenständig ein stark erhöhtes Risiko für eine Reihe von weiteren psychischen Störungen auf (Brandes und Bienvenu 2006; Kronmüller und Mundt 2006). Oft sind es gerade diese komorbiden psychischen Störungen wie depressive, Angst- oder Substanzabhängigkeitsstörungen, die der Grund für die Kontaktaufnahme mit dem Gesundheitssystem sind und das Krankheitsverhalten bestimmen (Cramer et al. 2006; Newton-Hows et al. 2006; Zanarini et al. 2004).  Patienten mit bestimmten Persönlichkeitsstörungen wie Borderline-, narzisstische oder dissoziale Persönlichkeitsstörung zeigen ferner ein signifikant erhöhtes Suizidrisiko, das bei komorbiden psychischen Störungen noch weiter ansteigt (Paris 2003). Und auch das Ausmaß der somatischen

4 Psychologische Grundlagen

Morbidität und damit assoziiert auch der Mortalität wird durch Persönlichkeitsstörungen nachteilig beeinflusst (Moran et al. 2007; Frankenberg und Zanarini 2006).  Die mit einigen Persönlichkeitsstörungen, v. a. der dissozialen Persönlichkeitsstörung korrelierte Tendenz zu gefährlichen fremdaggressiven Verhaltensweisen definiert eine besondere Herausforderung für Justiz- und Gesundheitsbehörden gleichermaßen (Tyrer und Mulder 2006).  Theoriengeleitete, manualisierte Psychotherapiekonzepte für einige Persönlichkeitsstörungen haben mittlerweile die Behandlung von Patienten mit definierten Persönlichkeitsstörungen deutlich strukturiert und zu ermutigenden klinischen Resultaten geführt (McMain und Pos 2007; Verheul und Herbrink 2007).  Analoge Entwicklungen in der psychopharmakologischen Forschung machen deutlich, dass Patienten mit Persönlichkeitsstörungen auch von medikamentösen Ansätzen profitieren können. Sie unterstreichen aber auch die notwendige Voraussetzung für einen rationalen Einsatz von Psychopharmaka. Diese besteht in einem tieferen Verständnis für die bestimmten Persönlichkeitsdimensionen zugrunde liegenden neurobiologischen Regelkreise und Funktionen (Herpertz et al. 2007).

4.2.2 Krise der aktuellen Diagnostik von Persönlichkeitsstörungen und ihre Auswirkungen auf neurobiologische Forschungsansätze von Persönlichkeitsstörungen Die modernen diagnostischen Systeme in der Psychiatrie sind bestrebt, auch bei Persönlichkeitsstörungen einen weitgehend deskriptiven Ansatz zu beschreiten, sich also von theoretischen Modellvorstellungen weitgehend frei zu halten. Sowohl ICD-10 als auch DSM-IV orientieren sich hierbei an einer prototypischen Perspektive, d. h. sie fordern einen diagnostischen Abgleich mit der idealtypischen Beschreibung

4.2 Persönlichkeit, Persönlichkeitsstörung und Psychopharmakaeffekte

einer bestimmten Persönlichkeitsstörung, die wesentlich über eine Anzahl von diagnostischen Kriterien festgelegt ist. Lediglich eine Mindestanzahl von Kriterien muss für die kategoriale Diagnose einer Persönlichkeitsstörung vorliegen. Dieses polythetische Vorgehen führt notgedrungen dazu, dass Patienten dieselbe Diagnose erhalten können, obwohl diese aus einer ganz unterschiedlichen, klinisch differenziell zu bewertenden Kombination von Kriterien resultieren mag. Zahlreiche diagnostische Kriterien für Persönlichkeitsstörungen beschreiben explizit nicht definierte Persönlichkeitsmerkmale, sondern zeigen stattdessen psychopathologische Symptome an, die wiederum auf primäre psychische Störungen verweisen können. Die hiermit assoziierten Probleme einer ungeklärten nosologischen Beziehung von Achse II- zu Achse-I-Störungen (DSM-IV) sowie einer hohen Komorbidität von Persönlichkeitsstörungen mit primären psychischen Störungen (ICD10, DSM-IV) unterstreichen ein grundlegendes diagnostisches Dilemma. Da die diagnostischen Kriterien für die einzelnen Persönlichkeitsstörungen letztlich aus einem Expertenurteil stammen, keine weitere Außenvalidierung besitzen und häufig große konzeptuelle Überlappungen aufweisen, ist es ferner möglich, dass einzelne Patienten wenig Ziel führend mehrere „komorbide“ Persönlichkeitsstörungen gleichzeitig diagnostiziert bekommen können. Der Versuch, wie beispielsweise in der DSM-Logik über eine nach theoretischen Gesichtspunkten gebildete Clusterbildung von mit einander nosologisch assoziiert angenommenen Persönlichkeitsstörungen diesem Problem beizukommen, ist nur als sehr vorläufig zu betrachten. Die theoretische Prämisse, wonach Persönlichkeitsstörungen aus dem Cluster A eine verstärkte Assoziation zu schizophrenen Störungen aufwiesen, jene aus dem Cluster B und C aber je auf einem Spektrum von affektiven bzw. Angststörungen anzuordnen seien, ist einerseits eine empirisch noch nicht eingelöste allgemeine konzeptuelle Hypothese, und hat andererseits in speziellen Fällen wie etwa der Borderline-Persönlichkeitsstörung keine sehr überzeugende Bestätigung erfahren (Paris 2007).

155

Vor diesem Hintergrund überrascht es wenig, dass die mittlerweile in der Literatur vorliegenden über 60 unterschiedlichen Messinstrumente zur diagnostischen Erfassung von Persönlichkeitsstörungen durch klinische Interviews, Checklisten und Selbstfragebögen untereinander nur eine sehr unzufriedenstellende Reliabilität und Übereinstimmung aufweisen (Tyrer et al. 2007). Und auch die mehrfache empirische Beobachtung, wonach kategoriale Diagnosen von Persönlichkeitsstörungen in Longitudinalstudien oft nur eine geringe Zeitstabilität besitzen, trägt zur Krise der aktuellen Diagnostik von Persönlichkeitsstörungen bei (Grilo et al. 2004, 2005, 2007; Gundersen et al. 2006; Lenzenweger 2006; McGlashan et al. 2005; Zanarini et al. 2006). Dimensional erfasste Persönlichkeitscharakteristika erscheinen für die Prognose von Persönlichkeitsstörungen aussagekräftiger zu sein (Hopwood et al. 2007). Einen Ausweg bieten möglicherweise dimensionale Ansätze in der Diagnostik von Persönlichkeitsstörungen. Sie fußen auf einer breiten Basis psychologischer Forschung zur allgemeinen Struktur der Persönlichkeit. Es liegen mehrere empirisch fundierte dimensionale Persönlichkeitsmodelle vor, die einen Ausgang für eine vorteilhafte Revision des derzeit kategorialen Diagnosesystems von Persönlichkeitsstörungen in künftigen Klassifikationssystemen bilden könnten (Clark 2007; Widiger 2007 a, b). In der aktuellen wissenschaftlichen Diskussion zeichnet sich eine mögliche konstruktive Synthese sowohl von kategorialen als auch von dimensionalen Ansätzen ab (Livesley 2007; Westen et al. 2006). Hierbei orientiert sich zunächst eine kategoriale Entscheidung über das Vorliegen einer Persönlichkeitsstörung allgemein an der stark beeinträchtigten Fähigkeit einer Person, zentrale Entwicklungsaufgaben des Erwachsenenlebens hinsichtlich eines kohärenten inneren Modells von Selbst und Anderen, einer Errichtung intimer Beziehungen sowie einer Rollenkompetenz in Beruf und sozialen Bereichen adaptiv lösen zu können. Eine differenzielle Beurteilung einzelner Persönlichkeitsstörungen erfolgt an Hand empirisch ermittelter Grunddimensionen der Persönlichkeit, die mit den übergeordneten Domänen einer emotiona-

156

len Dysregulation, einer Dissozialität, einer Gehemmtheit und einer Zwanghaftigkeit am ehesten eine 4-Faktorenlösung favorisieren (Tyrer et al. 2007). Diesen sekundären Grunddimensionen lässt sich wiederum ein empirisch ermitteltes Set von primären Persönlichkeitszügen zuordnen, die die traditionellen Persönlichkeitsstörungskategorien prototypisch beschreiben und deren klinische Ausprägungen dimensional skaliert werden können (Krueger et al. 2007). Dieses konzeptuelle Vorgehen bietet einerseits den Vorteil, die derzeit lediglich auf einem Expertenurteil beruhenden, konzeptuell häufig inkonsistenten diagnostischen Kriterien der einzelnen Persönlichkeitsstörungen durch empirisch fundierte, in der Anzahl deutlich reduzierte, dimensional zu bewertende primäre Persönlichkeitsmerkmale zu ersetzen. Es bietet andererseits auch eine wesentlich günstigere Verbindung mit aktuellen Forschungsansätzen, die neurobiologische Basis von Persönlichkeitsstörungen näher zu ergründen. Neurobiologische Modelle zu Persönlichkeitsstörungen konzentrieren sich vorrangig auf Veränderungen in jenen übergeordneten Persönlichkeitsdimensionen, wie sie auch in der empirischen Persönlichkeitsforschung ermittelt worden sind und gehen primär nicht mehr von den in klinisch-phänomenologischer Sicht sehr heterogenen Diagnosekategorien aus (Paris 2005; Sievers 2005). Nachfolgend wird eine Darstellung gewählt, die zunächst einige wesentliche neurobiologische Forschungsergebnisse zu übergeordneten Dimensionen von Persönlichkeitsstörungen skizziert. Diese neurobiologischen Zusammenhänge sollen zumindest prinzipiell ein theoretisches Rationale für den gezielten Einsatz von psychopharmakologischen Substanzen bei Persönlichkeitsstörungen anzeigen. In empirischen Studien ermittelte Psychopharmakaeffekte, die jeweils anschließend beschrieben werden, beziehen sich noch aber ausnahmslos auf Patientensamples, die nach den traditionellen psychiatrischen Klassifikationssystemen von ICD bzw. DSM kategorial diagnostiziert worden sind. Sie sind damit notgedrungen auch mit den geschilderten diagnostischen Problemen behaftet.

4 Psychologische Grundlagen

4.2.3 Zur Neurobiologie von Persönlichkeitsdimensionen mit Relevanz für Persönlichkeitsstörungen und deren psychopharmakologische Modifikation Die psychiatrische Forschung zu Persönlichkeitsstörungen anerkennt eine konzeptuelle und methodische Auftrennung einer Persönlichkeit nach dem Charakter als dem Resultat eines komplexen psychosozialen Lernprozesses einerseits, dem Temperament als den einer Persönlichkeit zugrunde liegenden neurobiologischen Prädispositionen und Vulnerabilitäten andererseits. Diese Dichotomisierung hat zu einer Reihe von anregenden psychobiologischen Persönlichkeitsmodellen geführt, unter denen jenes von Cloninger (1987) und Mitarbeitern (Cloninger et al. 1993) am einflussreichsten ist. Es sieht in den vier Grunddimensionen der Neuigkeitssuche, der Schadensvermeidung, der Belohnungsabhängigkeit sowie der Persistenz die neurobiologische Grundstruktur eines individuellen Temperaments repräsentiert. In einem ambitionierten Forschungsprogramm wird diesen vier Persönlichkeitsdimensionen nicht nur je ein dominantes Neurotransmittersystem zugeordnet. Es werden hieraus auch unmittelbare differenzielle psychopharmakologische Interventionen bei Störungen in den jeweiligen assoziierten Neurotransmittersystemen postuliert. Die bisherigen empirischen Resultate nicht zuletzt aus genetischen Studien bestärken allerdings nicht die Hypothese, dass eine bestimmte Temperamentsdimension nur in einem distinkten Neurotransmittersystem neurobiologisch verankert werden kann (Paris 2005; Whittle et al. 2006). In einer wissenschaftstheoretischen Perspektive muss zudem in Frage gestellt werden, ob eine separate Gegenüberstellung von Charakter einerseits, von Temperament andererseits der Komplexität von ätiopathogenetischen Zusammenhängen bei Persönlichkeitsstörungen gerecht wird, wenn man die engen Interaktionen von genetischen Faktoren mit zahlreichen psychosozialen Stressoren in definierten Entwicklungsabschnitten beachtet, die dann wiederum zu grundlegenden Veränderungen

4.2 Persönlichkeit, Persönlichkeitsstörung und Psychopharmakaeffekte

in diversen Gehirnstrukturen und -funktionen führen können (Gabbard 2005). Der methodische Ansatz von Siever (2005) und Koautoren (Coccaro und Siever 2005), die auf eine endophänotypische Aufschlüsselung übergeordneter Dimensionen bei einzelnen Persönlichkeitsstörungen zielen, ist im Vergleich hierzu offener angelegt. Allerdings geht auch dieser Ansatz zunächst noch von der konzeptuellen Annahme nosologisch je zusammengehöriger Persönlichkeitsstörungen innerhalb eines Spektrums von primären psychischen Störungen aus. Für eine rationale Begründung des Einsatzes von Psychopharmaka bei Persönlichkeitsstörungen werden derzeit folgende allgemeine Argumente angeführt: 1. Psychopharmaka behandeln eine Persönlichkeitsstörung direkt. Hierbei wird Persönlichkeit als eine vorrangig biologisch vermittelte Konstitution oder ein Grundtemperament konzipiert mit jeweils typischen intrapsychischen und interpersonalen Manifestationen. Die Vorstellung eines Spektrums von Störungen, die eine gemeinsame biologische Basis teilen, ist charakteristisch für dieses Modell. Psychopharmakologische Effekte können demnach sowohl bei Achse-I-Störungen z. B. Schizophrenie als auch bei Achse-IIStörungen z. B. schizotypischer Persönlichkeitsstörung erwartet werden. 2. Psychopharmaka beeinflussen bestimmte Kernmerkmale bzw. Symptomcluster bei einer Persönlichkeitsstörung. Diese Symptomcluster repräsentieren distinkte psychopathologische Dimensionen einer Persönlichkeit z. B. in der kognitiv-perzeptiven Organisation, der Impulsivität und Aggressivität, der affektiven Instabilität oder der Ängstlichkeit und Hemmung. Diese sind mit biologischen Dispositionen korreliert, die jenseits kategorialer Abgrenzungen sowohl bei unterschiedlichen Achse-I- als auch Achse-II-Störungen medikamentös modifiziert werden können. 3. Psychopharmaka behandeln die mit einer Persönlichkeitsstörung assoziierten komorbiden Achse-I-Störungen, die den Verlauf und die Prognose einer Persönlichkeitsstörung erschweren.

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4. Psychopharmaka behandeln klinisch relevante Komplikationen, die wie insbesondere Suizidalität oder Fremdaggressivität häufige Krisen im Verlauf von Persönlichkeitsstörungen beschreiben.

4.2.4 Neurobiologie und Psychopharmakaeffekte bei Persönlichkeitsstörungen aus dem Cluster A Das Cluster A gruppiert die schizotypische, die schizoide und die paranoide Persönlichkeitsstörung. Wesentliche Charakteristika dieser Störungen sind soziale Isolierung, emotionale Absonderung, Misstrauen und im Falle der schizotypischen Persönlichkeitsstörung auch kognitive und perzeptive Auffälligkeiten. Für letztere schizotypische Persönlichkeitsstörung kann die nosologische Platzierung im Spektrum schizophrener Störungen überzeugend geführt werden (Siever und Davis 2004). Die neurobiologische Forschung hat sich bisher vorrangig auf die schizotypische Persönlichkeitsstörung konzentriert. Sie hat sich hier vor allem mit Veränderungen in der übergeordneten Persönlichkeitsdimension der kognitivperzeptiven Organisation befasst und charakteristische sozio-affektive Defizite, neurokognitive Dysfunktionen und psychose-nahe Störungen von Perzeption und Denken beschrieben. Patienten mit schizotypischer Persönlichkeitsstörung zeigen auffällige Beeinträchtigungen in der Verarbeitung wichtiger sozialer Informationen, die affektiv-kognitiv wesentlich zu einer „Theory of the mind“ beitragen. Störungen der sozialen Wahrnehmung lassen sich in definierten neurokognitiven Funktionen neuropsychologisch reliabel erfassen. Defizite hier scheinen im Vergleich mit schizophrenen Patienten subtiler zu sein und zur charakteristischen Exzentrizität und den interpersonalen Schwierigkeiten der schizotypischen Patienten beizutragen (Bergman et al. 1998; Harvey et al. 2006; Lees-Roitman et al. 2000; McClure et al. 2007 a; Mitropoulou et al. 2002, 2005). Eine intermediäre Stellung in diversen neuropsychologischen Leistungen zwischen gesunden Pro-

158

banden einerseits und schizophrenen Patienten anderseits spiegeln sich auch in Studien wider, die mit funktionellen Neuroimaging-Methoden (PET, SPECT, fMRI) kombiniert durchgeführt worden sind. Demnach aktivieren schizotypische Patienten bei exekutiven Funktionen oder Lernund Gedächtnisaufgaben im Vergleich zu Gesunden den dorsolateralen präfrontalen Kortex deutlich weniger, aber doch stärker als schizophrene Patienten. Sie sind im Unterschied zu Schizophrenen imstande, noch andere Regionen in anterioren Anteilen des Frontalhirns (BA 10) bei diesen Leistungsanforderungen kompensatorisch zu aktivieren (Buchsbaum et al. 2002; Hazlett et al. 2008; Koenigsberg et al. 2005). In hirnvolumetrischen Untersuchungen zeigen schizotypische Patienten strukturelle Reduktionen im Temporalkortex bei nur geringfügig verringertem Frontalhirn, während schizophrene Patienten in beiden Hirnregionen deutliche Volumeneinbußen aufweisen (Raine et al. 2002; Goodman et al. 2007). Das für eine Vulnerabilität hinsichtlich psychose-naher Symptome der Wahrnehmung und des inhaltlichen Denkens relevante Dopaminsystem ist auch bei schizotypischen Patienten pathologisch verändert. Im Liquor durchgeführte Messungen von HVA, dem Endmetaboliten von Dopamin korrelieren mit der Ausprägung der in psychometrischen Skalen ermittelten Scores für Wahrnehmungs- und Denkverzerrungen (Siever et al. 1993). Die dopaminerge Antwort auf einen pharmakologischen Challenge durch 2-Deoxyglucose oder Amphetamin fällt bei schizotypischen Patienten im Vergleich zu Gesunden signifikant stärker, aber im Vergleich zu schizophrenen Patienten bedeutsam niedriger aus (Abi-Dargham et al. 2004; Siever et al. 2002; Mitropoulou et al. 2004). Mit dieser vergleichsweise mitigierten dopaminergen Reagibilität bei schizotypischen Patienten geht auch der strukturelle Befund reduzierter striataler Volumina einher (Levitt et al. 2002; Shihabuddin et al. 2001), der als möglicher protektiver Faktor gegenüber einem vollen psychotischen Zustandsbild gewertet wird (Siever und Davis 2004). Auch molekulargenetische Untersuchungen zu einem Polymorphismus der COMT deuten eine Relevanz für die dopaminerge Neu-

4 Psychologische Grundlagen

rotransmission einerseits, für frontalhirnbezogene neurokognitive Funktionen wie das Arbeitsgedächtnis zum anderen sowohl bei schizophrenen als auch bei schizotypischen Patienten an (Egan et al. 2001; Minzenberg et al. 2006 a). Auch wenn der bisherige Forschungsstand bei schizotypischen Patienten einen ätiopathogenetischen Zusammenhang besonders zum Dopaminsystem hervorhebt, ist es sehr wahrscheinlich, dass auch andere Neurotransmitter wie z. B. das Noradrenalin an der Vermittlung klinisch charakteristischer neurokognitiver Störungen beteiligt sind (Coccaro et al. 1991, 2003; McClure et al. 2007 b). Die empirische Basis für psychopharmakologische Strategien bei der schizotypischen Persönlichkeitsstörung ist nach wie vor sehr schmal. In Übereinstimmung mit einer Dopaminhypothese, die sowohl schizophrenen als auch schizotypischen Störungen unterlegt ist, wurden bisher vor allem Antipsychotika auf ihre Wirksamkeit hin überprüft (Hymowitz et al. 1986). Frühe Studien mit niedrig dosierten Antipsychotika der ersten Generation wurden vorrangig an Patienten mit Borderline-Persönlichkeitsstörung und koexistenten schizotypischen Merkmalen durchgeführt (Goldberg et al. 1986; Serban und Siegel 1984; Soloff 1986). Sie zeigten eine Wirksamkeit für Haloperidol, Pimozid, Thioridazin und Thiothixen an. Ausgeprägtere Störungen in der perzeptiv-kognitiven Dimension einerseits, Zustände einer psychotischen Dekompensation oder einer anhaltenden Dissoziation andererseits erwiesen sich im Vergleich zu eher negativen Symptomclustern als deutlich günstigere Indices für ein positives Ansprechen. Die eingesetzten Antipsychotika ließen untereinander kein differenzielles Wirkspektrum erkennen (Coccaro 1993). Schulz et al. (1999) sowie Keshavan et al. (2004) fanden in offenen Studien günstige Effekte des atypischen Antipsychotikums Olanzapin sowohl auf positive als auch auf negative Symptome. Die bisher einzige, methodisch hoch karätige doppelblind placebokontrollierte Studie mit Risperidon bestätigte ebenfalls einen Erfolg versprechenden Einsatz von Atypika unter dieser Indikationsstellung (Koenigsberg et al. 2003). Eine klinische Fallserie wies auf deut-

4.2 Persönlichkeit, Persönlichkeitsstörung und Psychopharmakaeffekte

liche Verbesserungen im kognitiven, sozialen und beruflichen Funktionsniveau bei mehrjähriger Behandlung mit Risperidon in einer Tagesdosierung von 1–2 mg hin (Rybakowski et al. 2007). Ein bei den meisten Atypika zugrunde liegender 5-HT2A-Antagonismus, der eine verstärkte dopaminerge Neurotransmission in mesokortikalen Arealen bewirkt, ist wahrscheinlich mit den positiven Effekten auf die Minussymptomatik bzw. das neurokognitive Leistungsniveau zu verbinden (Coccaro und Siever 2005). Antidepressiva wurden bisher nur in zwei Studien überprüft. Amitriptylin erwies sich hierbei nicht nur als wenig wirksam in der Beeinflussung zentraler Charaktereigenschaften, sondern führte bei einigen Patienten sogar zu verstärkter Feindseligkeit und paranoidem Misstrauen (Soloff et al. 1986). Als viel versprechend mussten wiederum Befunde einer offenen Studie eingestuft werden, in der hoch-dosiertes Fluoxetin (80 mg/die) deutliche Besserungen in zahlreichen Zielsymptomen bewirkte, in keinem Fall aber eine Exazerbation provozierte (Markovitz et al. 1991). Die neurochemische Bedeutsamkeit einer reduzierten cholinergen Aktivität in der Pathophysiologie kognitiver Defizite innerhalb des schizophrenen Spektrums hat möglicherweise auch Konsequenzen für die pharmakologische Behandlung der schizotypischen Persönlichkeitsstörung, wie sich in einer Studie mit Physostigmin zeigte (Kirrane et al. 2001). Der α2AAgonist Guanfacin bewirkte in einer doppelblind placebokontrollierten Studie signifikante Verbesserungen in der kognitiven Verarbeitung von Kontextinformationen bei Patienten mit schizotypischer Persönlichkeitsstörung (McClure et al. 2007 b). Amphetamin, das zu einer vermehrten Freisetzung von Dopamin und Noradrenalin führt, konnte bei schizotypischen Patienten eine bedeutsame Verbesserung in neuropsychologischen Tests zu Exekutionsfunktionen und Arbeitsgedächtnis, in einem geringeren Ausmaß in Tests zu Aufmerksamkeit und verbalem Lernen bewirken (Kirrane et al. 2000; Siegel et al. 1996). Diese AmphetaminEffekte schienen bei schizotypischen Patienten im Vergleich zu schizophrenen Patienten konsistenter zu sein und auch nicht mit einem be-

159

deutsamen Risiko einer psychotischen Dekompensation einherzugehen (Laruelle et al. 2002). Neurobiologische Forschungsdaten zu den beiden anderen Persönlichkeitsstörungen aus dem Cluster A, der schizoiden und der paranoiden Persönlichkeitsstörung, sind im Vergleich zur schizotypischen Persönlichkeitsstörung noch verschwindend (Coccaro und Siever 2005; Siever 2005). Es liegen hier auch keine Studien zur Wirksamkeit von Psychopharmaka vor (Stone 2007). In einer klinischen Erfahrungsperspektive wird vor allem der Einsatz von niedrig dosierten Antipsychotika als mögliche Intervention diskutiert (Grossman 2004).

4.2.5 Neurobiologie und Psychopharmakaeffekte bei Persönlichkeitsstörungen aus dem Cluster B Das Cluster B umfasst die Borderline-, die antisoziale, die narzisstische und die histrionische Persönlichkeitsstörung. Wesentliche Charakteristika dieser Störungen betreffen die Impulskontrolle und Aggressivität, die emotionale Regulation und Informationsverarbeitung. Die neurobiologische Forschung hat sich bisher vorrangig auf die Borderline-Persönlichkeitsstörung konzentriert. Befunde zu Impulsivität und Aggressionsneigung sind aber auch für die antisoziale Persönlichkeit von grundlegender Bedeutung. Bei der Borderline-Persönlichkeitsstörung sind vor allem eine affektive Instabilität und eine Impulsivität als relativ zeitstabile Persönlichkeitsdimensionen hervorzuheben. Daneben können aber auch langfristig nachweisbare Tendenzen zur Dissoziation im Kontext aversiver und traumatischer Affekterlebnisse imponieren und einen speziellen Modus der emotionalen und kognitiven Informationsverarbeitung markieren. Die affektive Instabilität beinhaltet eine erhöhte emotionale Ansprechbarkeit mit einerseits einer herabgesetzten Schwelle für emotionale Reaktionen, mit andererseits einer hohen Intensität der emotionalen Expression bei insgesamt stark verzögerter Rückbildungsfähigkeit auf ein affektives Ausgangsniveau. Häufige, leicht eskalierende aversive Affekte

160

sind mit einem quälenden Gefühl der inneren Anspannung verbunden und gehen häufig auch mit selbstschädigenden Verhaltensweisen wie Suizidversuchen, Selbstverletzungen, bulimischen Attacken, episodischen Alkohol- und Drogenexzesse etc. einher. Beide Dimensionen der affektiven Instabilität und der Impulskontrollstörung sind also in einem engen Interaktionsverhältnis zu betrachten (Herpertz 2007). Emotionale Dysregulation und Impulskontrollstörung verweisen auf Störungen in neuronalen Regelkreisen von limbischer Aktivierung und präfrontal-kortikaler Kontrolle. Die mittlerweile zahlreich vorliegenden Befunde aus funktionellen, aber auch strukturellen Neuroimaging-Studien lassen sich sowohl mit der Hypothese einer reduzierten „Top-down“-Regulation als auch mit einer Hypothese einer verstärkten „Bottom-up“-Regulation vereinbaren (Goodman et al. 2007; Herpertz 2007; Lis et al. 2007; New et al. 2007; Schmahl und Bremner 2006; Silbersweig et al. 2007; Tebartz et al. 2007). Für beide neuronale Regulationsaspekte müssen sowohl genetische als auch defizitäre, vor allem traumatische Lernerfahrungen als wichtige Bedingungsvariablen der charakteristischen affektiven Instabilität und beeinträchtigten Impulskontrolle diskutiert werden (Gunnar und Quevedo 2007). In einer Perspektive vermittelnder Neurotransmitter sind mehrere Systeme involviert. Auffällige Befunde konnten in den serotoninergen, noradrenergen, glutamatergen, dopaminergen, opioidergen, cholinergen Neurotransmittersystemen erhoben werden (Coccaro und Siever 2005; Friedel 2004; Grosjean und Tasi 2007; Herpertz 2007; Kapfhammer 2008 a). Ein besonders enger Zusammenhang von serotoninerger Dysfunktion und Impulskontrollstörung vor allem in der klinischen Manifestation von Ärger und reaktiver Aggressivität kann auf mehreren methodischen Untersuchungsebenen aufgezeigt werden. Hierauf verweisen wiederholt replizierte Befunde bei neuroendokrinen/neurochemischen Stimulationstests durch d-Fenfluramin, Ipsapiron oder Buspiron (Coccaro et al. 1990, 1995, 1997 a, b; Minzenberg et al. 2006 b; New et al. 2004 a; Paris et al. 2004), radiomarkierten Paroxetin-Bindungsstudien an peripheren Thrombozytenmodellen

4 Psychologische Grundlagen

(Coccaro et al. 1996), mit funktionellen Neuroimaging-Methoden kombinierten pharmakologischen Challenge-Tests (Frankle et al. 2005; New et al. 2002; 2004 b; Siever et al. 1999; Soloff et al. 2000) sowie vor allem molekulargenetischen Untersuchungen (Dracheva et al. 2008; Murphy und Lesch 2008; New et al. 1998; Nielson et al. 1994). Auch wenn neurobiologische Forschungsdaten insgesamt sehr komplexe neuronale Mechanismen bei der Regulation von Impulsivität und Aggressivität und die Beteiligung mehrerer Neurotransmittersysteme betonen (Craig 2007; Meyer-Lindenberg et al. 2006; Miczek et al. 2002, 2007; Nelson und Trainor 2007), könnte eine spezielle serotoninerge Dysfunktion vor allem mit jener Form der Impulskontrollstörung assoziiert sein, die in der Langzeitentwicklung von Patienten mit Borderline-Persönlichkeitsstörung das signifikant erhöhte Suizidrisiko mitbestimmt (McGirr et al. 2007; New et al. 2001; Paris 2003). Borderline-Patienten zeigen vor allem in Zeiten emotionaler Krisen beeindruckende dissoziative Symptome. Sowohl die klinische Phänomenologie als auch die zugrunde liegenden neurobiologischen Mechanismen sind hoch komplex und können vorteilhaft in einem traumatologischen bzw. einem Stressreaktionskontext diskutiert werden (Kapfhammer 2008 a, b). Psychopharmakologische Strategien bei der Borderline-Persönlichkeitsstörung können sich mittlerweile auf zahlreiche offene und kontrollierte Studien mit Psychopharmaka aus den unterschiedlichsten Substanzklassen stützen. Die Interpretation der berichteten Befunde ist nicht immer einfach.  Von ganz wenigen Ausnahmen abgesehen handelt es sich hierbei um Studien zur Akutbehandlung von wenigen Wochen und Monaten. Es existieren so gut wie keine Daten zu einer medikamentösen Langzeitbehandlung. Dies ist umso bedauerlicher, als einige medikamentöse Strategien wie z. B. mit Stimmungsstabilisatoren langfristig anzulegen wären.  Die große symptomatologische Fluktuation schon im natürlichen Krankheitsverlauf macht es oft schwer, einen protokollierten

4.2 Persönlichkeit, Persönlichkeitsstörung und Psychopharmakaeffekte

Effekt als „Erfolg“ oder als „Misserfolg“ einer angesetzten Medikation zu beurteilen. Dies ist besonders im Hinblick auf die durchschnittlich allenfalls moderaten Effektstärken von Medikamenten im Auge zu behalten.  In Studien aufgenommene Patientenstichproben werden nach strukturierten Diagnosekriterien diagnostiziert. Der Algorithmus des Diagnostizierens bedingt aber eine hohe Heterogenität in der hierüber erfassten klinischen Phänomenologie. Es ist nicht immer klar, auf welche Patientengruppierungen die publizierten Untersuchungsergebnisse sich beziehen. Vor allem die in der Regel nicht berichteten psychiatrischen Komorbiditäten und der oft auch nicht näher spezifizierte Gesamtbehandlungsrahmen erschweren Interpretation und Generalisierbarkeit der Ergebnisse.  Im Hinblick auf den für Studien stets geforderten „informed consent“ und eine sicherzustellende Compliance muss befürchtet werden, dass die bei Studienpopulationen gefundenen Ergebnisse nicht so ohne weiteres auf Patientengruppierungen unter naturalistischen Versorgungsbedingungen extrapoliert werden dürfen. Mäßig hohe bis exzessiv hohe Drop-out Quoten bei den Studien unterstreichen dieses Problem. Medikamentöse Strategien lassen sich syndromorientiert formulieren. Sie beziehen sich auf therapeutische Erfahrungen, die mit einzelnen pharmakologischen Substanzklassen gewonnen worden sind (Kapfhammer 2006, 2007; Mercer 2007; Übersichten über die RCT in den Tab. 4.2.1–4.2.3; vgl. Herpertz et al. 2007, 2008).  Emotionale Dysregulation, verstärkte Stimmungslabilität, insgesamt erhöhte Assoziation mit depressiven Störungen legen einen Einsatz von Antidepressiva nahe. SSRI zählen zu den vergleichsweise noch am intensivsten in dieser Indikation untersuchten Antidepressiva. Trotzdem ist die empirische Datenbasis noch nicht als ausreichend zu beurteilen. Es existieren auch vereinzelte Untersuchungen zu SSNRI (Venlafaxin), TZA und irreversiblen MAO-I (Phenelzin, Tranylcypromin).

161

– Die Evidenzgrade für die in RCT untersuchten SSRI (Fluoxetin, Fluvoxamin) sind mit I b in der Reduktion depressiver und auch ängstlicher Symptome bei klinisch relevanter Depression anzugeben. Hierbei sind die mehrheitlich kleinen Patientenanzahlen in den Studien zu berücksichtigen. Hinsichtlich bedeutsamer Ärgeraffekte, Impulsivität und Aggressivität sind die Ergebnisse inkonsistent. Fluoxetin zeigt in einer Dosierung bis 60 mg möglicherweise eine bedeutsame Effektstärke. Bei Patienten ohne klinisch relevante Depression oder Ärgersymptome zeigen SSRI eher eine nur sehr begrenzte Wirksamkeit bei der störungstypischen Affekt- und Stimmungslabilität. Unter der Indikationsstellung der spezifischen emotionalen Dysregulation sind SSRI den atypischen Neuroleptika (z. B. Aripiprazol, Olanzapin) möglicherweise unterlegen. Ein Direktvergleich in einem RCT liegt aber noch nicht vor. Werden SSRI (Fluoxetin) im Rahmen strukturierter psychotherapeutischer Verfahren wie DBT bzw. IPT eingesetzt, so bewirkte dies bisher im ersten Fall keinen (Simpson et al. 2004), im letzteren einen deutlichen zusätzlichen Benefit (Bellino et al. 2006). – Unter den dual, d. h. auch noradrenerg wirksamen SSNRI (z. B. Venlafaxin) sind theoretisch eher Symptome einer impulshaften Verhaltensdysregulation vorstellbar. – Der unmittelbare antidepressive Effekt von TZA (Amitriptylin, Nortriptylin, Imipramin, Desipramin) ist in den vorliegenden Studien sehr bescheiden. Eine mögliche Effizienz besteht bei klinisch relevanter Depression. Trizyklika besitzen aber einen nur geringen therapeutischen Sicherheitsbereich und weisen bei Überdosierung z. B. in Folge (para-) suizidaler Handlungen ein hohes Letalitätsrisiko auf. – MAO-Hemmer (Phenelzin, Tranylcypromin) können Ärgeraffekte und Impulskontrollstörungen positiv beeinflus-

Patienten mit wiederholten Episoden suizidalen Verhaltens

Stationäre Patienten mit Borderline-P.S., schizotypischer P.S. oder kombinierter Störung

Borderline-P.S. mit Verhaltensdysfunktion

Borderline-P.S., leichte bis mittelschwere Ausprägung

Borderline-P.S. mit verschiedenen Achse-1- und Achse-2Störungen

P.S. mit impulsivem, aggressivem Verhalten und Irritabilität, 33 % davon mit Borderline-P.S.

Patientinnen mit Borderline-P.S. leichter bis schwerer Ausprägung, Ausschluss einer bipolaren S.

Ausschluss einer bipolaren S.

Montgomery & Montgomery (1982, 1983)

Soloff (1986)

Cowdry u. Gardner (1988)

Salzmann et al. (1995)

Markovitz und Wagner (1995)

Coccaro u. Kavoussi (1997)

Rinne et al. (2002)

Simpson et al. (2004)

Patienten

N = 25 RCT über 10 bis 11 Wochen als add-on zu Dialektisch-Behavioraler Therapie

N = 38 RCT über 6 Wochen, 6 Wochen „half cross over“-Design, 12 Wochen offenes „follow-up“

N = 40 RCT über 3 Monate

N = 31 RCT über 14 Wochen

N = 22 RCT über 13 Wochen

N = 12 RCT

N = 60 RCT

N = 58 (N = 30 mit BPS) RCT über 6 Monate

N (Art der Studie)

Fluoxetin (SSRI) 40 mg

Fluvoxamin (SSRI) 150 mg, im weiteren Verlauf bis max. 250 mg

Fluoxetin (SSRI) 20–60 mg/d

Fluoxetin (SSRI) 80 mg/d

Fluoxetin (SSRI) bis 60 mg

Tranylcypromin (irrevers. Monoamino-Oxydase-Inhibitor) 40 mg/d im Durchschnitt

Amitriptylin (Trizyklikum) 147 mg, Haloperidol 4,8 mg

Mianserin vs. Placebo

Testmedikation

Tabelle 4.2.1: Therapiestudien (ausschließlich RCTs) mit Antidepressiva bei der Borderline-Persönlichkeitsstörung [nach: Herpertz et al. 2008]

Kein zusätzlicher Effekt durch Fluoxetin, aber begrenzte Aussage wegen zu kleiner Stichprobe

Signifikante Abnahme der Stimmungsschwankungen, keine Änderung in Aggression und Impulsivität

Signifikante Abnahme der offenen verbalen und impulsiven Aggression; kein Einfluss auf Selbstwahrnehmung von Aggression; Besserung des CGIScores; belegt keine Verminderung der auf andere gerichtete Aggression

Signifikante Besserung von Angst, Depression und allgemeinem Funktionsniveau, keine Besserung der Aggressivität

Signifikante Besserung von Wut, Aggression und Depression

Bewirkte verglichen mit Trifluoperazin, Aprazolam, Carbamazepin und Placebo die größten Verbesserungen der Stimmungslage

Haloperidol für Depression besser geeignet als Amitryptilin

Kein signifikanter Unterschied

Resultat

162 4 Psychologische Grundlagen

Borderline-P.S. (N = 17) paranoide P.S. (N = 13) schizoide P.S. (N = 20)

Borderline-P.S., alle mit gestörter Verhaltenskontrolle

Borderline-P.S.

Konsekutiv aufgenommene Patienten mit Borderline-P.S.

Patientinnen mit Borderline-P.S.

Patientinnen mit Borderline-P.S. ohne Komorbidität mit Depression, bipolarer oder psychotischer Störung

Patientinnen mit Borderline P.S. ohne Komorbidität mit Depression, bipolarer oder psychotischer Störung

Patientinnen mit Borderline-P.S. ohne stabile Achse-1-Störung

Patienten mit Borderline-P.S., keine Komorbidität mit Schizophrenie

Goldberg et al. (1986)

Cowdry u. Gardner (1988)

Soloff et al. (1989)

Soloff et al. (1993) Cornelius et al. (1993)

Zanarini und Frankenburg (2001)

Bogenschutz und Nurnberg (2004)

Zanarini et al. (2004a)

Soler et al. (2005)

Nickel et al. (2006, 2007)

Patienten

N = 57 Akutphase N = 52 Erhaltungsth. RCT

N = 60 RCT

N = 45 RCT

N = 40 RCT

N = 19 RCT

N = 36 N = 38 N = 34 RCT

N = 90

N = 16 RCT

N = 50 RCT

N (Art der Studie)

Aripiprazol (atyp. Neuroleptikum) 15 mg/d

Olanzapin + Dialektisch-Behaviorale Therapie (DBT) vs. Placebo + DBT

Olanzapin 3,3 mg im Durchschnitt über 8 Wochen vs. Fluoxetin 15 mg vs, Olanzapin + Fluoxetin

Olanzapin 6,9 mg im Durchschnitt über 12 Wochen

Olanzapin (atyp. Neuroleptikum) (von 10 Patienten über 6 Monate eingenommen)

Haloperidol < 6 mg/d Phenelzin (irrev. MAOI) < 90 mg/d Placebo

Haloperidol (Butyrophenon) 4–16 mg vs. Amitriptylin 100–175 mg vs. Placebo

Trifluoperazin (Phenothiazin) im Mittel 7,8 mg (von 7 Probanden drei Wochen lang genommen)

Thioridazin (Phenothiazin) 5–40 mg; 8,7 mg im Durchschnitt

Testmedikation

Verbesserung im SCL-90, Rückgang von Depression, Angst, Ärger in Akut und Erhaltungsphase

Signifikante Überlegenheit der Kombination in Bezug auf Depression, Angst, impulsivaggressives Verhalten, Trend zur Signifikanz bzgl. Selbstverletzungsverhalten

Überlegenheit der Olanzapin-Monotherapie und der Kombination gegenüber Fluoxetin-Monotherapie in Bezug auf Dysphorie und impulsive Aggressivität

Signifikante Verbesserung der BPS-Pathologie (ES = ,77) mit Wirkung auf Ärger, aber ohne Wirkung auf psychose-ähnl. Symptome, Depression, Angst und Aggressivität

Signifikante Reduktion von Angst, Paranoia, Wut und interpersoneller Sensitivität, keine Besserung der Depression

Haloperidol u. Placebo schlechter als Phenelzin gegen Depression, Wut, Feindseligkeit und Angst bei 5-wöchiger Anwendung, hohe „drop-out“-Rate von 64 % bei 16-wöchiger neuroleptischer Anwendung, nur geringe Langzeitwirkung von Phenelzin

Signifikante Verbesserung des allg. Funktionsniveaus, von Feindseligkeit, schizotypischen und impulsiven Symptomen

Trifluoperazin schlecht verträglich aber signifikant verbesserte Verhaltenskontrolle, Angst und Depression

Siginifikante Überlegenheit von Thioridazin für Wahn, Selbstbezogenheit, psychotisches Verhalten und Zwangssymptomatik, aber nicht für Depression, Wut oder Feindseligkeit

Resultat

Tabelle 4.2.2: Therapiestudien (ausschließlich RCTs) mit Antipsychotika bei der Borderline Persönlichkeitsstörung [nach: Herpertz et al. 2008]

4.2 Persönlichkeit, Persönlichkeitsstörung und Psychopharmakaeffekte 163

Borderline-P.S. mit Verhaltensdysfunktion

Borderline-P.S. keine Komordidität

Borderline-P.S. Ausschluss von psychotischen u. bipolaren St., Ausschluss einer derzeitigen Depression

Patientinnen mit Borderline-P.S. mit komorbider bipolarer St., Ausschluss einer Major Depression

Patientinnen mit Borderline-P.S., Ausschluss von bipolarer Störung und Major Depression

Patientinnen mit Borderline-P.S., Ausschluss von bipolarer Störung und Major Depression

Männliche Patienten mit BorderlineP.S., Ausschluss von bipolarer Störung und Major Depression

Patientinnen mit Borderline-P.S., kein Ausschluss affektiver Störungen

Cowdry u. Gardner (1988)

De La Fuente u. Lotstra (1994)

Hollander et al. (2001)

Frankenburg und Zanarini (2002)

Tritt (2005)

Nickel et al. (2004)

Nickel et al. (2005)

Loew et al. (2006)

Patienten

N = 56 RCT über 10 Wochen

N = 42 RCT über 8 Wochen

N = 31 RCT über 8 Wochen

N = 27 RCT über 8 Wochen

N = 30 RCT über 28 Wochen

N = 21 RCT über 10 Wochen

N = 20 RCT über 4 ½ Wochen

N = 12 RCT

N (Art der Studie)

Topiramat aufdosiert bis 200 mg/d

Topiramat aufdosiert bis 250 mg/d

Topiramat aufdosisert bis 250 mg/d

Lamotrigin aufdosiert bis 200 mg/d

Valproat 50–100 μg/ml durchschnittl. Serumspiegel

Valproat 80 μg/ml durchschnittl. Serumspiegel

Carbamazepin 6,44–7,07 μg/ml durchschnittl. Serumspiegel

Carbamazepin 820 mg/d

Testmedikation

Signifikante Reduktion von Somatisierung, interpersoneller Sensitivität, Angst, Feindseligkeit, phobischer Angst, allg. Funktionsniveau (SCL-90Subskalen)

Signifikante Reduktion von Ärger (auf allen STAXI-Skalen außer anger-in)

Signifikante Reduktion von Ärger (auf allen STAXI-Skalen außer anger-in)

Signifikante Reduktion von Ärger (auf allen STAXI-Skalen außer anger-in)

Signifikante Reduktion von Aggression, Reizbarkeit und Depression, Effekt höher bei Patientinnen mit hoher Impulsivität

Kein eindeutiger Effekt bei hoher Abbrecherquote

Kein signifikanter Effekt

Signifikante Verbesserung der Verhaltenskontrolle und des allg. Funktionsniveau

Resultat

Tabelle 4.2.3: Therapiestudien (ausschließlich RCTs) mit Mood Stabilizern bei der Borderline Persönlichkeitsstörung [nach: Herpertz et al. 2008]

164 4 Psychologische Grundlagen

4.2 Persönlichkeit, Persönlichkeitsstörung und Psychopharmakaeffekte

sen. Ihr unmittelbarer antidepressiver Effekt ist möglicherweise den TZA diskret überlegen. Bei „atypischen“ Depressionssymptomen wie Hypersomnie, Hyperphagie und interpersonaler Zurückweisungsempfindlichkeit sind die Behandlungsresultate mit MAO-Hemmern inkonsistent. Auch die irreversiblen MAO-Hemmer weisen nicht zuletzt wegen der höchst diszipliniert einzuhaltenden Diätvorschriften ein bedeutsames Gefährdungspotential. – Unter Abwägung der klinisch erwartbaren, eher als bescheiden einzustufenden Effekte, und angesichts der hohen Nebenwirkungsrate sowie der bedenklichen Sicherheitsprofile sollten sowohl MAOHemmer als auch TZA bei Patienten mit Borderline-Persönlichkeitsstörung möglichst nicht eingesetzt werden.  Ein besonderes perzeptiv-kognitives Symptomcluster mit z. B. paranoidem Misstrauen, passageren anderen psychotischen Symptomen, aber auch dissoziativen Symptomen bildet den Ausgangspunkt für den Einsatz von Antipsychotika. Es liegen mehrere RCT zu niedrig dosierten typischen (Haloperidol, Thioridazin, Trifluoperazin) und atypischen Neuroleptika (Olanzapin, Aripiprazol) vor. Niedrig dosierte Antipsychotika zeigen einen relativ konsistenten positiven Effekt auf perzeptiv-kognitive Symptome, aber auch auf feindselige Affekte, Ärger, Aggressivität, Depression (Evidenzgrad I b). In der methodisch gut kontrollierten Studie von Soloff et al. (1989) fand sich für Haloperidol bis auf eine positive Wirkung auf Reizbarkeit kein eindeutiger Effekt, eine sehr hohe Drop-out Rate war festzuhalten. Mehrere Placebo-kontrollierte Studien mit Olanzapin zeigen ebenfalls mäßige bis hohe Abbruchquoten (ca. 50 %). Derzeit wird geprüft, ob die erfolgversprechenden Daten der kleineren Studien in einer groß angelegten Multicenter Studie mit über 300 Patientinnen repliziert werden können (Schulz et al. 2008). In einer doppel-blinden und Placebo-kontrollierten Studie bewirkte Olanzapin bei einer Patientengruppe mit DBT gegenüber

165

Placebo eine signifikante Verbesserung von Depression, Angst, Impulsivität und aggressivem Verhalten (Soler et al. 2005). Erfolg versprechende Resultate liegen ferner für das Aripiprazol vor, das auch in einer Langzeitanwendung zu einer positiven Stabilisierung beitragen kann (Nickel et al. 2006, 2007). – Das vorteilhaftere neurochemische Profil der Atypika mit zusätzlich zur wirksamen D2-Blockade vorhandenem 5-HT2AAntagonismus und teilweise 5-HT1AAgonismus (z. B. Aripiprazol) versprechen antipsychotische Wirkungen bei reduziertem extrapyramidalmotorischen Nebenwirkungsrisiko und günstigem Einfluss auf Stimmungslage und Impulskontrolle. In dieser Hinsicht ist in der klinischen Praxis den atypischen Antipsychotika gegenüber den traditionellen Präparaten ein klarer Vorzug einzuräumen. Zu berücksichtigen ist jedoch, dass mit Ausnahme von Aripiprazol den Atypika ein eigenständig zu bewertendes Nebenwirkungsprofil mit Gewichtssteigerung, Dyslipidämie, Diabetogenität, QTc-Verlängerung und gesteigerter Prolaktinsekretion anhaftet. Im Hinblick auf die hohe Assoziation von Borderline-Persönlichkeitsstörung und komorbiden Essstörungen müssen vor allem die metabolischen Nebenwirkungen bedacht werden. Diesbezüglich weist das Aripiprazol klare Vorteile auf.  Stimmungsstabilisatoren (Lithium, Carbamazepin, Valproat, Lamotrigin, Topiramat) sind zweifelsohne auch für die Gruppe der Patienten mit Borderlinestörungen eine hoch bedeutsame Medikamentengruppe. – Die empirische Basis für Lithium ist extrem schmal (Evidenzgrad IV). Allenfalls in sorgfältig ausgewählten Einzelfällen sind positive Effekte möglich. Die sehr enge therapeutische Spanne, die damit assoziierte hohe Nebenwirkungsrate und bedeutsame Sicherheitsbedenken fallen zusätzlich negativ ins Gewicht. – Für Carbamazepin können keine positiven Effekte aus RCTs berichtet werden.

166

– Valproat (Evidenzgrad I b) und Lamotrigin (Evidenzgrad II a) zeigten günstige Effekte auf Impulsivität, Ärger, Irritabilität und Dysphorie. Auch für Topiramat ließen sich diese ermutigenden Ergebnisse in mehreren RCT finden (Evidenzgrad I b). – Generell gilt es aber beim Einsatz von Stimmungsstabilisatoren zu bedenken, dass Borderlinepatienten nur schwer für eine medikamentöse Langzeitprophylaxe zu gewinnen sind. In speziellen Therapiesettings liegen aber für Lamotrigin und Topiramat ermutigende Resultate auch in der Langzeitanwendung vor (Leiberich et al. 2008; Nickel 2008).  Der Einsatz von Benzodiazepinen ist bei Borderlinepatienten auf wenige Notfallsituationen mit ausgeprägten Angstzuständen zu beschränken (Evidenzgrad IV). Stets ist die Gefahr einer raschen Gewöhnung und missbräuchlichen Einnahme zu beachten. Bei bekannten Abhängigkeitsproblemen besteht eine klare Kontraindikation. Vor allem unter Benzodiazepinen mit kürzerer Halbwertszeit wie z. B. Alprazolam können unkontrollierte Verhaltensdurchbrüche auftreten, wie in einem RCT beobachtet worden ist (Cowdry und Gardner 1988).  Opiatantagonisten wie z. B. Naloxon oder Naltrexon kommt möglicherweise bei dissoziativen Zuständen einer Depersonalisation eine gewisse Indikation zu. Die empirischen Belege für eine eventuelle Wirksamkeit stammen aber bisher ausschließlich aus unkontrollierten Studien (Evidenzgrad III). Bislang gibt es nur Hinweise, dass Opiatantagonisten allenfalls kurzfristig unter stationären Bedingungen eingesetzt werden sollten. Bei Patienten mit gleichzeitiger Opiatabhängigkeit kann eine längerfristige Verabreichung von Opiatantagonisten zu einer Hypersensibilisierung der Opiatrezeptoren führen. Werden solche Patienten rückfällig, dann drohen bei dieser veränderten pharmakodynamischen Ausgangslage möglicherweise sogar letale Komplikationen bei Wiederaufnahme des üblichen Opiatkonsums.

4 Psychologische Grundlagen

 Clonidin (Evidenzgrad III) mag bei Zuständen heftiger aversiver Angespanntheit zu einer Harmonisierung und eventuell auch zu einer Abnahme einer assoziierten situativen Suizidalität beitragen (Philipsen et al. 2004). Aus einer für die klinische Behandlungspraxis bedeutsamen Metaanalyse geht hervor (Nosé et al. 2006), dass Psychopharmaka insgesamt eine mäßige positive Modifikation zentraler Kernmerkmale der Borderline-Persönlichkeitsstörung bewirken können, wobei Antidepressiva und Mood-Stabilizer signifikante Effekte auf affektive Instabilität und Ärger, nicht hingegen auf allgemeine Impulsivität, Aggressivität, instabile Beziehungsmuster, Suizidalität und globales Funktionsniveau, Antipsychotika umgekehrt positive Effekte auf Impulsivität und Aggressivität, instabile Beziehungsmuster und globales Funktionsniveau entfalten. Bedeutsam erscheint ferner, dass zwischen Verum-Gruppen und Placebo-Gruppen kein signifikanter Unterschied hinsichtlich der Drop-out-Quoten besteht. Eine empirisch begründete Psychopharmakotherapie der antisozialen Persönlichkeitsstörung gibt es nicht. Im „off-label-use“ können Medikamente bei definierten Zielsymptomen/ -syndromen hilfreich sein (Herpertz et al. 2008; Meloy 2007). Solche Zielsymptome sind beispielsweise unbeherrschbare Wut, Impulsivität, unkontrollierte Gewaltakte, emotionale Instabilität oder mürrisch-dysphorische Gestimmtheit. Wenige positive Studien liegen zu SSRIs (Coccaro et al. 1997), atypischen Antipsychotika (Rocca et al. 2002) und Omega-3 Fettsäuren (Zanarini und Frankenburg, 2003) vor. Bei Komorbidität sind die jeweiligen evidenzbasierten Behandlungsrichtlinien bezüglich möglicher Kombinationen von medikamentöser Behandlung und Psychotherapie der vorliegenden Achse-I-Störung zu beachten (Habermeyer und Habermeyer 2006). Bei schizophrenen Patienten mit koexistenter antisozialer Persönlichkeitsstörung besitzt Clozapin gegenüber anderen Antipsychotika mögliche Vorteile in der Reduktion gewalttätiger Verhaltensweisen (Volavka 1999). Für die narzisstische und die his-

4.2 Persönlichkeit, Persönlichkeitsstörung und Psychopharmakaeffekte

trionische Persönlichkeitsstörung existiert keine empirisch gestützte Psychopharmakotherapie (Ronningstam und Maltsberger 2007; Gabbard und Allison 2007).

4.2.6 Neurobiologie und Psychopharmakaeffekte bei Persönlichkeitsstörungen aus dem Cluster C Das Cluster C der Persönlichkeitsstörungen umfasst die ängstlich-vermeidende, die dependente und die zwanghafte Persönlichkeitsstörung. Angst, Ängstlichkeit, Gefahrenvermeidung, Verhaltenshemmung und Zwanghaftigkeit definieren die für das C-Cluster typischen Kernmerkmale. Neurobiologische Forschungsansätze haben sich bisher fast ausschließlich auf die ängstlichvermeidende Persönlichkeitsstörung konzentriert, wobei implizit eine weitgehende Identität mit der generalisierten sozialen Phobie angenommen worden ist. Es scheinen daneben aber auch einige Befunde zur allgemeinen Persönlichkeitsdimension der Ängstlichkeit von Relevanz zu sein. Hinsichtlich einer allgemeinen Angstbereitschaft legen distinkte neuronale Regelkreise ein enges Zusammenspiel von Hirnstamm-, limbischen und kortikalen Strukturen nahe. Die Amygdala imponiert als Schaltzentrale der Angstentstehung und spielt eine primäre Rolle im Erwerb angstbezogener Erinnerungen. Zwei hierüber bei drohenden Gefahren organisierte neuronale Schaltkreise unterscheiden sich in der Geschwindigkeit, aber auch in der kognitiven Differenziertheit der Informationsverarbeitung (Charney 2003). Zahlreiche Neurotransmitter und Neuropeptide sind an der Angstregulation beteiligt, wobei aber dem GABAergen, noradrenergen, serotoninergen und glutamatergen System eine besondere Funktion zukommt. In Neuroimaging-Studien wird eine amygdaläre Überaktivität bei ungenügender präfrontal-kortikaler Modulation hervorgehoben. Auch andere Zentren wie die Insel (viszeral-autonome Wahrnehmung), das anteriore Cingulum (emotionale Bewertung) oder der dorsolaterale präfrontale Kortex (Arbeitsgedächtnis, Reaktionsauswahl, -vorbereitung) sind bedeutsam an

167

der Vermittlung von Angstreaktionen beteiligt (Kapfhammer 2008 c). Molekulargenetische Untersuchungen bemühen sich, Assoziationen zu einer allgemeinen Angstdisposition aufzudecken. Ein solches allgemeineres Suszeptibilitätsgen wurde etwa auf dem Chromosom 4q21 identifiziert, in dessen Nähe auch das Neuropeptid Y kodiert wird (Kaabi et al. 2006). Das Glutaminsäuredekarboxylase-Gen1 könnte ebenfalls eine solche Rolle spielen (Hettema et al. 2006). Ein Angst-relevanter Polymorphismus in den Genen für den Dopamin-D2-Rezeptor und den Dopamintransporter wurde ebenso nachgewiesen (Blum et al. 1997; Joyce et al. 2003) wie ein möglicherweise bedeutsamer COMT-Polymorphismus (Stein et al. 2005). Lesch und Mitarbeitern (1996) gelang erstmals der Nachweis einer signifikanten Assoziation der in der Persönlichkeitsdimension Neurotizismus mit enthaltenen Trait-Ängstlichkeit mit einer kurzen Variante des Polymorphismus für das Serotonin-Transportergen. Hariri et al. (2002) fanden, dass „short-allel“-Träger dieses Serotonin-Transportergens verstärkte Amygdala-vermittelte Furchtreaktionen auf angsterfüllte bzw. furchterregende Gesichter im fMRI zeigen. Pezewas et al. (2005) wiederum konnten nachweisen, dass dieser „short allel“-Polymorphismus im Serotonin-Transportergen auch für die Entkoppelung des amygdalären Regelkreises von Steuereinflüssen des präfrontalen Kortex bzw. des anterioren Cingulums verantwortlich ist. Jacob et al. (2004) bestätigten explizit die Bedeutung dieser Befunde für Cluster C-Störungen. Künftige Forschungsansätze werden noch stärker das Zusammenspiel von genetischen Dispositionen und Umweltstressoren in kritischen Entwicklungsabschnitten analysieren (Canli und Lesch 2007; Leonardo und Hen 2006). In einer speziellen Orientierung an der sozialen Phobie wird sowohl ein sensibilisiertes Panik-/Furchtsystem über die Amygdala als auch ein gebahntes Angstsystem über den Bettkern der Stria terminalis als relevant erachtet. Beide Reaktionssysteme müssen in eine langfristige Entwicklungslinie eines vermutlich genetisch vermittelten Temperaments der Verhaltenshemmung, Schüchternheit und Vermeidung von neuen Situationen eingeordnet werden (Mar-

N = 30 Soziale Phobie 53 % generalisierte Form

N = 578 Soziale Phobie 78 % generalisierte Form 49 % ÄPS

N = 583 Soziale Phobie 62,5 % generalisierte Form 47,8 % ÄPS

N = 183 Soziale Phobie 100 % generalisierte Form

N = 77 Soziale Phobie 85 % generalisierte Form 38 % ÄPS

N = 92 Soziale Phobie 91,3 % generalisierte Form

van Vliet et al. (1994)

Katschnig (1995)

Noyes et al. (1997)

Stein et al. (1998)

Schneier et al. (1998)

Stein et al. (1999)

Patienten

RCT über 12 Wochen

RCT über 8 Wochen

RCT über 12 Wochen

RCT über 12 Wochen

RCT über 12 Wochen

RCT über 12 Wochen

Art der Studie

Fluvoxamin durchschnittlich 202 mg

Moclobemid über 8 Wochen durchschnittlich 728 mg

Paroxetin (SSRI) 20–50 mg

Moclobemid (RIMA) kontrollierte DosisFindungs-Studie 75–900 mg

Moclobemid (RIMA) 300 oder 600 mg

Fluvoxamin (SSRI) 150 mg

Testmedikation

Reduktion der sozialen Angst, Verbesserung der sozialen Funktionsfähigkeit 42,9 % Responder (vs. 22,7 % in der Placebo-Gruppe) geringe Drop-out-Rate

Reduktion in nur 2 von 10 Subskalen der sozialen Angst (Vermeidungsverhalten, gesamte Angst) 17,5 % Responder (vs. 13,5 % in der Placebo-Gruppe), geringer Effekt Drop-out-Rate von 25 % (vs. 27 % in der Placebo-Gruppe)

Reduktion der sozialen Angst und Verbesserung der sozialen Funktionsfähigkeit, 55 % Responder (vs. 23,9 % in der Placebo-Gruppe) Drop-out-Rate von 25 % (vs. 27 % in der PlaceboGruppe)

Keine Verbesserung unabhängig von der Dosis nach 12 Wochen (nur nach 8 Wochen) 35 % sehr viel verbessert, hohe Placebo-Reaktion hohe Drop-out-Rate von 31,2 % (vs. 38,8 % in der Placebo-Gruppe) keine Unterschiede zwischen den Gruppen mit/ ohne ÄPS, aber größere Medikamenten-PlaceboUnterschiede in der komorbiden Gruppe

Reduktion der sozialen Angst in der 600 mg-Gruppe, Anstieg der sozialen Funktionsfähigkeit, 47 % Responder in der 600 mg-Gruppe (vs. 34 % in der Placebogruppe) keine Unterschiede zwischen den Gruppen mit/ ohne ÄPS, aber größere Medikamenten-PlaceboUnterschiede in der komorbiden Gruppe keine Daten zu Drop-out-Raten

Reduktion der sozialen und allgemeinen Angst, nicht der ängstlichen Vermeidung keine Drop-outs

Resultat

Tabelle 4.2.4: Randomisiert-kontrollierte Studien bei der Generalisierten Sozialen Phobie [erweitert nach: Herpertz et al. 2008]

168 4 Psychologische Grundlagen

N = 204 Soziale Phobie 100 % generalisierte Form, 61 % ÄPS

N=384 Soziale Phobie, 100 % generalisierte Form

N = 434 Soziale Angststörung 100 % generalisierte Form

N = 839 Soziale Angststörung 100 % generalisierte Form

N = 272 Soziale Angststörung 100 % generalisierte Form

N = 271 (intention to treat) Soziale Angststörung 100 % generalisierte Form

N = 429 Soziale Angststörung 100 % generalisierte Form

N = 386 Soziale Angststörung 100 % generalisierte Form

N = 358 Soziale Angststörung 100 % generalisierte Form

N = 517 Soziale Angststörung 100 % generalisierte Form

van Ameringen et al. (2001)

Liebowitz et al. (2002)

Allgulander et al. ( 2004)

Lader et al. (2004)

Rickels et al. (2004)

Liebowitz et al. (2005)

Liebowitz et al. (2005)

Stein et al. (2005)

Kasper et al. (2005)

Montgomery et al. (2005)

RCT über 24 Wochen

RCT über 12 Wochen

RCT über 6 Monate

RCT über 12 Wochen

RCT über 12 Wochen

RCT über 12 Wochen

RCT über 24 Wochen

RCT über 12 Wochen

RCT über 12 Wochen

RCT über 20 Wochen

Escitalopram 10–20 mg

Escitalopram 10–20 mg

Venlafaxin ER 75 mg vs. 150–225 mg

Venlafaxin ER 7–225 mg Paroxetin 20–50 mg

Venlafaxin ER 7–225 mg

Venlafaxin ER 75-225 mg

Escitalopram: 5, 10, 20 mg (fixe Dosen), Paroxetin 20 mg

Venlafaxin ER 75–225 mg Paroxetin 20–50 mg

Paroxetin 20, 40, 60 mg (feste Dosen)

Sertralin 50–200 mg

Zunächst offene Behandlung mit Escitalopram 10–20 mg Response: n = 371, anschließend Randomisierung gegenüber Placebo zur Prävention unter Placebo 2,8-fach erhöhtes Rückfallrisiko

Escitalopram > Placebo Response: 54 % vs. 39 %

Venlafaxin ER (niedrig) = Venlafaxin (höher dosiert) > Placebo Response: Venlafaxin ER (alle Dosen): 58 %; Placebo: 33 % Remission: 31 % vs. 16 %

Venlafaxin > Placebo; Paroxetin > Placebo N = 318 (completers) Response: 58,6 % vs. 62,5 % vs. 36,1 %

Venlafaxin > Placebo; N = 173 (completers) Response: 44 % vs. 30 % Remission: 20 % vs. 7 %

Venlafaxin > Placebo, ab 4. Woche

Escitalopram 5–20 mg > Placebo Escitalopram 20 mg > Paroxetin 20 mg

Venlafaxin = Paroxetin > Placebo Response: 69 % vs. 66 % vs. 36 %

20 mg induziert die größten Verbesserungen der sozialen Angst, während die Inzidenz der Responder, basierend auf dem CGI, bei 40 mg am besten war.

Reduktion der sozialen Angst, Verbesserung der sozialen Funktionsfähigkeit 53 % Responder (vs. 29 % in der Placebo-Gruppe) 24 % Drop-out (vs. 22 % in der Placebo-Gruppe)

4.2 Persönlichkeit, Persönlichkeitsstörung und Psychopharmakaeffekte 169

170

cin und Nemeroff 2003). Neben GABAergen, noradrenergen und serotoninergen Dysfunktionen werden spezielle Veränderungen im dopaminergen System betont (Mathew et al. 2001). Eine spezifisch ausgerichtete neurobiologische Forschung zu den beiden anderen Cluster C-Störungen, der abhängigen und der zwanghaften Persönlichkeitsstörung existiert praktisch nicht. Es ist derzeit unklar, ob allgemeinere und speziellere Befunde, die auf die ängstlich-vermeidende Persönlichkeitsstörung bezogen werden, auch auf die beiden anderen Störungen extrapoliert werden können. Hierbei ist auch zu beachten, dass die in der zwanghaften Persönlichkeitsstörung enthaltene, übergeordnete Dimension der Zwanghaftigkeit von einer ängstlichen Verhaltenshemmung unterschieden werden muss und eine eigene Dimension darstellt (Carver 2005; Tyrer et al. 2007). Und wiederum muss derzeit noch offenbleiben, ob die zwanghafte Persönlichkeitsstörung in Analogie zu ängstlichvermeidender Persönlichkeitsstörung und generalisierter sozialer Phobie neurobiologisch als eine Störung innerhalb eines Zwangsspektrums konzeptualisiert werden kann (Fineberg et al. 2007). Die empirische Basis der Psychopharmakotherapie bei der ängstlich-vermeidenden Persönlichkeitsstörung rekrutiert sich entscheidend aus Studien zur sozialen Phobie (Kapfhammer 2008 c; Übersicht über die RCT in der Tab. 4.2.4; vgl. Herpertz et al. 2008). Bei der Interpretation der hierzu vorliegenden Studien ist zu berücksichtigen, dass nicht immer die Unterscheidung zwischen einem „limitierten Subtypus“ vs. einem „generalisierten Subtypus“ getroffen wurde. Nur letzterer Subtypus der sozialen Phobie ist mit der Konzeptualisierung der ängstlich-vermeidenden Persönlichkeitsstörung praktisch gleichzusetzen. Ferner wurde in den meisten Studien auch kein direkter Wirknachweis hinsichtlich situationsübergreifender, persönlichkeitsgebundener Aspekte der sozialen Ängstlichkeit intendiert. In einer Übersicht zur Pharmakotherapie der sozialen Phobie haben mehrere Substanzklassen eine Wirksamkeit gezeigt (Kapfhammer 2008 c):

4 Psychologische Grundlagen

 Die irreversiblen MAO-Hemmer (Phenelzin) und reversiblen MAO-A-Hemmer (Moclobemid, Brofaromin) (Evidenzgrad I b),  die SSRI Paroxetin, Sertralin, Fluvoxamin (Evidenzgrad I b),  das dual wirksame SSNRI Venlafaxin (Evidenzgrad I b) und  Benzodiazpine (Alprazolam, Clonazepam, Bromazepam; Evidenzgrad I b).  Gabapentin und vor allem Pregabalin könnten sich künftig als interessante Optionen darstellen (Evidenzgrad II a). Für Moclobemid sind auch günstige Effekte in der Langzeittherapie nachgewiesen worden. In aktuellen Behandlungsempfehlungen (für die soziale Phobie) werden die SSRI und Venlafaxin ER als Medikamente der 1. Wahl, die MAOHemmer als Medikamente der 2. Wahl erachtet und schließlich mögliche Indikationen für Clonazepam oder Pregabalin diskutiert (Muller et al. 2005). Die beschränkten Informationen aus empirischen Studien erlauben derzeit allenfalls orientierende Richtlinien für ein kombiniertes Vorgehen. Pharmakomonotherapie mit SSRI (Fluoxetin, Sertralin), kognitive Verhaltenstherapie alleine und Kombinationsbehandlung erwiesen sich jeweils der Placebobedingung als signifikant überlegen, die Kombinationstherapie bewirkte aber gegenüber den beiden Monotherapien keinen signifikanten Zusatzbenefit (Kobak et al. 2002, Clark et al. 2003, Foa et al. 2003; Blomhoff et al. 2001). Für eine Kombination mit Phenelzin wurde aber ein solcher Vorteil nachgewiesen (Heimberg 2003). In einer weiteren kontrollierten Studie wurden über 6 Monate drei Therapiearme (supportive Führung + Moclobemid; kognitiv-behaviorale Gruppentherapie + Placebo; kognitiv-behaviorale Gruppentherapie + Moclobemid) miteinander verglichen und ein Follow-up nach 2 Jahren angeschlossen. Die Kombinationstherapie führte insgesamt zur raschesten Symptomreduktion. Moclobemid alleine erwies sich nach 3 Monaten in der Besserung der allgemeinen subjektiven Angstsymptomatik als überlegen, zeigte aber nur einen bescheidenen Einfluss auf das Vermeidungsverhalten. Für den kognitiv-behavioralen Ansatz

4.2 Persönlichkeit, Persönlichkeitsstörung und Psychopharmakaeffekte

stellten sich die Wirkungen genau umgekehrt dar. Nach 6 Monaten zeichnete sich die kognitive Verhaltenstherapie durch die besten Ergebnisse aus, die Kombinationstherapie erzielte keinen zusätzlichen Benefit. In einem Vergleich der Rückfallquoten schnitten jene Patienten, die entweder alleine oder in Kombination kognitive Verhaltenstherapie erhalten hatten, gegenüber einer Moclobemidmonotherapie signifikant günstiger dar (Prasko et al. 2006). Die Entscheidung für eine medikamentöse Behandlung bei Patienten mit ängstlich-vermeidender Persönlichkeitsstörung impliziert ähnlich wie bei der generalisierten sozialen Phobie eine notwendige Langzeitperspektive. Es liegen bislang keine kontrollierten oder offenen Studien zur Wirksamkeit von psychopharmakologischen Strategien bei der abhängigen oder zwanghaften Persönlichkeitsstörung vor. Lediglich unsystematische Beobachtungen werden berichtet (Kapfhammer 2006; Perry 2007).

4.2.7 Schlussbemerkungen Der früher vorherrschende grundsätzliche Pessimismus gegenüber einem Einsatz von Psychopharmaka bei Patienten mit Persönlichkeitsstörungen erscheint angesichts empirischer Daten nicht mehr gerechtfertigt zu sein. Persönlichkeit wie auch Störungen der Persönlichkeit betonen neben zahlreichen relevanten Umweltfaktoren auch komplexe neurobiologische Dispositionen, auf die Psychopharmaka einen modifizierenden Einfluss nehmen können. Psychopharmaka beeinflussen ein von bestimmten Achse I- und Achse-II-Störungen gemeinsam geteiltes Krankheitsspektrum, definierte Persönlichkeitsdimensionen, die mit psychopathologischen Symptomclustern korreliert sind sowie psychiatrische Komorbiditäten und Komplikationen von Persönlichkeitsstörungen. Angesichts der Feststellung, dass Patienten mit Persönlichkeitsstörungen in der psychiatrischen Behandlungspraxis häufig ungezielt mehrere Präparate aus unterschiedlichen Substanzklassen erhalten (Zanarini et al. 2001), ist eine kritische Sichtung der vorliegenden Literatur zu kontrollierten Studien unabdingbar. Hieraus lassen sich erste orientierende

171

Richtlinien ableiten (Soloff 1998). Eine unreflektierte Übernahme von Empfehlungen eines Behandlungsalgorithmus in der psychiatrischen Praxis würde aber bei einer Mehrzahl der Patienten zu einer unübersichtlichen und damit auch potentiell gefährlichen Polypragmasie führen und auch die oben aufgeführten Grenzen der Interpretierbarkeit und Generalisierbarkeit von Studiendaten im Hinblick auf durchschnittliche Versorgungsbedingungen nicht beachten. Probleme der Compliance und das inhärente Suizidrisiko definieren besondere therapeutische Herausforderungen vor allem in einer Langzeitperspektive. Eine Behandlung mit Psychopharmaka verweist selbst bei bescheiden gewählten Therapiezielen immer auf den Kontext der Arzt-Patienten-Beziehung. Diese ist supportiv zu gestalten und soll zu konstruktiven Lernschritten motivieren. Die impliziten Bedeutungen einer Medikation sind für Patienten und für Therapeuten in einer aktuellen therapeutischen Beziehung von grundlegender Relevanz. In den wenn möglich immer anzustrebenden psychotherapeutischen Kontakt ist der medikamentöse Ansatz zu integrieren. Bereits zu Beginn einer Behandlung, d. h. auch bei Einleitung einer spezifischen Psychotherapie sollte mit dem Patienten die Möglichkeit eines psychopharmakologischen Ansatzes erörtert werden. Bei einer späteren Entscheidung für Medikamente darf nicht vermittelt werden, dass hiermit ein Rückzug aus einem gesprächsund/oder handlungsorientierten Psychotherapieansatz intendiert sei. Es ist notwendig, ein Grundverständnis zu erarbeiten, dass psychotherapeutische Maßnahmen oft nur greifen können, wenn schwerwiegende und beeinträchtigende Symptome in ihrer Intensität durch Medikamente gebessert werden. Es muss mit dem Patienten klar besprochen werden, welche Beschwerden als Zielsymptome für eine pharmakologische Intervention identifiziert werden können, welches Medikament mit welchem Therapieziel gegeben werden soll, welche Nebenwirkungen auftreten können, und innerhalb welcher realistischen Zeitspanne das Erreichen oder aber Verfehlen eines definierten Therapieziels überprüft werden sollte. Oft ist es wichtig,

172

sich die besonderen psychodynamischen Voraussetzungen zu verdeutlichen, unter denen ein individueller Patient mit einer bestimmten Persönlichkeitsstörung den Modus der Medikamentenverschreibung erlebt, die pharmakologischen Haupt- und Nebenwirkungen verarbeitet und mit Compliance oder Noncompliance reagiert.

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4.3.1 Psychoedukation W. Kissling

4.3.1.1 Einleitung In allen Behandlungsleitlinien wird betont, dass die Therapie psychiatrischer Störungen mehrdimensional zu erfolgen habe und dass neben der medikamentösen Therapie immer auch eine psychoedukative und eine psycho- und soziotherapeutische Behandlung erfolgen müsse. Diese Forderung kann allerdings unter den derzeitigen gesundheitspolitischen Rahmenbedingungen in der Regelversorgung kaum umgesetzt werden. So haben empirische Untersuchungen gezeigt, dass in den deutschsprachigen Ländern derzeit im stationären Bereich weniger als 20 % der depressiven oder schizophrenen Patienten und weniger als 2 % der Angehörigen an einer Psychoedukation teilnehmen (Rummel et al. 2006). Im ambulanten Behandlungssektor ist diese Unterversorgung noch weitaus gravierender, da psychoedukative Maßnahmen dort de facto nicht extra honoriert werden. Diese Versorgungsdefizite sind die Hauptursache dafür, dass mehr als 50 % der psychiatrischen Patienten die ihnen verordnete Langzeitmedikation nicht einnehmen und mehr als 40 % von ihnen innerhalb eines Jahres nach ihrer Klinikentlassung bereits wieder aufgenommen werden müssen (Kissling 2001).

Das mangelhafte Angebot an psychoedukativen Programmen ist nicht nur deshalb bedauerlich, weil damit ein in vielen Untersuchungen nachgewiesener Bedarf bei Patienten und Angehörigen nicht befriedigt wird, sondern auch deshalb, weil die Ergebnisse der medikamentösen Langzeitbehandlung ohne begleitende Psychoedukation um bis zu 50 % schlechter sind als mit Psychoedukation (Pitschel-Walz et al. 2006). Diese Zahlen unterstreichen, dass es gute Gründe gibt, das Thema „Psychoedukation“ auch in einem Handbuch der Psychopharmakotherapie zu behandeln. Dies soll im Folgenden geschehen, wobei aus Platzgründen nur die wichtigsten Punkte angesprochen werden können. Die folgende zusammenfassende Darstellung basiert im Wesentlichen auf dem in Deutschland am weitesten verbreiteten „Alliance“ Psychoedukationsprogramm (Kissling et al. 2003) und auf dem Konsensuspapier der „Arbeitsgruppe Psychoedukation“ (2008). Definition: Unter Psychoedukation (engl. psychoeducation) versteht man systematische, meist manualisierte und durch Informationsmaterialien unterstützte, didaktisch psychotherapeutische Interventionen, in denen Patienten und ihre Angehörigen über

182

4 Psychologische Grundlagen

Tabelle 4.3.1.1: Themen der Psychoedukation

       

Einführung Symptome der Erkrankung Diagnose Ursachen Medikamentöse Behandlung Psychosoziale Behandlung Warnzeichen, Rückfallschutz und Krisenplan Umgang mit der Erkrankung als Angehöriger.

eine Erkrankung und ihre Behandlung informiert und bei der Krankheitsbewältigung unterstützt werden (modifiziert nach „Arbeitsgruppe Psychoedukation“ 2008).

4.3.1.2 Inhalte der Psychoedukation Psychoedukative Interventionen sollen Patienten und Angehörige auf der Basis des Vulnerabilitäts- Stress Modells in interaktiver Weise über die Erkrankung und ihre Behandlung informieren und sie bei der Krankheitsbewältigung unterstützen. Dabei geht es im Wesentlichen um die in Tabelle 4.3.1.1 aufgeführten Themen. Ausgangspunkt für die – meist in Gruppen durchgeführten – psychoedukativen Interventionen sind die subjektiven Erfahrungen der beteiligten Patienten und Angehörigen mit ihrer Erkrankung. Diese Erfahrungen werden unter Leitung eines Moderators in der Gruppe besprochen, kritisch reflektiert und – wo erforderlich – durch die laiengerechte Darstellung der wissenschaftlichen Evidenz und durch praktische Handlungsempfehlungen ergänzt. Neben der interaktiven Vermittlung der relevanten Informationen spielt die Unterstützung Tabelle 4.3.1.2: Emotionale Themen für Patienten und Angehörige Subjektive Belastung durch die Erkrankung Stigmatisierung Scham und Schuldgefühle Subjektives Erleben der psychotischen Symptome Resignation und Hoffnungslosigkeit

der Patienten und Angehörigen bei der Bewältigung der Erkrankung und vor allem ihre emotionale Entlastung eine zentrale Rolle. Dabei geht es u. a. um die in Tabelle 4.3.1.2 aufgeführten Themen. Die übergeordneten Ziele sind dabei die Erarbeitung eines funktionellen Krankheits- und Behandlungskonzepts und das Vermitteln von Hoffnung auf Besserung und Stabilisierung. Da die Aufnahmefähigkeit der Patienten krankheitsbedingt oft eingeschränkt ist und z. B. im Krankenhaus meist nur wenige Wochen für die Psychoedukation zur Verfügung stehen, muss man sich bei der Auswahl der zu behandelnden Themen auf das Wesentliche beschränken oder ist manchmal gezwungen, mehrere der in Tabelle 4.3.1.1 aufgeführten Themen in einer Sitzung zu behandeln. Unverzichtbar sind aber die Themen „Symptome“, „Medikamentöse Behandlung“, „Rückfallschutz/Warnzeichen/ Krisenplan“ und die Vermittlung des „Vulnerabilitäts-Stress- Bewältigungsmodells“. Schriftliches Informationsmaterial oder Videofilme können die Informationsvermittlung unterstützen (Kissling et al. 2003).

4.3.1.3 Didaktische und psychotherapeutische Haltung Zwischen Psychoedukation und Psychotherapie gibt es fließende Übergänge und Vieles was in der Verhaltenstherapie oder in der GruppenTabelle 4.3.1.3: Bewährte psychotherapeutische Prinzipien

 

Empathie, Authentizität, Wertschätzung

 

Aktives Zuhören

  

Strukturierung, Illustrierung



Einsatz von Rollenspiel Techniken

Verstärkung der Teilnehmer für ihre Teilnahme, ihre Beiträge, Fortschritte etc. Verständnis für Ängste und Skepsis gegenüber der Schulmedizin Selbstkontrolltechniken, Problemlösungsverfahren Verhaltenstherapeutische Techniken wie Modelling, Coaching, Shaping, Prompting

183

4.3.1 Psychoedukation Tabelle 4.3.1.4: Didaktische Prinzipien

         

Interaktives Erarbeiten der Inhalte in der Gruppe Laiengerechte Sprache Anschauliche Modelle und Bilder, evtl. Videos Strukturieren, Visualisieren, Flip Chart Wiederholung Hausaufgaben Rollenspiele Übungen Lernen am Modell Humor

psychotherapie gilt, hat in ähnlicher Form auch für psychoedukative Gruppen Gültigkeit (vgl. Tab. 4.3.1.3 und 4.3.1.4). Wie diese didaktischen und psychotherapeutischen Prinzipien dann in praktische psychoedukative Gruppenarbeit umgesetzt werden, lernt man am besten durch das Durcharbeiten eines guten Manuals (z. B. Wienberg et al. 2002; Kissling et al. 2003; Bäuml und Pitschel-Walz 2008), durch Trainingsworkshops und vor allem durch Ko-Moderation und Supervision mit einem erfahrenen Therapeuten. Als Moderator sollte man über ausreichend Erfahrung mit den in der Psychoedukation behandelten Krankheitsbildern verfügen und zumindest über eine gewisse didaktische Begabung, die das anschauliche, interaktive Moderieren der Gruppen ermöglicht. Es hat sich bewährt, die psychoedukativen Gruppen nach einem festen, für die Teilnehmer wieder erkennbaren Schema zu strukturieren (Tab. 4.3.1.5). Entscheidend ist es, dass man die Teilnehmer dort abholt, wo sie stehen und dass man

mit ihnen ehrlich, anschaulich und in einer für alle verständlichen Sprache kommuniziert. Langweiliger Frontalunterricht ist ebenso zu vermeiden wie allzu viele Fachausdrücke. Teilnehmer psychoedukativer Gruppen berichten immer wieder, dass sie besonders von anschaulichen Bildern und von den Beiträgen der anderen Betroffenen profitiert haben, beide Elemente sollten also häufig vorkommen. Wenn die wichtigsten Aussagen auf einer Flip Chart festgehalten werden, erleichtert das den Teilnehmern die Orientierung und die Informationen prägen sich besser ein. Rollenspiele machen vieles anschaulicher und erlauben das Einüben von neuen Verhaltensmustern. Berichte von Teilnehmern über eine erfolgreiche Krankheitsbewältigung machen den anderen Mut und geben Hoffnung.

4.3.1.4 Implementierung Trotz entsprechender Leitlinien Empfehlungen kommen die meisten psychiatrischen Patienten in den deutschsprachigen Ländern noch nicht in den Genuss eines psychoedukativen Programms (Rummel et al. 2006). Hauptgrund hierfür ist, dass es das zu knapp bemessene Honorarbudget der niedergelassenen Vertragsärzte nicht erlaubt, solche zeitaufwändigen Programme anzubieten. Und auch in den eher auf die Akutbehandlung fokussierten psychiatrischen Kliniken fehlt es an Anreizen, solche präventiven psychoedukativen Leistungen anzubieten. Lediglich im Rahmen von Integrierten Versorgungsverträgen oder anderen Direktverträgen mit den Kostenträgern (vgl. Kap. 4.3.2) werden psychoedukative Leistungen so hono-

Tabelle 4.3.1.5: Struktur einer psychoedukativen Gruppe 1. „Eröffnungsblitzlicht“ („Wie geht es Ihnen?“), Wiederholung der wichtigsten Inhalte der letzten Sitzung, Hinführung auf das Thema der aktuellen Sitzung 2. Erfahrungen/Meinungen der Teilnehmer zum aktuellen Thema („Wie hat sich die Erkrankung bei ihnen gezeigt?“), Ergänzungen durch den Moderator 3. Evtl. Videos, Arbeitsmaterialien, Flip Chart: („I llustrieren“, „Strukturieren“) 4. Evtl. Übungen, Rollenspiele 5. Zusammenfassen, „Schlussblitzlicht“

184

riert, dass sie im Rahmen der Regelversorgung angeboten werden können. Häufig scheitert die Implementierung von psychoedukativen Maßnahmen aber nicht nur an finanziellen sondern auch an ganz banalen organisatorischen Hindernissen. Wie diese gelöst werden können, soll im Folgenden kurz skizziert werden. Eine ausführlichere Darstellung erfolgreicher Implementierungsstrategien findet sich u. a. in Kissling et al. (2003) und in Bäuml und Pitschel-Walz (2008). Integration in den Gesamtbehandlungsplan Psychoedukative Programme können ihre volle Wirksamkeit nur entfalten, wenn das gesamte Behandlungsteam sie unterstützt. Wenn man also psychoedukative Maßnahmen in einer psychiatrischen Einrichtung oder einem Versorgungssektor neu implementieren will, sollte man alle in die Patientenversorgung einbezogenen Personen über das Programm und seine Zielsetzungen informieren und alle Beteiligten eng in den Implementierungsprozess einbinden. Es muss festgelegt werden, wer für welche Indikationen ein psychoedukatives Programm anbietet und wie dieses Programmangebot so in die Versorgungsroutine integriert werden kann, dass möglichst alle Patienten daran teilnehmen können. Wichtig ist auch, dass die den Patienten in der Psychoedukation vermittelten Botschaften den Überzeugungen und der Behandlungspraxis der vor Ort tätigen Therapeuten entsprechen, damit Patienten nicht durch widersprüchliche Informationen verunsichert werden. Wenn es Behandlungsleitlinien für die Einrichtung gibt,

4 Psychologische Grundlagen

sollten die Inhalte des psychoedukativen Programms damit übereinstimmen. Wenn diese grundsätzlichen Voraussetzungen für das Gelingen einer Psychoedukation erfüllt sind, sollten aber noch eine Reihe weiterer Fragen (Tab. 4.3.1.6) geklärt werden, bevor der erste Patient in eine psychoedukative Gruppe eingeladen wird. Die Antwort auf all diese Fragen hängt natürlich von den jeweiligen lokalen Bedürfnissen und Ressourcen ab. In der Regel wird man damit beginnen, für die in der jeweiligen Einrichtung am häufigsten vertretene Indikation ein psychoedukatives Programm zu implementieren. Bei manchen Indikationen (z. B. Depression oder Schizophrenie) kann man unter verschiedenen, bewährten, manualisierten und z. T. auch schon erfolgreich evaluierten Programmen auswählen, bei anderen Indikationen muss man evtl. improvisieren und sich das genaue Vorgehen oder die Arbeitsmaterialien selbst erarbeiten. Häufig wird eine diagnosenspezifische Psychoedukation in getrennten, geschlossenen Gruppen für Patienten und Angehörige angeboten (sog. Bifokale Psychoedukation). Unter besonderen Umständen (kurze Liegezeiten, geringe Fallzahlen) sind aber auch Diagnosenübergreifende Gruppen (Jensen und Sadre Chirazi-Stark 2008) oder Einzelpsychoedukation sinnvoll. Als Moderatoren fungieren üblicherweise Psychiater oder Psychologen, zunehmend aber auch psychiatrisches Pflegepersonal, Sozialarbeiter etc. Weitere Einzelheiten zu Fragen der Implementierung s. Kissling et al. (2003) und Bäuml und Pitschel-Walz (2008).

Tabelle 4.3.1.6: Checkliste für die Implementierung Welches Psychoedukationsprogramm für welche Indikationen?

4.3.1.5 Wirksamkeit

Für Patienten und/oder Angehörige?

Psychoedukative Programme befriedigen den berechtigten – und gesetzlich verankerten – Anspruch von Patienten und Angehörigen auf Aufklärung über die Erkrankung, ihren Verlauf und ihre Behandlungsmöglichkeiten. Durch zahlreiche naturalistische Studien konnte gezeigt werden, dass Psychoedukation dieses Aufklärungsbedürfnis nachhaltig befriedigt und dass die Teilnehmer an solchen Programmen hinterher über ihre Erkrankung besser Bescheid

Einzel- oder Gruppenpsychoedukation? Diagnosenübergreifende oder Diagnosenspezifische Gruppen? Offene oder geschlossene Gruppen? Ort, Zeitpunkt, Dauer, Gruppengröße, Intervalle? Moderatoren (Berufsgruppe, Ausbildung, Supervision)? Medien, Arbeitsmaterialien? Evaluation, Follow Up?

4.3.1 Psychoedukation

wissen als vorher (Rummel et al. 2007). Darüber hinaus konnten aber in zahlreichen randomisierten Studien und einigen Meta-analysen weitere positive Wirkungen von Psychoedukation nachgewiesen werden (Pitschel-Walz et al. 2001, 2006; Rummel und Kissling 2008; Wiedemann 2008). Die genaue Quantifizierung dieser Effekte wird – im Vergleich zu Wirksamkeitsstudien mit Medikamenten - allerdings dadurch erschwert, dass die Intervention „Psychoedukation“ in jeder dieser Studien etwas anders ausgestaltet war und natürlich auch von den schwer messbaren persönlichen und didaktischen Eigenschaften der jeweiligen Moderatoren beeinflusst wurde. Mit diesen Einschränkungen gilt aber heute als gesichert, dass durch bifokale Psychoedukation (Einbeziehung von Patienten und Angehörigen) die Rehospitalisierungsrate z. B. bei schizophrenen Patienten um ca. 20 Prozentpunkte gesenkt werden kann (PitschelWalz et al. 2001, 2006). Andere Meta-analysen zu psychoedukativen Familieninterventionen (Wiedemann 2008) fanden eine Reduzierung des relativen Rezidivrisikos um ca. 30 % bzw. des absoluten Risikos um ca. 12 % (16 RCTs, n = 857, RR 0,71, NNT 8) bzw. des absoluten Rehospitalisierungsrisikos um ebenfalls ca. 12,5 % (8 RCTs, n = 481, RR 0,78, NNT 8). Die Medikamenten-Compliance ließ sich in diesen Studien durch Psychoedukation ebenfalls signifikant verbessern (7 RCTs, n = 369, RR 0,74, NNT 7). Weitere Parameter wie Wissenszuwachs, Psychopathologie, globales Funktionsniveau etc. besserten sich in mehreren Studien als sekundäre Zielkriterien ebenfalls unter Psychoedukation (Wiedemann 2008). Die Effekte auf die meisten Parameter waren ausgeprägter, wenn die Interventionen länger als 3 Monate dauerten. Eine ausführlichere Würdigung der aktuellen Evidenz für die Wirksamkeit psychoedukativer Interventionen und der Einschränkungen und Defizite der vorliegenden Studien findet sich bei Rummel-Kluge und Kissling (2008) und bei Wiedemann (2008). In den letzten Jahren hat sich die klassische Psychoedukation psychiatrischer Patienten in zwei vielversprechende Richtungen weiter entwickelt. Zum einen in Richtung des Shared Decision Making, das in Kapitel 4.4. ausführlicher

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dargestellt wird. Beim Shared Decision Making werden Patienten nicht nur – wie bei der klassischen Psychoedukation – über ihre Erkrankung informiert und bei ihrer Bewältigung unterstützt, sondern sie werden aktiv in die sie betreffenden medizinischen Entscheidungen einbezogen. Bezüglich des Empowerment der Patienten, ihrer Zufriedenheit mit der Behandlung aber auch bezüglich der Langzeitcompliance und der Behandlungsergebnisse dürfte dies einen weiteren Fortschritt darstellen. Eine zweite Fortentwicklung der klassischen Psychoedukation stellt die sog. Peer to Peer Psychoedukation dar. Bei dieser Form werden die psychoedukativen Gruppen nicht von Ärzten, Psychologen oder Pflegekräften geleitet sondern von speziell ausgebildeten Patienten, die an der gleichen Erkrankung leiden wie die Gruppenteilnehmer („Peers“). Ähnlich wie in der Suchttherapie gelten diese selbst von der Krankheit betroffenen Moderatoren als besonders glaubwürdig und ihre Empfehlungen werden oft eher angenommen als die von professionellen Helfern. Selbstverständlich müssen Peer Moderatoren sehr sorgfältig bezüglich ihrer Eignung für die verantwortungsvolle Aufgabe eines GruppenModerators ausgewählt werden, wobei neben der Bereitschaft, diese Aufgabe zu übernehmen die didaktische Begabung und die Belastbarkeit eine wichtige Rolle spielen. Erste Evaluationen dieser in der Psychiatrie noch sehr neuen Strategie zeigen aber, dass Peer Moderatoren nach einer entsprechenden Ausbildung und Supervision und ausgestattet mit geeigneten Materialien durchwegs gute Ergebnisse mit ihren Peer Gruppen erzielen (Rummel et al. 2005). Zusammenfassung Psychoedukation wird mittlerweile in den gängigen Leitlinien als unverzichtbarer Bestandteil der Behandlung bei vielen psychiatrischen Krankheitsbildern empfohlen. Ihre Wirksamkeit gilt – trotz vieler offener Fragen – zumindest für schizophrene und affektive Störungen als gesichert. Sie ist bei diesen beiden Erkrankungen eine unverzichtbare Ergänzung der medikamentösen Behandlung, weil diese ohne Psychoedukation deutlich schlechtere Ergebnisse erzielt. Da Psychoedukation die Noncompliance und damit

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auch die Rehospitalisierungsrate signifikant reduziert ist sie auch sehr kosteneffektiv und wird deshalb zunehmend – z. B. im Rahmen Integrierter Versorgungsverträge (vgl. Kap. 4.4.3) – extrabudgetär vergütet. Mit Hilfe der mittlerweile verfügbaren Manuale und Materialien (Kissling et al. 2003) kann die Moderation psychoedukativer Gruppen inzwischen auch so rasch und problemlos erlernt werden, dass diese Intervention heutzutage eigentlich jedem schizophrenen oder depressiven Patienten angeboten werden sollte.

Literatur ARBEITSGRUPPE „Psychoedukation bei schizophrenen Erkrankungen“ (2008) Konsensuspapier zu psychoedukativen Interventionen bei schizophrenen Erkrankungen In: Bäuml J, Pitschel-Walz G. (Hrsg.) Psychoedukation bei schizophrenen Erkrankungen. Stuttgart: Schattauer 1–33 BÄUML J, PITSCHEL-WALZ G (Hrsg.) (2008) Psychoedukation bei schizophrenen Erkrankungen. Stuttgart: Schattauer JENSEN M, SADRE CHIRAZI-STARK FM (2008) In: Bäuml J, Pitschel-Walz G (Hrsg.) Psychoedukation bei schizophrenen Erkrankungen. Stuttgart: Schattauer 163–175 KISSLING W (2001) Who is interested in the quality of everyday psychiatric care? International Clinical Psychopharmacology, 16 (suppl 3): S1–S4 KISSLING W, RUMMEL-KLUGE C, PITSCHEL-WALZ G (2003) Psychoedukation für Patienten mit schizophrenen Psychosen und deren Angehörige – Einführungsmanual für das Behandlungsteam. Alliance-Psychoedukations-Programm. Pfizer. Eigenverlag

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4.3.2 Patientenaufklärung J. Bäuml

Die Begriffe „Aufklärung und Einwilligung“ drohen im klinischen bzw. praktischen Behandlungsalltag manchmal den Charakter von „Unworten“ anzunehmen angesichts immer weiter ausufernder bürokratischer Bestimmungen und Vorschriften. Bei allem Unbehagen gegenüber einer immer dominanter werdenden Bürokratie muss aber festgehalten werden, dass durch eine lege artis durchgeführte Aufklärung und Einwilligung für die Behandler eine zuverlässige Rechtssicherheit entsteht. Nachfolgend wird versucht, die Hintergründe und wesentlichen Elemente des heutigen Aufklärungs- und Einwilligungsprocedere darzustellen. Folgende zentrale Elemente der ärztlichen Aufklärung gilt es besonders zu beachten:  Therapeutische Aufklärung (Motivationsarbeit zur Sicherstellung des Therapieerfolges)  Selbstbestimmungsaufklärung (Eingriffsaufklärung mit Risikoerörterung)  Einwilligung des Patienten (Geschäftsfähigkeit hierbei nicht zwingend erforderlich)  spezielle Situation bei Patienten mit Betreuung (§1904 BGB)

Durch eine gezielte Unterweisung aller psychiatrisch-psychotherapeutisch tätigen Mitarbeiter mit Bereithaltung entsprechender Aufklärungsbroschüren und Einwilligungsformulare kann die lege artis Aufklärung ökonomisch und effizient zugleich in den Behandlungsalltag integriert werden. Die regelmäßige Durchführung von Psychoedukativen Gruppen – siehe Kapitel 4.3.1 – kann hierbei eine sehr wertvolle Unterstützung auf dem Gebiet der Therapeutischen Aufklärung bedeuten. Die Selbstbestimmungsaufklärung mit individueller Risikodarstellung muss allerdings stets im ärztlichen Einzelgespräch erfolgen.

4.3.2.1 Historische Vorbemerkungen Seit der Aufklärung – Ende des 17.Jh. bis Anfang des 19. Jh. – wurde die Vernunft (ratio) zum Inbegriff des menschlichen Wesens und gemäß Immanuel Kant sind alle Menschen im Grunde „gleich, vernünftig und gut“ (Brockhaus 1967, S. 60). Aus heutiger Sicht wirken die damaligen Heilserwartungen an die Kraft der „Vernunft und Belehrung“ zwar überzogen, dennoch möchte wohl niemand mehr den daraus resultierenden Wandel von einer autoritär-

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4 Psychologische Grundlagen

direktiven zu einer demokratisch-partizipativen Medizin missen. Auch wenn es vor 100 Jahren mangels Alternativen noch nicht viel „aufzuklären“ gab, so lassen sich bereits in einem Urteil des Dt. Reichsgerichts vom 31. 05. 1894 und einer preußischen „Anweisung an die Vorsteher der Kliniken“ vom 29. 12. 1900 erste Dokumente dafür finden, dass den Patienten eine „sachgemäße Belehrung“ und eine „Zustimmung in unzweideutiger Weise“ bei nicht therapeutischen Versuchen am Menschen zustehe (Vollmann 2000, S. 19). Durch die enorme Entwicklung sowohl auf diagnostischem als auch therapeutischem Gebiet hat sich nicht nur die Zahl der Behandlungsalternativen erweitert, es erfolgt immer mehr eine Verlagerung des Behandlungsschwerpunktes von akut zu chronisch Kranken; hierbei hat sich der bisherige paternalistische Stil in der Arzt/Patienten-Beziehung mit der alleinigen Entscheidungsgewalt des Arztes als Experten längst gewandelt in ein partnerschaftliches Behandlungsbündnis mit dem Ziel, die Patienten mündig zu machen, um im gemeinsamen Dialog mit den Experten die für sie beste Behandlungsalternative zu finden (Hamann 2005; Vitt 2008). Die wichtigsten Meilensteine auf dem Weg zur juristischen Verankerung des „Informed Consent“ sind in Tabelle 4.3.2.1 aufgelistet.

Unter „Eingriff “ werden sowohl diagnostische Maßnahmen wie etwa Blutentnahmen, Liquorpunktion und Endoskopien als auch Operationen oder die Verabreichung von Medikamenten verstanden. Nach § 223 StGB wird eine Körperverletzung beschrieben als: „Körperliche Misshandlung, eine üble und unangemessene Behandlung, die das körperliche Wohlbefinden nicht nur unerheblich beeinträchtigt oder als Gesundheitsschädigung durch Hervorrufen oder Steigerung eines auch nur vorübergehenden pathologischen Zustandes“. In Art. 2, Abs. 2 des Dt. Grundgesetzes (GG) heißt es wörtlich: „Jeder hat das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit. Die Freiheit der Person ist unverletzlich. In diese Rechte darf nur aufgrund eines Gesetzes eingegriffen werden“. Deshalb ist im Normalfall jede ärztliche Behandlung nur mit Einwilligung des Patienten möglich. Hierbei ist es unerheblich, ob der Eingriff indiziert und lege artis durchgeführt worden ist. Der Tatbestand der „Körperverletzung“ wird nur dann nicht erfüllt, wenn diese Rechtswidrigkeit vor dem Eingriff durch eine wirksame Einwilligung des ordnungsgemäß aufgeklärten Patienten beseitigt wurde. Als Rechtfertigungsgrund gelten eine wirksame Einwilligung, eine mutmaßliche Einwilligung (z. B. bei Bewusstlosigkeit) und der zu rechtfertigende Notstand.

4.3.2.2 Juristische Aspekte Gesetzliche Grundlage der Einwilligung

InformedC onsent

Jeder ärztliche Eingriff ohne Einverständnis des Patienten erfüllt zunächst den Straftatbestand der Körperverletzung (BGH vom 22. 06. 1971, NJW 1971, S. 1887).

Im Modell des Informed Consent kommt den Patienten die Rolle von selbstbestimmten und eigenverantwortlichen Personen zu, die nicht nur das „Objekt“ einer ärztlichen Behandlung

Tabelle 4.3.2.1: Entwicklung des „Informed Consent“ 1947 1957 1964 1977 1983 1996 2003

Nürnberger Codex Informed Consent-Doktrin, Case Law (USA) Deklaration von Helsinki Deklaration von Hawai (World Psychiatric Association) Deklaration von Wien (World Psychiatric Association) Deklaration von Madrid (World Psychiatric Association) Carta „der Patientenrechte in Deutschland“

(modifiziert nach: Vollmann 2000/Reichhart et al. 2008)

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4.3.2 Patientenaufklärung Tabelle 4.3.2.2: Die fünf Elemente des Informed Consent Informationskomponenten 1. Einwilligungsfähigkeit („competence“) 2. Informationsvermittlung („disclosure“, „recommendation“) 3. Informationsverständnis („comprehension“, „understanding“) Einwilligungskomponenten 4. Freiheit der Entscheidung („voluntariness“, „decision“) 5. Einwilligung in eine konkrete medizinische Maßnahme („cons ent“, „authorisation“) (modifiziert nach Vollmann 2000)

darstellen. Auch ein kranker und auf Hilfe angewiesener Mensch wird als gleichberechtigter Partner betrachtet, dessen Menschenwürde und Persönlichkeitssphäre respektiert und geschützt werden müssen. Damit er als medizinischer Laie eine autonome Entscheidung fällen kann, muss die hierfür notwendige Information im ärztlichen Aufklärungsgespräch angemessen und auf seine persönliche Situation zugeschnitten sein (Bäuml et al. 2008). Der hierbei gemeinsam erarbeitete Entscheidungsprozess zwischen Arzt und Patient wird als „shared decision making“ bezeichnet. Informed Consent geht jedoch darüber hinaus, Aufklärung und Einwilligung werden nicht als singuläres Ereignis, sondern als ein zeitlicher Prozess betrachtet, der ein wesentliches Merkmal einer gelingenden Arzt/Patienten-Beziehung darstellt (Vollmann 2000) (Tab. 4.3.2.2).

Wirksame Einwilligung („competence“) Eine wirksame Einwilligung liegt dann vor, wenn der gut informierte Patient im Vollbesitz seiner geistigen und seelischen Kräfte in die geplante „Körperverletzung“ einwilligt und dies nicht gegen die guten Sitten verstößt (§ 228 StGB). Hierbei muss die Einwilligung ausdrücklich vor dem Eingriff erfolgen. Eine nachträglich erteilte Genehmigung ist unwirksam. Ein Widerruf vor dem Eingriff macht eine vorher erteilte Einwilligung rechtsunwirksam.

Mutmaßliche Einwilligung Diese liegt z. B. bei einer Bewusstlosigkeit des Patienten vor. Der Patient selbst kann dann nicht mehr einwilligen. In diesem Fall muss der mutmaßliche Wille des Patienten entsprechend umgesetzt werden. Es handelt sich hierbei um einen rechtfertigenden Notstand (§ 34 StGB). Zuvor geäußerte Ablehnungen oder Einschränkungen bezüglich einer potentiellen Operationserweiterung müssen jedoch respektiert werden, wenn keine vitale Indikation vorliegt. Auch wenn dieser Patientenwille zunächst „gegen die ärztliche Vernunft“ stehe, müsse entsprechend gehandelt werden (Parzeller et al. 2007, S. 514).

Hypothetische Einwilligung Diese wird angenommen, wenn bei fehlender bzw. unvollständiger Einwilligung der Arzt davon ausgehen kann, dass der Patient bei Kenntnis aller Umstände trotzdem eingewilligt hätte. Bei nicht vital indizierten diagnostischen Eingriffen, die die Patienten vor einen echten Entscheidungskonflikt stellen würden, muss hier sehr streng abgewogen werden (Parzeller et al. 2007, S. 515).

Einwilligung bei Minderjährigen Hier greift die Tatsache, dass zur Abgabe einer wirksamen Einwilligung nicht unbedingt eine rechtlich gültige Geschäftsfähigkeit vorliegen muss. Auch Kindern mit der nötigen sittlichen und geistigen Reife wird eine natürliche Einsichts- und Urteilsfähigkeit zuerkannt. Ihnen ist eine selbstbestimmte Entscheidung möglich. Bei Kindern unter 14 Jahren sollten aber immer beide Erziehungsberechtigte dem Eingriff zustimmen. Sind bei Kindern zwischen dem 14. und 18. Lebensjahr erhebliche Risiken mit dem Eingriff verbunden, sollten im Zweifelsfall stets beide Eltern um ihre Einwilligung gebeten werden.

Einwilligung und Geschäftsfähigkeit Wie bereits oben erwähnt, stellt die Geschäftsfähigkeit keine zwingende Voraussetzung zum Erteilen einer wirksamen Einwilligung dar. Die Betroffenen müssen jedoch die nötige Urteils-

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kraft und Gemütsruhe besitzen, um über die Tragweite des Eingriffs und das Für und Wider entscheiden zu können.

Einwilligung bei Patienten mit Betreuung (§ 1904 BGB) Bei einer bestehenden Betreuung für den Aufgabenkreis „Gesundheitssorge“ wird prinzipiell das Vorliegen einer Einwilligungsfähigkeit bezweifelt. In diesem Fall muss der Arzt durch eine gewissenhafte Prüfung entscheiden, ob der Patient seine Erkrankung und die Chancen und Risiken der konkret angebotenen ärztlichen Maßnahmen erfassen und abwägen kann. Eine fehlende Krankheitseinsicht führt in diesem Kontext regelmäßig zur Einwilligungsunfähigkeit. Juristisch gesehen wird dem Arzt hierbei keinerlei Ermessensspielraum eingeräumt; für die Rechtsprechung ist die Einwilligungsfähigkeit immer „eindeutig beurteilbar“. In Zweifelsfällen sollten deshalb immer Betreuer und Betreuter gemeinsam aufgeklärt werden und von beiden die erforderliche Einwilligung eingeholt werden. Im Falle eines „mit besonderen Gefahren“ verbundenen Eingriffs muss zusätzlich die Genehmigung des Vormundschaftsgerichtes erwirkt werden.

Einwilligung bei Migranten Patienten, die der deutschen Sprache nicht ausreichend mächtig sind und möglicherweise dem Aufklärungsgespräch nicht entsprechend folgen können, haben ein Recht auf besondere Unterstützung. Die Beiziehung von die deutsche Sprache beherrschenden Landsleuten, von Angehörigen oder eines Dolmetschers sind hier zwingend vorgeschrieben. Die Kosten für den Dolmetscher werden jedoch im Regelfall von den Krankenkassen nicht übernommen (Parzeller et al. 2007; Hausner et al. 2008).

Behandlungsvertrag Patient und Arzt/Krankenhaus schließen automatisch bei jedem/r Arztbesuch/Krankenhausbehandlung einen Dienstvertrag im Sinne der § 611 ff BGB. Hierbei handelt es sich in der Re-

4 Psychologische Grundlagen

gel um einen konkludent zustande kommenden Vertrag, der nicht formell abgeschlossen werden muss (Luderer 2008). Dieser Behandlungsvertrag ist jedoch nur bei Einwilligungsfähigkeit des Patienten möglich. Je nach Akuität der Symptomatik werden bei psychiatrischen Patienten an die Einwilligungsfähigkeit unterschiedliche Anforderungen gestellt. Bei einem akuten Krankheitsbild kann die Zustimmung zur Frage: „Sind Sie einverstanden, dass wir Sie so behandeln, wie wir es für richtig halten“ bereits ausreichend sein. Bei langfristigen rezidivprophylaktischen Maßnahmen muss der Patient jedoch in der Lage sein, dem Aufklärungsgespräch nicht nur gedanklich zu folgen, er muss auch seine eigene Meinung zu den geplanten Maßnahmen äußern können (Luderer 2008; Pitschel-Walz et al. 2007).

Aufklärung („disclosure“, „recommendation“) Wie Tabelle 4.3.2.3 zu entnehmen, wird der Akt der Aufklärung prinzipiell in den Bereich „Therapeutische Aufklärung“ (Sicherstellungsaufklärung) mit dem Ziel, den Therapieerfolg durch eine entsprechende Aufklärung des Patienten zu sichern und eine „Selbstbestimmungsaufklärung“ („Eingriffsaufklärung“) mit differenzierter Information bezüglich Diagnose, Verlauf, Risiken etc. unterteilt. Zusätzlich bedürfen die Aspekte Wirtschaftliche Aufklärung, Grundaufklärung und Doppelaufklärung einer genaueren Erläuterung. a)

Therapeutische Aufklärung (Sicherstellungsaufklärung) Diese Form der Aufklärung ist aus psychiatrisch-psychotherapeutischer Sicht die Basis jeglichen therapeutischen Handelns. Hierbei soll der Patient über die wesentlichen Hintergründe der Erkrankung und die erforderlichen Behandlungsmaßnahmen instruiert werden, um ein kooperatives Behandlungsbündnis aufzubauen (Dunn und Jeste 2003). Wenn sich der Patient den gebotenen diagnostischen und therapeutischen Maßnahmen verweigern möchte, was im Bereich der Psychiatrie und Psychotherapie sicher viel häufiger vorkommt als in den soma-

4.3.2 Patientenaufklärung

tischen Fächern, hat der Arzt alles zu unternehmen, um den Patienten dennoch für die Behandlung zu gewinnen. In bedrohlichen Fällen wird vom Arzt auch ein mehrmaliges Intervenieren verlangt, ggf. auch der Vorschlag der Weiterbehandlung bei anderen Kollegen. Sofern der Patient krankheitsbedingt nicht in der Lage ist, die Notwendigkeit der Behandlung zu erkennen (z. B. Demenz oder Schizophrenie), besteht die aktive Verpflichtung, eine Betreuung beim Vormundschaftsgericht anzuregen, um den Patienten vor gesundheitlichen Schäden zu bewahren. Ggf. muss auch eine Unterbringung gemäß den Unterbringungsgesetzen der Länder (PsychKG) eingeleitet werden. Im Unterlassungsfall kann dem Arzt sogar eine Körperverletzung durch Nichteinhaltung der Garantenstellung angelastet werden (Hausner et al. 2008, S. 164). b)

Selbstbestimmungsaufklärung (Eingriffsaufklärung) Wie Tabelle 4.3.2.3 zu entnehmen, wird hierbei unterschieden in Diagnose, Verlauf, Risiken, Behandlungsalternativen, Heilversuch bzw. wissenschaftliches Experiment. b 1) Aufklärung über den diagnostischen Hintergrund Prinzipiell wird vom Arzt erwartet, dass er vollständig über alle Diagnosen und Verdachtsdiagnosen aufklärt, auch wenn es sich um schwere, tödliche oder stigmatisierende Krankheiten handelt. Das oft zitierte „therapeutische Privileg“, belastende Diagnosen zumindest vorübergehend zu verschweigen, wird von der Rechtsprechung nicht anerkannt (Laum 2000). Dennoch gibt es auch gegenteilige Gerichtsentscheidungen, dass bei schonungsloser Offenlegung sehr belastender diagnostischer Details zur Unzeit ein „Behandlungsfehler“ entstehen könne (BGH NJW 1984, S. 1397). Es gilt also nach wie vor das alte medizinische Augenmaß, dass bei der Aufklärung immer die individuellen Besonderheiten der Patienten zu berücksichtigen seien, nach dem Grundsatz „soviel Aufklärung wie möglich, soviel Schonung wie nötig“.

191

b 2) Aufklärung über Risiken ganz allgemein Es muss über alle wesentlichen, nicht sicher vermeidbaren Folgeschäden eines ärztlichen Eingriffs aufgeklärt werden; potentielle ärztliche Behandlungsfehler müssen jedoch nicht erwähnt werden (Hausner et al. 2008, S. 165). Der Patient muss sich ein Bild davon machen können, welche konkreten Folgen im Rahmen eines Misserfolgs eintreten und inwiefern sich dadurch seine Lebensgestaltung, seine Partnerschaft oder der Beruf verändern können. Eine wohlmeinende Verharmlosung der Risiken kann zur Unwirksamkeit der Patienteneinwilligung führen. Je gefährlicher der geplante Eingriff, je gravierender die potentiellen Risiken, desto genauer und umfassender muss die ärztliche Aufklärung erfolgen. Auch hier muss stets die individuelle Situation des Patienten berücksichtigt werden. Bei der Verordnung von Medikation, dem Hauptindikationsgebiet in der Psychiatrie und Psychotherapie, ist der alleinige Verweis auf den Beipackzettel nicht ausreichend. Bei jeder erstmaligen Verordnung eines neuen Wirkstoffs muss über die beabsichtigte Wirkung sowie über schwere Nebenwirkungen Auskunft gegeben werden. Zu beachten ist auch die erneute Aufklärung bei Folgeverordnungen, der neu verordnende Arzt muss sich stets vom Kenntnisstand des Patienten überzeugen und darf nicht darauf bauen, dass der vorbehandelnde Kollege bereits diese Arbeit übernommen hat. Im Haftungsfall ist stets der behandelnde Kollege in der Beweispflicht. b 3) Aufklärung über Risiken zur Fahrtauglichkeit im Speziellen Ein spezielles Augenmerk muss auf die maßvolle Aufklärung hinsichtlich potentieller Beeinträchtigungen der Fahrtauglichkeit gerichtet werden. Die zumindest initial vorhandene Sedierung bei manchen Antidepressiva (den meisten Trizyklika, auch Mirtazapin), den meisten der niederpotenten Antipsychotika (typischen wie auch atypischen), bei den älteren Antikonvulsiva (Valproinsäure und Carbamazepin) und den Benzodiazepinen ohnehin muss den Patienten genau erklärt werden, damit sie sich auf die für sie möglicherweise ungewohnte Verände-

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rung ihrer Aufmerksamkeit und Reaktionsschnelligkeit entsprechend einstellen können. Die Notwendigkeit des gänzlichen Verzichts auf Alkohol und Drogen parallel zur Medikamenteneinnahme muss speziell hervorgehoben werden. Die genaue Beschreibung der Fahrtauglichkeitsproblematik während der Behandlung mit Psychopharmaka wird ausführlich im Kapitel 14 dieses Bandes von Brunnauer und Laux beschrieben. b 4) Aufklärung über den weiteren Krankheits- und Behandlungsverlauf Dieser Aspekt ist besonders in der psychiatrisch-psychotherapeutischen Behandlung von großer Bedeutung; während bei chirurgischen und internistischen Eingriffen häufig nur ein kurzer Zeitabschnitt im Leben eines Patienten davon betroffen ist, handelt es sich bei rezidivprophylaktischen Maßnahmen um jahrelange Behandlungseingriffe. Deshalb muss z. B. bei Antipsychotika das Augenmerk besonders auf die Langzeitfolgen in Form von Spätdyskinesien, Malignes Neuroleptisches Syndrom, potentielle Blutbild-, Leber- und Nierenschäden etc., gerichtet werden. Umgekehrt müssen den Patienten aber auch die Folgen einer Nichtbehandlung vor Augen geführt werden; sie müssen also genau über das Risiko von Wiedererkrankungen, Suizidalität und stationärer Wiederaufnahmewahrscheinlichkeit bei ausbleibender Behandlung ins Bild gesetzt werden (Kissling 1991). b 5) Aufklärung über alternative Behandlungsstrategien Prinzipiell besitzt der Arzt die Entscheidungsfreiheit, welches Therapiekonzept er dem Patienten vorschlägt. Allerdings muss er ihn über alternative Behandlungsstrategien aufklären, damit der Patient einen eigenen, selbstverantwortlichen Entschluss fassen kann. Dies trifft besonders dann zu, wenn nicht die allgemein anerkannte Standardmethode vorgeschlagen wird oder wenn das vom Arzt präferierte Therapiekonzept mit schwerwiegenden Nebenwirkungen verbunden ist.

4 Psychologische Grundlagen

b 6) Off-Label-Use Der Off-Label-Use gewinnt in der Psychiatrie zunehmend an Bedeutung. Vor allem Antidepressiva und Antipsychotika werden immer häufiger Off-label verschrieben. Hierbei sind die fehlende Produkthaftung und die fehlende Kostenerstattungspflicht der Krankenkassen zu beachten. Dies muss Patienten beim Übergang vom stationären in den ambulanten Bereich ausdrücklich erklärt werden, damit sie sich aufgrund der potentiell anfallenden Selbstbeteiligungskosten rechtzeitig dagegen entscheiden und andere Alternativen gefunden werden können (Weih et al. 2008). b 7) Heilversuch, wissenschaftliches Experiment Bei Einschluss in wissenschaftliche Untersuchungsmaßnahmen müssen die Patienten explizit über diese Tatsache aufgeklärt werden; die potentiellen Vor- und Nachteile – insbesondere die Risiken – müssen sehr ausführlich und verständlich unterbreitet werden. Bei Heilversuchen und wissenschaftlichen Studien sind ohnehin von den Ethikkommissionen entsprechende Genehmigungsprozeduren mit speziellen Aufklärungsbögen und Einverständniserklärungen gefordert. c) Doppelaufklärung Sofern zwischen Aufklärungsgespräch und dem tatsächlichen medizinischen Eingriff eine zu große zeitliche Spanne liegt, muss der behandelnde Arzt in einem zweiten Gespräch sicherstellen, dass die wesentlichen Fakten vom Patienten behalten und verstanden worden sind und er weiterhin seine bereits früher gegebene Einwilligung aufrechterhält. Dies wäre z. B. bei einer Aufklärung über eine EKT der Fall, bei der sich ein Patient trotz Einwilligung eine längere Bedenkzeit ausnimmt, um die Behandlung dann später doch noch in Anspruch zu nehmen. d) Wirtschaftliche Aufklärung Bei privat versicherten Patienten oder bei OffLabel-Use müssen die Folgekosten dem Patienten mitgeteilt werden, falls es billigere Behandlungsalternativen gäbe. Bei der anstehenden Umstufung eines Langzeitkranken vom Behand-

193

4.3.2 Patientenaufklärung

lungs- zum Pflegefall hat der Krankenhausträger die Pflicht, den Patienten und ggf. seine Angehörigen darauf hinzuweisen, um diesen eventuell anfallende finanzielle Mehrlasten rechtzeitig mitzuteilen (Hausner et al. 2008, S. 165). e) Grundaufklärung Den Patienten steht das Recht zu, auf eine eingehendere Aufklärung zu verzichten. Sofern dieses Nichtwissenwollen einer freien Willensentscheidung entspricht, müssen nicht alle Details erwähnt werden. Dem Behandler obliegt aber dennoch die Pflicht, die Patienten „im Großen und Ganzen“ ins Bilde zu setzen über die vorliegende Erkrankung und die geplante Behandlung.

halb des „Verhältnismäßigkeitsgebotes“ – § 65 – wird die Mitwirkungspflicht eines Versicherten zwar ausgeschlossen, wenn diese aus einem wichtigen Grund nicht zugemutet werden könne. Darunter fallen „ein Schaden für Leben oder Gesundheit“, der nicht mit „hoher Wahrscheinlichkeit ausgeschlossen“ werden könne, „erhebliche Schmerzen“ oder „erhebliche Eingriffe in die körperliche Unversehrtheit“. Nach allgemeiner Rechtsprechung treffen diese Kriterien für eine lege artis durchgeführte Psychopharmakotherapie in aller Regel nicht zu, diese Behandlungen seien „grundsätzlich duldungspflichtig“ (Franke 2005, S. 139/140).

4.3.2.3 Klinische Aspekte Mitwirkungs- und Duldungspflicht der Patienten bei der Psychopharmakotherapie Im Rahmen der Sicherstellungs- oder Therapeutischen Aufklärung wird von den Behandlern zurecht ein erhebliches Engagement erwartet, um die Patienten für eine Mitwirkung bei der für sie wichtigen psychopharmakologischen Behandlung zu gewinnen. In diesem Kontext soll deshalb darauf hingewiesen werden, dass auch für die Behandelten gewisse rechtliche Pflichten hinsichtlich ihrer Mitwirkung bei der Behandlung bestehen. Im SGB I, §§ 60-67, werden die Pflichten von Sozialleistungsempfängern beschrieben. Inner-

Bei der Beurteilung der Einsichtsfähigkeit müssen stets die beiden psychiatrischen Kernbereiche Psychopathologie (v. a. bei schizophrenen Psychosen, bei schweren Depressionen und Manien, bei ausgeprägten Persönlichkeitsstörungen etc.) und Kognitive Einschränkungen (insbesondere bei Demenzen, Delirien und Langzeitverläufen von Suchtpatienten) berücksichtigt werden.

Psychopathologie Rein theoretisch ist zwischen den psychopathologischen Auffälligkeiten und der Krankheitseinsicht klar zu unterscheiden. In der klinischen

Tabelle 4.3.2.3: Arten der Aufklärung Aufklärungsart

Inhalt

Ziel

Therapeutische Aufklärung (Sicherstellungsaufklärung)

Motivationsarbeit, um die Mitwirkung der Patienten zu erreichen

Den Therapieerfolg sicherstellen

Selbstbestimmungsaufklärung (Eingriffsaufklärung)

Diagnose, Verlauf, Risiken, Behandlungsalternativen, Off-Label-Use, Heilversuch, Wissenschaftliche Experimente

Eine wirksame Einwilligung herstellen

Wirtschaftliche Aufklärung

Kosten der Behandlungsalternativen transparent machen

Wirtschaftliche Interessen des Patienten berücksichtigen

Doppelaufklärung

Wiederholung der Erstaufklärung nach längerem zeitlichen Abstand

Auffrischung der Information, Einwilligung überprüfen

Grundaufklärung

Wenn Patient bewusst auf ausführliche Aufklärung verzichtet

Im „Großen und Ganzen“ ins Bild setzen über Erkrankung u. Behandlung

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Praxis besteht jedoch eine deutliche Konnektivität zwischen dem psychopathologischen Schweregrad und der Fähigkeit, eine objektive Einsicht in die Art und Schwere der Erkrankung zu entwickeln. Insbesondere bei schizophren erkrankten Patienten gehört dies zur klinischen Realität. Dies spiegelt sich auch in den sehr häufig gebrauchten Insight-Scales von Marková et al. (2003) oder Beck et al. (2004) wider. Auch dort geht das Ausmaß an paranoidem Erleben, autistischem Denken, halluzinatorischem Erleben und Ich-Störungen ganz massiv in den Gesamtscore hinsichtlich mangelnder Krankheitseinsicht ein. Das heißt, in der Mehrzahl der Fälle von schizophren oder affektiv erkrankten Patienten muss von einer zumindest partiell eingeschränkten Krankheitseinsicht ausgegangen werden. Allerdings gibt es immer wieder Patienten, die trotz abklingender Psychopathologie nach wie vor wenig Einsicht in ihre Erkrankung und vor allem die Behandlungsbedürftigkeit ihres Zustandes besitzen. Die Bearbeitung dieser Diskrepanz zählt zum ureigensten psychiatrisch-psychotherapeutischen Tun; das Ineinanderverwobensein von juristisch geforderter Aufklärungspflicht und klinisch erforderlicher Aufklärungsarbeit wird hier am deutlichsten sichtbar. Der Gesetzgeber verlangt in diesem Kontext ausdrücklich massive Anstrengungen, insbesonders ausführliche Aufklärungsgespräche, um den Patienten Brücken zu bauen, damit sie in ihre Behandlung einzuwilligen bereit sind (Stieglitz und Vauth 2005; Pitschel-Walz et al. 1995).

Kognitive Einschränkungen Patienten mit Delirien oder demenziellen Erkrankungen sind zumindest vorübergehend nicht in der Lage, eine rechtsverbindliche Einwilligung zu erteilen (Dunn und Jeste 2003). Sofern luzide Intervalle auftreten und die Patienten hierbei eine weitgehende Orientierung erkennen lassen und sich dann klar äußern bezüglich geplanter diagnostischer und therapeutischer Eingriffe, können sie eine rechtsverbindliche Einwilligung abgeben. Sollten sich jedoch die Phasen mit gegenteiligen Äußerungen im Rahmen wiederkehrender deliranter

4 Psychologische Grundlagen

Zustandsbilder häufen, muss trotzdem eine Betreuung eingerichtet werden. Das gleiche gilt für Patienten mit florider psychopathologischer Symptomatik; bei rezidivierender Persistenz der Behandlungsablehnung muss auch hier eine Betreuung eingerichtet werden.

Diagnosenspezifische Aspekte Die Rechtsprechung unterscheidet bei der Beurteilung der Einwilligungsfähigkeit grundsätzlich nicht hinsichtlich unterschiedlicher Diagnosen. Jeder Mensch wird als entscheidungsfähig betrachtet; diese das Autonomieprinzip der Menschen wertschätzende Sichtweise muss grundsätzlich begrüßt werden. In der klinischen Realität gibt es jedoch erhebliche Unterschiede bezüglich Einwillungsfähigkeit bei den unterschiedlichen Diagnosen. Hier tritt der Grundsatz in Kraft, dass die Aufklärung jeweils „individualisiert und situationsangepasst“ vorzunehmen sei.

Risikoquantifizierung und Risikoumfang bei der Aufklärung Prinzipiell muss jeder Patient über die wichtigsten Nebenwirkungen ins Bild gesetzt werden, damit er sich von einer informierten Warte aus für oder gegen eine diagnostische/therapeutische Intervention entscheiden kann (Wetterling et al. 2002; Berghans et al. 2006). Im psychiatrisch-psychotherapeutischen Gespräch wird man sich insbesondere bei der Aufklärung über psychopharmakotherapeutische Maßnahmen an der Produktinformation der Hersteller orientieren. Die Quantifizierung der Nebenwirkungen erfolgt nicht immer einheitlich, aber folgende Risikodarstellung hat sich eingebürgert:    

sehr häufig häufig selten sehr selten

(> 10 %) (1–10 %) (< 1 %) (< 0,1 %)

Laut Gesetzgebung muss über allgemein bekannte Nebenwirkungen wie „Schmerz bei Blutabnahme“ nicht informiert werden, aber alle

195

4.3.2 Patientenaufklärung

wesentlichen Informationen, die medizinischen Laien nicht aufgrund ihrer Allgemeinbildung vertraut sind, müssen erwähnt werden. Bei Antipsychotika müssen das Parkinsonoid, die psychovegetativen Beschwerden und die sonstigen Nebenwirkungen wie Blutbildschädigung, Beeinträchtigung der Nieren- und Leberwerte, Allergien, die Gefahr von Krampfanfällen, Sonnenbrandgefahr und sexuelle Dysfunktionen etc. erwähnt werden. Bei Antidepressiva müssen die Folgen sedierender und aktivierender Effekte besprochen werden inklusive potentieller Blutbildbeeinträchtigung, Nieren- und Leberwertveränderungen, Krampfanfällen, allergischen Reaktionen und sexuellen Funktionsstörungen etc. Bei MAO-Hemmern genaue Instruktion bezüglich tyraminfreier Diät und dem Kombinationsverbot mit Clomipramin und SSRI’s etc. Bei Antikonvulsiva sind die Gefahren von Sedierung, Laborwertveränderungen, insbesondere von einer Hyponatriämie, von Allergien und Wirkspiegelbeeinträchtigungen anderer Medikamente etc. anzuspechen. Bei Lithium die Gefahr von Nebenwirkungen durch mangelnde Flüssigkeitsaufnahme bzw. Flüssigkeitsverluste genau erläutern: von Krampfanfälle, Dysarthrien, feinmotorische Nebenwirkungen, Schilddrüsenveränderungen, langfristig Nierenschäden bei nicht ausreichender Flüssigkeitszufuhr etc. Bei Benzodiazepinen die Gefahr der Sedierung, kognitiven Verlangsamung, reduzierten Reaktionsgeschwindigkeit (Autofahren!) und die Gefahr der Gewöhnung etc. (Laux und Brunnauer 2005) erklären. Bei Kombinationsbehandlungen müssen die Patienten dafür sensibilisiert werden, dass sie mit einer Reihe von nicht klar kalkulierbaren potentiellen Nebenwirkungen rechnen müssten und dass sie die Pflicht hätten, sich beim Auftreten unklarer Beschwerden sofort bei ihren Behandlern vorzustellen. Im Einzelfall muss jeder Therapeut die Patienten mit den jeweils relevanten Nebenwirkungsbildern entsprechend vertraut machen. Auch sehr gravierende Nebenwirkungen, besonders die Gefahr von Todesfällen im Einzelfall oder Nebenwirkungen, die im Eintritts-

falle die weitere Lebensführung massiv beeinträchtigen könnten, müssen erwähnt werden, auch wenn sie extrem selten auftreten. Derartige Risiken sind bei der Psychopharmakotherapie in der Regel nicht gegeben (Cave: Agranulozytose bei Clozapin oder QTc-Verlängerung z. B. bei Sertindol, Thioridazin und Zuclopentixol sowie Bluthochdruckkrisen bei Kombination von SSRI und MAO-Hemmern etc.).

4.3.2.4 Praktisches Vorgehen Erstinformation Unmittelbar nach Herstellung eines Behandlungskontaktes (Behandlungsvertrag!) muss der Patient über die geplanten therapeutischen und diagnostischen Maßnahmen informiert werden. Im Rahmen des therapeutischen Privilegs – auch wenn dies streng juristisch nicht eingefordert werden kann – muss bei akut Erkrankten keine vollständige Aufklärung über das Krankheitsbild erfolgen; bei einem akut Erkrankten reicht zunächst die Frage, ob er mit den geplanten Behandlungsmaßnahmen im „Großen und Ganzen“ einverstanden sei. Bei ausgeprägter Ambivalenz empfiehlt sich die Beiziehung von Angehörigen oder Vertrauenspersonen, im Notfall muss eine Betreuung beim Vormundschaftsgericht in die Wege geleitet werden. In der Krankenakte muss die Aufklärung bezüglich Pharmakotherapie kurz dokumentiert werden. Die namentliche Erwähnung von Zeugen mit schriftlicher Dokumentation ist zu empfehlen.

Vertiefende Information Bei langfristigen Therapiemaßnahmen wie z. B. der Rezidivprophylaxe bei schizophrenen und affektiven Erkrankungen muss eine wiederholte, in Stufen erfolgende Aufklärung durchgeführt werden. Der Einsatz von Informationsbroschüren, Ratgeberbüchern und Beipackzetteln ist hierbei dringend zu empfehlen. Psychoedukativ geführte Einzelgespräche und Psychoedukative Gruppen sind hervorragend geeignet, eine fundierte und ausreichende Aufklärung sicherzustellen. Dadurch kann auch mittelfristig eine

196

stabile Compliance sichergestellt werden. Dieses Vorgehen ist das Kernstück der psychiatrischpsychotherapeutischen Arbeit; auch völlig unabhängig von den juristischen Anforderungen wäre es nicht denkbar, eine langfristige Therapietreue ohne entsprechende Information der Patienten herzustellen (Bäuml et al. 2007; Hornung et al. 1995).

4.3.2.5 Ratgeber und Aufklärungsbroschüren (knappe Auswahl) Schizophrene Erkrankungen: J. Bäuml (2008) Psychosen aus dem schizophrenen Formenkreis. Ein Ratgeber für Patienten und Angehörige. Springer-Verlag, Heidelberg S. Klingberg, M. Mayenberger, G. Blaumann (2005) Schizophren? Orientierung für Betroffene und Angehörige. Beltz-Verlag, Weinheim H.-J. Luderer (2003) Schizophrenien. Trias-Verlag, Stuttgart A. Kieserg, W.P. Hornung (1996) Psychoedukatives Medikamententraining. Beltz-Verlag, Weinheim Affektive Erkrankungen: G. Pitschel-Walz (2003) Lebensfreude zurückgewinnen. Elsevier-Verlag, Urban und Fischer, München M. Wolfersdorf (2000) Krankheit Depression – Erkennen, verstehen, behandeln. PsychiatrieVerlag, Bonn Niklewski (2000) Depressionen. DM-Test Zwangserkrankungen: U. Terbrack, W.P. Hornung (2004) Zwangsstörungen. Elsevier-Verlag, Urban & Fischer, München Borderline-Erkrankungen: M. Rentrop, M. Reicherzer, J. Bäuml (2007) Borderline-Störungen. Elsevier-Verlag, Urban & Fischer, München

4 Psychologische Grundlagen

Psychopharmaka: G. Laux, O. Dietmaier (2009) Psychopharmaka. Ein Ratgeber. 8. Auflage. Springer-Verlag, Heidelberg Einwilligungsformulare: Thieme Compliance GmbH, www.procompliance.de Diagnostisch: Lumbalpunktion, Kontrastmittel-Applikationen, NMR-Untersuchung, CCT, PET Therapeutisch: EKT, rTMS, Clozapin, Lithium, Antipsychotika, Antidepressiva, Mood Stabilizer, Benzodiazepine, Sonstige. Diese Formulare sind stets mit handschriftlichen Ergänzungen zu versehen, um die Individualisierung der Aufklärung zu dokumentieren.

4.3.2.6 Schlussbemerkungen Im klinischen Alltag ist die gründliche Aufklärung der Patienten mit Information über die geplanten Behandlungsmaßnahmen schon immer unerlässlich gewesen. In den letzten Jahren hat sich das Selbstbewusstsein vieler Patienten deutlich gesteigert; dank Internet und verbessertem Bildungsniveau hat das natürliche Anspruchsdenken gegenüber einer sich immer wieder als „allmächtig und omnipotent“ präsentierenden Medizin zugenommen (Bäuml und Pitschel-Walz 2007). Die Zahl der Arzthaftungsprozesse hat sich gleichsinnig in den letzten 30 Jahren mehr als verdreifacht (Hausner et al. 2008). Da das Vorliegen eines behaupteten Behandlungsfehlers vom klagenden Patienten bewiesen werden muss, hat sich die juristische Argumentation allmählich in Richtung Beweislast-Umkehr entwickelt. In diesen Fällen muss der Arzt nachweisen, dass er ordnugsgemäß aufgeklärt hat. Der Vorwurf der mangelhaften Aufklärung hat sich zu einem regelrechten „Auffangstatbestand“ entwickelt, der fast in jedem Behandlungsfehler-Prozess geltend gemacht wird (Bolsinger 1999). Nolens volens hat sich in der Medizin deshalb eine Defensivhaltung etabliert, in der die formalen Aspekte der Aufklärung wesentlich schwerer wiegen als die individuellen Aspekte.

197

4.3.2 Patientenaufklärung Tabelle 4.3.2.4: Allgemeingültige Merksätze (nach Parzeller et al. 2007) 1. Im „Großen und Ganzen“ aufklären (was einem medizinischen Laien nicht durch Allgemeinwissen bekannt sein kann) 2. Je weniger eine Maßnahme medizinisch indiziert ist, umso gründlicher muss die Aufklärung sein (vor allem Schönheits-Operationen etc.) 3. Je größer das Risiko, umso umfassender muss über alle Nebenwirkungen aufgeklärt werden. 4. Je riskanter die Nebenwirkungen eines Medikamentes sind, umso umfassender muss die Aufklärung sein (v. a. O ff-Label-Use und bisher nicht zugelassene Medikamente)

5. Sehr seltene Risiken müssen vor allem dann erläutert werden, wenn dadurch die künftige Lebensführung schwer belastet werden könnte.

Aus Selbstschutzgründen muss auch nach wie vor alles getan werden, um den juristischen Gepflogenheiten einer korrekten Aufklärung gerecht zu werden (s. Tab. 4.3.2.4). Daneben darf aber nicht vergessen werden, dass jegliche Patienten-Aufklärung ein Herzstück der psychiatrischen Behandlung darstellt. Eine Behandlung kann nur gelingen, wenn sie „das anthropologische Grundverhältnis zwischen Krankem und Arzt realisiert, das weder ein mythologisch begründetes Unterwerfungsverhältnis noch ein rein juristisch definierbares Vertragsverhältnis ist“ (Helmchen 1986). Im Einzelfall muss stets berücksichtigt werden, dass zwar jeder Patient auf Aufk lärung drängt und verbal auch nach Wahrheit fragt, aber insgeheim nach Hoffnung sucht. Unbeachtet des juristisch nicht abgesicherten therapeutischen Privilegs ist es die ureigenste Aufgabe des Arztes, die Aufklärung entsprechend human und dem individuellen Belastungsvermögen der Erkrankten anzupassen. Die Erarbeitung eines partnerschaftlichen Behandlungsbündnisses mit fairer und ehrlicher Aufklärung über das zugrunde liegende Krankheitsbild und die mit der Behandlung verbundenen Risiken und Nebenwirkungen sind der eine Teil; gleichzeitig kann mit den heutigen psychopharmakotherapeutischen Behandlungsmöglichkeiten den Patienten berechtigter Mut gemacht werden, sich nicht nur passiv-rezeptiv der Erkrankung zu unterwerfen, sondern aktiv therapeutisch dagegen anzugehen. Dies ist ein unbestreitbares Verdienst der modernen Psychopharmakologie. Diese Möglichkeiten um-

fassend auszuschöpfen ist Aufgabe jedes psychiatrisch-psychotherapeutisch tätigen Arztes. Die im heutigen Klinik- und Praxisalltag zur Norm gewordene Aufklärungs- und Einwilligungsbürokratie muss so rational und ökonomisch wie möglich organisiert werden. Sie muss den juristischen Anforderungen genüge tun und die Behandlung legalisieren helfen, ohne das eigentliche Kernstück der psychiatrisch-psychotherapeutischen Arbeit zu erschweren – die Patienten am Fortschritt der modernen Psychopharmakotherapie partizipieren zu lassen.

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4.4 Partizipation, Integrierte Versorgung W. Kissling und J. Hamann

4.4.1 Einleitung Gesundheitspolitik, Kostenträger und medizinische Fachgesellschaften erwarten von den in der Regelversorgung tätigen Ärzten, dass sie ihre Patienten „evidenzbasiert“ behandeln. Und auf den ersten Blick scheint diese Forderung ja auch leicht erfüllbar: Der Arzt muss sich nur anhand von Evidenz basierten Leitlinien oder Metaanalysen darüber informieren, welche Behandlung für eine bestimmte Patientengruppe die beste ist und muss diese Behandlung dann leitliniengerecht durchführen. In der Behandlungsrealität ist die direkte Umsetzung von wissenschaftlicher Evidenz in die Behandlungspraxis dann meistens aber doch nicht so einfach. Zum einen muss man dort natürlich immer auch die Wünsche des jeweiligen Patienten berücksichtigen und muss ihn in die Behandlungsentscheidungen einbeziehen. Und zum andern ist es unter den aktuellen gesundheitspolitischen Rahmenbedingungen oft gar nicht mehr möglich, die in den Leitlinien empfohlene Behandlung anzubieten und finanziert zu bekommen. D. h. die Erfüllung der Forderung nach einer evidenzbasierten Medizin hängt entscheidend vom Patientenwillen und von den gesundheitspolitischen Rahmenbedingungen ab.

Deshalb soll im Folgenden auf diese beiden Punkte etwas ausführlicher eingegangen werden.

4.4.2 Patientenbeteiligung in der psychiatrischen Pharmakotherapie Die Rolle psychiatrischer Patienten innerhalb der Gesellschaft und innerhalb des psychiatrischen Versorgungssystems hat sich in den zurückliegenden Jahrzehnten grundlegend gewandelt: Von einer ausgegrenzten, diskriminierten Randgruppe über eine paternalistisch versorgte Patientengruppe bis hin zu „empowerten Klienten“ eines modernen Gesundheitssystems. Parallel zu dieser Entwicklung hat sich das Ausmaß der Informiertheit der Patienten über ihre Therapie und die aktive Einbeziehung von Patienten in therapeutische Entscheidungen ebenfalls verändert: vom Befehlsempfänger über den aufgeklärten Patienten, den „psycho-edukierten“ Patienten bis hin zum angeblich gleichberechtigten Partner einer gemeinsamen Entscheidungsfindung (Reichhart et al. 2008). Im Bezug auf die Pharmakotherapie bedeutet dieser Wandel eine Abwendung vom paternalistischen Modell der Medikationsverord-

200

4 Psychologische Grundlagen

nung, bei dem der Psychiater nach Abwägung der Vor- und Nachteile verschiedener Behandlungsoptionen dasjenige Medikament verordnete, das seines Erachtens der Symptomatik und den Bedürfnissen des Patienten am Besten entsprach. Mit der Psychoedukation wurde eine Vorgehensweise eingeführt, bei der die ausführliche und laiengerechte Information der Patienten über die prinzipiellen Behandlungsmöglichkeiten im Vordergrund stand, wobei die therapeutischen Entscheidungen im Einzelfall dann meistens aber noch ohne systematische Einbeziehung der Betroffenen gefällt wurden und vom Patienten erwartet wurde, dass er die so ausgewählte Therapie compliant durchführte. Aktuell geht die Entwicklung noch einen Schritt weiter in Richtung eines echten „Shared Decision Making“, bei dem Patienten „auf Augenhöhe“ mit ihren Ärzten gemeinsam Vorund Nachteile von Therapieoptionen abwägen und gemeinsam zu Therapieentscheidungen kommen. Inzwischen hat diese Entwicklung auch in den neuen Therapieleitlinien der DGPPN ihren Niederschlag gefunden. Hier wird – analog zu anderen internationalen Behandlungsleitlinien – den Präferenzen des Patienten eine große Rolle bei Therapieentscheidungen zugemessen und auch erstmals explizit ein „Shared Decision Making“ als Good Clinical Practice bei der Auswahl der Therapie genannt (DGPPN 2006).

über die Behandlungsmöglichkeiten informiert sind und für die meistens mehr als eine Therapieoption in Frage kommt. Der bisherige paternalistische Stil bei dem der Arzt als Experte Entscheidungen weitgehend alleine fällt, wird vor diesem Hintergrund von einer zunehmenden Zahl von Patienten als nicht mehr zeitgemäß erachtet und auch die Gesundheitspolitik unterstützt aktiv ein Empowerment der Patienten (Kilian et al. 2003). Das Recht der Patienten, an Therapieentscheidungen aktiv mitzuwirken, ist gesetzlich ja bereits seit mehreren Jahren verankert. Durch die 2003 publizierte Charta des Bundesministeriums für Justiz und des Bundesgesundheitsministeriums „Patientenrechte in Deutschland“ wurde es auch einer breiteren Öffentlichkeit bekannt gemacht. Das Selbstverständnis und die Rollenerwartungen von Staatsbürgern und Patienten haben sich im Rahmen der Empowerment- und Bürgerrechtsbewegung in den letzten Jahrzehnten also sehr gewandelt und diese Entwicklung findet auch ihren Niederschlag bei therapeutischen Entscheidungsprozessen. Darüber hinaus ist aber auch aus Sicht der Qualitätssicherung eine verstärkte Einbeziehung von Patienten in medizinische Entscheidungen sinnvoll. So gibt es Hinweise darauf, dass eine solche Einbeziehung zu besseren Behandlungsergebnissen führt (Dierks et al. 2006; Hamann et al. 2006).

Gründe für eine vermehrte Beteiligung von Patienten bei Therapieentscheidungen

Wunsch der Patienten nach Beteiligung bei Therapieentscheidungen

Für eine stärkere Beteiligung von Patienten an pharmakotherapeutischen Entscheidungen sprechen verschiedene Gründe. So hat in den letzten Jahren die Zahl der zur Verfügung stehenden Substanzen für die psychiatrische Pharmakotherapie deutlich zugenommen und die Patienten haben heute mehr Möglichkeiten als früher sich selbst über die unterschiedlichen Behandlungsmöglichkeiten zu informieren (Horch und Wirz 2005). Das heißt, in der Versorgungspraxis haben wir es zunehmend mit Patienten zu tun, die gut

Aus der somatischen Medizin ist bekannt, dass die meisten Patienten erwarten, dass sie umfassend über ihre Erkrankung informiert bzw. aufgeklärt und an wichtigen Entscheidungen beteiligt werden (Klemperer und Rosenwirth 2005). Dabei zeigt sich, dass jüngere und gebildete Patienten sowie Frauen ein höheres Partizipationsinteresse haben (Deber et al. 1996). Patienten mit chronischen Erkrankungen scheinen ebenfalls mehr Einfluss auf therapeutische Entscheidungen zu wünschen als Patienten mit akuten Beschwerden (Hamann et al. 2007). Weiterhin hat der ethische bzw. kulturelle Hintergrund ei-

201

4.4 Partizipation, Integrierte Versorgung

Paternalistisches Modell

Shared Decision Making

Informed Choice

Abbildung 4.4.1: Modelle der medizinischen Entscheidungsfindung

nen Einfluss auf das Partizipationsbedürfnis (Schouten et al. 2007). Hinsichtlich des Beteiligungswunsches und des Informationsbedürfnisses psychiatrischer Patienten gibt es bisher nur wenige Untersuchungen. Die vorhandenen Ergebnisse lassen jedoch darauf schließen, dass sich der Wunsch psychiatrischer Patienten nach Mitbestimmung von dem somatischer Patienten nicht wesentlich unterscheidet (Hamann et al. 2007). So wünschen auch die meisten psychiatrischen Patienten umfassend informiert, aufgeklärt und an den Entscheidungen beteiligt zu werden (Spiessl et al. 2006; Fleischmann 2003; Kahlert 2006; Spiessl 2002). Insgesamt möchten Dreiviertel der psychiatrischen Patienten über die in ihrem Fall bestehenden unterschiedlichen Therapiemöglichkeiten aufgeklärt werden (Fleischmann 2003). Die Einbeziehung in die Auswahl der Medikation steht dabei weit vorne (Hamann et al. 2008). Empirische Untersuchungen zeigen, dass stationär behandelte schizophrene Patienten ein etwa gleich hohes Partizipationsbedürfnis wie somatische Patienten aufweisen. Dabei zeigten Patienten, die ihrer Medikation gegenüber negativ eingestellt waren und die selbst Erfahrung mit Zwangsbehandlung gemacht hatten, ein besonders ausgeprägtes Partizipationsbedürfnis (Hamann et al. 2005). Ambulant beim Hausarzt behandelte depressive Patienten zeigten unabhängig von dem Schweregrad ihrer Erkrankung ein hohes Informationsbedürfnis und ebenfalls einen großen Wunsch nach Beteiligung (Loh et al. 2007). Erfahrene Nutzer psychiatrischer Dienste, die gebeten wurden, ihre Erwartungen an und Erfahrungen mit dem deutschen Gesundheitssystem nach Kriterien des WHO „Responsiveness“ Konzeptes zu bewerten, gaben an, dass für sie die Bereiche Autonomie und Partizipation bei Entscheidungen sowie Aufklärung und Information zu den wichtigsten

zählten. Knapp 30 % der 312 befragten Nutzer berichteten jedoch, dass sie die Möglichkeiten der Partizipation und die Wahrung bzw. Förderung ihrer Autonomie als mangelhaft empfanden. Dabei scheinen diese Ergebnisse nicht Psychiatrie-spezifisch zu sein, denn analoge Erhebungen an somatischen Patienten zeigten ähnliche Defizite hinsichtlich Partizipationsmöglichkeiten und Förderung bzw. Wahrung der Autonomie (Brahmesfeld et al. 2007). Andererseits gibt es durchaus auch Patienten, die explizit nicht beteiligt werden möchten. Deshalb ist es sinnvoll den Patienten nach seinen Beteiligungswünschen, die sich auch über die Zeit verändern können, zu fragen und den individuellen Willen zu respektieren (Kiesler und Auerbach 2006).

Modelle der Arzt-Patient-Interaktion bei medizinischen Entscheidungen Medizinische Entscheidungen werden nicht immer und überall nach dem gleichen Modell getroffen, sondern es gibt zwischen den verschiedenen Formen der Entscheidungsfindung fließende Übergänge. Im Folgenden werden die wichtigsten Formen der Arzt-Patienten-Beziehung paradigmatisch voneinander abgegrenzt (Abb. 4.4.1). Im traditionellen paternalistischen Modell nutzt der Arzt sein medizinisches Wissen, um für einen Patienten die beste Behandlung auszuwählen und durchzuführen. Er handelt und entscheidet dabei im (vermuteten) Interesse des jeweiligen Patienten, ohne dass er dessen Vorstellungen und Präferenzen aber immer explizit vorher erfragt. Wenn er Fragen stellt, dann eher um anhand der Antworten die Diagnose zu stellen oder die Behandlung zu optimieren. Meist informiert er die Patienten über seine diagnostischen oder therapeutischen Entscheidungen, sobald er diese für sich getroffen hat

202

4 Psychologische Grundlagen

und bittet dann die Patienten um ihre Zustimmung zur geplanten Behandlung. In der Regel erwartet er vom Patienten, dass er zum Gelingen der Therapie nach Kräften beiträgt und die gewählte Therapie compliant durchführt (Emanuel und Emanuel 1992). Das paternalistische Modell ist nach empirischen Untersuchungen der 1990er Jahre (Braddock et al. 1999) das am weitesten verbreitete Modell der Arzt-Patienten Beziehung. Der Ursprung des Modells der „Informed Choice“ liegt im sog. „consumer movement“. Hier werden Patienten nicht wie bisher als Leidende betrachtet, die beim Arzt Hilfe suchen, sondern als Kunden, die ärztliche Dienstleistungen in Anspruch nehmen, ärztliche Empfehlungen selbstverständlich hinterfragen und ggf. nach Alternativen verlangen können, wenn ihnen die Vorschläge des Arztes nicht zusagen (Emanuel und Emanuel 1992). Im Modell der Informed Choice ist es die primäre Aufgabe des Arztes, die Patienten über alle Behandlungsmöglichkeiten und die damit verbundenen Vor- und Nachteile bzw. über die zu erwartenden Behandlungsergebnisse zu informieren. Die Entscheidung über die durchzuführende Therapie liegt in diesem Modell allein bei den Patienten, die sie unabhängig und unbeeinflusst von ärztlichem oder sozialem Druck

fällen sollten. Nach der Entscheidung durch den Patienten ist es die Pflicht des Arztes, diese Entscheidung (z. B. eine Therapie) auch umzusetzen. Eine Umsetzung dieses Modells in der Regelversorgung deutscher Patienten hat bisher nicht stattgefunden. Eine ansatzweise Umsetzung findet sich beispielsweise in der tropenmedizinischen Impfberatung. Shared Decision Making liegt zwischen den beiden oben genannten Modellen und kann als ein Interaktionsprozess zwischen Arzt und Patient beschrieben werden, dessen Ziel es ist, unter gleichberechtigter aktiver Beteiligung von Patient und Behandler auf der Basis miteinander geteilter Informationen zu einer gemeinsam verantworteten Übereinkunft zu kommen. Voraussetzungen für SDM sind (Charles et al. 1997):  Mindestens 2 Teilnehmer (Patient und Behandler)  Informationsaustausch in beide Richtungen findet statt  Beide Teilnehmer sind sich bewusst, dass und welche Wahlmöglichkeiten bezüglich der medizinischen Entscheidung bestehen  Beide Partner bringen ihre Entscheidungskriterien aktiv und gleichberechtigt in den Abwägungs- und Entscheidungsprozess ein

Paternalistisches Modell

Shared Decision Making

Informed Choice

Rolle des Arztes

aktiv: Hat alle Informationen, wählt die Therapie aus,

aktiv: Teilt dem Patienten alle Informationen und Behandlungsmöglichkeiten mit. Kann eine Option empfehlen. Beschließt gemeinsam mit dem Patienten die Therapie.

passiv: Teilt dem Patienten alle Informationen und Behandlungsmöglichkeiten mit. Fällt keine Entscheidung.

Rolle des Patienten

passiv: „Akzeptiert“ den Vorschlag des Arztes

aktiv: Bekommt alle Informationen. Bildet sich selbst ein Urteil. Bespricht mit dem Arzt seine Präferenzen. Beschließt gemeinsam mit dem Arzt die Therapie.

aktiv: Bekommt alle Informationen. Bildet sich ein Urteil, entscheidet alleine

Bei Arzt und Patient

Beim Patienten

Verantwortung für die Entscheidung

Beim Arzt

Abbildung 4.4.2: Definition von SDM

.

203

4.4 Partizipation, Integrierte Versorgung

Idealtypischer Ablauf nach dem Modell des SDM 1. Explizite Mitteilung an den Patienten, dass eine Entscheidung ansteht 2. Angebot der partizipativen Entscheidungsfindung 3. Aussage, dass es verschiedene Wahlmöglichkeiten gibt („Equipoise“) 4. Information über die Optionen 5. Rückmeldung von Seiten des Patienten 6. Präferenzen ermitteln 7. Aushandeln 8. Gemeinsame (partizipative) Entscheidung 9. Plan zur Umsetzung der Entscheidung Abbildung 4.4.3: Idealtypischer Ablauf von SDM

 Beide Partner übernehmen Verantwortung für die Entscheidung Die Definition von SDM und die Abgrenzung zum paternalistischen bzw. Informed Choice Modell sind in Abbildung 4.4.2 dargestellt. Grundvoraussetzungen sind weiter, dass die Patienten fähig sind, eine Entscheidung mitzutragen und dass überhaupt verschiedene Behandlungsoptionen zur Auswahl stehen, die entweder als gleichwertig anzusehen sind oder deren Erfolgschancen oder Verträglichkeit nicht genau beurteilt werden können. SDM zeichnet sich vor allem durch seine strukturierte Vorgehensweise (Abb. 4.4.3), durch die eindeutige Fokussierung auf Entscheidungen und die explizite Einbeziehung der medizinischen Evidenz in den gemeinsamen Entscheidungsprozess aus. Erhebungen im somatischen Bereich zeigen, dass sich SDM bis jetzt in der Arzt- Patienten- Beziehung noch nicht durchgesetzt hat (Legare et al. 2007). Die Patienten fühlen sich nach wie vor nicht ausreichend in die Entscheidungen einbezogen bzw. mehr als die Hälfte der Patienten erlebt ihren Arzt noch immer in der paternalistischen Rolle (Scheibler et al. 2005) und nur ein geringer Teil der Ärzte kennt überhaupt das Prinzip des SDM (Ernst et al. 2007). Auch auf psychiatrischem Gebiet ist bisher nicht von einer Umsetzung des SDM auszugehen (Brahmesfeld et al. 2007).

Erfahrung mit der Umsetzung von Shared Decision Making in der Psychiatrie Ein Versuch, SDM im Rahmen eines Modellprojekts in mehreren psychiatrischen Kliniken umzusetzen, ergab, dass dieser partizipative Entscheidungsstil im Behandlungsalltag psychiatrischer Kliniken durchaus praktizierbar ist (Hamann et al. 2006). Zur Unterstützung des Entscheidungsprozesses wurde dabei eine 16-seitige Broschüre als sog. Entscheidungshilfe eingesetzt, in der kurz und allgemeinverständlich die wichtigsten Behandlungsoptionen und ihre jeweiligen Vor- und Nachteile dargestellt wurden. Bei Entscheidungen über die medikamentöse Behandlung wurden die Patienten gebeten, ihre Vorerfahrungen mit verschiedenen Medikamenten zu bewerten und am Ende dieses Informations- und Abwägungsprozesses dann möglichst zu einer Präferenz bezüglich ihrer geplanten Langzeitmedikation zu gelangen. Die Patienten wurde dazu angehalten ihre Präferenzen in der Entscheidungshilfe schriftlich festzuhalten, um eine Gedächtnisstütze für das folgende Arztgespräch zu haben. Während des Durcharbeitens der Entscheidungshilfe wurden die Patienten vom Pflegepersonal unterstützt. In einem anschließenden Planungsgespräch mit ihrem behandelnden Arzt sollten Patient und Arzt dann zu einer gemeinsamen Entscheidung hinsichtlich der künftigen Therapie kommen. Als Hilfsmittel standen hier zum Einen die Entscheidungshilfe, zum Anderen Informa-

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tionskarten mit den Eigenschaften der wichtigsten Antipsychotika zur Verfügung. Die Fähigkeit der Patienten am Planungsgespräch mitzuwirken, wurde von Ärzten und Pflegepersonal überwiegend positiv beurteilt. Einschränkungen gab es hier allerdings bei der Frage, ob die Patienten in der Lage seien „sinnvoll“ an den Entscheidungen selbst mitzuwirken. Diese Fähigkeit war aus Sicht der Ärzte vor allem bei Patienten mit ausgeprägter Negativsymptomatik eingeschränkt (Hamann et al. 2006). Trotz dieser Einschränkung führte der Einsatz der Entscheidungshilfe auf Seiten der Patienten zu einer besser empfundenen Einbeziehung in Entscheidungen, zu einer Verbesserung des Krankheitswissens und zu positiveren Einstellungen gegenüber der Medikation. Nach Angaben der behandelnden Ärzte wurden bei einem beträchtlichen Teil der Patienten andere Entscheidungen getroffen, als wenn die Ärzte wie bisher weitgehend allein entschieden hätten. Vor allem die Häufigkeit der Nutzung psychosozialer Angebote (z. B. Psychoedukation) nahm deutlich zu, wenn Patienten an Entscheidungen beteiligt wurden (Hamann et al. 2006). Im Langzeitverlauf zeigte sich zudem ein Trend, wonach Patienten, die am SDM-Programm teilgenommen hatten, seltener rehospitalisiert werden mussten, als Patienten der Kontrollgruppe (Hamann et al. 2007). Auch bei depressiven Patienten, deren Hausärzte an einem mehrstündigen Training in kommunikativen Fertigkeiten für SDM teilnahmen, zeigten sich positive Effekte bezüglich Zufriedenheit und Therapietreue (Loh et al. 2007). Bemerkenswert dabei ist, dass in beiden Studien gezeigt wurde, dass die Durchführung von SDM nicht mehr Zeit beanspruchte, als die bisher übliche Versorgung der Patienten.

Entscheidungssituationen in der psychiatrischen Pharmakotherapie, bei denen SDM besonders angezeigt ist Aus den berichteten Ergebnisse und weiteren Untersuchungen kann geschlossen werden, dass es auch im Bereich der psychiatrischen Pharmakotherapie zahlreiche wichtige Entscheidungs-

4 Psychologische Grundlagen

situationen gibt, in denen SDM erfolgreich praktiziert werden kann. Insbesondere bei der Auswahl des Medikaments sollte SDM praktiziert werden, da es sich hierbei um eine für Patienten wie Psychiater zentrale Entscheidung handelt, bei der meistens mehrere gleichwertige Alternativen zur Auswahl stehen und bei der die Zustimmung und Selbstverpflichtung jedes Patienten zu seinem Medikament unabdingbar für die Aufrechterhaltung der Compliance sind. Eine gemeinsame Entscheidungsfindung erscheint hier besonders sinnvoll, weil die Meinung des Patienten, z. B. welches Nebenwirkungsprofil er persönlich für akzeptabel hält, für die Auswahl des Antipsychotikums oder Antidepressivums genauso wichtig ist wie das medizinische Fachwissen des Arztes z. B. über Kontraindikationen etc.. Neben der Medikationsentscheidung ist es sicher auch sinnvoll, Entscheidungen über psychosoziale Therapien oder auch über den richtigen Zeitpunkt für eine Verlegung/Entlassung unter Einbeziehung der Patienten zu treffen.

„Schwierige“ Situationen für eine Beteiligung von Patienten an pharmakotherapeutischen Entscheidungen Patienten, die mit ihrer Therapie, mit der bisherigen Einbeziehung in Entscheidungen und mit der Behandlung insgesamt unzufrieden sind, zeigen oft ein besonders ausgeprägtes Partizipationsbedürfnis. Zudem setzen sie Medikation häufiger selbstständig ab und werden schneller rehospitalisiert (Hamann et al. 2007). Bei diesen Patienten ist es also besonders wichtig, ihren Mitbestimmungswünschen entgegenzukommen, da sie sonst sehr schlechte Therapieaussichten haben. Gleichzeitig ist aber anzunehmen, dass sich bei diesen Patienten die Positionen von Patient und Arzt z. B. hinsichtlich der Notwendigkeit einer bestimmten Therapie oft nicht decken werden. Für derartige Situationen ist SDM sicher keine „Allzweckwaffe“. Einzelne Elemente können jedoch eingesetzt werden und manchmal kann der Patient dadurch doch noch für eine Behandlung gewonnen werden. Dabei hängt es

4.4 Partizipation, Integrierte Versorgung

oft von der ärztlichen Grundhaltung und dem Kommunikationsstil (nondirektive Gesprächsführung) ab, ob die Einbeziehung des Patienten gelingt. Angebote hinsichtlich partizipativer Entscheidungsfindung können sich notfalls auch nur auf Teilbereiche von Entscheidungen beziehen. So kann die grundsätzliche Notwendigkeit einer Medikation als nicht zu diskutierende Voraussetzung gegeben sein, die Auswahl zwischen verschiedenen Antipsychotika kann dann aber durchaus gemeinsam mit dem Patienten getroffen werden. Aus der Literatur aber auch vor dem Hintergrund praktischer Erfahrungen mit SDM in der psychiatrischen Regelversorgung kann man den Schluss ziehen, dass SDM auch bei therapeutischen Entscheidungen in der Psychiatrie zumindest bei einem Teil der Patienten erfolgreich praktiziert werden kann. Insbesondere bei Entscheidungen über die rezidiv-prophylaktische Langzeitmedikation scheint SDM indiziert und trägt möglicherweise zu höherer Akzeptanz auf Seiten der Patienten, zu mehr Behandlungszufriedenheit und zu einer Verbesserung der Compliance bei. SDM muss auch nicht zeitaufwändiger sein als der paternalistische Entscheidungsstil, da bei paternalistischen Entscheidungen häufig hinterher viel Zeit für die Erklärung und Durchsetzung der Entscheidung gebraucht wird. Wenn es gelingt, Ärzten und Pflegepersonal die praktische Durchführung von SDM durch entsprechende Manuale, Fortbildungsprogramme und vor allem durch laiengerecht gestaltete Entscheidungshilfen zu erleichtern, dann könnte sich dieser moderne Entscheidungsstil auch in der Psychiatrie und insbesondere bei pharmako-therapeutischen Entscheidungen vermehrt durchsetzen.

4.4.3 Integrierte Versorgung Während es für die meisten nachvollziehbar ist, dass Therapieentscheidungen von den Wünschen der betroffenen Patienten beeinflusst werden (s. o.), wird der wachsende Einfluss der Gesundheitspolitik auf ärztliche Behandlungsentscheidungen von vielen mit Sorge betrachtet. Noch vor 20 Jahren wäre es als ethisch

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höchst problematisch erachtet worden, wenn die gesundheitspolitischen Rahmenbedingungen entscheidend für die Auswahl einer Therapie bei einem individuellen Patienten gewesen wären. Damals war man sich einig, dass jeder Patient ein Recht auf die beste medizinische Behandlung habe und es hätte einen Sturm der Entrüstung ausgelöst, wenn man z. B. festgelegt hätte, dass bei Menschen über 65 Jahren eine Dialysebehandlung nicht mehr wirtschaftlich sei und deshalb von den Kostenträgern nicht mehr bezahlt werden dürfe. Obwohl dieser Konsens auch heute bei uns noch nicht offiziell aufgekündigt wurde, wird das Recht auf die beste Therapie inzwischen auf dem Umweg über das „Wirtschaftlichkeitsgebot“ in vielen Bereichen der Medizin in Frage gestellt. Entscheidend für die Wahl einer Therapie sind oft nicht mehr die Patientenwünsche oder die wissenschaftliche Evidenz sondern entscheidend sind immer häufiger die gesundheitspolitischen Vorgaben, die Richtgrößen, Budgets und Me Too Listen. Wenn die Gesundheitspolitik unter Regressdrohungen bestimmt, dass für die ambulante Behandlung eines chronisch kranken psychiatrischen Patienten pro Monat nicht mehr als 15 € Arzthonorar bzw. 40 € für Medikamente ausgegeben werden dürfen, dann wird die Therapie durch solche Vorgaben natürlich entscheidend festgelegt und die wissenschaftliche Evidenz oder der Wunsch des Patienten spielen nur noch eine untergeordnete Rolle. Wenn aber die gesundheitspolitischen Rahmenbedingungen unsere täglichen Therapieentscheidungen so sehr beeinflussen, dann muss auf sie auch in einem medizinischen Handbuch wie dem vorliegenden näher eingegangen werden. Wenn wir dies im Folgenden tun und auf die gesundheitspolitischen Vorgaben zur Integrierte Versorgung näher eingehen, dann geschieht dies nicht, um darüber zu klagen, sondern um Möglichkeiten aufzuzeigen, wie auch unter diesen Umständen eine Leitlinien gerechte, evidenzbasierte Therapie angeboten und finanziert werden kann. Und eine solche Möglichkeit wird uns überraschenderweise von der Gesundheitspolitik selbst eröffnet und zwar in Form des neuen Gesetzes zur sog. „Integrierten Versorgung“ (§ 140

206

SGB V). Dieses neue Gesetz eröffnet den Leistungserbringern die Möglichkeit, innovative therapeutische Interventionen oder Medikamente bezahlt zu bekommen, die bisher von den Krankenkassen unter Hinweis auf die gedeckelten Budgets nicht bezahlt wurden. Da dieser § 140 vielen Psychiatern noch nicht bekannt sein dürfte, sollen die Möglichkeiten, die er bietet, im Folgenden etwas ausführlicher dargestellt werden. Integrierte Versorgung ist eine neue, vom Gesetzgeber geförderte, sektorenübergreifende Versorgungsform. Sie soll zu einer stärkeren Vernetzung der verschiedenen Fachdisziplinen und Sektoren (Hausärzte, Fachärzte, Krankenhäuser, Rehabilitationseinrichtungen) führen, die Qualität der Patientenversorgung verbessern und die Gesundheitskosten senken. Am 1. 1. 2004 ist dieses Gesetz zur Integrierten Versorgung (§ 140 SGB V) in Deutschland als Teil einer umfassenden Gesundheitsreform in Kraft getreten (Ähnliche Gesetze gelten auch in Österreich und der Schweiz, vgl. Peinhaupt und Nowak 2005, Hildebrandt 2001) Das Gesetz eröffnet den Kliniken, den Rehabilitationseinrichtungen und den niedergelassenen Ärzten die Möglichkeit, zusätzlich zu den geltenden Budgets eine Finanzierung für neue sektorenübergreifende Versorgungsformen zu erhalten. Hierfür wurden pro Jahr für alle medizinischen Fachgebiete zusammen ca. 700 Millionen € (!) bereitgestellt, davon ca. 70 Millionen € pro Jahr für psychiatrische Versorgungsangebote. Mit Hilfe dieser extrabudgetären Finanzmittel sollten Kliniken und Niedergelassene ermuntert werden, in Modellregionen eine eng miteinander vernetzte, evidenzbasierte Behandlung anzubieten, die mittelfristig zu niedereren Gesamtkosten führt (z. B. wenn durch ein besseres ambulantes Behandlungsangebot teure Krankenhausbehandlungen vermieden werden, Kissling 2006, Kissling und Vogel 2007). Erfolgreiche Versorgungsmodelle sollen später dann – auch nach Auslaufen der Anschubfinanzierung – flächendeckend in der Regelversorgung implementiert werden. Dieses neue Gesetz zur Inte-

4 Psychologische Grundlagen

grierten Versorgung bietet somit nach langer Zeit erstmals wieder die Chance, neue Versorgungsformen angemessen finanziert zu bekommen. Leider wurde diese Chance bis jetzt von den Psychiatern kaum genutzt. Von den bis Herbst 2008 abgeschlossenen 5 500 Verträgen zur Integrierten Versorgung kommen nur knapp 100 aus der Psychiatrie und die Psychiater haben bisher nur ca. 10 % der ihnen zustehenden Anschubfinanzierung abgerufen (Kissling 2006; Kissling und Vogel 2007). Um möglichst viele Psychiater und Neurologen zu motivieren, doch noch rasch einen Antrag auf Integrierte Versorgung zu stellen, sollen im Folgenden die wichtigsten Voraussetzung hierfür dargestellt werden. Eine ausführlichere Darstellung der gesetzlichen Rahmenbedingungen der Integrierten Versorgung und der erfolgreichsten Strategien für einen Vertragsabschluss finden sich u. a. bei Kissling et al. (2004, 2006) und Kissling und Vogel (2007).

Was genau ist mit „Integrierter Versorgung“ gemeint? Was bei der Integrierten Versorgung inhaltlich im Einzelnen gemacht werden soll bzw. darf, hat der Gesetzgeber im § 140 des Sozialgesetzbuches V nur vage beschrieben. Es wird dort nur gesagt, dass die Krankenkassen mit den in § 140b Abs. 1 genannten Vertragspartnern (z. B. Kliniken, Rehabilitationseinrichtungen, Niedergelassenen) Verträge über eine „verschiedene Leistungssektoren übergreifende Versorgung der Versicherten oder eine interdisziplinär-fachübergreifende Versorgung“ abschließen können. Die Ziele dieser neuen Versorgungsform sind dabei mehr oder weniger die gleichen wie bei der üblichen Regelversorgung, nämlich die „qualitätsgesicherte, wirksame, ausreichende, zweckmäßige und wirtschaftliche Versorgung“ der Versicherten. Diese sehr allgemein gehaltene Definition der Integrierten Versorgung macht es möglich, dass man prinzipiell für fast alle Versorgungskonzepte eine Finanzierung beantragen kann, so lange es sich um eine „sektorenübergreifende oder fachübergreifende“ Versorgung handelt. Aus der bisherigen Bewilligungspraxis kann man allerdings ersehen, dass die Krankenkassen (die alleine über die Bewil-

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4.4 Partizipation, Integrierte Versorgung

ligung der Finanzierung entscheiden) fast nur Verträge abschließen, von denen sie sich eine Steigerung der Behandlungsqualität und eine Senkung der Gesamtkosten versprechen.

Warum gibt es so wenig IV Verträge in der Psychiatrie? Dass bisher kaum Verträge für psychiatrische Modellprojekte abgeschlossen wurden, kann prinzipiell damit zusammenhängen, dass von Psychiatern zu wenig überzeugende Anträge an die Kassen gestellt wurden und/oder auch damit, dass von den Kassen zu wenig (eigentlich gute) Anträge bewilligt wurden. Die zurückliegenden 4 Jahre seit Erlass des Gesetzes haben gezeigt, dass beide Gründe zutreffen. Offensichtlich haben sich die Krankenkassen anfänglich mit psychiatrischen Anträgen besonders schwer getan, haben deren – auch ökonomische – Relevanz unterschätzt und deshalb bis zu 90 % der Anträge – oft ohne eingehende Prüfung – abgelehnt. Darüber hinaus wurden aber auch von den psychiatrischen „Leistungserbringern“ (Kliniken, Niedergelassenen, RehaEinrichtungen) wesentlich weniger Anträge gestellt, als dem Anteil psychiatrischer Patienten an der medizinischen Gesamtversorgung entspricht. Viele potenzielle Antragsteller aus der Psychiatrie waren offenbar nicht bereit oder nicht in der Lage, die Vorleistungen zu erbringen, die erforderlich sind, um das in § 140 SGB V geforderte innovative Versorgungsmodell sektorenübergreifend zu entwickeln, erfolgreich zu implementieren und in einem überzeugenden Antrag den Kassen schmackhaft zu machen (Kissling et al. 2004; Kissling 2006; Kissling und Vogel 2007). Dies ist umso bedauerlicher, als die chronisch-rezidivierenden psychiatrischen Erkrankungen mit ihrem sektorenübergreifenden Versorgungsbedarf geradezu prädestiniert für die Integrierte Versorgung erscheinen.

Gibt es eine zweite Chance für die Psychiatrie? Möglicherweise bekommt die Psychiatrie aber noch einmal eine zweite Chance. Denn einige Krankenkassen haben erkennen lassen, dass sie

auch nach Wegfallen der Anschubfinanzierung an integrierten Versorgungsverträgen und anderen Direktverträgen mit den Leistungserbringern interessiert sind. Voraussetzung ist allerdings, dass die angebotenen Versorgungsmodelle nachweisbar zu einer Verbesserung der Behandlungsqualität und möglichst auch zu einer Kostensenkung führen und sich in einer Pilotphase als durchführbar erwiesen haben. D. h. psychiatrische Leistungserbringer können auch jetzt noch eine extrabudgetäre Finanzierung für ein innovatives psychiatrisches Versorgungsmodell beantragen, z. B. wenn sie ein bereits andernorts erfolgreich erprobtes Modell in ihrer Versorgungsregion den Krankenkassen anbieten. Was bei einer solchen Antragsstellung im Einzelnen zu beachten ist, wurde an anderer Stelle ausführlich dargestellt (Kissling et al. 2004; Kissling 2006; Kissling und Vogel 2007) und soll im Folgenden deshalb nur kurz zusammengefasst werden.

Wer sollte einen IV Antrag stellen? Konzeptentwicklung, organisatorische Vorbereitungen und praktische Implementierung eines IV Modells sind relativ aufwändig. Durchschnittlich dauern die Vorbereitungsarbeiten, die Antragsformulierung und die Verhandlungen mit den Krankenkassen ca. 18 Monate und binden etwa 9 Arztmonate an Manpower. Und auch nach Vertragsunterzeichnung müssen nochmals mehrere Monate in die konkrete Organisation des neuen Versorgungsmodells, in die Entwicklung der Dokumentation und Evaluation, in die Organisation der Abrechnungen etc. investiert werden. Und da die meisten Krankenkassen nicht zu Vorauszahlungen bereit sind, dauert es auch nach Einschluss der ersten Patienten nochmals mindestens 3 Monate, bis die ersten Zahlungen von den Kostenträgern eintreffen. D. h. wer nicht bereit und in der Lage ist, diese Vorinvestitionen zu erbringen (und bei einem Scheitern des Antrags notfalls abzuschreiben), sollte das Thema rasch abhaken. Wenn man diese Vorleistungen erbringen kann und will, sollte man als Nächstes genau prüfen, ob man die erforderlichen formalen und inhaltlichen Voraussetzungen für

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eine Antragstellung erfüllt (vgl. Kissling et al. 2004; Kissling 2006; Kissling und Vogel 2007). Die bisher gemachten Erfahrungen mit der Bewilligungspraxis der Krankenkassen und der praktischen Umsetzung von IV Verträgen zeigen, dass insbesondere folgende Voraussetzungen erfüllt sein sollten:  Alle Teilnehmer an der Integrierten Versorgung sollten die Fähigkeit zur sektorübergreifenden, kollegialen Zusammenarbeit haben und bereit sein, ausreichend Zeit in die Rekrutierung der Patienten, in die Dokumentation und in die korrekte Durchführung der Interventionen zu investieren  Eine ausreichende Zahl von Patienten der gewählten Indikation (n > 300) sollte innerhalb von 6–12 Monaten zur aktiven Teilnahme an der Integrierte Versorgung motiviert werden können  Mit dem geplanten Versorgungsmodell sollten tatsächlich die Behandlungsqualität verbessert und die Gesamtkosten gesenkt werden können (Voruntersuchungen?)  Die spätere Übernahme des Versorgungsmodells in die Regelversorgung muss möglich sein  Die Kosten für alle Beteiligten sollten realistisch und transparent kalkuliert worden sein und die Anschubfinanzierung bzw. die mit den Kassen vereinbarten Honorare sollten zumindest diese Kosten abdecken  Die Klinikverwaltung oder das Ärztenetzwerk sollten bereit sein, die erforderlichen Rahmenbedingungen (Bereitstellung von Räumen, Vorfinanzierung der Manpower etc.) zu schaffen  Es sollte Einvernehmen unter allen Beteiligten bestehen über Art und Ausmaß der Dokumentation, der Erfolgsbeurteilung und der Qualitätssicherung Die Erfahrungen aus den zurückliegenden 4 Jahren seit Inkrafttreten des § 140 SGB V zeigen, dass ein IV Antrag nur Sinn macht, wenn alle oben genannten Voraussetzungen erfüllt sind.

4 Psychologische Grundlagen

Die häufigsten Fehler Die häufigsten Fehler, die von Antragstellern in diesem Zusammenhang gemacht wurden, waren folgende:  Indikationen oder Versorgungsmodelle zu wählen, bei denen keine ausreichenden Kostensenkungen und/oder Qualitätsverbesserungen erreicht werden können  Überschätzung der tatsächlich erreichbaren Rekrutierungszahlen  Fehlen von effizienten Management- und Monitoringstrukturen, die ausreichende Rekrutierungszahlen und die Qualität der Dokumentation und der Interventionen sicherstellen  Zu komplexe und zu aufwändige Versorgungsmodelle. Versorgungsmodelle zu beantragen, bei denen bereits bestehende Versorgungsangebote (z. B. in Institutsambulanzen, Rehabilitationseinrichtungen) als Integrierte Versorgung umetikettiert werden, erscheint aus mehreren Gründen nicht sinnvoll: Zum einen, weil die Krankenkassen nicht bereit sind, für inhaltlich ähnliche Leistungen doppelt zu bezahlen und man deshalb mit derartigen Anträgen nur bewährte Versorgungsstrukturen ersetzen würde, ohne zusätzliche Finanzmittel zu bekommen. Zum anderen können durch solche Modelle auch nicht die geforderten Qualitätsverbesserungen oder Kostensenkungen im Vergleich zur jetzigen Regelversorgung erreicht werden. Der häufigste Fehler ist aber, dass in der Planungseuphorie die später tatsächlich erreichbaren Rekrutierungszahlen überschätzt werden. Wenn dann später deutlich weniger Patienten als geplant in das Programm eingeschlossenen werden, kommt es wegen der fehlenden Fallhonorare rasch zu einer Unterfinanzierung, an der das gesamte Projekt scheitern kann. Um das zu vermeiden, sollte man so früh wie möglich Proberekrutierungen durchführen, bei denen sich zeigt, wie viele Patienten tatsächlich zum Einschreiben in ein Programm motiviert werden können. Einige psychiatrische Projekte, die darauf vertraut haben, dass durch eine angemessene Honorierung quasi automatisch die

209

4.4 Partizipation, Integrierte Versorgung

optimale Rekrutierung sichergestellt wird, haben nach den ersten 6 Monaten feststellen müssen, dass sich diese Erwartung nicht erfüllt hat und die geplanten Rekrutierungszahlen bei weitem nicht erreicht wurden. Insbesondere bei indikations- oder kassenspezifischen Verträgen, die nur einen Teil der in einer Praxis oder Klinik versorgten Patienten betreffen, wird unter dem Zeitdruck des Versorgungsalltags immer wieder vergessen, diese Patienten für die Integrierte Versorgung zu motivieren und die eigentlich möglichen Rekrutierungszahlen werden dann nicht erreicht. Um zu vermeiden, dass Projekte an zu niederen Teilnehmerzahlen scheitern, bedarf es eines intensiven Projektmanagements und Monitorings, für das ausreichende personelle und finanzielle Ressourcen bereitgestellt und vorfinanziert werden müssen. Häufig begehen Antragsteller auch den Fehler, sich bei der inhaltlichen Ausgestaltung der Integrierten Versorgung zu viel vor zu nehmen und gleichzeitig alle diagnostischen und therapeutischen Prozesse der Regelversorgung verändern und verbessern zu wollen. Solche Konzepte sind in der Praxis nicht umsetzbar und führen eher zu Kostensteigerungen als zu den von den Krankenkassen angestrebten Kostensenkungen. Bessere Erfolgschancen haben schlanke Versorgungsmodelle, die sich auf die wichtigsten Probleme (z. B. Noncompliance, intersektorale Kommunikationsdefizite) konzentrieren und versuchen, diese Probleme mit wenigen, wirksamen Interventionen kosteneffektiv zu lösen. Ein gutes Beispiel für ein solches schlankes Programm ist das sog. „Münchner Modell“. Es hat sich in seiner bisher dreijährigen Laufzeit als leicht in die Regelversorgung integrierbar erwiesen, wird von Patienten wie Leistungserbringern gleichermaßen geschätzt und hat darüber hinaus zu einer Halbierung der Gesamtkosten bei gleichzeitiger deutlicher Verbesserung der Behandlungsqualität geführt. Dieses Modell soll deshalb im Folgenden als Beispiel für ein psychiatrisches integriertes Versorgungsmodell etwas ausführlicher beschrieben werden:

Das „Münchner Modell“ Dieses Versorgungsmodell für Patienten mit Schizophrenie oder Depression kann als Prototyp eines fokussierten, indikationsspezifischen IV Modells in der Psychiatrie gelten. Im Gegensatz z. B. zum Rahmenkonzept der DGPPN (2005) wird im Münchner Modell nicht versucht, alle Aspekte einer Behandlung zu optimieren, sondern man konzentriert sich auf ein oder zwei Hauptprobleme, durch deren Lösung besonders große Qualitätsverbesserungen und Kostensenkungen zu erwarten sind. Bei den Indikationen Schizophrenie und Depression gilt die ausgeprägte Noncompliance der Patienten bezüglich der Rezidivprophylaxe als ein solches Hauptproblem, weshalb im „Münchner Modell“ versucht wird, mit maximalem Ressourceneinsatz die Compliance der Patienten zu verbessern. Zusätzlich wird versucht, die Kommunikation und Kooperation zwischen ambulanten und stationären Leistungserbringern zu verbessern. Im Einzelnen geschieht dabei u. a. Folgendes: Nach Einschluss eines Patienten ins Programm wird auf der Basis einer mehrstündigen, individuellen Compliance Diagnostik zusammen mit dem Patienten, seinen Angehörigen und evtl. anderen Ärzten eruiert, wie compliant der Patient in der Vergangenheit die rezidivprophylaktische Behandlung durchgeführt hat, wo es dabei Probleme gab und wie diese Complianceprobleme evtl. in Zukunft besser gelöst werden können. Gemeinsam mit dem Patienten wird dann von einem ärztlichen und einem sozialpädagogischen Case Manager ein individuelles Programm zur zukünftigen Optimierung der Rückfallverhütung aufgestellt, fortlaufend angepasst und seine Umsetzung über mindestens 18 Monate im Rahmen regelmäßiger Wiedervorstellungstermine monitoriert. Durch eingebaute Wellness und Bonus Elemente, durch spielerischen Compliance Wettbewerb unter den Teilnehmern und durch Gelegenheit zu Sozialkontakten wird versucht, das Programm für die Teilnehmer so attraktiv wie möglich zu machen. Verschiedene Anreize wie Fahrtkostenerstattung, Befreiung von Zuzahlungen etc. sollen die Teilnahmefreudigkeit der Patienten erhöhen. Pro Jahr werden so mindes-

210

4 Psychologische Grundlagen

tens 20–30 Manpower Stunden pro Patient für die Verbesserung seiner rezidivprophylaktischen Compliance aufgewandt. Ein derartiger Aufwand nur für die Compliance Verbesserung konnte in der – traditionell eher auf die Akutbehandlung fokussierten – ambulanten Regelversorgung bisher nicht annähernd geleistet werden, weil es dafür keine Gebührenziffern gab. Im Rahmen eines Vertrags zur Integrierten Versorgung wie z. B. beim „Münchner Modell“ können aber jetzt alle erforderlichen Compliance verbessernden Maßnahmen finanziert werden (vgl. Tab. 4.4.1). Für den Kostenträger entstehen dadurch aber keine Mehrkosten, da

der Mehraufwand für das Compliance Programm (ca. 1250 € pro Patient pro Jahr) durch Einsparungen bei den Krankenhauskosten mehr als kompensiert wird. Die therapeutische Verantwortung für den Patienten liegt bei diesem Modell weiterhin beim niedergelassenen Arzt, der seine sonstigen Leistungen wie bisher über die Kassenärztliche Vereinigung abrechnet. Für die zusätzlich zur Regelversorgung angebotenen Compliance verbessernden Maßnahmen bekommen die Niedergelassenen und die das Programm unterstützenden Kliniken außerhalb ihres Budgets ein zusätzliches, kostendeckendes Honorar.

Tabelle 4.4.1: Probleme und Lösungsansätze im Rahmen der Integrierten Versorgung Problem

Lösung

Noncompliance der Patienten für die Rückfallschutzbehandlung

       

Drop out nach Klinikentlassung, Nichteinhaltung von Terminen

 

Differentialdiagnose der Noncompliance Psychoedukation für Patient und Angehörige (Pitschel-Walz et al. 2006) Compliance - Monitoringsysteme Medikamententraining (Asani und Eißmann 2006) Reminder (Telefon, SMS) „Shared Decision Making“ (Hamann et al. 2006) Depotmedikation Bonus für Teilnahme an Compliance verbessernden Maßnahmen (Post et al. 2006) Extra honorierte Vorstellung beim weiterbehandelnden niedergelassenen Nervenarzt noch während der stationären Behandlung Terminerinnerungen, bei Bedarf Hausbesuche

Umstellung der Medikation kurz nach Entlassung des Patienten aus der Klinik



suboptimale ärztliche Therapieempfehlungen

  

Implementierung von Behandlungsleitlinien (Qualitätszirkel) Optimierung eines gemeinsamen Behandlungspfades (Qualitätszirkel) Benchmarking von Prozess- und Ergebnisindikatoren anhand der sektorübergreifenden Dokumentation

verspätete Reaktion auf Krisen

   

Training d. Patienten im Erkennen von Frühwarnzeichen Krisenplan für Patienten und Angehörige Garantierte, beschleunigte stationäre Aufnahme im Bedarfsfall Tel. Hotline für Patienten und Angehörige

  

Abstimmung der Entlassungsmedikation zwischen Klinikern, Niedergelassenen und Patienten Fallkonferenzen in sektorübergreifenden Qualitätszirkeln Benchmarking von Prozess- und Ergebnisindikatoren Standardisierter, beschleunigter Informationsfluss bei Aufnahme und Entlassung

211

4.4 Partizipation, Integrierte Versorgung

Da sich die mangelnde Abstimmung zwischen niedergelassenen Ärzten und Klinikern häufig negativ auf die Compliance der Patienten und auf die Effizienz der Behandlung auswirkt, wird im Rahmen der Integrierten Versorgung auch versucht, die Kommunikation zwischen den verschiedenen Behandlungssektoren zu optimieren. Durch regelmäßige gemeinsame Fallkonferenzen und standardisierte (und zusätzlich honorierte) Kommunikationsinstrumente wird verhindert, dass es beim Wechsel des Patienten von einem Sektor in den anderen zu vermeidbaren Doppeluntersuchungen oder Medikamentenumstellungen kommt.

fristet verlängert. Inzwischen wird das Versorgungsmodell in zahlreichen anderen Regionen ausgerollt. Das Beispiel des „Münchner Modells“ zeigt, wie trotz der herrschenden gesundheitspolitischen Rahmenbedingungen innovative und vergleichsweise teure Therapien über Direktverträge finanziert und in der Regelversorgung angeboten werden können. Dies gilt prinzipiell auch für innovative Pharmakotherapien, die außerhalb der engen Arzneimittelbudgets finanziert werden können, wenn sie nachweisbar zu Qualitätsverbesserungen und damit zu einer Senkung der Gesamtkosten führen.

Ergebnisse des „Münchner Modells“

Zusammenfassung

Inzwischen haben sich mehr als 500 Patienten, die an einer Schizophrenie oder an einer affektiven Störung leiden, in das Integrierte Münchner Versorgungsmodell eingeschrieben. Eine Zwischenauswertung bei 310 Patienten ergab in einem Prä/Post Vergleich (Tab. 4.4.2), dass die am Programm teilnehmenden Patienten in den 18 Monaten während des Compliance Programms 70 % weniger Krankenhaustage in Anspruch nehmen mussten als in den 18 Monaten vor Einschreibung. Dies führte – nach Abzug der Kosten des Compliance Programms – zu Netto Einsparungen von ca. 5000 € pro Patient (Tab. 4.4.2). Patienten und teilnehmende Ärzte zeigten sich in Befragungen hochzufrieden mit diesem neuen Versorgungsangebot und auch von Seiten der Krankenkassen wurde der ursprünglich auf 2 Jahre begrenzte Vertrag unbe-

Von vielen Therapeuten wird zu Recht beklagt, dass psychiatrischen Patienten unter den heutigen gesundheitspolitischen Rahmenbedingungen keine optimale Behandlung mehr angeboten werden kann. Die nicht mehr kostendeckenden Honorare für die ambulante Versorgung, die niederen Medikamentenbudgets, die kontinuierliche Verkürzung stationärer Behandlungszeiten und Streichungen bei den komplementären Diensten machten es zunehmend unmöglich, im Rahmen der Regelversorgung eine Leitlinien gerechte Therapie anzubieten. In dem vorliegenden Kapitel wird eine Möglichkeit aufgezeigt, wie man trotz dieser schwierigen Rahmenbedingungen eine optimale Behandlung anbieten kann und wie man durch Direktverträge mit den Krankenkassen auch die dafür erforderlichen Gelder bekom-

Tabelle 4.4.2: Einsparungen an Krankenhaustagen und Kosten durch das „Integrierte Münchner Versorgungsprogramm“ (Zwischenauswertung bei 310 Patienten mit ICD Diagnose F2 oder F3) Stationäre Behandlungstage 18 Monate vor Einschluss

16810

Stationäre Behandlungstage seit Einschluss

4811

Einsparung von

71 %

Einsparung pro Patient (Tagessatz von 250 €)

9676 €

Einsparung pro Patient und Jahr

6451 €

Kosten des Integrierten Versorgungsprogramms

1250 €

Nettoeinsparungen pro Patient pro Jahr

5201 €

212

men kann. Die gesetzliche Basis hierfür bietet der § 140 SGB V zur sog. „Integrierten Versorgung“, der leider von den Psychiatern noch viel zu wenig genutzt wird. Wie ein solches integriertes Versorgungsmodell konkret aussieht, wird am Beispiel des „Münchner Modells“ erläutert. In diesem neuen Versorgungsmodell ist es niedergelassenen Nervenärzten, Klinikern und Krankenkassen gemeinsam gelungen, für alle Beteiligten eine „Win-Win Situation“ herbei zu führen. Patienten und Angehörige bekommen ein deutlich verbessertes Leistungsangebot, die Leistungserbringer bekommen ein angemessenes extrabudgetäres Honorar für die Durchführung dieser zusätzlichen Leistungen und die Kostenträger sparen trotzdem mehr als 50 % ihrer bisherigen Kosten ein. Auch wenn dieses neue Gesetz – gerade in der Modellphase mit vielen konkurrierenden Vertragsformen – manche Abläufe etwas komplizierter macht und auch berufspolitisch nicht ganz unproblematisch ist (Meißner 2006), überwiegen aus unserer Sicht die Chancen, die es gerade für die Psychiatrie bietet, bei weitem. Erstmals seit der Psychiatrie-Enquete besteht wieder eine realistische Chance, neue Versorgungskonzepte in der Regelversorgung zu implementieren und dafür auch ausreichend Finanzmittel zu erhalten. Die Psychiatrie sollte diese Chance nutzen und das Feld (und die Finanzmittel!) nicht völlig den somatischen Fächern überlassen.

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5 Methodik

5.1 Klinische Prüfung T. Reum und K. Broich

5.1.1. Definition und Phasen der klinischen Prüfung Definition Als klinische Prüfung wird in Deutschland entsprechend der gesetzlichen Definition „jede am Menschen durchgeführte Untersuchung, die dazu bestimmt ist, klinische oder pharmakologische Wirkungen von Arzneimitteln zu erforschen oder nachzuweisen oder Nebenwirkungen festzustellen oder die Resorption, die Verteilung, den Stoffwechsel oder die Ausscheidung zu untersuchen, mit dem Ziel, sich von der Unbedenklichkeit oder Wirksamkeit der Arzneimittel zu überzeugen“, angesehen (§ 4 Abs. 23 Arzneimittelgesetz (AMG)). Anhand dieser Kriterien ist seit dem 6. August 2004 nach der 12. Novellierung des Arzneimittelgesetzes zu entscheiden, ob eine klinische Untersuchung der zustimmenden Bewertung durch eine Ethikkommission und der Genehmigung durch die zuständige Bundesoberbehörde bedarf (s. Kap. 5.1.2.). Ausgenommen von der Genehmigungspflicht sind sog. „nicht-interventionelle Prüfungen“, d. h. Arzneimittelanwendungen unter den jeweiligen Zulassungsbedingungen und entsprechend der üblichen Praxis, ohne

dass eine bestimmte Behandlungsstrategie zuvor in einem Prüfplan festgelegt wurde (§ 4 Abs. 23 AMG). Die Entscheidung zur Verordnung des Arzneimittels ist bei nicht-interventionellen Prüfungen klar von der Entscheidung getrennt, einen Patienten in eine Untersuchung einzubeziehen. Es darf hierbei kein zusätzliches Diagnose- oder Überwachungsverfahren auf die Patienten angewendet werden, und die Datenanalyse erfolgt mit epidemiologischen Methoden.

Phasen der klinischen Prüfung Bei der klinischen Arzneimittelentwicklung werden, beginnend mit der Erstanwendung eines Prüfpräparates am Menschen bis hin zur Marktzulassung eines Arzneimittels, drei Phasen unterschieden. In der Phase I (Humanpharmakologie) werden – zunächst an gesunden Probanden – grundsätzliche Informationen zur Sicherheit und Verträglichkeit sowie zur Pharmakokinetik und Pharmakodynamik einer Prüfsubstanz erhoben. Mitunter wird die Erstanwendung mit so genannten „Mikrodosen“ vorgenommen (CHMP/SWP/2599/02/Rev 1). Das bedeutet, dass weniger als ein Hundertstel der berechneten effektiven Dosis eingesetzt

216

wird. Diese und andere explorative Studien, die z. B. der Untersuchung bestimmter pharmakokinetischer und pharmakodynamischer Eigenschaften dienen, werden auch als „pre-phase-I“ bezeichnet oder als Phase 0 klassifiziert. Die klinischen Prüfungen in den Phasen II (explorative Phase) und III (konfirmatorische Phase) werden am Patienten in der beabsichtigten Indikation durchgeführt und dienen der Untersuchung der angestrebten pharmakologischen Wirkung und der Bestätigung der klinischen Wirksamkeit der entsprechenden Prüfsubstanz, sowie dem weiteren Nachweis einer adäquaten Sicherheit und Verträglichkeit. Nachdem ein Arzneimittel die Marktzulassung erhalten hat, erfolgen in der Phase IV (therapeutische Anwendung) weitere klinische Prüfungen im Rahmen der zugelassenen Indikationen.

Phase I: Humanpharmakologie In der Phase I finden in erster Linie Untersuchungen zur Sicherheit und Verträglichkeit eines Prüfpräparates und zu dessen Pharmakokinetik statt. Untersuchungen zur Pharmakodynamik beschränken sich in dieser Phase auf orientierende Studien zur Dosisfindung, meist anhand von Surrogatparametern. Neben den Untersuchungen zur Bioverfügbarkeit erfolgen in dieser Phase gezielte Studien, z. B. zum Einfluss der Nahrungsaufnahme auf die Wirkstoffresorption aus den Gastrointestinaltrakt, zur möglichen Beeinträchtigung von Stoffwechselund Ausscheidungsvorgängen bei Funktionsstörungen der Leber und Niere, sowie zu möglichen Wechselwirkungen mit anderen Arzneimitteln. Bei letzteren muss zwischen pharmakodynamischen und pharmakokinetischen Interaktionsstudien unterschieden werden. Die Notwendigkeit zu diesen gezielten Untersuchungen in der Phase I ergibt sich einerseits aus den präklinischen Daten zur Pharmakologie und Toxikologie und andererseits aus den Ergebnissen bisheriger klinischer Prüfungen. Beispielsweise wären bei Hinweisen auf mögliche Repolarisationsstörungen in der präklinischen Sicherheitsprüfung zusätzliche klinische Untersuchungen

5 Methodik

zur Evaluierung einer QT-/QTc-Verlängerung angezeigt (s. ICH-E14). Der Einschluss von Patienten in Phase-IPrüfungen erfolgt normalerweise erst, wenn die Prüfsubstanz an gesunden Probanden ausreichend klinisch getestet wurde. Bei bestimmten Substanzgruppen bzw. Wirkmechanismen, so z. B. bei Zytostatika, wäre eine klinische Prüfung an gesunden Probanden jedoch mit ethisch nicht vertretbaren Risiken verbunden. Daher werden hier auch für die Erstanwendung bereits Patienten eingeschlossen, für die keine Standardtherapie verfügbar bzw. indiziert ist. Klinische Prüfungen der Phase I werden in der Regel unter folgenden Gesichtspunkten durchgeführt: a) Initiale Bestimmung der Sicherheit und Verträglichkeit der Prüfsubstanz im relevanten Dosisbereich der weiteren klinischen Testung und darüber hinaus bis zur maximal tolerierbaren Dosis: Während bei der Erstanwendung zunächst eine Dosiseskalation in Form von Einmalapplikationen stattfindet, kommen nachfolgend auch Mehrfachapplikationen zum Einsatz. b) Untersuchung der Pharmakokinetik: Die primäre Charakterisierung der Wirkstoffexposition im zeitlichen Verlauf und dessen möglicher Beeinflussung ist ein wesentliches Ziel in Phase I unter verschiedenen Bedingungen, unter anderem um erste Hinweise zur möglichen Kumulation oder zur Interaktion von Wirkstoffen und damit zum Nebenwirkungspotential bei wiederholter und kombinierter Anwendung zu erhalten. c) Untersuchungen zur Pharmakodynamik: Erfasst werden können Surrogatparameter, insbesondere zur frühen Bestimmung des therapeutischen Dosis- bzw. Expositionsbereiches für die Phasen II und III durch simultane Erhebung von Daten zur gewünschten pharmakologischen Wirkung und von Parametern zur Pharmakokinetik. Die Studiendesigns dieser klinischen Prüfungen sind abhängig von den jeweiligen Fragestellungen und Studienzielen. Offene Studien-

217

5.1 Klinische Prüfung

designs sind möglich, aber im Sinne valider Datenerhebungen werden die Studien in der Regel doppelblind, randomisiert und kontrolliert durchgeführt.

Phase II: explorative Phase bzw. Phase der therapeutischen Erprobung Die Phase II beinhaltet initiale und weiterführende exploratorische Studien zur gezielten Untersuchung der therapeutischen Wirkung und Sicherheit bei ausgewählten Patienten in der beabsichtigten Indikation. Zweck der Phase-IIStudien ist die weitere Charakterisierung des zukünftigen Arzneimittels für die späteren konfirmatorischen Studien (Phase III), d. h. die Untersuchung der Dosis-Wirkungsbeziehung, die Optimierung des Dosierungsregimes, die Identifizierung von validen Studienendpunkten und Behandlungskonzepten (z. B. bestimmte Komedikationen) und die Identifizierung bzw. Eingrenzung von Zielpopulationen späterer Untersuchungen. Es wird häufig eine Unterteilung in Phase IIa und IIb vorgenommen, die insbesondere durch den zeitlichen Verlauf und die Anzahl der eingeschlossenen Patienten bestimmt ist (Phase IIa: früh, ca. 50-150 Patienten; Phase IIb: später, 150 bis maximal 500 Patienten).

Phase III: konfirmatorische Phase bzw. Phase des Wirksamkeitsnachweises Klinische Prüfungen in der Phase III dienen der Bestätigung der Wirksamkeit und Verträglichkeit des Arzneimittels für die jeweilige Zielindikation. Die Fortsetzung der Untersuchungen zur Dosis-Wirkungs-Beziehung, zu den Arzneimittelwirkungen in verschiedenen Stadien der Erkrankung und bei entsprechender Komedikation sowie zur Feststellung der Sicherheit bei wiederholter und chronischer Anwendung ermöglicht die Evaluierung des Nutzen-Risiko-Verhältnisses bei einer sehr großen Patientenpopulation. Bei chronischen Krankheiten erfolgen Studien zur Langzeitanwendung gewöhnlich in Phase III, können aber auch bereits in Phase II initiiert werden. In der Phase

III werden die Daten gewonnen, die die Wirksamkeit belegen und eine umfassende Charakterisierung des Arzneimittels ermöglichen. Anhand der klinischen Daten und Erfahrungen bei einer Anzahl von 2000 bis 5000 eingeschlossenen Patienten im Rahmen der klinischen Phasen II und III kann auch die Rate bestimmter Nebenwirkungen bis zu einer Häufigkeit von ca. 1:1000 ermittelt werden.

Phase IV: Phase der therapeutischen Anwendung nach Marktzulassung im Rahmen des bestimmungsgemäßen Gebrauchs Die Studien der Phase IV nach einer Marktzulassung des Arzneimittels haben ebenfalls klar definierte Zielkriterien, z. B. im Sinne der Untersuchung weiterer Arzneimittelinteraktionen, zur Sicherheit der Therapie bei Langzeitanwendung und zur weiteren Bestätigung der Wirksamkeit in der zugelassenen Indikation. Sie schließen des Öfteren epidemiologische Fragestellungen ein und haben vielfach den Zweck, die Arzneimittelanwendung weiter zu optimieren. Untersuchungen mit dem zugelassenen Arzneimittel zur Wirksamkeit in einer neuen Indikation (Zulassungserweiterung) sind dagegen als PhaseIIIb-Studien einzustufen.

5.1.2. Regularien zur Durchführung von klinischen Prüfungen in Deutschland Entwicklung von Normen und Regularien klinischer Prüfungen Obwohl es in zahlreichen Ländern schon viel früher Bestimmungen gab, die medizinische Eingriffe am Menschen zu Forschungszwecken einschränken und regeln sollten, gilt die Deklaration von Helsinki, beschlossen auf der 18. Generalversammlung des Weltärztebundes im Juni 1964, als internationale Grundlage heutiger ethischer Standards der biomedizinischen Forschung am Menschen. Es gab mehrere Revisionen dieses Dokumentes. Die letzte Revision

218

erfolgte im Jahre 2000 in Edinburgh, wurde aber trotz einer “Note for clarification on paragraph 29 added by the WMA General Assembly, Washington 2002“ nicht allgemein akzeptiert. Daher gilt der Text der 48. Generalversammlung in Somerset West (Südafrika) aus dem Jahre 1996 als derzeit gültige Version. Unter dem Begriff „Gute klinische Praxis“ (Good Clinical Practice; GCP) sind ethische und wissenschaftliche Standards für die Planung, Durchführung, Dokumentation und Berichterstattung von klinischen Prüfungen am Menschen zusammengefasst. Die Einhaltung dieser Normen im Sinne eines vorrangigen Schutzes von Prüfungsteilnehmern gemäß der Deklaration von Helsinki und einer hohen Qualität der erhobenen Studiendaten soll öffentliches Vertrauen in die medizinische Forschung schaffen und aufrechterhalten. Mit der Fertigstellung der ICH-GCP-Leitlinie E6 im Jahre 1996 wurden diese Standards international harmonisiert und in Europa zum 17. Januar 1997 für klinische Prüfungen, die der Arzneimittelzulassung dienen, verbindlich. Seit der Implementierung der Richtlinie 2001/20/EG durch die 12. Novelle des Arzneimittelgesetzes und die GCP-Verordnung am 6. und 9. August des Jahres 2004 sind die Standards der Guten Klinischen Praxis für jede klinische Prüfung zu beachten. Mit der 12. Novelle des Arzneimittelgesetzes wurde neben der bislang bereits erforderlichen Bewertung der klinischen Prüfung durch eine Ethikkommission auch ein Genehmigungsverfahren durch die zuständige Bundesoberbehörde (BfArM oder Paul-Ehrlich-Institut) etabliert (s. § 42 AMG). Eine komplette und systematische Auflistung aller damit verbundenen Voraussetzungen, Anforderungen und Besonderheiten ist an dieser Stelle nicht sinnvoll, es wird dafür auf das AMG (s. §§ 40–42) und die GCP-Verordnung (insbesondere § 7) verwiesen. Detaillierte Informationen zu allen Gesichtspunkten dieser umfassenden Regelung sind in der 3. Bekanntmachung zur klinischen Prüfung von Arzneimitteln am Menschen (BfArM und Paul-Ehrlich-Institut, 10. 08. 2006) zu finden. Hier sollen stattdessen in kurzer Form die wesentlichen Aufgaben und Verantwortlichkeiten der an der Durchführung und

5 Methodik

Bewertung beteiligten Institutionen bzw. Personen dargestellt werden.

Aufgaben und Verantwortlichkeiten des Prüfers Der für die Durchführung der klinischen Prüfung in einer Prüfstelle verantwortliche Arzt, in begründeten Ausnahmefällen kann auch ein Nicht-Mediziner diese Funktion ausüben, wird als Prüfer bezeichnet. Nach § 67 des AMG und §12 der GCP-Verordnung hat der Prüfer jede von ihm durchgeführte klinische Prüfung bei der zuständigen Länderbehörde anzuzeigen. Wird eine klinische Prüfung in einer Prüfstelle von mehreren Prüfern vorgenommen, so ist der verantwortliche Leiter der Gruppe der Hauptprüfer. Bei multizentrischen Studien wird vom Sponsor ein Prüfer als Leiter der klinischen Prüfung benannt. Der Hauptprüfer bzw. der Leiter der klinischen Prüfung hat für die Genehmigung der klinischen Prüfung bei der Bundesoberbehörde ebenso wie der Sponsor bzw. dessen Vertreter den Prüfplan unter Angabe bestimmter weiterer Daten zu unterschreiben (s. § 7 Abs. 2 GCP-Verordnung). Der Prüfer hat zahlreiche Melde- bzw. Mitteilungspflichten, die unter § 12 Abs. 3–7 der GCP-Verordnung aufgeführt sind (s. a. 5.1.3). Personenbezogene Daten sind dabei in jedem Fall zu pseudonymisieren. Die Beendigung der klinischen Prüfung in der jeweiligen Prüfstelle muss der zuständigen Länderbehörde innerhalb von 90 Tagen gemeldet werden, bei Abbruch oder Unterbrechung der Studie muss die Meldung innerhalb von 15 Tagen erfolgen (§ 12 Abs. 2 GCP-Verordnung).

Aufgaben und Verantwortlichkeiten des Sponsors einer klinischen Prüfung Aufgrund der neuen gesetzlichen Rahmenbedingungen ist für jede klinische Prüfung ein Sponsor mit Sitz in einem Mitgliedsstaat der EU oder einem Vertragsstaat des EWR zwingend erforderlich. Der Sponsor ist nach § 4 Abs. 24 AMG „eine natürliche oder juristische Person, die die Verantwortung für die Veranlas-

5.1 Klinische Prüfung

sung, Organisation und Finanzierung einer klinischen Prüfung bei Menschen übernimmt.“ Prüfer können, wenn sie selbst die Verantwortung für die Veranlassung, Organisation und Finanzierung einer klinischen Prüfung übernehmen, als Sponsoren fungieren, oder die (nichtkommerziellen) Einrichtungen, in denen die Prüfer tätig sind, übernehmen die Funktion des Sponsors. Die Probleme von Sponsoren in so genannten Prüfer-initiierten Studien sind u. a. in Beiträgen von Reinken (2004) und Boos (2005) beschrieben. Dem Sponsor obliegt die Einreichung des Genehmigungsantrages bei der zuständigen Bundesoberbehörde und des Antrages auf zustimmende Bewertung bei der zuständigen Ethik-Kommission mit Vorlage aller dafür erforderlichen Dokumente (s. § 40 AMG; § 7 Abs. 2–4 GCP-Verordnung). Von besonderer Bedeutung sind dabei die Ergebnisse der analytischen und der pharmakologisch-toxikologischen Prüfung, sowie der Prüfplan und die klinischen Angaben zum Arzneimittel einschließlich der Prüferinformation, die Unterlagen über Ergebnisse von bisher durchgeführten klinischen Prüfungen und eine zusammenfassende Nutzen-Risiko-Bewertung. Bei klinischen Prüfungen mit Arzneimitteln, die in der EU zugelassen sind, ist statt dessen bei zulassungsgemäßer Anwendung die Vorlage der entsprechenden Fachinformation (Summary of product characteristics, SmPC) ausreichend (s. § 7 Abs. 5 GCP-Verordnung). Welche zusätzlichen Daten bei einer Anwendung außerhalb der Zulassung vorzulegen sind, ist ebenfalls in der GCP-Verordnung geregelt und im Detail auch in der 3. Bekanntmachung zur klinischen Prüfung von Arzneimitteln am Menschen dargelegt. Möchte der Sponsor Änderungen der genehmigten klinischen Prüfung vornehmen, die sich z. B. auf die Sicherheit der Prüfungsteilnehmer auswirken oder die wissenschaftlichen Grundlagen der Prüfung bzw. deren wissenschaftliche Aussagekraft beeinflussen, so ist dafür wiederum eine zustimmenden Bewertung der Etikkommission und eine Genehmigung durch die Bundesoberbehörde erforderlich (§ 10 GCP-Verordnung). Wesentliche Änderungen

219

bei der Leitung oder Durchführung der Studie, der Qualität oder Unbedenklichkeit der Prüfpräparate bzw. bei der Risikobewertung gentechnisch veränderter Organismen müssen ebenfalls zustimmend bewertet und genehmigt werden. Weiterhin ist die Einhaltung der GCPAnforderungen vom Sponsor zu verantworten und in Form von Monitorings sowie durch Audits zu überprüfen. Der Sponsor unterliegt auch im Rahmen der Pharmakovigilanz zahlreichen Meldepflichten (s. 5.1.3). Er hat alle mitgeteilten unerwünschten Ereignisse ausführlich zu dokumentieren und den zuständigen Behörden auf Anforderung pseudonymisiert zu übermitteln. Meldungen zu Verdachtsfällen auf unerwartete schwerwiegende unerwünschte Arzneimittelwirkungen (Suspected Unexpected Serious Adverse Drug Reactions; SUSARs) sind innerhalb kurzer Fristen umfassend zu melden (s. 5.1.3). Sofern aufgrund von unerwünschten Ereignissen Maßnahmen zum Schutz vor unmittelbarer Gefahr ergriffen werden, unterrichtet der Sponsor die zuständige Bundesoberbehörde und Ethik-Kommission darüber im Detail (§ 11 GCP-Verordnung). Weiterhin hat er diesen Institutionen gegenüber einmal jährlich oder auf Verlangen eine Liste aller während der Prüfung aufgetretenen Verdachtsfälle schwerwiegender Nebenwirkungen sowie einen Bericht über die Sicherheit der betroffenen Personen vorzulegen und die Beendigung der Klinischen Prüfung innerhalb von 90 Tagen anzuzeigen. Wurde die klinische Prüfung durch den Sponsor abgebrochen oder unterbrochen, erfolgt die Unterrichtung innerhalb von 15 Tagen unter Angabe der Gründe für den Abbruch oder die Unterbrechung. Der Sponsor übermittelt der zuständigen Bundesoberbehörde und der zuständigen Ethik-Kommission innerhalb eines Jahres nach Beendigung der klinischen Prüfung eine Zusammenfassung des Berichts über die klinische Prüfung, der alle wesentlichen Ergebnisse der klinischen Prüfung abdeckt, und stellt sicher, dass die wesentlichen Unterlagen der klinischen Prüfung einschließlich der Prüfbögen nach der Beendigung oder dem Abbruch der Prüfung mindestens zehn Jahre aufbewahrt werden.

220

Aufgaben und Verantwortlichkeiten der Ethikkommission Die Ethik-Kommission ist ein unabhängiges Gremium aus im Gesundheitswesen und in nichtmedizinischen Bereichen tätigen Personen, deren Aufgabe es ist, die Rechte, die Sicherheit und das Wohl der Prüfungsteilnehmer zu schützen. Hierzu bewertet sie unter anderem den Prüfplan, die Eignung des/der Prüfer(s), die Angemessenheit der Einrichtungen sowie das Informationsmaterial und die Methoden, die zur Unterrichtung der betroffenen Prüfungsteilnehmer und zur Erlangung ihrer Einwilligung nach Aufklärung benutzt werden. Die zustimmende Bewertung erfolgt bei einer monozentrischen klinischen Prüfung durch die nach Landesrecht für den Prüfer bzw. Hauptprüfer zuständige Ethikkommission. Multizentrische klinische Prüfungen bewertet die für den Leiter der klinischen Prüfung zuständige Ethik-Kommission federführend und im Benehmen mit den weiterhin beteiligten Ethik-Kommissionen. Von diesen ist die Qualifikation der Prüfer und die Eignung der Prüfstellen in ihrem Zuständigkeitsbereich zu prüfen und der federführenden Ethik-Kommission innerhalb von 30 Tagen mitzuteilen. Die zustimmende Bewertung der Ethik-Kommission darf nach § 42 AMG nur versagt werden, wenn 1. die vorgelegten Unterlagen auch nach Ablauf einer dem Sponsor gesetzten angemessenen Frist zur Ergänzung unvollständig sind, 2. die vorgelegten Unterlagen einschließlich des Prüfplans, der Prüferinformation und der Modalitäten für die Auswahl der Prüfungsteilnehmer nicht dem Stand der wissenschaftlichen Erkenntnisse entsprechen, insbesondere die klinische Prüfung ungeeignet ist, den Nachweis der Unbedenklichkeit oder Wirksamkeit eines Arzneimittels einschließlich einer unterschiedlichen Wirkungsweise bei Frauen und Männern zu erbringen, oder 3. die in § 40 und 41 des AMG geregelten allgemeinen und besonderen Anforderungen nicht erfüllt sind.

5 Methodik

Die federführende Ethik-Kommission bestätigt dem Sponsor innerhalb von zehn Tagen den Antragseingang und fordert ihn ggf. auf, Formmängel innerhalb von 14 Tagen zu beheben. Die federführende Ethik-Kommission hat ihre Entscheidung bei multizentrischen Studien innerhalb von 60 Tagen zu übermitteln, diese Fristen können aber unter bestimmten Voraussetzungen bis auf 14 Tage verkürzt sein. Bei Zelltherapeutika und Arzneimitteln, die gentechnisch veränderte Organismen enthalten, kann die Frist auf 90–180 Tage verlängert sein.

Aufgaben und Verantwortlichkeiten der Bundesoberbehörde Die in Deutschland jeweils zuständige Bundesoberbehörde, entweder das Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) in Bonn oder das Paul-Ehrlich-Institut (PEI) in Langen, führt eine Prüfung auf formale Vollständigkeit der Antragsunterlagen durch und bewertet die Ergebnisse der analytischen und der pharmakologisch-toxikologischen Prüfung, sowie den Prüfplan und die klinischen Angaben zum Prüfpräparat einschließlich der Prüferinformation unter inhaltlichen Gesichtspunkten. Die Genehmigung der klinischen Prüfung darf nach § 42 Abs. 2 AMG darf nur versagt werden, wenn 1. die vorgelegten Unterlagen auch nach Ablauf einer dem Sponsor gesetzten angemessenen Frist zur Ergänzung unvollständig sind, 2. die vorgelegten Unterlagen, insbesondere die Angaben zum Arzneimittel und der Prüfplan einschließlich der Prüferinformation nicht dem Stand der wissenschaftlichen Erkenntnisse entsprechen, insbesondere die klinische Prüfung ungeeignet ist, den Nachweis der Unbedenklichkeit oder Wirksamkeit eines Arzneimittels einschließlich einer unterschiedlichen Wirkungsweise bei Frauen und Männern zu erbringen, oder 3. die in § 40 Abs. 1 Satz 3 Nr. 1 (Vorhandensein eines Sponsors oder Vertreters in der EU oder in einem Vertragsstaat des Europäischen Wirtschaftsraumes), 2 (ärztliche Ver-

221

5.1 Klinische Prüfung

tretbarkeit der vorhersehbaren Risiken und Nachteile gegenüber dem konkreten und allgemeinen Nutzen) und 6 des AMG (adäquate pharmakologisch-toxikologische Prüfung) nicht erfüllt sind. Bei xenogenen Zelltherapeutika gibt es weitere Versagungsgründe. Die Genehmigung gilt als erteilt, wenn die zuständige Bundesoberbehörde innerhalb von 30 Tagen nach Antragseingang keine mit Gründen versehenen Einwände übermittelt. Für bestimmte Kategorien von Prüfpräparaten sind Fristverlängerungen auf 60 Tage oder mehr bzw. explizite Genehmigungsverfahren vorgesehen. Der Sponsor muss die Einwände der Bundesoberbehörde innerhalb einer Frist von höchstens 90 Tagen ausräumen, ansonsten gilt der Antrag als abgelehnt. Die vom Sponsor gemeldeten Pharmakovigilanzdaten werden durch die Bundesoberbehörde bewertet, und nationale SUSAR-Meldungen werden an die bei der EMEA eingerichtete Eudravigilanz-Datenbank weitergeleitet. Wenn nachträglich Versagungsgründe bekannt werden oder Tatsachen eintreten, die eine Versagung rechtfertigen würden, wird der Sponsor aufgefordert, hierzu innerhalb von einer Woche Stellung zu nehmen. Nach der Bewertung der Stellungnahme und der Daten durch die Bundesoberbehörde ist entsprechend § 42a des AMG ggf. über eine mögliche Rücknahme, den Widerruf oder ein Ruhen der Genehmigung zu entscheiden. Die Einhaltung von GCP-Standards kann von der Bundesoberbehörde oder der zuständigen Länderbehörde in Form von GCP-Inspektionen überprüft werden. Entsprechend den rechtlichen Grundlagen werden drei Arten von GCP-Inspektionen unterschieden. Während Inspektionen im Rahmen der Überwachung bereits laufender oder abgeschlossener klinischer Prüfungen nach § 64 Abs. 1 des AMG routinemäßig von den zuständigen Länderbehörden durchgeführt werden, können im Vorfeld der Genehmigung von klinischen Prüfungen oder von deren Änderungen Inspektionen durch die zuständige Bundesoberbehörde (sog. prestudy GCP-inspections) durchgeführt werden.

Auch im Zusammenhang mit dem Marktzulassungsverfahren für Arzneimittel können GCPInspektionen klinischer Prüfungen durch die Bundesoberbehörde erfolgen (sog. pre- oder post-approval inspections). Bis zum 12. 12. 2007 sind beim BfArM 3521 Anträge auf Genehmigung klinischer Prüfungen eingegangen, davon wurden ca. 20–25 % von nicht-kommerziellen Sponsoren, in der Regel universitären Forschungseinrichtungen, eingereicht. In einer Querschnittsanalyse dieser Gesamtdaten entfielen 633 Anträge (18 %) auf den ATC-Code N1-N7. 437 Anträge (13,4 %) entfielen auf klinische Prüfungen mit Neuro- und Psychopharmaka im engeren Sinne (ATC-Code N3-N7), und der Anteil nichtkommerzieller Sponsoren betrug hier 19,5 %. Die häufigsten Indikationen dieser Studien mit Neuro- und Psychopharmaka waren Depression (11,4 %), Schizophrenie (8,5 %), Morbus Parkinson (8,1 %), Epilepsie (7,3 %) und ADHS bzw. Angststörungen mit einem Anteil von jeweils 3,2 %.

5.1.3. Sicherheit bei klinischen Prüfungen Sicherheitsbewertung vor der Erstanwendung am Menschen Der Schutz der Prüfungsteilnehmer hat oberste Priorität bei allen klinischen Prüfungen. Daher ist eine Risikobewertung des Prüfpräparates anhand der pharmakologisch-toxikologischen Substanzeigenschaften und der verfügbaren klinischen Daten vor einer Genehmigung unabdingbar. Vor der Erstanwendung am Menschen muss die Sicherheitsbewertung ausschließlich anhand von präklinischen Daten, die an biologischen Testsystemen bzw. an Versuchstieren gewonnen wurden, erfolgen. Die Anforderungen an die präklinischen Sicherheitsprüfungen für klinische Studien sind international harmonisiert (ICH M3(M)). Nach den schweren Zwischenfällen bei der Erstanwendung des Prüfpräparates TGN 1412 beim Menschen am 13. März 2006 mit lebensbedrohlichen Nebenwirkungen bei sechs gesunden Probanden sind

222

in der Öffentlichkeit große Zweifel an der Sicherheit klinischer Prüfungen und an der Vorhersagbarkeit solcher Substanzeffekte durch die präklinische Testung erhoben worden. Die kritische Analyse dieses Falles, unter anderem durch eine britische Expertengruppe (Expert group on phase one clinical trials, 2006) und durch Wissenschaftler des Paul-Ehrlich-Institutes (Schneider et al. 2006), ergab zahlreiche Vorschläge, um derartige schwerwiegende Zwischenfälle in Zukunft möglichst zu vermeiden. In einer neuen Leitlinie des CHMP (EMEA/ CHMP/SWP/294648/2007) wurden Kriterien festgelegt, um Substanzen, die vergleichbar schwere Nebenwirkungen hervorrufen können, möglichst eindeutig zu identifizieren und die erforderliche präklinische Sicherheitsprüfung entsprechend dem Risikoprofil zu erweitern. Die Berechnung der Startdosis für derartige Substanzen soll nicht mehr allein anhand der Toxizität auf Basis des sog. no observed adverse effect level (NOAEL) erfolgen. Nach Möglichkeit sollte bei deren Erstanwendung auch keine pharmakologische bzw. biologische Wirkung auftreten. Die Startdosis sollte daher anhand des sog. minimal anticipated biological effect level (MABEL) berechnet werden. Weiterhin ist es notwendig, die Exposition der Prüfsubstanz beim Menschen anhand der verfügbaren präklinischen Daten so genau wie möglich zu extrapolieren und die Dosisschritte entsprechend anzupassen. Von klinischer Seite muss alles getan werden, um anhand des Prüfplans (z. B. hinsichtlich von Kohortengröße, Dosissteigerung und Abbruchkriterien) eine Gefährdung der Probanden zu vermeiden und im Bedarfsfall schnell intensivtherapeutische Behandlungsmaßnahmen einleiten zu können. Vorgesehen ist ein sequenzielles Studiendesign für die Erstanwendung mit einer begrenzten Anzahl von Probanden pro Dosiskohorte, was verhindert, dass simultan mehr als ein Proband eine noch ungetestete Dosis appliziert bekommt. Da die pharmakodynamischen Wirkungen bei gesunden Probanden und bei Patienten unterschiedlich sein können, sind die Ein- und Ausschlusskriterien für den Zustand „gesund“ möglichst konkret und eng zu fassen und die Abbruchkriterien auch qualitativ exakt festzulegen.

5 Methodik

Im Jahre 2008 wurde ein überarbeiteter und erweiterter Entwurf der ICH-Leitlinie M3 (R2) zur Kommentierung vorgelegt, der insbesondere auch die Frage der sicheren Erstdosis beim Menschen aufgreift und neue Regelungen für eine flexiblere Prüfung von Arzneimitteln in der frühesten Phase (pre-phase-I, hier als Exploratory Clinical Studies bezeichnet) beinhaltet.

Sicherheitsbewertung für klinische Prüfungen nach der Erstanwendung Durch eine schrittweise Dosiseskalation, die primäre Verabreichung von Einzeldosen vor einer wiederholten Substanzgabe und die zunächst nahezu ausschließliche Applikation bei gesunden Probanden (zu Ausnahmen s. Kap. 5.1.1) soll das Prüfprüfpräparat in mehreren Stufen eingehend pharmakologisch getestet werden, bevor bestimmte Funktionsstörungen und Arzneimittelwechselwirkungen untersucht und das Prüfpräparat in der Phase II auch gezielt bei Patienten eingesetzt wird. Besonderes Augenmerk gilt in diesen Studien der Frage, welche Relevanz präklinisch identifizierte Sicherheitsrisiken bei einer geplanten klinischen Anwendung über längere Zeiträume haben können. Hierbei spielen sowohl qualitative Aspekte (z. B. Sicherheitsüberwachung bei identifizierter Organtoxizität im Versuchstier) als auch quantitative Gesichtspunkte (Höhe der Sicherheitsabstände, mögliche Kumulationseffekte bei wiederholter Verabreichung) eine Rolle. Die Sicherheitsbewertung erfolgt in den Phasen II und III mehr und mehr anhand einer konkreten Nutzen-Risiko-Abwägung aus klinischer Sicht. Die therapeutische Dosis lässt sich anhand expositionsbasierter Daten zur Sicherheit und zur Wirkung einer Prüfsubstanz gut eingrenzen und begründen. Anhand beobachteter Nebenwirkungen bzw. unerwünschter Ereignisse und klinischer Fragestellungen lassen sich die Zielpopulationen der Studie exakt definieren und begründen sowie spezifische Anforderungen an die Sicherheitsüberwachung ableiten. Bei möglichen Wechselwirkungen sind gegebenenfalls Begleitmedikationen auszuschließen und entsprechende Abbruchkriterien festzulegen. Je nach Stand der präklinischen und klinischen

5.1 Klinische Prüfung

Entwicklung können (und sollen) auch Frauen und Kinder in klinische Prüfungen eingeschlossen werden, wenn die entsprechenden Voraussetzungen dafür erfüllt sind. Für den Einschluss von Minderjährigen und von nichteinwilligungsfähigen Erwachsenen als Prüfungsteilnehmer sind besondere Voraussetzungen zu erfüllen, die sich aus den Artikeln 4 und 5 der Richtlinie 2001/20/ EG ergeben und im § 41 des AMG geregelt sind.

Pharmakovigilanz bei klinischen Prüfungen Der Sponsor ist für die laufende Sicherheitsbewertung der klinischen Prüfung und des Prüfpräparates verantwortlich. Wenn neue unerwartete Umstände die Sicherheit von Prüfungsteilnehmern beeinträchtigen können, sind durch Prüfer und Sponsor unverzüglich alle gebotenen Maßnahmen zu deren Schutz vor unmittelbarer Gefahr zu treffen (§ 11 der GCPVerordnung). Hierzu gehört auch, dass vom Sponsor für Notfallsituationen ein Verfahren zur unverzüglichen Entblindung mit adäquater Identifizierung und gegebenenfalls sofortiger Rücknahme der Prüfpräparate etabliert wird (§ 6 GCP-Verordnung). Um die laufende Sicherheitsbewertung in verblindeten klinischen Prüfungen zu ermöglichen, ist die Einrichtung eines unabhängigen sog. Data Monitoring Committees (DMC, syn. Data (Safety) Monitoring Board) in bestimmten Fällen sinnvoll (s. Guideline on data monitoring committees; EMEA/ CHMP/EWP/5872/03 Corr). Ein DMC besteht aus unabhängigen Experten verschiedener Disziplinen, die außerhalb der eigentlichen klinischen Prüfung deren Fortgang, Sicherheitsdaten und, falls nötig, auch kritische Endpunkte zur Wirksamkeit anhand entblindeter Daten bewerten und dem Sponsor dann Empfehlungen hinsichtlich der Änderung, der Fortsetzung oder des Abbruchs einer klinischen Prüfung geben können. In den meisten Fällen ist die Sicherheitsüberwachung aber die Hauptaufgabe eines DMC. Fragen der Verantwortlichkeiten, der Organisationsstruktur, des Zeitplans und der Kommunikationswege sind vorab exakt festzulegen und sollten bei Antragstellung der klinischen Prüfung nach Möglichkeit auch dem

223

Prüfplan als DMC-Charta beigelegt werden. Verantwortlichkeiten, die Prüfer und Sponsor für die klinische Prüfung haben, können jedoch nicht auf das DMC übertragen werden. Für die Erfassung und Bewertung von Nebenwirkungen bzw. unerwünschten Ereignissen während einer klinischen Prüfung ist es notwendig, diese Ereignisse zu klassifizieren (s. ICH E2A). Für den in Deutschland gebräuchlichen Begriff „Nebenwirkung“ (englisch: side effect) wird international der treffendere Terminus „adverse drug reaction“ verwendet. Beide Begriffe sind nicht synonym zu verwenden, weil vielfach nicht nur unerwünschte sondern zum Teil auch erwünschte Arzneimittelreaktionen als Nebenwirkung bezeichnet werden. Der hier im Text vorrangig verwendete Begriff „unerwünschte Arzneimittelwirkung“ ist aber in zahlreichen Dokumenten einschließlich der GCP-Verordnung weiterhin als „Nebenwirkung“ aufgeführt. Als unerwünschtes Ereignis (Adverse Event (AE)) wird jedes ungünstige medizinische Vorkommnis bezeichnet, das bei einem Patienten oder Prüfungsteilnehmer nach Verabreichung eines Arzneimittels auftritt und das nicht unbedingt in ursächlichem Zusammenhang mit dieser Behandlung steht. Es kann daher jede ungünstige und unbeabsichtigte Reaktion, jedes Symptom oder jede vorübergehend mit der Verabreichung eines Prüfpräparates einhergehende Erkrankung sein. Unerwünschte Ereignisse sind, sofern sie im Prüfplan für die Bewertung der klinischen Prüfung als entscheidend bezeichnet sind, vom Prüfer innerhalb der festgelegten Frist an den Sponsor zu melden (s. § 12 Abs. 5 GCP-Verordnung). Wenn das Prüfpräparat gentechnisch veränderte Organismen enthält, ist der Sponsor über Beobachtungen möglicher schädlicher Auswirkungen auf die Gesundheit nicht betroffenen Personen und auf die Umwelt unverzüglich zu unterrichten (s. § 12 Abs. 7 GCP-Verordnung). Der Sponsor hat alle mitgeteilten unerwünschten Ereignisse zu dokumentieren und den zuständigen Behörden auf Anforderung zu übermitteln. Als unerwünschte Arzneimittelwirkungen (Adverse Drug Reactions (ADR)) werden im

224

Rahmen der gesammelten klinischen Erfahrungen alle schädlichen und unbeabsichtigten Reaktionen mit einem Prüfpräparat bzw. Arzneimittel bezeichnet, und zwar unabhängig von der verwendeten Dosis. Bei zugelassenen Arzneimitteln werden jedoch nur die Wirkungen erfasst, die bei üblicherweise verwendeten Dosierungen auftreten. Im Unterschied zum unerwünschten Ereignis wird hier ein ursächlicher Zusammenhang zwischen einem Arzneimittel und einem unerwünschten Ereignis zumindest als möglich angesehen. Eine unerwartete unerwünschte Arzneimittelwirkung (Unexpected Adverse Drug Reaction) ist eine unerwünschte Wirkung, die nach Art, Häufigkeit und Schweregrad aufgrund der vorliegenden Produktinformation (z. B. Prüferinformation für ein nicht zugelassenes Prüfpräparat oder Gebrauchs- und Fachinformation/SmPC) nicht zu erwarten ist. Als schwerwiegendes unerwünschtes Ereignis (Serious Adverse Event (SAE) oder Serious Adverse Drug Reaction (Serious ADR)) wird jedes unerwünschte medizinische Ereignis bezeichnet, das unabhängig von der Dosis  zum Tode führt, oder  lebensbedrohlich ist, oder  eine stationäre Behandlung des Prüfungsteilnehmers oder eine Verlängerung des stationären Aufenthaltes erforderlich macht, oder  zu bleibenden oder signifikanten Schäden bzw. Behinderungen führt, oder  eine angeborene Missbildung bzw. einen Geburtsfehler darstellt. Es muss hierbei erwähnt werden, dass die englischen Termini severe und serious in diesem Zusammenhang unterschiedliche Bedeutungen haben. Die Bezeichnung severe wird oft benutzt, um die Intensität eines Befundes zu beschreiben (z. B. leicht, moderat oder schwer = severe), während die Bezeichnung serious auf die oben aufgeführten Folgereaktionen des unerwünschten Ereignisses zielt und für die Einstufung des Ereignisses ausschlaggebend ist. Jedes schwerwiegende unerwünschte Ereignis (SAE) mit Ausnahme derer, über die lt.

5 Methodik

Prüfplan nicht berichtet werden muss, hat der Prüfer dem Sponsor unverzüglich zu melden und anschließend im Detail darüber zu berichten (s. § 12 Abs. 4 GCP-Verordnung). Im Falle des Todes eines Prüfungsteilnehmers sind den zuständigen Behörden und der Ethik-Kommissionen alle notwendigen Auskünfte, selbstverständlich in pseudonymisierter Form, zur Verfügung zu stellen (s. § 12 Abs. 6 GCP-Verordnung). Die Kombination der zuletzt aufgeführten Ereignisse ergibt den Verdachtsfall einer schwer wiegenden unerwarteten unerwünschten Arzneimittelwirkung (Suspected Unexpected Serious Adverse Drug Reaction; SUSAR). Jeder SUSAR-Verdachtsfall ist vom Sponsor in der dafür vorgegebenen Frist (spätestens innerhalb von 15 Tagen, bei Todesfällen oder lebensbedrohlichen Nebenwirkungen innerhalb von 7 Tagen) der zuständigen Ethikkommission, der zuständigen Bundesoberbehörde und den entsprechenden Behörden anderer EU-Mitgliedstaaten zu melden. Den an der Prüfung beteiligten Prüfern sind dabei alle für die Bewertung wichtigen Informationen und innerhalb von höchstens acht weiteren Tagen alle weiteren relevanten Informationen zu übermitteln. Die zuständige Ethikkommission und Bundesoberbehörde, sowie die entsprechenden Behörden anderer EU-Mitgliedstaaten sind ferner über jeden Sachverhalt, der eine erneute Überprüfung der Nutzen-Risiko-Bewertung des Prüfpräparates erfordert, zu unterrichten. Hierzu gehören insbesondere Einzelfallberichte von erwarteten schwerwiegenden Nebenwirkungen mit einem unerwarteten Ausgang, eine Erhöhung der Häufigkeit erwarteter schwerwiegender Nebenwirkungen, die als klinisch relevant bewertet wird, Verdachtsfälle schwerwiegender unerwarteter Nebenwirkungen, die nach Beendigung der klinischen Prüfung auftraten, sowie andere Ereignisse im Zusammenhang mit der Studie oder dem Prüfpräparat, die möglicherweise die Sicherheit der betroffenen Personen beeinträchtigen können. Darüber hinaus sind im sog. Jahressicherheitsbericht (Annual Safety Report, ASR) vom Sponsor während der Dauer der klinischen Prüfung einmal jährlich oder auf Verlangen

Literatur

alle Verdachtsfälle von SAEs und ein Bericht über die Sicherheit der betroffenen Personen vorzulegen (s. § 13 Abs. 6 GCP-Verordnung). Die formalen Anforderungen für diesen Bericht sind der ENTR/CT3-Leitlinie zu entnehmen. Für diese Jahresberichte ist auch ggf. eine Zusammenfassung mehrerer klinischer Prüfungen möglich. Inhaltlicher Schwerpunkt der Bewertung ist die Frage, ob sich das NutzenRisiko-Verhältnis im jeweiligen Berichtszeitraum verändert hat, und welche Konsequenzen sich daraus für die laufende klinische Prüfung ergeben.

Literatur/Weblinks RICHTLINIE 2001/20/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 4. April 2001 zur Angleichung der Rechts- und Verwaltungsvorschriften der Mitgliedsstaaten über die Anwendung der guten klinischen Praxis bei der Durchführung von klinischen Prüfungen mit Humanarzneimitteln (ABl. L 121/34 vom 1. 5. 2001): www.meduni-graz.at/ethikkommission/Forum/ Download/Files/2001_20_EG.pdf ARZNEIMITTELGESETZ – AMG (Arzneimittelgesetz in der Fassung der Bekanntmachung vom 12. Dezember 2005 (BGBl. I S. 3394), zuletzt geändert durch Artikel 9 Abs. 1 des Gesetzes vom 23. November 2007 (BGBl. I S. 2631)): http://bundesrecht.juris.de/ amg_1976/index.html DEKLARATION VON HELSINKI (Deklaration des Weltärztebundes von Helsinki: Ethische Grundsätze für die medizinische Forschung am Menschen) deutsche Fassung: www.bundesaerztekammer.de/downloads/ 92Helsinki.pdf GCP-VERORDNUNG vom 09. 08. 2004 (Verordnung über die Anwendung der Guten Klinischen Praxis bei der Durchführung von klinischen Prüfungen mit Arzneimitteln zur Anwendung am Menschen): http://bundesrecht-juris.de/bundesrecht/gcp-v/ gesamt.pdf 3. BEKANNTMACHUNG zur klinischen Prüfung von Arzneimitteln am Menschen, Version vom 10. August 2006: www2.bfarm.de/bekanntmachungen/3bk_kp.pdf; EMEA: Position paper on non-clinical safety studies to support clinical trials with a single microdose

225 (CPMP/SWP/2599/02/REV 1): www.emea.europa.eu/ pdfs/human/swp/259902en.pdf EMEA: Guideline on data monitoring committees (EMEA/CHMP/EWP/5872/03 Corr): http://www. emea.europa.eu/pdfs/human/ewp/587203en.pdf EMEA: Guideline on strategies to identify and mitigate risks for first-in-human clinical trials with investigational medicinal products (EMEA/CHMP/ SWP/294648/2007): www.ccd.org.cn/ccd/fs/ web_editfile/20070731113608.pdf EUROPEAN COMMISSION: Detailed guidance on the collection, verification and presentation of adverse reaction reports arising from clinical trials on medicinal products for human use (ENTR/CT3): http://ec.europa.eu/enterprise/pharmaceuticals/ eudralex/vol-10/21_susar_rev2_2006_04_11.pdf EXPERT GROUP on Phase One Clinical Trials: Final report (30. 11. 2006): http://www.dh.gov.uk/en/Publicationsandstatistics/Publications/PublicationsPolicyAndGuidance/ DH_063117 ICH E 2 A: Note for guidance on clinical safety data management: definitions and standards for expedited reporting (CPMP/ICH/377/95): www.emea.europa.eu/pdfs/human/ ich/037795en.pdf ICH E6: Note for guidance on good clinical practise (CPMP/ICH/135/95): www.emea.europa.eu/pdfs/ human/ich/013595en.pdf ICH E8: Note for guidance on general considerations for clinical trials (CPMP/ICH/291/95): www.emea.europa.eu/pdfs/human/ich/ 029195en.pdf ICH E14: Note for guidance on the clinical evaluation of QT/QTc interval prolongation and proarrhythmic potential for non-arrhythmic drugs (CHMP/ ICH/2/04): http://www.emea.europa.eu/pdfs/human/ ich/000204en.pdf ICH M3(M): Note for guidance on non-clinical safety studies for the conduction of human clinical trials for pharmaceuticals (CPMP/ICH/286/95): www.emea.europa.eu/pdfs/human/ ich/028695en.pdf ICH M3(R2) Note for guidance on non-clinical safety studies for the conduction of human clinical trials and marketing authorization for pharmaceuticals (CPMP/ICH/286/95): http://www.emea.europa.eu/pdfs/human/ich/ 028695endraft.pd

226

5 Methodik

Literatur BOOS J (2005) Anforderungen an die klinische Prüfung von Arzneimitteln am Menschen und an die nichtkommerzielle Therapieforschung in der EU: Herausforderungen, Chancen und Fragen aus der Sicht der Kliniken. Bundesgesundheitsbl-Gesundheitsforsch-Gesundheitsschutz 48: 196–203

REINKEN U S (2004) Die neue Rolle des „Sponsors“; A 91–93 Dtsch Ärztebl 101: A-91 (Langfassung: http://www.aerzteblatt.de/v4/plus/down. asp?typ=PDF&id=1241) SCHNEIDER CK, K ALINKE U, LÖWER J (2006) TGN1412 – A regulator’s perspective. Nat Biotechnol 24: 493–496

5.2 Ratingskalen und Interviews in der Psychopharmakotherapie R. D. Stieglitz

5.2.1 Einleitung Im Kontext der Psychopharmakotherapie spielen diagnostische Instrumente seit jeher eine wichtige Rolle, sei es zur diagnostischen Einordnung eines Patienten nach einem Klassifikationssystem, oder zur Schweregradbestimmung psychopathologischer Syndrome im Querschnitt wie im Verlauf. Zu beiden Zwecken finden vor allem Ratingskalen und Interviews Anwendung. Unter einer Ratingskala (engl. to rate = estimate or worth of; rating = (Ein-)schätzung) versteht man allgemein eine Beurteilungsskala. Der Begriff wird jedoch oft auch als Oberbegriff für verschiedene Aspekte von Beurteilungen verwendet (z. B. für die Antwortkategorien einer Beurteilungsskala: nicht vorhanden-leichtmittel-schwer). Nachfolgend soll der Begriff Ratingskala eingegrenzt werden auf Selbst- und Fremdbeurteilungsverfahren. Ein Selbstbeurteilungsverfahren (Synonyme: Selbstbeurteilungsskala, Selbstratingskala; engl. self-rating scale) ist ein Verfahren, bei dem der gesamte Beurteilungsprozess auf Seiten des Patienten liegt. Demgegenüber versteht man unter einem Fremdbeurteilungsverfahren (Synonyme: Ratingskala, Fremdbeurteilungsskala; engl. observer rating scale, oft auch nur als rating scale bezeichnet)

ein Verfahren, bei dem der Bewertungsprozess auf Seiten eines unabhängigen Urteilers liegt, wobei er eigene Beobachtungen (oder Dritter) und Aussagen des Patienten einbezieht. Unter einem Interview versteht man zielgerichtete menschliche Interaktionen zwischen zwei Personen (Befrager und Befragtem) mit dem Ziel der Informationssammlung über verschiedene Aspekte des Erlebens und Verhaltens des Befragten. Im Hinblick auf z. B. Klassifikationssysteme bedeutet dies die Bereitstellung von Befragungsstrategien zur Informationssammlung zu den in Diagnosensystemen enthaltenen Kriterien (Symptom-, Zeit- und Verlaufskriterien; Ein- und Ausschlusskriterien). In Bezug auf Ratingskalen beinhalten Interviews die Zusammenstellung von Fragen zur Erfassung der jeweiligen psychopathologischen Symptome. Ziel des nachfolgenden Beitrages ist es, einen Überblick zu Verfahren in der Psychopharmakotherapie zu geben, die sich in der Praxis wie Forschung bewährt haben.

5.2.2 Assessmentziele Der Anwendung von diagnostischen Instrumenten in der Psychopharmakotherapie kommt

228

5 Methodik

vielfältige Funktionen zu (vgl. auch Stieglitz 2008). Interviews haben die Aufgabe, die im diagnostischen Prozess wichtigen Fehler- oder Varianzquellen zu reduzieren (Informationsund Beobachtungsvarianz; s. hierzu Stieglitz 2008). Unter dem Blickwinkel der klassifikatorischen Diagnostik soll mittels eines strukturierten oder standardisierten Interviews (s. u.) eine zuverlässige Einordnung eines Patienten in eines der beiden aktuellen Klassifikationssysteme ICD-10 oder DSM-IV erfolgen. Zentrales Anliegen von Ratingskalen ist meist die Schweregradbestimmung bestimmter psychopathologischer Bereiche im Querschnitt und Verlauf. In der Forschung dienen sie auch der Selektion von Patienten für Studien (z. B. mittels bestimmter Cut-Off-Werte in der Hamilton Depressionsskala, HAMD), in der Praxis oft als Grundlage der Entscheidung für therapeutische Interventionen resp. deren Wechsel (s. a. Abschn. 5.2.8). Sowohl in Praxis wie Forschung ist die Evaluation der Effektivität therapeutischer Interventionen von großer Wichtigkeit. Ratingskalen dienen jedoch darüber hinaus zusätzlich der Erfassung weiterer klinisch relevanter Informationen wie z. B. Nebenwirkungen oder Lebensqualität (s. u.).

5.2.3 Systematik der Instrumente Interviews und Ratingskalen lassen sich nach unterschiedlichen Merkmalen differenzieren

(vgl. Stieglitz 2008). Interviews unterscheidet man hinsichtlich des Grades der Strukturierung des Prozesses der Informationserhebung. Man differenziert meist zwischen strukturierten und standardisierten Interviews. Strukturierte Interviews geben eine systematische Gliederung des Prozesses der Informationssammlung vor. Die Exploration durch die Diagnostiker wird erleichtert durch die Vorgabe von vorformulierten Fragen (Einstiegs- und Zusatzfragen). Die Bewertung und Gewichtung der Antworten des Patienten bleibt in der Regel dem Untersucher überlassen (klinisches Urteil), wenngleich zum Teil Ratinganweisungen mit angegeben werden, um dieses Urteil zu erleichtern. Demgegenüber sind bei den standardisierten Interviews alle Ebenen des diagnostischen Prozesses sowie alle Elemente der Informationserhebung genau festgelegt, d. h. der Ablauf der Untersuchung, die Art der Reihenfolge der Fragen, die Kodierung der Antworten bis hin zu der meist computerisierten Diagnosestellung. Hat der Patient z. B. Verständnisprobleme darf der Interviewer nur noch die gesamte Frage oder einen Teil davon wiederholen bzw. eventuell vorhandene Zusatzfragen oder -anweisungen vorlesen. In Tabelle 5.2.1 sind die wichtigsten an ICD-10 und/oder DSM-IV orientierten Interviews zur klassifikatorischen Diagnostik enthalten. Verfahren zu einzelnen Teilbereichen psychischer Störungen (u. a. Persönlichkeitsstörungen, Demenzen) finden sich in Stieglitz et al. (2001). Der Vollständigkeit halber sei an dieser Stelle

Tabelle 5.2.1: Untersuchungsinstrumente zur Diagnostik von ICD-10 und DSM-IV Störungen: Gesamtbereich Gruppe

Bezeichnung/Abkürzung

System

Autor(en)

Strl

Strukturiertes Klinisches Interview für DSM-IV (SKID)

DSM-IV

Wittchen et al.

Strl

Diagnostisches Interview für psychische Störungen (DIPS)

DSM-IV

Margraf et al.

Strl

Schedules for Clinical Assessment in Neuropsychiatry (SCAN)

DSM-IV/ ICD-10

van Gülick-Bailer et al.

Stal

Composite International Diagnostic Interview (CIDI)

DSM-III-R/ ICD-10

Wittchen & Semler

Stal

Expertensystem zur Diagnostik Psychischer Störungen (DIA-X)

DSM-IV/ ICD-10

Wittchen et al.

Nähere Angaben zu den Verfahren s. Wittchen et al. (2001), Stieglitz (2008)

5.2 Ratingskalen und Interviews in der Psychopharmakotherapie

auf die zunehmende Verbreitung findenden sog. Checklisten hingewiesen, die ebenfalls zur klassifikatorischen Diagnostik dienen. Es handelt sich dabei um übersichtliche Zusammenstellungen der diagnostischen Kriterien der einzelnen Störungen nach ICD-10 oder DSMIV (vgl. im Überblick Stieglitz 2008). Hinsichtlich der Interviews ist darauf hinzuweisen, dass diese nicht nur im Bereich der klassifikatorischen Diagnostik Anwendung finden, sondern zunehmend auch für Fremdbeurteilungsverfahren zur Verfügung stehen wie für das AMDPSystem, die HAMD, BRMS oder BPRS (s. a. Stieglitz 2008). Bei den Ratingskalen ist vor allem die bereits erwähnte Unterscheidung zwischen Selbstund Fremdbeurteilungsverfahren von Bedeutung. Verschiedene weitere Differenzierungen sind möglich (Beispiele s. Tab. 5.2.2). Folgende sind besonders relevant:    

ein- versus mehrdimensionale Verfahren, Globalskalen versus additive Skalen, Kurz- versus Langskalen, verbal verankerte Skalen versus visuelle Analogskalen.

Eindimensionale Verfahren wie z. B. die HAMD und das BDI liefern nur einen Skalenwert durch die Aufsummierung der einzelnen Items und geben damit nur einen Schweregradindikator für ein bestimmtes Syndrom ab (z. B. depressives Syndrom). Mehrdimensionale Verfahren dagegen, wie die SCL-90-R oder das AMDP-System, erlauben ein weites Spektrum unterschiedlicher Syndrome abzubilden und sind daher auch meist bei unterschiedlichen Störungsgruppen einsetzbar. Je nach Fragestellung einer Untersuchung sind ein- oder mehrdimensionale Verfahren zu bevorzugen (s. a. Beispiele unter 5.2.8). Ein- wie auch mehrdimensionale sind meist additive Skalen, bei denen der oder die Skalenwert(e) durch einfache Aufaddierung der bewerteten Items zustande kommt/kommen. Diese(r) Wert(e) werden dann als Indikator des erfaßten Konstrukts betrachtet. Bei Globalskalen wird entsprechend dem Namen versucht, die interessierenden Phänomene nicht durch Aufaddierung von Einzel-

229

symptomen zu bewerten, sondern durch einen Gesamteindruck. Am bekanntesten aus dieser Verfahrensgruppe ist die Clinical Global Impressions (CGI; vgl. CIPS 2005). Sie erlaubt in der Skala 1 „Schweregrad der Krankheit“ (von „Patient ist überhaupt nicht krank“ bis „Patient gehört zu den extrem schwer Kranken“) die Globalbewertung des Gesamtzustandes (nicht spezifiziert für bestimmte Störung). Mit der Skala 2 „Gesamtbeurteilung der Zustandsänderung“ (von „Zustand ist sehr viel besser“ über „Zustand ist unverändert“ bis „Zustand ist sehr viel schlechter“) ist weiterhin eine globale Veränderungsbeurteilung möglich. Die CGI stellt eine der am häufigsten in (Psychopharmaka-) Studien eingesetzten Skalen dar. Die Global Assessment of Functioning (GAF) des DSM-IV stellt die zweite wichtige Globalskala dar. Sie dient im multiaxialen System des DSM-IV als Achse V zur Erfassung der Gesamtbeeinträchtigung des Patienten. Die Bewertung erfolgt auf einer Skala mit 10stufigen Intervallen, die operationalisiert sind (z. B. 40–31), wobei der Urteiler auch Zwischenstufen angeben kann (z. B. 35). Zu erwähnen ist auch die an die GAF angelehnte Skala zur Erfassung des Sozialen und Beruflichen Funktionsniveaus (SOFAS). Sie ist wie die GAF aufgebaut, fordert jedoch entsprechend der Bezeichnung nicht die Bewertung der psychischen Symptomatik. Als weitere in der Literatur häufig erwähnte Globalskala soll die sog. Sheehan-Skala (engl. Sheehan Disability Scale, SDS; s. Gräfe 2003) genannt werden. Im Unterschied zu den beiden vorigen Skalen handelt es sich um eine Selbstbeurteilungsskala. Mittels der SDS werden auf einer 10-Punkte-Likert-Skala (von 0: überhaupt nicht bis 10: extrem) die Funktionsbeeinträchtigungen im letzten Monat für drei Bereiche verlangt: Arbeit und Beruf; Sozialkontakte und Freizeitaktivitäten; Familienleben und häusliche Verpflichtungen. Die Unterscheidung Kurz- und Langskalen bezieht sich auf Versuche, für bestehende Verfahren, die sich bewährt haben, kürzere, d. h. weniger umfangreiche zu entwickeln. Für die bereits mehrfach erwähnte SCL-90-R (Franke 2002) liegt seit vielen Jahren eine Kurzversion vor, zwischenzeitlich auch auf Deutsch, das

230

5 Methodik

Tabelle 5.2.2: Systematik von Selbst- und Fremdbeurteilungsverfahren Unterscheidungsmerkmale

Beispiele

Selbstbeurteilungsverfahren versus Fremdbeurteilungsverfahren

Beck Depressionsinventar (BDI)

eindimensional versus mehrdimensional

Bech Rafaelsen Melancholie Skala (BRMS)

Globalskala versus additive Skala

Clinical Global Impressions (CGI)

Kurzskala versus Langskala

Brief Symptom Inventory (BSI)

verbal verankerte Skalen versus visuelle Analogskalen

Beck Depressionsinventar (BDI)

Hamilton Depressions Skala (HAMD)

AMDP-System (AMDP)

Montgomery Åsberg Depression Rating Scale (MADRS)

Symptom Checkliste (SCL-90-R)

Visuelle Analogskala (VAS) nach Aitken

Nähere Angaben zu den Verfahren bei Stieglitz et al. (2001)

Brief Symptom Inventory (BSI; Franke 2000). Es umfaßt statt der 90 nur noch 53 Items, die ebenfalls wie die Langversion die 9 Subskalen abbilden. Auch für diese Version liegen deutschsprachige Normen vor. Bei den meisten Selbst- und Fremdbeurteilungsverfahren werden die Bewertungen durch verbale Verankerungen vorgenommen (meist: nicht vorhanden-leicht-mittel-schwer) bzw. die einzelnen Skalenstufen der Bewertung sind operationalisiert (z. B. bei der MADRS). Davon abzugrenzen sind sog. visuelle Analogskalen. Das allgemeine Prinzip dieser Skalengruppe besteht darin, auf einer meist 100 mm langen Linie, die an den Enden unterschiedlich gepolt ist, entsprechend der Zustimmung in die eine oder andere Richtung eine entsprechende Markierung auf der Linie zu machen. Am bekanntesten ist die VAS von Aitken (1969) zur Abbildung depressiver Verstimmungen. Sie wurde früher vor allem in Studien eingesetzt, bei denen oft wiederholte Erhebungen notwendig waren (z. B. Schlafentzugsbehandlung).

5.2.4 Evaluationskriterien und Auswahl von Verfahren Da die Zahl der zur Verfügung stehenden Instrumente zwischenzeitlich fast nicht mehr zu überblicken ist (z. B. allein mehr als 100 Ratingskalen zu depressiven Störungen), sollten nur solche Verfahren verwendet werden, deren psychometrische Qualität hinreichend belegt ist. Dies betrifft vor allem die Bereiche der Reliabilität (Zuverlässigkeit) und Validität (Gültigkeit). Beide Bereiche lassen sich weiterhin in verschiedene Teilaspekte differenzieren, die im Hinblick auf Ratingskalen und Interviews unterschiedlich bedeutsam sind. Auf einige Punkte sei hier besonders hingewiesen. Reliabilität. Für Ratingskalen von Bedeutung ist vor allem das Kriterium der inneren Konsistenz (Prüfung der Homogenität des einzelnen Items, meist berechnet mit dem Koeffizienten α nach Cronbach). Für Interviews von zentraler Bedeutung ist das Kriterium der Interrater-Reliabilität, d. h. der Übereinstimmung unterschiedlicher Untersucher in der Bewertung desselben Patienten. Dieses Kriterium ist gleichermaßen für Fremdbeurteilungsverfahren von Relevanz.

5.2 Ratingskalen und Interviews in der Psychopharmakotherapie

Validität. Die Validität läßt sich in eine Vielzahl von Teilkomponenten differenzieren (vgl. Stieglitz 2000). Von Bedeutung für Ratingskalen sind vor allem die konvergente (= Zusammenhang mit konstruktnahen Verfahren) und divergente Validität (= Zusammenhang mit konstruktfernen Verfahren), aber auch die Fähigkeit, zwischen Gruppen zu differenzieren, (z. B. Unterschiede zwischen depressiven und schizophrenen Patienten in bestimmten Syndromen) und die Änderungssensitivität (Fähigkeit, Veränderungen im Zeitverlauf zu erfassen). Bezüglich Interviews ist u. a. der Aspekt der prozeduralen Validität zu nennen, d. h. der Grad der Übereinstimmung mit anderen Zugangsweisen/Verfahrensgruppen zur Erfassung des jeweiligen Phänomens (hier Diagnose). Darüber hinaus sind jedoch bei der Bewertung und Auswahl von Verfahren auch anwendungsbezogene Aspekte zu berücksichtigen. Zu nennen sind hier vor allem folgende Aspekte:  Zeitökonomie (incl. Kostenfrage),  Interpretationshilfen in Form von Normen bzw. zumindest Cut-Off-Werte. In der Praxis ist die Frage der Zeitökonomie immer von großer Bedeutung, da die Diagnostik im Kontext vielfältiger anderer Aufgaben möglichst wenig Zeit in Anspruch nehmen soll. In der Forschung spielt seit vielen Jahren die sog. Multimodale Diagnostik eine große

Rolle (s. im Detail Stieglitz 2008). Darin besteht der Anspruch, den vielfältigen Facetten menschlichen Erlebens und Verhaltens dadurch gerecht zu werden, diese auch möglichst differenziert zu erfassen. Hierzu bedarf es Untersuchungsinstrumente, die im Einzelnen nicht schon alleine für sich zu viel Zeit erfordern. Unter praktischen Gesichtspunkten ist die Interpretation der ermittelten Skalenwerte von großer Bedeutung. Wünschenswert sind Normen (z. B. T-Werte, Prozentränge), die eine genaue Einordnung des einzelnen Patienten in Relation zu einer Referenzpopulation (z. B. Gesunde, andere Patienten) ermöglichen. Normen liegen, da ihre Erstellung kosten- und zeitintensiv ist, meist selten und dann auch in der Regel nur für Selbstbeurteilungsverfahren vor. Auf einer weniger differenzierten Ebene sind sog. Cut-OffWerte anzusiedeln. Sie erlauben eher grobe Einschätzungen, meist nach verschiedenen Schweregraden eines Syndroms differenziert (z. B. leichtes – mittleres – schweres depressives Syndrom). Für eine Interpretation sind mindestens sog. Referenzwerte zu fordern. Es handelt sich dabei meist um Mittelwerte (und Standardabweichungen) von Skalenwerten in verschiedenen Populationen. Auf einen speziellen Aspekt bei der Auswahl von Verfahren sei abschließend hingewiesen. Es handelt sich dabei um die grundlegende Frage, ob man ein Selbst- oder Fremdbeurteilungsverfahren wählen soll. Beide haben jeweils bestimmte Vor- und Nachteile (vgl. Tab. 5.2.3).

Tabelle 5.2.3: Vor- und Nachteile von Selbst- und Fremdbeurteilungsverfahren Selbstbeurteilungsverfahren

Fremdbeurteilungsverfahren

Vorteile

• zeitökonomisch • weite Indikationsbereiche • meist Normen

• • • • •

bei fast allen Schweregraden einer Störung einsetzbar änderungssensitiv gute Differenzierungsfähigkeit unterschiedlicher Schweregrade

Nachteile

• • • • • • •

• • • •

zeitaufwendig Training notwendig kontinuierliche Supervision meist keine Normen

anfällig für Urteilsfehler nicht bei allen Störungsgruppen anwendbar nicht bei schwer gestörten Patienten einsetzbar weniger änderungssensitiv z. T. geringe Differenzierungsfähigkeit unterschiedlicher Schweregrade

231

232

5 Methodik

Diese sind jeweils gegeneinan-der abzuwägen. In der Forschung dominieren Fremdbeurteilungsverfahren, wenn es um das Hauptoutcome in einer Studie geht (u. a. änderungssensitiver, bessere Differenzierung zwischen unterschiedlichen Schweregraden), in der Praxis werden aus Zeitgründen oft Selbstbeurteilungsverfahren präferiert. Zudem zeigt sich eine unterschiedliche Wertigkeit beider Verfahrensgruppen in Abhängigkeit von der Störungsgruppe. So dominieren z. B. bei dementiellen und schizophrenen Störungen Fremdbeurteilungsverfahren, bei den Angststörungen Selbstbeurteilungsverfahren, bei depressiven Störungen finden sich beide etwa gleich häufig. Generell ist jedoch zu empfehlen, beide einzusetzen, da Studien haben zeigen können, dass eine Verfahrensgruppe die andere nicht ersetzen kann. Beiden kommt eine komplementäre Funktion zu. Um mögliche inhaltliche Unterschiede zwischen Verfahren zu reduzieren, existieren für einige Verfahren parallele Versionen für die Selbst- und Fremdbeurteilung (z. B. im Depressions- und Angstbereich; vgl. Stieglitz 2008) Die bisher aufgeführten Kriterien können dem einzelnen Anwender dabei helfen, sich ein Instrument auszuwählen. Bei der Fülle existierender Verfahren ist dies jedoch oft schwer möglich. Von daher ist der Anwender auf Übersichten angewiesen, die ihm hierbei Hilfestellung geben. Zu erwähnen sind vor allem folgende: CIPS (2005), Brähler et al. (2002), Schumacher et al. (2003) sowie Strauss und Schumacher (2005). Darüber hinaus existieren für einzelne Störungsgruppen Monographien (z. B. Hoyer und Margraf 2003 für die Angststörungen). Weiterhin werden immer wieder auch von Expertengruppen Vorschläge für den Einsatz von Instrumenten und zu erfassenden Bereiche gemacht. So wurden die Ergebnisse verschiedener Konsensuskonferenzen zu Psychopharmakastudien publiziert wie z. B.:    

Angst et al. (1989): Antidepressiva, Angst et al. (1991): Antipsychotika, Angst et al. (1994): Langzeitstudien, Amaducci et al. (1990): Nootropika.

In den Arbeiten werden meist eher allgemeine und grundsätzliche Überlegungen und Empfehlungen diskutiert (z. B. Bewertung von Therapieerfolgen, Art der zu verwendenden Skalen).

5.2.5 Ausgewählte Bereiche Aufgrund der Fülle von Verfahren kann nachfolgend nur eine Auswahl getroffen werden. Zunächst ist zu unterschieden, ob ein Instrument bei verschiedenen Störungsgruppen einsetzbar ist (sog. störungsübergreifende Verfahren) bzw. hauptsächlich in Bezug auf eine Störungsgruppe entwickelt wurde (sog. störungsbezogene Verfahren). In letztere Gruppe fallen erwartungsgemäß die meisten Verfahren. In Tabelle 5.2.4 sind die im deutschsprachigen Raum bekanntesten Selbst- und Fremdbeurteilungsverfahren zur störungsübergreifenden Anwendung enthalten. Zu unterscheiden sind hier einerseits Verfahren, die bestimmte Syndrombereiche abbilden und Verfahren, die eher allgemeine Aspekte psychischer Beeinträchtigungen abbilden (sog. Beschwerdelisten, Befindlichkeitskalen). Bezüglich der Störungsgruppen sind nachfolgende aufgrund ihrer Häufigkeit von besonderer Bedeutung: Schizophrene Störungen, Affektive Störungen und Angststörungen. Schizophrene Störungen. Instrumente zur Erfassung schizophrener Symptomatik gehören mit zu den ersten Verfahren, die entwickelt wurden, bedingt dadurch, dass die Entwicklung von Ratingskalen eng gebunden war an die Entdeckung der Psychopharmaka (s. Stieglitz 2008). Mit dem Ziel, die Effektivität der neu entdeckten Substanzen zu evaluieren, wurden seit den 60er Jahren entsprechende Instrumente entwickelt, von denen einige auch heute noch in Anwendung sind. In Tabelle 5.2.5 finden sich die wichtigsten Verfahren. Erfaßt werden mit den Verfahren die für schizophrene Störungen wichtigsten Symptombereiche wie Wahn, Halluzinationen oder Denkstörungen, z. T. nach den übergeordneten Bereichen der Negativ- und Positivsymptomatik gruppiert. Die genannten Verfahren waren bzw. sind die wichtigsten Ins-

5.2 Ratingskalen und Interviews in der Psychopharmakotherapie

233

Tabelle 5.2.4: Klinische Selbst- und Fremdbeurteilungsverfahren: störungsgruppenübergreifend. Bereiche

Verfahren(Autoren)

Kennzeichen

Gesamtpsychopathologie

Symptom Checkliste (SCL-90-R; Franke)

Verfahrensgruppe: Selbstbeurteilungsverfahren Aufbau: 90 Items, 9 Skalen, 3 Gesamtwerte Interpretation: Normen

AMDP-System (AMDP)

Verfahrensgruppe: Fremdbeurteilungsverfahren Aufbau: 140 Items; 9 Subskalen, 3 übergeordnete Skalen Interpretation: Normen

Inpatient Multidimensional Psychiatric Scale (IMPS; Hiller et al.)

Verfahrensgruppe: Fremdbeurteilungsverfahren Aufbau: 90 Items; 12 Subskalen, 3 übergeordnete Skalen Interpretation: Normen

Nurses Observation Scale for Inpatient Evaluation (NOSIE; Honigfeld et al.; dt. CIPS)

Verfahrensgruppe: Fremdbeurteilungsverfahren Aufbau: 30 Items, Gesamtwert, 7 Subskalen Interpretation: Referenzwerte

Befindlichkeits-Skala (Bf-S; von Zerssen)

Verfahrensgruppe: Selbstbeurteilungsverfahren Aufbau: 2 Parallelformen à 16 Items, Gesamtwert Interpretation: Normen

Profile of Mood States (POMS; Mc Nair et al.; dt. Bullinger et al.)

Verfahrensgruppe: Selbstbeurteilungsverfahren Aufbau: 35 Items, 4 Skalen Interpretation: Normen

Mehrdimensionaler Befindlichkeitsfragebogen (MDBF; Steyer et al.)

Verfahrensgruppe: Selbstbeurteilungsverfahren Aufbau: 24 Items, 3 Skalen, 2 Kurzformen jeweils mit 4 Items Interpretation: Normen

Beschwerden-Liste (BL; von Zerssen)

Verfahrensgruppe: Selbstbeurteilungsverfahren Aufbau: 2 Parallelformen à 24 Items, Gesamtwert, Zusatzbogen Interpretation: Normen

Freiburger Beschwerdenliste (FBL-R; Fahrenberg)

Verfahrensgruppe: Selbstbeurteilungsverfahren Aufbau: 80 Items, Gesamtwert, 9 Skalen Interpretation: Normen

Befindlichkeit/ Stimmung

Beschwerden

Nähere Angaben zu den Verfahren bei Stieglitz et al. (2001), Brähler et al. (2002), Strauss und Schumacher (2005)

trumente in Neuroleptika-(Antipsychotika) Studien. Affektive Störungen. Ratingskalen im Bereich der affektiven Störungen lassen sich unterteilen in solche für die depressive Symptomatik und solche für die manische Symptomatik. Während für erstere mehr als hundert Verfahren vorliegen, existieren für letztere nur wenige. In Tabelle 5.5.6 sind wiederum die auch heute noch wichtigsten aufgeführt. Bezüglich der Depressionsskalen ist auf einige wichtige Aspekte besonders hinzuweisen:

 Inhalt der erfassten Bereiche: Die einzelnen Verfahren unterscheiden sich z.T. deutlich hinsichtlich der mit ihnen erfassten Aspekte (vgl. u. a. Stieglitz 2000), da es bis heute keine allgemeinverbindliche Definition des depressiven Syndroms gibt, deren Abbildung durch die Ratingskalen erfolgt. Während einige Verfahren eher auf kognitive Aspekte fokussieren (z. B. BDI), liegt der Fokus bei anderen eher auf somatischen (z. B. HAMD) bzw. auf affektiven Aspekten (z. B. PD-S).

234

5 Methodik

Tabelle 5.2.5: Klinische Selbst- und Fremdbeurteilungsverfahren: Schizophrenie (Beispiele). Bereiche

Verfahren(Autoren)

Kennzeichen

Psychopathologie

Brief Psychiatric Rating Scale (BPRS; Overall & Gorham)

Verfahrensgruppe: Fremdbeurteilungsverfahren Aufbau: 18 Symptomkomplexe, 4 Subskalen, 8 phänomenologische Typen Interpretation: Referenzwerte

Positive and Negative Syndrome Scale (PANSS; Kay et al.)

Verfahrensgruppe: Fremdbeurteilungsverfahren Aufbau: Plusskala 7 Items, Minusskala 7 Items, 16 Globalskalen Interpretation: Referenzwerte, Perzentile

Scale for the Assessment of Positive Symptoms (SAPS), Negative Symptoms (SANS; Andreasen et al.)

Verfahrensgruppe: Fremdbeurteilungsverfahren Aufbau: 90 Items; 12 Subskalen, 3 übergeordnete Skalen Interpretation: Normen

Befindlichkeit

Frankfurter Befindlichkeits-Skala (FBS; Süllwold & Herrlich)

Verfahrensgruppe: Selbstbeurteilungsverfahren Aufbau: 36 Items, Gesamtwert Interpretation: Normen

Depressivität

Paranoid-Depressivitäts-Skala (PD-S; von Zerssen)

Verfahrensgruppe: Selbstbeurteilungsverfahren Aufbau: 2 Parallelformen, 43 Items, 2 Skalen und Kontrollskala Interpretation: Normen

Calgary Depression Rating Scale for Schizophrenia (CDSS; Addington et al.; dt. CIPS)

Verfahrensgruppe: Fremdbeurteilungsverfahren Aufbau: 9 Items, Gesamtwert Interpretation: Referenzwerte

Snaith-Hamilton-Pleasure-Scale (SHAPS ; Snaith et al., Franz et al.)

Verfahrensgruppe: Selbstbeurteilungsverfahren Aufbau: 14 Items; Gesamtwert Interpretation: Cut-Off-Wert

Anhedonie

Nähere Angaben zu den Verfahren bei Vauth & Stieglitz (2001), CIPS (2005)

 Methodische Aspekte: Die psychometrische Qualität der einzelnen Verfahren ist sehr unterschiedlich. Während z. B. für die HAMD, die weltweit am meisten eingesetzte Depressionsskala, wiederholt deren methodische Schwächen aufgezeigt werden konnten (z. B. keine Eindimensionalität; vgl. z. B. Stieglitz 1998), liegen für andere befriedigende bis gute Reliabilitäts- und Validitätsbelege vor (z. B. Montgomery Åsberg Depression Rating Scale, MADRS; Bech Rafaelsen Melancholie Scale, BRMS).  Verbindung dimensionaler und kategorialer Diagnostik: Exemplarisch an den depressiven Störungen lässt sich eine Entwicklung aufzeigen, die versucht, die kategoriale mit der dimensionalen Sichtweise zu verbinden. Eine kategoriale Diagnostik im Rahmen von Klassifikationssystemen hat den

Nachteil, dass nur dichotome Entscheidungen möglich sind und dadurch Schweregradunterschiede verloren gehen. Von daher finden sich zunehmend Versuche (vor allem bei depressiven Störungen und der PTBS), Verfahren zu entwickeln, die sowohl Hinweise auf die Störungen geben wie andererseits gleichzeitig den Schweregrad einer Störung anzuzeigen erlauben. Um dies zu erreichen, werden meist die diagnostischen Kriterien der einzelnen Störungsgruppen in Items eines Fragebogens übertragen (Stieglitz 2008).  Störungsbereiche: Depressive Symptomatik kann bei unterschiedlichen Störungsgruppen auftreten. Hier konnte gezeigt werden, dass allgemeine Skalen zur Erfassung depressiver Symptomatik für bestimmte Gruppen nicht bzw. weniger geeignet sind.

5.2 Ratingskalen und Interviews in der Psychopharmakotherapie

235

Tabelle 5.2.6: Klinische Selbst- und Fremdbeurteilungsverfahren: Affektive Störungen (Beispiele). Bereiche

Verfahren(Autoren)

Kennzeichen

Depression

Beck-Depressionsinventar (BDI; Beck et al.; dt. Hautzinger)

Verfahrensgruppe: Selbstbeurteilungsverfahren Aufbau: 21 Items, Gesamtwert Interpretation: Normen, Cut-Off-Werte

Depressivitäts-Skala (DS, von Zerssen)

Verfahrensgruppe: Selbstbeurteilungsverfahren Aufbau: 16 Items, Gesamtwert, Parallelform Interpretation: Normen

Fragebogen zur Depressionsdiagnostik (FDD; Kühner)

Verfahrensgruppe: Selbstbeurteilungsverfahren Aufbau: 18 Items, Gesamtwert Interpretation: Normen

Major Depression Inventory (MDI; Bech et al.)

Verfahrensgruppe: Selbstbeurteilungsverfahren Aufbau: 10 Items, Gesamtwert Interpretation: Cut-Off-Wert

Hamilton Depressions-Skala (HAMD, Hamilton; dt. CIPS)

Verfahrensgruppe: Fremdbeurteilungsverfahren Aufbau: 21 Items, Gesamtwert Interpretation: Cut-Off-Werte

Bech-RafaelsenMelancholie-Skala (BRMS; Stieglitz et al.)

Verfahrensgruppe: Fremdbeurteilungsverfahren Aufbau: 11 Items, Gesamtwert Interpretation: Cut-Off-Werte

Montgomery-AsbergDepressions-Rating-Skala (MADRS; Montgomery und Asberg; dt. CIPS)

Verfahrensgruppe: Fremdbeurteilungsverfahren Aufbau: 10 Items, Gesamtwert Interpretation: Cut-Off-Werte

ManieSelbstbeurteilungs-Skala (MSS; Krüger et al.)

Verfahrensgruppe: Selbstbeurteilungsverfahren Aufbau: 48 Items, Gesamtwert Interpretation: Cut-Off-Werte

Bech-Rafaelsen-Manie-Skala (BRMAS; Bech & Rafaelsen)

Verfahrensgruppe: Fremdbeurteilungsverfahren Aufbau: 11 Items, Gesamtwert Interpretation: Cut-Off-Wert

Manie

Nähere Angaben zu den Verfahren bei Stieglitz et al. (2001), Stieglitz (2008)

So konnten z. B. verschiedene Methodenstudien zur HAMD, BRMS und MADRS zeigen, dass diese bei z. B. schizophrenen Störungen eine andere dimensionale Struktur aufweisen als bei depressiven Patienten (vgl. im Überblick Stieglitz 2008). Von daher finden sich verstärkt Bemühungen, spezifische Skalen zu entwickeln. Exemplarisch zu nennen sind postpartale Depressionen, Depressionen bei schizophrenen Patienten oder auch Depressionen bei gerontopsychiatrischen Patienten. Hier bietet sich der

Einsatz von spezifisch für diese Störungen entwickelte Verfahren an. Folgende sind hier von besonderem Interesse: – Cornell Dysthymia (Rating) Scale (CDRS) von Mason et al. (1993), – Edingburgh Postnatal Depressions Scale (EPDS) von Cox et al. (1987), – Calgary Depression Rating Scale for Schizophrenia (CDSS) von Addington et al. (1992). Während für den Depressionsbereich eine Vielzahl von Instrumenten zur Verfügung steht,

236

5 Methodik

ist dies für den Bereich manischer Störungen leider nicht der Fall (s. Tab. 5.2.6). Hier liegen nur wenige deutschsprachige Verfahren vor. Angststörungen. Angststörungen sollen entsprechend dem DSM-IV auch hier weitergefasst werden und Störungen mit umfassen, bei denen auch Angstkomponenten mit enthalten sind (z. B. Zwangsstörungen). In Tabelle 5.2.7 sind wichtige auf Deutsch verfügbare Verfahren aufgeführt (für eine umfassende Übersicht vgl. Hoyer und Margraf 2003). Aus Platzgründen konnte hier nicht auf alle Störungsgruppen eingegangen werden. Übersichten zu Störungen aus dem Abschnitt F0, F1 und weitere Störungen aus F4 und F5 finden

sich bei Stieglitz et al. (2001), zu Persönlichkeitsstörungen F60 in Stieglitz und Ermer (2007) zu F90 ADHS bei Erwachsenen Stieglitz und Rösler (2006). Neben Ratingskalen zur Erfassung der Psychopathologie eignen sich diese auch zur Abbildung anderer klinisch relevanter Bereiche wie die Erfassung von Nebenwirkungen oder Lebensqualität (vgl. Tab. 5.2.8). Nebenwirkungsskalen zur Erfassung unerwünschter Arzneimittelwirkungen (UAW) sind in Praxis wie Forschung von großer Bedeutung, vor allem i.H. auf Compliance in der Praxis wie Forschung und der Bewertung der Wirkungen von Substanzen in der Forschung. Hier gibt es zwischen-

Tabelle 5.2.7: Klinische Selbst- und Fremdbeurteilungsverfahren: Angststörungen i. w. S. (Beispiele) Bereiche

Verfahren(Autoren)

Kennzeichen

Allgemeine Ängstlichkeit

Beck Angst Inventar (BAI; Beck et al.; dt. Ehlers und Margraf )

Verfahrensgruppe: Selbstbeurteilungsverfahren Aufbau: 21 Items, Gesamtwert Interpretation: Normen

Hamilton- Angst-Skala (HAMA; Hamilton)

Verfahrensgruppe: Fremdbeurteilungsverfahren Aufbau: 13 Symptomkomplexe und Explorationsverhalten Interpretation: Referenzwerte

Fragebogen zu körperbezogenen Ängsten, Kognitionen und Vermeidung (AKV; Ehlers et al.)

Verfahrensgruppe: Selbstbeurteilungsverfahren Aufbau: 3 Teilskalen mit 14, 17 bzw. 27 Items Interpretation: Normen

Panik & Agoraphobie Skala (PAS; Bandelow)

Verfahrensgruppe: Selbst- und Fremdbeurteilungsverfahren Aufbau: 13 Items, Gesamtwert Interpretation: Referenzwerte

Social Interaction Anxiety Scale, SIAS Social Phobia Scale, SPS (Stangier et al., 1999)

Verfahrensgruppe: Selbstbeurteilungsverfahren Aufbau: 20 Aussagen zu Angst in soz. Situationen Interpretation: Cut-Off-Werte

Liebowitz Skala (LS; Liebowitz; dt. Stangier et al.)

Verfahrensgruppe: Fremdbeurteilungsverfahren Aufbau: 24 Items, jeweils Angststärke und Vermeidungsverhalten Interpretation: Cut-Off-Werte

Hamburger Zwangsinventar (HZI; Zaworka et al.)

Verfahrensgruppe: Selbstbeurteilungsverfahren Aufbau: 188 Items, 6 Skalen Interpretation: Normen

Yale-Brown Obsessive Compulsive Scale (Y-BOCS; Goodman et al.; dt. Hand et al.)

Verfahrensgruppe: Fremdbeurteilungsverfahren Aufbau: 19 Items; davon Denkzwänge (5 Items), Handlungszwänge (5 Items), 2 Skalen Interpretation: Cut-Off-Wert

Agoraphobie und Panikstörung

Soziale Phobie

Zwang

Nähere Angaben zu den Verfahren s. Hoyer und Margraf (2003), Brähler et al. (2002), CIPS (2005)

5.2 Ratingskalen und Interviews in der Psychopharmakotherapie

237

Tabelle 5.2.8: Klinische Fremdbeurteilungsverfahren: Weitere klinisch relevante Bereiche (Beispiele) Bereiche

Verfahren (Autoren)

Kennzeichen

Nebenwirkungen

AMDP (2007)

Somatischer Befund; 40 Symptome

Abnormal Involuntary Movement Scale (AIMS; NIMH; dt. CIPS)

12 Items u. a. zur Erfassung von Bewegungsstörungen in verschiedenen Körperregionen

Extrapyramidale Symptom Scale (EPS; Simpson und Angus; dt. CIPS)

10 Items zur Bewertung extrapyramidaler Störungen

Hillside Akathisie Skala (HAS; Fleischhacker et al.)

Erfassung des Schweregrades der Bewegungsunruhe/Akathisie

Tardive Dyskinesia Rating Scale (TDRS; Simpson et al.; dt. CIPS)

34 Items; Erfassung extrapyramidaler Bewegungsstörungen/Spätdyskinesien

SF-36 Health Survey (SF-36; Bullinger und Kirchberger)

36 Items; 8 Skalen, Selbst- und Fremdbeurteilung

World Health Organization Quality of Life Assessment (WHO-QOL-100; WHO)

100 Items, 6 Skalen, Selbstbeurteilung

Lebensqualität

Nähere Angabe zu den Verfahren s. Stieglitz et al. (2001), CIPS (2005)

zeitlich eine Reihe etablierter Skalen (meist Fremdbeurteilungsverfahren), jedoch noch keinen Goldstandard. Zunehmend wird vor allem auch in der Forschung gefordert, die Wirksamkeit von Interventionen nicht nur durch die Abnahme der Psychopathologie zu dokumentieren, sondern zusätzlich durch die Verbesserung der Lebensqualität des Patienten (u. a. bei zu Chronifizierung neigenden Störungen wie schizophrene Störungen). Vor allem auch in Langzeitstudien ist die Lebensqualität als zusätzliches Outcome zu berücksichtigen. Auch hier existieren zwischenzeitlich eine Reihe von bewährten Verfahren (vgl. auch Bullinger und Ravens-Sieberer 2001).

5.2.6 Erfassung von Verläufen und Veränderungen Speziell Ratingskalen mit der Möglichkeit der Schweregradbeurteilungen bieten sich vor allem

zur Erfassung von Veränderungen an. Hier gibt es unterschiedliche Möglichkeiten, wie man in Tabelle 5.2.9 sehen kann. Währen traditionell der Therapieresponse über eine 50 %-Reduktion des Ausgangswertes in einer definierten Skala festgelegt wird, finden zunehmend komplexere und anspruchsvollere Ansätze Anwendung, von denen einige kurz skizziert werden, zum einen das Konzept der klinischen Signifikanz sowie Überlegungen zur Operationalisierung von Remission und Recovery (vgl. Tab. 5.2.10–5.2.13). Die Bestimmung der Klinischen Signifikanz geht von 2 Überlegungen aus:  eine Veränderung ist nur dann als reliable anzusehen, wenn sie signifikant größer als der Zufall ist,  eine Veränderung ist nur relevant, wenn sie von klinischer Bedeutung ist, d. h. sich der Patient nach Therapieende mit dem Wert in einer Skala im Bereich der Gesunden befin-

238

5 Methodik

Tabelle 5.2.9: Systematisierung von Outcome-Kriterien zur Definition von Veränderungen im Krankheitsverlauf Kriterium

Definition und Beispiele

%-Veränderung

festgelegte Veränderung gegenüber einer Baseline in einer Ratingskala Beispiel: 50 % Reduktion in der Hamilton-Depressions-Skala (HAMD)

Cut-Off-Wert

Über- oder Unterschreitung eines festgelegten Cut-Off-Wertes in einer Rating- oder Globalskala Beispiel: 1 oder 2 auf der Clinical Global Impressions (CGI, Improvement); Summenwert < 6 in der HAMD

EntlassungsDiagnose

Patient erfüllt nicht mehr die Kriterien der Aufnahmediagnose Beispiel: Kriterien der schweren depressiven Episode (F32.2) nach ICD-10

Funktionale Kriterien

klinische Entscheidungen basierend auf funktionalen Kriterien Beispiel: Klinikaufnahme oder -entlassung, Veränderungen in der Therapie

Normalisierung

Rückkehr zum ursprünglichen Funktionsniveau oder Erreichen eines normalen Zustandes Beispiel: T-Werte < 60 in den Skalen der Symptom-Checkliste (SCL-90-R) ermittelt in einer Normalstichprobe

Klinische Signifikanz

Mehr als zufällige Verbesserung und Rückkehr in den Bereich Gesunder Beispiel: MADRS: unter 5 und Differenz zwischen Prä-Post 6 Punkte

Nähere Angaben zu den Methoden bei Stieglitz et al. (2001)

Tabelle 5.2.10: Definition von Response, Remission und Recovery anhand der Hamilton Depressions-Skala (HAMD) (nach O’Donavan 2004) Bezeichnung

Definition

Nonresponse

20 % oder weniger Reduktion

Partialresponse

21 % – 49 % Reduktion

Response

≥ 50% Reduktion

Residualsymptome

Response + Wert ≥ 8

Remission

Response + Wert ≤ 7

Recovery

Remission und Rückkehr auf Funktionsniveau

Tabelle 5.2.11: Remissionskriterien für die soziale Phobie (nach Ballenger 1999) Subjektive Ziele

Objektive Kriterien (Operationalisierung)

Kernsymptome sozialer Angst verschwunden

LSAS-Wert ≤ 30

Keine oder minimale Angst

HAMA-A Wert ≤ 7 -10

Keine funktionalen Beeinträchtigungen

Sheehan Disability Scale ≤ 1 bei jedem Item

Kernsymptome der Depression verschwunden

HAMD-D ≤ 7

HAMA-A: Hamilton Angstskala, HAM-D: Hamilton Depressionsskala, LSAS: Liebowitz Social Anxiety Scale

239

5.2 Ratingskalen und Interviews in der Psychopharmakotherapie

Tabelle 5.2.12: Responsekriterien für schizophrene Störungen anhand der Positive und Negative Syndrome Scale (PANSS; Andreasen et al., 2005). PANSS-Items (alle ≤ 3 • • • • • • • •

P1 Wahnideen G9 Ungewöhnliche Denkinhalte P3 Halluzinationen P2 formale Denkstörungen G5 Manierismen und unnatürliche Körperhaltung N1 Affektverflachung N4 soziale Passivität und Apathie N6 Mangel an Spontaneität und Flüssigkeit der Sprache

Tabelle 5.2.13: Operationalisierung des Status nach Therapieende (Endstate Functioning) und der Verbesserung (nach Michelson et al. 1985)

Status nach Therapieende

Verbesserung

Bewertung

Skala

Datenquelle

Werte

Bewertung

Global Assessment of Severity

F

≤2

1 Punkt

Self-Rating of Severity

F

≤2

1 Punkt

Phobic Anxiety and Avoidance Scale

S

≤3

1 Punkt

Behavioral Avoidance Course und Subjective Unit of Discomfort Scale

V

20

1 Punkt

S

≤3

Global Assessment of Severity

F

≥2

1 Punkt

Self-Rating of Severity

S

≥2

1 Punkt

Phobic Anxiety and Avoidance Scale

S

≥2

1 Punkt

Subjective Unit of Discomfort Scale

S

≥2

1 Punkt

0 Punkte

Geringer Status nach Therapieende/ geringe Verbesserung Mittlerer Status nach Therapieende/ mittlere Verbesserung Hoher Status nach Therapieende/ starke Verbesserung

1–2 Punkte 3–4 Punkte

S: Selbstbeurteilung, F: Fremdbeurteilung, V: Verhaltensregistrierung

det (Veränderung von einem dysfunktionalen in einen funktionalen Bereich). Sind beide Anforderungen erfüllt, spricht man von einer klinisch signifikanten Veränderung (s. im Detail Stieglitz 2008). Leider wird dieser eher konservative Ansatz zur Bewertung von Therapieerfolgen bisher zu wenig in Studien angewandt.

Häufiger finden sich verschiedene Vorschläge zur Operationalisierung von Response, Remission und verwandten Konzepten, von denen einige kurz skizziert werden sollen:  O’Donavan (2004) versucht mittels der HAMD sowohl Response als auch verschiedene Verlaufsparameter zu definieren (vgl. Tab. 5.2.10). Dies erfolgt durch die Festle-

240

gung von prozentualen Abnahmen zum Ausgangswert und der Definition von CutOff-Werten.  Für den Bereich der sozialen Phobie schlägt Ballenger (1999) verschiedene Kriterien zur Definition von Remission vor, wobei diese Kriterien nicht nur verschiedene Aspekte der Psychopathologie beinhalten, sondern auch funktionale Beeinträchtigungen (vgl. Tab. 5.2.11).  Für den Bereich schizophrener Störungen wurden erstmals differenzierte Responsekriterien basierend auf der Positive and Negative Syndrome Scale (PANSS) von Andreasen et al. (2005) vorgeschlagen (vgl. Tab. 5.2.12). Bewertet werden Symptome aus den Bereichen Wahn, Denkstörungen, Halluzinationen und Affektivität/Antrieb.  Die differenziertesten Vorschlägen wurden von Michelson et al. (1985) für den Bereich der Agoraphobie unterbreitet (vgl. Tab. 5.2.13). Neben Selbst- und Fremdbeurteilungen wurden Variablen ausgewählt, die sehr konstruktnah sind und zudem Vorschläge für die Bewertung des Status nach Therapieende als auch für die Verbesserung gemacht werden.

5.2.7 Voraussetzung der Anwendung von Interviews und Ratingskalen Bei der Anwendung von Interviews und Ratingskalen ist eine Reihe von Punkten zu beachten, die nachfolgend kurz skizziert werden sollen:  Auswahl von Verfahren: Will man sich nicht auf Empfehlungen anderer verlassen, sind Kenntnisse in der Psychometrie von Testverfahren wichtig und notwendig, um diese bewerten zu können. Die Einschätzung der vorhandenen Reliabilitäts- und Validitätsbelege erlaubt erst, ob ein Verfahren die hinreichenden Voraussetzungen für seine Anwendung besitzt.  Durchführung: Vor allem bei Interviews und Fremdbeurteilungsverfahren ist eine

5 Methodik

qualifizierte Ausbildung in den jeweiligen Verfahren unabdingbar notwenig. Hierzu liegen zwischenzeitlich eine Reihe elaborierter Konzepte vor (vgl. im Überblick Stieglitz 2008). In der Praxis, z. T. auch in Studien, wird diesem Sachverhalt eine viel zu geringe Bedeutung zugemessen. Vor allem im klinischen Alltag werden diese Verfahren ohne eine entsprechende qualifizierte Ausbildung eingesetzt.  Interpretation: Auch Bedarf es zumindest der Grundkenntnisse der Normierung von Verfahren (z. B. Bedeutung von Prozenträngen, T-Werten). Wie bereits weiter oben skizziert, sind Skalenwerte alleine nicht aussagekräftig. Erst ihre Bewertung in Relation zu Vergleichsmaßstäben erlaubt eine Interpretation.

5.2.8 Anwendungsbeispiele Die Anwendung von Interviews und Ratingskalen soll nachfolgend anhand einiger Beispiele demonstriert werden, um den speziellen Nutzen zu zeigen. Beispiel 1: In Abbildung 5.2.1 ist die Anwendung zweier Ratingskalen demonstriert, die im Therapieverlauf zu mehreren Zeitpunkten eingesetzt wurden (hier: BRMS). Am Beispiel erkennt man zunächst, dass zu Beginn der Therapie die Übereinstimmung zwischen Selbst- und Fremdbeurteilung noch nicht besonders groß ist. Dies ist ein allgemein zu beobachtendes Phänomen, wonach die Übereinstimmung zwischen beiden Datenquellen oft erst im Therapieverlauf zunimmt. Weiterhin erkennt man, dass am Ende der Therapie sich der Therapieerfolg in beiden Skalen gleichermaßen gut ablesen läßt. Beispiel 2: In Abbildung 5.2.2 ist der PräPost-Vergleich eines schizophrenen Patienten anhand des AMDP-Systems (AMDP 2007) abgebildet. Mittels der 8 Syndrome kann man anschaulich die Symptomatik darstellen wie deren Veränderung im Therapieverlauf erkennen. Während zu Beginn der stationären Behandlung eindeutig die Produktivsymptomatik dominiert (u. a. hohe Werte in den Skalen paranoid-halluzinatorisches Syndrom, Hostilitätssyndrom),

5.2 Ratingskalen und Interviews in der Psychopharmakotherapie

241

Abbildung 5.2.1: Dokumentation des Therapieverlaufs eines Patienten mittels der Bech-Rafaelsen-Melancholie-Skala (BRMS) und des Beck Depressionsinventars (BDI)

Abbildung 5.2.2: AMDP-Syndromprofile eines schizophrenen Patienten bei Aufnahme und Entlassung (ParHal: paranoid-halluzinatorisches Syndrom, Depres: Depressives Syndrom, Psyorg: psychoorganisches Syndrom; Mani: manisches Syndrom; Host: Hostilitätssyndrom; Apa: Apathische Syndrom; Veget: vegetatives Syndrom; Zwang: Zwangssyndrom

zeigt sich bei Entlassung deren deutliche Veränderung, jedoch wird, wie zu erwarten, jetzt eher Negativsymptomatik deutlich (hoher Wert im Apathischen Syndrom). Beispiel 3: Wie bei konkreten Therapieentscheidungen Ratingskalen hilfreich sein können, konnten Adli et al. (2002; s. a. Fäsler et al. 2005) zeigen. Entwickelt wurde ein Therapiealgorithmus für die Pharmakotherapie depressiver Störungen. Ein Therapiealgorithmus lässt sich nach Fäsler et al. (2005, S. 43) als ein systematischer Ablauf von Therapiestrategien definieren, in der Regel in sequenzieller Abfolge in Form einer operationalisierten, gestuften Behandlung („Stufenplan“). Wesentliche Elemente von Therapiealgorithmen sind ein zuvor festgelegtes Thera-

pieziel und die standardisierte Evaluation des Therapieerfolges (meist mittels Ratingskalen). Im Rahmen ihres Stufenplans zur Behandlung depressiver Störungen wurde die Bech-RafaelsenMelancholie-Skala (BRMS) als Entscheidungskriterium für die Beibehaltung bzw. Veränderung der Therapie verwendet. Das Ansprechen auf die jeweils gewählte pharmakologische Behandlung (bei einem Bewertungsabstand von 14 Tagen) wurde dabei wie folgt definiert:  Remission: BRMS-Wert ≤ 5  Kein Response: BRMS-Symptomreduktion ≤ 25 %  Partialresponse: BRMS-Symptomreduktion ≥ 26.

242

5.2.9 Fazit und Perspektiven Im Rahmen der Psychopharmakotherapie psychischer Störungen kann der Forscher wie der Praktiker zwischenzeitlich auf ein weites Spektrum bewährter Verfahren zurückgreifen, die psychometrisch abgesichert sind. Mittels Interviews zur klassifikatorischen Diagnostik ist es heute möglich, reliable Diagnosen hinsichtlich ICD-10 und DSM-IV zu stellen. Ratingskalen ermöglichen vor allem die Quantifizierung des Schweregrades von Syndromen wie die Erfassung anderer klinisch bedeutsamer Bereiche (u. a. Nebenwirkungen). Hinsichtlich der Bewertung der Psychopathologie haben Studien zeigen können, dass eine Kombination von Selbstund Fremdbeurteilungsverfahren sinnvoll ist. Dennoch sind, bei allen Entwicklungen und Fortschritten der letzten Jahre, eine Reihe von Defiziten zu konstatieren (vgl. auch Stieglitz 2008):  In der Praxis, stärker aber noch in der Forschung finden immer noch Verfahren Anwendung, deren psychometrische Qualität zweifelhaft ist (z. B. HAMD als Goldstandard in der Depressionsforschung).  Verfahren mit einer expliziten theoretischen Fundierung sind immer noch die Ausnahme,  gleiches gilt auch für an eine spezifische Therapie angelehnte Verfahren.  Oft finden anglo-amerikanische Übersetzungen von Verfahren Anwendung, wobei die Qualität der Übersetzung wie auch die psychometrische Qualität nicht hinreichend genau geprüft wurde.  Auf der Ebene der Testtheorie gilt es einerseits zu bemängeln, dass keine Ansätze zur Veränderungserfassung existieren, die in die bisherigen Skalenkonstruktionen eingeflossen sind. Weiterhin muss kritisiert werden, dass mittels der Klassischen Testtheorie, die die Grundlage für alle Skalenentwicklungen darstellt, keine Möglichkeit besteht, Symptome unterschiedlich zu gewichten. So gehen Symptome wie Konzentrationsstörungen und Suizidalität gleichgewichtig in den Summenwert einer Skala ein.

5 Methodik

 Für bestimmte Bereiche besteht unverändert ein Defizit an geeigneten Untersuchungsinstrumenten (z. B. Erfassung von Compliance).  Als generelles Manko im Bereich der Diagnostik anzusehen ist das Fehlen von Ansätzen zu einer (in Analogie zur Evidence Based Medicine) Evidence Based Assessment sowie das Fehlen expliziter Leitlinien zur Diagnostik psychischer Störungen auf syndromaler und kategorialer Ebene

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5.3 Systematische Reviews und Metaanalysen und ihre Bedeutung in der Bewertung von Psychopharmaka* S. Leucht

Einleitung Systematische Reviews und Metaanalysen werden heutzutage als wichtige Instrumente der Evaluierung von Psychopharmaka angesehen. John Davis war wahrscheinlich der erste, der die Methode in der Psychopharmakologie einsetzte. In einer heute noch oft zitierten Metaanalyse fasste er alle randomisierten Doppelblindstudien über die Rückfallprophylaxe mit Antipsychotika zusammen und konnte eindrücklich zeigen, dass eine solche Behandlung die Rückfallraten schizophrener Patienten senkt (Davis 1975). Dieser Befund gehört heute zum psychiatrischen Allgemeinwissen. Fächerübergreifend wird meist eine einige Jahre später publizierte Metaanalyse des Psychologen Gene Glass über die Wirksamkeit von Psychotherapie als bahnbrechend angesehen (Glass 1976). Die damals noch unausgereifte Methode rief aber auch rasch verständliche Kritik hervor, insbesondere habe Glass Äpfel mit Birnen verglichen. Trotz inzwischen deutlich verbesserter Methodik systematischer Reviews wird dieses

Heterogenitätsproblem auch heute noch diskutiert (s. u.). Ungefähr zur selben Zeit lässt sich der britische Arzt und Epidemiologe Archie Cochrane mit folgendem Satz zitieren: „It is surely a great criticism of our (medical) profession that we have not organised a critical summary, by specialty of subspecialty, adapted periodically, of all relevant randomised trials“ (Cochrane 1979). Von Archie Cochrane stimuliert gründete Iain Chalmers, ein Epidemiologe aus Oxford, 1993 die Cochrane Collaboration, eine internationale „not-for-profit“ Organisation, die es sich zum Ziel gesetzt hat, systematische Übersichtsarbeiten über medizinische Behandlungsformen zu erstellen, zu verbreiten und zu aktualisieren (www.cochrane.org). Diese Reviews werden in elektronischer Form in der Cochrane Database of Systematic Reviews publiziert, die viermal im Jahr erscheint und auch über das Internet abrufbar ist. In der Psychiatrie decken fünf Reviewgruppen – Cochrane Dementia and Cognitive Impairment Group, Cochrane Depression, Anxiety and Neurosis Group, Cochrane Developmental and Learning

* Dieser Beitrag wurde in englischer Sprache in der Fachzeitschrift Acta Psychiatrica Scandinavica publiziert. (Leucht S, Kissling W, Davis JM (2009) How to read and understand and use systematic reviews and meta-analyses. Acta Psych Scand, 119(6): 443–50, Wiley-Blackwell)

246

Disabilities Group, Cochrane Drugs and Alcohol Group und die Cochrane Schizophrenia Group – die wichtigsten psychiatrischen Erkrankungen ab. Der vorliegende Beitrag soll die wichtigsten Schritte beim Erstellen eines systematischen Reviews erklären und auf Bedeutung und Grenzen der Methode mit Hinblick auf die Psychopharmakologie eingehen. Ziel ist es, das Lesen einschlägiger Publikationen zu erleichtern. Für detaillierte Darstellungen muss auf die entsprechende Fachliteratur verwiesen werden.

Begriffserklärung: systematischer Review und Metaanalyse Die Begriffe systematischer Review und Metaanalyse werden häufig synonym verwendet, meinen aber nicht genau dasselbe. Metaanalyse kann als statistische Methode definiert werden, mit der man die Ergebnisse einzelner Studien miteinander kombiniert. Systematischer Review beschreibt das im Gegensatz zu konventionellen Reviews strukturierte Vorgehen. Dabei verwenden systematische Reviews in der Regel Metaanalysen zur Verrechnung der Daten, dies ist aber keine notwendige Bedingung.

Methode: 5.3.1 Erstellung eines Protokolls Gute systematische Reviews legen zunächst in einem Protokoll fest, wie bei der Erstellung des Reviews vorgegangen werden wird. In diesem Protokoll wird festgehalten, wie die Literatursuche durchgeführt wird, welche Studienqualität berücksichtigt wird (z. B. nur randomisierte Studien), welche Patienten eingeschlossen werden (z. B. Schizophrenie nach DSM-IV), welche Outcome Parameter betrachtet werden, welcher der primäre Outcome ist und welche statistische Methoden bei den metaanalytischen Methoden angewandt werden. Bei Cochrane Reviews wird grundsätzlich zunächst ein Protokoll erstellt, das von zwei Editoren einer Review Gruppe überprüft wird und im Anschluss in der

5 Methodik

Cochrane Library publiziert wird. Einer der Editoren nimmt hierbei eher beratende Funktion ein, der andere bleibt anonym und verhält sich kritisch. Die Publikation bereits als Protokoll ermöglicht Transparenz. Wie bei einem Studienprotokoll soll von der ursprünglich festgelegten Vorgehensweise nicht mehr abgewichen werden, um Verzerrungen zu vermeiden.

5.3.2 Suchstrategie Gute systematische Reviews führen die Literaturrecherche in einer Vielzahl von Quellen durch. So konnten z. B. Adams et al. (Adams et al. 1994) zeigen, dass eine beträchtliche Anzahl an randomisierten Schizophreniestudien durch MEDLINE nicht erfasst werden. Daher durchforstet z. B. die Cochrane Schizophrenia Group regelmäßig zahlreiche elektronische Datenbanken (inklusive einer chinesischen), zieht aber auch Buchartikel heran und durchforstet regelmäßig die Abstraktbände wichtiger Kongresse. Die Suche wird durch Anschreiben von Autoren und Firmen nach weiteren Artikeln, Durchforsten weiterer potentiell einschlägiger Quellen wie der Website der Food and Drug Administration (FDA) und der Literaturlisten bereits identifizierter Artikel komplementiert. Ziel ist es, möglichst alle einschlägigen Studien zu finden. Es ist gut bekannt, dass negative Studien seltener publiziert werden als solche, die der ursprünglichen Hypothese entsprachen. Dieser Publikationsbias erklärt sich dadurch, dass z. B. Firmen ein geringes Interesse an der Publikation von Studien mit für sie negativen Ergebnissen haben. Turner et al. (2008) zeigten erst kürzlich, dass Firmen von den bei der FDA eingereichten Antidepressivastudien bevorzugt solche mit positivem Ergebnis publizierten. Fasst man aber nur die positiven Studien in einem Review zusammen, muss dieser zu einem zu günstigen Bild kommen. Dies wurde ironisch als „evidence-b(i)ased medicine“ bezeichnet (Melander et al. 2003). Aus ähnlichen Grund werden auch bislang nur auf Kongressen vorgestellte Studien eingeschlossen (sogenannte „grey literature“). Auch hier wurde in verschiedenen Bereichen der Medizin gezeigt, dass nur ein Teil der Studien später auch publiziert wird, ohne

247

5.3 Systematische Reviews und Metaanalysen

dass sich dies schlüssig durch eine bessere Methodik erklären ließ. Schließlich schränken gute Reviews ihre Einschlusskriterien auch nicht auf bestimmte Sprachen ein. So zeigten z. B. Egger et al. (1997), dass deutsche Autoren Studien mit signifikanten Ergebnissen bevorzugt in renommierteren englischsprachigen Journals publizieren, solche ohne signifikante Ergebnisse in deutschen Zeitschriften. Auch hier würde eine Berücksichtigung nur englischsprachiger Artikel zu einer zu positiven Bewertung führen (sogenannter „Sprachbias“, s. auch Heres et al. 2004). Schließlich werden Studienautoren auch mit der Bitte um Angaben zu fehlenden Informationen angeschrieben.

5.3.3 Auswahl der Studien und Datenextraktion Zur Qualitätssicherung ist es wichtig, dass die Auswahl der Studien aus den gefundenen Abstrakts und auch die anschließende Datenextraktion überprüft wird. Dies erfolgt am besten so, dass mindestens zwei Reviewer diese Schritte unabhängig von einander durchführen und dann vergleichen. Kamen Sie zu unterschiedlichen Ergebnissen, wird dies in der Diskussion geklärt, wofür auch ein Dritter herangezogen

Abbildung 5.3.1: Das Quality Of Reports Of Metaanalysis (QUORUM) flow-diagramm (Moher et al. 1999)

werden kann oder manchmal die Studienautoren angeschrieben werden müssen. Entscheidend ist es, den Ablauf der Suche und die Gründe für Studienausschlüsse zu dokumentieren, was z. B. mit Hilfe eines QUORUM Diagramms erfolgen kann (Moher et al. 1999; s. Abb. 5.3.1). Auch die Einschätzung der Studienqualität sollte unabhängig überprüft werden. Hierfür können Skalen wie die JADAD scale (Jadad et al. 1996) hilfreich sein, die die Qualitätsparameter Güte der Randomisierung und Verblindung sowie Darstellung von Dropouts erfasst.

5.3.4 Statistische Methoden Es gibt eine Vielzahl an statistischen Methoden für verschiedene Studientypen und Fragestellungen. In der Folge wird das Prinzip für Gruppenvergleiche in randomisierten Studien, wie sie in der Psychopharmakologie üblich sind, dargestellt. Für ausführlichere Darstellungen siehe bitte einschlägige Lehrbücher, z. B. (Cooper und Hedges 1994; Higgins und Green 2005).

Effektstärkenmaße Zunächst wird für jede Studie und für jeden Outcome Parameter eine Effektstärke berechnet. Eine Effektstärke ist ein statistisches Maß für die Größe des Unterschieds zwischen zwei Interventionen, während der p-Wert nur die Wahrscheinlichkeit beschreibt, ob ein Ergebnis zufällig zustande gekommen ist. Es gibt Effektstärken für dichotome (binäre) und kontinuierliche Daten. Effektstärkenmaße für dichotome Variablen: Beispiele für dichotome (binäre) Outcomes sind z. B. Todesfall ja/nein, Rückfall ja/nein oder Therapieansprecher ja/nein. Für diese können Effektstärken in Form von absolutem Risikounterschied, relativem Risiko oder Odds Ratio berechnet werden. Ferner gibt es den Korrelationskoeffizienten (R), der auf kontinuierliche und dichotome Variablen anwendbar ist. Nachdem dieser zwar häufig in der psychologischen aber seltener in der medizinischen Literatur verwendet wird, wird auf seine Darstellung hier

248

5 Methodik

Tabelle 5.3.1: Berechnung von Effektstärken für dichotome Outcomes Risikomaße

Formel

Erklärung

Risiko

a/(a + b)

Anzahl von Patienten mit einem Ereignis geteilt durch die Gesamtzahl

relatives Risiko

[a/(a + b)]/[c/(c + d)]

Risiko in der Interventionsgruppe geteilt durch das Risiko in der Kontrollgruppe

absoluter Risikounterschied

[a/(a + b)] – [c/(c + d]

Risiko in der Interventiosgruppe minus Risiko in der Kontrollgruppe

Odds ratio

(a/b)/(c/d)

Odds in der Interventionsgruppe geteilt durch Odds in der Kontrollgruppe

a = Teilnehmer mit einem Ereignis (z. B. Rückfall) in der Interventionsgruppe b = Teilnehmer ohne Ereignis (z. B. Rückfall) in der Interventionsgruppe c = Teilnehmer mit einem Ereignis (z. B. Rückfall) in der Kontrollgruppe d = Teilnehmer ohne Ereignis (z. B. Rückfall) in der Kontrollgruppe Die ersten drei Maßzahlen können auch als Prozentzahlen dargestellt werden, indem man mit 100 multipliziert

verzichtet. Die Formeln für die Berechnung der folgenden Parameter findet sich in Tabelle 5.3.1. Risiko ist die Anzahl der Patienten mit einem Ereignis (z. B. einem Rückfall) geteilt durch die Gesamtzahl der Patienten (z. B. 2 von 10 Patienten, also 0,2 oder 20 %). Beim absoluten Risikounterschied subtrahiert man das Risiko in der einen Gruppe vom Risiko in der anderen Gruppe. Beim relativen Risiko teilt man das Risiko der einen Gruppe durch das Risiko der anderen Gruppe. Um die relative Risikoreduktion zu berechnen zieht man das Ergebnis von 1 ab. Die Odds Ratio (Chancenverhältnis) verwendet dieselben Angaben wie absoluter und relativer Risikounterschied. Im Gegensatz zum Risiko ist das Odds aber die Anzahl an Patienten mit einem Ereignis (z. B. Rückfall) geteilt durch die Anzahl der Patienten ohne ein Ereignis (und nicht durch die Gesamtzahl). Alle Effektstärkenmaße haben Vor- und Nachteile. Relatives Risiko und Odds Ratio haben bei Metaanalysen im Vergleich zum absoluten Risikounterschied den Vorteil, dass sie weniger vom „Basisrisiko“ abhängen. Gibt es

also Studien mit z. B. insgesamt häufigen Rückfällen und andere Studien mit seltenen Rückfällen, sind relatives Risiko und Odds Ratio für diesen Unterschied weniger störanfällig. Der absolute Risikounterschied wird aber möglicherweise am ehesten der intuitiven Interpretation durch den Kliniker gerecht. Er wird auch für die Berechnung der „Number-needed-totreat“ benötigt (s. u.). Die Odds Ratio hat etwas bessere mathematische Eigenschaften als das relative Risiko. Bei seltenen Ereignissen ergibt sie ähnliche Werte wie das relative Risiko. Das Problem ist aber, dass die Odds Ratio bei häufigen Ereignissen (in etwa über 20 %) deutlich höher ausfällt als das relative Risiko. Statistisch unerfahrene Leser setzen aber auch in solchen Fällen relatives Risiko und Odds Ratio gleich, was zu einer Überschätzung des Risikos führt. Daher wird in Cochrane Reviews meist das relative Risiko verwendet. Je nach Situation kommen aber alle genannten Effektstärkenmaße zum Einsatz. Das folgende Beispiel soll verdeutlichen, zu welch unterschiedlichen Interpretationen man je nach Angabe von absolutem oder relativem Risikounterschied kommen kann. Abbildung 5.3.3

5.3 Systematische Reviews und Metaanalysen

249

Abbildung 5.3.2: Illustration der Funnel-plot Methode

zeigt das Ergebnis einer Metaanalyse randomisierter Studien über Rückfallhäufigkeit unter typischen und atypischen Antipsychotika. Unter Behandlung mit Atypika hatten 15 % der Patienten einen Rückfall im Vergleich zu 23 % unter Typika. Der absolute Risikounterschied beträgt nur 8 % (23 %–15 %), was auf den ersten Blick wenig beeindruckt. Der relative Risikounterschied ist aber 35 % (1–(15 %/23 %)), ein deutlicher Unterschied. Beide Zahlen sind mathematisch „richtig“, aber abhängig davon, welche angegeben wird, werden wir die klinische Relevanz des Ergebnisses ganz anders interpretieren. Ein Versuch, die Ergebnisse für Kliniker leichter interpretierbar zu machen, ist die Number-needed-to-treat (NNT). Sie gibt an, wie viele Patienten mit der überlegenen Intervention (hier atypische Antipsychotika) behandelt werden müssen, um einen negativen Outcome (hier Rückfall) zu vermeiden. Sie wird als der Kehrwert des absoluten Risikounterschieds berechnet (hier 1/0,08, also NNT = 13). Effektstärkenmaße für kontinuierliche Variablen: Kontinuierliche Variablen sind z. B. der Blutdruck oder ein bestimmter Laborparameter. In

der Psychopharmakologie werden die Ergebnisse von Rating Skalen (z. B. Brief Psychiatric Rating Scale (BPRS) oder Hamilton Depression Scale) wie kontinuierliche Variablen behandelt, obwohl sie streng statistisch genommen dieses Kriterium nicht voll erfüllen. Hier gibt es grundsätzlich zwei Effektstärken: den Unterschied der Mittelwerte (difference of means, DM) und den standardisierten Unterschied der Mittelwerte (standardised mean difference, SMD). Der Unterschied der Mittelwerte ist einfach der Mittelwert der einen Gruppe minus der Mittelwert der anderen Gruppe. Nehmen wir als hypothetisches Beispiel eine Studie, die Haloperidol mit Zotepin verglich: mittlerer BPRS Summenscore am Studienende in der Haloperidolgruppe von 60 minus mittlerer BPRS Summenscore in der Zotepingruppe von 50: DM = 10. Dieses Maß ist intuitiv verständlich. Es gibt aber das Problem, dass oft verschiedene Skalen verwendet werden, um dasselbe Konzept zu messen. In der Schizophreniebehandlung konkurrieren z. B. die Positive and Negative Syndrome Scale (PANSS) und die Brief Psychiatric Rating Scale (BPRS). 10 Punkte Unterschied auf der PANSS bedeuten aber nicht dasselbe wie 10 Punkte

250

5 Methodik

Unterschied auf der BPRS. Daher muss man die Ergebnisse verschiedener Skalen standardisieren, um die einzelnen Studien in einer Metaanalyse kombinieren zu können, man berechnet also einen standardisierten mittleren Unterschied. Dies geschieht durch Teilen durch die gepoolte Standardabweichung beider Gruppen in der grundsätzlichen Formel: SMD = (Mittelwert Gruppe 1 – Mittelwert Gruppe 2)/ gepoolte Standardabweichung beider Gruppen. Ein SMD von 0,3 bedeutet also einen Unterschied von 0,3 Standardabweichungen zwischen zwei Interventionen. Es gibt verschiedene Formeln für SMDs wie z. B. Cohen’s D oder Hedges’g, die Abwandlungen der prinzipiellen Formel darstellen und in verschiedenen Situationen Vor- und Nachteile haben. Ein Nachteil des SMD besteht darin, dass er schwerer zu interpretieren ist als der einfache Unterschied der Mittelwerte. Cohen hat eine weitverbreitete, allerdings nur sehr pauschale Faustregel aufgestellt, nach der ein SMD von 0,2 einen kleinen, 0,5 einen mittleren und 0,8 einen großen Effekt darstellt (Cohen, 1969).

stärken zufällig streuen. Sie gehen also davon aus, dass der einzige Grund für die Variabilität der Einzeleffektstärken um den wahren Wert herum ein zufälliger Stichprobenfehler ist. „Random-effects“ Modelle gehen hingegen davon aus, dass es sich eher um eine Verteilung von Mittelwerten handelt, weil die Studien zwar ähnlich sind, sich aber doch in gewissen Aspekten (z. B. etwas andere Einschlusskriterien oder Dosierungen) unterscheiden. Random-effects Modelle beziehen diese Variabilität in die Mittelwertsbildung ein, was in der Regel zu größeren Konfidenzintervallen und seltener statistisch signifikanten Ergebnissen führt. Random-effects Modelle führen aber nur dann zu anderen Ergebnissen als fixed effects Modelle, wenn die einzelnen Studien heterogene Ergebnisse zeigten. Dies wird mit einer Homogenitätsstatistik überprüft. Diese hilft auch dabei, herauszufinden ob es Studien mit abweichenden Ergebnissen gibt. Lassen sich solche Abweichungen durch methodische oder andere Unterschiede solcher Studien erklären, muss man diese eventuell aus der metaanalytischen Kombination herausnehmen und getrennt darstellen.

Berechnung einer mittleren Effektstärke

Methoden zur Untersuchung eines möglichen Publikationsbias

Die Effektstärken der einzelnen Studien werden im Anschluss zu einer mittleren Effektstärke verrechnet. Auch hierfür stehen wiederum verschiedene Formeln zur Verfügung. Standardmäßig erfolgt aber eine Gewichtung nach der Größe bzw. der Präzision der einzelnen Studien. Es ist auch möglich, die Gewichtung nach anderen Parametern, z. B. der Studienqualität durchzuführen. Die Schwierigkeit besteht aber darin, dass es unklar ist wie viel Gewicht verschiedenen Qualitätsaspekten zugemessen werden soll. Solche Gewichtungen nach Qualität laufen also Gefahr, subjektiv zu sein. Zum Verständnis wichtig ist der Unterschied zwischen „fixed effects“ Modellen und „random effects“ Modellen bei der Verrechnung der einzelnen Studien. „Fixed-effects“ Modelle gehen davon aus, dass es eine wahre mittlere Effektstärke für alle in eine Metaanalyse eingeschlossenen Studien gibt, um die herum die Einzeleffekt-

Wie oben beschrieben stellt der Publikationsbias ein gravierendes Problem der „evidence based medicine“ dar. Fassen wir nur die Studien mit positiven Ergebnissen in (systematischen oder konventionellen) Reviews zusammen, wurde dies ironisch als „evidence-b(i)ased-medicine“ beschrieben (Melander et al. 2003). Rosenthal nannte dieses Problem auch „file drawer problem“ („Schubladenproblem“; Rosenthal 1991). Gemeint ist, dass Studien ohne signifikante Ergebnisse in der „Schublade“ des Forschers bleiben. Metaanalysen bieten immerhin Möglichkeiten, einem Publikationsbias auf die Schliche zu kommen. Sogenannte „failsafe“ Methoden schätzen ab, wie viele unpublizierte Studien mit negativen Ergebnissen es geben müsste, damit ein metaanalytisches Ergebnis nicht mehr signifikant ist oder die Effektstärke ein triviales Ausmaß annimmt (Orwin 1983). Der „FunnelPlot“ (engl. funnel = Trichter) ist eine graphische

5.3 Systematische Reviews und Metaanalysen

251

Methode, bei der die Effektstärken der einzelnen Studien versus ihrer Teilnehmerzahl bzw. Präzision aufgetragen werden. Wurden alle Studien zu einer Fragestellung publiziert, müsste sich eine symmetrische Figur mit der Form eines umgekehrten Trichters ergeben (Egger et al. 1997). Die großen Studien mit guter Präzision finden sich nämlich oben in der Nähe der mittleren Effektstärke. Je kleiner die Studien sind, desto mehr streuen sie um den Mittelwert und liegen dabei zufällig manchmal eher rechts, manchmal links. Ist die Abbildung nicht symmetrisch, ist dies ein Hinweis darauf, dass einige Studien nicht publiziert worden sein könnten. Dies wird in Abbildung 5.3.2 demonstriert.

den z. B. in Cochrane Reviews in detaillierten Tabellen aufgeführt. Besonders elegant und intuitiv verständlich ist die Darstellung der Ergebnisse in sogenannten Forest Plots. Abbildung 5.3.3 ist der Forest Plot einer Metaanalyse, die Rückfallraten unter Behandlung mit atypischen und typischen Antipsychotika nach einem Jahr verglich (Leucht et al. 2003). Für jede Studie wird ihre Effektstärke (hier wurde der absolute Risikounterschied gewählt) und das dazugehörige Konfidenzintervall (meist 95 %) dargestellt. Auch wird für jede Studie einzeln die Zahl der Rückfälle angegeben. Die Effektstärke ganz unten ist die mittlere („gepoolte“) Effektstärke. Folgende Regeln machen FunnelPlots leicht interpretierbar.

5.3.5 Darstellung der Ergebnisse

1. Alle Ergebnisse auf der linken Seite sind zugunsten der Atypika, alle auf der rechten Seite zugunsten der Typika: es zeigt sich also mit Ausnahme der Studien von Tamminga et al. (1994) und Tran et al. (1998a) zumindest ein Trend zugunsten der Atypika.

Gute systematische Reviews bemühen sich um eine möglichst transparente und damit reproduzierbare Darstellungsweise. Suchstrategie, ausgeschlossene und eingeschlossene Studien wer-

Abbildung 5.3.3: Beispiel für Forest Plot-Metaanalyse Rückfallraten atypische versus typische Antipsychotika (nach Leucht et al. 2003)

252

2. Überlappt das 95 % Konfidenzintervall nicht mit der y-Achse, ist das Ergebnis statistisch signifikant, weil 95 % der zu erwartenden Ergebnisse auf einer Seite liegen. Dies ist hier nur bei den Studien von Csernansky et al. (2002), Daniel et al. (1998) und der mittleren Effektstärke der Fall. 3. Kleine Studien bzw. solche mit geringer Präzision haben große Konfidenzintervalle (z. B. Rosenheck et al. 1999), große Studien haben kleine Konfidenzintervalle (z. B. Tran et al. 1998c). Weil man in der mittleren Effektstärke eine Reihe von Studien zusammenfasst, ist auch hier die Fallzahl groß und das Konfidenzintervall klein. In diesem Sinne ist es ein Anwendungsgebiet von Metaanalysen, durch die Kombination mehrerer methodisch guter aber kleiner Studien die statistische Power zu erhöhen. Hat man diese Regeln verinnerlicht, erleichtern Forest Plots die Gesamtschau und Interpretation der Ergebnisse erheblich. Während man bei narrativen Reviews mühsam die Ergebnisse der einzelnen Studien aufzählen muss und man am Ende doch zu einer mehr oder weniger subjektiven Schlussfolgerung kommt, gewinnt man hier sofort graphisch einen Überblick über statistische Signifikanz, Größe der Effekte und Ausreißer.

5.3.6 Methodische Probleme Es ist unmittelbar einleuchtend, dass ein systematisches Vorgehen bei der Erstellung eines Reviews einem wie früher üblichen unstrukturierten Vorgehen vorzuziehen ist. Bei Metaanalysen gibt es aber – wie bei jedem Verfahren – methodische Schwierigkeiten, von denen einige wichtige beschrieben werden sollen. Das „Äpfel und Birnen Problem“: Die metaanalytische Kombination einzelner Studien wurde als „Äpfeln mit Birnen“ Vergleich kritisiert. Eine begrenzte Variabilität ist der einzelnen Studien ist durchaus erlaubt, denn auch im klinischen Alltag ist geht es um Patienten mit ähnlichen Charakteristika aber indivi-

5 Methodik

duellen Unterschieden. Das meinte wohl auch Gene Glass, einer der Pioniere der Methode, mit seinem Zitat, die Kombination sei in Ordnung solange man eine Aussage über „Obst“ machen wolle (Glass 1978). Klare Einschlusskriterien, die graphische Darstellung der Ergebnisse in Forest Plots und Heterogenitätsstatistiken helfen dabei, Äpfel und Birnen auseinander zu halten. Die Grenzziehung ist aber zugegebenermaßen oft nicht trivial. Unterschiedliche Qualität der einzelnen Studien: Man kann in Metaanalysen eine zusätzliche Gewichtung nach der Studienqualität vornehmen. Hierbei ist aber zu beachten, dass man sich meist bereits auf einem hohen Niveau bewegt (randomisierte Doppelblindstudien) und es nicht klar ist, welchem Qualitätsparameter man wie viel Gewicht zukommen lassen soll. Es gibt aber Situationen, in denen man sich besser auf z. B. zwei methodisch eindeutig hochrangigere Studien verlassen sollte, als auf z. B. 10 schlechte („garbage in garbage out“). Metaanalysen sind „überpowert“: Desweiteren wurde kritisiert, Metaanalysen seien durch die Kombination verschiedener Studien statistisch „überpowert“ und überschätzten daher die Effekte. Dies trifft eigentlich nicht zu, denn im Gegensatz zu narrativen Reviews wird ein Schwerpunkt auf die Größe des Effekts (Effektstärke) und nicht auf den p-Wert gelegt. Metaanalytische Mittelung: Es wird vorgebracht, Metaanalysen bildeten Mittelwerte und diese Mittelwerte würden die Effekte verwischen. Wissenschaftliche Ergebnisse sind aber immer Mittelwerte. Z. B. zeigt eine randomisierte Studie auch nichts anderes als den Mittelwert der eingeschlossenen Patienten. Kann man also nicht eindeutig zeigen, dass bestimmte Studien eindeutig besser sind als andere, gibt es keinen rationalen Grund, nur diese heranzuziehen. Fehlende Daten: Wenn bei einer Studie nicht die notwendigen Parameter angegeben sind, kann sie nicht in die

253

Literatur

Metaanalyse einbezogen werden. Eigentlich möchte man aber eine Aussage über alle relevanten Studien treffen. Zwar werden Studienautoren in einem guten Review nach fehlenden Informationen angeschrieben, leider senden aber nicht alle diese Informationen zu. Unterschiedliche statistische Modelle: Es gibt Diskussionen darüber, welches statistische Modell in welcher Situation am geeignetsten ist, auch wenn sich bei robuster Datenlage hieraus oft keine relevanten Unterschiede ergeben. Unterschiedliche Intepretation der Ergebnisse: Die Methode als solche ist zwar objektiv, aber auch metaanalytische Ergebnisse müssen interpretiert werden. Autoren mit verschiedenem Hintergrund und Einstellungen können zu unterschiedlichen Bewertungen kommen. So kommt zum Beispiel die Cochrane Review über Amisulprid (Duggan et al. 2005) und Olanzapin trotz ähnlicher Ergebnisse (Mota et al. 2002) zu unterschiedlichen Schlussfolgerungen. Dies ist kein methodisches Problem im engeren Sinne, es muss aber dringend an einer Vereinheitlichung der Interpretation von Metaanalysen gearbeitet werden.

5.3.7 Stellenwert systematischer Reviews und Metaanalysen in der Psychopharmakologie Gerade in der Psychopharmakologie sind Metaanalysen meines Erachtens unverzichtbare Instrumente der Evaluierung neuer Substanzen. Es gibt derzeit in der Medizin eine unglaubliche Informationsflut. Nach Schätzungen werden jährlich in etwa 10000 medizinischen Fachzeitschriften etwa 2 Millionen Artikel publiziert. Ein Allgemeinmediziner, der alle für sein Fachgebiet relevanten Beiträge lesen möchte, müsste täglich etwa 19 Publikationen lesen und dies 365 Tage im Jahr (Berner et al. 2000). Über die Frage, ob atypische Antipsychotika konventionellen Neuroleptika in der Schizophreniebehandlung überlegen sind, liegen in aktualisierten

Versionen unserer Reviews 35 Doppelblindvergleiche mit Placebo (Leucht et al. 2008a), 150 Doppelblindvergleiche mit Typika (Leucht et al. 2007) und 78 verblindete Direktvergleiche der Atypika vor (Leucht et al. 2008). Die Zahlen über Studien für die neueren Antidepressiva sind ähnlich schwindelerregend. Es ist m. E. unmöglich, solch riesige Studienzahlen mit konventionellen Reviewmethoden objektiv zu beurteilen. Die objektive Evaluierung wird zusätzlich dadurch erschwert, dass von pharmazeutischen Unternehmen gesponsorte Studien oft etwas verzerrt dargestellt werden. So fanden Heres et al. (2006), dass die Abstrakts von Direktvergleichen atypischer Antipsychotika zu 90 % zugunsten des Medikaments des Sponsors ausfallen. Die Vorteile der eigenen Substanz werden betont. Ein anderer Weg wäre es, bestimmte Studien auszuwählen, aber auch dies ist problematisch. Zum Einen handelt es sich bei allen Untersuchungen meist um qualitative hochwertige Studien – alle waren randomisiert doppelblind. Eine weitere Auswahl zu treffen ist meiner Erfahrung nach schwierig. Ein solcher Ansatz könnte auch dazu verführen, die Studien auszusuchen, die das erwünschte Ergebnis zeigten. Es ist daher davon auszugehen, dass Metaanalysen weiterhin einen hohen Stellenwert in der Psychopharmakologie einnehmen werden.

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5.4 Wirksamkeitsnachweis/Placeboproblematik H.-J. Möller und K. Broich

5.4.1 Grundlegendes zu methodischen Ansätzen des Wirksamkeitsnachweises Zur Methodik des klinischen Wirksamkeitsnachweises und der darüber hinaus gehenden klinischen Evaluation von Psychopharmaka gibt es eine Reihe von grundlegenden Übersichtsarbeiten (Angst et al. 1989; Möller 2007; Möller und Benkert 1980; Müller-Oerlinghausen 1986; Wittenborn 1977). Über den jeweils aktuellen methodischen Standard für zulassungsrelevante Psychopharmakastudien informieren diesbezügliche Richtlinien der Zulassungsbehörden (Tab. 5.4.1) z. B. die diesbezüglichen Guidelines der europäischen Zulassungsbehörde (Committee for Proprietary Medicinal Products (CPMP) 1997; Committee for Proprietary Medicinal Products (CPMP) 1998; Committee for Proprietary Medicinal Products (CPMP) 2002; siehe den Beitrag von Reum Broich in diesem Band). Die in der klinischen Evaluation von Psychopharmaka gebräuchlichen Methoden kann man einteilen in

 retrospektive und prospektive Verfahren,  nichtexperimentelle, quasiexperimentelle und experimentelle Verfahren. Sie können je nach Fragestellung und Verfügbarkeit des Datenzuganges angewandt werden. Insgesamt gibt es nicht „den“ allgemein gültigen, idealen Versuchsplan. Allenfalls gibt es für bestimmte Fragestellungen und unter bestimmten Bedingungen optimale Versuchspläne, wobei als Randbedingungen neben der eigentlichen wissenschaftlichen Fragestellung pragmatische, ökonomische, ethische und juristische Probleme zu berücksichtigen sind (Helmchen und Müller-Oerlinghausen 1978; Möller 2007). Um Hypothesen zu generieren werden nichtexperimentelle Studien mit retrospektiven oder prospektiven Design eingesetzt, mit dem Ziel Zusammenhänge herauszufinden, die später in prospektiven Studien experimentell geprüft werden. Prinzipiell haben prospektive Untersuchungen gegenüber retrospektiven Untersuchungen sowie experimentelle gegenüber nichtexperimentellen Verfahren eine höhere wissenschaftliche Wertigkeit, da deren Ergebnisse eine größere Garantie für unverfälschte Ergebnisse bieten (interne Validität). Da experimentelle Untersuchungen stark reduktionistisch sind (z. B.

256

5 Methodik

Tabelle 5.4.1: Allgemeine Guidance-Dokumente der International Conference of Harmonisation zur Durchführung klinischer Prüfungen und zu speziellen Krankheitsbildern von der European Medicines Agency (EMEA); die aktuellen Versionen sind unter den angegebenen Webadressen abrufbar. Guidance Dokumente

ICH http://www.ich.org/cache/compo/ 276-254-1.html

Good clinical practice (E6 (R1)) Studies in support of special populations. Geriatrics (E7) General consideration of clinical trials (E8) Statistical Principles for clinical trials (E9) Choice of control group and related issues in clinical trials (E10) Clinical investigation of medicinal products in the paediatric population (E11)

EMEA http://www.emea.europa.eu

Schizophrenia (CPMP/EWP/559/95 + Add.) Bipolar Disorder (CPMP/EWP/567/98) Depression CPMP/EWP/518/97 Rev. 1) Panic Disorder (CHMP/EWP/4280/02) Generalised Anxiety Disorder (CPMP/EWP/4284/02) Obsessive Compulsive Disorder (CHMP/EWP/4279/02) Social Anxiety (CHMP/EWP/3635/03) Post-Traumatic Stress Disorder (CHMP/EWP/358650/06) Alzheimer‘s Disease (CPMP/EWP/553/95 Rev.1) Insomnia (CHMP/EWP/310566/07) ADHD (CHMP/EWP/431734/08) Smoking and nicotine dependence (CHMP/EWP/369963/05)

Ausschluss von sehr schweren/psychotischen Depressionen, Ausschluss von schwerer Suizidalität, Ausschluss von Störvariablen wie Komorbidität etc.) ist die Generalisierbarkeit der Ergebnisse auf die im klinischen Alltag vorhandenen Patienten nur begrenzt möglich (Riedel et al. 2005; Woggon 1977). Dies gilt insbesondere bei Placebo-kontrollierten Studien. Deshalb ist es wichtig, neben den rigorosen experimentellen Studiendesigns auch andere, methodisch weniger restriktive Studien durchzuführen, um eine komplementäre, besser generalisierbare Sichtweise zu bekommen (externe Validität). Sie können die speziell auf interne Validität abzielenden experimentellen Studiendesigns (z. B. Phase III Studien) in sinnvoller Weise im Sinne der externen Validität ergänzen. Insbesondere in Studien der Phase IV (s. u.) also nach Zulassung eines Medikamentes, werden diese methodisch weniger restriktiven Studien durchgeführt, da gerade in dieser Phase auf eine gute Generalisierbarkeit der Ergebnisse abgezielt wird. Diese Studien sind größtenteils naturalistische Beobachtungsstudien, zum weit geringeren Teil kontrollierte Studien mit ran-

domisierter Zuweisung der Patienten zu den Behandlungsgruppen. Die randomisierten kontrollierten Studien sind aber meist nicht verblindet oder haben andere Einschränkungen des Designs im Vergleich zu klassisch experimentellen Studienansätzen der Phase III (s. u.). Das Interesse an Studien, die besser auf die alltäglichen Versorgungssituation abgestimmt sind, wuchs gerade in den letzten Jahren und resultierte u. a. in zahlreichen, z. T. sehr groß angelegten sogenannten „effectiveness studies“ (auch „real world studies“ oder „pragmatic trials“ genannt) in verschiedenen Indikationsgebieten, die in den letzten Jahren insbesondere in den USA größtenteils mit massiver finanzieller Förderung durch staatliche Institutionen durchgeführt wurden. Auch wenn diese z. T. sehr groß angelegten Studien interessante Informationen zu den Gegebenheiten der alltäglichen Behandlungssituation geben, können sie wegen ihrer methodologischen Mängel nicht die Ergebnisse der methodologisch strikten PhaseIII-Studien im Hinblick auf Wirksamkeit und Verträglichkeit falsifizieren, sondern nur eine komplementäre Sichtweise beitragen (Möller 2008a).

257

5.4 Wirksamkeitsnachweis/Placeboproblematik

10 n pa tien ts

S e arch fo r active su bsta nc es

Phase I

Phase II

P hase III

E ffec ts on healthy volunte ers

Clinica l s tudies on a lim ited num be r of patie nts

C om parative clinical s tudies on a large num be r of patie nts

To xicology and e ffic ac y s tud ies on d iffe rent type s o f a nim als

R E G I S T R A T I O N

P hase IV

Continue d studie s in norm a l e veryda y clinica l pra ctice

Approxim a te ly 1 0 yea rs from ide a to m ark et

Abbildung 5.4.1: Phasen der Arzneimittelprüfung

Der klinische Wirksamkeitsnachweis von Pharmaka wird konventionsgemäß in 4 Phasen eingeteilt (Möller 1992) (Abb. 5.4.1).  Während in Phase I an gesunden Probanden vorwiegend die Verträglichkeit einer vorher pharmakologisch und tierexperimentell untersuchten Substanz geprüft wird, werden in den Phasen-IIA und -IIB der Nachweis der therapeutischen Wirksamkeit an einer kleineren Patientengruppe untersucht. In Phase III wird an größeren Patientenstichproben versucht, die Ergebnisse der Phase II zu bestätigen. Diese Konfirmationsstudien führen bei positivem Ausgang und vertretbaren Wirksamkeits-Verträglichkeitsrisiko zur Zulassung. Nach Einführung eines Präparates wird in Phase IV größtenteils im Rahmen naturalistischer Anwendungsbeobachtungen die Effektivität und Tolerabilität überprüft (Linden 1989). Diese Anwendungsbeobachtungen können (Linden et al. 1997; Linden 1997) neben einfachen naturalistischen Analysen, die nur auf ein Medikament fokussieren, auch gleichzeitig andere Medikamente zum Vergleich einbe-

ziehen (Möller et al. 2007) ohne dass der naturalistische Charakter eingeschränkt wird (z. B. Bitter et al. 2007; Haro et al. 2006; Haro und Salvador-Carulla 2006; Novick et al. 2007; Tenback et al. 2006; Tenback et al. 2007; Windmeijer et al. 2006). Auch Methoden der Pharmakovigilanz (drug surveillance) die vorrangig auf Sicherheitsaspekte abziehlen, gehören zu den Evaluationsansätzen in Phase IV (Grohmann et al. 1994; Grohmann et al. 2004a; Grohmann et al. 2004b; Grohmann et al. 2004c; Helmchen et al. 1985) Schließlich können auch randomisierte Kontrollgruppenstudien (RCTs = randomised controlled trials) in Phase IV ihren Platz haben, wie u. a. die „effectiveness“-Studien zeigen.

5.4.2 Versuchsanordnungen zum Wirksamkeitsnachweis Zum Nachweis der Wirksamkeit eines Pharmakons im zulassungsrechtlichen Sinne ist der doppelblind durchgeführte randomisierte Kon-

258

trollgruppenvergleich die wichtigste Methode (Nies 1990). Dabei werden die Effekte einer zu prüfenden Substanz auf die Patienten der Experimentalgruppe mit den Effekten eines Placebos und/oder eines bereits eingeführten Pharmakons gleicher Indikation (Standardpräparat) mit den Patienten der Kontrollgruppe verglichen. Die Patienten werden beiden Gruppen nach Zufallsprinzip (randomisiert) zugeordnet. Sowohl die generelle Wirksamkeit eines Pharmakons als auch spezifische Aspekte wie z. B. Dosierung oder Applikationsweise (peroral, intramuskulär etc.) können dabei hinsichtlich Wirkungen und Nebenwirkungen untersucht werden. Die erforderliche Stichprobengröße wird anhand der statistischen Fallzahlberechnung festgestellt, die sowohl die erwartete Differenz bezüglich des Wirksamkeitsmaßes als auch die Streuung dieser Messgröße in Rechnung stellt (Baumann 1974; Ferner 1977). Zahlreiche Probleme ergeben sich hinsichtlich verschiedener Einflussgrößen (Störfaktoren), die als „Zufallsfehler“ in das Endergebnis eingehen. Das doppelblinde, randomisierte Kontrollgruppendesign verteilt die stichprobenbedingten Einflussgrößen nach dem Zufallsprinzip auf beide Vergleichsgruppen. Trotzdem kann es, insbesondere bei kleinen Stichproben zu Verzerrungen hinsichtlich relevanter Einflussgrößen, z. B. Alter, Geschlecht, Diagnose, Erkrankungsdauer, Ausprägungsgrad der Symptomatik, kommen, die ggf. in ihrer Relevanz für das Ergebnis überprüft werden müssen. Je weniger Unterschiede in den diesbezüglichen Basisdaten zwischen den Gruppen bestehen, desto eher ist mit einem eindeutigen Ergebnis zu rechnen. Auch seitens der Untersucher können die Ergebnisse beeinflusst werden. Neben gezielter Manipulation von Ergebnissen oder inkorrektem Vorgehen bei der statistischen Analyse – z. B. es werden die ggf. günstigeren Ergebnisse von bestimmten Analysen statt der ggf. ungünstigeren Ergebnisse der a priori festgelegten statistischen Analysen berichtet – ist dabei insbesondere an eine unintendierte systematische Beobachtungsverfälschung seitens des Beurteilers zu denken. Gründe für eine systematische Verfälschung der Beobachtung seitens des Beurteilers sind z. B. der Rosenthal-Effekt, der

5 Methodik

Halo-Effekt und logische Fehler (Möller 1992). Die nosologische Diagnostik sollte auf der Basis anerkannter operationalisierter Diagnosesysteme – ICD 10, DSM IV-TR – durchgeführt werden und möglichst mit standardisierten oder vollstrukturierten Interviews gesichert werden (z. B. Lecrubier et al. 1997; Wittchen et al. 1997). Die Beurteilung des Therapieerfolges sollte anhand von validierten Skalen (Collegium Internationale Psychiatriae Scalarum (CIPS) 2000) erfolgen. Die primären und sekundären Wirksamkeitskriterien müssen a priori in den Studienprotokollen und den biometrischen Auswerteplänen festgelegt werden. Neben der Effizienzbeurteilung ist die Beurteilung der Nebenwirkungen in standardisierter Weise von großer Bedeutung. Durch das Doppelblinddesign, die Anwendung von standardisierten Beurteilungsverfahren sowie die sorgfältige Auswahl des Vergleichspräparates können Einflussgrößen und systematische Verfälschungstendenzen weitgehend reduziert werden. Allerdings können bereits kleine „Besonderheiten“ z. B. hinsichtlich der Dosis oder der Wirksamkeitskriterien ggf. darüber entscheiden, ob Substanz A der Substanz B überlegen ist oder vice versa (Heres et al. 2006). Außer dem doppelblind durchgeführten Kontrollgruppenvergleich ist der doppelblind durchgeführte intraindividuelle Vergleich im Sinne eines ABAB-Designs bzw. eines BABADesigns ( z. B. A = Placebo oder eine andere Wirksubstanz, B = Pharmakon) ein gängiges Prüfverfahren, insbesondere für Erkundungsstudien („pilot studies“) an kleinen Fallzahlen oder für Untersuchungen an Patienten mit seltenen Erkrankungen. Der intraindividuelle Vergleich kann als Einzelfallstudie (Möller und Steinmeyer 1990) oder als Gruppenstudie (Eigenkontrollgruppenverfahren) durchgeführt werden. Es ist aber zu berücksichtigen, dass das zuerst gegebene Pharmakon Effekte haben kann, die in die nachfolgende Studienphase hineinwirken („carry-over“-Effekt). Kontrollgruppenvergleich und intraindividueller Vergleich können zum gekreuzten Kontrollvergleich („cross-over“-Verfahren) kombiniert werden. Dabei wird nach dem Schema:

259

5.4 Wirksamkeitsnachweis/Placeboproblematik

Gruppe 1: ABAB‘, Gruppe 2 : AB’AB vorgegangen. Durch dieses Verfahren lässt sich die Aussagekräftigkeit bei bestimmten Fragestellungen erhöhen. Je nach Fragestellung (z. B. Wirksamkeit? Wirksamkeitsvergleich? Nebenwirkungen?) stehen diesen aufwendigen Verfahren ökonomischere praktikablere gegenüber, die insbesondere im Rahmen von Erkundungsstudien über neue Psychopharmaka angewandt werden, z. B. Verfahren ohne Kontrollgruppe und ohne intraindividuellen Vergleich, einfach-blinde oder nicht-blinde Verfahren. Hier sind auch nichtexperimentelle Untersuchungen in Form von retrospektiver oder prospektiver Verlaufsbeobachtungen z. B. naturalistische Phase IV Studien, zu nennen, die vor allem als heuristische Methoden zur Untersuchung von Langzeiteffekten und Langzeitnebeneffekten bereits eingeführter Präparate an mit diesen Medikamenten routinemäßig behandelten Patienten ihren Stellenwert haben.

5.4.3 Univariates und multivariates Design In der klinischen psychopharmakologischen Forschung wie überhaupt in der Therapieforschung bei psychisch Kranken besteht die schwierige Situation, dass die unabhängige Variable, die im Rahmen eines univariaten Designs experimentell variiert bzw. manipuliert wird, nur einen Teil der Gesamtmenge aller Variablen ausmacht, die für die Veränderung der abhängigen Variablen verantwortlich sind. Die Effekte der übrigen Einflussgrößen (Störfaktoren) sind nicht kontrolliert und gehen als „Zufallsfehler“ in das Endergebnis ein. Die Größe Pharmakon I männlich Extrovertierte Introvertierte

dieses Fehlers kann man durch das Kontrollgruppenverfahren analysieren. Obendrein kann versucht werden, durch statistische Analysen die wesentlichen Faktoren für den Zufallsfehler herauszufinden und diese ggf. in neuen Experimenten zu überprüfen. In der klinischen psychopharmakologischen Forschung wird üblicherweise eine Abstraktion von den anderen Einflussgrößen zugunsten der primär interessierenden Wirkvariablen, dem Pharmakon, vollzogen. Dem entspricht die Bevorzugung univariater experimenteller Studien, in denen die anderen Einflussgrößen nicht variiert oder manipuliert werden. Zumeist werden die Ergebnisse solcher univariater klinisch-psychopharmakologischer Studien lediglich sekundär unter dem Aspekt ausgewertet, korrelative Zusammenhänge zwischen bestimmten anderen Einflussgrößen und den Therapieresultaten herzustellen. Sind von vornherein mehrere therapierelevante Faktoren bekannt, kann man versuchen, gleichzeitig den Effekt dieser einzelnen Faktoren sowie die Wechselwirkung zwischen den Faktoren abzuschätzen, indem man in einem Experiment mehrere Faktoren systematisch variiert (Abb. 5.4.2). Eine solche multivariate Dependanzanalyse ist gegenüber der oben beschriebenen univariaten Dependanzanalyse wesentlich informationsreicher. Allerdings setzt sie erheblich größere Fallzahlen voraus, insbesondere wenn man mehrere für die Therapie bei psychischen Krankheiten relevante Faktoren einbeziehen will. Bei nur vier unabhängigen Variablen mit je zwei Ausprägungen oder Modalitäten ergeben sich z. B. 16 Zellen. Besetzt man jede Zelle mit nur 5 Patienten, benötigt man bereits 80 Patienten. Wegen der großen Zahl von Einflussfaktoren stoßen multifaktori-

weiblich

Pharmakon II männlich

weiblich

Alter 20 Alter 40 Alter 20 Alter 40

Abbildung 5.4.2: Multivariates Design mit vier unabhängigen Variablen mit je zwei Ausprägungen oder Modalitäten, 2x2x2x2-Design. (nach Selg 1975)

260

elle Ansätze in der klinischen psychopharmakologischen Forschung schnell an die Grenzen der verfügbaren Patientenzahl. Reduziert man in einem multivariaten Design die Einflussgrößen von vornherein auf wenige, entsteht das Problem, dass in den einzelnen Zellen zwar eine homogene Verteilung der als relevant angesehenen Faktoren, aber eine inhomogene Verteilung der nicht als relevant angesehenen Faktoren vorliegt und diese evtl. das Ergebnis wesentlich beeinflussen. Wegen dieser Probleme wird in der klinisch-psychopharmakologischen Therapieforschung vorrangig immer wieder auf das Modell univariater Dependenzanalysen unter der Hypothese zu-

5 Methodik

rückgegriffen, dass alle anderen Faktoren im Vergleich zu den untersuchten Variablen vernachlässigt und in weiteren statistischen Auswertungsschritten hinsichtlich ihrer Relevanz beurteilt werden können. Die in klinischen Prüfungen von Antidepressiva immer größer werdenden Effekte in der Placebo-Gruppe (Khan et al. 2000; Kirsch et al. 2002; Sneed et al. 2008; Storosum et al. 2001), die inzwischen auch in den Antipsychotika Studien immer deutlicher werden (Leucht et al. 2009) mit dem Effekt, dass die Placebo-Verum-Differenzen immer kleiner werden (Abb. 5.4.3), weist darauf hin, dass diese Strategie langfristig möglicherweise nicht erfolgreich sein wird.

Abbildung 5.4.3: Zunahme des Anteils an Patienten, die in klinischen Prüfungen mit Antidepressiva und Placebo eine mindestens 50-prozentige Verbesserung ihrer Symptomatik gemessen anhand der Hamilton-Depressions-Skala zeigten in Relation zum Publikationsjahr (modifiziert nach Walsh et al. 2002).

5.4 Wirksamkeitsnachweis/Placeboproblematik

Je nach Art der Studien kommen bei der Auswertung unterschiedliche statistische Verfahren zur Anwendung, die vom einfachen Mittelwertsvergleich über Korrelationsstatistiken, multivariaten Verfahren wie Varianz- und Kovarianzanalyse bis hin zu Verfahren der statistischen Analyse von Einzelfallstudien reichen. Jeder statistische Test beruht auf Voraussetzungen, die zunächst geprüft werden müssen. Werden diese verletzt, so ist der Test in der Regel nicht mehr anwendbar. Bei allen statistischen Auswertungsmethoden, die auf Mittelwertsvergleichen von Stichproben beruhen, muss man berücksichtigen, dass man durch die Reduktion der Daten auf den Mittelwert erhebliche Informationsverluste hinnimmt. Durch zusätzliche statistische Analysen sollte versucht werden, derartige durch Mittelwertsbildung bedingte Informationsverluste zu kompensieren. So werden z. B. in der Regel heute zusätzliche Analysen zur Häufigkeit von „respondern“, „remittern“ etc. gemacht und auch von den Zulassungsbehörden verlangt, um die Ergebnisse der Mittelwertsanalysen durch fallbezogene Aussagen zu ergänzen und damit eine bessere Einschätzung der klinischen Relevanz von gefundenen Mittelwertsunterschieden zu ermöglichen. Kommen verschiedene, gleichmäßige erfahrene Arbeitsgruppen in mehreren Studien zu gleichlautenden statistisch gesicherten und klinisch relevanten Resultaten, so kann das Ergebnis als gesichert angesehen werden. Probleme treten auf, wenn verschiedene, methodisch gleich gute Studien widersprüchliche Ergebnisse hervorbringen und wenn der Widerspruch nicht erklärt werden kann und auch in weiteren Studien nicht aufgelöst werden kann. Gelingt es nicht, die kontradiktorischen Ergebnisse durch die Einflussnahme unterschiedlicher Störfaktoren oder Einflussgrößen zu erklären, so ist die Grenze der anwendbaren Forschungsmethodik erreicht. Trotz genereller Übereinstimmung in den hier skizzierten methodologischen Grundprinzipien klinisch-psychopharmakologischer Forschung gibt es Divergenzen und eine Fülle methodischer Probleme bei ihrer Realisierung in konkreten Forschungsprojekten. Damit ist nicht gemeint, dass Pragmatismus, ökonomische

261

Zwänge sowie Erfordernisse der Praktikabilität oft dazu veranlassen, von einer im Vergleich zur Relevanz der Fragestellung zu puristischen Methodologie (Abt et al. 1976), die obendrein noch Einbußen durch organisatorische Probleme bei der Durchführung erleiden kann (Helmchen et al. 1974), Abstand zu nehmen. Es versteht sich von selbst, dass sich Wissenschaftler bemühen sollten, maximale Informationen mit minimalem Aufwand zu gewinnen. Vielmehr sind hier praktische Probleme der Forschungsmethodik gemeint, die unabhängig von ökonomischen Zwängen und pragmatischen Zugeständnissen auftreten.

5.4.4 Problematik und Notwendigkeit Placebo-kontrollierter Studien Am aussagekräftigsten, obwohl kritisch diskutiert (Aspinall und Goodman 1995; Plutchik et al. 1969; Rothman und Michels 1994) sind placebokontrollierte Untersuchungen (Carpenter, Jr. et al. 1997; Laporte und Figueras 1994). Sie werden von den Zulassungsbehörden für Psychopharmaka u. a. in den Indikationsgebieten Depression, Angststörungen, Schizophrenien und Demenz als eindeutigster Wirksamkeitsnachweis nahegelegt (Adam et al. 2005; Baldwin et al. 2003; Broich 2005; Schön und Möller 2006). Selbstverständlich sind die dabei notwendigen ethischen Standards zu beachten. Nur bei Beachtung dieser Standards sind sie als ethisch vertretbar anzusehen. Zu den ethischen Standards bei der Durchführung Placebo-kontrollierter Studien gehören u. a. besondere Anforderungen hinsichtlich der Patientenselektion (z. B. Ausschluss schwer suizidaler Patienten), spezielle Regelungen bei Nichtansprechen von Patienten auf die Studien-Medikamente (z. B. a-priori-Definition von sog. „stopping rules“, wann Patienten aus der Studie zu nehmen sind und wie sie auf eine Standardtherapie umzustellen sind („rescue-medication“), eine bedarfsgerechte Regelung der Komedikation, sowie eine gute Gesamtbetreuung durch ein „studienerfahrenes“ Team. Die Problematik Placebokontrollierter Studien wurde und wird gerade in der deutschen Psychiatrie intensiv diskutiert

262

mit z. T. unterschiedlichen Positionen hinsichtlich der ethischen Rechtfertigung (Baldwin et al. 2003; Fritze et al. 2000; Fritze und Möller 2001; Helmchen 2005; Möller 2004). Die eindeutige Position wichtiger Zulassungsbehörden – wie der amerikanischen (FDA) und der europäischen (EMEA) – die Placebokontrollierte Studien als besten Wirksamkeitsnachweis fordern, basiert im Wesentlichen darauf, dass nur Placebo-kontrollierte Studien in den meisten psychiatrischen Indikationsgebieten, eine ausreichend sichere Aussage über die Wirksamkeit eines Psychopharmakons mit einer möglichst geringen Zahl von Patienten, die der Prüfsubstanz ausgesetzt werden, zulässt, da angesichts der hohen Placeboresponse und einer Reihe sonstiger Besonderheiten klinischpsychopharmakologischer Prüfungen nur bei diesem Vorgehen weitgehend Fehlschlüsse vermieden werden können. Die von Kritikern placebokontrollierter Studien immer wieder vorgeschlagene Alternative der Prüfung gegen Standardpräparate ist demgegenüber erheblich fehleranfälliger und führt häufig zu einer Überschätzung der Wirksamkeit der Prüfsubstanz. Die Zulassungsbehörden empfehlen als bestes Design, die Prüfsubstanz nicht nur gegen Placebo, sondern auch gegen Standardpräparate des jeweiligen Indikationsgebietes zu untersuchen (3-Arm-Design). Dadurch lässt sich eindeutig der Wirksamkeitsnachweis gegen Placebo führen und das Nebenwirkungsprofil bestimmen. Gleichzeitig bekommt man wichtige Informationen darüber, wie sich Wirksamkeit und Verträglichkeit des Prüfpräparats im Vergleich zu einem Standardpräparat darstellen (s. u.). Die Placeboforschung, d. h. welche Patienten unter welcher Bedingung auf Placebo ansprechen ist – das sei nur beiläufig bemerkt – eine interessante Forschungsrichtung (Brown et al. 1992; Klosterhalfen und Enck 2005; Lavin 1991; Miller und Rosenstein 2006; Quitkin et al. 1991; Walsh et al. 2002). Nachfolgend wird im Detail auf die Notwendigkeit und Problematik von Placebo-Studien eingegangen, der Argumentation folgend, wie sie in früheren Publikationen zusammen mit Fritze, Gastpar u. a. dargelegt wurden (Fritze et al. 2000; Fritze und Möller 2001).

5 Methodik

Wie dargestellt, bedarf der Wirksamkeitsnachweis in Phase III unverzichtbar des randomisierten Vergleichs von homogenen Parallelgruppen möglichst geringer Varianz unter doppelblinden Bedingungen. Es stellt sich die Frage, welche Behandlung der oder den Kontrollgruppen zuteil werden sollte. Die Nichtbehandlung („Warteliste“) kommt für Arzneimittelprüfungen nicht in Frage, da die Verblindung unmöglich ist. Bleiben die Optionen des doppelblinden Vergleichs unterschiedlicher Dosierungen des Prüfpräparates (z. B. unter Verwendung von Placebo-„Dummies“) oder gegen eine aktive Referenz oder gegen Placebo, d. h. gegen in jeder Hinsicht identische Darreichungsformen, abgesehen davon, dass der Wirkstoff nicht enthalten ist (identisch nicht nur bezüglich des Aussehens, sondern auch bezüglich der galenischen Hilfsstoffe, des Gewichtes, des Geschmackes auch nach Zerbeißen, etc.) Als mögliche Alternative zum Wirksamkeitsnachweis zur Placebo-kontrollierten Studie wird die Prüfung auf Überlegenheit gegen ein in der Indikation zugelassenes Standardpräparat angesehen. Allerdings ist dies selten realisierbar, da in der Regel neue Präparate keine größere Wirksamkeit haben, bzw. deren Nachweis schwierig ist. International wird mit Bedacht als Voraussetzung einer Zulassung deshalb nicht der Beweis der Überlegenheit gegenüber bestehenden Therapieoptionen gefordert, sondern „nur“ der Beleg der Wirksamkeit per se. Auch wenn überlegene Wirksamkeit selbstverständlich willkommen wäre, so würde eine solche Forderung ein erhebliches Forschungs- und Fortschrittshindernis mit Nachteilen für künftig zu behandelnde Kranke darstellen. Die Entwicklung zwar nur ähnlich wirksamer, aber verträglicherer und sicherer Arzneimittel, die nur eine vergleichbare, aber keine bessere Wirksamkeit haben, wäre unmöglich. Arzneimittel mit neuen Wirkmechanismen könnten nicht zur Zulassung gebracht werden, womit die Chance vertan würde, Medikamente z. B. für bestimmte Subgruppen von Krankheiten zu identifizieren, die eine spezifische Behandlung benötigen. Als weitere Alternative zum Placebo-kontrollierten Design wird der Vergleich gegen ein

5.4 Wirksamkeitsnachweis/Placeboproblematik

Standardpräparat mit Test auf Nichtunterlegenheit prinzipiell als Möglichkeit angesehen. Solche Äquivalenz-Designs bedürfen unter Umständen (abhängig von den als klinisch relevant angesehenen Unterschieden) geringerer Fallzahlen als bei Überlegenheitstestung gegenüber Standardpräparaten, jedoch deutlich höherer Fallzahlen als bei Placebokontrolle, mit den entsprechenden ethischen Implikationen. Dieses Vorgehen setzt selbstverständlich voraus, dass die gewählte Referenz tatsächlich wirksam ist (und in wirksamer Dosis eingesetzt wird). Tatsächlich wirksam muss hier bedeuten, dass die Referenz sich regelhaft als dem Placebo signifikant überlegen erwiesen hat. Das ist keineswegs selbstverständlich. Als Daumenregel kann z. B. davon ausgegangen werden, dass bei einer von drei Placebo-kontrollierten Studien der Nachweis der Placeboüberlegenheit von allgemein als wirksam anerkannten Antidepressiva scheitert („study failure“). Selbst wenn also im Äquivalenztest das Prüfpräparat wirksam erscheint, so kann doch nicht ausgeschlossen werden, dass es sich um ein „study failure“ handelt, d. h. in dieser Studie beide Pharmaka (gleichermaßen) unwirksam waren. Außerdem muss berücksichtigt werden, dass bei der Äquivalenzprüfung, wie bei jedem Vergleich aktiver Substanzen, Beurteiler und Patienten über die Behandlung mit aktiven Substanzen informiert sind; die sich daraus ergebende Erwartung eines positiven Behandlungsergebnisses („bias“) kann die Varianzen und etwaige Gruppenunterschiede mindern, was die irrige Annahme einer Gleichwirksamkeit favorisiert bzw. überhaupt die irrige Annahme von Wirksamkeit (trotz an sich gegebener Unwirksamkeit). Schließlich kann die unbeabsichtigte Entblindung anhand der Beobachtung von Nebenwirkungen in dieselbe Richtung wirken. Die Placebokontrolle ist also auch bei Indikationen, für die wirksame Medikamente zur Verfügung stehen, für den Wirksamkeitsnachweis grundsätzlich notwendig, sofern nicht andere Gründe entgegenstehen, so dass nach Güterabwägung eine geringere Datenqualität in Kauf genommen werden muss. Die Placebokontrolle erlaubt, Auswirkungen unbeabsich-

263

tigter Entblindung klarer zu erkennen, indem dann eine im historischen Vergleich auffallend geringe Placeboresponse gefunden wird. Allerdings gibt es zahlreiche andere, der Stichprobenselektion zuzuschreibende Gründe für eine im historischen Verlauf auffallend geringe Placeboresponse. Auch aus ethischer Sicht wird die Placebokontrolle favorisiert, indem sie die geringsten Fallzahlen ermöglicht. Als Nebeneffekte werden die Studienergebnisse schneller erzielt, was im Falle negativer Ergebnisse zum Abbruch parallel laufender Studien führen und damit zum Schutz der Kranken beitragen kann. Diese Faktoren haben auch ökonomische Implikationen. Dennoch ist der doppelblinde, randomisierte Parallelgruppenvergleich gegen Placebo nur eine notwendige, aber noch keine hinreichende methodische Bedingung für den Wirksamkeitsnachweis. Misslingt in einem zweiarmigen, doppelblinden, randomisierten Parallelgruppenvergleich der Nachweis der Überlegenheit gegen Placebo, so ist dieses Ergebnis nicht eindeutig interpretierbar, denn auch hierbei kann es sich um ein „study failure“ (s. o.) handeln, d. h., infolge z. B. unzureichender Kontrolle von Fehlerquellen und daraus resultierender Varianz kann es sich um einen Fehler 2. Art handeln. Sofern für die in Frage stehende Indikation eine wirksame Therapie zur Verfügung steht, lässt sich dieses Interpretationsproblem unschwer lösen, indem im dreiarmigen, doppelblinden, randomisierten Parallelgruppenvergleich gegen Placebo und eine aktive Referenz verglichen wird. Das ist das optimale Studiendesign, indem es die Vor- und Nachteile von Placebo und aktiver Kontrolle kombiniert (s. Tab. 5.4.2). Wenn in diesem Design Prüfpräparat und aktive Referenz sich nicht von Placebo differenzieren, so handelt es sich eindeutig um ein „study failure“. Ist nur die Referenz dem Placebo überlegen, so ist das Prüfpräparat (wahrscheinlich) unwirksam (etc.). Schließlich erlaubt nur dieses Design eine Abschätzung der absoluten Effektstärke, indem der Placeboarm einen Ankerpunkt liefert. Im Falle bereits behandelbarer Krankheiten ist also auch aus ethischer Sicht ein solches dreiarmiges Design zu bevorzugen,

264

5 Methodik

Tabelle 5.4.2: Vor- und Nachteile aktiv- und Placebo-kontrollierter klinischer Prüfungen (Broich 2005).

denn nur dieses Design erlaubt den maximalen erzielbaren Erkenntnisgewinn. Zur ethischen Vertretbarkeit einer klinischen Prüfung gehört, dass sie den höchsten Grad der möglichen Aussagefähigkeit erreicht. Schließlich lässt sich nur so die Wirksamkeit im Vergleich zu bestehenden Behandlungsoptionen (relative Effektstärke) valide abzuschätzen. Von verschiedenen Seiten wird die ethische Vertretbarkeit des Vergleichs gegen Placebo in Frage gestellt. Diese Kritik lässt sich in folgende Argumente zusammenfassen: Dem Placebo zugeordneten Kranken wird eine wirksame Therapie vorenthalten, was nicht nur die Lebensqualität unzumutbar beeinträchtige, sondern auch die Kranken durch suizidale Handlungen gefährde. Angesichts der Verfügbarkeit wirksamer Therapie interessiere für neue Medikamente heute nur noch, ob sie wirksamer als bisherige seien. Würde die Entwicklung wirksamerer Medikamente gefordert, so würde das die Entwicklung verzichtbarer „Me-too“-Medikamente bremsen und damit einen Innovationsschub fördern. Placebo-kontrollierte Studien seien nicht repräsentativ, da die rekrutierten Kollektive durch ihre Bereitschaft zur Teilnahme an solchen Studien selektiert würden.

Damit sei die Übertragbarkeit der Ergebnisse auf die schlussendlich nach Zulassung behandelte Klientel unter Alltagsbedingungen fraglich („efficacy“ vs. „effectiveness“). Die Ergebnisse Placebo-kontrollierter Studien seien also nicht klinisch relevant. Schließlich sei, auch wenn das informierte Einverständnis des Kranken vorliege und die Einwilligungsfähigkeit objektiviert sei, nicht davon auszugehen, dass die Einwilligung in die Teilnahme an einer Placebo-kontrollierten Studie überhaupt tatsächlich rational gegeben werden könne. Die ethische Fragewürdigkeit beginne bereits damit, die Einwilligungsentscheidung dem Kranken aufzubürden. Diese Kritik soll im folgenden gewürdigt werden. Grundsätzlich sind derartige Kritikpunkte berechtigt. Berücksichtigt man aber die oben genannten Gründe für die wissenschaftliche Notwendigkeit von Placebokontrollen, so wird klar, dass die Konsequenz ebenso wenig in einer kategorischen Ablehnung wie in einer kategorischen Befürwortung Placebo-kontrollierter Studien liegen kann. Vielmehr bedarf es für jede Indikation und jedes Prüfvorhaben individualisierter Güterabwägung, wie sie ausdrücklich auch die Arzneimittelprüfrichtlinien und

5.4 Wirksamkeitsnachweis/Placeboproblematik

die Deklaration von Helsinki („Die Sorge um die Belange der Versuchspersonen muss stets ausschlaggebend sein im Vergleich zu den Interessen der Wissenschaft und der Gesellschaft.“) verlangen. Zwischen den genannten Extremen gibt es eine Reihe von Alternativen, unter denen es auszuwählen gilt. Die Allgemeinheit hat im Interesse der Gewährleistung wirksamer Krankenbehandlung Anspruch auf einen Wirksamkeitsnachweis mit einer Methodik, die dem Stand der Wissenschaft entspricht. Danach bedarf der Wirksamkeitsnachweis grundsätzlich Placebo-kontrollierter Studien, wobei drei- oder mehrarmige, Placebo- und referenzkontrollierte Studien das Optimum darstellen. Dieser Grundsatz endet dort, wo dem teilnehmenden Kranken ein unzumutbarer Schaden droht. Der (unverzichtbare) Altruismus hat Grenzen. Die Gefahr eines Schadens lässt sich durch geeignete Modifikationen des Studiendesigns zumindest mindern, ohne dabei das Prinzip des doppelblinden, randomisierten Parallelgruppenvergleichs gegen Placebo in Frage zu stellen (s. o.). Placebobehandlung ist nicht wirkungslos (hohe Placeboeffekte gerade in der Psychopharmakotherapie). Vielmehr erhöht schon allein die Erwartung eines günstigen Behandlungsergebnisses die Wahrscheinlichkeit eines solchen. Diese Erwartung ist wohl der entscheidende Mechanismus des Placeboeffektes. Hinzu kommen im Rahmen kontrollierter Studien u. a. Wirkungen der vermehrten Zuwendung. Die ethischen Implikationen der Tatsache, dass auch Placebo eine wirksame Therapie darstellt („Placebo“ heißt „ich werde gefallen“), werden bei der Diskussion der ethischen Vertretbarkeit Placebo-kontrollierter Studien wenig berücksichtigt. Also wird dem Kranken nicht Behandlung vorenthalten, sondern (falls das Prüfpräparat wirksam ist) ein Teil der maximal erreichbaren Wirkung. Die Placebobehandlung bietet Vorteile bezüglich Verträglichkeit und Sicherheit. Dem Placebo-Behandelten wird also nichts grundsätzlich anderes als dem mit dem Prüfpräparat Behandelten abverlangt. Befürwortet man also die Entwicklung neuer Medikamente, so bedeutet das zwangsläufig, für die Phase der klinischen Prüfung von Kranken altruistisches

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Handeln zu erwarten. Dieser Altruismus ist aber vom Grundsatz her nur vorübergehender Natur. Mit seinem eigenen altruistischen Handeln bestätigt der Kranke den gesamtgesellschaftlichen Konsens, dass es sozialen, immer auch altruistischen Handelns bedarf. Der mit der Teilnahme an Placebo-kontrollierten Studien bewiesene Altruismus ist Teil und Ausdruck des Prinzips sozialen Ausgleichs und der Solidargemeinschaft. Das altruistische Handeln des Studienteilnehmers bekommt einen Gegenwert in Form des Nutzens aus Erkenntnissen, die andere durch altruistisches Handeln ihrerseits an anderer Stelle (und sei es nur die Teilnahme an einer anderen klinischen Prüfung) ermöglicht haben. Insofern handelt es sich letztlich allenfalls bedingt um Altruismus, indem zwar zeitlich inkontingent und nur mit Wahrscheinlichkeit der Gegenwert als individueller Nutzen zurückgegeben wird. Der Forschung, bei bereits behandelbaren Krankheiten nur noch auf überlegene Wirksamkeit zu prüfen, was den Placebovergleich verzichtbar mache, steht die berechtigte ethische Forderung entgegen, eine Prüfmethodik zu wählen, die die notwendige Fallzahl zu minimieren erlaubt. Darüber hinaus würde diese Forderung Fortschritte u. a. in der Verträglichkeit von Arzneimitteln und der Entwicklung neuer Wirkprinzipien (s. o.) erheblich verzögern oder unmöglich machen. Auf die rechtlichen Gründe, warum für die Zulassung „nur“ der Beleg von Wirksamkeit und nicht von überlegener Wirksamkeit verlangt wird, sei nur hingewiesen. Es trifft zu, dass die an Placebo-kontrollierten Studien teilnehmenden Kranken eine selektierte Gruppe darstellen („selection bias“), so dass die Frage der Generalisierbarkeit der Ergebnisse Placebo-kontrollierter Studien bedeutsam ist. Tatsächlich werden in solchen Studien nur 5–10 % der angetroffenen („screening“) Patienten einbezogen, bei denen eine allgemeine Behandlungsindikation beteht. Dies betrifft bei psychopharmakologischen Studien besonders den Ausschluss suizidaler Patienten. Bisher gibt es aber keinen positiven, empirischen Beleg für das Fehlen der Generalisierbarkeit, hierfür sprechen auch interne Auswertungen der Zulassungsbehörden (Seemüller et al. 2009).

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Vorsorglich ist aber zu fordern, dass von allen für die Rekrutierung geeigneten Patienten, die aber, aus welchem Grunde auch immer, nicht einbezogen wurden, die Gründe für den Studienausschluss und alle wissenschaftlich für die klinische Prüfung bedeutsamen Daten, ebenso wie für die einbezogenen, dokumentiert werden, um so eine Prüfung der Repräsentativität zu ermöglichen. Des Weiteren reichen Placebo-kontrollierte Wirksamkeitsstudien („efficacy trials“) ohnehin nicht aus; es bedarf zusätzlicher Studien z. B. gegen Standardpräparate und z. T. sind an diese Studien weniger strikte methodische Anforderungen zu stellen. Die Entscheidung eines Kranken, an einer Placebo-kontrollierten klinischen Prüfung auch aus altruistischen Motiven teilzunehmen, setzt Einwilligungsfähigkeit (bezüglich Kriterien und Methodik ihrer Prüfung sei auf die Arbeit von (Nedopil et al. 1999) verwiesen) und umfassende Informationen über die Prüfung voraus (die Frage etwaiger Ersatzvornahme bei fehlender Einwilligungsfähigkeit kann nicht Gegenstand dieser Arbeit sein). Die Autonomie und Rationalität dieser Entscheidung mit dem Argument in Frage zu stellen, dass altruistische Entscheidungen per se nicht rational sein können, widerspricht den Prinzipien des dem demokratischen Sozialstaat eigenen sozialen Ausgleichs. Die altruistische Teilnahme an einer klinischen Prüfung ist ein Beispiel und Ausdruck dieser Prinzipien und damit sehr wohl rational. Es liegt gerade im Interesse der Wahrung der persönlichen Autonomie, die Entscheidung dem Kranken zu überlassen. Hierzu unterscheidet sich das Vorgehen bei klinischen Prüfungen nicht von dem generellern Vorgehen: Jede medizinische Entscheidung liegt schlussendlich beim Kranken. Tatsächlich bedeutet diese Freiheit (Autonomie) eine Bürde. Diese Bürde relativiert sich dadurch, dass der Kranke seine Entscheidung in jeder Minute revidieren kann, ohne hierfür Gründe nennen zu müssen und ohne dadurch Nachteile befürchten zu müssen.

5 Methodik

5.4.5 Rahmenbedingungen und Störfaktoren in klinischen Studien Durch Gabe von Placebo in der Kontrollgruppe bzw. bei intraindividuellen Vergleichen in der Kontrollphase und dadurch erzielte Unkenntnis des Patienten und des Untersuchers über die Art der Medikation (Blindbedingungen bzw. Doppelblindbedingungen) sollen Erwartungshaltungen des Patienten bzw. des Patienten und des Untersuchers und dadurch ausgelöste Autosuggestions- und Heterosuggestionseffekte, die das Resultat der Studie verfälschen könnten, ausgeschlossen werden. Diese methodischen Zielsetzungen werden allgemein akzeptiert; ihre Realisierbarkeit wurde aber in Frage gestellt (Beatty 1972; Rickels et al. 1970). Immer wieder gelingt es Untersuchern oder Patienten, an bestimmten Phänomenen (Äußerlichkeiten des Medikamentes, physikochemische Eigenschaften, Nebenwirkungen) das Placebo vom Verum zu differenzieren. In solchen Fällen kann das Versuchsresultat maßgeblich durch Erwartungshaltungen und Placeboeffekte beeinflusst werden (Hippius et al. 1986), die in ihren Auswirkungen sehr schwer abzuschätzen sind. Es hat sich gezeigt, dass die Reaktion auf Placebo ein sehr komplexes Phänomen ist, das von zahlreichen Faktoren abhängig ist, z. B. von der Dosierung, dem Aussehen und Geschmack des Medikamentes, der Behandlungsdauer, Persönlichkeit des Patienten und dem Stresscharakter der Situation. Ähnliches dürfte für die Erwartungshaltungen des Untersuchers (RosenthalPhänomen) gelten; dieses Phänomen ist aber bisher nicht so differenziert untersucht worden. Um diese Faktoren in ihrer Bedeutung realistisch abzuschätzen, kann es sinnvoll sein, die Erwartungshaltungen von Patient und Untersucher regelmäßig bei einer Studie zu erfassen, wobei zu berücksichtigen ist, dass diese sich im Verlauf der Behandlung ändern können. Auch kann eine solche Erfassung den Untersucher verführen, besonders fokussiert auf dbzgl. Phänomene und Effekte zu achten, was wiederum diesen Beobachtungsfehler verstärken kann. Die Erwartungen des Untersuchers, z. B. dass sich

5.4 Wirksamkeitsnachweis/Placeboproblematik

mit zunehmender Behandlungsdauer eine Besserung einstellt, kann man durch Videoaufnahmen des psychopathologischen Befundes und Vorspielen dieser Befunddokumentation in einer anderen als der ursprünglichen Reihenfolge irreleiten (Busch 1977). Manche Experten fordern, Placebos sollten im Idealfall nicht nur wie das Verum aussehen, sondern auch dessen Nebenwirkungen haben, um eine auf der Nebenwirkung basierende Identifikation von Verum und Placebo zu erschweren (Beckmann und Schmauss 1983). Da dieses Vorgehen auch Nachteile mit sich bringt, wird es meistens nicht durchgeführt. Grundsätzlich wäre es wünschenswert, dass der Wirksamkeitsnachweis in kontrollierten Versuchen gegen Placebo erfolgt. Dies ist aber aus ethischen Gründen, die von Helmchen und Müller-Oerlinghausen (Helmchen und MüllerOerlinghausen 1978) ausführlich dargelegt wurden, nicht immer möglich. Dann wird die Wirksamkeit eines neuen Psychopharmakons nur durch Doppelblindvergleiche gegen Standardpräparate analysiert, ohne dass Placebokontrollierte Prüfungen eingeschaltet werden. Solche Prüfungen gegenüber Standardpräparaten sind aber sehr anfällig gegenüber dem Beta-Fehler: D. h., es werden keine statistisch signifikanten Unterschiede zwischen zwei Behandlungen gefunden (obwohl sie in der Realität vorhanden sind!), da wegen zu geringer Fallzahl und/oder zu hoher Varianz die „statistische Power“ der Untersuchung nicht ausreicht (Möller 1985; Möller und Haug 1988). Dies kann dann fälschlicherweise zur Annahme von Gleichwirksamkeit führen. Es gibt keine verbindlichen Regeln, wie lange ein Patient im Rahmen einer klinischen Psychopharmakaprüfung mit der Prüfsubstanz behandelt werden sollte. Für Tranquilizer werden 2 bis 4 Wochen, für Antidepressiva 6 bis 8 Wochen, für Neuroleptika 6 bis 8 Wochen und für Antidementiva 6 bis 12 Monate als sinnvoll angesehen und von Zulassungsbehörden empfohlen. Depot-Präparate erfordern längere Prüfzeiten. Diskrepante Ergebnisse zwischen zwei verschiedenen Arbeitsgruppen sind wahrscheinlich z. T. durch unterschiedliche Dauer und Applikation des Medikamentes er-

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klärbar. Die Forderung, einem Katalog von bekannten psychopharmakologischen Fragestellungen verbindliche Angaben über die Dauer der Prüfung zuzuordnen, um damit die Vergleichbarkeit verschiedener Prüfungen zu erhöhen, scheitert u. a. daran, dass die adäquate Prüfdauer stark von pharmakokinetischen Charakteristika der zu untersuchenden Substanz abhängig ist. Ein Nachteil zu kurzer Prüfdauer kann darin bestehen, dass spezifische klinische Effekte nicht erkannt werden, da diese erst nach einer z. T. erheblichen Latenz auftreten. Auch zur Wahl der Dosis gibt es keine verbindlichen Regelungen. In den ersten offenen Prüfungen einer Substanz kann die Dosis unter Berücksichtigung der tierexperimentell ermittelten pharmakokinetischen Daten und toxikologischen Grenzwerte frei angepasst werden. In kontrollierten Untersuchungen wird dann angestrebt, Dosierungsunterschiede durch ein festes Dosierungsschema „fixed dose“ Design zu verhindern. Dadurch wird jedoch möglicherweise eines der beiden Vergleichspräparate begünstigt, da das gewählte Dosierungsniveau unterschiedlich stark vom Dosisoptimum der beiden Medikamente abweichen kann. Außerdem lässt sich das ermittelte Resultat nur auf das angewandte Dosisniveau beziehen. Eine flexible Dosierung bietet den Vorteil, dass eine weitergehende Generalisierung der Resultate bei größerer Ähnlichkeit zur praktisch-therapeutischen Situation möglich wird. Allerdings wird so die Auswertung erschwert, da die Dosissteigerung bzw. Dosisreduktion häufig nur schwer in Beziehung zur beobachteten Wirkung gesetzt werden kann. Häufig wird als Kompromiss dem „fix-flexible“ Design der Vorzug gegeben, das eine Dosisanpassung in einem fest vorgegebenen Rahmen erlaubt. Auch über die Dauer von Wash-out-Perioden vor der Behandlung bzw. zwischen zwei Behandlungsphasen gibt es keine festen Regeln. Aus den Befunden pharmakokinetischer Untersuchungen weiss man, dass nach vorausgegangener Behandlung mit Antidepressiva eine Placeboperiode von möglichst 7 Tagen, nach vorangegangener Therapie mit Neuroleptika eine Placeboperiode von sogar möglichst 30 Tagen zweckmäßig wäre. Klinisch üblich sind aber

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wesentlich kürzere Wash-out-Perioden – z. B. 3–7 Tage –, weil aus praktischen klinischen Erfordernissen sowie aus ethischen Gründen eine längere behandlungsfreie Phase als nicht vertretbar angesehen wird und weil bei zu langen Wash-out- und Placebophasen der Spontanverlauf der Krankheit ggf. mit der Durchführung der Untersuchung interferiert (Woggon 1977). In pivotal angelegten Zulassungsstudien der Phase III sollte auf Placebo-Run in-Phasen daher verzichtet werden, da dies die Generalisierbarkeit der Studienergebnisse auf die Allgemeinpopulation weiter vermindert. Falls eine sedierende oder schlafanstoßende Zusatzmedikation erforderlich ist, sollte möglichst nur ein Medikament erlaubt werden. Die Gabe eines einheitlichen Zusatzmedikaments ist vor allem dann unabdingbar, wenn zusätzlich weitere biologische Parameter gemessen und später mit anderen Prüfungen verglichen werden sollen. Insgesamt sollten Komedikationen soweit wie möglich eingeschränkt werden, um die Differenzierung der beiden experimentellen Gruppen in möglichst optimaler Weise zu erreichen und nicht durch diese oder andere Störfaktoren zu gefährden. Unter Einflussgrößen (Störfaktoren) versteht man Variablen, die das Ergebnis einer Prüfung des Effekts der Wirkvariablen – bei psychopharmakologischen Prüfungen des Pharmakons – beeinflussen. Um den Effekt der Wirkvariablen eindeutig analysieren zu können, müssen daher Strategien gewählt werden, die eine getrennte Beurteilung erfassbarer Einflussgrößen erlauben oder nicht direkt erfassbare Einflussgrößen gleichmäßig auf die zu untersuchenden Verfahren verteilen (Ferner 1977). Rickels (Rickels 1986) unterscheidet vier Quellen von Störfaktoren: Patient, Therapeut, Behandlungsmilieu und privates Milieu des Patienten. Die Einflussgrößen seitens des Patienten kann man noch weiter in persönlichkeitsspezifische, krankheitsspezifische und sozioökonomische unterteilen. Praktisch bedeutsamer ist eine Unterteilung der Einflussgrößen in gegebene und in veränderbare Einflussgrößen. Zu den gegebenen Einflussgrößen gehören u. a.:

5 Methodik

Alter, Geschlecht, Erkrankung, Verlauftyp der Erkrankung (z. B. akut, chronisch), Schweregrad der Erkrankung (z. B. leicht, schwer, bisher therapieresistent), bisheriger Verlauf (z. B. Zeitpunkt der Erstmanifestation, durchschnittliche Dauer der Manifestation), Beginn der jetzigen Erkrankung, Vorbehandlung, Zahl der Behandlungsversuche. Zu den beeinflussbaren Störfaktoren gehören: variable Behandlungsdauer, unterschiedliche Dosierung, Begleit- und Zusatzmedikation, Wechsel des Prüfers, unterschiedliche Messmethoden und Messkriterien. Besonders zu erwähnen sind Einflussgrößen, die sich aus der möglichen systematischen Verfälschung der Beobachtung seitens des Beurteilers ergeben (Hasemann 1971): a) Rosenthal-Effekt: Das Ergebnis einer Untersuchung wird durch die Erwartungshaltung des Untersuchers mitgeprägt. b) Halo-Effekt (Thorndike): das Ergebnis einer Untersuchung wird durch Kenntnisse anderer Eigenschaften bzw. durch den Gesamteindruck von Probanden stark beeinflusst. c) Logischer Fehler (Newcomb): Das Ergebnis einer Untersuchung wird dadurch geprägt, dass ein Untersucher nur solche Detailbeobachtungen heranzieht, die ihm im Rahmen seines vorgegebenen theoretischen und logischen Konzeptes sinnvoll erscheinen. Während die Einflussgrößen bei Randomisierung, ausreichende Fallzahl vorausgesetzt, auf die zu untersuchenden Gruppen gleich verteilt sein sollten und unter dem Aspekt der Evaluierung der spezifischen Wirksamkeit eines Pharmakons vernachlässigt werden können, ist es bei unkontrollierten Pilotstudien sehr wichtig, sich genauestens über die einzelnen Einflussgrößen Rechenschaft abzulegen, um das Ergebnis interpretieren zu können. So wäre z. B. ein negatives Resultat einer antidepressiven Behandlung bei einer Stichprobe von bisher therapierefraktären Depressiven anders zu bewerten (Heimann 1974) als bei einer Stichprobe von unselektierten Depressiven.

5.4 Wirksamkeitsnachweis/Placeboproblematik

5.4.6 Probleme der Stichprobenzusammensetzung Von statistischer Seite wird für konfirmatorische Prüfungen die Forderung nach möglichst großen Stichproben erhoben, um gesicherte Aussagen machen zu können und um den „Fehler der kleinen Zahl“ zu verhindern. Je größer die Stichprobe, desto geringere Wirkungsunterschiede können bei der statistischen Auswertung der Daten erkannt werden (Dudeck 1975). Allgemeine Vorschriften über die richtige Größe einer zu untersuchenden Stichprobe existieren nicht, da die adäquate Größe einer Stichprobe von verschiedenen Faktoren abhängt. Es gibt aber Formeln, nach denen man die Größe der Stichprobe in Abhängigkeit von der Komplexität der Fragestellung abschätzen kann. Die so errechneten Stichprobengrößen übersteigen aber meist die Zahl verfügbarer Patienten, insbesondere wenn z. B. geringe Unterschiede zwischen den Gruppen noch erfasst werden sollen. Dies sei am folgendem Beispiel verdeutlicht: Bei erwarteten Placebo-Verum-Differenzen von > 20 % bezüglich Responder-Raten (Definition der Responder im Prüfprotokoll essentiell!) sind 90 bis 110 Patienten je Behandlungsarm erforderlich, wenn vorgegeben wird: „2 α = 0,05; β = 0,20“. Für stetig verteilte Zufallsvariablen kann der erforderliche Stichprobenumfang aus dem Verhältnis „relevanter Unterschied d/ Standardabweichung s“ geschätzt werden. Für 2α = 0,05 und β = 0,20 ergeben sich nachstehende Umfänge pro Behandlungsgruppe: d=s n = 17

d = 3s/4 n = 29

d = s/3 n = 143

d = s/4 n = 253

d = 2s/3 n = 37

d=s/2 n = 64

Um ausreichende Fallzahlen zu rekrutieren, muss meistens auf Multicenter-Studien (Fischer-Cornelsen und Ferner 1977) übergegangen werden, was aber neue Probleme bezüglich der Vergleichbarkeit der Stichprobenzusammensetzung aufwirft (Herrmann und Kern 1987), wie unterschiedliche Symptomde-

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finitionen, unterschiedliche Einschätzungen der Symptomausprägung, unterschiedliche Verwendung diagnostischer Begriffe u. a. Je einheitlicher die Stichproben bezüglich Diagnose, Erkrankungsdauer, Lebensalter, Ausprägungsgrad der Symptome u. a., desto einfacher ist die Auswertung und desto größer die Wahrscheinlichkeit eindeutiger Ergebnisse. Mit diesen Vorteilen einer homogenen Stichprobe erkauft man sich aber gleichzeitig eine schlechte Übertragbarkeit der Ergebnisse in die therapeutische Praxis aufgrund der mangelnden Repräsentativität für die Grundgesamtheit der in praxi zu behandelnden Patienten( fehlende externe Validität). Bei der Prüfung von Psychopharmaka wird z. B. häufig eine Altersbegrenzung bis zum 65. Lebensjahr gefordert, um Beimengungen psychoorganischer Symptomatik zu vermeiden. Werden diese Medikamente später in der Praxis auch bei älteren Patienten verwendet, so können völlig unerwartete Effekte auftreten. Auch unter dem Aspekt von Erkundungsstudien, die die Interferenz des Pharmakons mit bestimmten Persönlichkeitsoder Krankheitsmerkmalen analysieren, ist die Forderung nach Homogenität der Stichprobe einzuschränken. Hier kann gerade eine sehr heterogene Stichprobe intensiver zur Hypothesengenerierung anregen als eine bezüglich der Merkmalspluralität reduzierte (externe vs. interne Validität). Diesem Problem wird insbesondere in den als ECT („randomized controll group trial“) durchgeführten „effectiveness“ („real world“) Studien Rechnung getragen (Lieberman et al. 2005). Allerdings wird dabei in dem Bedürfnis die externe Validität zu sichern gegen Grundprinzipien der internen Validität des Designs verstoßen (Möller 2005a; Möller 2008a). Ein großes Problem bei der Stichprobenzusammensetzung ist die diagnostische Zuordnung der Patienten (Möller und von Zerssen 1980). Trotz Einführung international akzeptierter operationalisierter Klassifikationssysteme psychischer Krankheiten – ICD, DSM – bleibt in der psychiatrischen Diagnostik ein großer inter- und intrasubjektiver Unsicherheitsfaktor bestehen, wie aus zahlreichen Reliabilitätsstudien zur psychiatrischen Diagnostik bekannt

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ist. Durch den Gebrauch von operationalisierten Diagnostikkriterien und standardisierten Verfahren (Lecrubier et al. 1997; Wittchen et al. 1997) kann das Problem der diagnostischen Zuordnung in weiten Bereichen zwar deutlich verkleinert, aber nicht aufgehoben werden (Möller 2005b). Insbesondere die DSM-IV-TR Diagnosen haben sich international durchgesetzt und werden von Zulassungsbehörden bevorzugt. Die nosologische Diagnostik sollte nicht nur auf die jeweils untersuchte Krankheitsindikation ausgerichtet sein, sondern auch Komorbidität, die ein wichtiger Einflussfaktor ist, erfassen. Zusätzlich zur nosologischen/syndromatologischen Diagnostik tragen die Schweregradbeurteilung der Zielsymptomatik und die vorgegebenen Einschluss- und Ausschlusskriterien zur Sicherung der Homogenität der Studienstichprobe bei (Möller 2008b). Trotz der beschriebenen Verbesserungen im Bereich der psychiatrischen Diagnostik sind bei einer allein auf psychopathologische und anamnestische Phänomene begrenzten Diagnostik noch immer erhebliche Inhomogenitäten möglich, die ggf. durch eine andere Ebene (biochemische Faktoren, psychophysiologische Faktoren, Persönlichkeitsfaktoren) miterfassende Falldefinition zu verringern sind. Hinter der klinischen Diagnose Depression können sich z. B. hinsichtlich ihrer psychophysiologischen und biochemischen Reaktivität völlig unterschiedliche Patientengruppen verbergen, was für das unterschiedliche Ansprechen auf Psychopharmaka mitverantwortlich sein könnte (Müller-Oerlinghausen 1986). Ähnliches gilt für Persönlichkeitsfaktoren. Patienten gleicher Diagnose können unterschiedliche Persönlichkeitseigenschaften haben, auf die möglicherweise Unterschiede im Ansprechen auf Psychopharmaka und Placebo sowie in der subjektiven Beurteilung von Psychopharmaka- und Placeboeffekten zurückzuführen sind (Möller et al. 1987). Es wird gefordert, dass sich in einem univariaten Design die zu vergleichenden Patientengruppen bei einer psychopharmakologischen Studie lediglich in der Medikation unterscheiden sollen. Mögliche andere Einflussgrößen sollen gleichmäßig auf die Behandlungsgrup-

5 Methodik

pen verteilt sein (Strukturgleichheit). Um die Strukturgleichheit zu gewährleisten, werden verschiedene Verfahren angewandt (Überla 1973). Durch Randomisierung wird eine streng zufällige Zuteilung (Münzwurfprinzip, Zufallszahlentabelle, computerisierte Verfahren u. a.) der Patienten zur Experimentalgruppe und Kontrollgruppe und damit die Strukturgleichheit beider Gruppen angestrebt. Jeder Patient hat absolut die gleiche Chance, der einen oder anderen Gruppe zugeteilt zu werden. Eine zufällige Zuteilung lässt erwarten, dass andere Einflussgrößen als die zu untersuchende Variable die Ergebnisse nicht verfälschen, da sie im Gruppenvergleich gleichermaßen zu Buche schlagen. Das gilt aber nur für große Stichproben. Gerade bei kleinen Fallzahlen besteht die Gefahr, dass sich die beiden Gruppen trotz Zufallszuteilung hinsichtlich verschiedener Variablen, wie psychopathologischer Befund, psychosomatische Faktoren, anamnestische Merkmale etc., unterscheiden. Dieser mangelnden Ausbalancierung muss bei der Auswertung Rechnung getragen werden, um zu vermeiden, dass dadurch bedingte unterschiedliche Resultate fälschlicherweise der therapeutischen Intervention zugeschrieben werden. Die streng zufällige Zuteilung stößt hier auf Grenzen. Durch Stratifizierung (Schichtung) kann man auch bei kleineren Stichproben erreichen, dass sich die relevanten Einflussgrößen auf die beiden Gruppen gleich verteilen. Bei der Parallelisierung werden die Patienten, die sich in bestimmten Variablen ähneln, zu verschiedenen Paaren oder Blöcken zusammengefasst, so dass die Unterschiede zwischen den Beobachtungseinheiten innerhalb eines Blockes gering, aber zwischen den Blöcken relativ groß sind. Zufallsmäßig werden dann die Patienten der beiden Blöcke der Experimentalgruppe und der Kontrollgruppe zugeteilt. Mit diesem Verfahren kann man die Strukturgleichheit beider Gruppen hinsichtlich bestimmter, als relevant angesehener Variablen als gegeben ansehen. Dieses Verfahren ist zwar bei zwei oder drei bekannten und als relevant angesehenen Einflussgrößen noch praktikabel, erreicht aber seine Grenze, wenn hinsichtlich einer größeren Zahl von Ein-

5.4 Wirksamkeitsnachweis/Placeboproblematik

flussgrößen parallelisiert werden soll. In diesen Fällen können komplizierte Verfahren weiterführen, so die von Taves (Taves 1974) vorgeschlagene „Minimalisierungsmethode“, bei der die Zuordnung aufgrund der Differenz von einem Muster aller gegebenen Einflussgrößen erfolgt. Nach Abschluss einer Studie kann durch Homogenitätsprüfungen und Sensitivitätsanalysen untersucht werden, ob das Kriterium der Strukturgleichheit beider Gruppen erfüllt war, Zentrumseffekte aufgetreten sind, usw. Dabei zeigt sich bei kleineren randomisierten Stichproben oft, dass bezüglich mehrerer Kriterien die Strukturgleichheit unbefriedigend ist. Der syndromatische Aufbau des Krankheitsbildes, psychopathologische Einzelmerkmale, Erkrankungsdauer, Verlaufstyp, psychophysiologische Reaktivität, biochemische Parameter u. a. sind mit großer Wahrscheinlichkeit der Grund dafür, dass bei scheinbar gleichen Versuchsbedingungen und gleichen Prüfsubstanzen in verschiedenen Prüfzentren einer Multizenterstudie häufig unterschiedliche Ergebnisse angegeben werden. Da viele Studien heute multizentrisch international auch über mehrere Länder, bzw. Kontinente durchgeführt werden, werden entsprechende Analysen in solchen Studienprotokollen standardmäßig vorgesehen. Die statistische Auswertung klinisch-psychopharmakologischer Studien erfolgt nach modernen statistischen Standards und ist in einem biometrischen Auswerteplan a priori festzulegen. Das Vorliegen der Voraussetzungen der angewandten Testverfahren ist zu prüfen (Jedinsky und Trampisch 1986). Wenn die Voraussetzungen für parametrische Verfahren nicht erfüllt sind, müssen non-parametrische Methoden eingesetzt werden. Bei der statistischen Auswertung werden verschieden definierte Stichproben untersucht:  „Intent-to-treat-Stichprobe“: Alle Patienten, die in die Studie eingeschlossen wurden, einmal „beurteilt“ wurden und einmal eine aktive Medikation bekamen, werden ausgewertet. Der jeweils letzte Wert wird für die statistische Analyse als Wert in die weiteren Beurteilungszeitpunkte übernom-

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men („last observation carried forward“-, LOCF-Methode).  „Observed-case-Stichprobe“: (häufig auch als „efficacy“-Stichprobe benannt) Alle Patienten, die zu den jeweils zu beurteilenden Zeiträumen in der Untersuchung waren und die Medikation während dieses Zeitraums eingenommen haben. Die mit dieser Methode analysierte Fallzahl ist geringer als die der Intent-to-treat-Stichprobe. Die Observed-case-Analyse (OC-Analyse) gibt Auskunft darüber, wie gut das Ansprechen prinzipiell möglich ist, wenn ein Patient durchgehend die Medikation eingenommen hat. Diese Analyse führt zur Überschätzung der Wirksamkeit. Deshalb fordert die Zulassungsbehörde als entscheidende Analyse die „intent to treat“ Analyse (ITT-Analyse). Allerdings hat auch sie, u. a. wegen der Fortführung der Messwerte von drop-out-Patienten ihre Einzigartigkeiten. Deshalb wurden weitere Analysemethoden vorgeschlagen, um jeweils Vorteile und Nachteile der beiden Methoden besser zum Ausgleich zu bringen, z. B. die MMRM Methode (Lane 2007; Lieberman et al. 2003). Die Intent-to-treat-Stichprobe ist diesbezüglich kritischer und stellt deshalb aus Sicht der Zulassungsbehörden die Methode der Wahl in konfirmatorisch angelegten Studien dar, wenn beide Analysen vorhanden sind, liefert die OCAnalyse aber wichtige Zusatzinformationen. Große Probleme in der Interpretation von Studienergebnissen entstehen bei psychiatrischen Indikationen häufig durch eine größere Anzahl von Studienabbrechern. Hier ist im statistischen Auswerteplan darzulegen, wie mit hohen „Dropouts“ und fehlenden Daten umzugehen ist. Die LOCF-Methode kann dabei nicht immer als konservatives Auswerteverfahren angesehen werden, z. B. bei Demenz-Erkrankungen, bei denen sich die Zielsymptomatik kontinuierlich verschlechtert. Bei der statistischen Analyse ist zwischen a priori festgelegten Analysen hinsichtlich der Wirksamkeits- und Verträglichkeitsparameter und ex post durchgeführten Analysen zu unterscheiden. Die höhere Wertigkeit haben die a priori festgelegten Analysen, ex post durchge-

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führte Analysen können grundsätzlich nur als supportiv und Hypothesen-generierend akzeptiert werden, nie aber konfirmatorisch.

5.4.7 Dokumentation/ Erfolgsbeurteilung Neben der Strukturgleichheit der untersuchten Patientengruppen ist die Beobachtungsgleichheit wesentlich, d. h. alle Patienten sollen von den gleichen Untersuchern mit dem gleichen Verfahren zu gleichen Zeitpunkten beobachtet und beurteilt werden. Zentrales Kriterium in der psychopharmakologischen Effektivitätsprüfung ist der psychopathologische Befund. Neben Veränderungen des psychopathologischen Befundes müssen Veränderungen des körperlich-neurologischen Befundes sowie von klinisch oder theoretisch relevanten biochemischen Parametern registriert werden, insbesondere um Nebenwirkungen zu erfassen. Da sich die einfache klinische Befundbeurteilung für die psychopharmakologische Forschung als unreliabel erwies, wurden Schätzskalen zur quantifizierten Befunddokumentation entwickelt (Möller 2008b; Möller 2008c). Der Vorteil dieser standardisierten Untersuchungsverfahren kommt nur dann voll zum Tragen, wenn die Untersucher im Interrater-Reliabilitäts-Training den Gebrauch der Instrumente üben. Eine Sammlung wichtiger Skalen für die Psychopharmakologie wurde vom Collegium Internationale Psychiatriae Scalarum – CIPS – (Collegium Internationale Psychiatriae Scalarum (CIPS) 1986) herausgegeben. Die Befunderhebung kann durch psychometrische Leistungstests ergänzt werden, z. B. Leistungstests im Bereich der Wahrnehmung, des Lernens, der Merkfähigkeit und der Psychomotorik. Neben der Beurteilung des psychopathologischen Befundes durch den Psychiater können andere Informationsquellen und Informationsebenen einbezogen werden, z. B. Fremdbeurteilung psychopathologischer Auffälligkeiten durch das Pflegepersonal oder durch Angehörige, Selbstbeurteilung des psychischen Befinden des Patienten mit Hilfe von Selbstbeurteilungsskalen (Möller 1990a). Durch Einbeziehung

5 Methodik

mehrerer Informationsebenen und Informationsquellen kann die Dokumentationsbasis im Sinne einer Mehrebenendiagnostik oder multimethodalen Diagnostik erweitert werden (Baumann und Seidenstücker 1977), um so ein vollständiges Bild von den während einer Psychopharmakabehandlung eintretenden Veränderungen zu bekommen und um feinere Wirkungsunterschiede feststellen zu können. Bei der Auswertung werden alle im Verlauf erhobenen Befunde auf den Ausgangsbefund bezogen. Da dessen korrekte Erfassung durch bestimmte Faktoren gefährdet sein kann (u. a. Überhang von Medikamenten, Erstkontakt des Untersuchers mit dem Patienten), ist, um möglichst zuverlässige Ausgangsdaten zu bekommen, eine mehrfache Erhebung des Ausgangsbefundes, z. B. durch unabhängige, nicht in die direkte Behandlung einbezogene Beurteiler, wünschenswert. Wenn verschiedene Erhebungsinstrumente verwendet werden, um gleiche Konstrukte zu messen, sollte die Korrelation der Gesamtscores für verschiedene Ausprägungsgrade psychischer Störungen konstant bleiben (Heimann und Schmocker 1974). Fehlende Konstanz der Korrelation, z. B. vor und nach einer Behandlung, lässt darauf schließen, dass die Skalen bei verschiedenen Schweregraden der Zustandsbilder Verschiedenes messen. Dieses Phänomen ist aus Analysen der Faktorenstruktur von Skalen, auf der Versuchspersonen ohne und mit Psychopharmakaeinfluss abgebildet wurden, bekannt (Baumann 1974). Divergenzen können u. a. dadurch auftreten, dass bei einer Selbstbeurteilung zur Messung von Depressivität vorwiegend subjektive Beeinträchtigung, bei einer Fremdbeurteilungsskala zur Messung von Depressivität aber obendrein objektiv beobachtbare Verhaltensauffälligkeiten beurteilt werden. Geht man davon aus, dass bei geringer Ausprägung der Depression verbale Informationen des Patienten über seinen subjektiv erlebten Zustand wesentlicher sind als bei schweren Fällen, kann man diese Diskrepanzen zwischen Fremdbeurteilung und Selbstbeurteilung erklären (Möller 1991; Möller 2000). Wichtig ist, dass das Haupteffizienzkriterium bzw. die Haupteffizienzkriterien für die

273

Literatur

konfirmatorische Testung bereits a priori im Studienprotokoll und biometrischen Prüfplan festgelegt werden. Das gilt insbesondere für multi-methodale Messansätze, bei denen möglicherweise sonst im Rahmen der multiplen statistischen Testung zufallsbedingte Signifikanzen auftreten, die dann unter Verkennung der statistischen Problematik ggf. als Wirksamkeitsnachweis angegeben werden könnten. Alle nicht auf die a priori definierten Haupteffizienzkriterien bezogenen Auswertungen sind lediglich als deskriptiv anzusehen, möglicherweise signifikante Ergebnisse bedürfen also der Bestätigung in einer diesbezüglichen konfirmatorisch angelegten Studie. Bei Verwendung mehrerer Haupteffizienzkriterien muss eine Alpha-Adjustierung erfolgen. Wenigstens eines der Haupteffizienzkriterien sollte aus dem Bereich fremdbeurteilter Psychopathologie stammen und möglichst eng mit dem Indikationsgebiet der zu prüfenden Substanz verbunden sein. Es wäre wichtig, dass bei klinischen Studien in verschiedenen Untersuchungen über die gleiche Substanz bzw. über Substanzen mit gleichen therapeutischen Zielsetzungen zumindest bezüglich des Haupteffizienzkriteriums eine gemeinsame Skala verwendet wird, um Untersuchungen besser vergleichbar zu machen. Unter diesem Aspekt sind, jedenfalls bezogen auf die europäische Psychiatrie, Skalensammlungen von Bedeutung, in denen relevante Skalen in mehreren europäischen Sprachen in autorisierter Übersetzung vorgelegt wurden (Möller 1990b). Auf internationaler Ebene haben sich z. B. unter dem Aspekt der Vergleichbarkeit insbesondere die HAMD für Depression und die BPRS für Schizophrenie als „Urmeter“ und als Nachfolger die MADRS bzw. die PANSS (Möller 2008b) durchgesetzt, trotz ihrer Schwächen. Diese Maßnahmen sollten durch audiovisuelle Aufzeichnungen mit Training der Beurteiler und Dokumentation der Interrater-Reliabilität ergänzt werden (Helmchen 1978; Renfordt et al. 1976). Eine sorgfältige Messmethodik muss auch die Erfassung der unerwünschten Wirkungen mit einbeziehen. Eine unstrukturierte, nur auf spontane Äußerungen beruhende Erhebung unerwünschter Wirkungen führt zu einem „underreporting“ und entspricht auch aus anderen

methodischen Gründen, z. B. mangelnder Reliabilität, nicht dem heute zu fordernden methodischen Standard (Bethge et al. 1989; Hasford 1986). So gilt in Europa seit 2004 ein neues Arzneimittelsicherheits-System, das einheitliche Definitionen der medizinischen Termini, z. B. nach MedDRA, und Meldepflichten für unerwünschte Arzneimittelwirkungen für klinische Prüfungen zugrundelegt (hierzu existieren auch mehrere entsprechende ICH-Guidelines zu Clinical Safety: E1, E2A-F; jeweils aktualisiert auf: http://www.ich.org/cache/compo/276-254-1. html). Basierend auf den Ergebnissen aus den Studien muss der pharmazeutische Unternehmer schon mit dem Zulassungsantrag für sein Arzneimittel eine detaillierte Beschreibung des vorgesehenen Pharmakovigilanz-Systems und einen Maßnahmenplan zur Risikoüberwachung einreichen.

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5.5 Compliance M. Linden

5.5.1. Definition von Compliance Zum Thema „Patienten-Compliance“ gibt es eine langjährige wissenschaftliche Forschungstradition (Sackett und Haynes 1976). Dennoch stellt die Mitwirkung von Patienten bei ärztlichen Behandlungsmaßnahmen nach wie vor ein aktuelles und weiterhin verbesserungsbedürftiges Problem dar. Es ist eine klinisch wie wissenschaftlich umfangreich belegte Beobachtung, dass viele Behandlungen, Präventionsprogramme oder Rehabilitationsmaßnahmen ihr Ziel deswegen nicht erreichen, weil die Patienten nicht in der erforderlichen Weise an der Behandlung mitarbeiten und ihren Teil an der Behandlung übernehmen. Eine unzureichende Patienten-Compliance stellt damit einen wichtigen limitierenden Faktor für die Behandlungseffizienz und letztlich auch einen bedeutsamen Kostenfaktor im Gesundheitswesen dar. Unter Compliance versteht man den Grad der Übereinstimmung zwischen Therapiedurchführung und einem vorgegebenen Therapiestandard (to comply with = mit etwas übereinstimmen; Linden 1981). Der Therapiestandard mag eine ärztliche Verordnung (z. B. Arzneimittelverschreibung) oder ein selbstgestecktes Ziel (z. B. Diät) sein. Er kann sich auf ärztliche Eingriffe

(z. B. Vorbereitung einer Operation) oder Patientenverhalten (z. B. körperliches Training) beziehen. Ein Compliancequotient von 1 (bzw. 100 %) bezeichnet eine optimale Übereinstimmung. Es gibt Compliance-Werte kleiner 1, die ein Zuwenig bezeichnen wie auch Werte größer 1, die ein Zuviel bezeichnen (Stieglitz und Linden 1992). Compliance wird gelegentlich dahingehend missverstanden, als gehe es dabei um PatientenKooperation, -Willfährigkeit oder ähnliches (Trostle 1988). Dies mögen Faktoren sein, die auf die Compliance Einfluss haben, sie sollten jedoch nicht damit gleich gesetzt werden, weil, wie noch zu zeigen sein wird, Compliance selbst und vor allem die diesbezüglichen Bedingungfaktoren sehr viel komplexerer Natur sind. Es ist im Gegenteil sogar so, dass jedes Bemühen um eine bessere Patienten-compliance nur über ein besseres Patienten-Empowerment und partizipative Entscheidungsfindung zu erreichen ist (Hamann et al. 2006). Im Englischen sind eine Reihe von Alternativbegriffen geläufig, wie z. B. adherence (festhalten), attrition (ausscheiden), acceptance (annehmen) oder concordance (übereinstimmen) (Dunbar-Jacob et al. 2000; McInnes 1999). Der Begriff Compliance hat jedoch die längste Tradition und ist am präzisesten definiert.

280

Die Bedeutung der Compliance speziell in der Behandlung chronischer Erkrankungen kann daran abgelesen werden, dass auch die WHO dieses Thema zu einem Aktionsfeld gemacht hat, um die Bedeutung der Patientenbeteiligung in der Krankenversorgung stärker ins öffentliche Bewusstsein zu rufen und Ärzte, Politiker und Patientengruppen zu motivieren, mehr zur Förderung der Einbeziehung von Patienten in ihre eigene Behandlung wie Gesundheitsvorsorge zu tun. In einem Positionspapier wurden Kernaussagen mit den Konsequenzen für eine zukünftige Gesundheitspolitik zusammengefasst (WHO 2001).

5.5.2. Umfang und Konsequenzen von Non-Compliance Grunsätzlich gilt, dass fast kein Patient zu 100 % compliant ist. Es kann davon ausgegangen werden, dass etwa 70 % der Patienten zwischen 70 % und 99 % der ihnen verordneten Arzneimitteldosen einnehmen, und immerhin 30 % weniger als 60 % der erforderlichen Dosierung (Dunbar-Jacob et al. 2000; Haynes et al. 2001). Eine insuffiziente Behandlung aufgrund einer unzureichenden Compliance führt erwartungsgemäß und nachweislich zu schlechteren Behandlungsergebnissen und ist in vielen Fällen selbst eine primäre Ursache für die Chronifizierung von Krankheiten. Die ökonomischen Folgen einer unzureichenden Compliance sind erheblich. Die Bedeutung der Patienten-Compliance wächst mit der Zunahme chronischer Erkrankungen, deren Behandlung bzw. Rehabilitation weltweit heute die primäre Aufgabe der Medizin darstellt. Dies betrifft Infektionserkrankungen wie HIV, Tuberkulose oder Hepatitis ebenso wie psychische Erkrankungen, Stoffwechselerkrankungen oder Herz-Kreislauferkrankungen. Gerade im Kontext psychischer Krankheiten ist es wichtig darauf hinzuweisen, dass eine unzureichende Patienten-Compliance nicht als Ausdruck einer psychischen Erkrankung missverstanden werden darf, sondern ein ubiquitäres Problem ist. In der HIV-Behandlung findet sich eine unregelmäßige Medikationseinnahme

5 Methodik

(< 90 % ) bei 37 %–83 %. Gerade bei HIV ist bekannt, dass die Regelmäßigkeit der Therapiedurchführung von zentraler Bedeutung für den Erfolg bzw die Entwicklung von Resistenzen ist. Entsprechend gibt es einen direkten Zusammenhang zwischen der Compliancerate und der Notwendigkeit stationärer Behandlungen (Paterson et al. 2000; Bangsberg et al. 2000; Murri et al. 2000; Valenti 2001). Bei Schwangeren wurden Werte um 34 % berichtet (Laine et al. 2000). Für die Behandlung der Hypertonie wird nach Daten aus den USA etwa 50 % der Erkrankten nicht behandelt und von denen, die behandelt werden, erreichen 70 % nicht den angestrebten Blutdruck (McInnes 1999). In Venezuela lag die Rate der Patienten mit richtig eingestelltem Blutdruck sogar nur bei 4,5 % (Sulbaran et al. 2000). In Gambia wussten überhaupt nur 17 % der Betroffenen, dass sie ein Blutdruckproblem hatten und von denen, die über ihre Erkrankung wussten, hatten 73 % die verordnete Medikation abgesetzt (van der Sande et al. 2000). Zieht man alle Faktoren in Betracht, die Einfluss auf den Blutdruck haben, wie z. B. Art der Hypertonie, Sekundärfakoren, Arzneimittelversagen oder -unverträglichkeit, dann kommt nach Waeber et al. (2000) der unzureichenden Patientencompliance die größte Bedeutung zu. Nach Morisky et al. (1963) lag die Hypertoniebedingte Mortalität bei guter Compliance um 53,2 % niedriger als bei unzureichender Compliance. In gleichem Sinne fanden Psaty et al. (1990) eine um das 4,5fache erhöhte Rate der Komplikationen koronarer Herzerkrankungen bei Non-Compliance. Ähnliche Befunde wurden in der Asthmabehandlung erhoben. Nach Reid et al. (2000) nahmen nur 43 % der Patienten ihre Medikation so ein, wie verordnet und nur 27,8 % führten präventive Behandlungen korrekt durch. Eine schlechte Compliance führte bei älteren Asthmapatienten zu einer um 5 % erhöhten Zahl an Arztbesuchen und einer um 20 % erhöhten Rate stationärer Behandlungen (Balkrishnan und Christensen 2000). Auch in der Diabetesbehandlung kommt der Patientencompliance eine besondere Bedeutung zu, da 95 % des Therapieerfolgs vom Patientenverhalten abhängt (Ciechanowski et al. 2001, 2002).

281

5.5 Compliance

Abbildung 5.5.1: Patienten-Compliance in der Antidepressivabehandlung (Linden 1987 a)

Bei depressiven Erkrankungen werden NonComplianceraten zwischen 30 % und 60 % berichtet (Demyttenaere und Haddad 2000; Colom und Vieta 2002; Pampanolla et al. 2002). Noncompliance kann zu unterschiedlichen Zeitpunkten des Behandlungsprozesses vorkommen. Wie Abbildung 5.5.1 zeigt, lehnt etwa die Hälfte der Patienten, denen ein Antidepressivum verordnet wurde, bereits von vornherein eine Therapie ab, was vor allem dadurch zu erklären ist, dass die vorgeschlagene Behandlung nicht ihren Krankeitskonzepten entspricht. Von den verbleibenden Patienten nehmen dann wiederum nur etwa die Hälfte die Medikation so regelmäßig, wie dies pharmakologisch geboten wäre. Patienten mit unregelmäßiger Arzneimitteleinnahme zeigen als Folge deutlich schlechtere Depressionswerte, und zwar sowohl in der Selbstwie Fremdeinschätzung (Linden 1987a). Unabhängig vom Complianceproblem bei den depressiven Erkrankungen an sich, hat Depressivität auch bei anderen Erkrankungen einen negtiven Einfluss auf die Compliance. Grundsätzlich gilt, dass Patienten, die mehr an psychischen Symptomen zeigen auch größere Probleme mit der Compliance haben (Piette et al. 2000; Lauritzen et al. 2000). Ciechanowski et al. (2001) haben bezüglich der Diabetesbehandlung darauf hingewiesen, dass 95 % der Behandlung eine unmittelbare Patientenmitwirkung erfor-

dert und dass eine depressive Komorbidität die Fähigkeit des Patienten zur konsequenten Selbstfürsorge beeinträchtigt, so dass es eine Korrelation zwischen Depressionsgrad und Behandlungergebnis gibt. Es wird daher in der Literatur diskutiert, ob depressive Komorbidität nicht immer auch aus Gründen der Compliance konsequent zu behandeln ist (Pomerantz 2001). Bei schizophrenen Erkrankungen stellt die Non-Compliance ein besonderes Problem dar, da es dadurch zu Residiven und unumkehrbar schlechten Erkrankungsverläufen kommen kann. Cramer und Rosenheck (1998) fanden in ihrer Metaanalyse von 24 Neuroleptika-Studien, weit überwiegend mit Schizophrenie-Patienten, dass lediglich 58 % der verordneten Antipsychotika eingenommen worden waren; die Spanne lag zwischen 24 und 90 %, wobei verschiedene Erhebungsinstrumente (Patientenbefragung, Arzteinschätzung, Laborkontrollen der Urinspiegel) zugrunde lagen. Gleiche Compliance-Raten von 50 bis 60 % bei Schizophrenie-Patienten wurden auch von Lacro et al. (2002) oder Perkins (2002) in ihren Übersichten berichtet. Dabei waren die Compliance-Raten, gemessen an Wiederholungsverordnungen, bei atypischen Antipsychotika langfristig nur wenig besser als bei „typischen“ Antipsychotika (z. B. Dolder et al. 2002: 54,9 % vs. 50,1 %). Hier sei daran erinnert, dass das Einlösen der Wiederholungsverord-

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nung nicht notwendigerweise bedeutet, dass das Medikament auch eingenommen wird. Wurden dagegen Studienabbruchraten – also ein eindeutigeres Compliance-Maß – herangezogen, so ergaben sich in der Regel deutliche Unterschiede zugunsten der Atypika (Thieda 2003).

5.5.3. Bedingungen der Non-Compliance Trotz der vielfältigen Bereiche, in denen Compliance eine Rolle spielt, werden dennoch in der Literatur immer wieder gemeinsame Bedingungsfaktoren genannt. Grundsätzlich gilt, dass Faktoren die zu einer guten Compliance beitragen nicht unbedingt dieselben sind, die zu einer schlechten Compliance führen. In der Literatur sind eine Fülle von Einzelfaktoren untersucht worden, die sich zusammenfassen lassen als Patientenfaktoren, Behandlerfaktoren und Therapiefaktoren.

Patientenfaktoren Krankheitskonzepte von Patienten: Der wichtigste Faktor zur Erklärung des Krankheitsverhaltens von Patienten sind ihre Krankheits- und Behandlungskonzepte (Hunt et al. 1989; Wikman et al. 2005). Patienten, die von einer vorgeschlagenen Behandlung Positives erwarten werden ggfls. trotz erheblicher negativer Begleitwirkungen eine Therapie mit aller Konsequenz durchführen (Linden 1987b), wie z. B. bei Zytostatikabehandlungen beobachtet werden kann. Wenn andererseits ein Patient dezidierte eigene Vorstellungen darüber hat, wie eine Erkrankung entstanden und zu behandeln ist, dann wird er alle Maßnahmen ablehnen, die diesen Vorstellungen widersprechen (Linden et al. 1988). Krankheitseinstellungen von Patienten dürfen allerdings nicht nur vordergründig als inhaltliches Wissen über Krankheit verstanden werden, sondern sind wesentlich dynamische psychologische Phänomene. So haben beispielsweise sog. internale und externale Kontrollüberzeugungen oder die sog. Sensitizer-versus

5 Methodik

Repressorpsychologie einen großen Einfluss auf das Verhalten von Patienten. Unter Kontrollüberzeugungen versteht man, inwieweit eine Person davon überzeugt ist, dass das eigene Schicksal vom eigenen Verhalten (internale Attribution) oder von Dritten bzw. dem Zufall (externale Atttribution) abhängt (Wallston et al. 1978). Entsprechend werden ärztliche „Verordnungen“ willig akzeptiert oder zurückgewiesen. Mit der Repressor-Sensitizerpsychologie ist gemeint, inwieweit ein Mensch sein Verhalten auf das Erreichen von Zielen oder die Vermeidung von Risiken abstellt (Schoenbach et al. 1987). Entsprechend wird die Einnahme eines Arzneimittels und die damit verbundenen Chancen und Risiken unterschiedlich wahrgenommen. Vulnerabilität schließlich beschreibt den Grad der krankheitsbezogenen Ängste bzw. inwieweit eine Person sich als krankheitsanfällig und -bedroht sieht oder nicht (Becker 1985). Entsprechend unterschiedlich wird die Bereitschaft sein, sich präventiven, diagnostischen oder therapeutischen Maßnahmen zu unterziehen. Eine Skala, mit der diese verschiedenen Aspekte von Krankheitskonzepten von Patienten und speziell auch schizophrenen Patienten erfasst werden können ist die Krankheitskonzept-Skala (KK-Skala; Linden et al. 1988).

Psychische Einschränkungen und Erkrankungen: Grundsätzlich gilt, dass psychische Störungen die Fähigkeit von Patienten zur konsequenten Mitarbeit bei erforderlichen Behandlungen beeinträchtigen können. Darauf wurde bereits bezüglich des Zusammenhangs zwischen Depression und Diabetesbehandlung hingewiesen (Chiechenowski et al. 2001). Es ist ebenso evident, dass es bei Demenz nicht mehr möglich ist, komplexe Behandlungen ordnungsgemäß durchzuführen. Wahnerkrankungen können die Krankheitseinsicht einschränken (Linden und Goolemann 2007), Inkohärenz im Denken und gestörte Intentionalität die Konsequenz in der Behandlungsdurchführung unmöglich machen oder Suchterkrankungen und Persönlichkeitsstörungen das Verantwortungsgefühl für sich und andere beeinträchtigen.

283

5.5 Compliance

Soziale Unterstützung und Lebensumstände der Patienten: Ein wichtiger Faktor ist die soziale Unterstützung, die ein Patient erfährt (Jones und Jones 1994) Patienten, die erleben, dass Angehörige an ihrem Befinden interessiert sind und sie bei der Behandlung und Krankheitsbewältigung unterstützen, tun auch mehr für sich selbst. Hierbei können auch Selbsthilfegruppen eine wichtige Rolle spielen (Magura et al. 2002). Andererseits führen Isoliertheit und möglicher weise auch eine Stigmatisierung wegen der vorliegenden Erkrankung dazu, dass die Betroffenen eine Therapienotwendigkeit verdrängen. In diesem Zusammenhang sind schließlich auch die persönlichen Lebensumstände des Patienten von großer Bedeutung. Ein hektisches Berufsleben kann die Fähigkeit zur Einhaltung diätetischer Maßnahmen oder auch nur eine regelmäßige Medikationseinnahme nahezu ausschließen. Gleiches gilt aber auch für Ferienzeiten, Reisen, Leben in einem Privathaushalt oder einem Heim.

Subjektive Beschwerden und Behandlungsnebenwirkungen: Das subjektive Krankheitserleben hat ebenfalls einen großen Einfluss auf die Compliance. Es ist schwierig eine Behandlung konsequent über längere Zeit durchzuführen, wenn man sich subjektiv gesund fühlt, wie dies bei Diabetes oder Hypertonie aber auch Schizophrenie oder Depression im freien Intervall der Fall sein kann. Noch schlimmer ist, wenn die einzigen subjektiv erlebten Befindensbeeinträchtigungen gar auf die Behandlung zurückzuführen sind. Patienten mit akuten Schmerzen oder Leiden sind hingegen häufig in der Gefahr noncompliant im Sinne eines Zuviel an Therapie zu sein (Basler et al. 1998).

Behandlerfaktoren Die persönliche Beziehung zwischen Behandler und Patient spielt eine wesentliche Rolle bei der Compliance (Morisky et al. 1986; Ciechanowski et al. 2001; Garrity 1981). Dazu zählen sachliche Rahmenbedingungen wie die Konstanz über

die Zeit oder psychologische Aspekte wie gegenseitiges Vertrauen und Respekt. Schließlich müssen auch die Persönlichkeiten miteinander harmonieren. Wenn im Sinne der bereits angesprochenen Krankheitskonzepte (Wallston et al. 1978) ein Patient ausgeprägte internale Kontrollüberzeugungen hat, dann wird er mit einem dominant auftretenden Arzt Probleme haben. Hat ein Patient externale Kontrollüberzeugungen, d. h. er erwartet die Lösung seiner Probleme von außen, dann wird er evtl. mit Irritation reagieren, wenn er partizipativ in Therapieentscheidungen einbezogen werden soll. Therapeuten werden also ihr Verhalten dem Patienten gegenüber an dessen Behandlungserwartungen anpassen müssen. Ein anderer Aspekt ist die Einstellung des Arztes selbst zur Art der Behandlung. Persönliche Präferenzen spielen bereits eine große Rolle bei der Auswahl der Therapie (Linden und Gothe 1998). Die Literatur zeigt nun, dass Therapeuten, die persönlich von der Notwendigkeit und Wirksamkeit der von ihnen verordneten Therapie überzeugt sind, die Therapienotwendigkeit auch ihren Patienten besser vermitteln können (Rickels 1976). Die Förderung der Patientencompliance verlangt vom Therapeuten besondere kommunikative Fertigkeiten. Sie dürfen nicht abwertend oder gar vorwürflich über das „Versagen“ des Patienten reden, sondern müssen komkret nach Complianceproblemen fragen und systematische Verhaltensänderungsprozesse einleiten.

Therapiefaktoren Es gilt die einfache Regel, dass Behandlungen umso unzuverlässiger durchgeführt werden, je vielgestaltiger und komplizierter sie sind. Die Chance einer korrekten Medikationseinnahme sinkt mit steigender Zahl an Tabletten, Medikamenten und Einnahmezeitpunkten. Bei der Diskusssion des Complianceproblems darf auch die Struktur des Versorgungssystems nicht vergessen werden. Patienten müssen zu allererst einmal überhaupt einen Zugang zu adäquater Diagnostik und Therapie haben. Die Chance einer regelmäßigen Behandlung sinkt, wenn sich Patienten die Therapie nicht leisten

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können. Sie sinkt, wenn der Arzt zu weit weg ist, wenn Sprechstundenzeiten so liegen, dass sie mit den Arbeitszeiten des Patienten nicht kompatibel sind oder wenn bei Arztbesuchen keine hinreichende Vertraulichkeit gewährleistet wird.

5.5.4. Maßnahmen zur Verbesserung der Compliance Grundprinzipien der Complianceförderung Die Zusammenstellung wichtiger Einflußfaktoren auf die Compliance hat gezeigt, dass es sich hierbei um ein mehrdimensional determiniertes Phänomen handelt und dass es daher keine einfachen Globallösungen gibt. Stattdessen müssen auf das Einzelproblem oder den Einzelfall abgestellte Maßnahmen ergriffen werden, deren gemeinsames Ziel ist, Barrieren zu beseitigen und Fähigkeiten zu fördern, damit der Patient in die Lage versetzt wird, das Optimale für die eigene Behandlung zu tun. Grundsätzlich gilt dabei, dass die persönliche Situation des Patienten und seine individuellen Behandlungserwartungen in besonderer Weise zur Kenntnis genommen und beachtet werden müssen. Jegliche therapeutische Bemühung zur Förderung der Behandlungscompliance führt letztlich immer auch dazu, dass die Selbstbestimmung des Patienten besonders ernst genommen wird und ihm in besonderer Weise eine Mitwirkung nicht nur bei der Behandlungsdurchführung sondern auch bereits der Behandlungsauswahl und -planung ermöglicht wird. Trotz der angesprochenen Vielfalt und Individualität des Complianceproblems lassen sich einige generelle Strategien zur Förderung der Behandlungscompliance benennen (Tab. 5.5.2). Dazu bietet es sich an, die vorgenannten Bedingungsfaktoren der Behandungscompliane unter therapeutischen Gesichtspunken hierarchisch zu ordnen (Linden 2000). Zu Beginn der Behandlung müssen äußere Behandlungsvoraussetzungen geschaffen werden, wie z. B. die örtliche Nähe des Arztes, weil lange Anfahrtwege sich mittelfristig negativ auf die Kooperation und Behandlungsstetigkeit auswirken. Wenn der Patient zur

5 Methodik

Behandlung kommt, ist es wichtig, dass mit dem Patienten eine gute Arzt-Patient-Beziehung aufgebaut wird, was vor allem dadurch erreicht wird, dass die Krankheitskonzepte des Patienten berücksichtigt werden und zwar sowohl hinsichtlich der Art der Interaktion wie der Art der Therapievorschläge. Ist ein Konsens über die durchzuführende Therapie hergestellt, dann müssen durchführungstechnische Probleme geklärt werden.

Effektivität von Maßnahmen zur Verbesserung der Behandlungscompliance Die vorliegende Literatur zeigt, dass Maßnahmen zur Förderung der Behandlungscompliance effektiv sind, zu relevanten Verbesserungen der Theapieergebnisse führen und erhebliche Kosten einsparen. Lorig et al. (1993, 2001) konnten zeigen, dass durch konsequente Maßnahmen zur Verbesserung der Compliance die regelmäßige körperliche Aktivität erhöht und die Anzahl der Tage in stationärer Behandlung oder die Zahl der Arztbesuche reduziert werden konnten. Der ökonomische Gewinn im Vergleich zu den Kosten für die Complianceförderungsmaßnahmen belief sich etwa auf 1:10, wobei die erreichten Verbesserungen auch noch nach drei Jahren nachweisbar waren. In einer randomisiert kontrollierten Studie untersuchten Lowe et al. (2000) die Wirkungen eines Medikamentenschulungsprogramms bei älteren Patienten, die mindestens drei Arzneimittel einnehmen mußten. In der Interventionsgruppe lag die Zahl korrekter Behandlungen mit 91,3 % signifikant höher als in der Kontrollgruppe mit 79,5 %. Ein Literaturreview von Gibson (2001) ergab für Asthmapatienten, dass ein Selbstkontrolltraining die Wahrscheinlichkeit einer stationären Behandlung nahezu halbierte (odds ratio 0,57), Notfallbehandlungen um ein Drittel (OR 0,71) und Fehltage bei der Arbeit um die Hälfte reduzierte (OR 0,55) und auch die Lungenfunktion signifikant verbesserte. Für AIDS Patienten zeigten McPherson-Baker et al. (2000) eine signifikante Reduktion der stationären Behandlungen und Komplikationen der Erkrankung nach einer verhaltensmedizinischen Intervention. Von be-

285

5.5 Compliance

sonderer Bedeutung war, die Patienten zu identifizieren, die eine schlechte Behandlungscompliance zeigten. Durch eine regelmäßige gezielte Beratung gelang es, gerade bei dieser Gruppe die Compliance signifikant zu verbessern (Ostrop et al. 2000). Grundsätzlich gilt, dass eine effiziente Strategie bei der Bearbeitung der Complianceproblematik darin besteht, sich auf Risikogruppen zu konzentrieren (Siegel et al. 2000). Gezielte Programme zur Verbesserung der Compliance setzen nicht unbedingt Spezialisten voraus. Haisch und Remmele (2000) konnten zeigen, dass ein Diabetes-Schulungsprogramm, das von Hausärzten durchgeführt wurde die selben Ergebnisse erzielte, wie die Schulung durch eine spezielle Diabetesambulanz. Auch Krankenschwestern können effektiv in der Patientenschulung zur Förderung der Compliance eingesetzt werden. Dabei können auch moderne Medien eine wichtige Rolle spielen. In Japan wurde ein Internet-basiertes Monitoringsystem getestet. Eine Krankenschwester gab auf diese Art Patienten Hilfe bei Therapieproblemen. Nach einem halben Jahr waren die stationären Aufnahmen significant um 83 % reduziert worden im Vergleich zu einer Kontrollgruppe. Zugleich wurde auch eine signifikante Verbesserung der Lungenfunktion erreicht (Kokubu et al. 2000). Schließlich kommt auch weiteren Beteiligten bei der Patientenversorgung eine wichtige Rolle zu. In einer Studie wurden Apotheker in die systematische Patientenschulung von Asthmatikern einbezogen. Dadurch konnte die Regelmäßigkeit der Arztvisiten erhöht und die Inanspruchnahme von Notfallambulanzen reduziert werden (Strobach et al. 2000). Trotz der geschilderten Datenlage muß auch auf die Beschränkungen der vorliegenden Studien hingewiesen werden. In den zitierten Studien wurde in aller Regel der Grad der Teilnahme von Patienten an den Programmen nicht gemessen. Ebenso ist offen, wie lange die erreichten Effekte der einzelnen Interventionen vorhalten. Es muß davon ausgegangen werden, dass die Effekte vorübergehen, so dass Langzeitkonzepte erforderlich sind.

5.5.5 Nebenwirkungen von Compliancemaßnahmen In der Medizin gilt, dass jede wirksame Maßnahme immer auch unerwünschte Wirkungen haben kann. Dies gilt auch für Interventionen zur Verbesserung von Compliance. Eine Voraussetzung für eine gute Behandlungscompliance ist auf Seiten der Patienten ein Erleben der eigenen Vulnerabilität. Alle entprechenden Programme enthalten daher Elemente, in denen den Patienten die negativen Folgen einer unzureichenden Behandlung deutlich gemacht werden, wie z. B. die Gefahr erneuter depressiver Episoden, schizophrener Rezidive oder Herzinfarkte. Desweiteren gehört zu jeder complianceverbessernden Maßnahme, die Patienten zu schulen, ihren Gesundheitszustand konsequent selbst zu überwachen, z. B. durch regelmäßige Blutdruckkontrollen. Psychologisch handelt es hierbei um sog. Sensibilisierungsprozesse, die dazu führen, dass Frühsignale, wie z. B. Diätverstöße, mit den negativen Langzeiteffekten, z. B. Tod, kognitiv assoziiert werden. Die Gefahr ist, dass sich eine sekundäre Hypochondrie oder Somatisierung entwickelt, die nach den gleichen psychologischen Prinzipien ablaufen wie primäre derartige Erkrankungen. Geringfügige Körpersignale lösen Assoziationen an mögliche negative Konsequenzen aus und führen dann zu Angstreaktionen und typischerweise auch weiterem phobischen Abklärungs- oder Vermeidungsverhalten (Rief und Hiller 1998; Rief 2000). Es gibt keine Literatur über die Häufigkeit solcher unerwünschten Begleitwirkungen von Complianceinterventionen. Es gibt auch keine theoretischen Konzepte, wie solchen Fehlentwicklungen vorzubeugen ist. Nach eigenen klinischen Beobachtungen bei hochcomplianten Patienten, beispielsweise in Selbsthilfegruppen, gibt es offenbar eine größere Zahl von Patienten, die dysfunktional compliant sind. Kennzeichen hierfür sind dieselben, die auch somatoform-hypochondrische Störungen definieren: Ausrichtung des gesamten Lebens auf die Krankheitsvorbeugung und Therapie, erhebliche Einschränkung von Lebensaktivitäten und Einengung im Alltagsverhalten, ständiges Si-

286

cherungsverhalten, anankastisch korrekte Einhaltung von Therapie- und Verhaltensempfehlungen, Auftreten von akuter Angst, wenn entsprechende Regeln oder Rituale nicht eingehalten werden können, ständige Suche nach weiteren Möglichkeiten der Therapie und Prävention, Durchführung entsprechender zusätzlicher Maßnahmen auf Eigeninitiative oder auf Laienempfehlungen hin ohne Rücksprache mit dem behandelnden Arzt. In solchen Fällen sind die Folgen der Compliancemaßnahmen i. S. der Entwicklung einer hypochondrisch somatoformen Angsterkrankung für die Lebensqualität schlimmer als die organische Primärerkankung. Ein Compliancewert größer 1 ist ebenso dysfunktional wie ein Wert kleiner 1. Letztlich gilt auch hier, dass das Ziel ein funktionales Mittelmaß sein muß.

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6

Pharmakokinetik

6.1 Allgemeine Grundlagen W. E. Müller, C. Hiemke und P. Baumann

6.1.1. Grundlegende Aspekte Die Entscheidung zum Einsatz eines bestimmten Medikaments wird zunächst von seinen pharmakodynamischen Eigenschaften bestimmt, d. h. der qualitative Aspekt der erwünschten Wirkung steht initial im Vordergrund. Quantitative

Fragen schließen sich an, denn die Substanz sollte in genau richtiger Konzentration an den Wirkort, im Falle der Psychopharmaka in das zentrale Nervensystem (ZNS), gebracht werden. Ist die Konzentration am Wirkort zu hoch, können unerwünschte Arzneimittelwirkungen dominieren, ist die Konzentration zu niedrig,

Abbildung 6.1.1: Schematische Darstellung eines Plasmaspiegelverlaufes nach oraler Applikation

290

wird die therapeutische Wirkung nicht ausreichend sein (Abb. 6.1.1). Die Pharmakokinetik beschreibt und erklärt diese Zusammenhänge, insbesondere den zeitlichen Konzentrationsverlauf der Medikamente und ihrer Metabolite in Flüssigkeiten und Geweben des Körpers. Sie versucht auch zu erklären, welche biologischen Mechanismen für diese Vorgänge verantwortlich sind. Gute Kenntnisse der pharmakokinetischen Kerndaten einer eingesetzten Substanz sind die Voraussetzung dafür, dass der richtige Medikamenteneffekt in richtiger Intensität zur richtigen Zeit in ausreichender Wirkdauer mit einem Minimum an unerwünschten Wirkungen erreicht wird. Die Pharmakokinetik eines Medikaments wird hauptsächlich durch dessen physikochemische Eigenschaften wie Struktur, Fettlöslichkeit oder Ionisierbarkeit bestimmt, nicht durch dessen pharmakologische Eigenschaften. Pharmakologisch identisch wirksame Substanzen können sehr unterschiedliche pharmakokinetische Eigenschaften haben. Aber auch durch die individuelle Disposition kann die Pharmakokinetik eines Medikaments von Patient zu Patient sehr unterschiedlich sein. Dies wird zum einen durch die genetisch determinierte Ausstattung der Leber mit arzneimittelabbauenden Enzy-

6 Pharmakokinetik

men und der Darmmukosa oder der Blut-HirnSchranke mit Transportproteinen bestimmt. Modulierend sind auch Alter, Lebensgewohnheiten oder Krankheit, die auch die arzneimittelabbauenden Enzymaktivitäten aber auch praktisch alle anderen Aspekte des pharmakokinetischen Phänotyps ausmachen (Abb. 6.1.2). Wegen der interindividuellen Variabilität des pharmakokinetischen Phänotyps sind pharmakokinetische Kenngrößen, die für psychotrope oder andere Medikamente in den Herstellerinformationen oder in Lehrbüchern angegeben werden, keine Materialkonstanten, sondern Mittelwertangaben. Der individuelle pharmakokinetische Phänotyp und seine Abweichungen von der „Norm“ sind daher bei der Wahl des Medikaments und der Dosierung zu berücksichtigen. Dabei ist auch zu beachten, dass pharmakokinetische Kenngrößen oft nicht normal verteilt sind. Die Pharmakokinetik beschreibt den Zeitverlauf der Wirkstoffkonzentration im Organismus (Abb. 6.1.1). Bei Psychopharmaka wäre die Kenntnis der Wirkstoffkonzentration am Wirkort (ZNS) wünschenswert. Dies ist beim Menschen nicht möglich; die Wirkstoffkonzentration kann nur im Blut ermittelt werden. Trotz dieser Limitierung sind pharmakokinetische Informationen möglich und können für eine The-

Abbildung 6.1.2: Phasen der Pharmakokinetik und deren Abhängigkeiten von der genetischen Grundausstattung (pharmakokinetischer Genotyp) und von weiteren, meist externen Faktoren. Der pharmakokinetische Phänotyp bestimmt, welche Konzentrationen einer verabreichten Dosis den Wirkort erreichen und wie lange das Arzneimittel wirkt.

291

6.1 Allgemeine Grundlagen

rapie mit Psychopharmaka dienlich sein, denn die Grundannahme bei der klinischen Pharmakokinetik geht davon aus, dass es zwischen erwünschten und unerwünschten Wirkungen eines Arzneimittels und seiner Konzentration im Blut eine Beziehung gibt (Abb. 6.1.1). Dies ist für viele Medikamente nachgewiesen. Für viele Psychopharmaka fehlt allerdings ein solcher Nachweis. Dieser ist insbesondere dann schwer zu führen, wenn eine zeitliche Latenz zwischen Konzentration und Effekt besteht, z. B. bei einer antidepressiven oder antipsychotischen Wirkung. Eine weitere Annahme bei der klinischen Pharmakokinetik geht davon aus, dass die Konzentrationen der Arzneimittel in der systemischen Zirkulation mit den Konzentrationen im Wirkkompartiment (meist ZNS) korrelieren. Dies ist für viele Psychopharmaka aus der Gruppe der Antidepressiva, Antipsychotika, Antidementiva und Anxiolytika tierexperimentell nachgewiesen worden. Ein typischer Blutspiegelverlauf nach oraler Applikation ist in Abbildung 6.1.1 gezeigt. Nach oraler Einnahme nimmt der Blutspiegel der Substanz mit der Zeit langsam zu, erreicht bei ausreichender Dosis den minimalen therapeutischen Bereich (Invasionsphase), liegt dann für

eine bestimmte Zeit im therapeutisch benötigten Plasmakonzentrationsbereich und wird danach durch Eliminationsprozesse langsam abgebaut (Evasionsphase). Die Evasionsphase ist somit für die Dauer, in der sich das Medikament in einem therapeutisch erwünschten Plasmakonzentrationsbereich befindet, von essentieller Bedeutung. Bei vielen Substanzen kann sich die Evasionsphase aus verschiedenen Prozessen zusammensetzen (Abb. 6.1.3). Wie hier am Beispiel einer intravenösen Applikation gezeigt, kann in der halblogarithmischen Darstellung der Abbau der Plasmakonzentration in 2 lineare Prozesse zerlegt werden, eine a-Phase mit kurzer und eine b-Phase mit längerer Zeitkonstante. Die a-Phase, die im gewählten Beispiel sehr deutlich ausgeprägt ist, wird meist von Umverteilungsphänomenen bestimmt. Der Wirkstoff erscheint zunächst in sehr hoher Konzentration im Blut und wird dann in Abhängigkeit von der Durchblutung und der vorhandenen Gewebemenge in die einzelnen Organe verteilt (Abb. 6.1.4, 6.1.5). Dies bedeutet, dass in der initialen Phase der sehr hohen Plasmakonzentration der Wirkstoff v. a. in den Organen, die sehr stark durchblutet werden, angereichert wird. Dies gilt besonders für das ZNS.

ase a-Ph

Plasmakonzentration

[log C]

b-P ha se [Zeit]

Abbildung 6.1.3: Plasmaspiegelverlauf nach i.v.-Applikation in halblogarithmischer Auftragung. Die Plasmaspiegelverlaufskurve kann in 2 lineare Phasen zerlegt werden: α-Phase, bei der die Abnahme des Plasmaspiegels durch Verteilung ins Gewebe bestimmt ist, k und β-Phase, die die terminale Elimination beschreibt. Die Zeit, in der in der β-Phase der Plasmaspiegel um die Hälfte abnimmt, wird als Eliminationshalbwertszeit (t1/2) bezeichnet.

292

6 Pharmakokinetik Bei oraler Gabe eines Arzneimittels im Organismus ablaufende Vorgänge Pharmazeutische Phase

Applikation

Zerfall der Arzneiform Auflösung der Wirkstoffe

Pharmakokinetische Phase

Resorption Biotransformation

Speicherung

Verteilung Ausscheidung Wirkort (Rezeptoren)

Pharmakodynamische Phase Pharmakologischer Effekt Wirksamkeit (erwünschte Wirkung)

Unerwünschte bzw. toxische Wirkung

Abbildung 6.1.4: Die pharmakokinetischen Schritte von der Einnahme einer oralen Arzneiform (z. B. Tablette) über Resorption, Verteilung und Elimination. Alle Prozesse stehen in einem dynamischen Gleichgewicht zueinander.

Schematische Darstellung der Verteilung eines plasmaproteingebundenen Pharmakons im Organismus.

Gewebe frei

Blut

gebunden

Leber

gebunden

frei

frei

gebunden

Über die freie Konzentration stehen alle Verteilungsräume miteinander in Verbindung. Im Liquor entspricht oft die Gesamtkonzentration der freien Konzentration.

Liquor frei

Blut renale hepatische Elimination Elimination

4 % des Körperwassers 200 g Proteine

Gewebe

ZNS frei gebunden

Metabolismus biliäre Exkretion

35 % des Körperwassers 10 000 g Proteine 15 000 g Lipide

Abbildung 6.1.5: Schematische Darstellung der Verteilung eines an Plasmaproteine gebundenen Pharmakons im Organismus. Über die freie Konzentration stehen alle Verteilungsräume miteinander in Verbindung. Im Liquor entspricht oft die Gesamtkonzentration der freien Konzentration.

Da in den Organen die Substanzkonzentration mit abfallendem Plasmaspiegel wieder abnimmt, verhält sich hier der Konzentrationsverlauf ähnlich wie der Plasmaverlauf. Dieses Phänomen nutzt man z. B. bei der i.v.-Narkose aus (Propofol oder Benzodiazepine), wo die Determinierung der Bewusstseinsausschaltung ausschließlich von Rückverteilungsphänome-

nen (aus dem Gehirn in periphere Gewebe) bestimmt wird und nicht etwa von einer terminalen Eliminationsgeschwindigkeit (b-Phase), die z. B. beim Diazepam mehrere Tage betragen kann. Solche Umverteilungsphänomene spielen bei der Terminierung der Wirkung vieler Psychopharmaka eine Rolle. Sie äußern sich immer dann, wenn nach akuter (parenteraler aber auch

6.1 Allgemeine Grundlagen

oraler) Applikation initial sehr ausgeprägte, zentrale erwünschte oder auch unerwünschte Wirkungen gesehen werden, die sehr viel schneller sistieren, als man es von der pharmakokinetischen Eliminationsgeschwindigkeit her erwarten würde. Die eigentliche terminale Eliminationsphase (b-Phase, vgl. Abb. 6.1.3) wird nur bei wenigen Psychopharmaka durch eine direkte renale Elimination bestimmt (z. B. Lithium). Bei den meisten Substanzen ist eine Metabolisierung in der Leber (s. u.) der geschwindigkeitsbestimmende Schritt der Evasion. Medikamente und auch Psychopharmaka werden vom Organismus in der Regel als Fremdstoffe erkannt, die weder als Brennstoff noch als Baustoff, noch als essenzieller Nahrungsbestandteil verwertbar sind. Der Mensch hat im Verlauf der Evolution den Umgang mit solchen Fremdstoffen gelernt, die häufig potenziell toxische Abkömmlinge von Pflanzeninhaltsstoffen sind. Viele Mechanismen sorgen dafür, dass unser Körper mit diesen Fremdstoffen nicht oder nur wenig belastet wird. Gegenüber diesen Abwehrmechanismen muss das Medikament bestehen, um eine Wirkung zu erzielen. Psychopharmaka haben es dabei besonders schwer. Sie müssen nach meist oraler Einnahme im Magen oder Darm freigesetzt werden (Liberation), während der Passage durch den Magen-Darm-Trakt resorbiert werden (Absorption), die Biotransformation in der Leber überstehen (Metabolismus) und schließlich während der Verteilung im Körper (Distribution) die BlutHirn-Schranke überwinden, um im Gehirn wirksam zu werden, bevor sie dann wieder ausgeschieden werden (Exkretion). Eine Zusammenfassung der pharmakokinetischen Phasen Resorption, Distribution, Metabolisierung und Exkretion ist in Abbildung 6.1.4 dargestellt.

6.1.2 Resorption Die erste pharmakokinetische Phase im engeren Sinne ist die Resorption (Abb. 6.1.4), bei oraler Einnahme die enterale Resorption. Diese hängt ab von der Größe und von physikochemischen Eigenschaften des Pharmakons, insbesondere Ionisierbarkeit und Fettlöslichkeit.

293

Die meisten Psychopharmaka haben ein Molekulargewicht zwischen 200–500 Da und viele sind amphiphiler Natur meist durch eine basische (Antidepressiva, Antipsychotika), seltener durch eine saure (Valproinsäure, Barbiturate) funktionelle Gruppe, die geladen oder ungeladen sein kann. Sie passieren die Magen-DarmWand und müssen dabei, ebenso wie bei der späteren Wanderung zum Erfolgsorgan, viele biologische Membranen überwinden. Zellmembranen bestehen aus einer Lipiddoppelschicht mit eingelagerten Proteinmolekülen. Die Aufnahme eines Medikaments kann durch verschiedene Mechanismen erfolgen, durch  Diffusion durch die Lipidschicht oder Poren,  erleichterte Diffusion über nicht aktiven Transport,  aktiven Transport unter Verbrauch von Energie,  Endozytose,  Diffusion oder Filtration via interzelluläre Spalten. Für die meisten Psychopharmaka ist nach derzeitigem Wissen die Diffusion durch die Lipiddoppelschicht der Membran der bevorzugt beschrittene Weg, wobei der Konzentrationsgradient die treibende Kraft darstellt. Dabei spielt auch der Ionisierungsgrad der Substanz eine Rolle. Die Lipidmembran wird bevorzugt im nichtionisierten Zustand durchwandert. Der saure pH-Wert im Magen verzögert bei den meist basischen Psychopharmaka die Resorption. Liegt intrazellulär ein saurer pH-Wert vor, dann kann es zum so genanntem ion trapping kommen. Dabei wird das basische Medikament in ungeladener Form aufgenommen und intrazellulär protoniert. In geladener Form ist der Wiederaustransport erschwert. Begünstigt wird die Resorption von Psychopharmaka durch die meist gute Fettlöslichkeit, die durch Messungen der Verteilung (in ungeladener Form) z. B. zwischen n-Oktanol und Wasser gemessen werden kann. Hauptresorptionsort für orale Psychopharmaka ist der Dünndarm. Die große Oberfläche der Darmmukosa begünstigt die Resorption.

294

Befunde der letzten Jahre haben allerdings gezeigt, dass das Intestinum auch eine aktive Barrierefunktion ausüben kann (Kivistö et al. 2004; Zhang und Benet 2001), indem in der Darmmukosa metabolisiert wird und indem die durch Diffusion aufgenommenen Arzneimittel durch aktive Transportvorgänge wieder in das Darmlumen exportiert werden.

6.1.3 Verteilung Nach Erscheinen in der Blutbahn verteilt sich der Wirkstoff über den Organismus (Abb. 6.1.4). Während in der Initialphase die Durchblutung der einzelnen Gewebe eine wichtige determinierende Größe ist (s. o.), bestimmen im Weiteren die Größe des jeweiligen Gewebekompartiments und die Fettlöslichkeit des Arzneimittels (Lipophilie) die Verteilung. Dies ist schematisch in Abbildung 6.1.5 gezeigt. Hat der Wirkstoff eine ausreichende Affinität zu Gewebestrukturen (das gilt für die meisten gut fettlöslichen Arzneistoffe), wird er sich nicht nur gleichmäßig in alle Kompartimente verteilen, sondern sich auch in Gewebestrukturen anreichern. Hierbei spielen quantitativ gesehen die Plasmaproteine nur eine geringe Rolle. Aus dem Verteilungsschema wird ersichtlich, dass der Wirkstoff zum größten Teil in dem großen Kompartiment der Gewebeproteine gebunden sein wird. Während dieses Verteilungsprozesses steht die freie Konzentration im Plasma mit den freien Konzentrationen des Wirkstoffs in anderen Kompartimenten im Gleichgewicht. In Kompartimenten, in denen anreichernde Proteine fehlen (z. B. Liquor), kann die Gesamtkonzentration der freien Konzentration in anderen Geweben entsprechen. Wichtig an dem Verteilungsschema (vgl. Abb. 6.1.5) ist die Tatsache, dass bezogen auf den Gesamtorganismus das Plasma nur ein sehr kleines Kompartiment darstellt. Besitzt der Wirkstoff zudem eine hohe Affinität zu Gewebekomponenten, erklärt das Verteilungsschema sehr deutlich, warum für Wirkstoffe mit hoher Gewebebindung und meist hoher Lipophilie nur der geringste Teil der verabreichten Dosis im Plasma als Plasmaspiegel nachweisbar ist.

6 Pharmakokinetik

Lipophile Arzneistoffe haben als pharmakokinetische Kenngröße ein sehr großes Verteilungsvolumen (Tab. 6.1.1). Je größer das Verteilungsvolumen, desto kleiner ist der Anteil der applizierten Dosis, der sich im Plasma befindet. Die Tabelle zeigt, dass sehr viele Psychopharmaka extrem große Verteilungsvolumina haben, d. h. bei diesen Substanzen liegt nur ein Bruchteil der verabreichten Dosis im Plasma in freier oder gebundener Form vor. Das Verteilungsvolumen (V) ist damit ein Maß für die Verteilung der Plasmakonzentration (C) und der im Organismus vorhandenen Gesamtmenge (M) des Pharmakons: V=M/C In der Praxis wird das Verteilungsvolumen nach der folgenden Gleichung aus der Clearance (CL) und der Eliminationskonstante (ke, Kap. 6.4) berechnet: V = CL / ke Die meisten Psychopharmaka weisen wegen ihrer guten Fettlöslichkeit hohe Verteilungsvolumina auf (Tab. 6.1.1). Für Amitriptylin beträgt beispielsweise das Verteilungsvolumen 14. Daraus ist abzulesen, dass Amitriptylin bevorzugt im Gewebe gebunden wird. Aus dem Verteilungsvolumen kann allerdings nicht geschlossen werden, wie hoch die Konzentrationen im Gehirn oder in anderen Organen sind. Das Verteilungsvolumen ist primär ein theoretischer Wert. Das Gehirn ist besonders gut durchblutet, und ein dichtes Netzwerk feinster Kapillaren sorgt für einen raschen Stoffaustausch zwischen Blut- und Hirnmilieu. Die meisten Psychopharmaka sind lipophil, daher gelangen sie rasch in ihr Zielgewebe, wahrscheinlich über passive Diffusion. Der Übertritt in das Zentralnervensystem ist allerdings ein Problem, da das Gehirn durch sehr effektive Barrieren – die Blut-HirnSchranke und die Blut-Liquor-Schranke – vor Fremdstoffen geschützt ist. Eine Abdichtung des interzellulären Spalts durch so genannte tight junctions und eine verminderte vesikuläre Transzytose sorgen für eine geringe transendo-

295

6.1 Allgemeine Grundlagen

Tabelle 6.1.1: Verteilungsvolumina (VD) und terminale Eliminationshalbwertszeiten (t1/2) wichtiger Psychopharmaka beim Menschen VD (l /kg) Amisulprid Amitriptylin Carbamazepin Chlorpromazin Citalopram Clonazepam Desipramin Diazepam Doxepin Haloperidol Imipramin Lithium Lorazepam Nitrazepam Nortriptylin Olanzapin Oxazepam Phenytoin Quetiapin Sertralin Reboxetin Risperidon Temazepam Triazolam Venlafaxin

5 14 1,4 21 14 3 34 1,1 20 18 23 0,8 1,3 1,9 18 15 1,0 0,6 10 25 32 1 1,1 1,1 6

t1/2 (h) 12 16 15 30 33 23 18 43 17 18 18 22 14 26 31 7 8 6–24 4 30 12 4 8 2,3 4

VD errechnet sich aus der Formel VD = D/CO, wobei D die gegebene Dosis (i.v.) ist und C, die fiktive Ausgangskonzentration im Plasma (unter der Annahme einer vollständigen Verteilung der Dosis ohne schon stattfindende Elimination). Eine Substanz, die sich nur im Blutwasserraum verteilen würde, hätte in diesem System ein Verteilungsvolumen von 0,06. Das Verteilungsvolumen von Phenytoin (0,6) entspricht ungefähr dem Körperwasserraum. Verteilungsvolumina > 1 sind nur möglich, wenn sich die Substanz in bestimmten Organen in wesentlich höherer Konzentration befindet als im Plasma.

theliale Permeabilität. Nur in neurosekretorisch aktiven Hirnregionen, wie im hypothalamischhypophysären System, sind die Gefäße durchlässig. Hier wird die Schrankenfunktion durch spezialisierte Gliazellen übernommen. Ähnliches gilt für den Plexus choroideus, der aus Blutplasma den Liquor cerebrospinalis abscheidet. Plexusepithelzellen, die ebenfalls durch tight junctions abgedichtet sind, bilden die BlutLiquor-Schranke (Ghersi-Egea und Strazielle 2001; Graff und Pollack 2004). Für die Verteilung von Psychopharmaka in ihr Wirkkompartiment ist die Blut-HirnSchranke die quantitativ wichtigste Barriere.

Ob die Blut-Liquor-Schranke von pharmakologischer Bedeutung ist, ist derzeit unklar. In der Blut-Hirn-Schranke erfolgt der Stoffaustausch zwischen Blut und Gehirn zunächst über Endothelzellen, welche die Blutkapillaren eng umschließen (Abb. 6.1.6). Die Endothelzellen sind reichlich mit Perizyten ausgestattet, die ihrerseits von Gliazellen (Astrozyten) umgeben sind, über die dann schließlich die Nervenzellen versorgt werden. Endothelzellen, Perizyten und Gliazellen stehen über die Extrazellulärmatrix in engem Kontakt und tragen gemeinsam zur dynamischen Aufrechterhaltung der Schrankenfunktion bei. Distinkte Transportproteine, die in

296

6 Pharmakokinetik

ZNS Glucosetransporter tight junction

Endothel-Zelle der Blutkapillaren Nucleosidtransporter

Aminosäuretransporter

Blut

P-Glycoprotein

Abbildung 6.1.6: Endothelzelle der Blut-Hirn-Schranke und deren Ausstattung mit Transportproteinen, die für einen gerichteten Transport niedermolekularer Stoffe sorgen. Für Arzneimittel, darunter auch Psychopharmaka, ist der ABCEffluxtransporter P-Glykoprotein besonders wichtig. Über Pgp werden sie aus dem Hirnkompartiment von apikal nach luminal in den Blutkapillarraum transportiert. Endothelzellen sind durch tight junctions fest verbunden, um einen parazellulären Transport zu verhindern. (Nach Lee et al. 2001; Schinkel und Jonker 2003)

den Endothelzellen exprimiert werden, sorgen für einen gerichteten Stoffaustausch (Abb. 6.1.6). Glucose kann in beide Richtungen transportiert werden. Der Eintransport ist allerdings bevorzugt, da Glucosetransporter in höherer Konzentration auf der apikalen Seite als auf der luminalen Seite exprimiert werden. Für die Kontrolle der Passage von Medikamenten in das Gehirn scheint Pgp, das auch als Effluxtransporter der Darmmukosazellen vorkommt (Kap. 6.1.2), von besonders großer Bedeutung zu sein. Auch Psychopharmaka wurden als Substrate von Pgp identifiziert (Doan et al. 2002; Doran et al. 2005). Medikamente, die Substrate von Pgp sind, werden nach Passage der BlutHirn-Schranke unter Aufwand von Energie wieder exportiert (Fromm 2004). Sie werden demnach im Gehirn nicht oder nur beschränkt akkumuliert. Das Antiemetikum Domperidon ist z. B. ein effektiver Blocker von DopaminD2-Rezeptoren. Es ist ähnlich lipophil wie Haloperidol, wirkt jedoch nicht als Antipsychotikum, weil es Substrat von Pgp ist und deshalb im Gehirn keine ausreichenden Konzentrationen eingestellt werden. Für eine Reihe von An-

tidepressiva ist an Mausmutanten, die kein aktives Pgp besitzen, nachgewiesen worden, dass die Konzentrationen im Gehirn dieser Tiere höher sind als in Tieren mit intaktem Pgp (Uhr et al. 2003). Es ist anzunehmen, dass Pgp für die Kinetik und Dynamik von einigen Psychopharmaka bedeutsam ist. Es ist jedoch noch unklar, inwieweit solche Tiermodelle für den Menschen Gültigkeit haben und inwiefern Pgp für die praktische Psychopharmakotherapie relevant ist. Unklar ist dabei auch, ob Pgp bei Wechselwirkungen von Arzneimitteln eine Rolle spielt (Lin 2003; Liu und Hu 2000; Pal und Mitra 2006). Die Aufklärung der funktionellen Bedeutung von Pgp und anderen Transportproteinen ist in der pharmakologischen Grundlagenforschung derzeit hochaktuell.

6.1.4 Elimination Sind die Umverteilungsprozesse abgeschlossen, wird die Abnahme des Plasmaspiegels ausschließlich von den Eliminationsprozessen getragen. Aus der linearen Komponente der b-Phase lässt

297

6.1 Allgemeine Grundlagen

sich die terminale Eliminationshalbwertszeit (t1/2) errechnen (Abb. 6.1.3). Sie gibt an, in welcher Zeit sich eine vorhandene Plasmakonzentration in der b-Phase (Eliminationsphase) um die Hälfte reduziert. Die terminale Eliminationshalbwertszeit ist unabhängig von der tatsächlich vorliegenden Plasmakonzentration. Sie ist die wichtigste pharmakokinetische Kenngröße eines bestimmten Arzneimittelstoffes (vgl. Tab. 6.1.1) beim Menschen. Sie gibt Auskunft darüber, wie schnell der Wirkstoff aus dem Organismus eliminiert wird. Sie kann natürlich von Individuum zu Individuum schwanken und sich vor allen Dingen bei pathologischen Veränderungen der Eliminationsorgane deutlich verlängern. Zusammen mit der Dosis ist sie die wesentliche Determinante für die Höhe des zu erreichenden Arzneistoffspiegels bei einer Dauermedikation (s. Kap. 6.2.4). Die Eliminationshalbwertszeit (t1/2), auch terminale oder dominierende Halbwertszeit genannt, ergibt sich aus dem zeitlichen Verlauf der Konzentration im Plasma nach Abschluss einer Verteilungsphase aus der Eliminationskonstante ke: ke = ln2/t1/2 Demnach ist t1/2 = ln2/ke = 0,693/ke Sind Clearance und Verteilungsvolumen bekannt, so lässt sich auch daraus die Eliminationskonstante (ke) berechnen: ke = CL/V Demnach nimmt die Plasmakonzentration eines Pharmakons umso rascher ab, je größer die Clearance, d. h. die Eliminationsfähigkeit, ist. Die Plasmakonzentration nimmt langsam ab, wenn das Volumen, aus dem das Pharmakon entfernt werden muss, groß ist. Die Clearance ist ein Maß für die Fähigkeit des Organismus, ein Pharmakon zu eliminieren. Die Clearance umfasst die Exkretionsleistung der Niere und andere Prozesse, etwa die Metabolisierung in der Leber oder die Ausscheidung über die Galle. Die totale Clearance

(CL) ist die Summe aus renaler Clearance (CLR) und extrarenaler Clearance (CLNR) und lässt sich nach i.v.-Gabe einer Einzeldosis eines Medikaments durch Messung der Plasmakonzentrationen nach folgender Beziehung ermitteln: CL = M/AUC Dabei ist M die in den systemischen Kreislauf gelangte Menge des Pharmakons und AUC die Fläche unter der Konzentrations-Zeit-Kurve. In der Praxis wird die Clearance unter Einbeziehung der Bioverfügbarkeit (F) berechnet: CL = F • Dosis/AUC Die Clearance kann interindividuell variieren, da sie vom individuell variablen Metabolismus abhängig ist. Sie kann im Extremfall gegen Null gehen, z. B. genetisch bedingt durch das Fehlen eines für den Abbau wesentlichen Enzyms oder durch Enzymhemmung bei Arzneimittelwechselwirkungen. Es muss davor gewarnt werden, die pharmakokinetische Eliminationshalbwertszeit mit einer biologischen Halbwertszeit oder einer Halbwertszeit der therapeutischen Wirkung zu verwechseln. Diese pharmakodynamischen Größen können, müssen aber nicht mit der pharmakokinetischen Eliminationshalbwertszeit übereinstimmen. Ein Sonderfall der Elimination ist die sog. präsystemische Elimination oder auch „firstpass“-Metabolismus bezeichnet. Hierunter versteht man das Phänomen, dass der venöse Abfluss des Magen-Darm-Trakts zunächst über die Pfortader in die Leber gelangt (Abb. 6.1.7). Haben die Mukosa des Dünndarms oder die Leber nun eine besonders hohe Kapazität einen bestimmten Wirkstoff zu metabolisieren, so wird schon bei der ersten Passage ein Großteil des aus dem Magen-Darm-Trakt resorbierten Wirkstoffs metabolisiert und damit eliminiert. Dies bedeutet, dass nur ein kleiner Teil der oral applizierten Dosis systemisch zur Verfügung steht bzw. bioverfügbar ist. Ein ausgeprägter First-pass-Metabolismus ist der wichtigste Grund für eine geringe orale Bioverfügbarkeit. Er erklärt, dass eine Substanz

298

6 Pharmakokinetik

Abbildung 6.1.7: Venöser Abfluss aus Mundhöhle und Gastrointestinaltrakt. Ein hoher First-Pass-Metabolismus nach oraler Applikation ist immer dann zu sehen, wenn der Wirkstoff schon während der Resorption in der Dünndarmwand oder bei der 1. Passage durch die Leber (Pfortader) zu einem hohen Prozentsatz metabolisiert wird. Neben ungenügender Resorption ist der First-pass-Metabolismus der Hauptgrund für schlechte orale Bioverfügbarkeit

trotz 100iger Resorption nur eine orale Bioverfügbarkeit von wenigen Prozent aufweisen kann. Viele Psychopharmaka, besonders Antidepressiva und Neuroleptika weisen einen ausgeprägten First-pass-Metabolismus und eine schlechte orale Bioverfügbarkeit auf. Natürlich kann eine niedrige Bioverfügbarkeit durch eine entsprechend höhere orale Dosis ausgeglichen werden. Da aber die Bioverfügbarkeit direkt von interindividuellen oder auch alters- bzw. krankheitsbedingten Schwankungen der hepatischen Elimination beeinflusst wird, ist die interindividuelle Varianz der Plasmaspiegel bei Substanzen mit schlechter Bioverfügbarkeit besonders ausgeprägt. Die Pfortader wird bei der Resorption aus der Mundhöhle oder aus dem Rektum umgangen (vgl. Abb. 6.1.7). Da aber die Resorption bei diesen Applikationsformen aus anderen Gründen unsicher ist, sind bukkale bzw. rektale Arzneiformen für Verabreichung der meisten Psychopharmaka keine allgemein gängige Alternative.

Hepatischer Metabolismus: Da lipophile Substanzen wie die meisten Psychopharmaka nach der glomulären Filtration in den Nierentubuli weitgehend wieder rückresorbiert werden (Faustregel: bei guter Resorption im Darm eher geringe direkte renale Elimination), können diese nicht direkt renal ausgeschieden werden. Ausnahmen sind z. B. Lithium und Benzamidneuroleptika wie Amisulprid. Um die Elimination fettlöslicher Stoffe zu beschleunigen, verwendet der Körper Enzymsysteme, die diese Stoffe in hydrophilere und somit leichter renal ausscheidbare Substanzen umwandeln. Die Metabolisierung von Fremdsubstanzen erfolgt vor allen Dingen in der Leber und nur in untergeordnetem Maße in anderen Organen (z. B. Darm, Niere, Lunge). Die an der Biotransformation beteiligten Enzyme sind weitgehend substratunspezifisch. Man unterscheidet  die strukturgebundenen Enzyme, die hauptsächlich in der Membran des endoplasmati-

299

6.1 Allgemeine Grundlagen Tabelle 6.1.2: Unterteilung der hepatischen Eliminationsprozesse und ihre Veränderung im Alter Phase-1-Reaktionen Hydroxylierung

Phase-2-Reaktionen Glukuronidierung

N-Desalkylierung

Sulfatierung

Nitro-Reduktion

Acetylierung

Sulfoxidierung Hydrolyse Oft im Alter

Meist im Alter

Relevant

nicht relevant

Verlangsamt

verändert

Phase-l-Reaktionen beinhalten direkte chemische Veränderungen am Wirkstoffmolekül und erfordern andere metabolisierende Enzyme als die Phase-2-Reaktionen, bei denen gut wasserlösliche Moleküle an aktive Gruppen des Wirkstoffmoleküls angekoppelt werden.

schen Retikulums (z. B. Monooxygenasen, Glukuronyltransferasen) vorkommen, und  die strukturungebundenen Enzyme, die als lösliche Enzyme im Zytosol vorliegen (z. B. Esterasen, Amidasen). Die enzymatischen Prozesse können auf der Basis der durchgeführten Strukturveränderungen in Phase-I- und Phase-II-Reaktionen unterteilt werden (Tab. 6.1.2). Als Phase-I-Reaktionen werden Biotransformationsmechanismen bezeichnet, die eine

oxidative, reduktive und hydrolytische Veränderung der Pharmakonmoleküle bewirken. Dagegen erfolgt bei Phase-II-Reaktionen eine Konjugation eines Arzneistoffmoleküls bzw. eines aus Phase I entstandenen Metaboliten an körpereigene Substanzen (z. B. aktivierte Glukuronsäure, Glyzin, S-Adenosylmethionin). Somit schafft in vielen Fällen die Biotransformation in Phase I oft erst die Voraussetzung für die Konjugation in Phase II und für die nachfolgende Elimination des Pharmakons (vgl. Abb. 6.1.8).

Abbildung 6.1.8: Schema der wesentlichen hepatischen Eliminationsschritte von Citalopram und Imipramin (nach Eckert et al. 1998)

300

6 Pharmakokinetik

In der Phase I sind v. a. Oxidationsreaktionen besonders wichtig. Die weitaus größte Bedeutung für die oxidative Biotransformation von Pharmaka kommt den mikrosomalen Monooxygenasen zu, welche die Hämproteine Cytochrom P-450 enthalten. Die Grundfunktion der Monooxygenasen vom P450-Typ besteht in der Einführung von molekularem Sauerstoff in das Zielmolekül. Beim Cytochrom P-450 handelt es sich nicht um ein einzelnes Enzym, sondern um eine durch eine Supergenfamilie kodierte Gruppe von Enzymen (CYP-Enzyme; Tab. 6.1.9). Um eine sichere Zuordnung dieser Enzyme zu ermöglichen, wurde eine Nomenklatur entwickelt, die die Enzyme auf der Basis von Homologien der Aminosäuresequenzen in Familien und Subfamilien unterteilt (vgl. Abb. 6.1.9). Die CYP-Isoenzyme können in 2 Klassen eingeteilt werden: mitochondriale und mikrosomale Enzyme. Die CYP-Enzyme der inneren Mitochondrienmembran sind bei der Steroidsynthese von Bedeutung (Familien 7, 11, 17, 19, 21, 27),

während die Enzyme in den mikrosomalen Membranen (Familien 1, 2, 3, 4) Xenobiotika wie z. B. die Arzneistoffe metabolisieren. In der letzten Gruppe zählen CYP1A2, CYP2C9/10, CYP2C19, CYP2D6 und CYP3A3/4 zu den wichtigsten Isoenzymen (Nebert et al. 1991), die sich allerdings in ihrer Substratspezifität erheblich unterscheiden (vgl. Abb. 6.1.9). Die P450-Enzyme werden zu 90–95 % in der Leber exprimiert, aber auch in Lunge, Darmmukosa, Niere und sogar im Gehirn finden sich CYP-Isoenzyme. Das in der menschlichen Leber am stärksten exprimierte Isoenzym ist CYP3A4. Es macht im Durchschnitt 30 % der CYP-Isoenzyme aus. CYP2D6 ist das am besten untersuchte Isoenzym, allerdings spielt es quantitativ in der Leber eine untergeordnete Rolle. Die Expression der einzelnen CYP-Isoenzyme kann inter- und intraindividuell stark variieren. Dies hängt einerseits vom Genotyp des Patienten ab (s. u.), variiert aber auch in Abhängigkeit von Alter, Lebensgewohnheiten, Erkrankung, Me-

1

A1, A2, B1

2

A6, A7, A7PT, A7PC, A13, B6, B7P, C8, C9, C18, C19, D6, D7P, D7AP, D8BP, E1, F1, EF1P, G1, J, R1, S1

3

A4, A5, A5P1, A5P2, A7, A43

4

A11, B1, F2, F3, F8, F9P, F10P, F12, X1, Z1

5

A1

Synthese von Thromboxanen

7

A1, B1

Synthese von Cholesterin

8

B1

11

A1, B1, B2

Synthese von Cholesterin und Steroidhormonen

19, 21A1P, 21A2, 24, 26A1, 26B1, 39A1, 46, 51, 51P2

Synthese von Steroidhormonen

19 - 51

1A2-Substrate: Amitriptylin, Clomipramin, Clozapin, Fluvoxamin, Imipramin, Olanzapin, Tacrin, Thioridazin, Zopiclon 2A6-Substrat: Nikotin 2B6-Substrate: Bupropion, Diazepam, Sertralin 2C9-Substrate: Fluoxetin, Mephenytoin, Perazin, Phenytoin, Valproat 2C19-Substrate: Amitriptylin, Clomipramin, Citalopram, Diazepam, Doxepin, Fluoxetin, Imipramin, Moclobemid, Nordazepam, Sertralin 2D6-Substrate: Amitriptylin, Chlorpromazin, Clomipramin, Clozapin, Desipramin, Donepezil, Fluoxetin, Fluvoxamin, Haloperidol, Imipramin, Methadon, Mianserin, Mirtazapin, Nortriptylin, Paroxetin, Perphenazin, Risperidon, Thioridazin, Venlafaxin, Ziprasidon, Zuclopenthixol 3A4-Substrate: Alprazolam, Amitriptylin, Citalopram, Clomipramin, Clozapin, Diazepam, Fluoxetin, Haloperidol, Imipramin, Methadon, Midazolam, Mirtazapin, Nordazepam, Paroxetin, Perazin,Quetiapin, Reboxetin, Risperidon, Sibutramin, Venlafaxin, Ziprasidon, Zolpidem, Zotepin

Xenobiotika (?) und Fettsäuren

Synthese von Prostacyclin

Abbildung 6.1.9: Die Familie der humanen Cytochrom-P450-Isoenzyme mit dazugehörigen Substraten. die Isoenzyme CYP1A2, CYP2C9, CYP2C19, CYP2D6 und CYP3A4/5 sind für den Abbau vieler Psychopharmaka bedeutsam; für die Isoenzyme CYP2C9, CYP2C19 und CYP2D6 sind genetische Varianten bekannt.

6.1 Allgemeine Grundlagen

dikation oder anderen Faktoren (s. Abb. 6.1.2). Raucher können beispielsweise eine höhere CYP1A2-Aktivität in der Leber besitzen als Nichtraucher. Die meisten Psychopharmaka werden von mehr als einem Isoenzym abgebaut, denn CYPEnzyme besitzen eine breite und überlappende Substratspezifität, und die Rolle der einzelnen Isoenzyme kann mit der Konzentration variieren. Es gibt allerdings auch Beispiele, bei denen Medikamente so gut wie ausschließlich über ein einziges Isoenzym abgebaut werden, beispielsweise Nortriptylin über CYP2D6 (Abb. 6.1.9). Arzneimittelinteraktionen. Die Zuordnung der Substrate zu den Enzymen hat erhebliche Konsequenzen für das Interaktionspotential des Arzneistoffes: Wenn 2 Arzneistoffe über dasselbe Enzym verstoffwechselt werden, besteht die Möglichkeit einer metabolischen Interaktion. Insbesondere die Kombination eines Substrates mit einem Enzyminhibitor bzw. -induktor führt zu erheblichen Veränderungen der Plasmaspiegelkonzentation des Substrates: Im Falle des Inhibitors erhöht sich der Substratplasmaspiegel infolge eines verringerten Metabolismus; im Falle des Induktors wird das Substrat schneller abgebaut und die Substratplasmaspiegel können unter den therapeutischen Bereich absinken. Es sollte ferner nicht außer acht gelassen werden, dass auch Nahrungsmittel solche Interaktionen bewirken können, so ist z. B. Grapefruitsaft ein Inhibitor des CYP3A4. Viele andere Nahrungsmittelinteraktionen sind allerdings bisher nur sehr wenig untersucht. Abbildung 6.1.9 zeigt die wichtigsten am Stoffwechsel von Arzneimitteln beteiligten CYP-Enzyme und ihre Substrate. Heute ist es Standard, Substanzen vor ihrer Anwendung am Patienten bezüglich ihres Potenzials pharmakokinetischer Wechselwirkungen in vitro zu testen (Rodrigues und Lin 2001). Viele alte Arzneimittel sind jedoch bezüglich ihres Interaktionspotenzials nicht geprüft. Um die Vorhersage von Wechselwirkungen zu erleichtern, sind Computerprogramme hilfreich. Über das Internet verfügbar sind z. B. die Programme PsiacOnline (http://www.psiac.de/) oder MediQ (http://www.mediq.ch/). Hilfreich sind auch Tabellenwerke, die Daten über die

301

CYP-Substrat- und Inhibitoreigenschaften von vielen Medikamenten enthalten (z. B. Benkert und Hippius 2007). In der Regel fehlt allerdings den Tabellenwerken eine klinische Bewertung der zu erwartenden Interaktionen. Aufgrund genetisch bedingter Variabilität spielen die CYP-Enzyme eine große Rolle bei den interindividuellen Unterschieden von Ausmaß und Geschwindigkeit der Elimination von Psychopharmaka. CYP2C9 ist bei wenigen Psychopharmaka am Abbau beteiligt (Abb. 6.1.9). Derzeit sind zwölf Allelvarianten bekannt. Klinische Relevanz besitzen zwei Varianten, die zu einem Funktionsverlust führen. Langsame CYP2C9-Metabolisierer kommen bei 1–3 % der Europäer vor. Wesentlich häufiger (35 %) sind intermediäre Metabolisierer (Wormhoudt et al. 1999). Bei langsamen Metabolisierern und heterozygoten Defektträgern wurden eine verminderte Clearance bzw. erhöhte Plasmakonzentrationen von Phenytoin gemessen (Ninomiya et al. 2000). Ähnliches ist für Fluoxetin zu erwarten, das ebenfalls Substrat von CYP2C9 ist. CYP2C19 ist u. a. am Metabolismus von Citalopram und Escitalopram, Doxepin, Moclobemid, Sertralin und einigen Benzodiazepinen beteiligt (Abb. 6.1.9). Bislang sind neun Allelvarianten mit fehlender oder verminderter Enzymaktivität bekannt (Xie et al. 1999). Zwei Varianten (*2 und *3) kommen häufig vor, während die anderen sehr selten auftreten. Dabei bestehen im Vorkommen ausgeprägte ethnische Unterschiede: Gefunden werden 12–23 % homozygote Defektträger bei der orientalischen Bevölkerung gegenüber lediglich 2–5 % bei Europäern. Heterozygot defiziente Allelträger treten in Deutschland mit einer Frequenz von etwa 25 % auf, also deutlich häufiger als langsame Metabolisierer (Xie et al. 1999). Bei Patienten mit defektem CYP2C19, die Diazepam einnahmen, wurde über eine verlängerte Sedierung berichtet. Besonders relevant ist der CYP2C19-Polymorphismus bei Verabreichung des chiralen Protonenpumpenhemmers Omeprazol, der stereoselektiv zu 80 % über dieses Enzym abgebaut wird. Bei CYP2D6 sind die Träger des Wildtypgens CYP2D6 extensive metabolizers (EM) mit intaktem Gen und normaler Enzymaktivität.

302

Mutanten ohne intaktes CYP2D6-Enzym sind poor metabolizers (PM). Es konnten bisher mehr als 50 Mutationen identifiziert werden, von denen wenigstens 15 für ein CYP2D6-Defizit verantwortlich sind (Griese et al. 1998). PM sind entweder homozygote Träger einer Mutation auf beiden Allelen oder heterozygote Träger verschiedener defekter CYP2D6-Allele. Individuen mit einem defekten und einem funktionellen CYP2D6-Allel sind mittelstarke Metabolisierer (IM). Sie haben eine eingeschränkte CYP2D6-Aktivität. Ähnliches gilt für Träger teilfunktioneller CYP2D6-Allele. Es gibt auch Mutanten mit überaktivem Enzym durch Genduplikation; diese sind ultrarapid metabolizers (UM). Etwa 5–10 % der europäischen Bevölkerung sind PM; UM finden sich in einer Häufigkeit von 1–10 %. Untersuchungen an Patienten, die mit CYP2D6-Substraten behandelt worden waren, haben gezeigt, dass in dieser Gruppe die Patienten in 20–25 % der Fälle phänotypische UM waren (Griese et al. 1998). Bei UM ist daher gehäuft mit Therapieversagen zu rechnen. Bei Individuen mit einer vollständigen CYP2D6-Defizienz sind nach Verabreichung des CYP2D6-Substrats Desipramin ein eingeschränkter Metabolismus, erhöhte Plasmaspiegel und dadurch bedingte Nebenwirkungen nachgewiesen worden (Spina et al. 1997). Neuere Untersuchungen haben gezeigt, dass bei Patienten, die mit den CYP2D6-Substraten Venlafaxin (Shams et al. 2006) oder Risperidon (de Leon et al. 2005) behandelt werden und langsame Metabolisierer sind, Nebenwirkungen häufiger auftreten als bei normalen Metabolisierern. CYP1A2 ist ein wichtiges Enzym für eine Reihe von Psychopharmaka (Abb. 6.1.9). Genetische Defektvarianten wurden bisher nicht gefunden. Es gibt Mutationen in der Promotorregion, die Auswirkungen auf die Induzierbarkeit von CYP1A2 haben. Nach ersten Beobachtungen könnte bei Mutationen das Risiko für das Auftreten von Dyskinesien unter typischen Antipsychotika erhöht sein. Nur wenige Psychopharmaka sind Substrat von CYP2B6 (Abb.

6 Pharmakokinetik

6.1.9). Berichte, nach denen klinische Auffälligkeiten durch einen Ausfall des CYP2B6-Gens zu erklären waren, liegen bisher nicht vor. Für das quantitativ wichtigste CYP-Enzym der Leber, CYP3A4, findet man eine 50-fache interindividuelle Variabilität, durch die die Clearance von Arzneimitteln, die bevorzugt über CYP3A4 abgebaut werden, 20-fach unterschiedlich sein kann. Ein genetischer Polymorphismus konnte für CYP3A4 noch nicht nachgewiesen werden, wohl aber für das mit ihm verwandte CYP3A5, das – genetisch bedingt – bei nur 10 % der mitteleuropäischen Bevölkerung nachweisbar ist (Quaranta et al. 2006; Xie et al. 2004). Die hohe interindividuelle Variabilität der Enzymaktivität wird durch endogen und auch exogen bedingte Schwankungen der Enzymexpression erklärt. Über die Genvarianten im CYP-System hinaus gibt es weitere Polymorphismen von arzneimittelmetabolisierenden Enzymen, von     

N-Acetyltransferasen, Thiomethyltransferasen, einer Katechol-O-methyltransferase, einer Butyrylcholinesterase oder einer Monoaminoxidase (MAO).

Langsame Acetylierer mit verminderter oder fehlender Acetyltransferaseaktivität sind mit einer Frequenz von 10–20 % in der europäischen Bevölkerung durchaus häufig. Dies hat allerdings keine offensichtlichen Konsequenzen für Behandlungen mit Psychopharmaka. Jedoch scheint bei Allelträgern mit defekter N-Acetyltransferase das Risiko des Auftretens von Tumoren der Blase oder der Kolorektalregion erhöht zu sein. Katechol-O-methyltransferase spielt mit Ausnahme des Abbaus von Paroxetin für die Metabolisierung von Psychopharmaka keine Rolle; für Thiomethyltransferase ist bislang nur eine Beteiligung am Abbau von Ziprasidon bekannt. Für keines der Enzyme ist derzeit eine Assoziation zwischen polymorphen Genen und der Pharmakokinetik von Psychopharmaka gezeigt worden.

Literatur

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6.2 Spezielle Pharmakokinetik W. E. Müller, C. Hiemke und P. Baumann

Einmalanwendung Der in Abbildung 6.1.1 gezeigte Plasmaspiegelverlauf einer Substanz nach oraler Applikation und die damit verbundene Wirkungsdauer gilt nur für den kleinen Teil der therapeutischen Anwendungen von Psychopharmaka, bei denen eine Einmalwirkung ausgenutzt werden soll. Wichtigstes Beispiel ist der Einsatz eines Medikaments als Schlafmittel. Die Bedeutung von Dosis und Eliminationshalbwertszeit bei einer solchen Einmalanwendung ist in Abbildung 6.2.1 für verschiedene Benzodiazepinhypnotika gezeigt (Breimer 1984). Im Fall der Substanz Temazepam wird kurz nach abendlicher Einnahme ein ausreichender substanzspezifischer Plasmaspiegel aufgebaut, der sich zunächst durch Umverteilungsphänomene, dann aber determiniert durch die b-Phase der Elimination t1/2 = 8 h) langsam wieder abbaut. 24 h nach der Einnahme von Temazepam ist nur noch ein minimaler Plasmaspiegel vorhanden, sodass eine neue Einnahme in den folgenden Nächten nicht zu wesentlich anderen Plasmaspiegelverläufen führt. Etwas anders sieht es beim Nitrazepam aus, wo bedingt durch die wesentlich längere Eliminationshalbwertszeit von (t1/2 = 26 h) 24 h nach Einnahme der ersten

Dosis der Plasmaspiegel nicht vollständig gesunken ist. Deshalb kommt es bei weiterer Einnahme in den folgenden Nächten zu einer deutlichen Kumulation, d. h. es bildet sich mit der Zeit ein zunehmender Nitrazepamplasmaspiegel tagsüber aus; nach etwa 5 Eliminationshalbwertszeiten (ca. 5 Tagen) wird ein Fließgleichgewicht („steady state“) erreicht. Diese Kumulation ist bei der Substanz N-Desalkylflurazepam (einer der hypnotisch wirksamen Metaboliten des Flurazepams) infolge einer sehr langen Eliminationshalbwertszeit (t1/2 = 50 h) sehr stark ausgeprägt. Das Fließgleichgewicht wird hier erst nach ca. 10 Tagen erreicht, mit problematisch hohem Plasmakonzentrationen.

6.2.1 Dauermedikation Bei den meisten Psychopharmaka ist das Erreichen eines ausreichend stabilen Wirkstoff spiegels Ziel der Dauermedikation. Dabei sind Dosierungsintervall, Dosis und Eliminationshalbwertszeit zu beachten. Die Auswirkung unterschiedlicher Dosierungsintervalle ist in Abbildung 6.2.2 dargestellt. Hierbei wird in beiden Fällen die gleiche Dosis gegeben; das Medikament hat eine t1/2 von 20 h.

306

6 Pharmakokinetik

[μg/l Plasma]

Plasmakonzentrationsverlauf N-Desalkylflurazepam, t½ = 50 h

[μg/l Plasma]

Nitrazepam 5 mg, t½ = 26 h

[μg/l Plasma]

Temazepam 20 mg, t½ = 8 h

[Tage]

Abbildung 6.2.1: Plasmakonzentrationsverlauf von Desalkylflurazepam (aktiver Metabolit von Flurazepam), Nitrazepam und Temazepam bei abendlicher Verabreichung als Hypnotikum. Bedingt durch die unterschiedliche Halbwertszeit kommt es bei täglicher Einnahme zu einer unterschiedlich ausgeprägten Kumulation (nach Breimer 1984).

Im Fall der gestrichelten Kurve wird die Gesamtdosis auf einmal genommen, und im Fall der durchgezogenen Kurve wird die Gesamtdosis aufgeteilt in 3 gleiche Einzeldosen. Das Dosierungsintervall beträgt damit im ersten Fall 24 h, im zweiten Fall 8 h. Bei Mehrfachdosierung mit der gleichen Dosis wird das Fließgleichgewicht der Plasmakonzentration nach ungefähr 5 Eliminationshalbwertszeiten erreicht. Dies trifft im vorliegenden Fall für beide Dosierungsschemata zu, Maxima und Minima bleiben nach ca. 5 Tagen konstant. Der wesentliche Unterschied beider Applikationsarten sind aber die Schwankungen zwischen maximalen und minimalen Plasmaspiegeln innerhalb des Dosierungsintervalls. Die mittleren Plasmaspiegel im Fließgleichgewicht unterscheiden sich bei beiden Dosierungsschemata, bei denen ja die gleiche tägliche Dosis gegeben wurde, nicht. Die Höhe des im Fließgleichgewicht zu erreichenden mittleren Plasmaspiegels wird direkt determiniert von der Dosis. In Abbildung 6.2.3 wird ein Medikament bei gleichem Dosierungsintervall in einem Fall in der doppelten Dosierung (gestrichelte Linie) im anderen Fall in

einfacher Dosierung (durchgezogene Linie) appliziert. Der Zeitverlauf bei Erreichen des Fließgleichgewichts ist identisch, aber wie zu erwarten, führte die doppelte Dosis zu einem doppelt so hohen Fließgleichgewicht. Nimmt man eine reziproke Dosisänderung vor, erhöht man die niedrige Dosis bzw. erniedrigt die hohe Dosis, dauert es wiederum 5 Eliminationshalbwertszeiten, bis sich in beiden Fällen das neue Fließgleichgewicht eingestellt hat. Nach Absetzen der Dosis fällt in beiden Fällen der Plasmaspiegel mit der Eliminationshalbwertszeit der Substanz von 36 h ab. Dieses Beispiel macht deutlich, dass über die Dosis einer bestimmten Substanz am individuellen Patienten eine Veränderung des Plasmaspiegels erreicht werden kann und nach jeder Dosisänderung wiederum 5 Eliminationshalbwertszeiten benötigt werden, bis sich ein neues Fließgleichgewicht eingestellt hat. Im interindividuellen Vergleich wird für das gleiche Medikament die Höhe des im Fließgleichgewicht zu erreichenden Plasmaspiegels auch sehr stark von der individuellen Eliminationshalbwertszeit bestimmt. Dies wird in Ab-

307

6.2 Spezielle Pharmakokinetik

Abbildung 6.2.2: Zeitverlauf der Plasmaspiegel bei Mehrfachdosierung im unterschiedlichen Intervall. In beiden Fällen wird die gleiche orale Tagesdosis eines Medikamentes mit einer Eliminationshalbwertszeit von 20 h gegeben, im Fall der gestrichelten Kurve als Einmaldosis (Dosisintervall tint = 24 h) und im Fall der durchgezogenen Linie aufgeteilt in 3 Einzeldosen (tint = 8 h).

bildung 6.2.4 dargestellt. Hier wurde die gleiche Dosis eines Medikaments einem jungen und einem alten Patienten verabreicht. Aufgrund einer Einschränkung der metabolischen Kapazität der Leber ist beim alten Patienten die Eliminationshalbwertszeit des Medikaments verdoppelt. Obwohl die gleiche Dosis gegeben wird, wird beim alten Patienten ungefähr der doppelte Plasmaspiegel im Fließgleichgewicht erreicht. Darüber hinaus benötigt der alte Patient ebenfalls 5 Eliminationshalbwertszeiten zur Erreichung des Fließgleichgewichts, was im vorliegenden Fall bedeutet, dass der maximale bei dieser Dosis zu erreichende Plasmaspiegel beim älteren Patienten erst nach 10 Tagen erreicht wird im Vergleich zu 5 Tagen beim jungen Patienten. Der möglicherweise zu hohe Plasmaspiegel beim alten Patienten kann problemlos durch Gabe einer geringeren Dosis reduziert werden (vgl. Abb. 6.2.4). Keinen Einfluss hat der Therapeut aber auf den Zeitverlauf bis zum Eintreten des Fließgleichgewichts, welches

sich bei jeder Dosisänderung neu einstellen muss. Hier ist wichtig sich zu merken, dass im interindividuellen Vergleich die Höhe des Plasmaspiegels wesentlich von der Eliminationshalbwertszeit determiniert wird.

6.2.2 Depotarzneiformen Wie gezeigt, können mehr oder weniger gleichmäßige Plasmaspiegel über längere Zeit durch eine regelmäßige tägliche Dauermedikation aufrechterhalten werden. Ist die Compliance der Patienten schlecht, stellt sich oft die Frage nach einer Depotarzneiform, die einen gleichmäßigen Wirkstoffspiegel im Organismus über viele Tage mit einer einmaligen Applikation gewährleisten soll. Dieses Problem stellt sich in der Psychiatrie besonders bei der Rezidivprophylaxe schizophrener Psychosen mit Antipsychotika. Hier werden besondere galenische Darreichungsformen eingesetzt, wie in Abbildung 6.2.5 veran-

308

6 Pharmakokinetik

Abbildung 6.2.3: Plasmaspiegelverlauf eines Medikamentes (tint = 36 h) nach oraler Applikation im Dosierungsintervall von 8 h bei Gabe zweier unterschiedlicher Dosen: einfache Dosis (durchgezogene Linie) und doppelte Dosis (gestrichelte Linie). Nach 6 Tagen wird das Dosisschema gerade getauscht.

schaulicht. Die gleiche Dosis des Neuroleptikums Fluphenazin wurde in 3 unterschiedlichen Zubereitungsformen verabreicht. Im einfachsten Falle wird das Fluphenazin als Dihydrochlorid (also nicht als Depot) intramuskulös appliziert. Wie zu erwarten, findet man hier gleich nach Applikation sehr hohe Plasmaspiegel von fast 50 ng/ml, die dann in guter Übereinstimmung mit der Eliminationshalbwertszeit der Substanz (t1/2 = 15 h) expotentiell abfallen. Ein therapeutisch erwünschter Plasmaspiegel im Bereich von 0,5–1 ng/ml wird bei dieser Applikationsform praktisch nur am letzten Tag erreicht. In den ersten Tagen wäre bei dieser Applikationsform aufgrund des sehr hohen Plasmaspiegels mit extremen Nebenwirkungen zu rechnen. Gibt man die gleiche Dosis des Fluphenazins als Depotform (entweder als Önanthat oder als Dekanoat), so wird aus beiden Zubereitungsformen der Wirkstoff langsam freigegeben. Man erhält einen wesentlich gleichmäßigeren Plasmaspiegel über die Zeit. Dieser schwankt beim Önanthat aber immer noch erheblich zwischen einem Wert von ungefähr

3 ng/ml am Tag 3, der dann am Tag 14 auf unter 0,5 ng/ml abfällt. Im Falle des Dekanoats bleibt der Plasmaspiegel wesentlich konstanter und bewegt sich zwischen Tag 1 und Tag 14 sehr eng im Bereich um 0,7 ng/ml. Der steile Anstieg des Fluphenazin-Plasmaspiegels am ersten Tag auch bei der Gabe von Dekanoat ist in diesem Fall wahrscheinlich auf eine Verunreinigung des Dekanoats mit freiem Fluphenazin zurückzuführen und ist bei heutigen Präparaten nicht mehr zu sehen. Von den neueren atypischen Neuroleptika steht bis heute nur das Risperidon als parenterales (i. m.) Depot-Neuroleptikum zur Verfügung. Die 14-tägigen Dosierungsintervalle werden hier durch eine verzögerte Freisetzung des Wirkstoffs aus Micropellets erreicht. Bei den meisten anderen Atypika ist wegen der hohen benötigten Tagesdosen eine Depot-Arzneiform nicht realisierbar. Methylphenidat, das heute als Standardtherapie der ADHS gilt, hat eine kurze Halbwertzeit und muss daher meist 2–3 mal täglich eingenommen werden. Für die Kinder und Jugendlichen bedeutet dies mindestens eine Ein-

309

6.2 Spezielle Pharmakokinetik

Abbildung 6.2.4: Verlauf des Plasmaspiegels eines Medikamentes nach Beginn der Einnahme einer fixen Tagesdosis (2 x täglich, 12 h Intervall) bei einem jungen Patienten mit einer hepatischen Eliminationshalbwertszeit (t1/2) des Medikamentes von 24 Stunden und bei einem alten Patienten mit einer Verlängerung von t1/2 auf 48 Stunden. Beim alten Patienten wird durch diese Dosierung ein doppelt so hoher Plasmaspiegel als beim jungen Patienten erreicht. Darüber hinaus ist beim alten Patienten noch die Zeit bis zur Einstellung des „steady state“ (Fließgleichgewicht) verdoppelt (ca. 10 Tage im Vergleich zu 5 Tagen beim jungen Patienten) und auch die Zeit verlängert, die nach Absetzen der Einnahme benötigt wird, bis der Plasmaspiegel sich auf annähernd 0 eingestellt hat.

nahme während der Schulzeit, was mit einer erheblichen Stigmatisierung verbunden sein kann. Dies wird bei oralen Depot-Arzneiformen (Abb. 6.2.6) umgangen, die eine kontinuierliche Freigabe vom Morgen bis in den Nachmittag gewährleisten.

6.2.3 Pharmakokinetische Interaktionen Bei der Behandlung mit Arzneimitteln fallen immer wieder Patienten auf, die nach Gabe von Standarddosen ungewöhnlich in Hinblick auf erwünschte oder unerwünschte Wirkungen reagieren. Dieses Phänomen beruht teilweise auf den erheblichen interindividuellen Unterschieden des Arzneimittelstoffwechsels. Hierbei ist häufig das Cytochrom P-450-System involviert. Ursachen der Variabilität von Patient zu Patient

können darüber hinaus, wie im Kapitel 10 ausführlich beschrieben, einer Interaktion mit gleichzeitig verabreichten Arzneimitteln oder Nahrungsbestandteilen liegen. Es tritt häufig eine erwartete Response bei einer ungewöhnlichen Dosis auf. So kann z. B. bei einem Patienten die Wirkung bei einer Dosis ausbleiben, die normalerweise therapeutisch wirksam ist. Umgekehrt kann ein Patient eine dosisabhängige Nebenwirkung bei einer Dosis entwickeln, die sonst gut toleriert wird. Pharmakokinetische Interaktionen werden oft fälschlicherweise dem Patienten zugeschrieben, der als „resistent“ oder „sensibel“ eingestuft wird, und haben ein ähnliches Resultat wie eine Dosisveränderung. Pharmakokinetische Wechselwirkungen sind in allen Phasen möglich, während  der Resorption,  der Verteilung,

310

6 Pharmakokinetik

teraktionen gilt, dass sie von der Molekülstruktur abhängen und nicht von den pharmakodynamischen Eigenschaften (s. a. Kap. 10). Das Risiko eines Serotonin-Syndroms z. B. in Kombination mit MAO-Inhibitoren als wichtige pharmakodynamische Interaktion gilt dagegen für alle SSRI gleichermaßen.

6.2.4 Pharmakokinetik im Alter

Abbildung 6.2.5: Plasmaspiegelverlauf von Fluphenazin nach i. m. Gabe von jeweils 25 mg unterschiedlicher Fluphenazinzubereitungen (nach Kapfhammer u. Rüther 1987).

 der Metabolisierung oder  der Exkretion. Die meisten pharmakokinetischen Interaktionen von Psychopharmaka betreffen nach derzeitiger Kenntnis die Metabolisierung in der Leber (Leucuta und Vlase 2006). Enzyme der Biotransformation werden gehemmt oder induziert. Dadurch steigen oder fallen die Wirkspiegel des Medikaments ab. Wenn das Medikament einen engen therapeutischen Bereich hat und die Hemm- oder Induktionseffekte ausgeprägt sind, kann es bei therapeutisch üblichen Dosen zu einer Intoxikation oder zum Wirkverlust kommen. Ohne klinische Relevanz sind bei Psychopharmaka Wechselwirkungen durch Verdrängung aus der Plasmaproteinbindung (de Vane et al. 2002). Ob P-Glycoproteinabhängige Wechselwirkungen bei Psychopharmaka von klinischer Bedeutung sind, ist derzeit unklar (Lin 2003; Liu und Hu 2000; Pal und Mitra 2006). Auch für pharmakokinetische In-

Im Alter können praktisch alle Einzelparameter der Pharmakokinetik von Psychopharmaka verändert sein (Müller 2003). Von Praxisrelevanz sind für Psychopharmaka Veränderungen der Elimination im Sinne einer verlängerten Eliminationshalbwertszeit. Dies gilt für das einzige primär renal eliminierte Psychopharmakon (Lithium), aber ganz besonders für alle anderen Psychopharmaka, die hepatisch eliminiert werden. Betroffen sind v. a. Psychopharmaka, die in einer Phase-I-Reaktion metabolisch verändert werden müssen (vgl. Tab. 6.1.2). Weniger stark betroffen von altersabhängigen Veränderungen der Pharmakokinetik sind Psychopharmaka, die nur über eine Phase-II-Reaktion (z. B. Glukoronidierung) eliminiert werden. Wie differenziert das Alter die Elimination auch innerhalb einer Substanzklasse beeinflussen kann, ist am Beispiel einiger Benzodiazepine in Tabelle 6.2.1 gezeigt. Die Herabsetzung der metabolischen Aktivität der Leber im Alter kann 2 wichtige pharmakokinetische Parameter beeinflussen. Zum einen wird, wie Abbildung 6.2.4 zeigt, durch eine Verlängerung der Eliminationshalbwertszeit bei beibehaltener Dosis der im Fließgleichgewicht zu erreichende Plasmaspiegel erhöht. Zum anderen wird durch eine Reduktion der hepatischen Metabolisierung der First-passMetabolismus verringert, was zu einer Verbesserung der Bioverfügbarkeit führt (vgl. Abb. 6.1.7). Beide Prozesse führen aber letztlich dazu, dass bei gleicher Dosierung die Plasmaspiegel bei älteren Patienten deutlich höher sein können als bei jungen Patienten. Dies impliziert immer die Gefahr einer relativen Überdosierung. Man sollte auch festhalten, dass durch Reduktion der Dosis beim älteren Patienten zwar die Höhe des Plasmaspiegels im Fließgleichgewicht angepasst

311

Methylphenidat-Plasmaspiegel (ng/ml)

6.2 Spezielle Pharmakokinetik

20 1x tägl. 36 mg (langsame Freisetzung, Oros®-Technologie, Concerta ®)

16

3x tägl. 10 mg (schnelle Freisetzung)

12 8 4 0 0

2

4

6

8

10

12

Zeit nach oraler Einnahme (Std.) Abbildung 6.2.6: Plasmaspiegelverläufe von Methylphenidat nach Einnahme (3 x tägl.) einer schnell freisetzenden Tablette oder nach Einmaleinnahme einer Retard-Kapsel (Concerta®). Die Retardierung wird hier durch eine spezielle Kapsel erreicht (Oros®-Technologie), wo der Wirkstoff langsam aus der Kapsel durch Osmose freigesetzt wird (nach Vulkow und Swanson 2003).

Tabelle 6.2.1: Prozentuale Zunahme der Eliminationshalbwertszeit bei älteren (> 65 J.) im Vergleich zu jungen (> 30 J.) Probanden von verschiedenen als Schlafmittel bzw. Tranquilizer benutzten Benzodiazepinen. (Nach Klotz und Laux 1996) % Zunahme von t1/2 Hypnotika Brotizolam

+

35–95

Flunitrazepam

±

0

Flurazepam

+ 35–135

Lorazepam

±

0

Lormetazepam

±

0

Nitrazepam

+

40

Temazepam

±

0

Triazolam

±

0

Alprazolam

+

40

Bromazepam

+ 75

Chlordiazepoxid

+ 80–370

Diazepam

+

125–200

Lorazepam

±

0

Oxazepam

±

0

Tranquillanzien

312

werden kann, nicht aber das verlängerte Zeitintervall, bis das Fließgleichgewicht erreicht wird. Das heißt, Dosisveränderungen sollten beim älteren Patienten erst nach längeren Zeitintervallen vorgenommen werden als bei jüngeren Patienten. Über die Besonderheiten der Pharmakokinetik hinaus kann sich die Therapie mit Psychopharmaka bei älteren Patienten dadurch komplizieren, dass selbst bei Substanzen, deren Pharmakokinetik im Alter nicht verändert ist (z. B. einige Benzodiazepinderivate, vgl. Tab. 6.2.1), aufgrund einer Erhöhung der pharmakodynamischen Empfindlichkeit älterer Patienten eine Dosisreduktion angebracht ist. Allerdings benötigt nicht jeder ältere Patient eine geringere Dosis als jüngere Patienten, so dass im Einzelfall auch bei älteren Patienten der zur Verfügung stehende Dosisbereich ausgeschöpft werden muss. Die Eingangs- oder Initialdosis sollte aber stets niedriger sein als bei jüngeren Patienten.

Literatur BREIMER DD (1984) Die Pharmakokinetik der Benzodiazepine. In: Kubicki S (Hrsg.) Schlafstörungen in Abhängigkeit vom Lebensalter. Med. Wiss. Buchreihe der Schering AG Berlin, Bergkamen, 13–22

6 Pharmakokinetik VANE CL (2002) Clinical significance of drug binding, protein binding, and binding displacement drug interactions. Psychopharmacol Bull 36: 5–12 KAPFHAMMER HP, RÜTHER E (1988) Depot-Neuroleptika. Springer, Berlin KLOTZ U (1984) Clinical pharmacology of benzodiazepines. Progr Clin Biochem Med 1: 117–167 LEUCUTA SE, VLASE L (2006) Pharmacokinetics and metabolism drug interactions. Curr Clin Pharmacol 1: 5–20 LIN JH (2003) Drug-drug interaction mediated by inhibition and induction of P-glycoprotein. Adv Drug Deliv Rev 55: 53–81 LIU Y, HU M (2000) P-glycoprotein and bioavailability – implication of polymorphism. Clin Chem Lab Med 38: 877–881 MÜLLER WE (2003) Besonderheiten der Psychopharmakotherapie im Alter. In: Förstl H (Hrsg.) Lehrbuch der Gerontopsychiatrie. Ferdinand Enke Verlag, Stuttgart, 2. Aufl., 220–226 PAL D, MITRA AK (2006) MDR- and CYP3A4-mediated drug-herbal interaction. Life Sci 78: 2131–2145 VOLKOW ND, SWANSON JM (2003) Variables that affect the clinical use and abuse of methylphenidate in the treatment of ADHD. Am J Psychiatry 160: 1909–1918 DE

6.3 Therapeutisches Drug-Monitoring B. Pfuhlmann, J. Deckert und C. Hiemke

6.3.1. Grundlagen Obgleich seit den Anfängen der Psychopharmakotherapie vor mehr als 50 Jahren zweifellos große Fortschritte in der medikamentösen Behandlung psychischer Erkrankungen erzielt wurden, spricht nach wie vor ein nicht zu vernachlässigender Anteil von Patienten nur unzureichend auf eine Psychopharmakotherapie an (Donohue und Taylor 2000; Hirschfeld et al. 2002). Dies kann verschiedene Ursachen haben, die entweder pharmakodynamisch oder pharmakokinetisch begründet sind. Während pharmakodynamische Parameter die Wirksamkeit und Nebenwirkungen eines Arzneimittels bei einer bestimmten Konzentration am Wirkort bestimmen, sind pharmakokinetische Parameter dafür ausschlaggebend, welche Konzentration eines Arzneimittels wie lange am Wirkort vorhanden ist. Die pharmakodynamische Komponente der Arzneimitteltherapie lässt sich weder durch Messungen kontrollieren noch vorhersagen. Über die pharmakokinetische Komponente der Behandlung lassen sich dagegen mittels Messung der Plasma- oder Serumkonzentration eines Wirkstoffes im Rahmen des Therapeutischem Drug Monitoring (TDM) Aussagen treffen und daraus

Konsequenzen für die Therapie ableiten. Damit bietet TDM eine wichtige Möglichkeit zur Steuerung und Optimierung einer Psychopharmakotherapie und kann im Sinne einer Maximierung der klinischen Wirksamkeit eines Arzneimittels bei gleichzeitiger Minimierung der Risiken für toxische Effekte eine wertvolle Hilfe sein. Therapeutisches Drug Monitoring beinhaltet hierbei immer mehr als die bloße Bestimmung der Plasma- oder Serumkonzentration eines Medikamentes und umfasst auch deren Interpretation und Bewertung unter klinischen und klinisch-pharmakologischen Aspekten.

Die Bedeutung pharmakokinetischer Faktoren in der Psychopharmakotherapie Zur Vorhersage bzw. Kontrolle einer Medikamentenwirkung wäre es ideal, die am Wirkort vorhandene Menge des Wirkstoffes direkt messen zu können. Dies würde im Falle von psychotropen Medikamenten eine Messung von Konzentrationen direkt an den neuronalen Strukturen des Gehirnes bedeuten, was für die Belange der klinischen Routine jedoch im Allgemeinen nicht realisierbar ist. Daher ist es übliche Praxis bei Klinikern, sich im Alltag zur Ein-

314

schätzung der Eintretenswahrscheinlichkeit eines Medikamenteneffektes an der applizierten Tagesdosis zu orientieren. Diese ist jedoch als Orientierungsgröße für die im Hinblick auf den Therapieerfolg entscheidend wichtige am Wirkort zu erwartende Konzentration eines Medikamentes nur sehr bedingt geeignet, da verschiedene pharmakokinetische Einflussgrößen für eine sehr große interindividuelle Variabilität der Wirkstoffkonzentrationen am Wirkort auch bei gleichen applizierten Medikamentendosen sorgen. Klinisch spiegelt sich dies in der häufig zu verzeichnenden Beobachtung wider, dass die für eine wirksame Behandlung benötigte Dosis eines Medikamentes von Patient zu Patient auch bei gleicher Zielsymptomatik und vergleichbarem Schweregrad der Erkrankung sehr unterschiedlich sein kann. Auf der anderen Seite zeigt sich auch die Auftretenswahrscheinlichkeit für Nebenwirkungen bei gleicher applizierter Dosis interindividuell sehr verschieden. Zu den wesentlichen Faktoren, die für diese trotz identischer Dosierungen ausgeprägte inter-

6 Pharmakokinetik

individuelle Variabilität hinsichtlich Wirkung und Nebenwirkungen verantwortlich sind, gehören insbesondere nachstehende pharmakokinetische Einflussgrößen, deren Zusammenwirken in Abbildung 6.3.1 dargestellt ist. Absorption/Resorption des Medikamentes: Hierunter wird die Aufnahme eines Arzneistoffes in das Blut verstanden, die typischerweise aus dem Magen-Darm-Trakt erfolgt (perorale Gabe) und Diffusion durch Zellmembranen oder auch Transport mittels Transportproteinen (z. B. PGlykoprotein) beinhaltet. Verschiedene Faktoren können dabei die Absorption beeinflussen, beispielsweise die Lipophilie des Arzneistoffes, die die Membrandiffusion erleichtert, aber auch die aktuelle Nahrungsaufnahme oder die Aktivität von Transportproteinen. Distribution in Körperkompartimenten: Nach der Absorption beginnt die Verteilung (Distribution) in die verschiedenen Körperkompartimente (Plasma, Interstitium, Intrazellulärraum),

Abbildung 6.3.1: Pharmakokinetische Phasen bei oraler Applikation eines Medikamentes.

315

6.3 Therapeutisches Drug-Monitoring

auf die z. B. der Grad der Plasmaeiweißbindung eines Medikamentes oder dessen Speicherung etwa im Fettgewebe Einfluss nehmen kann. Elimination: Metabolisierung (Biotransformation) und Ausscheidung: Durch die hauptsächlich in der Leber stattfindende Metabolisierung werden die Arzneistoffe zu wasserlöslichen und damit renal ausscheidbaren Substanzen umgewandelt. Dies geschieht in einem ersten Schritt (Phase I) durch Oxidation, Reduktion oder Hydrolyse, dem sich als zweiter Schritt (Phase II) eine Konjugation zumeist mit Glucuronsäure anschließt, die ein biologisch inaktives wasserlösliches Produkt entstehen lässt. Entscheidend für den ersten Schritt sind vorwiegend verschiedene Isoenzyme des Cytochrom-P450- Systems der Leber, insbesondere CYP1A2, CYP2B6, CYP2C9, CYP2C19, CYP2D6 und CYP3A4 (s. Tab. 6.3.1). Das wichtigste Enzymsystem für den zweiten Schritt stellen die Uridin-Diphosphat (UDP)Glucuronyltransferasen dar. Viele dieser Enzyme sind genetisch polymorh. Während die klinische Relevanz der Polymorphismen für die UDP-Glucuronyltransferasen unklar ist (De

Leon 2003), bedingen genetische Polymorphismen einiger CYP450-Isoenzyme eine Variabilität der Enzymaktivität. Am besten untersucht ist hierbei die genetische Variabilität des Isoenzyms CYP2D6, bei dem genotypisch langsame, intermediäre, extensive und ultra-extensive Metabolisierer unterschieden werden können. Klinisch bedeutsam werden diese genetischen Polymorphismen bei der Gabe von Medikamenten, deren Metabolisierung zu mindestens 30 % über das betreffende Isoenzym führt. Bei einer funktionell bedeutsamen Mutation kann es zu einem defekten Enzym und dem Status eines langsamen Metabolisierers (poor metabolizer, PM) kommen. Bei PM können dann schon bei niedrigen Dosen eines Arzneimittels hohe Plasmakonzentrationen resultieren, was zu einer erhöhten Rate unerwünschter Wirkungen und rasch auch zu toxischen Effekten führen kann. Umgekehrt können ultra-schnelle Metabolisierer (UM) auch bei Gabe hoher Dosen mitunter keine wirksame Plasmakonzentration aufbauen und bleiben Non-Responder (Brøsen 1996; Dahl und Sjöqvist 2000). Eine Variabilität der Aktivität metabolisierender Enzyme kann jedoch nicht nur genetisch

Tabelle 6.3.1: CYP450-Isoenzyme, ihre wichtigsten psychopharmakologischen Substrate sowie wichtige Inhibitoren und Induktoren. Substrat

Inhibitor

Induktor

CYP1A2 Amitriptylin, Clomipramin, Clozapin, Duloxetin, Fluphenazin, Fluvoxamin, Imipramin, Mirtazapin, Olanzapin

Fluvoxamin

Carbamazepin, Omeprazol, Rauchen

CYP2C19 Amitriptylin, Citalopram, Clomipramin, Doxepin, Escitalopram, Fluoxetin, Imipramin, Sertralin

Fluvoxamin, Ketoconazol, Omeprazol

Topiramat, Rifampicin

CYP2D6 Amitriptylin, Aripiprazol, Clomipramin, Desipramin, Donepezil, Duloxetin, Fluoxetin, Fluphenazin, Fluvoxamin, Galantamin, Haloperidol, Imipramin, Levomepromazin, Methadon, Methylphenidat, Mirtazapin, Nortriptylin, Paroxetin, Risperidon, Sertralin, Trimipramin, Venlafaxin, Zuclopenthixol

Bupropion, Cimetidin, Fluoxetin, Levomepromazin, Melperon, Metoclopramid, Metoprolol, Norfluoxetin, Paroxetin, Propanolol, Ritonavir



CYP3A4 Amitriptylin, Aripiprazol, Carbamazepin, Clomipramin, Clozapin, Donepezil, Fluoxetin, Galantamin, Haloperidol, Imipramin, Methadon, Mirtazapin, Perazin, Quetiapin, Reboxetin, Sertralin, Venlafaxin, Ziprasidon

Ciprofloxacin, Clarithromycin, Diltiazem, Erythromycin, Fluoxetin, Ketoconazol, Metronidazol, Norfloxacin, Norfluoxetin, Ritonavir, Simvastatin, Verapamil

Carbamazepin, Dexamethason,H yperforin, Phenytoin, Prednison, Rifampicin

316

bedingt sein, sondern auch durch eine Reihe anderer Faktoren zustande kommen. Hier können beispielsweise abnehmende Enzymaktivität im Alter, bei Leberfunktionsstörungen oder während entzündlicher Erkrankungen (Infekte) eine Rolle spielen, z. B. bei Clozapin (Haack et al. 2003; Jecel et al. 2005), jedoch möglicherweise auch geschlechtsspezifische Unterschiede, deren Bedeutung allerdings umstritten ist (Meibohm et al. 2002). Sogar Nahrungsmittel können die metabolische Aktivität beeinflussen, z. B. kann durch Trinken von Grapefruitsaft das Isoenzym CYP3A4 gehemmt werden und dadurch die Bioverfügbarkeit von Medikamenten ansteigen. Die wichtigsten nicht-genetischen Einflussgrößen auf die Aktivität der CYP450 Isoenzyme stellen jedoch Rauchen und Interaktionen mit Begleitmedikamenten dar. Während Rauchen eine Induktion vorwiegend von CYP1A2 bewirkt, können Begleitmedikamente induzierend (Carbamazepin) oder inhibierend (z. B. Fluoxetin, Fluvoxamin, Paroxetin) auf verschiedene CYP450-Isoenzyme einwirken. Insgesamt ist die hepatische Metabolisierung bei fast allen Psychopharmaka eine Voraussetzung für die renale Ausscheidung und damit der entscheidende Faktor in der Elimination des Medikamentes. Aufgrund dieser pharmakokinetischen Faktoren lässt sich aus der verabreichten Dosis nur sehr eingeschränkt auf die Konzentration am Wirkort und damit die zu erwartenden therapeutischen Effekte und Nebenwirkungen eines Pharmakons schließen. Eine Folge hiervon ist, dass selbst unter Einhaltung der üblichen Dosierungsempfehlungen beispielsweise im Falle von Psychopharmaka diese bei 30–50 % der Patienten unter- oder überdosiert werden (Hiemke et al. 2000). Dies führt häufig entweder zu einer unnötigen Verlängerung der Dauer der Beschwerden oder auch zu einem vermehrten Auftreten von Nebenwirkungen, wodurch der Erfolg der Therapie in Frage gestellt wird. Daher ist es wünschenswert, eine bessere Einschätzung der tatsächlich am Wirkort vorhandenen Konzentration eines Arzneimittels zu haben als es über die Kenntnis der applizierten Dosis möglich ist. Eine deutlich bessere Entsprechung zur Konzentration eines Medikamentes am Wirkort liefert

6 Pharmakokinetik

die Kenntnis der Konzentration des Medikamentes im Blut. Die Bestimmung dieser Wirkstoffkonzentration im Blut bzw. Plasma oder Serum wird im Rahmen des Therapeutischen Drug Monitorings (TDM) durchgeführt. Klinisch ist TDM vor allem bei solchen Medikamenten bedeutsam, bei denen die Konzentrationen, die nötig sind, um die erwünschte Wirkung zu erzielen und die Konzentrationen, bei denen toxische Effekte auftreten können, nahe beieinander liegen. Dann besteht ein niedriges Verhältnis von toxischer Konzentration zu therapeutischer Konzentration. Dies ist bei einigen Psychopharmaka, insbesondere natürlich beim Lithium, aber auch bei einer Reihe trizyklischer Psychopharmaka gegeben. Bei Medikamenten mit großer therapeutischer Breite, deren toxische Konzentrationen deutlich oberhalb der therapeutisch wirksamen Konzentrationen liegen, ist TDM hilfreich vor allem zur Vermeidung von zu geringen Dosierungen, durch die lediglich Plasmaspiegel unterhalb einer therapeutisch effektiven Konzentration erzielt werden.

Zielsetzung von Therapeutischem Drug Monitoring Ziel des TDM ist es in erster Linie, die medikamentöse Therapie eines Patienten zu optimieren, indem der Einfluss pharmakokinetischer Faktoren auf die Relation von applizierter Dosis und tatsächlich am Wirkort vorhandener Wirkstoffkonzentration des Medikamentes kontrolliert werden kann. Angestrebt wird hierbei eine Maximierung des therapeutischen Effektes mittels der Einstellung eines Wirkstoffspiegels innerhalb eines empfohlenen Konzentrationsbereiches und gleichzeitig eine Minimierung des Auftretens von unerwünschten Wirkungen und Toxizitätsrisiken mittels der Vermeidung von Wirkstoffkonzentrationen oberhalb dieses Bereiches. Dem liegt das Konzept eines sogenannten therapeutischen Fensters oder empfohlenen therapeutischen Bereiches zugrunde, das von der Annahme ausgeht, dass es sowohl für therapeutische als auch für toxische Wirkungen eines Pharmakons jeweils eine minimal effektive Konzentration gibt, zwischen denen der empfohlene

317

6.3 Therapeutisches Drug-Monitoring

therapeutische Bereich für die Konzentration des Pharmakons liegt (vgl. Abb. 6.3.2). Dies gilt allerdings nur in Annäherung, so dass eher von einem wahrscheinlichen Nichtansprechen bei Konzentrationen unterhalb des therapeutischen Bereiches und einem wahrscheinlichen Auftreten von signifikanten Nebenwirkungen bzw. auch toxischen Effekten oberhalb des therapeutischen Bereiches gesprochen werden muss. Die Grenzen eines therapeutischen Bereiches sind also nicht starre Absolutwerte, sondern definieren einen Konzentrationsbereich, innerhalb dessen die höchste Wahrscheinlichkeit für ein therapeutisches Ansprechen bei gleichzeitigem Ausbleiben unerwünschter Effekte besteht. Ein derartig definierter therapeutischer Bereich konnte allerdings nicht für alle Psychopharmaka mit methodisch sorgfältig konzipierten Untersuchungen und entsprechender Evidenz nachgewiesen werden. Wo derartige Daten nicht vorliegen, müssen als Zielbereich Konzentrationen gelten, wie sie sich bei der Mehrzahl der

Patienten unter Verabreichung klinisch üblicherweise wirksamer Dosierungen einstellen.

6.3.2. Praktische Durchführung des Therapeutischen Drug Monitoring Ablauf eines Therapeutischen Drug Monitoring Der Ablauf eines TDM unterteilt sich in eine präanalytische, eine analytische und eine postanalytische Phase. Die präanalytische Phase beinhaltet die Begründung der Notwendigkeit der Untersuchung unter klinisch-therapeutischen Aspekten, also die Indikationsstellung und die Anforderung der Untersuchung. Die analytische Phase umfasst die quantitative Erfassung des Medikamentenspiegels im Labor, die postanalytische Phase schließlich die Interpretation der gemessenen Plasma- oder Serumkonzentrationen und die daraus abzuleitenden Empfehlungen für die Dosierung des Medikamentes bzw.

Abbildung 6.3.2: Konzept des therapeutischen Fensters: Konzentrations-Effekt-Kurve eines hypothetischen Pharmakons (Erläuterung s. Text „Zielsetzung von Therapeutischem Drug Monitoring“).

318

die gesamte Gestaltung der weiteren medikamentösen Therapie.

Indikationen für Therapeutisches Drug Monitoring TDM umfasst mehr als eine bloße Serumspiegelbestimmung eines Medikamentes und sollte daher auch nicht einfach als zusätzliche Bestimmung im Rahmen der normalen Routine-Laboruntersuchungen „mitlaufen“, sondern immer mit einer gezielten Fragestellung zum Einsatz kommen. Eine TDM-Bestimmung ohne klare Indikation ist nur von geringem Aussagewert und daher auch kaum hilfreich im klinischen Alltag, während bei eindeutig gegebener Indikation durch TDM relevante zusätzliche Informationen für eine Optimierung der Therapie gewonnen werden können. Wichtige klinische Indikationen für TDM sind:  Vermeidung von Intoxikationen bei Arzneimitteln mit geringer therapeutischer Breite und klar definierten Toxizitätsgrenzen (Lithium: obligate Indikation);  Findung der optimalen Dosis zur Einstellung eines Medikamentenspiegels innerhalb eines bekannten und validierten therapeutischen Bereiches;  Ausbleiben der erwarteten Wirkung bei üblicherweise für ein Ansprechen ausreichender Dosierung bzw. Rezidiv trotz sicherer Compliance und üblicherweise wirksamer Dosierung;  Auftreten ausgeprägter Nebenwirkungen bei klinisch üblicherweise gut verträglichen Dosierungen bzw. Auftreten von Nebenwirkungen bereits bei niedrigen Dosierungen;  Verdacht auf Arzneimittelintoxikation;  Hinweise auf bestehende Medikamenteninteraktionen bzw. Kontrolle bei Verabreichung von Medikamentenkombinationen mit Interaktionspotential;  Behandlung von Patienten mit erhöhtem Potential für Nebenwirkungen oder Intoxikationen aufgrund somatischer Komorbidität (Leber- oder Nierenerkrankungen, Herz-/ Kreislauferkrankungen);

6 Pharmakokinetik

 Bekannte genetisch bedingte Besonderheiten im Metabolismus von Arzneimitteln (langsame oder ultraschnelle Metabolisierer);  Behandlung von Patienten in höherem Lebensalter;  Behandlung von Kindern;  Überprüfung der Compliance;  Forensische Fragen. Vor der Anforderung eines TDM sollte stets überprüft werden, welcher konkrete Sachverhalt mit der Untersuchung geklärt werden kann und ob bei dem jeweils zu bestimmenden Medikament TDM sinnvoll durchführbar ist.

Anforderung der Untersuchung Bei der Anforderung eines TDM müssen immer eine ganze Reihe demographischer und klinischer Parameter erhoben und für die Untersuchung mit angegeben werden. Hierfür bietet sich üblicherweise das Anforderungsformular an, auf dem alle für das TDM relevanten Daten festgehalten werden können (vgl. Abb. 6.3.3). Dokumentiert werden sollten:  Name, Alter, Geschlecht, Größe und Gewicht des Patienten;  Diagnose;  Datum und Zeitpunkt der Blutentnahme;  Zielmedikament mit Tagesdosis und Zeitpunkt der letzten Applikation;  Genaue Bezeichnung und Tagesdosis aller Komedikamente;  Indikation für TDM;  Vorhandensein von Leber- oder Nierenfunktionsstörungen;  Nikotinkonsum;  Angaben zur Schwere des Krankheitsbildes (z. B. mittels der Skala „Clinical Global Impressions“ CGI);  Angaben zum Therapieerfolg (z. B. mittels CGI-Skala);  Angaben zu Nebenwirkungen (z. B. mittels UKU-Skala). Die Qualität des TDM hängt entscheidend davon ab, dass alle o. g. Informationen sorgfältig

6.3 Therapeutisches Drug-Monitoring

Abbildung 6.3.3: Beispiel eines Anforderungsscheines für eine TDM-Untersuchung.

319

320

6 Pharmakokinetik

und vollständig erhoben werden. Hierfür ist der die Untersuchung anfordernde Arzt verantwortlich. Ein suffizientes TDM kann nur durchgeführt werden, wenn die geforderten Angaben vollständig gemacht werden, da nur dann eine verwertbare Interpretation der gemessenen Plasmakonzentration und damit eine aussagekräftige Bestimmung möglich ist.

jedoch sollten Proben, die nicht am gleichen Tag bestimmt werden können, gekühlt aufbewahrt werden. Für eine längerfristige Lagerung können die Proben bei –20 °C tiefgekühlt werden. Serum- oder Plasmaproben, die Olanzapin enthalten, dürfen wegen Instabilität nicht länger als 3 Tage ungekühlt aufbewahrt werden (Heller et al. 2004)

Entnahme und Transport der Blutproben

Bestimmung der Medikamentenkonzentrationen

Die Blutentnahme für die TDM-Untersuchungen erfolgt morgens nüchtern mindestens 12 Stunden nach der letzten Einnahme der zu bestimmenden Medikamente, da definitionsgemäß stets Talspiegel gemessen werden sollen. Bei Depotpräparaten wird die Bestimmung am Ende des Dosierungsintervalls unmittelbar vor der nächsten Applikation durchgeführt. Die Messung einer Plasma- oder Serumkonzentration soll ferner immer unter Steady-State-Bedingungen stattfinden, die sich nach 5 Halbwertszeiten unter konstanter Tagesdosis einstellen. In der Praxis bedeutet dies, dass angesichts einer bei den meisten Psychopharmaka zwischen 12 und 36 Stunden liegenden Halbwertszeit über 5–7 Tage eine konstante Tagesdosis verabreicht worden sein muss, bevor eine TDM-Untersuchung vorgenommen wird. Nur im Ausnahmefall des Verdachts auf das Vorliegen einer Intoxikation kann die Blutentnahme ohne Steady State Bedingungen und zur Erfassung von Gipfelspiegeln unmittelbar erfolgen. Zur Blutentnahme verwendet werden 7,5 ml Serum-Monovetten ohne Zusätze. Monovetten mit Trenngelen sind nicht geeignet. Die Serum-Monovette muss nach der Blutentnahme eindeutig mit Name des Patienten (Etikett) und Datum der Entnahme gekennzeichnet werden. Bei einigen Substanzen ist eine lichtgeschützte Verpackung z. B. durch Einwickeln in Alufolie nötig, da sonst Ungenauigkeiten bei der Bestimmung aufgrund der Lichtempfindlichkeit der Substanzen auftreten können. Zusammen mit dem vollständig ausgefüllten Anforderungsformular wird die Blutprobe anschließend in das TDM Labor transportiert. Für den Transport ist in der Regel keine Kühlung erforderlich,

Gemessen werden die Medikamentenkonzentrationen im Plasma oder Serum eines Patienten, wobei keine nennenswerten Konzentrationsunterschiede zwischen diesen beiden Matrices bekannt sind. Sofern ein Metabolit eines Medikamentes ebenfalls eine klinische Wirkung entfaltet, muss die Konzentration dieses pharmakologisch aktiven Metaboliten ebenfalls bestimmt werden (Caccia und Garattini 1990). Gefordert ist eine analytische Methodik, die auch sehr niedrige Konzentrationen, wie sie bei Psychopharmaka und ihren aktiven Metaboliten üblicherweise vorliegen, zuverlässig erfassen kann, wobei Richtigkeit und Präzison bei therapeutischen Konzentrationen über 85 % liegen sollen (Buick et al. 1990; Green 1996). Hinsichtlich Selektivität und Sensitivität sind chromatographische Techniken für diese Anforderungen gut geeignet, wobei sich im klinischen Alltag HPLC (High Performance Liquid Chromatography)-Methoden (Carlsson et al. 2001; Ohmann et al. 2003), insbesondere solche mit online-Probenvorbereitung, Säulenschaltung und spektroskopischer Detektion (Deuschle et al. 1997; Greiner et al. 2007; Härtter und Hiemke 1992; Härtter et al. 1992, 1994, 2000; Kirschbaum et al. 2005; Sachse et al. 2003, 2005, 2006; Weigmann et al. 1998, 2001) bewährt haben (Abb. 6.3.4). Neuerdings kommen zunehmend chromatographische Methoden mit massenspektrometrischer Detektion (LC-MS oder LC-MS/MS) zum Einsatz (Kirchherr und Kühn-Velten 2006). Ein Vorteil der LC-MS-Methoden ist die geringere Anfälligkeit gegenüber Interferenzen, nachteilig ist der hohe apparative und personelle Aufwand. Bei manchen MS-Detektoren findet

6.3 Therapeutisches Drug-Monitoring

321

Abbildung 6.3.4: Flussdiagramm einer HPLC-Analyse mit Säulenschaltung zum Nachweis von Psychopharmaka. Das Chromatogramm zeigt eine Bestimmung von Aripiprazol und Dehyroaripiprazol.

eine Unterdrückung der Molekülionisierung durch Matrixbestandteile statt, was die Quantifizierung der Medikamente beeinträchtigen kann. Nicht bewährt haben sich für das TDM von Psychopharmaka immunologische Gruppenassays. Sie sind nur für wenige Psychopharmaka verfügbar und störanfällig gegenüber Begleitmedikamenten (Banger et al. 1997; Rao et al. 1994).

Interpretation und Bewertung der Ergebnisse Die Analytik liefert ein Chromatogramm, bei dem die Peaks für die zu bestimmenden Substanzen nach definierten Retentionszeiten zu erkennen sind (Abb. 6.3.5). Aus der Peakhöhe bzw. Peakfläche wird die gemessene Konzentration errechnet. Im Ergebnis angegeben wird der Serum- bzw. Plasmaspiegel des Zielmedikamentes und, falls es einen aktiven Metaboliten dieses Medikamentes gibt, immer auch die Konzentration des Metaboliten. Aus den Konzentrationen von Muttersubstanz und aktivem Metaboliten lässt sich dann ein Summenspiegel errechnen. Bei Medi-

kamenten ohne aktiven Metaboliten ist nur der Spiegel der Muttersubstanz relevant. Die gemessenen Spiegel müssen dann im Kontext der übermittelten Patienten- und Krankheitsdaten, der Dosis des Zielmedikamentes, der verabreichten Begleitmedikation und der klinischen Daten hinsichtlich Schweregrad der Erkrankung, Therapieeffekt und unerwünschten Wirkungen interpretiert werden. Für die Bewertung der klinischen Effekte sind bei Medikamenten mit aktiven Metaboliten die Summenspiegel heranzuziehen, während sich aus der Bewertung des Verhältnisses von Muttersubstanz zu Metabolit zusätzliche Informationen zum Metabolisierungsstatus des Patienten gewinnen lassen. Um einen gemessenen Konzentrationswert korrekt interpretieren zu können, müssen ferner die verfahrenstechnischen Angaben zur Blutentnahme bekannt sein, da nur so sicherzustellen ist, dass von einem Talspiegel unter Steady-State-Bedingungen ausgegangen werden kann. Ebenso ist es für die Bewertung einer gemessenen Konzentration eines Medikamentes sinnvoll, zu wissen, welche Konzentration bei einer bestimmten verabreichten Dosis unter

322

6 Pharmakokinetik

Abbildung 6.3.5: Beispiel eines Chromatogrammes bei Bestimmung von Amitriptylin und Nortriptylin durch UV-Detektion bei einer Wellenlänge von 210 nm. Die Zahlenwerte beziehen sich auf die Retentionszeiten der Substanzen in der Anlage von der Probeneingabe bis zum Aufscheinen im Detektor.

„normalen“ Umständen, d. h. ohne Annahme pharmakokinetischer Besonderheiten, bei einem „durchschnittlichen“ Patienten zu erwarten wäre (Haen 2005). Hierzu dient die Angabe von dosisbezogenen unter Steady-State-Bedingungen erwartbaren Konzentrationen, die für eine Vielzahl von Psychopharmaka publiziert sind (Hiemke et al. 2005) und die eine Entscheidungshilfe dafür liefern, inwieweit ein konkreter gemessener Konzentrationswert in Anbetracht der verabreichten Dosis plausibel ist oder aber eine pharmakokinetische Erklärung dafür herangezogen werden muss.

Empfehlungen für die Therapie Aus der Bewertung der gemessenen Plasmakonzentration lassen sich schließlich Konsequenzen für die weitere medikamentöse Therapie ableiten. Diese können einerseits in einer Empfehlung zur Erhöhung, Absenkung oder auch Beibehaltung der Dosis des Zielmedikamentes bestehen. Andererseits können sich aber auch Empfehlungen im Hinblick auf einen Wechsel

des Medikamentes oder eine Änderung der Begleitmedikation ergeben, wenn sich Hinweise auf nachteilige Interaktionen ergeben haben. Es ist sogar möglich, Interaktionen unter engmaschiger TDM-Kontrolle klinisch zur Augmentation einer Behandlung zu nutzen, indem beispielsweise aus metabolischen Gründen insuffiziente Plasmakonzentrationen durch Gabe eines inhibitorisch auf den Metabolismus eines Arzneimittels wirkenden Begleitmedikamentes gezielt angehoben werden (Hiemke at al. 2002). Eine klinische Empfehlung kann jedoch nur in Kenntnis detaillierter Informationen zu Zielmedikament, Begleitmedikamenten und Therapieverlauf aus einem gemessenen Konzentrationswert abgeleitet werden. Das Ergebnis des TDM sollte an den einsendenden Arzt innerhalb von längstens 3 Arbeitstagen nach Eingang der Probe im TDMLabor mitgeteilt werden, um den Behandlern die Möglichkeit zur rechtzeitigen Umsetzung der Empfehlungen zu geben. Die Bewertung der Ergebnisse und die Empfehlung hinsichtlich der weiteren Therapiegestaltung erfolgt durch

6.3 Therapeutisches Drug-Monitoring

einen klinisch-pharmakologisch entsprechend versierten Arzt. Die Therapieentscheidung erfolgt jedoch niemals alleine aufgrund einer gemessenen Medikamentenkonzentration, sondern immer klinisch unter Würdigung des individuellen Therapieverlaufes in Relation zu den Ergebnissen des TDM. Abbildung 6.3.6 fasst den Ablauf des TDMProzesses noch einmal im Überblick zusammen.

6.3.3. Therapeutisches Drug Monitoring verschiedener Psychopharmaka Allgemeines Die Grundannahme des TDM ist, dass es einen Zusammenhang gibt zwischen der Plasmaoder Serumkonzentration eines Medikamentes und seinem erwünschten klinischen Effekt wie auch seinen unerwünschten Nebeneffekten (Laux und Riederer 1992). Ein solcher Zusammenhang konnte nicht für alle Psychopharmaka

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überzeugend nachgewiesen werden. Die vielfach unzureichende Evidenz für derartige Konzentrations-Effekt Beziehungen liegt mit hoher Wahrscheinlichkeit in vielen Fällen an methodischen Schwächen der Untersuchungen, die schon vom Studiendesign her kaum geeignet sind, eine diesbezügliche Relation aufzuzeigen (De Olivieira et al. 1995; Gram 1978; Preskorn et al. 1993). Von Ulrich und Mitarbeitern (Ulrich et al. 1998; Ulrich und Läuter 2002) wurden daher methodische Voraussetzungen für die Untersuchung eines Konzentrations-Effekt-Zusammenhanges bei Arzneimitteln herausgearbeitet, die als Maßstab für die Bewertung von TDMStudien, die die Ermittlung eines therapeutischen Bereiches zum Ziel haben, verwendet werden können. Diese methodischen Kriterien sind:  Valide chemische Analytik,  Ausreichender Schweregrad der Erkrankung bei Behandlungsbeginn,  Adäquate Erfassung der Symptomatik der Erkrankung vor Beginn der Behandlung und im Verlauf,

Abbildung 6.3.6: Schematische Darstellung des Ablaufs von TDM mit patienten- und medikamenten-bezogenen Kontextfaktoren, die bei der TDM-geleiteten Therapieoptimierung zu berücksichtigen sind.

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6 Pharmakokinetik

 Ausschluss bekannter Non-Responder,  Angabe der Einschlusskriterien für das Patientenkollektiv,  Angabe der Ausschlusskriterien,  Korrekter Zeitpunkt der Blutentnahmen,  Ausreichend breiter Bereich der untersuchten Plasmakonzentrationen,  Adäquates Dosierungsregime,  Angabe der Medikation vor Studieneinschluss und der gesamten Komedikation,  Ausreichende Auswaschphase vor der Randomisierung,  Ausreichende Größe des Patientenkollektives.

und nach 5 abgestuften Empfehlungsgraden klassifiziert. Folgende Abstufungen wurden unterschieden:

Bei sorgfältiger Berücksichtigung dieser Kriterien fanden die Autoren für die Modellsubstanzen Amitriptylin (Ulrich und Läuter 2002) und Haloperidol (Ulrich et al. 1998) metaanalytisch einen überzeugenden Zusammenhang zwischen Plasmakonzentration und Wirkung, wobei die Plasmakonzentrationen 25–35 % der Variabilität des therapeutischen Effektes erklären konnten. Wenn auch die grundsätzliche Berechtigung des TDM-Ansatzes hiermit nachgewiesen werden konnte, fehlten weitgehend Angaben zum differenzierten Nutzen des TDM für die gesamte Palette von Psychopharmaka. Von der Arbeitsgruppe „Therapeutisches Drug Monitoring“ der „Arbeitsgemeinschaft für Neuropsychopharmakologie und Pharmakopsychiatrie“ (AGNP) wurden 2004 in einem Konsensus-Papier erstmalig systematisch Leitlinien zum therapeutischen Drug Monitoring von Psychopharmaka erarbeitet, die die Fülle der existierenden Literatur zusammengeführt haben (Baumann et al. 2004; Hiemke et al. 2005). Hierzu wurde die verfügbare Literatur in folgender absteigender Reihenfolge der Priorität der Ergebnisse ausgewertet: 1) veröffentlichte Leitlinien, 2) Metaanalysen, 3) prospektive Studien zu Beziehungen zwischen Plasmakonzentrationen und klinischen Effekten, 4) pharmakokinetische Untersuchungen. Basierend auf den gewichteten Literaturdaten wurden anschließend insgesamt 65 Antidepressiva, Antipsychotika, Phasenprophylaktika, Anxiolytika/Hypnotika, Antidementiva und Suchttherapeutika im Hinblick auf den jeweiligen substanzspezifischen Nutzen eines TDM bewertet

2 = Empfehlenswert: Es existieren Fixdosis-Studien, die therapeutische Richtwerte für die Plasmakonzentration bei therapeutisch effektiven Dosierungen abzuleiten gestatten. Mindestens eine methodisch gute prospektive Studie liefert Hinweise für ein Risiko unzureichenden Ansprechens bei zu niedrigen Konzentrationen bzw. unerwünschter Effekte bei zu hohen Konzentrationen.

1 = Sehr empfehlenswert: Ein therapeutischer Bereich ist gut etabliert aufgrund kontrollierter klinischer Studien, die einen Bereich klinisch wirksamer Plasmakonzentrationen aufzeigen konnten und toxische Effekte bei höheren Konzentrationen beschrieben haben. Bei zu niedrigen Konzentrationen muss dagegen von einer Ansprechrate, die der unter Placebo ähnlich ist, ausgegangen werden.

3 = Nützlich: Wirkstoffkonzentrationen, die bei therapeutisch effektiven Dosierungen im Rahmen meist retrospektiver pharmakokinetischer Studien im Steady State gemessen wurden, können als therapeutische Richtwerte herangezogen werden. Hier ist TDM vor allem nützlich, um die Plausibilität einer gemessenen Konzentration bei gegebener Dosis zu kontrollieren oder um evtl. das Ansprechen bei Nonrespondern mit zu niedriger Plasmakonzentration zu verbessern. 4 = Wahrscheinlich nützlich: Es gibt zwar pharmakokinetische Studien zu Plasmakonzentrationen im Steady State bei therapeutisch effektiven Dosen, aus denen sich Richtwerte ergeben, jedoch ist die Datenlage inkonsistent, so dass hier mittels TDM lediglich Plausibilitätsprüfungen der gemessenen Spiegel angesichts der gegebenen Dosen sinnvoll durchgeführt werden können. 5 = Nicht empfehlenswert: Besondere pharmakologische Eigenschaften eines Arzneimittels, z. B. Wirkungsweise über

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6.3 Therapeutisches Drug-Monitoring

Tabelle 6.3.2: Empfohlene Plasmakonzentrationen von Psychopharmaka und literaturbasierte Empfehlungen zur Anwendung von therapeutischem Drug Monitoring für die Dosisoptimieru