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German Pages 526 Year 2006
Jochen Eckert Eva-Maria Biermann-Ratjen Diether Höger (Hrsg.) Gesprächspsychotherapie Lehrbuch für die Praxis
Jochen Eckert Eva-Maria Biermann-Ratjen Diether Höger (Hrsg.)
Gesprächspsychotherapie Lehrbuch für die Praxis
123
Prof. Dr. phil. Jochen Eckert Universität Hamburg Institut für Psychotherapie Von-Melle-Park 5 20146 Hamburg
Dipl.-Psych. Eva-Maria Biermann-Ratjen Psychotherapeutische Praxis Loehrsweg 1 20249 Hamburg
Prof. Dr. phil. em. Diether Höger Universität Bielefeld Abt. für Psychologie der Fakultät für Psychologie und Sportwissenschaften Postfach 100131 33501 Bielefeld
ISBN-10: 3-540-28463-X ISBN-13: 978-3-540-28463-5 Springer Medizin Verlag Heidelberg Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar. Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Die dadurch begründeten Rechte, insbesondere die der Übersetzung, des Nachdrucks, des Vortrags, der Entnahme von Abbildungen und Tabellen, der Funksendung, der Mikroverfilmung oder der Vervielfältigung auf anderen Wegen und der Speicherung in Datenverarbeitungsanlagen, bleiben, auch bei nur auszugsweiser Verwertung, vorbehalten. Eine Vervielfältigung dieses Werkes oder von Teilen dieses Werkes ist auch im Einzelfall nur in den Grenzen der gesetzlichen Bestimmungen des Urheberrechtsgesetzes der Bundesrepublik Deutschlandvom 9. September 1965 in der jeweils geltenden Fassung zulässig. Sie ist grundsätzlich vergütungspflichtig. Zuwiderhandlungen unterliegen den Strafbestimmungen des Urheberrechtsgesetzes. Springer Medizin Verlag. Ein Unternehmen von Springer Science+Business Media springer.de © Springer Medizin Verlag Heidelberg 2006 Printed in Germany Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen, Warenbezeichnungen usw. in diesem Werk berechtigt auch ohne besondere Kennzeichnung nicht zu der Annahme, dass solche Namen im Sinne der Warenzeichen- und Markenschutzgesetzgebung als frei zu betrachten wären und daher von jedermann benutzt werden dürften. Produkthaftung: Für Angaben über Dosierungsanweisungen und Applikationsformen kann vom Verlag keine Gewähr übernommen werden. Derartige Angaben müssen vom jeweiligen Anwender im Einzelfall anhand anderer Literaturstellen auf ihre Richtigkeit überprüft werden. Planung: Dr. Svenja Wahl Projektmanagement: Michael Barton Copy Editing: Ursula Illig, Stockdorf Satz: Fotosatz-Service Köhler GmbH, Würzburg Umschlaggestaltung: deblik Berlin SPIN 10939949 Gedruckt auf säurefreiem Papier
2126-5 4 3 2 1 0
V
Autorenverzeichnis Herausgeber
Mitautoren
Eckert, Jochen, Prof. Dr. phil.
Berger, Franz, Dr. phil.
Universität Hamburg Institut für Psychotherapie Von-Melle-Park 5 20146 Hamburg
Laupenring 163 CH-4001 Basel
Biermann-Ratjen, Eva-Maria, Dipl.-Psych. Psychotherapeutische Praxis Loehrsweg 1 20249 Hamburg
Höger, Diether, Prof. Dr. phil. em. Universität Bielefeld Abt. für Psychologie der Fakultät für Psychologie und Sportwissenschaften Postfach 100131 33501 Bielefeld
Brossi, Rosina, lic. phil. Psychotherapeutische Praxis Grenzacherstrasse 10 CH-4058 Basel
Laleik, Sigrid, Dipl.-Psych. Psychotherapeutische Praxis Gneisenaustraße 12 27105 Kiel
Petersen, Henriette, Dipl.-Psych. Psychotherapeutische Praxis Elbchaussee 548 22587 Hamburg
Reisel, Barbara, Dr. phil. Psychotherapeutische Praxis Leegasse 9/11 A-1140 Wien
Schmeling-Kludas, Christoph, Prof. Dr. med. Psychosomatische Medizin Segeberger Kliniken GmbH Am Kurpark 1 23795 Bad Segeberg
Schützmann, Karsten, Dipl.-Psych. Dr. phil. Klinikum Nord 4. Psychiatrische Abteilung Behandlungseinheit Schizophrenie Langenhorner Chaussee 560 22419 Hamburg
Wakolbinger, Christine, Mag. Psychotherapeutische Praxis Fillgradergasse 9/9 A-1060 Wien
VII
Vorwort Wir behandeln in diesem Lehrbuch die Theorie und Praxis der Gesprächspsychotherapie und ihre Entwicklung durch den amerikanischen Psychologen Carl Rogers in der Mitte des letzten Jahrhunderts. Warum und warum in dieser Zeit? »Wer neuere Literatur zur Klinischen Psychologie und zur Psychotherapie aus der Perspektive einer Gesprächspsychotherapeutin1 oder eines Gesprächspsychotherapeuten liest, wird einerseits Belege für eine zunehmende Distanzierung von der Gesprächspsychotherapie finden, kann andererseits aber auch den Eindruck gewinnen, dass die Gesprächspsychotherapie noch nie so anerkannt war wie gerade jetzt« (Auckenthaler, 2001, S. 98). Auckenthaler hält die Distanzierung der Klinischen Psychologie und Psychotherapie von der Gesprächspsychotherapie für eine »verständliche« Konsequenz von deren fortschreitender Medikalisierung. Heute werde z. B. Fachpsychotherapie als etablierte Methode zur Behandlung von Krankheit entschieden von Lebenshilfe abgegrenzt (Senf & Broda, 2000, S. 4). Und Gesprächspsychotherapie sei nicht wie die sog. Richtlinienverfahren in diesem Sinne »etabliert«. Auf der konzeptuellen Ebene würden medizinische Begriffe zur Einordnung und zum Verstehen von klinisch psychologischen und psychotherapeutischen Problemen verwendet, ein »organisiertes, medizinisch legitimiertes Herangehen« (Forster, 1997, S. 154) an diese charakterisiere die institutionelle Ebene, und die Ausbreitung der Gleichsetzung von Psychotherapie mit der Behandlung von Krankheiten führe auf der interaktiven Ebene dazu, dass unter »Berufung auf ein ätiologisches Paradigma der individuellen Störung und ein prozessuales Paradigma der indikativen Behandlung« (Bruns, 1992, S. 510) die Interaktionen zwischen Psychotherapeut und Klient störungsspezifisch und manualgeleitet sind, ausgehend von der Modellvorstellung, dass die Symptome des Patienten Ausdruck einer bestimmten Erkrankung sind, die mit bestimmten Eingriffen – im Idealfall wie mit bestimmten Medikamenten – in einer bestimmten Reihenfolge vorgenommen zum Verschwinden gebracht werden können. Im Gegensatz dazu wird betont, dass die neuesten Ergebnisse der Forschung zur Wirkungsweise von Psychotherapie den Wirkannahmen von Rogers sehr nahe kommen. Ganz im Sinne der von Rogers formulierten sechs Bedingungen für den psychotherapeutischen Prozess und anders, als es mit der Annahme von den drei therapeutischen Basisvariablen Echtheit, Akzeptanz und Empathie (die im übrigen z. B. von Verhaltentherapeuten ganz anders verstanden und dann auch definiert worden sind als im Klientenzentrierten Konzept; Auckenthaler & Bischkopf, 2004) in der empirischen Forschung in früheren Jahren postuliert worden ist, beinhalten die neuesten Ergebnisse zur Wirkungsweise von Psychotherapie, dass »die gute therapeutische Beziehung, wahrgenommen aus der Perspektive des Klienten, der zuverlässigste Prädiktor für psychotherapeutische Erfolge ist, dass es Klienten bei ihren Therapeuten vor allem auf Empathie, Respekt, Wertschätzung, Engagement, Glaubwürdigkeit und Echtheit ankommt (Orlinsky, Grawe & Parks, 1994; Orlinsky & Howard, 1986; Miller, Duncan & Hubble, 2000). Der Beitrag des Klienten hat sich als für den Therapieerfolg wichtiger erwiesen als ein bestimmter Ansatz oder eine bestimmte Technik der Therapeuten (z. B. Bohart & Tallman, 1996; Lambert, 1992; Miller et al., 2000)« (Auckenthaler, 2001, S. 100). »Rogers Auffassung der therapeutischen Beziehung gilt als ›bahnbrechend‹; sie habe ›die klinische Praxis für immer verändert‹ und sei ›Grundlage eines Großteils der Psychotherapieforschung‹ der vergangenen vierzig Jahre gewesen (Miller, Duncan & Hubble, 2000, S. 102)« (Auckenthaler, 2001, S. 100). 1
Wir benutzen in diesem Buch aus Gründen der Leserfreundlichkeit die männliche/neutrale Form. Von dieser Regelung ausgenommen sind Zitate.
VIII
Vorwort
Vor diesem Hintergrund stellen wir mit diesem Lehrbuch der Gesprächspsychotherapie nicht nur eine Therapieschule vor, sondern eine psychotherapeutische Grundorientierung, nämlich das humanistische Paradigma, das sich von anderen Paradigmen, von denen vor allem das psychoanalytische, das behavioristische und das systemische genannt seien, in wesentlichen Annahmen über das Wesen und Werden des Menschen und über die Entwicklung und Möglichkeiten zur Behebung von psychischen Krankheiten unterscheidet. Und wir plädieren auf der Grundlage des derzeitigen Standes der empirischen Forschung für eine differenzielle Therapieindikation bzw. eine differenzielle Psychotherapie. Es hat sich bis heute kein psychotherapeutisches Verfahren als den anderen in ihrer Wirksamkeit empirisch überprüften Verfahren generell überlegen herausgestellt. Man spricht in diesem Zusammenhang von einem Äquivalenzparadoxon. Es ist offenbar möglich, ein und dasselbe Ziel auf unterschiedlichen Wegen bzw. mit unterschiedlichen Mitteln zu erreichen. Das hat sicher auch dazu beigetragen, dass die Entwicklung neuer Therapieformen und -schulen nicht dazu geführt hat, dass die schon länger bestehenden Schulen an Bedeutung verloren oder sich gar aufgelöst hätten. Die neuen Therapieschulen weisen zwar andere Wege auf, können aber nicht den Nachweis erbringen, dass sie auch deutlich wirksamer behandeln als die älteren Verfahren. Und offenbar brauchen auch Psychotherapeuten eine »Identität«, möchten sich nicht nur mit etwas identifizieren können, sondern auch von etwas abgrenzen können. Therapieschulen haben etwas Identität Stiftendes. Sie bieten eine innere und im therapeutischen Handeln sichtbar werdende Übereinstimmung einer »Theorie« mit einem Verfahren. In Auswahlgesprächen mit Kandidaten für eine Ausbildung zum Psychotherapeuten ist immer wieder unmissverständlich zu hören, dass sie die Schule wählen, deren Paradigma ihren eigenen Erfahrungen und Auffassungen von menschlichen Entwicklungen und ihren Bedingungen am nächsten kommt. Sie wollen, dass ihre »persönliche« zu ihrer »therapeutischen« Identität passt. Die Idee einer Differenziellen Psychotherapie2 und einer entsprechenden Therapieindikation ist auch ausgeführt im Allgemeinen Modell von Psychotherapie (AMP), das die amerikanischen Therapieforscher Howard und Orlinsky (7 Kap. 8.4) auf der Grundlage vieler empirischer Prozess-Outcome-Studien entwickelt haben. In diesem Modell gilt der Therapieerfolg als wesentlich abhängig davon, dass vier Faktoren zueinander passen: Die Person des Therapeuten, die Person des Patienten, das Behandlungsmodell (Verfahren) des Therapeuten und die Art der Störung des Patienten. Sie sollten eine Rolle bei der differenziellen Indikationsstellung spielen, denn ihre Passungen haben Einfluss auf den Therapieprozess und darüber auch auf das Therapieergebnis. Für viele Patienten ist eine Gesprächspsychotherapie »passender« als eine Verhaltenstherapie, eine systemische Familientherapie, ein psychoanalytisches oder ein anderes Verfahren. Es könnte sein, dass soeben »ein Jahrhundert des Gehirns« (Grawe, 2004, S. 16) begonnen hat, in dem sich herausstellen wird, dass Griesinger (1817–1868) vor 200 Jahren recht hatte, als er postulierte: »Geisteskrankheiten sind Gehirnkrankheiten«. Es könnte sein, dass wir uns in naher Zukunft bei der Behandlung psychischer Störungen den Umweg über die Psyche – und eine psychotherapeutische Identität sowie eine differenzielle Indikation – sparen und direkt auf das Gehirn einwirken können, wobei sich Psychopharmaka und Psychochirurgie vermutlich als preiswerter als irgendeine Form von Psychotherapie herausstellen werden. Wir sind auf die zukünftigen Entwicklungen sehr gespannt. Bis zu ihrem Eintreten bleiben wir in unserer beschriebenen Position, weil wir uns darin durch die neuesten Ergebnisse der 2
Feste Fachbegriffe wie Differenzielle Psychotherapie werden in diesem Buch wie Eigennamen behandelt und groß geschrieben.
IX Vorwort
Psychotherapieforschung (7 oben) bestätigt sehen, und in Übereinstimmung mit dem amerikanischen Psychiater, Psychotherapeuten, Gruppentherapieforscher und Romancier Irvin D. Yalom, der in seinem Buch »Was Hemingway von Freud hätte lernen können« schreibt: »Jede Untersuchung der Natur der therapeutischen Beziehung führt früher oder später zu dem Diktum von Carl Rogers: Es ist die Beziehung, die heilt. Diese Vorstellung, das vielleicht grundlegendste Axiom der Psychotherapie - und Axiom ist durchaus kein zu starker Begriff - postuliert, daß die mutative Kraft, die den Prozeß der persönlichen Veränderung bestimmt, auf der Art der Beziehung zwischen Patienten und Therapeut beruht. Andere Überlegungen sind dem gegenüber durchaus zweitrangig«. (Yalom, 2003, S. 237). Die therapeutische Beziehung ist das zentrale Prozessmerkmal einer Gesprächspsychotherapie. Und Beziehungen sind etwas Wechselseitiges. Der Therapeut kann ein Beziehungsangebot machen, aber, ob eine therapeutisch hilfreiche Beziehung zustande kommt, ist davon abhängig, ob der Patient es auch wahr- und annimmt. Insofern ist Gesprächspsychotherapie nicht durch eine spezifische Technik definiert, sondern durch eine Theorie, die das therapeutische Handeln leitet. Danksagung. Wir danken allen Kolleginnen und Kollegen, die jede bzw. jeder auf ihre bzw.
seine Weise einen Beitrag zu diesem Buch geleistet haben, vor allem den Studierenden, die sich mit Gesprächspsychotherapie im Fach Interventionsmethoden – auch kritisch – auseinandergesetzt haben, und den Supervionsgruppenmitgliedern, die immer wieder mit ihren Fällen aus der Praxis Möglichkeiten und Grenzen des Verfahrens deutlich gemacht haben. Namentlich und sehr herzlich möchten wir Svenja Wahl vom Springer-Verlag für das Verlegen und Ursula Illig für das Lektorat und Melanie Schacht, wissenschaftliche Mitarbeiterin der Arbeitsbereiches Gesprächspsychotherapie an der Universität Hamburg, für das »interne Lektorat« bei der Manuskripterstellung des Buches danken. Hamburg und Bielefeld, im Frühjahr 2006 Jochen Eckert, Eva-Maria Biermann-Ratjen und Diether Höger
XI
Inhaltsverzeichnis 1
1.1 1.2
2
2.1
2.2
2.3 2.4 2.5 2.6 2.7 2.8 2.9 2.10
3
Was ist Psychotherapie, was ist Gesprächspsychotherapie? . . . . . . . .
1
E.-M. Biermann-Ratjen Was ist Psychotherapie? . . . . . . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
1 3
4.3 4.4
Die Entwicklung des Klientenzentrierten Konzepts . . . . . . . . . . . . . 11
4.5
D. Höger Warum ist es sinnvoll, sich mit der Geschichte der Gesprächspsychotherapie zu befassen? . . . . . . . . . . . . . Die Gesprächspsychotherapie als Ergebnis aus therapeutischer Praxis und empirisch-psychologischer Forschung . . . Die Suche nach dem effizienten Therapeutenverhalten . . . . . . . . . . . . . Die Überprüfung der Wirksamkeit von Therapie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die erste Formulierung der Klientenzentrierten Theorie . . . . . . . . . . . . . . . Die systematische Darstellung des Klientenzentrierten Konzepts . . . . . . . . Das Menschenbild des Klientenzentrierten Konzepts . . . . . . . . . . . . . . Funktion und Bedeutung von Paradigmen in der Wissenschaft . . . . . . . . . . . . . . . Die Einführung des Klientenzentrierten Konzepts in Deutschland . . . . . . . . . . . Weiterführende Literatur . . . . . . . . . . .
4.6
4.2
12
4.7 4.8 4.9 4.10
. 74 . 76 . 76 . 77 . . . . .
77 82 86 88 91
14
5 17 23
5.1
25
5.2
26 5.3 27 5.4 32 34 34
Klientenzentrierte Persönlichkeitstheorie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 37
5.5 5.6
5.7 5.8
3.4
D. Höger Organismus . . . . . . . . . . . . . Aktualisierungstendenz . . . . . Die Repräsentation der Welt in der Person . . . . . . . . . . . . . . Weiterführende Literatur . . . .
4
Klientenzentrierte Entwicklungslehre
73
6.3
4.1
E.M. Biermann-Ratjen Vergleich mit psychoanalytischen Konzepten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 73
6.4
3.1 3.2 3.3
Die Klientenzentrierte Entwicklungstheorie ist eine Theorie der Selbstentwicklung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Definitionen des Selbst . . . . . . . . . . . Die Bedingungen für die Integration von Selbsterfahrung in das Selbstkonzept . . Die Bedeutung der Affekte für den empathischen Kontakt . . . . . . . . . . . . Die Entwicklung des »sense of self« nach Stern . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Bindungstheorie . . . . . . . . . . . . . Die Selbsterhaltungstendenz . . . . . . . Phasen der Selbstkonzeptentwicklung . Weiterführende Literatur . . . . . . . . . .
. . . . . . . 38 . . . . . . . 39
6 6.1
. . . . . . . 58 . . . . . . . 72
6.2
Krankheitslehre der Gesprächspsychotherapie . . . . . . . . . . . . . . . . 93 E.M. Biermann-Ratjen Die Grundlage für Veränderungen im Therapieprozess: Aktualisierungtendenz Die Grundlage von Inkongruenz: Das Bedürfnis nach unbedingter positiver Beachtung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die mehr oder weniger voll funktionsfähige Person . . . . . . . . . . . . . . . . . . Differenzielle Beschreibungen des Inkongruenzerlebens . . . . . . . . . . . . Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . Übereinstimmungen und Unterschiede mit tiefenpsychologischen/psychoanalytischen Störungskonzepten . . . . . Ausblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Weiterführende Literatur . . . . . . . . . .
93
. 96 . 99 . 103 . 114
. 114 . 115 . 116
Klientenzentrierte Therapietheorie . . 117 D. Höger Wie therapeutische Veränderungen entstehen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Wie und warum wirkt Gesprächspsychotherapie? . . . . . . . . . . . . . . . Die Klientenzentrierte Therapietheorie und die Praxis . . . . . . . . . . . . . . . . . Weiterführende Literatur. . . . . . . . . .
. . 118 . . 131 . . 133 . . 138
XII
Inhaltsverzeichnis
7
Therapieziele . . . . . . . . . . . . . . . . . . 139
10.3
. . 147 . . 148
11.1
7.4
J. Eckert Das Klientenzentrierte Konzept und die Festlegung von Therapiezielen Sechs Therapieziele . . . . . . . . . . . . . Therapieziele und Therapiezielvereinbarungen in der Praxis . . . . . . . Weiterführende Literatur. . . . . . . . . .
8
Indikationsstellung . . . . . . . . . . . . . . 149
11.2 11.3
7.1 7.2 7.3
8.1 8.2 8.3 8.4 8.5 8.6
9
10.4 . . 139 . . 142
J. Eckert Anwendungsbereiche für Psychotherapie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Diagnostik und Indikation für Psychotherapie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Indikation und Prognose einer Gesprächspsychotherapie. . . . . . . . . . . . . . . . . . Beispiel einer Indikationsstellung: Die Patientin Annette P. . . . . . . . . . . . . Differenzielle Indikation . . . . . . . . . . . . Weiterführende Literatur . . . . . . . . . . .
149
11.4
152
11.5
188 203 211 217
. . . .
. 296 . 301 . . 305
. . 306
. . 316 . . 322 . . 332
219 226 229
12.5 12.6
13
Krisenintervention . . . . . . . . . . . . . . 373
10
Evaluation und Qualitätssicherung . . . 267
10.1 10.2
J. Eckert, D. Höger, E.-M. Biermann-Ratjen Wirksamkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 267 Verfahren zur Messung des Therapieprozesses . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 273
9.5 9.6 9.7 9.8 9.9
12
. . 295
12.1 12.2 12.3 12.4
Der therapeutische Prozess in der Praxis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 219
9.10
9.3 9.4
11.6 11.7
Kinder und Jugendliche . . . . . . . . B. Reisel, C. Wakolbinger Das Konzept der Klientenzentrierten »Spieltherapie« – Entwicklung und aktueller Stand . . . . . . . . . . . . . . . . Klientel und Indikation . . . . . . . . . . . Spezielle Anforderungen an den Kinder psychotherapeuten . . . . . . . . . . . . . Entwicklungspsychologische Grundlagen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Das Beziehungsangebot im Kontext Klientenzentrierter Kinderpsychotherapie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Fallgeschichte . . . . . . . . . . . . . . . . Weiterführende Literatur . . . . . . . . .
Personzentrierte Beratung . . . . . . . . F. Berger Definition . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ziele der Personzentrierten Beratung . . . Klientel und Indikationen . . . . . . . . . . . Methode und Praxis der Personzentrierten Beratung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Personzentrierte Beratung im Wandel . . . Weiterführende Literatur. . . . . . . . . . . .
J. Eckert Die therapeutische Beziehung . . . . . . . . Eine Taxonomie in der Klientenzentrierten Therapietheorie . . . . . . . . . . . . . . . . . Therapeutische Handlungsregeln . . . . . . Gesprächspsychotherapeutisches Handeln in der Praxis: Kommentiertes Protokoll einer klientenzentrierten Therapiesitzung . . . . . . . . . . . . . . . . . Verlauf einer Gesprächspsychotherapie . . Therapieabschluss . . . . . . . . . . . . . . . Typische Behandlungsprobleme . . . . . . Störungsspezifisches Vorgehen . . . . . . . Behandlungsleitlinien (Manuale) in der Gesprächspsychotherapie . . . . . . . . . . . Weiterführende Literatur . . . . . . . . . . .
9.1 9.2
11
Verfahren zur Messung des Therapieergebnisses . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 277 Supervision . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 283
239 249 258 260 263
13.1
263 266
14
13.2 13.3 13.4
14.1 14.2 14.3 14.4
R. Brossi Krisen: Erschütterungen der Kontinuität des Lebens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Was in Krisen hilfreich ist . . . . . . . . . . . Chancen und Gefahren von Krisen . . . . Weiterführende Literatur . . . . . . . . . .
. . . .
333 333 344 346 348 370 372
374 382 387 391
Gesprächstherapie bei körperlich Kranken und Sterbenden . . . . . . . . . 393 C. Schmeling-Kludas Patienten und Indikationen . Ziele . . . . . . . . . . . . . . . . Praktisches Vorgehen . . . . Weiterführende Literatur . .
. . . .
. . . .
. . . .
. . . .
. . . .
. . . .
. . . .
. . . .
. . . .
393 398 399 407
XIII Inhaltsverzeichnis
15
Gesprächspsychotherapie im stationären Rahmen . . . . . . . . . . . . . 409
19.3 19.4
Focusing und Gesprächspsychotherapie . . 438 Weiterführende Literatur . . . . . . . . . . . 439
20
Prozess-Erlebnisorientierte Psychotherapie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 441
410
20.2
412 414
20.3
15.5
J. Eckert Historisches . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Wann ist eine stationäre Psychotherapie einer ambulanten vorzuziehen? . . . . . . . Besondere Anforderungen an Gesprächspsychotherapeuten in der stationären Psychotherapie . . . . . . . . . . . . . . . . . Wirksamkeit von stationärer Gesprächspsychotherapie . . . . . . . . . . . . . . . . . Weiterführende Literatur . . . . . . . . . . .
16
Gruppenpsychotherapie . . . . . . . . . . 415
20.4
15.1 15.2 15.3
15.4
409 410
20.1
16.6
J. Eckert Zur Geschichte der Klientenzentrierten Gruppenpsychotherapie . . . . . . . . . . Zur Theorie der Gruppenpsychotherapie im Rahmen des Klientenzentrierten Konzepts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Wirksamkeit von Gruppenpsychotherapie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Indikation für Gruppenpsychotherapie . Differenzielle Indikation zur Einzel- oder Gruppenpsychotherapie . . . . . . . . . . . Weiterführende Literatur. . . . . . . . . . .
17
Paartherapie. . . . . . . . . . . . . . . . . . . 423
16.1 16.2
16.3 16.4 16.5
21 . 415
17.3 17.4
18
Familientherapie . . . . . . . . . . . . . . . . 429
17.1 17.2
18.1 18.2 18.3 18.4
19 19.1 19.2
J. Eckert Geschichte und Definition . . . . . . . . Klientenzentrierte Familientherapie . . Klientenzentrierte Spiel- und Familientherapie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Weiterführende Literatur . . . . . . . . .
423 423 426 427
Ein störungsbezogenes Konzept von Gesprächspsychotherapie . . . . . . 449
Das Differenzielle Inkongruenzmodell 457
21.3
22.1 22.2 22.3 22.4
23
. . 429 . . 430
23.1
. . 433 . . 434
23.2
Focusing . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 435 D. Höger Focusing als Prozess . . . . . . . . . . . . . . 435 Focusing als Methode . . . . . . . . . . . . . 437
. . 447 . . 448
22
21.2
J. Eckert Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Entwicklung eines Konzepts Klientenzentrierter Psychotherapie mit Paaren . . . Klientenzentrierte Paartherapie . . . . . . . Weiterführende Literatur . . . . . . . . . . .
. . 445
21.4
. 417
. 421 . 421
. . 441
Eva-Maria Biermann-Ratjen Therapieziele und therapeutische Wirkfaktoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Annahmen über die Zusammenhänge von Theorie und Praxis . . . . . . . . . . . . . Gesprächspsychotherapie bei bestimmten Diagnosen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Weiterführende Literatur. . . . . . . . . . . .
21.1
. 420 . 420
J. Eckert Die Emotionstheorie von Greenberg und anderen . . . . . . . . . . . . . . . . . Ziele und Praxis der Prozess-Erlebnisorientierten Therapie . . . . . . . . . . . . Welche Unterschiede gibt es zwischen der PET und der klassischen Gesprächspsychotherapie? . . . . . . . . . . . . . . . Weiterführende Literatur. . . . . . . . . .
24
E.-M. Biermann-Ratjen Persönlichkeitstheoretische Annahmen Annahmen zur Entstehung von Inkongruenz . . . . . . . . . . . . . . . . . Inkongruenzanalyse und therapietheoretische Annahmen . . . . . . . . . . Weiterführende Literatur . . . . . . . . .
450 451 453 456
. . 457 . . 458 . . 459 . . 460
Behandlungsleitlinien . . . . . . . . . . . . 461 E.-M. Biermann-Ratjen, J. Eckert, S. Laleik, K. Schützmann Leitlinien für die gesprächspsychotherapeutische Behandlung von Anpassungsstörungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 461 Manual zur ambulanten Klientenzentrierten Gesprächspsychotherapie bei Bulimia nervosa . . . . . . . . . . . . . . . 464 Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 483
XIV
Inhaltsverzeichnis
25
Aus- und Weiterbildung in Gesprächspsychotherapie . . . . . . . . . . . . . . . . 503
25.1
Ausbildung und Ausbildungsstätten in Deutschland, Österreich und in der Schweiz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 503 Curriculum für eine Ausbildung nach dem deutschen PsychThG zum Psychologischen Psychotherapeuten mit dem Schwerpunkt Gesprächspsychotherapie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 506
25.2
Sachverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 513
1 1 Was ist Psychotherapie, was ist Gesprächspsychotherapie? E.-M. Biermann-Ratjen 1.1
Was ist Psychotherapie?
1.1.1 1.1.2
Eine Definition von Psychotherapie – 1 Psychotherapie ist ein Prozess zur Beeinflussung – 2 Psychotherapie ist ein bewusster und geplanter Prozess – 3 Psychotherapie ist Beeinflussung in Richtung auf ein definiertes, nach Möglichkeit gemeinsam erarbeitetes Ziel – 4
1.1.3 1.1.4
1.1
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Was ist Psychotherapie?
Die Dienst habende Ärztin der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie eines Universitätskrankenhauses wird in den Zentralen Aufnahmedienst (ZAD) gerufen. Später berichtet sie in der Morgenkonferenz: Eine 20 Jahre alte, ledige, bei der Mutter lebende Studentin im ersten Semester ist während des Unterrichts ohnmächtig zu Boden gestürzt und von zwei Kommilitoninnen in den ZAD gebracht worden. Die junge Frau habe »abwehrend-agierend« mitgeteilt, dass sie seit mindestens drei Jahren immer wieder »Anfälle« von Luftnot und Herzrasen erlebe, in denen sie auch »gelähmt« sei, nicht hören und nicht sehen könne, auch nicht sprechen. Der Vater habe die Familie verlassen, in der es Suizidalität und Drogenabusus gebe, »alles zusammengebrochen« sei. Es komme am ehestens in geschlossenen Räumen zu diesen Anfällen. Die Patientin zeige aber keine Tendenz, diese zu meiden. Sie (die Ärztin) habe die Verdachtsdiagnose: Angststörung mit hysterischer Ausgestaltung gestellt und die Differenzialdiagnose: Dissoziative Störung und die Patientin mit der Frage, ob eine psychotherapeutische Behandlung indiziert ist, in die Poliklinik überwiesen.
1.1.5
1.1.8
Psychotherapie ist Krankenbehandlung auf der Basis einer Theorie des normalen und pathologischen Verhaltens – 5 Psychotherapie beeinflusst mit psychologischen Mitteln (durch Kommunikation) – 6 Psychotherapie beeinflusst mittels lehrbarer Techniken – 8 Was ist Gesprächpsychotherapie? – 9
1.2
Literatur
1.1.1
Eine Definition von Psychotherapie
1.1.6 1.1.7
– 10
Vor einem halben Jahrhundert hat Strotzka definiert, was aber schon lange galt und heute noch gilt: »Psychotherapie ist ein bewusster und geplanter interaktioneller Prozess zur Beeinflussung von Verhaltensstörungen und Leidenszuständen, die in einem Konsensus (möglichst zwischen Patient, Therapeut und Bezugsgruppe) für behandlungsbedürftig gehalten werden, mit psychologischen Mitteln (durch Kommunikation) meist verbal, aber auch averbal, in Richtung auf ein definiertes, nach Möglichkeit gemeinsam erarbeitetes Ziel (Symptomminimalisierung und/oder Strukturänderung der Persönlichkeit) mittels lehrbarer Techniken auf der Basis einer Theorie des normalen und pathologischen Verhaltens. In der Regel ist dazu eine tragfähige emotionale Bindung notwendig.« (Strotzka, 1975, S. 4) Diese Definition ist z. B. dem Forschungsgutachten zu Fragen eines Psychotherapeutengesetzes (Meyer, Richter, Grawe, Graf v. d. Schulenburg & Schulte, 1991) zu Grunde gelegt worden.
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Kapitel 1 · Was ist Psychotherapie, was ist Gesprächspsychotherapie?
Wir nehmen an, dass auch die erwähnte Psychiaterin von dieser oder einer ähnlichen Definition von Psychotherapie ausgeht. Der Ohnmachtsanfall stellt eine Verhaltensstörung bzw. einen Leidenszustand dar – er hat dazu geführt, dass die Studentin in den ZAD gebracht worden ist, und die Patientin erleidet immer wieder »Anfälle« von Luftnot und Herzrasen, in denen sie auch »gelähmt« sei, nicht hören und nicht sehen könne, auch nicht sprechen. Der Ohnmachtsanfall ist also wahrscheinlich nur eines der Symptome einer dahinter liegenden Störung. Die Studentin berichtet, dass der Vater die Familie verlassen habe, und deutet damit an, dass sie daran denkt, dass ihre Störungen psychogen sein könnten. Die Ärztin hält das offenbar auch für möglich und möchte prüfen lassen, ob andere Ärzte und/ oder Psychologen das auch so sehen bzw. mit der Patientin einen Konsens darüber herstellen können, dass die verschiedenen Anfälle behandlungsbedürftig sind, und zwar nicht als Symptom einer körperlichen Erkrankung mit medizinischen Mitteln, sondern mit psychologischen Mitteln.
1.1.2
Psychotherapie ist ein Prozess zur Beeinflussung
Strotzka nennt Psychotherapie einen »Prozess zur Beeinflussung … mit psychologischen Mitteln (durch Kommunikation)«. Beeinflusst zu werden ist für viele Menschen eine erschreckende Vorstellung. Sie wollen nicht beeinflusst werden, schon gar nicht mit psychologischen Mitteln, auch wenn sie dadurch von einem Leiden befreit werden könnten. Sie stellen sich unter Beeinflussung durch psychologische Mittel etwas vor, das im Extrem eine Gehirnwäsche ist. Dazu ist zu sagen: Die psychologischen Mittel in der Psychotherapie bestehen in Kommunikation. Psychotherapie ist ein interaktioneller Prozess, d. h. ein Prozess, an dem immer mindestens zwei Personen beteiligt sind. In der Psychotherapie sind das der Therapeut und der Patient, der deshalb auch gerne Klient genannt wird, so wie eine Person, die ihre Rechte durch einen Rechtsanwalt vertreten lässt, ein Klient ist. Psychotherapie geschieht nicht im Patienten, sondern zwischen dem Therapeuten und dem Patienten. Psychotherapie ist kein passives Geschehen. Psychotherapeutisch behandelt zu werden
heißt, sich psychotherapeutisch behandeln zu lassen. Es gibt kaum ein Thema, dem in der Psychotherapiediskussion soviel Raum gewidmet worden ist, wie der Therapiemotivation: Wie kann ermöglicht werden, dass der Patient sich für das Kommunikationsangebot Psychotherapie öffnet und so mitarbeitet, dass Psychotherapie überhaupt möglich wird? ! Mit den psychologischen Mitteln einer Psychotherapie kann ein Mensch nicht ohne sein eigenes Zutun beeinflusst werden. Ein Mensch ist psychologisch nicht ohne seine eigene Mitwirkung zu erreichen. Er ist immer auch Autor seiner Erfahrung.
Das gilt übrigens nicht nur für den Bereich der Psychotherapie. Eine Blume z. B. kann mich nicht direkt erreichen. Sie kann nur – beispielsweise – so auf mich einwirken, dass ich die Wahrnehmung einer bestimmten Form und Farbe entwickle – was nur unter der Bedingung möglich ist, dass ich nicht farbenblind bin –, oder dass ich Lavendelduft rieche. Das Erkennen von Lavendelduft wiederum ist nicht möglich, wenn ich ihn nicht schon einmal gerochen habe, und auch nicht, wenn ich mich daran nicht erinnern kann. Ich werde auch dann nicht merken, dass ich etwas rieche, das meine Mutter Lavendel genannt hat, als es mir zum ersten Mal in die Nase stieg, wenn es dem Duft oder meiner Mutter damals nicht gelungen ist, mich affektiv zu erreichen, mich zu interessieren z. B. oder mir als mehr oder weniger angenehm zu erscheinen. Allein die Wahrnehmung des Psychotherapeuten durch den Patienten ist also schon ein höchst komplizierter und höchst persönlicher und selbstorganisierter Prozess. Nicht nur die Sinnesorgane, ihre Funktionsweise und Funktionstüchtigkeit spielen in ihm eine Rolle, sondern auch frühere Wahrnehmungen und die Erinnerung an sie, die Bewertungen dieser Wahrnehmungen früher und heute, sowie Nervenbahnen und Gehirnstrukturen, die daran beteiligt waren und sind – was man heute sogar sichtbar machen kann, wenn aus sinnlichen Reaktionen, deren Interpretation und Bewertung Erfahrungen werden – unter bestimmten Bedingungen. Das Gänseblümchen am Straßenrand hat auch dann, wenn es meine Lieblingsblume ist, in dem Augenblick keine Chance, ein besonderer Erlebnisinhalt in meinem Wahrnehmungsfeld zu werden, in dem
3 1.1 · Was ist Psychotherapie?
meine ganze Aufmerksamkeit von einem vorbeirasenden Laster gefesselt wird. Genau so begrenzt bzw. an Bedingungen gebunden ist der Einfluss der psychotherapeutischen Mittel des Psychotherapeuten auf den Patienten und auf dessen zukünftiges Verhalten und Erleben. ! Von Beeinflussung durch Psychotherapie kann nur dann die Rede sein, wenn der Patient in eine Interaktion mit dem Psychotherapeuten eintritt, in dem sie sich gegenseitig beeinflussen im Sinne von zunächst einmal überhaupt wahrnehmen.
Der Patient, der sich mit dem Psychiater darüber unterhält, dass sich sein Kleinheitswahn zurückgebildet hat und dass er sich selbst nicht länger für arm und klein und unbedeutend wie eine Kirchenmaus hält und auch sicher ist, dass der Psychiater ihn jetzt wertschätzt, im Türrahmen aber fragt: »Und weiß das die Katze auch?« hat seinen Psychiater wahrscheinlich nicht in dem eben beschriebenen Sinn wahrgenommen. Im Gespräch in der Poliklinik mit der Patientin aus dem ZAD wird es ganz wesentlich auch darum gehen: Kann sich die Patientin vorstellen und ist sie in der Lage, über ihre Symptome und deren Geschichte, aber auch über sich selbst und ihre Geschichte in ihrer Familie und unter den anderen Bedingungen, die Psychotherapeuten als entscheidend für die Entwicklung einer Person und ihrer Störung ansehen, zu sprechen und nachzudenken? Und es wird um die Frage gehen: Zu den Annahmen welchen psychotherapeutischen Modells über die Entstehung und Aufrechterhaltung psychischer Störungen passt das Krankheitsmodell der Patientin am besten? Auf welche psychologischen Mittel könnte sie sich einlassen unter der Vorstellung, von ihnen zu profitieren, und mit welcher Begründung?
1.1.3
Psychotherapie ist ein bewusster und geplanter Prozess
In der Definition von Strotzka wird Psychotherapie ferner als ein bewusster und geplanter Prozess bezeichnet. Der psychotherapeutische Prozess ist das, was in der Interaktion zwischen den an einer Psychotherapie beteiligten Personen geschieht. Er ist, wenn wir Strotzka folgen, bewusst und geplant,
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und zwar auf der Seite des Therapeuten, während für den Patienten – wie wir zu zeigen versucht haben – gilt, dass er den Interaktionsprozess zulassen muss, zumindest in der Form, dass er seine Interaktionspartner – den Therapeuten in der Einzeltherapie, den oder die Therapeuten und die anderen Beteiligten in der Gruppen- und/oder Familientherapie – wahrnehmen möchte und kann und das auch tut. Für den Therapeuten gilt: Man kann nur planen, was man auch meint, in einem bestimmten Ausmaß vorhersagen zu können und/oder auf dessen Zustandekommen man in irgendeiner Weise meint, Einfluss nehmen zu können. Ein Therapeut muss Vorstellungen davon haben, wie (seine) Psychotherapie funktioniert und welche seine Rolle in der therapeutischen Interaktion ist. Er muss selbst davon überzeugt sein, dass seine Psychotherapie hilfreich ist, nicht nur im Allgemeinen, sondern auch im jeweiligen Fall. Er muss Kriterien haben, an denen er selbst und möglichst auch andere ermessen können, ob und wie gut er die Rolle des Psychotherapeuten ausfüllt. ! Therapie ist ein bewusster Prozess, das bedeutet: Der Therapeut muss sich seiner für die Therapie relevanten Verhaltensweisen, Gedanken oder Gefühle bewusst werden können, muss sie unter dem Gesichtspunkt reflektieren können, ob sie zu seiner Rolle als Therapeut in der Interaktion mit dem Patienten gehören oder nicht und diese und damit den therapeutischen Prozess befördern oder nicht.
Jeder Therapeut muss in diesem Sinne eine Psychotherapietheorie haben. Bewusst und geplant mit dem Patienten interagieren heißt also nicht nur, Pläne zu haben und sich dieser bewusst zu sein. Bewusst und geplant handeln heißt für den Therapeuten vor allem, sich bewusst machen bzw. reflektieren zu können, ob er seine Rolle ausfüllt. Ein Therapeut könnte z. B. die Vorstellung haben, dass die Studentin diese Anfälle, in denen sie auch »gelähmt« ist, nicht hören und nicht sehen und auch nicht sprechen kann, nur in bestimmten Situationen in der Reaktion auf bestimmte Reize einer bestimmten Intensität hat, die ihr in anderen Situationen nur sehr viel Angst machen. Er könnte sie dann dadurch behandeln, dass er sie in einem entspannten Zustand
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Kapitel 1 · Was ist Psychotherapie, was ist Gesprächspsychotherapie?
mit den bedrohlichen Reizen konfrontiert und sie erleben lässt, dass die Angst sie nicht in jeder Situation total umwirft bzw. »lähmt«. Was ein Neuropsychotherapeut (Grawe, 2004) in der Behandlung dieser Patientin planen und sich bewusst machen würde, soll an dieser Stelle nicht ausphantasiert werden. Es könnte aber dem, was vor 100 Jahren geplant und wie es reflektiert und evaluiert worden ist, nicht ganz unähnlich sein. Wir lesen bei Grawe (2004, S. 18): »Wenn allen psychischen Prozessen neuronale Vorgänge zu Grunde liegen, dann liegen veränderten psychischen Prozessen veränderte neuronale Vorgänge zu Grunde. Wir können als nachgewiesen ansehen, dass psychische Prozesse durch Psychotherapie wirksam und dauerhaft verändert werden können. Daraus ergibt sich, dass Psychotherapie dauerhaft neuronale Prozesse und Strukturen verändern kann. Psychotherapie wirkt, wenn sie wirkt, darüber, dass sie das Gehirn verändert. Wenn sie das Gehirn nicht verändert, ist sie auch nicht wirksam. Oder, in LeDouxs Worten: ›Psychotherapy is fundamentally a learning process for its patients, and as such is a way to rewire the brain. In this sense, psychotherapy ultimately uses biological mechanisms to treat mental illness‹ (Le Doux, 2002, S. 299)«. In seinem Roman »Und Nietzsche weinte« lässt Yalom (1994, S. 57) den Wiener Arzt Breuer dem jungen Freud aus seiner Behandlung der Patientin Anna O. berichten: »Bald schon nahmen wir uns des nächsten Symptoms in der gleichen systematischen Weise an. Mehrere Symptome – die Armparese z. B. oder ihre Gesichtshalluzinationen von Totenköpfen und Schlangen – wurzelten im psychischen Trauma des Todes ihres Vaters. Nachdem sie alle Einzelheiten und Affekte dieses Erlebnisses beschrieben hatte – um ihrem Erinnerungsvermögen nachzuhelfen, hatte ich sie sogar gebeten, die Möbel exakt so anzuordnen, wie sie bei seinem Tode gestanden hatten –, lösten sich auch diese Symptome auf.«
Dazu sagt in dem Roman Freud: »Aber das ist ja grandios! ... Die theoretischen Implikationen sind atemberaubend. Und stimmen vollkommen mit Helmholtzens Theorie überein! Sind die überschüssigen, für derlei Symptome verantwortlichen Hirnströme erst durch affektive Katharsis abgeleitet, dann verschwinden auch brav die Symptome! Das ist doch eine wegweisende Entdeckung! Sie müssen den Fall unbedingt veröffentlichen!« Geplant ist in beiden Fällen ein »rewiring« des Gehirns. Einmal durch einen Prozess mit wesentlicher Beteiligung von Gehirnfunktionen, der Katharsis genannt wird – das ist ein starker Gefühlsausdruck –, dem dadurch »nachgeholfen« werden kann, dass Einfluss darauf genommen wird, welche Reize auf die Patientin einwirken; das andere Mal durch einen Prozess, der Lernen genannt wird, und bei dem ebenfalls über die Reize, die auf den Patienten einwirken, Einfluss genommen wird.
1.1.4
Psychotherapie ist Beeinflussung in Richtung auf ein definiertes, nach Möglichkeit gemeinsam erarbeitetes Ziel
! Das Ziel des bewussten und geplanten psychotherapeutischen Prozesses ist nach der Definition von Strotzka die Minimalisierung von Verhaltensstörungen und Leidenszuständen (Symptomen) und/ oder eine Veränderung der Persönlichkeitsstruktur.
Der Psychotherapeut sollte also nicht nur seine Rolle kennen und reflektieren können. Er sollte auch und vor allem den psychotherapeutischen Prozess im Hinblick auf die Erreichung von Symptomminimalisierung und/oder Veränderung der Struktur der Persönlichkeit, als deren Ausdruck manche Symptome gelten, planen und beobachten können. Der bewusst und geplant mit dem Patienten interagierende Psychotherapeut hat also auch eine Vorstellung davon, was als gestörtes Verhalten anzusehen ist und was als Leidenszustand im Sinne eines Symptoms einer psychotherapeutisch behandelbaren und behandlungswürdigen Erkrankung. In der Definition von Psychotherapie nach Strotzka hat er auch eine
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Persönlichkeitstheorie, in der zwischen der gesunden und der zu verbessernden Persönlichkeitsstruktur unterschieden wird und in der es Vorstellungen von den Beziehungen zwischen Leidenszuständen und Verhaltensstörungen und verschiedenen Persönlichkeitsstrukturen gibt und davon, welchen Einfluss sein Anteil am Interaktionsverhalten auf diese Beziehungen im Patienten unter welchen Umständen haben kann. Dass das alles auch im Gehirn repräsentiert ist, spielt dabei nicht notwendigerweise eine Rolle. In der Poliklinik wird also nicht nur zu prüfen sein, ob es zwischen der Medizinstudentin und der Ärztin oder Psychologin eine Übereinstimmung darüber gibt, dass die Anfälle der Patientin nicht Ausdruck einer organischen Erkrankung sind. Es wird auch darum gehen, ob die Studentin und die Poliklinikmitarbeiterin gemeinsam zu der Auffassung gelangen, dass eventuell bei der Entwicklung der Anfälle eine verbesserungswürdige Persönlichkeitsstruktur eine Rolle spielt, die es z. B. der Patientin erschwert, sich an persönlich belastende Situationen anzupassen. Einen Hinweis auf eine persönliche Belastung hat die Patientin schon der Psychiaterin im Zentralen Aufnahmedienst gegeben, indem sie erwähnt hat, dass der Vater die Familie verlassen habe. Die Mitteilung, dass es Suizidalität und Drogenabusus in der Familie gebe, könnte als ein weiterer Hinweis auf persönliche Belastungen angesehen werden. Die Patientin könnte damit aber auch angedeutet haben, dass sie überlegt, ob sie vielleicht in einer Familie aufgewachsen ist, in der auch andere Mitglieder Symptome einer mangelnden Belastbarkeit oder verbesserungswürdigen Persönlichkeitsstruktur aufweisen. Was unter Persönlichkeitsstörungen verstanden wird, ist heute auf der beschreibenden Ebene in den Diagnosesystemen DSM (Diagnostisches und Statistisches Manual psychischer Störungen, APA, 1996) und ICD (International Classification of Diseases, WHO, 2000) verbindlich geregelt. Darüber, wie sie entstehen, gibt es weniger Einigkeit und entsprechend weniger Übereinstimmung darüber, wie sie und ihre Symptome zu behandeln sind, durch welche Behandlungsmethoden welche Behandlungserfolge erreicht werden bzw. welche Zusammenhänge zwischen Behandlungsmethoden und -erfolgen tatsächlich bestehen und wie sie zu erklären sind. Bevor ein Poliklinikmitarbeiter vor dem Hintergrund seines Wissens und seiner Überzeugung von
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den Zusammenhängen zwischen Verhaltensstörungen und Leidenszuständen auf der einen Seite und der Struktur einer Persönlichkeit auf der anderen Seite und davon, welche Symptome mit welchen Behandlungsmethoden und warum zum Verschwinden gebracht werden können, in Abstimmung mit dem Patienten zu dem Ergebnis kommt, dass bei ihm und seinem Symptom eine bestimmte Psychotherapie indiziert ist, d. h. die Behandlung der Wahl wäre, muss er auch noch prüfen, ob die »Bezugsgruppe« diese Verhaltensstörung oder diesen Leidenszustand auch für behandlungsbedürftig im Sinne von behandlungswürdig hält. Es gibt Leidenszustände – z. B. in der Folge von schlechten Prüfungsergebnissen entsprechende Ängste vor der nächsten Prüfung –, die mit psychologischen Mitteln bzw. in bestimmten geplanten und bewussten interaktionellen Prozessen beeinflusst werden können. Aber diese Mittel müssen nicht psychotherapeutische sein. Sie können z. B. auch Nachhilfestunden sein. Man kann nicht nur darüber streiten, ob die Anwendung bestimmter Methoden, die Lernen ermöglichen – z. B. kann das selbstbewusste Auftreten in einer Bewerbungssituation im Rollenspiel erlernt werden –, überhaupt den Namen Psychotherapie verdient. Viel wichtiger ist, dass die Beurteilung einer Verhaltensstörung oder eines Leidens, aber auch einer Persönlichkeitsstruktur als behandlungswürdig zur Voraussetzung hat – und das ist auch ein politisches Problem! –, dass die Gesellschaft in ihnen ein Problem sieht, das durch Psychotherapie zu lösen ist. Sie kann es auch zu einem Problem für den Strafvollzug erklären oder für die Pädagogik, die Selbstbeherrschung oder die Magie.
1.1.5
Psychotherapie ist Krankenbehandlung auf der Basis einer Theorie des normalen und pathologischen Verhaltens
Die Beurteilung eines Problems als einer Behandlung durch Psychotherapie würdig, setzt eigentlich eine Theorie des normalen und pathologischen Verhaltens voraus, zu der eine Definition dessen, was krank ist, gehört. Eine solche allgemein anerkannte Theorie gibt es aber nicht. Mangels verbindlicher medizinischer oder psychologischer Definitionen
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Kapitel 1 · Was ist Psychotherapie, was ist Gesprächspsychotherapie?
von psychischer Krankheit und damit auch von Behandlungsbedürftigkeit hat sich in Deutschland der »Bundesausschuss der Ärzte und Krankenkassen für die Durchführung von Psychotherapie« (der heute »Gemeinsamer Bundesausschuss« – »G-BA« – heißt) jahrzehntelang mit einem juristischen Begriff (z. B. in Faber & Haarstrick, 1991) beholfen, den das Oberlandesgericht Celle in einem Urteil geliefert hat (Faber, 1981): »Krankheit im Sinne der gesetzlichen Krankenversicherung ist ein regelwidriger körperlicher oder geistiger Zustand, dessen Eintritt entweder lediglich die Notwendigkeit einer Heilbehandlung oder zugleich oder ausschließlich die Arbeitsunfähigkeit zur Folge hat«. Als es das Psychotherapeutengesetz noch nicht gab, ist diese Definition immer wieder dann bemüht worden, wenn es um die Frage ging, ob Verhaltensstörungen und psychisch bedingte Leidenszustände Ausdruck einer Krankheit waren bzw. die Notwendigkeit einer Heilbehandlung begründen konnten oder nicht, d. h., ob die Krankenkassen zahlen mussten. Poliklinikärzte z. B. haben deshalb, wenn sie einem Patienten eine Psychotherapie »verschreiben« wollten, diesem attestiert, dass er, wenn er nicht psychotherapeutisch behandelt würde, arbeitsunfähig würde und/oder sogar in ein Krankenhaus eingewiesen werden müsste. Wer die Krankheit und damit die Notwendigkeit einer Heilbehandlung, also z. B. einer Psychotherapie, feststellen und beurteilen darf, ob eine bestimmte Art von Behandlung eine Heilbehandlung darstellt bzw. die Problemlösungsmethode der Wahl bei bestimmten Leidenszuständen ist – ob nicht z. B. eher Strafvollzug oder Psychoedukation indiziert sind –, das sind und bleiben aber politische Fragen, die mit solchen Definitionen von Krankheit natürlich nicht zu beantworten sind. Es hat noch nie einen Mangel an Theorien des normalen und pathologischen Verhaltens, wie sie in der Definition von Strotzka gefordert werden, gegeben. Viele von ihnen haben Überprüfungen nicht Stand gehalten, mussten modifiziert oder aufgegeben werden, z. B. die Theorie von der Genese von spezifischen Störungen in der Folge von Fixierungen an bestimmte Phasen der psychosexuellen Entwicklung in der Psychoanalyse oder die verhaltenstherapeutische Erklärung therapeutischer Veränderungen durch Konditionierungsprozesse, z. B. bei der Systematischen Desensibilisierung.
Das Psychotherapeutengesetz (PsychThG) enthält als Forderung an ein Psychotherapeutisches Verfahren, dass es »wissenschaftlich anerkannt« sein muss, damit Psychologische Psychotherapeuten und Kinder- und Jugendlichentherapeuten darin ausgebildet und approbiert werden dürfen. In Zweifelsfällen sieht der § 11 des PsychThG vor, dass ein Wissenschaftlicher Beirat das Vorliegen der »wissenschaftlichen Anerkennung« prüft. Für Senf und Broda geht es bei dieser Prüfung darum, »ob für ein bestimmtes Verfahren ein hinreichender Wirksamkeits- und Unbedenklichkeitsnachweis als Krankenbehandlungsmethode erbracht wurde. Prinzipiell wird für jedes psychotherapeutische Verfahren und für jede psychotherapeutische Technik die empirische Überprüfung und Absicherung in kontrollierten Studien gefordert« (2005, S. 4). Nach dieser Auslegung steht für den Nachweis der wissenschaftlichen Anerkennung eines Psychotherapieverfahrens der Nachweis der Wirksamkeit im Vordergrund. Sie führen ferner aus, der Begriff Psychotherapie beschreibe »zum einen einen medizinischen Versorgungsbereich im Rahmen und nach den Regeln des öffentlichen Gesundheitswesens und zum anderen psychotherapeutische Verfahren zur Krankenbehandlung, wobei letzteres auch als Fachpsychotherapie bezeichnet werde« (a. a. O.). Eine politisches Problem ist sie also nach wie vor: die Forderung nach einer Theorie des normalen und des pathologischen Verhaltens als Basis für die Psychotherapie.
1.1.6
Psychotherapie beeinflusst mit psychologischen Mitteln (durch Kommunikation)
Die psychologischen Mittel, das sind die meist verbalen Mittel der Kommunikation, mit denen Psychotherapie beeinflusst, die in Vorlesungen über Klinische Psychologie oft auch Interventionsmethoden genannt und in einem eigenen Prüfungsfach in der Diplom-Prüfung für Psychologie abgefragt werden, sind das zentrale Thema der Psychotherapieforschung in den letzten Jahrzehnten gewesen. Psychotherapieforscher haben Patienten und ihre Veränderungen, die nach der Behandlung mit
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bestimmten Methoden zu beobachten waren, verglichen mit Patienten und ihren Veränderungen, die nicht mit diesen Methoden behandelt worden waren. Die Interpretation dieser Ergebnisse ist nicht unproblematisch, denn es gibt z. B. den Placeboeffekt: Auch die Einnahme von Tabletten ohne wirksame Substanz kann wirken. Das basiert aber wahrscheinlich auch auf psychologischen Mitteln, wahrscheinlich sogar auf kommunikativen. Es kann sein, dass sich die Vertrauenswürdigkeit des Arztes mitteilt und die unwirksamen Pillen wirksam werden lässt oder dass sich der Glaube des Patienten an die Wirksamkeit der Medizin durchsetzt, um nur zwei Möglichkeiten zu nennen. Auch in der Psychotherapie könnte ein Placeboeffekt in diesem Sinne eine Rolle spielen. Eines der wichtigsten Ergebnisse der Therapieforschung der zweiten Hälfte des letzten Jahrhunderts ist die Erkenntnis, dass die Beziehung zwischen Therapeut und Patient der zentrale Wirkfaktor in der psychotherapeutischen Behandlung ist. Ist es deshalb zwingend, in der therapeutischen Beziehung ein psychologisches Mittel im Sinne einer Interventionsmethode zu sehen? Die Frage nach den psychologischen Mitteln, die therapeutische Wirkfaktoren genannt werden, stammt aus der Erforschung der Gruppenpsychotherapie. Definition Wirkfaktoren werden die Kräfte genannt, die den psychotherapeutischen Prozess zu einem wirksamen machen.
Zunächst wurde von Wirkfaktoren als von den Erfahrungen gesprochen, die Gruppenpsychotherapiepatienten im Verlauf der Therapie als hilfreich erlebt hatten bzw. denen sie ihre Veränderungen durch die Psychotherapie zuschrieben. Zu diesen Erfahrungen gehörten vor allem, sich in der Gruppe wohl zu fühlen, sie als wichtig und attraktiv zu erleben, sehen und davon lernen zu können, wie andere Personen mit ihren Problemen umgehen, sich selbst in der Gruppe öffnen zu können und die seit der Kindheit in der Familie altbekannten Probleme in der Gruppe wiedererleben zu können (Eckert & BiermannRatjen, 1985; Yalom, 1996). Sie stellen sozusagen ein
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Klassifikationssystem oder eine Taxonomie im Erleben von Patienten dar, in das diese ihre Erfahrungen in der Gruppenpsychotherapie einordnen und das sie gleichsam in sich selbst entdecken, wenn sie gefragt werden, was an der Gruppentherapie ihnen gut getan hat. Die nächste Frage war, was Therapeuten dazu beitragen können, dass die Patienten solche hilfreichen Erfahrungen während ihrer Behandlung machen. Und daraus erwuchs sehr schnell die Frage, ob in verschiedenen Psychotherapieverfahren – in denen unterschiedliche psychologische Mittel oder Interventionsmethoden auf der Grundlage unterschiedlicher Theorien des normalen und pathologischen Verhaltens eingesetzt werden – die einzelnen Wirkfaktoren in unterschiedlichem Ausmaß erlebt oder gar »verwirklicht« werden. Auch die Ergebnisse dieser Forschung sind nicht leicht zu interpretieren. Wir wissen z. B., dass die sog. Kohäsion einer Gruppe – das ist das Ausmaß, in dem die Mitglieder einer psychotherapeutischen Gruppe diese und sich gegenseitig schätzen und nutzen – einen Einfluss nicht nur auf die Effekte der Gruppentherapie, sondern auch auf die Ausprägung anderer Wirkfaktoren hat, z. B. darauf, wie viel Lernen von anderen in dieser Gruppe erlebt wird. Das könnte daran liegen, dass nicht alle therapeutischen Gruppen gleichermaßen heilsam sind, die einzelnen Gruppenmitglieder tatsächlich füreinander unterschiedlich wertvoll und nützlich sind. Es kann aber auch daran liegen, dass eine Gruppe von ihren Mitgliedern zunächst als wertvoll eingeschätzt und dann entsprechend genutzt wird. Man kann diese aber auch für überflüssige Fragen halten: Wichtig sei nur, dass man feststellen kann, dass eine kohäsive Gruppe die besseren Therapieeffekte aufweist. Es wäre dann die Aufgabe des Therapeuten dafür zu sorgen, dass seine Gruppe so kohäsiv wie möglich wird. Dazu müsste der Therapeut aber wissen, was eine Gruppe kohäsiv macht: ob es seine Interventionen sind und welche, oder ob es das Verhalten der Patienten oder die Bewertungen der Gruppe durch die Patienten sind und wie das entsprechend zu fördern ist, oder ob alles zusammen und in Interaktion miteinander eine Rolle spielt. Es ist also gar nicht so leicht, die psychologischen Mittel zu benennen, mit denen Psychotherapie beeinflusst. Und es ist noch schwerer, herauszufinden,
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Kapitel 1 · Was ist Psychotherapie, was ist Gesprächspsychotherapie?
wo in der Interaktion von Therapeut und Patienten und von Patienten miteinander nach ihnen zu suchen ist: in den Patienten, die sich auf den psychotherapeutischen Prozess einlassen, im psychotherapeutischen Prozess selbst, in den Interventionsmethoden des Psychotherapeuten, in der Beziehung zwischen Therapeut und Patient, im Glauben des Therapeuten an deren Wirksamkeit oder im Glauben der Patienten an den Therapeuten, die Methode usw. Dementsprechend problematisch ist die Antwort auf die Frage, was der Psychotherapeut dazu tun kann, dass sich ein psychotherapeutischer Prozess so entwickelt, dass ein bestimmtes therapeutisches Ziel erreicht wird. ! Es bedarf nicht nur eines Konsenses von Patient und Therapeut, sondern auch mit der Bezugsgruppe, um eine Verhaltensstörung oder einen Leidenszustand psychotherapeutisch zu behandeln. Wie wir zu zeigen versucht haben, ist es nicht nur eine medizinische oder psychologische Frage, sondern auch eine der politischen Verhältnisse, ob eine Verhaltensstörung oder ein Leidenszustand als Symptom oder ein bestimmtes Symptom einer Persönlichkeitsstruktur als Ausdruck einer Erkrankung angesehen werden können und als einer Psychotherapie zugänglich und würdig.
Die politischen Verhältnisse haben es in der letzten Zeit nahe gelegt und ermöglicht, dass es in der Psychotherapieforschung vornehmlich um die störungsspezifische Differenzierung gegangen ist, die Akkumulation des Wissen und »Know-hows« um bestimmte Störungen und Probleme herum und Methoden zu ihrer Behandlung. Unter Störung wurde dabei das Phänomen (das in Erscheinung Treten) eines Syndroms verstanden, d. h. einer Anzahl von Verhaltens- und Erlebnisweisen, die oft zusammen auftreten und auch einen gemeinsamen Verlauf nehmen. Die störungsspezifische Perspektive sieht die Aufgabe der Psychotherapie darin, solche Störungen zu behandeln, und die der Psychotherapieforschung darin, die besonderen Interventionsmethoden zu identifizieren oder zu entwickeln, mit denen die Symptome der verschiedenen Störungen in der kürzesten Zeit und am nachhaltigsten zum Verschwinden gebracht werden können. Persönlichkeitsstrukturen gelten in diesem Zusammenhang als Persönlichkeitsstörungen, d. h. über die Zeit beson-
ders stabile Lieferanten von gemeinsam auftretenden Verhaltensstörungen und Leidenszuständen bzw. Syndromen. Dass es auch andere Vorstellungen von Persönlichkeitsstrukturen und entsprechenden Vorgehensweisen zu ihrer Veränderung gibt als die, die sich aus der störungsspezifischen Perspektive ergeben, werden wir in diesem Buch noch wiederholt zu zeigen haben.
1.1.7
Psychotherapie beeinflusst mittels lehrbarer Techniken
Es sind also verschiedene Theorien des normalen und pathologischen Verhaltens als Basis für psychologische therapeutisch wirksame Mittel denkbar, und einige von denen, die ausformuliert worden sind, haben wissenschaftlichen Prüfungen nicht standgehalten. Manche sind auch sehr alt und gelten allein schon deshalb als durch neue zu ersetzen. Das Alter einer Theorie sagt aber nichts über ihre Qualität aus, es sei denn die Forschung hat Erkenntnisse zu Tage gefördert, die wesentliche ihrer Annahmen unhaltbar machen oder es nahe legen, sie durch neue, weil besser zur Erklärung bestimmter Phänomene geeignete, zu ersetzen. ! Wir haben ausgeführt, dass eine Theorie der Therapie die Voraussetzung dafür ist, dass der Therapeut geplant und bewusst handelt. Die Forschung hat zudem zeigen können, dass Therapeuten, die im Einklang mit ihrer eigenen Therapietheorie vorgehen – man nennt das konzeptkonform handeln – die größeren Therapieerfolge erzielen als die Therapeuten, die das nicht tun (Luborsky, McLellan, Woody, O’Brien & Auerbach, 1985). Und es hat sich herausgestellt, dass Patienten dann besonders viel von einer Psychotherapie haben, wenn ihre Vorstellungen von den Ursachen ihrer Erkrankung und den Mitteln dagegen mit der Theorie des Therapeuten übereinstimmen (Eckert & BiermannRatjen, 1990).
Strotzkas Forderung, dass die psychologischen Mittel der Psychotherapie und des Psychotherapeuten auch lehrbar bzw. erlernbar sein sollen, sei hier so interpretiert, dass ihre Anwendung, ihre Wirkungsweise und ihre Effekte vorstellbar, denkend und auch
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experimentell nachvollziehbar und damit auch verstehbar sein müssen. Das ist nur möglich im Rahmen einer Theorie. Psychotherapie ist in diesem Sinn nicht Kunst – außer im Sinne von Kennen und damit Können – und auch nicht Magie.
1.1.8
Was ist Gesprächpsychotherapie?
Nach jahrelanger Erfahrung in der psychotherapeutischen Behandlung – auch von sehr schwer gestörten – verhaltensauffälligen und auch straffällig gewordenen Kindern und in der Beratung von deren Eltern hat Carl Rogers 1957 die notwendigen und hinreichenden Bedingungen für das in Gang Setzen und die Aufrechterhaltung eines psychotherapeutischen Prozesses, der zu einer konstruktiven Persönlichkeitsveränderung führt, formuliert.
Gesprächspsychotherapie beschreibt Psychotherapie als Bedingung für einen Prozess, in dem es zu konstruktiven Veränderungen des Klienten kommt, die, wie es bei Rogers heißt, mehr Reife bedeuten oder mehr psychische Anpassung. Heute nennen wir das mehr psychische Gesundheit. Die psychotherapeutische Situation wird als eine Konstellation von Bedingungen definiert, die in einer bestimmten Beziehung zwischen dem Therapeuten und dem Klienten bestehen. Der Therapeut macht ein Beziehungsangebot, und Psychotherapie findet statt – bzw. es kommt zu den angestrebten Veränderungen in Richtung auf ein bestimmtes Ziel, wenn der Patient in der Lage ist, dieses Beziehungsangebot wahrzunehmen und wenn er es auch annimmt. Dann stellen Patient und Therapeut gemeinsam das psychologische Mittel eines interaktionellen kommunikativen Prozesses her, in dem der Patient wahrnimmt und damit auch annimmt, dass ihn der Therapeut bedingungsfrei
Notwendige und hinreichende Bedindungen für einen psychotherapeutischen Prozess nach Rogers 1. Zwei Menschen haben einen psychologischen Kontakt, d. h. sie nehmen einander wahr: »each makes some perceived difference in the experiential field of the other« (Rogers, 1957a, S. 96). 2. Der eine Mensch, Rogers nennt ihn den Klienten, ist inkongruent. Das heißt im Rahmen der Gesprächspsychotherapie1: Er ist mit Erfahrung beschäftigt, die nicht zu seinem Selbstbild passt. Die inkongruente Person ist mit sich selbst uneins und fühlt das auch, ist z. B. verletzlich oder ängstlich. 3. Der andere Mensch, der Therapeut, ist in der Beziehung zum Klienten kongruent. Er kann in der Interaktion mit dem Klienten wirklich er selbst (»genuine«) sein. Er verbirgt sich nicht hinter einer »Fassade«. Er erlebt nichts, was er nicht mit seinem Selbstkonzept vereinbaren kann und dessen er sich deshalb nicht bewusst werden kann. 4. »Der Therapeut erlebt sich als den Klienten bedingungsfrei positiv beachtend« (Rogers, 1957a, S. 96, Übersetzung v. Verf.). Er kann den Klienten annehmen und wertschätzen, und
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zwar unbedingt. Das Gegenteil wäre, den Klienten zu bewerten, ihn in der einen Erfahrung anzuerkennen und in einer anderen abzulehnen. 5. Der Therapeut fühlt sich empathisch in den Inneren Bezugsrahmen des Klienten ein und bemüht sich, dem Klienten die Erfahrungen, die er dabei macht, mitzuteilen. Die Einfühlung des Therapeuten führt zu einem so genauen Verstehen dessen, was der Klient von seinen Erfahrungen wahrnimmt, als seien sie Erfahrungen des Therapeuten selbst, ist aber von dem klaren Bewusstsein begleitet, dass es eben nicht die eigenen Erfahrungen, sondern die eines anderen Menschen sind. 6. Der Klient nimmt zumindest in Ansätzen wahr, dass ihn der Therapeut empathisch versteht und bedingungslos wertschätzt. (vgl. Biermann-Ratjen, Eckert & Schwartz, 2003, S. 13 f.) 1
anders als bei Grawe (2004), der von Inkongruenz im Sinne von unbefriedigt sein in den Grundbedürfnissen, zu denen unter anderen ein Bindungs- und ein Kontrollund ein Selbstwertbedürfnis gehörten, spricht.
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Kapitel 1 · Was ist Psychotherapie, was ist Gesprächspsychotherapie?
positiv beachtet und empathisch in seinem Bezugsrahmen so genau versteht, als handele es sich bei dem empathisch Verstandenen um seine eigenen Gefühle, ohne aber jemals zu übersehen, dass sie eben nicht seine, sondern die des Patienten sind. Der Inhalt der Kommunikation in diesem interaktionellen Prozess, in dem sich der Therapeut seiner eigenen Befindlichkeit jederzeit bewusst werden kann und der auch auf seiner Seite immer ein intendierter und geplanter zur Beeinflussung von Verhaltensstörungen und Leidenszuständen ist, ist die Beschäftigung des Klienten mit seiner Inkongruenz, mit seinen Erfahrungen, die er nicht mit seinem Selbstkonzept vereinbaren kann. Die Verringerung dieser Inkongruenz ist das definierte und nach Möglichkeit gemeinsam mit dem Patienten erarbeitete Ziel der Therapie. Verringerung der Inkongruenz, d. h. Abnahme der Menge der Erfahrungen, die nicht in das Selbstkonzept integriert werden können und/oder deswegen abgewehrt, d. h. dem Bewusstsein vorenthalten werden, bedeutet im Klientenzentrierten Konzept Symptomminimalisierung und/ oder Strukturänderung der Persönlichkeit. ! Gesprächspsychotherapie erfolgt auf der Basis einer Theorie des normalen und pathologischen Verhaltens in einer therapeutischen Beziehung, die als Bedingung für den therapeutischen Prozess, in dem sich konstruktive Veränderungen entwickeln, definiert ist. Sie hat die Qualität einer tragfähigen emotionalen Bindung. Die Forschung hat zeigen können, dass Empathisches Verstehen und Bedingungsfrei Positives Beachten und nicht Bewerten der Erfahrungen einer anderen Person lehrbar im oben beschriebenen Sinne und trainierbar sind.
Dieses Buch wird schildern, dass und warum die erwähnte Studentin, wenn sie sich in gesprächspsychotherapeutische Behandlung begeben wird, ein immer differenzierteres Bild von sich selbst und ihren Beziehungen zu ihrer Umwelt entwickeln wird, und dass, je differenzierter dieses Selbstbild wird, sie umso mehr auch das Bedürfnis spüren wird, sich vor Erfahrungen zu schützen, die sie in ihrem Selbstbild und ihrem Selbstwert bedrohen, und erleben wird, wie sie sich schützt bzw. in welchen Symptomen sich zeigt, dass sie sich schützt bzw. gegen bestimmte Erfahrungen verteidigt, z. B. indem sie diese gar nicht wahrnimmt.
Sie wird die Erfahrung der Aufhebung von Inkongruenz machen, wenn sie solche bisher bedrohliche Erfahrung in ihre Selbsterfahrung integrieren kann. Das wird ihr unter der Bedingung möglich werden, dass der Therapeut sie auch in Erfahrungen versteht und ohne sie zu bewerten positiv beachtet, in denen sie sich selbst nicht annehmen kann. Der Studentin wird sich selbst und ihrer Erfahrung immer mehr so begegnen können, wie der Therapeut es tut. Dadurch wird es nicht nur dazu kommen, dass die Symptome verschwinden. Es wird sich auch die Struktur der Persönlichkeit der Patientin ändern. Sie wird offener für ihre Erfahrung werden, fähiger zur Selbstexploration, kongruenter und das heißt auch angstfreier und weniger auf der Flucht vor der Erfahrung. Sie wird dadurch auch kognitiv flexibler und freier im Denken werden, ihr Leben immer mehr als ihr eigenes ansehen und immer mehr Verantwortung für ihr Leben übernehmen. ? Übungsfragen 5 5 5 5
Wie definiert Strotzka Psychotherapie? Gibt es eine verbindliche Definition von »krank«? Was ist der psychotherapeutische Prozess? Was versteht man unter therapeutischen Wirkfaktoren? 5 Was bedeutet »störungsspezifisch« in der Psychotherapie? 5 Was sind nach Rogers die notwendigen und hinreichenden Bedingungen für den psychotherapeutischen Prozess?
1.2
Literatur
Rogers, C. R. (1957a). The necessary and sufficient conditions of therapeutic personality change. Journal of Consulting Psychology, 21, 95-103. (Deutsch: Rogers, C. R. (1991). Die notwendigen und hinreichenden Bedingungen für Persönlichkeitsentwicklung durch Psychotherapie. In: C. R. Rogers & P. F. Schmid, Person-zentriert. Grundlagen von Theorie und Praxis. Mit einem kommentierten Beratungsgespräch von Carl R. Rogers, S. 165-184. Mainz: MatthiasGrünewald-Verlag, 1991) Yalom, I. D. (1996). Theorie und Praxis der Gruppenpsychotherapie. Ein Lehrbuch (4., völlig überarbeitete und erweiterte Aufl.). München: Pfeiffer.
2 2 Die Entwicklung des Klientenzentrierten Konzepts D. Höger 2.1
Warum ist es sinnvoll, sich mit der Geschichte der Gesprächspsychotherapie zu befassen? – 12
2.1.1
Das Problem der mehrdeutigen Sprache – 12 Über die wechselseitige Verbundenheit von Theorie und Praxis – 13 Erkenntnistheoretische Aspekte – 13
2.1.2 2.1.3
2.3.9
Nicht-Direktivität als Merkmal des Klientenzentrierten Ansatzes – 21 2.3.10 Vorläufiges Fazit – 23
2.4
Die Überprüfung der Wirksamkeit von Therapie – 23
2.4.1
Rogers als Bahnbrecher für die Psychotherapieforschung – 23 Anerkennung in der Fachwelt – 24
2.4.2
2.2
2.2.1 2.2.2 2.2.3 2.2.4
Die Gesprächspsychotherapie als Ergebnis aus therapeutischer Praxis und empirisch-psychologischer Forschung – 14 Die Anfänge – 14 Erste Erfahrungen mit den Anforderungen der klinisch-psychologischen Praxis – 14 Drei für die weitere Entwicklung wesentliche Episoden – 15 Konsequenzen aus den Erfahrungen – 16
2.3
Die Suche nach dem effizienten Therapeutenverhalten – 17
2.3.1
Wachstum in einer therapeutischen Beziehung – 17 Die Behandlung von Problemkindern – 17 Die Professur an der Ohio State University – 18 Das konkrete Therapeutenverhalten als Gegenstand der Ausbildung von Therapeuten – 18 Die neue Art der Therapieforschung – 18 Das neue Therapiekonzept – 19 Der erste geschlossene Ansatz: »Counseling and Psychotherapy« – 19 »Klient« oder »Patient«? – 20
2.3.2 2.3.3 2.3.4
2.3.5 2.3.6 2.3.7 2.3.8
2.5
Die erste Formulierung der Klientenzentrierten Theorie – 25
2.5.1 2.5.2
Client-centered therapy – 25 Übertragung des Klientenzentrierten Konzepts auf andere Anwendungsbereiche – 25 Ausbildung von Psychotherapeuten – 26
2.5.3
2.6
Die systematische Darstellung des Klientenzentrierten Konzepts – 26
2.7
Das Menschenbild des Klientenzentrierten Konzepts – 27
2.7.1 2.7.2
Ist der Mensch »gut«? – 27 Wie lässt sich die skeptische Sicht Freuds erklären? – 29 Die Kontroverse mit Skinner – 30
2.7.3
2.8
Funktion und Bedeutung von Paradigmen in der Wissenschaft – 32
2.9
Die Einführung des Klientenzentrierten Konzepts in Deutschland – 34
2.10 Weiterführende Literatur – 34
12
2
Kapitel 2 · Die Entwicklung des Klientenzentrierten Konzepts
In diesem Kapitel wird die Entstehung der Gesprächspsychotherapie bzw. des Klientenzentrierten Konzepts aus der Verknüpfung von therapeutischer Praxis und empirisch-psychologischer Forschungsmethodik dargestellt. Das ihr zugrunde liegende Menschenbild wird erörtert und dem der Psychoanalyse und dem des verhaltenswissenschaftlichen Ansatzes gegenüber gestellt. Ein Blick auf das wissenschaftstheoretische Konzept des Paradigmas nach Kuhn (1967, 1977) verdeutlicht, worauf diese Unterschiede zurückzuführen sind und welche Bedeutung ihnen für die gegenwärtige und zukünftige Theorie der Psychotherapie zukommt. Schließlich wird kurz die Einführung der Gesprächspsychotherapie in Deutschland geschildert.
2.1
Warum ist es sinnvoll, sich mit der Geschichte der Gesprächspsychotherapie zu befassen?
Wäre es nicht zweckmäßiger, sich auf den neuesten Stand der Gesprächspsychotherapie zu beschränken und ihn genau und verständlich darzustellen, anstatt sich mit ihrer Vergangenheit zu befassen, die ohnehin überholt ist? Wenn in diesem Kapitel dennoch die Geschichte des Klientenzentrierten Konzepts behandelt wird, dann hat dies gute Gründe. Zunächst erleichtert es unter methodisch-didaktischen Gesichtspunkten den Zugang zu einer Theorie bzw. einem Konzept beträchtlich, wenn deutlich wird, aus welchem Zusammenhang heraus und mit welchen konkreten Fragen und Problemen sie entstanden ist. Sie wird damit anschaulicher und greifbarer. Zudem kursieren in den Vorstellungen von Laien – aber auch von Fachleuten – Vorstellungen von und über die Theorie und Praxis der Gesprächspsychotherapie, die auf Fehlinformationen und Missverständnissen beruhen. Beispiele dafür sind die Behauptungen, der Kern von Rogers’ Menschenbild bestünde in der naiven Annahme, dass der Mensch von Natur aus gut sei, und Gesprächspsychotherapeuten behandeln alle Patienten gleich. Sicher können Missverständnisse durch geeignete Informationen geklärt werden, wie sie in den Kapiteln dieses Lehrbuchs auch enthalten sind. Darüber hinaus aber kann das Wissen über die Entstehungszusammenhänge des Klientenzentrierten Konzepts den Bezug herstellen,
aus dem heraus das Entstehen und die Weitergabe solcher Missverständnisse eher vermieden werden kann. Aber es gibt auch noch andere Gründe.
2.1.1
Das Problem der mehrdeutigen Sprache
Der historische Kontext der Entstehung einer Theorie ist unabdingbar, um die Begriffe und Modellvorstellungen, aus denen eine Theorie besteht, wirklich genau zu vermitteln. Die für wissenschaftliche Darstellung erhobene Forderung, dass sie möglichst eindeutig zu sein habe, ist anders nicht zu erreichen. Sprache für sich allein ist vieldeutig, erst Zusammenhänge können deutlich machen, was jeweils gemeint ist. So hat das Wort »Kraft« im Alltag viele Bedeutungen (Muskelkraft, Macht, Stärke, Energie usw.). Erst der Zusammenhang mit der Physik und die Definition »Kraft ist gleich Masse mal Beschleunigung« kann Eindeutigkeit darüber herstellen, was gemeint ist. Anders als die Physik verfügt die Psychologie zusammen mit ihren Anwendungsgebieten nicht über eine solche eindeutige Begrifflichkeit. Ihre Sprache ist weitgehend an die Alltagssprache angelehnt und verleitet deshalb auch Fachleute zu einer unpräzisen Ausdrucksweise. So weit Fachbegriffe verwendet werden, geschieht dies nur allzu oft in nicht eindeutiger Weise. Als besonders krasses Beispiel mag hier der Begriff »kognitiv« dienen, von dem Dörner schrieb, er sei fast nicht mehr verwendbar, weil er nur noch die Bedeutung »irgendwie innen und nicht direkt sichtbar« habe (Dörner, 1984, S. 10). Daran hat sich seither kaum etwas geändert. Diese fehlende Eindeutigkeit der Begriffe hat Konsequenzen für die Rezeption psychologischer Literatur ganz allgemein, auch und im Besonderen für die der Schriften von Carl R. Rogers, dem Begründer des Klientenzentrierten Ansatzes, die die theoretische wie auch therapeutisch-praktische Basis der Gesprächspsychotherapie bilden. Die meisten der in seiner Theorie verwendeten zentralen Begriffe haben zwar eine definierte Bedeutung. Sie wird aber in der Sekundärliteratur oft ignoriert und durch ein beliebiges Alltagsverständnis ersetzt, was immer wieder zu die Diskussion störenden Missverständnissen geführt hat und immer noch führt.
13 2.1 · Warum ist es sinnvoll, sich mit der Geschichte der Gesprächspsychotherapie
Als Beispiel mag der Begriff »nicht-direktiv« (»non directive«) dienen, eine von Rogers gewählte Beschreibung für die von ihm entwickelte Therapieform. Er hat ihn, wie wir noch in diesem Kapitel sehen werden, damit begründet, dass der Therapeut gegenüber seinem Patienten nicht als der Experte auftritt, der kraft seines Fachwissens weiß, was für ihn gut ist und wie sein weiterer Weg aussehen sollte. Stattdessen fördert der Therapeut beim Patienten mit geeigneten Interventionen – die in späteren Kapiteln noch eingehend beschrieben werden – den Prozess einer eigenständigen und konstruktiven Entwicklung, die ihn zur Lösung seiner Probleme befähigt. Ohne sich um diese Begründungen zu kümmern, wurde »nicht-direktiv« nach dem Alltagsverständnisses aufgefasst im Sinne von »keine Direktiven geben« bzw. »keine Anweisungen«. Und das bedeutet doch wohl, dass der Therapeut am ehesten »nicht-direktiv« ist, wenn er gar nichts tut. Und so etwas soll wirken?? Erschrocken über dieses Missverständnis änderte Rogers die Bezeichnung seines Verfahrens in »Klientenzentrierte Therapie«1 (»client centered therapy«), wodurch sich allerdings kaum etwas besserte, denn nun kam es – wieder dem naiven Alltagsverständnis folgend – zu dem Einwand, »klientenzentriert« bedeute ja wohl, dass der Klient im Mittelpunkt steht. Und das ist doch bei jeder Therapie der Fall, also machen doch letztlich alle Psychotherapeuten »Klientenzentrierte Therapie«. Was soll also das Besondere daran sein?? ! Es führt nichts daran vorbei, sich nicht nur dem Klientenzentrierten Konzept, seinen Begriffen und Modellvorstellungen genauer zu widmen, sondern insbesondere auch seiner Entwicklung und den Zusammenhängen, aus denen heraus es entstanden ist. Wer diese Zusammenhänge kennt, hat verstanden, worum es geht. Kurz gesagt: Sprachliche Äußerungen, auch wissenschaftlicher Art, bedürfen der Interpretation. Und ihre Interpretation bedarf des Kontexts, in dem sie stehen. 1
Dennoch war der Begriff »nicht-direktiv« nun einmal in der Welt, und die Korrektur von Rogers wurde nur wenig zur Kenntnis genommen. Bezeichnend dafür ist, dass die im Jahre 1972 – also mehr als 20 Jahre nach seinem im Jahre 1951 erfolgten Widerruf – veröffentlichte deutsche Übersetzung seines Buches »Counseling and Psychotherapy« unter dem Titel »Die nicht-direktive Beratung« anstatt der korrekten Übersetzung »Beratung und Psychotherapie« erschien.
2.1.2
2
Über die wechselseitige Verbundenheit von Theorie und Praxis
Und es gibt noch einen weiteren Grund, sich näher mit der Geschichte des Klientenzentrierten Konzepts zu befassen: Diese Theorie der Psychotherapie ist das Ergebnis der Auswertung von systematischen Beobachtungen und Erfahrungen, die in abstrakten Begriffen und Modellvorstellungen zusammengefasst sind. Um sie so zu verstehen, dass sie in therapeutisches Handeln umgesetzt werden können, müssen wir auch den Weg zurück vom unanschaulichen Abstraktum zur konkreten Vorstellung gehen können. Dieses flüssige Hin und Her zwischen Theorie und Praxis ist eine Voraussetzung kompetenten und professionellen therapeutischen Handelns. Es wird durch Beispiele gefördert, insbesondere aber auch, wenn wir uns die Entstehungszusammenhänge der Begriffe und Modellvorstellungen immer wieder vergegenwärtigen. Nicht zuletzt wird die Relation zwischen der Theorie und der Praxis eines Konzepts deutlicher, wenn ihre Entwicklungsgeschichte nachvollziehbar ist. Das Klientenzentrierte Konzept ist nicht das Ergebnis einer Eingebung, sondern eines stetigen, geduldig und konsequent betriebenen Prozesses der Auseinandersetzung zwischen der beobachteten therapeutischen Praxis und dem Versuch, die dabei gemachten Erfahrungen theoretisch einzuordnen. Zu Beginn dieses Prozesses war Rogers zwar die zentrale Figur, zugleich aber auch eingebunden in das Netzwerk der damals aktuellen therapeutischen Konzepte und ihrer Diskussion und in ein Team von Mitarbeitern und Diskussionspartnern.
2.1.3
Erkenntnistheoretische Aspekte
»Wissenschaftlichkeit« genießt in unserer Gesellschaft den Ruf der eindeutigen Wahrheit. Wenn etwas »wissenschaftlich geprüft« ist, gilt es als unumstößlich wahr. Wer genauer hinsieht, und genau das haben vor allem engagierte Wissenschaftler getan, kann erkennen, dass dem nicht so ist. Dahinter steckt keine Wissenschaftsfeindlichkeit. Vielmehr gilt es, darauf hinzuweisen, dass wissenschaftliche Aussagen auf Voraussetzungen und Methoden beruhen,
14
2
Kapitel 2 · Die Entwicklung des Klientenzentrierten Konzepts
die ihren Hintergrund in ihrer Geschichte und ihren Entstehungsbedingungen haben. Nur wer sie kennt, kann wissenschaftliche Ergebnisse richtig einordnen und ihre Gültigkeit für den jeweiligen Verwendungszusammenhang abschätzen. Last but not least: Es ist einfach interessant zu fragen, wie jemand dazu kommt, eine bestimmte Theorie über Psychotherapie so und nicht anders zu konzipieren, und welche Umstände ihn dazu gebracht haben.
2.2
Die Gesprächspsychotherapie als Ergebnis aus therapeutischer Praxis und empirischpsychologischer Forschung
2.2.1
Die Anfänge
Die erste Berührung mit der Klinischen Psychologie hatte Rogers (geb. 1902), als er 1926, in der Endphase seines Studiums der Psychologie am Teachers College der Columbia University, in dem direkt gegenüber liegenden, damals neu eingerichteten Institute for Child Guidance (Institut für Erziehungsberatung) eine Assistentenstelle bekam. Die Tätigkeit in dieser Einrichtung brachte ihn nicht nur direkt mit den vielfältigen Problemen von Menschen in Berührung, die Rat und Hilfe suchten, sondern sie konfrontierte ihn zugleich mit dem Gegensatz zwischen den damals relevanten psychologischen Konzeptionen: Am Teachers College (an dem damals immerhin Edward Lee Thorndike, einer der prominentesten Begründer der klassischen Lernpsychologie, forschte und lehrte) hatte er das Lehr- und Forschungsprogramm der akademischen Psychologie kennen gelernt und sich weitgehend zu eigen gemacht. Dessen Kern bildeten dort das exakt methodische, auf Messung beruhende experimentellstatistische Vorgehen und die damit erarbeiteten Theorien. Durch die neuen Kollegen in der Erziehungsberatung wurde er nun mit dem psychoanalytischen Gedankengut bekannt gemacht, das deren Arbeit bestimmte und in dem Emotionen und Persönlichkeitsdynamik betont wurden. Er glaubte damals, in zwei völlig verschiedenen Welten zu arbeiten, die sich nie begegnen könnten. In späteren Jahren war er dann der Ansicht, dass die Notwendigkeit,
diesen Konflikt in sich zu lösen, eine höchst wertvolle Lernerfahrung für ihn gewesen sei (Rogers, 1973a, S. 25).
2.2.2
Erste Erfahrungen mit den Anforderungen der klinischpsychologischen Praxis
In der entwicklungspsychologischen Abteilung der Rochester Society for the Prevention of Cruelty to Children (Gesellschaft zur Verhinderung von Grausamkeiten an Kindern), in der Rogers später (1928) eine Anstellung als Psychologe bekam und deren Direktor er im Jahr darauf wurde, war es sein oberstes Ziel, mit den unterprivilegierten und häufig straffällig gewordenen Kindern sowie deren mit Problemen überforderten Eltern möglichst effektiv zu arbeiten. Was die Methoden betraf, mit ihnen umzugehen, so gab es für ihn letztlich nur ein Kriterium: »Klappt es? Ist die Methode effektiv?« (Rogers, 1973a, S. 26). Diese Aufgabe ging weit über das hinaus, was er zuvor in seinem Studium der Psychologie gelernt hatte. Also war er gezwungen, sich anderweitig nach geeigneten Verfahrensweisen umzusehen. Die Grundlage seiner Arbeit war die damals herrschende Ansicht, dass der erste Schritt, den Kindern zu helfen, darin bestehe, die Art ihres Problems genau zu verstehen. Er beschrieb damals seine Institution als »ziemlich ähnlich einer Autowerkstatt – Sie bringen ein Problem dort hin, erhalten die Diagnose eines Experten und erhalten eine Empfehlung, wie die Schwierigkeit korrigiert werden kann« (Kirschenbaum, 1979, S. 67; Übersetzung v. Verf.). Seiner Ausbildung folgend, bediente sich Rogers bei seinen Diagnosen der Exploration der Eltern, des Gesprächs mit dem Kind bzw. Jugendlichen, psychologischer Tests und der aus den Akten ersichtlichen Fallgeschichte. Anschließend berieten in einer Fallkonferenz die Mitglieder des Teams (Psychologen, Sozialarbeiter, Pflegeeltern, Heimerzieher, Lehrer, Arzt usw.) über die Hintergründe, die zu dem Problem geführt hatten, sowie über geeignete Maßnahmen zur Korrektur. Eine wesentliche Grundlage für diese Problemanalyse waren psychoanalytische Vorstellungen, und die dann folgende Behandlung beruhte u. a. auf der Erwartung, Probleme ließen sich am besten bewälti-
15 2.2 · Die Gesprächspsychotherapie als Ergebnis aus therapeutischer Praxis
gen, wenn ein Patient zur Einsicht in die Hintergründe seiner Probleme gebracht werde.
2.2.3
Drei für die weitere Entwicklung wesentliche Episoden
Wegen der hohen Ansprüche, die Rogers an die Effektivität seines Handelns gestellt hatte, kümmerte er sich intensiv um die Ergebnisse dieser Bemühungen, und so konnte es nicht ausbleiben, dass er rasch und nachdrücklich mit den Grenzen seiner Vorgehensweise konfrontiert wurde. Über eine besonders eindrucksvolle Fallgeschichte hat er selber berichtet: »Während meiner Ausbildung faszinierten mich William Healys2 Schriften, die den Schluss nahe legen, jugendliche Kriminalität basiere oft auf sexuellen Konflikten und höre auf, wenn diese Konflikte aufgedeckt würden. Während meines ersten oder zweiten Jahres in Rochester arbeitete ich sehr intensiv mit einem Jugendlichen, der einen unerklärlichen Trieb hatte, Feuer anzuzünden – ein Pyromane. Nach vielen Gesprächen im Erziehungsheim stellte sich mir sein Drang als sexuelles Verlangen im Zusammenhang mit Masturbation dar. Heureka! Der Fall war gelöst. Allerdings, nachdem der Jugendliche auf Bewährung entlassen war, wurde er wieder rückfällig. Ich erinnere mich noch an den Stoß, den mir das gab. Healy hatte vielleicht nicht Recht. Vielleicht war ich dabei, etwas herauszufinden, was Healy nicht wusste. Irgendwie beeindruckte mich dieser Vorfall, er zeigte mir die Möglichkeit, dass es in den anerkannten Lehrgebäuden Mängel und dass es noch neues Wissen zu entdecken gab.« (Rogers, 1973a, S. 26) Die Episode sowie die Reaktion von Rogers auf sie zeigen exemplarisch zweierlei: Zum einen seine Unzufriedenheit mit dem theoretischen Rüstzeug, das er in der damaligen einschlägigen Literatur vorfand. Er hatte sie ebenso wie seine Mitarbeiter wesentlich 2
William Healy war seinerzeit in den USA eine anerkannte Autorität für die Behandlung von delinquenten und Problemkindern.
2
eingehender durchgearbeitet, als dies in dem Einzelbeispiel deutlich wird. Damit war er also gescheitert. Zum anderen wird deutlich, dass er sich nicht darauf verließ, irgendwann doch noch eine Lösung in der Literatur bei Autoritäten zu finden. Stattdessen sah er sich aufgerufen, eigenständig nach Neuem zu suchen. An derselben Stelle berichtet Rogers über eine weitere, für seine professionelle Entwicklung wichtige Begebenheit: »Die zweite naive Entdeckung war anderer Art. Bald nach meiner Ankunft in Rochester leitete ich eine Diskussionsgruppe über die Durchführung von Behandlungsgesprächen. Als ein Beispiel für gute Gesprächstechnik brachte ich einen Bericht, den ich in einer Veröffentlichung gefunden hatte. Ein Gespräch mit einer Mutter war in etwa wörtlich wiedergegeben, in dem der Interviewer scharfsinnig, einsichtig und klug das Gespräch schnell auf den Kern der Schwierigkeiten hinführte. Einige Jahre später bekam ich eine ähnliche Aufgabe und erinnerte mich an dieses ausgezeichnete Material. Ich suchte es heraus und las es wieder: Ich war erschrocken. Jetzt schien es mir eher eine clevere, spitzfindige Art des Fragens seitens des Gesprächsleiters zu sein, die diese Mutter ihrer unbewussten Motive überführte und ihr ein Eingeständnis ihrer Schuld abrang. Ich wusste mittlerweile aus meiner Erfahrung, dass ein solches Gespräch weder der Mutter noch dem Kind eine dauernde Hilfe bieten würde. Dadurch erkannte ich, dass ich mich von jedem Ansatz, der darauf hinauslief, innerhalb einer klinischen Beziehung den anderen zu zwingen oder zu drängen, entfernt hatte, nicht aus philosophischen Gründen, sondern weil solche Ansätze nie mehr als oberflächlich wirksam werden.« (Rogers, 1973a, S. 26 f.) In diesem Bericht, der sich vor allem auf die Methodik von beratenden und therapeutischen Gesprächen bezieht, wird bereits die durch seine Erfahrungen bestimmte Entwicklung deutlich, die Rogers in den Jahren in Rochester genommen hatte. Zunächst von Methoden tief beeindruckt und überzeugt, die dem Experten argumentativ und zwingend die Ein-
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2
Kapitel 2 · Die Entwicklung des Klientenzentrierten Konzepts
sicht in die Hintergründe von Problemen vermitteln, hatte er inzwischen gelernt, dass eine solche Rhetorik zwar für den Therapeuten selber – oder auch für ein eventuelles Publikum – ihre intellektuell-ästhetischen Reize haben mag. Für konstruktive Veränderungen bei den Patienten ist sie jedoch so gut wie wertlos. Er war also vorsichtiger und kritischer geworden. Rogers berichtet dann noch über eine dritte Begebenheit in einem Fall, bei dem er sich zwar bereits umsichtiger verhielt, aber dennoch wieder die Grenzen seines Vorgehens aufgezeigt bekam. Er nahm jedoch eine Wendung, die für sein weiteres Vorgehen entscheidend sein sollte: »Der dritte Vorfall ereignete sich einige Jahre später. Ich hatte gelernt, feinfühliger und geduldiger zu sein, wenn ich einem Klienten sein Verhalten deutete; ich versuchte, die Interpretation behutsam und zeitlich so zu bringen, dass sie angenommen wurde. Ich hatte mit einer hochintelligenten Mutter gearbeitet, deren Junge ein rechter kleiner Teufel war. Das Problem lag eindeutig in ihrer frühen Ablehnung des Jungen, aber ich konnte ihr im Laufe vieler Gespräche nicht zu dieser Einsicht verhelfen. Ich half ihr, aus sich herauszugehen, fasste die von ihr gegebenen Hinweise vorsichtig zusammen, versuchte, ihr zu helfen, die Struktur zu erkennen. Aber wir kamen nicht voran. Schließlich gab ich auf. Ich erklärte ihr, dass es so aussähe, als hätten wir beide alles versucht, doch letztlich versagt, und dass wir genauso gut unsere Treffen aufgeben könnten. Sie stimmte zu, und so beendeten wir das Gespräch; wir schüttelten uns die Hände, und sie ging zur Sprechzimmertür. Dort drehte sie sich um und fragte: ›Nehmen Sie auch Erwachsene zur Beratung an?‹ Als ich zustimmte, sagte sie: ›Also, ich brauche Hilfe.‹ Sie kehrte zu dem Stuhl zurück, den sie eben verlassen hatte und begann, eruptiv die Verzweiflung über ihre Ehe, das gestörte Verhältnis zum Ehemann, das Gefühl des Versagens und der Verwirrung mitzuteilen – alles ganz anders als die sterile ›Fallgeschichte‹, die sie früher vorgebracht hatte. Die wirkliche Therapie setzte in diesem Moment ein und führte schließlich zum Erfolg.« (Rogers, 1973a, S. 27)
2.2.4
Konsequenzen aus den Erfahrungen
Der Kommentar, den Rogers selbst zu diesen Episoden gibt, lautet: »Dieser Vorfall war einer von mehreren, die mir zu der Erfahrung verhalfen – erst später erkannte ich sie völlig –, dass der Klient derjenige ist, der weiß, wo der Schuh drückt, welche Richtungen einzuschlagen, welche Probleme entscheidend, welche Erfahrungen tief begraben gewesen sind. Langsam merkte ich, dass, wenn ich es nicht nötig hätte, meine Cleverness und Gelehrsamkeit zu demonstrieren, ich besser daran täte, mich auf den Klienten zu verlassen, was die Richtung des Prozessablaufs anging.« (Rogers, 1973a, S. 27 f.) Damit hatte er die entscheidende Erkenntnis des Klientenzentrierten Konzepts gewonnen: So merkwürdig es für eine Gesellschaft auch klingen mag, die daran gewöhnt war (und immer noch ist), sich auf das Wissen wissenschaftlich geschulter Experten zu verlassen: Die besten Experten für die Lösung ihrer Probleme des Verhaltens und Erlebens sind die Patienten selber. Sie treten damit aus ihrer ausschließlich passiven Rolle der Empfänger des professionellen Expertenwissens heraus, um ihre eigenen Fähigkeiten und Ressourcen zu entdecken und weiter zu entwickeln. Und das Ergebnis dabei war, dass nicht nur ihre Symptome verschwanden und sie ihre Probleme bewältigten, sondern dass sich in einem therapeutischen Entwicklungsprozess auch stabilisierende Veränderungen der Persönlichkeit ergaben. Drei Aufgaben stellten sich nun für Rogers und seine Mitarbeiter:
Zukünftige Aufgaben 1. Zu erkunden, welche Bedingungen es sind, die solche eigenständigen Entwicklungsprozesse stattfinden lassen. Auf diese Weise müsste es möglich sein, Richtlinien für effizientes Therapeutenverhalten zu formulieren,
6
17 2.3 · Die Suche nach dem effizienten Therapeutenverhalten
2. Empirisch zu belegen, dass sich mit einem solchen Vorgehen bei den behandelten Personen die behaupteten Veränderungen auch tatsächlich ergeben – eine Aufgabe, die für Rogers als empirisch-methodisch ausgebildeten Psychologen unabdingbar und selbstverständlich war – sowie 3. Eine Theorie der Persönlichkeit zu entwickeln und zu formulieren, die in der Lage ist, zu erklären, warum sich bei einem Therapeutenverhalten, das sich an den Ergebnissen der Punkte 1 und 2 orientiert, bei einem Menschen konstruktive Veränderungen einstellen können.
sich stattdessen auf die Einsicht des Patienten in sich selbst sowie auf seine Selbstakzeptanz in der therapeutischen Beziehung zu konzentrieren. Während es in der klassischen Psychoanalyse das Ziel war, dass der Patient, indem er seinen Widerstand und seine Übertragung durcharbeitet, lernt, die eigene psychische Entwicklung zu verstehen, war in der Rankschen Schule die therapeutische Beziehung selbst das hauptsächliche therapeutische Agens. Ihre Vertreter meinten: Wenn der Patient in der Therapiestunde die Fähigkeit entwickelt, als gesundes Individuum zu leben, dann würde er dies anschließend auf sein tägliches Leben übertragen (Kirschenbaum, 1979).
2.3.2
2.3
Die Suche nach dem effizienten Therapeutenverhalten
Entscheidend für die Ergebnisse der Suche nach einer brauchbaren Methode für die psychotherapeutische Behandlung war zum einen, dass sich Rogers und seine Mitarbeiter so gut wie in der gesamten einschlägigen Literatur jener Zeit nach Anregungen für ein geeignetes Vorgehen umsahen, zum anderen, dass die erkennbare Wirksamkeit des Vorgehens das primäre Kriterium für die Auswahl war.
2.3.1
Wachstum in einer therapeutischen Beziehung
Bei dieser Auseinandersetzung mit den verschiedenen therapeutischen Richtungen stieß Rogers u. a. auf das Konzept von Rank. Zwar waren für ihn, der vor allem nach konkreten therapeutischen Handlungsmöglichkeiten suchte, dessen eigene Arbeiten wenig ergiebig. Jedoch wurde er durch die Schriften von Ranks Schülern Jessie Taft und Frederick Allen stark beeinflusst, zumal er darin seine eigenen Ideen bestätigt fand: sich nicht einzumischen, sondern auf die dem Individuum eigene Tendenz in Richtung auf Wachstum zu vertrauen. Vor allem aber galt es, die Aufmerksamkeit nicht – wie in der klassischen Psychoanalyse – auf die Interpretation des Vergangenen zu richten, sondern
2
Die Behandlung von Problemkindern
Die Ergebnisse dieser Auseinandersetzung mit den therapeutischen Richtungen der damaligen Zeit gingen in das erste größere Buch von Rogers mit dem Titel »The Clinical Treatment of the Problem Child« (Rogers, 1939) ein. Darin kam er zu dem Ergebnis, dass der Erfolg einer therapeutischen Behandlung in erster Linie von der Qualifikation des Therapeuten abhängt, für die er vier Merkmale als maßgeblich ansah: 1. Objektivität: Sie ist im klinischen Zusammenhang allerdings anders definiert als im streng (natur-)wissenschaftlichen Bereich, und zwar als eine authentisch aufgeschlossene und interessierte Einstellung, eine »kontrollierte Identifikation« im Sinne eines tiefen Verstehens des Anderen, die jedoch insofern eine Distanz wahrt, als der Therapeut darauf achtet, dass er das Erleben des Anderen nicht zu seinem Eigenen macht. Zu einem so gearteten Verstehen passt es auch nicht, über den Anderen moralische Urteile zu fällen oder über ihn geschockt oder entsetzt zu sein. 2. Respekt gegenüber dem Individuum: Eine tiefsitzende Achtung gegenüber der Integrität des Anderen, die ihn so akzeptiert, wie er ist, und die ihm dabei hilft, seinen eigenständigen Weg der Entwicklung gemäß den ihm eigenen Zielen zu gehen und dabei die speziell für ihn passende Form der Anpassung zu finden. 3. Verstehen des eigenen Selbst: Der Therapeut muss ein intaktes Verständnis seiner selbst, sei-
18
2
Kapitel 2 · Die Entwicklung des Klientenzentrierten Konzepts
ner besonderen emotionalen Muster sowie seiner eigenen Grenzen und Fehler besitzen. Ohne einen beträchtlichen Grad an Einsicht in sich selbst wird er nicht in der Lage sein, Situationen zu erkennen, in denen er zur Befangenheit und Voreingenommenheit neigt. 4. Psychologisches Wissen: Eine solide Kenntnis des menschlichen Verhaltens und seiner physischen, sozialen und psychischen Determinanten. Allerdings ist dieses Wissen allein, ohne dass die ersten drei Punkte erfüllt sind, für ein effizientes therapeutisches Handeln nicht hinreichend.
2.3.3
Die Professur an der Ohio State University
Rogers vermutete, dass dieses Buch entscheidend für seine Berufung im Jahre 1940 auf eine Professur für Psychologie an der Ohio State University war. Zu seinen Aufgaben dort gehörte die Leitung von Seminaren über Psychotherapie und Beratung, die bei den Studierenden begeisterten Zuspruch fanden. Immerhin waren sie nicht nur bereit, auch am unbeliebten Sonnabend die morgens um acht Uhr angesetzten Seminare zu besuchen (für heutige akademische Verhältnisse fast undenkbar), sondern sogar über die angesetzten Stunden hinaus auch am Nachmittag weiter zu arbeiteten.
2.3.4
Das konkrete Therapeutenverhalten als Gegenstand der Ausbildung von Therapeuten
Zu den Besonderheiten dieser Seminare gehörten nicht nur die Gedanken von Rogers zur Psychotherapie und Beratung, sondern auch, dass er die damals neu gegebenen Möglichkeiten der Aufnahmetechnik zu nutzen verstand: Mit dem inzwischen verfügbaren »Phonographen« wurden die therapeutischen Gespräche der Studierenden (natürlich mit Einverständnis der Patienten) aufgenommen, und die Arbeit in den Seminaren bestand dann darin, die Gespräche gemeinsam anzuhören und zu diskutieren. Im Zentrum stand dabei die Frage, wie in dem jeweiligen Gespräch das therapeutische Vorgehen verbessert werden könnte.
Diese Art von Supervision, bei der das konkrete therapeutische Handeln unmittelbar analysiert und diskutiert wurde, war im universitären Bereich einzigartig. Kein anderer Therapeut hatte bis dahin die supervidierte Erfahrung in der therapeutischen Beziehung zu einem Bestandteil der akademischen Ausbildung gemacht.
2.3.5
Die neue Art der Therapieforschung
Diese Tonaufzeichnungen waren ein ausgezeichneter Spiegel für die Therapeuten. Sie mussten sich nicht mehr mit ihrer täuschungsanfälligen Selbstwahrnehmung bzw. -erinnerung zufrieden geben, sondern konnten gemeinsam mit anderen unmittelbar hören, wie sie sich als Therapeuten tatsächlich verhielten. Und im Hinblick auf die Forschung ermöglichten die Tonaufzeichnungen zudem, einzelne Passagen wiederholt abzuhören und die Wirkungen der verschiedenen therapeutischen Interventionen auf das nachfolgende Verhalten der Patienten direkt zu beobachten. Rogers selbst hatte dadurch die Gelegenheit, in ständiger Diskussion mit Studierenden und Mitarbeitern aus diesen Beobachtungen Schlussfolgerungen zu ziehen und sie in psychologische Konzepte einzuordnen, diese wiederum auf die folgenden therapeutischen Gespräche anzuwenden, erneut deren Wirkung zu überprüfen usw. Dieser Kreislauf war für die damalige Zeit absolut ungewöhnlich, ja revolutionär. Im Anfang der Psychoanalyse war es sogar üblich gewesen, auch die Patienten zu strengstem Stillschweigen über das Geschehen in den Therapiestunden zu verpflichten. Das war inzwischen nicht mehr aufrecht zu erhalten, obwohl die Therapeuten aller Richtungen sich (zumeist auch heute noch) nicht gerne in die Karten sehen lassen. Dieser direkte Zugang zum konkreten Geschehen in der Psychotherapie ermöglichte nicht nur die stetige Verfeinerung des therapeutischen Vorgehens. Er war vor allem geeignet, die Theorie der Psychotherapie vom Kopf auf die Füße zu stellen.
19 2.3 · Die Suche nach dem effizienten Therapeutenverhalten
2.3.6
Das neue Therapiekonzept
Zu Beginn seiner Tätigkeit an der Ohio State University hatte sich Rogers auf die in seinem Buch »The Clinical Treatment of the Problem Child« (Rogers, 1939) formulierten Grundlagen des therapeutischen Vorgehens bezogen. »Aber die graduierten Studierenden an der Ohio State Universität verlangten mehr als das Für und Wider der verschiedenen Therapieschulen. Sie wollten, dass ihr Professor sie lehrte, wie man ein guter Therapeut sein kann, und das bedeutete, dass er sein eigenes Konzept einer guten Therapie formulieren musste« (Kirschenbaum, 1979, S. 111; Übersetzung v. Verf.). Rogers selbst fand seine Ansichten nicht sonderlich originell. Er war der Meinung, nur das zusammengefasst zu haben, was die meisten der seinerzeit modernen Therapeuten mit ihm teilten. Ein einschneidendes Ereignis sollte ihn jedoch eines Besseren belehren. Am 11. Dezember 1940 hielt er an der University of Minnesota, einem der damals führenden Zentren der Therapeutenausbildung, einen Vortrag über »Newer Concepts in Psychotherapy«. Zu Anfang gab er eine kurze Beschreibung und Kritik der traditionellen Ansätze und Vorgehensweisen der Psychotherapie und Beratung: Erteilen von Anordnungen und Verboten, Ermahnungen, Vorschlägen, Ratschlägen und intellektuellen Interpretationen, was allerdings viele seiner Zuhörer praktizierten. Daran anschließend beschrieb er die neueren Vorgehensweisen, wobei er seine Quellen (Rank und dessen Schüler Taft, Allen und Robinson sowie die NeuFreudianischen Analytiker, insbesondere Karen Horney) offen legte und gebührend würdigte: ! Grundannahmen für eine neue, an der Erfah-
rung orientierte Therapietheorie 1. Es gehe nicht darum, ein spezifisches Problem zu lösen, sondern darum, dem Individuum bei seinem Wachstum zu helfen. Dadurch werde es als Person besser integriert und könne dann nicht nur seine gegenwärtigen sondern auch seine künftigen Probleme effizienter bewältigen. Grundlage dafür sei das Vertrauen des Therapeuten in die bei jeder Person bestehende Tendenz, zu wachsen.
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2. Den emotionalen Elementen, insbesondere den gefühlsmäßigen Aspekten der gegenwärtigen Situation, komme eine größere Bedeutung zu als den intellektuellen. 3. Dem jeweils in der Therapie gegenwärtigen Augenblick komme eine größere Bedeutung zu als der Vergangenheit. 4. Das entscheidende Moment einer Therapie sei die therapeutische Beziehung als wachstumsfördernde Erfahrung.
Der Effekt, den er damit bei den Zuhörern auslöste, kam für Rogers völlig überraschend: Er wurde kritisiert, gelobt, angegriffen und erntete entgeisterte Blicke. Erst jetzt wurde ihm klar, dass er nicht, wie er gemeint hatte, lediglich die bei Therapeuten ohnehin gängigen Ansichten zusammengefasst, sondern etwas Eigenes dargestellt hatte. Und bei ihm reifte der Entschluss, dies in einem eigenen Buch darzustellen, das 1942 erschien.
2.3.7
Der erste geschlossene Ansatz: »Counseling and Psychotherapy«
Der Titel der deutschen Übersetzung dieses Buches (»Die nicht-direktive Beratung«; Rogers, 1972b) greift – abgesehen von der inzwischen von Rogers als unangemessen erkannten Bezeichnung »nicht-direktiv« – insofern zu kurz, als sich das darin dargestellte Konzept nicht auf die Beratung (counseling) beschränkte, sondern explizit auch die Psychotherapie einbezog. Und im Unterschied zu dem vorhergehenden Buch »The Clinical Treatment of the Problem Child« (Rogers, 1939) ging es jetzt um die Behandlung Erwachsener. Vor allem enthält dieses Buch eine in sich geschlossene Konzeption psychologischer Behandlung, in der Rogers genau das tat, was er ursprünglich bei Rank vermisst hatte und was seine Studierenden von ihm verlangten: Er befasste sich eingehend und speziell mit dem psychotherapeutischen Handeln. Sämtliche konzeptionellen Aussagen in diesem Buch sind von konkreten Beispielen, vorwiegend aus Tonbandprotokollen, begleitet und können deshalb unmittelbar nachvollzogen werden. Aus diesem Grunde ist seine Lektüre, auch wenn sich seither maßgebliche Präzisierungen und Erweiterungen der Klientenzentrierten
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Kapitel 2 · Die Entwicklung des Klientenzentrierten Konzepts
Theorie ergeben haben, immer noch äußerst lohnend. Seine ersten drei Teile bestehen erstens aus einem Überblick (über die Bedeutung von Beratung und Psychotherapie sowie eine Gegenüberstellung alter und neuer Methoden), zweitens werden Probleme zu Beginn einer Therapie behandelt (Indikation, Herstellen einer therapeutischen Beziehung) und drittens geht es um den Prozess der Beratung/ Therapie. Den vierten und letzten Teil bildet das komplette, von Rogers selbst kritisch kommentierte Transkript des Tonbandprotokolls einer therapeutischen Behandlung – für die damalige Zeit ein absolutes Novum und auch heute noch eine Rarität.
2.3.8
»Klient« oder »Patient«?
Zu den von Rogers (1972) präsentierten inhaltlichen Neuerungen gehört, dass er nicht mehr von Patienten spricht, sondern von Klienten. Diese Terminologie ist programmatisch zu verstehen. Er weist damit dem Gegenüber des Therapeuten in der therapeutischen Beziehung eine neue, spezifische Rolle zu, für die die aus der ärztlich-psychiatrischen Praxis stammende Bezeichnung »Patient« nicht mehr angemessen ist. Mit »Patient« ist die Vorstellung von einer kranken Person der Art verbunden, dass sie vom Arzt erwartet, dass dieser weitgehend die Verantwortung für den Patienten übernimmt, etwas mit ihm macht und ihn auf diese Weise heilt. Auch heute noch wird diese Sichtweise deutlich, wenn in der deutschen ärztlichen Fachsprache die Mitarbeit des Patienten in der Arzt-Patient-Beziehung mit dem Fachausdruck »Compliance« bezeichnet wird, einem aus dem Englischen übernommenen Wort, das dem Wörterbuch nach so viel bedeutet wie: Einwilligung, Befolgung, Willfährigkeit. Dahinter steht die als selbstverständlich erachtete und daher nicht weiter reflektierte Annahme, dass der Arzt/Therapeut kraft seiner Ausbildung besser als der Patient weiß, was diesem fehlt und was zu tun ist, damit es ihm danach besser geht. Eine an diesen Prinzipien orientierte »therapeutenzentrierte« Methode besteht darin, dass sich der Fachmann durch Befragung, Tests usw. die notwendigen Informationen verschafft, um zu beurteilen,
worin die Schwierigkeiten seines Patienten liegen, um dann zu entscheiden, was zu tun ist, und dem Patienten dieses mitzuteilen, z. B. wie er sein Studium gestalten oder mit seinen Eltern umgehen sollte und was eine angemessene Einstellung zum Leben ist. Ein solches Vorgehen erfordert genau genommen ein geradezu übernatürliches Wissen. Dem Kriterium der Wirksamkeit in der Praxis folgend, kam Rogers zu dem Ergebnis, dass sich eine solche Haltung in der Psychotherapie nicht bewährt. Klienten wehren sich in der Regel gegen eine solche Bevormundung oder sie geraten in eine Abhängigkeit von der Autorität des sie leitenden Therapeuten. Rogers setzte stattdessen auf die Eigenverantwortung des Klienten. Er allein ist es, der über sich und sein Leben Bescheid weiß, und er ist auch in der Lage, seine Angelegenheiten in die Hand zu nehmen und aktiv zu gestalten. Das gilt auch dann, wenn er an seine Grenzen gekommen ist und deshalb Hilfe sucht. Auch dann wird der Therapeut nicht besser über ihn Bescheid wissen als er über sich selber. Damit wandelt sich die Aufgabe des Therapeuten entsprechend. Ihm kommt nun die Aufgabe zu, für diejenigen Bedingungen zu sorgen, unter denen derjenige, der Hilfe sucht, in die Lage versetzt wird, den speziell für ihn passenden Weg zu finden. Und für eine solche Beziehung ist die Bezeichnung »Klient« in der Tat passender als »Patient«. Verbunden mit dieser Auffassung ist auch die Erwartung, dass ein in dieser Weise behandelter Klient sich auch nach Beendigung der Therapie in günstiger Weise weiter entwickeln wird. Vor kurzem hat Frohburg (2004) in einer Synopse von Katamnesestudien zur Gesprächspsychotherapie gezeigt, dass diese Erwartung auch empirisch bestätigt worden ist: Der therapeutische Gewinn, den Klienten aus einer Gesprächspsychotherapie gezogen haben, ist zum Zeitpunkt der Katamnese – 1 bis 12 Jahre nach Behandlungsende – weiterhin vorhanden oder es sind weitere Verbesserung zu verzeichnen. Dieser von Rogers eingeführte Gebrauch der Bezeichnung Klient ist inzwischen in der internationalen psychotherapeutischen Literatur unabhängig vom jeweiligen speziellen therapeutischen Verfahren weitgehend übernommen worden. Leider ist er in Deutschland in der berufspolitisch bestimmten Debatte über die Anerkennung der Gesprächspsychotherapie als wissenschaftlich begründetes und
21 2.3 · Die Suche nach dem effizienten Therapeutenverhalten
durch die Krankenversicherung erstattungsfähiges Verfahren von ihren Gegnern instrumentalisiert worden. Das Argument war, mit der Gesprächspsychotherapie könnten gar keine Störungen mit Krankheitswert behandelt werden, da ihre Vertreter selbst »nur« (!) von »Klienten« sprechen und nicht von »Patienten«, also kranken Menschen. Zwar wird diese Behauptung durch die vorliegenden Wirksamkeitsstudien bei Kranken vielfach widerlegt (7 Kap. 10.1). Dennoch zeigte diese Polemik bei den fachlich zumeist nicht näher informierten Entscheidungsträgern in der Politik und bei den Krankenkassen ihre Wirkung. Und um die unguten Konsequenzen dieser realen Gegebenheiten und den sich ständig wiederholenden zermürbenden Diskussionen zu entgehen, wird inzwischen in Deutschland auch im Zusammenhang mit der Gesprächspsychotherapie von »Patienten« gesprochen. Dabei ist umso mehr zu beachten, dass deren Rolle in der therapeutischen Beziehung nach wie vor im Sinne einer eigenverantwortlichen Person gesehen wird.
2.3.9
Nicht-Direktivität als Merkmal des Klientenzentrierten Ansatzes
Eine weitere Neuerung war, dass Rogers, wie bereits zu Beginn dieses Kapitels erwähnt, die von ihm vorgeschlagene Art von Psychotherapie als »nichtdirektiv« bezeichnete. Dass dies mit Passivität nichts zu tun hat, wird schon daraus ersichtlich, dass er die therapeutische Beziehung nicht nur als gewährend, sondern zugleich explizit als eindeutig strukturiert (Rogers, 1972b, S. 28) kennzeichnete. Nur ist die Art der Strukturierung anders als beim direktiven Vorgehen. Sie ergibt sich aus dem grundlegend Andersartigen des Klientenzentrierten Ansatzes. Bei ihm stehen nicht das Problem bzw. Symptom im Mittelpunkt der Beachtung, sondern das Individuum und dessen Erleben. Weiterhin besteht das unmittelbare (!) Ziel des therapeutischen Handelns nicht darin, das Problem des Patienten zu lösen bzw. die Symptome zu beseitigen, sondern dem Individuum dabei zu helfen, sich eigenständig zu entwickeln und dadurch eine bessere Integration in sich und in seine Umgebung zu erreichen. Damit wird es in die Lage versetzt, seine gegenwärtigen wie auch künftigen
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Problemen besser zu bewältigen, wobei die Symptome verschwinden oder sich zumindest wesentlich bessern (7 Kap. 7).
Nicht-Direktivität bedeutet Aktivität Damit beim Patienten ein so gearteter Prozess in Gang kommen kann, ist seitens des Therapeuten ein hohes Maß an Aktivität notwendig. Sie besteht darin, dass der Therapeut den Patienten dazu anregt und ihn dabei begleitet, dass er sich dem eigenen Erleben, seinen Wahrnehmungen, Gefühlen, Bedürfnissen, Motiven und Zielen zuwendet, um sie näher zu erkunden. Der Therapeut achtet dabei auf das, was der Patient sagt und in seinen nonverbalen Signalen ausdrückt, und er versucht, daraus zu erschließen, was im jeweiligen Moment im Patienten vorgeht, und teilt ihm das Ergebnis mit. Das Entscheidende dabei ist, dass er dies nicht als jemand tut, der als Experte über den Patienten Bescheid weiß und ihm sagen kann, was wirklich mit ihm los ist. Vielmehr tut er es als jemand, der sich bemüht, Kontakt mit dem Erleben des Patienten zu bekommen und zu behalten. Die Entscheidung, ob ihm dies gelungen ist, trifft stets der Patient. Deshalb schwingt auch in den Äußerungen des Therapeuten – sei es in der Art der Formulierung, sei es im Tonfall – stets die Frage mit: »Habe ich das richtig verstanden? Ist das so?« Die beobachtbare Folge beim Patienten ist, dass er allmählich mehr Gefühle ausdrückt, positive Impulse bei sich feststellt, Einsicht entwickelt, die er selbst erarbeitet hat und sich nicht auf von außen Entgegengebrachtes bezieht. Dabei kann er die ihm zur Wahl stehenden Möglichkeiten klären, in seinem Alltag zu mehr konstruktiven Handlungen kommen, wodurch wiederum die Einsicht weiter wächst, die Unabhängigkeit zunimmt, und die Hilfsbedürftigkeit nachlässt.
Es ist nicht einfach, nicht-direktiv zu handeln Die Konzentration auf das Erleben des Patienten erweist sich als äußert schwierig und bedarf intensiven und geduldigen Übens (ist aber erlernbar!). Wer Studierenden oder Ausbildungskandidaten, die noch keine einschlägigen Erfahrungen haben, mitteilt, sie könnten nicht zuhören, erntet in aller Regel ungläubiges Befremden, denn einfach »nur« zuhören kann
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Kapitel 2 · Die Entwicklung des Klientenzentrierten Konzepts
doch jeder. Wenn sie dann in konkreten Übungen versucht haben, sich darauf zu konzentrieren, was ihr Gegenüber wirklich sagt, ohne sich dabei von ihren eigenen Meinungen, Wertungen, möglichen Vorschlägen usw. ablenken zu lassen, stellen sie fest, dass Zuhören in der Tat schwierig ist und dass es einer besonderen Aktivität und Übung bedarf. ! Nicht-Direktivität »Nicht-direktiv« bedeutet, dass der Therapeut, um den Entwicklungsprozess beim Patienten nicht zu stören, seine eigenen Ideen über das, was der Patient im Hinblick auf die Gestaltung seines Lebens tun sollte, zugunsten von dessen Eigeninitiative zurückstellt. Er verzichtet darauf, die Themen festzulegen, über die gesprochen wird, er bewertet nicht das Verhalten und Erleben des Patienten, er hält sich mit Informationen zurück. Er vermeidet Interpretationen, die nicht den vom Patienten ausgedrückten Gefühlen gelten, sondern vom Therapeuten gesehenen Zusammenhängen oder sich auf dessen Einschätzung der Situation beziehen. An die Stelle all dessen tritt das Bemühen, sich der inneren Welt des Patienten zuzuwenden.
Was »darf« der Gesprächspsychotherapeut, was nicht? Diese Beschreibung des neuen Therapeutenverhaltens stand einer Tendenz entgegen, die auch heute noch bei vielen Therapeuten zu finden ist, nämlich Verantwortung für andere zu übernehmen. Das geschieht in der Regel unwillkürlich und unreflektiert. Im Klientenzentrierten Konzept gelten vertraute therapeutische (wie auch alltägliche zwischenmenschliche) Vorgehensweisen als nicht angebracht. Und wenn bei der Rezeption des Klientenzentrierten Konzepts der Begründungszusammenhang aus den Augen gerät – was nur zu oft der Fall ist – werden bestimmte Verhaltensweisen als »verboten« anstatt als »unzweckmäßig« aufgefasst. Es heißt dann, in der Gesprächspsychotherapie »darf« man nicht interpretieren, Informationen geben, Vorschläge für das Verhalten des Patienten machen usw. Ein System von »Verboten« von bestimmten Verhaltensweisen entspricht jedoch nicht dem Wesen des Klientenzentrierten Konzepts, das vor allem in dem Bestreben besteht, den Spielraum der per-
sönlichen Freiheit zu erweitern, und zwar sowohl für den Patienten als für den Therapeuten. Im Klientenzentrierten Konzept geht es um die Perspektive, unter der das therapeutische Handeln steht und an der es sich orientiert: ! Handlungsleitende Perspektive für
Gesprächspsychotherapeuten Es geht darum zu erkennen, was im gegebenen Moment geeignet ist, den Patienten im Wahrnehmen und Verstehen seiner selbst sowie in seiner Eigenverantwortlichkeit zu fördern. Alles, was diesem grundsätzlichen Ziel dient, ist angebracht, und alles, was ihm nicht dient oder gar entgegensteht, ist nicht angezeigt (Höger, 2000).
Es geht beispielsweise nicht darum, ob der Therapeut Vorschläge für das Verhalten des Patienten macht oder nicht. Es geht vielmehr um den Zusammenhang und die dahinter stehende Intention. Ist die therapeutische Beziehung etabliert, und der Patient weiß, dass es um seine eigene Verantwortlichkeit geht: Warum sollte ein Therapeut einen Vorschlag, der ihm gerade als Idee durch den Kopf geht, nicht äußern, sofern er ihn klar als eine solche deklariert und sich anschließend gemeinsam mit dem Patienten anschaut, welche Gedanken, Gefühle und Intentionen diese Idee bei diesem auslöst? Sofern dies zu einer vertieften Selbstwahrnehmung seitens des Patienten führt, hat es dem therapeutischen Ziel gedient. Verspürt der Therapeut jedoch den Impuls, seinen Vorschlag gegen Einwände des Patienten zu verteidigen, oder gibt er ihm gar nach, dann hat sein Vorschlag wohl mehr mit ihm selbst und seinen Bedürfnissen zu tun als mit dem Patienten und ist für den therapeutischen Prozess zumindest nicht förderlich, vielleicht sogar hinderlich, also unangebracht. Wenn bei Gesprächspsychotherapeuten im Vergleich mit anderen Therapeuten bestimmte Interventionen häufig und andere seltener oder gar nicht vorkommen, dann beruht das nicht auf der Einhaltung quasi-moralischer Vorschriften oder Verbote, sondern auf Erfahrungen mit effizienten und ineffizienten Interventionen.
23 2.4 · Die Überprüfung der Wirksamkeit von Therapie
! Nicht-Direktivität ist in der Gesprächspsychotherapie kein Selbstzweck, sondern ein Mittel: Sie soll bewirken, dass der Patient sich nicht mit den Ideen des Therapeuten befasst und dadurch von dem eigentlich therapeutisch wirksamen Prozess abgelenkt wird, nämlich sich mit seinem persönlichen Erleben eigenständig auseinander zu setzen. Nicht-Direktivität dient dem Zweck, den therapeutischen Prozess zu fördern anstatt ihn zu behindern.
2.3.10
Vorläufiges Fazit
Die Reaktionen auf das Buch »Counseling and Psychotherapy« waren ziemlich gegensätzlich. Zum einen machte es seinen Autor berühmt. Eine Vielzahl von Graduierten kam zur Columbus University, um bei Rogers zu lernen und mit ihm zu diskutieren. Anschließend gingen sie wieder zurück nach Hause und verbreiteten dort seine Ideen. Rogers bekam auch viele Einladungen zu Vorträgen und Workshops. Zum anderen wurde das Buch vom psychologischen Establishment überwiegend ignoriert. In den wichtigen psychologischen und psychiatrischen Zeitschriften wurde es nicht einmal rezensiert. Kirschenbaum (1979) hat sicher Recht und bestätigt auch einen Teil der Selbsteinschätzung von Rogers, wenn er über dessen Beitrag zur Psychotherapie schreibt: »(Er) lag nicht in seiner Einzigartigkeit, sondern in seiner extremen und systematischen Art, wie er an Therapie heranging. In Wirklichkeit nahm er viele der neueren therapeutischen Konzepte und Vorgehensweisen der Therapie und baute sie in ein organisiertes System, das extremer war als jedes andere seiner unmittelbaren Vorgänger oder Zeitgenossen« (Kirschenbaum, 1979, S. 124; Übersetzung v. Verf.). Allerdings ist diese Konsequenz und Systematisierung nicht nur als spezifisch eigene sondern auch notwendige Leistung von Rogers zu sehen. Eine praktische Konsequenz hatte das Buch für den Ruf von Rogers als kompetenter Therapeut. Er wurde 1943 von der Regierung der USA dazu berufen, mit den Soldaten der US Air Force zu arbeiten, um sie bei der Verarbeitung ihrer Kriegserlebnisse zu unterstützen, ebenso nach Kriegsende zur Hilfe bei ihrer Wiedereingliederung.
2
Die Überprüfung der Wirksamkeit von Therapie
2.4
Nachdem Rogers bereits im Sommer 1944 als Gastprofessor an der Chicago University gelehrt hatte, wechselte er 1945 endgültig dort hin. Mit dieser neuen Stelle war der Auftrag verbunden, ein Therapie-Zentrum einzurichten und zu leiten. Im lebhaften Austausch mit seinen Mitarbeitern, von denen ihm viele aus Ohio gefolgt waren, und den Studierenden wurde das Klientenzentrierte Konzept weiter verfeinert und präzisiert. Dabei trat die Psychotherapie gegenüber der Beratung immer mehr in den Vordergrund.
2.4.1
Rogers als Bahnbrecher für die Psychotherapieforschung
Rogers selbst schreibt, dass die (empirische) Forschung für ihn eine immer größere Bedeutung gewonnen habe. ! Das klientenzentrierte Junktim von Heilen
und Forschen »Therapie ist die Erfahrung, in der ich mich subjektiv geben kann. Forschung ist eine andere Form, bei der ich zur Seite trete und versuche, diese reiche subjektive Erfahrung mit Objektivität zu betrachten, all die eleganten Methoden der Wissenschaft anzuwenden, um festzustellen, ob ich mich selbst betrogen habe« (Rogers, 1973a, S. 30).
In solchen Äußerungen macht sich seine akademische Ausbildung in den Forschungsmethoden der Psychologie bemerkbar, die bei ihm auf einen besonders fruchtbaren Boden gefallen war. Schon als Kind hatte er sich mit Naturbeobachtungen beschäftigt, und bereits im Alter von 14 Jahren war naturwissenschaftliches Vorgehen selbstverständlicher Bestandteil seines Denkens. Auf Anregung seines Vaters hatte er sich auf dessen Farm mit dem Einfluss bestimmter Futter- und Düngemittel auf die landwirtschaftliche Produktion befasst sowie eigene Versuche dazu geplant und durchgeführt. Und so waren ihm der Vergleich von Kontroll- mit Experimentalgruppen, das Konstanthalten von Bedingungen, die Prinzipien der Zufallsauswahl usw. von Jugend an vertraut. Für ihn war es daher selbstverständlich, nicht nur die Wirksamkeit der Klientenzentrierten Psy-
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Kapitel 2 · Die Entwicklung des Klientenzentrierten Konzepts
chotherapie entsprechend zu überprüfen, sondern außerdem anhand von Verlaufsdaten psychotherapeutische Prozessforschung zu betreiben. Dabei stützte er sich nicht nur auf die Mehrzahl der damals etablierten Testverfahren, sondern entwickelte zusammen mit seinen Mitarbeitern eigene Messmethoden, die wesentliche Aspekte des Klientenzentrierten Konzepts abbildeten. Die Stärke seines Vorgehens bestand in dessen Realitätsnähe, denn er und seine Mitarbeiter passten die Forschungsmethodik an die Erfahrungen aus den Therapien an, anstatt dass umgekehrt die geläufigen Forschungsmethoden bestimmten, welche der konkreten Erfahrungen wie untersucht wurden. Exkurs
Störungshomogene Patientengruppen? Ein Beispiel für letzteres ist das heute verbreitete und sogar geforderte Vorgehen, die Wirksamkeit von Therapien nur an störungshomogenen Patientengruppen (z. B. ausschließlich an depressiven Patienten, die keine anderen Symptome aufweisen) zu betreiben. Diese Methodik wurde aus der Pharmaforschung übernommen. Dabei wird allerdings ignoriert, dass in der psychotherapeutischen Praxis erwiesenermaßen Patienten mit mehreren Diagnosen (z. B. Depression und Bulimie) die Regel sind. Um »reine« Patientengruppen zu erhalten, müssten dann entweder Patienten mit Mischdiagnosen unbehandelt bleiben oder aber die Diagnosen unsauber gestellt werden (z. B. die Bulimie zugunsten der Depression vernachlässigt werden oder umgekehrt – je nachdem, welche Störung untersucht werden soll). Das Problem eines solchen »methodisch sauberen«, aber wissenschaftlich eigentlich nicht vertretbaren Vorgehens ist erstens, dass solche durch die Methodik bestimmten »Ergebnisse« letztlich nicht interpretierbar und dass sie zweitens für die therapeutische Praxis, in der Mehrfachdiagnosen weit überwiegen, fast bedeutungslos sind. Die Alternative wäre, nach Methoden zu suchen, die die Erfahrung, also das Wissen um die überwiegenden Mehrfachdiagnosen, berücksichtigen.
Die bedeutendste Veröffentlichung über die Methoden und Ergebnisse der Forschung zum Klientenzentrierten Ansatz war das von Rogers zusammen mit Dymond verfasste Buch »Psychotherapy and Personality Change. Co-ordinated Research Studies in the Client-centered Approach« (Rogers & Dymond, 1954), dem seinerzeit eine bahnbrechende Bedeutung für die weitere Psychotherapieforschung zukam. Es enthält eine Reihe von Studien, bei denen die systematisch zu Beginn, am Ende und während der Therapien erhobenen Daten aus den Tonaufzeichnungen der Therapien sowie den diagnostischen Tests statistisch analysiert wurden, erstmals auch in Designs mit Kontrollgruppen, d. h. eine der ersten RCT-Studien (Randomised Clinical Trial) in der Psychotherapieforschung.
2.4.2
Anerkennung in der Fachwelt
Diese und andere, teilweise vorangegangenen Veröffentlichungen brachten Rogers und damit auch der Klientenzentrierten Psychotherapie ein hohes Ausmaß an Bekanntheit und Anerkennung in der Fachwelt ein. Sie fand ihren Ausdruck darin, dass ihm zusammen mit Kenneth W. Spence und Wolfgang Köhler die erstmals vergebene höchste Auszeichnung der American Psychological Association (APA) verliehen wurde, der »Distinguished Scientific Contribution Award« (Preis für hervorragende wissenschaftliche Beiträge). In der Begründung heißt es: »Für die Entwicklung einer originellen Methode zur Beschreibung und Analyse des psychotherapeutischen Prozesses, für die Formulierung einer überprüfbaren Theorie der Psychotherapie und ihrer Wirkung auf die Persönlichkeit und das Verhalten, ebenso für die umfassende systematische Forschung, um die Bedeutung der Methode zu demonstrieren und die Implikationen der Theorie zu erkunden und zu überprüfen. Sein Einfallsreichtum, seine Beharrlichkeit und flexible Anpassung der wissenschaftlichen Methodik, womit er an die riesigen Probleme heranging, die das Verstehen und die Veränderung der Person mit sich bringen, haben diesen Bereich der wissenschaftlichen Psychologie voran gebracht« (zitiert nach Kirschenbaum, 1979, S. 221; Übersetzung v. Verf.).
25 2.5 · Die erste Formulierung der Klientenzentrierten Theorie
Außerdem wurde Rogers 1954 für die Amtsperiode 1956/57 zum Präsidenten der APA gewählt. Er wurde zu mehreren Gastprofessuren eingeladen, u. a. von der University of California in Los Angeles, der Harvard University und der University of California in Berkeley. Er war Vorsitzender zahlreicher wissenschaftlicher Vereinigungen. Entsprechend groß war die Wirkung seiner Arbeiten für die Klinische Psychologie und darüber hinaus für die gesamte Psychologie.
2.5
Die erste Formulierung der Klientenzentrierten Theorie
2.5.1
Client-centered therapy
Die nächste größere Veröffentlichung von Rogers war im Jahre 1951 seine zweite Darstellung der Klientenzentrierten Psychotherapie: »Client-Centered Therapy« (Rogers, 1973b). Hatte die vorangegangene Darstellung »Counseling and Psychotherapy« (Rogers, 1972b) noch der Beratung (»counseling«) und der Psychotherapie gegolten und sich vor allem mit dem technischen Vorgehen befasst, so standen nunmehr im ersten Teil des Buches speziell die theoretischen Grundlagen der Psychotherapie im Vordergrund. Zu Beginn gibt Rogers einen Überblick über den damaligen Stand der Klientenzentrierten Psychotherapie, deren Theorie er ausdrücklich als ein nicht geschlossenes System bezeichnet. Vielmehr sei das Klientenzentrierte Konzept eine ständig in Entwicklung begriffene, für viele Bereiche der psychologischen Praxis fruchtbare Denkrichtung. Er kritisiert sein eigenes Vorgehen der ersten Zeit, in dem er zu sehr die therapeutische Technik als solche betont habe, und macht anschließend seine neue Sichtweise deutlich: Womit sich seine Theorie (wieder mit vielen Beispielen aus der therapeutischen Praxis) befasst, ist jetzt zum einen die Einstellung und Orientierung des Therapeuten, zum anderen die therapeutische Beziehung, und zwar aus der Sicht des Patienten. Er rückt damit, so weit es die Bedingungen für therapeutisch wirksame Prozesse betrifft, an die Stelle objektiver, außenstehenden Beobachtern zugänglicher Beobachtungs-
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daten die subjektiven Perspektiven der an der therapeutischen Beziehung direkt Beteiligten in das Zentrum der Forschung. In der späteren Psychotherapieforschung sollte sich für alle Therapierichtungen immer wieder zeigen: Am besten lässt sich der Erfolg von Psychotherapien anhand solcher Variablen vorhersagen, die das subjektive Erleben der therapeutischen Beziehung durch den Patienten wiedergeben. Bei den Analysen der Therapiegespräche hatte sich die Technik des Therapeuten immer dann als therapeutisch wirksam erwiesen, wenn sie der Ausdruck einer angemessen Einstellung gewesen war. Anders gesagt: eine bestimmte therapeutische Technik, die nicht von der entsprechenden Einstellung des Therapeuten begleitet wird, verzögert oder verhindert den therapeutischen Prozess. Damit wurde die Einstellung des Therapeuten zum Mittelpunkt des Interesses. Der Kern einer therapeutischen Einstellung bestand nach Rogers darin, dass der Therapeut die Verantwortung für das Handeln und Erleben des Patienten ausschließlich und konsequent diesem selbst überlässt (wobei er selbstverständlich und im gleichen Sinne die Verantwortung für sich und sein eigenes Verhalten in der Therapie behält). Damit werde nachweislich unnötiger Widerstand des Patienten vermieden. Auch dient diese Einstellung direkt dem Ziel der Therapie, den Patienten möglichst eigenverantwortlich und damit von der Person des Therapeuten unabhängig werden zu lassen.
2.5.2
Übertragung des Klientenzentrierten Konzepts auf andere Anwendungsbereiche
Im zweiten Teil dieses Buches lässt Rogers auch andere Autoren zu Wort kommen. Sie machen deutlich, dass sich die klientenzentrierte Denkrichtung auch in anderen Anwendungsbereichen als fruchtbar erwiesen hat: Während die Kapitel über Spieltherapie (Elaine Dorfman) und Gruppenpsychotherapie (Nicholas Hobbs) noch im Rahmen von Psychotherapie bleiben, wird der Bogen anschließend weiter gespannt. Mit der Führung und Verwaltung in Institutionen (Thomas Gordon) und
26
2
Kapitel 2 · Die Entwicklung des Klientenzentrierten Konzepts
dem Verhalten von Lehrern in Schulen3 wird gezeigt, wie im Rahmen des Klientenzentrierten Konzepts zwischenmenschliche Beziehungen ganz allgemein konstruktiv und für die Beteiligten zufrieden stellend sein können.
2.5.3
Ausbildung von Psychotherapeuten
Neuartig sind die Vorschläge im Kapitel über die Ausbildung von Therapeuten. Auch sie sind konsequenterweise an den Prinzipien des Klientenzentrierten Konzepts orientiert. So war es beispielsweise für Rogers nicht das Ziel, dass die angehenden Therapeuten einer vorgegebenen therapeutischen Orientierung folgen sollen (auch nicht der klientenzentrierten!), sondern ihren eigenen Erfahrungen mit Menschen und deren Verhalten. Das mag zunächst nach einem Freibrief für subjektive Beliebigkeit aussehen, ist aber alles andere als das. Hier schlägt sich Rogers eigene Entwicklungsgeschichte als Therapeut nieder, in der er zwar die Prinzipien der gängigen therapeutischen Richtungen zur Kenntnis genommen hatte, sich aber letztlich nicht nach irgend welchen Autoritäten gerichtet hatte, sondern danach, was sich für ihn als wirksam erwiesen hatte. Dafür aber waren für ihn die methodischen Voraussetzungen und Kriterien empirischen Forschens maßgebend gewesen, ebenso die kritische Beobachtung des eigenen Verhaltens durch Tonaufnahmen der therapeutischen Gespräche zusammen mit dem ständigen Austausch mit den Mitarbeitern, also die kontinuierliche gegenseitige Supervision und Korrektur. All das diente dem stets vorhandenen Bestreben, Selbsttäuschungen zu vermeiden bzw. zu korrigieren. Dies waren auch die für die angehenden Therapeuten gültigen Maßstäbe. Ferner sollte den werdenden Therapeuten die eigene Erfahrung einer Psychotherapie vermittelt werden. Ziel dabei war weniger, sie für die Zukunft von Konflikten frei zu machen. Vielmehr sollten sie auf diesem Wege ihr Einfühlungsvermögen erweitern, empfänglicher werden für die Situation des Patien3
Mit »Lernen in Freiheit« (Rogers, 1974) hat Rogers später ein ganzes Buch dem Bereich von Schule und Unterricht gewidmet.
ten, für dessen Gefühle und Wahrnehmungen. Auch sollten sie möglichst früh (natürlich unter Supervision) selbst als Therapeuten tätig sein, um auf diese Weise so bald wie möglich ihre Kompetenz als Therapeuten durch eigene Erfahrungen auszubauen. Schließlich schlug auch hier seine empirischwissenschaftliche Orientierung durch, denn auch die Ausbildung als solche, ihr Prozess und die Veränderungen bei den Teilnehmern waren für Rogers ein Gegenstand der Forschung.
2.6
Die systematische Darstellung des Klientenzentrierten Konzepts
Bereits im dritten Teil seines Buches »Client-Centered Therapy« hatte Rogers auf der Grundlage von 19 Thesen den Grundriss einer Theorie der Persönlichkeit und des Verhaltens entworfen. Im Jahre 1959, nachdem er 1957 zur Universität Wisconsin gewechselt war, veröffentlichte er in dem von S. Koch herausgegebenen enzyklopädischen Werk »Psychology: A Study of a Science«, das im Auftrag der American Psychological Association (APA) den damaligen Stand und die Entwicklung der Psychologie in Amerika darstellen sollte, seinen Beitrag »A theory of therapy, personality, and interpersonal relationships, as developed in the client-centered framework« (Eine Theorie der Therapie, der Persönlichkeit und der zwischenmenschlichen Beziehungen, entwickelt im Rahmen des Klientenzentrierten Ansatzes; Rogers, 1959b). Zuvor hatte er in einem Aufsatz (Rogers, 1957a) den Teil davon bereits veröffentlicht, der sich mit den notwendigen und hinreichenden Bedingungen für therapeutische Veränderungen der Persönlichkeit befasst hatte. Bemerkenswert an dieser umfassenden Darstellung ist ihre streng systematische Struktur. In der Einführung zu Beginn gibt Rogers einen kurzen Abriss seines Lebenslaufs, benennt seine wichtigsten Quellen und legt seine wissenschaftstheoretische Position offen: Forschung ist für ihn »das beharrliche, disziplinierte Bemühen, Sinn und Ordnung in den Phänomenen der subjektiven Erfahrung zu finden« (Rogers, 1959b, S. 188; Übersetzung v. Verf.). Sie kann auf jeder Stufe der Entwicklung einsetzen und beginnt mit scharfem Beobachten, sorgfältigem
27 2.7 · Das Menschenbild des Klientenzentrierten Konzepts
und kreativem Denken, und nicht mit dem Ansammeln von Geräten im Labor. Bedeutsam sei Forschung nur dann, wenn sie eine Weise des Erkundens sei, die sich auch ihrerseits entwickelt. Rogers macht weiter geltend, dass jede Theorie zum Zeitpunkt ihrer Formulierung eine unbekannte Anzahl von Irrtümern und Fehlschlüssen enthält. Deshalb komme den beobachteten Fakten stets mehr Gewicht zu als Theorien. Das mag trivial klingen, ist es vielleicht auch; aber nichtsdestoweniger fällt dem aufmerksamen Beobachter des alltäglichen Wissenschaftsbetriebes und seiner Anwendungsbereiche auf, wie oft und mit welcher Selbstverständlichkeit diese Einsicht ungerügt ignoriert wird. Schließlich bekennt sich Rogers zu seiner Überzeugung von der vorherrschenden Bedeutung des Subjektiven, das für alle seine Theorien maßgeblich ist. Der Mensch lebe hauptsächlich in seiner eigenen persönlichen und subjektiven Welt, und auch solche anscheinend objektiven Gebiete wie Naturwissenschaft, Mathematik usw. seien das Ergebnis von subjektiven Zielen und subjektiven Entscheidungen. Zwar seien die wissenschaftlichen Methoden der beste Weg, um Selbsttäuschungen zu vermeiden. Letztlich seien aber auch mit ihrer Hilfe nur Aussagen zu gewinnen, die einer oder mehreren Personen subjektiv als objektive Wahrheiten erscheinen. Interessant daran ist, dass Rogers damit das vorweg genommen hatte, was Kuhn acht Jahre später systematisch ausformulierte (7 Kap. 2.8). Nachdem er damit seinen Ausgangspunkt transparent gemacht hat, zeigt sich die Systematik seiner Darstellung des Klientenzentrierten Konzepts, indem Rogers mit der Definition und Erläuterung der verwendeten Konstrukte (beispielsweise Aktualisierungstendenz, Erfahrung, Bewusstsein usw.) beginnt. Erst nachdem so die Terminologie geklärt ist, benutzt er sie bei der Formulierung der folgenden Theorien: 4 Der Therapie und der Veränderung der Persönlichkeit 4 Der Persönlichkeit und ihrer Entwicklung 4 Der vollkommen funktionsfähigen Person 4 Der interpersonellen Beziehungen sowie von 4 Der Anwendung auf 5 Das Familienleben 5 Erziehung und Lernen 5 Gruppenführung 5 Gruppenspannung und -konflikt
2
Den Abschluss bildet die Erörterung von Forschungsproblemen. So weit diese Systematik für die Psychotherapie relevant ist, bildet sie eine der Grundlagen für die entsprechenden Kapitel dieses Lehrbuchs.
2.7
Das Menschenbild des Klientenzentrierten Konzepts
Den Mittelpunkt des Klientenzentrierten Konzepts bildet die von Rogers entwickelte Vorstellung von der Natur des Menschen. Mit ihr distanzierte er sich nachdrücklich von der psychoanalytischen Sicht. Folgen wir Freud, so ist der Mensch seinem eigentlichen Wesen nach wild, unsozial, selbstsüchtig und destruktiv. Sobald das Es sein Verhalten beherrscht, ist das Ergebnis asozial und zerstörerisch. Es wird lediglich durch die Gewissensfunktion des Überich in Schach gehalten, und das Ich entwickelt sich mit der Aufgabe, zwischen den Ansprüchen des Es, des Überich und den Gegebenheiten der Realität zu vermitteln (Freud, 1941). Dem setzte Rogers entgegen, dass der Mensch seinem eigentlichen Wesen nach sozial, konstruktiv und vertrauenswürdig sei. Das hat ihm den Vorwurf der Naivität eingebracht, gegen den er sich vehement gewehrt hat: »Es stört mich, für einen Optimisten gehalten zu werden. Zu meiner gesamten beruflichen Erfahrung gehört die dunkle und oft schmutzige Seite des Lebens, und ich kenne besser als die meisten das unglaublich destruktive Verhalten, zu dem der Mensch fähig ist« (zitiert nach Kirschenbaum, 1979, S. 246 f.; Übersetzung v. Verf.). Dennoch hat er an seiner Sicht fest gehalten.
2.7.1
Ist der Mensch »gut«?
Rogers hat sich in einem eigenen Artikel mit dem »Wesen des Menschen« auseinander gesetzt (Rogers, 1957b). Er nennt darin Merkmale, die auf das eigentliche Wesen des Menschen nicht zutreffen, und solche, die darauf zutreffen. Danach 4 Ist der Mensch nicht feindselig, antisozial, destruktiv, böse. 4 Es fehlt ihm nicht an Eigenständigkeit, und er ist kein leeres Blatt (tabula rasa), auf das alles
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Kapitel 2 · Die Entwicklung des Klientenzentrierten Konzepts
geschrieben werden kann, oder Wachs, das sich in jede beliebige Form bringen lässt. 4 Er ist aber auch kein ursprünglich vollkommenes Wesen, das leider durch die Gesellschaft verfälscht und verdorben worden ist. Stattdessen kommen ihm die Eigenschaften positiv, vorwärts gerichtet, konstruktiv, realistisch, vertrauenswürdig zu. Rogers begründet diese Auffassung vom Wesen des Menschen mit seinen Erfahrungen als Psychotherapeut. Danach wird ein Patient in einer therapeutischen Beziehung, die ihm ein Maximum an Sicherheit und Freisein von Bedrohung bietet und die ihm die völlige Freiheit des Daseins und der Wahl lässt, u. a. alle Arten erbitterter und mörderischer Gefühle, abnormer Impulse, bizarrer und antisozialer Wünsche äußern. In einer so gearteten Beziehung zeige sich aber auch, je mehr er von sich selber ausdrücke und er selbst sei, umso deutlicher seine menschliche Natur. Und diese bestehe darin, ein grundsätzlich vertrauenswürdiges Mitglied der Spezies Mensch zu sein, dessen tiefste Tendenzen letztlich in Richtung Entwicklung, Differenzierung, kooperativer Beziehungen gehen, dessen Leben sich grundsätzlich von Abhängigkeit weg und in Richtung auf Unabhängigkeit bewege und dessen Impulse natürlicherweise ein komplexes und wechselndes Muster der Selbstregulation bilden. Sein ganzer Charakter strebe letztlich dahin, sich selbst ebenso wie Andere zu bewahren und zu fördern. Nach Rogers sind die aggressiven, die asozialen wie die antisozialen Handlungsweisen von Menschen das Ergebnis von Abwehrprozessen. Sobald jedoch einer Person ihr gesamtes Spektrum des Erlebens zugänglich sei, würde sich ihr Handeln aus der Balance sämtlicher Regungen ergeben und letztlich in eine positive Richtung gehen. Folgen wir den Ausführungen von Rogers, dann sind Menschen nicht einfach »gut«4 – eine ohnehin pauschale und damit nichtssagende Formulierung, denn ihr fehlen die für dieses Urteil maßgeblichen Kriterien. Vielmehr geht es darum, wie sich Men4
Ein Beispiel für eine entsprechende Fehlinterpretation ist, dass der kämpferische Titel des politisch motivierten Buches von Rogers »On personal Power – Inner Strength and its Revolutionary Impact« bei dessen deutscher Übersetzung in »Die Kraft des Guten« (Rogers, 1978) verwandelt wurde.
schen verhalten, sobald sie nicht nur vorübergehend, sondern überdauernd und wirklich frei von Kontrolle sind und sich unbehindert entfalten können: Ob sie sich dann als asozial, aggressiv und destruktiv erweisen oder ob sie dann ihre Bestimmung als Mensch finden, nämlich »einzutreten in den komplexen Prozess, eines der empfindsamsten, empfänglichsten, kreativsten und anpassungsfähigsten Geschöpfe auf diesem Planeten« zu sein (Rogers, 1957b, S. 201; Übersetzung v. Verf.). Exkurs
Wie fördert man »unmenschliches« Verhalten? Für die These, eine Person sei umso konstruktiver und sozial verantwortungsvoller, je umfassender sie Zugang zu ihrem gesamten Erleben habe – negativem wie positivem, sprechen u. a. die umfangreichen und intensiven Vorkehrungen, die getroffen werden müssen, um beispielsweise in kriegerischen Auseinandersetzungen Menschen zu möglichst hemmungslos aggressivem und destruktivem Handeln zu bringen: So werden dem »Feind« menschliche Züge aberkannt und es wird verhindert, dass er als Mitmensch erlebt werden kann, z. B. indem direkte Kontakte mit ihm unterbunden werden. Elitetruppen werden speziellen Trainingsprogrammen unterzogen, damit natürliche Reaktionen wie Mitgefühl und Mitleid gegenüber dem »Feind« erst gar nicht aufkommen. Einen weiteren Hinweis in diese Richtung bildet das berühmte Gefängnisexperiment von Zimbardo, Haney, Banks und Jaffee (1973). Versuchspersonen, die zuvor hinsichtlich emotionaler Stabilität, körperlicher Gesundheit, Reife und Gesetztestreue überprüft worden waren, wurden per Zufall entweder der Gruppe der »Wärter« oder der »Gefangenen« zugeteilt, wobei den »Wärtern« lediglich die Aufgabe gestellt wurde, in dem als Gefängnis ausgestatteten Labor »für Ordnung zu sorgen«. Entgegen den Erwartungen von Zimbardo et al. geriet das Experiment schon nach wenigen Tagen außer Kontrolle und musste abgebrochen werden. Die »Gefangenen« waren von ihren »Wärtern« der-
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29 2.7 · Das Menschenbild des Klientenzentrierten Konzepts
maßen aggressiv schikaniert und drangsaliert worden, dass ernsthafte Schäden zu befürchten waren. Das für unseren Punkt Wesentliche an diesem Experiment war, dass die Versuchsanordnung gezielt verhinderte, dass sich »Gefangene« und »Wärter« als Menschen wahrnehmen und begegnen konnten. Erstens war nach der »Gefängnisordnung«, die eingangs verlesen worden war, die Machtverteilung extrem einseitig gestaltet. Zweitens waren die Beteiligten ihrer Individualität beraubt worden: die »Wärter« durch Uniformen und spiegelnde Sonnenbrillen, die ihre Augen verdeckten, die »Gefangenen« trugen einheitliche Kittel ohne Unterkleidung sowie Mützen aus Nylonstrümpfen und durften einander nur mit ihrer Identitätsnummer und die »Wärter« mit »Herr Besserungsoffizier« (»correctional officer«) ansprechen. Ihre persönliche Habe war ihnen weggenommen worden. Allen Beteiligten war an sich klar, dass sie eigentlich »nur« an einem Experiment teilnahmen, zu dem sie zuvor ihre ausdrückliche Zustimmung gegeben hatten. Aber die experimentelle Situation war so gestaltet, dass »Wärter« wie »Gefangene« wechselseitig für einander bedrohlich waren und ihnen damit der Zugang zum gesamten Spektrum ihres Erlebens systematisch versperrt worden war, nämlich den jeweils Anderen als Mitmenschen wahrzunehmen. Das Fazit dieses Experiments ist: Wenn Menschen ihrer Menschlichkeit beraubt werden, verhalten sie sich unmenschlich.
2.7.2
Wie lässt sich die skeptische Sicht Freuds erklären?
Rogers, der Freud als scharfsichtig beobachtenden Wissenschaftler außerordentlich schätzte, fragte sich, wie es sein könne, dass zwei Forscher bei der gleichen Tätigkeit zu dermaßen unterschiedlichen Ergebnissen über die Natur des Menschen kommen können. Zwei Hypothesen bot er als Erklärung an:
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Nach der ersten war Freud verständlicherweise von seiner für seine Zeit gewaltigen Entdeckung hochgradig beeindruckt, wonach der Mensch unterhalb einer konventionellen bzw. »guten« Oberfläche jede Art aggressiver und sexueller Gefühle hegte, die er erfolgreich vor sich selbst und den anderen verbarg. Diese Entdeckung war für die damalige Zeit dermaßen schockierend, dass sowohl Freud als auch seine Kritiker sich auf diese »bösen« Gefühle konzentrierten. Obwohl Freud bei seinen Patienten gesehen haben müsste, dass man ihnen als normalen selbstgesteuerten und sozial orientierten Person vertrauen konnte, sobald sie diese »bösen« Gefühle erkannt, akzeptiert und verstanden hatten, nahm er dies nicht zur Kenntnis. Dieser Gesichtspunkt wurde auch angesichts der heftigen Kontroverse über die Psychoanalyse übersehen, und Freud blieb bei seiner – nach der Ansicht von Rogers – allzu oberflächlichen Sicht über die Natur des Menschen stehen. Diese sei allerdings wesentlich fundierter gewesen als die seiner Zeitgenossen, wenn auch nicht so umfassend, wie es seine eigene Erfahrung gerechtfertigt hätte, meinte Rogers. Bei der zweiten Hypothese geht Rogers davon aus, dass nach seinen Erfahrungen Patienten einige ihrer verleugneten und unterdrückten »schrecklichen« Gefühle bis zu einem gewissen Grade selbst entdecken, nicht aber aus eigenem Vermögen voll akzeptieren können. Dies geschehe erst in einer fürsorglichen Beziehung, in der diese Gefühle zuerst vom Therapeuten akzeptiert werden und danach vom Patienten selbst. Bei seiner Selbstanalyse habe Freud jedoch einer solchen warmen akzeptierenden Beziehung entbehrt. Deshalb dürfte er die verborgenen und verleugneten Aspekte seiner selbst zwar selbst gesehen und bis zu einem gewissen Grad auch verstanden haben. Es sei aber fraglich, ob er sie auch als einen bedeutsamen, akzeptablen und konstruktiven Teil seiner selbst habe voll anerkennen können. Viel eher habe er sie vermutlich auch weiterhin als unannehmbare und feindliche, der Kontrolle bedürfende Aspekte seiner selbst gesehen, anstatt als Impulse, die, wenn sie in freier Balance mit seinen anderen Impulsen stünden, konstruktiv wären (Rogers, 1957b).
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30
Kapitel 2 · Die Entwicklung des Klientenzentrierten Konzepts
2.7.3
Die Kontroverse mit Skinner
Neben der Auseinandersetzung mit dem Menschenbild der Psychoanalyse, so weit es dort von Freud bestimmt war, wird die Position von Rogers in einer anderen Debatte deutlich, die er mit B.F. Skinner, einem der prominentesten Vertreter der behavioristischen Lerntheorie direkt führen konnte. Bemerkenswert an dieser Diskussion ist, dass die beiden Kontrahenten einander nicht nur als Wissenschaftler, sondern auch als Personen ausgesprochen wertschätzten. Beide, Rogers als Therapeut und Skinner als Lerntheoretiker, hatten ihren Ansatz auch auf Fragen der Erziehung und der Gesellschaft erweitert. Insofern waren ihre gegensätzlichen Sichtweisen vom Wesen des Menschen auch besonders deutlich geworden. Skinner hatte die Pädagogik mit dem Prinzip der Programmierten Unterweisung maßgeblich beeinflusst (auch wenn damals die damit verbundenen Erwartungen im Vergleich zu heute wesentlich höher gespannt waren). Seine Vorstellungen von einer durch die Ergebnisse der Verhaltenswissenschaft bestimmten Gesellschaft hatte er in einem utopischen Roman (»Walden Two«) beschrieben (Skinner, 1948). Die beiden unterschiedlichen Standpunkte über die Steuerbarkeit des menschlichen Verhaltens und die Nutzung psychologischer Erkenntnisse dafür beschäftigten damals die amerikanische Psychologie in hohem Maße, sodass die APA (American Psychological Association) anlässlich ihrer jährlichen Mitgliederversammlung im September 1956 ein Symposium mit dem Titel »Some issues concerning the control of human behavior« organisierte, das anschließend in der renommierten Zeitschrift Science veröffentlicht wurde (Rogers & Skinner, 1956; Braun, 1983). Skinners Auffassung. Nach Skinner ist das mensch-
liche Verhalten absolut von außen gesteuert und deshalb auch von dort her kontrollierbar. Zwar gebe es Widerstand gegen diese Einsicht, dieser beruhe jedoch auf vorgefassten nichtwissenschaftlichen Meinungen und störe die wissenschaftliche Analyse. Die äußere Verhaltenskontrolle sei keine Erfindung der Verhaltenswissenschaft, sondern von je her be-
nutzt worden und auch wirksam gewesen, beispielsweise privat in den persönlichen Beziehungen wie der Familie, unter Freunden oder in Gruppen durch Belohung (Anerkennung, Bewunderung, Lob, Liebe) bzw. Bestrafung (Tadel, Missachtung), wodurch erwünschtes Verhalten wahrscheinlicher, unerwünschtes unwahrscheinlicher werde. Gleiches gelte für die Pädagogik, die Beratung oder die Psychotherapie, ebenso finde sie sich in der staatlichen Kontrolle. Das menschliche Verhalten sei die Konsequenz der in der bisherigen Lebensgeschichte erfahrenen Belohnungen und Bestrafungen. Begriffe wie Verantwortlichkeit und Entscheidungsfreiheit seien ohne eigenen Hintergrund und würden lediglich benutzt, um strafende Kontrolltechniken zu rechtfertigen. Die früher allgemein akzeptierte weil unreflektierte Kontrolle ließe sich durch die Ergebnisse der Verhaltenswissenschaft in zweierlei Hinsicht optimieren: Zum einen könnten die Techniken verfeinert werden, um Lernen leichter und effizienter zu machen, zum anderen könnte und müsse deren Anwendung verantwortungsbewusst erfolgen angesichts des möglichen Missbrauchs eines solchen Machtpotentials. Der utopische Roman »Walden Two« (Skinner, 1948) enthält Skinners Entwurf einer Gesellschaft, in der eine wissenschaftlich begründete Verhaltenstechnologie angewendet wird, die ohne Strafen auskommt, um eine praktizierbare und produktive Staatsform zu schaffen. Es sei dies eine »Welt, in der es Nahrung, Kleidung und Wohnraum für alle gibt, in der jeder seine eigene Arbeit aussucht und im Durchschnitt nur vier Stunden pro Tag arbeitet, in der Musik und die Künste blühen, in der sich die interpersonellen Beziehungen unter den günstigsten Umständen entwickeln, in der die Erziehung jedes Kind auf das vor ihm liegende soziale und intellektuelle Leben vorbereitet, in der – kurz gesagt – die Menschen wirklich glücklich, sicher, produktiv, kreativ und fortschrittlich sind. Was ist falsch daran? Offenbar nur eines, nämlich dass jemand es so geplant hat.« (Rogers & Skinner, 1956, S. 1059; Übersetzung v. Verf.)
31 2.7 · Das Menschenbild des Klientenzentrierten Konzepts
Rogers Auffassung. Rogers setzt an den Anfang sei-
ner Replik die Punkte, in denen er mit Skinner übereinstimmt: 4 Schon immer haben Menschen versucht, das Verhalten anderer ebenso wie das eigene zu verstehen, vorherzusagen, zu beeinflussen und zu kontrollieren. 4 Jetzt und in Zukunft werden die Fortschritte der Verhaltenswissenschaften die Möglichkeiten, menschliches Verhalten zu verstehen, vorherzusagen und zu kontrollieren rasch und in hohem Maße zunehmen. 4 Das enorme Machtpotential einer Wissenschaft, die es erlaubt, das Verhalten vorherzusagen und zu kontrollieren, könnte missbraucht werden und ist eine ernste Bedrohung. 4 Die wissenschaftliche Verhaltenskontrolle ist ein ernsthaftes Problem, mit dem sich die Psychologenschaft und die Öffentlichkeit dringend befassen müssen. Rogers zog also die Ergebnisse der Verhaltenswissenschaft bzw. der Lerntheorie nicht in Zweifel. Worum es ihm ging, war deren Interpretation und Bedeutung sowie die aus ihnen zu ziehenden Konsequenzen. Die für Rogers strittigen Punkten waren: Die Frage nach der Macht. In Skinners Konzept sei Mehreres nicht geklärt: Wer soll kontrollieren? Wer soll kontrolliert werden? Welcher Art soll die Kontrolle sein? Skinner habe das Problem der Macht unterschätzt, denn die Verhaltensforscher werden stets denen dienen, die die Macht haben. Ein Beispiel dafür seien die deutschen Raketenforscher. Sie hätten im zweiten Weltkrieg unter Hitler hingebungsvoll daran gearbeitet, die Sowjetunion und die USA zu zerstören. Nach ihrer Gefangennahme hätten sie jeweils für die gearbeitet, von denen sie abhängig waren: in den USA, um die Sowjetunion zu zerstören, und in der Sowjetunion, um die USA zu zerstören. Die Subjektivität der Wahl einer wissenschaftlichen Fragestellung. Rogers betonte, dass die Wahl,
Planung und Durchführung eines wissenschaftlichen Vorhabens nicht objektiv aus derjenigen Wissenschaftsdisziplin heraus begründet werden kann, der es angehört:
2
»Der springende Punkt, um den es mir geht, ist …, dass jedes wissenschaftliche Vorhaben, sei es der Grundlagen- oder der Anwendungsforschung, betrieben wird, um einen Zweck oder einen Wert zu verfolgen, der von Menschen subjektiv gewählt wurde. Wichtig ist, diese Wahl offen zu legen, denn der in ihr angestrebte Wert kann niemals durch das wissenschaftliche Vorhaben, das er hervorbringt, geprüft oder bewertet, bestätigt oder bestritten werden.« (Rogers & Skinner, 1956, S. 1062) Deshalb müsse sich jede Diskussion über die Kontrolle von Menschen durch die Verhaltenswissenschaften zuerst und gründlich mit den stets subjektiv gewählten Zielen befassen, die durch ein solches wissenschaftliches Unternehmen verwirklicht werden sollen. Und eben diese Diskussion fehle bei Skinner. Wenn wir beispielsweise Lesen, Schreiben und Rechnen als Ziele einer guten Schulbildung setzen, dann könne die Wissenschaft zeigen, wie diese Ziele am besten zu erreichen sind. Ähnlich liege es, wenn wir Problemlösen als Ziel setzen. Sofern wir dann aber wissen wollen, ob Lesen, Schreiben und Rechnen »besser« sei als Problemlösen, kann die Forschung dies zwar ebenfalls überprüfen, allerdings nur hinsichtlich anderer Werte, für die wir uns zuvor subjektiv entschieden haben: In welcher Hinsicht »besser« oder »wichtiger«? Die Frage nach den Zielen. Im Hinblick auf Skinners Konzept sei diese Frage unabdingbar: Mit welchem Ziel, zu welchem Zweck und nach welchen Werten soll die Kontrolle ausgerichtet sein? Die Frage nach den Zielen offen zu legen und öffentlich zu diskutieren sei in einer demokratischen und humanen Gesellschaft unerlässlich. Skinner hatte in seinem Beitrag explizit keine Ziele genannt, allerdings erkennen lassen, dass nach seinen Vorstellungen die Menschen seines Gesellschaftsentwurfs die Merkmale »glücklich« (»happy«), »sicher«, »produktiv«, »kreativ« und »fortschrittlich« (»forward-looking«)« (7 oben) aufweisen sollten. Rogers hatte aus anderen Schriften Skinners außerdem noch »gebildet« (»informed«), »geschickt« (»skillful«) und »wohlerzogen« (»wellbehaved«) entnommen.
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2
Kapitel 2 · Die Entwicklung des Klientenzentrierten Konzepts
Hier liegt nun, was das klientenzentrierte Menschenbild betrifft, der eigentliche kritische Punkt, denn Rogers bezeichnet diese Ziele als starr und festgelegt und setzt ihnen als Alternative dynamische Ziele entgegen, und zwar solche, die dem Wesen des Menschen mehr entsprächen. Für ihn gilt »der Mensch als ein Prozess des Werdens, als ein Prozess des Erlangens von Wert und Würde durch die Entwicklung seiner Möglichkeiten; das individuelle menschliche Wesen als ein sich selbst verwirklichender Prozess, der voranstrebt zu immer mehr herausfordernden und bereichernden Erfahrungen; der Prozess, durch den sich das Individuum in kreativer Weise an eine stets neue und sich ändernde Welt anpasst; der Prozess, durch den die Erkenntnis über sich hinauswächst, wie beispielsweise die Relativitätstheorie über Newtons Physik hinausreichte, um selbst künftig durch einen neue Sichtweise überboten zu werden« (a. a. O., S. 1063). Werte, die aus dieser Sicht erwachsen, richten andere Fragen an die Wissenschaft, und zwar die nach den Möglichkeiten, diesen Prozess zu fördern, beispielsweise nach Wegen, befriedigende Möglichkeiten zwischenmenschlicher Beziehungen zu erreichen, Kreativität freizusetzen, effiziente individuelle Anpassung zu erzielen usw. Dass dies möglich sei, zeige die Entwicklung der Klientenzentrierten Therapie. Auch dort werde, genau wie bei Skinner, Verhalten vorhergesagt und beeinflusst; ohne dass der Patient darüber mitbestimme, würden von außen Bedingungen gesetzt. Dann aber komme der entscheidende Unterschied: Unter diesen Bedingungen bestimme der Patient immer mehr über sich selber, er werde weniger rigide, offener für das, was ihm seine Sinne zeigen, besser organisiert und integriert und seine Idealvorstellung von sich werde der ähnlicher, die er für sich gewählt habe. ! Fakt sei: Das Verhalten des menschlichen Organismus könne durch die äußeren Bedingungen, denen er ausgesetzt war, maßgeblich beeinflusst werden. Aber es könne auch durch verantwortungsvolle persönliche Entscheidungen bestimmt werden, die auf einer kreativen und integrativen Einsicht des Organismus selbst beruhen. Damit leugnet Rogers in keiner Weise die Gültigkeit von
6
Skinners Forschungsergebnissen, ebenso wenig ihre Bedeutsamkeit, aber er betont, dass sie nicht die ganze Wahrheit sind.
2.8
Funktion und Bedeutung von Paradigmen in der Wissenschaft
Die Ansicht von Rogers, dass jegliche Wissenschaft von subjektiven, wissenschaftlich nicht begründbaren Vorentscheidungen bestimmt sei, war bald danach der Kernpunkt der viel beachteten wissenschaftstheoretischen Ausführungen des Physikers und Philosophen Kuhn (1967, 1977). Er benutzt den Begriff »Paradigma« und versteht darunter Definition Paradigmen sind »…das, was den Mitgliedern einer wissenschaftlichen Gemeinschaft, und nur ihnen, gemeinsam ist. Umgekehrt macht der Besitz eines gemeinsamen Paradigmas aus einer Gruppe sonst unverbundener Menschen eine wissenschaftliche Gemeinschaft« (Kuhn, 1977, S. 390).
Paradigmen, so Kuhn weiter, haben die Funktion, innerhalb der Gemeinschaft die fachliche Kommunikation zu erleichtern und verhältnismäßig einhellige fachliche Urteile zu ermöglichen. Solche Elemente ergeben sich nach Kuhn aus zufälligen persönlichen und historischen Umständen und werden dann zu formgebenden Bestandteilen eines Paradigmas, d. h. der Überzeugungen, die von einer bestimmten wissenschaftlichen Gruppe in einer bestimmten Zeit geteilt werden und deren wissenschaftliche Arbeit leiten. Vor dem Hintergrund dieser Auffassung irrte also Skinner, wenn er seine »Einsichten« in ihrem Ursprung für »wissenschaftlich begründet« hielt. In den frühen Entwicklungsstadien einer Wissenschaft – und die Psychologie, und mit ihr die Psychotherapieforschung, befindet sich nach wie vor in ihrem Anfangsstadium – besteht nach Kuhn (1967) ein dauernder Wettstreit zwischen einer Anzahl von deutlich unterschiedlichen Ansichten über die Natur ihres Gegenstandes. Und weil sie alle aus wissen-
33 2.8 · Funktion und Bedeutung von Paradigmen in der Wissenschaft
Exkurs
Was kennzeichnet Paradigmen? Sie bestehen aus einer »disziplinären Matrix« (Kuhn, 1977). »Disziplinär« bedeutet, dass es sich um den gemeinsamen Besitz der Vertreter einer Fachdisziplin handelt, und »Matrix« verdeutlicht, dass ein Paradigma aus Elementen verschiedener Art besteht. Zu ihnen gehören bestimmte Festlegungen der Gruppe, z. B. 5 Symbolische Verallgemeinerungen, d. h. Ausdrücke, die von ihren Mitgliedern ohne Zögern angewandt werden und sich leicht in eine logische Form bringen lassen, beispielsweise bestimmte Begriffe (z. B. Reiz, Reaktion, Verstärker, Empathie). 5 Modelle, das sind von der Gruppe bevorzugte Analogien, die, wenn sie von großer Überzeugung getragen sind, zu Ontologien werden, d. h. den Charakter von etwas tatsächlich Existierendem annehmen. Letzteres ist beispielsweise dann der Fall, wenn »das Unbewusste« seinen Charakter als Metapher verliert und als etwas aufgefasst wird, das es tatsächlich im Menschen »gibt«. 5 Musterbeispiele, d. h. konkrete Problemlösungen, die von der Gruppe in einem ganz gewöhnlichen Sinne als paradigmatisch angesehen werden. In der Psychologie ist eines davon das statistische Verfahren der Faktorenanalyse. Diese Art der Problemlösung wird z. B. dann angewendet, wenn in einem Beobachtungsbereich wegen der großen Anzahl der erfassten Variablen die Übersicht verloren geht. Sie soll durch die mathematische Methode der Hauptachsentransformation wieder gewonnen werden, die die Variablen auf die ihnen »eigentlich« zugrunde liegenden Dimensionen (Hauptachsen bzw. »Faktoren«) reduziert. Wer die dabei geltenden Regeln einhält, kann damit rechnen, dass seine Ergebnisse von der Fachwelt akzeptiert werden.
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schaftlichen Beobachtungen unter Verwendung von Methoden abgeleitet sind, repräsentiert jede von ihnen ein Paradigma. Was solche »Schulen« unterscheidet, sind nicht bestimmte Schwächen der Methode. So weit sie Methoden folgen, sind sie alle »wissenschaftlich«. Was sie unterscheidet, ist ihre grundlegend unterschiedliche Art, die Welt zu sehen und Wissenschaft in ihr auszuüben. Das bedeutet, dass jeder von ihnen bestimmte Einsichten zugänglich sind, andere nicht. Und der eigentliche wissenschaftliche Fortschritt beruht letztlich nicht im Zusammentragen von immer neuen Ergebnissen innerhalb bestehender Paradigmen, sondern in wissenschaftlichen Revolutionen, d. h. im Aufkommen eines neuen Paradigmas, einer neuen Art, die Welt zu sehen. So gesehen stellen auch die wissenschaftlich begründeten Psychotherapieverfahren wie die Psychoanalyse bzw. tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie, die Verhaltenstherapie und das Klientenzentrierte Konzept der Gesprächspsychotherapie verschiedenartige Paradigmen dar, die letztlich alle aus zufälligen persönlichen und historischen Konstellationen entstanden sind. Und es kann – unter wissenschaftlichen Gesichtspunkten – nicht ihre Aufgabe sein, die Vorherrschaft gegenüber den anderen anzustreben. Ebenso wenig ist es sinnvoll, Elemente der einzelnen Paradigmen »eklektisch« zusammenzurühren. Die Zukunft liegt vielmehr in einem übergreifenden Paradigma. Ein solches könnte auf der Grundlage eines wechselseitigen, für die Sicht der Anderen offenen Austausches entstehen. ! So lange ein solches übergreifendes Paradigma jedoch noch nicht in Sicht ist bzw. genügend breite Anerkennung gefunden hat, bleibt für die Gesprächspsychotherapie die Aufgabe, ihr Paradigma klar zu formulieren und in die Diskussion einzubringen. Gerade weil sie in der direkten Analyse effizienter therapeutischer Prozesse ihren Ursprung hat (7 Kap. 2.1) und ihre Wirksamkeit belegt ist (7 Kap. 10.1), kommt ihr dabei eine besondere Bedeutung zu.
(Es mag an dieser Stelle angebracht sein, die obigen 7 Kap. 2.1 und 2.2 unter dem Aspekt des Paradigmas nach Kuhn nochmals anzusehen.)
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Kapitel 2 · Die Entwicklung des Klientenzentrierten Konzepts
2.9
Die Einführung des Klientenzentrierten Konzepts in Deutschland
2 Dem Ehepaar Anne-Marie und Reinhard Tausch kommt das Verdienst zu, dem Klientenzentrierten Konzept, das sie während eines Forschungsaufenthalt in den USA näher kennen gelernt hatten, in der Bundesrepublik Deutschland unter der Bezeichnung »Gesprächspsychotherapie« (Tausch, 1960, 1968) Geltung und Ansehen verschafft zu haben. Dieser Erfolg war nicht zuletzt der Tatsache zu verdanken, dass beide eine Fülle von empirischen Arbeiten zur allgemeinen Wirksamkeit der Gesprächspsychotherapie sowie zu Verhaltensmerkmalen von Therapeuten und Patienten anregten und auch selbst durchführten. Außerdem gaben sie den Anstoß für eine fundierte Ausbildung von Psychotherapeuten in Deutschland. Damit setzten sie die von Rogers begründete Tradition fort und trugen wesentlich dazu bei, dass die Psychotherapie, die bis dahin ausschließlich den Ärzten vorbehalten war, nunmehr auch von Psychologen durchgeführt werden konnte. Mit dem Psychotherapeutengesetz fand dies schließlich 1999 seine rechtliche Grundlage. Allerdings arbeiteten Tausch und Tausch auf der Grundlage des vorwiegend der allgemeinen Psychologie entstammenden experimentalpsychologischen Paradigmas, was gewisse Einschränkungen mit sich brachte, sodass mehrere Aspekte des originalen Klientenzentrierten Ansatzes, wie ihn Rogers formuliert hatte, in den Hintergrund traten. So blieb der Begriff der Aktualisierungstendenz (7 Kap. 3.2) der von ihnen vertretenen Richtung fremd, und das komplexe Erleben in der Psychotherapie und die Wechselwirkungen zwischen Therapeut und Patient wurden weit gehend auf linearkausale Vorstellungen reduziert, wonach bestimmte Verhaltensmerkmale seitens des Therapeuten bestimmte Verhaltensweisen beim Patienten bedingen. Kwiatkowski (1980) hatte demgegenüber versucht, die ursprüngliche Sicht von Rogers wieder ins Spiel zu bringen und eine stärkere Berücksichtigung subjektiver Prozesse durch sozialwissenschaftliche Methoden angemahnt. Sie blieb jedoch letztlich wenig beachtet.
Erfolgreicher waren bei diesen Bemühungen Biermann-Ratjen, Eckert und Schwartz (1979/2003), die mit ihrem vielbeachteten Buch über mehrere Auflagen hinweg das ursprüngliche Klientenzentrierte Konzept weiterentwickelten, indem sie 4 es mit den vorliegenden empirischen Befunden in Beziehung setzten, 4 wesentliche Aspekte der konkreten klinischen Praxis berücksichtigten und 4 neuere Entwicklungen der Psychologie mit einbezogen. Andere Konzeptionen, von denen einige in 7 Kap. 21 und 22 dargestellt werden, weichen zum Teil explizit und deutlich vom ursprünglichen Ansatz von Rogers ab. Verglichen damit war die Aufnahme des Klientenzentrierten Konzepts in Österreich weniger heterogen, nicht zuletzt weil Doug Land, ein enger Mitarbeiter von Rogers, über viele Jahre hinweg regelmäßig dort zu Besuch war, 1991 bis 1994 in Wien lebte und dort als Therapeut und Ausbilder arbeitete. ? Übungsfragen 5 Weshalb ist es für das Verstehen des Klientenzentrierten Konzepts erforderlich, dessen Entstehungsgeschichte zu kennen? 5 Welche psychologischen Vorgehensweisen und Theorien waren bei Rogers der Ausgangspunkt seines therapeutischen Handelns? 5 Was veranlasste Rogers, von »Klienten« zu sprechen und nicht von »Patienten«? 5 Was sind die Kennzeichen von »Nicht-Direktivität« und wie ist sie begründet? 5 Wie lässt sich das Menschenbild des Klientenzentrierten Konzepts kurz charakterisieren? 5 Was versteht Kuhn unter einem Paradigma und welche Bedeutung hat es für die unterschiedlichen psychotherapeutischen Verfahren?
2.10
Weiterführende Literatur
Kirschenbaum, H. (1979). On becoming Carl Rogers. New York: Delacorte Press. (Eine ausführliche Darstellung der Biographie von Rogers und der Entwicklung des Klientenzentrierten Konzepts) Kriz, J., Lück, H.E. & Heidbrink, H. (2000). Wissenschafts- und Erkenntnistheorie: eine Einführung für Psychologen und
35 2.10 · Weiterführende Literatur
Humanwissenschaftler (4. überarb. Aufl.). Opladen: Leske & Budrich. (Eine kompetente und gut verständliche Einführung in für Psychotherapeuten wichtige wissenschaftstheoretische Fragen) Rogers, C.R. (1973). Entwicklung der Persönlichkeit. Stuttgart: Klett. (Original erschienen 1961: On becoming a person). (Eine Sammlung verschiedener Artikel von Rogers zu seiner Entwicklung und der des Klientenzentrierten Konzepts)
2
3 3 Klientenzentrierte Persönlichkeitstheorie D. Höger 3.1
Organismus – 38
3.2
Aktualisierungstendenz – 39
3.2.1
Definition und Begriff der Aktualisierungstendenz bei Rogers – 39 Die beiden Aspekte der Aktualisierungstendenz: Erhaltung und Entfaltung – 41 Die Aktualisierungstendenz als Selbstorganisation – 43 Konsequenzen für das Verständnis der Aktualisierungstendenz – 54
3.2.2 3.2.3 3.2.4
Nach der Definition von Strotzka (1975; 7 Kap. 1) ist Psychotherapie ein bewusster und geplanter interaktioneller Prozess. Das bedeutet u. a., dass der Therapeut theoretische Vorstellungen von der menschlichen Person und ihrer Funktionsweise hat. Nur vor diesem Hintergrund kann er Verhalten und Reaktionsweisen seines Patienten einordnen und daraus wiederum Schlüsse für sein angemessenes Verhalten in der Therapie ziehen1. Wie in 7 Kap. 2 beschrieben, sind die theoretischen Vorstellungen des Klientenzentrierten Konzepts primär das Ergebnis aus den Erfahrungen, die Rogers und seine Mitarbeiter als Therapeuten bei der Interaktion mit ihren Patienten gemacht haben. Bei ihrer Formulierung hat Rogers in vielen Fällen explizit die Vorstellungen anderer Autoren aufgegriffen, sei es aus der Literatur zur Psychotherapie, sei es aus der psychologischen Grundlagenforschung. Rogers hat das Ergebnis dieser seiner Theorieentwicklung 1959 in einer streng formalisierten Form dargestellt (Rogers, 1959b/1987). Diese Veröffentlichung bildet den Ausgangspunkt unserer Darstellung. 1
Neben einer Persönlichkeitstheorie benötigt er theoretische Vorstellungen über den therapeutischen Prozess, wie sie für das Klientenzentrierte Konzept in 7 Kap. 6 dargestellt werden.
3.2.5
Aktualisierungstendenz und therapeutisches Handeln – 56
3.3
Die Repräsentation der Welt in der Person – 58
3.3.1 3.3.2 3.3.3 3.3.4
Erfahrung – 58 Symbolisierung – 61 Selbst – 64 Kongruenz/Inkongruenz zwischen Selbst und Erfahrung – 70
3.4
Weiterführende Literatur – 72
Was die Persönlichkeitstheorie betrifft, so geht Rogers vom Menschen als einem Organismus aus, der sich in einer Koevolution mit seiner Umgebung befindet, d. h. sich in ihr erhält und mit ihr weiterentwickelt. In welcher Weise dies geschieht, hat Rogers mit dem Konzept der Aktualisierungstendenz beschrieben. Sie stellt die für das Klientenzentrierte Konzept und das gesprächspsychotherapeutische Handeln entscheidende Eigenschaft des Organismus dar. Mit den Begriffen Erfahrung, Symbolisierung und Selbst werden Funktionen und Orientierungspunkte des menschlichen Organismus beschrieben, seine Informationsgrundlage für all seine Aktivitäten. Sie gewährleisten gemeinsam seine Orientierung über seine Umwelt, über sich selbst und über die Relation zwischen sich selbst und der Umwelt. Je nach der Angemessenheit und Funktionsfähigkeit dieser Orientierung ist der Organismus mit seinen Aktivitäten mehr oder weniger effizient, treibt er seine eigene Entwicklung voran – oder ist dabei beeinträchtigt und anfällig für psychische Störungen und Erkrankungen. In ihren Grundzügen entspricht die Auffassung, die Rogers vom Wesen der Person hatte, der Definition des amerikanischen Psychologen Gordon W. Allport (1937/1959), der wie Rogers ein Vertreter der humanistischen Psychologie war.
38
Kapitel 3 · Klientenzentrierte Persönlichkeitstheorie
Definition »Persönlichkeit ist die dynamische Ordnung derjenigen psychophysischen Systeme im Individuum, die seine einzigartigen Anpassungen (adjustments) an seine Umwelt bestimmen« (Allport, 1937/1959, S. 49).
3
Mit der Bezeichnung »dynamisch« wollte Allport zum Ausdruck bringen, dass an eine aktive Ordnung »in dauernder Entwicklung und Wandlung als motivierend und selbstregulierend gedacht werden« muss (Allport, 1937/1959, S. 50). Wie wir sehen werden, ist dieser Aspekt im Konzept der Aktualisierungstendenz näher beschrieben. Der Ausdruck »psychophysisch« sollte daran erinnern, »dass Persönlichkeit weder ausschließlich geistig noch ausschließlich nervlich ist. Die Ordnung legt die Wirkung von Leib und Seele fest, die beide untrennbar in eine personale Einheit verschmolzen sind« (a. a. O.). Und »Anpassung« ist nach Allport nicht als rein reaktives Sich-Anpassen zu verstehen, denn in ihr steckt seiner Auffassung nach viel gewolltes, schöpferisches Verhalten in der Beziehung zur Umwelt, sowohl das aktive Meistern als auch die passive Adaptation. Diese erfolge sowohl an die physische (reale) als auch an die gedachte (subjektive) Welt des Individuums und müsse weit genug aufgefasst werden, um auch verfehlte Anpassungen mit einzuschließen. »Anpassung« ist also in keiner Weise, wie von einigen Psychologen, Soziologen oder Pädagogen (im Unterschied zu Biologen oder mit dem biologischen Denken Vertrauten) oftmals unterstellt, lediglich als ein passives Sich Angleichen an die gegebenen Umweltbedingungen gedacht2. Allport ging es im Sinne der Persönlichkeitspsychologie um eine allgemeine Definition von Persönlichkeit. Bei Rogers kommen darüber hinaus weitere Aspekte zum Tragen, die speziell für die Entstehung von Fehlfunktionen und deren Überwindung durch Psychotherapie bedeutsam sind. 2
Die Übersetzer von Rogers (1959/1987) hatten eben in diesem Sinne mit dem Begriff »Anpassung« im Deutschen eine deutlich einseitige negative Konnotation verbunden und deshalb »psychological adjustment« mit »psychische Ausgeglichenheit« übersetzt (a. a. O., S. 33).
3.1
Organismus
Der Betriff »Organismus« steht in den theoretischen Schriften von Rogers an zentraler Stelle. Offenbar war seine Vorstellung vom Menschen und den ihn ausmachenden Prozessen durch diesen Begriff entscheidend bestimmt. Er hat ihn zunächst nicht eigens definiert, vermutlich weil er ihn für allgemein gebräuchlich und bekannt hielt. Auf eine explizite Frage hat er später geantwortet: »Ich verwende den Ausdruck Organismus für das biologische Wesen« (Schmid, 1991, S. 128). »Biologisch« hat dabei allerdings nicht die Bedeutung, die sich inzwischen in der psychologischen Literatur eingebürgert hat und in dem beliebten Terminus »bio-psycho-sozial« zum Ausdruck kommt. Nach dieser Lesart ist »bio« von »psycho« und »sozial« getrennt und steht speziell für die körperlichen (physiologischen) Anteile des Menschen. Dabei wird vergessen, dass die Biologie die Wissenschaft von den Phänomenen des Lebens ist, zu denen auch – wie allein schon ihre Teildisziplin, die Vergleichende Verhaltensforschung zeigt – das Verhalten und Erleben gehören. Dass Rogers eine derart umfassende Vorstellung vom Organismus hatte, wird deutlich, wenn er kurz nach dem oben zitierten Satz präzisiert: »Im traditionellen europäischen Sprachgebrauch würde man wohl an vielen Stellen von der (physischen und psychischen) menschlichen Natur sprechen« (Schmid, 1991, S. 129). Er meint also mit dem Begriff Organismus explizit die integrative Einheit der physischen und psychischen Aspekte der Natur des Menschen. Definition Organismus im Sinne des Klientenzentrierten Konzepts ist die Bezeichnung für die Natur, die integrierte Gesamtheit aller physischen und psychischen Funktionen des Menschen. Er ist der Ort aller Vollzüge des lebendigen Daseins eines Individuums, wie sie sich in der Interaktion zwischen ihm und der ihn umgebenden Welt entfalten, mit der er sich in ständigem Austausch befindet. Alle zu ihm gehörenden Organe, Funktionen, Merkmale usw., wie sie als Phänomene oder in theoretischen Konstrukten beschrieben werden, sind jeweils Ausdruck seiner Lebensvollzüge.
39 3.2 · Aktualisierungstendenz
Ein wesentliches Merkmal des Organismus ist, dass er als »organisiertes Ganzes« reagiert (Rogers, 1951/1973b, S. 421). »Ganzes« bedeutet, dass jeder seiner Teile mit den anderen so verbunden ist, dass eine Änderung in ihm zu Änderungen in einer Vielzahl der übrigen Teile führt und damit prinzipiell das ganze System bzw. den ganzen Organismus betrifft3. »Organisiert« verweist darauf, dass der Organismus eine in sich geordnete funktionale Einheit ist, die, auch wenn sie ständigen Veränderungen unterworfen ist, als solche bestehen bleibt, so lange der Organismus existiert. Charakteristisch für den Organismus ist weiterhin, dass er auf das ihm über seine Rezeptoren und Wahrnehmungsfunktionen von der Welt vermittelte Bild – und nur auf dieses – reagiert. Der Fußgänger, der in Gedanken versunken auf die Straße tritt, vor dem herannahenden Auto erschrickt und zurück auf den Gehweg springt, hat subjektiv den Eindruck, knapp einem Unfall entgangen zu sein und reagiert mit Herzklopfen, wird blass, bekommt zitternde Knie usw., auch wenn objektiv gesehen gar keine Gefahr bestand, weil der Fahrer des Autos ihn samt seiner Zerstreutheit längst bemerkt, die Geschwindigkeit gedrosselt und den Fuß schon auf der Bremse hatte. ! Menschliches Verhalten und Handeln ist subjektiv begründet, es wird gesteuert durch die Erfahrungen, die vom Organismus als bewertete Erfahrungen gespeichert worden sind. Der Organismus ist der zentrale Begriff der Klientenzentrierten Theorie. Alle übrigen Begriffe, wie sie in den Grundlagen des Klientenzentrierten Konzepts dargestellt werden, dienen seiner näheren Charakterisierung und sind ihm insofern untergeordnet.
3.2
Aktualisierungstendenz
Rogers beobachtete immer wieder, dass seine Psychotherapiepatienten, ohne dass er einen direkten
3
Häufig wird Ganzheit so definiert, dass die Veränderung in einem ihrer Teile zu Veränderungen in sämtlichen anderen führt (Watzlawick et al., 2003). Bezogen auf den Organismus ginge dies jedoch zu weit. Beispielsweise muss eine Stimulierung der Netzhaut des Auges nicht unbedingt eine Veränderung im großen Zeh zur Folge haben.
3
Einfluss auf ihre Person und ihre Symptomatik genommen hatte, im Laufe der Psychotherapie größere Flexibilität, größere Autonomie, mehr Selbstwertschätzung, mehr sozial reife Verhaltensweisen usw. entwickelten. Parallel dazu verschwanden ihre Symptome oder sie besserten sich zumindest deutlich. Sein Beitrag als Therapeut zu dieser Entwicklung hatte lediglich darin bestanden, dass er versucht hatte, authentisch zu sein, seine Patienten zu verstehen und sie zugleich bedingungsfrei wertzuschätzen. Seither haben Generationen von Gesprächspsychotherapeuten die gleiche Erfahrung gemacht, und Grawe, Donati und Bernauer (1994) haben die »gute Wirksamkeit der Gesprächspsychotherapie (als) ein herausforderndes Faktum für die Theorienbildung auf dem Gebiet der Psychotherapie« bezeichnet (S. 744). Bemerkenswert ist für die an solchen Entwicklungen beteiligten Therapeuten nicht nur, dass diese Veränderungen bzw. Problemlösungen offenbar vom jeweiligen Patienten selbst hervorgebracht werden, sozusagen aus ihm selbst heraus entstehen. Diese Veränderungen sind darüber hinaus in ihrer spezifischen Eigenart sowohl für den Therapeuten als auch für den Patienten selbst oft überraschend, weil in ihrer Art unvorhergesehen, originell und obendrein auch noch »stimmig«, denn sie »passen« genau zur Person des Patienten und seiner persönlichen Situation.
3.2.1
Definition und Begriff der Aktualisierungstendenz bei Rogers
Als Hintergrund für diese beobachteten Entwicklungen postulierte Rogers die Aktualisierungstendenz. Er hat diesen Begriff von dem Neurologen und Gestalttheoretiker Goldstein (1939) übernommen. Die Aktualisierungstendenz hatte für ihn die Qualität eines Axioms, d. h. eines Grundsatzes, der im strengen Sinne nicht beweisbar ist. Er bezieht seine Evidenz aus Beobachtungen von Phänomenen der Realität, die plausibel mit einer Aktualisierungstendenz in Zusammenhang gebracht werden können. Außerdem und vor allem hat sich die Aktualisierungstendenz als Richtschnur therapeutischen Handelns bewährt. Rogers definierte sie wie folgt:
40
Kapitel 3 · Klientenzentrierte Persönlichkeitstheorie
Definition
3
»Aktualisierungstendenz ist die dem Organismus eigene Tendenz, all seine Kapazitäten so zu entwickeln, dass sie dazu dienen, den Organismus zu erhalten oder zu erweitern (enhance)« (Rogers, 1959b/1987, S. 196; Übersetzung v. Verf.).
Die Aktualisierungstendenz ist nach Rogers ein grundlegendes und universelles Prinzip alles Lebendigen, gültig für jeden Organismus und zu jeder Zeit, ob Pflanze, Tier oder Mensch. Er führt dazu weiter aus, dass sie nicht lediglich darin besteht, dem genüge zu tun, was Maslow (1954/1978) als »Defizitbedürfnisse« nach Luft, Nahrung, Wasser oder dergleichen bezeichnet, sondern darüber hinaus allgemeinere Aktivitäten des Organismus umfasst: die Entwicklung in Richtung auf die Differenzierung von Organen und Funktionen, die Ausweitung im Sinne von Wachstum, die Steigerung der Wirksamkeit (»effectiveness«) durch den Gebrauch von Werkzeugen und Geräten, die Vermehrung und Steigerung (»enhancement«) durch Fortpflanzung. Weiterhin besteht sie für Rogers in einer Entwicklung hin zu Autonomie und weg von Fremdbestimmtheit oder Steuerung durch äußere Zwänge. Rogers beruft sich in diesem Zusammenhang auch auf Angyal (1941), der das Leben als ein autonomes Geschehen kennzeichnet, das sich zwischen dem Organismus und seiner Umwelt abspielt. Auch nach Angyal beschränken sich Lebensvorgänge nicht darauf, das Leben lediglich zu bewahren. Vielmehr reichen sie über den augenblicklichen Zustand des Organismus hinaus, indem sie gewährleisten, dass er sich ständig erweitert und den Bereich, über den er autonom bestimmt, immer mehr ausdehnt. ! Die Annahme einer Aktualisierungstendenz ist leitend für das Handeln von Gesprächpsychotherapeuten. Der Begriff stammt ursprünglich aus der Gestaltpsychologie und spielt, was seinen Inhalt betrifft, nicht nur im Klientenzentrierten Konzept sondern ebenso in anderen Bereichen der Wissenschaft eine wesentliche Rolle.
Wir werden im Folgenden auf die Aktualisierungstendenz besonders ausführlich eingehen, denn sie spielt in der Gesprächspsychotherapie eine besondere
Exkurs
Die Aktualisierungstendenz ist für viele Menschen schwer zu verstehen und zu akzeptieren Bei der Einführung der Gesprächspsychotherapie in Deutschland hat die Aktualisierungstendenz manchen Autoren große Probleme bereitet, auch einigen Vertretern der Gesprächspsychotherapie selbst. So taucht dieser Begriff bei dem in vielen Auflagen mehrfach überarbeiteten und weit verbreiteten Buch von Tausch und Tausch (1990) im Stichwortverzeichnis nicht auf, ebenso wenig bei Minsel (1974). Für Bommert (1987) war die Aktualisierungstendenz sogar Gegenstand heftiger Kritik. Seiner Ansicht nach werde bei diesem Konzept übersehen, dass sich der Mensch nicht aus sich selbst heraus entfalten könne, sondern von Geburt an auf die Interaktion mit Bezugspersonen aus seiner sozialen Umwelt angewiesen sei, die ihm Anregungen verschaffen und Anforderungen an ihn stellen würden. Konstruktive wie destruktive Verhaltensweisen seien zumindest zum Teil das Ergebnis sozialer Lernvorgänge und nicht auf die biologische Grundausstattung zurückzuführen. Zudem sei ihre Bewertung in starkem Maße vom gesellschaftlichen Umfeld bedingt. Solche Kritik ist insofern unberechtigt, als der Einfluss des sozialen Umfeldes, Lernvorgänge und gesellschaftliche Wertungen Fakten sind, die Rogers nie bestritten, sondern in seinem System explizit berücksichtigt hat – wenn auch mit anderen Vorstellungen über die Funktionsweise von Organismen und damit auch von Menschen. Während die Argumentation von Bommert offenbar der Umwelt einen für den Menschen determinierenden Einfluss im Sinne einer linearen Kausalität zuschreibt, denkt Rogers in Beziehungen, d. h. Rogers geht von einem Modell der Interaktion aus, in dem Personen im Austausch mit ihrer Umwelt stehen und dabei sich selbst organisieren. Sie sind zwar von ihrer Umwelt abhängig, bestimmen aber aufgrund der Art, wie sie als Organismen organisiert sind, jeweils selbst, wie sie auf die sie umgebende Welt reagieren.
41 3.2 · Aktualisierungstendenz
Rolle. In seiner zentralen Darstellung der Theorie des Klientenzentrieren Konzepts hat Rogers sie an erster Stelle der Begriffsdefinitionen genannt und seinem »theoretischen System als Axiom vorausgesetzt« (Rogers, 1959b/1987, S. 22). Wie die Erfahrung beim Vermitteln des Klientenzentrierten Konzepts bei Studierenden zeigt, ist vieles am Konzept der Aktualisierungstendenz auch unserem Alltagsdenken fremd, obgleich wir von dem, was für sie charakteristisch ist, alltäglich umgeben sind. Die folgenden Ausführungen zur Aktualisierungstendenz sollen 1. mit wesentlichen Details zum Begriff der Aktualisierungstendenz bekannt machen, 2. die Wahrnehmung für Phänomene der Selbstorganisation insbesondere von lebenden Organismen sensibilisieren, 3. mit ausgewählten Bereichen der Wissenschaft und deren Modellvorstellungen bekannt machen, die Phänomene der Selbstorganisation zum Gegenstand haben, 4. Begriffe für das Verstehen und Beschreiben solcher Phänomene zur Verfügung stellen, 5. dazu veranlassen, einengende Muster der Wahrnehmung und des Denkens (Paradigmen) – seien es eigene, solche des Alltagsdenkens oder auch solche in der Psychologie – zu erkennen und zu hinterfragen, 6. dazu anregen, eigenes und fremdes Handeln zu reflektieren, um zu erkennen, wo Phänomene der Selbstorganisation daran gehindert werden, in Erscheinung zu treten. Dazu werden wir uns nach einer Erörterung der in der Aktualisierungstendenz enthaltenen Aspekte Erhaltung und Entfaltung speziell mit der Selbstorganisation von Organismen befassen und an ausgewählten Beispielen zeigen, wie die Selbstorganisation im Alltag zu erkennen ist, wie sie in der Psychologie gesehen wurde und welche Modellvorstellungen in den modernen Naturwissenschaften existieren. Auf dieser Grundlage werden wir das Konzept der Aktualisierungstendenz und seine Bedeutung für das therapeutische Handeln erneut diskutieren.
3.2.2
3
Die beiden Aspekte der Aktualisierungstendenz: Erhaltung und Entfaltung
Rogers hat zu verschiedenen Zeiten und an verschiedenen Stellen versucht, den Begriff und die Funktion der Aktualisierungstendenz näher zu erläutern. Beim Lesen dieser Darstellungen fallen Widersprüche auf. So steht an der einen Stelle, dass sie sich in jedem Falle Bahn bricht »ob die Umwelt diese Tendenz nun begünstigt oder nicht« (Rogers & Wood, 1977, S. 136). »Man kann sich darauf verlassen, dass die Verhaltensweisen eines Organismus in die Richtung gehen, sich selbst zu erhalten, zu erhöhen (enhance) und zu reproduzieren« (Rogers, 1963, S. 3; Übersetzung v. Verf.). Demnach wäre die Aktualisierungstendenz immer wirksam. Ganz anders klingt es, wenn Rogers schreibt, »dass es eine Unzahl von Umständen in der Umwelt gibt, die den menschlichen Organismus davon abhalten, sich in Richtung auf Aktualisierung hin zu bewegen,« es könne sein, »dass die Aktualisierungstendenz im Wachstum behindert oder gänzlich zum Stillstand gebracht wird; dass sie eher sozial destruktive als konstruktive Wege einschlägt. In dieser Hinsicht ist der Mensch wenig von anderen Organismen verschieden, abgesehen davon, dass es für den Menschen, weil er komplexer ist, zahlreichere Möglichkeiten gibt, durch die normale Neigungen verdreht oder blockiert werden können« (Rogers, 1980/1991b, S. 212). Nach einer noch anderen Formulierung bewirkt die Aktualisierungstendenz erst dann Wachstum, Reife und Bereicherung des Lebens, »wenn sie nicht behindert wird«, diese Tendenz werde wirksam, »…sobald Gelegenheit zur eindeutigen Wahl zwischen Vorwärts-Bewegung und regressivem Verhalten geboten wird« (Rogers, 1951/1973b, S. 424). Wenn man aber genauer hinsieht, dann entdeckt man, dass Rogers offenbar bei diesen widersprüchlich erscheinenden Aussagen jeweils unterschiedliche Aspekte der Aktualisierungstendenz vor Augen gehabt, das aber nicht immer explizit gemacht hat. Geht man von der Aktualisierungstendenz in ihrer der Definition gemäß vollständigen Bedeutung aus, nämlich als Tendenz, den Organismus sowohl zu erhalten als auch zu erweitern/erhöhen (»enhance«), so steht sie als Potenzial stets zur Verfügung. Wenn Rogers aber davon spricht, dass sie sozial eher des-
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3
Kapitel 3 · Klientenzentrierte Persönlichkeitstheorie
truktive als konstruktive Wege einschlägt, dann tut er dies im Zusammenhang mit widrigen Umständen, unter denen speziell das Wachstum des Organismus beeinträchtigt oder gänzlich zum Stillstand gebracht werden kann. Es ist also sinnvoll und notwendig, die Bedeutungen der beiden in der Definition nebeneinander stehenden Aspekte »erhalten« und »erweitern/erhöhen« als zwei unterschiedliche Aspekte deutlich voneinander zu unterscheiden. Exkurs
Erhaltung und Entfaltung: zwei verschiedene Aspekte der Aktualisierungstendenz Der Aspekt Erhaltung besteht in der Aktivierung all jener Möglichkeiten (Fertigkeiten, Mechanismen, Potenziale usw.), über die ein Organismus verfügt, um sich selbst auch unter widrigen Gegebenheiten zu bewahren und die eigene Existenz zu sichern. Die Mechanismen der Erhaltung können sich anlässlich einer Bedrohung aktuell herausbilden. Sie können aber auch im Sinne von Lerneffekten beibehalten werden als spezifische Organisation der Kognitionen, Emotionen und Handlungsweisen in ähnlichen Situationen. Solche Anpassungen können die Qualität von Persönlichkeitsmerkmalen annehmen. Dabei begrenzt sich – zumindest beim Menschen – »Erhaltung« nicht nur auf seine physische Existenz, sondern sie bezieht sich weit darüber hinaus auf all das, was seine Identität ausmacht, d. h. seine persönliche Art zu leben, zu denken, zu fühlen, zu handeln, sich im inneren Gleichgewicht zu halten usw. Der Aspekt Entfaltung kommt dann ins Spiel, wenn sich der Organismus in einer für ihn nicht bedrohlichen Situation im Zusammenspiel mit seiner Umwelt weiterentwickelt. Offenbar hatte Rogers diesen Aspekt vor Augen, wenn er über die Aktualisierungstendenz schrieb: »Dies ist eine zuverlässige Tendenz, die, wenn sie frei wirken kann, eine Person auf das hin bewegt, was mit den Begriffen Wachstum, Reife, Lebensbereicherung bezeichnet wird« (Rogers, 1980/ 1991b, S. 211; Hervorhebung v. Verf.). Differenzierung, Erweiterung der Möglichkeiten, Selbstverantwortlichkeit, sozial konstruktives Verhal-
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ten (Rogers, 1951/1973b) sind Manifestationen dieses Aspekts der Entfaltung. Die Aussage, dass sich die Aktualisierungstendenz als übergreifendes und umfassendes Lebensprinzip in jedem Falle Bahn bricht, »ob die Umwelt diese Tendenz nun begünstigt oder nicht« (Rogers & Wood, 1977, S. 136), ist dann so zu verstehen, dass auch noch unter dem Regime des Aspekts Erhaltung der Aspekt Entfaltung ständig bereitsteht und spontan wirksam wird, sobald die dafür notwendigen Bedingungen gegeben sind.
Das unter für den Organismus bedrohlichen Bedingungen vorherrschende Regime des erhaltenden Aspekts und die Blockierung des entfaltenden Aspekts der Aktualisierungstendenz sind offensichtlich gemeint, wenn es bei Rogers heißt, dass »… unzählige Umweltfaktoren den menschlichen Organismus auch darin hindern können, sich von seiner Aktualisierungstendenz leiten zu lassen. Seine physische und psychologische Umgebung kann sich in der Weise auswirken, dass seine Aktualisierungstendenz gehemmt oder vollkommen blockiert wird, dass sie nur auf verzerrte, absonderliche oder ›anomale‹ Weise geäußert werden kann; dass sie sich in sozial destruktive statt in konstruktive Bahnen ergießt« (Rogers, 1977, S. 41). Vor diesem Hintergrund sind Störungen des Verhaltens und Erlebens (Symptome) Produkte des erhaltenden, ihre Überwindung – sei es im Rahmen einer Psychotherapie, sei es spontan – das Ergebnis des entfaltenden Aspekts der Aktualisierungstendenz. In der Wirksamkeit der Gesprächspsychotherapie wie auch im Alltag zeigt sich einerseits immer wieder, dass Menschen (wie Organismen allgemein) sich aufgrund ihres eigenen Potenzials eigenständig konstruktiv in Richtung auf ein (für sie) sinnhaftes Ziel hin entwickeln können. Und sie tun dies genau so, wie es ihrer individuellen Eigenart und Situation entspricht. Gleichermaßen zeigt aber auch die Existenz von Krankheit und Entstellung im körperlichen wie im psychischen Bereich die prinzipielle Störbarkeit solcher konstruktiver Wachstums- bzw. Lebensprozesse – und oft zugleich die Wirkung des erhaltenden Aspekts der Aktualisierungstendenz (7 Kap. 5).
43 3.2 · Aktualisierungstendenz
3.2.3
Die Aktualisierungstendenz als Selbstorganisation
Der Gedanke der Selbstorganisation von Organismen ist keineswegs auf das Klientenzentrierte Konzept beschränkt. Sie tritt uns, wenn wir nur darauf achten, ständig im Alltag entgegen, hat auch in der Psychologie ihre Tradition und ist in den modernen Naturwissenschaften fest etabliert (Kriz, 1999). Die These, dass der Organismus in seinem Normalzustand nach Unabhängigkeit von äußerer Kontrolle strebt (Rogers, 1977/1978), können wir im Alltag erkennen, wenn wir u. a. darauf achten, wie wenig Menschen letztlich von außen determinierbar sind. Sie verhalten sich nicht nur eigenständig, sondern streben, wenn sich Hindernisse ergeben, sogar gezielt nach Selbstbestimmung (auch wenn sie dies nicht immer explizit erklären). Es kann beispielsweise sein, dass sie um Rat oder Hilfe bitten; vor allem Psychologen (oder Studierende der Psychologie), sind sie erst einmal als solche erkannt, werden oft um Ratschläge in mehr oder weniger wichtigen persönlichen Dingen gebeten. Merkwürdig ist nur, dass ihre Ratschläge meistens zurückgewiesen werden, oft beginnend mit »ja, aber …«, worauf viele Gründe für die Ablehnung folgen. Und wenn sie stillschweigend oder auch zustimmend entgegengenommen worden sind, stellt sich später in der Regel heraus, dass sie dann doch nicht befolgt worden sind. In der Tat kennt sich jeder Mensch in seinen eigenen Angelegenheiten besser aus als jeder andere, und seine innere Welt ist nur ihm selbst direkt zugänglich. Jeder ist für sich selber der beste Experte. Vor allem aber legen wir Wert darauf, uns letztlich eigenständig zu entscheiden. Selbst wenn wir jemanden fragen: was wir dann aus Tipps und Hinweisen Anderer machen, wollen wir selber bestimmen. Exkurs
3
(Brehm, 1966, 1972; einen kurzen Überblick geben West & Wicklund, 1985). Die Reaktanztheorie besagt, dass Menschen davon ausgehen frei zu sein in ihren äußeren Entscheidungen (z. B. in der Wahl von Freunden, Beruf, Nahrung), ihren inneren Einstellungen, Interessen, Bedürfnissen, Emotionen usw. und ebenso in der Art, wie sie diese zum Ausdruck bringen. Reaktanz tritt immer dann auf, wenn Menschen sich durch sozialen Einfluss oder andere Bedingungen in ihrer Wahlfreiheit bedroht sehen. Als konkrete Beispiele dafür werden genannt: Jemand, der gerne Äpfel, Birnen, Weintrauben und Pfirsiche isst, Appetit auf Obst verspürt und in einen Laden geht, in dem es nur Birnen, Weintrauben und Pfirsiche gibt, wird als Reaktion auf den Umstand, dass er sich in seiner Wahlfreiheit beeinträchtigt sieht, in diesem Moment mehr Appetit speziell auf die nicht vorhandenen Äpfel verspüren. Versucht jemand, auf einen anderen Druck auszuüben, dann nimmt mit der Intensität dieses Drucks die Neigung des anderen zu, sich diesem Einfluss genau entgegengesetzt zu verhalten. Deshalb werden Versuche, so die Reaktanztheorie, auf jemanden, der im Januar frische Erdbeeren essen möchte, Druck auszuüben, indem man ihm wegen seines ökologisch fragwürdigen Verhaltens Vorwürfe macht, dazu führen, dass sein Konsum an Erdbeeren eher zunimmt. Reaktanz bezeichnet also die Anstrengung, die als bedroht erlebte Entscheidungsfreiheit wieder herzustellen, indem die Tendenz zu genau dem Verhalten ansteigt, das unmöglich zu werden droht (vgl. die Liedzeile von Wolf Biermann: »Keiner tut gern tun, was er tun darf, doch was verboten ist, das macht uns gerade scharf«).
Reaktanz als Folge des Bedürfnisses nach Eigenständigkeit Ein Beispiel für das im Rahmen der Aktualisierungstendenz bzw. Selbstorganisation postulierte Autonomiebedürfnis finden wir in dem in der Sozialpsychologie etablierten, durch viele Experimente belegten Phänomen der Reaktanz
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Menschen bestehen aber nicht nur darauf, selbst über sich zu bestimmen. Sie zeigen auch die Tendenz, sich aus sich selbst heraus in eine konstruktive Richtung zu entwickeln, die eigenen Möglichkeiten und Fähigkeiten zu erweitern. Besonders deutlich lässt sich dies bei Kindern beobachten, für die die Erweiterung ihres Aktionsraumes und das »selber
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Kapitel 3 · Klientenzentrierte Persönlichkeitstheorie
machen/können« ein mächtiges Motiv ist, wie die folgende Episode zeigt: Exkurs
Ein Kind strebt nach oben
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Vor einer mehrstufigen Freitreppe, die zu einem Restaurant führt, steht ein kleiner Junge (knapp 1½ Jahre alt) mit seinem Vater. Der Kleine läuft zur Treppe und versucht, auf allen Vieren hinaufzukrabbeln, fällt dabei hin und weint. Sein Vater geht zu ihm, hebt ihn auf, nimmt ihn auf den Arm und tröstet ihn. Sobald sich das Kind beruhigt hat, strebt es wieder hinunter und läuft erneut zur Treppe, um wieder hinauf zu krabbeln.
Dieses Beispiel zeigt, wie (nicht nur!) Kleinkinder in ihrem Streben nach Erweiterung ihrer Fähigkeiten und ihres Aktionsraumes Schmerzen und Rückschläge in Kauf nehmen. Würden wir der klassischen Lerntheorie folgen, so müssten sie eigentlich aufgrund solcher »Strafreize« aversiv konditioniert werden und die entsprechenden Situationen meiden anstatt sie – oft auch gegen Widerstände – erneut aufzusuchen. Ebenso müssten die Verhaltensweisen gelöscht werden, auf die Unbehagen und Schmerz folgt. Tatsächlich aber ist das Gegenteil der Fall. Kinder probieren immer wieder, Misserfolge zu überwinden, bis sie es schließlich geschafft haben. Und wenn sie irgendwann doch aufgeben, dann tun sie das meistens nur vorübergehend und starten später einen erneuten Versuch. Jeder Spielplatz ist dafür ein reichhaltiges Beobachtungsfeld. Exkurs
Die behinderte, aber eigensinnig-expansive Margarete Steiff (Erhard, 2000) Dass nicht nur Kinder sondern auch Erwachsene sich auch angesichts von Widrigkeiten eigenständig weiter entwickeln, zeigt eindrucksvoll die Lebensgeschichte von Margarete Steiff (geb. 1847), der Erfinderin der Steiff-Tiere und Gründerin des Unternehmens, in denen sie herstellt werden. Im Alter von einem Jahr war sie an Kinderlähmung erkrankt und dadurch zeitlebens an den Rollstuhl gefesselt. Temperamentvoll wie
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sie war, sauste sie in ihrer Heimatstadt Giengen an der Brenz mit ihrem Rollstuhl zum Entsetzen ihrer kreuzbraven Mitbürger in halsbrecherischem Tempo die abschüssigen Straßen hinab, ohne auf die damit verbundenen Gefahren zu achten. Mit 23 Jahren geschah es dann, dass sie bei einer solchen Fahrt einen bösen Sturz erlitt, bei dem sie sich auch noch den gelähmten Fuß brach. Die Leute, die sie aufheben, sparen denn auch nicht mit Vorwürfen: »So hat’s kommen müssen, du lässt dir ja auch nichts sagen!« Ihr eigener Kommentar dazu: »Es war halt so schön, auch einmal schnell vorwärts zu kommen.« Auch ihr persönliches Schicksal nahm sie nicht einfach hin. Anstatt sich passiv ihrer Behinderung zu fügen, nahm sie es als (nach den damaligen Verhältnissen!) »unverheiratbare« und damit in ihrer materiellen Existenz bedrohte Frau entschlossen in die Hand und gründete später sogar die bereits erwähnte Fabrik.
Margarete Steiff hatte sich mit ihrem Rollstuhl höchst riskant verhalten und dabei auch prompt schwer verletzt; es hätte auch wesentlich schlimmer ausgehen können. Kurzfristig gesehen hat sie sich geschadet. Aber längerfristig betrachtet ist ihr Verhalten im Zusammenhang mit der Art zu sehen, wie auch sonst ihr Schicksal bewältigte: aktiv und selbstbestimmt. Es wird aber zugleich deutlich, wie die Beurteilung eines Verhaltens aus einem fremden Bezugsrahmen (wie dem der Mitbürger) und aus dem Augenblick heraus, bezogen auf die Gesamtentwicklung eines Lebens, viel zu kurz greift.
Selbstorganisation in der Psychologie Die Psychologie hat sich mit Phänomenen der Selbstorganisation vor allem zu Anfang schwer getan und sie nicht weiter beachtet. Auch später, als Selbstorganisation in verschiedenen psychologischen Bereichen unübersehbar wurde, spielte sie eine eher randständige Rolle. Und bis heute gehört die Selbstorganisation von Organismen – und vor allem deren Konsequenzen – nicht zu den allgemeinen Selbstverständlichkeiten der Psychologie. Das hat nicht zuletzt historische Gründe.
45 3.2 · Aktualisierungstendenz
Als die Psychologie in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts begann, sich von der Philosophie zu lösen, um eine eigenständige empirische Wissenschaft zu werden, lag es nahe, die Physik, den Inbegriff von Naturwissenschaft und damit von Wissenschaftlichkeit überhaupt, zum Vorbild zu nehmen. Zweierlei war damit verbunden: die Übernahme ihrer Forschungsmethodik, des Experiments als Königsweg der Erkenntnis, und die Übernahme ihres Weltbildes, das durch zwei Denkmodelle bestimmt war, die klassische Mechanik (Newton) und die Thermodynamik. Die klassische Mechanik. Ihr liegen zwei elementare Vorstellungen zugrunde. Die eine ist die der Reversibilität (Umkehrbarkeit) aller Vorgänge bzw. Bewegungen. Entsprechend hat in den Gleichungen der Mechanik die Zeit keine ausgezeichnete Richtung. So ist beispielweise die Bewegung eines Teilchens im Raum von einem Punkt A zu einem Punkt B absolut umkehrbar. Die andere elementare Vorstellung bestand in der wie selbstverständlichen Annahme, dass jeder Impuls für eine Bewegung bzw. Veränderung von außen kommen muss. Die Vorstellung von Selbstorganisation, die Idee, dass etwas aus sich selber heraus geschehen kann, war (und ist) in diesem Weltbild nicht vorgesehen und damit einfach undenkbar. ! In der klassischen Mechanik ist alles Ge-
schehen von außen determiniert Nach der klassischen Physik ist die Flugbahn eines geworfenen Steines ebenso wie die Stelle, an der er auftrifft, durch den Ort des Abwurfs, das Gewicht des Steines, die aufgewendete Kraft, die Abwurfrichtung, den Luftwiderstand usw. bestimmt. Werden diese (z. B. die aufgewendete Kraft) oder der Ablauf der Prozesse (z. B. durch einen heftigen Windstoß) verändert, so verändert sich auch die Flugbahn und damit auch der Endzustand (d. h. der Ort des Auftreffens). Die Ausgangsbedingungen bestimmen also das Ergebnis eines Prozesses, und die Art der Einwirkungen von außen bestimmt, wie sich dieser und damit auch das Gesamtergebnis verändert.
Natürlich sind diese physikalischen Gesetzmäßigkeiten keinesfalls »überholt«, sondern nach wie vor gültig. Allerdings haben sie – wie alle Theorien – ihren speziellen Gültigkeitsbereich. Vorstellungen
3
der klassischen Physik auf lebendige Prozesse zu übertragen, bedeutet, dass ihr Gültigkeitsbereich verlassen wird. Sie müssten dann erneut auf ihre Gültigkeit hin überprüft werden. Wenn das nicht geschieht, sind alle Aussagen ungültig, die solche Vorstellungen zur Grundlage haben. Im Rahmen eines herrschenden Paradigmas (7 Kap. 2.8) wird das oft nicht bedacht. Watzlawick, Beavin und Jackson (2003, S. 30) veranschaulichen plastisch, dass sich Lebewesen nicht nach den Gesetzen der Mechanik verhalten: Stößt man mit dem Fuß gegen einen Stein, so rollt er ein Stück und bleibt je nach Kraft des Stoßes, seinem Gewicht usw. irgendwo liegen. Stößt man jedoch gegen einen Hund, so wird dieser je nach seinem momentanen inneren Zustand aufspringen und zubeißen, jaulend wegrennen usw. ! Bei wissenschaftlichen Theorien ist stets deren Gültigkeitsbereich kenntlich zu machen. Bei ihrer Anwendung ist zu prüfen, inwieweit der Anwendungsbereich ihrem Gültigkeitsbereich entspricht.
Die klassische Mechanik ist ein hochgradig idealisiertes Modell, das sich in vielen Anwendungsfällen (z. B. bei der Beschreibung der Bewegung der Himmelskörper) hervorragend bewährt und daraus seine Überzeugungskraft gewonnen hat – sofern sie nicht ihrerseits ihren Erfolg auch daraus bezog, dass sie in ein in unserem Kulturkreis allgemein herrschendes Weltbild der Außengesteuertheit hervorragend passte und auch noch passt. Die vielen in der Wirklichkeit vorhandenen Phänomene, die mit einem solchen Weltbild nicht vereinbar sind, werden dabei zumeist ausgeblendet. Die Thermodynamik. Die Thermodynamik, ein an-
derer bedeutsamer Bereich der klassischen Physik, befasst sich im makroskopischen Bereich mit großen Mengen von Teilchen und den darin bestehenden Wärmeströmen und Diffusionsprozessen. Typische Phänomene sind z. B. Temperatur und Druck (von Gasen), die jeweils Mittelwerte aus Bewegungen der jeweiligen Teilchenmengen darstellen. Ein weit über die Physik im engeren Sinne hinausgehender und bis in unsere Zeit wirksamer Einfluss auf das wissenschaftliche und auch das alltägliche Weltbild kommt dem Mitte des 19. Jahrhundert formulierten zweiten Hauptsatz der Wärmelehre zu. Er behandelt die
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Kapitel 3 · Klientenzentrierte Persönlichkeitstheorie
Richtung thermodynamischer Zustandsänderungen und relativiert die ideale Welt der Mechanik: Ein ideales Pendel (das den Pendelgesetzen der Mechanik zugrunde liegt) hat keine Reibung und keinen Luftwiderstand, deshalb pendelt es ewig. Bei einem realen Pendel hingegen werden dank des Luftwiderstandes und der Reibung die Ausschläge immer geringer, bis es schließlich stehen bleibt, und zwar unumkehrbar. Wieder bewegen wird es sich nur durch erneute Energiezufuhr, also wenn es wieder angestoßen wird. Jedes Kind auf einer Schaukel kann das unmittelbar erleben. Nach dem zweiten Hauptsatz der Wärmelehre kann die Entropie (ein Begriff der Wärmelehre, der das Ausmaß des Verlusts an Energie und Komplexität/Ordnung bzw. die Nichtumkehrbarkeit in der Zeit beschreibt) im Inneren eines thermodynamischen Systems nicht ab- sondern nur zunehmen, bis es schließlich sein thermodynamisches Gleichgewicht erreicht hat und die Prozesse zum Stillstand kommen. Anders gesagt: Alle irreversiblen Prozesse erzeugen Entropie. ! Im thermodynamischen Weltbild unterliegt eine bestehende Ordnung dem Zerfall und kann ohne Eingriff von außen nicht wieder hergestellt werden.
Der ziemlich abstrakte Begriff der Entropie lässt sich so veranschaulichen: In einem Gefäß mit zwei voneinander luftdicht getrennten Hälften wird die eine luftleer gepumpt. Öffnet man nun die Trennwand, findet ein Ausgleich des Luftdrucks statt und zwar so, dass schließlich in beiden Hälften der gleiche Druck herrscht und ein thermodynamisches Gleichgewicht hergestellt ist. Das Wesentliche daran ist, dass sich eine vorher bestehende Ordnung, und zwar der Druckunterschied zwischen den beiden Kammern, aufgelöst hat und nie mehr »von allein«, sondern nur durch Eingriffe von außen wieder (erneutes Leerpumpen) hergestellt werden kann. Diesen zweiten Hauptsatz der Wärmelehre interpretierte der österreichische Physiker Boltzmann (1896) in dem Sinne, dass sich das gesamte Universum mit allem, was sich darin befindet, unaufhaltsam desorganisiere, dass sich die darin vorzufindenden mehr oder weniger geordneten Zustände nur in Richtung auf den Zustand maximaler Unordnung hin entwickeln könnten. Am Ende stehe der unausweichliche »Wärmetod« des Universums.
Eine der Schlussfolgerungen hieraus war, dass lebendige Organismen, die ja hoch komplexe und damit geordnete Strukturen darstellen, nur zerfallen, keinesfalls jedoch aus sich selbst heraus entstehen oder sich gar in Richtung größerer Komplexität und Ordnung weiterentwickeln könnten. Selbstorganisation ist also auch nach dieser Weltsicht nicht denkbar. Rätselhaft blieb, wie es dann überhaupt möglich ist, dass lebendige Organismen, die ja offensichtlich und unzweifelhaft existieren, überhaupt entstehen, sich erhalten und weiter entwickeln können. Exkurs
Vitalismus Einen Lösungsvorschlag für das Problem, wie lebende Organismen in einer dem Zerfall unterliegenden Welt überhaupt entstehen und existieren können, schien der »Vitalismus« zu bieten. Dessen Vertreter (u. a. Driesch, 1912) gingen von der Annahme einer seelenartigen Entelechie (d. h. einer im Organismus liegenden zielgerichteten Kraft), der »Lebenskraft« (»élan vital«) aus, die die Lebenserscheinungen in der toten Materie hervorbringt. Der Vitalismus hat allerdings einen Schönheitsfehler: Er enthält einen Zirkelschluss. Denn mit ihm wird ein Phänomen (das »Leben«) durch sich selbst (die »Lebenskraft«) erklärt. Ebenso gut könnte man die »Pauvreté« als die Ursache von Armut postulieren. Bemerkenswert ist aber auch, dass der Vitalismus letztlich im Rahmen des traditionellen physikalischen Weltbildes bleibt, denn auch er sieht die Selbstorganisation als Prinzip nicht vor, sondern postuliert statt dessen eine zusätzliche, quasi von »außen« wirkende Kraft zur Erklärung organisierter Lebensprozesse. Fazit: Eine unzureichende, aber im Alltagsdenken durchaus geläufige »Erklärung« für die Selbstorganisation lebender Organismen.
Auch im thermodynamischen Weltbild wurde der Grundsatz eines Gültigkeitsbereiches von Theorien nicht hinreichend beachtet, denn der zweite Hauptsatz der Wärmelehre gilt für geschlossene Systeme, d. h. solche, die mit ihrer Umgebung keine Energie oder Materie austauschen. Lebende Organismen, die Stoffwechsel betreiben, sind hingegen sogenannte
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offene Systeme, denn sie tauschen mit ihrer Umgebung Energie und/oder Materie aus. Eine Eigenschaft vieler solcher offener Systeme, mit denen sich die moderne Naturwissenschaft befasst (7 unten), ist die Selbstorganisation. Die Sicht der Gestaltpsychologie. Metzger, der sich als prominenter Gestaltpsychologe eingehend mit Phänomenen der Selbstorganisation befasste, hat die – auch heute noch maßgeblichen – Grundannahmen der Psychologie seit der Einführung des Experiments einer eingehenden Analyse unterzogen (Metzger, 1975, S. 199 ff.). Er legt dar, dass die inhaltlichen Voraussetzungen der traditionellen Psychologie genau dem Weltbild der Physik des 18. und 19. Jahrhunderts entsprechen und dass es auch für die Psychologie (mit wenigen Ausnahmen) nicht denkbar war, dass ein natürliches Geschehen Ordnungen entwickeln kann, die nicht von außen gesetzt werden. Frei sich selbst überlassen, so war bzw. ist die Sichtweise, geht es früher oder später in chaotische Zustände über. Ordnung, wie wir sie an Vorgängen oder unstarren Gebilden vorfinden und die über das zufällige Zusammentreffen eines Augenblicks hinaus bestehen bleibt, kann ihnen danach nur von außen aufgezwungen sein. Entweder geht sie auf 4 die Ordnung starrer Gebilde zurück, die in Analogie zu Formen, Gefäßen, Schienen usw. bewegliche und formbare Gegebenheiten (Organismen, lebendige Prozesse) innerhalb bestimmter Grenzen festhalten oder in bestimmte Bahnen leiten, oder sie wird 4 durch festgesetzte Eingriffe eines überwachenden Geistes aufrecht erhalten.
Ändert sich der Verlauf dieses von außen geformten Geschehens, dann nähert es sich der Unordnung, dem Chaos, es sei denn, diese Änderungen sind durch besondere Eingriffe eines überwachenden Geistes veranlasst. Nach diesem »Grundsatz der Unordnung des Natürlichen« gibt es keine eigene, innere, natürliche Ordnung, sondern nur eine äußere, fremde, aufgezwungene. Die unvermeidliche Konsequenz ist der »Satz von der Fremdbedingtheit aller sachlichen Ordnung« (Metzger, 1975, S. 200). Diese von Metzger beschriebene explizite oder implizite Vorstellung von der Fremdbedingtheit
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von Ordnung lässt sich beispielsweise unschwer in der klassischen Lernpsychologie wiedererkennen: Es ist die von außen vorgegebene, wiederholte raumzeitliche Verknüpfung eines unkonditionierten mit einem neutralen Reiz, die das klassisch konditionierte Lernen bestimmt und dem Organismus die Ordnung der Welt übermittelt, in der er lebt. Und es sind die von außen kommenden Verstärker und deren Ordnung, die beim operanten Konditionieren das Verhalten des Organismus formen (shaping of behavior, Skinner, 1938). Typischerweise gelten in diesem Konzept die vom Organismus spontan hervorgebrachten Aktivitäten, die »operants«, als »zufällig«, also ungeordnet. Erst die von außen kommenden Verstärker vermitteln dem Verhalten eine angemessen geordnete Form. Ebenso verhält es sich beim Modelllernen, bei dem die von einem Vorbild, also ebenfalls eine von außen kommende, vorgegebene Ordnung übernommen wird. Und selbst das Lernen durch Einsicht wird so interpretiert, dass dem Organismus eine äußere Ordnung vorgegeben werde, die er im Prozess der Einsicht übernehme. Metzger (1975) stellt dieser »Zwangsordnung« als zweites Prinzip die »natürliche Ordnung« gegenüber (a. a. O., S. 204), die beispielsweise bei unseren Wahrnehmungsprozessen erkennbar wird. Die Forschungsergebnisse der Wahrnehmungspsychologie zeigen, dass sich im Wahrnehmungsakt selbst eine Ordnung herstellt, die so nicht von außen kommt. Metzger verweist auf Arten des Geschehens, bei denen, wenn sie frei sich selbst überlassen bleiben, ohne das Eingreifen eines äußeren ordnenden Geistes eine ihnen gemäße Ordnung entsteht, erhalten bleibt und sich ausdifferenzieren kann. Und diese Ordnung kann sich unter veränderten Umständen ohne äußeren Eingriff auch wieder ändern. Gerade auch im Zusammenhang mit der Lernforschung hat sich gezeigt, dass Versuchstiere bei Lernprozessen spontan und beharrlich ihre eigene Ordnung bildeten, und zwar unabhängig von der von außen vorgegebenen. Typischerweise haben diese Befunde keinen großen Einfluss auf die Theorienbildung gehabt. Vielmehr wurden sie in der Regel nicht weiter verfolgt und es wurden auch kaum Konsequenzen aus ihnen gezogen.
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Kapitel 3 · Klientenzentrierte Persönlichkeitstheorie
Exkurs
Exkurs
Ratten bilden beim Lernen im Labyrinth ihre eigene Ordnung
Wie Organismen sich nach Verstümmelungen selbst wieder reorganisieren
Nach Tolman (1932), der gestaltpsychologische Hypothesen mit behavioristischen Methoden untersuchte, zeigen Versuche, dass Ratten, die in einem Labyrinth gelernt hatten, wo sie Futter finden, sich nicht in erster Linie die vorgegebenen Ketten von sukzessiven Einzelreaktionen eingeprägt hatten (z. B. erste Kreuzung nach rechts, die nächste links, dann wieder links, anschließend geradeaus usw.), sondern eine innere Landkarte (»cognitive map«) der gesamten räumlichen Situation des Labyrinths. Damit konnten sie, wenn der ursprüngliche Weg versperrt war, eben auf Umwegen das Futter finden. Lashley beobachtete sogar, dass eine Gruppe von Ratten, die das Durchlaufen des Labyrinths gelernt hatten, den Deckel über ihrem Startplatz zur Seite schob, hinauskletterte, über die Holzdecke des Labyrinths direkt zum Futterplatz lief und dort wieder einstieg (zitiert nach Haseloff & Jorswieck, 1970, S. 110). Ganz offensichtlich hatten sie selbst eine eigene, bessere, weil effizientere Ordnung der Situation und ihres Verhaltens darin entwickelt und an die Stelle von derjenigen gesetzt, die ihnen der Weg durch das Labyrinth von außen vorgegeben hatte.
Katz (1969) beschreibt, wie Organismen nach Verletzungen, Verstümmelungen oder sonstigen Beeinträchtigungen spontan und ohne längere Lernphasen in der Lage sind, sich zweckmäßig neu zu organisieren. So koordinierten Tiere (z. B. Hunde, Meerschweinchen) nach dem Verlust von Gliedmaßen ihre Fortbewegungsformen in effizienter und zweckmäßiger Weise völlig neu, ohne dass eine dazwischenliegende Lernphase erforderlich war und ohne dass sie auf früher erworbene Bewegungsmuster zurückgreifen konnten. Ein Hund, der beide Hinterbeine verloren hatte, lief spontan und ohne vorheriges Üben auf den beiden verbliebenen Vorderbeinen, indem er gleichzeitig den Hinterleib nach oben reckte. Käfer koordinierten nach dem Verlust eines Beines die verbliebenen spontan neu; hatten sie gar keine Beine mehr, so benutzten sie ihre Mandibeln (Fresswerkzeuge) zur Fortbewegung.
Während die Vorgänge, die auf die Selbstorganisation lebendiger Organismen schließen lassen, in der Gestaltpsychologie besondere Beachtung gefunden haben, sind sie von anderen Richtungen der Psychologie mehr oder weniger ausgeklammert worden. Insofern ist es nicht verwunderlich, dass Rogers (1951/1973b, S. 423) sich bei der Konzeption seiner theoretischen Vorstellungen explizit u. a. auf den Gestalttheoretiker Goldstein und dessen Begriff der »selfactualization« (Goldstein, 1939) berufen hat. (Der Begriff der »Selbstaktualisierung« hat allerdings bei Rogers eine andere Bedeutung und muss von der »Aktualisierung« klar unterschieden werden – 7 Kap. 3.3). Katz (1969), ebenfalls ein Gestalttheoretiker, sprach von dem herausfordernden, weil allenthalben präsenten Phänomen der »dynamischen Selbst-
steuerung des Organismus«, das sich in unterschiedlichen Zusammenhängen bei lebendigen Prozessen vorfinden und beschreiben lasse. Ein anderes von der Gestaltpsychologie als Beleg für die dynamische Selbstorganisation angeführtes Beispiel ist die instinktive Nahrungswahl. Bei Tieren wie bei Menschen lässt sich beobachten, dass sie, ohne dass sie auf frühere Erfahrungen zurückgreifen könnten, Vorlieben oder Abneigungen gegenüber bestimmten Speisen entwickeln, und zwar so, dass sie damit ihre Nahrung »instinktiv« so wählen, dass bei Mangelzuständen bzw. erhöhtem Bedarf an bestimmten Substanzen ein Ausgleich geschaffen wird. Davis (1928) berichtet von drei Kleinkindern, denen nach dem Abstillen über 6 bzw. 12 Monate freie Nahrungswahl gewährt worden war. Sie wählten eigenständig eine optimal zusammengestellte Kost. Als eines von ihnen an Rachitis erkrankte, bevorzugte es sogar spontan Lebertran, für Kinder seinerzeit der Inbegriff des Übelschmeckenden (die wesentlich wohlschmeckenderen Emulsionen waren damals noch nicht erhältlich) und daher heftig verabscheut (Gniech, 1990).
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Inzwischen nimmt auch innerhalb der Psychologie das Interesse an Prozessen der Selbstorganisation bzw. selbstorganisierten Systemen deutlich zu, sei es auf interdisziplinärer Ebene (Krohn & Kueppers, 1992), sei es in der Psychologie allgemein (Barton, 1994; Höger, 1992) oder in Teilgebieten wie z. B. der Handlungsregulation (Schaub, 1993), der Sozialpsychologie (Langthaler & Schiepek, 1995; Tschacher & Brunner, 1995) oder der Klinischen Psychologie (Cicchetti & Tucker, 1994; Schiepek, 1997; Tschacher, Schiepek & Brunner, 1992, Schiepek et al., 2003). Allerdings ist der Einfluss dieser Konzepte insbesondere im Bereich des psychologisch begründeten Handelns immer noch begrenzt. Das mag u. a. daran liegen, dass damit von den klassischen Zielen von Wissenschaft, nämlich Beschreiben, Erklären und Eingreifen/Verändern, insbesondere das letztere besonders betroffen ist. Konzepte der Selbstorganisation in sein Denken und Handeln konsequent aufzunehmen, bedeutet per definitionem für einen Wissenschaftler, zu erkennen und zu akzeptieren, dass seine Möglichkeiten klar begrenzt sind, durch Interventionen auf Gruppen, Paare oder Personen direkt korrigierend, regulierend und ordnend einzuwirken. Für eine Wissenschaft, die sich als ein Unternehmen zur Kontrolle der Vorgänge in der Welt versteht, bedeutet Selbstregulation eine direkte Bedrohung ihres Selbstverständnisses. Sie muss deshalb Konzepte der Selbstorganisation entweder ignorieren oder aber sie nur halbherzig und inkonsequent aufnehmen. Modelle der Selbstorganisation hingegen sind geradezu prototypisch für eine Wissenschaft mit dem Ziel, die Welt und ihre Zusammenhänge zu verstehen, um mit und in ihr leben zu können. Wir sind hier mit einem Sachverhalt konfrontiert, den Kuhn (1962/1967) in den Begriff des Paradigmas gefasst hat (7 Kap. 2.8). Paradigmen sind »ein System grundlegender Annahmen, eine allgemeine Perspektive, die festlegt, wie ein Gegenstand in Begriffe zu fassen und zu untersuchen ist, wie die entsprechenden Daten zu erheben und zu interpretieren sind, ja sogar wie über einen bestimmten Gegenstand zu denken ist« (Davison & Neale, 2002, S. 15). Die Autoren vergleichen ein Paradigma mit einer allgemeinen, auf den Gesetzen der Wahrnehmungspsychologie beruhenden Einstellung, be-
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stimmte Faktoren zu sehen und andere nicht. Paradigmen beeinflussen jedoch nicht nur, welche Daten registriert und gesammelt werden, sondern vor allem auch deren Interpretation. Das Wissen um die Existenz unterschiedlicher Paradigmen bedeutet nicht mehr und nicht weniger als anzuerkennen, dass es auch bei aller Beachtung der Regeln wissenschaftlichen Vorgehens eine objektive und damit allgemein gültige Wissenschaft nicht geben kann. Wie das Handeln auf der Grundlage vorgefasster Einstellungen die eigenen Wahrnehmungsmöglichkeiten nachhaltig beeinflussen kann, zeigt das folgende Beispiel aus dem Alltag: Fallvignette
Unser Handeln beeinflusst nachhaltig das, was wir sehen Ein kleines Mädchen kommt mit völlig verdreckten Gummistiefeln auf die Terrasse ihres Elternhauses und geht zu der ins Wohnzimmer führenden Tür. Die Mutter, in Sorge um den Teppichboden, bittet den Vater, der sich gerade in der Nähe der Türe befindet, der Tochter zu sagen, dass sie die Stiefel ausziehen solle. Der Vater öffnet die Tür, sagt aber nichts. Das Mädchen, das von all dem nichts mitbekommen hat, zieht noch auf der Terrasse von sich aus seine Gummistiefel aus und kommt in Strümpfen herein.
Was zeigt diese Episode? Zunächst belegt sie, dass das kleine Mädchen von alleine daran gedacht hat, die Stiefel auszuziehen. Vor allem aber: Mit einem Hinweis auf die verschmutzen Stiefel hätte der Vater sich selbst daran gehindert, die Selbstständigkeit des Kindes überhaupt zu bemerken.
Selbstorganisation in den modernen Naturwissenschaften Phänomene der Selbstorganisation wurden zuerst und vor allem in denjenigen Disziplinen der Naturwissenschaften aufgegriffen und beschrieben, die sich mit lebenden Organismen befassen, wie der Biologie. So zitiert der Physiologe Cannon (1932, S. 21) in seinem Buch mit dem programmatischen Titel »The Wisdom of the Body« u. a. den belgischen Physiologen Léon Frédéricq, der bereits 1885 das Lebe-
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Kapitel 3 · Klientenzentrierte Persönlichkeitstheorie
wesen als eine Instanz beschrieb, die alle störenden Einflüsse aus sich selbst heraus (Hervorhebung durch d. Verf.) mit kompensierenden Aktivitäten beantworte, welche die jeweilige Störung neutralisieren bzw. beseitigen. Je höher der Entwicklungsstand eines Organismus in der Rangreihe der Lebewesen sei, desto zahlreicher, perfekter und komplexer würden diese Instanzen. Sie befreiten den Organismus von den für ihn ungünstigen Einflüssen und Veränderungen der Umwelt. Cannon selbst betont die Stabilität von Organismen, die als offene Systeme in ständigem Austausch mit ihrer Umwelt stehen. Den Verschleiß, der mit ihrer Aktivität verbunden ist, würden sie ständig durch Reparaturprozesse im Austausch mit der Umwelt wieder aufbauen: Lebewesen seien in der Lage, ihre eigene Beständigkeit selbst aufrecht zu erhalten.
Das Prinzip Äquifinalität Dass sich Organismen nicht nur selbst erhalten, sondern auch gemäß den ihnen eigenen Regeln (weiter)entwickeln, zeigt der seinerzeit und auch später noch Aufsehen erregende Versuch von Driesch. Er trennte nach der ersten Teilung eines befruchtetes Seeigeleis die beiden Zellen voneinander und verfolgte das weitere Geschehen. Gemäß dem damaligen (und auch heute nicht selten anzutreffenden) Weltbild müssten entweder beide Zellen zugrunde gehen, es könnten zwei halbe Seeigel entstehen oder sonst irgend etwas. Was sich jedoch überraschender Weise herausstellte, war, dass sich zwei komplette Seeigel-Exemplare bildeten (Driesch, 1891). Das Bemerkenswerte an diesem Versuch ist, dass der Entwicklungsprozess nicht nur weiterging, sondern sich auch durch den Eingriff von außen in seiner spezifischen Bahn nicht ablenken ließ, ganz im Widerspruch zu den traditionellen und damals noch als für derartige Prozesse gültig angesehenen physikalischen Theorien. ! Entwicklungsprozesse können auch bei äußeren Störeinflüssen zu ihrem ursprünglichen Ziel finden.
Aber nicht nur bei der embryonalen Entwicklung primitiver Organismen wie Seeigeln konnten derartige Phänomene beobachtet werden, sondern ebenso bei hochentwickelten und differenzierten. Aus der Vielzahl von Beispielen sei eines herausgegriffen:
Bei zwei Stichproben junger Ratten wurde für die Experimentalgruppe die Gewichtszunahme ab dem 50. Lebenstag durch induzierten Vitaminmangel gestoppt, während die Kontrollgruppe weiterhin normal gefüttert wurde und dementsprechend an Gewicht zunahm. Nach einiger Zeit, als die Tiere der Kontrollgruppe im Vergleich zur Experimentalgruppe etwa das doppelte Gewicht erreicht hatten, wurden beide wieder gleich normal gefüttert. In der Folge blieben die Tiere der Experimentalgruppe gegenüber den anderen nicht etwa kleiner und leichter. Vielmehr beschleunigten sie ihre Gewichtszunahme, bis sie schließlich das Gewicht der Kontrollgruppe erreicht hatten, um sich danach wieder so wie die Kontrollgruppe ganz normal weiter zu entwickeln (von Bertalanffy, 1968, S. 142). In der allgemeinen Systemtheorie wird das in diesen Beispielen deutlich werdende Phänomen als »Äquifinalität« bezeichnet. Definition »Äquifinalität bedeutet, dass ein bestimmter Endzustand irgendeines lebenden Systems von unterschiedlichen Anfangsbedingungen aus und auf verschiedenartigen Wegen erreicht werden kann« (Miller, 1978, S. 41; Übersetzung v. Verf.).
Das lebenden Organismen eigene Prinzip der Äquifinalität hat einschneidende Konsequenzen, nicht zuletzt auch für die Erklärung von Störungen und Symptomen des Verhaltens und Erlebens. Denn prinzipiell ist damit zu rechnen, dass ein und dasselbe Symptom, wie z. B. eine Anorexia nervosa, von verschiedenartigen Ausgangsbedingungen und auf unterschiedlichen Wegen entstehen – also verschiedenartige »Ursachen« haben – kann. Ebenso kann sich aus ähnlichen Ausgangsbedingungen eine verschiedenartige Symptomatik entwickeln, z. B. außer einer Anorexia nervosa auch eine Depression, eine Zwangsstörung usw. Wenn daher in Bezug auf Psychotherapieverfahren die Forderung erhoben wird, für spezielle Symptome jeweils eine spezifische Ätiologie sowie eine darauf aufbauende spezifische Behandlungsweise in Form eines detaillierten Manuals zu entwickeln und auf ihre Wirksamkeit zu überprüfen, bleibt die
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Äquifinalität als Prinzip lebender Organismen unberücksichtigt, d. h. es werden Annahmen über die Natur von menschlichen Veränderungsprozessen zugrunde gelegt, die wissenschaftlich nicht mehr haltbar sind.
Das Konzept der Autopoiese Das der biologischen Grundlagenforschung entstammendes Konzept der Autopoiese (»Selbstherstellung«) beschreibt weitere wesentliche Aspekte der Selbstorganisation lebendiger Organismen. Es ist von den Biologen Maturana und Varela entworfen worden (Maturana, 1985). Roth (1986, 1987) hat es weitergeführt und in wesentlichen Teilen präzisiert. Definition »Ein autopoietisches System ist … ein System, das zirkulär die Komponenten produziert, aus denen es besteht, das sich also über die Herstellung seiner Bestandteile selbst herstellt und erhält« (Roth, 1987, S. 52).
Das bedeutet, dass ein Organismus, so lange er existiert, diejenigen Bestandteile, aus denen er besteht, in einem kontinuierlichen kreisförmigen Prozess selbst herstellt und so seine eigene Existenz aufrecht erhält. Damit eng verbunden ist eine weitere Charakteristik lebender bzw. autopoietischer Systeme, die Selbstreferenzialität. Definition Selbstreferenzielle Systeme sind so organisiert, dass ihre »Zustände zyklisch interagieren, sodass jeder Zustand des Systems an der Hervorbringung des jeweils nächsten Zustandes konstitutiv beteiligt ist« (Roth, 1986, S. 157).
Dieser zyklische Prozess, bei dem jeder Zustand eines Organismus aus den jeweils vorangehenden hervorgeht, hat eine Reihe von Konsequenzen: 1. Jeder Organismus, der sich in einem bestimmten Zustand befindet, ist durch den voraufgehenden Zustand seiner selbst bestimmt und bestimmt seinerseits wiederum den jeweils auf ihn folgenden.
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2. Die Regeln, nach denen ein Organismus sich in dieser Weise fortlaufend selbst produziert, sind in ihm selbst begründet. 3. Autopoietische Systeme sind »hinsichtlich ihrer Zustände operational abgeschlossen. Sie sind zwar – zumindest teilweise – durch externe Ereignisse modulierbar oder beeinflussbar, aber nicht steuerbar. Sie definieren selbst, welche Umweltereignisse in welcher Weise auf die Erzeugung ihrer Zustandsfolgen einwirken können« (Roth, 1986, S. 157 ff.; Hervorhebung durch d. Verf.). Mit anderen Worten: Die in einem Organismus bestehende Ordnung, die sich in seinen Lebensvollzügen zeigt, wird nicht von außen bestimmt, sondern durch dessen eigene Produktionsregeln hergestellt. Von außen an ihn herangetragene Einflüsse – ob sie ihrerseits eine spezifische Ordnung darstellen oder nicht – werden jeweils so in den Organismus integriert, wie es dessen eigener Ordnung entspricht. Organismen werden zwar durch ihre Umwelt beeinflusst, doch welche Wirkung diese Einflüsse auf sie haben, wie ein Organismus auf sie reagiert, bestimmt er selbst, und zwar nach seinen eigenen Regeln. Lebende Organismen stellen sich zwar nach dem Prinzip der Selbstreferenzialität selbst her und sind »operational abgeschlossen« und reagieren auf die Gegebenheiten ihrer Umwelt nach ihren eigenen Regeln. Gleichwohl sind sie ohne diese Umwelt nicht existenzfähig. Vielmehr müssen sie bei dem Prozess der Selbstherstellung auf deren Ressourcen zurückgreifen. Außerdem müssen die Ressourcen der Umwelt und die Selbstherstellungsregeln des Organismus so aufeinander abgestimmt sein, dass sich der lebendige Organismus in allen seinen Teilen unter den gegeben Bedingungen selbst herstellen, d. h. aufrechterhalten und fortentwickeln kann. Dieser Sachverhalt wird im Konzept der Autopoiese als strukturelle Koppelung bezeichnet. Definition Strukturelle Koppelung ist »die effektive raumzeitliche Abstimmung der Zustandsveränderungen des Organismus mit den rekurrenten Zustandsveränderungen des Mediums, so lange der Organismus autopoietisch bleibt« (Maturana, 1985, S. 144).
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Kapitel 3 · Klientenzentrierte Persönlichkeitstheorie
Fallvignette
Menschen haben ihre eigenen Wege auf äußere Einflüsse zu reagieren
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Das folgende Beispiel dafür, dass Menschen über ihre eigene Reaktion auf äußere Ereignisse selbst bestimmen, entstammt einem Versuch, der ursprünglich etwas ganz anderes beweisen sollte. Meichenbaum (1979, S. 109 ff.) wollte die Effizienz des verhaltenstherapeutischen Standardverfahrens zur Beseitigung von (spezifischen) Phobien (z. B. Schlangenphobien) von Wolpe und Lazarus (1966) durch eine Erweiterung der Intervention durch kognitive Anteile steigern. Zur Überprüfung der Wirksamkeit dieses Vorgehens wendete er sein Verfahren bei einer Patientengruppe an, und zwar mit dem folgenden Arrangement: 5 Der Therapeut präsentiert die Schlange. 5 Der Patient sagt: »Sie ist widerlich, ich möchte sie nicht sehen!« 5 Der Therapeut schaltet einen elektrischen Strafreiz ein. 5 Der Patient sagt: »Ich entspanne mich, ich kann sie anfassen«. 5 Der Therapeut schaltet als Belohnung den Strafreiz aus. 5 Der Patient entspannt sich. Neben der üblichen Kontrollgruppe sowie einer Gruppe, die nach dem originalen Standardverfahren nach Wolpe und Lazarus behandelt wurde, führte Meichenbaum aus nicht näher genannten Gründen eine weitere Gruppe mit einem umgekehrten Behandlungsprogramm ein: 5 Der Therapeut präsentiert die Schlange. 5 Der Klient sagt: »Ich entspanne mich, ich kann sie anfassen«. 5 Der Therapeut schaltet einen elektrischen Strafreiz ein. 5 Der Klient sagt: »Sie ist widerlich, ich möchte sie nicht sehen!«
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5 Der Therapeut schaltet den Strafreiz aus. 5 Der Klient entspannt sich. Nach den Regeln der klassischen Lerntheorie müsste bei der letzteren Gruppe eigentlich Folgendes passieren: Durch die Bestrafung der kontraphobischen und die Bekräftigung der phobischen Äußerung müsste sich die Schlangenphobie stabilisieren, wenn nicht gar verschlimmern. Tatsächlich jedoch erwies sich dieses merkwürdige »umgekehrte« Behandlungsprogramm als genau so wirksam wie das kognitiv erweitere Verfahren Meichenbaums. Und beide waren im Vergleich mit dem Standardverfahren wirksamer. Meichenbaum, über dieses unerwartete Ergebnis überrascht, fragte die Klienten des »umgekehrten« Arrangements, was während der Behandlung in ihnen vorgegangen sei. Sie berichteten, dass sie, sobald ihnen die Schlange präsentiert worden war, spontan und eigenständig Anweisungen an sich selbst produziert hätten, mit denen sie sich auf den elektrischen Schock vorbereiteten. Sie hatten damit von sich aus nicht nur eigene sondern vor allem auch noch erfolgreiche Bewältigungsmethoden entwickelt, indem sie die Bedeutung der angeblich angsterzeugenden Selbstanweisung (»Sie ist widerlich, ich möchte sie nicht sehen«) umdefinierten. Sie verstanden sie als Aufforderung an den Therapeuten, den Strom abzuschalten. Fazit: Wir haben es hier nicht nur mit einem klaren Beispiel für die Selbstorganisation von Organismen zur effizienten Bewältigung von Stresssituationen zu tun. Darüber hinaus bestimmten die Patienten nach ihren eigenen Regeln und nicht nach denen der Lerntheorie, wie sie auf die äußeren Einflüsse reagierten. Und sie reagierten nicht nur anders, sondern vor allem auch konstruktiv, d. h. im Sinne einer besseren Problembewältigung.
53 3.2 · Aktualisierungstendenz
Mit anderen Worten: Zwischen den Regeln der Selbstherstellung eines autopoietischen Systems und den Bedingungen seiner Umwelt besteht eine komplementäre Abstimmung. Das bedeutet: Lebendige Systeme müssen so beschaffen sein und ihre Prozesse so gestalten, dass sie den Prozess ihrer Selbstherstellung (Autopoiese) in ihrer jeweiligen Umwelt kontinuierlich und ohne Unterbrechung fortsetzen können. Menschen können nicht weiterleben, wenn sie in ihrer Umgebung nicht die für ihre Selbstherstellung notwendigen strukturellen Bedingungen Sauerstoff, Nahrung, Schutz, Sozialpartner usw. vorfinden. Und in dem Maße, in dem sich die Umwelt eines autopoietischen Systems – nicht zuletzt durch dessen eigene Aktivität – ändert, muss es, um zu überleben, seine eigenen Prozessregeln immer von Neuem auf die geänderten Bedingungen abstimmen. Die beiden einander scheinbar ausschließenden Prinzipien Kontinuität und Veränderung setzen sich also wechselseitig voraus. Entsprechend besitzt jedes autopoietische System, um seine Existenz zu wahren, in sich selbst das Potenzial zu seiner eigenen konstruktiven Veränderung. Die für einen bestimmten Organismus gültigen Merkmale der Strukturellen Koppelung haben sich im Verlauf seiner phylo- und ontogenetischen Evolution entwickelt und umfassen eine Vielzahl unterschiedlichster Funktionen und Mechanismen, wie sie beim Menschen im Bereich des Physischen und des Psychischen gegeben sind. Kriz (1999, S. 84 ff.) hat die Bedeutung des Autopoiesekonzepts sehr kritisch bewertet. Er macht dabei u. a. geltend: 4 Die Erklärungsfunktion des Autopoiesekonzepts sei sehr begrenzt. 4 Im Vergleich zu anderen Konzepten (z. B. der mathematisch formulierten Synergetik; 7 unten) erlaube es keine Vorhersagen, speziell auch über Veränderungsprozesse. Dieser Einwand trifft zweifellos zu. Dennoch gewähren wir diesem Konzept im Zusammenhang mit der Aktualisierungstendenz einen relativ breiten Raum. Der Grund ist: Es ist zwar unabhängig vom klientenzentriert-psychotherapeutischen Zusammenhang entwickelt worden, beschreibt aber wesentliche Merkmale dessen, was im Rahmen der Gesprächspsychotherapie mit dem Begriff der Aktualisierungs-
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tendenz erfasst werden soll. Zudem bietet es einen begrifflichen Rahmen, der es erlaubt, wesentliche Aspekte der Aktualisierungstendenz besser zu differenzieren und explizit zu benennen, nämlich 4 die Selbstherstellung des Organismus nach dessen eigenen Produktionsregeln, daraus folgend, 4 dessen operationale Abgeschlossenheit nach außen bei 4 gleichzeitig gegebener struktureller Koppelung des Organismus an seine Umgebung, als das Ergebnis und die Voraussetzung für seine phylogenetische und ontogenetische Evolution. Nicht zuletzt macht das Konzept der Autopoiese komplexe Sachverhalte vor allem auch für mathematisch nicht speziell Bewanderte relativ anschaulich.
Andere Modelle der Selbstorganisation Inzwischen existieren in der Physik, Chemie, Biologie und Medizin eine Reihe von Modellen zur Beschreibung und vor allem Erklärung von Selbstorganisationsprozessen, die teilweise ebenfalls mit Nobelpreisen bedacht worden sind. In erster Linie sind zu nennen 4 die Theorie dissipativer Strukturen von Prigogine (Nicolis & Prigogine, 1987; Prigogine & Stengers, 1980), 4 das Konzept der Hyperzyklen von Manfred Eigen (Küppers, 1986) und 4 das interdisziplinäre Modell der Synergetik (Haken, 1981). Näheres hierzu findet sich bei Kriz (1999). In diesen unterschiedlichen Modellen, die hier nicht näher ausgeführt werden sollen, zeigt sich übereinstimmend, dass es in den modernen Naturwissenschaften längst keine Frage mehr ist, ob sich in Systemen spontan per Selbstorganisation spezifische Ordnungsmuster bilden können. Vielmehr hat sich die Forschung inzwischen auf breiter Front daran gemacht zu erforschen, wie Selbstorganisation funktioniert. Zum Teil konkurrieren die verschiedenen Erklärungsmodelle miteinander, zum Teil beziehen sie sich auf unterschiedliche Arten von sich selbst organisierenden Systemen. Fasst man sie zusammen, so stellen sich bestimmte Charakteristika dieser Systeme heraus:
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Kapitel 3 · Klientenzentrierte Persönlichkeitstheorie
4 Sie lassen sich in der belebten wie in der unbelebten Natur beobachten. 4 Es handelt sich um Systeme, die aus einer Vielzahl von Einzelelementen bestehen, die miteinander in Wechselwirkung stehen. 4 Die Analyse des Zusammenwirkens der Elemente dieser Systeme erfolgt, soll sie erfolgreich sein, nicht von den Elementen aus hin zum Gesamtsystem, also »von unten nach oben«, sondern umgekehrt, von »oben nach unten«, ausgehend von der Gesamtdynamik des Systems in der Interaktion mit seiner Umgebung. 4 Auf der Ebene des Gesamtsystems treten Phänomene auf, die sich von denen auf der Ebene der Elemente grundlegend unterscheiden. 4 Die in diesen Systemen vorfindbaren Ordnungsmuster werden nicht von außen vorgegeben, sondern entwickeln sich aus dem Zusammenspiel der Einzelelemente unter den gegebenen Randbedingungen selbst. 4 Konstituierend für diese Systeme sind iterative Prozesse, d. h. aufeinanderfolgende Operationen von Operationen von Operationen usw.
Ganz im Sinne des einleitenden Zitats von Piaget bezeichnete Rogers (1951/1973b) die Aktualisierungstendenz als grundlegendes Merkmal allen organischen Lebens, und zwar als dessen »Neigung zur totalen, organisierten, zielgerichteten Reaktion« (a. a. O., S. 421), sowohl was die physiologischen als auch was die psychischen Reaktionen betrifft. Wie bereits betont, hat die Aktualisierungstendenz im Rahmen des Klientenzentrierten Ansatzes die Bedeutung eines Axioms und einer Arbeitshypothese. Ihre Annahme stützt sich auf die Ergebnisse Klientenzentrierter Psychotherapie ebenso wie auf die Beobachtung von Phänomenen des Lebens. Das bedeutet aber nicht, dass ihr die Funktion einer Erklärung zukommen könnte, denn dies wäre ganz wie im Vitalismus (s. oben) ein Zirkelschluss (die Annahme, dass die Aktualisierungstendenz den Lebensvorgängen zugrunde liegt und anschließend diese mittels der Aktualisierungstendenz zu erklären). Sinnvoll und wünschenswert hingegen wäre es, sie als übergreifendes Prinzip in spezifische Einzelhypothesen über funktionale Wirkzusammenhänge aufzulösen und diese empirisch zu überprüfen.
Ist die Aktualisierungstendenz ein Motiv? 3.2.4
Konsequenzen für das Verständnis der Aktualisierungstendenz
»Das Leben ist je tatsächlich eine fortwährende Neuschöpfung von immer komplexeren Formen und die Verwirklichung eines stets besseren Gleichgewichts zwischen diesen Formen und der Umwelt.« (Piaget, 1936/69, S. 14)
Die Aktualisierungstendenz als allgemeines Lebensprinzip Es ist wohl genügend deutlich geworden, dass die Selbstorganisation von lebenden Organismen, wie sie mit der Aktualisierungstendenz in dem der Gesprächspsychotherapie zugrunde liegenden Klientenzentrierten Konzept postuliert wird, in weiten Bereichen der empirisch orientierten Wissenschaft nicht in Frage gestellt wird. Vielmehr ist sie Gegenstand intensiver und umfangreicher Forschungsbemühungen (u. a. die Reihe »Springer Series in Synergetics«).
Rogers (1951/1973b) hat die Aktualisierungstendenz als Motiv bezeichnet und von einer Richtungstendenz gesprochen. Damit folgte er den seinerzeit geläufigen Metaphern und wohl auch der Diktion Goldsteins, auf den der Begriff zurückgeht und der bei der entsprechenden Kapitelüberschrift explizit von »only one drive« (Goldstein, 1939, S. 197) gesprochen hat. Die Bedeutung des Begriffs »Motiv« ist in der Allgemeinen Psychologie jedoch bereits anderweitig belegt, und das kann zu Missverständnissen führen. Definition Ein Motiv ist ein Konstrukt zur Erklärung des Einsetzens, der Intensität und des Andauerns spezifischer Verhaltensweisen und impliziert deren spezifische Gerichtetheit und Selektivität. Motive sind verbunden mit Zielvorstellungen von dem zu Erreichenden.
Ein Beispiel mag dies verdeutlichen: Weshalb setzt sich ein Student an einem Samstagnachmittag hin
55 3.2 · Aktualisierungstendenz
und schreibt an seiner Diplomarbeit? (Einsetzen des spezifischen Verhaltens). Er arbeitet konzentriert (Intensität des Verhaltens) und folgt einer Kommilitonin nicht, die vorbeikommt und ihn fragt, ob er Lust hat, mit ins Kino zu gehen (Andauern des Verhaltens). Bei all dem hat er entsprechende Zielvorstellungen (»Ich will dieses Kapitel heute zumindest im Entwurf fertig haben« oder »Ich möchte die Arbeit endlich fertig und gebunden vor mir sehen«). Solche spezifischen, umschriebenen Verhaltensweisen und Zielvorstellungen gibt es im Hinblick auf die Aktualisierungstendenz nicht. ! Die Aktualisierungstendenz ist kein Motiv, sondern ein übergeordnetes und zusammenfassendes Prinzip der menschlichen Motivation und Verhaltensorganisation in ihrer Gesamtheit.
Dieser Auffassung hat Rogers später auch entsprochen, wenn er die Aktualisierungstendenz als »Substrat aller menschlichen Motivation« (Rogers, 1977/ 1978, S. 270) bezeichnete, in welchem alle organischen Funktionen und psychischen Bedürfnisse als dessen Teilaspekte zusammengefasst seien. Er hat ihr damit die zusammenfassende Bedeutung eines übergeordneten Prinzips der menschlichen Verhaltensorganisation gegeben. Diese Sichtweise entspricht auch der neueren Biologie, insbesondere der Vergleichenden Verhaltensforschung (Ethologie). Ihr zu Folge ist das gesamte Verhalten eines Organismus in einer Vielzahl von Verhaltenssystemen organisiert, die untereinander koordiniert und integriert sind und so den übergeordneten Zweck von dessen Erhaltung und Weiterentwicklung erfüllen. In diesem Gesamt und durch ihr Zusammenwirken erhalten die einzelnen Motive als dessen Teilkomponenten erst ihren übergeordneten Sinn.
Entwicklungsaufgaben als thematische Kristallisationspunkte der Aktualisierungstendenz In der Entwicklungspsychologie werden unter dem Begriff Entwicklungsaufgaben Prozesse der Selbstorganisation behandelt, die als für die Persönlichkeitsentwicklung bedeutsame Manifestationen der Aktualisierungstendenz anzusehen sind.
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Definition Entwicklungsaufgaben sind Themen, die »das Verhalten einer Person mehr oder weniger unbewusst in einem bestimmten Abschnitt ihres Lebens« beherrschen (Havighurst, 1963, S. 28).
Es sind Aufgaben, deren Bewältigung zu bestimmten Zeiten des Lebenslaufs ansteht, sei es aufgrund äußerer Anforderungen, sei es, dass ihnen »intrinsische Entwicklungsmotive« (Grossmann, 1989), also im Organismus selbst vorhandene Motive zugrunde liegen. Die dazu notwendigen Anpassungen und damit die Bewältigung dieser Aufgaben kann mehr oder weniger gut gelingen bzw. misslingen. Sie erfolgt aber stets in irgendeiner Form, die für die betreffende Person charakteristisch ist. In diesem Sinne integrierte Thomae (1988, S. 55) dieses Konzept in seine Persönlichkeitstheorie. Die mit Entwicklungsaufgaben verbundene thematische Strukturierung des Erlebens zeigt sich insbesondere in Form von bestimmten Wünschen, Hoffnungen, Befürchtungen, Anstrengungen und Konflikten. Nach einer Erhebung dieser Grundthemen an 20.000 Menschen aus 13 Ländern (Cantril, 1965, zitiert nach Thomae, 1988) steht der Häufigkeit nach die Thematik des Überlebens an der Spitze. Es folgt die Thematik »Sicherung des Erreichten«, danach »Streben nach Ordnung und Gewissheit im eigenen Leben«, »Streben nach Erweiterung der Erfahrungen und des Genusses« bis hin zum Wunsch, »die eigene Identität und Integrität erleben zu können und zum Streben, das Gefühl des eigenen Wertes bewahren zu können« (Thomae, 1988, S. 57). Bemerkenswert an dieser Liste ist, dass sich in ihr Erhaltung und Entfaltung, die beiden Aspekte der Aktualisierungstendenz wiederfinden, so wie sie in der Definition von Rogers (7 Kap. 3.2.1) enthalten sind. Für die Gesprächspsychotherapie ist dieser Ansatz aus zwei Gründen bedeutsam: Zum einen ist das Gelingen bzw. Misslingen der Bewältigung dieser Entwicklungsaufgaben mit einem geringeren bzw. größeren Risiko psychischer Erkrankungen verbunden. Zum anderen kommt der Psychotherapie im Falle solcher Erkrankung die Aufgabe zu – und genau dies entspricht den Zielen der Gesprächspsychotherapie (7 Kap. 7) – dem Patienten die Mög-
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Kapitel 3 · Klientenzentrierte Persönlichkeitstheorie
lichkeit zu geben und ihn dabei zu unterstützen, nicht nur misslungene Bewältigungen von Entwicklungsaufgaben zu korrigieren, sondern außerdem seine Fähigkeiten zur Bewältigung der künftigen zu verbessern und ihn so gegen weitere Störungen zu immunisieren. ! Fazit 4 Die Aktualisierungstendenz hat die Funktion eines Axioms. 4 Inhaltlich stellt sie kein »Motiv« dar, sondern ein übergeordnetes, zusammenfassendes Prinzip menschlicher Motivation und Verhaltensorganisation. 4 Sie ist keine Erklärung im Sinne einer Theorie, sondern vielmehr eine Perspektive, die 5 durch die Beobachtung und Beschreibung lebendiger Organismen nahegelegt wird und 5 als leitendes Prinzip bei der Entwicklung von Theorien fungiert, mit denen sowohl therapeutische Veränderungen als auch Lebensprozesse allgemein, insbesondere Entwicklungsprozesse zu erklären sind. 4 Sie ist insbesondere in der Gesprächspsychotherapie eine zentrale Arbeitshypothese, die das therapeutische Handeln leitet. 4 Sie trennt sich in die beiden Unteraspekte der Entfaltung und der Erhaltung, die begrifflich strikt voneinander zu unterscheiden sind und denen unterschiedliche Funktionen zukommen. 4 Der Begriff der Aktualisierungstendenz impliziert die Verschränkung aller Lebensprozesse eines Organismus mit seiner Umwelt, an die er sich im Laufe der Phylo- und Ontogenese angepasst hat. 4 Bei der Entwicklung des Menschen thematisiert sich die Aktualisierungstendenz u. a. in Entwicklungsaufgaben, die teils durch die Umwelt, teils aufgrund intrinsischer Entwicklungsmotive auf ihn zukommen und die von ihm mehr oder weniger gut bewältigt werden.
3.2.5
Aktualisierungstendenz und therapeutisches Handeln
Die Aktualisierungstendenz ist das zentrale handlungsleitende Axiom der Gesprächspsychotherapie, die als unter günstigen Bedingungen geförderte Entwicklung der Person anzusehen ist. Wer nach diesem Prinzip therapeutisch arbeitet, geht nicht davon aus, dass er die Veränderungen beim Patienten hervorbringt, sondern dass diese das Ergebnis eigenständiger Entwicklungsprozesse im Patienten sind. Allerdings kommt dem Therapeuten im Sinne der strukturellen Koppelung zwischen Organismus und Umwelt, wie sie im Konzept der Autopoiese (7 oben) vorausgesetzt wird, eine für die Entwicklung der Person des Patienten bedeutsame Funktion zu. Er hat die Aufgabe, diejenigen Bedingungen zu fördern, unter denen die erweiternden Anteile der Aktualisierungstendenz wirksam werden können, d. h. solche, unter denen der Patient Sicherheit und Schutz erfährt und sich frei von Bedrohung fühlen und entwickeln kann. Welche das sind, bestimmt wiederum nicht der Therapeut oder sein theoretisches Konzept, sondern hängt ab von der spezifischen Eigenart des Patienten (Näheres hierzu 7 Kap. 6). Indem sich der Gesprächspsychotherapeut darauf beschränkt, die für eine konstruktive Entwicklung des Patienten erforderlichen Bedingungen bereitzustellen, verschafft er sowohl dem Patienten als auch sich selber die Gelegenheit, dessen Entwicklungspotenzial überhaupt erfahren zu können. Verfolgt der Therapeut hingegen direktiv einen eigenen Lösungsplan, gibt es zwei Möglichkeiten: 4 Er hindert den Patienten und sich selbst daran zu erkennen, dass dieser seine eigenen und für ihn optimalen Entwicklungswege zu finden und zu gehen in der Lage ist, und 4 er hält die Entwicklungen, die der Patient aus sich selbst heraus genommen hat, für den Effekt seiner eigenen therapeutischen Interventionen. Direktives Handeln entspringt oft dem Wunsch nach Wirksamkeit. Deshalb sei an dieser Stelle darauf hingewiesen, dass Direktivität des Therapeuten negativ mit dem Therapieerfolg korreliert (Schindler, 1991; Schulte, 1992). Für viele Therapeuten ist es ein ernsthaftes Problem, während einer Therapie das eigene Bedürfnis
57 3.2 · Aktualisierungstendenz
nach Kontrolle zugunsten der Aktualisierungstendenz des Patienten zurückzustellen. Das kann sich hinter einer »Sorge um den Patienten« verbergen. Beispiel: Ein Patient überfordert sich durch sein übergroßes Perfektionsbedürfnis in seiner Leistungsfähigkeit. Wiederholte Erschöpfungszustände sind die Folge. Der Therapeut sorgt sich um ihn und versucht (allerdings vergeblich) wiederholt ihn zu überreden, doch etwas kürzer zu treten. Vielen Menschen – also auch Therapeuten – fällt es bei Verhaltensweisen von Patienten, die ihnen schädlich erscheinen, schwer, nichts dagegen zu unternehmen. Die Vorgehensweise von Gesprächspsychotherapeuten, die sich einem solchen Verhalten und Erleben akzeptierend und verstehend zuwenden, erscheint ihnen geradezu schädlich, denn sie könnte ja den Patienten darin bestärken und damit alles nur noch schlimmer machen. Tatsächlich ist es jedoch so, dass 1. jeder Patient bedeutsame Gründe hat, sich eben auf seine Weise zu verhalten, die wir allerdings in der Regel ebenso wie er (noch) nicht kennen, 2. ihm die akzeptierende Zuwendung des Therapeuten die Möglichkeit verschafft, sich mit diesen Gründen bzw. mit den damit verbundenen Kognitionen, Emotionen, Befürchtungen und Wünschen auseinander zu setzen, 3. die Aktualisierungstendenz, sofern die Bedingungen hinreichend günstig sind und der Therapeut genügend Geduld aufbringt, eine Entwicklung des Organismus in die Richtung eines optimalen Funktionierens lenkt, sodass er ungerechtfertigte Dauerüberlastungen vermeidet, und 4. durch diese Art des Vorgehens sich dem Gesprächspsychotherapeuten eine beeindruckende Vielfalt menschlichen Verhaltens und Erlebens erschließt, die seine therapeutische Kompetenz maßgeblich erweitert. Gesprächspsychotherapeuten, wenn sie bei sich Impulse zum direktiv-steuernden Eingreifen bemerken, tun gut daran, sich (ggf. in der Supervision) zu fragen: 1. Inwieweit spiegeln sich in meinem Impuls direktiv einzugreifen meine eigenen Bedürfnisse, Befürchtungen usw. wider? (Fürchte ich, die Dinge könnten einen anderen Weg nehmen, als ich
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für gut halte? Geht die Therapie für mich nicht schnell genug voran? Bin ich als Therapeut evtl. nicht kompetent genug? Möchte ich, dass der Patient mit mir besonders zufrieden ist? usw.). 2. Habe ich vielleicht selber ein ähnliches, unzureichend bewältigtes Problem wie der Patient? 3. Inwieweit werde ich dem Patienten in seiner spezifischen Eigenart des Verhaltens und Erlebens gerecht? 4. Inwieweit ist der Patient überhaupt beeinflussbar oder ist nicht ohnehin zu erwarten, dass er sich gegen meine Vorschläge wehrt oder sie zumindest »vergisst«? Für Gesprächspsychotherapeuten geht es in solchen Fällen weniger darum, konzeptgetreu zu arbeiten, sondern vor allem um das Vermeiden unnötiger therapeutischer Umwege, die den Patienten lediglich daran hindern, seinen eigenen Weg zu finden. Auch dann, wenn es offensichtlich notwendig ist, direktiv und strukturierend einzugreifen, z. B. bei einem akut suizidalen Patienten, bleibt es die Aufgabe des Therapeuten, zu verstehen, welche Bedeutung dieses Verhalten des Patienten für ihn selbst und für die therapeutische Beziehung hat (7 Kap. 9). ? Übungsfragen 5 Inwiefern hat die Aktualisierungstendenz als handlungsleitendes Axiom der Gesprächspsychotherapie keine erklärende Funktion? 5 Welche Bedeutung haben die beiden Aspekte »Erhaltung« und »Entfaltung«? In welcher Beziehung stehen sie zueinander? 5 Welche Rolle spielen die Aspekte »Erhaltung« und »Entfaltung« bei der Entstehung und der Therapie von Störungen bzw. Symptomen im Bereich des Verhaltens und Erlebens? 5 Inwiefern können Menschen – wie andere lebende Organismen auch – nicht durch äußere Einflüsse determiniert, d. h. in ihrem Verhalten und Erleben bestimmt werden? 5 Worin besteht das Prinzip der Äquifinalität? 5 Was bedeuten die Begriffe »Selbstreferenzialität« und »strukturelle Koppelung« im Konzept der Autopoiese? 5 Weshalb kann man bei der Aktualisierungstendenz nicht im strengen Sinne von einem Motiv sprechen?
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Kapitel 3 · Klientenzentrierte Persönlichkeitstheorie
3.3
Die Repräsentation der Welt in der Person
3.3.1
Erfahrung
Bedeutung im Klientenzentrierten Konzept
3
Im Kapitel über die Aktualisierungstendenz ging es um das übergeordnete Prinzip der Motivation von Organismen, nämlich sich zu erhalten und zu entfalten. In diesem Kapitel geht es darum, dass der Organismus, um in der Welt, in der er lebt, handlungsfähig zu sein, über ein Monitorsystem verfügen muss, das ihm die Beschaffenheit der Welt übermittelt und ihm so die Orientierung ermöglicht. Ein solches Monitorsystem eines Organismus besteht aus: 4 Sensoren, die ihm die notwendigen Informationen über seine äußere und innere Welt vermitteln (Sinnesorgane), 4 der Fähigkeit, diese Informationen mit Erinnerungen an frühere Erlebnisse zu verbinden (Gedächtnis), 4 der Fähigkeit, die Informationen und die Erinnerungen in Kategorien einzuordnen (kognitive Verarbeitung), 4 einem bewertenden System, das die eingehenden Informationen mit seinen aktuellen Bedürfnissen in Beziehung setzt und so ihre Bedeutung abschätzt, 4 beim Menschen zusätzlich aus der Fähigkeit zur bewussten Repräsentation der Welt und seiner selbst. Eine wesentliche Funktion der Fähigkeit zur bewussten Repräsentation für die Effizienz des Organismus ist die Fähigkeit zum inneren Probehandeln. In den folgenden Kapiteln sollen die Vorstellungen des Klientenzentrierten Konzepts über die verschiedenen Ebenen dieses Monitorsystems dargestellt und mit Ergebnissen der psychologischen Grundlagenforschung in Verbindung gebracht werden. Weiterhin soll gezeigt werden, wie und warum Unstimmigkeiten zwischen den verschiedenen Repräsentationsebenen die Funktionsfähigkeit des Organismus beeinträchtigen und den Hintergrund für psychische Erkrankungen darstellen. 4
In den Anwendungsbereichen der Psychologie, die sich mit dem Verhalten und Erleben von Menschen in ihrem Alltag befassen, ist den Diskutierenden oft selbst nicht genügend gegenwärtig, ob sie nun die wissenschaftliche oder die Alltagssprache benutzen.
Im alltäglichen Sprachgebrauch versteht man unter »Erfahrungen« Erlebnisse aus der Vergangenheit, die der Erinnerung zur Verfügung stehen und geeignet sind, das aktuelle Verhalten und Erleben einer Person maßgeblich zu beeinflussen (vgl. die Redensart von »gemachten Erfahrungen« aus denen wir »Lehren gezogen haben«, oder »Meiner Erfahrung nach ist …«). Auch in der Psychologie wird dieser Begriff meistens in ähnlichem Sinne benutzt. Im Klientenzentrierten Konzept hat er jedoch eine grundsätzlich andere Bedeutung. Definition Erfahrung (»experience«) ist alles »was sich innerhalb des Organismus in einem bestimmten Augenblick abspielt und was potenziell der Gewahrwerdung zugänglich ist. Er schließt Ereignisse ein, deren sich das Individuum nicht gewahr ist, ebenso wie die Phänomene, die im Bewusstsein (»consciousness«) sind« (Rogers, 1959b/1987, S. 23).
Der wichtigste Unterschied zum alltäglichen Sprachgebrauch ist, dass sich »Erfahrung« im Klientenzentrierten Konzept nicht auf die Vergangenheit bezieht, sondern ausschließlich auf einen jeweils gegenwärtigen Prozess. Eine Erfahrung im hier definierten Sinne ist also nicht der Inhalt irgend eines »Speichers«, keine »Gedächtnisspur«, sondern ein durch einen spezifischen Inhalt charakterisierter gegenwärtiger Moment im Prozess des Erfahrens. ! Erfahrung im klientenzentrierten Sinne bezieht sich nicht auf ein Ereignis in der Vergangenheit, sondern vollzieht sich in der Gegenwart. Sie ist deshalb kein fester Bezugspunkt in der Erinnerung, sondern ein kontinuierlicher, sich ständig verändernder Prozess.
Unterschiede in dem, was z. B. unter Erfahrung verstanden wird, führen nicht selten zu Missverständnissen. Es ist deshalb zweckmäßig im Diskurs jeweils zu kennzeichnen, welcher Begriff von »Erfahrung« gerade gemeint ist4.
59 3.3 · Die Repräsentation der Welt in der Person
Erfahrung im Klientenzentrierten Konzept ist die unmittelbare und kontinuierliche Verbindung eines Organismus mit seiner Welt. Rogers hat das so formuliert: »Jedes Individuum existiert in einer sich ständig ändernden Welt der Erfahrung, deren Mittelpunkt es ist« (Rogers, 1951/1973b, S. 418). Zum Bereich der Erfahrung gehört nach dieser Definition alles, was in einem gegebenen Augenblick dem Bewusstsein prinzipiell zugänglich sein kann, gleichgültig, ob es gerade bewusst ist, sich im Zentrum der Aufmerksamkeit befindet, oder nicht. Erfahrung ist die Gesamtheit aller Reaktionen der Sinnesfunktionen auf die Einflüsse der Außenwelt (visuelle Eindrücke, Geräusche, Tastempfindungen usw.) ebenso die auf die Vorgänge im Organismus selbst (Muskelspannungen, Schmerzen an bestimmten Organen, Hunger, Durst, Herzschlag usw.). Nicht zur Erfahrung gehört, was sich zwar im Organismus abspielt, aber wegen der sensorischen Ausstattung des Menschen grundsätzlich nicht bewusst werden kann. Das sind beispielsweise die Prozesse der Zellteilung, Veränderungen des Blutzuckerspiegels, die elektrischen Potenziale der Nervenzellen usw. In Bezug auf die Funktion der Erfahrung schreibt Rogers: »Der Organismus reagiert auf das Feld, wie es erfahren und wahrgenommen wird. Dieses Wahrnehmungsfeld ist für das Individuum ›Realität‹ « (Rogers, 1951/1973b, S. 419). Eigentlich ist das eine allseits bekannte Tatsache. Sie wird allerdings immer wieder übersehen, z. B. wenn jemand versucht, einen anderen Menschen dazu zu bringen, zu sehen, wie die Dinge »wirklich« sind. Mit unserem Verhalten und Erleben reagieren wir alle nicht auf die »objektive« Welt, sondern darauf, wie wir sie wahrnehmen, d. h. wie sie in unserem Organismus repräsentiert wird. Und die Art und Weise, wie sie repräsentiert wird, hängt ab von unserem bisherigen Leben bzw. dem Ergebnis der bisherigen strukturellen Koppelung (7 Kap. 3.2.3) zwischen unserem Organismus und seiner Umwelt, so, wie sie sich in unserer philo- und ontogenetischen Entwicklung ergeben hat. Und weil niemand einen direkten Zugang zum Erleben eines anderen Menschen hat, ist es das Individuum allein, das um seine Erfahrungen wissen kann.
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! Erfahrung im Sinne des Klientenzentrierten Konzepts ist die Repräsentation der Welt im Organismus im jeweils gegebenen Augenblick, wie sie durch seine Sinnesorgane vermittelt wird, gleichgültig ob sie bewusst oder unbewusst ist. Erfahrungen sind für das Individuum Realität, bestimmen sein Verhalten und Erleben und sind nur ihm selbst zugänglich.
Unbewusste Prozesse im Klientenzentrierten Konzept und in der psychologischen Grundlagenforschung Wie schon erwähnt wurde, ist im Klientenzentrierten Konzept mit dem Begriff »Erfahrung« die Vorstellung von der Existenz unbewusster psychischer Prozesse verbunden. Vor allem durch Freud und die Psychoanalyse ist »das Unbewusste« in den allgemeinen Sprachgebrauch und das alltägliche Denken gelangt. Aber schon lange zuvor hatten u. a. Arthur Schopenhauer (1788–1860), Sören Kierkegaard (1813–1855) und Friedrich Nietzsche (1844–1900) über unbewusste Vorgänge nachgedacht und geschrieben. Gleichwohl sind es die Vorstellungen der Psychoanalyse, die das allgemeine Verständnis des »Unbewussten« nachhaltig geprägt haben. Danach ist das Unbewusste eine seelische Instanz, die vor allem verdrängte Vorstellungen enthält. Für Rogers war hingegen »unbewusst« nicht mehr und nicht weniger als eine Qualität psychischer Prozesse. Er berief sich auf McCleary und Lazarus (1949), die im Rahmen der experimentellen psychologischen Grundlagenforschung belegen konnten, dass Versuchspersonen auch dann Stimuli unterscheiden konnten, wenn sie nicht in der Lage waren, sie bewusst wahrzunehmen. Rogers übernahm diese Ergebnisse und postulierte, dass aufgrund dieser Fähigkeit zur unterschwelligen Wahrnehmung (»subception«) Individuen eine Erfahrung auch dann als bedrohlich beurteilen können, wenn sie diese Bedrohung nicht bewusst wahrgenommen haben (Rogers, 1959b/1987, S. 25 ff.). ! Das »Unbewusste« im Klientenzentrierten Konzept besteht nicht aus verdrängten Inhalten oder Vorstellungen, sondern ist eine Qualität allgemeiner, für die Existenz des Organismus erforderlicher psychischer Prozesse.
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Kapitel 3 · Klientenzentrierte Persönlichkeitstheorie
Inzwischen hat sich die Forschung zur unterschwelligen Wahrnehmung (die auch unter den Stichwörtern unbewusste oder implizite Wahrnehmung abgehandelt wird) zu einem eigenen Bereich der Kognitionspsychologie entwickelt (Emrich, 1983; Hentschel, Smith & Draguns, 1986; Lewicki, Hill & Czyzewska, 1992; Perrig, 1996; Perrig, Wippich & Perrig-Chiello, 1993). Zusammengefasst ist das Ergebnis dieser Forschung, »dass mitteilbares oder explizites Wissen und bewusstes Wahrnehmen und Erkennen nur einen Bestandteil des Geschehens ausmacht, welches unserem Urteilen, Entscheiden, Planen und Verhalten zugrunde liegt, und dass diesem bewussten Erkennen Prozesse vorausgehen oder folgen, die introspektiv nicht erfassbar sind« (Perrig et al., 1993, S. 25). Es handelt sich also um Prozesse, denen die zusätzliche Komponente des Bewusstseins fehlt, die aber im Verhalten und Erleben dennoch wirksam sind. Perrig et al. (1993) berichten über eine Vielzahl durchdachter Demonstrationen und experimenteller Arrangements und kommen zusammenfassend zu dem Ergebnis, dass »es heute nicht mehr nur um den Nachweis unbewusster Phänomene (geht), sondern um die Erklärung von Wahrnehmungs-, Entscheidungs- und Lernleistungen unter der Berücksichtigung bewusster und unbewusster Kognitionen« (a. a. O., S. 74). Unbewusste Vorgänge sind damit nichts Besonderes, sondern selbstverständliche Begleiter unseres Funktionierens. Nachweis unbewusster psychischer Prozesse. Im Rahmen der Kognitionspsychologie konnten unbewusste Prozesse beim Menschen nachgewiesen werden, vor allem für 4 Den Einfluss von Ereignissen, die das Verhalten beeinflussen, ohne dass sie bewusst wahrgenommen wurden bzw. werden konnten (unterschwellige Wahrnehmung) 4 Konzeptlernen durch den Erwerb von implizitem Wissen über Merkmalshäufigkeiten und Merkmalskombinationen (Begriffsbildung) 4 Das Erlernen und erfolgreiche Anwenden von komplexen Invarianzen und Regelhaftigkeiten unserer Umwelt, ohne dass wir ihrer beim Erlernen gewahr werden oder Einsicht in diese Regeln haben 4 Das Lösen von Problemen
4 Den Aufbau von Personenbewertungen und einer effizienten sozialen Verarbeitungs- und Handlungskompetenz (auch wenn sie sich im Endeffekt als irrig herausstellt) (vgl. Perrig, 1996; Perrig et al., 1993) Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass die lebenswichtigen Funktionen der Orientierung und der Handlungssteuerung unbewusst ablaufen können. »Unbewusst« ist keine abgegrenzte Instanz, sondern eine universelle Qualität psychischer Abläufe. Prinz (1996) spricht in ähnlichem Zusammenhang von der Realisierung verborgener kognitiver Prozesse durch das Gehirn.
Die Bewertung der Erfahrung Das Klientenzentrierte Konzept geht davon aus, dass Erfahrungen – unabhängig davon, ob sie bewusst oder unbewusst sind – vom Organismus bewertet werden. Der Maßgabe der Aktualisierungstendenz folgend, richtet sich diese Bewertung von Erfahrungen nach deren Bedeutung für die Aufrechterhaltung und Entfaltung des Organismus. Erfahrungen, die diese beeinträchtigen oder zu beeinträchtigen drohen, lösen z. B. Angst aus und die Tendenz, sie bzw. die zugehörigen Situationen zu meiden. Erfahrungen, die für die Erhaltung und Entfaltung des Organismus förderlich sind, bedeuten hingegen z. B. Befriedigung und werden angestrebt. Im Klientenzentrierten Konzept wird dies als »organismische Bewertung« bezeichnet. Die Bewertung ist ein kontinuierlich ablaufender Prozess, dessen Ergebnis mit dem jeweiligen Zustand des Organismus variiert: Bei Hunger können wir auf eine bestimmte Speise Appetit haben, wenn wir gesättigt sind, mag sie uns sogar zuwider sein. Oder: In Gesellschaft lebhafter Menschen können wir uns wohl fühlen, sie können uns aber auch erheblich stören, z. B. wenn wir müde sind. Bewertungsprozesse und ihr Ergebnis können dem Bewusstsein zugänglich sein, erfolgen aber meistens ohne seine Beteiligung. In jedem Falle spielen in den Bewertungsprozessen Affekte eine herausragende Rolle. ! Erfahrungen werden auf der Grundlage der Aktualisierungstendenz im Hinblick auf ihre Bedeutung
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61 3.3 · Die Repräsentation der Welt in der Person
fahrungen mehr oder weniger genau übereinstimmen. Erfahrungen können 5 Exakt symbolisiert sein, wenn sie vollständig und genau im bewussten Erleben abgebildet werden (Beispiel: Ein heftig verliebter junger Mann möchte seiner Freundin, die er erst seit kurzem kennt, zum Geburtstag etwas bestimmtes schenken und erfährt, wenn er sich fragt, ob sie sich wohl darüber freuen wird, eine Mischung aus gespannter Vorfreunde und Unsicherheit, die ihm beide klar und deutlich bewusst sind.) 5 Unvollständig symbolisiert sein, wenn nur ein Teil der bedeutsamen Erfahrungen im Bewusstsein repräsentiert wird (Z. B. erinnert sich ein Mann daran, wie er als Kind nachts bei einem heftigen Gewitter aus seinem Kinderzimmer ins Elternschlafzimmer hinübergegangen ist und sich dort auf den Teppich gelegt hat, ohne dass er sich an irgend ein Gefühl erinnern kann, das er dabei hatte.) 5 Verzerrt symbolisiert sein, wenn eine Erfahrung in entstellter Form symbolisiert wird, d. h. so, dass ihr ursprünglicher Inhalt dermaßen verfälscht wird, dass er nicht mehr wiederzuerkennen ist (Ein nicht seltenes Beispiel dafür ist, wenn Frauen, die sich in einer chronisch einengenden Lebenssituation befinden, ihre Wut als Niedergeschlagenheit und Depression erleben.) 5 Von der Symbolisierung ausgeschlossen und damit dem Bewusstsein unzugänglich sein (wenn z. B. eine Person in einer peinlichen Situation rot wird, gleichzeitig aber überzeugt ist, völlig unberührt geblieben zu sein).
für die Erhaltung und/oder Entfaltung des Organismus bewertet. Diese vor allem affektive Bewertung geschieht meistens unbewusst.
3.3.2
Symbolisierung
Zur Bedeutung des Begriffs im Klientenzentrierten Konzept Rogers hat den Begriff »Symbolisierung« (»symbolization«) mit den Begriffen »Gewahrwerden« (»awareness«) und »Bewusstsein« (»consciousness«) synonym verwendet (Rogers, 1959b/1987). Definition Bewusstsein (oder Gewahrwerden) ist »die Symbolisierung irgendeines Teils unserer Erfahrung. Bewusstsein wird somit als die symbolische Repräsentation (nicht notwendigerweise mit verbalen Symbolen) eines Bereichs unserer Erfahrung gesehen. Diese Repräsentation kann unterschiedliche Grade an Schärfe oder Lebhaftigkeit aufweisen, von einem undeutlichen Gewahrwerden von etwas, was als Hintergrund existiert, bis hin zu dem scharfen Gewahrwerden von etwas, was als Figur im Mittelpunkt steht« (Rogers, 1959b/1987, S. 198; Übersetzung v. Verf.).
Dass eine Symbolisierung nicht notwendigerweise verbal ist, bedeutet, dass sie auch andere Formen von Bewusstseinserscheinungen annehmen kann, z. B. Sinneswahrnehmungen, Vorstellungen, Körpererlebnisse. Hinsichtlich der Qualität von Symbolisierungen lassen sich verschiedene Aspekte unterscheiden: 1. Das Ausmaß an Klarheit und Umrissenheit: Es reicht von einer undeutlichen, vagen Ahnung (wie z. B. ein undeutliches Unbehagen einer bestimmten Person gegenüber, bei dem wir nicht wissen, was es eigentlich bedeuten soll) bis hin zur klaren und eindeutigen Repräsentation (wenn beispielsweise klar ist, dass sie einer bestimmten anderen Person ähnlich sieht, mit der wir ganz bestimmte unangenehme Erfahrungen gemacht haben). 2. Inhaltliche Vollständigkeit: Symbolisierungen können mit den ihnen zugrundeliegenden Er-
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Die Symbolisierungen werden durch bedeutsame Sozialpartner vermittelt Im Klientenzentrierten Konzept gilt die Qualität, mit der Erfahrungen im Bewusstsein symbolisiert werden, als ein Ergebnis der Interaktion mit bedeutsamen Anderen, die in der bisherigen Entwicklung einer Person stattgefunden haben5. Rogers (1959b/ 5
Näheres zu dieser Thematik wird in 7 Kap. 4 ausführlich behandelt. An dieser Stelle soll dazu nur das in unserem Zusammenhang Notwendige dargestellt werden.
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Kapitel 3 · Klientenzentrierte Persönlichkeitstheorie
1987) ging z. B., indem er Standal (1954) folgte, von einem basalen menschlichen Bedürfnis nach positiver Beachtung (»need for positive regard«) aus. Er ließ seinerzeit offen, ob es sich dabei um ein angeborenes (primäres) oder erlerntes (also sekundäres) Bedürfnis handelt. Inzwischen hat die entwicklungspsychologische Forschung belegt, dass es sich dabei um ein angeborenes Bedürfnis handelt, das insbesondere zu Beginn der menschlichen Entwicklung über alle anderen Bedürfnisse dominiert (Bowlby, 1969/1975; Cassidy & Shaver, 1999; Spangler & Zimmermann, 1995). Definition Das Bedürfnis nach positiver Beachtung ist »ein universales, vom ersten Lebenstag an zu beobachtendes und während des ganzen Lebens andauerndes menschliches Bedürfnis nach Anerkennung bzw. Beachtung im Sinne von Wahrgenommen- und Geliebtwerden von wichtigen Anderen« (Biermann-Ratjen, 2003, S. 41).
werden, aber die Erfahrung von Kummer, Not und Trostbedürftigkeit von der Symbolisierung ausgeschlossen bleiben. Verzerrte Symbolisierungen können aus der Übernahme von verfälschenden Deutungen durch wichtige Andere resultieren. Beispiel: Das Kind erfährt Ärger, der aber wiederholt als »Müdigkeit« deklariert wird. In der Folge würde es seinen Ärger verzerrt als Müdigkeit wahrnehmen bzw. im Bewusstsein repräsentieren (vgl. auch, wie manche Menschen in an sich ärgerlichen Situationen davon sprechen, »traurig« zu sein). Von der Symbolisierung ausgeschlossen werden Erfahrungen, die von bedeutsamen Anderen entweder ignoriert oder als der Person des Kindes nicht zugehörig deklariert worden sind. Beispiel: Das wütende Kind wird nicht beachtet oder ihm wird gesagt: »Das bist du ja gar nicht!« Oder: »Du gehst so lange vor die Tür, bis das Böckchen in Dir wieder draußen ist«.
Äquivalente in der psychologischen Grundlagenforschung Nach Rogers kann ein Kind in seiner Interaktion mit bedeutsamen Anderen (z. B. Eltern) erleben, dass bestimmte Teile seiner Erfahrung von diesen Anderen als der positiven Beachtung mehr oder weniger wert erachtet werden, dass also sein Bedürfnis nach positiver Beachtung mehr oder weniger befriedigt bzw. frustriert wird. In der Folge wird das Kind diese Bereiche der Erfahrung mit der entsprechenden erfahrenen Bewertung verbinden und diese für sich übernehmen. Exakt symbolisiert werden dann solche Erfahrungsbereiche, die von bedeutsamen Anderen verstanden und ohne dass daran irgendwelche Bedingungen geknüpft wurden, positiv beachtet worden sind. Unvollständig symbolisiert werden Erfahrungen, wenn nur Teile von ihnen von bedeutsamen Anderen verstanden und positiv beachtet wurden. Ein Beispiel: Ein Kind hat sich verletzt, seine Wunde wird auch von der Mutter angemessen versorgt, aber seine angesichts der Schmerzen bestehende Trostbedürftigkeit wird ignoriert oder zurückgewiesen (»Wegen dem bisschen weint man nicht; du hättest ja auch aufpassen können«). Bei späteren derartigen Episoden könnte die körperliche Verletzung gespürt
Mit der Vorstellung, dass die Erfahrungen des Organismus mehr oder weniger exakt im Bewusstsein symbolisiert werden, geht das Klientenzentrierte Konzept von zwei Ebenen der Repräsentation der Welt im Organismus aus: einer Ebene der zwar prinzipiell bewusstseinsfähigen aber möglicherweise auch unbewussten bzw. nicht bewussten Erfahrungen, und einer Ebene des Bewusstseins, welche die Erfahrungen in ihrer symbolisierten Form enthält. Es wird angenommen, dass die bewussten Symbolisierungen ein Produkt der sozialen Interaktion sind. Eine im Prinzip identische Sicht wurde in der Kognitionspsychologie von Prinz (1996) vorgeschlagen. Er fragte nach den Beziehungen zwischen Bewusstseinsvorgängen und Hirnprozessen und stellte zunächst fest, dass die Diskussion dieses Leib-SeeleProblems bisher in erster Linie von Philosophen und Neurobiologen geführt worden sei. Die Philosophen hätten dabei ihr Augenmerk in erster Linie auf die Bewusstseinserscheinungen gerichtet und sich und die Neurobiologen gefragt, wie diese vom Gehirn hervorgebracht würden. Die Neurobiologen hingegen seien von der Struktur und den Funktionen von Gehirnprozessen ausgegangen und hätten sich und
63 3.3 · Die Repräsentation der Welt in der Person
die Philosophen gefragt, wie sich aus der Tätigkeit dieses Organs Bewusstseinserscheinungen ergeben könnten. Nach Prinz gehen beide von falschen Dogmen aus: Der von der Neurobiologie vertretene Bewusstseinsnaturalismus fasst das Bewusstsein als eine vom Gehirn produzierte Qualität auf. Prinz stellte dazu die kritische Frage, ob die Gehirnprozesse nicht nur die notwendige, sondern auch die hinreichende Grundlage von Bewusstseinserscheinungen bilden. Zwar sei die Ausbildung von Bewusstsein an bestimmte neurobiologische Gegebenheiten als notwendige Voraussetzungen gebunden, jedoch seien diese für eine Erklärung der Ausbildung von Bewusstsein nicht hinreichend: »Die Entstehung von Bewusstsein kann nicht rein naturgeschichtlich erklärt werden, sondern erfordert eine Verbindung von naturgeschichtlichen und kulturgeschichtlichen Erklärungsansätzen« (a. a. O., S. 453). Nach dem Dogma der philosophisch orientierten Diskussion, dem Bewusstseinsfundamentalismus als spiegelbildlichem Gegenstück zum Bewusstseinsnaturalismus seien die Bewusstseinserscheinungen »fundamentale Gegebenheiten …, zu denen wir unmittelbaren, unvermittelten Zugang haben – im Unterschied zu den Erscheinungen der äußeren Welt, die uns lediglich durch Wahrnehmungsprozesse vermittelt sind« (a. a. O., S. 454). Da sie direkt zugänglich seien und nicht wie die äußeren Erscheinungen durch Abbildungsvorgänge vermittelt würden, sei nach dem Bewusstseinsfundamentalismus das, was wir über unsere psychischen Vorgänge wissen, notwendigerweise wahr. Prinz bezweifelt, dass die Struktur der Bewusstseinsinhalte ohne weiteres mit der Struktur der Prozesse, die sie erzeugen, gleichgesetzt werden kann. Er verweist auf die moderne psychologische Forschung, die dazu übergegangen sei, die Berichte von Personen über ihre Bewusstseinserscheinungen genauso zu behandeln wie die Berichte, die sie über die Außenwelt geben, nämlich als Berichte über die Wahrnehmung ihrer kognitiven Prozesse und nicht als Berichte über diese Prozesse selbst. »Nach diesem Arbeitsmodell stehen die Bewusstseinserscheinungen zu den ihnen zugrundeliegenden kognitiven Prozessen in genau dem gleichen indirekten Vermittlungsverhält6
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nis wie die Wahrnehmungseindrücke, die wir über die Außenwelt haben, zur Außenwelt selbst: Hier wie da enthalten die Bewusstseinseindrücke nur eine hochgradig selektive und kategorial überformte Repräsentation einzelner Aspekte der zugrundeliegenden Verarbeitungsprozesse – und keineswegs eine Repräsentation dieser Prozesse selbst.« (a. a. O., S. 455) Sie seien damit Produkte einer Interpretation dieser Prozesse, wobei der Rahmen für diese Interpretation nicht von jedem Individuum neu entwickelt, sondern aus seiner kulturellen Umgebung übernommen werde. Damit ist die Beziehung zwischen den Bewusstseinserscheinungen und den physiologischen Gehirnprozessen in zwei Teilbeziehungen aufgelöst: 4 Eine Instantiierungsbeziehung, d. h. die Realisierung von verborgenen kognitiven Prozessen durch das Gehirn und 4 Eine Wahrnehmungsbeziehung, die das Verhältnis zwischen den verborgenen kognitiven Prozessen und den mit ihnen verbundenen Bewusstseinserscheinungen betrifft. Sie ist der Ort, an dem soziale Konstruktionsprozesse wirksam werden können. Auf der Ebene der verborgenen kognitiven Prozesse wird nach Prinz ein Großteil der ankommenden Information vollständig verarbeitet, bevor ein kleiner Teil davon für die bewusste Repräsentation ausgewählt wird. Zwischen dem Klientenzentrierten Konzept und dem von Prinz aufgrund der Ergebnisse der experimentellen Kognitionspsychologie vorgeschlagenen Bewusstseinsmodell lassen sich eine Reihe von Äquivalenzen feststellen. ! Äquivalenzen zwischen dem Klientenzentrier-
ten Konzept und dem Bewusstseinsmodell von Prinz (1996) 1. Zwischen den rein physiologischen Prozessen und den Bewusstseinsinhalten wird eine besondere Ebene psychischer Prozesse (»Erfahrung« bzw. »verborgene kognitive Prozesse«) angenommen, die als solche nicht bewusst sind.
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3
Kapitel 3 · Klientenzentrierte Persönlichkeitstheorie
2. Inhalte dieser Ebene werden durch eine eigene interpretierende Verarbeitung (»Symbolisierung« bzw. »Wahrnehmung«) zu Bewusstseinsinhalten. 3. Die Ergebnisse dieser Verarbeitung werden durch die soziale Umgebung (»bedeutsame Andere« bzw. »kulturelle Umgebung«) maßgeblich beeinflusst.
Beide Konzepte sind geeignet, einander zu ergänzen, können einander aber nicht ersetzen. Anders als bei Prinz (1996) wird im Klientenzentrierten Konzept näher beschrieben, in welcher Weise die interpretierende Verarbeitung der verborgenen kognitiven Prozesse in der bewussten Wahrnehmung erfolgt und welche Bedingungen der sozialen Umgebung in der Entwicklung einer Person dafür maßgeblich sind (diese wiederum sind, wie in Kapitel 4 näher ausgeführt wird, durch die Bindungstheorie unterstützt und weiter differenziert worden). Auf der anderen Seite hat das Modell von Prinz, der das Konzept der Symbolisierung als äquivalent mit der Wahrnehmungsfunktion ansieht, erheblich zu dessen Klärung und theoretischen Einordnung beigetragen. In diesem Zusammenhang ist zu erwähnen, dass bereits Rogers (1959b/1987, S. 25) »Wahrnehmung« (»perception«) und »Gewahrwerdung« (»awareness«) explizit als »synonym« bezeichnet hat. Zwar hat er (vermutlich unter dem Einfluss der damaligen Kognitionsforschung) dabei den Begriff »Wahrnehmung« enger gefasst und auf die von außen kommenden Reize bezogen und den der »Gewahrwerdung« als den weiteren gesehen, der sich sowohl auf innere als auch auf äußere Stimuli und deren Bedeutung beziehe. In jedem Falle bleibt jedoch die funktionale Äquivalenz von Wahrnehmung und Bewusstsein. Für die Psychotherapie – und nicht nur für die Gesprächspsychotherapie – bedeutet die Vorstellung, dass das Bewusstsein einer Person die Wahrnehmung ihrer selbst ist, die interessante Möglichkeit, die Ergebnisse der Wahrnehmungspsychologie zu nutzen.
3.3.3
Selbst
Das Selbst ist einer der wichtigsten Begriffe des Klientenzentrierten Konzepts, sowohl in der Theorie zur Entstehung von psychischen Störungen und Krankheiten (7 Kap. 5) als auch in der über den therapeutischen Prozess (7 Kap. 6 und 9). Rogers’ Interesse an dem Begriff Selbst beruhte auf der Beobachtung, dass Menschen in der Psychotherapie von sich aus und ohne dazu angeleitet worden zu sein, immer wieder über ihr Selbst sprachen: »Ich weiß nicht, ob ich noch ich selber bin« oder »Ich möchte nicht, dass irgendjemand weiß, wer ich wirklich bin« (Rogers, 1959b/1987). Auch im normalen Alltag wird deutlich, dass jeder Mensch auch Gegenstand seines eigenen Erlebens ist. Wir wissen einiges über uns (»Fremdsprachen lernen macht mir Freude«), denken über uns nach (»Wie kommt es nur, dass ich auf Frau M. so unsicher reagiere?«), haben uns selbst gegenüber Gefühle (z. B. der Freude oder der Scham), ebenso Wünsche und Bedürfnisse, bzw. bewerten uns selbst (»Ich möchte mich besser durchsetzen können«). Was in diesen Beispielen der Gegenstand des Erlebens ist, wird in der Psychologie als das »Selbst« bezeichnet und ist inzwischen zu einem fest etablierten Bereich der empirisch-psychologischen Grundlagenforschung geworden, vorwiegend in der Sozial-, Entwicklungs- und Kognitionspsychologie. Rogers und seine Mitarbeiter begannen ihre Forschung zum Selbst, indem sie systematisch Äußerungen von Patienten über sich selbst sammelten und kategorisierten. Eines der Ergebnisse dieser Studien war, dass sich die Einstellung der Patienten zu sich selbst während der Therapie bedeutsam veränderte, aber auch beträchtlichen Schwankungen unterlag. Ein anderes Ergebnis war, dass sich die Vorstellungen von der eigenen Person deutlich auf die Regulation des Verhaltens auswirkten (Rogers, 1959b/1987). Auf dieser Grundlage und indem er die vorliegende Literatur einbezog, formulierte Rogers seine Definition des Selbst (Rogers, 1959b/1987, S. 200; Übersetzung v. Verf.):
65 3.3 · Die Repräsentation der Welt in der Person
Definition Das Selbst ist eine »…organisierte, in sich geschlossene (consistent) begriffliche Gestalt. Sie setzt sich zusammen aus den Wahrnehmungen der Charakteristika des ›Ich‹ (›I‹) oder ›Mich‹ (›me‹) und den Wahrnehmungen der Beziehungen des ›Ich‹ oder ›Mich‹ zu anderen sowie zu verschiedenen Aspekten des Lebens, zusammen mit den Bewertungen, die mit diesen Wahrnehmungen verbunden sind. Es ist eine Gestalt, die dem Bewusstsein zugänglich, aber nicht immer im Bewusstsein gegenwärtig ist.« Vom Selbstkonzept spricht Rogers dann, wenn es speziell um die Sichtweise der Person von sich selbst geht, von Selbststruktur, wenn das Selbst von einem äußeren Bezugsrahmen aus betrachtet wird.
Wenn in der Definition das Selbst als eine Gestalt beschrieben wird, so ist damit gemeint, dass das Selbst eine in sich gegliederte Einheit darstellt, zwischen deren Bestandteilen (den einzelnen Inhalten) eine besondere Beziehung der gegenseitigen Beeinflussung besteht, d. h. die Bedeutung jedes Teils wird von seinem Kontext wesentlich mit bestimmt. So beeinflusst beispielsweise die allgemeine Einstellung, die jemand zu sich selbst hat, in welchem Licht er die übrigen Aspekte seiner selbst sieht. Ist die Wertschätzung der eigenen Person gering, dann wird er seine besonderen intellektuellen Fähigkeiten eher als unwichtig, nur scheinbar vorhanden oder dergleichen bewerten. Ereignisse, die auf das Gegenteil hinweisen (z. B. die Anerkennung seiner Leistungen durch andere), wird er dann als zufällig, nicht ernst gemeint, auf mangelnder Kenntnis der wahren Fähigkeiten beruhend usw. abtun. Die Ergebnisse der psychologischen Grundlagenforschung lassen sich drei Themenbereichen zuordnen, der Phänomenologie, den Funktionen und der Entwicklung des Selbst. Davon werden in diesem Kapitel die ersten beiden behandelt. Der dritte, die Entwicklung des Selbst, ist dem 7 Kap. 4 vorbehalten.
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ren sie sich gemeinsam mit dem Patienten vor allem auf dessen Erleben und bemühen sich, anhand der sprachlichen Äußerungen und dem sonstigen Verhalten des Patienten eine möglichst genaue Vorstellung von dessen innerer Wahrnehmungswelt zu gewinnen (7 Kap. 6 und 9). Das kann ihnen umso besser gelingen, je mehr sie sich mit der Phänomenologie des Selbst beschäftigt haben. Bei der Phänomenologie des Selbst lassen sich zwei Aspekte voneinander unterscheiden, der qualitative, der sich mit der Art und Weise befasst, wie das Selbst von der Person erlebt wird, und der inhaltliche. Bei ihm geht es darum, was erlebt wird. Was den qualitativen Aspekt betrifft, so hat Rogers in seiner Definition des Selbst wohl mit Bedacht die beiden Begriffe »›Ich‹ oder ›Mich‹ « (» ›I‹ or ›me‹ ») benutzt6 die gemeinsam das Selbst ausmachen. Diese Unterscheidung stammt ursprünglich von James (1892), wurde später von Mead (1956/ 1969) aufgegriffen und ist auch in der heutigen psychologischen Forschung zum Selbst weit verbreitet. Zwar bezieht sich Rogers bei seiner Definition nicht direkt auf Mead, er nennt ihn aber an anderer Stelle (Rogers, 1951/1973b, S. 429) als ersten in einer Reihe von Autoren, die zu seinem Wissen über das Selbst wesentlich beigetragen hätten. Worin besteht nun der Unterschied? Um das »I« (ins Deutsche auch mit »Ich an sich« übersetzt) geht es dann, wenn wir etwas tun, ohne dass wir uns dessen im gegebenen Moment extra bewusst werden, wenn wir beispielsweise hören, ohne gezielt hinzuhören, oder wenn wir Dinge sehen, ohne bewusst zu registrieren, dass wir sie sehen. James hatte diesen Anteil des Selbst als »the self as the knower« bezeichnet. Das »I« ist das Subjekt der Selbstwahrnehmung. Bischof-Köhler (1989) beruft sich in diesem Zusammenhang auf den Gestaltpsychologen Metzger (1975) und spricht von der »Ebene des Angetroffenen«, dem unreflektiert wahrnehmenden Selbst, dem unmittelbaren und unreflektierten Empfinden des Menschen seiner selbst, dem ›Selbst-sein‹ mit den dazu gehörenden Gestimmtheiten, Gefühlen, Bedürfnissen und dem Denken als dem sich vollziehenden Prozess.
Zur Phänomenologie des Selbst Für Gesprächspsychotherapeuten ist es besonders wichtig, sich mit der Phänomenologie des Selbst vertraut zu machen. Während der Therapie konzentrie-
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In der deutschen Übersetzung (Rogers, 1959/1987, S. 26) wurden sie auf »Ich« verkürzt, als handele es sich dabei um Synonyme, für die ein einziger Begriff ausreicht.
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Kapitel 3 · Klientenzentrierte Persönlichkeitstheorie
Fallvignette
»Ich«, das Selbst als Subjekt
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Wenn ich aus dem Fenster sehe und dabei mein Blick auf die Dächer der Nachbarhäuser, die vom Wind bewegten Bäume und die am Himmel ziehenden Wolken fällt und ich mich dabei auf all das Gesehene als solches konzentriere, also auf die Häuser, Bäume und Wolken, dann ist mein Selbst als Subjekt vorhanden, mein Selbsterleben ist implizit.
Um das »Mich« geht es dann, wenn wir unser Augenmerk direkt auf uns selbst, unser eigenes Verhalten und Erleben richten. Wir sind dann das Objekt unserer selbst. James hat es als »the self as the known« genannt. Wenn so das Selbst zum Gegenstand der Selbstwahrnehmung bzw. der Symbolisierungen wird, handelt es sich nach Bischof-Köhler um die Ebene des Vergegenwärtigten, der Selbstobjektivierung, des Selbst-Konzepts. Die eigene Person wird dabei zum »Vorstellungsding« mit figuralen Eigenschaften. Das »me« hat eine Grenze mit einer Außen- und Innenseite und ist abgesetzt von anderen »Dingen«. Zugleich bildet das »I« zu dieser Figur des »me« den Hintergrund. Das »me« besitzt Permanenz und wird zum Träger einer zeitüberbrückenden Identität. In der Phantasie ist es manipulierbar und wird reflektierend als Träger und Verursacher von Erlebnissen und Handlungen erlebt. Fallvignette
»Mich«, das Selbst als Objekt Wenn ich – um das obige Beispiel nochmals aufzunehmen – meine Aufmerksamkeit dann mir selber zuwende als dem, der all das sieht, bei der lebhaften Bewegung der Bäume eine angenehme innere Spannung verspürt, der bemerkt, wie er von dem prächtig roten Himmel der aufgehenden Sonne berührt ist und der sich erinnert, dass ähnliche Farben ihn auch schon früher berührt haben, dass er sie am liebsten gemalt hätte, dann bin ich Objekt meiner Wahrnehmung, mein Selbsterleben ist explizit.
Inhaltlich gesehen setzt sich das Selbst nach der Definition von Rogers zusammen aus den Wahrnehmungen einer Person von ihren 4 Eigenschaften, 4 Beziehungen zu anderen, 4 Beziehungen zu den verschiedenen Aspekten des Lebens sowie 4 den bewussten oder bewusstseinsfähigen Bewertungen, die mit diesen Wahrnehmungen verbunden sind. Die Wahrnehmungen von den Eigenschaften der eigenen Person können sich auf (relativ) überdauernde Persönlichkeitsmerkmale beziehen (z. B. wenn sich jemand für einen Menschen hält, der mathematisch begabt ist, der mediterranen Küche zuneigt usw.) oder aber auf den augenblicklichen Zustand (z. B. wenn jemand einen schweren Koffer hebt und dabei seine Körperkraft spürt, oder wenn er sich im Augenblick müde fühlt, Hunger hat usw.). Wahrnehmungen der Beziehungen zu anderen können z. B. sein, dass sich jemand als misstrauisch gegenüber einem bestimmten Kollegen erlebt, als hilfsbereit gegenüber einem Freund oder als kritisch gegenüber seinem Chef. Wahrnehmungen der Beziehungen zu den verschiedenen Aspekten des Lebens können darin bestehen, dass z. B. eine Frau eine Schwangerschaft als ein bedeutsames Ereignis in ihrem Leben ansieht, oder dass für jemanden der Tod das Ende aller Dinge bedeutet. Mit all diesen Selbstwahrnehmungen können dem Bewusstsein zugängliche Bewertungen verbunden sein. So kann jemand seine mathematische Begabung als unwichtig erleben, ein anderer mag stolz darauf sein. Das Spüren der eigenen Körperkraft kann als lustvoll erlebt werden oder aber als mühsame Quälerei. Das eigene Misstrauen kann von dem einen als gut und wichtig für ein erfolgreiches Leben erachtet werden, von einem anderen als eine Quelle von Beeinträchtigungen in seinen Beziehungen. Das wichtige Ereignis einer Schwangerschaft kann für eine Frau einen Höhepunkt ihres Lebens bedeuten, für eine andere eine Katastrophe in ihrer Lebensplanung. Und die Vorstellung vom Tod als dem Ende aller Dinge kann für den einen erleichternd sein, für den anderen eine Quelle von Angst und Verzweiflung.
67 3.3 · Die Repräsentation der Welt in der Person
Alle Inhalte des Selbst können drei unterschiedlichen Bereichen zugeordnet werden (Higgins, 1987), in denen sie dann auch verschiedene Bedeutungen haben: 1. dem aktuellen Selbst (»actual self«), bestehend aus den Merkmalen, die eine Person zu besitzen meint (»Ich habe erhebliche Schwierigkeiten, mathematische Formeln zu verstehen«), 2. dem idealen Selbst (»ideal self«), bestehend aus den Merkmalen, die eine Person besitzen möchte (»Ich würde gerne mathematische Formeln leicht und schnell verstehen können«) und 3. dem erwarteten Selbst (»ought self«), bestehend aus den Merkmalen, die eine Person meint besitzen zu sollen (»Eigentlich müsste ich mathematische Formeln leicht lesen und verstehen können«).
Zur Funktion des Selbst Im Funktionsgefüge der Gesamtperson kommt dem Selbst eine überlebenswichtige Bedeutung zu. Es ermöglicht, die Art der sozialen Realität vorherzusagen, sich auf diese einzurichten und sie auch beeinflussen zu können (Lecky, 1945). Drei Funktionen des Selbst lassen sich, angelehnt an Aronson, Wilson und Akert (2004) voneinander unterscheiden: 1. Die strukturierende Funktion. Das Selbst ist ein Schema im Sinne der Kognitionspsychologie, d. h. eine mentale Struktur, über die der Mensch verfügt, um sein Wissen über die Welt in Themenbereiche und Kategorien zu sortieren. Mit seiner Hilfe können wir die uns aus unserer äußeren und inneren Welt zugehenden Informationen mit Erinnerungen in Verbindung bringen und interpretieren. Alle diese Informationen sind letztlich um die Ansichten organisiert, die wir über uns selbst haben. So kann z. B. der Anblick eines Reiseprospekts mit einer Winterlandschaft eine Person an Wintersport erinnern und sie daran erinnern, wie sie einen steilen Abhang hinuntergefahren ist. 2. Die emotionale Funktion. Unter anderem führen bei einer Person Vergleiche zwischen ihrem aktuellen und ihrem idealen bzw. erwarteten Selbst zu Bewertungen und mit diesen zusammenhängenden emotionalen Reaktionen. Zum Beispiel kann die – berechtigte oder ungerechtfertigte – Meinung, den beruflichen Anforderungen
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nicht gewachsen zu sein, Gefühle der Minderwertigkeit auslösen. Es wurde mehrfach nachgewiesen, dass solche Diskrepanzen mit psychischer Verletzlichkeit/Gestörtheit und Belastung in Zusammenhang stehen (Higgins, 1987). 3. Die handlungssteuernde Funktion. Die Inhalte des Selbst beeinflussen die Art und Weise, wie wir uns verhalten, welche Entscheidungen wir treffen, wie wir die Ergebnisse unseres Handelns erklären und bewerten und welche Pläne wir für die Zukunft erwägen. Exkurs
Wie das Selbst unser Erleben und Handeln in Leistungssituationen beeinflusst Meyer (1984) hat die Wirkungen des Selbstkonzepts von der eigenen Begabung auf das Erleben und Handeln experimentell untersucht. Unter »Begabung« versteht er dabei nicht die allgemeine Leistungsfähigkeit (z. B. Intelligenz), sondern die Fähigkeit in konkreten Handlungsbereichen, in denen man meint, etwas zu können oder nicht zu können und in denen es Erfolge oder Misserfolge geben kann (z. B. einen Menschen zeichnen oder ein Gewicht heben). Wichtig ist, dass das Selbstkonzept von der eigenen Begabung kein getreues Abbild der tatsächlichen Begabungen und Fähigkeiten darstellt, denn die können von der Person unterschätzt oder überschätzt werden. In den Experimenten zeigte sich u. a.: 5 Aufgabenwahl und Ausdauer: Je höher eine Person ihre Fähigkeit einschätzt, umso schwerere Aufgaben wählt sie und umso ausdauernder ist sie bei der Lösung. 5 Anstrengung: Personen zeigen die größte Bereitschaft sich anzustrengen bei Aufgaben, deren Schwierigkeit ihrer eigenen Fähigkeitseinschätzung am ehesten entspricht; sie strengen sich dann auch tatsächlich am meisten an. 5 Handlungsirrelevante Gedanken (d. h. Gedanken, welche die Aufmerksamkeit vom zielgerichteten Ausführen der Handlung ablenken und damit die Leistung beeinträchtigen, z. B. Erwartungen über die negativen
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Kapitel 3 · Klientenzentrierte Persönlichkeitstheorie
Das Selbst – Was ist das eigentlich?
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Folgen eines Misserfolgs, wie andere wohl reagieren werden, über die eigenen emotionalen Reaktionen, die gegenwärtige Angst oder Aufgeregtheit): Sie sind bei Personen mit niedrigem Begabungskonzept wesentlich zahlreicher als bei Menschen mit hohem Begabungskonzept. 5 Einschätzung der eigenen Leistung: Trotz gleicher Ergebnisse schätzen Personen mit hohem Fähigkeitskonzept ihre Leistungen realistisch ein, solche mit niedrigem hingegen deutlich zu niedrig. 5 Erklärungen der eigenen Leistung: Menschen mit hohem Fähigkeitskonzept führen ihre Erfolge auf ihre eigene Person, insbesondere ihre Fähigkeit zurück, ihre Misserfolge erklären sie als zufällig. Menschen mit niedrigem Fähigkeitskonzept erklären ihre Erfolge mit Zufall, während sie ihre Misserfolge auf ihre Person, insbesondere ihre geringe Fähigkeit zurückführen. 5 Informationen über die eigene Leistung: Bei objektiv gleicher Leistung vermeiden Menschen mit niedrigem Begabungskonzept Informationen über ihre Leistungsergebnisse, anders als Personen mit hohem Fähigkeitskonzept. Meyer betont, dass diese Befunde zeigen, dass sich und wie sich die Selbsteinschätzungen der Fähigkeiten selbst stabilisieren. Vor allem für die unrealistisch niedrigen Selbsteinschätzungen gilt: Wenn Menschen vor allem leichte Aufgaben wählen, wenig Anstrengung und Ausdauer zeigen, mehr leistungshemmende handlungsirrelevante Gedanken haben, ihre Leistungen unrealistisch niedrig bewerten, ihre Erfolge auf Zufall und ihre Misserfolge auf ihre geringen Fähigkeiten zurückführen und Informationen über ihre tatsächlichen (guten!) Leistungen meiden, verhindern sie selbst, sich als leistungsfähig zu erfahren. Außerdem führt das (eigentlich ungerechtfertigte) Vermeiden schwieriger Aufgaben zu einem Verkümmern der vorhandenen Fähigkeiten, bis sie schließlich dem ungünstigen Konzept von den eigenen Fähigkeiten tatsächlich entsprechen.
Sowohl im Alltag als auch in der Literatur zur Psychotherapie wird der Begriff »Selbst« mit unterschiedlichen Bedeutungen verwendet. Wenn zum Beispiel von der Suche nach dem »wahren Selbst« die Rede ist, geht es um die eigentliche Wesensart eines Menschen als um etwas, das es im Prinzip gibt, das er jedoch (noch) nicht kennt. Allerdings ist eine solche Sicht des Selbst für eine Definition oder empirische Erforschung des Selbst nicht geeignet. Denn etwas, dem wir noch nicht begegnet sind, können wir auch nicht beschreiben und untersuchen. Sehr wohl kann aber die Suche nach dem wahren Selbst als ein wichtiger Aspekt des menschlichen Erlebens beschrieben und zum Gegenstand empirischer Forschung gemacht werden (Miller, 1994; Winnicott, 1960). In unserem Zusammenhang ist zu berücksichtigen, dass das Selbst ein theoretisches Konstrukt ist, d. h. ein Bestandteil eines theoretischen Systems. Anders als eine Blume oder die Aussagen einer Person über ihre Suche nach ihrem wahren Selbst existiert es nicht in der Realität sondern nur in unserer Vorstellung. Im wissenschaftlichen Diskurs sind theoretische Konstrukte durch ihre Definition bestimmt, die nicht als »wahr« oder »richtig« sondern nur im Hinblick auf ihre Zweckmäßigkeit beurteilt werden können. Diese Beurteilung richtet sich u. a. danach, ob die Definitionen 4 eindeutig sind, 4 die Verständigung im wissenschaftlichen Diskurs verbessern, 4 im theoretischen Zusammenhang sinnvoll sind, 4 mit den empirischen Beobachtungen übereinstimmen. Nach der Definition von Rogers (7 oben)7 setzt sich das Selbst aus Wahrnehmungen zusammen, d. h. aus Abbildungen und hat deshalb auch seinerseits die Qualität einer Abbildung. Das hat Konsequenzen, die sich aus dem Wesen von Abbildungen ergeben: Ein Abbild ist niemals der abgebildete Sachverhalt selbst. Das mag trivial erscheinen, wird aber 7
Natürlich sind auch andere Definitionen möglich. Die von Rogers bildet jedoch eine wesentliche Grundlage des Klientenzentrierten Konzepts und entspricht vor allem auch weitgehend dem in der psychologischen Grundlagenforschung Üblichen.
69 3.3 · Die Repräsentation der Welt in der Person
durch den alltäglichen Sprachgebrauch leicht verwischt. Wenn wir vor dem Bild eines Hauses stehen, dann sagen wir gewöhnlich: »Das ist ein Haus.« Wir fänden es umständlich und würden auch von anderen als merkwürdig angesehen werden, wenn wir stets sagen würden: »Das ist das Bild eines Hauses.« Dass das Bild kein Haus ist, würden wir spätestens dann merken, wenn wir auf die Idee kämen, in das Bild einzuziehen. Bei konkret-anschaulichen Dingen erübrigt sich in der Regel die sprachliche Unterscheidung zwischen Abbild und Gegenstand. Schwieriger wird es allerdings, sobald es um abstrakte Sachverhalte und theoretische Konstrukte wie das Selbst geht. Für dessen Verständnis ist es wichtig, sich stets zu vergegenwärtigen, dass es bei einer Person die Abbildung ihrer selbst für sich selbst ist und nicht die Person als solche. Das ist auch deswegen nicht einfach, weil für eine Person ihre Vorstellungen von sich selbst, also ihr Selbst in der Regel Realitätscharakter hat und für ihre Handlungsfähigkeit auch haben muss. Die Person reagiert auch auf ihr Selbst oder auf Teile davon mit realen Gefühlen. Dennoch: Als Abbildung ist das Selbst keine Person in der Person. Es hat keine eigenen Wahrnehmungen, keine Motive, Bedürfnisse oder Gefühle. Es ist lediglich, wie in der Definition von Rogers formuliert, eine begriffliche Gestalt.
Die Selbstaktualisierungstendenz Weil das Selbst das Wissen einer Person über sich selbst und die Beziehungen zwischen sich und der Welt repräsentiert und all das enthält, was sie auf die Fragen »wer bin ich«, »wie bin ich« und »was bedeuten für mich die Menschen und Dinge, die mich umgeben« antworten kann, ist es für die effiziente Anpassung des Individuums unbedingt notwendig. Das Selbst hat die Funktion eines lebenswichtigen Monitorsystems und muss deshalb mit all seinen Inhalten erhalten bleiben, weil sonst die Person bzw. der Organismus die Orientierung und damit ihre Handlungsfähigkeit verliert. Aber nicht nur das. Um auf die sich stets verändernden Bedingungen seiner inneren und äußeren Welt angemessen reagieren zu können, benötigt der Organismus zugleich ein Selbst, das neue Inhalte einbezieht und sich weiter entwickelt, sich also verändert.
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Mit seinen Aspekten des Erhaltens und des Entfaltens erstreckt sich daher das dem Organismus eigene Prinzip der Aktualisierungstendenz auch und in besonderer Weise auf die begriffliche Gestalt seines Selbst. Rogers hat das so formuliert: »Bezogen auf die Entwicklung der Selbststruktur äußert sich diese allgemeine, in Richtung auf Aktualisierung führende Tendenz auch in der Aktualisierung desjenigen Teils der Erfahrung des Organismus, die im Selbst symbolisiert ist« (Rogers, 1959b/1987, S. 196; Übersetzung v. Verf.). Diese auf das Selbst gerichtete allgemeine Aktualisierungstendenz des Organismus (7 Kap. 3.2) wird im Klientenzentrierten Konzept als Selbstaktualisierungstendenz bezeichnet. Das bedeutet, dass der Organismus die Tendenz hat, sein Selbst sowohl 4 zu erhalten, um die Kontinuität der Orientierung zu gewährleisten und 4 zu entfalten, damit es als Repräsentations- und Orientierungssystem mit den sich verändernden Bedingungen der äußeren und inneren Welt Schritt hält. Darüber hinaus leistet es damit auch einen wichtigen Beitrag für die Weiterentwicklung des gesamten Organismus und der Persönlichkeit. Obwohl die Bezeichnung »Selbstaktualisierungstendenz« es nahe legen könnte, hat das Selbst keine eigene Aktualisierungstendenz. Sie bezeichnet lediglich die speziell auf das Selbst bezogene allgemeine Aktualisierungstendenz des Organismus. Für die Terminologie des Klientenzentrierten Konzepts ist es dennoch wichtig, zwischen der auf den gesamten Organismus bezogenen Aktualisierungstendenz einerseits und der speziell auf das Selbst bezogenen Selbstaktualisierungstendenz strikt zu unterscheiden. Das ist deshalb nicht immer leicht, weil sich in Begriffssystemen anderer Konzepte, insbesondere solchen aus dem Bereich der Systemtheorie, der Terminus »Selbstaktualisierungstendenz« häufig auf das bezieht, was im Klientenzentrierten Konzept als »Aktualisierungstendenz« bezeichnet wird8. 8
Die unterschiedlichen Bedeutungen rühren daher, dass in der Systemtheorie das Wie betont wird, nämlich »von selbst«, »von sich aus«, während im Klientenzentrierten Konzept das Was im Vordergrund steht. Hier geht es um die Aktualisierung der begrifflichen Gestalt des Selbst.
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Kapitel 3 · Klientenzentrierte Persönlichkeitstheorie
3.3.4
Kongruenz/Inkongruenz zwischen Selbst und Erfahrung
In diesem Kapitel geht es in erster Linie um die Bedeutung des Selbst für die allgemeine Funktionsfähigkeit des menschlichen Organismus. Um es nochmals zu vergegenwärtigen: Das Selbst ist auch ein Produkt der sozialen Interaktion mit bedeutsamen Anderen. Sofern Äußerungen der sich entwickelnden Person bei diesen Bedingungsfreie positive Beachtung und empathisches Verstehen finden, werden die mit ihnen verbundenen Erfahrungen in das Selbstkonzept integriert und, wenn sie sich wiederholen, vollständig und genau symbolisiert. Bleiben sie hingegen unbeachtet oder werden sie entwertet oder in ihrer Bedeutung entstellt, werden die damit verbundenen Erfahrungen nicht in das Selbstkonzept integriert und später gar nicht bzw. nur lückenhaft oder verzerrt symbolisiert. Entsprechend ist dann die bewusste Erfahrung ein mehr oder weniger getreues Abbild der Erfahrungen des Organismus. Definition Als Kongruenz/Inkongruenz zwischen Selbst und Erfahrung wird im Klientenzentrierten Konzept das Ausmaß bezeichnet, in dem bei einer Person ihre Erfahrung mit deren Symbolisierungen im Selbst übereinstimmt, d. h., in das Selbst integriert wird.
Wenn ein erstes Selbstkonzept entstanden ist, sind es also zwei Instanzen, nach deren Maßgaben die Erfahrungen einer Person verarbeitet werden: nach denen des Organismus und nach denen des Selbst. Die Ergebnisse beider werden im Verhalten und Erleben wirksam. Es besteht Kongruenz, wenn die Erfahrungen des Organismus samt deren Bewertungen (der Aktualisierungstendenz folgend: »Ist diese Erfahrung für die Erhaltung und/oder Entfaltung der Person förderlich oder bedrohlich?«) vollständig und genau symbolisiert werden können. Die Erfahrungen können dann auch in die Selbsterfahrung integriert werden bzw. stellen keine Bedrohung für das Selbstkonzept dar. Die Person empfindet sich als mit sich selbst im Einklang und in einem weitgehend ausgeglichenen und sicheren Zustand.
Im Falle der Inkongruenz wird das Selbst mit seinen Inhalten durch die Erfahrung in Frage gestellt, also bedroht. Dann wirkt sich die Selbstaktualisierungstendenz so aus, dass 4 Nicht zum Selbstkonzept passende Erfahrungen abgewehrt werden und 4 Die entfaltenden Funktionen der Selbstaktualisierungstendenz beeinträchtigt werden. Es wird keine neue Erfahrung in das Selbstkonzept integriert. Je nach dem Grad der Inkongruenz besteht eine mehr oder weniger große Diskrepanz zwischen den am Organismus und den am Selbst orientierten Ergebnissen der Informationsverarbeitung, die das Verhalten und Erleben steuern. Es gibt im Prinzip drei bedrohliche Konsequenzen von Inkongruenz: 1. Die am Organismus orientierten Bewertungen setzen sich durch. Was die Person erlebt und die Art, wie sie sich verhält, widersprechen dann ihrem Selbst und entziehen sich ihrer Kontrolle, sie kann sich selber nicht verstehen und ist darüber entsprechend irritiert. 2. Die am Selbst orientierten Bewertungen setzen sich durch. Die Erfahrung wird abgewehrt und die Entwicklung der Person stagniert. 3. Die beiden Bewertungen halten sich in ihrer Wirksamkeit die Waage. Die Person ist desorientiert, verwirrt und entsprechend handlungsunfähig. In allen drei Fällen ist die Wahrscheinlichkeit von Stress erhöht, insbesondere in Situationen, die von der Person als unkontrollierbar erlebt werden. Die Bedeutung solcher Prozesse für die Entstehung psychischer Störungen und Krankheiten wird vor allem auch in der neueren Neurobiologie betont (Hüther, 2001). ! Mit zunehmender Inkongruenz erhöht sich die Anfälligkeit für psychische Erkrankungen.
Inkongruenz ist nicht gleich Inkongruenz Der Begriff der »Inkongruenz zwischen Selbst und Erfahrung« ist in seiner verkürzten Form als »Inkongruenz« in die Literatur eingegangen. Dabei hat sich seine ursprüngliche, auf die beiden Konstrukte
71 3.3 · Die Repräsentation der Welt in der Person
»Selbst« und »Erfahrung« bezogene Bedeutung verändert und auf alle möglichen theoretischen Konstrukte erweitert, zwischen denen Diskrepanzen bestehen können. Ein Beispiel dafür ist die Diskrepanz zwischen Selbst- und Idealbild (oder auch die zwischen Selbstbild und dem Bild des normalen Menschen), wie sie von Rogers selbst und seinen Mitarbeitern zur Operationalisierung von Therapieergebnissen benutzt worden ist (Rogers & Dymond, 19549). Diese Diskrepanz korreliert mit dem Ausmaß psychischer Verletzlichkeit/Gestörtheit und Belastung und wird im Verlauf von Psychotherapie in der Regel geringer. Das Ausmaß der Veränderung der Diskrepanz eignet sich daher als Wirksamkeitsmaß für die Psychotherapieforschung. Die Inkongruenz zwischen aktuellem und idealem Selbstbild ist aber, weil dabei die Ebene der Erfahrung nicht erfasst wird, keine Operationalisierung der Inkongruenz zwischen Selbst und Erfahrung. Inkongruenz zwischen aktuellem und idealem Selbst ist, folgt man dem Klientenzentrierten Konzept, nicht ursächlich für Störungen und Verletzbarkeit, sondern vielmehr deren Ergebnis: Inkongruenz zwischen Selbst und Erfahrung erhöht die Wahrscheinlichkeit psychischer Probleme. Sie zu erleben bedingt Unzufriedenheit mit sich selbst und führt damit zu Inkongruenz zwischen dem aktuellem und einem idealem Selbstbild. »Kongruenz/Inkongruenz« sind logisch gesehen »zweiseitig« d. h. relationale Begriffe, denn sie beziehen sich auf zwei Sachverhalte und der Relation zwischen ihnen: Sie bezeichnen diese als entweder miteinander übereinstimmend oder als nicht miteinander übereinstimmend. »Inkongruenz« ohne die Angabe, welche Sachverhalte zueinander in Relation gesetzt werden, ist sinnleer. Wann immer in der Literatur von Inkongruenz die Rede ist, ist zu prüfen, worauf sie sich bezieht.
Kongruenz/Inkongruenz im therapeutischen Prozess Gesprächspsychotherapie hat das Ziel, das Selbst des Patienten so zu verändern, dass Inkongruenzen reduziert werden, d. h. dass seine Erfahrungen voll9
Zur deutschen Übersetzung des Verfahrens vgl. Frohburg (1972).
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ständiger und genauer symbolisiert werden (7 Kap. 7). Wie in 7 Kap. 3.3 bereits dargestellt, haben die Vorstellungen einer Person von sich, also ihr Selbst, für sie in der Regel Realitätscharakter – und sie müssen das wegen der lebenswichtigen Orientierungsfunktion des Selbst auch haben. Das bedeutet: Wenn ein Therapeut mit seinen Interventionen in der Absicht korrigierend einzugreifen, das Selbst seines Patienten in Frage stellt, dann bedroht er es mit der Folge, dass das erhaltende Prinzip der Selbstaktualisierungstendenz wirksam und die Bedrohung abgewehrt wird. Die Interventionen werden also therapeutisch wirkungslos – sofern sie nicht sogar schaden. Konstruktive Veränderungen des Selbst treten dann ein, wenn der Patient erlebt, dass seine innere Welt vom Therapeuten verstehend nachvollzogen und zugleich akzeptiert wird, ohne dass er daran irgendwelche Bedingungen knüpft (7 Kap. 6). Gelingt dies, dann sind der Patient und sein Selbst frei von Bedrohungen. Der erhaltende Aspekt der Selbstaktualisierungstendenz kann nun zurücktreten, und der entfaltende Aspekt wirksam werden (7 Kap. 3.2). Dann kann der Patient, wenn der Therapeut in der therapeutischen Beziehung für ihn zu einem bedeutsamen Anderen geworden ist, gemeinsam mit ihm seine Erfahrungen erkunden und zunehmend vollständiger und genauer symbolisieren – ein Prozess, der sich oft auch außerhalb der Therapiestunden fortsetzt. Inkongruenzen werden vermindert und die Kompetenz des Patienten zur Problembewältigung nimmt zu. Das bedeutet nicht nur, dass sich die Symptome reduzieren oder sogar aufheben, sondern vor allem auch, dass die Vulnerabilität des Patienten geringer wird und so etwas wie eine Immunisierung erfolgt. Gesprächspsychotherapie heilt nicht nur Symptome, sondern wirkt darüber hinaus stabilisierend auf die Persönlichkeit des Patienten. Ein Beleg dafür ist, dass sich auch nach einer Gesprächspsychotherapie die Befindlichkeit der Patienten häufig noch weiter verbessert (Frohburg, 2004). ? Übungsfragen 5 Welche Funktion haben Systeme zur Repräsentation der Welt für Organismen? 5 Was unterscheidet den Begriff »Erfahrung« im klientenzentrierten Sinne von seiner allgemeinen Bedeutung?
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3
Kapitel 3 · Klientenzentrierte Persönlichkeitstheorie
5 Nennen Sie Beispiele für Erfahrungen, die dem Organismus zugänglich sind, ebenso für Prozesse, bei denen dies nicht der Fall ist. 5 Was ist der Unterschied zwischen der psychoanalytischen und der klientenzentrierten Auffassung vom »Unbewussten«? 5 Was versteht man im Klientenzentrierten Konzept unter der »organismischen Bewertung«? 5 Finden Sie Beispiele für unterschiedliche Grade der inhaltlichen Vollständigkeit von Symbolisierungen: – Exakte Symbolisierung – Unvollständige Symbolisierung – Verzerrte Symbolisierung – Ausgeschlossene Symbolisierung – Überlegen Sie jeweils, welche Reaktionen bedeutsamer anderer jeweils dazu geführt haben könnten. 5 Umreißen Sie kurz die Positionen des Bewusstseinsfundamentalismus und des Bewusstseinsnaturalismus. 5 Wo liegen die Äquivalenzen zwischen dem Bewusstseinsmodell nach Prinz und dem Klientenzentrierten Konzept? 5 Charakterisieren Sie den Unterschied zwischen den beiden Aspekten des Selbst, dem »Ich« (»I«) und dem »Mich« (»me«) und nennen Sie Beispiele. 5 Nennen Sie Beispiele für Ihr eigenes aktuelles Selbst, Ihr ideales Selbst und Ihr erwartetes Selbst. 5 Nennen Sie Beispiele für die strukturierende, die emotionale und die handlungssteuernde Funktion des Selbst. 5 Achten Sie auf die unterschiedlichen Bedeutungen, mit denen der Begriff »Selbst« im Alltag und in der Literatur verwendet wird; sammeln Sie Beispiele und bestimmen Sie die jeweilige damit verbundene Bedeutung. 5 Nennen Sie Beispiele für reale Gegebenheiten und theoretische Konstrukte. 5 Notieren Sie Beispiele für Inhalte des aktuellen Selbst (am besten für Ihre eigenes), jeweils für die Bereiche – Wahrnehmungen der eigenen Person, – Wahrnehmungen der Beziehungen zu anderen,
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– Wahrnehmungen der Beziehungen zu verschiedenen Aspekten des Lebens und – Bewertungen, die mit diesen Wahrnehmungen verbunden sind. 5 Tun Sie dasselbe für – das ideale Selbst, – das erwartete Selbst. 5 Welche Rolle spielt die Inkongruenz zwischen Selbst und Erfahrung für die Steuerung des Verhaltens und Erlebens? 5 Weshalb ist Inkongruenz zwischen Selbst und Erfahrung mit einem erhöhten Risiko psychischer Erkrankungen verbunden?
3.4
Weiterführende Literatur
Biermann-Ratjen, E.-M., Eckert, J. & Schwartz, H.J. (2003). Gesprächspsychotherapie. Verändern durch Verstehen (9., überarbeitete und erweiterte Auflage). Stuttgart: Kohlhammer. (Eine umfassende Darstellung der Theorie und Praxis Gesprächspsychotherapie, insbesondere auch zu ihrer Theorie der Persönlichkeit) Rogers, C.R. (1959). A theory of therapy, personality, and interpersonal relationships, as developed in the client-centered framework. In S. Koch (ed.), Psychology: a study of a science, Vol. 3 (pp. 184-256). New York: McGraw Hill. Deutsch: Eine Theorie der Psychotherapie, der Persönlichkeit und der zwischenmenschlichen Beziehungen. Entwickelt im Rahmen des klientenzentrierten Ansatzes. Köln: Gesellschaft für wiss. Gesprächspsychotherapie (1987). (Die systematische Zusammenfassung der Begriffe und der Theorie des Klientenzentrierten Konzepts von Rogers) Rogers, C.R. (1973). Entwicklung der Persönlichkeit. Stuttgart: Klett. (Original erschienen 1961: On becoming a person). (Eine Sammlung verschiedener Artikel von Rogers u. a. über die Person und ihre Entwicklung.)
4 4 Klientenzentrierte Entwicklungslehre E.-M. Biermann-Ratjen 4.1
Vergleich mit psychoanalytischen Konzepten – 73
4.6.6 4.6.7
4.2
Die Klientenzentrierte Entwicklungstheorie ist eine Theorie der Selbstentwicklung – 74
4.7
Die Bindungstheorie – 82
4.7.1
Die zentralen Postulate der Bindungstheorie – 82 Das Bindungsbedürfnis ist ein eigenständiges Bedürfnis – 83 Die Bindungsmuster – 83 Die drei den Bindungsmustern zugrunde liegenden Faktoren – 85 Die Stabilität der Inneren Arbeitsmodelle – 86
4.3
Definitionen des Selbst – 76
4.4
Die Bedingungen für die Integration von Selbsterfahrung in das Selbstkonzept – 76
4.7.2 4.7.3 4.7.4
Das narrative Selbst – 81 Zusammenfassung und Bezug zum Klientenzentrierten Konzept – 81
4.5
Die Bedeutung der Affekte für den empathischen Kontakt – 77
4.7.5
4.6
Die Entwicklung des »sense of self« nach Stern – 77
4.8
Die Selbsterhaltungstendenz – 86
4.6.1 4.6.2
Der Prozess der Selbsterfahrung – 77 Die auftauchende Selbstempfindung – 78 Die Konsolidierung der Empfindung eines Kernselbst – 79 Die Empfindung eines subjektiven Selbst – 80 Das verbale Selbst – 81
4.8.1
Das Bedürfnis nach positiver Selbstbeachtung – 86 Inkongruenz – 87
4.6.3 4.6.4 4.6.5
4.8.2
4.9
Phasen der Selbstkonzeptentwicklung – 88
4.9.1 4.9.2 4.9.3
Erste Phase – 88 Zweite Phase – 89 Dritte Phase – 90
4.10 Weiterführende Literatur – 91
4.1
Vergleich mit psychoanalytischen Konzepten
In diesem Kapitel wird das gesprächspsychotherapeutische Konzept der psychischen Entwicklung dargestellt. Dabei werden neuere Entwicklungen im psychoanalytischen Diskurs eine Rolle spielen, die durch die Rezeption der Systemtheorie und die Ergebnisse der empirischen Säuglingsforschung angestoßen worden sind. Diese neueren Entwicklungen sind zum einen mit dem Klientenzentrierten Konzept in hohem Masse kompatibel. Zum anderen er-
möglichen sie eine konkretere Darstellung des von Rogers wenig ausformulierten Konzepts der psychischen Entwicklung in der Kindheit. Das Klientenzentrierte Entwicklungskonzept ist ursprünglich eher in Abgrenzung von psychoanalytischen Theorien entwickelt worden. Gesprächspsychotherapeuten sind z. B. niemals wie klassische Psychoanalytiker von einer Triebtheorie ausgegangen bzw. davon, dass die Entwicklung der Realitätswahrnehmung und der Unterscheidung einer inneren Erfahrungswelt von der Wahrnehmung der Außenwelt vorrangig in Spannungs- und Unlusterfahrungen im
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Kapitel 4 · Klientenzentrierte Entwicklungslehre
Zusammenhang mit der Frustration von Triebbedürfnissen erfolge, wie es z. B. der Psychoanalytiker Fenichel beschrieben hat: »Bei der Geburt verlässt der Organismus eine relativ ruhige Umgebung und tritt in einen überwältigenden Reizzustand mit minimalem Reizschutz ein (…) Wahrscheinlich ist diese Erregungsüberflutung überaus unangenehm und ruft die erste Tendenz des Psychischen hervor, nämlich die Bestrebung, einen Spannungszustand abzubauen. Hilft die Außenwelt dem Säugling dabei, mit diesen Reizen fertig zu werden, schläft er ein. Neue Reize wie Hunger, Durst oder Kälte wecken ihn wieder auf. Erste Spuren des Bewusstseins unterscheiden noch nicht zwischen einem Ich und einem Nicht-Ich, sondern eher zwischen größerer und geringerer Spannung. In diesem Entwicklungsstadium ist eine Entspannung gleichbedeutend mit dem Verlust des Bewusstseins. Könnte jedes Bedürfnis sofort befriedigt werden, käme es wahrscheinlich nie zur Entwicklung einer Realitätswahrnehmung.« (Fenichel, 1983, S. 55) Gesprächstherapeuten gehen – wie heute auch viele Psychoanalytiker – im Gegenteil davon aus, dass die Fähigkeit und die Bereitschaft zur Realitätswahrnehmung – auch zur Unterscheidung der Selbstwahrnehmung von der Wahrnehmung der Außenwelt – vom Beginn des Lebens an gegeben ist. Neugeborene verarbeiten Reize aktiv und selektiv. Schon bei Säuglingen im Alter von Wochen kann man beobachten, dass sie visuelle Exploration zur Selbstberuhigung einsetzen: Wenn sie unruhig und nervös sind, wenden sie sich einem Objekt in ihrem Gesichtsfeld zu und werden im Verlauf seiner Betrachtung ruhiger (Demos & Kaplan, 1986). ! Gesprächspsychotherapeuten nehmen – in Analogie zu den Bedingungen für die Selbstentwicklung im psychotherapeutischen Prozess – an, dass auch die Entwicklung der Selbstwahrnehmung bzw. ihre Integration in ein Selbstkonzept in der frühen Kindheit an die günstige Umweltbedingung unbedingte positive Beachtung durch wichtige andere Personen gebunden ist: Sie gehen davon aus, dass
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Selbsterfahrungen nur unter der Bedingung in die Vorstellungsgestalt vom Selbst integriert werden können, dass sie von einer anderen kongruenten Person empathisch verstanden und bedingungsfrei positiv beachtet werden. Die Integration von Selbsterfahrungen in das Selbst ist daher immer von der Erfahrung begleitet, positiv beachtet zu werden.
Mit der zunehmenden Akzeptanz von systemtheoretischen Vorstellungen der Selbstregulierung und der gegenseitigen Regulierung in der Mutter-KindDyade von Geburt an sowie der Bindungstheorie und damit der Annahme einer Abhängigkeit der gesunden psychischen Entwicklung von positiven Interaktionserfahrungen setzen sich ähnliche Konzepte auch in der modernen Psychoanalyse mehr und mehr durch. Mit der Systemtheorie hat die moderne Psychoanalyse auch die Vorstellungen übernommen, dass sich lebende Organismen selbst regulieren und dass der Organismus in keinem Bereich Umwelteinflüsse passiv hinnimmt. Vorstellungen im Klientenzentrierten Konzept, wie die einer Aktualisierungstendenz (7 Kap. 3.2), von Erfahrung als Repräsentation der Welt im Organismus und ihrer Symbolisierung im Bewusstsein (7 Kap. 3.3) als spezifisch menschliche weitere Repräsentation sind damit modernen Psychoanalytikern nicht mehr fremd. Vor allem die Arbeit von Daniel Stern war und ist entscheidend daran beteiligt, ein neues Konzept von Psychoanalyse entstehen zu lassen, von dem sich Klientenzentrierte Psychotherapeuten kaum noch distanzieren und abgrenzen müssen.
4.2
Die Klientenzentrierte Entwicklungstheorie ist eine Theorie der Selbstentwicklung
Die Klientenzentrierte Entwicklungstheorie ist keine allgemeine Entwicklungstheorie. Genau genommen ist sie eine Theorie der Entwicklung des Selbstkonzepts. Allerdings hat aus der Sicht des Klientenzentrierten Konzepts die Entwicklung des Selbst – Rogers hat von Selbstkonzept gesprochen, wenn es speziell um die Sichtweise der Person von sich selbst
75 4.2 · Die Klientenzentrierte Entwicklungstheorie ist eine Theorie
geht, und von Selbststruktur, wenn das Selbst von einem äußeren Bezugsrahmen aus betrachtet wird – erhebliche Konsequenzen für alle anderen Bereiche der psychischen Entwicklung, wie speziell in der Psychopathologie (7 Kap. 5) deutlich wird. Die sehr abstrakte Vorstellung von der psychischen Entwicklung im Rahmen des Klientenzentrierten Konzepts ist die folgende: ! Allem menschlichen Verhalten, dem gesunden wie dem pathologischen, liegt von allem Anfang der Entwicklung an eine Aktualisierungstendenz zu Grunde. Sie bezeichnet die Tendenz des Organismus, alle seine Möglichkeiten und Fähigkeiten so zu entwickeln, dass sie ihn erhalten und weiterentwickeln, und alle seine Erfahrungen im Hinblick darauf zu bewerten, ob sie solche der Förderung oder der Behinderung sind.
Erfahrung, »die Repräsentation der Welt im Organismus im jeweils gegebenen Augenblick, wie sie durch seine Sinnesorgane vermittelt wird« (7 Kap. 3.3.1), kann bewusst werden. Es werden im Klientenzentrierten Konzept auch Erfahrungen angenommen, die in einem bestimmten Augenblick keine Bewusstseinsinhalte sind, es aber werden könnten. Ein wesentlicher Teil der Aktualisierung – die in der Systemtheorie Selbstaktualisierung oder Selbstorganisation genannt wird, um zu betonen, dass es sich um eine Entwicklung aus sich selbst heraus oder von selbst im Gegensatz zu von außen gesteuert handelt – besteht in der Entwicklung eines Selbstkonzepts. Im Klientenzentrierten Konzept wird die Entwicklung des Selbst auch Selbstaktualisierung genannt und in diesem Sinne auch von einer Selbstaktualisierungstendenz gesprochen. Die Selbstaktualisierungstendenz ist aber Teil der allgemeinen Aktualisierungstendenz des Organismus. Das Selbst hat keine eigene Aktualisierungstendenz (7 Kap. 3.3.3). Selbst, Selbstbild, Selbstrepräsentanz und Selbststruktur sind weitgehend Synonyme (7 oben). Das Selbstkonzept ist eine Vorstellung von den Charakteristiken des Selbst und seiner Beziehungen zur Umwelt. Sie ist nicht immer voll bewusst, kann aber in den Fokus der Aufmerksamkeit treten und man kann sich auf sie konzentrieren. Das Selbstkonzept hat die Eigenschaften einer Gestalt. Das bedeutet vor allem, dass, wenn es in Teilen in Frage gestellt
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wird, eine Bedrohung des gesamten Selbst erlebt wird. Da das Selbstkonzept auch Vorstellungen von den Beziehungen zur Umwelt und besonders zu anderen Menschen bei bestimmten Erfahrungen beinhaltet, bestimmt es auch in hohem Maße, wie der Umwelt begegnet wird. Die Vorstellung von sich selbst und den Beziehungen zur Umwelt, die das Selbst genannt wird, bildet sich aus der Integration von Selbsterfahrungen bzw. Wahrnehmungen von sich selbst in der Interaktionen mit wichtigen anderen Personen. So wie Erfahrung als die Repräsentation der Welt im Organismus im jeweils gegebenen Augenblick, wie sie durch seine Sinnesorgane vermittelt wird (7 Kap. 3.3.1), definiert werden kann, können wir sagen: Definition Selbsterfahrung ist die im jeweiligen Augenblick gegebene Repräsentation unserer Erfahrung mit uns selbst, die, wenn sich die Symbolisierungsfähigkeit entwickelt hat, auch potenziell bewusstseinsfähig ist.
Eine mögliche Selbsterfahrung ist z. B. die organismische Bewertung der Erfahrung auf der Grundlage der Aktualisierungstendenz, d. h. jede Form von Stress; die affektiven Reaktionen sind Selbsterfahrungen, die Reflexion bzw. das Bewusstwerden von Erfahrung ist Selbsterfahrung, jede Interaktionserfahrung beinhaltet auch eine Selbsterfahrung usw. Fallvignette
Selbsterfahrungen Wenn die Patientin aus 7 Kap. 1 von »Anfällen« von Luftnot und Herzrasen berichtet, in denen sie auch »gelähmt« sei, nicht hören und nicht sehen und auch nicht sprechen könne, spricht sie von Selbsterfahrungen. Die Ärztin beschreibt diese Patientin als »abwehrend agierend« bei der Mitteilung ihrer Selbsterfahrungen – die man medizinisch Symptome nennt – und zwar bei ihrer Selbstbeurteilung in diesen Selbsterfahrungen. Auch Selbstbeurteilungen sind Selbsterfahrungen.
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Kapitel 4 · Klientenzentrierte Entwicklungslehre
Die Ärztin nimmt an, dass es Selbsterfahrungen gibt, die die Patientin ihrem Bewusstsein vorenthalten möchte, die sich aber zugleich in ihrem Verhalten zeigen. Das meint sie, wenn sie das Verhalten der Patientin »abwehrend agierend« nennt. Indem die Ärztin die Selbstdarstellung der Patientin beurteilt bzw. diagnostisch einordnet, berichtet sie zugleich von eigenen Selbsterfahrungen: Sie hat die Patientin so und nicht anders und in ihrer Funktion als Ärztin erlebt und reflektiert das, indem sie das Verhalten der Patientin diagnostisch zuordnet.
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4.3
Definitionen des Selbst
Wie bereits in 7 Kap. 3.3 dargestellt worden ist, gibt es heute eine Fülle von psychologischer Literatur über das Selbst, und der Begriff wird sehr unterschiedlich gebraucht. Die akademische Psychologie z. B. beruft sich in ihren Konzeptualisierungen auf James (1890) – wie das schon Rogers getan hat –und auf Cooley (1902) und Mead (1934). Für dieses Konzept vom Selbst ist die Unterscheidung zwischen »I« und »me« bzw. zwischen »self as knower« and »self as known« charakteristisch. Danach kann das Selbst, das etwas wahrnimmt, ebenso Inhalt einer Selbsterfahrung sein wie die Erfahrung, z. B. eine Befindlichkeit, die das Selbst an sich selbst erfährt. Wenn die Patientin aus 7 Kap. 1 davon spricht, dass es Situationen gibt, in denen sie nicht hören kann, spricht sie sowohl vom Ich, das erlebt, dass sie nicht hört, als auch vom Mich, dass sie als taub erlebt. In der Entwicklungspsychologie wird nach Lewis (1991) zwischen einer »machinery of the self« und der »idea of me« unterschieden. Mit der »machinery of the self« sind die basalen biologischen und auf die Wahrnehmung bezogenen Prozesse gemeint, die vor allem in den ersten eineinhalb Lebensjahren bedeutsam seien und mit dem subjektiven Gewahrwerden der Welt einhergehen. Das objektive Selbstgewahrwerden nennt Lewis »the idea of me« und meint damit die Repräsentanzen des Selbst, die nicht vor der zweiten Hälfte des zweiten Lebensjahres auftauchten.
In den letzten Jahren habe sich ein Wandel in der akademischen Psychologie vollzogen (HelbingTietze, 2004): Nachdem es dort jahrzehntelang nur um Selbstkonzepte oder Selbstrepräsentanzen im Sinne inhaltlicher Vorstellungen gegangen sei, um das »me«, werde nun den alten Konzeptualisierungen von James (1980) und William Stern (1923) gemäß das »I« als unmittelbar erlebendes und agierendes Wesen wieder mitgedacht: das »I«, das Selbst als Agent, als ein absichtsvolles Ganzes, das fähig ist, sich z. B. zu den einzelnen Selbsterfahrungen in Opposition zu begeben und mit verschiedenen Repräsentanzen eine reziproke Beziehung einzugehen (Saperstein & Gaines, 1973, S. 422). Und Epstein (1973, 1983) spricht vom Selbstkonzept als von einer Theorie der Person über sich selbst und davon, dass Abwehrmechanismen dann eingesetzt werden, wenn die bevorzugte Sicht von sich selbst aufrecht erhalten und die Kohärenz des Selbst gewährleistet werden soll.
Die Bedingungen für die Integration von Selbsterfahrung in das Selbstkonzept
4.4
Das Klientenzentrierte Konzept ist z. B. schon immer von der Unterscheidung von »I« und »me« ausgegangen und davon, dass Abwehr der Bedrohung des Selbstbildes gilt (7 Kap. 5), unterscheidet sich aber vor allem in einem Punkt von den Konzeptualisierungen des Selbst in anderen psychologischen Theorien: Es geht davon aus, dass die Integration von Selbsterfahrung in das Selbstkonzept an bestimmte Bedingungen geknüpft ist. ! Die gesprächspsychotherapeutische, aus der Erfahrung und der empirischen Forschung abgeleitete Therapietheorie besagt, dass, wenn der Klient zumindest in Ansätzen wahr- und annehmen kann, dass sein Therapeut ihn in seiner Erfahrungswelt (7 Kap. 3.3.1) empathisch versteht, dabei kongruent bleibt und ihm gegenüber keine anderen Gefühle hegt als unbedingte Wertschätzung (= ihn bedingungsfrei positiv beachtet), ein psychotherapeutischer Prozess in Gang kommt. Dieser therapeutische Prozess
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77 4.6 · Die Entwicklung des »sense of self« nach Stern
beinhaltet, dass Erfahrungen, die bisher eine Bedrohung für das Selbstkonzept darstellten, im Schutz der therapeutischen Beziehung gemacht und in das Selbstkonzept integriert werden können. Dadurch entwickelt sich das Selbstkonzept weiter.
Wir ziehen daraus den Schluss, dass die Bedingungen für den psychotherapeutischen Prozess auch die Bedingungen für die Selbstkonzeptentwicklung sind. Wir gehen in Analogie dazu davon aus, dass schon vom Beginn der Selbstkonzeptentwicklung an – d. h. von Geburt an – Selbsterfahrungen dann in das Selbstbild integriert werden, wenn die Person in ihnen von einer wichtigen anderen Person, die in diesem Moment kongruent ist, empathisch verstanden und unbedingt wertgeschätzt wird. Anders formuliert: Gesprächspsychotherapeuten gehen davon aus, dass die Selbstkonzeptentwicklung ein sich selbst organisierender Prozess ist, der an interaktionelle Bedingungen geknüpft ist. In diesen spielen empathisches Verstehen und unbedingte Wertschätzung und die Fähigkeit einer wichtigen anderen Person, sich ihre eigenen Erfahrungen und die des Kindes bewusst zu machen und dabei klar voneinander zu unterscheiden, eine eben so zentrale Rolle wie die Fähigkeit des Kindes, wahrzunehmen, dass die wichtige andere Person die Erfahrungen des Kindes empathisch versteht und unbedingt wertschätzt. Man sagt dazu heute: Die interaktionellen Prozesse, aus denen ein Selbstkonzept hervorgeht, wären ohne eine »integrative Kompetenz« des Kindes und eine »intuitive Mütterlichkeit« seiner wichtigen Anderen – das sind die Pflege- oder Bindungspersonen – nicht möglich. Wir werden darauf zurückkommen.
Die in das Selbst in der Definition des Klientenzentrierten Konzepts integrierten Erfahrungen sind 5 potenziell bewusstseinsfähige Selbst- und Beziehungserfahrungen, 5 in denen die Person empathisch verstanden und 5 unbedingt wertgeschätzt worden ist
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5 von einer kongruenten anderen Person, und d. h. 5 zusammen mit der Erfahrung gemacht worden sind, empathisch positiv beachtet zu werden.
Selbst- und Beziehungserfahrungen, die nicht zusammen mit der Erfahrung gemacht werden, empathisch unbedingt positiv beachtet zu werden, können nicht in das Selbstkonzept integriert werden.
4.5
Die Bedeutung der Affekte für den empathischen Kontakt
Empathie und vor allem auch die Wahrnehmung von empathischem Verstehen sind unter anderem deshalb von Beginn des Lebens an möglich, weil die Menschen affektiv aufeinander eingestellt sind. Der Mensch hat von Geburt an Affekte, bringt sie zum Ausdruck und reagiert auf den Affektausdruck von anderen. Das Baby kann sogar Interaktionen, in denen Affekte ausgetauscht werden und es empathisch verstanden werden kann, selbst initiieren und tut das auch. »Angeborene Affekte sind Disstress (als überfordete Reaktion auf Stress), Wut, Freude, Überraschung, Ekel und Interesse. Diese unterscheidbaren Affekte gehen mit mimischen Muskelbewegungen und Reaktionsmustern des autonomen Nervensystems einher (Izard, 1981). Ab der 4. bis 7. Woche tritt Freude, ab dem 3. bis 7. Monat Ärger und Traurigkeit, ab dem 4. bis 6. Monat Furcht und ab dem 2. Lebensjahr Schuld hinzu (Krause, 1983, 1990)« (Milch, 1998, S. 12).
4.6
Die Entwicklung des »sense of self« nach Stern
4.6.1
Der Prozess der Selbsterfahrung
Die empirische Herausarbeitung der o. g. Erkenntnis über die Rolle, die Affekte in der Interaktion zwischen Menschen und damit in der psychischen
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4
Kapitel 4 · Klientenzentrierte Entwicklungslehre
Entwicklung spielen, verdanken wir zu großen Teilen der modernen Säuglingsforschung. In dieser nehmen die Arbeiten von Daniel Stern (1985/2003) einen herausragenden Platz ein. Sterns beschreibt die Entwicklung des Selbsterlebens von Geburt an. Für ihn ist der »sense of self« das primäre Organisationsprinzip der Entwicklung. Er – der »sense of self«, das ist das Empfinden eines Selbst – werde als sehr real erlebt und durchdringe alle anderen Erfahrungen. Er sei zwar nicht immer bewusst, wir könnten uns ihn aber ins Bewusstsein holen und dort auch halten. Das Empfinden des Selbst bzw. der Prozess der Selbsterfahrung tauche in vielerlei Formen auf: 4 Wir erleben uns als einen einzelnen, abgegrenzten, integrierten Körper. 4 Wenn wir etwas tun, erleben wir uns selbst als handelnd. 4 Wenn wir etwas fühlen, Wünsche haben, Pläne schmieden, das in Worte fassen und anderen mitteilen, erleben wir das als ein uns selbst erfahren. 4 Wir erleben unsere Selbsterfahrungen auch so, als gehörten sie zusammen. 4 Und wir erleben unser Selbst nicht nur als den Ausgangspunkt unserer Erfahrung, sondern auch als Bezugspunkt. Wir erleben uns selbst in der Beziehung zu anderen, aber auch in der Beziehung zu unserem Erleben und zu uns selbst. Stern bezeichnet das Selbst als eine Organisation, einen Prozess, in dem Erleben organisiert wird. Und er hält, wie gesagt, die Entwicklung dieser Organisation des subjektiven Selbsterlebens für das primäre Organisationsprinzip der psychischen Entwicklung. Der »sense of self«, als Prozess der Selbsterfahrung, existiere schon, bevor die Fähigkeit, ihn zu reflektieren und sich seiner Inhalte bewusst zu werden, entwickelt bzw. gereift sei und vor der Entstehung von Sprache. Nach der Entwicklung der Fähigkeit zur Reflexion sei er zwar auch nicht immer bewusst, könne aber bewusst werden. Der Prozess der Selbsterfahrung habe verschiedene Formen. Diese tauchten in der Entwicklung zwar nacheinander auf, bestünden aber, wenn sie erst einmal entwickelt seien, immer gleichzeitig nebeneinander. Zu jeder dieser voneinander unter-
scheidbaren Formen der Selbsterfahrung gehöre eine eigene Form der Bezogenheit auf andere Menschen.
4.6.2
Die auftauchende Selbstempfindung
Vom Beginn der Entwicklung an existiert die auftauchende Selbstempfindung. Die systematische Säuglingsbeobachtung hat gezeigt, dass der Säugling von Beginn seines Lebens an z. B. Vitalitäts- und kategoriale Affekte erlebt und ausdrückt und physiologische Spannungen auf der Lust- Unlustskala voneinander unterscheidet. Diese Wahrnehmungen der Innenwelt bzw. diese Selbsterfahrungen werden genau so wie die Reize und Wahrnehmungsinhalte aus der Außenwelt als sich in der Intensität, der Form und im Zeitmuster voneinander unterscheidend erlebt. Der Säugling reagiert auch auf das menschliche Gesicht und imitiert dessen Mimik, was wiederum propriozeptive Wahrnehmungen beinhaltet, also Selbstwahrnehmungen. Auch Stern geht auf der Grundlage der Ergebnisse der systematischen Säuglingsbeobachtung davon aus, dass das Kind niemals in einer Symbiose lebt, sondern von Anfang an ein Selbstempfinden hat und dieses von seinem Empfinden der Außenwelt unterscheiden kann. Es konnte gezeigt werden, dass Säuglinge die Invarianten innerer eigener Erfahrungen und die Invarianten des Erlebens äußerer Gegebenheiten identifizieren und voneinander unterscheiden können. Dabei spielt eine Rolle, dass Säuglinge z. B. die Fähigkeit zur transmodalen Wahrnehmung besitzen. Sie können die in einer Sinnesmodalität aufgenommenen Reizmuster in eine andere Sinnesmodalität übersetzen, z. B. Schnuller, die sich unterschiedlich anfühlen und an denen sie bisher nur gesaugt haben, voneinander unterscheiden, wenn sie diese sehen. ! Das auftauchende Selbst ist nach Stern der Prozess und das Resultat der Integration von Selbstwahrnehmungen. Die Selbsterfahrungen werden vom Beginn des Lebens an in ein Selbstkonzept integriert.
79 4.6 · Die Entwicklung des »sense of self« nach Stern
4.6.3
Die Konsolidierung der Empfindung eines Kernselbst
Diese Integration von Selbsterfahrungen in ein Selbstkonzept bedeutet zunächst, dass sich schon in den ersten beiden Lebensmonaten aus dem Meer von Erfahrungen mit der Welt und von bzw. mit sich selbst die Erfahrung eines handelnden und fühlenden kohärenten körperlichen Selbst organisiert, und zwar in der Interaktion mit der Mutter. Mutter bedeutet hier eine wichtige immer wieder anwesende und mit dem Kind in einen affektiven Austausch tretende Pflegeperson. Wir werden später darauf eingehen, dass sich das Kind im Verlauf des ersten Lebensjahres an einige wenige solche Pflegepersonen oder wichtige Andere bindet und dass aus den Interaktionen mit diesen ein wesentlicher Teil seines Selbstverständnisses resultiert. Zwischen dem 2. und dem 6. Lebensmonat konsolidiere sich – so Stern – diese Empfindung eines Kern-Selbst: das Empfinden, eine zusammenhängende, abgegrenzte, körperliche Einheit zu sein, mit einem Gefühl, selbst zu handeln und selbst zu fühlen und von Kontinuität in der Zeit und damit einer eigenen Geschichte. Die Konsolidierung des Kernselbst geschehe in Interaktionen, die dem Kind Gelegenheit gäben, die invarianten eigenen und die invarianten Züge seines Gegenübers bezüglich des Erlebens der Körper, der Gefühle, der Intentionen und der Kontinuität in der Zeit zu identifizieren. Das ursprüngliche Kernselbst sei aber noch keine gedankliche Gestalt. Die Körperempfindungen, Gefühle und Intentionen z. B. werden noch nicht reflektiert, das Erleben ist präsymbolisch. Die Integration von Selbsterfahrung in ein Selbstkonzept geschehe zunächst so, dass Erfahrungen in der Form von sog. RIG gespeichert werden: Repräsentanzen von Interaktionserfahrungen, die generalisiert sind. Das heißt zum einen, dass nicht einzelne Wahrnehmungen repräsentiert und im Gedächtnis gespeichert werden, sondern ganze Interaktionsabläufe, zu denen Handlungen des Interaktionspartners, eigene Handlungen und der Ablauf der dazu gehörenden affektiven Selbstbefindlichkeit gehören. »…was anfänglich verinnerlicht wird, ist nicht ein Objekt per se, sondern eine Objektbezie6
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hung. Handlungen des Selbst, die sich auf Handlungen der Objekte beziehen … Was verinnerlicht wird, schließt deshalb wechselseitig regulierte Abfolgen von mütterlichen und kindlichen Handlungen ein, die eine bestimmte zeitliche Strukturierung aufweisen.« (Beebe & Stern, 1977, S. 52; Beebe & Lachmann, 1988, zitiert nach Dornes, 1993, S. 65) Und das heißt zum anderen, dass nicht konkrete einzelne Interaktionserfahrungen, sondern sog. Durchschnittserfahrungen gespeichert werden, die es in Wahrheit so nie gegeben hat. Wenn später eine Erfahrung gemacht wird, die nur einen Teil einer RIG enthält, wird nicht etwa nur die Erinnerung an diesen einen Teil der Interaktion – in der das Subjekt, das Objekt und ein Affekt eine Rolle spielen – wachgerufen und dann auch gespeichert, und auch nicht eine Erfahrung, sondern die gesamte Durchschnittserfahrung. Eine in der Erinnerung aktivierte RIG bedeutet also immer auch das Auftauchen von Annahmen darüber, wie sich die konkrete im Hier und Jetzt ereignende Interaktion und Selbstbefindlichkeit weiterentwickeln wird. Zur Entwicklung des Konzepts der Repräsentanzen der Interaktionen zwischen Subjekt und Objekt, die generalisiert sind, im Selbst führt Kernberg aus: »1959 (besuchte) ich während meines einjährigen Aufenthaltes in Baltimore am Psychiatrischen Institut der University of Maryland eine Vorlesung von Talcott Parsons, der unter anderem folgendes feststellte: ›Was wir im Rahmen von Identifizierungen verinnerlichen, ist nicht die Identifikation mit einem Objekt, sondern mit einer Beziehung zwischen Objekt und Selbst‹. Dieser Satz war für mich der Schlüssel zum Verständnis des Aufbaus der inneren Welt der Objektbeziehungen und ihrer allmählichen Kristallisierung in drei intrapsychische Strukturen. Die Beiträge von Joseph Sander, der selbst wiederum von Edith Jacobson inspiriert war, zum Konzept der »Repräsentanzenwelt«, Fairbairns und Jacobsons Theorien, sowie Mahlers Anwendung der Theorien von Edith Jacobson auf das Konzept der Separation und Individuation konnten allesamt mit Hilfe von 6
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Kapitel 4 · Klientenzentrierte Entwicklungslehre
Talcott Parsons Konzept integriert werden. Dieser Konzeptualisierung von dyadischen Internalisierungen von Selbst- und Objektrepräsentanzen fügte John Sutherland seine Überlegung hinzu, dass Beziehungen internalisiert werden unter der Einwirkung bzw. im Rahmen eines mächtigen Affekts. All dies bildete die Grundlage für meine Schlussfolgerung, dass Selbstrepräsentanzen, Objektrepräsentanzen sowie ein Affekt, der diese verbindet, die grundlegenden dyadischen Einheiten darstellen, die das Gebäude unseres psychischen Apparates ausmachen.« (Kernberg, 2005, S. 260) Zum Beispiel sind die Arbeitsmodelle (»working models«) im Sinne Bowlby’s, die unterschiedlichem Bindungsverhalten zugrunde liegen, solche Muster von RIG, d. h. Vorstellungen vom Verhalten und Fühlen und Wollen der Mutter und den eigenen Reaktionen und Affekten in der Interaktion mit ihr. Auch darauf werden wir zurückkommen. Erst im weiteren Verlauf der Entwicklung gestaltet sich das Gedächtnis so, dass auch die einmalige Interaktionserfahrung von gestern Abend abgehoben von der generalisierten Erfahrung, von der Mutter ins Bett gebracht zu werden, in die Erinnerung gerufen werden kann. Die subjektive Realität bleibt aber auch dann fast durchgängig ein Gefühl vom »Selbst mit anderen«.
4.6.4
Die Empfindung eines subjektiven Selbst
Zwischen dem 7. und dem 15. Monat bildet sich die Empfindung eines subjektiven Selbst heraus. Das Kind erfasst nun, dass es ein eigenes inneres subjektives Erleben hat, dass andere so etwas ebenfalls haben, dass hinter äußeren Handlungen innere Beweggründe stehen. Seelenzustände können nun gelesen und miteinander verglichen werden. Der Fokus der Aufmerksamkeit kann mit einer anderen Person geteilt werden. Intersubjektivität als Erweiterung von Interaktion wird möglich. Wenn eine Mutter sich in ihr Kind einfühlt, weiß das Kind jetzt, dass die Mutter weiß, dass es fühlt. Kinder zeigen sich ausgesprochen interessiert an Intersubjektivität in diesem
Sinne. Wenn sie in diesem Interesse abgewiesen werden, hat das schwerwiegende Folgen. Es geht nämlich in dieser Entwicklungsphase darum, herauszufinden, welcher Teil des inneren Erlebens einer anderen Person mitgeteilt werden kann und welcher nicht, wie viel menschliche Teilhabe auf der einen Seite und wie viel psychische Isolierung und Einsamkeit auf der anderen Seite erlebt werden. Gefühlszustände, die nie einem anderen mitgeteilt werden konnten, bei denen nie Teilnahme erlebt worden ist, werden als unteilbar erlebt. Die Mitteilung des subjektiven Selbst und die Entdeckung des subjektiven Selbst der anderen, das sog. Neunter-Monats-Wunder, beginnt damit, dass die Kinder der Blicklinie der Mutter folgen. Sie drehen den Kopf dahin, wohin ihn die Mutter dreht, und sie schauen nicht mehr auf den deutenden Finger der Mutter, sondern dahin, wohin er zeigt (»joint attention«). Dann schauen sie zur Mutter zurück, um sich zu vergewissern (»social referencing«), dass sie auch das gesehen haben, was die Mutter meinte (»checking back«). Die Kinder bemühen sich jetzt auch ihrerseits darum, die Aufmerksamkeit der Mutter auf das zu lenken, was sie interessiert, was sie z. B. haben wollen. Und die Kinder schauen zur Mutter, wenn sie wissen wollen, ob ihr Affekt angemessen ist. Sie halten z. B. in einer gefährlichen Situation inne, wenn die Mutter Angst signalisiert. Die meisten vorsprachlichen Austauschformen, in denen es um Aufmerksamkeit und um Absichten geht, sind affektiv getönt. Und die Kinder genießen es, wenn die Kommunikation über subjektive Zustände gelingt. In der Zeit der Entdeckung des subjektiven Selbst ändern die Mütter ihren Umgang mit den Kindern. Sie zeigen z. B. »affect-attunement«, indem sie nicht mehr den Gefühlsausdruck des Kindes, wenn sie sich mit ihm verständigen wollen, wie in der frühen Säuglingszeit imitieren, sondern sie spiegeln dem Kind seinen Affekt in einer anderen Modalität, meistens ohne dass ihnen das bewusst ist. Sie klatschen z. B. in die Hände, wenn sich das Kind über etwas freut. »Affect-attunement« ist nicht dasselbe wie die Empathie des Erwachsenen, denn es fehlen beim Kind noch – und meistens auch bei der Mutter – die bei der Empathie auch mitspielenden kognitiven Prozesse. Die emotionale Resonanz wird beim
81 4.6 · Die Entwicklung des »sense of self« nach Stern
»affect-attunement« meistens automatisch im Sinne von unreflektiert in eine Ausdrucksform gegossen. Kinder nehmen die emotionale Resonanz auch wie etwas Selbstverständliches wahr. Erst wenn sie ausbleibt, wundern sie sich. Beim »affect-attunement« spielen besonders die amodalen Wahrnehmungsqualitäten von Affektgestalten eine große Rolle: Intensität, Zeit und Form, die absolute Intensität und die Intensitätskontur, Takt, Rhythmus und Dauer, wobei die Intensität die größte Rolle spielt. Es gibt Überlegungen dergestalt, dass, wenn die Mütter dem Kind sein Erleben in einer anderen Modalität spiegeln, als die, in der das Kind sich ausdrückt, sie deutlicher markieren, dass sie das Erleben des Kindes spiegeln und nicht ein eigenes zum Ausdruck bringen. Das Kind könne dann z. B. leichter erkennen, dass die Mutter wahrgenommen hat, dass etwas das Kind ängstigt und dass nicht etwa die Mutter geängstigt ist. Gergely (1995; Gergely & Watson, 1996) geht zusätzlich davon aus, dass durch dieses deutliche sehen können, dass es verstanden wird, der Angstaffekt des Kindes abnimmt. Die beiden Erfahrungen zusammen, dass das Kind es schafft, dass die Mutter versteht und dass die Angst abnimmt, werden das »Effektanzgefühl« genannt.
4.6.5
4
führt wird. Manche Erfahrensweisen, insbesondere solche des Kernselbst, bleiben unverbalisiert. Das heißt aber nicht, dass sie verschwinden. Sie existieren sehr real weiter. Nur die Ganzheit des Erlebens geht verloren. (Wenn die Erfahrungen des auftauchenden und des Kernselbst nicht mehr gemacht werden, wenn die Erfahrung ein von der Außenwelt deutlich unterscheidbares, handelndes und fühlendes kohärentes körperliches Selbst zu sein, das sich selbst in Affekten und Interaktionen mit anderen erlebt, fehlt, dann liegt Selbstpathologie vor; 7 Kap. 5.) Nach Stern geht es dem Kind in der Zeit der Entwicklung des verbalen Selbst mehr denn je darum, in seiner inneren Erfahrung und der Bedeutung, die sie für das Kind hat, verstanden zu werden, sie teilen zu können. Das Kind könne jetzt auch zwischen dem, was gesagt wird, und dem, was gemeint ist, unterscheiden. Es könne zu Double-Bind-Kommunikationen kommen. Die Mutter kann sich jetzt innerlich abwenden aber nach außen freundlich sein. Das beunruhigt das Kind zutiefst. Das Kind könne jetzt aber auch seine eigene Erlebensrealität transzendieren und verzerren. Es kann Erfahrung abwehren, z. B. sein Gefühl der Trauer hinter seiner Unzufriedenheit nicht bemerken.
Das verbale Selbst 4.6.6
Etwa ab dem 15. Monat entsteht als vierte Organisationsstufe des Selbsterlebens das Empfinden des verbalen Selbst und der verbalen Bezogenheit. Das Selbst kann jetzt ins Bewusstsein treten. Das Kind erkennt sich jetzt im Spiegel. Es kann innere Zustände sprachlich symbolisieren. Jetzt können innere Erlebniszustände nicht mehr nur wie im Bereich der intersubjektiven Bezogenheit geteilt werden, jetzt können auch die, wie es heißt, wechselseitig geschaffenen Bedeutungen von persönlichem Erleben geteilt werden, die Symbolisierungen. Mutter und Kind können sich jetzt nicht nur darüber verständigen, dass das Kind wütend ist, sie können sich auch darüber verständigen, wie sie das bewerten bzw. welche Bedeutung es hat und wie dieser Seelenzustand demzufolge genannt wird: ärgerlich oder sauer oder böse beispielsweise. Es ist davon auszugehen, dass nur ein Teil des ursprünglichen globalen Erlebens in Worte über-
Das narrative Selbst
Durch die Sprache wird die Fähigkeit erworben, Geschichten zu erzählen: Geschichten, die einen Anfang und ein Ende haben, von Personen, die etwas denken, fühlen, wollen und tun, und auch die eigene Lebensgeschichte. Das erzählte (»narrated«) Selbst entsteht. An die Stelle einer Aufzählung von Ereignissen kann eine zusammenhängende Geschichte treten. Offenbar gibt es erst von diesem Zeitpunkt an ein kontinuierliches Gedächtnis an einzelne Episoden im Erleben.
4.6.7
Zusammenfassung und Bezug zum Klientenzentrierten Konzept
Eine solche konkrete und differenzierte Beschreibung der Selbsterfahrung, ihrer Entwicklung und ihrer Integration in ein Selbstkonzept von der Ge-
82
Kapitel 4 · Klientenzentrierte Entwicklungslehre
burt an wie diese von Daniel Stern gibt es im Klientenzentrierten Konzept nicht, bzw. das Referat der Darstellung der Entwicklung der Organisation der Selbsterfahrung durch Stern soll veranschaulichen, welche Erfahrungen das sind, die in ein Selbstkonzept integriert werden.
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! Stern betont, dass die Konsolidierung des Kernselbst in Interaktionen geschieht, in denen das Kind Gelegenheit hat, seinen Körper, seine Gefühle und seine Intentionen als abgegrenzt vom Körper, den Gefühlen und den Intentionen einer anderen Person zu erfahren und sich selbst als mit sich selbst identisch bzw. als kontinuierlich, d. h. als ein und dieselbe Person über die Zeit.
Aus der Klientenzentrierten Perspektive ist hinzuzufügen, dass die präsymbolische Selbsterfahrung nicht nur in RIG gespeichert in ein Selbstkonzept integriert wird, sondern auch zusammen mit der Erfahrung, dass das Kind und sein Affekt – als Ausdruck der Bewertung der Erfahrung – in der Interaktion empathisch verstanden und bedingungsfrei positiv beachtet werden und die Kontaktperson sich auch des eigenen Affektes in der Situation bewusst werden könnte, d. h. kongruent ist. Stern macht ferner sehr deutlich, dass bei der Konsolidierung der Empfindung des subjektiven Selbst nicht nur die Fähigkeit, die eigenen Seelenzustände wahrzunehmen, sondern auch die, die Seelenzustände anderer zu lesen und mit den eigenen zu vergleichen, von großer Bedeutung ist; dass es darum geht, welcher Teil der inneren Erfahrung mit anderen geteilt werden kann und welcher nicht, und welcher wie beurteilt wird. In diesen Zusammenhängen entstehe das Effektanzgefühl, das Selbstbewusstsein bezüglich der eigenen Fähigkeiten, sich selbst verständlich machen und damit von Angst befreien zu können. Auch in diesem Zusammenhang ist die Klientenzentrierte Annahme zu betonen: Nicht nur in den eigenen Seelenzuständen, sondern auch in der Erfahrung, sich selbst und andere in Seelenzuständen und in ihrer Beurteilung wahrzunehmen, muss das Kind empathisch verstanden und unbedingt wertgeschätzt werden von einer kongruenten Person, sonst kann es diese nicht in sein Selbstkonzept integrieren.
4.7
Die Bindungstheorie
In welchem Ausmaß und in welcher Weise das Selbstkonzept und seine Stabilität ein Abbild der Interaktionserfahrungen sind, die eine Person als Kind gemacht hat, wird in der Bindungstheorie deutlich. Sie veranschaulicht ferner, was unter Empathie und unbedingter Wertschätzung in den ersten Lebensmonaten zu verstehen ist bzw. unter »intuitiver Mütterlichkeit« und auf welche Erfahrungen des Kindes sich die unbedingte positive Beachtung vor allem richtet. Die Bindungstheorie (Bowlby, 1969/1975, 1973/1976, 1980/1983; 7 Kap. 4.11) soll daher an dieser Stelle – und vor allem unter diesen Gesichtspunkten – referiert werden. Die folgende Darstellung der Bindungstheorie stellt also einen weiteren Versuch dar, die abstrakten Vorstellungen im Klientenzentrierten Konzept von den Erfahrungen, ihren Inhalten und ihren Bewertungen und von den Bedingungen, unter denen sie in ein Selbstkonzept integriert werden, zu veranschaulichen.
4.7.1
Die zentralen Postulate der Bindungstheorie
Die Bindungstheorie ist ursprünglich von dem britischen Kinderpsychiater und Psychoanalytiker John Bowlby auf der Suche nach einer Erklärung für die Entwicklungsschäden der vielen Kinder nach dem 2. Weltkrieg entwickelt worden, die von ihren Eltern getrennt worden waren oder sie ganz verloren hatten. Bei der Suche nach einer solchen Erklärung stieß Bowlby auf eine nicht nur bei Kindern, sondern in jedem Lebensalter zu beobachtende Neigung des Menschen, andauernde Bindungen an andere Personen aufzubauen und diese als nicht ersetzbar zu erleben. Bowlby hat vor allem die emotionale Seite der Bindung betont und dabei zunächst die Reaktionen auf Trennungen: Angst, Ärger und Protest und später Verzweiflung und Traurigkeit, die in einen emotionalen Rückzug münden.
83 4.7 · Die Bindungstheorie
Drei zentrale Grundannahmen der Bindungstheorie nach Bowlby 1. Ein Mensch, der in seiner Entwicklung die Erfahrung gemacht hat, dass seine Bindungsperson da ist, wenn er sie braucht, neigt zu weniger intensiver und chronischer Angst als ein Mensch, der diese Erfahrung nicht gemacht hat (vgl. das Effektanzgefühl). 2. Das Vertrauen in die Zuverlässigkeit und Verfügbarkeit der Bindungsperson – bzw. ein Urmisstrauen – entwickelt sich im Säuglings-, Kindes- und Jugendalter und bleibt das ganze Leben lang bestehen. 3. Diese Erwartungen an andere Menschen in Situationen, in denen man sie braucht, die sog. »Inneren Arbeitsmodelle«, sind ein ziemlich genaues Abbild der Erfahrungen, die das Kind tatsächlich in bindungsrelevanten Situationen gemacht hat.
4.7.2
Das Bindungsbedürfnis ist ein eigenständiges Bedürfnis
In der Bindungstheorie wird davon ausgegangen, dass es ein biologisch angelegtes »Bindungssystem« gibt und dass es ein eigenständiges Bindungsbedürfnis gibt. Bindung sei nicht das Resultat z. B. der Befriedigung der Bedürfnisse nach Nahrungsaufnahme oder Entspannung durch bestimmte Personen. Das Bindungsbedürfnis gilt als eigenständig wie der »sense of self« nach Stern oder die Selbstaktualisierungstendenz bzw. das Bedürfnis nach unbedingter positiver Beachtung im Klientenzentrierten Konzept. Das Bindungssystem ist ein Verhaltenssystem, das ist eine komplexe Konstellation aus Verhaltensbereitschaften und Gefühlen. Es wird aktiviert, wenn eine äußere oder innere Gefahr droht, der nicht aus eigener Kraft begegnet werden kann, d. h. auch, dass das Kind eine Bindungsperson braucht. Dann zeigt sich das sog. »Bindungsverhalten«. Es besteht beim kleinen Kind darin, dass es versucht, in die körperliche Nähe der Personen zu kommen, zu denen es eine »Bindung« aufbaut. Ist die Erreichbarkeit in Frage gestellt, zeigt das Kind Trennungsangst und Protest.
4
Wenn das Bindungssystem voll aktiviert ist, ist das Kind an nichts anderem mehr interessiert als an der Bindungsperson. Das andere wichtige Verhaltenssystem, das in der Bindungstheorie angenommen wird, das Explorationssystem, ist dann desaktiviert. Auch während das Kind die Umwelt entdeckt und erforscht, vergewissert es sich der Erreichbarkeit der Bindungsperson immer wieder. Die Bindungsperson wird daher auch die sichere Basis genannt, von der aus die Welt exploriert wird und zu der das kleine Kind immer wieder zurückkehrt, wenn Trost und Versicherung – und wie Stern aufgezeigt hat, Bestätigung von Wahrnehmungen und Affekten und der Möglichkeit von Intersubjektivität – vonnöten sind bzw. um zu überprüfen, ob sie noch da ist. Sobald sich ein erstes inneres Bild von der Bindungsperson entwickelt hat – und das passiert schon im Laufe des ersten Lebensjahres –, beginnt das Kind auch, nach ihr zu suchen, und zeigt Kummer, wenn es sich als von ihr getrennt vorfindet. Das Bedürfnis nach einer sicheren Basis, d. h. nach einer zuverlässigen Bindungsperson, und ein sich mit dem älter werden natürlich veränderndes Bindungsverhalten bleiben während des ganzen Lebens bestehen.
Drei charakteristische Merkmale von Bindung 1. Suchen und Aufrechterhalten von Nähe sowie Protest und Kummer bei Trennung 2. Nutzen der Bindungsbeziehung als sichere Basis, von der ausgehend die Umwelt exploriert wird 3. Erleben der Bindungsbeziehung als Zufluchtsort, an dem Schutz, Trost, Unterstützung und Sicherheit gesucht werden
4.7.3
Die Bindungsmuster
Das Bindungsverhalten entwickelt sich in Abhängigkeit von den Interaktionserfahrungen mit der Bindungsperson. Schon wenn die Kinder 12–16 Monate alt sind, lassen sich bestimmte Muster von aufeinander bezogenen Verhaltensweisen von Bindungsperson und Kind in Situationen, in denen das Bindungs-
84
4
Kapitel 4 · Klientenzentrierte Entwicklungslehre
system aktiviert ist, voneinander unterscheiden, die sog. »Bindungsmuster« oder »Bindungsstile«. Die Ausdrucksformen der Bindungsmuster wandeln sich mit der Zeit, d. h. mit dem Älterwerden und den Erfahrungen. In ihrer Grundstruktur sind die Bindungsmuster aber relativ konstant und werden sogar in einem gewissen Ausmaß von Generation zu Generation weitergegeben. Das heißt konkret: Das Bindungsmuster von Kleinkindern im Alter von 12–16 Monaten lässt sich zu einem hohen Prozentsatz aus dem Bindungsmuster, das ihre Mütter vor ihrer Geburt zeigen, voraussagen und hat darüber hinaus auch einen Zusammenhang mit den Bindungsbeziehungserfahrungen der Großmütter dieser Kleinkinder. Das »primäre« bzw. als biologisch angelegt angesehene Bindungsverhalten des Kleinkindes, wenn es Beruhigung, Trost oder Schutz bei der Bindungsperson sucht, beinhaltet Weinen, Rufen, Anklammern, Nachfolgen und Protest beim Verlassenwerden. Das dazu komplementäre Bindungsverhalten der Bindungsperson beinhaltet das sog. feinfühlige Gewähren von räumlicher bzw. körperlicher und psychischer Nähe über besänftigende Worte bis zum Liebkosen, Drücken, Halten. Vereinfachend werden zwei Arten von nicht feinfühligem Verhalten unterschieden: 4 Die Bindungsperson reagiert nicht auf das Bindungsverhalten des Kindes. 4 Die Bindungsperson reagiert nicht so, dass sie für das Kind in ihrer Erreichbarkeit vorhersagbar wird, d. h. sie reagiert mal feinfühlig und mal nicht feinfühlig. Daraus ergeben sich drei Muster von Zugänglichkeit: 4 Die Bindungsperson ist vorhersagbar zugänglich. 4 Die Bindungsperson ist vorhersagbar unzugänglich. 4 Das Verhalten der Bindungsperson, ihre Zugänglichkeit, ist nicht vorhersagbar. Der Vorhersagbarkeit der Bindungsperson entsprechend sind die Bindungsmuster, die sich entwickeln. Es werden- wieder vereinfachend ausgedrückt– voneinander unterschieden:
Drei Muster von Bindung zwischen Kind und Bindungsperson 1. Sicheres Bindungsmuster 2. Unsicher vermeidendes Bindungsmuster 3. Ängstlich ambivalentes Bindungsmuster
In der sicheren Bindungsbeziehung zeigt das Kind Bindungsverhalten, wenn sein Bindungssystem aktiviert ist, und die Mutter reagiert feinfühlig. Sie lässt also sowohl die Explorationswünsche des Kindes als auch seine geäußerten Wünsche nach Nähe gelten, und zwar dann, wenn das Kind sie äußert. In der unsicher vermeidenden Bindungsbeziehung reagiert die Mutter vorhersagbar nicht feinfühlig und das Kind zeigt kein Bindungsverhalten auf der Verhaltensebene, aber z. B. auch keine Freude, wenn die Mutter nach einer kurzen Trennung zurückkommt. In den physiologischen Parametern zeigen diese Kinder aber Hinweise auf Stress in bindungsrelevanten Situationen. Es wird z. B. angenommen, dass sie sich mit ihrer emotionalen Zurückhaltung die Zurückweisung durch die Bindungsperson ersparen. In der unsicher ambivalenten Bindungsbeziehung ist die Reaktion der Mutter nicht vorhersagbar, und das Kind kann nicht aufhören, Bindungsverhalten zu zeigen. Es ist anzunehmen, dass das bereits Ausdruck einer überhöhten Wachsamkeit bzw. chronischen Aktiviertheit des Bindungssystems ist. Das Kind klammert. Von einem sog. desorganisierten Bindungsmuster wird dann gesprochen, wenn die Kinder nach Trennungen gleichzeitig miteinander nicht zu vereinbarende Verhaltensweisen aus den verschiedenen Bindungsstilen und zum Teil bizarr anmutende Verhaltensweisen zeigen. Das Kind erstarrt z. B. (»freezing«) oder schlägt die Mutter, nachdem es sich in ihren Arm geflüchtet hat. In der Bindungstheorie wird angenommen, dass den Bindungsmustern sog. Innere Arbeitsmodelle zu Grunde liegen, Zusammenschlüsse von RIG (7 Kap. 4.6.3), Repräsentanzen von Interaktionserfahrungen, die generalisiert sind, und dass sich der Mensch diesen Erfahrungen, aus denen sich Erwartungen an die durchschnittliche Bindungserfahrung ergeben, entsprechend verhält.
85 4.7 · Die Bindungstheorie
Empirische Untersuchungen haben ergeben (Main, Kaplan & Cassidy, 1985), dass das Innere Arbeitsmodell der Mutter, ihre Vorstellungen vom Verhalten des anderen und der damit einhergehenden Selbsterfahrung und dem entsprechenden eigenen Verhalten in bindungsrelevanten Situationen, einen großen Einfluss darauf nimmt, welches Bindungsmuster ihr Kind entwickelt. Man unterscheidet analog zu den Bindungsmustern der Kinder die folgenden Inneren Arbeitsmodelle von Erwachsenen (im Modus des verbalen bzw. narrativen Selbst):
Vier Innere Arbeitsmodelle bei Erwachsenen 1. Sicher gebundene erwachsene Personen berichten offen und kohärent über ihre Bindungserfahrungen früher und heute und sehen enge Beziehungen als etwas Positives und Bereicherndes an. 2. Die ablehnend-distanzierte (analog zu unsicher-vermeidend) erwachsene Person idealisiert ihre Kindheit pauschal und hat kaum Erinnerungen an konkrete Erfahrungen in bindungsrelevanten Situationen. Sie legt großen Wert auf Unabhängigkeit, und zwar als etwas, das nichts mit Bindungsbeziehungen zu tun habe. 3. Erwachsene mit anklammernd verwickeltem (analog zum ängstlich-ambivalenten) Muster sind unfähig zur Distanz von ihren früheren Beziehungskonflikten bzw. unverändert in sie verstrickt. Sie bewerten Bindungsbeziehungen als extrem wichtig, sind aber häufig unglücklich oder unzufrieden mit ihren aktuellen Beziehungen und fühlen sich abhängig von deren Gelingen. 4. Von einem desorganisierten erwachsenen Bindungsmuster wird dann gesprochen, wenn die Schilderungen der Bindungserfahrungen inkohärent, verworren und zum Teil auch irrational sind. Es wird bei unverarbeiteten traumatischen Erfahrungen, körperlicher Misshandlung, sexuellem Missbrauch und schwerer emotionaler Vernachlässigung in der Kindheit gefunden, kann
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4
aber auch beobachtet werden, wenn ein Trauma, z. B. ein Todesfall, zum Zeitpunkt eines Bindungsinterviews noch nicht lange zurückliegt.
4.7.4
Die drei den Bindungsmustern zugrunde liegenden Faktoren
Höger (1999) hat herausgefunden, dass den Inneren Arbeitsmodellen von Erwachsenen, also ihren eigenen Vorstellungen davon, wie sie selbst und die jeweilige Bindungsperson sich in einer bindungsrelevanten Situation verhalten werden, in der sie Nähe, Trost und Schutz brauchen, drei Faktoren zu Grunde liegen, deren Ausprägung mit Skalen gemessen werden kann: Die Skala Akzeptanzprobleme misst das Ausmaß, in dem eine Person davon überzeugt ist, für den Bindungspartner unakzeptabel zu sein. Hohe Werte auf dieser Skala zeigen an, dass eine Person sich selbst nicht akzeptiert und befürchtet, auch der Partner wird es nicht können, wenn er entdeckt, wie die Person wirklich denkt und fühlt. Die Skala Öffnungsbereitschaft betrifft die Erwartung einer Person, innere Zustände und Gefühle mitteilen zu können und beim Partner auf Verständnis zu stoßen. Niedrige Werte auf dieser Skala zeigen die Abneigung einer Person an, etwas von ihrem inneren Erleben preiszugeben. Die Skala Zuwendungsbedürfnis erfasst den bewusst erlebten Wunsch, der Beziehungspartner möge sich einem um der eigenen Person willen zuwenden, und darüber hinaus das Bedürfnis, im Denken und Fühlen des Partners einen großen Platz einzunehmen. In einer Reihe von empirischen Studien konnte gezeigt werden, dass diese drei Dimensionen in fünf unterschiedlichen Konfigurationen auftreten, die inhaltlich recht gut mit den Strategien des Bindungssystems nach Main korrespondieren (Höger, 2002). So kann z. B. eine Kombination von hoher Öffnungsbereitschaft zusammen mit einem bewusst wahrgenommenen Zuwendungsbedürfnis und wenig Akzeptanzproblemen als Ausdruck eines »sicheren« Bindungsmusters angesehen werden.
4
86
Kapitel 4 · Klientenzentrierte Entwicklungslehre
4.7.5
Die Stabilität der Inneren Arbeitsmodelle
Eine Vielzahl von Untersuchungen belegt, dass die charakteristischen Unterschiede im Verhalten zwischen den sicher und den unsicher gebundenen Kindern mit dem Älterwerden nicht verloren gehen. Sicher gebundene Kinder sind schon im Kindergarten die kompetenteren und selbstständigeren. Im Schulalter suchen sie selbständiger und nachhaltiger nach Problemlösungen, als es die weniger sicher gebundenen Kinder tun. Sie sind insgesamt selbstbewusster und weniger depressiv. Die unsicher vermeidend gebundenen Kinder zeigen in Situationen emotionaler Belastung aggressives bzw. Affekt isolierendes Verhalten. Die ängstlich ambivalent gebundenen Kinder zeigen sich hilflos und unselbständig und geben schneller auf. Sicher gebundene Kinder haben stabilere Freundschaften und sind insgesamt sozial besser eingebunden. Im psychopathologischen Bereich hat die Forschung ergeben, dass nicht bestimmte Bindungsmuster spezielle Erkrankungen »begünstigen«, sondern dass allgemein bei Menschen mit unsicherem Bindungsmuster eine erhöhte psychische Vulnerabilität angenommen werden muss. Sowohl vom Selbstkonzept des Klientenzentrierten Konzepts als auch vom Inneren Arbeitsmodell der Bindungstheorie wird angenommen, dass sie einen starken Einfluss auf das manifeste Verhalten und die Erwartungen haben, mit denen vor allem der sozialen Umwelt begegnet wird. Auch in das Selbstkonzept können nur Erfahrungen, zu denen eine soziale Interaktion gehört, integriert werden. Dass es nur empathisch und unbedingt positiv beachtete Erfahrungen sind, die in das Selbstkonzept integriert werden, könnte erklären, warum Personen, die weniger Erfahrungen mit einer einfühlsamen Bindungsperson gemacht haben, auch weniger Erinnerungen an ihre kindlichen Bindungsbeziehungen haben als Personen, deren Mütter empathischer und unbedingter in ihrer Wertschätzung waren. Und es könnte auch erklären, warum sich diese Personen weniger interessiert an Bindungsbeziehungen zeigen und sich so verhalten, als passe es nicht zu ihnen, Nähe, Trost, Schutz und Sicherheit bei anderen Menschen zu suchen – schon als Kinder im Kindergarten.
Gesprächspsychotherapeuten verdanken den Bindungstheoretikern vor allem anschauliche Vorstellungen davon, in welchen Selbsterfahrungen das Kind vom Beginn seines Lebens an empathisch verstanden und unbedingt wertgeschätzt werden möchte und muss, um ein stabiles Selbstkonzept entwickeln zu können, welche Gefühle eine Bedrohung des Selbstkonzepts darstellen können und um welche es in der Psychopathologie geht: Es sind die Gefühle in bindungsrelevanten Situationen, der Wunsch nach Nähe und Kummer und Protest bei Trennungen. Klientenzentriert sehr viel abstrakter formuliert sind es die Gefühle, in denen das Bedürfnis nach empathischer bedingungsfreier positiver Beachtung erlebt wird bzw. die Gefühle, die entstehen, wenn die existentiell notwendige Empathie ausbleibt.
4.8
Die Selbsterhaltungstendenz
Gesprächspsychotherapeuten gehen davon aus, dass, sobald sich ein erstes Selbstkonzept entwickelt hat, die Selbstwahrnehmung selbst Objekt der Wahrnehmung sein kann und 4 ein Bedürfnis nach positiver Selbstbeachtung erlebt wird und 4 Inkongruenz erlebt werden kann.
4.8.1
Das Bedürfnis nach positiver Selbstbeachtung
Auf das ausgesprochene Interesse der Kinder an Intersubjektivität, sobald die subjektive Selbstempfindung möglich ist, wie es Stern beschreibt, hat Rogers mit der Annahme hingewiesen: Mit dem Selbstkonzept zusammen entwickele sich ein Bedürfnis nach positiver Selbstbeachtung (7 Kap. 3.3 und 5). Es ist von Rogers in Anlehnung an Stendal, der eine erste Klientenzentrierte Theorie der Person entwickelt hatte, wie folgt beschrieben worden: Das Kind sei abhängig von der Liebe seiner Eltern und versuche, Erfahrungen zu machen, die ihm Liebe und Anerkennung seitens der Eltern einbringen. Dabei könne es dazu kommen, dass das Kind seine eigene organismische Bewertung seiner Erfahrung, die wahre Selbsterfahrung, zugunsten einer von den Eltern wertgeschätzten Selbsterfahrung zurück
87 4.8 · Die Selbsterhaltungstendenz
stelle. Es suche z. B. Bewunderung für Mut und verleugne dabei die Angst, die angemessene organismische Bewertung einer gefährlichen Situation. Rogers und Stendal sind davon ausgegangen, dass auch solche Bewertungen durch die wichtigen Bezugspersonen in das Selbstkonzept integriert und neue Erfahrungen dann diesen »introjected values«, den sog. Bewertungsbedingungen oder Wertvorstellungen entsprechend bewertet würden. Das Kind gehe dann seinerseits selektiv und nicht unbedingt wertschätzend mit seiner Selbsterfahrung um und beurteile selbst nur die Selbsterfahrungen als positiv, in denen es positive Beachtung gefunden habe, auch wenn sie im Hinblick auf den Organismus als ganzen betrachtet gar nicht förderlich sind. Das Bedürfnis nach positiver Selbstbeachtung werde als ein universales und dauerhaftes Bedürfnis nach Anerkennung im persönlichen Erleben durch andere erlebt. Rogers hat es als ein problematisches Bedürfnis bezeichnet. Es werde bei sehr vielen Erfahrungen erlebt, sei ein sehr starkes Bedürfnis und mit ihm sei die Person auf die Interpretation ihres Erlebens durch andere Personen angewiesen. Der Wunsch nach Anerkennung durch andere könne stärker sein als das Bestreben, sich der eigenen organismischen Bewertung der Erfahrung bewusst zu werden. Die Bewertungsbedingungen als Teil des Selbstkonzepts stellten das Haupthindernis für die Entwicklung der psychologisch angepassten Person dar, indem die organismische Bewertung von Erfahrung als für den gesamten Organismus förderlich oder nicht durch die Bewertung von Erfahrung auf der Grundlage der Bewertungsbedingungen relativiert bzw. ausgeblendet werde, so dass Inkongruenz in der Art eines unbewussten Konflikts entstehe. Diese Vorstellung von »introjected values«, positiven Bewertungen durch die Eltern und entsprechenden Überzeugungen bezüglich des Wertes der eigenen Person, erinnert sehr stark an das Konzept der internalisierten Liebe der Eltern im Über-Ich in der Psychoanalyse.
4.8.2
4
Inkongruenz von Bedeutung. Obwohl schon im 7 Kap. 3 über Inkongruenz gesprochen worden ist und sie das zentrale Thema des 7 Kap. 5 sein wird,
soll sie deshalb an dieser Stelle erneut besprochen werden. Wenn sich ein erstes Selbstkonzept entwickelt hat, wird zusammen mit dem Bedürfnis nach positiver Selbstbeachtung auch eine Tendenz sichtbar, Erfahrung nicht nur – im Sinne der Aktualisierungstendenz – im Hinblick darauf zu bewerten, ob sie den Organismus fördert oder behindert, sondern vor allem auch im Hinblick darauf, ob sie das Selbstkonzept bestätigt oder nicht, d. h. mit den Erfahrungen, die im Selbstkonzept integriert sind, übereinstimmt, kongruent ist. Wir nennen diese Tendenz Selbsterhaltungstendenz oder Selbstverteidigungs- und auch Selbstbehauptungstendenz. Sie äußert sich auch darin, dass Erfahrung, die Inkongruenz begründet, abgewehrt wird, d. h. dem Bewusstsein ferngehalten oder im Bewusstsein so verzerrt wird, dass sie aussieht, als passe sie doch zu den Erfahrungen, aus denen sich das Selbstkonzept gebildet hat (7 Kap. 3). Es sei an dieser Stelle daran erinnert, dass die Erfahrungen, die in das Selbstkonzept integriert werden, bewusstseinsfähige Erfahrungen sind, die etwas mit dem Selbst und seinen Beziehungen zur Umwelt zu tun haben, die von einer kongruenten anderen Person empathisch verstanden und bedingungsfrei positiv beachtet worden sind, d. h. zusammen mit der Erfahrung gemacht worden sind, empathisch positiv beachtet zu werden. Das heißt u. a. auch, dass auch die Erfahrung, nicht verstanden und nicht unbedingt wertgeschätzt zu werden und eine wichtige Bezugsperson inkongruent zu machen, schon für sich allein Inkongruenz bedeutet. Definition Als Kongruenz/Inkongruenz zwischen Selbst und Erfahrung wird im Klientenzentrierten Konzept das Ausmaß bezeichnet, in dem bei einer Person ihre Erfahrung mit der ins Selbstkonzept integrierten Erfahrung übereinstimmt.
Inkongruenz
Für das Verständnis der Klientenzentrierten Entwicklungslehre ist aber vor allem der Begriff der
Inkongruenz bedeutet aber nicht nur, dass z. B. Erfahrung abgewehrt wird. Inkongruenz kann auch
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4
Kapitel 4 · Klientenzentrierte Entwicklungslehre
Selbsterfahrungen beinhalten: Wenn eine Person ihre Inkongruenz nur ahnt, ist sie verletzlich. Die bewusste Selbstwahrnehmung als inkongruent ist mit Angst verbunden. Diese Angst kann in verschiedener Weise ins Bewusstsein treten: in der Form von Kampf- und/oder Fluchttendenzen bei bestimmten Erfahrungen, in der Form von Depression bei bestimmten Erfahrungen, und sie kann sich als Tarnung oder Täuschung zeigen, z. B. in der Form von vorgespiegelten – auch dem eigenen Bewusstsein! – Affekten zur Verdeckung der wahren Affekte (7 Kap. 4.6.5). Neben diesen Symbolisierungen von Angst werden die Erfahrungen, die sie ausgelöst haben bzw. nicht in das Selbstkonzept passen, es bedrohen oder infrage stellen, oft gar nicht bewusst. Auch das oben beschriebene Erleben eines Bedürfnisses nach positiver Beachtung kann als Abwehr von Erfahrung, die das Selbstkonzept bedroht, verstanden werden, und zwar als Tarnung. Es könnte auch das Resultat einer Verzerrung sein: Aus dem Erleben eines »Du solltest«, »Du müsstest« wird ein »Ich möchte«. Die meisten Menschen erleben ziemlich klar, dass sie weniger ein Bedürfnis nach positiver Beachtung haben, sondern vor allem verstanden und unbedingt wertgeschätzt werden wollen, also ein Bedürfnis nach bedingungsfreier positiver Beachtung haben, und empfinden Lob oder Komplimente eher als peinlich oder als etwas, das sie in die Flucht schlägt. Die Erfahrung, nicht unbedingt wertgeschätzt zu werden, passt ja auch nicht zu den in das Selbstkonzept integrierten Erfahrungen und stellt es in Frage. Auch im Erleben von Inkongruenz kann eine Person empathisch verstanden und unbedingt wertgeschätzt werden von einer kongruenten anderen wichtigen Person. Und unter dieser Bedingung kann dann auch die Erfahrung von Inkongruenz in das Selbstkonzept integriert werden: »So fühle ich mich und so reagiere ich, wenn ich nicht verstanden werde und nicht unbedingt wertgeschätzt werde, wenn ich mit meinen Gefühlen meine wichtigen Bezugspersonen aus der Fassung bringe, so dass sie ganz blind für mich werden, oder ich andere Erfahrungen mache, die gar nicht zu mir passen!«
4.9
Phasen der Selbstkonzeptentwicklung
Es ist hilfreich – z. B. im Umgang mit Kindern, aber auch in der Psychopathologie z. B., wenn die Frage auftaucht, in welchen Erfahrungen ist eine Person nicht verstanden und nicht unbedingt wertgeschätzt worden und was erlebt sie heute als eine Bedrohung für ihr Selbstkonzept bzw. macht sie heute inkongruent –, sich den Verlauf der Selbstentwicklung in drei aufeinander folgenden Phasen vorzustellen:
4.9.1
Erste Phase
In einer ersten Phase geht es darum, dass erste Selbsterfahrungen in der Selbstregulation und in der lebensnotwendigen und auch sehr körpernahen Regulierung durch die Interaktion mit wichtigen Bindungspersonen zusammen mit ersten Erfahrungen des im affektiven Erleben empathisch verstanden und unbedingt wertgeschätzt Werdens in ein erstes Selbstbild integriert werden. Sander (1962) zählt Themen auf, die nacheinander im Verlauf der frühkindlichen Selbstentwicklung zwischen Mutter und Kind verhandelt würden. Die ersten seien: 4 Grundregulation, 4 Gegenseitige Aktivierung und 4 Initiative. In den ersten drei Lebensmonaten spielen sich gewisse Grundregulationen und -rhythmen zwischen Mutter und Kind und dann im Kind selbst ein, z. B. der Schlaf-Wach-Rhythmus und die Still- bzw. Hungerperiodik – wenn es der Mutter gelingt, die vom Kind ausgehenden Signale empathisch zu verstehen und angemessen zu beantworten, ihr Kind in seiner Eigenart zu erfassen, und wenn sie nicht eigene Erwartungen und Vorstellungen auf das Kind projiziert, d. h. auch inkongruent wird. Es sei daran erinnert, dass das Bindungsbedürfnis des Kindes von Beginn des Lebens an aktiviert wird, wenn es Schutz und Trost braucht, d. h. unzufrieden und unglücklich ist und in irgendeiner Weise erfährt, dass es total abhängig ist und nicht ohne Hilfe überleben kann. Das Neugeborene kann sein Bindungsbedürfnis kaum anders als in seinen Affek-
89 4.9 · Phasen der Selbstkonzeptentwicklung
ten zum Ausdruck bringen. Es ist noch nicht einmal in der Lage, sich aus eigener Kraft auf eine Schutz gebende Person hin zu bewegen. Erst in der Zeit etwa ab dem dritten Lebensmonat können »Mutter« und Kind sich gegenseitig auch positiv aktivieren, vor allem im Lächelspiel. Die Mutter kann das Lächeln des Kindes auslösen, und das Kind kann die Mutter nicht nur anlächeln, sondern z. B. auch bei ihrem Anblick erfreut strampeln, ihr seinen Blick zuwenden, Laute von sich geben, zeigen, ob und dass es sich gut behandelt fühlt. Auch jetzt geht es weniger darum, dass die Mutter sich freut, dass das Kind gerne Kontakt mit ihr hat, sondern vor allem darum, dass sie versteht, dass dem Kind Kontakt um des Kontaktes willen und seiner Fähigkeit willen, diesen herzustellen, wichtig ist. In der Zeit vom siebten bis neunten Lebensmonat wird nach Sander dann das Thema Initiative explizit verhandelt. Das Kind könne jetzt Eigeninitiative zeigen und Reaktionen darauf, wenn es in dieser blockiert werde. Die Mutter könne sich mit dem Kind zusammen über dessen neue Aktionsmöglichkeiten freuen. Sie könne ihr Kind jetzt aber auch als aggressiv erleben, als nicht lieb und folgsam. Es scheine so zu sein, dass das Kind die eigenen Verhaltensweisen, die zu einem Austausch mit der Mutter führen, in denen es sich also als initiativ erleben könne, anders erlebe als die, bei denen das nicht der Fall ist, und dass die Reaktionen der Mutter auf das initiative Verhalten des Kindes Einfluss darauf haben, wie initiativ bzw. passiv sich das Kind später verhalte. Klientenzentriert formuliert: Wenn sich die Bindungsperson in das Kind dann, wenn es sich initiativ zeigt, empathisch einfühlen und kongruent bleiben kann und das Kind bedingungsfrei wertschätzt, dann wird es später keine Probleme haben, die Initiative zu ergreifen.
4.9.2
Zweite Phase
In einer zweiten, zum Teil immer noch präsymbolischen Phase taucht die subjektive Selbstempfindung auf: Selbsterfahrungen – Gefühle, Absichten, Bewertungen – werden als solche erlebbar und können in das Selbstbild integriert werden. Zu ihnen gehören auch die Erfahrungen der Bedrohung, auch in der Selbstaktualisierung bzw. -behauptung und in
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dem Bedürfnis nach unbedingter positiver Selbstbeachtung, wenn die Mutter z. B. nicht feinfühlig und prompt empathisch versteht und nicht bedingungsfrei positiv beachtet. Und zu ihnen gehören vor allem die Affekte, die mit diesen Erfahrungen der Bedrohung einhergehen. Auch in der affektiven Reaktion auf die Erfahrung, nicht verstanden zu werden, kann das Kind empathisch verstanden und bedingungsfrei positiv beachtet werden. Wenn das passiert, ist es in der Regel so, dass das Kind dann in einem zweiten Schritt auch in der Erfahrung, die spontan nicht anerkannt worden ist, gesehen wird, so dass diese dann auch in das Selbstkonzept integriert werden kann. Sander nennt die Themen in dieser Zeit Fokalisierung und Selbstbestätigung. Das Kind könne nun Absichten zum Ausdruck bringen und gezielt handeln und richte etwa in der Zeit vom 10. bis zum 15. Monat sein ganzes Interesse auf die Mutter und ihre Bestätigung seines Erlebens (7 Kap. 4.6.4). Diese sei auch die Zeit der Fremden- und der Trennungsangst. Zwischen dem 14. und 18. Lebensmonat gehe es dann ganz vorrangig um das Thema Selbstbestätigung. Das Kind könne jetzt auch selbst bestimmen und wolle das auch. Es gehe ihm nun auch um die Übereinstimmung seiner Vorstellungen von sich selbst mit der Realität, nicht mehr nur um die Übereinstimmung mit der Mutter. Es erlebe nun Erfolgsgefühle nicht nur dann, wenn die Mutter es positiv spiegele, sondern auch wenn es erlebe, dass es seine eigenen Ziele verwirklichen kann. Es zeigten sich die Anfänge einer Wahrnehmung des Selbst, einer Wahrnehmung der eigenen Aktivität und eines selbstregulatorischen Kerns – das ist ein erstes Selbstkonzept. In dieser Zeit gehe es darum, in welchem Ausmaß und in welchen Bereichen das Kind in der Interaktion mit der Mutter Selbstbestätigung findet. Gesprächspsychotherapeutisch formuliert: Um seine Erfahrungen mit sich selbst in sein Selbstkonzept integrieren zu können, und dazu gehört jetzt z. B. auch die Übereinstimmung oder Nichtübereinstimmung von Vorstellungen vom eigenen Können mit den eigenen Fähigkeiten oder Erfolgserlebnissen, bedarf das Kind einer empathischen unbedingt wertschätzenden Begleitung seines Erlebens.
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90
Kapitel 4 · Klientenzentrierte Entwicklungslehre
4.9.3
Dritte Phase
In einer dritten Phase geht es um den – dann im ganzen Leben weiter gehenden – Prozess der Herstellung von Kongruenz zwischen den realen Selbsterfahrungen als ein so und nicht anders geartetes und erlebendes Wesen und dem Selbstkonzept, wieder in der Interaktion mit empathischen und unbedingt wertschätzenden Bezugspersonen. Es geht um die Integration auch der Selbsterfahrungen, die mit realen Begrenzungen des so und nicht anders Seins zusammenhängen und mit entsprechenden Chancen bzw. Selbstverwirklichungsmöglichkeiten, z. B. männlich oder weiblich zu sein. Nach Sander werden in der Zeit zwischen dem 18. und 36. Lebensmonat immer gleichzeitig die Themen Erkennen und Kontinuität und Selbstkonstanz verhandelt. Der Spracherwerb ermögliche es nun dem Kind, seine inneren Erfahrungen auch verbal mitzuteilen. Sie würden für das Kind erst dadurch sozusagen real bzw. wahr, dass sie einem anderen mitgeteilt bzw. auch von diesem wahrgenommen werden. Das ist eine ähnliche Überlegung wie die im Klientenzentrierten Konzept, dass Erfahrungen nur unter der Bedingung unbedingter positiver empathischer Beachtung zu Selbsterfahrungen werden können, die in das Selbstkonzept integriert werden. Diese Selbsterfahrungen bilden nach Sander die Grundlage für das Gefühl von Selbstkontinuität. Dass es ihm um Selbstkontinuität und Selbstkonstanz gehe, mache das Kind – so Sander – damit deutlich, dass es gezielt, u. U. aggressiv, die Übereinstimmung mit der Mutter zerstöre, um sie dann wiederherzustellen, entweder aus eigener Initiative oder mit Hilfe der Versöhnungsangebote der Mutter. Es gehe dem Kind in solchen Interaktionen um die Erfahrung der Wiederherstellbarkeit des Selbst. Diese sei Teil der Erfahrung der Selbstkonstanz. Sander ist der Meinung, dass sich die Erfahrung von Selbstkonstanz nicht ohne ein Pendeln zwischen der Erfahrung eines mit der Mutter koordinierten und von ihr geförderten Selbst und der Erfahrung eines von der Mutter abgelehnten Selbst entwickeln könne. Wenn das Kind zweieinhalb bis drei Jahre alt sei, könne es sein Selbsterleben verbergen, auch vor seinem eigenen Bewusstsein. Und es verberge nun auch Inhalte, bezüglich deren es keine Überein-
stimmung er warte, sondern Ablehnung oder gar Sanktionen. Hinter dieser Bewusstseinsschranke verberge sich dann das »wahre Selbst«1. In dieser Zeit entstünden die ersten Kinderphobien, in denen einige der verborgenen Erfahrungen symbolisch Ausdruck fänden. Im Klientenzentrierten Konzept wird nicht davon ausgegangen, dass es zur Entwicklung des Empfindens der Selbstkonstanz eines Pendelns zwischen der Erfahrung eines mit der Mutter koordinierten und von ihr geförderten Selbst und der Erfahrung eines von der Mutter abgelehnten Selbst bedarf. Gesprächspsychotherapeuten gehen, wie gesagt, davon aus, dass zusammen mit dem Erleben eines ersten Selbstkonzepts auch das Bedürfnis nach bedingungsfreier positiver Selbstbeachtung erlebt wird. Das Kind kann auch die Selbsterfahrungen, die es dann macht, wenn es nicht verstanden wird und nicht oder nur unter bestimmten Umständen »anerkannt« wird, nur unter der Bedingung in sein Selbstkonzept integrieren, dass es ihm gelingt, diese verständlich zu machen oder in ihnen anerkannt zu werden. Dementsprechend sucht es nach Gelegenheiten, in seinem Kummer, seiner Wut, seiner Angst beim Ausbleiben von einfühlendem Verstehen und bedingungsfreier Wertschätzung verstanden zu werden. Gesprächstherapeuten sprechen dann, wenn die Mutter mit ihrem Kind einverstanden im Sinne von zufrieden ist, nicht von Übereinstimmung zwischen Mutter und Kind, sondern von bedingter Anerkennung des Kindes durch die Mutter. Die ist etwas anderes als die empathische bedingungsfrei positive Beachtung einer Selbsterfahrung durch die Mutter, ohne die das Kind seine Selbsterfahrung als eine Bedrohung für sein Selbstkonzept erlebt. In den Kinderphobien wird in den Augen eines Gesprächspsychotherapeuten deutlich, dass auch schon Kinder die Angst bei Selbsterfahrungen, die nicht mit dem Selbstkonzept übereinstimmen, bei Inkongruenz also, zwar ausdrücken, die Selbsterfahrung aber, durch die sie ausgelöst wird, ihrem bewussten Gewahrsein als Selbsterfahrung vorenthalten, z. B. indem diese im Bereich der Vorstellungen nicht korrekt symbolisiert wird (7 Kap. 5). Das Kind fürchtet dann z. B. Hunde und nicht den 1
Das »wahre« Selbst im klientenzentrierten Konzept ist das mit der Erfahrung kongruente Selbst.
91 4.10 · Weiterführende Literatur
eigenen Wutanfall, der die Mutter ohnmächtig wütend macht. In je mehr der Erfahrungen, die eine Phase kennzeichnen, eine Person empathisch verstanden und unbedingt wertgeschätzt worden ist, ohne dass ihre Bindungspersonen dabei inkongruent geworden sind, je mehr dieser Erfahrungen sie also hat in ihr Selbstkonzept integrieren können, desto erfolgreicher hat sie diese Phase durchlaufen. Wie erfolgreich eine Person insgesamt diese Phasen durchlaufen hat, kann man an der Fähigkeit ablesen, unterschiedliche affektive Erfahrungen zu machen und als eigene zu erleben und zwischen eigenem und fremden affektiven Erleben zu unterscheiden, und damit auch an der Empathiefähigkeit (Binder, 1994) ablesen. Einen anderen Maßstab dafür, wie erfolgreich diese drei Phasen durchlaufen worden sind bzw. welcher Phase eine Selbstentwicklung auch im Erwachsenenalter noch verhaftet ist, stellen die Inhalte, in denen Angst erlebt wird, dar: ob es sich um die Angst vor der totalen, auch körperlichen Vernichtung handelt, oder um Angst vor dem Wertlos- und Bösesein, oder um die Angst, in einem persönlichen wesentlichen Sosein zu versagen, z. B. als Mann oder Frau. Ein stabiles, d. h. sich selbst aufrechterhaltendes und sich zugleich flexibel weiterentwickelndes Selbstkonzept ist ein Bollwerk gegen das Erleben von Chaos und der damit verbundenen Angst. ! Zusammenfassung In diesem Kapitel ist dargestellt worden, dass das Klientenzentrierte Konzept – ganz ähnlich wie die sog. neue Psychoanalyse u. a. auf der Grundlage der Arbeiten von Stern – die Entwicklung der Organisation der Selbsterfahrung zum Zentrum seiner Entwicklungspsychologie macht. Die Entwicklung der Organisation der Selbsterfahrung gilt im Klientenzentrierten Konzept dann als gestört, wenn die organismische Bewertung der Erfahrung nicht zur Selbsterfahrung werden kann, das wahre Selbst sich nicht entwickeln kann, weil die Bewertungen der Erfahrung als das Selbstkonzept bestätigend oder nicht bestätigend die Selbsterfahrung dominieren.
4
? Übungsfragen 5 Nennen Sie die notwendigen und hinreichenden Bedingungen für die Integration von Selbsterfahrung in das Selbstkonzept. 5 Definieren Sie, was im Klientenzentrierten Konzept unter Selbsterfahrung verstanden wird. 5 Welche Bedeutung haben die Affekte für die psychische Entwicklung? 5 Nennen Sie Formen der gesunden Selbsterfahrung. 5 Welche Selbstempfindungen unterscheidet Daniel Stern? 5 Nennen Sie die charakteristischen Merkmale der Bindung. 5 Was unterscheidet das sichere Bindungsmuster von den unsicheren Bindungsmustern? 5 Charakterisieren Sie die Selbstentwicklungsphasen.
4.10
Weiterführende Literatur
Bowlby, J. (1975). Bindung. München: Kindler. (Original erschienen 1969: Attachment and loss; Vol. 1: Attachment) Bowlby, J. (1976). Trennung. München: Kindler. (Original erschienen 1973: Attachment and loss; Vol. 2: Seperation: Anxiety and anger) Bowlby, J. (1983). Verlust. München: Kindler. (Original erschienen 1980: Attachment and loss; Vol. 3: Loss, sadness and depression) Fonagy, P. (2001/2003). Bindungstheorie und Psychoanalyse. Stuttgart: Klett-Cotta. Spangler, G. & Zimmermann, P. (1995). Die Bindungstheorie. Grundlagen, Forschung, Anwendung. Stuttgart: Klett-Cotta. Stern, D. N. (1985/2003). Die Lebenserfahrung des Säuglings. Stuttgart: Klett-Cotta. Strauss, B., Buchheim, A. & Kächele, H. (Hrsg.). (2002). Klinische Bindungsforschung. Stuttgart: Schattauer.
5 5 Krankheitslehre der Gesprächspsychotherapie E.-M. Biermann-Ratjen 5.1
5.2
5.2.1 5.2.2
5.2.3
5.2.4
5.2.5
Die Grundlage für Veränderungen im Therapieprozess: Aktualisierungstendenz – 93 Die Grundlage von Inkongruenz: Das Bedürfnis nach unbedingter positiver Beachtung – 96 Die Bedingungen für die Integration von Erfahrungen in das Selbstkonzept – 96 Die Spaltung der Aktualisierungstendenz in eine Selbstentwicklungstendenz und eine Selbsterhaltungstendenz – 96 Die Verteidigung gegen die Erfahrung zum Beispiel in der posttraumatischen Belastungsreaktion – 97 Die Verteidigung gegen die Erfahrung zum Beispiel im Erleben des Bedürfnisses nach positiver Selbstbeachtung – 98 Das Bedürfnis nach unbedingter positiver Beachtung – 99
5.3
Die mehr oder weniger voll funktionsfähige Person – 99
5.3.1 5.3.2
Die »fully functioning person« – 99 Der Psychotherapiepatient – 101
5.1
Die Grundlage für Veränderungen im Therapieprozess: Aktualisierungstendenz
Carl Rogers ist zu der Annahme, dass der menschlichen Entwicklung eine Aktualisierungstendenz (7 Kap. 3.2) zu Grunde liegt, durch seine Beobachtungen der Veränderungen von Klienten im Verlauf von Psychotherapie gekommen.
5.4
Differenzielle Beschreibungen des Inkongruenzerlebens – 103
5.4.1
Das differenzielle Krankheitsverständnis in der prozessorientierten Gesprächspsychotherapie – 104 Der prozess-experientielle Aspekt des Klientenzentrierten Konzepts – 105 Die Zielorientierte Gesprächpsychotherapie – 106 Primäre und sekundäre Inkongruenz – 107
5.4.2 5.4.3 5.4.4
5.5
Zusammenfassung – 114
5.6
Übereinstimmungen und Unterschiede mit tiefenpsychologischen/ psychoanalytischen Störungskonzepten – 114
5.7
Ausblick – 115
5.8
Weiterführende Literatur – 116
Definition Rogers nannte Aktualisierungstendenz die dem Organismus als Ganzem innewohnende Tendenz, alle seine Möglichkeiten so zu entfalten und zu differenzieren, dass sie ihn erhalten und fördern.
In »Eine Theorie der Psychotherapie, der Persönlichkeit und der zwischenmenschlichen Beziehungen. Entwickelt im Rahmen des Klientenzentrierten Ansatzes« (1959b/1987) stellt er dar, dass Klienten
94
5
Kapitel 5 · Krankheitslehre der Gesprächspsychotherapie
im Verlauf einer Psychotherapie immer freier würden, ihre Gefühle zum Ausdruck zu bringen, die immer mehr mit ihrem Selbst zu tun hätten. Sie würden immer differenzierter in der Unterscheidung der Objekte ihrer Gefühle und Wahrnehmungen, wozu ihre Umwelt, andere Menschen, ihr Selbst, ihre Erfahrungen und die Beziehungen zwischen diesen gehörten. Die Erfahrungen würden immer genauer symbolisiert, d. h. im Bewusstsein repräsentiert. Ihre Gefühle hätten im Verlauf des Therapieprozesses auch immer häufiger mit der mangelnden Übereinstimmung ihrer Erfahrungen (7 Kap. 3.3) mit ihrem Selbstkonzept zu tun. Rogers hat diese Nicht-Über einstimmung Inkongruenz genannt. Definition Inkongruenz ist die Nicht-Übereinstimmung der Erfahrung mit dem Selbstkonzept.
Dadurch dass sich der Therapeut diesen Erfahrungen von Inkongruenz genau so wertschätzend zuwende wie den Erfahrungen, die mit dem Selbstkonzept übereinstimmen, werde den Klienten immer mehr bewusst, dass sie sich durch die Erfahrung von Inkongruenz bedroht fühlten. Es würden ihnen – vor allem im Zusammenhang mit dieser Inkongruenzerfahrung – zunehmend Gefühle vollständig bewusst, die sie bisher in ihrem Bewusstsein verzerrt oder verleugnet hätten. Ihr Selbstkonzept reorganisiere sich so, dass auch diese bisher verzerrten und verleugneten Erfahrungen assimiliert, d. h. als Selbsterfahrungen erlebt und in das Selbstkonzept integriert werden könnten, so dass dieses immer mehr mit der tatsächlichen Erfahrung übereinstimme. Es könnten dann auch Erfahrungen in die Selbsterfahrung integriert werden, die früher zu ängstigend waren, um bewusst werden zu können. Es werde weniger Erfahrung abgewehrt, und es sei überhaupt weniger Abwehrhaltung zu beobachten. Rogers hat Abwehr wie folgt definiert: »Abwehr ist die verhaltensmäßige Reaktion des Organismus auf Bedrohung (des Selbstkonzepts) mit dem Ziel, die gegenwärtige Struktur des Selbst aufrecht zu erhalten. Dies wird angezielt durch die Verzerrung der Erfahrung im 6
Gewahrsein … oder indem die Erfahrung vor dem Gewahrsein geleugnet wird (Rogers 1959b/1987, S. 204 f.).« Die Klienten könnten im Zuge dieser Reorganisation ihres Selbstkonzepts auch die unbedingte Wertschätzung des Therapeuten immer mehr wahrnehmen, ohne sich durch sie bedroht zu fühlen. Sie erlebten auch immer mehr positive Selbstbeachtung und würden zunehmend ihre Erfahrungen organismisch – auf der Grundlage der Aktualisierungstendenz – bewerten, d. h. im Hinblick darauf, ob sie solche der Erhaltung und Entfaltung oder solche der Bedrohung und Behinderung des Organismus als Ganzem sind (Rogers, 1973b, 1973a, 1959b/1987). Diese Beobachtungen der Entwicklungen in Therapieprozessen ließen Rogers zu den folgenden Schlüssen kommen: 1. Das menschliche Individuum besitzt die Fähigkeit, sich der Faktoren bewusst zu werden, die seine psychische Fehlanpassung ausmachen: nämlich der mangelnden Übereinstimmung (Inkongruenz) seines Selbstkonzepts mit seiner Erfahrung. 2. Das menschliche Individuum hat die Tendenz, sein Selbstkonzept so zu reorganisieren, dass es mehr mit der Erfahrung übereinstimmt. Das ist gleichbedeutend mit einer Abnahme von Fehlanpassung. 3. Diese Fähigkeit, sich seiner Erfahrung und seines Selbstkonzeptes und deren mangelnder Übereinstimmung bewusst zu werden, und diese Tendenz zur Reorganisierung des Selbstkonzepts werden in jeder Begegnung mit einer anderen Person aktiviert, die in dieser ihrerseits kongruent ist (sich ihrer gesamten Erfahrung bewusst werden könnte) und vermitteln kann, dass sie die (erstgenannte) Person in ihrer Erfahrung empathisch versteht und bedingungsfrei beachtet. ! Im engeren Zusammenhang mit der Definition von seelischer Gesundheit bzw. Psychopathologie im Rahmen des Klientenzentrierten Konzepts bedeutet also Aktualisierung: Selbstaktualisierung im Sinne von Entwicklung eines Selbstkonzepts, das die symbolische Repräsentation möglichst aller theoretisch bewusstseinsfähigen Erfahrung im Bewusstsein ermöglicht.
95 5.1 · Die Grundlage für Veränderungen im Therapieprozess: Aktualisierungstendenz
Diese Selbstkonzeptentwicklung ist nicht nur an die Bedingung eines bestimmten Kontaktes mit anderen Menschen gebunden, sondern die Selbstaktualisierungstendenz wird in jeder Begegnung mit einer Person aktiviert, wenn diese selbst kongruent ist und sich empathisch bedingungsfrei wertschätzend der Erfahrung ihres Kontaktpartners zuwendet. Im Klientenzentrierten Konzept bedeutet Fehlanpassung Inkongruenz im Sinne einer mangelhaften symbolischen Repräsentation der Erfahrung in der bewussten Selbsterfahrung und Anpassung die Entwicklung, Aufrechterhaltung und Weiterentwicklung des Selbstkonzepts. Die Fähigkeit, sich seiner Fehlanpassung bewusst zu werden, und die Tendenz zur Anpassung werden – als Aspekte der Selbstaktualisierungstendenz – in Kontakten aktiviert, in denen die Person empathische Bedingungsfreie Positive Beachtung erfährt. ! Der zentrale Begriff der Klientenzentrierten Krankheitslehre ist die Inkongruenz zwischen der Erfahrung und dem Selbstkonzept.
Wie Höger in 7 Kap. 3.3 dargestellt hat, wird der Begriff Inkongruenz heute – und sogar von Gesprächspsychotherapeuten – auch in einem anderen als in diesem Sinn verwendet. Es wird z. B. auch von der Inkongruenz zwischen einem Idealselbst und dem realen Selbstbild gesprochen, die zu inneren Spannungen führen könne. Finke (1994) sieht in ihr sogar die Basis für die Entwicklung bestimmter Krankheitsbilder (7 Kap. 21). So eine Nicht-Übereinstimmung der realen Erfahrungen mit gewünschten Erfahrungen ist aber nicht die Inkongruenz, die in der Krankheitslehre des Klientenzentrierten Konzept gemeint ist. Auch die interpersonale Inkongruenz, wie Gaylin im Rahmen seines Familientherapeutischen Konzepts (7 Kap. 18) die Unterschiede und Widersprüche in der Wahrnehmung gemeinsamer Erfahrungen durch die einzelnen Familienmitglieder nennt, ist nicht die Inkongruenz der Krankheitslehre des Klientenzentrierten Konzepts. Das gilt erst recht für die von Grawe in seinem Buch »Neuropsychotherapie« beschriebene Inkongruenz zwischen gewünschten und erreichten Zielen, für deren Messung sogar ein Fragebogen vorliegt (Grosse-Holtforth & Grawe, 2003). Er erfasse auch die Symptombelastung, Depressivität, Lebensunzufriedenheit, Wohlbefinden und Neurotizismus,
5
mit denen er hoch korreliere (7 Kap. 10.3). Es mag sein, dass Inkongruenzen im Sinne von Diskrepanzen zwischen dem, was sich eine Person wünscht und vorstellt und vielleicht sogar braucht, und dem, was sie bekommt, erreicht und an notwendiger Bedürfnisbefriedigung erfährt oder in ihrem bisherigen Leben erfahren hat, den Nährboden für einige Formen von mangelnder psychischer Gesundheit abgeben. Mit der Fehlanpassung, die im Klientenzentrierten Konzept mit dem Begriff Inkongruenz bezeichnet wird, haben sie nichts gemein. Im Klientenzentrierten Konzept bedeutet die Verringerung von Inkongruenz Zielerreichung bzw. Bedürfnisbefriedigung allenfalls insofern, als man sagen kann, dass die Entwicklung des Selbstkonzepts an die Bedingung der Befriedigung des Bedürfnisses nach Bedingungsfreier Positiver Beachtung durch eine kongruente andere Person gebunden ist (7 Kap. 4). Im Klientenzentrierten Konzept bedeutet Aktualisierung also auch und vor allem die Entwicklung eines Selbstkonzepts und seine fortlaufende Reorganisation in der Weise, dass die Erfahrung und ihre organismische Bewertung bewusst werden können. Die Selbstaktualisierung als Selbstkonzeptentwicklung ist als ein autonomer im Sinne von sich selbst organisierender Prozess konzipiert. Zu diesem autonomen Prozess der Selbstaktualisierung gehört es auch, dass bewusst werden kann, wenn er ins Stocken gerät, bzw. die Erfahrung seiner Stagnation kann als solche bewusst werden. Auch dieses Bewusstwerden ist an die Bedingung empathischer Bedingungsfreier Positiver Beachtung durch eine andere Person, die kongruent ist, geknüpft. Ich werde darauf zurückkommen. Rogers hat den Begriff der Aktualisierungstendenz aus der organismischen Theorie von Kurt Goldstein übernommen (vgl. auch im weiteren Kriz & Stumm, 2003). Diese betont die Bedeutsamkeit innerer Determinanten in der Entwicklung und im Verhalten von Lebewesen, die allerdings mit äußeren Bedingungen zusammenwirkten (Höger, 1993 und 7 Kap. 3). Rogers hat noch 1951 in Übereinstimmung mit Goldstein von einer Selbstaktualisierungstendenz gesprochen und diesen Begriff erst 1959 durch den der Aktualisierungstendenz ersetzt, die seither als der Selbstaktualisierungstendenz übergeordnet gilt.
96
Kapitel 5 · Krankheitslehre der Gesprächspsychotherapie
5.2
Die Grundlage von Inkongruenz: Das Bedürfnis nach unbedingter positiver Beachtung
5.2.1
5
Die Bedingungen für die Integration von Erfahrungen in das Selbstkonzept
Wie auch im 7 Kap. 4 dargestellt worden ist, wird im Rahmen des entwicklungspsychologischen Klientenzentrierten Konzepts angenommen, dass die Selbstentwicklung – die man auch als Selbstaktualisierung bezeichnen kann – vom Beginn des Lebens an unter den gleichen Umständen erfolgt wie die Reorganisation des Selbstkonzepts in der Psychotherapie, nämlich in einer ganz bestimmten Beziehung zu einer anderen Person. ! Erfahrungen werden unter der Bedingung in ein Selbstkonzept integriert, dass das Kind in ihnen von einer anderen Person empathisch verstanden und bedingungsfrei positiv anerkannt wird und dass die andere Person dabei nicht inkongruent wird.
Die andere Person ist dann kongruent, wenn sie ihre eigenen Erfahrungen in der Beziehung zum Kind korrekt symbolisieren kann und auch die empathisch verstandenen Erfahrungen des Kindes vollständig und korrekt symbolisieren kann. Zur Erinnerung: Symbolisieren ist im Klientenzentrierten Konzept ein Synonym für sich bewusst machen bzw. im Bewusstsein repräsentieren. Erfahrung kann z. B. in Körperempfindungen, Vorstellungen, Gefühlen, Gedanken und Worten symbolisiert bzw. im Bewusstsein repräsentiert werden.
Erfahrungen, die in das Selbstkonzept integriert werden, sind: 5 Erfahrungen, die bewusst werden können. 5 Erfahrungen, die organismisch bewertet werden im Hinblick darauf, ob sie solche der Aufrechterhaltung und Entfaltung sind oder ob sie das nicht sind. Auch dieser Bewertungsprozess und sein Ergebnis, bei denen
6
Affekte eine herausragende Rolle spielen, können bewusst werden. 5 Erfahrungen, die von einer anderen Person empathisch verstanden worden sind, also Erfahrungen, in die sich ein anderer einfühlen kann, die also zumindest auch emotionale sind. 5 Erfahrungen, in denen und in deren organismischer Bewertung die Person von einer anderen Person bedingungsfrei positiv beachtet worden ist. 5 Erfahrungen, auf die die andere Person nicht mit Inkongruenz reagiert hat. Die andere Person blieb in der Lage, ihre eigene Reaktion auf die Erfahrung des Kindes und auch die Erfahrung des Kindes selbst in ihrem Bewusstsein genau und vollständig zu symbolisieren.
! Die in das Selbstkonzept integrierten Erfahrungen sind also sowohl organismisch als auch sozial bewertet worden. Sie enthalten immer auch die Beziehungserfahrung, von einer anderen kongruenten Person empathisch verstanden und bedingungsfrei positiv beachtet zu werden.
5.2.2
Die Spaltung der Aktualisierungstendenz in eine Selbstentwicklungstendenz und eine Selbsterhaltungstendenz
Wenn sich ein erstes Selbstkonzept gebildet hat, kann sich die Selbstaktualisierungstendenz in eine Selbstentwicklungs- und eine Selbsterhaltungstendenz spalten. Rogers hat davon gesprochen, dass sich die Aktualisierungstendenz spaltet. Und Höger (1993 und 7 Kap. 3.2.2 und 3.3) hat ausgeführt, dass sich die Tendenzen zur Entfaltung und zur Erhaltung in der Aktualisierungstendenz auseinander entwickeln können. Zu dieser sog. Spaltung kann es aus dem folgenden Grund kommen: Nachdem sich ein erstes Selbstkonzept entwickelt hat, werden Erfahrungen nicht mehr nur unter dem Gesichtspunkt bewertet, ob sie solche der Erhaltung und Entwicklung des Organismus sind oder nicht. Sie werden
97 5.2 · Die Grundlage von Inkongruenz
nun auch im Hinblick darauf bewertet, ob sie das Selbstkonzept bestätigen oder in Frage stellen. Und Erfahrungen, die nicht mit den Erfahrungen übereinstimmen, die im Selbstkonzept integriert sind, die also Inkongruenz begründen, werden als Bedrohung erlebt. Bedrohlich in diesem Sinne sind nun alle Erfahrungen, in denen das Kind, als es sie zum ersten Mal machte, nicht empathisch verstanden oder nicht bedingungsfrei positiv beachtet worden ist, sowie alle Erfahrungen, auf die eine wichtige Bezugsperson mit Inkongruenz reagiert hat. Es werden ferner, wenn sich ein erstes Selbstkonzept gebildet hat, auch die aktuellen Erfahrungen, nicht empathisch verstanden oder nicht bedingungsfrei positiv beachtet, sondern bewertet zu werden – egal ob positiv oder negativ – immer als bedrohlich erlebt. Das gilt auch für Erfahrungen, auf die die wichtigen Bezugspersonen mit Inkongruenz reagieren. Wenn solche Erfahrungen, die mit denen, die ins Selbstkonzept integriert worden sind, inkompatibel sind, nicht abgewehrt, d. h. dem Bewusstsein vorenthalten oder so verzerrt werden können, als passten sie doch zum Selbstkonzept, wird die Inkongruenz zwischen der Erfahrung und dem Selbstkonzept gewahr und zwar in der Art und Weise, dass die Person die Bedrohung des Selbstkonzepts z. B. in der Form von Angst spürt, oder sich selbst nicht versteht und akzeptiert oder bei Erfahrungen, die nicht mit dem Selbstkonzept kompatibel sind, wie auf einen Angriff von außen reagiert (Swildens, 1991) z. B. mit aggressiver Verteidigungsbereitschaft, Fluchtbereitschaft, indem sie sich selbst und/oder den anderen bezüglich der wahren Erfahrung täuscht, z. B. dissoziiert, und/oder sich depressiv mehr oder weniger tot stellt. Ich werde darauf zurückkommen.
5.2.3
Die Verteidigung gegen die Erfahrung zum Beispiel in der posttraumatischen Belastungsreaktion
Am deutlichsten wird die Verteidigung gegen die Erfahrung im Zustand der Inkongruenz in der akuten Belastungsreaktion erlebt. Diese tritt höchstens 20 Minuten nach einem traumatischen Ereignis auf,
5
das heißt einer Erfahrung, die extrem belastend im Sinne von bedrohlich ist, der die Person nicht entkommen kann und in der ihr auch keine andere Person einfühlend und unbedingt wertschätzend zur Seite steht. Die akute Belastungsreaktion beginnt typischerweise mit einer Art von »Betäubung«: Einschränkung der Aufmerksamkeit, Unfähigkeit, Reize zu verarbeiten und Bewusstseinseinschränkung. Die Erfahrung wird nicht bewusst – z. B. werden Schmerzen nicht gespürt und Verletzungen nicht bemerkt – und es kann zu Desorientiertheit kommen, aber auch zu einem Rückzug aus der Realität – Derealisations- und Depersonalisationserfahrungen – bis hin zum Erstarren der gesamten Psychomotorik im Stupor, oder zu einem Unruhezustand und Überaktivität wie Fluchtreaktionen oder Fugue. Es treten Depression, Verzweiflung und Ärger bzw. Aggression auf und vor allem vegetative Anzeichen panischer Angst wie Tachykardie, Schwitzen und Erröten (ICD 10, Weltgesundheitsorganisation, 1991, S. 155 f.). In den auf das Trauma folgenden vier bis acht Wochen ist dann das Erleben in erster Linie von einem Wechsel zwischen Intrusionen und Konstriktion gekennzeichnet. In Phasen der Intrusion reaktualisiert sich die traumatische Erfahrung. Man spricht auch von Flash-backs. Die traumatisierende Situation – zumeist Teile von ihr und auch der ursprünglichen Reaktion auf sie – erscheint im Bewusstsein. Intrusionen sind keine Erinnerungen, sondern erneutes Durchleben der Situation. Intrusionen können auftreten, wenn man zur Ruhe kommt, vor dem Einschlafen oder in Form von Albträumen, die einen aus dem Schlaf reißen. Die Szenen laufen wieder und wieder ab mit allen begleitenden Affekten und Körpersensationen. Intrusionen können auch ausgelöst – »angetriggert« – werden durch Reize, die an die belastende Situation erinnern. Das führt zu Vermeidungsverhalten, und wenn viele Reize Trigger sein können, kann das Vermeidungsverhalten generalisieren, z. B. wird nach Möglichkeit die eigene Wohnung nicht mehr verlassen. Im Wechsel mit Intrusionen werden Zustände von Konstriktion erlebt: emotionale Betäubung, eine gewisse Stumpfheit, Lustlosigkeit, Freudlosigkeit, Anhedonie, eine Art innerer Lähmung. Dann erreicht einen gar nichts mehr.
98
5
Kapitel 5 · Krankheitslehre der Gesprächspsychotherapie
Offenbar neigt der Mensch nicht nur dazu, sich in Begegnungen mit einem anderen Menschen, in denen er verstanden und nicht bewertet wird, so zu verändern, dass er sich bisher vermiedener Erfahrungen bewusst werden kann, sondern es taucht auch Erfahrung, die nicht in das Selbstkonzept integriert werden kann, immer wieder im Bewusstsein auf. Horowitz (1986) spricht im Zusammenhang mit diesen Phänomenen von einer Vervollständigungstendenz (»completion tendency«). Alle Erfahrung dränge nach Einordnung in kognitiv-emotionale Schemata. Unter günstigen Bedingungen, d. h. wenn eine Person entsprechende Gesprächspartner hat, kann die traumatische Erfahrung und die in der Reaktion auf sie erlebte akute Belastungsreaktion in einem Wechsel aus Intrusionen, Angetriggertsein, Albträumen und Aussprechen im Kontakt mit empathischen Personen einerseits und Konstriktionen, Abschalten, Sich-Ablenken und Wegdenken andererseits in vier bis acht Wochen »integriert« sein. Die Person kann dann an die traumatische Situation denken, ohne in einen Flash-back abzurutschen, und ihr normales Leben wieder aufnehmen. Auch die Erfahrung von Inkongruenz bzw. der Verteidigung gegen Erfahrungen kann also ebenso wie die Erfahrungen, durch die sie ausgelöst worden ist, unter der Bedingung, dass das Kind – und später der Erwachsene – in ihnen korrekt und vollständig von einer anderen kongruenten Person empathisch verstanden und bedingungsfrei positiv beachtet wird, in das Selbstkonzept integriert werden. Auch dazu später mehr. ! Zusammenfassung Die Selbstaktualisierungstendenz ist der speziell humane Teil der Aktualisierungstendenz des Gesamtorganismus. Die Struktur der in das Selbstkonzept integrierten Erfahrungen ist entscheidend für die Symbolisierung aktueller Erfahrung im Bewusstsein bzw. die Abwehr von und Verteidigung gegen die Erfahrung sowie dafür, dass Erfahrungen sich selbst zugeschrieben, zum Selbst passend und zu ihm gehörend bewertet werden (Kriz & Stumm, 2003).
5.2.4
Die Verteidigung gegen die Erfahrung zum Beispiel im Erleben des Bedürfnisses nach positiver Selbstbeachtung
Rogers hat auf diese Zusammenhänge auch in der Form hingewiesen, dass er davon gesprochen hat, dass, wenn ein erstes Selbstkonzept entstanden sei, ein Bedürfnis nach positiver Selbstbeachtung erlebt werde, also auch das Ausbleiben von positiver Selbstbeachtung oder ihre Unmöglichkeit gespürt würden (7 Kap. 4.8). Die Phänomene der Abwehr und dieses Bedürfnisses nach positiver Selbstbeachtung hingen auch damit zusammen, dass in das Selbstkonzept auch die positiven Bewertungen durch andere integriert würden (7 Kap. 4). Diese in den deutschen Übersetzungen »Bewertungsbedingungen« genannten »introjected values« und später »conditions of worth« seien wesentlich an der Organisation von mehr oder weniger psychisch gesundem Funktionieren beteiligt. Alle Kinder wollten geliebt werden. Wenn das Kind nicht bedingungsfreie positive Beachtung in seinem Erleben erfahre, sondern selektiv, je nach dem, was es gerade erlebe, mehr oder weniger positive Beachtung erfahre, werde diese Befriedigung oder Frustration in dem Bedürfnis nach positiver Beachtung bei bestimmten Selbsterfahrungen mit diesen assoziiert. Die positive Selbstbeachtung sei dann ebenfalls selektiv. Wenn sich Erfahrungen wiederholten, in denen das Kind zuvor liebevoll beachtet worden ist, werde positive Selbstbeachtung erlebt. Und es würden Selbsterfahrungen allein deshalb gesucht oder gemieden, weil sie als mehr oder weniger wertvoll angesehen würden. ! Für Rogers stellen die Bewertungsbedingungen das Haupthindernis für die Entwicklung der psychologisch angepassten Person dar. Auf ihrer Grundlage werde die organismische Bewertung von Erfahrung relativiert bzw. ganz ausgeblendet und entstehe Inkongruenz.
Bei der Entwicklung dieser Vorstellungen von Bewertungsbedingungen als Grundlage der Abwehr und ihrem wenig förderlichen Einfluss auf eine gesunde Selbstaktualisierung hat das psychoanalytische Strukturmodell sicherlich Pate gestanden. Dennoch wird auch in diesem Konzept sehr klar, dass es im Klientenzentrierten Konzept nicht um Triebabwehr geht.
99 5.3 · Die mehr oder weniger voll funktionsfähige Person
! Wenn im Klientenzentrierten Konzept von Abwehr die Rede ist, geht es vor allem um die Abwehr der organismischen Bewertung von Erfahrung.
5.2.5
Das Bedürfnis nach unbedingter positiver Beachtung
Wie gesagt war es Rogers aufgefallen, dass im Verlauf des Psychotherapieprozesses weniger früher nicht positiv beachtete Erfahrungen als vielmehr die Erfahrung von Inkongruenz, die Abwehr von und die Verteidigung gegen die aktuelle Erfahrung und ihre organismische Bewertung immer mehr ins Bewusstsein treten, also Tendenzen zur Selbstverteidigung erlebbar werden. An diese Beobachtung anknüpfend und aufgrund eigener therapeutischer Erfahrungen sind wir im Rahmen von entwicklungspsychologischen Überlegungen (BiermannRatjen, 1989; 7 Kap. 4) und solchen zur Krankheitslehre des Klientenzentrierten Konzepts (BiermannRatjen & Swildens, 1993) von dem Konzept der Bewertungsbedingungen und eines damit zusammen hängenden Bedürfnisses nach positiver Beachtung abgerückt. Wir denken, dass Bedingungsfreie Positive Beachtung Ausschlag gebend für die Selbstkonzeptentwicklung ist, und dass, wenn sich ein erstes Selbstkonzept gebildet hat, die Selbstaktualisierungstendenz auch in einem Bedürfnis erlebbar wird, von einer kongruenten anderen Person empathisch verstanden und bedingungsfrei positiv beachtet zu werden. Zugleich wird eine Selbsterhaltungstendenz bzw. Selbstverteidigungstendenz (das sind Synonyme) beobachtbar. Definition Mit Selbsterhaltungstendenz sind alle Prozesse gemeint, die verhindern, dass Selbsterfahrungen, die das Selbstkonzept in seiner bestehenden Gestalt in Frage stellen würden, gemacht bzw. als solche bewusst werden, also auch die Abwehr. Auch die Erfahrung bedingter positiver Beachtung stellt das Selbstkonzept in Frage.
Die Selbsterhaltungstendenz als erhaltender Aspekt der Aktualisierungstendenz ist die Grundlage dafür,
5
dass Erfahrungen danach beurteilt werden, ob sie den im Selbstkonzept integrierten Erfahrungen entsprechen oder nicht. Diese Beurteilung kann, wie gesagt, die gesamtorganismische Bewertung der Erfahrung in den Hintergrund drängen. Man könnte auch sagen: Es kann zu einem Konflikt zwischen dem entfaltenden Teil der Aktualisierungstendenz und ihrem erhaltenden Teil kommen. Die Selbstentwicklungstendenz kann in Widerstreit mit der Selbsterhaltungstendenz geraten. Dann wird die gesamtorganismische Bewertung der Erfahrung nicht bewusst und nicht in die Selbsterfahrung integriert bzw. die Bewertung der Erfahrung im Hinblick auf die Erhaltung des Selbstkonzepts setzt sich durch: Statt der organismischen Bewertung wird die Verteidigung gegen die Erfahrung zum Erlebnisinhalt.
5.3
Die mehr oder weniger voll funktionsfähige Person
5.3.1
Die »fully functioning person«
Es gibt im Klientenzentrierten Konzept die Vorstellung einer »fully functioning person«. Diese in der Realität niemals anzutreffende aber theoretisch denkbare Person ist – im Sinne des Klientenzentrierten Konzepts – ganz und gar nicht funktionsgestört insofern, als sie alle ihre theoretisch möglichen Erfahrungen machen und in ihrem Bewusstsein repräsentieren kann. Sie hat in ihrer Entwicklung niemals erlebt, dass sie in ihren Erfahrungen und in ihrer Bewertung ihrer Erfahrung nicht empathisch verstanden worden ist. Sie ist immer bedingungsfrei positiv beachtet worden, weder negativ noch positiv in ihrer Erfahrung in einer Form bewertet worden, die diese Bedingungsfreie Positive Beachtung nicht beinhaltet hätte. Wenn sie geliebt worden ist, dann nicht weil sie bestimmte Eigenschaften hat, sondern sie ist geliebt worden und ihre Eigenschaften sind gesehen worden, und sie ist in ihnen und in dem, was sie für sie selbst bedeuten, empathisch verstanden worden, z. B. in einem heftigen Temperament oder einer schnellen Auffassungsgabe. Sie hat auch nie erlebt, dass die für ihre Entwicklung wichtigen Bindungspersonen in der Reaktion auf ihre Erfahrungen und deren Mitteilung inkon-
100
5
Kapitel 5 · Krankheitslehre der Gesprächspsychotherapie
gruent geworden sind. Ihre Bindungspersonen haben sich immer bewusst machen können, was sie erlebten, wenn sie sich in sie, als sie noch ein Kind war, einfühlten. Wenn sie z. B. einen Trotzanfall hatte und ihre Mutter ohnmächtig wütend machte, konnte ihre Mutter sich das bewusst machen und es als ihr eigenes Problem ansehen, mit dieser ihrer eigenen Wut und Ohnmacht umzugehen. Und ihre Bindungspersonen konnten auch das, was sie auf dem Wege der Einfühlung von ihrem kindlichen Erleben erfasst hatten, in ihrem Bewusstsein korrekt und vollständig symbolisieren. Sie haben z. B. das Kind in seinem Bindungsbedürfnis dann, wenn es aktiviert war, korrekt verstanden und z. B. nicht einen starken Willen sich durchzusetzen in das schreiende Kind hineininterpretiert. Ebenso haben sie das Kind in seinem Explorationsbedürfnis respektiert, es in seinem Spiel unterstützt, wenn das Explorationsbedürfnis aktiviert war, und es in Ruhe gelassen und trotzdem respektiert, wenn es gerade mal nichts lernen oder üben wollte. Die »fully functioning person« hat alle ihre Selbst- und Beziehungserfahrungen in ihr Selbstkonzept integrieren können und kann sich deshalb heute ihre jeweils aktuelle Erfahrung jederzeit ins Bewusstsein holen und sich in ihr verstehen und akzeptieren. Es sei an dieser Stelle daran erinnert, dass die hier gemeinte Erfahrung »die Repräsentation der Welt im Organismus im jeweils gegebenen Augenblick, wie sie durch die Sinnesorgane vermittelt wird (7 Kap. 3.3.1),« ist, die theoretisch bewusst werden kann. Die Bewertung der Erfahrung ist auch eine Form der Repräsentation der Welt. Zum Beispiel wird in dem Affekt der Freude, wenn er reflektiert werden kann, eine Selbsterfahrung bewusst: eine eigene Reaktion auf eine Wahrnehmung der Welt oder in einer Interaktion mit einer anderen Person. Die »fully funcioning person« erlebt also kaum Inkongruenz und ist daher als gesund im Sinne des Klientenzentrierten Konzepts anzusehen:
Die psychisch gesunde Person 5 Sie kann ihre jeweils aktuellen und daher ständig neuen Erfahrungen machen, die Welt und sich selbst in der Reaktion auf sie im Hier und Jetzt wahrnehmen. 5 Sie kann sich ihrer Erfahrung bewusst zuwenden und sie im Bewusstsein halten, 5 sich in ihr verstehen und akzeptieren 5 und sie jeweils aktuell und neu bewerten und in Bezug auf sich selbst interpretieren. 5 Die fully functioning person kann sich auch anderen gegenüber bezüglich ihrer Erfahrung mitteilen. 5 Sie fühlt sich als Autorin ihres Denkens und Fühlens und dementsprechend auch für sich selbst verantwortlich und kann ihre Probleme differenziert wahrnehmen. 5 Sie übernimmt auch die Verantwortung für ihr Verhalten 5 und kann frei und offen und aufrichtig in der Beziehung zu anderen Personen sein.
Die psychisch gesunde Person erlebt zwar – per definitionem – wenig Inkongruenz. Aber auch in ihr findet auf der Grundlage der Selbsterhaltungstendenz, die zusammen mit dem Selbstkonzept entsteht und z. B. in dem Bedürfnis nach positiver Selbstbeachtung erlebt wird, dauernd ein Vergleich der Erfahrung mit den Erfahrungen, die ins Selbstkonzept integriert worden sind, statt. Und auch die gesündeste Person kann in eine Situation geraten, in der sie nicht empathisches Verstehen und eine respektvolle bedingungsfrei positiv beachtende Behandlung durch eine wichtige Bezugsperson, die kongruent bleibt, erfährt. Sie kann auch eine traumatische Erfahrung machen – die ja in den internationalen Klassifikationssystemen dadurch definiert ist, dass sie jeden extrem belasten würde, wie z. B. Vergewaltigung oder Folter oder Katastrophen, durch die das eigene Leben und das anderer bedroht wird. Wie oben ausgeführt worden ist, kann auch die psychisch gesunde Person solche Erfahrungen nicht ohne weiteres in die Selbsterfahrung integrieren, sondern nur in einem längeren Prozess, in dem sich Zustände von Wehrlosigkeit gegenüber den sich wiederholenden Flash backs
101 5.3 · Die mehr oder weniger voll funktionsfähige Person
und der totalen Verschlossenheit gegenüber der Erfahrung auf der einen Seite abwechseln mit Situationen, in denen die Person beim sich Erinnern und in der Erfahrung der Unmöglichkeit, das normale Erleben der Realität wieder aufzunehmen, empathische und bedingungsfrei positive Beachtung erfährt. Die psychisch gesunde Person kann und wird auch bei anderen Erfahrungen, in denen es ihr nicht gelingt verstanden zu werden oder in denen sie bewertet wird, Inkongruenz zwischen ihrem Selbstkonzept und ihrer Erfahrung erleben. Sie kann Angst vor Prüfungen haben oder Lampenfieber vor öffentlichen Auftritten. Sie kann sich schämen, wenn sie sich jemandem vertrauensvoll genähert hat, der sich als ihr nicht wohl gesonnen entpuppt. Sie wird depressiv werden, wenn sie von einer wichtigen Person im Stich gelassen wird, und aggressiv gereizt, wenn sich der Chef aufspielt. Die psychisch gesunde Person wird sich aber in der Regel in diesen ihren Reaktionen auf Erfahrungen, die sie in ihrem Selbstkonzept bedrohen, verstehen und daher auch akzeptieren können. Sie ist nämlich in der (zweiten) Phase der Entwicklung (7 Kap. 4.9.2), in der das Kind bereits ein erstes Selbstkonzept entwickelt hat, das Bedürfnis nach positiver Selbstbeachtung erlebbar geworden ist und damit auch erste Erfahrungen von Inkongruenz gemacht werden, auch in diesen empathisch korrekt verstanden worden: in seinen Schamgefühlen und in dem Impuls zu flüchten oder sich zu verstecken, wenn es sich bewundern lassen sollte z. B., oder in seiner Wut, wenn es sich nicht verständlich machen konnte. Deshalb konnte das Kind auch diese Erfahrungen – des Erlebens von empathischer und unbedingt positiver Beachtung in der Erfahrung von Inkongruenz – in sein Selbstkonzept integrieren.
5.3.2
Der Psychotherapiepatient
Das Prozesskontinuum Psychotherapiepatienten sind nicht als »fully functioning persons« anzusehen. Sie zeichnen sich durch eine Art und Weise des Erlebens aus, die den Gegenpol zum gesunden Erleben in der Definition des Klientenzentrierten Konzepts darstellen.
5
Psychotherapiepatienten 5 Sie stehen ihrer aktuellen Erfahrung eher distanziert gegenüber. Besonders ihre Gefühle sind ihnen wenig gegenwärtig. Sie gestehen sie sich kaum ein oder zu und neigen dazu, sich über sie zu äußern, als seien sie Objekte außerhalb ihrer Person. 5 Die emotionale Bedeutung der gegenwärtigen Erfahrung spielt kaum eine Rolle, wird nur selten symbolisiert. Erfahrungen werden in Bezug zur Vergangenheit interpretiert. 5 Psychotherapiepatienten sind kaum in der Lage, sich ihre Erfahrung bewusst zu machen. Sie wehren sich gegen die Erfahrung und können sich oft in ihr nicht verstehen und akzeptieren. 5 Ihre kognitiven Funktionen stehen im Dienst einer starren Deutung dessen, was sie erleben, als äußere Fakten. Die Erfahrung wird nicht als aktuell und neu bewertet und nicht in Bezug auf sich selbst interpretiert. 5 Es besteht Widerwilligkeit, sich über sich selbst mitzuteilen. 5 Probleme werden nicht als die eigenen angesehen, sondern als außerhalb der eigenen Person existierend, und wenig differenziert wahrgenommen. 5 Dementsprechend besteht kein Wunsch nach persönlicher Veränderung. 5 Enge Beziehungen zu anderen Personen werden als bedrohlich erlebt und gemieden.
Der Psychotherapiepatient ist hier – eben so wie weiter oben die gesunde oder voll funktionierende Person – mit Hilfe des sog. Prozesskontinuums von Rogers beschrieben worden. Rogers hat es zur Beschreibung der Entwicklung von Klienten im Verlauf einer erfolgreichen Psychotherapie vorgestellt. Der Prozess, der auf dieser Skala in verschiedenen Dimensionen erfasst wird, bzw. das Funktionieren der Person, das mehr oder weniger gesund ist, besteht in der Hinwendung zur Erfahrung, ihrer Reflexion und ihrer Mitteilung an andere Personen. Aus dieser Erfahrung entsteht das Selbstkonzept. Aus einer
102
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Kapitel 5 · Krankheitslehre der Gesprächspsychotherapie
anderen Perspektive betrachtet: in diesem Prozess der Hinwendung zur Erfahrung, ihrer Reflexion und der Beziehung zu anderen Menschen in dieser Erfahrung wird das Selbst erlebt. Die Skala wird ein Kontinuum genannt, weil sie diesen Prozess in seinen einzelnen Dimensionen, wie er sich im Verlauf der erfolgreichen Therapie entwickelt, in Stufen beschreibt, die ineinander übergehen. 4 Der Umgang mit den Gefühlen z. B. ist zunächst so, dass der emotionale Bedeutungsgehalt der Erfahrung keine Rolle spielt. 4 Auf einer zweiten Stufe werden Gefühle so beschrieben, als ob man sie nicht selber hätte oder als ob sie vergangene Objekte wären. Gefühle werden gezeigt, aber nicht als solche anerkannt, noch gibt man zu, sie zu haben. 4 Im weiteren Verlauf der Therapie, auf einer dritten Stufe, ist viel die Rede von Gefühlen und persönlichen Ansichten, sie werden aber beschrieben und sind nicht recht gegenwärtig. 4 Auf der vierten Stufe kommt es dazu, dass Gefühle als unmittelbar gegenwärtig erfahren werden, begleitet von Misstrauen und Furcht gegenüber dieser Selbsterfahrung. 4 Schließlich werden die fünfte, sechste und siebte Stufe erreicht, auf denen die aktuell, im Hier und Jetzt erlebten Gefühle, die zum Teil erstmals erlebt bzw. ganz neu entdeckt werden, den wesentlichen Inhalt der Therapiesitzungen ausmachen (vgl. Biermann-Ratjen et al., 2003, S. 75 ff. und 106 ff.).
Die Strukturachse der OPD Ähnlich wie auf dem Prozesskontinuum von Rogers wird auf der Achse IV der OPD (Operationalisierte Psychodynamische Diagnostik) die psychische Gesundheit bzw. die Güte des psychischen Funktionierens durch die Betrachtung der »Gestaltung und Funktionsweisen des Selbst in der Beziehung zum Anderen« (Arbeitskreis OPD, 1996, S. 67) erfasst. Dabei wird das Selbst definiert als die reflexive psychische Struktur. Das Niveau des psychischen Funktionierens, der »strukturellen Fähigkeiten«, wird u. a. in der Dimension Selbstwahrnehmung eingeschätzt, das ist »die Fähigkeit, sich selbst, d. h. die Person als Ganzes und die eigene Innenwelt zum Gegenstand selbst-
reflexiver Aufmerksamkeit zu machen, dabei ein evidentes Bild des eigenen Selbst und seiner Identität zu gewinnen und speziell die emotionalen Abläufe des psychischen Binnenraums differenziert wahrnehmen zu können« (Rudolf, 2004, S. 65). Die Dimension Kommunikation ist definiert als: »die Fähigkeit, die Fremdheit und Ferne der Objekte durch emotionale Kontaktaufnahme und über die Brücke emotionaler Verständigung (durch mitgeteilte und entgegengenommene Affekte) zu überwinden« (a. a. O.). Es gibt vier weitere Dimensionen der Strukturachse der OPD: Selbststeuerung, Abwehr, Objektwahrnehmung und Bindung. In ihnen wird das psychische Funktionieren aus einer psychoanalytischen Sicht beschrieben, die mit der Perspektive des Klientenzentrierten Konzepts weniger gut zu vereinbaren ist. Selbststeuerung ist in der OPD definiert als: »Die Fähigkeit, ein inneres Gleichgewicht aufrecht erhalten bzw. wiederherstellen zu können, indem die Affekte toleriert und reguliert, die Impulswelt gesteuert und integriert und der Selbstwert realitätsgerecht einreguliert werden kann« (a. a. O. S. 65). Der Klientenzentrierte Psychotherapeut fragt sich, wenn er seinen Klienten unter dem Aspekt der Selbststeuerung betrachtet, zwar auch nach dessen Toleranz für die eigenen Affekte und seiner Fähigkeit, diese zu regulieren, hat dabei aber weniger eine »Impulswelt« und eine Realität, nach der sich der Klient in der Einschätzung seines Selbstwertes richten sollte, im Sinn. Der Gesprächstherapeut interessiert sich mehr dafür, ob der Klient überhaupt bzw. in welchem Maße er Zugang zu seinem je gegenwärtigen emotionalen Erleben hat und gegebenenfalls welche Affekte er mit seinem Selbstkonzept vereinbaren kann und ihm erlauben, eine positive Selbstbeachtung aufrecht zu erhalten. Je weniger gesund er ist, desto weniger Gefühle und Affekte kann er bewusst werden lassen bzw. in umso weniger Affekten kann er sich verstehen und gelten lassen und umso mehr Inkongruenz erlebt er. Das Erleben von Inkongruenz ist seinerseits ein affektives Erleben: Inkongruenz wird als Angst und Depression erlebt und als Scham und in Selbstzweifeln und Aggressivität, die wiederum Scham- und Schuldgefühle nach sich ziehen können. Ich werde darauf zurückkommen.
103 5.4 · Differenzielle Beschreibungen des Inkongruenzerlebens
Abwehr, »das einzige theoretische Konstrukt unter den ansonsten verhaltensnah beschriebenen Strukturdimensionen« (Rudolf, 2004, S. 65), wird in der OPD wie folgt beschrieben: »Die Fähigkeit zur Abwehr bezieht sich auf die Mittel, die zur wirksamen und flexiblen Selbststeuerung eingesetzt werden, d. h. die reifen intrapsychisch wirksamen Abwehrmechanismen (versus die interpersonell wirksamen »unreifen« Abwehrformen)« (a. a. O.). Wenn im Klientenzentrierten Konzept von Abwehr die Rede ist, geht es vor allem um die Abwehr der organismischen Bewertung von Erfahrung. Interessanterweise definiert Rogers dieses Konstrukt, das in der OPD als nicht verhaltensnah beschrieben gilt, als »… die verhaltensmäßige Reaktion des Organismus auf Bedrohung (des Selbstkonzepts) mit dem Ziel, die gegenwärtige Struktur des Selbst aufrecht zu erhalten. Dies wird angezielt durch die Verzerrung der Erfahrung im Gewahrsein … oder indem die Erfahrung vor dem Gewahrsein geleugnet wird« (Rogers, 1959b/1987, S. 204 f.). Alle auf den niedrigen Stufen des Prozesskontinuums beschriebenen Formen des Umgangs mit der Selbsterfahrung z. B. bedeuten Verzerrungen und Verleugnungen der Erfahrung und vor allem ihrer organismischen Bewertung im Gewahrsein. Die Unterscheidung zwischen reifen »intrapsychisch wirksamen« und unreifen, »interpersonell wirksamen« Abwehrmechanismen haben Gesprächspsychotherapeuten z. B. bei der Beschreibung der Borderline-Persönlichkeitsstörung und ihrer Behandlung adaptiert (Eckert & BiermannRatjen, 2000). Im Rahmen der Krankheitslehre des Klientenzentrierten Konzepts werden Abwehrphänomene aber mehr als Formen des Erlebens von Inkongruenz, insbesondere der Verteidigung gegen die lebendige Erfahrung, behandelt als unter der Überschrift Abwehr (s. unten). Eine weitere Dimension, Objektwahrnehmung ist in der OPD wie folgt definiert: »Die Fähigkeit, die Objektwelt aus einer abgegrenzten und zugleich emotional verbundenen Position heraus realistisch, d. h. ganzheitlich wahrzunehmen. Das schließt die klare Abgrenzung von Selbst und Objekten ein sowie die Fähigkeit, sich in die Objekte hineinzuversetzen« (Rudolf, 2004, S. 65). Schließlich wird die Dimension Bindung definiert als die: »Fähigkeit, von wichtigen Bezugsper-
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sonen innere Repräsentanzen zu errichten und emotional positiv zu besetzen, so dass die Beziehung auch bei äußerer Abwesenheit der Objekte bzw. bei konflikthaften Spannungen mit den Objekten aufrechterhalten werden kann. Dabei soll die Beziehung zu unterschiedlichen Objekten auch zu variablen inneren Bildern führen. Hierher gehört die Fähigkeit, Objekte loszulassen, sich von ihnen zu trennen und zu verabschieden, d. h. emotional einen Trauerprozess zu durchlaufen« (Rudolf, 2004, S. 65). In diesen beiden Dimensionen werden also die Fähigkeiten zum Umgang mit anderen Menschen und den für die Selbstentwicklung wichtigen Beziehungen zu ihnen erfasst. Außer in der Art der Abwehr und den Problemen bei der Selbststeuerung unterscheidet sich – in Kernbergs Konzept, das der OPD mit zu Grunde liegt, – das Funktionieren der gesunden Persönlichkeit in diesen zwischenmenschlichen Beziehungen am deutlichsten von den Verhaltensweisen bzw. Problemen der in der Persönlichkeit gestörten Menschen. Auf den Unterschied im Inkongruenzerleben zwischen Personen mit und ohne Selbstpathologie und darauf, wie er gesprächspsychotherapeutisch beschrieben werden kann, werde ich ebenfalls zurückzukommen.
5.4
Differenzielle Beschreibungen des Inkongruenzerlebens
Zunächst soll es im folgenden noch einmal um das gehen, was im Klientenzentrierten Konzept unter Abwehr verstanden wird, die verhaltensmäßigen Reaktionen auf Bedrohungen des Selbstkonzepts, durch die der Psychotherapiepatient gekennzeichnet ist. Er wehrt Erfahrungen, die nicht mit seinem Selbstkonzept vereinbar sind, entweder so ab, dass sie gar nicht bewusst werden, oder er verzerrt sie im Bewusstsein, unter anderem auch dadurch, dass er sie nicht vollständig symbolisiert – es werden ihm z. B. nur die Schlafstörungen bewusst, die zur Depression gehören, aber nicht die Gefühle und Gedanken (z. B. an die Sinnlosigkeit der eigenen Existenz). Oder er fühlt sich bei Erfahrungen, die nicht mit seinem Selbstkonzept vereinbar sind, z. B. bei Enttäuschungen, bedroht bzw. frustriert in seinem Bedürfnisses nach positiver Selbstbeachtung, fühlt
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Kapitel 5 · Krankheitslehre der Gesprächspsychotherapie
sich minderwertig und/oder kämpft oder verteidigt sich gegen die Erfahrung von Enttäuschungen – vermeidet z. B. phobisch bestimmte Situationen. Nicht mit dem Selbstkonzept vereinbar sind 4 die Erfahrung, 5 nicht empathisch verstanden zu werden, 5 nicht bedingungsfrei positiv beachtet zu werden, 5 in einer wichtigen anderen Person Inkongruenz auszulösen; 4 die Wiederholung einer Erfahrung, die zu einem früheren Zeitpunkt im Leben nicht in das Selbstkonzept integriert worden ist. Mit dem Selbstkonzept unvereinbare Erfahrung erkennt man daran, dass 4 im Zusammenhang mit ihr Inkongruenz erlebt wird, 4 sie abgewehrt wird: 5 im Gewahrsein verleugnet wird, 5 im Gewahrsein verzerrt wird, 5 im Gewahrsein unvollständig symbolisiert ist.
5.4.1
Das differenzielle Krankheitsverständnis in der prozessorientierten Gesprächspsychotherapie
Hans Swildens hat auf einer phänomenologisch/ existenzphilosophischen Basis eine sehr differenzierte Diagnostik als Grundlage für eine differenzielle, prozessorientierte Gesprächspsychotherapie vorgestellt. Er geht davon aus, dass die psychopathologischen Syndrome, »… die früher als hysterische, depressive, zwanghafte, neurasthenische, somatisierende, phobische und angstneurotische bezeichnet wurden«, einen »gemischt psychoreaktiven und konstitutionellen Ursprung« haben und sich vom »einfachen Erleben von Inkongruenz« unterscheiden (Swildens, 2003, S. 215). Einfache Inkongruenz werde als Unzufriedenheit mit sich selbst, Gefühl der Entfremdung oder als innere Zerrissenheit erlebt (Rogers sprach von Verletzbarkeit, wenn die Unvereinbarkeit der Erfahrung mit dem Selbstkonzept nur geahnt werde). Die früher als neurotisch bezeichneten Krankheitsbilder hingegen seien durch »fest etablierte
Muster der Wahlverhinderung und Existenzverweigerung mit dazugehörender Mythe und passendem Alibi gekennzeichnet« (ebd., S. 216). Die »Gesunden mit Problemen« und die »neurotischen Personen« hätten zwar das gemeinsame Merkmal der Erfahrung der Inkongruenz, die zur Selbstexploration motiviere. Die neurotischen Personen seien aber bei der Selbstexploration in einer für die spezifische Form der Neurose jeweils typischen Art und Weise in ihre subjektive Geschichte – Swildens nennt sie Mythe – verstrickt, mit der sie ihre persönlichen Beschränkungen und ihr persönliches Versagen1 entschuldigten. »Diese Geschichte (Mythe) verteidigt und greift an, entschuldigt und verbirgt mit dem Ziel, das Selbstkonzept zu sichern (…). Die Mythe enthält neben Aussagen über sich selbst (Selbstkonzept, Selbstbild, Selbstideal) auch ausgesprochen entschuldigende stereotype Aussagen hinsichtlich existenziellen Versagens und fehlender Selbstaktualisierung. Das heißt, die Mythe enthält AlibiElemente…« (Swildens, 2003, S. 213). Sie soll begründen, warum z. B. der Angstneurotiker nicht nur ängstigende Situationen, sondern damit auch sein Leben zu leben vermeidet, der Hysteriker sich mit den Gefühlen tarnt, die er gerade nicht spürt, der Depressive sich tot stellt und sich somit weigert, sein eigenes (leidvolles) Leben zu leben, und der Zwanghafte alles Lebendige und damit auch das eigene Leben in der Kontrolle erstickt. Tatsächlich, so meint Swildens, seien die neurotischen Krankheitsbilder aber nicht nur psychoreaktiv zu erklären. Die in der Lebensgeschichte, der Mythe, zur Sprache kommenden Erfahrungen eines Mangels an empathischer bedingungsfrei positiver Beachtung bei bestimmten Erfahrungen in der Kindheit reichten nicht aus zur Erklärung, warum z. B. die eine Person eine depressive und die andere eine zwanghafte Abwehr entwickelt. Auch konstitutionelle Faktoren spielten bei der Ausbildung einer Störung eine große Rolle.
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Versagen ist für den existenzphilosophisch orientierten Swildens die Verteidigung gegen oder die Vermeidung der zur menschlichen Existenz gehörenden Erfahrung der Zeitlichkeit, Leiblichkeit und Endlichkeit menschlichen (Er)lebens, die Tod und Krankheit, Unordnung bis zum Chaos und Kummer und Leid bedeuten.
105 5.4 · Differenzielle Beschreibungen des Inkongruenzerlebens
5.4.2
Der prozess-experientielle Aspekt des Klientenzentrierten Konzepts
Während Hans Swildens das Inkongruenzerleben der Psychotherapiepatienten auch aus der Sicht der traditionellen Klassifikationssysteme für psychische Erkrankungen beschreibt und einen Zusammenhang zwischen dieser Sicht und dem Bild, das sie im Psychotherapieprozess abgeben, herstellt, hat Carl Rogers die Patienten ganz betont nur anhand ihres Erlebens im Therapieprozess und dessen Entwicklung über die Zeit beschrieben. Auch die Bewertungsbedingungen, die eine Person in ihr Selbstkonzept integriert haben kann, bleiben in seinen Ausführungen eher abstrakte Größen, von denen es höchstens wenige bzw. viele geben kann. Rogers hat auch das Ideal der psychischen Gesundheit immer weniger als Status (gesunde oder reife Persönlichkeit), sondern mehr als ein flexibles Offensein für die Erfahrung (zu ihr gehört die Fähigkeit zur Selbstexploration) bzw. als adäquates ProzessFunktionieren – das ist die Symbolisierung von Erfahrung bzw. ihre Integration in die Selbsterfahrung – definiert. Vor diesem Hintergrund hat Gendlin (1998) betont, dass es für die Entwicklung in einer Gesprächspsychotherapie entscheidend ist, ob die Interventionen des Therapeuten eine erlebnisaktivierende (experientielle), den Prozess der Symbolisierung von Erfahrung bzw. ihrer Integration in die Selbsterfahrung förderliche Wirkung haben. Das ist der Grund dafür, dass vor allem Greenberg (Greenberg, Rice & Elliot, 1993; Greenberg, Watson & Lietaer, 1998) auf dem Namen Process-Experiential Psychotherapy – deutsch: Prozess-Erlebnisorientierte Psychotherapie; 7 Kap. 20 – für eine Form der Klientenzentrierten Psychotherapie besteht, die sich als Weiterentwicklung der klassischen Client-centered Psychotherapy versteht und in die auch Elemente der Gestalttherapie Eingang gefunden haben. Im Rahmen der Process-Experiential Psychotherapy (Elliott, 1999a, 1999b; Elliott & Greenberg, 2002) konzentriert sich die Beschreibung des Patientenverhaltens nicht darauf, sie mit der in anderen Klassifikationssystemen vergleichbar zu machen, sondern auf die Identifikation von Erfahrensmustern, die für den Prozess der Selbstexploration problematisch
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sind. Dabei wird auf die psychologischen Theoreme der emotional-kognitiven Schemata und vorbewussten Strukturen, die bei der Verarbeitung von emotionalen, kognitiven und sinnlichen Informationen (»information-processing«) und der Konstruktion von persönlicher Bedeutung eine Rolle spielen, zurückgegriffen. Greenberg et al. (1993) weisen auf sechs besondere Processing-Probleme und Marker für diese hin. 1. Inadäquate affektive Reaktionen, die die Person selbst nicht haben möchte 2. Unfähigkeit, einen »felt sense« zu bilden (»intellektualisieren«) oder einen »felt sense« zu explizieren (Gefühlschaos) 3. Unaufhebbar widersprüchliche Impulse oder Selbstbewertungen 4. Abblocken von Gefühlen oder des Erlebens von Bedürfnissen (»unfinished business«) 5. Selbstbestrafungsreaktionen 6. Massive Vulnerabilität (»fragile sense of self«) Das therapeutische Vorgehen wird gegenüber der sog. klassischen Gesprächspsychotherapie um das Behandlungsprinzip der »Prozessdirektivität« ergänzt. Die klassische Gesprächspsychotherapie wird nicht ersetzt! Der Therapeut achtet in seinem Bemühen um empathisches Verstehen und bedingungsfrei positive Beachtung des Patienten in seiner Erfahrung auf das Auftreten von Hinweisen – Markern – auf das Erleben von Inkongruenz speziell in diesen Formen und versucht dann, den Patienten in seinem Prozess zu unterstützen, indem er z. B. ein Focusing (Gendlin, 1998; 7 Kap. 19) durchführt, den Patienten dazu anregt, seine Sinneswahrnehmungen genau zu betrachten, sein inneres Erleben deutlich zum Ausdruck zu bringen, sich sein Erleben eines interpersonalen Kontaktes genau vor Augen zu führen und zwar so, dass ihm sein eigenes inneres Erleben dabei gewahr bleibt, usw. In der Sprache des Prozesskontinuums: ! In der Prozess-Erlebnisorientierten Psychotherapie sorgt der Therapeut in der Therapiesituation dafür, dass 4 die Patienten sich ihrer aktuellen Erfahrung, besonders ihrer Gefühle, gewärtig sind und sie als Ereignisse in ihrer Person ansehen,
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Kapitel 5 · Krankheitslehre der Gesprächspsychotherapie
4 sie die emotionale Bedeutung der gegenwärtigen Erfahrung klar symbolisieren und ausdrücken und jetzt interpretieren, 4 die Patienten sich klar machen, dass sie sich gegen die Erfahrung wehren und sich in ihr nicht verstehen und akzeptieren, sich gar für sie bestrafen, 4 sie ihre kognitiven Funktionen jetzt in den Dienst einer aktuellen Deutung und Bewertung der Erfahrung in Bezug auf sich selbst stellen und 4 sich darüber mitteilen, 4 die Patienten ihre Probleme als ihre eigenen differenziert wahrnehmen, 4 sich vor allem in ihrer Vulnerabilität wahrnehmen 4 und darin, dass sie enge Beziehungen zu anderen Personen als bedrohlich erleben und meiden.
5.4.3
Die Zielorientierte Gesprächpsychotherapie
Das Therapiekonzept, dass Carl Rogers hinterlassen hat, ist im Laufe der Zeit weiterentwickelt und dabei auch abgewandelt worden (Keil & Stumm, 2002). Eine dieser Varianten wurde in Deutschland von R. Sachse (z. B. 1996) u. a. unter dem Namen »Zielorientierte Gesprächspsychotherapie« vorgestellt, und zwar mit dem Anspruch, ihre theoretischen Konzepte auf der Grundlage der Erkenntnisse der modernen psychologischen Grundlagenforschung entwickelt und durch diese fundiert zu haben. Sachse stellt sie selbst so vor (2003, S. 341 ff.): »Zielorientierte Gesprächspsychotherapie (ZGT) ist eine … auf die Klärung und Repräsentation affektiver und kognitiver Schemata abzielende Therapieform, in der Psychotherapeuten neben dem klassischen Beziehungsangebot der Gesprächspsychotherapie noch gezielte Bearbeitungsangebote machen und den Bearbeitungsprozess des Klienten gezielt fördern … Klienten sollen im Rahmen einer durch die (gesprächspsychotherapeutischen) Basisvariablen getragenen therapeutischen Beziehung spezifische Themen bearbeiten, die 6
relevanten Schemata aktualisieren und mit Hilfe des Therapeuten kognitiv repräsentieren bzw. klären; dadurch werden die Schemata einer Prüfung, Umstrukturierung und einer Verbindung mit Ressourcen des Klienten zugänglich. Damit geht die Zielorientierte Gesprächspsychotherapie von Modellen der Emotions- und Kognitionspsychologie aus … Spezielle therapeutische Strategien der Zielorientierten Gesprächspsychotherapie richten sich auf eine ›Bearbeitung der Bearbeitung‹, d. h. eine therapeutische Bearbeitung von Vermeidungen des Klienten.« »Bei einer Bearbeitung der Bearbeitungsweise konfrontiert ein Psychotherapeut z. B. den Klienten mit seiner Vermeidung und bietet Gründe dafür an. Dadurch kann die Vermeidungstendenz systematisch reduziert werden. … Die Zielorientierte Gesprächspsychotherapie umfasst auch Strategien des Psychotherapeuten, sich zu zentralen Beziehungsmotiven des Klienten komplementär zu verhalten sowie dysfunktionale Interaktionsmuster des Klienten zu bearbeiten.« Bei der ›Beziehungs-Bearbeitung‹ wird der Klient »mit seinem Beziehungsverhalten konfrontiert und die dem Interaktionsverhalten zugrunde liegenden Schemata werden bearbeitet. … Der Verstehensprozess wird … anhand sprachpsychologischer Theorien konzipiert; der Psychotherapeut re-konstruiert mit Hilfe seines (psychologischen) Wissens das innere Bezugssystem des Klienten und entwickelt ein Klienten-Modell, das im Verlauf der therapeutischen Arbeit immer elaborierter wird und dem Psychotherapeuten dann als weitere Verstehensbasis zur Verfügung steht.« Mit dieser Auffassung von den Bedingungen für den psychotherapeutischen Prozess, seinem Inhalt und der Rolle von Patient und Therapeut in ihm steht die Zielorientierte Gesprächspsychotherapie der kognitiven Verhaltenstherapie konzeptionell näher als der Gesprächspsychotherapie.
107 5.4 · Differenzielle Beschreibungen des Inkongruenzerlebens
5.4.4
Primäre und sekundäre Inkongruenz
Auf Swildens (1991, 1993) geht zurück, dass im Rahmen des Klientenzentrierten Konzepts eine primäre von einer sekundären Inkongruenz unterschieden wird. Definition Sekundäre Inkongruenz wird erlebt, wenn eine aktuelle Erfahrung das Selbstkonzept in Frage stellt, während die primäre Inkongruenz die allgemeine – d. h. den alltäglichen Umgang mit der Erfahrung und ihrer Repräsentation im Bewusstsein bestimmende – Stagnation der Selbstaktualisierung bezeichnet.
Das Ausmaß der allgemeinen Einschränkung im Selbstentwicklungsprozess lässt sich z. B. an der Qualität der Angst, die in der akuten sekundären Inkongruenz erlebt wird, ermessen. Die Art und das Ausmaß der primären Inkongruenz haben auch Einfluss auf andere Formen, in denen die sekundäre Inkongruenz bewusst wird, bzw. darauf, welche Krankheitssymptome bei welchen Erfahrungen eine Person entwickelt.
Phasen der Selbstkonzeptentwicklung In 7 Kap. 4.9 (vgl. Biermann-Ratjen, 1993) ist dargestellt worden, dass sich das Selbstkonzept – zusammen mit der Selbsterhaltungstendenz – in Phasen entwickelt. Diese Darstellung wird an dieser Stelle im Hinblick auf eine weitere Möglichkeit, unterschiedliches Inkongruenzerleben voneinander zu unterscheiden, wieder aufgegriffen. In einer ersten Phase werden erste immer auch affektive Erfahrungen mit der organismischen Bewertung der eigenen Befindlichkeit und der lebensnotwendigen und sehr körpernahen Regulierung dieser Erfahrungen im Kontakt mit der »mütterlichen« Pflegeperson in das Selbstkonzept integriert. Die basalen Affekte Freude, Interesse, Erstaunen, Schmerz, Ekel, Wut, Angst und Scham sind als Empfindungs- (Erfahrungs- und Bewertungs-) und Ausdrucksprogramme angeboren und unmittelbar nach der Geburt oder im Verlauf der ersten Lebensmo-
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nate an Babys beobachtbar und sicher identifizierbar (Deneke, 1992), vor allem in ihren Signalkomponenten Vokalisierung und Mimik. Die motorischen und kognitiven Komponenten des Affekts entwickeln sich erst später (Krause, 1983). Diese Erfahrungen werden nur unter der Bedingung in ein erstes Selbstkonzept integriert, dass die Pflegepersonen das Kind empathisch verstehen und bedingungsfrei positiv beachten und dabei nicht inkongruent werden und auch die empathisch verstandenen Erfahrungen des Kindes vollständig und korrekt in ihrem Bewusstsein symbolisieren können. Deshalb kann man auch sagen, dass in dieser ersten Phase erste Erfahrungen mit der Befriedigung des Bedürfnisses nach bedingungsfreier positiver Beachtung in der affektiven (organismischen) Erfahrung in einem ersten Selbstkonzept repräsentiert werden – oder nicht. Konkret spielen sich in dieser ersten Entwicklungszeit z. B. der Schlaf- und Wachrhythmus und die Still- bzw. Hungerperiodik ein. Schon in dieser Zeit kann die Mutter, wenn das z. B. nicht klappt, inkongruent werden und eigene Vorstellungen in das Kind projizieren. Man kann sagen, dass das Neugeborene sein Bedürfnis nach bedingungsfreier positiver Beachtung bzw. sein Bindungsbedürfnis nicht anders zum Ausdruck bringen kann als in Affekten und Spannungszuständen – der ganzen Palette des Erlebens der totalen Abhängigkeit seines Überlebens und seiner psychischen Entwicklung von seinen Pflegepersonen und deren korrektem Verstehen und entsprechendem Verhalten. In einer zweiten Phase beginnt das Kind, subjektive Selbsterfahrungen zu machen, Gefühle und Absichten zu haben, auch wenn sie zunächst noch nicht reflektiert werden können. Es erlebt jetzt auch seine Bewertungen seiner Erfahrungen. Das Kind kann jetzt stolz sein und Freude über sich selbst empfinden. Es kann sich aber auch schämen und an sich zweifeln, sich sogar verachten. Das Kind kann das Erleben dieser Gefühle zusammen mit der Erfahrung, dass sie empathisch nachvollziehbar sind und das Kind in ihnen anerkannt wird, in sein Selbstkonzept integrieren. Der Prozess der Integration von Erfahrung in das Selbstkonzept, das Erlebnis, in ihr angenommen zu werden und sich selbst in ihr annehmen zu können, ist wie die Selbstregulation in der Interaktion mit der einfühlsamen Mutter
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Kapitel 5 · Krankheitslehre der Gesprächspsychotherapie
in der frühen Säuglingszeit eine beobachtbar angenehme Erfahrung, die oft auch mit einer körperlichen Entspannung einhergeht. Wenn sie nicht gelingt, bleibt diese Entspannung aus. In dieser zweiten Phase werden die Selbsterfahrungen auch im Hinblick darauf bewertet, ob sie mit denen kompatibel sind, die bisher in das Selbstkonzept integriert werden konnten. Es kann jetzt auch Inkongruenz erlebt werden. Das geschieht vornehmlich dann, wenn das Kind nicht empathisch verstanden und nicht unbedingt wertgeschätzt wird und in den Pflegepersonen Gefühle auslöst, die nicht bedingungsfrei wertschätzend sind und die sich die Bezugspersonen nicht bewusst machen können. Dann kann das Kind Angst erleben oder auf seine Erfahrung wie auf einen Feind reagieren, Fluchtund Kampfimpulse erleben, abschalten, sich tot stellen oder in anderer Form tarnen. Fallvignette
Erste Inkongruenzerfahrungen »Die 13 Monate alte Dorothy greift nach einem farbigen Ball, während ihre Mutter eine Kasperlepuppe vor ihrem Gesicht hin und her bewegt. Der Ball rollt fort. Dorothy beginnt den Ball zu verfolgen; die Mutter stoppt diese Bewegung mit einem Arm, während sie ihr mit der anderen Hand die Puppe zeigt. Dorothy fällt unglücklich hin, wobei ihr Kopf auf Mutters Bein aufschlägt. Die Mutter wird ungehalten, und Dorothy beginnt wütend zu schreien. ›Nein, du böses Mädchen!‹ ruft die Mutter aus. Dorothy schwankt nun zwischen flehendlichem Weinen und wütendem Blick hin und her. Als die Mutter ihr den Ball jetzt überreicht, lässt Dorothy ihn fallen, ihre Augen sind dabei zu Boden gerichtet, ihr Körper zeigt keine Bewegung. Darauf rollt die Mutter ihr den Ball zu, den Dorothy ärgerlich wegstößt. In den folgenden zwei Minuten schauen sich Dorothy und ihre Mutter immer wieder prüfend an, jede mit finsterem Gesichtsausdruck« (Lichtenberg, 1990, S. 881).
Alle diese subjektiven Selbstempfindungen, zu denen die ersten Inkongruenzerfahrungen gehören, können, wenn das Kind in seinem Bedürfnis nach bedingungsfrei positiver Beachtung auch in ihnen
befriedigt wird, in das Selbstkonzept integriert werden. Das Kind wird sich dann, wenn sie später wieder auftauchen, in ihnen verstehen und akzeptieren können. Wenn sie nicht in das Selbstkonzept integriert werden können, werden sie, wann immer sie wieder erlebt werden könnten, vor allem zum Erleben von Inkongruenz führen. Die relative Unfähigkeit, sich diesen Gefühlen zuzuwenden, ist ein hervorstechendes Merkmal aller Patienten. Sie erleben vor allem Inkongruenz. In einer dritten Phase entdeckt das Kind seine persönlichen Entwicklungsmöglichkeiten und -begrenzungen und seine Bewertung durch andere in ihnen, z. B. und vor allem als männlich oder weiblich. Wenn die wichtigen Bezugspersonen dem kindlichen Erleben seiner Möglichkeiten und Begrenzungen gegenüber die sog. klientenzentrierte Haltung einnehmen und beibehalten können, wird das Kind auch diese Erfahrungen in sein Selbstkonzept integrieren können. Wenn es aber in ihnen bewertet wird, positiv oder negativ, oder indem die eine Erfahrung empathisch nachvollzogen wird und die andere nicht oder eigene nicht unbedingt wertschätzende Gefühle in den wichtigen Bezugspersonen auslöst, wird das Kind Inkongruenz erleben. Sie kann als Angst oder in der beschriebenen Form einer Verteidigung gegen die Erfahrung erlebt werden, aber auch als eine kritisch ablehnende Haltung der Selbsterfahrung gegenüber im Sinne eines »Ich müsste oder sollte so und nicht anders empfinden.« Rogers hat in diesem Zusammenhang davon gesprochen, dass Bewertungsbedingungen internalisiert und als Teil des Selbstkonzepts erlebt würden.
Unterschiedliche Formen des Erlebens der Inkongruenz als Angst Im Laufe der Zeit können mehr oder weniger gravierende Widersprüche zwischen den tatsächlichen Erfahrungen und dem Selbstkonzept entstehen. Generell ist anzunehmen: Je früher in der Entwicklung Erfahrung nicht in das Selbstkonzept integriert werden konnte, d. h. in einer je früheren Phase die Stagnation der Selbstkonzeptentwicklung schon eingesetzt hat, desto mehr Erfahrung ist auch nicht mit dem Selbstkonzept zu vereinbaren bzw. umso ausgeprägter ist die primäre Inkongruenz. Desto anfälliger ist die Person auch für Angst. Ein stabiles im Sinne
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von flexibel sich weiterentwickelndes Selbstkonzept ist, darauf vor allem hat auch Bowlby hingewiesen, ein Bollwerk gegen das Erleben von Chaos und die damit verbundene Angst (7 Kap. 4). Wenn die Inkongruenz zwischen der Erfahrung und dem Selbstkonzept nur geahnt wird, ist die Person verletzlich. Wenn die Inkongruenz bewusst wird, wird die Abwehr oder die Verteidigung gegen die Erfahrung und/oder Angst erlebt. Auch das kann im Bewusstsein verzerrt werden. Zum Beispiel ist auch das Interesse daran, bestimmte Erfahrungen um der mit ihnen verbundenen positiven oder negativen Beurteilung durch andere willen zu machen oder zu vermeiden, eine Erfahrung von Inkongruenz. Die hinter diesem Interesse stehende Angst oder der Kampf um die erwünschte oder gegen die vermiedene Erfahrung werden oft nur geahnt. ! Nicht nur die Wahrscheinlichkeit, dass Angst erlebt wird, sondern vor allem auch die Qualität der Angst, in der die Inkongruenz bewusst wird, kann als ein Maß für die relative Reife eines Selbstkonzepts angesehen werden bzw. sagt etwas darüber aus, in welcher Phase die Selbstentwicklung stagniert ist.
Wenn in der ersten Phase nur wenige Erfahrungen der unbedingten positiven Beachtung in der affektiven Erfahrung gemacht und in ein Selbstbild integriert werden konnten – die haltende Funktion der Mutter nicht in hinreichendem Maße internalisiert werden konnte – entsteht ein nur labiles Selbstkonzept. Es wird durch jede affektive Erfahrung, die etwas mit Abhängigkeit oder dem Bindungsbedürfnis zu tun hat und nicht ausgeblendet werden kann, erschüttert. Bei diesen affektiven Erfahrungen handelt es sich nicht nur um Sehnsucht, sondern vor allem um Angst, körperlich und psychisch nicht überleben zu können und verlassen zu werden, »mutterseelenallein« zu sein. Die Angst, in der die Inkongruenz erlebt und mehr oder weniger vollständig symbolisiert wird, ist Angst vor dem Zusammenbruch des Selbst, oft nur in der Form der Vorstellung einer totalen, tödlichen Vernichtung symbolisiert, und Angst vor dem Chaos. Die Angst vor dem Zusammenbruch des Selbst wird oft nicht als Angst erlebt, die mit bestimmten Vorstellungen und Körpergefühlen verbunden ist bzw. sich darin ausdrückt. Vielmehr werden oft Vor-
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stellungen und Körperempfindungen erfahren, die große Angst auslösen und nicht mehr als Symbol für Angst vor dem Zusammenbruch des Selbst verstanden werden: Zum Beispiel kann das Gefühl, einen einzelnen abgegrenzten integrierten Körper zu haben, verloren gehen, der Körper oder Teile von ihm können als verändert, z. B. ganz klein geworden erlebt werden, oder als fremd oder befremdlich. Das Gefühl, fühlen zu können, kann verloren gehen – was z. B. zu selbstverletzendem Verhalten führen kann, denn im Schmerz wird gefühlt, dass gefühlt wird. Es kann auch das Empfinden, der Autor der eigenen Handlungen und Gedanken zu sein, verloren gehen, oder jetzt dieselbe Person wie gestern zu sein. Es kann aber auch die Erinnerung an das Identitätsgefühl von gestern verloren gehen oder an das von vor wenigen Minuten. Dazu kommt es bevorzugt dann, wenn in der Beziehung zu einer wichtigen anderen Person ein heftiges Gefühl ausgelöst worden ist – meistens hat es etwas mit Abhängigkeit zu tun. Personen, deren Entwicklung in der zweiten Phase stagniert ist, erleben Inkongruenz weniger als Angst vor dem Zusammenbruch ihres Selbst, dem Chaos und vor der Vernichtung. Sie erleben in ihrer Inkongruenz Angst, absolut böse und wertlos zu sein (und deshalb verlassen zu werden bzw. mutterseelenallein zu sein). Ihre Inkongruenz wird ausgelöst, wenn sie in ihren Gefühlen und Absichten und vor allem in ihren Selbsterhaltungsreaktionen, die man auch Selbstverteidigung nennen kann, falsch verstanden werden. Personen, die die dritte Entwicklungsphase erreicht haben, erleben bei Erfahrungen, die nicht mit ihrem Selbstkonzept kompatibel sind, vor allem Zweifel, dass sie »richtig« sind, und zwar bevorzugt Zweifel daran, dass sie ein »richtiger« Mann oder eine voll funktionsfähige Frau sind, und entsprechende Ängste, in diesen Funktionen nicht zu genügen (und daran Schuld zu haben und/oder sich dadurch schuldig zu machen). Sie werden vor allem ausgelöst, wenn sie an Bedingungen geknüpfte Anerkennung erleben, z. B. geliebt werden, weil sie lieben, oder anerkannt werden, weil sie leistungsfähig sind, bzw. keine Chance sehen, bedingungsfrei positiv beachtet zu werden.
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Kapitel 5 · Krankheitslehre der Gesprächspsychotherapie
Zur Unterscheidung von mehr oder weniger frühen Störungen
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Die Annahme von Phasen in der Entwicklung des Selbstkonzepts, 4 einer ersten Phase, in der zunächst Erfahrungen des im organismischen Erleben Gehaltenwerdens, 4 einer zweiten Phase, in der Selbstempfindungen und erste Erfahrungen der Selbstverteidigung, und 4 einer dritten Phase, in der Erfahrungen als eine bestimmte Person mit bestimmten Gefühlen und Absichten, aber auch mit nur bestimmten Möglichkeiten und Grenzen und mit einem bestimmten Geschlecht in das Selbstkonzept integriert werden, ist die Grundlage für die Unterscheidung von mehr oder weniger frühen Störungen im Klientenzentrierten Konzept. Je eher es begonnen hat, dass Selbsterfahrungen nicht in das Selbstkonzept integriert werden konnten, umso ausgeprägter ist die primäre Inkongruenz. Und je nachdem in welcher dieser drei Phasen die Stagnation der Selbstkonzeptentwicklung begonnen hat, erlebt eine Person unterschiedliche Ängste, wenn sie sekundäre Inkongruenz erlebt – also aktuell eine Erfahrung macht, die sie nicht in ihr Selbstkonzept integrieren kann. Frühe Störungen unterscheiden sich von weniger frühen auch in der Qualität des Selbstexplorationsprozesses: Das Selbstkonzept ist umso weniger flexibel und damit umso instabiler und umso mehr vom Zusammenbruch bei Erfahrungen, die nicht integriert werden können, bedroht, je eher die Stagnation begonnen hat. Zum Abschluss dieses Kapitels soll im Folgenden unter anderem am Beispiel der Borderline-Persönlichkeitsstörung beschrieben werden, wodurch das Erleben bei der frühen Störung gekennzeichnet ist und wie das verstanden werden kann. ! Beziehungsstörungen »Charakteristisch für Borderline-Patienten sind intensive Beziehungen mit starken Bedürfnissen nach Nähe, die bald in heftige, Distanz schaffende (z. B. wütende) Affekte umschlagen. Obwohl sie
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zu drastischen Affektstürmen neigen, klagen sie über innere Leere, Bedeutungslosigkeit, Gefühllosigkeit und Angst. Es scheint ihnen ein innerer Kern zu fehlen, der ihnen authentische Gefühle eines ›wahren Selbst‹ ermöglichen und zur Selbstberuhigung beitragen würde. Diese Fähigkeiten werden vom ›auftauchenden Selbst‹ (Stern, 1992) in der gegenseitigen Bezogenheit von Mutter und Kind erworben und sind später für die innere Stabilität und deren Wiederherstellung (›selfrighting‹) (Lichtenberg, 1989) essenziell. Winnicott (1970/1996, 1974), der davon ausging, dass ein Kind nicht für sich allein gesehen werden kann, bezeichnete diese Gegenseitigkeit als Mutualität … Für die Entwicklungspsychologie fordert Köhler (1998) eine eigene Entwicklungslinie des Teilens und des Mitteilens« (Milch, 1998, S. 10).
Milch (1998) beschreibt frühe Störungen als dadurch gekennzeichnet, dass ihnen ein innerer Kern fehle und damit verbunden die Fähigkeit, sich selbst zu beruhigen. Dieser Mangel wird darauf zurückgeführt, dass es in der Entwicklung dieser Patienten an Mutualität, Gegenseitigkeit gefehlt hat, einer Kommunikation zwischen Mutter und Kind bezüglich der inneren Befindlichkeit des Kindes in der allerersten Entwicklungsphase. Das Kind hat zu wenig erlebt, dass es seine Erfahrungen mitteilen und damit mit jemandem teilen konnte und dadurch mit sich selbst vertraut werden konnte und heute vertraut sein kann. Einen wichtigen Beitrag zur Illustration dieser Entwicklung von sog. frühen Störungen bzw. Persönlichkeitsstrukturen, die zur Aufnahme von intensiven Beziehungen neigen, in denen sie immer wieder mit heftigen, Distanz schaffenden Affekten reagieren, hat Bion geleistet. Er hat (Plenker, 2005) das von Melanie Klein stammende Konzept der projektiven Identifizierung weiterentwickelt und mit dem Konzept der Gegenübertragung und dem Modell des »containings« verbunden. Für Bion ist die projektive Identifizierung – die Projektion eines Selbstanteils bzw. eines eigenen Seelenzustandes in eine andere Person, die sich mit diesem Seelenzustand identifiziert – ein Mechanismus, der für die psychische Entwicklung entscheidend wichtig, ja unabdingbar ist. Projektive Identifizierung stelle die Grundlage dar, auf der die normale psychische
111 5.4 · Differenzielle Beschreibungen des Inkongruenzerlebens
Entwicklung beruhe (Bion, 1959, S. 121). Sie sei eine Form der Kommunikation, der Mitteilung an einen Empfänger, mit dem etwas Wesentliches geteilt werden müsse, um es integrieren zu können. Konkret gehe es in der frühen Selbstentwicklung darum, »in der Mutter die Gefühle hervorzurufen, die das Kind loszuwerden wünscht« (Bion, 1962, S. 230). Bion legt dar, dass das Schreien des Säuglings eine Form projektiver Kommunikation ist, durch die erreicht wird, dass die Mutter den Schmerz des Säuglings tatsächlich empfindet. (Jeder, vor allem aber jede Mutter, kennt die alarmierende Wirkung des Schreiens des Säuglings oder des Schreis des Kleinkindes in Panik.) Bion schreibt: »Wenn das Kind fühlt, dass es stirbt, so kann es in der Mutter die Furcht wachrufen, dass es sterbe« (Bion, 1962, S. 230). »Ist die Mutter in der Lage, Angst und Kummer nachzuspüren, ohne ihnen zu erliegen, wird sein Schmerz fühl- und denkbar, und es (das Kind) kann ihn in erträglicher, weil nunmehr modifizierter Form wieder in sich aufnehmen. So können auf dem Weg über die Mutter unerträgliche Zustände für die kindliche Psyche tragbar werden. Überdies lassen solche Situationen auf dem Weg über die Reintrojektion im Inneren des Säuglings allmählich ein Objekt entstehen, das Verständnis und Halt vermittelt und damit zur basalen Strukturierung des Ichs und psychischen Stabilisierung beiträgt. In der Folge erweitern sich damit auch die Fähigkeiten des Kindes, sich selbst zu verstehen.« (Plenker, 2005, S. 702) Wenn die projektive Identifizierung verwehrt werde, komme es zu schweren Entwicklungsstörungen. »Wenn intensive, das Ich überfordernde Gefühle nicht in einer anderen Person untergebracht und dort untersucht werden können, wird – so Bion – die Neugierde gehemmt und das eigene Gefühlsleben unerträglich. Vom Hass auf Gefühle, der daraus resultiert, zum Hass auf das Leben selbst, ist es dann nur ein kleiner Schritt« (Plenker, 2005, S. 701). Wenn diese Zusammenhänge im Rahmen des Klientenzentrierten Konzepts – unter Verzicht auf die zwar sehr anschaulichen aber doch auch sehr konkreten Bilder der projektiven Identifizierung und Reintrojektion – dargestellt werden, klingt das relativ abstrakt und damit möglicherweise verharm-
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losend – was aber nicht intendiert ist! Und die Mutualität von Mutter und Kind wird eher aus der Perspektive der Mutter dargelegt: Im Klientenzentrierten Konzept gilt, dass die Antwort der Mutter auch auf den alarmierendsten Schrei des Kindes so sein muss, dass sie sich ihrer bewusst werden kann und zugleich das Kind in der emotionalen Erfahrung, die durch den Schrei ausgedrückt wird, empathisch versteht und unbedingt wertschätzt, damit das Kind die mit dem Schrei ausgedrückte Erfahrung als seine erfahren und in sein Selbstkonzept integrieren kann. Wenn ihr das nicht gelingt – was das Kind offenbar wahrnimmt –, kann das Kind das, auf das die Mutter reagiert bzw. was die Mutter in ihm sieht, nicht als zu ihm gehörend an- und in seine Selbsterfahrung aufnehmen. Die allerersten Selbsterfahrungen des Kindes, in denen es unbedingt verstanden und angenommen werden muss, wenn es körperlich und psychisch überleben soll, sind die der Abhängigkeit seiner gesamten Existenz von Pflegepersonen und der entsprechenden Todesangst, wenn nicht sicher ist, ob diese zu erreichen sind. Nur wenn es das Kind schafft, dass sich die Pflegepersonen in diese Seelenzustände einfühlen – sei es dass sie empathisch reagieren, wie es der Gesprächstherapeut nennt, oder feinfühlig, wie es bei den Bindungstheoretikern heißt (7 Kap. 4), oder etwas in sich hineinprojizieren lassen, wie Bion es ausdrückt, mit dem sie sich zunächst identifizieren, um es dann korrekterweise im Kind wahrzunehmen und zu verstehen –, kann das Kind sie nach und nach – zusammen mit der Erfahrung, bedingungsfrei positiv beachtet worden zu sein – in sein Selbsterleben integrieren und dort tolerieren und muss sich nicht z. B. aggressiv von diesen existenziellen Ängsten zu befreien versuchen. Und wenn es nicht gelingt, dass diese Seelenzustände zusammen mit der Beruhigung in ihnen durch andere integriert werden, dann wird die Person immer weiter versuchen, andere dazu zu bringen, das nachzuvollziehen, indem sie sich ebenso fühlen, nämlich existenziell bedroht. Bion hat darauf hingewiesen, dass wenn die Mutter die Erfahrung der Todesangst des Kindes nicht als solche innerlich nachvollzieht, diese Erfahrung ihrer Bedeutung entkleidet wird. Das Kind reintrojiziere dann keine Furcht zu sterben, sondern eine »namenlose Angst« (Bion, 1962, S. 232).
112
5
Kapitel 5 · Krankheitslehre der Gesprächspsychotherapie
Wie in 7 Kap. 4.6.4 dargestellt worden ist, bildet sich erst zwischen dem 7. und dem 15. Monat die Empfindung eines subjektiven Selbst heraus, kann das Kind erfassen, dass es ein eigenes inneres subjektives Erleben hat, das andere ebenfalls haben, und kann die Seelenzustände anderer lesen und mit seinen eigenen vergleichen. Kindern geht es jetzt weiter vor allem um Intersubjektivität, aber nun in dem Sinne, dass sie herauszufinden versuchen, welcher Teil des inneren Erlebens einer anderen Person mitgeteilt werden kann und welcher nicht, wie viel menschliche Teilhabe auf der einen Seite und wie viel psychische Isolierung und Einsamkeit auf der anderen Seite erlebt werden. Die Gefühle, die das Kind jetzt mitteilen möchte, sind innerpsychische oder Selbsterfahrungen. Im Klientenzentrierten Konzept gehören die Erfahrungen der Teilhabe und/ oder Isolation zur Befriedigung oder Frustration in dem Bedürfnis nach bedingungsfreier positiver Selbstbeachtung, das zusammen mit dem Selbstkonzept erlebbar wird. Sie stellen bestimmte Inhalte der Selbsterfahrung in Frage, aber nicht die Existenz der Selbsterfahrung. Die Person mit einer frühen Störung fühlt sich ferner durch jede Erfahrung, nicht verstanden zu werden, nicht unbedingt wertgeschätzt zu werden und eine andere wichtige Bezugsperson in einen Zustand zu versetzen, in dem diese ihr Erleben nicht mehr reflektieren kann, wenn sie das nicht abwehren kann, existenziell bedroht. Zu den Kriterien, die für die Diagnose »Borderline-Persönlichkeitsstörung« erfüllt sein müssen, gehören auch enge, stabil-instabile Beziehungen. Gesprächspsychotherapeuten gehen in Übereinstimmung mit den dargestellten psychoanalytischen Auffassungen davon aus, dass es Patienten mit z. B. einer Borderline-Persönlichkeitsstörung nicht gelingt, die Erfahrung ihres elementaren (Bindungs-) Bedürfnisses nach Nähe (Intimität, Geborgenheit, Gegenseitigkeit) stabil abzuwehren. Sie machen daher Erfahrungen, die sie nicht mit ihrem Selbstkonzept vereinbaren können. Dagegen wehren sie sich in einem zweiten Schritt. Die spektakulärste Form, sich von der Erfahrung der physischen und psychischen Abhängigkeit – wie diese Patienten sie voller Scham bis Selbstverachtung nennen – zu distanzieren, ist die Entwicklung von Affekten, die diese anderen in die Flucht schlagen, oder selbst zu fliehen,
z. B. in die Dissoziation. Häufige Trennungen gehören zum Krankheitsbild der Borderline-Persönlichkeitsstörung. Die Beschreibung der frühen Störung mit Hilfe des Prozesskontinuums von Rogers – zur Erinnerung: es geht um den Prozess der Vergegenwärtigung der aktuellen Erfahrung im Bewusstsein – sieht wie folgt aus:
Patienten mit frühen Störungen 5 Sie stehen ihrer aktuellen Erfahrung nicht nur distanziert gegenüber. Sie können ihre Aufmerksamkeit fast gar nicht nach innen wenden und sich kaum auf ihren inneren Erlebensprozess konzentrieren. Sie erleben z. B. innere Leere und Bedeutungslosigkeit wie Objekte außerhalb ihrer Person. 5 Sie erleben Sinnlosigkeit und Angst anstelle der emotionalen Bedeutung ihrer gegenwärtigen Erfahrung, die sie in Bezug zur Vergangenheit – Vergeblichkeit – oder zur Zukunft –Hoffnungslosigkeit – interpretieren. 5 Sie sind kaum in der Lage, sich ihre Erfahrung bewusst zu machen. Sie wehren sich gegen die Erfahrung und können sich nicht verstehen und akzeptieren. 5 Sie sind in ihren kognitiven Funktionen stark eingeschränkt, können sich nicht auf die Gegenwart konzentrieren, sind gefesselt an starre Deutungen der Vergangenheit und durch ihre Angst vor der Zukunft. 5 Es besteht nicht nur Widerwilligkeit, sich über sich selbst mitzuteilen. Patienten mit frühen Störungen erleben nicht nur heftige Impulse, mit denen sie ihr Erleben anderen geradezu aufzwingen, sondern im Wechsel damit Mitgefühl für ihre Partner und dabei extreme Schuldgefühle und dass sie ihre wichtigsten Bezugspersonen damit, dass sie ihnen ihr Erleben aufzwingen, geradezu vergiften oder auf andere Art und Weise zerstören. 5 Sie nehmen diese ihre Probleme nicht differenziert wahr und sehen sie abwechselnd als die eigenen an – auch wenn sie diese als
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113 5.4 · Differenzielle Beschreibungen des Inkongruenzerlebens
außerhalb der eigenen Person existierend wahrnehmen – und nicht als ihre eigenen an. 5 Dementsprechend besteht kein stabiler Wunsch nach persönlicher Veränderung. 5 Enge Beziehungen zu anderen Personen werden als bedrohlich und unlebbar erlebt, zugleich Trennungen als unmöglich.
Zur Entwicklung des Inkongruenzerlebens am Beispiel der Neurose Zur Verdeutlichung der sog. frühen Störung und ihrer vermutlichen Entstehungsgeschichte sei im Folgenden noch einmal der weniger früh gestörte Patient mit seinen Problemen und seiner Geschichte dargestellt: Der neurotische Patient ist als Kind erst in der dritten Entwicklungsphase in einem wesentlichen Ausmaß nicht unbedingt positiv beachtet worden, sondern z. B. wegen seines männlichen oder weiblichen Geschlechts oder wegen der Gefühle, die er mit seinem persönlichen Erleben in wichtigen Bezugspersonen ausgelöst hat. Fallvignette
Bedingte positive Beachtung Eine Tochter hat z. B. durch ihre Verliebtheit in ihn den Vater begeistert, oder das Erleben der heranwachsenden Frau hat den Vater entzückt, oder ein Sohn hat die Mutter durch seine männliche Art sich durchzusetzen und sie zu beschützen stolz gemacht.
Diese Erfahrungen der bedingten Anerkennung stellten das Selbstkonzept in Frage, konnten nicht in die Selbsterfahrung integriert werden, begründeten Inkongruenz. Auf der Grundlage der Selbsterhaltungstendenz wurden sie also abgewehrt, z. B. verleugnet oder so verzerrt, als passten sie doch zu den Erfahrungen, die in das Selbstkonzept integriert werden konnten. Eine einfache Art der Abwehr wäre z. B., dass die Kinder die Beurteilungen ihrer Selbsterfahrungen durch die Eltern gar nicht wahrnehmen und sich nur um die Gefühle der Eltern kümmern. Das könnte so
5
weit gehen, dass sie es als ihre Aufgabe ansehen, den Eltern gute Gefühle zu machen. Das ist eine ziemlich weit verbreitete Abwehr und wird gerne auch auf den Umgang mit dem Therapeuten übertragen. Wenn die Abwehr nicht funktioniert, erlebt das Kind die Bedrohung seines Selbstkonzepts durch die Erfahrungen, die nicht in das Selbstkonzept integriert werden können, bzw. bewertet sie organismisch so, als werde es angegriffen (Zur Erinnerung: Die Selbstverteidigungstendenz ist Teil der Aktualisierungstendenz, Ausdruck ihres erhaltenden Teils. Es gehört nicht nur zur Aktualisierung, das Selbstkonzept zu entwickeln, sondern auch, es zu erhalten). Das Kind reagiert z. B. mit Flucht- oder Kampfimpulsen (auf die Begeisterung des Vaters über die Verliebtheit der Tochter oder den Stolz der Mutter auf das männliche Durchsetzungsverhalten). Auch diese Reaktionen – »so fühle ich mich, wenn ich nicht unbedingt positiv beachtet werde« – können nur dann in das Selbstkonzept integriert werden, wenn das Kind in ihnen empathisch verstanden und bedingungsfrei wertgeschätzt wird und die Erwachsenen nicht wiederum inkongruent reagieren. Wenn sich im späteren Leben dieser Kinder wiederholt, dass sie z. B. Fluchtimpulse oder Protest in sich spüren, können sie sich in diesen selbst nur verstehen und akzeptieren, wenn sie in das Selbstkonzept integriert werden konnten. Wenn das nicht der Fall ist, werden sie sich als nicht in Ordnung und unverständlich in ihrer Angst mit dem dazugehörenden Vermeidungsverhalten z. B. beurteilen oder als unangemessen gereizt. Sie werden erst dann die Erfahrungen identifizieren können, auf die sie mit Kampf- und Fluchtimpulsen reagieren, bzw. die Situationen, in denen sie ihre Inkongruenz spüren, wenn sie zunächst in diesen ihren Selbstverteidigungsreaktionen verstanden und angenommen worden sind. Das Mädchen, das als Kind dafür geliebt worden ist, dass es in den Vater verliebt war, kann z. B. eine depressive Ehefrau werden, deren Mann sie nur versteht, wenn sie ihn anhimmelt und begehrt. Und der Mann, den wir als Beschützer seiner Mutter beschrieben haben, könnte eine Angstsymptomatik im Zusammenhang damit entwickelt haben, dass seine Frau sich von seinen Ängsten anstecken lässt
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5
Kapitel 5 · Krankheitslehre der Gesprächspsychotherapie
und sich nur sicher fühlt, wenn er sich angstfrei durchsetzt. Erst wenn die Depression bzw. die Angst angenommen worden sind, werden sie spüren können, dass sie sich gegen bestimmte Erfahrungen, in denen sie in der Kindheit z. B. nur bedingte Anerkennung erfahren haben, zur Wehr setzen, das wären in unseren Beispielen die tatsächlich vorhandene Begeisterung für den Ehemann bzw. die tatsächliche Durchsetzungsfähigkeit des Ehemannes, und sie werden – im Schutze der Beziehung zum Therapeuten z. B. – auch diese in die Selbsterfahrung integrieren können.
5.5
Zusammenfassung
Wir fassen zusammen: Im Klientenzentrierten Konzept gilt psychische Krankheit als Ausdruck der Stagnation des Prozesses der Selbstkonzeptentwicklung. Die allgemeinen Symptome dieser Stagnation bedeuten eine Behinderung in der Fähigkeit, sich selbst und die Welt zu erfahren und sich ein Bild davon zu machen. Wenn die Erfahrung von Inkongruenz (dass die tatsächliche Erfahrung nicht mit dem Selbstkonzept übereinstimmt) bewusst wird, wird Angst erlebt. Die Qualität dieser Angst – Angst vor der Vernichtung und dem Chaos, Angst, absolut böse oder wertlos zu sein, Angst als Mann oder Frau nicht richtig und damit schuldig zu sein – sagt etwas über die primäre Inkongruenz aus, welche Erfahrungen nicht in das Selbstkonzept integriert werden konnten, und darüber, wie labil das Selbstkonzept und wie »früh« die Störung ist. Je früher in der Entwicklung Erfahrungen nicht in das Selbstkonzept integriert werden konnten, desto größer ist die primäre Inkongruenz – die Nichtübereinstimmung der Erfahrung mit dem Selbstkonzept. Die Erfahrung der sekundären Inkongruenz ist die Selbsterfahrung der Reaktion auf eine Bedrohung des Selbstkonzepts durch eine akute Erfahrung. Sie kann der organismischen Reaktion auf einen Angriff von außen entsprechen: Angst, Depression (Totstellreflex) und andere Formen der Täuschung als Tarnung, Flucht, Angriff (als Verteidigung), Dissoziation und andere Formen von Bewusstseinseinengung. Auch diese Reak-
tionen können mit dem Selbstkonzept inkompatibel sein. Die für das Selbstkonzept bedrohlichen Erfahrungen können vor dem Bewusstsein verleugnet und im Bewusstsein so verzerrt werden, als passten sie doch zum Selbstkonzept. Sie können aber auch unvollständig symbolisiert im Bewusstsein auftauchen – als isolierte Körperempfindung (somatoform), Vorstellung (zwanghaft oder phobisch), isoliert auftretende Gedanken (depressives Grübeln), oder isolierter Affekt (Impuls). Gesprächspsychotherapeuten machen sich nicht blind für, sondern sind ausgesprochen interessiert an der Beobachtung von Syndromen, denen Krankheitseinheiten zu Grunde liegen könnten und die dadurch charakterisiert sind, dass bestimmte mehr oder weniger frühe Erfahrungen als das Selbstkonzept bedrohend erfahren werden und bevorzugt nur in bestimmten Formen symbolisiert oder in bestimmten Blockierungen der Selbstexploration sichtbar werden.
5.6
Übereinstimmungen und Unterschiede mit tiefenpsychologischen/psychoanalytischen Störungskonzepten
Im Vergleich zur Krankheitslehre aus psychoanalytischer und tiefenpsychologischer Sicht ist zu sagen: Das Unbewusste als verdrängte Trieberfahrung hat im Klientenzentrierten Konzept wenig Bedeutung. Unbewusst im Klientenzentrierten Konzept bedeutet (noch) nicht gewahr bzw. (noch) nicht vollständig im Bewusstsein symbolisiert. Das zur menschlichen Entwicklungstendenz gehörende Interesse am Bewusstwerden des Prozesses der Selbstverteidigung durch die Abwehr – Verleugnung und Verzerrung von Erfahrung im Bewusstsein – und vor allem die organismische Bewertung das Selbstkonzept bedrohender Erfahrung als Feind, gilt als wesentlicher Motor für den Veränderungsprozess in der Psychotherapie. Vielen Begriffen im Klientenzentrierten Konzept und manchen seiner Neuformulierungen merkt man an, dass der Versuch, das psychoanalytische topographische Strukturmodell zu überwinden und durch ein Modell der Repräsentation von Selbster-
115 5.7 · Ausblick
fahrung in einem Selbstkonzept zu ersetzen, auch fehlschlagen kann. Man kann das Klientenzentrierte Konzept eine Selbstpsychologie nennen – insofern es in seinem Zentrum um die Selbstentwicklung und -erhaltung und um Empathie geht. Man kann es wegen der zentralen Bedeutung des Bedürfnisses nach unbedingter positiver Beachtung durch Bindungspersonen auch eine Objektbeziehungstheorie nennen. Jede in das Selbstkonzept integrierte Selbsterfahrung ist schließlich gleichzeitig eine Erfahrung mit einem Objekt bzw. könnte eine internalisierte Objekterfahrung genannt werden. Wir haben zu zeigen versucht, dass hingegen die Annahme internalisierter Bewertungsbedingungen, eines Ich-Ideals oder eines Über-Ichs als Teil des Selbstkonzepts nicht so recht ins Klientenzentrierte Konzept passt. Das gilt entsprechend auch für die Annahme einer Konfliktpathologie. Wir gehen zwar auch davon aus, dass sich die psychische Entwicklung in Phasen vollzieht. Wir nehmen aber nicht Phasen der Triebentwicklung oder Ich-Entwicklung und ihnen entsprechende Konflikte an, sondern Phasen, in denen unterschiedliche Selbsterfahrungen in ein Selbstkonzept integriert werden. Diese Phasen sind gleichwohl die Grundlage von Überlegungen zur Strukturpathologie und ihrer Erscheinungsformen. Unseres Erachtens stimmen die Klientenzentrierten Konzepte sehr viel weniger mit den klassischen tiefenpsychologischen Modellen überein als mit denen, die sich aus der Weiterentwicklung der Bindungstheorie (Höger, 1990) und der Traumaforschung und -therapie ergeben haben (Warner, 1998; Reddemann & Sachsse, 1995). So bestätigen Ergebnisse der Bindungsforschung die Bedeutung der sog. reflexiven Funktion (»reflective functioning«; Daudert, 2002) in der Interaktion mit Bindungspersonen und damit die zentrale Rolle, die der Selbstexploration und der Empathie im Klientenzentrierten Konzept zugewiesen worden sind (Eckert & Biermann-Ratjen, 2002). Auf der rein deskiptiven Ebene – d. h. abgesehen von den triebtheoretischen, auf denen die topografischen Annahmen beruhen – sind die Beschreibungen, die im Rahmen des Klientenzentrierten Konzepts zur Kennzeichnung mehr oder weniger gesunden psychischen Funktionierens entwickelt worden sind, auch gut mit den Dimensionen zu vereinbaren,
5
in denen auf der Strukturachse der OPD (Operationalisierte Psychodynamische Diagnostik; Arbeitskreis OPD, 1996) die mehr oder weniger gut integrierten psychischen Strukturen beschrieben werden: Selbstwahrnehmung, Selbststeuerung, Abwehr, Objektwahrnehmung, Kommunikation und Bindung.
5.7
Ausblick
Konzeptionen von Krankheitslehren unterscheiden häufig zwischen einer allgemeinen und einer speziellen Krankheitslehre. Die oben gemachten Ausführungen zur Krankheitslehre der Gesprächspsychotherapie bewegen sich im Rahmen einer allgemeinen Krankheitslehre. Das ist der Gesprächspsychotherapie wiederholt als Mangel vorgehalten worden, z. B. im »Forschungsgutachten zu Fragen eines Psychotherapeutengesetzes« (Meyer, Richter, Grawe, Graf von Schulenburg & Schulte, 1991). Unter Gesprächspsychotherapeuten wurde und wird die Frage der Notwendigkeit einer speziellen Krankheitslehre kontrovers diskutiert. Diejenigen, die einer speziellen klientenzentrierten Krankheitslehre skeptisch gegenüberstehen, führen vor allem zwei Argumente ins Feld. Zum einen verweisen sie darauf, dass es eine Frage der Anerkennung der wissenschaftlichen Realität sei, einer speziellen Krankheitslehre gegenüber skeptisch zu sein: Es gäbe bisher kein größeres psychisches Störungsbild mit einer allgemein akzeptierten Ätiologie. Zum Beispiel gäbe es mehr als ein Dutzend Theorien zur Entstehung einer Depression. Nicht nur seien im Rahmen der verschiedenen klinischen Paradigmen – u. a. des biologischen, verhaltenstherapeutischen oder psychoanalytischen – unterschiedliche Modelle zur Depressionsentstehung entwickelt worden, sondern auch innerhalb der einzelnen Paradigmen gäbe es unterschiedliche Auffassungen bzw. Theorien. Wenn aber ein und dieselbe Störung durch mehrere, in sich jeweils schlüssige Theorien erklärt werden könne, dann tendiere der wissenschaftliche Wert jeder einzelnen dieser Theorien gegen Null. Das habe selbst die Weltgesundheitsorganisation eingesehen und mit der 10. Revision der international gültigen Klassifikation Psychischer Störungen das Prinzip aufgegeben, die Störungen auf der Grundlage ihrer
116
5
Kapitel 5 · Krankheitslehre der Gesprächspsychotherapie
Ätiologie zu klassifizieren (Weltgesundheitsorganisation, 1991). Als zweites Argument gegen eine spezielle klientenzentrierte Krankheitslehre wird die Inkompatibilität eines prinzipiell störungsspezifischen Vorgehens mit dem Klientenzentrierten Konzept angeführt. Im Zentrum der Aufmerksamkeit des Gesprächspsychotherapeuten stünden in einer Psychotherapie nicht die Störung bzw. das Symptom des Klienten, sondern die Person mit ihren spezifischen Erfahrungen und ihre Beziehung zu sich selbst und anderen Menschen. Eine dauerhafte Veränderung der Symptomatik erfolge indirekt durch eine Veränderung des Selbstkonzepts und nicht durch eine direkte Bearbeitung der Symptome. Vor dem Hintergrund dieser Einwände verwundert es nicht, dass die Zahl der Befürworter einer speziellen Krankheitslehre unter den Gesprächspsychotherapeuten in der Minderheit ist. Vereinzelte Ansätze zur Entwicklung einer speziellen Krankheitslehre, z. B. Speierer (1994; 7 Kap. 22) mit seinem »Differenziellen Inkongruenzmodell« (DIM), sind bisher ohne erkennbar größere Resonanz geblieben. Während es eine allgemein anerkannte spezielle Krankheitslehre der Gesprächspsychotherapie nicht gibt, werden seit längerem störungsspezifische Vorgehensweisen im Rahmen einer Gesprächspsychotherapie beschrieben. Für einzelne Störungen wurde herausgearbeitet, was bei ihrer Behandlung im Rahmen des Klientenzentrierten Konzepts zu beachten ist (z. B. Swildens, 1991), und es sind störungsspezifische Behandlungsleitlinien (7 Kap. 23) entwickelt worden. Eine solche Entwicklung ist sehr viel weniger umstritten als die Entwicklung einer speziellen Krankheitslehre, weil sie eine Lücke in der von Rogers hinterlassenen Therapietheorie schließt. ? Übungsfragen 5 Wie ist Rogers zu der Annahme einer Selbstaktualisierungstendenz gekommen? 5 Wie wird im Klientenzentrierten Konzept Inkongruenz definiert? 5 Was versteht man im Klientenzentrierten Konzept unter »Abwehr«? 5 Wie unterscheidet sich das Klientenzentrierte Konzept von »Abwehr« von demjenigen in der Psychoanalyse?
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5 Worin unterscheidet sich nach Rogers die gesunde von der weniger gesunden Person? 5 Welche Erfahrungen stellen eine Bedrohung für das Selbstkonzept dar? 5 Wie wird Inkongruenz erlebt? 5 Was sind nach Rogers internalisierte Bewertungsbedingungen? 5 Kennen Sie differenzielle Beschreibungen des Inkongruenzerlebens? 5 Beschreiben Sie mit Begriffen des Klientenzentrierten Konzepts, was Bion unter projektiver Identifizierung versteht und warum er ihr eine so große Bedeutung für die psychische Entwicklung beimisst.
5.8
Weiterführende Literatur
Rogers, C. R. (1987). Eine Theorie der Psychotherapie, der Persönlichkeit und der zwischenmenschlichen Beziehungen. Entwickelt im Rahmen des klientenzentrierten Ansatzes. Köln: GwG-Verlag. Wir empfehlen, diesen grundlegenden Text nach Möglichkeit im Original zu lesen: Rogers, C. R. (1959). A theory of therapy, personality and interpersonal relationships as developed in the client-centered framework. In S. Koch (Ed.), Psychology: a study of a science (pp. 184–257). New York: McGraw-Hill. Rogers (1959) ist der Entwurf einer allgemeinen Krankheitslehre. Der Versuch einer Weiterentwicklung in Richtung einer spezifischen Krankheitslehre findet sich in: Biermann-Ratjen, E.-M. & Swildens, H. (1993). Entwurf einer ätiologisch orientierten Krankheitslehre im Rahmen des klientenzentrierten Konzepts. In J. Eckert, D. Höger & H. Linster (Hrsg.), Die Entwicklung der Person und ihre Störung. Band 1 (S. 57–142). Köln: GwG-Verlag.
6 6 Klientenzentrierte Therapietheorie D. Höger 6.1
Wie therapeutische Veränderungen entstehen – 118
6.1.1
Zwei Personen befinden sich in psychologischem Kontakt – 118 Die erste Person, der Klient/Patient, befindet sich im Zustand der Inkongruenz, ist verletzbar bzw. ängstlich – 119 Die zweite Person, der Therapeut, ist in der therapeutischen Beziehung kongruent – 119 Der Therapeut erfährt gegenüber seinem Klienten Bedingungsfreie Positive Beachtung – 120
6.1.2
6.1.3
6.1.4
Grawe (1998) nennt zwei Fragen, die eine Therapietheorie beantworten soll: 1. Wie kommen Veränderungen durch Psychotherapie zustande? 2. Wie kann die Wirkungsweise von Psychotherapie psychologisch verstanden werden? Wir haben noch eine dritte Frage: 3. Welche handlungsleitende Funktion hat diese Therapietheorie? Was die erste Frage betrifft, so ist Rogers im Laufe seiner Forschungen und therapeutischen Arbeit zu der Überzeugung gelangt, dass es nicht die therapeutischen Techniken sind, auch nicht die therapeutische Orientierung des Therapeuten oder dessen theoretisches Wissen über die Dynamik der Persönlichkeit, die therapeutische Veränderungen bewirken. Das entscheidende Agens war für ihn das psychologische Klima, das der Therapeut schafft (Rogers, 1963, S. 9). Dies ist befremdlich für alle, die davon ausgehen, dass es auf die wirkungsvollen therapeutischen Techniken ankommt, also konkrete, benennbare Verhaltensweisen, die es zu erforschen und anschlie-
6.1.5
6.1.6
6.1.7
Der Therapeut versteht empathisch den Inneren Bezugsrahmen seines Patienten – 125 Der Patient nimmt zumindest die Bedingungsfreie Positive Beachtung und das Empathische Verstehen des Therapeuten ihm gegenüber wahr – 129 Zur therapeutischen Beziehung – 130
6.2
Wie und warum wirkt Gesprächspsychotherapie? – 131
6.3
Die Klientenzentrierte Therapietheorie und die Praxis – 133
6.4
Weiterführende Literatur – 138
ßend in der Praxis umzusetzen gilt. Auch mögen sich angehende Therapeuten in ihrer Ausbildung oft allein gelassen fühlen, wenn ihnen nicht handfest gesagt wird, was sie zu tun haben. Und in der Tat ist es so: Als Therapeuten sollten wir wissen, wie wir uns zu verhalten haben, wenn wir in der Psychotherapie mit einem Patienten zusammen sind. Aber bereits im alltäglichen Umgang mit Menschen zeigt sich, dass es bei unserem Verhalten vor allem auf das Wie ankommt. Wenn wir morgens zu einem Nachbarn »Guten Morgen« sagen (eine konkret beschriebene Verhaltensweise), dann kann die Wirkung, je nachdem wie wir das tun, radikal unterschiedlich sein: Zwischen den Zähnen und mit abgewandtem Gesicht hingeknurrt, flüchtig im Vorbeigehen, neutral-geschäftsmäßig, freudig-lebhaft usw. Und genau damit wird ein Klima schaffen, das die weitere Beziehung deutlich beeinflusst. Selbstverständlich kommt es auf die konkreten Verhaltensweisen an. Aber das psychologische Klima, das der Therapeut dadurch schafft, wie er seinem Patienten gegenübertritt, welche Einstellungen ihm gegenüber darin deutlich werden, ist letztlich entscheidend für die Entwicklung der therapeutischen Beziehung. Und wie die
118
6
Kapitel 6 · Klientenzentrierte Therapietheorie
empirische Psychotherapieforschung vielfach nachgewiesen hat, leistet sie den größten Beitrag zur Wirksamkeit von Psychotherapie. Wir werden uns in den folgenden Unterkapiteln, den eingangs gestellten Fragen folgend, zunächst damit befassen, wie nach dem Klientenzentrierten Konzept therapeutische Veränderungen durch Gesprächspsychotherapie in Gang kommen, anschließend damit, warum das so ist. Die dritte Frage nach der handlungsleitenden Funktion der klientenzentrierten Therapietheorie soll nicht nur in einem eigenen Kapitel behandelt, sondern auch schon zuvor an den passenden Stellen aufgegriffen werden.
Wie therapeutische Veränderungen entstehen
6.1
Rogers hat die Grundlage seiner Therapietheorie in Form von sechs Bedingungen formuliert, die erfüllt sein müssen, damit ein therapeutischer Prozess in Gang kommt, d. h. konstruktive Veränderungen eintreten (Rogers, 1957/1991a, S. 168; 1959b/1987, S. 40). »Konstruktiv« bedeutet dabei eine Entwicklung der Person »in einer Richtung … die stärkere Integration, weniger inneren Konflikt und mehr Energie bedeutet, die für effizientes Leben nutzbar ist; eine Verhaltensänderung weg von im allgemeinen als unreif betrachteten Verhaltensweisen und hin zu solchen, die als reif angesehen werden« (Rogers, 1957/1991a, S. 167). Und diese Veränderungen sind – so Rogers – sowohl kurzfristig im offenen Verhalten als auch in einer überdauernden Umorganisation der Verhaltensdispositionen einer Person erkennbar. Die sechs Bedingungen lauten wie folgt:
Die sechs notwendigen und hinreichenden Bedingungen für therapeutische Veränderungen nach Rogers 1. Zwei Personen befinden sich in psychologischem Kontakt. 2. Die erste Person, der Klient/Patient, befindet sich im Zustand der Inkongruenz, ist verletzbar bzw. ängstlich.
6
3. Die zweite Person, der Therapeut, ist in der therapeutischen Beziehung kongruent. 4. Der Therapeut erfährt gegenüber seinem Klienten Bedingungsfreie Positive Beachtung. 5. Der Therapeut versteht empathisch den Inneren Bezugsrahmen seines Klienten/ Patienten. 6. Der Klient/Patient nimmt wenigstens in einem geringen Ausmaß die Bedingungen Nr. 4 und 5 wahr, nämlich die Bedingungsfreie Positive Beachtung und das Empathische Verstehen des Therapeuten ihm gegenüber. (Rogers, 1957/1991a, S. 168; 1959b/1987, S. 40)
Bevor wir diese Bedingungen näher erörtern, sei zu ihnen allgemein bemerkt: Nach Rogers handelt es sich um notwendige Bedingungen. »Bedingungen« heißt, dass keine konstruktiven Veränderungen stattfinden, sobald auch nur eine von ihnen nicht gegeben ist. Es kann aber sein, dass sie in Therapien hinreichend erfüllt werden, ohne dass der Therapeut dies bewusst angestrebt hat. Rogers hat sie auf einem hohen Abstraktionsniveau formuliert (▶ Kap. 6.3). Sie sind nicht als Anweisungen für konkrete therapeutische Handlungen gedacht. Sie sind vielmehr Kriterien für deren Beurteilung als mehr oder weniger angemessen. Um ihre Bedeutung zu verstehen und sie richtig anzuwenden, kommt es auf ihre genaue Definition und den Kontext ihrer Entwicklung an. Das Alltagsverständnis der verwendeten Begriffe erweist sich dafür als nicht hinreichend. Wir werden sie daher im Folgenden näher erörtern.
6.1.1
Zwei Personen befinden sich in psychologischem Kontakt
Die minimale Voraussetzung für therapeutische Veränderungen ist, dass Patient und Therapeut überhaupt miteinander in Kontakt sind. Entsprechend restriktiv hat Rogers »Kontakt« definiert.
119 6.1 · Wie therapeutische Veränderungen entstehen
Definition »Zwei Menschen sind in psychologischem Kontakt oder erfüllen die minimale Voraussetzung für eine Beziehung, wenn jeder im Wahrnehmungsfeld des anderen eine bewusst oder unterschwellig wahrgenommene Unterscheidung bedingt« (Rogers, 1959b/1987, S. 207; Übersetzung v. Verf.).
Das bedeutet als minimale Voraussetzung, dass einer das Vorhandensein des anderen überhaupt zur Kenntnis nimmt. Ursprünglich hatte Rogers dafür den Begriff »Beziehung« benutzt, wollte aber das Missverständnis vermeiden, hier sei bereits eine bestimmte Qualität der Beziehung gemeint. Die Qualität dieser Beziehung soll erst mit den folgenden Bedingungen beschrieben werden. Diese erste Bedingung ist nicht trivial, denn sie kann beispielsweise bei bestimmten psychotischen Zuständen fehlen. Aber auch sonst kann es (meist vorübergehende) Situationen geben, in denen Patienten auf einen Monolog eingeengt sind oder in anderer Weise die Anwesenheit des Therapeuten gar nicht zur Kenntnis nehmen.
6.1.2
Die erste Person, der Klient/ Patient, befindet sich im Zustand der Inkongruenz, ist verletzbar bzw. ängstlich
Mit Inkongruenz ist hier die zwischen Selbst und Erfahrung (im Sinne des Klientenzentrierten Konzepts – 7 Kap. 3.3.1) gemeint. Im Anschluss an 7 Kap. 3.3.4 wäre Inkongruenz wie folgt zu definieren: Definition Inkongruenz zwischen Selbst und Erfahrung ist in dem Ausmaß gegeben, in dem bei einer Person ihre Symbolisierungen im Selbst von ihrer Erfahrung abweichen.
Wie dort bereits beschrieben, beeinträchtigt die Inkongruenz zwischen Selbst und Erfahrung die Funktionsfähigkeit einer Person und macht sie anfällig für
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psychische Erkrankungen (7 Kap. 5). Umgekehrt verschwinden oder bessern sich Symptome in dem Maße, in dem durch Gesprächspsychotherapie Inkongruenz vermindert wird. Folglich ist Gesprächspsychotherapie für solche Symptome und Probleme wenig geeignet, die nicht auf die Inkongruenz eines Patienten zurückgeführt werden können. Diese Bedingung bezieht sich daher vor allem darauf, ob Gesprächspsychotherapie indiziert ist (Näheres hierzu findet sich in 7 Kap. 8.3; zur Illustration 7 Fallbeispiele in 7 Kap. 8.3.2). 6.1.3
Die zweite Person, der Therapeut, ist in der therapeutischen Beziehung kongruent
»Kongruent« bedeutet hier für den Therapeuten, dass er seine Erfahrung weitgehend vollständig und genau in seinem Selbst symbolisiert und damit bewusst über sie verfügen kann. Die oft verwendete verkürzte Formulierung dieser Bedingung als »Kongruenz des Therapeuten« kann missverstanden werden als Forderung, der Therapeut müsse in allen Lebensbereichen kongruent sein. Rogers meint hierzu: »Wäre dies eine notwendige Bedingung, gäbe es keine Therapie. Es reicht aus, wenn er in diesem besonderen Augenblick der unmittelbaren Beziehung mit seinem spezifischen Gegenüber ganz und gar er selbst ist, wenn er die Erfahrungen dieses Augenblicks exakt symbolisiert und in sein Selbstbild integriert« (Rogers, 1959b/1987, S. 42; Hervorhebung v. Verf.). Rogers bezieht also diese Bedingung auf den begrenzten Bereich, auf den es hier ankommt, in dem der Kongruenz des Therapeuten eine spezielle Funktion zukommt: Wenn der Therapeut die folgenden Bedingungen vier und fünf erfüllen soll, d. h. sich seinem Patienten empathisch verstehend zuwenden, ohne daran Bedingungen zu knüpfen, dann setzt dies voraus, dass er in der Lage ist, die relevanten Erfahrungen des Patienten wie auch die eigenen exakt zu symbolisieren. Anders gesagt: Inkongruenz des Therapeuten in der therapeutischen Beziehung hat zur Folge, dass er die beim Patienten wahrnehmbaren Erfahrungen selber abwehrt und sie entweder von seiner bewussten Wahrnehmung ausschließt, sie verzerrt oder z. B. entwertet. Er wird sie dann nicht nachvollziehen können, ihnen keine Beachtung schenken, sie abwerten usw.
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Kapitel 6 · Klientenzentrierte Therapietheorie
! »Kongruenz des Therapeuten« bedeutet nicht, dass er in allen Lebenslagen kongruent sein muss, sondern bezieht sich auf die spezielle jeweilige therapeutische Situation, in der eine konstruktive Veränderung stattfinden soll.
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Natürlich wird ein Therapeut in der therapeutischen Beziehung umso kongruenter sein können, je mehr er auch in seinem sonstigen Leben seine Erfahrungen unverzerrt symbolisiert. Um dies zu fördern, sieht die staatliche Ausbildungs- und Prüfungsordnung für eine Ausbildung zum Psychologischen Psychotherapeuten mit Schwerpunkt Gesprächspsychotherapie »Selbsterfahrung« und Supervision vor. Dabei können die Auszubildenden eigene Inkongruenzen identifizieren und bearbeiten. Weiterhin bietet die bei Gesprächspsychotherapeuten übliche berufsbegleitende (kollegiale) Supervision die Gelegenheit, sich mit den in ihren Therapien deutlich werdenden eigenen Inkongruenzen auseinander zu setzen. Die öfters vorzufindende Bezeichnung von Kongruenz als »Echtheit« und »Ohne-Fassade-Sein« (Rogers, 1977; Tausch & Tausch, 1990), im Original »genuineness« genannt, führt wegen der im Deutschen mitschwingenden moralischen Bedeutung »ehrlich sein« bei auszubildenden Therapeuten oft zu der Frage, ob denn ein Gesprächspsychotherapeut alles, was in ihm selber vorgeht, seinem Patienten mitteilen müsse. Hier ist es wichtig, sich über die Bedeutung von Kongruenz im Klaren zu bleiben. Sie gewährleistet, dass der Therapeut in seiner Beziehung mit dem Patienten funktionsfähig ist und bleibt. Ein Therapeut, der glaubt, zur Wahrung der »Echtheit« seinem Patienten alle in ihm auftauchenden kritischen Gedanken und alle seine von der Wertschätzung abweichenden Gefühle mitteilen zu müssen, ist dadurch noch lange nicht kongruent, sondern ein schlechter Gesprächspsychotherapeut. ! »Kongruenz« bedeutet nicht, dass der Therapeut »offen« in dem Sinne sein soll, dass er seinem Patienten alles mitteilt, was im durch den Kopf geht. Es geht vielmehr darum, dass der Therapeut sich aller seiner Erfahrungen in der konkreten therapeutischen Beziehung bewusst sein kann.
Ein kongruenter Therapeut, dem sein eigenes Erleben transparent ist und der außerdem Zugang zur
inneren Befindlichkeit seines Patienten hat, wird abschätzen können, wie seine Äußerungen auf diesen wahrscheinlich wirken werden. Er wird sich in seiner Beziehung mit dem Patienten frei bewegen können und nichts zu verbergen haben. Wenn er den Impuls verspürt, dem Patienten etwas über sein eigenes Erleben mitzuteilen, wird er sich fragen, weshalb er das tun möchte und ob es den Patienten bei seiner Auseinandersetzung mit sich selbst möglicherweise beeinträchtigen wird, sei es, weil es ihn verletzt, sei es, dass es ihn von seinem eigenen aktuellen Erleben ablenkt. Ist letzteres der Fall, so wird für den Therapeuten Anlass bestehen, sich mit seinen eigenen Inkongruenzen zu befassen. Er wird dann in der Regel feststellen, dass es letztlich seine eigenen Bedürfnisse oder Befürchtungen sind, die hinter seinem Wunsch stehen, sich dem Patienten mitzuteilen, und nicht das Wohl des Patienten. Therapeuten, die auch in der Therapie frei von Inkongruenzen sind, gibt es nicht. Inkongruenzen bei sich zu bemerken, ist also für Gesprächspsychotherapeuten kein Anlass für Selbstzweifel sondern vielmehr eine Chance, sich mit ihnen zu befassen und damit die Entwicklung der eigenen Person voranzubringen, sei es – in leichteren Fällen – quasi nebenher während der Therapie, sei es außerhalb in der Supervision.
6.1.4
Der Therapeut erfährt gegenüber seinem Klienten Bedingungsfreie Positive Beachtung
Diese Bedingung ist die wohl am meisten umstrittene des Klientenzentrierten Konzepts (Lietaer, 1988). Als deutsche Übersetzungen des originalen Begriffs »unconditional positive regard«, den Rogers (1959b/1987) als einen der Schlüsselbegriffe seiner Theorie bezeichnet hat, findet man »Wertschätzung und bedingungsfreies Akzeptieren« (Rogers & Wood, 1977), »Positive Zuwendung« (Bommert, 1987), »Unbedingte Wertschätzung (Beachtung)« (Biermann-Ratjen, Eckert & Schwartz, 2003), »Achten– Wärme–Sorgen« (Tausch & Tausch, 1990), »Bedingungsloses Akzeptieren« (Lietaer, 1988). Von ihnen sind in der Literatur vielfach die verkürzten Bezeichnungen »Wertschätzung« und »Bedingungsloses Akzeptieren« gebräuchlich geworden. Dadurch
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wird diese Bedingung oft so verstanden, als sollte der Therapeut alles, was sein Patient sagt oder tut bzw. getan hat, gut und richtig finden. Meistens ist das mit Einwänden von der Art verbunden, einen Mörder oder Vergewaltiger könne man doch nicht akzeptieren.
Zur Bedeutung des Begriffs Für eine Klärung lohnt es sich, die Bedeutung dieses Begriffs im englischen Original zu erkunden. In Langenscheidts Wörterbuch Englisch-Deutsch1 findet man für »regard« als Verb die Bedeutung »betrachten, ansehen« und als Substantiv »Achtung«, die durch ein Adjektiv näher charakterisiert werden kann (z. B. »hold someone in high [low] regard jemanden hochachten [geringachten]«). »Regard« bedeutet also so viel wie »aufmerksame Beachtung«. Eine Wertung ist damit nicht verbunden. Für das englische Adjektiv »positive« finden sich die Bedeutungen »ausdrücklich«, »definitiv«, »fest«, »sicher«, »eindeutig«, »greifbar, konkret«, »konstruktiv«. Eine bewertende Bedeutung im Sinnevon »gut« oder »begrüßenswert« 2 findet sich nicht! »Positive regard« bedeutet demnach so viel wie »der ausdrücklichen Beachtung bzw. der aufmerksamen Zuwendung wert«. »Unconditional« hat die Bedeutung »bedingungslos«. Diese Übersetzung könnte aber wegen Assoziationen wie »bedingungsloser Gehorsam« leicht im Sinne von Kritiklosigkeit und Aufgeben des 1
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zitiert nach der 7. Auflage des Werkes (Messinger & Rüdenberg, 1982.) Im deutschen psychosozialen Sprachgebrauch hat sich wie in der Alltagssprache eine wertende Verwendung von »positiv« eingebürgert (»Das finde ich positiv« = »Das finde ich gut«). Deshalb wird auch die Formulierung »ein positiver Krebsbefund«, der eine »schlechte« Nachricht ist (im Gegensatz zum »negativen«, der eine »gute« ist) oft als verwirrend empfunden. Sie enthält jedoch die sprachlich korrekte Bedeutung von positiv im Sinne von »vorhanden, gegeben«. – Übrigens ist auch in der Lernpsychologie/ Verhaltenstherapie ein »positiver Verstärker« nicht, wie oft angenommen und auch in Lehrbüchern zu finden, als »angenehmer« Verstärker definiert, sondern als »Stimulus, der, wenn er zu einer Situation hinzugefügt wird, die Wahrscheinlichkeit einer operanten Reaktion erhöht« (Skinner, 1953, S. 73; Übersetzung und Hervorhebung v. Verf.). Entsprechend ist ein negativer Verstärker nach Skinner ein Stimulus, dessen Entfernung aus der Situation die Wahrscheinlichkeit einer operanten Reaktion erhöht.
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eigenen Standpunktes verstanden werden. Worum es aber geht, ist, dass der Therapeut seine aufmerksame Zuwendung von keinerlei Bedingungen abhängig macht, dass er bereit ist, sich allen Facetten des Patienten mit der gleichen hohen Aufmerksamkeit zuzuwenden. Um diesen Aspekt zum Ausdruck zu bringen, bevorzugen wir den Ausdruck »bedingungsfrei« und übersetzen daher »unconditional positive regard« mit »Bedingungsfreie Positive Beachtung« und zur Kennzeichung, dass es sich um einen eigenen Begriff im Sinne eines Eigennamens handelt, schreiben wird alle drei Wörter groß. Rogers hat sie wie folgt definiert: Definition »Wenn die Selbsterfahrungen eines anderen von mir so wahrgenommen werden, dass keine von ihnen sich von irgend einer anderen dadurch unterscheidet, dass sie der aufmerksamen Beachtung (positive regard) mehr oder weniger wert ist, dann erfahre ich für dieses Individuum Bedingungsfreie Positive Beachtung.« (Rogers, 1959b/1987, S. 208; Übersetzung v. Verf.).
Nach dieser Definition geht es darum, dass der Therapeut bereit und in der Lage ist, sich allem Erleben seines Patienten unterschiedslos zuzuwenden Voraussetzung dafür ist die Einstellung des Therapeuten zu seinem Patienten, dass dieser einer solchen Zuwendung wert ist, und zwar als gesamte Person mit allem, was zu ihr gehört. Dabei hat und behält der Therapeut seine eigenen, für ihn verbindlichen Werte und bleibt sich ihrer bewusst (vgl. Kongruenz des Therapeuten). Aber er macht sie weder zum Maßstab für seine Zuwendung zum Erleben des Patienten noch geht er davon aus, dass der Patient gut daran täte, sie zu übernehmen. Statt dessen ist der Therapeut offen für die Vielfalt menschlicher Daseinsweisen. Lietaer (1988) fasst die Diskussion in der Literatur, Resultate von Faktorenanalysen und seine eigenen Erfahrungen als Therapeut zusammen und kommt zu dem Ergebnis, dass es sich beim – wie er es nennt – »bedingungslosen Akzeptieren« um einen multidimensionalen Begriff handelt. Er unterscheidet: 1. Die positive Gesinnung gegenüber dem Patienten: Der Therapeut schätzt ihn, ist gerne mit
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Kapitel 6 · Klientenzentrierte Therapietheorie
ihm zusammen und setzt sich für ihn und seine Möglichkeiten in einer nicht besitzergreifenden Weise ein. 2. Die Nicht-Direktivität: Der Therapeut respektiert den Patienten als einmalige und unabhängige Person mit ihrem Recht auf ein Leben nach eigener Einsicht. Dies schließt eine Haltung aus, bei der er versucht, dem Patienten seine eigenen Einsichten, seine Gefühls-, Denk- und Verhaltensmuster nahe zu bringen. 3. Die Bedingungslosigkeit (bzw. Bedingungsfreiheit): Der Therapeut gewährt dem Patienten seine Zuwendung, ohne dass er dies (ausgesprochen oder stillschweigend) von bestimmten Gefühlszuständen, Verhaltensweisen, Einstellungen abhängig macht. Er äußert weder Beifall noch Missbilligung, die auf seinem eigenen Bezugssystem beruht. Die Funktion der Bedingungsfreien Positiven Beachtung für den therapeutischen Prozess besteht darin, dass der Patient erfährt, dass sein gesamtes Erleben beim Therapeuten unterschiedslose, nicht wertende Zuwendung erfährt, auch solche Erfahrungen, vor denen er sich fürchtet, deren er sich schämt, aber auch diejenigen, über die er sich freut und die ihn befriedigen. Mit der Zeit wird der Patient selbst seine eigenen Erfahrungen immer mehr akzeptieren, sich ihnen zuwenden und sie zunehmend genauer symbolisieren. Er wird damit kon-
gruenter und effizienter bei der Bewältigung seines Lebens.
Zur Umsetzung im therapeutischen Handeln Was den eingangs erwähnten Einwand betrifft, einen Mörder oder Vergewaltiger könne man doch nicht akzeptieren, so ist wohl inzwischen deutlich geworden: Es geht bei der Bedingungsfreien Positiven Beachtung nicht darum, bestimmte Erlebnisoder Verhaltensweisen eines Patienten zu billigen. Vielmehr ist ein Gesprächspsychotherapeut bemüht, sich jeglichem Erleben des Patienten mit all seinen Varianten ohne Vorbehalt und ohne zu werten aufmerksam zuzuwenden. Er tut dies in der Erwartung, dass er damit dem Patienten, dessen Verhalten und Erleben durch Inkongruenz zwischen Selbst und Erfahrung beeinträchtigt ist, eine konstruktive Entwicklung ermöglicht. Im Vergleich mit der Wahrscheinlichkeit, in der therapeutischen Praxis mit solchen Extremfällen – Mördern und Vergewaltigern – konfrontiert zu werden, erscheint die Regelmäßigkeit und Hartnäckigkeit solcher Einwände verwunderlich. Therapeutische Übungsgespräche in der Ausbildung (aber auch die Supervision von Therapeuten) zeigen aber, dass es Menschen offensichtlich schwer fällt, sich auf ihnen Fremdes einzulassen (Höger, 2000). Tatsache ist, dass Menschen ständig bewerten, zumeist automatisch und ohne sich darüber im Klaren zu sein. Bewertungen sind ein wesentliches Merkmal unserer
Fallvignette
Von der Schwierigkeit, sich »fremden« Einstellungen zuzuwenden In einem therapeutischen Übungsgespräch von Studierenden kommt bei der »Patientin« der Gedanke auf, das Studium aufzugeben, einfach zu heiraten und Kinder zu haben. Die »Therapeutin« versucht, ihr den Gedanken auszureden. Es gelingt ihr also nicht, sich auf den Gedanken ihrer »Patientin« einzulassen. Vermutlich ist er für sie bedrohlich. Möglicherweise ist er ihr selber durchaus nicht fremd, aber sie hat wesentliche darin enthaltene Gefühle und Bedürfnisse nicht oder nur unvollständig symbolisiert. So kann sie die eigene Einstellung, die sie abwehrt, nicht klar
von der anderen abgrenzen und ist darauf angewiesen, sie ihrer »Patientin« auszureden. Wäre die »Therapeutin« in dem betreffenden Bereich kongruent und ihrer eigenen Einstellung sicher gewesen, wäre sie frei gewesen, die weitere Entwicklung des Gedankens der Patientin zu überlassen, sei es, dass andere Aspekte hinzu gekommen wären, die ihn relativiert hätten, sei es, dass er zur Gewissheit geworden wäre, weil er der Situation der »Patientin« genau entsprach, was keineswegs sicher bedeutet hätte, dass sie ihn umgehend in die Tat umgesetzt hätte, denn die inneren Prozesse bleiben nach Übungsgesprächen wie auch nach »echten« Therapiestunden nicht stehen.
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Einstellungen, d. h. der mit bestimmten Vorstellungen, Gedanken und Gefühlen verbundenen Handlungsbereitschaften, die unseren Alltag begleiten und auf deren Gültigkeit wir angewiesen sind, um orientiert und damit handlungsfähig zu bleiben (Stroebe, Hewstone & Stephenson, 2003; Triandis, 1975). Sich auf von unseren eigenen abweichende, fremde Einstellungen einzulassen bedeutet auch, dass die eigenen in Frage gestellt werden. Desorientierung droht und Unsicherheit entsteht. Das ist insbesondere dann so, wenn auch Inkongruenzen beteiligt sind, d. h. wenn die eigenen Einstellungen nicht symbolisiert und zusammen mit den in ihnen enthaltenen Bewertungen dem Bewusstsein nicht zugänglich sind. Nur wenn die eigenen Einstellungen als zur eigenen Person zugehörig erlebt werden und von denen anderer abgegrenzt werden können, kann sich die Person den abweichenden Einstellungen anderer offen zuwenden. Psychotherapeutische Konzepte enthalten Vorstellungen darüber, wie eine gesunde bzw. in der Therapie weit fortgeschrittene Person beschaffen ist. Damit sind wiederum unmittelbare Ziele verbunden, wie ein Patient durch die Therapie werden sollte. Im Falle des Klientenzentrierten Konzepts ist nach einer Therapie die funktionsfähige Person u. a. spontan und erlebt auch die Gefühle unmittelbar, die vorher dem Bewusstsein gegenüber verleugnet worden waren. Diese Gefühle sind nun auch von den entsprechenden Ausdrucksphänomenen (Seufzer, Tränen, Muskelentspannung) begleitet. Die Person ist nicht mehr an äußeren Vorgaben orientiert, sondern lebt aus ihren eigenen Bewertungen heraus (Rogers, 1980/1991b). Solche Zielvorstellungen können zu Abweichungen von der Bedingungsfreien Positiven Beachtung des Patienten führen. Es gehört zur Bedingungsfreien Positiven Beachtung, nicht zu versuchen, den Patienten in eine erwünschte Richtung zu steuern – und sei sie auch noch so sehr im Sinne des therapeutischen Konzepts. Vielmehr ist es die Aufgabe des Therapeuten, ihm die für seine weitere Entwicklung optimalen Bedingungen zu bieten, unter anderem die Bedingungsfreie Positive Beachtung, damit er, der Aktualisierungstendenz folgend, den ihm gemäßen Weg gehen kann. Im obigen Beispiel hat der Therapeut auch bemerkt, dass er gerade dabei war, sich mit der Pa-
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Fallvignette
Erschwerte Bedingungsfreie Positive Beachtung aufgrund des klientenzentrierten Menschenbildes Eine Patientin erzählt, dass sie in Auseinandersetzungen mit ihrem Mann in der Regel spontan und unmittelbar ihrem Gefühl entsprechend reagiere, er jedoch nüchtern und vernunftgesteuert bleibe. Dabei ziehe sie stets den Kürzeren. Im Therapeuten blitzt der Gedanke auf, dass sie doch offensichtlich in ihrer emotionalen Entwicklung weiter fortgeschritten sei als ihr Mann und damit letztlich ihrerseits im Vorteil. Er spürt den Impuls, ihr dies in passenden Worten mitzuteilen und sie in ihrer Eigenart zu bestärken und damit zu fördern, bemerkt dann aber, dass er damit die innere Situation der Patientin nicht beachten würde, die klar gesagt hat, dass sie sich ihrem Mann unterlegen fühlt. Zudem bemerkt er, dass er versucht ist, sie in eine bestimmte, von ihm für günstig gehaltene Richtung zu lenken (»Ich beachte dein Erleben, so weit es den Zielvorstellungen der Gesprächspsychotherapie entspricht«). Nachdem er dies bei sich geklärt hat, verwirft er seine Idee und geht auf die Patientin ein, indem er sie anregt, mehr zu ihrem Gefühl der Unterlegenheit zu sagen.
tientin zu solidarisieren und ihre Partei zu ergreifen. Aus einer oberflächlichen Perspektive mag dies vielleicht begrüßenswert erscheinen. Tatsächlich würde er damit seinen Vorstellungen, die er von der Situation der Patientin hat und davon, was er für sie für richtig hält, Raum geben, und damit würde ihm die Patientin und deren Sichtweise aus dem Blick geraten. Weil es ihm aber gelingt, auch das bei sich wahrzunehmen, kann er sich wieder so weit von ihr abgrenzen, dass die Patientin zu sich selber kommen kann. Oft meinen angehende Gesprächpsychotherapeuten, wenn sie dem Patienten gegenüber wohlwollende Gefühle oder Sympathie erleben, sie ihn also akzeptieren, sei dies ein Anzeichen für ihre Bedingungsfreie Positive Beachtung des Patienten. Dabei kann ihnen nur zu leicht entgehen, wie sehr
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Kapitel 6 · Klientenzentrierte Therapietheorie
dabei ihre eigenen Bedürfnisse störend ins Spiel kommen. ! Sympathie allein ist noch keine Bedingungsfreie Positive Beachtung!
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Das Gefühl von Sympathie alleine kann dazu führen, dass sich ein Therapeut, weil er für seinen Patienten ja nur das Beste wünscht, dessen Erleben von Rückschlägen, Ungeduld, Verzagtheit usw. weniger (oder gar nicht) zuwendet als dem von Fortschritten und Erfolg. Damit macht er jedoch seine Zuwendung von der Bedingung abhängig, dass es dem Patienten besser geht. Wesentliche Bereiche des Erlebens bleiben unbeachtet. Was dem Therapeuten dabei (wegen mangelnder Kongruenz) entgeht: Seine Sympathie gilt gar nicht uneingeschränkt dem ganzen Patienten, sondern nur dem Teil, der sagt, dass es ihm gut gehe. Natürlich ist es letztlich das Ziel der Therapie, dass es dem Patienten schließlich besser geht. Aber wenn eigene Wünsche des Therapeuten (z. B. die Sympathie des Patienten zu gewinnen, dem ihm sympathischen Patienten rasch zu »helfen«, ein erfolgreicher Therapeut zu sein oder auch die Konfrontation mit menschlichem Leid zu vermeiden) ihn daran hindern, allem Erleben des Patienten in gleicher Weise Beachtung zu schenken, dann hindert er den Patienten daran, sich allen Bereichen seines Erlebens zuzuwenden. Damit soll selbstverständlich nicht gesagt sein, dass der Gesprächspsychotherapeut dem Patienten gegenüber keine Gefühle der Sympathie haben oder sie gar unterdrücken sollte – die Folge könnte nur Inkongruenz sein. Worauf es ankommt, ist, dass er sich über sie und ihre Auswirkungen im Klaren ist. In allen Beispielen für Bedingungsfreie Positive Beachtung spielte die Kongruenz des Therapeuten eine wesentliche Rolle: Wenn der Therapeut seine eigenen Erfahrungen hinreichend genau symbolisiert und in seinem Bewusstsein repräsentiert hatte, konnte er sie in ihrer Bedeutung für seine Bedingungsfreie Positive Beachtung des Patienten abschätzen und zu einer angemessenen therapeutischen Einstellung und entsprechendem Handeln zurückfinden. Bei fehlender oder verminderter Kongruenz, wenn der Therapeut seine Erfahrungen in der therapeutischen Beziehung nicht oder nur verzerrt symbolisieren konnte, beeinträchtigte das seine
Bedingungsfreie Positive Beachtung, ohne dass er sich darüber im Klaren war. Dieser funktionelle Zusammenhang zwischen den beiden Bedingungen: Bedingungsfreie Positive Beachtung und Kongruenz/Inkongruenz des Therapeuten ist für die Praxis der Gesprächspsychotherapie besonders wichtig (7 Kap. 9; Biermann-Ratjen et al., 2003). Beide entsprechen nicht konstanten Eigenschaften, die ein Therapeut hat und in die Therapie mitbringt. Vielmehr sind sie Prozessmerkmale, die mal mehr und mal weniger ausgeprägt vorliegen, Schwankungen unterliegen und stets von neuem optimiert werden müssen. Weil sich Inkongruenz gewöhnlich der direkten Selbstwahrnehmung entzieht (denn sie besteht ja gerade in der beeinträchtigten Selbstwahrnehmung), können Anzeichen verminderter Bedingungsfreier Positiver Beachtung, weil sie der (Selbst-)Wahrnehmung eher zugänglich sind, als Hinweis auf bestehende Inkongruenzen dienen und den Therapeuten anstoßen, seine beeinträchtigte Kongruenz in der Therapie wieder herzustellen. Das kann dann in der betreffenden therapeutischen Situation selber geschehen, in der Reflexion oder einer Supervision außerhalb der Therapiestunde oder aber in einer eigenen Psychotherapie. Außer der Feststellung, auf bestimmte Äußerungen des Patienten nicht hinreichend eingegangen zu sein, können als (vorübergehende oder andauernde) Signale für eine beeinträchtigte Kongruenz gelten (Biermann-Ratjen et al., 2003, S. 28 ff.): 4 Langeweile bei langatmigen Berichten oder Wiederholungen des Patienten, 4 Müdigkeit in der Therapiestunde trotz ausreichendem Schlaf, 4 Ungeduld oder Ärger über den Patienten, 4 allmählich wachsende oder sich spontan einstellende Abneigung gegenüber dem Patienten, 4 Wunsch, der Patient möge doch anders sein, als er ist, oder sich anders verhalten, als er es tut (dies kann besonders dann unbemerkt bleiben, wenn sich Patient und Therapeut darüber einig sind, z. B. in Bezug auf Symptome, die verschwinden sollen), 4 Spannung oder Missmut vor der Therapiestunde mit dem Patienten, 4 Gefühl der Erleichterung, wenn der Patient geht,
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4 Erleichterung, wenn der Patient die Stunde absagt, 4 Zuneigung, die immer stärker von sexuellen Wünschen gegenüber dem Patienten begleitet wird. Zu erwähnen bleibt noch, dass sich manche Patienten durch die Bedingungsfreie Positive Beachtung des Therapeuten erheblich irritiert fühlen. So, wie sie ihre Interaktionen mit anderen Menschen bisher erlebt haben, können sie es sich einfach nicht vorstellen, dass es so etwas überhaupt gibt. Entsprechend reagieren sie mit Misstrauen: »Was denkt der Therapeut wirklich von mir? Was verschweigt er? Was will er eigentlich?« Gesprächpsychotherapeuten wissen, dass sie solches Misstrauen den Patienten nicht ausreden können und dass es auf Dauer nur ihr glaubwürdiges Verhalten sein wird, durch das Misstrauen allmählich durch Vertrauen ersetzt werden kann. Kommen wir abschließend noch einmal auf den Einwand zurück, dass man einem Mörder oder Vergewaltiger nicht mit Bedingungsfreier Positiver Beachtung begegnen könne. Auch für Straftäter kann eine Gesprächspsychotherapie indiziert sein, wenn sie unter ihrer Tat leiden, wenn sie fassungslos, ratlos oder voller Schuldgefühle vor ihrer Tat stehen, d. h. wenn die Tat Ausdruck von Inkongruenz ist. Sucht der Täter im Therapeuten aber hartnäckig jemanden, der ihm seine Tat »entschuldet«, ihm dabei hilft, sie zu rechtfertigen oder sie zu verharmlosen, dürften sich beim Therapeuten Empörungsgefühle und Zurückweisungsimpulse, aber keine Bedingungsfreie Positive Beachtung einstellen. Aber zur Beruhigung: Solche Täter suchen in aller Regel keine Hilfe bei einem Psychotherapeuten.
6.1.5
Der Therapeut versteht empathisch den Inneren Bezugsrahmen seines Patienten
Um diese fünfte der notwendigen Bedingungen für den psychotherapeutischen Prozess erläutern zu können, sind zunächst zwei Begriffe zu klären: der »Innere Bezugsrahmen« des Patienten, den es zu verstehen gilt, und »empathisch« als die Art und Weise, in der das Verstehen erfolgt.
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Der Innere Bezugsrahmen Der Innere Bezugsrahmen ist gemäß der Formulierung dieser Bedingung der Gegenstand des Empathischen Verstehens. Rogers hat ihn wie folgt definiert: Definition Der Innere Bezugsrahmen (»internal frame of reference«) ist »der gesamte Bereich der Erfahrungen, die in einem gegebenen Moment dem Gewahrwerden des Individuums zugänglich sind. Er umfasst den gesamten Umfang der Empfindungen, Wahrnehmungen, Bedeutungen und Erinnerungen, die dem Bewusstsein zur Verfügung stehen« (Rogers, 1959b/1987, S. 210; Übersetzung v. Verf.).
Nach dieser Definition bezieht sich der Innere Bezugsrahmen explizit auf die Perspektive des Patienten3. Er entspricht dem, was zur Phänomenologie des Selbst der Person gehört (7 Kap. 3.3.3) und bezieht sich sowohl auf die »Figur«, also das Selbst als Objekt der Selbstwahrnehmung, als auch auf das Selbst als Subjekt, d. h. den Hintergrund der Selbsterfahrungen des Individuums, so weit er für dessen bewusste Wahrnehmung zugänglich ist4. Der Innere Bezugsrahmen ist nach Rogers identisch mit der subjektiven Welt des Individuums und nur ihm gänzlich bekannt. Eine andere Person kann ihn niemals kennen. Sie kann ihn empathisch erfassen, aber auch dadurch kann sie ihn niemals vollständig erkennen.
Empathisches Verstehen In der deutschsprachigen Literatur zur Gesprächspsychotherapie wurde und wird dieser Begriff unter verschiedenen Bezeichnungen behandelt bzw. ihnen gleichgesetzt: »Einfühlendes Verstehen« (Bommert, 3
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Im Gegensatz dazu ist nach Rogers der äußere Bezugsrahmen (external frame of reference) die subjektive Perspektive eines anderen (z. B. des Therapeuten), der ein Individuum wahrnimmt, ohne dessen Perspektive zu übernehmen (Rogers, 1959b/1987, S. 37 ff.). Biermann-Ratjen et al. (2003) unterscheiden inhaltlich drei Aspekte, in denen der Innere Bezugsrahmen sichtbar wird: Neben den Selbsterfahrungen die inneren Wertvorstellungen und die Beziehung zum Therapeuten (7 Kap. 9.3.3).
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Kapitel 6 · Klientenzentrierte Therapietheorie
1987), »Verbalisierung emotionaler Erlebnisinhalte« (Tausch, 1970), »Reflektieren von Gefühlen« (Minsel & Langer, 1974). Diese Bezeichnungen verdecken jedoch weitgehend das, was Rogers ursprünglich gemeint hat und beeinträchtigen deshalb die Umsetzung empathischen Verstehens in der therapeutischen Praxis. Im allgemeinen Sprachgebrauch versteht man unter Empathie die Fähigkeit, sich in andere hineinzuversetzen. Als wesentlicher Bestandteil der sozialen Wahrnehmung ist die Empathie auch Forschungsgegenstand der Sozialpsychologie, allerdings mit beträchtlichen terminologischen Ungenauigkeiten, die zu Sprachverwirrung in der Psychologie führen können: »Die Crux des Problems ist, dass es, obwohl Empathie ein Wort der Allgemeinsprache ist (was wahrscheinlich die Angelegenheit verschlimmert), unter den Psychologen wenig Übereinstimmung über den Begriff oder den Prozess der Empathie gibt« (Wispe, 1986, S. 318; Übersetzung v. Verf.). Empathie wird in der Sozialpsychologie gleichgesetzt mit Rollenübernahme, Freundlichkeit, Mitleid, Mitgefühl, Einsicht, Hilfeverhalten sowie mit Übereinstimmung der Reaktion eines Beobachters mit der des Beobachteten (Gruen & Mendelssohn, 1986). Diese Begriffe bezeichnen fundamental unterschiedliche Sachverhalte und sind für das Verständnis des Begriffs im klientenzentrierten Sinne entsprechend ungeeignet. Bischof-Köhler (1989) geht in ihrer entwicklungspsychologischen Studie von einer gründlichen phänomenologischen und evolutionsbiologischen Analyse aus und versteht unter Empathie »…unmittelbar der Gefühlslage eines Anderen teilhaftig zu werden und sie dadurch zu verstehen. Trotz dieser Teilhabe bleibt das Gefühl aber anschaulich dem Anderen zugehörig. Darin unterscheidet sich Empathie von Gefühlsansteckung (z. B. bei Panik, Begeisterung oder ansteckendem Lachen), bei der die Stimmung des Anderen vom Beobachter selbst Besitz ergreift und dabei ganz zu dessen eigenem Gefühl wird« (a. a. O., S. 26). Und sie konnte experimentell nachweisen, dass diese Fähigkeit bereits bei Kleinkindern um die Mitte des zweiten Lebensjahres vorhanden ist, also schon deutlich vor dem sprachgebunden-kognitiven Verstehen. Als ihre Grundlage wird die Wahrnehmung des Ausdruckverhaltens des Anderen und der Situation angesehen, in der er sich befindet.
Die von Rogers formulierte Definition geht von dem gleichen Verständnis aus, bezieht sich aber speziell auf die Situation des Therapeuten in der therapeutischen Beziehung. Wir modifizieren hier die von Rogers 1959b/1987 gegebene Definition der Empathie als Zustand und definieren sie im Sinne der von ihm selber später explizit vorgenommenen Korrektur (Rogers, 1976, S. 36) als Prozess. Definition Der Prozess der Empathie besteht darin, »den Inneren Bezugsrahmen eines anderen mit den emotionalen Komponenten und den dazu gehörenden Bedeutungen genau wahrzunehmen, als ob man die andere Person sei, jedoch ohne jemals die ›Als-ob‹-Bedingung zu verlieren. Das bedeutet, den Schmerz oder die Freude eines anderen so zu fühlen, wie er sie fühlt, und deren Ursachen so wahrzunehmen, wie er sie wahrnimmt, aber ohne jemals dieses Wissen zu verlieren, dass es so ist, als ob wir verletzt oder erfreut usw. seien« (Rogers, 1959b/1987, S. 210 ff.; Übersetzung v. Verf.). Sofern die Qualität des »Als ob« verloren geht, handelt es sich um einen Prozess der Identifikation.
Gegenüber dem Alltagsverständnis des sich in andere Hineinversetzens nimmt Rogers Präzisierungen vor. Die erste besteht darin, dass das Empathische Verstehen des Therapeuten als Bedingung für konstruktive Veränderungen des Patienten mit einem hohen Anspruch versehen ist. Es geht hier um ein möglichst vollständiges und genaues Erfassen des Bezugsrahmens des Patienten. An einer anderen Stelle geht es für Rogers darum, »die persönliche Wahrnehmungswelt eines anderen zu betreten und völlig in ihr zuhause zu sein. Es umfasst jeden Augenblick Empfindsamkeit für die wechselnden Gefühlsbedeutungen, die in diesem anderen Menschen strömen, für Angst oder Wut, Zärtlichkeit oder Verwirrung oder was auch immer er oder sie gerade an Erlebnis erfährt« (Rogers, 1976, S. 36). Die andere Präzisierung nimmt die Definition Bischof-Köhlers inhaltlich vorweg: Empathie ist gegenüber dem allgemeinen Sich-Hineinversetzen in einen anderen Menschen klar begrenzt. Der Therapeut geht nicht im Mitgefühl mit dem Patienten auf,
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sondern achtet stets darauf, dass es zwei verschiedene Personen sind, die miteinander in Kontakt stehen, dass es um die innere Situation des Patienten als einer von ihm, dem Therapeuten, klar unterschiedenen Person geht. Er identifiziert sich nicht mit dem Patienten, sondern bleibt für ihn ein eigenständiger Partner bei dessen Auseinandersetzung mit sich selbst. Empathisches Verstehen im Klientenzentrierten Konzept ist also nicht – wie oft verwechselt – »Verstehen« im alltäglichen Sinne einer mehr oder weniger oberflächlichen verständnisvollen Billigung (»Ich kann verstehen, dass du damals nicht anders handeln konntest«). Abgesehen von der Beschreibung der Empathie als differenzierter und engagierter Auseinandersetzung mit der inneren Situation des Patienten aus dessen Perspektive wird spätestens bei ihrer Darstellung im Kontext mit der Bedingungsfreien Positiven Beachtung (7 Kap. 6.1.4) klar, dass eine solche Haltung nicht gemeint sein kann. Empathie im Sinne des Klientenzentrierten Konzepts ist auch nicht gleichbedeutend mit Altruismus. Zwar verhält sich der Gesprächspsychotherapeut altruistisch, wenn er sich engagiert um den Patienten und dessen Erleben kümmert. Aber sein Altruismus ist auf einen bestimmten Bereich begrenzt, denn er greift nicht in das Handeln des Patienten ein und stürzt nicht herbei, um »die Dinge in Ordnung zu bringen« (Rogers, 1961/1973a, S. 37). Er tut dies nicht, weil er ein Mensch ist, der dem anderen seine Freiheit lässt, sondern weil er eingesehen hat, dass sein Patient ein sich selbst organisierender Organismus ist, der nicht von außen determiniert werden kann (7 Kap. 3.2.3). Eine weitere Unterscheidung ist wichtig: Empathisches Verstehen hat gegenüber dem allgemeinen Sinngehalt von Verstehen eine spezifische Bedeutung: Es geht um mehr als ein Verstehen im Sinne von Begreifen, wie man z. B. einen mathematischen Lehrsatz versteht oder den Sinn eines gehörten oder gelesenen Satzes, dessen Inhalt man erfasst hat – was allerdings eine wesentliche Voraussetzung für das Empathische Verstehen ist. Auch handelt es sich nicht um Empathisches Verstehen, wenn ein Therapeut das Verhalten eines Patienten in dem Sinne versteht, dass er dafür eine theoretische Erklärung hat. Empathisches Verstehen kann nur in einem Kontakt stattfinden und bezieht sich definitionsgemäß einzig
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und allein auf die jeweils aktuelle innere Situation des Patienten. Fallvignette
Das Bedürfnis, empathisch verstanden und akzeptiert zu werden Nach seiner Rückkehr aus Italien litt Goethe heftig unter dem Wechsel von der Weltstadt Rom in das provinzielle Weimar und klagte: »… die Freunde, anstatt mich zu trösten und wieder an sich zu ziehen, brachten mich zur Verzweiflung. Mein Entzücken über entfernteste kaum bekannte Gegenstände, mein Leiden, meine Klagen über das Verlorne schien sie zu beleidigen, ich vermisste jede Teilnahme, niemand verstand meine Sprache.« (Zitiert nach Damm, 1998, S. 113)
Umsetzung im therapeutischen Handeln: das empathisch Verstandene dem Patienten mitteilen Die Formulierung der sechs Bedingungen beruht auf der Analyse von therapeutischen Gesprächen (7 Kap. 3.2.5). Rogers berichtet über diese Phase der Forschung: »Im Laufe vieler Stunden erkannten wir allmählich, dass das Horchen auf die Gefühle und das ›Widerspiegeln‹ dieser Gefühle ein ungemein komplexer Prozess war. Wir entdeckten, dass wir exakt feststellen konnten, welche Therapeutenäußerung bewirkte, dass ein ergiebiger Strom von bedeutsamen Ausdrucksgehalten oberflächlich und unergiebig wurde. Ebenso konnten wir die Bemerkung ausmachen, die die träge und zusammenhanglose Rede eines Klienten in eine konzentrierte Selbstexploration umschlagen ließ.« (Rogers, 1976, S. 34) Im Fokus der Aufmerksamkeit stand also, dass der Therapeut dem Patienten etwas mitteilt, und wie diese Mitteilungen beschaffen sind, wenn der therapeutische Prozess in Gang kommt bzw. bleibt. Rogers fährt fort: »In solch einem Lernmilieu wurde es ganz selbstverständlich, mehr Mühe auf den Inhalt der Therapeutenantwort zu verwenden, als auf 6
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Kapitel 6 · Klientenzentrierte Therapietheorie
die einfühlsamen Fähigkeiten des Zuhörenden. … Aber diese Neigung, die Therapeutenantworten in den Mittelpunkt zu stellen, hatte Konsequenzen, die mich erschreckten. Die ganze Methode wurde nach einigen Jahren als eine Technik verstanden. ›Nondirektive Therapie‹, wurde behauptet, ›ist eine Technik des Widerspiegelns der Gefühle des Klienten.‹ Eine noch üblere Karikatur war, ›In der nondirektiven Therapie wiederholt man die letzten Worte, die der Klient gesprochen hat.‹ Ich war so schockiert über diese vollständig verzerrte Darstellung unserer Methode, dass ich ein paar Jahre lang fast gar nichts über einfühlendes Zuhören sagte, und wenn doch, dann um eine empathische Haltung hervorzuheben, und ich äußerte mich kaum dazu, wie diese in die Beziehung zum Klienten eingebracht werden konnte.« (Rogers, 1976, S. 34) Rogers beruft sich auf das von Gendlin (1962) entwickelte Konzept des »Experiencing« (7 Kap. 19). Gendlin geht davon aus, dass im menschlichen Organismus ein fortlaufender Prozess der Erfahrung besteht, dem das betreffende Individuum immer wieder seine Aufmerksamkeit zuwenden kann, um die Bedeutungen seines Erlebens zu entdecken. Die Mitteilung des empathisch Verstandenen geschieht nach Rogers nicht so, dass der Therapeut dem Patienten sagt, was in ihm vorgeht oder ihm gar seine inneren Vorgänge erklärt. Er wendet sich vielmehr gemeinsam mit dem Patienten dessen fortlaufendem inneren Prozess der Erfahrung zu. Er bewegt sich darin vorsichtig und ohne Urteile zu fällen und versucht, auch diejenigen Gefühlsbedeutungen zu erahnen, deren der Patient sich kaum bewusst ist. Dies geschieht in einem Wechselspiel zwischen Therapeut und Patient, in dem sich beide darüber austauschen, was sie von diesem inneren Prozess der Erfahrungen des Patienten wahrnehmen. Der Therapeut überprüft dabei anhand der Äußerungen des Patienten regelmäßig die Genauigkeit seiner empathischen Wahrnehmungen. Der Therapeut ist für den Patienten in dessen innerer Welt ein vertrauensvoller Gefährte, und indem er das, was er empathisch versteht, dem Patienten mit-
teilt, hilft er ihm, eine Beziehung zu seinem inneren Erleben aufzunehmen und die Gefühlsbedeutungen in dem Prozess seiner Erfahrung vollständiger zu symbolisieren und bewusst zu erleben. Dies wiederum eröffnet dem entfaltenden Aspekt der Aktualisierungstendenz des Patienten die Möglichkeit, wirksam zu werden und die Entwicklung der Person voran zu bringen (7 Kap. 3.2). Dies gelingt umso eher, je vollständiger der Therapeut die inneren Vorgänge des Patienten empathisch erfasst. Es ist aber nicht erforderlich und würde den Prozess eher aufhalten, wenn er alles empathisch Wahrgenommene dem Patienten gegenüber formulieren würde. Vielmehr ist es ihm, wenn er im Erleben des anderen zuhause ist, möglich, genau den spezifischen Punkt zu erahnen und anzusprechen, der für den Fortgang der Selbstexploration wichtig ist. Eine wirksame Hilfe dafür geben BiermannRatjen et al. (2003, S. 104 ff.) durch den Hinweis, dass ein bedeutsamer Teil des Inneren Bezugsrahmens des Patienten dessen Reaktionen auf seine eigenen Gefühle ist. »Der Therapeut muss seinem Klienten nicht nur mitteilen, welche Gefühle er bei ihm wahrgenommen hat, sondern auch, wie leicht oder wie schwer es für den Klienten ist, diese Gefühle zu erleben, wie angenehm oder unangenehm die Entdeckung dieser Gefühle ist, wie bekannt oder unbekannt, selbstverständlich oder erschreckend, annehmbar oder unannehmbar usw. die Gefühle sind« (a. a. O., S. 105). ! Das empathisch Verstandene mitzuteilen bedeutet nicht, Gefühle des Patienten aufzudecken, deren er sich noch nicht bewusst ist. Die damit verbundene Bedrohung würde beim Patienten mit der Abwehr den erhaltenden Aspekt der Aktualisierungstendenz aktivieren, den Prozess des wechselseitigen Austausches unterbrechen und die Entwicklung stagnieren lassen.
Damit ist verbunden, dass der Therapeut, während er sich dem Erfahrungsprozess des Patienten empathisch zuwendet, seine eigenen Sichtweisen und Werthaltungen beiseite legt und sich ohne Vorurteil in der Erlebniswelt des anderen bewegt. Sein eigenes Selbst stellt er so lange zurück. Das kann er allerdings nur, wenn er in sich genügend stabil ist und weiß, dass er sich in der möglicherweise fremden
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oder absonderlichen Erlebniswelt des anderen nicht verlieren wird und dass er, wann immer er will, ohne Schwierigkeiten in seine eigene Welt zurückkehren kann. ! Zur inneren Welt des Patienten gehören nicht nur dessen Gefühle, sondern ebenso seine Wahrnehmungen und Schlussfolgerungen, die zu diesen Gefühlen führen und ebenso diejenigen Wahrnehmungen und Schlussfolgerungen, die durch die Gefühle beeinflusst werden. Auch kognitive Aspekte gehören zu dem, worüber sich Patient und Therapeut austauschen.
Zu berücksichtigen ist auch, dass das Mitteilen des empathisch Verstandenen nicht nur verbal erfolgt. Vielmehr ist dabei die ganze Person des Therapeuten beteiligt mit all ihren verbalen, paraverbalen und nichtverbalen Ausdruckskanälen. Fallvignette
Paraverbale Mitteilungen Die Funktion paraverbaler Signale wird allein schon beim Lesen des »Hm« in Transkripten therapeutischer Gespräche deutlich. Ein beliebig gewähltes Beispiel (aus Rogers 1942/1972, S. 257 f.) mag dies verdeutlichen: »K 144: … Manchmal kann ich mich in einer solchen Atmosphäre gehen lassen … wenn ich ein hübsches Mädchen finde … ja, vorübergehend macht es mir Spaß. B 145: Hm. Aber das ist sicherlich nicht genug … Ich meine, dieses vorübergehende Vergnügen ist nicht das, was Sie suchen.« Der Leser möge das »Hm« mit dem Satz B 145 laut lesen, und zwar einmal mit in der Tonhöhe abfallender Stimme und dann mit aufsteigender. Er wird feststellen, dass ersteres skeptisch, zweifelnd klingt, letzteres hingegen bejahend, aufmunternd.
Es wird oft betont, dass der Gesprächspsychotherapeut nicht interpretiert. Damit ist gemeint, dass er nicht als Experte auftritt, der die Bedeutung des Gesagten besser versteht als der Patient. Interpretationen des Gesprächspsychotherapeuten sind immer Versuche, den Patienten zu fragen, ob er etwas so und nicht anders gemeint hat, und sind einge-
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bunden in das gemeinsame Bemühen von Patient und Therapeut, Sinn und Bedeutung der Selbstwahrnehmungen des Patienten zu erkennen, wobei der Patient letztlich der Experte ist. Der Therapeut schafft lediglich die Bedingungen für eine effiziente Selbstinterpretation des Patienten. Das bedeutet zugleich, dass der Therapeut nicht Gefühle des Patienten interpretierend aufdeckt, und auch keine theoretischen Zusammenhänge zwischen Symptomen, Erlebnisweisen usw. herstellt.
6.1.6
Der Patient nimmt zumindest die Bedingungsfreie Positive Beachtung und das Empathische Verstehen des Therapeuten ihm gegenüber wahr
Diese sechste Bedingung für den therapeutischen Prozess wird selten ausdrücklich beachtet. Sie ist aber nicht nur selbstverständlich, sondern auch wesentlich: Wenn die Bemühungen des Therapeuten wirksam werden sollen, dann müssen sie beim Patienten nicht nur »ankommen«, sondern sie müssen so ankommen, wie sie therapeutisch wirksam werden können. Menschen verbinden ihre Wahrnehmungen stets mit Bedeutungen. Und so ist für den Patienten das Verhalten des Therapeuten niemals nur »objektiv«, sondern stets Träger von Bedeutung. Zu ihr gehört u. a., welche Einstellung/Haltung er beim Therapeuten wahrnimmt. Die vom Patienten beim Therapeuten wahrgenommene Haltung wird nicht immer der beim Therapeuten tatsächlich vorhandenen entsprechen und stets durch den inneren Bezugsrahmen des Patienten bestimmt sein. Daraus folgt, dass der Therapeut seine Interventionen zweckmäßigerweise so wählt und gestaltet, dass der Patient sie in seinem inneren Bezugsrahmen als Ausdruck von mit Bedingungsfreier Positiver Beachtung verbundenem Empathischem Verstehen wahrnehmen und auch akzeptieren kann. Der Therapeut kann das in dem Maße tun, in dem er 1. den inneren Bezugsrahmen des Patienten, dem er Bedingungsfreie Positive Beachtung entgegenbringt, empathisch versteht und auf dieser Basis 2. in der Lage ist, die vermutliche Wirkung seiner Interventionen abzuschätzen.
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Kapitel 6 · Klientenzentrierte Therapietheorie
Fallvignette
Therapeutische Intervention, die vom Patienten nicht als verstehend und akzeptierend wahrgenommen wurde
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Ein Therapeut schließt aus den Aussagen des Patienten, dass dieser im Augenblick Angst erfährt und spricht ihn darauf an. Der Patient verneint das und wechselt das Thema. Der Therapeut ist verunsichert und möchte den Patienten wieder auf das ursprüngliche Thema zurückführen – vergeblich. Er ist ratlos, oder (wenn er dies bei sich nicht vollständig symbolisiert bzw. nicht hinreichend kongruent ist) hält den Patienten für nicht kooperativ. Dem Therapeuten ist (und dafür kann es durchaus gute Gründe geben) offenbar entgangen, dass das Thema »Angst« für den Patienten zu belastend ist, er deshalb die Intervention des Therapeuten nicht als empathisch verstehend und akzeptierend wahrnehmen konnte und sich gegen sie wehren musste. Wenn nun der Therapeut seinerseits diese abwehrende Reaktion des Patienten versteht und akzeptiert, kann er abschätzen, ob es angebracht ist, auf das Ausweichen näher einzugehen und mit dem Patienten gemeinsam zu erkunden, welche Bedeutung das Gefühl Angst für ihn hat. Wenn ihm das nicht angebracht erscheint, wird er vielleicht dem Themenwechsel des Patienten folgen und auf eine günstigere Gelegenheit warten, um auf das Thema Angst einzugehen. Vielleicht wird es ihm dann auch gelingen, dies so zu tun, dass es den Bezugsrahmen des Patienten (zu dem dessen Einstellung zur eigenen Angst wesentlich gehört) besser berücksichtigt.
6.1.7
Zur therapeutischen Beziehung
Die von Rogers formulierten sechs Bedingungen für therapeutische Veränderungen stehen in einem Sinnzusammenhang, in dem jeder von ihnen eine eigene Funktion zukommt: Während die erste Bedingung (Kontakt zwischen Therapeut und Patient) eine Voraussetzung für jede wirksame Interaktion ist, beschreibt die zweite (Inkongruenz des Patienten) eine Indikationsbedingung für Gesprächspsycho-
therapie. Die dritte (Kongruenz des Therapeuten), vierte (Bedingungsfreie Positive Beachtung) und fünfte Bedingung (Empathisches Verstehen) beschreiben das Beziehungsangebot des Therapeuten an den Patienten. Erst durch die sechste (der Patient nimmt das Beziehungsangebot des Therapeuten wahr) mündet das therapeutische Beziehungsangebot in eine wirksame therapeutische Beziehung.
Das therapeutische Beziehungsangebot Die dritte, vierte und fünfte der Bedingungen, die das Beziehungsangebot des Gesprächspsychotherapeuten ausmachen, stehen untereinander in wechselseitiger funktionaler Beziehung (7 Kap. 9.1). Die Kongruenz des Therapeuten bestimmt die Grenzen seiner Möglichkeiten, den Patienten bedingungsfrei positiv zu beachten und vollständig empathisch zu verstehen. Erfahrungen, die der Therapeut bei sich selber nicht zulassen kann, wird er auch beim Patienten nicht aufmerksam und empathisch wahrnehmen können. Seine Inkongruenz begrenzt also seine Fähigkeit zur empathischen Bedingungsfreien Positiven Beachtung. Er wird sich Erfahrungen, die er selber abwehrt, beim Patienten nicht oder nur mit Vorbehalten zuwenden können. Diese Vorbehalte können, müssen aber nicht abwertende sein. Nicht selten findet sich bei Therapeuten die Tendenz, Bedingungsfreie Positive Beachtung mit einer gleichbleibend netten Haltung zu verwechseln. Mit dieser wird verschleiert, dass bei dem Versuch, auf den Patienten empathisch einzugehen, eigene Erfahrungen bzw. Reaktionen auf das Erleben des Patienten nicht im Bewusstsein symbolisiert werden können, also diesbezüglich Inkongruenz vorliegt. Jeder Therapeut wird im Verlauf einer Therapie von Teilen des Erlebens des Patienten oder von Ereignissen in der Therapie z. B. befremdet, irritiert oder gar abgestoßen sein. Dies zu verleugnen bedeutet auch, diese Erfahrungen bei sich selber nicht bedingungsfrei positiv zu beachten, sie nicht als zur eigenen Person zugehörig anzuerkennen. Biermann-Ratjen et al. (2003, S. 23 ff.) betrachten das Gefühl der Bedingungsfreien Positiven Beachtung als eine Kontrollbedingung für das Empathische Verstehen. Wenn dem Therapeuten klar ist, dass Bedingungsfreie Positive Beachtung, die der Therapeut fühlen kann, ein variables Prozessmerkmal und keine Tugend ist, die er in die Therapie ein-
131 6.2 · Wie und warum wirkt Gesprächspsychotherapie?
bringt, ist er frei, sich seiner emotionalen Befindlichkeit im Kontakt mit dem Patienten reflektierend zuzuwenden. Indem er aufmerksam ist für seine eigenen emotionalen Reaktionen dem Patienten gegenüber, sei es, dass er Ablehnung verspürt, sei es, dass er ihn mag, dies aber von bestimmten Bedingungen abhängig ist, kann er sich in einer stummen Selbstexploration (oder außerhalb der Therapie in einer Supervision) seinen eigenen Erfahrungen zuwenden, indem er sich Fragen stellt wie z. B.: »Inwieweit fühle ich noch mit dem Patienten oder habe ich dessen Ablehnung seines eigenen Erlebens übernommen, mich also mit ihm identifiziert?« Oder: »Habe ich es beim Patienten mit Gefühlen zu tun bekommen, die ich selber in einer vergleichbaren Situation nicht hätte oder haben dürfte?« Auf diesem Wege kann der Therapeut für sich selber Klarheit darüber schaffen, ob und wodurch seine Bedingungsfreie Positive Beachtung dem Patienten gegenüber beeinträchtigt worden ist. Und in dem Maße, in dem er sich bestimmten Erfahrungen bei sich selber mit Bedingungsfreier Positiver Beachtung zuwenden kann, wird er das auch dem Patienten gegenüber können. ! Zusammengefasst bedeutet das, dass der Therapeut umso wirksamer sein wird, je mehr er die Beziehung, die er dem Patienten anbietet, auch zu sich selber aufnehmen kann.
Die wirksame therapeutische Beziehung Erst wenn der Patient das Beziehungsangebot des Therapeuten gemäß der sechsten Bedingung auch wahr- und annehmen kann, ist die Beziehung eine therapeutische. Die therapeutische Beziehung in diesem Sinne ist nicht die allgemeine zwischen Therapeut und Patient bestehende Beziehung, sondern sind speziell diejenigen Phasen oder Momente, in denen diese Beziehung therapeutisch wirksam ist. Grundsätzlich müssen Aussagen über Beziehungen aus logischen Gründen stets zweiseitig sein, d. h. sich auf beide Beteiligten zugleich beziehen. Ein einfaches Beispiel: Die Aussage »Hans ist größer« ist offensichtlich sinnlos, ohne dass angegeben wird, in Relation zu wem, also z. B. »als Fritz«. Deshalb ist bei Aussagen über therapeutische Beziehungen darauf zu achten, dass sie sowohl den Patienten als auch den Therapeuten berücksichti-
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gen. Aussagen über Einstellungen, Verhaltensweisen usw. von Therapeuten (oder Patienten) allein können keine Beziehung beschreiben. Sie können es erst dann, wenn die jeweils andere Seite mit einbezogen wird. Aus dem gleichen Grund kann niemand, auch kein Therapeut, eine Beziehung gestalten. Was er ebenso wie der Patient kann und tut, ist, ein Beziehungsangebot zu machen. Die Beziehung selbst ist immer das gemeinsame Produkt beider, des Therapeuten und des Patienten.
6.2
Wie und warum wirkt Gesprächspsychotherapie?
Rogers (1959b/1987, S. 43) hat den therapeutischen Prozess beschrieben und sich dabei auf empirische Belege berufen: Im unmittelbaren Verhalten des Patienten ist zunächst erkennbar, dass er bei seiner vom Therapeuten begleiteten Selbstauseinandersetzung seine Gefühle sprachlich wie auch nonverbal immer freier ausdrückt. Sie beziehen sich auch immer mehr auf das eigene Selbst als auf äußere Dinge. Der Patient differenziert und unterscheidet zunehmend zwischen den verschiedenen Objekten seiner Gefühle und Wahrnehmungen (seiner Umgebung, anderen Personen, seinem Selbst, seinen Erfahrungen und den zwischen ihnen bestehenden Beziehungen). Parallel damit verändern sich Wahrnehmungen und Reaktionen des Patienten so, dass er dort, wo sie zuvor durch Abstraktionen und vorgefasste Meinungen bestimmt waren, nun immer mehr Kontakt mit der aktuellen Realität aufnimmt und sich auf sie bezieht. Beispiele dafür sind: Waren zuvor seine Erfahrungen das Ergebnis von Übergeneralisierungen und hatte er sie als absolut und allgemeingültig angesehen (»Mein Partner unterstützt mich nie«), so werden sie nun differenzierter und in ihrer Gültigkeit auf bestimmte Situationen und Zeitpunkte begrenzt (»Von alleine kommt mein Partner nicht darauf, mich zu unterstützen; aber wenn ich ihn darum bitte, tut er das meistens«). Hatten zuvor vorgefasste Meinungen und Glaubenssätze dominiert (»Man muss allen Menschen grundsätzlich misstrauen!«), so wird der Patient nun mehr von den aktuellen Fakten geleitet (»Frau X hat mich öfters enttäuscht; vielleicht sollte ich aber auch von ihr nicht unzu-
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Kapitel 6 · Klientenzentrierte Therapietheorie
mutbar viel erwarten«). Hatte er zuvor Tatsachen und deren Bewertung miteinander vermischt (»Es ist schlechtes Wetter«), so beginnt er, beides voneinander zu trennen und in differenzierter Weise zu bewerten (»Es regnet, aber ich habe sowieso nichts vor, und den Pflanzen tut es gut«). Hatte er sich bisher eher auf abstrakte Vorstellungen verlassen (»Die Menschen sind schlecht«), so wird er sich nun über unterschiedliche Abstraktionsgrade klar (»Es gibt Menschen unterschiedlicher Nationen; die meisten davon kenne ich gar nicht näher«), und überprüft immer mehr seine Schlussfolgerungen an der Realität (»In Frankreich bin ich kürzlich bestohlen worden, da war ich hilflos und wütend; aber dann hat mir ein Franzose geholfen, und das hat mir richtig gut getan«). Was die ausgedrückten Gefühle betrifft, so beziehen sie sich immer mehr auf Widersprüchlichkeiten zwischen bestimmten Erfahrungen des Patienten und seinen Vorstellungen von sich selbst. Im weiteren Verlauf des therapeutischen Prozesses erlebt er immer mehr Gefühle mit vollem Bewusstsein, die er zuvor, weil sie zu bedrohlich waren, im Bewusstsein verleugnet oder verzerrt hatte. Sein Selbstkonzept reorganisiert sich und integriert nunmehr auch solche Erfahrungen, die er früher verleugnet oder verzerrt symbolisiert hatte. Das bedeutet, dass sein Selbst kongruenter mit seiner Erfahrung wird und seine Neigung zur Abwehr abnimmt. Die Bedingungsfreie Positive Beachtung durch den Therapeuten erfährt er nicht nur als immer weniger bedrohlich, er kann nun auch immer mehr diese Haltung sich selbst gegenüber einnehmen. Anstatt seine Erfahrungen auf der Grundlage übernommener Wertvorstellungen zu bewerten, wird er für sich selbst immer mehr zum Ort der Bewertung, geleitet von seinem eigenen Organismus und dessen Belangen im Sinne seiner Aktualisierungstendenz. In dem Maße, in dem dies geschieht, verschwinden die Symptome des Patienten oder sein Befinden bessert sich zumindest entscheidend. Bezüglich des Mechanismus, der diese Veränderungen erklärt, hat sich Rogers (1959b/1987) zurückgehalten. Detaillierter, wenngleich rein hypothetisch hatte er sich an anderer Stelle zu Vorgängen im Patienten geäußert: »In der emotionellen Wärme der Beziehung mit dem Therapeuten erfährt der Klient ein Gefühl der Sicherheit, wenn er merkt, dass jede
von ihm ausgedrückte Einstellung fast auf die gleiche Weise verstanden wird, wie er sie wahrnimmt, und gleichzeitig akzeptiert wird« (Rogers, 1951/1973b, S. 52). In diesem Zustand der Sicherheit sei er in der Lage, sich auch solchen Aspekten seiner Person zuzuwenden, die für ihn fremd und angsterzeugend sind. Sie wahrzunehmen sei für sich allein allerdings ängstigend und deshalb noch nicht therapeutisch. Das gleichbleibend akzeptierende Verstehen dieser fremden und widersprüchlichen Aspekte durch den Therapeuten führe aber dazu, dass der Klient sich selbst gegenüber allmählich die gleiche Einstellung entwickle, wie er sie vom Therapeuten erfahre. Höger und Wissemann (1999) sehen diese Erklärung als in Einklang mit der Bindungstheorie (Bowlby, 1969/1975) stehend, wonach Menschen, wenn sie sich im Zustand der Sicherheit befinden, aus sich heraus danach streben, ihre Welt zu explorieren und sich im Schutz der Sicheren Basis mit dem für sie Fremden und Bedrohlichen auseinander zu setzen und so ihre Möglichkeiten zu erweitern (Ainsworth, 1985; Bischof, 1985). Entsprechend ist es für Bowlby (1988) die erste der Aufgaben eines Therapeuten, dem Patienten eine solche sichere Basis zu bieten, auf der er sich den ängstigenden Aspekten seines Lebens zuwenden, sie erkunden und bewältigen kann. In einer empirischen Studie konnten Höger und Wissemann (1999) diesen von Rogers vermuteten und durch die Bindungstheorie begründeten Zusammenhang bestätigen. Sie konnten zeigen, dass in der Wahrnehmung von Patienten während der ersten fünf Stunden ihrer gesprächspsychotherapeutischen Behandlung ein bedeutsamer Zusammenhang besteht zwischen ihrem Zurechtkommen mit dem Therapeuten, ihrem Gefühl von Sicherheit und Zuversicht und dem Erleben von Veränderungen in der Therapie. In den folgenden Stunden sechs bis fünfzehn bleibt dieser Zusammenhang bestehen, zu dem dann zusätzlich das Zurechtkommen der Patienten mit sich selbst, also auch ihre Beziehung zu sich selber hinzukommt. ! Gesprächspsychotherapie wirkt durch die
Beziehung Therapeut–Patient Wenn das gesprächspsychotherapeutische Beziehungsangebot vom Patienten wahrgenommen
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133 6.3 · Die Klientenzentrierte Therapietheorie und die Praxis
und akzeptiert werden kann, entsteht eine Beziehung, in der das empathische und zugleich akzeptierende Verstehen des Therapeuten im Patienten einen Zustand der Sicherheit bedingt. Im Schutz dieser Beziehung kann sich der Patient Aspekten seiner selbst zuwenden, die zunächst für ihn fremd und bedrohlich sind, dann aber vertraut und integriert werden können.
Rogers hat immer wieder betont, dass es die therapeutische Beziehung und ihre Entwicklung ist, die Veränderungen bewirkt: »Das Einzigartige dieses therapeutischen Ansatzes besteht darin, dass sein Schwerpunkt mehr auf dem Prozess der Beziehung selbst als auf den Symptomen oder ihrer Behandlung liegt« (Rogers 1975; zitiert nach Rogers 1983, S. 17). Die empirische Psychotherapieforschung hat diese Auffassung inzwischen als allgemein, d. h. als auch für andere Therapieverfahren gültig, bestätigt: »The strongest evidence linking process to outcome concerns the therapeutic bond or alliance …« (Orlinsky, Rønnestad & Willutzki, 2004, S. 323). . Abb. 6.1 gibt eine auf vielen empirischen Studien basierende Abschätzung darüber, welche Faktoren einen wie großen Anteil am Zustandekommen therapeutischer Veränderungen haben.
. Abb. 6.1. Therapeutisch wirksame Faktoren (Wampold, 2001, S. 208)
6.3
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Die Klientenzentrierte Therapietheorie und die Praxis
Drei Sachverhalte haben in der Geschichte der Gesprächspsychotherapie bei der Diskussion über ihre Theorie und Praxis eine wesentliche Rolle gespielt: Erstens stand an ihrem Anfang eine Therapietheorie (7 Kap. 2), die auf das therapeutische Handeln hin formuliert war. Zweitens hat Rogers (1957/1991a) bei der ersten stringenten Formulierung der Bedingungen therapeutischer Veränderungen jeweils Operationalisierungen für die empirische Forschung vorgeschlagen. Drittens wurden und werden in der empirisch-psychologischen Forschung ganz allgemein Operationalisierungen mit dem zugehörigen theoretischen Begriff zumeist gleichgesetzt. Das Ergebnis war, dass insbesondere bei der Einführung der Gesprächspsychotherapie in Deutschland zum einen die Operationalisierungen der Klientenzentrierte Therapietheorie weithin als Anweisung für konkretes Handeln aufgefasst wurden und zum anderen die zugehörige Persönlichkeits- und Entwicklungstheorie des Klientenzentrierten Konzepts so gut wie unbeachtet blieb (Minsel & Langer, 1974; Tausch & Tausch, 1990). Damit ging in der wissenschaftlichen Diskussion wie in der Praxis der Bezug der Operationalisierungen zur Theorie verloren. Und es wurden alternative Theoriebildungen auf der Grundlage der behavioristischen Lerntheorien versucht (z. B. Bommert, 1975; Martin, 1975). Die Gesprächspsychotherapie war genau zu dem geworden, was, wie in 7 Kap. 6.1 bereits erwähnt, Rogers als Karikatur seines Konzepts beklagt hatte: »Die ganze Methode wurde … als eine Technik verstanden. ›Nondirektive Therapie‹, wurde behauptet, ›ist eine Technik des Widerspiegelns der Gefühle des Klienten‹« (Rogers, 1976, S. 34). Es war nur folgerichtig, dass sich dermaßen reduzierte Vorgaben als nicht ausreichend herausstellten und zusätzliche »Variable« zu »Echtheit«, »Akzeptanz« und »Verbalisierung emotionaler Erlebnisinhalte (VEE)« gesucht und gefunden wurden. So entnahm Bommert (1987) einschlägigen Untersuchungen zusätzlich weitere Variable des Therapeutenverhaltens wie »Konfrontation«, »aktives Bemühen«, »innere Anteilnahme« oder »Konkretheit«. Diese und andere »Erweiterungen« gehen aber am Problem deshalb vorbei, weil bei ihnen nicht be-
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Kapitel 6 · Klientenzentrierte Therapietheorie
rücksichtigt wird, dass Rogers seine Therapietheorie auf einem ausgesprochen hohen Abstraktionsniveau formuliert hat, weit oberhalb der Abstraktionsebenen von VEE und der ergänzenden Verhaltensmerkmale (Höger, 1989, 2000). Grundsätzlich lassen sich bei der Beschreibung von Beziehungen (und damit auch der therapeutischen) zumindest vier unterschiedliche Abstraktionsebenen voneinander unterscheiden5: 1. Die oberste Ebene besteht aus allgemeinen Bezeichnungen von Beziehungsformen, z. B. »Therapeut–Patient« im Unterschied zu anderen Arten von Beziehungen wie z. B. »Chef–Untergebener«, »Mutter–Säugling« oder »Lehrer–Schüler«. 2. Übergreifende Merkmale von bestimmten Beziehungsformen, mit denen sich beim Vergleich zwischen unterschiedlichen Beziehungsformen Ähnlichkeiten und Unterschiede beschreiben lassen. So ist beispielsweise »Körperpflege« ein Merkmal der Beziehung »Mutter-Säugling«, nicht aber von »Lehrer–Schüler« oder »Chef– Untergebener«. »Trösten« ist bei »Mutter–Säugling« Merkmal, bei »Lehrer–Schüler« gegebenenfalls auch, wenn auch seltener, bei »Chef– Untergebener« kaum. 3. Klassifikation spezifischer Verhaltensweisen, die die übergreifenden Merkmale der zweiten Ebene konstituieren. Für das Beispiel der tröstenden Mutter wäre dies u. a. »Auf den Arm nehmen«, »Streicheln«, für den Therapeuten »Konfrontieren«, »Fragen«, »Ansprechen von Gefühlen des Patienten«. 4 . Das konkrete Verhalten in einer bestimmten Situation, beispielsweise wenn in einem bestimmten therapeutischen Gespräch der Therapeut zum Patienten sagt: »Ich habe den Eindruck, dass Ihnen gerade zum Weinen ist, dass Ihnen das aber zugleich peinlich ist. Ist das so?« Aus solchen unterschiedlichen Abstraktionsebenen ergeben sich Konsequenzen: 1. Aussagen über Beziehungen müssen aus logischen Gründen entsprechend ihren unterschiedlichen Abstraktikonsebenen klar voneinander 5
Inwieweit sich diese Ebenen noch weiter differenzieren lassen, ist in unserem Zusammenhang nicht weiter von Belang.
getrennt werden. Anders als theoretische Aussagen zur Physik werden die zur Psychotherapie in Alltagssprache verfasst oder zumindest in der Regel so gelesen. Die Alltagssprache ist aber hinsichtlich der Abstraktionsebenen ungenau. So ist bei dem Satz »Hans ist aggressiv« nicht klar, ob Hans sich im Augenblick gerade aggressiv verhält (Ebene vier) oder ob er ganz allgemein in besonderem Maße zu aggressivem Verhalten neigt (Ebene drei) – zwei höchst unterschiedliche Aussagen! Analog sind die sechs Bedingungen therapeutischer Veränderungen und damit auch die Merkmale des Beziehungsangebots von Gesprächspsychotherapeuten »Kongruenz«, »Bedingungsfreie Positive Beachtung« und »Empathisches Verstehen« auf der Ebene zwei einzuordnen. Verhaltensmerkmale wie »Ansprechen der Gefühle des Patienten« oder »Konfrontation«, »aktives Bemühen« oder »Konkretheit« gehören hingegen auf Ebene drei. Beides auf der gleichen Ebene zu behandeln wäre analog einer Aussage wie »Für einen Bäckerladen reicht eine Ladeneinrichtung nicht, man braucht noch eine Theke und Regale«. Es ist deshalb irreführend, das Empathische Verstehen (Ebene zwei), auf der gleichen Ebene zu diskutieren wie das »Verbalisieren emotionaler Erlebnisinhalte (VEE)« (Ebene drei). Es gibt je nach Situation auch andere Mittel und Wege, das empathisch Verstandene mitzuteilen. 2. Die Gegebenheiten einer bestimmten Ebene können aus den Kategorien einer übergeordneten Ebene nicht eindeutig abgeleitet werden. Aus »Strafe« lässt sich nicht zwingend »Hausarrest« ableiten, aus »Empathischem Verstehen« nicht »VEE«. Hingegen: 3. Gegebenheiten einer bestimmten Ebene können den Kategorien einer übergeordneten Ebene zugeordnet werden. Nicht jedes Werkzeug ist ein Hammer, denn es gibt auch Sägen usw.; aber jeder Hammer ist ein Werkzeug. 4. Die Zuordnung von Gegebenheiten aus einer unteren Abstraktionsebene zu Kategorien einer höheren Ebene wird durch den jeweiligen Kontext mit bestimmt. Ein Hammer ist ein Werkzeug, kann aber auch als Waffe oder als Briefbeschwerer benutzt werden. Als was er einzuordnen ist, bestimmt sich aus dem Kontext
135 6.3 · Die Klientenzentrierte Therapietheorie und die Praxis
seiner Verwendung. Ob ein Schlag gegen die Wange eines anderen als Beleidigung oder als Weckreiz für einen Ohnmächtigen anzusehen ist, hängt von den Umständen ab. Ob eine Konfrontation des Patienten durch den Therapeuten einem klientenzentrierten Beziehungsangebot angemessen ist, hängt davon ab, inwieweit sie im gegebenen Kontext Ausdruck von bedingungsfreier Positiver Beachtung und empathischem Verstehen ist. ! Für im klientenzentrierten Sinne angemessenes therapeutisches Handeln bestehen hinsichtlich der Verhaltenskategorien (Ebene drei) keine prinzipiellen Einschränkungen. Das konkrete Handeln des Therapeuten (Ebene vier) ist danach zu beurteilen, inwieweit darin mit Bedingungsfreier Positiver Beachtung verbundenes empathisches Verstehen zum Ausdruck kommt und ob der Patient es auch so wahrnimmt.
Rogers hat die von ihm benannten sechs Bedingungen für therapeutische Veränderungen als hin reichend bezeichnet. Im Zusammenhang mit der Diskussion der Abstraktionsebene, auf der sie formuliert worden sind, können sie auch insofern als hinreichend angesehen werden, als auf der Ebene zwei bisher keine weiteren Bedingungen vorgeschlagen worden sind und sich eine Ergänzungsbedürftigkeit dort auch nicht abzeichnet. Sie scheinen vor allem hinreichend für die Beurteilung des konkreten therapeutischen Handelns zu sein. Als nicht hinreichend werden sie in dem Sinne bemängelt, dass sich aus ihnen ein angemessenes therapeutisches Handeln nicht eindeutig ableiten lässt – allerdings war das auch nicht die Absicht von Rogers. Ein Beispiel zeigt, dass es bei manchen Patienten zumindest im Anfang einer Therapie nicht angemessen ist, ihren Inneren Bezugsrahmen direkt anzusprechen.
Fallvignette
Ein erfolgreicher Weg, einem Patienten das Klientenzentrierte Beziehungsangebot mitzuteilen Reisch (1997) berichtet von einem Patienten einer Psychosomatischen Klinik, der an Herzbeschwerden litt, jedoch ohne entsprechenden somatischen Befund. Mit der Diagnose »somatoforme autonome Funktionsstörung« wurde er routinemäßig zu der dort tätigen Psychotherapeutin geschickt. Er konfrontierte sie gleich mit seiner Ansicht, dort fehl am Platze zu sein. Wenn man von seinen Herzproblemen absehe, sei in seinem Leben alles in bester Ordnung. Weil die Therapeutin die innere Situation des Patienten nicht nur empathisch verstand, sondern ihr auch in jeder Hinsicht Bedingungsfreie Positive Beachtung entgegenbrachte, verbalisierte sie nicht seine Gefühlslage – womit sie unter der Hand eine Psychotherapie begonnen hätte, die der Patient ja ablehnte. Statt dessen
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besprach sie mit ihm (ohne Hintergedanken!), dass im Augenblick gar nicht klar sei, ob bei ihm eine Psychotherapie sinnvoll sein könnte (womit sie die Situation völlig zutreffend wiedergab), und bot ihm, einem erfolgreichen, aber stark belasteten Unternehmer, »Einzel-Management-Coaching-Sitzungen« über seine beruflichen Probleme an, deren Frequenz sich nach dem bewusst geäußerten Bedürfnis des Patienten richten sollte. Aus diesen Sitzungen ergaben sich dann allmählich, wiederum ausschließlich am bewusst geäußerten Bedürfnis des Patienten orientiert, Gespräche über seine Lebenssituation, die schließlich zu einer erfolgreichen Psychotherapie führten. Das Wesentliche an dieser Fallgeschichte ist, dass die Therapeutin gegenüber dem Patienten mit allem, was zu ihm gehört, nicht nur Bedingungsfreie Positive Beachtung erfahren, sondern auch einen Weg gefunden hat, ihm dies so mitzuteilen, dass er das auch so wahrnehmen und annehmen konnte.
136
6
Kapitel 6 · Klientenzentrierte Therapietheorie
Es ist Rogers nicht gelungen, seine Therapietheorie so nahe am konkreten Verhalten zu formulieren, wie er das wollte. Er hatte (7 Kap. 2.3) damit begonnen zu untersuchen und zu beschreiben, was ein effizienter Therapeut tut. Das hatte zu gravierenden Missverständnissen und Verzerrungen des Konzepts geführt. Er hat dann mit dem therapeutischen Beziehungsangebot beschrieben, wie der Therapeut das tut, was er tut, und damit die Haltung des Therapeuten, die in der Qualität des Therapeutenverhaltens zum Ausdruck kommt und die, weil sie wesentlich mit bestimmt, was wie beim Patienten ankommt, für die Qualität einer Beziehung maßgeblich ist (Hinde, 1997). Mit seiner Persönlichkeitsund Entwicklungstheorie hat Rogers dann die Grundlage dafür geschaffen, theoretisch zu beschreiben, warum der Therapeut das tut, was er tut und wie er es tut. Diese Entwicklung spiegelt das wider, was die Ergebnisse der Professionsforschung (Schön, 1983, 1987), der Expertenforschung (Bromme, 1992) oder der Forschung über das Handeln in komplexen Situationen (Dörner, Kreuzig, Reither & Stäudel, 1983) gezeigt haben: Professionelle Praxis ist, wie Schön (1983) betont, nicht gleichzusetzen mit der Anwendung von Theorie. In den Universitäten, so Schön, werde eine Art des Wissens gepflegt, die durch eine selektive Unaufmerksamkeit gegenüber der praktischen Kompetenz und der professionellen Kunstfertigkeit gekennzeichnet sei. Dem stehe auf der Gegenseite eine Mystifizierung der praktischen Kompetenz als »Kunst« und »Intuition« gegenüber, die eher jegliche Diskussion beende, als dass sie in Forschungsfragen münde. In der Handlungsforschung gehe es darum, die unterschiedlichen Handlungs- und damit auch Erfahrungsbereiche von Wissenschaft und Praxis zusammenzuführen und im Interesse einer effizienten und begründeten Praxis gleichberechtigt zur Geltung zu bringen. Diese Ergebnisse sind, wenn auch selten und sehr zögerlich, auch auf den Bereich der Psychotherapie angewendet worden (Buchholz, 1999, 2005; Reiter & Steiner, 1996). Speziell auf das Klientenzentrierte Konzept bezogen diskutiert sie Macke-Bruck (2003). Sie bemerkt zur Klientenzentrierten Therapietheorie: »Diese Theorie ist Abstraktion – ein Modell, das auf die lebendige therapeutische Wirk-
lichkeit in ihrer Komplexität verweist. Schwierig wird es, das intersubjektive Geschehen der konkreten kritischen oder kreativen Momente jenseits der Einzeldarstellung theoretisch zu fassen und von etwas zu sprechen, das wir mit Klientinnen nur unmittelbar erleben können« (a. a. O., S. 4). Sie macht darauf aufmerksam, dass Theorie und Praxis in der Regel aus der Perspektive der Wissenschaft thematisiert werden und stellt die (rhetorisch gemeinte) Frage, ob nicht zusätzlich zur Perspektive des konventionellen wissenschaftlichen Zugangs Beiträge aus der beruflichen Praxis bereichernd sein könnten. Wissenschaftler und pro fessionelle Praktiker nehmen jeweils aus unterschiedlichen Perspektiven wahr, aus denen heraus sie ihre Wahrnehmungen ordnen und denken. Anders gesagt: sie gehen von verschiedenen Paradigmen aus (7 Kap. 2.8). Im reflexiven Handeln (Schön: »reflection in action«) treffen diese Paradigmen, d. h. die mit wissenschaftlichen Methoden gewonnene Theorie und das Erfahrungswissen aus der Praxis aufeinander. Wenn Theorie »… ein sich nicht widersprechendes System von Aussagen (ist), das die empirischen Daten bzw./oder die Basissätze ordnet und uns ermöglicht, über unsere Erfahrungen nachzudenken oder zu sprechen« (Macke-Bruck, 2003, S. 5) und wenn Wissen »alle Erfahrungen, die einer Überprüfung durch Erfahrung standhalten« (a. a. O.) umfasst, dann eröffnet die kontinuierliche wechselseitige Konfrontation von wissenschaftlich begründeter Theorie und praktischem Wissen dem professionellen Therapeuten eine persönliche Entwicklung in Richtung einer stets wachsenden professionellen Kompetenz. Die Theorie, die stets an vorhandene Meinungen und Wissensbestände anknüpft, regt das praktische Handeln an, das über die Erfahrungen mit dem therapeutischen Geschehen zu neuem Wissen führt. Die erneute Konfrontation mit der Theorie wiederum regt den Praktiker an und gibt Anlass, das therapeutische Geschehen und Handeln erneut zu reflektieren und damit sein Wissen zu ordnen und zu erweitern, was wiederum eine kompetentere Praxis ergibt, die zu neuem Wissen führt usw. »Wo die Wissenschaft ein auf Machen-Können gerichtetes Wissen, also Technik, hervorbringt, bedeutet in Gegenüberstellung dazu das persongebundene ›reflexive
137 6.3 · Die Klientenzentrierte Therapietheorie und die Praxis
Wissen‹ der Praxis eine sich stets mehrende Erfahrung, die sich im einzigartigen Bezug zur aktuellen Situation auch immer erst bildet« (a. a. O.). Viele in der Praxis tätige Psychotherapeuten aller Richtungen bekunden Desinteresse an wissenschaftlichen Ergebnissen und begründen dies damit, dass diese für die Anwendung in der Praxis irrelevant seien. Sie geben damit eine subjektiv begründete Erfahrung wieder, die sicher ihre Gründe hat. Vermutlich sind sie darin zu sehen, dass auch sie der von Wissenschaftlern gehegten Illusion (die auch von der öffentlichen Meinung und insbesondere der Politik geteilt wird) aufsitzen, wissenschaftliche Ergebnisse seien geeignet, direkt in professionelles Handeln umgesetzt zu werden, und entsprechende desillusionierende Erfahrungen machen. Zu erwarten ist: Wenn demgegenüber die Sichtweise der Professionsforschung Platz greift, dürften auf der einen Seite Wissenschaftler ihre Ergebnisse so formulieren, dass sie eine Ausgangsbasis für reflexives Handlungswissen der Praktiker sind, und Praktiker werden sie dann nicht mehr als direkte Handlungsanweisungen auffassen, sondern zum Anlass für die Reflexion ihres Handelns nehmen. Was das Klientenzentrierte Konzept betrifft, so ist es vielleicht deshalb für einen solchen wechselseitigen Prozess besonders geeignet, weil es seinen Bezugspunkt stets im praktisch-professionellen Handlungswissen gehabt hat, zugleich aber den Prinzipien der empirischen Forschung unterworfen worden ist. ? Übungsfragen 5 Welche drei Fragen soll eine Therapietheorie beantworten? 5 Welches sind die von Rogers formulierten sechs Bedingungen für konstruktive Veränderungen der Person? 5 Welche Bedeutung kommt der Inkongruenz des Patienten unter den sechs Bedingungen zu? 5 Warum ist die Bezeichnung »Echtheit« anstelle »Kongruenz des Therapeuten« problematisch? 5 Was unterscheidet »Bedingungsfreie Positive Beachtung« von einem pauschalen »Gutheißen«? 5 Welche Dimensionen der Bedingungsfreien Positiven Beachtung unterscheidet Lietaer? 5 Welche Funktion hat die Bedingungsfreie Positive Beachtung des Therapeuten in der Therapie?
6
6
5 Inwiefern hängen beim Therapeuten Kongruenz und Bedingungsfreie Positive Beachtung zusammen? 5 Warum ist Sympathie nicht gleichzusetzen mit Bedingungsfreier Positiver Beachtung? 5 Nennen Sie fünf Indizien für eine beeinträchtigte Kongruenz des Therapeuten. 5 Was versteht Rogers unter dem Inneren Bezugsrahmen? 5 Wo liegt bei der Definition von Empathischem Verstehen die Übereinstimmung zwischen BischofKöhler und Rogers? 5 Inwiefern ist Empathisches Verstehen nicht gleichbedeutend mit Altruismus? 5 Weshalb ist es wichtig, dass Gesprächspsychotherapeuten ihre Aufmerksamkeit nicht nur auf das Erleben des Patienten, sondern auch auf ihre eigenen inneren Vorgänge richten? 5 Finden Sie drei Beispiele für Handlungsintentionen, mit denen Gefühle ausgedrückt werden können. 5 Wovon ist abhängig, welche Bedeutung ein Patient den Interventionen des Therapeuten beimisst? 5 Welche sind die Funktionen der sechs Bedingungen für konstruktive Veränderungen im therapeutischen Geschehen? 5 In welcher funktionalen Beziehung stehen die dritte, vierte und fünfte Bedingung konstruktiver Veränderungen untereinander? 5 Warum kann eine Person allein keine Beziehung gestalten? 5 Nennen Sie drei Merkmale des therapeutischen Veränderungsprozesses. 5 Wie lassen sich Veränderungen durch Gesprächspsychotherapie erklären? 5 Welche Ebenen der Beschreibung von Beziehungen lassen sich unterscheiden? 5 Welche Konsequenzen ergeben sich daraus für die Beschreibung und Bewertung therapeutischen Handelns? 5 Weshalb ist eine direkte Umsetzung wissenschaftlicher Ergebnisse in die professionelle Praxis nicht möglich? 5 Was sind die wesentlichen Merkmale reflexiven professionellen Handelns?
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138
Kapitel 6 · Klientenzentrierte Therapietheorie
6.4
Weiterführende Literatur
Biermann-Ratjen, E.-M., Eckert, J. & Schwartz, H.J. (2003). Gesprächspsychotherapie. Verändern durch Verstehen (9., überarbeitete und erweiterte Auflage). Stuttgart: Kohlhammer. (Eine umfassende Darstellung der Theorie und Praxis der Gesprächspsychotherapie) Farber, B.A., Brink, D.C. & Raskin, P.M. (Eds.). (1996). The Psychotherapy of Carl Rogers. Cases and commentary. New York: Guilford. (Zehn Therapien von Rogers – davon neun als Transkript – mit Kommentaren unterschiedlicher Autoren verschiedener Psychotherapierichtungen) Keil, W.W. & Stumm, G. (Hrsg.). (2002). Die vielen Gesichter der Personzentrierten Psychotherapie. Wien/New York: Springer. (Eine reichhaltige Darstellung der unterschiedlichen Entwicklungen des Klientenzentrierten Therapiekonzepts)
7 7 Therapieziele J. Eckert 7.1
Das Klientenzentrierte Konzept und die Festlegung von Therapiezielen – 139
7.2
Sechs Therapieziele – 142
7.2.1
Therapieziele, die sich aus der Persönlichkeits- und der Störungstheorie ergeben – 142 Therapieziele, die sich aus dem Menschenbild ergeben – 142
7.2.2
Therapieziele sind zum einen durch das therapeutische Verfahren selbst vorgegeben. Sie ergeben sich aus der jeweiligen Persönlichkeits-, Störungs- und Therapietheorie (Ambühl & Strauß, 1999). Zum anderen werden sie von den Patienten eingebracht und sind dahingehend zu überprüfen, ob sie im Rahmen des angewandten Verfahrens auch zu erreichen sind. Vor einer Behandlungsaufnahme sollten Therapeut und Patient vereinbaren, welche Therapieziele erreicht werden sollen. Wenn es im Behandlungsverlauf zu einer Änderung der Therapieziele kommt, sollte das ebenfalls besprochen werden. Der Grad der Zielerreichung kann als ein Maßstab für die Bewertung des Therapieprozesses dienen.
7.1
Das Klientenzentrierte Konzept und die Festlegung von Therapiezielen
Wenn man das grundlegende Werk von Carl Rogers über Klientenzentrierte Psychotherapie aus dem Jahr 1951 (dtsch. Übersetzung: Rogers, 1973b) im Hinblick auf Ausführungen über die Ziele einer Gesprächspsychotherapie durch sieht, fällt auf, dass Rogers keine Zweifel an der Wirksamkeit von Psychotherapie hatte. Er ging auch nicht davon aus, dass unterschiedliche therapeutische Verfahren unterschiedlich wirksam sein könnten. Er ging davon aus,
7.2.3 7.2.4 7.2.5 7.2.6
Normative Therapieziele – 144 Therapieziele, die sich aus dem Gesprächspsychotherapieprozess ergeben – 144 Therapieziele von Patienten – 145 Die dem Klientenzentrierten Konzept immanenten Therapieziele – 146
7.3
Therapieziele und Therapiezielvereinbarungen in der Praxis – 147
7.4
Weiterführende Literatur – 148
dass Psychotherapie zu »konstruktiven Veränderungen der Persönlichkeit« führen kann, und die Frage, welche therapeutischen Prozesse das ermöglichen, interessierte ihn mehr als die Frage, welche spezifischen Therapieziele erreicht werden können. »In jeder therapeutischen Orientierung wird Menschen geholfen. Sie fühlen sich selbst wohler. Ihr Verhalten ändert sich, häufig in Richtung auf eine bessere Anpassung. Ihre Persönlichkeit erscheint sowohl ihnen selbst als auch anderen, die sie kennen, verändert. Aber was geschieht bei einer erfolgreichen Therapie wirklich? Wie sehen die psychischen Prozesse aus, durch die es zu einer Veränderung kommt? Gibt es unter den zahlreichen Nuancen sich verändernder Gedanken und Gefühle … irgendwelche erkennbaren Allgemeinheiten, irgendwelche objektiv und wissenschaftlich exakten Wege, den Prozess für alle Klienten zu beschreiben? Dieses Kapitel ist der Diskussion der Fragen in ihrer besonderen Beziehung zur klientbezogenen1 Therapie gewidmet. Gleich zu Beginn wollen wir festhalten, dass wir beim gegenwärtigen Stand unseres Wissens 6 1
»klient-bezogen« war eine der ersten Übersetzungsversuche von »client-centered«. Eingebürgert hat sich später aber »klientenzentriert«.
140
Kapitel 7 · Therapieziele
nicht wirklich wissen, wie der eigentliche Prozess der Therapie aussieht … . Gewöhnlich ist die Therapie ein Lernprozess. Mowrer (1948) und einige andere … haben das überzeugend nachgewiesen. Der Klient lernt neue Aspekte seiner selbst kennen, neue Bezugsmöglichkeiten zu anderen und neue Arten des Verhaltens. Aber was genau wird gelernt, und warum? Das würden wir gern wissen. Es reicht nicht aus, die Lerntheorie, wie sie aus den Beobachtungen von Ratten und Experimenten mit sinnlosen Silben entwickelt wurde, auf den Prozess der Therapie anzuwenden. Die reichhaltige Therapie-Erfahrung kann unser Wissen über signifikantes Lernen vergrößern, ebenso wie sich aus der Integration von Kenntnissen über das Lernen in die bekannten Tatsachen über die Therapie manches erfahren lässt. Beim gegenwärtigen Stand der psychologischen Wissenschaft verbleiben uns daher in bezug auf den Prozess und den Umfang des Lernens, das in der Psychotherapie stattfindet, wesentlich mehr Fragen als Antworten2. In einer solchen Situation scheint es uns das Beste, sich so eingehend wie möglich mit den Tatsachen zu befassen, die uns entweder aus klinischen Beobachtungen oder aus der Forschung vorliegen. Die Veränderungen, die – nachweislich oder hypothetisch – charakteristische Teile dieses therapeutischen Lernprozesses sind, charakteristische Aspekte dessen, was als die »Entwicklung« des Klienten in der Therapie bezeichnet wird, werden nachfolgend in Gruppen mit entsprechenden allgemeinen Überschriften unterteilt …« (Rogers, 1951/1973b, S. 131)
7
Rogers beschreibt in seinen Ausführungen nicht, welche Veränderungen in Form von welchen umschriebenen Therapiezielen wie erreicht werden können, sondern er beschreibt (a. a. O., S. 132–178), welche charakteristischen Veränderungen bzw. Entwicklungen bei einem Menschen, der sich auf eine 2
Diese Aussage gilt auch noch für den derzeitigen Stand der Wissenschaft.
Klientenzentrierte Psychotherapie einlässt, beobachtet werden können. Die Veränderungen im Verhalten und Handeln des Klienten, die charakteristischerweise zu beobachten sind, kennzeichnet er zusammenfassend wie folgt: »Der Klient erwägt und plant und berichtet von der Inkraftsetzung eines Verhaltens, das reifer, selbstlenkender und verantwortlicher ist als das Verhalten, das er bislang gezeigt hat; sein Verhalten wird weniger defensiv und basiert stärker auf einer objektiven Sicht des Selbst und der Realität; sein Verhalten zeigt eine Abnahme der psychischen Spannung; er neigt zu einer einträglicheren und wirkungsvolleren Anpassung an Schule und Arbeit; er begegnet neuen Stresssituationen mit größerer innerer Ruhe, einer Ruhe, die sich in geringerer physiologischer Erregung und schnellerer physiologischer Wiederherstellung nach Frustrations-Situationen äußert.« (a. a. O., S. 178) In dieser Beschreibung wird deutlich, dass Rogers aufgrund seiner Forschungsergebnisse und systematischen Beobachtungen davon ausging, dass sich der Effekt von Klientenzentrierter Psychotherapie auf viele Bereiche des Erlebens und Verhaltens und sogar auf physiologische Prozesse erstreckt. Nach Rogers lassen sich sieben Bereiche unterscheiden, in denen sich therapeutische Veränderungen zeigen: 1. Veränderung in der Wahrnehmung des Selbst und der Einstellung zum Selbst 2. Differenzierung der Wahrnehmung 3. Bewusstwerden von geleugneter Erfahrung 4. Charakteristische Entwicklung des Wertungsprozesses 5. Charakteristische Entwicklung in der Therapie 6. Charakteristische Veränderungen in der Persönlichkeits-Struktur 7. Charakteristische Veränderungen im Verhalten Im Zentrum von Rogers’ (1951/197ba) Konzeption von Psychotherapie steht also nicht die Linderung bzw. Behebung von Symptomen und symptomatischem Verhalten. Diese sind unter Punkt 7 als Teil eines konstruktiven therapeutischen Prozesses auf-
141 7.1 · Das Klientenzentrierte Konzept und die Festlegung von Therapiezielen
geführt, der sich auf viele psychische Funktionsbereiche erstreckt. Diese Wirksamkeitsannahmen sind auch in Rogers’ persönlichkeitstheoretischen Auffassungen begründet, die er in demselben Buch (a. a. O., S. 417–458) in einer vorläufigen Form von 19 Thesen vorstellt. ! Psychische Störungen sind für Rogers Ausdruck einer Störung der Wahrnehmung von Erfahrungen und der Repräsentation dieser Erfahrungen im Selbstkonzept. Veränderung der Symptomatik setzt Veränderungen des Selbstkonzepts voraus, und das bedeutet: Veränderungen der Prozesse, die die Wahrnehmung und das Erleben steuern.
Im Original (a. a. O., S. 184) liest sich das so: »Im Verlauf des (therapeutischen) Prozesses wird eine neue oder revidierte Konfiguration des Selbst aufgebaut. Sie enthält Wahrnehmungen, die bislang geleugnet wurden. Sie enthält eine genauere Symbolisierung eines viel größeren Bereichs von Erfahrung. Sie umfasst eine Reorganisation der Werte, wobei die Erfahrung des Organismus deutlich als das anerkannt wird, was das Beweismaterial für die Wertungen liefert. Langsam beginnt ein neues Selbst aufzutauchen, das dem Klienten viel mehr sein »wirkliches« Selbst zu sein scheint, da es in weit größerem Ausmaß auf all seinen ohne Verzerrung wahrgenommenen Erfahrungen basiert. Diese schmerzliche Des- und Reorganisation wird durch zwei Elemente in der therapeutischen Beziehung möglich gemacht. Das erste … ist die Tatsache, dass der Therapeut die neuen, die zögernden, die gegensätzlichen oder die vorher geleugneten Wahrnehmungen des Selbst ebenso sehr achtet wie die starr strukturierten Aspekte … . Das zweite Element in der Beziehung ist die Einstellung des Therapeuten zu den neu entdeckten Aspekten der Erfahrung. Dem Klienten erscheinen sie bedrohlich, schlecht, unmöglich, desorganisierend. Aber er erfährt die Einstellung einer gelassenen Akzeptierung, die der Therapeut ihnen gegenüber hat. Er merkt, dass er diese Einstellung bis zu einem gewissen Grad übernehmen kann und dass er seine Erfahrung als etwas sehen oder betrachten kann, das er besitzen, identifizieren, 6
7
symbolisieren und als Teil seines Selbst’ akzeptieren kann.« Die in diesen Ausführungen vertretene Grundannahme des Klientenzentrierten Konzepts gilt nach wie vor: Dauerhafte psychotherapeutische Effekte basieren auf Veränderungen des Selbstkonzepts. Die Gesprächspsychotherapie versteht sich auch heute noch als ein nicht symptomzentriertes psychotherapeutisches Verfahren. Rogers hat wiederholt »konstruktive Persönlichkeitsveränderung« als das allgemeine therapeutische Ziel einer Klientenzentrierten Psychotherapie genannt und diese z. B. folgendermaßen definiert: »Diese Ausdrücke besagen: eine Veränderung in der Persönlichkeitsstruktur des Individuums sowohl an der Oberfläche wie auch auf tieferen Ebenen, und zwar in eine Richtung – die Kliniker würden mir hier zustimmen –, die stärkere Integration, weniger inneren Konflikt und mehr Energie bedeutet, die für effizientes Leben nutzbar ist; eine Verhaltensänderung weg von im allgemeinen als unreif betrachteten Verhaltensweisen und hin zu solchen, die als reif angesehen werden (Rogers, 1957a, dtsch. Rogers & Schmid, 1991, S. 167). Wie verträgt sich nun dieser Standpunkt mit heutigen Auffassungen von Psychotherapie und deren Zielen? Eine heute allgemein anerkannte Definition von Psychotherapie ist die von Strotzka (7 Kap. 1.1): Definition »Psychotherapie ist ein bewusster und geplanter interaktioneller Prozess zur Beeinflussung von Verhaltensstörungen und Leidenszuständen, die in einem Konsensus (möglichst zwischen Patient, Therapeut und Bezugsgruppe) für behandlungsbedürftig gehalten werden, mit psychologischen Mitteln (durch Kommunikation) meist verbal, aber auch averbal, in Richtung auf ein definiertes, nach Möglichkeit gemeinsam erarbeitetes Ziel (Symptomminimalisierung und/oder Strukturänderung der Persönlichkeit) mittels lehrbarer Techniken auf der Basis einer Theorie des normalen und pathologischen Verhaltens« (Strotzka, 1975, S. 4).
142
Kapitel 7 · Therapieziele
Wenn man dieser Definition folgt, wäre vor dem Hintergrund der bisherigen Darlegungen das Ziel einer gesprächspsychotherapeutischen Behandlung präziser: Strukturänderung mit der Folge von Symptomminimalisierung. Neben den generellen Therapiezielen, wie Symptomminimalisierung oder Strukturänderung der Persönlichkeit, die zugleich auch das jeweilige therapeutische Verfahren charakterisieren, lassen sich weitere Ziele benennen. Sie ergeben sich sowohl aus der Betrachtung der verschiedenen Aspekte, aus denen sich das komplexe Geschehen Psychotherapie zusammensetzt, als auch aus dem gesellschaftlichen Kontext, in dem Psychotherapie praktiziert wird
7 7.2
Sechs Therapieziele
Bei der Bestimmung von Therapiezielen in der Gesprächspsychotherapie ist es sinnvoll, mindesten sechs Betrachtungsebenen anzunehmen, auf denen Therapieziele definiert werden können: 1. Therapieziele, die sich aus der Persönlichkeitstheorie und der Störungstheorie ergeben 2. Therapieziele, die sich aus dem Menschenbild ergeben 3. Normative Therapieziele 4. Therapieziele, die sich aus dem Gesprächspsychotherapieprozess ergeben 5. Therapieziele, die vom Patienten eingebracht werden 6. Therapieziele, die dem Therapieprozess immanent sind.
7.2.1
Therapieziele, die sich aus der Persönlichkeits- und der Störungstheorie ergeben
Wie einleitend bereits dargestellt wurde, ist Gesprächspsychotherapie kein symptomzentriertes Verfahren. Aus der Entwicklungs- und Störungstheorie des Klientenzentrierten Konzepts (Rogers, 1959b/1987) ergibt sich vielmehr als vorrangiges Therapieziel eine Veränderung des Selbstkonzepts. Das Selbstkonzept eines Menschen ist in der klientenzentrierten Entwicklungstheorie als eine Gestalt definiert, in der die reale, die eigene Person
betreffende Erfahrung in einer für jeden Menschen spezifischen Art und Weise repräsentiert wird, und zwar sowohl die innere als auch die äußere Erfahrung und die Beziehung zwischen den beiden. Wenn diese Repräsentation der realen Erfahrung verzerrt bzw. unvollständig ist, kann sich ein psychischer Zustand einstellen, der im Klientenzentrierten Konzept als Inkongruenz bezeichnet wird. Inkongruenz bedeutet: denn die tatsächlichen Erfahrungen und ihre Repräsentation stimmen dann nicht miteinander überein. ! Störungstheoretisches Therapieziel Aus der Persönlichkeits- und Störungstheorie ergibt sich als Ziel einer Gesprächspsychotherapie: Verringerung bzw. Aufhebung von Inkongruenz als Folge einer Veränderung des Selbstkonzepts.
Es ist invariant, d. h. es gilt für jeden Psychotherapiepatienten, unabhängig von der Art seiner Störung. Mit dieser Therapiezieldefinition wird die Behandlung von Störungen, deren Quelle in sog. Lerndefiziten liegen, nicht ausgeschlossen. Eine Gesprächspsychotherapie bestünde in solchen Fällen allerdings nicht in der Einübung neuer Verhaltensweisen, sondern ginge der Frage nach, welche Erfahrungen es bisher verhindert haben, bestimmte Lernziele zu erreichen.
7.2.2
Therapieziele, die sich aus dem Menschenbild ergeben
Zu jedem psychotherapeutischen Verfahren gehören Therapieziele, die auf Vorstellungen von dem beruhen, was den psychisch gesunden Menschen auszeichnet. Sie sind nur zum Teil therapieschulenspezifisch. S. Freud (1904, S. 8) nannte die »praktische Genesung des Kranken, die Wiederherstellung seiner Leistungs- und Genussfähigkeit« als Therapieziel. In der Satzung der Deutschen Gesellschaft für Verhaltenstherapie (DGVT) wird als Therapieziel u. a. die »Befähigung zur aktiven Teilnahme am Lebensund Arbeitsprozess« genannt. Der amerikanische Psychiater und Psychotherapeut H.S. Sullivan (1931, zitiert nach Elrod, 1974) z. B. nannte als umfassendes Therapieziel eine »gesteigerte Lebenstüchtigkeit«.
143 7.2 · Sechs Therapieziele
Auch Rogers hat allgemeine Therapieziele genannt, u. a. in einem Aufsatz mit dem Titel »›Das Selbst zu sein, das man in Wahrheit ist‹ – Ansichten eines Therapeuten über persönliche Ziele« (Rogers 1961/1973a, S. 164–182). Das Bemerkenswerte an dieser Darstellung ist, dass Rogers nicht fragt: Wonach strebt der Mensch?, sondern: Wonach strebt das Selbst eines Menschen, wenn es in seiner Entwicklung nicht bedroht wird?, d. h. er entwickelt in diesem Aufsatz eine Art Philosophie der »wahren« psychischen Entwicklung des Menschen. In der Einleitung zu diesem Aufsatz weist Rogers darauf hin, wie zeit- und kulturabhängig die meisten der allgemeinen Lebensziele sind. In früheren Zeiten hätten viele Menschen ihr Lebensziel mit den Worten des Katechismus beschrieben: Gott zu verherrlichen. Heute würden eher Leistung, Besitz, Status, Wissen oder Macht als erstrebenswert erachtet. Er betont, dass er seine Ansichten über persönliche Ziele von Menschen aus der therapeutischen Arbeit mit seinen Klienten gewonnen habe: »Ich kann dieses Lebensziel, das ich in meinen Beziehungen zu meinen Klienten zum Vorschein kommen sehe, am besten mit den Worten Søren Kierkegaards darlegen: ›Das Selbst zu sein, das man in Wahrheit ist‹ (Kierkegaard, 1924, S. 17). Ich bin mir durchaus bewusst, dass dies so einfach klingt, als wäre es etwas Absurdes. Das sein, was man ist, scheint eher eine klare Tatsachenfeststellung als ein Ziel zu sein« (Rogers, 1961/1973a, S. 167). In den weiteren Ausführungen stellt Rogers als erstes eine charakteristische Tendenz von Klienten heraus: Sie bewegten sich zögernd und ängstlich von einem Selbst weg, dass sie nicht seien. Er beschreibt vier dieser Tendenzen: Weg von den »Fassaden«, vom ‚Eigentlich-Sollte-Ich«, vom »Erfüllen kultureller Erwartungen« und weg davon, »anderen zu gefallen«. Dann beschreibt er charakteristische positive Zielrichtungen, vor allem die Entwicklungen in Richtung auf Selbstbestimmung. Darunter versteht er eine Entwicklung zu mehr Autonomie, die vor allem darin bestehe, dass Klienten mehr Verantwortung für sich selbst übernehmen. Eine weitere zu beobachtende Entwicklungstendenz lasse sich nur schwer ausdrücken, weil die pas-
7
senden Worte dafür fehlten: die Entwicklung zum Prozess-Sein: »Klienten bewegen sich offensichtlich auf einen Zustand hin, in dem sie offener ein Prozess, etwas Fließendes, etwas sich Veränderndes sind« (a. a. O., S. 172). Rogers setzt diese Beobachtung in Beziehung zu Kierkegaards Beschreibung des Individuums, das wirklich existiert: »Der Existierende ist beständig im Werden; … und setzt all sein Denken in das Werden« (a. a. O.). Eine dritte positive Richtung bestehe in der Entwicklung zur Erfahrungsoffenheit. Darunter versteht Rogers »die Entwicklung des Individuums zu einem Dasein in einer offenen, freundlichen, engen Beziehung zu seiner eigenen Erfahrung« (a. a. O., S. 173) und vermerkt, dass diese Tendenz viel mit dem gemeinsam habe, was Maslow (1954) mit dem Begriff des »selbstaktualisierenden Menschen« umschrieben habe. Eng mit der Erfahrungsoffenheit verknüpft sei eine Entwicklung zum Akzeptieren des anderen. Wenn ein Klient seine eigene Erfahrung akzeptieren könne, entwickle er sich auch zum Akzeptieren der Erfahrung anderer. Diese positiven Entwicklungen könne man auch unter einem anderen Aspekt zusammenfassen: Entwicklung zu Selbstvertrauen. ! Entwicklungsziele Im Kontext von Klientenzentrierter Psychotherapie finden sich also vier Entwicklungsziele auf dem Weg, »das Selbst zu sein, das man in Wahrheit ist« (Kierkegaard): 1. Entwicklung weg von vorhandenen »Fassaden«, weg vom »Eigentlich-Sollte-Ich« 2. Entwicklung hin zu mehr Selbstbestimmung, Autonomie und Verantwortung für sich selbst 3. Entwicklung zu mehr »Offenheit für die Erfahrung« 4. Entwicklung zum »Akzeptieren des anderen«
Rogers hat immer wieder darauf hingewiesen, dass er mit seinen Ausführungen nicht Ziele benennt, die klientenzentrierte Therapeuten für ihre Klienten anzustreben hätten, sondern das, wonach Menschen bzw. Klienten streben, wenn sie »in Freiheit sich entscheiden können« (1961/1973a, S. 165). Es ist anzunehmen, dass auch diese von Rogers entdeckten Ziele nicht nur verfahrensspezifisch, sondern auch kulturspezifisch sind: Sie spiegeln
144
Kapitel 7 · Therapieziele
die Werte und Normen der Zivilisation der weißen nordamerikanischen Gesellschaft am Ende des 20. Jahrhunderts wieder. Patienten mit anderem kulturellen Hintergrund könnten zum Teil sehr andere Ziele haben (Orlinsky, 2003), was ein Therapeut bei der Durchführung der Behandlung zu berücksichtigen hätte (Akhtar, 2005).
7.2.3
7
Normative Therapieziele
Vor allem welche psychischen Beeinträchtigungen als krankheitswertig und damit als psychotherapeutisch behandlungsbedürftig angesehen werden, ist wesentlich von den in einer Gesellschaft bestehenden Normen und Auffassungen von psychischer Gesundheit bzw. Krankheit abhängig. Bekannte Beispiele für einen gesellschaftlichen Wandel in der Antwort auf die Frage, ob ein Verhalten pathologisch (»krank«), Ausdruck von mangelndem Willen, fehlender Moral bzw. Charakterschwäche oder einfach eine Variante von Normalität ist, sind die Überlegungen zum Alkoholismus (»Trunksucht«), zur akuten bzw. posttraumatischen Belastungsstörung (»Kriegszitterer«) und zur Homosexualität. Dieser Zusammenhang ist allgemein bekannt. Er wird z. B. in den sog. Psychotherapie-Richtlinien des Bundesausschusses der Ärzte und Krankenkassen über die Durchführung der Psychotherapie (z. B. Faber & Haarstrick, 1991) deutlich. Der Abschnitt »D« dieser Richtlinien bestimmt, welche psychischen Störungen mit Psychotherapie behandelt werden dürfen, die im Rahmen einer gesetzlichen Krankenversicherung finanziert wird. Die Krankenkassen übernehmen die Kosten für eine Psychotherapie dieser Störungen nur dann, wenn sie als »Krankheit« zu betrachten sind. Und wann das der Fall ist, wird mit Hilfe eines Urteils des Oberlandesgerichtes in Celle definiert, d. h. der Krankheitsbegriff der Krankenkassen ist kein medizinischer oder psychologischer, sondern ein juristischer, der sich zudem noch aus einer gerichtlichen Entscheidung und nicht etwa aus einem Gesetzbuch ergibt (Faber, 1981, S. 179). Er lautet:
Definition »Krankheit ist im Sinne der gesetzlichen Krankenversicherung ein regelwidriger körperlicher oder geistiger Zustand, dessen Eintritt entweder lediglich die Notwendigkeit einer Heilbehandlung oder zugleich oder ausschließlich die Arbeitsunfähigkeit zur Folge hat.«
Arbeitsunfähigkeit ist nach dieser Definition zwar kein notwendiges Kriterium für die Kennzeichnung einer psychischen Störung als Krankheit. Aber wenn Arbeitsunfähigkeit vorliegt, dann ist mit dieser Definition ein invariantes Therapieziel für kassenfinanzierte Psychotherapien vorgegeben, nämlich die Wiederherstellung der Arbeitsfähigkeit. Auf den ersten Blick scheinen zwischen normativen Therapiezielen, wie Wiederherstellung der Arbeitsfähigkeit, und denen, die Rogers (7 oben) als »persönliche Ziele« von Patienten bezeichnet, z. B. Entwicklung von Erfahrungsoffenheit, Welten zu liegen. Darauf wird im Zusammenhang mit der Darstellung der Therapieziele von Patienten (7 unten) nochmals einzugehen sein. Zunächst bleibt zusammenfassend festzuhalten: ! Normative Therapieziele Der Krankheitsbegriff, dem die gesetzlichen Krankenkassen in Deutschland verpflichtet sind, ist weder ein medizinischer noch ein psychologischer, sondern ein juristischer. Die sich aus diesem Krankheitsbegriff ergebenden Behandlungsziele sind die Behebung eines regelwidrigen körperlichen oder geistigen Zustands und/oder die Wiederherstellung der Arbeitsfähigkeit. Was unter einem »regelwidrigen körperlichen oder geistigen Zustand« zu verstehen ist, wird auch durch gesellschaftliche Normen bestimmt, die Wandlungen unterworfen sind.
7.2.4
Therapieziele, die sich aus dem Gesprächspsychotherapieprozess ergeben
Die Bedingungen für einen konstruktiven therapeutischen Prozess in einer Gesprächspsychotherapie sind auf Seiten des Therapeuten charakterisiert
145 7.2 · Sechs Therapieziele
durch ein bestimmtes Beziehungsangebot. In dem Maße, in dem ein Patient dieses Beziehungsangebot wahr- und annehmen kann, tritt er in einen Prozess ein, der durch eine zunehmende Auseinandersetzung mit dem eigenen Erleben, den damit verknüpften Erfahrungen und deren Bewertung gekennzeichnet ist. Diese Auseinandersetzung mit sich selbst ist ein selbstreflexiver, emotionaler Prozess, der auf der sprachlichen Ebene als »Selbstexploration« operational definiert worden ist (7 Kap. 9.3.3). Im Verlauf dieses Prozesses kommt es zu einer immer korrekteren und vollständigeren Wahrnehmung der Erfahrungen bzw. des eigenen Erlebens und auch zu einer Verminderung von Inkongruenz. In der Therapietheorie (7 Kap. 6) der Gesprächspsychotherapie ist das Zustandekommen dieses Prozesses eine Voraussetzung dafür, dass Veränderungen auch in anderen Bereichen möglich werden. Den Selbstexplorationsprozess anzustoßen, aufrechtzuerhalten und zu vertiefen ist daher in einer Gesprächspsychotherapie ein vorrangiges Therapieprozessziel. Dabei lassen sich ein Fern- und ein Nahziel voneinander unterscheiden. Als theoretisches Fernziel eines gesprächspsychotherapeutischen Prozesses lässt sich definieren: Definition Eine Gesprächspsychotherapie ist dann beendet, wenn der Patient zu sich selbst die Beziehung aufnehmen kann, die der Therapeut ihm anbietet: Wenn er kongruent sein kann und, ohne Bedingungen an sich zu stellen, seines ganzen Erlebens gewahr werden kann.
Dieses Ziel ist ein Idealziel, das, wenn überhaupt, nur selten erreicht wird, und das Ende einer längeren Behandlung darstellt. Betrachtet man den therapeutischen Prozess innerhalb einer jeden einzelnen Therapiestunde als Nahziel, dann fällt die Zielsetzung bescheidener, aber für den Therapeuten zugleich handlungsleitender aus: Im konkreten therapeutischen Kontakt verfolgt der Gesprächspsychotherapeut nur das Ziel, den psychotherapeutischen Prozess zu fördern. Unter therapietechnischen Gesichtspunkten lässt sich dieses Therapieprozessziel auch folgendermaßen formulieren:
7
Definition Der Gesprächspsychotherapeut verfolgt im therapeutischen Kontakt das Ziel, die Selbstexploration und das Selbsterleben des Patienten zu fördern oder, wenn beides in ausreichendem Maße vorliegt, nicht zu stören.
7.2.5
Therapieziele von Patienten
Die Ziele von Patienten in einer Psychotherapie sind häufig identisch mit dem Anlass für die Psychotherapie. Sie möchten z. B. Ängste, die verhindern, dass sie öffentliche Verkehrsmittel oder ihr Auto benutzen können, Depressionen, die das morgendliche Aufstehen zu einer Tortur machen und die Arbeitsfähigkeit beeinträchtigen, und vor allem immer wiederkehrende massive Beziehungsprobleme im privaten und beruflichen Bereich los werden. Das heißt: Patienten möchten durch eine Psychotherapie von ihren Ängsten und Depressionen befreit werden oder sich in ihren Beziehungen und Kontakten besser fühlen, nicht mehr so minderwertig, ängstlich, gehemmt usw. Das bedeutet, dass die Therapiezielvorstellungen von Patienten meistens auf einer ganz anderen theoretischen Ebene angesiedelt sind als die Ziele, die sich aus der Störungstheorie und dem Menschenbild der Gesprächspsychotherapie ergeben. Vermutlich hat sich noch niemals ein Patient oder Klient an einen Gesprächspsychotherapeuten mit dem Wunsch gewandt: »Ich möchte eine Therapie machen, um meine Inkongruenz zu beheben«. Die auf den ersten Blick ganz anderen Therapiezielvorstellungen werden in der Regel deshalb nicht zum Problem, weil das Therapieziel des Gesprächspsychotherapeuten »Verminderung bzw. Aufhebung von Inkongruenz« eine Linderung bzw. Aufhebung der Symptomatik einschließt: Die durch Gesprächspsychotherapie angestrebte Veränderung des Selbstkonzepts beinhaltet eine Veränderung der Prozesse, die die Wahrnehmung und das Erleben steuern. Sie führt zu einer Aufhebung bzw. Verminderung von Inkongruenz mit dem Effekt, dass auch die Symptomatik als Ausdruck dieser Inkongruenz zurückgeht bzw. aufgehoben wird (7 Kap. 6). Entscheidender als eine Therapiezielvereinbarung bezüglich der Symptomatik ist für eine Ge-
146
Kapitel 7 · Therapieziele
sprächspsychotherapie eine Abstimmung zwischen Therapeut und Patient (»informed consent«; 7 unten und 7 Kap. 8.3.3) darüber, ob der Weg, den der Therapeut bereitstellt, auch ein für den Patienten begehbarer ist . Als Beispiel für eine missglückte Abstimmung sei von einem Patienten berichtet, der eine gesprächspsychotherapeutische Gruppentherapie nach wenigen Sitzungen im Einvernehmen mit dem Therapeuten abbrach. Fallvignette
7
Fehlende Abstimmung zwischen Therapeut und Patient bezüglich der Therapieziele und der Wege, diese Ziele zu erreichen Ein junger Mann, »Nachwuchsmanager« mit Arbeitsstörungen und häufigen Kopfschmerzen, war auf Empfehlung des Therapeuten einer Therapiegruppe beigetreten. In den ersten drei Sitzungen hatte er das Gruppengeschehen interessiert verfolgt, aber kaum etwas gesagt. In der vierten Gruppensitzung drückte er seine Unfähigkeit, sich auf den gruppentherapeutischen Prozess einzulassen, mit den Worten aus: »Ihr redet hier immer nur von Problemen. Ich kenne keine Probleme, ich kenne nur Lösungen. Wenn ich anfangen wollte, alles zu problematisieren, könnte ich meine Karriere gleich knicken«.
Dieser Patient wollte seine Symptome loswerden, nicht aber die ihnen zugrunde liegenden Probleme bearbeiten, d. h. seine Vorstellungen von den Ursachen seiner Symptome und den Wegen zu ihrer Behebung unterschieden sich erheblich vom Störungs- und Behandlungsmodell des Gesprächspsychotherapeuten. Vermutlich hätte er sich auf eine Behandlung, die unmittelbar an der Symptomatik »ansetzt«, besser einlassen können. Bei der notwendigen Abstimmung zwischen dem Behandlungs- und Störungsmodell des Therapeuten und den entsprechenden Vorstellungen des Patienten (7 Kap. 8.5: AMP) ist zu beachten, dass jedes Therapieverfahren eigene Therapieziele hat, die Teil der jeweiligen Störungstheorie sind. Die Entscheidung eines Patienten für ein bestimmtes psychotherapeutisches Verfahren bedeutet für ihn also auch, dass zu seinen eigenen Therapiezielen auch die
hinzu treten, die dem gewählten Therapiefahren immanent sind. Das soll im Folgenden für die Gesprächspsychotherapie ausgeführt werden.
7.2.6
Die dem Klientenzentrierten Konzept immanenten Therapieziele
Die verschiedenen Therapieverfahren streben vor dem Hintergrund ihrer jeweiligen theoretischen Grundannahmen über die Entstehung und Veränderung von psychischen Störungen unterschiedliche therapeutische Prozesse zur Erreichung der jeweiligen Therapieziele an. Man kann auch sagen, dass mit den verschiedenen Therapieverfahren unterschiedliche therapeutische »Beziehungsangebote« verbunden sind. Es ist empirisch belegt, dass sich mit einem Verfahren erfolgreich behandelte Patienten gegenüber den mit diesem Verfahren nicht erfolgreich behandelten dadurch auszeichnen, dass sie das entsprechende Beziehungsangebot als für sich stimmig wahrnehmen und zugleich die »Theorie« ihres Therapeuten, d. h. sein Störungs- bzw. Krankheitsund Entwicklungsmodell übernehmen (Eckert & Biermann-Ratjen, 1990). Gesprächspsychotherapeutisch behandelte Patienten z. B. beurteilen ihren Therapieerfolg nach anderen Kriterien als verhaltenstherapeutisch behandelte, auch wenn sich im durchschnittlichen Therapieergebnis – gemessen z. B. an der Reduktion der Leitsymptomatik – keine wesentlichen Unterschiede zwischen den Patienten der Gesprächspsychotherapie und denen der Verhaltenstherapie ergeben, wie das weiter unten folgende Beispiel aus einer vergleichenden Therapiestudie (Grawe, 1976; Plog, 1976) zeigt. Gesprächspsychotherapeuten geht es mehr um die Person des Patienten und sein Erleben, wobei nicht zwingend die Symptomatik im Zentrum steht. So verwundert es nicht, dass sich der bei den verhaltenstherapeutisch behandelten Patienten gefundene Zusammenhang zwischen Symptomveränderung und allgemeinem Therapieerfolg bei den gesprächspsychotherapeutisch behandelten Patienten nicht zeigt. Weitere Studien haben gezeigt, dass ein dem Klientenzentrierten Konzept immanentes Therapieziel
147 7.3 · Therapieziele und Therapiezielvereinbarungen in der Praxis
Exkurs
Beispiel: Ergebnisse einer vergleichenden Therapiestudie Untersucht wurde die Wirksamkeit von Gesprächspsychotherapie und Verhaltenstherapie bei Patienten mit schweren Phobien. Die beiden Therapiemethoden bewirkten – quantitativ betrachtet – im Mittel gleich starke Veränderungen in den Symptomen und in der allgemeinen Befindlichkeit. Nur: Bei den verhaltenstherapeutisch behandelten Patienten stand die positive Bewertung des Therapieerfolges durch die Patienten in einem engen Zusammenhang mit dem Rückgang der phobischen Symptomatik. Ein solcher Zusammenhang fand sich bei den gesprächspsychotherapeutisch behandelten Patienten nicht. Die Interpretation dieser Ergebnisse ist nahe liegend: Verhaltenstherapeutisch behandelte Patienten beurteilen ihren Therapieerfolg insgesamt in Abhängigkeit davon, wie weit sich ihre phobische Symptomatik bessert. Sie übernehmen damit das Paradigma ihrer Therapeuten, dass es in erster Linie auf Symptomreduktion ankomme.
die Kontakt- und Beziehungsfähigkeit ist. Wenn sich Patienten nach einer Gesprächspsychotherapie kontakt- und beziehungsfähiger als vorher erleben, dann ist die Wahrscheinlichkeit hoch, dass sie die Behandlung insgesamt als erfolgreich einstufen. Für die Therapiezielüberlegungen bedeutet das: ! Es ist im Rahmen der Indikationsstellung und Therapiezielvereinbarungen zu prüfen, ob die von einem Therapieverfahren mehr oder weniger explizit theoretisch vorgegebenen Therapieziele – und der zu ihrer Erreichung angestrebte Therapieprozess – mit den Therapiezielen eines Patienten und dessen Vorstellungen, wie diese zu erreichen sind, zu vereinbaren sind.
Eine solche Prüfung findet im Rahmen eines Erstinterviews und in den sich daran anschließenden probatorischen Sitzungen statt (7 Kap. 8.3).
7.3
7
Therapieziele und Therapiezielvereinbarungen in der Praxis
In der psychotherapeutischen Praxis ist zwischen Therapeut und Patient im Rahmen der Behandlungsvereinbarungen abzusprechen, welche Therapieziele erreicht werden sollen. Therapiezielabsprachen sind Teil des »informed consent« (7 Kap. 8.3.3), und bei einem Antrag auf Kassenfinanzierung der Behandlung wird unter dem Punkt »Behandlungsplan« erwartet, dass die Behandlungsziele benannt werden. Diese eingangs formulierten Behandlungsziele ändern sich nicht selten im Verlauf der Behandlung. Beispielsweise kam eine durch einen bewaffneten Raubüberfall in ihrem Ferienhaus traumatisierte Patientin mit dem Ziel in die Behandlung, dieses Haus wieder nutzen zu können, ohne »jede Nacht vor Angst zu sterben«. Als dieses Ziel erreicht war, setzte sie – in Absprache mit dem Gesprächspsychotherapeuten – die Therapie mit anderen Inhalten und anderen Zielen fort. In der Regel werden in einer Gesprächspsychotherapie Veränderungen von vereinbarten Therapiezielen nicht als Problem angesehen. Es ist aber wichtig, dass der Therapeut solche Veränderungen erkennt, sie auch versteht und mit dem Patienten bespricht. Es gibt viele Gründe für Therapiezielveränderungen. In Gesprächspsychotherapien entstehen sie oft dadurch, dass nicht explizit symptomorientiert gearbeitet wird. Die Bedeutung der Symptome, die häufig Anlass für die Aufnahme einer Psychotherapie waren, relativiert sich dadurch für den Patienten. Sie treten thematisch in den Hintergrund bzw. werden als Ausdruck anderer problematischer Erfahrungen angesehen. Andere Gründe für einen Therapiezielwechsel, z. B. Symptomverschiebungen, werden in der Gesprächspsychotherapie zwar diskutiert, sind aber nicht durch Forschungsergebnisse belegt, die Aufschluss darüber geben könnten, wie häufig, aus welchen Gründen und mit welchen Ergebnissen Therapieziele geändert werden. Abschließend soll noch einmal darauf hingewiesen werden, wie nützlich es in der Praxis ist, Therapieziele festzulegen und diese auch mit dem
148
Kapitel 7 · Therapieziele
Patienten abzusprechen. Die im Kapitel 8.3 (S. 201) aufgeführte Fallvignette verdeutlicht, welche Folgen es haben kann, wenn die Therapieziele nicht klar abgesprochen werden. ? Übungsfragen 5 Was versteht Rogers unter »konstruktiver Veränderung der Persönlichkeit«? 5 Welches wichtige Therapieziel ergibt sich aus der klientenzentrierten Persönlichkeitstheorie? 5 Welches wichtige Therapieziel ergibt sich aus der klientenzentrierten Therapieprozesstheorie? 5 Welche Vorteile hat eine Therapiezielvereinbarung zwischen Therapeut und Patient?
7
7.4
Weiterführende Literatur
Ambühl, H. & Strauß, B. (Hrsg.) (1999). Therapieziele. Göttingen: Hogrefe. (Dieses Buch gibt aus verschiedenen therapeutischen Perspektiven einen guten Überblick zum Thema Therapieziele)
8 8 Indikationsstellung J. Eckert 8.1
Anwendungsbereiche für Psychotherapie – 149
8.1.1
Anwendungsbereiche für Psychotherapie im Rahmen der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) – 150 Anwendungsbereiche für Psychotherapie auf der Grundlage von ICD-10-Diagnosen – 151
8.1.2
8.2
Diagnostik und Indikation für Psychotherapie – 152
8.2.1
Zur Notwendigkeit von Diagnostik in der Psychotherapie – 152 Zur Unterscheidung von Indikation und Prognose – 152 Die Kategorien für die Indikationsdiagnostik – 154 Die diagnostischen Kriterien für die Prognose – 156 Ein kommentiertes Indikationsinterview: Annette P. – 158 Auswertung des Indikationsinterviews – 186
8.2.2 8.2.3 8.2.4 8.2.5 8.2.6
8.3
Indikation und Prognose einer Gesprächspsychotherapie – 188
8.3.1
Hinweise zur Gestaltung des Interviews – 188
8.1
Anwendungsbereiche für Psychotherapie
Jahrzehntelange psychotherapeutische Praxis und Forschung haben dazu beigetragen, dass wir heute die psychischen Störungen benennen können, für die Psychotherapie in der Regel eine Hilfe darstellt. Diese sog. »Psychotherapie-indikativen« Störungen sind zu Störungsgruppen zusammengefasst worden, die als »Anwendungsbereiche für Psychothera-
8.3.2 8.3.3
Indikationsstellung und Prognose – 191 Die Abstimmung der Indikation mit dem Patienten – 197
8.4
Beispiel einer Indikationsstellung: Die Patientin Annette P. – 203
8.4.9
H. Petersen Angaben zur Person – 203 Frühere Behandlungen – 203 Anlass der jetzigen Behandlung – 203 Überweisungskontext – 204 Befunde – 204 Diagnose nach ICD-10 – 205 Anamnese – 206 Überlegungen zur Genese der Erkrankung und zur auslösenden Situation – 208 Planung der Behandlung – 210
8.5
Differenzielle Indikation – 211
8.5.1
Die vier Passungen des Allgemeinen Modells von Psychotherapie – 212 Differenzielle Indikation in der Praxis – 213
8.4.1 8.4.2 8.4.3 8.4.4 8.4.5 8.4.6 8.4.7 8.4.8
8.5.2
8.6
Weiterführende Literatur – 217
pie« bezeichnet werden. Eine solche Einteilung der Psychotherapie-indikativen Störungen in größere Bereiche ist als Grundlage für Regelungen zur Anwendung von Psychotherapie sinnvoll, weil wir noch weit davon entfernt sind, für jede einzelne der fast 100 im ICD-10 (Weltgesundheitsorganisation, 1991) aufgelisteten Störungen eine Aussage darüber machen zu können, mit welcher Wahrscheinlichkeit welche Psychotherapie bei ihr wie wirksam ist.
150
8
Kapitel 8 · Indikationsstellung
Die am besten bekannte Liste Psychotherapieindikativer Störungen ist die der Krankenkassen: »Anwendungsbereiche für Psychotherapie in den Richtlinien des Bundesausschusses der Ärzte und Krankenkassen über die Durchführung der Psychotherapie« (7 Kap. 2.2.1). Ihr liegen ätiologische Gesichtspunkte zugrunde, z. B. die Unterscheidung der Störungen in Neurosen und Psychosen. Eine weitere Liste von Anwendungsbereichen hat der Wissenschaftliche Beirat Psychotherapie (www.wbpsychotherapie.de) vorgelegt (7 Kap. 2.2.2). Sie beinhaltet nicht wie die Liste der Krankenkassen die Störungen, bei denen Psychotherapie hilft, sondern fasst alle ICD-10-Hauptkategorien zusammen. Die Geschichte der Psychotherapie legt ein solches Vorgehen nahe, denn die Anwendungsbereiche für Psychotherapie haben sich im Laufe der Zeit ständig erweitert. Während ursprünglich nur Störungen als psychotherapeutisch (psychoanalytisch) behandelbar angesehen wurden, die als eine Form von »Neurose« galten, d. h. solche, bei denen ein unbewusster Konflikt als Störungsursache angenommen wurde, umfasst das Indikationsspektrum heute u. a. psychosomatische Störungen, Persönlichkeitsstörungen und psychotische Störungen. Jede Erweiterung des Indikationsspektrums hat in der Regel auch eine Modifikation der üblichen therapeutischen Vorgehensweisen erforderlich gemacht. Beispiele dafür sind im Rahmen der Gesprächspsychotherapie die »Prä-Therapie« von Prouty, Pörtner und van Werde (1998) für psychotische Patienten oder die Akzentuierungen der klassischen Gesprächspsychotherapie bei der Behandlung von Patienten mit einer Borderline-Persönlichkeitsstörung (Biermann-Ratjen & Eckert, 2000; Eckert, 2000). Eine weitere deutliche Erweiterung des Indikationsspektrums ist im Hinblick auf das Lebensalter von Patienten erfolgt. Während Sigmund Freud noch die Auffassung vertrat, dass Menschen, die das 40. Lebensjahr überschritten haben, nicht mehr analysierbar seien, hat sich heute die Psychotherapie des höheren Lebensalters fast als ein eigener Bereich der Psychotherapie und -forschung etabliert.
! Aus der historischen Entwicklung der Frage nach der Indikation ergibt sich, dass Indikationsregeln nicht als endgültige aufzufassen sind, sondern als vorläufige Orientierungshilfen, die den je derzeitigen Kenntnisstand von Forschung und Praxis widerspiegeln. Dass eine Psychotherapie-indikative Störung vorliegt, sagt noch nichts darüber aus, ob eine Psychotherapie zu ihrer Behandlung nicht nur sinnvoll sondern auch erfolgversprechend ist.
8.1.1
Anwendungsbereiche für Psychotherapie im Rahmen der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV)
Die von den Krankenkassen vorgegebenen Anwendungsbereiche für Psychotherapie sind Teil der »Richtlinien des Bundesausschusses der Ärzte und Krankenkassen1 über die Durchführung der Psychotherapie«. Psychotherapien, die von den Krankenkassen bezahlt werden sollen, müssen einem dieser Anwendungsbereiche, die in . Tab. 8.1 aufgeführt sind, zugeordnet werden können. Die letzte Änderung an diesen Regelungen wurde im April 2004 vorgenommen. Dennoch werden die in ihnen aufgeführten Störungen weiterhin auf der Grundlage von ICD-9 klassifiziert, d. h. ihrer vermutlichen Ätiologie entsprechend. Das ist erstaunlich, denn die Weltgesundheitsorganisation (WHO) hat mit der ICD-10, der 10. Revision der Internationalen Klassifikation psychischer Störungen, die ätiologische Orientierung aufgegeben, und zwar weil eine ausreichende wissenschaftliche Fundierung für sie nie erbracht worden ist. Die ICD-10 (Weltgesundheitsorganisation, 1991) hat Begriffe wie Neurose, Psychose und Endogenität weitgehend aufgegeben und versucht, bei der Bildung der Diagnoseklassen einen beschreibenden, »a-theoretischen« Ansatz zu verfolgen. Die Anwendung von ICD-10 ist zudem im deutschen Gesundheitswesen seit dem 1. 1. 2000 gesetzlich (Sozialgesetzbuch V, §§ 295 und 301) vorge1
Da diesem Ausschuss inzwischen auch Psychologische Psychotherapeuten angehören, wurde sein Name in »Gemeinsamer Bundesausschuss« geändert.
151 8.1 · Anwendungsbereiche für Psychotherapie
8
. Tab. 8.1. Anwendungsbereiche für Psychotherapie im Sinne der Gesetzlichen Krankenversicherungen; aus den Richtlinien des Gemeinsamen Bundesausschusses über die Durchführung der Psychotherapie (Psychotherapie-Richtlinien) in der Fassung vom 11. Dezember 1998, in Kraft getreten am 1. Januar 1999, zuletzt geändert am 20. April 2004 (veröffentlicht im Bundesanzeiger Nr. 130 vom 15. Juli 2004), in Kraft getreten am 16. Juli 2004 Anwendungsbereiche 1.
Indikationen zur Anwendung von Psychotherapie gemäß Abschnitt B und Maßnahmen der psychosomatischen Grundversorgung gemäß Abschnitt C der Richtlinien bei der Behandlung von Krankheiten können nur sein:
1.1
Psychoneurotische Störungen (z. B. Angstneurosen, Phobien, neurotische Depressionen, Konversionsneurosen).
1.2
Vegetativ-funktionelle und psychosomatische Störungen mit gesicherter psychischer Ätiologie.
1.3
Im Rahmen der medizinischen Rehabilitation kann Psychotherapie angewendet werden, wenn psychodynamische Faktoren wesentlich Anteil an einer seelischen Behinderung oder an deren Auswirkung haben und mit ihrer Hilfe eine Eingliederung in Arbeit, Beruf und/oder Gesellschaft möglichst auf Dauer erreicht werden kann; Indikationen hierfür können nur sein:
1.3.1
Abhängigkeit von Alkohol, Drogen oder Medikamenten nach vorangegangener Entgiftungsbehandlung.
1.3.2
Seelische Behinderung aufgrund frühkindlicher emotionaler Mangelzustände, in Ausnahmefällen seelische Behinderungen, die im Zusammenhang mit frühkindlichen körperlichen Schädigungen und/oder Missbildungen stehen.
1.3.3
Seelische Behinderung als Folge schwerer chronischer Krankheitsverläufe, sofern sie noch einen Ansatz für die Anwendung von Psychotherapie bietet.
1.3.4
Seelische Behinderung aufgrund extremer Situationen, die eine schwere Beeinträchtigung der Persönlichkeit zur Folge hat.
1.3.5
Seelische Behinderung als Folge psychotischer Erkrankungen, die einen Ansatz für spezifische psychotherapeutische Interventionen erkennen lassen.
2.
Psychotherapie ist als Leistung der gesetzlichen Krankenversicherung ausgeschlossen, wenn:
2.1
zwar seelische Krankheit vorliegt, aber ein Behandlungserfolg nicht erwartet werden kann, weil dafür beim Patienten die Voraussetzungen hinsichtlich seiner Motivationslage, seiner Motivierbarkeit oder seiner Umstellungsfähigkeit nicht gegeben sind oder weil die Eigenart der neurotischen Persönlichkeitsstruktur des Patienten (gegebenenfalls seine Lebensumstände) dem Behandlungserfolg entgegensteht,
2.2
sie nicht der Heilung oder Besserung einer seelischen Krankheit bzw. der medizinischen Rehabilitation, sondern allein der beruflichen oder sozialen Anpassung oder der beruflichen oder schulischen Förderung dient,
2.3
sie allein der Erziehungs-, Ehe-, Lebens- und Sexualberatung dient.
3.
Soll Psychotherapie im Rahmen einer die gesamten Lebensverhältnisse umfassenden psychosozialen Versorgung erbracht werden, so ist diese Psychotherapie nur dann und soweit eine Leistung der gesetzlichen Krankenversicherung, als sie der Behandlung von Krankheit im Sinne dieser Richtlinien dient.
4.
Verhaltensweisen, die als psychosoziale Störung in Erscheinung treten, sind nur dann Gegenstand von Psychotherapie nach Abschnitt B und Maßnahmen der psychosomatischen Grundversorgung nach Abschnitt C der Richtlinien, wenn sie Ausdruck einer psychischen Erkrankung sind.
schrieben. Sowohl in der stationären als auch in der ambulanten Krankenversorgung muss für jeden Patienten, auch für Psychotherapiepatienten, eine ICD-10-Diagnose erstellt und dokumentiert werden. Umso erstaunlicher ist der Umstand, dass die Richtlinien des Gemeinsamen Bundesausschusses nicht mit der ICD-10-Klassifikation in Übereinstimmung gebracht worden sind.
8.1.2
Anwendungsbereiche für Psychotherapie auf der Grundlage von ICD-10-Diagnosen
Der Wissenschaftliche Beirat Psychotherapie hat eine an der ICD-10-Diagnostik orientierte Liste von Anwendungsbereichen für Psychotherapie erstellt:
152
Kapitel 8 · Indikationsstellung
Wesentliche Anwendungsbereiche für Psychotherapie von Erwachsenen im Sinne des Wissenschaftlichen Beirates Psychotherapie (geänderte Fassung v. 16.09.2002)2
8
1. Affektive Störungen (F3) 2. Angststörungen 5 phobische Störungen (F40) 5 andere Angststörungen (F41) 5 Zwangsstörungen (F42) 3. Belastungsstörungen (F43) 5 Belastungsreaktionen 5 posttraumatische Belastungsstörungen 5 Anpassungsstörungen 4. Dissoziative, Konversions- und somatoforme Störungen 5 dissoziative Störungen (F44) 5 somatoforme Störungen (F45) 5 Neurasthenie (F48) 5. Essstörungen (F50) 6. Andere Verhaltensauffälligkeiten mit körperlichen Störungen (F5) 5 nicht-organische Schlafstörungen (F51) 5 nicht-organische sexuelle Funktionsstörungen (F52) 7. Psychische und soziale Faktoren bei somatischen Krankheiten (F54) 8. Persönlichkeitsstörungen und Verhaltensstörungen (F6) 5 Persönlichkeitsstörungen (F60–62) 5 Verhaltensstörungen (F63–69) 9. Abhängigkeiten und Missbrauch (F1, F55) 10. Schizophrenie und wahnhafte Störungen (F2) 11. Psychische und soziale Faktoren bei Intelligenzminderung (F7) 12. Hirnorganische Störungen
2
Änderungen gegenüber der im Deutschen Ärzteblatt 97, Heft 1–2, 10. Januar 2000 publizierten Bekanntgabe betreffen die Nummern 7 und 11 der Aufzählung.
Die Anwendungsbereiche sind nach der Häufigkeit, mit der die Krankheiten in diesem Bereich mit Psychotherapie behandelt werden, geordnet. Die ersten vier Bereiche sind die klassischen Anwendungsbereiche für Psychotherapie. Etwa Dreiviertel aller Psychotherapiepatienten haben eine Störung, die einem dieser vier Bereiche zuzuordnen ist.
8.2
Diagnostik und Indikation für Psychotherapie
8.2.1
Zur Notwendigkeit von Diagnostik in der Psychotherapie
Psychotherapie ist heilkundliche Tätigkeit, die als solche unter der Obhut des Staates steht. Psychotherapie verursacht Kosten, die bei kassenfinanzierten Therapien die »Gemeinschaft der Versicherten« aufbringt, und Psychotherapie, die nicht den gewünschten Erfolg hat oder gar schadet, kann sich für den betroffenen Patienten in gesundheitlicher und/oder sozialer Hinsicht sehr negativ auswirken. Daher erwarten der Gesetzgeber, z. B. im Gesetz zur »Qualitätssicherung in der Medizin« (Kordy, 1992), die Kostenträger von Psychotherapien, vor allem die Krankenkassen und Rentenversicherer, und nicht zuletzt die Psychotherapiepatienten selbst vor dem Beginn einer bestimmten psychotherapeutischen Behandlung Antworten auf Fragen nach ihrer Begründbarkeit (Indikation) und ihrem voraussichtlichen Nutzen (Prognose). Diese Fragen lassen sich nur dann mit ausreichender Sicherheit beantworten, wenn hinreichend valide Erkenntnisse darüber vorliegen, welche Merkmale den Behandlungserfolg beeinflussen. Bevor dieser Punkt weiter ausgeführt wird, sollen zunächst die Begriffe Indikation und Prognose erläutert werden.
8.2.2
Zur Unterscheidung von Indikation und Prognose
Im Bereich der Psychotherapie wird zwischen Indikation und Prognose unterschieden.
153 8.2 · Diagnostik und Indikation für Psychotherapie
Definition Eine Indikation zur Psychotherapie liegt dann vor, wenn eine Psychotherapie bei einer gegebenen Person eine bestimmte psychische Störung oder eine körperliche Störung psychischen Ursprungs mildern oder beheben kann. Von einer differenziellen Indikation spricht man, wenn nicht nur Psychotherapie als Behandlung der Wahl empfohlen wird, sondern wenn sich die Indikationsaussage auf ein bestimmtes psychotherapeutisches Verfahren, z. B. Gesprächspsychotherapie, und/oder auf ein bestimmtes Setting, z. B. Gruppentherapie, bezieht. Von einer Kontraindikation von Psychotherapie spricht man, wenn eine Psychotherapie bei einer gegebenen Person, die an einer bestimmten psychischen Störung oder körperlichen Störung psychischen Ursprungs leidet, zu einem anhaltenden Schaden führen kann, z. B. zu einer Chronifizierung der Symptomatik oder zu einer anhaltenden psychotischen Dekompensation.
Eine Indikation für Psychotherapie sagt noch nichts über die Art und den Umfang der zu erwartenden Therapieeffekte aus. Zum Beispiel kann eine Psychotherapie zwar indiziert sein, ihre Erfolgsaussichten werden aber gering sein, wenn der Patient bereits erfolglose Psychotherapieversuche in seiner Vorgeschichte aufweist und seine Symptome in deren Verlauf zugenommen haben. Deshalb tritt neben die Indikationsaussage stets eine Vorhersage der zu erwartenden Veränderungen: Definition Eine Prognose ist die Vorhersage des zu erwartenden Therapieerfolgs für einen bestimmten Patienten mit einer bestimmten Störung bei Anwendung einer bestimmten Psychotherapie bzw. psychotherapeutischen Intervention. Die Merkmale, die Prognosen ermöglichen, werden Prädiktoren genannt. Das Erreichen der verschiedenen Therapieziele lässt sich unterschiedlich gut und anhand unterschiedlicher Prädiktoren prognostizieren.
8
Zur Illustration unterschiedlicher Prognosen in Abhängigkeit vom jeweiligen Therapieziel soll folgendes Beispiel dienen: Fallvignette
Differenzierung der Prognose Ein Patient, der nach dem unerwarteten Tod seiner Frau depressiv und suizidal geworden ist, wendet sich hilfesuchend an eine psychiatrischpsychotherapeutische Poliklinik. Der behandelnde Psychologe und Psychotherapeut kommt nach einem eingehenden Erstinterview zu dem Schluss, dass eine Krisenintervention von maximal fünf Sitzungen nötig ist und vermutlich ausreicht, die akute Suizidalität des Patienten zu beheben. Er unterbreitet dem Patienten dieses Behandlungsangebot. Gleichzeitig teilt er dem Patienten mit, dass er der Auffassung ist, dass diese fünf Gespräche vermutlich nicht ausreichen werden, um auch die depressive Symptomatik zu beheben, und er bereitet den Patienten darauf vor, dass es möglicherweise erforderlich sein wird, sich nach Abschluss der Krisenintervention um einen Therapieplatz bei einem niedergelassenen Kollegen zu bemühen.
Die Kriterien für eine Indikation unterscheiden sich von den Kriterien für eine Prognose. Indikationskriterien sind in erster Linie das Störungsbild und Persönlichkeitsmerkmale, und sie sind relativ unabhängig vom jeweiligen Psychotherapieverfahren. Prognosekriterien sind verfahrensspezifischer, z. B. ist das Ausmaß der Selbstexploration ein Kriterium für die Prognose einer Gesprächspsychotherapie, und wenig abhängig von der Störung, der Dauer der Erkrankung, dem Alter und der sozialen Eingebundenheit des Patienten usw. Die Bezeichnung von Indikations- und Prognosekriterien ist in der psychotherapeutischen Literatur nicht einheitlich. So werden Kontraindikationskriterien manchmal auch als »Ausschlusskriterien« (z. B. Yalom, 1996, S. 240) bezeichnet, z. B. »floride Psychose«, und Prognosekriterien als »Aufnahmekriterien« (a. a. O., S. 256).
154
Kapitel 8 · Indikationsstellung
8.2.3
Die Kategorien für die Indikationsdiagnostik
Wie oben bereits erwähnt, ist es aus verschiedenen Gründen erforderlich, vor Behandlungsbeginn die Indikation für Psychotherapie zu begründen und Aussagen über ihren voraussichtlichen Nutzen zu machen. Die Psychotherapieforschung hat schon sehr früh erkannt, dass der Behandlungserfolg nicht nur von der Art der Störung (Diagnose) abhängt. Die wichtigsten der außerdem zu berücksichtigenden Parameter sind von Kiesler (1969) in der sog. differenziellen Indikationsformel zusammengefasst worden:
8
! Differenzielle Indikationsformel Bei welchem Patienten mit welcher psychischen Störung führt welche Psychotherapie durch welchen Therapeuten zu welchem Ziel?
Im Folgenden wird dargestellt, welche Kriterien wir für die Indikation einer Gesprächspsychotherapie heranziehen, auf welchen die Prognose fußt und mit welchen Methoden wir sie erfassen. Um die Indikation für eine Gesprächspsychotherapie zu überprüfen, werden zwei Aspekte untersucht: 4 Die Störung des Patienten: Es werden eine oder mehrere ICD-10-Diagnosen erstellt, um das Beschwerdebild des Patienten so vollständig wie möglich abzubilden. 4 Die Persönlichkeit des Patienten: Es werden die Aspekte des Patienten betrachtet, die für sein psychisches Funktionieren von Bedeutung sind.
Die Diagnose der Störung Der erste Schritt bei der Erstellung einer Indikation für Psychotherapie ist die diagnostische Abklärung der geklagten Probleme und Symptome. Gesetzliche Vorgaben zur stationären und ambulanten Krankenversorgung schreiben (7 oben) vor, dass diese Diagnostik mit Hilfe der ICD-10 zu erfolgen hat. Die ICD-10 ist ein international gültiges Klassifikationssystem für alle bekannten Krankheiten, das von der Weltgesundheitsorganisation (WHO) entwickelt worden ist. Die deutsche Fassung für den Bereich der psychischen Störungen (Kapitel V [F]) stammt von Dilling, Mombour & Schmidt (Weltgesundheitsorganisation 1991).
! Ziele der ICD-Diagnostik 4 Feststellung, ob eine Psychotherapieindikative Störung vorliegt. 4 Feststellung, ob das Vorliegen einer (weiteren) Störung, die eine Psychotherapie als nicht indiziert oder kontraindiziert erscheinen lässt, ausgeschlossen werden kann. Fallvignette
Was hat Vorrang? Ein Beispiel für das zweite Ziel liefert ein Patient, der sich mit depressiven Symptomen an einen Gesprächspsychotherapeuten wendet. Eine vollständige ICD-Diagnostik bringt zu Tage, dass der Patient unter einer schweren Drogenabhängigkeit leidet, deretwegen er bereits zweimal behandelt worden ist. Er selbst erklärt sich seine Drogenabhängigkeit als Folge seiner Verstimmungen und möchte deshalb diese behandeln lassen. Der Interviewer versucht dem Patienten zu erklären, dass er keinen Psychotherapeuten finden wird, der sich auf die Behandlung der Depression einlässt und dabei die bestehende Abhängigkeitsproblematik ausklammert. Auch wenn die Abhängigkeit ursprünglich aus einer missglückten Selbstbehandlung der Depression mit Drogen entstanden sein sollte, habe die Behandlung der Sucht Vorrang vor der Behandlung der Depression.
Die Anwendung des ICD-Klassifikationssystems wird häufig im Rahmen des Psychologie- oder Medizinstudiums gelehrt, spätestens jedoch in der Ausbildung zum Psychotherapeuten. Psychotherapeuten (Janssen & Schneider, 1994), allen voran Gesprächspsychotherapeuten, haben in der Vergangenheit die im psychiatrischen Feld entwickelte Diagnostik oft skeptisch betrachtet und sogar abgelehnt (Eckert, 1994). Sie haben zu Recht den fehlenden Bezug dieser Diagnosen zur Psychotherapie beanstandet, die kaum etwas zum besseren Verständnis des Patienten und seiner Persönlichkeit beitrügen und auf Störungstheorien basierten, u. a. der psychoanalytischen Neurosentheorie, die nie ausreichend überzeugend bestätigt werden konnten. Mit dem Wechsel von der ICD-9 zur ICD-10 ist die ätiologische Fundierung der Störungsklassen
155 8.2 · Diagnostik und Indikation für Psychotherapie
aufgegeben worden (7 oben). An ihre Stelle ist eine deskriptive Beschreibung der Störungen getreten. Die »Angstneurose« (ICD-9:300.0) z. B. ist von der »Generalisierten Angststörung« (ICD-10: F41.1) abgelöst worden. Da die phänomenologische Orientierung der ICD-10-Diagnostik mit der vom Klientenzentrierten Konzept bevorzugten Methodologie gut vereinbar ist, entfällt ein gewichtiger Einwand gegen diese Art der Diagnostik im Rahmen von Gesprächspsychotherapien. Dennoch reicht eine ICD-Diagnose für die Erstellung einer Indikation für eine Gesprächspsychotherapie nicht aus, auch dann nicht, wenn eine Psychotherapie-indikative Diagnose gestellt wird. Ein Patient mit einer Generalisierten Angststörung z. B. kann ein dermaßen fragiles Selbstkonzept haben, dass eine Gesprächpsychotherapie ihn überfordern, d. h. ihm auch schaden könnte. Zur Einschätzung der Stabilität des Selbstkonzepts sollten die Strukturmerkmale des Selbst betrachtet werden. Wir nennen eine solche Einschätzung der Einfachheit halber »Diagnose des Selbstkonzepts«. ! Die Erhebung einer ICD-Diagnose im Rahmen einer heilkundlichen Psychotherapie ist gesetzlich vorgeschrieben. Sie dient der Abklärung von Indikation bzw. Kontraindikation im Hinblick auf die Störung des Patienten, denn die Krankenkassen finanzieren nur die psychotherapeutische Behandlung Psychotherapie-indikativer Störungen, die in den Psychotherapie-Richtlinien aufgeführt sind. Die ICD-10-Diagnose allein ist für die Erstellung einer Indikation für eine Gesprächspsychotherapie nicht ausreichend. Zusätzlich sollte die Stabilität des Selbstkonzepts geprüft werden.
Die ICD-10 ergänzende diagnostische Maßnahmen Bei manchen Störungsbildern reichen die diagnostischen Kriterien der ICD nicht für die Erstellung einer reliablen Diagnose aus. In solchen Fällen sollte die ICD durch andere diagnostische Maßnahmen ergänzt werden. Es empfiehlt sich z. B., die Diagnose einer Borderline-Persönlichkeitsstörung auf der Grundlage der ICD-10-Kriterien für das Vorliegen einer Borderline-Persönlichkeitsstörung durch spezielle Interviews, z. B. durch die Anwendung des
8
Diagnostischen Interviews für Borderline-Persönlichkeitsstörungen (DIB, Gunderson & Zanarini, 1983), zu überprüfen.
Die Diagnose des Selbstkonzepts Mit der Einführung der ICD-10 haben Vertreter der einsichts-orientierten bzw. psychodynamischen Therapien festgestellt, dass die ICD-Diagnosen für die Erstellung einer Indikation für diese Psychotherapieverfahren nicht ausreichend sind. Sie haben sich zu einem Arbeitskreis »Operationalisierte Psychodynamische Diagnostik« (OPD) zusammengeschlossen, um die ICD-10-Diagnostik um vier weitere für die Psychotherapie relevante diagnostische Bereiche bzw. »Achsen« zu ergänzen (Arbeitskreis OPD, 1996). Wir empfehlen bei der Erstellung einer Indikation für eine Gesprächspsychotherapie vor allem die sog. »Strukturachse« der OPD heranzuziehen (7 Kap. 5.3.2). Sie ist mit der Konzeption des Selbst bzw. des Selbstkonzepts der Gesprächspsychotherapie kompatibel (7 Kasten »Exkurs) und erlaubt eine diagnostische Einschätzung der Stabilität des Selbst. Exkurs
Zur Vergleichbarkeit klientenzentrierter und psychodynamischer Konzepte Im Klientenzentrierten Konzept hat die Prozessdiagnostik eine lange Tradition. Einen frühen Versuch, die therapeutischen Prozesse operational zu definieren, stellt die Entwicklung der »Prozessskala« von Rogers (1959) dar. Sie beschreibt die verschiedenen Bereiche, in denen eine Psychotherapie Veränderungen bewirkt (7 Kap. 5.3 und 7.1). Von diesem Ansatz ist allerdings nur der Aspekt der Selbstexploration (Truax, 1961) in Form einer Rating-Skala weiter ausgearbeitet worden. Eine deutsche Version ist unter dem Namen »Skala zur Einschätzung des Ausmaßes der ›Selbstexploration‹ des Klienten« von Tausch, Eppel, Fittkau und Minsel (1969) veröffentlicht worden (7 Kap. 9.3.3). Die Ähnlichkeit bestimmter Annahmen hat sich für den Bereich der Selbstreflexion (»Selbstwahrnehmung«) auch empirisch bestätigen lassen: Daudert (2001) hat 51 stationäre Psycho-
6
156
Kapitel 8 · Indikationsstellung
therapiepatienten untersucht und dabei u. a. herausgefunden, dass die Selbstreflexivität, erhoben mit der »Reflective Functioning Scale« von Fonagy, Target und Steele (1998) mit der Selbstexploration, erhoben mit der Selbstexplorationsskala von Truax nach Tausch et al. (1969) r=0,53 korreliert. Wären die beiden Instrumente messfehlerfrei, betrüge die »wahre« Korrelation (Lienert, 1967) r=0,75. Diese beiden Fremdbeurteilungsinstrumente messen also zu 57% dasselbe.
8
Sowohl die Gesprächspsychotherapie als auch die psychodynamischen Psychotherapien sind einsichtsorientierte Therapieverfahren. Konzeptuelle Überschneidungen sind demnach zu erwarten. Das gilt insbesondere für die Vorstellungen von den Funktionen des Selbst bzw. Selbstkonzepts, wie sie von der Arbeitsgruppe OPD (1996) ausgearbeitet worden sind. . Tab. 8.2 zeigt die Strukturachse der OPD bzw. die Kriterien zur Einschätzung der Strukturmerkmale des Selbst. Die Anwendung dieser Skala in der Praxis wird in 7 Kap. 8.3 beschrieben. Die Beachtung der »Strukturmerkmale des Selbst« auch in der
gesprächspsychotherapeutischen Praxis und Forschung würde die Diagnostik in den beiden Verfahren einheitlicher und damit vergleichbarer machen, was nicht zuletzt auch der vergleichenden Therapieforschung zu Gute käme.
8.2.4
Die diagnostischen Kriterien für die Prognose
Die Therapieforscher haben lange Zeit geglaubt, den Stein der Weisen finden zu können. Sie haben unter den vielen denkbaren Prädiktoren für einen Therapieerfolg nach einem Merkmal gesucht, mit dessen Hilfe sie den Erfolg für jeden Patienten und unabhängig von der angewandten Therapiemethode vorherzusagen in der Lage sein könnten. Die sog. Ichstärke z. B. hatte das Schicksal vieler Prädiktoren, die als Stein der Weisen in Betracht gezogen worden sind: Ihre ersten Erforscher fanden positive Korrelationen mit dem Therapieerfolg, spätere Forscher konnten diese Zusammenhänge nicht bestätigen (Clarkin & Levi, 2004, S. 206). Heute hat man von der Suche nach solchen allgemeingültigen Prädiktoren Abstand genommen. Es ist inzwischen erkannt worden, dass der Therapieerfolg von vielen Faktoren
. Tab. 8.2. Strukturmerkmale des Selbst Merkmale
Gut integriert
Mäßig integriert
Gering integriert
Desintegriert
Allgemeine Charakteristik Struktur des Selbst in Beziehung zum Anderen; Verfügbarkeit über intrapsychisch und interpersonell regulierende Funktionen zur Erhaltung von Autonomie und Beziehungsfähigkeit
Weitgehend autonomes Selbst; regulierende Funktionen verfügbar; psychischer Binnenraum strukturiert (intrapsychische Konflikte möglich); strenges, aber integriertes Gewissen
Verfügbarkeit über regulierende Funktionen herabgesetzt; intrapsychische Konflikte sind destruktiver, archaischer; strenges Gewissen, evtl. externalisiert; Ich-Ideal überzogen
Seelischer Binnenraum und psychische Substrukturen wenig entwickelt; regulierende Funktionen deutlich reduziert; Konflikte sind interpersonell statt intrapsychisch
Kein kohäsives Selbst ausgebildet; daher bei Belastung Gefahr von Desintegration oder Fragmentierung; dem psychotischen Zusammenbruch kann psychotische Restituierung folgen
Selbstwahrnehmung Fähigkeit zur Selbstreflexion, zur Gewinnung von Selbstbild und Identität, zur Introspektion und Differenzierung eigener Affekte
Selbstreflexive Fähigkeiten und Identitätsgefühl grundsätzlich vorhanden, u. U. durch innerpsychische Konflikte eingeschränkt Leitaffekte: Freude, Angst, Schuld, Scham, Trauer
Schwierigkeit, Selbstbild zu gewinnen; Affekte zu differenzieren; Identität unsicher Leitaffekte: Angst, Wut, Enttäuschung; Selbstentwertung, Ambivalenz
Selbstreflexive Funktionen fehlen weitgehend, Identitätsdiffusion Leitaffekte: Chronische Angst, Wut, Depression, Leere, Entfremdung
Selbstreflexive Fähigkeiten fehlend; weitgehend fehlende soziale und sexuelle Identität (Schizophrenie) oder Überidentifizierung mit sozialen Rollen (manischdepressive Psychose)
157 8.2 · Diagnostik und Indikation für Psychotherapie
. Tab. 8.2 (Fortsetzung) Merkmale
Gut integriert
Mäßig integriert
Gering integriert
Desintegriert
Objektwahrnehmung Fähigkeit, zwischen innerer und äußerer Realität sicher zu unterscheiden, andere Personen ganzheitlich, kohärent, mit eigenen Rechten und Absichten wahrzunehmen; Empathie-Fähigkeit
Das Bild des Gegenübers wird differenziert wahrgenommen; kann jedoch neurotisch konflikthaft gefärbt sein; Empathiefähigkeit vorhanden; auf den Anderen bezogene Affekte sind möglich (Sorge, Anteilnahme, Schuld, Trauer, Scham)
Wenig Empathiefähigkeit; konfliktgefärbte Wahrnehmung des Anderen; in Konflikten wirkt der Andere ängstigend oder droht verloren zu gehen
Fehlende Empathiefähigkeit; dem Anderen werden keine eigenen Rechte und Absichten zugestanden; der Andere wird als bedürfnisbefriedigend oder verfolgend oder unvollständig wahrgenommen
Psychotische Konfusion von Selbst- und Bildern vom Anderen; selektive Wahrnehmung; einzelner Eigenschaften des Anderen stehen für die ganze Person
Selbststeuerung Fähigkeit, mit eigenen Bedürfnissen, Affekten und Selbstwertgefühlen steuernd umzugehen; Toleranz für Ambivalenzen und negative Affekte
Steuerungsfähigkeit für Impulse, Affekte und Selbstwert grundsätzlich vorhanden, u. U. neurotisch eingeschränkt
Übersteuerung oder Impulsdurchbrüche; emotionale Flexibilität eingeschränkt; selbstentwertende, autoaggressive Tendenzen; Selbstwertregulierung schwierig; Kränkbarkeit
Impulsives Verhalten, selbstbestrafende Tendenzen, Intoleranz für negative Affekte; fragile Selbstwertregulation (große Kränkbarkeit, Größenvorstellungen)
Unzureichende Vorstellung von der Urheberschaft eigenen Handelns, u. U. massive Störungen der Selbststeuerung (Impulskontrollverluste bis zur psychotischen Erregung)
Abwehr/ Bewältigung Fähigkeit, seelisches Gleichgewicht in inneren und äußeren Konflikten durch bestimmte Abwehrmechanismen zu erhalten oder wieder herzustellen
Abwehr stabil, effektiv; gegen inadäquate Wunschvorstellungen und Affekte gerichtet; (Verdrängung, Rationalisierung, Verschiebung)
Abwehr eingeschränkt flexibel, überschießend oder versagend; selektive Wahnehmung, Wahrnehmungsverleugnung und -verzerrung, (Reaktionsbildung, Isolierung, Projektion)
Abwehr erfolgt durch Veränderung der Repräsentanzen des Selbst und der anderen; Idealisierung und Entwertung der eigenen und anderer Personen (Spaltung)
Abwehr instabil, unflexibel; es findet keine (konstante) Beziehungsaufnahme statt, (psychotische Verleugnung, psychotische Projektion)
Kommunikation Fähigkeit, sich auf andere auszurichten und sich ihnen mitzuteilen, affektive Signale des Anderen zu verstehen
Kommunikationsbereitschaft grundsätzlich vorhanden; Kommunikationsbedürfnis u. U. konflikthaft eingeschränkt oder gesteigert
Kommunikationsfähigkeit störbar; Kommunikationsbereitschaft durch gekränkte, aggressive, bedürftige etc. Haltung beeinträchtigt
Kommunikationsfähigkeit beeinträchtigt; Schwierigkeiten im Verstehen affektiver Signale des Anderen; Kommunikationsabrisse; Verwirrung, Missverständnisse
Fehlinterpretation affektiver Signale; alles kann kommunikative Bedeutung gewinnen
Bindung Fähigkeit, innere Repräsentanzen des Anderen zu errichten und längerfristig affektiv zu besetzen (Objektinternalisierung, Objektkonstanz); variable Bindungen; Wechsel von Bindung und Lösung; Interaktionsregeln zum Schutz der Bindung entwickeln
Es gibt positive innere Bilder von anderen Personen; unterschiedliche innere Bilder von anderen Personen erlauben grundsätzlich triadische Beziehungen; u. U. Schwierigkeit, Bindung zu verschiedenen Personen zu integrieren Zentrale Angst: Zuneigung der wichtigen Anderen zu verlieren
Es sind nur wenige positve innere Bilder von Anderen vorhanden. Die inneren Bilder beschränken sich auf wenige Muster; wunschgeleitete und dyadische Beziehungen sind vorherrschend Zentrale Angst: Die wichtigen Anderen zu verlieren
Es sind wenige positive innere Bilder von Anderen internalisiert; sie sind strafend, entwertend; es besteht eine Abhängigkeit von realen Bezugspersonen Zentrale Angst: Vernichtung der eigenen Person durch die bösen Anderen oder durch Verlust der wichtigen Anderen
Zum Schutz vor gefürchteter Verschmelzung werden Bindungen u. U. bis zur autistischen Isolation vermieden; auf regressivem Niveau können stabile Bindungen aufrechterhalten werden
In enger Anlehnung an Achse IV – Struktur der OPD: Operationalisierte Psychodynamische Diagnostik: OPD, 1996, S. 241.
8
158
Kapitel 8 · Indikationsstellung
beeinflusst wird und dass seine Vorhersage dementsprechend komplex ist. Die prognostischen Kriterien (Prädiktoren) haben zu tun mit: 4 Den Therapiezielen: Die Prädiktoren der Reduktion einer Angstsymptomatik sind andere als die der Stabilisierung der Impulskontrolle. 4 Dem therapeutischen Setting: Die Prädiktoren des Erfolgs einer Gruppentherapie sind andere als die einer Einzeltherapie. 4 Dem therapeutischen Verfahren: Die Prädiktoren des Erfolgs einer verhaltenstherapeutischen Behandlung unterscheiden sich z. B. von denen des Erfolgs einer gesprächspsychotherapeutischen. 4 Der Behandlungsdauer.
8
Die Therapieforschung hat inzwischen eine Reihe von Befunden erbracht, die für die Praxis der Indikation bedeutsam sind: 4 Die meisten soziodemographischen Merkmale, wie Geschlecht oder Bildungsstand, haben keinen oder nur einen geringen Einfluss auf die Vorhersagbarkeit des Therapieerfolges. 4 Die Prädiktion des Therapieerfolges gelingt besser, 5 wenn es einen theoretischen Zusammenhang zwischen den Prädiktoren und den Merkmalen des Therapieprozesses gibt. So ist die »Psychological Mindedness« (die Fähigkeit, psychologisch zu denken) eines Patienten ein besserer Prädiktor als sein Intelligenzquotient; 5 wenn die Prädiktoren in einem theoretischen Zusammenhang mit Merkmalen der Beziehung zwischen Patient und Therapeut stehen. So scheinen die interpersonalen Probleme eines Patienten für eine Prädiktion des Therapieerfolges relevanter zu sein als das Ausmaß seiner Somatisierungstendenz. 4 Die verlässlichsten prognostischen Informationen können aus den Reaktionen des Patienten auf die für den Therapieprozess relevanten Verhaltensweisen des Therapeuten oder aus dem Gruppenprozess in probatorischen Therapiesitzungen bzw. zu Behandlungsbeginn gewonnen werden. Diese Befunde gelten für alle Therapieverfahren und auch für die Prognose des Erfolgs einer Gesprächs-
psychotherapie. Versuche, den Therapieerfolg mit Hilfe von psychopathologischen Merkmalen bzw. Diagnosen oder mit Daten aus allgemeinen Persönlichkeitsfragebögen vorherzusagen, sind weitgehend gescheitert. Als für eine Prognose geeignet erwiesen sich, wie gesagt, nur Daten aus Messinstrumenten, die Merkmale erfassen, die auch im Therapieprozess eine Rolle spielen, wie die Art und das Ausmaß interpersonaler Probleme oder Aspekte des sozialen Verhaltens, wie es durch die »Strukturelle Analyse Sozialen Verhaltens (SASB)« erfasst wird (BiermannRatjen, Eckert & Schwartz, 2003, S. 145–153). Die Prognose des Erfolges einer Gesprächspsychotherapie in der psychotherapeutischen Praxis wird im 7 Kap. 8.3 dargestellt. Wir beenden dieses Kapitel mit der vollständigen Transskription eines Indikationsgespräches mit einer Patientin, die von ihrer Hausärztin an eine psychiatrisch-psychotherapeutische Poliklinik mit der Bitte um die Diagnose und die Frage nach einer geeigneten Behandlung (Psychotherapie?) überwiesen worden war.
8.2.5
Ein kommentiertes Indikationsinterview: Annette P.
Im nachfolgend dokumentierten Fall (7 Beispiel) wurde die Patientin von ihrer Hausärztin an die Poliklinik einer Universitätsklinik für Psychiatrie und Psychotherapie überwiesen. Die Aufgabe des Untersuchers im Rahmen seiner poliklinischen Aufgaben war ausschließlich die diagnostische Abklärung und – nach Möglichkeit – die Erarbeitung einer Behandlungsempfehlung. 4 Patientin: Annette P., 18 Jahre. Sie wird von ihrer Hausärztin wegen einer Essstörung an die Poliklinik einer psychiatrischen Universitätsklinik überwiesen. 4 Fragestellung: Abklärung der Diagnose und Behandlungsempfehlung. 4 Interviewer: J.E. 4 Besonderheiten: Das Interview fand im Rahmen eines Fallseminars statt, d. h. im Beisein von acht Studierenden der Psychologie. Die Patientin hatte sich sowohl mit der Anwesenheit der Studierenden als auch mit einer Videoaufnahme des Erstgesprächs einverstanden erklärt.
159 8.2 · Diagnostik und Indikation für Psychotherapie
Beispiel
Erstinterview zur diagnostischen Abklärung. I Interviewer, P Patientin, K allgemeiner Kommentar, KS Kommentar zu Strukturmerkmalen im Sinne der Strukturachse, Ü nicht verbalisierte Überlegungen des I Frage/Antwort
Kommentare
I (0)
K
Der Anlass der Untersuchung und der Überweisungskontext werden erfragt.
Ü
Hat die P einen eigenen Leidensdruck?
K
Wird vom I als Zustimmung aufgefasst.
K
P hat Untergewicht: Quetelets-Index liegt mit 15,8 unter der kritischen Grenze von 17,5. Frage, ob die P selbst das auch so sieht.
K
Frage, wie und unter welchen Umständen es zur Gewichtszunahme gekommen ist → Hinweis auf Veränderungsmöglichkeiten.
P (1) I (1) P (2) I (2) P (3) I (3)
P (4) I (4) P (5) I (5) P (6)
I (6) P (7)
I (7)
P (8) I (8) P (9)
6
Was ist der Anlass, dass Sie sich hier an die Klinik gewandt haben oder geschickt worden sind? Ich bin mehr oder weniger geschickt. Sie sind mehr oder weniger geschickt worden. Und wer hat Sie geschickt? Meine Hausärztin. Hm. Finden Sie das gut? Also waren Sie damit auch einverstanden? Hm. Und was ist denn der Anlass? Warum hat denn Ihr Hausarzt geglaubt, Sie schicken zu müssen? Weil ich zu wenig Gewicht habe. Dass ich das auch nicht selbst in den Griff kriege. Ja. Wie viel wiegen Sie denn? Neunundvierzig (Kilo). Neunundvierzig. Wie groß sind Sie? Einssechsundsiebzig.
Und finden Sie das auch selbst, dass das zu wenig ist? Ja. Es ist wieder mehr geworden. Ich wog noch weniger. Also ich war bis sechsundvierzig runter. Sie waren bis sechsundvierzig runter. Aha, Und wann haben Sie das Gewicht wieder aufgeholt? In welchem Zeitraum? Die drei Kilo? In anderthalb Monaten. Und wie haben Sie das gemacht? Also ich hab’ versucht ein bisschen mehr … Also ich hab’ da zuletzt dann tagelang fast nichts gegessen, bis ich dann das mal ein bisschen gesteigert hab, also dann morgens wieder was und …
8
160
Kapitel 8 · Indikationsstellung
I (9)
P (13) I (13) P (14)
Und das haben Sie … Haben Sie sich dazu gezwungen, morgens etwas zu essen? Ah, also … mehr oder weniger mein Vater hat das dann. Hm, können Sie nicht essen oder ist das mit dem Gewicht auch ein Ziel … von Ihnen, dass Sie eigentlich ganz wenig wiegen möchten? Nee, ich hab’ hm … Also ich kann nicht essen, nee … Sie können nicht essen. Nee, ich kann nicht … Ich hab’ keinen Appetit. Wann hat das eingesetzt mit der Appetitlosigkeit? Hm. Oktober. Zum Herbst. Oktober letzten Jahres? Hm. (nickt) Zehn Monate.
I (14)
Hm. Was ist da passiert?
K
P (10) I (10)
P (11) I (11) P (12) I (12)
8
P (15) Meine Eltern haben sich getrennt. (Presst die Lippen aufeinander, ist nachdenklich, senkt den Kopf. Sie kämpft – erfolgreich – mit den Tränen) I (15) Hm. In welcher Form? Jetzt auch räumlich? P (16) (nickt) Also sie, hm, werden sich jetzt scheiden lassen, haben sich aber … Also meine Mutter ist ausgezogen zu dem Zeitpunkt. I (16) Hm. Nun bahnt sich ja so was an, es kommt ja in der Regel nicht von heute auf morgen, und hat eine lange Vorgeschichte. Haben Sie davon … Kam das für Sie sehr überraschend oder … ? P (17) (nickt) Ja, sehr überraschend. Also es war … I (17) Ah ja. P (18) .. aber auch für meine Eltern bzw. für meinen Vater sehr überraschend, denn es kam eigentlich so gut wie von heute auf morgen. I (18) Hm. P (19) Also für mich jetzt zumindest. 6
K
Frage nach den Ursachen der Gewichtsabnahme.
K
I erfragt die näheren Umständen der Gewichtsabnahme.
K
Gemeint ist: vor 10 Monaten hat es begonnen. I fragt nach einem auslösenden Ereignis. Die Reaktion der P lässt keine Zweifel aufkommen: Auslöser der Essproblematik ist die Trennung der Eltern.
K
K
I erfragt, wodurch die Trennung zu einem für die P so belastenden Ereignis wurde.
161 8.2 · Diagnostik und Indikation für Psychotherapie
I (19)
Also der Entschluss und die Umsetzung des Entschlusses, dass Ihre Mutter auszieht, das war das Überraschende? P (20) (nickt) Ja. I (20) Heißt das denn auch, dass das für Sie kaum nachvollziehbar ist?
P (21) (nickt) Ja. Also ich kann es nicht nachvollziehen. I (21) Hm. Und was ist denn die Begründung Ihrer Mutter? P (22) Also Sie hat mir eigentlich nicht viel begründet, sondern sie meinte, … sie war nur der Auffassung, dass sie nicht mehr so leben konnte, wie sie vorher gelebt hat, und dass sie sich zu sehr eingeengt gefühlt hat. I (22) Hm. Können Sie das nachvollziehen, diese beiden, also … Ihre Mutter möchte anders leben als bisher und nennt als einen Grund: sie fühlte sich zu sehr eingeengt? P (23) Eigentlich weniger, weil ich das ja nicht so, … also ich hab’ das von mir aus jetzt nicht so mitgekriegt, dass sie sich vielleicht eingeengt gefühlt hat. I (23) Hm. P (24) Weil meine Mutter eigentlich … Also ich hab’ sie immer als eigentlich zufrieden oder glücklich gesehen … I (24) Hm. P (25) .. und deshalb ist es für mich eigentlich schwer nachzuvollziehen. I (25) Hm. Halten Sie es denn für ein vorgeschobenes Argument?
K
Die traumatisierende Wirkung von belastenden Ereignissen erhöht sich, wenn sie unerwartet und nicht vorhersehbar und – wie in diesem Fall – für die P auch nicht nachvollziehbar, auftreten.
KS P ist in der Lage, ihre Wahrnehmung von der Mutter und deren Selbstwahrnehmung klar voneinander zu unterscheiden.
Ü
I möchte erfahren, ob die noch junge P in der Lage ist, ihre Mutter als eine von ihr getrennte Person mit eigenen Interessen, Motiven etc. wahrzunehmen.
K
Hier schlägt der I eine Interpretation vor.
P (26) (Pause) … Teilweise vielleicht, ja. I (26)
6
Hm. Denken Sie denn, dass es Ihrer Mutter vielleicht selbst gar nicht so klar ist, warum Sie den Schritt gemacht hat?
8
162
8
Kapitel 8 · Indikationsstellung
P (27) (Pause) Hm. Kann schon sein, ich weiß es nicht. Also sie hat auch ’nen andern Mann jetzt und hatte ihn auch schon längere Zeit vorher und ich denke, dass das von daher vielleicht ein vorgeschobenes Argument ist. I (27) Also es gibt noch einen anderen Mann im Leben Ihrer Mutter … P (28) Ja. I (28) … als Ihren Vater. Und bevor es zu der Trennung kam, haben offenbar weder Sie noch Ihr Vater davon nichts gewusst … P (29) Nein. I (29) … dass Ihre Mutter einen Freund hat. Nun haben Sie ja sehr, sehr heftig darauf reagiert: das hat Ihnen ja sozusagen den Appetit verschlagen. P (30) Hm. I (30) Vorhin kamen Ihnen gleich die Tränen in die Augen. Hat Sie das auch sehr traurig gemacht? Haben Sie auch mit solchen Gefühlen zu tun? P (31) Ja. (nickt) I (31) Hm. Können Sie sagen, was Sie traurig macht? P (32) (Pause) Eigentlich, dass sich meine Mutter zu so ’nem, … also, ihre Person hat sich ganz und gar gewandelt für mich. I (32) Ja. P (33) Sie ist nicht mehr die, die ich kenne. Das ist es einerseits, was mich traurig macht, und dass dann halt die ganze Familie darunter … Also, da ist kein Familienzusammenhalt mehr, weil meine Eltern sich auch nicht mehr versteh’n. Wir sprechen nicht mehr miteinander, es ist also … I (33) Ja, also, wenn Sie das so sagen, würde ich das in der Form ausdrücken, dass Sie Ihre Mutter richtig verloren haben: Sie ist nicht nur räumlich weg, sondern die Person, die Sie kennen, ist Ihnen fremd geworden? P (34) (nickt) Ja. I (34) Ja? 6
K
Die P hat eine andere Vermutung als der I: Die Mutter hat nämlich eine außereheliche Beziehung verheimlicht.
Ü
I möchte nochmals den Zusammenhang zwischen dem Symptom der P und den auslösenden Ereignissen herstellen.
Ü
Die spontane »Selbstexploration« der P ist eher gering. Die P ist aber spürbar und sichtbar emotional bewegt. Kann die P es zulassen, dass ihre Gefühle benannt und Thema werden?
K
Der Antwort der P ist zu entnehmen, dass sie das vom I angesprochene Gefühl als für sich zutreffend annehmen kann.
K
Hier verbalisiert die P erstmals ein sie belastendes Gefühl »traurig« direkt.
Ü
Der I erlebt die Reaktion der P insgesamt als sehr versachlichend bzw. »vernünftig«. Deshalb will er nochmals die Belastung betonen, die P erlebt hat.
163 8.2 · Diagnostik und Indikation für Psychotherapie
P (35) (nickt) Ja. I (35) Und wie reagiert Ihre Mutter darauf, dass Sie so, ja, betroffen davon sind, sag’ ich mal? P (36) Also, sie hat da gar nicht weiter reagiert. Sie hat nur bei meinem Vater durchblicken lassen, dass ich Ihrer Meinung nach da auch selbst dran schuld bin, dass ich jetzt z. B. unter so einem Gewichtsverlust leide. Dass ich mich da zu sehr reinhäng’ und dass ich dann teilweise selbst dran schuld bin, dass es mir nicht so gut geht. I (36) Das wissen Sie durch Ihren Vater? P (37) Ja, also, meine Mutter hat damit, hat darüber nicht mit mir gesprochen. I (37) Hm. Haben Sie denn überhaupt noch Kontakt seither? P (38) Wenig. Ganz wenig. I (38) Wenig. Und wie war der oder wie ist der Kontakt, den Sie haben? P (39) Ich hab’ versucht, mit meiner Mutter darüber zu reden … I (39) Hm. P (40) Aber sie ist der Meinung, dass ich das nicht verstehen würde … I (40) Hm. P (41) ..und dass sie mir das irgendwann später, wenn ich älter bin, noch mal erklären wird, irgendwann, ja, und von daher … Sie, sie spricht nur Themen an, die so ganz allgemein sind … I (41) Ja. P (42) Also Schule oder solche Sachen. I (42) Ja. Ja. P (43) Aber geht da nicht drauf ein. I (43) Und wenn Ihnen Ihre Mutter so was sagt: »du verstehst das jetzt noch nicht« … Nein, ich sag mal anders ’rum: Ich denk’, manchmal tun Menschen Schritte, die sie selbst nicht gut verstehen. Kann das sein, dass Ihre Mutter eigentlich Ihnen das auch nicht erklären kann?
6
K
Der I möchte ein möglichst klares Bild von der momentanen Mutter-TochterBeziehung bekommen.
KS Der I reagiert auf diese Ausführung der P mit einer reaktiven Inkongruenz: Er geht nicht auf das ein, was die P schildert, sondern bietet der Tochter erneut (7 26) eine Interpretation des Verhaltens der enttäuschenden Mutter an, mit der diese – wie er meint – besser leben kann, als wenn sie erkennen müsste, dass die Mutter ihr jedes Mitgefühl und jede Aufklärung verweigert.
8
164
Kapitel 8 · Indikationsstellung
P (44) (nickt) Das kann gut sein, ja. I (44) Also, dass sie sich selbst in dem Schritt letztlich nicht versteht? P (45) (nickt bedächtig) Kann sein, ja. I (45) Hm. Und wenn Ihnen Ihre Mutter so was sagt: «Du bist noch sozusagen zu klein«, wie fühlen Sie sich denn damit?
8
P (46) Jetzt, das ist halt für mich etwas unnormal. Ich dachte eigentlich, dass ich für so eine Erklärung auch schon alt genug bin. I (46) Ja. P (47) Ich meine, ich könnte eigentlich selbst ’ne Familie haben. Von daher könnte ich das dann, denke ich, schon verstehen … I (47) Ja. P (48) .. oder zumindest versuchen zu verstehen. Ich kann dann hinterher sagen, gut, ich verstehe es immer noch nicht, aber dass man das wenigstens versucht! I (48) Was für ein Mensch war denn Ihre Mutter bis zu dieser Trennung? Wie war Ihre Beziehung zu ihr? Hat es da eine Entwicklung gegeben?
P (49) Ja, also, sie war eigentlich offen. I (49) Hm. P (50) Also, ich konnte immer zu meiner Mutter gehen, wenn ich ein Problem hatte oder mit ihr über alles reden. Und das hat sich insofern für mich gewandelt, dass sie uns, meine Schwester, meinen Vater und mich, eigentlich mehr oder weniger betrogen hat, weil sie uns immer belogen hat mit Dingen, die sie vorgegeben hat, die sie macht und dann doch hinter unserm Rücken was anderes getan hat und … I (50) Hm. Aber das bezieht sich immer nur auf diese eine Beziehung, die dann auch zur Trennung geführt hat? P (51) Ja. (nickt) I (51) Ja. Hm. 6
K
Der I erkennt in der Situation seine Tendenz, das Verhalten der Mutter zu verharmlosen, und versucht, die »reale« Mutter wieder ins Spiel zu bringen:
K
Die P bringt ihre Enttäuschung über das Verhalten der Mutter unmissverständlich, wenn auch sehr sachlich bzw. sachlich begründet, zum Ausdruck. Der I möchte zum einen das abweisende Verhalten der Mutter verstehen. Er fragt sich nach dem »Bruch« in der MutterTochter-Beziehung. Zum anderen ist die Frage auch geeignet, den Grad der Getrenntheit von der Mutter zu verdeutlichen.
Ü
Ü
Der I fragt sich, ob sich die Aussage, sie hat uns »immer belogen«, auch auf andere Dinge als diese eine außereheliche Beziehung bezieht.
165 8.2 · Diagnostik und Indikation für Psychotherapie
P (52) Also, ich hatte eine sehr gute Beziehung eigentlich zu meiner Mutter. I (52) Hm, ein Maßstab für Offenheit ist ja, dass Sie mit ihr, ja, sehr viel von dem besprechen konnten, was sie auch innerlich tatsächlich bewegt. Das ging? P (53) Hm. (nickt, presst die Lippen zusammen) I (53) Fühlten Sie sich denn von ihr verstanden auch mit Ihren Problemen? Es ist ja manchmal so ab der Pubertät häufig nicht so einfach zwischen Eltern und Kindern. P (54) Doch. (spricht leise, nickt) I (54) Doch. Das ging? Und wenn sie Ihre Mutter als Person anderen Menschen schildern müssten… wie sie vor dem Zeitpunkt der Trennung war, wie hätten Sie sie dargestellt? P (55) Hm. Ja, wie gesagt, offen, freundlich… I (55) Hm. P (56) Ja, ich weiß nicht, wie man das beschreiben soll, wie man dazu sagen kann. Warmherzig, also, eigentlich, ja …
I (56) Hm. P (57) Freundlich, also, also auch offen und (Pause) hilfsbereit. I (57) Hilfsbereit? P (58) Hm. (schaut nach unten) I (58) Hm. Woran machte sich das fest, die Warmherzigkeit und die Hilfsbereitschaft? P (59) Ja, dass sie nicht so, … hm…, jetzt meinetwegen nur auf sich bezogen war und meinte, das nutzt mir nicht, … also, nun ist mir das egal, sondern dass sie auch, … ja, erst mal geguckt hat, ob sie nicht anderen helfen … also, ob das nicht anderen nutzt oder ob sie da nicht was machen kann oder ob sie denen helfen kann. I (59) Hm. Kann das eine Rolle gespielt haben, wenn Ihre Mutter dann in der Trennungsphase sagt, sie hat sich so eingeengt gefühlt, dass sie also zu wenig an sich gedacht hat? P (60) Ich weiß es nicht. Kann sein, ja. (nickt etwas). 6
K
I möchte, dass P diese Bewertung konkretisiert
Ü
I fragt sich, ob die Beziehung wirklich eine »gute Beziehung« war
KS Diese nächste Frage dient wieder der Erkundung der Funktionen des Selbst, und zwar der Fähigkeit zur korrekten »Objektwahrnehmung« und der Bindung.
K
Der I bringt zum Ausdruck, dass er Mühe hat nachzuvollziehen, dass die aufgezählten Eigenschaften wirklich die Mutter charakterisieren. Darauf reagiert die P.
Ü
Im I entsteht das Bild einer Frau, die ihr Leben in den Dienst anderer gestellt hat.
8
166
Kapitel 8 · Indikationsstellung
I (60)
Hm. Was hat denn Ihre Mutter an Ihnen geschätzt?
P (61) Hm. (längere Pause, verzieht ein wenig das Gesicht) I (61) Eine schwere Frage, scheint mir. P (62) Hm. Ich denke, ich war früher mal ein sehr aufgeschlossener Mensch. Das …, ich weiß es nicht, so, sehr lebhaft. I (62) Ja. Was heißt jetzt früher? P (63) Ja, also, bevor sich meine Eltern getrennt haben. I (63) Hm. Waren Sie ihr in dem Punkt ähnlich?
8 P (64) Ein bisschen vielleicht. I (64) Hm. Würden Sie denn sagen, dass es … Das ist ja etwas Überdauerndes, nicht wahr, aufgeschlossen, lebhaft zu sein. Ist das jetzt … Sie haben das so in die Vergangenheit verlegt, dass ich zunächst dachte, Sie meinen sich als Fünfjährige. Haben Sie denn die Vorstellung, das ist jetzt ganz weg? P (65) Ganz weg nicht. Aber größtenteils, denke ich. I (65) Ja. Denken Sie denn, das hat Ihnen Ihre Mutter mit diesem Schritt weggenommen? P (66) Nee, sie sicher nicht. Aber die Situation, also die Umstände allgemein, denke ich … I (66) Hm. P (67) Nicht sie direkt. So würde ich das nicht sagen. Aber die Umstände, die das, also, die damit verbunden waren, denke ich schon. I (67) Hm. Also ich suche noch nach dem, was Ihre Mutter Ihnen als Person angetan hat, so dass Sie sagen: ich habe mich verändert! So klingt das ein bisschen für mich. Es kann sein, dass ich das zu extrem auffasse. Also, ich sag’ das mal abstrakt: Sie sagen …
6
KS Die nächste Frage des I zielt nicht nur auf die Qualität der Mutter-Tochter-Beziehung ab, sondern auch auf die Qualität der Fremd- und Selbstwahrnehmung.
K K
K
I spricht diese Reaktion im Hier und Jetzt an. P geht verbal auf das Hier und Jetzt-Angebot nicht ein, sondern auf die an sie gerichtete Frage.
Fragen nach Ähnlichkeiten mit bzw. Unterschieden von den Eltern dienen ebenfalls der Klärung des Selbstkonzepts und der Beziehung.
KS Die folgenden Fragen sind Fragen nach der Stabilität des Selbstkonzeptes.
167 8.2 · Diagnostik und Indikation für Psychotherapie
P (68) Also ich hab’ mich aber nicht … Es ist mir erst hinterher so bewusst geworden, dass ich mich dadurch verändert habe. Es ist jetzt nicht so, dass ich, dass mir das von Anfang an bewusst war, dass ich mich dadurch verändere (gestikuliert). I (68) Hm. P (69) Also es ist mir eigentlich gar nicht so bewusst geworden. Also ich wurde drauf angesprochen. I (69) Ja. P (70) Also von vielen, die dann gesagt haben, ich bin zu ernst geworden … I (70) Ja. P (71) Und ich, na ja … I (71) Gut, das ist ja aber auch nahe liegend, nicht wahr? Es ist etwas passiert, was Sie sehr, sehr getroffen hat, was Sie überraschend getroffen hat, was Sie überhaupt nicht gut fanden und was eine neue Seite an Ihrer Mutter gezeigt hat, die sie nicht kannten … Ja, ist das alles? (Patientin nickt, lächelt) – Sie korrigieren mich, wenn ich Beschreibungen benutze oder verwende, die anders sind? Gut. – Das ist klar, dass Sie nicht fröhlich waren und die alte Fröhlichkeit und Aufgeschlossenheit an den Tag legen konnten. Aber ich hab’ Sie jetzt so verstanden, dass Sie sagen: Das hat mich auch sozusagen in meinem Wesen verändert. Ich denk’, Sie denken, Sie könnten nie wieder aufgeschlossen und … P (72) Hm. Nein, also, dass ich das nie wieder sein könnte, das denke ich nicht. I (72) So denken Sie das nicht? P (73) Nein. I (73) Hm. Würden Sie denn sagen, dass Sie einen Verlust erlitten haben durch den Weggang Ihrer Mutter?
P (74) In Bezug auf die Beziehung zu meiner Mutter? 6
Ü
Der I hat nun nicht mehr die Befürchtung, der erlittene Verlust habe zu einer tief greifenden Labilisierung des Selbstkonzepts der P geführt. Er möchte nun wissen, wie die P mit dem Verlust umgeht (Abwehrverhalten).
8
168
Kapitel 8 · Indikationsstellung
I (74)
P (75) I (75)
P (76)
I (76)
8
P (77)
I (77) P (78)
I (78)
P (79) I (79) P (80)
6
Ja, zum Beispiel. Wenn Sie sagen, Sie konnten mit ihr eigentlich sehr viel oder vieles bereden, das war ein gutes Verhältnis, dann ist das ja etwas, was sie verloren haben. Das geht doch jetzt nicht mehr, nicht wahr? Hm. Also das Verhältnis habe ich auf jeden Fall zu meiner Mutter verloren. Ja. Hm. Und auch anderes? Denken Sie, es ist auch noch etwas anderes verloren gegangen für Sie? Ja, vielleicht Charakterarten von mir. Wie gesagt, also, dass ich jetzt ernster geworden bin, als ich es früher war. Ja. Gut. … ich wollte spontan sagen: das ist ja etwas, was hinzugekommen ist und nicht etwas, was sie verloren haben. Ja, gut, dann habe ich die … vielleicht die Aufgeschlossenheit nicht mehr… ja, die Aufgeschlossenheit habe ich bestimmt … Ja. .. auch verloren, weil ich mich dann sehr zurückgezogen hab’, also ich hab’, hm, also ich bin auch abends nicht mehr weggegangen, weil mir einfach nich’ danach war. Ich war dann oft alleine, weil ich mich dann einfach auch zurückgezogen habe, weil ich keine Lust hatte, mich mit andern zu unterhalten. Jetzt dreh’ ich Ihre Situation mal ein bisschen: So eine Trennung bewirkt ja ganz viele Gefühle, und Sie können sie ja auch unter dem Gesichtspunkt sehen, dass Ihre Mutter Sie unvorbereitet im Stich gelassen hat. Das heißt: Haben Sie denn auch so etwas wie Wut verspürt? Zumindest kurzfristig? (Patientin nickt) – Sie nicken. Heißt das: ja? Ja. (lächelt) Ja? Wie haben Sie die erlebt? Ja, einfach durch das Verhalten, dass meine Mutter, hm, ja, gegenüber meinem Vater vorgebracht hat und gegenüber uns, also, dass sie uns das eigentlich nicht erklären wollte, das hat mich sehr wütend gemacht und …
K
Hier deutet der I eine Bewertung der P um.
K
P weist die positive Sichtweise des I nicht zurück, aber sie beantwortet zunächst die Frage des I nach dem Verlust.
Ü
Hat die P außer dem depressiven Rückzug noch andere Möglichkeiten, ihre Belastung zum Ausdruck zu bringen? Spürt sie außer der Trauer z. B. auch Wut?
169 8.2 · Diagnostik und Indikation für Psychotherapie
I (80)
Haben Sie die Wut auch gespürt und auch ein Stück gelebt sozusagen?
P (81) Hm. Ja. I (81). Ja? P (82) Aber ich hab’ sie nicht ihr gegenüber ausgelebt, also ich … I (82) Ja? P (83) Ich wollte, na ja, ich, ich will es eigentlich immer noch, dass ich ihr eigentlich mal meine Meinung so richtig sagen kann … I (83) Ja. P (84) Aber das geht nicht (presst die Lippen zusammen). I (84) Sie spüren eine wütende Enttäuschung, nicht wahr: Was hast du uns oder mir angetan? (Patientin nickt) Das (zu zeigen) schaffen Sie nicht? (Patientin schüttelt den Kopf) Ist Ihnen klar, was Sie da bremst? P (85) Vielleicht, dass ich das, hm, dass sie eben irgendwo doch noch meine Mutter ist, also … I (85) Das bleibt sie ihr Leben lang.
P (86) Ja, eben. I (86) Sie bleibt Ihre Mutter, ja. P (87) Ja. Dass ich … nein, das Verhältnis, das ich vorher hatte, dass das eigentlich immer noch in mir drinsteckt, und dass ich sie … I (87) Ja. P (88) … dass ich das so nicht sagen kann. Ich weiß es nicht, woran das liegt. (Beißt sich auf die Lippen.) I (88) Hm. War das auch früher für Sie schwierig, mal auf Ihre Mutter sauer zu sein, wenn Sie durch Anordnungen oder Verweigerungen oder … konnten Sie nie sauer sein auf Ihre Mutter? P (89) Doch. (nickt) I (89) Doch? P (90) Früher ja. Das war kein Problem. I (90) Früher war es kein Problem. Jetzt ist es ein Problem? P (91) Ja. 6
K
Die P wirkt in der Interviewsituation weiterhin ausgesprochen kontrolliert. Der I hat Probleme, sich die P offen wütend vorzustellen.
K
Der I fürchtet offenbar eine Rationalisierung und versucht diese durch eine Konfrontation zu unterbinden.
K
Diese Feststellung der P stimmt mit dem Eindruck des I überein. Er erkundigt sich nach früheren Erfahrungen von Wut auf die Mutter.
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170
Kapitel 8 · Indikationsstellung
I (91) P (92)
I (92)
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P (93)
I (93) P (94) I (94) P (95)
I (95)
6
Ah ja, dann sollten wir dem mal nachgeh’n, warum das so ist. (Pause) Wer weiß, vielleicht liegt es daran, dass ich … ich hör’s … also ich hab’ dabei immer verschiedene Varianten, wie es denn eigentlich ist oder wie es eigentlich war oder wie es dazu gekommen ist. Ich hör’ es von meinem Vater, und ich hör’ es von meiner Mutter. Und jetzt weiß ich nicht, ob ich ihr nicht Unrecht tu’, wenn ich ihr, ja, sozusagen irgendwas vorwerfe, was vielleicht doch nicht so ist, weil ich es von meinem Vater gehört hab’ oder weil ich mir meine eigene Meinung dazu gebildet hab’. Dann sind Sie aber ganz auf der – sozusagen – »Erwachsenenebene«, wenn Sie sich fragen: Ist es gerechtfertigt, dass meine Mutter sich von meinem Vater trennt. Das ist ja … Sie selbst sind ja auch betroffen und die Frage ist, wenn Sie an Ihre Beziehung zu Ihrer Mutter denken und an den Verlust, den Sie erlebt haben, und das, was Ihre Mutter Ihnen mit diesem Schritt angetan hat, wie … (Pause) Ja, so habe ich es … also so sehe, so hab’ ich es jedenfalls noch nicht geseh’n. Also ich hab’s eigentlich immer erst von dem Standpunkt aus geseh’n, dass ich … Dass die Ehe auseinandergegangen ist. Ja. Und dass ich Angst hatte, ihr dann eben was Falsches vorzuwerfen, was … Ja. Und Ihr damit Unrecht zu tun, was eigentlich nicht der Fall war oder was dann nicht stimmt. Ja. Das ist eine sehr übliche Form der Reaktion: … Es wird die Schuld gesucht oder der Schuldige bestimmt. Aber darüber gehen manchmal ganz wichtige Erfahrungen und auch Gefühle verloren. Und ich möchte Sie noch mal darauf hinweisen: Sie haben einen Verlust erlitten, und um den weinen Sie bzw. können darüber nicht richtig weinen. (Patientin schweigt)
Ü
Die P intellektualisiert und rationalisiert und entfernt sich von ihrem unmittelbaren Erleben. Der I muss sie darauf hinweisen und beachten, ob sie zu einer entsprechenden Reflexion ihrer Verhaltens in der Lage ist.
K
Entscheidend ist für die P nicht der Schmerz, den sie erleidet, sondern die Angst, sie könnte dafür jemanden fälschlicherweise verantwortlich machen. Das sollte der I ihr – aus einer gewissen Fürsorge heraus – auch sagen.
171 8.2 · Diagnostik und Indikation für Psychotherapie
I (95)
Also ich will Sie ermutigen, in dem Punkt ganz egozentrisch zu sein und sich zu fragen: Was tut mir weh? Und das sollten Sie zum Ausdruck bringen. – Es geht nicht um Schuld. P (96) (schüttelt etwas den Kopf) Ja, aber ich weiß nicht, ich glaube, ich kann es trotzdem nicht so …
I (96) Hm. P (97) … so vorwerfen. Ich weiß es nicht. (schüttelt den Kopf) I (97) Nein. Es geht nicht um Vorwerfen, sondern darum, das, was ist, zum Ausdruck zu bringen: dass Ihnen diese Trennung sehr weh getan hat. Sie bringen es ja zum Ausdruck, aber auf so eine selbstschädigende Art und Weise, indem Sie nicht mehr essen können. (Patientin schweigt) Noch mal: Ich will Ihnen jetzt eigentlich nicht zu irgendwas (raten): … Sie sollen das oder jenes tun und lassen, obwohl ich merke, dass ich etwas dahin gerutscht bin … Es geht darum, dass Sie sich nicht aus dem Auge verlieren sollten, dass es nicht nur darum geht, ob es gerechtfertigt ist, dass Ihre Mutter aus der Ehe rausgegangen ist, also die Familie verlassen hat, sondern dass es für Sie genauso wichtig ist – wenn nicht wichtiger – festzustellen: Was hat mir das getan? Und da spielen Rechtfertigungen keine Rolle. Nun haben Sie ja – deswegen bin ich so darauf angesprungen – gesagt: Ich spüre zwar Wut, aber ich kann sie im Gegensatz zu früher nicht zum Ausdruck bringen. Und die Frage war, warum eigentlich nicht? P (98) Ja, also, es ist für mich, dann, … also für mich persönlich wäre es sehr gut. Aber ich weiß es nicht, warum nicht! I (98) Hm. Hätten Sie denn – was ja nahe liegt – die Befürchtung, dadurch Ihre Mutter sozusagen ganz zu verlieren? (Patientin nickt etwas). Dass also der Kontakt abbricht? 6
K
Diese engagierte Einlassung des I ist inadäquat, denn die P beginnt sich ihm gegenüber zu rechtfertigen, dass sie das, was er für richtig hält, nicht leisten kann.
K
Der I wird sich seiner reaktiven Inkongruenz bewusst und versucht, sein Verhalten zu erklären.
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Kapitel 8 · Indikationsstellung
P (99) Das kann sein, ja. (nickt)
I (99)
P (100)
8 I (100) P (101) I (101)
P (102)
I (102) P (103) I (103) P (104) I (104) P (105) I (105) P (106) I (106) 6
Hm. Also, das vermute ich auch, denn … Ihre Mutter hat ja einen überraschenden Schritt getan, den Sie nicht vorhersehen konnten. Und ich denke, die Befürchtung taucht auf, wenn Sie sagen oder zeigen, wie wenig Sie damit einverstanden sind und wie sauer Sie sind und wie verletzt Sie sind, dass Ihre Mutter dann auch wieder einen ungewöhnlichen Schritt macht und sich sozusagen ganz zurückzieht. (lange Pause) Das war auf jeden Fall bei meinem Vater so: Mein Vater hat das rausgelassen, was ihn daran gestört hat, was ihn verletzt hat … Hm. und daraufhin hat sie eben, ja, sozusagen, den Kontakt ganz abgebrochen zu ihm. Ah ja. Das gibt ja Ihren Befürchtungen Nahrung. (Patientin schweigt, nickt leicht mit dem Kopf) Hm. Also, dann haben Sie wenig Kontakt zu Ihrer Mutter, Ihr Vater gar nicht und Ihre Schwester? Meine Schwester etwas mehr als ich. Also das liegt daran, dass, wenn meine Mutter anruft, meistens nur meine Schwester zu Hause ist. Und, ja, Sie unterhält sich dann eben mehr mit meiner Mutter, als ich es tu’. Das habe ich noch nicht verstanden. Wieso ist Ihre Schwester mehr zu Hause? Ja, also, weil ich mehr unterwegs bin in der Woche, wenn ich länger Schule hab’ … Ach so. Weil sie eben nur dann anruft, wenn mein Vater nicht da ist. Ach so. Und da … Ist Ihre Schwester älter als Sie? (nickt) Ein Jahr, ja. Ein Jahr älter. Und geht die nicht mehr zur Schule oder wie? Sie macht jetzt Abitur. Und wie geht es Ihrer Schwester? Hat die auch so heftig darauf reagiert?
Ü
Der I spürt im Kontakt mit der P, dass sie vor allem Angst hat. Er findet es wichtig, ihr das zu ihrem Verständnis anzubieten.
K
Im folgenden Teil geht es um die Schwester der P und um die Beziehung zu ihr.
173 8.2 · Diagnostik und Indikation für Psychotherapie
P (107) (schüttelt ein wenig den Kopf) Nein, meine Schwester ist eher ein Typ, der das nach außen nicht zeigt. I (107) Hm. P (108) Also, ich weiß es nicht … deshalb kann ich nicht sagen, wie sehr sie das getroffen hat oder nicht, weil sie das nach außen hin nicht zeigt. Also, sie hat sich, würde ich sagen, nicht verändert dadurch. I. (108) Hm. P (109) Äußerlich zumindest. I (109) Hm. Und können Sie mit Ihrer Schwester darüber sprechen? Also: Teilen Sie Ihre Gedanken, das, was Sie so bewegt, mit Ihrer Schwester … P (110) (nickt) Ja. I (110) oder ist das schwierig zwischen Ihnen? P (111) Teilweise ist es schwierig, aber, doch, größtenteils schon. I (111) Wie bewertet Ihre Schwester die Trennung? Ist das so ähnlich, wie Sie das sehen? Dass Sie es eigentlich nicht verstehen? P (112) Also, sie bewertet das eigentlich gar nicht, weil sie jemand ist, der eigentlich mehr zuhört und dazu aber nichts sagt, denk’ ich. Also, sie bewertet das wahrscheinlich nicht genauso, wie ich es sehe, dass meine Mutter uns … eben halt … im Stich gelassen hat oder wie auch immer. Sie bewertet das ganz sicher nicht so hart. Aber ich denke schon, dass sie meiner Mutter auch Vorwürfe macht. Denke ich schon. I (112) Hm. Aber sie ist nicht bedrückt? P (113) Nein. (schüttelt den Kopf) I (113) Hm. Hat sich denn Ihre Beziehung zu Ihrem Vater geändert seit der Trennung?
P (114) Nee, find’ ich nich’. (schüttelt den Kopf) I (114) Hm. Wie würden Sie denn Ihre Beziehung zu Ihrem Vater beschreiben? 6
K
Die P versucht, ihre Schwester objektiv und sachlich darzustellen. Sie vermeidet, wie schon bei der Schilderung der Mutter, Bewertungen. Die folgenden Fragen beziehen sich auf den Vater, seine Reaktion auf die Trennung und die Beziehung der P zu ihm.
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Kapitel 8 · Indikationsstellung
P (115) Auch so, wie das Verhältnis eigentlich zu meiner Mutter vor der Trennung war: Also wir sprechen eigentlich über alles. I (115) Hm. P (116) Also ich kann auch immer zu ihm kommen, egal, wann oder was ich für Probleme hab’. Es ist eine sehr gute Beziehung, denk’ ich. I (116) Hm. Der Auszug Ihrer Mutter ist ja jetzt so ein gutes Dreivierteljahr her, nicht wahr? Wie geht es denn Ihrem Vater damit? P (117) Besser jetzt inzwischen, wieder. Also es … Am Anfang hatte er, denke ich, große Schwierigkeiten, damit fertig zu werden, weil meine Mutter auch ein paar Sachen … Also unser Wohnzimmer war danach ziemlich kahl, und das hat, glaube ich, meinen Vater ziemlich getroffen, auch noch. Also die Leere dann halt und auch noch zu sehen, also zu sehen, dass meine Mutter eben ausgezogen ist, und dass Sie eben die Dinge mitgenommen hat, das hat ihn, glaube ich, schon ziemlich getroffen. I (117) Hm. Auch Möbel oder nur Gegenstände aus der … P (118) Möbel und Gegenstände. I (118) Ja. Also so deutlich und klar war der Weggang Ihrer Mutter, dass auch in der Wohnung sozusagen eine Leere entstand? P (119) (nickt) Hm. I (119) Hm. Und jetzt kann er aber damit besser umgehen. Oder? P (120) (nickt) Ja. I (120) Ja. Hat sich das in seiner Stimmung gezeigt? P (121) Ja. Mein Vater war, am Anfang, also, zu dem Zeitpunkt, als meine Mutter eben ausgezogen war, als … I (121) Ja. P (122) … für ihn kam das eben auch überraschend. Da war er schon sehr depressiv und er hat auch Medikamente dagegen gekriegt. I (122) Hm. P (123) Und, hm, ja, er war dem Alkohol etwas zugeneigter als sonst. I (123) Hm. Und das ist alles wieder zurückgegangen? 6
175 8.2 · Diagnostik und Indikation für Psychotherapie
P (124) (nickt) Ja. I (124) Hm. Und wie ist das mit der formellen Regelung (der Trennung)? Ist die Scheidung eingereicht?
P (125) (nickt) Ja. Mein Vater hat die Scheidung eingereicht. I (125) Die Scheidung schwebt noch sozusagen? P (126) Ja. I (126) Hm. Sind Sie denn damit einverstanden? P (127) (Pause) Ja, weil ich denke … das ist, wenn … Sie ist ausgezogen und sie lebt nun mit ’nem andern Mann zusammen, und da, denke ich, ist es dann noch … spielt es eigentlich im wesentlichen auch keine Rolle mehr, ob sie nun geschieden sind oder … I (127) Ja? P (128) … also formell geschieden sind oder nicht. I (128) Also meine (eigentliche) Frage ist, ob Sie die Hoffnung aufgegeben haben, dass es vielleicht noch mal zu einer Versöhnung kommt. P (129) (nickt spontan) Ja! I (129) Hm. Kennen Sie den neuen Freund Ihrer Mutter? P (130) (nickt) Ja. I (130) Und haben Sie dazu Gefühle entwickelt? P (131) (lächelt) Ja, also, ich mag ihn nicht, nee, also … I (131) Hm. Ja. Jetzt übertreibe ich mal wieder mit dem Bild, das ich jetzt benutze: Ist es so, dass Sie irgendwie die einzige in der Familie sind, die noch wirklich nachhaltig darunter leidet? Ihrer Mutter geht’s gut, die hat einen neuen Freund, Ihr Vater hat einen Schlussstrich gezogen, Ihre Schwester hat sowieso, zumindest nicht sichtbar, das ganz gut weggesteckt und Sie quälen sich mit Appetitlosigkeit und Freudlosigkeit ’rum. P (132) Ja, also, das würd’ ich schon sagen. Also ich bin die, auf jeden Fall, die es im Moment noch am meisten betrifft. 6
K
Es scheint so, als habe der Vater am deutlichsten seine Enttäuschungs- und Verlassenheitsgefühle zum Ausdruck gebracht. Allerdings scheint er aufgrund eigener Betroffenheit seiner Tochter nur wenig emotionalen Halt hat geben können.
KS Mit der nachfolgenden Frage versichert sich der I, ob die P der Realität unangemessene Wunschvorstellungen hegt.
K
Mit den nachfolgenden Fragen versucht der I, die Familiendynamik – auch in einem systemischen Sinne – zu erfassen.
8
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Kapitel 8 · Indikationsstellung
I (132) Ja, ist das eine Rolle, die Sie schon immer in der Familie hatten? (Patientin schweigt) Dass Sie sozusagen den Kummer (der Familie) ausgedrückt haben, den es natürlich auch schon vor der Trennung gab? P (133) (schüttelt den Kopf) Eigentlich weniger, nein. I (133) Nicht so? P (134) (schüttelt wiederum den Kopf) Nein. I (134) Hm. Wenn Sie sich wünschen könnten, die Menschen zu etwas zu bewegen … was würden Sie sich denn aus ihrem jetzigen inneren Zustand heraus wünschen … würden Sie die Menschen wieder zusammenbringen wollen? P (135) (lange Pause) Hm. So wie sie jetzt, wie sie (die Menschen) jetzt sind? I (135) Ja. P (136) Glaube ich nicht. I (136) Nicht? P (137) Weil ich denke, dass sich beide dafür zu doll verändert haben. I (137) Ja? P (138) Also zumindest meine Mutter, auf jeden Fall. I (138) Ja. P (139) Und ich denke, dass es nicht gut gehen würde, wenn man sie jetzt wieder zusammenbringen würde. I (139) Ja. Das klingt ja so, als ob Sie sehr die Endgültigkeit dieser Situation sehen, nicht wahr? Hm. Was denken Sie denn, wofür Ihre Appetitlosigkeit steht? (Patientin schweigt) Eine schwere Frage? P (140) Hm. (Pause) I (140) Aber manchmal hat man ja doch Zugang und spürt das Gefühl, was sich darin ausdrückt. P (141) (längere Pause) Ich weiß nicht. Vielleicht liegt es, hängt es damit zusammen, dass ich eben nicht mehr so aufgeschlossen oder auch fröhlich bin wie sonst, also, dass es damit zusammenhängt. 6
K
Nach diesen klaren Ausführungen der P war der I überzeugt davon, dass die P eine realitätsgerechte Auffassung der familiären Situation entwickelt hatte. Er bringt nochmals das Symptom (Essstörung) ins Spiel, um auch die Behandlungsbedürftigkeit abschätzen zu können.
177 8.2 · Diagnostik und Indikation für Psychotherapie
I (141) Hm. Dass sich eigentlich Traurigkeit und Hoffnungslosigkeit in Form von Appetitlosigkeit ausdrückt? P (142) Hm. (nickt etwas) I (142) Haben sich Ihre Träume verändert? (Patientin schweigt) Also träumen Sie Dinge, die im Zusammenhang stehen mit Ihrer jetzigen Situation? P (143) (kurze Pause) Ja, klar, also, ich, wünsche mir natürlich, dass ich das mit der Appetitlosigkeit irgendwann mal wieder loswerde, weil ich eigentlich gerne essen möchte, aber eben nicht essen kann. I (143) Hm. P (144) Aber, also im Allgemeinen, haben, dass es sich im Allgemeinen nicht … I (144) Hm. Was wäre denn, wenn Sie wieder kräftig und voller Appetit wären?
P (145) Ja, ich weiß nicht, dann, denke ich, werde ich, hm, lebenslustiger oder, hm, ja, ermutigter irgendwie, also nicht so lustlos wie ich es im Moment bin. I (145) Hm. P (146) Also mehr … I (146) Hm. Ist da was auch Verbotenes dabei? Oder gefährliches, wenn Sie wieder lebenslustig wären? P (147) (schüttelt den Kopf) Nein. I (147) Nein, hm. Haben Sie selbst einen Freund?
(schüttelt den Kopf) Im Moment nicht, nein. Hm. Es gab schon mal einen? Ja. (nickt) Sie waren auch schon mal richtig verliebt? Ja. (nickt, lächelt) Und wer ist denn für Sie im Moment die wichtigste Person? P (151) (Pause) Also einerseits meine Schwester … I (151) Hm. 6 P (148) I (148) P (149) I (149) P (150) I (150)
Ü
Vielleicht hat die P Träume, in denen sie ihre Erfahrungen symbolisiert.
K
Auf diesen Weg lässt sich die P nicht ein. Sie bringt jedoch bezüglich ihres Symptoms einen klaren Veränderungswunsch zum Ausdruck.
K
I fragt die P, ob sie eine bestimmte Funktion ihres Symptoms erkennen kann, die dazu beiträgt, dass es auch Sinn macht, das Symptom nicht aufzugeben.
K
Der I geht im Folgenden der Vermutung nach, dass sich die P unbewusst in eine Situation gebracht hat, die es unwahrscheinlich macht, dass sie sich, so wie die Mutter, von der Familie bzw. vom verlassenen Vater wegbewegt
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Kapitel 8 · Indikationsstellung
P (152) Mein Vater und, und, ja, eine Freundin von mir. I (152) Hm. Und haben sich andere Beziehungen verändert, deutlich verändert? Also sie haben sich ja mehr zurückgezogen, haben Sie erzählt. Ist dadurch etwas kaputtgegangen an Beziehungen oder Freundschaften, z. B. in der Schule? P (153) Ja, also, ich war ziemlich gut befreundet mit zwei Jungen aus meiner Klasse … I (153) Hm. P (154) … aber ich hab’ mit denen jetzt eher weniger Kontakt, weil ich einfach mich nicht mehr so mit denen verstehe, wie ich das mal getan habe. I (154) Hm. P (155) So von daher, also, ich bin noch nicht … also, früher war ich ziemlich eng mit einem aus meiner Klasse befreundet … I (155) Hm. P (156) … aber das hat sich jetzt auch so … (Es sind jetzt) mehr oberflächliche Freundschaften … I (156) Hm. P (157) Also sie sind wohl nicht mehr so intensiv, wie sie mal waren. I (157) Wie sind denn früher Ihre Freundschaften zu Jungen von Ihrer Mutter, aber auch Ihrem Vater aufgenommen worden? P (158) Ganz normal eigentlich, also. I (158) Hm. Also ich sag’ zunächst einmal den Hintergrund meiner Frage: Also, manche Väter halten es ja nun überhaupt nicht aus, wenn Ihre Tochter mit einem Freund ankommt. (Patientin lächelt) Und war so etwas von Ihrem Vater ausgehend? P (159) (schüttelt den Kopf) Nee, gar nicht. I (159) Gar nicht – und er hätte auch, wenn Sie … also ich bin immer noch bei der Frage, warum Sie eigentlich diejenige sind, die am meisten betroffen ist. P (160) Hm. I (160) Würde denn Ihr Vater in der jetzigen Situation, wo ihn ja seine Frau verlassen hat, es gut aushalten, wenn Sie einen Freund hätten, sich auch nach … so mehr zu seiner Familie hin orientierten und deutlich machten, dass es Ihnen damit gut geht? 6
179 8.2 · Diagnostik und Indikation für Psychotherapie
P (161) Ja, also, er fand’ es also … Ich war noch mit meinem Freund zusammen, als das mit meinen Eltern (passierte), also, sie sich getrennt haben, und in der Zeit danach war ich also am Wochenende meistens auch bei ihm mit in der Familie. I (161) Ja. P (162) Also da so als Familienmitglied eigentlich integriert. I (162) Hm. P (163) Also es war schon ’ne ziemlich intensive Freundschaft, aber, also, mein Vater meinte, dass er das gut fand’, dass ich mich da so wohlfühle, und dass ich da auch so Halt finde. Also, was heißt Halt, also, dass ich da einen Ersatz, eine Familie, sozusagen, eine intakte Familie finde, glaube ich. Also, er fand, er hat das jedenfalls mal gesagt, dass er das gut findet und er da also keine Bedenken hatte, irgendwie oder … I (163) Mich stimmt sehr bedenklich, dass Sie (diese Beziehung) doch aufgegeben haben, oder nicht? P (164) Ja. (nickt leicht) Ja. Aber das, also das waren andere Gründe, also … I (164) Ja. P (165) … ich hab’ mich nicht mehr so mit meinem Freund verstanden, wie ich’s mal getan hab. Und, na, ich hielt es für besser, mich dann von ihm zu trennen. (nickt) I (165) Also diese Freundschaft ist nach der Trennung Ihrer Eltern auch auseinandergegangen? P (166) (nickt) Ja. I (166) Hm. Und Sie sehen da keinen Zusammenhang? P (167) Nein, weil ich denke, dass das aus einem anderen Grund auseinandergegangen ist. Also, vielleicht, weil ich mich eben dadurch verändert habe. Und wenn man sich verändert, dann hat das vielleicht auch Auswirkungen auf ’ne Beziehung. Und ich denke, dass … I (167) Ja. 6
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Kapitel 8 · Indikationsstellung
P (168) … es bei mir so war, dass ich mich verändert hab’. Dass ich einfach nicht mehr mit ihm so zusammengepasst hab’, wie ich es mal getan hab’, oder dass wir uns so verstanden haben, wie wir uns mal verstanden haben. (presst die Lippen zusammen) I (168) Hm. P (169) Also ich denke, einen Zusammenhang gibt es da bestimmt. I (169) Ja, Ich würde Ihnen … Ich vermute ihn nur woanders, als Sie es tun. Also Sie sagen, ich bin so getroffen gewesen, habe mich daraufhin sehr zurückgezogen, und damit ist auch ist die Freundschaft anders geworden. So sehen Sie das, nicht wahr? P (170) (unterbricht) nee, es ist nicht nur das Zurückgezogene. Auch, dass ich, ja, die Art, ich weiß nicht, wie ich das sagen soll. Also … (überlegt): Ich würde sagen, ich lebe jetzt anders als ich vorher gelebt hab’. Also, ja, eben, wie man so sagt, ich weiß nicht, ernster eben und das … I (170) Ja? P (171) … das ist nicht nur das Zurückgezogene, sondern auch das ernster Werden. (beißt sich auf die Lippen) I (171) Ach so – Hm. Das hab’ ich, glaub’ ich, noch nicht ganz verstanden, was Sie mit »ernster« meinen. P (172) Ja, dass mir, also z. B. Schule war mir früher nicht sehr wichtig, das war mir auch nicht sehr ernst. I (172) Hm. P (173) Aber dass sich solche Dinge z. B. jetzt total verändert haben. Also das mit der Schule ist schon ziemlich wichtig, ist mir auch ernst. I (173) Ja. P (174) Und dass man also, ja, solche Dinge eben, dass die mir wesentlich ernster sind, als sie früher waren. Und das, so was mein’ ich damit, also ernster. I (174) Hm. P (175) Also, dass ich das nicht so locker nehm’, sondern dass ich … (Pause) 6
K
Die vom I eingebrachte Vermutung, die P ziehe sich aus Freundschaften zurück, um dem Vater zu versichern, dass sie ihn nicht verlassen werde, teilt die P nicht. Sie betont ihr »ernster Werden« und dass sich diese Veränderung nicht mit der bis dahin bestehenden Freundschaft vertrug.
181 8.2 · Diagnostik und Indikation für Psychotherapie
I (175) (Interviewer wendet sich an die anwesenden Studenten) Ich frag’ Sie mal einfach: Verstehen Sie genau, was mit ernster gemeint ist? Studen- Ich hab’ das so verstanden, dass Sie so die tin: Leichtigkeit und Unbeschwertheit verloren haben, und dass der Freund das eben nicht hat, dass es dann nicht mehr so passte. I (176) Ach so. Hm. (Zur Patientin gewendet): Ja? P (177) (nickt) Ja. Studen- Dass er sich vielleicht auch alleingelassen tin: gefühlt hat in diesem ernster Werden, dass er das gar nicht so mitfühlen konnte. I (177) Also, dass Sie, … (Interviewer sucht nach Worten) ja, ah ja, nun fehlen mir selbst die Vokabeln: (Verstehe ich Sie richtig), dass Sie sozusagen nicht unreflektiert irgendwelche Beziehungen leben wollen, sondern sich sagen: Ich muss mit mir und meinem Leben klarkommen. Das bedeutet auch einen Rückzug von Freundschaften, die man eingeht, wenn man verliebt ist oder so. Dass Sie sich jetzt mehr mit der Frage auseinandersetzen, wer bin ich denn da eigentlich, wenn ich ohne Beziehung bin? P (178) (nickt) Ja. I (178) Und dazu gehört auch, dass die Schule für Sie wichtiger geworden ist als früher? P (179) Ja.
Um Sequenz 180–182 gekürzt I (183) Was denken Sie denn, könnten Sie an Hilfe gebrauchen, in Ihrer jetzigen Situation? 6
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Dem I wird deutlich, dass er zu wenig beachtet hat, welche Ängste der Weggang der Mutter bei der P ausgelöst hat. Offensichtlich ist ihr erst dadurch bewusst geworden, welche Enttäuschung und Verletzungen Beziehungen mit sich bringen können. Der folgende Teil des Interviews befasst sich mit den Möglichkeiten und Vorstellungen der P, ihr Essproblem zu bewältigen. Ferner wird sie gefragt, ob sie sich mehr eine Behandlung des Symptoms oder der dahinter liegenden Probleme wünscht:
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Kapitel 8 · Indikationsstellung
P (184) (lange Pause) Wenn ich das wüsste! Keine Ahnung. Also auf jeden Fall Unterstützung, damit ich mein Gewicht eben halten kann, also … I (184) Hm. P (185) Dass ich erst mal wieder zunehme, und dass ich das dann auch halten kann. I (185) Da sagen Sie, der Umstand, dass Ihr Vater darauf besteht, dass Sie frühstücken, hilft schon etwas. Etwas, … P (186) (nickt) Ja. I (186) … aber nicht ausreichend, kann man das so sagen? P (187) Ja. Nun ist mein Vater aber den ganzen Tag nicht da. Also, es ist so, dass es … wenn ich keinen, wirklich keinen Hunger hab’, dass dann auch mein Vater da nich’ viel ausrichten kann. I (187) Hm. Und können Sie das irgendwo dran festmachen, was dazu führt, dass Sie gar keinen Hunger mehr haben? Denn es gibt ja offenbar auch Zeiten, wo Sie schon ein bisschen Appetit haben. P (188) (kurze Pause) Hm. Ich weiß nicht. Manchmal ist es schon so, wenn ich gar keinen Appetit … Dass ich das dann auch einfach vergesse. I (188) Ja. P (189) Also weil ich dann tagsüber in der Schule bin und dann nachmittags noch irgendwas vorhabe oder … I (189) Hm. P (190) So dass ich das dann einfach, ja, nicht vergesse, aber mich nicht dazu durchringe, dann irgendwie zwischendurch etwas zu essen oder so. I (190) Hm. P (191) Ja, morgens dann vielleicht, irgendwie … Ich weiß nicht, wenn mein Vater dann noch da ist, dass ich mich dann doch soweit durchringen kann, dass ich irgendwie was esse. Aber ich danach das nicht ernst genug seh’ oder verbissener daran geh’ und sage: ich muss was essen oder … ich weiß nicht, woran man das festmachen kann, ich weiß es nicht! 6
183 8.2 · Diagnostik und Indikation für Psychotherapie
I (191) Das letzte habe ich nicht verstanden: Sie müssten das verbissener sehen? P (192) Ja, dass ich mich wirklich zwinge, irgendwas zu essen, dass ich das … I (192) Ja. P (193) … solche Dinge, also. P (194) Ich weiß nicht. Ich schätze, vielleicht ein bisschen mehr, aber ich weiß nicht, wie sehr ich mich zwingen müsste. Also ich tu’s nicht oft. I (194) Hm. Aber wenn Sie sich zwingen, können Sie sich dann auch erfolgreich zwingen? P (195) Hm. (nickt) Ja. (zögernd) I (195) Ja? P (196) Also es kommt drauf an. Manchmal ja, manchmal auch nicht. I (196) Manchmal auch nicht. Hm. Und was könnte Sie denn dazu bringen, dass Sie sich mehr zwingen? P (197) (schüttelt den Kopf) Weiß ich nich’. I (197) Hm. P (198) Kann ich nich’ sagen. I (198) Was sagt denn Ihre Ärztin? Wieviel sollten Sie wiegen, damit Ihr Kreislauf und andere Dinge nicht gefährdet sind? P (199) Das hat sie mir so gar nicht gesagt. Sie hat mich einfach nur angeguckt und hat mich dann überwiesen, das war so … I (199) Ja? P (200) … ein Gewicht hat sie eigentlich nicht genannt. Sie meinte: erst mal nur zunehmen! I (200) Ja. P (201) Also. I (201) Und haben Sie eine Idealvorstellung für Ihr Idealgewicht? P (202) Also ich wog früher, achtundfünfzig bis sechzig, damit war ich zufrieden. I (202) Ah ja. Also rund zehn Kilo mehr als jetzt. P (203) (nickt) Ja. I (203) Hm. Und ist Ihnen gesagt worden, welche Untergrenze Sie auf keinen Fall unterschreiten sollten, damit Sie keine Gesundheitsschäden nehmen? P (204) Also mir wurde gesagt, bei meiner Größe wäre, also … alles was so unter fünfzig und achtundvierzig wäre, wäre dann schon … 6
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Kapitel 8 · Indikationsstellung
I (204) Ja. P (205) … also ein bisschen doch im gefährdeten Bereich. I (205) Hm, d. h. es würde genügen, wenn Sie sich zwingen, dass Sie fünfzig Kilo erreichen? P (206) (nickt ein wenig) Hm. I (206) Ja. Könnten Sie sich das denn vorstellen? P (207) (längere Pause) Ja, ich denke … also ich fand’ es jetzt schon schwer, das mit den drei Kilo so zu schaffen, dass ich jetzt annähernd an die fünfzig herankomme. I (207) Hm. P (208) Aber ich, ich weiß nicht, ich könnt’ es mir schon vorstellen, aber ich denk’, es wird, glaube ich, viel Zwang erfordern. I (208) Hm. Haben Sie sich Gedanken darüber gemacht oder Vorstellungen dazu entwickelt, wie eine Behandlung aussehen könnte und ob sie überhaupt eine haben möchten? P (209) (kurze Pause) Also, dass ich eine haben möchte (überlegt einen Moment) … Ich denke, dass ich mir alleine nicht mehr so helfen kann. I (209) Ah, ja. Hm. P (210) Aber wie Sie konkret aussieht, also, eine Vorstellung hab’ ich nicht. I (210) Hm. Na ja, ich denke, es ist zu klären, ob Sie sich vorstellen, eine Behandlung sollte sich sehr darauf konzentrieren, dass sich Ihr Essverhalten wieder normalisiert und dass Sie auf ein einigermaßen vertretbares Gewicht kommen oder … könnten Sie sich vorstellen, dass Sie zu jemanden gehen, wo Sie Gespräche führen, in denen Ihre Gesamtsituation, Ihre seelische Gesamtsituation, also auch Ihre Stimmungen und so, Thema werden? Oder auch die Fragen, die ich bereits aufgeworfen habe, z. B. die, was Sie jetzt daran hindert – was sie früher ja konnten – Ihrer Mutter zu sagen: Das hat mich sehr verletzt, liebe Mutter, denn ich fühle mich von dir im Stich gelassen, es macht mich auch wütend, all’ so was … Ich habe Ihnen zwei Möglichkeiten wie zwei Pole dargestellt. Könnten Sie sich vorstellen, welcher Ihnen lieber wäre? Oder möchten Sie beides, das wäre ja auch vorstellbar? 6
185 8.2 · Diagnostik und Indikation für Psychotherapie
P (211) Hm. Ich denke, beides wäre, würde ich sagen, vielleicht noch am besten. Ich weiß nicht, ob ich, ob, also … Ich denke auf jeden Fall, die zweite Variante wäre … I (211) Hm. P (212) .. erforderlich, weil ich denke, wenn ich mich mit meiner Situation mehr auseinandersetze, dass ich dann vielleicht auch dadurch mein, ja mein Essproblem … I (212) Ja? P (213) … in den Griff kriege. I (213) Ja. P (214) Also ich weiß nich’, ob es dann wirklich ausreicht. I (214) Hm. Gibt’s beim Essproblem mehr als diese Appetitlosigkeit, die dann auch zu Ihrem Untergewicht führt? Manche müssen sich nach jedem Essen automatisch übergeben. Haben Sie solche Probleme? P (215) Hm. Die hatte ich. Ja, also eine Zeitlang war es so, dass ich, wenn ich was gegessen hab’, dann … I (215) Hm. P (216) Das sofort wieder losgeworden bin, eigentlich. I (216) Hm. Und hat der jetzige Zustand andere Körperfunktionen beeinträchtigt? Ist die Regel weggeblieben? P (217) (nickt) Ja. Also als ich auf diesen sechsundvierzig Kilo war. I (217) Damals war es so? Und jetzt? P (218) Ist es wieder, hat sich wieder normalisiert.
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Das Interview endet mit einigen Fragen der anwesenden Studierenden zum Essverhalten in der Familie. Der I sagt der P, dass er ihr zu einer zeitlich begrenzten Psychotherapie rät und ihr eine Therapeutin empfehlen wird. Er nennt ihr einen Tag später die Anschrift einer Gesprächspsychotherapeutin. Über das Ergebnis der Indikationsstellung für eine Gesprächspsychotherapie wird später (7 Kap. 8.3.4) berichtet.
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Kapitel 8 · Indikationsstellung
8.2.6
Auswertung des Indikationsinterviews
Das Interview sollte zum einen eine diagnostische Abklärung und zum anderen eine Behandlungsempfehlung ermöglichen.
Diagnose nach ICD-10
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Die Einordnung der Störung der Patientin nach ICD-10 erweist sich als wenig problematisch. Das Problem, das die Patientin beklagt, ihre Essstörung, steht eindeutig im Zusammenhang mit einer für sie überraschenden und einschneidenden Veränderung ihrer Lebenssituation: Die Mutter verlässt die Familie wegen eines anderen Mannes. Sie zieht aus und lässt die Patientin, die Schwester der Patientin und ihren Mann in einer halbleeren Wohnung zurück. Die Patienten reagiert auf diese für sie unerwartete Trennung mit der Ausbildung einer Belastungsstörung, bei der nicht – wie sonst meistens – Depression und Angst im Vordergrund stehen, sondern eine Essstörung mit der Folge von deutlichem (19%) Untergewicht: Zusätzlich zur ICD-10-Diagnose »Anpassungsstörung mit sonstigen spezifischen Symptomen« F43.28 ist die Diagnose »psychogen bedingter Appetitverlust« F50.8 zu stellen. Bei beiden Diagnosen gilt Psychotherapie als die Behandlung der Wahl, beide sind »Anwendungsbereiche für Psychotherapie« im Sinne der Kassenärztlichen Bundesvereinigung (KBV) und des Wissenschaftlichen Beirats Psychotherapie (7 Kap. 8.1.1 und 8.1.2). Differenzialdiagnostische Überlegungen spielen im vorliegenden Fall keine größere Rolle. Die Patientin war von der Hausärztin an die Psychiatrische Poliklinik überwiesen worden, weil es keine Hinweise auf eine organische Ursache der Essstörung gab. Als psychische Ursache für die Essstörung wäre noch eine Depression, z. B. ICD-10 F32.01 (»depressive Episode mit somatischem Syndrom«), in Frage gekommen. Die Patientin wirkte zwar im Interview depressiv, aber die von ihr geschilderten Beschwerden erfüllten nicht die Kriterien für die Diagnose einer unabhängig von der Belastungsreaktion bestehenden depressiven Störung. Hinweise auf andere psychische Erkrankungen, die als Ursachen für die Essstörung in Frage kämen, ergaben sich im Interview nicht.
Diagnose der Selbstfunktionen Das Interview wurde auch mit der Frage durchgeführt, ob Psychotherapie eine für die Patientin und ihre Störung geeignete Behandlung sein könnte. Generell gilt als Voraussetzung für eine psychotherapeutische Behandlung, dass der Patient über ein ausreichend stabiles Selbst oder Ich verfügt, so dass die mit einer Psychotherapie verbundenen Belastungen nicht zu einer psychischen Dekompensation führen. Das vierte Kriterium für die Indikation einer Gesprächspsychotherapie (7 Kap. 8.3) lautet: »Es ist ein ausreichend stabiles Selbstkonzept und ein gewisses Ausmaß an Beziehungsfähigkeit zu sich selbst gegeben« Im Interview dienten vor allem die Fragen 23, 54, 60, 64 ff. und 128 der Einschätzung der Funktionen des Selbst. Wenn man bei der Beurteilung der Stabilität des Selbst der Patientin die Kriterien der Strukturachse der OPD zugrunde legt (7 Kap. 8.2.3), kommt man zu dem Schluss, dass die Patientin über ein »gut integriertes Selbst« verfügt: 4 Die Patientin ist weitgehend »autonom«: Die Patientin erlebt sich abgegrenzt von dem Erleben anderer. Sie unterscheidet klar zwischen ihrem Erleben und dem ihrer Mutter, dem ihres Vaters und dem ihrer Schwester. Die Vermutung der Mutter, sie würde wegen einer selbst gewählten Diät abnehmen, kann sie als falsch zurückweisen. 4 Sie verfügt über »selbstregulierende Funktionen«: eine Steuerungsfähigkeit für Impulse und Affekte ist vorhanden. Es ist z. B. nicht zu befürchten, dass die durchaus vorhandene Enttäuschungswut der Patientin unkontrolliert ausbricht. 4 Sie hat ein »strenges, aber integriertes Gewissen«: Die Patientin fürchtet sich z. B., der Mutter ungerechtfertigte Vorwürfe zu machen (Frage 95 ff.). 4 Sie verfügt über »selbstreflexive Fähigkeiten und ein Identitätsgefühl«: Auch wenn die Patientin in diesem Interview zur Selbstexploration überwiegend »angestoßen« werden muss, steht ihre Fähigkeit zur Selbstreflexion außer Zweifel. Es gibt im Interview auch keine Hinweise auf ein mangelndes Identitätsgefühl. Die Patientin berichtet, dass die Krise zu einer erhöhten Selbst-
187 8.2 · Diagnostik und Indikation für Psychotherapie
reflexion beigetragen habe: Sie umschreibt das damit, dass sie »ernsthafter« geworden sei (Interview-Nr. 70 ff.). 4 Leitaffekte: Angst und Trauer stehen im Vordergrund des Erlebens der Patientin. Im Rahmen der Strukturachse der OPD werden die Funktionen Selbstwahrnehmung, Selbststeuerung, Abwehr, Objektwahrnehmung, Kommunikation und Bindung unterschieden. In den Bereichen Selbstwahrnehmung, Selbststeuerung, Abwehr und Objektwahrnehmung erscheint die Patientin im Interview als »gut integriert«. Das Kommunikationsbedürfnis der Patientin scheint etwas eingeschränkt zu sein. Das könnte sowohl eine Folge der traumatischen Erfahrung sein, als auch mit der Interviewsituation zu tun haben: Die Patientin wurde von einem ihr unbekannten Interviewer vor laufender Kamera im Beisein von acht ihr ebenfalls nicht bekannten Studenten befragt. Es ist schwierig, allein auf der Grundlage des Erstinterviews die allgemeine Bindungsfähigkeit der Patientin einzuschätzen, zumal das Erleben der Patientin in diesem Bereich auch noch von der Trennung der Mutter von der Familie überschattet wird. Es gibt Anzeichen dafür, dass nach dem Auszug der Mutter bei der Patientin Beziehungsängste aufgetaucht sind. Eine ist die Angst der Patienten, von der Mutter endgültig verlassen zu werden, wenn sie ihr Vorwürfe macht. Ein anderes Anzeichen könnte die Trennung der Patientin von ihrem Freund sein, mit der sie einem erneuten Verlassenwerden möglicherweise zuvor kommen wollte. Der Frage nach der Bindungssicherheit der Patientin wird nochmals im Rahmen des Eingangsinterviews nachgegangen werden, das die Psychotherapeutin durchführt, zu der die Patientin überwiesen wird.
Überlegungen zu einer differenziellen Psychotherapieindikation Die Indikation für eine Psychotherapie liegt bei dieser Patientin auf der Hand: Sie leidet an einer Psychotherapie-indikativen Störung: Ihre Essstörung ist zweifelsfrei durch eine psychische Belastung ausgelöst worden. Für eine Psychotherapie spricht auch die Dauer der Störung: Die Symptome einer Anpassungsstörung bilden sich ohne Behandlung in der Regel in-
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nerhalb von sechs Monaten zurück. Bei der Patientin liegt das belastende Ereignis bereits zehn Monate zurück. Es besteht die Gefahr einer Chronifizierung, der durch eine Psychotherapie vorzubeugen ist. Es bleibt noch zu erörtern, welche Therapie und wie viel Therapie angemessen erscheinen. Die Patientin machte auf alle am Interview Beteiligten einen psychisch recht stabilen Eindruck. Sie war auch in den im Interview sichtbar gewordenen Persönlichkeitsbereichen als stabil zu beurteilen, wie die obige Diagnose der Selbstfunktionen zeigt. Es ist bekannt, dass für die Behebung von Anpassungsstörungen im Allgemeinen ein relativ geringer Behandlungsumfang erforderlich ist. Vor diesem Hintergrund war es nahe liegend, eine zeitlich limitierte Therapie im Sinne einer Kurztherapie ins Auge zu fassen. Das würde auch dem jugendlichen Alter der Patientin und ihrer schulischen Situation Rechnung tragen: Der Schulabschluss (Abitur) steht noch bevor und die Entscheidungen über die Zeit danach stehen noch aus. Als Behandlungsverfahren kommen eine Verhaltenstherapie als Kurztherapie, eine psychodynamische Kurztherapie, z. B. eine Fokaltherapie, aber auch eine zeitlich limitierte Gesprächspsychotherapie in Frage. Eine Familientherapie scheint wegen der akuten familiären Situation nicht indiziert zu sein. Für eine Verhaltenstherapie spricht die Verbesserung der Esssymptomatik allein in der Folge davon, dass sich der Vater intensiver um das Essverhalten seiner Tochter kümmerte. Ausschlaggebend für die Therapieempfehlung wurde letztlich die Aussage der Patientin, dass ihr sehr viel an einer »Klärung ihrer Situation« liege. Sie schien für die Empfehlung eines einsichtsorientierten Verfahrens zu sprechen. Dem Interviewer ist zum Untersuchungszeitpunkt kein psychodynamisch/psychoanalytischer Psychotherapeut bekannt, der Kurzzeitbehandlungen durchführt und in absehbarer Zeit einen Therapieplatz zur Verfügung stellen könnte. Auch deshalb empfiehlt er eine niedergelassene Gesprächspsychotherapeutin, von der bekannt ist, dass sie Frauen mit Essstörungen erfolgreich behandelt, und die es vermutlich ermöglichen könnte, bald mit einer zeitlich begrenzten Therapie zu beginnen. Über die Behandlungsaufnahme sollte nach einem Erstgespräch
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Kapitel 8 · Indikationsstellung
und probatorischen Sitzungen endgültig entschieden werden. Die Patientin war mit dieser Empfehlung und den damit verbundenen Regelungen einverstanden. Es kam zu einer Behandlungsvereinbarung. Den Verlauf und das Ergebnis dieser zeitlich limitierten Gesprächspsychotherapie stellen wir im 7 Kap. 9.6 dar.
Indikation und Prognose einer Gesprächspsychotherapie
8.3
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Im 7 Kap. 8.2 ist dargestellt worden, welche allgemeinen Kriterien für die Indikation einer Psychotherapie als Behandlung der Wahl erfüllt sein sollten. Im Folgenden soll die Erstellung der Indikation für eine Gesprächspsychotherapie als Einzeltherapie behandelt werden. Dabei werden nicht nur die allgemeinen, sondern auch die verfahrensspezifischen Indikationskriterien, sowie die allgemeinen und verfahrensspezifischen Prognosekriterien geprüft. Das Vorgehen bei der Prüfung der Frage, ob möglicherweise auch ein anderes Therapieverfahren als Gesprächspsychotherapie für den Patienten geeignet wäre, d. h. die Frage einer differenziellen Therapieindikation, wird im 7 Kap. 8.4 behandelt.
8.3.1
Hinweise zur Gestaltung des Interviews
Das Indikationsgespräch hat zum Ziel, die Informationen zu erheben, die erforderlich sind, um die Kriterien für Indikation und Prognose prüfen zu können. Für einen Antrag auf Übernahme der Behandlungskosten durch eine Krankenkasse werden außer zur Indikation (8) und zur Prognose (10) Angaben zu folgenden Punkten gefordert: Erforderliche Angaben für einen Antrag auf Erstattung der Behandlungskosten durch eine Krankenkasse 1. Angaben zur Person des Patienten 2. Frühere Behandlungen 3. Anlass des Behandlungswunsches aus der Sicht des Patienten (geklagte Beschwerden)
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4. Überweisungskontext 5. Befunde 5 Medizinische Befunde 5 Psychischer Befund 5 Diagnose nach ICD-10 (bzw. DSM-III-R) 6. Anamnese 5 Vorgeschichte/Lebensgeschichte 5 Aktuelle Situation 7. Überlegungen zur Genese der Krankheit und zur auslösenden Situation 8. Indikation 9. Planung der Behandlung: formal und inhaltlich 10. Prognose
Es werden also sowohl Sachinformationen (»Welche Behandlungen hatten Sie bisher?«) als auch persönliche Erfahrungen, Einschätzungen und Stellungnahmen (»Sehen Sie einen Zusammenhang zwischen ihrer Essstörung und dem Weggang ihrer Mutter?«) erfragt. Der Interviewer fragt nach vertraulichen persönlichen Daten und nach Erfahrungen, die für den Patienten belastend, schmerzlich, peinlich usw. waren oder es noch sind. Das setzt eine Beziehung zwischen Patient und Interviewer voraus, eine Basis für ein gewisses Ausmaß an Vertrauen des Patienten in den Interviewer und sein Vorgehen. Diese Beziehung ist in der Regel nicht von vornherein gegeben, sondern entwickelt sich erst im Verlauf des Erstgespräches. Auf ihre Entwicklung wirken die unterschiedlichsten Faktoren in komplexer Art und Weise ein, auch solche, die sich einer willkürlichen Einflussnahme entziehen, wie der sog. »erste Eindruck«, den eine Person von einer anderen schon in den ersten Sekunden einer Begegnung gewinnt. Daneben gibt es Voraussetzungen, deren Herstellung für die Entwicklung einer vertrauensvollen Beziehung förderlich ist. Zu ihnen gehört der äußere Rahmen, in dem das Gespräch stattfindet. Zwei Prinzipien haben sich bewährt:
189 8.3 · Indikation und Prognose einer Gesprächspsychotherapie
! Prinzipien für die Gestaltung des äußeren Rahmens von Indikationsgesprächen sind: 4 eine ausreichende, aber möglichst geringe Strukturierung der Situation und 4 ausreichend Raum und Zeit für den Patienten, sich und seine Probleme darzustellen.
Räumlichkeiten Die Frage der Strukturierung beginnt schon mit dem Raum, in dem das Indikationsinterview geführt wird. Er sollte wohnlich, aber nicht zu persönlich ausgestattet sein. Er sollte frei sein von Gegenständen, die unübersehbar Ausdruck der Privatinteressen des Interviewers sind, z. B. von Vitrinen mit seiner Mineraliensammlung. Solche Selbstdarstellungen fördern die Tendenz von Patienten, sich Gedanken über die Person des Interviewers zu machen, und erschweren die gewünschte Selbstreflexion (Junker & Waßner, 1984). Wenn der Raum zugleich das Arbeitszimmer des Interviewers ist, sollte außer dessen Schreibtisch noch ein weiterer Tisch mit zwei Stühlen vorhanden sein, an dem der Interviewer und der Patient »über Eck« sitzen können. Diese Sitzposition erzwingt nicht nur nicht den Blick auf die Rückseiten der privaten Fotos des Interviewers, wie man es in jedem Film sehen kann, sondern auch keinen direkten Blickkontakt, der aber, wenn er gewollt ist, jederzeit hergestellt werden kann. Zur notwendigen Strukturierung der Situation durch den Therapeuten gehört es, dass er den Zeitpunkt des Treffens mit dem Patienten abspricht und die maximale Dauer des Gesprächs vorgibt, in der Regel eine Stunde. Er sollte den Patienten auch darüber aufklären, ob ggf. weitere Gespräche geführt werden können. Es empfiehlt sich, den Patienten an der Tür zu begrüßen und ihm den für ihn vorgesehenen Stuhl anzubieten. Folgt man dieser Empfehlung nicht, kann man in eine Situation kommen wie ein Kollege, der hinter seinem Schreibtisch saß und telefonierte, als der Patient an seine Tür klopfte. Er rief »Herein« und bedeutete von seinem Schreibtisch aus mit einer einladenden Handbewegung dem Patienten, am Tisch mit den beiden Stühlen Platz zu nehmen. Als er sein Telefonat beendet hatte, stellte er fest, dass der Patient auf dem »Therapeutenstuhl« Platz genommen hatte. Diese »Fehlplatzierung« beschäftigte den
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Therapeuten nicht nur in der Situation ungemein, sondern er war auch in einer kollegialen Fallbesprechung, in der er das Interview vorstellte, nur mühsam davon abzubringen, weit reichende diagnostische Schlüsse aus ihr zu ziehen. Zu den praktischen Maßnahmen, die es erleichtern, dem Patienten die notwendige Aufmerksamkeit zukommen zu lassen und ihm ausreichend Raum für die Darstellung seiner Probleme zu geben, gehört die Ausschaltung der üblichen Quellen von Störungen: Das Telefon sollte während des Interviews am besten gar nicht klingeln können (»Rufumleitung«), und wenn der Anrufbeantworter eingeschaltet ist, sollte dieser bei einem Anruf stumm bleiben. An der Tür sollte außen ein gut sichtbares Schild hängen, das Störungen abweist. Die Lichtverhältnisse im Untersuchungszimmer sollten so sein, dass sowohl der Interviewer als auch der Patient die Mimik des jeweils anderen unschwer erkennen können.
Persönliche Vorbereitungen des Interviewers Sollte sich der Interviewer auf das Erstgespräch vorbereiten? Viele Interviewer verzichten so weit wie möglich darauf, Informationen den Patienten betreffend zur Kenntnis zu nehmen, die über das Geschlecht, das Alter und das Anliegen des Patienten – meistens der Wunsch nach Behandlung einer bestimmten Symptomatik – hinausgehen. Sie lehnen es ab, vorhandene Krankenblätter einzusehen, Krankenakten oder ausführliche Überweisungsberichte zu lesen. Sie wollen sich ein eigenes Urteil bilden und sich nicht der Gefahr aussetzen, von bereits gestellten Diagnosen, Prognosen und der Schilderung von missglückten Behandlungsverläufen beeindruckt zu werden. Ein Vergleich der eigenen Auffassung mit den bereits vorliegenden Meinungen sollte jedoch im Nachhinein stattfinden. Wenn sich dabei erhebliche Diskrepanzen ergeben, ist deren Ursachen nachzugehen. Sehr viel wichtiger als der Umgang mit Vorinformationen über den Patienten ist die »innere Vorbereitung« auf ein Indikationsgespräch. Der Interviewer sollte die Zeit, die er für das Erstgespräch vorgesehen hat, auch tatsächlich zur Verfügung haben, d. h. er sollte sich gedanklich und emotional
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Kapitel 8 · Indikationsstellung
voll und ganz dem Patienten widmen können. Viele Patienten, vor allem solche mit einer Depressionsoder Schuldproblematik, registrieren seismographisch die Befindlichkeit ihres Interviewers und reagieren darauf, wenn der Interviewer sich innerlich nicht von einem Problem trennen kann, so dass es ihn auch in der Interviewsituation weiter beschäftigt und ihn z. B. in eine gewisse körperliche Anspannung versetzt. Die Patienten richten ihre Aufmerksamkeit dann weniger auf die eigene Person, sondern befassen sich – oft ohne dass es ihnen bewusst wird – mit dem Interviewer und dessen Belastbarkeit bzw. mit der Frage, wie sehr ihn die Probleme belasten könnten, die sie haben.
Eingangssituation
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Auch bezüglich der Eröffnung des Indikationsinterviews gilt das Prinzip: so wenig Strukturierung wie möglich! Eröffnungsformeln wie: »Was fehlt Ihnen?« oder »Welche Beschwerden haben Sie?« sind sehr strukturierend und wenig einladend und daher nicht zu empfehlen. Auch vor einer Formulierung wie: »Womit kann ich Ihnen helfen?« ist zu warnen. Sie enthält ein Versprechen, von dem der Interviewer nicht wissen kann, ob er es wird einlösen können. Und es könnte ihm passieren, was einem Kollegen widerfahren ist, dass nämlich der Patient antwortet: »Gar nicht, denn mir ist nicht zu helfen«, um dann von seinen vergeblichen Versuchen zu erzählen, Hilfe von anderen Therapeuten zu erhalten. ! Es hat sich bewährt, für die Eröffnung des Erstgesprächs eine möglichst offene Formulierung zu benutzen, z. B. »Was führt Sie zu mir?«, wenn man den Anlass nicht kennt, oder sich dem Patienten mit einem freundlich einladenden »Ja« zuzuwenden und ihm damit Gelegenheit zu einer spontanen Selbstdarstellung zu geben.
Für manche Patienten ist aber ein solches Signal, das Gespräch mit dem Thema zu eröffnen, das sie selbst für richtig und wichtig erachten, eine Überforderung. Sie sitzen dann ängstlich und stumm auf ihrem Stuhl und benötigen Hilfe zur Überwindung dieser anfänglichen Angst. Für manche Patienten ist es hilfreich, das direkt anzusprechen, z. B. in der Form: »Sehe ich das richtig: Fällt es Ihnen im Moment schwer, zu sprechen?« – »Ist es Ihnen lieber, wenn ich direkte Fragen an Sie richte?«
Es empfiehlt sich also im Hinblick auf das Ausmaß an Strukturierung der Erstinterviewsituation »klientenzentriert« vorzugehen, d. h. sich nach den Möglichkeiten des Patienten zu richten.
Zeitliche Strukturierung Zur notwendigen Strukturierung der Interviewsituation gehört es auch, dass der Interviewer die Verantwortung für die Zeit übernimmt. Er sollte den Patienten z. B. darauf hinweisen, dass sich die vereinbarte Zeit für das Gespräch dem Ende zu neigt (»Unsere Zeit ist bald um. Gibt es einen Punkt, den Sie noch gern zur Sprache bringen möchten?«), oder den Abschluss ankündigen. Dabei sollte er sich selbst darüber im Klaren sein, ob das Gespräch ausgereicht hat, alle relevanten Informationen zu erheben bzw. ein klares Bild entstehen zu lassen, oder ob ein weiterer Termin erforderlich ist. Auch wenn das geführte Gespräch für den Interviewer ausreichend war, sollte er nicht versäumen zu fragen, ob das auch für den Patienten so ist. Viele Psychotherapeuten planen immer zwei Erstinterviewtermine ein. Sie finden es wichtig, den »ersten Eindruck« zu überprüfen, und wollen ausreichend Zeit haben, die Ergebnisse des Interviews mit dem Patienten zu besprechen. Diese Regelung ist vor allem dann sinnvoll, wenn der Erstinterviewer nicht auch der Therapeut sein wird, sondern nur eine Behandlungsempfehlung geben bzw. eine Überweisung vornehmen wird. Wenn der Erstinterviewer möglicherweise auch der Therapeut für den Patienten ist, dann hat er die Möglichkeit, sein Urteil in den folgenden probatorischen Sitzungen zu festigen bzw. zu revidieren, bevor er eine Behandlungsvereinbarung mit dem Patienten trifft.
Inhaltliche Strukturierung Wir empfehlen den Erstinterviewern, die eine spätere Therapie nicht selbst durchführen, sondern nur eine Behandlungsempfehlung aussprechen werden, eine Zweiteilung des Indikationsinterviews. Sie kann innerhalb eines einzigen Gespräches oder in zwei aufeinander folgenden Gesprächen stattfinden. Der erste Teil dient der Kontaktaufnahme und einer Exploration bezüglich der oben genannten Bereiche 1. bis 6. im Kasten »Erforderliche Angaben für einen Antrag auf Übernahme der Kosten durch eine Krankenkasse«.
191 8.3 · Indikation und Prognose einer Gesprächspsychotherapie
Der zweite Teil wird in Form einer »Probetherapie« durchgeführt, um die mit den Bereichen 7. bis 10. zusammenhängenden Fragen hinreichend sicher beantworten zu können. Ein solches Vorgehen ermöglicht die hinreichend sichere Einschätzung der für die Prognose wichtigen Therapieprozesskriterien (7 Kap. 8.2.4) wie Selbstreflexion und Selbstexploration. Wenn der Interviewer überprüfen will, ob er selbst die Behandlung des Patienten übernehmen kann, wird er versuchen, die Antworten auf diese Fragen in den probatorischen Sitzungen zu finden.
8.3.2
Indikationsstellung und Prognose
Die spezifische Indikation für eine Gesprächspsychotherapie und ihre Prognose erfolgen in der Regel anhand von vier Kriterien (Biermann-Ratjen et al., 2003, S. 171).
Indikationskriterien für eine Gesprächspsychotherapie 1. Die Störung ist eine psychische, die eine Inkongruenz zur Grundlage hat. 2. Der Patient nimmt seine Inkongruenz zumindest im Ansatz als solche wahr, und diese Wahrnehmung ist mit einem Wunsch nach Veränderung verbunden. 3. Es sind ein Selbstkonzept und ein gewisses Ausmaß an Beziehungsfähigkeit zu sich selbst beim Patienten gegeben.
Prognosekriterium für eine Gesprächspsychotherapie 4. Der Patient kann das gesprächspsychotherapeutische Beziehungsangebot zumindest in Ansätzen wahrnehmen und annehmen.
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1. Indikationskriterium: Liegt eine Störung vor, die eine Inkongruenz zur Grundlage hat? Der erste Schritt bei der Erstellung einer Indikation besteht in der Klärung der Frage, ob die Beschwerden des Patienten die Kriterien für eine Psychotherapie-indikative Diagnose erfüllen. In aller Regel wird diese Frage durch eine Diagnose nach ICD-10 (7 Kap. 8.2.3) beantwortet: ICD-10-Diagnosen beinhalten dann die Diagnose von Inkongruenz, wenn sich die Symptome auf eine Inkongruenz zwischen der Erfahrung des Organismus als Ganzem und dem Selbstkonzept zurückführen lassen. Das ist bei den Störungen aus den so genannten klassischen Anwendungsfeldern, den früheren neurotischen Störungen, jeweils der Fall. Wann liegt keine Inkongruenz vor? Es ist z. B. dann
nicht von Inkongruenz auszugehen, wenn die Beschwerden Symptome einer organischen, wie einer hirnorganischen Beeinträchtigung sind, wie einer vaskulären Demenz (ICD-10: F01). Auch Störungen, die Ausdruck eines fragilen Selbst sind, was für die meisten psychotischen Erkrankungen gilt, lassen sich nicht nur durch die Inkongruenz von Erfahrung und Selbst erklären. Psychotische Störungen sind Störungen des Selbsterlebens und nicht Ausdruck einer Inkongruenz zwischen Selbst und Erfahrung (7 Kap. 5.2). Ausnahmen sind die sich in der Regel schnell zurückbildenden psychotischen Symptome, z. B. Depersonalisations- und Derealisationserlebnisse oder paranoide Vorstellungen, wie sie im Rahmen einer Borderline-Persönlichkeitsstörung auftreten können. Nicht selten suchen Menschen um psychotherapeutische Hilfe nach, deren Beschwerden zwar psychischer Natur sind, sich aber nicht durch das Vorliegen von Inkongruenz erklären lassen. Das sollen die beiden folgenden Fallbeispiele illustrieren. Die Inkongruenz versperrt den Blick auf das Problem. Häufig tragen Patienten einen Therapiewunsch
Wie lassen sich diese Kriterien in der Praxis bestimmen?
vor, bei denen zwar Inkongruenz vorliegt, die aber vor allem dazu führt, dass sie ihr eigentliches Problem oder die Ursachen für ihre Probleme und Beschwerden nicht richtig oder nur unvollständig wahrnehmen. Wenn eine solche Inkongruenz in
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Kapitel 8 · Indikationsstellung
Fallvignette
Die verlassene Hausfrau
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Eine 45-jährige Frau wird von ihrem Hausarzt mit der Verdachtsdiagnose »reaktive Depression« und der Frage nach einer Psychotherapie an eine Psychiatrisch-psychotherapeutische Poliklinik überwiesen. Im Indikationsgespräch berichtet die Patientin, dass sie sich chronisch erschöpft, niedergedrückt und überanstrengt fühle. Bei der Schilderung ihrer aktuellen Lebensumstände stellt sich heraus, dass ihr Ehemann sie und ihre drei noch nicht volljährigen Kinder vor einem Jahr verlassen hat. Da der Ehemann bisher keine Unterhaltszahlung geleistet hat, hat sie ihre Erwerbstätigkeit wieder aufgenommenen. Zur Versorgung des Haushalts mit drei Kindern ist die Alleinverantwortung für alle finanziellen und sonstigen Verwaltungsaufgaben für sich und ihre Familie hinzugekommen. Sie berichtet, kaum Schlaf zu finden und sich nicht entspannen zu können, weil sie aus »dem Grübeln und Planen« nicht herauskäme. Die untersuchende Psychologin kommt diagnostisch zu dem Schluss, dass die Kriterien einer depressiven Störung nicht erfüllt sind. Auch die Diagnose »Anpassungsstörung« (ICD-10: F 43.2) wäre unzutreffend, da die Belastungen weiterhin bestehen bzw. neue hinzugekommen sind: Die Patientin fühlt sich von zusätzlichen Pflichten und Aufgaben zeitlich und emotional überfordert. Die Psychologin diagnostiziert ein Erschöpfungssyndrom, rät der Patientin nicht zu einer Psychotherapie,
wenigen Sitzungen aufgehoben werden kann, dann stellt sich nicht selten heraus, dass der Patient zwar eine Behandlung braucht, aber nicht unbedingt Psychotherapie. Es gibt sogar Fälle, bei denen mit der Problemklärung auch das Problem bzw. die mit ihm verbundene Symptomatik verschwindet. Ein solcher Klärungsprozess, bei dem der Interviewer gesprächspsychotherapeutisch vorgeht, beansprucht meist mehr als eine Sitzung. Die folgenden Fallbeispiele dienen der Illustration solcher zu klärenden Probleme:
sondern erörtert mit ihr, ob nicht ein Anwalt, eine Haushaltshilfe oder finanzielle Unterstützung von dritter Seite ihr eher helfen können.
Der Lehrling in der falschen Ausbildung Ein Lehrling war von seiner besorgten Mutter wegen seiner »Verhaltensstörung« zum Arzt geschickt worden. Er konnte sich im Betrieb zunehmend weniger auf die ihm übertragenen Aufgaben konzentrieren und seine anfänglich guten Leistungen in der Berufsschule waren deutlich schlechter geworden. Der Arzt fand keine somatischen Ursachen für die Konzentrations- und Leistungsprobleme und überwies den jungen Mann an eine Psychiatrischpsychotherapeutische Poliklinik, wo ein männlicher Psychotherapeut ein Erstinterview mit ihm machte. Möglicherweise erleichterte diese Geschlechterkonstellation dem Patienten, der sich als »Sohn einer allein erziehenden Mutter« vorstellte, dem Therapeuten ziemlich rasch zu offenbaren, dass er bei der Auswahl des Lehrberufes den Vorstellungen seiner Mutter gefolgt sei. Der Therapeut kam zu dem Schluss, dass der junge Mann möglicherweise weniger eine Psychotherapie als Verständnis dafür brauchte, dass man in einer Lehre, die weder den eigenen Wünschen noch der eigenen Begabung entspricht, auch nichts leisten kann. Er empfahl dem jungen Mann eine Berufsberatung und bot der Mutter ein Gespräch über die Situation ihres Sohnes an.
Fallvignette
Der legasthenische Hafenarbeiter Ein Hafenarbeiter fragte nach psychotherapeutischer Hilfe. Er wollte beruflich umsatteln, selbstständig als Taxiunternehmer arbeiten. Er scheiterte aber wiederholt bei dem Versuch, den Taxenschein zu erwerben, weil er unfähig war, das Straßenverzeichnis der Stadt auswendig zu lernen oder sich schnell in ihm zu orientieren. Er fühle sich überfordert, ängstlich und
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193 8.3 · Indikation und Prognose einer Gesprächspsychotherapie
habe kein Selbstbewusstsein mehr, klagte er. Im zweiten Gespräch mit der Erstinterviewerin fiel dem Patienten plötzlich ein, dass ihm als Schüler eine Legasthenie attestiert worden war, die, wenn auch mit nur mäßigem Erfolg, behandelt worden war. Das hatte er völlig »vergessen«. Er wirkte wie erlöst, als ihm diese Behinderung wieder einfiel, und er einigte sich mit der Interviewerin darüber, sich einem Training im Lesen von Stadtplänen zu unterziehen, das seine Legasthenie in Rechnung stellte.
Der zum Scheitern verurteilte Medizinstudent Ein beeindruckendes Beispiel für ein unerkanntes Problem und seine Lösung bietet die Beratung eines Medizinstudenten, der zum zweiten Mal durchs Physikum gefallen war und ein psychologisches Gutachten brauchte, um einen dritten Versuch genehmigt zu bekommen. Beim dem jungen Mann handelte es sich um das einzige Kind eines Facharztes für Innere Medizin. Der Patient wohnte noch im elterlichen Haus. Der Interviewer stellte das Erstgespräch mit diesem Studenten in einer Fallkonferenz (Supervision) vor, bei der sich folgendes Problem heraus kristallisierte: In der Schilderung der häuslichen Situation schien es außer dem Patienten nur den Vater zu geben, der sich in einem kaum zu steigernden Ausmaß um seinen Sohn und dessen Prüfungsprobleme kümmerte, so dass der Interviewer Beklemmungsgefühle bekam, die er in der Supervision in die Worte fasste: »Bei den Schilderungen des Patienten entstand in mir das Bild eines erdrückenden und sich bemächtigenden Vaters und eines Sohnes, der keine Chance auf eine eigene Entwicklung hat«. Die Fallkonferenzteilnehmer waren sich einig in der Wahrnehmung, dass die Mutter überhaupt keine Rolle spielte bzw. spielen durfte, und sie
2. Indikationskriterium: Nimmt der Patient seine Inkongruenz wahr und verbindet er sie mit einem Veränderungswunsch? Das zweite Kriterium, das für die Indikation einer Gesprächspsychotherapie erfüllt sein sollte, besteht darin, dass der Patient die Inkongruenz in seinem
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vermuteten, dass das Examensversagen als die einzige, wenn auch dem Patienten unbewusste Auflehnung gegen das Diktat seines Vaters zu verstehen sei. Der Interviewer sprach in zwei weiteren Sitzungen sowohl die Rolle der Mutter an als auch die Vermutung, dass das Versagen im Examen ein nachvollziehbarer, wenn auch selbstschädigender Versuch sei, sich zu weigern, dem Vater nun auch noch in der Berufswahl zu folgen. Es stellte sich heraus, dass Vater und Mutter »seit Jahrzehnten im Krieg« lebten und z. B. in dem großen Haus praktisch zwei getrennte Haushalte führten. Der Patient lebte im Haushalt des Vaters und bekam die Mutter auch nur selten zu sehen. Er konnte im Zuge der Besprechung seiner Situation auch plötzlich erkennen, dass der Vater es nicht ertrüge, wenn der Sohn einen besseren Kontakt mit der Mutter hätte. Indem er darüber sprach, wurde ihm die Absurdität der häuslichen Situation deutlich. Er selbst hatte keine benennbaren Probleme mit seiner Mutter. Die wenigen Kontakte mit ihr verliefen problemlos und eigentlich war sein (inneres) Verhältnis zu ihr von Zuneigung geprägt. Drei Monate nach diesen drei Gesprächen teilte der Patient telefonisch mit, dass er das Physikum bestanden habe und zwei Jahre später suchte er den Erstinterviewer in einem Arztkittel in der Klinik auf, um sich für die damalige Beratung zu bedanken und stolz zu erzählen, dass er zwar wie sein Vater Arzt werde, aber er habe – gegen den ausdrücklichen Wunsch des Vaters, in seine Praxis einzusteigen und sie später zu übernehmen – eine andere Fachrichtung gewählt, und zwar eine, die ihm liege und bei er keine allgemeinen Notdienste leisten müsse: Er habe die Ausbildung zum Augenarzt begonnen. Eine Psychotherapie zu machen hatte er nicht einmal erwogen.
Erleben auch spürt, d. h. dass er einem Teil seiner Erfahrungen ablehnend oder abwehrend, z. B. verleugnend oder verzerrend, gegenüber steht, da er sie als nicht zu seinem Selbstkonzept passend erlebt und/oder sich in ihnen auch nicht akzeptiert. Er erlebt auch seine Symptome und Verhaltensstörungen
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Kapitel 8 · Indikationsstellung
als ich-dyston und störend. In der Regel beinhaltet das einen Leidensdruck, aus dem auch ein Veränderungswunsch resultiert. Beispiele für Patienten, deren Störung aus dem Vorliegen einer Inkongruenz resultiert, deren Selbsterfahrung das aber nicht in jedem Fall abbildet, sind Patienten mit bestimmten Persönlichkeitsstörungen, z. B. Patienten mit einer paranoiden (F60.0) oder dissozialen Persönlichkeitsstörung (F60.2). Es leidet häufig die »Umwelt« mehr als der Patient selbst, wobei die »Umwelt« Personen sind, die in einer Beziehung zum Patienten stehen und die sich vom ihm zu Unrecht verdächtigt, hintergangen oder ausgenutzt oder »missbraucht« usw. fühlen. In dem Maße, in dem diese Patienten ihr symptomatisches Verhalten als ich-synton erleben, fehlt auch ein Veränderungswunsch.
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3. Indikationskriterium: Der Patient hat ein Selbstkonzept und ein gewisses Ausmaß an Beziehungsfähigkeit zu sich selbst Eine weitere Voraussetzung für die Indikation einer Gesprächspsychotherapie besteht darin, dass die Inkongruenz des Patienten nicht so groß ist, dass sie eine Beziehungsaufnahme zum eigenen Erleben unmöglich macht. Das heißt konkret: Der Patient muss sich als eine von anderen getrennte Person wahrnehmen und in der Lage sein, sich selbst in seinem eigenen Erleben und Handeln zu betrachten und das in Worte zu fassen (Selbstexploration). Diese Fähigkeit setzt ein hinreichend stabiles Selbst voraus. Wenn das Selbst chronisch instabil ist, dann ist eine Gesprächspsychotherapie kontraindiziert. Wenn das Selbst in einem durch eine Krise bedingten vorübergehenden instabilen Zustand ist, dann ist im Moment von einer Gesprächspsychotherapie als Behandlung abzusehen. Zur Einschätzung der Stabilität des Selbst eines Patienten können die entsprechenden Kriterien der »Strukturmerkmale des Selbst« (7 Kap. 8.2.3, . Tab. 8.2) herangezogen werden. Für Patienten, die in allen sechs Dimensionen als »gering integriert« oder »desintegriert« eingestuft werden, ist eine klassische Gesprächspsychotherapie nicht indiziert. Patienten mit einem unzureichend stabilen Selbst sind häufig zu einer Reflexion ihres Erlebens nicht in der Lage, wie das folgende Beispiel zeigt:
Fallvignette
Die Patientin, die Ich und Du nicht trennen kann Eine Patientin mit einer fraglichen paranoidhalluzinatorischen psychotischen Episode in der Vorgeschichte, schweigt nach ihrem Eintritt in eine stationäre Gruppe während mehrerer aufeinander folgenden Sitzungen. Ganz gegen ihre sonstige Gewohnheit geht die Gruppe damit gewährend um. Alle spüren mehr oder weniger klar, dass dieses Schweigen nicht Ausdruck von Widerstand ist. Dann richtet in einer der folgenden Sitzungen ein Gruppenmitglied doch das Wort an die schweigende Mitpatientin und fragt sie, ob sie das richtig wahrnehme, dass sie den Wunsch habe, sich zu dem Thema, das gerade in der Gruppe besprochen wird, zu äußern. Die angesprochene Patientin bejaht zunächst die Frage der anderen Patientin, um unmittelbar darauf festzustellen: Bevor du mich gefragt hast, war ich sicher, dass ich den Wunsch habe, mich zu dem Thema zu äußern. Jetzt aber, nachdem du mich gefragt hast, ist dieser Wunsch nicht mehr da. Wenn ich mich jetzt äußere, dann nur, weil ich denke, ihr erwartet von mir, dass ich mich endlich »einbringe«. (Aus: Biermann-Ratjen et al., 2003, S. 176)
Patienten, für die jeder enger werdende Kontakt bedrohlich wird, weil die Grenzen von Innen und Außen, von Ich und Du instabil bzw. durchlässig sind, sind durch eine klassische Gesprächspsychotherapie in der Regel überfordert.
Prognosekriterium: Der Patient kann das gesprächspsychotherapeutische Beziehungsangebot zumindest in Ansätzen wahrnehmen und annehmen Klinische Erfahrungen haben gezeigt und Forschungen haben bestätigt: Die »Ansprechbarkeit« eines Patienten für das gesprächspsychotherapeutische Beziehungsangebot ist das beste Kriterium für die Prognose der Wirksamkeit einer Gesprächs-
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psychotherapie. Wenn der Patient auf das gesprächspsychotherapeutische Angebot anspricht, kann davon ausgegangen werden, dass er es in einem hinreichenden Ausmaß wahrnehmen und annehmen kann. Bevor das genauer ausgeführt werden kann, ist zunächst die Frage zu beantworten: Was ist unter dem gesprächspsychotherapeutischen Beziehungsangebot zu verstehen? Definition Das gesprächspsychotherapeutische Beziehungsangebot ist durch die spezifischen Therapieprozessmerkmale gekennzeichnet, die sich in einer Gesprächspsychotherapie entwickeln sollen: Das ist in erster Linie die von Bedingungsfreier Positiver Beachtung getragene Empathie des kongruenten Therapeuten.
Weitere die therapeutische Beziehung gestaltende Aspekte, das nicht-direktive, die Ressourcen des Patienten fördernde Vorgehen, kommen hinzu. Neben den für ein therapeutisches Verfahren spezifischen gibt es auch verfahrensunspezifische Bestandteile eines therapeutischen Beziehungsangebots, wie eine bestimmte Gestaltung des therapeutischen Rahmens, z. B. Einzel- oder Gruppensetting. Es gibt Patienten, die das gesprächspsychotherapeutische Beziehungsangebot nicht annehmen können. Sie fühlen sich von ihm überfordert oder bedroht und können nicht in einen Prozess der Selbstreflexion und Selbstexploration eintreten. Wie das einfühlende Verstehen des Therapeuten zu einer Bedrohung werden kann, soll das nachfolgende Beispiel zeigen. Wie lässt sich die »Ansprechbarkeit« für das gesprächspsychotherapeutische Beziehungsangebot erfassen? Die »Ansprechbarkeit« eines Patienten für das gesprächspsychotherapeutische Beziehungsangebot wird in einem Erstinterview bzw. Indikationsinterview oder in den probatorischen Sitzungen eingeschätzt. Patienten, die auf ein Erstinterview, insbesondere auf dessen gesprächspsychotherapeutische Anteile (Probetherapie), mit körperlicher Anspannung oder Entspannung, emotionaler Anspannung oder Entspannung, mit emotionaler Mitteilungsbereit-
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Fallvignette
Der Patient, der das einfühlende Verstehen des Therapeuten als Aussagen über seinen schlechten Charakter erlebt In einer Gruppentherapiesitzung reagiert ein Patient mit einer Borderline-Persönlichkeitsstörung auf einen anderen Patienten nach dessen ironisch entwertender Äußerung für alle Beteiligten sichtbar wütend, schweigt aber verbissen. Als das Schweigen auch von der Gruppe nicht aufgelöst wird, wendet sich die Therapeutin an den Borderline-Patienten und sagt – durchaus empathisch, verständnisvoll und nicht wertend – »die Aussage von Herrn X hat sie ziemlich getroffen und auch wütend gemacht.« Darauf reagiert der Angesprochene wie aus der Pistole geschossen: »Ich weiß ja, dass ihr mich alle für ein Schwein haltet.« Dieser Patient fühlte sich nicht in seiner Wut verstanden und akzeptiert, sondern erlebte die Benennung seines für alle Gruppenteilnehmer sichtbaren und spürbaren Gefühls durch die Therapeutin als ein öffentliches Angeprangertwerden. Erst in einer späteren Sitzung wurde diese Reaktion nachvollziehbar, als der Patient deutlich darlegte, dass Wütendsein für ihn gleich bedeutend ist mit Bösesein. Und Bösesein heißt für ihn verlassen oder weggeschickt werden. Bei manchen Patienten kann diese Reaktion besprochen werden und ist damit therapeutisch aufzulösen. Bei anderen Patienten gelingt das jedoch nicht.
schaft und verbaler Mitteilungsbereitschaft reagieren, zeigen an, dass sie mit einer Gesprächspsychotherapie mit hoher Wahrscheinlichkeit etwas werden anfangen können. Noch deutlicher ist die »Ansprechbarkeit«, wenn die Patienten diese Art der Beziehung reflektieren können und selbstexplorativ Vorstellungen darüber äußern, dass solche Gespräche etwas in ihnen bewirken, z. B. Hoffung auslösen, dass es ihnen irgendwann noch einmal besser gehen wird, wenn sie sich durch die Äußerungen des Therapeuten angeregt fühlen zu weiteren Mitteilungen, Erinnerungen oder auch Entdeckungen von Zusammenhängen in ihrem Erleben, die ihnen irgendwie
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Kapitel 8 · Indikationsstellung
neu vorkommen. In einem solchen Fall kann man sogar mit Sicherheit davon ausgehen, dass ihnen eine Gesprächspsychotherapie weiterhelfen wird. Es ist möglich, diesen globalen Eindruck des Vorliegens einer ausreichenden Ansprechbarkeit objektiver zu erfassen. Das geschieht durch die Erhebung folgender Indikatoren der Ansprechbarkeit:
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Prognose ausgehen zu können. Mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit wird eine Gesprächspsychotherapie natürlich dann erfolgreich verlaufen, wenn alle vier Kriterien erfüllt sind. Wir möchten die Ausführungen zur Indikationsstellung mit einem Indikationsproblem abschließen, das sich erst im Verlaufe einer Therapie ergeben kann:
Vier Indikatoren für die Ansprechbarkeit des Patienten für das gesprächspsychotherapeutische Beziehungsangebot
Exkurs
1. Das Ausmaß der Selbstexploration: Zur Einschätzung der Selbstexploration kann die Selbstexplorationsskala (7 Kap. 10.2) herangezogen werden. Lässt sich die Selbstexploration des Patienten in der Probetherapie auf dieser Skala auf Stufe 5 oder höher einstufen, ist die Prognose für den Behandlungserfolg gut. 2. Die direkte Beurteilung der Probetherapie durch den Patienten: Der Patient beurteilt die Probesitzung mit dem Bielefelder Klientenerfahrungsbogen (BIKEB, 7 Kap. 10.2) überwiegend positiv, er zeigt sich auch eher zufrieden (Item 1 des BIKEB) mit dem Sitzungsverlauf. 3. Emotionale Reaktion des Patienten: Es ist prognostisch günstig, wenn ein Patient auf das gesprächspsychotherapeutische Beziehungsangebot mit körperlicher An- und Entspannung reagiert, wenn er sich emotional berührt zeigt, d. h. wenn dem jeweiligen Thema entsprechende Stimmungsveränderungen – sowohl positive als auch negative – sichtbar und auch ansprechbar werden. 4. Die Bedingungsfreie Positive Beachtung des Therapeuten: Wenn der Therapeut im Erstinterviewkontakt bei sich keine deutlichen Abweichungen von der Unbedingten Wertschätzung registriert und Sympathie spürt, so ist das ebenfalls prognostisch günstig.
Selbst wenn der Patient das Beziehungsangebot des Therapeuten annimmt und mit zunehmender Selbstexploration beantwortet, bleibt zu fragen, ob die Selbstexploration ein erstrebenswertes Ziel für den Patienten ist, d. h. seine Kernprobleme wirklich lösen hilft. Das ist z. B. dann der Fall, wenn die Therapie zum Ersatz für befriedigende persönliche Beziehungen wird und sich der Gesprächpsychotherapeut in der Rolle des Hausarztes, Seelsorgers oder Freundes wiederfindet. Das passiert immer dann, wenn die Selbstexploration vom Patienten weniger zur Entdeckung eigener Problemlösungsmöglichkeiten benutzt wird, als vielmehr als Vehikel zur Erhaltung des Kontaktes zum Therapeuten. Man beobachtet das häufig dann, wenn ein Patient im Zuge der Selbstexploration auf Probleme stößt, die er nicht lösen kann, d. h. aushalten muss, wie z. B. der kluge und sensible, aber sehr schüchterne Student, der in seiner Therapeutin eine Frau findet, wie er sich sie zur Partnerin wünscht, aber im täglichen Leben nicht nur aufgrund seiner Schüchternheit, sondern auch aufgrund seiner mangelnden männlichen Attraktivität nur schwer finden wird.
Es gibt bisher keine Studien, die Auskunft darüber geben könnten, wie viele der vier oben genannten Kriterien erfüllt sein sollten, um von einer guten
Eine Therapiezielveränderung, welche die Indikationsfrage erneut aufwirft
Abschließend möchten wir vor dem Hintergrund der Geschichte der Indikationsstellung (BiermannRatjen et al., 2003, S. 143 ff.) und auf der Grundlage unserer klinischen Erfahrungen Folgendes hervorheben: Die hier vorgestellten Indikations- und Prognoseregeln spiegeln das derzeitige Wissen über die Zusammenhänge von Indikations- und Prognosekriterien und dem Therapieerfolg. Die Entwicklung
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der Psychotherapie im Allgemeinen und der Gesprächspsychotherapie im Besonderen kann, wie die Geschichte lehrt, diese Kriterien verändern bzw. erweitern. Diese Kriterien sind als Leitlinien bei einer Indikationsstellung zu verstehen. Im Einzelfall kann es immer wieder vorkommen, dass die Kriterien nicht vollständig erfüllt sind. So kann z. B. die Selbstexploration bei einem Patienten gegen Null gehen und der Therapeut dennoch das Gefühl haben, mit diesem Patienten, wenn auch nicht sofort, in einen therapeutischen Prozess eintreten zu können. So, wie die Erfüllung aller Indikations- und Prognosekriterien den Therapieerfolg nicht zu 100% garantiert, kann eine Therapie mit einem Patienten, der z. B. nur das vierte der oben genannten Prognosekriterien erfüllt, durchaus zu einem Erfolg werden. Die Gesprächspsychotherapie hätte sich nicht weiterentwickelt, wenn es nicht Therapeuten gegeben hätte, die neue Wege ausprobiert haben.
8.3.3
Die Abstimmung der Indikation mit dem Patienten
Der letzte Schritt bei einer Indikationsstellung ist die Abstimmung der Indikationsentscheidung des Therapeuten bzw. Interviewers mit dem Patienten. Eine ausführliche und für den Patienten nachvollziehbare Begründung der Indikationsentscheidung ist in jedem Fall erforderlich, und zwar nicht nur, wenn der Interviewer oder Therapeut eine Gesprächspsychotherapie als Behandlung empfiehlt, sondern auch dann, wenn er sie für nicht indiziert hält.
Bei positiver Indikationsentscheidung: Informed Consent Wenn eine Gesprächspsychotherapie indiziert ist und auch durchgeführt werden soll, muss der Patient über diese geplante Behandlung aufgeklärt werden. Im anglo-amerikanischen Rechtssystem, in dem die Patientenrechte sehr viel ausgebauter sind als in der deutschen Rechtsprechung, kann der Patient seinen »Informed Consent« (informierte Zustimmung) aussprechen, wenn alle erforderlichen Maßnahmen für seine Aufklärung getroffen worden sind. Kritiker betonen, dass Informed Consent den Versuch dar-
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stelle, Ethik durch regulierende bzw. legislative Maßnahmen zu kodifizieren. Die Definition von »Informed Consent« lautet: Definition »Permission to do something which is given with complete knowlegde of all relevant facts, such as the risks involved or any available alternatives« (www.AllLaw.com).
Der anglo-amerikanische »Informed Consent« unterscheidet sich von der in Deutschland gesetzlich vorgeschriebenen »Patientenaufklärung« nicht nur im Inhalt, sondern auch in dem zugrunde liegenden Prinzip: Während der Consent auf dem Recht des Menschen auf Selbstbestimmung beruht, ist die Patientenaufklärung eine juristische Konstruktion, die in erster Linie dem rechtlichen Schutz des Arztes dient (Beller, 2000). Der heilkundlich tätige Psychotherapeut ist rechtlich nur verpflichtet, Patienten über »Risiken und Nebenwirkungen« einer geplanten Behandlung aufzuklären. Die Forderung nach einer Aufklärung des Patienten im Bereich Psychotherapie im Sinne von Informed Consent findet sich jedoch in den Ethikregeln vieler psychotherapeutischer Berufsverbände. Diese umfassende Aufklärung sollte in der Praxis die Regel sein, gerade für Gesprächspsychotherapeuten, die ja eine Beziehung zum Patienten anstreben, die mehr durch eine partnerschaftliche als durch eine paternalistische Haltung des Therapeuten charakterisiert ist. Informierte Zustimmung in der Praxis. In der Regel
wird dem Patienten mündlich dargelegt, wie eine Gesprächspsychotherapie abläuft. Er bekommt auch Informationen über die vermutliche Dauer der Behandlung, die Häufigkeit der Sitzungen und die Dauer der Sitzungen. Im Zusammenhang mit Absprachen über die Finanzierung der Behandlung ist der Patient gegebenenfalls über den Kassenantrag zu informieren, d. h. darüber aufzuklären, welche Daten von ihm weitergegeben werden. Ferner sollte abgesprochen werden, wie mit Sitzungen umgegangen werden soll, die geplant, z. B. wegen Urlaubs, oder ungeplant, z. B. wegen Krankheit, ausfallen werden.
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Kapitel 8 · Indikationsstellung
Wenn der Patient unter einer Störung leidet, bei der theoretisch auch ein anderes Verfahren als eine Gesprächspsychotherapie indiziert sein könnte, ist ihm das mitzuteilen (Kahlke & Reiter-Theil, 1995). Dabei sind die wesentlichen Unterschiede zwischen einer Gesprächspsychotherapie und den denkbaren Behandlungsalternativen zu benennen, vor allem Unterschiede im Vorgehen (z. B. einsichtsorientiert versus symptomzentriert, mehr oder weniger strukturiert usw.) und im zeitlichen Aufwand. Viele Therapeuten informieren ihre Patienten zusätzlich durch Merkblätter, die sie ihnen mit nach Hause geben. Ein Beispiel für eine kurze Information über die Art der therapeutischen Beziehung in einer klassischen Gesprächspsychotherapie enthält das folgende Merkblatt:
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Exkurs
Information über den Ablauf einer Gesprächspsychotherapie 5 Die Therapeutin/der Therapeut bietet Ihnen an, frei und offen über alles zu sprechen, was Sie beschäftigt und belastet. 5 Sie bestimmen selbst, worüber Sie sprechen. 5 Die Therapeutin/der Therapeut wird sich bemühen, Ihnen dadurch zu helfen, dass sie/er Ihnen immer genau sagt, was sie/er aus dem, was Sie gesagt haben, verstanden hat. 5 Die Therapeutin/der Therapeut wird Ihnen keine Ratschläge und Hinweise geben. 5 Erfahrungsgemäß wird man durch solche Gespräche zunächst ruhiger und entspannter, wenn auch nicht sofort und immer, und erfahrungsgemäß werden Sie dann, wenn sie ihre Probleme klarer und deutlicher sehen, Möglichkeiten und Wege zu ihrer Lösung finden. 5 Dieser Weg wird nicht immer geradlinig verlaufen, weil Sie sich natürlich auch mit schmerzlichen Erfahrungen werden auseinandersetzen müssen, die Sie vergessen oder glaubten, überwunden zu haben. (In Anlehnung an Biermann-Ratjen, Eckert & Schwartz, 1979, S. 11)
Solche Informationsblätter sind im Falle eines modifizierten Vorgehens, z. B. bei der Durchführung einer zeitlich limitierten und auf einen Leitfaden gestützten Gesprächspsychotherapie für Patienten mit einer Anpassungsstörung (7 Kap. 9.8), entsprechend zu ändern. Ein Beispiel für ein solches auf die besonderen Umstände abgestimmtes Informationsblatt ist das folgende, das Patienten ausgehändigt wurde, die an einer stationäre Gruppenpsychotherapie teilnehmen sollten: Exkurs
Merkblatt zur Gruppentherapie in der Psychiatrischen Universitätsklinik Hamburg-Eppendorf Sie haben sich zur Teilnahme an einer Gruppentherapie entschlossen. Wahrscheinlich können Sie sich zurzeit noch wenig unter einer solchen Gruppentherapie vorstellen und wissen nicht, was Sie dort erwartet. Dieses Merkblatt dient dazu, Sie in die Grundlagen der Gruppentherapie einzuführen und Ihnen eine Vorstellung darüber zu geben, warum Gruppentherapie zur Behandlung seelischer Probleme angewendet wird, was dort von Ihnen erwartet wird und warum wir der Meinung sind, dass eine solche Therapie Ihnen helfen kann. Die Gruppentherapie geht davon aus, dass – obwohl jeder seine ganz individuelle Problematik hat – alle Menschen, die sich in psychotherapeutische Behandlung begeben, die gemeinsame Schwierigkeit haben, dauerhafte und befriedigende Beziehungen zu anderen Menschen herzustellen und aufrechtzuerhalten. Erinnern Sie sich an die vielen Male in Ihrem Leben, wo Sie sich gewünscht haben, Sie könnten in der Beziehung zu einem anderen Menschen wirklich ehrlich Ihre positiven und negativen Gefühle äußern und eine ebenso ehrliche Antwort erhalten. Die übliche Art, wie wir in unserer Gesellschaft miteinander umgehen, erlaubt leider nicht oft eine so absolut offene Auseinandersetzung.
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199 8.3 · Indikation und Prognose einer Gesprächspsychotherapie
Die Therapiegruppe ist nun ein Ort, an dem diese Art des ehrlichen Miteinanderumgehens nicht nur zugelassen, sondern ausgesprochen erwünscht ist und gefördert wird. Für Menschen, deren Hauptbeschwerden Konflikte in ihren zwischenmenschlichen Beziehungen sind, stellt nun eine soziale Situation, die zu ehrlichen zwischenmenschlichen Erfahrungen ermutigt, offensichtlich eine besonders gute Gelegenheit dar, viele wertvolle und nützliche Erfahrungen über sich selbst zu machen. Es muss hierbei ausdrücklich betont werden, dass das Arbeiten an den eigenen zwischenmenschlichen Beziehungen in der direkten Auseinandersetzung mit den anderen Gruppenmitgliedern keine leichte Sache ist; im Gegenteil, es kann manchmal sehr belastend sein, aber es ist ganz ausschlaggebend für den Therapieerfolg. Wenn Sie aber Ihre Beziehungen zu den anderen Gruppenmitgliedern vollkommen verstehen und entfalten lernen, werden Sie einen enormen Gewinn für die Gestaltung Ihrer zwischenmenschlichen Beziehungen auch außerhalb der Therapie erzielen. Sie werden dann Wege finden zu befriedigenderen Beziehungen mit den wichtigen Menschen in Ihrem jetzigen Leben und mit den Menschen, die Sie erst noch kennen lernen werden. Am meisten können Sie sich als Patienten gegenseitig helfen, wenn Sie in der Gruppe das, was Sie im Augenblick gerade fühlen, ganz ehrlich und direkt äußern, besonders Ihre Gefühle gegenüber den anderen Gruppenmitgliedern und gegenüber dem Therapeuten. Das unmittelbare Äußern der Gefühle, die Sie in der jeweiligen aktuellen Situation gerade haben, ist so wichtig, dass es gar nicht genug betont werden kann. Es stellt sozusagen den Kern der Gruppentherapie dar. Wenn Sie allmählich Vertrauen in die Gruppe gewonnen haben, können Sie dort auch sehr intime Dinge über sich enthüllen. Keiner wird aber in der Gruppe zu irgendwelchen »Bekenntnissen« gezwungen. Verschiedene Menschen brauchen unterschiedlich lange, bis sie sich in der Gruppe genügend sicher fühlen, um sich öffnen zu können.
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Man könnte die Gruppe als einen Ort ansehen, an dem Sie Risiken eingehen können, die Sie in Ihrer normalen Umgebung nicht eingehen würden, und an dem Sie mit fortschreitendem Lernen neue Verhaltensweisen ausprobieren können. Wir können Ihnen jetzt schon voraussagen, dass in der Gruppentherapie immer wieder Hindernisse und Krisen auftauchen werden. Sie werden sich wahrscheinlich, besonders in den ersten Sitzungen, zeitweilig verwirrt und entmutigt fühlen. Manchmal wird es Ihnen zweifelhaft erscheinen, ob das Arbeiten an Gruppenproblemen und an den Beziehungen innerhalb der Gruppe zu einem Nutzen für die Bewältigung der Probleme führt, derentwegen Sie sich in Behandlung begeben haben. Diese Verwirrung ist ein typisches Phänomen der Gruppentherapie und wird mit einiger Sicherheit eintreten. Wir können Ihnen nur dringend raten, in einer solchen Therapiephase in der Gruppe zu bleiben und Ihre Neigung, die Therapie aufzugeben, zu überwinden. Bevor Sie nicht mindestens 12 Therapiesitzungen mitgemacht haben, ist es unmöglich, sich ein Urteil über den eventuellen Nutzen der Therapie zu bilden. Viele Patienten finden es schmerzhaft schwierig, sich zu öffnen und ihre positiven und negativen Gefühle direkt zu äußern. Immer wieder haben einzelne Gruppenmitglieder die Neigung, sich gefühlsmäßig zurückzuziehen, mit den eigenen Gefühlen hinterm Berg zu halten, oder sie lassen andere ihre Gefühle für sie ausdrücken und treffen mit anderen Gruppenmitgliedern stillschweigende Abkommen darüber. Die Versuchung dazu ist besonders groß dann, wenn einzelne Gruppenmitglieder auch außerhalb der Gruppentherapie engere Beziehungen zueinander eingehen. Gegen solche Beziehungen ist an und für sich nichts einzuwenden. Sehr schädlich für die Gruppe und die Betreffenden selbst wirkt es sich aber aus, wenn über diese persönlichen Beziehungen außerhalb der Gruppe in der Therapiestunde ein Mantel des Schweigens gelegt wird und sie aus der sonstigen Offenheit ausgeklammert werden.
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Kapitel 8 · Indikationsstellung
Die Ziele der Gruppentherapie sind hochgesteckt, denn es geht darum, Verhaltens- und Erlebnisweisen zu ändern, die schon viele Jahre hindurch bestehen. Die Behandlung geht daher schrittweise und langwierig vonstatten. Es ist wahrscheinlich, dass Sie nicht selten vom Therapeuten enttäuscht und verärgert über ihn sein werden und vergeblich eine Antwort auf Ihre Fragen erhoffen. Hilfe werden Sie aber in erster Linie nur von den anderen Gruppenmitgliedern erhalten, auch wenn es Ihnen manchmal schwer fallen wird, das zu akzeptieren. Die Behandlungsform der Gruppentherapie hat sich zwar ursprünglich aus der Notwendigkeit entwickelt, eine große Anzahl von Patienten möglichst ökonomisch behandeln zu können. Sie wird daher noch heute vielfach als »Therapie 2. Klasse« angesehen. In Wirklichkeit hat sich aber im Laufe der Entwicklung herausgestellt, dass die Gruppentherapie ganz besondere Vorzüge besitzt und sehr häufig die beste Behand-
Ein zentrales Element von Informierter Zustimmung beinhaltet die Abstimmung der Therapieziele. Wie bereits ausgeführt (7 Kap. 7), sind die theoretischen Ziele einer Gesprächspsychotherapie auf einem Abstraktionsniveau formuliert, das sich nicht als Grundlage für die Erarbeitung des geforderten Konsenses mit dem Patienten eignet. Dennoch ist die Festlegung konkreter Therapieziele für den und mit dem Patienten eine notwendige Aufgabe des Gesprächspsychotherapeuten bei der Erarbeitung der Indikation. Das fordern auch gesprächspsychotherapeutische Lehrbuchtexte (z. B. Eckert, 1996). ! Inhalte von Therapiezielvereinbarungen In der Regel wird eine Veränderung der Symptomatik oder des problematischen Verhaltens, die den Patienten veranlassen, um eine Psychotherapie nachzusuchen, wesentlicher Teil der Therapiezieldefinition sein: die Veränderung von psychischen und somatischen Symptomen, innerpsychischen und sozialen Problemen, Leistungseinschränkungen und problematischen Verhaltensweisen.
lungsmethode überhaupt ist. Die Ergebnisse von Untersuchungen über den Erfolg verschiedener Therapieformen ergeben eindeutig, dass Gruppentherapie der Einzeltherapie in der Wirksamkeit zumindest gleichzusetzen, häufig sogar überlegen ist. Zum Schluss noch eine Selbstverständlichkeit: Unbedingte Verschwiegenheit der Gruppenmitglieder über das, was sie in der Gruppentherapie über andere Patienten erfahren haben, ist in der Gruppentherapie genau so notwendig wie die Schweigepflicht des Arztes bei anderen Behandlungsmethoden. Wir hoffen, mit diesen Hinweisen Ihre Unsicherheit über das, was Sie in der Gruppentherapie erwartet, ein wenig verringert zu haben und wünschen Ihnen, dass Sie die Vorteile der gruppentherapeutischen Behandlung für sich fruchtbar machen können. Aus: Eckert & Biermann-Ratjen, 1985, S. 132–134.
Die Festlegung von Therapiezielen ist im individuellen Fall häufig nicht einfach, vor allem dann nicht, wenn die Störung des Patienten schwer zu kennzeichnen ist, d. h. viele Bereiche der Persönlichkeit umfasst, wie das folgende Beispiel zeigen soll. Fallvignette
Beispiel für eine Therapiezielvereinbarung Die Therapieziele einer Patientin mit einer Borderline-Persönlichkeitsstörung hätten aufgrund der akuten Psychopathologie der Patientin zum Zeitpunkt der Behandlungsaufnahme lauten können (Eckert, 1996, S. 184): 5 Ich will nicht mehr so depressiv sein; 5 ich möchte keine Angst mehr vor meinen Suizidgedanken haben; 5 ich möchte mein promiskuitives Verhalten aufgeben können, 5 ich will nicht mehr so ausrasten, dass ich meinen Bruder mit dem Messer bedrohe;
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201 8.3 · Indikation und Prognose einer Gesprächspsychotherapie
Fallvignette
5 ich möchte die Angst verlieren, verrückt zu werden oder es zu sein; 5 ich möchte mich nicht mehr jeden Abend betrinken müssen und auch keine Drogen mehr nehmen usw. Angesichts der Vielzahl dieser Ziele einigten sich Patientin und Therapeut auf das folgende umfassende Therapieziel: »Ich möchte eine ›richtige‹ Beziehung eingehen können«. Die Praxis lehrt, dass es in der Regel günstiger ist, nicht nur ein umfassendes Therapieziel zu benennen, sondern mehrere Ziele und diese möglichst konkret und eng umschrieben zu formulieren. Zusammenfassungen von mehreren Therapiezielen in einem, wie in unserem Beispiel, sind nicht nur schwieriger zu beurteilen, sondern meistens auch schwieriger zu erreichen. Rückblickend traf das auch in dem beschriebenen Fall zu: Die Patientin hat die meisten der o. g. Therapieziele erreicht, nur das übergeordnete Ziel nicht: Ihre Beziehungen waren immer schnell intensiv, aber instabil und nicht von Dauer. Heute, fünf Jahre nach dem Ende der Therapie, überlegt sie, sich auf ein Leben ohne dauerhafte Partnerschaft einzurichten, d. h. sie würde das ursprüngliche Therapieziel ändern.
Eine Anleitung zur Erstellung individueller Therapieziele bietet ein Manual zur Qualitätssicherung in der Psychotherapie (Heuft & Senf, 1998, S. 36). In diesem findet man zehn Problembereiche aufgelistet, und die Patienten sollen angeben, in welchem Ausmaß sie sich in diesen Bereichen eine Veränderung wünschen. Es empfiehlt sich, dass der Therapeut – besonders bei Ausbildungstherapien – diese vorgegebenen Zielbereiche (z. B. »Selbstwerterleben/Selbstannahme«) ebenfalls einschätzt. Durch einen Vergleich der beiden Einschätzungen lässt sich der Grad der Übereinstimmung zwischen Patient und Therapeut bezüglich der Therapieziele leicht feststellen. Welche Folgen es haben kann, wenn kein wirklicher Konsens über die Therapieziele hergestellt wird, soll das untenstehende Beispiel zeigen:
Die Kleptomanin, die unausgesprochen ein anderes Therapieziel hatte als ihr Psychotherapeut Die Patientin, Ehefrau eines niedergelassenen Nervenarztes, hatte von einer Kriminalbeamtin den Rat bekommen, sich zur Beratung und evtl. Behandlung an eine Psychiatrische Poliklinik zu wenden. Die etwa 55-jährige Frau war zum wiederholten Male bei einem Ladendiebstahl erwischt worden. Der Interviewer stellte zu seiner Verwunderung fest, dass der Ehemann von den vorangegangenen Ladendiebstählen und den jeweiligen Verhören durch Polizei und Staatsanwaltschaft keine Kenntnis hatte. Die Patientin hatte es verschwiegen. Die Patientin wirkte auf den Interviewer klug, lebenserfahren – sie hatte zwei fast erwachsene Kinder – und realitätsorientiert. Zum Zeitpunkt des Interviews wurde an der Einrichtung, an die sich die Patientin gewandt hatte, damit begonnen, mit zeitlich limitierten Psychotherapien mit begrenzten Therapiezielen zu experimentieren. Der Interviewer, der bei diesem Interview zeitlich unter Druck stand, konnte sich vor diesem Hintergrund eine auf 15 Stunden begrenzte Gesprächspsychotherapie mit dieser Patientin gut vorstellen mit dem konkreten Ziel, dass die Patientin mit ihrem Mann offen über ihre Schwierigkeiten spricht. Als die Patientin drei Jahre später die Behandlung beendete, war ein Jahr zuvor ihr Mann verstorben, die Praxis verkauft und auch das letzte Kind in eine eigene Wohnung gezogen. In den drei Jahren war es zu keinem weiteren Ladendiebstahl mehr gekommen und die Patientin fürchtete auch keinen »Rückfall« mehr. Allerdings hat sie ihrem Mann bis zu seinem Tode nie von diesem Problem erzählt. Sie begründete das im Nachhinein damit, dass es »nichts gebracht« hätte und außerdem hätte sie sich ihrem Mann gegenüber »zu Tode geschämt«. (Aus: Reimer, Eckert, Hautzinger & Wilke, 2000, S. 182)
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Kapitel 8 · Indikationsstellung
Wie wichtig es ist, bei der Therapiezielfindung auf den Vorstellungen des Patienten aufzubauen, verdeutlicht der Bericht einer Patientin, deren Behandlungen dann scheiterten, wenn die Therapeuten versuchten, ihr ihre Therapiezielvorstellungen überzustülpen (»Anna Q« in Kernberg, Dulz & Eckert, 2005).
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Vorbereitungen auf die Behandlung. Studien haben gezeigt, dass eine möglichst praktische Vorbereitung auf die Behandlung, ein sog. Prä-Training, den Therapieerfolg positiv beeinflusst. In Deutschland sind die probatorischen Sitzungen für diese Vorbereitungsarbeit eingerichtet worden. Seltener ziehen Therapeuten auch noch andere Mittel heran, z. B. die Empfehlung, ein Buch über Gesprächspsychotherapie zu lesen. Auch von der Möglichkeit, ein Video mit einer aufgezeichneten Gesprächspsychotherapie zu zeigen, wird offensichtlich kaum Gebrauch gemacht. ! Alle Absprachen, vor allem auch die Therapieziele, können im Behandlungsverlauf erneuert oder verändert werden können.
Bei negativer Indikationsentscheidung: Begründung einer Kontraindikation und der Hinweis auf Behandlungsalternativen Es ist allgemein bekannt, dass sich nicht wenige Therapeuten schwer damit tun, dem Patienten mitzuteilen, dass sie in seinem Fall eine Psychotherapie bzw. eine Gesprächspsychotherapie für nicht bzw. für kontraindiziert halten. Dennoch ist es die Aufgabe des Therapeuten, dem Patienten seine negative Indikationsstellung zu begründen und ihm nach Möglichkeit auch Behandlungsalternativen aufzuzeigen. Einige Therapeuten vermeiden diesen Schritt und begründen ihre negative Indikationsentscheidung z. B. damit, dass sie keine Zeit hätten (»Als ich Sie zum Erstgespräch eingeladen habe, wusste ich noch nicht, dass ein ehemaliger Patient die Behandlung wieder aufnehmen möchte«) oder belassen es bei einer Begründung auf der persönlichen Ebene (»Ich denke, ich bin nicht der richtige Therapeut für Sie«). Von solchen Verschleierungspraktiken ist strikt abzuraten. Da die Patienten es fast immer merken, dass es sich um vorgeschobene Begründungen handelt, wird ihre bereits vorhandene Selbstunsicherheit nur noch weiter verstärkt.
So wie latent suizidale Patienten meistens erleichtert sind, wenn man ihre Suizidgedanken anspricht, so sind Patienten mit einem fragilen Selbstkonzept, die durch eine Psychotherapie sehr rasch überfordert sein würden und Gefahr liefen, psychotisch zu dekompensieren, häufig erleichtert, wenn ihnen von einer Psychotherapie abgeraten wird. Sie fühlen sich oft einfach richtig verstanden, wenn man ihnen z. B. zu einer Behandlung rät, die ihnen konkret dabei hilft, den Tagesablauf sinnvoll zu strukturieren, und ihr Leistungsvermögen fördert, wie zu einer Behandlung in einer psychotherapeutisch orientierten Tagesklinik, in der sie auch erst einmal ausprobieren können, ob Psychotherapie überhaupt ein für sie geeigneter Weg ist. Schwieriger gestaltet sich die Empfehlung einer Alternative zu einer ambulanten Psychotherapie häufig in ländlichen Regionen. Da Kontraindikationen jedoch meistens die schwerer gestörten Patienten betreffen, kommen stationäre Behandlungsangebote in Frage, bei denen die räumliche Entfernung vom Wohnsitz des Patienten keine ausschlaggebende Rolle spielt. Informierte Zustimmung und Ethik. Abschließend bleibt noch festzustellen, dass eine adäquate Aufklärung des Patienten, die eine Informierte Zustimmung ermöglicht, in der Verantwortung des einzelnen Psychotherapeuten liegt. Bezüglich dieser Verantwortung ist der Therapeut in Zeiten, in denen die Krankenkassen immer weniger Geld für Versicherungsleistungen bereitstellen können, die Zahl der Psychotherapeuten wächst und die berufliche Existenzsicherung immer schwieriger wird, sicherlich Anfechtungen ausgesetzt. So kann eine Aufklärung über Behandlungsalternativen schon einmal »vergessen« werden, wenn die eigenen Behandlungskapazitäten nicht ausgebucht sind. Oder es werden Patienten in die Behandlung genommen, für die eine Eheberatung als erster Schritt bei der Bewältigung einer akuten psychischen Krise sinnvoller gewesen wäre als das Angebot einer Gesprächspsychotherapie. Aber nicht nur Gesprächspsychotherapeuten laufen Gefahr, Indikationsentscheidungen nicht fachgerecht zu begründen. Sie ist sicherlich größer und die Folgen unangemessener Indikationsentscheidungen sind für den Patienten auch gravierender,
203 8.4 · Beispiel einer Indiaktionsstellung: Die Patientin Annette P.
wenn Psychiater, Neurologen oder auch Allgemeinmediziner zu einer »rein« medikamentösen Behandlung der psychischen Störung raten und Psychotherapie als mögliche Behandlungsalternative oder ergänzende Behandlungsmaßnahme erst gar nicht erwähnen oder gar davon abraten.
8.4
Beispiel einer Indikationsstellung: Die Patientin Annette P.
8.4.1
8
Angaben zur Person
Die folgenden Angaben sind – ohne dass gravierende Informationsverluste in Kauf genommen werden müssen – anonymisiert. Annette P. ist zum Zeitpunkt des Erstgesprächs 18 Jahre alt. Sie ist Schülerin der zwölften Klasse und lebt mit der ein Jahr älteren Schwester und dem 50-jährigen Vater zusammen. Die Mutter – sie ist ein Jahr jünger als der Vater – hatte die Familie ein halbes Jahr zuvor verlassen. Neben der Schule arbeitet Annette abends oder am Wochenende in einem Seniorenheim.
H. Petersen Nachfolgend wird die Problematik der bereits vorgestellten 18-jährigen Schülerin erläutert, die auf die nahezu plötzliche und für sie unbegreifliche Trennung ihrer Mutter von der Familie mit psychogenem Appetitverlust und weiteren schweren Symptomen reagiert hatte. Für diese Patientin war in einem Indikationsinterview (7 Kap. 8.2.5) und seiner Auswertung (7 Kap. 8.2.6) die Indikation für eine zeitlich limitierte Psychotherapie gestellt worden. Die Patientin wurde an eine Gesprächspsychotherapeutin überwiesen mit der Frage, ob für diese Patientin eine zeitlich begrenzte Gesprächspsychotherapie als Behandlung in Frage käme und sie als Therapeutin zur Verfügung stünde. Beide Fragen werden positiv beschieden. Im Folgenden stellt die Therapeutin Henriette Petersen zunächst dar, nach welchen Kriterien sie eine positive Indikation gestellt hat. Diese Darstellung enthält alle die Angaben, die auch in dem Bericht an den Gutachter aufgeführt sein müssen (7 Kap. 8.31), wenn die Behandlungskosten von einer Krankenkasse übernommen werden sollen. Darüber hinaus werden auch Ergebnisse von Psychologischen Tests berichtet. Die Evaluation der psychotherapeutischen Behandlung durch den Einsatz von Fragebögen und durch Tonaufnahmen, die in der Supervision besprochen werden können, haben in der Gesprächspsychotherapie lange Tradition, die auf ihren Begründer, Carl Rogers, zurückgeht. Die Therapeutin hat diesen Fall bereits anderenorts dargestellt (Petersen, 2003).
8.4.2
Frühere Behandlungen
Annette hatte zuvor selbst keine Psychotherapie in Erwägung gezogen. Vielmehr haben ihre Angehörigen und vor allem die behandelnde Hausärztin auf eine Therapie gedrungen. Letztere überwies sie an eine Psychiatrische Poliklinik.
8.4.3
Anlass der jetzigen Behandlung
Die große und stark abgemagerte Schülerin hat mit einem Gewicht von ca. 49 kg bei einer Größe von 176 cm ein deutliches Untergewicht; ca. 19% unter dem Gewicht vor der Erkrankung bzw. QueteletsIndex von 15,8 (ICD-10, Weltgesundheitsorganisation, 1993, S. 200). Bei Annette fallen neben der deutlichen Magerkeit des Körpers ihr schmales Gesicht mit den übergroß wirkenden Augen und die knochig abgemagerten Hände auf. Sie erweckt einen verschüchterten und sehr scheuen Eindruck, sitzt fast erstarrt, in sich gekrümmt im Erstgespräch vor mir. Mit leiser, wenig modulierter Stimme berichtet sie von sich und bedarf immer wieder der ermunternden Nachfrage. Zu Beginn des neuen Schuljahres vor ca. einem halben Jahr habe die Mutter der Familie »völlig unerwartet« eröffnet, dass sie wegen einer neuen Beziehung die Familie verlassen werde, gab weiter keine Erklärungen und setzte diesen Entschluss binnen 14 Tagen um. Annette habe das nicht begreifen können. Sie habe nach diesem Ereignis keine bewusste Diät gemacht, da sie mit ihrem Aussehen immer zufrieden gewesen sei. Sie habe kaum bemerkt, dass
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Kapitel 8 · Indikationsstellung
sie, seitdem die Mutter die Familie verlassen hatte, immer weniger aß und schließlich tagelang das Essen »vergaß«. Sie habe schließlich gespürt, dass sie immer schwächer geworden sei, dass sie kaum noch Sport treiben konnte und dass das Konzentrationsvermögen stark nachgelassen habe. Nächtelang habe sie nicht schlafen können und habe bis jetzt noch unvermindert Einschlafprobleme. Sie sei sehr ernst und immer zurückhaltender geworden, habe sich deshalb auch vom Freund getrennt. Schließlich sei sie auf 46 kg abgemagert, woraufhin der Vater und die Schwester zur Therapie drängten. Sie sehe auch ein, dass sie »nicht so dünn bleiben könne«. Auf Insistieren der Ärztin habe sie sich diszipliniert und zu regelmäßigen Mahlzeiten gezwungen und dadurch etwas zugenommen. Das Gewicht stagniere jetzt, weil sie einfach nicht stärker gegen ihre Appetitlosigkeit »an-essen« könne. Annette berichtet dies alles gedrückt und mit kleiner, fast kindlicher Stimme. Sie schlingt während des Gespräches die Arme um ihren Leib (das wird noch etliche Therapiestunden so bleiben), als ob sie fröre.
8.4.4
Überweisungskontext
Annette P. wurde der Therapeutin von der Psychiatrischen Poliklinik der Universität nach vorheriger Rücksprache wegen der Dringlichkeit des Therapiebeginns überwiesen. Dem überweisenden Psychologen war bekannt, dass die Therapeutin erfolgreich
essgestörte Frauen gesprächspsychotherapeutisch behandelt hatte. Der Behandlungsvorschlag der Poliklinik an die Therapeutin lautete dahingehend, dass der erkrankten Schülerin im Hinblick auf den reaktiven Charakter der Ess-Störung das Angebot einer Kurzzeittherapie gemacht werden solle (ca. 25 Stunden). Annette folgte der Empfehlung des Psychologen der Poliklinik und rief die Therapeutin an, um einen Termin für ein Erstgespräch zu vereinbaren.
8.4.5
Befunde
Medizinische Befunde. Von der Hausärztin wurden
die bestehende körperliche Symptomatik und eine Amenorrhö diagnostiziert. Psychischer Befund. Im Erstkontakt wirkte Annette P. auf die Therapeutin eher depressiv – verschlossen, ausdrucksarm und sie vermittelte nur indirekt ihren Leidensdruck. Der Kontakt war gut herstellbar mit flüssigem Rapport, allerdings zunächst mit stockendem Sprechfluss. Sie reagierte affektiv verhalten, jedoch adäquat. Es lagen keine inhaltlichen und formalen Denkstörungen vor, es gab keinen Anhalt für psychotisches Erleben. Annette war voll orientiert, ohne mnestische Störungen. Der Antrieb wirkte leicht gemindert. Zur Objektivierung der Diagnose und zur Evaluation der geplanten Gesprächspsychotherapie (7 Kap. 10) wurden auch testpsychologische Daten erhoben.
Exkurs
Testdiagnostik in der Gesprächpsychotherapie Die bei der Diagnostik von Annette P. eingesetzten Fragebögen eignen sich zur Erhebung der Beeinträchtigungen in den Bereichen, in denen durch eine Gesprächspsychotherapie auch Veränderungen erzielt werden können. Werden die Fragebögen bei Abschluss der Therapie erneut vorgegeben (Posttestung), kann durch den Vergleich mit dem Ergebnis der Prätestung der Therapieeffekt bestimmt werden. Wird der Patienten eine halbes oder ein Jahr nach
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Abschluss der Behandlung katamnestisch untersucht, lassen sich auch Aussagen über die Stabilität des Therapieeffektes machen. Die Durchführung von Katamnesen sind in der Gesprächspsychotherapie deshalb besonders sinnvoll, weil empirisch nachgewiesen ist, dass das Verfahren eine »Langzeitwirkung« entfaltet: Die einmal erreichten Veränderungen haben nicht nur langfristig Bestand, sondern es kann im Katamnesezeitraum häufig zu weiteren positiven Veränderungen kommen (Frohburg, 2004).
205 8.4 · Beispiel einer Indiaktionsstellung: Die Patientin Annette P.
Die spezifischen Persönlichkeitsaspekte: FRBS Der FRBS (Feelings, Reactions, and Beliefs Survey) wurde von D.S. Cartwright, einem früheren Mitarbeiter von Carl Rogers, entwickelt (Cartwright & Mori, 1988). Das Testverfahren liegt als deutsche Version vor (Höger, 1995). Es bezieht sich explizit auf Rogers’ Persönlichkeitstheorie und erfasst in neun Skalen Aspekte, die von ihm zur Unterscheidung zwischen einer »reifen« und einer »unreifen« Persönlichkeit beschrieben wurden.
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lastung einer Person durch ihre Symptome bzw. Beschwerden. 1. Somatisierung 2. Zwanghaftigkeit 3. Unsicherheit 4. Depressivität 5. Angst 6. Aggressivität 7. Phobische Symptome 8. Paranoide Züge 9. Psychotizismus
Der Bindungsstil: BFKE Der »Bielefelder Fragebogen zur Klientenerwartung« (BFKE) von Höger (1993, 1999) wurde entwickelt, um auf der Basis der Bindungstheorie (Bowlby, 1975; Ainsworth, Blehar, Waters & Wall, 1978; Main, 1982) empirisch fundierte Grundlagen für ein konsequent am Klientenzentrierten Konzept orientiertes, differenzielles Therapeutenverhalten zu schaffen (Höger, 1995). Die diesbezüglichen Untersuchungen zeigen, dass sich Patienten aufgrund ihrer Erwartungen an die therapeutische Beziehung in fünf unterschiedliche Gruppen einteilen lassen, die den von Ainsworth et al. (1978) identifizierten Bindungsmustern entsprechen: sicher, unsicher-vermeidend (in den beiden Varianten »verschlossen« und »öffnungsbereit«) und unsicher-ambivalent (in den zwei Varianten »verschlossen« und »anklammernd« (Höger, 1999).
Die symptomatischen Beschwerden: SCL-90-R Die »Symptom-Checkliste« von Derogatis (SCL90-R), übersetzt und adaptiert von G. H. Franke (1995), erfasst anhand von neun Skalen die Be-
Die Auswertung der Tests zum Zeitpunkt des Erstgesprächs (Prätest) ergab bei Annette in fast allen Bereichen klinisch relevante Befunde, die die Notwendigkeit einer psychotherapeutischen Behandlung unterstreichen. Aufgrund ihrer Selbstdarstellung im BFKE wurde die Patientin dem Bindungsmuster unsicher-vermeidend (verschlossene Variante) zugeordnet. Sie gibt sich in bindungsrelevanten Situationen betont neutral und nimmt eigene Akzeptanzprobleme nicht wahr (7 Kap. 4.7.4).
Außerdem gibt ein Gesamtwert (GS) über die allgemeine Symptombelastung Auskunft.
Interpersonale Probleme: IIP-D Das »Inventar zur Erfassung interpersonaler Probleme – deutsche Version (IIP-D)« von Horowitz, Strauß und Kordy (1994) erfasst auf acht Teilskalen und einer Gesamtskala Probleme im Umgang mit anderen Menschen. Die Teilskalen erfassen die folgenden Aspekte: 1. zu autokratisch/dominant 2. zu streitsüchtig/konkurrierend 3. zu abweisend/kalt 4. zu introvertiert/sozial-vermeidend 5. zu selbstunsicher/unterwürfig 6. zu ausnutzbar/nachgiebig 7. zu fürsorglich/freundlich 8. zu expressiv/aufdringlich Eine Gesamtskala respräsentiert die allgemeine Problembelastung im interpersonalen Bereich. Ausführlichere Informationen zu diesem Test finden sich z. B. bei Brähler, Schumacher und Strauß (2002).
8.4.6
Diagnose nach ICD-10
Nach den beschriebenen Symptomen handelt es sich bei Annette um einen psychogen bedingten Appetitverlust, verbunden mit erheblichem Gewichtsverlust (F50.8), der als Anpassungsstörung an die gravierende Veränderung der Lebenssituation – die Mutter verließ »urplötzlich« die Familie – zu verstehen ist (F43.28).
206
8
Kapitel 8 · Indikationsstellung
Im Abschnitt F43 der ICD-10 werden Reaktionen auf schwere Belastungen klassifiziert. Diese Störungen werden durch ein oder zwei ursächliche Faktoren ausgelöst: ein außergewöhnlich belastendes Lebensereignis, das eine akute Belastungsreaktion hervorruft oder eine besondere Veränderung im Leben, die zu einer anhaltend unangenehmen Situation führt und schließlich eine Anpassungsstörung hervorruft. Wesentlich ist, dass die Störung ohne das belastende Ereignis nicht entstanden wäre (Weltgesundheitsorganisation, 1993, S. 167). In der Beschreibung des Störungsbildes F43.2 – der Anpassungsstörung – wird aufgezeigt, wie nach einer entscheidenden Lebensveränderung bzw. einem belastenden Lebensereignis Zustände subjektiven Leidens und emotionaler Beeinträchtigung eintreten. Diese behindern soziale Funktionen und Leistungen während des Anpassungsprozesses an das auslösende belastende Ereignis. Zwar spielen die individuelle Disposition oder Vulnerabilität der Betroffenen bei dem möglichen Auftreten und der Form der Anpassungsstörung eine größere Rolle als bei anderen Krankheitsbildern von F43, aber es ist davon auszugehen, dass das Krankheitsbild ohne die Belastung nicht entstanden wäre. Die Therapeutin notiert noch als ergänzende Bemerkung zu der von ihr gestellten ICD-10-Diagnose: Die Diagnose einer Anpassungsstörung schließe nach ihrer klinischen Erfahrung nicht aus, dass auch Symptome einer posttraumatischen Belastungsstörung (z. B. vegetative Übererregbarkeit mit Vigilanzsteigerung, eine übermäßige Schreckhaftigkeit und Schlaflosigkeit, ein andauerndes Gefühl von Betäubtsein und emotionaler Stumpfheit) das klinische Bild prägen. Das sei auch bei Annete P. zu beobachten.
8.4.7
Anamnese
Vorgeschichte. Annettes Eltern waren noch Schüler,
als sie sich kennenlernten, und sie heirateten unter dem Druck eigener familiärer Verhältnisse schon kurz nach dem Abitur. Nach dem Studium der Eltern wurden kurz hintereinander die beiden Töchter geboren. Die Familie lebte in der DDR mit guten sozialen Kontakten. Annette beschreibt ihre Kindheit als harmonisch und unproblematisch. Zur Mut-
ter habe sie ein nahes, offenes und vertrauensvolles Verhältnis gehabt, unter anderem auch deshalb, weil die Mutter beruflich weniger in Anspruch genommen war. Zum Vater habe ein kameradschaftliches Verhältnis bestanden und die Beziehung zur älteren Schwester sei immer herzlich gewesen. Bis in die Pubertät sei Annette ein sehr lebhaftes und selbstbewusstes Kind gewesen, ihre Schwester hingegen eher scheu. Das habe sich dann aus unerklärlichen Gründen geändert – Annette sei zurückhaltender und stiller geworden, während die Schwester nun temperamentvoller reagiert hätte. Annette habe dies aber als nicht problematisch empfunden, sie sei sich am ehesten in der Schule durch die Aufforderungen der Lehrer, sich mehr am Unterrichtsgeschehen zu beteiligen, ihrer Zurückhaltung bewusst geworden. Die Familie hat offenkundig relativ angepasst in der DDR gelebt (die Mutter war Lehrerin), bis die Eltern Ende der 80er-Jahre Verwandte »im Westen« besuchen durften und begeistert vom Leben dort zurückgekehrt seien. Es wurde der Entschluss gefasst, die DDR zu verlassen und 1989 dies über die damals schon durchlässige ungarische Grenze zu versuchen. Dennoch sei die Flucht sehr aufregend und gefährlich gewesen, und das damals zehnjährige Mädchen habe dabei viel Angst erlebt. Die Trennung von der Heimat habe sie allerdings als unproblematisch erfahren, da »im Westen« dann alles so toll war und sie die Schule als sehr kinderfreundlich wahrgenommen habe. Nur den Verlust des großen Gartens und der Katze habe sie sehr bedauert. Die Eltern hätten dann rasch Arbeit und eine schöne Wohnung gefunden, wodurch eine Integration im neuen Umfeld ziemlich problemlos und rasch erfolgte. Trotz aller Harmonie im Familienleben habe es auch Bereiche gegeben, in denen Annette ihre Mutter als streng und unnachgiebig erlebte. So seien der Mutter sehr gute Schulleistungen der Töchter außerordentlich wichtig gewesen. In der Pubertät habe Annette die Schule plötzlich weniger bedeutet und als sich ihr Notendurchschnitt am Ende der achten Klasse von 1,6 auf 2,4 veränderte, habe die Mutter stark enttäuscht und sehr ärgerlich reagiert, und Annette hätte sich danach intensiven Kontrollen unterziehen müssen (Vorzeigen der Schularbeiten, zusätzliches Lernpensum u.ä.), die bis zum Auszug der Mutter anhielten. Der Notendurch-
207 8.4 · Beispiel einer Indiaktionsstellung: Die Patientin Annette P.
schnitt der Tochter habe sich dadurch allerdings verbessert (auf 1,8). Annette schildert ihre Mutter außerdem als extrem ordentlich. Den Familienmitgliedern blieb immer unbegreiflich, wie heftig die Mutter auf Unordnung oder auch versehentlich Verschüttetes reagierte, meist mit tränenreichen Zornesausbrüchen, als wäre sie persönlich verletzt worden. Um die Mutter zu beruhigen bzw. gar nicht erst zu erregen, hätten sich alle bemüht, den ausgeprägten Ordnungswünschen der Mutter zu entsprechen. Nahezu zwanghaft habe das Putzritual der Wohnung immer an erster Stelle gestanden – kein Sommerwetter oder keine spontane Idee hätten die Mutter von ihrem Putzvorhaben – in das die gesamte Familie einbezogen wurde – abbringen können. Bezüglich der psychosexuellen Entwicklung der Töchter habe es Offenheit gegeben – die Freunde der Töchter wurden akzeptiert und nahmen am Leben der Familien teil. Auch die Freundinnen der Töchter durften am Familienleben teilhaben. Die Ehe der Eltern habe die Jugendliche als harmonisch und offen empfunden. Es sei aus ihrer Sicht immer über alles gesprochen worden (Nach der Trennung der Eltern erfuhr Annette allerdings vom Vater, dass die Mutter schon sehr früh eine verheimlichte Liebesbeziehung hatte – als diese per Zufall offenbar wurde, habe sich der Vater sehr darum bemüht, den Wünschen der Mutter gerecht zu werden). Die Mutter habe sich stets Zeit für gründliche Erklärungen und Gespräche genommen. Umso bestürzender habe Annette dann die zunächst unerklärlichen Veränderungen zwischen den Eltern erlebt. Die Mutter habe dem Vater wohl wenige Wochen vor der Trennung mitgeteilt, dass sie sich wegen eines anderen Mannes von der Familie trennen wolle. Dies wurde hinter verschlossenen Türen besprochen, was sehr untypisch für die bisherigen Familiengepflogenheiten gewesen sei. Die Mutter habe auch das elterliche Schlafzimmer verlassen und unter Vorwänden abwechselnd in den Zimmern der Töchter geschlafen, wenn diese bei ihren Freunden waren. Sie sei unbegründet verreist bzw. sei auch mal über Nacht nicht nach Hause gekommen. Annette habe dies alles sehr irritiert, so dass sie schließlich nachfragte, von den Eltern jedoch nur ausweichende Antworten erhalten habe. Diese unklare Situation wäre dann so unheimlich für die Tochter geworden,
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dass sie die Mutter zur Rede gestellt habe. Bei dieser Unterredung habe diese beiden Töchtern ihre Trennungsabsicht mitgeteilt, eine Begründung dieses Schrittes jedoch mit den Worten verweigert: »Du kannst das nicht verstehen, weil du noch zu jung bist«. Annette habe mit starkem Weinen reagiert, was über viele Tage hinweg immer wieder hervorbrach, worauf die Mutter in keiner Weise eingegangen sei. Fassungslos habe sie dann den kurzfristigen Auszug der Mutter erlebt (ihre Schwester war zu diesem Zeitpunkt auf Klassenreise, der Vater war beruflich unterwegs). Bestürzend sei für sie die eigentliche Abschiedsszene gewesen: Annette sah hilflos zu, wie ihre Mutter ihre Sachen gemeinsam mit ihrem neuen Freund packte – in einer Stimmung, als ginge sie auf eine Urlaubsreise. Fast vergnügt habe sie sich dann von der betroffenen und entsetzten Tochter verabschiedet, ohne zum Ausdruck zu bringen, wie schlimm dies für Annette sein könne. Annette habe sich in dieser Situation völlig überfordert und hilflos gefühlt und habe schließlich (da sie für den Familieneinkauf zuständig war) die Mutter nach etwas Haushaltsgeld gefragt, denn es hätten noch Lebensmittel besorgt werden müssen und das Haushaltsportemonnaie sei leer gewesen. Fast verächtlich habe die Mutter darauf geantwortet: »Das geht mich jetzt nichts mehr an!« Das habe Annette zutiefst erschüttert. Eine solche Verwandlung habe sie bei der Mutter, die sie stets offen, liebevoll und fürsorglich erlebt habe, niemals erwartet und diese Veränderung bliebe ihr – neben dem Verlust – unbegreiflich. Dass die Mutter ihr weder Trost noch Verständnis für ihre Verzweiflung entgegenbrachte, habe sie tief verletzt. Auch der Vater habe heftig auf die Trennung reagiert. Er habe vermehrt Alkohol getrunken (Annette traf ihn zweimal betrunken an) und sei depressiv geworden. Die ärztlich verordneten Antidepressiva hätten aber starke belastende Nebenwirkungen gehabt (Ohnmachtsanfälle). Auch das schockierte Annette. Die Schwester habe ebenfalls verzweifelt reagiert, durch die Vorbereitung auf das Abitur aber wohl eine Kompensationsmöglichkeit gefunden. Annette habe sich in der neuen Situation kaum zurechtfinden können. Sie habe zur Mutter stets ein so nahes und offenes Verhältnis gehabt, dass sie deren verändertes Verhalten nicht verstehen konnte.
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Kapitel 8 · Indikationsstellung
Sie habe sich verlassen gefühlt und sie habe immer wieder denken müssen: »… ich bin meiner Mutter nichts mehr wert, da es sie nicht interessiert, wie sehr mich ihr Verhalten – fortzugehen und nichts zu erklären – verletzt …« Sie habe das Vertrauen zur Mutter verloren und zweifele an allem, was diese ihr je zuvor an liebevollem und einfühlsamen Verhalten gezeigt habe. Annette sei wie betäubt gewesen, sie habe nicht schlafen und nicht essen können. In der Schule und bei ihren Freunden habe sie ihren Schmerz versucht zu verbergen. Da dies nicht wirklich möglich war, habe sie sich immer mehr zurückgezogen. Auch von ihrem Freund habe sie sich schließlich getrennt – er habe die Mutter verurteilt – das habe sie nicht ertragen. Sie habe Hilfe nicht annehmen können, da sie von sich erwarte, alle Probleme selber zu bewältigen. Sie habe aber auch über den Verlust nicht reden wollen, um den damit verbundenen schmerzlichen Gefühlen nicht ausgeliefert zu sein. Aktuelle Situation. Durch ihr gestörtes Essverhalten verlor Annette immer mehr an Gewicht. Die Familie hätte das – ebenso wie sie selber – zunächst nicht bemerkt. Der Vater sei auch viel außer Haus gewesen (viel Arbeit und der Versuch einer neuen Beziehung) und die Schwester lebte weitgehend beim Freund. So habe es auch kaum noch gemeinsame Mahlzeiten gegeben (vor der Trennung habe sie mit der Mutter immer gefrühstückt; es habe regelmäßig Mittagessen gegeben, da die Mutter halbtags gearbeitet habe, und vor allem das gemeinsame Abendbrot, welches abwechselnd gekocht wurde, sei wichtig gewesen). Annette war sich weitgehend selbst überlassen, es fehlte plötzlich die fürsorgende Mutter, und mit ihrem Schmerz vermochte sich Annette niemandem anzuvertrauen. Ihre Abmagerung wurde missverstanden, besonders von der Mutter, die diese offenkundig nicht als Reaktion auf die Trennung der Eltern verstand, sondern als gezielte Diät der Tochter. Annette ist noch immer verletzt, dass die Mutter ihren Schmerz ignorierte und anfänglichen Versuchen von Annette, sich mit der Mutter auszusprechen, ausgewichen ist. Die Trennung der Eltern und der damit verbundene Verlust eines »heilen Elternhauses« ist für Annette schlimm gewesen. Noch schlim-
mer erlebte Annette den Verlust der Mutter als verständnisvolles, einfühlsames und fürsorgendes Gegenüber: Sie berichtete, dass die Mutter nie anriefe oder vorbei käme, was die Mutter damit begründe, dass sie den Vater nicht treffen wolle. Sie frage nur nach oberflächlichen Dingen. Deutlich wurde aus diesen Schilderungen, dass die Mutter die Verlassenheitsgefühle der Tochter weiterhin ignorierte. Sie übersah auch die ganze praktische Not der Tochter, die sich abrupt alleine in einem Haushalt zurechtzufinden musste, der vorher von ihr strukturiert und geführt worden war (auch wenn Annette zahlreiche Haushaltspflichten wahrgenommen hatte).
8.4.8
Überlegungen zur Genese der Erkrankung und zur auslösenden Situation
Die folgenden Überlegungen zur Genese der psychosomatischen Erkrankung von Annette werden auf dem Hintergrund der ätiologisch orientierten Krankheitslehre von Biermann-Ratjen und Swildens (1993) vorgenommen. Ihr Modell der klientenzentrierten Psychopathologie zeigt Erklärungsmöglichkeiten psychischer Erkrankungen auf. Zum besseren Verständnis sollen einführend nochmals wichtige Grundbegriffe dieser Entwicklungs- (7 Kap. 4) und Störungslehre (7 Kap. 5) wiederholt werden. Rogers versteht »need for positive regard«, das Bedürfnis nach positiver Beachtung bzw. akzeptierender Zuwendung, als eine zentrale Voraussetzung der psychischen Entwicklung von Menschen überhaupt. Biermann-Ratjen und Swildens (1993) folgern daraus, dass Erfahrungen des Kindes nur dann Selbsterfahrungen werden können, wenn diese von den wichtigen Bindungspersonen empathisch verstanden und bedingungsfrei anerkannt werden. Die Autorin übersetzt deshalb »need for positive regard« mit dem Ausdruck »Bedürfnis nach Anerkennung«. Eine ganz wesentliche Erkenntnis der klientenzentrierten Krankheitslehre beinhaltet also Folgendes: Werden Erfahrungen und deren Bewertungen sowie ihr affektiver Ausdruck von wichtigen Bindungspersonen nicht anerkannt, so können sie nicht Selbsterfahrung werden und somit auch nicht in das Selbstkonzept integriert werden. Im Selbstkonzept finden
209 8.4 · Beispiel einer Indiaktionsstellung: Die Patientin Annette P.
sich also organismische und sozial positiv bewertete, d. h. anerkannte Erfahrungen. Zur Erklärung psychopathologischer Phänomene definiert die klientenzentrierten Störungsbzw. Krankheitslehre (7 Kap. 5) die Begriffe primäre und sekundäre Inkongruenz. Zur primären Inkongruenz kommt es z. B. dann, wenn wichtige Bindungspersonen Erfahrungen des Kindes negativ bewerten und eine Diskrepanz zwischen dem organismischen Erleben des Kindes und der Resonanz der Bindungspersonen (die Anerkennung fehlt) entsteht. Diese Diskrepanz löst nachgewiesenermaßen Selbstzweifel, Minderwertigkeitsgefühle, Verhaltensund Erfahrungseinschränkungen aus (Speierer, 1990, S. 98). Die nicht anerkannten Erfahrungen können nicht oder nur unvollständig in das Selbstkonzept integriert werden. Zu dieser primären Inkongruenz kommt es in den ersten Lebensjahren, wenn das Selbstkonzept sich noch in der Entwicklung befindet und also noch sehr verletzlich ist. Die sekundäre Inkongruenz betrifft ein schon konsolidiertes Selbstkonzept, das aber dann verletzlich ist, wenn mit dem bestehenden Selbstkonzept unvereinbare oder schwer integrierbare Erfahrungen sich ereignen, z. B. traumatische Lebensereignisse oder lebensphasen-gebundene belastende Erfahrungen. Durch die mit der Selbstachtung und dem Selbstkonzept unvereinbaren Ereignisse entsteht eine konflikthafte Spannung – also die sekundäre Inkongruenz –, die zu einer Stagnation der Selbstentwicklung führen kann. Da die Therapie von Annette als klientenzentrierte Krisenintervention angelegt war, lag der Fokus der therapeutischen Arbeit auf dem Verstehen und Integrieren der traumatischen Erfahrungen, die direkter Auslöser der Erkrankung waren, d. h. auf der sekundären Inkongruenz und der Stagnation der Selbstentwicklung. Im Rahmen der Kurzzeittherapie können Anteile, die durch eine primäre Inkongruenz bedingt sind, in der Regel nicht ausreichend bearbeitet und verstanden werden. Wie bereits erwähnt, spricht die individuelle Disposition bzw. der Grad der Vulnerabilität eines Menschen bei dem möglichen Auftreten und der Art der Anpassungsstörung eine gewisse Rolle. Im vorliegenden Fall können wir jedoch davon ausgehen, dass Annette nicht erkrankt wäre, hätten sich ihre Eltern nicht – zumal auf diese Weise – getrennt.
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Für die individuelle Disposition bzw. Vulnerabilität sind die primäre Inkongruenz und das daraus resultierende mehr oder weniger konsolidierte Selbstkonzept entscheidend. Dass Annettes Selbstkonzept verletzlich ist, lässt sich durch ihre biographischen Schilderungen erschließen. Als die in der DDR »sozial gut integrierte« Familie in den Westen geht, wird nicht der Verlust von Freundschaften, Nachbarschaften oder Berufskollegen bzw. Schulfreunden beklagt, sondern vermisst wird der große Garten und die Katze. Das angeblich offene und harmonische Familienklima war möglicherweise durch Abschirmung nach außen und Konfliktvermeidung im Inneren gekennzeichnet. Dafür spricht, dass die Mutter binnen kürzester Zeit diese »harmonische Familie« verlassen konnte, ohne sich um die seelischen Verletzungen der Töchter zu kümmern. Annette hatte auch noch keine ausreichend kritische Distanz zur Mutter entwickeln können (mit immerhin achtzehn Jahren) und fühlte sich von der Fürsorge von ihr noch abhängig. Sie hatte im Selbstkonzept verankert: »Ich löse meine Probleme ohne Hilfe anderer«, was ihr dann im eingetretenen Extremfall doch nicht gelang. Das macht deutlich, dass einerseits innerfamiliär nur unzureichende Konfliktbewältigungsstrategien entwickelt worden sind, dass es andererseits aber verboten war, sich außerhalb der Familie Hilfe zu suchen, weil es den Wert und die Bedeutung der Familie herabgesetzt hätte. Innerfamiliäre Bewältigungsmöglichkeiten (offene Aussprache, gegenseitige Unterstützung, einfühlendes Verstehen und ähnliches) konnten nicht sonderlich entwickelt sein – sonst hätte Annette nicht dieses Ausmaß ihrer Erkrankung erfahren müssen. Es ist schwer vorstellbar, dass die Mutter »immer« liebevoll und einfühlsam reagierte, wenn sie nun, als es wirklich notwendig war, Annettes Not ignorierte und die Zeichen dafür fehl deutete (»Diät«). Auch der Vater zeigte inadäquate Bewältigungsstrategien (Alkohol, Depression, Flucht in Arbeit und neue Beziehung), ebenso die Schwester (Flucht zum Freund und in die Abiturvorbereitungen). Erst gegen Ende der Therapie erlaubte sich Annette erstmals, ihre Mutter kritischer zu sehen und berichtete von deren zornigen Reaktionen auf die schulische Notenveränderung in der achten Klasse
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Kapitel 8 · Indikationsstellung
sowie von dem fast zwanghaft durchzuführenden Putzritual und den heftigen Vorwürfen bei Verletzungen der mütterlichen Ordnung. Es ist davon auszugehen, dass diese rigiden Reaktionen schon seit langem bestanden und sich der Zorn der Mutter auch auf die spielerische und lustvolle Unordnung der kleinen Töchter richtete, was zu einer Diskrepanz zwischen organismischen Erleben der Kinder und der fehlenden Anerkennung der Bindungsperson – der Mutter – führte. Offen bleibt auch, was in der Pubertät zu Annettes Temperamentswechsel (zeitgleich zur Veränderung der Schulnoten oder als Reaktion auf die mütterlichen »Fördermaßnahmen«) führte. Auch hier liegt die Vermutung nahe, dass wesentliche Erfahrungen seitens der Eltern nicht verstanden und somit nicht in das Selbstkonzept integriert werden konnten, denn Annette berichtete zwar davon in der Therapie, jedoch ohne eigenes Erklärungsmodell. Aus dem Bielefelder Klientenerwartungsbogen ergibt sich der deutliche Hinweis, dass Annette über kein sicheres Bindungsverhalten verfügt (allgemeiner Hinweis auf primäre Inkongruenz), sondern dass ihr Bindungsverhalten als unsicher-vermeidend einzuordnen ist. Annette erlebte die Art und Weise der Trennung der Mutter – ohne Erklärung, sowie Trost und Verständnis versagend – als schockierend. Der Verlust der bis dahin als fürsorgend und strukturierend erlebten Mutter löste eine Hilflosigkeit in der Bewältigung des Lebensalltages aus (zumal der Vater und die Schwester wenig präsent waren). Gravierender und somit entscheidend für die Auslösung der Erkrankung war aber das mangelnde Verständnis der Mutter dafür, was Annette der Auszug der Mutter bedeutete bzw. wie sehr sie dies erschütterte. Liebevolle Einfühlung, Akzeptanz des Verlustschmerzes, Trost, Unterstützung bei der Bewältigung des nun führungslosen Haushaltes durch die Mutter hätten vermutlich die massive Anpassungsstörung milder verlaufen lassen. Die fehlende Möglichkeit, die Trauer über das belastende Lebensereignis, welches neue unvereinbare (»harmonische Familie«) und schwer integrierbare Erfahrungen bereit hielt, trostvoll begleitet zu leben (die Mutter ignorierte den Schmerz, der Vater betäubte sich, die Schwester war sicher überfordert, anderen Menschen »durfte« Annette nicht die Pein-
lichkeit der Situation offenbaren und war entsprechend dazu auch nicht in Lage) führte zu einer sekundären Inkongruenz. Der Fortgang der Mutter untergrub die Selbstachtung (»Was bin ich ihr noch wert?«) – die neue belastende Situation war unvereinbar mit dem Selbstkonzept (»Ich bin Teil einer liebevollen, harmonischen Familie«). Diese sekundäre Inkongruenz führte zu einer Stagnation der Selbstentwicklung, die sich leib-seelisch im Appetitverlust, den Schlafstörungen, der Depression und der sozialen Isolation ausdrückte.
8.4.9
Planung der Behandlung
Formal. Es wurde eine klientenzentrierte Gesprächs-
psychotherapie – zunächst einmal wöchentlich, später dann niederfrequent – mit 60-minütiger Sitzungsdauer vereinbart. Inhaltlich. Im Erstgespräch artikulierte Annette mit
depressivem Ausdruck ihre Symptomatik und vor allem, wie sehr sie sich seitens der Mutter in ihrer Verzweiflungsreaktion auf die Trennung der Eltern unverstanden fühle. Ihr sei unbegreiflich, was mit ihrer früher als fürsorglich und liebevoll erlebten Mutter geschehen sei, deren Veränderung (und nicht nur die Trennung an sich) sei schockierend für sie. Weiterhin verstünde sie auch nicht, weshalb sie körperlich so stark auf den Auszug der Mutter reagiere. Diese Schilderung machte der Therapeutin deutlich, dass die Symptome der vorliegenden Anpassungsstörung (ICD-10 F43.28 und F50.8) für die Jugendliche zutiefst unbegreiflich waren und durch den Mangel an Empathie, Bedingungsfreier Positiver Beachtung und Kongruenz seitens der Mutter in dieser aktuellen Situation das eingangs beschriebene Ausmaß erreichte. Die Schwere der Störung und der untertriebene, inadäquate Ausdruck derselben im Erstgespräch (Annette wirkte wie erstarrt, bewegte sich kaum während ihrer Schilderungen, zeigte keine Tränen und sprach mit leiser, kaum modulierter Stimme) gaben mir – später zu bestätigende – Hinweise darauf, dass in Annettes Familie wohl auch früher durch Mangel an Empathie und Bedingungsfreier Positiver Beachtung der Ausdruck und die Klärung starker Emotionen nur bedingt ermöglicht wurden. Aufgrund dessen konnten – wie die Anpas-
211 8.5 · Differenzielle Indikation
sungsstörung zeigt – wesentliche Erfahrungen von Annette nicht verstanden (weil wichtige Bindungspersonen – die Eltern, insbesondere die Mutter nicht begriffen und angemessen auf sie reagierten) und also nicht in Annettes Selbstkonzept integriert werden. Die Art der Beziehung, die ein Gesprächspsychotherapeut zum Patienten sucht, eröffnet für den Patienten die Möglichkeit, bisher unverstandene Erfahrungen zu verstehen und somit in das Selbstkonzept integrieren zu können. Aufgrund von Annettes heftiger psychosomatischer Reaktion rechnete die Therapeutin mit einer gewissen Sprachlosigkeit der Patientin. Ihre Erkrankung bewertete sie als Versuch, etwas zur Sprache zu bringen, was sie anders nicht auszudrücken in der Lage war. Als Hinweis für ihr eigenes Verhalten wertete die Therapeutin, dass sich Annette von ihrem Freund getrennt hatte, als dieser die Mutter kritisierte. Es galt also in der Therapie bezüglich des mütterlichen Trennungsverhaltens möglichst neutral zu bleiben, es nicht zu bewerten und es nur hinsichtlich von Annettes Gefühlen zu verstehen – also zu begreifen, was die Trennung in Annette ausgelöst hatte. Als eigene Reaktion auf die Patientin hält die Therapeutin weiterhin fest: »Ich merkte, dass die hilflos und ›zur Behandlung geschickt‹ wirkende Jugendliche eine Form der Bedingungsfreien Positiven Beachtung brauchte, die Tausch und Tausch (1990, S. 66) mit ›nicht besitzergreifender Fürsorge‹ umschrieben haben. Zugleich stellte ich fest, dass die Schwere der vorliegenden Störung und die ausgedrückte Hilflosigkeit in mir akzeptierende Wertschätzung mobilisierten, getragen von Fürsorglichkeit, so dass ich Annette einen Therapieplatz ›einrichtete‹, obwohl mein Zeitkontingent recht begrenzt war.« Prognose. Die Therapeutin schätzte die Prognose
günstig ein, da ihr deutlich war, dass Annette dringend einer verständnisvollen, aufmerksamen und einfühlsamen Gesprächspartnerin bedurfte. Sie brauchte Raum, um sich in einer bedingungsfreien akzeptierenden Atmosphäre ihren akuten seelischen Verletzungen zuwenden zu dürfen. Das ausführliche Sprechen über den Verlust der Mutter als warmherzigem und einfühlsamen Gegenüber, dass Explo-
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rieren aller dazugehörigen Gefühle, vor allem Trauer und Zorn, mit einer kongruenten Therapeutin ließen die Prognose für Annette positiv erscheinen. Die Therapeutin notiert dazu Folgendes: »Bei der prognostischen Einschätzung ließ ich mich mehr von meiner klinischen Erfahrung als von der Motivation, der Verbalisierungsfähigkeit bzw. dem Ausmaß der Selbstexploration der Jugendlichen – das eher schwach ausgeprägt erschien – leiten.«
8.5
Differenzielle Indikation J. Eckert
Von differenzieller Indikation spricht man, wenn für einen bestimmten Patienten mit einer bestimmten psychischen Störung die Therapie ausgewählt wird, von der er mit größter Wahrscheinlichkeit am stärksten profitieren wird. Definition Differenzielle Indikation ist die Auswahl des für einen bestimmten Patienten optimalen psychotherapeutischen Verfahrens.
Orlinsky und Howard (1987) haben auf der Grundlage von mehreren Tausend empirischen Prozessund Ergebnisstudien das Allgemeine Modell von Psychotherapie (AMP) entwickelt. Dieses Modell stellt einen konzeptuellen Rahmen zur Verfügung, der einen systematischen Vergleich der verschiedenen klinischen Theorien (therapieschulenspezifische Konzepte) ermöglicht, und versucht, die verschiedenen bestehenden psychotherapeutischen Behandlungsmodelle zu integrieren (7 auch Orlinsky, 1994). Das AMP benennt auch die wichtigsten Faktoren, die auf das Ergebnis einer Psychotherapie Einfluss nehmen, und stellt ihre wechselseitige Beeinflussung in Rechnung. Die systematische Beachtung dieser Faktoren stellt die derzeit wohl am besten fundierte Grundlage für eine differenzielle Indikationsstellung im Bereich Psychotherapie dar. Bevor diese differenzielle Indikationsstellung praxisnah dargestellt wird, soll der Teil des AMP vorgestellt werden, der für die differenzielle Indikationsstellung wesentlich ist.
212
Kapitel 8 · Indikationsstellung
8.5.1
Die vier Passungen des Allgemeinen Modells von Psychotherapie
4. Die therapiebezogenen und persönlichen Merkmale des Patienten . Abb. 8.1 ist zu entnehmen, dass sich ein Therapie-
. Abb. 8.1 zeigt die vier wichtigsten Faktoren, die
einen psychotherapeutischen Prozess und das Ergebnis einer Psychotherapie maßgeblich beeinflussen: 1. Das Behandlungsmodell des Therapeuten 2. Die »Erkrankung« des Patienten 3. Die therapiebezogenen und persönlichen Merkmale des Therapeuten
erfolg mit hoher Wahrscheinlichkeit dann einstellt, wenn die folgenden vier Passungen gegeben sind: 1. Die Passung Therapeut – Patient (personale und therapiebezogene Merkmale) 2. Die Passung Therapeut – Erkrankung des Patienten (z. B. Art und Erscheinungsbild)
8
. Abb. 8.1. Die vier Passungen für eine erfolgreiche Psychotherapie im Allgemeinen Modell von Psychotherapie (AMP) von Orlinsky und Howard (1987)
213 8.5 · Differenzielle Indikation
3. Die Passung Patient (Ansprechbarkeit) – Behandlungsmodell des Therapeuten 4. Die Passung Behandlungsmodell – Erkrankung des Patienten Wenn diese Passungen nicht gegeben oder die Merkmale von Therapeut und Patient nicht ausreichend aufeinander abgestimmt sind, werden Behandlungen abgelehnt, oder es kommt zu Therapieabbrüchen oder zu Therapiemisserfolgen. Exkurs
Zur Notwendigkeit einer differenziellen Therapieindikation: Therapeutische Misserfolge Rund 45% aller begonnenen Psychotherapien enden als therapeutische Misserfolge und sind auf Fehlindikationen zurückzuführen. Die Misserfolgsquote von 45% setzt sich zusammen aus der Zahl der Abbrecher (»über 20%«; Grawe, Donati & Bernauer, 1994, S. 726) und der Zahl der nicht erfolgreich behandelten Patienten (25%; a. a. O., S. 729). Diese Quoten haben sich in rund 10 Jahren offenbar nicht wesentlich verändert, wie Jacobi (2002) in einer neueren Zusammenstellung für die Verhaltenstherapie zeigt. Jacobi weist darauf hin, dass zu den Patienten, bei denen kein Therapieerfolg zu verzeichnen ist, auch die gehören, die sich im Stadium der Vorinformation nicht dazu entschließen, die angebotene Verhaltenstherapie aufzunehmen. Der Anteil der »Therapie-Verweigerer« (refusals), die eine Verhaltenstherapie nach Probetherapiesitzungen nicht fortsetzen, beträgt bis zu 25%. Es ist noch nicht ausreichend erforscht, wie viele der Abbrecher und nicht erfolgreich behandelte Patienten von einer anderen als der ursprünglich gewählten Behandlung profitieren. Zwei jüngere Feldstudien im Bereich der Gesprächspsychotherapie (Frohburg, 2003; Eckert, Frohburg & Kriz, 2004) haben gezeigt, dass Patienten, die aus einem sog. Richtlinienverfahren (Verhaltenstherapie oder psychoanalytische bzw. tiefenpsychologisch fundierte
6
8
Psychotherapie) in eine Gesprächspsychotherapie gewechselt sind, von diesem Wechsel in der Weise profitierten, dass sie die gesprächspsychotherapeutische Behandlung erfolgreich abschließen konnten. Als Gründe für den Wechsel gaben sie fehlende bzw. unzureichende Passungen im Sinne des AMP an.
8.5.2
Differenzielle Indikation in der Praxis
In der therapeutischen Praxis wird der Erstinterviewer, wenn er zugleich auch der potentielle Therapeut ist, die Indikationsfrage sukzessiv in folgenden Schritten abzuklären versuchen:
Schritte auf dem Wege zu einer differenziellen Indikationsstellung 1. Ist eine Psychotherapie indiziert? 2. Wenn ja, ist eine Gesprächspsychotherapie bei mir indiziert? 3. Und wenn ja, mit welcher Prognose? 4. Kommt ein anderer Gesprächspsychotherapeut als ich eher in Frage, z. B. ein Therapeut des anderen Geschlechts? 5. Ist eine Gesprächspsychotherapie nicht oder nur mit schlechter Prognose indiziert, dann erhebt sich die differenzielle Indikationsfrage: 6. In welchem therapeutischen Verfahren und bei welchem Therapeuten wären die vier Passungen des AMP am ehesten gegeben?
Prüfung der Passung Therapeut – Patient Die Frage nach der differenziellen Indikation kann in der Praxis der Therapeut, an den sich ein Patient im ersten Anlauf wendet, nicht vollständig beantworten. In der Regel wird ein Therapeut, der die Vermutung hat, dass der Patient von einem anderen Verfahren mehr profitieren könnte als von dem eigenen, diesen Patienten an einen entsprechenden Therapeuten überweisen mit der
214
8
Kapitel 8 · Indikationsstellung
Bitte, die Indikationsfrage in einem Erstgespräch zu klären. Die Empfehlung eines zweiten Erstinterviews zur differenziellen Indikationsstellung bei einem anderen Therapeuten ist zwar für den Patienten aufwändig, entspricht aber dem derzeitigen Wissensstand: Ob die vier Passungen gegeben sind, kann nicht losgelöst von einem konkreten Kontakt zwischen einem Patienten und einem Therapeuten festgestellt werden. Das gilt vor allem für die personale Passung von Therapeut und Patient. Nur in den Erstinterview- und Probetherapiesitzungen kann spürbar und deutlich werden, ob der Therapeut den Patienten eher als sympathisch oder als unsympathisch erlebt, ob Anzeichen von Inkongruenz in ihm auftauchen, z. B. in der Form von Langweile oder Gereiztheit, oder nicht. Für eine eher gute Passung sprechen die folgenden Kriterien: 4 Fehlen von ablehnenden Gefühlen 4 keine Anzeichen von Inkongruenz und der 4 Eindruck, dem Patienten helfen zu können.
Prüfung der Passung Therapeut – Erkrankung (Störung) des Patienten Nicht jeder Therapeut kann jeden Patienten gleich gut behandeln. Dabei spielt die Störung des Patienten eine große Rolle. So ist bekannt, dass viele Therapeuten keine Patienten mit Suchtstörungen behandeln, weil sie sich den Anforderungen einer solchen Behandlung nicht gewachsen fühlen. Hingegen spezialisieren sich andere Therapeuten auf die Behandlung von Suchtkranken. Diese alt bekannte Tatsache hat zu der mehr oder weniger gut eingelösten Forderung geführt, dass Therapeuten schon während ihrer Ausbildung erkennen lernen sollen, welche Störungsbilder ihnen Probleme machen, es ihnen z. B. schwer machen, das therapeutische Beziehungsangebot in der erforderlichen Art und Weise aufrecht zu erhalten. Im Idealfall können durch Supervision und Selbsterfahrung die Gründe dafür nicht nur erkannt, sondern auch behoben werden. In der Regel erwirbt der Therapeut ein Wissen über sich und seine Grenzen, das er bei einer Indikationsstellung zu berücksichtigen hat.
Prüfung der Passung Patient – Behandlungsmodell des Therapeuten Patienten kommen meistens mit bestimmten Vorstellungen darüber, was Psychotherapie ist und wie eine Behandlung aussieht, zum Erstgespräch. Häufig suchen sie aufgrund ihres Wissens über Psychotherapie gezielt einen Therapeuten auf, der ein bestimmtes Therapieverfahren praktiziert. Manche Patienten wünschen sich eine gezielte Behandlung ihrer Symptomatik (»Bloß keine Nabelschau!«), andere gehen davon aus, dass sie durch die Behandlung die Ursachen ihrer Symptome erkennen werden. Es ist also die Passung »Patient – Behandlungsmodell« zu prüfen, wobei wir »Behandlungsmodell« mit dem anschaulicheren Begriff »therapeutisches Beziehungsangebot« gleichsetzen. Die Unterschiede zwischen den therapeutischen Beziehungsangeboten der verschiedenen Therapieverfahren zeigen sich darin, worauf sich die Aufmerksamkeit des Therapeuten im therapeutischen Prozess richtet.
Unterschiede in den Beziehungsangeboten von Psychotherapieverfahren bzw. der Foki der Aufmerksamkeit des Therapeuten
5 Der Fokus eines Psychoanalytischen Therapeuten: Ich richte mein Augenmerk auf Deine Inszenierungen, vor allem auf das, was Du mit mir (in der Übertragung) in Szene setzt, und ich entschlüssele Dir deren unbewussten Sinn. 5 Der Fokus eines Verhaltenstherapeuten: Ich richte mein Augenmerk vor allem auf Deine Symptome und Dein problematisches Verhalten und kümmere mich um die Bedingungen, unter denen Du sie erworben hast und die sie aufrecht erhalten. 5 Der Fokus eines Gesprächspsychotherapeuten: Ich richte mein Augenmerk auf Dich und Deine Gefühle und versuche Dich und sie zu verstehen und das, was ich verstanden habe, ohne Bedingungen zu akzeptieren.
215 8.5 · Differenzielle Indikation
Diesen unterschiedlichen Beziehungsangeboten stellen wir als Beispiel drei Patienten mit unterschiedlichen Bindungserfahrungen, d. h. mit einem erworbenen Muster von Beziehungserwartungen gegenüber (Biermann-Ratjen & Eckert, 1982). Dabei gehen wir vor dem Hintergrund des AMP von folgendem Zusammenhang aus: Je besser Beziehungserfahrungen und Behandlungsfokus übereinstimmen, d. h. zueinander passen, um so günstiger ist das für den Therapieprozess und für das Therapieergebnis. 4 Ein Patient, dessen Beziehungserwartung vor allem darin besteht, dass er immer und überall etwas wahrnimmt, erlebt oder vermutet, das zu dem ausgeprägten Bedürfnis in ihm führt, sich und andere zu kontrollieren, wie es z. B. bei vielen Zwangskranken der Fall ist, wird vermutlich bei einem Verhaltenstherapeuten besser aufgehoben sein als in einer analytischen Therapie. 4 Ein Patient, der seine Beziehungserfahrungen fast ausschließlich in der Ausbildung psychosomatischer Symptome und Beschwerden symbolisiert bzw. bewusst werden lässt und der kaum über Möglichkeiten verfügt, seine Erfahrungen auch in Gefühlen zu symbolisieren, wird es bei einem Gesprächspsychotherapeuten wahrscheinlich schwerer haben als bei einem Psychoanalytiker, der in den Körpersymptomen den Ausdruck von Übertragungsgefühlen zu sehen bereit ist. 4 Ein Patient z. B. mit einer Borderline-Persönlichkeitsstörung, dessen Beziehungserfahrungsmuster vor allem darin besteht, sich von anderen missbraucht zu sehen, und der glaubt, durch Anpassung, Bravsein und sich anstrengen seine Angst erfolgreich überwinden zu können, ist bei einem Gesprächspsychotherapeuten, der von ihm nichts will, als ihn zu verstehen, vermutlich besser aufgehoben als bei einem Verhaltenstherapeuten, wenn er sich bei diesem zum Objekt eines fähigen Therapeuten gemacht fühlen könnte. Ein weiteres Kriterium zur Beurteilung der Passung Patient – Behandlungsmodell des Therapeuten ist eine ausreichende Ansprechbarkeit des Patienten auf die spezifischen Therapieprozessmerkmale: Ist ein Patient hinreichend »übertragungsfähig« und »übertragungsbereit« (psychoanalytische Thera-
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pie), ist das Ausmaß an Selbstexploration ausreichend (Gesprächspsychotherapie) oder kann er hinreichend gut visualisieren, so dass eine systematische Desensibilisierung (VT) durchgeführt werden kann? Ein drittes Kriterium zur Beurteilung der Passung Patient – Behandlungsmodell des Therapeuten ist die Möglichkeit einer Problemaktualisierung. Sowohl das Therapieverfahren, als auch das Therapiesetting sollten für einen Patienten unter dem Gesichtspunkt ausgewählt werden, dass eine möglichst hohe Wahrscheinlichkeit dafür besteht, dass seine jeweiligen problematischen Beziehungserfahrungen, -erwartungen und -muster sichtbar und erlebbar und zum Gegenstand der therapeutischen Arbeit werden können (Biermann-Ratjen & Eckert, 1982). ! Die drei Kriterien der Passung Patient –
Behandlungsmodell Es wird empfohlen, für die Prüfung der Abstimmung zwischen dem therapeutischen Beziehungsangebot und der Person des Patienten, vor allem im Hinblick auf seine Beziehungserwartungen und Erfahrungsbereitschaften, drei Kriterien anzulegen: 4 Gibt es eine ausreichende Übereinstimmung zwischen dem spezifischen Beziehungsangebot des Verfahrens und den Beziehungserwartungen des Patienten? 4 Gibt es eine ausreichende Übereinstimmung zwischen den spezifischen Therapieprozessmerkmalen und der Ansprechbarkeit des Patienten auf diese Merkmale? 4 Sind Therapieverfahren und Setting geeignet, die problematischen Erfahrungsbereitschaften sichtbar – und damit auch bearbeitbar – werden zu lassen?
Prüfung der Passung Behandlungsmodell des Therapeuten – Erkrankung (Störung) des Patienten Nicht jeder Patient wird mit einem bestimmten therapeutischen Verfahren mit dem gleichen Erfolg behandelt. Bei diesen unterschiedlichen Behandlungserfolgen spielt die Art der Erkrankung des Patienten eine wichtige Rolle. Es gilt z. B. als klinisch gesichertes Wissen, dass Patienten, die an einer Zwangsstörung in der Form von offenen Zwangshandlungen
216
8
Kapitel 8 · Indikationsstellung
leiden, z. B. an einem Waschzwang, von einer Verhaltenstherapie mit höherer Wahrscheinlichkeit profitieren als von einer Gesprächspsychotherapie oder einer Psychoanalyse. Das trifft aber nicht für alle Patienten mit offenen Zwangshandlungen zu, sondern nur für die, die sich auf eine Behandlung einlassen können, in der Reizkonfrontation und Reaktionsverhinderung als therapeutische Mittel eingesetzt werden. Eine nicht unerhebliche Anzahl derart betroffener Patienten lehnt eine solche Behandlung aber ab oder bricht sie vorzeitig ab, weil sie fürchten, dass sie die dabei auftauchende Angst nicht aushalten und daran sterben könnten (»Das hält mein Herz nicht aus«). Allgemein kann man sagen: Die größere Wirksamkeit eines Verfahrens bei bestimmten Störungen wird meistens dadurch relativiert, dass die Inanspruchnahme eher gering und die Abbruchquote hoch ist. Dennoch gilt die Regel, einem Patienten zunächst die Behandlung zu empfehlen, die nachgewiesenermaßen bei der zu behandelnden Störung erfolgreicher als andere zu sein scheint. In der Praxis stehen bei Überweisungen von Patienten an bestimmte Psychotherapeuten häufig die Person des Therapeuten und die Person des
Patienten mit seiner Störung im Vordergrund, z. B.: »Diese Patientin sollten wir an Frau Z. überweisen, die ist doch bekannt dafür, dass sie mit älteren Frauen, die diese Störung haben, gut zurechtkommt.« Diese Überweisungsbegründung berücksichtigt bereits die wesentlichen Passungen des AMP. Die Passung Person des Therapeuten und Person des Patienten wird dann im Erstinterview zu klären sein. Abschließend ist noch darauf hinzuweisen, dass die vier Passungen des AMP keine reliablen Kriterien für eine differenzielle Indikationsentscheidung bereithalten, aber eine sinnvolle Leitlinie für eine solche darstellen. ? Übungsfragen 5 Definieren Sie die Begriffe »Indikation« und »Prognose« und machen Sie dabei die Unterschiede der beiden Begriffe deutlich! 5 Was sind die Ziele einer ICD-10-Diagnostik? 5 Warum reicht für die Indikationsstellung für eine Gesprächspsychotherapie die Diagnose einer Psychotherapie-indikativen Störung nicht aus? Was sollte zusätzlich geprüft werden? 5 Gibt es allgemein gültige Prädiktoren für einen Therapieerfolg? Bitte erläutern!
Exkurs
Gibt es ein Therapieverfahren, das bei einer bestimmten Psychotherapie-indikativen Störung in jedem Fall wirksamer ist als andere Verfahren? Die Antwort lautet: Nein. Bis heute gilt der empirische Befund, dass es im Mittel keine wesentlichen Unterschiede in der Wirksamkeit zwischen den verschiedenen Therapieverfahren gibt. Zu diesem Ergebnis waren Luborsky, Singer und Luborsky bereits 1975 nach einer Metaanalyse vergleichender Therapiestudien gekommen und hatten es mit dem Ausspruch des Dodo-Vogels aus dem bekannten Kinderbuch »Alice im Wunderland« im Untertitel ihrer Publikation zum Ausdruck gebracht: »Everybody has won and all must have prizes«. Neuere Metaanalysen haben dieses Ergebnis bestätigt (Wampold, 2001). Dieses sog. Äquivalenzparadox gilt auch für Vergleiche von klientenzentrierten Verfahren mit
anderen (Elliott, 2002; Elliott, Greenberg & Lietaer, 2003). Vor diesem Hintergrund ist es nicht verwunderlich, dass Lambert und Ogles (2003) in der aktuellsten (5.) Auflage von Bergin and Garfield’s »Handbook of Psychotherapy and Behavior Change« zu dem Resümee kommen, dass Effektivität und Effizienz von »bona-fide-Behandlungen« weitgehend äquivalent sind. Die Antwort lautet auch Nein, weil es nicht das Verfahren allein ist, das Einfluss auf den Ausgang einer Behandlung nimmt. Auch die übrigen Passungen des AMP, in die Therapeut und Patient als Person eingehen, müssen gegeben sein,wenn eine Behandlung eine erfolgreiche sein soll Auch wenn der Therapeut eine nachgewiesenermaßen hoch effiziente Behandlung durchzuführen versucht, wird diese ihre Wirkung nicht entfalten, wenn der Patient z. B. sein Misstrauen gegenüber diesem Therapeuten nicht verliert.
217 8.6 · Weiterführende Literatur
5 Wie sollte ein Indikationsinterview eröffnet werden? 5 Wann ist eine Gesprächspsychotherapie indiziert? Bitte erläutern Sie dazu die einzelnen Indikationskriterien! 5 Wann kann das Vorliegen einer Inkongruenz bei einer Person ausgeschlossen werden? 5 Was ist unter dem »gesprächspsychotherapeutischen Beziehungsangebot« zu verstehen? Inwiefern spielt es eine Rolle als Prognosekriterium für eine Gesprächspsychotherapie? 5 Welche Kriterien lassen sich erheben, um die Ansprechbarkeit des Patienten für das psychotherapeutische Beziehungsangebot zu überprüfen? Ist von einer Gesprächspsychotherapie abzuraten, wenn nur eines der Kriterien vorhanden ist? 5 Weshalb ist die Abstimmung von Therapiezielen zwischen Therapeut und Patient für das Gelingen einer Behandlung von Bedeutung? 5 Wie sollte ein Therapeut gegenüber dem Patienten vorgehen, wenn er eine GT für nicht indiziert oder für kontraindiziert hält? 5 Erklären Sie den Begriff »need for positive regard« und erläutern Sie seine Bedeutung für die psychische Entwicklung eines Menschen! 5 Was ist unter »primärer Inkongruenz« und »sekundärer Inkongruenz« zu verstehen? 5 Nennen Sie die vier Passungen des »Allgemeinen Modells von Psychotherapie« (AMP), das auf Orlinsky und Howard zurückgeht! 5 Was bedeutet »differenzielle Indikation« allgemein und vor dem Hintergrund des AMP? 5 Welche Kriterien sollten bei der Prüfung der Abstimmung zwischen Therapeutischem Beziehungsangebot und den Erfahrungsbereitschaften des Patienten angelegt werden? 5 Gibt es ein Therapieverfahren, das bei einer bestimmten Psychotherapie-indikativen Störung in jedem Fall wirksamer ist als andere Verfahren?
8.6
8
Weiterführende Literatur
Biermann-Ratjen, E.-M, Eckert, J. & Schwartz, H.-J. (2003). Gesprächspsychotherapie. Verändern durch Verstehen. 9. Aufl., Stuttgart: Kohlhammer, S. 141–167. (Es wird auch die Geschichte der Indikationsstellung in der Gesprächspsychotherapie dargestellt) Eckert, J., Höger, D. & Linster, H. (Hrsg.) (1997). Praxis der Gesprächspsychotherapie. Störungsbezogene Falldarstellungen. Stuttgart: Kohlhammer. (Ein Buch, in dem Behandlungsfälle so vorgestellt werden, wie es für den Bericht an den Gutachter bei kassenfinanzierten Therapien erforderlich ist. Dazu gehört auch die Begründung der Indikation)
9 9 Der therapeutische Prozess in der Praxis J. Eckert 9.1
Die therapeutische Beziehung – 219
9.1.1
Das gesprächspsychotherapeutische Beziehungsangebot des Therapeuten – 219 Der Beitrag des Patienten zur gesprächspsychotherapeutischen Beziehung – 226
9.1.2
9.2
Eine Taxonomie in der Klientenzentrierten Therapietheorie – 226
9.3
Therapeutische Handlungsregeln – 229
9.3.1 9.3.2 9.3.3
Nicht-Direktivität – 231 Empathisches Zuhören – 11 Spezifische Zentrierung der Aufmerksamkeit – 231 Verbalisierung der Erfahrung des Patienten – 234
9.3.4
9.4
Gesprächspsychotherapeutisches Handeln in der Praxis: kommentiertes Protokoll einer klientenzentrierten Therapiesitzung – 239
9.5
Verlauf einer Gesprächspsychotherapie – 249
9.5.1 9.5.2 9.5.3
Der Verlauf der Behandlung – 249 Behandlungsergebnisse – 256 Katamnese – 257
9.6
Therapieabschluss – 258
9.7
Typische Behandlungsprobleme – 260
9.8
Störungsspezifisches Vorgehen – 263
9.9
Behandlungsleitlinien (Manuale) in der Gesprächspsychotherapie – 263
9.10 Weiterführende Literatur – 266
Während im 7 Kap. 6 die theoretischen Grundlagen des therapeutischen Prozesses erörtert worden sind, wird in diesem Kapitel der gesprächspsychotherapeutische Prozess in der Praxis beschrieben. Im Mittelpunkt des therapeutischen Prozesses in der Gesprächspsychotherapie steht die Entwicklung von Beziehungen, und zwar zum einem die Entwicklung der Beziehung zwischen Patient und Therapeut und zum anderen die Entwicklung der Beziehungen, die Therapeut und Patient zu sich selbst haben. Wir werden aus didaktischen Gründen zunächst jeweils einzelne Aspekte der Beziehung zwischen den beiden Personen und der Beziehungen, die jede der beiden Personen zu sich selbst hat, betrachten. Diese Form der Darstellung sollte jedoch nicht darüber hinweg täuschen, dass es sich beim therapeutischen Prozess um ein komplexes Geflecht von sich wechselseitig beeinflussenden Bedingungen han-
delt. So beeinflusst die Beziehung, die eine Person zu sich selbst hat, die Beziehung, die sie zur anderen aufnimmt, und umgekehrt.
9.1
Die therapeutische Beziehung
Die wichtigsten Aspekte der gesprächspsychotherapeutischen Beziehung sind in . Abb. 9.1 aufgeführt.
9.1.1
Das gesprächspsychotherapeutische Beziehungsangebot des Therapeuten
Das gesprächspsychotherapeutische Beziehungsangebot des Therapeuten ist durch die drei Aspekte
220
9
Kapitel 9 · Der therapeutische Prozess in der Praxis
. Abb. 9.1. Die gesprächspsychotherapeutische Beziehung (aus Eckert, 2000a, S. 142)
Empathie, Bedingungsfreie Positive Beachtung und Kongruenz charakterisiert (7 Kap. 6).
Der Beziehungsaspekt Empathie Das ursprüngliche deutsche Wort für Empathie ist »Einfühlung« und kennzeichnet dieses Phänomen schon recht gut, weil es auf die Beteiligung von Gefühlen hinweist. Die Fähigkeit zur Einfühlung wird im Laufe der menschlichen Entwicklung auf der Grundlage der Möglichkeit des Sich-Selbst-Erkennens erworben (Bischof-Köhler, 2001). Aus der Sicht der Entwicklungspsychologie ist »Empathie die Erfahrung, unmittelbar der Gefühlslage eines anderen teilhaftig zu werden und sie dadurch zu verstehen. Trotz dieser Teilhabe bleibt dieses Gefühl aber anschaulich dem anderen zugehörig« (Bischof-Köhler 1989, S. 26). Wir wiederholen (7 Kap. 6) hier Rogers’ Definition von Empathie im therapeutischen Rahmen. Wenn die Einfühlung in ein reines Mitfühlen oder »Sich-Eins-Fühlen« übergeht, spricht Rogers von Identifikation, die Entwicklungspsychologie z. B. von »Gefühlsansteckung«. Ein typischer Fall von Gefühlsansteckung in einer Gesprächspsychotherapie läge dann vor, wenn der Therapeut in der Therapiesitzung mit einem depressiven Patienten,
Definition Der Prozess der Empathie besteht darin, »den Inneren Bezugsrahmen eines anderen mit den emotionalen Komponenten und den dazu gehörenden Bedeutungen genau wahrzunehmen, als ob man die andere Person sei, jedoch ohne jemals die ‚Als-ob’-Bedingung zu verlieren. Das bedeutet, den Schmerz oder die Freude eines anderen so zu fühlen, wie er sie fühlt, und deren Ursachen so wahrzunehmen, wie er sie wahrnimmt, aber ohne jemals dieses Wissen zu verlieren, dass es so ist, als ob wir verletzt oder erfreut usw. seien« (Rogers, 1959/1987, S. 210 f.; Übersetzung v. Verf.). Sofern die Qualität des »Als ob« verloren geht, handelt es sich um einen Prozess der Identifikation.
der bitterlich und andauernd weint, zunehmend von Mitleid mit seinem Patienten überschwemmt wird und schließlich nicht anders kann, als mitzuweinen. Therapeutisch wirksame Empathie bzw. Empathisches Verstehen ist ein auch Gefühle umfassender Vorgang im Therapeuten, der drei Bedingungen erfüllt:
221 9.1 · Die therapeutische Beziehung
1. Bedingung. Das empathische Verstehen des The-
rapeuten richtet sich auf den »Inneren Bezugsrahmen« des Patienten. Definition Mit dem Inneren Bezugsrahmen sind die Standorte gemeint, die ein Mensch gegenüber seinem eigenen Erleben einnimmt, sowie die damit verbundenen gefühlsmäßigen Bewertungen des Erlebens.
Der Innere Bezugsrahmen wird erkennbar, wenn z. B. ein junger männlicher Patient über einen erlittenen Verlust berichtet, und es sichtbar und spürbar wird, dass er mit aller Macht versucht, die aufsteigende Traurigkeit zu bekämpfen. Er findet Trauer über etwas, das unwiderruflich verloren gegangen ist, überflüssig und unmännlich. Sie passt nicht zu seinem Selbstkonzept. Gelingt es ihm nicht, die Trauer zu unterdrücken oder zu überspielen, schämt er sich. Vor allem die »Gefühle über die Gefühle« kennzeichnen den Inneren Bezugsrahmen.
2. Bedingung. Die Wahrnehmung des Inneren Bezugsrahmens des Patienten hat die Qualität einer inneren Erfahrung des Therapeuten. Einfühlung ist ein (Nach-)Vollziehen, ein unmittelbares reflektiertes (Mit-)Erleben des Erlebens des anderen. Dieser Akt der Einfühlung in den anderen wird als »Empathisches Verstehen« bezeichnet. Empathisches Verstehen ist mehr als ein »Verstehen« im Sinne von Begreifen, z. B. den Sinn eines Satzes oder den Sinn eines Textes korrekt zu erfassen. Empathisches Verstehen bedeutet auch nicht eine Form der Billigung (z. B. »Ich kann verstehen, dass Du Dir das nicht weiter hast bieten lassen können.«). Die Fähigkeit zum Empathischen Verstehen ist phylogenetisch angelegt und wird, wie gesagt, ontogenetisch von Kleinkindern schon im vorsprachlichen Alter erworben und im Zuge der weiteren Entwicklung ausgebaut (Bischof-Köhler, 1989). Bestimmte Entwicklungsbedingungen, z. B. das Ausmaß der Empathiefähigkeit der Erziehungspersonen, nehmen entscheidend darauf Einfluss, in welchem Ausmaß die Fähigkeit, sich empathisch einfühlen
Fallvignette
Empathisches Verstehen und seine Wirkung Ein Beispiel aus einer zweiten Therapiesitzung, in der die Patientin darüber spricht, welche Probleme sie in ihrem Beruf als Kauffrau hat: Patientin: Wenn ich jetzt bei dem Beispiel bleiben soll, dann würde ich sagen: Irgend ein abgebrühter Kaufmann, dem es an die Nieren geht, wenn ihm ein paar tausend Mark fehlen, der soll sich ruhig ein bisschen gequält fühlen, also das würde mich eventuell sogar noch freuen, wenn es nur das ist, was ihn zu quälen vermag. Therapeut: Das klingt sehr bitter. Patientin: Ja, das stimmt, da haben Sie Recht. Das ist mir im Moment auch gerade bewusst geworden. Ich mein’ einfach aus Verbitterung darüber, dass man also jahrelang beobachtet hat, wie viele Menschen es eigentlich gibt, die sich um nichts anderes kümmern als um Geld. (…) Kommentar: Das Verstehen des Therapeuten richtet sich auf den Inneren Bezugsrahmen: Aus
9
dem Kontext und der Art und Weise, wie die Patientin sich äußert, entnimmt er, dass Wünsche der Patientin, der »abgebrühte Kaufmann« solle sich ruhig auch mal gequält fühlen, Ausdruck einer enttäuschten Resignation sein könnten. Er fragt die Patientin vorsichtig (»das klingt …«), ob ihr dahinter liegendes Gefühl Verbitterung sein könnte. An der Reaktion der Patientin ist zu erkennen, dass sie sich unmittelbar verstanden gefühlt hat: Sie greift dieses Gefühl auf und führt seine Ursachen näher aus. Das Beispiel lässt noch zwei weitere Phänomene erkennen, die sich häufig einstellen, wenn sich ein Patient verstanden fühlt: Zum einen greift der Patient das vom Therapeuten Gesagte nicht nur auf, sondern differenziert es in korrigierender, erweiternder oder einschränkender Weise. Zum anderen steigt die emotionale Beteiligung bei dieser Auseinandersetzung mit sich selbst spürbar an.
222
Kapitel 9 · Der therapeutische Prozess in der Praxis
zu können, entwickelt wird (7 Kap. 4). Wie weiter unten unter dem Aspekt der Kongruenz des Therapeuten noch ausgeführt werden wird, ist Empathiefähigkeit abhängig vom Ausmaß der Möglichkeit, die eigenen Erfahrungen vollständig und korrekt wahr zu nehmen, d. h. vom Ausmaß der Fähigkeit zur unverfälschten Selbstreflexion bzw. zur Selbstempathie (Bischof-Köhler, 2001).
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3. Bedingung. Der Therapeut bringt das, was er empathisch verstanden hat, dem Patienten gegenüber zum Ausdruck und überprüft mit dem Patienten zusammen, ob es den Erfahrungen des Patienten und dem, was diese für ihn bedeuten, entspricht. Wenn das der Fall ist, empfindet der Patient ein Gefühl des Verstandenseins, nicht selten in Form einer körperlichen Entspannung oder eines »Aha-Erlebnisses«. Wir haben bereits in den Ausführungen zur Indikation (7 Kap. 8.3.2) darauf hingewiesen, dass es Patienten gibt, in der Regel solche mit einem instabilen Selbstkonzept, die sich durch das empathische Verstehen des Therapeuten bedroht fühlen und sich dagegen auch wehren (müssen).
Die drei Bedingungen, die den Beziehungsaspekt Empathie charakterisieren 5 Die Empathie des Therapeuten richtet sich auf das Erleben des Patienten in seinem Inneren Bezugsrahmen. 5 Einfühlendes Verstehen ist eine spezifische Erfahrung des Therapeuten, ein reflektiertes Mitfühlen der Erfahrungen des anderen. 5 Der Therapeut teilt das, was er auf dem Wege der Einfühlung verstanden hat, dem Patienten mit und prüft, ob sich der Patient verstanden fühlt.
Der Beziehungsaspekt Bedingungsfreie Positive Beachtung Bei der Darstellung der Grundannahmen bezüglich der Entwicklung der Person (7 Kap. 3 und 4) wurde das Bedürfnis nach positiver Beachtung (»need for positive regard«) als ein zentrales menschliches Bedürfnis dargestellt und darauf hingewiesen, dass die Entwicklung des Selbst eines Menschen und damit der ganzen Person wesentlich davon abhängt, wie
die relevanten Beziehungspersonen mit diesem Bedürfnis umgehen: Erfahrungen, die mit dem Bedürfnis nach »positive regard« verbunden sind, können nur unter der Bedingung als Selbsterfahrungen in das Selbstkonzept integriert werden, dass sie von einem kongruenten wichtigen Anderen empathisch verstanden und unbedingt positiv beachtet werden. Diese entwicklungspsychologische Gesetzmäßigkeit ist aus den Bedingungen für den therapeutischen Prozess und den sich aus ihm ergebenden konstruktiven Persönlichkeitsänderungen, wie Rogers sie abstrahiert hat, abgeleitet worden. Der wichtige Andere für den Patienten ist in der Psychotherapie der Therapeut, der ihm eine Beziehung anbietet, die durch Bedingungsfreie Positive Beachtung gekennzeichnet ist. Wir nähern uns diesem Aspekt der Beziehung, indem wir zunächst definieren, was im Klientenzentrierten Konzept unter Positiver Beachtung (»positive regard«) verstanden wird: Definition »Wenn ich bei einem anderen Selbsterfahrung wahrnehme und diese zu einer positiven Veränderung meines Erlebnisfeldes führt, dann erlebe ich dem anderen gegenüber Positive Beachtung. Die emotionale Qualität von Positiver Beachtung ist gekennzeichnet von Wärme, Liebe, Respekt, Sympathie oder Anerkennung« (nach Rogers, 1959b/1987, S. 34).
Positive Beachtung besteht in einer aufmerksamen Zuwendung und richtet sich auf alle Formen des Erlebens eines Patienten, d. h. auf seine Wahrnehmungen, Vorstellungen, Affekte usw. Sie ist bedingungsfrei, wenn sie nicht an bestimmte Bedingungen geknüpft ist, die etwas mit der Person des Therapeuten, seinem momentanen Befinden und seinen Wertvorstellungen zu tun haben: »Wenn die Selbsterfahrungen eines anderen von mir so wahrgenommen werden, dass keine von ihnen sich von irgend einer anderen dadurch unterscheidet, dass sie der aufmerksamen Beachtung (»positive regard«) mehr oder weniger wert ist, dann erfahre ich für dieses Individuum Bedingungsfreie Positive Beachtung.« (Rogers, 1959b/1987, S. 208; Übersetzung v. Verf.).
223 9.1 · Die therapeutische Beziehung
Definition Bedingungsfreie Positive Beachtung (Unbedingte Wertschätzung/Bedingungsfreie Anerkennung) liegt bei einem Therapeuten dann vor, wenn seine Positive Beachtung der Erfahrungen und des Erlebens des Patienten nicht an bestimmte, in seiner Person verankerte Bedingungen geknüpft ist.
Bedingungsfreie Positive Beachtung ist kein Persönlichkeitsmerkmal und sie kann nicht in die therapeutische Beziehung im Sinne einer Intervention gezielt »eingebracht« werden, sondern sie stellt sich im günstigen Fall ein, und zwar am ehesten dann, wenn es dem Therapeut gelingt, seine für das eigene Leben gültigen Wertvorstellungen beiseite zu stellen, und wenn er in der Lage ist, seine Aufmerksamkeit ungeteilt und vorbehaltlos den Erfahrungen des Patienten zu widmen. Das klingt wie ein kaum einzulösender Anspruch. Deshalb sei bereits hier auf das verwiesen, was wir erst später ausführen werden: Handlungsleitend ist in einer Gesprächspsychotherapie nicht das Ausmaß der Bedingungsfreien Positiven Beachtung, sondern die Abweichung von ihr.
Der Beziehungsaspekt Kongruenz Der Beziehungsaspekt Kongruenz ist von Roger als der bedeutsamste angesehen worden. Da ein Mangel an Kongruenz Inkongruenz bedeutet, werden wir beide Begriffe benutzen. Die Kongruenz/Inkongruenz des Therapeuten kennzeichnet die Beziehung des Therapeuten zu sich selbst und gestaltet die Beziehung des Therapeuten zum Patienten. Definition Kongruenz ist definiert als das Vorliegen der Möglichkeit, sich aller bewusstseinsfähigen Erfahrungen, die der Organismus macht, bewusst zu werden und sie im Selbsterleben zu repräsentieren.
Inkongruenz liegt dann vor, wenn bestimmte Erfahrungen, die der Organismus macht, nicht oder nicht vollständig oder nur verfälscht bzw. verzerrt im Be-
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wusstsein bzw. im Selbsterleben repräsentiert werden. Inkongruenz bedeutet eine Nichtübereinstimmung der vom Organismus gemachten mit den im Selbsterleben repräsentierten Erfahrungen. Definition Kongruenz in einer therapeutischen Beziehung heißt vor allem, dass sich der Therapeut aller Gefühle bewusst werden kann, die der Patient in ihm auslöst. Wenn der Therapeut auf den Patienten mit Gefühlen reagiert, deren er sich nicht bewusst werden kann, wird er in der Regel durch diese Gefühle auch darin behindert, sich in den Patienten einzufühlen und ihn in dem, was er dabei verstanden hat, bedingungsfrei positiv zu beachten.
Rogers beschreibt die Kongruenz des Therapeuten wie folgt: Wenn ein Therapeut »imstande ist, akzeptierend auf das zu achten, was in ihm selbst vor sich geht, und je besser er es fertig bringt, ohne Furcht das zu sein, was die Vielschichtigkeit seiner Gefühle ausmacht, um so größer ist seine Übereinstimmung mit sich selbst« (Rogers, 1983, S. 213). Die Kongruenz/Inkongruenz des Therapeuten wird für den Patienten u. a. dadurch erfahrbar, dass der kongruente Therapeut als »echt«, authentisch, unverfälscht erlebt wird. Ein inkongruenter Therapeut wird als fassadenhaft, undurchschaubar, »unecht« erlebt und beschrieben. Es empfiehlt sich jedoch, den Beziehungsaspekt Kongruenz/Inkongruenz nicht auf der phänomenologischen Ebene zu diskutieren, z. B. von der »Echtheit« des Therapeuten zu sprechen, weil das mit der Gefahr verbunden ist, dass sich Missverständnisse einschleichen. Es findet sich leider sogar im Brockhaus (2005) folgende Ausführung zum Begriff »Echtheit«: »Ein hohes Maß an Echtheit, das heißt der Verzicht auf eine höflich-professionelle Fassade, gilt vor allem in der Gesprächstherapie als wesentliches Therapeutenmerkmal«. Das ist nicht falsch, führt aber nicht nur bei Ausbildungskandidaten häufig zu der Frage, ob nicht Ehrlichkeit ein Charakteristikum von Echtheit sei und der Therapeut daher seine Gefühle, auch die negativen, die er im Kontakt mit dem Patienten erlebt, diesem offenbaren müsse. Diese Frage zäumt das Pferd von hinten auf. Richtig
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Kapitel 9 · Der therapeutische Prozess in der Praxis
ist, dass ein kongruenter Therapeut von seinem Patienten als »echt«, »authentisch«, »ohne Fassade« usw. erlebt und beschrieben wird. Falsch ist aber die Annahme, dass ein Therapeut seine Inkongruenz dadurch verbessern könnte oder seine »Echtheit« steigern, dass er durch Selbsteinbringung seine Offenheit und Ehrlichkeit unter Beweis stellt. ! Kongruenz/Inkongruenz ist ein theoretisches Konstrukt. Wir gehen davon aus, dass die Erfahrung und die Bewusstheit der Erfahrung mehr oder weniger gut übereinstimmen können und dass sich das in bestimmter Weise auf bestimmte psychische Funktionen auswirkt. »Echtheit« und »Transparenz« sind die für Patienten sichtbaren Phänomene eines kongruenten Therapeuten.
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Auf die Möglichkeiten des Therapeuten, seine Inkongruenz zu beheben oder zu reduzieren, werden wir noch zu sprechen kommen. Zur Erklärung bestimmter Phänomene im therapeutischen Prozess hat es sich als nützlich erwiesen, in Anlehnung an Swildens (1991) zwischen einer reaktiven (sekundären) Inkongruenz und einer primären Inkongruenz (7 Abschn. 5.4.4) auch beim Therapeuten zu unterscheiden. Definition Reaktive (sekundäre) Inkongruenz stellt sich als Reaktion des Therapeuten auf eine spezifische Situation mit dem Patienten ein und ist in der Regel zeitlich begrenzt, d. h. aufhebbar.
Primäre Inkongruenz wird als in der persönlichen Entwicklung erworben betrachtet, als zeitlich überdauernd und als die Grundlage von unterschiedlichen psychischen Störungen angesehen. Definition Primäre Inkongruenz kennzeichnet den Status eines Patienten.
Die wechselseitigen Beziehungen der drei Aspekte des gesprächpsychotherapeutischen Beziehungsangebotes Wie bereits eingangs (und in 7 Kap. 6) erwähnt, beeinflussen sich die drei Aspekte Empathie, Bedin-
gungsfreie Positive Beachtung und Kongruenz wechselseitig. Die Fähigkeit sich empathisch einzufühlen wird beeinträchtigt. Wenn der Therapeut seinen Patien-
ten empathisch versteht, wird er in der Regel auch kein Problem damit haben, das Verstandene bzw. die Sicht des Patient auch bedingungsfrei positiv zu beachten. Wenn der Therapeut seinen Patienten jedoch nicht versteht, bleiben für ihn die Erfahrungen, über die der Patient spricht, nicht nachvollziehbar, fremd, und das wird sich negativ auf die Bedingungsfreie Positive Beachtung auswirken: Auf die Dauer kann man nur bedingungsfrei positiv beachten, was man auch empathisch versteht. Die Ursachen dafür, dass Einfühlung nicht gelingt, können sowohl im Patienten als auch im Therapeuten liegen. Ein einfaches Beispiel für uneinfühlbare Erfahrungen beim Patienten sind Wahnvorstellungen und Halluzinationen. Die Angst, die mit ihnen einhergehen kann, ist hingegen empathisch verstehbar und kann auch ansteckend sein. Ein Beispiel für das Auftauchen einer Empathiestörung, die ihre Quelle im Therapeuten hat, ist eine reaktive Inkongruenz des Therapeuten. Sie kann z. B. dann entstehen, wenn die Therapeutin eine ältere Schwester ist und ihre Patientin eine jüngere und unbewusst von ihrer Therapeutin – die mit ihrer jüngeren Schwester Probleme hatte – erwartet, dass sie ihren Hass gegen die ältere Schwester teilt. Die Bedingungsfreie Positive Beachtung (BPB) ist beeinträchtigt. Dies ist der Fall, wenn der Therapeut
in der Reaktion auf seinen Patienten deutliche eigene negative oder positive Gefühlen entwickelt. Beispiele für negative Gefühle als Ausdruck einer Abweichung von der BPB sind Langeweile, Gereiztheit, Müdigkeit, Ekel, Angst usw. Beispiele für positive Gefühle als Ausdruck einer Abweichung von der BPB sind Bewunderung, Verliebtheit und sexuelles Begehren. Häufig ist die Ursache für Gefühle von Langeweile und Gereiztheit eine akute Empathiestörung: Wenn ich als Therapeut nicht verstehen kann, warum der Patient nach anfänglichen positiven Veränderungen nun in seiner Entwicklung auf der Stelle tritt und Stunde um Stunde dasselbe Problem durch-
225 9.1 · Die therapeutische Beziehung
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Fallvignette
Reaktive Inkongruenz Eine Patientin eröffnete die Therapiesitzung mit dem Vorwurf, dass sie nun den »Beweis« dafür habe, dass der Therapeuten kein Interesse an ihrem Schicksal habe. Er habe sich seit Wochen – seit ihrem letzten Suizidversuch – nicht mehr danach erkundigt, ob sie wieder Tabletten horte. Die Patienten hatte vor einem dreiviertel Jahr einen Suizidversuch mit einer Überdosis Tabletten unternommen. Da sich die Patientin damals in einer akuten depressiven Phase befand, hatte sie in Absprache mit ihrem Psychotherapeuten eine bereits abgeschlossene medikamentöse Behandlung bei dem niedergelassenen Psychiater wieder aufgenommen, der sie ursprünglich in die Psychotherapie überwiesen hatte. Für den Therapeuten kam der Vorwurf der Patientin völlig überraschend. Er hatte bei sich
kaut, dann werden sich z. B. leicht Langeweile und später auch Gereiztheit einstellen. Aber auch eine Inkongruenz beim Therapeuten führt in der Regel zu einer Beeinträchtigung der BPB, da sie – wie oben dargestellt – die Fähigkeit, sich korrekt in den anderen einzufühlen, beeinträchtig. Die Kongruenz wird beeinträchtigt. Wenn bestimmte Erfahrungen, die der Organismus macht, nicht oder nicht vollständig oder nur verfälscht bzw. verzerrt im Bewusstsein (Selbsterleben) repräsentiert werden, liegt Inkongruenz vor. Inkongruenz ist der direkten Wahrnehmung oder Reflexion nicht zugänglich. Im therapeutischen Kontakt stellt sich eine reaktive Inkongruenz beim Therapeuten in der Regel bei bestimmten Erfahrungen des Patienten ein, vor allem wenn diese mit bestimmten Erwartungen an den Therapeuten einhergehen. Die primäre Inkongruenz des Therapeuten beeinträchtigt sowohl seine Empathiefähigkeit als auch seine Fähigkeit zu Bedingungsfreier Anerkennung generell: Wenn der Therapeut feststellt, dass er sich in der Therapiestunde nur »genervt« fühlt, sich nicht auf das konzentrieren kann, was der Patient berichtet, das Gefühl hat, ihn nicht wirklich zu verstehen und/
keinerlei Desinteresse für seine Patientin wahrge nommen. Erst als er sich die gesamte Situation vergegenwärtigte, fiel ihm wieder ein, wie erleichtert er damals gewesen war, als seine Patientin von sich aus vorschlug, die zusätzliche Behandlung beim Psychiater aufzunehmen. Er hatte innerlich die Verantwortung für die Depression und vor allem für die damit einhergehende Suizidgefährdung an den Psychiater abgegeben, und zwar gern. Er kennt sich als jemanden, der es nach Möglichkeit vermeidet, andere Menschen zu kontrollieren. Die Klage der Patientin war also völlig berechtigt: Der Therapeut hatte ihren Wunsch, dass er sich auch für ihre Selbstmordgedanken verantwortlich fühlt, nicht wahrgenommen und hatte eine reaktive Inkongruenz entwickelt.
oder auch abzulehnen, ohne dass er das richtig begründen könnte, dann kann eine reaktive Inkongruenz auf der Grundlage einer primären Inkongruenz die Ursache dafür sein. Der Patient beschäftigt sich dann mit Erfahrungen, die dem Therapeuten aufgrund seiner eigenen Persönlichkeitsentwicklung fremd oder verboten sind. Das muss dem Therapeuten nicht bewusst sein, führt aber z. B. zur Abwehr auch der Erfahrungen, die der Therapeut machen würde, wenn er sich in den Patienten einfühlen könnte. Auch Hinweise auf das Vorliegen einer Inkongruenz kann der Therapeut vor allem dadurch erhalten, dass er prüft, ob bei ihm Abweichungen von der BPB vorliegen. Da auch die eingeschränkte Möglichkeit, sich empathisch einzufühlen, zu einer Abweichung von der BPB führt, hat die BPB im therapeutischen Prozess eine besondere Funktion: ! Die Bedingungsfreie Positive Beachtung ist die Alarmanlage der therapeutischen Beziehung. Der Therapeut kann im therapeutischen Prozess durch Selbstreflexion prüfen, ob er bei sich selbst Abweichungen von der BPB wahrnimmt. Wenn das der Fall ist, hat er sich vorrangig um die Wiederherstellung der BPB zu bemühen.
226
Kapitel 9 · Der therapeutische Prozess in der Praxis
Fallvignette
Hinderliche Bewunderung
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Ein 65-jähriger homosexueller Patient berichtet, wie er in den 50er-Jahren sein Coming-out hatte, also in einer Zeit, als homosexuelles Verhalten noch ein Straftatbestand (§§ 175, 175a StGB) war. Als gläubiger Katholik hatte er über sein Comingout auch im Beichtstuhl berichtet. Er schildert den Beichtvorgang mehrmals ausführlich und jeweils mit großer gefühlsmäßiger Beteiligung: Der Beichtvater will ihm nur dann die Absolution erteilen, wenn er seine Homosexualität als Sünde anerkennt und von ihr ablässt. Der Therapeut merkt beim Protokollieren der Therapiesitzung, dass er voller Bewunderung für seinen Patienten ist, der als 16-Jähriger gegenüber seinem Beichtvater standhaft bei seiner Überzeugung geblieben ist, dass das, was er als seine »Natur« erlebte, von Gott nicht als Sünde angesehen werden könne. Dem Therapeuten wurde aber auch bewusst, dass er vor lauter Begeisterung völlig aus dem Auge verloren hatte, welche negativen Konsequenzen diese Standhaftigkeit für den Patienten auch in seiner Familie hatte (Die Familie hatte
Wenn der Therapeut in seinem Empfinden eine Abweichung von der BPB feststellt, sollte er sich die Frage stellen: »Was ist der Grund dafür, dass ich die vom Patienten berichteten Erfahrungen nicht bedingungsfrei positiv beachten kann?« In der Antwort auf diese Frage liegt zugleich der Schlüssel zu einem vertieften Verstehen des Patienten, wie das Beispiel oben zeigen soll.
9.1.2
Der Beitrag des Patienten zur gesprächspsychotherapeutischen Beziehung
enge Verbindungen zur Kirchengemeinde, ein älterer Bruder besuchte mit finanzieller Förderung durch die Kirche ein Priesterseminar). Im weiteren Therapieverlauf erkennt der Therapeut, dass alle Beziehungen des Patienten ein ähnliches Muster aufweisen: Er ist derjenige, der andere fördert oder ihnen beisteht. In keiner seiner Beziehungen hätten eventuelle Wünsche nach Abhängigsein und Versorgtwerden Platz. In ähnlicher Weise gestaltete er auch die Beziehung zum Therapeuten: Es gelang ihm immer wieder, die Bewunderung des Therapeuten zu wecken, d. h. den Blick des Therapeuten auf seine Stärken zu lenken, und damit erfolgreich zu vermeiden, dass seine Schwächen oder Versorgungsbedürfnisse überhaupt Thema wurden. Der Therapeut fand also durch die genauere Betrachtung seiner Abweichung von der Bedingungsfreien Wertschätzung (Bewunderung) einen Schlüssel zum besseren, d. h. vollständigeren Verstehen (auch der Schwächen und Versorgungsbedürfnisse) des Patienten. (Eckert & Kriz, 2005, S. 339)
nach Behebung der Symptomatik bzw. die Bereitschaft, sich über sie zu äußern, sowie 4 eine gewisse Ansprechbarkeit für das gesprächspsychotherapeutische Beziehungsangebot. Diese Bedingungen sind bereits ausführlich im 7 Kap. 8.3.2 im Rahmen der Indikationsstellung behandelt worden. Noch einmal zu betonen ist der Umstand, dass im Hinblick auf die Anforderungen an den Patienten Gesprächspsychotherapie ein niedrigschwelliges Therapieangebot ist.
9.2
Damit ein gesprächspsychotherapeutisches Arbeitsbündnis zustande kommen kann, müssen auf Seiten des Patienten zwei Bedingungen gegeben sein: 4 psychische Störungen und/oder Verhaltensauffälligkeiten, die als Ausdruck einer Inkongruenz zu verstehen sind, und der Wunsch des Patienten
Eine Taxonomie in der Klientenzentrierten Therapietheorie
Höger hat darauf hingewiesen, dass es notwendig und hilfreich ist, bei der Darstellung der Klientenzentrierten Therapietheorie die ihr immanente Taxonomie (d. h. Klassifikation von relevanten
227 9.2 · Eine Taxonomie in der Klientenzentrierten Therapietheorie
9
. Abb. 9.2 . Die vier Abstraktionsebenen zur Erfassung von (therapeutischen) Beziehungen (nach Höger, 7 Kap. 6.3)
Merkmalen nach einem hierarchischen Kategorienschema) zu beachten, d. h. die folgenden vier Abstraktionsebenen voneinander zu unterscheiden (. Abb. 9.2). Die Gesprächspsychotherapie wird in ihrer Theorie als Beziehung auf vier Ebenen (I–IV) beschrieben, die sich wie folgt charakterisieren lassen (7 Kap. 6.3): 4 Ebene I: Die Ebene der »Patient-Psychotherapeut-Beziehung« im Unterschied zu anderen Beziehungen, z. B. »Mutter–Kind« oder »Rechtsanwalt–Klient«. 4 Ebene II: Die Ebene zusammenfassender Merkmale der (gesprächspsychotherapeutischen) Beziehung, z. B. die Merkmale »Bedingungsfreie Positive Beachtung«, »Empathie« und »Kongruenz«. 4 Ebene III: Die Ebene einer zusammenfassenden Klassifikation von einzelnen Verhaltensweisen, wie »Selbstexploration« des Patienten oder die »Verbalisierung emotionaler Erlebnisinhalte« (VEE) durch den Therapeuten. 4 Ebene IV: Die Ebene der konkreten Verhaltensweisen von Therapeut und Patient in einer bestimmten beobachteten bzw. dokumentierten Therapiesitzung.
Diese vier Ebenen stellen eine Taxonomie dar, d. h. sie bilden eine Systematik mit mindestens zwei festen Regeln: 4 Die Zuordnung von Gegebenheiten zu einer Kategorie darf die Gesetzmäßigkeiten der übergeordneten Ebene nicht verletzen. Beispiel: Das gesprächspsychotherapeutische Beziehungsangebot mit den Aspekten Empathie, Kongruenz und Bedingungsfreie Anerkennung ist auf der Abstraktionsebene II angesiedelt. Das auf Ebene III angesiedelte konkretere Therapeutenverhalten, z. B. »Verbalisierung emotionaler Erlebnisinhalte« muss kompatibel sein mit dem auf Ebene II formulierten Beziehungsangebot: Die Verbalisierung der emotionalen Erlebnisinhalte des Patienten durch den Therapeuten muss ausdrücken, dass der kongruente Therapeut den Patienten empathisch versteht und bedingungsfrei positiv beachtet. 4 Die Gegebenheiten einer Ebene lassen sich aus den Gesetzmäßigkeiten der jeweils höheren Ebenen nicht eindeutig ableiten. So sind die Verhaltensweisen des Therapeuten auf der untersten Ebene IV nicht eindeutig aus den höheren Ebenen abzuleiten. Der Therapeut kann z. B. schweigen, die Augenbrauen erstaunt hochziehen, den Patienten fragen, ob er Suizidgedanken hat, ihn
228
Kapitel 9 · Der therapeutische Prozess in der Praxis
auf eine Widersprüchlichkeit in seinen Darstellung hinweisen usw. Alle diese Verhaltensweisen sind angemessen, wenn sie z. B. die Selbstexploration des Patienten vertiefen (Ebene III) und Ausdruck eines empathischen Verstehens sind und die Bedingungen Kongruenz und Bedingungsfreie Positive Beachtung nicht verletzen (Ebene II). Nicht jeder Therapeut kann aber z. B. schweigen, um die Selbstexploration jedes Patienten anzuregen oder damit dieser sich in welcher Situation auch immer empathisch verstanden fühlt. Das Aufzeigen der Taxonomie macht auch deutlich, dass der Gesprächspsychotherapeut auf der Ebene der konkreten Therapieinteraktion allen erdenklichen Verhaltensspielraum hat. Sein Verhalten ist nicht, wie Sachse und Maus (1991, S. 9) es fälschlich
9
darstellen, darauf beschränkt, Gefühle zu verbalisieren. Gegen solche Missverständnisse hat sich schon Rogers 1957 gewehrt: »… the technique of ›reflecting feelings‹ … is by no means an essential condition of (client-centered) therapy« (a. a. O., S. 102, 7 Kap. 6). Das nachfolgende Beispiel soll zeigen, dass andere Interventionen als die »Verbalisierung emotionaler Erlebnisinhalte« in bestimmten Situationen nicht nur ebenfalls geeignet sind, den Selbstexplorationsprozess zu fördern, sondern auch adäquater sein können. Wie das Beispiel zeigt, sind unter den beschriebenen Bedingungen Verhaltensweisen wie Konfrontieren, Verdeutlichen, Konkretisieren, Mitlachen, die aktuelle therapeutische Beziehung ansprechen usw. ein sehr geeigneter Weg, die angestrebte therapeutische Beziehung, wie sie auf Ebene II definiert ist, zu fördern.
Fallvignette
Konfrontierende Intervention auf Ebene IV Ein Patient eröffnet seiner Gesprächspsychotherapeutin, dass er sich nach langem Überlegen zum Selbstmord entschlossen habe, und schließt mit den Worten: »Ich werde also aus diesem Leben scheiden«. Die Therapeutin reagiert auf diese Ankündigung mit der mit ernstem Nachdruck gestellten Frage: »Muss das denn sein?!« Das heißt, sie verbalisiert kein Gefühl, z. B. seine verzweifelte Entschlossenheit, sondern sie signalisiert, dass sie die Notwendigkeit dieses Schrittes nicht nachvollziehen kann und dass sie eine Alternative zum Freitod für denkbar hält. Der Patient bemüht sich darauf hin, die Therapeutin von der Notwendigkeit seines Entschlusses zu überzeugen, und gerät dadurch in einen Selbstexplorationsprozess, der dazu führt, dass er die für das präsuizidale Syndrom (7 Kap. 13) typische Eineinengung des Erlebens, Wahrnehmens und Fühlens durchbricht.
Diese Reaktion des Patienten ist dadurch möglich geworden, dass die Intervention der Therapeutin von einer auch vom Patienten wahrgenommenen, d. h. gespürten Bedingungsfreien Positiven Beachtung seiner momentanen Situation – zu der die angesprochene Eineinengung des Erlebens, Wahrnehmens und Fühlens gehörte – getragen war. Wäre das nicht der Fall gewesen, wäre eine Antwort auf die Frage »Muss das denn sein?« z. B. ein trotziges »Ja!« gewesen oder der Patient wäre ohne ein weiteres Wort zu verlieren aufgestanden und gegangen. Vermutlich war die Reaktion der Therapeutin auch adäquater als es eine Verbalisierung des von ihm selbst angesprochenen Erlebens des Patienten gewesen wäre. Wenn die Therapeutin sich nur darauf bezogen und z. B. gesagt hätte »Sie sehen für sich keine andere Möglichkeit mehr, als sich das Leben zu nehmen«, hätte Sie ihre eigene Einstellung dazu verleugnet und der Patient hätte sich verstanden im Sinne von bestätigt gefühlt und mit »Ja« geantwortet.
229 9.3 · Therapeutische Handlungsregeln
9.3
Therapeutische Handlungsregeln
Im Folgenden soll beschrieben werden, wie ein Gesprächspsychotherapeut den therapeutischen Kontakt gestaltet. Während bisher die therapeutische Beziehung im Zentrum der Aufmerksamkeit stand, soll jetzt das therapeutische Handeln im Mittelpunkt sein. Mit Bezug auf die oben dargestellte Taxonomie kann man das auch wie folgt ausdrücken: Nachdem wir die Klientenzentrierte Therapietheorie auf der Ebene II formuliert betrachtet haben, werden jetzt die Regeln auf den Ebenen III und IV formuliert dargestellt. . Abb. 9.3 gibt einen Überblick über die zu behandelnden Zusammenhänge. Die in . Abb. 9.3 aufgeführten Handlungsprinzipien 4 Nicht-Direktivität, 4 empathisches Zuhören, 4 spezifische Zentrierung der Aufmerksamkeit und 4 Verbalisierung der Erfahrungen des Patienten
. Abb. 9.3. Elemente und Funktionen im Behandlungsmodell der Gesprächspsychotherapie (aus Eckert, 2000b,
9
sind die Prinzipien der Förderung des psychotherapeutischen Prozesses. Sie sind allgemeine Prinzipien, d. h. sie sind unabhängig von der spezifischen Ausformung der Inkongruenz bzw. der Störung eines Patienten gültig.
9.3.1
Nicht-Direktivität
Ein bedeutsames Kennzeichen der gesprächspsychotherapeutischen Gestaltung des therapeutischen Kontaktes und der Gesprächsführung ist die NichtDirektivität. Das Prinzip der Nicht-Direktivität ist vor allem aus dem der Patientenzentrierten Theorie zugrunde liegenden Menschenbild (7 Kap. 3) abgeleitet, das durch ein hohes Ausmaß an Vertrauen in die eigenen Entwicklungsmöglichkeiten von Menschen gekennzeichnet ist. Unter bestimmten Bedingungen, die in der Therapiesituation dann gegeben sind, wenn die Beziehung zwischen Therapeut und Patient durch die Aspekte des gesprächspsychotherapeutischen Beziehungsangebotes gekennzeichnet
in Anlehnung an das Allgemeine Modell von Psychotherapie von Orlinsky & Howard, 1987 und Orlinsky, 1994)
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9
Kapitel 9 · Der therapeutische Prozess in der Praxis
ist, die vom Patienten auch so wahrgenommen werden, entwickelt sich der Patient konstruktiv weiter. Aus einer systemischen Sichtweise des Patientenzentrierten Konzepts (Höger, 1993; Kriz, 1994; 2004) ergibt sich, dass psychotherapeutische Veränderungen nicht dem Kausalitätsprinzip folgen. Das Funktionieren des menschlichen Organismus kann besser erklärt werden, wenn man ihn als ein in sich geschlossenes, sich selbst erhaltendes System (autopoietisches System) betrachtet. Aus dieser Perspektive gesehen besagt das Prinzip der Nicht-Direktivität: Ein Gesprächspsychotherapeut ermöglicht dem Patienten seelische Entwicklung, indem er seinen Beitrag zu den für diese notwendigen Bedingungen leistet. Er fördert sie aber nicht durch eine kausale Einwirkung (7 Kap. 3 und 6). Nicht-direktives Handeln bedeutet konkret: Der Gesprächspsychotherapeut hört vor allem aufmerksam zu. In der Regel stellt er keine Fragen, er schlägt keine Übungen, z. B. Rollenspiele, vor und gibt keine Hausaufgaben auf. Er bringt nicht von sich aus Themen ein, sondern arbeitet mit dem »Material«, das der Patient spontan einbringt: Das kann das Erleben jetzt im Moment sein, der Bericht über das, was in der vergangenen Woche passiert ist oder vor einem Jahr oder im Traum oder in der frühen Kindheit. Es können Klagen über andere Menschen sein oder über die Auswirkungen von Symptomen. Nicht-Direktivität zeigt sich auch in einer Enthaltsamkeit bezüglich eigener Stellungnahmen emotionaler und intellektueller Art: In der Regel belehrt der Gesprächspsychotherapeut nicht, tröstet nicht und redet auch nicht über seine eigenen Erfahrungen. Abweichungen von der Nicht-Direktivität gibt es natürlich, z. B. wenn der Therapeut auf ein Thema zu sprechen kommt, das nicht zu der Thematik, die der Patient bisher in die Therapiestunden eingebracht hat, gehört. Sie sind in der Regel eine Folge davon, dass der Therapeut bei sich eine Abweichung von der Bedingungsfreien Positiven Beachtung festgestellt hat, wie das folgende Beispiel zeigen soll.
Fallvignette
Direktivität im Dienste der Kongruenz des Therapeuten Einer Therapeutin fällt in der 10. Therapiesitzung ein, dass ihr Patient im Erstinterview von einer schweren anhaltenden Ehekrise gesprochen hat und dass er überlege, mit seiner Frau zusammen eine Paarberatung aufzusuchen. In keiner der bisherigen Therapiesitzungen hat der Patient dieses Problem nochmals erwähnt. Die Therapeutin registriert, dass ihr Patient viel über Beziehungsprobleme spricht, z. B. über solche mit Kollegen und seinem Vorgesetzten, auch über die mit seinem älteren Bruder, nicht jedoch über die mit seiner Frau. Über sie spricht er überhaupt nicht. Die Therapeutin merkt, dass sie sich in den Sitzungen gedanklich immer häufiger mit diesem Umstand befassen muss und dass ihre Möglichkeiten, dem Patienten mit Bedingungsfreier positiver Beachtung zu begegnen, immer eingeschränkter werden. Daher entschließt sie sich, das »verschwundene« Thema Ehe von sich aus anzusprechen: »Ich merke, dass ich immer öfter daran denken muss, dass Sie mir im Erstgespräch von ernsthaften Eheproblemen berichtet haben …« Der Patient reagiert sofort. Es stellt sich heraus, dass seine Frau ihn inzwischen verlassen hat und zu einem anderen Mann gezogen ist. Er fühlt sich als ein totaler Versager und zutiefst beschämt. Die Therapeutin hat keine Mühe, sich diesen Erfahrungen ihres Patienten mit Bedingungsfreier Positiver Beachtung zuzuwenden, d. h. ihre reaktive Inkongruenz hat sich aufgelöst.
Häufig führen, wie in diesem Beispiel, heftige Scham- oder Schuldgefühle, aber auch Ekel und Angst, dazu, dass bestimmte Themen vermieden werden. Es gibt aber auch problematische Themen, die dem Patienten nicht bewusst sind. Er kann sie also gar nicht zum Thema machen. Der eingefühlte Therapeut kann aber spüren, dass der Patient etwas vermeidet. Er sollte diesem Gefühl, dass der Patient ein bestimmtes Thema vermeidet, nachgehen.
231 9.3 · Therapeutische Handlungsregeln
! Interventionsregel bei Erfahrungen, die ver-
mieden werden Wenn der Therapeut spürt, dass sein Patient etwas vermeidet, ist es seine Aufgabe, zumindest den Umstand, dass er den Eindruck hat, dass etwas vermieden wird, zu thematisieren.
9.3.2
Empathisches Zuhören
Empathisches Zuhören ist eng verbunden mit dem Verhaltensmerkmal der Nicht-Direktivität. Um das Erleben des anderen wirklich verstehen zu können, muss man dem anderen zunächst einmal zuhören, und zwar so, dass man das, was der andere gesagt hat, vollständig und korrekt wiedergeben kann. Zuhören kann nur stattfinden, wenn man dem anderen Raum zur Selbstdarstellung lässt, sich mit eigenen Einfällen und Stellungnahmen zurückhält, sich auf das konzentriert, was der andere über sich sagt. Zuhören im therapeutischen Sinne bedeutet auch, 4 das, was der andere sagt und wie er es sagt, auf sich wirken zu lassen, 4 sich der Gefühle bewusst zu werden, die das Gesagte in einem selbst auslöst, ohne dabei den anderen aus dem Auge zu verlieren, d. h. 4 mit dem anderen in einem empathischen Kontakt zu bleiben.
was den anderen auf solche Gedanken brachte, nein, sie saß nur da und hörte einfach zu, mit aller Aufmerksamkeit und aller Anteilnahme. Dabei schaute sie den anderen mit ihren großen dunklen Augen an, und der Betreffende fühlte, wie in ihm auf einmal Gedanken auftauchten von denen er nie geahnt hatte, dass sie in ihm steckten. Sie konnte so zuhören, dass ratlose oder unentschlossene Leute auf einmal ganz genau wussten, was sie wollten. Oder dass Schüchterne sich plötzlich frei und mutig fühlten. Oder dass Unglückliche und Bedrückte zuversichtlich und froh wurden. Und wenn jemand meinte, sein Leben sei ganz verfehlt und bedeutungslos und er selbst nur irgendeiner unter Millionen, einer, auf den es überhaupt nicht ankommt und der ebenso schnell ersetzt werden kann wie ein kaputter Topf – und er ging hin und erzählte alles das der kleinen Momo, dann wurde ihm, noch während er redete, auf geheimnisvolle Weise klar, dass er sich gründlich irrte, dass es ihn, genauso wie er war, unter allen Menschen nur ein einziges Mal gab und dass er deshalb auf seine besondere Weise für die Welt wichtig war. So konnte Momo zuhören!« (Michael Ende 1973, S. 15 f.)
9.3.3
Empathisches Zuhören ist eine unabdingbare Voraussetzung für Empathisches Verstehen. Welche Wirkungen empathisches Zuhören haben kann, ist wohl nirgends eindrücklicher beschrieben als in einem Kinderbuch von Michael Ende. »Was die kleine Momo konnte wie kein anderer, das war: Zuhören. Das ist doch nichts Besonderes, wird nun vielleicht mancher (Leser) sagen, zuhören kann doch jeder. Aber das ist ein Irrtum. Wirklich zuhören können nur ganz wenige Menschen. Und so wie Momo sich aufs Zuhören verstand, war es ganz und gar einmalig. Momo konnte so zuhören, dass dummen Leuten plötzlich gescheite Gedanken kamen. Nicht etwa, weil sie etwas sagte oder fragte, 6
9
Spezifische Zentrierung der Aufmerksamkeit
Der Gesprächspsychotherapeut konzentriert sich bzw. richtet seine ganze Aufmerksamkeit auf: 4 Das eigene Selbsterleben 4 Das Selbsterleben des Patienten ! Zentrierung der Aufmerksamkeit auf das
eigene Selbsterleben Der Gesprächspsychotherapeut behält im Kontakt mit seinem Patienten immer auch sein eigenes Erleben im Auge und achtet dabei vor allem auf Abweichungen von der Bedingungsfreien Positiven Beachtung des Patienten in seinem Selbsterleben.
Wenn der Therapeut seine ganze Aufmerksamkeit auf das Selbsterleben des Patienten richtet, stehen in deren Fokus die folgenden psychischen Funktionen des Patienten:
232
Kapitel 9 · Der therapeutische Prozess in der Praxis
4 Seine Selbstexploration 4 Sein Innerer Bezugsrahmen 4 Sein Experiencing
Zentrierung auf die Selbstexploration Definition Von Selbstexploration wird in der Gesprächspsychotherapie gesprochen, wenn sich der Patient sprachlich darüber äußert, dass und wie er sich selbst erlebt. Selbstexploration bezeichnet eine sprachlich geäußerte Form der Auseinandersetzung mit sich selbst, mit dem eigenen Erleben, den eigenen Erfahrungen und ihren Bewertungen. Selbstexploration in der Therapiestunde dient meistens dem Versuch, unverstandene Erfahrungen verstehen zu wollen.
Es ist wissenschaftlich belegt, dass es einen Zusammenhang zwischen dem Ausmaß der Selbstexploration und dem Therapieerfolg eines Patienten gibt. Zu Forschungszwecken wurde das Merkmal Selbstexploration in Form einer Skala operational definiert (. Tab. 9.1). Es konnte gezeigt werden, dass erfolgreiche Patienten entweder bereits bei Therapiebeginn eine hohe Selbstexploration (Stufe 7 und höher) aufwiesen oder im Verlaufe der Behandlung immer mehr selbstexplorativ geworden waren. Deshalb gilt die Beobachtung der Selbstexploration als Orientierungshilfe beim therapeutischen Handeln: Ein mittleres Ausmaß an Selbstexploration (ab Stufe 5) spricht für einen ausreichend guten therapeutischen Prozess. Der Therapeut sollte alarmiert sein, wenn die Selbstexploration konstant niedrig ist oder sogar deutlich abnimmt. Wenig Selbstexploration schließt ein positives Therapieergebnis nicht aus, macht es aber unwahrscheinlicher.
9 . Tab. 9.1. Skala zur Einschätzung des Ausmaßes der »Selbstexploration« des Patienten* Stufe
Beschreibung
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Der Patient sagt nichts über sich selbst, weder über sein Verhalten noch über sein inneres Erleben. Er spricht ausschließlich über Tatbestände, die unabhängig von seiner Person sind.
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Der Patient berichtet nichts über sich selbst, weder über sein Verhalten noch über sein Erleben. Er erzählt jedoch von Personen und/oder Sachen, die zu ihm in einer Beziehung stehen (z. B. von seinen Eltern, seinem Auto).
3
Der Patient berichtet von äußeren Vorgängen und auch von seinem eigenen Verhalten, jedoch ohne von seinen spezifisch persönlichen inneren Erlebnissen zu sprechen, die dazu in Beziehung stehen.
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Der Patient berichtet von äußeren Vorgängen und auch von seinem eigenen Verhalten, jedoch ohne von spezifisch persönlichen inneren Erlebnissen zu sprechen, die im Zusammenhang damit stehen. Man kann jedoch annehmen, dass das Berichtete für ihn mit Gefühlen verbunden oder für ihn von ziemlicher Bedeutung ist.
5
Der Patient berichtet über sein eigenes Verhalten oder äußere Vorgänge und über die spezifisch persönlichen inneren Erlebnisse, die dazu in Beziehung stehen. Der überwiegende Teil der Aussage besteht in der Schilderung seines Verhaltens oder äußerer Ereignisse; seine spezifisch persönlichen inneren Erlebnisse werden nur kurz erwähnt.
6
Der Patient berichtet über sein eigenes Verhalten oder äußere Vorgänge und über die spezifisch persönlichen inneren Erlebnisse, die dazu in Beziehung stehen. Der Inhalt der Aussage besteht überwiegend aus der Schilderung seiner inneren Erlebnisse.
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Der Patient berichtet überwiegend von seinen spezifisch persönlichen inneren Erlebnissen. Zusätzlich ist ein Ansatz zu erkennen, seine inneren Erlebnisse weiter zu klären: etwa sie in neuen Zusammenhängen zu sehen, sich zu fragen, woher gewisse Einstellungen kommen, Widersprüche zu entdecken u. ä.
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Der Patient schildert ausführlich seine spezifisch persönlichen inneren Erlebnisse. Das Suchen nach neuen Aspekten und Zusammenhängen in seinem inneren Erleben kommt deutlich zum Ausdruck.
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Der Patient schildert ausführlich seine spezifisch persönlichen inneren Erlebnisse. Es wird deutlich, dass er neue Aspekte und Zusammenhänge in seinem inneren Erleben findet.
nach Tausch, Eppel, Fittkau & Minsel (1969)
233 9.3 · Therapeutische Handlungsregeln
Im Rahmen der klinischen Bindungsforschung wurde durch Fonagy, Target, Steele & Steele (1998) das Konzept des »Reflective Functioning« (RF) entwickelt und ebenfalls in Form einer Skala operational definiert (»Reflective Self Functioning Scale«). RF bedeutet, sowohl die eigene Person als auch andere Menschen in Begriffen von Intentionalität bzw. mentalem, d. h. geistig-seelischem, Befinden wahrzunehmen und zu verstehen (Gedanken, Meinungen, Absichten, Wünsche) bzw. über die Hintergründe von Verhalten in diesen Kategorien nachzudenken (Reflexivität). Daudert (2001) hat die RSF-Scale ins Deutsche übersetzt und in einer eigenen empirischen Untersuchung einen erstaunlich engen Zusammenhang zwischen der RSF-Scale und der oben abgebildeten Selbstexplorationsskala gefunden: r=0,53. Vor dem Hintergrund der Ergebnisse der Forschungen zu RF (z. B. Daudert, 2002) bedeutet das für die Therapietheorie der Gesprächspsychotherapie: Die Förderung der Selbstexploration des Patienten in einer Gesprächspsychotherapie bedeutet eine Zunahme seiner Selbstreflexivität im Sinne des RF-Konzeptes und damit seiner seelischen Gesundheit in der Form von Bindungs- und Beziehungsfähigkeit.
Zentrierung auf den Inneren Bezugsrahmen Wir haben am Anfang des Kaptitel den Inneren Bezugsrahmen definiert als die Positionen, die ein Mensch gegenüber seinem eigenen Erleben einnimmt, vor allem die gefühlsmäßigen Bewertungen des Erlebens. Es hat sich in der Praxis als hilfreich erwiesen, besonders auf drei Erfahrungsbereiche und die zu ihnen gehörenden Bewertungen zu achten: 4 das Selbstkonzept, 4 die internalisierten Wertvorstellungen 4 die Beziehung zum Therapeuten Um korrekt zu erfassen, mit welchen Erfahrungen in welchem Erfahrungsbereich sich der Patient auseinandersetzt, kann der Therapeut seine innere Aufmerksamkeit mit Hilfe von Fragen, die er stumm an sich selbst richtet und beantwortet, steuern. Fragen im Hinblick auf das Selbstkonzept. Um abschätzen zu können, ob es um das Selbstkonzept geht, ist zu fragen: In welcher Beziehung stehen die
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Erfahrungen, über die der Patient spricht, zu seinem Selbstkonzept? Erlebt der Patient die Erfahrungen, über die er berichtet, als mit seinem Selbst kongruent? Die Antwort wird leicht fallen, wenn z. B. eine Patientin mit einer Borderline-Persönlichkeitsstörung berichtet, wie sie sich in einem Gespräch mit einer Kollegin plötzlich als neben sich stehend und sich beobachtend erfährt: »Ich sehe mich da stehen und auch weiter reden, aber das bin nicht ich, die da redet, und das, was die redet, ist nicht meine Überzeugung.« Bei einem Patienten, der sich beklagt, dass er nicht im Kontakt, sondern »immer erst hinterher« merkt, dass er sich über seine Gesprächspartner geärgert hat, kann sich herausstellen, dass er in seinem Selbstbild »spontan und geradeheraus« ist, sodass »immer erst hinterher« gar nicht zu seinem Selbstkonzept passt. Fragen im Hinblick auf internalisierte Wertvorstellungen. Um abschätzen zu können, ob es um die
internalisierten Wertvorstellungen (7 Kap. 4) geht, ist zu fragen: Wie bewertet der Patient seine Erfahrung? Lehnt er sich in ihr ab? Geht es ihm mehr um diese Erfahrung oder mehr um die positive Beachtung, die mit ihr verbunden ist? Recht häufig spielen internalisierte Wertvorstellungen eine Rolle, wenn es um Schuld und Schuldgefühle geht. So bei der Patientin, die sich mit Selbstvorwürfen überhäufte, dass sie ein so schwieriges und dann auch noch kränkelndes Kind gewesen sei. Sie habe ihre Mutter überfordert und damit in die Alkoholabhängigkeit getrieben. Bei dieser Patientin regiert die verinnerlichte Normvorstellung, dass nicht die Gefühle eines Kindes angesichts einer versagenden und enttäuschenden Mutter der Rede wert sind, sondern nur die einer überforderten Mutter. Fragen im Hinblick auf die Beziehung zum Therapeuten. Um abschätzen zu können, ob es um die
Beziehung zum Therapeuten geht, ist zu fragen: Fühle ich, Therapeut, mich, wenn auch unausgesprochen, vom Patienten angesprochen? Versucht der Patient unausgesprochen meinen Erwartungen zu entsprechen oder befürchtet er, von mir bewertet zu werden? Ein Patient, der die Therapiesitzungen fast immer mit der Feststellung eröffnete »Nach der letzten
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Kapitel 9 · Der therapeutische Prozess in der Praxis
Sitzung ist es mir überhaupt nicht besser gegangen«, brachte damit weniger seine Selbsterfahrung zum Ausdruck, als seine Enttäuschung über den Therapeuten. Der Therapeut merkte es daran, dass er gar nicht auf die Idee kam, sich dem Aspekt der Enttäuschung in dieser Äußerung zuzuwenden, sondern seine spontane Antwort auf diese Frage »Aber das erwarte ich doch gar nicht von Ihnen!« unterdrückte.
Zentrierung auf Experiencing (Erleben)
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Experiencing heißt auf Deutsch »Erleben«. Wir benutzen aber in dem im Folgenden darzustellenden Zusammenhang den von Gendlin (1961) gewählten englischen Begriff, weil der deutsche Begriff »Erleben« kein psychologisches Fachwort geblieben ist, was es noch bei Wilhelm Dilthey war. Dilthey meinte mit dem Begriff Erleben, wie Gendlin mit dem Begriff Experiencing nicht etwas in inhaltlichen Einheiten Gegebenes, z. B. Erfahrungen oder Erlebnisse, sondern den kontinuierlichen Prozess des Fühlens und Spürens (Wiltschko, 2003). Im Prozess des Experiencing, dem die Person ihre Aufmerksamkeit zuwenden kann, entwickeln sich »gefühlte Bedeutungen«. Die Bezeichnung Experiencing betont den an den Körper gebundenen emotionalen Aspekt des Prozesses der inneren Bedeutungsentwicklung von Erleben im Symbolisierungsprozess, d. h. im Prozess des Bewusstwerdens von Erfahrung. In diesem Prozess tauchen neben Körperempfindungen und Gefühlen auch Vorstellungen, Gedanke und Worte auf. Diese sind aufeinander bezogen und geben einander Sinn und Bedeutung. In der klassischen Gesprächspsychotherapie sind es nicht selten positive Anlässe, sich dem unmittelbaren Erleben des Patienten zuzuwenden, z. B. wenn der Patient erstaunt feststellt: »Ich merke gerade, dass meine Kopfschmerzen nachlassen.« Häufiger sind aber weniger erfreuliche Anlässe, z. B. schießen dem Patienten die Tränen in die Augen, er kann nicht mehr sprechen, weil plötzlich ein »Kloß« im Hals sitzt, oder er merkt, dass er sich scheinbar grundlos schämt. Gendlin (1998) hat eigene Interventionsregeln entwickelt, um diesen Prozess systematisch zu fördern, das »Focusing« (7 Kap. 19). Eine Operationalisierung des Konzeptes in Form einer Skala findet sich im 7 Kap. 10.2.1.
9.3.4
Verbalisierung der Erfahrung des Patienten
Die Gesprächspsychotherapie verdankt ihrem Namen dem Umstand, dass der wesentliche Teil des therapeutischen Kontaktes in einem Gespräch zwischen Patient und Therapeut besteht. In einer Körpertherapie z. B. sind die Gewichte anders verteilt. Es handelt sich in der Gesprächstherapie aber nicht um ein Gespräch zwischen zwei gleichgestellten Gesprächspartnern, sondern der Therapeut verfolgt mit seiner Form der Gesprächsführung bestimmte Ziele: letztlich die Verminderung von Inkongruenz. Um diese Ziele zu erreichen, wendet er bestimmte Regeln an, die im Folgenden beschrieben werden. Der Therapeut greift die vom Patienten zum Ausdruck gebrachten Erfahrungen auf und bringt sie seinerseits zum Ausdruck, er indem er sie benennt, in Worte fasst, »verbalisiert«. Dabei befolgt er die folgende Grundregel: ! 1. Grundregel für Verbalisieren Benenne bei der Verbalisierung der Erfahrungen des Patienten immer auch die dazu gehörenden Gefühle.
Diese Regel klingt einfacher als sie ist. In unseren alltäglichen Gesprächen mit anderen Menschen tauschen wir uns über unsere Erlebnisse oder Erfahrungsinhalte aus, aber nur ganz selten auch über die dazugehörenden Gefühle. Wie ungewohnt und schwierig ein Gespräch über Gefühle ist, lässt sich leicht an einer Szene in einem Hamburger Cafe erläutern. Es ist davon auszugehen, dass auch Therapeuten meistens nicht sehr geübt darin sind, die Gefühle des Gegenübers klar zu benennen. Die folgenden Beispiele sollen das belegen. Eine weitere Grundregel ist, dass bei der Verbalisierung der Erfahrungen nach Möglichkeit der Innere Bezugsrahmen im oben beschriebenen Sinne berücksichtigt werden soll. ! 2. Grundregel für Verbalisieren Beziehe bei der Verbalisierung der Erfahrungen des Patienten nach Möglichkeit immer auch den Inneren Bezugsrahmen ein.
235 9.3 · Therapeutische Handlungsregeln
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Exkurs
Über Interaktionen pensionierter Oberschwestern in einem Café In einem Café in Hamburg-Eppendorf saßen acht pensionierte Schwestern und Oberschwestern zusammen, die sich alle aus der früheren Arbeit im nahe gelegenen Universitätskrankenhaus zu kennen schienen. Sie tauschten sich sehr lebhaft über ihre Gebrechen und Krankheiten aus. Wenn ich nicht genau hingehört hätte, wäre ich als Beobachter der acht Damen nicht auf die Idee gekommen, dass sie sich gegenseitig ziemlich schreckliche Geschichten erzählten. Das lag an folgendem Interaktionsmuster: Wenn eine der Damen ihre derzeit desolate gesundheitliche Verfassung beschrieben hatte, wurde nicht in der Form darauf reagiert, dass nachgefragt wurde, wie es ihr denn nun z. B. mit dem halben Magen gehe, wie sie damit klar komme usw. Niemand erkundigte sich direkt nach ih-
rem emotionalen Befinden. Stattdessen bestand die typische Reaktion in der Darstellung einer eigenen Geschichte, in der z. B. mitgeteilt wurde, dass man selbst nur noch ein Viertel des Magens hätte, was aber nicht ausschließe, die Ferien im Ausland zu verbringen, wenn man sich nur rechtzeitig um die richtige Diät vor Ort kümmern würde. Vermutlich steckte in diesen Reaktionen der Versuch, die ehemalige Kollegin zu trösten, d. h. indirekt doch auf ihre emotionale Verfassung einzugehen: »Sieh doch mal, es ist nicht so schlimm, ich lebe mit der Hälfte von dem, was Du noch hast, ganz gut.« Das wurde aber so nicht gesagt, und so hätte man auch auf die Idee kommen können, dass mit der Reaktion der Wunsch ausgedrückt wurde, auch im eigenen Elend wahrgenommen zu werden, oder dass sie eine vorwurfsvolle Zurückweisung beinhaltete: »Stell’ Dich doch nicht so an, anderen geht es viel schlechter als Dir!«
Fallvignette
Beispiele von Therapeutenäußerungen 5 Patient: Ich weiß nicht warum, aber ich muss nur an meinen Vater denken und schon bin ich wütend! 5 Therapeut 1: Schon der Gedanke an Ihren Vater frustriert Sie. 5 Therapeut 2: Irgendwie macht es Sie ein Stück weit ärgerlich, wenn Sie an Ihren Vater denken? 5 Therapeut 3: Ist das ein alter Konflikt, den Sie da mit Ihrem Vater haben? Diese Reaktionen sind für Therapeuten nicht untypisch, aber keiner entspricht der o. g. Grund-
Der Innere Bezugsrahmen ist oft auch in einer einzelnen Patientenäußerung zu erkennen. Meistens zeigt er sich aber im Therapiegesprächsverlauf bei einer entsprechenden Zentrierung der Aufmerksamkeit. Es sind noch zwei weitere Regeln für die Verbalisierung emotionaler Erlebnisinhalte aufgestellt wor-
regel. Therapeut 1 benennt nicht ein Gefühl, sondern übersetzt das Wort Wut in einen unspezifischen Fachausdruck. Therapeut 2 verharmlost das vom Patienten genannte Gefühl, und Therapeut 3 geht überhaupt nicht auf das Gefühl ein. 5 Therapeut 4: Es macht Sie ziemlich ratlos, wenn Sie merken, dass Sie wütend auf Ihren Vater sind und nicht wissen warum? Therapeut 4 antwortet regelkonformer: Hier werden die Gefühle, mit denen der Patient befasst ist, vom Therapeuten klar benannt.
den, die in Rechnung stellen, dass nicht alle Patienten in gleichem Ausmaß fähig zur Selbstexploration sind. Intervention bei hoher Selbstexploration. Weist der Patient eine hinreichend hohe Selbstexploration (etwa ab Stufe 6 der SE-Skala) auf, dann lautet die Interventionsregel:
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Kapitel 9 · Der therapeutische Prozess in der Praxis
! Interventionsregel bei hoher Selbstexploration Sprich die Erfahrungen des Patienten und das damit zusammenhängende im Hier und Jetzt unmittelbar gegebene gefühlsmäßige Erleben möglichst genau und vollständig an! Fallvignette
Student mit einer Phobie 5 Patient: »Ich habe mich noch nie mutlos gefühlt. Mut hatte ich immer, manchmal fast zu viel, sodass ich mich gefragt habe, ob ich nicht nur anderen imponieren wollte, vielleicht ein Angeber bin. Dieses Gefühl jetzt ist etwas anderes. Ich weiß ja nicht einmal, wovor ich Angst habe außer vor diesem entsetzlichen Angstgefühl.«
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Der Patient benennt zwei Erfahrungen. Zum einen die, dass er jemand ist, der viel Mut zeigen kann, und zum anderen die, jetzt mit einem Gefühl zu tun zu haben, das nicht er, sondern das ihn beherrscht. Er benennt dieses Gefühl nicht, sondern hebt es von dem Gefühl der Mutlosigkeit ab.
Der Therapeut greift beide Situationen und die Gefühle in ihnen auf: 5 Therapeut: »Eigentlich kennen Sie sich als jemanden, der Situationen beherrscht, auch wenn dazu viel Mut gehört. Jetzt aber werden Sie von einem Angstgefühl beherrscht. Das macht Sie ziemlich ratlos.« Eine solche Äußerung gibt die Erfahrung und das Erleben des Patienten recht »genau und vollständig« wieder. Wenn für den Therapeuten auch der Innere Bezugsrahmen erkennbar ist, sollte er ihn in seine verbale Äußerung einschließen, d. h. auch die 2. Grundregel berücksichtigen.
Fallvignette
Beispiele für Verbalisierungen unter Einbeziehung des Inneren Bezugsrahmens 5 Das Selbstkonzept bestimmt den Inneren Bezugsrahmen: »Eigentlich kennen Sie sich als jemanden, der Situationen beherrscht, auch wenn dazu viel Mut gehört. Jetzt aber werden Sie von einem Angstgefühl beherrscht. Das passt so gar nicht zu ihnen und entsprechend verunsichert fühlen Sie sich.« 5 Die Internalisierten Wertvorstellungen bestimmen den Inneren Bezugsrahmen: »… einem Angstgefühl beherrscht. Und das st schwer auszuhalten, weil sie mir ja schon erzählt haben, dass für Sie ängstliche Jungen feige Memmen sind.« 5 Experiencing bestimmt den Inneren Bezugsrahmen: »… einem Angstgefühl beherrscht. ! Interventionsregel bei niedriger Selbst-
Ich sehe, dass Ihnen zum Weinen zu Mute ist. Können Sie mir sagen, was das für Tränen sind, die Sie zurückzuhalten versuchen?« 5 Die Beziehung zum Therapeuten bestimmt den Inneren Bezugsrahmen: »… einem Angstgefühl beherrscht. Sie schauen mich so fragend an. Fürchten Sie, ich finde Sie feige, wenn Sie wegen ihrer Angst vor der Angst nicht mehr ins Kino gehen?« Diese Therapeutenäußerung wird verständlich, wenn man weiß, dass der Patient kurz zuvor ausgeführt hatte: »Es ist mir immer wichtig gewesen, nicht feige zu sein. Ich finde Angsthasen peinlich, schäme mich fast für jeden Feigling.«
! Interventionsregel bei niedriger Selbst-
exploration
exploration
In den Fällen, in denen der Patient nicht über unmittelbares Erleben spricht, lautet die Interventionsregel:
Sprich das gefühlsmäßige Erleben des Patienten an, das ihn im Hier und Jetzt am stärksten zu bestimmen scheint.
237 9.3 · Therapeutische Handlungsregeln
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Zur Illustration greifen wir das eingangs gebrachte Beispiel noch einmal auf (7 Kap. 9.1.1). Fallvignette
Empathisches Verstehen und seine Wirkung Patientin: Wenn ich jetzt bei dem Beispiel bleiben soll, dann würde ich sagen: Irgend ein abgebrühter Kaufmann, dem es an die Nieren geht, wenn ihm ein paar tausend Mark fehlen, der soll sich ruhig ein bisschen gequält fühlen, also das würde mich eventuell sogar noch freuen, wenn es nur das ist, was ihn zu quälen vermag. Therapeut: Das klingt sehr bitter. Patientin: Ja, das stimmt, da haben Sie Recht. Das ist mir im Moment auch gerade bewusst geworden. Ich mein’ einfach aus Verbitterung darüber, dass man also jahrelang beobachtet hat, wie viele Menschen es eigentlich gibt, die sich um nichts anderes kümmern als um Geld. (…) Kommentar: Die Patientin benennt zwar ein Gefühl – »das würde mich eventuell sogar noch
Diese Regeln für das Verbalisieren der Erfahrungen des Patienten sind in der Taxonomie auf Stufe III bzw. IV angesiedelt. Da Regeln auf dieser Stufe die Regeln auf den höheren Stufen – dazu gehört das gesprächspsychotherapeutische Beziehungsangebot – nicht verletzen dürfen, lautet die vollständige Interventionsregel wie folgt: ! Vollständige (ideale) Regel für die Verbalisie-
rung von Erfahrungen Sprich die vom Patienten geäußerten Erfahrungen und sein im Zusammenhang damit im Hier und Jetzt tatsächlich stattfindendes Erleben möglichst vollständig an, sofern Du beides empathisch verstanden hast und bedingungsfrei positiv beachten kannst.
Evaluierung der Verbalisierung von Erfahrungen.
Abschließend ist noch die Frage zu behandeln: Woran kann der Gesprächspsychotherapeut erkennen, ob seine Intervention »richtig«, d. h. für den Therapieprozess förderlich, war? Einen sicheren Hinweis bietet die Selbstexploration des Patienten. Bleibt sie gleich oder steigt sie sogar an, dann war die Intervention adäquat. Fällt sie aber ab oder verstummt der Patient gar, dann war sie sicherlich nicht korrekt. In einem solchen Fall sollte der Therapeut nicht
freuen« –, aber es ist deutlich, dass sie mehr eine Vorstellung meint als ein Gefühl. Das Gefühl, das die Patientin im Moment bestimmt, ist eher Verbitterung. Dieses auf dem Weg des empathischen Verstehens wahrgenommene Gefühl benennt der Therapeut: »Das klingt sehr bitter.« Da er das Gefühl bei der Patientin »erspürt« hat und nicht sicher sein kann, dass die Patientin ihrerseits dieses Gefühl so bei sich auch wahrnimmt, sagt er z. B. nicht »das verbittert Sie«, sondern signalisiert der Patientin mit seiner Formulierung »das klingt sehr bitter«, dass er ihr seine Wahrnehmung mitteilt. Die Reaktion der Patientin macht deutlich, dass sie sich richtig verstanden und in ihrem Erleben vom Therapeuten auch bedingungsfrei positiv beachtet fühlt: Sie greift das vom Therapeuten benannte Gefühl auf und führt die damit zusammenhängenden Umstände weiter aus.
nach einer besseren bzw. »richtigeren« Intervention suchen und sie anbieten, sondern genau diese im Hier und Jetzt entstandene Störung des therapeutischen Prozesses zur Sprache bringen: »Sehe ich das richtig, sie haben sich gerade von mir nicht verstanden gefühlt?« Wenn die emotionale Reaktion des Patienten eindeutig ist, könnte er z. B. auch fragend feststellen: »Sehe ich das richtig, meine Äußerung hat sie verletzt?« Dieses Vorgehen lässt sich in folgende Regel fassen: ! Regel im Falle einer Verbalisierung, die vom
Patienten als nicht ganz richtig oder als falsch zurückgewiesen wird Wenn der Patient eine Verbalisierung seiner emotionalen Erlebnisinhalte durch den Therapeuten direkt oder indirekt als nicht ganz richtig oder gar als falsch zurück weist, ist es meistens nicht angebracht, nach einer »richtigeren« Verbalisierung zu suchen und diese als Alternative anzubieten, sondern es ist die unmittelbare Erfahrung anzusprechen, die der Patient in der Reaktion darauf macht, dass er sich durch die Äußerung des Therapeuten nicht bzw. nicht ausreichend verstanden fühlt.
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Kapitel 9 · Der therapeutische Prozess in der Praxis
Die Zurückweisung einer Intervention durch den Patienten geschieht selten direkt, z. B. in der Form: »Nein, da haben Sie mich falsch verstanden!« Sehr viel häufiger muss sie der Therapeut aus der Reaktion des Patienten erschließen, wenn dieser auf die Intervention des Therapeuten nicht eingeht, das Thema wechselt oder gar verstummt. Bei dem Versuch des Therapeuten, die »Zurückweisung« seiner Intervention zu klären, d. h. ihre Gründe zu verstehen, wird nicht selten deutlich, dass sie nicht erfolgte, weil die Intervention nicht oder nicht ausreichend empathisch war, sondern weil der Innere Bezugsrahmen außer acht gelassen worden ist. Auch wenn eine Intervention wie: »Verstehe ich Sie da richtig, Sie waren damals sehr neidisch auf ihre Schwester und wollten zu der Zeit lieber ein Mädchen als ein Junge sein«, die Erfahrung des Patienten exakt wiedergibt, wird er sie dann nicht annehmen können, wenn dieser Wunsch noch scham- und angstbesetzt oder nicht bewusstseinsfähig ist und abgewehrt werden muss. Zugänglich sind dem Patienten häufig nur Empfindungen, die diffuse Hinweise auf das Vorliegen einer Inkongruenz beinhalten. Diese wären dann zunächst vom Therapeuten anzusprechen unter der Voraussetzung, dass er sich diesen Hinweisen mit Bedingungsfreier Positiver Beachtung zuwenden kann. Er könnte z. B. dem Patienten anbieten: »Sie schweigen jetzt. Mir scheint es so, als wäre es für sie sehr schwer, sich mit der Möglichkeit zu befassen, dass sie sehr neidisch auf ihre ältere Schwester waren. Spüren sie diese innere Bremse auch?« Wenn scham- und angstbesetzte Erfahrungen bewusstseinsfähig sind, ermöglicht der Therapeut es dem Patienten, über diese Erfahrungen zu sprechen, indem er sie direkt anspricht. Ein bekanntes Beispiel dafür sind Suizidgedanken. Wenn der Patient sie andeutet, sollte der Therapeut sie direkt zum Thema machen, z. B. so: »Ich kann mir gut vorstellen, dass bei Ihnen in ihrer Situation auch schon mal der Gedanke auftaucht, mit dem Leben Schluss zu machen.« Die meisten Patienten mit mehr oder weniger latenten Suizidgedanken reagieren auf ein solches Verständnisangebot mit Erleichterung und können dann auch über ihre eigenen Kämpfe gegen immer wieder aufsteigende Suizidgedanken berichten.
! Interventionsregeln 4 Die sprachlichen Interventionen des Gesprächspsychotherapeuten beziehen sich auf die Erfahrungen und das Erleben des Patienten in seinem Inneren Bezugsrahmen: 4 Auf das im Hier und Jetzt stattfindende Erleben des Patienten 4 Auf die Bedeutung der Erfahrungen für das Selbstkonzept des Patienten 4 Auf die Internalisierten Wertvorstellungen, auf deren Grundlage die Bewertung dieser Erfahrungen erfolgt 4 Auf die Bedeutung, die das Erleben für die therapeutische Beziehung hat. 4 Die Interventionen sollten im Hinblick darauf überprüft werden, ob sie therapeutisch nützlich waren. Ein Indikator ist die Selbstexploration des Patienten. Eine Intervention war wahrscheinlich dann therapeutisch sinnvoll, wenn die Selbstexploration des Patienten in ihrer Folge nicht absinkt, sondern gleich bleibt oder ansteigt.
Auf den ersten Blick scheinen »Regeln« bzw. der Begriff »Regel« im Widerspruch zum Klientenzentrierten Konzept zu stehen, das auch das Prinzip der Nicht-Direktivität beinhaltet. Das Prinzip der NichtDirektivität bedeutet aber auch eine Regel. Bedeutung der angeführten Regeln in der Praxis.
Die in diesem Abschnitt beschriebenen Handlungsregeln sind als Leitlinien für das therapeutische Handeln aufzufassen, die aber im konkreten Einzelfall häufig nicht eingehalten werden können bzw. modifiziert werden müssen. Die klinische Praxis lehrt vor allem, dass Therapeuten nicht jederzeit auf dem theoretisch idealen Niveau funktionieren müssen, damit eine Gesprächspsychotherapie erfolgreich verläuft. Wenn ein Gesprächspsychotherapeut z. B. ein bestimmtes Problem seines Patienten überhört oder missversteht, kann er ziemlich sicher sein, dass der Patient dieses Problem immer wieder präsentierten wird, und zwar so lange, bis er darin verstanden wird. In den beiden folgenden Kapiteln (7 Kap. 9.4 und 9.5) soll gezeigt werden, wie gesprächspsychotherapeutisches Handeln in der Praxis aussieht, wie weit oder wie oft es in der Praxis gelingt, die oben formu-
239 9.4 · Gesprächspsychotherapeutisches Handeln in der Praxis
lierten Regeln auch umzusetzen. Unsere Praxisdarstellung beginnt mit einer historischen Therapiesitzung: einem Gespräch, das der Begründer der Gesprächpsychotherapie, Carl Rogers, mit einer Patientin »Gloria« geführt hat. An dieses Gespräch schließt sich die Darstellung des Verlaufs der Behandlung der Patientin Annette an, die wir bereits aus einem diagnostischen und einem Erstinterview kennen, bei dem es um die Frage ging, ob eine Psychotherapie für diese Patientin die Behandlung der Wahl ist und wenn ja, welche.
Gesprächspsychotherapeutisches Handeln in der Praxis: kommentiertes Protokoll einer klientenzentrierten Therapiesitzung
9.4
Bei dem folgenden Protokoll handelt es sich um ein wörtlich transkribiertes, aber gekürztes Interview, das Carl Rogers mit der Patientin Gloria geführt hat. Dieses Interview, ein Erstkontakt, wurde deshalb so bekannt, weil die Patientin Gloria auch von dem Begründer der Gestalttherapie, Fritz Perls, und dem Begründer der Rational-Emotiven Therapie, Albert Ellis, interviewt worden ist, und es darüber einen Film gibt (Shostrom, 1965), der die Unterschiede im therapeutischen Vorgehen dieser drei Schulengründer verdeutlichen sollte.
Dieses Gespräch haben wir bereits an anderer Stelle gekürzt und kommentiert wiedergegeben (Biermann-Ratjen, Eckert & Schwartz, 2003). Es gab für uns zwei Gründe, das Interview auch in dieses Lehrbuch aufzunehmen. Zum einen den historischen Grund: Es dokumentiert die praktische Arbeit des Begründers der Klientenzentrierten Psychotherapie, Carl Rogers, und zum anderen den Grund, dass es sich um ein in sich abgeschlossenes Gespräch handelt, an dem sich die Prinzipien gesprächspsychotherapeutischen Handelns gut verdeutlichen lassen. Die Äußerungen des Therapeuten in diesem Gespräch werden in dreifacher Hinsicht aufgeschlüsselt und kommentiert bzw. interpretiert, und zwar unter den Gesichtpunkten: 4 Welche emotionalen Erlebnisinhalte nimmt der Therapeut vermutlich wahr? 4 Welche Überlegungen macht er sich vermutlich bezüglich des Inneren Bezugsrahmens der Patientin? 4 Wonach richtet er sich vermutlich bei seiner Entscheidung darüber, was er von dem, was er wahrgenommen und verstanden hat, auch anspricht? Mit diesen drei Analyseschritten wird versucht, für den Leser nachvollziehbar zu machen, welche Wahrnehmungen und Bewertungen der Wahrnehmung zu welchen verbalen Äußerungen des Therapeuten führen. Das Interview eignet sich auch als Übung.
. Tab. 9.2. Therapieprotokoll. T Therapeut, P Patientin, I emotionaler Erlebnisinhalt, den der Thera-
peut wahrnimmt, B Überlegungen des Therapeuten zum Bezugsrahmen, E Entscheidung darüber, was der Therapeut anspricht
T P
T 6
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Ich würde gern von Ihnen erfahren, was Sie beschäftigt. Gut, ich bin jetzt, ich bin jetzt nervös, aber es beruhigt mich, dass Sie mit leiser Stimme sprechen, und ich nicht das Gefühl haben muss, dass Sie so streng mit mir sein werden – aber … Ich höre, dass Ihre Stimme zittert, so…
I B
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Sie fürchtet sich davor, dass ich streng mit ihr sein könnte. Diese Furcht bestimmt sie jetzt unmittelbar – man hört es an ihrer Stimme. Ich spreche das unmittelbar vorhandene Erleben an der Stelle an, an der es sich am deutlichsten ausdrückt.
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Kapitel 9 · Der therapeutische Prozess in der Praxis
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Gut. Das, worüber ich vor allem mit Ihnen reden möchte, ist, ich habe mich gerade scheiden lassen, und ich war vorher in einer Therapie, und ich war beruhigt, als ich ging, und plötzlich ist nun das größte Problem, wie ich mit meinem Leben als Alleinstehende fertig werden kann. Und eine der Angelegenheiten, die mich am meisten aus der Ruhe bringen, ist die Angelegenheit mit Männern, Männer bei mir im Hause zu haben, und was das für die Kinder bedeutet. Das Belastendste, ich möchte – die Angelegenheit, die mir immer wieder durch den Kopf geht –, was ich Ihnen erzählen möchte ist, dass ich eine Tochter habe, neun Jahre alt, die vor kurzem, das ist mein Eindruck, eine Menge emotionaler Probleme hatte. Ich wünschte, ich könnte aufhören zu zittern. Und ich bin wirklich gewissenhaft (»bewusst«) mit Sachen, die ihr etwas ausmachen. Ich möchte sie nicht aus der Fassung bringen, ich möchte sie nicht erschrecken. Ich wünsche ihr so sehr, dass sie mich akzeptiert. Und wir sind wirklich offen miteinander, vor allem, wenn es um Sex geht. Und vor ein paar Tagen hat sie ein Mädchen gesehen, das unverheiratet, aber schwanger war, und dann hat sie mich darüber ausgefragt, wie Mädchen schwanger werden können, wenn sie unverheiratet sind. Und das Gespräch war gut, und ich habe mich dabei überhaupt nicht unwohl gefühlt, bis sie mich gefragt hat, ob ich schon einmal mit einem Mann geschlafen habe, seit ich Papi verlassen habe, und ich sie angelogen habe. Und seither muss ich immer wieder daran denken, ich fühle mich so schuldig, weil ich sie angelogen habe, denn ich lüge nie, und ich möchte, dass sie Vertrauen zu mir hat. Und ich möchte fast eine Antwort von Ihnen haben. Ich möchte, dass Sie mir sagen, ob ich ihr etwas antun würde, wenn ich ihr die Wahrheit sagen würde, oder was.
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Sie spricht jetzt zwar über etwas, was sie selbst belastet, spricht aber mehr über die Gefühle ihrer Tochter. Ihr eigenes Problem scheint zu sein, dass sie ihre Beziehung zu ihrer Tochter damit gefährden könnte, wie sie mit ihren eigenen Problemen umgeht. Sie traut sich nicht zu, dieses Problem selbst zu lösen, sieht es auch als ein Problem außerhalb ihres eigenen Erlebens an, als etwas objektiv Gegebenes. Deshalb fragt sie mich.
241 9.4 · Gesprächspsychotherapeutisches Handeln in der Praxis
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Und es ist diese Sorge um sie und die Tatsache, dass Sie wirklich nicht, dass dieses offene Verhältnis, das zwischen Ihnen beiden bestand, dass es Ihnen so vorkommt, als sei das nun dahin. Ja, ich habe das Gefühl, dass ich bezüglich dieser Sache auf der Hut sein muss, denn ich kann mich erinnern, als ich ein kleines Mädchen war und zum erstenmal mitbekam, dass meine Eltern miteinander schliefen. Ich fand das schmutzig und schrecklich, und ich mochte meine Mutter eine zeitlang nicht mehr. Und ich möchte Pamela weder belügen und – ich weiß nicht. Ich wünschte mir wirklich, ich könnte Ihnen die Frage beantworten, was Sie ihr erzählen sollen.
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Ich denke, von den Gefühlen, die sie jetzt geäußert hat, ist ihre Sorge um das Verhältnis zu ihrer Tochter das Wichtigste und Deutlichste.
I
Sie besteht darauf, von mir einen Rat zu bekommen. Sie denkt, sie hat das nicht hinreichend begründet, denn was sie sonst noch sagt, ist eine Begründung dafür, wie nötig dieser Rat ist.
B
Dieser Wunsch an mich ist das, was ihr Erleben vorrangig bestimmt. Was sie sonst erlebt, erscheint ihr nicht problematisch. Sie erwähnt da eher unhinterfragte Tatsachen. Ich muss ihr zeigen, dass ich verstehe, dass sie ihren Wunsch wiederholt hat und dass ich ihn akzeptiere. Ich habe die Patientin richtig verstanden. Sie meint also wirklich, diesen Rat zu benötigen. Das will ich ansprechen und Verständnis für die Enttäuschung zeigen, nicht aber die Enttäuschung selbst ansprechen; denn um die Enttäuschung geht es jetzt weniger als darum, dass sie die Dringlichkeit ihres Wunsches wiederholt. P hat Angst um das Vertrauen ihrer Tochter.
E
P T
Ich habe befürchtet, dass Sie das sagen würden. Weil Sie wirklich eine Antwort haben möchten.
I B E
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Ich möchte vor allen Dingen wissen, ob ich ihr etwas antäte, wenn ich vollständig offen und ehrlich mit ihr wäre, oder ob es ihr etwas antäte, dass ich gelogen habe. Ich habe das Gefühl, dass es sie stark beunruhigen wird, dass ich sie belogen habe. Sie haben das Gefühl, sie wird Verdacht schöpfen oder sie wird wissen, dass etwas nicht in Ordnung ist.
I
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Eigentlich ist ihr klar, dass sie es am ehesten durch Unehrlichkeit gefährden könnte. Ich werde ihr das anbieten.
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Kapitel 9 · Der therapeutische Prozess in der Praxis
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Ich habe das Gefühl, dass sie mir mit der Zeit misstrauen wird, ja. Und ich habe dann auch gedacht, was wird passieren, wenn sie ein bisschen älter wird und selbst in heikle Situationen gerät? Sie wird mir das wahrscheinlich nicht mitteilen mögen, weil sie denkt, ich bin so gut und lieb. Und darüber hinaus fürchte ich, sie könnte denken, dass ich eigentlich ein Teufel bin. Und ich möchte so schrecklich gern, dass sie mich akzeptiert. Und ich weiß nicht, wie viel eine Neunjährige verkraften kann. Beide Möglichkeiten beunruhigen Sie sehr, dass sie denken könnte, Sie sind so gut oder besser als Sie wirklich sind …
I
Sie fühlt sich verstanden, wiederholt aber den anderen Aspekt ihrer Unsicherheit.
B
Offenbar fürchtet sie vor allem um das Bild, das das Kind von ihr hat. Geht es vielleicht um ihr eigenes Selbstbild? Ich spreche ihren wiederholten Wunsch an und ihre Unsicherheit in der Beurteilung, die sie erfahren könnte. Sie hat tatsächlich eine Selbstwertproblematik und schämt sich dieser. Sie äußert das aber so, als sei ihr das nur ein Problem in der Beziehung zu ihrer Tochter. Ich zeige ihr, dass ich diese tiefsitzende Selbstwertproblematik verstanden habe, respektiere aber auch, dass sie das momentan nur in der Beziehung zur Tochter erlebt.
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Ja!
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… oder dass sie denken könnte, dass Sie schlechter sind, als Sie wirklich sind.
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Nicht schlechter als ich bin. Ich weiß nicht, ob sie mich so, wie ich bin, akzeptieren kann. Ich denke, ich entwerfe da das Bild von mir, dass ich ganz lieb und mütterlich bin. Ich schäme mich auch ein bisschen meiner Unoffenheit. Ich verstehe, das geht ein bisschen tiefer. Wenn sie Sie wirklich kennen würde, könnte sie Sie akzeptieren? Genau das weiß ich nicht. Ich möchte nicht, dass sie sich von mir abwendet. Ich weiß nicht einmal, welche Gefühle ich in dieser Sache habe, denn es gibt Zeiten, da fühle ich mich so schuldig, wenn ich einen Mann da habe. … Und dennoch weiß ich auch, ich habe diese Bedürfnisse. Und so ist es ziemlich deutlich: Das ist nicht nur ein Problem in der Beziehung zwischen Ihnen und Ihrer Tochter, das ist auch ein Problem in Ihnen selbst.
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I
Sie wiederholt ihre Selbstwertproblematik in ihrer Beziehung zu Männern. Sie spricht von Schuldgefühlen, betont aber, wie sehr sie dabei von ihrer Beziehung zu ihrem Kind bestimmt ist.
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Warum erwähnt sie ihre Bedürfnisse? Sind ihr die auch unabhängig von den Kindern ein Problem? Ich versuche, ihr diese Vermutung nahe zu bringen.
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243 9.4 · Gesprächspsychotherapeutisches Handeln in der Praxis
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Ja, und ich mag nicht diese … – Ich würde mich gern wohlfühlen mit allem, was ich tue. Wenn ich mich entschließe, Pamela nicht die Wahrheit zu sagen, dann möchte ich mich damit wohlfühlen, dass sie mit der Wahrheit nicht fertig würde, und ich fühle mich nicht wohl. Ich möchte ehrlich sein, und trotzdem fühle ich, es gibt da einige Gebiete, die nicht einmal ich akzeptiere. Und wenn Sie das bei sich selbst nicht akzeptieren können, wie soll es dann möglich sein, dass Sie sich damit wohlfühlen, wenn Sie ihr davon erzählen?
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Sie ist auf der Suche nach Möglichkeiten, sich vollständiger akzeptieren zu können.
B
Natürlich kann sie sich nicht vorstellen, dass ihr Kind etwas akzeptiert, was nicht einmal sie selbst akzeptieren kann. Sie spürt wieder, dass es ihr Unbehagen bereitet, dass sie sich nicht akzeptieren kann, und die daraus resultierende Erwartung, durch andere auch nicht akzeptiert zu werden. Ich werde ihr die Zwangsläufigkeit ihrer Angst, sich dem Kind mitzuteilen, verdeutlichen. Die P spürt, dass sie große Schwierigkeiten hat, sich selbst zu akzeptieren.
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Richtig, ganz richtig. Nun kapiere ich, was Sie sagen. Ja, dann, dann möchte ich daran arbeiten, mich akzeptieren zu können. Ich möchte daran arbeiten, es in Ordnung zu finden. Das ergibt einen Sinn. Das wird ganz natürlich sein, und ich werde mir keine Gedanken um Pamela machen müssen. Aber wenn mir etwas so falsch vorkommt und ich habe den Impuls, es zu tun, wie kann ich das akzeptieren? Was Sie möchten ist, dass Sie sich akzeptieren können, wenn Sie etwas tun, das Sie falsch finden. Ich das richtig? Richtig. Das klingt wie eine schwere Aufgabe.
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Sie hält das »Sich-selbst-akzeptieren« für eine Leistung, die sie erbringen muss.
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Ich werde auf den Gedanken eingehen, der ihr Selbstakzeptierung als eine Leistung erscheinen lässt.
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Kapitel 9 · Der therapeutische Prozess in der Praxis
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Es kommt mir so vor, als wollten Sie sagen: »Also warum denken Sie, dass es falsch ist?« Und ich habe da auch gemischte Gefühle. In der Therapie würde ich sagen: »Also schau mal, ich weiß, es ist natürlich. Frauen empfinden so – klar, wir reden nicht viel darüber in der Öffentlichkeit, aber alle Frauen empfinden so, und es ist sehr natürlich«. Ich hatte in den letzten 11 Jahren sexuelle Erlebnisse, und ich möchte sie natürlich weiterhin haben, aber ich denke dennoch, es ist falsch, wenn du nicht ehrlich verliebt bist in einen Mann, und mein Körper scheint dem nicht zuzustimmen. Und ich weiß nicht, wie ich das akzeptieren soll? Das klingt mir wie ein »Sich-im-Kreisedrehen«, nicht wahr? Sie haben den Eindruck, dass ich oder Therapeuten im Allgemeinen oder andere Leute sagen »Es ist in Ordnung, es ist natürlich genug, mach nur«, und ich vermute, dass sich Ihr Körper dieser Betrachtungsweise anschließt. Aber irgendwas in Ihnen sagt »Aber ich mag das nicht; nicht, wenn es nicht wirklich in Ordnung ist.« Richtig! (lange Pause) Ich fühle mich, hoffnungslos. Ich meine, so fühle ich mich, und ich fühle – nun gut, was nun?
Sie spüren: Das ist der Konflikt. Und er ist einfach unlösbar, darum ist es hoffnungslos, und sie sehen mich an, und ich scheine Ihnen nicht zu helfen. Richtig. Ich weiß ja, dass Sie nicht für mich antworten können, und ich muss es selbst herausfinden, aber ich möchte, dass Sie mich führen oder mir zeigen, wo ich anfangen kann, oder … damit es nicht so hoffnungslos aussieht. Ich weiß, ich kann mit dem Konflikt weiterleben, und ich weiß, dass sich die Dinge letztendlich klären werden, aber ich möchte mich mit meinem Lebensstil wohler fühlen – und ich fühle mich nicht wohl!
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Sie empfindet ihre eigenen Bewertungsprozesse als fragwürdig.
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Sie denkt, sich selbst akzeptieren bedeutet, sich selbst so bewerten, wie man von anderen bewertet wird, meint also, ihre eigenen Bewertungsprozesse in den Hintergrund stellen zu müssen. Ich werde ihr die Spannung zwischen ihren eigenen Bewertungsprozessen und den Meinungen anderer deutlich machen.
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Die Patientin spürt nun unmittelbar Hoffnungslosigkeit und Ärger mir gegenüber. Sie spürt, was es für sie bedeutet, kein Vertrauen in die eigenen Bewertungsprozesse zu haben. Ich werde ansprechen, dass sie mir ihre Hoffnungslosigkeit zeigt und dass sich Ihre Wut gegen mich richtet. Sie richtet ihren Unmut gegen ihre eigene vermeintliche Unfähigkeit, sich wohlzufühlen.
245 9.4 · Gesprächspsychotherapeutisches Handeln in der Praxis
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Das eine möchte ich Ihnen sagen Was würden Sie mich denn gerne sagen hören?
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Ich wünschte, Sie würden sagen, dass ich ehrlich sein soll und es wagen soll, herauszufinden, ob Pamela mich akzeptiert. Und ich habe den Eindruck, dass, wenn ich es mit Pamela wagen würde, vor allen anderen, dass ich dann sagen könnte »Dieses kleine Kind kann mich akzeptieren, ich bin in Wirklichkeit gar nicht so schlecht«! Wenn sie wirklich weiß, was für ein Teufel ich bin, und mich dennoch liebt und akzeptiert, dann wird mir das wahrscheinlich helfen, mich selbst mehr zu akzeptieren – als wenn es in Wirklichkeit nicht so schlimm wäre. Ich möchte, dass Sie sagen »Geh und sei ehrlich«, aber ich mag die Verantwortung nicht übernehmen, sie aus der Fassung zu bringen. An dem Punkt möchte ich die Verantwortung nicht übernehmen. Sie wissen sehr gut, was Sie in dieser Beziehung tun möchten. Sie möchten Sie selbst sein, und Sie möchten sie wissen lassen, dass Sie nicht so perfekt sind, Dinge tun, die Sie vielleicht selbst nicht gutheißen, und dass Sie sich selbst zu einem gewissen Grad nicht gutheißen, dass sie Sie aber irgendwo als diese nicht perfekte Person liebt und akzeptiert. Ja, so wie ich denke, wenn meine Mutter offener mit mir gewesen wäre, dann würde ich in Sachen Sexualität nicht so eng denken. Wenn ich hätte denken können, dass sie auch, nicht wahr, ganz schön sexy und gierig und teuflisch sein konnte, wenn ich sie nicht dermaßen als eine liebe Mutter hätte ansehen müssen, gesehen hätte, dass sie auch anders sein konnte. Aber sie hat darüber nichts gesprochen. Vielleicht habe ich deshalb mein Bild. Ich weiß nicht, aber ich möchte, dass Pamela mich als eine vollständige Frau wahrnimmt und mich dennoch akzeptiert.
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Sie versucht, sich zu bekämpfen, wo sie doch eigentlich befreit werden müsste oder ihre Aufmerksamkeit auf ihre eigenen Möglichkeiten, sich zu befreien, richten sollte. Ich werde versuchen, ihr zu zeigen, dass sie viel besser funktioniert als sie denkt. Die Patientin spürt, dass sie den Wunsch hat, in ihrer Fehlerhaftigkeit akzeptiert zu werden.
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Diesen Wunsch akzeptiert sie nicht. Ich werde ihr zeigen, dass ich den Wunsch akzeptieren kann.
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Ihr wird immer klarer, dass sie als ganze Person akzeptiert werden möchte.
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Kapitel 9 · Der therapeutische Prozess in der Praxis
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Das klingt ganz und gar nicht unentschieden.
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Tut es nicht? Was meinen Sie damit? Ich meine, dass Sie gerade da gesessen haben und mir genau erzählt haben, was sie in der Beziehung zu Pamela gern täten. Täte – aber ich möchte das Risiko nicht eingehen, bis mir eine Autorität sagt, dass … Ich denke, ich spüre sehr scharf, dass es unglaublich riskant ist, zu leben – Sie würden Ihrer Beziehung zu Ihrer Tochter eine Chance geben, und Sie würden dem wahrheitsgetreuen Bild Ihrer Tochter von ihrer Mutter eine Chance geben. Aber dann ist da noch ein Konflikt, weil ich wirklich nicht sicher weiß, was ich tun soll. Die Sache mit dem Lügen, ja, aber ich bin nicht sicher, was ich tun will, wenn ich gegen mich selbst angehe. Wenn ich z. B. einen Mann mit nach Hause bringe. Ich weiß nicht genau, ob ich das will. Wenn ich mich anschließend schuldig gefühlt habe, muss ich es nicht wirklich gewollt haben. Mich interessiert, dass Sie sagen – ich weiß nicht genau, welche Worte Sie benutzt haben – aber Sie mögen sich dann nicht und können es nicht gutheißen, wenn Sie etwas gegen sich selbst tun. (Die Patientin führt im Folgenden aus, dass sie sehr wohl die Situation der totalen Übereinstimmung mit sich selbst kennt und sich darin sehr wohl fühlt. Wegen des Wohlgefühls und der Seltenheit dieser Situation nennt sie sie »utopisch«.) Ich spüre, dass Sie sich in diesen utopischen Momenten wirklich in einer gewissen Art als ein Ganzes fühlen. Sie fühlen sich wie aus einem Guss. Ja, es schnürt mir etwas die Kehle zu, wenn Sie das sagen, weil ich das Gefühl nicht so oft habe, wie ich es gern hätte. Ich mag dieses ganze Gefühl. Es ist mir sehr kostbar. Ich denke, keiner von uns hat es so oft, wie er es gern hätte, aber ich verstehe das wirklich. Das geht Ihnen richtig nahe, nicht wahr?
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Sie überlegt, wie es dazu gekommen ist, dass sie ihre eigenen Bewertungsprozesse in Frage stellt. Ich werde die neu gewonnene Sicherheit in der Selbstbewertung ansprechen.
Die P fühlt sich nicht vollständig verstanden. Vielleicht ist ihr die eigene Klarheit nicht deutlich genug – vielleicht verboten? Ich werde sie ihr noch einmal vor Augen führen.
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Die P kommt auf ein anderes Problem zurück. Sie sucht nach einem untrüglichen Indiz dafür, wann sie in Übereinstimmung mit sich selbst handelt und wann nicht.
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Sie spürt, dass Schuldgefühle eine Stellungnahme zum eigenen Erleben bedeuten. Dieses Phänomen des Stellungsnehmens spreche ich an.
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Sie spürt jetzt, dass ich sie genau verstanden habe. Das macht ihr ein ähnliches Wohlgefühl.
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Sie ist jetzt ganz bestimmt von dem, was sie im Moment spürt. Ich will ihr sagen, dass ich auch das verstehe.
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Ja, und wissen Sie, was ich noch gerade denke? Ich – so was Dummes! – plötzlich, als ich mit Ihnen redete, dachte ich »O, wie gut kann ich mit Ihnen sprechen«, und ich möchte, dass Sie mit mir einverstanden sind, und ich empfinde Hochachtung vor Ihnen, aber was mir fehlt ist, dass mein Vater niemals mit mir so sprechen könnte, wie Sie es tun. Ich meine, ich würde gern sagen »O, Sie hätte ich gern zum Vater!« Aber ich weiß nicht einmal, warum mir das eingefallen ist. Mir kommen Sie wie eine recht nette Tochter vor. Aber Sie vermissen das wirklich, dass Sie mit Ihrem eigenen Vater offen sein können. Ja, ich könnte nicht offen sein, aber ich möchte es ihm nicht zum Vorwurf machen. Ich denke, ich bin offener, als er es mir erlauben würde. Er würde mir niemals zuhören wie Sie und nicht ablehnend sein und erniedrigend. Ich habe kürzlich darüber nachgedacht. Warum muss ich immer so perfekt sein? Ich weiß, warum. Er wollte immer, dass ich perfekt bin. Ich musste immer besser sein und, ja, ich vermisse das. Sie haben mit aller Kraft versucht, das Mädchen zu sein, das Sie für ihn sein sollten.
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Jetzt, wo sie einen bestimmten angestrebten Gefühlszustand erlebt, fällt ihr ein, wann und wo sie ihn vergeblich gesucht hat.
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Ihr wird ein Stück ihrer Geschichte der Entstehung ihres Selbstkonzepts deutlich. Ich will ihr sagen, in welcher Form sie das heute erlebt Die Patientin spürt, dass sie nicht perfektionistisch ist, sondern es vermisst, dass sie nicht so fehlerhaft sein darf, wie sie ist.
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Obwohl ich gleichzeitig rebelliert habe. Das ist richtig.
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So wie ich mich fast hämisch gefreut habe, als ich ihm kürzlich einen Brief geschrieben habe, in dem ich ihm mitgeteilt habe, dass ich eine Kellnerin bin. Ich denke, er findet das nicht in Ordnung, dass ich nachts ausgehe, und ich habe ihm mit hämischer Freude etwas zurückgezahlt, etwa so, dass ich ihn damit frage »Na, wie findest Du mich?« Und dennoch: In Wirklichkeit möchte ich, dass er mich akzeptiert und liebt. Ich meine, er liebt mich.
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Sie spürt das »falsche« Selbst, dass ihr Selbstkonzept das Erleben des Wunsches nach Angenommenwerden in der eigenen Unvollkommenheit unterbindet. Ich werde die Anstrengung, die das Unterdrücken solcher Wünsche mit sich bringt, ansprechen. Sie spürt nun auch die Wut gegen den ihr Erleben einschränkenden Vater und den Genuss, wenn sie sich dafür rächt.
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Kapitel 9 · Der therapeutische Prozess in der Praxis
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Sie haben ihm also eine Ohrfeige gegeben, indem Sie gesagt haben »So bin ich, sieh an!«
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Ja. »Du hast mich erzogen – wie findest Du das Ergebnis?« Aber wissen Sie, was ich denke, was ich von ihm hören möchte? »Ich weiß, das warst Du, immer, mein Schatz, und ich liebe Dich wirklich.« Es macht Ihnen viel aus, dass Sie denken müssen, es gibt kaum eine Chance, dass er das sagen wird. Nein, das wird er nicht. Er hört nicht hin. Ich bin vor ungefähr zwei Jahren nach Hause zurückgegangen, ich wollte ihn wirklich wissen lassen, dass ich ihn liebe, obwohl ich mich vor ihm gefürchtet habe. Aber er hört mich nicht. Er sagt einfach nur weiter Sachen wie »Schatz, Du weißt, ich liebe Dich. Du weißt, dass ich Dich immer geliebt habe.« Er hört nicht hin. Er hat Sie nie richtig kennen gelernt und geliebt, und das ist es, was, irgendwie, die Tränen in Ihnen auslöst.
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Ich weiß nicht, was es ist. Wissen Sie, wenn ich darüber rede, das ist schwer zu fassen. Ich sitze einfach eine Minute lang ganz still da, es fühlt sich an wie eine riesengroße Verletzung hier innen. Stattdessen fühle ich mich betrogen. Es ist viel leichter, es schwer zu fassen zu finden, denn dann müssen Sie nicht diesen großen Klumpen Ihrer Verletzung spüren.
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Sie hat den Wunsch, vollständig akzeptiert zu werden, aber nicht vollständig aufgegeben. Ich will ihr ihren Wunsch, der sich in ihrer Wut äußert, verdeutlichen. Sie spürt den Wunsch und zugleich die Trauer, dass er vom Vater nicht erfüllt werden wird.
Ich verstehe ihre Unsicherheit in ihren Selbstbewertungsprozessen jetzt besser. Ich werde das konkret aufgreifen, was sie jetzt fühlt. Sie geht der Enttäuschung durch ihren Vater weiter nach.
Die Enttäuschung liegt darin, dass er sich für sie als Person nicht interessiert hat, d. h. sie auf dem schweren Weg der Entwicklung ihres Selbstkonzeptes nicht begleitet hat durch wirkliches Verstehen und wirkliches Akzeptieren dessen, was er verstanden hat. Ich will ihr auch diese Quelle ihrer Verzweiflung offen legen. Sie spürt die Angst, sich der eigentlichen Quelle ihrer Verletzung zu nähern. Das Gefühl der Verletzung und der Wut bleibt flüchtig.
Es sind also besonders diese beiden Gefühle, die sie nicht als zu ihrem Selbstkonzept passend zu erleben gelernt hat. Ich werde ihr zeigen, dass ich verstehe, wie schwer sie es mit diesen beiden Empfindungen hat.
249 9.5 · Verlauf einer Gesprächspsychotherapie
Der Leser kann versuchen, als Antwort auf die Äußerungen der Patientin selbst eine Intervention zu formulieren, die ihre »geäußerten Erfahrungen und ihr im Zusammenhang damit im Hier und Jetzt tatsächlich stattfindendes Erleben« möglichst vollständig wiedergibt. Er hat dann die Möglichkeit, seine Intervention mit der von Rogers zu vergleichen, und kann dabei feststellen, wie unterschiedlich Interventionen ausfallen können, auch wenn in Rechnung gestellt wird, dass der Therapeut durch den unmittelbaren Kontakt zur Patientin auch mehr Informationen über ihr Erleben im Hier und Jetzt hat.
9.5
Verlauf einer Gesprächspsychotherapie H. Petersen
Die Patientin, Annette P., deren Therapieverlauf hier vorgestellt wird, kennen wir bereits. Im 7 Kap. 8.2.5 wurde ein Indikationsinterview mit ihr vorgestellt. Sie war der Empfehlung des Diagnostikers gefolgt und hatte sich mit ihrem Problem an mich gewandt. Ich führte mit ihr ein Erstinterview durch (7 Kap. 8.3.4) und kam zu dem Schluss, dass ich ihr mit einer zeitlich begrenzten Gesprächspsychotherapie helfen könnte. Die Patientin nahm dieses Behandlungsangebot an.
9.5.1
Der Verlauf der Behandlung
Das wesentliche Thema in der Therapie war Annettes Suche nach Verständnis im umfassenden Sinne. Sie mühte sich zu begreifen, welche Wandlung in ihrer Mutter wohl vorgegangen sein mag, den Vater und die Töchter zu verlassen und sich nicht mit dem Schmerz und den Verlassenheitsgefühlen der jungen Mädchen auseinanderzusetzen. Häufig tauchten folgende Fragen auf: »Was bin ich meiner Mutter wert bzw. was bin ich ihr wert gewesen, was habe ich ihr bedeutet, wenn sie sich von mir trennt und zwar auf diese kalte und verletzende Weise? Wie hat sich meine Mutter verwandelt und wie wenig hat sie mit dem Menschen zu tun, den ich früher als liebevolle, fürsorgliche Mutter gekannt habe?!«
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Nahezu jede Therapiestunde war von Fassungslosigkeit angesichts dieser nicht beantworteten Fragen gekennzeichnet. Es war, als erkenne sie das innere Bild ihrer Mutter nicht mehr wieder. Annette beschrieb in vielen Szenen, wie die Mutter sich entzog, die Verzweiflung der Tochter übersah und abwehrte, sodass Annette sich völlig unverstanden und eher abgelehnt empfand. Niemals habe zur Diskussion gestanden, ob die Töchter bei der Mutter bleiben könnten – die Mutter habe es nie angeboten. Auf Annettes spätere Nachfrage reagierte die Mutter schroff: »Ihr habt mich ja nicht gefragt!« Annette vermochte kaum ihre Bestürzung über das abweisende Verhalten der Mutter zu integrieren. Immer wieder brachte sie neue Beispiele, wie die Mutter ihre Tochter kaum noch wahrzunehmen schien. Annette fragte sich schließlich schmerzlich, ob das frühere liebevolle Verhalten der Mutter überhaupt echt gewesen sein konnte, da sie nun, nach einer verheimlichten Ehekrise und Hinwendung zu einem anderen Mann, so verständnislos, ignorierend und zurückweisend auf den doch berechtigten Trennungsschmerz der Tochter reagierte. Gleichzeitig fiel es Annette schwer, der Mutter mit diesem Ärger und ihrer Enttäuschung zu begegnen. Mit dem Vater konnte sie als einzigem darüber sprechen, mochte dies nur nicht ausgiebig tun, »weil es ihm ja auch so weh tat«. Als ihr damaliger Freund das Verhalten der Mutter kritisierte und verurteilte, konnte Annette dies so wenig ertragen, dass sie die Beziehung zu ihm beendete. Erst in der Therapie gelang es ihr, neben ihrer Betroffenheit mehr und mehr auch Zorn auf das uneinfühlsame Verhalten der Mutter zu äußern. Wichtig war hier ganz besonders meine empathisch-verstehende und bedingungsfrei wertschätzende Hinwendung zu ihrem Erleben, denn es wurde deutlich, als wie bedrohlich Annette diese zornigen Gefühle der Enttäuschung erlebte. Sie sah sich jedoch nicht in der Lage, diese der Mutter zu zeigen – zu groß war die Angst (auch das kam zur Sprache), die letzte, eher formale Verbindung zur Mutter auch noch zu verlieren. Diese Angst äußerte sich in übergroßer innerer Erregung jeweils vor Begegnungen mit der Mutter. Besonders stark erlebte sie es vor Familienfesttagen, an denen dann auch der neue Partner der Mutter zugegen war. Sie habe in der Nacht davor jeweils »kein Auge zugetan«, habe während der Einladung außer Höflich-
250
9
Kapitel 9 · Der therapeutische Prozess in der Praxis
keitsfloskeln nichts äußern können und sich unglaublich beherrschen müssen, ihren Zorn nicht zu zeigen. Sie leide so darunter, dass keine Nähe zur Mutter mehr entstünde, da sie über sich und ihre verletzten Gefühle nicht sprechen »dürfe«. Sie fühle sich dazu angehalten, da die Mutter ihr tatsächlich nahe gelegt hatte, ihre Gefühle nicht zu zeigen. Als Annette während des Auszugs der Mutter bitterlich weinte, reagierte diese fast ärgerlich: »Nun hör’ doch endlich auf zu weinen – mach’ es mir doch nicht so schwer!« Annette war außerstande, entsprechend zu handeln und weinte hemmungslos weiter. Daraufhin warf die Mutter ihr vor, dass sie ihr durch ihre Tränen nicht helfe, »mit der ganzen schwierigen Situation fertig zu werden.« Auch darüber ist Annette fassungslos (und empört) – nicht nur, dass ihr Trennungsschmerz nicht wahrgenommen wird, sondern dass die Mutter sogar Hilfe beim Abschied von der Familie durch ihre Tochter erwartet! Annette sah durch die Reaktionen der Mutter ihren eigenen Wert tief in Frage gestellt. Sie fragte sich mehrfach, was sie der Mutter nun noch bedeute – und was sie ihr wohl je bedeutet haben mochte, wenn ihr die Trennung von den Töchtern (scheinbar) so leicht gefallen war. Dieser Gedanke löste viel Bitterkeit in Annette aus. Neben diesen Fragen wurden dann die Gestaltung des Alltags, der Familienfeste und der (wenigen) Begegnungen mit der Mutter in der Therapie thematisiert. Auch hier gab es zahlreiche Beispiele, in denen die abrupten starken Veränderungen in Annettes Leben deutlich wurden. Nichts schien mehr wie vorher: der Tagesablauf ohne die Mutter, der verwaiste und neu zu ordnende Haushalt (in dem Annette die Unterstützung der Mutter vermisste), der Verlust entspannter und fröhlicher Familienfeste (vor allem das verkrampfte erste Weihnachtsfest nach der Trennung wurde mehrfach Thema) und das Fehlen unbeschwerter Begegnungen mit den Angehörigen der Mutter. Hinzu kam, dass Annette unter der Verzweiflung und Depression des Vaters litt, in ihm wenig Hilfe finden konnte und auch dies sie zornig auf die Mutter werden ließ, »die eine freundschaftliche und faire Trennung nicht ermöglichte«. Konkret schilderte sie, wie kritisch sich die Mutter früher über scheidungswillige Eltern geäußert hatte, die zuwenig dafür täten, dass wenigstens eine freund-
schaftliche Familienbeziehung möglich blieb. Annette war sehr enttäuscht, dass ihre Mutter nun auch dazu nicht in der Lage war. Im Verlauf der Therapie begann Annette allerdings auch den Vater kritischer zu sehen. Es belastete sie und machte sie wütend, in die Auseinandersetzungen der Eltern hineingezogen zu werden. Anders als bei der Mutters gelang es ihr, ihrem Vater ihren Zorn mitzuteilen. Für Annette war es anfangs nicht leicht, über ihre Gefühle zu sprechen. Im Erstkontakt konnte sie die Situation, in die sie geraten war, noch recht flüssig beschreiben – in der ersten Therapiestunde bedurfte es jedoch eines hohen einfühlsamen Engagements meinerseits, um überhaupt »zum Thema zu kommen«. Die Unstrukturiertheit und Offenheit der klientenzentrierten Therapiesituation (anders als im Erstkontakt ohne Fragen von mir) überforderten Annette nahezu. Zunächst ging ich auf die für Annette offenkundig schwierige Situation, die Therapiestunde selbst zu gestalten, ein. Als dann das Gespräch versiegte, dachte ich laut darüber nach, ob Annette vielleicht ein Mensch sein könnte, aus dem es »nicht so heraussprudele«. Diese Sequenz des ersten Therapiegesprächs gebe ich im Wortlaut wieder (. Tab. 9.3): Durch die hier wörtlich dargestellte Inter vention wurde Annette ganz lebhaft und es entwickelte sich ein intensiver Dialog, der bis zum Ende der Stunde anhielt. Sie war nun auch in der Lage, über ihre Gefühle ihrer Mutter gegenüber zu sprechen – wie verletzt und verlassen sie sich von ihr gefühlt hat. Nach dieser ersten Therapiestunde hatte Annette – bis auf ein späteres Mal noch – nie mehr das Problem, nicht zu wissen, worüber sie reden sollte. Es gab aber viele Sequenzen, in denen sie sehr der einfühlenden Unterstützung meinerseits bedurfte. Es fiel ihr nämlich besonders schwer, ihr Gefühl tiefer Verletztheit und den dazugehörigen Schmerz zu zeigen. Wenn ich dieses Gefühl – war es einmal »im Raum« – vorsichtig benannte, stimmte Annette meiner Wahrnehmung mit Tränen in den Augen zu, blieb aber äußerlich wie erstarrt sitzen und verzog keine Miene. Bald vertraut mit dem zurückhaltenden Gefühlsausdruck der Jugendlichen, sprach ich diese Diskrepanz zwischen innerem Schmerz und äußerem gefühlsarmen Ausdruck nicht an, um ihren
251 9.5 · Verlauf einer Gesprächspsychotherapie
. Tab. 9.3. Erstes Therapiegespräch mit der Patientin Annette P. (A Annette P., T Therapeutin) T
Ich hatte ja das letzte Mal schon gesagt, dass Sie die Freiheit hier haben (Annette: »Ja.«) darüber zu sprechen, worüber Sie sprechen möchten, und, dann denke ich, vielleicht haben Sie sich schon etwas überlegt, oder Sie… ja, Sie suchen jetzt erst einmal (lacht etwas) nach einem Thema.
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Also überlegt habe ich … eigentlich nichts.
T
Mhm… also – Sie können auch ganz frei, wonach Ihnen jetzt gerade zumute ist, so, wie es Ihnen jetzt gerade geht – also darüber können Sie jetzt auch sprechen – das ist ganz in Ihrer Hand.
A
Ach, im Moment geht es mir ganz gut, weil ich Ferien habe und ausgeschlafen bin (lacht), also von daher… (schweigt).
T
Mhm (wartet einige Sekunden). Das ist so ein ganz schöner Zustand, nicht, keine Verpflichtungen, keinen Job zu haben, nicht wahr?
A
Ja. Mhm. Nein, im Moment bin ich eigentlich ziemlich entspannt, weil ich war am Wochenende in… in England (Therapeutin: »Ach ja?«) und davor war ich bei meinem Opa in Berlin fünf Tage und daher bin ich im Moment eigentlich ganz entspannt.
T
Da haben Sie wirklich schöne Sachen gemacht, die Ihnen sehr gut getan haben, nicht wahr?
A
Ja. Also mein Opa hat viel mit mir gemacht, also er ist viel mit mir rausgegangen und war mit mir im Theater und es war … (bricht ab).
T
Es war der Besuch in der alten Heimat, sozusagen, ja? (Annette: »Ja.«). Mhm … (Therapeutin wartet eine kleine Weile).
A
Ja, in England also – es waren nur drei Tage da, also Kurztrip sozusagen. Aber es war auch sehr (Therapeutin: »Mhm«) entspannend, eigentlich.
T
Ja – es hat gut getan, trotz der fremden Sprache?
A
Ja, fremd insofern, dass wir … (schweigt).
T
Oder mussten Sie nicht soviel Englisch sprechen oder doch?
A
Mit der Schiffsbesatzung, wenn die, also ich meine, man kann mit denen natürlich Deutsch sprechen, aber – irgendwie – die sprechen alle Englisch und deshalb spricht man mit denen auch Englisch, also es ist irgendwie doof, wenn ich dann Deutsch spreche und die Englisch und so (Therapeutin: »Das ist komisch, ja«). Nö, – aber so fremd ist sie eigentlich auch nicht, Englisch von der Schule her …
T
Ja – genau – es ist ja auch immer ganz schön, es anwenden zu können, nicht wahr? (Annette: »Mhm.«) Mhm. (Kleine Pause). Dann haben Sie ja wirklich schöne Sachen gemacht jetzt in den Ferien?
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Ja, es war auch ganz gut.
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Mhm, so zum Auftanken, nicht?
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Ja …
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Mhm.
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Von daher – also es war … (Pause) es fällt mir spontan gar nichts so … (Pause).
T
Es ist dann so mühsam, was hervorzuholen, was eher belastend ist, ja? (sehr behutsam gefragt).
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Ja… (sehr gedehnt).
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Wobei Sie auch gerne – natürlich haben Sie auch die Freiheit, über die Dinge zu sprechen, die Sie schön finden – das ist ja genauso wichtig, nicht wahr? (Pause).
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Mhm … (Pause von ca. 20 Sekunden). Es ist wirklich seltsam, dass mir nichts einfällt (lacht etwas unsicher), noch zu früh (lacht wieder).
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Kapitel 9 · Der therapeutische Prozess in der Praxis
. Tab. 9.3 (Fortsetzung)
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Ja (lacht etwas verhalten), ja – wenn Sie so – es ist nicht so leicht, wenn Sie jetzt so die Zeit haben plötzlich, nur für sich, die Zeit zu gestalten, nicht? (Annette: »Mhm«). Das ist, glaube ich, erst einmal eine ungewohnte Erfahrung, mhm …(kleine Pause). Bisher ist es ja auch so gewesen – ich vermute jedenfalls bei Dr. E. und bei mir letztes Mal ja auch, dass wir Ihnen gewissermaßen Löcher in den Bauch gefragt haben (Annette: »Ja.«), nicht? Und das strukturiert haben… dann ist es, ja, dann ist es ganz schwer, plötzlich es so selber in die Hand zu nehmen (Annette: »Mhm.«), nicht wahr, und selber so zu gestalten und … da kommt jetzt im Moment sicherlich hinzu, dass durch die Ferienerlebnisse, also die beiden Reisen, Sie eigentlich auch so gut drauf sind und sich wohl fühlen, (Annette seufzt) und – ja – und dass die anderen Themen alle, die vielleicht bedrückend sein könnten, ein bisschen hinten anstehen, nicht wahr?
A
Ja – vor allem ergeben sich Gespräche bei mir ja meistens irgendwie aus – Mhm irgendwie durch – wenn man sich hinsetzt oder so, aber es ist schwierig, ein Thema zu finden, wenn man wirklich darüber nachdenkt…(Therapeutin: »Mhm«) … (Pause von ca. 32 Sekunden) mir fällt wirklich nichts ein, es ist … (Therapeutin: »Mhm«) … (Pause ca. 13 Sekunden).
T
Ja – wenn Sie dann so sollen, dann ist der Kopf wie leer geblasen (Annette: »Mhm.«), nicht wahr? (Therapeutin lacht leise)… (kleine Pause). Es kommt ja auch so ein bisschen darauf an, wie man selber ist. Also – es gibt ja Menschen, die sprudeln immer wie verrückt. Und jetzt weiß ich nicht, wie Sie sind, ob Sie vielleicht eher jemand sind, der – hm – der ja auch so ein bisschen braucht, der so einen Anstoß braucht?
A
Ich bin dann eher der zweite Typ (sie lacht kurz und es klingt etwas erleichtert und die Worte werden von ihr relativ schnell ausgesprochen).
T
Ja, nicht? Mhm – also dass es Ihnen einfach leichter fällt, wenn Ihr Gegenüber Fragen stellt oder von sich aus ein Thema anbietet, wo Sie dann einsteigen können (Annette: »Mhm«), nicht wahr? Da sind Menschen tatsächlich unterschiedlich. Manche, die – das kennen Sie ja auch – die sind richtig Raum greifend in dem, was sie erzählen möchten, nicht wahr? Und bei Ihnen ist das gerade so, dass Sie – so habe ich Sie das letzte Mal auch schon wahrgenommen – dass Sie eher zurückhaltend sind, nicht wahr?
A
Ja. – Denk ich mal.
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Und da sind Sie eher zurückhaltend, nach dem Motto: Jetzt mal abwarten was so kommt… (ca. 12 Sekunden Pause). Und kennen Sie das so von zuhause auch – im Kontakt mit der Familie, oder ist es da einfacher?
A
Das ist allgemein einfacher, weil da die, denke ich, die ganz gut kenne und das ist eben – ich kenne meine Schwester, seit ich klein war, und von daher denke ich, ist es bei ihr und bei meinem Vater etwas anderes, also – aber es ist an und für sich – bin ich auch so – also in der Schule – auch wenn ich die Leute ganz gut kenne, bin ich eher so – also bei meiner Familie ist es einfacher.
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Da ist es leichter – einfach durch die Vertrautheit, nicht?
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Da bin ich trotzdem eher (kurzes Zögern) – also – ich lass meinen Vater oder meine Schwester oder meine Mutter eher reden, als dass ich (Therapeutin: »Mhm«) da irgendwie… (bricht ab).
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Ja – das könnte ich mir auch vorstellen, dass sie eher so die Stillere von den Vieren sind, nicht wahr, in Ihrer Familie?
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Ja – also das war früher mal anders. Früher war ich, da war ich, plötzlich so denke ich, also so mit 15 oder 14, oder so, hat sich das, glaube ich, etwas geändert (Therapeutin: »Ach ja?«). Davor war ich etwas sehr sehr aufgeweckt (lacht kurz, die Worte kommen etwas abrupt und stockend). (Therapeutin: »Ja, sehr lebhaft?«). Ja – das hat meine Eltern immer schon mal gestört oder so aber (Therapeutin: »Mhm«) das hat sich – dann wurde ich – ziemlich ruhig. (Das kommt kurz und leicht abgehackt.)
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Und das hat sich, sagen Sie, so mit der Pubertät verändert?
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Ja.
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Ja – da ist irgend etwas anders geworden – - also vom Temperament her?
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Genau, da hat sich das umgedreht bei meiner Schwester und mir. Meine Schwester war früher immer die Ruhige (Therapeutin: »Mhm«) und jetzt ist sie etwas temperamentvoller (Therapeutin: »Mhm«) – genau das Gegenteil geworden.
253 9.5 · Verlauf einer Gesprächspsychotherapie
. Tab. 9.3 (Fortsetzung) T
Ja – es ist erstaunlich, wie so etwas passieren kann, nicht? Dass (Annette: »Ja«) man sein Temperament dann verändern kann, mhm. Und hat es was damit zu tun gehabt – möglicherweise – dass ihre Eltern das gestört hat? (Annette: »Nee.«). Nein, das nicht.
A
Das war eher scherzhaft und dass sie sagten, jetzt sei doch mal ruhig oder so, oder wenn man mal morgens aufsteht und dann läuft dann so ein »girl« durch die Wohnung und singt und schreit und macht, dann denke ich, es ist ganz klar, dass man dann irgendwann mal sagt, jetzt sei doch mal ruhig, setz dich hin und sei still oder so, aber …
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Aber es war nicht … (Annette: »Nein, nein«). Es war liebevoll. (Annette: »Ja – genau.«). Sie haben es nur so gemerkt, Sie haben es mehr als Illustration gebracht, damit ich sehe, wie krass, wie stark es auch war, nicht wahr?« (Annette: »Ja – genau.« (sie lacht etwas unsicher) Mhm, mhm …. (kleine Pause).
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Also – es war jetzt nicht so, dass sie irgendwie… (bricht ab).
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… dass Ihre Eltern die Hände über den Kopf zusammengeschlagen haben, (Annette: »Ja.«) sondern eben manchmal nur sagten, jetzt wollen wir nicht auf die hunderttausendste Frage noch antworten, nicht wahr?
A
Genau.
Nach dieser Intervention (ich hatte eine Vermutung geäußert) fiel es Annette leichter, über sich zu sprechen – über ihre Veränderung in der Pubertät und deren Folgen. Sie reflektierte, wie die Angehörigen, die Verwandten und auch die Lehrer auf ihre veränderte Zurückhaltung reagierten. Ihr wurde deutlich, dass sie heute einen inneren Widerstand überwinden muss, um sich am Unterrichtsgeschehen zu beteiligen. Sie muss es sich im Grunde regelrecht vornehmen. Das war früher ganz anders – da habe sie sich spontan und ohne Überwindung immer lebhaft beteiligen können. Nachdem wir dies im ersten Gespräch ausführlich besprochen haben, wage ich eine behutsame Nachfrage bezüglich ihrer jetzigen Situation. T
… und dass Sie da doch auch – so ganz neutral – eine Veränderung sehen. (Annette: »Ja.«) Also nicht etwas, worunter Sie leiden oder worüber Sie unglücklich sind. Sie sehen einfach nur – ach ja – also früher ging es ja viel leichter, wie von selbst, und jetzt muss ich es mir vornehmen, ich muss es mir zurechtlegen (Annette: »Mhm«), ich muss mir sagen, es ist wichtig, dass ich zum Beispiel in der Schule, weil es ja erwartet wird, lebhafter dabei bin. Und wenn die Verwandten und Bekannten zu Besuch kommen, dann muss ich da nichts sagen, das ist ja keine Schulsituation, nicht? (Annette: »Ja.«). Dann registrieren Sie halt nur, wenn die sagen, du warst doch früher viel munterer oder sowas kommt dann vielleicht, nicht? (Annette: »Mhm«). Also – dass Sie selber nicht darunter leiden – aber Sie stellen es einfach fest – ja – es hat sich etwas verändert. Und ich, ich nenn’‚ das Energie, man kann es auch Temperament nennen, nicht wahr? (Annette: »Mhm.«). Also etwas, was einfach von selbst – wie so eine Quelle gesprudelt ist – und das ist einfach so, dass es jetzt nicht mehr so einfach von alleine kommt (Annette: »Mhm«), nicht wahr? Mhm… (kleine Pause) und im übertragenen Sinne ist es jetzt ja vielleicht ein bisschen mit Ihrer großen Appetitlosigkeit so – wenn ich das richtig das letzte Mal wahrgenommen habe in unserem Gespräch – also – Sie haben schon das Gespräch gesucht, aber sich dann auch ein Stück zurückgezogen, nicht wahr, als (Annette: »Ja«) Sie bei Ihrer Mutter spürten, dass Sie bei ihr nicht die Erklärungen bekamen, die Sie brauchten. Aber Sie sind ja vermutlich – das vermute ich jetzt mal – nicht zu Ihrem Vater gegangen und sagten, also, ich halte das nicht mehr aus, mir geht es so schlecht und deswegen kann ich nichts mehr essen, oder so (Annette: »Mhm«), das ist ja auch mit Ihnen so passiert, im Grunde so fast unbemerkt, nebenbei… Also – als ob da auch so die Energie gefehlt hätte, an den anderen zu rütteln und zu sagen, seht ihr denn nicht, wie schlimm es für mich ist, nicht wahr?
A
Vielleicht – ich weiß es nicht – vielleicht wäre es auch gar nicht so weit an mich ´rangekommen, wenn ich noch so gewesen wäre, so temperamentvoll wie ich es war, als ich klein war. (Therapeutin: »Ja?«) Ich weiß es nicht, vielleicht hätte es mich gar so, vielleicht hätte ich, hätte ich dann auch gleich meine Mutter mehr – also angestoßen und gesagt, du hast es mir zu erklären!
T
Ja – und nicht locker gelassen (Annette: »Ja.«) nicht wahr?
A
Ja – ich glaube das wäre dann eben so – mhm – dann wäre es ganz anders verlaufen, glaube ich auch
T
Mhm. Also – es ist mindestens nahe liegend, sich das so vorzustellen. (Annette: »Mhm«). Dann hätte Sie diese Kraft getrieben, einfach das, was Sie wollen, auch ganz doll zu versuchen zu erreichen, nicht wahr? (Annette: »Mhm.«) Es ist ja nicht so, dass Sie es nicht versucht hätten – aber – eben doch jetzt in der Art und Weise, wie sie heute Ihnen entspricht, in dieser eher vorsichtigen zurückhaltenden Art – und dann auch, dann haben Sie ein Stückchen aufgegeben, wenn die Antwort nicht so kam. (Annette: »Mhm«). (Kleine Pause). Und da es wiederum keine schulische Situation ist, wo dann der Lehrer sagt, oh – du solltest dich doch ein bisschen mehr beteiligen, liegt dies nun ganz in ihrer Hand – und dann ist es tatsächlich eher so, dass dann dieses – ja – dieses In-sich-zurückziehen kommt… (Annette: »Mhm«) zumal dies ja jetzt auch etwas sehr Schweres war, was Sie getroffen hat? (Annette: »Mhm – ja«) Wo es ja sowie keine Handanweisung gibt, wie man mit einer solchen Situation umgehen soll, (Annette: »Ja«) nicht wahr?
9
254
Kapitel 9 · Der therapeutische Prozess in der Praxis
. Tab. 9.3 (Fortsetzung)
9
A
Das ist dann so … (bricht ab).
T
Das… mhm … (ca. 12 Sekunden Pause)
A
Wo ich denke, dass ich mich auch in erster Linie zurückgezogen habe, mehr oder weniger, von – von Freunden und so – weil – die – meine Familie eigentlich auch kannten und dann war, also, dass die dann auch schon angefangen haben zu fragen und (Therapeutin: »Ja«), was denn los ist, und da habe ich dann meistens keine Lust – mehr oder weniger – gehabt, denen zu erklären, was da war – also mich dann auch wiederum damit zu befassen und mir das eigentlich vor Augen zu führen, dass meine Eltern sich trennen, und den anderen das eben zu erklären.
T
Aber – habe ich das richtig verstanden, dass es auch ein Schutz war?
A
Ich denke schon – ja.
T
Also – dass Sie dadurch sich selbst nicht mit diesem für Sie sehr belastenden Thema konfrontieren mussten?
A
Ich glaube schon, dass es das auch war.
T
Ja, das war so, wie man ja auch so sagt – umgangssprachlich – sich ins Schneckenhaus zurückziehen. Das Schneckenhaus bedeutet ja, dass die sehr verletzliche Schnecke dann auch wirklich ihre Schutzhülle hat, die erst einmal auch gut abdeckt (Annette: »Mhm«)… und dass Sie diese Gespräche darüber gar nicht gut aushalten können.
A
Nee – ich glaub’ nicht.
T
Weil immer so das Gefühl bei diesen Gesprächen gewesen … (Annette unterbricht).
A
Nee – eben, dass man sich das auch selbst vor Augen hält und … (bricht ab).
T
Ja – was das auch eigentlich bedeutet (kleine Pause) mhm… (kleine Pause) ja, das heißt, habe ich das richtig verstanden, dass die Freunde auch durchaus gefragt haben. Also (Annette: »Ja«) – von sich aus auf das Thema gekommen sind, nicht?
A
Ja – das war schon sehr so. Also – ein ziemlich guter Freund von mir, der hat eben Montag, weil wir da noch Schule hatten, nachmittags immer bei mir mitgegessen, und da habe ich irgendwann, weil ich selbst nicht mehr wollte, dass er dann zu uns kommt und das so mitkriegt, da habe ich ihm gesagt, dass ich das nicht mehr will, dass er eben mitkommt, und weil es dann auch zu dem Zeitpunkt war, als meine Mutter dann immer zwischendurch nach Hause kam und dann ihre Sachen gepackt hat und dann eben Lücken entstanden und dass ich das auch eben nicht wollte, dass die das so mitkriegen – das. Also im Wohnzimmer – wo da alles fehlt – weil sie eben die ganze Schrankwand auch mitgenommen hat, und das war eben ziemlich – zu einem Zeitpunkt – ziemlich offensichtlich alles (Therapeutin: »Ja«) – also innerhalb der Wohnung meine ich jetzt und (Therapeutin: »Ja«) – von daher haben sie das schon mitgekriegt.
T
Mhm – also da höre ich ja jetzt auch so, dass Ihnen das sehr unangenehm gewesen wäre, wenn die das so gesehen hätten?
A
Ja – nicht unbedingt unangenehm, aber sie hätten – ihnen wäre es dann aufgefallen und dann hätten sie wiederum gefragt.
T
Die hätten gefragt, was ist denn hier los?
A
Ja – genauso.
T
Und das – aber diese Frage wäre Ihnen sehr unangenehm gewesen?
A
Ja.
T
Oder darauf eine Antwort geben zu müssen?
A
Ja.
T
Die Antwort wäre so unangenehm gewesen?
A
Genau.
T
(vorsichtig suchend) Auch irgendwie peinlich?
255 9.5 · Verlauf einer Gesprächspsychotherapie
9
. Tab. 9.3 (Fortsetzung) A
Nein – peinlich nicht, also ich … es gibt viele in unserer Klasse, die, was heißt viele – also ich denke im Gegensatz zu jetzt in dieser Klasse vielleicht nicht so viele – aber doch schon einige wenige, deren Eltern sich getrennt haben und denen das auch ziemlich nahe gegangen ist und die damit auch ziemlich Probleme hatten und die sich dann eben, die das auch in der Schule mehr gezeigt haben, als ich es getan habe. Also ich habe – also ich saß da jetzt nicht und habe irgendwie -ich bin nicht in Tränen ausgebrochen, oder so. Ich habe eine Freundin in meiner Klasse, deren Eltern sich auch getrennt haben, und da war es so, dass die also – manchmal in den Stunden saß und einfach nur geweint hat und so – und ich wollte es auch nicht so (Therapeutin: »… doll zeigen?«), ich habe mich dann eher – dann eben nichts gesagt oder mich eben zurückgezogen.
T
Mhm, also wenn ich mich da hineinfühle, kommt bei mir so an, dass es Ihnen auch darum ging, nicht soviele Gefühle zu zeigen, zu diesen …
A
Ja – mindestens nicht – nicht in diesem Rahmen (Therapeutin: »Nicht, nicht in solchem …«) in solchem Rahmen aufmerksam zu machen, damit sie eben nicht fragen. Deswegen.
T
Ja – es ging immer darum zu vermeiden (Annette: »Ja«), dass die Fragen kommen, was ist denn los zuhause, oder auch zu fragen, wie geht es dir denn damit (Annette: »Mhm«) und so. Also – Sie wollten irgendwie so – wie soll ich mal sagen – so – ja – so eine Schutzschicht, so eine unberührbare Schutzschicht haben, damit Sie nicht in die Situation kommen, gefühlsmäßig zu reagieren.
A
Mhm und ich denke, vielleicht liegt es auch daran, dass ich, seit ich mich erinnern kann eigentlich, ziemlich – doch ich weiß nicht, ob man es Stolz nennen kann – aber, ich habe immer versucht, alles ohne Hilfe zu machen, auch als ich schon ganz klein war, ich wollte immer alles alleine, ohne Hilfe eben – und – vielleicht war es auch deshalb, weil ich keine Hilfe eben wollte (Annette spricht mit Nachdruck) (Therapeutin: »Aha«) oder dass ich gedacht habe – ich komm’ da schon durch oder ich brauche eben keinen, der mir da durch hilft.
T
Mhm – und dass Sie das so ganz gut von sich kennen, dass es Ihnen ein gutes Gefühl gibt, die Sachen (auch schöne Sachen) alleine zu schaffen, nicht? Und dies war ja jetzt eine ganz ungewöhnliche Situation, wo Sie ja wirklich etwas getroffen hat, was Sie so vorher nicht erlebt haben. Und wo sie auf jeden Fall nicht in die Situation kommen wollten, dass andere Ihnen dann tröstend oder Hilfsangebote (Annette: »Mhm«) machend gegenüber treten. Das wäre für Sie – das hätte Ihren Stolz verletzt. Eigentlich haben Sie den Anspruch gehabt, damit muss ich alleine fertig werden – – nicht vielleicht so (Annette: »Ja«) bewusst gedacht – aber diese Haltung irgendwie.
A
Mhm – das es von innen kam – ja es ist – ich denke auch, dass es nicht so bewusst war, aber dass ich, also das ist mir jetzt bewusst, dass es wahrscheinlich so war.
Selbstschutz nicht zu unterlaufen. Es wäre ihr sicherlich sehr peinlich gewesen, in meiner Gegenwart in heftiges Weinen auszubrechen. Es gab immer wieder Situationen, in denen ich Annettes unausgesprochene Gefühle formulierte und sie mir jeweils zustimmte – so, als ob ich es ihr abnahm, die schmerzlichsten Gefühle selbst zu benennen. Das führte zu der manchmal paradoxen Situation, dass ich mehr sprach als Annette selbst. Im Verlauf der Therapie wurde mein Gesprächsanteil dann immer geringer, und Annette sprach rasch und lebhaft über sich selbst. In dem Maße, in dem Annette sich selber mehr und mehr in die Therapie einbrachte, konnte ich die Fülle der Verbalisierungen reduzieren, ohne dass das den Selbstexplorationsprozess ins Stocken brachte. Eine weitere Besonderheit dieser kurzen Therapie war die baldige Veränderung der Frequenz. Die
ersten Therapiestunden fanden wöchentlich statt. Nach der vierten Sitzung kam es zu einer dreiwöchigen Pause (Osterferien, schulische Verpflichtungen von Annette). Die Sommerferien unterbrachen die Therapie dann für sieben Wochen. Durch schulische Anforderungen (Theaterspiel, Klassenreise) und den Umzug der Familie in eine neue Wohnung fanden die letzten drei Termine in großen zeitlichen Abständen statt, was mich auch zu der vorsichtigen Nachfrage veranlasste, ob Annette die Therapie noch fortsetzen wolle. Die 14 Therapiestunden (inklusive das Erstgespräch) nahmen insgesamt den Zeitraum von einem dreiviertel Jahr in Anspruch. Annette brauchte offenbar nicht unbedingt die regelmäßige wöchentliche Therapiestunde, sondern profitierte – wie andere Jugendliche auch – gerade von dem immer niederfrequenter werdenden Rhyth-
256
Kapitel 9 · Der therapeutische Prozess in der Praxis
mus. Ich thematisierte dies einmal, brachte auch meine Sorge zum Ausdruck, ob wir uns nicht zu selten sähen. Annette versuchte mir dann deutlich zu machen, wie schwer es für sie sei, Schule, Job (Altenheim), familiäre Pflichten, den weiten Fahrweg zu mir und damit zur Therapie in Übereinstimmung zu bringen. Der Therapieverlauf gab keinen Anlass, auf einer regelmäßigeren Abfolge der Therapiesitzungen zu bestehen.
9.5.2
9
Behandlungsergebnisse
Die therapeutischen Gespräche hatten eine direkte Wirkung auf Annettes Essverhalten. Schon im dritten Kontakt (Beginn der zweiten Therapiestunde) berichtete die Jugendliche mit leuchtenden Augen, dass ihr plötzlich aufgefallen sei, dass sie wieder normal esse und vor allem wieder ein Hungergefühl spüre. Sie sei darüber sehr erleichtert! Sie habe dies gar nicht bewusst angesteuert und erkläre sich diese Veränderung mit den Ferien und der Versorgung bei den Großeltern. Allerdings habe ein früherer Besuch dort nicht ihrer Appetitstörung abgeholfen, sodass vielleicht auch die begonnene Therapie schon Einfluss nähme. Sie entdecke, dass sie sich momentan gar nicht für die Gewichtssteigerung interessiere – sie müsse nicht mehr ängstlich auf die Waage gehen, hoffend, ihr bemühtes Essverhalten habe positive Wirkung gezeigt. Sie sei diesbezüglich ganz entspannt und lasse »einfach mal« auf sich zukommen, ob sich ihr Körpergewicht wieder normalisiere. Ich thematisierte den psychogenen Appetitverlust von mir aus nicht (außer in der Anamnese), weil deutlich war, dass Annette mit ihrem Essproblem weder verleugnend noch in anderer Form vermeidend umging. Ich fasste die Essstörung als Ausdruck, d. h. als Symptom einer Inkongruenz zwischen Selbst und Erfahrung auf und konzentrierte meine Aufmerksamkeit auf die abgewehrten Erfahrungen und auf die damit verbundenen Emotionen, vor allem das Gefühl des Verletztseins. Nach den Sommerferien (10. Therapiestunde), ca. fünf Monate nach der positiven Veränderung des Essverhaltens und dem Wiederauftreten des gesunden Hungers, berichtete Annette, dass sie wieder für sich kochen könne und dass sie regelmäßig esse.
Neben der Wirkung der Therapie zeigte sicherlich auch der Umzug in eine neue Wohnung positiven Einfluss. Die neue Küche, die frei war von belastenden Erinnerungen, animierte Annette sicherlich auch, sich selbst gut zu versorgen. Das Körpergewicht hatte sich schon sichtbar verändert (von 49 auf 54 kg). Gut zwei Monate später (12. Therapiestunde) hatte Annette ihr früheres Gewicht (ca. 60 kg) zurück gewonnen, sah gesund (immer noch sehr schlank bei 176 cm Körpergröße) und frisch aus. Sie musste sich über ihr Essen keine Gedanken machen, hielt von sich aus gerne regelmäßige Mahlzeiten ein und war sehr glücklich über diese Entwicklung. Die Klassenreise nach Italien, das dortige köstliche Essen – das sie nun genießen konnte – hätten »den letzten Schuss« gegeben. In dem Maße, in dem Annette über den Schmerz des Verlustes der Mutter (im doppelten Sinne) sprechen konnte und diesen verstand, kam es nach und nach auch zur Integration dieser sehr belastenden Erfahrung. Das hatte vielfältige Folgen. Die depressive Symptomatik klang ab – Annette wurde wieder lebhafter und aktiver in ihrem sozialen Umfeld. Sie gesundete leib-seelisch – neben der Stabilisierung des Körpergewichtes gingen auch die Schlafstörungen zurück. Insbesondere bekam sie ein klareres Bild über ihre Beziehung zu ihren Eltern. Sie konnte Zorn der Mutter gegenüber spüren und – gegen Ende der Therapie – auch Kritik an deren Erziehungsstil äußern (übertriebene Ordnung, strenge Kontrolle und Förderung der schulischen Leistungen). Bezüglich der mütterlichen Penibilität zeigte sie erstmals (11. Stunde) Erleichterung, sich dieser – ein positiver Aspekt der Trennung – nicht mehr unterordnen zu müssen. Sie genieße es, »endlich eine Wohnung zum Wohnen (und nicht zum Putzen) zu haben«. Das Verhalten dem Vater gegenüber veränderte sich schon im Frühsommer. Verärgert und kritisch nahm sie sein problematisches Trennungsverhalten wahr, das sie belastete, stellte ihn zur Rede bzw. ging auf seine (»trotzigen und kindlichen«) Solidarisierungswünsche weniger ein. Durch die Therapie veränderte sich die emotionale Bindung an die Eltern. In der letzten Therapiestunde beschrieb Annette, dass sie beim Vater nur wohnen bleiben könne, weil die Schwester auch dort
257 9.5 · Verlauf einer Gesprächspsychotherapie
lebe »sonst wäre es mir zuviel mit ihm«. Ähnliche Gefühle hatte sie auch der Mutter gegenüber entwickelt: Früher habe es ihr gar nicht nah genug sein können – jetzt könne sie die Nähe nur eine gewisse Zeit aushalten. Diese Entwicklung bedeutete jedoch auch eine Reifung zu einem erwachseneren Verhalten den Eltern gegenüber. Annette erzählte in der 6. Therapiestunde, dass sie seit kurzem wieder einen Freund habe. Auch dies zeigte die positive Entwicklung und die innere Öffnung zu anderen hin durch die Klärung und das Begreifen ihrer Verlust-Reaktion. In diesem Zusammenhang tauchten Pläne auf, das nächste Weihnachtsfest ganz anders zu feiern – Annette wollte nicht länger Opfer der Trennung ihrer Eltern sein, sondern die Situation selbst neu gestalten. Die Beziehung zu diesem Freund blieb allerdings eine Episode. Er ging für längere Zeit ins Ausland, und diese Trennung wollte Annette nicht auf sich nehmen. Die wieder gewonnene leib-seelische Gesundheit zeigte sich auch in Annettes aufgeschlossenem schulischen Verhalten. Sie konnte den inneren und äußeren Rückzug nach und nach aufgeben, identifizierte sich mehr und mehr mit Projekten (Vorbereitung der Abiturfeier der 13. Klasse, Theaterprojekt und ähnliches) und engagierte sich sehr dafür (wodurch mancher Therapietermin ausfiel). Deshalb sprach ich auch an (12. Therapiestunde), ob sie die Therapie noch brauche. Diese Intervention erleichterte Annette sehr – sie fühlte sich akzeptiert und verstanden, war nur selbst unsicher gewesen, »wann man eine Therapie beenden solle«. Es ginge ihr jedoch so gut (Essverhalten, Körpergewicht, besser integrierte Trauer um den Verlust der Mutter, soziale Offenheit und Verbindlichkeiten wie Schule, Freizeit, Freunde, Job), dass sie die Gespräche mit mir eigentlich wirklich nicht »so unbedingt« mehr brauche. Als Annette dann nach vierwöchiger Pause noch einmal kam, war mir und ihr wirklich deutlich, dass wir die Therapie beenden konnten.
9.5.3
Katamnese
Das katamnestische Gespräch fand ca. sieben Monate nach dem Therapieende statt und kurz bevor Annette Deutschland für ein Jahr verlassen wollte. Sie plante, als Au-pair-Mädchen in die USA zu ge-
9
hen, hatte dort eine nette Familie gefunden und freute sich sehr auf den Auslandsaufenthalt. Ihr sei es inzwischen sehr gut ergangen. Sie habe ein sehr gutes Abitur gemacht (Notendurchschnitt 1,9) und sei überrascht, dass es ihr so gut gelungen sei. Sie freue sich sehr auf die USA, sei allerdings auch aufgeregt. Neben ihrer Tätigkeit in der Gastfamilie werde sie auch ein College besuchen. Dann berichtete mir Annette, dass es ihr unter anderem deshalb so viel besser gehe, weil sich die Eltern wieder besser verstünden. Durch die Scheidung (Juni d. J.) seien die Verhältnisse klarer, und der Vater habe sich offenkundig mit der Trennung abgefunden. Seit der Vater nicht mehr so wütend auf seine geschiedene Frau sei, könne er wieder besser mit ihr reden, und sie, Annette, würde dies als große Entlastung erleben. Sie selbst habe wieder ein erheblich besseres Verhältnis zu ihrer Mutter, könne aber immer noch nicht ihren furchtbaren Trennungsschmerz und wie verändert sie die Mutter erlebt habe, mit ihr besprechen. Dies wolle sie nach dem USA-Aufenthalt tun. Da sie die Mutter kaum je allein anträfe, könne sie ein solches persönliches Gespräch mit ihr gegenwärtig auch nicht führen. Zum neuen Partner der Mutter habe sie inzwischen ein besseres Verhältnis. Auf gewisse Weise habe sich auch diese Beziehung normalisiert. Sie spüre jedenfalls nicht mehr die Abwehr, die sie in den ersten Monaten der Trennung der Eltern fühlte. Ihre Umwelt registriere durchaus, dass sie körperlich wieder gesund sei. Am stärksten habe ihr Großvater reagiert, der in Tränen der Rührung über den Gesundungsprozess seiner Enkelin ausgebrochen sei. Auch die Mutter und der Vater hätten positive Kommentare gegeben, wie schön es sei, dass sie wieder so wohl und gesund aussehe. Nur die Schwester ignoriere diese positive Veränderung. Annette könne dies aber gut akzeptieren, da die Schwester kaum jemals etwas kommentiert hätte, und es bedeutsam genug gewesen sei, dass sie sie damals zu einer Psychotherapie gedrängt habe. Annette hat auch wieder einen Freund. Diese Beziehung besteht seit einigen Monaten, und auch angesichts der Reise in die USA habe sie nicht vor, sich von ihm zu trennen (wie vor einem Jahr von dem anderen Freund), da diese Beziehung nun eine gewisse Stabilität erreicht habe.
258
Kapitel 9 · Der therapeutische Prozess in der Praxis
Als Fazit lässt sich ziehen, dass es Annette wirklich gut geht, sie ihren Lebensalltag mehr als gut bewältigt, dass sie das Gewicht gehalten hat und es überhaupt keine Probleme mehr mit dem Essen gibt. Als ich sie abschließend frage, wie sie mit der Therapieerfahrung in Zukunft umgehen möchte, antwortet sie, dass sie glaube, nicht noch einmal in eine so tiefe Krise zu geraten. Sollte ihr noch einmal etwas so Schweres wie die Trennung der Eltern widerfahren, glaube sie, dass sie nicht mehr so heftig körperlich darauf reagieren müsse, sondern anders damit umgehen könne – gegebenenfalls auch von sich aus eine Therapie aufsuchen würde.
9.6
Therapieabschluss J. Eckert
9
Idealerweise stellen Patient und Therapeut gleichzeitig fest, dass die Behandlungsziele in ausreichendem Umfang erreicht sind und dass man sich voneinander verabschieden könnte. Der Regelfall sieht jedoch anders aus. Da will einer von beiden, entweder der Patient oder der Therapeut, die Behandlung beenden, während der andere die Zeit dafür noch nicht gekommen sieht. Den größten Einfluss auf den Zeitpunkt der Beendigung der Therapie nimmt jedoch eine dritte, außen stehende Größe: Das von der Krankenkasse bewilligte Stundenkontingent. Die meisten kassenfinanzierten Psychotherapien werden beendet, wenn das bewilligte Stundenkontingent ausgeschöpft ist. Wir betrachten im Folgenden alle drei Varianten von Therapiebeendigungen, die nicht auf der Grundlage einer gemeinsamen Beurteilung von Patient und Therapeut, dass die Therapieziele erreicht sind, erfolgen. Vorgesehene (bewilligte) Anzahl von Therapiesitzungen ist ausgeschöpft. Auf den ersten Blick
könnte man annehmen, dass Therapien, die auf diese Weise ihr Ende finden, wie ein vorzeitiger Therapieabbruch wirken. In der Regel ist das aber nicht der Fall, sondern Therapeut und Patient stellen sich auf das absehbare Ende ein und versuchen damit konstruktiv umzugehen. Ein probates Mittel ist die Streckung des Behandlungszeitraumes durch
Absenken der Behandlungsfrequenz. Der Patient kommt z. B. nicht mehr wöchentlich, sondern nur 14-tägig oder einmal im Monat. Er hat so die Möglichkeit auszuprobieren, wie er ohne die regelmäßigen wöchentlichen Sitzungen zurechtkommt, und kann diese Erfahrungen auch noch mit seinem Therapeuten besprechen. Ähnlich wie beim Absetzen eines Medikaments könnte man diese Strategie »Beendigung durch Ausschleichen« nennen. Sie setzt voraus, dass der Therapeut die noch zur Verfügung stehende Sitzungszahl im Auge hat und die notwendigen Absprachen über das Absenken der Behandlungsfrequenz mit dem Patienten trifft. Der Patient will die Behandlung beenden, der Therapeut noch nicht. In diesem Fall handelt es
sich aus der Sicht des Therapeuten häufig um einen Therapieabbruch. Ein Therapieabbruch ist kein seltenes Ereignis. In der ambulanten Einzeltherapie beträgt die mittlere Abbruchquote 20%, die Quote der Patienten mit unzureichendem Therapieerfolg ist 25%, sodass rund 45% aller Patienten ihre Psychotherapie im ersten Anlauf nicht erfolgreich abschließen. Die Gründe, die Patienten für eine frühzeitige Beendigung der Therapie anführen, sind vielfältige: Sie vermissen eine Veränderung ihrer Symptomatik und ihrer Befindlichkeit, die Therapiesitzung ist inzwischen selbst zum Angstauslöser geworden, sie hatten völlig andere Erwartungen an die Behandlung, sie kommen mit dem, was von ihnen in der Therapie erwartet wird, nicht zurecht, sie finden die Beschäftigung mit eigenen Erfahrungen und Gefühlen eine überflüssige »Nabelschau«, die nichts bringt usw. Der häufigste Grund für einen Therapieabbruch ist Erfolglosigkeit, die der Patient darauf zurückführt, dass er mit der Person des Therapeuten bzw. der therapeutischen Beziehung, dem Behandlungsmodell des Therapeuten oder mit seinem Krankheitsmodell nicht zurechtkommt (Eckert, Frohburg & Kriz, 2004). Der Therapeut sollte auch im Falle eines Therapieabbruchs mit Nachdruck versuchen, ein Abschlussgespräch zu führen, um selbst Klarheit über die Gründe für den Abbruch zu bekommen. Er sollte folgende Fragen beantworten können: Habe ich bei der Indikationsstellung etwas übersehen? Habe ich mich bei der Festlegung der Therapieziele geirrt?
259 9.6 · Therapieabschluss
Habe ich im Behandlungsverlauf Reaktionen des Patienten übersehen oder falsch verstanden? Habe ich bei der Indikationsstellung verleugnet, dass ich einem Patienten wie diesem noch nie gerecht werden konnte? Häufig ist die Vereinbarung eines solchen Abschlussgespräches nicht einfach, weil viele der zum Abbruch entschlossenen Patienten einfach wegbleiben oder ihren Entschluss auf den Anrufbeantworter sprechen. In einem solchen Fall sollte der Therapeut telefonisch oder schriftlich um ein solches Gespräch bitten, und die Gründe dafür darlegen. Zugleich sollte er dem Patienten versichern, dass er seinen Entschluss respektiert und nicht versuchen wird, ihn »umzustimmen«. Wichtig ist, dass der Therapeut den Abbruch nicht allein unter dem Aspekt des eigenen Versagens oder der mangelnden Eignung des Patienten für eine Psychotherapie betrachtet. Fast immer stellt sich im Therapieverlauf heraus, dass eine oder mehrere der vier für einen Therapieerfolg notwendigen Passungen aus dem Allgemeinen Modell für Psychotherapie (AMP) von Orlinsky und Howard (1987, 7 Kap. 8.4 sowie Eckert et al., 2004) nicht ausreichend gegeben waren. Möglicherweise kann ein anderer Therapeut, z. B. eine Frau statt eines Mannes oder umgekehrt, mit einem anderen Verfahren, z. B. einer stärker symptomorientierten Therapie, dem Patienten durchaus helfen. Das sind Fragen einer differenziellen Therapieindikation, die in einem abschließenden Gespräch mit dem Therapieabbrecher erörtert werden sollten. Der Therapeut möchte die Behandlung beenden, der Patient nicht. Diese Variante eines Therapie-
abschlusses ist nicht selten, aber vermutlich nicht so häufig wie ein Therapieabbruch durch den Patienten. Meistens taucht die Frage, ob die Therapie nicht beendet werden könnte, beim Therapeuten auf, wenn eine als Kurzzeittherapie (bei kassenfinanzierten Therapien bis maximal 25 Stunden) begonnene Therapie entweder abgeschlossen oder in eine Langzeittherapie umgewandelt werden muss. Viele Gesprächspsychotherapeuten erörtern diese Frage in ihrer Supervisionsgruppe. Dabei empfiehlt es sich, auch sie unter dem Aspekt der vier Passungen des oben genannten AMP zu erörtern und den folgenden Fragen nachzugehen:
9
Sechs zu klärende Fragen vor Beendigung einer Therapie durch den Therapeuten 1. Sind durch die Therapie bedingte Veränderungen sichtbar, und wie sehen sie aus? 2. Stimmen die mit dem Patienten abgesprochenen Therapieziele noch, oder müssen sie geändert werden, und bin ich damit einverstanden? 3. Habe ich Hoffnung, dass die Fortführung der Therapie durch mich den gewünschten Erfolg bringt? 4. Hat sich meine Beziehung zum Patienten zum Negativen hin verändert? 5. Spricht der Patient auf mein therapeutisches Angebot noch ausreichend an? 6. Bin ich immer noch überzeugt, dass ich mit meinem Verfahren diesem Patientin mit dieser Art von Störung ausreichend helfen kann?
In jedem Fall ist bei einer Entscheidung für eine Beendigung der Therapie der Patient nicht nur über die Entscheidung, sondern auch über ihre Begründung zu informieren. Der Therapeut sollte auch in der Lage sein, dem Patienten eine klare Empfehlung zu geben: die Psychotherapie bei einem anderen Therapeuten und/oder mit einem anderen Verfahren fortzusetzen oder keine weitere Psychotherapie zu machen, weil sich herausgestellt hat, dass Psychotherapie für die Störung des Patienten nicht die Methode der Wahl ist. Letzteres wäre z. B. dann der Fall, wenn sich die Schlafstörungen und die gereiztdepressive Stimmung des Patienten als Ausdruck einer andauernden beruflichen Überforderung herausstellen. Das durch den Therapeuten herbeigeführte Therapieende muss so gründlich wie möglich zeitlich und inhaltlich vorbereitet werden. Zwischen der Ankündigung und dem tatsächlichen Ende sollten mindestens drei bis fünf Sitzungen liegen, in denen das bevorstehende Therapieende, das Abschied und Trennung bedeutet, Thema werden sollte. Es sollten die mit Abschied und Trennung verbundenen Erfahrungen und Gefühle ausreichend Platz erhalten.
260
9
Kapitel 9 · Der therapeutische Prozess in der Praxis
Abschließend sei noch auf ein Phänomen hingewiesen, von dem immer wieder berichtet wird und das geeignet erscheint, Therapeuten zu ermutigen, das Themas Abschied von sich aus anzusprechen: Viele Therapeuten, die davon ausgegangen waren, dass zwar sie selbst, nicht aber ihr Patient an eine Beendigung der Therapie dachten, haben zur ihrer Verblüffung von ihrem Patienten gehört, dass auch er sich schon mit diesem Thema befasst hatte. Die Beendigung einer Psychotherapie ist in den meisten Fällen eben doch eine von Patient und Therapeut gemeinsam getragene Entscheidung. Aber auch das gemeinsam beschlossene Therapieende muss gut vorbereitet werden. So sollte sich der Therapeut seiner Position im Hinblick auf die Frage einer Wiederaufnahme der Behandlung im Klaren sein und diese Position dem Patienten auch mitteilen. Es gibt Therapeuten, die eine Wiederaufnahme aus verschiedenen Gründen unter allen Umständen ablehnen, während andere eine Wiederaufnahme generell befürworten. Eine dritte Position besteht in einer differenzierten Haltung: Bei klassischen neurotischen Störungen wird eine Wiederaufnahme abgelehnt, bei Patienten mit einer psychosenahen Persönlichkeitsstruktur, z. B. bei Patienten mit einer Borderline-Persönlichkeitsstörung, hingegen für notwendig erachtet, weil ein für solche Patienten wichtiges Therapieziel ist, einen Zustand zu erreichen, in dem sie zum Eingehen von stabilen und verlässlichen Beziehungen in der Lage sind, die auch nach einer Trennung noch Bestand haben können.
9.7
Typische Behandlungsprobleme
Eine Reihe der für eine Gesprächspsychotherapie typischen Behandlungsprobleme spielen auch in anderen nicht symptomorientierten Psychotherapieverfahren eine Rolle. Reimer (2000, S. 51) hat »häufige Komplikationen während der tiefenpsychologisch orientierten Psychotherapie« aufgelistet. Die folgenden sind auch in Gesprächspsychotherapien immer wieder zu beobachten:
Häufige Behandlungsprobleme in Gesprächspsychotherapien 5 Entwicklung von akuten Krisen (mit oder ohne Suizidalität) 5 Akute psychosoziale Veränderungen des Patienten 5 Akute psychosoziale Veränderungen des Therapeuten 5 Persistenz bestimmter Beziehungserwartungen 5 Drohung mit Therapieabbruch bzw. Vollzug des Therapieabbruchs
Akute Krise. Dem Umgang mit Krisen, auch mit
solchen, die innerhalb einer Behandlung entstehen, ist ein eigenes Kapitel (7 Kap. 13) gewidmet. Akute psychosoziale Veränderungen des Patienten. Häufig verursachen akute psychosoziale Ver-
änderungen im Leben des Patienten Krisen: belastende Lebenserfahrungen, z. B. der unerwartete Verlust einer wichtigen Beziehungsperson durch Todesfall oder Trennung bzw. Scheidung oder ein folgenschweres Leistungsversagen im Studium oder im Beruf, eine plötzliche Bedrohung der eigenen Person oder wichtiger anderer Menschen durch eine schwere Krankheit, durch die Tod oder Siechtum droht. Beim Auftauchen solcher (traumatischen) Krisen in einer laufenden Gesprächspsychotherapie gilt die Regel: ! Behandlungsregel beim Auftauchen einer
Krise beim Patienten Taucht in einer laufenden Gesprächspsychotherapie eine extern verursachte Krise auf, so hat die Behandlung dieser Krise Vorrang, weil ihre Bewältigung Voraussetzung für die Fortsetzung der Gesprächspsychotherapie ist.
Im Vordergrund steht dann als Behandlungsziel die aktive Bewältigung der Krise – und nicht die reflexive Betrachtung möglicher Ursachen und Zusammenhänge von Inkongruenzen. Gegebenenfalls empfiehlt es sich, weitere Hilfemöglichkeiten zur Krisenbewältigung in Anspruch zu nehmen, z. B. einen Anwalt zur Klärung von Rechtsfragen oder einen
261 9.7 · Typische Behandlungsprobleme
Arzt, um die aufgetretene Schlaflosigkeit medikamentös einzugrenzen, zu konsultieren (7 Kap. 13). Akute psychosoziale Veränderungen des Therapeuten. Auch Psychotherapeuten erleben Krisen,
sogar suizidale, wie es z. B. der Suizidforscher Thomas Bronisch (2005) sehr persönlich und sehr nachdrücklich darlegt. Die Krisen von Psychotherapeuten werden wie die von Patienten häufig durch einschneidende Lebensveränderungen ausgelöst, z. B. durch eine Scheidung oder den Tod eines Familienmitgliedes. Krisen dieser Art können dazu führen, dass die Arbeitsfähigkeit nicht mehr in ausreichendem Maße gegeben ist. In diesem Fall sollte der Psychotherapeut – wie jeder andere Berufstätige – in den Krankenstand gehen und seine Berufstätigkeit vorübergehend einstellen. Für die Bewältigung eigener Krisen wählen Psychotherapeuten sehr unterschiedliche Wege: Sie versuchen, sich selbst zu therapieren, nicht selten unter Einsatz von Suchtmitteln, sie vertrauen sich Kollegen an und suchen deren Rat, sie bringen ihr akutes persönliches Problem in der Supervision ein oder – das ist aber eher selten – sie begeben sich selbst in eine psychotherapeutische Behandlung (Lichtenberger, 2005; Wilke, 2005). Letzteres mag erstaunen, denn es ist bekannt, dass Psychotherapeuten, Psychoanalytiker und Psychiater nicht Berufe haben, die vor psychischen Störungen besonders schützen, im Gegenteil, sie sind in diesem Sinne besonders gefährliche Berufe, auch im Hinblick auf das Suizidrisiko (Bronisch, 2005; Rudolf, 2005; Lichtenberger, 2005). Die psychischen Belastungen, denen Psychotherapeuten ausgesetzt sind, liegen auf der Hand. In Anlehnung an Reimer (2005, S. 95) sind für einen Gesprächspsychotherapeuten häufig folgende mehr oder weniger dauerhafte Belastungen bei der psychotherapeutischen Arbeit zu bewältigen: Die Patient-Therapeut-Beziehung kann u. a. belastet werden durch 4 eine ständige Bedrohung der Grenzen und Integrität des Psychotherapeuten durch persönlichkeitsgestörte Patienten, z. B. durch Patienten mit einer Borderline-Persönlichkeitsstörung; 4 die Verpflichtung, Bedingungsfreie Positive Beachtung auch gegen innere und äußere Widerstände immer wieder herzustellen;
9
4 die Konfrontation mit eigenen belastenden Erinnerungen und unangenehmen Erfahrungen in der eigenen Geschichte, die durch die Auseinandersetzung mit der Biografie des Patienten ausgelöst werden und zu einer reaktiven Inkongruenz führen können; 4 das Entdecken von Gemeinsamkeiten mit dem Patienten und der Verpflichtung, dafür zu sorgen, dass das empathische Einfühlen nicht von schlichtem Mitfühlen abgelöst wird; 4 das Ausbleiben von sichtbaren und ausreichenden Therapieerfolgen oder wiederholte Rückschläge, wodurch die Bedingungsfreie Positive Beachtung Gefühlen von Enttäuschung, Kränkung, Zweifeln an der eigenen therapeutischen Fähigkeit usw. weichen muss; 4 anhaltende Suizidalität oder gar der Suizid eines Patienten. Wie sollte ein Gesprächspsychotherapeut mit eigenen Krisen umgehen, deren Ursachen außerhalb seiner Berufstätigkeit zu suchen sind, die aber seine Arbeitsfähigkeit als Psychotherapeut deutlich tangieren? Eine für Patienten eindeutige Form des Umgangs mit einer eigenen Krise ist die Unterbrechung der Behandlung, wobei es sich empfiehlt, den Patienten die Gründe dafür in einer Form mitzuteilen, die sie nicht in Sorge um den Therapeuten erstarren lassen oder in Schuldgefühle stürzen (»Ich bin doch eine zu große Belastung für ihn!«). Wenn der Therapeut nicht abschätzen kann, ob und in wie weit seine privaten Probleme seine therapeutische Fähigkeit beeinträchtigen werden, kann es – aber nicht immer – gut sein, den Patienten davon in Kenntnis zu setzen, z. B. so: »Ich habe einen Todesfall in der Familie, der überraschend kam. Ich weiß noch nicht, wie weit mich das in unserer Arbeit hier beeinflussen wird und möchte deshalb die Arbeit mit Ihnen zunächst fortsetzen. Sie sollten das aber wissen. Falls Sie merken, dass ich nicht so bin, wie Sie mich kennen, lassen Sie es mich wissen. Ich werde natürlich auch selbst auf mich achten.« Diese Form der Offenheit ist zu empfehlen, weil die klinische Erfahrung lehrt, dass viele Patienten die emotionale Verfassung ihres Therapeuten seismographisch registrieren und darauf reagieren, und zwar häufig mit Phantasien, in denen sie sich die Schuld dafür geben, dass ihr Therapeut unkonzen-
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Kapitel 9 · Der therapeutische Prozess in der Praxis
triert, innerlich abwesend, verstimmt usw. ist. Wenn ihnen die Gründe dafür offen gelegt werden, ist die Wahrscheinlichkeit größer, dass sie ihre Aufmerksamkeit von der Befindlichkeit ihres Therapeuten zurückziehen und wieder verstärkt in einen Prozess der Selbstauseinandersetzung treten können. Eine lesenswerte Schilderung der Dynamik, die ausgelöst wird, wenn ein Therapeut seinem Patienten mitteilen muss, dass er ein Krebsleiden hat und in absehbarer Zeit sterben muss, findet sich in dem Roman »Die Schopenhauer-Kur« (Yalom, 2005). Persistenz bestimmter Beziehungserwartungen.
9
Dies ist in Gesprächspsychotherapien eher selten. Übertragung – im psychoanalytischen Sinne – ist ein in allen zwischenmenschlichen Beziehungen zu erlebendes Phänomen und findet deshalb natürlich ebenso wie die Gegenübertragung auch in Gesprächspsychotherapien statt. Da in einer Gesprächpsychotherapie Übertragungsreaktionen jedoch nicht systematisch gefördert werden, um sie therapeutisch nutzen zu können, scheinen sie in dieser eine geringere Rolle zu spielen. Wenn sie auftreten, sollte der Gesprächspsychotherapeut sie ansprechen und mit dem Patienten zusammen versuchen, zwischen Beziehungserwartungen bzw. -ängsten und den realen Beziehungserfahrungen mit dem Therapeuten zu differenzieren. Dass dieses Ziel nicht immer erreicht werden kann, soll folgendes Beispiel verdeutlichen.
Drohung mit Therapieabbruch bzw. Vollzug des Therapieabbruchs. Dieses Problem haben wir be-
reits oben behandelt. Es ist ein Problem innerhalb einer Gesprächspsychotherapie und bedeutet nicht in jedem Fall eine Krise, wird aber häufig Gegenstand von Supervision. Weitere typische Anlässe für Supervision von Gesprächpsychotherapien sind – aus der Sicht von Therapeuten – folgende Behandlungsprobleme: 4 Ich verstehe meinen Patienten nicht! 4 Ich werde aus meiner Rolle als Therapeut geworfen! 4 Mein Patient klagt, dass die Therapie nichts nützt. Er will die Behandlung abbrechen. 4 Wann kann ich die Behandlung abschließen? Ich kann keinen Nutzen mehr erkennen. 4 Ich selbst sehe keine offensichtlichen Probleme, aber vielleicht seht Ihr welche? Der letztgenannte Anlass für eine Supervision ist scheinbar keiner. Er wird verständlich, wenn man sich in Erinnerung ruft, dass sich die in Fachverbänden für Gesprächspsychotherapie organisierten Gesprächpsychotherapeuten zu einer kontinuierlichen berufsbegleitenden Supervision verpflichtet haben. In der Regel sind Gesprächspsychotherapeuten ständige Mitglieder einer örtlichen Supervisionsgruppe, die 14-tägig tagt, und in der sie ihre Behandlungsfälle bei Bedarf oder auch kontinuier-
Fallvignette
Die Patientin, die ihren Therapeuten nicht wahrnehmen konnte Eine Patientin, die sich wegen wiederholten Ladendiebstahls in Behandlung befand, eröffnete fast jede Therapiesitzung mit dem Satz: Herr Dr. E., für das, was ich Ihnen heute erzähle, werden Sie mich verurteilen.« Dr. E. sah jedoch niemals einen Grund, sie zu verurteilen, auch innerlich nicht. Mehrmals startete er vergeblich den Versuch, mit der Patientin zu klären, dass ihre Befürchtungen, verurteilt zu werden, unbegründet seien. Die Patientin blieb bei ihrer einleitend geäußerten Überzeugung, dass ihr Therapeut sie verurteilen würde.
Erst als dem Therapeuten mittels einfühlendem Verständnis klar wurde, dass die Patientin sich jeweils selbst für das verurteilte, was sie dem Therapeuten berichtete, und unhinterfragt davon ausging, das ihr Therapeut das auch tun würde, konnte er seine Bemühungen einstellen, dafür zu sorgen, dass ihn seine Patientin »richtig« wahrnahm, nämlich als eine Person, die sie nicht für das, von dem sie erzählte, verurteilte. Da die Patientin ihn nicht falsch wahrnahm, sondern ihn auf Grund ihrer eigenen Inkongruenz in diesem Punkt überhaupt nicht wahrnahm, war es ihm möglich, diesem Problem der Patientin mit Bedingungsfreier Positiver Beachtung zu begegnen und seine diesbezüglichen Wünsche, die Patientin möge sich verändern, einzustellen.
263 9.9 · Behandlungsleitlinien (Manuale) in der Gesprächspsychotherapie
lich supervidieren lassen. Eine genauere Darstellung der Arbeit in Supervisionsgruppen findet sich in 7 Kap. 10.4.
9.8
Störungsspezifisches Vorgehen
Die klassische Gesprächspsychotherapie ist kein symptomorientiertes Verfahren, d. h. kein Verfahren, bei dem die Art der Störung leitend für das therapeutische Handeln ist. Im Mittelpunkt des therapeutischen Prozesses steht die therapeutische Beziehung. Voraussetzung dafür, dass bislang abgewehrte Erfahrungen symbolisiert und in das Selbst integriert werden können, ist das Gelingen einer bestimmten Beziehung zwischen Therapeut und Patient mit dem Effekt, dass Inkongruenzen verringert oder aufgehoben werden (7 Kap. 6). Natürlich beeinflusst die Art der psychischen Störung auch die Therapeut-Patient-Beziehung: Ein Patient mit einer paranoiden Persönlichkeitsstörung bringt andere Beziehungserwartungen und Möglichkeiten zu ihrer Gestaltung mit als ein Patient mit einer abhängigen Persönlichkeitsstörung. Aber auch innerhalb eines Störungsbildes gibt es eine große Variationsbreite bezüglich der Möglichkeit, sich auf das gesprächspsychotherapeutische Beziehungsangebot einzulassen. Unter den Patienten, die unter einer Depression leiden, gibt es solche, die ein gesprächspsychotherapeutisches Beziehungsangebot nicht einmal wahrzunehmen scheinen, sie sind z. B. in einem Stupor gefangen und reagieren nicht auf Kontaktangebote. Für andere depressive Patienten hingegen ist das gesprächspsychotherapeutische Beziehungsangebot das einzige, auf das sie sich überhaupt einlassen können. Die Betonung der Wichtigkeit bzw. Notwendigkeit eines störungsspezifischen Vorgehens in der Psychotherapie stammt aus der Tradition der Störungsmodelle der Verhaltenstherapie, deren Fokus die Entstehung, Aufrechterhaltung und Beseitigung von Symptomen und Verhaltensauffälligkeiten aufgrund von Lernprozessen ist. Im Mittelpunkt des therapeutischen Prozesses steht die Störung, nicht die therapeutische Beziehung und nicht die Persönlichkeit des Patienten.
9
Der Einfluss der psychischen Störung auf den therapeutischen Prozess und das Therapieergebnis ist auch von den Vertretern der nicht symptomorientierten Therapieverfahren gesehen worden. Psychotherapieforscher haben schon sehr früh Forschungsdesigns gefordert, die den Einfluss der unterschiedlichen psychischen Störungen auf das Therapieergebnis in Rechnung stellen (z. B. Kiesler in seinen sehr bekannt gewordenen Beiträgen aus den Jahren 1966 und 1969; vgl. auch Eckert, 2004). Der derzeitige Stand der Forschung zur Frage des Einflusses der Störung auf den Therapieprozess und das Therapieergebnis ist in das Allgemeine Modell von Psychotherapie (AMP) von Orlinsky und Howard eingeflossen, das im 7 Kap. 8.4 ausführlich dargestellt ist: Die Störungen des Patienten stellen einen von vier Faktoren dar, die den Therapieprozess und das -ergebnis wesentlich beeinflussen. Die drei anderen sind die Person des Patienten, die Person des Therapeuten und das Behandlungsmodell, auf dessen Grundlage der Therapeut handelt.
9.9
Behandlungsleitlinien (Manuale) in der Gesprächspsychotherapie
Die Rolle der Störung bei der Planung und Durchführung einer Gesprächspsychotherapie hat lange Zeit nicht im Blickwinkel therapietheoretischer Überlegungen im Rahmen der Gesprächspsychotherapie gestanden. Zwei Entwicklungen haben jedoch dazu beigetragen, dass die Störung auch bei der Durchführung von Gesprächspsychotherapien verstärkt Berücksichtigung findet. Zum einen ist es die Ausweitung des Indikationsspektrums auf Störungen, bei denen die klassischen Psychotherapieansätze so lange scheiterten, bis Modifikationen eingeführt wurden, welche die Besonderheiten der Störung in Rechnung stellten. Diese Modifikationen fanden ihren Niederschlag in Therapieempfehlungen und Therapieleitlinien bzw. Therapiemanualen. Ein für das Klientenzentrierte Konzept typisches Beispiel ist das von dem holländischen Psychiater Hans Swildens herausgegebene Lehrbuch (Swildens, 1991). Es folgten weitere Ansätze, die den Einfluss der Störung auf den Verlauf einer
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9
Kapitel 9 · Der therapeutische Prozess in der Praxis
Gesprächspsychotherapie systematisch zu berücksichtigen versuchen, u. a. von Speierer (1994) und Finke (1994). Zu diesen Bemühungen sind auch die von Eckert, Höger & Linster (1997) veröffentlichten störungsspezifischen Falldarstellungen zu rechnen. Der zweite Anstoß zur Entwicklung von störungsspezifischen Behandlungsleitlinien kam aus der Psychotherapieforschung. Um zu gewährleisten, dass die Therapeuten der untersuchten Psychotherapien die Behandlungen in vergleichbarer Weise durchführten, wurden Behandlungsmanuale zum Forschungsstandard erhoben: Voraussetzung für den Nachweis der Wirksamkeit einer Behandlungsform oder eines Behandlungselements im Rahmen einer Studie sind neben einer Reihe anderer Merkmale der Studie Therapiemanuale einschließlich der Festlegung der Rahmenbedingungen (Buchkremer & Klingberg, 2001, S. 23). Der »Natur« der jeweiligen Psychotherapieverfahren entsprechend unterscheiden sich die Manuale hinsichtlich Form und Inhalt erheblich. Insbesondere die Konkretisierungen und die Definitionen des Therapeutenverhaltens auf der Ebene der Handlungsanweisungen für die Therapeuten sind in Abhängigkeit von den jeweils zu Grunde liegenden Krankheitsmodellen und Menschenbildern sehr unterschiedlich. Gegen den Einsatz von Therapiemanualen in nicht symptomzentrierten Therapien sind verschiedene Einwände (Auckenthaler, 2000) vorgetragen worden. Die Wichtigsten sind die Folgenden: 4 Manuale in Form von strukturierten Therapieprogrammen, wie sie in der Verhaltenstherapie für verschiedene Störungen entwickelt worden sind, in denen die Inhalte jeder Sitzung festliegen und von den Patienten bearbeitet werden müssen, lassen sich nicht auf nicht symptomzentrierte Psychotherapieverfahren übertragen. 4 Langzeittherapien (>80 Sitzungen) entziehen sich ebenfalls einer Manualisierung. 4 Die Aktzeptanz von Manualen in der psychotherapeutischen Praxis sei gering, auch bei Verhaltenstherapeuten. Das liege nicht nur daran, dass es dem beruflichen Selbstverständnis der meisten Psychotherapeuten widerspräche, die von ihnen angewandte Behandlung wie eine Pille zu applizieren, sondern auch daran, dass es
den monosymptomatisch erkrankten Patienten bzw. den Patienten, der nur die Kriterien für das Vorliegen einer Störung erfüllt, in der Praxis kaum gibt. Der Normalfall in der Praxis ist der komorbide Patient. Wir teilen diese Einwände, möchten aber darauf hinweisen, dass Therapiemanuale im Sinne von Therapieleitlinien für die Behandlung von bestimmten Störungen auch für die gesprächspsychotherapeutische Praxis eine Hilfe darstellen können. Die Frage lautet also nicht mehr: »Manualisierte Gesprächspsychotherapie – ja oder nein?« Sondern: »Wie sind die Leitlinien und Handlungsanweisungen zu gestalten, damit sie zu dem, was Gesprächspsychotherapie als eigenständiges Heilverfahren ausmacht, nicht in Widerspruch geraten?«. Keil und Stumm (2002, S. 2) charakterisieren dieses Grundlegende der klientenzentrierten Psychotherapie wie folgt: 4 Die zentrale Annahme einer Aktualisierungstendenz, einer allen Organismen innewohnenden Tendenz, alle ihre Möglichkeiten so zu entwickeln, dass sie den Organismus als Ganzen erhalten und fördern. 4 Die Definition von Bedingungen für den Therapieprozess: 5 Einstellungen auf Seiten des Therapeuten: Kongruenz, bedingungsfreie Anerkennung der Erfahrungen des Patienten, Empathisches Verstehen 5 Inkongruenz auf Seiten des Patienten 5 Beziehung zwischen Patient und Therapeut: psychologischer Kontakt, Wahrnehmung des Beziehungsangebotes durch den Patienten. 4 Die Annahme, dass die Therapie dabei keiner systematisch oder gar schematisch anzuwendenden Techniken bedarf. Insbesondere die letztgenannte Bedingung setzt der Manualisierung der Gesprächspsychotherapie relativ enge Grenzen. Stumm und Keil (a. a. O.) formulieren: »Jegliche Technik, die geeignet ist, die notwenigen (und auch als hinreichend betrachteten) Einstellungen des Psychotherapeuten umzusetzen bzw. dem Patienten zu vermitteln, kann grundsätzlich Verwendung finden, sofern sie das Vertrauen in die Selbstregulationsfähigkeit des Patienten nicht
265 9.9 · Behandlungsleitlinien (Manuale) in der Gesprächspsychotherapie
untergräbt…« (S. 2). Die Vorgabe konkreter Interventionen für eine bestimmte Stunde der Therapie mit einem vorgeschriebenen Inhalt hat so gesehen im Rahmen des Klientenzentrierten Konzeptes kaum Platz. Bei der Entwicklung der Manuale für die Behandlung von Anpassungsstörungen und Bulimie (7 Kap. 23) haben wir die Perspektive Högers eingenommen, der auf die unterschiedlichen Abstraktionsebenen verweist, auf denen Therapiekonzepte und konkrete therapeutische Handlungsanweisungen formuliert werden (7 Kap. 9.2). Für den Inhalt eines gesprächspsychotherapeutischen Manuals, insbesondere für die darin enthaltenen Handlungsanweisungen, gilt aus dieser Perspektive Folgendes: 4 Die Handlungsanweisungen sollen die von Rogers formulierten Prinzipien weder ersetzen noch modifizieren. Sie sollten nur in der Weise befolgt werden, dass z. B. durch konkretes Verhalten die Herstellung der (von Rogers formulierten) Bedingungen für eine positive Entwicklung des Patienten in der Therapie unterstützt wird. 4 Die Handlungsanweisungen sind nicht als Verhaltensregeln in konkreten Situationen zu verstehen. Es geht in einem solchen Manual nicht darum, für bestimmte Therapiestunden oder eng gefasste Abschnitte der Therapie Aufgaben zu formulieren, die dann möglichst manualgetreu vom Therapeuten mit dem Patienten umzusetzen sind. 4 Die Handlungsanweisungen sind auf der Ebene spezifischer Verhaltensformen angesiedelt (. Abb. 9.2, Ebene III), d. h. sie sind als Möglichkeiten formuliert, wie sich der Therapeut in den Therapieprozess einbringen kann. Aus den Anweisungen können konkrete Verhaltensweisen (Interventionen, Ebene IV) unter Berücksichtigung spezifischer situativer Bedingungen abgeleitet werden. Die bisher im Rahmen des Klientenzentrierten Konzepts veröffentlichten störungsspezifischen Manuale und Leitlinien sind in der Regel wie folgt aufgebaut:
9
Aufbau von störungsspezifischen Leitlinien für Gesprächspsychotherapie Es wird eine Beschreibung der Störung gegeben, meistens in enger Anlehnung an das von der Weltgesundheitsorganisation (WHO) herausgegebene Klassifikationsschema. Es werden die Besonderheiten des Therapieverlaufs bei der Durchführung einer Gesprächspsychotherapie bei diesem bestimmten Störungsbild dargestellt, z. B. in bestimmten Therapiephasen bei Swildens (1991). Es werden die störungsspezifischen Besonderheiten der Ausformung von Inkongruenzen, z. B. das spezifische Abwehrverhalten, dargestellt, meistens mit Hinweisen darauf, welche konkreten therapeutischen Mittel zu ihrer Behebung (auf Ebene IV) eingesetzt werden können bzw. sollten. Beispiele dafür sind die spaltende Abwehr, d. h. die Zweiteilung der Welt in Gut und Böse, der Patienten mit einer BorderlinePersönlichkeitsstörung (z. B. Eckert & BiermannRatjen, 2000) oder die Vermeidungsstrategien von Patienten mit Essstörungen (7 Kap. 23).
Im Rahmen des Klientenzentrierten Konzepts sind in Deutschland Manuale zur Behandlung von Depression (Finke & Teusch, 1999) und Panikstörungen (Teusch & Finke, 1995) bereits veröffentlicht worden. Von den bisher nicht veröffentlichten Leitlinien haben wir zwei in den Anhang (7 Kap. 23) aufgenommen: Ein Manual zur gesprächspsychotherapeutischen Behandlung von Anpassungsstörungen (ICD-10 F43.2) und eines für die Behandlung von Bulimie (ICD-10 F50.2). ? Übungsfragen 5 Welche Aspekte charakterisieren das Beziehungsangebot des Gesprächspsychotherapeuten? 5 Wodurch unterscheiden sich Empathie und Mitfühlen? 5 Was versteht man unter dem Inneren Bezugsrahmen? 5 Wodurch wird die Bedingungsfreie Positive Beachtung zur Alarmanlage der therapeutischen Beziehung?
6
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Kapitel 9 · Der therapeutische Prozess in der Praxis
5 Warum sollte die positive Beachtung des Therapeuten auch »bedingungsfrei« sein? 5 Warum sollte der Begriff »Kongruenz« nicht durch »Echtheit« ersetzt werden? 5 Worin besteht der Unterschied zwischen primärer und reaktiver Inkongruenz? 5 Woran kann ein Gesprächspsychotherapeut erkennen, dass er nicht kongruent ist? 5 Wie kann ein Gesprächspsychotherapeut seine reaktive Inkongruenz überwinden? 5 Nenne wichtige prozessfördernde Prinzipien therapeutischen Handelns in der Gesprächspsychotherapie. 5 Wann ist es in der Regel notwendig, das Prinzip der Nicht-Direktivität zu verlassen? 5 Welche Grundregel gilt für die Verbalisierung von Erfahrungen des Patienten? 5 Woran kann ein Gesprächspsychotherapeut erkennen, dass seine Intervention richtig, d. h. therapeutisch nützlich war? 5 Welche Gründe könnten einen Therapeuten veranlassen, die Behandlung nicht zu verlängern bzw. zu beenden? 5 Nennen Sie drei typische Behandlungsprobleme, die in einer Gesprächspsychotherapie auftauchen können. 5 Welche sind häufige Anlässe, eine Behandlung in der Supervision vorzustellen?
9.10
Weiterführende Literatur
Eckert, J., Höger, D. & Linster H.W. (Hrsg.) (1997). Praxis der Gesprächspsychotherapie. Störungsbezogene Falldarstellungen. Stuttgart: Kohlhammer.
10 10 10.1
Evaluation und Qualitätssicherung Wirksamkeit
– 267
10.3
Verfahren zur Messung des Therapieergebnisses – 277
10.3.1
10.3.4
Verfahren zur direkten Erfolgsbeurteilung – 278 Verfahren zum Prä-PostVergleich – 278 Hinweise für die Anwendung und Interpretation – 281 Weiterführende Literatur – 283
10.4
Supervision
J. Eckert 10.1.1 10.1.2 10.1.3
10.2
Wie lässt sich die Wirksamkeit von Psychotherapie feststellen? – 267 Die Wirksamkeit von Gesprächspsychotherapie in empirischen Studien – 269 Weiterführende Literatur – 273
Verfahren zur Messung des Therapieprozesses – 273 D. Höger
10.2.1
10.2.2 10.2.3 10.2.4
Verfahren zur Einschätzung der Interaktion zwischen Therapeut und Patient – 274 Verfahren zur Einschätzung des Ergebnisses von Therapiestunden – 275 Fragebogen zur Erfassung der therapeutischen Beziehung – 276 Hinweise zu Anwendung und Interpretation der Verfahren – 277
D. Höger
10.3.2 10.3.3
E.-M. Biermann-Ratjen 10.4.1 10.4.2
10.4.3 10.4.4 10.4.5
10.1
Wirksamkeit J. Eckert
10.1.1
Wie lässt sich die Wirksamkeit von Psychotherapie feststellen?
Patienten, die eine Gesprächspsychotherapie abgeschlossen haben, können, wie das folgende Beispiel zeigt, in der Regel ziemlich klar sagen, was sich für sie verändert hat. Eine solche Form der Wirksamkeitsfeststellung ist im klinischen Alltag übliche Praxis. Wenn Patient und Therapeut – möglichst übereinstimmend – ausreichende Veränderungen feststellen, wird die Behandlung als erfolgreich betrachtet und abgeschlossen. Aber auch wenn Hunderte von Patientinnen, die an einer Bulimie leiden, nach einer Gesprächs-
– 283
Geschichte und Definition – 283 Theorien der Supervision von Psychotherapie in der akademischen Psychologie – 284 Praxis der Supervision von Psychotherapie – 286 Praxis der Klientenzentrierten Supervision von Psychotherapie – 288 Weiterführende Literatur – 293
psychotherapie solche oder ähnliche Aussagen zum Behandlungserfolg machten wie die Patientin im o. g. Beispiel, würde das nicht als wissenschaftlich fundierter Nachweis der Wirksamkeit von Gesprächpsychotherapie bei der Behandlung von Bulimie gelten. Die Therapieforschung hat sich gegen den idiographischen Forschungsansatz der Geisteswissenschaften und für den nomothetischen der Naturwissenschaften entschieden, d. h. nicht die individuelle Wirklichkeit, sondern allgemeingültige Gesetzmäßigkeiten als Grundlage für die Beurteilung der Wirksamkeit von Psychotherapie zu erforschen. Das nomothetische Forschungsparadigma mit seinen naturwissenschaftlich-experimentell ausgerichteten Forschungsmethoden wird dem komplexen und individuell sehr unterschiedlichen Geschehen Psychotherapie aber nur teilweise gerecht. Auch Carl Rogers, der mit Nachdruck immer wieder forderte, dass die Annahmen und Wirkun-
268
Kapitel 10 · Evaluation und Qualitätssicherung
Fallvignette
Wirksamkeit einer Gesprächspsychotherapie aus Patientinnensicht
10
Was hat eine 70-stündige Gesprächspsychotherapie bei einer Patientin mit Bulimie bewirkt? Die Patientin schreibt auf einem Nachbefragungsbogen zur Frage »Was hat die Psychotherapie für Sie ganz persönlich gebracht? Was ist/ sind für Sie ganz persönlich das/die wichtigste/n Ergebnis/se? »Meine Symptome sind verschwunden. Neben der Tatsache an sich (nicht mehr Fressen + Erbrechen) ist das wichtigste Ergebnis der Therapie, dass meine Gedanken nicht mehr von diesem Thema dominiert werden. Dadurch habe ich Platz/Gedanken zur Verfügung für andere Dinge/Gefühle/Erlebnisse. Meine Konzentrationsfähigkeit für das Leben hat dadurch stark zugenommen und liegt nicht mehr unter einer Art Dunstglocke aus ›Essgedanken‹. Mein Selbstbewusstsein ist stark gestiegen. Ich gehe gelassener mit Problemen um und kann Emotionen besser wahr- und annehmen« (»Lina«, 20.4.05).
gen von Psychotherapie wissenschaftlich zu überprüfen seien, hat sich der naturwissenschaftlichempirischen Forschungsmethodik bedient, ohne jedoch ihre Grenzen zu übersehen: »In unserem Team besteht der Eindruck, dass der logische Positivismus … nicht notwendigerweise der Weisheit letzten Schluss darstellt. Vor allem nicht in einem Bereich (gemeint ist die Psychotherapie, Anmerkung d. Verf.), in dem das Phänomen der Subjektivität solch eine wichtige und zentrale Rolle spielt. … Gibt es eine Sicht, … die die Werte des logischen Positivismus und die von ihm geförderten wissenschaftlichen Fortschritte bewahrt, aber dennoch breiteren Raum lässt für die existierende subjektive Person, die in unserem Wissenschaftssystem das Kernstück bildet?« (Rogers, 1959b/1987, S. 76) Die Einwände gegen die Anwendung des »pharmakologischen Forschungsmodells in der Psychotherapie-Forschung« (Revenstorf, 2005; Wampold, 2001)
sind geblieben, zugleich werden aber auch Forschungsalternativen aufgezeigt (Kriz, 2003, 2004). In der Psychotherapieforschung werden zwei Arten von Wirksamkeit unterschieden: Die Effizienz (»efficacy«) und die Effektivität (»effectiveness«). Definition Unter Effizienz versteht man die Wirksamkeit eines psychotherapeutischen Verfahrens unter kontrollierten Studienbedingungen, unter Effektivität seine Wirksamkeit unter Praxisbedingungen.
Als methodischer »Goldstandard« zum Nachweis der Wirksamkeit eines Therapieverfahrens unter Studienbedingungen (»Laborwirksamkeit«) gilt das Kontrollgruppen-Design (»Randomized Controlled Trial«, RCT, 7 Übersicht).
Kriterien für ein Kontrollgruppen-Design (RCT) 5 Repräsentative Stichprobe 5 Mit expliziten Ein- und Ausschlusskriterien 5 Stichprobengröße von mindestens 25 Patienten pro Designzelle 5 Manualisierte Therapie mit festgelegten Rahmenbedingungen 5 Randomisierte Zuweisung der Patienten zur Experimental- und Kontrollgruppe 5 Standardtherapie als Kontrollgruppe oder 5 Warteliste als Kontrollgruppe oder 5 Nicht erkennbares Placebo als Kontrollbedingung 5 Blinde Rater bzw. minimal: therapeutenunabhängige Erfolgsbeurteilung 5 Hinreichend langer Katamnesezeitraum (sechs bis zwölf Monate bzw. ein bis zwei Jahre) (nach Chambless & Hollon, 1998 und Buchkremer & Klingberg, 2001)
Die Kritik an diesen Kontrollgruppen-Studien weist vor allem darauf hin, dass die Patienten, die an einer
269 10.1 · Wirksamkeit
solchen Untersuchung teilnehmen, nicht repräsentativ sind für die Patienten, die in der Praxis von Psychotherapeuten auftauchen. Die häufigsten Gründe, warum Patienten nicht an einer Therapiestudie teilnehmen, sind in der Übersicht aufgelistet.
Gründe, warum Patienten nicht an einer RCT-Studie teilnehmen wollen 5 Sie wollen geheilt und nicht beforscht werden. Sie finden die vielen zeitaufwändigen Untersuchungen lästig und überflüssig. 5 Sie möchten eine bestimmte Behandlung haben und würden die Kontrollbedingung ablehnen. 5 Für sie kommt eine Kontrollbedingung »Wartegruppe« nicht in Frage, weil sie psychisch so unter Druck sind, dass sie sofort Hilfe brauchen. 5 Sie können sich nicht auf die Bedingung einlassen, dass die Behandlung z. B. nach 25 Sitzungen definitiv abgeschlossen sein soll und sie sich bei Bedarf einen anderen Therapeuten suchen müssten.
Gründe, warum Forscher Patienten nicht in eine RCT-Studie aufnehmen 5 Die Patienten haben zwar die Störung, um die es bei der Prüfung der Wirksamkeit einer bestimmten Behandlung gehen soll, aber außerdem noch andere Störungen, z. B. eine Persönlichkeitsstörung oder eine Abhängigkeitserkrankung. Solche Komorbiditäten sind in der Praxis die Regel, der monosymptomatische Patient, der für die Studie gebraucht wird, bildet die Ausnahme. 5 Sie sind bereits wegen der in Rede stehenden Störung vorbehandelt worden. 5 Sie sind zu alt. 5 Sie nehmen zusätzlich Medikamente. 5 Sie sind noch anderenorts in einer Psychotherapie.
Diese Gründe, die zu einer starken Selektion unter den Patienten führen, beeinträchtigen die Übertragbarkeit der Behandlungsergebnisse auf die Grundgesamtheit aller Patienten mit der Störung, um die es
10
bei der Prüfung der Wirksamkeit der Behandlung gegangen ist. RCT-Studien zeichnen sich durch eine in der Regel hohe interne, aber mangelhafte externe Validität aus. Viele Therapieforscher sehen diese Grenzen der RCT-Studien und schlagen deshalb ein gestuftes Vorgehen bei der Prüfung der Wirksamkeit von Psychotherapie vor: Nach einer Konzeptbildung (Phase I) werden zunächst nichtkontrollierte Studien (Phase II) durchgeführt. Haben dann auch RCTStudien die Wirksamkeit nachgewiesen (Phase III), werden Anwendungsstudien unter Praxisbedingungen, sog. naturalistische Studien, durchgeführt (Phase IV; Buchkremer & Klingberg, 2001). Naturalistische Studien zeichnen sich in der Regel durch eine hohe externe, aber mangelhafte interne Validität aus.
10.1.2
Die Wirksamkeit von Gesprächspsychotherapie in empirischen Studien
Einer der ersten empirischen Nachweise für die Effizienz von Klientenzentrierter Psychotherapie wurde von Rogers und Dymond in einer berühmt geworden Studie bereits 1954 vorgelegt. Diese Studie wurde berühmt, weil sie aufgrund ihrer Konzeption (z. B. Einsatz von Kontrollgruppe und Eigenwartegruppe) und der eingesetzten Methodik (z. B. dem Verfahren adäquate Therapieprozessmessinstrumente, wie ein Q-Sort zur Messung des Selbstkonzepts) einen »Meilenstein« in der empirischen Psychotherapieforschung darstellte. Die von Rogers begründete Tradition der empirischen Überprüfung seines Therapiekonzepts wurde von anderen Klientenzentrierten Forschern fortgeführt. Eine Übersichtsarbeit von Meltzoff und Kornreich (1970) führt bis zum Jahre 1959 zwölf methodisch »adäquate Studien mit eindeutig positiven Therapieergebnissen« auf, darunter vier klientenzentrierte. In der bis dahin umfangreichsten Metaanalyse von klinisch relevanten kontrollierten psychotherapeutischen Wirksamkeitsstudien fassen Grawe, Donati und Bernauer (1994, S. 134) zusammen: »Vergleicht man die Ergebnistabellen für die Prä-Post-Vergleiche und die Kontrollgruppen6
270
Kapitel 10 · Evaluation und Qualitätssicherung
Vergleiche mit den analogen Tabellen zu den meisten anderen Therapieformen, dann muss man der Gesprächspsychotherapie eine sehr überzeugend nachgewiesene Wirksamkeit bescheinigen. Die Ergebnisse sind bemerkenswert, wenn man an das Spektrum an Störungen denkt, auf die Gesprächspsychotherapie angewandt wurde, und an die relative kurze Therapiedauer, in der die Effekte erreicht wurden.«
10
Greenberg, Elliott und Lietaer (1994) gehen in einer Metaanalyse der Frage nach, ob Klientenzentrierte Psychotherapie in ihrer Wirksamkeit anderen Verfahren über- oder unterlegen ist. Sie vergleichen die Wirksamkeit von klientenzentrierten Therapieverfahren mit kognitiven und behavioralen Verfahren und errechnen eine mittlere Effektstärkendifferenz von 0,28 zu Ungunsten der klientenzentrierten Verfahren. In den Vergleich wurden außer der klassischen Klientenzentrierten Psychotherapie auch Weiterentwicklungen, z. B. die »Process-Experiential Psychotherapy« (7 Kap. 20), einbezogen. Werden nur die »directive experiential treatments« mit den kognitiv-behavioralen Verfahren verglichen, kehrt sich die Effektstärkendifferenz zu Gunsten der Klientenzentrierten Verfahren um und wächst auf 0,40 an (a. a. O., S. 515). Diese im »Handbook of Psychotherapie and Behavior Change« veröffentlichte Metaanalyse wird von Elliott (2002) auf den neuesten Stand gebracht, wobei sich die Zahl der berücksichtigten Studien von 37 auf 86 erhöht, die insgesamt die Daten von 5030 Patienten einschließen. Der Autor fasst die Ergebnisse wie folgt zusammen (7 Kasten). Ein neuerer Überblick über den Stand der Forschung, auch der Wirksamkeitsforschung, in Deutschland findet sich bei Schwab, Eckert und Höger (2003), die zu dem Schluss kommen, dass im Vergleich zu früher weniger geforscht wird und sich daher die Frage stellt, ob die vorliegenden Forschungsergebnisse Auskunft über die Wirksamkeit der heute praktizierten Gesprächspsychotherapie geben können. Äquivalenzparadox. Der oben berichtete Befund,
dass sich im direkten Vergleich die Therapieergebnisse klientenzentrierter Therapien nicht bedeutsam von denen anderer Therapieverfahren unterscheiden, bestätigt zum wiederholten Mal ein als Äquivalenz-
Generelle Wirksamkeit von klientenzentrierten Psychotherapieverfahren 5 Patienten, die mit einem humanistischen Psychotherapieverfahren behandelt worden sind, weisen im Mittel bemerkenswert große Veränderungen auf (mittlere korrigierte Effektstärke: 1,01 mit einer SD von 0,55. Ab einer ES von 0,8 spricht man von großer Effektstärke). 5 Die in der Therapie erzielten Veränderungen sind stabil, sie lassen sich auch noch in der Ein-Jahres-Katamnese nachweisen. 5 In randomisierten klinischen Prüfungen (RCT-Studien) mit unbehandelten Kontrollgruppenpatienten zeigen die Patienten, die mit einem humanistischen Therapieverfahren behandelt worden sind, im Vergleich zu den nicht behandelten Patienten substanziell mehr Veränderungen. 5 In randomisierten klinischen Prüfungen mit Kontrollgruppenpatienten, die in einem anderen Verfahren behandelt worden sind, d. h. in sog. Therapievergleichsstudien, zeigt sich die Wirksamkeit der humanistischen Therapieverfahren generell äquivalent der Wirksamkeit von nicht humanistischen Verfahren, einschließlich der kognitiv-behavioralen Therapieverfahren.
paradox bekanntes Phänomen: Es gibt kein Psychotherapieverfahren, das im Mittel und durchgängig bei allen Störungsbildern wirksamer ist als alle anderen Verfahren. Auf dieses Phänomen stießen als Ergebnis einer Metaanalyse vergleichender Therapiestudien Luborsky, Singer und Luborsky (1975). Da die Autoren es mit dem Ausspruch »Everybody has won and all must have prizes« des Dodo-Vogels aus dem Kinderbuch »Alice im Wunderland« kennzeichneten, wurde das »dodo-bird verdict« zu einer Metapher in der Psychotherapieforschung. Spätere Metaanalysen schienen das Verdikt in Frage zu stellen. Es gab plötzlich doch Therapieverfahren mit einer signifikant größeren Wirksamkeit als andere Verfahren. Diese Unterschiede fielen jedoch in sich zusammen, als ein weiterer Einflussfaktor in Rechnung gestellt wurde: Die »allegiance« des Untersuchers, d. h. seine
271 10.1 · Wirksamkeit
Parteilichkeit durch Bindung an eines der untersuchten Therapieverfahren. Wird diese bei der Auswertung berücksichtigt, werden die vorher errechneten Unterschiede zwischen den Verfahren insignifikant (Luborsky et al.,1999, 2001). Neuere Metaanalysen (Wampold, 2001) bestätigen erneut das Dodo-BirdVerdikt, so dass zur Frage der Wirksamkeitsunterschiede zwischen den Therapieverfahren Lambert und Ogles (2004) folgendes Resümee ziehen: Wenn wissenschaftlich fundierte Psychotherapieverfahren von in diesen Verfahren gut ausgebildeten Therapeuten durchgeführt werden, die von der therapeutischen Wirksamkeit des von ihnen jeweils angewandten Verfahrens überzeugt sind, d. h. wenn »Bona-fideTherapien« untersucht und miteinander verglichen werden, dann ergeben sich bezüglich Effektivität und Effizienz überraschend geringe Unterschiede. Dennoch profitieren manche Patienten von einer bestimmten Therapie mehr als von einer anderen. Sprichwörtlich lässt sich dieser Zusammenhang so darstellen: Es führen auch in der Psychotherapie viele Wege nach Rom, aber nicht jeder Patient kann auf jedem der angebotenen Wege gleich gut gehen. Therapiedosis und Wirkung. Die Wirkung von Psy-
chotherapien ist von mehreren Faktoren abhängig. Ein Faktor ist die sog. Therapiedosis. McNeilly und Howard (1991; Lueger, 1995) fanden eine negativ beschleunigte Kurve als Funktion zwischen Wirkung und Dosis, d. h. der »Therapiegewinn« am Anfang, während der ersten 10–15 Sitzungen der Therapie, ist relativ groß und flacht dann deutlich ab. Phasenhafte Veränderungen. Therapeutische Veränderungen verlaufen in Phasen. Es konnte empirisch nachgewiesen werden, dass sich in einer Psychotherapie häufig zunächst das Wohlbefinden des Patienten, dann die Symptome und als letztes das Niveau des Funktionierens im Alltag in verschiedenen Bereichen, z. B. die Beziehungsfähigkeit, verändern (Lueger, 1995). Diese Gesetzmäßigkeiten scheinen auch für die Gesprächspsychotherapie zu gelten. Differenzielle Wirkung. Dass Gesprächspsychotherapie in quantitativer Hinsicht im Mittel nicht besser oder schlechter ist als andere psychotherapeutische Verfahren, wurde oben bereits ausgeführt. Unterschiede im Menschenbild und in der Therapietheorie
10
lassen aber vermuten, dass es qualitative Wirksamkeitsunterschiede gibt. Die folgende Übersicht listet solche Unterschiede auf, die empirisch fundiert sind. Quantitative Wirksamkeitsunterschiede von Gesprächspsychotherapie und anderen Therapieverfahren 5 »Gesprächspsychotherapeutisch behandelte Patienten (Phobiker) beurteilen im Gegensatz zu Klienten, die mit einer Breitspektrumverhaltenstherapie behandelt werden, ihren Therapieerfolg nicht in Abhängigkeit davon, ob sich die Symptomatik, deretwegen sie die Behandlung begonnen haben, verändert oder nicht (Grawe, 1976; Plog 1976). 5 Gesprächspsychotherapiepatienten werden häufiger als Patienten, die mit einer psychodynamischen Kurztherapie behandelt worden sind, als gebessert eingestuft, obwohl bei ihnen keine »Einsicht« (im Sinne der Psychoanalyse) in die psychodynamischen Zusammenhänge ihrer Beschwerden erkennbar ist. Umgekehrt lässt sich bei vielen psychodynamisch behandelten Patienten »Einsicht« feststellen, die nicht mit einer sichtbaren Besserung einhergeht. Eine solche Ergebniskonstellation findet man bei Gesprächspsychotherapiepatienten nicht (Meyer, 1990). 5 Gruppenpsychotherapiepatienten unterscheiden sich in der Beurteilung ihres Therapieerfolges in Abhängigkeit davon, ob die Behandlung psychoanalytisch oder gesprächspsychotherapeutisch orientiert war. Der Bezugspunkt der Beurteilung des Therapieerfolges liegt für psychoanalytisch behandelte Patienten in der inneren und äußeren Autonomie, die sie durch die Behandlung gewonnen oder nicht gewonnen haben. Hingegen liegt der Bezugspunkt der Beurteilung des Therapieerfolges bei gesprächspsychotherapeutisch behandelten Patienten in der besseren Kontakt- und Beziehungsfähigkeit, die sie im Behandlungsverlauf erworben oder nicht erworben haben (Eckert & Biermann-Ratjen, 1985)«. (Aus Biermann-Ratjen, Eckert & Schwartz, 2003, S. 68 f.)
272
10
Kapitel 10 · Evaluation und Qualitätssicherung
Psychotherapieforscher und Psychotherapeuten sind sich seit langem darüber einig, dass Psychotherapie differenziell wirkt. Gemessen am Nachdruck, mit dem diese Überzeugung vertreten wird, gibt es aber nur relativ wenige empirische Belege für sie. Das liegt aber nicht daran, dass solche Belege nicht gefunden wurden, sondern dass entsprechende Untersuchungen kaum durchgeführt worden sind, auch wenn von »intensiven« – wenn auch vergeblichen – Bemühungen der empirischen Forschung gesprochen wird (Grawe, 2005, S. 120). Es gibt weltweit keine drei methodisch adäquaten Therapievergleichsstudien, deren Untersuchungsdesign geeignet wäre, die differenzielle Indikationsfrage zu beantworten. Ein Untersuchungsplan, der eine Antwort auf diese sog. differenzielle Indikationsfrage – Bei welchem Patienten mit welcher psychischen Störung ist welche Behandlung durch welchen Psychotherapeuten mit welcher Zielsetzung wie wirksam? – ermöglichen soll, ist zwar schon lange vorhanden (Kiesler, 1966, 1969), aber er wird vor allem aus Kosten- und Zeitgründen eine Utopie bleiben (Eckert, 2004; Frohburg, 2004a). Die vier Hauptfaktoren der differenziellen Wirkung von Psychotherapie sind inzwischen bekannt und im Allgemeinen Modell für Psychotherapie (AMP; Kap. 8.4) zusammengefasst: 4 das Behandlungsmodell des Therapeuten, 4 die Störung des Patienten, 4 die Person des Therapeuten und 4 die Person des Patienten. Für die Praxis der Psychotherapie ist die differenzielle Wirkung von Psychotherapie bei der Indikationsstellung (7 Kap. 8) zu berücksichtigen. Als Gesprächspsychotherapeut prüft man zunächst die »Ansprechbarkeit des Patienten für das gesprächspsychotherapeutische Beziehungsangebot«. Ist diese nicht oder nicht ausreichend gegeben, sucht man auf der Grundlage des AMP, welches Verfahren und welcher Therapeut besser zum Patienten und seiner Störung »passen«. Langzeitwirkung. Während die Effizienz von klien-
tenzentrierter Psychotherapie als sehr gut belegt angesehen werden kann, gibt es für den Nachweis der Effektivität nur wenige empirische Befunde. Es gibt aber Grund zu der Annahme, dass RCT-Studien die
Wirksamkeit von Gesprächspsychotherapie eher unterschätzen. In der o. g. Metaanalyse von Elliott (2002) betrug die durchschnittliche Dauer der untersuchten Therapien 21,9 Sitzungen (SD 21,7; Range 2–100). Regulär abgeschlossene ambulante Gesprächspsychotherapien umfassen in Deutschland im Mittel aber 69 Sitzungen in einem Zeitraum von durchschnittlich 25 Monaten. Es ist anzunehmen, dass Behandlungen, die nur rund 1/3 der in der Praxis aufgewendeten Zeit brauchen, das Wirksamkeitspotenzial des Verfahrens nicht ausschöpfen und so die tatsächliche Wirksamkeit, d. h. die Effektivität des Verfahrens, unterschätzt wird (Biermann-Ratjen et al., 2003, S. 62 f.). Einen indirekten Beleg für diese Annahme liefern die Daten der Elliott’schen Metaanalyse: Nach durchschnittlich 22 Sitzungen ist das Effektstärkenmaß für das globale Rating des Therapieerfolges mit ES=1,83 deutlich höher als das für die Veränderungen bezüglich Selbstachtung und Selbstvertrauen: ES=0,83 (Elliott, 2002, S. 64, 7 Tab. 2.2). ! Für die Praxis der Gesprächpsychotherapie bedeuten diese Ergebnisse, dass die Therapiedauer abhängig von den intendierten Veränderungen ist. Wenn nicht nur eine Symptomentlastung, sondern auch eine Persönlichkeitsveränderung angestrebt wird, dann sind mehr als 25 Sitzungen erforderlich.
Gesprächspsychotherapie hat eine ausgezeichnete Langzeitwirkung – auch ohne weitere Behandlung. Eine Metaanalyse von Katamnesestudien (Frohburg, 2004b) belegt, dass die in der Therapie erreichten Veränderungen zum Katamnesezeitpunkt – mindestens drei Monate, am häufigsten ein halbes Jahr und länger nach Therapieabschluss – noch erhalten sind, d. h. die Therapieeffekte sind konstant. In der Hälfte der Studien kann im Katamnesezeitraum ein weiterer Veränderungszugewinn verzeichnet werden, d. h. es kommt zu weiteren positiven Entwicklungen in den Effektmerkmalen. ? Übungsfragen 5 Was ist eine RCT-Studie? 5 Welche Kritik wird gegenüber RCT-Studien erhoben? 5 Welche Nachteile haben »naturalistische Studien«? 5 Was besagt das sog. Äquivalenzparadox?
6
273 10.2 · Verfahren zur Messung des Therapieprozesses
5 Welchen Einfluss nimmt die »Therapiedosis« auf die Wirkung von Psychotherapie? 5 Nennen Sie mindesten einen qualitativen Unterschied zwischen den Wirkungen von GPT und einem anderen Therapieverfahren. 5 Womit wird die »gute Langzeitwirkung« von Gesprächspsychotherapie begründet?
10.1.3
Weiterführende Literatur
Kapitel III in: Biermannn-Ratjen, E.-M., Eckert, J. & Schwartz, H.-J. (2003). Gesprächspsychotherapie. Verändern durch Verstehen (9. Aufl.). Stuttgart: Kohlhammer. Lambert, M. J. (2004). Bergin and Garfield’s Handbook of Psychotherapy and Behavior Change (5th Ed.). New York: Wiley. Schwab, R., Eckert, J. & Höger, D. (2003). Zur Situation der Gesprächspsychotherapie (GPT) in Forschung und Lehre in Deutschland. PERSON. Internationale Zeitschrift für Personzentrierte und Experienzielle Psychotherapie und Beratung, 7, 101–114.
10.2
Verfahren zur Messung des Therapieprozesses D. Höger
Verfahren zur Messung des Therapieprozesses sind heute ebenso wie die Methoden zur Überprüfung des Therapieergebnisses (7 Kap. 10.3) Bestandteil der Qualitätskontrolle und Qualitätssicherung psychotherapeutischer Tätigkeit. Ursprünglich stammt der Begriff »Qualitätssicherung« aus der industriellen Fertigung und dem industriellen Normungswesen, die, als dem Lebensbereich »Wirtschaft, Technik, Wissenschaft und Dienstleistung« angehörend, als Geltungsbereich von Eindeutigkeit und Klarheit angesehen werden, im Unterschied zum Lebensbereich »Kunst und Freizeit«, in dem Gefühle und Individualismus dominieren. Es galt, allgemein verbindliche Definitionen und Verfahrensweisen zu vereinbaren, um die Güte von Produkten zu beurteilen, um dann deren optimale Güte zu gewährleisten. In die Psychotherapie hat der Begriff »Qualitätssicherung« ab 1989 im Zuge des Gesetzes zur Strukturreform im Gesundheitswesen (»Gesundheitsreform-Gesetz«, GRG) Eingang gefunden. Dieses Gesetz sah Maß-
10
nahmen zur Qualitätssicherung medizinischer Leistungen und damit auch für den Bereich »Psychotherapie« (Kordy, 1992) vor. Dies gab den Anstoß, sich um geeignete Verfahren in diesem Bereich zu kümmern (Grawe & Braun, 1994; Härter, Linster & Stieglitz, 2003; Laireiter, 1994; Rinne & Mittag, 1989). Über geeignete Messverfahren zum Prozess und Ergebnis von Psychotherapie informieren u. a. Brähler, Schumacher und Strauß (2002), Strauß & Schumacher (2005) sowie speziell für die Gesprächspsychotherapie Tscheulin (2001). Inhaltlich gesehen, wenn auch aus anderen Gründen, gehören wesentliche Prinzipien der Qualitätssicherung und -kontrolle zur Tradition der Gesprächspsychotherapie. Der eine Grund besteht in dem Bemühen, die Herkunft der Gesprächspsychotherapie aus der empirisch-wissenschaftlichen Forschung in die Praxis zu übertragen. In engem Zusammenhang damit steht der andere Grund: die Beurteilung des Therapieprozesses sollte nicht der subjektiven Beliebigkeit des Therapeuten überlassen bleiben. Eine Konsequenz war, dass standardisierte Instrumente entwickelt wurden, mit denen wesentliche Merkmale therapeutischer Prozesse und Ergebnisse eingeschätzt werden können (für die Messung der Ergebnisse 7 Kap. 10.3). Eine andere war die kollegiale Supervision, der sich Gesprächspsychotherapeuten während ihres ganzen Berufslebens unterziehen. Damit sind sie an den Austausch über ihre Tätigkeit an eine wissenschaftlichen Standards verpflichtete Kollegenschaft angebunden (7 Kap. 10.4). Zur Tradition der Gesprächpsychotherapie gehört auch, dass die therapeutischen Gespräche auf Tonband aufgenommen werden. Diese Aufzeichnungen machen die Gespräche der Reflexion in einem Ausmaß zugänglich, das mit Gedächtnisprotokollen nicht zu erreichen ist. Sie bilden auch die Grundlage für die unmittelbare Einschätzung von Merkmalen der Interaktion zwischen Therapeut und Patient, die ein Indiz für die Qualität des therapeutischen Prozesses sind. Voraussetzung dafür ist das schriftliche Einverständnis des Patienten. Ihm wird die vertrauliche Behandlung zugesichert und er wird darüber informiert, dass die Tonaufnahmen der Eigenkontrolle des Therapeuten dienen und dass sie ggf. für die Supervision des Therapeuten anderen Therapeuten anonym zugänglich gemacht werden können.
274
Kapitel 10 · Evaluation und Qualitätssicherung
Oft wird gegen solche Aufnahmen eingewendet, die Patienten würden sich dagegen wehren. Erfahrungsgemäß stimmt das nicht, wenn man von ganz wenigen Ausnahmen absieht. Es scheint sich eher um ein Problem für den Therapeuten als für den Patienten zu handeln. Seitens des Patienten kann die Besorgnis eine wesentliche und durchaus nachvollziehbare Rolle spielen, dass er die Kontrolle über das von ihm Gesagte verliert. Ihr lässt sich in aller Regel mit einer Vereinbarung abhelfen: Das Tonbandgerät wird in seiner Reichweite aufgestellt, damit er jederzeit die Möglichkeit hat, es abzustellen. Um ihm dies
zu erleichtern, wird die Stopp-Taste mit einem großen roten Punkt (Aufkleber) versehen. Erfahrungsgemäß wird davon nur selten Gebrauch gemacht.
10.2.1
Verfahren zur Einschätzung der Interaktion zwischen Therapeut und Patient
Tonbandaufnahmen ermöglichen es, den therapeutischen Prozess einzuschätzen. Üblicherweise geschieht dies an Stichproben zu je fünf Minuten Länge
. Tab. 10.1. Experiencing-Skala zur Einschätzung der Selbstauseinandersetzung des Patienten (nach Dahlhoff & Bommert, 1978) Stufe
Beschreibung
1
Der Patient schildert Ereignisse in allgemeiner, unpersönlicher Weise. Seine Äußerungen sind von unbeteiligter Art, so als ob sie von einem Fremden stammen. Eine persönliche Anteilnahme an seinen Mitteilungen ist nicht ersichtlich.
2
Der Patient lässt in seinen Äußerungen eine persönliche Rolle erkennen, jedoch nimmt er auf sein Fühlen nur indirekt Bezug, indem er es zum Beispiel zur näheren Verdeutlichung eines Sachverhalts heranzieht. Gefühle und persönliche Reaktionen werden eher als entfernte, externe Ereignisse behandelt und charakterisiert, und es wird nur indirekt oder abstrakt darauf Bezug genommen. Ein intellektuelles Interesse bzw. ein allgemeines, oberflächliches Beteiligtsein ist vorhanden, jedoch ist die Bezugnahme des Patienten auf sein Fühlen allgemein-abstrakt oder distanziert-versachlicht und nicht auf ein tieferes Eindringen in die persönlichen Bedeutungen ausgerichtet.
3
Der Patient bezieht sich zwar auf sein Fühlen und Erleben, jedoch werden diese überwiegend als Verhaltensweisen oder Situationen dargestellt oder als in enger Verknüpfung mit diesen Verhaltensweisen und Situationen stehend geschildert. Die Mitteilungen über das Fühlen und Erleben erfolgen gleichsam von einem äußeren Bezugspunkt des Patienten. Eine Bezugnahme auf das Fühlen und Erleben erfolgt in sehr begrenztem Umfang, wird nur knapp zum Ausdruck gebracht und nicht tiefergehend bearbeitet.
4
Der Patient bezieht sich in seinen Äußerungen auf seinen inneren Bezugsrahmen. Er versucht, diesen zur Grundlage seiner Mitteilungen zu machen. Er betrachtet Ereignisse, Situationen und sein Fühlen nicht mehr von außen, sondern er entwickelt eine innerlich gefühlte Bedeutung, auf die er in seinen Mitteilungen Bezug nimmt. Bei der Beschreibung seiner Gefühle der Vergangenheit und Gegenwart schöpft der Patient aus diesem momentanen Erleben und Beteiligtsein. Er bemüht sich, sein Fühlen nicht nur zu schildern, sondern auch zu erarbeiten, was diese Gefühle für ihn bedeuten. Oft besteht auch der Eindruck, dass mehr im Patienten vorgeht, als er im Moment erfassen kann, es sind noch nicht ausformulierbare Erlebnisinhalte vorhanden.
5
Der Patient konzentriert sich auf seinen inneren Bezugsrahmen; dabei werden innere Erlebnisse weiterverarbeitet, erforscht und verdeutlicht. Jetzt kann sich der Patient auf bisher vage, nicht ausformulierbare aber bedeutsame Aspekte seines unmittelbaren Erlebens beziehen und kann diese allmählich differenzieren. Er gewinnt einen detaillierten Bezug zu seinen aktuellen Erlebnisvorgängen.
6
Der Patient erfährt durch die Arbeit an seinem unmittelbaren Erleben Gefühlsänderungen oder eine Verlagerung gefühlter Bedeutungen. Einzelne aktuelle Erlebnisinhalte ändern sich in ihrer Bedeutung für den Patienten oder werden ihm eigentlich erst klar; so kann er vorher unklare bzw. bruchstückhafte Erlebnisinhalte durch sein unmittelbares Erleben für sich deutlich machen. Der Patient ist in der Lage, diese Bedeutungsänderungen zu überdenken und zu verarbeiten. Er macht sie zur Grundlage für seine erlebnismäßig erarbeiteten Absichten und Vorstellungen.
7
Der Patient verfügt über ein klares Bild von seinem unmittelbar ablaufenden Erleben und kann dieses in seinen Äußerungen vermitteln. Er ist in der Lage, sich in seinem wechselnden Erleben zu bewegen, die Bedeutung des Erlebens für ihn selbst zu verstehen und Bedeutungsänderungen in seinen Bezugsrahmen zu integrieren. Sein unmittelbares aktuelles Erleben, der Wechsel von Bedeutungsschwerpunkten und auftretende Bedeutungsänderungen sind ihm eine vertrauenswürdige Basis für Änderungen in seinem Erleben und Verhalten.
10
275 10.2 · Verfahren zur Messung des Therapieprozesses
10
. Tab. 10.2. Skala zur Einschätzung des Ausmaßes der »Verbalisierung emotionaler Erlebnisinhalte (VEE)« durch den Psychotherapeuten (nach Tausch, Eppel, Fittkau & Minsel, 1969) Stufe
Beschreibung
1
Der Psychotherapeut spricht die vom Patienten ausgedrückten persönlich-emotionalen Inhalte des Erlebens nicht an. Er erwähnt auch nicht die vom Patienten vorgebrachten äußeren Sachverhalte. Seine Äußerung besteht beispielsweise aus einer Belehrung oder Ermahnung.
2
Die Äußerung des Psychotherapeuten greift keine der vom Patienten ausgedrückten persönlich-emotionalen Inhalte des Erlebens auf. Sie beschränkt sich auf irgendwelche vom Patienten vorgebrachten äußeren Sachverhalte.
3
Die Äußerung des Psychotherapeuten verbalisiert einen oder einige nebensächliche der vom Patienten ausgedrückten Erlebnisinhalte. Sie erwähnt nicht diejenigen Erlebnisinhalte, auf die der Patient in seiner Äußerung das Hauptgewicht legte; z. B. bezieht sich der Psychotherapeut ausschließlich auf einen Inhalt, den der Patient nur als Beispiel für den Hauptinhalt des Erlebens brachte.
4
Die Äußerung des Psychotherapeuten verbalisiert einen Teil der wesentlichen, vom Patienten ausgedrückten persönlich-emotionalen Inhalte des Erlebens. Es fehlen aber andere wesentliche Erlebnisinhalte.
5
Die Äußerung des Psychotherapeuten verbalisiert den überwiegenden Teil der wesentlichen, vom Patienten ausgedrückten persönlich-emotionalen Inhalte; es sind aber noch nicht alle wesentlichen Erlebnisinhalte berücksichtigt.
6
Die Äußerung des Psychotherapeuten enthält in genauer Form alle wesentlichen vom Patienten geäußerten persönlich-emotionalen Inhalte des Erlebens.
zu Beginn, in der Mitte und am Ende einer Therapiestunde. Was die Seite des Patienten betrifft, so steht das Ausmaß, in dem er sich in seinen Äußerungen mit seinem eigenen Erleben beschäftigt, seine Selbstexploration (SE), im Zusammenhang mit einer erfolgreichen Therapie. Sie kann mittels der SE-Skala nach Tausch, Eppel, Fittkau und Minsel (1969) eingeschätzt werden, die in 7 Kap. 9.3.3 dargestellt ist. Eine weitere Möglichkeit, die Art der Selbstauseinandersetzung des Patienten einzuschätzen, bietet die von Klein, Mathieu, Gendlin und Kiesler (1969) entwickelte und von Dahlhoff und Bommert (1978) ins Deutsche übersetzte Experiencing-Skala (. Tab. 10.1). »Experiencing« bezeichnet eine spezifische Art des Selbsterlebens, die nach Gendlin (1962) mit wirksamer Psychotherapie eng zusammenhängt (7 Kap. 19). Die Selbstexploration des Patienten (7 oben) hängt außerdem eng zusammen mit dem Grad, in dem der Therapeut in seinen Äußerungen auf die Gefühle des Patienten empathisch eingeht. Auch hierfür haben Tausch et al. (1969) eine Skala entwickelt, mit der das Ausmaß der »Verbalisierung emotionaler Erlebnisinhalte (VEE)« durch den Psychotherapeuten eingeschätzt werden kann (. Tab. 10.2). Für einen günstigen therapeutischen
Prozess ist die Skalenstufe 4, möglichst eine höhere, anzustreben.
10.2.2
Verfahren zur Einschätzung des Ergebnisses von Therapiestunden
Die Interaktion zwischen Psychotherapeut und Patient wird bei den genannten Verfahren vom Therapeuten selber oder von neutralen Beobachtern eingeschätzt. In Forschung und Praxis werden jedoch auch Verfahren benutzt, mit denen der Patient seine Einschätzung der soeben vergangenen Therapiesitzung (»post session outcome«) wiedergibt. Diese Einschätzungen durch den Patienten selbst haben sich in der Psychotherapieforschung wiederholt als zuverlässiger Prädiktor des Therapieerfolges erwiesen (Ambühl, 1993; Elliott & James, 1989). Sie sind ein Indikator für die Ansprechbarkeit des Patienten, d. h. für seine Aufnahmebereitschaft für die therapeutischen Interventionen. Diese Aufnahmebereitschaft ist eine der wesentlichen Bedingungen für den Therapieerfolg (Ambühl, 1993; Eckert, Bolz & Pfuhlmann, 1979; Eckert, Schwartz & Tausch, 1977; 7 Kap. 8). Ein solcher »Stundenbogen« wurde zunächst von Eckert (1976) entwickelt und wie auch von Am-
276
Kapitel 10 · Evaluation und Qualitätssicherung
. Tab. 10.3. Die Skalen des Bielefelder Klienten-Erfahrungsbogens BIKEB
10
Skala
Beschreibung
1
Zurechtkommen mit dem Therapeuten/der Therapeutin. Erleben des Therapeuten als verständnisvollen, fürsorglichen und vertrauenswürdigen Beziehungspartner versus Schwierigkeiten bei der Interaktion mit dem Therapeuten. Beispielitem: »Heute fühlte ich mich bei meinem Therapeuten/meiner Therapeutin gut aufgehoben.«
2
Zurechtkommen mit sich selbst. Zugänglichkeit der eigenen Gedanken und Gefühle versus Innere Blockaden und/oder Verwirrung. Beispielitem: »Es fiel mir heute leicht, mich selbst, meine Probleme und mein Erleben ins Auge zu fassen.«
3
Veränderungserleben. Erleben von Veränderungen, neue Einsichten in Zusammenhänge des Verhaltens und Erlebens versus Stagnation des therapeutischen Prozesses. Beispielitem: »Durch das heutige Gespräch bin ich zu einer anderen Sicht meiner Probleme gekommen.«
4
Sicherheit und Zuversicht. Zuversicht und Vertrauen in die eigenen Fähigkeiten sowie in die Überwindbarkeit von Schwierigkeiten und Problemen. Beispielitem: »In diesem Gespräch habe ich mehr innere Sicherheit gewonnen.«
5
Beruhigung. Erleben von Beruhigung, verminderter Erregung und Nervosität versus Beunruhigung und vermehrter Erregung und Nervosität. Beispielitem: »Durch das heutige Gespräch bin ich innerlich irgendwie ruhiger geworden.«
6
Körperliche Entspannung versus Erschöpfung. Körperliches Erleben von Erleichterung, Erholung und Entspannung versus körperliche Anspannung und Erschöpfung. Beispielitem: »Nach dieser Stunde fühle ich mich körperlich erholt und entspannt.«
bühl & Grawe (1988) vorgeschlagen in der Psychotherapieforschung eingesetzt (Ambühl 1993; Grawe, Caspar & Ambühl, 1990). Aus dem zunächst speziell für die Gesprächspsychotherapie im Rahmen einer Dissertation entworfenen Fragebogen von Eckert entwickelten Höger und Eckert (1997) den Bielefelder Klienten-Erfahrungsbogen (BIKEB)1. Er besteht aus sechs faktorenanalytisch begründeten Skalen mit jeweils vier Items (. Tab. 10.3). Eine Möglichkeit für den Therapeuten, seine eigene Sicht vom Therapieprozess zu überprüfen, besteht darin, dass er am Ende der Therapiestunde zugleich mit dem Patienten den BIKEB so bearbeitet, wie seiner Meinung nach der Patient ihn ausfüllt. Der Vergleich mit den tatsächlichen Werten des Patienten gibt Aufschluss darüber, inwieweit der Therapeut die Sicht des Patienten zutreffend antizipiert. Speziell für die Gruppenpsychotherapie vorgesehen ist der Gruppenerfahrungsbogen (GEB; Eckert, 1996b; Strauß & Eckert, 1994)2. Er besteht 1
2
Der Fragebogen BIKEB ist zusammen mit einem Excel-Arbeitsblatt zur Auswertung in der Homepage der Deutschen Psychologischen Gesellschaft für Gesprächspsychotherapie (DPGG) zum Herunterladen hinterlegt: http://www.dpgg.de. Die revidierte Form GEB-1994-R steht in Biermann-Ratjen, Eckert und Schwartz (2003) S. 215–218.
aus denen des BIKEB inhaltlich analogen Skalen (»Ärger und Kritik«, »Zurückhaltung und Gehemmtheit«, »Lernerfahrungen und Einsichten«, »Selbständigkeit und Optimismus« und »Wohlbefinden«) und zusätzlich solchen, die sich auf das Gruppengeschehen beziehen: »Verbundenheit und Kohäsion« und »Isolation und negative Gruppenstimmung«.
10.2.3
Fragebogen zur Erfassung der therapeutischen Beziehung
Von Luborsky (Alexander & Luborsky, 1986) stammt der Helping Alliance Questionnaire (HAQ), dessen deutsche Fassung Bassler, Potratz und Krauthauser (1995) vorgelegt haben. Obwohl der HAQ bei Bassler et al. speziell in der stationären Psychotherapie verwendet wurde, ist er ebenso für die ambulante Psychotherapie geeignet. Er besteht aus den beiden faktorenanalytisch begründeten Skalen »Beziehungszufriedenheit« und »Erfolgszufriedenheit«. Seine Anwendung ist nach Luborsky nach der dritten Behandlungsstunde vorgesehen (bei Bassler et al. wurde er den Patienten knapp zwei Wochen nach der stationären Aufnahme vorgegeben), damit bei den Patienten eine hinrei-
277 10.3 · Verfahren zur Messung des Therapieergebnisses
chende Erfahrungsgrundlage besteht. Der HAQ kann jedoch auch danach jederzeit angewendet werden, um die Qualität der therapeutischen Beziehung aus der Sicht des Patienten zu überprüfen. Seine prognostische Validität für den Therapieerfolg ist nach den Ergebnissen von Bassler et al. (1995) zwar signifikant, aber numerisch eher gering. Möglicherweise erhöht sie sich bei einer späteren Anwendung oder wenn, um Zufallsschwankungen der Beziehungsqualität auszugleichen, die Ergebnisse wiederholter Anwendungen kombiniert werden. In jedem Falle liefert der HAQ dem Therapeuten Hinweise über den jeweiligen Stand der therapeutischen Beziehung.
? Übungsfragen 5 Woher stammt der Begriff »Qualitätssicherung«? 5 Was waren die Gründe dafür, dass die wesentlichen Prinzipien der Qualitätssicherung zur Tradition der Gesprächspsychotherapie gehören? 5 Welche Verfahren gibt es zur Einschätzung der Interaktion zwischen Therapeut und Patient? 5 Wozu dienen »Stundenbögen«? 5 Weshalb ist es in der täglichen Praxis sinnvoll, wenn der Therapeut (mit Wissen des Patienten) Einblick in die von ihm abgegebenen Beurteilungen des therapeutischen Prozesses erhält?
10.3 10.2.4
Hinweise zu Anwendung und Interpretation der Verfahren
Bei der Anwendung von Verfahren zur Messung des Therapieprozesses erhebt sich die Frage, ob die bei Patienten erhobenen Ergebnisse dem Therapeuten zugänglich gemacht werden sollen oder nicht. Bei wissenschaftlichen Studien mag es sinnvoll sein, um deren Ergebnisse nicht zu beeinflussen, den Therapeuten während der laufenden Therapie über die Einschätzungen seines Patienten nicht zu informieren. In der alltäglichen Praxis hingegen ist es sinnvoll, dass der Therapeut in die Beurteilungen seines Patienten (mit dessen Wissen) Einblick erhält. Zunächst wird der Patient beim Ausfüllen der Fragebögen veranlasst, zu reflektieren, wie er die Therapie erlebt hat. Darüber hinaus hat er mit einem Fragebogen einen indirekten und damit für ihn oft leichteren Weg, sein Erleben der Stunde dem Therapeuten mitzuteilen. Der Therapeut hat seinerseits die Möglichkeit, auffällige Einschätzungen (besonders gute, schlechte, plötzliche Veränderungen oder auch stereotype Einschätzungen) in der Therapie anzusprechen und mit dem Patienten zu bearbeiten. Er sollte vor allem vergleichen, wie weit seine Einschätzung des Patientenerlebens (Fremdurteil) von der des Patienten (Selbstbeurteilung) abweicht. Bei günstigen Therapieverläufen besteht eine recht gute Übereinstimmung, bei ungünstigen schätzt der Therapeut das Patientenerleben deutlich günstiger ein als der Patient selbst.
10
Verfahren zur Messung des Therapieergebnisses D. Höger
Neben der Überprüfung des Therapieprozesses, die Anlass zu Korrekturen des Therapeutenverhaltens geben und so der Optimierung des Therapieergebnisses in der Praxis dienen kann, geben Verfahren, die eben dieses Ergebnis messen, dem Therapeuten Rückmeldung über das Ergebnis seiner Bemühungen. Auch sie sind Bestandteil der Qualitätskontrolle der Dienstleistung Psychotherapie (Härter, Linster & Stieglitz, 2003). Die Vielfalt der verfügbaren und auch verwendeten Instrumente stellt ein Problem für sich dar. Lambert & Hill (1994, zitiert nach Brähler et al., 2002, S. 9) zählten bei einer Übersicht über die in den Jahren zwischen 1983 und 1988 veröffentlichten 348 Psychotherapieergebnisstudien 1430 verschiedene Ergebnismaße, von denen 840 nur in einer einzigen Studie verwendet worden waren. Die Situation ist heute nicht wesentlich besser. Vergleiche zwischen Psychotherapien unterschiedlicher Therapeuten, Therapiemethoden usw. sind allein aus diesem Grund nur begrenzt möglich. Eine Einigung auf eine allgemein verwendete »Kernbatterie« wäre dringend erforderlich. Sie wird zwar oft gefordert, ist aber bisher nicht erfolgt. Eine auch nur annähernd repräsentative ausführlichere Darstellung der vorhandenen Verfahren, die den Testgütekriterien genügen, würde den Rahmen eines Lehrbuches über ein Psychotherapieverfahren sprengen. Gesprächspsychotherapeuten können sich wie alle anderen Psychotherapeuten über
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10
Kapitel 10 · Evaluation und Qualitätssicherung
geeignete Verfahren bei Brähler et al. (2002) sowie Tscheulin (2001) informieren. An dieser Stelle soll nur eine kleine Auswahl davon kurz charakterisiert werden. Die vorhandenen Verfahren unterscheiden sich nach ihrer Methodik bei der Wirksamkeitsmessung. Eine der Möglichkeiten besteht darin, am Ende einer Therapie rückblickend im Vergleich zum Beginn der Therapie einzuschätzen, ob, in welche Richtung und in welchem Ausmaß sich Veränderungen ergeben haben. Neben diesen direkten Verfahren gibt es eine weitere, indirekte Methode der Erfolgsmessung, die auch am häufigsten verwendet wird. Hier wird zu Beginn, am Ende der Therapie und möglichst zu einem weiteren katamnestischen Zeitpunkt – z. B. ein Jahr nach Ende der Therapie – der Zustand des Patienten gemessen und dessen Veränderung anhand der Differenzen zwischen den Werten beurteilt. Außer in dieser grundsätzlichen Methodik unterscheiden sich die vorliegenden Verfahren nach ihrem Inhalt, d. h. nach den Merkmalen des Patienten, auf die sie sich beziehen. Einige erfassen den Bereich der Beschwerden bzw. der Symptome, andere Persönlichkeitsmerkmale, wieder andere spezielle Probleme in den sozialen Beziehungen der Patienten. Außerdem gibt es eine Vielzahl von Verfahren, die einzelne Störungen zum Gegenstand haben (z. B. Essstörungen, Ängste, Depressivität usw.). Letztere sollen hier nicht weiter berücksichtigt werden. Über sie informieren Brähler et al. (2002) und die einschlägige Fachliteratur.
10.3.1
Verfahren zur direkten Erfolgsbeurteilung
Für einen direkten subjektiven Rückblick des Patienten am Ende der Therapie über die von ihm wahrgenommenen Veränderungen ist der Veränderungsfragebogen des Erlebens und Verhaltens (VEV) (Zielke & Kopf-Mehnert, 1978) gedacht. Er liegt auch als Kurzform vor (Kriebel, Paar, Schmitz-Buhl & Raatz, 2001). Ursprünglich für die Messung der Ergebnisse von Gesprächspsychotherapien entwickelt, wurde er inzwischen auch bei anderen Therapieverfahren häufig angewendet. Seine Items erfassen Entspannung, Gelassenheit und Optimismus
auf der einen Seite, Spannung, Unsicherheit und Pessimismus auf der anderen. Anhand der Rohwerte kann in Tabellen abgelesen werden, inwieweit sich aus der Sicht des Patienten im Zeitraum der Therapie statistisch signifikante Veränderungen (Verbesserungen oder Verschlechterungen) ergeben haben.
10.3.2
Verfahren zum Prä-Post-Vergleich
Hier geht es um die Verfahren, die einen Vergleich des Zustandes der Patienten vor (»prä«) und nach der Therapie (»post«) sowie zu einem späteren Zeitpunkt (Katamnese) ermöglichen.
Auf Symptome und Beschwerden bezogene Verfahren Einige der Verfahren zur Messung der Symptome und Beschwerden sind ihrem Schwerpunkt nach auf körperliche Beschwerden gerichtet, andere auf psychische. Vorwiegend körperliche Beschwerden erfasst die Freiburger Beschwerdenliste (FBL-R) von Fahrenberg (1994). Ihre Skalen sind faktorenanalytisch begründet und messen die Intensität von Beschwerden in den Bereichen »Allgemeinbefinden«, »Müdigkeit«, »Herz-Kreislauf«, »MagenDarm«, »Kopf-Hals-Reizsyndrom«, »Anspannung«, »Emotionale Reaktivität«, »Schmerz« und »Sensorik«. Ein Gesamtscore (die Summe aller Einzelskalen) gilt als Maß für die allgemeine Belastung. Ebenfalls körperlich wahrgenommene Beschwerden (Items »rein psychischer« Natur wurden von den Autoren explizit weggelassen) erfasst der Giessener Beschwerdebogen (GBB) von Brähler und Scheer (1995). Er misst das Ausmaß der Schwierigkeiten in den Bereichen Allgemeinbeschwerden, Vegetativum, Schmerzen und Emotionalität. Seine vier Skalen gelten den faktorenanalytisch begründeten Bereichen »Erschöpfung«, »Magenbeschwerden«, »Gliederschmerzen« und »Herzbeschwerden«. Auch hier gibt eine aus der Summe aller Einzelskalen bestehende Gesamtskala den allgemeinen Beschwerdedruck wieder. Vorwiegend psychische Symptome hat hingegen die Symptom-Checkliste von Derogatis – Deutsche Version (SCL-90-R) (Franke, 2002) zum Gegenstand. Auch ihre Skalen sind faktorenanalytisch be-
279 10.3 · Verfahren zur Messung des Therapieergebnisses
gründet und gelten außer dem Gesamtscore für die Gesamtbelastung den Symptombereichen »Somatisierung«, »Zwanghaftigkeit«, »Unsicherheit im Sozialkontakt«, »Depressivität«, »Ängstlichkeit«, »Aggressivität/Feindseligkeit«, »Phobische Angst«, »Paranoides Denken« und »Psychotizismus«. In der psychotherapeutischen Praxis empfiehlt es sich aus zeitökonomischen Gründen, die Kurzform – Brief Symptom Inventory (BSI) – dieses Fragebogens (Franke, 2000) einzusetzen. Ebenfalls psychischen Störungsbereichen ist die Kieler änderungssensitive Symptomliste (KASSL) von Zielke (1979) gewidmet. Sie wurde im Rahmen der Forschung zur Gesprächspsychotherapie entwickelt und besteht aus den Skalen »Soziale Kontaktstörung« (SK), »Verstimmungsstörungen« (Ve), »Berufsschwierigkeiten« (Be) sowie »Konzentrations- und Leistungsschwierigkeiten« (KL). Die allgemeine Symptombelastung (Sb) ergibt sich wieder aus der Summe der vier Einzelskalen. Eine Besonderheit der KASSL ist, dass in der ersten von zwei weiteren Skalen Items zusammengefasst sind, die sich als durch Gesprächspsychotherapie signifikant veränderbar erwiesen haben (»Sensitivität«) und in einer zweiten solche, die sich im Unterschied dazu als wenig veränderbar erwiesen haben (»Insensitivität«). Zur Einschätzung der durch psychische und körperliche Beschwerden bedingten Beeinträchtigung werden in der Praxis häufig zwei Maße erhoben: Das psychosoziale Funktionsniveau mit Hilfe der GAF-Skala der Achse V des DSM-IV (American Psychiatric Association, 1996) und der Beeinträchtigungs-Schwere-Score (Schepank, 1995), der die Auswirkung einer psychogenen Erkrankung in den Bereichen »körperliche Beeinträchtigung«, »Psychische Beeinträchtigung« und »Sozialkommunikative Beeinträchtigung« erfasst.
Auf Persönlichkeitsmerkmale bezogene Verfahren Die Trennung zwischen Verfahren, die auf Symptome bezogen sind, und solchen, die Persönlichkeitsmerkmale messen, ist nicht immer scharf möglich. An der Grenze zwischen diesen beiden Bereichen kann der neuerdings entwickelte Inkongruenzfragebogen (INK) von Grosse-Holforth und Grawe (2003) eingeordnet werden. Er dient der Messung
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des Persönlichkeitsmerkmals »Inkongruenz zwischen gewünschten und ereichten Zielen«, wird aber primär zur Erfassung von (psychischen) Beschwerden eingesetzt wie Symptombelastung, Depressivität, Lebenszufriedenheit, Wohlbefinden und Neurotizismus, mit denen er hoch korreliert. Kritisch ist allerdings zu bemerken, dass die Bezeichnung dieses Fragbogens ebenso wie die Empfehlung der Autoren, ihn zur »Inkongruenzmessung« in Forschung und Praxis einzusetzen, irreführend ist, und zwar deshalb, weil mit ihm »Inkongruenz« nicht im Sinne des im Klientenzentrierten Konzept definierten Konstrukts (»Inkongruenz zwischen der Erfahrung und ihrer Repräsentation im Selbst«) operationalisiert wird (7 Kap. 3.3.4), die tatsächlich gemeinte »Inkongruenz« bei der Benennung unter den Tisch fällt. Zugleich Beschwerden wie auch Persönlichkeitsmerkmale erfasst der Trierer Persönlichkeitsfragebogen (seelische Gesundheit) TPF von Becker (1989). Seine neun Skalen erfassen die Konstrukte »Verhaltenskontrolle«, »Seelische Gesundheit«, »Sinnerfülltheit versus Depressivität«, »Selbstvergessenheit versus Selbstzentrierung«, »Beschwerdefreiheit versus Nervosität«, »Expansivität«, »Autonomie«, »Selbstwertgefühl« und »Liebesfähigkeit«. Eine lange Tradition bei der Evaluation von Therapieergebnissen im Bereich der Persönlichkeit hat der auf psychoanalytischer Grundlage entwickelte Gießen-Test (GT) von Beckmann, Brähler und Richter (1991). Insbesondere bei tiefenpsychologisch orientierten Verfahren angewendet, messen seine sechs Skalen die Konstrukte »Soziale Resonanz« (wie zeigt sich der Patient in der sozialen Interaktion, wie wird er – seiner eigenen Meinung nach – von anderen gesehen), »Dominanz« (dominant versus gefügig), »Kontrolle« (unterkontrolliert versus zwanghaft), »Grundstimmung« (hypomanisch versus depressiv), »Durchlässigkeit« (Urvertrauen versus Urmisstrauen und Autonomie versus Scham und Zweifel) sowie »Soziale Potenz« (sozial potent versus sozial impotent). Ebenfalls eine lange Tradition, außerdem einen weiten Anwendungsbereich hat das faktorenanalytisch fundierte Freiburger Persönlichkeitsinventar FPI-R von Fahrenberg, Hampel und Selg (2001) mit den Skalen »Lebenszufriedenheit«, »Soziale Orientierung«, »Leistungsorientierung«, »Gehemmtheit«,
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Kapitel 10 · Evaluation und Qualitätssicherung
»Erregbarkeit«, »Aggressivität«, »Beanspruchung«, »Körperliche Beschwerden«, »Gesundheitssorgen« und »Offenheit« mit den übergeordneten Skalen, die die zusammenfassenden Sekundärfaktoren »Extraversion« und »Emotionalität (Neurotizismus)« im Sinne von Eysenck (1952) repräsentieren. Speziell in der heutigen Therapieforschung werden sowohl der Gießen-Test als auch das FPI kaum noch eingesetzt. Eine weniger lange Tradition, jedoch einen größeren Differenzierungsgrad hat das ebenfalls faktorenanalytisch begründete NEOFünf-Faktoren Inventar (NEO-FFI) von Borkenau und Ostendorf (1993). Wie der Name besagt, entsprechen seine Hauptskalen dem in der faktorenanalytischen Persönlichkeitsforschung aktuellen Modell der »Big-Five« zur Beschreibung von Persönlichkeiten nach Goldberg (1990): »Neurotizismus«, »Extraversion«, »Offenheit für Erfahrung«, »Verträglichkeit« und »Gewissenhaftigkeit«. Jede der fünf Skalen gliedert sich in weitere fünf inhaltlich verschiedene Facetten. Für den Faktor »Neurotizismus« beispielsweise sind dies »Ängstlichkeit«, »Reizbarkeit«, »Depression«, »Soziale Befangenheit«, »Impulsivität« und »Verletzlichkeit«. Diese Aufgliederung erlaubt eine sehr differenzierte Beschreibung von Veränderungen der Person. Eher formal als inhaltlich begründet erscheint allerdings die Tatsache, dass alle Skalen in gleich viele Facetten aufgeteilt werden. Speziell am Klientenzentrierten Persönlichkeitskonzept orientiert ist das »Feelings, Reactions and Beliefs Survey« (FRBS). Es wurde von Cartwright (Cartwright, de Bruin & Berg,1991; Cartwright & Mori, 1988) entwickelt und von Höger (1995) in einer deutschen Adaptation vorgelegt3. Seine neun Skalen beschreiben Merkmalsbereiche, die nach Rogers kennzeichnend sind für kongruente, reife im Vergleich zu inkongruenten bzw. unreifen Personen: 1. »Focusing conscious attention« (FCA): Sich auch bei Ablenkung oder unter Stress disziplinieren und längere Zeit auf einen bestimmten Gegenstandsbereich konzentrieren zu können. 2. »Openness to feelings in relationships« (OFR): Offenheit für das Erleben von Gefühlen in Beziehungen. 3. »Trust in self as an organism« (TSO): Das Vertrauen in die eigene Person als einen lebendigen
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Organismus und in deren eigene Urteile und Bewertungen. »Fully functioning person« (FFP): Geringe Abwehr von Gefühlen, Freude am Leben im Hier und Jetzt, Wertschätzung der eigenen Person mit ihren Stärken und Schwächen. »Feeling uncomfortable with people« (FUP): Gefühle der Verunsicherung, der Spannung und des Unbehagens in Beziehungen zu Menschen oder in sozialen Situationen. »Struggling with feelings of inferiority« (SFI): Tiefgehende Verunsicherung der Person, Selbstzweifel, ängstliche Erwartung, andere würden sich als klüger und kompetenter erweisen als man selbst. »Feeling ambivalent in relationships« (FAR): Gewahrwerden von zugleich positiven und negativen Gefühlen gegenüber anderen, auch Freunden. »Openness to transcendent experiences« (OTE): Die mehr oder weniger vorhandene Überzeugung, über intuitive, irrationale und transzendentale psychische Fähigkeiten jenseits der Rationalität und der üblichen »fünf Sinne« zu verfügen. »Religio-spiritual beliefs« (RSB): Religiöse Überzeugungen als ein wesentlicher Teil des Lebens, unabhängig von Konfessionen; spirituelle Bedürfnisse.
In mehreren Faktorenanalysen wurden diese Skalen drei übergeordneten Gruppen zugeordnet: 1. »Allgemeine Funktionstüchtigkeit« mit den Skalen FCA und FFP versus SFI, 2. »Beziehungsfähigkeit« mit den Skalen OFR versus FUP und FAR und 3. »Religiös-transzendentale Basis existenziellen Vertrauens« mit den Skalen OTE, RSB und TSO.
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Der Fragebogen FRBS ist zusammen mit einer näheren Beschreibung und einem Excel-Arbeitsblatt zur Auswertung in der Homepage der Deutschen Psychologischen Gesellschaft für Gesprächspsychotherapie (DPGG) zum Herunterladen hinterlegt: http://www.dpgg.de.
281 10.3 · Verfahren zur Messung des Therapieergebnisses
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. Abb. 10.1. Zirkumplexmodell der IIP-Skalen (nach Horowitz, Strauß & Kordy, 2000)
Auf Beziehungsprobleme bezogene Verfahren Während mit dem FRBS Beziehungsprobleme nur mit erfasst werden, ist das Inventar zur Erfassung interpersonaler Probleme (IIP-D) von Horowitz, Strauß und Kordy (2000) speziell diesem Aspekt gewidmet. Mit diesem Fragebogen kann der Patient seine Schwierigkeiten im Umgang mit Menschen beschreiben. Seine theoretische Grundlage ist ein zweifaktorielles Modell des interaktiven Verhaltens, dessen beide Dimensionen sowohl in der Emotionsforschung (Ertel, 1964), in der Psychologie des Erziehungsverhaltens (Tausch & Tausch, 1998) und in der Analyse des Sozialverhaltens (Leary, 1957; Tress, 2002) immer wieder gefunden wurden. Die erste dieser beiden Dimensionen stellt den Gegensatz zwischen Zuneigung/Fürsorge mit freundlichem bis liebevollem Verhalten einerseits und Abneigung/ Feindseligkeit andererseits dar. Die zweite Dimension gibt den Gegensatz zwischen Macht, Kontrolle, Dominanz auf der einen, und Unterwürfigkeit auf der anderen Seite wieder. Bildet man mit dem aus diesen beiden Dimensionen gebildeten Achsenkreuz ein Kreisschema mit je einer weiteren Position in den vier Quadranten (. Abb. 10.1), so ergibt sich ein Zirkumplexmodell mit acht Skalen für die Beziehungsprobleme »zu autokratisch/dominant«, »zu streitsüchtig/konkurrierend«, »zu abweisend/kalt«, »zu introvertiert/sozial vermeidend«, »zu selbstunsicher/unterwürfig«, »zu ausnutzbar/nachgiebig«, »zu fürsorglich/freundlich« und »zu expressiv/aufdringlich«.
10.3.3
Hinweise für die Anwendung und Interpretation
Die Überprüfung der Wirksamkeit von Psychotherapien mit geeigneten Verfahren gehört zur Tradition der Gesprächspsychotherapie und ist inzwischen auch allgemeiner professioneller Standard von Psychotherapie. In aller Regel sind die Patienten bereit, dabei mitzuarbeiten. Sie tun dies besonders gerne, wenn ihnen erklärt wird, dass damit der Erfolg ihrer Therapie überprüft und mit ihnen am Ende besprochen werden soll (was dann natürlich auch wirklich angeboten werden muss). Solche Rückmeldungen sind für beide Seiten aufschlussreich. Den Therapeuten wird empfohlen, eine Kernbatterie aus geeigneten Verfahren für alle Patienten zusammenzustellen, die sie regelmäßig einsetzen und möglichst mit Kollegen, sei es aus ihrer Supervisionsgruppe, sei es aus gemeinsamen Arbeitsgruppen, abstimmen. Dieser Kernbatterie können sie von Fall zu Fall Verfahren hinzufügen, die sich auf die besonderen Probleme/Symptome des jeweiligen Patienten beziehen. Die Kernbatterie sollte möglichst Fragebögen erstens zu allgemeinen Beschwerden/Symptomatik, zweitens zur Persönlichkeit und drittens zu interpersonalen Beziehungen enthalten. Ein Ziel der Therapie ist, die Symptomatik zu verbessern, derentwegen der Patient die Therapie aufgesucht hat. Weiterhin sollten auch konstruktive Veränderungen der Persönlichkeit des Patienten und seiner interpersonalen Beziehungen abgebildet werden, denn die Klientenzentrierte Theorie der Gesprächspsychotherapie
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Kapitel 10 · Evaluation und Qualitätssicherung
postuliert, dass Beschwerden und Symptome auf einer ungünstigen Entwicklung der Person und ihrer Beziehungen mit anderen beruhen (7 Kap. 5). Patienten, die sich für eine Gesprächpsychotherapie entschieden haben, erwarten meistens auch Veränderungen in diesen Bereichen. Es ist also angebracht, auch diese Veränderungen zu dokumentieren. Gelegentlich wird gegen die Verwendung von Persönlichkeitsfragebogen bei der Evaluation von Therapieergebnissen eingewendet, sie seien auf stabile Persönlichkeitsmerkmale hin konstruiert und deshalb für eine Messung von Veränderungen nicht geeignet. Oft wird dabei auch auf die Stabilität dieser Verfahren verwiesen, d. h. auf die hohen Korrelationen zwischen den Ergebnissen zu verschiedenen Messzeitpunkten. Bei diesem Einwand wird nicht bedacht, dass in der Normalbevölkerung Ereignisse, die Veränderungen der Persönlichkeit bedingen, eher selten sind. Deswegen erweisen sich die Ergebnisse von Persönlichkeitsfragebögen dann auch als stabil. Anders verhält es sich jedoch bei einer effizienten Psychotherapie, die einen besonderen äußeren Einfluss darstellt mit dem Ziel und Effekt einer mehr oder weniger großen Veränderung der Person. Um solche Veränderungen zu dokumentieren, sind reliable Persönlichkeitsfragebögen gut geeignet. Wenn es um die Bewertung der Veränderungen von Persönlichkeitsmerkmalen geht, ist es wichtig, die Ausgangslage und die gewünschte Richtung der Veränderung zu beachten. Ein Therapieerfolg kann in Abhängigkeit von der Ausgangslage sowohl in einer Erhöhung als auch in einer Abnahme der Merkmalsausprägung bestehen. Beispielsweise werden sich bei der Skala »Verträglichkeit« des NEO-FFI allzu verträgliche Menschen nach erfolgreicher Therapie eher in Richtung geringerer Verträglichkeit entwickeln, auffallend unverträgliche eher in Richtung größerer Verträglichkeit. Analog verhält es sich bei der Skala »Gewissenhaftigkeit« dieses Verfahrens. Die Werte besonders Gewissenhafter (z. B. bei einer Zwangsstörung) dürften nach erfolgreicher Therapie eher abgenommen haben, eingangs auffallend wenig Gewissenhafte sollten sich eher in Richtung höherer Werte entwickeln. Mehrdeutig sind auch Veränderungen bei der Skala OFR (Openness to Feelings in Relationships) des FRBS. Je nach Art ihrer Störung können Patienten zunächst entweder
besonders niedrige Werte haben (z. B. wenn sie beziehungsrelevante Gefühle nicht symbolisieren können), oder aber besonders hohe (z. B. wenn sie sich ihrer Probleme in Beziehungen bewusst sind und unter ihnen besonders leiden). Je nachdem ist nach einer erfolgreichen Psychotherapie zu erwarten, dass die Skalenwerte zu- bzw. abgenommen haben. ! Wegen dieser Vieldeutigkeit empfiehlt es sich, diese Skalen, die für das Verstehen von individuellen Veränderungen hoch bedeutsam sind, speziell bei Wirksamkeitsstudien von vorne herein (nicht erst nachträglich!) bei der Auswertung nicht zu berücksichtigen. Wegen ihrer fallabhängigen Mehrdeutigkeit sind – von Sonderfällen abgesehen – keine signifikanten Ergebnisse zu erwarten.
Die Beurteilung von Wirksamkeitsstudien erfolgt in der Fachwelt vor allem bei Metaanalysen, die die Ergebnisse mehrerer Studien zusammenfassen, meistens rein formal, indem die Wirksamkeit eines Verfahrens danach beurteilt wird, in wie vielen von den erhobenen Variablen Veränderungen nachgewiesen werden konnten. Variable, die von vorne herein ihrer Mehrdeutigkeit halber keine einheitliche Richtung der Veränderung erwarten lassen, schlagen dann ungünstig zu Buche. Es kann vorkommen, dass bei Therapien, die vom Therapeuten seinem Eindruck nach als erfolgreich eingeschätzt werden, die Testwerte eine Verschlechterung anzeigen. Das kann (!) daran liegen, dass z. B. Patienten mit psychosomatischer Symptomatik, die zu Beginn ihrer Behandlung bei sich keine psychischen Beschwerden wahrnehmen, diese nach einer erfolgreichen Psychotherapie zunehmend im Bewusstsein symbolisieren. Die Folge ist dann, dass sie ihre psychische Symptombelastung nach der Therapie stärker beschreiben als davor. Therapeuten sollten sich jedoch der Gefahr bewusst bleiben, dass sie sich mit solchen Argumenten tatsächliche Misserfolge »schön erklären« können. Sie können dem entgegenwirken, indem sie entsprechende Erwartungen bereits zu Beginn der Therapie (z. B. bei besonders »normalen« Testbefunden) formulieren und auch schriftlich dokumentieren. In der Praxis sehr verbreitet sind individuelle Therapieziele, die Patient und Therapeut bei Behandlungsbeginn gemeinsam festlegen. In der Regel
283 10.4 · Supervision
werden drei mögliche Ziele vereinbart und auch festgelegt, woran man erkennen kann, ob das Ziel ganz oder teilweise erreicht worden ist. Eine Anleitung zum Vorgehen findet sich z. B. bei Heuft & Senf (1998). Am Ende der Behandlung wird dann der Grad der Therapiezielerreichung von Patient und Therapeut eingeschätzt. ? Übungsfragen 5 Welche beiden methodischen Grundprinzipien gibt es für die Überprüfung des Therapieergebnisses? 5 Weshalb ist es sinnvoll, außer Veränderungen der Beschwerden auch solche im Bereich der Person des Patienten und seiner Beziehungen zu dokumentieren? 5 Welche Einwände werden gegen die Verwendung von Persönlichkeitsfragebögen vorgebracht und wie sind sie zu entkräften? 5 Warum ist bei manchen Skalen von Persönlichkeitsfragebögen bei erfolgreicher Psychotherapie keine einheitliche Veränderung zu erwarten? 5 Wann können bei an sich erfolgreichen Therapien Verschlechterungen der Testwerte vorkommen? Auf welche Gefahr muss der Therapeut dabei achten und wie kann er ihr entgehen? 5 Wie kann man individuelle Therapieziele messen?
10.3.4
Weiterführende Literatur
Brähler, E., Schumacher, J. & Strauß, B. (Hrsg.). (2002). Diagnostische Verfahren in der Psychotherapie. Göttingen: Hogrefe. (Kompendium vieler für den Einsatz in der Psychotherapie geeigneter diagnostischer Verfahren) Härter, M., Linster, H. W. & Stieglitz, R.-D. (Hrsg.). (2003). Qualitätsmanagement in der Psychotherapie. Grundlagen, Methoden und Anwendung. Göttingen: Hogrefe. (Einführung in Grundlagen und Methoden der Qualitätssicherung in der Klinischen Psychologie und Psychotherapie) Tscheulin, D. (2001). Würzburger Leitfaden (WLF) zur Verlaufsund Erfolgskontrolle Personzentrierter Beratung und Psychotherapie (Version 3: neu überarbeitet und ergänzt). Köln: GwG. (Eine umfassende Sammlung speziell für die Gesprächspsychotherapie geeigneter diagnostischer Verfahren zu Therapieprozess und -ergebnis)
10.4
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Supervision E.-M. Biermann-Ratjen
10.4.1
Geschichte und Definition
Die Supervision der psychotherapeutischen Tätigkeit, die sog. Fallsupervision, war in Deutschland von Anfang an ein integraler Bestandteil der Ausbildung in Gesprächspsychotherapie und nach deren Abschluss: Die Satzungen gesprächspsychotherapeutischer Fachverbände, z. B. der Gesellschaft für wissenschaftliche Gesprächspsychotherapie (GwG), schrieben von Beginn an den Nachweis einer fortlaufenden berufsbegleitenden Kontrolle der psychotherapeutischen Tätigkeit vor (Informationsblätter der GwG, 1970). Diese Supervision erfolgte in der Ausbildung z. B. in Gruppen angeleitet durch eine entsprechend qualifizierte Person, nach Abschluss der Ausbildung konnte sie auch ohne formalen Leiter als sog. kollegiale Supervision bzw. Intervision (7 unten) stattfinden. Es wird versucht, diese Tradition auch nach Inkrafttreten des Psychotherapeutengesetzes, in dem es keine Regelungen für die Zeit nach der Ausbildung gibt, fortzusetzen. Die Fortbildungsordnungen aller deutsche