Gefühle lesen : wie Sie Emotionen erkennen und richtig interpretieren [2. Aufl]
 9783827425683, 3827425689 [PDF]

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Zitiervorschau

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Paul Ekman ist Professor für Psychologie an der Uni­ versity of California in San Francisco und einer der bekanntesten amerikanischen Psychologen. Bahn­ brechend waren seine ethnologischen Studien - vor allem auf Papua-Neuguinea - zur Universalität emotionaler Gesichtsausdrücke. Ekman ist Autor von 14 Büchern über Emotionen und Täuschung, darun­ ter die auch in Deutsch veröffentlichten Titel Warum Kinder lügen und Weshalb Lügen kurze Beine haben. Er hat das Facial Action Coding System (FACS) entwickelt - eine umfangreiche Sammlung von Texten und Fotografien zu Muskeln, Kombinationen von Muskeln und den resultierenden Gesichtsausdrücken - und ist in den Ietzten Jahren mehrfach von der amerikanischen Regie­ rung als Experte im Rahmen von Terrorismus- und Kriminalermittlun­ gen zu Rate gezogen worden. Auch die amerikanische Fernsehserie Lie to me greift auf Ekmans Ideen zurück. In Deutsch zuletzt von ihm erschie ­ nen ist Gefühl und Mitgefühl. Emotionale Achtsamkeit und der lPeg zum seelischen Gleichgewicht (ein Dialog mit dem Dalai Lama) .

>>Welches Vergnügen, dass Paul Ekman, der Pionier der detaillierten Analyse von Gesichtern, uns zu sehen hilft, was andere fühlen.n Surabaya, Ost-Java, kippte im Mai ein Militärlas ­ ter unter seiner schweren Last aus über 100 Jugendlichen um. Die Passagiere waren Fans des örtlichen Fußballclubs Perse­ baya, die sich auf der Heimfahrt befanden und den Sieg ihrer Mannschaft Fahnen schwenkend feierten. Der Laster - einer von 24, die ein Militärkommandant kostenlos bereitgestellt hatte - kippte nach nur einem Kilometer um. Die meisten Passagiere blieben unverletzt und kamen mit dem Schrecken davon, zwölf Fahrgä ste wurden mit leichten Verletzungen ins Krankenhaus eingeliefert.« Auf den Gesichtern dieser Ju­ gendlichen, am deutlichsten wohl beim Fahrer, zeichnet sich blanke Angst ab. Wäre die Aufnahme einen Augenblick früher

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entstanden, hätte man womöglich Überraschung nachwei­ sen können, es sei denn, der Laster h ätte sich ganz allm äh­ lich zur Seite geneigt. Über Angst sind mehr Studien durchgeführt worden als über jede andere Emotion, was vermutlich daran liegt, dass sie bei nahezu jedem Versuchstier so leicht zu erregen ist, bei­ spielsweise auch bei Ratten (einer Art, die von Wissenschaft­ lern bevorzugt eingesetzt wird, weil sie billig und leicht zu halten ist) . Ein drohender Schaden physischer oder psychi­ scher Natur ist charakteristisch für alle Angstauslöser, für das Thema wie für seine Variationen. Das Thema ist ein dro­ hender physischer Schaden, als Variationen kommen all die Dinge in Frage, von denen wir im Laufe des Lebens gelernt haben, dass sie für uns in irgendeiner Weise unheilvoll sind, seien dies nun physische oder psychologische Gefahren. So wie physisches Bedrängtwerden ein nicht erlernter Auslöser für Zorn ist, gibt es auch nicht erlernte Auslöser für Angst ­ beispielsweise etwas, das rasch durch die Luft wirbelt und uns treffen wird, wenn wir uns nicht ducken, oder die Erfah­ rung, plötzlich den Halt zu verlieren und zu fallen. Drohen­ der physischer Schmerz ist ein nicht erlernter Angstauslöser, auch wenn in dem Augenblick, in dem man den Schmerz fühlt, oft gar keine Angst mehr empfunden wird. Der Anblick von Schlangen könnte ein weiterer nicht erlern­ ter universaler Auslöser sein. Erinnern Sie sich an die Unter­ suchungen von Ohman, die ich im ersten Kapitel beschrieben habe und aus denen hervorgeht, dass wir von unserer biolo ­ gischen Konstitution her eher darauf vorbereitet sind, uns vor Reptilien zu fürchten als vor Schusswaffen oder Messern. Dennoch scheint eine beträchtliche Anzahl von Personen vor Schlangen keine Angst zu empfinden, ja im Gegenteil, ihnen bereitet der physische Kontakt mit Giftschlangen Ver­ gnügen. Ich selbst wäre versucht anzunehmen, dass der Auf­ enthalt in großen Höhen, in denen ein falscher Schritt zum Absturz führen könnte, ein weiterer nicht erlernter Auslöser ist. Ich habe mein Leben lang eine furchtbare Angst vor sol-

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eben Situationen gehabt; vielen Menschen aber bereiten sie kein bisschen Unbehagen. Vielleicht verfügen einfach nicht alle Menschen über die ­ selben angeborenen Angstauslöser. Es gibt immer ein paar Leute, bei denen wir nicht sehen, was wir bei nahezu allen anderen feststellen, ob es nun um den Reiz geht, der ein Ge­ fühl auslöst, oder um eine ganz gewöhnliche emotionale Re ­ aktion. Individuen unterscheiden sich in fast allen Aspekten menschlichen Verhaltens, und Emotionen bilden da keine Ausnahme. Wir können lernen, uns vor so gut wie allem zu fürchten. Es steht außer Frage, dass manche Menschen Dinge fürch­ ten, die nicht wirklich eine Gefahr darstellen; man denke nur an die von den meisten Kindern empfundene Angst im Dun­ keln. Erwachsene können genau wie Kinder grundlose Ängs ­ te empfinden. So versetzt das Anbringen der Elektroden zum Messen der Herzaktivität (beim Erstellen eines Elektrokar­ diogramms, EKG) manche Menschen in Panik - Patienten, die nicht wissen, dass der Apparat elektrische Aktivität auf­ zeichnet, selbst aber keine Stromstöße freisetzt. Leute, die ei­ nen Elektroschock erwarten, empfinden zwar grundlose, aber echte Angst. Es bedarf einer ausgeprägten Gabe des Mitge ­ fühls, um jemanden, der sich vor etwas fürchtet, das uns selbst keine Angst macht, zu respektieren, ihm mitfühlend gegen­ über zu stehen und geduldig zu beruhigen. Die meisten von uns tun solche Ängste einfach ab. Wir brauchen die Ängste anderer Menschen nicht selbst zu fühlen, um sie zu akzep ­ tieren und dem Betreffenden zu helfen, damit fertig zu wer­ den. Gute Krankenschwestern verstehen die Ä ngste ihrer Patienten; sie vermögen Situationen aus deren Perspektive zu sehen und sie somit zu beruhigen. Wenn wir Angst haben, können wir so gut wie alles tun oder lassen, je nachdem, was wir in der Vergangenheit gelernt haben, welches Verhalten uns in der jeweiligen Situation schüt­ zen könnte. Untersuchungen an anderen Tieren und For­ schungsergebnisse zur Reaktionsfähigkeit des menschlichen

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Körpers legen die Vermutung nahe, dass die Evolution zwei Arten von Reaktion begünstigt hat: Verstecken und Flucht. Wenn wir Angst empfinden, werden unsere großen Beinmus­ keln stark durchblutet - eine Vorbereitung auf eine poten ­ zielle Flucht. 2 Das heißt nicht, dass wir fliehen werden, son­ dern nur, dass die Evolution uns darauf vorbereitet hat zu tun, was sich in der Vergangenheit unserer Art als das güns­ tigste Verhalten erwiesen hat. Viele Tiere erstarren bei der Konfrontation mit einer Ge­ fahr - einem potenziellen Raubfeind zum Beispiel - zunächst einmal, vermutlich, weil sie dadurch das Risiko senken, ent­ deckt zu werden. Ich habe das oft bei Affen beobachtet, wenn man sich einer Gruppe in einem Gehege nähert. Die meisten Affen frieren mitten in der Bewegung ein, sobald man näher kommt, als würden sie so nicht entdeckt. Geht man noch nä­ her heran und lä sst die Blickrichtung erkennen, dass ein be ­ stimmter Affe im Visier ist, dann flieht das betreffende Tier. Wenn wir nicht erstarren oder fliehen, dann besteht die n ächstwahrscheinliche Reaktion in Zorn auf das, was uns bedroht. 3 Angst und Zorn werden nicht selten in rascher Fol­ ge erlebt. Es gibt keine sicheren wissenschaftlichen Belege dafür, dass wir imstande sind, zwei Emotionen im selben Au­ genblick zu empfinden, aber in der Praxis spielt das auch kei ­ ne Rolle. Wir können so rasch zwischen Angst und Zorn (oder jedem anderen Gefühl) pendeln, dass sich die Empfin­ dungen überlagern. Scheint die Person, die uns bedroht, stär­ ker zu sein als wir, ist es wahrscheinlicher, dass wir statt Ärger Angst empfinden. Dennoch können wir für kurze Au­ genblicke oder nach gelungener Flucht durchaus Zorn auf denjenigen entwickeln, der uns bedroht hat. Wir können uns auch über uns selbst ärgern, weil wir Furcht empfunden haben, wenn wir im Nachhinein feststellen, dass wir mit der Situa­ tion ohne Angst h ätten umgehen müssen. Aus demselben Grund können wir uns auch selbst verachten. Manchmal gibt es nichts, was wir angesichts einer großen Bedrohung unternehmen können - der Fahrer auf dem Foto

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aus Surabaya ist i n einer solchen Lage. I m Unterschied z u den Menschen auf der Ladefl äche, die sich darauf konzentrieren, den richtigen Zeitpunkt zum Absprung zu finden, kann er überhaupt nichts tun. Und der drohende Schaden ist immens. Wenn wir allerdings Gelegenheit bekommen, angesichts einer uns unmittelbar bedrohenden ernsten Gefahr etwas zu tun, wie es den meisten Leuten auf dem Lastwagen ergeht, ge ­ schieht etwas Hochinteressantes. Die für Angst typischen un­ liebsamen Gedanken und Empfindungen werden nicht mehr wahrgenommen, das Bewusstsein konzentriert sich vielmehr auf das, was zu tun ist, um mit der Gefahr fertig zu werden. Als ich 1 967 zum ersten Mal in Papua-Neuguinea war, musste ich für die letzte Etappe meiner Reise ein einmotori­ ges Flugzeug chartern, das mich zur Landebahn einer Mis ­ sionsstation bringen sollte ; von dort aus musste ich mich zu Fuß zu dem Dorf aufmachen, in dem ich wohnen wollte. Ich war bis dahin zwar oft genug in die unterschiedlichsten Ge­ genden der Welt geflogen, aber ein bisschen Flugangst war mir geblieben - genug, um nicht entspannen, geschweige denn schlafen zu können, egal wie lang die Reise dauerte. Mir war einigermaßen beklommen wegen der einmotorigen Ma­ schine, aber ich hatte keine andere Wahl. Dort, wo ich hin­ wollte, gab es keine Straßen. Kaum waren wir in der Luft, ließ mich der 1 8 - j ährige Buschpilot wissen, die Bodenstati­ on habe ihm soeben mitgeteilt, dass die Räder der Maschine beim Start abgefallen seien. Wir müssten umkehren, erklär­ te er, und eine Gleitlandung auf dem Erdstreifen neben der Landebahn versuchen. Da das Flugzeug dabei womöglich in Flammen aufgehen werde, solle ich mich zum Springen be ­ reithalten. Er wies mich an, die Tür ein wenig zu öffnen, da­ mit sie sich bei der Bruchlandung nicht verkeilte, weil ich dann nicht aussteigen könne. Er riet mir auch, die Tür nicht ganz zu öffnen, sonst würde ich vielleicht hinausfallen. Un­ nötig zu erwähnen, dass es keine Sicherheitsgurte gab. Als wir um das Flugfeld kreisten und uns auf die Landung vorbereiteten, plagten mich überhaupt keine unangenehmen

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Empfindungen, ich hegte keinerlei angstvolle Gedanken über mein potenzielles Verderben. Vielmehr grübelte ich darüber nach, was für eine Ironie es doch wäre, es so weit geschafft zu haben, über zwei Tage unterwegs gewesen zu sein, um dann eine Stunde vor dem Ziel zu scheitern. In jenen Minu­ ten vor unserer Bruchlandung schien mir all das eher lächer­ lich oder absurd, jedenfalls nicht beängstigend. Ich sah zu, wie sich die Feuerwehr an der Landebahn einfand, um uns bei unserer Rückkehr in Empfang zu nehmen. Als wir uns ins Erdreich gruben, umklammerte ich den Türgriff, hielt die Tür einen Spalt weit offen, aber nicht zu weit. Dann war es vorbei. Kein Feuer, kein Tod, keine Verletzungen. Binnen ei­ ner Viertelstunde hatten wir meine Ausrüstung aus der übel zugerichteten Maschine in ein anderes Flugzeug umgeladen und waren gestartet. Jetzt plötzlich bekam ich es mit der Angst zu tun, dass sich diese Szene wiederholen könnte, denn die ­ ses Mal würde ich es garantiert nicht schaffen. Seit dieser Bruchlandung habe ich mit vielen Menschen ge­ sprochen, die ebenfalls von Anlässen zu berichten wussten, bei denen sie im Augenblick großer Gefahr keinerlei unange ­ nehme Gedanken und Empfindungen verspürt hatten. Ihre Berichte und mein Erlebnis unterschieden sich von anderen gefahrvollen Situationen, in denen die Betroffenen massive Ängste hatten ausstehen müssen, allein dadurch, dass man etwas tun konnte, um mit der Gefahr umzugehen. In solchen Fällen kann Angst unterbleiben. Wenn man jedoch nichts tun kann als abzuwarten, ob man überlebt oder nicht, empfinden die meisten Menschen Panik. Hätte ich mich nicht darauf kon­ zentrieren müssen, angespannt und zum Sprung bereit den Türgriff nicht loszulassen und die Tür leicht offen zu halten, wäre ich während der Landung gewiss in Panik verfallen. Die überwältigendste Angst empfinden wir offenbar, wenn wir nichts tun können, und nicht wenn wir uns darauf konzentrie­ ren, mit einer vor uns liegenden Gefahr fertig zu werden. In neueren Untersuchungen werden drei Abstufungen der Angst unterschieden, je nachdem, ob die Bedrohung unmit-

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telbar- akut oder absehbar ist.* Unterschiedliche Formen der Bedrohung rufen zunächst einmal unterschiedliche Verhaltens­ .muster auf: Unmittelbare Gefahr mündet in der Regel in eine Handlung (Flucht oder Erstarren) , die sich mit der Gefahr auseinandersetzt; die Sorge über eine erst bevorstehende Be­ drohung hingegen führt zu erhöhter Wachsamkeit und Mus ­ kelanspannung. In Reaktion auf eine unmittelbare Bedrohung wird überdies h äufig die Schmerzempfindlichkeit herabge ­ setzt, während Furcht vor einer anstehenden Gefahr die Schmerzempfindlichkeit erhöht. Und schließlich gibt es ge ­ wisse Hinweise darauf, dass eine unmittelbare Gefahr ande ­ re Hirnregionen aktiviert als eine absehbare Bedrohung. 4 Panik steht in starkem Gegensatz zu der Reaktion auf eine unmittelbare Bedrohung. Während ich an diesem Kapitel schrieb, musste ich meine Arbeit wegen einer größeren Ope ­ ration unterbrechen, bei der man mir ein Stück Dickdarm entfernen wollte. Bis zu dem Tag, an dem der Operationster­ min festgelegt wurde, vespürte ich keine Angst. Doch in den fünf Tagen zwischen der Absprache und dem Termin erleb ­ te ich eine Reihe von Panikattacken. Ich empfand extreme Angst, bekam nicht genug Luft, fing an zu frieren und kann­ te an nichts anderes mehr denken als an den gefürchteten Termin. Wie schon in Kapitel 5 erwähnt, hatte ich 30 Jahre zuvor eine größere Operation über mich ergehen lassen und aufgrund eines Fehlers extreme, durch nichts betäubte Schmerzen ertragen müssen; somit hatte ich allen Grund, mich vor einer weiteren Operation zu fürchten. Diese Pani­ kattacken dauerten zwischen zehn Minuten und mehreren Stunden. An dem Tag aber, an dem ich mich schließlich im Krankenhaus fand, empfand ich weder Panik noch Furcht, denn nun war ich aktiv.

*

Manche Forscher verwenden den Begriff Besorgnis oder Ängstlichkeit (anxiety), wenn sie sich auf eine absehbare Gefahr, auf ein Persönlichkeitsmerkmal oder eine emotionale Störung beziehen, aber ich habe diesen Begriff für die entsprechende Stimmung reserviert.

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Die Gruppe der beängstigenden Erfahrungen lä sst sich anband von drei Parametern unterteilen : • •



Intensität - wie schwer ist der drohende Schaden? Zeitpunkt - droht die Gefahr unmittelbar oder erst in ab ­ sehbarer Zeit? Möglichkeiten der Intervention - kann etwas getan wer­ den, um die Bedrohung zu mindern oder aus der Welt zu schaffen?

Leider gibt es keine Untersuchungen, die alle drei Fakto ­ ren auf einmal berücksichtigen, sodass es sich oft nur schwer beurteilen lä sst, welche Art von beängstigender Erfahrung jeweils untersucht worden ist. Pressefotos von ge ängstigten Menschen sind aufschlussreich; aus ihnen l ä sst sich häufig nicht nur das Ausmaß der Gefahr erahnen, sondern auch, ob diese unmittelbar oder langfristig droht, sowie die Möglich­ keiten der Intervention. Bei dem Lastwagenfoto können wir davon ausgehen, dass der Fahrer panische Angst empfand ­ die Gefahr ist unabsehbar und er selbst kann überhaupt nichts tun, er sitzt in der Falle und kann nicht abspringen. Sein Ge­ sichtsausdruck entspricht dem, was ich als universalen Aus ­ druck der Angst beschrieben habe. Einige der Passagiere, die sich mit der Gefahr aktiv auseinandersetzen können - dieje­ nigen die bereits springen oder sich zum Sprung bereitma­ chen -, zeigen diesen Gesichtsausdruck nicht, ihr Blick ist vielmehr aufmerksam und konzentriert und wahrscheinlich typisch für jemanden, der sich mit einer unmittelbar drohen­ den Gefahr tätig auseinandersetzt. Fotos von Menschen, die eine Gefahr kommen sehen, zeigen einen Gesichtsausdruck, der zwar nicht so stark ausgeprägt ist wie die panische Miene des Fahrers, ihr aber durchaus ähnlich sieht. Wenn wir irgendeine Form von Angst empfinden und uns dessen bewusst sind, fällt es uns eine Zeit lang schwer, an irgendetwas anderes zu denken oder irgendetwas anderes zu fühlen. Unser Geist und unsere ganze Aufmerksamkeit kon­ zentrieren sich auf die Gefahr. Handelt es sich um eine akute

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Bedrohung, konzentrieren wir uns, bis wir die Situation ge ­ meistert haben; wenn wir merken, dass wir nichts dagegen tun können, wandelt sich unser Gefühl in Panik. Einem dro ­ henden Schaden längere Zeit ins Auge sehen zu müssen, kann unser Bewusstsein über lange Z eit völlig beanspruchen. Manchmal tritt dieses Empfinden auch episodisch auf, kehrt immer wieder zurück und durchbricht unseren Gedanken­ fluss, wenn wir uns gerade mit ganz anderen Dingen befas ­ sen. So ging es mir, als ich auf die Ergebnisse meiner Biopsie warten musste. Panikattacken sind immer episodisch; wür­ den sie ungemildert über Tage hinweg andauern, zehrten sie vermutlich derart an den Kräften des Betroffenen, dass er an Erschöpfung zugrunde gehen müsste. Unmittelbar drohender Schaden fokussiert unsere Auf­ merksamkeit und mobilisiert uns, damit wir der Gefahr entgegentreten können. Nehmen wir eine Bedrohung wahr, die erst sp äter eintreten wird, kann unsere Sorge über die möglichen Folgen des Geschehens uns schützen, warnen und wachsamer machen. Der Gesichtsausdruck, den wir aufset­ zen, wenn wir uns über künftige Bedrängnis sorgen oder wenn wir bei großer Gefahr von Panik erfasst werden, infor­ miert andere über die drohende Gefahr, gemahnt sie, sich selbst zu schützen, oder ruft um Beistand in unserer Bedräng­ nis. Schauen wir besorgt oder verängstigt drein, wenn jemand uns angreift oder angreifen will, kann das den Angreifer ver­ anlassen, von uns abzulassen und sich damit zufrieden zu ge ­ ben, dass wir mit dem, was ihn zum A ngriff bewegt hat, aufhören. (Das ist freilich nicht immer so. Ein Angreifer, der auf leichte Beute aus ist, kann unseren furchtsamen Gesichts ­ ausdruck auch als Zeichen auffassen, dass wir uns nicht weh­ ren und leicht zu überwältigen sein werden.) Sichtbare Zeichen unserer Panik sollten andere dazu bringen, uns zu helfen oder zu beruhigen. Kern aller Angst sind drohende physische oder psychische Schmerzen; Schmerz selbst aber wird von keinem Emotions­ theoretiker oder - forscher als Emotion gewertet. Warum,

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mag man sich fragen, gilt Schmerz nicht als Emotion? Er kann ohne Frage sehr starke Empfindungen beinhalten, die unsere gesamte Aufmerksamkeit in Anspruch nehmen. Silvan Tomkins' 40 Jahre alte Antwort auf diese Frage trifft noch immer den Nagel auf den Kopf. Schmerz, so sagt er, sei zu spezifisch, um als Emotion gelten zu können. Bei vielen Ar­ ten von Schmerzen (außer bei referenziellem Schmerz) wis ­ sen wir genau, wo etwas wehtut. Aber wo in unserem Körper haben Ärger, Angst, Sorge, Panik oder Trauer ihren Sitz? Ge­ nau wie bei erotischen Empfindungen irren wir uns bei Schmerz nie, was seinen Ort angeht: Wenn wir uns in den Finger schneiden, reiben wir uns nicht den Ellbogen, um den Schmerz zu lindern, genauso wie wir im Zustand sexueller Erregung ganz genau wissen, welche Teile unseres Körpers wir stimulieren wollen. Schmerz und Sex sind beide unge ­ mein wichtig, und wir hegen jede Menge Gefühle im Zusam­ menhang mit ihnen, aber beide können für sich genommen nicht als Emotion gelten. An früherer Stelle in diesem Kapitel habe ich im Zusammen­ bang mit Überraschung angemerkt, dass manche Menschen furchtbar gerne überrascht werden. Jede der so genannten "negativen" Emotionen vermag insofern positiv zu sein, als manche Menschen es genießen, sie zu durchleben. (Darum halte ich es für irreführend, Emotionen einfach nur in posi­ tive und negative Emotionen zu unterteilen, wie es von vielen Emotionstheoretikern betrieben wird.) Manche Menschen genießen es offenbar sogar, Angst zu empfinden. Romane und Filme, die Menschen gruseln, sind überaus populär. Ich habe mich einmal im Kino mit dem Rü­ cken zur Leinwand gesetzt, um in die Gesichter der Zuschauer blicken zu können, und dort Beklommenheit, manchmal blan­ ke Angst, gepaart mit Vergnügen beobachtet. Wir haben bei unseren Untersuchungen Versuchspersonen, die sich allein in einem Raum befanden, gruselige Filmszenen vorgeführt und ihre Mimik mit einer versteckten Videokamera gefilmt. Diejenigen, auf deren Gesicht sich Angst spiegelte, zeigten

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nepen der Mimik auch die physiologischen Parameter von Angst - Herzklopfen und eine verstärkte Durchblutung der großen Beinmuskeln. 5 Man könnte den Standpunkt vertreten, dass diese Leute ja nicht wirklich in Gefahr sind und wissen, dass ihnen nichts geschieht. Aber es gibt auch Menschen, die mehr wollen als eine nachgestellte Erfahrung, die beängstigende Erfahrun­ gen suchen, ja für den von ihnen betriebenen Sport sogar mit Freude ihr Leben aufs Spiel setzen. Ich weiß nicht, ob es die Angst ist, die sie so genießen, die Erregung, die mit dem Eingehen solcher Risiken so oft einher geht, oder die Erleichterung und der Stolz auf die eigene Leistung, der sie hinterher erfüllt. Dann gibt es Menschen, für die genau das Gegenteil gilt, für die beängstigende Erfahrungen so schrecklich sind, dass sie außerordentliche Anstrengungen unternehmen, um ih­ nen aus dem Weg zu gehen. Für alle Emotionen gilt: Es gibt Menschen, die sie genießen, Menschen, die es nicht aushal­ ten, sie zu fühlen, und schließlich Menschen, die die Erfah­ rung nicht gerade suchen, das Gefühl aber in den meisten Fällen als nicht überm äßig beeinträchtigend empfinden. Jede der von uns bisher besprochenen Emotionen kann Grundtenor einer länger, oft über viele Stunden hinweg an­ haltenden Stimmung sein. Wenn wir lange Z eit hindurch traurig sind, nennt man uns trübsinnig. Wenn wir leicht zu erzürnen sind, ja förmlich nach etwas suchen, über das wir uns aufregen können, ist unsere Grundstimmung gereizt. Den Begriff Besorgnis verwende ich, um einen Zustand zu cha­ rakterisieren, in dem wir uns Sorgen machen und nicht wis ­ sen, warum wir uns so fühlen, den Auslöser dafür nicht dingfest machen können. Wir haben zwar das Gefühl, dass wir in Gefahr sind, wissen aber nicht, was wir dagegen un­ ternehmen können, da wir die Bedrohung nicht genau aus ­ machen können. So wie sich Trübsinn, ein melancholischer Charakter und Depressionen von Trauer und Verzweiflung, oder Reizbar-

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keit, ein feindseliger Charakter und pathologische Gewalt von Zorn ableiten lassen, besteht eine Verbindung zwischen Angst, Besorgnis, einem schüchternen oder ängstlichen Cha­ rakter und einer Reihe von pathologischen Veränderungen, die ich im Folgenden beschreiben will. Beinahe 15 Prozent der Bevölkerung leiden beispielsweise unter extremer Schüch­ ternheit. 6 Diese Menschen l ä sst der Gedanke nicht los, dass sie in sozialen Situationen versagen könnten. Sie meiden gesellschaftliche Kontakte, verfügen über eine geringe Selbst­ achtung, einen erhöhten Stresshormonpegel und einen be­ schleunigten Herzschlag. Auch das Herzinfarktrisiko ist bei ihnen erhöht.7 Der herausragende Wissenschaftler Jerome Kagan hat beobachtet, dass Eltern bei ihrem Nachwuchs in der Regel drei angstbezogene Wesenszüge unterscheiden: Sie bezeichnen Kinder, die andere Menschen meiden, als schüch­ tern, Kinder, die sich vor neuartigen, nicht vertrauten Situa­ tionen fürchten, als ängstlich, und Kinder, die ungewohnte Nahrung ablehnen, als mäkelig. 8 Viele Forscher unterschei­ den statt dieser drei Züge nur zwei Arten von Scheu : selbst­ bewusste Schüchterne setzten sich unablässig mit der Frage auseinander, ob sie fremde Menschen oder Situationen mei­ den oder suchen sollen, und furchtsame Schüchterne gehen Fremden und neuartigen Situationen generell aus dem Weg. 9 Es gibt eine Reihe von pathologischen Störungen, bei denen Angst eine wichtige Rolle spielt. 1 0 Am augenfälligsten und wohl am bekanntesten sind die Phobien: Ängste vor zwi­ schenmenschlichen Ereignissen und bestimmten Situatio ­ nen, vor Tod, Verletzung, Krankheit, Blut und bestimmten Tieren, vor Menschenansammlungen, geschlossenen Räu­ men und dergleichen. Als posttraumatische Belastungsstö ­ rung wird der Zustand bezeichnet, der sich nach einer extremen Gefahrensituation einstellen kann, bei dem die Be­ troffenen das traumatische Erlebnis im Geiste wieder und wieder durchleben und allem aus dem Wege gehen, was da­ mit irgendwie zu tun hat. Mit derartigen posttraumatischen

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Belastungsstörungen gehen in der Regel Schlaf- und Kon­ zentrationsstörungen sowie gelegentliche Zornausbrüche ein­ her. Wiederholte Panikattacken sind ebenfalls eine von Furcht und Angst abgeleitete emotionale Störung. Oft treten sie ohne ersichtlichen Grund auf; sie können einen Menschen in sei­ nem Tun erheblich beeinträchtigen. Schließlich gibt es noch eine pathologische Form der Besorgnis, sie unterscheidet sich von einer normalen beklommenen Stimmung dadurch, dass sie immer wiederkehrt, lang anhält, sehr ausgeprägt und do ­ minierend ist und so grundlegende Lebenssphären wie Ar­ beit und Schlaf durchdringt.

Angst bei sich selbst erkennen Im Kapitel über Trauer habe ich behauptet, dass es im B e ­ trachter Trauergefühle auslösen kann, wenn e r das Bild von Bettye Shirley anschaut. Ich glaube nicht, dass uns dasselbe passiert, wenn wir Menschen anschauen, die von Angst ge ­ zeichnet sind. Lassen Sie es uns dennoch versuchen. Schauen Sie sich das Gesicht des Busfahrers an und lassen Sie, falls sich bei Ihnen irgendwelche Empfindungen regen sollten, diese so stark wie möglich werden. Falls das nicht funktio ­ niert, stellen Sie sich vor, Sie seien an seiner Stelle, und wenn sich daraufhin Empfindungen regen , lassen Sie diese an ­ wachsen. Sollte das Anschauen des Bildes keine Wirkung z eigen, versuchen Sie, sich an eine Episode in Ihrem Leben zu er­ innern, in der Ihnen direkt und unmittelbar große Gefahr drohte und es nichts gab, was Sie h ätten tun können, um die Gefahr zu mindern. Vielleicht befanden Sie sich gerade an Bord eines Flugzeugs, das Wetter wurde unruhig und Ihre Maschine fiel wiederholt in tiefe Luftlöcher. Sobald Sie spü­ ren, dass Sie sich an die Erfahrung erinnern, lassen Sie die Empfindungen stärker werden. Wenn der Versuch, sich an eine Szene aus Ihrer Vergangen­ heit zu erinnern, nicht funktioniert, dann versuchen Sie es

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mit folgender Übung:

Imitieren Sie den Gesichtsausdruck der Angst. (Viel­ leicht brauchen Sie einen Spiegel, um zu kontrollieren, ob Sie die richtigen Bewegungen ausführen.) •







Heben Sie die oberen Augenlider so weit an, wie Sie können, und spannen Sie die unteren Lider an , wenn möglich; sollte diese Bewegung mit dem Anheben der Oberlider kollidieren, dann belassen Sie es beim An­ heben der Oberlider. Lassen Sie den Kiefer fallen und spannen Sie die Lip ­ pen horizontal in Richtung der Ohren an. Ihr Mund sollte aussehen wie der des Lastwagenfahrers. Wenn Sie das nach mehreren Versuchen nicht fertig bringen, belassen Sie es bei der geöffneten Kieferstel­ lung. Versuchen Sie, bei starr geradeaus gerichtetem Blick zus ätzlich zu den bereits erhobenen Augenlidern auch die Brauen so hoch wie möglich anzuheben; versu­ chen Sie, sie in dieser Stellung außerdem noch zusam­ menzuziehen. Sollte Ihnen das nicht beides auf einmal gelingen, belassen Sie es bei den erhobenen Lidern und Brauen.

Achten Sie auf Ihre Empfindungen in Gesicht, Magen, Händen und Beinen. Hören Sie auf ihren Atem und spü­ ren Sie, ob Gesicht und Hände sich kalt oder warm an­ fühlen.

Sie werden möglicherweise feststellen, dass Ihre Hände kälter werden, Ihr Atem tiefer und rascher wird und Sie zu schwitzen beginnen. Vielleicht spüren Sie auch ein leichtes Zittern oder eine Anspannung der Muskeln in Beinen und

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Armen. Und eventuell stellen Sie sogar fest, dass Sie mit Kör­ per und Gesicht leicht zurückweichen. Wenn Sie panischer Schrecken ergreift, wissen Sie es in der Regel; mit den Empfindungen einer leichten Sorge, wie Sie sie angesichts einer zukünftigen und nicht besonders großen Bedrohung empfinden würden, sind Sie möglicherweise we ­ niger vertraut. (Ich persönlich glaube, dass die Empfindun­ gen Panik ähneln, aber weit weniger heftig sind. Bisher sind allerdings noch keine Untersuchungen zu der Frage unter­ nommen worden, ob Sorge und Panik mit unterschiedlichen subjektiven Erfahrungen assoziiert sind.) Lassen Sie uns nun versuchen, Empfindungen zu erzeu­ gen, die den besorgten Zustand charakterisieren. Rufen Sie sich eine Situation ins Ged ächtnis, in der Sie damit gerech ­ net haben, dass etwas Schlimmes passiert, keine Katastro ­ phe, aber doch etwas, das Sie gerne vermeiden würden. Vielleicht hatten Sie Angst davor, dass Ihnen ein Weisheits ­ zahn gezogen werden muss oder man bei Ihnen eine Darm­ spiegelung vornehmen wird. Die Sorge könnte auch einen Bericht betreffen, den Sie verfasst haben, und Sie bangen jetzt, ob er so geschätzt wird, wie Sie es sich erhoffen. Oder Sie grübeln, wie Sie in der letzten Mathematikklausur abge ­ schnitten haben. Haben Sie ein solches Szenario vor Augen denken Sie daran, es muss in der Zukunft liegen, Sie wissen davon, müssen aber abwarten und können zum gegenwär­ tigen Zeitpunkt nichts tun, um möglichen Schaden abzu ­ wenden - konzentrieren Sie sich erneut auf die Empfindungen in Gesicht und Körper. Es sollte eine stark abgeschwä chte Version von Panikgefühlen sein.

Angst bei an deren erkennen Die Unterschrift zum folgenden Foto, das 1973 in der Zeit­ schrift Life abgedruckt war, lautete : »Ein tiefer Fall in New York. Die Augen weit aufgerissen, acht Rollen und zehn Finger rudern in der Luft: Charlie O'Connell von den San

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Francisco Bay Bombers ist bei der Weltmeisterschaft im ver­ gangenen Mai in jene Lage geraten, die jeder tollkühne Roll­ schuhfahrer am meisten fürchtet. Soeben hat ihm Bill Groll von den New York Chiefs im Shea- Stadium einen eleganten Rempier verpasst. Für O'Connell und seine Mannschaft en­ dete der Wettkampf mit einer schmerzlichen Niederlage.« O'Connells Gesicht zeigt denselben Ausdruck des Schre ­ ckens wie das des Lastwagenfahrers ; er ist auf diesem Bild allerdings besser zu erkennen. Seine Oberlider sind so weit nach oben gezogen wie es nur geht, die Augenbrauen sind angehoben und zur Mitte gerunzelt, die Lippen horizontal verzerrt, das Kinn zurückgeschoben. Unter folgendem Bild hieß es bei seinem Erscheinen im Lift -Magazin: »Dallas, 24. November 1963. Ein historischer Akt der Rache, im Augenblick der Tat von der Kamera einge ­ fangen: Jack Ruby erschießt den Kennedy-Attentäter Lee Harvey Oswald.« Detective ]. R. Leavelle, der Mann links im Bild, hat den Schuss gerade gehört. S ein Gesicht zeigt Angst und auch

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Zorn. Die gesenkten und zur Nasenwurzel hin zusammen­ gezogenen Augenbrauen berühren die hinaufgezogenen Ober­ lider zu einem "stechenden Blick", wie ich es in Kapitel 6 genannt habe, einer eindeutigen mimischen Manifestation von Ärger und Zorn. Die untere Gesichtshälfte und die Hal­ tung des Kopfes verraten Angst. Die Lippen sind horizontal verzerrt, das Kinn nach hinten geschoben, Kopf und Ober­ körper weichen vor dem Schuss zurück. Decken Sie die un­ tere Gesichtshälfte mit der Hand ab, und Sie sehen in der oberen Hälfte nur seinen Zorn. Decken Sie anschließend den oberen Teil des Gesichts ab, und Sie sehen im unteren Teil nur seine Angst. Es erscheint logisch, dass er einen Augenblick lang Angst, vielleicht sogar panischen Schrecken empfunden hat, als er

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die Schusswaffe sah, die sich als nächstes auf ihn hätte rich­ ten können. (Dem schmerzvollen Ausdruck auf O swalds Gesicht kann man entnehmen, dass der Schuss bereits abge ­ feuert worden ist und Leavelles entsprechende Schreckreak­ tion bereits vorüber sein muss) . Detective Leavelle dürfte obendrein zornig auf den Attentäter Ruby gewesen sein, denn seine Aufgabe wäre es gewesen, einen solchen Angriff zu ver­ hindern. Ich habe bereits erwähnt, dass wir im Falle einer Bedrohung nicht selten beides spüren - Angst und Zorn -, und das ist hier der Fall. Betrachten wir die subtileren Anzeichen von Angst und Überraschung im Gesicht noch einmal genauer.

A

B (neutral)

c

Für Angst und Überraschung sind die Augen entscheidend, ebenso für die Unterscheidung zwischen beiden. In Bild A sind die Oberlider im Vergleich zum neutralen Bild B nur leicht nach oben gezogen. Das kann Überraschung signali­ sieren, ist aber vermutlich nur ein schlichtes Anzeichen für Aufmerksamkeit oder Interesse. In Bild C sind die Oberlider stärker angehoben und nun ist es sehr wahrscheinlich, dass es sich um Überraschung, Besorgnis oder Furcht handelt, je nachdem, was mit dem übrigen Gesicht vor sich geht. (Kei­ ne der Aufnahmen von Eve zeigt Panik, die wohl im extrem verzerrten Ausdruck des Lastwagenfahrers und des Mannes beim Rollschuh-Derby zu erkennen ist.)

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Beschränkte sich der Gesichtsausdruck allein auf die Au­ gen, wie es in Bild C gezeigt ist, dann hinge seine Aussage le ­ diglich von seiner D auer ab. Z eigt unser Gegenüber die geweiteten Augen nur für ein bis zwei Sekunden, handelt es sich eher um Überraschung als um Sorge oder Angst. Es sollte auf den ersten Blick erkennbar sein, dass Eves Gesicht in den Bildern D bis F jetzt Angst widerspiegelt. Zwar reden wir gewöhnlich davon, dass dieser Ausdruck von den Augen übermittelt wird, aber in der Regel ist der Augapfel selbst daran gar nicht beteiligt, sondern das, was wir durch die veränderte Stellung der Augenlider von ihm sehen. In diesem Falle bergen die Unterlider den Hinweis darauf, dass

D

E

F

es sich nicht um Überraschung und Aufmerksamkeit handelt, sondern um Angst. Wenn zu den hochgezogenen Oberlidern angespannte Unterlider hinzukommen, das übrige Gesicht aber unbeteiligt bleibt, handelt es sich nahezu immer um ein Zeichen von Angst. Betrachten wir die Aufnahmen D, E und F nacheinander, haben wir den Eindruck, dass sich die Angst von Bild zu Bild verstärkt. Zurückzuführen ist dies auf die zunehmend erhobene Stellung der Augenlider. In Bild F sind die Oberlider extrem angehoben; mehr vermag Eve willkür­ lich nicht zu leisten. So könnte Panik aussehen (Furcht oder Sorge nicht) , aber sehr kontrollierte Panik, welche die Per­ son mit viel Mühe zu verbergen sucht.

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Lassen Sie uns nun sehen, welche Rolle die Augenbrauen beim Ausdruck von Überraschung und Angst spielen. Wer­ den sie einfach angehoben wie in Bild G, ist die von ihnen übermittelte Botschaft nicht eindeutig. Meist handelt es sich bei dieser Bewegung um eine Betonung, mit der jemand ein Wort seiner Rede unterstreicht. In diesem Fall wird er gleich­ zeitig das so betonte Wort lauter aussprechen. Bild G kann auch für einen fragenden Ausdruck stehen, das "Fragezei ­ chen" am Ende eines Fragesatzes bilden. Wie ich im letzten Kapitel erwähnt habe, kann auch das Senken und Zusam ­ menziehen der Augenbrauen, wie es Bild D auf Seite 196 zeigt, als Fragezeichen eingesetzt werden. Aus einigen unserer Un­ tersuchungen geht hervor, dass j emand, der seine Frage mit mimischen Veränderungen untermalt und die Antwort auf die von ihm gestellte Frage schon kennt, eher den Ausdruck aus Bild G an den Tag legt. Kennt er die Antwort auf die von ihm gestellte Frage selbst nicht, dann kommt es eher zu dem im vorigen Kapitel vorgestellten Ausdruck, bei dem die Au­ genbrauen gesenkt und über der Nasenwurzel gerunzelt wer­ den. Der Ausdruck aus Bild G kann auch ein Ausrufezeichen signalisieren oder Ungläubigkeit, letzteres vor allem bei je ­ mandem, der einem anderen zuhört. Ohne gleichzeitig angeho ­ bene Augenlider aber können so hochgezogene Augenbrauen so gut wie nie als Zeichen für Überraschung gelten. Die Mimik in Bild H hingegen enthält einen sehr verläss­ lichen Hinweis auf Sorge oder Furcht; wenn man diesen Aus -

G

H

7. Überraschung und Angst

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druck sieht, besteht wenig Zweifel, dass der Betreffende Angst empfindet. Doch kein mimisches Einzelmerkmal ist so ver­ lässlich, dass man sagen kann, es ist immer da, wenn das ent­ sprechende Gefühl vorherrscht. Manchmal hat jemand Angst und man beobachtet bei ihm trotzdem nicht die in H abge ­ bildete Stellung der Augenbrauen. Manchmal ist das Fehlen der entsprechenden Mimik freilich darauf zurückzuführen, dass der Betreffende diesen Gesichtsausdruck angestrengt unterdrückt; doch auch wenn das nicht der Fall ist, zeigt nicht jeder alle für ein bestimmtes Gefühl denkbaren Anzeichen. Bisher können wir nicht erklären, warum das so ist, wir wis ­ sen noch nicht einmal, ob sich bei jemandem, der seiner Angst nicht mimisch Ausdruck verleiht, auch andere Gefühle nicht in der Mimik niederschlagen. An dieser Frage arbeite ich ge ­ rade. Für den Gesichtsausdruck in H aber gilt, dass er nur sehr selten von jemanden gezeigt wird, der keine Angst emp ­ findet. In der Regel werden die Oberlider angehoben und die Un­ terlider angespannt; hinzu kommt, wie in Bild J dargestellt, die für den Ausdruck von Furcht typische Augenbrauen ­ stellung. Vergleichen Sie Bild I mit Bild J, bei dem die Brauen leicht angehoben sind (nicht so stark wie in Bild G) und die Augen durch das Anheben der Oberlider buchstäblich vom Schreck geweitet wirken. Der Vergleich zeigt die Bedeutung von Augenlidern und Augenbrauen für die Unterscheidung zwischen Angst und Überraschung. Wir wissen, dass Bild I

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K

L

eher Überraschung als Furcht ausdrückt, denn die Unterli ­ der sind nicht angespannt und die Augenbrauen sind zwar angehoben, nicht aber zusammengezogen; in Bild J ist bei­ des der Fall. Konzentrieren wir uns nun auf die für Angst und Überra­ schung typischen Bewegungsmuster in der unteren Gesichts­ hälfte. Bei Überraschung fällt wie in Bild K der Unterkiefer herunter, bei Furcht hingegen werden die Lippen wie in Bild L horizontal verzerrt. (Zu bemerken ist noch, dass ich für L eine Montage anfertigen musste, weil es Eve schwer fiel, die für Angst typische Lippenbewegung zu machen, ohne die Unterlider dabei anzuspannen.) Sie haben zuvor gesehen, dass Augenbrauen und Augenli­ der allein Angst (Bild J) oder auch Überraschung (Bild I) sig­ nalisieren können. Kommen zu der typischen Stellung der Augenlider noch die Mundbewegungen, ergibt das auch ohne das Mitwirken der Augenbrauen eine für beide Gefühle deut­ lich erkennbare Mimik. Bild M zeigt Überraschung, Bild N Angst oder Sorge ; bei beiden fehlen die typischen Bewegun­ gen der Augenbrauen. Bild 0 macht deutlich, wie wichtig die angehobenen Au­ genbrauen für ein ausgeprägtes mimisches Angstsignal sind. Die Unterlider sind entspannt, Augenbrauen und Mund ha­ ben nur die für Überraschung typische Stellung inne, den ­ noch vermitteln die weit angehobenen Brauen deutlich den Eindruck von Angst. (Auch dies ist eine Fotomontage, bei

7. Überraschung und Angst

M

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0

N

der ich die Augenbrauen aus G in ein anderes Foto hinein kopiert habe.) Weil Überraschung und Furcht so häufig miteinander ver­ wechselt werden, soll das folgende Bildpaar noch einmal deut­ lich den Kontrast zwischen den beiden zugehörigen Gesichts ­ ausdrücken zeigen, die sich in diesem Falle über das ganze Gesicht verteilt bemerkbar machen. Bild P zeigt Überra­ schung, Bild Q hingegen Angst.

p

Q

M imische Informationen nutzen Kommen wir nun zu der Frage, wie wir mit der Information umgehen können, die wir dem angsterfüllten Gesichtsaus ­ druck eines anderen entnehmen. (Überraschung werde ich in diesem Zusammenhang nicht betrachten, denn ich glaube

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Gefühle lesen

nicht, dass sich überm äßig oft die Frage stellt, wie man auf die Überraschung eines anderen reagieren soll - mit Ausnah­ me der eingangs erwähnten Beispiele von Personen, die durch Dinge zu überraschen waren, die sie eigentlich hätten wis ­ sen müssen. 1 1 ) Im Großen und Ganzen betrachte ich wieder die in den anderen Kapiteln bereits vorgestellten Situationen, um zu erl äutern, wie anders wir von unserem Wissen um die Angst eines anderen Gebrauch machen sollten, als wir es im Falle von Trauer und Zorn tun würden. In den letzten beiden Kapiteln habe ich betont, dass wir keinesfalls glauben dürfen, wir wüssten, wodurch ein be­ stimmter Gefühlsausdruck zustande kommt. Der mimische Ausdruck einer Emotion sagt uns nichts über deren Ursache. Meist können wir diese aus dem Situationskontext erschlie ­ ßen, aber nicht immer. In Kapitel 4 habe ich einen Trug­ schluss erwähnt, den ich als Othello - Fehler bezeichnet habe: die Annahme, über die Ursache für ein Gefühl Bescheid zu wissen, ohne zu bedenken, dass dieses auch einen völlig an­ deren Grund haben könnte.* Unser Gefühlszustand, unsere Erwartungen und Überzeugungen, was wir glauben wollen und sogar was wir nicht glauben wollen, all das hat Eiri'fluss darauf, wie wir einen Gesichtsausdruck interpretieren, oder genauer: was wir für dessen Ursache halten. Sorgsam die Si­ tuation zu berücksichtigen, in der man mit ihm konfrontiert wird, kann die Möglichkeiten eingrenzen, doch auch das bie ­ tet keine Gewissheit. Othello hat es nicht geholfen. Wenn Sie nie vergessen, dass der mimische Ausdruck einer Emotion nichts über deren Ursache verrät und es andere Gründe da­ für geben kann als j ene, die Sie erwarten, können Sie den Othello - Fehler vielleicht vermeiden. Schauen Sie noch einmal die Gesichtsausdrücke auf den Bildern D, E, F, H, I, L und N genauer an. Jeder davon könnte *

Sie werden sich erinnern, dass Othello seine Gattin ermordete, weil er nicht begriff, dass ihre Angst, er könne ihr womöglich nicht glauben, genauso aussehen könnte wie die Angst vor der Bestrafung ihres angeblichen Ehebruchs. Othello beging diesen Fehler, weil er vor Eifersucht raste.

7. Überraschung und Angst

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Ausdruck von Sorge sein, aber in keinem Falle erkennen Sie allein aus dem Ausdruck, ob unmittelbare Gefahr droht oder eher auf lange Sicht etwas befürchtet wird. Sie können auch nicht ermessen, wie stark die Angst empfunden wird, denn die ­ ser Ausdruck kann auch entstehen, wenn das Gefühl leicht bis mäßig stark empfunden wird oder wenn es zwar intensiv ist, der Betreffende aber versucht, es unter Kontrolle zu bringen. Nehmen Sie wieder an, Sie seien ein Vorgesetzter, der seinem Angestellten die schlechte Nachricht überbringen muss, dass nicht er befördert wird, sondern ein anderer. Beobachten Sie eines der beschriebenen Anzeichen, bevor Sie ihm die Nachricht überbracht haben, so könnte man da­ zon ausgehen, dass er mit einer Niederlage gerechnet hatte. _Erscheint der Ausdruck, während Sie ihm die Information übermitteln, könnte dies bedeuten, dass er sich besorgt nach den Auswirkungen all dessen auf seine weitere Zukunft fragt. Ich würde Ihnen zwar nicht raten, ihn auf I hre Wahrneh­ mung anzusprechen, aber sie könnten ihn daraufhin bezüg­ lich seiner Zukunft in der Firma beruhigen, falls diese nicht in Gefahr ist, oder die Frage ansprechen, wie seine künftigen Pläne aussehen. Es ist allerdings auch möglich , dass seine Furcht in diesem Augenblick gar nichts mit der verpassten Beförderung zu tun hat, sondern dass er beispielsweise fürch­ tet, Sie könnten ihm auf etwas kommen, das ihm zum Nach­ teil gereichen würde. Beispielsweise wenn er Krankentage als Urlaub missbraucht hat und nun fürchtet, Sie könnten dies herausgefunden haben, oder wenn er Geld unterschlagen hat. Vielleicht denkt er auch mit Sorge an den n ächsten Arztter­ min, und seine Gedanken schweifen einen Moment lang ab. Sie könnten sehr vorsichtig darauf reagieren, indem Sie sa­ gen: "Gibt es noch etwas, das Sie in diesem Zusammenhang gerne mit mir besprochen hätten ? " Sie könnten auch weiter gehen und sagen : "Ich habe das Gefühl, dass für Sie mehr daran hängt und wir darüber reden sollten." Drehen wir die Situation wieder um: Sie sind der Ange ­ stellte, und Ihr Vorgesetzter lä sst einen winzigen Augenblick

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Gefühle lesen

lang einen dieser mit Angst und Sorge assoziierten Ausdrü­ cke auf seinem Gesicht erkennen, bevor er Ihnen die Nach­ richt übermittelt, dass Sie nicht befördert werden. Hat er Angst vor Ihrer Reaktion ? Fühlt er mit Ihnen, lä sst durch­ blicken, dass er spürt, dass Sie sich womöglich Sorgen um die Zukunft machen? Oder hat er etwas ganz anderes im Kopf, das ihm in diesem Augenblick wieder einfällt? Aus dem Ge­ sichtsausdruck allein können Sie das nicht schließen, aber wenn Sie die verschiedenen Möglichkeiten kennen, wissen Sie zumindest, dass er Sie nicht ablehnt (das würde sich durch einen verächtlichen Ausdruck verraten, den wir im nächsten Kapitel kennen lernen werden) oder ärgerlich auf Sie ist. Sehen Sie diesen Ausdruck auf dem Gesicht Ihrer zwölf­ j ährigen Tochter als Reaktion auf die Frage, wie der Schul­ tag war, oder auf dem eines guten Freundes, den sie fragen, wie es ihm geht, gibt Ihnen Ihre Beziehung das Recht, direk­ ter zu werden. Sie wissen auch hier nicht, ob die Angst eine Reaktion auf Ihre Frage darstellt oder ob sich im Leben der oder des Betreffenden etwas ereignet hat oder ereignen wird, das ihn beunruhigt. Ich würde in einem solchen Fall raten zu fragen: "Ich habe das Gefühl, dir macht irgendwas zu schaffen, kann ich dir helfen? " Beobachten Sie bei Ihrem Partner einen angstvollen Ge­ sichtsausdruck, wenn Sie ihn fragen, wo er am Nachmittag gewesen sei, als Sie ihn im Büro nicht telefonisch erreichen konnten, ziehen Sie nicht voreilig den Schluss, dass er irgend­ etwas angestellt hat. Wenn Ihnen dieser Gedanke gekommen ist, dann könnte es sein, dass Sie übertrieben misstrauisch sind (es sei denn, es hat bereits ein paar Fälle von Untreue gegeben, aber warum sind Sie dann noch bei ihm ?) und dass er fürchtet, Sie könnten grundlos eifersüchtig werden und ihn beschuldigen. Oder vielleicht hat er sich untersuchen las ­ sen, kennt das Ergebnis noch nicht und hat Grund zur Sor­ ge. Wie bereits zuvor festgestellt: Emotionen sagen Ihnen nicht, durch was sie ausgelöst worden sind. Passt eine Emo ­ tion nicht zur Situation oder zum Gesagten, ist es sinnvoll,

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sich zu fragen, was da gerade geschieht und ob man mehr darüber wissen sollte. Am klügsten ist es womöglich, so zu reagieren, wie ich es für die Situation mit Ihrem Kind vorge ­ schlagen habe, und Ihren Partner zu fragen, o b e r etwas auf dem Herzen hat.

Ekel und Verachtung Der Mann sah mir zu, wie ich eine von den amerikanischen Konservendosen leerte, die ich mir in das entlegene Dorf der Fore in den Bergen von Papua-Neuguinea mitgebracht hat­ te. Als ich merkte, wie er mich betrachtete und was für einen Gesichtsausdruck er machte, ließ ich die Gabel fallen und griff zur Kamera, die ich stets um den Hals trug. (Zum Glück wussten die Fore damals noch nicht, wozu eine Kamera gut ist, und waren gewohnt, mich ohne ersichtlichen Grund diesen seltsamen Gegenstand vor Augen nehmen zu sehen; daher wurde der Mann sich seiner Pose gar nicht bewusst und wand­ te sich nicht ab, bevor ich auf den Auslöser drücken konnte.) Abgesehen von der Tatsache, dass das Bild den klassischen Ausdruck des Ekels darstellt, verdeutlicht diese Geschichte

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sehr schön den Zusammenhang zwischen dem Verzehr ab ­ stoßender Nahrung und der Entstehung von Ekel: Er aß nicht einmal davon; allein mir dabei zuzusehen reichte, um dieses Gefühl bei ihm auszulösen.* Vor 30 Jahren habe ich Ekel folgendermaßen beschrie ­ ben: ... ein Gefühl der Abneigung. Der Geschmack von etwas, das man ausspucken möchte ; allein der Gedanke daran, so etwas zu essen, kann einen anekeln. Ein Geruch, den man aus den Nasengängen vertreiben oder dem man ausweichen möchte ; und wieder kann al­ lein der Gedanke daran, wie etwas Ekel erregendes riechen könnte, für massiven Abscheu sorgen. Der Anblick von etwas, von dem Sie annehmen, dass es widerlich schmeckt oder riecht, kann Sie ane ­ keln. Auch Geräusche können dies bewirken, dann n ämlich, wenn sie mit einer scheußlichen Begebenheit assoziiert sind. Und schließ ­ lich kann eine Berührung, das Fühlen von etwas Abstoßendem, ei­ nem schleimigen Objekt zum Beispiel, Ekel auslösen. Nicht nur Geschmack, Gerüche und Berührungen, nicht nur der Gedanke daran, nicht nur Anblick und Klang können Abscheu her­ vorrufen, auch die Handlungen und die Erscheinung von Menschen, ja sogar Ideen vermögen dies. Menschen können von abstoßender Erscheinung und ihr Anblick widerwärtig sein. Manche Menschen empfinden Ekel, wenn sie missgestaltete, verkrüppelte oder h ä ssli­ che Mitmenschen erblicken. Der Anblick von Blut oder einer Ope­ ration ekelt etliche Menschen. Manche menschlichen Handlungen sind ebenfalls Ekel erregend, man kann angewidert sein von dem, was ein anderer tut. Jemand, der einen Hund oder eine Katze miss ­ handelt oder quält, kann zum Gegenstand des Abscheus werden. Jemand, der sich Praktiken verschreibt, die andere als sexuelle Per­ version empfinden, kann Ekel erregen. Eine Einstellung oder Ver­ haltensweisen gegenüber Menschen, die als entwürdigend gelten, können andere Ekel empfinden lassen. 1

*

Ich habe zwar über die Jahre Dutzende von Fotografien gesammelt, auf denen jede der anderen Emotionen abgebildet ist, aber von Ekel habe ich keine. Eine professionelle Fotoagentur, die ich bat, mir solche Bilder zu beschaffen, konnte nur mit gestellten Aufnahmen aufwarten; bei allen anderen Emotionen fanden sich problemlos passende Pressefotos. Das ist kein Wunder, denn Ekel erregende Szenen sind nicht attraktiv. Zeitungs - und Zeitschriftenherausgeber und deren Inserenten müssen zu dem Schluss gekommen sein, dass sich mit solchen Bildern nichts verkaufen l ä sst.

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(;efühle lesen

Meine Beobachtungen sind seither durch eine Reihe von Untersuchungen des weltweit praktisch einzigen Wissen ­ schaftlers, der seine Forschung überwiegend dem Ekel ge ­ widmet hat, bestätigt und erweitert worden. Der Psychologe Paul Rozin, der übrigens eine besondere Vorliebe für gutes Essen hegt, ist der Ansicht, dass der "Urekel" in der Vorstel­ lung liegt, etwas als abstoßend und unrein Empfundenes oral aufnehmen zu müssen. Um in meiner Terminologie zu blei­ ben, wäre dies das Ekelthema. Allerdings bestehen je nach Kultur große Unterschiede bezüglich dessen, was als absto ­ ßend empfunden wird. Das Foto von dem Mann aus Neu­ guinea macht diesen Umstand sehr deutlich: Er ist angewidert von Anblick und Geruch dessen, was ich mit Appetit esse. Und auch innerhalb einer Kultur gibt es große Unterschiede. Meine Frau schwärmt für rohe Austern, ich finde sie abscheu­ lich. In manchen Gegenden Chinas sind Hunde eine begehr­ te Delikatesse, während die meisten Angehörigen westlicher Kulturen die Aussicht, diese essen zu müssen, grässlich fän­ den. Aber es gibt auch unter den Ekelauslösern Univer­ salien. Rozin stellte fest, dass Körperflüssigkeiten und - ausschei­ dungen die potentesten universalen Auslöser sind : Fäkalien, Erbrochenes, Urin, Auswurf und Blut. Im Jahre 1955 schlug der amerikanische Psychologe Gordon Allport ein "Gedan­ kenexperiment" zum Thema E kel vor, das Sie im Geiste durchführen können, um herauszufinden, ob seine Prophe ­ zeiung tats ächlich eintritt. »Denken Sie zunächst, Sie schluck­ ten den Speichel in Ihrem Mund herunter, oder tun Sie das tats ächlich. Dann stellen Sie sich vor, sie sollten ihn in ein Glas spucken und trinken ! Was zunächst natürlich und ,zu mir gehörig' erscheint, wird schlagartig zu etwas Fremdem, Ekelhaftem.« 2 Rozin hat dieses Experiment tats ächlich ge ­ macht; er hat Personen gebeten, ein Glas Wasser zu trinken, in das sie zuvor hineingespuckt hatten, und festgestellt, dass Allport Recht gehabt hatte. Obwohl sie den Speichel doch im Augenblick davor noch im Mund gehabt hatten, tranken die

8. Ekel und Verachtung

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Leute das Wasser nicht mehr. Rozin ist der Ansicht, dass ein Produkt, das unseren Körper verlä sst, im selben Augenblick für uns zu etwas Ekelhaftem wird. Ekel wird erst irgendwann zwischen vier und acht Jah ­ ren zu einer eigenständigen Emotion. Es gibt zunächst nur Ablehnung, das Zurückweisen von Dingen, die schlecht schmecken, aber noch keinen Ekel. Rozin bat Kinder und Erwachsene, Schokolade zu berühren oder zu essen, die wie Hundekot geformt war. Bis zum Alter von vier bis sieben J ah­ ren haben Kinder damit nicht die geringsten Probleme, die meisten Erwachsenen aber weigern sich. Ähnliches passiert, wenn Sie einen sterilisierten Grashüpfer in ein Glas Milch oder Saft geben: Kinder unter vier Jahren h ält sein Anblick nicht vom Trinken ab. * Kinder und Jugendliche entwickeln in Bezug auf Ekel eine besondere Faszination. Rozin erinnert daran, dass Geschenk­ artikelläden überaus realistische Nachbildungen von Erbro ­ chenem, Auswurf, Schleim und Fäkalien verkaufen und dass es vor allem kleine Jungen sind, die diese Dinge erstehen. Es gibt eine ganze Witzgattung, die sich um Ekel dreht und mit diesem Thema spielt. In der bei Jugendlichen so beliebten Fernsehserie Beavis and Butthead und in den für kleinere Kin­ der konzipierten Serien Captain Underpants und Garbage Pail *

Rozin erkl ärt diesen Unterschied damit, dass kleinere Kinder noch nicht über die kognitiven Fähigkeiten verfügen, die für das Empfinden von Ekel notwendig sind - die Fähigkeit zum Beispiel, eine Diskrepanz zwischen Schein und Wirk­ lichkeit wahrzunehmen wie etwa beim Schokoladen- Hundekot. Das steht im Ein­ klang mit seiner Ansicht, dass andere Tiere keinen Ekel empfinden. I n meinen Augen wäre es allerdings eine außerordentliche Tatsache, wenn eine so grundle ­ gende Reaktion auf die Außenwelt einzig und allein dem Menschen vorbehalten sein sollte, daher habe ich den Tierverhaltensforscher Frans de Waal danach ge­ fragt. Er schrieb zurück: >>Diese Emotion muss bei anderen Primaten auch vor­ ha!'lden sein. E kel muss ursprünglich etwas mit der Ablehnung bestimmter Nahrungsmittel zu tun gehabt haben, und das kommt bei anderen Primaten na­ türlich vor. Was allerdings einen charakteristischen Gesichtsausdruck betrifft, so ist diese Frage schwerer zu beantworten.« Derzeit ist die Angelegenheit also noch offen, weil offenbar bislang niemand erforscht hat, ob es bei anderen Primaten ei­ nen Gesichtsausdruck gibt, der typisch für die Zurückweisung von Nahrung ist, und, faJJs dem so ist, ob dieser auch in Reaktion auf soziale Verstöße gezeigt wird.

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Gefühle lesen

Kids werden Ekel erregende Situationen genüsslich ausge ­ kostet. Der Juraprofessor William Miller beschreibt in seinem fesselnden Buch The Anatomy of Disgust, dass sich nicht nur Kinder vom Widerwärtigen so fasziniert zeigen: » [Ekel] ... hat einen Reiz, übt eine Faszination aus, die sich darin mani­ festiert, dass es uns schwer fällt, unsere Augen von blutigen Unfällen abzuwenden ... sowie in der Anziehungskraft von Horrorfilmen. 3 ... Unser eigener Nasenschleim, Kot und Urin erscheinen uns unrein und Ekel erregend, [aber] ... fasziniert und neugierig [sind wir] dennoch ... wir schauen uns unsere Produkte weit häufiger an als wir zugeben würden ... wie oft sieht man jemanden einen prüfenden Blick in sein Taschen­ tuch werfen, nachdem er sich die Nase geputzt hat.« 4 Der Kassenerfolg solcher Filme wie Verrückt nach Mary verdankt sich nicht allein den jugendlichen Zuschauern. Rozin unterscheidet das, was er als zwischenmenschlichen Ekel bezeichnet, von einem eher allgemeinen EkelgefühL 5 Er benennt vier Gruppen von erlernten zwischenmenschli­ chen Auslösern: das Fremde, das Kranke, das Unglückliche und das moralisch Verwerfliche. Meine gemeinsamen Studien mit Maureen O 'Sullivan bestätigen Rozins Überlegungen teilweise. Wir baten Studenten aufzuschreiben, was sie für die schlimmste Ekelerfahrung hielten, die ein Mensch nur machen könne. Rozins Thema der oralen Aufnahme von et­ was Unreinem (beispielsweise gezwungen zu werden, das Er­ brochene einer anderen Person zu essen) kam zur Sprache, wurde aber nur von elf Prozent der Beteiligten erwähnt. Der am häufigsten (in 62 Prozent der F älle) benannte Auslöser für extremen Abscheu war die Konfrontation mit moralisch verwerflichem Handeln - wie es zum Beispiel die amerika­ nischen Soldaten erlebt haben müssen, als sie die Konzen­ trationslager der N ationalsozialisten entdeckten. Fast die H älfte der in diesem Zusammenhang erwähnten moralisch verwerflichen Handlungen betraf den Bruch von Sexualta­ bus, beispielsweise der Verkehr mit kleinen Kindern. Die

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letzte Reihe von Beispielen schließlich (von 18 Prozent der Beteiligten erwähnt) bestand in Formen von physischer Ab ­ stoßung, die aber nichts mit Nahrungsmitteln zu tun hatte ­ das Auffinden einer Leiche zum B eispiel, aus der bereits Maden kriechen. 6 Unsere Ergebnisse legen den Schluss nahe, dass es bei Erwachsenen zwischenmenschliche Auswüchse sind, und hier insbesondere das moralisch Verwerfliche, das sie für das Ekelhafteste halten, weniger der Urekel, der an die orale Aufnahme von etwas geknüpft ist. Ich habe zuvor erwähnt, dass Rozins "Urekel" das emotio ­ nale Thema sei, und wenn er damit Recht hat, dass die vier Arten von zwischenmenschlichem E kel - vor Fremdem, Krankem, Unglücklichem und moralisch Verwerflichem ­ erlernt sind, dann wären dies die Variationen des Themas . Mir scheint e s allerdings denkbar, dass diese vier Formen des zwischenmenschlichen Ekels ebenfalls Themen darstellen, die sich in jeder Kultur finden und bei denen lediglich die für Individuum, soziale Gruppe und Kultur spezifischen Ein­ zelheiten erlernt werden. So reagiert womöglich jeder mit Ab ­ scheu auf eine moralisch verwerfliche Person, was jedoch moralisch verwerflich ist, unterscheidet sich von Fall zu Fall. Was fremd, was vertraut und was ein Unglück ist, variiert ver­ mutlich ebenfalls mit dem jeweiligen Umfeld, Krankheit hin­ gegen wohl weniger. Schwere Missbildungen und eiternde Wunden gelten wahrscheinlich in jeder Kultur als anstößig. Miller weist darauf hin, dass in einer Kultur Dinge oder Handlungen leichter der Kategorie des Verabscheuungswür­ digen zugerechnet als davon ausgenommen werden. Das deckt sich mit den Überlegungen, die ich in den Kapiteln 2 bis 4 angestellt habe und denen zu folge die Emotionsdatenbanken des Menschen offen sind und nicht geschlossen. Diese Daten­ banken sind ebenso wie die Programme, die unsere Reak­ tionen auf unsere unterschiedlichen Emotionen steuern, bei unserer Geburt nicht leer. Die Evolution hat Anweisungen darin niedergelegt, wie wir zu reagieren haben, und Emp ­ findsamkeiten vorgegeben, die bestimmen, auf was wir rea-

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gieren. Laut Millers Ausführungen ist an diesen schwer zu rütteln, aber da sie offen sind, können wir jederzeit neue Aus­ löser und neue emotionale Reaktionen erlernen. Sowohl J apaner als auch Amerikaner reagieren mit Ab ­ scheu auf Exkremente und die orale Aufnahme von Absto ­ ßendem, aber bezüglich der sozialen Formen des Ekels hat Rozin Unterschiede ausgemacht. Jemand, der nicht in die Sozialordnung hinein passt oder andere in unfairer Weise kri­ tisiert, erregt in Japan Abscheu. Amerikaner reagieren ange­ widert auf Rassisten oder brutale Menschen. Nicht alles sozial Anstößige aber ist von Kultur zu Kultur verschieden: Rozin hat festgestellt, dass Politiker in vielen Kulturen mit Abscheu betrachtet werden ! Zu den von Rozin beschriebenen vier Arten von zwischen­ menschlichem Abscheu kommt durch die Befunde der Psy­ chologen John Gottman, Erica Woodin und Robert Levenson noch eine fünfte Form von Angewidertsein ins Spiel; ich be­ zeichne diese als Überdruss (ftd-up disgust) . Die Forschung der drei Wissenschaftler verdient besondere Aufmerksamkeit, denn sie sind die einzigen, die sich mit dem Ausdruck von Gefühlen im Verlauf einer der wichtigsten und am stärksten emotionsgeladenen sozialen Interaktionen im Leben ausein­ andergesetzt haben - der von Ehepartnern. * Wenn ein Ehepaar einen Konflikt zu lösen versucht, lie ­ fert der Ausdruck von Widerwillen, den die Frau ihrem Mann gegenüber im Verlauf der Unterhaltung durchblicken lässt, eine erstaunlich genaue Prognose über die Zeit, die beide in den kommenden vier Jahren getrennt verbringen werden.7 Gottman stellte fest, dass diese Abscheureaktion seitens der Frau in der Regel in Reaktion auf den (in Kapitel 6 näher be*

Im Unterschied dazu befassen sich die meisten Emotionsforscher mit Emotionen bei Menschen, die allein sind oder in triviale Begegnungen verwickelt werden. Und statt zu beobachten, was die Menschen tatsächlich tun, lassen Sie ihre Ver­ suchspersonen Fragebögen ausfüllen, in denen sie beschreiben müssen, was sie ihrer Erinnerung nach gefühlt haben oder wie sie sich vorstellen, dass sie reagie­ ren würden.

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schriebenen) emotionalen Rückzug des Ehemannes erfolgt, wenn er sich auf ihre Gefühle nicht mehr einlässt. Umgangs ­ sprachlich hat sie dann eben das Ganze satt. Man beachte, wie passend diese Essensmetapher hier erscheint. Wenn Ihr Gatte Sie abstößt, ist es kein Wunder, wenn die Zukunft trost­ los erscheint. (Wir werden weiter unten in diesem Kapitel, wenn ich über Verachtung berichte, auf andere Befunde Gott­ mans zurückkommen.) Miller trifft die überaus interessante Feststellung, dass wir bei großer Vertrautheit weniger schnell E kel empfinden. Musterbeispiele dafür sind »... Windeln zu wechseln, Erbro ­ chenes aufzuputzen, für kranke oder anderweitig geschwäch­ te Verwandte zu sorgen . ... Eltern sind immer für das Kind da. Sie entsorgen Exkremente, laufen Gefahr, sich selbst oder ihre Kleidung damit zu besudeln, lassen sich vollspucken . ... Das Verdrängen der Unreinem anhaftenden Widerwärtig­ keit ist kennzeichnend für die Bedingungslosigkeit elterlicher Liebe und Fürsorge.« 8 Dasselbe Ausschalten von Ekel findet sich zwischen Sexual­ partnern. Ein weiteres Zitat von Miller: »Jemandes Zunge in seinem Mund zu dulden, kann ein Zeichen von Intimität sein, denn es kann auch als abscheulicher Übergriff gewer­ tet werden . ... Einvernehmlicher Sex besteht in der gegensei­ tigen Überschreitung von ekelbewehrten Grenzen . ... Sex ist nur eine Art von Grenzüberschreitung, die eine Form des Nacktseins beinhaltet. Es gibt andere Entblößungen, Zur­ schaustellungen und Kenntnisse über den anderen, auf die tiefe Vertrautheit sich gründet, die Vertrautheit einer langj äh­ rigen engen und liebevollen Beziehung. Man denke an geteilte und einander eingestandene Zweifel, Sorgen und Befürchtun­ gen, an offenbarte Sehnsüchte, eingestandene Unzulänglich­ keiten und Versagen, einfach daran, sich vom anderen sehen zu lassen als jemand mit Mängeln, Schwächen und Bedürf­ nissen . ... Freunde oder Vertraute können wir definieren als Menschen, die uns etwas vorjammern dürfen, auf dass auch wir ihnen etwas vorjammern können, wobei beide S eiten

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sich darüber einig sind, dass solches Jammern das Privileg der Vertrautheit ist und ohne dieses von unserem Sinn für Würde und Abscheu unterbunden würde. [Liebe] ... gewährt dem anderen das Privileg, uns in einer Weise zu sehen, die uns ohne den Mantel der Liebe beschämen und andere mit Abscheu* erfüllen würde.« 9 Millers bemerkenswerte Einsicht legt eine soziale Funk­ tion von Ekel nahe, die nicht unmittelbar auf der Hand liegt. Das Überwinden von Ekel etabliert Vertrautheit und besie ­ gelt die persönliche Bindung. Dieses Akzeptieren von etwas, für das sich der andere vielleicht schämt, das Ausüben kör­ perlicher Aktivitäten, die man mit jedem anderen als Ekel er­ regend empfände - damit ist nicht allein Sex gemeint, stellen Sie sich etwa vor, Sie müssten das Erbrochene von einem Fremden beseitigen statt von j emandem, der I hnen nahe steht -, ist vielleicht nicht nur Ausdruck von Liebe, sondern dazu angetan, Liebe zu stärken. Eine weitere sehr wichtige Funktion von Ekel besteht da­ rin, dass er uns dazu bringt, uns von dem dem Auslöser des Ekels zu entfernen. Ohne Frage ist es nicht sinnvoll, etwas Verdorbenes zu essen, und ebenso lä sst uns soziale Abnei­ gung Dingen ausweichen, die wir abstoßend finden. Es han­ delt sich dabei, so Miller, um ein moralisches Urteil, nach dem es unmöglich ist, mit der verabscheuungswürdigen Per­ son oder den als widerwärtig eingestuften Handlungen zu einem Kompromiss zu gelangen. Die Rechtsgelehrte Martha Nussbaum schreibt, dass »die meisten Kulturen die Ausgren­ zung von bestimmten Gruppen lehren, die als körperlich ab ­ stoßend gelten«. 10 Leider kann dies eine höchst gefährliche * Mein Lektor hat angemerkt, dass es einen Unterschied gibt zwischen der Über­ windung von Ekelbarrieren durch Eltern und durch Liebespaare. So weit ich es beurteilen kann, sind Babywindeln immer ekelhaft, selbst wenn es sich um das ei­ gene Baby h andelt. Liebende Eltern überwinden ihren Ekel, um für das Kind zu sorgen, aber sie fühlen ihn nach wie vor. Beim Sex aber ist das anders. Die Zunge der richtigen Person im Mund zu spüren ist nicht im mindesten ekelhaft - ganz im Gegenteil. Im ersten Fall wird der Ekel also überwunden oder verdrängt, im zweiten wird er zu etwas völlig anderem transformiert.

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Emotion sein, denn sie entmenschlicht diejenigen, die wir als abstoßend empfinden, und schafft damit die Voraussetzun­ gen dafür, dass sie unmenschlich behandelt werden. Bestimmte Handlungen sind für illegal erkl ärt worden, weil sie gegen das allgemeine Moralempfinden verstoßen Kinderpornographie zum Beispiel oder Obszönität. Nuss ­ baum ist der Ansicht, dass Gesetze sich nicht auf das gründen sollten, was allgemein als anstößig empfunden wird, vielmehr sollten wir statt Abscheu unsere Empörung zur Grundlage unserer Rechtsprechung machen. » [Empörung] ... ist ein mo ­ ralisches Empfinden, das dem juristischen Urteil weit besser zugänglich und weit verlä sslicher ist als E kel. Ihre Herlei­ tung lässt sich öffentlich zugänglich machen, und sie tut über­ dies nicht den fragwürdigen Schritt, einen Kriminellen außerhalb der moralischen Gemeinschaft zu stellen, ihn wie ein Insekt oder eine Schnecke zu behandeln. Vielmehr inte ­ griert sie ihn fest in die moralische Gemeinschaft und beur­ teilt sein H andeln von einem gemeinsamen moralischen Fundament aus.« 1 1 Im Zusammenhang mit der Tatsache, dass der emotionale Zustand eines Menschen zum Tatzeitpunkt eines Verbrechens als mildernder Umstand gewertet werden kann, vertritt Nuss­ baum den Standpunkt, dass Ekel und Widerwillen nicht als Emotion gewertet werden sollten. »Zwei Morde sind nicht unterschiedlich schlimm, weil einer abstoßender ist als der andere ... 12 Die normale Reaktion auf Ekel und Aversion«, so Nussbaum, »besteht darin, sich davon zu machen, nicht da­ rin, denjenigen umzubringen, der einen - etwa seiner homo ­ sexuellen Neigungen wegen - abstößt. Sich von irgendwem beschmutzt oder ,abgestoßen' zu fühlen [allein] ist niemals ein hinreichender Grund, gegen diese Person mit Gewalt vor­ zugehen«. 1 3 Diejenigen, die schlimmste Akte der Entwürdigung ande­ rer Menschen rechtfertigen, bezeichnen ihre Opfer oftmals als Tiere (und zwar nicht von der niedlichen Sorte) ; manch­ mal wird über Opfer gesprochen, als handle es sich um un-

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beseelte abstoßende Materie, um Abschaum oder Unrat. Ich fürchte, dass auch Entrüstung oder Empörung im selben Maße Gemetzel oder Folter rechtfertigen würden, aber sie würden nicht die durch Ekel begründete Barriere zwischen dem Selbst und dem Anderen errichten und aufrechterhal­ ten. (Nussbaum bezieht sich freilich auf die Frage der Nut­ zung von Emotionen zur Rechtfertigung von Gesetzen, nicht zur Rechtfertigung von legalen oder illegalen Handlungen.) Eine der Gewalt verhindernden Barrieren oder Hemmfak­ toren sollten, so würde man annehmen, Anblick und Laute des leidenden Opfers sein, sein Blut, sein Schreien. Dass dies häufig nicht der Fall ist, könnte daran liegen, dass das Opfer durch sein offensichtliches Leid für den Peiniger abstoßend wird. Selbst wenn wir j emanden möglicherweise nicht von Anbeginn an für abstoßend erachten, kann der Anblick sei­ nes Blutes, seines durch Verletzung oder Folter misshandel­ ten Körpers bei dem Betrachter statt S orge Widerwillen hervorrufen. Am Anfang meiner Forschungen zum Ausdruck von Ge ­ fühlen in unterschiedlichen Kulturen habe ich die Feststel­ lung gemacht, dass Filme, in denen Menschen litten - ein Film über eine Beschneidungszeremonie bei Eingeborenen und ein anderer über eine Augenoperation -, bei der Mehr­ heit der von mir befragten amerikanischen und japanischen Studenten den mimischen Ausdruck von Ekel hervorriefen. Ich habe dann weitere medizinische Lehrfilme bearbeitet in einem war zu sehen, wie bei einer Operation unter viel Blutverlust ins Gewebe geschnitten wurde, in einem anderen zog man einem Mann mit Verbrennungen dritten Grades die verbrannten Hautpartien ab. Wieder legten die meisten Ver­ suchspersonen Ekel an den Tag und berichteten auch über eben dieses Gefühl. Die Filme konnten gegeneinander be ­ liebig ausgetauscht werden, sie alle riefen dasselbe Gefühl hervor, und die darin präsentierten Auslöser gehören zu den am meisten verwendeten Filmreizen der Emotionsfor­ schung.

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Eine kleine Gruppe aber (etwa 20 Prozent) offenbarte beim Anblick des Leidens einer anderen Person in j enen Filmen eine völlig andere Reaktion. Statt Abscheu und Ekel reagier­ ten diese Menschen mit Trauer und Schmerz, so als identifi ­ zierten sie sich mit dem Opfer. Offenbar hat uns die Natur dahingehend geformt, dass uns der Anblick der Innereien eines anderen Menschen und ins ­ besondere der Anblick von Blut abstößt. Diese Reaktion wird aufgehoben, wenn der Blutende kein Fremder ist, sondern ein Vertrauter, ein Verwandter. In diesem Fall sind wir mo ­ tiviert, das Leiden zu lindern statt uns abzuwenden. Man kann sich vorstellen, dass eine Abneigung gegen die physi­ sehen Zeichen von Krankheit und Leid evolutionär von Vor­ teil gewesen ist, weil sie die Ansteckungsgefahr reduziert hat, freilich um den Preis unserer Fähigkeit zu Mitleid und Mit­ gefühl, zweier für den Aufbau einer Gemeinschaft unver­ zichtbarer Eigenschaften. Weder Mitgefühl (Empathie) noch Mitleid sind Emotio ­ nen: Sie bezeichnen unsere Reaktion auf die Emotion eines anderen Menschen. Kognitive Empathie lä sst uns erkennen, was ein anderer fühlt. Emotionale Empathie lä sst uns fühlen, was der andere fühlt, und das Mitleiden bringt uns dazu, dass wir dem anderen helfen wollen, seine Situation und seine Ge­ fühlen zu bewältigen. Um eine der genannten Formen des Mitfühlens entwickeln zu können, müssen wir zunächst ein­ mal über kognitive Empathie verfügen; um mitzuleiden be­ darf es allerdings nicht notwendigerweise der Fähigkeit zu emotionaler Empathie.* 14 * Die tibetischen Buddhisten verwenden diese Begriffe etwas anders, aber doch in ähnlicher Weise. Ihr Begriff für das, was wir als unsere Fähigkeit zum Mitge ­ fühl bezeichnen, heißt dem Dalai Lama zu folge in der Übersetzung etwa "die Un­ fähigkeit, einen anderen leiden zu sehen". Nicht, dass man sich von diesem Anblick zurückzieht, im Gegenteil : »Es ist das, was uns dazu veranlasst, zu erschrecken, wenn man sieht, dass einem anderen Schaden zugefügt wird, zu leiden, wenn man jemand anderen leiden sieht.« Der buddhistische Gebrauch des Begriffs Mitleid (compassion) beinhaltet beträchtlich mehr, als wir mit diesem Wort meinen. Dies zu erläutern, würde uns weit vom Begriff des Ekels wegführen, aber es ist erwäh-

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Gefühle lesen

Verachtung (contempt) ist dem Ekel verwandt und dennoch etwas anderes. Ich habe keine Fotos finden können, mit de ­ nen ich dieses Gefühl h ätte veranschaulichen können. Es wird genau wie Abscheu nicht oft in Zeitungen und Zeit­ schriften abgebildet. Bild H am Ende dieses Kapitels zeigt ein Beispiel dafür. Vor vielen Jahren habe ich Verachtung von Abscheu in fol­ gender Weise abgegrenzt: Verachtung wird stets nur Menschen oder menschlichem Handeln entgegengebracht, nicht aber Geschmack, Gerüchen oder Berüh­ rungen. In Hundekot zu treten mag Ekel erregen, niemals aber Ver­ achtung; die Vorstellung, Kalbshirn essen zu müssen, mag ekelhaft sein, aber sie beschwört keine Verachtung herauf. Allerdings kön­ nen Sie sehr wohl Menschen gegenüber, die solche Ekel erregenden Dinge essen, Verachtung empfinden, denn Verachtung birgt immer auch ein Element der Herablassung gegenüber dem Objekt der Ver­ achtung. Wenn Sie Personen und ihren Aktionen Geringsch ätzung entgegenbringen, fühlen Sie sich ihnen (in der Regel moralisch) überlegen. Der Verstoß der anderen mag I hnen ehrlos scheinen, aber es besteht keine Notwendigkeit, sich wie im Falle des Ekels von ihnen abzuwenden. 1 5

Leider gibt es keinen Paul Rozin für Verachtung, nieman­ den, der seine Forschung in den Dienst dieser Emotion ge ­ stellt hat. Miller hat die interessante Beobachtung gemacht, dass wir uns, wenn wir Verachtung empfinden, einer ande ­ ren Person zwar überlegen fühlen, dass aber jemand in einer untergeordneten Position durchaus jemanden verachten kann, der ihm überlegen ist. Denken Sie nur an »die Verachtung, die Teenager für Erwachsene übrig haben, Frauen für Männer,

nenswert, dass die Buddhisten sowohl Mitfühlen als auch Mitleiden als mensch­ liche Fertigkeiten betrachten, die zwar nicht erlernt, wohl aber kultiviert werden müssen, damit sie zum Vorschein kommen. Ich fasse das so auf, dass wir daran arbeiten müssen, alle menschlichen Wesen als unsere N ächsten zu betrachten und die Aversion gegen die blutigen Spuren des Leidens und die durch Krankheit be­ dingten Beeinträchtigungen aufzuheben; dies ist Arbeit, weil die Natur uns die Umsetzung nicht leicht gemacht hat.

8. Ekel und Verachtung

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Diener für ihre Herren, Arbeiter für ihre Vorgesetzten .. . Schwarze für Weiße, die Ungebildeten für die Gebildeten ... 1 6 Nach oben gerichtete Verachtung ermöglicht es dem Unter­ geordneten, sich in Bezug auf ein bestimmtes Attribut über­ legen zu fühlen . ... Die da unten wissen, dass sie in den Augen der anderen geringer sind, sie wissen, dass sie von jenen mit einer gewissen Verachtung gesehen werden . . . « 17 Wenn Sie eine Vorstellung von der Bedeutung von Verach­ tung entwickeln wollen, ist folgende interessante Reihe von Befunden aus der Untersuchung ehelicher Beziehungsmus ­ ter durch Gottman und seine Mitarbeiter überaus aufschluss ­ reich. Die Frauen, deren M änner ihre Verachtung offen zeigten, • •

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fühlten sich überfordert waren der Ansicht, dass ihre Probleme nicht zu lösen se1en empfanden ihre Eheprobleme als schwer wiegend wurden in den n ächsten vier Jahren häufig krank.

Die Tatsache, dass der mimische Ausdruck von Ekel oder Zorn durch den Ehemann keine solchen Folgen z eitigte, macht deutlich, wie wichtig es ist, Verachtung als eigene Emo ­ tion zu betrachten (gleichwohl wird diese Unterscheidung längst nicht von allen anerkannt, die sich mit Emotionen be­ fassen) . Wie alle anderen Emotionen, die wir bislang betrachtet haben, kann auch Verachtung in Stärke und Intensität schwan­ ken, genau wie Ekel. Ich habe den Verdacht, dass das obere Ende der Skala bei Ekel sehr viel weiter reicht als bei Verach­ tung; das maximale Ausmaß an Verachtung kommt also bei weitem nicht an das maximale Ausmaß an Abscheu heran. Abscheu ist eindeutig eine negative Emotion: Sie fühlt sich nicht gut an, wenngleich wir, wie bereits erwähnt, von etwas Widerwärtigem weit stärker fasziniert sein können, als man dies bei einer unangenehmen Emotion erwarten sollte. Nimmt Ekel massive Ausmaße an, dann sind die Empfindungen ohne

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>Vor ungeheurem Stolz und Zufriedenheit strahlen, meist über die Leistungen eines Kindes oder Enkelkindes. So stolz und glücklich zu sein, dass einem vor lauter stolzge­ schwellter Brust schier die Knöpfe wegplatzen.«11 Ndchiflbe­ schreibt die Emotion, kweln den dazugehörigen Ausdruck in Gestik und Miene. Nach Aussagen meiner Tochter können Kinder ndchifl auch angesichts der Leistungen ihrer Eltern empfinden. Dies wiederum lä sst mich ndchifl hobn, und nun kwel ich. Ndchifl sorgt dafür, dass Eltern nicht nachlassen in ihrem Bestreben, Aufwachsen und Leistungen ihrer Kinder zu för­ dern. Leider fehlt es Eltern manchmal an ndcheß, wenn ihre Kinder Herausragendes leisten und es weiter bringen als sie selbst. Solche Missgunst führt häufig zu einer Art Konkur­ renzkampf zwischen Eltern und Kindern, und das kann für beide höchst destruktiv sein. Ähnliche Konkurrenzkämpfe habe ich in der akademischen Welt mehr als einmal zwischen Lehrer und Schüler beobachtet. "Warum ist sie zu der Tagung eingeladen worden ? Ich bin der Fachmann, sie war meine Studentin." Ein Lehrer muss genau wie Vater oder Mutter angesichts der Leistungen seiner Schüler ndchifl empfinden, wenn diese lernen sollen, fiero zu sein und sich davon zu wei­ teren Höhenflügen anstacheln zu lassen, da sie vom Lehrer erwarten, dass dieser kwelt. Diese Beispiele werfen die interes ­ sante Möglichkeit auf, dass es womöglich positive Emotionen gibt, die manche Menschen niemals erfahren werden. Das gilt sicher für körperliche Beeinträchtigungen, durch die der eine oder andere sinnliche Genuss gestört sein kann, aber vielleicht gibt es auch psychologische Handicaps, welche die Fähigkeit blockieren, gewisse angenehme Emotionen zu er­ leben.

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Gefühle lesen

Der Anthropologe Jonathan Haidt ist der Auffassung, dass es noch eine weitere positive Emotion gibt, die er als erhebendes Gefühl (elevation) bezeichnet, und er beschreibt diese als »ein warmes, erhebendes Empfinden, das Menschen befällt, wenn sie einen unerwarteten Akt menschlicher Güte, Freundlich­ keit und menschlichen Mitgefühls erleben.«1 2 Wenn wir so fühlen, motiviert uns das, selbst ein besserer Mensch zu wer­ den und uns altruistisch zu verhalten. Ich hege keinen Zwei­ fel daran, dass das, was Haidt beschreibt, tats ächlich existiert, bin mir aber nicht sicher, ob es s ämtliche Kriterien einer Emotion erfüllt. Nicht alles, was wir empfinden, ist eine Emo ­ tion. Wir haben zum Beispiel auch Gedanken, Einstellungen und Werte. Richard und Bernice Lazarus beschreiben Dankbarkeit (gra­ titude) als »Wertsch ätzung, die einem altruistischen Geschenk entgegengebracht wird, das uns zum Guten gereicht«. 13 Sie verweisen darauf, dass wir Dankbarkeit zumeist dann emp ­ finden, wenn uns j emand etwas Gutes tut und dies ein altru­ istischer Akt ist und nicht vor allem dem Betreffenden selbst nützt. Wir können freilich auch verlegen reagieren, wenn wir so ins Zentrum der Aufmerksamkeit geraten, oder verstimmt sein, weil wir uns in der Schuld des anderen fühlen, ja sogar verärgert, weil wir den Eindruck haben, dass die Person, die so nett zu uns war, nur deshalb so gehandelt hat, weil sie glaubte, wir h ätten es nötig. Dankbarkeit ist in der Tat eine komplizierte Emotion, denn es ist nicht leicht vorherzusagen, wann sie auftritt. Ich gehe davon aus, dass es bezüglich der sozialen Situation, in der Dankbarkeit erfahren wird, besonders tief greifende kultu­ relle Unterschiede geben wird (so wie es beispielsweise auf die Frage, wann man Trinkgeld gibt, in den USA und Japan höchst unterschiedliche Antworten gibt) . In den USA sagt jemand, der nur seine Arbeit erledigt, oft, dass er keinen Dank erwartet. So könnte man zum Beispiel annehmen, dass eine Krankenschwester, die einen sehr kranken Patienten hervor­ ragend betreut, keine Dankbarkeit erwartet oder nötig hat.

9. Positive Emotionen

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Meiner Erfahrung nach trifft allerdings häufig genau das Ge­ genteil zu: Gerade in solchen Situationen ist der Ausdruck von Dankbarkeit oftmals besonders wohltuend. Ich bezweifle, dass Dankbarkeit über ein allgemein gülti­ ges äußeres Anzeichen signalisiert wird. Das einzige, was mir dazu einfällt, ist eine leichte Neigung des Kopfes, aber diese kann auch eine ganze Reihe anderer Dinge bedeuten, bei ­ spielsweise das Zurkenntnisnehmen von etwas. Ich bezweif­ le auch, dass es ein einzigartiges physiologisches Muster an Empfindungen gibt, das für Dankbarkeit charakteristisch ist. Damit soll nicht angezweifelt werden, dass es Dankbarkeit gibt; es stellt sich bloß die Frage, ob wir sie in dieselbe Schub ­ lade wie Belustigtsein, Erleichterung, sinnliches Genießen und dergleichen stecken sollten. Das Gefühl, das Sie empfinden, wenn Sie erfahren, dass ihrem ärgsten Feind ein Missgeschick zugestoßen ist, kann auch erfreulich sein und uns dann eine andere positive Emo ­ tion verschaffen als j ene, die wir bislang betrachtet haben. Im Deutschen bezeichnet man dieses Gefühl als Schadenfreude. Im Unterschied zu allen übrigen positiven Emotionen wird Schadenfreude zumindest in westlichen Kulturen zum Teil missbilligt (die Haltung anderer Kulturen zu dieser Emotion kenne ich leider nicht) . 1 4 Es gilt als unfein, sich hämisch im eigenen Erfolg zu sonnen und am Unglück des Rivalen zu weiden. Sollte Schadenfreude als eigene positive Emotion durchgehen? Vermutlich nicht; sie entspricht eher einer Spiel­ art des jiero, die demonstrativ vor anderen gezeigt wird. Gibt es wirklich 16 positive Emotionen? Können die fünf Formen sinnlichen Genießens, Belustigtsein, Zufriedenheit, Erregung, Erleichterung, staunende Ergriffenheit, Ekstase, jiero, nacheß, das Empfinden eines erhebenden Gefühls, Dank­ barkeit und Schadenfreude tats ächlich jeweils als eigene Emo ­ tion gelten ? Diese Frage kann nur durch Untersuchungen beantwortet werden, die erforschen, wann diese Gefühle auf­ treten, wie sie signalisiert werden und was sich dabei im In­ neren abspielt. Für den Augenblick glaube ich, dass wir in der

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Gefühle lesen

Tat j ede einzelne davon untersuchen sollten. Manch einer mag einwenden, dass eine Emotion, für die wir kein Wort kennen, auch nicht einzubeziehen sei. Allerdings sollten wir dabei nicht so engstirnig sein, etwa nur ein Wort in unserer Sprache zu akzeptieren ! Ich glaube nicht, dass es von Bedeu­ tung ist, ob es überhaupt in einer Sprache ein entsprechen­ des Wort gibt, würde aber annehmen, dass alle Emotionen in irgendeiner Sprache einen Namen haben. Wörter sind kei­ ne Emotionen, sie sind Reprä sentationen von Emotionen. Wir müssen sorgsam darauf achten, dass uns unsere Begrif­ fe nicht in die Irre führen, was das Wesen von Emotionen anbelangt. Die Art und Weise, wie wir Wörter benutzen, kann manchmal verwirrend sein. Ich habe zum Beispiel die Be­ zeichnung Belustigtsein gewählt, um jene positive Emotion zu beschreiben, die wir in Reaktion auf etwas Komisches - meist einen Witz - empfinden, aber auch für andere Dinge, die eine humorvolle Dimension haben. Welche Emotionen erleben wir, wenn wir uns etwa auf einem Jahrmarkt "einen lustigen Tag machen" oder "uns amüsieren gehen"? In der Regel gibt es dort nicht allzu viel Witziges, höchstens vielleicht einmal den Vortrag eines Komikers, der uns amüsiert. Erlebnisbu­ den und Achterbahnen sorgen viel eher für Erregung, Angst und Erleichterung denn für Belustigung. Vielleicht sind wir hier und da auch ftero, weil wir all die beschwerlichen Er­ fahrungen erfolgreich überstanden haben. Vielleicht auch, wenn wir alle Kegel umgeworfen oder bei einer Schießbude etwas getroffen haben. Wenn unsere Kinder bei solchen Spie­ len gut abschneiden, empfinden wir womöglich nacheß. Und oftmals bieten die gebotenen Attraktionen auch den einen oder anderen sinnlichen Genuss. Vielleicht deckt ein Begriff wie "Vergnügungspark" dieses Spektrum an möglichen Emo ­ tionen noch am besten ab. Positive Emotionen sind die Antriebsfeder unseres Lebens ; sie bringen uns dazu, Dinge zu tun, die im Großen und Gan­ zen gut für uns sind. Sie ermutigen uns, Aktivitäten auf­ zunehmen, die für das Überleben unserer Art notwendig

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sind - sexuelle Beziehungen oder die Förderung unseres Nachwuchses. Das ist alles andere als hedonistisch, denn altru­ istisches Handeln, Gutes zu tun, Wunderbares zu schaffen, sind vermutlich erlernte Quellen von ftero, Erregung, Belus ­ tigtsein und sinnlichem Genießen, ja eigentlich s ämtlicher positiven Emotionen. Vergnügen anzustreben muss nicht notwendigerweise eigensinnig und egoistisch sein. Genau ge ­ nommen glaube ich, dass gerade das Gegenteil zutrifft; ein Leben ohne Freundschaft, ohne Hingebung, ohne den Kon­ takt zu anderen, der uns sinnlichen Genuss bereitet, wäre eine recht dürre Angelegenheit. Genau wie Tomkins bin ich der Ansicht, dass das Streben nach Vergnügen eine der primären Triebfedern unseres Le­ bens ist. Aber auf welche positiven Emotionen sind wir am meisten aus ? Jeder von uns kann, wenn er nicht unter senso ­ rischen Beeinträchtigungen leidet, j ede der hier genannten Emotionen empfinden. Die meisten von uns aber sind Spe ­ zialisten, und es verlangt sie nach manchen Emotionen mehr als nach anderen. Menschen organisieren ihr Leben so, dass sie die Häufigkeit gewisser Emotionen für sich selbst maxi­ mieren. Ich habe den Hang, mich anzustrengen, um ftero sein zu können, empfinde gerne nacheß und die eine oder andere Sinnesfreude. Als ich jünger war, suchte ich eher Erregung denn nacheß (damals hatte ich noch keine Kinder) . Ich glau­ be, dass wir im Verlauf unseres Lebens unseren Schwerpunkt mehrmals verlagern, aber auch das harrt noch der Untersu­ chung. Zufriedenheit zu suchen, ist mir nie überm äßig wichtig gewesen, aber ich habe gute Freunde, für die das ein Haupt­ ziel ist; sie streben nach Ruhe und Ausgeglichenheit. Ich ken ­ ne andere, die sich freiwillig in gefährliche Situationen bege ­ ben, in höchste Alarmbereitschaft versetzen, um Erregung und Erleichterung zu spüren und ftero zu sein. Und für wie ­ der andere ist das Lustigsein, sich selbst und andere zu belus­ tigen, zum Mittelpunkt ihrer Persönlichkeit geworden. Altruisten, die sich oft für die Arbeit in wohltätigen Organi-

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Gefühle lesen

sationen entscheiden, suchen erhebende Gefühle und Dank­ barkeit und sind oftmals vielleicht auch fiero. Blättern Sie noch einmal zurück zu dem Foto vom Wie ­ dersehen der Familie Stirm. Wir wollen versuchen herauszu­ finden, welche der oben genannten positiven Emotionen die Tochter gefühlt haben mag, als sie mit ausgebreiteten Armen ihrem Vater entgegenstürmte. Da ist zunächst einmal Erre ­ gung, gepaart mit der Aussicht auf eine sinnliche Freude : ihn wieder im Arm zu halten, die vertraute N ähe und den ver­ trauten Geruch zu spüren. Ein paar Augenblicke zuvor wird sie vermutlich Erleichterung gespürt haben, als sie sah, dass ihr Vater wirklich unversehrt aus dem Krieg heimgekehrt war. Vielleicht gab es auch einen Moment der staunenden Er­ griffenheit angesichts der schieren Unfassbarkeit seiner Rück­ kehr nach fünfj ähriger Abwesenheit, einer langen Zeit im Leben dieser jungen Frau. Das Wiedersehen mit einem Menschen, an dem man sehr h ä ngt, gehört möglicherweise zu den universalen Themen der positiven Emotionen. In Neuguinea habe ich festgestellt, dass die beste Gelegenheit, spontane Freude zu filmen, das Wiedersehen zwischen Leuten aus befreundeten Nachbar­ dörfern war. Ich saß dann am Wegesrand vom Unterholz fast verborgen, hielt die Filmkamera einsatzbereit und wartete, bis die Freunde zusammenkamen. Wiedersehen stärkt die Bindung zwischen Menschen. Trennung n ä hrt in der Tat Sehnsucht, und es ist ein gutes Gefühl, Menschen, die einem etwas bedeuten, wiederzusehen. Sexuelle Beziehungen sind ein weiteres universales The ­ ma, mit dem eine Vielzahl von positiven Emotionen zusam­ menhängt: eine Reihe sinnlicher Genüsse natürlich, Erregung zu Beginn, Erleichterung nach dem Höhepunkt. Lust und sexuelles Verlangen stecken voller erotischer Vorfreude, neh­ men einen Teil der sinnlichen Lust im Geiste vorweg, schü­ ren die Erregung bei der Aussicht auf das Begehrte. Auf die Bitte, mir das glücklichste Ereignis zu nennen, das

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einem Menschen je vergönnt sein kann, wurde von meinen Studenten - weiblichen und m ännlichen Geschlechts - häu­ figer als von mir erwartet die Geburt eines Wunschkindes genannt. Erregung, Ergriffenheit, Erleichterung, fiero und vielleicht Dankbarkeit sind bei diesem Anlass vermutlich die wichtigsten positiven Emotionen. Das Zusammensein mit einem geliebten Menschen ist ein weiteres universales Thema. Zu elterlicher Liebe ebenso wie zur Liebe zwischen zwei Partnern gehört die langfristige Hin­ wendung, die intensive Bindung an eine bestimmte andere Person. Keines von beiden ist eine Emotion. Emotionen kön­ nen sehr rasch vorüber gehen, Liebe dauert an. Die Liebe zwischen zwei Partnern kann ein Leben lang halten, tut es in vielen Fällen allerdings nicht. Elterliche Liebe ist eher eine lebenslange Bindung, doch auch hier gibt es Ausnahmen; manche Eltern verstoßen ihre Kinder. Wir kennen noch eine andere Bedeutung von Liebe, n ämlich eine flüchtige Woge von Glücksempfinden und extremer Hinwendung zu dem Geliebten. 15 Das habe ich im Vorhergehenden als Ekstase be­ zeichnet, und diese wiederum kann als Emotion gelten. In liebenden famili ären Verhältnissen empfinden wir oft­ mals viele der genannten positiven Emotionen, aber nicht ohne manchmal auch weniger angenehme Empfindungen zu hegen. Wir können von unseren Liebsten verärgert, ange ­ widert oder enttäuscht werden, und wenn einer von ihnen verletzt wird oder stirbt, empfinden wir Schmerz und Ver­ zweiflung. Eltern hören wohl nie auf, sich um die Sicherheit und das Wohlergehen ihrer Kinder zu sorgen, mag auch die Sorge bei kleineren Kindern größer sein. Kontakt zu den ei­ genen Kindern kann - egal ob er persönlich, erinnert oder im Geiste vorweggenommen ist - viele positive Emotionen erstehen lassen: sinnliches Genießen, nacheß, Augenblicke der Zufriedenheit oder der Erregung, Erleichterung, wenn er oder sie außer Gefahr ist, und sicher zuweilen auch Belusti­ gung.

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(;efühle lesen

Bei der Liebe zwischen zwei Partnern sind ebenfalls s ämt­ liche unliebsamen Emotionen möglich, doch hoffentlich nicht so häufig wie die positiven. Abscheu und Verachtung sind selten, und wenn sie doch auftreten, so ist das ein Zeichen, dass die Beziehung ernsthaft gefährdet ist. Liebesbeziehun­ gen unterscheiden sich darin, welche der positiven Emotio ­ nen besonders häufig auftreten. 16 Manche Paare streben durch gemeinsame Arbeit danach,ftero sein zu können, oder ziehen aus den Leistungen des anderen eine besondere Befriedigung für sich selbst. Für andere stehen womöglich Erregung oder Zufriedenheit im Vordergrund, um nur einige wenige Bei­ spiele zu nennen. Obschon ich der Ansicht bin, dass die Themen, die ich hier erwähnt habe, universal sind, so spielen bei ihrer Ausformung unsere Erfahrungen doch eine wesentliche Rolle. Zudem wer­ de unendlich viele andere Variationen zu diesen Themen er­ lernt und entwickeln sich zu Grundlagen unserer ganz persönlichen Palette an positiven Emotionen. Einigen positiven Emotionen entsprechen gewisse gleich gefärbte Stimmungen; das gilt insbesondere für Erregung, Zufriedenheit und B elustigtsein. Dieses Empfinden kann über lange Zeitspannen anhalten, und in diesem Zustand fällt es den Betreffenden über Stunden hinweg leicht, sich in die entsprechende Emotion versetzen zu lassen. Am Beginn dieses Kapitels habe ich geschrieben, dass ein Wort wie Glücklich- oder Fröhlichsein (happiness) uns nichts darüber sagt, mit welcher Form der freudigen Empfindung wir es zu tun haben. Eine weitere Unwägbarkeit besteht da­ rin, dass Fröhlichsein sich auch auf eine völlig andere Sache beziehen kann, nämlich auf das subjektive Wohlbefinden ei­ ner Person. Der Psychologe Ed Diener, Leiter einer Studie zum subjektiven Wohlbefinden, definiert es als die persönli­ che Bewertung des eigenen Lebens . Es wird in erster Linie bemessen an Antworten wie "Mein Leben ist im großen und ganzen als ideal zu betrachten" oder "Bisher habe ich alles Wichtige, was ich erreichen wollte, im Leben auch erreicht".

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Eine Reihe verschiedener Faktoren scheint in das Wohlbe ­ finden mit einzufließen: Befriedigung i n verschiedenen Le­ bensbereichen - beispielsweise im Arbeitsleben - und die Häufigkeit, mit welcher der Betreffende positive und negati­ ve Emotionen empfindet. In der ganzen Welt hat man die Frage des subjektiven Wohl­ befindens mithilfe von Fragebögen untersucht. Es würde uns zu weit vom Thema wegführen, an dieser Stelle mehr als ei­ nen kurzen Einblick in die Ergebnisse zu vermitteln, aber ein universaler Befund war, dass dabei eine positive Relation zu Einkommen und Kaufkraft festgestellt wurde. Ein kulturel­ ler Unterschied besteht hinsichtlich der Frage der Selbstach­ tung; diese ist in westlichen Kulturen stärker mit dem subjektiven Wohlbefinden korreliert als in nicht westlichen Kulturen. Quer durch alle Kulturen ist überdies eine enge Beziehung für das Wohlbefinden von Bedeutung. 17 Auch eine Reihe von Charakterzügen oder Persönlichkeits ­ merkmalen ist mit positiven Emotionen verwandt. Menschen, die bei Persönlichkeitstests in Bezug auf Aufgeschlossenheit und emotionale Stabilität gut abschneiden, beschreiben sich als besonders fröhlich. 1 8 Untersuchungen, in denen danach gefragt wurde, wie diese Charakterzüge das Fröhlichsein die ­ ser Menschen bewirken, haben zwar nicht die oben skizzier­ ten unterschiedlichen A rten von Vergnügen und Freude berücksichtigt, kamen aber zu dem Schluss, dass eine gewis ­ se Extrovertiertheit dazu beiträgt, dass man sich glücklicher fühlt. Extrovertierte Menschen sind unter Umständen durch Zurückweisung und Bestrafung weniger leicht aus dem Lot zu bringen oder neigen dazu, bei Vergleichen mit anderen ihr eigenes Leben günstiger zu beurteilen. Möglich ist auch, dass ein extrovertierter Mensch in der westlichen Kultur einfach besser aufgehoben ist als ein introvertierter. 1 9 Auch was das für einen Menschen übliche Maß an Opti­ mismus und Fröhlichkeit betrifft, gibt es große individuelle Unterschiede, und das scheint in der Tat ein dauerhafter Wesenszug zu sein und keine Reaktion auf eine spezifische

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Gefühle lesen

Situation oder ein Ereignis. Christopher Peterson, einer der Experten auf diesem Gebiet, ist der Ansicht, Optimismus sei eine Haltung, die zum häufigeren Erleben positiver Emo ­ tionen befähigt. 20 Auch wenn keineswegs jeder sehr optimis ­ tisch ist - eine solche Einstellung bietet gewiss Vorteile. Man findet sie bei Menschen, die ihr Leben genießen, größere Aus ­ dauer haben und höhere Leistungen bringen. Bemerkenswer­ terweise kommen mehrere Studien überdies zu dem Schluss, dass optimistische Menschen gesünder sind und länger le ­ ben ! 21 Peterson mutmaßt, dass die optimistische Gesamtein­ stellung zum Leben »vielleicht eine biologisch angelegte Ten­ denz ist, die kulturabhängig mit einem sozial akzeptablen Inhalt gefüllt wird und deshalb zu erwünschten Ergebnissen beiträgt, weil sie eine allgemein robustere, schwungvollere Verfassung bewirkt«. 22 Peterson fragt auch: »Wie fühlt sich Optimismus an? Ist es Fröhlichkeit, Freude, Hypomanie (eine psychische Störung, die mit dauerhaft extrem gehobener Stim­ mung einhergeht) oder einfach Zufriedenheit?« 2 3 In früheren Kapiteln habe ich geschrieben, dass ein Zuviel an bestimmten aufreibenden E motionen - A ngst, Zorn, Trauer waren in dieser Hinsicht am anschaulichsten - Zei­ chen einer emotionalen Störung sein kann. Das völlige Fehlen positiver Emotionen - nicht imstande zu sein, auch nur eine der oben genannten angenehmen Emotionen zu spüren ­ trägt in der psychiatrischen Fachsprache die Bezeichnung Anhedonie. Überschäumende, niemals nachlassende Erregung, gelegentlich vermischt mit Euphorie und Allmachtsgefühlen sind charakteristisch für die emotionale Störung Manie.

Positive Emotionen bei an deren erkennen Selbst bei flüchtigem Hinschauen ist aus den in diesem Kapitel bislang gezeigten Bildern deutlich geworden, dass Lächeln der mimische Ausdruck einer positiven Emotion ist. Belus ­ tigtsein oder ftero, ndcheß oder Zufriedenheit, Erregung, sinn­ liebes Genießen, Erleichterung, tiefes Erstaunen, Schaden -

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freude, Ekstase, vielleicht auch ein erhebendes Gefühl und Dankbarkeit, all das kommt mit einem Lächeln daher. Diese Arten von Lächeln unterscheiden sich oft nur in ihrer Inten­ sität, darin, wie rasch sie erscheinen, wie lange sie auf dem Gesicht zu sehen sind und wie langsam sie verblassen. Wenn all diese verschiedenen positiven Emotionen den­ selben lächelnden Ausdruck hervorbringen, woher wissen wir dann, welches Gefühl unser Gegenüber empfindet? Neu­ ere Arbeiten, von denen ich in Kapitel 4 bereits gesprochen habe, bestätigen meine Vermutung24 , der zufolge es Signale in der Stimme sind und nicht die Mimik, durch die sich eine positive Emotion von der anderen unterscheidet. Die engli­ schen Psychologen Sophie Scott und Andrew Calder haben für Zufriedenheit, Erleichterung, angenehme sinnliche Emp ­ findungen durch Berührung und fiero unterschiedliche Stimm­ signale ausgemacht. Sie haben bisher nicht i m Einzelnen ausgeführt, welche Merkmale im Klang einer Stimme diese positiven Emotionen jeweils signalisieren. Ich bin sicher, dass sie auch für die anderen positiven Emotionen charakteristi­ sche Signale finden werden. Lächeln kann verwirrend sein, nicht nur weil es jede posi­ tive Emotion begleitet, sondern auch, weil es oftmals aufge ­ setzt wird, wenn Menschen gar keine Freude oder Glück empfinden, zum Beispiel aus Höflichkeit. Doch es gibt einen Unterschied zwischen echtem und freudlosem Lächeln. Es ist ein feiner Unterschied, und unsere Studien in Zusammen­ arbeit mit dem Psychologen Mark Frank legen den Verdacht nahe, dass er den meisten Menschen entgeht. 25 Wenn Sie nicht wissen, wonach Sie suchen müssen, lassen Sie sich vielleicht irreführen und kommen zu dem Schluss, dass Lächeln im allgemeinen nicht übermäßig verlässlich ist. Das stimmt nicht; ein Lächeln sagt uns zweifelsfrei, wenn auch in verdeckter Form, ob es genuiner Freude entspringt oder nicht. Vor mehr als 100 Jahren fand der große französische Neu­ rologe Duchenne de Boulogne heraus, worin sich echtes freu­ diges Lächeln von allen anderen Arten des Lächelns unter-

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scheidet. 26 Er untersuchte mithilfe der Elektrostimulation, wie die Aktivierung einzelner Gesichtsmuskeln das Erschei­ nungsbild eines Gesichts verändert. Dazu stimulierte er ver­ schiedene Regionen elektrisch und fotografierte die resultie ­ renden Muskelkontraktionen. (Die Experimente wurden bei einem Mann durchgeführt, der im Gesicht keinen Schmerz fühlte, sodass ihm die Methode nichts ausmachte.) Als Du­ chenne sich die Bilder des Lächelns ansah, das durch die Ak­ tivierung des so genannten großen Jochbeinmuskels (Mus­ culus zygomaticus maj or) zustande gekommen war - dieser erstreckt sich vom Jochbein zu den Mundwinkeln hinab und vermag diese zum Lächeln hochzuziehen -, fiel ihm auf, dass der Mann nicht eben glücklich wirkte. Als guter Experimen­ tator erz ählte Duchenne dem Mann daraufhin einen Witz und fotografierte dessen Reaktion. Der Vergleich zeigt ganz deutlich, dass beim echten Lächeln nicht nur der Mund des Mannes l ächelte, sondern dass auch die Muskeln aktiviert waren, die das Auge ringsum einschließen. Vergleichen Sie einmal selbst die beiden Bilder - mit und ohne Elektroden im Gesicht: Links wurde künstlich stimuliert, rechts lächelt er über den Witz.

Das Duchenne -Lächeln

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Duchenne schrieb dazu: »Das Gefühl echter Freude drückt sich im Gesicht durch das Zusammenspiel der Kontraktio ­ nen vom Musculus vgomaticus mqjor und dem Musculus orbicu­ laris oculi aus. Ersterer gehorcht dem Willen, der zweite aber wird allein durch die süßen Emotionen der Seele [er schrieb dies 1 862] ins Spiel gebracht; ... falsche Freude und vorge ­ täuschtes Lachen können die Kontraktion des Letzteren nicht bewirken ... Der Muskel, der das Auge umgibt, gehorcht dem Willen nicht, er wird nur durch ein echtes Gefühl ins Spiel gebracht, durch eine angenehme Emotion. Seine Unbeweg­ lichkeit bei einem Lächeln entlarvt den falschen Freund.« 2 7 Unsere eigenen Forschungen 2 8 haben Duchennes Behaup ­ tung, niemand vermöge den Ringmuskel des Auges willent­ lich zu kontrollieren, bestätigt (»gehorcht dem Willen nicht«) , wenngleich es nur ein Teil des Muskels ist, der so schwer will­ kürlich zu beherrschen ist. Es gibt bei diesem Muskel zwei Abschnitte, einen inneren, der die Augenlider und die Haut direkt darunter anspannt, und einen äußeren, der rings um die Augenhöhle herum verläuft und die Augenbrauen und die Haut darunter nach unten sowie die Haut unter dem Auge und die Wangen nach oben zieht. Duchenne lag richtig, was den äußeren Teil des Muskels betrifft; nur wenige Menschen (10 Prozent der von uns untersuchten Personen) vermögen diesen willkürlich zu kontrahieren. Den inneren Teil hingegen, der das Augenlid anspannt, kann jeder willkürlich in Aktion versetzen; daher ist fehlen­ de Aktivität in diesem Fall nicht geeignet, "den falschen Freund zu entlarven". Schauspieler, die überzeugend so aus ­ sehen, als freuten sie sich von Herzen, gehören entweder zu der kleinen Gruppe von Menschen, die den äußeren Teil des Augenringmuskels willkürlich zu beherrschen vermögen, oder, was wahrscheinlicher ist, sie aktivieren Erinnerungen, die das Gefühl hervorbringen und somit auch den echten, nicht von Willkür diktierten Ausdruck desselben. Charles Darwin hat Duchenne zwar zitiert und einige sei ­ ner Aufnahmen herangezogen, u m den Unterschied zwischen

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verschiedenen Arten von Lächeln anschaulich zu machen, die Wissenschaftler j edoch, die sich in den darauf folgenden 100 Jahren mit Gesichtsausdrücken besch äftigt haben, igno ­ rierten Duchennes Entdeckung. 2 9 Meine Kollegen und ich haben ihn und seine Befunde vor 20 Jahren neu in die Dis ­ kussion gebracht 30 und seither zusammen mit anderen ihre Bedeutung zweifelsfrei belegen können. Wenn sich einem zehn Monate alten S ä ugling zum Beispiel ein Fremder n ä­ hert, wird der Ringmuskel des Babys a n seinem Lächeln nicht mitwirken, nähert sich aber die Mutter, so ist dieser Muskel am Lächeln beteiligt. * 3 1 Wenn sich ein glücklich verheiratetes Paar nach einem lan­ gen Tag begegnet, ist an beider Lächeln der Ringmuskel des Auges beteiligt; bei der Begegnung unglücklich verheirateter Ehepartner ist das nicht zu beobachten. 3 2 Menschen, die es fertig bringen, über ihren kürzlich verstorbenen Partner mit einem Lächeln zu sprechen, an dem der Ringmuskel des Au­ ges beteiligt ist, haben ihre Trauer zwei Jahre sp äter deutlich im Griff. 33 (Das hat nichts damit zu tun, dass sie den Tod ihres Gatten leicht nehmen, aber sie bleiben fähig, sich an schöne Erfahrungen zu erinnern und diese für einen Augen­ blick wieder zu beleben.) Frauen, bei denen man auf dem Col­ lege -Abschlussfoto erkennen kann, dass der Ringmuskel des Auges an ihrem Lächeln beteiligt war, haben 30 Jahre sp ä­ ter über weniger Stress zu klagen und berichten über ein grö ­ ßeres emotionales und physisches Wohlbefinden als ihre Altersgenossinnen. 3 4 Ganz generell berichten Menschen, die sehr häufig ein Lächeln zeigen, an dem der Ringmuskel rund um das Auge beteiligt ist, über mehr Glücksempfindungen; sie haben einen niedrigeren Blutdruck und werden von Gat­ ten und Freunden als glücklich eingestuft. 3 5 Wir haben bei *

Ich würde zwar nie annehmen, dass ein zehn Monate altes Baby lügt, wenn es einem Fremden ein "Nicht- Duchenne - L ächeln" prä sentiert, aber immerhin ist es i n diesem Alter bereits imstande, ein soziales Lä cheln hervorzubringen, jene Art von Lä cheln, die wir das ganze Leben hindurch einem Fremden bei der ers ­ ten Begegnung entgegenbringen.

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unseren eigenen Untersuchungen festgestellt, dass ein L ä ­ cheln, d a s Augenmuskeln u n d Mundwinkel einschließt, Gehirnregionen (im linken Schläfenlappen und im Stirnhirn) aktiviert, die auch bei spontaner Freude aktiviert werden, nicht aber bei einem reinen Lächeln der Lippen. 3 6 Duchenne zu Ehren habe ich vorgeschlagen, das echte Lä-

A

B

cheln wahrer Freude, an dem der Ringmuskel des Auges be­ teiligt ist, als Duchenne-Lächeln zu bezeichnen. Auf den ersten Blick mag es scheinen, als bestehe der ein­ zige Unterschied zwischen diesen beiden Aufnahmen darin, dass die Augen in Bild B verengt sind. Aber wenn Sie A und B sorgsam vergleichen, werden sie eine ganze Reihe von Un­ terschieden ausmachen. In B, das echtes Vergnügen mit ei­ nem Duchenne - L ä cheln dokumentiert, sind die Wangen höher hinaufgezogen, ihr Umriss hat sich verändert und die Brauen sind ein kleines bisschen gesenkt. All das ist zurück­ zuführen auf die Wirkung der beiden Augen-Ringmuskeln. Wenn das Lächeln breiter wird, gibt es nur einen einzigen Hinweis, der eine Unterscheidung zwischen einem Lächeln aus echter Freude und einem vorgetäuschten Lächeln erlaubt. Ein breites Lächeln wie in Abbildung C schiebt ebenfalls die

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Gefühle lesen

c

D

Wangen hoch, lä sst die Haut unter den Augen Falten bilden, und verengt die Augenöffnung, sodass in den Augenwinkeln Krähenfüße entstehen - alles ohne jede Beteiligung des Ring­ muskels. In Bild D sind im Vergleich dazu die Augenbrauen und die Haut zwischen Augenlid und Augenbraue durch den Ring­ muskel heruntergezogen. D zeigt ein breites Lächeln der Freu­ de, C ein sehr breites unfrohes L ächeln. Aufnahme C ist übrigens eine Fotomontage aus D und dem neutralen Foto E. Foto F ist ebenfalls eine Fotomontage, bei der die lächeln­ den Lippen aus D in das neutrale Bild E eingefügt wurden. Es sollte Ihnen seltsam vorkommen, und das liegt daran, dass ein natürliches breites Lächeln s ä mtliche der in D gezeigten Veränderungen um Augen und Wangen mit sich bringt. Ich habe diese Montage angefertigt, um die Tatsache zu veran­ schaulichen, dass an einem sehr breiten Lächeln eben nicht nur die Lippen beteiligt sind, sondern auch die Wangen und die Bereiche rund um die Augen. Es gibt viele verschiedene Arten von "künstlichem" Lä­ cheln. Manche, wie das höfliche Lächeln, bestehen nur aus den lächelnden Lippen. Dasselbe findet sich auch, wenn je­ mand beim Zuhören lächelt, um dem Sprecher Übereinstim­ mung oder Verständnis zu signalisieren. Bei anderen Formen

9. Positive Emotionen

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F

E (neutral)

sind neben den Lippen noch weitere Gesichtsbewegungen beteiligt. Der unten gezeigte Mann aus Neuguinea war in seinem Dorf ein geachteter Ältester. Sein zögerliches, vorsichtiges Lächeln signalisiert, dass er nichts Böses im Sinn hat, aber sich nicht sicher ist, was als nächstes passieren wird. Ich war für die Menschen in seinem Dorf eine höchst unberechen-

zögerliches Lächeln

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GefühJe lesen

bare Person, die erstaunliche, fremdartige Dinge tat - ich z ündete Streichhölzer an, beleuchtete D inge mit einer Taschenlampe und ließ Musik aus einer Kiste erschallen. Er war mit solcherlei Wunderdingen mehrfach konfrontiert wor­ den und fand mich als Quelle dieser Art von Staunen, Erre ­ gung und Vergnügen höchst anziehend, doch er konnte ja nie wissen, wann ich ihn aufs Neue verblüffen würde. Die leicht geöffneten Lippen und die vor der Brust verschränkten Arme tragen dazu bei, seine zögerliche Attitüde zu vermitteln. Den ganzen Tag über hatte es Wortscharmützel gegeben. Endlich war Präsident Reagan am Ende seiner Rede vor dem NAACP (National Association for the Advancement of Colared People) angelangt, aber schon bei seiner Einleitung hatte ihn die Vorsitzende Margret Bush Wilson mehrfach un­ terbrochen und daran erinnert, dass er es während des Prä ­ sidentschaftswahlkampfes vers äumt hatte, beim Konvent der Gruppe zu erscheinen. Sie löste bei den Delegierten laute Bei-

gequ ältes Lächeln

9. Positive Emotionen

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fallsbekundungen aus, als sie erkl ärte : »Der NAACP pflich­ tet dem, was hier gesagt werden wird, nicht unbedingt bei.« Nach seiner Rede nahm der Prä sident Wilson in den Arm, eine perfekte Gelegenheit für ein gequ ältes Lächeln, sozusa­ gen gute Miene zum bösen Spiel. 37 Ein solches Lächeln zeugt von wenig angenehmen Emotionen. Es dokumentiert, dass Sie Spaß verstehen, dass Sie Kritik annehmen und dabei immer noch lächeln können. Es ist nicht der Versuch, Emo ­ tionen zu verbergen, sondern sichtbarer Ausdruck einer ge ­ quälten Verfassung. Es bedeutet, dass die Person, bei der Sie es sehen, sich - wenigstens im Augenblick - nicht allzu sehr über ihr Los beschweren wird. Beachten Sie, dass Präsident Reagan bei seinem breiten Lä­ cheln die Lippen fest aufeinander gepresst hat. Die Falten an seinem Kinn zeigen uns überdies, dass er die Unterlippe leicht hochgeschoben hat. Aus dem Foto lä sst sich nicht ersehen, ob die Ringmuskeln der Augen in Aktion sind; Reagan könnte seine missliche Situation ja auch genießen. Ein gequ ältes Lä­ cheln beobachtet man typischerweise immer dann, wenn kei ­ ne echte Freude vorliegt, aber sie ist - wie hier - möglich.

Gefühle mit einem Lächeln überspielen

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