Gilmore Girls, Bd. 1: Wie die Mutter, so die Tochter
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Zitiervorschau

Gilmore Girls Wie die Mutter, so die Tochter Band 1 Erscheinungsdatum: 2004 Seiten: 180 ISBN: 3802532457 Amazon-Verkaufsrang: 943 Durchsch. Kundenbew.: 4/5 Scanner: Crazy2001 K-leser: klr CCC C C C

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Dieses E-Book ist Freeware und somit nicht für den Verkauf bestimmt.

Sie treten fast immer in Doppelpack auf, sind süchtig nach Kaffee und guten Filmen und teilen einen unschlagbaren Humor: Lorelai und Rory sind nicht nur richtig gute Freundinnen, sondern auch Mutter und Tochter. Und gemeinsam eigentlich unschlagbar - ein echtes Dreamteam. Eigentlich. Wenn da nicht der Neue wäre, der Rory gehörig den Kopf verdreht hat. Und meistens ist die eigene Mutter als Freundin zwar gut, eine beste Freundin wie Lane aber auch nicht verkehrt, vor allem, wenn es um Herzensangelegenheiten geht... Das daneben noch ein Schulwechsel für Rory ansteht, macht die Sache nicht leichter. Zielstrebigkeit ruft Neider auf den Plan, und neue Freundschaften fallen auch nicht vom Himmel. Und was hat eigentlich Grandma mit der ganzen Sache zu tun? Spannungen sind vorprogrammiert.

Catherine Clark

Gilmore Girls WIE DIE MUTTER, SO DIE TOCHTER

Roman

Aus dem Amerikanischen von Antje Görnig

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Bibliografische Information Der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar.

Der Roman »Gilmore Girls – Wie die Mutter, so die Tochter« entstand auf der Basis der gleichnamigen Fernsehserie von Amy Sherman-Palladino, produziert von Warner Bros, ausgestrahlt bei VOX. Erstveröffentlichung bei HarperCollins Publishers, Inc. New York 2002. Titel der amerikanischen Originalausgabe: Gilmore Girls. Like Mother, Like Daughter. Copyright © 2004 Warner Bros. GILMORE GIRLS, characters, names and all related indicia are trademarks of and ©Warner Bros. All Rights Reserved. ™ ©Warner Bros. (s03) © der deutschsprachigen Ausgabe: Egmont vgs Verlagsgesellschaft Köln, 2004 Alle Rechte vorbehalten Lektorat: Almuth Behrens Produktion: Wolfgang Arntz Umschlaggestaltung: Sens, Köln Senderlogo: ©VOX 2004 Titelfoto: © 2004 Warner Bros. Satz: Hans Winkens, Wegberg Printed in Germany ISBN 3-8025-3245-7 Besuchen Sie unsere Homepage: www.vgs.de

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Prolog »Wir mokieren uns über das, was später mal aus uns wird«, sagt Mel Brooks als zweitausend Jahre alter Mann auf dem Sketchalbum, das er in den Sechzigern mit Carl Reiner gemacht hat. Kennt ihr das? Egal, es ist jedenfalls zum Brüllen komisch. Kauft es, hört es, erlebt es! – Das ist ein Spruch meiner Mutter. Meine Mutter. Sie ist das, was später mal aus mir wird – und das ist gar nicht so übel, wenn man sie sich so ansieht. Eigentlich ist es sogar ziemlich cool. Meine Mutter. Manche Leute halten sie für verrückt. Ich sage immer, sie hat wahnsinnig viel Power. Ich heiße Lorelai Gilmore. Da meine Mutter jedoch genauso heißt und sie zuerst da war, hat sie die älteren Rechte auf den Namen, und daher nennen mich die Leute Rory. Der Name ist nicht unsere einzige Gemeinsamkeit. Wir mögen dieselbe Musik – Gott sei Dank! –, verabscheuen dieselben Nahrungsmittel (Avocados zum Beispiel, was ist das? Ein grausamer Scherz?), wir tauschen Klamotten, gucken uns tonnenweise Filme an, hängen rum, bringen uns gegenseitig zum Lachen… Im Grunde ist Mom meine beste Freundin. Und ich muss sagen, es ist sehr praktisch, mit der besten Freundin unter einem Dach zu wohnen. Ich weiß nicht genau, warum wir uns so nahe stehen. Vielleicht, weil sie so jung war, als sie mich zur Welt brachte. Sie ist zweiunddreißig. Ich bin sechzehn. Also sind wir quasi zusammen aufgewachsen. Jetzt würde ich

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gern sagen, dass uns am stärksten der Respekt verbindet, den wir einander entgegenbringen, aber das stimmt leider nicht. Es ist vielmehr unsere absolute Leidenschaft für Kaffee. Wir sind seine Sklaven. Wir reden sogar mit ihm. »Hey, Kaffee, wie geht es dir? Gut? Freut mich. Mir auch.« Mom sagt immer, wenn sie jemals einen Sohn bekommen sollte, müsste sie ihn Juan Valdez nennen. (Das ist der Typ in einer alten Kaffeewerbung. Fragt eure Eltern, sie werden ihn kennen!) Jedenfalls müsst ihr, wenn ihr uns mögt und Kaffee für euch ebenso wichtig ist, Luke’s Diner kennen lernen. Da gibt es den besten Kaffee weit und breit. Der Mann ist ein Genie. Und das Verrückte ist, er selbst mag überhaupt keinen Kaffee. Und auch sonst nicht viel. Aber wie verschroben er auch sein mag, meine Mutter und ich gehen jeden Tag hin. Ob es regnet, friert oder schneit oder eine Kaffeeknappheit die Preise in den Himmel treibt – uns hält nichts auf der Welt von unserer Tagesdosis des kleinen braunen Glücks ab. Gestern Morgen war es eiskalt. Ich quälte mich aus dem Bett, packte mich mit allem ein, was wärmt – abgesehen von der Tagesdecke – und machte mich auf den Weg, um mich vor der Schule mit Mom bei Luke zu treffen. Es war so kalt, dass mir die Ohren sogar innendrin wehtaten. Ich erreichte die Tür, schleppte mich mit den fünfunddreißig Pfund Wolle, die ich auf dem Körper trug, ins Lokal und fand Mom an unserem Stammplatz vor. »Hey, es friert richtig draußen«, sagte ich, als ich auf sie zuging.

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»Was brauchst du? Heißen Tee? Kaffee?«, fragte sie lächelnd. Als ich mich an den Tisch setzte, merkte ich, was ich wirklich brauchte. »Lipgloss«, entgegnete ich. Mom fing an, in ihrer riesigen schwarzen Ledertasche zu wühlen. Sie selbst sagt zwar Handtasche dazu, es kommt aber einer Einkaufstasche näher. Für mich ist das ziemlich praktisch, denn sie hat immer alles dabei. »Aha!« Sie holte ein durchsichtiges Plastiktäschchen hervor, in dem es recht chaotisch aussah, und prüfte den Inhalt. »Also, ich hätte anzubieten: mit Vanillegeschmack, Schoko, Erdbeere oder geröstete Marshmallows.« »Hast du auch einen, der nichts mit Essen zu tun hat?«, fragte ich. »Ja.« Sie nahm eine größere Kosmetiktasche zur Hand und holte einen Stift heraus. »Der da ist geschmacksneutral, aber er wechselt die Farbe, je nachdem, wie du drauf bist.« »Du liebe Güte, nicht mal RuPaul braucht so viel Make-up«, erklärte ich, als sie mir sämtliche Lipgloss-Stifte reichte. »Du bist aber schlecht gelaunt.« »Tut mir Leid. Ich konnte meine Macy-Gray-CD nicht finden, und ich brauche dringend Koffein.« »Ich habe deine CD.« Sie holte sie aus der Tasche und legte sie auf den Tisch. »Diebin!«, schimpfte ich. »‘tschuldigung. Ich hole dir erst mal einen Kaffee.« Sie sprang vom Tisch auf. Während Mom an der Theke wartete, fing ich an, die Lipgloss-Stifte zu beschnuppern. Als ich

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mich für einen entschieden hatte und ihn gerade auftragen wollte, kam ein Typ mit blauem Hemd und kariertem Wollmantel auf unseren Tisch zugeschlendert. »Hey, guten Morgen!«, sagte er. »Hallo.« Ich nickte ihm zu. »Ich heiße Joey«, erklärte er. »Bin unterwegs nach Hartford. Und du?« »Bin nicht unterwegs nach Hartford«, entgegnete ich und sah ihn an. Er beugte sich vor und stützte sich auf den Tisch. »Ja, also, ich bin zum ersten Mal hier.« »Ach, du schon wieder!«, rief plötzlich meine Mutter, die hinter ihm aufgetaucht war. Ich fing an zu grinsen. Joey drehte sich um und war total geschockt. »Oh, hallo!«, sagte er verlegen. »Auch hallo! Du magst meinen Tisch wirklich, kann das sein?« »Ich wollte nur…«, stotterte er. »…meine Tochter kennen lernen«, beendete Mom den Satz und stellte sich neben mich. Joey wurde ziemlich blass. »Deine…«, setzte er an und richtete den Blick auf mich. Ich lächelte ihn an. »Bist du mein neuer Daddy?« Es hatte den Anschein, als würde Joey jeden Augenblick in Ohnmacht fallen. »Wow!«, stieß er schließlich hervor. »Du siehst gar nicht so alt aus, um schon Mutter zu sein. Echt, das meine ich ehrlich!« Mom strahlte ihn einfach weiter mit einem gekünstelten Lächeln an. Joey drehte sich zu mir. »Und du siehst nicht aus wie eine Tochter.« »Das ist wirklich sehr süß von dir«, sagte Mom.

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»Danke.« »Ja, also…Tochter«, stammelte Joey. Er zeigte auf einen Typen Anfang zwanzig, der an der Theke saß. Er sah leicht blöde aus und drehte sich mit einem hoffnungsvollen Grinsen im Gesicht um. »Wisst ihr, ich bin mit einem Freund unterwegs. Und…« »Und sie ist sechzehn«, unterbrach ihn Mom. Joey nickte abrupt. Ende der Diskussion. Er hatte es plötzlich ziemlich eilig zu verschwinden. »Macht’s gut!« »Gute Fahrt!«, rief Mom ihm hinterher. Und dann zogen sie ab, die Männer unserer Träume. Zum Heulen. Bereits 2,1 Sekunden später ahmte Mom Joeys Gesichtsausdruck perfekt nach – ein neuer Rekord –, und dann konnten wir uns nicht mehr beherrschen. Jedes Mal, wenn wir uns ansahen, wurde unser Lachen lauter. Wir konnten gar nicht mehr aufhören. Es wurde so schlimm, dass uns Luke fast aus dem Lokal geworfen hätte. Ich muss sagen, es gibt nichts Besseres, als zusammen mit meiner Mutter über etwas zu lachen. (Meine Mom meint: doch, ein Paar hohe Lacklederstiefel, aber das ignorieren wir jetzt einfach mal.)

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1 Meine beste Freundin Lane Kim zieht sich immer auf dem Weg zur Schule an. Besser gesagt, sie motzt unterwegs ihre Garderobe auf. Heute Morgen zum Beispiel trug sie ein pinkfarbenes Thermo-T-Shirt, als wir uns trafen. Daran war nichts auszusetzen, aber damit war sie eben nicht Lane. Also holte sie ein Batik-T-Shirt aus ihrem großen Rucksack und zog es über das pinkfarbene. Nun sah sie nicht mehr wie ein süßes, kleines, unschuldiges Mädchen aus, sondern eher nach Woodstock ‘99. Lane macht das schon fast so lange, wie wir zusammen zur Schule gehen, seit der ersten Klasse. »Wann willst du deinen Eltern endlich sagen, dass du böse Rockmusik hörst?«, fragte ich sie, während ich ihre Jeansjacke und den Rucksack festhielt, damit sie sich umziehen konnte. »Du bist ein amerikanischer Teenager, Herrgott noch mal!« Lane schüttelte den Kopf. »Rory, so lange sich meine Eltern immer noch über diese ekelhaften Riesenportionen beim amerikanischen Essen aufregen, werde ich ausgerechnet mit Eminem wohl kaum was ausrichten können.« Wir blieben vor einem Plakat stehen, das eine >Planwagenfahrt für junge Leute< ankündigte. »Da muss ich mitmachen«, erklärte Lane und zeigte darauf, während sie ihren Mantel wieder überzog. »Bei einer Planwagenfahrt? Soll das ein Witz sein?«, fragte ich. Unser Städtchen – Stars

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Hollow, Connecticut – ist 1779 gegründet worden, ein unglaublich idyllischer Ort mit schönen alten Bauwerken und Gehsteigen mit Kopfsteinpflaster und vielen liebreizenden altmodischen Traditionen wie Planwagenfahrten zum Beispiel. »Meine Eltern wollen mich mit dem Sohn von einem Geschäftspartner verkuppeln. Er wird mal Arzt.« Lane lächelte, als sie das sagte, aber ich wusste, was für ein Albtraum all diese Blind Dates waren, die ihre Eltern für sie arrangierten. Lane warf sich den Rucksack über die Schulter, und wir setzten unseren Weg fort. »Wie alt ist er denn?«, wollte ich wissen. »Sechzehn.« Lane holte ihr schulterlanges schwarzes Haar unter dem Mantelkragen hervor. »Dann ist er vielleicht in hundert Jahren Arzt«, bemerkte ich. »Tja, meine Eltern sind eben äußerst vorausschauend«, witzelte sie. Ich lächelte. »Und mit diesem Typen musst du die Planwagenfahrt machen?« »Und mit seinem älteren Bruder.« »Nein, das ist jetzt aber wirklich ein Witz, oder?« Lane schüttelte den Kopf. »Koreaner machen niemals Witze über zukünftige Ärzte. Dann fährst du wohl nicht mit, hm?« »Nein, mir ist immer noch nicht klar, was daran Spaß machen soll, auf einer pieksenden Unterlage zwei Stunden in der Kälte zu hocken«, entgegnete ich, und wir stiegen die Steintreppe zum Eingang der Schule hoch, der Stars Hollow High.

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»Das kann ich dir leider auch nicht erklären«, entgegnete Lane. Wir gingen zu den Schließfächern, dann machte ich mich auf zu meinem ersten Kurs: amerikanische Literatur. »Wenn Sie Huckleberry Finn noch nicht zu Ende gelesen haben, können Sie die heutige Stunde dafür nutzen«, erklärte Mrs. Traister. »Wer damit fertig ist, kann jetzt schon mit seinem Aufsatz anfangen. Wie Sie sich auch entscheiden – es ist auf jeden Fall Stillarbeit angesagt!« Natürlich begann ich mit der Arbeit an meinem Aufsatz. Die drei Mädchen, die vor mir saßen, fingen an sich die Nägel zu lackieren. Na ja, jeder setzt andere Prioritäten. Ich will unbedingt auf die Harvard-Uni. Und die drei wollen in einen Tanzclub in der Nähe dieser Uni. Nach ein paar Minuten spürte ich, wie sie mich anstarrten, aber ich schrieb weiter. »Vielleicht ein Liebesbrief«, flüsterte eine von ihnen. »Oder ihr Tagebuch«, sagte eine andere. »Vielleicht auch ihre Kladde«, bemerkte das Mädchen vor mir. Sophie Larson, die neben mir saß, stand sogar auf, um einen Blick über meine Schulter zu werfen. »Es ist der Aufsatz«, erklärte sie mehr oder weniger angewidert. Die anderen starrten mich eine Weile an, dann drehten sie sich um und widmeten sich wieder ihren Fingernägeln. Ich lächelte nur und schrieb weiter über Huck.

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Mir macht es nichts aus, anders zu sein. Eigentlich gefällt es mir sogar ziemlich gut. »Hatte der Nagellack wenigstens eine tolle Farbe?«, fragte Lane, als wir nach der Schule zur ihr nach Hause gingen. »Er war mit Glitzerpartikeln«, erklärte ich. »Und er roch wie Kaugummi.« »Na, damit kann Mark Twain natürlich nicht mithalten«, frotzelte Lane. »Mom? Wir sind wieder da!«, rief sie, als wir das Haus betraten. Im Erdgeschoss führten Lanes Eltern einen ziemlich coolen Antiquitätenladen: Kim’s Antiques heißt er. Er ist voll gestopft mit Möbeln und Lampen und Glasvitrinen voller Sammlerstücke, und man kommt sich darin vor wie eine Ratte in einem Labyrinth. Daher versuchten Lane und ihre Mutter wieder einmal, sich durch abwechselnde Zurufe gegenseitig zu orten. »Wir treffen uns in der Küche!«, rief Lane schließlich. »Was?« Mrs. Kims Stimme klang gedämpft, als säße sie in einem dicken Eichenschrank. »In der Küche!«, rief ich lauter. »Wer ist da?« »Es ist Rory, Mom«, antwortete Lane. Ein gedämpftes, nicht gerade begeistertes »Oh« drang zu uns herüber. Mrs. Kim wird mich wohl nie mögen. »Wow, ich konnte die negativen Schwingungen bis hierher spüren«, sagte ich. »Ach was, hör auf damit!«, entgegnete Lane. Ich zog den Kopf ein, um einem Kronleuchter auszuweichen. »Es nervt mich eben, dass deine Mutter mich nach all den Jahren immer noch so

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hasst.« »Sie hasst dich nicht«, erwiderte Lane. »Sie hasst meine Mutter«, rief ich ihr in Erinnerung. »Sie traut unverheirateten Frauen nicht über den Weg.« »Du bist doch selbst unverheiratet!« »Ich mache mit einem zukünftigen Proktologen eine Planwagenfahrt. Ich bin ausbaufähig«, sagte Lane, als wir in die Küche kamen. »Geht nach oben!«, war Mrs. Kims Kommentar, als sie uns erblickte. Besonders warmherzig ist sie nicht, wenn ich dabei bin, und allgemein ziemlich streng und traditionsbewusst. Manchmal kann ich nicht anders, als Lane zu bedauern. Sie versteckt nicht nur ihre Klamotten vor ihrer Mutter, sogar ihre CDs muss sie unter den Dielenbrettern in ihrem Zimmer horten. »Der Tee ist fertig«, sagte Mrs. Kim. »Ich habe Muffins gebacken. Sehr gesund. Ohne Milch, ohne Zucker, ohne Weißmehl. Ihr müsst sie in den Tee stippen, damit sie weich werden, aber sie sind sehr gesund.« Ich lächelte leise. »Wie war es in der Schule?«, fragte Mrs. Kim. »Keins von den Mädchen schwanger geworden? Niemand von der Schule gegangen?« »Nicht, dass wir wüssten«, meinte Lane. »Obwohl…«, bemerkte ich, »wenn ich es recht bedenke…Joanna Posner hatte so ein gewisses…« »Was?« Mrs. Kim riss die Augen auf. Ihr schlimmster Alb träum! »Ach nichts, Mom. Das war nur ein Witz«, beruhigte Lane sie sofort.

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»Jungen mögen keine witzigen Mädchen«, erklärte Mrs. Kim, sah mich böse an und stach bei jedem Wort mit dem Zeigefinger in die Luft. »Werd ich mir merken«, sagte ich nur. Zum Glück kam in diesem Augenblick ein Kunde in den Laden und unser Gespräch war beendet. »Esst die Muffins! Die sind mit Weizenkeimlingen, deshalb halten sie nicht lange«, sagte Mrs. Kim noch. »Alles ist um die Hälfte reduziert!«, schrie sie in den Laden und eilte an uns vorbei dem Kunden entgegen. Lane und ich sahen uns wortlos an. Wir waren vor langer Zeit übereingekommen, dass es schön ist, eine beste Freundin zu haben, die weiß, was für eine verrückte Familie man hat, aber nicht ständig auf diesem Thema herumreiten muss. Am nächsten Tag ging ich nach der Schule zu Mom ins Independence Inn. Das ist das Gasthaus, wo sie arbeitet. Wir haben früher auch mal da gewohnt, im Schuppen. Das Gebäude ist echt unglaublich, sehr klassisch und typisch für Connecticut, mit den hohen weißen Säulen und der umlaufenden Veranda. Mom liebt ihre Arbeit – sie sorgt dafür, dass der Laden läuft, in jeder Hinsicht. Als ich am Empfang vorbeiging, beäugte mich der Portier Michel Gerard misstrauisch. Warum auch nicht? Das tat er bei jedem, auch bei den Gästen. Er macht seinen Job richtig gut und ist wahrscheinlich gar kein schlechter Kerl, wenn man über seine pampige Art hinwegsieht. Ich beschloss, Michel nicht zu fragen, wo Mom sein könnte. Anscheinend war er immer noch sauer auf mich, weil ich ihn am Vortag gebeten hatte,

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meinen Französischaufsatz Korrektur zu lesen. Als wenn er dafür länger als fünf Minuten brauchte! Er ist schließlich Franzose. »Mom?«, rief ich, während ich auf die Küche zuging. »Hier! Sie ist hier drin!«, rief Sookie St. James mir durch die geschlossene Tür entgegen. Sookie ist Köchin und eine der besten Freundinnen meiner Mutter. Die beiden haben sogar vor, eines Tages ihr eigenes Gasthaus zu eröffnen. Sookie ist ein großartiger Mensch, eine unglaubliche Köchin und obendrein etwas tolpatschig. Das ist an sich nichts Schlimmes, sie neigt nur dazu, sich selbst sehr oft Verletzungen beizufügen. Zum Glück nimmt sich der Rest des Küchenpersonals immer rechtzeitig der Dinge an, bevor es zu einem echten Desaster kommt. Als ich die Küche betrat, begrüßten mich Mom und Sookie mit strahlenden Gesichtern. »Euch geht es gut«, stellte ich fest. Mom lächelte mich an. Ihre Augen leuchteten richtig. »Allerdings.« »Habt ihr etwas Verbotenes angestellt?«, fragte ich. »So war das nicht gemeint«, entgegnete Mom. Sie und Sookie fingen an zu kichern. Dann hielt mir meine Mutter eine lilafarbene Geschenktüte hin. »Hier!« Ich nahm die Tüte und fing auch an zu grinsen. Ich bekomme total gern Geschenke – besonders von Mom, denn die sind meistens ziemlich gut. »Was habt ihr?«, fragte ich. Ich hatte keine Ahnung, was los war, aber so fröhlich, wie die beiden aussahen, musste es sich um eine

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Riesensache handeln. »Mach es auf!«, drängte Mom. Ich griff in die knisternde Tüte und zog einen blauweiß karierten Rock heraus. Irgendwie wollig. Mit vielen Falten. »Ich soll bei einem Video von Britney Spears mitmachen?«, platzte ich heraus. »Du gehst nach Chilton!«, krähte Sookie aufgeregt und drehte sich zu Mom um. »Oh, tut mir Leid.« Chilton? Die exklusivste Privatschule weit und breit? Die Schule, vor der am Abschlusstag Pendelbusse zu sämtlichen Eliteuniversitäten der Vereinigten Staaten warteten? Ich konnte es nicht glauben. Wie… wann? »Mom?«, fragte ich nur. Sie hielt einen Brief hoch. »Du hast es geschafft, Baby! Du bist drin!« Sie strahlte über das ganze Gesicht. Ich erinnere mich nicht, sie je so glücklich gesehen zu haben. »Wie ist das möglich?« Ich war begeistert. »Du hast doch nicht… mit dem Direktor… oder etwa doch?« »Ach, Süße, das war doch ein Witz!«, sagte Mom und machte eine wegwerfende Handbewegung. »Es ist ein Platz frei geworden, und du fängst am Montag an«, erklärte sie. »Echt?« Ich konnte es immer noch nicht fassen. Ich auf der Chilton-Vorbereitungsschule? Das klang so offiziell, so erhaben, so… nah an Harvard. »Echt«, bestätigte Mom. »Ich kann es nicht glauben! Oh mein Gott! Ich gehe nach Chilton!«, rief ich und umarmte Mom. »Sookie, ich gehe nach Chilton!«, schrie ich

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wieder und umarmte auch sie. »Ich mache Haferflocken-Kekse«, erklärte Sookie kichernd. Wir konnten uns nicht mehr einkriegen. »Protestanten lieben Haferflocken!«, meinte Sookie. »Ich muss Lane anrufen.« Ich drehte mich um und wollte die Küche verlassen. Ich glaube, ich werde verrückt!, dachte ich und machte kehrt, um meine Mutter noch einmal stürmisch zu umarmen. Diese Nachricht war einfach unglaublich! »Ich liebe dich!«, sagte ich. »Oh, und ich liebe dich«, entgegnete sie. Ich lief aus der Küche in die Eingangshalle. Michel musterte mich, als ich nach dem Telefon griff. »Das ist das Haustelefon und nicht für Mädchen gedacht, die ihre Freundinnen anrufen wollen«, erklärte er. »Ich gehe nach Chilton!«, verkündete ich aufgeregt. Er war nicht sonderlich beeindruckt. Ich hielt den Rock hoch. »Chilton! Das ist eine sehr exklusive Privatschule«, erklärte ich. »Da kommt kaum jemand rein.« »Ist es ein Internat?« »Nein«, antwortete ich. , »Oh.« Michel klang enttäuscht. »Wie weit ist es denn entfernt?«: »Eine halbe Stunde.« »Gut, vielleicht verpasst du dann, manchmal den Bus nach Hause«, meinte er nur. Michel ist wirklich reizend.

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2 Am nächsten Abend – Mom und Sookie saßen draußen auf der Veranda und unterhielten sich – kam ich aus dem Haus, um meinen Chilton-Rock vorzuführen. Den passenden Blazer, die Hemdbluse, die speziellen Sneakers und die Krawatte musste ich noch kaufen. »Also, was meint ihr?«, wollte ich wissen. »Wow, damit siehst du richtig clever aus«, sagte Sookie. Ich sah sie prüfend an. Sie lehnte am Verandageländer, und ihr Gesicht war ganz rot. »Okay, du kriegst keinen Wein mehr«, entgegnete ich. »Mom?« »Du siehst aus, als hätte dich ein Riesenschottenrock verschluckt«, witzelte sie. »Okay, du kannst ihn kürzer machen«, sagte ich zögernd. Mom klatschte begeistert in die Hände. »Ein bisschen!«, bremste ich sie. »Nur ein bisschen!« »Okay«, entgegnete sie und wir gingen ins Haus. Sookie steuerte auf die Küche zu. Meine Mutter kann ausgezeichnet schneidern und in null Komma nichts Säume umnähen oder Reißverschlüsse einsetzen. »Ich kann gar nicht glauben, dass Freitag mein letzter Tag an der Stars Hollow High ist«, erklärte ich. »Ich weiß«, entgegnete Mom, und es klang, als könne sie es selbst nicht glauben. »Ich war den ganzen Tag so aufgeregt, dass ich sogar zum Sport gegangen bin.«

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»Im Ernst?« Das war sehr ungewöhnlich für mich. »Und ich habe Volleyball gespielt«, fügte ich hinzu. »Zusammen mit anderen Menschen?«, hakte sie ungläubig nach und holte ein Nadelkissen vom Wohnzimmertisch, während ich das Sofa ein Stück zur Seite schob, um mich darauf zu stellen. »Und weißt du, was ich dabei gelernt habe?«, fragte ich. »Was denn?« Mona fing an, den Rocksaum auf Kniehöhe nach innen zu schlagen und mit den Stecknadeln festzuheften. »Dass es sehr schlau von mir war, die ganze Zeit einen Bogen um Gruppensport zu machen, weil ich das einfach nicht kann«, erklärte ich. »Na, das hast du von mir«, entgegnete Mom lächelnd. »Wo ist denn die Pastete?« Sookie kam uns aus der Küche entgegen. »Vielleicht bei Zsa Zsa Gabor?«, meinte Mom. »Ganz genau«, bemerkte Sookie. »Ich gehe schnell mal einkaufen, ihr habt ja überhaupt nichts im Haus. Mögt ihr die mit Ente?« »Wenn da Hähnchen drin ist, auf jeden Fall«, entgegnete Mom. »Bin gleich wieder da!«, rief uns Sookie über die Schulter zu. »Bis nachher!« Mom befestigte noch ein paar Stecknadeln, dann sagte sie: »Gut, so kannst du es dir ansehen. Guck mal, ob es dir gefällt!« »Okay.« Ich sprang vom Sofa, um in mein Zimmer zu gehen. An der Treppe drehte ich mich noch einmal um. »Ich finde es klasse, auf eine Privatschule zu gehen!«

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Mom lächelte, als ich das sagte, aber sie wirkte auch irgendwie nervös. Ob sie sich Gedanken wegen der bevorstehenden Näherei machte? In meinem Zimmer stellte ich mich vor den Spiegel und betrachtete mich eingehend. Ich konnte es nicht erwarten, auf die neue Schule zu wechseln. »Und wir haben Schuluniformen«, erzählte ich Lane, als sie mir am Donnerstagnachmittag half, mein Schließfach auszuräumen. Ich nahm noch ein paar Bücher vom obersten Regalbrett, und das war’s auch schon. Nun war meine Kiste voll. »Niemand guckt danach, was für eine Jeans du trägst, weil alle gleich angezogen sind und nur ans Lernen denken«, erklärte ich. »Okay, aber zwischen intellektuell ambitioniert und Amish besteht doch noch ein gewisser Unterschied«, bemerkte Lane. Wir gingen durch den Korridor auf die große Schultür zu. Ich lächelte sie an. »Haha.« »Danke!«, entgegnete sie. »Ich habe meiner Mutter übrigens erzählt, dass du die Schule wechselst.« »Hat sie sich gefreut?«, fragte ich. »Die Party steigt am Freitag!« Lane lachte. »Oh, ich muss los. Ich bin zum Prä-PlanwagenfahrtTeetrinken mit einem zukünftigen Arzt verabredet. Wie sehe ich aus? Koreanisch?« »Koreanischer geht’s nicht!«, entgegnete ich lächelnd. »Sehr gut.« Lane klopfte auf meine Bücherkiste. »Bis dann!« »Bis dann!« Als ich mich umdrehte, um ihr hinterherzusehen, fielen ein paar Sachen von der

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Kiste herunter. Ich bückte mich, stellte sie ab und hob ein paar zerknitterte Notizblätter und ein Buch auf. Plötzlich stand direkt vor mir ein Paar Beine, und ich erschrak. »Gott, du tauchst einfach so auf wie Ruth Gordon mit der Taniswurzel! Sag doch was!« »Rosemary’s Baby«, sagte eine tiefe Stimme über mir. Ich sah auf und blickte in das Gesicht eines extrem gut aussehenden Jungen. Er war groß, mindestens einsachtzig, und hatte braunes Haar und eine lässige Frisur. Er trug eine Lederjacke und war „wirklich – wirklich! – klasse. Ich war total verblüfft, weil er die Anspielung auf Rosemary’s Baby verstanden hatte. Das war eine Revolution. »Ja«, sagte ich und richtete mich wieder auf. »Das ist ein toller Film«, sagte er mit einem lässigen Grinsen. »Du hast einen guten Geschmack.« Er warf einen Blick auf meine überfüllte Kiste. »Ziehst du um?« »Ich nicht, nur meine Bücher«, erklärte ich. »Ich bin gerade hierher gezogen. Aus Chicago«, entgegnete er. »Chicago«, wiederholte ich. Ein Stadtkind. »Da gibt’s viel Wind. Und Oprah.« »Ganz genau!«, meinte er. Ich starrte zu Boden und wusste nicht, was ich sagen sollte. Plötzlich beugte er sich vor und sagte: »Ich bin Dean.« »Hallo«, sagte ich nur. Er zog die Augenbrauen hoch, als „wolle er sagen: Fehlt da nicht noch was? Hast du nicht

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was vergessen? Aber weil mir noch nie zuvor so ein Dean begegnet war, hatte es mir kurzzeitig die Sprache verschlagen. »Oh… Rory. Ich… So heiße ich.« »Rory«, wiederholte er. »Also, eigentlich Lorelai«, erklärte ich. »Lorelai. Das gefällt mir!«, bemerkte er und lächelte immer noch. »Meine Mutter heißt auch so«, sagte ich. »Ich habe den Namen von ihr. Sie lag da so im Krankenhaus und dachte darüber nach, dass Männer ihre Namen immer nur an die Söhne weitergeben, du verstehst? Warum also nicht auch mal eine Frau? Der Feminismus ist über sie gekommen, sagt sie immer. Aber wenn du meine Meinung hören willst, glaube ich, bei der Entscheidung war auch eine Menge Demerol im Spiel.« Ich holte Luft und sah Dean an. »Sonst rede ich nicht so viel.« Und doch tat ich es – gegen alle Logik. Wir standen noch ein paar Sekunden herum, ohne etwas zu sagen. »Also dann, ich muss los«, sagte er schließlich. »Klar, natürlich«, entgegnete ich lässig. Nach so einem Vortrag würde wohl jeder das Weite suchen. »Ich will mich nach einem Job umsehen«, erklärte Dean. »Okay, super«, sagte ich. Er ging an mir vorbei zum Ausgang. »Du solltest mit Miss Patty sprechen«, rief ich ihm hinterher. »Was?« Dean drehte sich zu mir um. »Wegen dem Job! Sprich mit Miss Patty!«, sagte ich. »Sie ist Tanzlehrerin. Sie war sogar früher

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mal am Broadway«, fügte ich hinzu. Dean sah mich verwirrt an. »Ich… ich habe mit Tanzen nichts am Hut.« »Das meine ich doch gar nicht«, entgegnete ich. »Sie ist immer über alles informiert, was in der Stadt los ist. Wenn jemand Jobs zu vergeben hat, dann weiß sie das.« »Oh, das ist super.« Dean lächelte und wirkte irgendwie verlegen. »Danke.« Ich blickte wieder zu Boden, wie ich es in den letzten Minuten schon häufiger getan hatte. Dean machte kehrt und kam zu mir zurück. »Hey, was machst du denn jetzt?«, fragte er. »Nichts Besonderes.« Ich hielt die zerknitterten Zettel hoch. »Das sollte ich wohl irgendwo entsorgen.« »Hm, vielleicht könntest du mir zeigen, wo ich diese Miss Patty finde?«, bat Dean. »Ja, ich glaube schon. Ich habe gerade nichts Wichtiges zu erledigen. Gehen wir!« Dean nahm meine große Kiste mit den Büchern und Papieren, und wir verließen gemeinsam die Schule. Es war ein wunderschöner Herbstnachmittag. »Bist du hier aufgewachsen?«, fragte Dean, als wir über die Wiese vor der Schule gingen. »Ja… also… eigentlich schon«, stammelte ich. »Geboren bin ich aber in Hartford.« »Das ist ja nicht so weit weg«, bemerkte Dean. »Dreißig Minuten, wenn nicht viel Verkehr ist«, sagte ich. »Wirklich?« Er schien unheimlich interessiert, was ziemlich verwunderlich war, weil ich doch nur von Fahrtzeiten sprach.

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»Ich habe die Zeit gestoppt«, erklärte ich. »Na dann!« Dean lächelte und wir gingen weiter. »Magst du gern Kuchen?«, fragte ich, als wir an der Bäckerei vorbeikamen. »Was?« »Hier gibt es ziemlich guten Kuchen«, erklärte ich. »Der ist total… rund.« Was redete ich da überhaupt? Vielleicht sollte ich lieber den Mund halten. Er war absolut unzuverlässig geworden, und ich konnte mich anscheinend nicht mehr auf ihn verlassen. Dean lachte. »Okay, das merke ich mir.« Er war sehr freundlich, wenn man bedenkt, wie abgedreht ich ihm vorkommen musste. »Ja. Gut. Schreib es dir auf]«, sagte ich. »Du willst doch nicht vergessen, wo es die runden Kuchen gibt.« Einige Sekunden lang war es sehr still. Dann fragte Dean: »Und wie gefällt dir Moby Dick?« »Oh, ziemlich gut«, antwortete ich. Ich war sehr erleichtert, dass wir das Kuchen-Thema hinter uns hatten. »Ja?«, meinte Dean. Ich lächelte. »Ja, ist mein erster Melville.« »Cool«, fand Dean. »Ich meine, es ist zwar irgendwie klischeehaft, wenn man als erstes Buch von ihm ausgerechnet Moby Dick liest, aber…« Ich blieb abrupt stehen. »Hey, woher weißt du überhaupt, dass ich gerade Moby Dick lese?« Dean drehte sich zu mir und sah mich an. Er wirkte verlegen. »Also, ahm, ich habe dich beobachtet.«

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Was? »Mich beobachtet?«, wiederholte ich ungläubig. »Ja, schon, aber nicht, wie du jetzt denkst – nicht spannermäßig«, sagte er. »Ich… Du bist mir einfach aufgefallen.« »Ich?« Ich konnte es nicht glauben. »Ja«, gestand er. »Wann?«, hakte ich nach. Dean seufzte. »Jeden Tag. Nach der Schule kommst du raus und setzt dich unter den Baum da vorn und dann liest du. Letzte Woche war es Madame Bovary. Diese Woche ist es Moby Dick.« Ich konnte es immer noch nicht fassen. »Aber warum…?« »Weil du ein richtiger Blickfang bist«, sagte er. Es wollte mir nicht in den Kopf, wie er einfach da stehen und so etwas aussprechen konnte, ohne verlegen zu werden. »Und weil du eine unglaubliche Konzentrationsfähigkeit hast.« »Was?« »Letzten Freitag haben hier zwei Jungs Ball gespielt und einer von ihnen hat ihn mitten ins Gesicht bekommen. Es war eine Riesensauerei«, erklärte Dean. »Überall Blut! Die Krankenschwester kam raus, es war das reinste Chaos, und seine Freundin flippte völlig aus – und du hast einfach dagesessen und gelesen. Ich meine, du hast nicht mal aufgesehen! Ich habe noch nie in meinem ganzen Leben gesehen, wie jemand so vertieft in ein Buch sein kann. Dieses Mädchen muss ich kennen lernen, habe ich gedacht.« Ich umklammerte nervös die Zettel in meiner

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Hand. Die Vorstellung, von Dean beobachtet zu werden, war irgendwie aufregend und toll, aber ich musste mich erstmal daran gewöhnen. »Vielleicht habe ich auch nicht aufgesehen, weil ich unglaublich egozentrisch bin«, entgegnete ich. »Vielleicht.« Dean zögerte. »Aber das bezweifle ich.« Er sah mir direkt in die Augen und lächelte. Ich konnte den intensiven Blickkontakt nicht aushalten und sah weg. Ich musste unbedingt das Thema wechseln. »Also… habe ich dich schon gefragt, ob du Kuchen magst?« Ich setzte mich wieder in Bewegung. »Ja, das hast du.« Dean kam an meine Seite. »Oh! Weil… da in dieser Bäckerei, da gibt es wirklich guten Kuchen«, sagte ich. Dean lachte nur. Er war clever, witzig und sehr, sehr süß.

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3 »Du bist spät nach Hause gekommen«, sagte Mom. Wir saßen bei Luke, stocherten in unseren Beilagensalaten und warteten auf die bestellten Cheeseburger. »Ja, ich war noch in der Bibliothek«, entgegnete ich gedankenverloren. Ich dachte über Chilton und Dean nach und darüber, dass Dean nicht nach Chilton ging. »Oh.« Auch Mom wirkte irgendwie zerstreut. Sie nahm einen Schluck Kaffee und sagte: »Ich habe ganz vergessen, dass wir morgen Abend zum Essen zu deinen Großeltern fahren.« »Tatsächlich?«, fragte ich. Meine Großeltern, das sind Emily und Richard Gilmore. Obwohl sie nur eine halbe Stunde entfernt in Hartford leben, sehen wir sie nicht oft. Daher überraschte mich Moms Aussage. »Hmhm«, machte Mom. »Aber es ist September«, bemerkte ich. »Ja und?« »Was für Feiertage gibt es denn im September?«, wollte ich wissen. Wir fahren nämlich nur an Feiertagen zu meinen Großeltern. An hohen Feiertagen. »Das hat nichts damit zu tun«, entgegnete Mum zunehmend gereizt. »Es ist einfach nur ein Essen, okay?« »Schon gut«, lenkte ich ein. »Sorry!« Weshalb war sie nur so gestresst? Da brachte Luke unsere Burger. »Von Rindfleisch kann man sterben«, sagte er und

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stellte uns die Teller vor die Nase. »Guten Appetit!« »Ich habe deinen Rock heute geändert«, sagte Mom leichthin, als Luke wieder hinter der Theke verschwand. Ich reagierte nicht. Ich dachte immer noch an Dean. Was, wenn er eine andere fand, die er bei der Moby-Dick-Lektüre beobachten konnte? Mom räusperte sich. »Ein anerkennendes Grunzen wäre nicht schlecht«, unterbrach sie meinen Gedankenfluss. »Ich verstehe nicht, warum wir morgen Abend zu Grandma und Grandpa fahren. Und wenn ich etwas vorgehabt hätte? Du hast mich nicht mal gefragt!« »Wenn du etwas vorgehabt hättest, hätte ich es gewusst«, entgegnete Mom. »Wie denn das?« »Du hättest es mir gesagt«, meinte sie. »Ich sage dir doch nicht alles! Ich habe meine eigenen… Sachen«, erwiderte ich patzig. »Schön.« Sie zuckte mit den Schultern. »Du hast also Sachen.« »Genau. Ich habe Sachen«, wiederholte ich. Mom sah mich durchdringend an. »Hey, ich habe heute Abend Anspruch darauf, die Hexe zu sein.« »Nur heute Abend?«, murmelte ich vor mich hin. Jetzt war sie wirklich sauer auf mich. »Was ist eigentlich los mit dir?«, fragte sie. »Ich bin mir nicht so sicher, ob ich nach Chilton will«, sagte ich. »Was?« Mom war total perplex.

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»Das Timing ist einfach sehr schlecht«, erklärte ich. »Das Timing ist schlecht?« »Und die lange Busfahrt nach Hartford und zurück? Das sind jedes Mal dreißig Minuten.« Sie schüttelte den Kopf. »Ich kann nicht glauben, was ich da höre.« »Und ich finde, wir sollten uns solche Ausgaben im Moment lieber sparen«, führte ich aus. »Ich meine, Chilton kostet doch eine ganze Menge.« »Oh, das weißt du doch gar nicht«, entgegnete Mom. »Du solltest dein Geld lieber sparen, damit du mit Sookie bald einen neuen Laden aufmachen kannst«, sagte ich, denn ich war um unser beider Wohl bedacht. Ich konnte mit Dean an der Stars Hollow High bleiben, und Mom konnte sich ihr Restaurant kaufen. »Und was ist mit dem College?«, fragte sie verwirrt. »Was ist mit Harvard?« »Ich könnte Harvard doch auch schaffen, wenn ich bleibe, wo ich bin«, erklärte ich. »Okay, genug jetzt! Schluss mit diesem unsinnigen Geschwätz!«, fuhr sie auf. »Ich weiß deine Sorge zu schätzen, aber mit dem Geld gibt es keine Probleme.« »Aber ich möchte nicht hin«, sagte ich. »Warum?«, fragte Mom. »Weil ich nicht möchte!« Weil ich gerade diesen unglaublichen Jungen kennen gelernt habe und er nicht nach Chilton geht, dachte ich. »Ich… ich muss hier raus.« Mom schob ihren Stuhl nach hinten. Sie flippte total aus, schnappte sich ihren Mantel und rannte zur Tür.

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»Wir müssen noch bezahlen!«, rief ich. Sie kam zurück und warf ein paar Scheine auf den Tisch. Ich nahm mir meinen Mantel und folgte ihr. So ein Streit kommt bei uns eigentlich nie vor – diese Chilton-Sache förderte das Schlechteste in uns beiden zutage. Plötzlich hörte ich hölzerne Wagenräder über den Asphalt klappern. Als wir auf Miss Pattys Ballettschule zugingen und die Straße überquerten, fuhr der von Pferden gezogene Planwagen an uns vorbei. Ich lächelte Lane zu, die ganz hinten auf dem Karren saß, eingekeilt zwischen ihren beiden Begleitern. Der eine muss ihr Date sein und der andere der ältere Bruder, dachte ich. Einer trug einen beigefarbenen Wollmantel mit Knebelknöpfen und der zweite einen beigefarbenen Trenchcoat. Es war alles ziemlich beige. Keiner von beiden redete mit Lane, als sie an uns vorbeifuhren, und sie sahen allesamt total unglücklich und jämmerlich aus – genau wie ich mich fühlte. Die Türen von Miss Pattys Tanzstudio standen weit offen. Sie gab gerade einer Gruppe von sechsjährigen Mädchen Ballettunterricht. »Eins, zwei, drei – eins, zwei, drei«, rief sie. »Das ist ein Walzer, meine Damen!« »Oh, Rory!« Ihr Gesicht leuchtete auf, als sie mich erblickte. »Gut, dass ich dich sehe! Ich glaube, ich habe einen Job für deinen Freund gefunden.« »Was für ein Freund?«, fragte Mom sofort. »Im Supermarkt wird eine Aushilfe gesucht«, erklärte Miss Patty. »Ich habe schon mit Taylor Doose darüber gesprochen. Schick den Jungen

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einfach morgen hin«, fügte sie hinzu und nahm einen Zug von ihrer Zigarette. »Okay«, sagte ich leise. »Danke.« »Was für ein Freund?«, fragte Mom noch einmal. »Oh, er ist wirklich süß. Du hast einen guten Geschmack«, meinte Miss Patty und lächelte mich an. Dann ging sie zu ihren Miniatur-Ballerinas zurück und rief: »Finger in die Luft, nicht in die Nase! Eins, zwei, drei, eins, zwei, drei!« Ich machte mich eilends auf den Heimweg. Wenn ich schnell genug ging, konnte ich Moms unangenehmen Fragen vielleicht ausweichen. Aber sie heftete sich umgehend an meine Fersen. »Da musst du noch viel schneller laufen! Du müsstest so schnell laufen wie Griffith-Joyner, wenn du mir entkommen willst!«, rief sie mir hinterher. Als ich zu Hause ankam, knallte ich die Haustür hinter mir ins Schloss. Aber Mom war auch schon da und öffnete sie wieder. »Es geht also um einen Jungen«, sagte sie und knallte die Tür zu, genau wie ich es zuvor getan hatte. »Natürlich! Nicht zu fassen, dass ich es nicht gemerkt habe! Das ganze Gerede über das Geld und die lange Busfahrt. Du hast was mit einem Jungen laufen, und deshalb willst du die Schule nicht wechseln!« Ich packte alle Bücher und Blöcke, die ich auf dem Sofa gelassen hatte, in meinen Rucksack. »Ich gehe schlafen«, sagte ich nur. Ich wollte dieses Gespräch nicht. »Gott, bin ich blöd!«, schimpfte Mom weiter. »Das hätte ich mir gleich denken müssen!

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Schließlich bist du genau wie ich!« »Bin ich nicht!«, erwiderte ich, drehte mich um und versuchte, mich an ihr vorbei in mein Zimmer zu verdrücken. »Tatsächlich? Du willst dir eine tolle Chance im Leben durch die Lappen gehen lassen, um mit einem Jungen zusammenzusein!«, sagte Mom. »Das klingt für meinen Geschmack sehr nach mir!« »Wenn du das sagst«, entgegnete ich. Endlich war ich an ihr vorbei und lief auf mein Zimmer zu. »Wer ist es denn?«, fragte Mom und kam mir hinterher. »Niemand«, entgegnete ich. »Dunkles Haar? Schöne Augen? Sieht ein bisschen draufgängerisch aus?«, zählte sie auf. »Das Gespräch ist beendet!« »Tattoos sind auch gut!«, rief Mom mir nach. Ich drehte mich im Flur um. »Ich will die Schule nicht wechseln – und zwar aus den Gründen, die ich dir schon tausendmal genannt habe. Wenn du mir nicht glaubst, ist das dein Problem. Gute Nacht!« »Hat er ein Motorrad?«, schrie Mom. »Wenn du nämlich dein Leben wegwerfen willst – das geht mit einem Motorrad besonders gut!« Ich ging in mein Zimmer und schloss die Tür. Ich wollte nicht darüber reden. Dean begegnet zu sein war eine überraschende, aufregende Sache. Und nun redete Mom plötzlich über ihn, als wäre er ein übler Ganove, der mich in seine Höhle locken wollte. Ein paar Minuten später, als ich mich fürs Schlafengehen fertig machte, ging

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meine Tür auf. »Das eben ist blendend gelaufen, findest du nicht?«, fragte Mom und kam herein. »Danke, dass du angeklopft hast!«, gab ich zurück und warf meinen Sweater aufs Bett. »Hör mal, können wir nicht noch mal von vorn anfangen?«, bat sie. »Okay? Du erzählst mir von dem Jungen, und ich verspreche, ich gehe nicht in die Luft.« Ich setzte mich schweigend auf die Bettkante und schnürte meine Stiefel auf. »Rory, bitte rede mit mir!«, bat Mom und setzte sich ans Fußende. Aber ich wollte nicht mit ihr reden. »Okay, dann rede ich eben! Ich will nicht, dass du mich falsch verstehst. Jungs sind super! Ich bin ein großer Fan von Jungs. Man wird schließlich nicht mit sechzehn schwanger, wenn einem Jungs egal sind«, sagte sie. »Aber die Jungs wird es immer geben, hörst du? Die Schule nicht. Sie ist viel wichtiger. Sie muss dir einfach wichtiger sein.« Ich nahm Moby Dick zur Hand. »Ich will jetzt ins Bett«, ließ ich sie wissen. »Rory.« Mom rutschte zu mir herüber. »Du warst immer die Vernünftige in diesem Haus, hm? Daran musst du jetzt festhalten. Du wirst dich später in den Hintern beißen, wenn du dir diese Chance entgehen lässt.« Ich legte das Buch wieder zur Seite. »Na ja, es ist ja mein Hintern«, sagte ich und drehte mich auf die Seite. »Gut gekontert«, bemerkte Mom. »Danke.« »Keine Ursache.« Sie zögerte. »Rory… komm schon…«

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»Ich will nicht darüber reden!«, sagte ich frustriert. »Würdest du mich bitte, bitte allein lassen?« »Okay. Also gut.« Sie stand auf. »Wie du weißt, haben wir in diesem Haus immer alles demokratisch geregelt. Wir haben alle Entscheidungen gemeinsam getroffen. Aber jetzt werde ich wohl den Muttertrumpf ausspielen müssen.« Sie holte tief Luft. »Du wirst nach Chilton gehen, ob du willst oder nicht. Am Montagmorgen fährst du hin. Ende der Geschichte.« »Das werden wir ja sehen!«, erwiderte ich mit Tränen in den Augen. »Ja, das werden wir!« Mom verließ das Zimmer und knallte die Tür zu. Ich war total „wütend. Wir hatten uns noch nie gestritten, und ich war nicht daran gewöhnt, wie schlecht es sich anfühlte, wenn Mom sauer auf mich war. Aber ich konnte nicht aufhören, an Dean zu denken und daran, wie mein Wechsel nach Chilton alles ruinieren würde, was vielleicht zwischen uns entstehen konnte. Ich schaltete das Radio ein, um mich abzulenken. Aber es wurde gerade das Lied von Macy Gray gespielt, das Mom und ich so gern hören, und so ging es mir nur noch schlechter. Innerhalb der letzten vierundzwanzig Stunden hatten sich viele merkwürdige Dinge ereignet. Ich fing an, mir zu wünschen, niemals eine Zusage von Chilton bekommen zu haben. Wäre ich nicht angenommen worden, hätte ich nun einen Haufen Probleme weniger.

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4 »Gehen wir jetzt rein oder bleiben wir hier draußen und spielen Das Mädchen mit den Schwefelhölzern?«, fragte ich Mom, als wir am Freitagabend bei meinen Großeltern vor dem Haus standen. Wir hielten uns dort schon ein paar Minuten auf und hatten noch nicht geklingelt. Das Haus ist sehr groß, sehr beeindruckend. Davor sind mehrere Brunnen und zwei Löwenskulpturen, die die Eingangstür bewachen. Das Ganze ist eher ein kleines Privatmuseum als ein normales Wohnhaus. Wir waren den ganzen Weg zu meinen Großeltern schweigend gefahren – es war die längste halbe Stunde, die ich je erlebt hatte. Auch am Nachmittag hatten wir kaum miteinander geredet. Das war für uns sehr ungewöhnlich. Wir beide reden unheimlich gern. Eigentlich tun wir das die ganze Zeit. »Okay, hör mal«, sagte Mom schließlich. »Ich weiß, da ist diese Sache zwischen uns und du hasst mich. Aber du musst dich benehmen, wenigstens beim Dinner. Auf dem Heimweg kannst du dir dann ‘ne dicke Zigarre anzünden. Einverstanden?« Ich willigte ein. Endlich drückte Mom auf die Klingel. Sekunden später öffnete meine Großmutter die schwere Eichentür und begrüßte uns mit einem Lächeln. Sie sah wieder einmal perfekt aus. Ihr Kostüm war wie immer nach der aktuellen Mode, das Haar sorgfältig frisiert, und sie trug Pumps mit

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hohen Absätzen und Nylonstrümpfe. Sie wäre sofort bereit, wenn mitten in der Nacht der Präsident zum Tee hereinschneien würde. In dieser Hinsicht ist sie wirklich beeindruckend. »Hallo Grandma!«, sagte ich lächelnd. »Na, ihr seid ja richtig pünktlich«, meinte sie. »Ja, es war überhaupt kein Verkehr«, entgegnete Mona, als wir das Haus betraten. »Ich kann euch gar nicht sagen, was für eine Freude es ist, euch hier zu haben!« Grandma nahm uns die Mäntel ab. »Oh ja, wir freuen uns auch sehr«, entgegnete Mom. Meine Großmutter warf einen Blick auf den Kaffeepappbecher, den Mom in der Hand hielt. »Willst du damit Geld sammeln oder kann ich ihn wegwerfen?« »Oh.« Mom sah sich um und wollte den Becher in den Abfallkorb an der Tür werfen. »In der Küche bitte!«, befahl Grandma. »Oh – tut mir Leid«, sagte Mom. Es war schon komisch, wie sie manchmal miteinander redeten. Als wäre Mom erst zehn oder so und müsste ständig wegen irgendetwas ermahnt werden. Großmutter legte mir einen Arm um die Schultern und wir gingen ins Wohnzimmer. »Ich will alles über Chilton erfahren!«, sagte sie aufgeregt. »Ich habe ja noch nicht mal angefangen«, entgegnete ich. Ich wusste immer noch nicht, ob ich wechseln sollte. Das Wohnzimmer meiner Großeltern ist ziemlich elegant mit seinem Kronleuchter aus Kristallglas und dem antiken Mobiliar. Allein die Einrichtung ist teurer als unser

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ganzes Haus! »Richard, sieh nur, wer da ist!«, rief Großmutter. Mein Großvater saß auf einem der Sofas und las Zeitung. Er schob die Lesebrille ein Stück die Nase hinunter, um mich anzusehen. »Rory!«, begrüßte er mich. »Du bist aber groß!« Er trug eine Hose aus Schurwolle, ein Oberhemd mit Fliege und eine Strickjacke – sein Standardoutfit, wenn er keinen Anzug trägt. Wahrscheinlich achtet er so genau auf Millimeter und Zentimeter, weil er selbst ziemlich groß ist. »Kann schon sein«, sagte ich und zuckte mit den Schultern. »Wie groß genau?«, fragte er. »Einsfünfundsechzig«, schätzte ich. Ich war schon eine ganze Zeit lang nicht mehr gemessen worden. »Das ist groß«, stellte Großvater fest, als hätte ich etwas Besonderes erreicht. Er drehte sich zu meiner Großmutter um, die an dem Tisch hinter dem Sofa die Drinks zurechtmachte. »Sie ist ganz schön groß!« »Hallo Dad!«, sagte Mom im Hereinkommen. »Lorelai, deine Tochter ist groß«, begrüßte Großvater sie. »Oh ja, ich weiß. Es ist beängstigend«, erwiderte Mom. »Wir haben schon daran gedacht, das mal im M.I.T. wissenschaftlich untersuchen zu lassen.« Großvater sah sie an, als wäre sie verrückt, und ich verkniff mir ein Grinsen. »Ach ja«, sagte er nur. Dann widmete er sich wieder seiner Zeitung. »Wer möchte denn ein Glas Champagner?«,

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fragte meine Großmutter. Sie kam mit einem Silbertablett mit vier Sektflöten aus Kristallglas zu uns herüber. Ein Besuch bei meinen Großeltern ist immer wie eine Reise in ein anderes Universum – ihr Leben ist ganz anders als unseres. »Oh, das ist aber schick!«, sagte Mom und nahm sich ein Glas. Ich nahm mir auch eins. »Nun, es passiert ja auch nicht so oft, dass ich von meinen Mädchen an einem Tag Besuch bekomme, an dem die Banken geöffnet sind«, sagte Grandma. Eins muss man meiner Großmutter lassen: Sie ist wirklich sehr witzig. Das hat Mom bestimmt von ihr. Aber was Großmutters Witz über die geöffneten Banken anging, fragte ich mich immer noch, warum wir sie an einem ganz normalen Freitag besuchten. Sollte dies eine Feier wegen meines Wechsels nach Chilton werden? Wenn ja, warum hatte Mom mir nichts davon gesagt? »Lasst uns anstoßen!« Grandma hob ihr Glas. »Auf Rory und auf Chilton und auf einen aufregenden neuen Lebensabschnitt!« Lächelnd prostete sie uns zu und nahm einen Schluck Champagner. »Prost, Prost!«, sagte mein Großvater, sah aber nicht von der Zeitung auf. Er ist regelrecht besessen von den Wirtschaftsnachrichten. Selbst wenn er auf einer einsamen Insel stranden würde, fände er noch eine Möglichkeit, an seine Zeitung zu kommen. Als ich einen Schluck Champagner nahm, merkte ich, wie meine Großmutter mich ein

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wenig zu strahlend und stolz anlächelte – als erwarte sie irgendetwas. Also ging es tatsächlich um Chilton! Das alles wurde mir langsam zu viel. Ich ‘wollte nicht mal nach Chilton gehen, und sie redete schon von einem aufregenden neuen Lebensabschnitt. Als Grandma, Mom und ich noch einmal anstießen, kam ich mir vor wie eine große Heuchlerin. »Also, setzen wir uns! Setzt euch bitte alle!«, sagte Grandma. Ich setzte mich neben meinen Großvater, und Großmutter setzte sich mir gegenüber. »Das ist einfach wunderbar!«, rief sie. »Bildung ist Jas Wichtigste auf der Welt, abgesehen von der Familie.« »Und Pastete«, fügte meine Mutter grinsend hinzu. Meine Großeltern starrten sie an. Ich ebenfalls. Sie liebt Pasteten, aber trotzdem. »War ein Witz«, erklärte sie und setzte sich neben Großmutter. »Ein Witz!« »Aha.« Meine Großmutter nickte kurz und wandte sich von Mom ab. Beide tranken einen großen Schluck Champagner. Eisiges Schweigen breitete sich im Wohnzimmer aus. Es war, als sei uns allen im selben Moment der Gesprächsstoff ausgegangen. Hoffentlich ist das Essen bald fertig, dachte ich. Mein Großvater gab mir einen Teil von seiner Wirtschaftszeitung, und ich fing an, über die Börse zu lesen. Der Abend drohte reichlich zäh zu werden. »Rory, wie schmeckt dir das Lamm?«, fragte meine Großmutter beim Essen.

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»Es ist gut«, antwortete ich. Auf dem Tisch gruppierten sich weiße Kerzen um den Blumenschmuck in der Mitte. Im Kamin hinter meinem Großvater brannte Feuer. »Ist das Fleisch vielleicht zu trocken?«, wollte meine Großmutter wissen. Ich schüttelte den Kopf. »Nein, es ist perfekt.« »Aber den Kartoffeln könnte ein bisschen Salz nicht schaden«, bemerkte meine Mutter. »Wie bitte?« Da es so aussah, als würden sie einen Streit über Salz und Kartoffeln vom Zaun brechen, wechselte ich rasch das Thema. »Und, Grandpa, wie läuft’s in der Versicherungsbranche?« Er seufzte und schluckte einen Bissen hinunter. »Wenn die Leute sterben, bezahlen wir. Wenn sie ihr Auto kaputtfahren, bezahlen wir. Und wenn sie ein Bein verlieren, bezahlen wir auch.« »Na, immerhin hast du einen guten neuen Slogan!«, scherzte Mom. Ich grinste. »Und wie läuft es im Motel?«, fragte Großvater Mom. »Im Gasthaus?«, berichtigte ihn Mom. »Es läuft prima.« Sie nahm einen Schluck Wein. »Lorelai ist jetzt Geschäftsführerin«, sagte Grandma. »Ist das nicht großartig?« »Apropos – Christopher hat gestern angerufen«, erklärte Grandpa und führte sein Weinglas an den Mund. Ich war überrascht, dass er meinen Vater erwähnte. Ich sprach höchstens einmal in der Woche mit meinem Vater – er war viel unterwegs und schaute nicht oft bei uns vorbei, um uns zu erzählen, was er gerade so trieb.

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»Apropos? Was war das denn für eine Überleitung?«, fragte Mom. Sie klang genervt, und das konnte ich verstehen. Ich sah Großvater nervös an und fragte mich, warum er davon angefangen hatte. »Ihm geht es sehr gut in Kalifornien«, fuhr er fort. »Er macht nächsten Monat eine eigene Internet-Firma auf. Damit kann er es „weit bringen!« Er sah mich an. »Ein sehr begabter Mann, dein Vater.« »Das weiß sie«, ließ Mom verlauten. »Er war schon immer clever, dieser Junge«, sagte Grandpa und lächelte mich an. »Das musst du von ihm haben.« Mom sah Grandpa böse an. »Apropos – ich werde mir eine Cola holen.« Sie legte ihre Serviette auf den Tisch und stand auf. »Oder ein Messer.« Damit verschwand sie in der Küche. Ich konnte nicht glauben, was mein Großvater da gerade gesagt hatte. Es war eine Beleidigung zu behaupten, ich hätte meine Intelligenz von meinem Vater, wo er doch nie für mich da war. Ich saß ein paar Sekunden lang da und fühlte mich sehr, sehr unwohl in meiner Haut. Mir war ganz furchtbar zumute, wenn ich an Mom dachte, und ich wusste, dass es ihr noch viel schlimmer ging. Ich hörte, wie sie in der Küche mit dem Geschirr klapperte. Anscheinend wollte sie den Abwasch machen. Ich legte meine Gabel ab und erhob mich. »Ich glaube, ich werde mal mit ihr reden…« »Nein, ich gehe.« Großmutter stand auf. »Du bleibst hier und leistest deinem Großvater Gesellschaft.«

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Gehorsam setzte ich mich wieder und wartete ab, was geschah. Aber ich hätte genauso gut mit Grandma in die Küche gehen können, weil ich jedes Wort verstand, das sie und Mom wechselten. »Und so soll es jetzt jeden Freitagabend gehen?«, klagte Mom. »Ich komme zu Besuch, um mich von euch beiden angreifen zu lassen?« Jeden Freitagabend? Wovon redete sie überhaupt? »Jetzt übertreibst du aber!«, meinte Grandma. »Warst du gerade auch im Esszimmer?«, gab Mom zurück. »Ja, das war ich«, entgegnete Grandma. »Und ich glaube, du hast die Äußerung deines Vaters in den falschen Hals gekriegt.« »In den falschen Hals? Was war daran denn missverständlich? Wie hätte ich es denn sonst verstehen sollen?«, fuhr Mom auf. Ich versuchte wegzuhören. »Warum hackt ihr auf allem herum, was ich sage?«, wollte Mom wissen. »Das ist doch absurd! Du hast den ganzen Abend kaum etwas gesagt«, entgegnete Grandma. »Das ist nicht wahr!«, widersprach Mom. »Du hast >Pastete< gesagt«, räumte Grandma ein. »Ach, komm schon«, sagte Mom. »Das hast du! Ich habe von dir nur das Wort >Pastete< gehört.« Dann bekam ich mit, wie Mom fragte: »Warum musste er von Christopher anfangen? War das wirklich nötig?«

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»Er mag Christopher«, erklärte Grandma ruhig. »Das ist ja wirklich interessant!« Moms Stimme wurde immer lauter. »Denn wenn ich mich recht entsinne, mochte Dad Christopher nicht sonderlich, als ich von ihm schwanger wurde!« Ich spürte, wie sich das ganze Abendessen in meinem Magen verklumpte. Jetzt war ich das Thema des Streits. Indirekt zwar, aber es ging um mich. »Oh, also bitte! Du warst sechzehn. Was sollten wir denn machen? Eine Party schmeißen?«, entgegnete Großmutter. Mom hatte mir einmal davon erzählt, was ihre Eltern von der Entscheidung, die sie für ihr Leben getroffen hatte, gehalten hatten, aber ich konnte nicht glauben, dass sie so sehr dagegen gewesen waren. Schließlich war doch alles gut ausgegangen, für uns beide. »Wir waren enttäuscht«, sagte Grandma. »Ihr beide hattet noch eine so große Zukunft vor euch.« »Ja, und indem wir nicht geheiratet haben, haben wir uns beide diese große Zukunft erhalten«, entgegnete Mom. »Wenn man schwanger ist, muss man heiraten«, erwiderte Grandma störrisch. »Ein Kind braucht eine Mutter und einen Vater.« Ich wäre am liebsten in die Küche gerannt, um zu widersprechen. Ich liebe meinen Vater, und es wäre toll, wenn er in unserer Nähe wohnen würde. Aber Mom und ich, wir kommen wirklich gut allein klar. Sehr gut sogar. Wir haben ein besseres Mutter-Tochter-Verhältnis als alle anderen. Sie ist meine beste Freundin.

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»Mom, glaubst du denn im Ernst, dass Christopher jetzt eine eigene Firma gründen könnte, wenn wir geheiratet hätten? Glaubst du, aus ihm wäre überhaupt irgendetwas geworden?«, fragte Mom. »Ja, das glaube ich«, antwortete Grandma. »Dein Vater hätte ihn in der Versicherungsbranche untergebracht, und ihr hättet jetzt ein schönes Leben.« »Er wollte aber nicht in die Versicherungsbranche und ich habe ein schönes Leben!«, widersprach Mom. Sie war wütend und frustriert zugleich. Ich musste ihr zustimmen – wir hatten wirklich ein schönes Leben. »Oh ja, ganz richtig«, schimpfte Grandma. »Weit weg von uns. Du bist mit der Kleinen abgehauen und hast uns komplett aus deinem Leben ausgeschlossen.« »Ihr wolltet mich kontrollieren!«, behauptete Mom. »Du warst doch noch ein Kind«, entgegnete Grandma. »Ich habe in dem Augenblick aufgehört, ein Kind zu sein, als die Linie auf dem Teststreifen sich blau verfärbte, okay?« Ich spürte, wie ich errötete, und Grandpa räusperte sich. Wir wären wohl beide am liebsten unter den Tisch gekrochen. »Ich musste herausfinden, wie das Leben funktioniert. Ich habe einen guten Job gefunden…« »Als Dienstmädchen«, meinte Grandma abschätzig. »Mit deiner Intelligenz und deinen Fähigkeiten!«

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»Ich habe mich hochgearbeitet. Jetzt leite ich das Gasthaus«, sagte Mom. »Ich habe mir ohne Hilfe von außen mein eigenes Leben aufgebaut.« »Ja, und überleg dir mal, wo du jetzt wärst, wenn du ein bisschen Hilfe angenommen hättest. Hm? Und wo Rory sein könnte! Aber nein! Du warst ja immer zu stolz, um irgendetwas anzunehmen«, beschwerte sich Grandma. »Nun, ich war nicht zu stolz, euch zu besuchen und um Geld für die Schulausbildung meiner Tochter zu bitten, nicht wahr?«, erwiderte Mom. Was? Darum ging es also! Ich war total geschockt. Ich konnte nicht glauben, was Mom getan hatte – sie legte doch so großen Wert auf ihre Unabhängigkeit. Wow! Im Grunde war also ich der Auslöser des ganzen Streits. Warum hatte Mom mir nicht gesagt, dass wir uns Chilton nicht leisten konnten? »Aber du bist zu stolz, um ihr zu sagen, wo du es herbekommst, nicht wahr?«, meinte Grandma. »Also gut. Du hast deinen kostbaren Stolz und ich meine wöchentlichen Abendessen.« Wöchentliche Abendessen! Also stimmte es. Wir mussten von nun an jeden Freitag antreten. Ich wusste nicht, was ich tun sollte. In die Küche gehen und mich bei Grandma für das Chilton-Geld bedanken? Oder mich zuerst einmal dafür entschuldigen, dass ich nach Chilton hatte gehen wollen? Ich sah Grandpa in der Hoffnung an, dass er vielleicht einen Vorschlag hatte, aber von ihm kam nichts. Er war eingeschlafen. Mom und ich verließen etwa zehn Minuten

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später das Haus, nachdem wir so getan hatten, als äßen wir von der zwölfschichtigen Schokoladentorte. Wie ich feststellen musste, spielte es im Haus meiner Großeltern offenbar keine Rolle, ob es Streit gegeben hatte oder niemand etwas sagte – den Nachtisch gab es trotzdem. Als wir draußen waren, lehnte sich Mom neben der Tür an die Hauswand. »Mom?«, fragte ich besorgt. Sie sah sehr blass aus; als würde sie jeden Augenblick in Ohnmacht fallen. Sie hatte nicht viel gegessen, wenn überhaupt. Doch sie lächelte mich an. »Alles in Ordnung. Ich… Sehe ich jetzt vielleicht kleiner aus als vorhin?«, fragte sie. »So fühle ich mich nämlich.« »Hey… wie war’s, wenn ich dich auf einen Kaffee einlade?«, schlug ich vor. »Oh ja!« Sie legte mir einen Arm um die Schultern, und wir gingen zusammen die Treppe hinunter. »Aber du fährst, ja? Ich komme mit meinen Füßen bestimmt nicht an die Pedalen.« Als wir etwa eine halbe Stunde später auf Luke’s Diner zusteuerten, wollte ich das Eis brechen. Wie schon hinwärts hatten wir auch auf dem Rückweg nicht viel miteinander geredet. »Nettes Essen bei den Großeltern«, sagte ich betont beiläufig. »Oh ja, so viel haben wir noch nie verputzt«, entgegnete Mom mit matter Stimme. »Du hast dich anscheinend nett mit Grandma unterhalten«, bemerkte ich lächelnd. Mom blieb vor dem Eingang stehen. »Wie viel hast du gehört?« »Ach, nicht viel«, antwortete ich

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schulterzuckend. »Nur ein paar Gesprächsfetzen.« »Gesprächsfetzen«, wiederholte sie. »Kleine Bruchstücke«, fügte ich hinzu. »Also im Prinzip alles?« »Im Prinzip ja«, gab ich zu. Mom öffnete die Tür und wir betraten das Lokal. »Das war so nicht geplant.« Ich zog die Jacke aus, und wir setzten uns an einen freien Tisch nahe der Tür. Es war ruhig bei Luke. Das gefiel mir. Es war schön, fast ganz allein im Restaurant zu sitzen. »Ich finde, es war wirklich tapfer von dir, sie um das Geld zu bitten«, sagte ich. »Ach, darüber möchte ich wirklich nicht reden«, entgegnete Mom. »Wie viele Abendessen müssen wir denn ableisten, bis wir aus dem Schneider sind?«, fragte ich, um sie aufzuheitern. Die Freitagabende würden von nun an anders sein – aber vielleicht lernte ich ja auf diese Weise endlich meine Großeltern ein bisschen besser kennen. »Ich glaube, der Leichenschmaus auf meiner Beerdigung ist der letzte Termin«, sagte Mom. Dann erschien ein Lächeln auf ihrem Gesicht. »Hey… Moment mal… soll das etwa heißen…?«, fuhr sie auf. »Wenn ich doch schon so einen schicken karierten Rock habe…« Ich lächelte. »Ach, Schatz, du wirst es nicht bereuen!« Sie sah so glücklich aus, und mir fiel auf, dass ich sie schon eine ganze Weile nicht mehr hatte lächeln sehen. Das war schön. Die Sache mit Chilton

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musste sie von Anfang an ziemlich gestresst haben; sie hatte schließlich überlegen müssen, – woher sie das Schulgeld nehmen sollte. Und dann war ich gekommen und hatte gesagt, ich wolle nicht wechseln. Ich hätte das natürlich niemals gesagt, wenn ich gewusst hätte, was sie durchmachte. Aber es sah ihr wieder einmal ähnlich, mir nichts zu sagen und so zu tun, als wäre es das reinste Kinderspiel – wo sie doch in Wirklichkeit so ein großes Opfer für mich gebracht hatte. Luke kam zu uns, um die Bestellung aufzunehmen. Für seine Verhältnisse war er ziemlich schick: Er trug ein Oberhemd, das ausnahmsweise mal nicht aus Flanell war. Und KEINE Baseballkappe! Ich hatte ganz vergessen, wie sein Kopf ohne Kappe aussah. Mom fiel es auch auf. »Wow!«, sagte sie. »Du siehst gut aus. Wirklich gut.« »Ich hatte vorhin einen Termin bei der Bank. Die mögen ordentliche Hemden«, entgegnete er. »Aber du siehst auch nicht schlecht aus.« »Ich musste zu einer Geißelung«, entgegnete Mom trocken. Luke lächelte und nahm unsere Bestellung auf. »Also, dann erzähl mir mal von dem Kerl«, sagte Mom, als Luke sich entfernte. Oh Gott, jetzt ist es so weit!, dachte ich, jetzt wird sie mich über Dean ausquetschen. »Weißt du, was das Besondere an unserer Beziehung ist?«, sagte ich. »Dass wir beide wissen, wie wichtig persönlicher Freiraum ist. Ich meine, du bist jemand, der das wirklich respektiert.« »Jetzt erzähl schon«, drängte Mom.

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»Mom…« »Ist er ein eher verträumter Typ?«, fragte sie. Verträumt? Ich verdrehte die Augen. »Das ist ja hier wie bei Nick at Nite.« »Na ja, ich werde es sowieso herausfinden«, erklärte Mom. »Wirklich? Wie denn?«, wollte ich wissen. …… »Ich werde spionieren!« Luke brachte uns zwei Tassen Kaffee und einen Teller mit Chili-Pommes. »Kaffee… Pommes…«, sagte er, während er alles auf dem Tisch abstellte. Während wir unseren Kaffee schlürften, blieb er bei uns stehen und druckste herum. »Ich kann es nicht mit ansehen«, platzte er schließlich heraus. »Das ist so ungesund! Rory, bitte, trink den Kaffee nicht! Du willst doch nicht werden wie deine Mutter!« Ich sah Luke an, dann Mom. »Tut mir Leid«, sagte ich. »Zu spät!« Wir lächelten uns an. Ich war so froh, dass unser Streit wegen Chilton vorbei war. Mom hatte ganz Recht. Ich konnte mir diese Chance nicht entgehen lassen – Dean hin oder her. »Jetzt erzähl mir endlich von ihm!«, forderte Mom erneut, als Luke uns endlich allein ließ. »Die Rechnung bitte!«, scherzte ich. »Nein wirklich, ist es dir etwa peinlich, von ihm zu sprechen?«, drängte sie weiter. Natürlich würde sie mich den Rest des Abends wegen Dean löchern. Aber das war in Ordnung. Ich würde nach Chilton gehen. Und meine Mom hatte dafür gesorgt, dass ich das tun konnte.

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5 Es dauerte nicht sehr lange, bis Mom und ich uns daran gewöhnt hatten, jeden Freitag zum Dinner bei meinen Großeltern zu erscheinen. Mir machte das Ganze regelrecht Spaß. Es war toll, Zeit mit ihnen zu verbringen, und mein Großvater nahm mich sogar mit in den Club, um mir das Golfspielen beizubringen – eine absoluter Fehlschlag in sportlicher Hinsicht, aber ein großer Gewinn für unser Verhältnis. Wir entdeckten, dass wir ähnliche Interessen hatten, und er schenkte mir einige kostbare Erstausgaben von Büchern, die ich wirklich schätze. Natürlich hätte ich mit den Freitagabenden auch gut etwas anderes anfangen können, mit Lane rumhängen zum Beispiel. Oder Dean zufällig begegnen. Ich bekam die beiden längst nicht so oft zu sehen, wie mir lieb gewesen wäre. Chilton war viel anspruchsvoller als meine alte High School, und so gingen die Abende unter der Woche für meine Hausaufgaben drauf. An dieser Schule herrschte ein extremer Konkurrenzkampf, und niemand dort mochte mich. Am meisten hasste mich Paris Geller. Als ich nach Chilton kam und sie merkte, dass ich ihr womöglich Konkurrenz machen konnte, hatte sie geschworen, mir das Leben im wahrsten Sinn des Wortes zur Hölle zu machen. Anscheinend hatte ich mit meinem Auftauchen ihren Masterplan durchkreuzt. Ihre Freundinnen Madeline und Louise hassten mich auch. Sie machten daraus einen richtigen Gruppensport.

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Und dann war da noch Tristin Dugray, dem nichts auf der Welt mehr Spaß machte als sich über mich lustig zu machen. In meinen ersten zwei Wochen in Chilton nannte er mich Maria. In Anspielung auf die Jungfrau Maria. Am Ende der Schulwoche war ich meist ziemlich erschöpft, und so hatte das Dinner freitags bei meinen Großeltern durchaus auch seine positiven Seiten. Wir wurden von Kopf bis Fuß bedient, das Essen schmeckte immer sehr lecker und die Gespräche waren niemals langweilig. »Morgen kommt unser Anwalt Joseph Stanford vorbei«, verkündete meine Großmutter beim Kaffee nach dem Essen. »Oh je!« Mom stöhnte. »Der Vater von Crazy Sissy.« »Wie kannst du nur!«, schimpfte Grandma. »Sissy war eine gute Freundin von dir.« »Mom, Sissy hat mit ihren Stofftieren geredet, und sie haben ihr geantwortet«, sagte Mom. »Dann wechseln wir jetzt mal das Thema«, schlug ich vor, um einen Streit zu verhindern. Aber Grandma wollte nicht einlenken. »Du bist unmöglich!«, sagte sie zu Mom. »Hast du nicht gehört? Themawechsel, Mom!« Grandma geriet in Rage. »Jeder Satz ist nur ein Spaß, und jeder Mensch wird zur Witzfigur«, bemerkte sie voller Abscheu. »Okay, tut mir Leid«, entschuldigte sich Mom. Aber Grandma war noch nicht fertig. »Der reinste Sprücheklopfer, meine Tochter – schlimmer als Henny Youngman!« Da kehrte mein Großvater ins Wohnzimmer zurück. »Tut mir Leid«, sagte er und setzte sich

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wieder an den Tisch. »Wir haben ein bisschen Ärger in unserem Büro in China. Habe ich was verpasst?« »Ich war wieder mal unmöglich, und dann wurde ich mit einem berühmten Komiker verglichen«, erklärte Mom ihm. »Aha, sehr schön. Dann lasst euch nicht stören!«, meinte Großvater lächelnd. Ihn brachte einfach nichts aus der Fassung. Das gefiel mir so gut an ihm: Er ließ sich nie in die dummen Streitereien zwischen meiner Mutter und Grandma hineinziehen. »Danke. Wo war ich?«, fragte Grandma. »Ahm, morgen kommt Joseph Stanford«, rief ich ihr in Erinnerung. »Ja! Also haben dein Großvater und ich gedacht, nach dem Essen würdest du vielleicht gern eine Runde durchs Haus machen und dir aussuchen, was wir dir vererben sollen.« Grandma schenkte mir ein Lächeln. Das war wirklich bizarr: Sie redete beim Essen über den Tod und ihr Testament. Ihr Anwalt kam morgen ins Haus, um eine Bestandsaufnahme ihrer Besitztümer zu machen, und ich sollte mir aussuchen, was ich haben wollte? »Sieh dir den Schreibtisch in meinem Büro an«, riet mir Großvater. »Es ist ein wirklich schönes Stück aus Georgia.« Mom war genauso verblüfft über die Wendung der Ereignisse wie ich. »Warum bin ich noch nicht drauf gekommen, bei unseren Besuchen ein Tonbandgerät mitzubringen?«, murmelte sie. »Ja, also… mir ist egal, was ihr mir hinterlasst, es ist alles schön«, sagte ich. Ich wollte nichts

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Spezielles haben – ich wollte nur, dass meine Großeltern so lange wie möglich am Leben blieben und ihr Testament gar nicht brauchten. »Unsinn!«, schimpfte Grandma. »Du sollst haben, was dir gefällt. Sieh dich einfach um, und wenn du etwas schön findest, dann kleb ein Postit dran!« Sie bedachte mich mit einem strahlenden Lächeln. Ein Einkaufsbummel im Haus meiner Großeltern mit Post-its? Ich sollte einen Wunschzettel für den Tag machen, an dem sie uns verließen? Waren sie verrückt geworden? Mir fehlten die Worte. »Okay, ihr beiden habt soeben ganz offiziell einen neuen Level von Seltsamkeit erreicht, über den sogar ich staunen muss«, sagte Mom. »Du darfst dir natürlich auch etwas aussuchen«, versicherte Grandma ihr. »Oh! Dann ist das Ganze natürlich nicht mehr so gruselig«, entgegnete Mom. »Hast du das gehört, Richard?«, fragte Grandma. »Offenbar sind wir gruselig.« »Tja nun, man lernt nie aus«, antwortete mein Großvater trocken. Ich sah Mom über den Tisch hinweg an und gab mir Mühe, nicht zu lachen. Das Dienstmädchen trug ein Silbertablett mit vier Glasschüsselchen ins Esszimmer, deren Inhalt verdammt nach Schokoladenpudding aussah. »Oh, cool!«, war mein Kommentar, als ich eins davon vor die Nase gestellt bekam. »Was ist das?«, fragte Mom. »Der Nachtisch«, erwiderte Grandma forsch. »Das ist Pudding«, stellte meine Mutter fest.

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»Wenn du weißt, was es ist, warum fragst du dann?«, wollte Grandma wissen. »Du magst doch gar keinen Pudding«, antwortete Mom. Oh mein Gott! Jetzt zankten sie sich über Schokoladenpudding! »Richtig, aber du schon«, gab Grandma zurück. »Oh, ich liebe Pudding! Ich bete ihn an«, erklärte Mom. »Ich habe eine Schüssel davon auf dem Kaminsims stehen, gleich neben der Jungfrau Maria, einem Weinglas und einem Geldschein«, fuhr sie fort. Grandma verdrehte die Augen. »Ich habe noch nie Pudding aus einer Kristallglasschüssel gegessen«, sagte ich voller Bewunderung. Kaum zu glauben, dass es sich auf den Geschmack auswirkte, aber genau das tat es. »Gefällt dir die Schüssel? Kleb ein Post-it drauf, wenn du aufgegessen hast«, meinte Grandma. Als wir mit dem Essen fertig waren, gingen Mom und ich mit unseren Post-it-Blöckchen durchs Haus. Meine Großeltern besaßen viele schöne Dinge, und es war gar nicht so einfach, etwas auszuwählen. Zuerst konnte ich mich für nichts entscheiden, aber Grandma bestand darauf, dass ich die Post-its benutzte – sonst würde ich es später noch bedauern, wie sie sagte. Mom und ich blieben vor einer großen Vase stehen, die wie ein Beutestück aus irgendeinem japanischen Samuraikrieg aussah. »Was halten wir davon?«, fragte Mom. »Wo sollen wir die hinstellen?«, fragte ich zurück. »Ich weiß nicht. In das verrückte Museum von

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Emily und Richard Gilmore?«, schlug sie vor. »Das ist der merkwürdigste Abend, den ich je hier verbracht habe«, erklärte ich, als Grandma ins Wohnzimmer zurückkehrte. »Und, wie kommt ihr voran?«, fragte sie strahlend. »Super«, antwortete Mom. »Wir machen uns bereit für den großen Tag«, scherzte sie, löste ein Post-it von ihrem Blöckchen und klebte es an die große Vase. »Sehr schön«, bemerkte Grandma und nickte anerkennend. »Ja, also, es ist schon spät, Mom. Wenn wir nicht noch ein paar Gräber schmücken sollen, fahren wir jetzt besser wieder nach Hause«, sagte Mom. »Irgendwelche speziellen Wünsche für nächste Woche?«, fragte Grandma und lächelte mich an. »Oh, also…« Ich sah Mom an. Wir hatten im Auto darüber gesprochen. Und zu Hause. Überhaupt ständig in den vergangenen zwei Wochen. Am kommenden Freitag hatte ich Geburtstag, und wir wollten zu Hause eine große Party feiern, wie jedes Jahr. Das war bei uns Tradition. »Mom, ich muss mal kurz mit dir sprechen«, sagte meine Mutter. »Rory, warum verabschiedest du dich nicht schon mal von Großvater?« »Sehr elegant«, raunte ich ihr zu, als ich den Raum verließ. Ich sprach ein paar Minuten mit Großvater und ging dann mit Mom nach draußen zu unserem Jeep. Wir stiegen ein und schlossen die Türen. »Also,

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wie wäre es dieses Jahr mit zwei Geburtstagspartys?«, fragte Mom und sah mich entschuldigend an. »Du konntest sie nicht überreden«, stellte ich fest. »Nein, aber sie war einverstanden, dass das Streichquartett Like a Virgin einstudiert«, entgegnete sie lächelnd. »Naja, du hast es versucht«, sagte ich etwas enttäuscht. »Süße, ich verspreche dir: Am Samstagabend machen wir zu Hause ein ganz großes Fass auf«, entgegnete Mom. »Dann steigt bei uns die Megaparty von Stars Hollow.« Das war nicht übertrieben. Unsere Geburtstagspartys waren immer Großereignisse. »Soll denn die Party, die Grandma ausrichtet, auch was Großes werden?«, fragte ich und malte mir aus, was sie aus einem Geburtstag machen konnte, wenn schon ein Dinner am Freitagabend zu einem hochoffiziellen Anlass ausartete. »Nicht wirklich«, antwortete Mom. »Die Regierung macht an dem Tag zu. Die Flaggen hängen auf Halbmast. Barbra Streisand gibt ihr letztes Konzert… wieder mal.« »Ha ha«, machte ich. »Der Papst hatte schon andere Verpflichtungen, aber er will versuchen, sich freizumachen«, fuhr sie fort. »Aber Elvis und Jim Morrison kommen auf jeden Fall – und sie bringen Chips mit.« »Da stellt man eine einfache Frage…«, seufzte ich, als Mom den Motor anließ. Sie machte ihre Späße, aber mich interessierte ernsthaft, was für ein Fest Grandma ausrichten wollte.

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Die Party bei uns zu Hause war schließlich die richtige Party. Nichts gegen meine Großeltern, aber Mom und ich haben unsere eigenen Vorstellungen, und wir lieben es, Partys zu veranstalten. Ich fragte mich, ob ich Dean einladen sollte. Er musste kommen. Ich wollte, dass er kam. Die Geschichte mit ihm lief superlangsam an, aber letzte Woche hatten wir einen Gang höher geschaltet. Eines Tages „war er in meinen Bus nach Chilton eingestiegen und hatte sich hinter mich gesetzt, nur um mir Hallo zu sagen. Ein anderes Mal hatten wir uns im Supermarkt getroffen, und obwohl unser Gespräch nicht weit über »Papier oder Plastik?« hinausgegangen war, hatte es doch bedeutungsvoll auf mich gewirkt. Es war, als näherten wir uns einander mit ganz kleinen Schritten. Vergangene Woche war er bei unseren Nachbarn, bei Babette und Morey, um ihnen Soda für die Totenwache für ihre Katze Cinnamon zu liefern (sie hingen sehr an dieser Katze, okay?), und vor dem Haus hatten wir eine peinliche Begegnung. Angeblich hatte er gemerkt, dass ich nicht an ihm interessiert wäre, und deshalb würde er aufhören, mich zu »belästigen«. Ich war so überrascht, dass ich kein Wort mehr rauskriegte. Als er wegging, habe ich ihm hinterhergerufen, dass ich sehr wohl interessiert war. Also wussten wir es nun beide: Wir mochten uns. Und was nun? Jede Menge peinliches Schweigen. Ich wollte ihn gern auf meiner Geburtstagsparty dabeihaben, war aber nicht sicher, ob ich schon

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so weit war. Setzte uns das vielleicht beide zu sehr unter Druck? Vielleicht brauchte ich drei Geburtstagsfeiern, eine davon nur mit Dean allein. Am Dienstagmorgen war ich gerade in Chilton eingetroffen und stand an meinem Spind, als Tristin herbeischlenderte und sich an den Schrank neben meinem lehnte. »Hey«, sagte er und kam mir ein bisschen zu nah. »Was ist, Tristin?«, fragte ich und sah ihn an. »Ich wollte dir nur zum Geburtstag gratulieren«, sagte er. »Ich habe heute gar nicht Geburtstag«, entgegnete ich. Er hielt einen weißen Umschlag hoch. »Noch nicht, aber bald!« Er klappte die Karte auf, die in dem Umschlag steckte und fing an vorzulesen. »Am Freitag um vier Uhr drei in der Frühe erblickte Lorelai Leigh…« »Was ist das?« Ich riss ihm die Karte aus der Hand und studierte sie mit großen Augen. Es war eine offizielle Einladung – eine offizielle Ankündigung meines Geburtstags. »… wurden Emily und Richard Gilmore mit einer perfekten Enkelin gesegnet, Lorelai Leigh. Bitte beehren Sie uns an diesem Freitag mit Ihrer Anwesenheit, um diesen freudigen Anlass zu feiern. Sieben Uhr. Abendkleidung kein Muss.« »Wer hat noch so eine?«, fragte ich Tristin entgeistert. »Keine Ahnung«, sagte er nur und zuckte mit den Schultern. »Wahrscheinlich alle in unserer Klasse.« Alle in unserer Klasse? Eine ganze Horde, die

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mich weder kannte noch mochte? Ich schloss meinen Spind ab. »Ich muss los«, sagte ich und ging den Korridor hinunter. »Dann sehen wir uns am Freitag, du Geburtstagskind!«, rief mir Tristin hinterher. Ich ging weiter und starrte auf die Einladung in meiner Hand. Wie konnten mir meine Großeltern nur so etwas antun? »Das ist sie«, hörte ich Louise zu einem anderen Mädchen sagen, als ich an ihnen vorbeiging. »Meine Eltern zwingen mich hinzugehen«, entgegnete die andere. »Noch so eine Pflichtveranstaltung!«, beschwerte sich Louise. »Mein Leben ist eine Katastrophe.« Ihre Freundin seufzte. Ihr Leben ist eine Katastrophe?, dachte ich und suchte nach einem Mauseloch, in dem ich verschwinden konnte. Meine ganze Klasse würde gezwungen, zu meiner Geburtstagsparty zu kommen. Ein einziger Albtraum! Noch nie hatte ich Angst vor meinem Geburtstag gehabt. Aber von diesem Zeitpunkt an war mein Leben ganz offiziell eine riesengroße Katastrophe.

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6 »Na, du machst aber ein Gesicht!«, rief Mom mir gut gelaunt entgegen, als ich bei Luke hereinschlurfte, um mich mit ihr zu treffen. Nicht nur der Rucksack war mir schwer, sondern auch das Herz. »Kaffee«, sagte ich nur, als ich mich setzte. »Schlechten Tag gehabt?«, wollte Mom wissen. »Ich habe das Wort >Katastrophe< so häufig benutzt, dass es jede Bedeutung verloren hat«, entgegnete ich niedergeschlagen. »Vielleicht kann dich das hier aufheitern«, meinte sie, öffnete die Tüte, die sie in der Hand hielt, und holte ein dickes Bündel graugrünen Tüll heraus. »Was ist das denn?«, fragte ich. »Das sind unsere Partykleider!«, verkündete sie fröhlich. Ich konnte mir weder sie noch mich in einem solchen Kleid vorstellen. »Sieht ganz nach einer Halloween-Party aus.« »Hör mal!« Mom lächelte. »Ich war heute mit deiner Großmutter einkaufen, und nachdem ich drei Stunden lang immer wieder fragen musste >Für wen willst du das denn kaufen? Doch wohl nicht für Rory?Herbstaktion: Preiselbeersoße im Angebot! Komisch< beschrieb allerdings nicht mal ansatzweise, wie mir zumute war, als wir auf den Supermarkt zugingen – den Tatort. Dean war bestimmt da. Das war großartig und schrecklich zugleich. Mom hatte noch nie einen Jungen kennen gelernt, den ich gern hatte, weil ich eben noch nie einen Jungen wirklich gern gehabt hatte. »Hör mal, wir müssen uns beeilen, weil die Videothek bald zumacht. Also halten wir uns streng an unsere Liste. Keine Spontankäufe wie Zahnpasta oder Seife!«, wies mich Mom an, als sie die Tür öffnete. Sie war schon halb im Laden, als sie merkte, dass ich immer noch draußen stand und auf ein Herbstfestival-Plakat starrte, das im Schaufenster hing. »Rory?«, fragte sie und drehte sich um. »Weißt du was?«, meinte ich. »Ich glaube, wir haben genug zu essen im Haus.« »Tatsächlich?« Mom stemmte die Hände in die

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Hüften. »Bist du etwa umgezogen? In dem Haus, wo ich wohne, war heute Morgen nämlich nichts mehr da.« »Wir können ja Pizza bestellen«, schlug ich vor. »Das genügt.« »Bist du verrückt?«, fuhr sie auf. »Willy Wonka ohne einen Haufen ungesundes Zeug geht nicht. Ausgeschlossen. Das lasse ich nicht zu. Wir gehen da jetzt rein!« Und schon stand sie wieder an der Tür. Ich für meinen Teil blieb wie angewurzelt auf dem Gehsteig stehen. »Rory, das klappt schon«, ermunterte sie mich und kam zu mir herüber. Sie wusste, wie mir zumute war. »Vertrackte Situation!«, sagte ich. »Irgendwann muss ich ihn doch kennen lernen«, sagte sie, als könnte sie mich mit Logik überzeugen. »Okay, wie wäre es nächstes Jahr?«, gab ich zurück. Mom ging darauf nicht ein. »Ich werde mich ganz cool verhalten – cool wie Shaft«, sagte sie. »Kein Verhör!«, mahnte ich. »Ich schwöre«, versprach Mom. Ich rief ihr noch einmal alle Regeln ins Gedächtnis, damit sie mich nicht vor Dean in Verlegenheit brachte. »Keine Kussgeräusche!«, sagte ich. »Keine Geschichten aus meiner Kindheit, und sag bitte nicht >Chi-Town< zu Chicago! Keine James-Dean-Witze, keine Supermarkt-Witze, keine bösen Blicke, keine Nancy-Walker-Imitationen…« »Also bitte!«, beschwerte sich Mom. »Du musst es versprechen!«, bat ich. »Versprochen, hoch und heilig«, sagte sie.

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»Können wir jetzt bitte reingehen?« Ich atmete tief durch und machte mich bereit. »Okay, gehen wir!« Rasch ging ich durch die Tür, bevor mich der Mut wieder verließ. Drinnen sah ich mich nervös um. Dean war nirgendwo zu sehen, nach all dem Stress. Was für eine Erleichterung! »Ich sehe ihn nirgends«, ließ ich Mom wissen. »Vielleicht macht er gerade Pause.« Sie nahm einen Einkaufskorb. »Ja, vielleicht.« Ich war wirklich unglaublich erleichtert. »Okay, dann kaufen wir ein. Brauchen wir Marshmallows?« »Hm«, machte Mom, und ich warf eine Tüte in den Korb. »Und Geleebonbons brauchen wir«, sagte sie, »und Schokoküsse. Teig für Kekse haben wir zu Haus… und Erdnussbutter. Ach, sag mal, haben die vielleicht diese Dinger hier, die auf der einen Seite wie eine Zuckerstange aussehen, und mit der anderen stippt man sie in Zucker, bevor man sie lutscht?« »Davon wird einem bestimmt total schlecht«, bemerkte ich, und wir bogen in den nächsten Gang ein. »Ein Wunder, dass unsere Körper überhaupt noch funktionieren.« Als wir um die Ecke kamen, sah ich Dean vorn an der Kasse. »Da ist er!«, flüsterte ich Mom schnell zu. Dean unterhielt sich freundlich mit einem Kunden, dessen Einkäufe er gerade in eine Tüte packte. »Ganz schön groß!«, staunte Mom und blieb stehen, um ihn zu betrachten. »Da verbiegt ihr euch beim Küssen ja ziemlich den Rücken!«:. »Mom…« »Ihr müsst euch vorher immer gut aufwärmen!«

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»Okay, wir gehen«, bestimmte ich, nahm sie am Arm und führte sie nach vorn zu den Kassen. »Sorry!«, raunte sie mir zu. »Ich bin schon still.« Ich ließ ihren Arm wieder los. Wir waren nun dicht vor der Kasse. »Er hat tolle Augen«, bemerkte Mom. »Zum Verlieben!« »Ja«, sagte ich. »Und ein nettes Lachen«, fugte sie hinzu. »Sehr nett«, pflichtete ich ihr bei. »Wäre gut, wenn er sich mal umdrehen würde.« Natürlich interessierte sich Mom auch für seinen Hintern! »Die Kehrseite ist auch hübsch anzusehen«, kam ich ihr zuvor. »Wirklich?« »Glaub mir!« Wir legten unsere Kaloriensammlung auf das Transportband. Dean sah mich an und lächelte. »Habt ihr „wieder euren Videoabend?«, fragte die Kassiererin. »Ja«, antwortete Mom. »Heute gibt’s Willy Wonka und die Schokoladenfabrik.« »Oh, der ist gut. Da spielt doch Gene Hackman mit, oder?« »Nee, Gene Wilder«, schaltete Dean sich ein. Er kann lesen und schreiben und kennt sich mit Filmen aus! »Sind Sie ein Wonka-Fan?«, fragte Mom Dean. »Ahm…ja«, antwortete er. Er packte unser Junkfood in eine Tüte. Der Moment war günstig, fand ich. »Ahm, Dean, das ist meine Mutter, Lorelai. Mom, das ist Dean.« Mom schüttelte Dean die Hand. »Schön, Sie kennen zu lernen«, sagte sie höflich. »Ich freue mich auch«, entgegnete Dean.

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»Netter Kittel«, fugte Mom hinzu. »Ahm, danke!« Dean wirkte verlegen. Ich bekam verschwommen mit, wie meine Mutter bezahlte. Ich ging auf Dean zu und er reichte mir unsere Tüte. »Danke«, sagte ich. »Gern geschehen.« Wir sahen uns ein paar Sekunden lang verlegen an und dann kam meine Mutter. »Ja, Dean, schön, Sie kennen gelernt zu haben«, sagte sie. »Ich hoffe, wir sehen uns bald wieder.« »Ja«, erwiderte Dean. Wir gingen zum Ausgang. »Siehst du? War doch gar nicht so schlimm!«, sagte Mom leise zu mir. »Stimmt«, räumte ich ein. »Ich habe nichts Peinliches oder Dummes gesagt.« »Dafür bin ich dir auch sehr dankbar«, bemerkte ich. »Entspann dich, du Supermarktliebchen«, neckte sie mich. »Siehst du? Selbst die kleinste Information kann in deinen Händen zu einer tickenden Zeitbombe werden«, erklärte ich. »Darauf brauche ich einen Kaffee«, ließ Mom mich wissen, als wir auf der Straße standen. »Mom, die Videothek macht in zehn Minuten zu!« »Dann lauf du doch schnell rüber, und ich bestelle uns schon mal Kaffee«, schlug sie vor. »Gut.« »Los, beeil dich! Wir treffen uns bei Luke.« Ich flitzte die Straße hinunter. Ich war total

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glücklich, weil ich Dean gesehen hatte, weil Mom ihn gesehen hatte und weil alles gut gelaufen war. Das war höchst erstaunlich, wenn man bedachte, wie schlecht diese ganze DeanGeschichte angefangen hatte. Alles war in Ordnung. Ich konnte es gar nicht erwarten, nach Hause zu kommen, den Film zu gucken und mich in Bergen von Junkfood zu verlieren. Der Film war noch da, und ich lief zurück, um mich mit Mom zu treffen. Als ich um die Ecke bog, entdeckte ich sie vor dem Supermarkt auf der Straße. »Und?«, fragte sie, als ich näher kam. »Ich habe ihn!« »Klasse! Weißt du was? Einerseits freue ich mich, dass er noch da war, aber andererseits: In was für einer Welt leben wir, wenn nicht alle Willy-Wonka-Streifen ausgeliehen sind?« »Na, jetzt haben wir ihn ja«, sagte ich. »Ja, zum Glück für uns! Ach übrigens, ich habe deinen Freund auch zu unserem Videoabend eingeladen.« »Welchen Freund?«, wollte ich wissen. »Dean«, entgegnete Mom beiläufig. »Was?« Ich blieb stehen und sah sie fassungslos an. War sie jetzt total verrückt geworden? »Ja.« Sie lächelte. »Wir haben unseren Rotwein stehen lassen und Dean ist mir nachgelaufen. Da habe ich ihm erzählt, was wir heute vorhaben, und das hat ihm so gefallen…« Sie zögerte. »Warum guckst du mich so komisch an?« »Du hast Dean eingeladen? Zu uns nach Hause? Einfach so?« Ich konnte es nicht fassen! »Ja und?«

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»Bist du verrückt?« »Warum bist du denn so sauer?«, fragte Mom. Das schien sie auch noch ernst zu meinen – sie hatte echt keine Ahnung! »Weil wir noch gar kein richtiges Date hatten«, erklärte ich. »Mein erstes Date mit Dean findet also zu dritt statt? Bist du… was hat dich eigentlich gestochen?« »Tut mir Leid«, entgegnete Mom. Sie klang verwirrt. »Ich dachte, du freust dich.« »In welcher Welt lebst du eigentlich? Wir sind hier nicht bei den Amish! Jungen und Mädchen verabreden sich in der Regel allein]«, ereiferte ich mich. »Ich hatte das nicht als Date angesehen«, erklärte Mom. »Ich dachte eher an zusammen abhängen.« »Ich will aber auch nicht, dass unser erstes gemeinsames Abhängen mit meiner Mutter stattfindet!«, begehrte ich auf. Sie war die coolste Mom auf der Welt, aber deshalb blieb sie trotzdem meine Mutter. Plötzlich blickte auch sie missmutig drein. »Okay, sag bitte nicht so komisch >meine MutterPink Moon< in der VW-Werbung verbraten wird?« »Oh ja!«, entgegnete ich. Nick Drake ist nicht nur ein Musiker, er ist ein Poet. Seine Musik ist wunderschön, und ich war fassungslos gewesen, als ich die Werbung zum ersten Mal gesehen hatte. Lane und ich sind noch immer nicht darüber hinweg. »Und… möchtest du nicht auch reinkommen?«, fragte Dean. »Ach nein«, entgegnete ich. »Ich kenne es ja schon.« »Du siehst aus, als wärst du an der Tür festgewachsen«, sagte er. »Nein, ich sehe mir mein Zimmer nur mal aus einer anderen Perspektive an. Von hier kenne ich es eigentlich gar nicht«, erklärte ich. »Und ich glaube, ich muss mir neue Kissen zulegen, wenn

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ich das so sehe.« »Wäre es dir lieber, wenn ich auch wieder rauskomme?«, fragte Dean. »Oh nein, ist schon in Ordnung, wenn du dich ein bisschen umsiehst«, entgegnete ich. Er nahm mein Plüschhuhn vom Bett, hielt es sich ans Gesicht und sagte: »Nettes Huhn!« »Okay, Schluss jetzt mit der Besichtigung!« Dean lachte, und ich merkte, dass ich fast am Verhungern war. »Mom!«, rief ich, »war das die Pizza?« »Jaha!«, antwortete Mom. Wir liefen zurück ins Wohnzimmer. Mom stand im Türrahmen. »Und, habt ihr Hunger?« »Ich sterbe fast«, entgegnete Dean. »Wo ist denn die Pizza?«, fragte ich. »Die Pizza ist…«, Mom blickte auf ihre leeren Hände hinunter. »Die Pizza…« Da klingelte es schon wieder, und Sookie kam mit der Pizza hereinspaziert. Aha, sehr clever!, dachte ich. Dann machte Sookie sich mit Dean bekannt. »Freut mich sehr, Sie kennen zu lernen, Dean«, sagte sie. »Ich meine, ich wusste nicht, dass Sie Dean sind, Sie sehen nur aus wie ein richtiger Dean«, plapperte sie. »Sieht er nicht aus wie ein Dean?« Ich wäre am liebsten gestorben. Dean auch, glaube ich. Als Sookie endlich wieder verschwand, gingen wir ins Wohnzimmer. »Ich habe sie nicht hergebeten«, sagte Mom leise zu mir. »Ich schwöre!« »Warum hast du nicht gleich eine Kamera aufgestellt, um das Ganze übers Internet zu verbreiten?«, gab ich zurück.

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»Weil ich nicht in so großem Stil denke«, entgegnete Mom. Dean setzte sich auf die Couch. »Gott sei Dank gibt es hier gute Pizza«, sagte er mit Blick auf die Kartons, die auf dem Kaffeetisch standen, gleich neben der Schüssel mit den Marshmallows. »Oh ja! Weil wir nicht wussten, welche du magst, haben wir von allem etwas genommen«, erklärte Mom. »Mir ist jede Sorte recht«, entgegnete Dean. »Okay, prima. Na dann, guten Appetit!« Wir nahmen alle ein Stück Pizza, lehnten uns zurück und fingen an zu essen. Eine Stunde später saßen wir auf dem Boden und sahen uns den Film an. »Wer will noch was?«, fragte Mom. »Ich!« Ich beugte mich vor und nahm mir eins von den restlichen Pizzastücken. »Wow!«, staunte Dean. »Du hast einen gesunden Appetit!« »Ja, den habe ich«, erwiderte ich stolz, stutzte aber gleich darauf. »Moment! Das ist eher schlecht, oder?« Wahrscheinlich war es besser, wenn ich nicht alles wegfutterte, was auf dem Tisch stand. »Nein, nein!«, antwortete Dean. »Die meisten Mädchen essen überhaupt nichts. Es ist gut, wenn du isst!« »Finde ich auch«, schaltete Mom sich ein. Ich war froh, dass Dean meinen Appetit gut fand, aber wir hatten uns schon viel zu lange mit diesem Thema beschäftigt. »Reden wir mal über was anderes als Essen, ja?«, schlug ich vor. »Oh! Da sind die Oompah Loompahs!«

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Ich sah Dean an. »Mom steht total auf die Oompah Loompahs.« »Ich finde sie nur lustig!«, verteidigte diese sich. »Ach, und wie war das mit dem Traum, den du mehrmals hintereinander hattest? Du wolltest einen von den orangen Kerlchen mit grünen Haaren heiraten!«, sagte ich und Dean musste lachen. Das konnte Mom natürlich nicht auf sich sitzen lassen. »Hey, pass bloß auf, sonst erzähle ich von deinem Märchenprinzen! Wenigstens sind die Objekte meiner Begierde echt. Du wolltest was mit einer Zeichentrickfigur anfangen!« »Oh!« Dean war neugierig geworden. »So, so, ein Märchenprinz!« »Das ist schon lange her! Und es war nicht der von Aschenputtel, sondern von Dornröschen«, protestierte ich verlegen. »Weil er tanzen konnte«, meinte Dean verständnisvoll. »Ich habe Schwestern.« Ich versuchte mir vorzustellen, wie Deans Schwestern aussahen. Es war gut, dass er welche hatte. Ich meine, ich hatte schon mal gehört, es sei gut, sich mit Jungs anzufreunden, die Schwestern haben, weil sie besser mit Frauen klarkommen. Und tatsächlich, Dean hatte Verständnis für meine MärchenprinzSchwärmerei. »Okay, Dean. Dann erzähl du uns doch mal von deinen peinlichen Geheimnissen und Abgründen«, forderte Mom ihn auf. »Nun, ich… ich habe keine peinlichen Geheimnisse«, antwortete er.

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Das glaubte ich ihm nicht, und Mom auch nicht. »Also bitte!«, sagte sie. Ich setzte mich auf. »Ich wette, ich kenne eins. Bei der Titelmelodie von Eisfieber musst du weinen.« »Oh, das ist sehr gut!«, sagte Mom lachend. »Das stimmt doch gar nicht!«, protestierte Dean. »Und ich kenne noch eins: Am Ende von Cherie Bitter wäre es dir lieber, wenn Robert Redford wegen Barbra Streisand Frau und Kind verlässt«, sagte Mom. Dean schüttelte den Kopf. »Den Film habe ich noch nie gesehen.« »Soll das ein Witz sein?«, fragte ich. »Was will man mehr?«, schwärmte Mom. »Herzschmerz, was zum Lachen…« »Kommunismus«, ergänzte ich. »Alles zusammen in einem Film!« Dean wirkte ein wenig erschlagen. »Den muss ich mir mal ansehen.« »Beim nächsten Videoabend«, schlug Mom vor. »Wäre eine Maßnahme«, ergänzte ich. Mom stand auf. »Ich mache jetzt Popcorn.« »Bring bitte den Sprühkäse mit!«, rief ich ihr hinterher. »Darf denn bei euch der Besuch auch mal einen Film vorschlagen?«, wollte Dean wissen. »Kommt drauf an«, entgegnete ich. »Woran hast du denn gedacht?« »Ich weiß nicht.« Dean strich sich eine Haarsträhne aus der Stirn. »Boogie Nights vielleicht?«, wollte er dann wissen. Ich schüttelte den Kopf. »Das kriegst du bei

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Lorelai nicht durch.« »Kein Marky-Mark-Fan?« Dean sah mich an und lächelte. »Auf Magnolia hat sie gar nicht gut reagiert«, sagte ich und Dean lachte. »Sie saß da und schrie: >Ich will mein Leben zurückhaben< – und dann wurden wir aus dem Kino geworfen. Das war ein sehr amüsanter Tag.« »Ja?« Dean rückte ein Stück näher an mich heran. »Ja«, bestätigte ich. »Na, dann muss ich wohl einen anderen Film vorschlagen.« Dean sah mir in die Augen. »Das musst du wohl«, entgegnete ich. Ich drehte mich um und sah zum Fernseher. Es lief alles so gut, dass ich es mit der Angst zu tun bekam. Dean hatte also vor, noch einmal zum Videoabend vorbeizukommen – das hatte er gerade gesagt. Wir hatten uns praktisch schon verabredet. Das bedeutete, es gefiel ihm bei uns. Und es bedeutete, er mochte mich. Wir scherzten und lachten eine Weile, bevor wir uns wieder auf Willy konzentrierten. Während ich mir eine bequemere Sitzposition suchte, nahm Dean ein Kissen von der Couch und stopfte es mir in den Rücken. »Danke«, sagte ich. Dean lächelte mich an und sah wieder auf den Fernseher. Ich blickte ihn noch ein paar Sekunden an. Plötzlich wurde mir klar, wie allein wir waren. Wo blieb Mom nur so lange? Dean drehte sich wieder zu mir um. »Hey«, sagte er. Ich geriet wieder mal total in Panik und konnte

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die innere Anspannung nicht länger aushalten. »Bin sofort wieder da!«, versprach ich und sprang auf. Ich brauchte dringend Moms Hilfe.

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12 »Mom!« Ich marschierte in die Küche und stemmte die Hände auf den Tisch. »Was? Was ist denn los?«, fragte sie und sah überrascht von der Modezeitschrift auf, in der sie gerade las. »Was treibst du denn hier?«, wollte ich wissen. Eigentlich sollte sie draußen im Wohnzimmer sein und mir helfen! »Ich versuche, den richtigen Badeanzug für meine Oberweite zu finden«, erklärte sie. »Mach, dass du wieder ins Wohnzimmer kommst!«, befahl ich. »Warum? Was ist denn passiert? Ist dir der Junge zu nahe gekommen?« »Nein! Er sitzt da und guckt den Film und er ist einfach perfekt und er riecht sehr gut!« »Wie bitte?« »Er riecht gut und er sieht fantastisch aus und ich bin blöd und habe danke gesagt und…« »Immer langsam! Du hast danke gesagt?« Mom schien irritiert. »Als er mich geküsst hat«, erklärte ich. Mom blickte total schockiert drein. »Er hat dich geküsst? Schon wieder? Der ist ja schnell aus dem Gefängnis entlassen worden nach seiner letzten Straftat…« »Nein, nicht jetzt!«, rief ich ungeduldig. »Neulich, im Supermarkt.« »Ach so, dann streich die Bemerkung mit dem Gefängnis. Okay, also: Er hat dich geküsst und du hast danke gesagt?« Es aus ihrem Mund zu

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hören, machte die Sache nur noch peinlicher. »Ja«, gestand ich. »Na, das war doch sehr höflich.« Mom lächelte. »Nein!«, brauste ich auf. »Es war blöd! Und ich weiß nicht, was ich tun soll. Und du sitzt in der Küche! Was bist du eigentlich für eine Anstandsdame?« »Ich?« Mom hob abwehrend die Hände. »Ich will doch gar keine Anstandsdame sein. Nur eine Freundin.« »Na, dann komm in die Gänge, sonst tick ich komplett aus!« Mom lächelte still vor sich hin. »Du magst ihn sehr, nicht wahr?« Ich nickte. »Ja.« »Also gut, dann beruhige dich erst mal.« »Ich will einfach nichts mehr tun oder sagen, was auch nur im Entferntesten idiotisch wirkt«, erklärte ich. Das bedeutete dann wohl, dass ich am besten gar nicht mehr sprach, so lange Dean da war. »Tja, leider ist es bei Herzensangelegenheiten nur so, dass man sich meistens ein bisschen idiotisch verhält«, entgegnete Mom. »Bitte komm wieder mit ins Wohnzimmer!« »Okay, gehen wir«, meinte Mom. Da wurde mir schlagartig klar, wie das aussehen musste: Als hätte ich Mom geholt, weil ich Angst davor hatte, mit Dean allein zu sein. »Nein, wir können nicht zusammen reingehen«, erklärte ich. »Das wäre viel zu offensichtlich.« »Okay, dann gehe ich zuerst, und du… du gehst noch ins Bad«, schlug Mom vor. Sie wusste wirklich immer einen Ausweg!

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»Okay, gut. Sag ihm, ich muss mir kurz das Gesicht waschen.« »Wegen dem ganzen Süßkram, den du gegessen hast«, fügte Mom hinzu und perfektionierte die Geschichte noch. Wäre die Zeit nicht so knapp gewesen, hätten wir meine Gier auf Zucker weiter vertiefen und bis in meine Kindheit zurückverfolgen können. Aber für den Augenblick genügte die Kurzfassung voll und ganz. »Ja, gut. Sehr gut!« Ich schubste Mom Richtung Wohnzimmer. Dann ging ich ins Bad und drehte den Heißwasserhahn auf. Ich sah in den Spiegel, der allmählich vom Wasserdampf beschlug. So sieht also das Mädchen aus, das noch mal von Dean geküsst werden will, dachte ich. Mit einem Ruck drehte ich den Kran wieder zu und lief zurück ins Wohnzimmer. Als der Film zu Ende war, verabschiedete sich Dean. Ich brachte ihn zur Tür und blieb auf der Veranda stehen. »Sag deiner Mutter noch mal danke für die Einladung«, bat er. Wir standen dicht nebeneinander am Geländer. »Tut mir Leid, falls dir das alles komisch vorgekommen ist«, sagte ich. »Ich meine, weil meine Mutter dich eingeladen hat und…« »Ach was, nein!«, unterbrach er mich. »Es war toll. Wirklich.« »Wirklich?« »Ja.« Wir sahen uns an – und dann beugten wir uns beide vor, und unsere Lippen verschmolzen zu einem langen, zärtlichen Kuss. »Danke«, sagte

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Dean liebevoll. Wir mussten beide lachen, und dann verschwand er. Als ich wieder reinkam, war Mom schon im Bett. Sie lag auf dem Rücken und hatte einen Arm über die Augen gelegt. Ich hopste aufs Bett und legte mich neben sie. »Das ist doch ganz gut gelaufen«, meinte sie. »Ja, nicht schlecht«, pflichtete ich ihr bei. »Habe ich was Peinliches gemacht?« »Ich weiß nicht.« Ich strich mir über den vollen Bauch. »Was hast du denn zu ihm gesagt, als ich im Bad war?« »Dass du hübsch bist«, entgegnete Mom mit einem unschuldigen Lächeln. »Lügnerin!« »Ja, also…« »Ich gehe jetzt schlafen.« Ich setzte mich auf und wollte gehen, aber irgendetwas schien meine Mutter zu beschäftigen. »Mom? Was ist los?« »Nichts.« »Nun komm schon«, widersprach ich. Sie ist so eine schlechte Lügnerin! »Los! Sag es mir!« »Ach, nichts. Ich… ich hätte mich nur gefreut, wenn du mir von dem Kuss erzählt hättest.« »Das tut mir so Leid! Ich wollte es ja. Ich schwöre! Ich habe nur Angst bekommen und…« »Ich weiß, und ich bin auch gar nicht sauer. Ich hätte nur gern davon erfahren. Das ist alles. Kein Problem.« Sie drehte sich auf die Seite. »Schon in Ordnung. Alles klar! Tut mir Leid. Hör mal, du musst morgen zur Schule und ich muss arbeiten. Also höchste Zeit zum Schlafengehen!« »Okay, gute Nacht!« »Nacht, Süße«, sagte Mom.

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In der Tür blieb ich stehen. »Mom?« »Ja?« »Es ist zwar schon ganz schön spät, aber…« Mom setzte sich auf und sah plötzlich taufrisch und gut gelaunt aus. »Fang ganz von vorne an, und wenn du etwas auslässt, bringe ich dich um!«, rief sie. Ich setzte mich wieder aufs Bett, und sie zog mich ein Stück näher an sich heran. »Wo also warst du genau?«, wollte sie wissen. »Ich war in dem Gang mit dem Ameisenspray«, sagte ich. »Oh, das ist ein guter Gang!« »Ich weiß, das hat Lane auch gesagt. Aber jedenfalls, er hat gearbeitet und…« Es war wohl das neunzigste Mal, dass ich die Geschichte erzählte. Fünfzigmal hatte ich sie Lane erzählt. Fünfunddreißigmal mir selbst. Vier Tagebucheinträge. Und nun erzählte ich sie endlich Mom – dem Menschen, dem ich sie zuallererst hätte erzählen sollen.

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13 Am darauf folgenden Freitag waren Mom und ich wieder zum Essen bei meinen Großeltern, aber diesmal war mein Großvater nicht dabei. Er fehlte mir, denn ich hatte einen besseren Draht zu ihm als zu meiner Großmutter, auch wenn ich sie häufiger sah als ihn. »Dein Großvater hat gestern Abend angerufen. Ich soll dir sagen, er bringt dir etwas ganz Besonderes aus Prag mit«, erklärte Grandma, während wir unseren Salat aßen. »Wow, aus Prag!«, sagte ich voller Bewunderung. Es war toll, wie viel mein Großvater reiste – er brachte immer klasse Geschichten mit nach Hause. »Wahnsinn, er ist echt in Prag!« »Dort muss es wunderschön sein«, sagte Grandma. »Sehr beeindruckend, die Burg und die Altstadt.« »Wusstet ihr, dass man in der Zelle, in der Vaclav Havel gesessen hat, jetzt Urlaub machen kann?«, fragte ich. »Die Nacht kostet um die fünfzig Dollar.« Ich sah Mom an. »Hey, vielleicht können wir auf unserer Europareise auch nach Prag fahren und in dieser Zelle übernachten!« Wir hatten vor, in dem Sommer nach meinem HighSchool-Abschluss eine große Europatour zu machen. »Unbedingt!«, erwiderte Mom. Sie stocherte in ihrem Salat herum und schob ein paar Stückchen an den Tellerrand. »Und dann fahren wir in die Türkei und übernachten in diesem Haus aus

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Midnight Express.« Meine Großmutter musterte sie. »Lorelai, was machst du da?« »Ich sortiere die Avocadostücke aus«, antwortete Mom. »Seit wann magst du denn keine Avocados?«, fragte Grandma erstaunt. »Seit dem Tag, als ich sagte: >Igitt, was ist das denn?Avocadosmein Freund< gesagt«, stellte er fest. »Ich habe nur >mein Freund< gesagt, weil diese ganze Verteidigungsmaßnahme ziemlich >mein FreundTrottel< fiel gleich mehrfach. »Richard, Alan, seht mal, wer hier ist!«, rief Grandma. Mr. Boardman winkte mir zu, und Großvater begrüßte mich warmherzig. »Hallo Rory!« »Wo ist deine Mutter?«, fragte Alan Boardman. »Bestimmt in der Küche bei den Apfeltörtchen, oder?« Bevor ich antworten konnte, schaltete sich meine Großmutter ein. »Lorelai ist heute Abend verhindert«, erklärte sie. »Sie kommt nicht?«, fragte mein Großvater erstaunt. Er hatte also nichts mitbekommen. Das überraschte mich. »Nein!«, antwortete Grandma fröhlich. »Sie muss arbeiten.« Ich sah sie verwundert an. Was redete sie da? »Apropos arbeiten«, sagte mein Großvater. »Ich muss diesen Kerl anrufen.« »Richard, reg dich doch nicht so auf«, versuchte Alan ihn zu beruhigen. Aber mein Großvater ließ sich nicht beirren und marschierte aus dem Zimmer. Ich fasste Grandma am Arm. »Grandma, kann ich kurz mit dir allein sprechen, bitte?« »Möchtest du etwas trinken?«, fragte sie und lief – ganz die perfekte Gastgeberin – nach

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nebenan an die Bar. »Ich möchte mich wegen neulich entschuldigen.« »Rory, bitte! Dies ist eine Weihnachtsfeier.« »Ich habe alles vermasselt«, sagte ich. »Es ist meine Schuld.« »Dies ist weder der richtige Zeitpunkt noch der richtige Ort, um das zu besprechen«, entgegnete sie schroff. »Das hätte dir deine Mutter beibringen müssen.« »Bitte sei nicht sauer auf sie!«, bat ich. »Ich bin auf niemanden sauer!«, antwortete sie, als hätte es nie ein Problem gegeben. »Und jetzt zurück zu den anderen!« »Aber…« Sie reichte mir ein Glas. »Nimm das doch bitte für Gigi mit!« Ich konnte das Dinner gar nicht schnell genug hinter mich bringen. Mein Großvater war wütend, weil er seinen Kollegen in London nicht erreicht hatte, und er konnte einfach nicht aufhören, vom Geschäft zu sprechen. »Ich finde es unerträglich heiß hier«, sagte er und nestelte an seiner Fliege. Sein Gesicht war ganz rot, aber er saß ja auch direkt vor dem Kamin. »Richard, bitte nicht bei Tisch!«, rügte meine Großmutter. »Rory, was hast du denn in den Weihnachtsferien vor?«, fragte mich Holland. »Ich mache es mir wahrscheinlich einfach mit Mom gemütlich«, meinte ich. »Ach, wirklich schade, dass sie nicht kommen konnte – sie bringt immer so viel Pep mit«, sagte

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Gigi und alle lachten. »Lorelai fühlte sich nicht gut, da habe ich gesagt, sie soll lieber zu Hause bleiben«, erklärte meine Großmutter. Das war nun schon die zweite Ausrede, die sie anführte. Allmählich musste sie sich mal entscheiden… »Ganz schön heiß hier«, wiederholte Grandpa und stand auf. »Ich gehe mal die Heizung runterdrehen.« Er verließ das Esszimmer. »Die Arme, was fehlt ihr denn?«, fragte Holland teilnahmsvoll. »Ich glaube, sie hat eine Grippe«, sagte meine Großmutter. »Richard, lass den Thermostat in Ruhe!«, rief sie in die andere Richtung. »Hast du nicht gesagt, sie arbeitet?«, fragte Gigi und sah meine Großmutter irritiert an. »Nun, sie hätte arbeiten müssen, aber dann ist sie krank geworden. Aber wie dem auch sei – sie konnte nicht kommen«, erklärte Grandma rasch. Sie war eine sehr, sehr schlechte Lügnerin. »Sag ihr, wir haben sie vermisst«, trug Gigi mir auf. Ich lächelte sie an. »Mache ich.« »Richard, hast du gehört? Richard?«, brüllte Grandma. Sie stand vom Tisch auf und lief in den Flur – und dann hörten wir auf einmal einen lauten Schrei. Wir sahen uns mit großen Augen an, dann sprangen wir alle vom Tisch auf und rannten in den Flur. Das Herz schlug mir bis zum Hals, als ich die beiden erblickte: Grandma hockte neben Grandpa, der rücklings auf dem Boden lag. Sie

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redete auf ihn ein, aber er gab keine Antwort. Seine Augen waren geschlossen. Anscheinend war er bewusstlos. Irgendjemand rief den Krankenwagen, und ich stand neben Grandma und sah meinen Großvater an, während sie ihm die Wange tätschelte und versuchte, ihn wachzurütteln. Er sah so hilflos und blass aus! So hatte ich ihn noch nie gesehen. Ich hätte so gern etwas für ihn getan. Auf einmal kamen mir Tausende schrecklicher Gedanken. Was, wenn mein Großvater starb, bevor der Krankenwagen kam? Was überhaupt, wenn er starb? Ich versuchte, Mom zu Hause anzurufen, aber sie ging nicht an den Apparat. Auch auf ihrem Handy erreichte ich sie nicht. Ich stand dermaßen unter Schock, dass ich, als die Mobilbox anging, nur stammeln konnte: »Grandpa ist im Krankenhaus, bitte komm schnell!« Im Krankenhaus roch es nach einer Mischung aus Schulcafeteria und Reinigungsmittel. Piepser ertönten von irgendwo und aus den Lautsprechern kamen Durchsagen. Am deutlichsten war jedoch meine Großmutter zu hören, wie sie die Krankenschwestern anbrüllte – was es mir ungemein erleichterte, sie zu finden, als ich endlich eintraf. »Weißt du schon etwas?«, fragte ich sie. »Ich bitte dich! Hier geht es ja zu wie beim CIA«, beschwerte sich Großmutter. Da kam ein Mann mit Trenchcoat und Schal zu ihr geeilt und ergriff ihre Hände. Offenbar Grandpas Hausarzt. Sie hatte ihn noch von zu Hause aus angerufen und ihn gebeten, ins Krankenhaus zu kommen.

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»Ach, Joshua!«, sagte Grandma. »Gott sei Dank! Dieses Krankenhaus bringt mich um den Verstand!« »Jetzt bin ich ja da, alles in Ordnung«, beruhigte er sie. »Ich werde sofort nach ihm sehen. Haben Sie schon die Formulare ausgefüllt?« »Die Formulare sind mir wurscht«, entgegnete Grandma. »Ich will meinen Mann sehen!« »Kann es sein, dass sie ein wenig zu Sturheit neigt?«, fragte mich Joshua. »Gut möglich«, antwortete ich. »Ich werde mich erst mal erkundigen, was los ist, und dann sehen wir weiter.« Joshua ging den Korridor hinunter und verschwand hinter einer Tür mit einem großen Schild: »Zutritt für Unbefugte verboten!« Großmutter und ich sahen ihm hinterher. Sie seufzte. »Vielleicht sollte ich noch mal bei Mom anrufen«, schlug ich vor. Es war schrecklich, sie nicht dabeizuhaben. Sie würde Großmutter zwar kaum beruhigen können, aber sie konnte bestimmt viel besser mit der ganzen Situation umgehen als ich. »Lass nur, sie ist bestimmt viel zu beschäftigt«, sagte Grandma rasch und fing an, in ihrer Tasche zu wühlen. »Das stimmt doch gar nicht!«, protestierte ich. Natürlich würde sie sofort kommen, wenn sie meine Nachricht abhörte. »Sie ist bestimmt…« »Rory, geh bitte und kauf deinem Großvater eine Zeitung!« Sprach’s und drückte mir Geld in die Hand.

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»Aber…« »Das Wall Street Journal oder so etwas in der Art. Er wird etwas zum Lesen brauchen, wenn er auf sein Zimmer kommt.« »Okay, kann ich dir auch etwas mitbringen?«, fragte ich. »Einen Kaffee vielleicht?« »Ach nein, Liebes, ich brauche nichts.« Grandma lächelte mich an. Ich ging den Korridor hinunter und suchte nach einem Wegweiser, um herauszufinden, wo sich der Kiosk befand. Rasch sprang ich in den Aufzug und drückte auf den Knopf. Ich war sehr froh, eine Aufgabe zu haben, eine Ablenkung. Als ich mit ein paar Zeitungen unter dem Arm zurückkehrte, wartete Luke auf einem Stuhl vor dem Schwesternzimmer. »Ich habe deine Mutter hergebracht«, sagte er. »Aber wir waren nicht zusammen aus.« »Oh… okay.« Er wies auf die Tür mit dem großen Verbotsschild. »Sie ist gerade mit deiner Großmutter losgezogen, um nach einem Arzt zu suchen.« Ich hatte doch gewusst, dass Mom Dinge tun konnte, zu denen ich nicht in der Lage war! Ein Verbotsschild hatte sie noch nie von etwas abhalten können. »Weiß man schon mehr über Großvater?«, fragte ich und setzte mich neben Luke. »Ich glaube nicht«, antwortete er. »Aber lass deiner Mutter noch ein paar Minuten. Ich wette, sie findet was raus.« »Danke fürs Fahren!«, sagte ich. »Gern geschehen.« Er nickte. »Hey, alles in

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Ordnung mit dir?« Ich spürte, wie sich mir der Hals zuschnürte. »Ich will nicht, dass er stirbt.« »Sag ihm das, wenn du ihn siehst«, meinte Luke. »So was hören die Leute gern.« In diesem Augenblick flog die verbotene Tür auf, und meine Mutter kam heraus. »Mom!«, rief ich und sprang auf. »Hey du!« Sie lächelte und umarmte mich. »Hallo!« »Es war schrecklich!«, sagte ich. »Es ging alles so schnell.« »Er wird jeden Moment aus dem Untersuchungsraum kommen, wir müssen uns noch etwas gedulden«, sagte sie. Sie wirkte kein bisschen besorgt. Da sie offenbar davon ausging, dass Grandpa nichts Schlimmes hatte, fühlte ich mich gleich ein bisschen besser. »Wo ist Grandma?« »Sie verjagt gerade einen Patienten aus dem Zimmer mit der besten Aussicht.« »Im Ernst?« »Wenn ihm nicht schnell jemand hilft, geht er ohne den Sauerstoffapparat«, entgegnete Mom halb scherzhaft, halb im Ernst. »Wie lange dauert es denn noch, bis er gebracht wird?«, fragte ich. »Nicht mehr lange.« »Ich würde gerne irgendwas tun«, sagte ich. »Was denn? Rollschuh laufen?«, fragte Mom. »Kaffee holen oder jemanden anrufen – irgendetwas anderes, als hier rumzustehen und zu warten«, erklärte ich. »Verstehe.« Sie nickte. »Telefonieren ist nicht

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schlecht, aber ich bin doch eher für den Kaffee.« »Okay, prima. Luke? Einen Tee?«, wandte ich mich an ihn. »Am liebsten Pfefferminz«, antwortete er. »Bin gleich wieder da.« Ich ging davon. »Hey!«, rief Mom und kam mir hinterher. Als ich mich umdrehte, sagte sie leise: »Er wird bestimmt wieder gesund.« »Ich hab doch gerade erst angefangen, ihn kennen zu lernen.« »Ich weiß.« »Ich will nicht, dass er…« »Das wird er nicht«, unterbrach sie mich, bevor ich es aussprechen konnte. »Und jetzt hol mir meinen Kaffee!« Aber der Kaffeeautomat war kaputt, und so kehrte ich mit leeren Händen zurück. Es gab nur Hühnersuppe und Pez-Bonbons. – Ehrlich, das stimmt! Während meiner Abwesenheit hatte man Großvater auf sein Zimmer gebracht. Sobald er wach wurde, las ich ihm die neusten Nachrichten aus der Financial Times und dem Wall Street Journal vor. Es schien ihm gut zu tun, und ich leistete ihm gern Gesellschaft. Als Grandma mit frisch bezogenen Kissen wiederkam, bat sie mich, später weiterzumachen, weil sie mit Großvater allein sprechen wollte. Beim Aufstehen beugte ich mich über ihn. »Darf ich dich umarmen, oder tut das weh?« »Schmerzen gehören zum Leben«, antwortete er. Ich umarmte ihn rasch und küsste ihn sanft auf die Wange.

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»Dieses kleine Mädchen mag dich«, bemerkte Grandma und legte mir einen Arm um die Schulter. »Nun… sie hat einen guten Geschmack«, sagte Großvater lächelnd. In diesem Augenblick wusste ich, dass er wieder ganz gesund werden würde. Als ich nach draußen auf den Flur kam, saß Luke auf einem Stuhl direkt vor der Tür. Er hatte das Kinn in die Hände gestützt und blickte zu Boden. Er sah sehr blass aus und machte einen bekümmerten Eindruck. »Wo ist Mom?«, fragte ich. »Auf der Suche nach Kaffee«, antwortete er mit monotoner Stimme. »Was machst du da?« »Ich gucke meine Schuhe an.« »Oh, dann lass dich nicht stören!« Im Besucherraum drückte Mom immer wieder auf den Kaffeeknopf an dem Automat für Heißgetränke. Aber da war nichts zu machen. »Geht nicht, hm?«, sagte ich. »Ich glaube, ich habe den Knopf schon überstrapaziert«, entgegnete sie und versuchte es mit einem aa* deren. »Du Arme!« »Ist der Arzt schon wieder zurück?« »Noch nicht.« »Tja.« Endlich ließ sie von dem Automaten ab und drehte sich zu mir um. »Du hattest übrigens heute Abend Besuch.« »Ja? Wen denn?«, fragte ich erstaunt. »Den großen Unsichtbaren.« »Dean war da?« »Genau der«, sagte Mom und ging an mir vorbei

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zu dem Wechselgeldautomaten. »Er hat versucht, heimlich an dein Fenster zu klopfen.« »Warst du fies zu ihm?«, fragte ich. »Also bitte! Ich bin nie fies«, erwiderte sie. »Du warst also fies«, stellte ich fest. Mom lächelte zaghaft. »Er hat mir gesagt, es ist nichts passiert.« »Es ist nichts passiert.« »Ich weiß«, sagte Mom. »Du weißt es?«, fragte ich. »Echt?« »Rory, weißt du eigentlich, worauf ich mich auf dieser Welt verlassen kann? Zum einen auf die Tatsache, dass ich Charo – egal wie lange sie auch schon in diesem Land lebt – nie verstehen werde, und zum anderen auf dich.« »Hoffentlich nicht in dieser Reihenfolge«, bemerkte ich. »Aber du musst auch verstehen, was für eine Panik das Ganze ausgelöst hat«, sagte Mom. »Das verstehe ich«, entgegnete ich. »Wirklich! Und es tut mir so Leid. So etwas wird nie wieder vorkommen, ich schwöre!« »Schwör lieber nicht!«, drohte Mom. »Warum nicht?« »Weil du die Tochter deiner Mutter bist«, sagte sie nur. »Was hat denn das jetzt wieder zu bedeuten?« »Es bedeutet, dass so was trotzdem wieder vorkommen kann. Auch wenn du es wirklich nicht darauf anlegst.« »Es kommt aber nicht wieder vor«, beteuerte ich. Mom lachte kurz auf. »Okay.« Dann schwiegen wir eine Weile.

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»Es war schrecklich, ohne dich auf die Weihnachtsfeier zu gehen«, erklärte ich schließlich. »Es war schrecklich, dich allein gehen zu lassen«, gab sie zurück. »Wie waren die Apfeltörtchen?« »Ach, Grandma hat dieses Jahr gar keine gemacht«, antwortete ich. Langsam schlenderten wir zurück zu Großvaters Zimmer. »Wirklich? Das ist aber merkwürdig.« »Ja, nicht wahr?« »Hm, ich habe so das Gefühl, du wolltest mich gerade anflunkern«, sagte sie misstrauisch. »Stimmt voll und ganz.« Sie legte mir einen Arm um die Schultern. »Braves Mädchen!« Etwas später bat Joshua uns alle in Großvaters Zimmer und teilte uns mit, dass Grandpa einen leichten Angina-Pectoris-Anfall gehabt hatte. Er müsse seine Ernährung umstellen, erklärte der Arzt, und sich mehr bewegen, dann würde er zukünftig keine Probleme haben. Ich war unglaublich erleichtert und froh. Meinem Großvater würde es bald wieder gut gehen – schon am nächsten Morgen sollte er nach Hause entlassen werden. Mom war nicht mehr sauer auf mich. Und Dean hatte sich endlich blicken lassen. Weil Mom noch ein Weilchen bei ihren Eltern im Krankenhaus bleiben wollte, bat ich Luke, mich mitzunehmen. Mom riet mir noch, Dean anzurufen und ihm was Kitschiges ins Ohr zu flüstern und mich mit ihm zu zanken, wer zuerst auflegen soll. Manchmal hat sie wirklich verrückte Ideen!

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Aber als Luke mich zu Hause abgesetzt hatte, ging ich wirklich sofort ans Telefon und rief bei Dean an. Und obwohl er schon geschlafen hatte, redeten wir ungefähr zwei Stunden lang – ohne großen Kitsch. Ehrlich!

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