Gender in Motion 353115267X, 9783531152677 [PDF]


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German Pages 185 Year 2007

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Table of contents :
Cover......Page 1
Gender in Motion......Page 3
ISBN 353115267X......Page 4
Inhaltsverzeichnis......Page 5
Einleitung......Page 7
Blick zurück – nach vorne! Geschlechterforschung und feministische Politik im Laufrad des Neoliberalismus......Page 13
Geschlechterverhältnisse als produktive Ressource? Zur Veränderung von Arbeits- und Geschlechterverhältnissen im Neoliberalismus......Page 34
She Sweeps for Money! Bedingungen der informellen Beschäftigung von Migrantinnen in österreichischen Privathaushalten......Page 53
Politiken der Vereinbarkeit verqueren oder „... aber hier putzen und pflegen wir alle“. Heteronormativität, Einwanderung und alte Spannungen der Reproduktion......Page 75
Antidiskriminatorische Bildung von Migrantinnen Eine Darreichung......Page 90
Dealing with Differences? Die geschlechtliche Konstruktion der Lebenskonzepte zweier Migrantinnen in Österreich......Page 112
Flop oder Top – wohin steuert universitäre Gleichstellungspolitik?......Page 129
Das prekäre Geschlecht: Die Krise weißer Männlichkeit in den Performing Arts......Page 147
Prekäre Verhältnisse als Zuckerseiten des Lebens. Künstlerinnen und die Creative Class......Page 162
Autorinnen und Autor......Page 183
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Gender in Motion
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Zitiervorschau

Karoline Bankosegger · Edgar J. Forster (Hrsg.) Gender in Motion

Karoline Bankosegger Edgar J. Forster (Hrsg.)

Gender in Motion Genderdimensionen der Zukunftsgesellschaft

Bibliografische Information Der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar.

„Gedruckt mit Unterstützung der Stiftungs- und Förderungsgesellschaft der Universität Salzburg“.

. 1. Auflage Februar 2007 Alle Rechte vorbehalten © VS Verlag für Sozialwissenschaften | GWV Fachverlage GmbH, Wiesbaden 2007 Lektorat: Monika Mülhausen / Tanja Köhler Der VS Verlag für Sozialwissenschaften ist ein Unternehmen von Springer Science+Business Media. www.vs-verlag.de Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen, Handelsnamen, Warenbezeichnungen usw. in diesem Werk berechtigt auch ohne besondere Kennzeichnung nicht zu der Annahme, dass solche Namen im Sinne der Warenzeichen- und Markenschutz-Gesetzgebung als frei zu betrachten wären und daher von jedermann benutzt werden dürften. Umschlaggestaltung: KünkelLopka Medienentwicklung, Heidelberg Druck und buchbinderische Verarbeitung: Krips b.v., Meppel Gedruckt auf säurefreiem und chlorfrei gebleichtem Papier Printed in the Netherlands ISBN 978-3-531-15267-7

Inhaltsverzeichnis

Karoline Bankosegger/Edgar Forster Einleitung ............................................................................................................ 7 Frigga Haug Blick zurück – nach vorne!Geschlechterforschung und feministische Politik im Laufrad des Neoliberalismus ........................................................... 13 Alexandra Weiss Geschlechterverhältnisse als produktive Ressource? Zur Veränderung von Arbeits- und Geschlechterverhältnissen im Neoliberalismus ........................... 35 Bettina Haidinger She Sweeps for Money!Bedingungen der informellen Beschäftigung von Migrantinnen in österreichischen Privathaushalten .......................................... 55 Luzenir Caixeta Politiken der Vereinbarkeit verqueren oder „... aber hier putzen und pflegen wir alle“. Heteronormativität, Einwanderung und alte Spannungen der Reproduktion .......................................................................... 77 Birge Krondorfer Antidiskriminatorische Bildung von Migrantinnen. Eine Darreichung............. 93 Alice Ludvig Dealing with Differences? Die geschlechtliche Konstruktion der Lebenskonzepte zweier Migrantinnen in Österreich . ..................................... 115 Julia Neissl Flop oder Top – wohin steuert universitäre Gleichstellungspolitik? .............. 133

Katharina Pewny Das prekäre Geschlecht: Die Krise weißer Männlichkeit in den Performing Arts ............................................................................................... 151 Elisabeth Mayerhofer/Monika Mokre Prekäre Verhältnisse als Zuckerseiten des Lebens. Künstlerinnen und die Creative Class ................................................................................................. 167 Autorinnen und Autor ..................................................................................... 189

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Einleitung Karoline Bankosegger/Edgar Forster

Gender in Motion thematisiert die unter den Stichwörtern Globalisierung, Neoliberalismus und Postfordismus diskutierten ökonomischen, politischen, sozialen und kulturellen Veränderungen unserer Gesellschaft und ihre Auswirkungen auf Frauen und Männer, auf das Geschlechterverhältnis und die Reproduktion von Heteronormativität. Ziel dieses Bandes ist es, die Folgen des Neoliberalismus in konkreten gesellschaftlichen Feldern zu untersuchen – so komplex wie möglich und ohne Widersprüche auszublenden, die Teil dieser Transformationen sind und dazu führen, dass es oftmals schwierig ist, einen Widerstand zu artikulieren, weil das Gegenüber fehlt, an dessen Stelle wir selbst getreten sind, „scheinbar unfähig, aus uns etwas zu machen“, wie es die Rhetorik der Individualisierung ausdrückt. Paradox ist auch dies: Viele Befunde zeigen, dass Geschlecht als machtvolle Strukturkategorie an Bedeutung gewinnt. Heute ist von Feminisierung der Armut die Rede oder von Feminisierung der Arbeit: Nicht nur steigt der Anteil der erwerbstätigen Frauen, sondern immer öfter arbeiten auch Männer in atypischen Beschäftigungsverhältnissen (wie sie Frauen seit langem kennen), wo sinkende Lohnniveaus ihre Arbeit in eine Form der „Zuarbeit“ verwandelt. Freilich, Geschlecht erklärt nicht alles, aber sie bildet zusammen mit Klasse, Ethnie, Alter und anderen Differenzkategorien ein zentraler Faktor für die gesellschaftliche Verteilung von Ressourcen und Anerkennung. Geschlecht lässt sich auch auf anderen Ebenen als wichtige Kategorie identifizieren. Der Analyse von Hardt und Negri zufolge wird die typischerweise Frauen zugeschriebene affektive Arbeit an Bedeutung weiter zunehmen und Frauen – automatisch? – eine bedeutendere gesellschaftliche Rolle zuweisen. Und Gender Mainstreaming schreibt die Bedeutung von Gender nun auch politisch fest, unabhängig davon, wie ambivalent die damit verbundenen politischen Maßnahmen auch eingeschätzt werden. Aber möglicherweise zeigt sich gerade an diesem Beispiel die angesprochene Paradoxie deutlich: Besonders Frauen haben mit den Folgen des Postfordismus zu kämpfen, aber zugleich wird der Begriff gen-der zunehmend ausgehöhlt, so dass er immer weniger geeignet scheint, Verhältnisse der Ungleichheit, der Ausbeutung und Unterdrückung zu beschreiben. Diese Feststellung ist nicht neu, Donna Haraway hat sie Mitte der 1980er Jahre im Manifesto for Cyborgs getroffen. 7

Gegenwärtige Analysen, das zeigen auch die vorliegenden Beiträge, nehmen diese Widersprüche auf, verbinden sie mit den Forderungen der Frauenbewegungen, den Analysen der Frauen- und Geschlechterforschung und konfrontieren sie mit gegenwärtigen gesellschaftlichen Verhältnissen. Im ersten Beitrag Blick zurück – nach vorne! Geschlechterforschung und feministische Politik im Laufrad des Neoliberalismus erinnert Frigga Haug denn auch an die politischen Forderungen der Frauenbewegungen, um zu prüfen, ob und wie diese Forderungen eingelöst wurden, wie sie die Lage der Frauen verändert haben und welche Schlüsse für die heutige Frauenpolitik und feministische Forschungen zu ziehen sind. Haugs Interesse gilt vor allem den Widersprüchlichkeiten, die der Neoliberalismus produziert. Auf der einen Seite lasse sich eine Art „Feminisierung des Symbolischen“ konstatieren, auf der anderen Seite könne sich aber unterhalb davon das Patriarchat mühelos reproduzieren oder gar festigen. Widersprüchlich sei auch, dass zwar die Perspektiven für Frauen zumeist düster bleiben, aber die gegenwärtigen gesellschaftlichen Zustände überwiegend auf Zustimmung stoßen können und das Interesse an Frauenfragen gering sei, auch wenn die objektive gesellschaftliche Situation anderes erwarten ließe. Deswegen plädiert Haug dafür, dass feministische Forschung erstens Alltagserfahrungen studiert, um mehr über diese Widersprüchlichkeiten zu erfahren, und zweitens Öffentlichkeit herstellt, um individualistische Strömungen aufzubrechen. Mit den Auswirkungen des Neoliberalismus auf Arbeits- und Geschlechterverhältnisse beschäftigt sich Alexandra Weiss im Beitrag Geschlechterverhältnisse als produktive Ressource? Zur Veränderung von Arbeits- und Geschlechterverhältnissen im Neoliberalismus. Ihre Studie zeichnet den grundlegenden Übergang von einer fordistischen zu einer postfordistischen Gesellschaftsformation nach. Diese Transformation geht weit über ökonomische Veränderungen hinaus. Sie erfasst Politik, Gesellschaft und Kultur und dringt tief in die Identität des Menschen ein. Weiss’ zentrale These lautet, dass der Staat im Postfordismus als „maskuliner Staat“ begriffen werden müsse, der Fraueninteressen und -bedürfnisse wieder privatisiere und soziale Positionierungen zum individuellen Schicksal mache. Dadurch verlieren aber grundlegende demokratische Forderungen nach Gerechtigkeit, Umverteilung, egalitären Geschlechterverhältnissen und antirassistischer Politik ihre Basis. Postfordistische Transformationen verursachen prekäre Arbeits-bedingungen, sie verändern die Lebensverhältnisse von Menschen und die Organisation von Haushalten. Auf der anderen Seite produzieren sie Migrationsbewegungen ungeahnten Ausmaßes. Die Auswirkungen betreffen mehrere Ebenen zugleich: Zum einen entsteht ein neuer Begriff von Arbeit, der die klassische Unterscheidung von produktiver und reproduktiver, bezahlter und unbezahlter Tätigkeit in sich zusammenfallen lässt. Zum anderen aber entsteht ein neuer, informeller 8

Arbeitsmarkt für Betreuung, Pflege, Erziehung und Hausarbeit, in dem vor allem Migrantinnen tätig sind. Die Auswirkung der postfordistischen Umgestaltung von Arbeitsverhältnissen im Zeitalter der Globalisierung analysieren Bettina Haidinger in She Sweeps for Money! Bedingungen der informellen Beschäftigung von Migrantinnen in österreichischen Privathaushalten und Luzenir Caixeta in Politiken der Vereinbarkeit verqueren oder „... aber hier putzen und pflegen wir alle“. Heteronormativität, Einwanderung und alte Spannungen der Reproduktion. Beide stellen die Frage nach der Organisation der Pflege-, Haus-, Betreuungs- und Erziehungsarbeit in Privathaushalten und deren Wirkungsweise auf das Geschlechterverhältnis. Haidinger untersucht, durch welche gesellschaftlichen, ökonomischen und rechtlich-politischen Rahmenbedingungen ein informeller Arbeitsmarkt für haushaltsbezogene Dienstleistungen entstehen kann, in dem vor allem Migrantinnen beschäftigt werden. Dabei zeigt sich, dass diese Beschäftigungsform sowohl für Arbeitgeberinnen als auch für Haushaltsarbeiterinnen einer „Gratwanderung zwischen Strategie und Notwendigkeit“ gleichkommt. Die Auslagerung von Hausarbeit an haushaltsexterne Personen ist für Frauen oft die einzige Möglichkeit, Mehrfachbelastungen abzubauen und Konflikte um die haushaltsinterne Arbeitsteilung zu lösen. Für die meisten Migrantinnen wiederum ist Hausarbeit eine notgedrungene Strategie der möglichen Integration und Aufenthaltsverfestigung angesichts von Benachteiligungen und Ausschlüssen im österreichischen Rechts- und Beschäftigungssystem. Eine Kritik müsse zwar den prekären und ausbeuterischen Status von Migrantinnen, die in Privathaushalten arbeiten, aufzeigen, Reformvorschläge dürfen aber nicht dazu führen, den ethnisch und geschlechtsspezifisch segregierten Arbeitsmarkt „Privathaushalt“ zu reproduzieren und zu festigen. Einen etwas anderen Fokus wählt Luzenir Caixeta. Auf der Basis einer internationalen Vergleichsstudie untersucht sie, ob die neue Organisation der Haus- und Pflegearbeit mit dem alten Widerspruch zwischen bezahlter und unbezahlter Arbeit zu hat. Dabei zeigt sich, dass sowohl die Unterscheidung zwischen Produktions- und Reproduktionsarbeit, der traditionelle Begriff der Arbeit als auch die Annahme einer heterosexuellen Kleinfamilie nicht geeignet sind, um neue Formen von Haus-, Erziehungs-, Pflege- und Betreuungsarbeit zu erfassen. Und sie bieten nur einen eingeschränkten Blick auf die Veränderungen in den Geschlechterbeziehungen. Während Bettina Haidinger und Luzenir Caixeta die Situation von Migrantinnen in prekären Arbeitsverhältnissen untersuchen, fragt Birge Krondorfer in ihrem Beitrag Antidiskriminatorische Bildung von Migrantinnen. Eine Darreichung, der sich vor allem an BildnerInnen, VermittlerInnen und BeraterInnen wendet, die mit Migrantinnen arbeiten, wie eine Bildungsarbeit konzipiert werden müsste, die nicht Diskriminierungen, die Migrantinnen vielfach erleben, re9

produziert oder Defizitpädagogiken wieder aufleben lässt, sondern auf Partizipation und Empowerment der Beteiligten rekurriert. Als theoretischer Raster für den Entwurf einer antidiskriminierenden Bildung dient das Konzept der Gouvernementalität, weil es, so Krondorfer, die Erkenntnis des gesellschaftlichen Gesamtzusammenhangs, eine Möglichkeit der Selbstaufklärung und einen Weg der Entzifferung von Lebenspraxen in Abhängigkeit von Dominanz und Unterwerfung ermögliche. Gouvernementalität sei also ein auch von Frigga Haug in ihrem Beitrag eingefordertes Analyseinstrumentarium, um jene spezifische Form von Herrschaft zu verstehen, die sich im Einverständnis mit den Beherrschten etabliert habe. Zu den zentralen Botschaften der Beiträge über prekäre Arbeits- und Lebensbedingungen von Migrantinnen gehört auch die Vorsicht gegenüber pauschalen, entdifferenzierenden Kategorien. Das gilt auch für den Begriff Migrantin. Dahinter verbergen sich Menschen mit völlig unterschiedlichen Biographien, politischen Einstellungen, Werten und Zukunftsvorstellungen. Birge Krondorfer warnt etwa davor, von schwierigen persönlichen und politischen Lebensbedingungen von Migrantinnen auf ein besonders kritisches politisches, gar feministisches Bewusstsein zu schließen. Am Beispiel von zwei Migrantinnen in Österreich zeigt Alice Ludvig in ihrem Artikel Dealing with Differences? wie unterschiedlich die geschlechtliche Konstruktion von Lebenskonzepten ausfallen kann. Auf der Basis von narrativen (Langzeit-)Interviews rekonstruiert Ludvig das Wirksamwerden verschiedenster Identitäts- und Differenzkategorien wie Geschlecht, sozialer Status, nationaler Hintergrund, Religiosität oder sexuelle Präferenz. In ihrer eigenen Rekonstruktion geht es vor allem um intersections von Klasse, Geschlecht und Ethnie. Ihre Ergebnisse bringen auch kritische Einsichten für eine Antidiskriminierungspolitik, die u.a. Gefahr laufe, multiple Unterdrückungsformen auszublenden, da sie in der Regel auf konkrete, homogene Gruppierungen mit bestimmten Eigenschaften zugeschnitten ist. Sowohl Alice Ludvig als auch Birge Krondorfer fokussieren Probleme und Lösungsansätze für eine Antidiskriminierungspolitik, die diversity und intersections berücksichtigen. Möglicherweise ließen sich auch aus Forschungsmethoden wie der von Ludvig angewandten Methode des narrativen Interviews Ansätze für individuelle Ermächtigung gewinnen. Damit käme Forschungsinterviews auch eine Art Bildungsfunktion zu – über den Weg der Erinnerung und Reflexion der eigenen Biographie. Die gesellschaftliche Transformation von Arbeitsprozessen und Lebensbedingungen bis hinein in subtile Technologien des Selbst schließen keinen Bereich aus, und die folgenden Beiträge geben einen Einblick in unterschiedliche, zum Teil gut sichtbare, manchmal wenig sichtbare Felder und versuchen zu zeigen, wie diese Veränderungen das Geschlechterverhältnis affizieren. Zu10

nächst analysiert Julia Neissl in Flop oder Top – wohin steuert universitäre Gleichstellungspolitik? die Auswirkungen der umstrittenen österreichischen Universitätsreformen auf die Gleichstellungspolitik. Die Analysen bieten ein durchaus ambivalentes Bild, das für die derzeitige Gesellschaft und ihr Verhältnis zur Chancengleichheit von Frauen typisch sein dürfte: Chancengleichheit ist mehr denn je Thema an den Universitäten, aber wie sich die Organisationen tatsächlich verändern und ob sich eine neue Organisationskultur entwickeln wird, ist offen und wird es vermutlich auch bleiben, solange nicht ausgehandelt wird, was unter Chancengleichheit zu verstehen ist und welche konkreten Aufgaben Gender Mainstreaming tatsächlich zu erfüllen hat. Katharina Pewny nähert sich aus künstlerischer Perspektive dem Thema gender in motion. Sie zeigt, auf welche Weise in den Performing Arts Geschlecht dramatisiert wird. Dabei fällt auf, dass in mitteleuropäischen Performing Arts, die sich mit sozialer Hoffnungslosigkeit, Deklassierung und Armut auseinandersetzen, vor allem weiße Männer aus der Mittelschicht als das prekäre Geschlecht dargestellt werden. Dies wird an zwei Beispielen vorgeführt: zum einen wählt Pewny das Stück Die Schere von Dea Loher in einer Inszenierung von Christina Rast, zum anderen Diese Beschäftigung von Tino Seghal, das zwischen Performance Art und Tanz angesiedelt ist. Beide führen das Drama der Erwerbslosigkeit als Prekarisierung weißer Männlichkeit vor. Schließlich widmen sich Elisabeth Mayerhofer und Monika Mokre aus der Produktionsperspektive der Kunst. Ihr Text Prekäre Verhältnisse als Zuckerseiten des Lebens. Künstlerinnen und die Creative Class thematisiert die Arbeitssituation von Künstlerinnen unter neoliberalen Bedingungen, das heißt vor dem Hintergrund der boomenden Creative Industries, die den Begriff von Kunst beträchtlich verändert haben, indem sie Kreativität mit Ökonomie verknüpfen und auf diese Weise KünstlerInnen ein neues Rollenbild verpassen, ohne allerdings deren prekäre Arbeitsbedingungen zu verändern. Nun weisen Mayerhofer und Mokre aber darauf hin, dass KünstlerInnen nicht nur passive Objekte gesellschaftlicher Zuschreibungen sind, sondern dass zumindest manche von ihnen mit Kunst in gesellschaftliche Verhältnisse eingreifen und Betriebssysteme offen legen. So lotet ihr Beitrag die Spannung zwischen Fremdsteuerung und der Nutzung der Spielräume aus. Diese Interventionen sind politische Kunst, die immer in konkreten sozialen und historischen Kontexten angesiedelt ist, wie am Beispiel der Künstlerin Tanja Ostojic gezeigt wird, die u.a. mit ihrem Projekt 25 peaces für Aufsehen sorgte. Wenn man die vorliegenden Beiträge hinsichtlich eines Ausblicks auf Genderdimensionen der Zukunftsgesellschaft resümiert, fällt das Ergebnis zwiespältig aus: Zwar wird immer wieder betont, dass postfordistische Transformationen der Arbeitswelt auch neue Chancen für Frauen bieten, aber zugleich fal11

len Zeitdiagnosen düster aus. Was sich zeigt, ist zum einen eine Ausdifferenzierung von Lebens- und Arbeitssituationen, die immer weniger mit homogenen Gruppen (wie Frauen und Männer) zusammenfallen, und zum anderen eine Auflösung klassischer Arbeitsstrukturen, die Männer und Frauen trifft. Feminisierung bedeutet die Durchsetzung von Prekarisierung und sinkendem Lohnniveau für alle. Frauen waren davon immer besonders betroffen und mussten die Auswirkungen solcher Arbeitsverhältnisse auf Beziehungen und Haushaltsorganisation oft allein ausbalancieren. Die Feminisierung von Arbeit führt aber nicht zu einer neuen Form der Geschlechterdemokratie, sondern die Befunde deuten darauf hin, dass sich die Geschlechterkämpfe dort besonders zuspitzen, wo Arbeitsverhältnisse prekär werden. Der vorliegende Band dokumentiert die zehnte Ringvorlesung im Rahmen des interdisziplinären Studienschwerpunktes Gender Studies, die im Wintersemester 2005/06 an der Universität Salzburg durchgeführt wurde. Allen Beteiligten gilt unser herzlicher Dank, insbesondere Iris Radler, die an der Konzeption und Durchführung der Veranstaltung mitgewirkt hat.

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Blick zurück – nach vorne! Geschlechterforschung und feministische Politik im Laufrad des Neoliberalismus1 Frigga Haug

1.

Vorbemerkung

Wichtig ist es, mit uns selbst zu beginnen, d.h. mit unserer Verstrickung ins Thema. Antonio Gramsci hat einmal gesagt: Man kann keine „kritisch kohärente Weltauffassung haben, ohne sich ihrer Geschichtlichkeit, der von ihr repräsentierten Entwicklungsphase und der Tatsache bewusst zu sein, dass sie im Widerspruch zu anderen Auffassungen oder zu Elementen anderer Auffassungen steht. Die eigene Weltauffassung antwortet auf bestimmte von der Wirklichkeit gestellte Probleme, die in ihrer Aktualität ganz bestimmt und ‚originell’ sind. Wie ist es möglich, die Gegenwart zu denken, und eine ganz bestimmte Gegenwart, mit einem Denken, das für Probleme der oft sehr fernen und überholten Vergangenheit ausgearbeitet worden ist?“ (Gramsci 1376: H11, §12, Anm. II)

Das bedeutet konkret für uns: Wie erneuern wir unsere Denkwerkzeuge und vergewissern uns dafür zugleich der Geschichte unserer Probleme und unseres Denkens? Gramsci sagt ferner: „Die eigne Weltauffassung kritisieren heißt mithin, sie einheitlich und kohärent zu machen und bis zu dem Punkt anzuheben, zu dem das fortgeschrittenste Denken der Welt gelangt ist. (...) Der Anfang der kritischen Ausarbeitung ist das Bewusstsein dessen, was wirklich ist, das heißt ein ‚Erkenne dich selbst’ als Produkt des bislang abgelaufenen Geschichtsprozesses, der

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Der vorliegende Text ist die Ausarbeitung eines Vortrags in Salzburg 2005. Die Aufgabe war schwerer, als ich angenommen hatte, ich fand mich nämlich vor vielen Seiten mit Stichwörtern, die so viele Bereiche umfassten, dass es unmöglich wurde, daraus einen schlanken schönen Text zu komponieren. Offensichtlich hatte ich aus Arbeitsbereichen von Jahrzehnten so viel wie möglich unterbringen wollen. Ich habe das Problem jetzt so gelöst, dass der Text wie eine Abfolge von Bildern erscheint und zugleich auf die vielen eigenen Arbeiten verwiesen ist, in denen ausführlicher und begründeter argumentiert wird. Das ergibt den seltsamen Eindruck, als ob ich grundsätzlich nur eigene Arbeiten zitiere und die übrige feministische Forschung nicht zur Kenntnis nehme. Das ist natürlich nicht der Fall, sie findet sich in den vielen angegebenen Texten verarbeitet und dort in der Bibliographie. Insbesondere das HistorischKritische Wörterbuch des Feminismus (zit. als HKWF) sollte für alle an feministischer Forschung und Frauenpolitik Interessierten eine Grundlagenlektüre sein. Es ist wie eine Arche Noah und bündelt das Wissen aus der Frauenbewegungstheorie und -praxis plural.

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in einem selbst eine Unendlichkeit von Spuren hinterlassen hat, übernommen ohne Inventarvorbehalt. Ein solches Inventar gilt es von Anfang an zu erstellen.“ (Ebd., Anm. I)

Es erhöht unsere Handlungsfähigkeit, wenn wir begreifen, wie wir uns zusammengefügt haben. Wie betrachten wir z.B. unsere eigene historische Persönlichkeit, unter anderem unsere Gefühle und spontanen Gedanken in Bezug auf das Thema „feministische Forschung“, etwa das Gefühl der Langeweile und Unzugehörigkeit, das einen dabei überkommt? Soll man sich überhaupt mit Frauenforschung oder -politik noch beschäftigen? Ich plädiere dafür, solche Gefühle ernst zu nehmen und selbst als Teil der zu bearbeitenden Problematik aufzufassen: Feministische Forschung als Politik mit und für uns. Ich beginne also historisch, mit der Erinnerung daran, was Frauen in Bewegung einmal wollten und dann, was aus ihren Forderungen wurde und aus der Lage von Frauen allgemein, aus unserem, der Bewegungsfrauen besonderem Eingriffsverlangen, unserer Phantasie. Dabei greife ich zurück in den Beginn des vorigen Jahrhunderts, zur Ersten Frauenbewegung, gehe dann in die siebziger Jahre, zur Zweiten Frauenbewegung, deren Forderungen vielleicht auch gar nicht mehr so allgemein bekannt sind. Die Erinnerung wird es uns ermöglichen, die heutige Entwicklung des neoliberalen Kapitalismus auch als Erfüllung von Frauenforderungen zu lesen. Wenn Forderungen aus sozialen Bewegungen in die herrschende Politik aufgenommen werden, nennt der schon zitierte Antonio Gramsci dies eine „passive Revolution“. Sie nimmt den Forderungen die zornige Kraft, macht also die Waffen stumpf – umgekehrt führt die Integration von Forderungen von unten in eine Politik von oben dieser neue Kraft zu. In diesem Zusammenhang wird die Lage von Frauen wenigstens teilweise auch verbessert, Zustimmung wird möglich und zugleich werden Einmischung, Gestaltungswille, die Erfindung von Alternativen gelähmt. Die neue Frage lautet dann: War es dies, was wir wollten und bezweckten – war dieser Weg unser Ziel? Erinnerung an Frauenbewegungen dient also hier dazu, zu prüfen, welche Forderungen gestellt, dann, wie sie aufgenommen wurden und wie das die Lage von Frauen veränderte. Dieser Prozess soll Grundlage sein, für gemeinsame Diskussionen, wie Frauenpolitik und feministische Forschung heute aussehen könnten und ob sie notwendig sind, und wenn ja, warum. 2.

Aus der Geschichte der Frauenbewegungen

Die Erste Frauenbewegung in Europa und den USA zu Beginn des 20. Jahrhunderts stritt vor allem ums Wahlrecht, eine Massenbewegung, die Demonstratio14

nen von 100.000 Frauen möglich machte. Die Kämpfe währten Jahrzehnte. Die uns heute fast anachronistisch anmutende Militanz der Bewegung erhielt ihre zornige Nahrung aus der durch die Vorenthaltung des Wahlrechts gestützten männlichen Verfügung über weibliche Arbeitskraft, Geldvermögen und Körper. So gehörten zu den weiteren Forderungen die nach Eigentum, nach Erbrecht, nach Bildung. Es ging in Zeiten allgemeiner Liberalisierung darum, die Menschenrechte, vor allem die der Gleichheit der Menschen, auch für Frauen in Anspruch zu nehmen – ein Prozess, der bis heute noch nicht überall abgeschlossen ist. Zu den Mitstreiterinnen gehörte Virginia Woolf, deren Essay Die drei Guineen bis heute aktuell und mit Gewinn zu lesen ist (vgl. dazu meine Analyse in Haug 2003). Die Zweite Frauenbewegung der 1970er Jahre nahm weltweit in vielen Punkten auch Forderungen aus der ersten Bewegung auf: die des Rechts auf den eigenen Körper mit den Kampagnen gegen den Abtreibungsparagraphen und den Kämpfen im sexuellen Bereich; die Forderungen nach Gleichheit – jetzt geführt als Quotenkämpfe; die Anknüpfung an den Alltag – etwa in der Forderung, das Persönliche sei das Politische; auch den Streit um die Bedeutung von Hausarbeit und Arbeit überhaupt; und auch den Kampf gegen die Familie und den männlichen Ernährer und seine Gewalt. Die Kämpfe dieser Zweiten Frauenbewegung hatten eine riesige Bandbreite, die den Alltag als Stätte, in der Herrschaft praktisch wird, mit der Gesellschaftsstruktur (Kapitalismus) verband und umgekehrt Pläne für eine alternative Gesellschaft aus der Stärke alltäglichen Erlebens entwarf. Die Geschichte ist vielfach niedergeschrieben.2 3.

Arbeit und Familie

Ich führe im Folgenden an zwei Beispielen – Arbeit und Familie – vor, wie und um was historisch theoretisch gestritten wurde, was politisch praktisch erreicht wurde und was heute aus den damaligen Forderungen wurde.

2

Man kann das nachlesen. Eine Bibliographie und kurze Zusammenfassung findet sich u.a. im Stichwort Frauenbewegung im HKWF (Hamburg 2003), in dem im übrigen die meisten Streit- und Kampfpunkte, die Debatten aus der Geschichte der Frauenbewegung in eigenen Stichworten nachzulesen sind. Ich kann mich daher zumeist sehr knapp fassen und auf die entsprechenden Artikel verweisen.

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3.1. Arbeit Die Frage der Arbeit war ein Dichtepunkt feministischen Zorns. Gestritten wurde gegen ungerechte Arbeitsteilung – gegen die Hierarchie in derselben, die die oberen Posten quasi natürlich Männern vorbehielt, also alle Stellen, bei denen es um Entscheidung ging – in der Wissenschaft etwa waren die Professuren Jahrzehnte nur mit ca. 4 % weiblich besetzt, in der Politik galt Ähnliches, wurde aber durch Quotenkampf ein wenig verbessert. Im Ganzen aber sieht man bis heute täglich im Fernsehen, dass immer noch Männerriegen die Wirtschaft und die obersten politischen Entscheidungsgremien fest in Händen halten. Selbst im Europaparlament, in dem allmählich einige Frauen vertreten sind (z.B. aus Österreich), geht es im Wesentlichen um Treffen der Männer. Gekämpft wurde um die Lohnfrage. Zunächst gegen spezielle Frauenlöhne, dann gegen Leichtlohngruppen, überhaupt gegen ungleiche Bezahlung – bis heute verdienen Frauen im Schnitt 70 % der Männerlöhne. Ein Streitpunkt war die Überrepräsentanz von Frauen in der Arbeitslosenstatistik, in der Teilzeitarbeit usw.3 Ganz zentral war der Kampf um die Hausarbeit und um Hausfrauen. Auch diese Debatte wurde international unter dem Begriff domestic labour debate oder Hausarbeitsdebatte (vgl. den gleichnamigen Artikel im genannten Wörterbuch) geführt. Da die Frauenbewegung zunächst in Deutschland aus der Studentenbewegung kam (in den USA auch aus der Bürgerrechtsbewegung), wurde die Auseinandersetzung um die Arbeit auch als Kritik am Marxismus geführt. Bestritten wurde die marxsche Werttheorie, da sie der Hausarbeit keinen Stellenwert gab, in Frage gestellt der Begriff der „produktiven Arbeit“. Am fragwürdigsten aber schien die Unsichtbarkeit der Hausarbeit in der marxistischen Theorie überhaupt und von daher auch die fehlende gesellschaftliche Anerkennung, die das Vorgehen in sozialistischer Theorie gleichsam wiederholte und damit zugleich eine weitere Unsichtbarkeit produzierte: die der fehlenden männlichen Teilhabe an der Hausarbeit. Ein weiterer Streitpunkt war international die Frage, in welchem Verhältnis eigentlich die Haus- und Reproduktionsarbeit zum kapitalistischen Gesamtsystem und seiner Reproduktion zu denken sei. Gab es zwei Herrschaftssysteme, Kapitalismus und Patriarchat, die getrennt zu denken und zu bekämpfen waren oder konnte man eine umfassende Theorie entwickeln, die beide 3

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Auch dies lässt sich zusammengefasst im Artikel Frauenarbeitspolitik im genannten Wörterbuch nachlesen.

umfasste? Diese Debatte ging als dual economy debate in die Archive der Frauenbewegung ein. Der Streit um den theoretischen Stellenwert der Hausarbeit und um praktische gesellschaftliche Anerkennung derselben war im Grunde der erfolgreichste, den die Bewegung geführt hat. Es kam bis zum Hausfrauenstreik in Italien etwa, an dem 40.000 Frauen öffentlich demonstrierten. Eine der relevanten Forderungen war auch die nach der Entwicklung eines anderen Arbeitsbegriffs. Es lohnt sich, die Geschichte dieser Kämpfe zu studieren. Sie waren, obwohl sie teilweise sehr akademisch bis spitzfindig geführt wurden, die nachhaltigsten (vgl. dazu den Artikel Geschlechterverhältnisse im HKWF). Was wurde aus dem intensiven Feuer dieser Kämpfe, was aus den damaligen Forderungen? Die Frauenbewegung setzte in den 1970er Jahren zum Höhenflug an, ziemlich zeitgleich mit dem Ende des Fordismus , der durch Massenproduktion gekennzeichnet war, durch Fließband, durch Teilhabe der Arbeiterklasse am Wohlstand durch höhere Löhne, sodass sie sich eine eigene Hausfrau leisten konnten, die um Gesundheit, Erziehung der Kinder, Sorge und Pflege, um Moral, um Reproduktion aller sich kümmerte, und die zudem als eine Art Sexvorrat vorhanden war, dass der Arbeiter in der Fabrik konzentriert seine ganze Arbeitskraft verbrauchen konnte, sich also nachts erholte, statt auf der Jagd nach Sexpartnern zu vagabundieren. Das bedeutete Stützung der Monogamie auch für die Arbeiter, Schutz der Familie und männlicher Ernährerlohn. Dies war die Form des damaligen und von der Frauenbewegung bekämpften Patriarchats. Ende des Fordismus aber hieß: Entwicklung der Produktivkräfte: vom Fließband zur automatisierten Fabrik und zum Büro mit Computer.4 Ein Effekt war die „technologische Arbeitslosigkeit“, die seit dem Soziologentag von 1982, auf dem dies erstmals thematisiert wurde, hin- und hergeredet wird als Krise der Arbeitsgesellschaft. Die zentralen Fragen dort waren: Kann Arbeit weiterhin das Zentrum von Gesellschaft und Menschen sein, das Maß ihrer Teilhabe am gesellschaftlichen Reichtum, der Kern ihrer Identität, ihrer Selbstwertachtung, von Glück, auch von Profit, wenn sie weniger und weniger wird bzw. ihr Anteil an den durch Arbeit erstellten Produkten immer geringer?5 Es waren dies zumeist Versuche, die Krise der Arbeitsgesellschaft im Diskurs dadurch zu lösen, dass sie weniger wichtig genommen werden sollte. Es wurde 4 5

Die entsprechenden Umbrüche sind im Artikel Feminisierung der Arbeit im HKWF nachzulesen. Es kursierte das Beispiel des Autos, welches in Japan Mitte der 1970er Jahre in 28 Stunden hergestellt wurde, während es zu Fords Zeiten mehrere Wochen brauchte (die Daten dazu findet man im Projekt Automation und Qualifikation, vgl. 1975 und 1987).

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nicht gefragt, ob Produktionsverhältnisse, die um die Ausbeutung menschlicher Arbeitskraft organisiert sind – wie der Kapitalismus –, bleiben können, wenn die Arbeitskraft selbst zunehmend durch Maschinen ersetzt wird. In der allgemeinen Auseinandersetzung um Arbeit kommen die Frauenforderungen aus der Bewegung jetzt zum Zuge: Ich erinnere noch einmal; sie waren auf dem Gebiet der Arbeit im Wesentlichen: Anerkennung von Hausarbeit, Entrichtung von Lohnarbeit durch Entwicklung eines anderen Arbeitsbegriffs. Eine frühe und sehr weit gehende Lösung entwickelte der Club of Rome 1998. Dies war genau die Zeit, da auch in Deutschland der Neoliberalismus sich unbeschränkt siegreich entfaltete. Da die Ähnlichkeit mit den Forderungen der Frauenbewegung dermaßen frappierend ist und es sich zugleich um einen Vorschlag an die Regierung, ein Gutachten für sie handelt, soll er hier ausführlicher referiert werden. Im Zentrum der Argumentation des Club of Rome steht der Vorschlag einer Ausdehnung des Arbeitsbegriffs auf alle „produktiven Tätigkeiten im erweiterten Sinn“ (Giarini/Liedtke 1998: 14, 211). Dafür soll im Gegenzug der jetzige landläufige Arbeitsbegriff auf den Begriff Beschäftigung verengt werden, womit er zugleich ermäßigt, abgewertet und das, was wir als „Krise der Arbeitsgesellschaft“ zu erfahren gewohnt sind, harmloser wird, ein Dilemma, aus dem herausgefunden werden kann. Ein historischer Exkurs zurück in die Agrarwirtschaft soll den hohen Anteil an Eigenproduktion dort zeigen und damit verdeutlichen, dass die Konzentration auf Güterproduktion und Erwerbsarbeit wiederum nur eine Übergangsphase war, die den Wohlstand der Nationen schnell und wirksam aber einseitig voranbrachte. Das Fazit: Die Konzentration auf bezahlte Arbeit in der Güterproduktion gehört einer vergangenen Epoche an. Jetzt geht es darum, die beiden anderen Dimensionen menschlicher Produktivität und Kreativität, die „identitätsstiftend“ (ebd.: 212) sind, zum Einsatz zu bringen, „eine völlig andere Organisation von Arbeit“ (ebd.) voranzutreiben. Die bloße Funktion von menschlicher Arbeit als ökonomischer Produktionsfaktor verursache Schäden und sei eine Herabwürdigung. Arbeitslosigkeit bedeute nicht nur Abnahme von materiellem Wohlstand, sondern beraube den Menschen auch der Möglichkeit von Selbstverwirklichung und aktiver Teilnahme an Gesellschaft. Es geht darum, die derzeitige Entwicklung, die auf eine Massenarbeitslosigkeit zusteuert, welche mehr als ein Drittel der Bevölkerung umfassen wird, als äußerst bedrohlich wahrzunehmen und ihre Lösung daher sofort anzugehen. Die Autoren nehmen ganz offensichtlich die Forderungen aus 30 Jahren Frauenbewegung auf: Anerkennung der Hausarbeit als Arbeit; sie ergänzen: 18

Anerkennung überhaupt der unzähligen ehrenamtlichen, umsonst verrichteten Tätigkeiten durch ihren Einschluss in den Arbeitsbegriff. Sie schlagen im Prinzip eine Dreiteilung des Verständnisses von Arbeit (verstanden als produktive Tätigkeit für die Zukunft) vor (vgl. ebd.: 236 ff.). Die herkömmliche Lohnarbeit sollte auf ca. 20 Stunden pro Woche reduziert werden (vgl. ebd.: 212), dazu kommen die Tätigkeiten, die man auch am Markt berechnen und kaufen könnte, die aber herkömmlich nicht bezahlt, sondern „freiwillig“ oder „wohltätig“ (ebd.: 37) geleistet werden wie Kinderbetreuung, Haushaltstätigkeiten, viele ehrenamtliche Tätigkeiten. Sie werden zu 70% von Frauen getan und bilden (lt. Berechnung des Familienministeriums von 1994) ein Drittel des Sozialprodukts in Deutschland (vgl. ebd.: 150). Schließlich gibt es Tätigkeiten, die gewöhnlich nicht als Tauschwerte ausgedrückt werden, etwa „Eigenkonsum“ und „Eigenproduktion“ wie Reparaturen, Selbstbehandlung, Bildung (vgl. ebd.: 151). Alle drei – Lohnarbeit, unbezahlte Arbeit, Eigen-tätigkeit – sollen parallel gefördert werden (vgl. ebd.: 145). Eine Gesellschaft, die allein auf Tausch basiert, sei nicht überlebensfähig. Ökonomische Grundlage soll ein Grundeinkommen werden und eine negative Einkommensteuer (vgl. ebd.: 179), dass Arbeitslosigkeit nicht lohnender ist als Erwerbsarbeit, und dass niemand in Armut leben muss. So geht es darum, „Arbeit zu subventionieren nicht Untätigkeit“ (ebd.: 181). Alle sollen über ein Mindestmaß an Geld verfügen als Einkommen für produktive Arbeit und als Grundeinkommen (für jeden Staatsbürger) für Ernährung, Kleidung, Unterkunft, Gesundheit, das unmittelbare Abhängigkeiten überwinden soll. Gemeint sind Beziehungen wie die zwischen Männern und Frauen, Arbeitnehmern und Arbeitgebern, Arbeitslosen und Arbeitslosenämtern usw. (vgl. ebd.: 176). Arbeitslos werden erscheint zugleich als Verlust an Utopie. Am Ende kommen die Autoren zu dem Schluss, den Maßstab für Wohlstand zu ändern: Wohlstand nicht mehr als Summe aller monetären Kosten zu fassen, sondern Kriterien wie die Kaufkraft (gemäß dem Jahresbericht zum Wohlstand der Völker durch die Weltbank) und solche der „Menschheitsentwicklung“ (deren Indices vom United Nations Development Program entwickelt wurden) zur Grundlage zu machen (vgl. ebd.: 257 f.). Sie empfehlen, Tätigkeiten ohne Lohn zu stimulieren und die Überwachung sowohl des allgemeinen Wohlstands wie des Wechsels von Tätigkeiten zwischen den bezahlten und anderen Teilen der Wirtschaft (vgl. ebd.: 264). Sozialpolitik müsse so gestaltet werden, dass alle das Recht haben, produktiv tätig zu sein und nicht nur passive Verbraucher bleiben (vgl. ebd.: 249). Ziel ist eine Vollbeschäftigung in der neuen dreigeteilten Version (sie nennen das „verschiedene Schichten der Arbeit“), in der ein Minimum an Erwerbsarbeit vereinbart sei (vgl. ebd.). Identität kann anders gebaut werden, 19

also z.B. erfährt man seine Selbstwertschätzung als Bildhauer, verdient aber sein Geld durch Taxi fahren. Dieser Vorschlag des Club of Rome, der einhergeht mit einer radikalen Arbeitszeitverkürzung für alle und einer Neufassung des Arbeitsbegriffs, die sämtliche gesellschaftlich und privat getane Arbeit einschließt und dabei eine gesicherte Existenz sowie eine Überwachung des „Wohlstands“ vorsieht, lässt sich als Grundlage diskutieren für das Ringen um eine soziale gerechtere Gesellschaft. Inzwischen ist Hausarbeit offiziell Teil des Bruttosozialprodukts, erfreut sich also gesellschaftlicher Anerkennung; vom Weltbruttosozialprodukt sind es etwa 11.000 Milliarden Dollar. Zugleich sind Hausfrauen als Vollzeitbeschäftigte eine aussterbende Gattung. So ist es kein Wunder, dass die nachwachsenden Generationen die Problematik von Hausarbeit und Hausfrauen als veraltet und langweilig empfinden – es ist nicht ihre Fessel und keine sie formierende Perspektive. 3.2. Familie Von der bürgerlichen Kleinfamilie wollte sich die Frauenbewegungsgeneration befreien (dies datiert sogar schon zurück zu Alexandra Kollontai zu Zeiten der russischen Revolution). In der Zweiten Frauenbewegung war es die von uns so genannte „Neckermann-Kleinfamilie“ als Hort von Gewalt, Tyrannei, Abhängigkeit, eine das Leben zerstörende Lebensform, gegen die wir kämpften. „Frauen müssen die Familie stürzen, um ihre Persönlichkeit durchzusetzen“, schrieben wir auf ein Plakat zum Internationalen Frauentag. Dieses Gefühl beklemmenden Wartens auf das eigentliche Leben hat der Maler Edgar Hopper treffend veranschaulicht, dessen entsprechendes Bild wir auf eines unserer Bücher brachten (vgl. Haug 1991). Eine Gestalt unseres Hasses war der „männliche Ernährer“6. Unser Veränderungszorn also richtete sich auf die Form der Familie als Gefängnis und Ersatz von Leben. Was tat der Neoliberalismus mit der Familienform? Zunächst wurde der männliche Ernährer abgeschafft. „Keiner kann mehr mit einem lebenslänglichen Arbeitsplatz rechnen“, verkündeten Schröder und Blair zur Eröffnung der 6

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Dorothy Smith (vgl. 1994) hat sogar die These vertreten, dass Gewalt gegen Frauen im Grunde ökonomisch zu erklären sei, aus der Existenz des männlichen Ernährers, der für seinen finanziellen Einsatz eine Menge Pflege und Hausarbeit legitim beanspruchen zu können meint und bei Nichtgewährung eben zu Gewalt greift.

Durchsetzung des Neoliberalismus 1998. Und der Berater der neoliberalen Labour-Partei Antony Giddens erklärt: Da Frauen jetzt gleichberechtigt seien, müsse die Familienform geändert werden, sie müsse demokratischer sein, ja selbst ein Modell, eine Form, in der Kinder Demokratie lernen und gleichberechtigt ihre Konflikte aushandeln. Die Blutverwandtschaftsfamilie sei an ihr Ende gekommen. Er zählt die Phänomene auf: Die Familie – in der uns am ehesten gegenwärtigen Form als Elternpaar mit Kind – ist prekär, vom Zerfall bedroht. Die Daten: hohe Scheidungsraten, wachsende Zahl allein erziehender Mütter, viele von ihnen in großer Armut. 50 Prozent der Kinder wachsen bereits nicht mehr mit ihren leiblichen Eltern auf. Immer weniger Paare heiraten. Zu diesen problematischen Erscheinungen kommen positive, die gleichfalls die Familie alter Form zersetzen: Die zunehmende Gleichheit zwischen den Geschlechtern, erfahrbar als „Vordringen von Frauen auf den Arbeitsmarkt“, geänderte sexuelle Erwartungen und Verhaltensformen und ein neues Verhältnis von Arbeit und Zuhause (vgl. Giddens 1999: 107). Gegen solche Phänomene versuchen die Konservativen mobil zu machen. Sie propagieren den Familienerhalt, wo die reale Zersetzung eine andere Sprache spricht; Vaterlosigkeit halten sie für den Grund von Kriminalität, von Teenager-Schwangerschaften, Kindesmissbrauch, Gewalt gegen Frauen. Sie plädieren daher für eine Verschärfung der Scheidungsgesetze, wenngleich das Schicksal der in solchen Beziehungen Lebenden voraussehbar schlecht ist. Sie propagieren monogame Heterosexualität und ächten homosexuelle Beziehungen, wenngleich die Praxis längst anders entschieden hat. Sie sind zudem gegen soziale Unterstützung von Alleinerziehenden. Giddens konfrontiert die konservative Familienideologie mit der Realentwicklung. Er verweist zugleich darauf, dass die alte Familie auf der Ungleichheit der Frauen beruhte, sie daher bei zunehmender Gleichheit ihre Grundlage verlieren müsse. Auch sind Kinder kein ökonomischer Nutzen mehr, sondern bedeuten erhebliche Kosten. Gerade in den traditionellen Familien gab es zudem Missbrauch und Gewalt. Auch in der Frage der Familie schreibt Giddens die Neuordnung als eine Terrainverschiebung. Auf der als elementar verkündeten Leerstelle Familie gilt es nicht, alte Bestände zu retten und zu bewahren, sondern aus Gegenwärtigem Zukunft neu zu gestalten und zwar mit selbst bestimmter Initiative von unten. Dies geschieht, indem die Familienaufgabe auf die Frage der Qualität des Generationenvertrags reduziert und entsprechend entideologisiert wird. Wie soll die kommende Generation groß werden und wie die Elterngeneration altern? Ein nochmaliger Blick auf die vorhandenen Praxen zeigt, es ist derzeit schlecht geregelt. Kinder wachsen nicht geschützt und behütet auf, die sie meist versorgenden Mütter sind arm. Daher ist auch die Frage der Al21

leinerziehung nicht moralisch, sondern vom Standpunkt der Beteiligten zu problematisieren. Giddens schlägt für die neue Sozialdemokratie an allen Streitpunkten die progressivste Lösung vor: Scheidungsgesetze sollten nicht verschärft, sondern im Gegenteil erleichtert werden. Homosexuelle Paare sollten als Paare leben dürfen und selbstverständlich Kinder großziehen können. Müttern sollte die Berufstätigkeit erleichtert werden, und Vätern sollte der Zugang zu Kindern nicht verwehrt werden, im Gegenteil sollten sie endlich in die Verantwortung gezogen werden. Unter dem Strich bleibt, jeder sollte ohne Staatseinmischung leben, wie er oder sie will, aber in der Frage der Kinder braucht es Verpflichtung und Verantwortung. Giddens Vorschlag ist ein Elternschaftsvertrag, der von Ehe- oder Familiengründung unabhängig wäre. „Eine vertragliche Verpflichtung gegenüber einem Kind könnte also von der Ehe getrennt und von beiden Eltern rechtsverbindlich eingegangen werden, wobei unverheiratete und verheiratete Väter die gleichen Rechte und Pflichten hätten.“ (Giddens 1999: 113) Das untergräbt Idee und Praxis des Begriffs „Alleinerziehende“. Neue Begriffe werden ins Spiel gebracht wie Elternarbeit, Kinderfürsorge. Die Loslösung des Paares aus konventionellen Vorstellungen und Bindungen soll die Befestigung einer unbedingten Verpflichtung auf mögliche Kinder erlauben. Elternschaftsverträge sollen sich auf Fragen des Wohnens, der Pflege, der Schularbeiten, kurz der Gesamtverantwortung in der Zeit erstrecken. Diese Inszenierung begreift Giddens als Leben der Zivilgesellschaft. Ziel ist, die Familie zu demokratisieren wie die Gesellschaft. Das schließt das Mitspracherecht der Kinder ein; Konsensregelungen werden übliche Kommunikationsformen. Es bedeutet, dass Familie auch gelernt werden muss. Kriterien für die demokratische Familie sind: Gleichberechtigung bei Emotionen und Sexualität, wechselseitige Rechte und Verpflichtungen in Beziehungen, Erziehung als gemeinsame Aufgabe, lebenslange Elternschaftsverträge, erworbene Autorität gegenüber Kindern, Pflichten der Kinder gegenüber den Eltern, die in das soziale Umfeld eingebettete Familie (vgl. ebd.: 114), die sich in Gesellschaft hineinbegibt und sich nicht abschließt, also „Inklusion“ statt „Exklusion“. Die Familie wird „Quelle sozialen Zusammenhalts“ (ebd.: 116). Giddens schlussfolgert: Die Demokratie in Gesellschaft ähnelt der in Familie mit ihren Kriterien formale Gleichheit, individuelle Rechte, gewaltfreie öffentliche Diskussion der Probleme und Entscheidungsbefugnisse (vgl. ebd., 111). Der Staat stütze die eigenen Grundlagen, indem er das Gleichgewicht von Verantwortung und Selbstbestimmung propagiere. Flexibilität und Anpassungsbereitschaft würden nicht nur am Arbeitsplatz gefordert, sondern auch in der Familie und in Eheverhältnissen. Die Politik um Familie ist exemplarisch für Giddens Projekt des Dritten Wegs. Statt Reformen der alten Strukturen auszuarbeiten, löst er die alten For22

men aus ihrem Funktionsrahmen und überführt sie in ein Feld, in dem zugleich die Einzelnen einen anderen, mehr subjekthaften Status bekommen und der Staat finanziell entlastet wird. Das Umdenken stößt sich nicht mehr an kleinlichen Berechnungen, etwa an der Höhe des staatlich gewährten Kindergeldes, sondern kann sogleich beginnen, den neuen Raum, Familie als Zivilgesellschaft, selbstverantwortlich zu füllen. Trotz aller offensichtlichen Vorzüge ist auch dieses Modell darauf orientiert, dass Privatpersonen für die Reproduktion von Gesellschaft zuständig bleiben. Wie sich die Gesellschaft wieder herstellt bleibt eine ungesellschaftliche Angelegenheit. Das Fazit lautet: Die Hegemonieverhältnisse sind verschoben in einen anderen Diskursraum. Das eingangs erwähnte Gefühl gegenüber Frauenbewegung und ihren Forderungen, sie seien veraltet und langweilig, ist in dieser neuen, ebenfalls herrschaftssichernden Form berechtigt. Es stellt sich hier die Zusatzfrage, ob die Tatsache, dass die Forderungen der Frauenbewegung so weitgehend ins neoliberale Projekt integriert werden konnten, bedeutet, dass sie falsch waren? Dies ist eine Frage an die politische Theorie: Wie denken wir das Politische im Verhältnis zur Entwicklung von Produktivkräften und den Produktionsverhältnissen, in die sie eingebettet sind und wie uns darin? 4.

Feminismus im Neoliberalismus. Einige neuere Entwicklungen

4.1. Kämpfe im Symbolischen Auf der einen Seite sind Frauen sichtbar geworden. Es gibt, was ich eine Feminisierung des Symbolischen nenne: Während es in den Zeiten der Frauenbewegung undenkbar war, dass etwas so Wichtiges wie Nachrichten anders als von Männern hätten gesprochen werden können, gibt es jetzt in der Mehrzahl Sprecherinnen, ja sogar Talkshowmasterinnen, denen man sicher den Verstand nicht mehr gänzlich absprechen mag. Während in den 1980er Jahren die feministische Krimireihe Ariadne so etwas wie eine Bewegung wurde mit Spitzenauflagen von über 200.000, gehören weibliche Inspektorinnen jetzt in jeden Fernsehfilm – selbst im Cyberspace tauchen Frauen auf. Auch die Frankfurter Allgemeine Zeitung kämpft nicht mehr gegen die Quote (wie in den 1980er und 90er Jahren), sondern startete unlängst eine Reihe über bedeutende Frauen – Verlegerinnen, Talkshowmasterinnen – mit dem Ziel, zu zeigen, dass Deutschland längst von Frauen regiert wird. Selbst die Frage der normativen sexuellen Orientierung hat sich ermäßigt. Unlängst warb die große, teure Modenschau in Rom (2005) 23

damit, dass es dort gelang, Heteros wie Schwule aussehen zu lassen und umgekehrt. Insofern ist selbst der Protest gegen Heteronormativität vom Neoliberalismus eingeholt. Offenbar kann sich das kapitalistische Patriarchat reproduzieren und sich dabei mit der Feminisierung des Symbolischen gar noch kräftigen, ebenso mit der Feminisierung der Arbeit (vgl. dazu das entsprechende Stichwort im HKWF). 4.2. Theoretische Kämpfe Der Feminismus hat sein politisches Kleid gewechselt. Es gibt eine Akademisierung und Verfeinerung ohne Bezug zum Alltag und zur Politik, eine Art „marginalisierter mainstream“. Dies geschah nicht zuletzt dadurch, dass das politische Subjekt „Frauen“ abgeschafft wurde, schließlich die Frauenfrage ersetzt durch gender, als gäbe es keine Herrschaft und Hierarchie zwischen den Geschlechtern. Nach dem Verlust des politischen Subjekts wurde in der Folge belächelt, wer noch Frauenpolitik versuchte. Die Luft war raus. Diese Abschaffung des Geschlechts, verbunden mit dem Namen Judith Butler – obwohl es eigentlich Donna Haraway war, die dies erstmalig schon in den späten siebziger Jahren begann (vgl. ihr Stichwort Geschlecht in HKWF) – war einerseits eingreifend, weil hier auch die Geschlechtszuweisung als historische Tat und als herrschaftsbegründend herausgearbeitet wurde. Es führte dies aber auf das Spitzfindigste in eine nicht mehr überbrückbare Abschottung vom Frauenalltag und verstellte damit jede Rückbindung an mögliche Politik. Dies nenne ich die Akademisierung des Feminismus. Zur Probe mache man den Versuch, Frauen auf der Straße zu sagen, es gäbe sie nicht. 4.3. Die Lage der Frauen im Neoliberalismus Hartnäckig bleibt die schlechte Lage von Frauen bestehen: Armut, geringer Lohn, fehlende Entscheidungsmöglichkeiten, Erwerbs-Arbeitslosigkeit auf der einen Seite, verstärkte Ausbeutung (in Maquiladoras, in denen junge Frauen billig, flink und ungeschützt arbeiten) auf der anderen und Teilzeitjobs, Saison-

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arbeit, Patchwork-Biographien, Unsicherheit, Angst7. Vieles davon teilen Frauen mit vielen Männern.8 Obwohl also die allgemeine Lage der Frauen weltweit schlecht ist, gibt es auch Gewinnerinnen im Neoliberalismus. Das erfolgreiche Zauberwort, mit dem das neoliberale Projekt Zustimmung erhält, heißt Selbstbestimmung: Du als Unternehmerin kannst es schaffen, mach dich unabhängig! Schaff dir vor allem keine Kinder an und sei von niemandem abhängig. Streng dich an. Du kannst gewinnen, nur Du. Es gibt kein gesellschaftliches Projekt, keine Alternativen. Du bist, wie der untergegangene VW-Betriebsrat und Schröder-Mann Hartz das in seinem neuen Menschentyp vorschlug (vgl. Haug 2003), jemand, der für seine Beschäftigungsfähigkeit verantwortlich ist, „fit, fähig, flexibel und jetzt auch noch fantastisch“ (ebd.: 614). Wie wäre es dagegen, sich in den Kampf um den neuen Menschen einzumischen? Wie wir uns als Menschen denken und imaginieren, wohin wir wollen, wer wir sind? Dazu könnte man ein buntes Volksbegehren entfachen, streiten, mobilisieren, Stücke schreiben und Straßentheater aufführen, wie dies etwa auch beim letzten Kirchentag (2005) geschah, oder gar Charlie Chaplins Modern Times als Postmoderne Zeiten neu drehen. ‚Rennen, rackern, rasen’ usw. – ist dies der Traum, den wir für unsere Zukunft hegen? Selbstbestimmung ist eine Falle, sie gehört aber auch zu den zentralen Perspektiven aller sozialen Bewegungen – Befreiung von Abhängigkeiten, Einsperrungen, Fesseln, Sprengung der Verhältnisse, in denen der Mensch ein verächtliches, ein geknechtetes, ein verlassenes Wesen ist. Die Bewegung zur selbstbestimmten Lebensführung mit 345 Euro im Monat (Arbeitslosengeld II) lässt als persönliche Schuld erfahren, wenn man es nicht schafft; aus der es sich herauszuarbeiten gilt, wenn man unter 50 ist – danach muss man sich einrichten. Wie lebt man davon? Niemand von denen, die das vorschlagen, hat dies je versucht. Barbara Ehrenreich (2001) zeigt vor allem, wie man die eigene Persönlichkeit verändert, wenn man in diesen Jobs – meist in mehreren – sich abrackert. Sie beobachtet an sich eine wachsende ekelhafte Servilität als Verkäuferin bei Walmart, die z.B. nach und nach Kunden und Kollegen als Feinde wahrzunehmen lernt. Sie resümiert, dass sie wohl die Arbeit schaffte, aber sich als Mensch dabei aufgeben musste. 7 8

Die Zuständige für die Politik gegen Gewalt gegen Frauen bei den Vereinten Nationen, Yakin Ertürk, nimmt sogar an, dass die patriarchale Gesellschaft derzeit in einer Art backlash zur Zunahme von Gewalt gegen Frauen schreitet (vgl. El Pais, 2.5.2006). Dies wird unter dem Stichwort Prekarisierung oder Agenda 2010 oder Hartz IV diskutiert (vgl. dazu Das Argument 256: Sich arm arbeiten? Das große Roll-back, H 3 / 4, 2004).

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Ich verknüpfe jetzt die Frage, wieso das Schicksal von Frauen geradezu gleichmäßig perspektivisch düster bleibt für die meisten, mit der Hegemoniefrage, d.h. wieso das neoliberale Projekt oder die gegenwärtigen gesellschaftlichen Zustände überwiegend auf Zustimmung stoßen können und wieso es kein oder wenig Interesse an Frauenfragen gibt. 5.

Betrachten wir also die Absichten des neoliberalen Projekts mit feministischen Augen

Es kann vermutlich als allseits bekannt vorausgesetzt werden, dass das zentrale Stichwort Standortverbesserung heißt, ein Aufruf an die Politik, an den Staat zu deregulieren und zwar Markt und Arbeit. Letzteres ist verbunden mit entsprechenden Rechtsverlusten, Abnahmen von Schutzabkommen, Tarifsicherheiten, gewerkschaftlicher Einbindung und Abbau des Sozialstaates. Es lässt sich im Einzelnen berechnen und vorführen, wie Frauen in dieser Entwicklung besonders verlieren: sei es, dass sie vom Stellenabbau unverhältnismäßig betroffen sind, weil sie auch im öffentlichen verschlankten Dienstleistungssektor unverhältnismäßig erwerbstätig waren; sei es wegen der Änderungen im Rentenrecht, die sie härter treffen, weil sie auch bisher schon Renten hatten, mit denen sie nicht existieren konnten (dies mehrheitlich); sei es in der Abschaffung des Verbots der Nachtarbeit usw. Die grundsätzliche Positionierung der Frauen im neoliberalen Projekt findet man gewissermaßen unterhalb der Folie von Wettbewerb, Standortattraktivität, Deregulierung, verborgen im Köderwort der individuellen freien Lebensgestaltung. Im „Jeder ist seines Glückes Schmied“ und in der Aufstellung einer Olympiamannschaft für den Sieg im Wettbewerb (fit in Geist, Körper, Charakter) sind unsichtbar die vielen hilfreichen Arme eingeschraubt, die die Arbeitslosen, die Verlierer, die Ungeeigneten, die Behinderten, die Alten und natürlich auch das Fitmachen der vorgesehenen Mannschaft beund versorgen. Frauen sind für diese menschlichen Bezüge geeignet, besonders dann, wenn sie auf dem Wettbewerbsmarkt keine Chancen haben. Sie sind implizit im neoliberalen Projekt vorgesehen, schärfer noch als ohnehin in der bisherigen kapitalistischen Wirtschaft, wenn sie sich als gesellschaftspolitisches Projekt ohne weitere Einbettung präsentiert. Formulieren wir es so: Frauen müssen ehrenamtlich die Einbettungsarbeit besorgen, nicht mehr der Staat und auch sonst kein gesellschaftliches Projekt. Ihre „Umsonstarbeit“ war immer notwendig, soweit sie nicht mit Gewinn marktförmig erledigt werden konnte. Das galt für alle Arbeiten, für die unverhältnismäßig viel Zeit pro Produkt verbraucht wurden, Kinder zum Beispiel, Pflege usw. die sich nicht automatisieren 26

ließen und also nicht rationeller fortschrittlich zu gestalten waren. – Das neoliberale Projekt stößt jetzt mehr solche Arbeiten ab, gewichtet neu. Da wächst auch die Verantwortung der weiblichen Hälfte der Menschheit. Dies ist die eine Seite: Aber die je individuelle Erfahrung der gesellschaftlichen Verhältnisse muss ja gleichzeitig so etwas wie Scheuklappen erzeugen, eine zustimmungsfähige Verarbeitungsweise, dass man „frei“ ist, etwas zu werden oder unterzugehen: Daher wird es äußerst dringlich für feministische Forschung, Alltagserfahrung zu studieren, Öffentlichkeit neu herzustellen, sich als verantwortliche „Intellektuelle“ im gramscischen Sinn zu verhalten. 6.

Alltagsforschung

Ich möchte zum Abschluss einen knappen Bericht über zwei laufende Projekte geben, in denen Alltagsforschung in politischer Perspektive betrieben wird. 6.1. Über Träume von Zukunft9 Die Untersuchung ist eine Folgestudie zu einer Arbeit, die wir10 im Kontext der Frauenbewegung 1980 durchführten. Wir wollten erforschen, wie wir uns als Frauen gemacht hatten. In diesem Kontext suchten wir nicht nur der Erinnerung habhaft zu werden, sondern studierten auch den Blick nach vorn, die Antizipation.11 Wir ließen in drei Schulklassen mit 13-15jährigen einen Aufsatz mit dem Thema „Ein Tag in meinem Leben in 20 Jahren“ schreiben. Die Themenstellung verpflichtete die Schreibenden auf den Tagesablauf, weil der Text so konkret werden und die Vorstellung selbst Farbe bekennen muss. Es müssen die Wünsche, die auf Zukunft gerichtet sind, sich ja im Alltag bewähren. Das Schreiben solcher Texte ist selbst ein Schritt zu mehr Bewusstsein, ist Rechenschaft, Prüfung seiner selbst. Das erste Resultat war für uns, die wir die Befreiung der Frauen auf unsere Fahnen geschrieben hatten, niederschmetternd. Kurz zusammengefasst erfuhren 9 10 11

Die neue Untersuchung ist im März 2006 erschienen: Haug, Frigga/Gschwandtner, Ulrike (2006): Sternschnuppen. Zukunftserwartungen von Schuljugend. Hamburg: Argument. Unter „wir“ ist jeweils eine Gruppe von Frauen, die sich für eine Forschung zusammenfanden, gemeint. Da ich jeweils Teil dieser Gruppen war, also eine Konstante in sich ändernden Zusammensetzungen, benutze ich dieses plurale Subjekt „wir“. Ernst Bloch nannte den Entwurf nach vorn die „antizipierende Erinnerung“, weil es natürlich mit eigener Vergangenheit zu tun hat, wie wir uns Zukunft ausmalen.

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wir die Mädchen als mehr oder minder vollständig auf die geträumte Kleinfamilie orientiert, zwar mit Beruf, der sich jedoch in den von Frauen erwartbaren Zonen geschlechtsspezifischer Dienstleistungen und mit wenig Stunden eingeschmiegt in den familiären Alltag fand. Sie hatten einen Mann, zwei Kinder, meist ein Junge, der Ältere, ein Mädchen, einen Hund, ein Eigenheim. Es wurde viel gewartet, sauber gemacht, auf den Feierabend gehofft. Die Jungen dagegen träumten sich ausschreitend und eingreifend in Welt, zudem fast immer ohne Familie, bis auf einen, dem seine Frau einen Pudding kocht, bevor er auf Fernreise geht (vgl. Haug 1980). Als Frage blieb: Was tun die Mädchen mit sich, wir mit ihnen – und welche Möglichkeiten gibt es, dass sie sich in die Welt eingreifend einbauen, entwickeln, verändern, maßnehmen? Was steht eigentlich bei Mädchen gegen die ausgreifende, selbstbewusste Aneignung von Welt? Wir haben dazu in wechselnden Gruppen umfangreiche Studien durchgeführt und stießen immer wieder auf die Kinderfrage bzw. ihre Ungelöstheit in Gesellschaft. Die vielfältigen Ergebnisse sind hier nicht darzustellen – man kann dies in den in der Bibliographie angegebenen Bänden Frauenformen nachlesen. Diese erste Studie zur Frage der Entwicklung von Mädchen ist jetzt 25 Jahre her. Inzwischen versickerte die Frauenbewegung; es gab einen Generationenwechsel. Zeit also, eine neue Untersuchung zu machen. Diese umfasst etwa 500 Schulaufsätze aus 30 Schulen in Deutschland und Österreich. Sehr knapp zusammengefasst kann man sagen, dass eine Reihe von Hauptlinien denen der alten Studie gleichen, jedoch die Dimensionen, die wir als spezifisch weiblich annahmen und problematisch fanden, jetzt auch von den Jungen geteilt werden. Das gilt für den Familienwunsch mit ca. 2 Kindern, die sekundäre Erwerbsarbeit der Frauen – also Teilzeit oder zumindest weniger Stunden als der Mann –, für die rigorose Zeit-Struktur (jeden morgen sehr früh aufstehen, den Tagesablauf stundenweise planen und Tag für Tag das Gleiche tun usw.), in die jetzt auch Jungen ihre Leben entwerfen. Dabei gibt es die zeitgemäße Veränderung, dass auch Jungen sich an Hausarbeit beteiligt denken, auch sie die Kinder in den Kindergarten schaffen usw. In der neuen Studie kommen, ebenso wie in der alten, die gewünschten Kinder im Wesentlichen als Organisationsproblem vor. Sie müssen weggebracht und abgeholt werden. Es gibt keine Berichte über ein Leben mit ihnen. Neu ist eine Zunahme an Dystopien, also die Befürchtung, dass man im Leben scheitert. Gleichwohl bleibt als geradezu aufdringliche Perspektive, insbesondere bei den österreichischen Jugendlichen, das Glück. Es tritt so rosarot in den Geschichten auf wie aus einem Werbeprospekt für einen Urlaub in der Karibik. Verstärkt hat sich die Tatsache, dass das Fernsehen der mächtigste Erzieher der kommenden Generation ist. Obwohl man Weltereig28

nisse im Fernsehen täglich zu sehen bekommt, gibt es im Grunde in den Aufsätzen keine gesellschaftlichen Krisen und keine Widersprüche; selbst bei den 19jährigen Frauen gibt es kein Bewusstsein von Frauenunterdrückung. Die Liberalisierung der gesellschaftlichen Zumutungen an Frauen hat offenbar dazu geführt, dass die Einzelnen für sich eine Zukunft ohne Angst für möglich halten: fortwährendes himmelblaues Glück, sanfte Zärtlichkeit, immer hilfreiche Ehemänner, 2-3 wunderbare und vor allem schöne Kinder ohne irgendwelche Probleme oder gar Krankheit, ein Halbtagsjob oder weniger, dass Beruf und Familie einander nicht in die Quere kommen. Ein sicheres Wohlleben. Ganz offenbar hebt das Imaginäre ab von theoretisch Gewusstem ebenso wie von der eigenen Erfahrung etwa mit der Elterngeneration. Wir schlossen daraus, dass es an Wahrnehmungs- und Übersetzungsfähigkeiten fehlt, die verhindern, dass das Imaginäre, das doch die Schritte der Einzelnen leitet, sich schwerelos über die mögliche Handlungsfähigkeit im Alltag hinwegflüchtet. Wir veröffentlichten die Studie auch als eine Art öffentlichen Auftrag an Intellektuelle, allgemein Bildungsarbeiterinnen, hier eingreifende Vorschläge zu machen. Sie sollten darauf abheben, dass die in allen Zukunftsträumen vorherrschende Passivität der Schülerinnen – die Dinge geschehen ihnen, das Schicksal meint es gut, Beruf, Familie, Mann, Kind stoßen ihnen zu, ebenso wie Raubbau an Natur ohne sie einfach gegeben ist, durchgearbeitet wird, um stärkeren Personen, die gestaltend eingreifen, Raum zu ermöglichen, sich selbst als Subjekt zu erfahren. Antonio Gramsci skizziert in seiner Philosophie der Praxis, dass der Umstand, dass Menschen nicht in die Gestaltung eigenen Lebens einbezogen sind, sie zu politischer Passivität und Ohnmacht bis hin zu völliger Handlungsunfähigkeit bringt (vgl. Gramsci 1991-2002: Bd. 6, H, 11, 12, Anm.1). Die „wirklichen Menschen“ können mithin in intellektueller Unterwerfung und Unterordnung handeln und zugleich auch einer anderen Praxis folgen, kurz: ihr Alltagsverstand ist widersprüchlich. Sie haben zumindest „zwei theoretische Bewusstseine“, eines aus der für sie bestimmenden Praxis, eines, welches sie ohne Kritik aus der Vergangenheit übernommen haben. Dabei kommen die Einzelnen bis zu dem Punkt, „wo die Widersprüchlichkeit des Bewusstseins keinerlei Handlung erlaubt, keinerlei Entscheidung, keinerlei Wahl, und einen Zustand moralischer und politischer Passivität hervorbringt“ (ebd.). Es ist notwendig, dass die Einzelnen sich aus solch unlebbarer Zersetzung und Inkohärenz herausarbeiten und sich selbst erkennende und also handlungsfähige Personen werden. Gramsci nennt das „dem eigenen Handeln eine bewusste Richtung“ geben. Dafür müssen sie, wie er das nennt, „Philosophen“ werden. Das bedeutet für ihn, eine stimmige Weltauffassung zu erlangen, mit der sie einverstanden sein kön29

nen. Der einzige Weg, dies zu tun, ist ein gemeinsames soziales Projekt, welches auf Gesellschaftsveränderung gerichtet ist. Dies deshalb, weil die Problematik ihres hinterrücks sie ereilenden Zerrissenseins auch ein Resultat ist, erwachsen aus dem Umstand, dass die Einzelnen am gesellschaftlichen Projekt nicht oder nur in unterworfener Form beteiligt sind. Dieser Umstand wiederum bedingt die Notwendigkeit von organischen Intellektuellen in diesem Projekt, die den Weg bereiten, dass jede(r) eine Intellektuelle(r) sein kann. Ihre Aufgabe ist es nicht, „eine Wissenschaft ins Individualleben „Aller“ einzuführen, sondern eine bereits bestehende Aktivität zu erneuern und „kritisch“ werden zu lassen“ (ebd.). Es ist als schrieben einige der Schülerinnen sich explizit in ein solches Muster der eigenen Passivierung ein. So gibt es eine recht kurze Notiz, in der sich die Autorin fast passiv imaginiert, obwohl auch sie, wie fast alle, einen Beruf hat. Man kann auch hier gut studieren, wie die Abwesenheit von fast allem Lebenswerten die genannte Passivität hervorbringt: Wieder klingelt der Wecker. Sie hat einen Mann und 2 Kinder. Sie macht das Frühstück und bringt die Kinder zur Schule. Früher war sie froh, dass ihre Mutter eine Hausfrau war. Jedoch „heuer ist alles anders. Jetzt müssen beide Elternteile arbeiten, um sich auch etwas leisten zu können. Aber ich versuche trotzdem, so viel Zeit wie möglich mit meinen Kindern zu verbringen und sie auf die Zukunft vorzubereiten. Ab 12.00 Uhr Mittagspause. Ich fahre nach Hause, bereite ein Schnellgericht vor. Schade, dass ich an Werktagen keinen Braten machen kann. Heute hat man nur noch Stress, und alles muss auf die Schnelle gehen. Mein Bruder sagte einmal zu mir: ‚Zeit hat man nicht, Zeit nimmt man sich!’ Aber das funktioniert leider nur mehr am Wochenende. Ah, die Kinder sind zu Hause. Es wird gegessen, zusammen geräumt und nun geht es zu den Hausübungen. Ich mache nebenbei die Buchhaltung als Heimarbeit. So vergehen die Stunden und es wird Abend und mein Mann kommt nach Hause. Es wird zu Abend gegessen. Die Kinder gehen ins Bett und mein Mann und ich machen es sich gemütlich vor dem Fernseher. Später gehe ich zu Bett und wünsche eine gute Nacht.“

Viele Texte machen es den Berichterstatterinnen schwer, sich nicht erhaben von der berichteten Nichtigkeit abzuwenden, sondern stattdessen solche Zeugnisse ernst zu nehmen als Alarmzeichen, die allseits nach eingreifender Hilfe rufen in die schulübliche Pädagogik, in die Möglichkeiten, Fantasie zu entwickeln, selbst aktiv zu werden, das Leben in eigene Hände zu nehmen. Und für die Subjekte im Neoliberalismus müssen wir wohl für die kommende Generation konstatieren, dass die Saat: „jeder für sich, niemand für alle“ aufgegangen zu sein scheint.

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6.2. Unternehmerinnen Das zweite Projekt, aus Erinnerungsarbeit als Versuch aus dem Alltag und seiner Erfahrung zu lernen, gilt der Frage, wie Frauen selbstbewusst freie Selbstbestimmung leben. Das Sample umfasst neue Unternehmerinnen, also Ich-AGs und Selbstunternehmertum zumeist aus Beratungsinitiativen. Das Thema zu dem geschrieben wurde, heißt: „Da war ich gern selbstständig ...“ Es führt an dieser Stelle zu weit, Erinnerungsarbeit vorzustellen und dann die geschriebenen Texte und unsere Arbeit damit. Sehr knapp sei lediglich als eine Art Ergebnisthese formuliert, was wir als Subtext unter dem geschriebenen fröhlichen und erfolgsbetonten Text entzifferten: „Es ist mörderisch, selbständig zu sein, denn es funktioniert nur unter Selbstverlust, indem man die Sinnesorgane von der Wahrnehmung der äußeren Welt abschottet; alle Energie wird in das Schreiben von Werbeprospekten über sich selbst investiert.“ Die neoliberale Anrufung hat sich so als eine Art Selbstzerstörung in den Einzelnen etabliert. 7.

Unverbindliche Schlussfolgerung

Da dieser Text aus einem Vortrag an einer Universität vor Forscherinnen im Kontext von „Gender und Gesellschaft“ stammt, erlaube ich mir eine allgemeine Aufforderung: Es erscheint mir dringlich, die Verbindung von Alltag, von Einzelnen mit dem Gesellschaftsganzen zu studieren und an der Verbindung praktisch mitzuarbeiten. Ins neoliberale Projekt sind die Individualisierung, die Abkopplung vom Gesellschaftsganzen, die Selbstbezüglichkeit eingebunden als Verzicht, das Ganze überhaupt auf sich bezogen wahrzunehmen, geschweige denn, sich dafür bzw. für Veränderung einzusetzen. Ich habe einmal vorgeschlagen, einen neuen Geschlechtervertrag einzufordern – der alte war der zwischen Ernährermann und Hausfrau. Dieser neue kann nicht ausgehen vom Standpunkt der Freiheit des Einzelnen, sondern von dem der Verantwortung für Zukunft, für die nächste Generation, die geteilt sein will. Es geht darum, nicht länger Verantwortungen aufgebürdet zu bekommen, für deren Bedingungen zu sorgen man keine Möglichkeiten und keine Einflussnahme hat: Es geht um so grundlegende Dinge wie Fragen der Bildung, der Nahrung, der Stadtgestaltung, des Verkehrs, der Qualität von Luft zum Atmen, von Umwelt etc. Es geht darum, die Frage der Gattungsreproduktion oder der Erziehung der nächsten Generation zur politischen Frage zu machen und dieses in der Umgestaltung der derzeitigen Geschlechterverhältnisse, die auch Politikund Produktionsverhältnisse sind, neu zu regeln. Nicht weil ich Geschlechter31

verhältnisse für ein privates Ausklüngeln halte, sondern weil die jetzige unvernünftige und lebensfeindliche Regelung auf den tradierten Geschlechterverhältnissen aufsitzt. In den Worten von Christa Wichterich (2005: 6): „So baut das neoliberale Regime auf bestehenden Geschlechterungleichheiten auf, modernisiert sie aber gemäß der Markt-, Effizienz- und Wettbewerbslogik.“ Sie fordert: „Zentraler Baustein feministischer Globalisierungskritik ist feministische Ökonomie, die das Gesamt von Arbeit und Wirtschaft – den Zusammenhang von Produktion und Reproduktion, unbezahlter und bezahlter Arbeit, Markt und Sorgeökonomie ins Zentrum stellt“ (ebd.: 7). Die Charakteristika der Sorgeökonomie seien Solidarität, Kooperation und Zuneigung, während auf dem Gegenpol der Marktökonomie Konkurrenz, Effizienz und Egoismus herrschten (vgl. ebd.: 63). „Wenn die Geschlechter erst anfangen, ihre Verhältnisse mit nüchternen Augen zu sehen, geraten ihnen die gesamtgesellschaftlichen Verhältnisse als dringlich zu verändernde in den Blick“, schrieb ich damals (Haug 1996). Es gilt weiter. Feministische Kapitalismuskritik bezieht sich auf das gute Leben aller in einer Gesellschaft, die sich nicht selbst zerstört und die Zukunft nicht auf Kosten vieler verspielt. Sie verlangt neben dem leidenschaftlichen Engagement die wissenschaftliche Analyse dessen, was ist und sich verändert. So auch ist die Politik stets zu verändern und den neuen Bedingungen anzupassen. Nichts gilt ein für allemal außer dass, was immer wir tun, wofür wir uns einsetzen mit dem Kampf um die Veränderung der Gesamtgesellschaft verbunden werden muss. Insofern sind die Lage der Frauen und ihre Kämpfe ein Gradmesser für die Entwicklung der Gesellschaft, wie schon Fourier, Marx und Engels und Virginia Woolf voraussahen. Literatur Ehrenreich, Barbara (2001): Arbeit poor. Unterwegs in der Dienstleistungsgesellschaft. München: Kunstmann Giarini, Otto/Liedtke, Patrick M. (1998): Wie wir arbeiten werden. Der neue Bericht an den Club of Rome. Hamburg: Hoffmann und Campe Giddens, Antony (1999): Der Dritte Weg. Die Erneuerung der sozialen Demokratie. Frankfurt/M.: Suhrkamp Gramsci, Antonio (1991-2002): Gefängnishefte. Hgg. von K. Bochmann, W.F. Haug, P. Jehle. Berlin und Hamburg: Argument Haug, Frigga (Hrsg.) (1980): Frauenformen. Alltagsgeschichten und Entwurf einer Theorie weiblicher Sozialisation. Berlin: Argument (4.Aufl. gänzlich überarbeitet und aktualisiert unter neuem Titel: Erziehung zur Weiblichkeit. Berlin und Hamburg: Argument 1991) Dies. (Hrsg.) (1991, zuerst 1983): Sexualisierung der Körper. Frauenformen 2. Berlin: Argument (3., überarbeitete Auflage)

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Dies./Hauser, Kornelia (Hrsg.) (1988, zuerst 1985): Subjekt Frau. Kritische Psychologie der Frauen 1. Frauenformen 3. Berlin: Argument (2. Aufl.) Dies./Hauser, Kornelia (Hrsg.) (1989, zuerst 1986): Der Widerspenstigen Lähmung. Kritische Psychologie der Frauen 2. Frauenformen 4. Berlin: Argument (2. Aufl.) Dies./Hauser, Kornelia (Hrsg.) (1988): Küche und Staat. Die Politik der Frauen. Frauenformen 5. Berlin: Argument Dies./Hauser, Kornelia (Hrsg.) (1994, zuerst 1991): Die andere Angst. Frauenformen 6. Berlin (1. Aufl.) bzw. Hamburg (2. Aufl.) Argument Dies./Wollmann, Eva (Hrsg.) (1993): Hat die Leistung ein Geschlecht? Erfahrungen von Frauen. Frauenformen 7. Berlin und Hamburg: Argument Dies./Hipfl, Brigitte (Hrsg.) (1995): Sündiger Genuss? Filmerfahrungen von Frauen. Frauenformen 9. Hamburg: Argument Dies./Wittich-Neven (Hrsg.) (1997): Von Lustmolchen und Köderfrauen. Zur Politik um sexuelle Belästigung am Arbeitsplatz. Frauenformen 10. Berlin und Hamburg: Argument Dies. (1996): Das neoliberale Projekt, der männliche Arbeitsbegriff und die fällige Erneuerung des Geschlechtervertrags. In: Das Argument 5/6, 38. Jg., Nr. 217: 683-696 Dies. (2003): Schaffen wir einen neuen Menschentyp. Von Henry Ford bis Peter Hartz. In: Das Argument 252, H. 4/5: 606-617 Dies. (2005, zuerst 1999): Vorlesungen zur Einführung in die Erinnerungsarbeit. The Duke Lectures. Hamburg: Argument Dies. (2003a): Frageräume. Lernen von Virginia Woolf. In: Dies. (2003a): 104-122 Dies. (2003a): Lernverhältnisse. Selbstbewegungen und Selbstblockierungen. Hamburg: Argument Dies. (Hrsg.) (2003b): Historisch-kritisches Wörterbuch des Feminismus (HKWF). Hamburg: Argument Dies./Gschwandtner, Ulrike (2006): Sternschnuppen. Zukunftserwartungen von Schuljugend. Hamburg: Argument Kollontai, Alexandra (1977): Die neue Moral und die Arbeiterklasse. Münster: Verlag Frauenpolitik Projekt Automation und Qualifikation (PAQ) (1979, zuerst 1975): Automation in der BRD. Berlin: Argument (3. Aufl.) Projekt Automation und Qualifikation (PAQ) (1987): Widersprüche der Automationsarbeit. Ein Handbuch. Berlin: Argument Smith, Dorothy E. (1994): Familienlohn und Männergewalt. Forum Kritische Psychologie 33. 33-54 Wichterich, Christa (2005): Femme globale. Globalisierung ist nicht geschlechtsneutral. Hamburg: VSA Woolf, Virginia (1987, orig. 1938): Die drei Guineen. München: Frauenoffensive

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Geschlechterverhältnisse als produktive Ressource? Zur Veränderung von Arbeits- und Geschlechterverhältnissen im Neoliberalismus Alexandra Weiss

Geschlechterverhältnisse sind fundamentale Regelungsverhältnisse in allen Gesellschaftsformationen. Das heißt, dass kein Bereich der Gesellschaft sinnvoll untersucht werden kann, ohne die Art und Weise mitzudenken, wie Geschlechterverhältnisse formen und geformt werden. Sie bezeichnen vielschichtige Praxisverhältnisse, die sich sowohl auf die (individuelle) Prägung von AkteurInnen als auch auf das gesellschaftliche Ganze beziehen und widerspiegeln sich so in persönlichen und in gesellschaftlichen Verhältnissen (vgl. Haug 2003: 442-497). Wird dies zum Ausgangspunkt von Überlegungen gemacht, wird klar, dass eine Analyse von Produktionsweisen und Arbeitsverhältnissen ohne die Kenntnis der gesellschaftlichen Organisation von Geschlechterverhältnissen und vice versa eine Beschäftigung mit Geschlechterverhältnissen ohne Einbezug von Produktionsweisen zu kurz greifen muss. Im Zuge des Globalisierungsprozesses finden nun grundlegende Transformationen statt, die auch als Übergang von einer fordistischen zu einer postfordistischen Gesellschaftsformation analysiert werden. Diese Transformationen, mit denen wir konfrontiert sind, beschränken sich aber nicht nur auf die Ökonomie, wie vielfach suggeriert wird, sondern sie erfassen selbstverständlich auch Politik, Gesellschaft und Kultur. Die ökonomische Globalisierung kann nicht getrennt von diesen Entwicklungen analysiert werden und so hält etwa Eva Kreisky fest, dass Globalisierung kein geschlechtsneutraler Prozess ist: „Sie wird durch Geschlecht strukturiert wie sie die Geschlechterordnung zu strukturieren vermag [...], und sie bildet einen bedeutsame Arena zur Konfiguration von Geschlechterverhältnissen wie Geschlechterpolitiken“ (Kreisky 2001: 150). Vor diesem Hintergrund sollen nun folgende Fragen systematisch erörtert werden: x Wie wurden Geschlechter- und Arbeitsverhältnisse im Fordismus gestaltet? x In welcher Weise werden Arbeits- und Geschlechterverhältnisse im neoliberalen Globalisierungsprozess umgestaltet? x Welche Konsequenzen und Perspektiven ergeben sich aus diesen Umwälzungen? 35

1.

Fordismus: Soziale Gerechtigkeit als männliches Projekt?

Die Nachkriegsjahrzehnte werden als Zeit des „gebändigten Kapitalismus“ bezeichnet, die eine Ausnahme in der Geschichte und Entwicklung des kapitalistischen Wirtschaftssystems darstellen. Joachim Hirsch (1998) analysiert die Entwicklung des Kapitalismus als eine Abfolge struktureller Krisen, deren Lösung in der Nachkriegszeit darin bestand, eine spezifische ökonomische Akkumulations- und politisch-soziale Regulationsweise durchzusetzen: den Fordismus1. Mit der Durchsetzung tayloristischer Massenproduktion2 und dem damit einhergehenden Massenkonsum konnte eine strukturelle Verbesserung der Profitabilität des Kapitals durchgesetzt werden. Damit ging eine politisch-soziale Regulationsweise einher, die durch einen hohen Grad an staatlicher Wirtschaftssteuerung, den Ausbau einer staatsinterventionistischen Wachstums-, Einkommens- und Beschäftigungspolitik, die Anerkennung der Gewerkschaften, die Institutionalisierung des Klassenkompromisses im Rahmen korporatistischer Systeme3 und die Verallgemeinerung einer spezifischen Familienform, der Kernfamilie, charakterisiert ist (vgl. Hirsch 1998: 19-20). Theoretische Grundlage dieser Wirtschafts- und Sozialpolitik war der Keynesianismus, der in den Nachkriegsjahrzehnten in allen westlichen Industrienationen bestimmend war und mit dem auch der Ausbau des Sozialstaates wesentlich zusammenhing (vgl. Scharpf 1987). Ausgangspunkt für Keynes’ Theorie war die Weltwirtschaftskrise 1929/30 und die daraus resultierende Massenarbeitslosigkeit, Bankenzusammenbrüche und Unternehmensliquidierungen. Im Gegensatz zur neoklassischen Theorie ging Keynes davon aus, dass das kapitalistische Wirtschaftssystem staatliche Intervention brauche, da der Kapitalismus, je entwickelter er sei, zu Krisen1

2 3

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Als Fordismus wird eine spezifische historische Formation des Kapitalismus bezeichnet, der sich in den USA seit den 1920er/30er und in Europa in der Nachkriegszeit durchsetzte und mit den 1970er Jahren zu Ende ging. „Namensgeber“ ist Henry Ford, der 1914 in seinen Autofabriken die Fließbandproduktion einführte. Diese Produktionsweise hatte nicht nur ökonomische, sondern auch soziale und politische Konsequenzen. Darunter ist die industrielle Massenerzeugung von Gebrauchsgütern unter rationellster Nutzung der menschlichen Arbeitskraft zu verstehen. Als Korporatismus wird die Zusammenarbeit von Staat und den Verbänden der ArbeitnehmerInnen und der ArbeitgeberInnen in Fragen der Wirtschafts-, Sozial- und Beschäftigungspolitik bezeichnet. Die österreichische Variante des Korporatismus ist die Sozialpartnerschaft, die durch eine besonders hohe Autonomie der Verbände gegenüber dem Staat gekennzeichnet war.

anfälligkeit neige. Ein Teil seines Theoriegebäudes ist daher die so genannte „Krisentheorie“, die eine Erklärung der Wirtschaftskrise und der Massenarbeitslosigkeit liefert. Daraus abgeleitet wird eine Beschäftigungstheorie als Grundlage der Krisenbekämpfung und der künftigen Krisenvorbeugung durch eine entsprechende Wirtschaftspolitik (Senf 2001: 198-199). Vorrangig geht es also im Keynesianismus um die Erhaltung der Massenkaufkraft durch hohe Löhne und eine Umverteilung des Produktivitätswachstums sowie die Herstellung bzw. Erhaltung von Vollbeschäftigung durch wirtschaftspolitische Intervention etwa durch die Vergabe von staatlichen Aufträgen und die Förderung von Investitionen. Dazu gehört auch der in den Nachkriegsjahrzehnten eingeleitete Ausbau des Sozialstaates, der nach und nach beinahe die gesamte Bevölkerung erfasste. Der Anteil der durch die Sozialversicherung geschützten Personen stieg in Österreich – vor allem durch die Mitversicherung von Familienangehörigen – von 66% im Jahr 1946 auf 96% im Jahr 1980 und erreichte damit fast das Niveau einer Volksversicherung (vgl. Tálos/Wörister 1994: 37). Der Sozialstaat hatte aber von Beginn an eine geschlechtsspezifische „Schlagseite“. Nachholende Reformen in den 1970er und 1980er Jahren konnten dies nur ansatzweise ausgleichen. Alle Sozialstaatsmodelle sind mehr oder weniger erwerbszentriert und benachteiligen daher Frauen, die überwiegend die unbezahlte Arbeit im Haus, in der Kindererziehung und in der Pflege verrichten. Trotz der Differenzen zwischen den Modellen ist allen Sozialstaaten die Tendenz der fortdauernden Diskriminierung von Frauen im System der sozialen Sicherung gemeinsam. Die Ursache dafür liegt darin, dass die modernen Sozialstaaten das Alleinverdiener/Hausfrauen-Familienmodell bevorzugt und unterstützt haben. Das gilt auch für die skandinavischen Sozialstaaten, die in Bezug auf die Integration von Frauen in den Arbeitsmarkt und das System der sozialen Sicherung als Vorreiter gelten (vgl. Appelt 1999: 97-98). Der Grund liegt unter anderem darin, dass der historische Ausgangspunkt des Sozialstaates die „soziale Frage“ des 19. Jahrhunderts war, die mit der „Arbeiterfrage“ identisch und im Wesentlichen als „Männerfrage“ konzipiert war.4 4

Frauenspezifische sozialpolitische Forderungen bezogen sich in den 80er und 90er Jahren des 19. Jahrhunderts v.a. auf die Mutterschaft. So wurden Mitte der 1880er Jahre erste Mutterschutzgesetze beschlossen (allerdings mit schwacher Wirkung und für nur wenige Berufsgruppen). In den 1890ern wurden Frauenarbeitsschutzgesetze eingeführt, die letztlich dazu führten, dass Frauen aus den Betrieben in die Heimarbeit abgedrängt wurden, wo Schutzgesetze faktisch keine Wirkung hatten. Darüber hinaus gab es in der Arbeiterbewegung deutliche Bestrebungen, Frauen vom Arbeitsmarkt und aus der Bewegung selbst zu verdrängen. Ar-

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Schon seit ihren Anfängen ist die Position der Arbeiterbewegung und Gewerkschaften zur Erwerbstätigkeit von Frauen von einer tiefen Ambivalenz geprägt. Die tatsächliche Konkurrenz aufgrund der niedrigeren Frauenlöhne5, die Angst um Arbeitsplätze, gepaart mit der Infiltration v.a. der relativ qualifizierten lohnabhängigen Männer – der ‚Kernschicht’ der entstehenden Arbeiterbewegung – mit einem bürgerlichen Familien- und Frauenbild, waren Anlass für massive Ausschlusstendenzen schon in der entstehenden Arbeiter- und Gewerkschaftsbewegung in den 80er Jahren des 19. Jahrhunderts (vgl. Hauch 1991: 64). Die aus dieser Haltung resultierende Konsequenz war eine Politik, die Ressentiments gegen Frauen schürte und sie als „Lohndrückerinnen“ diffamierte. Frauen – und nicht Kapitalinteressen – erschienen so als Bedrohung erworbener oder noch zu erkämpfender Rechte. Diese historische Haltung der Gewerkschaften bleibt bis heute prägend und beeinflusst die Ausgestaltung des Sozialstaates. Ausdruck dafür ist unter anderem, dass eine Politik der Gleichstellung von Frauen und Männern am Arbeitsmarkt nie ernsthaft betrieben wurde beziehungsweise an eine gesonderte Frauenabteilung delegiert wurde, die an den zentralen sozialpartnerschaftlichen Aushandlungsprozessen nicht beteiligt war. Die Machtlosigkeit von Frauen in den Gewerkschaften hat seinen Ursprung gerade in der gesonderten Organisierung von Fraueninteressen in den so genannten „Frauenabteilungen“, die selten in die Zentren der gewerkschaftlichen Gremien vordringen, und spiegelt sich im sozial-partnerschaftlichen System wider (vgl. Neyer 1997: 69-71). Gewerkschaften erweisen sich als „Männerbünde“ (vgl. Kreisky 1994), indem sie partikulare männliche Interessen durch politische Allianzen verallgemeinern und diese so als allgemeine Interessen der ArbeiterInnenschaft postulieren können. Den kollektiven Interessen von Männern wird über die Einbindung der Gewerkschaften in korporatistische Systeme (in Österreich des Österreichischen Gewerkschaftsbundes in die Sozialpartnerschaft) und in das politische System die Möglichkeit eingeräumt, die Inhalte von Politik und damit auch die Ausgestaltung von Geschlechterverhältnissen mitzubestimmen. Fraueninteressen und Frauenarbeit werden in diesen Zusammenhängen im politischen Diskurs zum Verschwinden gebracht und ins Private abgeschoben. Was sind

5

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gumentiert wurde hier zum einen mit der Konkurrenz durch die niedrigen Frauenlöhne, aber auch mit der „Unsittlichkeit“ von Frauen, die in Fabriken arbeiten oder sich in politischen Zusammenhängen engagieren. Die Frauen sollten sich – gemäß dem bürgerlichen Familienmodell – nur im privaten Bereich des Hauses bewegen (vgl. Scott 1994 und Hauch 1991). Im 19. Jahrhundert verdienten Frauen in der Regel ca. 50% weniger als Männer (vgl. Hauch 1991).

aber die Ursachen für frauenausschließende Mechanismen und dafür, dass grundlegende gesellschaftliche Widersprüche nicht erfasst werden? Einer der wesentlichen Gründe liegt in den theoretischen Grundlagen der Gewerkschafts- und Arbeiterbewegung, in denen Frauenarbeit – bezahlte als auch unbezahlte – wenig Beachtung geschenkt wurde oder nur im Zusammenhang mit der Veränderung der Arbeit und der Arbeitsverhältnisse durch die Industrialisierung vorkommt (vgl. Marx 1957 [1867]: 251-259).6 Frauen finden weder in ihrer Rolle als (Industrie-)Arbeiterinnen und noch weniger in der als Hausarbeiterinnen Erwähnung oder gar Anerkennung. Der Bereich der materiellen Reproduktion wird in der klassischen marxistischen Theorie hintangestellt und so der überwiegende Teil der Frauenarbeit nicht in ökonomischen Kategorien analysiert. Die weitgehende Reduktion der Theorie auf die Bereiche der Lohnarbeit und der Produktion wiederholt die Trennung der öffentlichen und der privaten Sphäre – ganz im Sinne der bürgerlich-liberalen Theorie – und verstellt damit nicht nur den Blick auf die Konstituierung herrschaftlicher Geschlechterverhältnisse in der bürgerlichen Gesellschaft, sondern auch auf die spezifische Funktionsweise kapitalistischer Produktion (vgl. Ivekoviü 1984). Ein anderer Grund liegt in der Ausprägung eines „proletarischen Patriarchalismus“ in der entstehenden Arbeiterbewegung, der sich hinsichtlich der Wohlfahrt der ArbeiterInnenschaft an einem verallgemeinerten bürgerlichen Familienmodell orientierte (vgl. Weiss 2004). Vor diesem Hintergrund wird deutlich, warum die Politik der Gewerkschaft (nach wie vor) von dem Widerspruch zwischen Kapital und Arbeit geprägt ist, die Widersprüche zwischen nicht entlohnter Arbeit, Lohnarbeit und Kapital jedoch ausgeblendet bleiben (vgl. Neyer 1997: 71-73). Nichtbezahlte Arbeit wird so im politischen Diskurs zum Verschwinden gebracht und ins Private abgeschoben; hierarchische Geschlechterverhältnisse werden damit politisch ab-gesichert. Daraus ergibt sich schließlich die Zweigeteiltheit der Ansprüche in jene, die aus der Lohnarbeit resultieren und auf Männer zugeschnitten sind und jene, die abgeleitet oder subsidiär bestehen, wie zum Beispiel an der Mitversicherung von Familienangehörigen in der Krankenversicherung deutlich wird (vgl. Kreisky 1995: 212; Cyba 2000: 253). Frauen werden in Be6

Marx spricht im ersten Buch vom „Kapital“, 13. Kapitel „Maschinerie und große Industrie“ (III. „Nächste Wirkungen des maschinenmäßigen Betriebes auf den Arbeiter“) von einer Entwertung der männlichen Arbeitskraft durch die Maschinerie. Männer werden ersetzt durch Frauen und Kinder, also durch „unqualifizierte“ Arbeitskräfte, da die Muskelkraft durch die Maschinerie ersetzt wird (vgl. Marx 1957 [1867]: 251-259). Diese Argumentation findet auch heute noch Verwendung, vor allem wenn es um die Unterscheidung von qualifizierter und unqualifizierter Arbeit geht, die in der Regel geschlechtsspezifischen Trennlinien folgt.

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zug auf ihre soziale Sicherheit auf den Ehevertrag verwiesen, also auf ein privates Abhängigkeitsverhältnis. Eine Absicherung von Reproduktionsarbeit ist im Sozialstaat nicht vorgesehen, Erziehungs-, Betreuungs- und Hausarbeit wird so der Charakter von gesellschaftlich nicht relevanter Arbeit verliehen. Diese Anknüpfung von Gewerkschaften und Arbeiterbewegung an ein bürgerliches Familienideal hatte für Frauenarbeit fatale Konsequenzen: die Abwertung von Frauenarbeit, ihre Definition als „Zuarbeit“ und die Doppelbelastung durch die alleinige Verantwortung für die reproduktive Arbeit, die als „NichtArbeit“ definiert wird. Das Nachvollziehen der Unterscheidung von Frauenarbeit (= unqualifiziert) und Männerarbeit (= qualifiziert) mit den entsprechenden Konsequenzen etwa auf die Entlohnung, die Qualität der Arbeitsverhältnisse, erwies sich dabei als doppelt schädlich. Frigga Haug (1996: 169-170) führt aus, dass etwa im Zuge der Automatisierung der Arbeit, „Männer“- in „Frauenarbeitsplätze“, also „unqualifizierte“ Arbeitsplätze, umdefiniert wurden. Die Definition von Frauenarbeit als unqualifizierte Arbeit, auch durch Gewerkschaften, führte zum einen zu einer Frontstellung von Männern gegenüber Frauen7, zum anderen werden durch zunehmende Automatisierung immer mehr Arbeitsplätze „unqualifizierte“, schlecht bezahlte „Frauenarbeitsplätze“, auf denen auch immer mehr Männer arbeiten. Resultat dieser kurzsichtigen Politik ist ein allgemeines Absenken der Lohniveaus, das auch Männer trifft und den von Gewerkschaften eingeforderten Familienerhalterlohn – ohne Ausgleich auf Seiten der Frauen – beseitigt. Die Institutionalisierung der Kernfamilie und die spezifische Normierung der Zuständigkeiten hängen aber auch mit der historischen Entwicklung des Kapitalismus zusammen. Das kapitalistische System ist auf die physische, psychische und generative Reproduktion von Arbeitskräften angewiesen, kann diese aber nicht oder nur begrenzt im Rahmen der Marktlogik gewährleisten. Für das Verständnis der unterschiedlichen Arbeitsmarktintegration von Frauen und Männern und der geschlechtsspezifischen Arbeitsmarktsegregation ergeben sich daraus folgende Implikationen, die auch Konsequenzen im System der sozialen Sicherung nach sich ziehen: x Erwerbsarbeitsverhältnisse sind auf kontinuierlich und voll verfügbare, d.h. dauerhaft von Familien- und Hausarbeit freigestellte und „reproduktiv versorgte“ Arbeitskräfte ausgerichtet.

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Haug führt an, dass in Zuge der Automatisierung der Druckereien (Einführung des Fotosatzes) von den Gewerkschaften Sozialabkommen und Sperren vereinbart wurden, die das Einstellen von Frauen zunächst verboten (vgl. 1996: 169-170)

Frauen sind auf Grund der ihnen zugewiesenen Haus- und Familienarbeit strukturell für eine solche Vollerwerbstätigkeit nicht „voll“ verfügbar und von daher in der Konkurrenz um bezahlte Arbeit benachteiligt. Darüber hinaus wird „typische“ Frauenarbeit in Haushalt und Kindererziehung nicht als Arbeit anerkannt, was eine systematische Abwertung von Frauenarbeit auch im Erwerbssystem nach sich zieht. x Historisch gesehen sind im Zuge von Industrialisierung und Modernisierung bestimmte, von Frauen unbezahlt erbrachte Dienstleistungen wie Kranken- und Altenpflege sowie Kinderbetreuung ins Erwerbssystem transferiert worden. Es erfolgte aber keine vollständige Verberuflichung. Darüber hinaus konstituierten sich „typische Frauenberufe“, die einen wesentlichen Teil der geschlechtsspezifischen Arbeitsmarktsegregation ausmachen (vgl. Gottschall 1995: 126-128). Unabhängige Existenz und materielle (auch sozialstaatliche) Absicherung sind so vorwiegend für den männlichen Normalarbeiter vorgesehen und möglich. Frauen wurden in diesem System nicht als autonome Individuen, sondern im Rahmen der Familie und ihrer Aufgaben dort verortet. Der Sozialstaat – als Kompromiss zwischen Männern – hat dieses Modell festgeschrieben und in diesem Sinn geht die Entwicklung des Sozialstaates im fordistischen Kapitalismus für Frauen – vorerst – mit einer „Hausfrauisierung“ einher. Wir haben nun gesehen, dass sich soziale, politische und ökonomische Regulierungen im Fordismus vorrangig an männlichen Bedürfnissen orientierten. Da die Macht zu definieren, was als Bedürfnis zu gelten hat, wie es zu interpretieren und in sozialpolitische Leistungen zu übersetzen ist, bei männerbündischen Interessenorganisationen lag, wurden Fraueninteressen als „privat“ aus dem politischen Raum ausgeschlossen. Die zweite Frauenbewegung kritisierte diese Denkweise und setzte mit ihrem Slogan Das Private ist politisch! vor allem die Diskriminierung von Frauen am Arbeitsmarkt, frauenverachtende Sexualpolitik, (sexuelle) Gewalt gegen Frauen, die einengenden Strukturen der Kleinfamilie und die vielfältigen Verflechtungen dieser Unterdrückungsmechanismen auf die politische Tagesordnung. Herrschaftliche Geschlechterverhältnisse wurden auch als (sozial-)staatlich regulierte Verhältnisse analysiert und damit ihrer scheinbaren Natürlichkeit beraubt. Mit dieser Kritik kommt auch der unterschiedliche Status von Frauen und Männern als StaatsbürgerInnen in den Blick. Waren der Sozialstaat und die Frage sozialer Rechte bisher um die Klassenfrage zentriert, so geht es nun auch um die unterschiedliche Behandlung von Frauen und Männern hinsichtlich Arbeit, Reproduktion, Körper und Sexualität. Frauen sind mit einer Beschneidung sozialer und persönlicher Rechte sowie einer Beeinträchtigung ihrer körperlichen Integrität – innerhalb und außerx

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halb der Familie – konfrontiert. Die Verletzung der Integrität des weiblichen Körpers war dann auch – in Form der Abtreibungs- und Gewaltdebatte – ein zentrales Thema der zweiten Frauenbewegung. Frigga Haug beschreibt die vielfältigen Dimensionen des Kampfes um die Legalisierung der Abtreibung, die in der Analyse Licht in „ein wahres Netz von Herrschaft und Ausbeutung hätte bringen müssen: nicht nur Kirche und Staat, auch Ärzteschaft und Pharmaindustrie, Krankenkassen und der fehlende Schutz des geborenen Lebens in unserer Gesellschaft wären als Politikfelder zu entdecken gewesen, die sich in diesem umkämpften Abtreibungsparagraphen wie in einem Brennpunkt verdichteten“ (Haug 1996: 185-186). In diesem Sinn begriffen, führt die Abtreibungsfrage zu einem Nachdenken über Fruchtbarkeit und Mutterschaft, die sexuelle Herrschaft von Männern über Frauen, Beziehungen der Menschen zu ihrem Körper, Gesetze und Parlament, ein demokratisches und soziales Gesundheitswesen, ein umfassendes System der Kinderbetreuung, Bevölkerungspolitik, empfängnisverhütende Technologien und Profite der Pharmaindustrie, die Rolle von Kirche und Justiz, den Zusammenhang von Sexualität und Politik, Familienpolitik und staatliche Haushalte, oder die Rolle der Wissenschaft bei der Legitimierung von Herrschaft. (vgl. ebd.: 163). Gerade an dem Konflikt um die Legalisierung der Abtreibung wird deutlich, dass es sich hier, wie bei vielen Forderungen der Frauenbewegung, auch um die Einforderung bürgerlicher Freiheitsrechte für Frauen handelte. Die Verwobenheit dieser Frage mit anderen Politikbereichen zeigt aber auch, dass sie weit darüber hinausreicht. Die Beschränkungen, denen Frauen unterworfen werden, sind wesentlicher Ausdruck männlicher Macht und Herrschaft und beeinträchtigen den Zugang von Frauen zur öffentlichen Sphäre bzw. verhindern ihre freie Bewegung und Artikulation im politischen, öffentlichen Raum als Staatsbürgerinnen (vgl. Orloff 1993: 307-309). Durch den Druck der neuen Frauenbewegung und internationale Trends8 wurden in den 1970er Jahren geschlechterpolitische Reformen durchgeführt. So wurde 1975 in Österreich mit der Reform des Strafrechtes die Fristenregelung eingeführt und 1976 das patriarchale Familien- und Eherecht durch ein partnerschaftlicheres ersetzt. 1979 wurde das – 1985 novellierte und erweiterte – Gesetz über die Gleichbehandlung von Frauen und Männern bei der Festsetzung des Entgeltes beschlossen. (vgl. Tálos/Falkner 1992: 207-210). Diese Maßnah8

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Die zweite Frauenbewegung als internationales Phänomen erlangte große öffentliche Aufmerksamkeit. So wurden frauen- bzw. geschlechterpolitische Anliegen verstärkt auch auf dem traditionellen politischen Parkett wahrgenommen und verhandelt. 1975 rief etwa die UNO das „Jahr der Frau“ aus und von 1976 bis 1985 die UNO-Dekade der Frau.

men sind auch als Teil einer europäischen „Gesetzgebungswelle“ gegen die Diskriminierung der Frauen im Arbeitsleben zu betrachten (vgl. Münz/Neyer 1986). Das geschlechterpolitische Arrangement des Fordismus – auf dem auch der Sozialstaat basierte –, das von einer männlichen Vollerwerbstätigkeit und der allenfalls marginalen Arbeitsmarktintegration von Frauen ausging, wurde aber bereits in den 1970er Jahren brüchig. Die Frauenerwerbsquote ist im Laufe der 1970er Jahre stark gestiegen: Betrug der Anteil der Frauen am Erwerbspotential in Österreich 1962 noch 37%, so erhöhte er sich 1972 auf 38% und 1983 auf 40,4%. Die Zahl weiblicher Erwerbstätiger (+25%) stieg zwischen 1970 und 1980 auch stärker als der der Männer (+ 11%). Verantwortlich dafür sind verschiedene soziale Prozesse und politische Entscheidungen. In der Phase der Hochkonjunktur verstärkte sich die Tendenz, Frauen9 ins Erwerbsleben zu integrieren. Ausschlaggebend waren aber auch die Bildungsexpansion der 1970er Jahre von der vor allem junge Frauen profitierten, sowie die seit Ende der 1960er Jahre propagierten Nachschulungen und Wiedereingliederungshilfen der Arbeitsmarktverwaltung. Nicht zu unterschätzen dürfte auch ein ‚Ermutigungseffekt’ sein, der von solchen Maßnahmen ausgeht und das gesellschaftliche und individuelle Bewusstsein über Frauenarbeit zu verändern vermag. Durch die erhöhte Erwerbsbeteiligung hatten auch immer mehr Frauen Zugang zu den bestehenden arbeits- und sozialrechtlichen Maßnahmen (vgl. Pelz 1986: 86-88). Wenngleich Schritte in Richtung Geschlechterdemokratie festzustellen sind, so blieb doch eine politische, sozialstaatliche und kulturelle Absicherung herrschaftlicher Geschlechterverhältnisse bestehen. Überdies wurden weiterreichende Reformen durch die wirtschaftliche Rezession und den darauf folgenden Angriff auf den Sozialstaat im Ansatz erstickt. Die staatliche Geschlechterpolitik konzentrierte sich ab den 1980er Jahren mehr und mehr auf eine rechtliche Gleichstellungspolitik, die für viele Frauen, insbesondere in gering qualifizierten Bereichen, wenig Relevanz besaß. Materielle Interessen und Umverteilungspolitik wurden zunehmend in den Hintergrund gedrängt.

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Hier wurden insbesondere verheiratete Frauen und Mütter vermehrt angesprochen. Unterstützt wurde dies mit einem verstärkten Ausbau von Kinderbetreuungseinrichtungen und der Einführung von Kinderbetreuungsbeihilfen, wenngleich anzumerken ist, dass parallel dazu auch sozialpolitische Maßnahmen gesetzt wurden, die für Frauen Anreize schufen, die Erwerbstätigkeit aufzugeben (siehe z.B. die Novelle des Karenzgeldes 1974) (vgl. Khazen 1997: 37).

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2.

Post-Fordismus: Deregulierung und Sozialstaatsabbau

Ende der 1970er Jahre zeichnete sich eine Krise des fordistischen Akkumulationsmodells10 ab, die auch eine Krise des Sozialstaates einleitete. Die Vereinbarkeit von Kapitalprofit und Massenwohlfahrt war nicht mehr gegeben und damit wurde auch die Grundlage für den so genannten Klassenkompromiss – in Österreich institutionalisiert in der Sozialpartnerschaft – brüchig. Der Fall der Profitraten, angezeigt durch eine Verlangsamung des Produktivitätswachstums, der Anstieg der Gesamtkosten der Arbeit (einschließlich der indirekten Löhne des Sozialstaates) und ein Anstieg der Rohstoffpreise gelten als Auslöser der Krise (vgl. Leborgne/Lipietz 1996: 698). Der Sozialstaat mit seinem umfassenden Leistungssystem hätte in dieser Situation nur durch eine stärkere Umverteilung von oben nach unten gewährleistet werden können, stattdessen wurde der Klassenkompromiss einseitig aufgekündigt. Ideologisch verarbeitet wurde die Demontage des Sozialstaates mit Parolen wie Wir haben über unsere Verhältnisse gelebt oder Der Sozialstaat ist in Zeiten wirtschaftlicher Krisen nicht mehr finanzierbar. Vor diesem Hintergrund fand auch ein Paradigmenwechsel in der Wirtschaftspolitik statt: von einer keynesianischen (nachfrageorientierten) hin zu einer monetaristischen (angebotsorientierten) Wirtschaftspolitik. Grundaussage des Monetarismus ist, dass der Kapitalismus an sich nicht krisenanfällig sei, für Krisen verantwortlich sei allenfalls eine falsche Fiskalpolitik der Regierungen oder eine falsche Geldpolitik der Zentralbanken. Entsprechend der neuen wirtschaftspolitischen Ausrichtung sollte das kapitalistische System einfach seinen eigenen Mechanismen überlassen werden (vgl. Senf 2001: 249-250, 254). Wie alle Wirtschaftstheorien ist der Monetarismus eine androzentristische Theorie, die auf abstrakten Vorstellungen des Marktgeschehens beruht. Im Gegensatz zum Keynesianismus erscheinen Gesellschaft und Politik hier grundsätzlich als Störfaktoren, deren Einfluss auf die Ökonomie es zu minimieren gilt. Der Markt wird dabei grundsätzlich als geschlechtsneutral konstruiert. Birgit Sauer (2003: 103) weist etwa darauf hin, „dass Märkte soziale Interaktionen sind und auf gesellschaftlichen Normen und Institutionen basieren. [...] Märkte sind also keine ‚natürlichen’ Sphären, wie dies die Neoklassik postuliert, son10

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Zum einen stieß das Modell tayloristischer Arbeitsorganisation an Grenzen; Produktivitätswachstum konnte nun weniger mit Arbeitsteilung, sondern mehr mit technischer Innovation und Automatisierung erzielt werden. Zum anderen war die hierarchische und autoritäre Strukturierung der Arbeitsorganisation immer weniger mit den allgemeinen gesellschaftlichen Demokratisierungstendenzen zu vereinbaren.

dern sie sind herrschaftlich durchtränkt“ und sie haben hierarchische Geschlechterverhältnisse zur Grundlage. Zentral ist dabei die Trennung von Produktion und Reproduktion, die der traditionellen geschlechtlichen Arbeitsteilung folgt und reproduktive Arbeit entwertet. Überdies wird im Zuge neoliberaler Politik die im Fordismus ansatzweise realisierte Vergesellschaftung von Reproduktionsarbeit sukzessive wieder zurückgenommen. Die vom Monetarismus propagierten Reformen bestehen vor allem im Abbau des staatlichen Haushaltsdefizits und einer Verminderung der Geldschöpfung, was mit dem Ende keynesianischer Nachfragepolitik einherging, das heißt, dass Staatsausgaben – hier stehen in erster Linie sozialstaatliche Ausgaben zur Diskussion – sowie Lohn- und Lohnnebenkosten reduziert werden sollen. Wenn von der Nachfrageseite (durch Konsum) her die Gewinnmöglichkeiten der Unternehmen eingeschränkt werden, müssen von der Angebots- bzw. Kostenseite her neue Bedingungen geschaffen werden. Realisiert werden die geforderten Kostensenkungen vor allem im Bereich der Arbeitskosten, der Steuern oder der Umweltschutzkosten (vgl. Senf 2001: 256-258). Heiner Ganßmann (2001: 51) stellt etwa fest, dass das primäre Kriterium der Steuerlastenverteilung nicht mehr die Belastung nach Leistungsfähigkeit11, sondern die Unfähigkeit zur Steuervermeidung ist. Das bedeutet, dass sich eine Wende hin zu einer stärkeren Belastung der abhängig Beschäftigten vollzogen hat, die der Steuerbelastung schlechter ausweichen können. Ein internationaler Vergleich zeigt, dass in Österreich der Faktor Arbeit überdurchschnittlich hoch besteuert wird. Zu den aufkommensstärksten Steuern zählt 2005 neben der Umsatzsteuer mit 33,9% die Lohnsteuer mit 30,2%. Die Besteuerung von Vermögen ist in Österreich (in Prozent des Gesamtaufkommens im Jahr 2003) hingegen mit 1,3% unterdurchschnittlich12 (vgl. Lunzer 2006: 20-23). Bereits Mitte der 1990er Jahre betrug das Aufkommen an Vermögenssteuern13 in Österreich nur mehr 1,6% des gesamten Abgabenaufkommens. Österreich bildet damit das Schlusslicht unter den OECD-Ländern und erweist sich als Steueroase für VermögensbesitzerInnen (vgl. Predel 1998: 44-45). Die gesamte Abgabenlast für unselbstständige Arbeit steigt in Österreich hingegen rasant und liegt mit 40,5% im Jahr 2003 über dem EU-Durchschnitt. Die regressive Wirkung der Sozial11 12 13

Die steuerliche Belastung nach der Leistungsfähigkeit entspricht der Tradition der progressiven Einkommensbesteuerung. Höhere Einkommen werden demnach mit höheren Steuersätzen belastet. So beliefen sich die Vermögenssteuern 2003 in Deutschland etwa auf 2,4%, in Großbritannien auf 11,8%, in Frankreich auf 7,3% und in den USA gar auf 12,2% des Gesamtaufkommens (vgl. Lunzer 2006: 23). Erbschaftssteuern, Grundsteuern, Vermögenssteuer, Grund- und Kapitalverkehrssteuer usw.

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versicherungsbeiträge und der hohe Anteil der ebenfalls regressiven Umsatzund Verbrauchssteuern am Abgabenaufkommen führen dazu, dass das österreichische Steuersystem praktisch keine Progressivität aufweist (vgl. Watch Group 2006: 28-29). Dem Prinzip der Leistungsfähigkeit wird damit immer weniger entsprochen und die damit verbundenen Verteilungseffekte – zuungunsten abhängig Beschäftigter und geringer Einkommen – werden kaum noch diskutiert. Die Senkung der Arbeitskosten erfolgt im Wesentlichen über die Etablierung neuer Beschäftigungsformen. Deren Folgen für Formen, Qualität und resultierende Einkommen sind inzwischen offenkundig und werden unter dem Stichwort der Atypisierung zusammengefasst. Direkte Kostenvorteile für Unternehmen sind etwa das Wegfallen von Kündigungskosten bei befristeten Beschäftigten, LeiharbeiterInnen oder arbeitnehmerähnlichen Scheinselbstständigen. Andere Bestandteile der Lohnkosten wie Sozialversicherungsbeiträge fallen meist in einem geringeren Ausmaß an, als bei Normalarbeitsverhältnissen. Darüber hinaus bestehen überdurchschnittlich oft kein tarifvertraglich festgesetzter Mindestlohn und oft auch kein Anspruch auf Lohnfortzahlung im Krankheitsfall oder auf Urlaubsgeld (vgl. Fink 2000: 402). Durch das Zunehmen von atypischer Beschäftigung und die gleichzeitig steigende Arbeitslosigkeit reduzieren sich aber die Sozialversicherungsbeiträge im System der sozialen Sicherung. Dies verstärkt den Druck auf den Sozialstaat und die Beschäftigten, die sich zunehmend gezwungen sehen, Arbeit „zu jeder Bedingung“ zu akzeptieren. Konsequenz dieser Politik ist, dass immer mehr Menschen in die Gruppe der „working poor“ abgedrängt werden. Diese Strategie wirkt geschlechtsspezifisch unterschiedlich: zum einen, weil Frauen in Bezug auf ihre (persönliche) Unabhängigkeit und Arbeitsmarktintegration vom Sozialstaat abhängiger sind als Männer – ein Abbau sozialstaatlicher Leistungen trifft sie daher unmittelbarer –, zum anderen, weil das Segment der neuen (atypischen) Beschäftigungsformen überwiegend weiblich ist. Das Ansteigen der Frauenerwerbstätigkeit ist vor diesem Hintergrund eine zwiespältige Entwicklung, hat sich doch in den letzten Jahren nur die Zahl der Arbeitsplätze von Frauen erhöht und nicht deren Beschäftigungsvolumen. Seit 1985 und insbesondere seit Mitte der 1990er Jahre bestehen die Zuwächse in der Frauenbeschäftigung überwiegend aus zeitlich reduzierten Arbeitsverhältnissen. Erwerbsarbeit wird also nicht zwischen Männern und Frauen, sondern nur zwischen Frauen umverteilt. Dadurch wird die Rolle der Frauen als „Zuverdienerinnen“ zementiert und eine neue, zusätzliche Segregation zwischen Frauen und Männern etabliert, und zwar nach Arbeitsformen bzw. -verträgen (vgl. Rosenberger 2000: 421-422). Insbesondere im Zusammenhang mit der Ausdeh46

nung des Dienstleistungssektors kommt es zu einem Ansteigen der Teilzeitbeschäftigung. In Österreich lag die Teilzeitquote 2004 mit 20,2% über dem EU-15-Durchschnitt von 19,4%. Es ist aber nicht nur der Anteil der Teilzeit höher, auch der Zuwachs hat sich schneller vollzogen als in anderen europäischen Ländern: 1995 lag deren Anteil noch bei 13,9%, während die EU-15 bei 16% lagen. Überdies ist anzumerken, dass sich diese Beschäftigungsform in Österreich wesentlich stärker auf Frauen konzentriert: 2004 waren im EU-15Durchschnitt 31,4% der beschäftigten Frauen in Teilzeitbeschäftigungen, in Österreich hingegen bereits 38,7%. So hat sich zwar die Beschäftigung von Frauen erhöht, das Arbeitsvolumen ist allerdings nicht gestiegen, es ist teilweise sogar zurückgegangen. Gemessen in Vollzeitäquivalenten ist die Beschäftigungsquote seit 1995 (53,4%) sogar gesunken und liegt 2004 bei 49% (vgl. Kammer für Arbeiter und Angestellte 2006: 17-18). Diese Entwicklung hängt natürlich auch mit der Situation in der vor- und außerschulischen Kinderbetreuung zusammen. Bei der europäischen Arbeitskräfteerhebung gaben 40% aller österreichischen Teilzeitkräfte an, dass sie aufgrund von Betreuungspflichten keine Vollzeitbeschäftigung aufnehmen konnten oder wollten. Dramatisch gestiegen ist auch der Anteil der geringfügig beschäftigten Personen. Waren es 1996 noch 148.803 Personen, so waren es 2004 bereits 222.906; rund 70% davon sind Frauen (vgl. ebd.: 19). Die Rede vom „Ende der Erwerbsgesellschaft“ stellt also eine Fehldiagnose dar, sehr wohl sind jedoch Ausdifferenzierungen von Beschäftigungsverhältnissen und eine Zunahme von Arbeitsverhältnissen festzustellen, die keine oder nur eine marginale soziale Absicherung garantieren. Festzuhalten ist auch, dass mit der massiven Zunahme der Teilzeit- und atypischen Beschäftigungen eine reale Arbeitszeitverkürzung, aber keine kollektivvertraglich geregelte, stattfindet. Das bedeutet, dass die Produktivitätssteigerungen der letzten drei Jahrzehnte – auch aufgrund der geschwächten Position der Gewerkschaften – zwar mit Arbeitszeitverkürzung14 einhergingen, allerdings ohne Lohnausgleich. Die Umverteilungsmechanismen zugunsten unterer Schichten wurden außer Kraft gesetzt. Es handelt sich also keineswegs um ein Ende der Erwerbsgesellschaft, sondern zum einen um die zunehmende Arbeitsmarktintegration von Frauen und zum anderen um die Entkoppelung von Erwerbsarbeit und sozialer Sicherheit. Birgit Sauer charakterisiert diese Entwicklung als Feminisierung der Erwerbsarbeit in einem dreifachen Sinn. Erstens werden atypische Erwerbsarbeits14

Die letzte generelle Arbeitszeitverkürzung fand 1975 statt: zwischen 1970 und 1975 wurde die Wochenarbeitszeit von 45 auf 40 Stunden reduziert.

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formen, wie sie für Frauen schon lange Normalität sind, nun zunehmend auch auf Männer ausgedehnt, wobei die empirischen Daten zeigen, dass diese Entwicklung (in Österreich) noch marginal ist. Zweitens meint die Feminisierung der Erwerbstätigkeit den generellen Anstieg weiblicher Erwerbstätigkeit und drittens geht damit ein Absenken des Lohnniveaus auf das von Frauenarbeit – also „Zuarbeit“ – einher (vgl. Sauer 2001: 71-72). Dieser dritte Punkt ist sicher überspitzt dargestellt. Zwar kann davon ausgegangen werden, dass die Lohnentwicklung der letzten Jahrzehnte sehr „moderat“ war und in den letzten Jahren unter jener der 1980er und 1990er Jahren lag. Trotzdem kann nicht festgestellt werden, dass Männerlöhne auf das Niveau von „Zuarbeit“ gesenkt werden, auch wenn sie immer weniger „Familienlöhne“ sind.15 Eine deutliche Entwicklung der letzten Jahre ist vielmehr, dass sich die Einkommensunterschiede16 zwischen Frauen und Männern wieder vergrößern (vgl. Kammer für Arbeiter und Angestellte 2006: 25, 28). Von einem generellen Absenken des Einkommensniveaus auf das von Fraueneinkommen kann vor diesem Hintergrund nicht die Rede sein. Die Arbeitsmarktintegration von Frauen geschieht also vor dem Hintergrund der Prekarisierung von Beschäftigungsverhältnissen und auch der Ausdehnung des informellen Sektors mit gänzlich ungeschützten Beschäftigungsformen (vgl. Sauer 2001: 71-72; Young 1998: 147). Die positiven Wirkungen der Flexibilisierung auf die Beschäftigung sind also fraglich, die Auswirkungen auf die Qualität der Beschäftigung sind aber ohne Zweifel negativ. Ansprüche auf volle soziale Absicherung können mitunter gar nicht mehr erworben werden oder nur in einem Ausmaß, das weit von einer Existenzsicherung entfernt ist. Als „Spätfolge“ ist mit einem Anstieg der Altersarmut vor allem bei Frauen zu rechnen.17 Die Vorteile der flexiblen Gestaltung von Arbeitsverhältnissen liegen also überwiegend auf Seiten der Unternehmen.

15

16 17

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2004 Betrug das mittlere Einkommen von Arbeitern 1.772,- Euro, das von Arbeiterinnen 1.095,- Euro. Das mittlere Einkommen von männlichen Angestellten betrug 2004 2.574,- Euro, das von weiblichen Angestellten 1.574,- Euro (vgl. Kammer für Arbeiter und Angestellte 2006: 28). Die Medianlöhne der Arbeiterinnen und weiblichen Angestellten betrugen 1995 64% bzw. 61% des Medians ihrer männlichen Kollegen und sanken 2004 auf 62% bzw. 59% (vg. Kammer für Arbeiter und Angestellte 2006: 28). Im Jahr 2003 war die Höhe der monatlichen mittleren Direktpensionen bei Arbeiterinnen 585,- Euro, bei Arbeitern 1.125,- Euro; bei den weiblichen Angestellten lagen sie bei 960,Euro, bei den männlichen Angestellten bei 1.969,- Euro (vgl. Bundeskammer für Arbeiter und Angestellte 2005: 341).

Die neoliberale Neustrukturierung der Arbeit geht so mit einer Differenzierung von Beschäftigungsverhältnissen einher. Beschäftigungspraktiken sind ein Mittel (geworden), um den Status der Beschäftigten neu zu bestimmen und damit Spaltungen quer durch diese Gruppe hervorzutreiben. Geschlechtsspezifische Differenzierungen und Abhängigkeiten werden verstärkt, da die finanzielle Basis von Autonomie durch atypische Beschäftigungen kaum gewährleistet ist (vgl. Jenson 1997: 240). Gerade in Hinblick auf die Neustrukturierung der Arbeit werden aber auch Spaltungen zwischen Frauen verschiedener Klassen und Ethnien deutlicher. Nicht alle Frauen sind im Niedriglohn- und atypischen Segment angesiedelt, genauso wenig, wie alle Männer auf Seiten der Globalisierungsgewinner stehen. Einige qualifizierte Frauen haben den Einstieg in hoch qualifizierte und hoch dotierte Jobs geschafft, auch wenn sie durch eine „gläserne Decke“ gebremst werden. Da aber Frauen grundsätzlich weiterhin für den Reproduktionsbereich zuständig bleiben und sich ein Mehr an Geschlechtergerechtigkeit nicht durch eine gerechte Aufteilung der Versorgungsarbeit realisiert, sondern durch Auslagerung dieser Arbeit, kommt es zur Herausbildung eines internationalen – vorwiegend weiblichen – „DienstbotInnenpersonals“ (vgl. Young 1998: 138-139; Bakker 1997: 69; Sauer 2001: 72). 3.

Konsequenzen und Perspektiven

Wie die obigen Ausführungen gezeigt haben, geht der Globalisierungsprozess mit einer teilweisen Herauslösung ökonomischer Prozesse aus sozialen und politischen Bindungen einher. Der Übergang vom „Sicherheitsstaat“ zum „nationalen Wettbewerbsstaat“ (Hirsch 1998) bedeutet eine Absage an die Vollbeschäftigungspolitik und soziale Sicherheit für breite Schichten der Bevölkerung. Gerade zu dem Zeitpunkt, da ein Problembewusstsein in Bezug auf die Diskriminierung von Frauen am Arbeitsmarkt und durch die spezifische Ausformung des Sozialstaates entsteht – ausgelöst nicht zuletzt durch soziale Bewegungen, die soziale Gerechtigkeit, Demokratisierung aller Lebensbereiche und Enthierarchisierung von Geschlechterverhältnissen forderten –, werden Arbeitsverhältnisse dereguliert und der Sozialstaat wird als mögliches Instrument der Umverteilung demontiert (vgl. Young 1998: 141-146). Im Zuge neoliberaler Umstrukturierung kommt es global zu einer widersprüchlichen Neubestimmung von Geschlechterverhältnissen und der Zuweisung von produktiver und reproduktiver Arbeit. So werden beispielsweise in den Ländern des Südens weibliche Arbeitskräfte für die Weltmarktfabriken mobilisiert. Frauen werden in schlechte Arbeitsverhältnisse gedrängt, erlangen durch 49

die ökonomische Eigenständigkeit aber auch ein gewisses Maß an Autonomie gegenüber traditionell-patriarchalen Strukturen. Dem steht – durch die Verschiebungen hin zum Dienstleistungssektor – der Niedergang der klassischen männlichen Industrie in den westlichen Industrienationen gegenüber, der auch als Krise der Männlichkeit interpretiert wird (vgl. Kreisky 2001: 152). Die Familie als Wohlfahrtsproduzentin ist ein von jeher umkämpftes Feld, dem nun wieder erhöhte Aufmerksamkeit zuteil wird. Die von neoliberalen PolitikerInnen gepredigte Risikobereitschaft und die Betonung der Eigenverantwortung lösen – zu Recht – Angst und Verunsicherung in breiten Kreisen der Bevölkerung aus. In dieser Situation soll die Familie wieder vorrangiger Ort der Sicherheit sein. Gleichzeitig löst sich die fordistische Kernfamilie auf. Vor allem gering qualifizierte Frauen und Frauen mit Kindern werden prekär in den Arbeitsmarkt integriert, bleiben aber auf Ehe/Partnerschaft und Familie als Institution der sozialen Sicherung verwiesen. Männerlöhne sind zunehmend weniger Familienlöhne und so wird weibliche Erwerbstätigkeit auch eine Notwendigkeit. Offenbar wird von einer nie versiegenden Quelle (weiblicher) Arbeitskraft und sozialer Hilfe ausgegangen (vgl. Bakker, 1997: 72). Sauer (2001: 73) weist in diesem Zusammenhang darauf hin, dass neoliberale Politik „letztlich die Reproduktion der Gattung völlig außer Acht“ lässt. „Die neue Normalität ist [...] eine Refamiliarisierung ohne die klassische Kernfamilie, eine Reprivatisierung ohne Privatheit, weil einst familialisierte Personen, in erster Linie Frauen, aus der Familie entlassen werden, entfamilialisierte Personen, in erster Linie Männer, aber keinen Weg in die Familie finden können“ (Sauer 2001: 73).

In dieser Situation wird von neoliberaler Politik an die soziale Verantwortung von Frauen appelliert. Der Sozialabbau soll von Frauen sozial verträglich gestaltet werden. Die Arbeit im Haus, in der Nachbarschaftshilfe, in der Erziehung – die ganze unbezahlte Arbeit – wird den Frauen wieder ganz selbstverständlich zugewiesen. Und, wie Frigga Haug (1996: 690) betont, geschieht dies nun im Namen der „Verantwortung“, nicht einmal mehr der „Liebe“. Individuelle Fürsorge und Mutterschaft werden ideologisch und finanziell18 unterstützt – ganz im Gegensatz zum Programm der Budgetkonsolidierung –, während öffentliche Programme, die Reproduktionsarbeit vergesellschaften (wie etwa Kinderbetreuungseinrichtungen), gekürzt werden. Dem Großteil der Frauen kann unter diesen Bedingungen keine eigenständige Existenzsicherung gelingen. Neolibe18

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Ein Beispiel dafür ist das so genannte Kindergeld, das in Österreich an Stelle des früheren Karenzgeldes eingeführt wurde.

rale Politik trägt mit diesen individuellen, monetären Leistungen vielmehr zur Schaffung billiger weiblicher Arbeitskräfte und zur Ausweitung der Märkte für atypische Beschäftigung bei (vgl. Jenson 1997: 243-244). Der neoliberale Staat muss in diesem Sinn als maskuliner Staat begriffen werden, der Fraueninteressen, -bedürfnisse und -arbeit wieder privatisiert. Mit der Konstruktion eines neutralen Individuums werden Strukturkategorien – Geschlecht, Klasse und Ethnie – aufgelöst und die aus ihnen resultierenden sozialen Positionierungen zum individuellen Schicksal erklärt (vgl. Veil 2001: 162). Die Verdrängung des Prinzips der Gleichheit und Solidarität durch einen individualistischen Freiheitsbegriff als grundlegenden gesellschaftlichen Wert, ist ein ernsthafter Verlust. Forderungen nach Gerechtigkeit, Umverteilung, Demokratie, egalitären Geschlechterverhältnissen und antirassistischer Politik verlieren damit ihre Basis. Literatur Allroggen, Ulrike et al (Hrsg.) (2002): Was bringt Europa den Frauen? Feministische Beiträge zu Chancen und Defiziten der Europäischen Union. Hamburg: Argument Verlag Appelt, Erna (1999): Geschlecht. Staatsbürgerschaft. Nation. Politische Konstruktionen des Geschlechterverhältnisses in Europa. Frankfurt/New York: Campus-Verlag Appelt, Erna/Alexandra Weiss (Hrsg.) (2001): Globalisierung und der Angriff auf die europäischen Wohlfahrtsstaaten. Hamburg: Argument Verlag Bakker, Isabella (1997): Geschlechterverhältnisse im Prozeß der globalen Umstrukturierung. In: Braun/Jung (1997): 66-73 Becker, Steffen/Thomas Sablowski/Wilhelm Schumm (Hrsg.): Jenseits der Nationalökonomie? Weltwirtschaft und Nationalstaat zwischen Globalisierung und Regionalisierung. Hamburg: Argument Verlag Becker-Schmidt, Regina/Gudrun-Axeli Knapp (Hrsg.) (1995): Das Geschlechterverhältnis als Gegenstand der Sozialwissenschaften. Frauenfurt a. M./New York: Campus-Verlag Braun, Helga/Dörthe Jung (Hrsg.) (1997): Globale Gerechtigkeit? Feministische Debatte zur Krise des Sozialstaats. Hamburg: Konkret-Literatur-Verlag Bundeskammer für Arbeiter und Angestellte (2005): Wirtschafts- und Sozialstatistisches Taschenbuch 2005. Wien Cyba, Eva (2000): Geschlecht und soziale Ungleichheit. Konstellationen der Frauenbenachteiligung. Opladen: Leske + Budrich Erbe, Birgit (2002): Anpassung oder Emanzipation? Die Gleichstellungspolitik der Europäischen Union. In: Allroggen et. al. (2002): 11-30 Fink, Marcel (2000): Atypische Beschäftigung und deren politische Steuerung im internationalen Vergleich. In: ÖZP, 29. Jg., H 4: 401-415 Frauenredaktion Argument (Hrsg.) (1984): Geschlechterverhältnisse. Berlin: Argument Verlag Ganßmann, Heiner (2001): Soziale Sicherheit und Kapitalmobilität. Hat der Sozialstaat ein Standortproblem? In: Appelt/Weiss (2001): 47-64 Geneviève Fraisse/Michelle Perrot (Hrsg.) (1994): Geschichte der Frauen. 19. Jahrhundert. Frankfurt a. M./New York: Campus-Verlag

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She Sweeps for Money! Bedingungen der informellen Beschäftigung von Migrantinnen in österreichischen Privathaushalten Bettina Haidinger

Der Artikel wird sich mit der Frage beschäftigen, durch welche gesellschaftlichen, ökonomischen und rechtlich-politischen Rahmenbedingungen ein informeller Arbeitsmarkt für haushaltsbezogene Dienstleistungen entstehen kann, in dem vor allem Migrantinnen eine Arbeit finden und ausführen. Nach einem kurzen Themenaufriss möchte ich die Beschäftigungssituation von Migrantinnen in privaten Haushalten erläutern. Im Anschluss werde ich die Relevanz sozioökonomischer Strukturen für die Beschäftigung von Migrantinnen als Haushaltsarbeiterinnen1 analysieren und auf aktuelle Debatten rund um die Organisation haushaltsbezogener Dienstleistungen eingehen. 1.

Neue Konstellationen in Privathaushalten

Die soziodemographischen und soziostrukturellen Veränderungen in der österreichischen Gesellschaft spielen eine gewichtige Rolle für die steigende Nachfrage nach haushaltsbezogenen Dienstleistungen. Einerseits werden die Menschen immer älter, aber auch pflege- bzw. versorgungsbedürftiger, was ihre 1

Im englischsprachigen Raum hat sich der Begriff domestic work bzw. domestic worker in der einschlägigen Literatur zum Thema durchgesetzt (vgl. Anderson 2000; Kofman 2000). Geissler (2002: 31f.) verwendet den Begriff der „Haushaltsarbeit“, der die Bereiche Hausarbeit, Pflege und Erziehungsarbeit enthält. Eine Schwierigkeit liegt darin, die unterschiedlichen Tätigkeitsbereiche in privaten Haushalten abzugrenzen, da die Übergänge zwischen der emotionalen Pflege/Fürsorge von Menschen und der materiellen Hausarbeit wie Putzen und Kochen oftmals verschmelzen. Die Voraussetzungen der Arbeiten können jedoch differieren: So gibt es für die Betreuung von Kindern, und in eingeschränktem Ausmaß auch für die Betreuung von pflegebedürftigen Menschen institutionelle Lösungen beziehungsweise finanzielle staatliche Unterstützung. Tägliche in allen Haushalten anfallende Reproduktionsarbeit wie Putzen oder Kochen muss individuell organisiert werden. Wie noch gezeigt wird, ist der Arbeitsplatz Privathaushalt ein Bereich, der fast ausschließlich der Verantwortung von Frauen übertragen ist. Deshalb verwende ich die weibliche Form bei der Bezeichnung der involvierten Personen. Wenn von „ArbeitgeberInnen“ die Rede ist, ist der geschlechtsneutrale Haushalt bzw. alle relevanten Familien-/Haushaltsmitglieder als ArbeitgeberInnen gemeint.

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Gesundheit, ihr Wohlbefinden, die Erledigung ihres Haushaltes anbelangt. Besonders Einpersonenhaushalte – dieser Haushaltstyp kommt im höheren Alter sehr häufig vor – sind in bestimmten Bedürfnislagen auf externe Hilfe angewiesen. Die Zahl der Einpersonenhaushalte insgesamt ist von 658.200 im Jahr 1971 auf über 1 Million im Jahr 2000 angestiegen. (vgl. Bundesministerium für Soziale Sicherheit und Generationen 2002: 114). Andererseits sind auch junge erwerbs- und karrierezentrierte Einpersonenhaushalte mit hohem Verdienst im Steigen begriffen (vgl. Blumberger/Dornmayr 1998: 13). Eine weitere Tendenz ist die Zunahme von DoppelverdienerInnenhaushalten aufgrund der steigenden Erwerbsbeteiligung von Frauen, wodurch jene über ein höheres Familien-Haushaltseinkommen verfügen. Barbara Haas (vgl. 2003: 38) kommt in ihrer Studie über Haushaltshilfen bei Paarhaushalten zum Schluss, dass vor allem hoch qualifizierte und erwerbsorientierte Frauen und Männer eine Haushaltsarbeiterin in Anspruch nehmen. Veränderungen in den Familienstrukturen, die in fortschreitenden Individualisierungsprozessen durch die Auflösung des Modells der Kleinfamilie, der Zunahme von „Patchworkfamilien“ und alleinerziehenden Eltern sowie der Abnahme intergenerationaler Familienstrukturen und der Verringerung der durchschnittlichen Haushaltsgröße zum Ausdruck kommen, untergraben tendenziell die Rolle von Frauen als alleinige unbezahlte Versorgerinnen des Privathaushaltes und werfen die Frage auf, wer an ihrer statt die Erledigung der Reproduktionsarbeiten übernimmt. Luzenir Caixeta et. al. (2006: 25) betonen, dass neben heterosexuellen Kleinfamilien zunehmend alternative, z.B. gleichgeschlechtliche Haushaltsformen existieren: „Auch in diesen Haushalten finden Aushandlungsprozesse auf Basis der Konstruktion von Weiblichkeit und Männlichkeit statt, und in einigen Fällen wird ein asymmetrisches Geschlechtermodell reproduziert. In anderen wiederum wird dieses Modell durch die hausinterne Organisierung der Arbeit gebrochen.“

Die Organisation der Haushaltsarbeit ist ein gesellschaftliches Problem, dem sehr wenig Aufmerksamkeit zuteil wird. Eine individuelle haushaltsinterne Lösungsstrategie dieses Problems ist die Anstellung einer bezahlten Haushaltsarbeiterin, wodurch die Arbeit kommodifiziert wird, in den meisten Fällen aber nicht in legalen Beschäftigungsverhältnissen stattfindet. Der Konflikt um die Erledigung der Haushaltsarbeit wird aus dem Familienhaushalt auf eine externe Person ausgelagert. Die Zuständigkeit und Verantwortlichkeit für die Organisation des Haushalts bleibt in heterosexuellen Haushaltsgemeinschaften in den meisten Fällen bei den Frauen: Sie sind die Arbeitgeberinnen und Arbeitnehmerinnen in der „Branche Privathaushalt“. Die geschlechtsspezifische Arbeitsteilung und vor allem die Zuständigkeit von Frauen für den privaten Bereich werden mit dieser Lösungsstrategie nicht unterwandert. Die Arbeitgeberinnen kön56

nen zwar die Zeit, die sie nun nicht mehr für die Haushaltsarbeit aufwenden müssen, für ihr berufliches Weiterkommen oder für die Verbringung von „Qualitätszeit“, also bewusst erlebter und gestalteter Freizeit mit Partnern und/oder Kindern nützen, die Erledigung der Haushaltsarbeit bleibt trotzdem Angelegenheit einer (oder mehrerer) Frau(en). Auch in anderen Lebens- und Haushaltformen wie Einpersonenhaushalten, gleichgeschlechtlichen Lebensgemeinschaften oder Wohngemeinschaften, werden Haushaltsarbeiterinnen eingestellt, um die Zeit „mühevoller Reproduktionsarbeit“ anderwertig nützen zu können.2 Letztere können nur deshalb in einem Privathaushalt angestellt werden, weil ihr Lohn um ein Vielfaches niedriger ist als das Haushaltseinkommen der ArbeitgeberInnen. Einer kaufkräftigen Nachfrage der einkommensstarken Haushalte steht ein billiges Angebot an Dienstleistungsarbeit seitens der ärmeren Haushalte gegenüber, die aufgrund struktureller Benachteiligungen, sexistischer, ethnisierter und rassistischer Diskriminierungen am Arbeitsmarkt die Erbringung dieser Dienstleistungen bewerkstelligen (müssen). (vgl. Ehrenreich 2003: 95ff.) Brigitte Young (2000) bezeichnete die Arbeitsverhältnisse zwischen Arbeitgeberinnen und Arbeitnehmerinnen in privaten Haushalten als Verhältnisse zwischen „Herrin“ und „Magd“, in denen Rechte keine große Rolle spielen, sondern die Beziehung von einem personalisierten Verhältnis zwischen Arbeitgeberin und Arbeitnehmerin gekennzeichnet ist, bei dem letztere eine benachteiligte Stellung einnimmt. Ich möchte noch die Position des Partners in diese Konstellation einbringen: In den meisten Fällen heterosexueller Paarbeziehungen übernimmt der Mann keine aktive Rolle bei der Gestaltung, Organisierung oder Erledigung der Haushaltsarbeit (vgl. Tabelle 2). Sogar die Bezahlung der Haushaltsarbeiterin wird in manchen Fällen nicht geteilt, sondern vollständig von derjenigen Person getragen, die vormals für die Haushaltsarbeit zuständig war. (vgl. Caixeta et.al. 2004: 62)

2

Die Ausnahme machen Haushalte pflegebedürftiger Personen. Hier ist die Einstellung einer Haushaltsarbeiterin, die auch Pflegetätigkeiten übernimmt, sofern nicht Familienmitglieder oder staatliche Institutionen die Betreuung gewährleisten, eine lebenswichtige Notwendigkeit.

57

2.

Arbeitsbedingungen von Migrantinnen in privaten Haushalten

2.1. Strukturelle Merkmale der bezahlten Haushaltsarbeit von Migrantinnen In einer Stellungnahme des Europäischen Parlaments zur Situation von „female domestic workers“, die nach einem Hearing verschiedener ExpertInnen zum Thema verfasst wurde, werden folgende Merkmale bezahlter Haushaltsarbeit herausgestrichen (vgl. Europäisches Parlament 2000): x Haushaltsarbeit ist gekennzeichnet durch unregelmäßige Arbeitszeiten für die Arbeitnehmerinnen. Die Beschäftigung für ein paar Stunden bei mehreren ArbeitgeberInnen ist üblich. x Meistens findet die Beschäftigung ohne Sozialversicherung, oft auch ohne Vertrag statt, ist informell und basiert auf mündlichen Absprachen (vgl. Gather/Meißner 2002: 128f.). Lohnverhandlungen finden auf inoffizieller Ebene statt und müssen individuell ausgehandelt werden. Deren Ausgang ist abhängig von der lokalen Nachfrage und dem lokalen Angebot. x Die Beschäftigte ist in Behandlung, Bezahlung und Aufgabenzuweisung angewiesen auf das Gutdünken der ArbeitgeberInnen. Es kommt besonders dort zur Arbeitsüberlastung, wo neben Pflegetätigkeiten auch noch die gesamten anderen Haushaltsaufgaben übernommen werden müssen. Die Arbeitnehmerinnen müssen flexibel sein und jeweils anfallende Arbeiten erledigen3, da eine genauere Definition von Aufgabenbereichen von domestic workers oftmals fehlen. x Die Arbeitnehmerinnen sind leicht zu verstecken und in höchstem Maße ungeschützt. Sexuelle Belästigungen durch den Arbeitgeber oder männliche Haushaltsmitglieder und Gewalterfahrungen sind keine Seltenheiten. Das Arbeitsinspektorat als Kontrollorgan ist machtlos, da ihm die gesetzliche Grundlage zur Kontrollmöglichkeit des Privathaushaltes fehlt4. 3

4

58

Bridget Anderson, wissenschaftliche Mitarbeiterin am Department of Sociology der University of Warwick, Aktivistin der Migrantinnenorganisation Kalayaan und eine der HearingExpertInnen schreibt in ihrem Buch Doing the Dirty Work? (Anderson: 2000: 15), dass HaushaltsarbeiterInnen auf die Frage, welche Tätigkeiten sie erledigen müssen, mit „alles“ antworteten: „We have to do everything, do the garden, clean the garage, clean the car, take the goats out for walk, the children, there is nothing we are not told to do. (Irene, a Sri Lankan working in Athens)“ Herbert Haupt (ehemals österreichischer Sozialminister) meinte, dass die Durchsetzung der Kontrollmöglichkeit von Arbeitsinspektoren in privaten Haushalten politisch nicht umsetzbar sei. Denn der Österreicher/die Österreicherin denke: „My home is my castle.“ (Ohnemoos: 2001) Der Schutz der Privatsphäre sei in der Verfassung verankert und jegliche Kontroll-

Die Arbeit im privaten Bereich, die oft unter „verdeckten“ Umständen stattfindet, lässt sich kaum mit der Pflege von Kontakten nach „außen“ vereinbaren. Haushaltsarbeiterinnen fehlt der Erfahrungsaustausch mit Kolleginnen, die sich in der gleichen Arbeitssituation befinden, Dies führt oft zur Isolation; Der Beruf der Haushaltsarbeiterin ist keinesfalls ein „Wunschberuf“, sondern der Beschäftigungszugang ist vielmehr geprägt durch „Zufälligkeiten“, Notsituationen, Übergangslösungen, deren Zustandekommen meistens mit den Bedingungen und Umständen des „weiblichen Lebenszusammenhangs“ korrelieren (vgl. Höglinger 1994: 57). x Entscheidend für Status und Arbeitsbedingungen der Haushaltsarbeiterin sind nicht „Beruf“ oder „Qualifikation“, sondern in erster Linie das Geschlecht (vgl. ebd. 1994: 3). Die Kammer für ArbeiterInnen und Angestellte (AK) Wien weist in einer Pressemeldung darauf hin, dass in dieser Branche existentielle Abhängigkeiten entstehen können, „die in anderen Branchen nicht in dieser Ausformung vorkommen“ (AK Wien: 2000), vor allem dann, wenn die Beschäftigte als Live-In beim/bei der Arbeitgeber/Arbeitgeberin wohnt und arbeitet. In der Beratungstätigkeit der Arbeiterkammer geht es in den konkreten Fällen um das Vorenthalten des Arbeitsentgeltes5, das Nichteinhalten jeglicher arbeitsrechtlicher Mindeststandards, die Falschanmeldung der Haushaltsarbeiterin über den Gewerbebetrieb6, Unteranmeldung der Arbeitnehmerin unter die Geringfügigkeitsgrenze, das Ausnutzen der Unkenntnis der Sprache und soziale Isolation. (vgl. Hess-Knapp 2003; AK Wien 2000) Korrekte Entlohnung sowie Sonderzahlungen, bezahlter Urlaub7, Überstundenentgelte, Lohnzuschläge, Pausenregelungen, Sozialversicherung oder Nachtruhe sind die Ausnahme. Bedingt durch fehlende Aufenthaltsrechte nutzen die ArbeitgeberInnen die Situation der Haushaltsarbeiterinnen aus. Der Migrantin droht im schlimmsten Fall die Abschiebung, für den/die ArbeitgeberIn bleiben Gesetzesbrüche meist ohne Folx

5 6

7

möglichkeit des Arbeitsinspektorats würde die Privatheit des Haushaltes unterminieren und den Schutz der Privatsphäre verletzen. Insbesondere wird das für diese Branche einzigartige 15. Monatsentgelt vorenthalten, das wegen der ungewöhnlichen Bedingungen und langen Arbeitszeiten am Arbeitsplatz „Privathaushalt“ als Urlaubszuschuss eingeführt wurde. Dadurch können die privaten Lohnkosten über den Betrieb abschreibbar gemacht und das 15. Monatsentgelt eingespart werden. Allerdings gibt es eine Regelung im Hausgehilfengesetz, die besagt, dass der Geltungsbereich des Hausgehilfengesetzes wegfällt, wenn auch nur im geringfügigen Ausmaß im Gewerbebetrieb des/der Arbeitgebers/in gearbeitet wird. Im Gegenteil, die Haushaltsarbeiterin muss unbezahlten „Urlaub“ nehmen, wenn der/die ArbeitgeberIn Ferien macht. Das bedeutet für die Beschäftigte oftmals einen Monat Arbeitsund Entgeltentfall.

59

gen. Die Durchsetzung von Ansprüchen der Arbeitnehmerinnen ist aufgrund der Beweislagen und schwer aufzutreibender ZeugInnen kompliziert. Trotzdem muss erwähnt sein, dass auf diese Arbeitsverhältnisse einklagbare gesetzliche Mindestnormen anzuwenden sind wie das Hausgehilfen- und Hausangestelltengesetz oder ein von den Sozialpartnern vereinbarter Mindestlohntarif. 2.2. Beschäftigungsverhältnisse in Privathaushalten Die Beschäftigungsverhältnisse, die in privaten Haushalten für Haushaltsarbeiterinnen vorkommen, können in zwei Hauptgruppen eingeteilt werden. Die erste Hauptgruppe besteht aus den so genannten Live-Ins. Live-In bedeutet, dass die Haushaltsarbeiterin nicht nur beim/bei der ArbeitgeberIn beschäftigt ist, sondern auch bei ihm/ihr wohnt. Anderson (2000: 39ff.) argumentiert, dass live-in domestic work für neu angekommene Migrantinnen als eine vernünftige Option erscheinen kann. Wohn- und Arbeitsprobleme werden in einem gelöst, die Haushaltsarbeiterin kann ihre Ausgaben minimieren und sich an die neue Sprache und Umgangsweisen gewöhnen. Darüber hinaus bietet der/die ArbeitgeberIn nicht nur ein „Dach über dem Kopf“, sondern auch Schutz vor der Polizei, sollte die Haushaltsarbeiterin keinen gesicherten legalen Aufenthaltsstatus haben, da sie unauffällig im Haushalt des Arbeitgebers oder der Arbeitgeberin lebt, arbeitet und dort die meiste Zeit verbringt. Mit dieser Übereinkunft macht sich die Haushaltsarbeiterin allerdings enorm abhängig von ihrem/ihrer Arbeitgeber/Arbeitgeberin. Ihre Arbeit, ihr Aufenthalt, ihr Leben in dem betreffenden Land werden primär vom Gutdünken und der Zufriedenheit ihres/ihrer Arbeitgebers/Arbeitgeberin ermöglicht, bestimmt und beendet. Live-in domestic work bietet kein gutes finanzielles Arrangement für die Haushaltsarbeiterin. Die extreme Ausbeutung ihrer Arbeitskraft und der niedrige Lohn (manchmal wird auch gar kein Lohn ausbezahlt) werden mit ihrer Verpflegung und der Wohnmöglichkeit gerechtfertigt. Eines der häufigsten Probleme in diesem Arbeitsverhältnis ist der Mangel an Kontrolle der Arbeitszeit, meistens müssen Haushaltsarbeiterinnen 24 Stunden abrufbereit sein. Live-in-Beschäftigungsverhältnisse dominieren vor allem in Südeuropa, Italien, Spanien, Griechenland, Zypern bei Haushaltsarbeiterinnen mit einem migrantischen Hintergrund (vgl. Anderson 2000: 84). Ein Sonderfall der Live-in-Arbeitsverhältnisse sind Au-Pair-Stellen, die in ganz Europa vorkommen und auch in Österreich einen signifikanten Zuwachs erleben. Hierbei handelt es sich um die Vermittlung junger (meist) Frauen zwischen 18 und 28 Jahren, die für die Übernahme kleinerer Haushalts- und Babysittingtätigkeiten gegen Kost, Logis und einem kleinen Taschengeld bei einer 60

Familie „Sprache, Kultur und Gesellschaft“ des jeweiligen Gastlandes kennen lernen sollen.8 „Bundesminister für Wirtschaft und Arbeit Dr. Martin Bartenstein sieht darin eine Chance für junge Menschen und eine Hilfe für junge Familien. Nachdem die Zahl der Au-Pair-Kräfte in Österreich in den letzten Jahren auf nahezu null gesunken sei, werde mit der Novelle für junge Familien in Österreich die Möglichkeit eröffnet, junge Menschen zwischen 18 und 28 Jahren auch aus den Ländern Mittel- und Osteuropas sowie aus Übersee maximal ein Jahr lang aufzunehmen, damit diese bei leichten Haushaltsarbeiten sowie bei der Kinderbetreuung mitwirken können.“ (Pressemeldung des BMWA, 1.4.2001)

Die Erleichterung der Beschäftigung von Au-Pair-Kräften hat demnach eine bestimmte Funktion in Bezug auf das Migrationsregime und die sozialstaatlichen Reformen. Hier werden Möglichkeiten in Einklang mit der vorherrschenden Migrations- und Sozialpolitik (restriktive Einwanderungspolitik und sozialstaatlicher Rückzug) geschaffen, die durch eben diese Politik entstandenen Probleme zu lösen: Die Verordnung ist eine Ausnahmeregelung für DefactoArbeitskräfte in privaten Haushalten aus dem Nicht-EWR-Raum, die somit nicht unter die strenge Quotierung für Arbeitskräfte aus Drittstaaten fallen. Der niedrige Preis für die Arbeitskraft bleibt aufrecht, da sie im Gegenzug Kost, Logis und die Möglichkeit, Humankapital und kulturelles Kapital (vgl. Hess 2002: 107) durch die Erfahrungen in Österreich zu lukrieren, bekommt. Die österreichischen Familien haben eine billige Haushaltsarbeiterin, die 25 Stunden – also jeden Werktag 5 Stunden – Kind und/oder Haus für einen Stundenlohn von zwei Euro sauber halten muss. Dass sich die Gastfamilien an die vorgegebene Arbeitszeit für Au-Pair-Kräfte halten, ist unwahrscheinlich. Hier treten die gleichen Problemlagen auf wie bei Live-in-Haushaltsarbeiterinnen: unbezahlte Überstunden, Zwang zu zusätzlicher Arbeit, erniedrigende Behandlung wie nicht vom gemeinsamen Tisch essen; rassistisch motivierte Diskriminierung bis hin zu Gewaltandrohungen und sexuellem Missbrauch (vgl. Hess 2002:106). Die zweite Hauptgruppe besteht aus sog. Live-Outs. In diesen Fällen leben die Haushaltsarbeiterinnen nicht beim/bei der ArbeitgeberIn, ihre Arbeitsstätte ist getrennt von ihrer Wohnung. Diese Beschäftigungsform dominiert in Frankreich, Deutschland (vgl. Anderson 2000: 69f.) und auch Österreich. In den meisten Fällen wird in diesem Beschäftigungsverhältnis für mehrere ArbeitgeberIn8

Nachdem laut Pressemeldung des Bundesministers für Wirtschaft und Arbeit Martin Bartenstein „die Zahl der Au-Pair-Kräfte in Österreich in den letzten Jahren auf nahezu null gesunken sei“, sind laut Auskunft des AMS seit der Einführung der Au-Pair-Anzeigebestätigung am 1.4.2001 insgesamt 9.311 Anzeigen eingebracht worden (Stand April 2005). Ca. 80% der registrierten Au-Pairs sind aus dem osteuropäischen Raum nach Österreich gekommen.

61

nen gearbeitet, was ein hohes Maß an Koordination erfordert. (vgl. Gather/ Meißner 2002: 130) Eine regelmäßige Vollzeiterwerbstätigkeit ist die Ausnahme, meistens werden Beschäftigungen gefunden, die stunden-, tages- wochenoder monatsweise dauern bzw. ausgehandelt werden. Unter „stunden weiser Arbeit“ darf man sich kein geringfügiges Beschäftigungsausmaß vorstellen: oftmals arbeiten vor allem Nicht-Österreicherinnen 60 bis 70 Stunden pro Woche in bis zu zehn Haushalten. MehrheitsösterreicherInnen9 nutzen die stundenweise Beschäftigung oft als Zuerwerb und sind bei ihrem/ihrer Partner/Partnerin oder auch durch andere Beschäftigungen sozial abgesichert. (vgl. Höglinger 1994:38) 2.2.1. Einkommen Die Einkünfte aus Erwerbstätigkeit in privaten Haushalten sind die niedrigsten aller Wirtschaftsklassen. Das Medianeinkommen (monatlicher Bruttoverdienst) für sozialversicherungspflichtige Beschäftigte betrug in der Wirtschaftsklasse „Private Haushalte“ im Jahr 2003 für Männer 907 Euro, für Frauen 888 Euro. Zum Vergleich: Das Medianeinkommen aller Wirtschaftsklassen zusammengenommen beträgt 1.944 Euro (vgl. Statistik Austria 2005: 222). Selbstverständlich liegt das Medianeinkommen auch wegen der hohen Teilzeitbeschäftigung sehr weit unter dem Medianeinkommen aller Wirtschaftsklassen. Aber auch wenn die Einkommen teilzeitbereinigt werden, dürfte sich das dementsprechende Einkommen nicht signifikant erhöhen. Personen, die unter den „Mindestlohntarif für Hausangestellte und HausgehilfInnen“ fallen (gültig seit 1.1.2003), gebührt, wenn sie Wohnung und Verpflegung vom/von der Arbeitgeber/Arbeitgeberin zur Verfügung gestellt bekommen, für eine Arbeitszeit von 238 Stunden ein monatlicher Bruttolohn zwischen 531,30 Euro (HausgehilfInnen ohne Kochen im 1. bis 5. Berufsjahr) und 1.490,70 Euro (Diplomierte Krankenschwestern/pfleger oder KindergärtnerInnen/ ErzieherInnen mit Befähigungsnachweis ab dem 11. Berufsjahr). Daraus ergibt sich ein Stundenlohn zwischen 2,23 Euro und 6,26 Euro, welches das höchste zu erzielende Entgelt darstellt (abgesehen von Zuschlägen für nächtliche Betreuungsarbeiten). HausgehilfInnen und Hausangestellte, die nicht in die Hausgemeinschaft des Arbeitgebers oder der Arbeitgeberin aufgenommen sind, erhalten einen monatlichen Bruttostundenlohn zwi9

62

Mit dem Begriff „MehrheitsösterreicherIn“ verwende ich einen Hilfsbegriff, der auf den in Deutschland verwendeten Begriff „mehrheitsdeutsch“ zurückgeht und „von Gotlinde Magiriba Lwanga vorgeschlagen wurde, um Aufzählungen wie ‚weiß, deutsch, christlich säkularisiert usw.“ zu vermeiden, die wiederum nur ein Nebeneinander suggerieren [und die Relationalität der Begriffe und Kontexte vernachlässigen, Anm.], und die Betonung mehr auf die soziale Position (der Mehrheit oder der Minderheit angehörig) zu legen“ (FeMigra 1994: 63).

schen 5,48 Euro (HausgehilfInnen ohne Kochen im 1. bis 5. Berufsjahr) und 10,52 Euro (Diplomierte Krankenschwestern/pfleger oder KindergärtnerInnen/ ErzieherInnen mit Befähigungsnachweis ab dem 11. Berufsjahr). In einer aktuellen EU-Studie, in der die Arbeitsbedingungen für Haushaltsarbeiterinnen mit einem migrantischen Hintergrund in nicht-angemeldeten Arbeitsverhältnissen in Österreich, Deutschland, Großbritannien und Spanien im Vergleich untersucht wurden, schwanken die Angaben der in Österreich im informellen Sektor beschäftigten Haushaltsarbeiterinnen in Bezug auf die ausbezahlten Löhne zwischen 7 und 9 Euro pro Stunde (vgl. Caixeta 2004). Es scheint also, dass sich ein Durchschnittslohn durchgesetzt hat, der über dem Mindestlohntarif liegt. Es ist anzunehmen, dass die Bezahlung für informelle Arbeit den Arbeitnehmerinnen mehr Geld einbringt als eine versicherungs- und steuerpflichtige Beschäftigung. Umgekehrt ersparen sich die ArbeitgeberInnen alle Lohnnebenkosten und steigen in jedem Fall günstiger aus (da nur die Arbeitnehmerinnen Ansprüche aus der Sozialversicherung erwerben würden). Es ist auch anzunehmen, dass sich der geringe gesetzliche Mindestlohn auch auf die Bezahlung informeller Tätigkeiten auswirkt: Die ArbeitgeberInnen können mit dem Mindestlohntarif gegen eine bessere Bezahlung der Haushaltsarbeiterin argumentieren. 2.2.2. Ausmaß und Prekarität der Beschäftigung Laut Hauptverband der österreichischen Sozialversicherung (HVSV) waren im Jahr 2004 6.950 Personen in der Wirtschaftsklasse „Private Haushalte“ geringfügig beschäftigt (also ohne sozialrechtliche Absicherung außer Unfallversicherung), 6.239 davon waren Frauen. Zwischen 1996 und 2004 verdoppelte sich die Anzahl der in diesem Sektor geringfügig Beschäftigten. Gleichzeitig verringerte sich die Anzahl der voll- oder teilzeitbeschäftigten Personen mit vollem Sozialversicherungsschutz (Pensions-, Kranken-, Unfall- und Arbeitslosenversicherung) von 4.680 auf 3.377. (vgl. HVSV 2005) Der Anteil der geringfügig Beschäftigten an allen Beschäftigten in der Wirtschaftsklasse „Private Haushalte“ hat sich von 39% im Jahr 1996 auf 67% im Jahr 2004 erhöht. Tabelle 1 gibt eine Übersicht über die Beschäftigungsentwicklung der Wirtschaftsklasse „Private Haushalte“. Der Anteil der MigrantInnen an den ArbeitnehmerInnen in der Wirtschaftsklasse „Private Haushalte“ lag im Jahr 2004 bei 18,1%. Im Vergleich dazu lag der Anteil der MigrantInnen an allen ArbeitnehmerInnen bei 12%. Nur 0,2% (612 im Jahr 2004) aller ausländischen ArbeitnehmerInnen sind in privaten Haushalten beschäftigt (Biffl 2004: 54). 63

Geringfügig Beschäftigte (GFB)

Versicherungsfälle (VF)

Summe GFB, VF

% GFB an Summe

1996

2.978

4.680

7.658

39%

1998

3.707

4.519

8.226

45%

2000

5.331

4.004

9.335

57%

2002

6.620

3.683

10.303

64%

2004

6.950

3.377

10.327

67%

Tabelle 1: Beschäftigte in privaten Haushalten 1996-2004 (Quelle: HVSV 2005)

Bei den oben angeführten offiziellen Beschäftigungszahlen des HVSV handelt es sich um kleine Summen. Der Großteil der Nachfrage nach haushaltsnahen Dienstleitungen wird über den informellen Sektor abgedeckt. Nach Berechnungen im Rahmen der Volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung (VGR) im Jahr 2003, die auf Ergebnissen der Konsumerhebungen 1993/94 beruhen, betragen die Ausgaben für haushaltsnahe Dienstleistungen 484 Millionen Euro, während laut HVSV ca. 10.000 Beschäftigte (inklusive geringfügig Beschäftigte) der Wirtschaftsklasse „Private Haushalte“ zuzuordnen sind (vgl. Statistik Austria 2004). Zieht man von den 484 Millionen Euro die Löhne für die offiziell Beschäftigten der Wirtschaftsklasse „Private Haushalte“, insgesamt 72 Millionen Euro, ab, ergibt sich eine Differenz von 414,4 Millionen Euro zwischen realisiertem Angebot und realisierter Nachfrage, die über den informellen Sektor abgedeckt werden muss. Diese 414,4 Millionen Euro müssten – errechnet man sich aus den 72 Millionen Ausgaben für häusliche Dienste und den ca. 10.300 Beschäftigten für das Jahr 2003 einen Durchschnittslohn von 581 Euro pro Monat – ca. 60.000 Beschäftigte generieren. Durch andere Annahmen, wie einen niedrigeren oder höheren Durchschnittslohn oder niedrigere/höhere Wochenarbeitszeit, könnten auch mehr oder weniger potentiell Beschäftige in der Branche „haushaltsnahe Dienstleistungen“ errechnet werden. Die Wirtschaftskammer Österreich kommt mit ihren Berechnungen sogar auf eine Beschäftigtenzahl von 170.000 Personen, da sie von einem Stundenlohn von ca. 8 Euro ausgeht und eine durchschnittliche Jahresarbeitszeit von 273 Stunden (5,25 Stunden pro Woche) annimmt. Welche Annahmen auch immer für die Berechnung des Beschäftigungspotentials im Bereich der haushaltsnahen Dienstleistungen getroffen werden, es steht fest, dass der Grossteil der Wertschöpfung dieses Wirtschaftssektors in der Schattenwirtschaft erfolgt. 64

3.

Zur Relevanz sozioökonomischer Strukturen für den „Arbeitsmarkt Privathaushalt“

Im Folgenden möchte ich zeigen, welche strukturellen sozioökonomischen und politischen Bedingungen für die Herausbildung eines ethnisch und geschlechtlich segmentierten Arbeitsmarktes Privathaushalt von Bedeutung sind. Dafür werde ich die Bedingungen am Arbeitsmarkt für Mehrheitsösterreicherinnen und Migrantinnen sowie den Einfluss aufenthaltsrechtlicher und arbeitsrechtlicher Bestimmungen für Migrantinnen auf ihre Arbeitssituation erläutern. Des Weiteren halte ich es für notwendig, die Entwicklung des österreichischen Wohlfahrtsstaates im Hinblick auf den spezifischen Einschluss und Ausschluss von Frauen in das Erwerbs- und Wohlfahrtssystem zu reflektieren. 3.1. Aspekte der Arbeitsmarktintegration von Frauen in Österreich Obwohl im Laufe der letzten Jahrzehnte die Erwerbsbeteiligung von Österreicherinnen kontinuierlich anstieg10, sind sie nach wie vor für Kinderbetreuung und Haushaltsführung hauptsächlich zuständig. Es sind vor allem Frauen, die unentgeltlich familiale Reproduktionsleistungen erbringen – unabhängig davon, ob sie berufstätig sind oder nicht. In einer Erhebung der Statistik Austria zu „Fragen zur Familie“ und „Pflegeleistung – Haushaltsführung – Kinderbetreuung“ wurden folgende Ergebnisse präsentiert: „Familie und Kinder haben im Leben der meisten Österreicherinnen und Österreicher einen zentralen Platz. Allerdings überlässt die Mehrheit der Männer die Haushaltsführung, die Kinderbetreuung und die Pflege naher Angehöriger nach wie vor den Frauen. Deshalb sind berufstätige Mütter in der Regel ‚doppelt belastet’.“ (Statistik Austria 2003)

Erwerbstätige Frauen verrichten im Durchschnitt 35 Wochenstunden bezahlte Arbeit. Für den Haushalt wenden sie wöchentlich 18 Stunden, für die Kinderbetreuung 11 Stunden auf. Bei erwerbstätigen Männern beläuft sich die Gesamtarbeitsbelastung auf 48 Stunden, davon entfallen 41 Stunden auf bezahlte Erwerbsarbeit, 4 Stunden auf Hausarbeit und 3 Stunden auf Kinderbetreuung. Am größten ist die zeitliche Belastung berufstätiger Mütter. Sie leisten im Durchschnitt 32 Stunden bezahlte und 40 Stunden unbezahlte Arbeit. Interessanterweise erreicht die Gesamtbelastung von berufstätigen Alleinerzieherinnen 10

Zwischen 1951 und 2001 stieg die Erwerbsquote der Frauen an der Bevölkerung der 15-64 Jährigen von 48,6% auf 61,8% bzw. auf 65,0% unter Einbeziehung der geringfügig Erwerbstätigen (vgl. Bauer/Eichwaldner 2003: 511).

65

ein geringeres Ausmaß an Arbeitsstunden, nämlich 68,5 Stunden. Sie verwenden mehr Zeit für Lohnarbeit (34,5 Stunden) als für Kinderbetreuung und Haushaltsführung (34 Stunden). Daraus ist zu schließen, dass ein Partner nicht nur für mehr unbezahlte Arbeit von Frauen sorgt, sondern auch ein einen Mehraufwand für die Erwerbsbeteiligung von Frauen darstellt (siehe Tabelle 2). Hausarbeit

Kinderbetreuung

Erwerbsarbeit

Insgesamt

Erwerbstätige Frauen

18

11

35

64

Erwerbstätige Männer

4

3

41

48

Erwerbstätige Alleinerzieherinnen

18

16

34,5

68,5

Erwerbstätige Mütter mit (Ehe)Partner

24

16

32

72

Tabelle 2: Durchschnittlich geleistete wöchentliche Arbeitszeit von Frauen und Männern in Stunden, 2002 (Quelle: Mikrozensus September 2002 in Bundesministerium für Soziale Sicherheit, Generationen und Konsumentenschutz 2003: 21)

Die Erwerbsbeteiligung von Frauen wächst insbesondere in der Teilzeitbeschäftigung (vor allem bei Teilzeitstellen im Dienstleistungsbereich). Die höchsten Teilzeitquoten sind bei Ehefrauen/Lebensgefährtinnen mit Kind(ern) mit 50% zu verzeichnen (vgl. Bundesministerium für Soziale Sicherheit und Generationen 2003: 51), was auf die Strategie „Teilzeitbeschäftigung für Frauen“ im Hinblick auf die Vereinbarkeit von Beruf und Familie hindeutet.11 Dementsprechend werden als ausschlaggebende Motive für die Teilzeitbeschäftigung von Frauen am häufigsten die Betreuung von Kindern oder Erwachsenen beziehungsweise andere familiäre Gründe angegeben. (vgl. Bundesministerium für Soziale Sicherheit, Generationen und Konsumentenschutz 2003: 42) Entscheiden sich Frauen dazu, vollzeiterwerbstätig zu sein, stellt sich die Frage: Wer versorgt den Haushalt und Betreuungsbedürftige? Im Hinblick auf die Beschäftigungsstruktur möchte ich zwischen Österreicherinnen und Migrantinnen unterscheiden: Bei beiden ist eine Konzentration 11

66

Seit Mai 2004 besteht in Betrieben mit mehr als 20 ArbeitnehmerInnen ein Anspruch auf Teilzeitbeschäftigung längstens bis zum siebenten Geburtstag des Kindes, wenn das Arbeitsverhältnis ununterbrochen mindestens drei Jahre gedauert hat.

auf bestimmte Branchen zu konstatieren, wobei innerhalb dieser Branchenstrukturierung, Migrantinnen in bestimmten Berufen der Dienstleistungsbranche (Gastgewerbe, Reinigungsgewerbe) besonders häufig vorkommen (vgl. Bundesministerium für Soziale Sicherheit und Generationen 2002: 155). Migrantinnen sind auf Niedrigstlohnbranchen konzentriert. Ihre Löhne sind sowohl geringer als jene der Migranten als auch jene der Österreicherinnen. Zusätzlich fand im Verlauf der 1990er Jahre ein Aufrücken der Österreicherinnen in höhere Einkommenssegmente statt. (vgl. Biffl 2002: 262ff.) Obwohl Österreicherinnen insgesamt mehr Teilzeit arbeiten als Migrantinnen, liegen die geringfügigen Beschäftigungsverhältnisse von Migrantinnen über denen der Österreicherinnen. Die geringfügig beschäftigten Migrantinnen sind im Wesentlichen auf private Haushalte konzentriert: 1999 waren 54% aller geringfügig beschäftigten Migrantinnen (und 22% der geringfügig beschäftigten Migranten) in privaten Haushalten tätig. Im Vergleich dazu betrug der Anteil der Österreicherinnen nur 17%. Ebenso findet man in Reinigungsdiensten, im Tourismus und in der Gesundheits- und Körperpflege überdurchschnittlich viele geringfügige beschäftigte Migrantinnen und Migranten (vgl. Biffl 2002: 20). Biffl (2002: 20) folgert daraus: „Die Besonderheiten der Struktur der geringfügig beschäftigten Ausländer legt nahe, dass sich hinter dieser Beschäftigungsform in gewissem Maße Aktivitäten der Schattenwirtschaft verstecken.“ Biffl (2002: 292) bezeichnet MigrantInnen am österreichischen Arbeitsmarkt als „flexible Manövriermasse“, deren Beschäftigung von den vorherrschenden Nachfragebedingungen abhängig ist und deren Arbeitsplätze in konjunkturschwachen Zeiten entweder ganz abgebaut werden oder von ÖsterreicherInnen besetzt werden (‚Inländerprimat’). In manchen Branchen kommt es allerdings nicht zu einer Substitution von Arbeitsplätzen der MigrantInnen. Das betrifft unter anderen die Branchen Haushaltung und Hauswartung, Reinigung, Gesundheit und Körperpflege. Hier herrscht eine „Komplementarität“ der Beschäftigung von MigrantInnen und ÖsterreicherInnen vor: Letztere arbeiten tendenziell nicht in diesen Branchen (vgl. Biffl 2002: 301). Damit in Zusammenhang steht eine ethnisch-geschlechtliche Zuschreibung und konstruierte Eignung für bestimmte Berufe im Dienstleistungsbereich. Bei der Beschäftigung von Migrantinnen überschneiden sich geschlechtspezifische Stigmatisierungen mit Zuschreibungen aufgrund der Nationalität. In den 80er und 90er Jahren wurden beispielsweise gezielt Philippininnen angeworben, um in Österreich im Pflegebereich zu arbeiten. (vgl. Der Standard 13/14.9.2003: 9). Auch im Haushaltsbereich werden Frauen bestimmter Nationalitäten besonders gerne angestellt. Waren es bis in die 90er Jahre vor allem Frauen aus der Türkei und Philippininnen, die in der Wirtschaftsklasse Reinigung/Hauswartung erstmals tätig waren (vgl. Matuschek/Laburda/Wiederschwinger 1998: 48), dürfte sich sowohl 67

das Angebot als auch die Nachfrage nach Haushaltsarbeiterinnen „zugunsten“ von Frauen aus Osteuropa, und hier insbesondere auf Polinnen verschieben.12 Zuschreibungen an die Hausarbeiterin sind von einer Verknüpfung von Geschlechterkonstruktionen mit Konstruktionen des „Andersseins“ geprägt, wobei der „anderen“ kulturellen Identität und Mentalität besondere Bedeutung zugeschrieben wird. Bestimmte Eigenschaften werden bestimmten Nationalitäten zugeordnet („die saubere Polin“, „die fürsorgliche Philippinin“), die aus der Reproduktion von rassistischen Phantasien und Stereotypen resultiert. (vgl. Haidinger 2004: 73) Diese Identitäten werden ‚extern’ unterstützt (z.B. durch die Rekrutierungspraxis von Agenturen), aber gleichzeitig durch ‚internalisierte’ Identitätsvorstellungen der Haushaltsarbeiterinnen selbst reproduziert. Deswegen können in Anzeigeblättern wie Bazar Selbstbezeichnungen wie „fleißige und saubere Polin“, „flinke Ungarin“ etc. gefunden werden. Migrantinnen befinden sich hinsichtlich ihrer Klassenlage nach wie vor am unteren Ende der Schichtungshierarchie. Dies ist vor allem auf die fehlenden Aufstiegs- und Qualifikationschancen, die häufige Akkord- und Schichtarbeit, die geringe gewerkschaftliche und betriebliche Interessensvertretung, die Doppelbelastung durch Beruf und Familie und die Konzentration auf bestimmte Branchen zurückzuführen, sodass Erwerbsarbeit nur beschränkt zu Integration in die österreichische Gesellschaft beitragen kann (vgl. Appelt 2003: 153). 3.2. Bedingungen der Arbeit(s)-Migration von Frauen Die Erwerbsmöglichkeit von Nicht-Österreicherinnen ist eng verknüpft mit dem Status als „Migrantin“. Einerseits sind die Beschäftigungsmöglichkeiten abhängig vom Aufenthaltsstatus, von der Dauer des Aufenthalts und von der Art des Aufenthaltstitels. Sie sind durch die Ungleichbehandlung aufgrund des Ausländerbeschäftigungsgesetzes und aufenthaltsrechtlicher Regelungen an der Integration in den (formellen bzw. ersten) Arbeitsmarkt gehindert. Diese Regelungen schlagen sich in der Quotierung drittstaatsangehöriger Beschäftigter13, in der 12

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Von 92 Stellengesuchen im „Bazar“ (Nr. 2.692 vom 28.10.2003) unter der Rubrik „Hauspersonal“ waren 16 explizit von Polinnen, 10 von Slowakinnen, 2 von Tschechinnen, 6 von Ungarinnen, 1 Russin, 8 von Österreicherinnen, bei den übrigen geht nicht hervor, welche Nationalität sie besitzen. In Österreich werden verschiedene Klassen von MigrantInnen konstruiert, die unterschiedlichen Rechten und Pflichten gegenüber dem österreichischen Staat unterliegen. Die wichtigsten „Kategorien“ von ZuwanderInnen sind EU-BürgerInnen, anerkannte Konventionsflüchtlinge, MigrantInnen aus Ländern, mit denen Österreich oder die EU Assoziierungsabkommen o.ä. unterhalten, AsylwerberInnen und sonstige Drittstaatsanghörige. Die Möglichkeit zur Er-

Bindung der Beschäftigung von MigrantInnen an eine/n bestimmte/n Arbeitgeber/in oder an ein bestimmtes Bundesland oder sogar in einem Beschäftigungsverbot nachgezogener Familienangehöriger nieder (vgl. Wiener Integrationsfonds 2003). Damit werden Migrantinnen auf bestimmte, für sie vorgesehene Wirtschaftsbranchen wie die Landwirtschaft, das Gastgewerbe14 oder den Privathaushalt festgelegt und/oder in Beschäftigungsverhältnisse des informellen Sektors gedrängt. Andererseits gibt es im Falle von gut qualifizierten Arbeitskräften Dequalifizierungen aufgrund von Problemen bei der Nostrifizierung von Bildungsabschlüssen oder weil qualifizierte Arbeitsstellen schon von ÖsterreicherInnen besetzt sind, die am österreichischen Arbeitsmarkt bevorzugt behandelt werden.15 In Bezug auf die soziale Absicherung – insbesondere im Falle der Arbeitslosigkeit – durch den österreichischen Wohlfahrtsstaat ist zu beachten, dass MigrantInnen nur in eingeschränktem Maße (abhängig von der Dauer und Art des Aufenthalts) an den wohlfahrtsstaatlichen Leistungen teilhaben können, die österreichischen StaatsbürgerInnen zur Verfügung stehen. Nicht-EWR-Staatsangehörige beispielsweise sind berechtigt, Arbeitslosengeld als Versicherungsleistung zu beziehen. Der Anspruch auf Notstandshilfe, die im Anschluss an die Erschöpfung eines Anspruchs auf Arbeitslosengeld als Versicherungsleistung mit Bedürftigkeitsprüfung ÖsterreicherInnen und ihnen gleichgestellten Staatsangehörigen gewährt wird, unterliegt bestimmten Voraussetzungen, die NichtEWR-Staatsanghörige benachteiligen und den Zugang zur Notstandshilfe erschweren (vgl. König/Stadler 2003: 240f.; Bock-Schappelwein 2002: 325). MigrantInnen, unter ihnen in besonderem Maße Frauen, die als „Familiennachzug“ keine Möglichkeit haben, einer legalen Beschäftigung nachzugehen16, fallen, nachdem sie oftmals im informellen Sektor arbeiten, aus dem erwerbszentrierten Sozialversicherungssystem. (vgl. Kofman 2000: 144ff.). So erfüllen Migrantinnen eine doppelte, für den österreichischen Sozialstaat günstige Funk-

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werbstätigkeit von Drittstaatsanghörigen in Österreich ist nicht nur im Ausländerbeschäftigungsgesetz geregelt, sondern auch abhängig von aufenthaltsrechtlichen Bestimmungen. In diesen beiden Branchen (Landwirtschaft und Gastgewerbe) dominiert die saisonale Beschäftigung von MigrantInnen. Zwei Prinzipien sind grundlegend für die österreichische Ausländerbeschäftigungspolitik: Der Inländerprimat sieht vor, dass ÖsterreicherInnen sowohl bevorzugt eingestellt werden als auch erst nach einem etwaigen Arbeitskräfte-Abbau von Nicht-ÖsterreicherInnen entlassen werden. Der Generalvorbehalt besagt, dass MigrantInnen nur dann beschäftigt werden dürfen, wenn die Lage und die Entwicklung des Arbeitsmarktes und wichtige gesamtwirtschaftliche Interessen dies zulassen. (vgl. Bauböck 2001) Mit dem Fremdenrechtspaket 2005 (gültig ab 1.1.2006) ist für Familienangehörige von Drittstaatsangehörigen eine Erlaubnis zur Erwerbstätigkeit bereits nach einem Jahr vorgesehen (vgl. www.migrant.at, www.auslaender.at/gesetze/fr2005/3.html).

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tion: Sie fallen als Nicht-Empfängerinnen wohlfahrtsstaatlicher Leistungen dem Fiskus nicht zur Last und gewährleisten gleichzeitig soziale Dienste und Reproduktionsleistungen in schlecht bezahlten und ungesicherten Beschäftigungsverhältnissen, die sie aufgrund ihres Status als Migrantin einzugehen gezwungen sind. Dieser Zwang wird aufgrund politischer Willensbildung von der österreichischen Gesetzgebung produziert, die Beschäftigung und soziale Absicherung von ÖsterreicherInnen gegenüber MigrantInnen privilegiert. Gleichzeitig führt internationale Ungleichheit in Einkommen, Vermögen, Ressourcenausstattung usw. zwischen Nationalstaaten zu einem Wohlstandsgefälle, das Migrationsbewegungen mit hervorruft.17 Obwohl die meisten Frauen immer noch über Familienzusammenführung zumindest einreisen, werden es immer mehr, die allein migrieren, aus wirtschaftlichen Gründen, als Studentinnen, als Flüchtlinge. Frauen verlassen ihren Herkunftsort in der Hoffnung auf bessere Lebensverhältnisse aufgrund ihrer Verantwortung für Kinder und Familie, die sie oft allein tragen müssen, da auch alle anderen Familienmitglieder von Arbeitslosigkeit, Unterbeschäftigung oder schlecht bezahlter Erwerbsarbeit betroffen sind. Die Bedeutung von Frauen als Agentinnen im Migrationsprozess wird nicht nur durch ihre Anzahl virulent18, sondern auch durch ihren wichtigen Beitrag zur Wohlfahrt sowohl in den Empfänger- als auch in den Herkunftsländern. Die Nachfrage nach weiblichen Arbeitskräften aus Drittstaaten ist vor allem in „typischen“ Frauenberufen im expandierenden Dienstleistungssektor hoch, was wiederum mit der geschlechtsspezifischen Zuteilung von Reproduktionsarbeit an Frauen in Zusammenhang steht: „The gendered nature of welfare provision, which prioritizes women’s role as carers in society, is heightened during migration (…) Many of the recent women migrants to Europe have moved to seek jobs in the casualized welfare sector, particularly in domestic work and caring of dependent children, elderly and disabled, as state provision of welfare is not keeping pace with the requirements of ageing populations across Europe.“ (Kofman 2000: 2)

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Die vielfältigen Motivationen für die Entscheidung zur Migration können nicht ausschließlich auf ökonomische Gründe zurückgeführt und mit dem „Zwang der Verhältnisse“ erklärt werden. Die Entscheidung zur Migration ist meistens ein Balanceakt zwischen Notwendigkeit und Strategie. Sie impliziert auch die individuelle Überwindung, grundlegende Veränderungen mit ungewissem Ausgang zu wagen, und die Hoffnung auf die Verbesserung der eigenen Lebenssituation. Als Beispiel sei die Frauenmigration nach Wien angeführt: Am höchsten ist der Frauenanteil unter StaatsbürgerInnen aus Mittelosteuropa in der Altersgruppe zwischen 20 und 39 Jahren: Bei tschechischen Staatsangehörigen liegt der Frauenanteil bei 71%, bei slowakischen: 68% (vgl. Wiener Integrationsfonds 2003: 10f).

4.

Politik der Reproduktion

Die aktuelle sozial- und finanzpolitische Situation in Österreich ist gekennzeichnet durch die Reduktion der Staatsausgaben zur Verringerung der Staatsverschuldung und geht oft auf Kosten der Sozialpolitik und damit auf Kosten der Frauen (vgl. Beigewum 2002: 112ff.). Denn ihnen wird durch die Informalisierung sozialer Dienstleistungen, die aus budgetären Kostengründen nicht mehr vom Staat erbracht werden und vom Markt nicht ausreichend zur Verfügung gestellt werden können, die Ausführung dieser Tätigkeiten (Gesundheitsversorgung, Bildung, Pflege) aufgebürdet. Zusätzlich bedeutet Kostenreduktion im Bereich der sozialen Dienste Abbau von Arbeitsplätzen und die Verdrängung von Frauen aus gesicherten Arbeitsverhältnissen. Der Druck auf Frauen wird somit doppelt erhöht. Können oder wollen Frauen diese ihnen zugeschriebene Betreuungsverantwortung nicht mehr auf sich nehmen und fällt diese „Möglichkeit“ der Weigerung mit dem Rückzug der öffentlichen Hand aus diesen Tätigkeitsbereichen zusammen, müssen Betreuungs- und Pflegetätigkeiten von anderen Personen übernommen werden – und zwar in „leistbarer“ Form. Der Staat zieht sich aus seiner Verantwortung zurück, soziale Dienste anzubieten und zu gewährleisten. Unter der Sparprämisse und der Ideologie der Eigenverantwortlichkeit und des Privatisierungs- bzw. Outsourcing-Zwangs verschieben sich Investitionen und Interventionen von der öffentlichen Sphäre auf die private Ebene (vgl. Sauer 2003). Die Beschäftigung von privaten Reproduktionsleisterinnen wird durch steuerliche Abschreibmöglichkeiten (in Frankreich) subventioniert oder durch die Vergabe von Dienstleistungsschecks (in Deutschland) oder des Kinderbetreuungsgeldes und Pflegegeldes (Österreich) erleichtert und gefördert. Der Staat reguliert also durch eine bestimmte Politik den „Arbeitsmarkt Privathaushalt“, da es schwierig ist, Haushalts- und Pflegedienstleistungen unter Einhaltung tarifrechtlicher Bestimmungen marktfähig und gleichzeitig leistbar zu machen. In der Diskussion rund um haushaltsbezogene Dienstleistungen in Österreich dreht es sich vor allem darum, die Nachfrage nach Haushaltsarbeiterinnen zu bedienen. Der Frage nach den Arbeitsbedingungen und dem Lohn der beschäftigten Frauen wird wenig Platz eingeräumt. Im Wesentlichen handelt es sich um zwei (miteinander zusammenhängende) Stränge in der tagespolitischen Diskussion: erstens um die Förderung des „Unternehmens Haushalt“ sowie die Einführung eines „Dienstleistungsschecks“ und zweitens um die Beschäftigung von Au-Pairs aus Nicht-EWR Staaten (vgl. Kap. 2.2.). Die Einführung des Dienstleistungsschecks soll die Anmeldung und Abrechnung von Haushaltsarbeiterinnen und somit die Beschäftigung sozialversicherter Arbeitskräfte in privaten Haushalten (Kinderbetreuung, Reinigungsper71

sonal, AltenpflegerInnen) erleichtern und „unbürokratischer gestalten. Seit Januar 2006 wird es privaten Haushalten ermöglicht, mit den Schecks, die von den DienstgeberInnen in Trafiken oder Postämtern erworben werden können, HaushaltsarbeiterInnen zu bezahlen und zu versichern. Der/die DienstnehmerIn muss dann spätestens im Folgemonat den Scheck bei einer Gebietskrankenkasse persönlich oder postalisch einreichen und erhält das Geld überwiesen. Bezahlt wird nach Tarifen des HausgehilfInnen und Hausangestelltengesetzes: Einschließlich Sonderzahlungen und Urlaubsgeld beträgt der Mindestlohn 7,38 Euro pro Stunde. Mit dem Dienstleistungsscheck soll die Bezahlung nicht-kontinuierlich erfolgender Arbeiten im Haushalt abgewickelt werden, wobei eine Höchstgrenze von 456,38 Euro pro Monat und Haushalt nicht überschritten werden darf. Sind diese Bedingungen nicht erfüllt, müsste der/die ArbeitgeberIn ein unbefristetes Dienstverhältnis mit dem/der ArbeitnehmerIn eingehen – eine Möglichkeit, die bislang schon besteht. Jeder Haushalt konnte ein geringfügiges oder sozialversicherungspflichtiges Beschäftigungsverhältnis mit einer Haushaltsarbeiterin eingehen – mit allen Vorteilen für den/die ArbeitnehmerIn, die ein unbefristetes Arbeitsverhältnis mit sich bringt, wie zum Beispiel Kündigungsschutz. Der Dienstleistungsscheck hingegen ermöglicht Kettenarbeitsverträge, die Monat für Monat eine befristete Anstellung ohne Kündigungsschutz bedeuten. Darüber hinaus stellt sich die Frage, warum der Gesetzgeber annimmt, dass Putzen und Kinderbetreuung keine kontinuierlichen Arbeiten darstellen und damit Gegenstand eines Dienstleistungsschecks sein können. An dieser Stelle ist auch festzuhalten, dass Migrantinnen, die ohne arbeits- und/oder aufenthaltsrechtliche Bewilligung im Privathaushalt arbeiten, von dieser Regelung ohnehin nicht profitieren können. Der Rückzug des Staates aus der aktiven Sozialpolitik zieht eine Reprivatisierung der Reproduktionsarbeit nach sich. Die Entlastung der Staatskassen erfolgt einerseits in Bezug auf die (nunmehr) private, zu bezahlende oder im Familienverband nicht bezahlte Bereitstellung von Versorgungseinrichtungen und in Bezug auf Ausbildung, Kranken- und Pensionsversicherung von „importierten“ Beschäftigten (vgl. Hess 2001: 208ff.). Während das Personal im öffentlichen Dienst gekürzt wird, wird im Privathaushalt in immer größer werdendem Ausmaß auf die Versorgungs- und Pflegearbeit von Migrantinnen gesetzt, deren Ausbildung, soziale Absicherung und zukünftige Pensionen von einem anderen als dem österreichischen Staat gewährleistet werden. Die prekäre Arbeitsmarktsituation von Migrantinnen, die entweder über einen ungesicherten oder illegalen Aufenthaltsstatus verfügen, wird direkt von MehrheitsösterreicherInnen und indirekt vom österreichischem Staat ausgenutzt, um Arbeitskräfte zu möglichst geringen Löhnen beschäftigen zu können. 72

Kann man konstatieren, dass die ökonomischen Umstrukturierungen der Arbeitsverhältnisse und der Abbau der sozialen Sicherheitssysteme auf dem Rücken der Frauen ausgetragen werden (vgl. Hess/Lenz 2001: 17f.)? Bei der Beantwortung dieser Frage ist Vorsicht geboten, denn es sind die neueren Dynamiken der Umstrukturierung in Betracht zu ziehen. Nicht alle Frauen können als „Verliererinnen“ der Globalisierung angesehen werden. Erstens verkennt diese Annahme ihren Subjektstatus, wonach ihnen Handlungsoptionen und Entscheidungsmöglichkeiten offen stehen – trotz struktureller Ungleichheit und Benachteiligungen. Frauen dürfen nicht als „Opfer der Verhältnisse“ im Prozess der Globalisierung konstruiert werden. Dieser ist dynamisch, birgt Veränderungspotential, das auch Frauen zum Vorteil gereichen kann. Zum anderen sind die Auswirkungen der Umstrukturierungsprozesse auf Frauen und die Geschlechterverhältnisse sehr ambivalent. Tendenziell lässt sich zwar die Geschlechterdichotomie im Zugang zu Einkommen, Verteilung der Erwerbsarbeit und der unbezahlten Arbeit immer noch anwenden und zu Lasten von Frauen auslegen. Gleichzeitig finden Verschiebungen zwischen Schichten und vor allem zwischen Frauen unterschiedlicher Schichten und Nationalitäten statt. 5.

Schlussbemerkung: Zwischen Strategie und Notwendigkeit

Wir wissen um die Notwendigkeit der Erledigung von Reproduktionsarbeit, um die Mehrfachbelastung von Frauen, um das enorme Ausmaß der Arbeitsleistungen in privaten Haushalten, die in verschiedenen Formen verrichtet werden. Eine Form davon ist die Anstellung einer Haushaltsarbeiterin, einer Babysitterin, einer Putzfrau, einer Pflegerin. Viele von ihnen kommen aus Polen, Tschechien oder Ungarn, der Ukraine oder Russland. Im vorliegenden Artikel versuchte ich insbesondere strukturelle Erklärungsgründe für die zunehmende Beschäftigung von Migrantinnen in privaten Haushalten anzuführen. Zusätzlich ist es mir wichtig auf die Rolle der AkteurInnen in der Organisation der Haushaltsarbeit aufmerksam zu machen. Die Gratwanderung zwischen Strategie und Notwendigkeit bedeutet sowohl für die Arbeitgeberinnen als auch für die Arbeitnehmerinnen oftmals ein Dilemma: Die Arbeitgeberinnen einer Haushaltsarbeiterin wollen oder müssen aufgrund der traditionellen geschlechtsspezifischen Arbeitsteilung im Haushalt, aufgrund von Zeitmangel, Familie und Beruf zu vereinbaren, die Hausarbeit und Kinderbetreuung einer haushaltsexternen Person zuweisen. Die Möglichkeit eine Haushaltsarbeiterin anzustellen, ist allerdings auch Ausdruck einer privilegierten Position im gesamtgesellschaftlichen Gefüge – vor allem gegenüber der Haushaltsarbeiterin selbst. Außerdem werden dadurch nicht zu bewältigende Konflikte um die haushaltsinterne Ar73

beitsteilung ausgelagert und das gesellschaftliche Problem der geschlechtsspezifischen Arbeitsteilung im Haushalt und der Nicht-Anerkennung von Haushaltsarbeit als notwendige und wichtige Arbeit eben nicht gelöst. Auf der anderen Seite stellt die Beschäftigung als Haushaltsarbeiterin für die meisten Migrantinnen kein berufliches Wunschziel dar, sondern eine Strategie der möglichen Integration und Aufenthaltsverfestigung angesichts der oben beschriebenen Benachteiligungen und Ausschlüsse im österreichischen Rechts- und Beschäftigungssystem. Politische Strategien und Lösungsvorschläge, die die Warte der Migrantinnen miteinbeziehen, müssen einerseits die prekären und extrem ausbeuterischen Beschäftigungsverhältnisse von Migrantinnen in Privathaushalten aufzeigen und bekämpfen. Andererseits darf die Position von Migrantinnen als Haushaltsarbeiterinnen durch eine Reformpolitik nicht festgeschrieben und zementiert werden. Es ist notwendig, prinzipielle Kritik an der geschlechtsspezifisch ethnisierten Segregation des „Arbeitsmarktes Privathaushalt“ zu formulieren und an einer Arbeitsteilung, die Migrantinnen qua ihres Status als „Frau“ und „Nicht-Österreicherin“ in niedrig entlohnte „Berufe“ drängt, die dem Statuserhalt der MehrheitsösterreicherInnen– im genuinsten Sinne des Wortes – „dienen“. Literatur AK Wien (2000): Frauenhandel in Österreich. Pressemeldung vom 11.12.2000 Anderson, Bridget (2000): Doing the Dirty Work? London and New York: Zed Books AMS (Hrsg.) (1998): AusländerInnen in Österreich. Wien: Wissenschaftsverlag Appelt, Erna (2003): Frauen in der Migration – Lebensform und soziale Situation. In: Fassmann et.al. (2003): 144-171 Arbeitsgruppe MigrantInnen und Gewalt (Hrsg.) (2003): Migration von Frauen und strukturelle Gewalt. Wien: Milena Verlag Bauböck, Rainer (2001): Österreichische Migrationspolitik. http://www.migration.cc/40jahre.html, 16.10.2001 Bauer, Adelheid/,Eichwalder, Reinhard (2003): Volkszählung 2001: Lebensunterhalt. In: Statistische Nachrichten 7.2003 Beigewum (2002): Frauen macht Budgets. Wien: Mandelbaum Biffl, Gudrun (Koordination) (2003): Arbeitsmarktrelevante Effekte der Ausländerintegration in Österreich. Wien: WIFO Biffl, Gudrun (2004): SOPEMI Report on Labour Migration. Austria 1999-2000. Wien: WIFO Biffl, Gudrun/Bock-Schappelwein, Julia (2002): „Kosten und Nutzen“ der sozialen Sicherheit für Ausländer. In Biffl (2003): 390-410 Blumberger, Walter/Dornmayr, Helmut (1998): Dienstleistungen für private Haushalte. Wien: Wissenschaftsverlag Bock-Schappelwein, Julia (2002): Die Arbeitslosigkeit ausländischer Arbeitskräfte. In: Biffl (2003): 302-345

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Politiken der Vereinbarkeit verqueren oder „... aber hier putzen und pflegen wir alle“. Heteronormativität, Einwanderung und alte Spannungen der Reproduktion Luzenir Caixeta1

In den 1970er Jahren waren Fragen der (Re-)Produktion sowie der Haus- und Pflegearbeit wichtige Diskussionspunkte in der Debatte um die Gleichheit der Geschlechter. Postkolonialer und Schwarzer Feminismus kritisierten, dass gleichheitsfeministische Ansätze die unterschiedlichen sozialen und lokalen Positionen von Frauen außer Acht ließen, Fragen des Rassismus und der internationalen Arbeitsteilung zwischen Frauen ausblendeten und Frauensolidarität auf Basis der Viktimisierung aller Frauen proklamierten. In der Auseinandersetzung mit diesen Ansätzen verlangten Schwarze Feministinnen in den 1970er und 1980er Jahren eine kritische Auseinandersetzung mit der Konstruktion von Women of Color als Opfer. Sie forderten eine Auseinandersetzung mit Rassismus im Feminismus und problematisierten Geschlecht und das Geschlechterverhältnis auf der Grundlage intersektioneller Modelle (vgl. Combahee River Collective 1979). In den 1990er Jahren wird die Vorannahme der Zweigeschlechtlichkeit um eine weitere Perspektive angereichert. Die Debatten um Queer Theory unterstreichen die Notwendigkeit, sich kritisch mit der heteronormativen Ordnung zu beschäftigen, die alle gesellschaftlichen Ebenen durchzieht. Beide Auseinandersetzungen, die um Rassismus und um Heteronormativität, führen zu einer Verkomplizierung der Analyse des Geschlechterverhältnisses. Von dieser Perspektive ausgehend, werden wir uns der Frage nach der Organisierung der Pflege-, Haus-, Betreuungs- und Erziehungsarbeit in Privathaushalten und deren Wirkungsweise auf das Geschlechterverhältnis zuwenden; eine Fragestellung, die wir im Rahmen einer europäischen Vergleichstudie in Spanien, Österreich, Großbritannien und Deutschland verfolgt haben. Wir führten Interviews mit 1

Luzenir Caixeta hat in der Ringvorlesung referiert. Sie hat das Forschungsprojekt „Haushalt & Caretaking“ für maiz in Österreich koordiniert (2003-2004). Encarnación Gutiérrez Rodriguez, Shirley Tate und Cristina Vega Solis sind die Co-Autorinnen dieses Artikels und die jeweiligen Koordinatorinnen für Deutschland, England und Spanien.

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Haushaltsangehörigen, die „Hausarbeiterinnen“ beschäftigen, und mit Frauen, die in solchen Haushalten gegen Bezahlung arbeiten. Letztere stammten aus Chile, Ekuador, Peru, Zimbabwe, Polen und Russland. Ein Ergebnis dieser Studie war, dass in urbanen wohl situierten Privathaushalten die reproduktive und affektive Arbeit zunehmend auf bezahlter Basis von einer dritten Person erledigt wird. Bei dieser Person handelt es sich zumeist um eine Migrantin, in einigen Fällen mit einem unsicheren Aufenthaltsstatus. Ausgegangen sind wir bei unserer Untersuchung nicht nur von den traditionellen heterosexuellen Kleinfamilienhaushalten, sondern unser Blick richtetet sich auch auf neue Lebensformen wie zum Beispiel Single-, WG- und gleichgeschlechtliche Haushalte, patch-work-Familien oder Alleinerziehende mit Kind. Ein weiteres Ergebnis bezieht sich auf die neue Qualität der Arbeit, die wir im Rahmen der Expandierung und Kommodifizierung von privaten Dienstleitungen, aber auch in Bezug auf die Inkorporierung von Information, Wissen und Affekten in den Produktionsprozess betrachten. Unser Angelpunkt stellt so die veränderte Form der Reproduktionsarbeit als bezahlte und unbezahlte Arbeit im Privathaushalt dar. Dabei dekonstruieren wir den Reproduktionsbegriff in Anlehnung an Precarias a la Derivas Konzept trabajos de cuidados, das die Pflege-, Betreuungs-, Kommunikations-, Sorge-, Sex-, Haus- und Erziehungsarbeit umfasst (vgl. Precarias 2004). Wie Precarias feststellt, sind diese Arbeitsbereiche im Kontext postfordistischer Produktionsverhältnisse nicht mehr unter der Trennung zwischen Produktions- und Reproduktionsarbeit zu fassen, denn der Charakter der bezahlten Arbeit hat sich geändert. Tätigkeiten und Charakteristika, die eher mit der Hausarbeit verbunden werden wie zum Beispiel die emotionale Arbeit, werden heute auch im Bereich der bezahlten Arbeit im Informations-, Medien- und Dienstleistungssektor nachgefragt (vgl. Massey 1999). Im Folgenden werden wir uns diesen Annahmen in vier Schritten annähern. Zunächst werden wir uns mit der Frage der Organisierung der Hausund Pflegearbeit beschäftigen und der Frage nachgehen, inwieweit die Programmatik der Vereinbarkeit von Familie und Beruf in den individuellen Arrangements in den Haushalten vorzufinden sind oder ob wir es hier mit dem alten Widerspruch zwischen bezahlter Arbeit und der gesellschaftlich notwendigen unbezahlten Arbeit zu tun haben. Im zweiten Schritt werden wir die neue Qualität der Arbeit in Beziehung zu neuen Haushalts- und Lebensformen setzen und fragen, ob in den alternativen Haushalten ein gleichberechtigter Umgang mit der reproduktiv-affektiven Arbeit vorzufinden ist. Diese Bestandsaufnahme der Privathaushalte wird im dritten Schritt in Verhältnis zur globalen Arbeitsmarktentwicklung gesetzt, um dann schließlich im vierten Schritt einen Blick auf die 78

über diese Verhältnisse strukturierten individuellen Artikulations- und Aushandlungsformen in den Privathaushalten am Beispiel einiger Interviewausschnitte zu sprechen zu kommen. Doch zunächst zu der immer wiederkehrenden Frage nach der Vereinbarkeit von Familie und Beruf. 1.

Hausarbeit und Pflegearbeit: Vereinbarkeit oder Widerspruch?

Im Verlauf der 1990er Jahre diskutierte der institutionalisierte Feminismus die Herstellung von Chancengleichheit auf dem Arbeitsmarkt und die Vereinbarkeit von Familie und Beruf angesichts der Doppelbelastung von Frauen. In Wohlfahrtsstaaten wie Deutschland, Österreich und England (vgl. Caixeta, Dominguez, Gutiérrez Rodríguez, Tate, Vega et al. 2004) wurden insbesondere staatliche Maßnahmen eingeführt, die die Vereinbarkeit zwischen Familie und Beruf mittels des Ausbaus des Kinderbetreuungsangebotes, des Rechtes auf Teilzeitarbeit und der Karenzgeldregelung befördern sollten. Unter den Stichworten Gender Mainstreaming und Work-Life-Balance sind diese Maßnahmen auf EUEbene diskutiert worden. Unser Interesse gilt der Wirkungsweise dieser Programme auf die Privathaushalte. Demnach fragen wir nach dem Veränderungspotenzial oder auch der Verstetigung tradierter Geschlechtermodelle. Der Fokus liegt dabei auf der dynamischen Organisation von Privathaushalten und auf sich neu formierenden Konfliktfeldern, die zwischen produktiver und reproduktiver Sphäre entstehen. Dabei betrachten wir zunächst die interaktive Dynamik und das monetäre Verhältnis zwischen Arbeitgeberin und Hausarbeiterin: ein Beziehungs- und Interessengeflecht, das vom Charakter der Hausarbeit und der neuen Qualität der Arbeit im Zeitalter der Virtualität und Mobilität geprägt ist. Unter unbezahlte Arbeit fallen nicht nur das Geschirrspülen, sondern insbesondere auch persönliche und emotionale Zuwendungen, die sich in den alltäglichen Begegnungen in den Privathaushalten einstellen. Die feministische Forschung hat bereits auf diesen Aspekt der geschlechtsspezifischen Arbeitsteilung, der zumeist von Frauen erledigt wird, in den 1970er und 1980er Jahren hingewiesen (vgl. Bas Cortada 1985, Birgin 1985). Während also für die männlichen Haushaltsmitglieder das Zuhause ein Ort der Erholung ist, beginnt für die weiblichen Haushaltsmitglieder hier die „zweite Schicht“. Die zweite Schicht heißt für sie Essen kochen, das Haus putzen, die Wäsche erledigen, die Kinder von der Schule abholen etc.. Diese Beobachtung gehört zu den alten Fundamenten in den Analysen zur Hausarbeit seit den 1970er Jahren und ist auch im heutigen hoch entwickelten Kapitalismus so relevant wie zuvor. Trotz der Annahme der 79

Aufweichung der Geschlechterrollen, der Flexibilisierung der Geschlechterbeziehung, der Dekonstruktion von Geschlecht scheint die traditionelle geschlechtsspezifische Arbeitsteilung ungebrochen. Gerade in professionellen Haushalten, wo Frauen einer Vollbeschäftigung nachgehen und mit flexibilisierten und expandierenden Arbeitszeiten zu kämpfen haben – so zeigt unsere Studie –, bleibt die traditionelle geschlechtspezifische Arbeitsteilung bestehen. Vor allem in finanziell gut situierten Haushalten wurde die Wahrnehmung der Geschlechterrollen aufgrund der Integration der Frau in den Arbeitsmarkt aus ihrem traditionellen Gefüge gehebelt. Berufstätige Frauen erklärten uns in den Interviews, dass sie ihren Beruf nicht zugunsten der Haushaltsführung aufgeben wollen und dass Hausarbeit für sie zu einer bewussten Last geworden sei. Deswegen soll die Hausarbeit mit den Partnern oder anderen Haushaltsmitgliedern organisiert werden. Oft schlägt jedoch diese Vereinbarkeitsstrategie fehl und die Frauen sind wieder für die Haushaltsführung verantwortlich. Um Konflikte innerhalb des Haushaltes zu reduzieren, fällt die Entscheidung, eine Haushaltshilfe einzustellen. Die durch die geschlechtsspezifische Arbeitsteilung im Haushalt erzeugten Spannungen und Krisen werden nicht durch eine ausgewogene Verteilung der Aufgaben unter den Haushaltsmitgliedern gelöst, sondern durch eine Verschiebung der reproduktiven Verantwortlichkeit an eine dritte Person: im Allgemeinen an eine andere Frau und meistens an eine Migrantin. In weniger gut situierten Haushalten und in Gesellschaften mit unzureichender öffentlicher Versorgung für Alte und Kinder, wie in Spanien, übernimmt das Familiennetzwerk oder die Nachbarschaft die Unterstützung. Diese Lösung offenbart das Fehlen funktionierender staatlicher Einrichtungen, die die neuen Arbeitsbedingungen in den Haushalten berücksichtigen. Zusammenfassend stellen wir fest, dass weniger von „Vereinbarkeit“ von Haushalt und Beruf gesprochen werden kann als vielmehr von einer neuen Asymmetrie, die auf geschlechtsspezifischer Segregation und auf politischem, ökonomischem und gesellschaftlichem Ausschluss aufgrund von Herkunft beruht. Bei haushaltsnahen Dienstleistungen handelt es sich um einen Markt, der durch Migrationspolitik und institutionalisierten Rassismus vor dem Hintergrund ungleicher Nord-Süd-Beziehungen, der Spuren aus der Kolonialgeschichte und einer globalen post(neo)kolonialen Ordnung geprägt ist. Demzufolge wird die Erledigung der reproduktiv-affektiven Arbeit zu einem zentralen Konfliktpunkt (vgl. Schultz 2002). Um diesem Konflikt zu entgehen, wird die Hausarbeit ausgelagert und eine dritte Person eingestellt. Denn trotz der individuell ausgerichteten Programme der Vereinbarkeit von Familie und Beruf, existieren keine staatlichen Maßnahmen, die die Haus-, Pflege-, Sor80

ge- und Erziehungsarbeit gesellschaftlich vergemeinschaften. Denn die Programmatik der staatlichen Vereinbarkeitspolitik basiert auf dem Ziel der Gleichstellung zwischen den Geschlechtern, ohne dabei das Modell der Zweigeschlechtlichkeit zu verlassen. Sie zielt darauf ab, die Arbeitsbelastung von Frauen zu verringern, aber nicht ihre Rolle als Reproduktionsleisterinnen in Frage zu stellen. Es sind in höherem Maße Männer, die einer Vollzeiterwerbstätigkeit nachgehen und diese zum Zentrum ihres Lebens stilisieren. Teilzeitarbeitende Männer, karenzierte Väter oder Hausmänner sind die Ausnahme. Trotz der steigenden Erwerbsbeteiligung, nicht zuletzt aufgrund der besseren Ausbildung von Frauen, bleibt die geschlechtsspezifische Aufteilung von unbezahlter und bezahlter Arbeit erhalten. In Deutschland beispielsweise verrichten Frauen wöchentlich 35 Stunden nicht bezahlte Arbeit, Männer nur 19,5 Stunden. In europäischen Mittelstandshaushalten sind Doppelt- und Mehrtagesschichten sowie daraus resultierende Spannungen und Konflikte in der Haushaltsführung an der Tagesordnung. Die weiterhin bestehende geschlechtsspezifische Segregation auf dem Arbeitsmarkt und die Lohnunterschiede zwischen Männern und Frauen gehen mit einer zunehmenden Deregulierung von Arbeitsverhältnissen (vor allem in Spanien) und mit einer Intensivierung der Arbeitszeit einher (vor allem in Großbritannien), was zu stärkeren Belastungs- und Stresssituationen führt, die zumeist von Frauen, insbesondere von der „bezahlten Hausarbeiterin“ abgefedert werden. Diese Entwicklung geht mit einer Veränderung im Konsumverhalten einher. Die Nachfrage nach ausdifferenzierten Angeboten und Dienstleistungen nimmt insbesondere in den urbanen mittelständischen Haushalten zu. Diese Entwicklung erfordert eine Intensivierung des Arbeitsvolumens auf der Seite der AnbieterInnen, aber auch auf der der KonsumentInnen. Doch diese Feststellung, die wir anhand unserer empirischen Untersuchung machen mussten, scheint nicht einfach das zu wiederholen, was schon seit dreißig Jahren bekannt ist: die Doppelbelastung von Frauen. Vielmehr müssen wir diese neuen Aushandlungsprozesse im Rahmen der neuen Qualität der Arbeit diskutieren. 2.

Reproduktionsarbeit als emotionale oder affektive Arbeit?

Wir müssen unseren Blick schärfen, um in dieser ungebrochenen Kontinuität Diskontinuitäten auszumachen. Im Vordergrund der Analyse sollte daher nicht nur das Verhältnis der Geschlechter selbst stehen, sondern auch die kritische 81

Betrachtung der heterosexuellen Matrix und der geopolitischen Situierung, in der dieses Verhältnis hervorgebracht und inszeniert wird. In diesem Rahmen tauchen auch Techniken der Verobjektivierung der Subjekte auf, die mit heteronormativen und rassistischen Ein- und Ausschließungspraktiken einhergehen. Demzufolge zeigt unsere Studie auf, dass die Struktur der Kleinfamilie als Analyseraster zu kurz greift. Ebenso wenig können wir diese Arbeitsteilung lediglich als Folge der Trennung von Reproduktions- und Produktionssphäre fassen (vgl. Boudry et. al. 2001). Auch findet der Aushandlungsprozess in den Privathaushalten in einem postkolonialen Kontext statt, der von Technologien der Rassifizierung und Ethnisierung geprägt ist (vgl. Gutiérrez Rodríguez 2005). Haushalte sind daher auf ihre geo-politischen Eingebundenheit in der aktuellen Asyl- und Migrationspolitik und deren Auswirkung auf die Arbeitsmarktpolitik zu untersuchen. Des Weiteren gehen wir in Anschluss an Antonio Negri und Michael Hardt von einem Wandel der materiellen Arbeit zur immateriellen Arbeit aus (Hardt/ Negri 2000; Hardt 2002): Die bezahlte Arbeit verbindet sich mit der unbezahlten Arbeit und formt einen neuen und kontinuierlichen Kreislauf weiblicher Prekarität, der sich in der Verkettung der Pflege, der Sorge und der Sexarbeit widerspiegelt (vgl. Precarias 2004). Die Reproduktion fließt in die Produktionsarbeit ein und umgekehrt. Die neue Organisation und Qualität der Arbeit schöpft aus kreativen, affektiven und intellektuellen Tätigkeiten. Affektive Arbeit wird in Verbindung zu emotionaler Arbeit gesetzt, um nicht die Trennung zwischen Reproduktions- und Produktionsarbeit zu betonen, sondern deren Verschmelzung – ein Aspekt, den Feministinnen bereits in den 1980er Jahren unter dem Begriff der „emotionalen Arbeit“ diskutiert haben (vgl. Ostner 1986). Durch die Deregulierung von Arbeitszeiten und durch die Flexibilisierung von Arbeitsbedingungen nimmt die Verschmelzung dieser zwei Bereiche zu und wird nun auch außerhalb des feministischen Diskurses wahrgenommen. Hardt und Negri fassen diese Fusion unter dem Begriff der „immateriellen Arbeit“, die sie als dominante Arbeitsform im Postfordismus wahrnehmen. Gleichzeitig weisen sie auf die Kommerzialisierung „immaterieller“ Produktion von Wissen, Information und Affekten hin. Uns interessiert in Anlehnung an diese Begrifflichkeit vor allem die Auseinandersetzung mit affektiver Arbeit, insbesondere mit Hausarbeit in Bezug auf neue Lebensformen beziehungsweise multiple Haushaltseinheiten.

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3.

Verwandtschaft und Haushaltseinheiten

Wir sprechen in unserer Studie von Haushalten, nicht von Familien, um neue Lebensformen und neue Organisationsformen von Haus-, Sorge- und Pflegearbeit, die nicht der klassischen heterosexuellen Kleinfamilie entsprechen, zu betonen. Neben der klassischen Familie finden sich – nicht immer infolge einer freien Entscheidung – Einpersonenhaushalte (in vielen Fällen alte Menschen), Alleinerziehende (einschließlich getrennt lebender Personen), transnationale, plurinukleare Patchworkfamilien (ähnlich der Großfamilie), internationale Mehrgenerationenhaushalte (auch bestehend aus nicht verwandten Personen). Diese Haushalte erscheinen selten in Statistiken. Nicht nur die Zusammensetzung der Haushalte, auch die Werte und Lebensarten von Haushalten haben sich verändert: Neben traditionellen Paarbeziehungen entstehen mehr oder weniger gelungene „Partnerschaften“, welche sich mit dem Diskurs der Gleichberechtigung identifizieren. Jedoch beziehen sich ihre Abmachungen nicht notwendigerweise auf die Privatsphäre. In der Privatsphäre sind es weiterhin die Frauen, die den Haushalt managen oder organisieren. Die meisten Männer, auch solche, die der Überzeugung der Gleichberechtigung folgen, überlassen diesen Bereich den Frauen. Neben den heterosexuellen Kleinfamilien tauchen zunehmend alternative Haushaltsformen auf, unter ihnen auch gleichgeschlechtliche Haushalte. Auch in diesen Haushalten finden Aushandlungsprozesse auf Basis der Konstruktion von Weiblichkeit und Männlichkeit statt, und in einigen Fällen wird ein asymmetrisches Geschlechtermodell reproduziert. In anderen wiederum wird dieses Modell durch die hausinterne Organisierung der Arbeit gebrochen. Rechtliche und sozialpolitische Veränderungen – wie Reformen im Scheidungsrecht, Legalisierung von Abtreibung, Adoptionsmöglichkeit, standesamtliche Ehen und eheähnliche Gemeinschaften, etc. – hatten einen entschei-denden Einfluss auf die Liberalisierung von Familienformen und -werten. Einzuwenden ist hier die unterschiedliche nationalpolitische Ausgestaltung der Möglichkeiten und der staatlichen Unterstützung, in anderen Haushaltsformen als der nuklearen Kleinfamilie zu leben. Weiterhin bestehen zum Beispiel für Migrantinnen Schwierigkeiten bei der Familienzusammenführung, auch gleichgeschlechtliche Partnerschaften sind nicht in allen Ländern gleichermaßen anerkannt. Auch werden neue Familienformen in der Migration, die mit dem Stichwort „transnationale Familien“ diskutiert werden, kaum in Betracht gezogen, wenn über Rechtsformen in diesem Bereich debattiert wird. Getrennt vom Wohnort ihrer Familien und ihrer Kinder sorgen Migrantinnen – in den meisten Fällen in Dienstleistungsberufen – sowohl für das Einkommen des Haushalts in ihrem 83

„Aufenthaltsland“ als auch des Haushalts im Herkunftsland. Viele dieser Haushalte entstehen auf Basis weiblicher Netzwerke als plurinukleare Einheiten beziehungsweise als mehr oder weniger zeitweilige Wohngemeinschaften. Einige AutorInnen sprechen angesichts dieser soziostrukturellen Entwicklungen von einer Denaturalisierung beziehungsweise Desinstitutionalisierung der Familie. Dieser Aspekt bestimmt – insbesondere durch den Transfer der Haushalts- und Betreuungsdienste im globalen Kapitalismus – zunehmend die Entwicklung der Privathaushalte. 4.

Transfer der Haushalts- und Betreuungsdienste im globalen Kapitalismus

Die Spannungen im Reproduktionsbereich ergeben sich im Kontext der Umgestaltung der Arbeitskraft auf globaler Ebene. In Europa wurde die Deregulierung, Flexibilisierung und Prekarisierung des Arbeitsmarktes von einem aufkommenden alternativen, oder besser gesagt, informellen Arbeitsmarkt begleitet. Dieser Arbeitsmarkt, der unter dem Stichwort der Feminisierung der Arbeit (vgl. Ongaro 2003) Eingang in die Diskussion gefunden hat, zeichnet sich durch weibliche prekäre Netzwerke und eine zunehmende Mobilität von Frauen aus (vgl. Precarias a la Deriva 2004). Diese Entwicklungen setzen die Geschlechter, Klassen- und Ethnizitätsbeziehungen weltweit neu zusammen. Die Vereinbarkeit von Beruf und Familie durch die Auslagerung der Hausarbeit an eine dritte Person schafft eine geschlechtsspezifische Arbeitsteilung zwischen Frauen und Männern und unter Frauen im Haushalt. Die „angenehmere“ (unbezahlte) reproduktive Arbeit wird von den Frauen im Haushalt unbezahlt geleistet, während die schwere Arbeit von den eingestellten Frauen als bezahlte Arbeit verrichtet wird. Über diese beiden Arbeitsbereiche erfolgt die affektive, physische und emotionale Organisation von Haushaltsarbeit, an der alle weiblichen Mitglieder des Haushalts beteiligt sind. Ein Paradox stellt sich ein: Obwohl die Einstellung einer dritten Person im Haushalt zu der Entspannung des Konfliktes im Haushalt und zur Entlastung insbesondere der weiblichen Mitglieder führen soll, ergibt sich Stress für alle Beteiligten. Die Arbeitgeberinnen stehen unter dem Druck, den Haushalt managen zu müssen. Die Angestellten wiederum sind mit der dienenden Rolle der Betreuung und Pflege, mit Minderbezahlung und prekären Arbeitsbedingungen konfrontiert, die mit Stress, Entbehrungen und in einigen Fällen – insbesondere bei Hausarbeiterinnen ohne legalen Aufenthaltsstatus – mit Angst vor Abschiebung einhergeht. 84

Der Umfang der Hausarbeitsübertragung an Migrantinnen variiert länderspezifisch nach den entsprechenden Regulierungen in diesem Sektor. Gekennzeichnet sind diese informellen Arbeitsverhältnisse durch niedrige Löhne, den Mangel an sozialer Absicherung, das Fehlen professioneller Strukturen und das dienende Erbe, auf dem diese Arbeit beruht. Viele Frauen ohne Aufenthalts- und/oder Beschäftigungstitel suchen Schutz in dieser „offenen“ Nische, in der sie Bedingungen der Überausbeutung auf sich nehmen und weniger als den festgesetzten Mindestlohn akzeptieren. In Spanien gibt es – im Unterschied zu Deutschland oder Österreich – für MigrantInnen die Möglichkeit, im Rahmen eines Kontingents für den Haushaltssektor legal zu arbeiten. In Großbritannien können migrantische HausarbeiterInnen legal nur mit ihren ArbeitgeberInnen einreisen. In Deutschland und Österreich erleichtern Au-Pair-Programme, Zeitverträge und Touristenvisa die Einreise. Letzteres beinhaltet keine legale Arbeitsmöglichkeit. Außerdem bergen diese Einreisestrategien die Gefahr einer Abschiebung bei Überschreitung der zugebilligten Aufenthaltsdauer. Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass die Reorganisierung der Reproduktion bedingt ist durch: (1.) die Veränderungen in den Wertvorstellungen und Formen der Familie, (2.) die Umgestaltung der Arbeit und des Wohlfahrtsstaates, (3.) die zunehmende Migration und ihre gleichzeitige Restriktionen von Seiten europäischer Staatlichkeit und (4.) durch die Zunahme der Nachfrage nach Haushalts- und Betreuungsdiensten („für die Vereinbarkeit“), resultierend aus dem Niedriglohnangebot von Migrantinnen in diesem Sektor. Haushalte stellen somit Verhandlungsorte dar, in denen sich die Wirkung staatlicher Anrufungspolitiken und Aushandlungsprozesse zeigt. Dies wollen wir am Beispiel eines Interviews veranschaulichen. 5.

Entgegengesetzte und durchkreuzte Körper

Im Allgemeinen arbeiten die Hausarbeiterinnen in Österreich und Deutschland als „Externe“. Das Modell der Live-ins kommt selten vor und besteht eher verdeckt wie im Fall von Diplomatenhaushalten. Die interviewten Frauen2 arbeiten stundenweise in unterschiedlichen Haushalten. Das setzt eine große Flexibilität in Bezug auf die Arbeitszeit und Mobilität voraus, die auch mit hohen Mobilitätskosten sowie mit einer – nicht entlohnten – Verlängerung der Arbeitszeit 2

Die Interviews mit Haushaltsanghörigen wurden 2003 in Österreich, Deutschland, England und Spanien innerhalb des Forschungsprojektes „Haushalt & Caretaking“ durchgeführt.

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einhergeht. Einige von ihnen haben keinen geregelten Aufenthalt, was ihre Situation verschärft und in einigen Fällen dazu führt, dass sie unsichere und ausbeuterische Arbeitsbedingungen sowie sexuelle Belästigung am Arbeitsplatz in Kauf nehmen müssen und auch mit Lohnraub und Erpressung im Hinblick auf ihren illegalen Aufenthaltsstatus konfrontiert sind. Der Stundenlohn schwankt zwischen 5 und 10 Euro, je nach legalem Status, Nationalität und Aufenthaltsdauer. Bezüglich der Tätigkeiten im Haushalt zeigt sich eine Bandbreite von Tätigkeitsfeldern, die zumeist beim Einstellungsgespräch oder im Verlauf der Beziehung zwischen ArbeitgeberIn und Arbeitnehmerin unbenannt bleiben. Die vereinbarten Arbeitszeiten und Aufgabenbereiche werden oft nicht eingehalten und ungefragt ausgeweitet. Viele ArbeitgeberInnen sehen in ihrer Hausarbeiterin eine „Hilfe“: Sie wenden sich an sie mit ihren Problemen und Sorgen. Es handelt sich hier um eine verschleierte Beziehung der Sorge, die zu einer der Pflege werden kann. In Wirklichkeit enthält jede Art von Hausarbeit diese Komponente der Aufmerksamkeit: Aufmerksamkeit für die Wünsche der ArbeitgeberInnen, ihre Gewohnheiten und ihre Besonderheiten. Um einige der Konflikte in Privathaushalten zu illustrieren, möchten wir Ausschnitte aus den von uns geführten Interviews mit mittelständischen, alternativen, heterosexuellen Kleinfamilien vorstellen. In diesen Haushalten haben wir auf der rhetorischen Ebene einen Diskurs der Gleichberechtigung in Bezug auf die Aufgabenverteilung vorgefunden. In diesen Haushalten sind alle Frauen Vollzeit berufstätig: als Anwältinnen, Architektinnen, Journalistinnen oder Führungskräfte. Die Paare scheinen sich außerhalb der Konstruktionen von Männlichkeit oder Weiblichkeit zu bewegen, mit dem Ziel einer Flexibilisierung der Geschlechterordnung. So erzählt uns zum Beispiel Petra aus Hamburg, dass es in ihrem Haushalt ihr Mann ist, der auf die Kinder aufpasst und die Hausarbeit macht. Der Ehemann arbeitet zu Hause. Obwohl er während des Interviews anwesend war, hat er nicht daran teilgenommen. Petra: „ja und ich kenne das überhaupt nicht anders, dass sie geteilt ist und es gibt wenige Bereiche, wo man also sagen kann, für diese Art der Tätigkeit ist einer zuständig: also das Wäsche waschen mach meistens ich, aber das muss auch nicht so sein. Die Waschmaschine können auch alle anderen bedienen, kochen kann jeder und einen Staubsauger in die Hand nehmen kann auch jeder. So und die Arbeitsteilung ist im Wesentlichen so, dass ich am Wochenende die Wäsche mache und das während der Woche eben mein Sohn und mein Mann kochen und dass am Wochenende im Wesentlichen ich koche oder wir Essen gehen, wenn ich keine Lust habe zu kochen. Na ... das ist die Arbeitsteilung, die wir haben (lacht) (…) und das Aufräumen ist auch geteilt, na das Aufräumen macht halt (hustet) ja derjenige, der die Arbeit halt gerade anguckt, na’ das kann gut sein, dass ich das manchmal mache, aber ich komme auch

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ganz oft in eine aufgeräumte Wohnung, man kann das nicht festlegen, insofern es gibt, es gibt nicht diese rollenspezifische Verteilung mit zugewiesenen Tätigkeiten, sondern die Arbeit wird gemacht von dem, ja den die Arbeit anguckt.“ (P, Z: 235-251)

In diesem Abschnitt zeigt sich eine gleichberechtigte Aufteilung der Aufgaben: der Referenzrahmen der Geschlechterbeziehung scheint weder die Körper noch den Raum zu durchkreuzen. Ebenso bleibt unerwähnt, dass in diesem Haushalt eine „Hausarbeiterin“ arbeitet. Die Technologie, die diese Körper regieren, muss auf der Ebene des Beziehungsmodells überdacht werden. Denn hier – so erscheint es – wird das klassische asymmetrische Geschlechterdifferenzmodell als überwunden dargestellt. Dennoch bleibt in diesem Haushalt die Entscheidung nicht ausgespart, eine dritte Person für die Erledigung der Hausarbeit einzustellen. Karin: „Es gibt einfach irgendwann so’n Punkt, wo man sich fragt, hab ich noch Lust Sonntag Abend um elf das Klo zu putzen und das Bad zu machen, was ich natürlich machen kann oder da hab ich eben keine Lust mehr dazu geb' ich das ab. (…) ich denke, das ist einfach, das muss einfach jeder für sich selber entscheiden, wie er da die Gewichtung legt, was natürlich nun, was ich ganz wichtig finde ist, dass Haushaltsarbeit, ob das nun von Hausfrauen Arbeit ist oder Haushaltsarbeit von arbeitenden Frauen, völlig egal oder von Putzfrauen sag ich immer. (…) ist dabei ziemlich egal, weil es ist eh eine total wichtige Arbeit, die gemacht werden muss, so, da haben wir uns irgendwann dafür entschieden, weil es für die eigene Batterie manchmal wichtiger ist zu sagen, okay ich trink ne halbe Stunde (.) ne Tasse Tee und mach eben diese Sachen nicht.“ (P, Z: 49-69)

Die Ausweitung der bezahlten Zeit in die Privatzeit führt zu der Entscheidung eine dritte Person einzustellen. Erst durch die Einstellung der Hausarbeiterin kann die professionelle Frau ihre Freizeit ausleben. An diese Entscheidung schließt sich die Erwartung an, die Beziehungen im Heim zu harmonisieren, ohne radikale Veränderungen an dem Modell der Lebensgemeinschaft durchführen zu müssen, da sich die Arbeitgeberin vom Attribut der „weiblichen Rolle“ befreit, die dann eine andere Frau für sie einnimmt. Der Körper der Hausarbeiterin wird jedoch in dieser Relation zu einem „unsichtbaren Körper“, da er in der Rhetorik nicht auftaucht. Doch erst sie ermöglicht die Fortführung einer Paar- und Familienbeziehung, die durch die Flexibilisierung und Intensivierung der Arbeitszeit leidet. Doch die unmittelbaren Aushandlungen in den Haushalten vermitteln nicht nur Geschlechterbeziehungen wider, sondern auch die Logik der Heteronormativität, die die Körper besetzen und durchkreuzen.

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6.

Zur Logik der Heteronormativität

Laut Judith Butler(vgl. 1999), in Einklang mit Foucault, konstituieren und konstruieren sich die Körper auf Grundlage der heutigen Praktiken und Diskurse. In ihnen und durch sie hindurch artikulieren sich die Technologien des Seins. Wie Butler im Anschluss an Haraway (vgl. 1995) aufzeigt, repräsentieren die Körper Sinnbilder einer Kodifizierung, sie benennt sie als nacktes semiotisches Material, durch eine diskursive und hegemoniale Ordnung gekennzeichnet oder nicht gekennzeichnet. Butler bestimmt in Bezug auf diese Wahrnehmung die binäre Ordnung der Geschlechter in Bindung an die Produktion der Heterosexualität als Heteronormativität. Auf Basis dieser Heteronormativität wird diszipliniert, normalisiert und werden Normen konstruiert, die den Körpern der einen Macht zuschreiben, auf Kosten der Unterwerfung der Anderen, welche als deviant und pervers gekennzeichnet werden. Konstitutiv für die Schaffung und das Funktionieren der Homosexualität ist die Vorformung des Konzepts der Heterosexualität. Nur im Bezug auf das Konzept der Heterosexualität lässt sich die Homosexualität als das „Anormale“, das Deviante, das Perverse definieren. Diese zwei Standpunkte bestimmen die zwei Extreme einer Identitätslogik, die auf der Dichotomie Mann versus Frau basiert und der Vorstellung eines Begehrens des anderen oder des eigenen Geschlechts. Keine dieser Möglichkeiten eröffnet uns eine andere Form des Begehrens außerhalb eines Klassifizierungssystems, das durch den Dualismus des einen oder des anderen regiert wird; ein Jenseits scheint innerhalb der Ökonomie des heterosexuellen oder homosexuellen Begehrens nicht existent. Innerhalb der Haushalte stoßen wir auf eine soziale Ordnung, die sich auf die Heteronormativität gründet. Die Körper werden durch bestimmte Momente der Identifikation mit einem Geschlecht hinsichtlich eines sexuellen Begehrens regiert. Die Partnerschaften stellen sich innerhalb dieser Ordnung in Beziehung, die durch neue Partnerschaftsmodelle und die Integration der Frau in den Arbeitsmarkt – in manchen Fällen als Hochqualifizierte – gestört ist. Das asymmetrische System der Komplementarität oder der Geschlechterdifferenz verlässt das traditionelle Spektrum, während sich die Subjekte gleichzeitig in ihm gefangen fühlen. Es werden Gesten des „Männlichen“ und des „Weiblichen“ neu erschaffen, aber auch verflüssigt. Denn die Frauen möchten die Entscheidungen ihrer Mütter nicht wiederholen. Sie wollen keine Beziehungen auf ihre Kosten halten. Die Anstellung einer anderen Frau ermöglicht ihnen, eine Harmonie in ihrer Beziehung wieder einzuführen, die über der weiterhin geschlechtsspezifischen Organisierung der Hausarbeit in die Krise gerät. In den meisten Fällen wird eine Migrantin diese 88

Aufgabe übernehmen. Anders als die Arbeitgeberinnen scheinen die Hausarbeiterinnen nicht in Relation zu einer Beziehung oder Familie gesetzt zu werden. Es ist fast so, dass die Migrantin kaum als geschlechtlicher Körper im Aushandlungsprozess bezahlter und unbezahlter Arbeit auftaucht. Diese andere Frau scheint außerhalb der heterosexuellen Logik zu stehen, sie scheint, wie Angela Davis im Fall der schwarzen Frauen im Kontext der Sklaverei aufzeigt, kein Geschlecht zu haben. Als rhetorische Figur bleibt sie innerhalb staatlicher Programmatiken der Vereinbarkeit von Familie und Beruf außen vor. Die Vereinbarkeit ihrer Arbeitszeit mit ihren familiären und persönlichen Aufgaben bleibt unberücksichtigt. Sie wird nicht als Frau mit Geschichte, mit einer Familie wahrgenommnen. Die Fremdengesetzgebung verhindert auch die Einlösung einer Rhetorik der freien privaten Vertrags-Aushandlung oder der Gleichberechtigung wie das von Work-Life-Balance-Programmen vorausgesetzt wird. So erzählt Wilma: Wilma: “I AM A WOMAN and some women have got this attitude that ’Somebody is working for me, so I have to treat her as a worker‘, you see what I mean, she can leave anything which she can easily pick up and put it in order, she can just leave it for the sake of you to pick it up – Men has sympathy, I tell you, you say ’Do what you can do with the four hours I have given you, if you can’t do it’s no problem, you can do it next time.’ But a woman can tell you that ’I gave you four hours and I’m paying you for four hours and you have to do the job for four hours‘, you see what I mean, but the job is not even worth four hours, it’s more than four hours you are supposed to work for, you know.” (W. Z: 291-299)

Wilma bezieht sich in diesem Auszug auf die Geschlechtsidentitäten, Mann und Frau, mit denen sie sich in ihrem Arbeitsalltag auseinander setzen muss. Ihre Beziehung zu diesen beiden Positionen ist gebunden an ihren Arbeitsvertrag, in welchem sie als Arbeiterin benannt ist. In Beziehung zu der Arbeitgeberin hält sie es für notwendig zu erwähnen, dass auch sie eine Frau ist. Sie verfügt über eine Identität, der sie offensichtlich einen menschlichen Wert zuschreibt, der von der Arbeitgeberin nicht wahrgenommen wird, da diese sich an sie nur als „Arbeiterin“ wendet und nicht als Frau, während sie sich dem „Mann“ gegenüber wieder als „Frau“ positioniert. Innerhalb des Identifikationschemas auf Grundlage der heterosexuellen Matrix treffen diese beiden Frauen als zwei durchkreuzte und entgegengesetzte Körper aufeinander. Obwohl angenommen werden kann, dass sie auf der Basis einer gemeinsamen Identität aufeinander treffen, stehen sie sich wieder auf der Grundlage ihrer Klassenzugehörigkeit und ihrem Status als Staatsbürgerinnen oder Migrantinnen gegenüber. Im Alltag zwischen diesen beiden Frauen gibt es keinen Referenzpunkt, außer der Sorge89

arbeit, Haushaltsarbeit und in manchen Fällen der Sexarbeit. Denn es sind die Frauen, die diese Aufgaben miteinander teilen, die einen als Ehefrauen, die anderen als Hausarbeiterinnen, die einen als Partnerinnen, die anderen als Sexarbeiterinnen, die einen als Mütter, die anderen als minder bezahlte Erzieherinnen. Sie sind es, die im Rahmen der ökonomischen Notwendigkeit und eines Arbeitsmarkts, der über institutionellen Rassismus und Alltagsrassismus strukturiert wird, aufeinander treffen. Dadurch reorganisieren sich die „ungeordneten“ Geschlechterbeziehungen über eine dritte Person, die abseits von ihnen selbst zu sein scheint. Die Frage nach der sozialen Rolle der Frauen innerhalb der Migration wirft einige wichtige Fragen nach den Veränderungen in den Geschlechterbeziehungen und nach dem Rahmen der Identifikation und Eingliederung in Bezug auf die Heteronormativität auf. In den Haushalten begegnen wir einer Reihe von Technologien des Seins, die durch und von den Körpern vermittelt werden, die gekennzeichnet sind durch eine Vielzahl sozialer Beziehungen. Diese sind zum Beispiel die binäre Logik der Geschlechterbeziehungen, die Regierungstechniken der Einwanderung und der Staatsbürgerschaft. Die Haushalts- und die Sexindustrie sind Orte, in denen neue Geschlechterkategorien hervorgebracht und eingeübt werden. Literatur Bas Cortada, Ana (1985): Nueva Sociedad. El trabajo de las amas de casa. San José, Costa Rica: Fundación Friedrich Ebert Berger Johannes (Hrsg.) (1986): Die Moderne – Kontinuitäten und Zäsuren. Soziale Welt-Sonderband 4. Göttingen Birgin, Haydeé (1985): Cuando del poder se trata. San José, Costa Rica: Fundación Friedrich Ebert Boudry, Pauline/Brigitta Kuster/Renate Lorenz (Hrsg.) (1999): Reproduktionskonten fälschen. Heterosexualität, Arbeit und Zuhause. Berlin: b.books Butler, Judith (1999): Gender Trouble. Feminism and the subversion of identity (10th Anniversary Edition). London/New York: Rutledge Caixeta, Luzenir et. al. (2004): Hogares, Cuidados y Fronteras/ Home, Care and Borders/ Haushalt, Sorge und Grenzen. Madrid: Traficantes de Sueno Combahee River Collective (1982): A Black Feminist Statement. In: Hull, T. Gloria et.al. (1982): 13-22 Gutiérrez Rodríguez, Encarnación (2005): Das postkoloniale Europa dekonstruieren. Zu Prekarisierung, Migration und Arbeit in der EU. In: Widerspruch (48) Haraway, Donna (1995): Die Neuerfindung der Natur. Frankfurt am Main: Campus Hardt, Michael (2002): Affektive Arbeit. Immaterielle Produktion, Biomacht und Potentiale der Befreiung. In: Jungle World Nr. 2/2002 Hardt, Michael/Antonio Negri (2000): Empire. Frankfurt am Main: Campus

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Hull, T. Gloria et. al. (Hrsg.) (1982): All the women are white, all the blacks are men, but some of us are brave. New York: The Feminist Press Massey, Doreen (1999): Männlichkeit, Dualismen und Hochtechnologie. In: Boudry et. al (1999): 243-268 Ongaro, Sara (2003): De la reproduction productive à la production reproductive. In: Multitudes, Nr. 12: 145-154 Ostner, Ilona (1986): Prekäre Subsidiarität und partielle Individualisierung. In: Berger (1986): 235259 Precarias a la Deriva (2004): A la Deriva. Por los circuitos de la precariedad femenina. Madrid: Traficantes de Sueño Schultz, Susanne (2002): Aufgelöste Grenzen und „affektive Arbeit“. Über das Verschwinden von Reproduktionsarbeit und feministischer Kritik in Empire. In: Fantômas, Magazin für linke Debatte und Praxis Nr. 2. Hamburg: a.k.i. Verlag für Analyse, Kritik und Information GmbH

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Antidiskriminatorische Bildung von Migrantinnen Eine Darreichung Birge Krondorfer

Da er nichts hat, da er nichts ist, kann der Fremde alles opfern. Und das Opfer beginnt mit der Arbeit: sie ist das einzige zollfrei exportierbare Gut, der einzige überall gültige und Rettung verheißende Wert in der Fremde. (Julia Kristeva)

In europäischen Demokratien wird zwar die Universalität von Rechten proklamiert, aber konkret werden Menschen nach Geschlecht, Ethnizität, Klasse, Aufenthaltsstatus, Alter, Behinderung und Sexualität positioniert. Diese Minorisierungregimes leben von der Aberkennung der Fähigkeiten der ‚Anderen’ und reduzieren sie strukturell auf zu Bevormundende, deren soziale, kulturelle und politische Beiträge zum Staat und zur Zivilgesellschaft nicht mit denselben Maßstäben gewertet werden. Diskriminierungen, Ausschlüsse und Subordination sind alltägliche Existenzweisen von vielen MigrantInnen.1 Ein großer Teil ihres gesellschaftlichen Vermögens wird in der Dominanzgesellschaft nicht anerkannt. Im Gegenteil: die so benannten Fremden haben sich zu assimilieren, sie müssen sich an die Normativitäten anpassen. Sie haben zu lernen. Dieser Beitrag wendet sich primär an BildnerInnen, VermittlerInnen und BeraterInnen, die mit Migrantinnen zu tun haben.2 Ein antirassistisches Vermittlungskonzept, das sich nicht eurozentrisch nur als Vergabe von Wissen missversteht, bedarf eines Ansatzes, der auf Partizipation und Empowerment der Teilnehmenden rekurriert. Jedoch ist auch hier Vorsicht angemahnt, denn diese beiden Begriffe, die zugleich Voraussetzung und Ziel jeglichen emanzipatorischen Bildungsprozesses sein sollten, sind gegenwärtig nicht nur en vogue, sondern auch zwiespältig. Der Reflexionshorizont der Gouvernementalität ist dabei ein hilfreiches, da selbstkritisches Instrumentarium, um die eigene hegemoniale Verortetheit zu erkennen und durchqueren zu können.

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In diesem Text werden je nach Bedeutungsumfang unterschiedliche Geschlechterbenennungen genutzt. Vom Kindergarten bis zur Universität; in Erwachsenenbildungseinrichtungen, NGOs, selbst organisierten Projekten, Arbeitsmarktservice (AMS), Volkshochschulen, Beratungsstellen, allen Aus-, Fort- und Weiterbildungsinstitutionen.

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Der Begriff der Gouvernementalität wurde in den 1970er Jahren von Michel Foucault geprägt, der mit dieser Wortschöpfung aus gouverner (Regieren) und mentalité (Denkweise) eine Kategorie gefunden hatte, um den Liberalismus – als Form einer politischen Ökonomie – zu analysieren (vgl. Lemke 1997). Es geht bei diesen ‚Menschenregierungskünsten’ bzw. dem ‚Führen der Führungen‘ um ein System der Bezüge zwischen Herrschaftstechniken und ‚Technologien des Selbst‘, zwischen Macht und der Generierung von Subjekten. Gouvernementalität ist zum einen ein Raster der Erkenntnis des gesellschaftlichen Gesamtzusammenhangs, zum zweiten eine Möglichkeit von Selbstaufklärung und zum dritten ein Weg der Dechiffrierung bestimmter Verhaltensweisen und Lebenspraxen in ihrer Abhängigkeit von Dominanz und Unterwerfung. Sie spricht eine spezifische Form von Herrschaft an, die im/durch Einverständnis mit den Beherrschten sich etabliert hat. Die Reflexion des Umgangs mit der inneren und äußeren (Um)Welt ist gerade in pädagogischen Feldern relevant, da dort a priori von einem asymmetrischen Bezugsgefüge ausgegangen wird. Wie dieses ‚Gefangensein im Mitspielen’ zu begreifen und zu überwinden wäre, dazu sollen einige gouvernementale, antirassistische, feministische und bildungstheoretische Aspekte angemerkt werden – damit sich die in uns eingeschriebene Machtkultur nicht gänzlich verselbständigt; und damit – insbesondere ausgeschlossene – Menschen sich nicht bloß als Effekt von herrschaftlicher Zurichtung begreifen, sondern als Handelnde wieder einen Begriff von Widerstand finden können/ wollen. 1.

Gouvernementalität und Subjekt Wenn die Schwachen sich stark fühlen, fallen sie den Starken nicht mehr auf die schwachen Nerven. (Wolfgang Fach) Die neue institutionelle Ordnung scheut Verantwortung und bezeichnet ihre Gleichgültigkeit als ‚Freiheit’ für die an der Peripherie stehenden Individuen und Gruppen. Der Nachteil der aus dem neuen Kapitalismus abgeleiteten Politik ist die Gleichgültigkeit. (Richard Sennett)

Seit einigen Jahren haben GegenwartskritikerInnen den Begriff Gouvernementalität reanimiert, um den grassierenden Neoliberalismus als eine ‚politische Rationalität‘ zu reflektieren, die auf die ‚Ökonomisierung des Sozialen‘ abzielt. Diese Art der Diagnostizierung einer Transformation all unserer Lebensverhältnisse zu Überlebensverhältnissen wurde bislang zu wenig in politischen Praxen und Bildungskonzeptionen mitbedacht. 94

Die Gouvernementalität als Instrumentarium der Untersuchung gesellschaftlicher und marktpolitischer Umbrüche und deren Auswirkungen umfasst gleichermaßen die Makro-, Meso- wie Mikrostrukturen: von der Globalisierung über den ‚schlanken Staat‘ über den Abbau von Institutionen über Sicherheitsund Gesundheitsparadigmen (um nur einige Realphänomene zu nennen) bis hin zum einzelnen Subjekt. Am Begriff des Letzteren soll hier angeknüpft werden, da dies einen Ausgangspunkt zu einer Debatte über emanzipatorische Bildung darstellen kann. In grob skizzierten Zügen lässt sich der Neoliberalismus in der Perspektive der Gouvernementalisierung beschreiben als eine induzierte Dynamik einer Regierungsform, die als solche das sich Selbstregieren unter dem Aspekt der Wirtschaftlichkeit regiert und dies in eine Sprache der Selbstverwirklichung gegossen hat. Dieses Regieren als „Handeln auf Handlungen“ (Foucault) bedeutet nicht – wie herkömmlich – Unterdrückung von Subjektivitäten, sondern meint die Selbst/Produktion einer Subjektivität, die sich ‚freiwillig‘ an Regierungsziele – wie eben der Ökonomisierung der Politik – anschließt. Die Freiheit zum Handeln wird heute zum Zwang unter den Schlagworten ‚Selbstbestimmung, Verantwortung, Wahlfreiheit‘ und so wird man sich selbst zum Instrument einer Selbst/Disziplinierung, die zugleich Prozess einer ‚innovativen‘ Subjektivierung ist. Jede ist ihres Unglückes Schmiedin, wenn es ihr an Initiative, Flexibilität, Dynamik, Mobilität und Anpassungsfähigkeit mangelt. Es bedarf gar nicht mehr der Ein- und Beschränkung von Gestaltungsspielräumen, wenn das mittels individueller ‚Selbstverwirklichung‘ praktisch von selbst passiert. Entscheidend dabei ist „die Durchsetzung einer ‚autonomen‘ Subjektivität als gesellschaftliches Leitbild, wobei die eingeklagte Selbstverantwortung in der Ausrichtung des eigenen Lebens an betriebswirtschaftlichen Effizienzkriterien und unternehmerischen Kalkülen besteht“ (Lemke 2000: 30). Um sich erfolgreich zu vermarkten, müssen die Einzelnen als Unternehmer (Entrepreneur) ihrer Selbst – Stichworte: Ich-AG, Ich & Co. – auch die Beziehung zu sich selbst in Rechnung stellen. Sie sollen das Prinzip der Intrapreneurship auf sich selbst anwenden und sich aufspalten in hier ‚Kunde seiner selbst‘ als sein eigener König und dort ‚Lieferanten seiner selbst‘ als sein eigener Bedürfnisbefriediger. „Die Exploration der eigenen Wünsche ist deshalb ebenso wichtig wie die der Stärken und Schwächen. Vier Fragen hat sich der Manager in eigener Sache zu stellen: 1. Was will ich wirklich an diesem Punkt meines Lebens? Die Antworten darauf sind Ihre Wünsche (Desires). 2. Was kann ich wirklich gut? Das sind Ihre Fähigkeiten (Abilities). 3. Was für ein Mensch bin ich und in welchen Situationen bin ich besonders produktiv und zufrieden? Das ist Ihr Temperament. 4. Welche Stärken habe ich […] oder welche Aspekte meiner Lebensgeschichte

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kann ich zu meinem Vorteil nutzen? Das ist Ihr persönliches Kapital (Assets).‘ Die Analyse der D.A.T.A. (Desires, Abilities, Temperament, Assets) ‚dient einerseits der Ergründung, was zu Ihnen ‚passt‘. Andererseits hilft die Zerlegung Ihrer Neigungen und Fähigkeiten in einzelne Elemente, aus Ihnen etwas Neues aufzubauen: Ihr Produkt.“ (Bröckling 2000: 157)

Es wird also nicht mehr die Haut zu Markte getragen, sondern die eigene Haut wird selbst zum Markt/Platz. Das Individuum wird zu einer aktiven Ware, mit alldem, was eine Ware charakterisiert: attraktiv, verkaufbar und trotzdem ‚einzigartig’. „Unter dem Leitbild der Selbstrealisierung, proklamiert als Anreiz und Ansporn zu einer Herausforderung, die immer Spaß machen soll, werden Leistungsanforderungen grenzenlos.“ (Krasmann 2000: 200) Im Diktat der Eigenverantwortung interessieren nur diejenigen, die mithalten können; die herausfallen haben eben nicht den nötigen Willen oder haben die falsche Wahl getroffen. Die Neoliberianer verwechseln Wahloptionen mit Freiheit. Survival of the fittest – was den einen zum Leitbild geworden, wird den anderen zur Leidumbildung. Passgenau wird die neue Unternehmenspraktikabilitätslogik ins Individuum hinein gesetzt. „Die Parallelisierung von Individuum und Unternehmen, wie sie die Selbstmanagementliteratur durchzieht, zielt auf einen Synergieeffekt: Wenn Unternehmen ihre Wettbewerbsfähigkeit dadurch zu verbessern versuchen, dass sie jeden Mitarbeiter zum Subunternehmer erklären, steigert der Einzelne seine Verwertungschancen am besten dadurch, dass er sich die Verhaltensdispositionen aneignet, die es zur Führung des individuellen Arbeitskraftunternehmen braucht. Umgekehrt fördern gerade die ‚humanistischen‘ Postulate autonomer Lebensgestaltung und innerer Balance […] die Herausbildung jener Eigenschaften – Selbstverantwortung, Kreativität, Eigeninitiative, Durchsetzungsvermögen und Teamfähigkeit –, die Unternehmen heute von ihren Mitarbeitern erwarten. Persönliches Wachstum und Firmenerfolg bedingen einander; Arbeit an sich selbst und training for the job fallen zusammen.“ (Bröckling 2000: 160-161)

Es existiert – so gesehen – kein autoritäres Regime mehr, sondern überall Mitbestimmung und partnerschaftliche Kooperation, auch innerhalb der ‚Marke Ich‘ bzw. dem ‚Ich-Unternehmen‘. Alle Beteiligten müssen gleichberechtigt partizipieren, ebenso wie die verschiedenen Ich-Segmente – auch dann, wenn sie nicht optimal funktionieren. Denn da ein ‚Ich‘ seine Mitarbeiter nicht entlassen kann, bleibt ihm nichts anderes übrig, als seine widersprüchlichen Elemente an einen runden Tisch zu setzen und sich mediativ mit sich selbst zu vermitteln. „Identität ist in diesem Persönlichkeitsmodell Corporate Identity: die Gewissheit eine starke Mannschaft von vielen ‚wahren Ichs‘ in sich zu haben.“ (Bröckling 2000: 160) Dazu gehört auch – so es Mängel bei den Persönlichkeitspartikeln geben sollte – die Aufforderung zur permanenten Weiter- und Umbildung mit dem Effekt einer post-disziplinarischen Verkontrollgesellschaftung. Denn wenn alle 96

– als jede/r Einzelne – angehalten sind, im Sinne der Leistungssteigerung das Optimum zu bieten, so müssen Schwächen ausgemerzt und die Apparaturen geölt werden. Man kann heute sozusagen die ‚Autonomie‘ nicht verweigern. Der Markt stromlinienförmiger Aus- und Fortbildungen bedient seine eigene Logik und presst die Leute in Programme, durch welche sie auf jeden Fall beschäftigt werden – alles freiwillig versteht sich (und um nicht auf den Gedanken zu kommen, vielleicht auch etwas Sinnvolles zu tun). Es wird einer Individualisierung gehuldigt, die die Distinktion von den anderen zur Voraussetzung und zum Ziel hat. Nur als KonkurrentIn – im partizipativen Team wohlgemerkt, wo jede/r empowert das letzte Beste auch noch gibt – hast ‚du‘ Platz. Diese Atomisierung durch Selbstmanagement entspricht dem spekulativen Gebäude des Konstruktivismus. „Die Individualitätsnorm zeigt sich nicht nur im Kult des Besonderen, sondern vor allem im Glauben an die nahezu unbegrenzte Fähigkeit des Einzelnen, sein Leben nach eigenem Entwurf zu gestalten. Wir alle wissen, dass es keine objektive Wirklichkeit gibt. Vielmehr sieht jeder die Dinge und Ereignisse durch seine subjektive Brille und interpretiert sie seinen Denkmustern entsprechend. […] Man muss nur die richtige Brille aufsetzen und schon wachsen die Kräfte.“ (Bröckling 2000: 158)

Das ist überhaupt der Tipp für AlleinerzieherInnen, MigrantInnen und allen, die eine falsche Optik/erin haben. Diese Auto/Suggestion scheint Berge nicht nur zu versetzen, sondern auch zu versprechen. Jede/r ist sich selbst die/der Nächste, an die/den sie/er sich verkauft. „Das totgesagte Subjekt der abendländischen Philosophie, es lebt fort – als Trademark.“ (Bröckling 2000: 158) Begriffe wie Entfremdung, Kritik, Solidarität, Ausbeutung, Unterdrückung, Unterschiede, Opfer etc. – sie alle sind der Vorstellung eines selbst bestimmten Agierens durch permanente Selbstverbesserung, wo Sein und Repräsentation identisch scheinen, gewichen worden. Im Selbstmanagement muss die Darstellung von sich mit sich übereinstimmen. „Es gibt nichts, was hinter den vermeintlichen Masken verborgen wäre, und fremd wäre sich nur ein ‚unglückliches Bewußtsein‘, das äußeren Schein und inneres Sein, objektives Sollen und subjektives Wollen zu unterscheiden vermag.“ (Bröckling 2000: 160) Das Perfide ist die Paradoxie des ‚Regierens über Freiheit‘. „Die Individuen werden in einer Weise sich selbst überlassen, dass sie frei sind, eben das zu tun, was ihnen auferlegt wurde. […] Und weil alle gleich sein sollen, kann ihnen auch gleichermaßen Eigenverantwortung zugewiesen werden […] eine Oberfläche gleicher Chancenverteilung und Fähigkeitszuweisung […]. Ontologien haben in einem solchen Menschenbild keinen Platz.“ (Krasmann 2000: 201)

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Massiv wirkt sich dieses Menschenbild auf die Geschlechterfrage aus. Wo strukturelle Überlegenheiten und Unterlegenheiten negiert werden und eine ins Individuum verlegte Zuständigkeit regiert, da scheint auch die Geschlechterproblematik als solche keine mehr zu sein und feministische Optionen werden in individuelle Flexibilitäten umformuliert (wie alle Forderungen sozialer Bewegungen durch subjektivierte Leistungsmaximen wegcodiert werden). Sehr „schön“ lässt sich das am inflationären Gebrauch des Wortes Gender rekapitulieren. „Vom ‚Gender-Genuin-Education-Projekt‘ der Katholischen Frauenbewegung Steiermark bis hin zum ‚gender-branding‘ suburbaner Transvestitenkultur, eine Art globaler Gender-Konsens hat über sämtliche disziplinären Grenzen hinweg und bis in alle politischen Gruppierungen hinein die Welt erfasst. Gender – ein Passe-partout, das Zugang gewährt zu den Slums der Weltmetropolen ebenso wie zu den obersten Etagen der UNO, das im Entwicklungsprojekt im südlichen Afrika genauso heimisch ist wie in der Fortbildung bayrischer Grundschullehrerinnen. […] Während gender ursprünglich für den Versuch stand, die Geschlechter in ihrem Verhältnis zueinander, und das hieß auch, in einem Machtverhältnis, zu thematisieren, hat sich inzwischen eine Perspektive durchgesetzt, die Mechanismen der Exklusion, Nichtanerkennung und Unterdrückung zwischen den Geschlechtern auf eine Frage von ‘Geschlechtsidentitäten’ reduziert. […] An die Stelle politischer Aushandlungsprozesse, bspw. um die Verteilung der Ressourcen Zeit und Geld, setzt gender […] individuelle Handlungsoptionen, die häufig gar nicht existieren. […] Auf politischer Ebene besticht das Konzept von gender denn auch dadurch, dass es als Instrument einer Geschlechter-Appeasementpolitik Konfliktfelder auszublenden vermag, indem es sie kurzerhand zu Verfahrensfragen umdefiniert.“ (Soiland 2004: 97-101)

Nach der Skizzierung des Gouvernementalitätskonzepts und dessen ‚befriedenden’ Auswirkungen – „als neue Form des Regierens des Sozialen, die die Rationalität und Psyche des Subjekts in dessen Handlungsanweisungen, -anforderungen und -erwartungen integriert (und) sich innerhalb der Matrix der Logik eines autonomen Subjekts (vollzieht)“ (Rodriguez 2003: 174) – ist zu fragen, in welchem Verhältnis dieses zu emanzipatorischer Bildung steht, die ja ebenso auf Selbstbestimmung – allerdings durch Selbst- und Fremderkenntnis – gesetzt hat/te. Und hier im Speziellen wird eine partizipative Arbeit mit Migrantinnen, basierend auf dem Prinzip des Self/Empowerments, kontextualisiert.

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2.

Politischer Antirassismus Toleranz sollte eigentlich nur eine vorübergehende Gesinnung sein: sie muß zur Anerkennung führen. Dulden heißt beleidigen. (Johann Wolfgang Goethe) Aber das Eigene muss so gut gelernt sein wie das Fremde. (Friedrich Hölderlin) Der Fremde entsteht, wenn in mir das Bewusstsein meiner Differenz auftaucht, und er hört auf zu bestehen, wenn wir uns alle als Fremde erkennen. (Julia Kristeva)

Die Diktion eines politischen Antirassismus bestimmt den avancierten Diskurs von/über MigrantInnen und versucht rassistische Diskriminierung jenseits einer Opfer-TäterInnenlogik zu fassen. „Es ist uns bewusst, dass wir keine Definition finden können, die alle unsere Erfahrungen und Standorte umfasst. Nichtsdestotrotz halten wir es für notwendig, eine politische Identität als Ausgangsbasis einer politischen Artikulation anzunehmen, um bestimmte gesellschaftliche Widersprüche deutlich zu machen. In diesem Text wird die Bezeichnung MigrantInnen […] als Gegenentwurf, als Bezeichnung eines oppositionellen Standorts, die sich als eine Bestimmung der eigenen politischen Identität konstituiert, benutzt. Es handelt sich also um eine strategisch konstruierte Identität. […] Die Forderung nach Selbstvertretung entsteht […] aus der Erfahrung, nicht als Subjekt wahrgenommen zu werden. Das heißt, die Konstruktion einer MigrantInnenidentität sehen wir als eine Strategie im Kampf um die Eroberung von gleichberechtigter Partizipation im europäischen Territorium, im Kampf um die Veränderung bzw. den Abbau von Strukturen des Ausschlusses.“ (Salgado 2004: 9)

Gemeinhin werden jedoch nach wie vor MigrantInnen eher als Klientel von ‚Bebildung’, Betreuung und Beratung betrachtet – im Sozial-, Kultur- und Bildungsbereich. Dieses Klientel wird letztlich als zu empowernd ‚verobjektiviert’. Empowerment ist ein Habitus, in der eine wissende, mit bestimmtem Status ausgestattete Person eine andere ermächtigen will. Diese Situation projiziert a priori ein Über- und Unterlegenheitsgefälle. Dieses Machtverhältnis als symbolische Gewalt ist un(ein)sichtbar; besonders im Mantel eines moralischen Antirassismus, der geneigt ist, das Gegenüber wohlmeinend als ‚Opfer’ zu zementieren und die Geste der gebenden Toleranz (ungewusst) zu prolongieren. „Die Protagonisten des Empowerments interessieren sich jedoch weniger für die Ursachen dieser Asymmetrie, sondern vor allem für ihre individual- wie sozialpsychologischen Effekte. Im Vordergrund stehen nicht die Machtverhältnisse selbst, sondern das Gefühl der Ohnmacht, das sie bei den Havenots erzeugen. […] Fatalismus, generalisiertes Misstrauen und erlernte Hilflosigkeit bildeten das subjektive Pendant fortgesetzter Erfahrungen von Fremdbestimmung und verweigerter Anerkennung. Der Verlust an eigenständiger Lebensregie setzte sich

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fort in der fürsorglichen Belagerung durch professionelle Helfer, die mit jeder Intervention neben ihrer eigenen Autorität auch die Unmündigkeit ihrer Klienten zementierten.“ (Bröckling 2004: 57)

Dagegen setzt das Erreichen des Ziels der (gesetzlichen) Gleichstellung eine politische Haltung der im Prozess involvierten AkteurInnen voraus. Es geht um Analysen diskriminierender Strukturen und um die Förderung von und Forderung nach wirklichen politischen und sozialen Möglichkeiten zur Teilhabe und Teilnahme von MigrantInnen am gesamtgesellschaftlichen Prozess. Doch inwiefern diese Maximen mit der Logik der Gouvernementalität (bzw. des Neoliberalismus) verquickt sind, wird von einigen Migrantinnen im Trainings- und Bildungsbereich bereits reflektiert. „Es wird jedoch immer deutlicher, dass unter den Menschen, die teilnehmen sollen, die Anzahl derjenigen, die trotzdem nicht teilnehmen wollen, größer wird. Auch unter MigrantInnen ist eine Haltung zu beobachten, die auf ein Desinteresse an politischen Prozessen (Politikverdrossenheit) hin deutet. Neben den Anstrengungen, die notwendig und enorm zeitaufwendig sind, das private Leben zu organisieren, wird als zusätzlicher Grund für dieses Desinteresse die Ideologie des Empowerments erwähnt. Diese führe zu einer Haltung der (individualistischen) Selbstverantwortung, die letztendlich eine Abwertung von Funktion und Tätigkeiten der RepräsentantInnen der politischen Sphäre verursacht und sie gleichzeitig bedingt. […] Im politischen Antirassismus wird Empowerment hingegen als ein Prozess gesehen, im Rahmen dessen eine Gegenmacht aufgebaut wird. Dazu soll die Stärkung der gemeinsamen Handlungs-, Entscheidungs- und Interventionskompetenzen der gesellschaftlich systematisch diskriminierten Gruppen vorangetrieben werden.“ (Salgado 2004: 11)

Antirassistisches Selfempowerment entspricht der Organisierung einer Praxis der Veränderung durch MigrantInnen selber – und entgeht so der Paternalismusfalle. Im Fokus stehen die Bewusstwerdung der eigenen Lage wie auch die Entwicklung von widerständigen Alternativen und Aktionsformen in der Auseinandersetzung mit den Widersprüchen einer politischen Kultur, die, entsprechend dem neoliberalen Credo, keine antagonistischen Interessen mehr kennt. „An dieser Stelle (möchte ich) für eine Kritik plädieren, die sich als Kunst der Unfügsamkeit versteht. Eine solche betrachtet Macht weniger simplifizierend und polarisierend, sondern eher dynamisch und mikroskopisch. Was bedeuten würde, bei den Analysen um strukturelle Diskriminierung die Subjekte der Diskriminierung weder zu vergessen noch zu bloßen Opfern oder aber zu Heldinnen mutieren zu lassen. In diesem Sinne überlege ich, ob es nicht Sinn machen würde, die sich immer wiederholende Diagnose zu ‘Migrantinnen’ (ganz unten, ganz schlecht, prekär ...) zu ergänzen einerseits durch Studien […], die […] Subjektivierungsprozesse fokussierten, und andererseits durch Studien, die sich mit der postkolonialen Verfasstheit unserer Welt befassen […], die idealerweise Fundamente für die Entwicklung von Strategien zur sozialen Veränderung hervorbringen könnten.“ (Varela 2003: 25)

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Kritik setzt allerdings eine Haltung der bewussten Exklusion voraus. Das Desinteresse an Herrschaftskritik kommt dem Wunsch nach gleichberechtigter Teilhabe an politischen, ökonomischen und gesellschaftlichen Anerkennungs- und Machtverhältnissen entgegen. Die viel beschworene Krise eines politischen Feminismus gehört unter dieser Perspektive einer beständig wachsenden Ideologie mitbedacht, die Ungleichheiten als gegeben annimmt, um sie dann professionell und kostengünstig zu managen. Emanzipatorische und dissidente Denkund Handlungsoptionen scheinen aus der Mode gekommen zu sein. 3.

Feministische Aktualitäten Ein Faktum, das es festzuhalten gilt: die ersten Fremden, die zu Beginn unserer Kultur in Erscheinung treten, sind Frauen – die Danaiden. (Julia Kristeva) Die Gegenwart anderer, die sehen, was wir sehen, und hören, was wir hören, versichert uns der Realität der Welt und unserer selbst. (Hannah Arendt) Die Differenz existiert. Wie könnte man sie leugnen oder verleugnen? Das Problem liegt darin, dass die Differenz immer als Mittel zur Unterordnung und Unterdrückung gedient hat. (Luce Irigaray)

Verblendungen bzw. die Partikularität der Selbst- und Fremdwahrnehmung gibt es überall – im Zentrum wie in den Peripherien, mit dem Unterschied, dass ersteres die Herrschaft ist und den Wohlstand hat (wenngleich diese Verortung nicht immer eindeutig ist, da der Riss durch die Subjekte selbst gehen kann). Die westliche weiße männliche durchschnittswohlhabende Dominanzkultur, die viele Frauen hier adaptiert haben, zeichnet sich durch die Definitionsmacht über Zugehörigkeit, Abhängigkeit und Subordination aus. Welchen Wert, welche Wertschätzung welche und warum (nicht) haben, zu- oder abgesprochen bekommen, ist eine Frage, die immer schon beantwortet scheint. In diesem System leben wir alle, ob es jetzt psychoanalytisch, strukturell oder politisch betrachtet wird, denn die Dialektik von/in Anerkennungsprozessen ist eine unauflösbare – auf welche Seite hin ‘das Mensch’ auch immer geboren worden ist. Sämtlichen alltagsrassistischen, sämtlichen realpolitischen, sämtlichen postmodernen und postkolonialistischen sowie allen subkulturellen und alternativen Beweg- und Bewegungsgründen ist eines gemeinsam: der Anspruch auf Wahrhaftigkeit bzw. auf die Integrität der eigenen Wahrnehmung sowie auf Verallgemeinerbarkeit der subjektiven (individuell oder kollektiv) Normen (ergo auf Hegemonie101

ansprüche). Grundsätzlich berechtigt jedoch ist Kritik der an Rechten Eingeschränkten und die Aufmerksamkeit auf die Ungerechtigkeit der Verteilungen dessen, was vom Leben so zu erwarten ist. Dies alles sollte in migrationskontextualisierten Bildungsprozessen zu Bewusstsein kommen und problematisiert werden. Wenn es sich um Migrantinnen handelt, ist die feministische Perspektive auf die Geschlechter- und Gesellschaftsverhältnisse nicht zu unterschlagen. Die ‚Depositionierung’ von Migrantinnen besteht ja nicht nur aus race – auch wenn dies die offenkundigste Obstruktion darstellt –, sondern auch sex als Identitäts- und Positionsdeterminante ist in jedem Handlungsraum und Vermittlungszusammenhang wesentlich mitzudenken. Class ist in bestimmter Konnotation so evident, dass sie nicht extrapoliert werden muss, denn egal welche eine vorher war, oder was sie getan hat, hier ist sie erstmal ‚unten durch’ (die exjugoslawische Professorin als Putzfrau).3 Die Vergegenwärtigung der Situation von Frauen in der Migration ist nicht nur „wegen der Feminisierung als eines Grundzuges der gegenwärtigen Migration notwendig, sondern weil sich in der Existenz von Frauen das Fremdsein gewissermaßen potenziert. Migrantinnen leben nicht nur unter der Bedingung einer ihnen fremden, sondern auch unter Bedingungen einer vom Patriarchat geprägten Kultur, die für Frauen im öffentlichen Leben […] zunächst keinen Platz vorgesehen hatte.“ (Akashe-Böhme 2000: 20)

Die hingegen ‚beliebteste’ respektive gängige Platzierung für Migrantinnen ist die der Viktimisierung und Exotisierung. Doch sind sie weder als zu bevormundende Mängelwesen noch als Projektionsfläche für hybride Subjektivitäten ‚adaptierbar’. Diese Besonderung der Fremdheit obliegt einem negativistischen sowie einem positivistischen Diskriminierungsmechanismus und ist je aus der Perspektive der Mehrheitsangehörigen gesprochen und geschrieben. Aus den projektiven und faktischen Verschiedenheiten lassen sich Unterdrückung und Ausschlüsse scheinbar ebenso ableiten wie die Stilisierung zu Hypersubjekten mit Hybridstatus. Letzteres ist u.a. dort der Fall, wo österreichische Intellektuelle arrogant verwundert sind, dass Migrantinnen ganz alltägliche Bedürfnisse haben und nicht a priori politisierte ‚Wunderwuzzis’ sind. Diese Hyperventilierung ästhetisiert – oder verdrängt – deren tatsächliche rechtslose oder -eingeschränkte Situation: „[…] sie sind Fremdkörper im Verhältnis zur Rechtsordnung – wie im Verhältnis zur politischen Ordnung und zum Gesamt der Institutionen der Gesellschaft, in der sie leben. Man soll3

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Polyglotte Internationalisten wie KünstlerInnen, SportlerInnen, DiplomatInnen, WissenschaftlerInnen rechnet man gewöhnlich nicht zu den MigrantInnen.

te dieser Beobachtung hinzufügen, daß der Status des Fremden eine Verneinung des ‘subjektiven Rechts’ impliziert: um das Territorium des Gastlandes zu betreten, um sich dort niederzulassen, zu arbeiten, manchmal sogar, um sich dort zu äußern […] muss der Fremde von den zuständigen Autoritäten eine Berechtigung erbitten. […] Man sollte auch […] festhalten, dass die Fremden von den symbolischen Wirkungen des Rechts ausgeschlossen sind. […] Sie nehmen an dem Gesetzgebungsprozess nicht teil, der zur Annahme der Gesetze führt. Außerdem wird die rechtliche Existenz […] durch die weniger würdevollen Form der Anordnung (geregelt): die Verfügungen der Exekutive treten an die Stelle der parlamentarischen Gesetzgebung. […] [das] führt dazu, aus dem Recht der Fremden ein ‘Abschlagsrecht’ zu machen.“ (Kristeva 1990: 110-111)

Bis auf die Territorial- und Exekutivproblematik lässt sich das Wort ‚Fremde’ in einer feministischen Reperspektive durch das Wort ‚Frauen’ ersetzen, die ebenso als ‚Fremde im eigenen Land’ kaum Anerkennung und wenig Zugang zum öffentlichen und damit politischen Raum haben. Frauen in allen sogenannten Hochkulturen waren/sind aus der ‚symbolischen Ordnung’ ausgeschlossen (bei gleichzeitigem Einschluss ins Private, Nichtöffentliche); sie sind – in der klassischen Geschlechtermetaphysik – reproduktiver Teil des männlich dominierten Systems, aber avant la lettre ohne Teilhabe; und die Teilnahme – auch heute noch – beschränkt sich mehr aufs Mitgefühl denn auf Mitsprache. Unter dem Aspekt feministischer Differenztheorien wird ein/e jede/r in der ‚phallozentristischen symbolischen Ordnung’ subjektiviert. ‚Subjekt’ heißt wörtlich das Unterlegene, Unterworfene. Das bedeutet, dass Männer in ihrem System des Männerbundes, das sie stützt und schützt, evidenterweise mehr ‚zu Hause’ sind, wobei auch systeminfizierte Frauen da mitgemeint sein können. (Das klingt pejorativ, ist aber diagnostisch zu verstehen.) „Diese sittliche Totalität entspricht einem Volk von Männern und stützt sich auf ein von Männern erlassenes und geregeltes Gesetz.“ (Irigaray 1989: 213) Frauen sind in diesem Sinn ihrer eigenen Kultur fremd, tragen aber den Großteil der unsichtbaren und unbezahlten Infrastruktur. Das (männliche) Subjekt entsteht in einem Akt, der seinen eigenen Kausalzusammenhang (angefangen von der Mutter über die Ehefrau bis hin zur Sekretärin usw.) unsichtbar macht: die Erlösung des Mannes durch das ‚freiwillige’ Selbstopfer der Frau. „Dies ist die Situation der Frauen in einer patriarchal geprägten Welt. […] Die Frauen erfahren den öffentlichen Raum als fremd, weil er für sie vorher nicht offen war und sie darin neu sind; sie bewegen sich also hier wie die Fremden im allgemeinen: unsicher und eingeschüchtert. Sie werden nicht ernst genommen: Was sie sagen, gilt nicht als relevant, wie sie es sagen, wird kritisiert. Sie empfinden die herrschenden Strukturen, den Stil befremdend, sie assimilieren sich an maskuline Kommunikationsregeln oder werden ausgegrenzt. Eigene, neue Akzente und Maßstäbe setzen zu wollen, stößt auf Unverständnis und wird lächerlich gemacht.“ (Akashe-Böhme 2000: 32)

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Migrantinnen sind dieser Erfahrung also doppelt ausgesetzt, weswegen sie sie meistens erst gar nicht machen (abgesehen davon, dass es kulturelle Selbstverständnisse gibt, die den Schutz der Frauen vor der Öffentlichkeit gewähren bzw. umgekehrt). Wie es auch gedreht und gewendet wird, die Mehrzahl der Migrantinnen – außer sie kommen z.B. aus höheren Bildungsschichten oder sind bereits politisch interessiert und aktiv – ist kaum in einer so benannten emanzipatorischen Ecke ‘beheimatet’. Meist ist es so, dass ums nackte Überleben gekämpft und um Anpassung an die hier herrschenden Normen gerungen wird. Viele (als jede Einzelne) empfinden dies dann als gelungen, wenn die Familie überlebt und die Konsumfähigkeit halbwegs garantiert ist. Mit einem Wort, es geht um Konservativität – zumindest aus unserer eloquentistischen Perspektive – wo sich ein traditionelles (und ausbeutbares) Frauenbild anywhere die Hand reicht. (Man denke nur an den Heiratsmarkt mit den ach so handlichen Thailänderinnen und an den Frauenhandel schlechthin.) Die klassische Reihung: ‚Subjekt – Mann – Besitz haben – Kultur – Produktion’ und: ‚Objekt – Frau – Besitz sein – Natur – Reproduktion’ spielt da immer noch unfröhliche Urstände, auch nach 35 Jahren Frauenbewegungen. Während jedoch hier der Individualismus als Freiheit (und im Neoliberalismus bald als Genötigtheit) jeder Einzelnen hoch im Kurs der emanzipativen Identitäts-Angebote steht, ist dies in anderen Herkunftszusammenhängen nicht selbstverständlich, da dort eher familiäre oder geschlechtersegregierte Verbindlichkeiten und Verbindungen ein ‚Ich’ ausmachen. So gerinnen dann – auch unter dem Aspekt der westlichen Weise, die Hausfrau und Mutter gesellschaftlich zu isolieren – die Lebenslagen von Migrantinnen zur Eiskammer. „Die Frauen werden in der Fremde krank, weil sie isoliert sind, weil sie abgelehnt werden, weil sie die Diskriminierungen, die Fremdenfeindlichkeit bis auf die Knochen fühlen. Die Migration bzw. ein Leben im Exil verändert die Lebensbedingungen der Frauen grundlegend. Durch den Wegfall der im Heimatland vorhandenen Frauengemeinschaften, durch die soziale Isolierung, eine fremde Sprache und Umgebung und die oftmals vorhandene Entfremdung von den sich schneller anpassenden Kindern werden die eigenen vier Wände zu einem Gefängnis, in dem das besondere Festklammern an traditionelle Werte oft zum letzten Halt, aber auch zur besonderen Fessel werden. Viele erfahren nun Einschränkungen, die sie bisher nicht kannten. Sie müssen sich mühsam, ohne den vertrauten Kontakt zu anderen Frauen, eine fremde Umwelt aneignen. Erst jetzt werden sie wirklich abhängig vom Ehemann, der ihnen nicht erlaubt und zutraut, sich in der neue Umgebung alleine zu bewegen. […] Sein Leben außer Haus spielt sich weiterhin in Männergruppen ab. Seine Frau erlebt Vereinzelung und Einsamkeit.“ (Akashe-Böhme 2000: 66)

Frauenbewusste Bildungsangebote und andere frauenbezogene Aktivitäten können als vermittelte soziale Beziehungen die solcherart Erfrorenen wieder auftau104

en und Frauensolidaritäten und Gemeinsinn fördern; das impliziert einen Empowermentbegriff, der über die einzelne gepowerte Frau hinausgeht bzw. die Dialektik zwischen Einzelnen und Gemeinschaft oder Selbstbewusstsein und Selbstorganisation versteht und vermittelt. Insofern Curriculas und LeiterInnen dies wissen, können sie dabei zu einem angemessenes Gelingen beitragen. Die Selbstbefragung der Mittel und Ziele ist ständig vonnöten, um die eigenen Erwartungen nicht auf die Andere/n zu übertragen. Die europäische Frauenbefreiung ist eine unter vielen dieser Bewegungen; und ebenso wenig wie es die universalisierbare Frau gibt, sondern Millionen Frauen, kann von den Migrantinnen gesprochen werden. Und nicht zuletzt ist das Bewusstsein um die eigene blackbox unabdingbar. Verstehe ich überhaupt die Lage der Teilnehmenden? Jede Kulturation, die wir von Kind an unausgesprochen lernen, ist eine unbewusste Selbstverständlichung von Verhaltensregeln, deren Konventionalität oft erst dann auffallen, wenn es kulturelle Diskrepanzen gibt: Welche Normen spielen bei meinen Wahrnehmungen, Interpretationen, Wertungen eine Rolle? Wie komme ich mir selbst auf die Spur, um von den anderen etwas zu spüren? Weiß ich um das Phänomen identifikatorischer Fehlinterpretation und trügerischer Fehlanpassung? „Viele Verhaltensweisen des Fremden oder der Fremden erscheinen dem anderen nicht auffällig, bzw. viele Verhaltensweisen der Einheimischen sind den Fremden nicht auffällig, weil sie sich in das eigene Verhaltensschema durchaus einfügen. Erst nachträglich, aufgrund irgendwelcher Konsequenzen, bemerkt man dann, dass sie ganz andere Bedeutung haben, als man ihnen aufgrund der mitgebrachten Interpretationsmuster gegeben hat.“ (Akashe-Böhme 2000: 30)

Eine der Antinormativität verpflichtete Feministin kann ebenso wie die durchschnittlich eingepasst-moderne Frau, samt ihren Bildern vom richtigen Frauenleben, sich Vor/Urteilen nicht entschlagen: Oft genug wird entweder die betonte Frauenrolle der einen oder die verhüllte Weiblichkeit der anderen Migrantin zum un/gesagten Stein des Anstoßes. (Möglicherweise hat z.B. die (post)moderne Frau ein entfremdetes Verhältnis zu sich selbst entwickelt, das Stolz und Scham nicht zu erstrebenswerten Kategorien zählt.) Die Aneignung der eurozentrischen Lebensmusterungen könnte dazu ver’leitet’ haben, sich männlich zu identifizieren, also die Differenz zu verleugnen, was wiederum zu verschleiernden Interpretationen führt. Gendermainstreaming und dessen überall laute(nde) Anrufung ist eine beredte Manifestation davon. Mit dieser Konzeption wird suggeriert, bestimmte feministische (Gender)Theorien hätten in der offiziellen Politik Eingang gefunden. Der Begriff ‚Feminismus’ wird dabei völlig aus den (verbürokratisierten) Chancengleichheitsmaßnahmen zwischen Frauen 105

und Männern ausgeblendet und damit werden die Geschichte und die Kämpfe der Frauenbewegungen zum Vergessen gebracht. Eine politisch-feministische Zugangsweise hingegen – die Unterschiede aller Un/Arten weder nivelliert, subsumierend kontextualisiert und auf identitäre Attribute reduziert, noch rhetorisch ausradiert – wird um zwei Widerspruchsachsen nicht herumkommen: diejenige zwischen den Geschlechtern (als Herrschaftsverhältnis) und diejenige zwischen Frauen (als Machtbeziehung). Der ersten gehört der Widerstand, wobei eine ‚reine’ Opposition sich doch immer noch auf die Position bezieht und sich also abhängig von dieser macht. Mainstreaming ist ebenso nicht ‚frei’, auch wenn dies propagiert wird, und wirkt nur insofern ‚seriös’, weil es den mainstream als ‚malestream’ nicht stört. Anders verhält es sich mit der Denkfigur der ‚mimetischen Weiblichkeit’, die im Stil des ‚als ob’ nur scheinbar die gleichen Wege geht. „Was schon heißt, eine Subordination umzukehren in eine Affirmation, und von dieser Tatsache aus zu beginnen, jene zu vereiteln. […] Mimesis zu spielen bedeutet also für eine Frau den Versuch, den Ort ihrer Ausbeutung durch den Diskurs wiederzufinden, ohne sich darauf einfach reduzieren zu lassen. Es bedeutet […] sich […] der Idee von ihr ‚zu unterwerfen’, so wie sie in/von einer ‚männlichen’ Logik ausgearbeitet wurden; aber, um durch einen Effekt spielerischer Wiederholung das ‚erscheinen’ zu lassen, was verborgen bleiben musste: die Verschüttung einer möglichen Operation des Weiblichen in der Sprache.“ (Irigaray 1979: 78)

Letzteres impliziert, dass Frauen nie gänzlich im männlichen Imaginären aufgehen und als Grenzgängerinnen ‚subvertieren’4. Zur zweiten Widerspruchsachse, derjenigen zwischen Frauen verschiedener Herkünfte, gehört Achtung und gegenseitige Anerkennung. Hier wäre Mimesis wiederum anders zu denken, nämlich als realisierbare Figur des Voneinander-Lernens. Diese Weise eines ‘Wir’ (ich) geht vom ‘Ihr’ (du) aus, ohne jedoch diese Bruchlinien durch diskursive Wiederholungen zu zementieren. Denn nur dort, wo die Unterschiedenen (nicht: die Gleichen) sich in Respekt versammeln, entsteht das Politische.

4

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… meine Zusammensetzung aus ‚Subversion’ und ‚pervertieren’.

4.

Antidiskriminierende Bildung Wenn es der spezifische Gehalt der neoliberalen Subjektivitäten ist, emanzipatorische Forderungen in individuelle Flexibilitäten umzuformulieren, also zu individualisieren und zu entkontextualisieren, so besteht immer auch die Möglichkeit, zu rekontextualisieren und zu repolitisieren. (Susanne Schultz) Bildung ist Entfremdung. ( G.W.F. Hegel) Education as the Practice of Freedom (bell hooks)

Hier geht es um ein Politikverständnis, dem es nicht in erster Linie um Staatslehre, juristische Distinktionen, Information u.ä. zu tun ist, sondern um das Politische als Selbstverständigungsprozess und als Initiation von Bewegung zur Gestaltung der Welt durch das gemeinsame Handeln von Subjekten. Bildung wird hierbei als diesen Prozessen vor-, mit- und nachgängig betrachtet, als Intervention zu und als Weitergabe der Sinnhaftigkeit von Widersprüchen und Widerständen, von Erinnerung und Entwurf, von Mündigkeit und Selbstbewusstsein im öffentlichen und privaten Raum. Politische Bildung ist primär Bewusstseinsbildung. Will die Vermittlungsperson nicht bloß Formeln und additives Wissen an Individuen weitergeben, sondern Veränderungsmöglichkeiten für und durch Subjekte anzeigen, so kann hier von ‚organischer Autorität’ – in Anlehnung an Antonio Gramscis Begriff des ‚organischen Intellektuellen’, der sein Wissen den nichthegemonialen Gruppen zur Verfügung stellt (vgl. Borek et al. 1993) – gesprochen werden, welche die ihr Anempfohlenen bestärkt (sichert) und herausfordert (verunsichert) zugleich. Denn Bildungsarbeit bedeutet auch immer Entfremdung von unmittelbaren Bedürfnissen. (Weibliche) Autorität ist also solcherart zu verstehen als dynamisches Prinzip – und nicht als autoritäre (Selbst)Positionierung – zur Artikulation und Vermehrung eines anderen Begehrens als Kompromiss, Küche, Kinder und Konsum. Der Bildungsprozess wird so selbst zum politischen Ort, wenn eine authentische Vermittlung kritischen Denkens und Anstöße zu selbst organisierter Bestimmtheit Raum finden. Dazu ist die Dringlichkeit anzumahnen, die Teilnehmerinnen auch als ‚Teilgeberinnen’ ernst zu nehmen – jedes Wort ist es Wert auf die Welt zu kommen. Es geht also nicht um Diktate (Hierarchisierung der Sprechenden und Handelnden), wohl aber um Diktionen der Achtung von/vor Unterschieden (deren erster am Bildungsort die zwischen Lehrenden und Teilnehmenden darstellt), der Affirmierung von Pluralität als Selbst- und damit Andersseins. „Zwar ist die menschliche Bedingtheit in allen ihren Aspekten auf 107

das Politische bezogen, aber die Bedingtheit durch Pluralität steht zu dem, daß es so etwas wie Politik unter Menschen gibt (…) in einem ausgezeichneten Verhältnis.“ (Arendt 1981: 16) So kann sich die Bildungszeit gleichsam als Ort von Verhandlungen verstehen und bestimmen lassen. Die Vermittlungsperson tritt selbst in das Bezugsfeld ein, setzt sich selbst aus. Diese vorbildhafte Verausgabung vermag (idealiter) die Teilnehmenden in Bewegung (nicht: konsumierende Haltung) zur konkreten Freiheit (nicht: abstrakte Unabhängigkeit) zu ‚ver’setzen. Eine so verstandene Positionierung ist kein Besitz und wendet sich gegen einen paternalistischen, aber auch maternalistischen Habitus. Sich in Bezug zu setzen, vermeidet die Geste der Überlegenheit und des (Bescheid-)Wissens über jemanden, was besonders beim Arbeiten mit Migrantinnen der Fall sein kann. Dadurch wird eine (Selbst)Positionierung der Teilnehmenden prolongiert. „Es geht darum, wie wir Beziehung und Inhalt so miteinander verbinden, daß nicht das eine auf Kosten des anderen ausgespielt wird. Autorität benennt also die Aufgabe der Vermittlung von Inhalt und Beziehung und zeigt an, daß sie so gelöst werden kann, daß wir ein Mehr erlangen, ein Mehr an Kenntnis, an Einsicht, an Wissen von der Welt und ihren Möglichkeiten, und somit wachsen können. Das zeigt auch das Wort ‚Autorität’, das von dem lateinischen Verb ‚augere’ kommt, ‘augere’ heißt wiederum ‚etwas zum Wachsen bringen’, ‚etwas groß werden lassen’.“ (Günter 2001: 23)

Für pädagogische Offenheiten zur partizipativen Gestaltung der (Aus)Tauschverhältnisse ist die Lehrende/Trainerin verantwortlich und es ist angeraten, dass sie über ihr persönliches Wie-und-Warum selbst aufgeklärt ist. „Eine der Grundvoraussetzungen für gelingende Steuerungs- und Gestaltungsleistungen im Lehr/Lernprozeß ist die Fähigkeit, sich ein realistisches Bild von den eigenen Möglichkeiten und Grenzen bei der Ausübung von Leitungsfunktionen in Gruppen zu machen. […] Das Motto einer […] Beratung für Trainer/Dozentinnen hieße dann: Was muß ich als Leitender/Leitende für mich tun, damit ich etwas für die Lernenden tue?“ (Geißler 1995: 184)

Zum grundsätzlichen Bewusstsein für Lehr- und Lernkontexte gehört die Erkenntnis der gegenseitigen Bedingtheit von Inhalt und Form. Vermittlung steht in einer dialektischen Affinität zu und Abhängigkeit zwischen den Subjekten und den Gegenständen – den Themen, Aufgeben und Problemen. Chancengleichheit als Ziel ist also durch eine divergierende Handhabung von Unterschieden zu erlangen. „Im Rahmen der Bildungsarbeit verstrickt sich eine Vielfalt von Prozessen, in denen verschiedene Akteurinnen – ausgehend von differenzierten (Macht-)Positionen – interagieren.“ (Salgado 2003: 13) Ein Autoritätsverständnis in diesem Verständnis macht Ungleichheiten produktiv. 108

5.

Kritik von Defizitpädagogiken

Herkömmlichen, aber auch aufgeklärten Minderheitspädagogiken ist die weitgehende Ausblendung von strukturellen Ausschlüssen, Machtpositionierungen und politischen Handlungsfeldern gemeinsam. „Während eine so genannte ‚Ausländerpädagogik’ von einem Defizit der migrantischen SchülerInnen ausgeht (MigrantInnen müssen etwas aufholen und sich anpassen) legt das Konzept des ‘Interkulturellen Lernens’ das Hauptaugenmerk auf die ‚kulturelle Differenz’ (MigrantInnen sind eine Bereicherung). (Hingegen) stellt eine sich als emanzipatorisch verstehende Antidiffamierungspädagogik den multikulturellen Bildern eine Perspektive gegenüber, die den Fokus auf Phänomene der Diskriminierung legt. Sie versucht rassistische Stereotype in den Blick zu bringen, zu dekonstruieren und damit die Bilder […] zu verändern. Differenzen werden dekonstruiert, Zivilcourage gefördert […].“ (Sternfeld/Höllwart 2004: 46-47)

Um dem divide et impera der staatlichen, gesellschaftlichen und ökonomischen Strukturen begegnen zu können, sollte durch politische Bildung Begriff und Praxis von reflexiver und widerständiger Selbstorganisation geübt werden. Dazu bedarf es zum einen der bisher gültigen empathischen und emanzipatorischen Pädagogik des ‚Dort-Abholens-wo-sie-Sind’ sowie zum anderen einer Überschreitung hin zu ‚Sie-von-dem-freisetzen-wo-sie-Stehen’. Es wird also nicht nur die Wertschätzung der vorhandenen eigenen Fähigkeiten benötigt, sondern auch die Vermittlung der Fertigkeiten der anderen. „Im Prozess der politischen Bildungsarbeit ist eine Spannung zwischen zwei Dimensionen zu erkennen: einerseits sollen Lernende den Bildungsprozess – ausgehend von ihrem spezifischen Wissen (ihrer Geschichten, ihrer Erfahrungen, ihrer Kulturen) – gestalten; andererseits sollen sie sich auch die Codes und Kulturen der dominanten Kreise aneignen. […] Die Herausforderung besteht darin, den Lernenden zu ermöglichen, die verschiedenen Spannungen als solche zu erkennen und sie zu befähigen, damit umzugehen.“ (Salgado 2003: 14-15)

Dazu gehören die Möglichkeiten von Gegenerzählungen zum vorherrschenden Mainstream und die Eröffnung von Handlungsspielräumen, die eine realistische Selbsteinschätzung der Dialektik von Selbständigkeit und Angewiesenheit, erproben und reflektieren. Diese Perspektive entspricht nicht einem simplifizierenden Gebrauch von Partizipation und Empowerment, da dieser Gefahr läuft der neoliberalistischen Logik des Zurückgeworfenseins der Einzelnen auf sich selbst zu forcieren. Das aktuelle und nicht-zufällige Mainstreaming dieser chimärhaften Begriffe kann u.a. folgend hinterfragt werden: Schon in der allgemeinsten Definition von Empowerment und Partizipation, nämlich für Menschen die Möglichkeit zu erweitern, ihr Leben zu bestimmen und zu aktiv Teilnehmenden zu werden, liegen die troublebinds der Begrif109

fe. Auf der einen Seite ist dies (zumindest in der westlichen Hemisphäre) ein geschichtsimmanentes Unterfangen: Spätestens nach der Säkularisierung steht die Autonomie und die Mitbestimmung der Person in jedem aufgeklärten Programm. Zum zweiten war und ist weibliche Selbstbestimmung und das Recht auf politische Mitbestimmung seit Jahr und Tag im Zentrum frauenpolitischer Bemühungen. Zum dritten wird bei der meist gebräuchlichen deutschsprachigen Übersetzung von Empowerment als ‚Selbstermächtigung’ vergessen, dass die Nationalsozialisten in Deutschland mit den sogenannten ‚Selbstermächtigungsgesetzen’ ihren Putsch legitimierten. Zum vierten muss gefragt werden, wer denn das Subjekt ist, das die Voraussetzungen für die Möglichkeit zur Lebens(mit)bestimmung der Menschen schafft? Ist es ein bereits gepowertes und partizipierendes Subjekt im Unterschied zu den anderen? Es gibt also mehr oder weniger empowerte Menschen, die mehr oder weniger partizipieren – aber wer bestimmt das? Zum fünften stellt sich die Kehrseite dieser derzeit beliebten Devisen deutlich dort heraus, wo das empowerte Subjekt dann auch verantwortlich für seine Leistungsversagen und Schwächen gemacht wird – was zur neoliberalen Überlassung sozialstaatlicher Sorge etc. auf die Einzelnen passt. Sozial- und Selbststeuerung gehen so zunehmend ineinander über. Zum sechsten schließlich werden beide Begriffe zu scheinemanzipatorischen Reflexen, wenn sie nicht mehr nach den Hintergründen und Bestimmungen von gesellschaftlicher Macht und Ohnmacht fragen, also dazu verleiten, nur für sich selbst ein Stückchen vom (geschrumpften) Kuchen ergattern zu wollen. Trotzdem scheint es noch keine andere und angemessenere Form zu geben, als „den Teilnehmerinnen als Protagonistinnen, als handelnde Subjekte ihrer eigenen Migrationsgeschichte und ihrer Lebenssituation hier zu begegnen und sie zu stärken“ (Salgado 2002: 18). Migrantinnen sind zuerst Spezialistinnen ihrer selbst und es ist vermessen, sie als leere, halb- oder mit dem Unpassenden gefüllte Gefäße zu behandeln, die nur mit dem richtigen Wissen gefüttert werden müssen. (Es ist ebenso eine klassische Vorstellung, Frauen als nichtvollständige Menschen, als Hülle zu betrachten, die darauf warten beseelt, um nicht zu sagen besamt zu werden.) Jeder Selbst-Anerkennung ist die Anerkennung durch Andere vorgelagert. Es ist dennoch auch problematisch, den unterlegenen weiblichen Status im Allgemeinen und den prekären von Migrantinnen im Besonderen zu verkleinern. Abgesehen vom weiblichen Spezialistinnentum für Masochismus, liegt es im Trend der Zeit, das Faktum und den Begriff des ‚Opfers’ zu negieren, denn in einer Gesellschaft, die dem ökonomischen Prinzip verpflichtet ist, steht die Selbstverwertung und das reibungslose Funktionieren im Vordergrund; Ausbeutung und Leid stören nur den schönen Schein. 110

„Die immer breiter werdende Gruppe von Marginalisierten bzw. die ‚Modernisierungsverlierer’ sehen sich mit der Preisgabe an Lächerlichkeit und Verachtung konfrontiert […] selbst schuld, wird ihnen eingeflüstert. […] Im Zusammenhang mit einer neoliberalen diskursiven Wende hat sich der Begriff des ‚Opfers’ gewandelt; ein entheroisierter Begriff, der mit Schimpf, Scham und Schande verbunden ist. […] Auffallend die Erosion politischer Landschaften und Kategorien, nachdem verschiedene Techniken zur selbstorganisierten Transformation für die Einzelnen verfügbar sind. […] Die Dimension der Freiheit reduziert sich […] auf […] [die] Anschaffung der optimalsten Mittel […].“ (Trallori 2000: 109-110)

Auf der Ebene der Bildung durch Protagonistinnen zu ebensolchen ergeben sich solchermaßen offene Fragen. Der Begriff wird zumeist sinngemäß mit Handlungsfähigkeit gleichgesetzt. Aber dies hat auch eine Kehrseite – zumindest allgemein: „Hier geht es um einen […] Aspekt, der auch in der Frauenpolitik der vergangenen Jahre eine Rolle spielte, um den Wunsch nach Protagonismus, nach gesellschaftlichem Erfolg, der seine Entsprechung darin findet, Machtpositionen anzustreben. […] Ein Problem entsteht […] dann, wenn sich der weibliche Protagonismus, weil eine adäquate politische Praxis fehlt, in die Übersteigerung einer Person verwandelt […] wenn man sich pausenlos für die eigene Machterhaltung einsetzen muß.“ (Buttarelli 1999: 138-139)

Jedoch existieren noch keine besseren Optionen als die Förderung eines Prozesses, der Migrantinnen dabei unterstützt, ihre marginalisierte Position zu verlassen und an der Gesellschaft zu partizipieren. Das ist Ausgangspunkt und Ziel eines Prinzips, das sich auf die Subjekte einlässt und sie als veränderte wieder entlässt. Denn die bloß passive Akzeptanz des Mitgebrachten ließe die Teilnehmenden ‚dumm im Regen stehen’ – aufgrund fantasierter Vollständigkeit oder aufgrund von eingebildeter political correctness. Migrantinnen sind weder eine homogene Einheit, noch unkritisierbar; das wäre sozusagen anti-antirassistisch – und das Gegenteil von Akzeptanz. Abgesehen von der fremdbestimmten sozialen Lage haben MigrantInnen nicht per se etwas gemeinsam. Die unmittelbare Betroffenheit von Rassismen führt in einer rassistisch strukturierten Gesellschaft keinesfalls dazu, dass Ressentiments von den Getroffenen nicht reproduziert werden. Diesbezügliche Selbstreflexionen werden jedoch nicht selten aufgrund eines ‚instinktiven’ Schutzmechanismus verweigert: sich selbst als diskriminiert erkennen zu müssen, ist schmerzhaft. (Viele Frauen reagieren analog auf feministische Anliegen.) 6.

Bemerkungen zur ‚reinen’ antirassistischen Bildung

Als Gegenwendung zur Ausländerpädagogik (Defizitdiskurse), als Überschreitung der multikulturellen Ansätze (Differenzdiskurse) wurde hier die anti111

rassistische Bildung (Dominanzdiskursproblematisierung) fokussiert. Eine differenzierte Auseinandersetzung mit dieser hat auch Kritisches zu bestimmten verkürzten Rassismusvorstellungen als analytische und praxisrelevante Kategorie zu bedenken. „Drei miteinander zusammenhängende Aspekte seien […] hervorgehoben: Reduktionismus: […] Rassismus als institutionalisiertes falsches Bewußtsein […] als irrationales Vorurteil […] als weiße Herrschaft […] als Klassenherrschaft […] rationales Eigeninteresse. Moralismus: […] totalisierende Auffassung von ‚race’, […] Rassismus als Problem nur der Weißen […], Normativität […] Regime der Korrektheit. Essenzialisierung: De-Diskriminierende Strategien arbeiten homogenisierenden Konzepten zu. […] Mit Blick auf pädagogisches Handeln und Deuten bietet es sich an nicht von antirassistischen, sondern von rassismuskritischen Perspektiven zu sprechen […] deren Grundzüge lauten: Mehr (Verteilungs-)Gerechtigkeit – Antirassistische Performance – Vermittlung von Wissen über Rassismus – Thematisierung von Zugehörigkeitserfahrungen – Reflexion rassistischer Zuschreibungsmuster – Dekonstruktion binärer Schemata.“ (Mecheril 2004: 202; Hervorhebungen von mir)

Dogmatisierende antirassistische Perspektiven können sich in Paradoxien verstricken, deren Hauptproblematik diejenige der An/Aberkennung ist. So wird durch eine simplifizierende Stilisierung von rassistischen Unterdrückungen ein Dualismus gefestigt. Eine dekonstruktive Lektüre (als bildendes Handeln) hingegen versucht Wertungen und Ausschlüsse, sowie paradoxe Einheitlichkeit – es ist dieselbe Logik, wenn ÖsterreicherInnen von den MigrantInnen, wie wenn MigrantInnen von den ÖsterreicherInnen reden – freizulegen. „Pädagogisches Handeln, das ‚Migranten’ als ‚Migranten’ anerkennt, bestätigt insofern das Schema, das zwischen ‚Wir’ und ‚Nicht-Wir’ unterscheidet. […] Die Paradoxie, die hier anklingt, besteht darin, dass Handlungsfähigkeit an Anerkennungsverhältnisse geknüpft ist, Anerkennung aber den subalternen und inferioren Status der Anderen bestätigt.“ (Mecheril 2004: 221)

Einer migrationsorientierten Perspektive muss es letztlich um die Arbeit an Aufweichungen und Verschiebungen der vorherrschenden Zugehörigkeitsordnungen gehen. Doch vorläufig gilt es festzuhalten: Solange die hegemonialen Verhältnisse so sind, wie sie sich darstellen, solange darf der ‚reine’ Wunsch nach vielfältiger und gleichberechtigter BürgerInnenschaft nicht den konzentrierten Blick auf die Realität vernebeln – damit das Handeln klar und deutlich bleiben kann.

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Varela, Maria do Mar Castro/Clayton, Dimitria (2003): Migration, Gender, Arbeitsmarkt. Neue Beiträge zu Frauen und Globalisierung. Königstein/Taunus: Ulrike Helmer Varela, Maria do Mar Castro (2003): Zur Skandalisierung und Re-Politisierung eines bekannten Themas: ‚Migrantinnen auf dem Arbeitsmarkt’. In: Varela et al. (2003): 8-29

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Dealing with Differences? Die geschlechtliche Konstruktion der Lebenskonzepte zweier Migrantinnen in Österreich Alice Ludvig

Mitte der 1980er Jahre kam es zu einem Paradigmenwechsel innerhalb der Frauen- und Geschlechterforschung hin zum so genannten Diversity-Ansatz, der von vielen Differenzen und Pluralitäten zwischen Frauen ausgeht. Der vorliegende Beitrag beschäftigt sich mit dem Wirksamwerden der Konstruktionen von Differenzkategorien zwischen Frauen anhand zweier in Österreich lebenden Personen mit unterschiedlichen Herkunftsgeschichten. Es geht dabei um die Identitäts- und Differenzkategorien Geschlecht, sozialer Status, Nationalität und Sexualität. Interessant ist in diesem Zusammenhang das „etc.“ bzw. „usw.“, welches sehr oft am Ende solcher Auflistungen von Differenzen zu finden ist. Wie mit der Unendlichkeit solcher Listen analytisch umzugehen ist, ist eine der spannenden Fragen in den derzeit laufenden Debatten der Geschlechterforschung. Als Material dieser Untersuchung dienen die Konstruktionen von SubjektPositionen in einzelnen narrativen Interviews mit ausgewählten Migrantinnen in Österreich. Anhand ihrer Subjektpositionierungen will der Beitrag das konkrete Wirksamwerden von Differenz- und Identitätskonstruktionen untersuchen. Das Forschungsinteresse liegt in der Frage, wann genau welche Differenzen und Identifikationen in den einzelnen Erzählungen bedeutsam werden und was diese mit den äußeren Umständen des politischen und sozialen Umgangs mit MigrantInnen in Österreich zu tun haben. 1.

Vom Differenz- zum Diversitätsansatz

Seit der zweiten Welle der Frauenbewegung mit Beginn der 1970er Jahre1 lassen sich die Theoriebildungen zum Geschlechterverhältnis in die drei Etap1

Die erste Welle der Frauenbewegung wird mit Beginn des 20. Jahrhunderts und den Suffragetten-Bewegungen in England datiert. Selbstverständlich gab es jedoch historisch immer schon Frauen, die sich für Frauenrechte einsetzten [z.B. Olympe de Gouges (1748-1793) während der Französischen Revolution 1789].

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pen Gleichheit, Differenz und Diversität einteilen (vgl. Kristeva 1981 und Maihofer 1998): In der Phase der Gleichheit wird unter „Gleichheit“ die Gleichbehandlung in Form von gleichen Chancen für Frauen wie Männer verstanden (engl.: equal opportunities approach). Ziel ist es, durch Gleichbehandlung eine Gleichstellung auf rechtlicher, sozialer, ökonomischer und symbolischer Ebene zu erreichen. Die Phase der Differenz hingegen möchte Gleichheit dadurch erreichen, indem zuerst die Benachteiligungen für Frauen überwunden und ausgeglichen werden sollen. Dazu werden besonders Quoten und spezielle Gesetze zum Schutz von Frauen, etwa gegen Vergewaltigung in der Ehe, gefordert. (engl.: special protection rights and measures). Der Schwerpunkt liegt hier auf der Differenz und dem Ungleichverhältnis zwischen Frauen und Männern, nämlich jenem der unterschiedlichen Ausgangsbedingungen und der unterschiedlichen sozialen, ökonomischen, politischen und symbolischen Positionen. Die Phase der Diversität (diversity): Mitte der 1980er Jahre kam es zu einem Paradigmenwechsel innerhalb der Frauen und Geschlechterforschung hin zum Diversity-Ansatz, welcher davon ausgeht, dass es viele Differenzen und Pluralitäten zwischen Frauen gibt. Dieser Wechsel hat unter anderem auch mit der damals immer stärker werdenden Kritik von Black Feminists2 an der politischen Ausschließung und Marginalisierung von „Andersheiten“ innerhalb des feministischen Mainstreams in den USA zu tun (vgl. Combahee River Collective 1981; Davis 1981; Hill Collins 1990; Hull/Scott/Smith 1992[1979]). So fragte bereits im Jahr 1979 die Schwarze3 Schriftstellerin Audre Lorde auf einer feministischen Konferenz in New York, warum denn nie die Differenzen zwischen Frauen angesprochen würden. „If white American feminist theory need not deal with the differences between us, and the resulting difference in our oppressions, then how do you deal with the fact that the women who clean your houses and tend your children while you attend conferences on feminist

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Wie zum Beispiel von Michelle Wallace, Bell Hooks, Angela Davis, Particia Hill Collins, Kimberlé Crenshaw, Gloria Joseph, Toni Morrison oder Alice Walker. Der Terminus „Schwarz” bezeichnet eine politische Selbstbezeichnung und ist hier groß geschrieben, um Repräsentationen von „schwarz” als einer objektiven Kategorie der „Hautfarbe“ zu vermeiden. Solche Klassifizierungen nach Hautpigmentation sind nicht naturgegeben, sondern erst von Menschen erstellt und damit sozial hergestellt (vgl. Ludvig 1999: 407ff.; Miles 1991).

theory are, for the most part, poor women and women of color? What is the theory behind racist feminism?” (Lorde 1984: 112)

Lorde weist hier auf die trennende Kategorie der Hautfarbe hin. Was ist also die Theorie hinter dem „rassistischen Feminismus“? Lorde wandte sich mit ihrer Aussage gegen jene Form von Diskriminierung, welche Unterschiede ignoriert und damit andere Positionen in die Marginalität rückt. Bezogen auf den Feminismus bedeutet dies, dass aufgrund der Konzentration auf Geschlechterhierarchien und Sexismus andere Formen der Diskriminierung, in diesem Fall Rassismus, vernachlässigt und teilweise auch abgestritten wurden. Das lag im Sinn des feministischen Projektes: Für den Widerstand gegen patriarchale Strukturen war Solidarität zwischen Frauen notwendig, was oft auch als the politics of identity bezeichnet wird. Identitätspolitik versucht, eine gemeinsame Identität aufgrund gemeinsamer Attribute und Erfahrungen aufzubauen, um politische Ziele durchzusetzen. Elisabeth Grosz definiert sie folgendermaßen: „Identity politics is about establishing a viable identity for its constituency, of claiming social recognition and value on the basis of shared common characteristics which are attributed to the particular social group of an identity.” (Grosz 1994: 31)

Mit anderen Worten: Feministische politics of identity erweckten den Anschein, es gäbe bloß eine dominierende Unterdrückungsform von „Frauen“, nämlich den Sexismus – damit wurde bis in die 1980er Jahre die Auseinandersetzung mit Differenzen zwischen Frauen vernachlässigt. Es ging in den kritischen Interventionen der Black Feminists also darum, auf die Ausblendung von Rassismen innerhalb der sogenannten „weißen“ Frauenbewegung, genauer, auf die unreflektierte Ausgrenzung und Dominanzverhältnisse innerhalb der Bewegung hinzuweisen. Zusammenfassend lässt sich vorerst feststellen: In den ersten beiden Phasen in der Geschlechtertheoriebildung, den Gleichheits- wie den Differenzdebatten, drehten sich die Diskussionen noch um die Geschlechterdualität, also die sexuelle „Differenz“ zwischen Mann und Frau. In der Phase ihrer Dekonstruktion, der Diversitätsphase, gewinnen weitere Differenzen an Bedeutung. Auf der einen Seite wurde seit Ende der 1980er Jahre versucht, die Dichotomie „männlich“ versus „weiblich“ zu dekonstruieren (vgl. exemplarisch Butler 1990). Andererseits führten Black Feminists, postkoloniale Diskurse von Women of Color sowie Homo- und Transsexuelle (queers) die Differenzen zwischen Frauen als neue Dimension in die Debatten ein. 117

In diesem Zusammenhang stellt der vorliegende Beitrag folgende Fragen: Wer definiert eigentlich, wann welche der Differenzen wichtig werden und wann nicht? Wie funktionieren die Differenzierungen für einzelne Individuen, und lässt sich daraus auf strukturelle Zusammenhänge wie die Positionierungen innerhalb bestimmter gesellschaftlicher und politischer Gefüge, wie etwa Österreich als „Nicht/Einwanderungsland“ (vgl. Cinar 2004) schließen? Die vorliegende Untersuchung beruht auf der Annahme, dass die Individuen ihre Subjektivitäten in der autobiographischen Erzählung „konstruieren“ und es daher möglich ist, diese im Nachhinein analytisch wieder zu „rekonstruieren“. Damit soll ein Beitrag zur Analyse von Identitäten und Differenzen in all ihren Widersprüchlichkeiten und Brüchen geleistet werden. Der folgende Abschnitt wird zunächst die Vorstellung von sich überschneidenden Achsen der Differenz (intersections) genauer in den Blick nehmen. Im Anschluss daran werden bestimmte Identitäts- und Differenzkonstruktionen, nämlich Geschlecht, Klasse und Nationalität/Hautfarbe anhand zweier narrativer Interviews untersucht. Damit möchte der Beitrag empirisch konkrete Achsen von Überschneidungen sichtbar machen, und zwar unter Bedachtnahme darauf, dass die Liste der Differenz- und Identitätsquellen jeweils unendlich ist. 2.

Intersections: Überschneidungen von Differenzen und Identitäten

Seit Beginn der 1990er Jahre sind in der Genderforschung die sogenannten Intersections-Theorien entstanden (vgl. Crenshaw 1989; Higginbotham 1992; King 1988; Moore 1994; Schein und Strasser 1997; Amesberger und Halbmayr 1998), welche davon ausgehen, dass sich alle Differenzen je nach Kontext überschneiden und jeweils multipel wirksam werden. Geprägt wurde der Begriff von der US-amerikanischen Juristin Kimberlé Crenshaw (vgl. 1989). Die Stärken von intersectionality sind, dass hier erstens versucht wird, „Andersartigkeit“ einzubeziehen und der Ansatz gleichzeitig essentialisierende und fixierende (Entweder-oder)-Vorstellungen von Identitäten vermeiden will. Zweitens will der Intersectionality-Ansatz den sogenannten genderism überwinden (vgl. Kossek 1997), also die Fixierung auf die Sex-Gender-Dichotomie und den Fokus auf Gender in den Analysen. Diese laufen sonst Gefahr, die Auswirkungen anderer „Differenzen“ auf Frauen zu marginalisieren. Die Schwächen des Ansatzes werden hingegen deutlich, wenn versucht wird, „Überschneidung“ auf konkrete soziale Verhältnisse anzuwenden: Es ist nämlich nie möglich, alle Differenzen und Identitäten zu berücksichtigen. 118

Epistemologisch ist es genau das kleine “etc.” (usw.) welches zur Achilles-Ferse der Intersections-Theorie wird, denn in der Liste von Gender, Sexualität, Hautfarbe, Religion etc. wird immer ein solches angehängt (vgl. Butler 1990: 143; Klinger 1995: 813). Judith Butler spricht dieses Thema in Gender Trouble: Feminism and the Subversion of Identity (1990) an: „Theories of feminist identity that elaborate predicates of colour, sexuality, ethnicity, class and able-bodiedness invariably close with an embarrassed ‘etc.’ at the end of the list. Through this horizontal trajectory of adjectives, these positions strive to encompass a situated subject, but invariably fail to be complete. This failure, however, is instructive: what political impetus is to be derived from such exasperated ‘etc.’ that so often occurs at the end of such lines?“ (Butler 1990: 143)

Der Schwachpunkt liegt also in der Unendlichkeit der Differenzen. Im Folgenden einige Überlegungen zum konkreten Wirksamwerden der Konzepte von Identität und Differenz: Erstens addieren sich Differenzen wie gender und Hautfarbe nicht, sondern werden jeweils spezifisch und in eigener Form wirksam. Das wird oft auch als „multiple Unterdrückung“ (multiple jeopardy) bezeichnet (vgl. King 1988). Zweitens lassen sich die jeweiligen Identitätsformationen innerhalb einer Person nicht auseinander dividieren. Eine Schwarze Frau ist darum nicht „außen schwarz“ und verfügt innen noch über eine Gender-Identität „Frau“, die zumeist als „weiß“ vorgestellt ist (vgl. Spelman 1988). Subjektiv kann es für eine Frau in manchen Fällen also einerseits nicht möglich sein, zu entscheiden, ob sie soeben aufgrund ihres Geschlechts oder aufgrund anderer Attribute wie etwa eines fremden Akzents diskriminiert wurde. Darum geht es beim Konzept der Intersektionalität: Die Achsen der Differenz können sich zwar überschneiden, sie können aber auch nicht voneinander isoliert werden, da sie jeweils miteinander – multipel. – wirksam werden. 3.

Narrative Konstruktionen von Identitäten

Wenn wir uns mit dem Wirksamwerden von konkreten Konstruktionen von Differenzkategorien beschäftigen, so stehen dabei unter anderem verschiedenste Identitäts- und Differenzkategorien wie Geschlecht, sozialer Status, nationaler Hintergrund, Religiosität, sexuelle Präferenz zur Verfügung. Als Material zu dieser Untersuchung sollen dazu die Konstruktionen von Subjekt-Positionen in narrativen (Langzeit-)Interviews dienen. Dazu werden im 119

Folgenden die autobiographischen Beschreibungen zweier in Österreich lebender Frauen miteinander verglichen. 3.1. Narration und Subjektivität In den 1920er Jahren haben zuerst Thomas und Znaniecki den Begriff „Biographieforschung“ verwendet. Anhand der Erzählungen des polnischen Migranten Wladek untersuchten sie die Integrationsmöglichkeiten für MigrantInnen in die USA (vgl. Thomas/Znaniecki 1958). Später hat Cicourel (vgl. 1973) anhand von aufgenommenem Interviewmaterial gezeigt, wie nicht nur Bedeutungen und Interpretationen, sondern auch Subjektivitätsprozesse rekonstruiert werden können. Vor allem in der soziologischen Biographieforschung (vgl. Keupp/ Höfer 1997, Rosenthal 2005) und auch in der neueren Geschichtsforschung, der „Oral History“, (vgl. exemplarisch Benmayor 1994) wurde das narrative Interview zu einer beliebten Methode, um jene Aspekte von Identifikationen und Zugehörigkeitszuschreibungen zu erhellen, die mit vorgefertigten Fragen niemals erreicht werden können. Wegen der Logik des erzeugten „Erzählflusses“ (vgl. Bohnsack 1993: 94ff.; Fischer-Rosenthal/Rosenthal 1997) in der Stegreiferzählung ruft diese Interviewtechnik Erzählungen hervor, die unter herkömmlichen Frage-Antwort-Bedingungen komplett unausgedrückt und unterbelichtet blieben. In den von mir durchgeführten Interviews wählte ich folgenden Gesprächseinstieg: „Ich möchte Sie bitten, mir Ihre Lebensgeschichte zu erzählen, alle Erlebnisse die Ihnen heute einfallen. Sie können sich dazu soviel Zeit nehmen, wie Sie wollen. Ich werde Sie nicht unterbrechen. Mich interessiert alles, was Ihnen wichtig ist.“

Diese Vorgehensweise basiert zu großen Teilen auf Rosenthal und FischerRosenthals (Fischer-Rosenthal/Rosenthal 1997, Rosenthal/Fischer-Rosenthal 2000) Begriff der „freien Assoziation“. Als Hauptprinzip müssen dabei auch in einer anschließenden Nachfragephase offene Fragen gestellt werden, welche „Warum“, „Wo“ und „Wann“-Fragen vermeiden. Auch Wertungen (z.B.: „Oh, das muss aber schwer für Sie gewesen sein“) werden vermieden. Während die genannten Autoren mit dieser Methode in ihren Analysen Familienbiographien im Kontext der Geschichtswissenschaften rekonstruieren, legte ich den Schwerpunkt auf Formen der Selbstrepräsentation in der Erzählung. Besonderes Augenmerk wurde damit auf jene Stellen der Transkripte gelegt, in denen die Interviewpartnerinnen auf sich selbst als Subjekte Bezug nehmen, wobei folgende Kriterien untersucht wurden: 120

Auf welche Kategorien beziehen sich die verschiedenen Erzählflüsse? Wo kommt es zu Widersprüchen und Brüchen? Wie fließen soziale und politische Zusammenhänge in Österreich in die Erzählungen ein? 3.2. Zwei autobiographische Interviews Im Folgenden werden erste Ergebnisse zwei autobiographischer Interviews mit zwei Frauen in Wien, geführt zwischen Januar und Juli 2005, vorgestellt. Diese wurden nach Kategorien der Selbst- und Fremdzuschreibung sowie auf Hinweise zu den jeweiligen sozialen und politischen Gegebenheiten untersucht. Als Ergebnisse sind sie bruchstückhaft, denn für die Anlage der Untersuchung wurden die autobiographischen Erzählungen als „diskursives Moment“ verstanden. Es wurde davon ausgegangen, dass die Interviewpartnerinnen ein gewisses „Repertoire“ an möglichen Erzählungen haben, von denen jede tatsächlich erzählte Version eine Auswahl darstellt. Es wurde ein insgesamt neunstündiges Interview mit Dora4 (29 Jahre alt) geführt, einer seit vier Jahren in Wien lebenden Bulgarin, die nach eigenen Worten aus der oberen Mittelschicht Bulgariens stammt. Das zweite Interview über insgesamt drei Stunden und dreißig Minuten wurde mit Shanti (29 Jahre alt) geführt, geboren in Österreich, allerdings mit einem asiatischen Elternteil. Shanti wurde in ihrer Kindheit in Österreich eingebürgert, sie kommt nach eigenen Worten aus der Mittelschicht Österreichs. Die Transkripte wurden zu Beginn nach inhaltlichen Elementen geordnet: Ereignisse/Situationen, Lebensstationen in chronologischer und nichtchronologischer Reihenfolge, „Haupt- und Nebenrollen“ bei Personen, „Haupt- und Nebenschauplätze“ bei Orten, Anfänge und Enden der Geschichten. Jede Erzählung wurde in den jeweiligen sozialen und politischen Kontext eingebettet, was wiederum bedeutet, dass die jeweilige Stimme, die uns die Geschichte erzählt, auch in Zusammenhang mit diesem gesehen werden muss. Zusammengefasst lässt sich festhalten, dass die Erzählungen der beiden Interviewpartnerinnen für die vorliegende Untersuchung einerseits als Ausschnitte ihrer Interpretationen der Welt in einem konkreten Ort und zu einem konkreten Zeitpunkt in Wien zu sehen sind. Zum anderen präsentiert die Erzählerin eine spezifische „Version“ ihrer selbst zu einem bestimmten Moment an einem bestimmten Ort. Das bedeutet, dass selbst das autobiographische Interview in einer anderen Konstellation und zu einem anderen Zeitpunkt einen 4

Diese Namen sind anonymisiert, sie wurden von den Interviewpartnerinnen selbst gewählt.

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anderen Verlauf nehmen würde. Im Folgenden werden einige der DifferenzKategorien, auf die die Interviewpartnerinnen Bezug genommen haben, kurz dargestellt. 3.3. Die Kategorie Geschlecht Geschlecht ist eine Kategorie, die den wenigsten Leuten „bewusst“ ist, da sie eine sehr normierende und dominante Strukturkategorie5 darstellt, die nicht aktiv hinterfragt wird. Shanti scheint eine Ausnahme zu sein, denn für sie sind Geschlechtsidentitäten ein zentrales Thema in ihrem eigenen Leben. Das bedeutet, dass Shanti das Thema „Geschlecht“ in ihren Erzählungen von sich aus anspricht. Exemplarisch hier folgende Ausschnitte, in denen sie in einer längeren Sequenz über die Entscheidung und die Folgen des Abschneidens ihrer Haare 1996 spricht: „... Also es war auch ein wichtiger Schritt für mich, der auch sehr viel irgendwie aufgeworfen hat eben zum Beispiel am Klo auf einmal diesen ganzen Blödsinn rennen zu haben, das hat mich schon sehr getroffen zum Teil, na eigentlich meistens, also es war nie so, dass ich mir gedacht habe ha ha, lustig, irritier ich da irgendwelche Leute, sondern es war einfach irgendwie total für mich einfach irritierend, also ich habe mich dann auch gefragt irgendwie ob sich Weiblichkeit nur durch die Länge der Haare irgendwie bestimmen lässt oder so, oder ich denke, dass viele Leute danach gehen, (...)“

Seither hat Shanti zwar mehrere Haarlängen ausprobiert, es passierte ihr aber immer wieder, dass Frauen sie auf Toiletten als „fehl am Platz“ einordneten: „... es ist mir vor einem Monat auch schon wieder zweimal passiert oder so aber ich versuche jetzt dann einfach, also ich habe mir da so ein paar Antworten überlegt, die ich auf diesen, weil ich bin dann meistens total baff, weil ich mir dann denk: he, also jetzt kann man mich wirklich nicht mehr für einen Typen halten, oder ja, so denk ich mir, die Leute sind ja wirklich komplett bescheuert, keine Ahnung wonach die gehen.“

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Es gibt diesbezüglich zumindest zwei Thesen, bzw. Pole innerhalb der heutigen Geschlechterforschung: Geschlecht als Strukturkategorie der sozialen und politischen Ordnung, die alle Bereiche durchdringt und Geschlecht als soziale Konstruktion, die im Alltag immer wieder neu hergestellt wird („doing gender“), wonach alle Vorstellungen und Konzepte des biologischen Körpers nicht „natürlich“ gegeben sind, sondern Produkte von historischen, politischen und kulturellen Interpretationen (diskurstheoretisch: der Körper ist als Leib nur als wahrgenommen sozial relevant). Beide Herangehensweisen schließen sich nur bedingt aus bzw. ergänzen sich streng genommen, können sie doch als verschiedene Perspektiven auf dasselbe Phänomen betrachtet werden.

Es ist für sie persönlich ein verletzendes und ärgerliches Erlebnis; solche Szenen haben sich im Laufe ihres Lebens wiederholt: „... dass ich eben viele Jahre, nachdem das passiert ist, dann sind sie halt wieder gewachsen, dann habe ich Dreads gehabt, dann habe ich sie wieder abgeschnitten vor einem Jahr oder so und dann ist das Gleiche wieder passiert und immer noch habe ich mich oft total geärgert oder (war) verletzt oder so, und ich weiß nicht warum, weil eigentlich ist das ja total super ich beschäftige mich ja voll damit irgendwie auf theoretischer Ebene und diese einfach diese ich weiß nicht Gender-bending Sachen oder so, das finde ich total spannend, aber wenn es dann um mich geht, dann fühle ich mich als Person in Frage gestellt auf gewisse Art und Weise, also dann irgendwie so dieses Normalisierende, dieses Abgrenzende wenn einfach irgendeine komische Frau sich herausnimmt, mich nicht als Frau zu erkennen oder zu bezeichnen.“

Für Shanti stellt Geschlecht eine zu hinterfragende Kategorie dar, sie fühlt sich verletzt, weil andere Menschen ihr Geschlecht „von außen“ determinieren und ihr damit die eigene Definitionsmacht über ihre Identität absprechen. Dora hingegen spricht die Kategorie Geschlecht nicht explizit an, außer in Abgrenzung zu ihrem Bruder, der einen sehr großen Teil ihrer Erzählungen bestreitet: Dora konstruiert ihren Bruder in den meisten der Erzählungen als unterschiedlich zu ihr selbst. Zu Beginn der Eingangsphase nimmt sie darauf Bezug, dass er ein Junge sei, und deshalb anders: „...weil er ein Junge ist, und die Jungen sind immer so, die können nicht so viel erzählen, und so, detaillierte Informationen geben ... “ Zweitens kommt der Bruder kommt in den Darstellungen, im Gegensatz zu ihr, auch besser mit dem kapitalistischen System zurecht. Er hat den größten Teil seines Lebens im post-kommunistischen Bulgarien verbracht6, in ihren Worten ist er daher „ziemlich verschieden“ von Dora: „Er ist so erzogen in der neuen Zeit, genau die Realität von ganz jung, was die Realität ist, worum es geht wirklich so die erste Phase vom Kapitalismus und er ist ziemlich verschieden von mir eigentlich.“

Es kommt zu weiteren Kontrastierungen: „Und er hatte nie Freude beim Bücher lesen oder irgendwie zu Hause zu lernen und sich zu beschäftigen mit irgendwas, er war immer auf den Straßen mit den ganzen so bulgarische

6

„Weil er ist von dieser neuen Generation Bulgarien, also er hat das meiste seines Lebens schon im- nach der Wende verbracht also er war acht Jahre alt oder so, als sich alles so umgestellt hat mit dem wir hatten keine Revolution in dem Sinn, es war, wir haben es immer genannt unblutige Revolution, Velvet Revolution oder so und ehm…“

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Fahnen, weil es gab so viele Demonstrationen und auch solche wie große Konzerte vor dem Parlament und alle diese Meetings von verschiedenen Parteien und er ist dort aufgewachsen.“

Im Gegensatz zu ihm blieb Dora sehr wohl lieber zu Hause, las Bücher, „ist korrekt und pünktlich“. Wenn sie an etwas arbeitet, bleibt sie bei der Sache. Sie erwähnt zum Beispiel, dass sie oft die Literaturhausarbeiten ihres Bruders schreiben musste, oder erzählt, wie er ihre Schiausrüstung zerstörte. Ein Beispiel zu dieser neuen Form der Kontrastierung: “(...) dass, was immer er macht, er ist, er übertreibt ein bisschen, wie es ist von den Leuten, das Gegenteil wie ich. Zum Beispiel weil ich bin immer so, immer korrekt, pünktlich, ich meine ich, wenn ich mich mit einem Projekt beschäftige oder etwas, das ich anfange, oder immer wenn andere Leute auch so irgendwie verbunden mit der ganzen Geschichte sind, ich mache das so, dass ich immer mit allen Leuten korrekt bin und nicht alles zerstören wegen kleinen Fehlern und alles, und er ist das Gegenteil, er denkt dass – oh ja – wenn ein Problem sich ergibt, dann ich löse, ich denke danach, ich meine, warum muss ich mich jetzt damit beschäftigen, sein Motto ist, es gibt auf Englisch eine Sprichwort: Don’t trouble the trouble, until the trouble troubles you.(lacht)“

In der Folge wird der jüngere Bruder in einer Sequenz, in der von seiner Unzuverlässigkeit und dem Scheitern aufgrund seines „kindischen Enthusiasmus“ die Rede ist für sein Verhalten kritisiert.7 Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass Dora sich selbst in ihren Erzählungen in Differenz zu ihrem um sechs Jahre jüngeren Bruder konstruiert. Er ist, was sie nicht ist: Zum einen ist er ein Junge, daher könne er sich Unzuverlässigkeiten leisten. Damit spricht sie die Rollenkonstruktionen in der Kategorie Geschlecht explizit an. In der Folge unterstreicht sie diese Differenzierung mit mehreren Geschichten darüber, dass sie ihm immer seine Hausarbeiten geschrieben habe, ihre Mutter ihm heute noch regelmäßig Geld aus Bulgarien nach Holland, wo er lebt, schicke, er immer wieder seine Flugtickets verloren habe etc.

7

124

„Mein Bruder hat ein e-Mail geschrieben letzte Woche und meine Mutter hat es mir weitergeleitet, es war Wahnsinn. Er wohnt in Amsterdam und er ist auch ziemlich verwirrt was er tun muss und über, weil er studiert gerade, aber er wollte auch zurück nach Bulgarien kehren um viel Geld zu verdienen, ich weiß nicht, mit irgendwelchen Investitionen von Holland, dass die so etwas wie ein Real Estate Bureau in Bulgarien machen und Dörfer, ganze Dörfer so verkaufen zu den Ausländern und blablabla und ja, für Holländer wahrscheinlich ist es gut im Gebirge ein Haus zu kaufen, weil die haben überhaupt kein Gebirge dort, aber ich weiß nicht. Aber das alles, das ganze war nur so, kindischer Enthusiasmus und nach zwei Wochen ist er zurück nach Holland wieder.“

In einem weiteren Schritt erklärt Dora ihre eigene, schwierige ökonomische Lage wieder im Kontrast zu ihrem Bruder. Der jüngere Bruder käme, im Gegensatz zu ihr mit dem kapitalistischen Weltsystem viel besser zurecht. Dies deshalb, weil er, im Unterschied zu ihr, nicht die „alten Werte“ des Kommunismus in sich trage. 3.4. Die Kategorie Klasse Dem Begriff „Klasse“ hängt im Deutschen ein etwas überholter Beigeschmack an, anders als im Englischen (vgl. Knapp 2005), und deshalb wird er im Folgenden durch „sozialer Status“ ersetzt. In Doras Erzählungen ist der soziale Status ein zentraler Referenzpunkt, welcher sich durch die Umbrüche in Osteuropa und ihre darauf folgende Migration nach Wien verändert hat: Sie kommt, in ihren eigenen Worten, aus der „Intelligentia“ Bulgariens. Sie verwendet diese Bezeichnung zunächst, um zu zeigen, dass sie die damit verbundenen Werte – sie liebt es zu studieren und sich zu bilden – verinnerlicht hat und dass in den Zeiten des Kommunismus ihre Familie große Vorteile hatte. Darüber hinaus kontrastiert sie diese Werte mit denen des heutigen Bulgariens, wo Bildung an Wert verloren habe und durch den Drang nach Reichtum und Geld ersetzt wurde. An mehreren Stellen distanziert sie sich von den Neureichen und den korrupten Geschäftemachern Bulgariens. Bei Shanti wird der soziale Status erst erwähnt, als es zu Erzählungen über die Wahrnehmung ihrer Person durch fremde Dritte im öffentlichen Raum kommt. Viele dieser Personen würden in ihr nur die „Ausländerin“ wahrnehmen. Manche gingen nicht davon aus, dass sie überhaupt deutsch verstehe, geschweige denn ihre Herkunft in einer seit vielen Jahren in Österreich lebenden, so genannten „Mittelschichtfamilie“ habe. 3.5. Die Ethnisierung anderer Doras Erzählungen werden durchmischt mit weiteren Differenzierungen, und zwar besonders in den Interviewpassagen, in denen sie sich als Bulgarin, im Kontrast zu Romas und Sinti und der türkischen Minderheit Bulgariens setzt: „Wir waren 9,2 Millionen Leute sind im Ausland und ich weiß nicht was in 10 Jahren sein wird. Da sind wir vielleicht nur 5 Millionen, oder so. Und das Problem ist, dass alle Bulgaren flüchten und es gibt einige, die bleiben und sich multiplizieren (…) Wir haben eine kleine türkische Minderheit und auch die Zigeuner, die jetzt es, wir nennen sie Roma, das ist der politisch offizielle Name von den Zigeunern in Bulgarien, und das ist eigentlich fürchterlich, weil in 10 Jahren wird es in Bulgarien vielleicht nur noch Zigeuner und türkische Minderheit, ich

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weiß nicht, es ist so, es wird demographisch so gewechselt und es wird nicht so viel leichter Bulgarien als ethnische Angehörigkeit geben, weil die meisten sind im Ausland, die anderen haben keine Kinder, oder wollen überhaupt keine Kinder, weil die wissen nicht, wie es gehen wird, in den nächsten Jahren, ob man es finanziell schaffen kann Kinder zur Welt zu bringen und danach ausbilden und alles.“

Dora empfindet die ethnischen Minderheiten in Bulgarien als Bedrohung für die bulgarische Bevölkerung, denn sie würden diese bald demographisch verdrängen. In Bulgarien nahm Dora aufgrund ihres ökonomischen Status und ihrer Zugehörigkeit zur bulgarischen Mehrheit eine relativ privilegierte Stellung ein, aufgrund ihrer Migrationssituation in Wien ist Dora aber nun mit einer neuen Situation konfrontiert. Obwohl sie sehr gut deutsch und vier weitere Sprachen spricht, unter anderem zwei Jahre in den USA die High School besucht, außerdem ein Studium absolviert hat und zur Zeit in Wien Jura studiert, gehört sie aufgrund der österreichischen Ausländergesetzgebung nicht zum hegemonialen Teil der Bevölkerung. Als „Nicht-Österreicherin“, die keine Arbeits- oder Beschäftigungsbewilligung hat, ist sie gezwungen, „schwarz“ zu arbeiten, als Kellnerin, auf Weihnachtsmärkten und als Zettelverteilerin. Um ihr StudentInnenvisa jährlich verlängern zu können, muss sie weiterhin studieren und „Scheine“ nachweisen, was für sie ebenfalls einen erheblichen Mehraufwand, zusätzlich zu den Studiengebühren und sonstigen Lebenskosten, bedeutet. 3.6. StaatsbürgerInnenschaft und Ethnisierung durch andere Shanti hingegen besitzt die österreichische StaatsbürgerInnenschaft bereits seit ihrer Kindheit. Sie ist rechtlich den ÖsterreicherInnen gleichgestellt. In ihren Erzählungen wiederum liegt ein Schwerpunkt eher auf der unterschiedlichen Behandlung aufgrund ihrer dunkleren Hautfarbe. In ihrer Kindheit war sie noch mit österreichischen Alltagsrassismen aufgrund ihrer dunkleren Hautfarbe konfrontiert: „...so hat dann irgendein Bekannter von diesem Freund so laut gesagt ’ja und was macht dieser Pekinese da?’ oder so halt zum mir, ich kann mich wirklich sehr gut dran erinnern, aber mein Freund hat dann gesagt nachdem ich ihm das erzählt habe, ’nein das hat er nicht gesagt’, aber ich glaube schon, also, das war auch nicht sehr angenehm.“

Heute ist sie zusätzlich mit Exotismus und Exotinnenstatus konfrontiert: „...aber dann frage ich mich halt auch, wie ich so irgendwie eingeordnet werde, also jetzt bezüglich meiner Hautfarbe, (...) also mir kommt vor, dass so rassistische Bemerkungen und

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so hauptsächlich in meiner Kindheit passiert sind und jetzt habe ich halt irgendwie so, mehr so den Exotinnenstatus, weil ich nicht leicht einzuordnen bin glaub ich, leider oder auch nicht (lacht) „Inderinnen“, aber dann ist es halt was anderes, das finde ich auch so supergschissen, als wenn ich jetzt aus der Türkei wäre oder sonst irgendwie dunkles, so ‚ha Indien und toll’ und so dieser komische Blick, und dann lande ich immer wieder in diesem Eck, wo ich mir denke, ja, was hat das alles überhaupt mit mir zu tun und irgendwie hat es aber schon was mit mir zu tun.“

4.

Schlussfolgerungen

Schlussfolgernd bleibt festzuhalten, dass Geschlechteridentitäten nicht nur vom Geschlechterverhältnis bestimmt werden, sondern gleichzeitig auch durch das Zusammenspiel mit anderen Kategorien. Durch die obigen Auszüge aus narrativen Texten lässt sich erkennen, wie die Handlungen der einzelnen Akteurinnen durch strukturelle Bedingungen eingeschränkt werden können: Dora ist in Österreich mit politischen und institutionellen Barrieren konfrontiert, die ihre Handlungsmöglichkeiten einschränken. Sie findet keine legale Arbeit und ist für die jährliche Verlängerung ihrer Aufenthaltsbewilligung gezwungen, immer weiter zu studieren. Shanti kennt solche Barrieren zwar nicht, ist allerdings in ihrem Leben in Österreich mit anderen gesellschaftlichen Phänomenen konfrontiert: Zum einen mit Alltagsrassismen und Exotismen aufgrund ihrer dunkleren Hautfarbe, zum anderen mit Heterosexismen wie oben am Beispiel der öffentlichen Toilettenszenen. Für die eingangs entwickelte Fragestellung „Wie werden Differenzen wirksam?“ lässt sich Folgendes schließen: Erstens stellen beide Frauen unterschiedliche Differenzkategorien in ihren Erzählungen in den Vordergrund. Diese Differenzkategorien sind für sie in ihrer jeweiligen Erzählung an einem konkreten Ort und zu einer konkreten Zeit und in der Interaktion mit mir wesentlich gewesen. Das heißt, an einem anderen Ort zu einem anderen Zeitpunkt mit einer anderen Interviewerin oder einem Interviewer wären die spontanen Erzählungen voraussichtlich anders verlaufen. Zweitens eröffnen selbst die wenigen Differenzkategorien, die hier vorgestellt wurden, bereits ein komplexes System von Überschneidungen und Zusammenhängen. Die möglichen Kombinationen und Wirkungsweisen sind damit unendlich. Drittens zeigt sich, wie singuläre Stränge der Differenzen fassbar gemacht werden könnten. Diese hängen besonders von Forschungsfrage und Anlage der Untersuchung ab. Einige Fragen mussten dabei offen bleiben, etwa: Wie können wir jene Themen, die nicht angesprochen wurden fassbar machen? Wie wichtig sind sie 127

und warum wurden sie nicht angesprochen? Entweder waren diese Themen nicht wichtig für die Personen und nicht präsent in dieser bestimmten Situation der Erzählaufzeichnung oder sie waren zu vertraulich für die Interviewsituation. Auch die Differenzen in Relation zum Gegenüber, der Interviewerin oder dem Interviewer, was Herkunft, Klasse, StaatsbürgerInnenschaft etc. betrifft, scheinen ebenfalls gesprächsbestimmend zu sein. Ihre Wirkungsweisen wären im Rahmen einer fixen Interviewsituation mit unterschiedlichen InterviewerInnen testbar. Damit eine umfangreichere Bandbreite an Geschlechterkonstruktionen untersucht werden könnte, müssten auch parallel Interviews mit männlichen Gesprächspartnern als „Kontrollgruppe“ kontrastierend durchgeführt werden. Was die Intersektionalität von Differenzachsen betrifft, so ist das kleine „Und-so-weiter“ in der Tat unendlich. Darum ist es unmöglich, politisch korrekt alle durch Differenzkonstruktionen Marginalisierten einzubeziehen, da jeder Einschluss in eine Gruppe sofort Ausschlüsse aus „anderen“ bedeutet. Es können nicht alle Differenzen analytisch gleichzeitig berücksichtigt werden, sondern nur Teile und einzelne Ausschnitte. Das war Ziel der vorliegenden Untersuchung. Die Überschneidungen und unterschiedlichen Bedeutsamkeiten von Differenzen haben Folgen für die politischen Ziele von Antidiskriminierungspolitiken. Antidiskriminierungspolitik ist nicht auf multiple Unterdrückungsformen zugeschnitten. Sie ist jeweils nur auf konkrete, homogene Gruppierungen zugeschnitten, die bestimmte Eigenschaften aufweisen (Frauen oder MigrantInnen oder Menschen mit Behinderung, usw.). Damit werden nicht nur die Unterschiede innerhalb dieser Gruppen negiert, es wird auch davon ausgegangen, dass alle Kategorien der Differenz gleich beschaffen sind. Die Kategorien Ethnizität, Geschlecht, sozialer Status und so weiter haben völlig unterschiedliche Konzeptionen, Normierungen und Konstruktionsgeschichten (vgl. Verloo 2006: 217ff.) Dennoch, um politische Forderungen stellen zu können, müssen sich Gruppierungen aufgrund einer gemeinsamen Basis formieren und strategische Allianzen bilden. Damit sind sie aus strategischen Gründen zu zumindest „temporären Essentialismen“ (vgl. Benhabib 1999: 24) gezwungen. Dahingehend kommt es auch zu Konkurrenzen zwischen Gruppen um die knappen finanziellen Ressourcen öffentlicher Zuwendung. Seit 2001 wird in der Gleichstellungspolitik ein neuer Begriff für „Diversität“ verwendet: Management for Diversity. Dieser stammt aus Großbritannien, wo man nach langen Jahren staat-

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licher Antidiskriminierungspolitik8, die entweder an Frauen (weiß) oder Migranten (männlich) adressiert war; im Oktober 2003 die „Commission for Equality and Human Right“ (CEHR) unter dem Slogan „Equality and Diversity, making it happen“ gründete.9 Der „neue“ Diversity-Begriff aus Europa hat unter Bedingungen des globalen Marktes eine andere Bedeutung als jener, den die Black Feminists in den USA Mitte der 1980er Jahre initiiert haben und der mit dem Konzept der intersections von Identitäten und Differenzen verbunden ist. Das heutige Diversity Management wird des Öfteren für seine Fokussierung auf die Nutzbarmachung der positiven Seiten von heterogenen Diversitäten für Firmen und Unternehmen nach Profitinteressen kritisiert. Damit bringen uns die Debatten um den neuen Diversitätsbegriff wieder zurück zum Gleichheitsansatz in der feministischen Theoriebildung: Kulturelle und sonstige Differenzen, so ein Postulat, können jedoch nur auf Basis von sozialer und ökonomischer Gleichheit, auf Basis der gerechten Verteilung von Ressourcen fair ausgehandelt werden (vgl. Fraser 1997: 107ff.). Alle Ansätze, die versuchen, Gender mit anderen Differenzkategorien in Verbindung zu bringen, rücken Gender zwar aus dem Fokus, daraus resultiert aber nicht die Ablösung durch eine andere Kategorie. Vielmehr bestimmen wietere Differenzen die spezifische Geschlechtsidentität einer Person in einem spezifischen Moment in Zeit und Raum mit. Dies zu zeigen, war Ziel der vorliegenden Untersuchung. Literatur Amesberger, Helga/Halbmayr, Brigitte (1998): Rassismen. Ausgewählte Analysen Afrikanischamerikanischer Wissenschafterinnen. Studienreihe Konfliktforschung 12. Wien: Braumüller Benhabib, Seyla (1999): Kulturelle Vielfalt und demokratische Gleichheit. Politische Partizipation im Zeitalter der Globalisierung. Frankfurt am Main: Fischer Taschenbuch Benmayor, Mina (Hrsg.) (1994): Migration and Identity. International Yearbook of Oral History and Life Stories 3. Oxford: Oxford University Press Bohnsack, Ralf (1993): Rekonstruktive Sozialforschung. Einführung in Methodologie und Praxis qualitativer Forschung. Opladen: Leske+Budrich Butler, Judith (1990): Gender Trouble: Feminism and the Subversion of Identity. London: Routledge Cicourel, Alain (1973): Cognitive Sociology: Language and Meaning in Social Interaction. New York: Free Press

8 9

Staatliche Institutionen hierfür sind in Großbritannien die „Commission for Racial Equality“ oder seit 1997 die von Tony Blair eingerichtete „Women and Equality Unit“ (WEU). http://www.eoc.org.uk/cseng/abouteoc/equalityscheme.asp

129

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130

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Flop oder Top – wohin steuert universitäre Gleichstellungspolitik? Julia Neissl

Der Titel meines Beitrags enthält auf semantischer Ebene bereits zentrale Reizwörter, entlang derer auch meine Ausführungen aufgebaut sind: Ich beschäftige mich im Folgenden mit der Frage nach den neuen Rahmenbedingungen universitärer Gleichstellungspolitik beziehungsweise der Frage nach der Chancengleichheit für Frauen und Männer an Universitäten durch das österreichische Universitätsgesetz 2002. Eines der zentralen Kultur verändernden Merkmale ist dabei die Autonomie der Universitäten, die mit einer Stärkung des „Top“ – das heißt des Rektorats – mit seiner Managementfunktion einhergeht und dafür im Verhältnis von Staat und Universität, aber auch innerhalb der Universität neue Steuerungsinstrumente vorsieht. Eines dieser Steuerungsinstrumente sind die inneruniversitären Zielvereinbarungen. Parallel dazu ist die Entwicklung von Gleichstellungspolitik zu sehen und die Veränderungen der AkteurInnen in Bezug auf die Verantwortlichkeit, die sich unter anderem in den Zielvereinbarungen zeigt, wobei es hier in der Entscheidung, „ob Flop oder Top“ auch um das Ausloten neuer Handlungsweisen und Spielräume im Sinne der Gleichstellungspolitik gehen wird. 1.

Gesetzliche Rahmenbedingungen für universitäre Gleichstellungsarbeit nach dem österreichischen Universitätsgesetz 20021

Grundlage der derzeit stattfindenden Kulturveränderungsprozesse an den österreichischen Universitäten ist das Universitätsgesetz 2002, das mit 1.1.2004 in Kraft getreten ist. Mit der Reform wurde ähnlich wie im benachbarten Deutschland die Autonomie der Universitätsstandorte umgesetzt und die staatliche Steuerung auf ein Minimum reduziert. Da das Bundesministerium für Bildung, Wissenschaft und Kultur jedoch weiterhin die Budgetverhandlungen mit den Universitäten führen wird, ist die Einführung neuer Steuerungsinstrumente sowohl 1

Die Gesetzesangaben und Erläuterungen beziehen sich auf die Ausgabe von Seböck 2002.

133

zwischen Staat und Universitäten als auch innerhalb der Organisationen selbst gesetzlich verankert worden. Diese Steuerungsinstrumente haben in Bezug auf die Frage nach der Umsetzung von Gleichstellung eine hohe Relevanz, wenn sie Indikatoren und Kriterien umfassen, deren Nichterfüllung spürbare – und das heißt in der Regel budgetäre – Konsequenzen für die Universitäten nach sich ziehen. Im Universitätsgesetz 2002 finden sich an unterschiedlichen Stellen diesbezügliche Verweise. Gleich unter den leitenden Grundsätzen UG 2002 §2 (9) wird die Gleichstellung von Frauen und Männern als Aufgabe der Universitäten definiert. Unter den Aufgaben der Universitäten findet sich dabei die Ergänzung der „Frauenförderung“ [UG 2002 § 3 (9)] und in den Erläuterungen zu diesem Gesetzespassus wird ausgeführt, dass es zentrales Anliegen in der Diskussion der Regierungsvorlage war, Gleichstellung als Aufgabe der Universitäten zu verankern und damit zum Teil der Leistungsvereinbarungen, das heißt der vertraglichen Vereinbarung zwischen BMBWK und Rektorat, zu machen: „Sie [= die Gleichstellung, J.N.] ist damit auch Gegenstand der Leistungsvereinbarungen und kann zu entsprechenden positiven oder negativen Konsequenzen bei der oder den nächsten Leistungsvereinbarung/en bei der Bemessung des Universitätsbudgets führen.“ (Erläuterungen zum UG 2002 § 3 Z 9) Zur weiteren Konkretisierung ist dazu auch im Paragraphen über die Leistungsvereinbarung (UG 2002 §13 (2) a-f) nachzulesen, welche sechs inhaltlichen Bereiche in jedem Fall Teil der Leistungsvereinbarungen sein werden: Neben der jeweiligen strategischen Ausrichtung (Profil, Ziele, Universitäts- und Personalentwicklung), der Forschung, den Studien, der Erhöhung der Internationalität/Mobilität und der interuniversitären Kooperationen sollen auch die gesellschaftlichen Zielsetzungen Bestandteil der Vereinbarung sein: „Die Universität hat ihren Beitrag zur Entwicklung der Gesellschaft zu formulieren. Dazu zählen unter anderem Maßnahmen zur Erhöhung des Frauenanteils in leitenden Funktionen der Universität.“ (UG 2002 § 13 (2) d) Aus dieser Formulierung ergeben sich freilich vor allem in Verbindung mit den geltenden Grundsätzen des Gender Mainstreaming mehr Fragen als Antworten. Waren die Formulierungen zur Gleichstellung und Frauenförderung sowohl bei den leitenden Grundsätzen als auch bei den Aufgaben sehr offen formuliert, so hat sich hier eine Konkretisierung in Form von messbaren Ergebnissen eingeschlichen, die einen sehr verengenden Blick auf die Thematik mit sich bringt. Abgesehen von der Frage nach der Definition von leitenden Funktionen würde damit weder der Frauenförderung in ihrer Bandbreite und unter Berücksichtigung unterschiedlicher Realitäten nach Standorten, Fakultäten und Disziplinen Rechnung getragen noch die strukturellen Rahmenbedingungen und Auswirkungen auf die Geschlechterverhältnisse ins Auge 134

gefasst, was jedoch unter der zu verfolgenden Strategie Gender Mainstreaming unumgänglich ist. Des Weiteren sind die Strukturen für universitäre Gleichstellungsarbeit, aber auch für Geschlechterforschung gesetzlich geregelt. Die Satzung (UG 2002 § 19 Z 5-7) hat die Zusammensetzung der Arbeitskreise für Gleichbehandlung zu regeln, einen Frauenförderungsplan zu erlassen sowie die Einrichtung einer Organisationseinheit zur Koordination der Aufgaben der Gleichstellung, der Frauenförderung sowie der Geschlechterforschung zu veranlassen. Ausführlich widmet sich dann der dritte Abschnitt des organisationsrechtlichen Gesetzestextes der Gleichstellung von Frauen und Männern (vgl. UG 2002 § 41-44). Zusammenfassend lässt sich sagen, dass zwar einerseits auf eine stärkere Verankerung der Gleichstellung im Gesetz geachtet wurde und mit Hilfe der neuen Steuerungsinstrumente wie Leistungs- und Zielvereinbarungen Managementtools in die „Expertenorganisationen“ (Pellert 1999) Einzug gehalten haben, die explizit auf Indikatoren zum Faktor Gleichstellung mit Sanktionen und Anreizen verweisen, andererseits jedoch die konkreten Formulierungen befürchten lassen, dass hier Gleichstellung, Gender Mainstreaming und Frauenförderung auch Begriffe sind, hinter denen verschwommene Ziele stehen und am eindeutigsten der Blick auf die Unterrepräsentanz von Frauen in leitenden Funktionen gerichtet wird. Dabei ist zu befürchten, dass die strukturellen Dimensionen, die Vielschichtigkeit von Frauenförderung sowie die Querschnittaufgabe Gender Mainstreaming ins Abseits gedrängt werden. 2.

Organisationsentwicklung und Gender Mainstreaming an österreichischen Universitäten

Das neue Universitätsgesetz 2002 wird unter anderem den Wettbewerb zwischen den Hochschulen, so ist es zu erwarten und auch intendiert, weiter verstärken. In diesem Wettbewerb werden die Personalstruktur, die Personalentwicklung und ihre organisationskulturelle Einbettung bedeutsamer, da die Profilierung der einzelnen Hochschulen auch von der Leistungsfähigkeit ihrer Mitglieder abhängt (vgl. Metz-Göckel 1999). Die zunehmende Eigenverantwortung der Universitäten für die Qualitätssicherung wird an Bedeutung gewinnen und es gilt, die Leistungsfähigkeit der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter zu erkennen und anzuerkennen. Neben anderen Argumenten (Beschäftigtenstruktur, Systemflexibilität, Personal-Marketing) ist vor allem darauf Bedacht zu nehmen, dass sowohl die weiblichen Beschäftigten als auch Frauen- und Gleichstellungsbeauftragte, die am Prozess der Modernisierung beteiligt werden, wich135

tige Bündnispartnerinnen für die Kräfte sein können, die diesen Veränderungsprozess vorantreiben. Die Gleichstellungspolitik hat in den letzten Jahren mit dem Prinzip Gender Mainstreaming strategisch neue Wege beschritten. Gender Mainstreaming zu implementieren meint ein „integrativ ausgerichtetes Konzept, das Geschlechterfragen aus der Randständigkeit und Besonderung herauslöst und zum selbstverständlichen Bestandteil aller Betrachtungsweisen und Prozesse macht. Gender wird darin zu einer Kategorie, mit der die organisationalen Entscheidungsund Steuerungsprozesse geprüft werden.“ (Kahlert 2003: 47) Zentrales Kennzeichen der Realisierung von Gender Mainstreaming ist die Definition als Querschnittsmaterie in zentraler Verankerung und der Verantwortung, die bei der Führungsebene ansetzt, um Prozesse top-down einzuleiten. Damit werden auch die Unterschiede zur bisherigen Frauenförderungspolitik deutlich. Deren Verankerung bzw. Verantwortung lag an Universitäten bislang bei Gremien (zum Beispiel Arbeitskreise für Gleichbehandlung) beziehungsweise Verwaltungseinrichtungen mit unterschiedlicher struktureller Anbindung (ehemals Koordinationsstellen für Frauenförderung und Frauen-/Geschlechter-forschung) oder bei einzelnen Initiativen, die häufig über Projektgelder finanziert wurden. Mit der Verantwortlichkeit für Gleichstellung auf der Führungsebene und dem durch die Leistungsvereinbarungen zwischen Universitäten und Bundesministerium vorgegebenen Ziel der Gleichstellung werden die Vorgaben verbindlicher und – wenn sie an budgetäre Konsequenzen gebunden werden – auch stärker steuerbar. Sie betreffen die gesamte Organisation und bedingen damit auch einen Organisationsentwicklungsprozess. Ausgehend von der derzeitigen Situation an Universitäten wird also mit der Implementierung von Gender Mainstreaming und der Koppelung mit Frauenfördermaßnahmen als politischer Strategie (Doppelstrategie) das Ziel der Realisierung von Gleichstellung angestrebt. Insgesamt – das zeigt die teilweise sehr ausführliche Debatte und Analyse zur Situation an den deutschen Hochschulen (vgl. z.B. Kahlert 200; Baaken/Plöger 2002; Plöger 1998; Plöger/Riegraf 1998; Färber 1995) sind umfassende Reformprozesse, die den Zweck der Stärkung der Autonomie der Universitäten bei gleichzeitiger Einführung neuer Steuerungsinstrumente verfolgen, für einen Implementierungsprozess von Gender Mainstreaming günstig. In Anlehnung an modernde Managementverfahren (Organisationssteuerung über ergebnis- und leistungsbezogene Mittelvergabe, Bewertungs-, Kontroll- und Berichtswesen) werden Instrumente und Maßnahmen eingesetzt, die eng mit Organisationsentwicklungskonzepten zur Umsetzung von Gender Mainstreaming korrespondieren. (vgl. Kahlert 2003: 10) 136

3.

Zielvereinbarungen als „neues“ Steuerungsinstrument

Interne Zielvereinbarungen wurden als Steuerungsinstrument für Unternehmen in den 1950er und -60er Jahren in den USA entwickelt und erfreuen sich auch heute in der Privatwirtschaft unter dem Titel „MbO – management by objectives“ noch großer Beliebtheit. (vgl. Nickel 2001: 512) In den Reformen des öffentlichen Sektors (Verwaltungsreformen, Universitätsreformen) sind Tendenzen der Annäherung an privatwirtschaftliche Steuerungskonzepte in unterschiedlicher Hinsicht beobachtbar; eines davon ist die Ausrichtung an Organisationszielen mittels einer Steuerung über Zielvereinbarungen. Dabei soll eine Balance zwischen dezentraler Verantwortung und zentraler Steuerung hergestellt werden (vgl. KGSt-Bericht 1998: 11). Bezogen auf die Universitäten bildet sich dieses Steuerungsmodell auf mehreren Ebenen ab: zwischen dem Staat und der Universität, innerhalb der Universität zwischen dem Rektorat und den Fachbereichen/Instituten/Organisationseinheiten sowie auf der „kleinsten“ Einheit zwischen den Führungskräften und den einzelnen MitarbeiterInnen. Im Kontraktmanagement wird dabei auch von einer Kontraktkaskade gesprochen (vgl. KGSt-Bericht 1998: 8). „Dabei ist der Differenzierungs- und Konkretisierungsgrad von Kontrakten je nach Kontraktebene unterschiedlich. Der höchste Differenzierungs- und Konkretisierungsgrad liegt in den mit den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern in Zielvereinbarungsgesprächen vereinbarten Zielen.“ (KGSt-Bericht 1998: 8) Degethoff de Campos et al. (2002: 21) geben folgende grundsätzliche Definition für Zielvereinbarungen: „Über einen gemeinsamen Kommunikationsprozess der jeweiligen Akteure werden konsensuale Verträge zur Profilbildung von Fakultäten/Fachbereichen/Instituten abgeschlossen. Innerhalb eines bestimmten Zeitraums wird die Umsetzung festgelegter Ziele vereinbart. Die Bereitstellung finanzieller Mittel, die Einleitung von Maßnahmen oder die Schaffung bestimmter Rahmenbedingungen unterstützen das Erreichen und Verfolgen der vereinbarten Ziele.“

Das Festlegen von Zielen sowie deren Erreichungszeitraum sind eng gekoppelt an die Frage und Bedeutung von Controlling bzw. Evaluation zur Sicherstellung eines qualitätsorientierten Prozesses. Hier wird auch das Spezifikum der Bildungssysteme im Vergleich zur Privatwirtschaft sichtbar: „Der Maßstab für die Leistung einer Hochschule bezieht sich im Gegensatz zu privatwirtschaftlichen Zielen dementsprechend nicht auf den finanziellen Gewinn, sondern auf die Umsetzung strategischer und fachspezifischer Ziele, wie zum Beispiel die Erhöhung der For-

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schungsqualität oder die Erfüllung des Gleichstellungsziels.“ (Degethoff de Campos et al. 2002: 85)

Zielvereinbarungen, die als Steuerungsinstrument mit der Universitätsreform 2002 in Österreich erstmals Organisationsrelevanz bekommen, sind auch in Deutschland eine eher moderne Erscheinung, dennoch gibt es bereits erste Erfahrungswerte, insbesondere was die Integration von Gleichstellungszielen anbelangt. In den Diskussionen um die Hochschulreform haben hier Mitte der 1990er Jahre die Überlegungen bezüglich dieser neuen Form des Kontraktmanagements Einzug gehalten (vgl. Fangmann 2001: 508). Eng verknüpft sind dabei in Ablösung einer „Gremienkultur“ die „Professionalisierung des hochschulinternen Managements, [die eine] Stärkung der Leitungsorgane durch Übertragung von Verantwortung und Entscheidungsgewalt voraus[setzt]. Andererseits fördert sie aber auch den Einsatz moderner Instrumente der partizipativen Steuerung wie Ziel- und Leistungsvereinbarungen.“ (Fangmann 2001: 510) Der Einsatz interner Zielvereinbarungen ist dabei im Kontext der Gesamtentwicklung zu sehen, wo Wettbewerbsdruck und Konkurrenz zwischen den Standorten bewirken, dass es klare und unterscheidbare Profile für das Weiterbestehen braucht. Innerhalb einer stark ausgeprägten disziplinen- und expertisenorientierten Kultur verweist Nickel dabei aber auch auf die Herausforderung, vor denen die Universitäten in Österreich stehen: „Dazu müssen sie der starken Individualisierungstendenz ihrer Fachbereiche, Institute und Wissenschaftler/-innen zugunsten einer gemeinsamen Strategiebildung entgegenwirken. Das ist aufgrund der besonderen Organisationsstruktur der Hochschulen eher schwierig, da es sich um ‚loosely coupled systems‘ (lose gekoppelte Systeme; Weick, K.E. 1985; Reponen, T. 1999) handelt, also um Organisationen mit einem sehr vagen inneren Zusammenhang und einem hohen Grad an Dezentralisierung.“ (Nickel 2001: 514)

Müller-Böling/Schreiterer (1999: 18) beschreiben dieses Phänomen als „weitgehend unstrukturierte Selbstkoordination“. Die meisten Publikationen zur Hochschulentwicklung betonen das Spannungsfeld zwischen Freiheit der Wissenschaft und Autonomiebestrebungen des/der Einzelnen und der Steuerung einer Universität als Gesamtorganisation beziehungsweise der Möglichkeiten interner Kooperationen (vgl. Müller-Böling/Schreiterer 1999: 10). Die Herausforderung, der sich die höheren Bildungsanstalten stellen müssen, bedingt jedoch eine grundlegende Veränderung in der Haltung gegenüber Hochschulmanagement. Charakteristisch für Expertenorganisationen sei die hohe Identifikation mit der jeweiligen Profession, jedoch weniger mit der Gesamtorganisation: „Die mangelnde Identifikation mit der Organisation und deren Zielen führt auch dazu, 138

daß es wenig Engagement für die Interessen des Gesamten gibt. Organisation wird eher als notwendiges Übel angesehen, das man in Kauf nimmt, um an bestimmte Ressourcen gelangen zu können.“ (Pellert 1999: 167) Daraus ergibt sich in logischer Konsequenz ein Spannungsfeld für die Universitätsleitungen zwischen der Ausrichtung der einzelnen ExpertInnen an den Disziplinen und der Ausrichtung der Leitung an den Gesamtzielen der Universität, die durch die Umgestaltung in autonome Einrichtungen jedoch zunehmend an Bedeutung gewinnen. Durch gesetzliche Rahmenbedingungen wie beispielsweise einem Dienstrecht, welches in der Wirkung auf Sicherheit noch jahrelang das Bild der unkündbaren Dienstverhältnisse mit sich bringt, ist dabei ein sensibler Umgang mit Kulturveränderung notwendig: „Leitung sollte dabei nicht so sehr danach trachten, wie man eine Kultur verändert, sondern wie man die Stärken und Schwächen der vorhandenen Kulturen für die Ziele nützt.“ (Pellert 1999: 169) Die Frage wird dabei sein, wie sich dieser Befund auf die Verankerung von Gleichstellungszielen an Universitäten, bezogen auf den Umgang mit Organisationskultur, auswirkt. 4.

Chancengleichheit im Zuge von Zielvereinbarungen

Die Frauenbeauftragten der Berliner Universitäten haben zur Verknüpfung von Gleichstellungspolitik und Zielvereinbarungen ein umfangreiches Handbuch vorgelegt, das die Charakteristika des neuen Steuerungsinstruments für die Hochschulen ebenso darlegt wie die Chancen und Umsetzungsbeispiele für Gleichstellungspolitik. Da in Deutschland die Hochschulverträge auf Länderebene abgeschlossen werden, sind hier unterschiedliche Verankerungen von Gleichstellung festgeschrieben. In Berlin wurde in den 1999 abgeschlossenen Hochschulverträgen auch die Förderung der Gleichstellung verankert (vgl. Degethoff de Campos et al. 2002: 11) Die Bedeutung dieses Steuerungsinstruments streichen die Autorinnen ganz klar hervor: „Zielvereinbarungen stellen ein wichtiges strategisches Instrument bei der Umsetzung von Chancengleichheit von Frauen an Hochschulen dar. Der erforderliche Kommunikationsprozess zwischen den VerhandlungspartnerInnen fördert die Bewusstseinsbildung und Sensibilisierung für Ungleichheiten zwischen Männern und Frauen. Mittels der Berücksichtigung quantitativer und qualitativer Ziele der Chancengleichheit werden faktische Schwachstellen einer Fakultät in diesem Bereich transparent. Autonom initiierte Maßnahmen der Fakultäten/Fachbereiche garantieren Handlungseffizienz und Durchsetzung. Anhand der mit der Umsetzung von Chancengleichheit verbundenen finanziellen Anerkennung wird die Frauenförderung zu einem Teil des Zielsystems der jeweiligen Fakultät.“ (Degethoff de Campos et al. 2002: 22)

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Zentral scheint hierbei die Verknüpfung von Motivation zur Auseinandersetzung und Druck über Ressourcenkonsequenzen, die allgemein für die Umsetzung von Zielvereinbarungen eine gewisse Gratwanderung darstellen, aber ohne die – vermutlich – keine Verankerung von Gleichstellungszielen in relevanten Dimensionen stattfinden wird. Im Berliner Modell wird bezüglich der Ressourcen zum einen mit Sanktionen und zum anderen mit Anreizmodellen gearbeitet, die Autorinnen plädieren auch für diese Kombination, da die Gefahr von alleiniger Sanktionierung darin bestünde, dass Ziele äußerst niedrig gesteckt würden (vgl. Degethoff de Campos et al. 2002: 22f). Die Vorteile gegenüber den Zielsetzungen der Frauenförderungspläne liegen klar auf der Hand: Waren dort nur einige Ziele konkret mit Messgrößen (Quotenregelungen) beziffert und sonst qualitative längerfristige Ziele ohne Anreize/Sanktionen festgeschrieben, so werden über die Zielvereinbarungen die Ziele und Zeiträume als Operationalisierung der Frauenförderungspläne möglich (vgl. Degethoff de Campos et al. 2002: 26). Ergänzend sei hier angemerkt, dass es vor allem auch zu einer Verschiebung der Verantwortung für die Gleichstellungsarbeit kommt. Waren es zuvor einzelne Gleichstellungsbeauftragte oder in Österreich die Mitglieder der Arbeitskreise für Gleichbehandlungsfragen, so sind nun einerseits das Hochschulmanagement, aber andererseits auch die LeiterInnen aller Organisationseinheiten sowie in der Folge alle MitarbeiterInnen von der Materie berührt und betroffen und bezüglich der Maßnahmenplanung in ihrer Kreativität gefordert. Durch die Einforderung von Gleichstellungszielen in den Zielvereinbarungen werden dabei auch eine Transparenz und ein Controlling geschaffen, die alle Bereiche einer Universität abdecken. 5.

Chancengleichheit in Zielvereinbarungen österreichischer Universitäten – das Beispiel Salzburg2

Bezüglich der Zielvereinbarungen ist im Entwicklungsplan der Universität Salzburg festgelegt, dass es sich bei der ersten Durchführung (Zielvereinbarungsperiode 2004-2006) im Wintersemester 2004/05 um einen Probelauf gehandelt habe, der noch ohne sanktionierende bzw. belohnende Folgen konzipiert war. Ende 2005 werden auf der Grundlage der Zwischenberichte sowie der 2

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Zum Zeitpunkt dieser ersten Erhebungsphase (August bis November 2005) war die Universität Salzburg – neben einigen fachlich spezifischeren Universitäten wie etwa der Medizin Uni Graz – die einzige Universität, bei der der erste Zielvereinbarungsprozess bereits stattgefunden hatte.

gesammelten Erfahrungen die Vorbereitungen für den zweiten Durchführungszeitraum getroffen. Auf der Grundlage oben genannter Ausführungen zu Zielvereinbarungen ist dem Informationsfluss relativ hohe Aufmerksamkeit gewidmet worden: Durch die Vorlage eines Leitfadens mit der Darstellung von sechs strategischen Organisationszielen (Erhöhung der internationalen Konkurrenzfähigkeit der Forschung; Verbesserung und Erhöhung der Attraktivität des Ausbildungsangebots für Studierende; Intensivierung der Nachwuchsförderung; Förderung der Chancengleichheit aller Angehörigen der Universität; Internationalisierung durch Förderung der Mobilität; Erhöhung des Selbstfinanzierungsanteils) und der Transparenz des Verfahrens sowie der Zielvereinbarungen wurden gute Rahmenbedingungen geschaffen. Klar ist aber auch, dass aus der Definition wesentlicher Vertragsbestandteile nach Degethoff de Campos et al. (2002: 41) zumindest drei Punkte fehlen, die für den Erfolg maßgeblich sein dürften: die Angabe über finanzielle Mittel, Konsequenzen bei der Nicht-Einhaltung des Vertrages und Festlegung von Bewertungskriterien der evaluierenden Instanz. Chancengleichheit ist eines der sechs strategischen Zielfelder aus dem Leitfaden für Zielvereinbarungen, die fakultativ von den Fachbereichen auszufüllen waren. Dabei wird der Begriff im Sinne des Entwicklungsplans verstanden als Chancengleichheit aller Bediensteten unter besonderer Berücksichtigung der Frauenförderung, behinderter Personen sowie ausländischer Studierender und MitarbeiterInnen. Von den 27 Fachbereichen3, deren Zielvereinbarungen (im August 2005) vorliegen, haben 18 Fachbereiche Angaben im Bereich des strategischen Ziels „Chancengleichheit“ gemacht, davon beziehen sich 14 auf Frauenförderung. Mit Blick auf die vier Fakultäten ist ein Schwerpunkt an Zielvereinbarungen, die Ziele zur Chancengleichheit definieren, an der Kultur- und Gesellschaftswissenschaftlichen Fakultät auszumachen. Gemessen an der Gesamtzahl der Fachbereiche pro Fakultät sind allerdings jeweils cirka die Hälfte der Fachbereiche solche, die sich Gleichstellungs- bzw. Frauenförderungsziele gesetzt haben. Damit ist einerseits das Ziel des Frauenförderungsplans, dass diese Ziele in allen Vereinbarungen enthalten sein müssten, nicht erfüllt, andererseits sind die Zielvorgaben und Beschreibungen von Aktivitäten beziehungsweise erreichbarer Messgrößen qualitativ und quantitativ sehr unterschiedlich. 3

In der Analyse wurden nur die Zielvereinbarungen der Fachbereiche einbezogen, um einerseits eine Vergleichsbasis zu gewährleisten, andererseits die Grundlage für die ExpertInneninterviews aufzubereiten. Die Struktur der „Schwerpunkte“ sowie der „Zentren“ bzw. der Verwaltung und deren spezifischen Profile und Tätigkeitsbereiche ist so unterschiedlich, dass diese auch keine gute Vergleichsbasis darstellen würden.

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Es gibt mehrere Fachbereiche, die ihre Ziele in Personalentwicklungsaktivitäten setzen: Genannt werden dabei Überlegungen zu Karrieremodellen oder auch Unterstützung und Motivation zur Bewerbung um Stipendien und Preise. Diese Ziele sind immer eng an Nachwuchsförderung gekoppelt; solche Maßnahmen finden sich in insgesamt acht Zielvereinbarungen. Anzumerken ist hier vor allem dass auch Formulierungen wie eine Steigerung des Frauenanteils in Personalentscheidungen immer ohne fixe Messgröße angegeben werden und damit eigentlich nur das Frauenfördergebot des Frauenförderungsplans wiederholt wird. Ebenfalls in mehreren Fachbereichen (4) werden Lehrveranstaltungen aus der Frauen- und Geschlechterforschung als Zielerreichung genannt. Hier werden relativ konkrete Angaben gemacht, die entweder eine Steigerung vorsehen beziehungsweise Angaben darüber machen, wie häufig pro Jahr wie viele frauen/geschlechterspezifische Lehrveranstaltungen angeboten werden. Alle anderen Ziele werden jeweils nur von einem Fachbereich genannt. Sie können in drei Bereiche differenziert werden: Nachwuchsförderung/Personalentwicklung, Organisationsentwicklung des Fachbereichs und Gender Studies. Hier wird auch sichtbar, dass die Forderung nach einer Ausgewogenheit der Geschlechterverhältnisse auf allen Hierarchiestufen und in allen Bereichen wohl die am konkretesten zu formulierende bzw. nach vielen Jahren Gleichstellungsarbeit durch den Arbeitskreis für Gleichbehandlungsfragen auch am besten verankerte Zielebene für die Fachbereiche darstellt. Während unter dem Aspekt der Nachwuchsförderung an allen Fakultäten Maßnahmenüberlegungen und Zielsetzungen vereinbart wurden, sind in den Bereichen Organisationsentwicklung und Gender Studies nur Fachbereiche der Kultur- und Gesellschaftswissenschaftlichen Fakultät vertreten. Den Rahmenvereinbarungen, die durch den Frauenförderungsplan vorgegeben sind, wird dabei einerseits Rechnung getragen, da auch hier ein Schwerpunkt auf Karriereförderung beziehungsweise Beseitigung der Unterrepräsentanz liegt, andererseits werden einige Zielsetzungen hier aber beinahe ignoriert; dies betrifft vor allem die Umsetzung des Ministerratsbeschlusses zu Gender Mainstreaming, die Anerkennung und das Angebot von Frauen- und Geschlechterforschung als gleichwertiges Forschungsfeld sowie die bewusstseinsbildenden Bereiche zum Schutz der Würde der Menschen am Arbeitsplatz beziehungsweise zur Information/Kommunikation. Relevant scheint darüber hinaus die Frage nach den Indikatoren zur Erfolgsmessung nach Ablauf der Zielvereinbarungsperiode, die insbesondere im Bereich der Personalentwicklung sehr schwierig werden dürfte, da in den seltensten Fällen konkrete Messgrößen oder Kriterien vereinbart wurden.

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6.

Einschätzung der AkteurInnen – Zwischenergebnisse aus den Interviews

In einem ersten Erhebungsschritt im Rahmen der Fragestellung, wie sich der Kulturwandel an österreichischen Universitäten auf die Chancengleichheit auswirkt, wurden elf Leitfadeninterviews mit den VertreterInnen des Rektorats, einem Experten sowie FachbereichsleiterInnen aller Fakultäten im Herbst 2005 durchgeführt, davon waren fünf interviewte Personen weiblich und sechs männlich. Die Interviewten waren alle UniversitätsprofessorInnen und die Verteilung über die vier Fakultäten in etwa gleich. Berücksichtigt wurden Menschen, die sowohl in der Leitung von Fachbereichen (vormals Instituten) viel Erfahrung mitbrachten als auch „Neulinge“ in diesem Betätigungsfeld sowie die gesamte Universitätsleitung. Insgesamt fanden sich in der Gruppe sowohl bereits langjährige Unterstützer der universitären Gleichstellungspolitik als auch Skeptiker dieser politischen Strategie. Um diese unterschiedlichen Facetten an Meinungen von unternehmenskultureller Bedeutung in ihrer ganzen Breite einzufangen und so für eine organisationskulturelle Analyse zugänglich zu machen, wurden leitfadengestützte ExpertInneninterviews geführt, die den Vorteil eines hohen Offenheitsgrades, einer hohen Interaktivität und der Möglichkeit zur flexibleren Kommunikationsführung bieten. Dies wurde methodisch durch Fragestellungen unterstützt, die sich an einer organisationsberaterischen systemischen Haltung orientierten, was die Freilegung authentisch gleichstellungsfördernder Haltungen ebenso ermöglichte wie das Entdecken widersprüchlicher Haltungen, die teils hinter politisch korrekten Aussagen verborgen waren. Die Darstellung der Ergebnisse ist im Folgenden auf die Frage der Verankerung von Chancengleichheit in den Zielvereinbarungen sowie das Veränderungspotential universitärer Gleichstellungspolitik fokussiert. Ausgeblendet bleibt dabei die Frage nach dem Implementierungsprozess der Zielvereinbarungen. In Bezug auf die Zukunft der universitären Gleichstellungspolitik lassen sich aus den Interviewtranskripten sechs Thesen ableiten: 6.1. Das Zielbild „Chancengleichheit an der Universität“ ist relativ einheitlich Die befragten Personen stimmen mehrheitlich darin überein, dass Chancengleichheit eine quantitativ messbare Gleichverteilung der Geschlechter im Personalstand der Universität, auf allen Ebenen und in allen Funktionen, bedeute. Dieser Zustand sei noch nicht erreicht, die Realität lasse sich derzeit in Form 143

einer Pyramide darstellen, wo der Frauenanteil unter Studierenden sehr hoch – Unterschiede ergeben sich nach Studienrichtungen –, unter den ProfessorInnen jedoch noch viel zu gering sei. Dieses Verständnis von Chancengleichheit findet sich einerseits in den schriftlich vereinbarten Zielen wieder, wenn das Hauptaugenmerk auf die Frage des Personals gerichtet ist, andererseits entspricht es beinahe deckungsgleich den gesetzlichen Formulierungen (wie oben ausgeführt). Mit Blick auf die universitäre Strategie (Entwicklungsplan, Frauenförderungsplan) ist dabei auffällig, dass die Auseinandersetzung mit strukturellen Hürden oder die inhaltliche Dimension der Genderforschung in diesem Kontext ebenso wenig präsent sind wie die Umsetzung von Gender Mainstreaming. 6.2. Es gibt große Wahrnehmungsunterschiede in Bezug auf Widerstände Sowohl bei der Frage nach dem Bewusstsein für das Thema als auch nach den Reaktionen auf die Verankerung von Chancengleichheit als strategisches Ziel ist die breite Streuung der Einschätzungen auffällig. Während im Rektorat zwei der befragten Personen das Bewusstsein eher gering einschätzen und die anderen beiden Interviewten von einem sehr hohen Bewusstsein und Interesse für das Thema sprechen, ist die mehrheitliche Meinung der FachbereichsleiterInnen, dass eine Sensibilisierung für das Thema noch sehr bescheiden sei. Dieser Unterschied zwischen der Universitätsleitung und den Fachbereichen wird auch explizit angesprochen. „Wenn ich das ein bisschen mit anderen Universitäten vergleiche, ist, glaube ich, ein geradezu überdurchschnittlich gutes Klima auf der obersten Hierarchieebene zu sehen. Es nimmt relativ rapide ab, wenn man in die Abteilungen schaut. Und wenn ich so meine Kolleginnen und Kollegen anschaue, so ist die Sensibilität nicht so groß, ich sage nicht, sie ist nicht vorhanden, aber sie ist nicht so groß.“ (FB II)

Wenn es um die Frage nach möglichen Veränderungen der Organisationskultur bezogen auf die Dimension Geschlecht geht, dann interessieren also einerseits eine Einschätzung des vorhandenen Bewusstseins und andererseits die Reaktionen auf die Verankerung von Chancengleichheit als strategisches Ziel. Diesbezüglich verläuft die Bruchlinie der Wahrnehmungsdifferenzen entlang der Hierarchien. Die Mitglieder des Rektorats haben in der Organisation keine Reaktionen – weder positive noch negative – wahrgenommen, wohingegen das Ziel in einigen Fachbereichen negativ beurteilt oder nicht ernst genommen wurde: 144

„So quasi, das ist halt jetzt die Mode, das muss man rein schreiben, wenn man es nicht rein schreibt, dann hat man unter Umständen schlechte Presse, aber ich glaube, es gilt als weiches Thema bei vielen. Weiches Thema, damit meine ich etwas, was halt ganz hübsch ist, wenn es da steht, aber was jetzt nicht wesentlich ist, für das Überleben oder für die Zukunft. Einfach weil Chancengleichheit so ein Schlagwort ist, wo es schwer ist, sich etwas vorzustellen.“ (FB I)

Im Sinne einer geschlechtergerechten Organisationskultur wären diese unterschiedlichen Konstruktionen von Wirklichkeiten zentraler Ausgangspunkt für eine Reflexion, um zu gemeinsamen Zielvorstellungen kommen zu können – das wird sich in den weiteren Thesen noch verstärken. 6.3. Die Verantwortung für Chancengleichheit wird als Führungs- und Organisationsaufgabe definiert Ein zentrales Ergebnis der Interviews ist sicherlich, dass die Verantwortung für die Umsetzung von Chancengleichheit von allen befragten Personen einerseits bei der Universitätsleitung mit den zentralen Steuerungsfunktionen aber andererseits auch in der Aufgabe aller universitären Führungskräfte und Gremien gesehen wird. Ein Fachbereichsleiter bringt das auf den Punkt: „In der Organisation ist das Rektorat die Stelle, von der die Impulse ausgehen müssten, umgesetzt werden muss es dann sicher vor Ort in den Fachbereichen. Ohne Impulsgeber wird es nicht gehen und da sehe ich eine sehr wichtige Funktion des Rektorats wie in vielen anderen Fragen auch.“ (FB I)

Im Sinne der „Top-down-Strategie“ von Gender Mainstreaming sind diese Aussagen sicherlich als Signal einer Bereitschaft zu werten, allerdings mit der Einschränkung, dass hier ganz deutlich eine Gleichzeitigkeit der Ungleichzeitigkeit vorliegt. Bei der Frage nach den Schwierigkeiten bei der Umsetzung zur Chancengleichheit werden hier seitens der befragten FachbereichsleiterInnen mehrfach die AKG-Vertreterinnen als diejenigen angeführt, die der Sache Schaden zufügen würden. In Verbindung mit der einen zentralen Aufgabe der Chancengleichheit, die alle sehen, nämlich den Anteil an Frauen im Personal zu heben, wird so auch deutlich, wie eng der AkteurInnenfokus definiert wird und dass dann schlussendlich doch wieder die Vertreterinnen des AKG für die Zielerreichung Chancengleichheit als zentrale und Verantwortung tragende Personen gesehen werden.

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6.4. Das Veränderungspotential durch die Verankerung von Chancengleichheit in den Zielvereinbarungen wird gesehen Die Chancen und auch Veränderungen durch die Implementierung des neuen Steuerungsinstruments können in drei Faktoren zusammengefasst werden. Mehrfach genannt wurde die Bewusstseinssteigerung und die stetige Erinnerung, dass es da noch etwas zu tun gibt: „In erster Linie eine Methode, das Thema nicht aus dem Auge zu verlieren. Selbst in unserem Fachbereich, in dem wir – was die Mitwirkung und die Position von Frauen anlangt – der Chancengleichheit bewusst Raum geben, ist das doch immer wieder notwendig. Chancengleichheit ist nicht nur die Quantität, sondern sozusagen die Möglichkeit der Einflussnahme. Und da helfen Frauen, die auch in Entscheidungspositionen sitzen und aus unserem Fachbereich kommen, einfach mehr – allerdings kommt es auch darauf an, ob sie selber das Thema wichtig genug nehmen.“ (FB II)

Zweitens zeichnet sich eine Veränderung für EinzelkämpferInnen ab, deren Arbeit mit Studierenden/MitarbeiterInnen im Sinne der Chancengleichheit nun von der individuellen Ebene auf die einer strukturellen Verankerung mit Nutzen für die Organisationseinheit sichtbar gemacht und honoriert wird. Der dritte Veränderungsfaktor ist die Möglichkeit der Steuerung, wobei hier das zentrale Element im ersten Durchlauf noch fehlte – die Koppelung an budgetäre Anreize oder Sanktionen. Die Schaffung von Transparenz über Leistungen und Ziele als Grundlage von Controlling wird durchwegs positiv konnotiert oder um einen Interviewpartner zu Wort kommen zu lassen: Es geht in Zukunft um „die Konfrontation mit dem Erfolg.“ (FB I) 6.5. Die Verdoppelung von Unsicherheiten oder: Was sind Ziele und wie kann Chancengleichheit umgesetzt werden? Die Orientierung an Organisationszielen und die Ausrichtung der disziplinenspezifischen Interessen der Fachbereiche in Bezug auf gesamtuniversitäre Strategieziele bedingen einen Veränderungsprozess, der auf vielen Ebenen stattfindet und prinzipiell als Irritation des Systems zu fassen ist. Solche Irritationen müssen insofern angemessen sein, als es gilt, Veränderungsenergie freizusetzen und diese nicht zu blockieren. In diesem Sinne ist es auch zu verstehen, dass dieser erste Zielvereinbarungsablauf als „Probegalopp“ definiert und ein zentrales – weil sehr sensibles – Element ausgespart wurde: nämlich die Koppelung an das Budget. Die Ergebnisse der Interviews zeigen, dass es gelungen ist, einen Dialog in Gang zu setzen, der für die universitäre Wissenschaftskultur eher ein 146

Novum darstellt: einen Austausch über Identität und zukünftige Handlungsfelder der einzelnen Organisationseinheiten. Gleichzeitig wird von einigen der interviewten Personen auch Skepsis beziehungsweise Veränderungsbedarf, bezogen auf die Formulierung von Zielen im Sinne der Operationalisierung und der Verknüpfung mit Konsequenzen geortet, die ich als Unsicherheit im Umgang mit dem Instrument bewerte. Als kritischer Erfolgsfaktor diesbezüglich wird sowohl von Seiten einiger RektoratsvertreterInnen als auch FachbereichsleiterInnen die Notwendigkeit einer umfassenden Qualitätskontrolle gefordert. Interessanterweise kommen nur seitens der FachbereichsleiterInnen auch skeptische Aussagen über die derzeit vorliegenden Zielvereinbarungen, die sehr häufig nicht operationalisierbare Ziele enthielten oder denen die Kriterien der Messbarkeit sowie der Konsequenzen fehlen würden: „Man kann viel aussprechen nur das Problem ist, wenn Ziele nicht operationalisiert sind, bleibt es vielfach einfach bei Absichtserklärungen. Wenn es beispielsweise geheißen hätte, die Universität Salzburg strebt bis ins Jahr 2010 eine paritätische Verteilung männlich/weiblich im Lehrkörper an, dann wäre das etwas anderes. Aber die Zielvorgabe ist nicht operational und infolge dessen eine Absichtserklärung und ich vermute, es wird sich nicht viel ändern.“ (FB IV)

Eine zweite Unsicherheitsquelle ist in enger Verknüpfung mit der fehlenden Klärung zu sehen, was das Ziel der Universität in Bezug auf Chancengleichheit sei, was sich in den schwierig zu messenden Zielformulierungen und auch den Interviewaussagen abbilde. So ist zunächst unklar, von welcher Basis aus die Ziele definiert wurden und welche Faktoren eine fundierte Ist-Erhebung umfassen müsste, damit davon ausgehend Zieloptionen verhandelt werden könnten. Der Gesamteindruck ist, dass alle befragten Personen handlungswillig wären, alleine die Unterstützung im Sinne einer Ideenfindung möglicher Maßnahmen fehle. 6.6. Es gibt ein klares Commitment zum Ziel Chancengleichheit aber die Wirkkraft der organisationskulturellen Tiefenstruktur darf nicht unterschätzt werden Der Organisationskulturforscher Ed Schein hat (1985) ein dreistufiges Kulturanalyse-Konzept vorgelegt, in dem er folgende Ebenen unterscheidet: die Artefakte, die dargelegten Normen/Werte sowie die dahinter liegenden Grundannahmen. Im Sinne der Beobachtbarkeit verlaufen die Stufen entlang eines Vektors von Sichtbarkeit zu Unsichtbarkeit (vgl. Schein 2002: 7) Kulturelle 147

Grundannahmen und Verhaltensmuster bleiben demnach weitgehend latent“ (vgl. Franzpötter 1997: 30) und werden von AkteurInnen als Selbstverständlichkeiten im Umgang miteinander empfunden. Sie können als Tiefenstruktur einer Organisation, als tabuisierter Code verstanden werden. Dahingehend seien Artefakte die Oberflächenstruktur der Organisation (Räumlichkeiten, Technologie, Kleiderordnung, Besprechungssituationen, Rituale, Sitten, Statussymbole etc.). Dazwischen liege die Ebene der Werte einer Organisation. Hier kommen als wünschenswert zu bezeichnende Ziele und Zustände der Organisation zum Ausdruck: „Werte prägen das Verhalten der Menschen, die über einen bestimmten Zeitraum in einem Unternehmen zusammenarbeiten. Sie zeigen sich beispielsweise daran, wie die Kommunikation funktioniert, wie man Probleme bearbeitet, wie Entscheidungen getroffen werden, wie geplant und organisiert wird.“ (ebda.: 31)

Bezogen auf die Frage nach der Kultur verändernden Wirkung von Organisationsentwicklungsprozessen an Universitäten drängt sich das Bild auf, dass mehrere InterviewpartnerInnen formulierten, nämlich dass es auch einen großen Anteil an political correctness gäbe, hinter den niemand mehr zurückfallen würde. Als Beispiel wurde oft angeführt, dass es nicht mehr zu unmittelbaren Diskriminierungen komme. Damit kann festgehalten werden, dass Chancengleichheit sehr wohl auf der Ebene der Artefakte (z.B. Entwicklungsplan, Frauenförderungsplan) sichtbar ist, auf der Ebene der Werte und Normen ist das sicherlich bereits differenzierter zu betrachten und eine Verankerung von Gender-Sensibilität oder Bewusstsein um Chancengleichheit auf der Ebene der Basisannahmen wäre Kultur stiftend notwendig, kann aber derzeit nicht beobachtet werden. Inwiefern diesbezüglich jedoch Managementtools wie Zielvereinbarungen förderlich sein können, bleibt fraglich: „Aber formale Verlautbarungen können nicht als geeignete Methode gesehen werden, die Organisationskultur zu definieren. Sie decken höchstens einen kleinen öffentlich relevanten Teil der Kultur ab, und zwar solche Aspekte, die nach Meinung der Führungskräfte geeignet sind, um die Ideologie der Organisation öffentlich darzustellen.“ (Schein 1991: 36)

7.

Zusammenfassung

Während bezogen auf die universitäre Gleichstellungspolitik auf normativer Ebene seit Beginn der 1990er Jahre eine Veränderung, die vorwiegend auf den Bereich der Personalauswahlverfahren beziehungsweise die Diskriminierung am 148

Arbeitsplatz fokussiert war, deutlich ablesbar ist, wird mit der Autonomie der Universitäten nach dem Universitätsgesetz 2002 einerseits deutlich, dass hier eine breitere Verankerung struktureller Gleichstellungspolitik ebenso stattgefunden hat wie eine Auslagerung der Verantwortung auf die Universitäten selbst. Am Beispiel der Universität Salzburg zeigt sich, dass Gleichstellung/Chancengleichheit in die strategischen Papiere der Universität aufgenommen wurde, die Operationalisierung auf Ebene der Fachbereiche über die Zielvereinbarungen gesteuert werden kann und soll, deren Umsetzung jedoch erst nach Evaluation der ersten Zielvereinbarungsperiode einschätzbar ist. Die Zwischenergebnisse aus den Leitfadeninterviews zeigen, dass es eine prinzipielle Bereitschaft gibt, das Ziel der Chancengleichheit zu verfolgen, aber für das Vorankommen einige Kriterien zentral sein werden. So wird es einer Verständigung darüber bedürfen, was Chancengleichheit nun bedeutet und was das gesamtuniversitäre Ziel ist, das dabei angestrebt wird. In diesem Zusammenhang wird die Frage zu stellen sein, inwiefern Gender Mainstreaming und die Zielformulierungen des Frauenförderungsplans ebenfalls in den Fokus der Diskussion rücken sollten. Im Sinne einer Qualitätssicherung des Prozesses wären eine Beschäftigung mit der Definition von Zielen ausgehend von einer fundierten Erhebung der Ist-Situation von zentraler Bedeutung sowie eine disziplinenübergreifende Erarbeitung möglicher Maßnahmen unter Nutzung von Synergieeffekten und internen Ressourcen, um die Chancengleichheit organisationsweit voranzubringen. Mein Resümee an dieser Stelle ist: Es gibt eine breitere Aufmerksamkeit für das Thema der Gleichstellung an Universitäten als je zuvor, aber um eine tiefer gehende Veränderung zu erreichen, braucht es neben kurzfristigen Rezepten und Maßnahmen an der Oberfläche auch eine Reflexion über die Tiefenstruktur, über das doing gender aller Beteiligten dieser Organisation. Literatur Baaken, Uschi/Plöger, Lydia (Hrsg.) (2002): Gender Mainstreaming – Konzepte und Strategien zur Implementierung an Hochschulen. Bielefeld: Kleine Bothfeld, Silke/Riedmüller, Barbara (Hrsg.) (2002): Gender Mainstreaming – eine Innovation in der Gleichstellungspolitik. Frankfurt am Main: Campus Cews-Center of excellence (Hrsg.) (2003): HWP-Fachprogramm Chancengleichheit für Frauen in Forschung und Lehre. Eigendruck Degethoff de Campos, Heidi/Haase, Sigrid/Koreuber, Mechthild/Kriszio, Marianne (Hrsg.) (2002): Zielvereinbarungen als Instrument erfolgreicher Gleichstellungspolitik. Berlin: Hoho Verlag Dülfer, Eberhard (Hrsg.) (1991): Organisationskultur. Stuttgart: Poeschel

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Das prekäre Geschlecht: Die Krise weißer Männlichkeit in den Performing Arts Katharina Pewny

Die Performing Arts – Theater, Tanz und Performance Art – antworten auf gesellschaftliche Phänomene, sind aber auch an deren Fortschreibung beteiligt (vgl. Mersch 2005: 46). Ich werde daher meine Thesen zu den „Dimensionen der Zukunftsgesellschaft“ anhand ihrer ästhetischen Strategien und politischen Effekte entfalten. „Gender in motion“ – das traditionelle Konzepte von weißer Männlichkeit als Familienernährer steht in der zeitgenössischen Kunstwelt vehement in Frage. These ist, dass in den mitteleuropäischen Performing Arts weiße Männlichkeit als prekäres Geschlecht gezeigt wird.1 Diese These werde ich über den Zugang der Performance Studies, die Kunst und Gesellschaft als immanent verwobene begreifen, entwickeln. 1.

Performance Studies verbinden ästhetisches und gesellschaftliches Wissen

In den US-Amerikanischen Ländern hat sich seit dem ersten Performance Theory-Kurs, den Richard Schechner im Gefolge der 1968er Bewegung 1979 an der New York University abhielt, ein breit gefächertes Szenario an Lehre und Forschung entfaltet: Anthropologische, soziologische, feministische, queere und postkoloniale Studien charakterisieren die Interdisziplinarität und den großen Bogen der Performance Studies (vgl. Schechner 1998: 357-363). Sie eint ein Wissenschaftsverständnis, das die eigene (wissenschaftliche) Tätigkeit als mimetisch (sich an ihre Gegenstände anschmiegend) auffasst und in kritischer Tradition die klassische Hierarchie zwischen (wissendem) Forschungssubjekt 1

Die Prekarisierung traditioneller Männlichkeit ist nicht auf Erwerbslosigkeit beschränkt, sondern erscheint (in den Performing Arts) auf den Ebenen von Geschlechtertransformationen, Krieg, Terrorismus und Traumatisierung. Siehe hierzu mein Habilitationsprojekt Performing the Precarious. Theorie und Analyse der Performing Arts im dritten Jahrtausend, in dessen Kontext dieser Artikel entstand. Für ihre Unterstützung bedanke ich mich sehr herzlich bei Gesa Heinrichs, Christina Rast und Doris Schober.

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und (unwissendem) Forschungsobjekt ablehnt. Performance Studies überschreiten die traditionelle Spaltung von Realität und Kunst. Gesellschaftliche Phänomene und soziale Realitäten sind explizite Kategorien und unverzichtbare Teile ihrer Theoriebildung. Peggy Phelan, ebenfalls lange Jahre an der New York University lehrend, schreibt beispielsweise unter Rückgriff auf psychoanalytische Ansätze über die Aufmärsche christlicher rechter Abtreibungsgegner (in den USA), über Performance im Angesicht des Todes durch HIV-Infektion und über die queeren Dimensionen von Performance Art als nicht-reproduktiv und nicht-reproduzierbar (wenn man queere Sexualität als außerhalb einer heteronormativen Logik der biologischen Reproduktion stehend begreift).2 Die Performing Arts sind in dieser Tradition als „Metakommentar“ zu aktuellen sozialen Veränderungen – und daher auch zu Veränderungen der Organisation der Erwerbsarbeit – aufzufassen (vgl. Turner 2000: 163). Sobald es um Veränderungen der Arbeitswelten geht, sind Erwerbslosigkeit, Armutsgefährdung und damit Fragen von Geschlecht, Herkunft und Klasse mit im Spiel. Ich werde daher die theatralen Geschlechterbilder als Bilder von weißer, klassenspezifischer Männlichkeit und Weiblichkeit lesen. Mit dieser Lesart beziehe ich mich auf Diana Taylor (vgl. 2003), die das Aufbrechen des Nordamerika- beziehungsweise Eurozentrismus in den Performance Studies fordert. Die Analyse der Dynamiken von bürgerlichem „Weißsein“, die ich im Folgenden unternehme, will entgegen dem Othering (der „Veranderung“) schwarzer Subjekte Differenzen innerhalb der Kategorie des Weißseins auf die Spur kommen.3 Ich differenziere meine oben genannte These und skizziere, was ich im Folgenden genauer entwickeln werde: Im Theater wird zur Zeit ein neues „Gegenüber“ zu weißer normativer Männlichkeit etabliert: weiße arme oder armutsgefährdete, jedenfalls erwerbslose Männer. Die auf den Bühnen vorgeführte Armut und Erwerbslosigkeit dient dazu, die Ängste des Mittelstandes aufzurufen und im nächsten Schritt zu beruhigen – denn als gefährdet und gefährlich dargestellt werden letztendlich die „Anderen“ (eben nicht die mittelständischen Männer).4 Dieses „Aufrufen und Beruhigen“ zeigt weiße Männlichkeit als „prekär“ im Sinne von „misslich, schwierig“, aber vor allem von „wi2 3 4

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Zu feministischen Performance Studies siehe die Schriften von Janelle Reinelt, Sue-Ellen Case, Peggy Phelan, Helga Kraft, Barbara Kosta, Katrin Sieg und Alisa Salomon. Eine ausführliche Literaturliste ist zu finden in Pewny 2002. Zu Weißsein als Kategorie, die in Abgrenzung zu anderen entsteht, vgl. Wollrad 2005: 217. Die beschriebene Dynamik der theatralen Arbeit mit Ängsten und Identifikation greift auf das Aristoteleische Katharsis-Konzept (Reinigung von den Effekten durch Aufrufen derselben) zurück, wenn auch Aristoteles die Identifikation mehr betont als die Differenzierung, die ich herausstreiche.(vgl. Aristoteles 1982).

derruflich“ (Kluge 1999: 646). „Prekär“ bezeichnet also traditionelle weiße Männlichkeit (der Familienernährer) als einen gleichsam „geliehenen“ Status, der auf Abruf zu Verfügung steht. 2.

Aktuelle Performances von Armut und Verelendung

In den Theatern des deutschen Sprachraums findet zur Zeit eine deutliche Anhäufung von Inszenierungen statt, die sich mit Deklassierung, Armut und sozialer Hoffnungslosigkeit auseinandersetzen: Anja Hilling, die in der Kritikerumfrage von theater heute zur Nachwuchsautorin der Saison gekürt und zu den Werkstatttagen an das Wiener Burgtheater eingeladen wurde, stellt in Protection (Thalia Theater 2005) zwei Obdachlose (sie erfriert, er überlebt), (behinderte) Schwule und eine türkische Frau, die beim (heterosexuellen) Sex Flashbacks von Kriegsvergewaltigungen erlebt, auf die Bühne. Der ebenfalls preisgekrönte Moritz Rinke wählt in Café Umberto (Thalia Theater, Düsseldorfer Schauspielhaus, Bremer Theater 2005) das Arbeitsamt als Ort der Geschehnisse, seine (arbeitslosen) Figuren verüben teilweise Selbstmord oder landen in der Psychiatrie. Andreas Kriegenburg inszeniert im Juni 2005 eine „bejubelte Premiere“ am Hamburger Thalia Theater, die 2006 wieder aufgenommen wird: White Trash. White Trash basiert auf Interviews mit Jugendlichen, die in „gesellschaftlichen Randgebieten“ leben: „Wir waren schon als Kinder Scheiße“, ist ihr Slogan (nachzulesen im Programmheft der genannten Produktion). Alle diese Texte und Aufführungen sind dem gegenwärtigen Comeback des neorealistischen Theaters, das derzeit in vielen mitteleuropäischen Ländern zu beobachten ist, zuzurechnen (vgl. Virant 2002). Ihre Themen erinnern an die in Deutschland allgegenwärtige Berichterstattung von Erwerbslosigkeit, von Kinderarmut, von Vernachlässigung von Kindern (beziehungsweise Jugendlichen), und zwar nicht nur oder vorrangig der migrantischen, sondern der deutschen/weißen Jugend. Theater nimmt offensichtlich seine klassische Funktion wahr, in Krisen als Katalysator des Problematischen zu wirken (vgl. Turner 2000). Die Auseinandersetzungen mit Armut, Marginalisierung und Gewalterfahrungen sind wichtig, denn dadurch erhalten sie Öffentlichkeit und werden jenseits des individuellen Erlebens als Realitäten in das kollektive Gedächtnis eingeschrieben. Wie diese Auseinandersetzungen geführt werden, mit welchen ästhetischen Mitteln, wie Geschlecht, Herkunft und Ökonomie ineinandergreifen, welche Normen etabliert und welche verschoben werden, ist im Folgenden meine Frage. Der „Faden zwischen Wahrnehmung und eigenem Erleben“, den Theater laut Hans-Thies Lehmann (1999: 471) im Unterschied zu 153

anderen Medien halten kann, erlaubt Zusehenden die Identifikation mit und Differenzierung von den Bühnenfiguren. Der Eindruck entsteht, dass die Versicherung des bürgerlichen Selbstverständnisses, die das Sprechtheater traditionell leistet, gerade angesichts eines zerbrechenden weißen „Mittelstandes“ über die Theatralisierung des Elends der „Anderen“ – der Wohnungslosen, Nicht-Heterosexuellen, Kinder, Gewaltopfer – funktioniert. Die „Anderen“ der Bühnen werden meist nicht als handlungsfähige Menschen, gut organisierte Subjekte oder schlicht als Menschen, die Glück haben und ihre Situation verbessern können, gezeigt, sondern (großteils) als leidende, zerstörte Menschen. Die Inszenierung ihrer Prekarisierung verdeckt gleichsam die Prekarität des weißen Mittelstandes. Männlichkeit steht dabei ungleich mehr zur Disposition als „beunruhigtes Geschlecht“ denn Weiblichkeit. Die Schere von Dea Loher ist das erste der beiden Beispiele aus den Bereichen Theater/Performance, die ich zur Debatte der eben genannten Fragen ausgewählt habe. 3.

Sprache als Mittel traumatischer Übertragung – Dea Lohers Die Schere

3.1. Frontal – Theater im Fernsehformat Christina Rast inszenierte 2004 am Züricher Schauspielhaus Die Schere der bekannten deutschen Dramatikerin Dea Loher, in der das „Kind“ des erwerbslosen Alkoholikers sich selbst mit einer Schere ersticht (im Folgenden DS, Loher 2002: 155-167).5 Der stillgelegte Lastenaufzug, der Ort der Züricher Inszenierung, ist ein quadratischer kleiner Raum, von drei Seiten mit hohen Wänden umrandet, die mit dunkelweißer Tapete beklebt sind (Bühne: Astrid Dollmann). Die vierte, publikumszugewandte Seite ist offen zum Zuschauer/innenraum hin. Zu sehen ist eine Figur, die bewegungslos in einem Polstersessel sitzt und frontal ins Publikum blickt, eine überdimensionierte Brille auf der Nase. Die frontale Spielhaltung bleibt während der gesamten Aufführung eingehalten und verleiht der Inszenierung Fernsehformat, das durch den „Rahmen“ (den Lastenauf-

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2004/2005 wurde die Inszenierung im Hamburger Thalia Theater gezeigt. In der Analyse beziehe ich mich auf eine Videoaufnahme der Züricher Inszenierung vom 29.6.2004 und bedanke mich bei Christina Rast für das Material.

zug) noch verstärkt wird.6 Links oben ist ein Bildschirm zu sehen, in dem anfangs eine Knetmassen-Figur gezeigt wird, die wie die Schauspielerin in einem Polstersessel sitzt, die Lippen zu dem Liedtext Up and down the house der Musikgruppe Fast Cars bewegt, das anfänglich zu hören ist. Die Figur auf der Bühne ahmt den Bildschirm nach, wenn sie ebenfalls die Lippen bewegt, so also würde sie durch den Bildschirm aus ihrer Starre gelöst und verlebendigt. Die Figur ist also zwischen Mimesis (Nachahmung) des Bildschirms und Mimesis der Zusehenden, die ja auch frontal und unbeweglich sitzen, eingespannt. Im Gegensatz zu TV-Talk-Shows ist sie jedoch nicht darauf angelegt, Individuen zu präsentieren. Sie sagt: „Ich bin die einzelne im Gewand der vielen.“ (DS: 155) Es sind keine psychologisch gezeichneten Figuren zu erleben, sondern eine androgyne, junge Gestalt in weißer Unterwäsche und einer weißen Strumpfhose, die vielleicht das „Kind“ aus der Geschichte verkörpert. Dea Lohers Kurzgeschichte (nur sieben gedruckte Seiten lang) wird im exakten Wortlaut erzählt, die Präzision der Erzählung ist unterstrichen durch die unbewegte/unbewegliche Mimik, Gestik und Haltung von Paula Dombrowski (der Schauspielerin). Die darin genannten Personen – das Kind, der Vater und die Mutter – werden durch Bewegungen und durch Pausen zwischen den einzelnen Passagen verkörpert. Es gibt drei „Bewegungsszenen“, die dem Vater, dem Kind und der Mutter zugeordnet werden können. Die Bewegungsszenen nehmen die Funktion der Schauspieler/innen und der Sprache ein, die unterschiedlichen „Figuren“ herzustellen: Der Vater, der seinen überdimensionierten Penis schwingt, pisst und onaniert, das Kind, das mit Tapetenpapier spielt und trotzig-wütend Amazing Grace singt, die Mutter, die in ihrem „weiblichen“ Körper – sie hat sich Brüste, einen runden Bauch und Po aus Schaumstoff umgeschnallt – tanzt. Die Ruhe der Erzählung und die Hektik der Bewegungen stehen in deutlichem Gegensatz zueinander. 3.2. Die Geschichte als Tragödie „Die Geschichte kann nicht erzählt werden“, lautet ihr erster Satz. Das erzählende „Ich“ deklariert sich als „Stimme, die den beteiligten Personen geborgt wird“ (DS: 155). Die nächsten Sätze lauten: „Ich bin die Geschichte, die erfunden wird, weil sie nicht stattgefunden hat. Ich bin die einzelne im Gewand der vielen. Ich bin die vielen im Gewand der einzelnen. Hören Sie mir zu. Wenden Sie sich ab. Ich bin das Schweigen der Stummen und das Lachen der Überlebenden. Ich bin der Terror der Zeit, die weitergeht, Schritt für Schritt, Tag für 6

Zur Medialisierung und „TVisierung“ von Theater vgl. Auslander 1999.

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Tag, Anfang für Anfang.“ (DS: 157) Die Geschichte selbst wird Subjekt der Erzählung, der „Terror der Zeit“ und ihr Beginn, der an dem „Tag vor dem Wochenende“ angesiedelt ist. Die Handlung beginnt folgendermaßen: „an dem Tag vor dem Wochenende beginnt der Mann zu trinken“ (DS: 157). An diesem „Freitagmorgen“, in dessen Verlauf – auf 45 theatrale Minuten zusammengepackt – drei Leben aufgerollt werden. Bis zum abendlichen Heimkommen der Mutter spielt die „Geschichte“: in der Zeitspanne eines Erwerbsarbeitstags. Die Kurzgeschichte folgt damit den klassischen Anfordernissen an das Drama, der „Einheit von Ort, Zeit und Handlung“, die aus der aristotelischen Poetik (der Tragödie) abgeleitet sind (vgl. Pfister 1977: 331). Theater als Medium wird auch durch die Tragödienkonvention aufgerufen, die Handlung nicht vorzuführen, sondern zu erzählen so wie in den klassischen Tragödien, wenn die „Botenberichte“ von den Kriegen und Morden künden, die für die Zusehenden unsichtbar bleiben. Jegliches Handlungsgeschehen bleibt in Die Schere ungezeigt, so, als ob die (immer frontal spielende) Figur die Handlung in den Zusehenden sehen würde. Die Zusehenden ihrerseits blicken auf die weißen Wände, auf die weiß gewandete Figur, so, als ob sie das Erzählte in all dem Weiß sehen könnten und auf dem bereits erwähnten Bildschirm (links oben an der Bühnenwand). Der Selbstmord des Kindes wird nicht gezeigt, sondern durch das abendliche Heimkommen der Mutter, die das tote Kind findet, hindurch erzählt (vgl. DS: 163). So wird ein mehrfach geschichtetes und verkehrtes mediales Spiegelverhältnis etabliert, das durch die strikt frontale Ausrichtung des Bühnengeschehens (in Richtung der Zusehenden) verstärkt wird und sie betont. 3.3. Die Inszenierung als Trauma Die Regisseurin Christina Rast erzählte mir über den theatralen Raum: „Der Lastenaufzug … war … wie eine Schachtel, wie ein Archiv, wie eine Schachtel, die man aufmacht und dann ist eine Geschichte drin.“ (Gespräch vom 30.9.2005) Der Raum hat die Funktion, die Geschichte zu bewahren, er fungiert als Archiv gleichermaßen, als öffentlicher Theaterraum für die Ablagerungen des kollektiven Gedächtnisses. Das Motiv des „Archivs“ ist bedeutend in der Traumaforschung, da traumatisierende Ereignisse erst durch Narration der Erinnerung, damit dem Bewusstsein und damit dem kollektiven Gedächtnis zugänglich werden (vgl. Kopf 2005). Kultur, Kunst und Medien können als „Archive“ von Traumata verstanden werden, so wie die queere Kultur als Archiv des Traumas von HIV dient (vgl. Cvetkovich 2003). 156

Theater fungiert also aktuell als „Archiv“ des Traumas der Erwerbslosigkeit. Die Inszenierung Die Schere bewahrt den traumatischen Effekt der Übertragung von Gewalt auf Kinder, die im Kontext von Erwerbslosigkeit und Sucht entstehen kann, aber nicht muss. Die Übertragung findet hier explizit statt: Das Kind wird nicht ermordet, sondern nimmt sich selbst das Leben. In Deutschland existiert seit einigen Monaten, seit mehrere Fälle von Kindesvernachlässigung (bis zur Tötung) bekannt wurden, ein lebhafter Mediendiskurs zu prekären sozialen Situationen und Kindes(un)wohl. Die Schere, wiewohl vor diesem medialen „Rummel“ geschrieben und inszeniert, schlägt genau in die Kerbe der Koppelung von Armutsgefährdung (durch Erwerbslosigkeit), nicht erzählbaren/unklaren Geschehnissen und Zerstörung kindlichen Lebens. Interessant ist, dass die Vernachlässigung des Kindeswohls in Die Schere nicht an der Mutterfigur diskutiert wird (wie die Diskursivierung von „Kindsmord“ an der Medea-Figur geschah, vgl. Mauerer 2002), sondern an der Vaterfigur. Mit ihr möchte ich das Motiv des Traumatischen verknüpfen. Traumata lagern sich gleichermaßen im Körper ab und bilden Erstarrung als Effekt von überwältigendem Schrecken aus.7 Das „Traumatische“ ist in Rasts Inszenierung (und Lohers Text) vielfach vorhanden: als körperliche Erstarrung und ruckartige Bewegung, als Verzerrung der Größenrelationen (die Brille und die Schere sind überdimensional groß) und vor allem als „NichtErzählbares der Geschichte“ (vgl. Kopf 2005). Das Erleben traumatisierender Ereignisse überfordert laut psychoanalytischer Traumatheorie die innere Ökonomie der Betroffenen dermaßen, dass die geordnete Entstehung von Bedeutung und damit die sprachliche Artikulation verunmöglicht werden (vgl. Herman 2003). Traumatisches kann daher in sprachlichen Chiffren stecken, die auf das Traumatische zugleich verweisen und es verdecken (zum chiffrierten Sprechen als traumatisches Sprechen vgl. BarOn 1996: 17-69). Eine solche Chiffre ist in Die Schere das „Toilettenwasser“, das auf die Arbeit der Mutter in der Fabrik, wo das „Toilettenwasser“ hergestellt wird, und damit auf die Arbeitslosigkeit des Vaters verweist. Die Rede vom „Toilettenwasser“ leitet die Szene ein, in der der betrunkene Vater in dem Glauben, er sei bereits auf der Toilette, auf den Polstersessel pisst. Das „Toilettenwasser“ dient als Deckwort für das, was nicht ausgesprochen werden kann: für die Schrecken, die sich in dem Spannungsfeld von Arbeit(sverlust) und Pisse verbergen. Die Erzählung vom Pissen – „das Kind starrt den Mann an und denkt an das Wort Toilettenwasser“ (DS: 160) – bringt wiederum die erste „Bewe7

Neue Traumatheorien suchen nach neurologischen Konsequenzen von Traumatisierung (vgl. Rothschild 2002).

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gungsszene“ in Erinnerung. Diese erscheint als Teil der „Geschichte, die nicht erzählt werden kann“; das Schwenken des überdimensionalen Penis (in der Bewegungsszene) dient dem Verweis auf das Unerzählbare. Dieses transportiert Destruktivität, die als Andeutung sexueller Gewalt verstanden werden könnte. 3.4. Welche Männlichkeit? In Die Schere wird ein traditionelles Imago von Männlichkeit als Familienernährer aufgerufen: Vom Vater wird erzählt, er „… weiß nur, dass er es allein schaffen muss. Er muss es ganz allein schaffen. Er allein muss es ganz schaffen.“ (DS: 161) Er schafft „es“ offensichtlich jedoch nicht. Die traumatische Struktur der Inszenierung ist via „Toilettenwasser“ mit dem „Vater“ verknüpft. Zentral für meine Analyse ist, dass es nicht nur Attribute von Männlichkeit, sondern auch von „Versagen“/Arbeitslosigkeit sind, die das Traumatische speisen. Feministische Traumatheorie und Gewaltkritik können sich an dieser Stelle also nicht ausschließlich auf Geschlecht/auf männliche Täterschaft beziehen, sondern müssen den sozialen Status als zentrale Kategorie der Traumatisierungsdynamik miteinbeziehen. Da Theater nicht Realität abbildet, ist die repräsentationskritische Frage angebracht, welche Art von Männlichkeit hier als gewalttätig gezeigt wird (die Frage knüpft an Wray/Newitz 1997 an). Wenn es stimmt, dass Theater die Wahrnehmung mit der eigenen Erfahrung verknüpfen kann, dann bietet das inszenatorische Spiegelungsverfahren von Die Schere die Zusammenstellung von Trauma/Arbeitslosigkeit/weiße Männlichkeit als Verknüpfung an. Damit wird weiße bürgerliche Männlichkeit zur „sicheren“ (im Sinne von ökonomisch gesichert und ungefährlich), und die Zusehenden, die sich mit weißen bürgerlichen Normen identifizieren – was im Züricher Schauspielhaus und im Thalia Theater nicht wenige sein dürften –, können sich vom Schrecken der Arbeitslosigkeit berührt fühlen, ihre eigene Identität jedoch als sicher imaginieren. Die so etablierte Spaltung in arm/arbeitslos als „prekär“ und Mittelklasse als „sicher“ verläuft quer durch die weiße Männlichkeit. 4.

Die Zeichnung der Erwerbslosigkeit als Tanz – Tino Sehgals Diese Beschäftigung

Ich komme nun zu dem zweiten Beispiel, dieses Mal aus dem Zwischenbereich von Performance Art (im Kontext von Bildender und Darstellender Kunst) und Tanz: Tino Sehgals Diese Beschäftigung. 158

4.1. Die allgegenwärtige Choreografie der Ökonomie Diese Beschäftigung, finanziert durch den Kunstpreis der Baloise-Versicherungsgruppe in der Höhe von 25.000 Schweizer Franken, war im Dezember und Januar 2005/2006 in der Hamburger Kunsthalle zu erleben. Meine Analyse basiert auf mehrmaligen Besuchen, einigen Gesprächen mit Performern und dem wenigen Material, das zu Diese Beschäftigung publiziert ist, denn zu Tino Sehgals Konzept gehört die Liveness, die keine Aufzeichnung oder Abbildung erlaubt. Im Raum Nummer 33 der Kunsthalle sind weiße Wände zu sehen, die keine Spuren von Nägeln oder Abdrücken der Bilder an sich tragen. Der Raum ist leer, bis auf eine Person, die die Besucher/innen, wenn sie einige Schritte in den Raum getreten sind, mit einigen Sätzen begrüßt, wobei die ersten beiden Worte in einem eigenartigen, gedehnten Rhythmus gesprochen werden: „Diese Beschäftigung. Diese Beschäftigung. Tino Sehgal 2005. Ein Geschenk der BaloiseVersicherungsgruppe.“8 Die Performer/innen von Diese Beschäftigung (abwechselnd drei Männer und eine Frau) stehen auf einer diagonalen Achse zwischen den beiden Eingängen, die den Raum strukturieren, so dass sich immer eine spezifische Choreographie zwischen den Performer/innen und Besucher/innen ergibt. Die Performer/innen bleiben, wenn möglich, frontal zu den Besucher/innen, sie gehen rückwärts vor ihnen her, halten einen bestimmten Abstand ein, bleiben stehen und gehen weiter, so dass sie zurückweichend wirken. Tino Sehgal hat seine „Choreographie“ an die Performer/innen vermittelt: „Sie (die Besucher/innen) mitnehmen, ohne ihnen im Weg zu stehen. Vor ihnen hergehen, so dass sie das Gefühl haben, die Performer zurückzudrängen.“ (Ein Performer im Gespräch, 4.12.2005) Die Steuerung der Bewegung liegt, ganz im Sinne von Michel Foucaults Machtkonzept, überall und nirgends. Sprache gestaltet den Rahmen des Geschehens. Der „Text“ des Werks besteht aus der Nennung des Werktitels, des Künstlernamens, des Entstehungsjahrs und des Sponsors/Besitzers (die Baloise Versicherungsgruppe). Mit der Reduktion – oder Konzentration – der sprachlichen Äußerungen auf diese „Eckdaten“ werden die Konventionen traditioneller Bildender Künste gezeigt und wieder-holt: Schöpfer, Besitzer und das „Geburtsjahr“ des Werks. Die „Szene“ beginnt immer neu, wenn jemand den Raum betritt. Der Rhythmus des Werks ist bestimmt durch den Rhythmus des Sprechgesangs Diese Beschäftigung und 8

Diese Arbeit von Tino Sehgal folgt auf This is so contemporary und This is exchange, zwei „Publikumsanimationen“, die Sehgal bei der Biennale 2005 in Venedig ausstellte (vgl. Bechtloff 2005).

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von dem Eintreten der Besucher/innen. Er ist nicht steuerbar, sondern mit den Bewegungsprozessen in der „Kunsthalle“ beziehungsweise mit der Ökonomie des (touristischen) Kunstmarktes verwoben. 4.2. Alle sind auf der Bühne des Marktes Die Ausstellungsbesucher/innen sind in Diese Beschäftigung notwendig „Mitspielende“. Gleich, wie sie (re)agieren, sie befinden sich auf der „Bühne“. Sind bereits früher gekommene Besucher/innen im Raum, werden diese zu Zusehenden und die neu gekommenen zu Performer/innen. Wenn sie schnell durchgehen, müssen sie die „Bühne“ ebenso queren, wie sie sich darauf aufhalten, wenn sie stehen bleiben. Auf das Thema „Erwerbsarbeit“ oder „Beschäftigung“ übersetzt, bedeutet dies, dass niemand sich entziehen kann: Alle sind im globalisierten Kapitalismus auf der „Bühne“, verlassen sie oder betrachten sie: „Der Markt ist bei ihm [Seghal] die gegenwärtige conditio sine qua non, an der nichts vorbeiführt.“ (vgl. Hübl 2005: 47). Jeder mögliche Subjektstatus ist demnach prekarisiert, das heißt, abhängig von seiner Relation zu einer globalisierten Ökonomie und damit „widerruflich“. Nolens volens sind die Besucher/innen mit dem Eintritt in den Raum in komplexen, sich durchkreuzenden Machtstrukturen verfangen: „Man geht rein, löst die Arbeit aus und je nachdem, wie man sich verhält, konstituiert man den Moment der Arbeit mit. Es spiegelt unsere heutige Art des In-der-Gesellschaft-Seins. Eben nicht bloß als Rezipienten, sondern als Machteinheiten, die durch Entscheidungen und kulturelle Wertschätzungen mitgestalten.“ (Sehgal 2005: 166) Besucher/innen können ihre Position demnach als handelnde Subjekte des Marktes konstituieren. Ihnen wird die Verwandlung von Performer/innen in „Kunstwerke“ vorgeführt. Ein erwerbsloser Mensch wird durch die Performance seiner Erwerbslosigkeit zum (temporär) Erwerbstätigen, zum/ zur prekär Arbeitenden. Erwerbslose können in diesem Kunstprojekt aufgrund ihrer Erwerbslosigkeit und ihrer prekären Lebensverhältnissen zu (prekär) Beschäftigten werden. Dies ist ein mimetischer Nachvollzug von arbeitsmarktpolitischen Regelungen wie Ein-Euro-Jobs.9 Diese Beschäftigung betont jedoch nicht nur Erwerbsarbeitslosigkeit, sondern auch die Frage nach Sinnstiftung. „Beschäftigung“ verweist auf Arbeit, 9

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Erwerbslose erhalten Arbeitslosengeld und zusätzlich für jede Stunde Arbeit einen Euro, d.h. Firmen bekommen staatlich geförderte Arbeitsplätze. Dies hat zur Konsequenz, dass in deutschen Zeitungen seit der Einführung von Ein-Euro-Jobs ungleich mehr „Stellenangebote“ für Menschen zu finden, die arbeitslos gemeldet sind, als für Menschen, die nicht arbeitslos gemeldet sind.

meint aber auch (Freizeit-)Betätigungen. Damit sind ökonomiekritische Diskurse um Tätig-Sein, Freizeit, Muße etc. angesprochen, und die Frage taucht auf: Welche Beschäftigung? Das Primat der Ökonomie erweist sich in Diese Beschäftigung als dominant, denn die Frage nach „dieser Beschäftigung“, nach jeglicher Tätigkeit erweist sich als eingelassen in ökonomische Dynamiken. 4.3. Die Körper der Protagonist/innen als „andere Körper“ Tino Sehgal war wichtig, dass Erwerbslose die Performances machen (Gespräch vom 4.12.2005): Zwei Mitarbeiter der Hamburger Obdachlosenzeitung Hintz und Kunz, eine Bewohnerin des Frauenhauses und ein Künstler wurden von ihm engagiert. Drei von ihnen sind nicht bloß erwerbslos, sondern befinden sich darüber hinaus in Situationen extremer Gefährdung: nicht in den „eigenen“ vier Wänden zu leben. In der Performance entsteht ein starker Kontrast zwischen den weißen Wänden des leeren Raumes, den Performer/innen und den oftmals bürgerlich wirkenden Besucher/innen. Die Wahrnehmung der Besucher/innen wird – verstärkt durch das sehr grelle Licht und die sehr weißen, leeren Wände – auf die Körperlichkeit und die Erscheinung der Performer/innen konzentriert, auch auf ihre Stimme, die in der Stille des Raumes überdeutlich zu hören ist. Die Bindung des Werks an die Körper der Performer/innen und ihren Sprechgesang macht diese zu dem Werk selbst. Ihr Rezitieren und damit letztlich ihre Präsenz wird zu dem „Geschenk der Baloise Versicherungsgruppe“. Diese Beschäftigung steht in der Tradition der (feministischen) Performance Art und Aktionskunst als Auseinandersetzung mit dem/den gesellschaftlich Verdrängten (vgl. Schade 1994). Stellten allerdings – und das ist zentral – die Aktions- und Performancekünstler/innen der 1970er und 1980er Jahre ihre eigenen Körper aus, so nimmt Diese Beschäftigung eine scharfe Trennung von „Künstler“ und „Protagonist/in“ vor: Während Tino Sehgal unsichtbar bleibt, findet die Ausstellung und Herstellung der „anderen Körper“ in dem Kunstwerk und dem dazugehörigen Text statt, wenn sich, laut Sehgal (siehe oben), die „Wucht … anders … entfaltet“, wenn „die Protagonist/innen von Arbeitslosigkeit gezeichnet sind“ (vgl Seghal im Interview mit Brockes 2005: 40). Die „Zeichnung“, die in klassischen Kunstausstellungen gerahmt an den Wänden hängt, ist nun in der Gestalt der Protagonist/innen zu finden, die performenden Körper bilden Blatt und Werk zugleich. Die Besucher/innen von Diese Beschäftigung finden ein Gegenüber vor, mit dem sie sich identifizieren oder von dem sie sich differenzieren können. Die „Zeichnung von Arbeitslosigkeit“ liegt als „Verworfenes“ der Subjektkonstitu161

tion der Besucher/innen zugrunde, die „Versicherung“ der eigenen, ökonomisch besser gestellten Position ist das eigentliche Geschenk der „Baloise-Versicherungsgruppe“. Wenn dem so ist, dann dient Diese Beschäftigung der identitären Versicherung – gleichsam der Ent-Prekarisierung – eines bürgerlichen Mittelstandes, der sich über Abgrenzung zu seinen „Anderen“ etabliert, und das sind im Theater – angesichts eines sich in Deutschland durch Handel gut etablierenden türkischen Mittelstandes – sondern weiße Arbeitslose. Nahezu unsichtbar in der theatralen Repräsentation bleiben Migrant/innen, die unter der Armutsgrenze leben, und illegalisierte, geflüchtete Menschen ohne Papiere. Diese Beschäftigung – zwar nicht als „Theater“ ausgewiesen – übernimmt somit eine Funktion des bürgerlichen Sprechtheaters: Die Unterstützung der Identitätsbildung der Mittelklasse. 5.

Die Krise der Erwerbslosigkeit als Prekarisierung weißer Männlichkeit?

Die beiden exemplarischen Analysen zeigen, dass Männlichkeit mehr zur Disposition steht als Weiblichkeit, sobald Erwerbslosigkeit Thema ist. Verweisen möchte ich auf drei weitere Tanz-/Performance-Arbeiten, die an männlichen Figuren Erwerbslosigkeit und prekäre Arbeit abhandeln: Jochen Rollers Perform Performing (Hamburg Kampnagel 2004) und Barbara Kraus’ JohnPlayerSpezial – Ungeklärte Verhältnisse. Auftrag Nr. 9 (Tanzquartier Wien 2005). In Perform performing werden die prekären Arbeitsverhältnisse von Tänzern vorgeführt, wobei Bewegungen aus manchen Jobs – beispielsweise das Hemden-Zusammenlegen von H&M-Verkäufer/innen – als tänzerisches Vokabular eingesetzt werden. Die Arbeit im Call-Center eigne sich sehr gut für Künstler/innen, ist zu erfahren, da für die Telefonkunden unsichtbar geprobt werden könne, während die Umstände für Bewegungsproben bei der Arbeit als Nachtwächter ungünstig seien. In JohnPlayerSpezial diskutiert Barbara Kraus als „Johnny“ – ein „Wiener Strizzi“ – die identitären Verunsicherungen prekärer Arbeitsverhältnisse. Das Theatermacher/innenkollektiv Rimini Protokoll stellt in Sabenation – go home and follow the news (Kunsten Festival des Arts, Brüssel 2004) fünf Männer und eine Frau auf die Bühne, die bei der belgischen Sabena Airlines beschäftigt waren und nach der Schließung der renommierten Fluglinie gekündigt wurden. Die Frau (eine ehemalige Flugbegleiterin) erscheint erst als Ikone der nun Arbeitslosen in den Medien, als Weinende und Mutter (sie erzählt von dem vietnamesischen Mädchen, das sie eben erst adoptiert hat und nun ernähren 162

muß). In der Folge gibt sie Selbstpräsentationskurse für Arbeitslose, ist also nicht mehr arbeitslos. Die Suche nach Erwerbsarbeit und das Vagabundieren von Job zu Job werden als männliches Problem präsentiert, ebenso wie das lebenslängliche – erfolglose – Bemühen, Pilot bei Sabena zu werden. Zwar wird in manchen Theaterstücken auch Arbeitslosigkeit von Frauen gezeigt (so wie in Moritz Rinkes Cafe Umberto, Thalia Theater Hamburg 2005), dann allerdings mit sehr klassischen Weiblichkeitsbildern aufgeladen: Die erfolglose Designerin wird erst von einem dubiosen Chef quasi prostituiert und landet dann in der Psychiatrie. Die einzige Frau, die in Diese Beschäftigung performt, lebt zur Zeit der Ausstellung im Frauenhaus (was sie als Gewaltbetroffene ausweist). Die einzig ökonomisch erfolgreiche Figur in Café Umberto, die Fernsehmoderatorin Sonja, wird im Laufe des Stücks von ihrem Lebensgefährten gefesselt. In Die Schere wird neben einem geschlechtslosen „Kind“ eine Mutter (und Arbeiterin) gezeigt, die mit einem klassisch „weiblichen“ Körper versehen (die Schauspielerin schlüpft in einen Schaumgummi-Leib mit großen Brüsten, großem Bauch und Gesäß) ihre Lebensträume tanzt; und sie trägt ein Prinzessinnenkleid. Ich füge zu meiner anfänglichen These von der „Erwerbslosigkeit als Krise von Männlichkeit“ also die These hinzu, dass in den darstellenden Künsten traditionelle Weiblichkeitsbilder erscheinen, sobald Erwerbslosigkeit Thema ist. Das mitteleuropäische kulturelle Reservoir hält angesichts des drohenden (oder stattgefundenen) Arbeitsverlustes für Frauen scheinbar fixe Rollen bereit – Mutter, Arbeiterin, Gewaltbetroffene und seit neuestem Karrierefrau –, während die Prekarisierung, die Arbeitslosigkeit produzieren kann, an Männlichkeit festgemacht wird. Auffallend ist, dass das gelungene, oft kollektive Management prekären und arbeitslosen Lebens von Frauen – Europäerinnen wie Migrantinnen – nicht in dem Darstellungsreservoir der großen deutschsprachigen Theaterhäuser zu finden (wiewohl existent) ist. Diese Ungereimtheit mag sich durch einen Hinweis der Soziologin Rosa Reitsamer (im Gespräch vom 14.1.2006), mit dem ich schließen möchte, erklären: Gesellschaftliche Phänomene gelangen dann in das Zentrum der allgemeinen Aufmerksamkeit – also auch in die großen Theaterhäuser – wenn sie die Norm selbst, also weiße Männlichkeit betreffen. So gesehen verwundert die Absenz weiblicher Figuren nicht mehr, denn die „Krise der Erwerbslosigkeit“ transformierte Männlichkeit (in Deutschland ungleich mehr als in Österreich) tatsächlich zu dem „prekären“ Geschlecht.

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Prekäre Verhältnisse als Zuckerseiten des Lebens. Künstlerinnen und die Creative Class1 Elisabeth Mayerhofer/Monika Mokre

KünstlerInnenbilder in unserer Gesellschaft sind vielfältig, widersprüchlich und von wechselnden Mythen und Legenden geprägt (vgl. Schneider 2004). Diese Konstruktionen „des Künstlers“ (seltener: „der Künstlerin“) wirken sich, vermittelt über Institutionen und Produktionsweisen, auf die Existenzbedingungen real existierender KünstlerInnen aus – und zwar, dies sei vorausgeschickt, mehrheitlich ungünstig, insbesondere was den Status und damit die Verdienstmöglichkeiten von Frauen in diesem Feld betrifft. Doch KünstlerInnen sind nicht nur passive Objekte gesellschaftlicher Zuschreibungen, sondern mindestens manche von ihnen haben auch den Anspruch, in gesellschaftliche Verhältnisse einzugreifen und Betriebssysteme offen zu legen, und nützen den ihnen zugeschriebenen „Ausnahmestatus“ zu diesem Zweck. Die Spannung zwischen verschiedenen Diskriminierungszusammenhängen wie Geschlecht und/oder Nationalität, zwischen Fremdsteuerung durch unterschiedliche Legendenbildungen und der Nutzung der Spielräume, die sich aus diesen Formen der Überhöhung ergeben, ist Thema dieses Beitrags. 1.

Ausgangslage

Reflexionen und insbesondere auch Selbstreflexionen zum Status von KünstlerInnen im 20. und beginnenden 21. Jahrhundert sind geprägt vom übermächtigen Kunst- und Künstlerbild des 18. und 19. Jahrhunderts und können als Pendelbewegung zwischen rabiater Ablehnung der Vorstellung des aus sich selbst kreativ schaffenden Geniekünstlers und der (häufig unterschwelligen) Affirmation dieser Legende gelesen werden. Die potenzielle Zuschreibung ho1

Wir verwenden immer dann eine geschlechtergerechte Sprache, wenn wir meinen, dass sich der dargestellte Diskurs tatsächlich auf beide Geschlechter bezieht. Gerade im Kunstdiskurs ist das Maskulinum oft nicht als generisch, sondern als geschlechtspezifisch zu verstehen; in diesem Falle halten wir an der männlichen Form fest.

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hen symbolischen Kapitals, das sich indes selten in finanzielles Kapital oder auch gesellschaftliche Relevanz umsetzen lässt, kann von KünstlerInnen als fremdbestimmte Bedingung der eigenen Möglichkeiten akzeptiert oder – affirmativ oder subversiv – für eigene Zwecke verwendet werden. Der zweite Weg ist allerdings für männliche Künstler deutlich leichter zu beschreiten als für Künstlerinnen, die im etablierten Kunstfeld nach wie vor eine prekäre Rolle einnehmen (vgl. Mayerhofer 2002). Der kraftvoll aus sich selbst heraus schöpfende Geniekünstler war und ist männlich, sogar ausgesprochen männlich – Virilität spielt für dieses Konzept eine wichtige Rolle. Neue und Nebenkanons, die aus der Revolte gegen bestehende Kanons entwickelt wurden, haben dauerhaft wenig an der rigiden Geschlechterhierarchie des Kunstbetriebs geändert. Allerdings sollte nicht übersehen werden, dass die Legende vom Geniekünstler für die Mehrzahl von KünstlerInnen beiderlei Geschlechts wenig produktiv ist, da es per definitionem nur eine geringe Anzahl von Geniekünstlern geben kann.2 Seit knapp einem Jahrzehnt hat sich nun ein gänzlich anderer Diskurs über künstlerische und kulturelle Aktivitäten entwickelt, der unter dem Schlagwort Creative Industries firmiert. In Kürzestform lässt sich dieses neue Kunstverständnis als doppelte Grenzüberschreitung (oder -verwischung) beschreiben: Die Grenzen zwischen Hochkultur und Popularkultur werden – in Anlehnung an die Cultural Studies – aufgehoben und die Grenzen zwischen Kunst und Ökonomie werden entsprechend dem neoliberalen Zeitgeist der absoluten Hegemonie der Ökonomie ebenfalls beseitigt. Wie im Folgenden beschrieben wird, ist diese Entwicklung nicht unproblematisch – gerade auch für Künstler und Künstlerinnen. Doch zugleich ist es auch wenig erstaunlich, dass es für viele KünstlerInnen durchaus attraktiv war und ist, dass durch den Hype der Creative Industries ein neues Verständnis von Kreativität möglich wurde, das die Aussicht auf gesellschaftliche und damit auch ökonomische Anerkennung bietet. Kreativität als Wirtschaftsfaktor, Kultur als Beschäftigungsmaßnahme ermöglichen, zumindest auf den ersten Blick, ein gänzlich neues künstlerisches Rollenbild, das den KünstlerInnen zwar den Ausnahmestatus nimmt, ihnen dafür aber eine durchaus prominente Rolle innerhalb des gesellschaftlichen Mainstreams bietet. Die Creative Industries werden seit gut einem Jahrzehnt als Erfolgsrezept für individuelle kreative Karrieren (so wie auch für den Standortwettbewerb) 2

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In Bezug auf Kunst(arbeits)märkte wird deshalb vom „winner-takes-all“-Phänomen gesprochen, das besagt, dass sämtliche Ausgaben, die KonsumentInnen auf diesem Markt tätigen, einigen wenigen zugute kommen (vgl. Abbing 2002: Kap. 5.2).

propagiert. Die Geschichte dieses Hypes soll im Folgenden nachgezeichnet und ihre Auswirkungen auf die Situation von KünstlerInnen empirisch belegt werden. 2.

Kunst und Arbeit: Die Entdeckung des ökonomischen Potenzials der Kunst

In den 1990er Jahren wurden Kunst und Kultur verstärkt unter den Vorzeichen ihres ökonomischen und Beschäftigungspotenzials gesehen. Dies ist im Zusammenhang mit dem Aufkommen neuer Kommunikationstechnologien zu sehen, die zu dieser Zeit erstmals flächendeckend zugänglich wurden. In dieselbe Zeit fällt auch die so genannte New Economy Bubble, die die hohen Erwartungen, die in den Informations- und Kommunikationstechnologien-Sektor gesetzt wurden, illustriert: Das Internet war soweit entwickelt, dass Privatpersonen breitflächig Zugang hatten. Unternehmen wurden gegründet, ohne dass es bereits entsprechende Businessmodelle gab, die vermittelten, wie in diesem neuen Umfeld Geld verdient werden könnte. Auf den Aktienmärkten wurde investiert, dies nicht nur aus einer euphorischen Erwartungshaltung heraus, sondern auch aus der Notwendigkeit heraus, in der Gründungsphase zu investieren und nicht erst dann, wenn ein Unternehmen etabliert und die Aktien ihrem Wert entsprechend gehandelt werden und geringere Gewinnmargen erwarten zu sind. Ein Großteil der Unternehmen überlebte nicht – aus verschiedenen Gründen, auf die hier nicht näher eingegangen werden soll –, die Blase fiel zusammen. Was jedoch blieb, war das Bewusstsein der Digitalisierung, der Virtualisierung vieler Lebensbereiche. Anhand der Ausbreitung digitaler Medien kann ein Phänomen, das von physischen Gütern bereits bekannt war, noch deutlicher beobachtet werden: die Kulturalisierung sämtlicher Waren und Dienstleistungen. Güter, die sich aufgrund globalisierter Wirtschaftsstrukturen immer weniger voneinander unterscheiden, werden mit einem symbolischen Mehrwert ausgestattet, um den für die Preisdifferenzierung nötigen Distinktionswert zu erhalten. So unterscheiden sich beispielsweise manche Automarken nicht mehr durch Verarbeitung oder Einzelteile, da sie alle unter dem Dach desselben Großkonzerns produziert werden und auch diese wiederum ihre Basisteile von den wenigen weltweit agierenden Zulieferern erhalten. Um diese an sich identischen Produkte dennoch an verschiedene Zielgruppen zu verkaufen, müssen sie differenziert werden. Das tun sie durch Unterschiede in Design und Endverarbeitung sowie – vor allem – durch Werbekampagnen, durch so genanntes „Branding“. Klein (1999) weist 169

darauf hin, dass die ästhetische Bearbeitung ein immer wichtigeres Element in der Wertschöpfungskette eines Produktes darstellt. In einem digitalisierten Kontext wird dies umso deutlicher, als dort sämtliche Strukturen neu geschaffen wurden beziehungsweise werden und die Unterschiede zwischen den einzelnen Produkten erst deutlich gemacht werden müssen. Darüber hinaus liegt die Relevanz von Oberflächengestaltung in einem Medium, das auf Schrift, Bild und Ton aufbaut, auf der Hand. Die Ausbreitung des Internet und digitaler Produkte oder Dienstleistungen (als ein Beispiel sei hier nur die Spieleindustrie genannt) verursachten einen sprunghaften Anstieg der Nachfrage nach Personen, die diese neuen Bereiche gestalten konnten: GrafikerInnen, DesignerInnen aller Art, LayouterInnen etc. – Personen, mit der Kompetenz, visuell erfahrbare Oberflächen zu gestalten, viele von ihnen mit einer künstlerischen Ausbildung. Die Möglichkeiten für AbgängerInnen von Kunsthochschulen, in Bereichen zu arbeiten, in denen sie an ihre Ausbildung anschließen konnten, wurden dadurch erheblich erweitert.3 Über diesen Anstieg der Nachfrage nach einzelnen künstlerischen Kompetenzen kann auch die Vielzahl der Studien erklärt werden, die Kunst- bzw. Kulturarbeitsmärkten4 ein im Vergleich zu anderen Arbeitsmarktsegmenten außerordentlich hohes Wachstum prophezeiten. In der Folge soll eine kurze Auswahl internationaler und nationaler (österreichischer) Studien dies illustrieren. Eine der einflussreichsten Publikationen war der 1998 erschienene Bericht der Europäischen Kommission Culture, the Cultural Industries and Employment. Dort wurde Kultur als ein zentrales Wachstumssegment innerhalb der EU dargestellt, das bereits 1995 drei Millionen Arbeitsplätze in den Mitgliedsstaaten bereit stellte oder, anders gesagt, etwas mehr als 2 % der Gesamtbeschäftigung (vgl. European Commission 1998: 2). Die Wachstumschancen wurden, wenngleich mit länderspezifischen Unterschieden, so doch generell als äußerst viel versprechend eingeschätzt. In dieser Schätzung wurde das traditionelle Kunstfeld5 um die Bereiche Radio und TV, Tonträgerindustrie sowie Multimedia und Online3

4 5

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Dies bedeutet allerdings nicht automatisch, dass sich dadurch für KünstlerInnen neue Arbeitsmärkte erschlossen haben, da im selben Ausmaß wie in diesem Segment eine Nachfrage nach Kreativen aufkam, auch entsprechende Ausbildungsformen eingerichtet wurden, die direkter auf kommerzielle Bedürfnisse abgestimmt sind als künstlerische Ausbildungen. Becker (vgl. 1984) hat diese komplexe Wechselwirkung zwischen dem Status von KünstlerInnen und dem Kunstbetrieb in Art Worlds grundlegend beschrieben. Zur Differenzierung zwischen Kunst und Kultur siehe unten. Definitionen sind hier umstritten, wir sehen jedoch folgende Bereiche als „Kernbereich“ des Kunstfeldes an: Bildende Kunst, darstellende Kunst, Musik, Literatur, Film/Video und Neue Medien.

Aktivitäten erweitert. Die eigentlichen Träger des Wachstums sind jedoch die (Neuen) Medien, wie eine andere Studie belegt: Der größte Wachstumssektor ist der TIMES-Sektor (Telecommunication, Multimedia, E-Commerce, Software/ Security): Es wird mit einer jährlichen Wachstumsrate von (anfänglich) 10 % gerechnet, so dass 22 Millionen Arbeitsplätze innerhalb der EU für das Jahr 2011 prognostiziert werden. (vgl. MKW 2001: 9). Die Strategie, die Medienindustrie sowie sämtliche Bereiche entlang der Wertschöpfungskette eines künstlerischen und/oder kulturellen Produkts gemeinsam mit dem Kunstsektor zu betrachten und somit dessen ökonomisches Potenzial zu betonen, setzte sich fort. Einerseits konnten so beeindruckende Prognosen hinsichtlich Beschäftigung und ökonomischen Potenzials gestellt werden, andererseits profitierten Industriesektoren wie beispielsweise die Tonträgerindustrie oder Medienunternehmen von der positiven Aura des Kunstfeldes. Nicht zuletzt diente der Hinweis auf die wirtschaftliche Rentabilität von Kunst und Kultur oft als Legitimationsfigur für öffentliche Förderungen. Zur selben Zeit kurz nach der Machtübernahme durch die Labour Party änderte Großbritannien seine Kulturpolitik: Eine Creative Industries Taskforce verband bisher getrennte Ressorts in der Administration und baute Kontakte zur Industrie auf. Ein Jahr später, 1998, wurde das erste Creative Industries Mapping Document6 herausgegeben. Darin wurden 13 Sektoren definiert, die zusammen die Creative Industries bilden: Werbung, Architektur, Kunst- und Antiquitätenhandel, Kunsthandwerk (Crafts), Design, Designer-Mode, Film, Interaktive Freizeit-Software, Musik, TV und Radio, Darstellende Kunst, Verlagswesen und Software. Die Studie der Europäischen Kommission und die Neuausrichtung der britischen Kulturpolitik standen am Anfang der intensiven Beschäftigung mit Creative Industries auf verschiedenen Ebenen, wie Hartley/Cunningham (2001: 2) beschreiben: „The idea of the ‚creative industries’ has already developed a life of its own. Some British universities have set up centres or renamed courses and departments […]. The term is used increasingly in European policy.“

Immer wieder kommt es zur Vermischung zwischen dem Bereich angewandter Kunst und vollkommen kunstfremden Bereichen wie dem Mediensektor oder 6

http://www.culture.gov.uk/Reference_library/Publications/archive_1998/Creative_Industries_ Mapping_Document_1998.htm (20.09.2006); das zweite wurde 2001 publiziert, siehe unter http://www.culture.gov.uk/Reference_library/Publications/archive_2001/ci_mapping_doc_20 01.htm (20.09.2006).

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der Softwareherstellung. Gemeinsamer Nenner dabei ist in vielen Fällen der Umstand, dass die Produkte beziehungsweise Dienstleistungen dem Copyright unterliegen, weshalb sie auch unter dem Begriff Copyright Industries firmieren. Dem bereits erwähnten europäischen Trend folgend, wurden zunächst auch für Österreich Potenzialschätzungen unternommen, die – erwartungsgemäß – hoch ausfielen: Die aktuellen Angaben für Österreich liegen dabei bei 5 % aller Beschäftigten (für 2000) und 9 % aller Unternehmen. Auch hier sind die Wachstumsraten beachtlich: Die Anzahl an Unternehmen und Beschäftigten stieg zwischen 1995 und 2000 um circa ein Drittel (vgl. IKM/KMU 2003: 2). Allerdings muss an dieser Stelle erwähnt werden, dass es nach wie vor keine verbindliche Definition der Creative Industries gibt und dass, je nach Interessenlage der AuftraggeberInnen, bestimmte Bereiche hinzugefügt oder gestrichen werden. Dies hat auch trotz einer verstärkten Beforschung des Sektors, eine äußerst heterogene Datenlage zur Folge; nur in der Diagnose eines außergewöhnlichen Wachstumspotenzials sind sich alle Studien einig. Die definitorische Unschärfe macht Creative Industries zu einem Konstrukt, das verschiedene Elemente beinhaltet: die innovative Dynamik als Potenzial des digitalen Informations- und Kommunikationsbereichs, die Kreativität, die dem Kunstfeld zugeschrieben wird, gepaart mit einem außergewöhnlich hohen ökonomischen Wachstumspotenzial. Daraus erklärt sich auch die spezifische Attraktivität des Bereichs für politische EntscheidungsträgerInnen: künstlerische Kreativität, die nun marktgängige und innovative Waren produziert. Dies steht in krassem Gegensatz zum traditionellen Kunstbetrieb und seinen großen Institutionen, die aufgrund ökonomischer Restriktionen7 und eines historisch gewachsenen politischen Auftrages nur mit Unterstützung der öffentlichen Hand überleben können. Dies steht aber auch im Gegensatz zu einer immer wieder von KünstlerInnen wahrgenommenen Aufgabe, aus ihrer Sonderposition heraus gesellschaftliche, politische oder andere Entwicklungen aufzudecken und kritisch zu hinterfragen. Kreativität im Rahmen der Creative Industries ist dem Streben nach ökonomischem Erfolg untergeordnet, sie ist ein Mittel zur Produktion und vor allem zum Verkauf von Waren. In kurzer Zeit sind in vielen Ländern Europas Förderprogramme zur Unterstützung der Creative Industries eingerichtet worden8, die darauf ausgerichtet 7 8

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Eine Detailanalyse würde an dieser Stelle zu weit führen – Einführungen in die Kulturökonomie geben jedoch einen Überblick über die ökonomische Sonderstellung der Kunst (z.B. Towse 2003). Zum Beispiel in Finnland mit der Gründung eines Cultural Industry Committee 1997, das neben Berichten Förderprogramme entwirft.

sind, einen im Entstehen begriffenen Sektor zu fördern. Alle Förderschienen betonen, dass es ihnen um die Förderung marktgängiger Produkte geht, die von Unternehmen hervorgebracht werden, und explizit nicht um Kunstförderung. In Österreich wurde eine Förderschiene auf Bundesebene eingerichtet9 und eine auf Ebene der Stadt Wien10, die als Hauptstadt die höchste Konzentration an Creative Industries aufweist. Um eine vertiefte Kenntnis über die österreichische Situation zu erlangen, wurde zusätzlich ein Forschungsförderungsprogramm etabliert11. 3.

Creative Industries and the City

Stadtforschung und Soziologie sind zwei weitere Felder, die sich seit den 1990er Jahren mit den Creative Industries befassen. Besonders die Untersuchung der Lebensstile von Kunstschaffenden hat die Aufmerksamkeit auf deren konkrete Umgebung gelenkt. Van Aalst und Hitters (2005: 2f.) fassen diese Entwicklung folgendermaßen zusammen: Human geographers and sociologists such as Michael Storper, Allen Scott and Harvey Molotch stress that the creativity necessary for the creative industries is strongly dependent on direct face-to-face contact and on spatial clustering of similar businesses; urban centers are eminently suitable for this. Cities have developed from ‘landscapes of production’ to ‘landscapes of creativity’, in which the advantages of agglomeration play a major role.

Der urbane Raum gilt als der Humus, auf dem sich ein creative milieu bilden kann, das Landry (2000:133) wie folgt beschreibt: Such a milieu is a physical setting where a critical mass of entrepreneurs, intellectuals, social activists, artists, administrators, power brokers or students can operate in an open-minded, cosmopolitan context and where face to face interactions create new ideas, artefacts, products, services and institutions and as a consequence contribute to economic success.“

Landry beschreibt die Personengruppe, die hier in den Vordergrund rückt, als eine heterogene Mischung von Angehörigen verschiedener Berufsgruppen, die in einem spezifischen räumlichen Kontext aufeinander treffen und im Austausch miteinander Ideen generieren und zur Marktreife entwickeln. Dort, wo solche 9 10 11

Impulsprogramm Creativwirtschaft: Näheres siehe unter http://www.impulsprogramm.at/ www.departure.at (20.09.2006) http://www.wwtf.at/wwtf/ (20.09.2006)

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kreativen Milieus entstehen, ziehen sie nicht nur Kreative an, sondern wirken auch als zentraler Standortfaktor bei der Ansiedlung von Unternehmen; Letzteres ist die Hauptthese des zum Bestseller gewordenen Buches The Rise of the Creative Class (Richard Florida 2002). Wie aber sehen diese kreativen Milieus aus? Sie werden in der einschlägigen Literatur in einer Art und Weise positiv gezeichnet, dass der Eindruck entsteht, ein neuer Mythos der Kreativen wurde geschaffen, der in vielerlei Hinsicht auf dem Begriff des künstlerischen Genies aufbaut. Kreative sind, Landry zufolge, „people who think resourcefully, openly and flexibly, who are willing to take intellectual risks, to think problems afresh and to be reflexive“ (Landry 2000: 107). Ihre Umgebung zeichnet sich durch einen hohen Grad der Vernetzung untereinander aus, durch die Verschiedenheit der Individuen und ihrer Berufe. Richard Florida ist der Autor, der den Mythos der Creative Class, wie er sie nennt, am stärksten gefördert hat. Zu diesem Super-Creative-Core zählt er folgende Berufsfelder: „scientists and engineers, university professors, poets and novelists, artists, entertainers, actors, designers and architects, as well as the thought leadership of modern society: nonfiction writers, editors, cultural figures, think-tank researchers, analysts and other opinion-makers“ (Florida 2004: 69). Diese Kreativen wirken als Wachstumsmotor für Städte: Cultural-products industries are therefore significantly on the rise of late, and they are notably visible as drivers of local economic development at selected locations, above all in large cosmopolitan cities, but also in many other kinds of geographical contexts.“ (Scott 2004: 463)

Aus den verschiedenen Zitaten geht hervor, dass die Kreativen als eine Art neue Oberschicht konzipiert sind, die durch ihre Arbeit und durch die für sie spezifische Art der Vernetzung und des Lebensstils ein Klima schaffen, das Investoren anzieht. Kreative Individuen als Standortfaktoren innerhalb einer Stadt. Florida zählt Personen zu den Kreativen, die mit dem Kulturbereich im engeren Sinn nur wenige Berührungspunkte haben, etwa IngenieurInnen und UniversitätsprofessorInnen. Wiederum werden künstlerische Berufsfelder mit anderen zusammengefasst, wobei die verschiedenen Felder verschiedene positive Eigenschaften mitbringen, die sich dann in der Creative Class mischen: einerseits die Kreativität und Flexibilität der Kunstberufe, andererseits die hohen Einkommen anderer Felder wie zum Beispiel der FinanzdienstleisterInnen.

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4.

Prekäres Arbeiten in postfordistischen Arbeitsmärkten

Wie aber sehen die Umstände aus, in denen die kunstschaffenden super creatives leben und arbeiten? Schlecht, um dies vorwegzunehmen. Die aktuellen Arbeitsmärkte sind von der Erosion des Normalarbeitsverhältnisses gekennzeichnet. Dies bedeutet, dass die dreigeteilte Biographie von Ausbildung-BerufPension, die im 20. Jahrhundert die männliche, westliche „Normalbiographie“ ausgezeichnet hat, zugunsten von einander abwechselnden Zyklen aus Aus- und Weiterbildung, Arbeitslosigkeit, Phasen unbezahlter Arbeit etc. abgelöst wird. Diese Merkmale sind in Frauen- und/oder MigrantInnenarbeitsmärkten seit langem die Regel, breiten sich nun aber erstmals auch auf die bis dato privilegierten männlichen Arbeitsmärkte aus. Kunstarbeitsmärkte werden als Vorreiter dieser Entwicklung gesehen (vgl. Haak/Schmid 1999), nicht zuletzt deshalb, weil in manchen Sparten (z.B. bildende Kunst) die Arbeits- und Lebensbedingungen immer prekär waren. Die Vorreiterrolle wird KünstlerInnen aber auch deshalb zugeschrieben, weil sie Eigenschaften aufweisen, die auf künftigen Arbeitsmärkten relevant sind: Einen überdurchschnittlich hohen Ausbildungsgrad (vgl. Mayerhofer/Schiffbänker 2003: 35; Schulz et. al. 1997: 37), hohe Flexibilität, Bereitschaft zur Weiterbildung und eine außerordentlich hohe Arbeitsmotivation, die die finanzielle Remuneration zugunsten einer intrinsischen hintan stellt. Diese hohe Motivation bewirkt auch, dass KünstlerInnen bereit sind, in – gemessen an ihrer Qualifikation – finanziell weit unterdotierten Arbeitsverhältnissen zu arbeiten. Kunstarbeitsmärkte weisen von allen Arbeitsmärkten (auch anderen, sogenannten Winner-takes-all-Arbeitsmärkten) die niedrigsten Einkommen auf (vgl. Abbing 2002: 114). Aufgrund der Sonderstellung, die Kunst (und andere stark symbolisch aufgeladene Produkte) in der westlichen Welt noch immer einnimmt, ist die Einstellung nach wie vor gültig, dass Kunst nicht finanziell zu bewerten und somit in keinem Fall adäquat bezahlt werden kann.12 Daraus resultiert das paradoxe Phänomen, dass einerseits auf Auktionen immens hohe Preise für die Werke einiger weniger Künstler (sic) erzielt werden, andererseits von KünstlerInnen selbst erwartet wird, dass sie zu geringen Preisen arbeiten. Letzteres trifft in besonderem Maß auf die bildende Kunst zu, in geringerem Maße auf die darstellenden Künste. Die Einkommen im Kunstbereich sind gering: KünstlerInnen verdienen im Durchschnitt weniger als die Durchschnittsbevölkerung. Gemessen am hohen Ausbildungsgrad ist die Differenz noch größer. 1998 verdienten nur 2,3 % der 12

Zu dem komplexen Verhältnis zwischen Kunst und Markt vgl. Abbing 2002: Kap.1-3.

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KünstlerInnen mehr als 4.360 Euro monatlich, das heißt, zählten zu den SpitzenverdienerInnen. (Mayerhofer/Schiffbänker 2003: 23) Die Arbeitsverhältnisse sind unsicher, Teilzeitbeschäftigung und Projektarbeit herrschen vor. Durch die Reduzierung von Arbeitsplätzen im öffentlich finanzierten Kultursektor, durch Auslagerungen bestimmter Dienstleistungen werden immer mehr Kunstschaffende in die (Neue) Selbstständigkeit gedrängt, die oft nicht Existenz sichernd ist (vgl. Söndermann 2004: 49). Detaillierte und aktuelle Daten über die Einkommenssituation von Kunstschaffenden beziehungsweise von den Personen, die in den Creative Industries arbeiten, sind vergleichsweise selten verfügbar, die vorhandene Literatur konzentriert sich auf Branchenumsätze und Beschäftigungszahlen (Vgl. z.B. IKM/KMU 2003; Kulturdokumentation et al. 2004). Eine aktuelle Studie (FORBA 2005) mit Detaildaten aus einzelnen Branchen zeigt allerdings, dass sich die Arbeitsverhältnisse in Bezug auf Einkommen, soziale Sicherheit und Geschlechterverhältnis wenig vom Kunstbereich unterscheiden: Geringe Einkommen aus atypischen Beschäftigungsverhältnissen, Projektarbeit und multiple jobholding sowie eine allgemeine quantitative Unterrepräsentanz von Frauen. Die Hoffnung auf nachhaltige Beschäftigung in diesem Feld ist also nicht gerechtfertigt. 5.

Kunst und Creative Industries – ein Produktvergleich

Zusammenfassend lässt sich konstatieren, dass der als große Innovation gefeierte Ansatz des Creative Industries-Konzeptes für KünstlerInnen nicht allzu viel Neues brachte. Die Legende vom Geniekünstler wurde durch den Hype der Creative Class ergänzt, und der Zusammenhang dieser überhöhten Bilder zu realen Lebensformen ist in beiden Fällen ähnlich lose. Etwas abstrakter lässt sich feststellen, dass beide Formen der Verortung künstlerischer Leistung – die Ausnahmestellung im institutionalisierten Kunstbetrieb und die Instrumentalisierung als Wirtschaftsfaktor – wichtige Funktionen im Spätkapitalismus erfüllen, denen die Marginalisierung der handelnden Personen durchaus hilfreich ist. Der Geniekünstler diente zur Zeit seiner Erfindung als Rollenmodell des modernen Menschen, der als Schöpfer von Neuem und Eigenständigem zum Mittelpunkt seines eigenen Weltbilds wurde. Während dieses Weltbild für die meisten „normalen“ Bürger einen sehr abstrakten Horizont ihrer zunehmend durch ökonomische Erfordernisse bestimmten Lebenszusammenhänge darstellte, wurde es im „freien“ Künstler konkretisiert – und die (insbesondere materiellen) Kosten dieser Freiheit ließen es dann gar nicht so attraktiv erscheinen, diesem Modell tatsächlich nachzueifern. Der Künstler stand also für eine Möglich176

keit, die für das Selbstbild der Moderne zentral war, und enthob damit den Großteil der Gesellschaft der Notwendigkeit, diese Möglichkeit tatsächlich zu realisieren. Eine ähnliche Funktion hat der traditionelle Kunstbetrieb im Spätkapitalismus. Immer noch transportiert er das Bild des aus sich selbst schöpfenden Menschen, das prototypisch für ein Menschenbild steht, das zunehmenden Sozialabbau und Prekarisierung der Arbeitsverhältnisse als höhere Eigenverantwortung feiert. Zugleich bietet der Kunst- und Kulturbetrieb Identifikationsmöglichkeiten und Statusvergewisserungen, die in Zeiten abnehmender sozialer Kohäsion und größerer individueller Unsicherheit stabilisierend wirken. Im Rahmen der Creative Industries wird ein mindestens sehr ähnliches Bild der Kreativen direkt in den Wirtschaftskreislauf eingebunden; die Kreativen zeigen nun vor, wie – wiederum ganz aus sich selbst geschöpft – Kreativität und Flexibilität in bare Münze umzuwandeln ist. Das Frauenbild dieser beiden Konstrukte ist unterschiedlich: Während essentialistische Begründungen für die geringere künstlerische Schaffenskraft von Frauen immer noch durch den traditionellen Kunstbetrieb geistern und sich sehr real in weiblichen Karrieremustern niederschlagen, ist die Creative Class unterschiedlich strukturiert. Dies hat damit zu tun, dass sich hier viele traditionelle „Frauensparten“ der angewandten Kunst wieder finden (z.B. Mode, Grafik- und Produktdesign), die zur Sphäre der „hohen“ Kunst der männlichen Genies keinen Zutritt gefunden haben. Die vielen, unterschiedlichen, aber oft zeitgleich zu bewältigenden Aufgaben dieses Berufsbilds entsprechen zudem dem in letzter Zeit gerne betonten Multi-Tasking-Talent von Frauen. Dass Frauen – genau aufgrund der multiplen Anforderungen, die sich aus unsicheren Arbeitsverhältnissen, kombiniert mit Pflegeaufgaben, ergeben – in diesem Konzept als erste den Kürzeren ziehen, geht daraus folgerichtig hervor. Dementsprechend gering ist der statistisch erfassbare Frauenanteil unter den Beschäftigten (vgl. FORBA 2005). 6.

Politische Kunst und Freiheit der Kunst

Künstler und Künstlerinnen haben sich immer wieder gegen Festschreibungen ihrer Rolle in der Gesellschaft gewehrt, indem sie herrschende Kunstdefinitionen angezweifelt und Funktionsbedingungen des Kunstfelds aufgezeigt haben sowie sich – aus dem Kunstfeld heraus agierend – in gesamtgesellschaftliche Zusammenhänge eingemischt haben. Die (angebliche) Freiheit der Kunst wird in diesen Arbeiten nicht als apolitischer Freiraum, sondern im Gegenteil als ein 177

größeres Maß an (auch politischer) Meinungsfreiheit interpretiert. Auch wenn es durchaus problematisch erscheint, KünstlerInnen mehr Meinungsfreiheit als anderen BürgerInnen zuzugestehen, so eröffnet sich dadurch doch eine weitere Möglichkeit des Widerstands und der Kritik. In diesem Sinne beruft sich politische Kunst nicht auf eine essentialistische Freiheit ihres Tuns, sondern nützt eine diskursive Konstruktion, die Teil des hegemonialen Verständnisses ist, um größere politische Freiräume auszuloten. Politische Kunst betont die gesellschaftliche Verankerung und potenzielle Relevanz von Kunst und richtet sich somit gegen die Vorstellung, dass sich künstlerisches Handeln außerhalb konkreter sozialer und historischer Kontexte befände. Sie richtet sich aber auch gegen die Vereinnahmung in ökonomische Verwertungszusammenhänge, um ihren kritischen Charakter zu bewahren. Kunst, die sich in dieser Weise positioniert, befindet sich also stets in einem heiklen Balanceakt zwischen gesellschaftlicher Irrelevanz durch Mythologisierung und gesellschaftlicher Vereinnahmung. Die Schwierigkeiten dieses Grenzgangs werden in der Folge am Werk der serbischen Künstlerin Tanja Ostojic gezeigt, die zum Jahresende 2005 eine zweifelhafte Berühmtheit in Österreich erlangte: Im Rahmen des Projekts 25 peaces, das während des gesamten Jahres 2005 mittels künstlerischer und nichtkünstlerischer Positionen die österreichische Geschichte seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges einer breiten Öffentlichkeit nahe bringen wollte, wurden 800 künstlerische Sujets von 75 KünstlerInnen zum Thema EU ausgewählt, die auf sogenannten Rolling Boards (Werbemonitoren) gezeigt werden sollten. Diese öffentliche Ausstellung sollte zugleich den Auftakt der österreichischen EU-Präsidentschaft bilden. Nach dem Auftauchen der ersten Plakate brach eine von dem österreichischen Boulevardblatt Kronen Zeitung initiierte öffentliche Erregung aus, die darin gipfelte, dass die zwei umstrittensten Sujets, o.T./Untitled von Tanja Ostojic sowie eine Arbeit des spanischen Künstlers Carlos Aires zurückgezogen wurden. Das Hauptargument der GegnerInnen war der angeblich pornographische Charakter der Werke: Ostojics Plakat zeigt einen Frauenunterleib, der mit einem blauen Slip mit Sternen (also sozusagen der EU-Flagge) bekleidet ist, Aires zeigt nackte, kopulierende Menschen mit den Masken von George W. Bush, Jacques Chirac und Queen Elizabeth. Der Pornographievorwurf ist nicht nur deswegen einigermaßen erstaunlich, weil er von einer Tageszeitung aufgebracht wurde, die täglich eine völlig unbekleidete Frau zeigt, sondern zumindest im Fall von Tanja Ostojic auch deshalb, weil sich das Gesamtwerk der Künstlerin mit unterschiedlichen Ausbeutungsverhältnissen von Frauen beschäftigt – und zweifellos ist die Ausbeutung der Abgebildeten eines der Hauptmerkmale 178

von Pornographie, auch wenn dieser Aspekt in den einschlägigen Debatten häufig untergeht. 7.

Tanja Ostojic

Tanja Ostojic ist eine Künstlerin, die in Serbien geboren wurde. Die drei Identitätszuschreibungen Frau, Künstlerin, Nicht-EU-Bürgerin prägen ihre gesellschaftliche Situation wie auch ihre künstlerische Arbeit. Ihre Kunstmittel sind Intervention und Provokation. Um die Arbeit, die im Rahmen von 25 peaces zu heftigen Kontroversen geführt hat, einzuordnen, stellen wir hier zwei Projektschienen aus Tanja Ostojics Arbeit vor – Capital and Gender und integration project. Capital and Gender fokussiert auf die Situation von Frauen im Kunstbetrieb, integration project setzt an der Situation einer Künstlerin aus einem Nicht-EU-Staat an. 7.1. Capital and Gender Im Jahr 1998 präsentierte Tanja Ostojic eine Installation im Rahmen der Manifesta 2, Young European Biennial 1998. Im Rahmen dieses Projekts stand Tanja Ostojic im Lift, den die AusstellungsbesucherInnen benutzten – und zwar nackt und mit Marmorstaub bedeckt innerhalb eines Quadrats aus Kreide. Ostojic nahm also die Rolle an, in der wir Frauen in der traditionellen bildenden Kunst am öftesten antreffen, in der des Kunstobjekts. Indem sie ihren eigenen Körper zu diesem Objekt machte, verdeutlichte sie, was dieser Status für Frauen bedeutet, oder – umgekehrt – wie sich die Definition von Frauen als Kunstobjekt aus dem gesellschaftlichen Status von Frauen erklären lässt: Der weibliche Körper wird definiert von den Blicken derer, die ihn ansehen, er ist eine Fläche für Projektionen des (männlichen) Subjekts. Die Art, in der Ostojic ihren Körper präsentierte, machte deutlich, dass es dabei nicht um erotische oder sexuelle Anziehung geht, sondern um Definitionsmacht. Als ein Folgeprojekt lässt sich die Intervention I’ll be your Angel auf der 49. Biennale in Venedig 2001 verstehen. Sie bestand daraus, dass Ostojic (diesmal sehr weiblich und sexy gekleidet) den Kurator der Biennale, Harald Szeemann, während der Eröffnungstage zu allen Events begleitete. Wiederum ging es offensichtlich um die Rolle der Frau im Kunstbetrieb, diesmal um die Mittel, zu denen Frauen greifen (müssen), um zu reüssieren. Tanja Ostojic selbst dazu: 179

This piece, integrated in everyday life, poses potential ambiguous narratives concerning the scandalous artist (and the curator). It provokes an invitation/invasion, and questions the power structure in the art world. Speculations of morality, and artworld strategy will spin out; while the press will possibly construct a media support for this, it is not necessary. The structure of the piece is the process of mystery, both personal and public, encased in the glossy gossip of artworld whispers. (http://www.kultur.at/howl/tanja/int/; 20.09.2006)

7.2. integration project integration project nimmt seinen Ausgangspunkt von der eher trivialen Tatsache, dass die serbische Künstlerin Tanja Ostojic gerne für einige Zeit in der EU leben und arbeiten wollte. Die ersten beiden Projektteile sind nur insofern ungewöhnlich, als Tätigkeiten als Kunstform beschrieben werden, die für zahlreiche Menschen auf dieser Welt zum Alltag gehören: Illegal Border Crossing: Im Juni 2000 überquerte Tanja Ostojic zweimal (hin und zurück) illegal die Grenze zwischen Slowenien und Österreich (also die damalige EU-Grenze), an der zu dieser Zeit täglich 8 bis 9 Menschen bei dieser Tätigkeit festgenommen wurden. Der Grund für diesen illegalen Grenzübertritt war, dass Ostojic für die Teilnahme an einer Veranstaltung in Österreich kein Visum bekommen hatte. Waiting for a Visa: Im August 2000 wollte Tanja Ostojic ein österreichisches Visum beantragen. Von 6 Uhr morgens bis 12 Uhr mittags stand sie mit Hunderten anderer Leute in einer Schlange vor dem österreichischen Konsulat in Belgrad, ausgerüstet mit ungefähr 20 Dokumenten und einigen Empfehlungsschreiben. Der Visumsantrag wurde abgelehnt. Sozusagen folgerichtig nach diesen beiden Erlebnissen entstand dann Looking for a husband with a EU passport. Ostojic stellte eine Seite ins Internet, die aus diesem Satz, einer Kontaktmailadresse und einem Nacktfoto von ihr bestand. Wiederum war das Bild radikal unerotisch, die Künstlerin ist darauf kahl rasiert, in einer eher abweisenden Pose zu sehen (vgl. http://www.cac.org.mk/ capital/projects/tanja/).

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Ostojic wechselte daraufhin etwa 500 Briefe sehr unterschiedlicher Art mit Menschen aus verschiedenen europäischen Ländern, den USA und Australien13. 13

Ein Teil der Briefe ist auf http://www.cac.org.mk/capital/projects/tanja/ (20.09.2006) abrufbar.

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Nach einer sechsmonatigen Korrespondenz mit dem deutschen Künstler Klemens Golf fand die erste persönliche Begegnung der beiden als öffentlicher Event vor dem Museum für zeitgenössische Kunst in Belgrad statt. Zwei Monate später heirateten Ostojic und Golf, wiederum zwei Monate später erhielt Ostojic eine Aufenthaltsgenehmigung für Deutschland. Der letzte Teil des Projekts fand – fünf Jahr nach seinem Beginn – im Juli 2005 statt. Nach erfolgter Scheidung wurde eine Divorce Party organisiert. (Ein Projektteil, der von Ostojic angedacht wurde, musste fallen gelassen werden: Eine Projektdarstellung in einer deutschen TV-Sendung hätte möglicherweise zu ihrer Verhaftung und Ausweisung geführt, da Scheinehen bekanntlich strafbar sind.) integration project verlässt das Kunstfeld, auf das sich Capital and Gender bezog, und macht gesamtgesellschaftliche Zusammenhänge deutlich – den exklusiven Charakter des europäischen Integrationsprojekts, die verzweifelten Mittel, zu denen diejenigen außerhalb der EU greifen, um Grenzen zu überwinden, und die Aktualisierung klassischer Formen der Frauenunterdrückung durch neu entstandene Machtverhältnisse. Gemeinsam ist beiden Projekten, dass sie die Machtförmigkeit der Geschlechterverhältnisse entblößt von jeglicher Romantisierung oder Erotisierung zeigen. Gemeinsam ist ihnen auch, dass sie Geschichten erzählen, die sich radikal von Künstler- und Creative Class-Legenden unterscheiden. 7.3. o.T./Untitled o.T/Untitled kann als Zusammenführung der Stränge von Capital and Gender und integration project verstanden werden: eine vehemente Kritik an einem sich zunehmend verschließenden Schengen-Europa und den daraus resultierenden Folgen für Frauen (und Künstlerinnen), die qua Nationalität nicht Teil dieser Gemeinschaft sind.

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o.T/Untitled, © Tanja Ostojic

Die Fotoarbeit greift das Motiv von Gustave Courbets Der Ursprung der Welt (1866) ironisch auf, indem der Unterkörper einer Frau nicht, wie bei Courbet, nackt, sondern mit dem EU-Sternenbanner als Slip bekleidet gezeigt wird. Die Arbeit wurde mehrfach in Ausstellungen und Kunstzeitschriften präsentiert, bevor sie zum Jahresende 2005 im öffentlichen Raum gezeigt wurde. Wie in den anderen besprochenen Projekten nimmt Ostojic auch für diese Arbeit ihren eigenen Körper als Basis, verwendet die Nacktheit des weiblichen Körpers. Allerdings zitiert sie hier ein anderes Gemälde, wodurch sie eine Reflexion ihres eigenen Status als Künstlerin einbringt. Der politische Künstler Courbet verstand seine künstlerische Arbeit laut Ostojic als emanzipatorisches Werk (vgl. Ostojic 2006), dessen Wirkung über den Kunstbetrieb hinausgehen sollte. Ähnlich geht Ostojic selbst vor. Mit gezielter Provokation verweist sie auf politische Problemfelder wie Frauenhandel und/oder Eheprostitution, zwei häufige Wege für Frauen, um in einen EU-Staat zu gelangen. Gleichzeitig behandelt das Bild die Problematik von Werbung, allgegenwärtig im (urbanen) öffentlichen Raum und der darin ebenso allgegenwärtigen weiblichen Nacktheit. 183

Ostojic kopiert die Ästhetik der Werbung, indem sie den dargestellten Körper idealisiert, ihn „so computerglättet, dass der Blick abrutscht“ (Streeruwitz 2005). Die öffentliche Entrüstung14, die die Präsentation dieser Arbeit begleitete, beschränkte sich auf die Feststellung, dass es sich dabei – wahlweise um Pornographie oder um Werbung – jedenfalls aber nicht um Kunst handle. Die Debatte „Kunst oder Nicht-Kunst“ ist eine übliche Form, Kunstwerke zu desavouieren und so von öffentlicher Achtung, Aufmerksamkeit oder auch Finanzierung auszuschließen (vgl. Zembylas 2000, Teil 1). Zugleich ist diese Frage aus der Sicht des zeitgenössischen Kunstschaffens irrelevant – spätestens seit Marcel Duchamps Fontaine ist es in einschlägigen Kreisen weitgehend unumstritten, dass Kunst das ist, was im Kunstkontext präsentiert wird. Für die Intentionen der Künstlerin interessanter ist die Frage, ob ihr Werk die politische Wirksamkeit erreichte, die sie intendierte. Schließlich wurde es erstmals außerhalb des engen Kunstkontextes einer breiten Öffentlichkeit gezeigt und löste damit auch Debatten aus, die weit über übliche Kunstdiskurse hinausgehen. Die Möglichkeit dazu eröffnete das Projekt 25 peaces, das in seiner Mischung aus Kulinarik und künstlerischem Anspruch im öffentlichen Raum durchaus im Sinne von Richard Florida dazu dienen könnte, die Kreativität und Toleranz der Stadt Wien darzustellen. Dies ist nun offensichtlich nicht gelungen, da die Entfernung von Kunstwerken aus dem öffentlichen Raum kaum als Zeichen großer Toleranz gewertet werden kann. Zugleich wurde aber auch der politische Gehalt der Arbeiten nicht vermittelt und war daher auch höchstens am Rande Thema der öffentlichen Debatten. Die Kunstwerke haben provoziert – was sicher eine ihrer Zielsetzungen war –, aber die Provokation ist inhaltslos geblieben und hat damit ihren subversiven Charakter verloren. Dieses Phänomen haben vor cirka. 60 Jahren Theodor Adorno und Max Horkheimer in einem Kapitel beschrieben, das den Titel trägt: „Kulturindustrie – Aufklärung als Massenbetrug“ (Adorno/ Horkheimer 2003 [1947]). Bei Adorno und Horkheimer war der Begriff „Kulturindustrie“ noch abwertend gemeint und in Abgrenzung zur Hochkultur, von der sich die beiden Autoren (aus heutiger Sicht eher fragwürdigerweise) politisches Widerstandspotenzial erwarteten. Die Kulturindustrie hingegen produziert in der Auffassung von Adorno und Horkheimer nach Kriterien der Verkäuflichkeit und hält sich dabei an Klischees und Stereotypen, die am ehesten der Warenförmigkeit entsprechen. „Aber auch Verstöße gegen Konventionen werden gern ver14

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Eine Dokumentation von Pressereaktionen sowie einem Interview mit Tanja Ostojic findet sich unter http://www.kultur.at/howl/tanja/ot/index.htm, 20.09.2006.

ziehen, weil ‚sie als berechnete Unarten die Geltung des Systems umso eifriger bekräftigen.’“ (Resch/Steinert 2003: 88) Die Befriedigung, mit der die Kuratoren auf die Empörung über die Ostojic/Aires-Plakate reagiert haben, legt diese Deutung nahe: Es geht nicht darum, etwas begreiflich zu machen, sondern Aufmerksamkeit zu erregen. Das ist gelungen. Und mehr war nicht zu erwarten. Denn gerade zeitgenössische Kunst funktioniert nicht dekontextualisiert, spricht nicht für sich selbst, sondern bedarf der Theorie zu ihrer Einordnung. Was also ist zusammenfassend zu den Creative Industries zu sagen, denen von ihren ErfinderInnen und VertreterInnen gerne zugeschrieben wird, dass sie einen Brückenschlag zwischen Ökonomie und Kunst/Kultur schaffen, der für beide Seiten vorteilhaft ist? Die ökonomische Bedeutung der Creative Industries – etwa im Standortwettbewerb – ist in ihrem Ausmaß ebenso fraglich wie die Frage offen bleibt, ob nicht Förderungen anderer Wirtschaftssektoren ähnliche Ergebnisse bringen würden. Die Auswirkungen der Creative Industries auf Kunst und KünstlerInnen sind hingegen eindeutig zu beurteilen: Künstler und insbesondere Künstlerinnen gewinnen in Bezug auf Einkommensgenerierung und soziale Sicherheit nichts durch die Creative Industries und die Grenzüberschreitung zwischen Kunst und Ökonomie führt nicht zu größerer Wirkung der Kunst, sondern – im besten Falle – zu erhöhten Einkommen der KunstverwerterInnen, mögen sie nun KuratorInnen oder Werbeagenturen sein. Statt des „interesselosen Wohlgefallens“, das Kant sich von der Hochkultur erwartete, bietet die Kulturindustrie „interesselose Provokation“ durch Kunst. Diese Realitäten des Kunstbetriebs zeigen die Projekte von Tanja Ostojic mit großer Präzision. Ostojic verweist auf die Grenzen eines Diskurses und auf die misogynen und rassistischen Strukturen, die genau jene Kreativität beschränken, die in Auftragsarbeiten stets beschworen wird. Kreative Milieus sollen geschaffen werden – aber innerhalb der Schengengrenzen. Kreative Innovation soll Unternehmen anziehen, allerdings innerhalb politischer Rahmenbedingungen, die Innovation verhindern, indem die Arbeits- und Aufenthaltsfreiheit von Personen eingeengt wird – ähnlich wie auch im Kunstbetrieb die starren Geschlechterhierarchien zu einer internen Verkrustung führen. Ostojics Interventionen verweisen auf provokante Art und Weise auf jene Machtstrukturen, die die inhaltliche Weiterentwicklung des Kunstbetriebes verhindern. Wenn die ApologetInnen der Creative Class und der Bedeutung von Kunst für die Gesellschaft sich selbst in irgendeiner Form ernst nehmen, dann wäre es höchste Zeit, statt neuer Hypes sinnvolle Strukturen zu schaffen, die zu akzeptablen Lebensbedingungen für KünstlerInnen und insbesondere auch Künstlerinnen führen. 185

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Autorinnen und Autor

Karoline Bankosegger leitet das gendup – Zentrum für Gender Studies und Frauenförderung der Universität Salzburg. Studium der Deutschen Philologie und Geschichte an der Universität Salzburg. Tätigkeitsbereiche: Koordination des Studienschwerpunktes Gender Studies, Entwicklung und Organisation Frauen fördernder Maßnahmen sowie Umsetzung von Gender Mainstreaming-Projekten und Gleichstellungsmaßnahmen an der Universität Salzburg. Email: [email protected] Luzenir Caixeta Sozialethikerin und Mitbegründerin der Migrantinnen-Selbstorganisation maiz (www.maiz.at), wo sie für die Koordination des Sozialbereichs (Beratung und Sex & Work) und neuerdings für den Forschungsbereich zuständig ist. Studium der Philosophie und feministischen Befreiungstheologie in Brasilien und Doktorat der Sozialethik in Österreich. Freie Autorin mehrerer Artikel und Leiterin von Lehrveranstaltungen (Innsbruck und Linz). Email: [email protected] Edgar Forster lehrt Erziehungswissenschaft an der Universität Salzburg. Forschungsschwerpunkte: Allgemeine Pädagogik und Gender Studies. Aktuelle Publikation: Feministische Studien 2/2006 zum Schwerpunkt „Männliche Resouveränisierungen“ (hgg. gem. m. Rita Casale und Sabina Larcher). Email: [email protected] Bettina Haidinger studierte Volkswirtschaftslehre an der Wirtschaftsuniversität Wien sowie Politikwissenschaft und Ethnologie an der Universität Wien. Ihre Forschungsinteressen liegen in der feministischen Rezeption und Analyse von Haushaltsorganisation, Arbeit, wohlfahrtsstaatlichen Strukturen und Migration. Derzeit arbeitet sie an ihrer Dissertation zum Thema „Globale Betreuungsketten zwischen der Ukraine und Österreich: Transnationale Mobilität und Haushaltsorganisation“. Email: [email protected] 189

Frigga Haug war bis 2001 Professorin an der Hamburger Universität für Wirtschaft und Politik. Geschäftsführerin des Argument Verlags, Mitherausgeberin und Redakteurin der Zeitschrift „Das Argument“ und des „Historisch-Kritischen Wörterbuchs des Marxismus“, Redakteurin des „Forum Kritische Psychologie“ und Vorsitzende des Instituts für Kritische Theorie. Ihre Forschungsschwerpunkte sind weibliche Vergesellschaftung und Frauenpolitik, Arbeit und Automation, soziale wissenschaftliche Methoden und Lernen. Sie arbeitet in der Erwachsenenbildung und insbesondere in der Lehrerweiterbildung. Email: [email protected] Birge Krondorfer Studien der Theologie (Frankfurt/M.), Philosophie und Gruppendynamik (Klagenfurt), Politologie (Institut für Höhere Studien, Wien). Universitäre Lehrbeauftragte an in- und ausländischen Instituten seit 1990. Vorträge und Publikationen zur feministischen Theorie und Politik der Geschlechterdifferenz; u.a. ‚Frauen und Ökonomie. oder: Geld essen Kritik auf’ (Mithrsg.) Wien 2000. Erwachsenenbildung, Supervision, Mediation, Beratung von Selbstevaluationen. Aktuell erwerbstätig in dem Equalprojekt ‚work-in-process. Migrantische Selbstorganisation und Arbeit’. Mitgründerin und tätig im Verein ‚Frauenhetz – feministische Bildung, Kultur und Politik’ in Wien. Email: [email protected] Alice Ludvig Studium der Politikwissenschaft und Ethnologie and der Universität Wien und der Universidad de La Habana, Kuba. Ihre Forschungsinteressen liegen im Bereich vergleichende Politikwissenschaft, Arbeitsbeziehung, Theorien politischer Ungleichheit und Gender Studies. Zurzeit ist sie wissenschaftliche Forschungsassistentin am Institut für Wirtschaftssoziologie und externe Lektorin am Institut für Politikwissenschaft der Universität Wien. Email: [email protected] Elisabeth Mayerhofer Freiberufliche Kulturwissenschaftlerin in Wien und Lehrbeauftragte an der Universität Wien. Arbeitsschwerpunkte: Kunst- und Kulturarbeitsmärkte, Creative Industries, Gender Studies; Vorstandsmitglied der Forschungsgesellschaft für kulturökonomische und kulturpolitische Studien (FOKUS). Derzeit ist sie Geschäftsführerin der IG Kultur Österreich. Email: [email protected] 190

Monika Mokre Politikwissenschaftlerin, Vorsitzende der „Forschungsgesellschaft für kulturökonomische und kulturpolitische Studien (FOKUS)“, stellvertretende Direktorin des EIF, Institut für europäische Integrationsforschung, Österreichische Akademie der Wissenschaften, Lehraufträge an den Instituten für Politikwissenschaft in Innsbruck, Wien und Salzburg. Email: [email protected] Julia Neissl Studium der Deutschen Philologie und Geschichte an der Universität Salzburg, MSc für Organisations- und Personalentwicklung (Krems), derzeit Arbeit an der Habilitation zum Thema „Kulturveränderungsprozesse an österreichischen Universitäten mit Fokus auf die Implementierung von Gender Mainstreaming“. Email: [email protected] Katharina Pewny Theater-, Tanz und Performancetheoretikerin, APART-Stipendiatin der Österreichischen Akademie der Wissenschaften, derzeit befasst mit dem Habilitationsprojekt „Repräsentationstheorie der Ruhe“, Vorträge, Lehre und Publikationen zu feministischer Theorie/queer theories in den Bereichen Ästhetik, Bildung und Politik (in Österreich, Deutschland und den USA), Systemische Coach (Schwerpunkt: Diplomandinnen- und Dissertantinnencoaching) und freie Wissenschafterin. Email: [email protected] Alexandra Weiss Politologin, externe Universitätslektorin an verschiedenen Universitäten Österreichs. Forschungsschwerpunkte: Globalisierung, Sozialstaat und Geschlechterverhältnisse; Mutterschaftspolitik und Frauen(erwerbs)arbeit; Armut und Sozialpolitik; Soziale Bewegungen (Theorien der Bewegungsforschung, Theorie und Praxis der Frauenbewegung). Derzeit ist sie Koordinatorin des Büros für Gleichstellung und Gender Studies an der Universität Innsbruck. Email: [email protected]

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