Figur ohne Raum?: Bäume und Felsen in der attischen Vasenmalerei des 6. und 5. Jahrhunderts v. Chr. [1 ed.] 3110220725, 9783110220728 [PDF]

Nikolaus Dietrich presents a general model for the understanding of space in Greek paintings, based on an analysis of la

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German Pages 728 Year 2010

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Figur ohne Raum?: Bäume und Felsen in der attischen Vasenmalerei des 6. und 5. Jahrhunderts v. Chr. [1 ed.]
 3110220725, 9783110220728 [PDF]

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Zitiervorschau

Nikolaus Dietrich Figur ohne Raum?

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Image & Context Edited by François Lissarrague, Rolf Schneider & R.R.R. Smith Editorial Board: Bettina Bergmann, Jane Fejfer, Luca Giuliani, Chris Hallett, Susanne Muth, Alain Schnapp & Salvatore Settis

Volume 7

De Gruyter

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Nikolaus Dietrich

Figur ohne Raum? Bäume und Felsen in der attischen Vasenmalerei des 6. und 5. Jahrhunderts v. Chr.

De Gruyter

IV Gedruckt mit Unterstützung der VG Wort GmbH.

ISBN 978-3-11-022072-8 e-ISBN 978-3-11-022073-5 ISSN 1868-4777 Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2010 Walter de Gruyter GmbH & Co. KG, Berlin/New York Satz: Dörlemann Satz GmbH & Co. KG, Lemförde Druck und Bindung: Hubert & Co. GmbH & Co. KG, Göttingen ∞ Gedruckt auf säurefreiem Papier Printed in Germany www.degruyter.com

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Vorwort

Vorwort

Das vorliegende Buch ist die gekürzte Fassung meiner Dissertation, welche ich in Doppelbetreuung bei Luca Giuliani und François Lissarrague schrieb und im Sommer 2008 abschloss. Den Anstoß, mich mit Bäumen und Felsen in der attischen Vasenmalerei zu beschäftigen, bekam ich ursprünglich von Alain Schnapp, der mir die Darstellung der Natur in der griechischen Kunst als Magisterthema gestellt hatte. Wenngleich die Doktorarbeit bereits gekürzt wurde – das Buch ist dennoch sehr lang geraten. Doch scheint mir auch eine gewinnbringende Lektüre von Ausschnitten möglich. Dazu seien hier einige ‚Benutzerhinweise’ gegeben: Auch wenn der zweite Teil der Arbeit auf die Ergebnisse des ersten aufbaut, behandeln beide Teile Bäume und Felsen unter sehr verschiedenen Gesichtspunkten und können damit unterschiedliche Leserinteressen ansprechen. Grob gesprochen beschäftigt sich der erste Teil mit der Frage nach dem Raum der/in der attischen Vasenmalerei. Der zweite Teil dagegen behandelt Bäume und Felsen als Elemente im semantischen Gefüge der attischen Vasenbilder und beschäftigt sich mit Fragen der Bedeutung von Bildern und Ikonographien. Wie der erste eher formale und der zweite eher inhaltliche Teil zueinander stehen, wird im ersten Kapitel des zweiten Teils erläutert. Eine Lektüre nur eines Teils oder gar nur einzelner Kapitel sollte dadurch erleichtert werden, dass überall, wo Argumentationen auf zurückliegende Ergebnisse aufbauen oder die Grundlage zu späteren Ausführungen bilden, in den Fußnoten auf die entsprechenden Stellen vor- und zurückverwiesen wird. Des Weiteren sollten die Indices für partielle Lektüre Orientierung bieten. In den Fußnoten werden keine ausführlichen Literaturangaben zu den besprochenen Vasen gegeben, da der Leser im Beazley-Archiv über die jeweils angegebene Vasennummer ohnehin Zugriff auf regelmäßig aktualisierte Literaturangaben hat. Für jede Vase wird lediglich auf eine oder wenn notwendig auf mehrere brauchbare Abbildungen derselben verwiesen.

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Vorwort

In den Jahren meiner Promotion genoss ich die finanzielle Unterstützung der Gerda Henkel-Stiftung sowie die ‚ideelle’ Unterstützung der Studienstiftung des Deutschen Volkes. Sollte ich aufzählen, wer jenseits dieses Rahmens, welcher das freie Forschen überhaupt ermöglicht hatte, das Zustandekommen dieser Arbeit gefördert hat, ist zu allererst Alain Schnapp zu nennen, der mich durch seine ‚unmögliche’ Magister-Themenstellung dazu gebracht hatte, mich mit scheinbar so peripheren Motiven wie Bäumen und Felsen zu beschäftigen, und dem Fortschritt meiner Arbeit immer mit großem Interesse begegnet ist. Auch wenn sich meine Forschung im Laufe der Jahre von der Frage nach der Darstellung der Natur weit entfernt hat, sind die Ergebnisse meiner Arbeit nicht ohne deren Ausgangspunkt denkbar. Ist nicht gerade die Frage produktiv, die sich im Zuge ihrer Beantwortung verändert? Als nächstes gilt mein Dank meinen beiden Doktorvätern, Luca Giuliani und François Lissarrague. Mehr noch als durch ihre spezifischen Kommentare und Einwände zu einzelnen Teilen der Arbeit haben sie mich durch ihre allgemeine Art, mit attischer Vasenmalerei und antiken Bildern überhaupt umzugehen, die ich im Laufe meines Studiums in München und Paris kennen lernen durfte, immer wieder von Neuem begeistert und herausgefordert. Die Verschiedenheit und teilweise Gegensätzlichkeit ihrer Fragen, Interessen und Methoden haben es mir unmöglich gemacht, ihnen nach dem Munde zu schreiben, und mich folglich dazu gezwungen, mich ganz an die Bilder selbst zu halten. Nicht weniger gilt mein Dank allerdings Susanne Muth, mit der ich seit Beginn meines Studiums der Klassischen Archäologie in intensivem Austausch stand, die mir das Forschen beigebracht hat und auch das Entstehen dieser Arbeit durch viele lange Diskussionen maßgeblich gefördert hat. Schließlich hat dieses Buch von den Gesprächen mit Rolf Schneider, Nikolina Kéi und Nina Strawczynski profitiert. Michael Squire ist es zu verdanken, wenn der Leser von der englischen Übersetzung der Zusammenfassung etwas verstanden haben wird. Den Editoren der ICON-Reihe habe ich für die prompte Aufnahme des Manuskripts zu danken. Dem Verlag De Gruyter und allen voran Sabine Vogt und Mirko Vonderstein danke ich für die großzügige Gewährung von 456 Abbildungen und die stets professionelle und freundliche Unterstützung bei den kleineren und größeren Problemen der Drucklegung. Auch Rolf Schneider, der sich für die Optimierung der ‚Bildregie’ in diesem Buch viel Zeit genommen hat, ist maßgeblichen daran beteiligt, wenn dieses abbildungsreiche Buch ästhetisch überzeugen kann. Für den großzügigen Druckkostenzuschuss danke ich der VG Wort. Bei der Beschaffung von Abbildungsvorlagen waren folgende Personen und Institutionen behilflich: Ursula Kästner (Berlin, Antikensammlung), Laura Minarini (Bologna, Museo Civico Archeologico), Céline RebièrePlé (Paris, Musée du Louvre), Brigitte Tailliez (Paris, Musée du Louvre)

Vorwort

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und Corinne Chartillange (Paris, Bibliothèque Nationale de France). Bei deren fachgerechten Umwandlung in tif-Dateien waren insbesondere die Photographin des Winckelmann-Instituts, Antonia Weisse, und die ‚Hiwis’ unserer sog. Digithek behilflich. Berlin, April 2010

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Inhaltsverzeichnis

Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Teil I: Bildinterne Untersuchung . . . . . . . . . . . . . . Der Gegenstandscharakter der Landschaftselemente . . . . Aufgetürmtes Wasser . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die räumliche Begrenztheit der Landschaftselemente . . Formbarkeit der Landschaftselemente: . . . . . . . . . . Mobilität der Landschaftselemente . . . . . . . . . . . . Implikationen für die Raumwiedergabe – Ausnahmen, die die Regel bestätigen . . . . . . . . . . . . . . . . . . Boden und Himmel/Grundlinie und Bildfeld . . . . . . . . Grundlinie und Bildfeld: keine Selbstverständlichkeiten Die Polyvalenz von Grundlinie und Bildfeld . . . . . . . Die Grundlinie nicht berühren . . . . . . . . . . . . . . Figurative Bildfeldbegrenzung . . . . . . . . . . . . . . Das ‚Füllen‘ des Bildfelds . . . . . . . . . . . . . . . . . Geländelinien: Ein revolutioniertes Bildfeld mit vielen Konstanten . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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21 23 23 34 39 69

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92 106 107 114 137 156 177

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Teil II: Semantische Untersuchung . . . . . . . . . . . . . . Vorbemerkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zur Unterscheidung von bildinterner und semantischer Untersuchung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die bildinterne Untersuchung als Interpretationshilfe . . . Fruchtbare und unfruchtbare Untersuchungsgegenstände Heteronome Landschaftselemente . . . . . . . . . . . . . . . Felsen und Bäume als Waffen . . . . . . . . . . . . . . . Felsige Gegenstände . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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303 305

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305 306 308 311 311 327

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Inhaltsverzeichnis

Der Erhalt der ästhetischen Eigenständigkeit . . . . . . ‚Felsige‘ Felsen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Felsen und Figuren in situativer Verbindung: Die Inszenierung der Berührung mit Felsen . . . . . Attributhafte Landschaftselemente . . . . . . . . . . Landschaftselemente in der Bürgerwelt . . . . . . . Felsen und Frauen: Neue Assoziationsmöglichkeiten Geländelinien und ihre Bedeutung im Bild . . . . . . . Tongrundigen Felsen und Geländelinienformen: Ein Gegensatzverhältnis? . . . . . . . . . . . . . . . Geländelinien und der Habitus der Figur im Raum .

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366 366

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393 412 447 459 480

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480 493

Zusammenfassung/Summary . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Anhang . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Anmerkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Bibliographie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Abbildungsnachweise . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Register . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Befunde (nach Aufbewahrungsorten und Vasenmalern) . . . Museen, Sammlungen, Kunsthandel . . . . . . . . . . . . Vasenmaler . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ikonographie (nach Themen und nach Landschaftselementen) Namen und Bildthemen . . . . . . . . . . . . . . . . . . Landschaftselemente . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

555 557 681 699 705 705 705 708 710 710 714

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Dass sich die griechische Bildkunst durch die beherrschende Stellung, die darin die menschliche Figur einnehme, und durch das weitgehende Fehlen von Raum- und Landschaftsdarstellung auszeichne, ist eine Aussage, die sich in der archäologischen Literatur aller Zeiten findet. In seiner äußerst kurzen, aber umfassenden Darstellung der „Naturwiedergabe in der älteren griechischen Kunst“ von 1900 nennt E. Löwy als eine der auffallenden Eigentümlichkeiten der griechischen Zeichnung die Tatsache, dass „von der Wiedergabe des Raumes, in dem der Vorgang sich abspielt, in mehr oder weniger weitgehender Weise abgesehen wird.“1 Im einleitenden Absatz eines Artikel von Hölscher aus dem Jahre 2003, in dem es um die Stellung des Körpers in der griechischen Kultur geht, liest man: „… auch in der Malerei, auf den griechischen Vasen wie auf den Wänden von Pompeii, wird von der Möglichkeit, Natur und ‚Umwelt‘ darzustellen, nur selten und eingeschränkt Gebrauch gemacht: Auch hier nehmen die Figuren weitgehend das ganze Bildfeld ein, stehen auf dem unteren Bildrand, ragen bis in die oberen Zonen und lassen kaum Raum für ‚Umgebung‘.“2 Am Urteil von Löwy scheint sich folglich nicht viel geändert zu haben. Diese erstaunliche Konstanz über ein Jahrhundert archäologischer Forschung hinweg, in dem sich gerade grundsätzliche Aussagen über die griechische Kunst so stark verändert haben,3 hat einen offensichtlichen Grund: Der Befund der Bilder lässt vernünftigerweise kein anderes Urteil zu. Jede Untersuchung der erhaltenen griechischen Bildwerke, zumal der vorhellenistischen, könnte nur zu dem Ergebnis kommen, dass die menschliche Figur sowohl quantitativ – gemessen an der Häufigkeit ihres Erscheinens – als auch qualitativ – gemessen an ihrer Wichtigkeit im einzelnen Bild – bei weitem das bestimmende Thema4 der griechischen Bildkunst ist. Dies können weder die wenigen Ausnahmen,5 noch alle Bildwerke, die in der Zukunft zutage treten werden, in Zweifel ziehen. Muss man das Thema der Raum- und Landschaftsdarstellung in der griechischen Kunst damit zu den Akten legen, und bloß noch in wissenschaftsgeschichtlicher Perspektive untersuchen? Dies wäre unter zweierlei Hinsicht zu kurz gegriffen: (1) Die Feststellung, dass es Landschaftsbilder in dem uns geläufigen Sinne in der vorhellenistischen griechischen Kunst nicht gibt, macht es nur umso erklärungsbedürftiger, warum Bäume und Felsen, also die Elemente, aus denen Landschaften im uns geläufigen Sinne gebildet sind, in griechischen Bildern so zahlreich erscheinen.6 Dass diese Motive in griechischen Bildern nicht zum Zwecke der Darstellung von Landschaft erscheinen,7 stellt uns vor eine Aporie, die aufzulösen Aufgabe der historisch-bildwissenschaftlichen Forschung sein muss. (2) Dass in griechischen Bildern keine Landschaft erscheint, ist nicht damit gleichzusetzen, dass es in diesen Bildern keinen Raum gebe. Die implizite Gleichsetzung von Landschaft und Raum wäre eine unhinterfragte Übertragung auf die griechische Antike unserer an der neuzeitlichen Ma-

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lerei geformten, in der Photographie weitergeführten, und im Film zu einer geradezu blendenden (vermeintlichen) Selbstverständlichkeit gebrachten Vorstellung von dem, was ein Bild ist. Ich möchte zwar weder Löwy, noch Hölscher unterstellen, die Raumkonzeption griechischer Bilder mit der einer Photographie gleichzusetzen.8 Doch kann man von beiden Autoren behaupten, dass sie sich für den anzunehmenden anderen Raum des griechischen Bildes nicht weiter interessieren, und es bei der Feststellung belassen, dass er unseren Ansprüchen an Raumwiedergabe nicht genügt. Dass es lohnt, sich die Landschaftselemente aus ersterem Grund näher anzusehen, mag unmittelbar einleuchten. Der Versuch, das Raumkonzept des griechischen Bildes – das Landschaft offenbar nicht vorsieht – zu ergründen, könnte beim Leser jedoch die Befürchtung wecken, es erwarte ihn leeres Theoretisieren über ein Thema, welches einen dem Verständnis konkreter Bilder und der Kultur, die diese hervorgebracht hat, nicht näher bringt, sondern diese Bilder stattdessen bloß mit gewichtigen Worten vernebelt. Zu dieser verständlichen Befürchtung sind zwei Dinge zu sagen: (1) Die Beiträge, welche diese Arbeit zur Frage des Raumes liefern wird, werden – so zumindest der selbst gestellte Anspruch – sich stets aus Beobachtungen anhand konkreter Bilder speisen, also vom Konkreten ins Allgemeine, und nicht vom Allgemeinen ins noch Allgemeinere führen. Auf diese Weise wird es dem Leser immer möglich sein, Verallgemeinerungen nicht mitzugehen, wenn sie ihm nicht einleuchten, und an jedem Punkt zurückzuverfolgen, woher gemachte allgemeine Aussagen stammen. (2) Bei der Frage nach der Raumkonzeption griechischer Bilder handelt es sich nicht um eine Marotte theorielastiger Archäologie, sondern, so möchte ich behaupten, um ein handfestes Desiderat der Forschung. Diesen zweiten Punkt möchte ich etwas länger ausführen, doch zuvor sollen in einem kleinen Exkurs anhand eines beliebig gewählten Bildes von Claude Lorrain einige Grundzüge neuzeitlicher Landschaftsmalerei benannt werden, um sich besser darüber verständigen zu können, was gemeint ist, wenn von unserer vorgeprägten Vorstellung über Raum und Landschaft im Bild die Rede sein wird. Exkurs:9 Auf einem Gemälde von Claude Lorrain von 1668 aus der Alten Pinakothek in München ist die Verstoßung der Hagar durch Abraham dargestellt (siehe S. 2). Die handelnden Figuren Abraham, Hagar, Ismael und die vom Balkon des ‚Hauses‘ zuschauende Sarah nehmen im Bild nur einen sehr geringen Raum ein. Der Gesamteindruck des Bildes wird stattdessen von der Landschaft bestimmt. Die Handbewegung, mit der Abraham Hagar und Ismael ausweist, ist gleichzeitig ein Deuten auf die Landschaft, die sich vor dem Betrachter ausbreitet. Die Landschaft, die in der Malerei der

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Spätgothik und der Renaissance nur den Hintergrund vieler biblischer Szenen bildete, ist bei Claude Lorrain zum unausgesprochenen Hauptthema seiner Bilder geworden. Diese Landschaft ist in erster Linie Darstellung von Natur: Der teils kahle, teils grasige Boden, Sträucher, Bäume, einzelne Felsen, Berge, ein kleiner Fluss, und schließlich das Meer und der wolkenverhangene Himmel, die sich am Horizont im Unendlichen treffen, all diese Motive nehmen den Großteil des Bildes ein. Das Bild zeugt somit von einer eindeutigen Ästhetisierung der Natur. Diese innerhalb neuzeitlicher Landschaftsmalerei triviale Feststellung, markiert bereits einen fundamentalen Unterschied zur attischen Vasenmalerei: Unter den zahllosen Vasenbildern, die Landschaftselemente aufweisen, ließe sich keines anführen, in dem Landschaftselemente – Motive, die dem zugerechnet sind, was man heute unter Natur versteht – so unangefochten den Hauptgegenstand eines Bildes ausmachen würden. Bemerkenswert und für die Landschaften Lorrains typisch ist, dass sich antike Architekturen und herumliegende Bauglieder in die eben genannten Landschaftselemente bruchlos eingliedern. Auch führt eine Brücke über den Fluss, auf der einige schemenhafte Gestalten gehen. Hier und da weiden Tiere, so dass man versucht ist, in diesen Gestalten Hirten zu erkennen.10 Es handelt sich also nicht um eine unberührte Natur, um die Wildnis, sondern um eine belebte, friedvolle bukolische Landschaft, die von Figuren bevölkert ist, die mit der Landschaft in einem ebenso symbiotischen Verhältnis stehen wie die antiken Architekturen. Das Verhältnis zwischen den handelnden Figuren und der Naturlandschaft, in der sie erscheinen, geht also nicht einfach im Verhältnis von Menschlichem und Nicht-Menschlichem auf. Der Sinn, in dem die Kategorie der Natur zumindest in manchen griechischen Bildern noch am ehesten zu gebrauchen ist, nämlich als Gegenstück zu dem vom Menschen Gemachten und seiner Kultur, ist also nicht der, in dem man von Natur in Lorrains Gemälde sprechen kann.11 In diese Landschaft sind die ‚Hauptfiguren‘, welche Träger der Handlung sind, wie von außen hineingesetzt. Dieselbe Landschaft taugt bei Lorrain für fast jegliches Thema. Da es für die Darstellung der Verstoßung Hagars zwangsläufig eines Hauses bedarf, aus der sie verstoßen wird, hat Abrahams Familie kurzerhand die tempelartige Architektur am linken Bildrand bezogen. Man beachte jedoch die Gräser, die aus den Quaderfugen am Gebälk herauswachsen, und die beschädigten Ober- und Unterkanten der Säulentrommeln. Die Architektur, die Abrahams Familie als Wohnsitz dient, verlässt für diese ikonographische Funktion also keineswegs die Ästhetik der römischen Architekturruine. Auch insgesamt ist die Landschaft nicht an die spezifischen Erfordernisse des narrativen Bildthemas angepasst: Sie hat nichts von der Unwirtlichkeit, die Hagar und

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Ismael in der biblischen Geschichte erwartet, und in der ein Engel sie vom Tode des Verdurstens retten muss. Die Landschaft, in die die ‚Hauptfiguren‘ hineingesetzt wurden, hat also auch unabhängig von diesen Bestand, oder mehr noch: Das Erscheinen der ‚Hauptfiguren‘ tangiert sie in ihrem zeitlosen Dasein nicht einmal. Wie wir im Laufe dieser Arbeit sehen werden, lassen sich Landschaftselemente in der attischen Vasenmalerei nie unabhängig von den handelnden Figuren betrachten: Sie entwickeln ihr ikonographisches Potenzial nur im Zusammenhang mit den Figuren und für die Figuren. Einen zeitlosen Raum, in den ein Geschehen eingebettet ist, gibt es in der attischen Vasenmalerei nicht. Am eindrücklichsten an diesem und vielen anderen Bildern von Lorrain ist schließlich das aus der Weite des Himmels kommende Sonnenlicht. Die Abstufung in Farbe und Helligkeit vom bräunlich-dunklen Vordergrund bis zum bläulich-hellen Horizont schafft eine Tiefenwirkung und ein Gefühl von unendlicher Weite, dem sich der Betrachter nicht entziehen kann. Die außerordentlich starke Tiefenraumwirkung dieser Landschaft ist eine, die nicht von den Figuren, ihrer Anordnung und ihrem Handeln im Raum ausgeht, sondern durch die Anordnung der landschaftlichen Ensembles selbst, deren perspektivische Verkleinerung zum Horizont hin und das Spiel von Licht und Dunkel erzeugt wird. In der attischen Vasenmalerei dagegen entsteht alles, was es an Tiefe des Raumes gibt, durch die Darstellung von Figuren (und teilweise von Gegenständen), ein Phänomen, das von der Forschung traditionell als „Körperperspektive“ angesprochen wird. Bei Lorrain stehen Figuren in einem Raum, der aus Landschaftselementen gebildet ist, und über die Dimension der einzelnen Figur weit hinaus geht. In der attischen Vasenmalerei stehen Figuren und Landschaftselemente nebeneinander, ohne dass die Landschaft die größere räumliche Einheit für die Figur bilden würde. Nun ist die Landschaft in Lorrains Verstoßung der Hagar nicht nur unendlich weit, sondern man könnte sie auch vollständig nennen: Es erscheinen Sträucher, Bäume, Felsen, Berge, ein Fluss und das Meer, mithin alles, woraus die Welt besteht. Diese in einen unendlichen Raum zusammengespannte Synopse aller denkbaren Elemente von Landschaft ist für Lorrain typisch. Das Bild liefert für die handelnden Figuren somit eine vollständige Welt mit: Der Raum der Figuren ist selbst ganz im Bild enthalten, und dadurch vollständig vom Raum des Betrachters abgeschlossen. Nun sind solche Landschaftssynopsen nicht für jeden Landschaftsmaler so charakteristisch wie für Claude Lorrain. Das Prinzip, dass der Umraum der Figuren im Bild nicht implizit bleibt, sondern aufwendig dargestellt wird, liegt jedoch jedem einigermaßen landschaftlichen Bild zugrunde, und kann so weit gehen, dass handelnde Hauptfiguren wie bei Lorrain bis zur Winzigkeit verkleinert werden oder sogar ganz weggelassen werden, was in der holländischen Malerei des 17. Jh. zuerst geschieht.

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Mit Landschaftsmalerei ist also die Idee eines eigenen, fiktiven Bildraums verbunden, der den Ort der Figuren bildet, und vom Raum des Betrachters verschieden ist. Auch dies trifft auf die attische Vasenmalerei, wie wir noch sehen werden, nicht zu. Viele der neuen Ansätze der letzten Jahrzehnte bei der Interpretation von Bildern gehen bereits implizit von einer anderen Raumkonzeption als der von der neuzeitlichen Malerei geprägten aus, ohne dass diese jedoch zum Thema gemacht worden wäre. Die bloß implizite Voraussetzung eines anderen Bildraums als des uns geläufigen verhindert es wiederum, dass darüber eine offene und kritische Forschungsdiskussion geführt werde. Gemeint ist hier vor allem anderen die vor ca. drei Jahrzehnten aufgestellte, in den 80er Jahren lauter gewordene und nun schon seit langem in der Forschung allgemein akzeptierte Forderung, das Bild nicht als autonomes Kunstwerk aufzufassen. Gleich, in welche Richtung diese Forderung bei den jeweiligen Autoren und Forschergruppen geht – in Richtung einer stärker semantisch ausgerichteten Bildinterpretation, einer stärkeren Einbindung des Bilds in seinen antiken Kontext, oder in Richtung eines stärker anthropologischen Blicks auf das Phänomen „Bild“ – jedesmal wird das Bild aus seiner vermeintlich eigenen Sphäre, aus seinem eigenen Raum, herausgeholt, um es in den Raum des antiken Betrachters und seiner Kultur zurückzuführen. Dieses Bestreben mag auf vielfältige Weise gerechtfertigt sein, und v.a. unserem heutigen Interesse an antiken Bildern, nach Wegfall jeden Rests an klassizistischer a priori-Begeisterung, besser entsprechen. Doch lässt sich dieser Ansatz denn überhaupt aus der Analyse der Bilder selbst herleiten und als zwingend erweisen? Die Frage, ob es die eigene, von der Welt isolierte Sphäre des Bildes, mithin den eigenständigen Bildraum, wirklich nicht gibt, oder ob dieser mögliche Aspekt antiker Bilder bloß als nicht wichtig anzusehen ist, wurde noch gar nicht gestellt. Man könnte sagen, dass die Betrachtungsweise antiker Bilder als autonome Kunstwerke nicht eigentlich widerlegt wurde, sondern die innovativen Forscher der letzten dreißig Jahre einer solchen Betrachtungsweise eher mit mehr oder weniger offener Geringschätzung entgegengetreten sind, und alles, was ihnen nach zweckfreier ‚Stilanalyse‘ roch, kommentarlos beiseite geschoben haben. Die Frage nach der Existenz oder Nichtexistenz jenes von der Forschung faktisch abgelehnten autonomen Bildraumes wurde zwar nicht gestellt, dafür aber in einigen besonders wegweisenden Arbeiten eindeutig beantwortet. Einige Beispiele aus dem Bereich, der uns in dieser Arbeit interessieren wird, nämlich der Vasenmalerei, seien hier genannt: Die viel zitierte und zu Recht einflussreiche „cité des images“ verweigert sich strikt jeder stilistischen oder formalen Betrachtung, die den Verdacht nähren könnte, es handele sich bei den attischen Vasenbildern um autonome

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Kunstwerke, statt um ein Medium der gesellschaftlichen Kommunikation.12 Die Vasenbilder zeichnen demnach keine andere, eigenständige Welt, sondern stellen die bildliche Selbstvergewisserung der Bürger vor sich selbst einer normativen Ordnung der Dinge dar – eben der „cité des images“. Die dezidierte in Bezug Setzung der Vasenbilder auf die (ideologisch geformte!) Wirklichkeit13 und ihre Verwendung als Quelle nicht für das Verständnis der Kunst, sondern der Polisgesellschaft, -kultur und -religion hat die Bilder zwar faktisch ihrer vermeintlichen eigenständigen Sphäre, ihrem hermetischen Bildraum, entzogen, ohne jedoch die Frage nach dem Raum der Bilder explizit zu stellen, geschweige denn ein alternatives Modell zu dem des autonomen Bildraums vorzuschlagen. Das in diesem Buch vollständige Absehen vom Bildträger, der Vase, hat vielmehr dazu geführt, die Vasenbilder in den abstrakten Raum der Abbildungstafel ‚abzuschieben‘. Diesen Mangel gleicht das drei Jahre später erschienene Buch von Lissarrague14 über die Symposionsikonographie aus.15 Es liefert den lebendigen Beweis dafür, dass sich die Bilder auf attischen Vasen in ihrem ganzen Reichtum erst dann erschließen, wenn sie im Kontext ihrer Rezeption betrachtet werden, und zwar nicht als Guckloch in einen anderen, dem Bild eigenen Raum, sondern als Erweiterung des Raumes ihrer Rezeption, sei es in Form einer einfachen Spiegelung, einer Weiterführung, einer Umkehrung der Verhältnisse, oder in Form bloßer Assoziation. Folglich widerlegt dieses Buch de facto ebenso den autonomen Bildraum, und weist, anders als die „cité“, auch die Richtung, in der man den Raum der Vasenbilder zu suchen hat, nämlich im Kontext ihrer Verwendung. Doch formuliert auch Lissarrague kein allgemeines Konzept, welches den autonomen Bildraum ersetzen könnte: Der Widerspruch gegen dieses Bildraumkonzept bleibt implizit.16 Dass Vasenbilder ein Medium der gesellschaftlichen Kommunikation sind, und in ihrem jeweiligen Verwendungskontext zu interpretieren sind, hat sich in der Forschung seitdem durchgesetzt, und zu einer Fülle gewinnbringender Studien geführt.17 Sind Vasenbilder als Bedeutungsträger, als die sie die Forschung mit im engeren Sinne historisch-gesellschaftlichen Interessen behandelt, aus der Isolation des autonomen Bildraums längst ausgebrochen, bleiben sie als Bilder darin jedoch immer noch verfangen. Das erkennt man insbesondere an den Publikationen der letzten Jahre, die sich direkt mit Landschaftselementen, dem ikonographischen Gegenstandsbereich dieser Arbeit, beschäftigen. Hedreens Buch über Landschaftselemente in den Ikonographien des trojanischen Mythenkreises von 2001 interpretiert diese mit größter Zuversicht als präzise Ortsangaben.18 Um dies anhand der außerordentlich unspezifischen Landschaftselemente tun zu können, setzt der Autor stillschweigend voraus, dass jedes Vasenbild einen präzisen Ort meine, welchen er dann aus der schriftlichen Mythenüberliegerung auf das jeweilige Bild überträgt.19 Die

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grundsätzliche Problematik dieser Voraussetzung wird an keiner Stelle ausführlich diskutiert.20 Im 2003 publizierten Buch von H. Rühfel zu den Pflanzendarstellungen in der attischen Vasenmalerei, in dem die Bäume und Sträucher, welche Götter- und Heroengestalten in den Bildern begleiten, nacheinander und in alphabetischer Reihenfolge (Aphrodite, Apollon, usw.) abgehandelt werden, ist ebenfalls an keiner Stelle ein Zweifel an der Voraussetzung zu erkennen, dass Vasenbilder Figuren an einem dem Bild eigenen Ort zeigen, und dieser Ort durch Landschaftselemente näher bezeichnet werden könne.21 Nun sind diese beiden Publikationen sicherlich nicht repräsentativ für die communis opinio, nicht zuletzt weil die Autoren dort nicht von einem historisch-gesellschaftlichen Interesse an den Bildern geleitet sind. Doch zeigt sich gerade daran, wie wenig das Konzept eines autonomen Bildraums überwunden ist: Eher ist es durch das gegenwärtig vorwiegende Interesse der Forschung an historisch-gesellschaftlichen Fragestellungen, welche das Bild als solches kaum thematisieren, verdeckt, und kommt nur dann zum Vorschein, wenn dieses Interesse in einer Publikation nicht im Vordergrund steht. In aktuellen Einführungswerken zur attischen Vasenmalerei ist vom traditionellen Konzept des autonomen Bildraums kaum mehr etwas zu spüren.22 Die Forschung ist somit einen – richtigen und wichtigen – Schritt weiter gegangen, ohne diesen allerdings ganz vollzogen zu haben. Die Nachteile solchen eiligen Fortschreitens liegen heute zwar nicht unbedingt offen zutage. Die ‚Gefahr‘ des mangelnden konzeptuellen Vollzugs dieses Fortschritts besteht jedoch in der zu jeder Zeit gegebenen Möglichkeit eines ‚Rückfalls‘: Das auch heute noch anhaltende Interesse der Forschung an der historisch-gesellschaftlichen Relevanz von Bildern verdeckt bisher die Tatsache, dass das Konzept des autonomen Bildraums noch durch kein ‚konstruktives Misstrauensvotum‘ abgesetzt wurde, insofern dieses Interesse, welches grundsätzlichen formalen Fragen weiterhin abgeneigt ist, einen auf dieses konzeptuelle Vakuum nicht stoßen lässt. Nichts garantiert jedoch, dass dieses vorwiegende Interesse bis in Ewigkeit anhalten wird, so dass der autonome Bildraum aus seinem Dornröschenschlaf jederzeit wieder erweckt werden kann. Die Antwort auf diese Forschungslage kann nur sein, sich den grundsätzlichen formalen Fragen, welche sich an Vasenbildern stellen – und hier insbesondere der Frage nach dem Raum – nicht zu verweigern, damit die Diskussion um die Vasenbilder als Bilder nicht jenen überlassen werde, die jeglichen Wandel der archäologischen Wissenschaft spurlos an sich vorbeigleiten lassen. Die kulturwissenschaftliche und nicht bloß vage kunstgeschichtliche Beschäftigung mit der Vasenmalerei muss sich die Frage nach dem Stil – im weitesten Sinne, nicht bloß Gewandfalten betreffend – wieder apropriieren und darf das „Was?“ der Darstellung nicht mehr gegen das „Wie?“ der Darstellung ausspielen.23 Natürlich wäre es

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verfehlt zu behaupten, dies geschehe nicht bereits. Das Buch von R. Neer mit dem programmatischen Titel „Style and politics in Athenian VasePainting“ von 2002 schreibt sich genau diese Forderung auf die Fahnen.24 Eine grundlegende Arbeit, die sich dem „Wie?“ der Darstellung, dem ‚Funktionieren‘ von Vasenbildern, zuwendet, hat L. Giuliani 2003 mit seiner Geschichte der Bilderzählung vorgelegt.25 Doch hat dieses Buch eher Fragen nach der (vermeintlichen) Darstellung von Zeit geklärt, und weniger den Raum thematisiert.26 Viele grundlegende und außerordentlich überraschende Bemerkungen zum Raum der Vasenmalerei finden sich auch in der 1992 in Brüssel erschienenen Dissertation von D. Martens, welche leider nicht ins Deutsche übersetzt wurde und in der deutschsprachigen Archäologie kaum rezipiert wurde.27 Eine eingehende Beschäftigung mit dem Raum in der Vasenmalerei findet sich auch in einigen Artikeln von N. Strawczynski, von der eine umfassende Monographie zu dem Thema leider nicht mehr erschienen ist.28 Es wäre natürlich vermessen, das Desiderat der Forschung, das im Fehlen einer systematischen Darlegung eines alternativen Modells vom Bildraum in der griechischen Kunst besteht, vollständig auflösen zu wollen. Das Thema der Raumdarstellung in der griechischen Kunst ist ein viel zu breites Feld, um es in einem Buch bearbeiten zu wollen. Doch wird der Gegenstandsbereich hier auf die attische Vasenmalerei des 6. und 5. Jahrhunderts, und darin auf die Landschaftselemente Baum und Fels beschränkt sein. Dass ausgehend von diesen beiden eher peripheren Motiven der attischen Vasenmalerei dennoch ein umfassendes Modell des Bildraums in der attischen Vasenmalerei formuliert werden wird, geschieht nicht mit der Zuversicht, damit zu diesem Thema alles gesagt zu haben, sondern mit dem Ziel, eine klare These zu formulieren. Dass eine klare These angreifbarer ist als eine schillernde, dass ein mit dem Anspruch auf Vollständigkeit vorgeschlagenes Modell sich stärker der Gefahr aussetzt, notwendige Differenzierungen zu unterschlagen, und dass eine ausformulierte These mehr potenzielle Kritiker auf den Plan ruft als eine These, die sich hinter Andeutungen versteckt, die bloß der verstehen soll, der ohnehin bereits in dieselbe Richtung denkt, ist mir klar. Doch ist es eine bewusste Entscheidung – auf die Gefahr hin, Fehler zu begehen – mit offenen Karten zu spielen, und somit eine Diskussion zu befördern. Der Garant dafür, dass die schwer zu fassende Frage nach dem Raum in der attischen Vasenmalerei nicht aus dem Ruder laufe, sind eine dezidiert nahsichtige Perspektive auf den ikonographischen Befund und der konsequent verfolgte Versuch, nicht nur die Antworten, sondern auch die Fragen aus den Bildern heraus zu entwickeln.29 Es soll also kein vorgefertigtes Modell von Raumdarstellung an den Vasenbildern auf sein Funktionieren hin getestet werden, sondern von dem ausgegangen werden, was die Vasenbilder an Räumlichkeit selbst vorlegen, mithin soll es um jenen

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Raum gehen, in dem – in den Worten Hölschers der anfangs zitierten Passage – „(…) die Figuren weitgehend das ganze Bildfeld einnehmen, auf dem unteren Bildrand stehen, bis in die oberen Zonen ragen und kaum Raum für ‚Umgebung‘ lassen.“30 Diesem Befund, den Hölscher zum Anlass nimmt, sich nicht weiter mit Raum in den Bildern zu beschäftigen, und stattdessen auf die Wichtigkeit der Figur hinzuweisen, soll in dieser Arbeit alle Aufmerksamkeit gelten. Wie sich zeigen wird, führt uns die Untersuchung der Landschaftselemente, einer Motivgruppe, die gegenüber den Figuren eindeutig im Hintergrund steht, auf geradem Weg in diesen Raum hinein. Das Vorhaben, aus dem ikonographischen Befund nicht nur Antworten, sondern auch Fragen zu beziehen, führt gleichzeitig dazu, dass es in dieser Arbeit nicht nur um die Frage des Raumes gehen wird, da Bäume und Felsen auch eine Fülle weiterer Fragen aufwerfen und weitere Einblicke in das Funktionieren der Vasenbilder insgesamt und das Verständnis einzelner Bilder und Ikonographien gewähren. Im engeren Sinne bildinterne Fragen nach dem Raum werden im ersten Teil verhandelt werden, während eher semantische Fragen im zweiten Teil thematisiert werden. Diese Unterscheidung ist nicht klar zu treffen, und die Arbeit wird sich an diese allgemeine Untergliederung auch nur in groben Zügen halten. Jedenfalls wird sich erweisen, dass sich Fragen nach der Bedeutung von Landschaftselementen in einzelnen Bildern überhaupt erst auf Grundlage des bildinternen, auf die Frage nach dem Raum konzentrierten ersten Teil sinnvoll stellen und beantworten lassen, und dass umgekehrt aber auch der zweite Teil manchen Aussagen aus dem ersten Teil Sinn verleihen und offen gebliebene Fragen beantworten wird. Die Künstlichkeit der Unterscheidung des Was und des Wie der Darstellung wird sich somit in der Praxis bestätigen. Forschungsgeschichte zur Natur- und Landschaftsdarstellung Bevor mit einer unvoreingenommenen ikonographischen Untersuchung der Landschaftselemente begonnen werden kann, muss jedoch zuerst die Forschungsgeschichte des Themenbereichs offengelegt werden, zu dem Landschaftselemente in der Vergangenheit gerechnet wurden, nämlich des Themenbereichs der Natur- und Landschaftsdarstellung. Der Befund einer weitgehend auf die menschliche Figur konzentrierten griechischen Kunst war genügend eindeutig, um trotz des damals geringeren Denkmälerbestands und seiner geringeren Erschließung durch Publikationen auch schon im 19. Jh. für die Forschung erkennbar zu sein. Nun steht dieser Befund im offensichtlichen Widerspruch zu dem in der Neuzeit kolportierten Topos, die griechische Kunst habe die Natur dargestellt. Die Geschichte der Interpretationen zur Natur- und Landschaftsdarstellung in der griechischen Kunst lässt sich bis weit in das 20. Jh. hinein zu einem guten Teil

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verstehen als ein Abarbeiten an diesem Widerspruch, wobei sich mehrere Erklärungsstrategien herausgebildet haben, welche auf verschiedenste Weise versuchen, die griechische Kunst als ‚Kunst der Natur‘ zu retten. Diese möchte ich nun vorstellen: Eine erste geht vom Postulat des mimetischen Charakters der griechischen Kunst aus, und sagt, die griechische Landschaft31 sei eine, die von ihrer Wesensart her nicht malerischer, sondern plastischer Natur sei, und fände ihre treueste Nachahmung somit nicht in der Landschaftsmalerei, sondern in der Plastik. Diese Theorie ist besonders explizit formuliert in einem Buch des Kunsthistorikers Karl Woermann von 1876 über die „Landschaft in der Kunst der alten Völker“.32 Der zweite Abschnitt dieses Buches, welcher der griechischen Kunst bis Alexander gewidmet ist, gipfelt in einer Gegenüberstellung der griechischen und der nordischen Landschaft. Für erstere seien abrupte Wechsel zwischen Ebene und Hügeln, Bergmassiven und felsigen Meeresbuchten, starke Farb- und Lichtkontraste, sowie ausgeprägte Einzelformen charakteristisch. Für zweitere seien dagegen große landschaftliche Einheiten, ein schwächeres und weicheres Licht und fließende Farbübergänge charakteristisch. Mit dieser Gegenüberstellung werden zwei unterschiedliche Kunstgattungen in Analogie gesetzt, welche der jeweiligen landschaftlichen Charakteristik entsprächen, nämlich die Plastik für die griechische Landschaft und die Malerei für die nordische Landschaft. Dass die griechische Kunst in der Plastik die vollkommenste Ausgestaltung gefunden hat, wie man es spätestens seit Winckelmann meinte, erwächst für Woermann somit aus der Charakteristik der griechischen Landschaft. Über den Umweg des ‚plastischen Charakters‘ der griechischen Landschaft bleibt somit trotz des Fehlens von Landschaftsmalerei die (plastische) Kunst der Griechen – in einem freilich etwas weiteren Sinne – Natur- und Landschaftswiedergabe.33 Die Präponderanz der menschlichen Figur in der griechischen Kunst wird gewissermaßen als Nachahmung der Natur umgedeutet. In dieser Erklärungsstrategie wird die Form, welche Natur und Landschaft in der Kunst annimmt, vollkommen unhistorisch als reine Funktion der tatsächlichen umgebenden Natur angesehen. Sie lässt die kulturelle Bedingtheit der künstlerischen Form, und die Möglichkeiten verschiedener Arten der Mimesis außer Acht. Es ist offensichtlich, dass ein so unhinterfragter Naturalismus die Forschungsgeschichte der 20er und 30er Jahre, in denen man sich gerade für die stilistische Charakteristik einzelner Kunstepochen interessierte, in denen man das Kunstschaffen historisieren wollte, und in denen ein undifferenzierter Begriff von Mimesis als mechanisches Abformen der Natur nicht mehr befriedigte,34 nicht unbeschadet überstehen konnte. Die Frage verschob sich von der griechischen Landschaft, dem (potenziellen) Modell einer Landschaftsmalerei, hin zu dem Verhältnis des ‚griechischen Menschen‘ zur Natur.35 Eine andere Erklärungsstrategie für das Fehlen griechischer Natur- und

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Landschaftsbilder wurde in dieser Zeit ‚populärer‘, die dieses Fehlen nun nicht mehr wie Woermann durch die Hintertür aufzuheben versuchte, sondern damit begründete, dass der moderne Subjektivismus, der die Natur zum Objekt macht, als Voraussetzung für Landschaftsmalerei in der griechischen Archaik und Klassik nicht gegeben war. Da der ‚griechische Mensch‘ von der Natur noch nicht entfremdet gewesen sei, habe er auch nicht den Drang gehabt, sie darzustellen. Dieser Gedanke geht letztlich auf die deutsche romantisch-idealistische Tradition zurück, und findet seine deutlichste Ausformulierung vielleicht in den ersten Seiten von Schillers Abhandlung „Über naive und sentimentalische Dichtung“ von 1795,36 wo er auf eine einfache Formel gebracht wird: Wir empfinden die Natur, der Grieche empfindet natürlich. In diese Grundstruktur lassen sich die vorwiegend mit literarischen Quellen arbeitenden Forschungen von A. Biese über die Darstellung der Natur bei Griechen und Römern lückenlos einfügen. Man erkennt dies am besten in seinem für ein breiteres Publikum gedachten Überblickswerk zum „Naturgefühl im Wandel der Zeiten“,37 in dem eine Entwicklung von einem „naiven“ Verhältnis zur Natur in der homerischen Epoche hin zu einem „sympathetischen“ Naturgefühl in der lyrischen Poesie und dem Drama, wo die Natur eine Art Spiegel der menschlichen Gefühle sei, dargestellt wird. Die Verbindung der Frage nach Natur- und Landschaftsdarstellung bei den Griechen mit der Geschichte (bzw. Vorgeschichte) des Subjektivismus und des Verhältnisses von Mensch und Welt findet v.a. im sog. Dritten Humanismus Anhänger, wo die griechische Kultur für eine präsubjektivistische, präindividualistische und noch nicht entfremdete Welt steht. Paradigmatisch dafür ist der Abschnitt zur „klassischen Landschaft“ in einem 1937 publizierten Buch von H. Rose.38 Darin wird eine Symbiose von Mensch und Natur in der Klassik beschworen, in der es das Bedürfnis nach einer Projektion der Landschaft ins Bild noch nicht gebe, da es auch die Entfremdung von Mensch und Natur, von Subjekt und Objekt, noch nicht gebe. Für dieses Gleichgewicht von Mensch und Natur bietet wiederum die ‚klassische Natur‘ der griechischen Landschaft, in der dieses Gleichgewicht schon vorgeformt sei, die Grundlage: Rose spricht etwa vom „Gleichgewicht zwischen Fels und Meer, Sinnbild für die Versöhnung der Elemente.“39 Mit einer solchen Verwurzelung der Wesensart des (klassischen) griechischen Menschen in der gleichartigen Wesensart der griechischen Natur und Landschaft, klingt die erste hier vorgestellte Erklärungsstrategie für das Fehlen von Landschaftsmalerei an, bei der dieses mit dem Wesen der Landschaft selbst verbunden wird. Gleichzeitig ist eine gewisse ‚Blut und Boden-Ideologie‘ nicht zu überhören.40 In diesem Modell ist der Beginn der griechischen Landschaftsmalerei, den Rose im 4. Jh. ansetzt, kein Fortschritt, sondern eine Verfallserscheinung, da er den Beginn der Entfremdung des Menschen von seiner Umwelt bezeichne.41

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Eine dritte Erklärungsstrategie für das Fehlen von Landschaftsbildern in der archaischen und klassischen griechischen Kunst besteht in der Behauptung, die strukturellen Voraussetzung für die Entwicklung von Landschaftsmalerei seien in der vorhellenistischen griechischen Kunst nicht vorhanden. Insbesondere fehle das, was B. Schweitzer als „Raumperspektive“ von der in klassischer Zeit vorherrschenden „Körperperspektive“ absetzt.42 Dessen Artikel „Vom Sinn der Perspektive“ von 1953 steht im Kontext einer eingehenden Beschäftigung in der Kunstgeschichte und (später) der Archäologie mit der Geschichte der Perspektive, für die ich stellvertretend auf den berühmten Aufsatz von Panofsky verweisen möchte.43 Im Gegensatz zu den beiden zuvor vorgestellten Erklärungsstrategien geht diese nicht ausschließlich von wissenschaftlich so wenig greifbaren Konzepten wie der Wesensart einer Landschaft oder des griechischen Menschen aus, sondern von der Analyse der Bilder, und ist insofern aus heutiger Perspektive annehmbarer.44 Diese verschiedenen Erklärungsansätze lassen sich nicht in ein klares zeitliches Nacheinander setzen. Obwohl zumindest die beiden zuerst dargelegten spätestens in der Forschung der zweiten Hälfte des 20. Jh. einen klaren Anachronismus darstellen sollten, wurde keiner je offen widerlegt. Als Beiträge zu einem Thema – der Natur- und Landschaftsdarstellung –, das in den letzten 100 Jahren niemals im Brennpunkt der Forschung lag, vegetieren sie gewissermaßen unbemerkt weiter. Eine Monographie von W. Elliger von 1975 zur Darstellung der Landschaft in der griechischen Dichtung, welche in der Einleitung den insgesamt geringen Stellenwert der Landschaft in der griechischen Dichtung und Kunst thematisiert, ist dafür ein Beispiel.45 Dort werden nacheinander – allerdings in umgekehrter Reihenfolge – die oben vorgestellten Erklärungsansätze zur Landschaftsarmut der griechischen Kunst und Literatur dargelegt.46 Die entscheidende Rolle, die das Fehlen von Raumperspektive spiele, wird in die Worte gefasst: „Wie es keinen Raum ohne Perspektive gibt, so auch keine Landschaft ohne Raum“ (S. 4). Später heißt es, jede Definition von ästhetisch wahrgenommener Landschaft gehe vom wahrnehmenden Subjekt aus, und gründe auf der Voraussetzung, „daß Landschaft nicht als selbstverständlich gegebene Umwelt naiv, das heißt unreflektiert erfahren, sondern bewusst zum Gegenstand des Erlebens gemacht wird.“ Und weiter: „Das aber setzt eine gewisse Distanz zwischen Natur und Mensch voraus“ (S. 6). Bezüglich der Theorie von der Verwandtschaft von griechischem Kunstsinn, der auf das ‚Plastische‘ gerichtet sei, und griechischer Landschaft, die von ihrem Wesen her ‚plastisch‘ sei, äußert sich Elliger etwas reservierter, doch lässt er auch dieses Argument grundsätzlich gelten.47 Ein weiteres Beispiel dafür, wie lange sich die besagten Erklärungsansätze halten, findet sich in dem für ein breiteres Publikum gedachten Überblickswerk zur griechische Kunst von Schefold von 1967, mit einem Abschnitt,

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der „Die ‚Nachahmung der Natur‘“ betitelt ist.48 Es erscheint darin sowohl der Topos vom Einssein des griechischen Menschen mit der Natur, der Landschaftsdarstellung gewissermaßen überflüssig macht,49 als auch die Betonung dessen, dass sich die Griechen mit Körperperspektive begnügt hätten.50 Die von Woermann entwickelte Idee, dass die griechische Kunst trotz des Fehlens von Natur- und Landschaftsdarstellung die Natur dennoch dargestellt habe, nämlich in ihrem ‚plastischen Wesen‘, erscheint bei Schefold in einer anderen Form, indem er – in Anlehnung an Platons Ideenlehre51 – behauptet, die Griechen hätten die „Natur der Dinge“ (im Sinne von „das Wesen der Dinge“) dargestellt, weswegen sie zu ihrer Nachahmung der Natur der Wiedergabe von Bäumen und Felsen nicht bedurft hätten.52 Dass sich diese Erklärungsansätze für das Fehlen griechischer Landschaftsbilder so erstaunlich lange halten können, mag neben dem Fehlen einer eigentlichen Forschungsdiskussion zu diesem zumindest im 20. Jh. eher peripheren Thema auch daran liegen, dass sie sich denkbar schlecht dazu eignen, am konkreten Befund erprobt zu werden. In der Tat sind allgemeine Äußerungen über den ‚plastischen‘ Charakter der griechischen Landschaft, über den fehlenden Subjektivismus des griechischen Menschen gegenüber seiner Umwelt oder den Sinn von Perspektive wenig hilfreich, wenn es darum geht, das Auftreten von Bäumen und Felsen in konkreten Bildern zu erklären oder zu verstehen. Die wenigen im engeren Sinne ikonographischen Untersuchungen des letzten Jahrhunderts zur Natur- und Landschaftswiedergabe fristen von diesen Theorien denn auch ein weitgehend getrenntes Dasein, haben sie es schließlich nicht mit fehlender Landschaft, sondern mit vorhandenen Landschaftselementen zu tun. M. Heinemann entwirft in ihrer Dissertation zu den „landschaftlichen Elementen in der griechischen Kunst bis Polygnot“ von 1910 dementsprechend ein ganz anderes Bild von der Stellung der Landschaft in der griechischen Kunst, nach dem die Landschaftsmalerei sehr wohl griechische Wurzeln habe, welche bloß bisher nicht beachtet worden seien.53 Ihre Methode ist es dabei, aus der Masse der Bilder54 für jede Epoche und jede Kunstlandschaft ein paar herausragende Beispiele herauszugreifen, die sich durch eine besondere Dichte an Landschaftselementen auszeichnen und eine gewisse ‚landschaftliche Schönheit‘ transportieren, um an ihnen die Art und Intensität des Naturgefühls der jeweiligen Epoche und Kunstlandschaft zu ermessen. Gemäß der Erfahrungstatsache, dass man immer findet, was man sucht – vor allem dann, wenn der Corpus der Bilder und damit auch die Mühe sehr groß ist – wird auch sie fündig, und stellt eine kleine Gruppe von (meist Vasen-)Bildern zusammen, die für eine vorhellenistische griechische Landschaftsmalerei Zeuge stehen sollen. Auch wenn sie auf hermeneutischem Terrain wenig Aufregendes bietet, hatte die Arbeit von Heinemann gerade aufgrund dieser Auswahl von

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Bildern Einfluss auf die spätere Beschäftigung mit Landschaft in der frühgriechischen Kunst, da diese Gruppe besonders ‚landschaftlicher‘ Bilder fortan den ‚ikonographischen Grundstock‘ bildete, auf den Autoren zurückgriffen, wenn sie von der Landschaft in der griechischen Kunst – und sei es bloß in einer Fußnote – handelten. Da nach Heinemanns Studie keine weitere umfassende ikonographische Untersuchung der landschaftlichen Elemente in der vorhellenistischen griechischen Kunst mehr durchgeführt wurde, ist dieser ‚Grundstock‘ bloß durch einzelne Neufunde55 erweitert worden. In der Dissertation von 1976 von L. Nelson über die Landschaftswiedergabe in der griechischen und unteritalischen Vasenmalerei etwa werden die von Heinemann zusammengestellten Vasenbilder mit kleinen Abweichungen nacheinander abgehandelt.56 Es kann kaum verwundern, wenn das Bild, welches Nelson von der Landschaft in der frühgriechischen Kunst zeichnet, nur unwesentlich von dem von Heinemann abweicht. In der Tradition von Heinemanns Besprechung einer kleinen Auswahl besonders ‚landschaftlicher‘ Bilder steht auch der Aufsatz von Hurwit zur Naturwiedergabe in der frühgriechischen Kunst von 1989, wenn auch er in seiner Bildauswahl viel mehr eigene Akzente setzt als Nelson, und vor allem einen viel reflektierteren Diskurs mit mehr essayistischem Charakter führt.57 Heinemann hat der Forschung mit der Zusammenstellung ihres ‚Bilderkanons‘ zur Landschaft einen zwiespältigen Dienst geleistet, insofern der Untersuchungsgegenstand zwar einerseits erschlossen und leicht verfügbar wurde, dies aber andererseits zu einer gewissen Verengung des Blickwinkels auf jene wenig repräsentative Auswahl von Bildern geführt hat, durch die der Kontext einer ausgesprochen landschaftsarmen Bilderwelt tendenziell in Vergessenheit geriet. Bei ihrer Suche nach besonders landschaftlichen Bildern wurde Heinemann v.a. in der spätarchaisch-schwarzfigurigen attischen Vasenmalerei mit ihrem reichen Zweigeschmuck fündig, während die frührotfigurige Vasenmalerei kaum etwas hergab, was ihren Kriterien von Landschaftlichkeit genügen konnte. Daraus entwickelte sich der Topos von der landschaftlichen Spätarchaik, welcher von der landschaftsarmen Frühklassik abgelöst worden wäre.58 Dieser Topos findet sich in fast allen späteren Arbeiten zu Natur und Landschaft in der griechischen Kunst.59 In kondensierter Form erscheint er in A. Schobers kurzer Darlegung der „Landschaft in der Antiken Kunst“ von 1923.60 Breiter ausgeführt wird diese Vorstellung von einem kurzen Höhepunkt landschaftlicher Darstellung in der schwarzfigurigen Vasenmalerei der Spätarchaik, der in den rotfigurigen Bildern abrupt abbreche, in Pfuhls Monumentalwerk zur Malerei und Zeichnung der Griechen von 1923.61 In dem der Kunst gewidmeten Teil des RE-Artikels von 1933 zum „Naturgefühl“ ist der Topos wiederzufinden.62 Die 1976 erschienene Dissertation von Nelson kolportiert den

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Topos fast unverändert weiter.63 Noch 1996 erscheint er in der Einleitung zu den Akten des Straßburger Kolloquiums von 1992 zu Natur und Landschaft in den antiken Kulturen.64 Auch A. Pfitzner widerspricht diesem Topos in seiner Dissertation über die „Funktion des landschaftlichen Elementes in der streng rotfigurigen griechischen Vasenmalerei“ von 1937 nicht.65 Dieser bringt ihn dazu, landschaftliche Elemente in der früheren rotfigurigen Vasenmalerei nicht mehr als eigenständige Darstellung von Landschaft anzusehen, sondern in ihnen die Funktionen hervorzuheben, die sie für die Darstellung der Figuren einnehmen, was aus heutiger Perspektive viel plausibler scheint. Auch wenn seine Arbeit zu Unrecht kaum beachtet wurde, ist es dieser von der leidigen Frage nach dem Grad der Landschaftlichkeit des jeweiligen Bildes befreite Ansatz, der letztlich bis heute überlebt hat, und in der 2001 erschienenen Monographie von G. Hedreen zur narrativen Funktion der Landschaft in der archaischen und klassischen Kunst verfolgt wird.66 Ohne sich um den möglichen landschaftlichen Charakter der Bilder zu kümmern, interpretiert Hedreen die „elements of setting“67 in den Ikonographien des trojanischen Sagenkreises als Hilfen für den Betrachter zu einem besseren Verständnis der Narration. Von einer Fixierung auf die Frage, ob und inwieweit Bilder jeweils als landschaftlich aufzufassen sind, ist in den ikonographischen Studien, die in der jüngeren Vergangenheit zu Bäumen und Pflanzen in der attischen Vasenmalerei erschienen sind, nicht mehr viel zu spüren. Nur sehr vorsichtig tastet sich etwa Chazalon in ihrem Artikel zu Bäumen und Landschaft in der schwarzfigurigen Vasenmalerei an die Fragen nach Natur- und Landschaftswiedergabe heran.68 Eher mit Fragen der Identifizierung einzelner Pflanzen beschäftigen sich zwei kürzlich erschienene ikonographische Studien zu Bäumen und Pflanzen in der attischen Vasenmalerei von H. Rühfel und E. KunzeGötte.69 Auch im Straßburger Kolloquium von 1992 zu Natur und Landschaft in der Antike wird die eigentliche Frage nach Landschaft in der griechischen Bilderwelt nur mit der Pinzette berührt.70 Während die oben genannten Erklärungsstrategien ab den 70er Jahren weitestgehend versiegen, erscheinen ikonographische Untersuchungen mit einiger Regelmäßigkeit, wenn auch in geringer Dichte, bis heute. So gewinnbringend solche ikonographischen Untersuchungen sein können, sind sie jedoch in zwei Punkten alle nicht befriedigend: Mit Ausnahme von Heinemann, zu deren Zeit das heute verfügbare Material jedoch einerseits teilweise noch nicht ergraben war, vor allem aber nicht im selben Maße verfügbar war (mangels systematischer Publikation), hat niemand versucht, eine umfassende Untersuchung vorzulegen. Daraus ergeben sich viele Fehler in der Beurteilung, da man den einzelnen Befund nur im Kontext richtig einordnen und interpretieren kann. Zweitens fehlt gewissermaßen der ‚theoretische Überbau‘: Grundsätzliche Fragen nach der

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Darstellung und der Konzeption von Raum im Bild werden nicht behandelt, und folglich werden anachronistische Vorstellungen unkritisch übertragen.71 Wovon die gänzlich befundfrei arbeitenden, übergreifenden Erklärungen für das Fehlen von Landschaftsmalerei zu viel (oder zu ausschließlich) hatten, davon haben die beschränkten ikonographischen Untersuchungen zu wenig. Neben dem Fehlen grundsätzlichen Hinterfragens darstellerischer Voraussetzungen sucht man in den ikonographischen Untersuchungen auch den kulturgeschichtlichen Hintergrund vergeblich, in den die ikonographischen Einzelfragen eingeordnet werden könnten. Auf die grundsätzliche Paradoxie einer Poliskultur, in der Stadt und Umland zwar nicht voneinander zu trennen sind, in der aller materielle Reichtum und die wirtschaftliche Grundlage des Lebens auf der Landwirtschaft basieren, in deren Selbstrepräsentation in Literatur und Kunst die das städtische Zentrum umgebende Landschaft jedoch einen vollkommen marginalen Platz einnimmt, wird z.B. in keiner dieser ikonographischen Untersuchungen Bezug genommen. Die Auseinandersetzung mit dieser Paradoxie wird dagegen in R. Osbornes Buch „Classical Landscape with Figures“ von 1987 geführt, welches sich mit der griechischen Bilderwelt wiederum nur am Rande beschäftigt. Fragen nach der Darstellung von Natur und Landschaft in einer kulturhistorischen Perspektive werden in einer Reihe von Aufsätzen von A. Schnapp behandelt,72 ohne dass darin jedoch der Corpus der Bilder für diesen Zweck eigens ‚durchforstet‘ worden wäre.73 Die vorgestellten Forschungen zur Natur- und Landschaftsdarstellung seit dem späten 19. Jh. lassen sich nicht eigentlich als Forschungsgeschichte darstellen: Es gibt zum Thema der Natur- und Landschaftswiedergabe zwar zahlreiche Einzelbeobachtungen, die aus heutiger Perspektive mal mehr, mal weniger brauchbar scheinen, aber keine stringente Diskussion, in der die verschiedenen Forscher aufeinander antworten, und frühere Beiträge kritisch rezipiert, bestätigt, differenziert oder verworfen würden.74 Es scheitert bereits an der genauen Definition des Untersuchungsgegenstands: Was E. Löwy unter „Naturdarstellung“75 versteht, hat wenig bis gar nichts mit dem zu tun, was Hurwit unter „representation of nature“76 versteht. Daher ist es schwer, aus den Forschungen zur Natur- und Landschaftsdarstellung der Vergangenheit einen aktuellen Forschungsauftrag abzuleiten: Wovon sollte dieser handeln, wie das Material zusammenstellen, welche übergeordnete Frage stellen? Einige Lehren möchte ich aus den vorgestellten Arbeiten dennoch ziehen: (1) Ein Grundproblem bei der Behandlung der Naturwiedergabe in der griechischen Kunst ist, dass sich nicht sagen lässt, was Natur überhaupt sei. Ein griechisches Äquivalent unseres Begriffs der Natur gibt es bekanntlich nicht.77 Dasselbe gilt für unseren Begriff der Landschaft.78

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Aus der Unsicherheit heraus, wie der Gegenstand von Natur- und Landschaftsdarstellung genau zu definieren ist, ohne dabei in Anachronismen zu geraten, ist es ratsam, als Ausgangspunkt für die Zusammenstellung des zu untersuchenden Corpus nicht die nebulösen Begriffe Natur und Landschaft, sondern – sozusagen ganz ‚naiv‘ – eine klar definierte Motivgruppe zu wählen, nämlich Bäume und Felsen, sowie alles, was dem nahekommt (Zweige, Geländelinien u.ä.). Diese Motive sind die Elemente, aus denen neuzeitliche Landschaften bestehen, und tragen damit unseren Begriff von Natur und Landschaft in sich – schließlich bleibt einem nichts anderes übrig, als von einem bekannten Begriff auszugehen. Gleichzeitig sind Bäume und Felsen aber nur die Elemente, aus denen moderne Landschaften bestehen. In ihrer Vereinzelung tragen sie die Struktur moderner Landschaften somit nicht in sich. Folglich können sie einen gleichsam wie eine Versuchsanordnung über den strukturellen Unterschied zwischen Landschaft in der neuzeitlichen Malerei und ‚Landschaft‘ in der griechischen Malerei belehren. (2) Dadurch, dass es eine so lange Geistesgeschichte durchgemacht hat, ist das Verhältnis der griechischen Kunst zur Natur intellektuell überfrachtet. Aus diesem ‚Ballast‘ ließe sich zwar außerordentlich viel über neuzeitliche Kunst und Geistesgeschichte erschließen, über griechische Kunst und Kultur jedoch nur in vielfacher Brechung. Die Tatsache, dass es in den vergangenen Arbeiten zur Natur- und Landschaftsdarstellung kaum produktive, wissenschaftliche Interferenzen zwischen jenen Arbeiten gab, die sich mit dem neuzeitlichen Topos von der griechischen Kunst als Kunst der Natur beschäftigt haben, und jenen, die sich mit konkreten griechischen Bildern beschäftigt haben, dass erstere also nicht bis zu den Befunden, zweitere nicht bis zu den ‚großen Fragen‘ vorgedrungen sind, zeigt, dass dieser ‚Ballast‘ zu schwer ist.79 Daher möchte ich mich gewissermaßen dumm stellen, und mich so weit als möglich von den Bildern selbst leiten lassen – oder zumindest so tun als ob.80 (3) Bei Beobachtungen allgemeiner Phänomene in der griechischen Natur- und Landschaftswiedergabe wird nie deutlich, ob das Phänomen etwas über die Kultur, oder über die Struktur der Medien – in unserem Fall des Mediums Vasenbild – aussagt, in denen diese Kultur auf uns kommt. Diesem Problem haben sich die hier vorgestellten Forschungen in keinem Fall ernsthaft gestellt. In der Beschäftigung mit dem Thema der griechischen Natur- und Landschaftsdarstellung äußert sich dies an der bisher immer in der Aporie endenden Frage, warum Landschaft in Bildern so spärlich ist, wenn sie bei Homer oder Sappho scheinbar in so ‚poetischer Verdichtung‘ auf uns kommt.81 Um überhaupt erst in die Lage zu kommen, beides voneinander zu unterscheiden, muss die Untersuchung also in einem ersten Schritt nach Medien getrennt geführt werden. Da dieser erste Schritt schon sehr groß ist, nehme ich mir nicht mehr als diesen vor, und werde auch nur ein einziges Medium beachten, nämlich

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die attische Vasenmalerei. Um aber keine falsche Bescheidenheit vorzuschieben, sei gleich hier schon bemerkt, dass die Struktur des Mediums selbst schon ein wesentliches Merkmal der Kultur ist, die bildwissenschaftliche Analyse also von Anfang an schon Kulturwissenschaft ist. Gegenstand der Arbeit werden also nicht nur Landschaftselemente sein, sondern auch das Bild selbst, aber nicht als zeit- und kulturübergreifendes Medium, sondern in seiner spezifischen Ausprägung auf bemalter athenischer Luxuskeramik. Die Arbeit möchte somit auch einen Beitrag zu einer Anthropologie des Bildes leisten. Die praktische Konsequenz daraus ist, dass schriftliche Quellen (leider) nur am Rande herangezogen werden.

Teil I: Bildinterne Untersuchung

Der Gegenstandscharakter der Landschaftselemente

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Der Gegenstandscharakter der Landschaftselemente

Aufgetürmtes Wasser Auf einer schwarzfigurigen Halsamphora aus dem Umkreis des Lysippides-Malers in Mannheim ist eine Seite von einem Schiff eingenommen, das im Meer segelt (Abb. 1).1 Die Oberfläche des Meeres besteht, wie es in der Vasenmalerei üblich ist, aus einer Reihe von Buckeln, die offenbar auf sehr schematische und abstrakte Weise Wellen wiedergeben.2 Da sich das Meer hier nicht auf den gesamten Umkreis der Vase ausbreitet, sondern

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Abb. 1 Im Meer segelndes Schiff. Halsamphora, Mannheim, Reiss-Mus., 520–510

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Bildinterne Untersuchung

Abb. 2 Augenschale mit Schiffen in der Henkelzone. Augenschale, New York, Kunsthandel, um 530

Abb. 3 Odysseus und die Sirenen. Lekythos des Edinburgh-Malers, Athen, Nationalmuseum, um 500

an der anderen Seite der Halsamphora Satyrn auf trockenem Boden um einen Weinstock lagern, muss das Meer zwangsläufig irgendwo ‚aufhören‘. Dort, wo das Meer an den Rändern des Bildes ‚aufhört‘, wird die Darstellung des Wassers nun nicht durch einen vertikalen Schnitt abrupt unterbrochen, sondern endet abgerundet, indem sich die Wasseroberfläche zur Grundlinie herabwölbt. An der linken Seite wird diese kuriose Stelle größtenteils durch das Steuerruder überdeckt. An der rechten Seite liegt das in zwei Wellenbuckeln herabgewölbte Wasser dagegen offen zutage.3 Entgegen der physischen Eigenschaft von Wasser, sich stets maximal auszubreiten, ist das Meer hier also zu einem flachen Hügel aufgetürmt. Somit wird das grenzenlose Meer4 zum begrenzten Gegenstand.

Der Gegenstandscharakter der Landschaftselemente

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Die Mannheimer Halsamphora steht damit nicht ganz alleine da. Auf dem Theseus-Ariadne-Fries des Klitias-Kraters wölbt sich das Meer mit dem Schiff der Athener in einer konkaven Linie zur Grundlinie herab, ohne dass das Ende des Meeres durch irgendeine Uferböschung o.Ä. vermittelt wäre.5 Auf einer Augenschale um 530 aus dem New Yorker Kunsthandel ragen auf beiden Seiten von der Henkelzone her je der Bug eines Schiffes hervor, das jeweils nur zur Hälfte dargestellt ist (Abb. 2).6 Jede der vier Schiffshälften liegt auf einem ‚Meeressegment‘, welches jeweils am vollständig dargestellten Bug des Schiffes in einer Rundung abschließt, dort jedoch, wo die Darstellung des Schiffes abbricht, genauso wie dieses in gerader Linie abgeschnitten ist. An diesem Beispiel zeigt sich eindeutig der Unterschied zwischen einer gerundet endenden, abgeschlossenen Meeresdarstellung einerseits, und einer abgeschnittenen, abgebrochenen Meeresdarstellung andererseits. Letzteres impliziert, dass das Meer ‚eigentlich‘ weitergeht. Folglich bedeutet ersteres, dass das Meer nicht weitergeht, bzw. dass der Betrachter nicht aufgefordert wird, sich das Meer als ‚weitergehend‘ vorzustellen.7 Unter den zahlreichen schwarzfigurigen Vasenbildern mit Schiffen im Meer sind solche Darstellungen des Meeres als flache ‚Wasserhügel‘ dennoch nicht häufig.8 Sie treten lediglich dann auf, wenn sich das Meer nur über einen Abschnitt des Vasenumkreises erstreckt, und dieser Abschnitt außerdem nicht schon extern begrenzt ist. Eine externe Begrenzung kann etwa durch seitlich aufragende Felsen gegeben sein, wie etwa auf einer Lekythos des Edinburgh-Malers, mit Odysseus und den Sirenen, wo das Meerwasser von zwei Felsen umrahmt ist, auf denen je eine Sirene sitzt (Abb. 3).9 Weiterhin ist eine externe Begrenzung dann gegeben, wenn das Vasendekorationsschema der figurativen Bemalung von vorne herein eine begrenzte Fläche vorgibt, wie es z.B. auf Bildfeldamphoren der Fall ist. Schiffe im Meer sind typischerweise aber gerade als umlaufender Fries dargestellt, etwa an der Innenseite der Gefäßlippe von Krateren oder an den Außen- oder Innenseiten von Trinkschalen.10 Bemerkenswert ist die Darstellung des Meeres als flacher ‚Wasserhügel‘ denn auch nicht wegen ihres quantitativen Gewichts, sondern aufgrund der Tatsache, dass diese für uns so sonderbare Darstellungsweise den Malern überhaupt zu Gebote stand, und sie folglich das Auge des antiken Betrachters nicht beleidigt hat. Die flachen Wasserhügel lassen sich sicherlich nicht als selten gewählte Notlösungen der Maler verstehen, wenn ihnen aus irgendeinem Grund keine andere Darstellungsweise möglich war. Die zahlreichen Bilder von Schiffen, die ohne Meeresdarstellung auskommen, oder die mythischen Ikonographien, deren Erzählung zwar im Meer spielt – so der Kampf zwischen Herakles und Triton oder der Besuch des Theseus am Meeresgrund –, wo vom Meer aber nicht mehr zu sehen ist, als umhertreibende Fische im Bildfeld,11 zeigen nämlich, dass die Ma-

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Bildinterne Untersuchung

ler zur Darstellung von Meereswasser nie genötigt waren, sondern sie sich immer positiv dazu entschließen mussten. Auch kann man die Wasserhügel nicht in die Ecke ‚archaischer Sonderbarkeiten‘ abschieben, die im 5. Jh. dann durch naturalistischere Lösungen abgelöst worden wären. Aufgetürmtes Wasser findet sich neben anderen Darstellungsweisen des Meeres nämlich auch im Rotfigurigen durchgehend. Auf einer rotfigurigen Bauchamphora um 500–490 in der Ermitage reitet der Stier mit Europa über eine tongrundige Masse mit welligem Umriss, die von schwarzfigurig gemaltem Meeresgetier bevölkert ist (Abb. 4).12 Auf einer rotfigurigen Lekythos um 440–420 ist Triton in einer amorphen Wassermasse schwimmend gezeigt, die sich nicht viel weiter über das Bildfeld erstreckt, als der Körper des Triton reicht, und auf deren rotfigurigem Grund wiederum schwarze Fische erscheinen (Abb. 5).13 Wassermassen, die sich nur auf einem Teil des Bildfelds auftürmen, finden sich im 5. Jh. am regelmäßigsten in Charonszenen auf weißgrundigen Lekythen, wo der Kahn des Charon zwar im Wasser liegt, der Verstorbene allerdings auf dem Trockenen steht oder sitzt. Auf einer polychromen Lekythos des Triglyphen-Malers in Berlin schwimmt der Kahn des Charon auf einer Wasserfläche rechteckiger Form, deren horizontaler und vertikaler Rand jeweils durch die bekannten buckelförmigen Wellen begrenzt ist (Abb. 6).14 Daran, dass die buckelförmigen Wellen nicht nur an der horizontalen Wasseroberfläche, sondern ebenso auch dort erscheinen, wo das Wasser vertikal zur Grundlinie abfällt, zeigt sich, dass diese Buckel nicht nur konkret Wellen meinen, sondern allgemein das distinktive Merkmal einer Wassermasse (im wahrsten Sinne des Wortes) sind, im Gegensatz etwa zu einer Felsmasse oder zu einem gebauten Podium. Dabei beruft sich die Wahl des graphischen Motivs der Buckel als distinktiven Merkmals zwar auf die physische Eigenschaft von Wasser, Wellen zu schlagen. Andererseits werden die physischen Eigenschaften von Wasser aber in eklatanter Weise unbeachtet gelassen, wenn das Wasser dann, wie beim Zug durchs rote Meer, an dessen Ende steil abfällt. Während aber die Mauer von Wasser beim Zug durchs Rote Meer ein großes Wunder ist, ist die Mauer von Wasser auf unserer Lekythos eine Nebensächlichkeit, die keines weiteren Kommentars bedarf. Wenn man es aber bei dieser Lekythos nicht mit einem Wunder zu tun habe möchte, kommt man nicht umhin, davon auszugehen, dass die Wassermasse, die hier dargestellt ist, nicht flüssig ist. Ebenso muss man davon ausgehen, dass die Meeressegmente, auf denen die oben besprochenen Schiffe liegen, nicht flüssig sind. Dass die Aussage, die erwähnten Wasserdarstellungen besäßen nicht die Qualität des Flüssigen, keine rhetorische Spielerei ist, zeigt die merkwürdige Verwandtschaft, die Wasserdarstellungen und Felsendarstellungen haben können. Im Falle der oben erwähnten Lekythos aus der zweiten Jahrhunderthälfte mit der Darstellung des Triton sind die schwarzfigurig

Der Gegenstandscharakter der Landschaftselemente

27 Abb. 4 Der Stier trägt Europa über das Meer. Zeus erwartet sie auf der Rückseite des Gefäßes. Amphora, St. Petersburg, Ermitage, 500–490 Abb. 5 Triton schwimmt im Meer. Lekythos, Bochum, Ruhr-Universität, 440–420

Abb. 6 Charon holt eine Verstorbene zur Überfahrt ab. Sein Kahn liegt auf einer ‚Wassermasse‘ rechteckiger Form. Lekythos des Triglyphen-Malers, Berlin, Antikensammlung, 420–410

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Bildinterne Untersuchung

Abb. 7 Perseus flieht vor den Gorgonen auf der Gefäßrückseite und läuft dabei über eine ‚Felsmasse‘, die sich kaum von der ‚Wassermasse‘ des Europa-Bilds unterscheidet. Halsamphora der Leagros-Gruppe, London, British Mus., 520–500

dargestellten Fische das distinktive Merkmal des Wassers. Die ansonsten vollkommen amorphe tongrundige Fläche könnte im Übrigen genauso für einen Felsen herhalten. Auf der Amphora in St. Petersburg könnte der unregelmäßige Wellenumriss des Meeres, über das der Stier mit Europa reitet, ebenfalls zu einem Felsen gehören, wäre auf der tongrundigen Fläche nicht Meeresgetier dargestellt. Es lässt sich also die Regel aufstellen, dass die Präsenz eines distinktiven Merkmals von Wasser oder Meer dem Maler für die sonstige Formgebung der Wassermasse weiterhin freie Hand lässt. Wenn die Wassermasse in den zuletzt genannten Fällen unter Abzug des jeweiligen distinktiven Merkmals zur Felsenmasse werden kann, folgt daraus, dass sich Wasser und Felsen – bzw. Meer und Land – in ihrer Formgebung gar nicht unbedingt unterscheiden müssen. Dies lässt sich an einer Halsamphora der Leagros-Gruppe in London mit der Verfolgung des Perseus durch die Schwestern der Medusa nachprüfen (Abb. 7).15 Auf der einen Gefäßseite sind (von links nach rechts) Hermes, Athena und der nach rechts aus dem Bildfeld hinaus fliehende Perseus dargestellt, während auf der anderen Gefäßseite die beiden verfolgenden Gorgonen erscheinen. Unter dem im Knielaufschema halb rennend, halb fliegend dargestellten Perseus erscheint eine schwarze Masse mit welligem Umriss, die sich durch Ritzungen und den in weißer Deckfarbe nachgezogenen Kontur der rechtesten Ausbuchtung als Fels zu erkennen gibt.16 Ohne diese distinktiven Merkmale von Felsen wären die felsigen Ausbuchtungen zu Wellen geworden, wie es die weitgehende Ähnlichkeit der Form dieser Felsenmasse mit der Form der tongrundigen Wassermasse auf der Amphora in St. Petersburg zeigt.17 Perseus rennt über Land, so wie der Stier mit Europa über Meer galoppiert. Die Verwandtschaft von Felsenmasse und Wassermasse erweist sich auch an einigen Darstellungen des Felsens des Skiron. Auf der Zyklusschale des Douris in London erscheint in der Mitte einer Außenseite der hoch aufragende Fels, an den sich Skiron im Sturze festzuklammern sucht (Abb. 8).18 Im unteren Teil des Felsens ist in leicht verdünntem Tonschli-

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cker eine Reihe Buckelwellen auf den tongrundigen Felsens aufgetragen, die den Tongrund unterhalb dieser Wellen zum Meer machen. Das wird bestätigt durch einige Pinselstriche in noch verdünnterem Tonschlicker, die dieser Wassermasse eine etwas schummrige Oberfläche geben. Die Reihe der Buckel wird rechts von dem Felsen von zwei tongrundig im Firnis ausgesparten Buckelwellen fortgeführt, deren Oberfläche ebenfalls durch verdünnte Pinselstriche gestaltet ist. Dasselbe tongrundige Gebilde ist oben also Felsen, unten dafür Wasser – in das die linke Hand des von Theseus ins Meer gestürzten Skiron übrigens schon hineinragt. Dasselbe geschieht im Innenbild einer Douris-Schale in Berlin mit Theseus und Skiron. Hier kommen als distinktive Merkmale des Meeres zu den Buckelwellen noch kleine Seeigel hinzu (Abb. 9).19 Auf einer Dourisschale im Louvre geschieht die Unterteilung des tongrundigen Massivs in Fels und Meer allein durch die Buckelreihe.20 Auf andere Weise ist die Unterteilung der tongrundigen Fläche in Fels und Meer auf der Zyklusschale des Kleophrades-Malers in Bologna gelöst (Abb. 10).21 Hier läuft der hoch aufragende Fels unter dem Henkel in zwei knapp über der Grundlinie verlaufende, große tongrundige Wellen aus, womit m.E. nur das Meer gemeint sein kann, auch wenn es für diese Deutung keine sicheren Beweise gibt. Hier wäre der Übergang von Fels zu Meer also ganz ohne graphisch angegebene Grenze erreicht worden. Ein Gebilde mit Felsenumriss, das in seinem unteren Teil durch die Hinzufügung von Buckelwellen zum Meer ‚umgedeutet‘ wird, findet sich auch auf einer spätschwarzfigurigen Lekythos in Neapel, wo Europa auf dem Stier im Meer schwimmt, das links und rechts von zwei Felsen begrenzt ist, deren Kontur jeweils in weißer Deckfarbe nachgezogen ist (Abb. 11).22 An der linken Seite endet die Wellenlinie des Meerwassers nicht mit dem Beginn des Felsens, sondern wird über den Felsen weitergeritzt, wodurch der untere Teil des ‚Felsens‘ nunmehr Wasser ist, in dem übrigens zwei weiße Delphine schwimmen.23 Dadurch wird die Begrenzung, die der Felsen hätte darstellen können, hinfällig, da das Wasser nun unvermittelt mit dem Kontur des vermeintlichen Felsens abbricht, genauso wie auf der Dourisschale in London. Ein ganz anders geartetes Beispiel für einen Felsen, der Land und Meer zugleich ist, findet sich auf dem Stangenkrater in der Art des SyleusMalers in Wien mit der Gigantomachie des Poseidon (Abb. 13).24 Die Insel Nisyros, unter der Poseidon seinen Gegner begraben wird, ist wie gewöhnlich als Fels dargestellt, der hier aber mit kleinformatig dargestellten Tieren bevölkert ist, was dieser Fels mit einer kleinen Anzahl zeitgenössischer Darstellungen gemein hat.25 Interessant ist nun, dass unter diesen kleinformatigen Tieren – Delphin, Vielfüßler, Tintenfisch, Steinbock (Reh?), Skorpion und Schlange – keineswegs nur Landtiere sind. Dass hier ein Tintenfisch und ein Delphin auf das Meer verweisen, ist angesichts dessen, dass der Fels eine ganze Insel meint, und für eine Insel das sie

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Abb. 8 Taten des Theseus. Der Fels, von dem der Räuber Skiron hinabstürzt, wird in seinem unteren Teil in Wasser umgedeutet. Schale des Douris, London, British Mus., 490–480

Abb. 9 Theseus stürzt Skiron von seinem Felsen herab ins Meer. Innenbild einer Schale des Douris, Berlin, Antikensammlung, um 480

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umschließende Meer eben von entscheidender Bedeutung ist, gut nachvollziehbar. Nichtsdestoweniger ist das Gebilde, das Poseidon auf den Giganten wirft, ganz und gar wie ein Fels gezeichnet, mit seiner Innengliederung aus vollen und verdünnten Linien, die dessen reliefierte Oberfläche darstellen.26 Der Fels, der Land und Meer in sich vereint, bleibt formal gesehen also ein Fels, wie es auch bei den oben besprochenen Felsen des Skiron der Fall war.27 So wie in manchen Fällen derselbe Fels Land und Meer darstellen kann, ist es auch möglich, dass Bäume in Meereswasser wurzeln, und dieses dadurch Eigenschaften des Festlands annimmt, wie man es auf einer Lekythos des Athena-Malers in Berlin sehen kann

Abb. 10 Taten des Theseus. In der Henkelzone scheint auch hier Fels in Meer umgedeutet. Schale, Bologna, Mus. Civico, um 480

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Abb. 11 Europa auf dem Stier im Meer schwimmend, von zwei Felsen begrenzt. Lekythos des MarathonMalers, Neapel, Mus. Nazionale, um 500

Abb. 12 Hyakinthos fliegt auf dem Rücken eines Schwanes über das Meer, aus dem Zweige hervorkommen. Lekythos des AthenaMalers, Berlin, Antikensammlung, 500–480

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(Abb. 12).28 Hyakinthos wird von einem Schwan über das Meer getragen, das durch Buckelwellen und springende Delphine als solches bezeichnet ist, aus dem jedoch Bäumchen herauswachsen, als handelte es sich um Festland.29 Mit der Verwandtschaft zwischen Wasser/Meer und Felsen/Land möchte ich nicht besagen, dass eine ikonographische Unterscheidung beider Dinge nicht möglich sei, bzw. dass immer eine Ambivalenz bliebe. Eine solche Schlussfolgerung wäre angesichts der überwältigenden Mehrheit von Bildern, bei denen kein Zweifel möglich ist, entweder absurd – wenn man sie nämlich wirklich ernst nähme – oder die Schlussfolgerung wäre nichtssagend – dann, wenn man sie nicht ernst nähme, wie es m.E. bei der Verwendung des Wortes „Ambivalenz“ in der Literatur häufig der Fall ist. Es gilt nicht, die oben genannten Beispiele, in denen jeweils dasselbe Gebilde sowohl Land, als auch Meer darstellte, bei denen die ikonographische Unterscheidung beider also wirklich verunklärt war, als paradigmatisch für alle anderen Fälle darzustellen.30 Vielmehr gilt es, zu erklären, wodurch es in diesen seltenen Ausnahmefällen zu solcher ikonographischer Ambivalenz kommen konnte. Der Grund dafür, dass dasselbe Gebilde scheinbar so konträre Dinge wie Felsen und Wasser darstellen kann, ist, so möchte ich behaupten, dass die stofflich-räumlichen Eigenschaften von Felsen und Wasser, die in der physischen Wirklichkeit so konträr sind, in ihrer Darstellung in der attischen Vasenmalerei gar nicht so konträr sind, sondern im Gegenteil einige Gemeinsamkeiten aufweisen. Diese Gemeinsamkeiten nun möchte ich zusammenfassen und gleichzeitig verallgemeinern unter dem Stichwort des Gegenstandscharakters der Landschaftselemente, was ich im Laufe dieses Kapitels ausführen werde. Er betrifft insbesondere ihre räumliche Begrenztheit, ihre (fast) beliebige Formbarkeit und ihre Mobilität.

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Abb. 13 Poseidon besiegt einen Giganten und begräbt ihn unter der Insel Nisyros. Stangenkrater in der Art des Syleus-Malers, Wien, Kunsthistorisches Mus., um 480

Die räumliche Begrenztheit der Landschaftselemente Dass das grenzenlose Meer in den besprochenen Bildern zum begrenzten Gegenstand geworden ist, wurde bereits gesagt. Die Ausmaße, die die Meeres- oder Wasserdarstellungen in diesen Beispielen haben, orientieren sich offensichtlich an dem Motiv, dem sie jeweils zugeordnet sind. Im Falle der weißgrundigen Lekythos in Berlin orientiert sich die Breite der rechteckigen Wassermasse an der Breite des Bootes. Die Grabstele, die zwischen Charon und der Verstorbenen erscheint, wird von dem Boote und dem darunter sich auftürmenden Wasser überschnitten. Wenn man nicht annehmen möchte, dass die Grabstele im Wasser steht, lässt sich daraus schließen, dass die Wassermasse auch in der Tiefe nicht weiter ‚gedacht‘ ist als der Kahn des Charon.31 Die Wassermasse ist die Unterlage, auf der das Boot liegt, weswegen die formale Ähnlichkeit dieses welligen Rechtecks zu einem Podium nicht von Ungefähr kommt. Der Kahn des Charon liegt mehr auf dem Wasser, als dass er im Wasser schwimmt. Selbiges ließe sich auch über die oben besprochenen Schiffe im Meer auf schwarzfigurigen Augenschalen oder auf der Mannheimer Halsamphora sagen, wo das Meer ebenfalls nicht weiter reicht als die Schiffe, und damit zu einer Art Unterlage wird, auf der das jeweilige Schiff liegt. Im Falle des Stieres mit Europa geht die Breite des Meeres auch nicht über die des Stieres hinaus. Die Meeresdarstellung ist Europa mit dem Stier zugeordnet. Dasselbe gilt grundsätzlich auch für die Felsenmasse, über die Perseus auf der Halsamphora in London läuft, und die als allgemeine Darstellung des

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Landes etwas genauso Grenzenloses wiedergibt wie das Meer.32 Wenn Perseus hier jedoch bereits ein wenig aus der Mitte der Felsenmasse gerückt ist – und zwar in Richtung seines Laufes – dann ist dies nur eine Weise, wie der Maler die ungeheure Geschwindigkeit des flügelbeschuhten Perseus zum Ausdruck bringt: Perseus ist schon über das Land hinweggelaufen, er lässt das Land schon hinter sich.33 Die Ikonographie des Sisyphos kann die Darstellung von Landschaft als begrenzte und abgeschlossene Gegenstände in der attischen Vasenmalerei besonders gut demonstrieren. Die mythische Figur des Sisyphos wurde in der Unterwelt bekanntlich dazu verurteilt, einen Fels auf einen Berg zu rollen, wobei ihm dieser am Gipfel jedesmal wieder herabrollt.34 Eine größere Gruppe von schwarzfigurigen Halsamphoren und Lekythen aus dem Zeitraum von ca. 530/20–480 zeigt die Bestrafung des Sisyphos in einem ähnlichen Schema,35 welches man z.B. an den beiden Seiten einer Halsamphora des Acheloos-Malers in München sehen kann (Abb. 14).36 Sisyphos ist dabei, einen großen Fels auf einem schmalen und hohen Felsgebilde abzusetzen. Der Hügel, auf den Sisyphos seinen Felsen wälzen sollte, ist hier also durch einen pfeilerartigen einzelnen Felsen dargestellt, der gegenüber dem Felsen, den Sisyphos daraufsetzt, eher schmächtig wirkt. Angesichts der Form dieses ‚Hügels‘ bekommt man den Eindruck, dass hier die Aufgabe des Sisyphos, statt einen Fels auf einen Hügel zu wälzen, etwas anders lautet, nämlich zwei Felsen übereinander zu stapeln. Doch gibt es Indizien, die in den meisten anderen Darstellungen wiederkehren und zeigen, dass auch hier mit der Handlung ein Wälzen und mit dem aufragenden Fels somit ein Hügel gemeint ist. Sisyphos steigt nämlich mit seinem linken Fuß auf den Felsen, als wollte er den ‚Hügel‘ hinaufsteigen. Eindeutig im Sinne eines Hinaufsteigens ist das Aufsetzen des linken Fußes auf den Felsen z.B. auf einer Halsamphora in London zu verstehen (Abb. 16).37 Hier ragt der schmale Felsen auch schräg auf, so dass eine Art steiler Hang entsteht, den Sisyphos seinen Felsen hinaufgerollt hat. Ein weiteres Detail, das sich durchwegs beobachten lässt, ist der nur mit dem Ballen auf die Grundlinie aufgesetzte Fuß, was wiederum zeigt, dass Sisyphos auch mit dem rechten Bein im Vorwärtsgehen begriffen ist. Schließlich zeigt die Haltung der Arme, dass Sisyphos den Felsen nicht mit dem ganzen Arm packt, um ihn zu tragen, sondern ihn nur mit den Handflächen berührt, um ihn vor sich her zu schieben.38 So unplausibel dies also auch scheinen mag, der schmale hohe Felsen ist ein Hügel, und Sisyphos wälzt darauf seine Last, indem er den Hügel selbst besteigt. Bemerkenswert daran ist nicht, dass der Hügel nicht größer und massiver dargestellt ist – für einen entscheidend größeren Hügel wäre auf dem Bildfeld kein Platz –, sondern einerseits dass er überhaupt dargestellt ist, und andererseits dass er als Ganzer dargestellt ist. Im Innenbild einer rotfigurigen Schale des Epiktetos wälzt Sisyphos den Felsen

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Abb. 14 Sisyphos wälzt den Fels den Berg hinauf, umgeben von Hades und Persephone. Halsamphora des AcheloosMalers, München, Antikensammlung, 510–500

Abb. 15 Die Strafe des Sisyphos. Halsamphora aus der Nähe des EdinburghMalers, Paris, Louvre, um 510 Abb. 16 Die Strafe des Sisyphos. Halsamphora der Leagros-Gruppe, London, British Mus., um 510

am Tondorand entlang im Kreis, wodurch sowohl das Ansteigen des ‚Hügels‘ durch die fortwährende konkave Krümmung des ‚Bodens‘, als auch die Zwecklosigkeit seines Bemühens durch das Im-Kreis-Herumschieben veranschaulicht wird.39 Dabei konnte der Maler auf die explizite Darstellung des Hügels offenbar verzichten. Auf einem apulischen Unterweltskrater in Karlsruhe aus dem mittleren 4. Jh. ist in der linken unteren Ecke Sisyphos beim Wälzen des Steins dargestellt, wobei er ihn schräg aufwärts aus dem Bild ‚herauswälzt‘, so dass von dem Hügel nur der ansteigende Hang angedeutet wird, und der Rest der Phantasie des Betrachters überlassen ist.40 Diese Lösung wird man den schwarzfigurigen Malern um 500 zwar noch nicht vorhalten können, da sie den Gebrauch von Geländelinien voraussetzt. Doch hätte es um 500 die Möglichkeit gegeben, um

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denselben Effekt wie auf dem apulischen Unterweltskrater zu erreichen, das Felsengebilde, das den Hügelhang wiedergibt, durch den Rand des Bildfelds ‚abzuschneiden‘, um so einen Hang zu bezeichnen, ohne dabei den Hügel vollständig darstellen zu müssen.41 Gerade in der Leagros-Gruppe, zu der der Acheloos-Maler zu rechnen ist, erscheinen häufig Formen, die von der seitlichen Begrenzung des Bildfelds überschnitten werden. Doch auf einer kleinen Halsamphora um 510 im Louvre, wo der ‚Hügel‘ des Sisyphos wahrhaftig vom Bildfeldrand überschnitten ist, erscheint genau dasselbe steil aufragende schmale Felsengebilde, nur dass hier seine rechte Seite gerade abgeschnitten ist (Abb. 15).42 Auch da, wo es anders möglich gewesen wäre, entscheidet man sich also für eine Darstellung des Hügels als Ganzem in Form eines abgeschlossenen Felsengebildes. Einen Hügel, der die Dimensionen eines halbhohen Pfeilers hat, kann man nicht besteigen. Er hat nicht die Qualität eines (Aufenthalts-) Ortes; man kann nicht „auf dem Hügel“ sein, man kann nur auf derselben Grundlinie „neben dem Hügel“ stehen. Dennoch weisen, wie gesagt, mehrere Details in der Darstellung des Sisyphos darauf hin, dass die Maler wahrhaftig zeigen wollten, dass Sisyphos den Felsen wie auf einen Hügel vor sich her schiebend hinaufwälzt, und ihn nicht wie auf einen Pfeiler hochhebt und oben absetzt. Sisyphos verhält sich diesem Felsengebilde gegenüber also wie zu einem Hügel. Das heißt, dass es keine leeren Worte sind, wenn man hier von einem Hügel spricht, sondern es sich in einem sehr konkreten Sinne um einen Hügel handelt. Die richtige Beschreibung des Phänomens ist hier also nicht „die Vasenmaler haben statt Hügeln einzelne Felsen dargestellt“, sondern „die Vasenmaler haben Hügel als einzelne Felsen dargestellt“. Eine parallele Bemerkung kann man über die Meeresdarstellung auf dem Klitias-Krater machen: Obwohl das Meer hier, wie auf späteren Darstellungen, als Unterlage des Schiffes dient und zu diesem Zwecke in eine begrenzte Form gebracht wurde, die sowohl ihrer physischen Eigenschaft, sich maximal auszudehnen, als auch ihrer Eigenschaft, Symbol schlechthin des unendlich Weiten zu sein, widerspricht, bewegt sich der berühmte Schwimmer darin genauso, wie man es für Wasser erwarten wurde, nämlich schwimmend.43 Auch hier ist es also wirklich Wasser, das Klitias als begrenzten Gegenstand dargestellt hat.44 Die Beispiele für landschaftliche Gebilde, welche, wie das Meer oder der Hügel des Sisyphos, die Dimensionen eines Vasenbildfelds realiter zwar bei weitem sprengen, aber dennoch als begrenzte, abgeschlossene Gegenstände dargestellt werden, lassen sich kaum vervielfachen, wenn man nicht wie Hedreen in seinem Buch über Landschaftselemente in der Ikonographie des Trojanischen Sagenkreises annehmen möchte, dass jeder Felsen, auf dem Paris sitzt, gleich eine Darstellung des ganzen Ida-Gebirges sei.45 Es ließen sich freilich noch die Felsen anführen, die Poseidon in der Gigantomachie mit sich trägt, und die eine ganze Insel darstellen.

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Abb. 17 Herakles stützt das Himmelsgewölbe, während Atlas ihm die Hesperiden-Äpfel bringt. Lekythos des AthenaMalers, Athen, Nationalmuseum, 490–480

Man könnte auch das unermesslich große Himmelsgewölbe nennen, das Herakles auf einer Lekythos des Athena-Malers trägt, und das in die Form eines sternengespickten Architravblocks gebracht wurde (Abb. 17).46 Insgesamt bliebe dies aber im Rahmen der attischen Vasenmalerei und der darauf vorkommenden Landschaftselemente weiterhin nur eine kleine Gruppe. Hier zeigt sich einmal mehr, dass es in der attischen Vasenmalerei nicht primär Sache der Landschaftselemente ist, große landschaftliche Ensembles wiederzugeben, sondern die Landschaftselemente – die Elemente, aus denen neuzeitliche Landschaften zusammengesetzt sind – einzeln erscheinen. Das lässt sich umgekehrt auch daran ersehen, dass die Landschaften oder Berge, die in der Mythologie wahrhaftig eine Rolle spielen und den Kontext für verschiedenste Geschichten darstellen – wie etwa der Olymp oder das Pholoe-Gebirge47 – in der Ikonographie kein einziges Mal wiedergegeben sind. Wenn also die Insel Nisyros und der Berg des Sisyphos dargestellt werden, dann geschieht das nicht deshalb, weil sie als Landschaften und als mythologische Kontexte so entscheidend wären, sondern weil sie für die Tat des Poseidon bzw. des Sisyphos und deren bildliche Wiedergabe unentbehrlich sind. Die Sonderfälle zu behandeln, wo eine ganze Landschaft in die Form eines begrenzten Landschaftselementes gebracht wird, dient also nicht dazu, sie zum Paradigma der Landschaftswiedergabe zu machen, um in der Folge in jedem Baum einen Wald und in jedem Fels einen Berg zu erkennen. Vielmehr soll damit gezeigt werden, dass die Begrenztheit der Landschafselemente, die in der attischen Vasenmalerei auftauchen, ein allgemeines Merkmal der Landschaft

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in der attischen Vasenmalerei ist,48 weil es eben auch dann zutrifft, wenn das Dargestellte alles andere als begrenzt ist.49 Natürlich wurde im Vorhergehenden einiges unterschlagen, welches das Bild komplexer gestaltet hätte. Insbesondere im Bereich der Wasserdarstellungen gibt es interessante Varianten, für die das Stichwort „Begrenztheit“ nicht gut zu passen scheint. Deren Besprechung soll unter den „Ausnahmen, die die Regel bestätigen“, bzw. erst im nächsten Kapitel nachgeholt werden.50 Mehr noch als die Selektion der besprochenen Beispiele wird den Leser aber irritiert haben, dass keinerlei zeitliche Differenzierung vorgenommen wurde, und Vasen aus unterschiedlichen Epochen gemeinsam behandelt wurden. Dies soll nur zum Teil nachgeholt werden, da sich, wie ich noch zeigen möchte, im Laufe des 5. Jh. zwar Alternativen zum begrenzten Charakter der Landschaftselemente herausbilden, diese letzteren aber nicht verdrängen, sondern beide Konzeptionen nebeneinander bestehen bleiben.51

Formbarkeit der Landschaftselemente Zweckmäßige Formgebung der Felsen In der Wirklichkeit sind Bäume und Felsen in ihrer Form variabel. Auch wenn es für jede Baumsorte eine typische Form gibt, und der Verlauf der Äste eines Baumes immer den Gesetzen der Statik unterworfen bleibt, gleicht kein Baum ganz dem anderen. Vielmehr bleibt die Form des Stammes und der Äste im Einzelnen dem Zufall überlassen. Genauso bildet zwar jede Gesteinssorte eine für sie typische Form aus und bleibt dabei im Rahmen des statisch Möglichen. Wo genau ein Fels nun aber eine Ausbuchtung oder einen Zacken aufweist, bleibt damit vollkommen offen. Wie ich im Folgenden noch zeigen werde, scheint in der attischen Vasenmalerei das genau Umgekehrte zu gelten: Bäume und Felsen halten sich in ihrer Form zwar keineswegs an den Rahmen des ihrer Art Entsprechenden und des statisch Vorstellbaren, die Form, die sie annehmen, ist dafür aber selten zufällig. Diese Umkehrung der realen Situation mag man mit Recht darauf zurückführen, dass Bäume und Felsen in der Ikonographie einerseits tatsächlich keinen physischen Zwängen unterliegen, und es andererseits bei gemalten Formen sowieso keinen Zufall geben kann. Doch auch diese beiden Feststellungen lassen sich relativieren: Bei der Darstellung von Menschen wird zumindest seit der Einführung des rotfigurigen Stils geradezu obzessiv auf anatomische Korrektheit und real nachvollziehbare Bewegung geachtet,52 obwohl es dazu auch keinen physischen Zwang gibt. Und auch wenn natürlich kein Pinselstrich dem Zufall entspringt, wäre es möglich gewesen, Zufälligkeit der Form zu suggerieren, anstatt diese Illusion systematisch zu konterkarieren, wie es teilweise geschieht.

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Ein Überblick über den Corpus der Felsdarstellungen in der attischen Vasenmalerei lehrt, dass sich die große Mehrzahl der Felsen formtypologisch danach unterteilen lassen, wozu sie dienen: dem Sitzen, dem Lagern, dem Aufstützen des Fußes, etc. Sperrige Felsen, die die Figuren in ihren Handlungen behindern, statt ihnen entgegenzukommen, sind seltene Ausnahmen. Das harte Gestein der Felsen passt sich offenbar mit großer Geschmeidigkeit an die Bedürfnisse der Menschen an. Wenn Felsen in der attischen Vasenmalerei ihrer Benutzung als Sitzgelegenheit, als Lager usw. so entgegenkommen, ist ihre Form ganz offensichtlich alles andere als beliebig, oder genauer gesagt: Ihre Form wurde nicht mit der Zielsetzung gewählt, den Eindruck der Beliebigkeit entstehen zu lassen.53 Das besonders auffällige Motiv des Felsenbrunnens, das in Auflauerungsszenen des Achill in der schwarzfigurigen Vasenmalerei um und nach 500 zu finden ist, soll dazu beispielhaft besprochen werden.54 Auf einer schwarzfigurigen Amphora des Red-Line-Malers in Capua befindet sich zwischen dem lauernden Achill und der bereits zur Flucht umgewendeten Polyxena ein brusthoher vertikaler Felsenpfeiler, der in einen Löwenkopfwasserspeier mündet, aus dem sich Wasser in die abgestellte Hydria ergießt (Abb.18).55 Dass es sich beim Schaft dieses Wasserspeiers um Felsen handelt, erkennt man einerseits an dessen unregelmäßigen Umriss und andererseits an dessen in Deckweiß nachgezogenen Konturen und Innengliederungen.56 In seiner allgemeinen pfeilerartigen Form gleicht das felsige Gebilde aber ganz und gar gewöhnlichen Brunnendarstellungen auf anderen Darstellungen desselben Themas, wie etwa auf einer Amphora aus der Nähe des Edinburgh-Malers (Abb. 19).57 Für den niedrigen Podest, der sich hier unter dem Wasser befindet und dem Abstellen der Hydrien dient, findet sich zwar auf der Amphora in Capua kein Äquivalent, dafür aber auf anderen Beispielen von Felsenbrunnen in Auflauerungsszenen, wie etwa auf einer schwarzfigurigen Lekythos in Kopenhagen (Abb. 270).58 Die paradox klingende Bezeichnung „Felsenbrunnen“ trifft die Sache besser als die in der Literatur meist gewählte Bezeichnung „Felsenquelle“.59 Dass Wasser, das aus Felsen fließt, keineswegs immer diese Brunnenform haben muss, zeigt nämlich z.B. die Amphora mit den badenden Mädchen des Priamos-Malers in der Villa Giulia, wo sich zu beiden Seiten je ein Mädchen im Quellwasser duscht, das aus den das Bild begrenzenden Felswänden sprudelt (Abb. 20).60 Statt aus Löwenkopfwasserspeiern kommt das Wasser hier aus Mündungen von unregelmäßiger Form hervor, wie es sich für ‚echte‘ Felsenquellen geziemt. Die Lekythos des Edinburgh-Malers mit gebautem Brunnen weist übrigens auch keinen Löwenkopfwasserspeier auf, wogegen ein solcher bei Felsenbrunnen niemals fehlt. Das erklärt sich daraus, dass es im Falle eines gebauten Brunnens keines Löwenkopfwasserspeiers bedarf, um einen Brunnen zu erkennen, im Gegensatz zu dem felsigen Pfeiler, der ein rein ikonographisches Dasein fristet, und deswegen durch

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keine unmittelbare Analogie mit der Wirklichkeit als Brunnen erkannt werden kann. Der Felsenbrunnen auf der Amphora des Red-Line-Malers ist also nicht als ein Versuch zu verstehen, eine Felsenquelle zu malen, der dann gewissermaßen an der Trägheit der ikonographischen Tradition gescheitert wäre, da sich die Felsenquelle noch eng an gebaute Brunnen anlehnen würde. Die Brunnenform des Felsenbrunnens muss vielmehr dahingehend verstanden werden, dass der Maler den Brunnen, der in der Auflauerungsikonographie erscheint, statt wie gewöhnlich aus Quadern hier aus rohem Felsen formt. Möchte man diese Formulierung – deren Brauchbarkeit sich erst noch erweisen muss – weiterspinnen, besäßen Felsen nicht per se schon eine Form, sondern es würde sich gewissermaßen nur um ein Rohmaterial handeln, dem man eine Form erst noch geben müsste, und aufgrund des Fehlens einer genuinen Form wäre man dabei sogar frei, daraus einen Brunnen zu machen. Doch die Parallele mit dem Bauen mit Quadern hinkt ganz offensichtlich: Denn wenn der einzige Unterschied zu dem aus Quadern gebauten Brunnen darin liegt, dass die Oberfläche des Felsenbrunnens nicht geglättet, sondern roh belassen ist,

Abb. 18 Achill lauert der Polyxena beim Wasserholen auf. Der Brunnen besteht hier aus rohem Felsen. Amphora des Red Line-Painter, Capua, Mus. Campano, um 510 Abb. 19 Auflauerung der Polyxena, hier jedoch am gebauten Brunnen. Amphora aus der Nähe des Edinburgh-Malers, ehemals Berlin, Antikensammlung, um 500

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Abb. 20 Badende Mädchen (Nymphen?). Das Bildfeld ist an den Seiten von Höhlenfelsen umgeben. Amphora des PriamosMalers, Rom, Villa Giulia, um 520 (Rückseite: Abb. 52)

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wird der Akzent eben genau darauf gelegt, dass der Felsenbrunnen, im Gegensatz zum gewöhnlichen Brunnen, nicht bearbeitet wurde, es sich demnach auch nicht um ein Bauen mit Felsen handelt. Die Parallele zwischen dem Formen des gewöhnlichen Brunnens aus Quadern und dem Formen des Felsenbrunnens aus Felsen funktioniert nur aus der Perspektive des Malers, bildintern dagegen liegt gerade darin der Gegensatz. Das Stichwort der Formbarkeit der Landschaftselemente, das in der Überschrift zu diesem Unterkapitel steht, funktioniert also nur aus der Perspektive der Maler.

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Viel häufiger und auch über ein größeres ikonographisches und zeitliches Spektrum verteilt ist der Fall des Felsenhockers. So lässt sich eine große Gruppe von felsigen Sitzgelegenheiten bezeichnen, die sich an die Form eines Hockers angleichen, wovon man etwa auf einer Lekythos des Athena-Malers mit Odysseus bei Kirke ein Beispiel sieht (Abb. 23). Für diese Sitzfelsen bildet sich um 480 eine charakteristische, champignonähnliche Form mit verbreiterter Sitzfläche heraus, wie man sie etwa im Innenbild einer Schale aus dem Umkreis des Antiphon-Malers findet (Abb. 377). Diese Felsenhocker mit ihrer typologisch weitgehend einheitlichen Form sind von solchen Felsen zu unterscheiden, die zwar als Sitzgelegenheit dienen, ohne aber die Form eines bestimmten Sitzmöbels anzunehmen. Angesichts dieser Unterscheidung könnte man meinen, dass die Hockerform der Felsenhocker als ein Zeichen der Bearbeitung anzusehen wäre, bei der rohe Felsen in eine Hockerform gebracht worden wären, was rein technisch ja denkbar wäre. Einige Details der Gestaltung von Blocksitzen – dem engsten Verwandten der Felsenhocker, die ihrerseits ganz offensichtlich geglättet sind –, bei denen die Tatsache, dass sie bearbeitet sind, durch die Betonung der Rechtwinkligkeit hervorgehoben wird, zeigen aber, dass dies eine irrige Meinung wäre. Auf einer Hydria der Leagros-Gruppe in London mit der Tötung des Alkyoneus sitzt Athena auf einem Blocksitz, dessen oberen Abschluss ein horizontaler weißer Streifen bildet (Abb. 21).61 Auch die Konturen des Felsens, auf dem Alkyoneus kauert, sind in weißer Deckfarbe nachgezogen. Hier jedoch wird der Nachdruck auf deren Krümmung gelegt. Der Auftrag von Deckweiß auf Felsen wird in der Leagros-Gruppe öfters zur Betonung gekrümmter Formen verwendet, wie man es etwa auf einer Hydria im British Museum sieht (Abb. 22).62 Die zwangsläufig leicht rechtwinklige Form des Felsenbrunnens wird aufgelöst durch eine Vielzahl von kommaförmig gekrümmten und spitz zulaufenden weißen Strichsegmenten. Die Verwendung von weißer Farbe zur Innengliederung ist aber sowohl bei Blocksitzen, als auch bei Felsen eher die Ausnahme. Häufiger erscheint auf Blocksitzen eine einzelne horizontale Ritzlinie, wie man es auf der Namensvase des Acheloos-Malers sieht.63 Dem entsprechen auf Seiten der Felsen die gewöhnlichen gekrümmten Ritzlinien, wie man sie auf dem Felsenhocker sieht, auf dem Odysseus auf einer Lekythos des Athena-Malers vor der Zauberin Kirke sitzt (Abb. 23).64 Geradezu eine Multiplikation der rechten Winkel findet sich auf einigen Blocksitzen des Theseus-Malers, wie etwa einem Skyphos in London mit Herakles und Athena bei der Libation (Abb. 24).65 Auf dem Blocksitz, auf dem Herakles sitzt, sind fünf ineinander geschachtelte, schwarz-weiß alternierende Rechtecke dargestellt.66 Im frühen Rotfigurigen, wo Blocksitze ebenfalls einigermaßen regelmäßig dargestellt werden, findet sich eine vergleichbare, wenn auch nicht so weitgehende Vervielfältigung der rechten Winkel in Form von schwarzen Rechtecken, die auf dem tongrun-

44 Abb. 21 Herakles nähert sich dem schlafenden Alkyoneus. Der Fels, auf dem der Riese kauert, verlängert sich nach oben hin zu einem Höhlenfelsen. Hydria der LeagrosGruppe, London, British Mus., um 510

Abb. 22 Auflauerung der Polyxena durch Achill. Der Felsen des Brunnens ist hier nach rechts hin verlängert, um Achill noch als Untergrund zu dienen. Hydria der LeagrosGruppe, London, British Mus., um 510

Bildinterne Untersuchung

Der Gegenstandscharakter der Landschaftselemente

45 Abb. 23 Odysseus auf einem Felsenhocker sitzend bei Kirke, die ihm den Zaubertrunk anbietet. Lekythos des AthenaMalers, Athen, Nationalmuseum, 490–480

Abb. 24 Herakles und Athena bei der Libation. Skyphos des Theseus-Malers, London, British Mus., 500–480

digen Rechteck des Blocksitzes aufgemalt sind. Mehrere solcher Blocksitze mit aufgemalten schwarzen Rechtecken fungieren neben Klappstühlen als Sitzgelegenheiten der Götter auf dem Außenfries einer Schale des Oltos in Tarquinia (Abb. 25).67 Der champignonförmige Typus des Felsenhockers, der sich im Rotfigurigen herausbildet, konterkariert bereits durch seinen Kontur den Eindruck von Rechtwinkligkeit und Blockhaftigkeit, der bei dem einen oder anderen schwarzfigurigen Felsenhocker durch seine Silhouette noch geweckt werden konnte. Angesichts dieser verschiedenen Weisen, wie die Rechtwinkligkeit von Blocksitzen betont wird, wäre es absurd, die Felsenhocker, deren felsige, raue Oberfläche sich von der Glättung und Rechtwinkligkeit der Blocksitze gerade absetzt, als Zwitterwesen zwischen rohem Fels und behaue-

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Bildinterne Untersuchung

Abb. 25 Götterversammlung. Schale des Oltos, Tarquinia, Mus. Nazionale Archeologico, um 510

nem und geglätteten Blocksitz anzusehen. Genauso wie beim Felsenbrunnen gilt hier also, dass der Felsen zwar einerseits in die Form eines Hockers gebracht wurde, und seine Form dadurch nicht mehr die Beliebigkeit besitzt, die man für einen Felsen erwarten sollte, der Felsenhocker sich andererseits aber gegenüber seinem nächsten Verwandten, dem rechteckigen Blocksitz, gerade dadurch auszeichnet, dass er roh belassen und unbearbeitet ist. Während nun ein Felsenpfeiler, aus dem oben Wasser sprudelt, in der Realität eine Unmöglichkeit wäre, ist es nicht unbedingt auszuschließen, dass ein Felsen (ganz zufällig) die Form eines Hockers hat. Daran, dass – gemessen an der Wirklichkeit – das eine unmöglich, das andere nur unwahrscheinlich ist, wird man keine grundsätzliche Unterscheidung festmachen wollen, zumal die Wirklichkeit für Vasenbilder ein schlechtes Maß ist. Wenn man in der Formgebung des Felsenbrunnens und des Felsenhockers also ein analoges Phänomen sehen möchte, dann ist das Verbindende an beidem nicht das Maß, in dem sich die Formgebung von den wirklichen Formen von Felsen entfernt, sondern die Tatsache, dass den Felsen in beiden Fällen eine zweckmäßige Form gegeben wurde. Die Negierung der Zufälligkeit der Form von Felsen in der Vasenikonographie besteht also darin, dass die Felsen dort eine Funktion haben, und damit, obwohl sie ‚Rohmaterial‘ sind, etwas Entscheidendes gemein haben mit hergestellten Gegenständen. Interessant ist nun, dass die Zweckmäßigkeit der Form nicht nur für die Gruppe der Felsenhocker gilt, sondern grundsätzlich auch für die Gruppe von Felsen, die als Sitzgelegenheit dienen, ohne sich an ein bestimmtes Sitzmöbel anzulehnen. Auf der Schale des Briseis-Malers mit dem Parisurteil in Paris sitzt Paris auf einem Felsen von beachtlicher Größe, der durch seine Massigkeit zum Vergleich mit einem Stuhl nicht auffordert

Der Gegenstandscharakter der Landschaftselemente

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(Abb. 26).68 Der hochaufragende Fels bietet dem Paris jedoch alles, was er auch von einem Lehnstuhl zu erwarten hätte. Alle Teile des Felsgebildes erfüllen eine Funktion: Die hoch aufragende rechte Seite des Felsens dient als Rückenlehne, in der Mitte scheint es, seiner Sitzhaltung nach zu schließen, eine horizontale Sitzfläche zu geben, und der flache linke Teil übernimmt die Rolle des Fußschemels. Bemerkenswert ist dabei, dass die Teile des Felsens jeweils nicht bedeutend größer sind, als es zur Erfüllung ihrer Funktion erforderlich ist, die Form des Felsens also nicht nur funktional, sondern in der Erfüllung dieser Funktion letztlich auch ökonomisch ist: Während der Fels links zum Sitzen schön abgestuft ist, bricht er an seiner rechten Seite weitgehend vertikal ab, statt sich in der (potenziell freien) Henkelzone noch die eine oder andere ‚überflüssige‘ Ausbuchtung zu erlauben. Das Durchblättern der entsprechenden Seiten im LIMC offenbart, dass die Felsen, auf denen Paris sitzt, dem Imperativ der Funktionalität und der Ökonomie immer, wenn auch nicht immer so weitgehend, entsprechen. Oft stehen die Füße nicht nebeneinander auf derselben horizontalen Fläche,69 sondern versetzt auf verschiedener Höhe auf abschüssigem Fels, wie z.B. auf einer Hydria des Malers der Oinochoe in Yale.70 Oft stellt der Fels auch keine Rückenlehne zur Verfügung, wie auf dem Parisurteil des Makron in Berlin (Abb. 27).71 Aber auch in solchen Fällen, wo der Fels sozusagen für den Sitzkomfort nicht ganz so vollständig gesorgt hat, gilt die Regel der Ökonomie, da der Fels nie bedeutend größer ist, als es für die Funktion des Sitzens nötig ist.72 Angesichts dessen ist an der Zweckmäßigkeit der Form ebensowenig zu zweifeln. Die in der ersten Hälfte des 5. Jh. häufigen Felsen mit Rückenlehne sind auch außerhalb der Parisurteilsikonographie zu finden, wie etwa auf einer Halsamphora in Berlin mit einem flötenden Hirten, auf dessen Musik ein Satyr tanzt (Abb. 28).73 Bei immer wieder unterschiedlichen Einzelformen – die vertikal abfallende Rückseite der ‚Rückenlehne‘ des Felsens, auf dem der Hirt hier sitzt, hat etwa einen Wellenkontur, wie man ihn auf dionysischen Bildern häufiger findet – lässt sich die grundsätzliche Zweckmäßigkeit und Ökonomie der Formgebung immer wieder bestätigen. Auf einer Hydria des Villa Giulia-Malers um 460–450 mit Apollon und den Musen sitzt eine der Musen auf einem Felsen und stützt sich dabei mit der rechten Hand auf einer zungenförmigen Verbreiterung des Felsens nach hinten hin ab (Abb. 29).74 Dieselbe Sitzhaltung mit derselben zungenförmigen Verbreiterung des Felsens findet sich im Innenbild eines Tellers in Gießen um 430, wobei sich die Sitzende hier zu einer herannahenden Nike umwendet (Abb. 30).75 Wenn auch diese Sitzhaltung mit zugehörigem Felsen eher für Frauen typisch ist, findet sie sich auch für Männer, wie auf dem namensgebenden Glockenkraterfragment (und einzigen Werk) des Athanasia-Malers um 440–430 in New York, wo der verletzte Tydeus entsprechend aufgestützt auf einem Felsen sitzt (Abb. 31).76

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Abb. 26 Parisurteil. Der Fels, auf dem Paris sitzt, bietet ihm Fußschemel und Rückenlehne. Schale des Briseis-Malers, Paris, Louvre, um 480

Abb. 27 Parisurteil. Der Fels, auf dem Paris sitzt, ist von einer äußerst lebendig gezeichneten Ziegenherde umgeben. Schale des Makron, Berlin, Antikensammlung, 490–480

Es ist offensichtlich, dass die Verbreiterung des Felsens dem Zwecke dient, die abgestützte Hand aufzunehmen. Ein weiterer Beleg für die Ökonomie in der Formgebung der Felsen ist, dass die Maler in solchem Fall nicht den Felsen insgesamt nach hinten verbreitern, sondern es vorziehen, ihm eine unverändert schmale Basis zu geben, und lediglich die besagte zungenförmige Erweiterung darstellen, die für einen realen Felsen natürlich wenig plausibel erscheint. Dieses Beispiel für die Zweckmäßigkeit und Ökonomie der Formgebung von Felsen findet sich meist in einem deutlich späteren Zeitraum, als die zuvor besprochenen Felsen mit Lehne und/oder Fußschemel. Es scheint also, als ob es diesbezüglich keine große Veränderung gegeben hat, was einem verwunderlich vorkommen kann, da sich sonst gerade in diesem Zeitraum Veränderungen und Entwicklungen bekanntlich überstürzen. Diese Konstanz wird allerdings dadurch relativiert, dass in zeit-

Der Gegenstandscharakter der Landschaftselemente

49 Abb. 28 Ein erregter Satyr tanzt auf das Aulosspiel eines schönen Hirtenknaben. Halsamphora aus der Nähe des OionoklesMalers, Berlin, Antikensammlung, um 470

gleichen Bildern, die anstelle von tongrundigen Felsen Geländelinien verwenden, andere Gesetze gelten. In Geländelinienbildern, wo sich die Sitzhaltung mit rückwärtig aufgestütztem Arm sehr häufig findet, ist nämlich (zumindest dort, wo mir der Verlauf der Geländelinien bekannt ist) von entsprechenden zungenförmigen Erweiterungen nichts zu finden. Als Beispiel dafür mag der Kelchkrater mit Kadmos und dem Drachen in New York herhalten.77 Der Fels, auf dem Harmonia mit aufgestützter Hand sitzt, fällt hinter ihrer Hand in etwa vertikal zur Grundlinie ab.78 Der Versuch, die Fläche des Felsens auf dem Bildfeld durch die be-

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Bildinterne Untersuchung

Abb. 29 Beisammensein von Apollon und sieben Musen. Einige Figuren musizieren, andere lauschen der Musik, eine Muse hält Schreibtafel und Griffel. Hydria des Villa Giulia-Malers, Rom, Villa Giulia, 460–450

sagte zungenförmige Erweiterung möglichst klein zu halten, haben die Maler offenbar nur bei tongrundigen Felsen gemacht, bei Umrissfelsen aber, deren Fläche optisch sowieso nicht ins Gewicht fällt, wurde dies nicht für nötig befunden. Falls es dafür eines Beweises überhaupt bedurfte, zeigt die Tatsache, dass Figuren in Geländelinien bei gleicher aufgestützter Sitzhaltung nicht auf entsprechend geformten Felsen sitzen, dass diese Sitzhaltung unabhängig von der Felsenform mit zungenförmiger Erweiterung besteht, und sich daher die Felsenform an die Sitzhaltung angepasst hat (und nicht umgekehrt). Wie sich eine zum festen Motiv gewordene Sitzhaltung über die Abb. 30 Eine Nike ist im Begriffe, eine auf einem Felsen sitzende Frau zu bekränzen. Teller, Gießen, Justus-LiebigUniversität, um 430

Der Gegenstandscharakter der Landschaftselemente

51 Abb. 31 Der verletzte Tydeus sitzt auf einem Felsen. Fragment eines Glockenkraters des AthanasiaMalers, New York, Metropolitan Mus., 440–430

‚Vorgaben‘ des Felsens, der als Sitzmöbel dient, hinwegsetzen kann, zeigt eine Schale um 430–420 in Florenz (Abb. 32).79 An beiden Außenseiten und im Innenbild ist jeweils eine männliche Figur auf einem Felsen sitzend vor einer Frau mit Spendeschale dargestellt. Abgesehen von kleinen Unterschieden in der Armhaltung – auf einer Außenseite stützt sich der Mann statt auf den Fels auf einen Stab (oder Speer) – ist dasselbe Sitzmotiv dreimal wiederholt. Während nun auf einer Außenseite beide Füße auf dem tongrundigen Fels und im Innenbild auf zu ergänzenden Geländelinien aufliegen, schwebt auf der anderen Außenseite das vorgesetzte linke Bein des Sitzenden schräg in der Luft, da der ‚Fußschemel‘, den der Fels vorne bildet, nur bis zum rechten Fuß reicht.80 Die linke Fußspitze überschneidet dabei das vordere Bein der Frau. Es handelt sich hier offensichtlich um einen Fehler, der dem Maler bei der ‚Raumplanung‘ unterlaufen ist: Da der Platz nicht mehr reichte, um alle Figuren wie auf der Gegenseite ohne Überschneidungen nebeneinander auf dem Bildfeld unterzubringen, hat der Maler den Felsen einfach schmäler gemalt, als er für die Sitzhaltung des Mannes sein sollte, mit dem Ziel, das Gewand der Frau statt von einem massiven Felsen nur von der Fußspitze des Mannes überschneiden zu lassen, wofür er in Kauf genommen hat, dass sein linkes Bein nunmehr ‚in der Luft‘ abgesetzt ist. Da es hier also nicht möglich war, den Felsen an die Sitzhaltung anzupassen, hat der Maler eben darauf verzichtet, mit der genannten Folge. Die Sitzhaltung umgekehrt an die Beschaffenheit des Felsens anzupassen, und damit das Problem zu umschiffen, kam offenbar nicht in Frage. Dieses etwas missglückte Vasenbild zeigt exemplarisch den Vorrang, den die Sitzhaltung gegenüber dem zugehörigen Felsensitz hat. Es hat sich also gezeigt, dass unter den Sitzfelsen nicht nur die Hockerfelsen eine zum Sitzen zweckmäßige Form besitzen, sondern sich auch kompliziertere Felsengebilde in einzelne funktionale Glieder wie ‚Lehne‘,

52 Abb. 32 Kriegerabschiede. Der Krieger sitzt jeweils auf einem Fels. Schale, Florenz, Mus. Archeologico, 430–420

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Der Gegenstandscharakter der Landschaftselemente

53 Abb. 33 Briseis wird von Achill weggeführt. Unter den Henkeln erscheint je ein Hockerfelsen. Namensgebende Schale des Briseis-Malers, London, British Mus., 490–480

‚Fußschemel‘ oder zum Aufstützen gedachte Fortsätze unterteilen lassen.81 Angesichts dessen stellt sich die Frage, ob die Unterscheidung der Hockerfelsen von den sonstigen Sitzfelsen überhaupt eine mehr als rein formale Relevanz besitzt. Dazu ist zu sagen, dass die komplizierteren Felsengebilde, deren Funktionalität im Vorhergehenden besprochen wurde, niemals isoliert – gewissermaßen als ‚leerer Stuhl‘ – auftauchen. Felsenhocker dagegen finden sich sehr wohl ohne darauf sitzende Figur, nämlich in der Henkelzone von Schalen, wie etwa auf der Namensvase des BriseisMalers (Abb. 33)82 oder auf einer Schale des Telephos-Malers mit Palästradarstellungen in Boston.83 Hockerfelsen sind also als Sitzgelegenheiten auch dann zu erkennen, wenn keiner darauf sitzt. So offensichtlich dagegen die Zweckmäßigkeit der Form in den zuletzt diskutierten Fällen war, bedarf es dennoch der sitzenden Figur, um gewissermaßen im Felsen den Stuhl zu erkennen. Nur beim Felsenhocker tritt also seine Zweckmäßigkeit auch dann offen zutage, wenn der Zweck aktuell nicht realisiert wird – wenn der ‚Hocker‘ leer bleibt. Bis zu einem gewissen Grad kann aber auch dieses Charakteristikum der Felsenhocker auf sonstige Sitzfelsen zutreffen. Auf einem Kelchkrater des Villa Giulia-Malers in Schwerin sitzt Apollon leierspielend auf einem Felsen zwischen zwei Musen (Abb. 34).84 Der Felsen weist den besagten zungenförmigen Fortsatz auf, ohne dass Apollon, der mit beiden Händen mit seinem Instrument beschäftigt ist, sich dort abstützen würde. Ist dieser Fortsatz hier zum Aufstützen gedacht, auch wenn er aktuell nicht dazu gebraucht wird? Eine entsprechende Interpretation lässt sich plausibel machen: Die Muse, die rechts von Apollon steht, hält ihr Flötenpaar nach rechts, steht mit dem Körper frontal zum Betrachter, und hat den Kopf bereits nach links auf den musizierenden Apollon zu gewendet. Sie ist also

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Abb. 34 Apollon spielt die Lyra, zwei Musen hören ihm zu. Kelchkrater des Villa Giulia-Malers, Schwerin, Staatliches Museum, Mitte des 5. Jh.

im Moment des Umwendens dargestellt. Es ist naheliegend, dieses Umwenden als eine Reaktion auf das Spiel des Apollon zu verstehen, der damit folglich gerade erst begonnen haben muss. Die Interaktion zwischen den Figuren in dieser Interpretation so präzise auf einen Moment hin zu fokalisieren, wäre von einem Vasenbild zwar nicht a priori zu erwarten, ist in diesem Fall aber angesichts der transitorischen Haltung der rechten Muse gerechtfertigt.85 Vor allem ihr rechter Arm, den sie mit flacher Hand und abgespreiztem Daumen schräg in Apolls Richtung hält, betont das Momentane ihrer Bewegung, die also auf etwas ebenso Momentanes reagieren muss. Wenn man dieser Interpretation nun folgen möchte, wäre es da nicht verlockend, den ‚leeren‘ zungenförmigen Fortsatz des Felsens als Hinweis auf die entspannte, aufgestützte Sitzhaltung zu verstehen, die Apollon gerade erst verlassen hätte, um mit dem Leierspiel zu beginnen? Die nicht mehr verwendete Aufstützmöglichkeit wäre dann ein Mittel, das Momentane – die gerade erst stattgefundene Veränderung – auch in der Figur des Apollon zu betonen.86 Wenn diese Interpretation zutreffend ist, würde das bedeuten, dass, wie dem leeren Felsenhocker, auch dem ‚leeren‘ zungenförmigen Fortsatz seine Zweckmäßigkeit ohne dessen aktuelle Realisierung aufgeprägt wäre.

Der Gegenstandscharakter der Landschaftselemente

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Eine entspannte Sitzhaltung, welche die Form des Felsens noch erraten ließe, die aber bereits verlassen wurde, findet sich auch in der Ikonographie von Theseus und Skiron, mit dem entscheidenden Unterschied, dass das Verlassen der entspannten Sitzhaltung nicht durch den freien Entschluss, ebenso entspannt Leier zu spielen, sondern durch die äußere Einwirkung des Theseus zustande kommt. Der Skiron der Zyklusschale des Aison in Madrid ist mit seinem rechten Fuß von der Felsenzunge, die speziell für diesen Fuß ‚gedacht‘ war, abgerutscht (Abb. 36).87 Mit seinem linken Arm, der, wie in Bildern entspannten Sitzens, auf einem rückwärtigen Fortsatz des Felsens aufruht, versucht er nun verzweifelt, sein Gleichgewicht zu halten. Auf der Zyklus-Schale des Pistoxenos-Malers in München klammert sich der bittflehende Skiron an seinen Felsen (Abb. 333).88 Der annähernd gerade Winkel, in dem ein vertikal aufragendes Stück von einem horizontalen Stück des Felsens hochragt, lässt einen eindeutig Sitzfläche und Rückenlehne erkennen. Dadurch wird die äußerst prekäre Lage, in der sich Skiron aktuell befindet, dem vorangegangenen ruhigen Sitzen entgegengesetzt, welches die Form des Felsens noch erschließen lässt. Das vorangehende Sitzen verleiht auch der aktuellen, halb hockenden, halb angelehnten Haltung des bedrängten Skiron schärfere Konturen, indem es den Handlungsablauf klar werden lässt. Auf einem Kantharos des Penthesilea-Malers in München sitzt Skiron auf einem Felsen, der hinter seinem Rücken nach oben verlängert ist (Abb. 35).89 Auch wenn sich Skiron nicht anlehnt, sondern mit seinem emporgezogenen Knie in der lässigen Haltung dargestellt ist, in der etwa Odysseus in den Gesandtschaftsbildern erscheint, ist der vertikale Fortsatz des Felsens eindeutig als Lehne ‚gedacht‘.90 Damit macht der Maler deutlich, dass Skiron nicht mehr anlehnt sitzt, dass ihn die Ankunft des Theseus also aus dieser Ruhehaltung herausgebracht hat. Dazu passt, dass es in der scheinbar so lässigen Sitzhaltung des Skiron Zeichen von Anspannung gibt: Statt das Bein vertikal herunterbaumeln zu lassen, hält Skiron es im rechten Winkel zum Oberschenkel schräg nach vorne, was eine gewisse Muskelspannung voraussetzt. Zudem hat er den Fuß in einem ebenso rechten Winkel angezogen. Natürlich wird die Spannung in diesem scheinbar so harmlosen Bild des Zusammentreffens zweier Personen vor allem durch das Vorwissen des Betrachters um die Fortsetzung der Geschichte erzeugt. Doch gerade, weil der Betrachter durch sein Vorwissen bereits darauf eingestellt ist, dem einträchtigen Zusammensein nicht zu trauen, kann eine so subtile Andeutung eines Stellungswechsels – in Reaktion auf das Erscheinen des Theseus – von einer angelehnten Haltung zu der aktuellen, nur scheinbar entspannten Sitzhaltung funktionieren. Auf einem wieder ganz anderen Register spielt der Sotades-Maler, wenn er auf einem Rhyton in Baltimore einen Satyrn auf einem Felsen hocken lässt, dessen Form mit rückwärtigem Fortsatz aber eigentlich ein Sit-

56 Abb. 35 Theseus vor Skiron. Kantharos des Penthesilea-Malers, München, Antikensammlung, um 450

Abb. 36 Theseus im Kampf mit dem Räuber Skiron. Schale des Aison, Madrid, Mus. Arqueológico Nacional, 420–410 (gesamt: Abb. 355)

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Der Gegenstandscharakter der Landschaftselemente

57 Abb. 37 Satyrn, von denen einer auf einem Felsen hockt. Widderkopf-Rhyton des Sotades-Malers, Baltimore, Walters Art Gallery, um 450

zen mit aufgestützter Hand nahelegen würde (Abb. 37).91 Die unflätige und satyrhafte Hocke wird durch die ‚sprechende‘ Form des Felsens von einer anständigen Sitzhaltung abgesetzt. Hier wird die nicht realisierte Zweckmäßigkeit der Form des Felsens nicht als Mittel zur besseren und vielsagenderen Schilderung eines Geschehens, sondern zur Charakterisierung einer Figur verwendet. Trotz der zuletzt diskutierten Fälle, wo Auflager für Hände oder Füße oder ‚Rückenlehnen‘ an Felsen nicht die ihrer funktionalen Bestimmung gemäße Verwendung fanden, muss betont werden, dass außer dem typologisch klar umrissenen Felsenhocker kein Sitzfelsen je ohne sitzende Figur erscheint. Die Beispiele von ‚nicht-bestimmungsgemäßer‘ Verwendung von Felsensitzen haben sich als Mittel zur Profilierung und Charakterisierung des gezeigten Geschehens oder der Figuren erwiesen, das nur deshalb funktionieren kann, weil eine ‚Felsenlehne‘ nicht für sich bestehen kann, sondern ihre Verwendung als Lehne unbedingt voraussetzt, und dadurch bei nicht-Verwendung erklärungsbedürftig wird. Was über die Zweckmäßigkeit der Formen bei Sitzfelsen gesagt wurde, ließe sich auch an Felsen aufzeigen, die als Lager dienen. Diese sind insbesondere in der Ikonographie des Herakles beim Gelage in den Jahrzehnten um 520/10–480 verbreitet, finden sich aber auch in Gelagen mit dionysischem Personal.92 Auf einer Bauchamphora der Leagros-Gruppe in Paris, wo Herakles und Iolaos eine sehr proteinhaltige Mahlzeit zu sich nehmen – beide haben ein Fleischstück und ein Messer in der Hand, und vor ihnen liegt weiteres Fleisch ausgebreitet, von Trinkgefäßen ist dagegen keine Spur – bilden die Felsen, auf denen sie liegen, jeweils einen kleinen Hügel, auf den beide ihren Oberkörper lehnen (Abb. 38).93 Der Fels schmiegt sich an ihre Körper, wie es Kissen und Matratzen nicht besser könnten, und die beiden Helden halten sich so, als lägen sie auf ordentlichen Klinen. Es ist offensichtlich, dass die Gelagehaltung der Figuren die Form der Felsen diktiert. Felsen, die, wie hier, die Länge eines gelagerten Mannes haben, und zum einen Ende hin eine Erhöhung aufweisen, die bei ordentlichen Klinen etwa gefalteten Kissen entsprechen, auf die man sich mit dem Ellbogen aufstützt, finden sich in dieser Zeit sowohl im Schwarzfigurigen, als auch im Rotfigurigen.94 Im Rotfigurigen begnügen

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Abb. 38 Herakles und Iolaos liegen auf Felsen beim Gelage. Amphora der Leagros-Gruppe, Paris, Louvre, um 510

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sich die Maler oft mit der Darstellung der felsigen Erhöhung am ‚Kopfende‘, die dem Aufstützen des Oberkörpers dient, und lassen die Figuren mit dem Rest ihres Körpers auf der Grundlinie aufliegen. Dies sieht man z.B. auf einer Schale des Colmar-Malers in Florenz, wo auf beiden Seiten je ein Satyr und eine Mänade beim Gelage dargestellt sind (Abb. 39).95 Auf einem Stamnos des Kopenhagen-Malers im Louvre mit Herakles und Dionysos beim Gelage ist dagegen nur die horizontale Liegefläche als Fels wiedergegeben, während beide Figuren ihre Ellbogen auf Kissen aufstützen (Abb. 40).96 Nur als horizontale Liegefläche ohne Erhöhung am ‚Kopfende‘ sind auch die Felsen dargestellt, auf denen Herakles und andere Götter und Helden beim Theseus-Maler lagern, wie etwa auf einem Skyphos in Neapel (Abb. 41).97 Ob nun aber eines der beiden funktionalen Glieder der Felsenlager – Liegefläche und Erhöhung am ‚Kopfende‘, also gewissermaßen ‚Felsenmatratze‘ und ‚Felsenkissen‘ – fehlt, es ändert nichts am zweckdienlichen Charakter dieser Felsformationen. Dass die Erhöhung am ‚Kopfende‘ des Felsens auch durch Kissen erreicht werden kann, verdeutlicht letztlich nur die Parallelität der Funktion von felsiger Erhöhung und Kissen. Die Anpassung der Form des Felsens an den stellvertretenen Gegenstand geht so weit, dass im Schwarzfigurigen, wo die felsige Struktur weniger durch Binnenzeichnung angegeben wird, die Kennzeichnung von ‚Felsenmatratzen‘ als Felsen zum Problem werden kann. In vielen Fällen ist es allein der wellige Kontur, der die scheinbare Matratze zum Felsen macht. Auf einer Lekythos des Theseus-Malers liegen Herakles und Hermes auf einer Unterlage von vollkommen gleichmäßiger Dicke, deren Oberfläche aber aus kleinen Wellen besteht, und damit ihren felsigen Charakter anzeigt (Abb. 42).98 Auf dem oben erwähnten Skyphos des Theseus-Malers in Neapel ist die Unterlage, auf der Herakles lagert, durch weiße Farbe hervorgehoben. Dass weiße Farbe auf einen Felsen verweise, leuchtet zwar nicht unmittelbar ein, doch lässt sich dies durch Parallelen beweisen, wie etwa eine Oinochoe der Leagros-Gruppe in London, wo Herakles und

Der Gegenstandscharakter der Landschaftselemente

59 Abb. 39 Satyrn und Mänaden beim Gelage. Felsen ersetzen die Kissen. Schale des ColmarMalers, Florenz, Mus. Archeologico, um 500

Iolaos ganz wie auf der erwähnten Bauchamphora der Leagros-Gruppe im Louvre auf Felsen lagern, die hier jedoch komplett in weißer Farbe gemalt sind (Abb. 278).99 Häufiger als die komplette weiße Einfärbung ist das Nachzeichnen des Konturs von ‚Felsenbetten‘ in Deckweiß. Dies sieht man auf einer Schale in Tarquinia, wo Alkyoneus auf einem weiß umrandeten Gebilde schläft, das hier übrigens wieder präzise die Form des liegenden Körpers annimmt.100 Auffällig an den felsigen Liegeunterlagen ist desweiteren, dass sie nie bedeutend breiter sind als die darauf liegenden Figuren. Einzig ins Niemandsland der Henkelzone dehnen sich Felsen zuweilen weiter aus als nötig. So der Felsen, auf den der schlafende Alkyoneus seinen Oberkörper gelegt hat, auf einer rotfigurigen Schale um 490 in Schweizer Privatbesitz (Abb. 43).101 Im eigentlichen Bildfeld dagegen gilt für die ‚Felsenbetten‘ in

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Abb. 40 Herakles und Dionysos beim Gelage, von einem Satyr bedient. Ein flacher Fels dient als Matratze. Stamnos des Kopenhagen-Malers, Paris, Louvre, 480–470

Abb. 41 Herakles beim einsamen Gelage, je von einem Satyr begleitet. Auch hier fungiert ein Fels als Matratze. Skyphos des Theseus-Malers, Neapel, Mus. Nazionale, 500–490

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der Erfüllung ihres Zweckes, eine Liegestätte zur Verfügung zu stellen, dieselbe Ökonomie, die man auch bei Felsensitzen beobachten konnte. Auf dem Stamnos des Kopenhagen-Malers im Louvre werden Dionysos und Herakles von einem Satyrn bedient, der statt auf der Felsenunterlage, die mit den lagernden Figuren die ganze Breite des Bildfelds einnimmt, auf der Grundlinie steht, und damit die ‚Felsenmatratze‘ überschneidet (Abb. 40).102 Die Felsenunterlage scheint also hier nicht nur zu den Seiten hin, sondern auch in der Tiefe auf die lagernden Figuren beschränkt. Dass Figuren, die neben auf ‚Felsenbetten‘ Lagernden stehen, selbst nicht auf dem Felsen, sondern auf der Grundlinie stehen, ist eine Regel, zu der es nur wenige Ausnahmen gibt. Auf der Bauchamphora der Leagros-Gruppe im Louvre mit den lagernden Herakles und Iolaos steht zwischen beiden Athena auch auf der Grundlinie. Hier jedoch kann man nicht sagen, Athena stünde vom Betrachter aus gesehen vor dem Felsen, denn die Beine des Iolaos, die die Grundlinie nicht berühren und daher als auf dem Felsen aufliegend zu denken sind, überschneiden wiederum das Gewand der Athena. Dass Athena hier also nicht auf dem Felsen steht, ist nicht einer räumlichen Beschränktheit des Felsens auf die Lagernden geschuldet,

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sondern einer funktionalen Beschränktheit des Felsens auf das Lagern. Dieses Beispiel lässt stark vermuten, dass man es auch in den sonstigen Fällen von Felsen, die auf die lagernde Figur beschränkt sind, mit einer funktionalen Beschränktheit zu tun hat, und die räumliche Beschränktheit auf den Lagernden davon nur die sekundäre Folge ist. Das wird bestätigt durch eine rotfigurige Schale um 500 in Madrid, die auf beiden Seiten jeweils Herakles und Iolaos auf Felsen gelagert und einen dienenden Satyrn, der sich zwischen ihnen auf satyreske Weise nach rechts bewegt, zeigt (Abb. 44).103 Obwohl die felsige Unterlage, auf der die Figuren auf beiden Seiten lagern, als ein durchgehender Fels gemalt ist und sogar unter den Henkeln weitergeführt ist, mithin die Grundlinie vollständig bedeckt, setzt der Satyr seinen Fuß auf beiden Seiten dennoch nur auf die Grundlinie. Während sich die felsige Unterlage hier also räumlich maximal ausbreitet, bleibt sie funktional auf das Lagern beschränkt. Die räumliche Beschränktheit als die sekundäre Folge der funktionalen Beschränktheit anzusehen, erklärt einige Ausnahmen von der Regel, ‚Felsenbetten‘ nicht über die lagernde Figur hinaus zu erweitern: Wie man es auf der Madrider Schale sieht, kann die Felsenunterlage eines Lagernden über die Breite seiner Figur hinaus erweitert werden, wenn daneben ein weiterer Gelagerter anschließt und sich damit die Funktion des Felsens nicht ändert – und zwar offenbar auch dann, wenn zwischen beiden die Henkelzone liegt, und der Fels so zwei verschiedene Bilder miteinander verbindet. Eine einzige Felsenunterlage für zwei Gelagerte findet sich insbesondere beim Theseus-Maler häufig.104 Auf dem bereits erwähnten Skyphos des Theseus-Malers in Neapel dagegen, wo an den gelagerten Herakles anstelle eines weiteren Gelagerten ein hockender Satyr anschließt, geht die Felsenunterlage nicht über Herakles hinaus. Bei den besprochenen Beispielen, wo eine Figur auf der Grundlinie steht, obwohl die

Abb. 42 Herakles und Hermes beim Gelage, vom Kentauren Pholos bedient. Der ‚Matratzenfels‘ hat hier eine wellige Oberfläche. Lekythos des Theseus-Malers, Kunsthandel, 500–490

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Abb. 43 Herakles nähert sich dem schlafenden Alkyoneus, dessen Rinder auf der Rückseite weiden. Der Fels, auf dem der Riese liegt, dehnt sich hier unter dem Henkel weiter aus. Schale, Schweizer Privatbesitz, um 490

Grundlinie an dieser Stelle von einem Felsen bedeckt ist, befand sich diese Figur jedesmal zwischen zwei Gelagerten, weswegen es die Maler in diesen Fällen vorgezogen haben, den Felsen nicht um dieser Figur willen zu unterbrechen.105 Es erklärt sich auch, warum ‚Felsenbetten‘ gerade in der Henkelzone manchmal über Bedarf erweitert werden: In Ermangelung weiterer Figuren kann der Felsen im Niemandsland der Henkelzone keine andere Funktion mehr bekommen, als die, die er bereits hat. Dass die platzökonomische Darstellung der Felsen etwas mit funktionaler und nicht räumlicher Beschränktheit zu tun hat, zeigt sich besonders eindeutig an Bildern, wo eine nicht gelagerte Figur mit dem Gelagerten in Interaktion tritt (wie es in den Bildern mit Dienerfigur ja bis zu einem gewissen Grad der Fall war). Auf der oben bereits erwähnten Schale des Colmar-Malers in Florenz mit Satyrn und Mänaden beim Gelage kommt auf beiden Seiten je ein Satyr von hinten auf die lagernde Mänade

Der Gegenstandscharakter der Landschaftselemente

63 Abb. 44 Herakles und Ioalos auf beiden Gefäßseiten beim Gelage. Die felsige Unterlage ist unter den Henkeln nicht unterbrochen und bildet daher einen durchgehenden Fels. Schale des Malers von London E 2, Madrid, Mus. Arqueológico Nacional, um 500

zu und berührt sie in einem Fall am Kopf, im anderen am Rücken. Im letzteren Fall wendet sich die Mänade zu dem Satyrn um. Obwohl der herannahende Satyr mit seinem vorderen Bein in beiden Fällen in den Raum vordringt, in dem sich der als Rückenlehne dienende Felsen befindet und er auch nicht seitlich an der Mänade (und damit auch am Felsen) vorbei sondern geradewegs auf sie zuläuft, setzt er seinen Fuß nicht auf den Felsen sondern auf die Grundlinie. Da die Handlung des Satyrn mit Lagern nichts zu tun hat, kommt er auch nicht in Berührung mit dem Felsen, wiewohl er nach einer räumlichen Logik mit seiner Bewegung mit dem Felsen in Konflikt geraten müsste. Auf einer rotfigurigen Schale um 500 in Amsterdam stürmen zwei mit Steinen bewaffnete Kentauren auf Herakles zu, der neben dem geöffneten Pithos auf einem Felsen lagert (Abb. 45).106 Obwohl die um den Wein betrogenen Kentauren allen Grund hätten, über das ‚Bett‘ des Herakles zu trampeln, steht der vordere Ken-

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Abb. 45 Herakles beim Gelage, von den wütenden Kentauren angegriffen. Auf der Gegenseite liegt Dionysos beim Gelage, von Satyrn bedient. Schale, Amsterdam, Allard Pierson Mus., um 500

taur, der sich bereits mit seinem ganzen Körper auf der Höhe des Felsens befindet, mit seinen Hufen, die vom Felsen verdeckt sind, auf der Grundlinie. Dass der Maler damit darstellen hätte wollen, wie die Kentauren sorgsam an Herakles vorbeigaloppierten, ist ganz und gar unglaubhaft. Vielmehr ergibt sich die Tatsache, dass die Hufe des Kentauren den Felsen nicht berühren, lediglich daraus, dass eben nur Herakles auf dem Felsen lagert, nicht aber die Kentauren, und der Felsen hier zum darauf Lagern da ist. Solche Beispiele ließen sich noch vervielfältigen. In der funktionalen Beschränktheit den Grund für die platzökonomische Darstellungsweise der Felsen zu sehen, konnte anhand der Felsen mit der Funktion des Lagers erwiesen werden. Das räumliche Paradox, welches zur Annahme der funktionalen Beschränktheit geführt hat, dass sich nämlich Figuren zwar auf der Höhe des ‚Felsenbettes‘ befinden, statt dieses jedoch zu berühren, auf der Grundlinie stehen, findet sich für Sitzfelsen seltener, aus dem einfachen Grund, dass diese durch ihre geringere Breite weniger in ‚räumlichen Konflikt‘ mit anderen Figuren geraten. Die an sich naheliegende Übertragung der Annahme der funktionalen Beschränktheit auf Sitzfelsen lässt sich in einigen Fällen aber dennoch positiv plausibel machen. Auf einem Volutenfragment des Syriskos-Malers im Louvre ist der untere Teil einer Darstellung von Theseus und Skiron (vor dem Kampf) zu sehen (Abb. 46).107 Auf dem engen Raum der Volute sind beide Figuren so nah zueinander gerückt, dass der rechte Fuß von Theseus vom Felsen, auf dem Skiron sitzt, überschnitten ist. Wenn man nicht an-

Der Gegenstandscharakter der Landschaftselemente

65 Abb. 46 Theseus vor Skiron. Henkelfragment eines Volutenkraters des Syriskos-Malers, Paris, Louvre, um 470–460

nehmen möchte, dass Theseus, in die Bildtiefe versetzt, dem Skiron schräg gegenüberstand, lässt sich auch diese Überschneidung nicht innerhalb einer räumlichen Logik, sondern nur unter Verweis auf die ausschließliche funktionale Ausrichtung des Felsens auf das Sitzen verstehen. Die Zweckmäßigkeit der Formen bei Sitzfelsen und Liegefelsen impliziert also, dass von diesen Felsen keine zweckfremde Benutzung gemacht werde: Sitzfelsen sind nur zum Sitzen da, Liegefelsen sind nur zum Lagern da. Eine Figur, deren Handlung mit dem Zwecke des Felsens nichts zu tun hat, berührt diesen Felsen auch nicht, und zwar unabhängig davon, ob sie von ihrer Stellung im Bild her mit dem Felsen räumlich in Konflikt geraten müsste. Das hat für das Verständnis von attischen Vasenbildern allgemein weitreichende Folgen, was am Schluss dieses Unterkapitels behandelt werden soll. Es muss aber betont werden, dass dies nicht für alle Landschaftselemente gilt: Isolierte Felsen erfüllen per definitionem keinen Zweck. Dasselbe gilt für die Mehrzahl der Bäume, die, wenn nicht gerade Waffen an ihnen hängen, keinen konkreten Nutzen haben, deren Form daher ebensowenig zweckmäßig genannt werden kann. Formbarkeit der Bäume Wie es bereits gesagt wurde, erfüllen Bäume im Gegensatz zu Felsen nur selten eine konkrete Funktion im Bild. Die Zahl isolierter Felsen gegenüber der Zahl zweckdienlicher Felsen ist fast schon verschwindend gering. Dieses Verhältnis ist bei Bäumen genau umgekehrt. Die einzige Funktion, die Bäume zumindest in den Jahrzehnten des späten 6. Jh. und der ersten Hälfte des 5. Jh. regelmäßig einnehmen, ist es, dem Aufhängen von Waffen und Kleidern zu dienen. Auf einer schwarzfigurigen Halsamphora aus dem Kreis des Antimenes-Malers sind die Waffen des Herakles, der mit dem Kretischen Stier kämpft, auf einem Baum aufgehängt (Abb. 47).108 Bogen und Köcher, die durch ein breites Band zusammengebunden schei-

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Abb. 47 Herakles im Kampf mit dem Kretischen Stier. Halsamphora aus dem Kreis des AntimenesMalers, Vatikan, Mus. Gregoriano Etrusco, 520–510

Abb. 48 Theseus im Kampf mit den Räubern Skiron, Prokrustes und (auf der anderen Seite) Kerkyon, sowie mit dem Marathonischen Stier. Bei jeder Kampfgruppe steht ein Baum, an dem jeweils die Kleider und Waffen des Theseus hängen. Schale des Onesimos, Paris, Louvre, 500–490 (Innenbild: Abb. 114)

nen, sind dabei einfach über die Zweige des Baumes gemalt. „Über die Zweige“ ist wörtlich zu verstehen, denn der Verlauf der Zweige lässt erkennen, dass sie in einem Zug gemalt wurden, und der Maler an dem Punkt, wo ein Zweig hinter dem Köcher wieder hervorkommt, mit dem Pinsel nicht noch einmal ansetzen musste.109 Also wurden die Waffen über die bereits gezeichneten Äste gemalt, eine Möglichkeit, die die schwarzfigurige im Gegensatz zur rotfigurigen Technik stets bietet. Das Malen der Zweige einerseits und der Waffen andererseits sind also zwei zeitlich – meinetwegen nur durch zwei Sekunden – getrennte Operationen, von denen die erste keine Auswirkungen auf die zweite hat: Die Waffen können über jedes beliebige Zweigegewirr gemalt werden. Ganz im Gegensatz zu den Sitz- oder Liegefelsen hat die Funktion des Baumes, Aufhänger für Waffen zu sein, hier also auf seine formale Gestaltung keinen Einfluss. Auf der Onesimos-Schale mit dem Theseuszyklus in Paris erscheint neben jeder einzelnen Tat ein Baum mit dem Gewand und dem Schwert des Theseus (Abb. 48).110 Im Gegensatz zu der schwarzfigurigen Amphora ist auf diesem rotfigurigen Beispiel jeweils kenntlich gemacht, wie genau Gewand und Schwert an dem Baum hängen: Das Schwert hängt jedesmal an einer in Deckfarbe angegebenen Schnur von einem Zweig herab. Der Mantel ist über einen Ast gelegt, wobei der Maler in allen vier Fällen zeigt, wie der Mantel zur Hälfte vor und zur Hälfte hinter dem Ast herunterhängt. Die Aufmerksamkeit, die der Maler dem Motiv des über-einemAst-Hängens des Mantels jeweils zukommen lässt, bedeutet einen nicht unerheblichen Mehraufwand, da er so Mantel und Baum nicht nacheinander jeweils nach einem vorgefertigten Schema malen konnte, sondern beides gemeinsam konzipieren musste.111 Doch die Tatsache, dass Onesimos beim Malen des Baumes auf die daran hängenden Mantel und Schwert Rücksicht nehmen musste, führt hier dennoch nicht dazu, dass

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Abb. 49 Über den Rindern des Geryoneus, den Herakles auf der anderen Gefäßseite bekämpft, breitet sich ein Baum aus. Unter einem Henkel wächst eine kleinformatige Palme. Schale des Euphronios, München, Antikensammlung, 510–500

Bildinterne Untersuchung

sich die Form des Baumes aus seiner Funktion, Mantel und Waffen aufzunehmen, erklären würde, denn obwohl alle vier Bäume mit denselben Gegenständen behangen sind, gleicht trotz gleicher allgemeiner Grundform keiner der vier Bäume ganz dem anderen. Vielmehr zeigt die immer wieder veränderte gegenseitige Positionierung von Gewand, Schwert und Stamm, dass der Maler um Variation bemüht war. Wenn die Tatsache, dass Schwert und Gewand im Baum hängen sollen, – also sein Zweck – auf die Gestaltung des Baumes wirklich einen gewissen Einfluss gehabt haben sollte, wäre dieser vom Maler nach Kräften kaschiert worden. Wollte man den Malern ein ebensolches Bemühen bei der Darstellung von zweckdienlichen Felsen unterstellen, wären diese darin gründlich gescheitert. Ein Blick zurück auf die schwarzfigurige Amphora macht dafür einen anderen Faktor, der die Formgebung des Baumes bestimmt, überdeutlich: Der Baum, der am rechten Bildrand wurzelt, beugt sich mit seiner Astkrone in das freie Feld oberhalb des Stieres hinein. Die Form des Baumes passt sich offensichtlich an die Form des von Figuren freigelassenen Bildfelds an. Interessant ist, dass der gekrümmte Verlauf des Stammes dabei genau den Umriss des Hinterteils des Stieres wiederholt. Der Maler macht also keine Anstalten, die bedingte Form des Baumes ‚zufällig‘ wirken zu lassen, sondern er macht die Tatsache der Anpassung des Baumes an das freigebliebene Bildfeld zu einem Gestaltungsmittel. Um zu belegen, dass das Prinzip der Anpassung an die Form des freigebliebenen Bildfelds auch für rotfigurige Bäume gilt, sei auf die Münchner Euphroniosschale verwie-

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sen, wo ein einziger Baum mit seinen horizontal verlaufenden Ästen die gesamte Breite des freien Felds über der Rinderherde einnimmt (Abb. 49).112 Formbar sind Bäume in der attischen Vasenmalerei also genauso wie Felsen. Während aber die Typologie der Formen von Felsen vor allem auf deren Funktion zurückzuführen ist, ließe sich aus der Typologie der Formen von Bäumen höchstens etwas über ihre Position im Bildfeld folgern.113 Die Formgebung von Bäumen ist daher ein Thema, das in den Fragehorizont des Bildfelds gehört und soll damit in den Teil der Arbeit ausgelagert werden, der sich damit speziell befasst.114

Mobilität der Landschaftselemente Man sollte meinen, leblose Felsen und im Boden verwurzelte Bäume seien so unbeweglich und ortsgebunden wie der versteinerte Polydektes oder die in Lorbeer verwandelte Daphne. Dem, was sich scheinbar unmittelbar aus der Natur der Sache ergibt, steht in der Bilderwelt der Vasen eine große Zahl von Ikonographien gegenüber, wo gerade diese Landschaftselemente von Figuren umhergetragen werden und sich damit als ausgesprochen mobil erweisen. Über eine lange Zeit hinweg sind Bäume und Felsen in der schwarzfigurigen Vasenmalerei fast ausschließlich in den Händen von Kentauren zu finden. Erst im Laufe der zweiten Hälfte des 6. Jh. etablieren sie sich als im Boden verwurzelte Landschaftselemente. Doch wie verwurzelt sind Bäume und Felsen, die auf der Grundlinie stehen bzw. liegen, überhaupt? Wie ich im Folgenden zeigen möchte, geben die Bilder zu dieser vielleicht abwegig klingenden Frage Anlass. Es gilt zu untersuchen, ob die zahlreichen umhergetragenen Pflanzen und Felsen als Ausnahmen anzusehen sind, die die Regel der Ortsgebundenheit von Landschaftselementen bestätigen, oder ob sie umgekehrt darauf schließen lassen, dass Landschaftselemente grundsätzlich als mobile Gegenstände anzusehen sind. Neben den Kentauren, auf die ich im Anschluss zu sprechen kommen werde, sind es vor allem dionysische Figuren, die in der attischen Vasenmalerei Pflanzen mit sich tragen. In den frühen Beispielen von in der Hand gehaltenem Wein oder Efeu handelt es sich nur um einzelne Zweige. Die Tatsache, dass einzelne Zweige umhergetragen werden können, spricht für sich genommen natürlich keineswegs gegen eine Ortsgebundenheit ganzer Pflanzen. Im späten 6. Jh. jedoch unterscheiden sich gehaltene Weinranken in Größe und Art der Ausbreitung im Bildfeld vielfach gar nicht mehr von aus dem Boden wachsenden Weinstöcken.115 Auf einer schwarzfigurigen Hydria in Hamburg mit Dionysos und Apoll, die von zwei tanzenden Mänaden flankiert sind, hält Dionysos Weinranken in der Hand, die von oben die Zwischenräume zwischen den Figuren füllen (Abb. 50).116 Vergleicht man dies mit dem Weinstock auf einer frühen bi-

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linguen Amphora in München mit Dionysos zwischen zwei tanzenden Mänaden, finden sich keine grundsätzlichen Unterschiede, außer eben der Tatsache, dass der Wein aus spiralförmig verwundenen Stämmen herauswächst:117 Die von oben herabhängenden Zweige füllen hier ebenfalls die Zwischenräume der Figuren (Abb. 51). Dadurch, dass die Stämme unmittelbar vor den Füßen des Dionysos wurzeln, nehmen die Weinranken ihren Ursprung kaum weniger von der Figur des Dionysos als auf der Hydria in Hamburg, wo er sie selbst in der Hand hat. Die vorgestreckte Linke, in der Dionysos ein Rhyton hält, befindet sich genau auf der Höhe des Stammes und könnte, so gesehen, anstelle des Rhytons auch den Wein halten. In beiden Fällen handelt es sich also um ‚vollgültige‘ Weinreben, die beide von der Figur des Dionysos ausgehend das Bildfeld füllen, wobei letzteres im Falle der Hamburger Hydria durch das Motiv des Haltens des Stammes einen konkreten Ausdruck findet. Wie wenig das Motiv der in der Hand gehaltenen Weinreben einen Gegensatz zu den aus der Grundlinie wachsenden Weinreben bildet, zeigt eine Amphora des Priamos-Malers in der Villa Giulia mit einem sitzenden Dionysos inmitten dreier Weinstöcke, in denen kleinformatige Satyrn klettern (Abb. 52).118 Ein Zweig der bildfüllenden Reben ist nämlich in die Hand des Dionysos geführt. Von Dionysos in der Hand gehalten und durch Stämme mit der Grundlinie verbunden, besitzen die Weinreben hier also einen doppelten Ursprung, was folglich auch keinen Widerspruch darstellt, auch wenn diese Amphora dafür meines Wissens das einzige Beispiel ist. Statt sich dem wachsenden Abstand zum Stamm entsprechend zu verjüngen, verbreitert sich der Zweig, den Dionysos in der Hand hält, zu seinem unteren Ende hin. Dionysos hält also kein Astende, sondern sozusagen einen ‚Astanfang‘. Die Verdickung dieses Zweigs entspricht der Verdickung der Stämme am Wurzelansatz. Das verbreiterte Ende des gehaltenen Zweigs ist das Äquivalent eines Stammes. Eine Verbreiterung des gehaltenen Astendes findet sich (meistens sogar betonter) bei nahezu allen einigermaßen sorgfältig gemalten Wein- oder Efeuranken, die in der Hand gehalten werden, so auch auf der zuvor besprochenen Hydria in Hamburg. Dass diese Verdickungen ein signifikantes Detail darstellen, das nicht einfach als Teil eines sich verjüngenden Zweiges zu verstehen ist, zeigt sich daran, dass sich Zweige von Wein- oder Efeupflanzen in der schwarzfigurigen Vasenmalerei allgemein in ihrem Verlauf nicht verjüngen. Angesichts der beliebigen Verlängerbarkeit dieser Zweige wäre eine progressive Verjüngung von Zweigen als Darstellungskonvention auch gar nicht denkbar, da eine Verjüngung ja eine begrenzte Länge des entsprechenden Zweigs voraussetzen würde. Nur zwischen Stamm und Ästen wird in der Dicke erkennbar unterschieden, wie man es auf der Amphora des Priamos-Malers deutlich sieht. Die gleichbleibende Dicke der Zweige entspricht dabei offensichtlich der Breite eines Pinsel-

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71 Abb. 50 Dionysos und Apollon stehen sich gegenüber, von zwei tanzenden Mänaden umgeben. Die Weinranken, die Dionysos in der Hand hält, füllen die freien Zwischenräume im Bildfeld. Hydria, Hamburg, Mus. für Kunst und Gewerbe, letztes Viertel 6. Jh.

Abb. 51 Dionysos umgeben von zwei tanzenden Mänaden. Die Weinreben entspringen hier einem Weinstock, der zu Füßen des Gottes wurzelt. Bilingue Amphora, München, Antikensammlung, 520–510

72 Abb. 52 Dionysos inmitten eines von Weinreben und darin herumkletternden Satyrn gefüllten Bildfelds. Die Reben entspringen hier sowohl drei Stämmen, als auch der Hand des Dionysos. Amphora des PriamosMalers, Rom, Villa Giulia, um 520 (Vorderseite: Abb. 20)

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strichs.119 Die Regel, nach der Zweige in ihrem Verlauf eine gleichbleibende Dicke aufweisen, und nur der Stamm aus mehr als nur einem Pinselstrich besteht, ist auf rotfigurige Bilder nicht direkt übertragbar, da dort aufgrund der Umrisstechnik die Dicke des ausgesparten Zweigs oder Stammes kein ‚natürliches‘, durch die Breite des Pinsels vorgegebenes Maß besitzt. Doch zeigt sich gerade bei früheren rotfigurigen Wein- oder Efeureben, dass man diese schwarzfigurige Darstellungskonvention – für die langgezogenen schmalen Zweige übrigens unter erheblichem Mehraufwand – beibehalten möchte, wie man es z.B. auf der oben erwähnten Münchner Amphora sieht. Dass auch die Verbreiterungen am unteren Ende von gehaltenem Wein oder Efeu beibehalten werden, zeigt einmal mehr, dass diese eine bestimmte Wichtigkeit besitzen. Auf einer sehr frühen rotfigurigen Amphora in Boston hält auf einer Seite Dionysos, auf der anderen eine fragmentarisch erhaltene Figur jeweils Efeuranken in der Hand (Abb. 53).120 Das gehaltene Ende weist hier in beiden Fällen eine deutliche Verbreiterung auf. Zudem sind die gehaltenen Enden von den daraus entspringenden Zweigen aber noch durch einen Mittelgrat abgesetzt, wie man ihn auch auf den Stämmen der Weinstöcke der Amphora des Priamos-Malers findet, und wie er für schwarzfigurige Baumstämme allgemein typisch ist. Das in der Hand gehaltene Zweigende ist also als Stamm gedacht, und die Verbreiterung am unteren Ende ist dementsprechend als Wurzelansatz zu verstehen. Natürlich ist dieser Stamm erheblich kürzer als Stämme, die aus der Grundlinie wachsen, doch handelt es sich dennoch um einen vollständigen Stamm, da er vom Wurzelansatz bis zu den Zweigen reicht. Die Vollständigkeit des Stammes wird genau von der Verbreiterung seines unteren Endes gewährleistet, was erklärt, warum dieses Detail an gehaltenen Pflanzen so selten fehlt. Die Vollständigkeit

Abb. 53 Auf den zweifigurigen Bildfeldern halten Dionysos und (auf der anderen Gefäßseite) eine fragmentarisch erhaltene Figur jeweils Efeuranken in der Hand. Amphora, Boston, Mus.of Fine Arts, um 520

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des Stammes wiederum macht aus bloßen in der Hand gehaltenen Zweigen eine Pflanze, die nicht weniger vollständig ist als eine aus der Grundlinie herauswachsende Pflanze. Bei der Gestaltung des unteren Endes von gehaltenen Pflanzen kommt es nicht so sehr auf die konkrete Ähnlichkeit mit dem Wurzelansatz realer Bäume an, als mit dem Wurzelansatz gemalter Bäume, die zur Grundlinie hin eben häufig eine deutliche Verbreiterung aufweisen.121 Wollte man den Bezug zur Realität – der irgendwo natürlich immer vorhanden ist – hier allzu konkret fordern, bekämen die Bilder von gehaltenen Bäumen, deren Wurzeln ganz unvermittelt ‚aufhören‘ würden, eher noch einen surrealistischen Anstrich, was mit Sicherheit weder den Intentionen der Maler, noch den Sehgewohnheiten der Betrachter entspräche. Die Gestaltung des unteren Endes gehaltener Pflanzen wird denn auch teilweise derart stilisiert, dass von einer Ähnlichkeit mit Wurzeln keine Rede sein kann. Auf einem frühen rotfigurigen Glockenkraterfragment in der Villa Giulia enden die von Dionysos gehaltenen Weinreben in einem allseitig konkav geschwungenen Dreieck, das offensichtlich die zu den Seiten sich verbreiternde Form eines Stammes an der Grundlinie aufnimmt, ohne aber selbst als Wurzelansatz erkennbar zu sein.122 Das stark stilisierte untere Stammende der gehaltenen Weinreben besitzt hier also keine konkrete Referenz in der Wirklichkeit, sondern formuliert allgemein die Abgeschlossenheit, ergo die Vollständigkeit der gehaltenen Pflanze.123 Dionysos hält nicht einen Zweig, auch keinen ganzen Weinstock, der auf der Höhe seiner Wurzel abgesägt worden wäre, sondern er hält schlicht und einfach Weinreben, die von der gleichen Art wie jene sind, die aus der Grundlinie herauswachsen. Das Bild von Weinreben, die Dionysos in der Hand hält, ist daher keineswegs unkonkreter, ‚symbolischer‘ oder ‚magischer‘ als das Bild von Weinreben, die aus der Grundlinie herauswachsen, bzw. sind umgekehrt letztere ebenso ‚magisch‘ wie der in der Hand gehaltene Wein. Zusammenfassend kann man sagen, dass es für Efeu und Weinreben ikonographisch keinen wesentlichen Unterschied macht, ob sie aus der Grundlinie wachsen oder von einer Figur in der Hand gehalten werden. Neben anderen Auswirkungen für die Interpretation dieser Pflanzen, die uns im folgenden Kapitel interessieren werden,124 zeigt dies, dass ein ‚Verwurzeltsein‘ und eine daraus sich ergebene Ortsgebundenheit für die im Boden wachsenden Wein- und Efeupflanzen nicht von entscheidender Bedeutung sein kann. Wenn ein im Boden wachsender Weinstock ebensogut auch von Dionysos in der Hand gehalten werden könnte, hat dieser in der Tat eine ebenso große (potenzielle) Mobilität wie die Figur des Dionysos. Wein und Efeu sind nicht an einen Ort gebunden, sondern viel eher an die Figur des Dionysos (und/oder an Mitglieder seines Thiasos): Dort, wo Dionysos ist, wachsen Wein und Efeu. Wenn Dionysos inmitten von Weinstöcken sitzt, sitzt er nicht in einem Weinberg, sondern – wenn man über-

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haupt von einem Weinberg sprechen möchte – sammelt sich ein Weinberg um den sitzenden Dionysos. Im Falle der oben diskutierten Amphora des Priamos-Malers in der Villa Giulia wird dies dadurch zusätzlich verdeutlicht, dass der Wein nicht nur von den auf der Grundlinie stehenden Stämmen ausgeht, sondern ebenfalls der Hand des Dionysos entspringt. Der Maler aus dem Umkreis des Exekias einer Amphora in Boston, wo sich um den sitzenden Dionysos ebenfalls Weinreben ausbreiten, deren ineinander verwundene Stämme zu Füßen des Dionysos der Grundlinie entspringen, zeigt dies auf eine andere Weise:125 Die Namensbeischrift, die den Gott nennt, befindet sich nicht wie gewöhnlich nah bei der benannten Figur, sondern in einem kleinen Freiraum im dichtgefüllten Bildfeld, oberhalb der Stämme und unmittelbar unter dem begrenzenden Lotus-Palmettenband (Abb. 54). Direkt neben der Inschrift befindet sich ein Satyr, der zu-

Abb. 54 Dionysos im Zentrum eines von Weinreben und kleinformatigen Satyrn gefüllten Bildfelds. Amphora aus der Nähe des Exekias, Boston, Mus. of Fine Arts, um 540

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Abb. 55 Dionysos und Ariadne beim Gelage. Weinreben mit darin herumkletternden Satyrn füllen das Bildfeld über ihnen. Halsamphora, München, Antikensammlung, um 510

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sammen mit elf weiteren kleinformatig wiedergegebenen Satyrn im Weinstock klettert. Soll die Inschrift nicht blasphemisch diesen Satyrn benennen, muss man sie auf das Bild insgesamt beziehen, und zwar nicht im Sinne eines Bildtitels – so etwas gibt es in der attischen Vasenmalerei nicht – sondern im Sinne einer konkreten Benennung. „Dionysos“ bezeichnet also die Figur des Gottes einschließlich des von zwölf Satyrn bevölkerten Weinstocks, der damit als Teil der Darstellung des Gottes aufzufassen ist. Von dem vermeintlichen Weinberg, in dem Dionysos hier säße, würde jedenfalls nichts mehr übrigbleiben, wenn sich der Gott von seinem Klappstuhl erheben und aus dem Bildfeld marschieren würde. Doch ist die Formulierung „wo Dionysos ist, wachsen Wein und Efeu“ trügerisch. Es geht nämlich nicht um eine allgemeine Priorität der Figur vor der Pflanze bei der Definition des Ortes. Auf der Bostoner Amphora wächst der Weinstock zwar zu Füßen des sitzenden Dionysos, doch im Weinstock klettern Satyrn, für die der Ort ihres Tuns also offenbar der Weinstock ist. Kleinformatig dargestellte Satyrn, die in Weinstöcken herumklettern, sind ein Motiv, das nicht nur im Zusammenhang mit der Weinlese auftaucht.126 Auf einer Halsamphora um 510 in München sind Dionysos und Ariadne auf Kissen gelagert, und über ihnen wachsen Weinreben, in denen vier kleinformatige Satyrn klettern (Abb. 55).127 Sie bewegen sich zwar alle begierig auf je eine der großen Weintrauben zu,

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77 Abb. 56 Dionysos und ein Satyr. Die Weinreben, in denen wiederum kleinformatige Satyrn klettern, entspringen hier dem Kantharos des Gottes. Halsamphora aus der Nähe des PrincetonMalers (?), London, Kunsthandel, um 540–530

Abb. 57 Auf den Weinstock, der hier neben den Brustbildern von Semele und Dionysos wächst, ist ein Satyr bereits hinaufgeklettert, während ein zweiter sich ihm nähert. Schale des Kallis-Malers, Neapel, Mus. Nazionale, um 550–540

aber von Erntekörben wie auf der Amphora in Boston ist hier keine Spur. Auf einer Halsamphora um 540–530 aus dem Londoner Kunsthandel hält der sitzende Dionysos Weinreben in der Hand, in denen ebenfalls zwei kleinformatige Satyrn klettern, die nicht mit Ernten beschäftigt sind (Abb. 56).128 Auf einer Schale um 550–540 in Neapel erscheint neben den großen Brustbildern von Dionysos und Semele ein Weinstock, auf den ein Satyr bereits hinaufgestiegen ist, während ein zweiter, vom Weinstock angezogen, sich diesem nähert (Abb. 57).129 Wo der Wein wächst, sind also

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Abb. 58 Liegender Satyr mit Trinkgefäß. Die Positionierung des Stammes der Weinreben spielt mit der Vorstellung, dass sie dessen Geschlecht entspringen. Kyathos des Malers von Vatikan 480, St. Petersburg, Ermitage, 530–520

oft auch die Satyrn nicht weit. Die Tatsache, dass die kletternden Satyrn in den genannten Beispielen stets in verkleinerten Dimensionen dargestellt sind, und dadurch nicht auf derselben Ebene stehen wie die sonstigen Figuren auf dem Bild, zeigt deutlich, dass sich ihre Präsenz auf dem Bild an die des Weinstockes knüpft, und nicht umgekehrt. Die Darstellung von Weinreben kann sich also an die Figur des Dionysos knüpfen, die Darstellung von Satyrn dafür zuweilen an den Wein. Es zeigt sich, dass die Frage nach der Priorität bei der Definition des Ortes keine eindeutige Antwort hat. Da weder die bewegungsfähigen Figuren, noch die nur scheinbar an ihrer Stelle verwurzelten Pflanzen ortsgebunden sind, ist dies vielmehr die falsche Frage. Dass die Pflanzen des Dionysos, Wein und Efeu, so häufig in Bildern mit ‚dionysischem Personal‘ anzutreffen sind, ist thematisch bedingt, und bedarf zu seiner Erklärung der Kategorie des Ortes nicht. Dass das Zusammentreffen von Wein (bzw. Efeu) und Dionysos im selben Bild thematisch bedingt ist, bekommt durch das Motiv der in der Hand gehaltenen Pflanze einen konkreten Ausdruck, gilt aber nicht weniger auch für die aus der Grundlinie herauswachsende Pflanze. Abb. 59 Zwei Mänaden mit Rehen in den Armen tanzen um eine Weinamphora, der Weinreben entspringen. Stangenkrater des Nikoxenos-Malers, New York, Kunsthandel, um 480

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Neben dem sehr häufigen Motiv der aus der Hand einer dionysischen Figur herauswachsenden Pflanze gehen Wein und Efeu zuweilen auch andere ‚thematische Verbindungen‘ ein, die vom Standpunkt der Botanik her überraschend wären. Auf einem Stangenkrater des Nikoxenos-Malers im Kunsthandel entspringen Zweige einer Spitzamphora, die sich zwischen zwei tanzenden Mänaden befindet (Abb. 59).130 Zwei Stämme wurzeln etwa auf der Höhe der Gefäßschulter, wachsen durch die Henkel der Amphora, und breiten sich von dort über das Bildfeld aus. Auf einer oben schon erwähnten Halsamphora um 540–530 wächst ein Efeuzweig aus dem Kantharos, den Dionysos hält (Abb. 56).131 Auf einem in Six-Technik bemalten Kyathos in St. Petersburg ist der Stamm der Weinreben so positioniert, als wüchse er in Verlängerung des Geschlechtsteils eines liegenden Satyrn (Abb. 58).132 Schließlich gehört in diesen Kontext auch der Weinstock, der im Schiff wächst, in dem Dionysos auf der berühmten Schale des Exekias in München lagert: In einem Schiff, das durch ein Meer von Wein fährt, ist ein Weinstock gewiss nicht fehl am Platz (Abb. 60).133 Gleich ob es sich um ein Weinlagerungsgefäß, um ein Trinkgefäß, um das Geschlechtsteil eines vom Wein Berauschten (bzw. Erregten), oder um das Schiff, in dem der Gott fährt, handelt: Wein und Efeu sprießen aus all dem, was zu ihrem thematischen Spektrum gehört, und zuvorderst natürlich aus der Hand des Weingottes selbst. Wenn diese Pflanzen nun aus der Grundlinie herauswachsen, bleiben sie weiterhin, statt an einen bestimmten Ort an dieses thematische Spektrum gebunden, nur, dass diese Verbindung in einem solchen Fall nicht spezifiziert ist und ihr auch kein so konkreter Ausdruck verliehen wird. Wein und Efeu sind durch ihren dionysischen Charakter selbstverständlich keine ‚neutralen‘ Pflanzen. Die Schlussfolgerungen, die man aus ihrer Analyse ziehen konnte, gelten also nicht unbedingt auch für sonstige Landschaftselemente in der attischen Vasenmalerei. Die Untersuchung der Bäume und Felsen der Kentauren soll mögliche Konstanten und Unterschiede bei einer anderen (wenn auch ebensowenig ‚neutralen‘) Baumsorte aufzeigen. Im Unterschied zu Wein und Efeu in den Händen von dionysischen Figuren sind die Pinien, derer sich Kentauren im Kampf bedienen,134 von ihrem mythologischen Hintergrund her dem Boden entrissene Bäume. Der Akt des Entreißens von Bäumen selbst ist in den zahlreichen Kentauromachien allerdings kein Thema.135 Ebenso ist es bemerkenswert, dass von den Wurzeln dieser entwurzelten Bäume allermeistens nichts zu sehen ist. Das Entrissen-worden-Sein der Pinien ist also nicht ein Aspekt, der von den attischen Malern speziell betont worden wäre. Wenn der untere Abschluss der Pinienstämme eine besondere Gestaltung erfährt – was nicht mit derselben Regelmäßigkeit geschieht, wie bei Efeu und Wein –, gilt das, was schon zu den gehaltenen Wein- oder Efeupflan-

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Abb. 60 Dionysos lagert in einem Schiff, das – im wahrsten Sinne des Wortes – durch ein Meer von Wein fährt. Am Mast wächst ein Weinstock empor. Schale des Exekias, München, Antikensammlung, um 540 (Außenseiten: Abb. 99)

zen beobachtet wurde. Eine Verbreiterung des Stammes deutet an, dass der Baum an dieser Stelle beginnt, dass es sich also nicht um ein Stück einer Pinie, sondern um den ganzen Baum handelt. In der Kentauromachie auf der Schale des Erzgießerei-Malers in München sind zwei Pinien entsprechend gestaltet (Abb. 61).136 Inwieweit die Gestaltung des unteren Abschlusses des Stammes den Wurzelansatz des Baumes erkennen lässt, oder aber dessen Abgeschlossenheit/Vollständigkeit weniger gegenständlich bezeichnet, ist von Bild zu Bild verschieden. Auf einem Stangenkrater des Pan-Malers in London lässt das untere Stammende, das ein Kentaur einem Lapithen in den Brustkorb rammt, unmissverständlich den Ansatz zweier Hauptwurzeln erkennen, die in entgegengesetzte Richtung weisen (Abb. 62).137 Auf einem Stangenkrater des Kaineus-Malers in Palermo dagegen endet der Baum, mit dem ein Kentaur gegen Kaineus vorgeht, in einer unten abgerundeten, keulenförmigen Verbreiterung, die keiner Form von realen Bäumen entspricht (Abb. 63).138

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Abb. 61 Kampf zwischen Lapithen und Kentauren. Schale des Erzgießerei-Malers, München, Antikensammlung, 490–480

82 Abb. 62 Ein Kentaur rammt einem Lapithen einen Baumstamm in die Brust. Der Wurzelansatz der Pinie ist deutlich hervorgehoben. Stangenkrater des Pan-Malers, London, British Mus., um 480–470 (andere Seite: Abb. 309)

Abb. 63 Drei Kentauren gehen mit Felsen und einer Pinie gegen den im Boden versunkenen Kaineus vor. Hier endet der Stamm der Pinie in einer keulenförmigen, abgerundeten Verbreiterung. Stangenkrater des KaineusMalers, Palermo, Mus. Archeologico, um 470

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Allgemein kann man aber sagen, dass es anders als bei Efeu und Wein durch die wohldefinierte Typologie und Größe der Pinien letztlich immer außer Frage steht, dass die Kentauren mit ganzen Bäumen und nicht nur mit einzelnen Ästen kämpfen. Es besteht bei Pinien also keine Notwendigkeit, die Vollständigkeit des Baumes durch die Gestaltung des unteren Stammendes zu verdeutlichen, was einerseits erklärt, warum auf eine besondere Gestaltung so häufig verzichtet wird, wodurch das untere Stammende aber andererseits auch für andere Gestaltungen zur Verfügung steht. In einigen Fällen deutet ein unregelmäßig gezackter Umriss darauf hin, dass der Stamm an dessen unterem Ende gebrochen ist, er also nicht aus der Erde gerissen, sondern abgebrochen wurde. Auf einer Hydria des Kleophrades-Malers in Leiden etwa weisen die Pinien eine solche Bruchlinie auf (Abb. 64).139 Drei der abgebrochenen Pinien sind deutlich kürzer, als es für Pinien üblich ist. Sie sind also auf halber Höhe gebrochen worden. Insofern sie jedoch weiterhin aus Stamm und Ästen bestehen, unterscheiden sie sich so vom vollständigen Baum gewissermaßen nur quantitativ, nicht aber qualitativ. Die Bruchlinie anstelle der Verbreiterung als unteren Abschluss des Baumes bereichert die als Waffen verwendeten Pinien um das Motiv des gebrochenen Stammes – ein Motiv, das die übermenschliche Kraft der Kentauren gut zum Ausdruck bringt. Zur Erklärung der Tatsache, dass die Bäume umhergetragen werden, ist dieses Motiv allerdings nicht notwendig, da es ebenso auch fehlen kann. Es ist also nicht ausgeschlossen, dass im Kampf verwendete Pinien in Form des gebrochenen Stammes Spuren ihrer gewaltsamen Bemächtigung durch die Kentauren tragen. Eine gezackte Bruchlinie am unteren Ende des Stammes ist ein graphisch sehr unauffälliges Motiv, was zeigt, dass in diesen Fällen die Bemächtigung des Baumes in den entsprechen-

Abb. 64 Kentauromachie. Die Enden der Pinienstämme scheinen hier ausnahmsweise abgebrochen. Hydria des Kleophrades-Malers, Leiden, Rijkmuseum van Oudheden, 490–480

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Abb. 65 Kentaur, der einen Fels schleudert. Eine dem Boden entrissene Pinie mit Wurzelstock schwebt im Bildfeld. Schale des Ancona-Malers, Basel, Kunsthandel, um 460

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den Bildern kein zentraler Aspekt ist. Demgegenüber wäre der herausgerissene Wurzelstock als Spur der gewaltsamen Bemächtigung eines Baumes ein viel auffälligeres Motiv. Die Pinie, die im Innenbild einer Schale aus dem Baseler Kunstmarkt erscheint, und den sonst immer vermissten Wurzelstock aufweist, wird von dem einzelnen Kentauren, der einen Felsen auf einen nicht dargestellten Gegner schleudert, nicht berührt, sondern ‚schwebt‘ isoliert im Bildfeld (Abb. 65).140 Der freie Wurzelstock lässt in diesem Kontext zwar darauf schließen, dass der Baum von einem Kentauren herausgerissen wurde, doch bleibt die Einbindung dieser Pinie in den Handlungszusammenhang des Bildes darauf beschränkt: Der Baum kann aufgrund seiner Position im Bild und des Fehlens von Gegnern we-

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der als geworfen und ‚durch Luft fliegend‘, noch als geworfen und bereits am Boden liegend verstanden werden. Pinien, die wie diese ohne aktuellen Bezug zur dargestellten Handlung im Bildfeld ‚schweben‘, finden sich in weiteren Kentauromachien, wobei das Detail des Wurzelstocks nicht nochmal auftaucht. Auf einer Schale in der Art des Antiphon-Malers mit einer Lapithenschlacht liegt zwischen zwei heranstürmenden Kentauren und dem rechten Rand je eine Pinie schräg im Bildfeld, ohne die Grundlinie zu berühren.141 Da weder ein Kentaur, der die Pinien geworfen,142 noch ein Grieche, dem der Wurf gegolten haben könnte, zu sehen sind, können diese Pinien nicht als fliegende Wurfgeschoße gemeint sein. Auf einem Stangenkrater des Schweine-Malers mit zwei Kentauren um den im Boden versinkenden Kaineus befindet sich eine Pinie leicht schräg rechts im Bildfeld, wiederum ohne Kontakt zur Grundlinie (Abb. 67).143 Auch dieser Baum kann aufgrund seiner Position im Bildfeld nicht zu den Pinien gezählt werden, unter denen Kaineus begraben wird, und besitzt damit keinen aktuellen Handlungsbezug.144 Das oben besprochene Beispiel einer Pinie mit aus der Erde gerissenem Wurzelstock steht also in einer Reihe mit Pinien im Bildfeld von Kentauromachien, die in einem ähnlich assoziativen Verhältnis zu den Hauptmotiven des Bildes stehen wie ‚hängende‘ Schwämme und Alabastra in Palästrabildern, ‚hängende‘ Trinkschalen und Musikinstrumente in Symposionsbildern oder Wein und Efeu in dionysischen Bildern. Das Detail des herausgerissenen Wurzelstocks bereichert dabei das assoziative Verhältnis zu dem Kentauren um einen Aspekt, ohne dass die Pinie dadurch aber einen grundsätzlich anderen Sinn bekäme, als die Pinien, die ohne Wurzelstock im Bildfeld, ‚schweben‘. Wenn Spuren der gewaltsamen Bemächtigung der Pinien durch die Kentauren so spärlich zu finden sind und ihnen in den Fällen, wo sie dennoch auftauchen, keine wesentliche Bedeutung zukommt, muss man daraus schließen, dass die Tatsache, dass Bäume umhergetragen werden, für sich genommen die Augen des Betrachters noch nicht genügend skandalisiert haben konnte, um eigens zum Thema werden zu müssen. Damit die Entwurzelung von Pflanzen im Bild thematisiert werde, reicht es nicht, dass eine Pflanze keinen Kontakt zur Grundlinie hat, sondern es bedarf dafür eines positiven Grundes. So findet sich die weitestgehende Thematisierung der Entwurzelung von Pflanzen auf einem Bild der Verwüstung des Weinbergs des Syleus durch Herakles. Auf dem Außenfries einer Schale des Douris befindet sich zu beiden Seiten des mit einem Pickel arbeitenden Herakles im Bildfeld je ein Weinstock samt Wurzeln (Abb. 66).145 Als zusätzliches Zeichen der Verwüstung sind die Weinstöcke umgestülpt mit den belaubten Zweigen unten und den Wurzeln oben dargestellt.146 Hier betrifft die Entwurzelung der Weinstöcke unmittelbar die Haupthandlung des Bildes.

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Abb. 66 Herakles verwüstet den Weinberg des Syleus. Schale des Douris, ehemals Slg. Joly de Bammeville, um 490

Abb. 67 Zwei Kentauren im Kampf gegen Kaineus. Rechts schwebt eine Pinie im Bildfeld. Stangenkrater des Schweine-Malers, Lugano, Kunsthandel, 480–470

Wenn die Entwurzelung von Pinien ohne Kontakt zur Grundlinie – sei es, dass sie von Kentauren gehalten werden oder dass sie im Bildfeld frei ‚schweben‘ – einer Thematisierung nicht bedarf, ist von der Verwurzelung der Pinien, deren Stamm mit der Grundlinie verbunden ist, auch nicht viel zu erwarten. In Kentauromachien, wo Pinien, zusätzlich zu den als Waffe verwendeten, aus der Grundlinie wachsen, fällt denn auch auf, dass sich diese Bäume, die sich in der Wirklichkeit bekanntlich durch einen geraden, vertikal wachsenden Stamm auszeichnen,147 häufig in eigenartiger Schräglage befinden. Auf einem Stamnos des Argos-Malers mit Herakles

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bei Pholos und den von der anderen Vasenseite heranstürmenden Kentauren wachsen zwei Pinien mit in sich vollkommen geradem Stamm, die jeweils zwischen den Pferdebeinen eines Kentauren wurzeln, mit einer deutlichen Rechtsneigung in die Höhe (Abb. 68).148 Der schräge Wuchs der Bäume erklärt sich offenbar aus dem Bemühen des Malers, eine maximale Sichtbarkeit der beiden Bäume zu gewährleisten, weswegen er sie nach Möglichkeit an den Oberkörpern, Armen und getragenen Felsen der Kentauren vorbei geführt hat.149 Die Tatsache, dass ein Baum aus der Grundlinie herauswächst, verbietet dem Maler also offenbar nicht, diesen im Bildfeld ebenso frei zu drehen und zu wenden wie eine ‚schwebende‘ Pinie.150 Der Kontakt des Stammes mit der Grundlinie impliziert demnach keinerlei feste Verankerung desselben im Boden. Daraus wird verständlich, warum das Herausreißen der Pinien aus dem Boden als Bildmotiv in der attischen Vasenmalerei keine Verbreitung gefunden hat, obgleich es geradezu prädestiniert scheint, die übermenschliche Kraft der Kentauren zu veranschaulichen. Wie wenig das Herausreißen dieser so schwach verankerten Bäume als bildliche Formulierung der Kraft der Kentauren überzeugen konnte, zeigt sich gerade an einer rotfigurigen Schale um 500 in Basel, wo dieses Motiv ausnahmsweise dargestellt ist (Abb. 69).151 Da der Akt des Entwurzelns mangels vorhergehender Verwurzelung alleine noch nicht auf eine besondere Kraft des Kentauren schließen lässt, wird hier der Effekt seines riesigen Kraftaufwands dadurch deutlich gemacht, dass der Stamm an der Stelle, wo seine Hände ihn umfassen, abgeknickt ist, und es nicht klar ist, ob der Kentaur den Baum durch Ziehen oder durch Brechen in seine Gewalt bringen wird. Die Ergebnisse der Untersuchung der Kentauromachien geben eine klare Antwort auf die scheinbar so abwegige Anfangsfrage nach dem Grad der Verwurzelung von Landschaftselementen in dem Boden, auf dem sie stehen. Zumindest was die Pinien der Kentauren betrifft, ist er sehr gering einzustufen. Da die gewaltsame Bemächtigung der Pinien durch die Kentauren als solche nicht thematisiert wird und an den Pinien in aller Regel auch keine Spuren hinterlässt, kann die Mobilität dieser Pinien keineswegs als Ausnahme angesehen werden, die die vermeintliche Regel der Ortsgebundenheit von Landschaftselementen bestätigen würde. Vielmehr hat sich gezeigt, dass auch Pinien, die aus der Grundlinie herauswachsen, dort nur sehr lose verankert sind. Wie schon das gemeinsame Auftreten von Wein, Efeu und dionysischen Figuren auf demselben Bildfeld erklärt sich auch das räumliche Zusammentreffen von Pinien und Kentauren ohne einen Rückgriff auf die Kategorie des Ortes: Nicht weil Pinien und Kentauren beide in der Bergwildnis zu finden sind, erscheinen sie im selben Bildfeld. Ihr räumliches Zusammentreffen ist vielmehr thematisch bedingt.

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Abb. 68 Herakles bei Pholos. Die um den Wein betrogenen Kentauren nahen bereits. Die deutliche Schräge zweier Pinien fällt auf. Stamnos des Argos-Malers, Rom, Villa Giulia, um 480

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89 Abb. 69 Herakles im Kampf mit Kentauren. Ein Kentaur ist dabei, sich einer Pinie zu bemächtigen. Schale des H-Malers, Basel, Antikenmuseum, um 500

Auch, wenn die behandelten Fälle von Wein und Efeu in der dionysischen Ikonographie und Pinien in Kentaurenbildern die große Mehrheit der in der Hand gehaltenen Pflanzen darstellen, zeigen einzelne Bilder, dass die Schlussfolgerungen bezüglich der Mobilität der Bäume auf andere Pflanzen und andere Figurengruppen ausgeweitet werden können. Auf einer Pelike aus der Gruppe des Syleus-Malers im Louvre steht Athena mit einem kleinen Bäumchen in der Hand. Auf diese Athena, die, wie Dionysos mit Weinreben, hier offenbar mit ihrer Gabe, dem Olivenbaum, erscheint, bezieht sich auf der anderen Seite des Gefäßes ein Himationträger mit einem Betgestus (Abb. 70).152 Genauso wie getragener Efeu, Wein oder Pinien hat dieser Miniaturbaum zwar einen Stamm, aber keine Wurzeln.153 Nicht nur dionysische Figuren oder Kentauren halten also Pflanzen in der Hand, und nicht nur Efeu, Wein und Pinien erscheinen getrennt von der Grundlinie. Auf einer Lekythos des Gela-Malers sind es Mänaden, die Pinien in der Hand halten.154 Die Mobilität der Landschaftselemente wurde anhand der Bäume erwiesen. Dass dies auf Felsen übertragbar sei, wurde bisher stillschweigend vorausgesetzt. Für die Felsen, mit denen die Kentauren kämpfen, scheint diese Übertragung unproblematisch: Felsen, die umhergetragen werden, sind beweglich. Doch ist es auffällig, dass Felsen in Kentauromachien nie im Bildfeld ‚schweben‘: Felsen, die keinen Kontakt zur Grundlinie haben, und auch nicht gehalten werden, bleiben im Gegensatz zu Pinien immer als geworfen und auf ein Ziel zufliegend verständlich. Dieser Unterschied soll im Kapitel „Boden und Himmel/Grundlinie und Bildfeld“ näher untersucht werden.155 Doch wie steht es mit Felsen am Boden, mit Sitzfelsen, Liegefelsen? Bei diesen bleibt immer ein wesentlicher formaler Unterschied zu den getragenen Felsen, da letztere natürlich vollständig zu sehen sind und nicht wie jene an ihrer Unterseite abgeschnitten sind. Felsen am

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Abb. 70 Die Göttin Athena erscheint mit ihrer Gabe, dem Olivenbaum. Pelike aus der Gruppe des Syleus-Malers, Paris, Louvre, um 480

Boden, die von der Grundlinie abgeschnitten sind, stecken im Boden – wie sollten sie dann beweglich sein? Doch auch wenn sie im Boden verankert sind, sie bleiben auf der Grundlinie dennoch mobil: Sitz- oder Liegefelsen sind an die jeweils sitzende oder lagernde Figur gebunden, und nicht an der Ort, an dem sie im Boden stecken. Der Sitzfelsen, und mit ihm der Boden, in dem er verankert ist, schiebt sich gewissermaßen unter den Sitzenden. Der Liegefelsen ist dort, wo sich der Lagernde befindet. Dies erklärt jene Fälle, in denen Felsen in Kontexten auftreten, wo man sie von einer Logik des Ortes her nicht erwarten würde: Wenn in Kriegerabschieden der Krieger seinen Fuß auf einen Felsen setzt,156 heißt das weder, dass im Oikos, wo man sich diese Handlung zu denken hat, ein Fels aus dem Boden ragt, noch, dass dieser Abschied bereits auf dem felsigen Schlachtfeld stattfindet. Der Fels ist vielmehr an die Figur des Kriegers gebunden. Diese Bindung ist nicht örtlich, sondern thematisch zu verstehen: Felsen trifft man auch in Bildern von Kämpfen, des genuinen Betätigungsfelds eines Kriegers. Dasselbe ist von den Felsen zu sagen, die in Bildern vom Besuch am Grab auftauchen. Auf einer weißgrundigen Lekythos des Phiale-Malers in München sitzt die Verstorbene vor der Grabstele auf einem Felsen, während die Besucherin, die sich dem Grab mit einer Tänie in der Hand nähert, auf der Grundlinie steht (Abb. 71).157 Dies ist nicht so zu verstehen, dass ein Fels die Sicht auf die Stele mit ihrem (äußerst ‚unfelsigen‘) Unterbau aus zwei rechtwinkligen Blöcken verstellen würde. Vielmehr weist der Fels die darauf sitzende Frau als Verstorbene aus, die an einem für die Lebenden unerreichbaren Ort weilt. Ähnliches ließe sich übrigens auch zu den Charonsbildern sagen, wo das

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91 Abb. 71 Die Frau, welche hier vor einer Grabstele auf einem Felsen sitzt, ist als Verstorbene zu verstehen. Weißgrundige Lekythos des Phiale-Malers, München, Antikensammlung, 440–430

Wasser, in dem der Kahn schwimmt, die Grabstele überschneidet:158 Der Styx fließt nicht durch den Kerameikos, sondern kann im Bild aufgrund seiner Mobilität als Landschaftselement dorthin transferiert werden, wo er thematisch passt, also etwa an das Grabmal der verstorbenen Person, die über den Styx geleitet werden will. Schließlich kann an dieser Stelle der Hinweis auf das weitgehendste Beispiel für die Mobilität von Landschaftselementen nicht ausbleiben: die Insel Nisyros, die von Poseidon auf der Schulter getragen wird. Auch eine ganze Insel ist also beweglich, wobei hier natürlich einschränkend gesagt werden muss, dass nicht irgendwer diese Tat vollbringt, sondern nur der Gott des Meeres selbst dazu fähig ist. Auch wenn chronologische Erwägungen in diesem Kapitel allgemein nicht im Vordergrund stehen, ist im Falle der Mobilität der Landschaftselemente die ungleiche Verteilung der besprochenen Ikonographien im Zeitraum, der in dieser Arbeit betrachtet wird, dem 6. und 5. Jh., zu offensichtlich, um nicht erwähnt zu werden. Die allermeisten Vasen, die zuletzt behandelt wurden, stammen aus dem letzten Drittel des 6. Jh. und dem ersten Drittel des 5. Jh. Die Ergebnisse der Untersuchung auf das gesamte 6. Jh. zu übertragen, scheint unproblematisch: Wein und Efeu werden seit je her von dionysischen Figuren in der Hand gehalten, ebenso wie Kentauren schon im frühen 6. Jh. mit Pinien und (seit dem Klitias-Krater) mit Felsen bewaffnet sind. Außerdem wäre es absurd, die Mobilität der Landschaftselemente ausgerechnet für den Zeitraum abzustreiten, in dem

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Bäume und Felsen fast ausschließlich in den Händen von Kentauren und anderen Wesen zu finden sind. Schwieriger scheint es, die Mobilität der Landschaftselemente auch für den weiteren Verlauf des 5. Jh. anzunehmen. Denn sowohl in der Hand gehaltener Efeu oder Wein, als auch Pinien und Felsen in den Händen von Kentauren, die beiden ‚Kronzeugen‘ der Mobilität der Landschaftselemente, nehmen zur Mitte des Jahrhunderts hin in ihrer Häufigkeit rapide ab. In der Ikonographie der Kentauromachien bekämpfen sich die Kontrahenden nun bevorzugt mit Gelagerequisiten. Vollständige Weinstöcke oder Efeubäume in den Händen von Dionysos verschwinden in der zweiten Jahrhunderthälfte sogar gänzlich. Natürlich können diese Veränderungen auch externe Gründe haben, die mit den Landschaftselementen an sich nichts zu tun haben. Die Mobilität der Landschaftselemente in der Mitte und dem Ende des 5. Jh. sei dennoch mit einem Fragezeichen versehen, das eine differenziertere Untersuchung fordert. Es fällt auf, dass die Zahl der Ikonographien, wo die Mobilität der Landschaftselemente explizit ist, genau in dem Zeitraum stark abnimmt, in dem als entscheidende Neuerung im Bereich der Landschaftselemente Geländelinien in die attische Vasenmalerei integriert werden. Auch diese zeitliche Koinzidenz kann selbstverständlich bloßer Zufall sein, doch soll ein möglicher Zusammenhang beider Phänomene bei Gelegenheit überprüft werden.159 Die Möglichkeit einer zeitlichen Differenzierung ist natürlich auch für die zuvor behandelten Aspekte dessen, was ich den Gegenstandscharakter der Landschaftselemente nennen möchte, gegeben, und das umso mehr, als bezüglich der Mobilität der Landschaftselemente nun ein ‚konkreter Verdacht‘ vorliegt. Dies soll im weiteren Verlauf der Arbeit im Auge behalten werden.160

Implikationen für die Raumwiedergabe – Ausnahmen, die die Regel bestätigen Was über die räumliche Begrenztheit, die Formbarkeit und die Mobilität der Landschaftselemente gesagt wurde, ließe sich unter verschiedenen Perspektiven zusammenfassen, wobei jeweils ein Teil der Ergebnisse unerwähnt bliebe. Eine dieser partiellen Perspektiven, nämlich die Implikationen für die Raumwiedergabe, soll hier herausgegriffen werden, da sie für den Fortgang der Arbeit von besonderem Interesse ist. Die beschriebenen Eigenschaften der Landschaftselemente, räumliche Begrenztheit, Formbarkeit und Mobilität, haben auf je verschiedene Weise dargelegt, dass ein Landschaftselement eine räumliche Relevanz nur jeweils für die Figuren hat, die unmittelbar mit diesem Landschaftselement in Beziehung stehen, sei es, dass ihre Handlung dieses in irgendeiner Weise einbezieht, oder dass – wie im Falle von Weinreben und Dio-

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nysos – eine wesensmäßige Beziehung unabhängig von der dargestellten Handlung gegeben ist. Sisyphos wälzt den Stein zwar auf den Felsenpfeiler wie auf einen Berg. Die ihn flankierenden Figuren betrifft dieser Berg aber genauso wenig, wie sich der pfeilerartige Berg auf dem Bildfeld ausbreitet. Im Falle der Felsen, die einer Funktion wie dem Sitzen oder dem Lagern dienen, gilt, dass die Figuren, die mit dieser Funktion nichts zu tun haben, auch mit dem Felsen nichts zu tun haben: Eine stehende Figur steht auch dann auf der Grundlinie, wenn die Grundlinie an eben dieser Stelle von einem Felsenlager bedeckt ist. Bei Wein und Efeu, die zum Gefolge des Dionysos gehören wie Satyrn und Mänaden, ist die räumliche Bindung an die Figuren, mit denen sie in Beziehung stehen, besonders offensichtlich: Wenn Weinreben statt mit dionysischen Figuren mit thematisch nicht verknüpften Figuren wie etwa kämpfenden Hopliten im selben Bildfeld erscheinen, ist dieses Zusammensein nicht räumlich zu verstehen. Auch in der Vasenmalerei bekriegen sich Hopliten nicht im Weinberg … Wenn Landschaftselemente nicht automatisch mit allen Figuren in einem räumlichen Bezug stehen, die im selben Bildfeld auftreten, muss daraus geschlossen werden, dass Landschaftselemente den Raum, in dem sie auftreten, nicht vereinnahmen. Die Präsenz eines Baumes oder eines Felsens ist also nicht auf das gesamte Bildfeld zu übertragen, weswegen aus einem Baum kein Wald und aus einem Felsen keine Berglandschaft wird.161 Die Regel, dass Landschaftselemente den Raum nicht vereinnahmen, bedeutet also, dass sie nicht die allgemeine Charakteristik eines Ortes darstellen, wie es etwa Theaterkulissen täten.162 Zudem jedoch muss daraus geschlossen werden, dass Landschaftselemente ebensowenig räumliche Strukturen innerhalb eines Bildes definieren. Dies möchte ich anhand von Bildern der Flucht aus der Höhle des Polyphem exemplifizieren, einem Thema, wo die interne räumliche Struktur – hier die Frage nach dem (noch) Innen und dem (schon) Außen – eine besondere Brisanz hat.163 Eine rotfigurige Schale um 510–500 in der Villa Giulia zeigt dieses Thema auf einer Außenseite (Abb. 72).164 Polyphem sitzt am rechten Bildrand an einen Fels angelehnt, und eine Reihe von drei bepackten Widdern bewegt sich in seine Richtung. Trotz der Fehlstelle in diesem Bereich der Vase lässt sich noch erkennen, dass der Felsen den für Höhlenfelsen typischen Überhang aufweist, dessen oberer Kontur über der Bruchstelle noch zu sehen ist.165 Daraus ergibt sich, dass dieser Fels den Ausgang der Höhle markiert, an dem sich Polyphem postiert, um die Flucht der Gefährten zu verhindern. Folglich sind die drei Gefährten unter den Widdern in der Höhle und müssen an Polyphem noch vorbei. Nun konnte diese Tatsache aber nicht verhindern, dass auf der Höhe des vordersten Widders ein Baum wächst. Es wäre abwegig, daraus zu schließen, dass in der Höhle des Polyphem ein Baum wachse. Dieser Baum wächst per definitionem im Freien. Wollte man die interne

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Abb. 72 Odysseus und seine Gefährten versuchen, unter den Bäuchen der Widder Polyphem zu entkommen. Obwohl sie sich noch in der Höhle befinden müssen, wächst hinter dem vordersten Widder ein Baum. Schale aus dem Kreis des Nikosthenes-Malers, Rom, Villa Giulia, 510–500

räumliche Struktur dieses Bildes den Landschaftselementen entnehmen, würden sich die Widder im Freien bewegen, der Felsen, an dem Polyphem lehnt, wäre als Höhleneingang zu lesen, und die Gefährten des Odysseus wären dabei, sich an Polyphem vorbei zurück in die Höhle zu schleichen. Eine sinnvolle Raumstruktur lässt sich gemäß der zugrunde liegenden Narration hier also nur an den handelnden Figuren selbst ablesen. Dasselbe ließe sich zu einem spätschwarzfigurigen Stangenkrater sagen, wo sich lediglich ein Widder, hinter dem wiederum ein Baum wächst, auf den am Höhlenrand lehnenden Polyphem zubewegt (Abb. 73).166 Der Höhlenfelsen kann sich auch am linken Bildrand befinden – gewissermaßen am Ausgangspunkt der Bewegung der Widder. So erscheint auf einer Oinochoe aus der Gruppe des Athena-Malers am linken und rechten Bildrand je ein Fels: Vom linken ragt ein Widder zur Hälfte hervor, am rechten lehnt Polyphem (Abb. 74).167 Wollte man die Raumstruktur des Bildes wieder an den Landschaftselementen ablesen, käme man auch hier zu einem sinnlosen Ergebnis: Der Gefährte wäre ungehindert aus der Höhle entkommen, da Polyphem, statt den Höhleneingang zu versperren, die Widder mit gehörigem Abstand zur Höhle am gegenüberliegenden Bildrand erwarten würde.168 Es zeigt sich also nochmals, dass die interne räumliche Struktur des Bildes nur aus den handelnden Figuren zu erschließen ist. Im Gegenzug bezieht sich diese Raumstruktur aber auch ausschließlich auf die handelnden Figuren, da der an der Handlung unbeteiligte Baum ja offenbar nicht in der Höhle wächst. Damit bekommt das Sprechen über die interne Raumstruktur des Bildes einen tautologischen Zug: Wenn die interne Raumstruktur des Bildes sich nur auf die handelnden Figuren bezieht, ist es kaum verwunderlich, dass sie sich eben auch nur aus diesen erschließen lässt. Der Raum, von dessen Struktur hier die Rede ist, umfasst also nicht alles, was auf dem Bildfeld erscheint, sondern nur die Elemente,

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95 Abb. 73 Flucht aus der Höhle des Polyphem. Auch hier wächst hinter dem Widder ein Baum, obwohl dieser die Höhle noch nicht verlassen haben kann. Stangenkrater, Malibu, J. Paul GettyMus., 490–480

Abb. 74 Flucht aus der Höhle des Polyphem. Hier erscheint auch links des Widders ein Höhlenfels. Oinochoe des Malers von Vatikan G 49, Brüssel, Musées Royaux, um 490

die auf irgendeine Weise in eine Interaktion eingebunden sind. Die Nähe (oder ggf. Entfernung) zwischen zwei Bildelementen ist nur dann räumlich aufzufassen, wenn beide in einer irgendwie gearteten Interaktion stehen. Dies lässt sich besonders gut an Theseuszyklen auf rotfigurigen Schalen ersehen, wo mehrere Kämpfe mit verschiedenen Gegnern auf demselben Bildfeld auftreten. Die räumlichen Brüche zwischen den unterschiedlichen ‚Episoden‘ werden darin graphisch nicht hervorgehoben, wie es

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etwa durch einen Abstand oder gar durch eine Trennungslinie möglich gewesen wäre. Da die Überschneidung zweier Figuren, die sichtlich nicht miteinander beschäftigt sind, durch den Betrachter erst gar nicht räumlich interpretiert wurde, gab es für die Maler auch keinen Anlass, die graphische Kontinuität des Bildfelds zu ‚stören‘. Wieweit die verschiedenen Szenen eines Theseuszyklus durch diverse Überschneidungen ineinander verwoben sein können, demonstriert die Schale des Onesimos im Louvre (Abb. 48).169 Besonders bezeichnend ist dabei der Gebrauch von Bäumen als verbindendes Glied zwischen zwei unterschiedlichen Szenen.170 Abwechselnd mit dem jeweiligen Kämpferpaar erscheinen auf den Außenseiten der Schale Bäume, an denen jeweils die Waffen des Theseus hängen. Der Baum, der zwischen den Kämpfen mit Kerkyon und dem Marathonischen Stier wächst, wurzelt in der Mitte der Überschneidungszone beider Szenen, so dass der Stamm sowohl vom Bein des Kerkyon aus der linken, als auch vom Bein des Theseus aus der rechten Szene überschnitten wird. Graphisch gehört der Baum keiner der beiden Szenen mehr an als der anderen. Dennoch sind das Schwert und das Gewand an diesem Baum eindeutig dem Theseus zuzuordnen, der rechts mit dem Stier kämpft, da der Theseus, der gegen Kerkyon kämpft, seine Kleider bereits an den Baum gehängt haben muss, der links von dieser Szene nahe dem Henkel steht. Die Positionierung des Baumes im Bildfeld berücksichtigt diese Zugehörigkeit zur Szene des Stierkampfes jedoch nicht, sondern verfolgt offenbar das Ziel, die ‚Lücke‘ zwischen den beiden Szenen optimal auszufüllen. Die räumliche Einheit, der der Baum in seiner Positionierung verpflichtet ist, ist das Bildfeld. Die graphische Einheit des Bildfelds wiederum bedeutet keine Einheit des Ortes, da die zwei Szenen ja offenbar nicht am selben Ort spielen. Die Frage nach dem Ort kann daher prinzipiell nur für jedes Bildelement einzeln gestellt werden. Der Ort ist eingeschrieben in das einzelne Bildmotiv. Diese Eigenschaft eines Bildmotivs wird nicht von den anderen Bildmotiven im selben Bildfeld tangiert, und bleibt daher unverändert, ganz gleich in welchem Bildkontext es erscheint. Daraus folgt, dass die Orte, welche die einzelnen Landschaftselemente mit sich transportieren, sehr im Allgemeinen bleiben, und stets generischer Natur sind: Bäume wachsen per definitionem im Freien, ein Altar steht per definitionem im Heiligtum (bzw. im Falle eines Hausaltars im Haus). Bei Pflanzen mit besonderer Bindung an bestimmte Figuren, wie Efeu und Wein an Dionysos und Pinien an Kentauren, bekommen diese allgemein gehaltenen Orte dadurch ein Gesicht, dass diese Pflanzen den Ort mit den entsprechenden Figuren gemeinsam haben: Efeu und Wein wachsen in dionysischen Gefilden, und Pinien finden sich dort, wo auch Kentauren zuhause sind. Doch wird der Ort einer Pinie durch das gleichzeitige Erscheinen von Kentauren nicht präziser gefasst, da Pinien und Kentauren denselben ge-

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nerischen Ort nur wiederholen. Orte können in der attischen Vasenmalerei also nicht durch eine Zusammenstellung von Motiven individuiert werden, sondern bleiben immer generischer Natur: Entweder die verschiedenen Motive wiederholen jeweils pleonastisch denselben Ort, oder die Orte widersprechen sich, sie können sich aber nicht gegenseitig präzisieren. Ersteres ist der Fall, wenn Dionysos, Efeu und Wein im selben Bildfeld erscheinen.171 Zweiteres ist der Fall, wenn kämpfende Hopliten mit Weinreben im Bildfeld erscheinen. Die abstrakte Deduktion, nach der es in der attischen Vasenmalerei nur generische Orte gibt, bestätigt sich bei der Durchsicht des Corpus: Hedreen konnte in seinem Buch über Landschaftselemente ganze zwei belegte Beispiele von präzis angegebenen Orten zusammentragen, von denen eines sehr zweifelhaft ist,172 und ein anderes – die Helikon-Lekythos in München – weiterer Kommentare bedarf.173 Der Autor wollte damit die Möglichkeit einer Darstellung individuierter Orte belegen. Gemessen an der fünfstelligen Zahl bekannter Vasen sind zwei nicht über allen Zweifel erhabene Beispiele für die Darstellung eines bestimmten Ortes auf der (mythologischen) Landkarte eher ein Beweis des Gegenteils. Die generischen Orte, die in der attischen Vasenmalerei vorkommen, treten im Bild räumlich nicht in Erscheinung. Die räumliche Einheit, in der die Bildelemente stehen, ist das Bildfeld. Der Bildraum ist das Bildfeld, und Landschaftselemente konstituieren diesen Bildraum nicht, sondern sind selbst im Bildfeld.174 Die Landschaftselemente bilden nicht den Umraum der auftretenden Figuren, sondern stehen gegenüber dem Umraum, den das Bildfeld darstellt, auf derselben Ebene wie die Figuren. Eine Vorstellung, nach der die Landschaftselemente den Kontext für die Figuren bildeten, und die damit einhergehende apriorische Unterscheidung zwischen Figur und Kontext sind für die attische Vasenmalerei also verfehlt. Da sich die verschiedenen Motive im Bild aber natürlich dennoch gegenseitig kommentieren, ergänzen und präzisieren, muss man sagen, dass prinzipiell jedes Motiv auf dem Bildfeld jedem anderen Kontext sein kann. Die in diesem Kapitel diskutierten Eigenschaften von Landschaftselementen – ihre räumliche Begrenztheit, die nichts umfassen kann, sondern vom Bildfeld selbst umfasst wird, ihre Formbarkeit, die ihre funktionale Definition und die Anpassung an die Erfordernisse des Bildfelds und der darin agierenden Figuren ermöglicht, und schließlich ihre Mobilität, die sie im Bildfeld ebenso beweglich macht, wie jedes sonstige Mobiliar – machen sie zu Gegenständen im Bildfeld, die a priori in der Interpretation nicht anders zu behandeln sind als Stühle und Klinen. Gleichwohl lässt sich feststellen, dass Bilder oder Ikonographien, welche die Einheit des Ortes offen brechen, keineswegs häufig sind. Auch wenn die graphische Einheit des Bildfelds nicht prinzipiell eine Einheit des Ortes impliziert, bleibt letztere quantitativ gesehen die Regel. Dies

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muss nicht unbedingt verwundern, ist die Darstellung im selben Bild von Figuren und Gegenständen, die nicht demselben Ort zuzuordnen sind, doch nicht per se eine naheliegende Option. Auf diese Option greifen die Vasenmaler denn auch meist nur dann zurück, wenn es Außergewöhnliches darzustellen gilt: Dieses besondere bildnerische Mittel erlaubt es, das – unmögliche – Zusammentreffen des Besuchers am Grab mit dem Verstorbenen auf weißgrundigen Lekythen oder die spektakuläre Häufung von Heldentaten des Theseus auf Zyklus-Schalen darzustellen. Schließlich darf das Fehlen des Prinzips der Einheit des Ortes nicht zu dem Schluss verleiten, dass Orte überhaupt in der Bilderwelt der Vasen keine Rolle spielen würden. Allein die Ikonographie der Ermordung des Priamos, in der der Altar als Schauplatz für die Charakterisierung der Handlung ganz entscheidend ist, würde dies bereits widerlegen. Doch auch wenn Orte gelegentlich eine wichtige Rolle in einem Bild einnehmen können, haben sie keinerlei Auswirkungen auf die Räumlichkeit des Bildes. Die Orte in der attischen Vasenmalerei haben keine räumliche Qualität: Damit liegt ihre Bedeutung bloß mehr in der (freilich manchmal für das Verständnis des Bildes entscheidenden) Charakterisierung von Handlungen und Figuren. Exkurs: Die Interpretation des Weinstocks in einem Bild der Zurücklassung der schlafenden Ariadne auf einer Schale des Erzgießerei-Malers in Tarquinia (Abb. 75),175 mit der Hedreen den Ansatz, den er in seinem Buch über Landschaftselemente verfolgen möchte, in lobenswerter Klarheit exemplifiziert, ist aufgrund des Gesagten abzulehnen.176 Die Erklärung, die Carl Robert in seiner archäologischen Hermeneutik für die Präsenz des Weinstocks hinter der auf einem Felsen schlafenden Ariadne gegeben hatte, nach der Dionysos sein Kommen durch den Weinstock, den er dort habe wachsen lassen, ankündige, wird von Hedreen verworfen.177 Nach ihm lasse der Weinstock darauf schließen, dass der Ort, an dem Ariadne schläft, ein Weinberg sei. Dies wiederum mache die Entdeckung der Schlafenden durch den Gott wahrscheinlich, da sich dieser ja bekanntlich gern und oft in Weinbergen aufhalte. Das Landschaftselement mache also verständlich, warum die dargestellte Erzählung den Fortgang nehme, den sie nimmt. Dem Autor geht es in seinem Buch in erster Linie um ebendiese Eigenschaft von Landschaftselementen, wie er unmittelbar zu Beginn des Buches schreibt: „The most important argument in this book, however, is that setting often provides information that helps to explain why stories turn out the way that they do.“178 Wie wir jedoch gesehen haben, vereinnahmen Landschaftselemente nicht den Raum, in dem sie auftreten, weswegen der Weinstock nicht darauf schließen lassen kann, dass sich das Geschehen in einem Weinberg abspiele. Während der Weinstock also nicht unbedingt in Verbindung mit einem Weinberg stehen muss, hängt ihm die Verbindung zum Weingott immer an. Was ist also naheliegender, als den Weinstock, wie Robert, als einen Hinweis auf das nahe Kommen des Dionysos zu sehen? Die Frage, ob ein Weinstock schon einen Weinberg ausmacht, und die noch grundsätzlichere Frage, ob Landschaftselemente überhaupt den Ort einer Handlung darstellen, wird von Hedreen allerdings nicht gestellt, sondern eine bejahende Antwort wird stillschweigend vorausgesetzt. Damit stehen alle folgenden Ausführungen in dem Buch unter einem Vorbehalt. Wie fraglich diese Voraussetzung ist, hat sich in diesem Kapitel gezeigt.

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99 Abb. 75 Theseus verlässt die schlafende Ariadne. Ein Weinstock und der Eros, welcher Ariadne bekränzt, verweisen auf das baldige Kommen des Dionysos. Schale des Erzgießerei-Malers, Tarquinia, Mus. Nazionale, um 480

An der Schale in Tarquinia lässt sich außerdem unmittelbar erkennen, dass gemäß der oben gemachten Feststellung Landschaftselemente nicht allgemein als Kontext angesehen werden können: Kontext ist der Weinstock nämlich nur für die Figur der schlafenden Ariadne, da zwar die Handlung des sie krönenden Eros im Kontext des nahenden Dionysos steht, nicht aber das Wegschleichen von Theseus und Hermes, die ganz andere Dinge umtreiben. Umgekehrt bildet die schlafende Ariadne aber auch den Kontext, in dem der Weinstock die konkrete Bedeutung als Vorbote des nahenden Dionysos erst bekommt, und ohne den er nichts weiter als ein Weinstock wäre, und dessen Verbindung zu Dionysos nur eine allgemeine Eigenschaft.

Einige wenige außergewöhnliche Vasenbilder, die immer wieder zitiert werden, wenn es um die Raumwiedergabe in der griechischen Kunst geht, scheinen nun aber die vorangegangenen Ausführungen zu widerlegen. Es handelt sich um spätarchaische und frühklassische Vasenbilder, die sich durch eine räumlich kohärente Wiedergabe von größeren architektonischen Strukturen auszeichnen.179 Unter diesen ist eine Hydria der Leagros-Gruppe in München mit der Ermordung des Troilos vor den Mauern von Troja, deren Brustwehr auf dem Schulterbild dargestellt ist (Abb. 76).180 Einige der Figuren auf dem Schulterbild nehmen in ihren Handlungen Bezug auf das Geschehen auf dem Hauptbild: Drei Frauen und ein Greis machen Trauergesten, und ein Bogenschütze ist dabei, einen Pfeil zu schießen.181 Wenn auch das Landschaftselement in diesem Fall eine Architektur ist, gilt für dieses, was man sonst immer vermisst: Es ist von der Mauer Trojas nur ein kleiner Abschnitt dargestellt, weswegen die Mauer auf dem Bildfeld kein begrenztes, räumlich abgeschlossenes Gebilde ist. Sie steht auch nicht parataktisch neben anderen Gegenständen im Bildraum, sondern ist räumlich von einer anderen Ordnung als die Einzelmotive auf dem Bildfeld, da sie die Anordnung der Figuren bestimmt – manche auf der Mauer, manche am Fuße der Mauer –, und damit selbst den Bildraum strukturiert. Doch erweist sich diese Hydria als Ausnahme, die die Regel bestätigt, wenn man sich vergegenwärtigt, dass dieser von einer Architektur

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Abb. 76 Achill ermordert Troilos am Altar. Auf der Gefäßschulter sind Trojaner dargestellt, die das Geschehen von der Brustwehr der Stadtmauer her beobachten. Hydria der Leagros-Gruppe, München, Antikensammlung, um 510

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bestimmte Bildraum exakt auf die übereinanderliegenden Bildfelder der Hydria aufgespannt ist. Auch hier ist der Bildraum also gleichbedeutend mit dem Bildfeld. Dass die außergewöhnlichen Eigenschaften dieser Architektur nur möglich wurden, weil sie auf die festgelegte Bildfeldstruktur einer Hydria diesen Typs aufgespannt ist, zeigt sich an dem Innenbild einer Schale des Kleomelos-Malers im Getty-Museum, wo sich zwei Hopliten auf einer Mauerbrüstung eines Angriffs durch zwei Hopliten am Fuße der Mauer erwehren (Abb. 77).182 Auch hier interagieren Figuren über eine Mauer hinweg, doch ist diese Mauer ein abgeschlossenes Gebilde, dessen Grenzen links und rechts zu sehen sind, und das daher ganz im Bildfeld enthalten ist. Die Breite von nur drei Zinnen ist gerade ausreichend, um die beiden Hopliten zwischen die Zinnen zu plazieren, womit

Abb. 77 Zwei Krieger auf einer Mauerbrüstung erwehren sich des Angriffs zweier Krieger am Fuße der Mauer. Schale des Kleomelos-Malers, Malibu, J. Paul GettyMus., um 500

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Abb. 78 Frauen im Brunnenhaus. An den oberen Bildfeldabschluss schließt ein von Säulen getragenes Gebälk an, das den ‚Bildfeldkasten‘ zum Brunnenhaus werden lässt. Hydria des A D-Malers, Würzburg, Martin von Wagner Mus., 510–500

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auf diese Mauer die ökonomische Zweckmäßigkeit der Form zutrifft, die auch für Felsen beobachtet wurde. Die Mauer dient hier also lediglich der Darstellung eines Hoplitenkampfes besonderer Art, und bleibt formal und zweckmäßig an die zwischen den Zinnen kämpfenden Hopliten gebunden.183 Es gibt keine weiteren Beispiele für eine Zusammenfügung zweier Bildfelder zu einem derartigen komplexen Bildraum. Eine architekturale Fassung des Bildfelds in weniger spektakulärer Form ist dagegen ziemlich häufig zu beobachten. Auf einer schwarzfigurigen Hydria um 510–500 in Würzburg mit fünf Frauen beim Wasserholen und Schmücken der Wasserspeier mit Tänien schließt an den oberen Abschluss des Bildfelds ein Gebälk mit Metopen-Triglyphen-Fries an, das auf drei dorischen Säulen lastet (Abb. 78).184 Zwei Wasserspeier erscheinen zwischen den Säulen, und zwei weitere, im Profil gesehene Wasserspeier sind seitlich am linken und rechten Bildrand angebracht. Das obere Ende des Bildfelds ist hier folglich als säulengestützte Decke und die seitlichen Begrenzungen sind als Seitenwände eines Brunnenhauses definiert. Wenn sich die Frauen auf diesem Bild also wahrhaftig im Brunnenhaus befinden, und eine Architektur somit den Umraum der Figuren bildet, bleibt nicht weniger der Bildraum mit dem Bildfeld identisch: Die Figuren bewegen sich im selben

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103 Abb. 79 Frauen beim Wasserholen. Anstelle einer Architektur sind um den Bildfeldrand hier Felsen gelegt, welche den ‚Bildfeldkasten‘ zur Höhle machen. Hydria, London, Kunsthandel, um 500

‚Kasten‘,185 ob dieser nun ein Brunnenhaus oder ein bloßes Bildfeld ist.186 Der ‚Kasten‘ des Bildfelds kann auch anders eingekleidet werden, wie man es auf einer schwarzfigurigen Kalpis mit wasserholenden Frauen aus dem Londoner Kunstmarkt sieht.187 Hier ist der ‚Kasten‘ des Bildfelds an den drei oberen Seiten mit einem welligen Umriss versehen, der an den Ecken abgerundet ist, wodurch das Bildfeld zur Höhle wird (Abb. 79).188 Rohrförmige Wasserspeier sorgen dafür, dass diese Brunnenhöhle ihren Zweck ebenso erfüllt wie gewöhnliche Brunnenhäuser. Einen analogen Fall, wo das Bildfeld zur Höhle wird, stellt übrigens auch das Bild der badenden Mädchen auf der Amphora des Priamos-Malers in der Villa Giulia dar (Abb. 20).189 Der obere Abschluss des Bildfelds kann aber auch dann wie eine Decke von Säulen abgestützt werden, wenn diese Architektur mit dem Dargestellten nicht unmittelbar etwas zu tun hat, oder zumindest nicht als der Raum aufgefasst werden kann, in dem sich die Figuren befinden. Auf einer Lekythos des Gela-Malers in Palermo stehen Pholos und ein weite-

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Abb. 80 Pholos und ein weiterer Kentaur um den Weinpithos. Säulen ‚tragen‘ den oberen Bildfeldabschluss, wiewohl die Szene in einer Höhle zu verorten wäre. Lekythos des Gela-Malers, Palermo, Collezione Mormino, Anfang 5. Jh.

Bildinterne Untersuchung

rer Kentaur um den Weinpithos (Abb. 80).190 Der obere Abschluss des Bildfelds ist von vier Säulen ‚getragen‘, und wird dadurch zum Gebälk/zur Decke. Auch hier ist das Bildfeld also ein gebauter Raum, doch hat dieser Raum nichts mit dem Ort zu tun, wo sich der Weinpithos befindet, da die Behausung des Pholos natürlich als eine Höhle zu denken ist. Die Vergegenständlichung der Bildfeldbegrenzung – hier wird sie zur von Säulen getragenen Decke – bezeichnet also nicht automatisch den Ort, an dem sich die dargestellten Figuren befinden. Dies hat sie mit den Landschaftselementen gemeinsam, da diese ja auch nicht als Ortsangabe der dargestellten Handlung gelesen werden können. Auf der Lekythos des GelaMalers gehören die Säulen, die das Bildfeld zum gebauten Raum machen, zur Architektur der Vase.191 Das beste Beispiel für die räumlich kohärente Darstellung einer architektonischen Struktur, die den Interaktionsraum der Figuren bildet, ist wohl die Schale des Erzgießerei-Malers in Boston mit der Verfolgung des Hektor um die Mauern von Troja (Abb. 81).192 Durch eine Zinnenreihe, die knapp unter der Gefäßlippe rund um die Schale geführt ist, wird die Schalenwand selbst zum Mauerkranz, und Achill verfolgt Hektor tatsächlich um Troja herum.193 Die Identität von Bildfeld und Bildraum könnte konkreter nicht sein: Die Schalenwand, die das Bildfeld zur Verfügung stellt, ist gleichzeitig die Mauer, um die herum sich Achill und Hektor verfolgen.194 Der Gegenstandscharakter der Landschaftselemente trifft auf diese Architekturdarstellung in besonderem Maße zu: Die Schale selbst ist der – übrigens vollkommen mobile – Gegenstand.195

Der Gegenstandscharakter der Landschaftselemente

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Abb. 81 Achill verfolgt Hektor um die Mauern von Troja. Priamos und Hekabe beobachten das Geschehen durch das offene Stadttor. Schale des Erzgießerei-Malers, Boston, Mus. of Fine Arts, 490–480

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Bildinterne Untersuchung

Boden und Himmel/ Grundlinie und Bildfeld

Boden und Himmel sind in der neuzeitlichen Landschaftsmalerei ein primäres Mittel räumlicher Gliederung: Sie unterscheiden einen menschlichen Bereich, wo sich die Figuren befinden können, und einen übermenschlichen Bereich, wo sie sich nicht mehr befinden können (außer es handelt sich um Engel o. Ä. …). Zudem definieren sie aber auch die Tiefe des Raumes, indem die Linie, wo sich Boden und Himmel berühren – der Horizont –, die unendliche Weite auf dem Bild sichtbar macht. Die Nähe eines Punktes auf der Bildfläche zu dieser Linie wiederum definiert seine Entfernung vom Betrachterpunkt. Auf diese Weise wird ein Übereinander auf der Bildfläche zu einem Hintereinander im fiktiven Bildraum – wobei das Verhältnis von Oben und Unten in Bezug auf die Entfernung im Himmelsbereich des Bildes umgekehrt ist.1 Nun ist es natürlich kein Geheimnis, dass es einen perspektivischen Raum in dieser Form in der attischen Vasenmalerei nicht gibt, und es wäre überflüssig, das nochmals zeigen zu wollen. Vielmehr soll in dieser Arbeit ja konkret danach gefragt werden, welche Alternativen zu den uns vertrauten Kategorien in der attischen Vasenmalerei zu finden sind. Wenn Figuren in neuzeitlichen Landschaften nun auf dem Boden stehen, so tun sie dies in der attischen Vasenmalerei auf der Grundlinie, und wenn Vögel durch den Himmel fliegen, erscheinen sie auf attischen Vasen im Bildfeld. Der Frage nach dem Verhältnis von Figur und Landschaft in der neuzeitlichen Malerei entspricht für die attische Vasenmalerei die Frage nach dem Verhältnis von Figur und Bildfeld. Daher möchte ich im Folgenden nicht primär im Corpus der Vasenbilder nach Darstellungen des Bodens und des Himmels suchen und mich nicht ausschließlich für die Bilder interessieren, wo die Grundlinie ggf. wirklich Boden und das Bildfeld wirklich Himmel meint, sondern allgemein danach fragen, was Grundlinie und Bildfeld sind, inwieweit sie den Bildern Struktur verleihen, und von welcher Art diese Struktur ist. Diese Fragen schließen unmittelbar an das Ende des vorhergehenden Kapitels an, insofern dort vorgeschlagen wurde, den Begriff des Ortes als

Boden und Himmel/Grundlinie und Bildfeld

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allen Bildelementen gemeinsame räumliche Einheit durch das Bildfeld zu ersetzen. Die Begriffe „Grundlinie“ und „Bildfeld“ sind im bisherigen Verlauf der Arbeit sehr häufig aufgetaucht. Dies hatte den Zweck, die Begriffe „Boden“ und „Himmel“ (bzw. „Luft“) nicht unreflektiert einzuführen. Wenn „Boden“ und „Himmel“ zuviel sagen, sind „Grundlinie“ und „Bildfeld“ dafür bisher inhaltlich gänzlich leer geblieben. Die Worthülsen „Grundlinie“ und „Bildfeld“ sollen im folgenden also inhaltlich gefüllt werden. Natürlich betreffen Grundlinie und Bildfeld nicht bloß Landschaftselemente, sondern alle Bildelemente, weswegen deren Diskussion prinzipiell anhand jeder Motivgruppe geführt werden könnte. Wenn die Untersuchung hier größtenteils anhand von Landschaftselementen geführt werden wird, geschieht dies natürlich zuvorderst wegen des Themas dieser Arbeit. Es wird sich aber auch zeigen, dass Landschaftselemente in einem besonders engen Verhältnis zu Grundlinie und Bildfeld stehen, und dass sich diese Motivgruppe daher mehr als andere zu einer solchen Diskussion eignet.

Grundlinie und Bildfeld: keine Selbstverständlichkeiten Dass die räumliche Einheit, der die Bildelemente angehören, das Bildfeld sei, scheint auf den ersten Blick ein mageres Ergebnis der im letzten Kapitel geführten Diskussion. Man möchte glauben, dass damit eher der kleinste gemeinsame Nenner einer jeden Bildtradition gefunden wurde als ein Spezifikum attischer Vasenmalerei. Ein kurzer Seitensprung zu einigen spätmykenischen und geometrischen Vasen soll uns eines Besseren belehren. Auf einem fragmentierten Krater aus Tiryns aus der Zeit um 12002 sind auf dem größten zusammenhängenden Stück ein Streitwagen, ein laufender Hund und zwei stehende Krieger zu sehen (Abb. 82).3 Am unteren Ende des Fragments verlaufen drei breite horizontale Streifen, wie sie auf Krateren diesen Typs üblicherweise zu finden sind, und die man sich das gesamte Gefäß umlaufend vorzustellen hat. Anstatt als Standlinie zu dienen, werden diese zur Gliederung des Vasenkörpers gehörenden Streifen von den figürlichen Motiven übermalt und stehen so ganz ohne Beziehung zum figürlichen Dekor: Die Vorderbeine des Pferdes reichen hinab bis zum untersten Streifen, die der Krieger bis zum mittleren und die des Hundes bis zum obersten Streifen. Diese merkwürdige Unverbundenheit des figürlichen Dekors und der horizontalen Streifengliederung der Gefäße lässt sich in der figurativen mykenischen Vasenmalerei anhand des Bildmotivs des Streitwagens über die Jahrhunderte und die unterschiedlichen Landschaftsstile hinweg beobachten.4 Die Zone zwischen den besagten horizontalen Streifen und dem Gefäßhals, bzw. der Gefäßlippe, ist

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Bildinterne Untersuchung

Abb. 82 Zwei Krieger vor einem Streitwagen. Fragment eines mykenischen Kraters, Athen, Nationalmuseum, um 1200

zwar der Bereich, in dem sich die figürlichen Darstellungen hauptsächlich ausbreiten, doch je nach Größe überqueren Formen sowohl unten als auch oben5 die vermeintliche Friesbegrenzung.6 Da nicht definiert ist, wo dieses aufhören würde, stellt der von den horizontalen Streifen delimitierte Bereich also kein Bildfeld dar, ebensowenig wie die unteren Streifen eine Standlinie bilden. Die Figuren stehen aber nicht nur in keinem definierten Verhältnis zu der Streifengliederung der Vase, es gibt nicht einmal eine ‚gedachte‘ Standlinie,7 da auf unserem Beispiel die Beine der Krieger, des Pferdes und des Hundes auf je verschiedener Höhe enden. Die Füße des hinteren Kriegers stehen sogar untereinander auf verschiedener Höhe. Die scheinbar so selbstverständliche Aussage, dass die räumliche Einheit, der die Bildelemente angehören, das Bildfeld – das zuvorderst durch eine Standlinie definiert ist – sei, hat also keine allgemeine Geltung für die mykenische Vasenmalerei. Das Fehlen einer (geschweige denn einheitlichen) Standlinie mag erklären, warum auf dem berühmten Krater aus Enkomi („Zeus mit der Schicksalswaage“) ein Pferdewagen, zwei menschliche Figuren, ein weiteres Pferd und zwei Bäume über die gesamte Höhe des Vasenkörpers verteilt sind (Abb. 83).8 In der spätgeometrischen Vasenmalerei stellt sich das Verhältnis der Figuren zu der Fries- und Kästchengliederung der Vase ganz anders dar. Auf dem Ekphorabild des sog. Hirschfeld-Kraters im Athener Nationalmuseum sind die klagenden Figuren auf zwei Ebenen um den Leichenwagen angeordnet (Abb. 84).9 Die Figuren der oberen Reihe der Trauernden zu beiden Seiten des Wagens ‚schweben‘ allerdings nicht einfach über den Köpfen ihrer Mittrauernden der unteren Reihe, sondern stehen je auf

Boden und Himmel/Grundlinie und Bildfeld

109 Abb. 83 Thema unklar. Ein Pferdewagen, zwei menschliche Figuren und ein weiteres Pferd sind über die gesamte Höhe des Vasenkörpers verteilt. Mykenischer Krater, Nikosia, Cyprus Mus., späthelladisch III A

einer doppelten Linie, die auf der rechten Seite durch eine vertikale Fortführung zum Gefäßhals hin zu einem Kästchen erweitert ist. Die doppelten Linien entsprechen keinem der durchgehenden horizontalen Streifen der Vasengliederung und wurden offenbar eigens für die Figuren des oberen Registers gezeichnet, weswegen sie uneingeschränkt als Standlinien zu bezeichnen sind. Was die untere Reihe der Trauernden betrifft, stehen die Figuren trotz der ungleichen Höhe des verfügbaren Platzes auf verschiedenen Abschnitten des Frieses alle auf derselben Linie. Dies führt zu merklichen Größenunterschieden zwischen den Trauernden, je nachdem in welchem Abschnitt des Frieses sie stehen. Der Maler nimmt die Größenunterschiede von Menschen, die ‚eigentlich‘ gleichgroß sind, in Kauf, statt seine Figuren über die friesbegrenzenden Linien überstehen zu lassen. Es gilt hier also die umgekehrte Priorität als auf dem besprochenen spätmykenischen Kraterfragment, wo die ‚zu großen‘ Krieger die vermeintliche Friesbegrenzung bis zum mittleren und das Pferd – seinem noch größeren Körper entsprechend – bis zum untersten der drei horizontalen Streifen überschreiten. Dass Figuren auf einer Standlinie zu stehen hätten, ist aber keine unbedingte Regel: Auf dem umlaufenden Wagenfries unterhalb des Ekphorabildes ist zwischen einem der Wägen und den Pferden des dahinter anschließenden Wagens ein Krieger ‚schwebend‘ in den Zwischenraum eingefügt.10 Auf dem Prothesisbild eines Kraters des Diyplon-Malers im Louvre, wo ebenfalls eine obere Reihe von Trauernden in eigens dafür gemalte Kästchen zu den Seiten der Bahre eingefügt ist, sind die Flächen,

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Bildinterne Untersuchung

Abb. 84 Ekphora. Die klagenden Figuren sind auf zwei Ebenen um den Leichenwagen verteilt, wobei die obere Reihe von Klagenden eigens eine Standlinie erhalten hat. Attisch-Spätgeometrischer Krater des Hirschfeld-Malers (sog. „Hirschfeldkrater“), Athen, Nationalmuseum, 2. Hälfte 8. Jh.

Boden und Himmel/Grundlinie und Bildfeld

111 Abb. 85 Ekphora. Auch hier stehen die klagenden Figuren auf zwei Ebenen um den Leichenwagen. Die Figuren der oberen Ebene müssen allerdings ohne Standlinie auskommen. Attisch-spätgeometrischer Krater, Paris, Louvre, 2. Hälfte 8. Jh.

die zwischen der Totenkline und den links und rechts anschließenden Pferdewägen geblieben sind, jeweils durch vier in Zweierpaaren übereinander stehende Trauernde gefüllt, ohne dass dafür zusätzliche Standlinien dargestellt worden wären (Abb. 85).11 Die Regel gilt auch nur für menschliche Figuren und Pferde, für andere Lebewesen dagegen nur sehr bedingt.12 Schließlich sind Ausnahmen auf Vasen von nicht-attischer Produktion häufiger.13 Die Bedeutung, welche die Standlinie und das Stehen auf der Standlinie in der figürlichen geometrischen Vasenmalerei bekommt, wird aber insbesondere auf Kampfbildern deutlich, wo die Unterscheidung von Figuren, die auf der Grundlinie stehen, und solchen, die ohne Berührung mit der Grundlinie ‚schweben‘ eine semantische Dimension bekommt. Auf einem Kraterfragment der Dipylon-Gruppe im Louvre ist zu beiden Seiten einer Gruppe von kämpfenden Kriegern die Höhe des Frieses mit übereinander liegenden Gefallenen aufgefüllt, die in Absetzung von ihren (noch) kräftigen Kameraden die Grundlinie nicht berühren, bzw. nicht auf ihr aufliegen (Abb. 86).14 Auf einem anderen Krater desselben Malers im Louvre ist der Bildfries zu Seiten eines Kriegsschiffes mit horizontal ‚schwebenden‘ Figuren, die hier als Ertrunkene oder sonstwie zu Tode gekommene zu verstehen sind, bis oben angefüllt (Abb. 87).15 Keinen Kontakt mehr zur Grundlinie haben auch die Figuren, die sich in der misslichen Lage befinden, von zwei Löwen zerrissen zu werden, wie es ein öfters wiederkehrender geometrischer Bildtypus zeigt.16 Schließlich ist das ‚Schweben‘ der Figuren auch für die Gruppe der Schiffskatastrophenbilder charakteristisch, wie man es z.B. auf einer attischen Oinochoe in München sehen kann (Abb. 88).17 Die Schiffsbrüchigen liegen buchstäb-

112 Abb. 86 Krieger im Kampf, umgeben von Gefallenen. Attisch-spätgeometrisches Kraterfragment der DipylonGruppe, Paris, Louvre, 2. Hälfte 8. Jh.

Abb. 87 Kampf auf einem Kriegsschiff. Links davon Gefallene/Ertrunkene. Attisch-spätgeometrisches Kraterfragment der DipylonGruppe, Paris, Louvre, 2. Hälfte 8. Jh.

Bildinterne Untersuchung

Boden und Himmel/Grundlinie und Bildfeld

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lich kreuz und quer um das gekenterte Schiff herum, das zwar in der Horizontale verblieben ist, bei dem jedoch oben und unten vertauscht sind. Lediglich einer, der sich retten konnte und auf dem Kiel des Schiffes sitzt, hält seinen Körper noch in der Vertikale. Was über das Fehlen einer Grundlinie/eines Bildfelds in der mykenischen Vasenmalerei, den Gebrauch von Standlinien in der attisch-geometrischen Vasenmalerei und die Bedeutung des Stehens auf einer Standlinie gegenüber seinem Gegenteil gesagt wurde, verdient selbstverständlich eine viel eingehendere und differenziertere Untersuchung, die ich hier nicht liefern kann. Die Bemerkungen zu mykenischen und geometrischen Vasen in diesem kleinen Vorspann sollen auch nicht als Vorgeschichte dessen aufgefasst werden, was in diesem Kapitel behandelt werden wird. Von der mykenischen bis zur attisch-schwarzfigurigen Vasenmalerei eine progressive Entwicklung von Standlinie und Bildfeld ermitteln zu wollen, scheint zwar verlockend, verbietet sich aber schon aufgrund des offensichtlichen Traditionsbruchs der sog. Dunklen Jahrhunderte.18 Es ging mir vielmehr darum, die Spezifizität der attisch schwarz- und rotfigurigen Vasenmalerei bezüglich Grundlinie und Bildfeld zu erweisen.

Abb. 88 Ertrunkene um ein gekentertes Schiff. Attisch-spätgeometrische Oinochoe, München, Antikensammlung, 2. Hälfte 8. Jh.

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Bildinterne Untersuchung

Abb. 89 Ein Symposiast übergibt sich in ein großes Becken. Schale des DokimasiaMalers, Berlin, Antikensammlung, um 490

Die Polyvalenz von Grundlinie und Bildfeld19 Die Antwort auf die Frage, was Grundlinie und Bildfeld sind, kann grundsätzlich in zwei Richtungen gehen: Man kann sie bildextern als Teil des weitgehend typisierten Dekorationsschemas der entsprechenden Vasen ansehen. Man kann aber auch bildintern auf die Frage antworten, worauf eine Figur steht, wenn sie auf der Grundlinie steht, bzw. wo ein Bildelement erscheint, wenn es im Bildfeld erscheint. Beide Antworten schließen sich nicht aus, sondern sind vielmehr beide notwendig, um dem Doppelcharakter von Grundlinie und Bildfeld gerecht zu werden. Das lässt sich am besten anhand von Schaleninnenbildern zeigen: Im Inneren einer Schale des Dokimasia-Malers in Berlin ist ein Pais einem Symposiasten dabei behilflich, sich in ein großes Becken zu übergeben (Abb. 89).20 Das Mäanderband, welches das Medaillon umgibt, dient dem Symposiasten dabei als Standlinie. Durch die Rundung des Mäanderbands ist der Grund, auf dem der spuckende Zecher steht, abschüssig. Sein Körper reagiert auf die Schräge des ‚Bodens‘ anatomisch folgerichtig, indem das hintere Spielbein, das auf einem höher gelegenen Punkt abgesetzt ist, am

Boden und Himmel/Grundlinie und Bildfeld

115 Abb. 90 Achill legt seinem Freund Patroklos einen Verband an. Schale des SosiasMalers, Berlin, Antikensammlung, um 500

Knie deutlich angewinkelt ist. Für den Symposiasten ist das kreisrunde Mäanderband also tatsächlich der Fußboden des Andron. Der steinerne Sockel, auf dem das Becken steht, der nicht dieselbe Fähigkeit besitzt, sich an die ‚Unebenheiten‘ des Bodens anzupassen, wird dagegen von dem Mäanderband überschnitten. Für diesen ist das Mäanderband also nicht der Fußboden, sondern lediglich ein bildexternes Begrenzungsband. Für unterschiedliche Elemente desselben Bildes besitzt das Mäanderband mal eine konkrete (bildinterne) Bedeutung, mal ist es ein (bildexterner) Teil der Vasendekoration.21 In etwas anderer Form erweist sich der Doppelcharakter des einfachen Begrenzungsstreifens im Innenbild der Schale des Sosias-Malers in Berlin mit Patroklos, der von Achill verarztet wird (Abb. 90).22 Hier ist der Grund, auf dem die Figuren hocken, durch einen horizontalen Balken begradigt. Der Begrenzungskreis nimmt hier also nicht die Funktion einer Standlinie ein. Dennoch hat er eine bildinterne Existenz, da der vor Schmerz sich krümmende Patroklos seinen linken Fuß dagegen drückt.23 Vasen, die den bildinternen und bildexternen Doppelcharakter der Bildfeldbegrenzung offenbar werden lassen, finden sich wie Sand am Meer. Ein klassischer Fall sind die an der seitlichen Begren-

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Bildinterne Untersuchung

Abb. 91 Ajax und Achill beim Brettspiel. Amphora des Exekias, Vatikan, Mus. Gregoriano Etrusco, um 540

Boden und Himmel/Grundlinie und Bildfeld

117 Abb. 92 Herakles beim Gelage, vom Kentauren Pholos bedient. Amphora, Florenz, Mus. Archeologico, um 520–510

zung angelehnten Schilde und Waffen auf Bildfeldamphoren, wie man sie etwa auf der berühmten Exekiasamphora im Vatikan mit Achill und Ajax beim Brettspiel sieht (Abb. 91).24 Ein weiterer klassischer Fall sind Waffen und Kleider von Helden, die an der oberen Bildfeldbegrenzung hängen. Auf einer schwarzfigurigen Bauchamphora um 520–510 in Florenz hängen das Schwert, der Bogen und der Köcher des bei Pholos lagernden Herakles an der Linie, die das Lotus-Palmetten-Band vom Bildfeld trennt (Abb. 92).25 Zudem ist das Löwenfell über die ‚Stange‘ geworfen, zu der diese zur Bildfeldbegrenzung gehörende Linie gemacht wird.26 Für das Verständnis dieses Phänomens ist jedoch entscheidend, dass der bildinterne Charakter der Bildfeldbegrenzung nicht unbedingt mit einer gegenständlichen Bedeutung einhergehen muss, sie eine solche vielmehr nur in besonderen Fällen besitzt, die unter „Figurative Bildfeldbegrenzung“ behandelt werden sollen. Dies lässt sich an den beiden genannten Schaleninnenbildern ersehen: Wiewohl der spuckende Symposiast auf einem abschüssigen Grund steht, ist damit nicht gemeint, dass der Fußboden des Andron, in dem sich diese Szene abspielt, gewölbt wäre. Ebensowenig kann auf der Sosiasschale gemeint sein, dass die beiden Helden in einem Raum von der Form eines Tondos eingeschlossen sind, obwohl der Tondorand, gegen den Patroklos seinen Fuß stemmt, diesem Druck standhält. Genauso absurd wäre es, sich die brettspielenden Achill und Ajax in einem Kasten sitzend vorzustellen, gegen dessen Wände ihre

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Bildinterne Untersuchung

Schilde lehnen. Auch eine Stange über dem lagernden Herakles ergibt keinen Sinn. Stange ist die Linie, an der die Waffen des Herakles hängen, nur für ebendiese Waffen, Wände sind die seitlichen Begrenzungen nur für die angelehnten Schilde und Boden ist das Tondobegrenzungsband nur für die Füße, die darauf stehen. Solche gegenständlichen Interpretationen tragen jedoch zum Gesamtverständnis der entsprechenden Bilder nichts bei. Wie gleichgültig in einem Bild wie den Brettspielern im Vatikan die Frage ist, was das, woran die Schilde lehnen, eigentlich darstelle, zeigt sich an einem Bild selben Themas auf einer Amphora der Leagros-Gruppe in München (Abb. 93).27 Zu beiden Seiten der brettspielenden Helden ist je ein Schild, auf dem ein Helm sitzt, angelehnt. Während der rechte Schild wirklich an der seitlichen Begrenzung angelehnt ist, lehnt der linke Schild ohne ersichtlichen Grund in einigem Abstand zum seitlichen Begrenzungsband ‚in der Luft‘. Schilde, die zwar offensichtlich an etwas lehnen, obgleich dieses etwas gar nicht dargestellt ist, sind häufig zu finden, wie etwa auch auf der Amphora des Euthymides mit der Bewaffnung des Hektor in München (Abb. 94).28 Viel zahlreicher noch als frei im Bildfeld angelehnte Schilde sind allerdings frei im Bildfeld hängende Gegenstände, wie Waffen und Gewänder von Helden, Sportgerät, Schwämme und Strigileis von Athleten oder Trinkgefäße und Musikinstrumente in Symposionsbildern. Im Innenbild einer Theseuszyklus-Schale des DokimasiaMalers in Florenz erscheint in einem Freiraum neben Theseus und dem Minotauros ein Reisehut (Abb. 95).29 Wie und woran der Hut an dieser Stelle fixiert ist, ist nicht dargestellt. Dass er aber dort hängt und nicht schwebt wie im schwerelosen Raum, wird dadurch deutlich gemacht, dass von ihm Schnüre vertikal herabhängen. Die diversen Gegenstände, die auf den Außenseiten einer Schale im Athener Nationalmuseum mit den Kämpfen zwischen Herakles und Antaios und zwischen Theseus und Prokrustes erscheinen, respektive ein Gewand, die Keule, Bogen und Köcher, sowie auf der anderen Seite ein weiteres Gewand, ein Schwert und ein Reisehut, sind mit Ausnahme der Keule, die am Schalenhenkel lehnt, ebenfalls alle als hängend wiedergegeben (Abb. 96).30 Das Band, mit dem Bogen und Köcher zusammengebunden sind, bildet eine Schlaufe, ohne dass ein Nagel, ein Ast oder sonst etwas, an dem diese aufgehängt wäre, zu sehen wäre. Bezeichnend dafür, dass hier dennoch ein Hängen gemeint ist, ist aber die Neigung des Köchers in einem Winkel, der bewirkt, dass der zu denkende Masseschwerpunkt wahrhaftig unterhalb dieser Schlaufe zu liegen scheint. Dasselbe gilt für das Schwert auf der anderen Gefäßseite, das ebenfalls an einer ‚leeren‘ Schlaufe aufgehängt ist, entsprechend geneigt ist, und von dem außerdem Schnüre vertikal herabhängen. Besondere Aufmerksamkeit widmet der Maler hier jedoch dem Hängen der Gewänder, die hier wie auf vielen anderen Beispielen zu einem eigenen

Boden und Himmel/Grundlinie und Bildfeld

119 Abb. 93 Ajax und Achill beim Brettspiel. Der linke Schild lehnt ‚in der Luft‘. Amphora der LeagrosGruppe, München, Antikensammlung, um 510–500

Abb. 94 Bewaffnung des Hektor. Auch hier lehnt der Schild ‚in der Luft‘. Amphora des Euthymides, München, Antikensammlung, 510–500

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Bildinterne Untersuchung

Abb. 95 Theseus tötet den Minotauros. Schale des Dokimasia-Malers, Florenz, Mus. Archeologico, um 480 (Außenseiten: Abb. 346)

ästhetischen Blickfang werden. Wiederum bleibt aber völlig offen, woran diese eigentlich hängen. Während hängende Trinkschalen in Symposionsbildern problemlos als an der Wand hängend verstanden werden können – was durch gelegentlich dargestellte Nägel, an denen sie aufgehängt sind, bestätigt wird – ergibt auf der Athener Schale eine Wand hinter Theseus und Prokrustes, an der Gewand, Schwert und Reisehut wie an einer Garderobe aufgehängt wären, keinen Sinn. Warum wäre das Bett des Prokrustes als roh belassener Felsen dargestellt, wenn dieses in einem gebauten Raum mit Wänden und einer Decke stünde? Ebensowenig Sinn ergibt für die dargestellten Figuren und deren Handlung jedoch der Vasenhenkel, an dem die Keule des Herakles lehnt. Wenn ein Gegenstand am Schalenhenkel lehnen kann, ohne dass dadurch gezwungenermaßen diesem Henkel als Henkel eine irgendwie geartete Bedeutung im Bild eingeräumt werden müsste, warum sollten dann nicht auch Gegenstände an der Schalenwand hängen, ohne dass diese Wand als Wand damit weitere Bedeutung für die Figuren des Bildes bekäme? Ob man der Interpretation, dass im Bildfeld hängende Gegenstände grundsätzlich als an der Vasenwand hängend anzusehen sind,31 folgen möchte oder aber sie für zu manieristisch halten möchte, ist nicht von so großer Bedeutung: Die Maler scheint es ja auch nicht interessiert zu haben, woran ein angelehnter oder aufgehängter Gegenstand lehnt, bzw. hängt. Wichtiger scheint mir, den Grund für diese Gleichgültigkeit der Maler zu benennen. Da die räumlichen Begebenheiten, an die

Boden und Himmel/Grundlinie und Bildfeld

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sich Figuren und sonstige Bildelemente anzupassen haben, durch die Form des Bildfelds gegeben sind, und dieses wiederum vom allgemeinen Dekorationssystem der entsprechenden Vasenform abhängt, haben diese räumlichen Begebenheiten grundsätzlich keine gegenständliche Bedeutung. Das Bildfeld und seine Begrenzung haben demnach zwar eine bildinterne Qualität, insofern als Figuren und Gegenstände physisch danach ausgerichtet sind, haben aber nicht von vorneherein auch eine ikonographische Bedeutung. Angesichts dieses grundsätzlichen Fehlens einer ikonographischen Bedeutung des Raumes,32 ist es nur folgerichtig, dass sich die Maler nicht über die Maßen damit plagen, den räumlichen Zusammenhängen im Bild – beispielsweise dass ein Gewand frei im Bildfeld hängt, oder dass ein Symposiast auf einem gerundeten Grund steht – einen figurativen Sinn zu verleihen, was andererseits den Betrachter von der unbedingten Aufgabe entbindet, diesen räumlichen Zusammenhängen einen figurativen Sinn abzugewinnen.33 Ein Eselskopfrhyton in der Art des Sotades-Malers, in dessen Bildfeld die zwei Ohren des Esels je vertikal einschneiden, kann das Gesagte noch-

Abb. 96 Theseus im Kampf mit Prokrustes (A), Herakles im Kampf mit Antaios (B). Schale, Athen, Nationalmuseum, um 500

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Abb. 97 Eine Mänade wehrt sich gegen einen Satyrn. Ein weiterer Satyr betrachtet die Szene über das Eselsohr hinweg. Eselskopfrhyton in der Art des Sotades-Malers, Wien, Kunsthistorisches Mus., um 450

Bildinterne Untersuchung

mal in aller Kürze zusammenfassen (Abb. 97):34 Um zu sehen, was zwischen den Eselsohren geschieht – ein Satyr greift eine Mänade an – muss rechts ein Satyr auf einen kleinen Fels steigen und sich auf die Zehenspitzen stellen, um über das Eselsohr hinüberblicken zu können:35 Das Eselsohr ist für ihn offenbar ein Hindernis im Bildfeld. Was dieses Hindernis im Bild darstellt, wird nicht präzisiert. Ein Eselsohr kann es jedenfalls nicht sein … Die Regel, dass Figuren in ihrer Haltung, in der Weise, wie sie in den Raum ausgreifen, sowie in ihrer räumlichen Beziehung zu einander und zu weiteren Gegenständen im Bildfeld von räumlichen Zusammenhängen konditioniert sind, die selbst keine ikonographische Bedeutung haben, ist gewissermaßen das genaue Gegenteil von Landschaftsmalerei, wo ja gerade diese räumlichen Zusammenhänge zum ‚ikonographischen Gegenstand‘ werden und sich schließlich mehr und mehr von den von ihnen umschlossenen Figuren lösen und verselbstständigen. Dem entspricht, dass Landschaftselemente in der attischen Vasenmalerei an der räumlichen Konditionierung der Figuren keinen Anteil haben: Landschaftselemente behindern die Figuren nie in ihrem Tun; sie erweisen sich vielmehr als sehr entgegenkommend, wenn es darum geht, gegebene Freiräume im Bildfeld zu besetzen (für Bäume) oder bestimmte Funktionen zu erfüllen (für Felsen). Ganz im Gegensatz dazu passen sich die Bildfelder auf attischen Vasen in ihrer Form gar nicht den Bedürfnissen jener Figuren an, mit denen sie gefüllt sind. Die Anpassung muss immer von den Figuren geleistet werden. Dementsprechend besteht in der attischen Vasenmalerei eine besondere Kunst darin, einzelne Figuren oder Szenen überzeugend in Bildfelder einzupassen, die sich dazu scheinbar überhaupt nicht eignen. Wenn es in

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archäologischer Literatur, die für ein breiteres Publikum bestimmt ist, darum geht, die Meisterschaft der attischen Vasenmalerei zu veranschaulichen, werden Bilder wie das Tondo einer Schale der ProtopanaitiosGruppe in London mit einem Knaben, der einen Hasen verfolgt, besonders gerne abgebildet (Abb. 98).36 Sowohl die Gleichmäßigkeit, mit der die laufende Figur die runde Fläche ausfüllt, als auch die überzeugende Darstellung in einem runden Bildfeld einer Verfolgung – ein Thema, für dessen Darstellung sich eher ein länglicher Fries anzubieten scheint – offenbaren ein besonderes Bemühen, bzw. Können des Malers. Ein anderes Beispiel für die Kunst, mit ‚unmöglichen‘ Bildfeldern umzugehen, sind die Kampfszenen rund um die Henkel der Exekias-Schale in München, wo der halbhohe Bereich unterhalb der Henkel von Gefallenen eingenommen wird, um deren Leiche jeweils zwei Parteien zu beiden Seiten der Henkel kämpfen (Abb. 99).37 Die Kunst, Bildfelder von jeglicher Form mit Figurenszenen zu füllen, hat die attische Vasenmalerei mit der Bauplastik gemein, wovon man sich

Abb. 98 Ein Knabe verfolgt einen Hasen. Schale der Protopanaitios-Gruppe, London, British Mus., um 510

124 Abb. 99 In den Henkelzonen kämpfen Gruppen von je drei Hopliten um die Leiche eines Gefallenen. Schale des Exekias, München, Antikensammlung, um 540 (Innenbild: Abb. 60)

Bildinterne Untersuchung

Boden und Himmel/Grundlinie und Bildfeld

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etwa anhand des Zeus-Tempels in Olympia überzeugen kann, wo das flache Dreieck der Giebel jeweils bis in die spitzen Winkel hinein von Figuren besetzt ist. Diese Gemeinsamkeit zwischen zwei Bildmedien, die sich in Dimension und Anspruch so sehr unterscheiden, ist kein Zufall, sondern ergibt sich aus der großen Ähnlichkeit des jeweiligen Verhältnisses von Figur und Bildfeld.38 In noch viel größerem Maße als in der attischen Vasenmalerei sind in der Architektur eines Tempels die Bereiche, die dem figurativen Schmuck vorbehalten sind, bildextern vorgegeben. Der für die attische Vasenmalerei diagnostizierte Doppelcharakter der Bildfeldbegrenzung, die zwar ikonographisch nicht zum Bild gehört, in ihrer konkreten Funktion als Standfläche für die Figuren aber dennoch eine bildinterne Qualität besitzt, ist in der Bauplastik evident. Die Giebelfiguren des Aphaiatempels auf Aigina stehen, knien oder liegen zwar auf dem Horizontalgeison, der Unterseite des ‚Giebelkastens‘, wobei ihre Haltung jeweils durch die verfügbare Höhe bestimmt ist, doch kämpfen sie natürlich nicht in einem Giebel, sondern vor Troja. Wie der ‚Giebelkasten‘ trotz seiner ikonographischen Irrelevanz den Aktionsraum der Figuren darstellt, kommt auf besonders eindrückliche Weise beim sterbenden Krieger im linken Winkel39 des Ostgiebels zum Vorschein, der kurz davor ist, aus dem Giebel buchstäblich herauszufallen (Abb. 100).40 Nur die linke Hüfte und die Unterkante des Schildes liegen auf der Fläche des Horizontalgeisons auf, wobei der linke Arm bereits ermattet ist, die Hand sich von der Schildschlaufe gelöst hat, und der Arm dabei ist, aus dem Schildbügel herauszugleiten. Der rechte Schwertarm, mit dem der Sterbende seinen Oberkörper abzustützen versucht, liegt nur noch mit dem Schwert auf der

Abb. 100 Sterbender Krieger vom Aigina-Ostgiebel. München, Glyptothek

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Bildinterne Untersuchung

Abb. 101 Ein Grieche versetzt einer Amazone den Todesstoß. Volutenkrater des Malers der Zottigen Silene, New York, Metropolitan Mus., um 450 (Gesamter Fries: Abb. 202)

Geisonfläche auf. Die Hand, die den Schwertknauf hält und über die Geisonkante hinausragt, reicht mit dem Handballen bereits unter das Niveau der Giebelfläche herab. Ebenso ragen der linke Unterschenkel und Fuß deutlich über die Geisonkante hinaus und reichen unter das Niveau der Giebelfläche herab. Der rechte Fuß dagegen schwebt in der Luft, woraus zu schließen ist, dass die Figur dabei ist, nach vorne zu kippen. Dass die Fläche des Horizontalgeisons dort aufhört, und der Krieger somit aus dem Giebel herausfallen wird, ist dabei die Voraussetzung für das ‚Funktionieren‘ des Motivs, da der rechte Fuß nur deshalb vom Boden abhebt, weil das linke Bein jenseits der Geisonkante keinen Halt mehr findet, und der Körper dadurch kippt. Dasselbe bildnerische Mittel, mit dem das Sterben des Kriegers im Aigina-Giebel dramatisiert wird, setzt der Maler der Zottigen Silene auf dem Amazonomachiefries eines Volutenkraters in New York ein (Abb. 101).41 Unter einem der Henkel sieht man einen Griechen, der einer knieenden Amazone, die ihm den Rücken zuwendet, den Speer von oben in die Schulter rammt. Die Amazone versucht mit ihrem rechten Bein, das sie in einer verrenkten Haltung vor das am Boden aufliegende linke Knie setzt, das Vornüber-Fallen abzuwenden. Bei diesem verzweifelten Versuch hat sie mit ihrem rechten Fuß, der das bildfeldbegrenzende Mäanderband deutlich überschneidet, allerdings die Standlinie verfehlt, und ist somit im Begriffe, ebenso aus dem Bildfeld herauszufallen wie der Gefallene des

Boden und Himmel/Grundlinie und Bildfeld

127 Abb. 102 Kampf zwischen Poseidon und einem Giganten. Schale des Aristophanes, Berlin, Antikensammlung, um 410

Aigina-Giebels aus dem ‚Giebelkasten‘ fällt. Diesem Motiv liegt die Vorstellung zugrunde, dass die Standlinie keine unendlich weite Fläche impliziere, sondern ebenso wie die Standfläche in einem Giebel irgendwo ‚aufhöre‘. Wiederum entspricht dieses ‚Aufhören‘ der Standlinie keiner topographischen Begebenheit auf einem fiktiven Schlachtfeld und besitzt keine ikonographische Bedeutung.42 Auch wenn nicht auszuschließen ist, dass es sich hier um einen Malfehler handelt,43 stellt das Innenbild der GigantomachieSchale des Aristophanes in Berlin möglicherweise einen analogen Fall dar (Abb. 102).44 Hier ist es ein von Poseidon bedrängter Gigant, der mit seinem rechten Fuß von der Standlinie ‚abgerutscht‘ ist.45 Während sich in der Diskussion um die Raumwiedergabe in der attischen Vasenmalerei der häufig zu findende Verweis auf die Einflüsse der Tafelmalerei auf keinerlei Anschauungsmaterial stützen kann,46 liegen diese Parallelen zur Bauplastik im Verhältnis von Figur und Raum auf der Hand. Ob sie im Sinne einer Beeinflussung zu interpretieren sind, möchte ich offenlassen.47 Entscheidend ist, dass diesen beiden äußerst unterschiedlichen Medien ein diesbezüglich gleiches Konzept zugrunde liegt. Ohne die spezifischen Unterschiede unterschlagen zu wollen,48 denke ich, dass in der Bauplastik ein Modell vor-

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Bildinterne Untersuchung

Abb. 103 Kentauromachie. Der von den Kentauren in den Boden gestampfte Kaineus kommt nur mit seinem Oberkörper über der Grundlinie hervor. Krater des Klitias, Florenz, Mus. Archeologico, um 570 (siehe auch: Abb. 245)

liegt, welches für die attische Vasenmalerei das Verhältnis von Figur und Umraum in guter Näherung veranschaulichen kann. Der bildinterne und bildexterne Doppelcharakter der Bildfeldbegrenzung (und des umgrenzten Bildfelds), der macht, dass der Raum der Figuren grundsätzlich keine eigene ikonographische Dimension besitzt, hat einerseits eine große Flexibilität in dem, was Grundlinie und Bildfeld für einzelne Figuren jeweils repräsentieren, zur Folge. Andererseits bleiben alle Figuren in ihrer Anordnung im Bild von einer räumlichen Einheit konditioniert, die inhaltlich weder mit deren Gesamtheit, noch mit jeder einzelnen etwas zu tun hat. Wie sich diese Flexibilität äußert, und worin diese Konditionierung besteht, soll im Folgenden nacheinander umrissen werden. Im Innenbild der eben erwähnten Gigantomachie-Schale des Aristophanes erscheint links neben dem Kämpferpaar Ge, die Mutter des besiegten Giganten, mit einer Geste des Entsetzens. Sie ist nur bis zu den Knien dargestellt, während der untere Teil ihres Körpers durch die Grundlinie abgeschnitten ist. Während für den stürzenden Giganten die Grundlinie als die untere Seite eines ‚Bildfeldkastens‘ zu verstehen ist, aus dem er gerade herausfällt, repräsentiert sie für Ge die Erde, aus der sie hervorkommt. Mangels ikonographischen Eigenwerts kann ein und dieselbe Grundlinie für verschiedene Figuren also Unterschiedliches repräsentieren. Wollte man aus der Tatsache, dass die Erdgöttin zum Teil ‚in der Grundlinie‘ steckt, den umgekehrten Schluss ziehen, nämlich dass die

Boden und Himmel/Grundlinie und Bildfeld

129 Abb. 104 Anodos einer Göttin. Skyphos des PenthesileaMalers, New York, Metropolitan Mus., 460–450

Grundlinie, indem sie hier die Erde repräsentiert, schon eine ikonographische Bedeutung besitze, würde unerklärlich, warum diese ikonographische Bedeutung nicht auch für den Giganten gelten sollte. Dass die Grundlinie im Falle des Giganten die Unterseite eines ‚Bildfeldkastens‘, im Falle der Erdgöttin dagegen die Erde repräsentiert, dient nicht der ikonographischen Definition der Grundlinie, sondern lediglich der Charakterisierung der jeweiligen Figur. Das heißt, dass die Grundlinie je nach Figur unterschiedliche Dinge repräsentieren kann.49 Figuren, für die die Grundlinie die Erde repräsentiert, sind in der attischen Vasenmalerei häufig. Kaineus, der von den Kentauren in den Boden gerammt wird, steckt auf vielen Vasenbildern ebenfalls zur Hälfte ‚in der Grundlinie‘, was man bereits auf dem Kentauromachiefries des KlitiasKraters sehen kann (Abb. 103).50 Während die Grundlinie für Kaineus den Boden meint, wird die Grundlinie des darüberliegenden Frieses von den Pinien der Kentauren überschritten, wodurch diese sich als bloße Linie auf dem Vasengrund erweist. Der Darstellung von der Überwindung des Kaineus durch die Kentauren dient die Grundlinie als Boden. Der Darstellung der ungestümen Handhabung der Pinien durch die Kentauren dient sie jedoch als bloße Trennungslinie zweier Friese, die von den Kentauren nicht eingehalten wird. In Bildern des Anodos einer Gottheit repräsentiert die Grundlinie für die aufsteigende Gottheit ebenfalls die Erde. Ein beliebiges Beispiel dafür wäre ein Skyphos des Penthesilea-Malers in Boston (Abb. 104).51 Wenn dargestellt ist, wie Amphiaraos mitsamt seinem Wagen von der Erde verschluckt wird, ist es ebenfalls die Grundlinie, in der die Quadriga versinkt, wie man es etwa auf einer Lekythos des

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Bildinterne Untersuchung

Abb. 105 Selene taucht mit ihrem Wagen ins Meer ein. Schale des Brygos-Malers, Berlin, Antikensammlung, um 490

Beldam-Malers in Athen sieht.52 Schließlich kann die Grundlinie auch bei so banalen Motiven wie einem im Boden versenkten Pithos die Erde repräsentieren.53 Genauso wie die Grundlinie für Figuren, die vom Boden aufsteigen oder im Boden versinken, die Erde repräsentieren kann, kann sie für Figuren, die vom Meer aufsteigen oder ins Meer hinabsinken, das Meer repräsentieren. Auf einer Schale des Brygos-Malers in Berlin ist dargestellt, wie Selene in ihrem Wagen, der von zwei geflügelten Pferden gezogen wird, ins Meer eintaucht (Abb. 105).54 Die Tondobegrenzung repräsentiert für Wagen und Pferde die Meeresoberfläche. Das Meer wird zusätzlich durch Buckelwellen markiert, die im unteren Segment an der Tondobegrenzung entlang aufgereiht sind.55 Da die Grundlinie selbst keine Darstellung des Meeres ist, ist es auch nicht störend, dass sie auf der Schale des Brygos-Malers konkav gewölbt ist. Auf einer nikosthenischen Schale im Louvre sind auf beiden Außenseiten je zwei Schiffe dargestellt, die sich deutlich überschneiden, weil sie nur leicht versetzt auf der Grundlinie aufliegen (Abb. 106).56 Da nun die Grundlinie auf den Außenseiten einer Schale konvex gewölbt ist, stehen die Kiele der Schiffe, die, geometrisch gesprochen, den Tangenten eines Kreises an zwei nahegelegenen Punkten entsprechen, in einem Winkel zueinander. Das Bild bezieht seinen ästhetischen Reiz zu einem guten Teil von dieser Winkelverschiebung, die alle Formen zweimal erscheinen lässt, wobei sich die ‚Zwillingsformen‘ je nach Entfernung von der Mitte auch voneinander entfernen. Dieser Effekt ist nicht ‚der Natur

Boden und Himmel/Grundlinie und Bildfeld

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abgeschaut‘, sondern ein reines Kunstprodukt, das sich aus der Wölbung der Grundlinie ergibt. Die Wölbung der Grundlinie führt auch dazu, dass sich das Heck der Schiffe jeweils soweit von der Grundlinie entfernt, dass die Steuerruder diese gar nicht mehr berühren. Daran sieht man einmal mehr, dass die Grundlinie selbst nicht das Meer darstellt – dann befänden sich die Steuerruder wahrhaftig nicht im Wasser – sondern lediglich das Auflager für die Schiffe ist und nur als solches das Meer repräsentiert.57 Die Flexibilität, mit der die Grundlinie je nach Figur oder Motiv jeweils Unterschiedliches repräsentieren kann, lässt sich auch auf das Bildfeld übertragen. Wir haben gesehen, dass Gegenstände frei im Bildfeld hängen können. Ohne dass spezifiziert würde, woran sie hängen, erlaubt das Bildfeld diesen Gegenständen, wie an einer Wand zu hängen, so wie die Grundlinie dem Kaineus erlaubt, wie im Boden zu versinken. Das Bildfeld erlaubt Figuren auch, darin wie im Wasser zu schwimmen. Das sieht man etwa auf einem ungewöhnlichen Bild des Andokides-Malers im Louvre mit vier nackten Frauen, von denen eine schwimmend wiedergegeben ist, ohne dass das Wasser, in dem sie schwimmt, auf irgendeine Weise dargestellt wäre (Abb. 107).58 Dass diese schwimmt erkennt man denn auch nur an ihrer Haltung, an der Tatsache, dass sie die Grundlinie nicht berührt,

Abb. 106 Zwei Schiffe fahren im Meer. Schale des Töpfers Nikosthenes, Paris, Louvre, 540–530

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Bildinterne Untersuchung

Abb. 107 Mädchen beim Bad. Bilingue Amphora des Andokides-Malers, Paris, Louvre, um 520

und an zwei bei ihr schwimmenden Fischen, die sich per definitionem im Wasser befinden. Von den drei übrigen Frauen ist eine dabei, Öl in ihre Hand träufeln zu lassen, eine andere, die auf einem flachen Sockel steht, bereitet sich vermutlich darauf vor, ins Wasser zu springen, und eine dritte entfernt sich nach rechts, wo eine Säule steht. Weil das Bildfeld nicht Wasser ist, sondern dieses nur für die Schwimmerin repräsentiert, ist es nicht störend, dass die drei übrigen Frauen, die sich nicht (oder noch nicht im Wasser) befinden, auf demselben Bildfeld erscheinen, und sich ihre Körper mit dem der Schwimmerin sogar teilweise überschneiden. Der Fall, dass das Bildfeld ganz einfach Luft repräsentiert, ist ebenfalls möglich. Dies trifft etwa für Gegenstände zu, die sich im freien Fall befinden.59 Auf der die Olivenernte darstellenden Amphora des AntimenesMalers in London fallen Oliven von einem Baum, an den die Erntearbeiter mit Stangen klopfen. Dass diese Oliven ‚duch die Luft‘ fallen und nicht an einer Wand hängen, versteht sich von selbst. Das ‚durch die Luft‘ Fallen ist eine Eigenschaft der fallenden Oliven, mehr als dass Luft zu sein eine Eigenschaft des Bildfelds wäre.60 Dass Luft zu sein keine Eigenschaft eines Bildfelds ist, sieht man auch an Beispielen, wo einerseits fallende Gegenstände auftauchen, andererseits aber auch Gegenstände frei im Bildfeld erscheinen, die sich nicht als fallende Gegenstände interpretieren lassen. Ein solcher Fall ist der Amazonomachiekrater des Niobiden-Malers in Agrigent (Abb. 108).61 Das zentrale Kämpferpaar auf einer Gefäßseite besteht aus einem griechischen Hopliten, der einer stürzenden Amazone den Speer in die Schulter rammt. Ein Schwert, das zwischen den Beinen des Hopliten im Bildfeld erscheint, ist offenbar der geöffneten Hand der stürzenden Amazone ent-

Boden und Himmel/Grundlinie und Bildfeld

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glitten und ist damit als fallender Gegenstand zu verstehen. Zwischen den Beinen der Amazone, die ihrer stürzenden Kameradin zur Hilfe eilt, erscheint dagegen ein geschlossener Köcher im Bildfeld. Während sich das fallende Schwert in einen Handlungszusammenhang einfügen lässt, zu dessen temporaler Zuspitzung es beiträgt, wäre ein fallender Köcher lediglich ein fait divers, der in keinem spezifischen Verhältnis zum dargestellten Kampfgeschehen stünde. Dasselbe gilt für den Bogen, der zwischen den Beinen des Pferdes auf der anderen Gefäßseite erscheint: Ein Bogen fällt einem nicht im Zweikampf aus der Hand, da er als Fernwaffe dabei ohnehin keinen Einsatz mehr findet. Sowohl der Köcher als auch der Bogen ergäben als fallende Gegenstände keinen Sinn und trügen keineswegs zur Dramatisierung des Geschehens bei. Sie stehen nur in einer thematischen Verbindung, nicht aber in einem spezifischen Handlungszusammenhang mit den Figuren und besitzen somit nicht die temporale Qualität, die sie zu fallenden Gegenstände machen würde. Ob ein Gegenstand als fallend zu interpretieren ist oder nicht, entscheidet sich also am Gegenstand selbst (und seinem Kontext) und nicht an der Frage, ob das Bildfeld, in dem er erscheint, Luft ist oder nicht.62 Die oben besprochene nikosthenische Schale mit ihren winkelverschobenen Schiffen kann sowohl die Flexibilität exemplifizieren, mit der die Grundlinie die gewünschte Sache – hier das Meer – stellvertritt als auch als Überleitung zu unserem nächsten Thema dienen, der Konditionierung des Raumes durch bildexterne Faktoren: Dass die Schiffe in einem Winkel zueinander stehen, verweist weder auf eine spezifische Eigenschaft dieser Schiffe, noch auf eine Eigenschaft des Meeres, in dem sie fahrend zu denken sind, sondern ist bloß der Form des Bildfelds, bzw. der Vase, geschuldet. Diese räumliche Konditionierung des Bildes lässt sich nicht bildintern interpretieren. Ob Schiffe in derselben Ebene liegen oder in einem Winkel zueinander stehen, mag man irrelevant finden. Von welcher entscheidenden Bedeutung für den Aufbau der Bilder deren räumliche Konditionierung durch Grundlinie und Bildfeld ist, zeigt sich an Eigenschaften der attischen Vasenbilder, die so allgemein und selbstverständlich sind, dass man sie meist fraglos hin nimmt. Auf einer Halsamphora des Amasis-Malers in Boston sind auf einer Seite Athena und eine männliche Gottheit, auf der anderen Seite zwei Hopliten und unter den Henkeln jeweils ein laufender Dionysos mit Efeu und Wein in den Händen dargestellt (Abb. 109).63 Anstatt auf dem Ornamentband zu stehen, mit dem der Blattkelch über dem Gefäßfuß abschließt, stehen die Figuren in einem gleichbleibenden Abstand von ca. zwei Zentimetern über diesem Ornamentband.64 Da damit offensichtlich nicht gemeint ist, dass sie über dem Boden schweben, befinden sie sich auf einer gedachten Standlinie. Obwohl keine ‚materielle‘ Linie auf der Vase sie dazu zwingt, stehen alle Figuren auf derselben Standlinie. Da-

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Abb. 108 Amazonomachie. Volutenkrater des Niobiden-Malers, Agrigent, Mus. Archeologico, 470–460

Bildinterne Untersuchung

ran zeigt sich, dass an der Grundlinie das für das Bild Entscheidende nicht die Linie selbst ist – sie besitzt ja nicht einmal eine ikonographische Bedeutung –, sondern die Tatsache, dass sie allen Figuren gemeinsam ist. Ob sterblich oder unsterblich, männlich oder weiblich, frei oder unfrei, so groß die Unterschiede in der symbolischen Wertigkeit der dargestellten Figuren auch seien, sie werden untereinander in der attischen Vasenmalerei nicht durch die Höhe ihres Standpunktes differenziert. Doch stehen die Figuren nicht nur auf derselben Grundlinie, sie schließen meist auch oben auf selber Höhe ab, ein Phänomen, das man landläufig Isokephalie nennt. Dieses bedeutet, dass zwischen stehenden Figuren und Figuren zu Pferde kein nennenswerter Größenunterschied besteht, wie man es z.B. in auf dem Volutenkrater des Niobiden-Malers in Agrigent mit einer Amazonomachie beobachten kann (Abb. 108).65 Das bedeutet natürlich nicht, dass nur kleinwüchsige Pferde und Reiter dargestellt worden wären. Vielmehr zeigt sich daran, dass sich die Größe der Figuren nicht aneinander, sondern an der Höhe des Bildfelds bemisst. So wie Grundlinie und Bildfeld für verschiedene Figuren oder Motive auf demselben Bild jeweils Unterschiedliches repräsentieren können, kann auch die Höhe des Bildfelds je nach Figur oder Motiv einen anderen ab-

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soluten Wert repräsentieren, oder anders gesagt, es gilt nicht notwendig für jede Figur derselbe Maßstab.66 Eine graphische Differenzierung zwischen Figuren kann also auch nicht durch ihre Größe geschehen. Befindet sich eine Figur auf einem erhöhten Standpunkt, wird diese dadurch angesichts der geringeren verbleibenden Resthöhe des Bildfelds nur kleiner.67 Vergegenwärtigt man sich die männliche Dominanz, die bei den Griechen der Klassik bekanntlich sehr ausgeprägt ist, ist es bemerkenswert, dass in der Vasenmalerei auch zwischen Männern und Frauen in der Größe nicht unterschieden wird. Dass die durchschnittliche Körpergröße von Männern die von Frauen in der Realität ein wenig übersteigt, wird den attischen Vasenmalern genauso aufgefallen sein, wie dass Reiter auf ihren Pferden höher als stehende Figuren sind. Wenn dieser Unterschied auf den Vasenbildern dennoch nicht erscheint, liegt das sicherlich nicht an mangelnder Detailverliebtheit der Maler, sondern daran, dass das verbindliche Maß für stehende Männer wie für stehende Frauen gleichermaßen die Höhe des Bildfelds ist. Die unbedingte Geltung der Regel, nach der einerseits Größenunterschiede in der Wirklichkeit – seien sie objektiv, symbolisch oder beides – in die attische Vasenmalerei keinen Einzug erhalten, und ande-

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Bildinterne Untersuchung

Abb. 109 Poseidon (?) und Athena (A), zwei Krieger (B). Unter den Henkeln Dionysos mit Efeu und Wein. Auch ohne gemalte Standlinie stehen die Figuren auf exakt derselben Höhe. Halsamphora des Amasis-Malers, Boston, Mus. of Fine Arts, um 520

Boden und Himmel/Grundlinie und Bildfeld

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rerseits faktische Größenunterschiede in Vasenbildern (wie zwischen Reiter und Fußsoldat) keinerlei Signifikanz haben, hört erst dort auf, wo der Größenunterschied ein bestimmtes Maß überschritten hat, wie es etwa bei Körpern von Riesen der Fall sein kann. Diese werden häufig hockend oder liegend dargestellt, um einen möglichst großen Körper im Bildfeld unterbringen, und so den Größenunterschied zu normalen Figuren maximieren zu können.68 Auf dieselbe Weise erklärt sich auch die Tatsache, dass Bäume oder sonstige Landschaftselemente, die in der Wirklichkeit viel größer als Menschen sind, in aller Regel nicht höher als Menschen dargestellt werden. Das ist im Kontext dieser Arbeit von entscheidender Bedeutung, da dieses Phänomen nun nicht mehr, wie es vielfach geschehen ist, im Sinne einer minderen symbolischen Wertigkeit von Natur und Landschaft gegenüber dem Menschen oder als Äußerung eines griechischen Anthropozentrismus verstanden werden kann. Die Erkenntnis, dass die Figuren und Motive auf einem Vasenbild räumlich durch die bildexternen und daher gewissermaßen bedeutungslosen Faktoren Grundlinie und Bildfeld konditioniert werden, befreit die Diskussion der Landschaftselemente damit von der leidigen Frage, in welchem Verhältnis von symbolischer Wertigkeit sie zu den Figuren stehen, und inwieweit sich der (vermeintliche oder echte) Vorrang der menschlichen Figur in dem einen oder anderen Fall möglicherweise zugunsten der Landschaft umgekehrt haben könnte.69 Eine derart ‚befreite‘ Diskussion soll im zweiten Teil dieser Arbeit versucht werden. Es wird dem Leser einmal mehr aufgefallen sein, dass zeitliche Differenzierungen in diesem Unterkapitel nicht vorgenommen wurden. Wie es im letzten Unterkapitel dieses Kapitels gezeigt werden soll, stellt die Einführung der Geländelinien viele der hier herausgearbeiteten Eigenschaften von Grundlinie und Bildfeld in Frage. Um jedoch untersuchen zu können, was sich verändert, muss erst untersucht werden, was dieses genau ist, das sich verändert. Letzteres sollte in diesem Unterkapitel geschehen.

Die Grundlinie nicht berühren Wenn der Raum der Figuren (unabhängig vom Inhalt des Dargestellten) von Grundlinie und Bildfeld bestimmt ist, welche wiederum nur von der Form der Vase und deren Dekorationsschema abhängen, scheint es für die Räumlichkeit des Bildes vollkommen gleichgültig, ob sich das dargestellte Geschehen in einem Innenraum oder in der freien Landschaft, in der Polis oder in der Wildnis, im Hades, im Meer oder auf dem Olymp abspielt. Während nun Grundlinie und Bildfeld stets eine durch den Darstellungs-

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Bildinterne Untersuchung

Abb. 110 Herakles ringt mit Triton. Halsamphora der Leagros-Gruppe, Salerno, Mus. Nazionale, 510–500

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inhalt unverrückbare Vorgabe bleiben, lassen sich Figuren, dem Darstellungsinhalt entsprechend, auf verschiedene Weise in die von Grundlinie und Bildfeld vorgegebene räumliche Struktur einfügen. Insbesondere können sie sich unter bestimmten Bedingungen von der Grundlinie lösen. Diese alternative Art räumlicher Differenzierung innerhalb der von Grundlinie und Bildfeld vorgegebenen Struktur soll Thema dieses Unterkapitels sein, wobei hier vor allem der Fall untersucht wird, wo Figuren die Grundlinie nicht berühren. Auf einer Halsamphora der Leagros-Gruppe in Salerno ist der Ringkampf des Herakles mit Triton dargestellt (Abb. 110).70 Dabei stehen weder die Füße des Herakles, noch der Fischunterleib des Triton in Kontakt mit der Grundlinie. Das rechte Bein des Herakles und sein hinter der ersten Windung des Fischleibs noch hervorkommender linker Fuß lassen auf eine Haltung der Beine wie im Knielaufschema schließen. Das ‚Schweben‘ der ineinander verflochtenen Körper der Kontrahenden im Bildfeld ist offenbar darauf zurückzuführen, dass der Kampf im Meer stattfindet, was wiederum dem Wesen des halb anthropomorphen, halb fischleibigen Triton entspricht. Seine Verbindung zum Meer wird zusätzlich dadurch betont, dass er einen Fisch in der Hand hält. Auf anderen Bildern gleichen Themas sind die Kämpfenden von Fischen und sonstigem Seegetier umgeben, wie etwa auf einer Bauchamphora in Toronto, wo Herakles die Grundlinie gerade noch mit den Zehen des linken Fußes berührt,71 oder im Innenbild einer Schale der Xenokles-Gruppe in Tarquinia, wo Herakles die Grundlinie ebenfalls mit den Zehen eines Fußes berührt, sie mit dem anderen Fuß allerdings überschneidet (Abb. 111).72 Insofern die Regel, nach der Figuren auf der Grundlinie stehen, außer Kraft gesetzt wurde, hat der Ort der Handlung in den genannten Bildern strukturelle Auswirkungen auf die Form der Darstellung. Mit diesen strukturellen Auswirkungen auf die Anordnung der Figuren kann man hier genau jenes greifen, was Landschaftselemente, als (vermeintliche) Vertreter des Ortes einer Handlung, nicht leisten. Man vergleiche diesbezüglich die Hydria der Leagros-Gruppe im Cabinet des Médailles mit dem Ringkampf von Herakles und Nereus, wo Meereswasser einen unteren Streifen des Bildfelds füllt (Abb. 112).73 Trotz der reichen und in dieser Form einzigartigen Darstellung des Meeres in verdünnten Pinselstrichen mit Fischen, die zum Teil hinter den schimmernden Wellen verschwinden, sind das Ringerpaar und die beiden fliehenden Nereiden auf dem Bildfeld so angeordnet, als gäbe es kein Meer: Das Wasser zu ihren Füßen nässt ihnen offenbar noch nicht einmal die Kleider.74 Wie im Kapitel zum Gegenstandscharakter der Landschaftselemente als allgemeine Regel aufgestellt wurde,75 bleibt der Ort allerdings auch in der Ikonographie von Herakles und Triton eine Eigenschaft einzelner Figuren und nicht des Bildes allgemein. Auf einer Hydria um 530 in Toledo

140 Abb. 111 Herakles ringt mit Triton. Schale der XenoklesGruppe, Tarquinia, Mus. Nazionale, 550–540

Abb. 112 Kampf zwischen Herakles und Nereus. Hydria der Leagros-Gruppe, Paris, Cabinet des Médailles, um 510

Bildinterne Untersuchung

Boden und Himmel/Grundlinie und Bildfeld

141 Abb. 113 Herakles ringt mit Triton. Hydria des Malers von Vatikan G 43, Toledo, Mus. of Art, um 530

sind Herakles und Triton, dessen Fischleibswindungen hier horizontal verlaufen, ebenfalls ‚schwebend‘ dargestellt, wobei eine Reihe von drei Delphinen den kleinen Abstand zur Grundlinie füllt (Abb. 113).76 Die Beine des Herakles sind auch hier ohne Berührung mit der Grundlinie in einer dem Knielaufschema ähnlichen Haltung wiedergegeben. Die Kämpfergruppe ist umgeben von vier ‚Zuschauer-Figuren‘: Poseidon, Nereus und zwei Frauen, die das Geschehen mit teilweise reger Beteiligung verfolgen. Während das Ringerpaar seinen Kampf wieder unter den Bedingungen des Meeres austrägt, stehen die sie umgebenden Figuren jedoch auf der Grundlinie und lassen vom Meer nichts erkennen. Das Meer als Ort des Geschehens interessiert den Maler also nur insofern, als es den Kampf zwischen Herakles und Triton betrifft, oder anders gesagt: Nicht das Meer als Ort des Geschehens findet Einzug in das Bild, sondern es werden die besonderen und für Herakles erschwerten Bedingungen dargestellt, unter denen der Kampf stattfindet. Diesen besonderen Bedingungen, bei denen man (mangels Boden) weder selbst Halt am Boden finden, noch den Gegner zu Boden zwingen kann, entspricht auch das von Herakles eingesetzte Mittel, seinen Gegner zur Aufgabe zu zwingen: Auf der Hydria in Toledo wie auch sonst in den allermeisten Fällen umklammert er Triton den Brustkorb, so dass er diesem den Atem raubt. Das Meer wird also nur soweit dargestellt, wie es die Kämpfenden betrifft. Es wird aber auch nur unter einem einzigen Aspekt dargestellt, nämlich dass man darin keinen Boden unter den Füßen hat. Von Nässe ist z.B. nichts zu merken: Der Faltenwurf der Kleider, ein Element der Darstellung, dem in der attischen Vasenmalerei ab spätarchaischer Zeit eine besondere Aufmerksamkeit zukommt, ist im Meer nicht anders als an der Luft. Insofern handelt es sich weniger um eine Darstellung des Meeres als um einen alternativen Modus der räumlichen Beziehung zwischen Figur

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Abb. 114 Theseus am Meeresgrund. Während Theseus von Triton getragen werden muss, stehen (bzw. sitzen) Athena und Amphitrite auf der Grundlinie. Schale des Onesimos, Paris, Louvre, 500–490 (Außenseiten: Abb. 48)

Bildinterne Untersuchung

und Bildfeld, bei der die Bindung an die Grundlinie aufgehoben ist. Dieser Modus findet keine automatische Anwendung, sobald ein Geschehen im Meer zu verorten ist. Dessen selektiver Gebrauch kann gut durch das Innenbild der Onesimos-Schale in Paris mit Theseus auf dem Meeresgrund verdeutlicht werden (Abb. 114):77 Während Amphitrite auf einem Hocker sitzt und ihre Füße wie die stehende Athena auf ein kurzes Standliniensegment abgesetzt hat, werden die Füße von Theseus durch einen kleinen Triton gehalten. Theseus, dessen Aufenthalt am Meeresgrund etwas Außergewöhnliches darstellt, und der nicht gewohnt ist, keinen Boden unter den Füßen zu haben, wird auf Händen getragen. Dieses Detail unterstreicht, welch ein Ehrengast Theseus, der zum Abschied78 gerade den kostbaren Kranz der Aphrodite überreicht bekommt, im Palast seines Vaters Poseidon ist, und entspricht damit genau dem, worum es in der dargestellten Geschichte geht. Was für den Erdenbewohner Theseus ein großes Wunder ist, ist für die beiden Göttinnen nichts Besonderes. Für jene hat der Maler darauf verzichtet, die Tatsache, dass sie sich am Meeres-

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143 Abb. 115 Raub der Thetis durch Peleus. Fliehende Nereiden suchen Schutz bei ihrem Vater Nereus. Stamnos des Berliner Malers, München, Antikensammlung, 480–470

Abb. 116 Flucht der Nereiden zu ihrem Vater (Raub der Thetis im Schalentondo). Schale des KleophradesMalers, London, British Museum, um 480

grund befinden, eigens zu betonen, und sie daher einfach auf der Grundlinie stehen und sitzen lassen. Die Entscheidung, ob man das ‚Schweben‘ von Meereswesen oder Figuren, die sich im Meer befinden, darstellt oder ob man darauf verzichtet, ist nicht immer von Gesichtspunkten geleitet, die für das Sinngefüge des Bildes insgesamt wichtig sind. Ein Meerwesen ‚schweben‘ oder ganz gewöhnlich auf der Grundlinie stehen zu lassen, sind oftmals zwei gleichwertige Alternativen. Auf einem Stamnos des Berliner Malers in München mit dem Raub der Thetis durch Peleus fliehen die Gespielinnen der Thetis zu ihrem Vater Nereus (Abb. 115).79 Dieser ‚schwebt‘ als fischleibiges Meerwesen im Bildfeld, wobei er allerdings sein Szepter auf die Grundlinie gesetzt hat. Auf einer Schale des Kleophrades-Malers in London, wo der Raub der Thetis im Medaillon dargestellt ist, und die fliehenden Nereiden auf einem das Tondo umgebenden Innenfries beim anthropomorphen Nereus und beim fischleibigen Triton Schutz suchen, scheint es genau umgekehrt (Abb. 116).80 Obwohl Triton nur fragmentarisch erhalten

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Abb. 117 Herakles ringt mit Triton. Hydria des Malers von Louvre F 51, Paris, Louvre, um 540 Abb. 118 Herakles bedroht Triton mit dem Schwert. Amphora, New Orleans, Mus. of Art, 520–500

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ist, lässt der Ansatz des Fischleibs noch erkennen, dass dieser vermutlich auf der Grundlinie auflag, wobei sein Szepter die Grundlinie überschneidet. Damit achtet auf der Schale des Kleophrades das Szepter der Grundlinie nicht, während es auf dem Stamnos des Berliner Malers der schwebende Körper des Nereus war, der die Grundlinie durch sein ‚Schweben‘ ignoriert hatte. Auch beim Kampf von Herakles und Triton machen die Maler einen selektiven Gebrauch des ‚Schwebens‘ der Figuren. Auf einer Hydria um 540 im Louvre steht Herakles mit beiden Füßen auf der Grundlinie, während Triton ‚schwebt‘ (Abb. 117).81 Statt für die Dauer des Kampfes – situativ verstanden – beide zu ‚schweben‘, sind das Stehen auf der Grundlinie und das ‚Schweben‘ im Bildfeld dem Erdenbewohner und dem Meerwesen hier also jeweils rein attributiv zugeordnet. Häufig berührt Herakles nur mit einem Fuß (meist dem hinteren) die Grundlinie, ebenso wie Triton häufig mit einer Windung des Fischleibs auf der Grundlinie aufsitzt.82 Man konnte auf den Aspekt des Kampfes im Meer schließlich auch gänzlich verzichten. Auf einer Bauchamphora in New Orleans wird der Kampf in einem Schema dargestellt, das bei Herakles und Nessos oft zu finden ist, wo Herakles den fliehenden Triton festhält und mit dem Schwert bedroht (Abb. 118).83 Sowohl Triton als auch Herakles stehen ganz gewöhnlich auf der Grundlinie, wobei dieser den vorderen Fuß in Siegerpose auf seinen Gegner setzt. Ein ganz anders geartetes Beispiel für die selektive Darstellung der besonderen Bedingungen des Meeres für den Habitus der Figuren im Bildraum bietet die rotfigurige Schale aus dem Kreis des Nikosthenes-Malers um 500 im Louvre, wo Satyrn auf Weinschläuchen, die offenbar mit Luft gefüllt und in einem fischreichen Meer schwimmen, das Gleichgewicht zu halten versuchen.84 Zwei der fünf Satyrn auf einer der Außenseiten reiten noch nicht auf Weinschläuchen, sondern sind scheinbar erst dabei, aufzusteigen. Während nun die bereits aufgestiegenen Satyrn in ihrem Ritt über die Wellen ganz und gar den Bedingungen des

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schwankenden Meeres unterworfen sind, stehen diese beiden Satyrn noch geruhsam auf der Grundlinie, als gäbe es das Meer gar nicht. Manchmal sind solche Details wohl dem Zufall entsprungen. Das zeigt etwa eine Amphora des Malers von Berlin 1686, die mit demselben Thema beidseitig bemalt ist, und wo Herakles einmal vollkommen ‚schwebt‘, der Fischleib des Triton aber auf der Grundlinie aufliegt, und das andere Mal sowohl Herakles als auch Triton nur mit einem Fuß, bzw. einer Windung die Grundlinie berühren.85 Dass diese Details zumindest nicht immer dem Zufall entspringen, zeigt z.B. eine Amphora der Leagros-Gruppe in München, wo die Kampfgruppe mit Ausnahme des hinteren Fußes des Herakles gänzlich ‚schwebt‘ (Abb. 119).86 Die Zehen, welche die Grundlinie berühren, sind in die Horizontale abgeknickt, wodurch der Maler deutlich macht, dass der Fuß die Grundlinie nicht nur berührt, sondern Gewicht auf ihm lastet. Man sieht somit, wie Herakles von der Grundlinie aus in einer kraftvollen Gebärde in den Kampf hineinschreitet, der sich im ‚schwebenden Modus‘ abspielt.87 Nicht nur können also auf demselben

Abb. 119 Herakles ringt mit Triton. Mit dem Ballen eines Fußes berührt er noch die Grundlinie. Amphora der Leagros-Gruppe, München, Antikensammlung, 510–500

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Bildfeld manche Figuren auf der Grundlinie stehen, und andere von dieser gelöst sein. Auch der Übergang vom einen in den anderen Modus kann in einem dramatischen Geschehen gezeigt werden. Nun sind Meereswesen, deren attributive, und Figuren, deren situative Eigenschaft es ist, sich im Meer zu befinden, nicht die einzigen Figuren, die losgelöst von der Grundlinie erscheinen können. Insofern das ‚Schweben‘ der Meereswesen keine Darstellung des Meeres, sondern ein alternativer Modus der räumlichen Beziehung zwischen Figur und Bildfeld ist, ist die Loslösung von der Grundlinie bei Eroten, Niken oder sonstigen geflügelten Figuren ein paralleles Phänomen. Es ist nicht mehr und nicht weniger erstaunlich, dass eine auf der Grundlinie stehende Figur neben einer im Meer ‚schwebenden‘ Figur als neben einer in der Luft ‚schwebenden‘ Figur erscheine. Ob es Meer oder Luft sei, worin eine Figur ‚schwebt‘, macht räumlich keinen Unterschied; es betrifft lediglich die Charakterisierung der entsprechenden Figur. Dennoch ist das ‚Schweben‘ der unterschiedlichen Figurengruppen nicht immer von derselben Art. Auf einer Halsamphora des NiobidenMalers in Leiden sind Triptolemos und Demeter bei der Libation dargestellt (Abb. 120).88 Der geflügelte Wagen des Triptolemos steht mit einigem Abstand über der Grundlinie. Dennoch bekommt man in dieser feierlichen Libationsszene den Eindruck, dass der Wagen steht, sich im Ruhezustand befindet. Ob man sich vorstellen möchte, dass sich die Flügel dafür bewegen müssen oder nicht, das ‚Schweben‘ des Wagens ist jedenfalls ein stabiler Zustand. Dass der Wagen die Grundlinie nicht berührt, ist nicht situativ zu verstehen – Triptolemos hat seine Fahrt ja noch nicht begonnen –,89 sondern verweist auf die Eigenschaft des geflügelten Wagens, nicht am Boden zu haften. Anders ist der Fall der geflügelten Iris, die sich mit einem Kerykeion in der Hand auf der Rückseite des Gefäßes Zeus schwebend nähert. Der Rolle der Iris als Götterbotin entsprechend ist das Bild offenbar als Ankunft der Iris bei Zeus nach erfolgter Botenmission zu lesen. Iris ‚landet‘, nachdem sie eine Strecke fliegend hinterlegt hat. Ihr Schweben/Fliegen ist also situativ zu verstehen: Im nächsten Augenblick wird sie wie Zeus auf der Grundlinie stehen. Das Fliegen der Iris ist ein Fortbewegungsmittel. Wenn die Reise jedoch zu Ende ist, steht Iris wieder auf der Grundlinie: Auf einem Kalpisfragment des KopenhagenMalers in Tübingen führt sie auf der Grundlinie stehend eine Libation mit einer sitzenden Gottheit aus (Abb. 121).90 Bei Eroten kann das ‚Schweben‘ ein Fortbewegungsmittel sein, kann aber auch im Ruhezustand beibehalten werden: Im Innenbild einer frühen rotfigurigen Schale des Töpfers Kachrylion in Florenz fliegt Eros mit einer Blume in der Hand über das Meer (Abb. 122).91 Ebenso fliegen auf der Rückseite des namensgebenden Stamnos des Sirenen-Malers drei Ero-

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Abb. 120 Triptolemos und Demeter bei der Libation. Der geflügelte Wagen steht zwar still, berührt die Grundlinie aber nicht. Halsamphora des Niobiden-Malers, Leiden, Rijkmuseum van Oudheden, um 460

Abb. 121 Die geflügelte Iris steht, während sie die Libation ausführt, auf der Grundlinie. Kalpisfragment des Kopenhagen-Malers, Tübingen, Eberhard-KarlsUniversität, 480–470

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ten über das Meer (Abb. 123).92 Die Liebesgeschenke, die sie in der Hand halten (Tänien und einen Hasen), machen deutlich, dass ihr Flug ein Ziel hat, und sie nicht lediglich über der Meeresoberfläche schweben. Auf der Schale des Erzgießerei-Malers in Tarquinia mit der Zurücklassung der Ariadne durch Theseus dagegen ist der Eros, der die schlafende Ariadne bekränzt, zwar schon an seinem Reiseziel angekommen, ‚schwebt‘ aber immernoch (Abb. 75).93 Ebenso sind die vier Eroten, die auf der Schale des Makron in Berlin mit dem Parisurteil die stehende Aphrodite umgeben, ‚schwebend‘ dargestellt, obwohl sie sich hier ganz offensichtlich nicht auf Geschäftsreise, sondern am Firmensitz befinden (Abb. 27).94 Für Iris ist die Lösung von der Grundlinie also ein temporärer Zustand, für Eroten dagegen ist sie situationsunabhängig möglich. Von ganz anderer Art ist wiederum die schwebende Fortbewegung des Boreas, der Oreithyia verfolgt. Auf einer Hydria des Niobiden-Malers in Basel läuft der geflügelte Boreas der fliehenden Oreithyia hinterher, berührt dabei im Gegensatz zur ebenfalls laufenden Oreithyia die Grundlinie mit seinen Füßen aber nicht (Abb. 124).95 Rennt er nun oder fliegt er? Die von der Figur des Boreas ausgeführte Tätigkeit ist offenbar ein Rennen. Mit seinen Flügeln tut er nichts, sie weisen ihn nur als jemanden aus, der die Fähigkeit besitzt, beim Laufen nicht auftreten zu müssen.96 Diese selbe Eigenschaft zeichnet die geflügelten Pferde des Helios aus: Sie können zwar in die Lüfte aufsteigen, galoppieren dabei aber weiter. Es sind also auch dort nicht die Flügel, welche sie vorwärts bringen, sondern weiterhin die Beine. Die Flügel sind nur das Zeichen der Fähigkeit, auch dann noch zu galoppieren, wenn es keinen Boden unter den Füßen gibt. Ins Bild wird diese Fähigkeit durch die Loslösung von der Grundlinie übersetzt. Für das Fliegen der Niken, der Iris oder der Eroten genügte der Einsatz der Flügel. Das Fliegen ist für letztere so gesehen keine Tätigkeit: Sie haben beide Hände frei, um Gegenstände zu tragen, oder um, wie die Iris auf der Halsamphora des Niobiden-Malers, in zierlicher Gebärde einen Gewandzipfel zu halten. Für Boreas oder die geflügelten Pferde des Helios dagegen ist die ‚schwebende‘ Fortbewegung sehr wohl eine Tätigkeit: Sie bedürfen einer Laufbewegung ihrer Körper. Der Prototyp des Laufens ohne Auftreten ist der Knielauf. In der früheren schwarzfigurigen Vasenmalerei sind es vor allem Figuren im Knielaufschema, die ohne Kontakt zur Grundlinie erscheinen können. Auf der namensgebenden Amphora des Nessos-Malers aus dem späten 7. Jh. befinden sich Herakles und Nessos, welche das Halsbild, ebenso wie die Vögel, welche die Henkel und die Gefäßlippe schmücken, jeweils auf einer Grundlinie (Abb. 125).97 Die im Knielaufschema wiedergegebenen Gorgonen auf dem Hauptbild dagegen ‚schweben‘ auf dem Vasengrund.98 Bezeichnend ist dabei, dass ihre geköpfte Schwester sowohl die Flügel zugeklappt hat als auch auf die Grundlinie gestürzt ist: Bei grundsätzlich

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149 Abb. 122 Eros fliegt mit einer Blume in der Hand über das Meer. Schale des Töpfers Kachrylion, Florenz, Mus. Archeologico, um 510 (Außenseiten: Abb. 281 und 299)

Abb. 123 Drei Eroten fliegen über das Meer. Stamnos des Sirenen-Malers, London, British Mus., um 470 (Vorderseite: Abb. 144)

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Bildinterne Untersuchung

Abb. 124 Boreas verfolgt Oreithyia und berührt in seinem Lauf die Grundlinie nicht. Hydria des Niobiden-Malers, Basel, Antikenmuseum, 460–450

Abb. 125 Anders als Herakles und Nessos auf dem Halsbild ‚schweben‘ die im Knielaufschema dargestellten Gorgonen über der Grundlinie. Die enthauptete Gorgo Medusa ist auf die Grundlinie herabgesunken und hat die Flügel zugeklappt. Amphora des Nessos-Malers, Athen, Nationalmuseum, letztes Viertel 7. Jh.

Boden und Himmel/Grundlinie und Bildfeld

151 Abb. 125

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Bildinterne Untersuchung

Abb. 126 Perseus verfolgt von den Gorgonen. Tyrrhenische Amphora des Castellani-Malers, Frankfurt, Mus. für Vor- und Frühgeschichte, 570–560

gleicher Stellung der Beine mit angewinkelten Knien berührt die Gorgo Medusa die Grundlinie mit dem Ballen des hinteren Fußes, dem Knie und dem gesamten vorderen Fuß. Sie ist also ebenfalls im Knielaufschema wiedergegeben, doch ist dieses gewissermaßen abgesackt und dadurch entdynamisiert. Die Bewegungsfähigkeit der ‚schwebenden‘ Gorgonen mit aufgeklappten Flügeln steht also im Gegensatz zur Bewegungsunfähigkeit der Medusa mit Grundlinienkontakt und eingeklappten Flügeln. Das Schweben der Gorgonen hat also nichts zu tun mit einem Schweben im schwerelosen Raum, mit der Unmöglichkeit, sich an Festem abzustoßen und sich so selbstständig fortzubewegen. Vielmehr impliziert es ein Laufen mit außerordentlicher Geschwindigkeit, wogegen der Kontakt mit der Grundlinie entdynamisiert. Die Gorgonen auf den Henkeln des KlitiasKraters haben ebenfalls keinen Kontakt zur Grundlinie. Doch gilt dies bei weitem nicht für alle Figuren im Knielaufschema. Auf einer tyrrhenischen Amphora in Frankfurt mit der Darstellung der Verfolgung des Perseus berühren alle drei Gorgonen die Grundlinie – wie die geköpfte Gorgo Medusa auf der Amphora des Nessos-Malers – mit dem Ballen des hinteren Fußes, dem Knie und dem gesamten vorderen Fuß (Abb. 126).99 Dass diese Berührung intendiert war, sieht man daran, dass die Zehen des hinteren Fußes jeweils abgeknickt sind, also auf die Berührung mit der Grundlinie reagieren. Der fliehende Perseus dagegen, dessen Körperhaltung man kaum überhaupt einen Knielauf nennen kann, ‚schwebt‘ deutlich über der Grundlinie, was zusätzlich dadurch betont wird, dass der Abstand zur Grundlinie mit einer Palmette mit seitlichen Voluten gefüllt wurde. Dass hier die Gorgonen die Grundlinie berühren, nicht aber Perseus, bezeichnet wohl die Tatsache, dass Perseus schneller ist, dass er den Gorgonen entkommt.100 Diese Weise, zwischen Perseus

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153 Abb. 127 Perseus flieht vor den Gorgonen. Mit dem vorderen Fuß ist er bereits ‚abgehoben‘. Lekythos, Paris, Cabinet des Médailles, 540–530

und den Gorgonen zu differenzieren, findet sich auch auf dem Schulterfries einer Hydria der tyrrhenischen Gruppe in Wien101 oder auf dem Schulterfries einer Hydria aus dem zweiten Viertel des 6. Jh.102 Auf einer Lekythos im Cabinet des Médailles um 540–530 geht die Differenzierung nicht ganz so weit: Die Gorgonen berühren mit beiden Füßen die Grundlinie, während Perseus sie nur mit dem hinteren Fuß berührt und mit dem vorderen Bein bereits ‚abhebt‘ (Abb. 127).103 Wie kommt es jedoch, dass Figuren den ‚schwebenden‘ Knielauf auch dann noch ausführen können, wenn sie von der Grundlinie nicht gelöst sind? Das Knielaufschema zeigt die Beine des Laufenden derart, dass weder der hintere Fuß, noch der vordere Fuß Gewicht tragen und zum Zwecke der Fortbewegung nach vorne verlagern können. Die Last des Körpers läge eher noch auf dem Knie, so dass bei rein mechanischer Lesart dieses Motives der Eindruck entstünde, die Figur liefe, wie der Name schon sagt, auf den Knien. Da eine solche Lesart absurd wäre, muss man daraus schließen, dass bei diesem Lauf die Last des Körpers nicht mehr lastet, sie sich gewissermaßen in Geschwindigkeit aufgelöst hat. Das Auftreten auf den Boden verliert bei diesem Lauf seine Funktion, es ist nicht mehr nötig. Die Tatsache, dass der Knielauf ein ‚schwebenden Lauf‘ ist, ist also bereits in das Motiv eingeschrieben, und es bleibt auch dann ein ‚schwebender Lauf‘, wenn der Läufer auf der Vase die Grundlinie berührt.104 Diese

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Abb. 128 Perseus und die Gorgonen verfolgen sich um die Vase herum. Skyphos des Theseus-Malers, Malibu, J. Paul Getty-Mus., 510–500

Bildinterne Untersuchung

Definition der Eigenart des Knielaufs deckt sich mit der Tatsache, dass Figuren im Knielauf meistens Flügelschuhe tragen, womit auf deutlichste Weise zum Ausdruck kommt, dass die Füße des Laufenden nicht lasten, auch wenn sie auftreten. Diese Eigenschaften des Knielaufs lassen sich auf das Genaueste mit der Weise in Verbindung setzen, in der Hermes bei Homer Strecken hinterlegt. Die Beschreibung der Reise des Hermes zur Nymphe Kalypso etwa beinhaltet sämtliche für das Knielaufschema charakteristischen Elemente.105 Unter den späteren Darstellungen der Verfolgung des Perseus aus den letzten Jahrzehnten des 6. Jh. wird nicht mehr zwischen Perseus und den Gorgonen durch das ‚Abheben‘ oder ‚Nicht-Abheben‘ der Figuren unterschieden. Entweder alle ‚schweben‘, wie auf Amphoren des AntimenesMalers,106 oder aber alle berühren die Grundlinie, wie auf einem Skyphos des Theseus-Malers – dann allerdings wird auch kein eigentlicher Knielauf mehr dargestellt (Abb. 128).107 Dafür beginnt sich in dieser Zeit die oben vorgestellte Vielfalt der verschiedenen Arten des ‚Schwebens‘ von Figuren zu entwickeln.108 Bis dahin war der Knielauf nämlich die beinahe ausschließliche Form, in der sich Figuren von der Grundlinie lösen konnten. Nur in Ausnahmefällen konnte auch eine Figur in konventionellem Lauf die Grundlinie verlassen. Der Achilleus des Troilos-Frieses auf dem Klitias-Krater etwa, der in riesigen Sprüngen die Pferde des Troilos verfolgt, hebt auch mit dem hinteren Fuß von der Grundlinie ab. Die Lösung von der Grundlinie bezeichnet hier die außergewöhnliche Tat, die es darstellt, zu Fuß ein Pferd einzuholen. Ab dem Moment, wo der Knielauf nicht mehr die einzige Form des ‚Schwebens‘ ist, die in der attischen Vasenmalerei regelmäßig auftritt, wird beim Knielauf das ‚Schweben‘ zur Pflicht. Wie kommt es zu dieser Koinzidenz? Im Gegensatz zum Knielaufschema, wo das ‚Schweben‘ über dem Boden bereits in das Motiv eingeschrieben ist, gleich ob die Figur die Grundlinie berührt oder nicht, muss in den neuen Formen des ‚Schwe-

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bens‘ das Schweben über dem Boden durch ein ‚Schweben‘ über der Grundlinie dargestellt werden. In einem ikonographischen Kontext nun, wo Schweben über dem Boden durch ‚Schweben‘ über der Grundlinie wiedergegeben wird, kann offenbar eine Figur, die die Grundlinie berührt, nicht mehr als schwebend verstanden werden, auch wenn sie im Knielaufschema dargestellt ist. Der Leser mag sich fragen, ob der Zusammenhang der Untersuchung von Figuren, die die Grundlinie nicht berühren, mit dem Thema dieser Arbeit nicht ein wenig konstruiert sei, bzw. ob deren Ergebnisse überhaupt einen substanziellen Beitrag zu der Frage nach dem Raum in der attischen Vasenmalerei lieferten. Anlass für Zweifel am Nutzen dieser Untersuchung für diese Frage ist wohl vor allem die Tatsache, dass die Räumlichkeit, die sich in der Bindung der Figuren an die Grundlinie oder ihrer Lösung von der Grundlinie äußert, immer nur zur Differenzierung und Charakterisierung einzelner Figuren verhilft, nicht aber sämtliche Figuren in einen dem entsprechenden Bild eigenen Raum einspannt: Das Meer, das Herakles und Triton ihren Ringkampf unter besonderen Bedingungen austragen lässt, bezieht die umstehenden Figuren nicht mit ein. Unter Abzug der Figuren bleibt von dieser Form von Räumlichkeit nichts mehr übrig. Dieser Zweifel bestätigt aber letztlich nur die Feststellung, dass der Bildraum gleichbedeutend mit dem von der Bildfeldbegrenzung definierten Feld ist, und dass die Bildfeldbegrenzung wiederum keine eigene ikonographische Bedeutung besitzt. Unter dieser Voraussetzung kann die Frage nach dem Raum zwei Dinge beinhaltet: Entweder man interessiert sich für das Verhältnis der Figuren zueinander – in diesem Fall ließe sich der schwer definierbare Begriff des Raumes allerdings durch den viel klareren Begriff der Interaktion ersetzen – oder man interessiert sich für das Verhältnis der Figur zum Bildfeld. Daran, dass das Berühren oder nicht Berühren der Grundlinie Räumlichkeit in diesem letzten Sinne betrifft, kann nun gar kein Zweifel sein. Die Tatsache, dass die Möglichkeit räumlicher Differenzierung durch die Bindung der Figuren an die Grundlinie oder ihre Lösung von der Grundlinie von den Malern nur zur Differenzierung verschiedener Figuren in ihrem Verhältnis zum (immergleichen) Bildraum, nicht aber zur Differenzierung des Bildraums in den Vorgaben, die er der Disposition der Figuren macht, verwendet wird, zeigt desweiteren, dass die ikonographische Bedeutungslosigkeit des Bildfelds/des Bildraums von den Malern nicht als Mangel angesehen wurde, dem es durch andere Mittel – etwa durch diese alternative Möglichkeit räumlicher Differenzierung – abzuhelfen gegolten hätte. Insofern birgt der besagte Zweifel am Nutzen dieser Untersuchung für die Frage nach dem Raum also ein positives Ergebnis. Es fordert dazu auf, die Gleichheit von Bildfeld und Bildraum und die da-

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mit einhergehende ikonographische Bedeutungslosigkeit des Bildraumes nicht vorschnell auf die Zwänge des Bildmediums Vase zurückzuführen: Auch dann, wenn das ‚Schweben‘ der Figuren den Malern die Möglichkeit gegeben hätte, dem Meer als Ort einer dargestellten Handlung einen bildlichen Ausdruck zu verleihen, wird dies nicht konsequent durchgeführt. Es werden also auch mögliche ‚Auswege‘ aus den vermeintlichen medialen Zwängen nicht genutzt.

Figurative Bildfeldbegrenzung Im folgenden Unterkapitel soll es um Vasenbilder gehen, bei denen die Bildfeldbegrenzung entgegen der allgemeinen Regel dennoch eine ikonographische Bedeutung besitzt. Dieser Sonderfall verdient im Kontext dieser Arbeit eine eigene Untersuchung, da er Landschaftsdarstellung am Nächsten zu kommen scheint, insofern dort der Raum, dem die Figuren unterworfen sind, eine figurative Gestaltung erfährt. Von den als Landschaftselemente bezeichneten Motiven werden v.a. die hochaufragenden, eine bildfeldbegrenzende Funktion einnehmenden Felsen und Höhlenfelsen109 behandelt werden. Einige Beispiele von figurativer Fassung der Bildfeldbegrenzung wurden am Ende des vorhergehenden Kapitels (unter „Ausnahmen, die die Regel bestätigen“) bereits behandelt.110 Auf der Würzburger Hydria mit den wasserholenden Frauen tragen drei Säulen ein Gebälk, das unmittelbar an das Mäanderband anschließt, welches die Grenze zum Schulterbild markiert (Abb. 78).111 An die seitlich begrenzenden Palmettenbänder schließen die durch schwarze Streifen angegebenen Seitenwände des Brunnenhauses an. Auf der Kalpis mit wasserholenden Frauen aus dem Londoner Kunstmarkt ist das im schwarzen Firnis ausgesparte Bildfeld mit einem welligen Umriss versehen, der den ‚Bildfeldkasten‘ zur Höhle werden lässt (Abb. 79).112 In diesen Fällen schließt sich die figurative Bildfeldbegrenzung jeweils an ein von der Typologie der Vase her bereits begrenztes Bildfeld an: Auf der Würzburger Hydria ist das Bildfeld seitlich von Palmettenbändern und oben von einem Mäanderband eingefasst. Auf der Kalpis ist eine Bildfeldgrenze schon allein dadurch gegeben, dass der Vasenkörper schwarz gefirnisst ist, und nur das Bildfeld ausgespart ist.113 Die bereits bestehende Bildfeldbegrenzung wird jeweils durch figurative Motive ‚eingekleidet‘. Bei Vasen, deren Dekorationsschema Bildfelder ohne externe seitliche Begrenzung vorsieht,114 wird das offene Bildfeld zuweilen durch Motive mit vertikaler Ausdehnung ‚geschlossen‘. Diese zweite Möglichkeit figurativer Bildbegrenzung, bei der nicht eine bestehende externe Begrenzung ergänzt, sondern ein offenes Bildfeld durch ein figuratives Motiv abgeschlossen wird, findet sich z.B. auf einer Lekythos

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des Emporion-Malers in Gela mit zwei Äthiopiern, welche die Leiche des Memnon tragen (Abb. 129).115 Zu beiden Seiten erscheint je ein vertikal aufragender Fels, der die gesamte verfügbare Höhe einnimmt, so dass er das Bildfeld dem Rest des Frieses gegenüber abschließt. Als seitlicher Abschluss des Bildfelds dienen auf Lekythen häufig auch Säulen, wie man es auf einem Exemplar des Gela-Malers um 500 sieht (Abb. 130).116 Hier sind Apollon und Artemis zu den Seiten einer Palme dargestellt und werden von Säulen gerahmt. Auf den ersten Blick scheinen diese beiden Möglichkeiten figurativer Bildfeldbegrenzung grundverschieden: Im ersten Fall wird eine räumliche Struktur wie ein Brunnenhaus oder eine Höhle auf die externe Bildfeldbegrenzung aufgespannt, wodurch der Eindruck entsteht, diese räumliche Struktur werde von den begrenzenden Ornamentbändern nur überdeckt, führe sich dahinter aber eigentlich fort. Dieser figurative Raum scheint also das Bildfeld als Bildraum zu ersetzen, die nicht-figurative Bildfeldbegrenzung ihrer bildinternen Bedeutung zu berauben und sie zum reinen Rahmen zu ‚degradieren‘. Im zweiten Fall scheint es dagegen nur um kompositorische Geschlossenheit zu gehen. Dies wiederum kann auch mit Motiven ohne die geringste räumliche Relevanz erreicht werden, wie es etwa eine Lekythos der Haimon-Gruppe in Hamburg zeigt (Abb. 131).117 Das Bild von Herakles und dem Erymanthischen Eber ist rechts und links von je einem hängenden Gewand gerahmt, das ebenso wie Felsen oder Säulen die gesamte Höhe des Frieses einnimmt. Außerdem könnte man behaupten, dass ein figuratives Motiv, welches nicht nur an der dem Bild zugewandten, sondern auch an der äußeren Seite gänzlich ausgearbeitet und nicht ‚abgeschnitten‘ ist – wie es allermeistens der Fall ist118 –, gar nicht als Bildfeldbegrenzung bezeichnet werden könne, da die Ausarbeitung der Außenseite darauf schließen lasse, dass auch dort das Bild ‚noch nicht zu Ende‘ sei. Dieser letzte Einwand lässt sich eindeutig entkräften. Auf einer Lekythos des Athena-Malers sitzt Athena neben einem Altar auf einem Klappstuhl (Abb. 132).119 Das Bild ist zu den Seiten von zwei Säulen begrenzt. Obwohl der Altar angesichts seiner Größe hinter der Säule, die ihn überschneidet, noch hervorkommen sollte, ist seine Darstellung rechts von der Säule nicht weitergeführt, was zeigt, dass das Bild jenseits der Säule tatsächlich aufhört. Dasselbe geschieht links mit dem Schild der Athena. Der Bildgrenzencharakter der Säulen wird auch dadurch deutlich, dass die Säule den Altar überschneidet und nicht umgekehrt, obwohl ein Altar gegenüber einer Säule das wichtigere Motiv ist. Als Bildgrenze schneiden die Säulen die überstehenden Motive ab. Natürlich gibt es viele Beispiele solcher rahmenden Säulen, wo überstehende Motive dennoch weitergeführt werden, wie etwa der von einer rahmenden Säule überschnittene Panther auf einer Lekythos mit tanzenden Mänaden in Altenburg (Abb. 133).120

158 Abb. 129 Zwei Ethiopier tragen den Leichnam des Memnon. Die Figuren sind von zwei vertikal aufragenden Felsen eingefasst. Lekythos des Emporion-Malers, Gela, Mus. Archeologico Nazionale, um 480

Abb. 130 Apollon und Artemis um eine Palme. Hier sind es Säulen, welche die Figuren seitlich einfassen. Lekythos des Gela-Malers, Gela, Mus. Archeologico Nazionale, um 500

Bildinterne Untersuchung

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159 Abb. 131 Herakles und der Erymanthische Eber. Auch hängende Gewänder können als Bildfeldbegrenzung dienen. Lekythos der HaimonGruppe, Hamburg, Mus. für Kunst und Gewerbe, 1. Viertel 5. Jh.

Abb. 132 Athena sitzt neben einem Altar. Die Darstellung des Altars endet mit der rahmenden Säule, statt sich hinter ihr fortzuführen. Lekythos des Athena-Malers, Kansas City, The Nelson-Atkins Mus. of Art, um 500

Abb. 133 Tanzende Mänaden. Die Darstellung des Panthers endet nicht mit der rechten rahmenden Säule. Lekythos, Altenburg, Staatliches LindenauMus., 490–480

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Bildinterne Untersuchung

Doch trifft die Tatsache, dass überstehende Motive mal von der Bildfeldgrenze abgeschnitten werden, mal über diese hinausgehen, ebenso auf die begrenzenden Ornamentbänder auf Hydrien o. Ä. zu. Dass Bildfeldgrenzen nicht absolut sind, ist ein allgemeines Charakteristikum attischer Vasenbilder.121 Dass mit den rahmenden Motiven auf Lekythen das Bildfeld wahrhaftig aufhört, sie mithin eine Grenze definieren, ergibt sich außerdem aus der Tatsache, dass sehr häufig, und so auch in den bisher genannten Fällen, auf der Höhe dieses begrenzenden Motivs – sei es ein Felsen oder eine Säule – auch die Ausarbeitung des Ornamentbands am Übergang von Gefäßbauch und Gefäßschulter, welches jeweils den oberen Abschluss des Bildes definiert, aufhört. Auf der Lekythos des Athena-Malers sind die Punkte, mit denen das Ornamentband oberhalb des Bildfelds gefüllt ist, nur jeweils bis zur Mitte der begrenzenden Säulen ausgeführt. Auf der zuerst erwähnten Lekythos mit der von Äthiopiern getragenen Leiche des Memnon sind sowohl das Schachbrettmuster, mit dem das obere Ornamentband geschmückt ist als auch die Punkte des unteren Ornamentbands, das als Standlinie dient, nur bis zur Höhe der seitlich begrenzenden Felsen ausgeführt. Wo es jedoch keine Standlinie und auch keinen oberen Abschluss mehr gibt, ist auch kein Bildfeld mehr. Ob man die aufragenden Felsen nun Bildfeldbegrenzungen nennen möchte oder nicht, das Bildfeld hört jedenfalls exakt dort auf, wo sich diese befinden. Die Tatsache, dass die Ornamentbänder ober- und unterhalb des Bildfelds meist nur soweit, wie das Bild reicht, ausgearbeitet sind, zeigt desweiteren, dass der Begrenztheit des Bildfelds auch in den Fällen durch bildexterne Elemente Rechnung getragen wird, in denen das Ende des Bildfelds nicht durch vertikale Ornamentbänder oder den schwarzen Vasengrund eindeutig markiert ist. Auch in diesen Fällen wiederholt die figurative Bildfeldbegrenzung also zu einem gewissen Maße eine bereits existierende externe Bildfeldbegrenzung. Ein eindeutiger Unterschied liegt nur darin, dass es keinen unmittelbaren Anschluss des figurativen Motivs an das bildexterne, begrenzende Element gibt. Ein Löwenkampfbild auf einer Bauchamphora des Rycroft-Malers im Louvre zeigt allerdings, dass dieser unmittelbare Anschluss auch dann fehlen kann, wenn ein bildexternes begrenzendes Element vorhanden ist (Abb. 134).122 Ein aufragender Fels mit Überhang, der der Ikonographie des Höhlenfelsens entspricht, ist am linken Bildfeldrand dargestellt, wobei die Rückwand dieses Felsens dicht am begrenzenden vertikalen Ornamentband entlang verläuft, ohne dieses jedoch zu berühren. Im Normalfall läge der Höhlenfels hier direkt am vertikalen Ornamentband an, wie man es etwa auf einer Hydria der Leagros-Gruppe in London mit dem an einen Höhlenfels angelehnt schlafenden Alkyoneus sieht (Abb. 21).123 Wenn der Höhlenfels in diesem Sonderfall als isolierter Fels dargestellt ist, zeigt dies, dass auch in den Normalfällen, wo der Höhlenfels an der Bildfeldbegrenzung

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direkt anliegt, als ein isolierter, begrenzter Fels zu denken ist, dessen Rückwand nur nicht zum Vorschein kommt, weil sie vom Ornamentband überschnitten wird, bzw. im schwarzen Vasengrund verschwindet.124 Der Eindruck, die durch die figurative Bildfeldbegrenzung – hier ein Fels – angegebene räumliche Struktur werde von der externen Bildfeldbegrenzung nur überdeckt, setze sich dahinter aber eigentlich fort, ist also nicht zutreffend.125 Wenn figurative und nicht-figurative Bildfeldbegrenzung aneinander anliegen, stehen sie nicht in einem Verhältnis von Rahmen zu Gerahmten, sondern in einem Verhältnis gewöhnlicher Überschneidung, so wie auch sonst überstehende Formen von der Bildfeldbegrenzung überschnitten werden können. Der Unterschied zwischen den oben genannten zwei Möglichkeiten figurativer Bildfeldbegrenzung schwindet also dahin: Einmal wird die figurative Bildfeldbegrenzung von einer externen Bildfeldbegrenzung überschnitten, einmal wird sie, mangels externer Bildfeldbegrenzung, nicht überschnitten.126 Damit ist die figurative Fassung der Bildfeldbegrenzung, die dem Raum, dem die Figuren unterworfen sind, eine ikonographische Bedeutung verleiht, letztlich nicht mehr als eine Konturierung der Bildfläche

Abb. 134 Herakles ringt mit dem Löwen. Der Höhlenfels berührt das linke Bildfeldbegrenzungsband nicht. Amphora des Rycroft-Malers, Paris, Louvre, um 510

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mit isolierten und räumlich begrenzten Motiven, so wie es auf Vasen ohne extern begrenzte Bildfelder geschieht. Die Hoffnungen auf eine Landschaftsdarstellung im Sinne von Raumwiedergabe, welche die figurative Fassung der Bildfeldbegrenzung geweckt haben mag, und die man auf Vasen wie der oft zitierten Amphora des Priamos-Malers mit den badenden Mädchen und dem felsig umrandeten Bildfeld in der Villa Giulia erfüllt gesehen haben mag, trügen also. Es lässt sich vielmehr zeigen, dass für die Felsen, die der figurativen Bildfeldbegrenzung dienen, dieselbe Regel gilt, welche für die Landschaftselemente mit Gegenstandscharakter im letzten Kapitel erschlossen wurde, nämlich dass sie den Raum, in dem sie auftreten, nicht vereinnahmen: Auch in einem Bildfeld, das von Höhlenfelsen umgeben ist, wo also der Bildfeldkasten zur Höhle wird, sind nicht automatisch alle Figuren und Motive in einer Höhle zu denken. Die Figuren befinden sich auch weiterhin im Bildfeld, sei dieses auch mit Höhlenfelsen ummantelt. Die Tatsache, dass der Verweis auf eine Höhle durch Höhlenfelsen die Räumlichkeit des Bildes nicht tangiert, schließt allerdings nicht aus, dass diese in bestimmten Fällen eine situative Qualität besitzen und auf eine Höhle als Schauplatz des dargestellten Geschehens verweisen. Dies kann am Beispiel des Kampfes des Herakles mit dem Löwen verdeutlicht werden: Eine Reihe von Vasenbildern zeigt den Löwenkampf zwischen Höhlenfelsen, wie etwa auf einer Oinochoe in Ruvo um 500 (Abb. 136).127 Die Höhlenfelsen verweisen offensichtlich auf die Höhle des Löwen. Sie verleihen dem Bild eine zusätzliche narrative Pointe: Herakles wird nicht vom Löwen angegriffen, sondern sucht selbst den Kampf mit ihm, indem er ihn in dessen Behausung aufsucht.128 Ähnlich wie die Höhlenfelsen in Löwenkämpfen ist der Höhlenfelsen auf einer Oinochoe des Athena-Malers im Cabinet des Médailles zu verstehen, wo ein zur Hälfte aus der Höhle hervorkommender Eber einem Jäger in die Saufeder rennt (Abb. 137):129 Es ist der Jäger, welcher in die Offensive geht. Dass diese Felsen nicht nur allgemein attributiv auf den Löwen oder den Eber als wilde Tiere zu beziehen sind, sondern situativ als Angabe des Schauplatzes des Kampfes zu verstehen sind, ergibt sich erst aus dem narrativen Gesamtzusammenhang des Bildes. Bezeichnend ist dabei, dass auch in solchen Fällen, in denen der Höhlenfels tatsächlich den Schauplatz des Geschehens bezeichnet, sich dies nicht unbedingt auf alle Elemente des Bildes bezieht, wie es eine Lekythos des Athena-Malers mit einer seltenen Ikonographie des Löwenkampfes, wo der eigentliche Kampf noch nicht stattfindet, sondern sich die Kontrahenden nur gegenüberstehen, deutlich macht (Abb. 135):130 Der Löwe kommt zur Hälfte aus einem Höhlenfelsen hervor, brüllt in Richtung seines Gegners und reißt während dessen ein Reh, das sich im Moment des Sterbens noch hilflos zu seinem Mörder umwendet. Herakles nähert sich dem Löwen und wendet sich dabei zu der ihm

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163 Abb. 135 Herakles nähert sich dem Löwen, der zur Hälfte aus einem Höhlenfelsen hervorkommt. Lekythos des Athena-Malers, Japan, Kurashiki Ninagawa Mus., 500–490

Abb. 136 Herakles ringt mit dem Löwen. Das Bildfeld ist seitlich von Höhlenfelsen eingefasst. Oinochoe des Malers von Vatikan G 49, Ruvo Mus. Jatta, um 500 Abb. 137 Eberjagd. Ein Höhlenfelsen überschneidet den Eber. Oinochoe des Athena-Malers, Paris, Cabinet des Médailles, 500

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Abb. 138 Peleus führt Thetis zu seinem Ziehvater Chiron. Anstelle des in der Hochzeitsikonographie zu erwartenden Hauseingangs erscheint hier ein Höhlenfels. Stamnos des Berliner Malers, Palermo, Mus. Archeologico, um 480–470

Bildinterne Untersuchung

beistehenden Athena um. Wieder macht der Höhlenfelsen klar, dass Herakles den Löwen in seiner Behausung aufsucht und somit den Kampf mit dem Löwen selbst sucht. Während der Höhlenfels also situativ als Angabe des Schauplatzes auf die Haupthandlung zu beziehen ist, ergibt er als situative Ortsangabe für das Reißen des Rehs keinen Sinn: Schließlich geht der Löwe nicht in seiner Höhle auf die Jagd. Das sterbende Reh verweist vielmehr allgemein auf die Gefährlichkeit und Erbarmungslosigkeit des Löwen und steht in keinem spezifisch-örtlichen Verhältnis zum Höhlenfelsen. Somit vereinnahmt der Höhlenfels als Ortsangabe nicht das gesamte Bild. Wie wenig es auch solchen situativ-ortsangebenden Höhlenfelsen um die bloße Beschreibung einer Lokalität geht, zeigt schließlich ein Stamnos des Berliner Malers in Palermo, in dem ein Höhlenfels auf vielschichtige Weise an der Charakterisierung der Figuren und der Handlung teilhat (Abb. 138).131 Peleus führt die geraubte Thetis am Handgelenk haltend zu seinem Ziehvater Chiron, dessen Körper hinten in einem Höhlenfelsen verschwindet. Das Bild bedient sich der Ikonographie der Hochzeit und macht auf diese Weise die spezifischen Unterschiede zu einer gewöhnlichen Heimführung der Braut deutlich: Peleus trägt anstelle gewöhnlicher Himationtracht über einem kurzen Chiton ein Pantherfell, hat einen Reisehut und ist mit Schwert und Speeren bewaffnet.132 Der ‚Vater‘, der ihn erwartet ist ein Kentaur, dessen Behausung eine Höhle ist. Indem er das Haus des Chiron als Höhle bezeichnet, gehört der Höhlenfels, mit dem das Bild rechts abschließt, und der das Hinterteil des Kentauren überschneidet, hier zur gegensätzlichen Charakterisierung des Chiron, der zwar in richtigem Sozialverhalten den Peleus, der seine Braut heimführt,133 empfängt, gleichwohl aber Kentaur bleibt und folglich in einer

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Höhle wohnt. Insofern ist der Höhlenfels hier das Gegenstück zu einem Architekturglied wie einer Säule oder einer Tür, die ein gebautes Haus denotieren würden. Zu der situativen Qualität des Felsens als ‚Hauseingang‘ im Rahmen einer Heimführung der Braut besitzt er also auch eine auf Chiron bezogene attributive Qualität. Die räumliche Stimmigkeit des Verhältnisses von Höhlenfelsen zu Figuren verhilft diesem attributiven Verhältnis zu einer überzeugenderen Formulierung, indem diese dadurch situativ präzisiert und zugespitzt wird.134 Die figurative Bildfeldbegrenzung steht also a priori in einem genauso wenig räumlichen Verhältnis zu den Figuren wie sonstige Landschaftselemente: Räumliche Stimmigkeit ist nicht ausgeschlossen, kann als Mittel zur überzeugenden Gestaltung von Bildern verwendet werden, ist aber keineswegs notwendig. Wenn bildfeldbegrenzende Höhlenfelsen diesbezüglich nun keine Sonderstellung gegenüber den übrigen begrenzten und isolierten Felsen im Bildfeld einnehmen, bleibt ihnen dennoch eine Eigenheit, die es rechtfertigt, dieser Gattung von Felsen ein eigenes Unterkapitel zu widmen: Höhlenfelsen finden sich ausschließlich am Bildfeldrand. Man kann diese Regel allgemein auf hochaufragende Felsen übertragen, solange diese keine Funktion erfüllen oder unmittelbar in eine Handlung eingebunden sind, wie dies etwa bei den Felsen des Skiron der Fall ist.135 Insofern haben hochaufragende Felsen am Bildrand mit den übrigen Landschaftselementen zwar die Eigenschaft der räumlichen Begrenztheit gemeinsam, die Eigenschaft der Mobilität dagegen teilen sie nicht. Während Sitz- oder Liegefelsen auf der Grundlinie beweglich sind und sich immer unter den Sitzenden oder Lagernden schieben, sind vertikal aufragende Felsen an eine bestimmte Position im Bildfeld, nämlich an seine seitlichen Ränder, gebunden. Diese Bindung besteht unabhängig davon, ob die seitlichen Ränder des Bildfelds durch eine externe Bildfeldbegrenzung markiert sind oder nicht.136 Man wäre vielleicht versucht, die Tatsache, dass vertikal aufragende Felsen an die seitlichen Bildfeldgrenzen gebunden sind, statt als allgemeine Regel, als die Folge dessen anzusehen, dass Felsen mit vornehmlich vertikaler Ausdehnung in der Mitte von Bildfeldern kompositorisch schwer unterzubringen sind, was zweifellos richtig ist. Eine solche beschwichtigende Erklärung könnte sich zugute halten, dass diese Regel nicht ganz ohne Ausnahmen ist.137 Eine besondere Bindung der Felsen nicht nur, wie es naheliegend scheint, an die Grundlinie, sondern auch an die obere und die seitlichen Bildfeldbegrenzungen lässt sich anhand einiger ungewöhnlicher Bilder, die ohne eine solche Bindung nicht zu erklären wären, aber auch positiv belegen. Auf einer Lekythos des Theseus-Malers um 500 auf dem Kunstmarkt mit den lagernden Herakles und Hermes in der Höhle des Pholos ist entlang der oberen Bildfeldgrenze und über die gesamte

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Bildinterne Untersuchung

Abb. 139 Herakles im Kampf mit einer Amazone. An verschiedenen Stellen ist Fels an die Bildfeldbegrenzung angefügt. Oinochoe, Triest, Mus. Civico, um 480

Breite des Bildfelds ein aus einer Reihe von Buckeln bestehender und weiß konturierter Fels dargestellt (Abb. 42).138 Der Fels meint offenbar die felsige Decke der Höhle des Pholos. Wie kommt es nun, dass diese Felsendecke, die durch keine Felswand gestützt ist, nicht auf die Lagernden herunterfällt, bzw. warum besteht kein Bedarf, diese Felsendecke zu stützen? Offenbar reicht der Anschluss an das Ornamentband am Übergang zur Gefäßschulter (die obere Bildfeldbegrenzung), um die Vorstellung, diese Felsenmasse könne herabfallen, ebenso absurd erscheinen zu lassen, wie dass das Ornamentband selbst herabfalle. Durch die Bindung an die obere Bildfeldbegrenzung ist der Fels gewissermaßen immobilisiert und von der Bewegung und Beweglichkeit der Figuren im Bildfeld ausgeschlossen.139 Felsen, die an den oberen Bildfeldrand angeschlossen sind, sind zwar nicht häufig, doch finden sich dafür dennoch weitere Beispiele. Auf spätschwarzfigurigen Vasen tauchen solche Felsen sogar mit einer gewissen Regelmäßigkeit auf, wie etwa auf einer Oinochoe in Triest mit Herakles im Kampf mit einer Amazone, wo über dem Kopf des Herakles Felsen an die obere Bildfeldbegrenzung anschließen (Abb. 139).140 Doch finden sich Felsen auch an der seitlichen Bildfeldbegrenzung rechts von der stürzenden Amazone und auf der Grundlinie zwischen den Beinen des Herakles. Überall dort, wo zwischen Figuren und Bildfeldrand ein größerer Zwischenraum bleibt, sind also an die Bildfeldbegrenzung Felsen angefügt, gleich ob es sich um die seitliche, die obere oder die untere Bildfeldgrenze handelt. Dass Felsen an die Bildfeldbegrenzung an verschiedenen Stellen

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167 Abb. 140 Rennender Stier und Altar. Oinochoe des Halbe Palmetten-Malers, Ferrara, Mus. Nazionale di Spina, um 480

angefügt sind, findet sich unter diesen spätschwarzfigurigen Vasen häufiger. Auf einer Oinochoe des Halbe-Palmetten-Malers in Ferrara, wo ein Stier auf einen Altar zustürmt, ist der gesamte linke Bildrand von einem Höhlenfelsen bedeckt, und ein weiterer Fels hängt an der oberen Bildfeldbegrenzung, wo er die rechte obere Ecke füllt (Abb. 140).141 Auf einer Olpe desselben Malers in Ferrara ist ein Mann mit Mantel und Stock, der sich zu einer Schlange umwendet, von Felsen umgeben, die die linke und rechte obere Ecke des Bildfelds füllen und auf der Grundlinie eine kleine Erhebung bilden.142 Felsen, welche die oberen Ecken von Bildfeldern füllen, können auch auf Bildfeldern auftauchen, wo es solche Ecken gar nicht gibt, da sie keine externe seitliche Begrenzung aufweisen. So erscheint auf einer Lekythos des Gela-Malers mit Gefährten des Odysseus, die unter den Bäuchen der Widder aus der Höhle des Polyphem fliehen, am linken Ende des Bildfrieses ein Fels an der oberen Bildfeldbegrenzung, der die – nicht existierende – Ecke des Bildfelds nachzeichnet, ohne bis zur Grundlinie herabzureichen.143 In den aufgezählten Beispielen werden Felsen unterschiedslos an die untere, die seitlichen oder die obere Bildfeldgrenze angefügt. Bezüglich ihrer Fähigkeit, Felsen aufzunehmen, gibt es offensichtlich keinen grundsätzlichen Unterschied zwischen dem Boden, den Seitenwänden und der Decke des ‚Bildfeldkastens‘. Dass dies nicht nur für die meist flüchtig gemalten spätschwarzfigurigen Vasen gilt, sondern auch für die ‚besten‘ rotfigurigen Maler, zeigt sich an den zahlreichen Schaleninnenbildern des ersten Drittels des 5. Jh. mit meist dionysischer Thematik, wo wellige Fel-

168 Abb. 141 Tanzende Mänade. Schale des Brygos-Malers, Basel, Antikenmuseum, 490–480

Abb. 142 Eberjagd zwischen Höhlenfelsen. Schale des Penthesilea-Malers, New York, Metropolitan Mus., um 450

Bildinterne Untersuchung

Boden und Himmel/Grundlinie und Bildfeld

169 Abb. 143 Ein Satyr robbt (bzw. purzelt) einen Fels hinab, um zu einer schlafenden Frau zu gelangen. Schale des Onesimos, Malibu, J. Paul Getty-Mus., 500–490

sen über einen Abschnitt des Tondoumkreises gelegt werden, und dieser Abschnitt jeweils danach ausgesucht wird, wo ein größerer Freiraum zwischen den Figuren und dem Bildfeldrand bleibt.144 Ob es sich dabei um Höhlenfelsen oder Felsen am Boden handelt, ist niemals genau zu entscheiden. Die stets seitliche Position dieser Felsen ergibt sich einfach daraus, dass die dargestellte Figur auf dem Tondoumkreis steht und die gesamte Höhe des Bildfelds einnimmt, so dass ein Freiraum weder zu ihren Füßen, noch über ihrem Kopf, sondern bloß zu ihren Seiten bleibt,145 wie man es etwa auf einer Schale des Brygos-Malers in Basel sieht (Abb. 141).146 Wellige Felsen können auch an zwei Abschnitten des Tondoumkreises erscheinen, wie man es etwa auf einer Schale des Penthesilea-Malers in New York sieht, wo rechts und links von einem Jäger und einem Eber wellige Felsen den Freiraum füllen (Abb. 142).147 Schließlich findet sich unter den Schaleninnenbildern mit welligen Felsen am Bildfeldrand auch die für den Halbe-Palmetten-Maler typische Kombination mit einem Altar, wie man es auf einer Schale des Brygos-Malers aus dem Kunsthandel sieht.148 Das schönste Beispiel eines Felsens, der an den Tondorand angefügt ist, ist wohl die Schale des Onesimos in Malibu, wo ein Satyr auf einem Felsen auf eine im unteren Drittel des Tondoumkreises schlafende Mänade herabklettert (bzw. herabpurzelt …) (Abb. 143).149 Die Krümmung des Tondorands, welche den Felsen abwärts richtet, wird hier dazu genutzt, den Satyrn auf direktem Wege zum Mund der Schlafenden zu führen, den dieser offenbar zu küssen plant. Die räumliche

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Abb. 144 Odysseus und die Sirenen. Die Felsen, auf denen diese sitzen, sind einfach an die seitlichen Bildfeldbegrenzungen angefügt. Stamnos des Sirenen-Malers, London, British Mus., um 470 (Rückseite: Abb. 123)

Bildinterne Untersuchung

Konstellation, die sich daraus ergibt, lässt sich überhaupt nicht in die Wirklichkeit übersetzen und hat nur in einem Schalentondo Bestand. Die Möglichkeit, Felsen nicht nur an die untere Bildfeldbegrenzung anzuschließen (i.e. auf die Grundlinie zu setzen), sondern unterschiedslos an die gesamte Bildfeldbegrenzung, wird auch an der Namensvase des Sirenen-Malers deutlich. Das oft als Landschaftsbild gerühmte Bild mit dem Schiff des Odysseus, das an den Sirenen vorbeifährt,150 zeigt Felsen, die auf halber Höhe aus den seitlichen Begrenzungsornamentbändern hervorkommen, ohne bis zu der von Meer bedeckten Grundlinie hinabzureichen (Abb. 144).151 Die Tatsache, dass die Sirenen auf zwei Felsen zu beiden Seiten des Schiffes sitzen, bedeutet nicht, dass es hier zwei Sireneninseln gäbe, zwischen denen das Schiff hindurchführe, und von denen jeweils ein Felsvorsprung ins Bild hineinragen würde.152 Vielmehr sind die Felsen, so wie sie in anderen Fällen an der ‚Decke‘ des ‚Bildfeldkastens‘ verankert sein können, hier an den seitlichen Begrenzungsbändern verankert und um das zentrale Motiv des Schiffes angeordnet,153 ohne dass damit eine Aussage über das räumliche Verhältnis von Schiff und Sireneninsel verbunden wäre. Dass dies ein normaler Vorgang ist, zeigt sich da-

Boden und Himmel/Grundlinie und Bildfeld

171 Abb. 145 Odysseus und die Sirenen. Oinochoe, Berlin, Slg. Brommer, um 510

ran, dass dieses Bild damit nicht alleine steht: Auf einer schwarzfigurigen Oinochoe um 510 mit gleichem Bildthema, die keineswegs im Ruf außergewöhnlicher Landschaftsdarstellung steht, ragen ebenfalls zwei Felsen von den seitlichen Bildrändern ausgehend ins Bildfeld hinein (Abb. 145).154 Insofern auf den Felsen Sirenen sitzen, zeigt sich an dem Stamnos in London desweiteren, dass Felsen, die an die seitliche Bildfeldbegrenzung angefügt sind, nicht weniger in das Bild integriert sind als Felsen, die in der Grundlinie verankert sind. Auf einer Schale des Malers der Pariser Gigantomachie mit Dionysos und dem tanzenden Thiasos hockt auf einem hohen Fels, der aus der Henkelzone in den Bildfries hineinragt, ein Satyr, der sich zur Bildfeldmitte hin umwendet und in diese Richtung eine Handbewegung ausführt (Abb. 146).155 Auf einer Schale des Ancona-Ma-

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Bildinterne Untersuchung

Abb. 146 Dionysos und sein rasender Thiasos. Ein Satyr befindet sich auf einem in der Henkelzone aufragenden Fels. Schale des Malers der Pariser Gigantomachie, Basel, Antikenmuseum, um 480

lers mit dem Thiasos auf den Außenseiten sitzt auf einem entsprechenden Fels am Bildrand ein Hirte, der sich zu den Satyrn und Mänaden umwendet (Abb. 147).156 Trotz der bildfeldbegrenzenden Funktion dieser Felsen, sind sie hier also Teil des Bildgeschehens, woraus zu schließen ist, dass bildfeldbegrenzende Felsen zumindest potenziell auch sonst in das Bildgeschehen integriert werden können.157 Es hatte sich bereits herausgestellt, dass sich die untere, die obere und die seitlichen Bildfeldbegrenzungen in ihrer Fähigkeit, Felsen aufzunehmen (und zu verankern) nicht unterscheiden, dass die Grundlinie also gegenüber den übrigen bildfeldbegrenzenden Linien diesbezüglich keine Sonderstellung innehat. Nun scheint auch der vermeintlich grundsätzliche Unterschied zwischen Felsen auf der Grundlinie im Bildfeld und bildfeld-

Boden und Himmel/Grundlinie und Bildfeld

173 Abb. 147 Dionysos und sein Thiasos. Ein Hirte betrachtet das Geschehen von einem hohen Fels beim Henkel aus. Schale des Ancona-Malers, New York, Kunsthandel, 470–460

begrenzenden Felsen an den Rändern zu schwinden, da letztere handlungsmäßig ebenso ins Bild integriert sein können. Die Verankerung des Felsens in der Grundlinie oder seine Verankerung in der seitlichen oder oberen Bildfeldbegrenzung lässt also nicht zwischen zwei Arten von Felsen unterscheiden, sondern ist Ausdruck einer selben allgemeinen Regel, die besagt, dass Felsen an die Bildfeldbegrenzung gebunden sind. In anderen Worten ausgedrückt, heißt das, dass Felsen auf der Grundlinie – wo sie selbstverständlich mit Abstand am häufigsten auftreten – dort nicht qua Boden, sondern qua Bildbegrenzung verankert sind. Die Tatsache, dass hochragende Felsen allermeistens an die seitlichen Bildbegrenzungen angesetzt werden, ist im Rahmen dieser Regel eine naheliegende Folge daraus, dass Felsen mit vornehmlich vertikaler Ausdehnung die größte Berührungsfläche mit der vertikalen seitlichen Bildfeldbegrenzung haben. Dass die Zuordnung hoher Felsen an die vertikalen Bildränder wiederum nicht ganz ausnahmslos geschieht, gefährdet dabei nicht die Richtigkeit des Prinzips. Hierbei ist es bezeichnend, dass sich Felsen, wenn sie nicht einer bestimmten Funktion (wie dem Sitzen) verpflichtet sind, in ihrer Form stets entweder an die horizontale Achse oder an die vertikale Achse halten, welche respektive die horizontalen und vertikalen Begrenzungen des ‚Bildfeldkastens‘ vorgeben, Felsen mit ‚diagonaler‘ Steigung dagegen kaum zu finden sind.158 Die Anordnung der Felsen auf einer Schale des DokimasiaMalers in Kopenhagen mit Jagdszenen auf beiden Außenseiten ist hierfür symptomatisch: Es befinden sich Felsen jeweils sowohl an der Grundlinie als auch am rechten Bildfeldende, wobei diese aufgrund ihrer respektiven Orientierung an der Grundlinie und am seitlichen Bildfeldende in einem rechten Winkel zueinander stehen (Abb. 148).159 Ein rechtwinkliges Abbiegen des Felsens an der Ecke des ‚Bildfeldkastens‘, an dem Punkt also, wo die horizontale und die vertikale Achse zusammentreffen, findet sich auch an dem Höhlenfels, unter dem Alkyoneus auf einer Hydria der Lea-

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Bildinterne Untersuchung

Abb. 148 Jagd auf ein Reh (A) und ein Wildschwein (B). Die Felsen biegen am Bildfeldrand jeweils rechtwinklig in die Vertikale. Schale des DokimasiaMalers, Kopenhagen, Nationalmuseum, 480–470

gros-Gruppe in London liegt (Abb. 21).160 Paradigmatisch für die Unmöglichkeit schräg ansteigenden Terrains in der attischen Vasenmalerei161 ist schließlich der Ausnahmefall, welchen eine Figurenvase des Sotades darstellt: An der Anschlussstelle zwischen der plastischen Gruppe eines Krokodils, welches sich am Arm eines Äthiopiers festgebissen hat, und dem eigentlichen Trinkgefäß bleibt zu beiden Seiten ein dreieckförmiges Bildfeld mit schräg ansteigender Unterseite, an der jeweils ein Satyr emporkriecht (Abb. 149).162 Diese Ausnahme von der Regel wurde hier also nur dadurch möglich, dass es die Grundlinie selbst ist, die schräg ansteigt. Als begrenzte Gebilde, die nicht die Räumlichkeit des Bildes definieren, ist auf die hochragenden Felsen am Bildrand grundsätzlich auch der Ge-

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175 Abb. 149 Satyrn und Mänaden. Rhyton des SotadesMalers, Paris, Petit Palais, um 460

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Bildinterne Untersuchung

genstandscharakter der Landschaftselemente zu übertragen. Auch wenn sich Höhlenfelsen an die Bildbegrenzung anknüpfen und so wie die Höhlenwand eine Höhle das Bildfeld umgeben, bleibt das Bild nicht in einen fiktiven Raum übersetzbar. Dies wird besonders deutlich auf dem Stamnos des Sirenen-Malers in London: Dass sich das Schiff des Odysseus zwischen zwei Felsen befindet, besagt – räumlich gesprochen – nichts Anderes als die Selbstverständlichkeit, dass es sich zwischen den beiden seitlich begrenzenden Ornamentbändern befindet, da die Felsen nicht an ein bestimmtes räumliches Verhältnis zu dem Schiff, sondern an die seitlichen Bildfeldbegrenzungen gebunden sind. Damit erklären sich auch die Fälle, in denen sich eine figurative Bildfeldbegrenzung an die externe Bildfeldbegrenzung knüpft, ohne dass das räumliche Gebilde, welches auf die Bildfeldbegrenzung aufgespannt ist, den Ort des Geschehens auf dem Bild bezeichnen würde: Ebensowenig wie eine dargestellte Schlacht in einem Bildfeld stattfindet, muss eine Szene, die von Höhlenfelsen eingefasst ist, in einer Höhle stattfinden. Die Tatsache nun, dass die figurative Bildfeldbegrenzung den Ort des Geschehens zwar nicht bezeichnen muss, ihn aber dennoch bezeichnen kann – dass das Aufgespanntsein auf die externe Bildfeldbegrenzung dies also nicht von vorne herein ausschließt – erklärt sich daraus, dass aufgrund des Fehlens eines fiktiven Bildraums der Unterschied zwischen dem Bild und seinem Rahmen kein absoluter, kategorialer ist. Ein räumlich interpretierbares Verhältnis von Figuren zu den sie rahmenden Elementen verstößt also gegen kein allgemeines Gesetz, nach dem strikt zwischen fiktivem Bildraum und realem Umraum zu unterscheiden wäre. Unter diesen Umständen kann der ‚Bildfeldkasten‘ zu einer Stütze für die Figuration werden, zu einem Mittel, dessen sich die Maler bedienen können, um bestimmte Dinge überzeugender darzustellen: das Gewölbe einer Höhle in Anlehnung an den ‚Bildfeldkasten‘,163 die Decke eines Brunnenhauses in Anlehnung an die ‚Decke‘ des Bildfeldkastens, usw.164 Die Behandlung der figurativen Bildfeldbegrenzung als eigenem Thema hat nicht zur Herausarbeitung einer gesonderten Gruppe von Vasenbildern geführt, die qua figurativer Einfassung des Bildfelds (i.e. des Bildraums) ‚landschaftlicher‘ als die übrigen Vasenbilder wären, sondern zur Herausstellung einer für alle Vasenbilder geltenden Regel.165 Wenn man nun Räumlichkeit attischer Vasenbilder, der vorgenommenen Identifizierung von Bildfeld und Bildraum folgend, als Verteilung der Bildelemente auf der Fläche des Bildfelds versteht, betrifft die herausgearbeitete Regel Räumlichkeit sogar in einem sehr direkten Sinne. Damit entspricht dieses Ergebnis dem, was in diesem zweiten Kapitel des ersten Teils geleistet werden soll, nämlich einer positiven Beschreibung der Räumlichkeit der attischen Vasenbilder mit einem besonderen Augenmerk auf die Rolle, welche Landschaftselemente dabei spielen. Damit soll keineswegs gesagt

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sein, dass die Gebundenheit der Felsen an die Bildfeldbegrenzung für die Struktur des Bildraums besonders entscheidend sei. Wohl aber macht diese Regel klar, dass es in der Verteilung der Bildelemente auf der Fläche des Bildfelds Struktur gibt, dass also die Freiheit der Maler bei der Zusammenstellung der Bildelemente von den Zwängen, welche die Einheit des Ortes mit sich führen würde, keine vollkommene Ungebundenheit bedeutet, sondern mit der Gebundenheit an andere Regeln einhergeht. Die Regel der Gebundenheit der Felsen an die Bildfeldbegrenzung präzisiert die Unterschiede zwischen der Mobilität der Bäume und der Mobilität der Felsen, welche in dem entsprechenden Unterkapitel bereits angedeutet wurden.166 Wenn gesagt wurde, dass für hochaufragende Felsen dadurch, dass man sie ausschließlich am Bildrand findet, die Eigenschaft der Mobilität nicht zutreffe, war dies insofern irreführend, als diese Eigenschaft, qua Gebundenheit an die Bildfeldbegrenzung, grundsätzlich auf keinen Felsen zutrifft. Zwischen der Mobilität der Bäume und der Mobilität der Felsen muss folgendermaßen unterschieden werden: Während Zweige und Bäume im Bildfeld mobil sind, sind Felsen nur auf der Bildfeldbegrenzung beweglich. Die Regel der Gebundenheit der Felsen an die Bildfeldbegrenzung fand im Unterkapitel zur Mobilität der Landschaftselemente aber auch schon einen Ausdruck darin, dass Felsen im Gegensatz zu Bäumen im Bildfeld nie ‚schweben‘ sondern fallen oder auf ein Ziel zufliegen, jedenfalls aber die Tatsache, ohne Berührung mit der Bildfeldbegrenzung zu sein, für einen Felsen kein stabiler, sondern ein transitorischer Zustand ist. Das Beispiel der Felsen, die an der oberen Bildfeldbegrenzung hängen, ohne herabzufallen, hat wiederum gezeigt, dass Felsen durch die Berührung mit der Bildfeldbegrenzung ihre Beweglichkeit verlieren. Über die Unterscheidung zwischen Beweglichkeit im Bildfeld und Beweglichkeit auf der Bildfeldbegrenzung hinaus ließe sich daher fragen, ob die Mobilität der Bäume und der Felsen nicht auch dahingehend zu unterscheiden wäre, dass sie im Falle des Felsens nur aus der Perspektive des Malers besteht, der den Sitzfelsen unter den Sitzenden und den Liegefelsen unter den Liegenden ‚schieben‘ kann,167 aus der Perspektive des Bildes jedoch das genaue Gegenteil wahr wäre, dass nämlich die Bindung an die Bildfeldbegrenzung gerade die Unbeweglichkeit des Felsens signalisieren würde.

Das ‚Füllen‘ des Bildfelds Während Felsen zur figurativen Einkleidung der Bildfeldbegrenzung verwendet werden, werden Zweige dazu verwendet, das Bildfeld in seinen Freiräumen mit figurativen Motiven zu füllen. Insbesondere lässt sich dies von den freischwebenden Zweigen sagen, welche auf einer riesigen Anzahl

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Bildinterne Untersuchung

spätarchaischer schwarzfiguriger Vasen zu finden sind. Im folgenden Unterkapitel soll es also vornehmlich um jene ‚Inflation‘ der Zweige gehen. Gemessen an der extremen Häufigkeit dieses Motivs ist die Tatsache, dass freischwebende Zweige in der schwarzfigurigen attischen Vasenmalerei von der Forschung bisher niemals zum Thema gemacht wurden,168 erklärungswürdig. Die Omnipräsenz dieser Zweige in den letzten drei Jahrzehnten schwarzfiguriger Vasenmalerei hat die Interpreten für dieses Motiv wohl eher blind gemacht, als dass sie ihnen Anlass für eine nähere Untersuchung gegeben hätte: Dass freischwebende Zweige in dem besagten Zeitraum in jedem beliebigen Bild auftauchen können, entbindet den Interpreten scheinbar von der Frage nach den Gründen ihres Auftauchens. Die Zweige werden zur fraglosen Selbstverständlichkeit. Dieses Phänomen allein reicht als Erklärung für das Schweigen der Forschung zu der ‚Inflation‘ der Zweige jedoch noch nicht aus.169 Ich möchte behaupten, dass der eigentliche Grund im Fehlen einer geeigneten Beschreibungskategorie für freischwebende Zweige liegt. Als Zwitterwesen zwischen in der Hand gehaltenen Zweigen und eigenständigen Bäumen können die freischwebenden Zweige weder als Attribute zu den Figuren, noch als von den Figuren unabhängige Pflanzen zum Kontext/Umraum der Figuren gerechnet werden.170 In dieser Zwischenstellung der freischwebenden Zweige, die weder ganz zu den Figuren, noch ganz zu dem sie umgebenden Bildfeld gehören, liegt m.E. die besondere Charakteristik dieses Motivs. Diese Charakteristik genauer zu definieren, und zu verstehen, welchen Beitrag die freischwebenden Zweige damit für unzählige Bilder leisten, auf denen sie erscheinen, soll Aufgabe des folgenden Unterkapitels sein. In einem ersten Schritt möchte ich einige technische Bemerkungen zum Prozess des Aufmalens dieser freischwebenden Zweige machen, welche für das Verständnis des Phänomens von Bedeutung sein können: Das Malen der Zweige geschieht nach dem Auftrag der Silhouetten der Figuren und vor dem Einritzen der Binnenzeichnung in den angetrockneten Tonschlicker. Dies ergibt sich daraus, dass dort, wo sich Zweige und Figuren überschneiden, die Zweige die Figuren übermalen (wie man es im Streiflicht erkennen kann). Die Überschneidung der Figuren durch die Zweige im Malprozess wird dann in aller Regel durch die Ritzlinien aufgehoben, die den Kontur der Figuren über die Zweige hinweg nachziehen und so die Richtung der Überschneidung im Endeffekt umkehren.171 Die Zweige, die der Reihenfolge des Malens entsprechend ‚vor‘ den Figuren liegen, liegen dem optischen Eindruck der fertigen Vase entsprechend also schließlich ‚hinter‘ den Figuren. Dass die Zweige erst hinzugefügt werden, nachdem die Silhouetten der Figuren aufgemalt sind, bedeutet, dass die Zweige in ein in seiner Grundstruktur bereits feststehendes Bild eingefügt werden, sie mithin bei der Konzeption des Bildes keine Rolle spielen. Dies lässt sich in den einzelnen

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179 Abb. 150 Ein Mann versucht, zwei aufeinander losstürmende Hopliten zu trennen. Von seinen Schultern gehen Zweige aus. Lekythos des Athena-Malers, Palermo, Slg. Mormino, 500–490

Bildern sehr klar ersehen. Auf einer Lekythos des Athena-Malers in Palermo stürmen zwei Hopliten, welche eine mittlere Figur zu trennen versucht, aufeinander zu (Abb. 150).172 Die Zweige im Bildfeld nehmen ihren Ausgang von den Schultern der mittleren Figur, von denen aus sie sich zu beiden Seiten hin ausbreiten. Ein Zweig ist jeweils in Richtung des Kopfes eines Hopliten geführt, und ein zweiter ist zum Knie desselben hinabgebogen, wobei sich die Zweige an manchen Stellen mit Teilen der Figuren überschneiden. Die symmetrische Anlage der Zweige wiederholt hier den symmetrischen Aufbau der Figuren. Ebenso entsprechen der Ausgang der Zweige von der mittleren Figur und ihr Ausschwingen zu den Seiten hin der Bewegung im Bild, wo die mittlere Figur mit ausgebreiteten Armen versucht, die Kontrahenden voneinander zu trennen. Die Anlage der Zweige richtet sich also offenbar an die von den Figuren vorgegebene Kompositions- und Handlungsstruktur. Das Bild wäre auch schon ohne Zweige ‚komplett‘. Sein Aufbau wird durch die Zweige bloß verdeutlicht. Der gleichmäßige Schwung der Zweige lässt erschließen, dass der Maler den Pinsel beim Überqueren der Hände der mittleren Figur, des Knies des rechten Hopliten und möglicherweise auch des Schildes des linken Hopliten nicht abgesetzt hat. Trotz der Rücksichtnahme auf die bereits vorhandenen Figuren in der allgemeinen Anlage der Zweige werden die geschwungenen Zweiglinien also großzügig über die Figuren hinweg gezogen – was sich die Maler aufgrund der schwarzfigurigen Technik, wo

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Bildinterne Untersuchung

das Übermalen bestehender Formen gänzlich unproblematisch ist, leisten konnten. Daraus kann man einerseits schließen, dass das Bild vom Maler mit Zweiglinien rasch und ohne die für die Vasenmalerei oft so typische Akribie überzogen wurde. Dem entspricht auch die Verwendung der schnell ausführbaren Punktblätter anstelle von Efeu- oder Weinblättern, die je mehrere Pinselzüge erfordern würden. Andererseits zeigt sich daran, dass die Anlage der Zweige nur in ihren großen Zügen an der von den Figuren vorgegebenen Struktur orientiert ist, im Einzelnen aber ihrem eigenen Lauf folgt. Die Zweige zeichnen gewissermaßen die allgemeinen Kompositionslinien des Bildes nach, ohne dass ihr Verlauf im Einzelnen den Figuren verpflichtet wäre. Diese relative Unabhängigkeit der Zweige von den Figuren im Kleinen macht es möglich, dass trotz der großen Vielfalt von Ikonographien, in denen freischwebende Zweige auftreten, bei der Anordnung der Zweige im Bildfeld bestimmte wenige Kompositionsschemata immer wieder verwendet werden. Diese sollen im Folgenden vorgestellt werden. Kompositionsweisen In der großen Mehrzahl der Fälle nehmen die Zweige ihren Ausgang von einer, meist zentralen Figur im Bildfeld. Eine Anlage der Zweige wie auf der Lekythos des Athena-Malers, wo sie vom Oberkörper der Figur zu beiden Seiten je eine aufwärts (bzw. am oberen Bildfeldrand entlang) geführte Verzweigung und eine hinabgebogene Verzweigung aufweisen, ist dabei am häufigsten zu finden. Auf einer bilinguen Amphora des Psiax in Madrid sind auf der schwarzfigurigen Seite Dionysos, zwei Satyrn und zwei Mänaden dargestellt, wobei der zentrale Dionysos Zweige mit Efeublättern in der Hand hält, welche sich auf ebensolche Weise über das Bildfeld breiten (Abb. 151).173 Interessant ist, dass der Zweig, den der linke Satyr in der Hand hält, zwar nicht mit den sonstigen Zweigen verbunden ist, sich jedoch in deren Kompositionsschema einfügt, indem er wie der entsprechende Zweig auf der rechten Bildseite in den Zwischenraum zur anschließenden Mänade hinabgeführt ist. Auch wenn nicht alle Zweige von Dionysos selbst gehalten werden, gehen sie also dennoch alle von ihm aus, bzw. führen auf ihn zu. Dadurch heben sie diesen kompositorisch hervor und unterstreichen somit die Hierarchisierung zwischen den Figuren, die durch die Identität und die zentrale Position der Figur des Dionysos zwar schon angelegt war, jedoch aufgrund der parataktischen Figurenkomposition nur wenig zur Geltung kam. Auf einer Amphora des LysippidesMalers um 530–520 in New York mit (von links nach rechts) Athena, die auf eine Quadriga aufsteigt, Herakles, der ihr gegenübersteht, Dionysos, einer weiteren weiblichen Gottheit und Hermes, hält der in der Mitte des Bildfelds hinter den Pferden stehende Dionysos Zweige, die sich wieder in besagter Weise über das Bildfeld breiten (Abb. 152).174 Hier nehmen die

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Abb. 151 Dionysos, zwei Satyrn und zwei Mänaden. Bilingue Amphora des Psiax, Madrid, Mus. Arqueológico Nacional, 520–510

Abb. 152 Athena steigt in eine Quadriga, Herakles steht ihr gegenüber (Apotheose des Herakles). Die Zweige gehen von Dionysos aus, obwohl er in dieser Szene nicht die Hauptperson ist. Amphora des Lysippides-Malers, New York, Metropolitan Mus., 530–520

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Bildinterne Untersuchung

Zweige mit Efeublättern ihren Ursprung nicht deshalb von der Figur des Dionysos, weil er die Hauptfigur des Bildes wäre, sondern weil es Dionysos ist. Gleichzeitig werden dadurch, dass alle Zweige zur mittigen Figur des Dionysos führen, die verschiedenen Teile dieses vollgestellten Bildes besser miteinander verbunden. Auch wenn es allermeistens eine Figur ist, kann das Bildelement, von dem die Zweige ihren Ausgang nehmen, auch ein Gegenstand sein. Dem Kantharos, den Dionysos hält, entspringen die Zweige auf einer Halsamphora des Schaukelmalers im Louvre (Abb. 153).175 Einer (Wein-?) Amphora entspringen die Zweige auf einem Skyphos des Theseus-Malers in Athen (Abb. 154).176 Auf einer Halsamphora der Leagros-Gruppe in Leiden mit den sitzenden Geschwistern Apoll und Artemis nehmen die Zweige ihren Ausgang von der Palme, welche die Mitte des Bildfelds einnimmt (Abb. 155).177 Auf den Außenseiten einer Schale des Caylus-Malers mit dem Raub des Dreifuß durch Herakles ist es der Dreifuß, von dem aus sich die Zweige über das Bildfeld ausbreiten – wieder mit einem zu jeder Seite am oberen Bildfeldrand entlang geführten Zweig und den von dort aus in die Zwischenräume der Figuren hinabgeführten Verzweigungen.178 Die im Bildfeld erscheinenden Waffen des Herakles bilden den Ursprung der Zweige auf einer Lekythos des Theseus-Malers aus dem Kunstmarkt mit den lagernden Herakles und Hermes bei Pholos (Abb. 42).179 Auf einer Lekythos der Haimon-Gruppe in Tübingen mit zwei Frauen um einen Brunnen gehen Zweige von dem Kapitell der Säule aus, an der die Wasserspeier angebracht sind.180 Im Falle einer Lekythos in St. Louis mit der Auflauerung des Achill bildet der Felsenbrunnen, der sich zwischen Achill und Polyxena befindet, den Ursprung der Zweige (Abb. 156).181 Irgendwo zwischen Gegenstand und lebendiger Figur ist die Athena-Statue anzusiedeln, von der die Zweige auf einer Lekythos mit Ajax und Kassandra in Kiel ausgehen (Abb. 157).182 Der Ausgangspunkt der Zweige kann auch aus der Bildmitte herausgerückt sein. Dies sieht man etwa auf einer Augenschale des Theseus-Malers, wo zwischen den Augen jeweils ein Symposiast auf einer Kline und vor ihm ein stehender Flötenspieler erscheinen (Abb. 158).183 Die Zweige nehmen ihren Ursprung von der wichtigeren Figur des Symposiasten, auch wenn diese in einer Zweifigurenkomposition nicht der geometrischen Mitte des Bildfelds entspricht. Auf einer Augenschale in München mit je einer Quadriga zwischen den Augen gehen die Zweige von dem Mann und der Frau aus, die im Wagenkasten stehen, obwohl sich diese am linken Ende des Bildfelds befinden (Abb. 159).184 Es kann auch mehrere Ausgangspunkte der Zweige geben, wie man es auf einer Schale in Leipzig mit der Rückführung des Hephaistos sieht, wo im Zug dionysischer Figuren Zweige sowohl von dem am linken Friesende sitzenden Dionysos, dem in der Mitte reitenden Hephaistos und einem weiteren Maultierreiter

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183 Abb. 153 Sitzender Dionysos, umgeben von zwei Satyrn. Die Efeuzweige entspringen hier seinem Kantharos. Halsamphora des Schaukel-Malers, Paris, Louvre, 540–530

Abb. 154 Zwei Männer stehen um eine Amphora, von der Zweige ihren Ursprung nehmen. Skyphos des Theseus-Malers, Athen, Nationalmuseum, um 500

Abb. 155 Apollon und Artemis sitzen um eine Palme, von deren Stamm Zweige ausgehen. Halsamphora der Leagros-Gruppe, Leiden, Rijkmuseum van Oudheden, 510–500

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Abb. 156 Auflauerung der Polyxena durch Achill. Zweige gehen vom Felsenbrunnen aus. Lekythos, St. Louis, Washington University, 1. Viertel 5. Jh.

am rechten Friesende ausgehen, die Zweige in diesem länglichen Bildfeld somit nicht nur an einer, sondern an drei Stellen in den Figuren ‚verankert‘ sind (Abb. 160).185 Schließlich wird die Anordnung der Zweige mit zu jeder Seite einer aufwärts und einer abwärts gerichteten Verzweigung auch bei Einfigurenbildern sehr häufig verwendet. Dies sieht man etwa im Innenbild der eben erwähnten Schale mit einem laufenden Herakles. Auf einer Oinochoe in Kopenhagen erscheint als einzige Figur Dionysos, wobei sich die Zweige, die er in der Hand hält, auf die freie Fläche um ihn herum weiträumig ausdehnen (Abb. 161).186 Auf einer Augenschale in Cambridge, wo zwischen den Augen jeweils eine Mänade und zwischen Augen und Henkeln jeweils eine Dionysosfigur stehen, gehen von jeder dieser Figuren entsprechende Zweige aus (Abb. 162).187 In den früheren Beispielen für freischwebende Zweige passiert es auch häufig, dass in mehrfigurigen Szenen nur eine Figur (meist Dionysos) mit Zweigen umgeben ist, wie man es etwa auf einer Halsamphora des Antimenes-Malers in München sehen kann (Abb. 163).188 Sehr viel seltener als die bisher besprochenen, zentrifugalen Kompositionen, wo Zweige von einer Figur in alle Richtungen ‚ausstrahlen‘, sind zentripetale Kompositionen, wo Zweige von seitlichen Figuren auf eine zentrale Figur zustreben. Eine solche Komposition sieht man auf einer Halsamphora in Madrid (Abb. 165):189 Während sich auf einer Seite mit

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185 Abb. 157 Ajax reißt Kassandra von der Statue der Athena weg. Zweige gehen hier von der Statue aus. Lekythos, Kiel, Antikensammlung, 490–480

Dionysos und zwei Mänaden die Zweige wie gewöhnlich vom zentralen Dionysos zu den Seiten hin ausbreiten, gehen sie auf der anderen Gefäßseite von den seitlich stehenden Musen aus auf Apollon in der Bildmitte zu.190 Auf einer Halsamphora des Antimenes-Malers in Oxford halten zwei Mänaden Zweige, die auf den zwischen ihnen stehenden, kitharaspielenden Satyr zulaufen (Abb. 164).191 Eine Lekythos des Gela-Malers in Agrigent zeigt Herakles mit den gefangenen Kerkopen, wobei fruchtbehangene Zweige auf ihn zulaufen, die von zwei zu seinen Seiten stehenden Frauen ausgehen (Abb. 166).192 In einigen Bildern, die aus einer gleichförmigen Anreihung von Figuren bestehen, werden an jede Figur Zweige nach demselben Muster angefügt. Auf einer Schale in Schwerin mit einer Reihe von abwechselnd dargestellten sitzenden Männern und stehenden Kriegern schwingt ausgehend vom Nacken einer jeden Figur ein blattloser Zweig zur Grundlinie herab, wobei an jedem Zweig eine Weintraube hängt (Abb. 167).193 Durch die Wiederholung desselben Zweigmusters zwischen jeder Figur wird nicht eine Differenzierung der Figuren entsprechend ihrer Stellung im

186 Abb. 158 Zwischen den Augen der Schale lässt sich ein Symposiast von einer Flötenspielerin unterhalten. Die Zweige gehen dezentral von der wichtigeren Figur aus. Augenschale des Theseus-Malers, Winchester College, 510–500

Abb. 159 Ein Mann und eine Frau stehen in einer Quadriga. Auch hier gehen die Zweige dezentral von den Hauptfiguren aus. Augenschale, München, Antikensammlung, letztes Viertel 6. Jh.

Abb. 160 Rückkehr des Hephaistos. Auf diesem länglichen Fries haben die Zweige drei Ursprünge: Den links sitzenden Dionysos, den auf einem Maultier reitenden Hephaistos und einen weiteren Maultierreiter rechts. Augenschale des Red Line-Malers, Leipzig, Universität, um 500

Bildinterne Untersuchung

Boden und Himmel/Grundlinie und Bildfeld

187 Abb. 161 Dionysos mit Kantharos. Die von ihm gehaltenen Zweige breiten sich weiträumig aus. Oinochoe, Kopenhagen, Thorwaldsen Mus., um 510

Abb. 162 Eine Mänade steht zwischen den Augen; bei den Henkeln steht je ein Dionysos. Von all diesen Einzelfiguren gehen Zweige aus. Augenschale des Malers von Cambridge G 61, Cambridge, Fitzwilliam Mus., um 520

188 Abb. 163 In dieser Gruppe von Göttern und Heroen gehen Zweige nur von Dionysos aus und breiten sich nur wenig über das Bildfeld aus. Halsamphora des AntimenesMalers, München, Antikensammlung, um 520

Abb. 164 Kithara spielender Satyr zwischen zwei tanzenden Mänaden. Halsamphora des Antimenes-Malers, Oxford, Ashmolean Mus., um 520

Bildinterne Untersuchung

Boden und Himmel/Grundlinie und Bildfeld

189 Abb. 165 Apollon zwischen zwei Musen (A), Dionysos zwischen zwei Mänaden (B). Einmal streben die Zweige auf die zentrale Figur zu, einmal gehen sie von ihr aus. Halsamphora, Madrid, Mus. Arqueológico Nacional, 520–510

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Bildinterne Untersuchung

Abb. 166 Herakles mit den Kerkopen. Von zwei Frauenfiguren an den Seiten laufen die Zweige auf die zentrale Figur zu. Lekythos des Gela-Malers, Agrigent, Mus. Archeologico, 520–510

Bildfeld erreicht, wie es bei zentrifugaler oder zentripetaler Komposition der Zweige der Fall ist, sondern der Eindruck einer Aufreihung gleicher Figuren verstärkt. Auf der Wiederholung desselben Zweigmusters für jede Figur beruht auch das Kompositionsprinzip der Zweige auf einem Skyphos in Athen mit einer Reihe von Frauen, die alle eine Hand (in einem Betgestus?) erhoben haben (Abb. 168).194 Neben der bisher besprochenen Möglichkeit, Zweige von einer Figur ausgehen zu lassen, gibt es als grundsätzliche Alternative die Möglichkeit, sie von der Bildfeldbegrenzung ausgehen zu lassen. Auf einer Spitzamphora der Leagros-Gruppe in Toledo ist die Darstellung von Herakles, der Kerynitischen Hirschkuh und der Einhalt gebietenden Athena auf beiden Seiten wiederholt, wobei das Bildfeld jeweils mit Zweigen aufgefüllt ist, die durch einen ‚Stamm‘195 mit der Grundlinie verbunden sind (Abb. 169).196 Beide Versionen derselben Ikonographie unterscheiden sich nur durch die Weise, wie die Zweige im Bildfeld angeordnet sind: Einmal breiten sie sich von einem Punkt in der Mitte des Bildfeld in alle Richtungen aus, das andere Mal bewegen sich die Zweige vom linken Bildfeldrand zur Mitte. Dementsprechend führt der ‚Stamm‘ der Zweige einmal zur Mitte, das andere Mal zum linken Ende der Grundlinie. Auf dieser Amphora sind also beide Kompositionsweisen, die zentrifugale und die zentripetale,197 vertreten, welche man auch für Zweige, die von Figuren ausgehen, beobachten konnte. Ebenso wie bei Zweigen,

Boden und Himmel/Grundlinie und Bildfeld

191 Abb. 167 Reihe stehender Hopliten und sitzender Männer. Genauso repetitiv wie die Reihe der Figuren ist der Verlauf der Zweige. Schale der LeaflessGruppe, Schwerin, Staatliches Mus., Ende 6. Jh.

die von Figuren ausgehen, ist die zentrifugale Komposition hier die häufigere. Allgemein sind Zweige, die von der (meist unteren) Bildfeldbegrenzung ausgehen, seltener als Zweige, die von einer oder mehreren Figuren ausgehen. Ein Grund dafür, die Zweige im Bildfeld nicht von einer Figur ausgehen zu lassen, kann sein, dass die Mitte des Bildfelds von keiner Figur eingenommen wird, man die Zweige aber dennoch von der Bildmitte sich ausbreiten lassen möchte. Dies trifft wohl auf eine Bauchamphora der Leagros-Gruppe in München mit Achill und Ajax beim Brettspiel zu (Abb. 93).198 Dadurch, dass die Zweige hier nicht dezentral von einem der beiden Kontrahenden ausgehen, bleibt die Gleichheit der beiden sich Abb. 168 Prozession von Frauen, die alle eine Hand (in einem Betgestus?) erhoben haben. Der Verlauf der Zweige wiederholt stets dasselbe Muster. Skyphos in der Art der Krokotos-Gruppe, Athen, Nationalmuseum, um 510

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Abb. 169 Herakles ergreift das Geweih der Kerynitischen Hirschkuh. Die Szene wird einmal mit zentrifugalen (A) und einmal mit zentripetalen Zweigen versehen (B). Spitzamphora des Acheloos-Malers, Toledo, Mus. of Art, um 510

Bildinterne Untersuchung

messenden Brettspieler gewahrt, bzw. wird durch die Symmetrie der Zweige sogar noch betont.199 Auf einer fragmentierten Augenschale in der Villa Giulia mit je einer Quadriga zwischen den Augen hat es der Maler offenbar auch vorgezogen, die Zweige von der Mitte des Bildfelds ausgehen zu lassen, statt von der dezentralen Figur des Wagenlenkers, wie es auf einer oben genannten Augenschale gleichen Bildthemas geschehen war (Abb. 170).200 Die Wahl der Maler, die Zweige durch einen ‚Stamm‘ mit der Grundlinie zu verbinden oder nicht, war allerdings nicht immer von gewichtigen Gründen geleitet: Auf einem Augenkyathos in der Ermitage mit einem einzelnen Satyrn ändert der zwischen seinen Beinen hinzugefügte ‚Stamm‘ nichts an der Tatsache, dass die Zweige ihren Ausgang räumlich von der Figur nehmen.201 Hier ist der ‚Stamm‘ also ein Zusatz ohne weitere Auswirkungen auf das Bild. Schließlich entscheidet sich die Frage, ob Zweige von Figuren ausgehen oder ob sie einem ‚Stamm‘ entspringen, sicherlich nicht nur am einzelnen Bild, sondern steht auch in einer Abhängigkeit zur Malerwerkstatt, wie es die auffällige Häufigkeit von Zweigen mit ‚Stamm‘ in der Leagros-Gruppe zeigt. Zuweilen sind Zweige statt mit der Grundlinie mit einer seitlichen Bildfeldbegrenzung verbunden. Dies ist der Fall auf einer Kalpis aus der Nähe

Boden und Himmel/Grundlinie und Bildfeld

193 Abb. 170 Ein Mann in einer Quadriga. Die Zweige gehen hier nicht von einer bestimmten Figur sondern von der geometrischen Mitte des Bildfelds aus. Fragmente einer Augenschale des Virginia-Malers, Rom, Villa Giulia, spätes 6. Jh.

der Leagros-Gruppe in Berlin mit einer Brunnenhausszene (Abb. 171).202 Die drei traubenbehangenen Zweige, die das Bildfeld überziehen, treffen sich nahe der linken oberen Ecke des Bildfelds auf der seitlichen Begrenzungslinie. Auf einer Pelike in Berlin mit Herakles im Kampfe mit dem Stier treffen sich die Zweige im Bildfeld an einem Punkt auf der rechten Begrenzungslinie nahe der rechten oberen Ecke (Abb. 172).203 Auch Palmetten, die als Henkelornament die Aufgabe der Bildfeldbegrenzung übernehmen, können Ausgangspunkt für Zweige sein, wie es ein Stangenkrater des Sappho-Malers in Karlsruhe mit Odysseus (oder einem Gefährten) unter dem Bauch eines Widders zeigt (Abb. 173).204 Schließlich können Zweige von mehreren Punkten auf der Bildfeldbegrenzung ausgehen, ebenso wie Zweige auch von mehreren Figuren ausgehen können. Beispiele dafür wären eine Oinochoe in Sèvres mit einem Hopliten, der eine Frau verfolgt, und Zweigen, die an drei Stellen aus der Grundlinie hervorkommen (Abb. 174),205 oder eine Olpe in Privatbesitz mit einer geflügelten Gottheit, die einen fallenden Hopliten umfasst, und Zweigen, die an drei Stellen aus den seitlichen Bildfeldbegrenzungen hervorkommen (Abb. 175).206 Zum Abschluss dieses Überblicks über die Kompositionsweisen von Zweigen im Bildfeld muss noch gesagt werden, dass man bei einer nicht unerheblichen Zahl von Vasenbildern vergeblich nach Ausgangspunkten der Zweige im Bildfeld – seien es Figuren, Gegenstände oder die Bildfeldbegrenzung – und nach der Richtung ihrer Ausbreitung sucht. Insbesondere unter den späteren und flüchtiger bemalten Vasen mit Zweigen im Bildfeld finden sich Bilder, bei denen der Eindruck eines chaotischen, keiner Struktur folgenden Verlaufs der Zweige überwiegt. So auf einer Pelike des Red-Line-Malers in Neapel mit einer Frauenraubszene und einer Brunnenhausszene, wo die dichtgefüllten Bildfelder in den wenigen Freiräumen mit Zweigen gefüllt werden, ohne dass die einzelnen Zweigtriebe in einem Zusammenhang stünden (Abb. 176).207 Das Bemerkenswerte ist aber, dass auch diese unzusammenhängenden Zweige – im Widerspruch

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Abb. 171 Ein Mann vergreift sich an einer Frau am Brunnenhaus. Die Zweige entspringen hier der linken oberen Ecke der Bildfeldbegrenzung. Kalpis aus der Nähe der Leagros-Gruppe, Berlin, Antikensammlung, um 500

Abb. 173 Odysseus unter dem Bauch des Widders. Zwei kleine Zweige entspringen den Palmetten des Henkelornaments. Stangenkrater des Sappho-Malers, Karlsruhe, Badisches Landesmuseum, um 510

Bildinterne Untersuchung

Abb. 172 Herakles mit dem Kretischen Stier. Hier wachsen die Zweige – entgegen der Laufrichtung – von der rechten oberen Ecke ins Bildfeld hinein. Pelike, Berlin, Antikensammlung, um 500

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Abb. 174 Ein Hoplit verfolgt eine Frau. Zweige entspringen an verschiedenen Stellen der Grundlinie. Oinochoe aus der Nähe des Athena-Malers, Sèvres, Mus. Céramique, um 500

Abb. 175 Eine geflügelte Gottheit stützt einen fallenden Hopliten. Olpe, Deutschland, Privatbesitz, um 500

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Abb. 176 Eine friedliche Brunnenhausszene (A) und ein Frauenraub (B) stehen sich gegenüber. Zweige füllen ohne erkennbare Ordnung die Lücken im Bildfeld. Pelike des Red Line-Malers, Neapel, Mus. Nazionale, Ende 6. Jh.

Bildinterne Untersuchung

zu der hier für diese Gattung von Zweigen gewählten Formulierung – niemals gänzlich ‚freischwebend‘ sind: Kein Zweig ‚schwebt‘ vollkommen unverbunden im Bildfeld, sondern auch auf dieser Vase nimmt jeder einzelne Zweigtrieb seinen Ausgang von einer Figur oder von der Bildfeldbegrenzung,208 und viele darunter ‚münden‘ auch wieder in eine Figur. Dass die ‚freischwebenden‘ Zweige nur in dem Sinne freischwebend sind, dass diese Gattung von Zweigen auf keinen Stamm angewiesen ist, der sie hielte, und sie zu keinem Baum gehören müssen, nicht aber in dem Sinne, dass sie im Bildfeld unverbunden erscheinen könnten, ist eine Regel, die auch unter den sehr zahlreichen Vasenbildern mit Zweigen im Bildfeld keine Ausnahme kennt. Das Fehlen der thematischen Bindung Der Unbedingtheit der graphischen Bindung an Elemente des Bildes oder an dessen Begrenzung steht das Fehlen einer unbedingten thematischen Bindung der Zweige an das Bild gegenüber. Mit Weintrauben behangene Zweige füllen die Zwischenräume gleichermaßen auf Bildern mit dionysischer Thematik wie auf Bildern ohne den geringsten Bezug zu Wein und Dionysos.209 Eine Schale im Cabinet des Médailles mit der Verfolgung von Troilos und Polyxena durch Achilleus und traubenbehangenen Zweigen im Bildfeld kann dieses Phänomen verdeutlichen (Abb. 177).210 Die

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Zweige gehen aus vom Verfolger Achill, von wo sie sich zu Troilos und weiter zu Polyxena hinziehen. Wie es oben bereits an verschiedenen Vasenbildern gezeigt wurde, richtet sich auch hier die Anlage der Zweige an der Kompositions- und Handlungsstruktur des Bildes: Der Verfolger Achilleus, von dem die dargestellte Handlung ausgeht, und der die Flucht der beiden Geschwister ausgelöst hat, ist auch der Ausgangspunkt der Zweige. Die Richtung ihrer Ausbreitung im Bildfeld zeichnet die Bewegungsrichtung der Verfolgung nach. Es lässt sich zwar nicht jeder Zweig einzeln bis zur Figur des Achilleus zurückverfolgen, doch dort, wo die Zweige an den Pferden des Troilos und an der Figur der Polyxena neu ansetzen, nehmen sie die Richtung und sozusagen den Schwung der von Achilleus herkommenden Zweige auf: Während von der Figur des Achill Zweige sowohl nach vorne als auch nach hinten ausstrahlen, weisen sie von den Figuren der Verfolgten aus nur in Richtung der Verfolgung. Die Zweige stehen also in ihrem graphischen Verlauf vollkommen im Dienste der Figuren und ihrer Handlung. Als Weinreben haben sie jedoch keinerlei ikonographische Verbindung zu den Figuren des Bildes.211 Um dies in zugespitzter Form zu formulieren, könnte man sagen, dass die traubenbehangenen Zweige formal zwar als Teil des Bildes anzusehen wären – und zwar nicht nur insofern sie Teil desselben Bildfelds (also desselben Sichtfelds) sind, sondern auch bezogen auf ihre Gestaltung im Einzelnen. Inhaltlich dagegen gehören sie nicht dazu, womit die erste Regel für eine gute Interpretation, nämlich formale und inhaltliche Gesichtspunkte nicht voneinander zu trennen, außer Kraft gesetzt scheint. Die Beispiele für Bilder mit traubenbehangenen Zweigen im Bildfeld, die thematisch keinerlei dionysischen Bezug aufweisen, sind zahlreich

Abb. 177 Achill verfolgt Troilos und Polyxena. Die Zweige zeichnen in ihrem Verlauf die Bewegung der Figuren nach. Schale, Paris, Cabinet des Médailles, 500–490

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Bildinterne Untersuchung

und vielfältig. Sie näher vorzustellen brächte keinen zusätzlichen Erkenntnisgewinn. Man erhielte dadurch nicht mehr als einen Querschnitt durch das ikonographische Spektrum der Zeit. Daraus ist zu schließen, dass die Frage, ob die Zweige in einem Bild mit Trauben behangen werden oder nicht, gar nicht von der Ikonographie dieses Bildes abhängt. Das Fehlen einer thematischen Bindung der traubenbehangenen Zweige an das Bild, dessen Zwischenräume sie füllen, ist also nicht als bewusster Gegensatz der dionysischen Weintrauben zum nicht-dionysischen Bild zu verstehen – ein Gegensatz, der somit nach einer inhaltlichen Interpretation riefe – sondern lässt vermuten, dass die Zweige mit den von ihnen getragenen Früchten einerseits und das Bild, in dem sie erscheinen, andererseits wahrhaftig in keiner ikonographischen Beziehung stehen. ‚Freischwebende‘ Zweige zwischen Bild und Vase Mit dem zuletzt Gesagten scheinen die ‚freischwebenden‘ Zweige einen ähnlichen bildinternen und bildexternen Doppelcharakter wie die Bildfeldbegrenzung und das von ihr definierte Bildfeld zu besitzen: Ihre bildinterne Qualität wird an ihrer graphischen Bindung an die Elemente des Bildes und ggf. an dessen Handlungsstruktur und Komposition deutlich. Ihre bildexterne Qualität wiederum besteht in ihrer ikonographischen Bedeutungslosigkeit für das Bild. Die Parallele zwischen den ‚freischwebenden‘ Zweigen und der Bildfeldbegrenzung in ihrem jeweiligen bildinternen und bildexternen Doppelcharakter lässt sich in einen Kontext mit einer anderen wichtigen Beobachtung stellen: Während traubenbeladene Zweige auf Augenschalen thematisch nicht unbedingt zu der Figur passen, die zwischen den Augen erscheint, passen sie thematisch umso mehr zu der Eigenschaft der Schale als Weintrinkgefäß. Der thematische Kontext für Weintrauben wäre also weniger das Bild, in dem sie auftreten, als das Symposionsgeschirr, das zu schmücken sie gemalt wurden. Ebenso wie die Bildfeldbegrenzung in erster Linie der Vase und ihrem jeweiligen Dekorationssystem verpflichtet ist, wären auch die ‚freischwebenden‘ Zweige in erster Linie der Vase und ihrer funktionalen Bestimmung verpflichtet. Die Parallele zwischen den Zweigen und der Bildfeldbegrenzung wäre somit in ihrer beider Zugehörigkeit zur Vase begründet. Diese Erklärung für das Fehlen der thematischen Bindung der Zweige an das Bild mit ihrer Bindung an die funktionale Bestimmung der Vase wird durch den quantitativen Befund im Corpus der Vasen bestätigt. Traubenbeladene Zweige in nicht-dionysischen Bildern erscheinen mit Abstand am häufigsten auf Symposionsvasen. Auf Lekythen, der häufigsten Vasenform ohne Symposionsbezug, werden die Weintrauben dagegen meist weggelassen, oder man ersetzt sie durch runde Früchte, bzw. Blüten. Letzteres würde der Darstellung von Trauben auf Weingefäßen insofern

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entsprechen, als Blüten oder Früchte die Konnotation von Duft transportieren und damit auf den duftenden Inhalt einer Lekythos ebenso verweisen, wie Trauben auf den Wein.212 Dennoch finden sich auf Lekythen in nicht ganz unerheblicher Zahl auch Zweige mit Weintrauben ohne dionysischen Bildkontext. Für diese Weintrauben kann eine thematische Bindung an das Gefäß und seine funktionale Bestimmung offensichtlich nicht angenommen werden.213 Die Zweige mit den von ihnen getragenen Früchten nicht dem Bild, sondern der Vase in ihrer jeweiligen Funktion zuzuordnen, vermag allein also noch nicht alle Phänomene zu erklären, die bei der Verwendung des Motivs der ‚freischwebenden‘ Zweige durch die Maler auftauchen. Auf die themenfremden Trauben auf Lekythen möchte ich nach der Vorstellung einiger weiterer Beobachtungen zu den ‚freischwebenden‘ Zweigen nochmal zurückkommen.214 ‚Freischwebende‘ Zweige als Definiens des Bildfelds Der These, wonach ‚freischwebende‘ Zweige mehr zur Vase als zum Bild gehören, scheint entgegenzukommen, dass auf vielen Vasen Zweige auch als Henkelornament dienen, wie etwa Rebstöcke auf Augenschalen oder einfache Punktblattzweige auf einigen Oinochoen. Diese Zweige gehören – genauso wie Bildfeldbegrenzungen – offensichtlich zur Vase und ihrem Dekorationssystem. Nun ist jedoch zu beobachten, dass auf Vasen, auf denen Zweige sowohl als Henkelornament dienen als auch im Bildfeld erscheinen, in den meisten Fällen darauf geachtet wurde, zwischen diesen Zweigen durch verschiedene Blattformen oder -größen zu differenzieren. Ein Beispiel dafür wäre etwa eine Augenschale der Krokotos-Gruppe in München, wo die Zweige, welche von den beiden Symposiasten zwischen den Augen ausgehen, mit kleinen Punktblättern belaubt sind, während die Weinstöcke an den Henkeln die für Weinreben typischen mehrgliedrigen Blätter aufweisen (Abb. 178).215 Dass beide Zweigarten hier bewusst gegeneinander abgesetzt werden sollten, erkennt man daran, dass sie sich an mehreren Stellen überschneiden und so ihre Unterschiedlichkeit unmittelbar vor Augen führen. Auf einer weiteren Augenschale in München gehen von dem zwischen den Augen sitzenden Dionysos sowohl Punktblattzweige als auch Efeuzweige aus, nicht aber Weinblattzweige, welche an den Reben unter den Henkeln wachsen (Abb. 179).216 Auch hier werden die Efeuweige oberhalb der Augen weit in Richtung der Henkelreben geführt, so dass sie in direkte Nachbarschaft zu den Weinblattzweigen der Henkel treten. Die Differenzierung zwischen den Bildfeldzweigen und den Henkelzweigen wird auch dann aufrechterhalten, wenn die Zweige im Bildfeld mit Trauben behangen sind, wie man es auf einer Augenschale in Napoli mit Herakles im Kampf mit dem Stier sehen kann, wo die Zweige im Bildfeld trotz der Weintrauben Punktblätter aufweisen

200 Abb. 178 Zwei Symposiasten auf einer Kline. Die Punktblattzweige im Bildfeld sind deutlich von den Weinreben der Henkelzonen zu unterscheiden, obwohl sie sich gegenseitig ins Gehege kommen. Augenschale der Krokotos-Gruppe, München, Antikensammlung, um 520

Abb. 179 Vom sitzenden Dionysos gehen Punktblattzweige und Efeuranken aus, nicht aber Weinreben, welche der Henkelzone vorbehalten sind. Augenschale, München, Antikensammlung, letztes Viertel 6. Jh.

Abb. 180 Herakles im Kampf mit dem Stier. Die Punktblattzweige tragen sowohl weiße Früchte (bzw. Blüten), als auch Weintrauben. Augenschale, Neapel, Mus. Nazionale, um 520

Bildinterne Untersuchung

Boden und Himmel/Grundlinie und Bildfeld

201 Abb. 181 Die Maske des Dionysos ist umgeben von traubenbehangenen Punktblattzweigen. Dennoch besteht keinerlei Verwechselungsgefahr mit den Weinreben der Henkelzonen. Augenschale der Gruppe von Walters 48.42, Boston, Mus. of Fine Arts, 510–500

(Abb. 180).217 Ein weiteres Beispiel wäre eine Augenschale in Boston, wo von den Dionysosmasken zwischen den Augen traubenbeladene Punktblattzweige ausgehen, während an den Henkeln Reben mit Weinblättern wachsen (Abb. 181).218 Auf Oinochoen mit Punktblattzweigen als Henkelornament wird die Differenzierung der Henkelzweige und der Bildfeldzweige allein durch die Größe der Blätter sichergestellt, wie man es etwa auf einer Oinochoe aus der Werkstatt des Athena-Malers in Berlin sehen kann (Abb. 182).219 Die Henkelzweige ragen hier weit in das Bild hinein, das die Verfolgung einer Frau zeigt. Wie auch schon auf den erwähnten Augenschalen sind Bildfeldzweige und Henkelzweige zwar eindeutig unterschieden, machen sich ihren jeweiligen Bereich auf dem Vasenkörper allerdings strittig, indem sie in den jeweils anderen Bereich vordringen. An der Differenzierung zwischen Henkelzweigen und Bildfeldzweigen zeigt sich, dass man letztere nicht mit den an das Dekorationssystem der Vase gebundenen Zweigen gleichsetzen darf, sondern ihre Bindung an das Bildfeld eine für sie wesentliche und distinktive Eigenschaft ausmacht. Angesichts dessen liefe es dem Wesen der ‚freischwebenden‘ Zweige vollkommen entgegen, sie ausschließlich als zur Vase und nicht zum Bild zugehörig anzusehen. Vielmehr müsste man sagen, dass die Ausbreitung der ‚freischwebenden‘ Zweige auf der Vase geradezu das Definiens des für das Bild bestimmten Bereichs, also des Bildfelds, darstellt. Die Tatsache, dass sich Bildfeldzweige und Henkelzweige so häufig gegenseitig ins Gehege kommen, zeigt desweiteren, dass die Unterscheidung beider Zweigarten nicht so sehr von ihrem genauen Ort auf der Vase als von ihrem Ausgangspunkt abhängt: ob sie von den Figuren ausgehen oder von der Henkel-

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Abb. 182 Frauenverfolgung. Obwohl im Bildfeld und in der Henkelzone lediglich Punktblattzweige erscheinen, sind sie durch ihre Größe deutlich unterschieden. Oinochoe aus der Werkstatt des Athena-Malers, Berlin, Antikensammlung, um 490

Bildinterne Untersuchung

zone. Die Zweige stecken das Bildfeld also nicht von seinen Grenzen ausgehend, sondern von seinem Kern, den Figuren, ausgehend ab. Dies ist für das Verständnis dessen, was das Bildfeld ist, von entscheidender Bedeutung, wie noch ausgeführt werden wird.220 Die botanische Inkonsistenz der ‚freischwebenden‘ Zweige Dass weintraubenbehangene Zweige bisher nicht einfach „Weinreben“ genannt wurden, sondern mit uneleganten und komplizierten Formulierungen umschrieben wurden, hat einen Grund. Auf der oben erwähnten Augenschale in Neapel mit Herakles im Kampf mit dem Stier hängen an den Punktblattzweigen neben den Weintrauben auch weiße Früchte/Blüten, womit diese Schale bei Weitem nicht alleine steht (Abb. 180).221 Die Zweige lassen sich also keiner einzigen Art zuschreiben, sondern verbinden Elemente verschiedener Pflanzen. Möchte man keine zwei sich widersprechenden Interpretationen zulassen, muss man schließen, dass die Weintrauben und Früchte/Blüten hier nicht eigentlich als Erkennungsmerkmale bestimmter Pflanzen angesehen werden können, sondern lediglich für sich selbst stehen. Wenn die Weintrauben, die an diesen Zweigen hängen, die Zweige nicht zu Weinreben machen, verbietet auch nichts, an dieselben Zweige noch weiße Früchte/Blüten zu hängen.

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Das ziemlich kleine Repertoire an typologisch unterschiedenen Pflanzenformen, aus denen freischwebende Zweige gebildet werden – schwarze und weiße Weintrauben, weiße Früchte/Blüten, Weinblätter, Efeublätter und Punktblätter – wird denn auch in jeder erdenklichen Kombination zusammengestellt. In vielen Fällen hängen schwarze und weiße Weintrauben an denselben Zweigen.222 Möglich, wenn auch selten, ist die Kombination von Efeublättern und Weintrauben.223 Manchmal wachsen Efeublätter an Zweigen, die zwei ineinander verschlungenen Stämmen entspringen, wie sie eigentlich für Weinstöcke charakteristisch sind.224 In seltenen Fällen sind statt der Früchte die Blätter in weißer Farbe aufgetragen, wie es an den traubenbehangenen Zweigen um Dionysos auf einer Lekythos in Tübingen der Fall ist (Abb. 183).225 Auf die Darstellung der Blätter wird auf einigen spätschwarzfigurigen Vasen ganz verzichtet, so dass an kahlen Zweigen unmittelbar Trauben oder Früchte hängen, wie es typischerweise in der entsprechend benannten Leafless-Gruppe der Fall ist.226 Schließlich gibt es sogar die Möglichkeit, dass auch die eigentlichen Zweige fehlen, und nur Weintrauben dargestellt sind. Dies ist der Fall auf einer flüchtig gemalten Oinochoe in Barcelona (Abb. 184).227 Ebenso wie Elemente an eine vom Standpunkt der Botanik bereits komplette Pflanze hinzugefügt werden können, können botanisch notwendige Elemente weggelassen werden.228 Die Tatsache, dass vom botanischen Gesichtspunkt vollkommen sinnlose Kombinationen von Pflanzenformen überhaupt existieren, zeigt, dass die Maler vor dem Ausführen der Zweige nicht unbedingt bereits den festen Plan haben, eine bestimmte Pflanzenart darzustellen. Man stellt sich den Arbeitsprozess wohl besser so vor, dass den anfangs nackten Zweigen Blätter, Trauben, Früchte oder Blüten progressiv hinzugefügt werden. Das Endergebnis dieses additiven Prozesses kann dann vom botanischen Gesichtspunkt unterdeterminiert sein – wenn die Zweige lediglich ‚neutrale‘ Punktblätter aufweisen –, manchmal überdeterminiert sein – wenn die Zweige etwa Merkmale des Weinstocks und des Efeus aufweisen –, es kann aber genausogut auch stimmig sein – wenn Zweige z.B. Weinblätter und Trauben aufweisen. Eine quantitative Betrachtung zeigt, dass botanisch konsistente Kombinationen von Pflanzenformen häufiger sind als inkonsistente Kombinationen, am häufigsten allerdings botanisch unterdeterminierte Punktblattzweige sind. Das additive Prinzip, nach dem die nackten Zweige mit Blättern und Früchten ausgeschmückt werden, schließt botanisch stimmige und benennbare Kombinationen also keineswegs aus, es begünstigt sie allerdings auch nicht. Zweige mit Weinblättern und Trauben möge man also auch in Zukunft Weinreben nennen, man bedenke aber, dass auch diese in erster Linie Zweige im Bildfeld sind, und ihr Rebendasein nur Ergebnis einer Ausschmückung dieser Zweige ist, welche auch hätte ausbleiben können.

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Bildinterne Untersuchung

Abb. 183 Dionysos und zwei Satyrn. Die Weinreben, welche vom Gott ausgehen, haben weiße Blätter. Lekythos der Klasse von Athen 581, Tübingen, Universität, 500–490

Da die Präsenz von Zweigen in einem Bildfeld also bereits feststeht, bevor überhaupt über die Pflanzenart – wenn es eine solche überhaupt geben soll – entschieden wurde, kann für die Frage, warum in einem Bild Zweige auftauchen, die Pflanzenart keine entscheidende Bedeutung haben. Die Bedeutung, welche die Zweige für die Bilder haben, in denen sie auftauchen, liegt also noch diesseits ihrer ikonographischen Charakteristika. Dem entspricht, dass die Mehrzahl der Zweige mit ihren ‚neutralen‘ Abb. 184 Satyr und Mänade beim Tanz, Weintrauben im Bildfeld. Auf die Darstellung von Stamm und Zweigen wurde hier kurzerhand verzichtet. Lekythos, Barcelona, Museo Arqueológico, frühes 5. Jh.

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Punktblättern gar keine Spezifizität aufweisen. Dem entspricht auch, dass das Erscheinen von Zweigen im Bildfeld in keiner Abhängigkeit von der Ikonographie des Bildes steht.229 ‚Freischwebende‘ Zweige und Bäume: Gemeinsamkeiten und Unterschiede Zweige, die teils Äpfel und Trauben gleichzeitig tragen, teils nicht einmal Blätter haben, scheinen ziemlich abstrakte Gebilde. Die gegenständliche Bedeutung, die man den ‚freischwebenden‘ Zweigen abgewinnen kann, bleibt im Ungefähren: Es sind Zweige. Bei jedem Versuch weiterer Präzisierung und Konkretisierung dieser ungefähren Gegenständlichkeit beginge man Fehler: Es sind keine Bäume, es sind aber auch keine von Bäumen abgeschnittenen Zweige. Im vorhergehenden Kapitel wurde bezüglich der in der Hand gehaltenen Weinreben dafür argumentiert, in ihnen nicht weniger vollgültige Weinreben zu sehen, wie in ihren aus dem Boden wachsenden Artverwandten.230 Da es nach Ausweis der Bilder für Zweige keinen Unterschied macht, ob sie von einer Figur in der Hand gehalten werden oder lediglich von ihr ausgehen, scheint es unproblematisch, dies auf alle Weinreben zu übertragen. Nun wurde aber oben gezeigt, dass es für Zweige auch keinen allzu großen Unterschied macht, ob Weintrauben, Äpfel, Efeu- oder Punktblätter an ihnen hängen. Dementsprechend müsste das, was für Zweige mit Weintrauben gilt, auch für ‚neutrale‘ Punktblattzweige gelten, und Punktblattzweige müssten ebenso vollgültige Bäume sein, wie Bäume mit Stamm. Die Behauptung, es gebe keinen klaren Unterschied zwischen Bäumen und ‚freischwebenden‘ Zweigen, scheint wenig plausibel, wenn man sich etwa die Bäume auf der Münchner Schale mit Herakles, der den Löwen ausnimmt (Abb. 185),231 oder die Bäume auf der Amphora des Antimenes-Malers mit der Olivenernte vor Augen führt (Abb. 186).232 In beiden Fällen sind kräftige Stämme von dünnen Ästen unterschieden, und die Zweige sind nicht beliebig verlängerbar, sondern breiten sich jeweils nur über einen wohldefinierten Bereich aus. Sie bilden jeweils eine geschlossene Form, die nicht durch kompositorische Zwänge fremdbestimmt scheint. Diese Beispiele genügen schon für die Feststellung, dass es zumindest manche Bäume gibt, die sich von ‚freischwebenden‘ Zweigen wesentlich unterscheiden. Nun gibt es aber auch Bäume, deren Zweige sich trotz Vorhandenseins eines kräftigen Stammes auf ganz ähnliche Weise wie ‚freischwebende‘ Zweige über das Bildfeld ausbreiten. Der Baum auf einer Lekythos des Athena-Malers in New York mit einer Hasenjagd folgt in der Anlage seiner Zweige ebenso der Verfolgungsrichtung und visualisiert den Schwung, mit dem der Jäger und sein Hund dem Hasen hinterhereilen (Abb. 187),233 wie die ‚freischwebenden‘ Zweige auf der oben besprochenen Schale im Cabinet des Médailles mit der Verfolgung von

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Bildinterne Untersuchung

Abb. 185 Herakles nimmt den toten Löwen aus. Mächtige Bäume füllen den Bildfries. Augenschale, München, Antikensammlung, letztes Viertel 6. Jh.

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207 Abb. 186 Männer bei der Olivenernte. Dieses Bild ist exzeptionell durch seine Bäume, die deutlich höher als eine stehende Figur sind. Halsamphora des Antimenes-Malers, London, British Mus., 520–510

Troilos und Polyxena durch Achill. Die starke Asymmetrie der Zweige würde für sich genommen absurd wirken und ergibt nur im Zusammenhang mit den Figuren und ihrer Handlung Sinn.234 Neben der Verdeutlichung der Bewegungsrichtung im Bild erlauben die Zweige des Baumes auch, den durch die geringe Höhe der Figuren des Hundes und des Hasen leergebliebenen Teil des Frieses aufzufüllen. Um der Auffüllung der leergebliebenen Bildfeldfläche willen werden Bäume auch sonst gerne in physisch unmögliche Formen gebracht. Dabei ist es interessant zu bemerken, dass auch kräftige Stämme biegbar sind, wie es im vorhergehenden Kapitel anhand einer Amphora in München mit Herakles im Kampfe mit dem Stier und einem vom rechten Rand ins Bild hineinwachsenden Baum gezeigt wurde.235 Die Anpassung eines Baumes an die Komposition der Figuren kann also auch seinen kräftigen Stamm einbeziehen, der ihn doch scheinbar von den ‚freischwebenden‘ Zweigen absetzt. Die hier angesprochenen Eigenschaften der Bäume lassen sich unter das Stichwort der Formbarkeit bringen, deren Besprechung im vorhergehenden Kapitel vertagt worden war. Formbarkeit haben Bäume und ‚freischwebende‘ Zweige offenbar gemeinsam. Inwieweit diese Möglichkeit im Einzelfall dazu führt, dass Bäume Formen verliehen bekommen, die physisch undenkbar wären, bleibt damit noch vollkommen offen. Im Falle der oben erwähnten Bäume auf der Münchner Schale mit Herakles, der den Löwen ausnimmt, wird die Ausbreitung der Zweige durch die einzelne und niedergebeugte Figur des Herakles kaum behindert. Nichts hält diese Bäume daher ab, eine ganz naturgemäße Form auszubilden. Der ‚Realismus‘ dieser Bäume geht sogar so weit, dass man in ihnen eine be-

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Bildinterne Untersuchung

Abb. 187 Ein Jäger und sein Hund verfolgen einen Hasen. Die deutlich asymmetrischen Zweige des Baumes folgen offensichtlich der Bewegungsrichtung der Figuren. Lekythos des AthenaMalers, New York, Metroplitan Mus., 490–480

stimmte Pflanzenart, nämlich Olivenbäume, erkennen kann, was für attische Vasenmalerei sehr ungewöhnlich ist. Genauso ungewöhnlich ist jedoch, dass in diesem sehr langen Bildfries236 nur eine Figur erscheint, und das ganze übrige Feld durch Bäume gefüllt ist, die sich das Feld nicht mit Figuren teilen müssen. Beide Besonderheiten dieser Schale sind offenbar gekoppelt. Die Form des Baumes rechts von Herakles zeigt desweiteren, dass auch die mächtigen Bäume auf dieser Schale im Zweifelsfall vor der Figur zurückweichen: An seiner rechten Seite wachsen Zweige zum Boden herab, während dieser Raum an seiner linken Seite für die Figur des Herakles von Zweigen freibleibt. Auch hier füllen die Bäume also nur die von den Figuren leer gelassene Fläche, nur dass diese hier sehr groß ist und die Bäume zu keinerlei extravaganten Formen zwingt.237 Obwohl Bäume im Prinzip genauso formbar wie ‚freischwebende‘ Zweige sind, ist es dennoch offensichtlich, dass die Eigenheiten, die sich aus der Formbarkeit ableiten – nämlich die beliebige Verlängerbarkeit der

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209 Abb. 188 Herakles und Athena bei der Libation, flötender Hermes. Skyphos des TheseusMalers, South Hadley, Mount Holyoke College Art Mus., 500–490

Zweige, ihr ggf. verschlungener Verlauf und die kompositorische Orientierung an den Figuren und deren Handlung –, bei Bäumen in der Regel weniger ausgeprägt sind als bei ‚freischwebenden‘ Zweigen. Der Unterschied zwischen Bäumen und ‚freischwebenden‘ Zweigen ist also ein gradueller, der Grad der Unterschiedlichkeit aber kann sehr hoch sein. Figuren und Zweige: raumzeitliche Kontinuität oder Bruch? Die Zweige, die auf einem Skyphos des Theseus-Malers mit Herakles zwischen Hermes und Athena vom Kopf des Herakles ausgehen, wachsen ihm natürlich nicht aus den Ohren (Abb. 188).238 Ebensowenig sind sie an seiner Schulter fixiert. Sie existieren für Herakles nicht, oder anders gesagt, zwischen der Figur des Herakles und den Zweigen gibt es einen raumzeitlichen Bruch. Nun ist der Bruch des raumzeitlichen Kontinuums in der attischen Vasenmalerei nichts Außergewöhnliches, da es ein prinzipiell geltendes raumzeitliches Kontinuum bekanntlich gar nicht gibt. Dennoch lohnt es sich, das raumzeitliche Verhältnis von Figuren und Zweigen näher zu untersuchen, da es sich zeigen wird, dass die Frage nach Kontinuität oder Bruch keineswegs immer eine eindeutige Antwort besitzt. Auf einer Augenschale der Gruppe von Walters 48.42 in München erscheint zwischen den Augen je eine tanzende Mänade, die in beiden Händen Weinreben hält (Abb. 189).239 Die in der Rechten gehaltenen Reben breiten sich von ihrer Körpermitte aus mit je zwei nach oben und zwei nach unten gerichteten Zweigen in alle vier Richtungen aus, während die in der erhobenen Linken gehaltenen Reben zu beiden Seiten dem Schalenrand entlang laufen und so die Figur von oben rahmen. Der Ver-

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lauf der Zweige ist einer klaren Ordnung unterworfen, die ganz den üblichen Kompositionsweisen von ‚freischwebenden‘ Zweigen entspricht. Auf ebensolche Weise könnten die Zweige auch dann um die Figur ‚drapiert‘ sein, wenn sie diese nicht in den Händen hielte. Um den raumzeitlichen Bruch zwischen Figur und Zweigen, den es auch in diesem Fall gibt, wo die Figur die Zweige eigenhändig hält, zu veranschaulichen, sei ein kleines Gedankenspiel erlaubt: Würde man das Motiv des Haltens der Zweige konkret auffassen und das Bild zeitlich weiterdenken, gerieten mit den heftigen Tanzbewegungen der rasenden Mänade auch die vielen Zweige in Bewegung, würden ein lautes Rascheln verursachen, und die Mänade würde in dem Gewirr der Zweige wohl auch bald zu Fall gebracht. Diese Vorstellung gäbe dem Bild eine burleske Note, die den Intensionen des Malers bestimmt nicht entsprochen hätte. Noch fatalere Folgen hätte es, wenn man in der Hand gehaltene Weinreben auf mehrfigurigen Bildern des tanzenden Thiasos, wie etwa der Spitzamphora des KleophradesMalers in München (Abb. 190),240 in die Bewegung der Figuren mit einbezöge: Die Satyrn und Mänaden würden sich in den Zweigen wohl bald so verhängen wie der Gigant, den Dionysos mithilfe des Efeus auf der Pariser Gigantomachie-Schale immobilisiert.241 Dieses Gedankenspiel braucht gar nicht weitergeführt zu werden, da bereits offensichtlich ist, dass Zweige auch dann nicht in die Bewegung der Figuren einzubeziehen sind, wenn sie von einer Figur in der Hand gehalten werden. Ebenso absurd wäre die Vorstellung, dass sich in der Hand gehaltene Zweige nicht bewegen würden, dass sich Figuren also gewissermaßen daran festhalten würden. Man wäre zu denken geneigt, dass Zweige und Figuren zu zwei getrennten Bildebenen gehören, deren jeweilige Bewegung voneinander gänzlich unabhängig ist. Doch hatte sich bei der Untersuchung der Kompositionsweisen der Zweige gezeigt, dass es eine Tendenz gibt, die Bewegung der Figuren in der Anlage der Zweige aufzunehmen. Die Bewegung der Figuren Abb. 189 Tanzende Mänade. Die weit verzweigten Weinreben, welche sie in der Hand hält, scheinen sie nicht in ihrer Bewegungsfreiheit einzuschränken. Augenschale der Gruppe von Walters 48.42, München, Antikensammlung, 530–520

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211 Abb. 190 Der rasende Dionysos inmitten seines Thiasos. Spitzamphora des Kleophrades-Malers, München, Antikensammlung, um 500

interagiert zwar nicht mit der Bewegung der Zweige – Figuren und Zweige sind mechanisch voneinander unabhängig – sie entsprechen sich aber oftmals gegenseitig. Für das Verständnis dessen, was das Verhältnis von Figur und Umraum oder, um es noch schwülstiger auszudrücken, von Zeit und Raum, in der attischen Vasenmalerei ausmacht, ist diese gegenseitige Entsprechung der Bewegung der Figuren und der Zweige bedeutungsvoll: Man hat es nicht mit handelnden Figuren, also mit Zeitwesen, zu tun, die gegen die Folie eines gleichbleibenden – also zeitlosen – Raumes gesetzt würden, sondern die Zweige, die das ‚Umherum‘ der Figuren darstellen, beteiligen sich an der Suggestion der Bewegung.242 Der Leser wird einwenden, dass es zwischen der Bewegung der Figuren und der Bewegung der Zweige einen fundamentalen Unterschied gebe, dass die Bewegung der Figuren nämlich ‚echt‘ sei, die Zweige Bewegung aber bloß suggerieren würden. Dieser Unterschied ist allerdings fundamental nur unter der Voraussetzung eines fiktiven Bildraumes, oder genauer gesagt in diesem vermeintlichen fiktiven Bildraum: Auf der Bildfläche sind nämlich weder Figuren, noch Zweige beweglich, sondern Bewegung wird in beiden Fällen nur suggeriert. Die Bewegung der Figuren ist bloß in einer imaginierten Wirklichkeit ‚echter‘ als die der Zweige. Nach der im letzten Kapitel aufgestellten Behauptung, dass der Bildraum nichts Weiteres als das Bildfeld sei, sollte ein fiktiver Bildraum aber gerade nicht vorausgesetzt werden.

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Abb. 191 Der sitzende Dionysos mit vier Satyrn. Einer der Satyrn ist dabei, von den Trauben der Weinreben zu naschen, welche von Dionysos ausgehen. Amphora, Oxford, Ashmolean Mus., um 540

Man könnte also sagen, dass es aufgrund der Entsprechung der Bewegung von Figuren und Zweigen sogar ein besonders hohes Maß an raumzeitlicher Einheit zwischen Figuren und Zweigen gibt, wenn auch diese Einheit von einer anderen Art ist als die raumzeitliche Einheit, welche etwa zwei interagierende Figuren bilden. Zweige als Attribute der Figuren Auch wenn, wie eben gezeigt wurde, das Halten eines Zweiges nicht heißt, dass dieser Zweig den Bewegungen der Figur folgt, scheint mit dem Halten dennoch eine Verbindung von Figur und Zweigen hergestellt zu sein, die nicht nur eine zeichenhafte, sondern auch eine gewisse ‚materielle‘ Qualität hat. Dieser Eindruck wird dadurch bestärkt, dass Zweige nicht nur durch das Motiv des Haltens materiell in das Figurenbild integriert werden können. Zu nennen wären hier die im vorhergehenden Kapitel erwähnten Bilder, wo Satyrn in Weinreben klettern.243 Auf einer Bauchamphora in Oxford mit einem frühen Beispiel für Weinreben, die von der Figur des Dionysos ausgehen, ohne in der Hand gehalten zu werden, nascht ein Satyr von einer der Trauben (Abb. 191).244 Die Weinreben sind für diesen Satyr also offenbar greifbar nahe. Bezüglich der Frage nach raumzeitlicher Kontinuität oder Bruch zwischen Figuren und Zweigen ist der Befund also paradox: Die Zweige interagieren zwar nicht mit der Bewegung der Figuren, sie sind für die Figuren aber nicht weniger greifbar und materiell vorhanden. Auf diese Mischung von handlungsmäßiger Irrelevanz und materieller Präsenz passt die Kategorie des Attributs, dessen Zugehörigkeit zur Figur keine situative Qualität hat.245 Wenn dionysische Figuren Zweige in der Hand halten, sind diese für sie also Attribute. Solange es sich um kurze Efeu- oder Rebzweige, die von dionysischen Figuren seit dem frühen 6. Jh. in der Hand gehalten werden, handelt, hat deren Attributstatus nichts Außergewöhnliches an sich. Auch auf dem Stangenkrater des Lydos mit Dionysos und seinem Thiasos in New York,

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wo die Rebzweige, die Dionysos und mehrere der Satyrn halten, von teilweise stattlicher Größe sind, sprengen diese Zweige nicht den Rahmen dessen, was von einem Attribut zu erwarten wäre (Abb. 192).246 Obwohl sich die von Trauben schwer beladenen und vom Gewicht gebeugten Reben, die Dionysos in der Hand hält, wie eine Schleppe weit hinter ihm herziehen und von zwei Figuren überschnitten werden, bleiben sie aufgrund ihrer kompakten Form als ein klar begrenzter Gegenstand verständlich, den Dionysos neben dem Trinkhorn als Attribut mit sich führt.247 Anders auf der bereits einmal erwähnten Hydria aus Hamburg mit Dionysos, Apollon und zwei flankierenden tanzenden Mänaden (Abb. 50):248 Die Reben, die Dionysos hier in der Hand hält, sind zwar nicht unbedingt voluminöser als die auf dem Stangenkrater des Lydos, sie breiten sich aber über das gesamte Bildfeld aus, indem sie sich jeweils von oben in die Zwischenräume zwischen den Figuren hinabziehen. Sie bilden nicht mehr einen eigenen, kompakten Gegenstand, den eine Figur mit sich herumtragen könnte, sondern umfassen, indem sie ihre Form an den Freiräumen im Bildfeld orientieren, sämtliche darin erscheinende Figuren. Zu sagen,

Abb. 192 Dionysos und sein Thiasos. Diverse Figuren halten Wein und Efeu. Stangenkrater des Lydos, New York, Metropolitan Mus., um 550

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Dionysos halte einen Rebzweig, wäre hierfür eine irreführende Beschreibung, da die Reben nicht allein eine Ausschmückung der Figur des Dionysos, sondern des ganzen Bildfelds sind. Eher müsste es heißen, die Reben, die das Bildfeld füllen, laufen in der Hand des Dionysos zusammen. Da die Ausbreitung der Reben im Bildfeld den Maßstab der einzelnen Figur übersteigt, reicht der Hinweis auf den Attributstatus dieser Reben zu ihrer Beschreibung nicht mehr aus. Dass sich derart über das Bildfeld ausgebreitete Zweige nicht in ihrer Bezogenheit auf die eine Figur, die sie in der Hand hält, erschöpfen, ersieht man auch daraus, dass es teilweise eben nicht nur eine Figur ist, die sie hält. So auf der bereits erwähnten Bauchamphora des Psiax in Madrid, wo die Efeuzweige, die auch hier von oben in die Freiräume zwischen den fünf Figuren hinablaufen, nicht nur von der Hand des Dionysos ausgehen, sondern in einem Fall von einem Satyrn gehalten werden (Abb. 151).249 Dabei ist es entscheidend, dass sich dieser Zweig vollkommen in das Kompositionsschema der übrigen Zweige einfügt, und folglich nicht zwei Efeugewächse, die jeweils von einer Figur gehalten werden, gemeint sind, sondern das Bildfeld insgesamt von dem Efeu bewachsen ist, der den Händen zweier Figuren entspringt – das Meiste von der wichtigeren Figur Dionysos, ein wenig auch von seinem Trabanten, dem Satyrn. Ein weiterer Beleg dafür, dass in der Hand gehaltene Weinreben sich nicht in ihrer Bezogenheit auf die Figur erschöpfen, die sie hält, ist ein in SixTechnik bemalter Kyathos in London, wo Dionysos, der am dem Henkel gegenüberliegenden Ende des Frieses sitzt, in jeder Hand Reben hält, die sich zu beiden Seiten hin über das ganze restliche Bildfeld ausbreiten (Abb. 193).250 Die beiden Ansichten, die der Trinker beim Heben des Gefäßes zu Gesicht bekommen kann, sind also ausschließlich mit Reben gefüllt. Der Figur des Dionysos wird der Trinker erst gewahr, wenn er den Kyathos zum Zwecke der Betrachtung dreht. Vom Standpunkt des Betrachters entspricht die Position des Dionysos somit der einer Henkelfigur, die sich nicht im Zentrum eines Bildfelds, sondern an dessen äußersten Rand befindet. Die Reben, die somit das Hauptdekorationselement des Trinkgefäßes darstellen, stehen also für sich selbst und werden erst dann zum Attribut des Dionysos, wenn man das Gefäß in die ‚Seitenansicht‘ dreht. Einen analogen Fall stellt eine Halsamphora des Amasis-Malers in Boston dar, wo an den Rändern der beiden Hauptseiten jeweils links Efeuzweige und rechts Weinreben erscheinen (Abb. 109).251 Für die beiden Bilder mit respektive Athena und Poseidon (?) und zwei Kriegern, die keinerlei speziellen dionysischen Bezug aufweisen, sind diese Wein- und Efeuzweige Henkelornamente. Bei Betrachtung der Henkelseiten der Amphora zeigt sich aber, dass die Zweige jeweils von einer nach links laufenden Dionysosfigur gehalten werden und so unter dieser Ansicht (und nur unter dieser Ansicht!) als Attribut definiert werden können.

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Ein anderer Aspekt, der in der Hand gehaltenen Zweigen in der Reihe der Attribute einen Sonderstatus einnehmen lässt, ist, dass diese Zweige jedesmal ebensogut auch nicht in der Hand gehalten werden und stattdessen von der Figur nur ihren Ausgang nehmen könnten. Weinreben, die von der Figur des Dionysos ausgehen, diesem unmittelbar in die Hand zu geben, ist eine Option, die nicht immer gewählt wird. Da zwischen Weinreben, die gehalten werden, und Weinreben, die nicht gehalten werden, wiederum keine sonstigen formalen Unterschiede bestehen, sind es in beiden Fällen sozusagen dieselben Reben. Das Motiv des in der Hand Haltens, das Zweigen den Attributstatus verleiht, ist so gesehen eine optionale Zusatzcharakterisierung dieser Zweige: Sie treten in ein Attributverhältnis, das zu ihrer Existenzberechtigung auf dem Bildfeld nicht notwendig ist. Die Attribution der Zweige an eine Figur charakterisiert also nicht nur die Figur, sondern auch das Attribut selbst. Das Attributverhältnis zwischen Zweigen und Figur beruht gewissermaßen auf Gegenseitigkeit, oder konkreter formuliert: Dadurch, dass die Figur des Dionysos und die Weinreben, die das Bildfeld füllen, in ein Attributverhältnis treten, wird nicht so sehr etwas über Dionysos ausgesagt als etwas über das Verhältnis der Figur des Dionysos und der bildfeldfüllenden Weinreben – man ist

Abb. 193 Der sitzende Dionysos hält Weinreben in der Hand. Der Symposiast, welcher zum Trinken ansetzt, bekommt nur die Weinreben zu Gesicht. Erst, wenn er das Gefäß dreht, wird er des Gottes gewahr. Kyathos in Six-Technik, London, British Mus., 530–520

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versucht, zu ergänzen: etwas über das Verhältnis von Dionysos und dem Bildfeld. Schließlich ist interessant, dass Zweige nur mit bestimmten Figuren in ein Attributverhältnis treten können. Diese sind natürlich in erster Linie Dionysos, Satyrn und Mänaden. Nur in seltenen Fällen werden Zweige auch von Hermes oder von Musen gehalten.252 Dabei ist bemerkenswert, dass sich dieses ‚Vorrecht‘ der dionysischen Figuren nicht nur auf die dionysischen Pflanzen Wein und Efeu bezieht, sondern auch auf neutrale Punktblattzweige. In der schwarzfigurigen Vasenmalerei um 500, wo praktisch jedes Bild mit Zweigen angefüllt ist, haben die dionysischen Figuren diesbezüglich also gegenüber allen anderen Figuren eine Sonderstellung inne: Zwar kann jede Figur durch Zweige, die von ihr ausgehen, im Bildfeld herausgehoben werden. Nur Dionysos, Satyrn und Mänaden haben dieses kompositorische Mittel jedoch selbst ‚in der Hand‘, bei allen anderen Figuren geschieht es gewissermaßen durch ‚Fremdeinwirkung‘. Es soll nun versucht werden, die bisher eher additiv aneinander gereihten Beobachtungen zu den ‚freischwebenden‘ Zweigen zu einem Gesamtbild zusammenzufügen. Die Eigenschaften von ‚freischwebenden‘ Zweigen, die erschlossen wurden, und die ich hier nochmal kurz rekapitulieren möchte, scheinen sich in Vielem zu widersprechen: (1) Die Zweige sind zwar graphisch an die Figuren oder die Bildfeldbegrenzung gebunden, müssen aber in keinem thematischen Verhältnis zum Bild stehen. (2) Die Tatsache, dass Zweige mit den Kennzeichen von Wein oder Efeu allermeist auf Symposionsgefäßen zu finden sind, auf Lekythen, die der Aufbewahrung von Duftölen dienen, dagegen vermehrt anstelle von Trauben runde Früchte (bzw. Blüten) an den Zweigen hängen, zeigt, dass die Zweige stattdessen in einem thematischen Verhältnis zur entsprechenden Vase stehen. (3) Mit dieser Bindung an die Vase scheint wiederum im Widerspruch zu stehen, dass die Zweige in ihrer Ausbreitung auf der Vase über die von Figuren eingenommene Fläche nicht erheblich hinausgehen, sie somit an das Bildfeld gebunden sind. (4) Die Fragen nach thematischen Zusammenhängen zwischen Zweigen, Bild und Vase werden bis zu einem gewissen Grad dadurch ‚entschärft‘, dass die Pflanzenart bei ‚freischwebenden‘ Zweigen nicht die Hauptsache ist, wie man es an den häufigen botanischen Inkonsistenzen, mehr aber noch an der botanischen Unbestimmtheit der Mehrheit der Zweige sieht. (5) Der fließende Übergang zwischen ‚freischwebenden‘ Zweigen und Bäumen muss davor warnen, für die Interpretation der teilweise überraschenden Phänomene lediglich eine bizarre Sondergattung von Zweigen auszumachen, in der sozusagen alles möglich wäre, und die ‚gewöhnlichen‘ Bäume davon unberührt zu wähnen. Umgekehrt muss eine Erklärung dieser Phänomene auch berücksichtigen, dass aus Zweigen ebensogut ganz ‚normale‘ Bäume gebildet

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werden können. (6) Für das Verständnis des Verhältnisses zwischen ‚freischwebenden‘ Zweigen und Figuren ist es desweiteren wichtig, dass deren Präsenz im Bildfeld nicht einhergeht mit einer Zugehörigkeit zum Handlungsraum des Bildes: Die Zweige entsprechen in ihrer Komposition zwar oftmals der Bewegung der handelnden Figuren, sie nehmen an dieser Handlung aber nicht teil. (7) Schließlich können Zweige mit bestimmten Figuren – fast ausschließlich Dionysos und seine Trabanten – in ein Attributverhältnis treten. Dieses Attributverhältnis ist jedoch insofern besonders, als sich die Zweige in ihrer Attribution an die Figur, welche sie in der Hand hält, nicht erschöpfen, sondern ihre sonstigen Eigenschaften, insbesondere die, das Bildfeld insgesamt zu umfassen und nicht allein auf eine Figur bezogen zu sein, behalten. Diese scheinbaren Widersprüche sollen nun aufgelöst werden. Beginnen möchte ich dabei mit der festgestellten botanischen Inkonsistenz. Die geringe Wichtigkeit, die der Erkennbarkeit von Wein oder Efeu zugemessen wurde, zeigt, dass es zuvorderst darum ging, die Freiräume im Bildfeld mit Zweigen zu füllen. Das findet sich darin bestätigt, dass zu der Zeit, als die Zweige, welche Dionysos in der Hand hielt, noch eine kompakte Form hatten – als das Füllen des Bildfelds also noch kein entscheidender Gesichtspunkt war –, auf Kennzeichen von Wein oder Efeu nie verzichtet wurde. Mit der Erweiterung der gehaltenen Zweige zu bildfeldfüllenden Ranken im späten 6. Jh., bei der das, was zuerst nur Attribut war, sich von der einzelnen Figur mehr und mehr emanzipiert hat, ist auch die dargestellte Pflanzenart weniger wichtig geworden. Dass man sich unter diesen Voraussetzungen oft für die neutralen Punktblätter entschied, die sehr viel schneller auszuführen waren, ist bei dem extensiven Gebrauch, der von Zweigen gemacht wurde, nicht verwunderlich. Dabei ist wichtig festzuhalten, dass Punktblattzweige nicht nur auf flüchtig bemalten Gefäßen, sondern auch auf ausgesprochenen Luxusvasen verwendet wurden, sie also nicht als die zweitbeste Variante angesehen werden dürfen. Dass die Kennzeichnung der Pflanzen als Efeu oder Wein nicht mehr essentiell war, bedeutet allerdings nicht, dass die Ausschmückung der Zweige mit Früchten nicht mehr wünschenswert gewesen wäre. Die zuweilen feststellbare Anhäufung von verschiedenen Früchten am selben Zweig ist dafür der beste Beleg: Zu den Trauben werden noch runde Früchte hinzugefügt, und den schwarzen Trauben werden weiße zugesellt. Die Maler verfahren bei der Ausschmückung der Zweige nach einem kumulativen Prinzip: Eine Frucht schließt die andere nicht aus, sondern jede zusätzliche Frucht stellt eine Bereicherung dar.253 Die Existenz von Zweigen ohne Blätter in der sog. Leafless Group zeigt, dass sogar die Blätter selbst als eine Ausschmückung eines zuvor nackten Zweiges anzusehen sind und damit an diesem kumulativen Prinzip teilhaben.254 Das zeigt sich insbesondere an den Bildern, wo unter die Punktblattzweige einige Efeu-

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Abb. 194 Dionysos und zwei Satyrn und Mänaden. Die Zweige, die der Gott hält, teilen sich in Efeu und Wein auf. Bilingue Amphora des AndokidesMalers, Paris, Louvre, um 520

zweige gemischt werden, wie man es z.B. auf einer Augenschale in München mit einem sitzenden Dionysos, der von Zweigen umgeben ist, sieht (Abb. 179).255 Auf einer bilinguen Amphora des Andokides-Malers in Paris teilen sich die Zweige, die Dionysos in der Hand hält, in Efeu und Wein auf (Abb. 194).256 Auf einem Kyathos in Sèvres entspringen dem reitenden Hephaistos Punktblattzweige und Efeuzweige, wobei aus letzteren wiederum Punktblattzweige herauswachsen.257 Im Rahmen dieses kumulativen Prinzips der Ausschmückung der Zweige bleibt es durchaus erwünscht, dass die gewählten Früchte und Blattformen zu der spezifischen Vase passen, die sie schmücken, dass also auf Symposionsgefäßen vornehmlich Elemente der dionysischen Pflanzen Efeu und Wein erscheinen, auf Lekythen dagegen eher die runden (duftenden) Früchte bevorzugt werden. Es ist denn auch wichtig zu be-

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merken, dass das konnotative Spektrum, welches von jeder Pflanzenform transportiert wird, ebenfalls Anteil an der Ausschmückung der Zweige hat. Es handelt sich hier nämlich nicht darum, eine Unterscheidung zwischen Dekorativem und Inhaltlichem aufzumachen, bei der die Zweige auf der Seite des Dekorativen lägen. Dass das eine oder andere Mal der Kumulation zweier Früchte gegenüber dem Aspekt der Stimmigkeit von deren konnotativen Spektrum mit der Vase der Vorzug gegeben wurde, kann in diesem Zusammenhang nicht mehr verwundern. Dies sei im Rückgriff auf das oben offengelassene Problem der Lekythen mit traubenbehangenen Zweigen gesagt.258 Dass im Falle der Lekythen mit traubenbehangenen Zweigen die Unvereinbarkeit von deren konnotativem Spektrum mit der dekorierten Vase in Kauf genommen wurde, zeigt dennoch ein gewisses Zurücktreten der Bedeutung der Trauben. Deren generalisierter Gebrauch auf Symposionsgefäßen hat sie wohl bis zu einem gewissen Maße zu allgemeinen Vasendekorationselementen werden lassen, die wie Palmetten auf jeder beliebigen Vase verwendet werden können.259 Diesbezüglich ist es entscheidend, dass die entsprechenden Lekythen zu einer Zeit gemalt wurden, als sich die Darstellung traubenbehangener Zweige auf Schalen bereits seit mehreren Jahrzehnten generalisiert hatte. Nun bleibt aber weiterhin die Frage, was Zweige, die nach diesem kumulativen Prinzip aufgebaut sind, bei denen also Efeublätter und Punktblätter gemischt auftreten können, die verschiedene Früchte gleichzeitig tragen können u.Ä., eigentlich darstellen. Auch wenn man Zweige mit Efeublättern „Efeu“ und Zweige mit Weintrauben „Weinreben“ nennen kann, wären dies nur zwei botanisch ‚zufällig‘ stimmige Varianten einer gemeinsamen Grundform, die man in nur sehr ungefährer Gegenständlichkeit „Zweige im Bildfeld“ nennen kann. Während nun ein botanisch nicht näher bestimmbarer Baum immernoch als Baum angesprochen werden kann, könnte die Bezeichnung „Zweige“ für botanisch nicht bestimmbare Zweige nur den Archäologen befriedigen, dem es ausschließlich um eine sachliche und vollständige Beschreibung eines Bildes geht. Für jeden anderen Betrachter wäre dies eine nicht zureichende Beschreibung, die nur das wiederholen würde, was man ohnehin sieht, nicht aber sagen würde, was man sieht.260 Ich möchte behaupten, dass eine unmittelbare Referenz in der Wirklichkeit für ‚freischwebende‘ Zweige wahrhaftig nicht existiert, sondern ihre Form sich aus dem Zusammenspiel von Figurenbild und Vase erklärt. Dies möchte ich im Folgenden erläutern. Aus der Übersicht über die Kompositionsweisen der Zweige im Bildfeld hatte sich ergeben, dass Zweige, entgegen dem, was die hier gewählte Bezeichnung ‚freischwebende‘ Zweige insinuiert, niemals vollkommen frei im Bildfeld schweben, sondern immer von etwas – meist von einer Figur oder einem Gegenstand im Bild-

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feld, seltener von der Bildfeldbegrenzung – ihren Ausgang nehmen und von dort in die Freiräume des Bildfelds hineinwachsen.261 Zweige, die aus der unteren Bildfeldbegrenzung herauswachsen, ließen sich zwar noch als einfache, aus dem Boden wachsende Pflanzen lesen, doch käme man mit dieser Lesart in die ungemütliche Lage, im viel häufigeren Fall, wo Zweige dem Kopf einer Figur entspringen, diese als aus seinen Ohren oder seinen Schultern wachsende Pflanzen verstehen zu müssen. Die Gemeinsamkeit zwischen dem Herauswachsen der Zweige aus Figuren oder Gegenständen im Bildfeld einerseits und aus der Bildfeldbegrenzung andererseits, muss daher die Tatsache sein, dass die Zweige in beiden Fällen von einem mit Tonschlicker bedeckten Bereich der Vasenoberfläche ihren Ursprung nehmen und in den tongrundigen, freien Bereich der Vasenoberfläche hineinwachsen. Wenn Figuren also als Ausgangspunkt für Zweige dienen, tun sie dies nicht als das, was sie darstellen, sondern in ihrer Qualität als schwarzes Muster in ihrem Gegensatz zum tongrundigen, leeren Umfeld. Die Zweige wachsen aus den Figuren also ganz ungeachtet ihrer figurativen Qualität heraus, womit sich aus der Sicht der Zweige der Unterschied zwischen den Figuren und der nicht-figurativen Bildfeldbegrenzung auflöst.262 Nichtsdestotrotz sind Zweige selbst figurative Motive. Zwar hat das Herauswachsen der Zweige aus Figuren keinen figurativen Sinn, doch verhalten sie sich in der Folge ganz so, wie man es von figurativen Motiven erwarten sollte, die sich denselben Bildraum mit den Figuren teilen: Sie überqueren Figuren und lassen sich von diesen überschneiden, womit diese Figuren aus der Sicht der Zweige also keine schwarzen Farbflächen mehr sind, sondern Körper von begrenzter Ausdehnung, hinter denen man gewissermaßen vorbeikommen kann. Dabei ist festzustellen, dass in der überwältigenden Mehrheit der Fälle die Zweige von den Figuren überschnitten werden. Zwischen Figuren und Vasenwand passen also immer noch Zweige, zwischen Zweige und Vasenwand passen jedoch keine Figuren mehr. Die Figuren stehen somit vor der Vasenwand, während sich die Zweige an der Vasenwand befinden. Der figurative Sinn, der sich daraus ergibt, ist evident: Man hat sich die Zweige als Schlingpflanzen vorzustellen, die an der Vasenwand wachsen. Dazu passt es natürlich ganz ausgezeichnet, dass die Zweige, wenn sie nicht selbst Kennzeichen von Efeu oder Wein aufweisen, zumindest genetisch von diesen beiden Schlingpflanzen herkommen: Die ‚artneutralen‘ Punktblattzweige, welche Bilder seit dem späten 6. Jh. überwuchern, sind der Schlusspunkt einer Entwicklung, die damit beginnt, dass der von Dionysos gehaltene Efeu oder Wein immer längere Zweige treibt. Auf der Rückseite der Exekiasamphora mit Achill und Penthesilea wachsen die Efeuzweige, die Dionysos in der Hand hält, bis hinab zur Grundlinie und bis hinauf zur oberen Bildfeldfeldgrenze (Abb. 195).263 Zu einer Auffas-

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221 Abb. 195 Dionysos und ein Schenkknabe. Einer der Efeuzweige, die Dionysos hält, ist – entgegen der Schwerkraft – aufrecht gerichtet. Halsamphora des Exekias, London, British Mus., um 530

sung der ‚freischwebenden‘ Zweige als Schlingpflanzen, die an der Vasenwand wachsen, passt auch die spezifische Weise, wie sie sich über das Bildfeld ausbreiten: Die Zweige können auf verschlungenem Wege jeden freien Winkel in einem Bildfeld erreichen und dabei gegebenenfalls um Figuren einen Bogen machen, so wie Efeu in unzähligen Biegungen eine ganze Hauswand überwuchern und dabei die Fenster aussparen kann. Da sich Schlingpflanzen nicht aus eigener Kraft aufrechthalten müssen und sich stattdessen eines externen ‚Gerüsts‘ bedienen, sind sie in ihrem Wachstum durch die Gesetze der Schwerkraft nicht begrenzt. Ebenso

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schwerelos wirken denn auch die ‚freischwebenden‘ Zweige mit ihren dünnen und beliebig verlängerbaren Ästen.264 Schwerelos wirken allerdings auch schon die Efeuzweige auf der Londoner Halsamphora des Exekias: Der Trieb, der sich von der Hand des Dionysos aus zur oberen Bildfeldbegrenzung hinaufbiegt, wird nicht durch Wind emporgeblasen, noch hält sich der von Natur aus biegsame Efeuzweig durch eigene Steifheit aufrecht. Vielmehr wächst auch dieser Efeuzweig empor, und zwar wächst er, als Efeu, per definitionem an etwas empor. Dieses Etwas ist, wenn man es denn benennen möchte, naheliegenderweise auch hier nichts anderes als die Vasenwand.265 Wie es im vorhergehenden Kapitel im Abschnitt über die Mobilität der Landschaftselemente gezeigt wurde, sind auch die Weinreben, die Dionysos in der Hand hält, lebendig und wachsen Dionysos im wahrsten Sinne des Wortes aus der Hand.266 Die Vorstellung eines Wachsens von Wein und Efeu an der Vasenwand liegt also auch schon bei einfachen, gehaltenen Zweigen auf der Hand. Für die genetische Entwicklung vom einzelnen gehaltenen Weinoder Efeutrieb zu den in diesem Unterkapitel behandelten ‚freischwebenden‘ Zweigen – bei der sich Anfangs- und Endpunkt qualitativ erheblich voneinander unterscheiden – genügt also eine quantitative Steigerung des einzelnen, als Attribut gehaltenen, aber gleichwohl aber bereits ‚schlingenden‘ Schlinggewächses zum bildfeldüberwuchernden Zweigegewirr. Dass diese bildfeldüberwuchernden Zweigegewirre am Ende des 6. Jh. dann nicht mehr zwangsläufig die Kennzeichen von Efeu oder Wein tragen, ist die logische Folge daraus, dass der Attributaspekt solcher Zweige mehr und mehr zurücktritt, je weiter sie sich über den ‚Hoheitsbereich‘ der Figur hinaus ausbreiten, von der sie ausgehen: Das Füllen des Bildfelds hat sich in der spätschwarzfigurigen Vasenmalerei zum Selbstzweck emanzipiert. In derselben Entwicklung der Zweige vom Attribut bestimmter Figuren weg und hin zum universal anwendbaren Mittel, das Bildfeld als Ganzes zu füllen, liegen auch die Lösung der Zweige von dionysischen Bildthemen als ausschließlicher Option und im Gegenzug ihre Bindung an das Bildfeld und die Vase, als Teil derer das Bildfeld sowohl materiell als auch ideell zu verstehen ist. In der Tat passt die Vorstellung der ‚freischwebenden‘ Zweige als Schlingpflanzen, die an der Vasenwand wachsen und so das Bildfeld überwuchern, ganz hervorragend zu deren Bindung an Bildfeld und Vase, die sich im Vorhergehenden anhand mehrerer Beobachtungen gezeigt hatte. Die Tatsache, dass die ikonographischen Kennzeichen, welche die Zweige tragen, meist in einer Abhängigkeit zur Vase und ihrer jeweiligen Funktion als Weintrinkgefäß oder Duftölbehälter usw. stehen, findet eine denkbar konkrete Entsprechung darin, dass diese Zweige an der Vasenwand wachsen, welche als solche natürlich genauso wenig ikonographische Bedeutung für das Bild besitzt wie Weinreben für eine Hoplitenfigur zwischen den Augen einer Trinkschale.267

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Auch hier muss jedoch betont werden, dass die Bindung der Zweige an Bildfeld und Vase eine Möglichkeit ist, die in den Attributzweigen, die Dionysos von alters her in der Hand halten konnte, bereits angelegt war, die bloß lange nicht im Vordergrund stand: Auch auf der Exekiasamphora in London wachsen die Efeuzweige, die Dionysos hält, an der Vasenwand. Hier wird jedoch die Idee von Efeu, der an der Vasenwand wächst, nicht dazu ausgebaut, die Pflanze durch ein Wachstum, welches über die Figur des Dionysos weit hinausginge, sozusagen dem Bildfeld und der Vase zu ‚übereignen‘. Die Vorstellung von Schlingpflanzen, die an der Vasenwand wachsen, zeigt zwar den Weg, den die Entwicklung von kleinen Attributzweigen zu ‚freischwebenden‘ Zweigen, genommen hat – das Wachstum der Zweige musste bloß ausgeweitet werden, um zu bildfeldfüllenden Zweigen zu werden –, sie erklärt aber keineswegs, warum dieser Weg eingeschlagen wurde.268 Sie kann auch nicht erklären, warum die Kennzeichnung der ‚freischwebenden‘ Zweige als Efeu oder Wein so oft weggelassen wurde. Ebensowenig kann sie erklären, warum sich in der spätschwarzfigurigen Vasenmalerei ähnliche Phänomene auch bei Bäumen finden, bei denen die Vorstellung, dass sie an der Vasenwand wüchsen, nicht funktioniert. Schließlich sollte man sich mit der gegenständlichen, ‚positivistischen‘ Erklärung der ‚freischwebenden‘ Zweige als Schlingpflanzen an der Vasenwand auch deshalb nicht zufrieden geben, weil die Schlingpflanzen ihren Ausgang von Figuren nehmen, und dieser Ursprung wiederum überhaupt keine gegenständliche Bedeutung besitzt. Die Zweige überwuchern das Bildfeld zwar wie Schlingpflanzen, die an der Vasenwand wachsen, sie tun dies aber zum Zwecke des Füllens des Bildfelds. Im Rahmen dieses Zwecks ist die Vorstellung von Schlingpflanzen, die die Vase überwuchern, nur ein ausgesprochen passendes Bild, derselbe Zweck kann aber auch durch die übermäßig langgezogenen Zweige eines Baumes erfüllt werden. Diesem Zwecke entsprechend nehmen die Zweige ihren Ausgang von dort, wo das Bildfeld durch die Figuren schon gefüllt ist.269 Der Verlauf, in dem die Zweige die leeren Flächen durchmessen, orientiert sich allerdings an den von den Figuren ausgefüllten Bewegungen und Handlungen. Entscheidend sind die Figuren also nicht nur als schwarz saturierte Flächen im Gegensatz zur noch leeren Vasenoberfläche, sondern zudem als bewegte, lebendige Figuren im Gegensatz zum noch leblosen Bildfeld. Das Füllen des Bildfelds durch Zweige wäre also in erster Linie eine Verlebendigung des Bildfelds. Dazu passt, dass Zweige schon von Anfang an, als sie noch von Dionysos gehalten wurden, lebendige Zweige sind, die ins Bildfeld hineinwachsen.270 Die Lebendigkeit der Zweige gilt auch dann, wenn sie als Teil eines Baumes einem Stamm entwachsen. Zweige wecken die Assoziation von Bewegung und Beweglichkeit. Nun ist es natürlich offensichtlich, dass die Hauptakteure der Verlebendigung des

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Bildfelds die Figuren sind. Daher strahlen die Zweige denn auch von den Figuren aus. Sie vollziehen deren Lebendigkeit und Bewegung weiter und breiten sich auf der Vase wie zur Veranschaulichung von deren Wirkungskreis aus, wobei in vielen Fällen die aktivere, beweglichere oder machtvollere Figur Ausgangspunkt von zahlreicheren oder weiter verzweigten Zweigen ist. Andererseits erklärt sich damit auch, warum sich die Zweige nicht weiter ausbreiten als das Bildfeld reicht: Dort, wo auf der Vase das Bildfeld – der Hoheits- und Wirkungsbereich der Figuren – aufhört, hören auch die Zweige auf, oder umgekehrt formuliert: Die Zweige sind das Definiens des Bildfelds, insofern sie den Wirkungsbereich der Figuren anzeigen. An die Grenzen des Bildfelds sind die Zweige auch in dem selteneren Fall gebunden, wo sie nicht von den Figuren, sondern von der Bildfeldbegrenzung ihren Ausgang nehmen. Indem sie von allen Seiten in das Bildfeld hineinwachsen, definieren auch sie das Bildfeld als den Bereich der Bewegung und Beweglichkeit, wenn sie auch vom ‚neutralem Boden‘ der Bildfeldbegrenzung ausgehen. Die Inflation der Zweige in der späten schwarzfigurigen Vasenmalerei ist also keine Aufwertung der Darstellung des Umraums auf Kosten der Figuren, sondern vielmehr eine Bestätigung der Leitfunktion der Figuren bei der Aufgabe, aus einer freien Vasenfläche ein Bildfeld zu machen. Die Figuren handeln und bewegen sich nicht vor der Folie einer gleichbleibenden Umwelt – welche somit als Kontrastmittel zur Herausstellung der Aktivität der Figuren dienen würde –, sondern der Umraum der Figuren auf dem Bildfeld bewegt sich mit den Figuren.271 Die Zweige unterstreichen durch ihre Komposition die Bewegung im Bild oder signalisieren durch ihr Ausstrahlen von den Figuren ihre Bewegungsfähigkeit und ihren Wirkungskreis. Schließlich stellt sich die Frage, warum das Füllen des Bildfelds am Ende des 6. Jh. zu einem so wichtigen Anliegen der Maler geworden ist, nachdem ihnen die Möglichkeit, das Wachstum der Zweige auszuweiten, auch in den Jahrzehnten zuvor offenstand. Um zu verstehen, warum die Zweige am Ende des 6. Jh. beginnen, das Bildfeld zu überwuchern, scheint mir die zeitliche Übereinstimmung mit dem Beginn der rotfigurigen Malweise von Bedeutung. Aus naheliegenden Gründen ist es in der rotfigurigen Ausspartechnik nicht möglich, nach Auftrag der Figurensilhouetten und von diesen ausgehend Zweige in die Zwischenräume zu führen. Wenn der Maler, dem Vorbild der schwarzfigurigen Vasen folgend, Zweige im Bildfeld darstellen möchte, muss er diese von Anfang an in der Planung des Bildes mitberücksichtigen. Das für die ‚freischwebenden‘ Zweige charakteristische Nacheinander von Figurenauftrag und Zweigedarstellung ist also im Rotfigurigen nicht möglich, womit die Zweige auch nicht die Funktion des Auffüllens der gebliebenen Zwischenräume einnehmen

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können. Außerdem ist die Darstellung von Zweigen in Ausspartechnik ein ausgesprochen aufwendiges Unterfangen, da jeder Ast durch zwei parallele und in gleichmäßig kleinem Abstand voneinander geführte Pinselstriche umrissen werden muss. Da die unmittelbare Umgebung des Zweiges dann schon mit schwarzem Firnis überzogen ist, müssen die Blätter in Deckfarbe angegeben werden, wenn sich der Maler nicht umgekehrt dazu entschieden hat, die Blätter tongrundig und dafür den Zweig in Deckfarbe darzustellen.272 Es leuchtet ein, dass sich ein extensiver Gebrauch von Zweigen zum Auffüllen des Bildfelds unter diesen Umständen im Rotfigurigen nicht entwickeln konnte. Die Freiräume zwischen den Figuren, die im Schwarzfigurigen mit Zweigen aufgefüllt wurden, blieben im Rotfigurigen also leer. Warum jedoch hat sich dieser extensive Gebrauch der Zweige im Schwarzfigurigen dann umso mehr entwickelt? Ein Überblick über die Vasenmalerei aus der Zeit vor Einführung der rotfigurigen Technik zeigt, dass es sowohl Beispiele für äußerst dicht gefüllte Bildfelder gibt als auch Beispiele für Bildfelder, in denen größere Freiräume bleiben. Für ersteres mögen die außerordentlich figurenreichen Gigantomachien des zweiten Viertels des 6. Jh.273 oder allgemein Bilder mit vielfach übereinander geschichteten Figuren274 Zeuge stehen. Für Zweiteres ist die Exekias-Amphora mit Achill und Ajax beim Brettspiel wohl das beste Beispiel (Abb. 91):275 Hier ist es offensichtlich, dass der Kontrast zwischen den bis ins Kleinste ornamentierten Figuren und der leeren tongrundigen Bildfeldfläche einen gewollten Effekt darstellt. Die freibleibende tongrundige Vasenoberfläche ist also ein konstitutiver Teil des Bildaufbaus und somit im wahrsten Sinne des Wortes leeres Bildfeld. Gleichwohl handelt Exekias damit nicht entgegen dem Prinzip des Füllens der Bildfläche: Die leerbleibende Bildfeldfläche dient ja gerade der Herausstellung der ornamental außerordentlich gefüllten – aus anachronistischer Perspektive überladenen – Figuren. Die Beispiele für dicht gefüllte Bildfelder und für Bildfelder, in denen größere Flächen frei bleiben, stellen also zwei Möglichkeiten dar, dasselbe Ideal des Füllens der Bildfläche mit Figuren auf je unterschiedliche Weise zu realisieren.276 Während es nun in rotfiguriger Technik eines riesigen Planungsaufwands bedarf, um Bildfelder mit hintereinandergestaffelten Figuren dicht zu füllen, kann sie durch den umgekehrten Hell-Dunkel-Kontrast eine viel größere ‚Strahlkraft‘ der einzelnen Figur erreichen als die schwarzfigurige Technik.277 Wenn sich die schwarzfigurige Vasenmalerei ab dem späten 6. Jh. mithilfe der Zweige dem dichten Füllen des Bildfelds verschrieben hat, spielt sie also ihre spezifische Kompetenz gegenüber der ‚rotfigurigen Konkurrenz‘ aus, deren spezifische Kompetenz wiederum in der zweiten Möglichkeit des Füllens des Bildfelds liegt, welche Exekias bereits verwendet hatte. Die Inflation der Zweige in der spätschwarzfigurigen Vasenmalerei spiegelt somit ge-

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wissermaßen die Konkurrenz beider Bemalungstechniken, welche eine Spezialisierung beiden Bemalungstechniken auf ihre jeweiligen Kernkompetenzen mit sich zog.278 Neben der technischen Schwierigkeit, Bildfelder in rotfiguriger Malweise mit Motiven dicht zu füllen, führt noch ein weiterer Grund dazu, dass sich im Rotfigurigen ein Gebrauch von freischwebenden Zweigen wie im Schwarzfigurigen nicht entwickeln konnte: Die leere Bildfeldfläche im Rotfigurigen ist zwar von Motiven frei, mit ‚Farbe‘ jedoch gefüllt. Während die leere Bildfeldfläche im Schwarzfigurigen also in einem ganz konkreten Sinne leer und vom Pinsel unberührt ist – in einem Sinne, in dem Leere gleichbedeutend mit Unbearbeitetheit ist – ist die leere Bildfeldfläche im Rotfigurigen bloß in einem abstrakten Sinne leer. Leere Bildfeldfläche im Schwarzfigurigen ist undekorierte Vasenwand. Im Rotfigurigen beginnt diese Selbstverständlichkeit zu bröckeln. Die rotfigurigen Bilder der bilinguen Maler – zu der Zeit also, als rotfigurige Malweise noch keine eigenständige Technik, sondern bloß die Steigerungsform des Schwarzfigurigen war279 – finden sich meist auf Vasen, bei denen der schwarze Firnis ohnehin das gesamte Gefäß überzieht, wo also die Farbe der leeren Bildfeldfläche weiterhin der Farbe der Vase entspricht, und leere Bildfeldfläche immernoch als undekorierte Vasenwand zu verstehen ist. Sehr bald jedoch beginnen die rotfigurigen Maler damit, Vasen, die der bisherigen Dekorationstypologie entsprechend rotgrundig sein sollten, mit schwarzem Firnis zu überziehen, um sie für rotfigurige Malweise tauglich zu machen.280 Das Überziehen der Vase mit schwarzem Firnis wird dadurch zum bildnerischen Akt. Folglich ist der schwarze Firnis nicht mehr nur die Farbe der undekorierten Vase, sondern auch die Hintergrundfarbe des Bildfelds, des dekorierten Bereichs der Vase schlechthin. Die Leere der von Motiven freien Bildfeldfläche ist damit auch nicht mehr in einem übertragenen Sinne gleichbedeutend mit Unbearbeitetheit. Eine Beschreibung der von Motiven leeren Bildfeldfläche als undekorierter Vasenfläche ist spätestens zu diesem Zeitpunkt nicht mehr hinreichend. Aufgrund dieser veränderten Bedeutung von Leere und Fülle im Bildfeld kann es nun für das oben beschriebene Prinzip, nach dem die Zweige über das schwarzfigurige Bildfeld gezogen werden, nämlich von den bereits gefüllten Bereichen ausgehend in die noch leeren Bereiche des Bildfelds auszuströmen, im Rotfigurigen keine Entsprechung geben. Während sich im vorhergehenden Kapitel die besondere Bindung der Felsen an die Bildfeldbegrenzung erwiesen hatte, wurde hier deutlich, dass für Zweige das Bildfeld den Raum ihrer Ausbreitung darstellt. Diese Gegenüberstellung von Felsen und Bäumen scheint auf den ersten Blick trivial: Welchen positiven Grund könnte es für den umgekehrten Fall einer Bindung von Bäumen an den Boden und die Seitenwände des ‚Bildfeld-

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kastens‘ geben, wo es doch in der Natur von Bäumen liegt, in den Himmel emporzuwachsen, und wie könnten diese Bäume aussehen, deren Zweige sich nicht im Bildfeld ausbreiten würden? Nun handelt es sich jedoch bei den Zweigen, von denen hier die Rede ist, zu einem großen Teil um Schlingpflanzen, deren Eigenschaft es ebengerade ist, nicht frei gen Himmel zu wachsen, sondern vielmehr sich an Boden und Wänden emporzuhangeln. Dies tun sie in der attischen Vasenmalerei jedoch an der Vasenwand, auf die das Bildfeld aufgespannt ist und nicht an den ‚Wänden‘ der Bildfeldbegrenzung. Die Tatsache, dass der Raum der Felsen die Grundlinie, der Raum der Zweige dagegen das Bildfeld ist, liegt also nicht allein daran, dass im Zweifelsfall die Grundlinie den Boden, das Bildfeld dagegen den Himmel repräsentiert – im Falle des im Bildfeld wachsenden Efeus steht das Bildfeld ja auch gar nicht für den Himmel, sondern für das, was es materiell ist, nämlich Vasenwand.281 Unter Auslassung des Bezugs auf die letztlich nur scheinbare Analogie von Bildfeld und Himmel darf man also lediglich sagen, dass Zweige zu jenen Motiven gehören, die der Berührung mit (bzw. Verankerung in) der Grundlinie nicht bedürfen. Diese Eigenschaft von Zweigen wiederum korrespondiert mit einer weiteren in diesem Unterkapitel herausgestellten Charakteristik, nämlich dass Zweige dynamische Bildelemente sind: Sie sind lebendig, sie wachsen und konnotieren Bewegung. Felsen dagegen werden durch ihre Bindung an die Bildfeldbegrenzung immobilisiert. Die Gegenüberstellung der im Bildfeld wachsenden Zweige und der in der Bildfeldbegrenzung verankerten Felsen ist also eine Gegenüberstellung eines dynamischen und eines ausgesprochen statischen Bildelements. Die beiden Landschaftselemente Felsen und Zweige definieren mit ihrem jeweiligen Verhältnis zu Grundlinie und Bildfeld zwei entgegengesetzte Weisen, wie sich ein Motiv in der von Grundlinie und Bildfeld vorgegebenen räumlichen Struktur attischer Vasenbilder verhalten kann. Die Weise, wie sich ein Motiv zu dieser räumlichen Struktur verhält, lässt sich nicht nur für Landschaftselemente definieren. Es wurden in diesem Kapitel schon mehrere Motive benannt, deren Eigenschaft es ist, der Berührung mit (bzw. Verankerung in) der Grundlinie nicht zu bedürfen. Dazu zählen einerseits die in dem entsprechenden Unterkapitel behandelten Figuren, welche die Grundlinie nicht berühren. Dazu zählen allerdings auch all jene Gegenstände, wie etwa Waffen, Kleider, Sportgerät, Trinkgefäße u.Ä., die im Bildfeld schweben (bzw. hängen) können, ohne herunterzufallen. Auch den in der Bildfeldbegrenzung verankerten Felsen lassen sich weitere Motive zugesellen, welche dieselbe Bindung an die Bildfeldbegrenzung aufweisen. Dazu gehören etwa Architekturelemente. Die Weise, wie sich ein Motiv in der räumlichen Struktur von Grundlinie und Bildfeld verhält, ist in dieses Motiv also eingeschrieben und regelt beim Aufbau eines Bildes dessen Gebrauch, wie die Grammatik beim Aufbau eines

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Satzes die Verwendung von Wörtern regelt. Dies wurde hier anhand der Landschaftselemente Felsen und Zweige im Detail exemplifiziert, doch könnte es auch anhand anderer Motivgruppen gezeigt werden.282 Zwischen den Polen der unbedingten Bindung an die Bildfeldbegrenzung und der Möglichkeit der freien Bewegung im Bildfeld nimmt die menschliche Figur eine Zwischenstellung ein: Sie lastet mit ihren Füßen zwar auf der Grundlinie und bekommt von dieser den nötigen Halt, besitzt mit ihrem Körper jedoch Bewegungsfreiheit im Bildfeld. Dabei sind je nach Identität der Figur oder Situation, in der sie sich befindet, unendlich viele Differenzierungen zwischen dem Lasten auf der Grundlinie und der Beweglichkeit im Bildfeld möglich. Der außerordentlich schnelle Achill auf dem Klitias-Krater berührt die Grundlinie bei seiner Verfolgung des Troilos überhaupt nicht mehr. Gefallene Krieger dagegen, die gar keine Bewegungsfähigkeit besitzen, liegen mit dem ganzen Körper auf der Grundlinie auf. Das Innenbild der namensgebenden Schale des Penthesilea-Malers führt mehrere Möglichkeiten des Verhaltens der menschlichen Figur zur räumlichen Struktur des Bildfelds und seiner Begrenzung vor (Abb. 196):283 Die gefallene Amazone am rechten Bildrand schmiegt sich mit ihrem kraftlosen Körper ganz an die Rundung des Tondoumkreises. Die Figur des Achilleus lastet nur mit dem linken Fuß ganz auf der Grundlinie, während der rechte Fuß sie mit den Zehen berührt: Er hebt mit dem rechten Fuß leicht ab, da er Penthesilea das Schwert mit der Last seines Körpers in die Brust stößt. Auch sie berührt die Grundlinie bloß mit den Zehenspitzen. Bei der im Sturz begriffenen Penthesilea spiegelt die schwache Berührung mit der Grundlinie jedoch die Tatsache, dass sie an der festen Grundlinie keinen Halt mehr findet, und da sie nicht zu jenen Figuren gehört, die der Berührung mit der Grundlinie nicht bedürfen, befindet sie sich somit in freiem Fall. Während nun für die tote Amazone der Tondoumkreis bis hinauf zu seinem oberen Drittel ein festes Element, auf dem man liegen kann, darstellt, ist der Tondoumkreis für die noch kräftigen und bewegungsfähigen Figuren Achill und den Hopliten am linken Bildrand kein Hindernis: Ihre Helmbüsche, die als Verlängerung ihrer Körper anzusehen sind, werden von der Bildfeldbegrenzung überschnitten, können also offenbar über diese hinausgehen. Für die lastenden Teile des Körpers ist die Bildfeldbegrenzung eine feste Grenze – im Falle von Achill nur die Füße, im Falle der Toten der gesamte Körper –, für den restlichen Körper geht die Bewegungsfreiheit sogar über die Grenze des Bildfelds hinaus. Die Weise, wie der Penthesilea-Maler auf dieser Schale die Handlung und die situationsbezogenen Eigenschaften der Figuren formuliert, ließ sich also gemäß den hier herausgearbeiteten ‚grammatischen Regeln‘ des Gebrauchs von Motiven in der räumlichen Struktur von Grundlinie und Bildfeld analysieren. Zum Verständnis dieses vollkommen unmiss-

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verständlichen Bildes konnte diese Analyse nichts Wesentliches beitragen, ebenso wie die bewusste Kenntnis der Grammatik einer Sprache nur in besonders kompliziert aufgebauten Sätzen nützlich und zum Verständnis notwendig ist oder – wenn es sich um eine fremde Sprache handelt – in dem Fall, in dem die Grammatik eines Satzes von der einem geläufigen erheblich abweicht. So ist die Darlegung der räumlichen Struktur von Grundlinie und Bildfeld, welche in diesem Kapitel versucht wurde, nur in solchen Bildern und Ikonographien zum konkreten Verständnis von Bildern nützlich, wo das geläufige Konzept vom Bildraum offensichtlich nicht funktioniert, wie etwa in Bildern des laufenden, aber nicht auf-

Abb. 196 Achill sticht Penthesilea sein Schwert in die Brust. Namensgebende Schale des Penthesilea-Malers, München, Antikensammlung, um 460

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tretenden Boreas: Diese Ikonographie kann unter der impliziten Voraussetzung einer Gleichsetzung von Grundlinie und Boden nicht erklärt werden. In den meisten Bildern gerät man mit dieser impliziten Voraussetzung jedoch in keine größeren Schwierigkeiten. Ich möchte daher nicht vorschlagen, Bilder in Zukunft nur noch auf die an der Penthesilea-Schale exemplifizierte Art zu analysieren: Dies brächte weder einen großen heuristischen Nutzen, noch würde man sich damit einem antiken Diskurs über die Bilder annähern – grammatische Regeln interessieren erfahrungsgemäß den Muttersprachler am allerwenigsten. Man sollte sich bloß bewusst machen, dass es dieser Raum von Grundlinie und Bildfeld ist, der den attischen Vasenbildern zugrunde liegt. In dieser räumlichen Struktur nehmen die Landschaftselemente Felsen und Zweige insofern eine Schlüsselstellung ein, als sie die beiden Pole repräsentieren, wie sich ein Bildelement zwischen Grundlinie und Bildfeld verhalten kann. Auch wenn sie Raum nicht als Landschaft darstellen, könnte man diesen Landschaftselementen also dennoch eine – gleichwohl ganz anders geartete – Wichtigkeit in dem einräumen, was man Raum in der attischen Vasenmalerei nennen könnte. Es lässt sich allerdings feststellen, dass sich diese Verwendung der Landschaftselemente erst zu einem ziemlich späten Zeitpunkt in der schwarzfigurigen Vasenmalerei einstellt. Die in diesem Kapitel bisher diskutierten Zweige und Felsen stammen zum großen Teil aus der Zeit zwischen 540–530 und 470–460, wobei freischwebende Zweige bereits mit dem Ende der schwarzfigurigen Vasenmalerei verschwinden. Nun darf man die Entwicklung der Verwendung von Landschaftselementen natürlich nicht mit der Entwicklung der räumlichen Struktur von attischen Vasenbildern gleichsetzen. Grundlinie und Bildfeld gibt es schließlich sowohl vor als auch nach dem genannten Zeitraum. Gleichwohl scheint es ratsam, die Entwicklung der Verwendung von Landschaftselementen zumindest als Indiz für Veränderungen auf der Ebene dieser räumlichen Strukturierung attischer Vasenbilder ernstzunehmen. An dem Versuch, die Entwicklung der räumlichen Strukturierung durch Grundlinie und Bildfeld nachzuzeichnen, möchte ich in dieser Arbeit nicht scheitern, weswegen ich diesen gar nicht anstellen werde. Ich behaupte aber dennoch, dass die Ergebnisse dieser Arbeit für ein solches Unterfangen von nicht unerheblichem Nutzen sein können.

Geländelinien: Ein revolutioniertes Bildfeld mit vielen Konstanten Das Prinzip der ikonographischen Bedeutungslosigkeit der raumgliedernden Elemente, Grundlinie und Bildfeld, wurde zu Beginn dieses Kapitels für die attische Vasenmalerei erschlossen. Dieses Prinzip eines

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nicht-figurativen Raumes stellte die Grundlage für die darauffolgenden Ausführungen über die Räumlichkeit von Bildelementen dar, welche sich in ihrem jeweiligen Verhältnis zu Grundlinie und Bildfeld äußerte. Die Einführung der Geländelinien um 460–450 scheint nun dieses Prinzip grundsätzlich in Frage zu stellen. Bekommt die räumliche Gliederung der Figuren auf dem Bildfeld nicht eine figurative Qualität, wenn diese nicht mehr ausschließlich auf der von der Vase vorgegebenen Grundlinie, sondern auf eigens gemalten Geländelinien stehen? Wird der Raum der Figuren dadurch nicht schließlich doch zu einer Landschaft? Diese Fragen gilt es in diesem letzten Unterkapitel zu untersuchen. Der Niobidenkrater mit seinen gänzlich in Geländelinien strukturierten Bildern ist als Ausgangspunkt der Diskussion hervorragend geeignet, insofern er nicht nur chronologisch den Beginn dieser neuen Praxis darstellt, sondern auch die interpretatorischen Probleme vorführt, die sich bei Geländelinienbildern bis ins späte 5. Jh. stellen (Abb. 197).284 Die Diskussion der Niobidenvase wird auf der Grundlage der neuen Interpretation ihres Hauptbildes von Giuliani geführt werden, nach der das Warten der athenischen Hopliten vor der Schlacht bei Marathon dargestellt ist. Die Heraklesstatue, um die sich das athenische Heer versammelt hat, wendet den Kopf und erwacht zum Leben, um den Athenern Beistand im Kampf zu gewähren.285 Die Geländelinien, die ab der Mitte des 5. Jh. in immer zahlreicheren Vasenbildern Verwendung finden und als eine der entscheidenden Neuerungen in diesem entwicklungsreichen Jahrhundert gelten dürfen, sind nie systematisch behandelt worden, was sie mit den ebenso zahlreichen freischwebenden Zweigen der spätschwarzfigurigen Vasen gemeinsam haben. Das Interesse, welches Archäologen v.a. am Ende des 19. und im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts an den Geländelinien hatten, bezog sich weniger auf die Vasenmalerei als solche als auf die Rückschlüsse, welche möglicherweise von dort aus auf die Tafelmalerei gezogen werden könnten. So erklärt sich der Enthusiasmus, mit dem der 1880 ausgegrabene Niobidenkrater in der Fachwelt aufgenommen wurde, daraus, dass man in ihm eine direkte Spiegelung der Kunst der aus Schriftquellen bekannten Maler Polygnot und Mikon erkannte.286 Die Verknüpfung mit der Tafelmalerei sicherte dem Niobidenkrater zwar die Aufmerksamkeit der Archäologen, diese führte jedoch nicht unbedingt zu einer eingehenden Beschäftigung mit dem Phänomen der Geländelinien innerhalb der Vasenmalerei. Obgleich der Niobidenkrater wohl bis heute in keinem Überblickswerk zur griechischen Malerei fehlt, dient er nämlich nur als materieller Beweis für eine Entwicklung, die sich in der Tafelmalerei abspiele. Die Frage, welche diese Entwicklung eigentlich sei, wurde dementsprechend im Rahmen der attischen Vasenmalerei erst gar nicht gestellt, sondern es wurde stillschweigend vorausgesetzt, dass es sich grundsätzlich um die Entwicklung eines tiefen Raumes handeln müsse, welcher die

232 Abb. 197 Die athenischen Hopliten warten auf den Beginn der Schlacht bei Marathon, während die Statue des Herakles zum Leben erwacht. Die Rückseite zeigt die Bestrafung der Niobiden, deren Mutter – wie die Perser – der Hybris verfallen war. Dies ist das früheste Beispiel bildfeldumspannender Geländelinien. Kelchkrater des Niobiden-Malers, Paris, Louvre, um 460

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Bildfläche auflöse. Dass man sich die Entwicklung der Raumwiedergabe in der Tafelmalerei so und nicht anders vorstellte, und gewissermaßen nur noch deren Modalitäten und einzelne Schritte zur Diskussion standen, ist zwar methodisch nicht gerechtfertigt, da man von der Tafelmalerei in ihren Anfängen bloß schriftliche Nachrichten besitzt, ist dafür aber sehr leicht nachvollziehbar: Einerseits ist die Dominanz der bekannten neuzeitlichen Konzepte von Raumwiedergabe umso größer, je unschärfer der Prüfstein des antiken Befundes ist. Andererseits aber scheinen die aus der pompeianischen Wandmalerei bekannten Beispiele für einen routinierten Umgang der (provinziellen) Maler mit Mitteln zur Erreichung von Tiefenwirkung das generelle Bild der Entwicklung der Raumwiedergabe in der griechischen Malerei als einen Weg hin zu einem tiefen Raum, der die Bildfläche negiert, gewissermaßen von ihrem Endpunkt her zu bestätigen. Innerhalb dieses allgemeinen Bildes der Entwicklung der Raumwiedergabe konnte der Befund der Vasenmalerei nur enttäuschen: Anstatt sich nach den noch unvollkommenen ersten Versuchen, für die der Niobidenkrater stünde, konsequent in Richtung einer Meisterung der Raumperspektive zu bewegen, bieten die Geländelinienbilder im weiteren Verlauf des 5. Jh. keinerlei ‚Fortschritt‘ bezüglich einer Suggestion von Raumtiefe. Während die Urteile über die Wiedergabe eines tiefen Raumes auf dem Niobidenkrater noch teils optimistischer, teils pessimistischer (bzw. realistischer) ausfielen,287 konnte niemand ernsthaft behaupten, dass es irgendwelche Versuche der späteren Vasenmaler gegeben hätte, an den ‚räumlichen Ungereimtheiten‘ des Niobidenkraters zu arbeiten. Dieser Tatsache wurde Rechnung getragen, indem man in der angenommenen Entwicklung der Raumwiedergabe den Niobidenkrater zwar weiterhin als Spiegelung eines ersten Schrittes ansah, auf den jedoch nur in der Tafelmalerei weitere Schritte folgten, nicht aber in der Vasenmalerei, welche dieser Entwicklung nicht mehr gefolgt sei.288 Diese Meinung, nach der die Vasenmalerei seit Polygnot mit der großen Malerei im Bereiche der Raumwiedergabe nicht mithalten könne, hatte wiederum zur Folge, dass das Interesse an der großen Malerei, welches den Niobidenkrater nicht zuletzt wegen seiner Geländelinien geadelt hatte, nicht zu einem vertieften Blick auf die Geländelinien in der Vasenmalerei motivieren konnte, da man dort keinen Aufschluss über die weitere Entwicklung der Tafelmalerei erwartete. Als sich schließlich im Laufe des 20. Jh. das Interesse an der Vasenmalerei von der angenommenen Koppelung an die große Malerei gelöst hatte – ein Prozess, der durch die bahnbrechenden Forschungen von Beazley maßgeblich befördert wurde, wenn er auch schon früher begann – verlor sich auch das Interesse an der sog. „polygnotischen Kompositionsweise“.289 Was vormals noch als Fortschritt der Malerei gewertet wurde, galt nunmehr lediglich als eine für die Bemalung von Vasen nicht ge-

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eignete Anleihe aus der Tafelmalerei,290 welche sich von dem im Frührotfigurigen erreichten Höhepunkt entfernte, deren Erforschung somit einen geringen Mehrwert versprach und nur aus der ‚Selbstlosigkeit des Gelehrten‘ heraus unternommen werden konnte. Auch wenn man grundsätzliche Zweifel an der Möglichkeit, Informationen über die konkrete Form von Bildwerken ausschließlich aus schriftlichen Quellen zu beziehen, haben kann, wäre es eher ein Zeichen von methodischem Starrsinn als von methodischem Scharfsinn, die Geländelinien auf dem Niobidenkrater nicht mit dem zu vergleichen, was man aus den Beschreibungen zeitgenössischer Gemälde bei Pausanias erschließen kann.291 Folgendes mag die Verdächtigkeit eines solchen Verfahrens verringern: Die Annahme, Polygnot habe seine Figuren nicht in übereinanderliegenden Friesen, sondern mithilfe von auf- und absteigenden Geländelinien über die Bildfläche verteilt, welche Heinrich Brunn 1859 in seiner griechischen Künstlergeschichte äußert, ist älter als die Auffindung des Niobidenkraters im Jahre 1880.292 Dass Brunn damit unwissentlich eine präzise Beschreibung der Kompositionsweise der Figuren auf dem Niobidenkrater gegeben hat, ist zwar kein stringenter Beweis für die Richtigkeit seiner Annahme über Gemälde des Polygnot, zumindest aber eine bemerkenswerte Übereinstimmung, die nach den Ansprüchen, die man an Wahrscheinlichkeitsschlüsse in der Archäologie stellt, kein Zufall sein kann, vor allem wenn man die interne Plausibilität dieser Schlussfolgerung aus dem Pausaniastext mit in Betracht zieht. Ich möchte also davon ausgehen, dass es die von der Forschung traditionell angenommene Verbindung zwischen den Geländelinien des Niobidenkraters und der zeitgenössischen Tafelmalerei gibt. Dass dabei die prestigeträchtigere Tafelmalerei die Vasenmalerei beeinflusst hat, ist freilich leichter vorstellbar als der umgekehrte Fall, doch ist diese Frage für das Verständnis der Geländelinien innerhalb der Vasenmalerei letztlich irrelevant. Interessant an der Tatsache, dass Geländelinien in den von Pausanias beschriebenen Gemälden des Polygnot und des Mikon aller Wahrscheinlichkeit nach Verwendung fanden, ist in unserem Kontext nicht der Aufschluss, den diese Verwendung über die Herkunft der Geländelinien bringen kann, sondern der Aufschluss, den sie über die Zwecke bringen kann, welche mit demselben bildnerischen Mittel in einer vollkommen anderen Gattung verfolgt wurden. Bevor ich also (endlich) auf den Niobidenkrater zu sprechen komme, möchte ich also noch einige Bemerkungen über die von Pausanias beschriebenen Bilder des Polygnot und des Mikon machen, welche im Folgenden in komparatistischer Hinsicht von Interesse sein werden. Die ausführliche Beschreibung des Pausanias der Bilder in der Lesche der Knidier in Delphi füllt mehrere Seiten, obwohl er sich weitgehend darauf beschränkt, die dargestellten Figuren und Szenen aufzuzählen, ohne

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zu längeren Exkursen auszuholen.293 Der bestimmende Eindruck bei der Lektüre der Beschreibung ist der außerordentliche Figurenreichtum der Bilder. Die beiden Bilder, eine Iliupersis und eine Nekyia, die sich aus der Beschreibung entnehmen lassen, bestehen jeweils aus einer Vielzahl einzelner Szenen und Figuren, die nacheinander aufgezählt werden und durch Angaben wie „neben“, „oberhalb“ oder „unterhalb“ in ein mehr oder weniger eindeutiges räumliches Verhältnis zueinander gebracht werden, das allerdings nicht die geringste räumliche Hierarchisierung durch eine Unterscheidung von zentralen und untergeordneten Figurengruppen erkennen lässt.294 Nichts spricht also dafür, dass die Figuren in der Größe voneinander unterschieden wären, sondern es scheint, als entspräche dem additiven Nacheinander der Beschreibung der Figurenszenen durch Pausanias ein ebenso additives Nebeneinander auf dem Bild. Was sich jedoch eindeutig aus den Beschreibungen entnehmen lässt, ist dass dieses Nebeneinander der Figuren nicht auf einer einzigen Ebene verbleibt, sondern höhenmäßig abgestuft ist, was Brunns Annahme von aufund absteigenden Geländelinien überaus plausibel macht. Anders als etwa auf dem auf ein Gemälde des späten 4. Jh. zurückgehenden Alexandermosaik kommt der Figurenreichtum der Bilder der Lesche nicht von einer großen Zahl von ‚Statisten‘, welche die Träger der Haupthandlung umgäben,295 sondern von einer großen Zahl von unabhängigen Szenen, welche jedesmal Thema eines eigenen Bildes sein könnten, oder zumindest von benannten Figuren, die ihre Geschichte sozusagen bereits im Namen tragen. Auch wenn diese unterschiedlichen Szenen jeweils zu einem übergeordneten Thema, der Nekyia oder der Iliupersis, passen, gehören sie im Einzelnen in vielen Fällen sowohl anderen Orten als auch anderen Zeiten an. Dafür einige Beispiele: Neoptolemos ist noch dabei, zu morden,296 während das Schiff des Menelaos bereits zur Abfahrt rüstet.297 Im oberen Bereich des Bildes erscheint über der Stadtmauer Trojas, welche Epeios abreißt, der Kopf des trojanischen Pferdes.298 Das hölzerne Pferd befindet sich natürlich innerhalb der Mauern. Genauso innerhalb der Mauern befinden sich jedoch auch viele der übrigen Szenen und Motive, etwa die Schandtat des Ajax oder das Haus des Antenor, obwohl diese auf dem Bild vom hölzernen Pferd aus gesehen auf der anderen Seite der Mauer dargestellt sein mussten, da die Mauer im oberen Bereich des Bildes erscheint.299 Oder sollte man sich etwa alle Szenen, die im Inneren der Stadt zu verorten sind, in einem schmalen Streifen oberhalb der Mauer vorstellen? Der Versuch, die verschiedenen topographischen Kontexte, denen die dargestellten Figuren und Handlungen zuzuordnen sind, insbesondere aber das Innere der Stadt und das Meeresufer als einen zusammenhängenden Raum im Bildfeld unterzubringen, muss bereits daran scheitern. Viel plausibler ist es, die Mauer mit dem dahinter hervorkommenden Pferdekopf räumlich also bloß auf die einzige Szene des

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Epeios, der sie niederreißt, zu beziehen und nicht in ein räumliches Verhältnis zum übrigen Bild zu bringen. Zum Problem, die verschiedenen topographischen Bereiche, denen die von Pausanias beschriebenen Szenen und Figuren zuzuordnen sind, ohne offene räumliche Widersprüche auf dem Gemälde unterzubringen, bietet Stansbury-O’Donnell eine elegante Lösung an: Er nimmt an, dass die beiden Gemälde der Lesche auf sämtlichen Wänden ausgebreitet waren, so dass für jedes drei Wandflächen, die jeweils durch die Ecken des Raumes voneinander getrennt sind, zur Verfügung stehen (eine Hälfte der dem Eingang gegenüberliegenden Wand, eine Seitenwand und eine Hälfte der Eingangswand). Auf diese drei Sektoren des Iliupersis-Gemäldes verteilt er die Figuren und Szenen derart, dass er eine „Sea-Scene“, eine „Altar-Scene“ und eine „Land-Scene“ erhält, innerhalb derer räumliche Widersprüche minimiert sind.300 Durch diesen nicht unplausiblen Vorschlag, der sich aber weder beweisen noch widerlegen lässt, wäre das Fehlen der Einheit von Raum und Zeit der Iliupersis insgesamt explizit gemacht und durch eine zeitlich-räumliche Sequenz ersetzt. Die Aufteilung des Bildes in drei Sektoren ließe sich mit der noch zu besprechenden Aufgliederung des Marathongemäldes vergleichen. Die räumliche Sequenz dreier Bereiche des Bildfelds würde hier, wenn auch nicht so rigoros wie im Marathongemälde, mit einer zeitlichen Sequenz übereinstimmen, die von der eigentlichen Iliupersis und den Schandtaten der Griechen innerhalb der Stadt zur Einschiffung des Menelaos am Meeresufer301 führen würde. Was über die Iliupersis gesagt wurde, gilt ebenso für die Nekyia: Trotz der großen Zahl der Figuren besitzen alle von Pausanias aufgezählten einen Namen und sind teils in voneinander unabhängige und selbstständige Szenen integriert. Die Frage nach einer Einheit des Raumes und der Zeit stellt sich hier gar nicht erst, obwohl mit dem Besuch des Odysseus zumindest ein narratives Element in das Bild eingebracht wird, welches aber sicherlich mehr den Anlass für die Nekyiadarstellung bildet, als dass es ihre Struktur im Einzelnen bestimmte. Wenn die vielen von Pausanias erwähnten Figuren Namen tragen und zu eigenständigen Szenen gehören, ist davon auszugehen, dass sie alle eine gewisse Größe hatten, die ihrem narrativen Eigengewicht entspricht – ob sie nun Lebensgröße oder halbe Lebensgröße hatten, wie es in der Literatur vorgeschlagen wird, ist nicht zu ermitteln. Um eine solche Anzahl an Figuren aufzunehmen, muss die Bildfläche von beträchtlicher Größe gewesen sein, und wenn man von der Spärlichkeit topographischer oder landschaftlicher Angaben in der Beschreibung des Pausanias auf deren Spärlichkeit auf dem Bild schließen darf, müssen die Figuren darauf die meiste Fläche eingenommen haben.302 Es ist durchaus realistisch, dass die Iliupersis zusammen mit der Nekyia die gesamte 19 Meter breite Rückwand der Lesche füllte.303 Jedenfalls muss man sich die Bilder nicht als

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handliche Tafelbilder, sondern als großflächige Ausmalung der Lesche vorstellen.304 Wie in der Vasenmalerei waren die zu bemalende Fläche und damit die ungefähren Dimensionen des Bildfelds dem Maler also extern vorgegeben. Für die für die griechische Malerei neuartige Aufgabe, einen großen Raum mit Figurenbildern auszumalen, bekommt die vertikale Staffelung der Figuren mithilfe von Geländelinien einen vollkommen einleuchtenden Zweck: Sie erlaubt es dem Maler, ein Bildfeld, das sich an der Höhe des Raumes bemisst, auszufüllen, ohne dafür die Höhe des Bildfelds als Maß für die einzelne Figur hernehmen zu müssen (was riesenhafte, bis zur Decke reichende Figuren zur Folge hätte), und ohne die Raumhöhe in übereinanderliegende Friese unterteilen zu müssen. Dadurch, dass Polygnot die zu bemalende Wand für Nekyia und Iliupersis nicht vertikal in zwei übereinanderliegende Friese, sondern der Länge nach aufgeteilt hat, hat der Betrachter nicht stets beide Bildthemen gleichzeitig vor Augen, sondern wird je ein Bereich der Wand ganz einem Thema gewidmet. Gleichwohl bleiben die Iliupersis und die Nekyia gewissermaßen nur ein Bild, nämlich die Ausmalung der Lesche. An der Stelle, wo Pausanias von der Beschreibung der Iliupersis zur Beschreibung der Nekyia übergeht, heißt es: „TÌ dÍ õteron mwro« tá« graÆá«, tÌ ãj arister»« xeirfi«“.305 Nach den Worten des Pausanias ist die Nekyia also „der andere Teil des Bildes“. Ohne das Wort graÆ‹ mit unserem Begriff des Bildes gleichsetzen zu wollen, kann man aus dieser Formulierung schließen, dass die Iliupersis und die Nekyia keine materiell voneinander getrennten Bilder waren, und die wie auch immer geartete Grenze – wenn es sie überhaupt gab – zwischen beiden nicht genügend absolut war, um die Einheit des Ganzen in Frage zu stellen. Ein analoges Phänomen findet sich bei der Beschreibung der Bemalung der Stoa Poikile.306 An der Stelle, wo Pausanias zur Beschreibung des Marathonbildes übergeht, heißt es: „teleytaÖon dÍ tá« graÆá« eåsin oÅ maxesˇmenoi Maraùâni“.307 Auch hier werden die Schlacht bei Oinoi, die Amazonomachie, das Bild nach der Einnahme Trojas308 und die Marathonschlacht als eine graÆ‹ zusammengefasst, an deren Ende sich die Marathonkämpfer befinden. Bezüglich der Amazonomachie heißt es: „ãn dÍ tˆ mwsv 0 tân to›xvn #AùhnaÖoi kaÏ UhseŒ« #Amazfisi mˇxontai“309 Unter der stillschweigenden Voraussetzung, dass die graÆ‹ nichts anderes ist als bemalte Wände, präzisiert Pausanias die Stellung der Amazonomachie innerhalb der Wände und nicht innerhalb der graÆ‹. Auch für die anderen Charakteristika, die für die Iliupersis und die Nekyia herausgearbeitet wurden, findet sich in der Beschreibung der Stoa Poikile eine Entsprechung. Wie im Falle der Lesche der Knidier bildet die Stoa Poikile eine zu bemalende Fläche von erheblichen Dimensionen. Die Marathonschlacht, welche als einzige näher beschrieben ist,310 zeigt offensichtlich drei unterschiedliche Phasen der Schlacht:311 Am einen Ende ist der Beginn der Schlacht dargestellt, als die Schlacht noch unentschieden

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war, im Zentrum des Bildes,312 wo die Perser die Flucht ergreifen, ist die Entscheidung bereits gefallen, und am anderen Ende des Bildes ist der Kampf bei den Schiffen wiedergegeben.313 Während die beiden ersten Phasen am selben Ort spielen, auf dem Bild jedoch an verschiedener Stelle erscheinen, spielt sich der Kampf bei den Schiffen an einem weiter entfernten Ort ab, wiewohl er auf dem Bild an die ersten zwei Phasen offenbar unmittelbar anschließt. Die verschiedenen Phasen des Kampfes zeigen die Marathonschlacht unter verschiedenen Aspekten und zeigen sie dadurch vollständiger. Sie geben von ihr ein treffenderes Bild. Mit einer Einheit des Raumes und der Zeit hat diese Darstellungsmaxime wenig zu tun. Bemerkenswert ist denn auch weniger die Tatsache, dass mehrere Momente der Schlacht gezeigt werden – Einheit von Raum und Zeit war noch nie ein Charakteristikum griechischer Malerei und wird es auch durch Geländelinien nicht –, als dass überhaupt Momente der Schlacht voneinander isoliert werden und zudem in eine räumlich-zeitliche Sequenz gesetzt werden, die es dem Betrachter erlaubt, die Schlacht von ihrem offenen Anfang bis zum totalen Sieg der Athener zu verfolgen.314 In einer Frieskomposition, in der man Kämpferpaare oder -gruppen lediglich aneinander reihen kann, wäre es zwar auch möglich gewesen, unentschiedene (bzw. noch nicht eigentlich begonnene) neben entschiedene Zweikämpfe zu stellen, und damit verschiedene Aspekte einer Schlacht wiederzugeben. Nur die Geländelinienkomposition, wo die Kämpferpaare durch vertikale Staffelung zu größeren Gruppen zusammenstellt werden können, ermöglicht es allerdings, diese verschiedenen Aspekte voneinander isoliert darzustellen und somit zu unterschiedlichen Momenten der Schlacht werden zu lassen. Ebenso wie in der Stoa Poikile und der Lesche der Knidier durch die Geländelinienkomposition ganze Bereiche der Wand jeweils einem Bildthema gewidmet werden, sind im Marathongemälde bestimmte Bereiche des Bildfelds ausschließlich einem Aspekt, bzw. einer Phase der Schlacht gewidmet. Dies ist jedoch nicht zu verwechseln mit der Einführung eines Prinzips in die griechische Bildkunst, nach dem jedem Bild zwingend eine bestimmte Topographie, mithin ein bestimmter Ort zugeordnet würde, an dem sich das dargestellte Geschehen abspiele. Wie es oben ausgeführt wurde, bezeichnet graÆ‹ in den Beschreibungen des Pausanias jeweils die Gesamtheit der Bilder einer ausgemalten Räumlichkeit. Während es im Falle der Lesche der Knidier noch gewagt scheint, sich die Bilder der Iliupersis und der Nekyia als ohne explizite graphische Trennung ineinander übergehend vorzustellen, liegt diese Möglichkeit im Falle der Stoa Poikile nicht mehr so fern, insofern die Schlachten der Athener gegen die Spartaner, gegen die Amazonen und gegen die Perser, sowie der Sieg der Griechen über die Trojaner eine größere thematische Einheit glorreicher Kämpfe gegen äußere Feinde bilden.315

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Bildinterne Untersuchung

Man kann die Eigenheiten der Bilder der Lesche und der Stoa Poikile, welche sich aus den Beschreibungen ergeben haben, folgendermaßen zusammenfassen: (1) Die große Zahl an Figuren – welche der Größe der zu bemalenden Wände entspricht – wird mittels Geländelinien nicht nur über die Breite, sondern auch über die Höhe des Bildfelds verteilt, oder anders formuliert: Statt die Höhe der Wände mittels übereinanderliegender Friese mit Figurenbildern zu füllen, werden mithilfe von Geländelinien Bildfelder, die die Höhe der einzelnen Figur übersteigen, gebildet. (2) Dadurch werden die Wände der Länge nach in große Abschnitte unterteilt, welche ausschließlich einem Bildthema gewidmet sind, oder anders formuliert: Im Sichtfeld des Betrachter liegt nur ein Bildfeld – wenn sich der Betrachter nicht gerade zwischen zwei Bildern befindet oder die Bemalung der Wände aus größerer Entfernung betrachtet. (3) Die auf diese Weise gewonnenen größeren Bildeinheiten werden nicht dazu genutzt, die Figuren in die Landschaft zu integrieren, in der sie sich entsprechend der von ihnen figurierten Geschichte oder Handlung befinden. Die in den Beschreibungen vereinzelt erwähnten Landschaftselemente verbleiben ganz im Rahmen dessen, was man bereits aus der Vasenmalerei kennt. Wie es insbesondere das Marathongemälde zeigt, wird vielmehr die Möglichkeit, Figuren auf einem hohen Bildfeld nicht mehr nur aufzureihen, sondern zu gruppieren, von den Malern dazu genutzt, das Bild räumlich und zeitlich weiter zu untergliedern, und einzelne Szenen mit ihrer je eigenen, die Interaktion der Figuren betreffenden raumzeitlichen Kohärenz miteinander in einen größeren thematischen Kontext zu stellen. Statt sich einer Einheit von Raum und Zeit anzunähern, wird ihr Fehlen, welches für die griechische Bildkunst prinzipiell gilt, hier durch die dargestellte raumzeitliche Sequenz316 explizit. (4) Bezüglich der Frage nach der figurativen Qualität des Bildraumes, die sich mit der Einführung von Geländelinien neu stellt, geben die Beschreibungen des Pausanias für eine Diskussion zwar keine genügende Grundlage, doch nähren sie die Hoffnung auf einen figurativen Bildraum nicht: Es scheint, als ob für die Höhenstaffelung der Figuren mehr die großen Formate der zu bemalenden Wandfläche als die Themen der Bilder Anlass gegeben hätten, womit bildexterne Gesichtspunkte weiterhin die Räumlichkeit des Bildes bestimmen würden.317 Auch wenn sich darüber keine Aussage treffen lässt, liegt die Vermutung nahe, dass für die Schlachten der Stoa Poikile, die Nekyia und die Iliupersis, deren unterschiedlichen Schauplätzen ungeachtet, jeweils dasselbe Terrain aus auf- und absteigenden Bodenlinien zur Darstellung kam. Zurück zum Niobidenkrater: Was stellen die Geländelinien dar? Wenden wir uns nun dem Niobidenkrater zu: Die Auffassung, nach der auf dieser Vase perspektivische Verkleinerungen von Figuren zu finden

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wären, womit die Geländelinienbilder also im Sinne eines tiefen Raumes, der die bemalte Vasenoberfläche als solche negieren würde, zu interpretieren wären, kann man getrost beiseite schieben:318 Die beiden Figuren, die bei Löwy für eine perspektivische Verkleinerung Zeuge stehen, stellen in keiner Weise ein zwingendes Argument dar.319 Die Figur, die auf der Marathonseite hinter einem Hügel hervorkommt und kleiner als die ihn umgebenden Figuren ist, bleibt vollkommen im Rahmen üblicher Größenschwankungen zwischen gleichgroß gedachten Figuren in der attischen Vasenmalerei. Der Reiter, der auf einem gegenüber seinem Pferd erhöhten Grund steht, stellt dadurch lediglich das richtige Größenverhältnis zwischen Mensch und Pferd wieder her, welches sich sonst durch die einheitliche Grundlinie und das Isokephaliegebot zu Ungunsten des Pferdes verschiebt.320 Dass die Körpergröße der auf der Basis sitzenden Figur und der gelagerten Figur, wenn sie aufstünden, die der Athena übertreffen würde, worauf Borchardt hinweist und damit die perspektivische Verkleinerung der Athena gegenüber diesen Figuren belegen möchte,321 sagt gar nichts aus, da es für analoge Fälle hunderte Beispiele gibt: Eine Figur, welche sich, bedingt durch ihre Körperhaltung, weniger in der Höhe ausbreitet, wird tendenziell größer dargestellt, ohne dass sie damit notwendigerweise zum Riesen würde. Schließlich können alle punktuellen Hinweise auf (vermeintlich) perspektivisch verkleinerte Figuren nicht erklären, warum diese Verkleinerung nur jeweils diese einzelnen Figuren beträfen und nicht als Darstellungsprinzip auf alle Figuren angewendet würden.322 Obwohl der Raum der Bilder auf dem Niobidenkrater nicht perspektivisch ist, kann er dennoch eine figurative Qualität besitzen, wenn man die Figuration von Raum nicht schon von vorne herein mit deren perspektivischer Darstellung gleichsetzen möchte. Um keiner bereits festgefügten Vorstellung von Raumdarstellung aufzusitzen, möchte ich die Frage nach der figurativen Qualität der Geländelinienkomposition des Niobidenkraters auf ihren kleinsten Nenner reduzieren und mit der einfachen Frage beginnen, was, wenn sie denn figurativ sind, die Geländelinien darstellen. Zwei Möglichkeiten kommen dabei in Frage: Entweder die Geländelinien zeichnen die Umrisse einzelner Felsen oder sonstiger Geländeformationen oder aber sie zeichnen Hügelkuppen, wie es ihr Name implizieren würde. Im ersten Fall würde es sich lediglich um eine alternative Darstellungsweise eines Motivs handeln, das in tongrundiger Form bereits vorher in der attischen Vasenmalerei geläufig war, und für das der Gegenstandscharakter der Landschaftselemente weiterhin gelten würde. Im zweiten Fall würde es sich um etwas grundsätzlich Neues handeln, da Hügel Geländeformationen darstellen würden, welche die Dimensionen der einzelnen Figur sprengten.323 Es wären keine additiv aneinander gesetzten Landschaftselemente wiedergegeben, sondern allgemeines unebenes Gelände, welches nicht in einzelne Glieder unterteilt werden könnte.

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Bildinterne Untersuchung

Die Figur, von der nur der Oberkörper zu sehen ist, während der Rest unter einer Geländelinie verschwindet, scheint eine Interpretation als Hügelkuppen zu sichern.324 Auf der Niobidenseite des Kraters wird ein Pfeil von einer Geländelinie überschnitten.325 Wenn diese Geländelinie den Umriss einer einzelnen Bodenformation zeichnen würde, müsste man diesen Pfeil als in dieser Bodenformation steckend verstehen, womit Apollon also daneben geschossen hätte. Da der „Fernhintreffer“ sein Ziel jedoch nie verfehlt, muss hier gemeint sein, dass der Pfeil im Körper eines Niobiden steckt, der gänzlich hinter der Geländelinie verschwindet.326 Wie sollte dies anders zu verstehen sein, als dass dieser Körper hinter einem Hügel liegt? Apollon, Artemis und ein sterbender Niobide stehen auf einer selben Geländelinie. Eine Bodenformation, welche drei Figuren gleichzeitig aufnehmen kann, übersteigt die Dimensionen der einzelnen Figur. Auch hier scheint ein Verständnis der Geländelinien als Hügelkuppen, bei der nicht singuläre Felsen, sondern ein allgemeines hügeliges Gelände bezeichnet wird, den Befund besser zu beschreiben. Schließlich passt die vertikale Staffelung der Geländelinien, bei der die einzelne Geländelinie ihren Ausgang nicht nur von der Grundlinie, sondern auch von anderen Geländelinien nehmen kann, nicht zu einer Interpretation als einfache Felsen, die, statt tongrundig, nur im Kontur angegeben wären. So eindeutig die genannten Punkte für eine Interpretation der Geländelinien als Hügelkuppen sprechen, es lassen sich dennoch Argumente für eine Lesart als Felsenumrisse anführen: Auf die Geländelinie, hinter der die erwähnte Pfeilspitze verschwindet, setzt der darüber erscheinende Niobide seinen rechten Fuß, während er den linken auf die Geländelinie aufsetzt, auf der eine Pinie wächst. Wenn man nicht annehmen möchte, dass dieser Niobide gleich einem Riesen von Hügel zu Hügel springt, müssen diese beiden Linien Geländeformationen von überschaubarer Größe, mithin Felsen, darstellen. Der Krieger, der links von dem Reiter auf der Marathonseite einen Fuß auf einen erhöhten Punkt aufsetzt, stellt einen analogen Fall dar: Wenn die beiden Geländelinien, auf denen er mit seinen Füßen steht, zwei hintereinander erscheinende Hügelkuppen darstellen würden, müsste er ein Riese sein. Verfolgt man den Verlauf der Geländelinie, auf der die Pinie wächst, stellt man fest, dass sie eine geschlossene Fläche umreißt, welche man für eine Art Felsen halten sollte, wenn Apollon seinen linken Fuß nicht auf dessen unteren Kontur setzen würde. Diese Geländelinie stattdessen für einen in die Tiefe führenden Hügelrücken zu halten, ginge wiederum viel zu weit in Richtung einer perspektivischen Lesart des Bildes. Während sich mit einer Interpretation der Geländelinien als Hügelkuppen auf dem Niobidenkrater ‚nur‘ Ungereimtheiten auftun, finden sich auf anderen Vasen Geländelinien, die ganz zweifellos Felsen wieder-

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geben: Der Paris auf einer Bauchamphora des Niobiden-Malers in London sitzt selbstverständlich auf einem Felsen und nicht auf einem Hügel (Abb. 198).327 Der sterbende Tityos mit einem Pfeil im Nacken auf einer Pelike des Polygnot im Louvre stürzt mit seinem Knie auf einen Felsen, der hier mithilfe von Geländelinien dargestellt ist, in analogen Fällen aber auch tongrundig wiedergegeben werden könnte (Abb. 199).328 Eindeutig Felsen bezeichnen auch die Geländelinien, auf denen Apollon auf einem Stangenkrater des Io-Malers in Tarquinia sitzt (Abb. 201).329 Auf der Namensvase des Nekyia-Malers in New York sitzen Theseus und Perithoos auf einem in Geländelinien gezeichneten Felsen, während alle anderen Figuren des Frieses auf der Grundlinie stehen (Abb. 200).330 Die Zweifel an der ausschließlichen Gültigkeit einer Interpretation der Geländelinien als Hügelkuppen, zu denen der Niobidenkrater Anlass gibt, bestätigen sich also auf anderen Vasenbildern. Dabei ist es wichtig fest-

Abb. 198 Parisurteil. Der Felsen, auf dem Paris gewöhnlich sitzt, ist hier durch Geländelinien ersetzt. Amphora des NiobidenMalers, London, British Mus., 470–460 Abb. 199 Apollon tötet Tityos, der mit dem Knie auf einen in Geländelinien angegebenen Fels gefallen ist. Pelike des Polygnot, Paris, Louvre, um 440

Abb. 200 Theseus und Perithoos in der Unterwelt. Kelchkrater des Nekyia-Malers, New York, Metropolitan Mus., 450–440

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Abb. 201 Apollon sitzt auf Felsen, die in Geländelinien angegeben sind. Stangenkrater des Io-Malers, Tarquinia, Mus. Nazionale, drittes Viertel 5. Jh. (Rückseite: Abb. 448)

zustellen, dass auf dem Niobidenkrater die beiden Optionen, Felsen oder Hügelkuppen, nicht für je verschiedene Geländelinien zutreffen, sondern ein und dieselbe Linie oftmals beide Interpretationen fordert, wiewohl diese sich widersprechen. Die Frage nach dem, was die Geländelinien darstellen, erweist sich also als unentscheidbar. Es wäre jedoch falsch, daraus zu schließen, dass die Frage zu scharf gestellt worden wäre, dass Geländelinien prinzipiell nicht auf eine präzise figurative Bedeutung festzulegen wären und somit irgendetwas zwischen Fels und Hügel darstellen würden. Die Basis der Heraklesstatue zeigt, dass Geländelinien sehr wohl eine präzise figurative Bedeutung haben können.331 In der Mitte zwischen Fels und Hügel liegt also nicht die Wahrheit, sondern ein Problem, das man folgendermaßen formulieren könnte: Die Geländelinien haben zwar offenbar eine figurative Qualität, insofern sie Hügel, Felsen und Statuenbasen meinen können, jedoch schließen sich diese jeweiligen figurativen Interpretationen gegenseitig nicht aus. Eine Geländelinie kann im Zusammenhang mit einer Figur einen Hügel meinen, ist damit aber kein Hügel, weil sie gleichzeitig im Zusammenhang mit einer anderen Figur einen Fels meinen kann. Sie besitzt kein genügendes figuratives Eigengewicht, um es den Figuren aufzuoktroyieren. Vielmehr nimmt sie die Bedeutung an, welche die Figur, die mit ihr in Beziehung steht, zu ihrem Verständnis verlangt, und wenn zwei Figuren mit einer selben Geländelinie in Beziehung stehen, ist es folglich möglich, dass sie zwei verschiedene Bedeutungen annimmt und für eine Figur Fels ist, für die andere Hügel.

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Das fehlende figurative Eigengewicht der Geländelinien Das fehlende figurative Eigengewicht der Geländelinien, welches auf dem Niobidenkrater am Wechsel der Bedeutung einer und derselben Linie bezüglich verschiedener Figuren deutlich wurde, bleibt auch für Geländelinienbilder der Folgezeit charakteristisch, auch wenn es sich an anderen Phänomenen ablesen lässt. Für den Wechsel der Bedeutung einer Geländelinie bezüglich verschiedener Figuren finden sich im weiteren Verlauf des 5. Jh. kaum mehr Beispiele. Dies hat allerdings einen eindeutigen Grund: Bald nach der Einführung der Geländelinien beginnen die Maler, unverbundene Geländeliniensegmente darzustellen, anstatt rigoros darauf zu achten, dass jede Geländelinie in eine andere münde, und alle Linien schließlich mit der Grundlinie kommunizieren, wie es auf dem Niobidenkrater noch der Fall ist. Damit verschwindet das ‚Problem‘ von Geländelinien, die für verschiedene Figuren je verschiedene Bedeutungen annehmen, da nun jede Figur ein eigenes Geländeliniensegment erhalten kann. In der Amazonomachie des Malers der Zottigen Silene auf einem Volutenkrater um 450 in New York werden die ‚Hügel-Geländelinien‘, hinter denen Figuren teilweise hervorkommen, oder auf denen in einem Fall eine Pinie wächst, nicht mit den ‚Felsen-Geländelinien‘ verbunden, auf die sich die Kämpfer mit ihren Füßen stützen (Abb. 202).332 Auf einem Kelchkrater des Kadmos-Malers um 420 in Bologna mit dem Besuch des Theseus am Meeresgrund kommt ein Dreifuß, der auf einer Säule steht, hinter einer Hügellinie hervor, welche bloß in der unmittelbaren Umgebung dieser Säule ausgeführt ist (Abb. 203).333 Der Dreifuß hat also eine eigene Geländelinie bekommen, die mit keiner anderen Geländelinie kommuniziert. Dies ist umso bezeichnender, als sowohl links als auch rechts ein möglicher Anschluss dieser Hügellinie mit anderen Hügellinien zur Verfügung gestanden hätte: Eine Geländelinie verdeckt die Füße der Frau rechts neben dem Dreifuß. Es wäre ein Leichtes gewesen, diese Geländelinie mit der der Dreifußsäule zu verbinden. Im oberen Bereich des Bildfelds links von der Dreifußsäule erscheint hinter einer Hügelkuppe der Wagen des Helios. Anstatt sich mit der Hügelkuppe unter dem Dreifuß zu treffen, die sich auf selber Höhe befindet, ist die Geländelinie, welche die Quadriga des Helios zum Teil verdeckt, zur oberen Bildfeldbegrenzung hinauf gezogen worden. Es lag offenbar nicht im Interesse des Malers, die drei von einem Hügel halb verdeckten Motive durch eine durchgehende Hügellinie in einen zusammenhängenden topographischen Kontext zu setzen, und damit eine bildübergreifende Geländestruktur wiederzugeben. Während auf dem Niobidenkrater jede Figur die auf sie zutreffende Geländelinieninterpretation bekam, bekommt hier jedes Motiv gleich ihren eigenen Hügel. Beides jedoch offenbart dasselbe Fehlen figurativen Eigengewichts der Geländelinien: Die topographischen Begebenheiten, die sie bezeichnen, existieren nicht für das Bild insgesamt,

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Abb. 202 Amazonomachie. Volutenkrater des Malers der Zottigen Silene, New York, Metropolitan Mus., um 450

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sondern nur für die unmittelbar betroffene Figur. Die Geländelinien beschreiben keine Topographie des Bildes, sondern die jeweilige Lage einzelner Figuren oder Gegenstände, die sich auf einem Felsen oder hinter einem Hügel befinden. Es gibt gewissermaßen nur die Figur, die hinter einem Hügel hervorkommt, nicht aber den Hügel selbst. Ein weiteres Phänomen, an dem das fehlende figurative Eigengewicht der Geländelinien deutlich wird, das aber wiederum auf dem Niobidenkrater noch nicht erscheint, ist die Durchsichtigkeit der Formen, welche von Geländelinien gezeichnet werden. Auf dem Niobidenkrater achtet der Maler noch darauf, Überschneidungen der von Geländelinien gezeichneten Formen auch mit den Motiven zu markieren, die nicht unmittelbar mit der Geländelinie in Beziehung stehen. Die Lanze des Kriegers, der links von Herakles steht, ist an ihrer Unterseite von der Statuenbasis schräg abgeschnitten. Auf der Niobidenseite des Kraters ist der Gewandzipfel des Niobiden neben Artemis von der Geländelinie abgeschnitten, auf die er stürzt, womit der Tatsache Rechnung getragen wurde, dass ihm dieser Gewandzipfel am Rücken – also hinter der Geländelinie – hinabhängt. Die Akribie, mit der hier die Formen, welche von Geländelinien gezeichnet werden, in das Spiel der Überschneidungen integriert werden, findet sich auf keinem anderen Geländelinienbild mehr. Die Regel, welche sich in der unmittelbaren Nachfolge des Niobidenkraters etabliert, ist, dass die von Geländelinien gezeichneten Formen für all die Figuren durchsichtig werden, auf die sie nicht unmittelbar bezogen sind. Auf einem Volutenkrater des Malers von Bologna 279 aus der Gruppe des Niobiden-Malers in Basel sind zwar mehrere Figuren durch Hügel teilweise verdeckt – von zweien sieht man nur den Kopf –, der gefallene Krieger auf der Hauptseite liegt

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jedoch auf einer Bodenerhebung, die den Blick auf die Füße der hinter ihm kämpfenden Krieger, die unterhalb der Leiche hervorkommen, nicht versperrt (Abb. 204).334 Diese Bodenerhebung, die höchstwahrscheinlich durch gar keine explizite Geländelinie angegeben ist, sondern lediglich durch die auf ihr liegende Figur impliziert ist, besitzt eine Materialität nur für ebenjene. Die Durchsichtigkeit der Geländeformationen, auf denen die Figuren stehen, lässt sich auf dieser Vase noch an anderen Details erkennen: Dort, wo der Krieger mit dem Schuppenpanzer über dem besagten Gefallenen seinen rechten Fuß auf eine Bodenhebung aufsetzt, verläuft dahinter der Bogen einer Amazone. Vor dem Arm, der diesen Bogen hält, setzt wiederum ein anderer griechischer Krieger seinen Fuß auf, so dass der Arm der Amazone und ihr Bogen den Boden, auf dem die Füße der beiden Hopliten stehen, durchquert, als sei er Luft. Beispiele für die Durchsichtigkeit der nicht tongrundig wiedergegebenen Geländeformationen335 finden sich im ganzen weiteren Verlauf des 5. Jh. So wird auf der Meidias-Hydria in London der Altar von der Bodenerhebung, auf der Aphrodite sitzt und ihre Hand abstützt, nicht verdeckt, wiewohl sie den Blick auf den Altar weitgehend versperren müsste. Ebenso ist auf dem Talos-Krater aus der Sammlung Jatta der Baumstamm bis unten sichtbar, obwohl Figuren und Pferde vor diesem Baumstamm auf erhöhtem Grund stehen (Abb. 205).336

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Abb. 203 Theseus auf dem Meeresgrund. Kelchkrater des Kadmos-Malers, Bologna, Mus. Civico, um 420

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Die Durchsichtigkeit der nicht tongrundig wiedergegebenen Bodenformationen337 sagt nicht etwas über die Beschaffenheit dieser Bodenformationen aus – diese sind schließlich nicht aus Glas – sondern ist die logische Folge daraus, dass sie nur jeweils für die Figuren existieren, die damit unmittelbar in Beziehung stehen, für alle anderen Figuren oder Motive dagegen keinerlei Materialität besitzen.338 Diese Eigenschaft der durch Geländelinien angegebenen Bodenformationen findet eine Parallele in der im vorhergehenden Kapitel festgestellten funktionalen Beschränktheit von tongrundigen Felsen: Ein Felsen, der als Lager dient, wird Figuren, die einer anderen Tätigkeit als dem Lagern nachgehen, kein Hindernis sein. Felsen sind räumlich auf jene Figuren beschränkt, die von ihnen Gebrauch machen.339 Die Beschränktheit der tongrundigen Felsen auf die unmittelbar betroffene Figur geht allerdings nicht so weit wie die geradezu materielle Inexistenz von Umrissfelsen für alle Figuren, die mit ihnen nicht in unmittelbarer Beziehung stehen: Der Kentaur, der auf der Amsterdamer Schale auf den lagernden Herakles zustürmt, ohne den Felsen mit seinen Hufen dabei zu berühren, wird zumindest von diesem Felsen überschnitten.340 Durch Geländelinien abgesteckte Bodenformationen werden zu dem, was sie sind, nur im Zusammenhang mit den Figuren, die mit ihnen in Beziehung stehen, und bleiben es nur für diese Figuren. Ihre figurative Qualität ist gewissermaßen nicht eigenständig. Dies zeigt sich nicht zuletzt daran, dass der Verlauf der Geländelinien insgesamt auf dem Niobidenkrater oder jeglichem anderen Geländelinienbild keinerlei schlüssige, verständliche Topographie zeichnet: Zöge man sämtliche Figuren vom Niobidenkrater ab, käme der Betrachter wahrscheinlich nicht einmal auf die Idee, in dem willkürlichen Auf-und-ab der weißen Linien Felsen und Hügel zu erkennen. Auch wenn mit der Einführung der Geländelinien die Räumlichkeit der Figuren nicht mehr ausschließlich von der nicht-figurativen, durch die Typologie der Vase vorgegebenen Struktur von Grundlinie und Bildfeld abhängt, bekommt dadurch der Bildraum als solcher noch keine figurative Qualität (oder zumindest nur in einem sehr eingeschränkten Sinne). Die Neuerung, welche die Geländelinien in der Raumwiedergabe mit sich bringen, ist also zu relativieren. Die beste Illustration für das Fehlen einer eigenständigen, von den tongrundigen Figuren und Motiven unabhängigen Existenz im Bild der von Umrisslinien bezeichneten Bodenformationen oder Gegenstände ist wohl die Basis der Heraklesstatue, von der nur die Vorzeichnung ausgeführt wurde. Als mit Beendigung der Figurenzeichnung – als es nur noch die weiße Deckfarbe hinzuzufügen galt – die Verlebendigung der Heraklesstatue abgeschlossen war, hatte die Statuenbasis ihre Existenzberechtigung verloren und wurde vom Maler nicht mehr in weißer Deckfarbe nachgezogen: Wo keine Statue, sondern der Heros in Fleisch und Blut ist,

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Abb. 204 Amazonomachie. Obwohl die Figuren über die gesamte Höhe des Bildfelds verteilt sind, erscheinen keine Geländelinien. Volutenkrater des Malers von Bologna 279, Basel, Antikenmuseum, um 450

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Abb. 205 Die Dioskuren führen den sterbenden Bronze-Riesen Talos. Volutenkrater des Talos-Malers, Ruvo, Mus. Jatta, um 410

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hat auch die Basis, welche nur im Zusammenspiel mit der Statue existierte, nichts mehr verloren. Boden und Himmel? Die Abhängigkeit der figurativen Bedeutung einer Geländelinie von der mit ihr in Beziehung stehenden Figur kann folgendermaßen formuliert werden: Im Gegensatz zu tongrundigen Felsen nehmen Umrissfelsen die von ihnen abgesteckte Fläche des Bildfelds nicht für sich in Anspruch. Die weiße Linie, die den Kontur eines Felsens oder die Kuppe eines Hügels zeichnet, macht die umrissene Fläche nicht zum Felsen oder zum Hügel; die schwarz gefirnisste Vasenoberfläche bleibt neutrales Bildfeld, auch wenn sie von Geländelinien durchzogen ist. Dies erklärt, warum mit der Einführung von Geländelinien in die attische Vasenmalerei keine grundsätzliche Unterscheidung von Boden und Himmel einhergeht. Dies lässt sich am Niobidenkrater sehr gut zeigen. Die Hügelkuppe, über der auf der Marathonseite ein Krieger bis zur Hüfte hinausragt, definiert, bezogen auf diesen Krieger, das Bildfeld unterhalb der Geländelinie als Boden und oberhalb der Geländelinie als Himmel. Wird damit jedoch der Bereich des Bildfelds rechts von der am äußeren Ende des Bilds stehenden Figur zu Boden, obwohl der Bereich links von dieser Figur, wo oberhalb der Linie, auf der er steht, keine Geländelinie mehr folgt, Himmel ist? Man müsste sich eine sehr eigenartige Topographie vorstellen, um diese Lesart zu ermöglichen. Viel voraussetzungsärmer ist eine Lesart, nach der der Bereich des Bildfelds unterhalb der Hügelkuppe, hinter der der obere Krieger zur Hälfte erscheint, für jenen Boden repräsentiert, für den links anschließenden Krieger aber Himmel. Die jeweils oberste Geländelinie als Horizontlinie zu definieren, ist dem Interpreten, dem man stets die freie Wahl seiner Beschreibungskategorien zugestehen muss, zwar nicht verboten, doch hätte diese Horizontlinie keinen weiteren Informationsgehalt als den, dass dies die Höhe ist, auf der die obersten Figuren erscheinen. Der oben besprochene Volutenkrater in Basel, wo knapp unterhalb der oberen Bildfeldbegrenzung noch der Kopf einer Amazone und der ihres Pferdes über einer Hügelkuppe erscheint, zeigen jedoch, dass die Maler immer noch in der Lage sind, eine Figur hinzuzufügen, wenn es darum geht, das Bildfeld dicht mit Figuren anzufüllen (Abb. 204).341 Für derartige Figuren, die knapp unter der oberen Bildfeldbegrenzung über einer Hügelkuppe erscheinen, gibt es viele Beispiele. Dass solche Figuren so häufig zu finden sind, liegt an der Praxis der Maler, Bildfelder gleichmäßig mit Figuren zu besetzen, die der allgemeinen Konzeption des Bildes als figurativ gefüllter Fläche entspricht. Mit einem hohen Augenpunkt, den die Vasenmaler für ihre Geländelinienkompositionen gewählt hätten, wovon die ältere Literatur meist ausging,342 hat dies ganz bestimmt nichts zu tun.343 Ein Horizont – also die Linie, wo sich Boden und Himmel auf dem Bildfeld berüh-

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ren – lässt sich nur für jede Figur einzeln sinnvoll definieren, was darauf hinausläuft, eine Horizontlinie erst gar nicht zu definieren. Wenn auf Geländelinienbildern der Beginn des Himmels nicht bezeichnet ist, es somit keinen Bereich des Bildfelds gibt, der allgemein als Himmel angesprochen werden kann, gibt es folglich auch keinen zum Himmel komplementären Bereich des Bodens. Wenn, wie auf dem Kelchkrater des Kadmos-Malers in Bologna, eine Geländelinie zum oberen Bildabschluss hinaufgeführt ist, wird damit also nicht das ganze Bildfeld zum Hügelhang. Das Bildfeld bleibt in seinen schwarz gefirnissten Flächen frei von jeglicher figurativen Identität. Die aufwärts strebende Geländelinie hat auf dem Bologneser Krater wohl eher den Zweck, die Aufwärtsbewegung des Sonnenwagens zu unterstreichen. Einen ähnlichen Fall stellt eine Oinochoe des Schuwalow-Malers in Ferrara dar (Abb. 206):344 Der von einer Gorgone verfolgte Perseus hebt darauf mit seinen Flügelschuhen zum Flug ab, was eine vor ihm steil aufwärts geführte Geländelinie zusätzlich verdeutlicht. Diese Geländelinie, die mit ihrer ‚übermäßigen‘ Steigung weniger eine nachvollziehbare Topographie als die besonderen Fähigkeiten des flügelbewehrten Perseus vor Augen führt, erweist sich hier wiederum als Zusatz zur Figur des Perseus. Es ist ‚seine‘ Geländelinie und insofern nicht auf das Bild als Ganzes übertragbar. Geländelinien und die Darstellung des Ortes Wenn die Geländelinien keine von den Figuren unabhängige Existenz fristen, sie keine eigene figurative Bedeutung haben, kann man dann überhaupt noch sagen, dass sich die Krieger auf dem Niobidenkrater in hügeliger Landschaft befinden? Dies abzustreiten, scheint gewagt: Auch wenn die Geländelinien insgesamt keine nachvollziehbare Landschaft zeichnen, so stehen die Figuren doch auf unebenem Untergrund, wenn sie nicht gar von einem Hügel verdeckt werden. Wie schon in der Vergangenheit der Ort einer dargestellten Szene durch deren Thema definiert werden konnte, sich dieser Ort allerdings immer bloß auf einzelne Figuren bezog, je nachdem, ob sie an der Handlung, die diesen Ort impliziert, beteiligt sind oder nicht, lässt sich auch auf dem Niobidenkrater, wo das Warten vor der Schlacht des athenischen Heeres im Heraklesheiligtum dargestellt ist, ein Ort definieren. Mit diesem ländlichen Heraklesheiligtum lässt sich der unebene Untergrund, auf dem die Figuren stehen, gut verbinden. Doch ist eine Verbindung zwischen dem Ort des Geschehens und dem von den weißen Linien wiedergegebenen Gelände ebensowenig zwingend wie die Verbindung zwischen dem Ort des Geschehens und Landschaftslementen. Dafür bietet bereits der Niobidenkrater Hinweise: Die Figur zu Füßen der Heraklesstatue kauert auf der flachen Grundlinie. Dass der Boden für ihn flach ist, während er für die anderen Figuren wellig ist, hat mit einer Unterscheidung des Ortes offenbar nichts zu tun.345

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255 Abb. 206 Eine Gorgone nimmt die Verfolgung des Perseus auf. Die beiden Zeichnungen zeigen den Verlauf der Geländelinien unter den Füßen von Perseus und der Gorgone. Oinochoe des Schuwalow-Malers, Ferrara, Mus. Nazionale di Spina, um 430

Bemerkenswerter noch ist allerdings die Tatsache, dass die Geländelinien der Marathonseite und die der Niobidenseite bruchlos ineinander übergehen, ein Detail, dessen man auf den Zeichnungen von Reichhold nicht gewahr wird, da sie beide Seiten getrennt voneinander zeigen.346 Die Vase ist also von einem einzigen Geländeliniennetz überzogen, welches die Orte zweier unterschiedlicher Szenen umfasst. Diese bezeichnende Tatsache findet eine Entsprechung in der oben herausgestellten Besonderheit der Gemäldebeschreibungen des Pausanias, wo zwischen zwei Gemälden

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Abb. 207 Hier findet der Kentaurenkampf im Bankettsaal statt. Dennoch stehen die Figuren auf Geländelinien. Fragment eines Volutenkraters des Niobiden-Malers, Berlin, Antikensammlung, 460–450 Abb. 208 Theseus tötet den Minotauros. Die Säule, an der sich der Minotauros festhält, und die Geländelinien, auf die er stürzt, scheinen sich nicht auszuschließen. Fragment eines Glockenkraters des Malers des Athener Dinos, Bonn, Akademisches Kunstmuseum, 420–410

Bildinterne Untersuchung

keine deutlichere Trennung gesetzt wird als zwischen zwei Szenen desselben Gemäldes.347 Viel deutlichere Belege für den nicht zwingenden Charakter der Verbindung zwischen der Geländelinientopographie des Bildes und dem Ort des dargestellten Geschehens finden sich auf anderen Vasen. Auf einem Volutenkraterfragment des Niobiden-Malers in Berlin ist eine Kentauromachie, die in Geländelinien strukturiert ist, zu erkennen, wobei die Kontrahenden sich allerdings mit Symposionsgerät bekämpfen – man erkennt insbesondere einen Tisch, mit dem sich offenbar ein Kentaur gegen den mit Doppelaxt angreifenden Lapithen wehrt (Abb. 207).348 Wie im mittleren 5. Jh. üblich, ist die Schlacht zwischen Lapithen und Kentauren also in den Rahmen der Hochzeit des Perithoos gesetzt worden und sollte sich dementsprechend im Bankettsaal abspielen. Auf einem anderen Fragment derselben Vase erscheint eine Pinie, mit der wohl ein Kentaur hantiert. Weder die Geländelinien, noch die Pinie passen zum Ort des Geschehens, dem Bankettsaal.349 Diese Darstellung der Kentaurenschlacht während der Hochzeit des Perithoos mit in der Höhe gestaffelten Figuren steht nicht alleine: Auf einer Pelike in Barcelona liegen zwischen den kämpfenden Lapithen und Kentauren umgestoßene Symposionsgefäße (Abb. 209).350 Ebenso erkennt man auf einem Volutenkraterfragment um 400 in New York mit einer Kentaurenschlacht neben einem Volutenkrater, der das dargestellte Geschehen mit der Schlacht während der Hochzeit des Perithoos identifiziert, auch Geländelinien (Abb. 210).351 Auf einem Glo-

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ckenkraterfragment um 420–410 in Bonn stützt sich der bedrängte Minotauros mit seinem linken Knie im Gelände ab, während er sich mit dem Arm an einer Säule festhält (Abb. 208).352 Die Säule, welche mit dem gebauten Labyrinth zu verbinden ist, stört sich offenbar nicht an den Geländelinien. Äußerst zahlreich sind schließlich Geländelinienbilder aus dem letzten Drittel des 5. Jh. mit Frauen, die ganz der Frauengemachsikonographie gemäß gestaltet sind, mit selben Dingen beschäftigt und von denselben Gegenständen umgeben.353 Wäre das Frauengemach vom geschlossenen Haus in die freie Landschaft umgezogen? Wohl kaum. Die Geländelinien dieser Frauengemachsbilder sagen offenbar nichts über den gewöhnlichen Aufenthaltsort der athenischen Frauen aus.354 Die Blumen, welche Frauen ansonsten gleich einem Attribut in der Hand halten könnten, wachsen hier im Bildfeld. Ohne behaupten zu wollen, dass die Verwendung von Geländelinien in der Frauengemachsikonographie nichts zu bedeuten habe, geht eine topographische Lesart dieser Bilder jedenfalls nicht auf.355 Der nicht zwingende Charakter der Verbindung zwischen der Geländelinientopographie des Bildes und dem Ort des dargestellten Geschehens entlässt den Interpreten schließlich auch aus der ungemütlichen Lage, alle Geländelinienbilder an einen steilen, felsigen Berghang verorten zu müssen, worauf die topographische Lesart der auf Geländelinien vertikal gestaffelten Figuren nämlich zwangsläufig hinausliefe.356 Schon Robert war bei der Rekonstruktion der Iliupersis, die er sich in analoger Weise in Geländelinien strukturiert vorstellte, dazu genötigt, als Ort des Geschehens statt der vielbesungenen Ebene vor Troja einen Strandhügel anzunehmen.357 So wenig Bilder, auf denen alle Figuren auf der Grundlinie stehen, zwangsläufig in einer Ebene spielen, spielen Geländelinienbilder zwangsläufig an einem steilen Berghang. Geländelinien als Vervielfältigung der Grundlinie Was sich über das Verhältnis der Räumlichkeit des Bildes zu dem Raum des dargestellten Geschehens bezüglich Geländelinienbilder gezeigt hat, gleicht weitgehend dem, was im bisherigen Verlauf der Arbeit bezüglich Grundlinienbilder gesagt wurde. Ebenso wie die Einheit der Grundlinie keine Einheit des Ortes impliziert, die Frage nach dem Ort vielmehr nur auf einzelne Figuren bezogen gestellt werden kann, konstituiert das Geländeliniennetz eines Bildes keinen einheitlichen, allen Figuren übergeordneten Raum: was eine Geländelinie jeweils darstellt, ist für jede Figur neu zu definieren und hat jenseits dieser Figur keine Gültigkeit mehr. Dies erkennt man daran, dass eine Figur, die hinter einem Hügel erscheint, dadurch keineswegs von den übrigen Figuren des Bildes abgeschnitten ist, sondern über diesen Hügel hinweg – der jenseits der Figur keine räumliche Relevanz mehr hat – mit anderen Figuren interagieren kann, wie

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Bildinterne Untersuchung

Abb. 209 Kentauromachie im Bankettsaal. Pelike, Barcelona, Mus. Arqueológico Nacional, spätes 5. Jh.

Abb. 210 Kentauromachie im Bankettsaal. Fragment eines Volutenkraters des Malers der New Yorker Kentauromachie, New York, Metropolitan Mus., um 400

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man es z.B. auf dem Baseler Amazonomachiekrater sieht, wo eine berittene Amazone ihre Lanze über den Hügel hinweg, hinter dem sie erscheint, auf einen Griechen richtet, der dabei ist, eine andere Amazone zu töten. Der Hügel dient zwar der Charakterisierung der Amazone, welche, hinter diesem Hügel hervorkommend, den Griechen unbemerkt angreifen kann, hat aber keine räumlichen Auswirkungen auf das Verhältnis der beiden Figuren, da diese sich diese trotz des Hügels in Lanzenentfernung zueinander befinden.358 Nicht nur insofern sie wie die Grundlinie als Standlinie für die Figuren funktionieren, sondern auch insofern sie die deren räumlichen Eigenschaften weiterhin behalten, können Geländelinien also als Vervielfältigung der Grundlinie verstanden werden. Der beste Beleg für die Richtigkeit dieser Formulierung ist die Tatsache, dass die Grundlinie durch die Geländelinien ihrer Funktion als Standlinie keineswegs enthoben wird, sondern schon auf dem Niobidenkrater und auch auf späteren Geländelinienbildern eine Standlinie unter vielen bleibt. Im Unterschied jedoch zur Grundlinie, welche je nach Bedarf verschiedenste Dinge repräsentieren kann – den Boden des Andron in Symposionsbildern, die Meeresoberfläche für Schiffen, usw. – ohne ihre Form daran anzupassen, werden im Falle von Geländelinien diese Dinge nicht bloß repräsentiert, sondern formal angedeutet. Was in der Grundlinie also bloß als Potentialität vorhanden war, wird von Geländelinien gewissemaßen konkret ausgeformt. Der Status der Geländelinien im Bild als Teil des Bildfelds; Unterscheidung von tongrundigen Formen und Geländelinienformen Das Verständnis der Geländelinien als Vervielfältigung der Grundlinie bringt uns dazu, zwischen den tongrundigen Figuren und Gegenständen, welche die eigentlichen Bildelemente sind, auf der einen Seite und den bildexternen Raumgliederungselementen Grundlinie und Bildfeld auf der anderen Seite, die Geländelinien zu Letzterem zu rechnen. Es mag nicht besonders hilfreich erscheinen, Geländelinien überhaupt dem Einen oder dem Anderen zuzurechnen. Daher möchte ich einige Gründe nennen, weswegen es sehr wohl angebracht ist, die Geländelinien von den tongrundigen Bildelementen prinzipiell zu unterscheiden und stattdessen dem Bereich anzunähern, dem Grundlinie und Bildfeld angehören. Wie es bereits ausgeführt wurde, ist die figurative Qualität der von Geländelinien, oder allgemeiner der von weißen Umrisslinien angegebenen Formen nicht zwangsläufig von selbst vorhanden, sondern entsteht oftmals erst durch den Zusammenhang der Geländelinien mit den Figuren. Diese Unbestimmtheit ihrer figurativen Bedeutung lässt die Geländelinien eine Sonderstellung einnehmen. Die attische Vasenmalerei ist in dem, was die gegenständliche Bedeutung der wiedergegebenen Dinge betrifft, nämlich sonst eindeutig.359 Der Grad der Bestimmtheit der Identität einer Figur ist

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Abb. 211 Raub der Leukippiden. Die Geländelinien gehen teilweise fließend in Blumen über. Hydria des Meidias-Malers, London, British Mus., 420–410

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zwar nicht immer derselbe: Auf dem Niobidenkrater sind Athena und Herakles individualisiert, während die wartenden Krieger lediglich anonyme athenische Hopliten darstellen. Die Identität einer Figur ist jedoch immer ausschließlich: Wenn die wartenden Krieger athenische Hopliten sind, dann sind es gewiss keine Bürger in Friedenszustand, spartanische Hopliten oder Perser. Ebendiese Regel gilt nicht für die in weißen Linien gemalten Formen: Dieselbe Geländelinie kann für eine Figur den Umriss eines Felsens, für eine andere Figur die Kuppe eines Hügels meinen. Wem dieses mehrmals angestrengte Beispiel nicht genügt, der sei auf die Hydria des Meidias-Malers in London verwiesen, wo die Geländelinien, auf denen die Pferde des rechten Wagens stehen, fließend in Blumen übergehen (Abb. 211).360 Ein zweiter Grund, der es nötig macht, zwischen tongrundigen Formen und den weißen Gelände- und Umrisslinien zu unterscheiden, ist die Tat-

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sache ihrer ungleichen Sichtbarkeit auf der Vase. Man hat sich daran gewöhnt, die Undeutlichkeit der Geländelinien mit dem Erhaltungszustand der Vasen zu erklären. Die Tatsache, dass die Zeit dem Tongrund der Figuren nichts anhaben kann, die aufgetragene Deckfarbe jedoch abblättern kann, ist natürlich unbestreitbar und erklärt, warum die weißen Geländelinien auf Photos meistens nicht mehr zu sehen sind. Dass die Geländelinien auf der Niobidenvase allerdings noch einigermaßen deutlich zu erkennen sind, auf den meisten späteren Geländelinienvasen jedoch nicht mehr, liegt auch daran, dass sie dort noch mit einem breiten Pinselstrich angegeben sind, während die Maler im Laufe des 5. Jh. immer dünnere Linien malen, und auf vielen Vasen des Reichen Stils die Geländelinien schließlich nur mehr mit einem spitzen Instrument in den schwarzen Firnis äußerst dünn eingeritzt sind. Auf der Meidiashydria in London, wo für die Geländelinien keine Deckfarbe benutzt wurde, wo sie mithin noch ihre orginale Sichtbarkeit besitzen, erscheinen sie bloß als Brüche im Schimmer des schwarzen Glanztons, derer man erst durch die Bewegung des Lichts über die Vase gewahr wird. Ebenso wie die feinen, winzigen Namensbeischriften auf Vasen des Reichen Stils, deren Buchstaben zuerst bloß als Glanzpunkte im schwarzen Bildfeld erscheinen und erst bei genauem Betrachten lesbar werden, sind die eingeritzten Geländelinien für den zweiten, bewundernden Blick bestimmt. Dies hat erstmal nichts mit Zweitrangigkeit gegenüber den Figuren zu tun. Es muss bloß festgestellt werden, dass diese Geländelinien im Wahrnehmungsprozess der Vase eine ganz andere Stellung einnehmen als die tongrundigen Figuren und Gegenstände. Schließlich besteht ein wesentlicher Unterschied zu den tongrundigen Formen darin, dass die durch weiße Umrisslinien bezeichneten Dinge kein Volumen besitzen. Die Ausdehnung eines Umrissfelsens oder eines in Geländelinien gezeichneten Hügels auf der Bildfläche wird bloß durch den Kontur bezeichnet, die konturierte Fläche bleibt aber gewissermaßen leer. Wie oben gezeigt wurde, lassen sich die Geländelinien auf dem Niobidenkrater zwar als Hügelkuppen oder Felsenumrisse lesen, machen die umgrenzten Flächen damit jedoch noch nicht zu Hügeln oder Felsen.361 Die Geländelinien zeichnen dort gewissermaßen figurative Hüllen ohne Inhalt. Während Geländelinien Flächen, ohne sie zu füllen, zumindest konturieren, fehlt ihnen die dritte Dimension vollkommen. Die in Rückenansicht gezeigte Figur, die auf dem Marathonbild zur Hälfte von einem Hügel verdeckt ist, wendet sich zu der Leben annehmenden Statue des Herakles um und blickt dabei lediglich zur Seite. Obwohl er hinter einem Hügel steht, muss er nur zur Seite blicken, um den verlebendigten Herakles zu sehen. Der Hügel hat folglich keine Tiefe, die ihn gegenüber der Figur des Herakles zurückversetzen würde.362 Das Fehlen der dritten Dimension an diesem Hügel ist gerade auf dem Niobidenkrater auffällig,

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Bildinterne Untersuchung

wo an den Körpern die Wiedergabe von Verkürzungen, an der sich die attischen Vasenmaler schon seit einem halben Jahrhundert mit großem Fleiß üben, auf die Spitze getrieben ist. Das Fehlen der dritten Dimension setzt die Geländelinienformen in der attischen Vasenalerei jedoch nicht nur von den Körpern, sondern in gleichem Maße auch von leblosen Gegenständen ab. Zu den Gegenständen, deren Tiefenerstreckung teilweise schon seit geraumer Zeit wiedergegeben wird, zählen nicht nur Schilde,363 Stühle364 oder Altäre,365 sondern ebenso tongrundige Felsen.366 Was den Geländelinienformen an Volumen fehlt, fehlt ihnen an Materialität, an jener aufdringlichen, täuschend echten Präsenz auf dem Bildfeld, um die es den Malern bei ihrer Suche nach überzeugender Körperhaftigkeit und Tiefenerstreckung der dargestellten Dinge geht. Die Geländelinienformen gehören nicht zu den Figuren und Gegenständen, die das Bildfeld bevölkern und beleben. Vielmehr gehören sie zu dem Bildfeld, das es figurativ zu beleben gilt. Dem entspricht es auf das Genaueste, dass erst die Figuren den Geländelinien ihre figurative Interpretation ermöglichen, wie es oben ausgeführt wurde.367 In diesem Zusammenhang bekommt auch die Tatsache Bedeutung, dass die Geländelinien zuletzt aufgetragen werden, wenn die tongrundigen Bildelemente bereits fertig gezeichnet wurden. Dieses zeitliche Nacheinander im Prozess der Bemalung der Vase spiegelt den verschiedenen Status, den die tongrundigen Formen und die Geländelinienformen im Bild haben: Die tongrundigen Formen gehören zum eigentlich figurativen Teil des Bildes, während die Geländelinien zum – grundsätzlich nicht-figurativen – Bildfeld gehören. Daraus folgt, dass tongrundige Felsen und Umrissfelsen, auch wenn sie dasselbe meinen und ggf. in bestimmten Ikonographien dieselbe Funktion übernehmen, mithin ikonographisch gleich sind,368 nicht äquivalent sind.369 Den Geländelinienformen fehlt der Gegenstandscharakter, der im letzten Kapitel für Landschaftselemente beschrieben wurde. Die Unabhängigkeit der Geländelinien gegenüber den Figuren und ihre ästhetische Eigendynamik Man kann feststellen, dass die Aspekte der Geländelinien, welche hier ins Feld geführt wurden, um ihre Unterschiedenheit von den tongrundigen Formen und ihre Zugehörigkeit zum Bildfeld zu untermauern, in vielem auch für die im vorhergehenden Unterkapitel behandelten freischwebenden Zweige zuträfen: Für diese hatte sich, in Form von botanischer Inkonsistenz, eine gewisse Unschärfe der gegenständlichen Bedeutung erwiesen.370 Aber auch das fehlende Volumen der Geländelinienformen findet in den freischwebenden Zweigen, die sich lediglich in der Fläche ausbreiten, ja geradezu zum Füllen der Fläche bestimmt sind. Schließlich findet sich auch das zeitliche Nacheinander im Prozess des Malens, hier von Figuren- und Zweigeauftrag, wieder.371 Die Parallele zwischen Gelände-

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linien und freischwebenden Zweigen, deren inhärenter Zweck das Füllen des Bildfelds ist, ist eine schöne Bestätigung der Behauptung, Geländelinien seien dem Bildfeld zuzurechnen.372 Genauso lässt die Parallele zu den freischwebenden Zweigen allerdings Unterschiede deutlich werden: Während sich für freischwebende Zweige die feste Regel herausstellte, dass sie gerade nicht gänzlich frei im Bildfeld schweben, sondern von den Figuren (oder seltener der Bildfeldbegrenzung) ihren Ausgang nehmen, um von dort in die Freiräume des Bildfelds zu wachsen und somit gewissermaßen die Hoheit der Figuren über das Bildfeld zu vervollständigen, hat sich für die Geländelinien ihre grundsätzliche Unterschiedenheit von den tongrundigen Figuren als charakteristisch erwiesen. Der Übergang von freischwebenden Zweigen zu eigenständigen Bäumen ist fließend. Der Unterschied zwischen den in Geländelinien angegebenen und den tongrundigen Felsen und Pflanzen bleibt durch die verschiedene Malweise dagegen immer eindeutig. Die Eigenständigkeit der Geländelinien gegenüber den tongrundigen Figuren äußert sich nicht zuletzt darin, wie rasch sie nach deren Einführung in die Vasenmalerei eine Eigendynamik entwickelt haben: Auf dem Niobidenkrater beschränken sich die Geländelinien weitgehend darauf, die Standlinien der auf unterschiedlicher Höhe verteilten Figuren miteinander zu verbinden, und machen nur wenige ‚überflüssige‘ Wege über das Bildfeld. Ganz anders ist dies bereits beim Maler der Zottigen Silene, einem Nachfolger des Niobiden-Malers: Auf seinem New Yorker Amazonomachiekrater kommen gut die Hälfte der Geländelinien keiner unmittelbaren Notwendigkeit nach, einer Figur eine Standlinie zu bieten (Abb. 202).373 Insbesondere verlaufen Geländelinien im oberen Bereich des Bildfelds, wiewohl auf dieser Höhe nur in den Henkelzonen jeweils eine Amazone hinter einem Hügel hervorkommt. Desweiteren gehen von den Geländelinien kleine Pflänzchen und Blumen aus, die vom Standpunkt der Figuren und ihrem Bedürfnis nach einer Fußlinie natürlich vollkommen entbehrlich gewesen wären. Nun ist bemerkenswert, dass diese Pflänzchen gleichermaßen nach oben, wie nach unten wachsen, je nachdem, wo sich ihnen mehr freie Fläche bietet, ein Detail, das sich auf einem etwa gleichzeitigen New Yorker Amazonomachiekrater aus der Gruppe des Niobiden-Malers ebenfalls findet (Abb. 212).374 Welchen besseren Beweis für den Mangel an eigener figurativer Definition der Geländelinien könnte es geben? Die nach unten wachsenden Blumen vertragen sich ebensowenig mit einer Lektüre der Geländelinien als Felsenumrisse, wie als Hügelkuppen – in beiden Fällen wäre unterhalb der Linie keine ‚Luft‘, sondern Felsen- oder Hügelmasse anzunehmen, in die hinein natürlich keine Pflanze wachsen könnte. Die hinabwachsenden Blumen erweisen die Geländelinien vielmehr als vollkommen abstrakte Bodenlinien – aus denen, qua Boden, Blumen wachsen – für die noch nicht ein-

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Abb. 212 Amazonomachie. Kleine Pflänzchen wachsen ebenso aufwärts wie abwärts aus den Geländelinien. Kelchkrater des Malers der Berliner Hydria, New York, Metropolitan Mus., 460–450

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mal die für den figurativen Raum essentielle Unterscheidung von oben und unten bindend ist.375 Die Blumen, welche von den Geländelinien ausgehen, sind als Flächenschmuck im engeren Sinne anzusehen,376 deren Ort somit einzig und allein die zu schmückende Vasenwand ist, und die, mangels Integration in den narrativen Bildzusammenhang, an jenem zweiten Ortsbegriff, der den Ort des wiedergegebenen Geschehens meint, nicht teilhaben. Blumen, die von Geländelinien ausgehend in beide Richtungen wachsen, finden sich auch auf dem Kelchkrater des Nekyia-Malers in Wien (Abb. 213).377 Dort sitzt am rechten Rand des Bildes von der Verfolgung der Amymone durch Poseidon ein Eros auf einem Geländeliniengebilde, aus dem neben Blumen auch drei palmettenartige Blätter herauswachsen. Diese Anleihe aus dem Repertoire der Vasenornamente bestätigt voll und ganz die Interpretation solcher Geländeblumen als Flächenschmuck der Vasenwand, insofern die vegetabilen Vasenornamente nicht nur per definitionem Vasenschmuck sind, sondern auch, anders als die Figuren,378 nie den Anspruch auf Tiefe erheben, sondern geradezu die flächige Folie für die im Bildfeld erscheinenden, körperhaften Figuren und Gegenstände abgeben. Vegetabile Formen aus dem Repertoire der Vasenornamente finden sich in den späteren Jahrzehnten des 5. Jh. regelmäßig. Bezeichnend sind dabei jene Beispiele, wo sich die Ornamentblumen, statt aufwärts zu wachsen, in die Breite ausdehnen, wie auf einer Pyxis um 400 in Würzburg (Abb. 214).379 Dort füllen zwei Ornamentblumen jeweils

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265 Abb. 213 Poseidon verfolgt Amymone. Ein Eros sitzt auf Geländelinien. Kelchkrater des Nekyia-Malers, Wien, Kunsthistorisches Mus., Mitte 5. Jh.

Abb. 214 Frauen und Eroten. Ornamentblumen füllen die freien Flächen. Pyxis, Würzburg, Martin von Wagner-Mus., um 400

die Fläche unterhalb einer Kiste, auf die je eine Frau ihren Ellbogen stützt. Statt durch geritzte oder in Deckweiß angegebene Strichsegmente und Blumen werden die anzunehmenden Geländeformationen, auf denen die Kisten stehen, hier also von Ornamentblumen gefüllt. Auf einer Lekythos in Dresden sitzt eine Frau auf einer Palmettenblume (Abb. 215).380 Hier wird das Geländegebilde, auf dem die Frau sitzt, von Ornamentpflanzen nicht nur gefüllt, sondern geradezu ersetzt. Dasselbe geschieht auf einer Lekythos um 430–420 in amerikanischem Privatbesitz, wo eine Sphinx auf eine Palmettenpflanze steigt, die wie im letzten Fall anstelle einer Geländelinie erscheint (Abb. 216).381 Auf einer Lekythos um 420

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Abb. 215 Eine Frau, auf die ein Eros zufliegt, sitzt auf einer Palmettenblume. Lekythos, Dresden, Staatliche Kunstsammlungen, spätes 5. Jh. Abb. 216 Eine Sphinx klettert auf eine Palmettenranke. Lekythos der Gruppe von Palermo 16, USA, Privatbesitz, Slg. Curtis Shell, 430–420

aus dem Schweizer Kunsthandel stützt eine Frau, die einen Kranz vor sich hält, den Fuß auf ein Ornamentgebilde.382 Die Blumen, mit denen die Geländelinien geschmückt werden, können diese also manchmal gänzlich ersetzen.383 Diese Möglichkeit, Geländeliniengebilde durch Ornamentgebilde zu ersetzen, macht die Verwandtschaft der Geländelinienformationen mit Ornamentblumen, dem Flächenschmuck par excellence, deutlich. Das blumensprießende Geländeliniengebilde auf dem Kelchkrater des Nekyia-Malers, welches nur an dieser Stelle der Vase erscheint, steht desweiteren in einem evidenten Zusammenhang mit dem Eros, der darauf sitzt. Ein solches assoziatives Verhältnis zwischen der Ausschmückung der Geländelinien durch Blumen und den tongrundig dargestellten Figuren findet sich in der Folgezeit vor allem in der Frauengemachsikonographie, wo sich der Gebrauch von Geländelinien im späteren 5. Jh. besonders verbreitet. So finden sich Blumen etwa auf der Namensvase des Chrysis-Malers in New York, wo neben Frauen auch Wollkörbe und ein Kästchen auf Geländelinien stehen (Abb. 217).384 Auf einer Pyxis des Meidias-Malers in Oxford mit Frauen und Eroten auf Deckel und Gefäßwand treiben die aus den eingeritzten Geländelinien wachsenden Blumen Blüten, die als vergoldete Tonkügelchen die schwarze Vasenwand mit Glanzpunkten übersähen (Abb. 218).385 In derselben Technik sind an tongrundigen Pflanzen Früchte zwischen den Blättern dargestellt. Mit ebensolchen vergoldeten Tonkügelchen sind jedoch auch die Ketten und Bänder versehen, welche die Frauen um den Hals, am Handgelenk oder im Haar tragen, und welche sich die Frauen und Eroten gegenseitig darreichen. Hier ist der Zu-

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sammenhang zwischen den Reizen der reich geschmückten Frauen und dem Blütenschmuck der sie umgebenden Geländelinien offensichtlich. Interessant ist an diesen vergoldeten Blüten desweiteren, dass sie viel mehr hervorstechen als die fein geritzten Geländelinien und Blumenstängel, an denen sie hängen, und sie somit auf den ersten Blick bloß als Glanzpunkte im schwarzen Bildfeld wirken und sich erst auf den zweiten Blick als Blüten im Gelände erweisen. Je näher man die Vase betrachtet, desto weiter enthüllt sie ihre Pracht, wobei die figurative Qualität der vergoldeten Glanzpunkte als Blüten in einem blumenübersähten Feld zu jenen Elementen gehört, die dem näheren Betrachten vorbehalten sind.386 Ähnliches ließe sich auch über die Bauchlekythos des Meidias-Malers in Ruvo mit Thamyris, Apollon, diversen Frauenfiguren und Eroten sagen, wo das Bildfeld ebenfalls von Blüten übersäht ist, die den Reiz der reich gewandeten Figuren wiederaufnehmen und vorrangig durch ihren Glanz wirken. Deren figurative Qualität als Blumen im Gelände tut dem keinen Abbruch, sondern stellt nur einen zusätzlichen Aspekt dar (Abb. 219).387 Auf dem Deckel einer Pyxis in der Art des Meidias-Malers in London mit Dionysos und Mänaden sind schließlich die Blüten im Bildfeld gar nicht mehr an Blütenstengel gefügt, sondern einfach in den Verlauf der Geländelinien eingestreut (Abb. 220).388 Diese Geländelinien und Blumen haben, wenn sie wie so oft in der Frauengemachsikonographie erscheinen, am Ort des Geschehens natürlich ebenfalls nicht teil, und dennoch kann man ihnen ein assoziatives Verhältnis zu dem erotisch aufgeladenen Frauengemach nicht absprechen.389 So wie die Wein- und Efeuranken im Bildfeld spätschwarzfiguriger Symposionsvasen, die in erster Linie Schmuck der Vase als solcher

Abb. 217 Frauen mit Kästchen, Kalathoi und einem Spiegel. Die Ikonographie des sog. Frauengemachs wurde hier auf Geländelinien übertragen. Hydria des Chrysis-Malers, New York, Metropolitan Mus., 420–410

268 Abb. 218 Frauen und Eroten. Blüten, Früchte und Schmuckperlen sind mithilfe vergoldeter Tonkügelchen dargestellt. Die Geländelinien dagegen sind lediglich (äußerst fein) geritzt. Pyxis des Meidias-Malers, Oxford, Ashmolean Mus., Ende 5. Jh.

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Abb. 219 Der Sänger Thamyris inmitten von Frauenfiguren, Apollon und Aphrodite. Bauchlekythos des Meidias-Malers, Ruvo, Mus. Jatta, 420–410

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Abb. 220 Dionysos im Kreise rasender Mänaden. Pyxis in der Art des Meidias-Malers, London, British Mus., 410–400

sind, im Zusammenhang mit der Ikonographie des oft dionysischen Bildschmucks stehen kann, aber nicht muss, ist auch zwischen Geländelinienschmuck und tongrundigen Figuren der assoziative Zusammenhang nicht verboten, wiewohl die Geländelinienblumen als bloßer Vasenschmuck schon eine ausreichende Existenzberechtigung im Bildfeld hätten. So ist es auch nicht ausgeschlossen, dass Pflanzen, die aus Geländelinien wachsen, zuweilen in ein örtlich zu nennendes Verhältnis mit einer Figur treten. Dies ist etwa der Fall auf der Pelike des Lykaon-Malers in Boston mit Odysseus vor dem Schatten des Elpenor, der sich in seiner Schwäche an den in Geländelinien bezeichneten Felsen stützt und, vom jenseitigen Ufer des Acheron kommend, von Schilf umgeben ist, welches ebenfalls in weißer Deckfarbe angegeben ist (Abb. 221).390 Ebenso erlaubt das in weißer Deckfarbe gemalte Schilf, welches die Quelle des Kadmos auf einem Kelchkrater des Spreckels-Males umgibt, eine örtliche Interpretation.391 So wenig im Rahmen assoziativer Verhältnisse zwischen Geländelinienschmuck und Figuren räumliche Übereinstimmung verboten ist, so wenig ist sie jedoch zwingend. Zu den Blumen auf der eben zitierten Hydria des Chrysis-Malers in New York kommen noch zwei einzelne Zweige hinzu, welche ebenfalls von Geländelinien ausgehen und, ohne als Baum oder sonstige Pflanze verständlich zu sein, über das Bildfeld gezogen werden. Auf einer Hydria desselben Malers in Northhampton mit Dionysos und Ariadne im Kreise weiterer Frauen ist von solchen in roter Deckfarbe aufgetragenen Zweigen eine Vielzahl dargestellt, womit sich die gezogene Parallele zwischen Geländelinien und freischwebenden Zweigen bestätigt (Abb. 222).392 Sie überziehen das Bildfeld ganz so, wie es etwa auf dem Kelchkrater des Dinos-Malers in Bologna mit Atalante und Hypomenes die Geländelinien

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271 Abb. 221 Odysseus vor dem Schatten des Elpenor. Pelike des Lykaon-Malers, Boston, Mus. of Fine Arts, um 440

tun: Dort ziehen sie sich wie glänzende Fäden zwischen den Figuren durch, in einer Weise, die topographisch zwar endgültig keinen vorstellbaren Sinn mehr ergibt. Sie behalten bei Bedarf aber gleichwohl ihre Funktionen, als Fußlinie für Figuren zu dienen und Figuren hinter Hügeln hervorkommen zu lassen (Abb. 223).393 Solchen Geländelinien Blätter anzufügen und sie damit zu Zweigen werden zu lassen, wie es der ChrysisMaler, ein Nachfolger des Dinos-Malers, tut, ist nur noch ein kleiner Schritt, der das ratifiziert, was auf dem Bologner Krater schon angelegt ist: Die Geländelinien stehen einer Interpretation als Felsenumriss oder Hügelkuppe zwar zu jeder Zeit offen, sind für sich genommen aber zuvorderst Schmuck des Bildfelds als solchem, dessen figurative Qualität nur ein willkommener Zusatz ist.394 Formale Variationen in der Zeit. Nicht verfolgte Ansätze zu Landschaftsmalerei Die Phänomene, welche hier angeführt werden, um zu erweisen, wie wenig der Geländelinienschmuck der Vasen – als Teil des Bildfelds und nicht der Figuren – an eine figurative Wiedergabe räumlicher Begebenheiten gebunden ist, und wie sehr er – diese Ungebundenheit nutzend – ein ästhetisches Eigenleben entwickelt, sind zu den verschiedenen Zeitstufen des 5. Jh. nicht dieselben: Von einem Ersetzen der Geländelinien durch Zweige ist um die Mitte des 5. Jh. noch nicht die Rede. Gleichzeitig verschwinden mit der Auflösung der Geländelinien in eine Vielzahl kürzerer Segmente die abwechselnd aufwärts und abwärts wachsenden Blumen, welche in frühen Geländelinienbildern zu finden waren. Auch andere Bemerkungen, die zu den Geländelinien des Niobidenkraters und anderer

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Abb. 222 Dionysos und Ariadne im Kreise weiterer Frauen. Zweige überziehen das Bildfeld, wie es sonst Geländelinien täten. Hydria des Chrysis-Malers, Northhampton, Castle Ashby, um 420–410

früher Geländelinienvasen gemacht wurden, sind ein knappes halbes Jahrhundert später nicht mehr gültig: Die abgesetzten Wellen und Wirbel, die spiralförmigen und gebogenen Strichsegmente, zu denen die Geländelinien im Reichen Stil mutieren, zeichnen nicht mehr nur Konturen von Felsen und Kuppen von Hügeln, sondern füllen häufig auch die Fläche einer solchen Geländeformation, wie man es auf einer Choe um 420 in Boston sehen kann, wo zwei Satyrn erregt um eine schlafende Mänade herumtanzen (Abb. 224).395 Die Bodenerhebungen, auf denen die Figuren tanzen, bzw. schlafen, sind mit spiral- und S-förmigen Geländeliniensegmenten überzogen, unter denen einige Blumen erscheinen.396 Obwohl die Geländeformation hier nicht bloß als Kontur existiert, vermag sie kaum die Fläche, die sie einnimmt, vom Rest des freien Bildfelds abzusetzen: Die Geländelinien sind lediglich in den Firnis eingeritzt; der ‚Boden‘, auf dem die Figuren schlafen und tanzen, will nicht ‚mehr‘ als ziselierte Glanzoberfläche sein und nicht den Boden vom Himmel scheiden. Der rasche formale Wandel, denen Geländelinien von ihrem ersten Erscheinen in der Vasenmalerei bis zum späten 5. Jh. unterliegen, bestätigt somit auf immer wieder neue Weise gleiche grundsätzliche Eigenschaften der Geländelinien: Das figurative Ungefähr, in dem Boden- und Geländeformationen wiedergegeben sind, welches sich die Maler für die tongrundigen Motive niemals erlauben würden, präzisiert sich im Laufe des 5. Jh. keineswegs. Die Geländeformationen bleiben durchsichtig und gewinnen somit nicht an Gegenständlichkeit. Auch gibt es keine Tendenz zu größe-

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rer topographischer Einheit des Bildes: Der Verlauf der Geländelinien im Bild passt sich den Bedürfnissen der einzelnen Figur bei Bedarf vollkommen an und bleibt auch im späten 5. Jh. an keine ‚geländeinterne‘ Logik gebunden. Eine andere Betrachtungsweise käme jedoch zum gegenteiligen Ergebnis: Die formale Eigenständigkeit der Geländelinien gegenüber den Figuren eröffnet ein weites Experimentierfeld, in dem die Maler neue Konzepte von Räumlichkeit umsetzen können. Dabei macht der von den Figuren verschiedene Status, den sie im Bildfeld besitzen, dass die Struktur des Figurenbilds durch dieses Experimentieren nicht allzusehr ins Wanken gerät, womit die Freiheit der Maler im Umgang mit den Geländelinien umso größer wird. Der rasche formale Wandel der Geländelinien wäre somit das Ergebnis eines kreativen Umgangs der Maler mit den Geländelinien. Dieser lässt die grundsätzliche Ordnung des Bildes, in der die Geländelinien, als dem Bildfeld zugehörig, einen von den Figuren unterschieden Status innehaben, allerdings unangestastet. Das ästhetische Eigenleben der Geländelinien, aus denen Blumen sprießen, die Blätter treiben, mal wie leuchtende Fäden durch das Bildfeld kreuzen, mal bloß in dünnen Ritzlinien im Widerschein der Glanzoberfläche auftauchen, wurde zur Genüge beschrieben. Dieses ist keineswegs von Bedürfnissen des Figurenbildes getrieben: Dass aus Geländelinien Blumen sprießen, berührt in keiner Weise ihre Funktion als Standlinie für Figuren. Ginge es nur nach den Bedürfnissen der Figuren, wären Gelände-

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Abb. 223 Atalante und Hypomenes (A). Mantelfiguren im Gespräch (B). Die verblichenen Geländelinien überzogen das Bildfeld wie leuchtende Fäden. Kelchkrater des Dinos-Malers, Bologna, Mus. Civico, 420–410

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Bildinterne Untersuchung

Abb. 224 Zwei erregte Satyrn um eine auf Geländelinien schlafende Mänade. Choe in der Art des DinosMalers, Boston, Mus. of Fine Arts, um 420

linien ohnehin schon sehr bald nach dem Niobidenkrater entbehrlich geworden: Auf dem namensgebenden Volutenkrater des Malers von Bologna 279, einem Nachfolger des Niobiden-Malers, ist im Schlachtgetümmel zwischen Griechen und Amazonen, das sich über die ganze Höhe der Vase verteilt, keine einzige Geländelinie zu erkennen.397 Sobald sich die Möglichkeit, Figuren in der Höhe zu staffeln, in der attischen Vasenmalerei etabliert hatte, war es nicht mehr unbedingt notwendig, die Geländelinien, auf denen die Figuren stehen, explizit zu markieren. Wenn Geländelinien in den meisten Fällen dennoch gemalt wurden, dann weil man ihnen einen eigenen Wert zumaß. In den meisten Fällen weisen die Blüten, die das ästhetische Eigenleben der Geländelinien im Laufe der zweiten Hälfte des 5. Jh. treibt, nicht in die Richtung einer Darstellung von Landschaft. Das figurative Ungefähr, in dem die Geländelinienformen treiben, lässt allermeistens keine nachvollziehbare Topographie erkennen. In der Ästhetik der Geländelinien, wo die präzise gegenständliche Bedeutung der Darstellung einen so marginalen Platz einnimmt, standen andere Ziele als die Wiedergabe einer bestimmten landschaftlichen Umgebung im Vordergrund. Doch ist die Lizenz zur ungefähren Gegenständlichkeit kein Zwang, und so konnte der Geländelinienschmuck der Vasen in wenigen Fällen dennoch in die Richtung der Darstellung einer Landschaft gehen. Der Volutenkrater des Malers der Zottigen Silene in New York bietet dafür ein bemerkenswertes Beispiel (Abb. 202):398 Auf dessen Vorderseite verläuft im oberen Drittel des Bildfelds eine Geländelinie, die zwar immer wieder von Figuren unterbrochen wird, aber dennoch eindeutig als eine zusammenhängende Geländelinie gemeint ist. Sie besitzt nur in den Henkelzonen, wo je eine Amazone hinter ihr hervorkommt, eine konkrete Funktion für die Figu-

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ren. Im Gegensatz zu dem oben diskutierten Kelchkrater des KadmosMalers mit Theseus am Meeresgrund, wo drei ‚funktionale‘ Geländelinien trotz ihrer Proximität im oberen Bereich des Bildfelds nicht miteinander verbunden wurden, um eine zusammenhängende Topographie des Bildes zu schaffen, zeichnet der Maler der Zottigen Silene mit jener ‚zweckfreien‘ Geländelinie einen Hügelrücken, der sich hinter sämtlichen Figuren der Vorderseite ausbreitet, mithin dem Bild eine einheitliche Topographie verleiht, auch wenn die Figurenkomposition zu ihr in keinerlei Abhängigkeit steht. Unter den Vasen des Malers der Zottigen Silene sticht auch der Aktaionkrater im Louvre durch seine Geländelinien heraus, die weit mehr tun als bloß den Figuren Fußlinien zu verschaffen, und topographisch nachvollziehbare (!) Geländeformationen zeichnen (Abb. 225).399 Ein mit dem Amazonenkrater in New York vergleichbarer Hügelrücken, der sich hinter den Figuren ausbreitet, ohne mit diesen in einem funktionalen Zusammenhang zu stehen, findet sich auf der Strickhenkelamphora in der Art des Dinos-Malers in Arezzo mit Pelops und Hippodameia (Abb. 226).400 Besäße man an Geländelinienvasen nur diese letztgenannten, hätte man keinen Grund, an der Möglichkeit einer topographischen Lesart der Geländelinien zu zweifeln. Es wäre angebracht, von einer Horizontlinie zu sprechen, und nicht abwegig, sich das Bild als eine Art Kavaliersperspektive vorzustellen. Insofern Geländeformationen gezeigt werden, die den Maßstab der einzelnen Figur sprengen und nicht auf eine bestimmte Funktion, die sie für die Figuren übernähmen, reduziert werden können, kann man diese in der Tat ohne die gewohnten Einschränkungen als landschaftlich bezeichnen. Landschaft wird vom Maler der Zottigen Silene zu einem Darstellungsinhalt gemacht, wenn auch dieser nur im Bereich der Geländelinien behandelt wird und einen sehr zurückgenommenen Raum im Bildfeld und in der Wahrnehmung des Bildes einnimmt. Solche Beispiele bleiben jedoch bis zum Ende des 5. Jh. sehr sporadisch. Stellt man sich die Frage, warum die Geländelinien auf dem Amazonenkrater in New York eine zusammenhängende Topographie zeichnen, der Kadmos-Maler dies auf dem Kelchkrater in Bologna dagegen geradezu vermeidet, fällt ein Unterschied zwischen beiden Fällen ins Auge: Auf dem Kelchkrater in Bologna stehen die Geländelinien jeweils in einem funktionalen Verhältnis zu einer Figur oder einem tongrundigen Motiv, und ebendies ist für die entsprechenden Geländelinien auf dem Amazonenkrater in New York nicht der Fall. Von hier aus wird deutlich, warum der Kadmos-Maler die Schaffung einer einheitlichen Topographie des Bildes vermieden hat: Da der Wagen des Helios, die Säule mit dem Dreifuß und die zuschauenden Nereiden in keinem topographischen Verhältnis zueinander stehen, ist es auch nicht angebracht, eine einheitliche Topographie, die ein solches Verhältnis auf dem Bild herstellen würde, zu schaffen.

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Bildinterne Untersuchung

Abb. 225 Aktaion wird von seinen Hunden zerfleischt. Volutenkrater des Malers der Zottigen Silene, Paris, Louvre, um 450

Abb. 226 Pelops und Hippodameia in rasanter Fahrt. Strickhenkelamphora in der Art des Dinos-Malers, Arezzo, Mus. Acheologico, um 410

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Daraus folgt, dass die Unabhängigkeit der Geländelinien von den Figuren geradezu eine Bedingung für die landschaftliche Auffassung derselben darstellt:401 Bildüberspannende ‚Landschaft‘ ist dann möglich, wenn sie die Räumlichkeit des Figurenbilds nicht antastet. Der ‚landschaftliche‘ Gebrauch, den der Maler der Zottigen Silene von Geländelinien macht, findet in der attischen Vasenmalerei keine ernsthafte Nachfolge. Obwohl Geländelinien durch ihren von den Figuren verschiedenen Status im Bild die eben genannte Bedingung bildumspannender ‚Landschaft‘ jederzeit leicht erfüllen könnte – nichts hindert die Maler, die freien Bildfeldflächen mit eigenständigen, ‚landschaftlichen‘ Geländelinien zu füllen –, wird diese Möglichkeit von den allermeisten Vasenmalern nicht genutzt. An der eben erwähnten Choe um 420 in Boston zeigt sich ein Phänomen, das sich von der Verwendung von Geländelinien ableitet und einen bemerkenswerten Ansatz darstellt, der, wenn auch auf ganz andere Weise wie die Geländelinien des Malers der Zottigen Silene, in Richtung von Landschaftsmalerei deutet (Abb. 224).402 Sowohl die liegende Mänade als auch die beiden um sie tanzenden Satyrn erreichen bei Weitem nicht die Höhe des Bildfelds. Der große Freiraum, der über den Köpfen der Figuren bleibt, wäre im Normalfall durch weitere Figuren auf erhöhten Geländelinien gefüllt worden. Hier jedoch wurde die Tatsache, dass mit der Einführung der Geländelinien die Figuren nicht mehr automatisch die Höhe des Bildfelds haben, nicht dazu genutzt, das Bildfeld durch in der Höhe gestaffelte Figuren zu füllen, sondern der Maler hat über den Figuren einen größeren ‚Luftraum‘ absichtlich leer gelassen. Dass es sich hierbei um etwas grundsätzlich anderes handelt als etwa bei den in einem großen schwarzen Feld stehenden Figuren des Berliner Malers, zeigt sich daran,

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dass das Bildfeld auf dieser Choe mit einem gewissen Abstand zu den Figuren seitlich durch ein schmales tongrundiges Band gerahmt ist, und somit das leere Bildfeld um die Figuren vom schwarzen Vasengrund unterschieden ist. Eher wäre die Leere dieses Bildfeldsfelds noch mit den großen Freiräumen im Brettspielerbild der Exekiasamphora im Vatikan zu vergleichen. Doch auch dieser Vergleich hinkt gewaltig, da die Freiräume auf der Exekiasamphora lediglich durch die geringe Dichte der Figuren und Gegenstände auf dem Bildfeld bedingt ist, diese jedoch gleichmäßig über die Bildfläche verteilt sind. Auf der Choe dagegen steht ein mit Figuren besetzter, unterer Bereich des Bildfelds einem leeren, oberen Bereich gegenüber. Besäße man als einziges Geländelinienbild jene Choe in Boston, würde niemand daran zweifeln, dass mit diesen beiden Bereichen Boden und Himmel unterschieden werde und die Fläche des Bildfelds in ihrer Materialität somit aufgelöst werde. Bilder mit Figuren in einem deutlich höheren und breiteren, gerahmten Bildfeld finden sich regelmäßig auf Oinochoen des Eretria-Malers.403 Da sich unter diesen Bildern sowohl solche finden, deren Ikonographie sich mit der ‚freien Natur‘ verbinden ließe als auch solche, deren Ikonographie als Ort der Handlung einen Innenraum implizieren,404 kann der leere obere Bereich des Bildfelds in solchen Bildern nicht allgemein als Himmel bezeichnet werden. Es handelt sich um eine Kompositionsweise, die nicht für bestimmte Themen – etwa solche, die in der ‚freien Natur‘ spielen – gewählt wird, sondern die einer bestimmten Vasenform (Weinkannen) und einer bestimmten Zeit (ca. 430–420) eigen ist. Auch wenn der leere Bereich des Bildfelds auf solchen Vasen also nicht ikonographisch mit dem Himmel identifiziert werden kann, bekommt das Bildfeld durch seine gewissermaßen explizite Leere ein Eigengewicht, das ihm überhaupt erst ermöglicht, als etwas angesehen zu werden, und das es einer Lesart als Boden und Himmel gegenüber öffnet.405 Die Gruppe der Vasen mit solchen Bildfeldkompositionen ist relativ klein und begründet keinen allgemeinen Trend. Wie im Falle der Bilder des Malers der Zottigen Silene zeigt sich hier also wieder ein Ansatz zu einer landschaftlichen Behandlung des Bildraums, der nicht weiterverfolgt wurde. Der Befund der Geländelinien in der attischen Vasenmalerei lehrt uns somit dreierlei: (1) Einerseits zeigt er, dass das Interesse der Vasenmaler für Landschaft sehr gering ist, insofern ihre große Mehrheit auch dann nicht ‚landschaftlich‘ malt, wenn diese Möglichkeit geboten wäre. Diese Erkenntnis ist nicht neu. Doch zeigt sich an den Geländelinien einmal mehr, dass das Fehlen landschaftlicher Vasenmalerei nicht nur einer medialen, technischen Unmöglichkeit geschuldet ist.406 (2) Desweiteren zeigt der Befund der Geländelinien in der Vasenmalerei jedoch einen Weg auf, den die Maler gehen können, um Landschaft als Darstellungsgegenstand ins Bild zu setzen. Dieser Weg besteht nicht in der Aufhebung der bis da-

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hin geltenden Grundregeln, nach denen der Raum der Figuren das Bildfeld ist, und sich Räumlichkeit lediglich durch Interaktion der Figuren und Gegenstände konstituiert, der Ort einer Figur oder des dargestellten Geschehens dagegen eine Eigenschaft der entsprechenden Figur oder Handlung ist. Die Möglichkeiten zu Landschaftsdarstellung, welche die Geländelinien eröffnen, lassen diese Räumlichkeit des Figurenbildes vielmehr unangestastet, da sie lediglich in einer Gestaltung des Bildfelds bestehen,407 welches durch diese Gestaltung für die Figuren jedoch nicht weniger figurativ neutrales Bildfeld bleibt. Figur und Bildfeld werden nicht zu einer figurativen Einheit verschmolzen; das Potenzial zu Landschaftsdarstellung liegt im Gegenteil in der Aufrechterhaltung der Unterscheidung von Figur und Bildfeld, da dadurch erst die nötige ‚Freiheitszone‘ für eine landschaftliche Gestaltung des Bildfelds entsteht: Der tongrundige Fels, auf der eine Figur sitzt, ist charakterisierender Teil dieser Figur und hat insofern nichts Landschaftliches an sich. Das Geländeliniengebilde, auf dem eine Figur sitzt, bleibt dagegen Teil des Bildfelds und kann somit eine landschaftliche Gestaltung erfahren. (3) Schließlich ist die Tatsache, dass dieser Weg zu Landschaftsmalerei in der Vasenmalerei kaum beschritten wurde, nicht unbedingt auf andere Gattungen der griechischen Malerei übertragbar. Wenn, wie es der Befund der Geländelinien zeigt, es nicht eines fundamentalen Wandels der Bildkonzeption bedarf, um Landschaftliches ins Bild zu setzen, klingt die Vorstellung einer Entwicklung von Landschaft im Bereich der Tafelmalerei im Laufe des 5. Jh., wie es die ältere Forschung annahm, nicht mehr ganz so abwegig, als es ein erster Blick auf den Corpus der Vasen erscheinen ließ. Zu dem zweiten und dem dritten Punkt möchte ich im Folgenden noch einige Bemerkungen machen: (2) Die Strukturierung des Bildraums durch Grundlinie und Bildfeld bleibt, bezogen auf die tongrundigen Bildelemente weitgehend erhalten: Altäre und Felsen befinden sich in aller Regel auf der Grundlinie, oft auch Möbel u.Ä. Bäume dagegen können gleichermaßen aus der Grundlinie wie aus Geländelinien herauswachsen. Architekturen schließen oft mit der oberen Bildfeldbegrenzung ab. Dies soll unten näher ausgeführt werden.408 (3) Im Theater ist die Trennung von Figur und Bildfeld total: Die Figuren sind die Schauspieler, die vor dem Bühnenbild agieren, ohne in ihren Bewegungen und Handlungen auch nur im geringsten von dem abzuhängen, was auf dem Bühnenbild dargestellt ist. Ist es ein Zufall, dass sich ausgerechnet in der Skenographia so etwas wie Landschaftsmalerei entwickelt haben soll?

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Geländelinien und die Darstellung der Figuren Die Betonung der Aufrechterhaltung der Unterscheidung von Figuren und Bildfeld und der Tatsache, dass die Geländelinien zum Bildfeld zu rechnen sind, darf nicht vergessen lassen, dass die Einführung der Geländelinien starke Auswirkungen auf die Darstellung der Figuren hat. Diese Auswirkungen sind auf zwei Ebenen bemerkbar: Einerseits werden neue Kompositionsweisen der Figuren auf dem Bildfeld möglich. Diese evidente Folge wurde hier schon mehrfach benannt. Andererseits tun sich durch die Geländelinien jedoch auch neue Möglichkeiten der Darstellung der einzelnen Figur auf, ein Aspekt der bisher noch gar nicht beachtet wurde. Betrachtet man ‚typische‘ Geländelinienkompositionen, wo unter Ausnutzung der neuen Möglichkeit, Figuren von der Grundlinie zu lösen, die Figuren auf verschiedenen Höhen über das Bildfeld verteilt sind, so fällt auf, dass sich die Figuren in den allermeisten Fällen kaum gegenseitig überschneiden. Der Niobidenkrater ist dafür bereits ein ausgezeichnetes Beispiel: Die elf Figuren der Marathonseite sind so zusammengesetzt, dass sie das Bildfeld möglichst gleichmäßig füllen, ohne durch größere Überschneidungen mehrere Figuren zusammenzufassen. Dort, wo zwischen den Figuren eine größere Lücke bleibt, die jedoch für eine weitere komplette Figur nicht reicht, wird sie etwa durch einen frontalen Schild ausgefüllt oder eben durch eine ‚halbe‘ Figur, von der ein Teil von einem Hügel verdeckt ist, um nicht mit einer anderen Figur in Kollision zu geraten. Dieses Kompositionsprinzip findet sich bis in den Reichen Stil. Auf den beiden Hydrien des Meidias-Malers in Florenz wurde dasselbe Prinzip umgesetzt, mit dem Unterschied, dass die Figurendichte hier insgesamt größer ist, so dass die Figuren enger ineinander geschachtelt sind und die Fläche geradezu wie die Teile eines Puzzles bedecken (Abb. 227).409 Kleinere Überschneidungen sind dort häufiger zu finden, da sie durch die allgemein größere Dichte der Figuren das Gleichmaß der Verteilung nicht sprengen. Gute Beispiele wären desweiteren der große Volutenkrater des Kadmos-Malers in Ruvo (Abb. 228)410 oder die Parisurteilsvase in Karlsruhe (Abb. 229).411 Die Vermeidung von Überschneidungen in den genannten Geländelinienbildern zeigt eindeutig, welches Ziel die Maler in diesen Bildern mit der Geländelinienkomposition verfolgten: Man wollte besonders figurenreiche Bilder, ohne sich den Figurenreichtum durch Überschneidungen erkaufen zu müssen. Man zog es vor, die Größe der einzelnen Figur, welche nicht mehr die gesamte Höhe des Bildfelds einnahm, zu reduzieren, um dafür eine größere Zahl von Figuren nebeneinander auf dem Bildfeld unterbringen zu können. Dieses allgemeine Kompositionsprinzip lässt die Praxis verstehen, Figuren teilweise durch Hügel zu verdecken: Es ist ein Mittel, Überschneidung von Figuren zu vermeiden, ohne die Zahl der Figuren damit zu verringern.

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Neben diesen sehr übersichtlichen, überschneidungsarmen Geländelinienkompositionen gibt es noch eine gewisse Anzahl äußerst dichter Geländelinienkompositionen, welche Schlachten wiedergeben, wovon der besprochene Baseler Amazonomachiekrater ein Beispiel ist. Dort werden Überschneidungen keineswegs gemieden. Die Verunklärung des Bildes, welche man sonst durch Vermeidung von Überschneidungen verhindern wollte, ist hier offenbar ein gesuchter Effekt, durch den das Schlachtgetümmel besser zum Ausdruck kommt. Doch auch hier ist die Aufgabe der einheitlichen Grundlinie und die damit einhergehende Verringerung der Figurengröße ein kompositorisches Mittel zur Steigerung der Figurenzahl: Statt eines Nebeneinanders von Kämpfergruppen sollte ein einziges Schlachtgetümmel gezeigt werden. Die Möglichkeit, Figuren teilweise vom Gelände verdecken zu lassen, wird hier dazu genutzt, auch den kleinsten Freiraum noch mit einer Figur auszufüllen. In der Henkelzone zwischen den beiden Ansichtsseiten der Vase, wo die Figurendichte offenbar etwas aufgelockert werden sollte, wird dieses Mittel in der gewohnten Weise zur Vermeidung von Überschneidung verwendet.412 Die Erreichung größeren Figurenreichtums auf einem einzelnen Bildfeld, zu der das kompositorische Mittel der Geländelinien in der Vasenmalerei verwendet wurde, ist wohl auch für die polygnotischen Tafelmaler der Anlass gewesen, warum sie ihre Wände nicht mit einem Fries riesenhafter Figuren oder mehreren übereinanderliegenden Friesen geschmückt

Abb. 227 Aphrodite und Adonis umgeben von Frauen und Eroten. Hydria des Meidias-Malers, Florenz, Mus. Archeologico, um 410

284 Abb. 228 Dionysos im Kreise von Satyrn, Mänaden und Eroten (A). Wettstreit zwischen Marsyas und Apollon (B). Volutenkrater des Kadmos-Malers, Ruvo, Mus. Jatta, Ende 5. Jh.

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Abb. 229 Parisurteil. Hydria des Malers des Karlsruher Paris, Karlsruhe, Badisches Landesmuseum, 410–400

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haben, sondern die einheitliche Grundlinie und damit die Koppelung der Figurenhöhe an die Bildfeldhöhe aufgegeben haben.413 Ebenso kann vermutet werden, dass die teilweise Verdeckung von Figuren durch das Gelände – eine Praxis, welche in der polygnotischen Tafelmalerei geläufig gewesen sein muss414 – ebenso wie in der Vasenmalerei den Zweck hatte, Überschneidungen zu vermeiden und kleine Freiräume im Bildfeld zu füllen.415 Diese Parallelen zwischen der Vasenmalerei und der Tafelmalerei in der Verwendung der Geländelinien mag dazu veranlassen, in diesen den primären Grund für die Übernahme aus der Tafelmalerei der neuen Kompositionsweise durch den Niobiden-Maler zu sehen. Die Ausschmückung der Geländelinien durch Blumen, ihre gelegentliche Verwendung zur Darstellung einer von den Figuren unabhängigen Topographie und alle weiteren oben beschriebenen Phänomene, welche auf dem Niobidenkrater zwar noch nicht anzutreffen sind, in der unmittelbaren Nachfolge des Niobiden-Maler aber bereits auftauchen, entspringen dagegen, so möchte ich behaupten, einer Eigendynamik der Geländelinien in der Vasenmalerei selbst.416 Mit der Einführung der Geländelinien in die Vasenmalerei eröffnen sich also Möglichkeiten, die mit dem primären Anlass für ihre Einführung

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nichts mehr zu tun haben. So finden Geländelinien bald nach dem Niobidenkrater auch in solchen Bildern Verwendung, in denen die Figuren nicht in die Höhe gestaffelt werden, und wo folglich die Höhe des Bildfrieses das Maß für die Figurengröße abgibt. Der Prozess, mit dem Geländelinien in Bilder eingefügt werden, für die sie anfangs gar nicht ‚gedacht‘ worden waren, lässt sich besonders gut an den Amazonomachien des mittleren 5. Jh. ablesen. In einer ikonographisch eng zusammengehörenden Gruppe von umlaufenden Amazonomachien auf großen Gefäßen der mittleren Jahrzehnte des 5. Jh. halten sich die früheren Beispiele noch an die einheitliche Grundlinie, während die späteren Beispiele Geländelinien aufweisen, obwohl sich an der friesartigen Gesamtkomposition nichts ändert, und sich keine Figur von der Grundlinie bedeutend entfernt:417 Der Niobiden-Maler verwendet für seine beiden Volutenkratere mit umlaufenden Amazonomachien in Agrigent („early“) (Abb. 108)418 und Neapel („late“) (Abb. 230)419 noch keine Geländelinien, anders als seine Nachfolger, dem Maler der Zottigen Silene auf dem besprochenen Volutenkrater in New York (Abb. 202) und dem Maler der Berliner Hydria auf einem Kelchkrater, der sich ebenfalls in New York befindet (Abb. 212).420 Kleinere Amazonomachien auf lediglich einer Gefäßseite, wo in der Regel eine berittene Amazone einen oder mehrere Griechen angreift, und die meist Geländelinien verwenden, finden sich in der Folge zahlreich, insbesondere in der Gruppe des Polygnot.421 Bei diesen Bildern fällt auf, dass die berittenen Amazonen nicht größer dargestellt sind als die griechischen Fußsoldaten. Diese durch proportionale Verkleinerung des Pferdes und der Reiterin hergestellte Isokephalie ist freilich an sich in griechischen Bildern dieser Zeit nicht verwunderlich. Sie macht bloß deutlich, dass die Geländelinien in diesen Bildern daran nichts ändern,

Abb. 230 Amazonomachie. Volutenkrater des Niobiden-Malers, Neapel, Mus. Nazionale, um 450

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Abb. 231 Ein Hoplit erwehrt sich des Angriffs einer berittenen Amazone. Stamnos des EpimedesMalers, London, British Mus., 450–430 (Rückseite: Abb. 442)

wiewohl es rein technisch möglich gewesen wäre, den Größenunterschied zwischen den Reiterinnen und den Fußsoldaten durch die Geländelinien zu überbrücken. Die Einführung von Geländelinien in die Ikonographie der Amazonomachie hat also mit einem Wunsch der Maler, die Figuren auf verschiedener Höhe in einem durch Geländelinien strukturierten Bildfeld zu positionieren, nichts zu tun. Dagegen stellt man fest, dass die Griechen, welche den Angriff der Reiterinnen erwarten, mit ihren Füßen häufig auf unebenem Boden stehen und v.a. den vorderen Fuß auf erhöhten Grund setzen, wie man es z.B. auf zwei Stamnoi der Polygnot-Gruppe in London sieht (Abb. 231).422 Das Motiv des griechischen Kriegers, der, hinter seinen Schild verschanzt, den vorderen Fuß auf einen Felsen setzt, findet sich bereits auf dem Volutenkrater des Niobiden-Malers in Palermo, der noch keine Geländelinien verwendet, und wo der Felsen folglich tongrundig dargestellt ist. Es wird auch in der Folge zuweilen mithilfe eines tongrundigen Felsens wiedergegeben,423 doch gilt es zu beachten, dass das Motiv des Fußes, der auf einen Felsen gestützt ist, in der attischen Vasenmalerei im selben Zeithorizont wie die Geländelinien auftaucht. Sowohl der (tongrundige) Fels, auf den der Fuß gesetzt wird, als auch Geländelinien können dem Bildthema der Anpassung der Figuren in ihrer Haltung an ein unebenes Terrain bestens dienen, weswegen ihr gleichzeitiges Aufkommen möglicherweise nicht zufällig ist.424 Die Einführung der Geländelinien hat also nicht bloß Auswirkungen auf die Komposition der Figuren im Bildfeld, sondern, wie oben angekündigt, auch auf die Darstellung der einzelnen Figuren. Auf dem Niobi-

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denkrater steigert der Maler die Vielfalt der Stellungen der wartenden Krieger durch deren auf unterschiedlicher Höhe aufgesetzten Füße. Auf der Rückseite werden die Geländelinien dazu genutzt, durch das Anschmiegen der Körper der getöteten Niobiden an das unebene Gelände deren Leblosigkeit Ausdruck zu verleihen. Auf der Pelike des LykaonMalers in Boston um 440 mit Odysseus vor Elpenor sucht der kraftlose Schatten mit beiden Händen an Geländelinien Halt (Abb. 221).425 Im letzten Drittel des 5. Jh. werden die neuen Möglichkeiten, welche Geländelinien für die Darstellung der Figuren eröffnen, v.a. für die Wiedergabe von Frauen genutzt, seien es Musen, Begleiterinnen der Aphrodite und des Dionysos oder ‚gewöhnliche‘ Frauen. Die Darstellung der verschiedenen Motive des Sitzens, Aufstützens, Anlehnens und Liegens werden dort zu einem zentralen Anliegen der Maler. Auf einer Bauchlekythos des Eretria-Malers um 430–420 mit Dionysos inmitten seines Thiasos finden sich Mänaden, die sich mit einem Fuß auf erhöhtem Grund abstützen, Mänaden, die in den verschiedensten Stellungen sitzen, mal mit rückwärtig abgesetztem Arm, mal auf den Ellbogen gestützt, eine auf sanft ansteigendem Gelände liegende Mänade und eine stehene Mänade, die sich mit beiden Ellbögen auf einen vor ihr aufragenden Fels lehnt (Abb. 232).426

Abb. 232 Dionysos und zwölf Satyrn und Mänaden. Bauchlekythos des Eretria-Malers, Berlin, Antikensammlung, 430–420

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Abb. 233 Wettstreit zwischen Apollon und Marsyas. Glockenkrater des Pothos-Malers, Heidelberg, Universität, 430–420

Auf einem Glockenkrater des Pothos-Malers in Heidelberg mit dem Wettkampf zwischen Apollon und Marsyas stehen drei Musen in verschiedenen Stellungen im Gelände, wobei sich eine wiederum mit dem Ellbogen auf einen vor ihr aufragenden Felsen stützt (Abb. 233).427 Ein reiches Spektrum an unterschiedlichen Sitz- und Aufstützmotiven im Gelände zeigen auch die Frauen, welche die Übergabe des Erichthonios von Ge an Athena auf einer Bauchlekythos des Meidias-Malers in Cleveland umgeben (Abb. 234).428 Diese unter zahllosen Vasen gewählten Beispielen mögen illustrieren, welchen Stellenwert die Wiedergabe des sich dem Gelände anschmiegenden Frauenkörpers in der Vasenmalerei am Ende des 5. Jh. bekommt. Wie entscheidend dabei die beliebige Formbarkeit der Geländelinien für die Entwicklung dieses Motivrepertoires war, lässt sich am Innenbild einer Schale in Cambridge illustrieren, wo zwei Musen ausnahmsweise auf ebenem Boden erscheinen und sich eine in gewohnter Weise stehend mit dem Ellbogen aufstützt, hier der Ellbogen jedoch statt von einer Geländelinie von einem schmalen vertikalen Pfeiler gehalten wird, den man wohl nicht anders als einen Ellbogenstützpfeiler nennen kann (Abb. 235).429 Wäre man für jedes ähnliche Stützmotiv auf solche Notbehelfe angewiesen, hätten sich diese in der attischen Vasenmalerei wohl kaum so inflationär ausgebreitet. Was die Stützmotive über die entsprechenden Figuren und ihre jeweilige Situation – seien es Hopliten im Abwehrkampf gegen berittene Amazonen oder entspannt sitzende Frauen – aussagen, soll im zweiten Teil

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untersucht werden.430 Es kann hier jedoch schon festgehalten werden, dass die Aufhebung der Grundlinie als einzigen möglichen Auflagers der Figuren das Stehen, oder allgemeiner das Verhalten der Figuren im Raum in ganz neuer Weise zu einem für die Interpretation der Figuren und des Bildes relevanten Aspekt hat werden lassen. Wurde vor der Einführung der Geländelinien lediglich zwischen Figuren unterschieden, die die Grundlinie berühren, und solchen, die sie, aus welchen Gründe auch immer, nicht berühren, zwischen Figuren, die auf der Grundlinie bloß mit den Füßen stehen, und solchen, die auf ihr mit dem gesamten Körper anliegen, zwischen Figuren, die auf der Grundlinie stehen, und solchen, die in ihr versinken oder von ihr aufsteigen, so wird nun zwischen verschiedenen Weisen des im Gelände Stehens, Sitzens oder des Kämpfens im Raum unterschieden. Diese Entwicklung ist von entscheidender Bedeutung für die Struktur des Bildraums. Man sollte meinen, dass mit der Relativierung der Grundlinie, die nicht mehr alleinige Standlinie ist, die gesamte, in den vorhergehenden Unterkapiteln skizzierte Raumstruktur ins Wanken geriete: Wie sollte etwa das Berühren oder Nicht-Berühren der Grundlinie noch von Bedeutung sein, wenn Figuren gleichermaßen auf der Grundlinie und auf Geländelinien stehen können? Doch stellt sich heraus, dass mit den Geländelinien die bisher skizzierte Raumstruktur, die das Verhältnis der Figuren und Gegenstände zu Grundlinie und Bildfeld betraf, nur teilweise aufgehoben wird, und sich gleichzeitig erstaunliche Kontinuitäten erweisen. Dafür betrachte man den bereits besprochenen Kelchkrater des Kadmos-Malers in Bologna (Abb. 203):431 Auf der Rückseite mit Herakles und der Kerynitischen Hirschkuh, die wie die Vorderseite durch Geländelinien strukturiert ist, befindet sich neben Herakles und unterhalb des heranstürmenden Apollon ein Altar, der unmittelbar auf der Grundlinie steht. Oberhalb der rechts von diesem Altar im Gelände stehenden Artemis tragen drei Säulen ein Gebälk, das genau mit der oberen Bildfeldgrenze abschließt, wobei die Säulenschäfte von Geländelinien überschnitten werden. Desweiteren hängt über Artemis und zwischen zwei der Säulen ein Köcher mit Bogen im Bildfeld. Auf der Vorderseite mit Theseus am Meeresgrund stehen die Symposionsmöbel, die Kline, auf der Poseidon lagert, der Beistelltisch, der Krater und eine Oinochoe, allesamt auf der Grundlinie. Im rechten oberen Bereich des Bildes hängt ein Kranz im Bildfeld. Trotz der Geländelinien, welche als Vervielfältigung der Grundlinie jedes Motiv gleichermaßen im Bildfeld verschiebbar machen sollten und so den Gegensatz von ‚auf der Grundlinie‘ Stehen und ‚im Bildfeld‘ Schweben aufheben sollten, verhalten sich Altar, Säulen und Gebälk, Symposionsmöbel und die hängenden Gegenstände gegenüber Grundlinie, Bildfeld und dessen oberem Abschluss auf diesen Geländelinienbildern also ganz so, wie es für die in den bisherigen Unterkapiteln beschriebene Struktur

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Abb. 234 Ge übergibt Erichthonios der Athena. Zahlreiche Frauenfiguren wohnen dem Ereignis bei. Bauchlekythos des Meidias-Malers, Cleveland, Mus. of Art, 420–410

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des von Bildfeld und dessen Begrenzung konstituierten Bildraums typisch ist: ‚Fixelemente‘ wie Altäre und Architekturen sind an die Begrenzungslinien geknüpft, ebenso die Symposionsmöbel, wogegen Köcher und Bogen im Bildfeld hängen.432 Man sollte den Zufall dafür verantwortlich machen, stünde das Beispiel dieses Kelchkraters alleine. Doch stellt man bei einer Übersicht des Materials schnell fest, dass Altäre, wenn auch sie nicht ausnahmslos auf der Grundlinie stehen, so doch eine starke Tendenz haben, diese nicht zu verlassen. Auf der Grundlinie verbleibt denn auch der Altar auf der Meidiashydria in London, wiewohl alle Figuren im Gelände stehen. Selbiges ließe sich auch von anderen ‚steinernen Gegenständen‘ sagen: Auf einem bereits erwähnten Kelchkrater des Dinos-Malers in Bologna stehen das Louterion, das sich neben Atalante, und die palästratypische Stele mit darauf abgelegtem Gewand, die sich neben Hypomenes befindet, beide auf der Grundlinie (Abb. 223).433 Die Tendenz, die Grundlinie nicht zu verlassen, gilt auch für Architekturen: Auf der prächtigen Amphora panathenäischer Form des Talos-Malers in Tarent mit der Auffahrt des Herakles zum Olymp in der Quadriga mit Athena auf der einen Seite, Herakles vor Athena sitzend auf der anderen Seite und je einer Nike unter den Henkeln berührt kein Bildelement die Grundlinie, mit Ausnahme einer viersäuligen Architektur, die von einem Kalathos bekrönt ist (Abb. 236).434 Um sie mit der Grundlinie zu verbinden, wurde die Basis, welche wie die gesamte Architektur in einer Art Unteransicht wiedergegeben ist, nach unten verlängert. Da keine der Seiten der Basis parallel zur Grundlinie verläuft, wirkt das Ergebnis diese Operation etwas eigenartig, was vom Maler aber offenbar in Kauf genommen wurde.435

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Während Architekturglieder, Altäre, Louteria u.Ä. mit der Einführung der Geländelinien zumindest eine gewisse Mobilität im Bildfeld erlangen, bleibt die Bindung an die Grundlinie von tongrundigen Felsen fast ausnahmslos erhalten.436 Dies gilt nicht bloß für Bilder, auf denen lediglich tongrundige Felsen dargestellt sind, sondern auch für Geländelinienbilder. Auf einem Kelchkrater um 420 aus dem Kunsthandel mit dem Kampf zwischen Herakles und dem Kretischen Stier im Gelände liegt die Keule des Herakles auf einem tongrundigen Felsen auf der Grundlinie (Abb. 237).437 Auf einer Pelike aus dem Umkreis des Pronomos-Malers in Athen mit einer Gigantomachie setzt einer der Giganten seinen Fuß auf einen tongrundigen Felsen auf der Grundlinie (Abb. 238).438 Im vierten Abb. 235 Eine Muse hört in entspannter Haltung dem Lesevortrag ihrer Schwester zu. Anstelle von Geländelinien dient ihr ein Pfeiler als Stütze. Schale der Gruppe von Cambridge G 73, Cambridge, Fitzwilliam Mus., letztes Viertel 5. Jh.

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Abb. 236 Herakles sitzt vor einer viersäuligen Architektur, vor ihm Athena. Amphora panathenäischer Form des Talos-Malers, Tarent, Mus. Nazionale, um 420

Jahrhundert wird die Wiedergabe von tongrundigen Felsen entlang der Grundlinie in Geländelinienbildern häufiger, wie man es etwa auf einem Kelchkrater des Malers der Würzburger Amymone im Cabinet der Medailles mit einer Amazonomachie sieht.439 Während tongrundige Felsen also ihre Bindung an die Grundlinie beibehalten, wachsen Bäume und Pflanzen unterschiedslos aus Grund- und Geländelinien, wie es bereits die Pinie auf der Rückseite des Niobidenkraters zeigt. Damit bleiben Bäume und Pflanzen ihrer Mobilität im Bildfeld ebenso treu, wie Felsen ihrer Bindung an die Grundlinie. Schließlich bleiben Gegenstände, die im Bildfeld hängen ohne Angaben dazu, woran sie hängen, vollkommen geläufig. Auf einer Hydria aus dem Umkreis des Frauenbad-Malers in Berlin mit musizierenden Frauen (Musen?) im Gelände hängt ein Flötenfutteral im Bildfeld (Abb. 239).440 Auf einem weiteren Kelchkrater des Kadmos-Malers in Bologna hängen oberhalb eines Apollon Bogen und Köcher.441 Auf einem Kelchkrater desselben Malers in Syrakus mit Apollon und Marsyas hängen oberhalb des ersteren wieder Bogen und Köcher und oberhalb des zweiten ein Kantharos (Abb. 240).442 Schließlich hängt im Bildfeld einer Oinochoe in Agrigent mit Frauengemachsikonographie ein Aryballos oberhalb einer auf Geländelinien sitzenden Frau.443 An der Praxis, das Bildfeld um die Figuren mit Gegenständen zu besetzen, die zu diesen in Beziehung stehen, und diese Gegenstände einfach an der Vasenwand hängen zu lassen, hat die

Boden und Himmel/Grundlinie und Bildfeld

295 Abb. 237 Herakles ringt mit dem Kretischen Stier. Seine Keule liegt auf einem tongrundigen Fels an der Grundlinie. Kelchkrater, ehemals Basel, Kunsthandel, um 420

Abb. 238 Gigantomachie. Kleine tongrundige Felsen erscheinen an der Grundlinie. Pelike aus dem Umkreis des PronomosMalers, Athen, Nationalmuseum, um 400 (Rückseite: Abb. 456)

296

Bildinterne Untersuchung

Abb. 239 Vier musizierende Frauen (Musen?). Obwohl es sich um ein Geländelinienbild handelt, hängt ein Flötenfutteral im Bildfeld. Hydria aus dem Umkreis des FrauenbadMalers, Berlin, Antikensammlung, 430–420

Einführung der Geländelinien also nicht das Geringste geändert – was übrigens ein weiteres Mal zeigt, dass die Geländelinien die Vasenwand nicht zu Boden und Himmel werden lässt, sondern sie Vasenwand bleibt. An der Weise, wie Gegenstände, Architekturglieder und Landschaftselemente – deren Gegenstandscharakter erhalten bleibt – im Bildraum entsprechend der für sie maßgebenden Struktur von Grundlinie und Bildfeld disponiert werden, ändert sich im späten 5. Jh. also wenig, wenn auch die Zahl der Ausnahmen zunimmt. Bezüglich der Figuren sind die Veränderungen dagegen spürbarer. Die verschiedenen Modi der Beziehung zu Grundlinie und Bildfeld, in denen Figuren – je nachdem, ob sie die Grundlinie nur mit den Füßen oder mit dem gesamten Körper berührten, sie gänzlich von ihr gelöst waren oder nur zur Hälfte aus ihr hervorkamen – vormals stehen konnten, und die mit diesen Modi einhergehenden Charakterisierungen ihres Wesens oder ihrer Situation, verlieren mit der Einführung der Geländelinien progressiv ihre Relevanz. Auf dem Volutenkrater des Malers von Bologna 279 mit dem Kampf der Sieben gegen Theben Abb. 240 Wettstreit zwischen Apollon und Marsyas. Über Marsyas hängt ein Kantharos, über Apollon sein Bogen. Kelchkrater des Kadmos-Malers, Syrakus, Mus. Archeologico, um 420

Boden und Himmel/Grundlinie und Bildfeld

297 Abb. 241 Kampf der Sieben gegen Theben. Amphiaraos wird mitsamt seinem Wagen von der Erde verschluckt. Volutenkrater des Malers von Bologna 279, Ferrara, Mus. Nazionale di Spina, um 450

ragt der Wagen des Amphiaraos nur noch ein wenig über der Grundlinie hervor (Abb. 241).444 Dass auf diesem Bild eines unmittelbaren Nachfolgers des Niobiden-Malers nicht gemeint ist, dass der Wagen hinter einem Hügel hervorkommt, sondern dass er von der Erde verschluckt wird, ist daraus ersichtlich, dass es nicht eine Geländelinie, vielmehr die Grundlinie ist, hinter (bzw. unter) der der Wagen verschwindet. Dieser Unterschied zwischen der Grundlinie und den Geländelinien hält sich allerdings nicht lange. In den Bildern der Übergabe von Erichthonios an Athena aus dem späteren 5. Jh. kann Ge gleichermaßen von der Grundlinie, wie von einer Geländelinie hervorkommen. Ersteres ist der Fall auf einem Kelchkrater des Nikias-Malers vom Ende des 5. Jh. (Abb. 242),445 zweiteres auf einem Kelchkrater aus dem Umkreis des Talos-Malers in Palermo (Abb. 243).446 Während Geländelinien bei Bildern vom Anodos einer Gottheit also die Rolle der Grundlinie einnehmen können, ist mir der umgekehrte Fall, dass eine Figur, die von der Grundlinie überschnitten wird, statt in etwas zu verschwinden, lediglich hinter etwas stünde, nicht bekannt.447 Während das Verschwinden in, bzw. das Hervorkommen aus der Grundlinie zwar ihren Alleinvertretungsanspruch auf die Darstellung des Verschlucktwerdens oder des Anodos aus der Erde verliert, diese Bedeutungsmöglichkeit aber zumindest behält, verschleift sich die prägnante Bedeutung des die Grundlinie nicht Berührens, welches das Privileg eines Boreas, eines Hermes, von Eroten oder Niken war, vollkommen. Dass sich mit der Einführung der Geländelinien der Unterschied zwischen Figuren, die die Grundlinie berühren und solchen, die sie nicht berühren, relativiert, ist die reine Selbstverständlichkeit. Bemerkenswert ist dabei jedoch, wie weit dieser Prozess geht. Gemessen an ihrer großen Zahl in der Bilderwelt der Vasen des späten 5. Jh. ist es erstaunlich, dass man Eroten kaum

298 Abb. 242 Athena nimmt Erichthonios von der Erdgöttin Ge in Empfang. Sie setzt einen Fuß auf einen tongrundigen Felsen, während Ge aus der Grundlinie aufsteigt. Kelchkrater des NikiasMalers, Richmond, Virginia-Mus., Ende 5. Jh.

Abb. 243 Athena nimmt Erichthonios in Empfang. Hier taucht die Erdgöttin nicht von der Grundlinie sondern von einer Geländelinie auf. Kelchkrater aus der Nähe des Talos-Malers, Palermo Mus. Archeologico, Ende 5. Jh.

Bildinterne Untersuchung

Boden und Himmel/Grundlinie und Bildfeld

299

noch fliegen sieht. Das Beispiel des Kelchkraters des Dinos-Malers in Bologna soll genügen, um dieses Phänomen zu illustrieren (Abb. 223):448 Der Eros, der mit Aphrodite interagiert, hat zwar seine Flügel ausgebreitet und befindet sich, um mit Aphrodite auf Augenhöhe zu kommen, in erhöhter Position, doch anstatt auf dieser Höhe zu schweben, steht er auf einer Geländelinie, welche steil zu seinen Füßen hinaufgeführt wurde. Dasselbe geschieht mit den allermeisten Eroten, welche reizende Frauengestalten bedienen. Die Mobilität im gesamten Bildfeld, eine Fähigkeit, welche bis dahin geflügelten Figuren vorbehalten war, ist mit den Geländelinien Allgemeingut geworden, womit die Eroten, die um dieses Privileg gebracht wurden, aufhören zu fliegen. Die Unterscheidung zwischen Bindung an die Grundlinie und Mobilität im Bildfeld, welche für Gegenstände und Landschaftselemente noch bis zu einem gewissen Maße operativ geblieben war, fällt also als relevantes räumliches Strukturelement der Figuren weg. Indem durch die Einführung der Geländelinien das Verhalten der Figuren im Raum (der von ihnen angenommene Habitus in ihrer Umgebung) an figurativem Sinn, an Gestaltungs- und Variationsmöglichkeiten und somit an Interpretationsmöglichkeiten gewinnt, verliert deren Anordnung auf Grundlinie und Bildfeld an Bedeutung. Dies ist im zweiten Hauptteil näher zu untersuchen. Der Bedeutungsverlust des Verhältnisses der Figuren zu den raumgliedernden Elementen Bildfeld und Grundlinie geht einher mit einem Wandel dessen, was den Bildraum darstellt: Wie ich es in diesem Unterkapitel gezeigt habe, gehören die Geländelinien nicht zu den Figuren und Gegenständen, die den Bildraum bevölkern, sondern sind von diesen grundsätzlich zu scheiden und dem Bereich von Bildfeld und Grundlinie zuzuordnen. Gemeinsam mit Bildfeld und Grundlinie konstituieren sie den Raum der Figuren, mithin den Bildraum. Insofern Bildfeld und Grundlinie den Bildraum nicht mehr alleine vertreten, ist es nicht verwunderlich, dass sich das Verhältnis der Figur zum Raum nicht mehr in einem Verhältnis zu Grundlinie und Bildfeld erschöpft. Dem Verhältnis der Figur zu diesem neuen Bildraum kann dabei, anders als vor der Einführung der Geländelinien, durchaus ikonographische Bedeutung zukommen: Ein Krieger, der den Fuß auf eine erhöhte Geländelinie gesetzt hat, hat wahrhaftig auf unebenem Gelände Position bezogen. Die Geländelinie hat für das Verständnis dieser Figur eine unmittelbare ikonographische Relevanz, während der konkave ‚Boden‘ eines Schaleninnenbilds auch für die Figuren, die sich ihm in ihrer Haltung anpassen, keinerlei ikonographische Bedeutung hat. Die hier so oft betonte Aufrechterhaltung der Scheidung zwischen Figuren einerseits und Bildfeld andererseits, zu dem die Geländelinien gerechnet werden müssen, verhindert also nicht, dass diese beiden für das Vasenbild komplementären Kategorien sich in sich verändern:

300

Bildinterne Untersuchung

Sie lassen sich mit der Einführung der Geländelinien nicht mehr mit ebenso großer Schärfe als figurativer Teil und nicht-figurativer Teil des Bildes bezeichnen. Die nur sehr eingeschränkte figurative Qualität der Geländelinien enthält zwar noch viel von dieser vormals so klaren Unterscheidung von Figuren und Bildraum. Dennoch ist damit der Keim für eine landschaftliche Ausgestaltung des Bildraums gesetzt – ein Keim, der sich in der attischen Vasenmalerei nicht weiterentwickelt, doch zumindest die Möglichkeit solcher Entwicklung in anderen Gattungen aufzeigt. Als Fazit möchte ich noch auf eine außergewöhnliche weißgrundige Lekythos des Achilleus-Malers um 440 in München zu sprechen kommen (Abb. 244).449 Die Lekythos zeigt zwei weibliche Figuren, von denen eine auf der Grundlinie steht und die zweite kitharaspielend auf Geländelinien450 sitzt. Was dieses Bild unter allen anderen attischen Vasenbildern auszeichnet, ist, dass unterhalb der Geländelinie, auf der die Kitharaspielerin sitzt, die Inschrift „HLIKON“ erscheint, die somit nicht wie gewöhnlich eine Person oder einen Gegenstand, sondern einen Ort bezeichnet. Die Inschrift scheint zu beweisen, dass mit Geländelinien tatsächlich ein bestimmter Berg gemeint sein kann, was in eklatantem Widerspruch zu den bisherigen Ausführungen zu Geländelinien steht.451 Wenn diese Lekythos trotz ihrer offensichtlichen Wichtigkeit für unser Thema erst jetzt behandelt wird, geschieht dies lediglich aus der rhetorischen Erwägung heraus, dass diese vermeintlich so selbstverständliche Interpretation den Blick auf nicht ganz so selbstverständliche, an Geländelinien dafür aber hundertfach belegte Phänomene verstellen könnte. Würde man dieser vermeintlich so selbstverständlichen Lesart folgen, müsste das Geländeliniengebilde also die Darstellung des Berges Helikon sein. Die von den Geländelinien delimitierte Fläche wäre dann Berg, während der Rest der Bildfeldfläche kein Berg wäre. Säße also die Kitharaspielerin auf dem Berg Helikon, während sich die andere, ihr zuhörende Frau nicht auf dem Helikon befände? Nach dem, was in dieser Arbeit behauptet wird, dass nämlich der Ort eine Eigenschaft der einzelnen Figur sei, und es in einem vielfigurigen Bild demnach auch mehrere Orte geben könne, sollte das nicht undenkbar sein. Die Inschrift „Helikon“, welche einen Ort als Eigenschaft der darauf sitzenden Figur angibt, wäre dann als eine charakterisierende Beischrift der sitzenden Frau aufzufassen, von der gesagt würde, dass es sich um eine Muse handelt. Wenn man das Bild gemäß der typologischen Gebundenheit weißgrundiger Grablekythen betrachten und nach dem Muster des Besuchs am Grab verstehen möchte, wo stets eine (häufig auf einem Felsen sitzende)452 Figur die Verstorbene (bzw. den Verstorbenen) repräsentiert, wäre es nicht ausgeschlossen, dass bloß die auf den Geländlinien sitzende Frau eine Muse sei, die auf der Grundlinie stehende jedoch nicht.453 Die Verschiedenheit der Orte – bloß eine Figur

Boden und Himmel/Grundlinie und Bildfeld

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sitzt auf dem Helikon – wäre nur eine Weise, die Verschiedenheit der Figuren zu formulieren, und wäre mit dem gemeinsamen Auftreten der Figuren im selben Bild bestens in Einklang zu bringen, treffen sich auf weißgrundigen Grablekythen doch stets zwei Figuren, die keineswegs denselben Orten – dem Hades und der Welt der Lebenden – angehören.454 Die Inschrift liefert keine topographische Information, die besagen würde, dass die Geländelinien der Berg Helikon sind, und sich diese Muse darauf gerade befindet, sondern sie bezeichnet die Figur als Muse. Würde ihn die Inschrift nicht bezeichnen, wäre der Ort der sitzenden Figur nicht weniger der Helikon, weil sie eine Muse ist: Der Helikon steht für Apollon und die Musen, und genauso stehen die Musen für den Helikon. Hätte dies nur solange allgemeine Geltung, bis es eine Inschrift in einem Falle explizitiert? Die Inschrift „HLIKON“ macht weder die von den Geländelinien abgegrenzte Fläche, noch das Bild als Ganzes zum Helikon, sondern wiederholt auf die für Vaseninschriften typische tautologische Manier das, was die Figur ohnehin von sich ‚erzählt‘. Die Interpretation der Inschrift als einer Bezeichung der Geländelinien

Abb. 244 Eine Kitharaspielerin sitzt auf Geländelinien, während eine andere Frau auf der Grundlinie steht. Unter der Kitharaspielerin erscheint die Inschrift „Helikon“. Lekythos des AchilleusMalers, München, Antikensammlung, 440

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Bildinterne Untersuchung

als Darstellung des Berges Helikon trifft die Sache noch aus anderen Gründen nicht: Dass ein kleines Gebilde einen ganzen Berg meine, ist, wie es der Berg des Sisyphos auf der besprochenen Reihe später schwarzfiguriger Vasen zeigt, in der attischen Vasenmalerei keineswegs undenkbar. Doch trifft die Begrenztheit der Landschaftselemente, welche dies möglich macht, für das Geländeliniengebilde auf der Münchner Lekythos gerade nicht zu: Die Geländelinien, auf denen die Muse sitzt, umreißen keine geschlossene Fläche, sondern die ansteigende Linie endet rechts vollkommen unvermittelt und lässt offen, wo das Gebilde, das sie umreißt, aufhört. Das linke Ende der Geländelinie, auf dem ein Vogel sitzt, wird nicht bis zur Grundlinie verlängert.455 Auch dort schließt die Geländelinie die umrissene Fläche also gegenüber dem restlichen Bildfeld nicht ab. Die Geländelinien zeichnen keinen Gegenstand, und daher gibt es auf dem Bild auch nichts, das als Berg bezeichnet werden könnte. Ebensowenig wie die Inschrift „HLIKON“ einen Berg im Bildfeld bezeichnet, meint jedoch der Helikon, als kultureller Topos, einen bloßen Gebirgszug auf der Landkarte. Wie der Berg Ida, an dem Götter mit Menschen verkehren, das Pholoegebirge der Kentauren oder der dionysische Kithairon ist der Ort, an dem Hesiod die Dichterweihe erhält, in erster Linie ein Ort auf der ‚mythologischen Landkarte‘ Griechenlands.456 Dieser mythologische Topos nun ist es, den die Inschrift „HLIKON“ bezeichnet, bei dem es sich natürlich nicht zufällig um einen Berg und nicht etwa um eine landwirtschaftliche Nutzfläche handelt, für den aber vor allem die dort anzutreffenden Musen charakteristisch sind. Somit bezieht sich die Inschrift zuallererst auf die Muse, weil sie es ist, die den Musenberg Helikon figuriert, viel mehr als es die ‚leere‘ Geländelinie tut. Nun ist die Bezugnahme dieser Inschrift auf die dargestellten Figuren natürlich von anderer Art als eine Namensbeischift: Sie benennt weder eine Figur im Speziellen, noch eine Kollektivität von Figuren, wie es die Inschrift „HORAI“ im Götterzug auf dem Klitiaskrater tut.457 Obwohl sie inhaltlich viel mehr mit der Figur der Muse zu tun hat als mit der ‚leeren‘ Geländelinie, benennt die Inschrift schließlich einen Berg. Zu sagen, die Inschrift benenne das von den Geländelinien Bezeichnete, enthält also trotz des obigen Ausführungen einen Teil Wahrheit. Die scheinbar widerstreitenden Aussagen, die Inschrift beziehe sich zwar auf die Figur, benenne aber das Geländeliniengebilde, werden durch den beschriebenen eigentümlichen Charakter der figurativen Qualität von Geländelinien zusammengeführt: So wie Geländelinien allgemein zu Felsen nur durch eine Figur werden, die ihren Fuß darauf setzt, und zum Hügel nur durch die Figur werden, die hinter ihr erscheint, werden auch auf der Münchner Lekythos die Geländelinien nur durch die Muse zum Berg Helikon und werden auch nur in ihrer Verbindung mit dieser als solcher benannt. Der Ort hat Substanz nur in der Figur.

Teil II: Semantische Untersuchung

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Vorbemerkungen

Vorbemerkungen

Zur Unterscheidung von bildinterner und semantischer Untersuchung Es ist ein Leichtes, die Unterscheidung von bildinterner und semantischer Untersuchung, auf welcher die Kapitelstruktur dieser Arbeit beruht, zu dekonstruieren: Die Phänomene, die im vorhergehenden, „bildinternen“ Teil der Untersuchung herausgearbeitet wurden, waren ja keineswegs sinnfrei. Zum Beispiel hatte sich gezeigt, dass mit der scheinbar rein formalen Beobachtung, dass Felsen in ihrer Anordnung auf Vasenbildern an die Bildfeldbegrenzung gebunden sind, Zweige dagegen frei im Bildfeld wachsen können, damit korrespondiert, dass Felsen im Bild Fixelemente sind, Zweige dagegen dynamische Elemente, welche die Assoziation Bewegung und Wachstum wecken können.1 Vor allem aber ließ sich kaum eine der dort getroffenen Aussagen, seien sie auch noch so formal, ohne Rekurs auf den Sinn des Dargestellten aus den Bildern herleiten. Die Felsen, auf die Sisyphos seinen Stein wälzt, wurden nur dadurch zu Beispielen für die räumliche Begrenztheit von Landschaftselementen, dass der Sinn des Dargestellten sie als Berge erwies, welche dennoch als räumlich abgeschlossene Felsen dargestellt wurden.2 Umgekehrt kann man fragen, wie die Semantik eines Bildes etwas anderes als bildintern sein sollte, da es doch das Bild ist, durch welches sie konstituiert wird. Die Vorstellung, auf der die Unterscheidung bildinterner und semantischer Untersuchung beruht, nach der man ein Bild auflösen könnte in eine vollkommen sinnfreie Struktur einerseits und einen Sinn andererseits, der ganz von seinem Medium und der ihm eigenen Struktur gelöst wäre, wird dem Gegenstand der Untersuchung, der attischen Vasenmalerei, sicherlich nicht gerecht. Dass die ‚Aussage‘ eines Bildes immer medial gebunden bleibe, ist jedoch mittlerweile eine bildwissenschaftliche Binsenweisheit, bei der ich mich nicht länger aufhalten möchte. Stattdessen möchte ich zeigen, inwiefern die genannte Unterscheidung – als graduelle und nicht prinzipielle – dennoch legitim ist. Die Erforschung von Bildern

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Semantische Untersuchung

kann immer zwei Zwecken dienen: Entweder man interessiert sich dafür, was die Bilder über die Kultur eröffnen, in der sie entstanden sind, oder man interessiert sich dafür, was die Bilder selbst für diese Kultur sind.3 In letzteres Interesse ordnet sich der vorhergehende Teil der Arbeit ein. Im Folgenden soll ersteres Interesse verfolgt werden. Dabei ist es offensichtlich, dass beide Perspektiven sachlich nicht voneinander zu trennen sind, da die Antwort auf die Frage, was für die Athener des 6. und 5. Jh. ein Bild ist, und wie sich diese Bildkonzeption ggf. verändert, selbst schon integrierender Bestandteil dieser Kultur ist. Umgekehrt können Bilder erst dann etwas über die Kultur eröffnen, in der sie entstanden sind, wenn die allgemeine Bildkonzeption dieser Kultur ‚geklärt‘ ist. Das eine Interesse lässt sich also nicht ohne das andere verfolgen. Dennoch haben beide Formen des Interesses an Bildern eine verschiedene Ausrichtung, weswegen es unter dem Gesichtspunkt der rhetorischen Klarifizierung des Textes gerechtfertigt scheint, das mediale und das inhaltliche Interesse nicht gleichzeitig sondern nacheinander zu verfolgen. Dieses Nacheinander scheint im Falle der Landschaftselemente insbesondere deshalb geboten, weil die Loslösung von der uns intuitiven, modernen Vorstellung vom Bildraum und die Darlegung der Regeln, welche die Anordnung der Landschaftselemente im Bildraum der athenischen Vasen bestimmen – also das, was im vorhergehenden Teil versucht wurde –, einen einigermaßen stringenten Text erfordert, der, um verständlich zu bleiben, möglichst wenig durch inhaltliche Interpretationen unterbrochen werden sollte, auch wenn sie mancherorts sachlich angebracht wären. Damit dieses Nacheinander der medialen und der inhaltlichen Untersuchung – die ja beide am selben Gegenstand geführt werden und sachlich nicht zu trennen sind – nicht zum methodischen Problem werde, ist es entscheidend, die eine Perspektive nicht gegen die andere auszuspielen, sondern sich beide gegenseitig befruchten zu lassen. Dass ein in der Verwendung von Felsen beobachtetes Phänomen eine bildinterne Interpretation findet, schließt keineswegs aus, dass dieselben Felsen in einem anderen Zusammenhang eine inhaltliche Deutung erfahren. Im Gegenteil: Erst die mediale Erklärung des Phänomens eröffnet den Weg zu einer sicheren inhaltlichen Deutung. Wie die bildinterne Erklärung der Verwendungen von Landschaftselementen deren sachgerechte inhaltliche Deutung überhaupt erst ermöglicht, möchte ich im Folgenden an einigen Beispielen zeigen.

Die bildinterne Untersuchung als Interpretationsanleitung Eine der Ikonographien, in denen die größte Dichte an Landschaftselementen auftritt, sind zweifellos die Theseus-Zyklusschalen. Wer wäre

Vorbemerkungen

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nicht versucht, auf Vasen wie der Onesimos-Schale im Louvre mit ihren zahlreichen und voluminösen Felsen und Bäumen eine Darstellung rauer Bergwildnis zu erkennen, durch die wandernd Theseus alle möglichen Kämpfe zu bestehen hat (Abb. 48)?4 Dasselbe ließe sich zu einigen Parisurteilen des frühen 5. Jh. sagen: Wie sollte man die Berliner Parisurteilsschale des Makron mit dem von aufgeregten Ziegen umringten Fels nicht als Darstellung bukolischer Berglandschaft lesen (Abb. 27)?5 Es fiele nicht schwer, von solchen Beispielen aus auf die Entstehung einer Ikonographie der rauen Berglandschaft im frühen 5. Jh. zu schließen, und somit das ‚Dogma‘ in Frage zu stellen, nach dem Natur kein Thema der vermeintlich so anthropozentrischen griechischen Kunst sei. Dies wäre ein Untersuchungsergebnis, das dem Anspruch, durch die Analyse der Bilder etwas über die griechische Kultur allgemein zu erfahren, voll und ganz genügen würde. Wie ich es kurz ausführen möchte, fordern die Ergebnisse des vorhergehenden Teils allerdings eine andere Herangehensweise: Auf beiden genannten Schalen sind sämtliche Landschaftselemente je einer bestimmten Figur zugeordnet: An den Bäumen der Onesimos-Schale hängen Gewand und Schwert je eines der vier Theseusfiguren. Für das Felsenbett des Prokrustes und den Felsen des Skiron ist die Zuordnung an eine bestimmte Figur noch evidenter. Ebenso sind die landschaftlichen Elemente Fels und Ziegen auf der Makronschale um die Figur des Paris konzentriert. Dass nun diese Zuordnung der Landschaftselemente an bestimmte Figuren und nicht an einen allen Figuren gemeinsamen Raum nicht nur ein Charakteristikum dieser beiden Schalen ist, sondern eine allgemeine Regel darstellt, wurde zur Genüge ausgeführt.6 Daher darf eine semantische Untersuchung die Landschaftselemente auch auf scheinbar so ‚landschaftlichen‘ Bildern wie den genannten bloß im Zusammenhang mit den jeweils zugehörigen Figuren interpretieren: Nicht Räume, sondern Figurengruppen, nicht die raue Natur, sondern gesetzeslose Räuber und der Hirte Paris werden charakterisiert. Ein weiteres Beispiel, an dem sich zeigt, wie sehr die bildinterne Untersuchung adequate inhaltliche Interpretationen überhaupt erst ermöglicht, sind die Geländelinienbilder des späten 5. Jh. Wollte man die Bilder mit vertikal gestaffelten Figuren sämtlich als Bilder eines Hügel- oder Berghangs verstehen, an dem die Figuren sich befinden, und diese ‚Landschaft‘ semantisch charakterisieren, käme man in große Schwierigkeiten: Welche Spezifizität könnte diese ‚Landschaft‘ noch haben, wenn sich darin unterschiedlos alle möglichen Ikonographien ausbreiten, und Geschehnisse abspielen?7 Um gleichermaßen den Thiasos des Dionysos, Aphrodite und ihre Begleiterinnen und die (seltener gewordenen) Heroenkämpfe aufnehmen zu können, dürfte sie wohl überhaupt keine ausgeprägte eigene Semantik transportieren. Erst die bildinterne Untersuchung, die gezeigt hat, dass sich die Geländelinienbilder viel besser als

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Semantische Untersuchung

Kompositionsweise fassen lassen, denn als Landschaft, befreit einen von dieser vollkommen unfruchtbaren Fragestellung und führt die Interpretationsbemühungen auf die Felder, wo es etwas zu finden gibt: Weniger der Raum selber als die Weise, wie sich die Figuren in diesen einfügen – der von ihnen angenommene Habitus in ihrer Umgebung – erfährt durch die Einführung der Geländelinien eine größere Gestaltungsvielfalt und ruft nach einer inhaltlichen Interpretation.8 Auch im Falle der Geländelinien können die Landschaftselemente eine semantische Deutung also bloß im Zusammenspiel mit den Figuren erfahren. Ginge man mehr ins Detail, ließen sich viele weitere entsprechende Beispiele finden, doch wäre eine solche Übung zwecklos, da man damit nur auf kommende Kapitel vorgreifen würde. Das Prinzip ist wohl bereits deutlich geworden: Die bildinterne Untersuchung ermöglicht es, die Phänomene überhaupt erst klar zu umreißen und zu beschreiben, die Gegenstand einer semantischen Untersuchung werden können.

Fruchtbare und unfruchtbare Untersuchungsgegenstände Nun bieten allerdings nicht alle in der Verwendung von Landschaftselementen und deren Veränderung in der Zeit beobachteten Phänomene gleichviel Stoff zu inhaltlichen Deutungen. Das lässt sich an einem der aufälligsten Entwicklungen in der Verwendung von Landschaftselementen, der ‚Inflation der Zweige‘ in der schwarzfigurigen Vasenmalerei des späten 6. und frühen 5. Jh., zeigen: Sie lehrt einem gewiss viel darüber, was Zweige in der Vasenmalerei sind, nämlich lebendige, wuchernde, bewegte Gebilde, darüber, was Vasenbilder sind, nämlich figurativ gefüllte Flächen oder – etwas großspuriger ausgedrückt – verlebendigte Vasenwand, und darüber, wie sich die Einführung der rotfigurigen neben der weiterbestehenden schwarzfigurigen Bemalungstechnik konkret auf die Bilder auswirkt. Dagegen eröffnet sie kaum etwas Neues über den Gott Dionysos und die Werte, welche mit ihm und ‚seinem Fest‘, dem Symposion, verbunden sind. Wäre Dionysos um die Mitte des 6. Jh. weniger ein Gott des Weins und der Vegetation, als er es um 500 ist? Das wäre wohl eine allzu einfache Interpretation der ‚Inflation der Zweige‘, zumal man dann zwischen einem schwarzfigurigen und einem rotfigurigen Gott unterscheiden müsste. Und wollte man, um die Unterschiede zwischen gleichzeitigen rotfigurigen und schwarzfigurigen Bildern zu überbrücken, die Wildheit des Thiasos in den spätarchaischen rotfigurigen Bildern mit dem Wildwuchs der Zweige im Schwarzfigurigen parallelisieren, begäbe man sich auf allzu spekulatives Terrain, wo Aussagen bloß vorgefasste Meinungen bestätigen, nicht aber entgegengesetzte Meinungen widerlegen können. Viel überzeugender ist es, die ‚Inflation der Zweige‘ als einen Wandel

Vorbemerkungen

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in der bildlichen Formulierung von etwas zu verstehen, was davor und danach genauso aktuell war: Wein und Efeu waren von der Archaik bis in die Spätantike Attribute des Dionysos. Schwankungen in der ‚Intensität‘ dieses Attributverhältnisses zu registrieren, hätte wohl kaum einen größeren Erkenntnisgewinn, als das mal stärkere, mal schwächere Surren eines Kühlschranks mit einem Seismographen aufzunehmen. Interessant ist die ‚Inflation der Zweige‘ für uns vor allem als mediales Phänomen. Damit sei aber keinesfalls behauptet, dass die ‚Inflation der Zweige‘ inhaltsleer sei! Als Veranschaulichung des Wirkens des Dionysos, der Wein und Efeu wachsen lässt, entspricht das Motiv der freischwebenden Zweige bestens dem, worum es beim Schmuck von Symposionsvasen geht. Schließlich ist das Symposion selbst Wirken des Dionysos in actu. Auch insofern Efeu oder sonstige Zweige in Form der Bekränzung das zwingende Requisit eines jeden Festes ist,9 passen die freischwebenden Zweige wie kein anderes Motiv zur festlichen Ausstattung des Symposions. Die Symposionsgefäße selbst sind auf manchen Darsellungen bekränzt.10 Schließlich lassen sich manche Ornamentbandtypen als Bekränzungen der Vase verstehen.11 Was transportiert also die Werte des weinseligen Festes besser, als den Efeu auch in den Bildern sprießen zu lassen? Wenn man die Vasenbilder als das betrachtet, was sie sind, nämlich Teil der luxuriösen Ausstattung des Trinkgelages, sind die freischwebenden Zweige nichts weniger als inhaltsleer. Doch ist die tautologische Aussage der Festlichkeit des Festes nicht die Art von Inhalt, für die wir uns (legitimerweise) zuvorderst interessieren, genauso wie uns die Ornamente der Vasen weitaus weniger interessieren als deren figürlicher Schmuck, obwohl diese einen erheblichen Teil der Dekoration ausmachen und dem Ziel jeder Vasendekoration, aus einem bloßen Gebrauchsgegenstand einen kostbaren, schönen, luxuriösen Gebrauchsgegenstand zu machen, viel unmittelbarer dienen als die Figuren. Wenn die ‚Inflation der Zweige‘ hier also unter die weniger fruchtbaren Gegenstände inhaltlicher Deutung gerechnet wird, dann nicht aus einer indigenen Perspektive, sondern lediglich aus der Perspektive unseres spezifischen Interesses an der griechischen Kultur. So wie die freischwebenden Zweige, denen in der bildinternen Untersuchung viel Raum eingeräumt wurde, in der semantischen Untersuchung eine weniger prominente Stellung innehaben werden, werden auch andere Ikonographien in beiden Teilen eine je unterschiedliche Gewichtung erfahren. Ein umgekehrter Fall, in dem einer Ikonographie in der semantischen Untersuchung mehr Aufmerksamkeit zukommen wird, ist die Verwendung von Bäumen und Felsen als Waffen: Während dieser sehr häufige Gebrauch von Landschaftselementen im bildinternen Teil lediglich als Beispiel für deren Mobilität fungierte, wird dieser in der semanti-

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Semantische Untersuchung

schen Untersuchung eine enscheidende Rolle für das Unterkapitel spielen, das „Heteronome Landschaftselemente“ betitelt ist. Doch muss hier nicht weiter ausgeführt werden, was ich unter einem fruchtbaren Untersuchungsgegenstand verstehe; dies wird sich in der folgenden Untersuchung schließlich zeigen.

Heteronome Landschaftselemente

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Heteronome Landschaftselemente

Bäume und Felsen als Waffen Bis zur Mitte des 6. Jh. treten Bäume und Felsen fast ausschließlich als Waffen auf. Auch in den letzten Jahrzehnten des 6. Jh., als sich die Ikonographien, in denen Landschaftselemente Verwendung finden, vervielfältigen, bleibt diese Verwendung sehr stark vertreten. Möchte man verstehen, wofür die Landschaftselemente stehen, die zum Ende des 6. Jh. hin in viele Ikonographien Einzug halten, führt kein Weg daran vorbei, zuerst deren Verwendung als Waffen und die Prägung zu untersuchen, die diese Bildmotive durch ein halbes Jahrhundert solchen ikonographischen Gebrauchs erfahren haben. Die allgemeine semantische Struktur, innerhalb welcher Bäume und Felsen als Waffen funktionieren, zeigt sich in aller Deutlichkeit auf dem Klitias-Krater. Die Mitte des Kentauromachiefrieses wird von einem Kämpferpaar eingenommen, das auf exemplarische Art und Weise den Kampf der Lapithen und Kentauren vorführt (Abb. 245):1 Der hoplitisch gerüstete Lapith schwingt in breiter Schrittstellung seine Lanze und hält den Schild vor seinen Körper. Dieser sowohl offensiven als auch defensiven Kampfeshaltung steht die einseitig offensive Kampfeshaltung des Kentauren entgegen, der wie die meisten seiner Artgenossen den Boden nur mit den hinteren Hufen berührt und auf seinen Gegner zuprescht. Er hält in beiden Händen eine Pinie, mit der er wohl mehr zum Schlag als zum Stich ausholt, wobei der Baum durch seine ungestüme Handhabung die Grenze zum oben anschließenden Theseusfries deutlich überschreitet.2 Die Gegenüberstellung beider Kampfesweisen wird durch ‚sprechende‘ Namensbeischriften auf den Punkt gebracht: Der Lapith heißt HOPLON, „Waffe“, während dem Kentaur PETRAIOS, „Der Felsige“, beigeschrieben ist.3 Auf den ersten Blick können diese Namensgebungen verwundern: (1) Warum wird gerade ein Kentaur „Der Felsige“ genannt, der statt mit Felsen mit einer Pinie kämpft? (2) Wenn der Lapith „Waffe“ heißt, wird sein Gegner also implizit als nicht bewaffnet bezeichnet, ob-

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Abb. 245 Kentauromachie. Volutenkrater des Klitias, Florenz, Mus. Archeologico, um 570

Semantische Untersuchung

wohl er mit seiner Pinie dem Lapithen offenbar gefährlich wird. Dies lehrt uns, dass mit Waffe nicht nur ein durch entsprechende Handhabung bedrohlicher Gegenstand, sondern ein für den Zweck des Krieges spezialisierter Gegenstand gemeint ist. Insofern nun weder Bäume, noch Felsen diesem Kriterium genügen, sind sie innerhalb der Antithese, welche durch den Lapithen und den Kentauren dargestellt wird, austauschbar. Daher ist in Gegenüberstellung mit dem Lapithen „HOPLON“ „PETRAIOS“ auch für den Kentauren, der mit einem Baum kämpft, ein passender Name. Die Einfachheit und die Deutlichkeit der ideologischen Gegenüberstellung dieses zentralen Kämpferpaares geben ein Muster vor, nach dem die Kentauromachie insgesamt zu lesen ist. Der Stein, den der rechteste Gegner des Kaineus in der Hand hält, trägt eine Inschrift, von der nur noch die zwei letzten Buchstaben, „OS“, erhalten sind. Auch wenn die Endung o« kaum unspezifischer sein könnte, ist eine Ergänzung zu LIUOS sehr wahrscheinlich,4 da der verfügbare Platz auf dem Fels ein Wort dieser Länge fordert und die Inschrift außerdem nichts anderes als eben diesen Felsen bezeichnen kann.5 Welchen Grund gab es, die offensichtliche Tatsache, dass es sich um einen Felsen handelt, durch eine Inschrift hervorzuheben? Es wird dadurch betont, dass die Waffe des Kentauren gerade nicht ein ƒplon, sondern ein bloßer l›ùo« ist. Die ƒpla der Lapithen garantieren als spezialisierte Kriegswerkzeuge die Unterscheidung des Friedens- und des Kriegszustands und bannen auf diese Weise die kriegerische Gewalt in letzteren Zustand. Dementsprechend ist der Übergang vom einen in den anderen Zustand von entscheidender Bedeutung: Durch das gesamte 6. Jh. hindurch ist die Rüstung des Kriegers ein in verschiedenen Gattungen häufiges Bildthema.6 Das Anlegen der Rüstung ist dabei weniger als ein Bedecken des Körpers zu verstehen, denn als eine Art Identitätstausch, ein Wechsel in den Körper des Kriegers zu verstehen, bei dem Waffen und Rüstung integrierender Bestandteil sind.7 Bei den Kentauren ist die Gewalt dagegen unmittelbarer Ausdruck ihres wilden, unbeherrschten Wesens und durch nichts von einem friedlichen Normalzustand getrennt. Daher bedienen sie sich nicht eigens für diesen Zweck bestimmter Waffen, sondern dessen, was sie zufällig umgibt: Bäume und Felsen.8

Heteronome Landschaftselemente

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Zusammenfassend kann man also sagen, dass das Entscheidende an den Bäumen und Felsen der Kentauromachie des Klitias-Kraters ist, dass sie keine Waffen sind. Dabei ist die Antithese zwischen den Waffen der Lapithen und den Bäumen und Felsen der Kentauren Teil einer Gegenüberstellung zweier Weisen zu kämpfen, einer geregelten, gesellschaftlich sanktionierten und einer regellosen, dem Affekt entspringenden. Es handelt sich somit um eine ethische Gegenüberstellung. Nun ist es in unserem Kontext interessant, dass von den übrigen Namensbeischriften der Kentauren, die ebenso sprechend sind wie die besprochene PETRAIOSInschrift, neben eindeutig ethisch charakterisierenden Namen wie AGRIOS („Der Wilde“), den einer der Kentauren trägt, welche Kaineus in den Boden rammen, oder ANTIMAXOS für einen der Lapithen, einem Namen mit heroischem Klang, andere Namen stattdessen auf eine bestimmte Herkunft oder ein Lebensumfeld Bezug nehmen, wie der Name HYLAIOS („Der Waldige“) eines anderen Gegners des Kaineus oder der des Kentauren am rechten Rand des Frieses, OROSBIOS, „Der auf dem Berg lebende“. Der Maler bedient sich für die Charakterisierung der Kentauren also auch des konnotativen Spektrums des Berges und des Waldes, mithin des unkultivierten Landes.9 Nun wäre es absurd, nicht auch Pinien und Felsen mit diesem konnotativen Spektrum in Verbindung zu bringen: Pinien sind keine Nutzpflanzen, ebensowenig wie unbehauene Felsen für sich genommen einen Zweck haben. Wald und Berg stehen zum kultivierten Land wie Pinien und Felsen zu hergestellten Waffen. In die ethische Gegenüberstellung der Lapithen und Kentauren, die in ihren jeweiligen Waffen, bzw. nicht-Waffen kondensiert ist, passt der Rekurs auf die wilde Natur also problemlos hinein. Ausführungen über die symbolische Struktur des Raumes, der unterteilt ist in den Raum der Polis einerseits, der sowohl die eigentliche Stadt als auch die landwirtschaftlich genutzten Flächen umfasst, und den Rändern dieses kultivierten Raumes, den ösxata, andererseits,10 und die Vorstellungen, die mit diesen Räumen jeweils verbunden sind, wären an dieser Stelle also keineswegs verfehlt. Doch ist es entscheidend, dass der Fokus in diesem Bild nicht darauf liegt, sondern diese symbolische Struktur des Raumes vom Maler nur implizit vorausgesetzt ist.11 Die wilde Natur ist in dem Bild nicht als klar definier-

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Semantische Untersuchung

Abb. 246 Kentauromachie. Die Felsen, welche die Kentauren werfen, sind ausgesprochen gerundet. Tyrrhenische Amphora des Castellani-Malers, Frankfurt, Mus. für Vorund Frühgeschichte, 570–560

tes Konzept und schon gar nicht als Landschaft präsent. In dem Bild interessiert nicht die wilde Natur, sondern die Kentauren sowie deren Verhalten und vor allem ihr Kampf mit den Lapithen, wofür der Rekurs auf die wilde Natur nur ein (untergeordnetes) Mittel der Darstellung ist. Ich möchte behaupten, dass sich an der semantischen Struktur, in der die Bäume und Felsen auf dem Klitiaskrater funktionieren, im Schwarzfigurigen zumindest in der Allgemeinheit, in der sie hier beschrieben wurde, wenig ändert: Die Landschaftselemente, die als Waffen verwendet werden, beziehen ihre Bedeutung nicht aus sich selbst, sondern aus dem Gegensatz zu den Waffen der Lapithen und der Tatsache, dass sie eben gerade keine Waffen sind. Der ikonographische Gebrauch der Bäume und Felsen ist heteronom von den Waffen der Lapithen her bestimmt, denen sie gegenübergestellt werden. Dieser Gebrauch der Bäume und Felsen als ‚Antiwaffen‘ schlägt sich in der formalen Ausgestaltung insbesondere der Felsen nieder: Die Felsen auf dem Klitiaskrater weisen alle denselben ovalen Umriss auf und sind meist mit weißer Farbe übermalt. Diese einfache Form ohne Binnenzeichnung steht in Gegensatz zur detailreich gemalten Bewaffnung der Lapithen. Der Ästhetisierung der hoplitischen Bewaffnung steht keine entsprechende Ästhetisierung der Felsen der Kentauren gegenüber. Dies ist ein direkter Ausdruck ihrer heteronomen Bestimmtheit, welche keinerlei ‚felsiges‘ ästhetisches Eigenleben der Felsen beförAbb. 247 Herakles bezwingt Nessos. Der Fels, den jener hält, hat keinerlei Ecken und Kanten. Tyrrhenische Amphora, New York, Kunsthandel, um 560–550

Heteronome Landschaftselemente

315 Abb. 248 Kampf der Kentauren gegen Kaineus. Der Fels, mit dem der rechte Kentaur ausholt, bildet ein regelmäßiges Oval. Amphora des SchaukelMalers, Paris, Institut d’Art et d’Archéologie, 530–520

dert. Die einfache, gerundete Form der Felsen erhält sich in den folgenden Jahrzehnten. Auf einer tyrrhenischen Amphora in Frankfurt wirkt der Umriss der Felsen der Kentauren fast mit dem Zirkel gezogen (Abb. 246).12 Nicht mehr ganz so rund, aber dennoch ohne jegliche Kante oder Ausbuchtung ist der Umriss des Felsens, den der Kentaur Nessos auf einer späten tyrrhenischen Amphora aus dem New Yorker Kunsthandel hält (Abb. 247).13 Ein vollkommen regelmäßiges Oval zeichnet der Schaukelmaler auf einer Bauchamphora in Paris (Abb. 248).14 Im weiteren Verlauf des 6. Jh. bekommen die Felsen zwar einen etwas unregelmäßigeren UmAbb. 249 Zwei Kentauren kämpfen gegen Kaineus. Halsamphora der Gruppe von Toronto 305, Vatikan, Mus. Gregoriano Etrusco, um 520

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Semantische Untersuchung

riss, doch bleibt das morphologische Variationsspektrum immer noch gering. Eine Halsamphora aus dem Umkreis des Antimenes-Malers im Vatikan zeigt das Maximum an formaler Differenziertheit der Felsendarstellung, das im Schwarzfigurigen möglich ist (Abb. 249):15 Der Fels, den der Kentaur links von Kaineus in den Händen hält, ist in drei Wölbungen unterteilt, deren Volumen durch wenige Ritzungen ins Deckweiß angedeutet ist. Typische morphologische Eigenschaften von Felsen, etwa ihre aleatorische Form, spitze Kanten, Wölbungen oder eine raue Oberfläche, finden wenig Ausgestaltung. Die Signifikanz dieses Phänomens wird vor allem deutlich, wenn man die rotfigurigen Felsen des frühen 5. Jh., wo diese morphologischen Eigenschaften in die Typologie Einzug erhalten, als Vergleich hinzuzieht, was im weiteren Verlauf der Arbeit geschehen soll.16 Bezüglich der als Waffen verwendeten Bäume ist die typologische Gleichförmigkeit nicht geringer: Während der Baum, den der Kentaur petraÖo« auf dem Klitiaskrater hält, noch eine Abzweigung aufweist, etabliert sich in der Folgezeit eine Form mit geradem Stamm und zu beiden Seiten symmetrisch nach oben gebogenen Zweigen. Auffällig an dem oben besprochenen zentralen Kämpferpaar des Kentauromachiefrieses des Klitiaskraters ist schließlich die vollkommene Kräftesymmetrie der beiden Kontrahenden: Beide holen zum Schlag, bzw. Stoß aus. Wer die Oberhand behalten wird, bleibt offen. Diese Kräftesymmetrie zwischen den ethisch so gegensätzlich charakterisierten Kentauren und Lapithen bleibt in den Kentauromachien die Regel,17 anders etwa als bei Kentaurenkämpfen des Herakles, wo dieser stets eine unumstrittene Überlegenheit zeigt.18 Die Bäume und Felsen, derer sich die Kentauren in ihrem Kampf mit den Lapithen bedienen, stehen den hoplitischen Waffen bezüglich ihrer Gefährlichkeit also in nichts nach. Die ethische Differenzierung der Kampfesweisen, für die die Bäume und Felsen einerseits und die hoplitischen Waffen andererseits stehen, geht in den Kentauromachien also nicht einher mit einem Überlegenheitsdiskurs der Kultur der ordentlich bewaffneten Lapithen über die Wildheit der Kentauren. Die Konfrontation mit den kulturlosen Kentauren, die im Mythos natürlich immer mit dem vollständigen Sieg der die Gemeinschaft der Griechen repräsentierenden Lapithen endet, wird in den Vasenbildern als ernste Herausforderung begriffen. Die Bedrohlichkeit der kämpfenden Kentauren bekommt dabei ihren Ausdruck nicht zuletzt in den riesigen Dimensionen der Felsen, mit denen sie hantieren, und die somit ihre übermenschliche Kraft demonstrieren. Während die Felsen der Kentauren auf dem Klitiaskrater teilweise noch einigermaßen handliche Dimensionen aufweisen, sprengen sie in späteren schwarzfigurigen Bildern in vielen Fällen jedes menschenmögliche Maß, wie man es beispielsweise auf einer Halsamphora in Leiden mit zwei Kentauren um den versinkenden Kaineus sieht (Abb. 250).19 Die unbändige Kraft der Kentauren, die in literarischen

Heteronome Landschaftselemente

317 Abb. 250 Zwei Kentauren bekämpfen den schon zum Teil im Boden versunkenen Kaineus. Die Felsen der Kentauren übersteigen jedes menschenmögliche Maß. Halsamphora aus der Nähe der Gruppe von Toronto 305, Leiden, Rijkmuseum van Oudheden, um 520

Abb. 251 Herakles bedroht den mit Deianeira davonreitenden Nessos. Die Steine, welche Nessos hält, sind kaum furchteinflößend. Amphora der Gruppe von Princeton, München, Antikensammlung, um 530

Schilderungen durch das Ausreißen der Pinien mit bloßen Händen20 ausgedrückt werden kann, wird im Bild durch in den Händen gehaltene Pinien nicht so unmittelbar deutlich, da diese Pinien durch die Zwänge des Mediums die Ausmaße von Weihnachtsbäumen kaum übersteigen können. Damit mag es zusammenhängen, dass sich das Motiv der als Waffe verwendeten Felsen – die in Schriftquellen bis zum 1. Jh. v. Chr. gar nicht erwähnt werden21 – im Schwarzfigurigen größerer Beliebtheit erfreut als das der Bäume.22

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Semantische Untersuchung

Während Kentauren im Kampf mit Lapithen nur selten faustgroße Steine in den Händen halten, oft Felsen schleudern, die ein Mensch nur mit größter Mühe vom Boden lupfen könnte, aber auch problemlos mit tonnenschweren Felsen hantieren, hält der mit Deianeira davonreitende Kentaur Nessos, wenn er von Herakles angegriffen wird, fast ausschließlich kleine Steine.23 Auf einer Bauchamphora um 530 in München hält Nessos in jeder Hand einen Stein von kleiner, bzw. mittlerer Größe (Abb. 251).24 Obwohl Herakles nur von hinten auf ihn zuschreitet und ihn noch gar nicht berührt, ist er schon halb zu Boden gesunken. Der vor dem übermächtigen Herakles fliehende Nessos leistet keinerlei effektive Gegenwehr. Die Steine, welche er vor seinen Bauch hält, werden nicht in einer Weise gebraucht, die dem Herakles gefährlich werden könnte. Gleichwohl signalisieren seine angewinkelten Arme Bewegung. Nessos tut also etwas mit den Steinen, auch wenn er es nicht schafft, sie effektiv gegen Herakles einzusetzen. Diese intensive, aber ineffektive Bewegung ist für die Darstellungen des Nessos typisch und findet eine besonders überzeugende Form in einem häufig verwendeten Haltungsschema, das etwa auf einer Bandschale um 550 erscheint25 und an das Knielaufschema erinnert, welches ein Maximum an Bewegung signalisiert. Der von Herakles verfolgte Nessos hält seine Arme in entgegengesetzte Richtung, einmal nach unten und einmal nach oben angewinkelt, und hat in jeder Hand einen faustgroßen Stein. Seine Bewegungen gehen somit in alle vier Himmelsrichtungen, statt zielgerichtet gegen seinen Gegner orientiert zu sein. In selber chiastischer Haltung der Arme und wieder mit Steinen in den Händen ist Nessos auf einer Amphora des Malers der Trauernden vom Vatikan gezeigt (Abb. 252).26 Der zwecklose Bewegungsüberschuss des Nessos ist hier auf die Spitze getrieben, da sich Herakles der befreiten Deianeira widmet und ihn gar nicht (mehr) bedroht. Hier wie auf der Münchner Bandschale ließe sich prinzipiell behaupten, dass der jeweils linke, aufwärts gehaltene Arm zum Wurf ausholt, der Stein somit nicht wirkungslos eingesetzt würde. Es geht also weniger um die Wirkungslosigkeit als um die fehlende Ökonomie der Bewegung: Statt nur in der Hand einen Stein zu halten, mit der er zum Wurf ausholt, hält er in beiden Händen einen Stein. Das Werfen des Steines wird zum zufälligen Beiprodukt einer allgemeinen Agitation der Glieder. Viel regelmäßiger noch erscheint das besagte Haltungsschema bei Darstellungen des Minotauros.27 Ein beliebiges Beispiel dafür ist eine Augenschale in Kopenhagen, auf der der Minotauros bereits vom Schwert des Theseus durchbohrt ist.28 Er hat den Stierkopf bedrohlich gesenkt und die Hörner somit gegen Theseus gerichtet, führt mit den Armen allerdings die beschriebene unkoordinierte Bewegung aus, welche im klaren Gegensatz zur konzertierten Aktion des Körpers des Theseus steht: Mit der Linken hält er sein Opfer, um es mit der schwertbewehrten Rechten abzustechen, während ihm seine Beine in weiter Schrittstellung stabilen Halt

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319 Abb. 252 Herakles nimmt die befreite Deianeira in Empfang. Nessos hat in jeder Hand einen Stein. Die chiastische Haltung seiner Arme signalisiert intensive, aber unkoordinierte Bewegung. Amphora des Malers der Trauernden vom Vatikan, Christchurch, University of Canterbury, 540–530

geben, anders als die knielaufartig eingeknickten Beine des Minotauros. In mustergültiger Form findet sich das chiastische Haltungsschema der steinbewehrten Arme des Minotauros auch auf einer Amphora der E-Gruppe in Malibu, wo der Minotauros ebenfalls bereits vom Schwert durchbohrt ist (Abb. 253).29 Seine knielaufartig gehaltenen Beine, deren rechtes von der Grundlinie abgehoben ist, wiederholen die Bewegungsintensität der Arme, statt ihm festen Halt zu geben. Der Stein in seiner Linken ist zwar gegen Theseus gerichtet, der Stein in seiner Rechten ist es jedoch nicht. Anstatt einen großen Stein mit Entschiedenheit gegen seinen Feind zu schleudern, hantiert er mit zwei kleinen und kann Theseus mit keinem der beiden erreichen, bevor er selbst von dessen Schwert durchbohrt wird. Abb. 253 Theseus tötet den Minotauros. Die in alle vier Himmelsrichtungen gerichteten Glieder des Minotauros und die Multiplikation seiner Waffen (zwei Steine und das Horn) stehen im Kontrast zu der konzertierten – und erfolgreichen – Aktion des Theseus. Halsamphora der E-Gruppe, Malibu, J. Paul Getty-Mus., 550–540

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Waren die Felsen der Kentauren im Kampfe mit den Lapithen, obwohl ihnen der Status der Waffe abging, noch bedrohliche Mordinstrumente, so geht von den Steinen des Nessos und des Minotauros in ihren Kämpfen mit Herakles und Theseus auf den beschriebenen Bildern keine ernste Gefahr aus. Die übermäßige Bewegung und Kraft dieser Monster, die sich in den Kentauromachien von ihrer bedrohlichen Seite gezeigt hatten, offenbaren im Kampfe mit den beiden größten griechischen Helden der attischen Vasenmalerei ihre Schwäche: Durch ihren Mangel an Koordination gelingt es Nessos und dem Minotauros nicht, ihre Kraft wirkungsvoll einzusetzen. Mit der Macht und Ohnmacht dieser Monster und ihrer Kampfesweise korrespondieren auf der einen Seite große Felsen, auf der anderen Seite kleine Steine. So wie sich die Kampfkraft der Kentauren in der Größe der Felsen kondensierte, kondensiert sich die Unterlegenheit des Minotauros in dessen kleinen Steinen; so wie Macht und Ohnmacht dieser Monster die beiden Seiten derselben Medaille sind – sie entspringen beide dem Übermaß an Kraft und wilder Bewegung – sind Felsen und Steine unterschiedliche Quantitäten desselben Materials. Damit sei nicht behauptet, dass diese Semantik der Größe die einzige Weise ist, wie Bedrohlichkeit und Ohnmacht dieser Monster in ihren Kämpfen mit Griechen formuliert werden könnte.30 Die Variation der Größe der als Waffen verwendeten Steine ist selbstverständlich nur ein Darstellungsmittel unter vielen. Ebensowenig ließen sich alle Darstellungen von Felsen als Waffen von Monstern in dieses Schema einfügen.31 Die bloße Existenz einer Semantik der Größe in einer signifikanten Anzahl von Bildern reicht jedoch schon, um zu zeigen, dass sich eine Semantik von Landschaftselementen nur medienintern aus einzelnen Ikonographien erschließen lässt und dementsprechend auch nur für bestimmte ikonographische Zusammenhänge Geltung hat. Die Semantik der Unterlegenheit und Ohnmacht hängt nicht an kleinen Steinen als solchen, sondern an bestimmten ikonographischen Kontexten, in denen sie auftreten.32 In der Tat wäre es absurd, nach Schriftquellen zu suchen, die eine semantische Unterscheidung von großen und kleinen Steinen belegen würden. Eine Unterscheidung dieser Art kann nur in den Bildern selber eine Rolle spielen. Im Folgenden soll gezeigt werden, wie sich aus dieser spezifischen Semantik kleiner Steine dennoch eine ganz neue Verwendung von Steinen ergibt. Die Semantik der Unterlegenheit und Ohnmacht, welche die kleinen Steine in den Händen von Nessos und dem Minotauros bekommen können, macht es möglich, dass Steine ab ca. 550–540 in die Hände von besiegten Hopliten gelangen.33 Auf einer Halsamphora in der Art des Exekias in Tarquinia wird ein zu Boden gefallener Gigant vom Wagen des Zeus überrollt und hält in seiner Rechten einen Stein (Abb. 254).34 Ein

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zweiter Gigant, der besiegt zwischen einem Kämpferpaar liegt, hält einen Stein in seiner weit zurückgesetzten Hand. Diese Steine substituieren zwar auch hier die Waffe (Lanze oder Schwert), die die Giganten sonst in ihrer Rechten halten würden, können aber keinesfalls im Rahmen einer Gegenüberstellung eines wilden Monsters und eines ordentlich bewaffneten Griechen verstanden werden: Im Gegensatz zu rotfigurigen Bildern der Frühklassik tragen die Giganten der schwarzfigurigen Vasenmalerei keinerlei wilde Züge, sondern ihre Gefährlichkeit äußert sich gerade in ihrer hoplitischen Ausrüstung. Die Substitution der Waffe durch einen Stein setzt hier also den besiegten Hopliten vom kampfkräftigen Hopliten ab. Für die beiden Steine gilt in noch höherem Maße, was auch schon in den bisher besprochenen Fällen galt: Der von der Quadriga überrannte Gigant kann in der aussichtslosen Lage, in der er sich befindet, den Stein nicht mehr wirkungsvoll einsetzen. Da er sich damit auf den Boden aufstützt, ist der steinbewehrte rechte Arm immobilisiert. Der Stein, den der zweite Gigant hält, ist zur Grundlinie gewendet, so dass sich der Gigant selbst auf ihn stützt. Was in Bildern von Nessos und dem Minotauros nur eine allgemeine Tendenz war, wird bei gefallenen Hopliten zur Regel: Kleine Steine werden keinem Gegner gefährlich. Die Beispiele von besiegten Giganten, die Steine in der Hand halten, sind verhältnismäßig zahlreich. Vom Wagen des Zeus überrollt wird ein steinbewehrter Gigant auch auf einer Bauchamphora in der Art des Lysippides-Malers in London (Abb. 255).35 Durch den Ansturm der Pferde zu Fall gebracht, aber noch nicht ganz am Boden liegend, ist ein steinbewehrter Gigant auf dem Psykter des Antimenes-Malers in Houston (Abb. 256).36 Im Einzelkampf gegen Athena unterlegen ist auf einer Augenschale in Rouen ein Gigant, dessen Lanze ihm aus der Hand gefallen ist, und der stattdessen einen Stein hält.37 Es mag sein, dass der häufige Gebrauch von Steinen in den Händen von Giganten auch etwas mit der Tatsache zu tun hat, dass es sich um Söhne der Gaia handelt. Diese naheliegende Interpretation erklärt wohl auch eine Ausnahme von der Regel, nach der von den Steinen in den Händen

Abb. 254 Gigantomachie. Zwei zu Boden gegangene Giganten halten anstelle ihrer Waffe einen kleinen Stein in der Hand. Halsamphora in der Art des Exekias, Tarquinia, Mus. Nazionale, um 540

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Abb. 255 Gigantomachie. Auch hier hält ein gefallener Gigant einen Stein in der Hand. Amphora in der Art des Lysippides-Malers, London, British Mus., 530–520 Abb. 256 Gigantomachie. Ein im Sturz begriffener Gigant hält einen Stein. Psykter des Antimenes-Malers, Houston, Rice Mus., 530–520

Abb. 257 Ein Gigant, dessen Schild durch die Blitze des Zeus bereits Feuer gefangen hat, holt mit einem Stein zum Wurf aus. Kantharosfragment, London, British Mus., 550–540

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von Giganten niemals Gefahr ausgeht: Auf einem Kantharosfragment in London, das etwas früher als die Reihe der eben genannten Bilder zu datieren ist, holt ein Gigant mit einem Stein zum Wurf aus (Abb. 257).38 Dieser steinbewehrte Gigant steht also noch aufrecht, wiewohl er sich in einer misslichen Lage befindet: Sein Schild hat – offenbar durch die Blitze des Zeus, die er damit abgewehrt hat – bereits Feuer gefangen, und die Pferdefüße, die auf der Höhe seines Schildes erscheinen, zeigen, dass er in Kürze vom Wagen des Zeus überrollt werden wird. Dass die Identität der Giganten als Söhne der Gaia, welche sich zu dieser Zeit in ihrem allgemeinen hoplitischen Aussehen und Auftreten auch keineswegs besonders äußert, jedoch nicht der primäre Grund für die Steine in ihren Händen ist, zeigt sich daran, dass auch gewöhnliche Hopliten, wenn sie bereits gefallen sind, einen Stein in der Hand halten können.39 Auf einer Bauchamphora um 530 in Cleveland liegt ein gefallener Hoplit mit Stein in der Hand zwischen einem Kämpferpaar (Abb. 259).40 Auf dem Schulterbild einer Hydria aus dem Umkreis des Lysippides-Malers in Boston stürzt ein Hoplit mit einem Stein in der Hand vornüber, während sein Gegner im

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Begriffe ist, ihm die Lanze in die Seite zu stoßen (Abb. 258).41 Die Beispiele ließen sich hier vervielfachen, doch bleibt das Prinzip immer dasselbe: Nur solche Hopliten können Steine anstelle ihrer eigentlichen Waffen halten, die bereits besiegt sind. Mit diesen Steinen wird somit nicht gekämpft, da der Kampf für die Steinbewehrten schon beendet ist. Auf sie trifft nicht einmal der eingeschränkte Sinn der Waffe als einem Gegenstand, mit dem gekämpft wird, zu, eine Interpretation, nach der die Felsen und Bäume der Kentauren Waffen sind. Der Stein ist also weniger die Waffe dessen, der im Gewirr des Gefechts seinen Speer verloren hat, als

Abb. 258 Hoplitenkampf. Ein stürzender Hoplit hält einen Stein. Hydria aus dem Umkreis des Lysippides-Malers, Boston, Mus. of Fine Arts, 530–520

Abb. 259 Hoplitenkampf. Ein Gefallener hält einen kleinen Stein, wie dies auch die unterlegenen Giganten taten. Amphora der Bateman-Gruppe, Cleveland, Mus. of Art, um 530

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das Zeichen seiner Niederlage. Bemerkenswert daran ist, dass von Kriegern verwendete Felsen in der Ilias eine ganz andere Bedeutung haben: Wenn Hektor, nachdem sein Speer im Schild des Ajax steckengeblieben ist, einen Felsbrocken packt und mit Wucht auf seinen Gegner schleudert, ist dies keineswegs Zeichen seiner Niederlage, sondern vielmehr seiner riesigen Kraft und seiner Fähigkeit, sich auch in schwierigen Situationen helfen zu wissen. Auch Ajax schleudert daraufhin einen Fels, der sogar noch größer ist als der des Hektor. Die Helden wetteifern also darum, wer den schwersten Felsbrocken werfen kann.42 Es zeigt sich daran, wie sehr die hier herausgearbeitete Semantik der Felsen ein medienspezifisches Phänomen ist. Sie eine „Semantik von Felsen“ zu nennen ist somit in gewissem Sinne irreführend: Nicht von Felsen allgemein ist hier die Rede, sondern von bestimmten Ikonographien zu bestimmten Zeiten. Wenn sich später der Gebrauch von Felsen wandelt, und mit größerer Regelmäßigkeit auch kampfkräftige Figuren Felsen werfen, hat dies zwar durchaus etwas mit einem Wandel des Motivs des Felsens in der Vasenmalerei zu tun, welcher einen solchen Gebrauch befördert.43 Allerdings lässt sich dies nicht als allgemeiner Wandel der kulturellen Semantik von Felsen beschreiben, da diese Semantik schon bei Homer zu greifen ist, also keineswegs neu hinzukommt, sondern lediglich für Bilder nutzbar gemacht wird.44 An der Ikonographie der Steine in den Händen gefallener Hopliten lässt sich ablesen, wie sehr sich an den Felsen, die ursprünglich zusammen mit Bäumen ihren Platz lediglich in Kämpfen zwischen Griechen und ‚wilden Wesen‘ hatten, die Semantik der Größe, welche entweder Macht oder Ohnmacht ausdrücken kann, verselbstständigt hat. In der Tat wäre es abwegig, in den Steinen der gefallenen Hopliten einen Hinweis auf Wildheit zu sehen. Dennoch lässt sich zwischen den Felsen der Kentauren und den Steinen der Gefallenen eine strukturelle Parallele ziehen: Die Steine der Gefallenen funktionieren nicht weniger als Gegensatz zu den hoplitischen Waffen, als es die Felsen der Kentauren tun, nur werden dabei jeweils verschiedene Eigenschaften der hoplitischen Waffen negiert. In den Kentauromachien sind es die Waffen als spezialisierte, sanktionierte Kriegswerkzeuge, welche von den Felsen der Kentauren negiert werden. In den Hoplitenkämpfen dagegen sind es die hoplitischen Waffen als Träger von Kampfkraft, die von den Steinen der Unterlegenen negiert werden. Poseidon in der Gigantomachie mit einem großen Felsen auf der Schulter hat ebensowenig etwas mit Wildheit zu tun wie die gefallenen Hopliten mit kleinen Steinen in der Hand. So wie sich die Semantik der Ohnmacht und Niederlage der kleinen Steine verselbstständigen konnte, hat sich die Semantik der Macht und übermenschlichen Kraft, die mit großen Felsen einherging, im Falle des Poseidon verselbstständigt. Die Insel Nisyros, die

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325 Abb. 260 Poseidon siegt über einen Giganten. Er trägt die als Fels dargestellte Insel Nisyros auf der Schulter, um den besiegten Giganten darunter zu begraben. Halsamphora des Schaukel-Malers, New York, Metropolitan Mus., 540–530

Poseidon seit dem zweiten Viertel des 6. Jh. in Gigantomachien auf der Schulter trägt, wird wie ein gewöhnlicher Fels dargestellt:45 Von meist runder Form, wird er entweder schwarz belassen oder mit Deckweiß bemalt. Eine Halsamphora des Schaukel-Malers, in dessen Atelier das Thema am häufigsten dargestellt wird, mag dies illustrieren (Abb. 260).46 Auf dieser wie auf allen Darstellungen führt Poseidon den eigentlichen Angriff mit dem Dreizack (oder Speer) aus, während er die Insel nur auf

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Abb. 261 Poseidon im Gigantenkampf. Halsamphora in der Art des AntimenesMalers, St. Petersburg, Ermitage, um 520–510

seinen Schultern trägt. In anderen Fällen wie etwa auf einer Halsamphora in St. Petersburg (Abb. 261)47 beugt sich Poseidon zwar schon bedrohlich über seinen gefallenen Gegner, so dass der Fels unmittelbar über ihm schwebt, doch bleibt er auch hier weiter auf seiner Schulter.48 Die als Fels wiedergegebene Insel Nisyros dient nicht der eigentlichen Überwindung des Gegners, sondern dazu, den bereits besiegten Gegner unter sich zu begraben – ein ‚Moment‘ der Handlung, der im Schwarzfigurigen allerdings nie dargestellt wird.49 Der eingeschränkte Sinn der Waffe als einem Gegenstand, mit dem gekämpft wird, trifft auf den Felsen des Poseidon also ebensowenig zu wie auf die Steine der Gefallenen: Mit der Insel Nisyros wird nicht mehr gekämpft, sondern der bereits errungene Sieg mit ihm besiegelt. Während die kleinen Steine der Gefallenen deren Kraftlosigkeit und ihre Unfähigkeit, sich wieder aufzurichten, zum Ausdruck bringen, steht der Fels des Poseidon für einen Kräfteüberschuss. Zeichen für übermenschliche Kräfte waren auch schon die Felsen und Bäume der Kentauren. Während allerdings die Kentauren mit diesen Abb. 262 Gigantomachie des Poseidon. Dem riesigen Inselfelsen des Gottes hält der gefallene Gigant ein Steinchen entgegen. Auf dem Inselfelsen sind kleinformatige Tiere wiedergegeben. Amphora panathenäischer Form des Schaukel-Malers, Kopenhagen, Nationalmuseum, 540–530

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übermäßigen Kräften nicht gut haushalten und ihre Überlegenheit gegenüber den hoplitisch gerüsteten Lapithen durch den unkontrollierten Gebrauch dieser Kräfte wieder ausgleichen, geht Poseidon mit seiner übermäßigen Kraft vollkommen gemessen um: Er trägt die Insel ruhig auf seinen Schultern, um seinen Gegner zu gegebener Zeit darunter zu begraben. Durch den Fels, mit dem Poseidon in den Gigantenkampf zieht, rückt er also keineswegs in die Nähe der Kentauren. Vielmehr erfährt er durch den Felsen und den Gebrauch, den er von ihm macht, eine umgekehrte ethische Charakterisierung. Die Parallele zwischen den Felsen der Kentauren und der Insel des Poseidon führt also nicht zu einer Assimilation des Gottes mit wilden Monstern, sondern zu einer präziseren Differenzierung beider.50 Damit mag es zusammenhängen, dass im Schwarzfigurigen nur einmal der Versuch unternommen wurde, die Insel des Poseidon durch Hinzufügung kleinformatiger Tiere von gewöhnlichen Felsen abzusetzen: Auf einer Amphora panathenäischer Form des Schaukel-Malers um 540–530 in Kopenhagen, die am Beginn der besprochenen Reihe von Poseidongigantomachien steht, sind ein Vogel und ein Hase auf dem Felsen des Poseidon angegeben (Abb. 262).51 Die Explizitierung der Tatsache, dass der Fels des Poseidon eine Insel meint, hat man in späteren Bildern offenbar nicht mehr für notwendig befunden. Obwohl der Fels auf der Kopenhagener Amphora durch die Tierchen aus der Masse der Felsen herausgehoben wurde, fügt ihn der Maler sehr klar in die semantische Struktur ein, innerhalb derer Felsen allgemein funktionieren: Der gestürzte Gigant, auf den der Felsen in Kürze fallengelassen wird, streckt dem Felsen des Poseidon in hoffnungsloser Geste einen faustgroßen Stein entgegen.52 Großer Felsen und kleiner Stein werden hier also unmittelbar gegenübergestellt und wiederholen in kondensierter Form das Kräfteverhältnis des triumphierenden Poseidon gegenüber dem besiegten Giganten.53

Felsige Gegenstände Felsen als Gewandablage, Bäume als Garderobe Auf einer Bauchamphora des Lydos in London mit dem Kampf des Theseus gegen den Minotauros ist der Raum zwischen den in weiter Schrittstellung geöffneten Beinen des Theseus durch einen Felsen eingenommen, auf dem ein Gewand liegt (Abb. 263).54 Wie gewöhnlich hält der Minotauros in seiner linken Hand einen Stein, den Theseus neutralisiert, indem er das Handgelenk in festem Griff umfasst. Durch seine Position zwischen seinen Beinen wird deutlich, dass das auf dem Felsen abgelegte Gewand dem Theseus zuzuordnen ist, der folgerichtig auch nur einen Lendenschurz trägt, im Gegensatz zu der links anschließenden Figur, die

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Abb. 263 Theseus tötet den Minotauros. Zwischen seinen Beinen liegt sein Gewand auf einem Fels. Amphora des Lydos, London, British Mus., 560–550

einen knöchellangen Mantel trägt. In einer Ikonographie, in der Steine sonst nur mit dem wilden Gegner des Theseus assoziiert werden, erscheint nun also ein Fels mit Theseus assoziiert. Wie ist dies zu verstehen? Der Saum und die Blüten, mit denen der abgelegte Mantel bestickt ist, entsprechen genau den Mänteln, welche zwei der ‚Zuschauerfiguren‘ umgewunden haben und ein dritter über die Schulter geworfen hat. Während die umstehenden Figuren ihre Mäntel tragen, liegt der Mantel des Theseus gefaltet am Boden. Daraus ist ersichtlich, was der Maler mit dem Motiv des abgelegten Mantels erreichen wollte: Es hebt hervor, dass Theseus sich vor dem Kampf entkleidet hat. Die Nacktheit des Helden allein hätte diese ‚Aussage‘ nicht beinhaltet. Der nackte Jüngling am linken Bildrand ist nicht nackter als seine bekleideten Kollegen, nur wurde an ihm eine andere Qualität gezeigt: An den im Status nicht unterschiedenen ‚Zuschauerfiguren‘ wird einerseits ihr schöner Körper, andererseits ihre reiche Gewandung hervorgehoben, und da die Hervorhebung dieser beiden Eigenschaften an ein und derselben Figur schlecht zu bewerkstelligen ist, ist die ‚Aufgabe‘ der Hervorhebung dieser Qualitäten auf mehrere Figuren verteilt. Nur das abgelegte Gewand kann das Entkleidetsein des Theseus explizit bezeichnen.55 Warum nun nimmt der Maler auf das Ablegen des Gewandes eigens Bezug, wo doch Theseus mit dem Minotauros ohnehin kaum im Himation kämpfen könnte? Mit dem Ablegen des Gewandes wird der Beginn des Kampfes bezeichnet und somit vom Friedenszustand, in dem sich die nicht kämpfenden ‚Zuschauerfiguren‘ befinden, abgesetzt. Damit wird deutlich gemacht, dass die Gewalt, die Theseus gegen das Monster Minotauros einsetzt, nicht auf sein Wesen als Ganzes zu übertragen ist, im Gegensatz zur Gewalt des menschenfressenden Minotauros, der sie zur Befriedigung seiner

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täglichen Bedürfnissen einsetzt und für den es einen friedlichen Zustand nicht gibt. Das Ablegen des Mantels hat somit eine analoge Bedeutung wie das Anlegen der Waffen. Das abgelegte Gewand liegt wiederum auf einem Felsen. Dieser rohe Felsen bildet offensichtlich eine Antithese zu dem reich bestickten und sorgsam gefalteten Gewand. In Ermangelung eines Stuhls legt Theseus sein Gewand auf einen für diesen Zweck nicht konzipierten ‚Gegenstand‘ ab. Dabei geht es weniger um das Vorhandensein eines Felsens als um das Fehlen eines Stuhls, ebenso wie es bei den als Waffen verwendeten Bäumen und Felsen der Kentauren darum geht, dass diese nicht über eigentliche Waffen verfügen. Gewand und Felsen in dem Minotauroskampf stehen somit in einem analogen Verhältnis zueinander wie die Waffen der Lapithen zu den Bäumen und Felsen der Kentauren. Bei dem auf einen Felsen abgelegten Gewand wurde das Gegensatzpaar nur zu einem einzigen Motiv zusammengeschmolzen, das, in Worte gefasst, das gesittete Verhalten des Theseus in unwirtlicher Umgebung bezeichnet. Im Falle von Löwenkämpfen des Herakles funktioniert das Motiv des auf einem Felsen liegenden Gewandes ganz ähnlich. Auf der Amphora des Lydos im Cabinet des Médailles verweist das abgelegte Gewand durch gleiche aufgestickte Blumen und Säume auf die umgelegten Mäntel der umstehenden Figuren, wodurch die Nacktheit des Herakles explizit als ein Sich-entkleidet-Haben markiert wird (Abb. 264).56 Das Ablegen des Himation bekommt hier sogar einen präziseren Sinn als den eines allgemeinen Absetzens des Kampfes vom friedlichen Zustand: Da Herakles mit Abb. 264 Herakles ringt mit dem Löwen. Auch hier dient ein Fels als Gewandablage. Amphora des Lydos, Paris, Cabinet des Médailles, 560–550

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Abb. 265 Herakles ringt mit dem Löwen. Sein Köcher liegt auf einem Felsen. Hydria in der Art des Lydos, Adria, Mus. Archeologico, 540–530

dem unverwundbaren Löwen nicht mit Waffengewalt kämpft, sondern ringt, wird seine Nacktheit zu athletischer Nacktheit und damit sein Entkleiden zu einer ausgesprochenen Betonung griechischer Gesittung.57 Diese gesittete Verhaltensweise behält Herakles sogar im Kampf mit dem wilden Löwen bei, was durch das Ablegen des Gewands auf den rohen Fels auf eine denkbar knappe Formel gebracht wird. In Bildern des Löwenkampfes werden auch andere Ausstattungsgegenstände des Herakles auf Felsen abgelegt. So liegt auf einer Hydria in der Art des Lydos zwischen den Beinen des Herakles der Köcher auf einem Felsen (Abb. 265).58 Auf dem Schulterbild einer späteren Hydria des AcheAbb. 266 Löwenkampf des Herakles. Hier dient der Fels als Ablage für den Schild des Helden. Hydria des Acheloos-Malers, Vatikan, Mus. Gregoriano Etrusco, um 510

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loos-Malers im Vatikan liegt links von Herakles ein Schild auf einem Felsen (Abb. 266).59 Entscheidend bleiben an dem Motiv stets der Hinweis auf den Akt des Ablegens, welcher eine Vorbereitung auf den Kampf impliziert, sowie der Gegensatz, den der rohe Fels gegenüber dem gesitteten Verhalten bedeutet, für das der abgelegte Gegenstand steht. Dass auf Felsen liegende Waffen dennoch selten bleiben, liegt wohl nicht zuletzt daran, dass sie zu Füßen der Kämpfenden noch sperriger sind als ein Gewand.60 Umso ausführlicher werden die abgelegten Waffen des Herakles allerdings dargestellt, als gegen 520–510 die Ikonographie des auf einem Felsen abgelegten Ausstattungsstücks auf Bäume übertragen wird. So hängen auf einer Bauchamphora des Rycroft-Malers im großen, freien Feld über den im Liegeschema kämpfenden Kontrahenden sowohl das Gewand als auch der Köcher an einem Baum (Abb. 267).61 Waren die auf Felsen liegenden Gewänder stets sauber gefaltet, werden die kunstvoll an Bäume gehängten Gewänder geradezu zum ästhetischen Blickfang. An Bäume aufgehängt statt auf Felsen abgelegt bekommen das Gewand und die Waffen des Herakles viel bessere Entfaltungsmöglichkeiten, da der Baum vollkommen flexibel die verfügbaren Freiräume einnehmen kann. So setzt sich das Motiv des Baumes als ‚Kleiderständer‘ nach seinem ersten Erscheinen zahlenmäßig gegenüber dem Motiv des Felsens als Gewandablage durch.62 Es wird auf den Kampf des Herakles mit dem Kretischen Stier übertragen63 und findet sich später noch in rotfigurigen Theseuszyklen. All den Kämpfen, in denen sich das Motiv etabliert, ist gemeinsam, dass in ihnen von gewöhnlichen Waffen kein Gebrauch gemacht wird, der Held diese also erst ablegen muss.64 Der Hinweis auf das Ablegen von GeAbb. 267 Löwenkampf des Herakles. Im Gegensatz zu den Felsen auf der Grundlinie bietet dieser Baum reichlich Platz für Gewand und Waffen. Amphora des RycroftMalers, Berlin, Antikensammlung, um 510

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wand und Waffen vor dem Kampf bleibt also bestehen und somit auch die grundsätzliche Bedeutung des Motivs. Dennoch ist es unverkennbar, dass in den Bildern der am Baum hängenden Gewänder und Waffen des Herakles ein neuer Aspekt an Wichtigkeit gewinnt, nämlich die Präsentation der Waffen selbst. In den vielen Bildern, wo Gewand (oder Löwenskalp), Köcher und Keule die freien Flächen des Bildfelds großflächig füllen, umgeben sie den kämpfenden Helden wie Attribute. So ist es verständlich, dass der Baum in vielen Fällen ganz weggelassen wird,65 und so der damals charakteristische Gegensatz zwischen dem Gewand, bzw. den Waffen des Helden und dem rohen Felsen oder Baum wegfällt. So bleiben lediglich die Attribute des Helden als Träger seiner Identität übrig. Gleichzeitig aber ist das umgekehrte Phänomen zu beobachten, dass nämlich auch die Felsen und Bäume, welche bis dahin lediglich als Gewandablage oder Kleiderständer dienten, ab ca. 520 alleine erscheinen. So erscheint auf einer Halsamphora des Antimenes-Malers in Gotha ein isolierter Fels zwischen den Beinen des Herakles, der mit dem Löwen ringt (Abb. 268).66 Auf einer Bauchamphora in der Art des Antimenes-Malers in New York erscheint ebenfalls ein isolierter Fels zwischen den Beinen des Herakles, während gleichzeitig im Bildfeld zwischen Herakles und Athena ein Gewand hängt (Abb. 269).67 Wohl um jedem einzelnen Motiv mehr Raum zu verschaffen, hat der Maler also darauf verzichtet, beide zusammenzufassen. Die Motive, die vormals nur gekoppelt Sinn ergaben – das abgelegte Gewand als Markierung des geregelten Eintritts in den Kampf bedeutet erst dann gesittetes Verhalten in unwirtlicher Umgebung, wenn es auf einem rohen Felsen liegt – haben sich offenbar voneinander unabhängig gemacht: Das im Bildfeld hängende Gewand verweist selbst schon auf die zivile Herkunft des Herakles und ist somit Träger der Identität des Herakles, ebenso wie der Fels für sich schon die unwirtliche Gegend bezeichnet, in der sich Herakles bewähren muss, und sich somit mit dem Löwen assoziiert, der diese unwirtliche Umgebung natürlich vor allem anderen verkörpert. War an dem Fels als Gewandablage noch das Entscheidende gewesen, dass er gerade nicht eine ordentliche Gewandablage ist und so indirekt auf die Unwirtlichkeit und Wildnis der Umgebung verweist, von der sich der Held in seinem Verhalten nicht beeinflussen lässt, so verweist der isolierte Fels direkt, positiv auf die Unwirtlichkeit und Wildnis der Umgebung. Auf einer Bauchamphora des Rycroft-Malers im Louvre breitet sich über dem liegend mit dem Löwen ringenden Herakles eine Palme aus, während die Keule an einem Höhlenfelsen am linken Bildfeldrand lehnt (Abb. 134).68 Insofern hier Fels und Baum kombiniert werden, und der Fels zudem die Form seines ‚Vorfahren‘, des Gewandablagefelsens, verlassen hat und stattdessen eine Höhle zeichnet – das unwirtliche Äquivalent des Hauses – geht die Verselbstständigung von Fels und Baum als Bildmo-

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333 Abb. 268 Herakles ringt mit dem Löwen. Ein isolierter Fels liegt zwischen seinen Beinen. Halsamphora des Antimenes-Malers, Gotha, Schlossmuseum, um 520

Abb. 269 Herakles ringt mit dem Löwen. Ein Fels liegt zwischen seinen Beinen. Die Gewand- oder Waffenablage-Felsen haben sich offenbar verselbstständigt. Amphora in der Art des AntimenesMalers, New York, Metropolitan Mus., um 520

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tive, die allgemein Wildnis denotieren, einen Schritt weiter.69 Die Felsen und Bäume, die sich von Gewand und Waffen emanzipiert haben, entfernen sich auch vom Thema dieses Kapitels, wo es ja um heteronome Landschaftselemente gehen soll, und gehören schon zum Thema des nächsten Kapitels, das dem Erhalt der ästhetischen Eigenständigkeit gewidmet ist. Sie zeigen jedenfalls, wie unmerklich der Übergang von heteronomem zu autonomem Gebrauch der Landschaftselemente gehen kann: Die wenigen Jahrzehnte, in denen Bäume und Felsen als Gewandablage in Kämpfen mit dem Minotauros und dem Löwen dienten, haben gereicht, um deren Assoziation mit wilden Wesen in diese Motive selbst einzuschreiben und sie so von ihrem speziellen Gebrauch als Gewandablage unabhängig zu machen. Felsige Brunnen Der Erhalt der semantischen Eigenständigkeit der (ehemaligen) Gewandablagefelsen und Garderobenbäume ab ca. 520 markiert keineswegs das Ende des Phänomens, das hier die „Heteronomie der Landschaftselemente“ genannt wurde. Vielmehr weitet sich dieses in den Jahrzehnten um 500 auf weitere Ikonographien aus. Von diesen neuen Ikonographien erlauben die Auflauerung des Achill und die dabei zur Darstellung kommenden felsigen Brunnen, das Phänomen am besten zu beschreiben. Auf einer Lekythos aus der Nähe der Leagros-Gruppe in Kopenhagen ist der Brunnen, an dem Polyxena ihre Hydria volllaufen lässt, und hinter dem Achill ihr und ihrem Bruder auflauert, mit einer felsigen Oberfläche versehen (Abb. 270).70 Wie es im Kapitel zum Gegenstandscharakter der Landschaftselemente dargelegt wurde,71 sind mit solchen felsigen Brunnen, die sich formal an gebaute Brunnen unmittelbar anlehnen, keine natürlichen Felsenquellen gemeint, sondern – in bewusster Paradoxie – Felsenbrunnen. Die Gegensätzlichkeit dieses Bildmotivs, das gleichzeitig (gebauter) Brunnen und (roher) Felsen ist, entspricht dabei genau den gegensätzlichen Motiven, mit denen sich einerseits Troilos und Polyxena, andererseits Achill zu diesem Felsenbrunnen begeben haben: Polyxena holt Wasser und geht damit einer typisch weiblichen Tätigkeit nach, die sie als ‚gute Frau‘ mit angemessener Verhaltensweise charakterisiert und mit den Frauen assimiliert, die in zeitgenössischen Vasenbildern so häufig bei dieser Tätigkeit dargestellt werden.72 Ebenso verhält sich Troilos, der seine Pferde tränkt, in einer Weise, die einem jungen Adeligen ganz und gar angemessen ist. Für die Geschwister ist der Felsenbrunnen somit ein gewöhnlicher Brunnen, der ihren ebenso gewöhnlichen Handlungen entspricht. Achill dagegen verhält sich in einer Art und Weise, die einem Hopliten, als der er hier wie in allen anderen Darstellungen erscheint, ganz und gar unangemessen ist: Anstatt sich mit Seinesgleichen auf dem Schlachtfeld zu messen, lauert er wehrlosen Kindern bei ihrem friedlichen

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335 Abb. 270 Achill lauert der Polyxena am Felsenbrunnen auf. Lekythos aus der Nähe der Leagros-Gruppe, Kopenhagen, Nationalmuseum, um 510

Gang zum Brunnen auf.73 Wie sehr sein Verhalten in der Auflauerungsgeschichte als normverletzend verstanden wurde, wird im Mythos an der darauffolgenden sakrilegen Ermordung des Troilos im Heiligtum des Apollon Tymbraios deutlich, das auch in der Vasenmalerei zum ‚Kanon‘ der frevlerischen Taten großer Helden gehört.74 Seine Nichtachtung der menschlichen (und bald auch der göttlichen) Gesetze wird im Bild dadurch zum Ausdruck gebracht, dass der Brunnen, den Achill als Friedenszone75 nicht respektiert, als roher Felsen dargestellt ist, und wo es nur rohe Felsen gibt, gibt es keine Gesetze. Vereinfacht könnte man also sagen, dass das paradoxe Motiv des Felsenbrunnens, der ebenso explizit als gebauter Brunnen wie als roher Felsen bezeichnet wird, für Troilos und Polyxena Brunnen, für Achilleus dagegen Felsen ist. Dass die Felsigkeit des Brunnens keine von den Figuren unabhängige Tatsache ist, sondern mit der Figur des auflauernden Achill assoziiert ist, wird besonders deutlich auf einer Hydria der LeagrosGruppe in London (Abb. 22):76 Hier besitzt der Felsenbrunnen an der rechten Seite einen horizontalen, felsigen Fortsatz, der sich bis zum rechten Bildfeldrand zieht, und auf dem Achill hockt. Im Gegensatz zum Felsenpfeiler mit Löwenkopfwasserspeier und dem Podium, auf dem die Hydria steht, besitzt diese Felsenzunge keine Parallele in der ‚normalen‘ Brunnenarchitektur und hat als einzigen Zweck, Achill zu tragen, der damit in physischen Kontakt mit dem Felsen kommt, nicht aber mit dem Brunnen, mit dem Polyxena beim Füllen der Hydria zu tun bekommt.77 Die allgemeine ‚Interpretationsanweisung‘, die in den Vorbemerkungen zum zweiten Teil gegeben wurde,78 nach der man Landschaftselemente nicht in ihrer Beziehung zum gesamten Bild, sondern zu einzelnen Figuren zu deuten habe, bestätigt sich an den Felsenbrunnen also vollkommen, da hier sogar ein und dasselbe (paradoxe) Motiv auf verschiedene

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Figuren79 bezogen je unterschiedliche Deutungen erfährt: für Polyxena ein Brunnen, für Achill ein Fels. Was heißt es nun, dass der Brunnen, an dem Polyxena Wasser holt, für Achill ein Fels ist? Lauert Achill denn nicht am Brunnen, und sogar mit gutem Grund, da er dort seine Opfer besonders leicht überraschen kann? Wie es im Kapitel zum Gegenstandscharakter der Landschaftselemente dargelegt wurde, haben Landschaftselemente, und so auch der Felsen in den Auflauerungsbildern, keine lokalisierende Qualität.80 In der Tat lauert Achill also am Brunnen, doch entspricht sein Verhalten nicht dem, was man am Brunnen zu tun hat, sondern dem, was ein Jäger bei der Jagd zu tun hat. Indem Achilleus sich verhält wie bei der Jagd, missachtet er den Brunnen in dem, was ein Brunnen an Verhaltensweisen normalerweise impliziert. Dass der Brunnen für Achill ein Fels ist, heißt also nicht mehr, als dass es kein Brunnen ist: Der Felsenbrunnen als Darstellung des Brunnens in einer Art negativen Modalität81 signalisiert Wildnis, indem er ein spezifisches, auf den Raum des Brunnens bezogenes Fehlen von Kultur im Bild sichtbar macht. Auf vielen Auflauerungsbildern erscheint neben dem Felsenbrunnen noch ein Baum.82 Außer in einem Fall, wo zu beiden Seiten des Brunnens je ein Baum steht,83 befinden sich diese Bäume immer zu Seiten Achills, dem sie also zuzuordnen sind, wie man es auf einer Lekythos des AthenaMalers in Toledo sieht (Abb. 271).84 Die Felsigkeit des Brunnens, welche die Tatsache wiedergibt, dass der Brunnen für Achill zum Jagdgrund geworden ist, kann also durch weitere Landschaftselemente komplettiert werden. Nun finden sich Bäume in Bildern der Auflauerung des Achill bereits lange vor der Erfindung des Motivs des Felsenbrunnens,85 und sind sicherlich auch auf tyrrhenischen Amphoren schon mit der Figur des Abb. 271 Auflauerung der Polyxena. Zum Felsenbrunnen gesellt sich hier ein Baum. Lekythos des Athena-Malers, Toledo, Mus. of Art, 500–490

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Achill zu assoziieren. Die Maler haben also der Tatsache, dass Achill wie ein Jäger auf der Lauer nach Beute ist, obgleich er sich an einem öffentlichen Brunnen befindet, bereits früh durch die Darstellung eines Baumes neben dem Brunnen Ausdruck verliehen. Die Kompaktierung dieses räumlichen Konflikts – der Raum des öffentlichen Brunnens wird frevlerischerweise zum Jagdgrund – in das Motiv des Felsenbrunnens wurde allerdings erst am Ende des 6. Jh. erfunden. Die Kombination aus Fels und Baum, die sich auf der Lekythos des Athena-Malers findet, bietet bereits die größte Dichte an Landschaftselementen, welche in der attischen Vasenmalerei gewöhnlicherweise anzutreffen ist. Man könnte daraus schließen, dass die Auflauerung des Achill mit Felsenbrunnen und Baum an ein allgemeines Bild von Wildnis anknüpft. Es ist jedoch bemerkenswert, dass diese Landschaftselemente in der ‚normalen‘ zeitgenössischen Jagdikonographie nur selten aufgeboten werden, und dort weniger die Jäger als das Wild mit Felsen und Bäumen

Abb. 272 Zwei Tiergruppen um einen Baum: links ein Löwe, der einen Eber anfällt, rechts eine friedliche Gruppe von Kuh und säugendem Kalb. Oinochoe des Malers von London B 620, Brüssel, Bibliothèque Royale, um 510

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assoziiert werden. In der Tat finden sich in Bildern von Jägern unter sich keine Landschaftselemente,86 wogegen in Bildern von Tieren unter sich durchaus ein Baum erscheinen kann, wie man es etwa auf einer weißgrundigen Oinochoe in Brüssel sieht, wo zu beiden Seiten eines Baumes einmal eine Kuh, die ihr Kalb säugt, und einmal ein Löwe, der einen Eber reißt, erscheinen (Abb. 272).87 Bäume und Felsen finden sich auf Bildern mit Jägern und Wild, wofür eine Lekythos des Edinburgh-Maler in Wien ein gutes Beispiel ist (Abb. 273):88 Zwei miteinander kommunizierende Jäger gehen mit ihren Hunden nach rechts, wo ein Hase auf sie wartet. Der Baum, der zu Füßen des Hasen wächst, ist mehr mit dem gejagten Tier als mit den Jägern assoziiert. Auf einer kleinen Halsamphora desselben Malers in Altenburg mit auf beiden Seiten je einem Aufeinandertreffen von einem Jäger mit einem Eber, der zur Hälfte von der Bildfeldbegrenzung überschnitten ist, wächst je ein Baum zwischen den Beinen des Tieres (Abb. 274).89 Der Athena-Maler zieht es für seine Einzeljagdbilder vor, den Baum zwischen die Kontrahenden zu setzen, wo sich seine Äste in beide Richtungen ausbreiten können, wie man es etwa auf einer Lekythos aus dem Baseler Kunstmarkt mit einer Eberjagd sieht (Abb. 275).90 Hier wird der Baum, der gewissermaßen als kompositorische Symmetrieachse dient, nicht mehr dem anstürmenden Eber als dem hockenden Jäger zugeordnet. Auf einer Lekythos desselben Malers in New York mit einer Hasenjagd wurzelt der Baum ebenfalls zwischen Jäger und Gejagtem (Abb. 187).91 Auf einer Oinochoe in der Art des Athena-Malers im Cabinet des Médailles wächst der Baum zwar auch zwischen Jäger und Eber, doch ist der vorstürmende Eber hier zur Hälfte von einem Höhlenfelsen überschnitten (Abb. 137).92 Auch wenn also Landschaftselemente nicht immer allein mit dem gejagten Tier assoziiert werden, kann man festhalten, dass Abb. 273 Zwei Jäger und ein Hase. Der Baum wächst auf der Höhe des Hasen. Lekythos des EdinburghMalers, Wien, Kunsthistorisches Mus., um 500

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339 Abb. 274 Eberjagd. Wieder wächst der Baum auf Seiten des Tieres. Amphora des Edinburgh-Malers, Altenburg, Staatliches Lindenau Mus., um 500

Abb. 275 Jäger und Eber stehen sich gegenüber. Der Baum wächst zwischen den Kontrahenden. Lekythos des AthenaMalers, Schweiz, Privatbesitz, um 490

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sie nicht Attribut des Jägers als solchem sind, sondern erst bei seiner Konfrontation mit dem Tier auftreten. Nicht das Sich-in-der-Wildnis-Befinden eines Jägers zieht Landschaftelemente an, sondern seine Konfrontation mit wilden Tieren. Felsenbrunnen und Baum sind denn auch keine Attribute des auflauernden Achill – weder in der Jägerrolle, die er einnimmt, noch (natürlich) in der Hoplitenrüstung, die er trägt – sondern Zeichen für sein normwidriges Verhalten am Brunnen. Ebenso wie sie dem Brunnen – an dem in zeitgenössischen Brunnenhausbildern mehr als an jeglichem anderen Gebäude der architektonisch gestaltete Charakter herausgehoben wird – den Status des (von Menschenhand) Gebauten entziehen, heben sie auch die richtigen Verhaltensweisen auf, die mit dem ‚Kulturraum‘ des öffentlichen Brunnens verbunden sind und die ebenfalls in der zeitgenössischen Brunnenhausikonographie mannigfach dargestellt sind. In der Tat ist der nunmehr felsige Brunnen der Kultur entzogen. Die Felsen und Bäume in Bildern der Auflauerung haben also sehr wohl etwas mit Wildnis zu tun, jedoch nicht im Sinne eines allgemeinen Raumes, der dann etwa Jägern und wilden Tieren gemein sein müsste, sondern lediglich im Sinne einer spezifischen, auf den Raum des Brunnens bezogenen Abwesenheit von Kultur. Fassen wir die Ergebnisse der Untersuchung zu den Auflauerungsbildern mit Felsenbrunnen zusammen: Das bewusst paradoxe Motiv des Felsenbrunnens bezeichnet für Troilos und Polyxena, deren Handlungsweise dem entspricht, was man am Brunnen gewöhnlicherweise tut, einen Brunnen, während es für Achill, der Troilos und Polyxena am Brunnen auflauert wie ein Jäger dem Wild, einen Felsen bezeichnet. Der Felsen und der häufig dargestellte Baum sind allerdings nicht als allgemeine Darstellungen der Wildnis zu verstehen, die dem Achill in seiner Jägerrolle als Attribute zukämen. Der Felsenbrunnen qualifiziert nicht den Ort der Handlung, sondern die Handlung selbst: Das Motiv des Felsenbrunnens und der oft wiedergegebene Baum, welcher ebenfalls zur ‚felsigen Verfremdung‘ des Brunnens zu rechnen ist, entsprechen der Handlung des Achill, die den Raum des öffentlichen Brunnens als friedliche Zone nicht respektiert. Der Felsenbrunnen bezeichnet somit die Handlung des Achill als normverletzend und illegitim. Dass der Überfall des Achill auf zwei wehrlose Kinder nicht als heroische Leistung, sondern als normwidrige, frevlerische Tat dargestellt wird, ist für sich genommen wenig überraschend. Bemerkenswert und für das allgemeine Verständnis der Vasenbilder aufschlussreich scheint mir jedoch die Weise, wie die Normwidrigkeit dieser Handlung im Bild vermittelt wird. Sie wird nämlich im wahrsten Sinne des Wortes im Bild vermittelt und entsteht nicht erst durch die Interpretation eines Betrachters, der den Inhalt des Dargestellten mit den ihm gängigen, ethischen Werten

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konfrontieren würde. Dies möchte ich im Folgenden näher ausführen: Es zeigt sich am Motiv des Felsenbrunnens, dass die sachliche Wiedergabe des Inhalts des Dargestellten einerseits und dessen Bedeutung andererseits nicht auf zwei verschiedenen Ebenen angesiedelt sind, von denen die erste durch einfache ikonographische Lesung des Bildes, die zweite dagegen erst durch eine Interpretation dieser untersten ikonographischen Schicht zu erschließen wäre.93 In der ersten, sachlichen Ebene hätte nämlich nur ein Brunnen, nicht aber ein Felsen Platz, da die Auflauerung an einem Brunnen und nicht an einer Felsenquelle stattfindet, während die Felsigkeit des Brunnens bereits zu der zweiten, interpretierenden Ebene gehören sollte, innerhalb derer die Auflauerung eine frevlerische, normverletzende Tat ist. Die Felsigkeit des Brunnens, in der die Bezeichnung der Handlung als frevlerische Tat eingeschlossen ist, ist allerdings nicht weniger ‚materiell‘ im Bild vorhanden als die Tatsache, dass sich die Handlung am Brunnen abspielt, die für das bloße ‚Was‘ der Handlung konstitutiv ist. Auf der untersten, ikonographischen Ebene des Bildes ist der Felsen sogar deutlich ‚handgreiflicher‘ vorhanden als der Brunnen. Die ‚Bewertung‘ der Tat des Achill als frevlerisch und deren bloße Wiedergabe sind somit strukturell nicht voneinander getrennt, womit für die Beschreibung des Bildes die Unterscheidung einer sachlichen und einer interpretierenden Ebene, durch die die bloßen ikonographischen Tatsachen des Bildes erst mit Bedeutung gefüllt würden, hinfällig wird. Man könnte sagen, dass die Bezeichnung des Inhalts des Dargestellten als frevlerische Tat keine interpretierendere Beschreibung des Bildes wäre als dessen Bezeichnung als Auflauerung am Brunnen. Diese Beobachtung kann helfen, die oft getroffene und sicherlich richtige, aber schwer zu präzisierende Aussage, griechische Bildwerke besäßen keine Botschaft, zu erhellen. Die grundsätzliche Problematik dieser Aussage liegt darin, dass sie darauf hinauszulaufen scheint, griechische Bildwerke böten ihrer inhaltlichen Diskussion keinen Stoff, weswegen man sich auf ihre (formale) Beschreibung zu beschränken habe, was evidenterweise falsch ist. Richtig ist allerdings – zumindest im Falle der hier diskutierten Auflauerungsbilder –, dass die Bedeutung des Bildes bildimmanent bleibt, und die Beschreibung des Bildes diese Bedeutung bereits zutage fördert.94 Das erkennt man daran, dass eine ‚sinnfreie‘ Beschreibung des Bildes, die nur das interne Gefüge der Bildelemente im Auge hat und nichts weiter sein möchte als Rohmaterial für eine darauffolgende interpretierende Betrachtung, mit den Auflauerungsbildern gar nicht fertig wird: Eine solche Beschreibung würde an der aporetischen Frage scheitern, ob das Geschehen nun an einem Brunnen oder an einer Felsenquelle stattfinde.

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Felsige Klinen In vielen Bildern des Herakles beim Gelage aus der Zeit um 500 finden sich am Motiv der Felsenmatratze die wesentlichen Charakteristika der Felsenbrunnen in Auflauerungsbildern wieder. Ein Skyphos des TheseusMalers in Neapel etwa zeigt auf beiden Seiten den lagernden Herakles mit einem Rhyton95 und seiner Keule in den Händen und neben ihm jeweils einen stark bewegten, hockenden Satyrn (Abb. 41).96 Der felsige Untergrund, auf dem Herakles liegt, ist in beiden Fällen durch seinen welligen Kontur als Felsen gekennzeichnet, ist mit weißer Deckfarbe überzogen und hat gerade die nötige Breite, um den lagernden Herakles aufzunehmen. Wie im Falle der oben besprochenen Felsenbrunnen wiederholt der Felsen hier also die Form einer Matratze und stellt somit ein paradoxes Motiv dar: Felsenmatratzen gibt es nicht, sondern es handelt sich wie bei Felsenbrunnen um reine Bildkonstrukte. Und – um die Parallele zwischen Felsenbrunnen und Felsenmatratze zu vervollständigen – so wie es bei den Auflauerungsbildern um normwidriges Verhalten am öffentlichen Brunnen geht, geht es auf diesem Skyphos des Theseus-Malers um normwidriges Verhalten beim Symposion. Herakles trinkt Wein aus einem Rhyton, einem Trinkgefäß, das sonst v.a. Satyrn und der Weingott selbst verwenden, und aus dem sie, anders als die Menschen, ungemischten Wein trinken. Es ist anzunehmen, dass solches auch mit dem Rhyton des Herakles angedeutet werden soll. Anstatt das Gelage mit anderen Trinkgenossen unter Gleichen abzuhalten, wie es sich für das Symposion gehört, ist Herakles hier nur von einem Satyrn begleitet, welcher jedoch kein Genosse gleichen Ranges ist und in vielen anderen Bildern als Diener erscheint.97 Schließlich hält Herakles seine Keule in der Hand, anstatt für das Gelage seine Waffen allesamt abzulegen. Das Trinken ungemischten Weines, das asoziale Trinken sowie Gewalt beim Gelage sind Motive, die man auch in anderen Ikonographien des lagernden Herakles wiederfindet, auch wenn sie nicht immer zusammen erscheinen: In der Ikonographie des Gelages beim Kentauren Pholos wird das Trinken ungemischten Weines explizit gemacht, dadurch dass anstelle eines Kraters der Weinpithos erscheint, der selbstverständlich reinen Wein enthält und aus dem Herakles und Pholos mit ihren Kantharoi oftmals direkt schöpfen.98 Reiner Wein wird natürlich auch dann getrunken, wenn Herakles das Gelage mit dem Weingott selbst begeht.99 Auch wenn in einigen Ikonographien das gemeinsame Begehen des Gelages mit Dionysos, Hermes oder Iolaos dargestellt ist und damit das besondere Verhältnis dieser Götterfiguren zu Herakles oder aber des Männerpaares Herakles-Iolaos im Fokus steht, ist das asoziale Trinken des Herakles ein wiederkehrendes Motiv: In schwarzfigurigen Darstellungen ist Pholos normalerweise kein gleichberechtigter Trinkgenosse des Herakles, sondern bedient diesen nur, so dass er zum einsamen Trinker wird, wie man

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es etwa auf einer Bauchamphora aus dem Kreis des Antimenes-Malers in Florenz sieht (Abb. 92).100 Alleine trinkt Herakles auch auf vielen Bildern, in denen er von Satyrn bedient wird. Um Gewalt beim Trinkgelage geht es schließlich in der Pholosgeschichte, auch wenn dieser Aspekt in den meisten Bildern des Gelages bei Pholos nicht thematisiert wird.101 Die Kentauren, denen die Teilnahme am Trinkgelage verweigert wurde, stürmen auf einer Schale in deutschem Privatbesitz auf Pholos und Herakles zu. Letzterer hält beim Trinken seine Keule vorsorglich in der Linken (Abb. 276).102 Auf einer Schale um 500 in Amsterdam stürmen zwei um den Wein betrogene Kentauren auf den alleine zechenden Herakles zu, der auf einem Felsen neben dem Pithos liegend den Kantharos in der einen, die Keule in der anderen Hand hält (Abb. 45).103 Auf einer Augenschale um 520–510 in Dallas bekommt der jeweils auf einem Felsen liegende Herakles auf einer Seite von einem Satyrn (reinen) Wein aus einem Weinschlauch eingeschenkt, während er auf der anderen Seite mit der rechten Hand an sein Schwert greift, das im Bildfeld hängt (Abb. 277).104 Da hier kein Gegner dargestellt ist, geht es nicht um einen bestimmten bevorstehenden Kampf, sondern um eine allgemeine Bereitschaft zum Kampf auch während des Gelages. Abb. 276 Herakles und Pholos beim Gelage. Die um den Wein betrogenen Kentauren stürmen auf die einsamen Zecher zu. Schale des Töpfers Pamphaios, Deutschland, Privatbesitz, um 510

344 Abb. 277 Herakles als einsamer Zecher. Auf einer Gefäßseite greift er zum Schwert. Augenschale der Gruppe von Walters 48.42, Dallas, Mus. of Art, 520–510

Abb. 278 Herakles und Iolaos beim Gelage auf Felsenklinen. Oinochoe der LeagrosGruppe, London, British Mus., um 510

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Ein weiterer Aspekt, der in manchen Bildern des Heraklesgelages thematisiert wird, ist das Verzehren von großen Mengen Fleisch,105 wie man es etwa auf einer Amphora der Leagros-Gruppe im Louvre mit den gelagerten Herakles und Iolaos, die beide einen Fleischstreifen und ein Messer (in einem Fall sogar eine Machaira) in der Hand halten, und neben denen jeweils ein Haufen Fleischstreifen griffbereit liegt (Abb. 38).106 Auf einer Oinochoe der Leagros-Gruppe in London mit den auf Felsen gestützten Herakles und Iolaos hält der eine eine Machaira, der andere einen Fleischstreifen, wobei am Boden wiederum weitere Fleischstreifen liegen (Abb. 278).107 Fleisch und Machaira hält Herakles (oder Iolaos?) auch auf einer rotfigurigen Schale um 500 in Madrid in der Hand, wobei die Felsen, auf denen die beiden Freunde liegen, von Fleischstücken bedeckt sind (Abb. 44).108 Die großen Mengen Fleisch und das Halten des Messers finden sich in Bildern des Achill, der über der Leiche des Hektor alleine beim Gelage liegt, als Priamos um die Lösung seines Sohnes fleht. Während Achill, indem er Fleisch alleine verzehrt, statt es mit anderen zu teilen, die Grundlagen der Gemeinschaft nicht achtet,109 scheint der Fleischkonsum von Herakles und Iolaos auf den ersten Blick in Ordnung: Sie essen das Fleisch nicht alleine, sondern in heiterer Geselligkeit. Das regelmäßig erscheinende Motiv des in der Hand gehaltenen Messers deutet allerdings darauf hin, dass sich auch Herakles und Iolaos nicht als ordentliche Symposiasten verhalten. Das Messer, vor allem wenn es eine Machaira, ist kein übliches Gelagerequisit,110 sondern gehört zum vorhergehenden Schlachtvorgang, an dessen Ende das Teilen des Fleisches und die Zuteilung der Stücke an die Teilnehmer der Opfergemeinschaft stehen sollte.111 Wenn nun Herakles und Iolaos das Schlacht- und Zerteilungsinstrument beim Verzehr des Fleisches noch in der Hand halten, dann wird damit deutlich gemacht, dass sie das Nacheinander von Schlachten und Verteilen an die Teilnehmer der Opfergemeinschaft und schließlich Verzehr des Fleisches nicht beachten, sondern sich das Fleisch stattdessen selbst zuteilen. Das Schlachten und Zerteilen des Fleisches ist somit kein für eine Gemeinschaft bestimmter Akt mehr,112 und die Zweisamkeit der beiden Freunde diesbezüglich auch keine Gemeinschaft.113 Diesem asozialen Fleischkonsum entsprechen die übergroßen Portionen, die jeder zu sich nimmt.114 Wie durch das Trinken ungemischten Weines oder durch das Trinken ohne Zechgenossen missachtet Herakles also auch durch seine Art des Fleischkonsums115 die Sitten des Gelages. Ebenso wie bei den Auflauerungsbildern geht es in den entsprechenden Bildern des Herakles beim Gelage um normwidriges Verhalten. Wie der Brunnen für den Raum des Brunnenhauses und die dort üblichen Verhaltensweisen steht, steht die Kline für den Raum des Symposions und das dort angebrachte Verhalten. Die Missachtung der Regeln des Symposions ist in dem Motiv der Felsenmatratze kondensiert: Aus dem

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menschengemachten Bett wird roher Felsen, als Ausdruck dafür, dass Herakles die Gesetze des gemeinsamen Trinkens und Fleischkonsums – die Stifter menschlicher Gemeinschaft schlechthin – nicht befolgt. Wie wenig die Felsenmatratze vom Fels und wie sehr sie dagegen von der Kline her gedacht ist, wie sehr sie also heteronom bestimmt ist, wird u.a. daran deutlich, dass sie keineswegs die naheliegende Eigenschaft eines Felsenbettes aufweist, hart und ungemütlich zu sein. Nichts weist in den Bildern darauf hin, dass Herakles auf seinen Felsenmatratzen schlecht gebettet wäre. Wie es im Kapitel zum Gegenstandscharakter der Landschaftselemente gezeigt wurde, passen sich die Felsen in ihrer Form vielmehr stets den Bedürfnissen dessen an, der sich auf ihnen niedergelassen hat.116 Der beste Beleg dafür, dass eine Felsenmatratze mit Kargheit nichts zu tun hat, sind die Bilder, in denen als Garanten für den Liegekomfort zusätzlich zu den Felsenmatratzen Kissen erscheinen, wie man es etwa auf einem rotfigurigen Stamnos des Kopenhagen-Malers im Louvre sieht (Abb. 40).117 Auf einer Schale des Skythes aus dem Kunsthandel lehnt Dionysos an einem Felsen, während Herakles sich auf zwei Kissen stützt (Abb. 279).118 Man wird kaum annehmen wollen, dass damit eine grundsätzliche Unterscheidung beider Trinkgenossen vorgenommen werden sollte. Die Rohheit des Felsens schließt die Weichheit des Kissens nicht aus. Ein Symposion auf Felsenmatratzen hat mit einem kargen Mahl in rauer Landschaft nichts gemeinsam; der Überfluss an Speis und Trank ist im Zweifelsfall eher größer. Der Unterschied liegt darin, dass der Gebrauch, der von diesem Überfluss gemacht wird, die gesellschaftlich sanktionierten Normen nicht beachtet. Der gemeinsame Konsum von Wein und Fleisch bildet wie kaum eine andere Institution die Grundlage des menschlichen Zusammenlebens. Der Ersatz des künstlichen Bettes durch rohen Felsen bringt den Wegfall der menschengemachten Regelung des Wein- und Fleischkonsums auf eine denkbar kurze Formel. Abb. 279 Herakles und Dionysos beim Gelage. Einer lagert auf Kissen, der andere auf Felsen. Schale des Skythes, ehemals Schweiz, Kunsthandel, um 510 (andere Seite: Abb. 300)

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347 Abb. 280 Theseus im Kampf mit Prokrustes. Dessen Felsenbett gleicht ganz den Felsenklinen desselben Malers. Skyphos des Theseus-Malers, Toledo, Mus. of Art, um 500–490 (Rückseite: Abb. 298)

Von dieser kurzen Formel wird in den Jahrzehnten um 500 auch für andere Bildthemen Gebrauch gemacht. Zu welchem Bildthema passt das Motiv der Felsenkline besser als zum Kampf des Theseus mit Prokrustes? Beim Bett des Prokrustes geht es um die Pervertierung des Gebots der Gastfreundschaft: Anstatt seine Gäste darauf zu bewirten, bringt er sie auf dem Bett um. Das Motiv des Felsenbettes als Darstellung eines Bettes, das keines ist, ist dafür geradezu maßgeschneidert. Auf einem Skyphos des Abb. 281 Theseus im Kampf mit Prokrustes. Das Prokrustesbett ist hier eine gewöhnliche Kline. Schale des Töpfers Kachrylion, Florenz, Mus. Archeologico, um 510 (Innenbild: Abb. 122; andere Außenseite: 299)

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Theseus-Malers in Toledo mit einer Darstellung des Prokrusteskampfes weist das Bett des Prokrustes denn auch genau dieselben morphologischen Eigenschaften auf, wie die Felsenmatratzen in Heraklesgelagen desselben Malers (Abb. 280).119 Die Darstellung des Prokrustesbetts als Felsenbett war dabei eine bewusste Wahl des Malers: Auf der ein bis zwei Jahrzehnte früheren rotfigurigen Zyklusschale des Töpfers Kachrylion in Florenz ist das Bett noch als Kline dargestellt (Abb. 281).120 Die Innovation, die der schwarzfigurige Theseus-Maler mit dem Felsenbett in die Ikonographie des Prokrusteskampfes eingeführt hat, setzt sich in den nächsten Jahrzehnten auch bei den rotfigurigen Malern durch. Zur Mitte des 5. Jh. hin kehren die Maler wieder zu der naheliegenderen aber zwischenzeitlich aufgegebenen Lösung zurück, eine gewöhnliche Kline abzubilden.121 Wie im folgenden Kapitel ausgeführt werden soll, entfernen sich die rotfigurigen Prokrustesbetten schnell sehr stark von der festgefügten Form der Felsenmatratze und verabschieden sich damit auch vom heteronomen Gestaltungsprinzip der Landschaftselemente.122 Dennoch bleibt es eindeutig, dass die Erfindung des Motivs des felsigen Prokrustesbetts derselben Logik entsprungen ist wie die Felsenmatratzen des Herakles oder die Felsenbrunnen der Polyxena. Felsige Schlaflager Im selben Zeitraum, in dem die Felsenmatratzen des Herakles und die Felsenbetten des Prokrustes in der attischen Vasenmalerei erscheinen, tauchen auch Ikonographien auf, in denen Figuren auf Felsen liegend oder gelehnt schlafen. Eine Bauchamphora im Louvre zeigt Herakles, der einen Pfeil auf den schlafenden Riesen Alkyoneus abschießt (Abb. 282).123 In dieser frühesten Darstellung dieses Heraklesabenteuers liegt Alkyoneus auf einem großen Felsen, während ein Baum das freie Bildfeld über dem Schlafenden füllt. Auf einer Hydria der Leagros-Gruppe in London lehnt der schlafende Riese an einem Felsen, der sich nach oben hin zum Höhlenfelsen erweitert (Abb. 21).124 Ein Höhlenfelsen erscheint auch auf einer rotfigurigen Darstellung des Themas auf einer Schale um 490, wobei sich dieser Höhlenfels am linken Bildfeldrand emporzieht, während Alkyoneus auf einem getrennten Felsen liegt (Abb. 43).125 Die Form, welche der Felsen, auf dem Alkyoneus jeweils liegt, annimmt, passt sich stets an die Haltung des Riesen an und ist daher ebenso variabel wie dessen Liegehaltungen. Anders als in den Gelagebildern des Herakles gibt es keine Ikonographie des ‚normalen‘ Schlafes auf einem ‚normalen‘ Bett. Die formale Angleichung des Felsenbettes des Alkyoneus an ein ‚zivilisiertes‘ Pendant ist also eine Bildstrategie, die hier von vorne herein nicht möglich ist. Da der Felsen, auf dem Alkyoneus jeweils liegt, nicht per se die Form eines Bettes hat, handelt es sich nicht um ein paradoxes Motiv, das gleichzeitig Bett und nicht Bett, Fels und nicht Fels ist, sondern schlicht um einen Fel-

Heteronome Landschaftselemente

349 Abb. 282 Herakles schießt einen Pfeil auf den schlafenden Riesen Alkyoneus. Dieser liegt in verrenkter Haltung auf einem Felsen. Amphora, Paris, Louvre, 520–510

sen.126 Nun ist dieser Felsen jedoch kein isoliertes Landschaftselement, sondern die Liegeunterlage des Alkyoneus. Daher stellt sich nicht die Frage, warum dort, wo Alkyoneus schläft, ein Fels ist, mithin wo Alkyoneus schläft, sondern warum Alkyoneus auf einem Fels schläft,127 mithin warum er nicht in einem Bett schläft.128 Die Präsenz des Felsens ist somit das sichtbare Zeichen für das Fehlen eines Bettes.129 Wenn auch nicht in einem so zugespitzten Sinn wie beim Felsenbrunnen oder der Felsenmatratze, steht dieser Felsen doch mehr für das, was er nicht ist, als für das, was er ist. Welcher ist nun der Grund, warum Alkyoneus auf einem Felsen und nicht auf einem Bett schläft? Lässt man die ca. 25 zeitlich nahe beieinander liegenden Darstellungen des Themas Revue passieren,130 stellt man ein erstaunliches Variationsspektrum von Liegehaltungen des Alkyoneus fest, das von einer flach liegenden bis zu einer geradezu hockenden Haltung reicht, wobei in der Regel etwas zwischen beidem dargestellt ist. Dabei ist der Felsen in seiner Form zwar immer der Liegehaltung angepasst, die Liegehaltung dagegen ist selten eine, die man für einen erholsamen Nachtschlaf einnehmen würde. Auf der Hydria der Leagros-Gruppe in London hockt der Riese an die Höhlenwand angelehnt wie ein Türsteher, der ein unfreiwilliges Nickerchen macht: Er hat seine Keule zum Schlaf nicht abgelegt, sondern hält sie noch in der Rechten. Sein linkes Bein liegt nur mit der Oberseite der Fußspitze auf dem Boden auf. Diese transitorische Haltung zeigt an, dass er sich nicht schlafen gelegt hat, sondern dass er – im wahrsten Sinne des Wortes – in den Schlaf gesunken ist. Solche kleinen Details, die darauf verweisen, dass Alkyoneus sich nicht bewusst schlafen gelegt hat, sondern gewissermaßen in medias res eingeschlafen ist, finden sich in vielen Bildern: Auf einer Lekythos des Beldam-

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Semantische Untersuchung

Abb. 283 Herakles nähert sich dem schlafenden Alkyoneus. Lekythos des Beldam-Malers, Athen, Nationalmuseum, um 480

Abb. 284 Herakles nähert sich dem schlafenden Alkyoneus. Dieser ist sichtlich beim Sitzen (i. e. ungeplant) eingeschlafen. Statt Felsen erscheint hier Architektur. Hydria des Priamos-Malers, Civitavecchia, Mus. (A) und Deutschland, Privatbesitz (B), 510–500

Heteronome Landschaftselemente

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Malers in Athen schläft Alkyoneus mit übereinander geschlagenen Beinen (Abb. 283).131 Da er auf dem Felsen auch sonst mehr mit zurückgelehntem Oberkörper sitzt als liegt, ist damit offenbar gemeint, dass er im Sitzen eingeschlafen ist. Noch offensichtlicher ist dies auf einer sehr atypischen Darstellung des Mythos auf einer Hydria des Priamos-Malers (Abb. 284):132 Bei sonst großer kompositioneller Ähnlichkeit mit der Hydria in London hockt Alkyoneus nicht auf einem Felsen in einer Höhle, sondern unter einem Gebälk, das von einer Säule gehalten wird. Der hockende Riese hat seinen Kopf im Schlaf in die aufgestützte Hand gelegt. Ein häufiges Motiv ist desweiteren die auf dem rechten, hochgestellten Knie abgelegte Hand, womit der rechte Arm ‚in der Luft hängt‘, statt zur Gänze irgendwo aufzuliegen. Man sieht es auf der Schale in Schweizer Privatbesitz, wo auf diesem Arm der kleine Hypnos hockt (Abb. 43).133 Dies ist keine Haltung von langer Dauer. Dass die Hand vom Knie noch nicht abgerutscht ist, weist darauf hin, dass der Riese gerade erst eingeschlafen ist. Schließlich deutet das bereits erwähnte Motiv der im Schlaf weiterhin gehaltenen Keule darauf, dass Alkyoneus ungeplant eingeschlafen ist, und dies erst vor Kurzem passiert ist.134 Auf einer Schale des Makron in München liegt Alkyoneus mit angewinkelten Knien, lehnt den Oberkörper auf einen Felsen und wendet das Gesicht in einer ziemlich starken Körpertorsion vom herannahenden Herakles ab (Abb. 285).135 Die Keule muss ihm

Abb. 285 Herakles und Alkyoneus. Dem Riesen ist soeben die Keule entglitten. Schale des Makron, München, Antikensammlung, um 490

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Semantische Untersuchung

gerade erst aus der erschlafften linken Hand geglitten sein, deren geöffnete Finger den gelösten Griff noch erkennen lassen.136 Das Motiv der betonten Körpertorsion137 findet sich in anderen Darstellungen, wie bereits auf der Amphora im Louvre, wo nicht erst der Kopf, sondern schon der Rücken des Riesen in einem gegenüber den Beinen umgekehrten Profil erscheint. Wie in den meisten Darstellungen sind die Füße hier auf verschiedener Höhe abgesetzt, so dass die Knie unterschiedlich stark gebeugt sind. Bemerkenswert sind auf diesem Bild auch die sich kreuzenden Hände, von denen man die eine von innen, die andere von außen sieht. Diese Haltung ist keine naheliegende Weise, einen liegenden Körper darzustellen. Auch wenn der Alkyoneus der Pariser Amphora die wohl stärkste Körpertorsion aufweist, sind solche komplizierten Liegehaltungen typisch. Die Kompliziertheit der Liegehaltung ist dabei ein direkter Spiegel der Unebenheit des Felsens, der als Liegeunterlage dient. Die Felsen, auf denen Alkyoneus liegt, werden also bewusst nicht als ebene, zum Schlafen geeignete Felsen charakterisiert. Um sich davon zu überzeugen, stelle man neben die Darstellungen des schlafenden Alkyoneus die Schlafenden auf der Lekythos in Tarent mit Theseus, der von Athena geweckt wird (Abb. 286):138 Ariadne und der schlafende Knabe liegen mit durchgestreckten Beinen flach auf ebenem Grund. Nur der sich erhebende Theseus hat das Knie angewinkelt. Wie in mehreren Alkyoneusbildern ist der Kopf der Ariadne in die Frontalität gewendet, was mit einer Vierteldrehung des Oberkörpers einhergeht, welche die ruhige und flache Liegehaltung aber keineswegs aus dem Gleichgewicht bringt, im Gegensatz etwa zu einer Lekythos der Leagros-Gruppe in Toledo, wo der Körper des mit frontalem Gesicht dargestellten Alkyoneus ständig zwischen Frontalität und Profil wechselt (Abb. 287):139 Das ausgestreckte linke Bein liegt frontal, während das angewinkelte rechte Bein im Profil erscheint. Die Hüfte wirkt, wenn auch frontal wiedergegeben, durch das aufgestellte rechte Bein wie im Halbprofil, während der frontale Oberkörper vornüber zu kippen droht: Der rechte Arm, der vor der linken Hand bis zur Grundlinie herabreicht, ist dort aufgestützt und trägt – als unwillkürliche Reaktion auf das Kippen des Oberkörpers – Gewicht, was man an der Haltung der Finger mit einem durchgedrückten Daumen erkennt. Der Riese liegt also ausgesprochen labil auf seinem Felsen, und sein Schlaf ist unruhig. Die auf verschiedener Höhe abgelegten Beine, die Körpertorsionen, die am Felsen herabhängenden Arme, all diese besonderen Aufmerksamkeiten der Maler zeigen deren Bemühen, das Anschmiegen des erschlafften Körpers an das zufällige Auf und Ab des Felsens zu vermitteln.140 Die mangelnde Eignung der Felsen zum Schlafen entspricht dem, was zuvor gezeigt wurde, nämlich dass Alkyoneus sich nicht bewusst schlafen gelegt hat, sondern dort eingeschlafen ist, wo er sich zufällig gerade befindet.

Heteronome Landschaftselemente

353 Abb. 286 Ariadne schläft, während Theseus, von Athena geweckt, sie verlässt. Lekythos in der Art des Pan-Malers, Tarent, Mus. Nazionale, um 470

Dieser Aspekt hat einerseits eine offensichtliche dramaturgische Funktion: Wenn der Riese gerade erst eingeschlafen ist, kann er auch jeden Moment wieder aufwachen, was dem Angriff des Herakles ein Gefährdungsmoment gibt, das dieser auf den ersten Blick nicht zu haben scheint. Andererseits verrät das unwillkürliche Einschlafen des Riesen aber auch seine Schwäche: Alkyoneus ist vom Schlaf übermannt worden.141 Sein Riesenkörper ist dem Herakles an Kraft zwar weit überlegen, es fehlt ihm allerdings an Selbstbeherrschung. Das Modell für diese Gegenüberstellung eines ‚schwachen‘, aber listigen Menschen und eines übermächtigen, aber dummen Riesen, der nicht Herr über seinen Körper und dessen Begierden ist und sich deshalb trotz seiner Riesenkräfte des Schlafes nicht erwehren kann, ist die Geschichte von Odysseus und Polyphem. Nach dessen ungemischten und übermäßiAbb. 287 Herakles nähert sich Alkyoneus. Lekythos der Leagros-Gruppe, Toledo, Mus. of Art, 510–500

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Semantische Untersuchung

Abb. 288 Blendung des Polyphem. Der Kyklop schläft ebenso wie Alkyoneus auf einem Fels. Oinochoe des Theseus-Malers, Paris, Louvre, um 500

Abb. 289 Blendung des Polyphem. Skyphos aus der Werkstatt des Theseus-Malers, Berlin, Antikensammlung, um 500

gen Weinkonsum fällt er rücklings in den Schlaf, vom pandamˇtvr œpno« überwunden.142 Die beiden Darstellungen in Paris und Berlin der Blendung des Polyphem von der Hand (Abb. 288),143 bzw. aus der Werkstatt (Abb. 289)144 des Theseus-Malers übernehmen denn auch die Ikonographie des schlafenden Alkyoneus: In beiden Fällen ist Polyphem halb sitzend, halb liegend auf einem unebenen Fels dargestellt und hat die Knie verschieden stark angewinkelt. Auf der Pariser Oinochoe sind sogar das Motiv der auf dem Knie aufliegenden Hand und der noch gehaltenen Keule übernommen worden.145 Das Verständnis des Schlafes des Alkyoneus als Mangel an Beherrschung mag Manchem überinterpretiert vorkommen. Doch sollte man sich vor Augen halten, dass das Schlafen in der Ikonographie des späten 6. Jh. etwas vollkommen Außergewöhnliches ist und daher eine ‚starke‘

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Interpretation fordert: Alkyoneus ist der erste, der in der attischen Vasenmalerei schlafend dargestellt ist.146 Bald kommen die erwähnten Bilder des Polyphem hinzu. Desweiteren entsteht um 500 die Figur der schlafenden Mänade, die von Satyrn angegriffen wird, auf die im Folgenden eingegangen wird. Etwas später wiederum entsteht auch die Ikonographie der schlafenden Ariadne. Dabei ist es auffällig, dass diese ‚frühesten Schläfer‘ der attischen Vasenmalerei allesamt auf Felsen und nicht auf Betten liegen, also keinen ordentlichen (Nacht-)Schlaf schlafen, sondern dieser Schlaf für sich genommen genauso außergewöhnlich ist wie das Motiv des Schlafens für die attische Vasenmalerei. Das Fehlen ‚ordentlicher Schläfer‘ lässt sich m.E. eindeutig erklären. Der Schlaf ist ein Zustand, der nicht für den öffentlichen Raum bestimmt ist: Die vollkommene Passivität und Wehrlosigkeit dieses Zustands schickt sich nicht für den Mann, ebensowenig wie die offene Hingabe fremden Blicken in diesem Zustand völliger Verfügbarkeit sich für die ordentliche Frau schickt. Nun ist jedoch das Vasenbild, gemäß der in dieser Arbeit zugrunde gelegten Definition des Bildraums als Bildfeld, ein öffentlicher Raum. In der Tat, wenn das Bild auf der Vase nicht durch das Konstrukt eines fiktiven Raumes vom Hier und Jetzt des Zechers abgetrennt ist, ist es genauso öffentlich wie der Bankettsaal.147 Das Unerhörte am Schlafen auf Vasenbildern ist somit, dass es gewissermaßen ein Schlafen an öffentlichem Ort ist. Wenn nun Figuren dennoch auf Vasenbildern schlafen, dann weil eben dieses Schlafen an einem öffentlichen, nicht geschützten Ort darin zum Thema wird: Den schlafenden ‚Männern‘ Alkyoneus und Polyphem wird die Passivität148 und Wehrlosigkeit ihres Zustands – die an einem unzugänglichen Ort keinerlei Problem gestellt hätte – zum Verhängnis. Bei den schlafenden Frauen, Mänaden und Ariadne, geht es um das fremden Blicken Ausgesetztsein und um die sexuelle Verfügbarkeit, einmal den geilen Satyrn, einmal dem Gott Dionysos.149 Das Schlafen des Alkyoneus ist somit nicht eine Privatsache, die ihm wie jedem anderen Wesen zustünde, sondern wird auf dem Vasenbild zur öffentlichen Angelegenheit. Doch sollte er als Gegner des Herakles auf der Bühne (dem ‚Bildfeldkasten‘), auf der er schläft, eigentlich kämpfen. Das Schlafen auf einem Felsen und unter einem Baum ist somit nicht im Sinne eines bukolischen Bildes als ‚normale‘ Eigenschaft eines wilden Riesens zu verstehen, der seine Rinder in der freien Natur hütet und deshalb in ebenso freier Landschaft schläft,150 sondern als Schlafen statt Kämpfen, also als ein ausgesprochen unmännliches Verhalten, demgegenüber der scheinbar so feige Angriff des Herakles mutige Tatkraft verrät. In diesem Licht erhellt sich der Fokus, den die Maler auf die Darstellung des schlaff liegenden Körpers in so vielen Varianten und mit so komplizierten Torsionen und Verschränkungen der Glieder gelegt haben: Die erschlafften Glieder und die willenlose Hingabe des Körpers an die zufälligen Uneben-

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Abb. 290 Je zwei Satyrn greifen eine schlafende Mänade an. In einem Fall ist diese von den Zudringlichkeiten aufgewacht. Schale des Makron, Boston, Mus. of Fine Arts, um 490

Abb. 291 Ein Satyr greift eine schlafende Mänade an. Der Fels, auf dem sie schläft, hat entsprechend der Form des Bildfelds eine vertikale Ausrichtung. Halsamphora des Alkimachos-Malers, Paris, Louvre, 470–460

Semantische Untersuchung

heiten des Terrains zeichnet ein Gegenbild zum autarken, selbstbestimmten Mann.151 Wie bereits erwähnt, erscheint um 500 eine weitere Ikonographie von auf Felsen schlafenden Figuren, nämlich Mänaden, die von Satyrn überfallen werden.152 Im Gegensatz zu den Bildern vom schlafenden Alkyoneus findet sich diese Ikonographie nur auf rotfigurigen Vasen. Sie hat allerdings eine viel längere Geschichte, da die entsprechenden Bilder bis zum Ende des 5. Jh. reichen.153 In dieser Ikonographie erfüllt der Felsen in vieler Hinsicht eine analoge Funktion wie in den Bildern des schlafenden Alkyoneus, es gibt allerdings auch einige bezeichnende Unterschiede. Die Felsen haben ebensowenig wie die des Alkyoneus die Form einer Matratze, sondern bestehen meistens nur aus einer Bodenerhebung, auf die die Mänade ihren Oberkörper lehnt, während der Rest des Körpers auf der Grundlinie liegt, wie man es etwa auf den beiden Außenseiten einer Schale des Makron in Boston sieht (Abb. 290).154 Manchmal liegt der gesamte oder ein größerer Teil des Körper auf einem Felsen, wobei sich dieser dann allerdings nicht flach und parallel zur Grundlinie ausbreitet, sondern eine eher vertikale Ausrichtung hat, und die Mänade darauf fol-

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gerichtig mehr sitzt als liegt, wofür eine Halsamphora des AlkimachosMalers im Louvre ein Beispiel ist (Abb. 291).155 Der Form der Felsen entsprechend haben die schlafenden Mänaden meist auch keine reine Liegehaltung, wie man sie in einem zum Liegen bestimmten Bett einnehmen würde, sondern eher eine zurückgelehnte Sitzhaltung, bei der die Beine nicht ausgestreckt liegen, sondern die Knie angewinkelt sind. Verschiedene Varianten dieses halb hockenden oder sitzenden, halb liegenden Schlafens zeigen ein Schalenfragment des Onesimos in Florenz mit zwei hochgestellten Knien,156 eine Schale des Epidromos-Malers in Berlin mit einem hochgestellten und einem zur Seite gelegten Knie (Abb. 292)157 oder eine Hydria des Kleophrades-Malers in Rouen mit zwei zur Seite gelegten Knien (Abb. 293).158 Meist ist ein Arm hinter den Kopf gehalten, in der gewohnten Geste des Ruhens und Schlafens, die einem bei Alkyoneus deutlich seltener begegnet.159 Übermäßige Körpertorsionen und prekäre Liegepositionen, wie sie für manche Bilder des Alkyoneus typisch waren, finden sich bei den schlafenden Mänaden nicht: Wenn auch sie nicht auf für das Liegen konzipierten Unterlagen (oder diesen formal angeglichenen Felsen) liegen, schlafen die Mänaden also entspannt. Schließlich weisen wie bei Alkyoneus eindeutige Zeichen darauf hin, dass der Schlaf der Mänaden nicht ‚geplant‘ war, sie sich nicht schlafen gelegt haben, sondern in medias res eingeschlafen sind: Den Thyrsos halten sie meist noch in den Händen. Auf einer Schale um 470–460 im Louvre mit je einer schlafenden Mänade auf beiden Außenseiten liegt der Thyrsos, den eine Mänade in der Linken hält, nicht irgendwo auf, wobei die Mänade nur den Griff nicht gelöst hätte, sondern sie hält ihn gewissermaßen noch aktiv aufrecht (Abb. 294).160 Die Mänade ist also gerade erst in den Schlaf gesunken, und ihr Körper hat noch einen gewissen Tonus behalten. Nicht weniger aktiv hält die schlafende Mänade den Thyrsos auf der Makron-Schale in Boston, während ihre Kameradin auf der Gegenseite, die durch den Übergriff der Satyrn schon aufgewacht ist, ihren Thyrsos bereits gegen die Angreifer schwingt (Abb. 290).161 Ebenso unversehens wie die Mänaden einschlafen, können sie also auch wieder aufwachen. Desweiteren gibt einem die Schlafhaltung des zurückgelehnten Sitzens zu verstehen, dass die Mänaden sich nicht zum Schlafen hingelegt haben, sondern in einer Ruhehaltung eingeschlafen sind: Ermattet vom ekstatischen Tanz sind sie dort eingeschlafen, wo sie sich gerade befanden.162 Dieses „wo“ ist allerdings nicht im Sinne eines bestimmten Ortes, etwa der Bergwildnis, auf die der Fels deute, zu verstehen, sondern im Sinne eines Kontextes: In einigen Bildern schläft die Mänade nämlich nicht auf einem Felsen, sondern auf einer Weinamphora, im Falle einer Schale in Mainz163 oder auf einem Weinschlauch, wie im Falle der Schale des Epidromos-Malers in Berlin (Abb. 292).164 Die Mänade ist nicht in der Bergwildnis eingeschlafen, sondern inmitten von Rausch und Tanz,165 im

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Semantische Untersuchung

Abb. 292 Ein Satyr nähert sich einer schlafenden Mänade, die sich dem Betrachter sehr betont zuwendet. Schale des Epidromos-Malers, Berlin, Antikensammlung, 510–500

Abb. 293 Zwei Satyrn bei einer schlafenden Mänade. Sie präsentiert ihren Körper – nicht ganz freiwillig – dem Betrachter. Hydria des Kleophrades-Malers, Rouen, Mus. des Antiquités, um 490

Abb. 294 Je ein Satyr nähert sich einer schlafenden Mänade. Schale aus der Nähe des Euaichme-Malers, Paris, Louvre, 470–460

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wahrsten Sinne des Wortes in medias res. Ihr Schlaf ist kein normaler Vorgang wie das nächtliche Schlafen, sondern ein Ereignis: Es handelt sich nicht um eine genrehafte Schilderung aus dem Leben einer Mänade, die in der Bergwildnis lebt und daher auf Felsen schläft. Das vor aller Augen Schlafen der Mänade ist etwas Unerhörtes,166 und die Felsen, die in den Darstellungen als Schlafunterlage dienen, verleihen dem Ausdruck. Im Falle der schlafenden Mänaden wird also wie bei Alkyoneus der außergewöhnliche Umstand des Schlafens auf der ‚Bühne‘ des Bildfelds auch im Bild nicht als etwas ‚normales‘ behandelt, sondern wird zum Thema gemacht. Während es bei dem vor aller Augen Schlafen des Alkyoneus nun um dessen Passivität und Wehrlosigkeit geht, handeln die Bilder der schlafenden Mänade, wie gesagt, von dem fremden Blicken Ausgesetztsein und der sexuellen Verfügbarkeit der Mänade. Dabei ist es offensichtlich, dass die fremden Blicke nicht nur die der Satyrn, sondern auch die der externen Betrachter des Bildes167 sind, und die sexuelle Verfügbarkeit nicht nur gegenüber den Satyrn, sondern ebenso gegenüber den Betrachtern Thema ist.168 Ließen sich die verschiedenen Liegehaltungen auf den Felsen des Alkyoneus mit dessen willenlosen Anschmiegen an das zufällige Auf und Ab des Bodens erklären, so dienen die Liegehaltungen der schlafenden Mänaden nämlich oftmals der maximalen Exhibition des Körpers vor dem Betrachter des Bildes. Entsprechend lassen sich die Bilder erklären, in denen die Mänade ihre Beine zur Seite legt und damit ihre Scham frontal dem Betrachter präsentiert, wie es auf der Hydria des Kleophrades-Malers in Rouen der Fall ist, wo das Hochheben des Gewands durch den Satyrn nicht nur diesem einen besseren Einblick gewährt (Abb. 293).169 Nicht nur die Frontalität der Scham, auch die Frontalität des Gesichts, die auf einer Schale im Louvre vorkommt (Abb. 294),170 ist im Sinne der Verfügbarkeit gegenüber dem Betrachter zu verstehen. An dieser expliziten Implikation des Betrachters in das Bild zeigt sich besonders deutlich, wie sehr das Schlafen (oder jegliche andere Handlung) nicht nur im Bild geschieht, sondern auch im Raum der Betrachter, mithin wie sehr das Bildfeld/der Bildraum öffentlicher Raum ist.171 Auch Ariadne, die dritte Figur, die auf Vasenbildern der Wende zur Klassik schlafend erscheint, schläft auf Felsen. In den beiden Bildern dieses Zeithorizonts, einer Schale des Erzgießerei-Malers in Tarquinia (Abb. 75)172 und einer Lekythos in der Art des Pan-Malers in Tarent (Abb. 286),173 ist das Zurücklassen der Ariadne durch Theseus dargestellt, wobei im ersten Fall der Fokus mehr auf der zurückgelassenen Ariadne liegt, während im zweiten Fall mit dem von Athena geweckten Theseus der ‚Ruf der Pflicht‘ im Vordergrund steht. Wenn auch Ariadne an der Schamlosigkeit der schlafenden Mänaden, die gut zum ‚vulgären‘ Paar Satyr-Mänade, nicht aber zum ‚hehren‘ Paar Dionysos-Ariadne passt, keinen Anteil hat, ist auch in diesen Bildern der Aspekt der sexuellen Verfüg-

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Semantische Untersuchung

barkeit der Schlafenden offensichtlich. Auf der Lekythos in Tarent, wo Ariadne nur eine von mehreren Schlafenden ist und in erster Linie die Folie für den Aufbruch des Theseus bildet, wird dies auf wenig aufdringliche Weise durch die Frontalität des Gesichts und die damit einhergehende Offenlegung vor den Augen des Betrachters deutlich gemacht. Auf der Schale in Tarquinia wird Ariadne von einem Eros bekränzt, und ein Weinstock präfiguriert das Kommen des Dionysos. Auch der Schlaf der Ariadne ist also kein ‚normaler‘ Schlaf, sondern eine unerhörte Begebenheit, die nicht ohne Folgen bleibt, und findet deshalb nicht in einem Bett, sondern auf einem Felsen statt. Anders als der Schlaf des Alkyoneus oder der Mänaden ist er allerdings nicht Folge eines unwillkürlichen Einschlafens. In beiden Fällen liegt Ariadne flach auf einem einigermaßen ebenen Untergrund und weist keinerlei transitorische Haltungen auf. Nachdem er einen geregelten Anfang genommen hatte, wird ihr Schlaf denn auch erst mit dem Aufbruch des Theseus zum Problem, von dem verlassen sie den fremden Blicken und Übergriffen ausgesetzt ist. Wenn auch auf einem anderen Register als bei den Mänaden macht auch das Motiv der schlafenden Ariadne das Schlafen an ungeschütztem Ort zum Thema, wobei der zum Schlafen nicht gedachte Gegenstand – der Fels – für den zum Schlaf nicht gedachten Ort – die ‚Bühne‘ des Bildfelds – steht.174 Das außergewöhnliche Schaleninnenbild des Onesimos im Getty-Museum, das eine schlafende Mänade zeigt, der sich ein Satyr nähert, muss schließlich noch behandelt werden, da es aus dem hier vorgelegten Interpretationsmodell vollkommen herausfällt (Abb. 143).175 Die Mänade schläft hier ausnahmsweise nicht auf einem Felsen, sondern auf einer Matratze, während es der Satyr ist, der an einem Felsen zu ihr herabklettert (bzw. eher herabpurzelt). Wie bei der schlafenden Ariadne und anders als bei sonstigen schlafenden Mänaden sind hier keine Anzeichen für ein unwillkürliches Einschlafen in medias res zu erkennen. Alles hat den Anschein, als sei hier wirklich einmal ein ‚normales‘ Schlafen gezeigt: Die Mänade schläft auf einer Matratze, ist bekleidet und nicht nackt. Möglicherweise ist sogar die Frage erlaubt, ob hier nicht statt einer Mänade eine ‚normale‘ Frau dargestellt ist.176 Nicht die Schamlosigkeit der Mänade, die sich sorglos an ungeschütztem Ort dem Schlaf überlässt, sondern die Lüsternheit des Satyrn, der sich auch an unschuldig schlafende Frauen heranmacht, steht in diesem Bild im Mittelpunkt. Daher hat der Felsen, mit dem normwidriges Verhalten assoziiert wird, gewissermaßen Seite gewechselt: Es findet nun nicht mehr das Schlafen, sondern die Annäherung an die Schlafende auf einem Felsen statt. Daran zeigt sich, wie sehr die Interpretation eines Felsens vom einzelnen Bild und der Weise, wie er darin verwendet wird, abhängt, und wie zwecklos es wäre, eine kontextunabhängige Bedeutung des Felsen wie für ein Bildmotivlexikon erschließen zu wollen.177

Heteronome Landschaftselemente

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Unter den felsigen Gegenständen, die bis jetzt besprochen wurden, sind zwei Kategorien zu unterscheiden: Es gibt solche, die die Form des durch den Felsen vertretenen Gegenstands erhalten. Zu diesen gehören insbesondere die Felsenbrunnen der Polyxena und ein Teil der Felsenmatratzen in Heraklesgelagen. Bemerkenswert ist, dass strenggenommen nur schwarzfigurige Landschaftselemente in diese Kategorie fallen. Daneben gibt es solche Felsen, die zwar einen bestimmten ‚zivilisierten‘ Gegenstand vertreten, ohne eine direkte formale Ähnlichkeit mit diesem aufzuweisen. Dieser zweite Fall, zu dem insbesondere die Felsen zu rechnen sind, auf denen Figuren schlafen, allerdings auch viele Felsen in Heraklesgelagen, ist bereits um 500 häufiger, v.a. aber gehört ihm die Zukunft. Mit dem Ende der schwarzfigurigen Vasenmalerei brechen nämlich auch die felsigen Gegenstände der ersten Kategorie ab. Prinzipiell geht es in beiden Fällen darum, eine Verfremdung gegenüber der normalen Situation zu zeigen. Im zweiten Fall ist die Zuspitzung der Gegenüberstellung von ‚zivilisiertem‘ Gegenstand und rohem Pendant, welche im ersten Fall erreicht wird, zugunsten einer überzeugenderen Felsenwiedergabe aufgegeben worden. In der Tat kann das Landschaftselement erst dann eine eigene Formensprache entwickeln, wenn es von den Fesseln der unbedingten formalen Übereinstimmung mit dem vertretenen Gegenstand befreit ist. Diese Richtungsentscheidung, welche insbesondere die rotfigurigen Maler getroffen haben, leitet schon in das nächste Kapitel, den Erhalt der ästhetischen Eigenständigkeit, über. Zuvor sollen aber noch einige Bilder und Motive erwähnt werden, auf die der Oberbegriff des heteronomen Landschaftselements zumindest in gewissen Hinsichten passt. Hier wäre zuallererst das Motiv des Höhlenfelsens zu nennen. Wie im Unterkapitel zur figurativen Bildfeldbegrenzung gezeigt wurde, sind Höhlenfelsen genauso wie Architekturelemente in ihrer Disposition auf dem Bildfeld an die Bildfeldbegrenzung mehr oder weniger fest gebunden.178 Innerhalb der räumlichen Struktur des Bildfelds stehen Säulen, Gebälke und Höhlenfelsen also analog zueinander. Dasselbe ließe sich bezüglich ihrer jeweiligen ikonographischen Bedeutung sagen: Die Höhle ist das rohe Pendant zum gebauten Haus. Dass dies nicht nur leere Theorie ist, lässt sich leicht zeigen. Auf einem Stamnos des Berliner Malers in Palermo führt Peleus seine geraubte Braut Thetis nach Hause und hält sie dabei der normalen Hochzeitsikonographie entsprechend am Handgelenk (Abb. 138).179 Sein Ziehvater Chiron empfängt ihn, wobei das Hinterteil seines Pferdekörpers von einem Höhlenfelsen überdeckt wird. Der Höhlenfelsen vertritt also offensichtlich den sonst üblichen Hauseingang, entsprechend der wilden, tierischen Natur des Kentauren. Eine Höhle ist auch das Haus des Nemeischen Löwen auf einer Lekythos in Japan, wo dieser zur Hälfte von einem Höhlenfelsen hervorkommt (Abb. 135).180 Dass Höhlenfelsen der Permutationslogik, welche sich in den

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vorhergehenden Untersuchungen auf verschiedenste Weise gezeigt hatte, nicht fern sind, zeigt sich schließlich auch daran, dass sie in einigen der untersuchten Ikonographien auftauchen: In den Gelagen bei Pholos tauchen neben Felsenmatratzen auch Höhlenfelsen auf, die zu Säule und Gebälk stehen wie Felsenmatratzen zu Klinen. So etwa auf der vielzitierten Lekythos des Theseus-Malers im Kunstmarkt mit der gebuckelten Felsenmatratze und der ebenso gebuckelten Felsendecke (Abb. 42).181 Ebenso erscheint ein Höhlenfelsen auf der Alkyoneus-Schale in Genfer Privatbesitz (Abb. 43).182 Es ist bezeichnend, dass die Zahl von Höhlenfelsen in der attischen Vasenmalerei mit dem Ende des Schwarzfigurigen stark zurückgeht, wie auch alle anderen Landschaftselemente, auf die man das Konzept des heteronomen Landschaftselements anwenden kann. Desweiteren ist die große Gruppe der felsigen Sitzgelegenheiten zu nennen, die anders als die felsigen Liegeunterlagen, welche sich im Laufe des 5. Jh. vereinzeln, bis ans Ende des 5. Jh. eine sowohl zahlenmäßig starke als auch ikonographisch außerordentlich breite Verwendung finden. Auch wenn felsige Sitzgelegenheiten grundsätzlich die nicht bearbeitete Variante eines Stuhls sind, scheint die beschriebene Permutationslogik bei diesen selten im Vordergrund zu stehen, was sicherlich auch damit zu tun hat, dass ihre breite Verwendung ab ca. 480 erst zu einem Zeitpunkt beginnt, als das Bildkonzept der Permutation eines ‚zivilisierten‘ Gegenstands durch einen Felsen bereits am Auslaufen war. Einige frühe Beispiele von Felsensitzen folgen freilich ganz der in diesem Kapitel behandelten Logik der Vertretung eines ‚zivilisierten‘ Gegenstands. Dies gilt etwa für die Lekythos des Athena-Malers in Athen mit Odysseus bei Kirke (Abb. 23):183 Odysseus, dem die Zauberin gerade den Skyphos mit dem verhängnisvollen Inhalt reicht, sitzt auf einem Felsen. Wie sollte man die Tatsache, dass die Sitzgelegenheit des Odysseus ein Fels statt ein Stuhl ist, nicht mit der falschen Gastfreundschaft der Kirke in Verbindung setzen, die ihrem Gast zwar zu trinken reicht, aber einen gefährlichen Zaubertrunk?184 Auch solch frühe Sitzfelsen funktionieren in der Mehrzahl allerdings anders. Wenn etwa auf einer Schale des Erzgießerei-Malers in München in einem Bild mehrerer sich unterhaltender, bärtiger und nichtbärtiger Himationträger einer auf einem Fels, ein anderer auf einem Stuhl sitzt, werden damit dann etwa beide Sitzgelegenheiten gegeneinander ausgespielt, bzw. beide darauf sitzenden Figuren grundsätzlich voneinander abgesetzt (Abb. 295)?185 In einem ansonsten so homogenen Bild wohl kaum. Dennoch hat der Felsensitz, auf dem die linkeste Figur sitzt, eine ausgesprochen rechteckige Form, welche ihn eindeutig als Felsenhocker und nicht als bloßen Felsen charakterisiert. Solche Beispiele ließen sich beliebig vermehren. Auf das Phänomen der Hockerfelsen, die keinerlei Antithese zur Poliskultur bilden, wird im folgenden Kapitel noch zurückzukommen sein.186

Heteronome Landschaftselemente

363 Abb. 295 Bärtige und unbärtige Männer im Gespräch. Einer sitzt auf einem Hocker, ein anderer auf einem Felsensitz. Schale des Erzgießerei-Malers, München, Antikensammlung, um 490

Schließlich gibt es einzelne Bilder, in denen Bäume im Sinngefüge des Bildes eine ähnliche Funktion erfüllen wie die in diesem Kapitel besprochenen Felsen, indem sie weniger für das stehen, was sie sind, als für das, was sie nicht sind und dessen Fehlen sie im Bild markieren. In dieser Weise ließen sich etwa die Bäume interpretieren, welche auf der Amphora mit der Trauernden im Vatikan erscheinen (Abb. 296).187 Die Bäume, welche in dieser Zahl und dieser graphischen Differenziertheit der Zeichnung in der zeitgenössischen attischen Vasenmalerei singulär sind, umgeben den gefallenen Krieger und die einsame Trauernde anstelle einer zahlreichen Trauergemeinde, die für eine ehrenvolle Bestattung angebracht gewesen wäre. Ebenso ist die Leiche in Ermangelung eines ordentlichen Totenbetts Abb. 296 Eine Frau trauert alleine um einen Gefallenen. Statt auf einer ordentlichen Kline ist die Leiche zwischen Bäumen auf Zweigen aufgebahrt. Amphora des Malers der Trauernden vom Vatikan, Vatikan, Mus. Gregoriano Etrusco, um 540

364 Abb. 297 Herakles führt einen Stier alleine zum Opfer. Anstelle einer Festgemeinschaft erscheint hier nur ein Baum. Bilingue Amphora des Andokides-Malers, Boston, Mus. of Fine Arts, um 520 (andere Seite: Abb. 325)

Semantische Untersuchung

Heteronome Landschaftselemente

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auf Zweige gebettet. Die Bäume stehen also für das, was fehlt, nämlich die trauernde Familie. Ähnliches ließe sich zu den beiden prächtigen Bäumen sagen, die auf den Seiten der bilinguen Amphora des Andokides-Malers in Boston erscheinen (Abb. 297).188 Während auf der Amphora mit der Trauernden die Trauergemeinde fehlt, fehlt hier die Opfergemeinschaft, und statt ihrer füllt ein Baum die übrige Fläche des Bildfelds. Der Baum verweist also e negativo auf den skandalösen Umstand, dass Herakles den Stier für sich selber zum Opfer führt.189 Die Lesart, mit der ich in diesem Kapitel an die Landschaftselemente herangegangen bin, war in vielen Fällen tendenziös, insofern sie einseitig deren Heteronomie hervorgehoben hat. Es hat sich zwar gezeigt, dass diese Lesart in den besprochenen Fällen möglich und daher nicht sachlich falsch ist. Damit ist es aber noch nicht ausgeschlossen, dass gleichzeitig nicht auch andere Lesarten möglich wären, bei denen die Landschaftselemente nicht mehr nur dafür stehen, was sie nicht sind, sondern auch dafür, was sie sind. Wenn der Erhalt solcher ästhetischer Eigenständigkeit der Landschaftselemente, der im folgenden Kapitel behandelt werden wird, schon für Landschaftselemente diagnostiziert werden wird, die bereits hier angeführt wurden, dann weil sich in vielen rotfigurigen, aber auch einigen schwarzfigurigen Bildern beide Lesarten überlagern, insofern eine ‚neue‘, eigenständige Lesart bereits möglich ist, während gleichwohl die alte unwidersprochen bleibt. Wenn auch beide Konzeptionen von Landschaftselementen grundsätzlich in einer chronologischen Abfolge stehen, lösen sie sich also nicht sauber ab, sondern das allmähliche Verschwinden der einen steht in keinem direkten kausalen Verhältnis mit dem Aufkommen der anderen. Dieser Prozess allmählicher Ablösung wird im folgenden Kapitel deutlicher werden.

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Semantische Untersuchung

Der Erhalt des ästhetischen Eigenständigkeit

Felsige Felsen Im Folgenden soll es um rotfigurige Felsdarstellungen des frühen 5. Jh. gehen, an denen gegenüber früheren rotfigurigen und (z.T. auch gleichzeitigen) schwarzfigurigen Felsen das Bestreben der Maler auffällt, das spezifisch ‚Felsige‘ an ihnen hervortreten zu lassen. Dieses Bestreben richtet sich auf die Unregelmäßigkeit der Form der Felsen mit ihren schroffen Kanten und Zacken, auf den aleatorischen Charakter ihrer Form, die durch den Nutzer des Felsens nicht frei wählbar ist, auf deren raue Oberfläche und auf deren Eigenschaft, schwer und unhandlich zu sein. Versuche der Maler, Felsen wahrhaft felsig erscheinen zu lassen, sind in diesem Zeitraum nicht neu: Beispiele für eine Gestaltung von Felsen, die mittels Binnenritzungen und mittels des Auftrags von Deckfarbe deren materielle Eigenschaften zum Vorschein bringen sollen, sind bereits in schwarzfiguren Bildern der zweiten Hälfte des 6. Jh. nachzuweisen. Gegenüber diesen früheren Beispielen für ‚felsige‘ Felsen, auf die ich noch zu sprechen kommen werde,1 stellen die im Folgenden vorgestellten rotfigurigen Felsen des früheren 5. Jh. einerseits eine quantitative Steigerung ihrer Zahl dar. Wie es im folgenden gezeigt werden soll, bekommt die Ästhetisierung der rotfigurigen Felsen in diesem Zeitraum jedoch auch eine neue Qualität, insofern sie eine Eigendynamik entwickelt, durch die die im vorhergehenden Kapitel geschilderten Grundzüge der ikonographischen Verwendung von Felsen aus den Fugen gerät. Zur besseren Verdeutlichung dieses Phänomens sei es erlaubt, die schwarzfigurigen Techniken zur felsigen Charakterisierung von Felsen zeitweilig auszublenden. Zwischen den Felsen, von denen Skiron von Theseus2 einmal auf dem Skyphos des Theseus-Malers um 500–490 in Toledo (Abb. 298)3 und einmal im Inneren der Schale des Douris um 480 in Berlin (Abb. 9)4 herabgestürzt wird, fallen die Unterschiede klar ins Auge. Der Felsen des Theseus-Malers ist als ein einfaches Oval ohne Binnenritzung gemalt. Die Fläche des Felsens dient offenbar v.a. als Folie für die Darstellung einer

Der Erhalt des ästhetischen Eigenständigkeit

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weißen Schlange.5 Anders der Felsen auf der Berliner Schale: Seine Dimensionen, seine markante Form und das Volumen, das er durch die Binnenzeichnung und den Gebrauch verdünnten Tonschlickers zur Verschattung der ‚Täler‘ bekommt, machen den Felsen selbst zum Blickfang. Die Gegenüberstellung des Skironfelsens des Douris mit frühen rotfigurigen Skironfelsen kommt zu ähnlichen Ergebnissen. Auf der Florentiner Schale des Töpfers Kachrylion ist der Felsen ebenso wie beim Theseus-Maler vollkommen flächig wiedergegeben, mit dem Unterschied, dass hier die Fläche tongrundig ist (Abb. 299).6 Auf einer Schale um 510 in Privatbesitz ist anstelle eines Felsens eine Art niedriger Sockel dargestellt, von dem Skiron herabgestürzt wird (Abb. 300).7 Von welchem Gegenstand der Verbrecher genau herabgestürzt wird, scheint hier zweitrangig gewesen zu sein. Ausgehend von diesen frühen rotfigurigen Skironfelsen, die keineswegs felsiger wirken als die etwa gleichzeitigen Felsen des Theseus-Malers, setzen sich die späteren Skironfelsen des Onesimos, des Kleophrades-Malers oder des Douris durch die Entwicklung einer spezifischen Ästhetik des Felsens ab, wenn auch nicht immer gleich deutlich und auf dieselbe Weise. Auf dem Theseuszyklus des Kleophrades-Malers um 490–480 in Bologna fehlen dem Skironfelsen zwar Binnenzeichnungen, die ihm Volumen verleihen würden (Abb. 10).8 Dafür erlangt er durch das spektakuläre Motiv des sich von hinten an den Felsen klammernden Skiron, durch das der Felsen dessen Oberkörper verdeckt und somit selbst umso mehr hervortritt, ein starkes Eigengewicht. Die Zyklusschale des Onesimos um 490–480 im Louvre zeigt zu der markanten hochaufragenden Form des Skironfelsens auch Binnenzeichnungen, die Volumen und eine unregelmäßige Form andeuten (Abb. 48).9 Dieselbe Entwicklung lässt sich anhand der Felsen des Prokrustes aufzeigen, wenn auch sie etwas komplexer abläuft, da dort von Anfang an eine deutliche Unterscheidung zwischen schwarzfigurigen und rotfigurigen Darstellungen zu beobachten ist: Die Felsenbetten des Prokrustes auf Vasen des Theseus-Malers entwickeln, wie bereits ausgeführt,10 keinerlei felsentypische Morphologie, sondern lehnen sich an die flache Form einer Matratze an. Die weiße Farbe, mit der die schwarzfigurigen Prokrustesfelsen oft überzogen sind, haben weniger darstellerischen als signaletischen Wert, insofern sie das Felsenbett zwar mit leuchtender Farbe hervorheben, es jedoch keineswegs ‚felsig‘ erscheinen lassen.11 Der Mangel an ‚felsiger‘ Gestaltung des Felsenbetts ist also nicht Zeichen für eine geringe Wichtigkeit des Motivs, sondern zeigt, dass das Felsenbett und nicht der Felsen im Vordergrund standen. Neben den flachen Felsenbetten im Schwarzfigurigen gab es für die Darstellung des Prokrustesfelsens jedoch eine andere Option, die vor allem rotfigurige Maler wählten, wie man es auf einer Schale des Skythes sehen kann (Abb. 301).12 Hier wird auf die formale Parallele mit einer Matratze von vorne herein verzichtet, oder

368 Abb. 298 Theseus stürzt Skiron von seinem Felsen herab. Skyphos des TheseusMalers, Toledo, Mus. of Art, 500–490 (andere Seite: Abb. 280)

Abb. 299 Taten des Theseus. Der Fels, von dem Skiron herabstürzt ist, nicht weniger flach als die Felsen des TheseusMalers. Schale des Töpfers Kachrylion, Florenz, Mus. Archeologico, um 510 (andere Seite: 281; Innenbild: Abb. 122)

Abb. 300 Taten des Theseus. Das, wovon Theseus Skiron herabstürzt, sieht einem Felsen nicht ähnlich. Schale des Skythes, ehemals Schweiz, Kunsthandel, um 510 (andere Seite: Abb. 279)

Semantische Untersuchung

Der Erhalt des ästhetischen Eigenständigkeit

369 Abb. 301 Theseus im Kampf mit Prokrustes. Der Felsen des Prokrustes sucht die morphologische Nähe zu einem Bett hier offensichtlich nicht. Schale des Skythes, Rom, Villa Giulia, 520–510

Abb. 302 Taten des Theseus. Schale aus der Nähe des Malers von Louvre G 36, London, British Mus., 510–500

mehr noch: Es wird nicht deutlich, wie dieser vertikal ausgerichtete Felsen überhaupt als Bett oder Lager dienen könnte.13 Auf einer geringfügig späteren Zyklusschale in London ist ein ebenso hoch aufstrebender Fels dargestellt, wobei er sich dort in einem dünnen Streifen entlang der Grundlinie fortzieht, um die Länge eines Bettes zu erreichen (Abb. 302).14 Während also auf der Schale des Skythes ein bloßer Felsen erscheint, und der mythische Kampf mit Prokrustes ohne Referenz auf das Bett in vereinfachter Form wiedergegeben ist, wird hier auf das Bett zumindest Bezug genommen. Anders als auf der Schale des Skythes, wo Theseus ein Schwert hält, bedient er sich hier auch des Hammers, der v.a. im Zusammenhang mit dem Bett Sinn ergibt.15 Hochaufstrebende Felsen wie auf den frühen rotfigurigen Schalen erscheinen auch in der Folgezeit immer wieder. Eine Schale um 490 in Athen (Abb. 96),16 die Zyklusschale des Kleophrades-Malers um 480 in

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Semantische Untersuchung

Abb. 303 Taten des Theseus. Dem hoch aufragenden Felsen des Prokrustes steht ein ebensolcher Felsen am linken Friesende gegenüber. Schale des StiefelMalers, Rom, Villa Giulia, 460–450

Bologna (Abb. 10)17 und eine Schale des Stiefel-Malers um 460–450 in Rom (Abb. 303)18 weisen Felsen auf, die teilweise sogar bis zum oberen Bildfeldrand reichen. Auch schwarzfigurige Bilder folgen manchmal dieser Darstellungsweise des Prokrustesfelsens: Ein Skyphos der KrokotosGruppe in St. Petersburg zeigt ebenfalls einen Fels mit vertikaler Ausrichtung.19 Der Gewinn, welchen solche Felsen mit sich bringen, ist offenkundig: Sie erlauben dem Prokrustes, in seinem Zurückweichen mit dem linken Arm an dem Felsen Halt zu suchen,20 wodurch die Dramatik des Kampfes gesteigert wird. In den genannten Bildern wird diesem Motiv des am Felsen Halt Suchens die Ähnlichkeit mit einem Bett geopfert. Was die Oberflächengestaltung der frühen rotfigurigen Prokrustesfelsen betrifft, gilt das, was bereits an den frühen Skironfelsen beobachtet wurde: Sowohl auf der genannten Schale des Skythes als auch auf der Londoner Zyklusschale ist die Fläche des Felsens ohne Binnenzeichnung rotgrundig belassen und wirkt somit nicht ‚felsiger‘ als die mit weißer Farbe überzogenen schwarzfigurigen Felsen. Sie dienen lediglich der dramatischeren Inszenierung des Sturzes des Prokrustes. Eine spezifische Ästhetik des Felsigen ist an ihnen nicht zu erkennen. Dies ändert sich bereits mit der Zyklusschale des Onesimos im Louvre, wo sich der gestürzte Prokrustes auf einen niedrigen Fels stützt, der offenbar das erhöhte Kopfende eines Felsenbettes meint (Abb. 48).21 Dieser Fels ist mit der Funktion eines Bettes kompatibel – er könnte gewissermaßen als Kopfkissen dienen –, ohne jedoch die Form einer Matratze in Gänze zu wiederholen. Das Motiv der im Sturz auf dem Felsen aufgestützten Hand ist von den frührotfigurigen Bildern übernommen. Onesimos geht somit

Der Erhalt des ästhetischen Eigenständigkeit

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einen Mittelweg zwischen den Matratzenfelsen des Theseus-Malers und den hochaufragenden Felsen der frührotfigurigen Darstellungen, denen jegliche Ähnlichkeit mit einem Bett abgehen, die dem Räuber allerdings in seinem Sturz Halt geben. Dabei kann das felsige ‚Kopfende‘ als Felswiedergabe mehr überzeugen, als es die Felsmatratzen des Theseus-Malers oder die frührotfigurigen Felsen taten: Die kleinen Unregelmäßigkeiten der Form und die Binnenzeichnung geben ihm eine gewisse ‚felsenhafte‘ Materialität. In noch engerer Anlehnung an die für ein Bett zu fordernde Form, ohne dabei den felsigen Charakter einzubüßen, ist der schräg aufsteigende Prokrustesfelsen mit unregelmäßigem Umriss auf dem Halsbild eines Volutenkraters des Syriskos-Malers im Kunsthandel gestaltet.22 Diesem sehr ähnlich ist der ebenso schräg ansteigende Prokrustesfelsen auf einem Stamnos des Kopenhagen-Malers um 470–460 in London (Abb. 304).23 Lediglich auf ein kleines felsiges ‚Kopfende‘ stützt sich Prokrustes wiederum auf einer Halsamphora des Schweine-Malers um 470 (Abb. 305).24 Für diese Bilder gilt, was zum Prokrustesfelsen der Onesimosschale gesagt wurde: Einerseits nehmen sie den Rekurs auf das Bett, den die schwarzfigurigen Darstellungen des Theseus-Malers unmissverständlich aufweisen, auf. Andererseits ist auffällig, dass stets das ‚Kopfende‘ des Felsens erhöht ist, so dass das Motiv des Halt Suchens des stürzenden Prokrustes, welches uns bereits in den frühen rotfigurigen Bildern begegnet war, beibehalten werden konnte. Diese Prokrustesfelsen nehmen somit Elemente sowohl aus den schwarzfigurigen als auch aus den frührotfigurigen Darstellungen auf und verbinden sie mit einer felsentypischeren Gestaltung.

Abb. 304 Theseus im Kampf mit Prokrustes. Dessen Felsen schließt sich hier unmittelbar an die Form eines Bettes an. Stamnos des Kopenhagen-Malers, London, British Mus., 470–460 Abb. 305 Theseus und Prokrustes. Der Felsen nimmt von der Form eines Bettes nur die Erhöhung am Kopfende auf. Halsamphora des Schweine-Malers, Cambridge, Fitzwilliam Mus., um 470

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Semantische Untersuchung

Interessant ist nun, dass in der Entwicklung in den ersten Jahrzehnten des 5. Jh. die formale Parallele zum Bett tendenziell immer mehr in den Hintergrund rückt, der felsige Charakter dafür aber stärker hervortritt. Dies wird bereits auf der Schale des Kleophrades-Malers um 480 in Bologna deutlich, wiewohl dort die Oberfläche der Felsen noch gänzlich unbearbeitet ist (Abb. 10):25 Das ‚Kopfende‘ des Felsens zieht sich bis zur oberen Bildfeldbegrenzung hinauf, obwohl sich Prokrustes mit seinem Arm auf dem Drittel der Höhe daran festklammert, und der obere Teil für dieses Motiv des Festklammerns nicht mehr nötig gewesen wäre. Statt sich ökonomisch an die Anforderungen der Figuren zu halten, breitet sich der Felsen also maximal aus und hält sich dabei, gemäß dem im vorigen Teil herausgearbeiteten Grundsatz,26 an die seitliche Bildfeldbegrenzung, welche er bis zum oberen Ende nachzeichnet. Bemerkenswerter noch ist allerdings der nicht weniger ‚überflüssige‘ Felsbuckel, der hinter dem rechten Bein des Prokrustes erscheint, und der jeglichen Versuch, in diesem Felsen ein Bett zu erkennen, im Keim erstickt.27 Der KleophradesMaler wollte damit offensichtlich die Unregelmäßigkeit der Form und die schroffen Wölbungen des Felsens zum Ausdruck bringen. Die Gestaltung des Prokrustesfelsens hat damit eine Eigendynamik bekommen, die sich nicht mehr nur von den Erfordernissen der Figuren ableiten lässt, und die sich über die narrative Forderung nach einer Anlehnung an die Form eines Bettes glatt hinwegsetzt. Auf einem Stamnos des Kleophrades-Malers in London weist der Prokrustesfelsen zu dem unregelmäßigen Umriss noch Binnenzeichnungen auf, die dem Gebilde ein nicht weniger ‚gebirgiges‘ Volumen geben (Abb. 306).28 Da sich Prokrustes hier gar nicht am Felsen abstützt, sondern nur Theseus in überlegener Pose den linken Fuß darauf setzt, lässt sich auch hier die Form des Felsens nicht durch die Erfordernisse der Figuren erklären, sondern folgt einem ihm eigenen Formprinzip. Ähnliche formale Eigenwilligkeit bestimmt auch die Prokrustesfelsen der Folgezeit: Zu nennen wären etwa der Fels auf einer Schale um 470–460 im Louvre, wo neben der aufgestützten Hand des Prokrustes eine zweite Felsnase hervorspringt (Abb. 307).29 Bei geworfenen Felsen sind Versuche der rotfigurigen Maler, diese felsiger wirken zu lassen, bereits um 500 festzustellen. Wie noch ausgeführt werden wird, stehen diese Versuche felsiger Gestaltung mehr als im Falle der Skiron- und Prokrustesfelsen in einer Kontinuität mit schwarzfigurigen Felsdarstellungen.30 Auf einer Schale im Kunsthandel mit einer Kentauromachie verleiht Epiktetos den Felsen, mit denen sich die Kentauren gegen Herakles wehren, durch Binnenzeichnung unregelmäßiges Volumen (Abb. 308).31 Zudem ist auf den Felsen verdünnter Tonschlicker ungleichmäßig aufgetragen, so dass der Eindruck einer rauen Oberfläche entsteht.32 Das Bemühen um eine felsige Gestaltung der Felsen erreicht in den Jahrzehnten um 480–460 einen Höhepunkt. Einige Beispiele sollen

Der Erhalt des ästhetischen Eigenständigkeit

373 Abb. 306 Theseus und Prokrustes. Dessen Felsenbett ist ausgesprochen zerklüftet und verspricht nur wenig Liegekomfort. Stamnos des Kleophrades-Malers, London, British Mus., 490–480

Abb. 307 Taten des Theseus. Das Prokrustesbett weist zusätzlich zum erhöhten ‚Kopfende‘ eine weitere Erhebung auf. Schale des Malers von Louvre G 265, Paris, Louvre, 470–460

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Semantische Untersuchung

Abb. 308 Herakles im Kampf mit den Kentauren. Den Felsen, welche diese halten, wurde durch die Binnenzeichnung und den Auftrag verdünnten Tonschlickers ein wahrhaft ‚felsiges‘ Aussehen verliehen. Schale des Epiktetos, Zürich, Kunsthandel, um 500

Abb. 309 Kentauromachie mit der Tötung des Kaineus. Tiefe Verschattungen verleihen den Felsen Volumen. Stangenkrater des PanMalers, London, British Mus., 480–470 (andere Seite: Abb. 62)

genügen, um dies zu illustrieren: Auf einem Stangenkrater des Obstgarten-Malers in Mariemont mit der Tötung des Kaineus hält einer der angreifenden Kentauren einen gewaltigen Fels mit vielen Ausbuchtungen (Abb. 310).33 Mit der insgesamt runden Form dieses Felsens kontrastieren drei am Boden liegende, deutlich kleinere Felsen, von denen einer aus einer großen und einer kleinen Wölbung besteht, einer aus zwei gleichgroßen, in einem Winkel zueinander stehenden Wölbungen besteht, und ein dritter in fünf kleinere Ausbuchtungen gegliedert ist. Die Suche nach Differenzierung in der Form der drei Felsen ist offensichtlich. Durch diese formale Unterschiedlichkeit wird der aleatorische Charakter der Form der Felsen deutlich.34 Desweiteren ist die Oberfläche der Felsen durch verdünnten Tonschlicker aufgeraut. Ein einzelner Kentaur, der mit einem

Der Erhalt des ästhetischen Eigenständigkeit

375 Abb. 310 Drei Kentauren rammen Kaineus in den Boden. Die Felsen, derer sie sich bedienen, zeichnen sich durch morphologische Vielfalt aus. Stangenkrater des ObstgartenMalers, Mariemont, Mus. Royal, um 470 (Rückseite: Abb. 439)

Felsen von markanter Form ausholt, ist im Innenbild einer Schale des Ancona-Malers um 460 zu sehen (Abb. 65).35 Der Pan-Maler schließlich geht bei der Gestaltung seiner Felsen einen anderen Weg, wie man es auf einem Stangenkrater mit der Tötung des Kaineus sehen kann (Abb. 309):36 Die raue und zerklüftete Oberfläche der Felsen, welche andere Maler durch den Auftrag von verdünntem Tonschlicker wiederzugeben versuchen, bringt der Pan-Maler durch dreieckige, spitzzulaufende schwarze Verschattungen zum Ausdruck. Dieses Darstellungsmittel, welches im Oeuvre des Malers auch für andere Felsen verwendet wird,37 hat in der attischen Vasenmalerei keine Nachfolge gefunden.38 Interessant ist, dass die Felsen, welche als Waffen verwendet werden, nicht nur in ihrer visuellen Form ‚felsiger‘ werden, sondern in vielen Fällen auch zu beobachten ist, dass die Art ihrer Handhabung durch die Figuren die einem Felsen eigenen Charakteristika zum Vorschein bringt. Auf einem Gigantomachiefragment des Onesimos in London holt ein fliehender Gigant mit einem Stein zum Wurf aus (Abb. 311).39 Der Stein ist etwas zu groß, um ihn mit einer Hand sicher zu greifen und liegt stattdessen in der Beuge des nach innen angewinkelten Handgelenks. Der Gigant muss sich in seiner Handhabung des Steins also auf seine spezifischen Eigenschaften, hier das etwas zu große Format, einstellen. Dasselbe wäre zu dem Stein zu sagen, mit dem ein fliehender Gigant (?) auf einer Halsamphora des Providence-Malers in Paris gegen den verfolgenden Apoll (?) ausholt, wo der zu große Stein ebenfalls auf dem Handgelenk aufliegt, um ihm nicht aus der Hand zu fallen.40 Auf einer Halsamphora desselben Malers in London hält ein vor Dionysos fliehender Gigant den zu großen Stein dadurch fest in seiner Hand, dass er die Finger zusammenkrallt (Abb. 312).41 Diese kleinen Details sind für das Gesamtverständnis der Bilder sicherlich nur zweitrangig. Sie zeigen allerdings eine Aufmerksamkeit der Maler, die in schwarzfigurigen Bildern des 6 Jh. nicht anzutreffen war,

376 Abb. 311 Gigantomachie. Ein Gigant holt mit einem Stein zum Wurf aus. Schalenfragment des Onesimos, London, British Mus, um 500

Abb. 312 Dionysos verfolgt einen Giganten, der in seiner Flucht mit einem Stein ausholt. Halsamphora des Providence-Malers, London, British Mus., 470–460

Semantische Untersuchung

Der Erhalt des ästhetischen Eigenständigkeit

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wo mit einer Hand gehaltene Steine stets klein genug waren, um leicht umfasst zu werden, und wenn sie dennoch größere Ausmaße hatten, das Halten dieser zu großen Steine im Bild nicht speziell thematisiert wurde. Eine Halsamphora der E-Gruppe in Malibu mit einem Minotauroskampf ist ein beliebiges Bespiel für das immergleiche Haltemotiv kleiner Steine im Schwarzfigurigen (Abb. 253):42 Die Finger sind wie eine Hülle um den Stein gelegt. Wenn der Stein größer ist, wie auf einer Hydria des Malers von Vatikan G 49, liegen die Finger nur auf einem kleinem Abschnitt des Umfangs auf dem Stein, ohne dass der Stein dem Minotauros deswegen aus der Hand fiele.43 Die Morphologie der Felsen des frühen 5. Jh. wird eigenwillig, und die Figuren müssen sich dem anpassen. Ähnliches ließe sich zu großen Felsen sagen: Auf dem Stamnos des Argos-Malers in der Villa Giulia mit Herakles und Pholos um den Weinpithos kommen fünf Kentauren heran und bringen, ohne dass der Kampf bereits begonnen hätte, bereits ihre ‚Waffen‘ mit, eine Pinie und drei Felsen von gewaltigen Ausmaßen (Abb. 68).44 Dabei trägt jeder der Kentauren seinen Fels auf andere Weise: Der rechteste klemmt ihn gegen seinen zur Seite gedrehten Oberkörper und lässt ihn gleichwohl noch auf seinem Pferderücken aufliegen. Beim mittleren liegt der Felsen auf seinem linken, hinter den Rücken gehaltenen Arm und wird mit dem rechten Arm, dessen Finger an der oberen rechten Kante des Felsens hervorkommen, im Gleichgewicht gehalten. Der linkste benutzt dieselbe Tragetechnik, nur dass die Funktion der Arme vertauscht ist. Durch die verschiedenen Tragemotive wird das enorme Gewicht und die Sperrigkeit der Felsen zum Ausdruck gebracht, bzw. die Tatsache hervorgehoben, dass die Kentauren diese aufgrund ihrer Riesenkräfte dennoch handhaben können. Außerdem wird dadurch, dass der eigentliche Kampf noch nicht begonnen hat, das Tragen der gewaltigen Felsen für sich genommen schon zum Thema. Auf einen Stamnos des Kleophrades-Malers ist einer der Kentauren dabei, einen großen Fels auf Kaineus niederzuschmettern, wobei der Maler genau schildert, wie er dies tut (Abb. 313).45 Er ‚umarmt‘ den Felsen und nimmt durch eine Drehung des Oberkörpers Schwung. Bezeichnend für die Aufmerksamkeit des Malers für die Handhabung des Felsens ist das Detail der Finger der linken Hand, die gerade noch hinter dem Felsen hervorkommen. Auf einer Halsamphora desselben Malers in München stürmt ein Kentaur von der gegenüberliegenden Gefäßseite auf Herakles zu und hält einen großen Fels mit beiden Händen (Abb. 316).46 Anstatt mit dem Felsen allerdings locker zum Wurf auszuholen, klemmt er den Felsen, der offenbar zu schwer ist, um ihn frei in den Händen zu halten, gegen seinen Nacken, wobei es den Anschein hat, als sei ihm der Felsen schon zur Hälfte herabgerutscht, da er ihn nicht an seiner Mitte, sondern an seinem oberen Ende greift. Der Kentaur hat also einige Mühe, seinen Felsen zu handhaben. Mit seinem zu großen Felsen gänzlich überfordert

378 Abb. 313 Tötung des Kaineus. Auffällig ist, wie präzise der Maler die konkrete Handhabung des riesigen Felsens, den der rechte Kentaur schleudert, beschreibt. Stamnos des Kleophrades-Malers, Paris, Louvre, 500–480

Abb. 314 Theseus im Kampf mit dem Minotauros, dem es nicht gelingt, seinen riesigen Fels gegen Theseus zu richten. Pelike eines frühen Manieristen, Harrow on the Hill, School Mus., um 470

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ist der Minotauros auf einer Schale des Epiktetos um 510–500 in London, wo es diesem nicht gelingt, den Felsen gegen Theseus überhaupt zu richten (Abb. 315).47 Auch der Minotauros auf einer Pelike eines frühen Manieristen um 470 scheint sich bei der Wahl seines Wurfgeschoßes übernommen zu haben, da er den zu großen Felsen nicht wirkungsvoll gegen den anstürmenden Theseus einsetzen kann (Abb. 314).48 Die Felsen bekommen also ein Gewicht.49 Man könnte sich fragen, ob es in den zuletzt genannten Bildern nicht einfach um eine narrative Pointe geht: Der Minotauros besitzt zwar riesige Kräfte, doch kann er diese Kräfte nicht richtig einschätzen und wählt daher zu große Felsen, die er eben nur hochstemmen, nicht aber werfen kann. Doch setzt diese narrative Pointe die neu gewonnene Materialität der Felsen, deren Schwere und Unhandlichkeit nun auch im Bild spürbar wird, bereits voraus. Dass die Entwicklung einer Ästhetik des Felsigen mit der Art der Handhabung dieser Felsen in unmittelbarem Zusammenhang steht, wird an gleichzeitigen Bildern deutlich, in denen noch keine Ästhetisierung des Felsens festzustellen ist. Während Epiktetos, der schon durch seinen frühen Gebrauch des verdünnten Firnis zur Aufrauhung der Oberfläche aufgefallen war,50 auch den schwierigen Umgang mit riesigen Felsbrocken thematisiert, kümmert sich etwa der Bonner Maler, dessen Felsen zwar Binnenzeichnung aufweisen, aber die undifferenzierte ovale Form ohne Aufrauhung der Oberfläche noch behalten, wenig darum, dem Betrachter vorzuführen, was es heißt, mit tonnenschweren Felsen zu hantieren. Auf der namensgebenden Kentauromachie-Schale in Bonn balanciert ein Kentaur auf jedem Arm je einen riesigen Felsen, wobei der Arm übergangslos in Felsen übergeht, so dass gar nicht deutlich wird, wie es ihm gelingt, diese beiden Felsen zu greifen (Abb. 317).51 Gleiches gilt für den Felsen, den ein Kentaur auf der gegenüberliegenden Gefäßseite gegen seinen Gegner schiebt. Es geht hier lediglich um die Tatsache, dass die Kentauren mit solchen Felsen kämpfen, nicht wie sie es tun. Man verglei-

Abb. 315 Kampf des Theseus mit dem Minotauros. Dieser scheint unter der Last des zu groß gewählten Felsens zusammenzubrechen. Schale des Epiktetos, London, British Mus., 510–500

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Abb. 316 Ein Kentaur stürmt mit einem Felsen auf den auf der gegenüberliegenden Seite stehenden Herakles zu. Halsamphora des Kleophrades-Malers, München, Antikensammlung, um 480

che damit die Schale des Antiphon-Malers im Vatikan, wo ein anstürmender Kentaur ebenfalls zwei Felsen gleichzeitig trägt, die hier jedoch ein sehr ungleichmäßiges Volumen aufweisen:52 Einen Fels presst der Kentaur gegen seinen Oberkörper, während er mit dem anderen zum Wurf ausholt. Das Hantieren mit den beiden Felsen wird motivisch konkretisiert und wird dadurch umso mehr zum Kraftakt. Warum haben wir uns so lange mit diesen Kleinigkeiten aufgehalten? Durch das erwachende Interesse der Maler für den besonderen Gegenstand des Felsens in seinem spezifischen ästhetischen Potenzial, in seiner Materialität, wird dem heteronomen Gebrauch der Landschaftselemente die Grundlage entzogen: Was selbst Eigenschaften besitzt, eine morphologische und ästhetische Eigendynamik entwickelt, kann nicht mehr einfach als Negativ eines anderen Gegenstands fungieren. Dabei wird der Grundsatz, dass Felsen das Fehlen des entsprechenden ‚zivilisierten‘ Ge-

Der Erhalt des ästhetischen Eigenständigkeit

381 Abb. 317 Kentauromachie. Hier ist kein Versuch des Malers zu erkennen, die Handhabung der gewaltigen Felsen durch die Kentauren plausibel zu machen. Schale des Bonner Malers, Bonn, Akademisches Kunstmuseum, 520–510

genstands anzeigen, nicht schlagartig abgeschafft. Zu sagen, Felsen und Bäume seien keine Waffen und daher von der hoplitischen Bewaffnung der Lapithen grundsätzlich unterschieden, bleibt auch weiterhin richtig. Dieser Aspekt tritt nur in den Hintergrund, während die Bilder ihre Wirkung aus anderen Quellen beziehen. Wie dieser Aspekt in der neuen ästhetischen Eigendynamik der Felsen zwar nicht schlagartig, so doch progressiv verschwindet, sieht man besonders gut am Prokrustesfelsen. Wie es oben ausgeführt wurde, verliert der Prokrustesfelsen in den ersten Jahrzehnten des 5. Jh. mehr und mehr die Ähnlichkeit mit einem Bett und lässt dafür die typischen Charakteristika eines Felsens, v.a. seine unregel-

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mäßige Form mit schroffen Wölbungen stärker hervortreten. Gleichwohl bleibt das Prokrustesbett – denn als solcher ist aufgrund der hinter den Bildern stehenden Narration auch noch der ‚felsigste‘ Felsen anzusprechen – ein Felsenbett und wird erst dann von einer Kline, mit der das Felsenbett ein für allemal verschwindet, ersetzt, als sich die Felsenbetten von einer bettähnlichen Form ohnehin bereits definitiv verabschiedet hatten. Darin, dass die Entwicklung einer Ästhetik des Felsigen, welche die materiellen Eigenschaften des Felsens im Bild spürbar macht, im Rotfigurigen Auswirkungen auf die ikonographische Verwendung dieser Felsen und damit letztlich auch auf ihr Bedeutungspotenzial hat, liegt der entscheidende Unterschied zu schwarzfigurigen Versuchen, den Felsen eine ihnen gemäße Gestaltung zukommen zu lassen. Die Verwendung von weißer Deckfarbe zur Oberflächengestaltung des Felsens, wie man sie auf der Londoner Hydria der Leagros-Gruppe mit der Auflauerung des Achill sieht (Abb. 22),53 und wie sie für die Leagros-Gruppe allgemein typisch ist, ließe sich rein formal mit den tongrundigen Verschattungen auf Felsen des Pan-Malers gut vergleichen (Abb. 309).54 Doch handelt es sich hier tatsächlich nur um Oberflächengestaltung, die zwar die graphische Differenziertheit der Felsdarstellung steigert und durch die Verwendung von leuchtender Farbe auch die alternative Option einfacher Ritzungen übertrifft,55 die aber keineswegs einhergeht mit einer morphologischen Autonomie des Felsens, der hier die Brunnenform mustergültig nachzeichnet, an den Ecken rechtwinklig abbiegt und keine Höhlung oder Wölbung aufweist, die sich nicht aus den heteronomen Zwecken des Figurenbilds heraus erklären ließen. Auf einer Lekythos des Edinburgh-Malers mit dem gefesselten Odysseus zwischen zwei Sirenen sind die Felsen, auf denen die Sirenen sitzen, mit Flecken in Deckweiß besetzt.56 Es mag sein, dass der Maler durch die unregelmäßigen weißen Flecken die besondere Textur der Felsen wiedergeben wollte. Auch hier jedoch ist die graphische Differenzierung der Felsdarstellung reine Oberflächengestaltung und betrifft nicht die allgemeine Morphologie der Felsen: Sie erfüllen mit ihrem blockhaften Umriss den Zweck, eine Standfläche für die Sirenen zu bieten, mit größtmöglicher Ökonomie. Was die geworfenen Felsen betrifft, beginnt der Prozess hin zu einer felsigeren Gestaltung, der von den sauberen Ovalen des Klitias-Kraters ausgeht, schon früher.57 Zu nennen wären die schon um die Jahrhundertmitte einsetzenden, doch erst zum Jahrhundertende sich generalisierenden deckfarbenen oder geritzten Binnengliederungen und das langsam sich verbreiternde Variationsspektrum der Formen.58 Auch was die Weisen betrifft, in denen Felsen gehalten werden, ist die Vielfalt im späten 6. Jh. einigermaßen groß.59 Doch stellt man kein den gezeigten rotfigurigen Bildern entsprechendes durchgehendes Bemühen der Maler fest, die Handhabung der tonnenschweren Felsen als eine von den Kentauren oder sonstigen Steinwerfern aktiv gemeisterte – oder eben

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383 Abb. 318 Tötung des Kaineus. Auch auf diesem Bild wird nicht deutlich, wie es den Kentauren gelingt, diese riesigen Felsen zu halten. Halsamphora, New York, Metropolitan Mus., um 510

nicht gemeisterte! – Herausforderung erscheinen zu lassen. Eine Halsamphora um 510 in New York mit einer Kaineusszene mag dies illustrieren (Abb. 318):60 Der linke Kentaur schlägt mit einem Ast zu, den er in der Rechten hält, und hat sich dabei den riesigen Felsbrocken links scheinbar unter die Achsel geklemmt, eine Haltung des Felsens, die dessen Gewicht offenbar nicht zum Thema macht.61 Die Aufmerksamkeit, welche schwarzfigurige Maler zum Ende des 6. Jh. hin vermehrt auf die Gestaltung der geworfenen Felsen richten, hat also anders als in den rotfigurigen Bildern des frühen 5. Jh. keine merklichen Auswirkungen auf die Handhabung der Felsen und somit auf die Bilderzählung. Ihr Gebrauch verläuft somit grundsätzlich in den seit dem Klitias-Krater gewohnten Bahnen einer Auseinandersetzung zwischen gesitteten griechischen Hopliten und wilden Monstern, für die die Größe der Felsen ein unmittelbarer Spiegel ihrer übermenschlichen Kraft ist,62 weiter. Wie in rotfigurigen Bildern des frühen 5. Jh. durch die Entwicklung einer neuen Ästhetik des Felsigen, welche die materiellen Eigenschaften des Felsens im Bild spürbar macht, das einigermaßen stabile System der Bedeutungen des Felsens im Schwarzfigurigen von neuen Aspekten überlagert wird, ist bei geworfenen Felsen nicht ganz so offensichtlich wie bei den Prokrustesfelsen, bei näherer Betrachtung aber nicht weniger eindeutig. Die in schwarzfigurigen Kentauromachien oft feststellbare Semantik der Größe, bei der große Felsen die Kraft und Gefährlichkeit dessen zum Ausdruck bringen, der mit ihnen kämpft, kleine Steine dagegen seine Ohnmacht, wird durch die beschriebenen Veränderungen untergraben. Die neue Aufmerksamkeit für die morphologischen Eigenheiten des Felsens, insbesondere seine aleatorische, nicht frei wählbare Form und

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Größe und die sich dem anpassende Handhabung der Felsen haben dazu geführt, dass Zwischengrößen häufiger werden: Die kleinen Felsen, die zu groß sind, um leicht in einer Hand gehalten zu werden, bekommen durch ihre gesteigerte Größe auch eine gesteigerte Gefährlichkeit. In den oben beschriebenen Beispielen werden sie denn auch nicht von ohnmächtigen, sondern von verhältnismäßig starken Figuren geführt. Tatsache ist jedenfalls, dass diese Figuren mit ihnen zum Wurf ausholen, und sie nicht in einer Weise gehalten werden, die ihren effektiven Gebrauch unmöglich macht. Kleine Steine werden ab dem frühen 5. Jh. denn auch von vollkommen kampfkräftigen Hopliten geworfen.63 Andererseits hat das Beispiel des Minotauros auf der erwähnten Schale des Epiktetos in London gezeigt, dass Felsen nun auch zu groß sein können, um einem Gegner gefährlich zu werden, und folglich die Gefährlichkeit eines Felsens nicht mehr unbedingt proportional zu seiner Größe ist. Deutlicher zeigt sich der Wandel am Motiv des Steins in den Händen von Unterlegenen und Gefallenen. Diese Steine, welche im Schwarzfigurigen weniger die Waffe des Unterlegenen als das Zeichen seiner Niederlage waren, verschwinden in dieser Form gänzlich aus der Ikonographie des Kampfes und finden dafür eine Nachfolge in zwei Motiven, die ihrem ‚Vater‘ denkbar unähnlich sind. Am besten lässt sich dieser Prozess an den Minotauroskämpfen nachzeichnen. Auf einem Psykter des Tyszkiewicz-Malers um 480–470 hält der stürzende Minotauros einen Stein in der linken Hand.64 Dass der kraftlose linke Arm, der nur noch knapp über dem Boden hängt, den Stein nicht mehr gegen Theseus schwingen wird, ist offensichtlich. Dennoch ist aus dem Haltungsmotiv zumindest der Versuch herauszulesen, mit dem zurückgehaltenen Arm zum Wurf auszuholen. Dasselbe Motiv des zwar ausholenden, steinbewehrten Armes, der faktisch jedoch durch die ohnmächtige Lage des Minotauros nur ermattet herunterhängt, findet sich auch auf einer Pelike des SchweineMalers (Abb. 319).65 Während auf einer Amphora eines frühen Manieristen im Vatikan der Minotauros trotz des erschlafften Armes den Stein mit aufwärts geknicktem Handgelenk zumindest in Angriffsposition bringt (Abb. 320),66 hängt auf einer Pelike des Äthiopen-Malers um 470–460 nicht nur der Arm, sondern auch der in der Hand gehaltene Stein herab.67 Schlaff herab, als gleite er ihm im nächsten Moment aus den Fingern, hängt auch der Stein, den der Minotauros auf einer Pelike des Hermonax um 470 hält (Abb. 321).68 So aussichtslos der Einsatz des Steins gegen den übermächtigen Theseus in den genannten Fällen auch sei, der Stein ist dort kein reines Zeichen der Niederlage, das schon jenseits der Interaktionsbeziehung zwischen Theseus und dem Minotauros läge, sondern eine Verzweiflungswaffe. Im Gegensatz zu den Steinen in den Händen gefallener Hopliten, die in keinem Handlungskontext mehr stehen, erzählen die Steine in den beschriebenen Fällen gewissermaßen eine

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385 Abb. 319 Theseus tötet den Minotauros. Statt mit dem Stein, den er in der Hand hält, auszuholen, hängt der Arm des Minotauros bloß schlaff herab. Pelike des Schweine-Malers, Gela, Mus. Archeologico, um 470

Abb. 320 Theseus tötet den Minotauros. Amphora des Malers von Louvre G 231, Vatikan, Mus. Gregoriano Etrusco, um 470–60

386 Abb. 321 Theseus tötet den Minotauros, dessen steinbewehrter Arm schlaff herabhängt. Pelike des Hermonax, New York, Kunsthandel, um 470

Abb. 322 Theseus im Kampf mit Prokrustes und mit dem Minotauros. Prokrustes scheint einen Stein vom Boden aufgehoben zu haben, doch wird er nicht mehr die Gelegenheit haben, diesen gegen Theseus einzusetzen. Stangenkrater des Malers der Münchner Amphora, Salerno, Mus. Nazionale, um 480

Semantische Untersuchung

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kleine Geschichte: Der Minotauros hat ihn aufgehoben, um ihn gegen Theseus zu schleudern, es ist ihm aber nicht mehr gelungen. Auf einem Stangenkrater um 480 in Salerno, wo Prokrustes in ähnlich verzweifelter Lage einen Stein in der Linken hält, ist diese ‚Geschichte‘ unmittelbar nachzuempfinden (Abb. 322):69 Der Stein, nach dem Prokrustes in seiner Not gegriffen hat, und den er mit zusammengekrallten Fingern70 gegen Theseus zu schleudern versucht, hängt nur knapp über dem Boden, und es wird deutlich, dass er ihn nicht mehr zum Einsatz wird bringen können. Das zweite Motiv, das die Nachfolge der schwarzfigurigen Steine in den Händen von Gefallenen antritt, indem es das Unterliegen und Sterben im Kampf mit Felsen verbindet, ist das Fallen auf einen Felsen, an dem sich die gestürzte Figur meist mit der Hand aufstützt. In der Ikonographie des Minotauroskampfes erscheint dieses Motiv insbesondere auf einer Reihe von Darstellungen des Schweine-Malers aus den Jahren um 480–460. Ein Stangenkrater in Ferrara ist dafür ein Beispiel (Abb. 323).71 Der in vollem Sturz begriffene Minotauros wird aufgefangen von der linken Hand, die auf einen Felsen aufgestützt ist.72 Die Bodenerhöhung, die aufgrund ihrer geringen Höhe insgesamt wenig Einfluss auf die Position und Haltung der Figuren hat, dient offensichtlich dem Zweck, das Fallen auf die Grundlinie als ein Fallen auf den (Fels-)Boden zu explizieren. Auf einer Pelike des Abb. 323 Theseus tötet den Minotauros. Dieser stützt sich bei seinem Sturz auf einen Fels. Stangenkrater des Schweine-Malers, Ferrara, Mus. Nazionale di Spina, 480–470

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Abb. 324 Theseus tötet den Minotauros. Pelike des SyleusMalers, Vatikan, Mus. Gregoriano Etrusco, 480–470

Syleus-Malers werden beide Motive, das Ergreifen eines Steins als Verzweiflungswaffe und der Sturz auf einen Felsen, in einem Bild vereint (Abb. 324).73 Der rücklings gestürzte Minotauros stützt sich mit der Linken auf einem Stein ab. Die pyramidale Form des Felsens ähnelt der des Felsens auf dem eben beschriebenen Bild des Prokrusteskampfes. An dem Punkt, wo er die Grundlinie berührt, ist das Zusammenziehen seines Konturs noch zu erkennen, woraus zu schließen ist, dass es sich nicht um eine kleine Bodenerhöhung handelt, die über das Niveau der Grundlinie hinausragt,74 sondern um einen einzelnen Felsen, der mit dem Felsbett des Untergrunds nicht verbunden ist und nur ein wenig im Boden steckt. Es wäre also vorstellbar, dass der Minotauros diesen Felsen dem Boden entreiße, um ihn gegen Theseus einzusetzen – auch wenn ihm das nicht gelingen wird, bevor Theseus ihm den Todesstoß gibt, zu dem er bereits ausholt. So gesehen handelt es sich um einen Erzählmoment kurz vor dem, der im zuletzt beschriebenen Bild mit dem Prokrusteskampf, wo Prokrustes den Felsen bereits ein wenig über den Boden hebt, dargestellt ist. Das Bild des Syleus-Malers kann das exemplifizieren, was beide Motive miteinander verbindet, und wodurch sie sich vom schwarzfigurigen Motiv des in der Hand des Gefallenen gehaltenen Steins unterscheiden: Sowohl beim Griff zur Verzweiflungswaffe, dem am Boden liegenden Fels, als auch beim Sturz auf den felsigen Boden wird Felsen in einen dramatischen Zusammenhang mit dem Unterliegen gebracht, während das schwarzfigurige Motiv des gehaltenen Steins ein ausgesprochen undramatischer Ausdruck der Niederlage war, da der Stein – ebenso wie der gefal-

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lene Krieger – aus der Interaktion zwischen den Figuren ja gerade herausgelöst war, und der Ausdruck der Niederlage in dieser Herauslösung aus dem Handlungskontinuum bestand. Im Gegensatz zum Motiv des gehaltenen Steins im Schwarzfigurigen, das vollkommen zeichenhaften Charakter hat und vom Stein nicht mehr ‚berichtet‘, als dass es ein Stein ist, knüpft die Dramatisierung, die durch die beschriebenen Motive in die Berührung mit dem Felsen eingebracht wurde, an reale Eigenschaften von Felsen an: Sie liegen am Boden, so dass man sich ihrer bedienen kann, wenn keine andere Waffe zur Hand ist, und man sich an ihnen abstützen muss, wenn man zu Boden stürzt. Das zeichenhafte Motiv des gehaltenen Steins konnte durch die materielle Präsenz, welche Felsen in dieser Zeit erlangt hatten, nicht mehr überzeugen: Dadurch, dass Felsen dasselbe Maß an Plastizität und aufdringlicher Präsenz im Bildfeld bekommen hatten, wie die Figuren, mussten sie auch in die Interaktionsbeziehung der Figuren untereinander einbezogen werden.75 Der formale Wandel in den Darstellungen von Felsen in den ersten Jahrzehnten des 5. Jh. und die Folgen, die dieser Wandel für die Verwendung von Felsen in den Ikonographien hatte, in denen sie auch schon im Schwarzfigurigen erschienen waren, wurde nun zur Genüge dargelegt. Doch was geschieht mit den Darstellungen von Bäumen und Pflanzen? Sind dort parallele Erscheinungen zu verzeichnen? Handelt es sich also um ein Phänomen, das Landschaftselemente allgemein umfasst, oder um ein felsenspezifisches Phänomen? Grundsätzlich kann zu dieser Frage gesagt werden, dass der Wandel bei Baumdarstellungen auf der rein formalen Ebene zwar ebenso deutlich ist, sich jedoch weniger auf die Rolle niederschlägt, welche Bäume in den einzelnen Ikonographien spielen. Letzteres findet seine Erklärung wohl in der Tatsache, dass Bäume allgemein in einem loseren Verhältnis zu den Figuren und ihrer Interaktion stehen als Felsen, und daher von einem stilistischen Wandel der Baumdarstellungen von vorne herein geringere Auswirkungen auf das Figurenbild zu erwarten sind. Der formale Wandel in den Baumdarstellungen soll nun anhand einer paradigmatischen Gegenüberstellung kurz vorgestellt werden. Vergleicht man die Bäume auf der bilinguen Amphora des Andokides-Malers in Boston mit den Bäumen auf der Zyklusschale des Kleophrades-Malers in Bologna, so fallen Unterschiede klar ins Auge: Die Zweige des schwarzfigurigen Baumes auf der Andokides-Amphora haben alle dieselbe Dicke (die der Breite eines Pinselstriches entspricht) und nur der Stamm ist kräftiger wiedergegeben, wobei der Übergang von Stamm zu Zweigen, der über dem Rücken des Stieres gerade noch zu sehen ist, vollkommen unvermittelt ist (Abb. 325).76 Auf der Schale in Bologna dagegen werden die Zweige der Bäume zu ihrer Spitze hin progressiv dünner, und kräftige Ast-

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Abb. 325 Herakles führt einen Stier zum Opfer. Im Hintergrund erscheint ein Baum. Biligue Amphora des Andokides-Malers, Boston, Mus. of Fine Arts, um 520 (andere Seite: Abb. 297)

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ansätze ‚thematisieren‘ den Übergang von Stamm zu Zweigen (Abb. 10).77 Bezeichnend ist auch der Unterschied der Stämme: Dem welligen Stamm des beschriebenen Baumes auf der Andokides-Amphora stehen die knorrigen, stabilen Stämme des Kleophrades-Malers gegenüber. Dessen Bäume sind kompakt, man könnte sagen tektonisch gebildet, während die des Andokides-Malers vor allem in der Fläche ausgebreitet sind, und gewichtslos wirken. Was die Bäume des Kleophrades-Malers gegenüber denen des Andokides-Malers gewonnen haben, ließe sich sehr gut mit dem parallelisieren, was die Felsen des beginnenden 5. Jh. von schwarzfigurigen Felsen des 6. Jh. unterscheidet: Sie sind plastischer gebildet, haben ein Gewicht zu tragen, müssen gewissen eigenen Gesetzen gehorchen, wie etwa dem, dass ein Zweig nicht beliebig verlängerbar ist und an Dicke abnehmen muss, je weiter er sich vom Stamm entfernt.78 Eine größere materielle Präsenz im Bild zu besitzen, wäre eine treffende Formulierung nicht nur zur Beschreibung der Charakteristik rotfiguriger Felsen des frühen 5. Jh., sondern ebenso rotfiguriger Bäume dieser Zeit.79 Nun könnte man behaupten, dass all diese Unterschiede auf dem Unterschied der Technik beruhen, womit man zu einem gewissen Anteil recht hätte. In der Tat ist die gleichbleibende Dicke der Zweige, die der Breite eines Pinselstriches entspricht, im Schwarzfigurigen eine naheliegende Lösung, im Rotfigurigen dagegen eine ausgesprochene Herausforderung, da man dafür zwei eng beieinander liegende und vollkommen parallele Umrisslinien zeichnen muss. Doch ist es diesbezüglich interessant, dass für den Baum auf der rotfigurigen Seite der Andokides-Amphora genau dieselben Eigenschaften zutreffen, wie sie für den schwarzfigurigen Baum beschrieben wurden, es sich somit um den Versuch einer genauen Übertragung der schwarzfigurigen Ästhetik des Baumes in rotfigurige Technik handelt. Diese Feststellung zeigt einerseits, dass die veränderte Ästhetik der rotfigurigen Bäume der ersten Jahrzehnte des 5. Jh. nicht nur eine mechanische Folge der gewechselten Maltechnik ist, macht aber andererseits darauf aufmerksam, dass es eine ausgeprägte Ästhetik schwarzfiguriger Zweige und Bäume gibt.80 Die Behauptung, nach der alle beobachteten stilistischen Unterschiede letztlich auf dem Unterschied der Technik und den neuen Möglichkeiten der rotfigurigen Malweise beruhen würden, ließe sich auch auf die an Felsen gemachten Beobachtungen ausweiten. Für diese Behauptung könnte man wenigstens ins Feld führen, dass die Aufrauhung der Oberfläche der Felsen durch den Auftrag von verdünntem Firnis in der Tat nur in rotfiguriger Technik möglich ist. Das Zurückführen der veränderten Ästhetik der Landschaftselemente auf den rotfigurigen Stil mit dessen anderen technischen Möglichkeiten scheitert allerdings an der Tatsache, dass diese Veränderungen erst in der zweiten Pioniergeneration registriert werden können, während die neuen

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technischen Möglichkeiten des rotfigurigen Stils bei der Darstellung des menschlichen Körpers etwa schon in der ersten Pioniergeneration extensiv genutzt wurden.81 Wie es bereits gesagt wurde, wird dem heteronomen Gebrauch von Landschaftselementen, der im vorhergehenden Kapitel beschrieben wurde, durch die stärkere Ausprägung eigener Eigenschaften der Landschaftselemente, die Grundlage entzogen. Während die Verwendung von Felsen als Substitut eines Gegenstands der Zivilisation, bei der sie in erster Linie eine leere Projektionsfläche darstellen, durch den Erhalt ästhetischer Eigenständigkeit stark erschwert wird, qualifiziert ebendiese ästhetische Eigenständigkeit Felsen umso mehr zu ihrem ikonographischen Gebrauch als Felsen. Anders als die im vorhergehenden Kapitel diskutierten, verhältnismäßig wenigen ikonographischen Verwendungen, die sich alle mehr oder weniger eng unter das Stichwort des heteronomen Gebrauchs von Landschaftselementen stellen ließen, sind diese neuen82 ikonographischen Verwendungen ausgesprochen zahlreich und heterogen: Felsen erscheinen nun in der dionysischen Ikonographie, bekommen zusammen mit Bäumen eine herausgehobene Stellung in Theseusikonographien. Sie erscheinen im Zusammenhang mit Hirten und Landleuten, ebenso wie mit dem Prinzen-Hirt Paris. Felsen dienen Verstorbenen auf weißgrundigen Lekythen als Sitzgelegenheit. Fallende Unterliegende im Kampf stürzen auf Felsen, doch auch Bürger im Gespräch können auf Felsen sitzen. Später dienen sie auch dem singenden Orpheus als Sitzgelegenheit. Dann erscheinen sie vermehrt auch in der Musenikonographie und teilweise inmitten bürgerlicher Frauen. Es ist offensichtlich, dass es nicht gelingen kann, all diese ikonographischen Verwendungen von Felsen unter einen gemeinsamen Nenner zu bringen. Bei dieser ikonographischen Vielfalt scheint es wenig erfolgversprechend, nach einer kontextübergreifenden Semantik des Felsens zu suchen. Eine solche wäre auch gar nicht zu erwarten: Würden Landschaftselemente in Bildern alleine erscheinen oder auch nur das Hauptmotiv von Bildern ausmachen, könnte man danach fragen, was sie bedeuten, und wie sich diese Bedeutung ggf. mit der Zeit wandelt. Da sie aber grundsätzlich nur Nebenmotive darstellen,83 kann nur danach gefragt werden, welchen Beitrag sie zum Verständnis einzelner Bilder leisten. Dafür, dass dieser Beitrag bei so verschiedenen Ikonographien und Verwendungsweisen von Felsen überall derselbe sei, spricht a priori gar nichts. Dass es im letzten Kapitel möglich war, zumindest gewisse gemeinsame Grundstrukturen des Gebrauchs von Landschaftselementen auszumachen, war überraschend und dem an sich eigenartigen Phänomen des heteronomen Gebrauchs der Landschaftselemente geschuldet. Mit dem Erhalt der ästhetischen Eigenständigkeit ist das Nebenmotiv des Felsens diesbezüglich in der Normalität angekommen: Auch bei Stühlen

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käme man nicht auf die Idee danach zu fragen, was sie bedeuten, sondern wer darauf sitzt. Es bleibt einem also nur die Möglichkeit, die einzelnen Ikonographien, in denen Felsen Verwendung finden, in zwangsläufig additiver Reihung durchzugehen. Um dennoch eine gewisse Ordnung in die vielfältigen ikonographischen Verwendungsweisen der Felsen, die es nun vorzustellen gilt, zu bringen, ließe sich eine erste Unterscheidung danach treffen, ob Felsen Figuren in ihrem allgemeinen Wesen charakterisieren oder ob sie dabei beteiligt sind, eine bestimmte Situation, in der sich Figuren befinden, deutlich zu machen, mithin ob von ihnen ein attributiver oder ein situativer Gebrauch gemacht wird. In der ikonographischen Verwendung, die oben bereits angesprochen wurde, wo Unterliegende auf Felsen stürzen, träfe etwa letzteres zu. Wenn isolierte Felsen in Bildern des dionysischen Thiasos erscheinen, wären sie dagegen attributiv zu deuten. Nach diesem Ordnungskriterium sollen in den folgenden beiden Unterkapiteln einige Ikonographien des Felsens besprochen werden.

Felsen und Figuren in situativer Verbindung: Die Inszenierung der Berührung mit Felsen Mit dem Erhalt der ästhetischen Eigenständigkeit, durch den Felsen nicht mehr in erster Linie einen fehlenden Gegenstand vertreten, sondern für das stehen, was sie selbst sind, verändert sich die Bedeutung der physischen Berührung mit Felsen grundlegend. Bei den Bildern des Herakles beim Gelage auf felsiger Kline war nicht entscheidend, dass Herakles auf einem Felsen liegt, sondern dass er sich in einer Weise verhält, die den gewöhnlichen Regeln des Symposions widerspricht. Die Beschreibung, Herakles liege auf einem Felsen, wäre zwar nicht falsch, doch träfe sie nicht den Kern des Motivs der Felsenkline. Ebenso irreführend wäre es, bei der Beschreibung der Auflauerungsbilder von Polyxena zu behaupten, sie hole Wasser an einer Felsenquelle: Sie vollführt die vollkommen normale Handlung des Wasser Holens und tut dies dementsprechend an einem – aus ihrer Perspektive – ebenso normalen Brunnen. Die Berührung des lagernden Herakles und das Hantieren der Polyxena mit dem Felsen sind also jeweils nicht thematisch aufzufassen. Anders die Berührung des stürzenden Minotauros mit dem Felsen, auf den er fällt: Da dieser Felsen nur sich selbst vertritt, gibt es für das Motiv keine andere Beschreibung als eben die, dass der Minotauros auf einen Felsen stürzt, oder anders gesagt: Diese Berührung mit einem Felsen ist thematisch. Dieses Motiv des Stürzens auf einen Felsen soll hier als erstes besprochen werden. Figuren, die im Kampf unterlegen sind und infolgedessen zu Boden stürzen oder bereits auf der Grundlinie liegen, ohne dass Felsen

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deren Sturz auffangen oder dem Gefallenen als Unterlage dienen, hat es selbstverständlich schon immer gegeben. Auch in der Zeit nach dem Aufkommen des Motivs des Felsens, auf den der Besiegte fällt, bleiben die Bilder des Sturzes ohne Felsen unangefochten in der Mehrheit. Das Aufkommen des Gestürzten auf einem Felsen bleibt also zu jeder Zeit nur eine verhältnismäßig selten gewählte Option. Möchte man die Felsen, auf die man stürzt, richtig einordnen und bewerten, muss deren Interpretation also im Rahmen dieses allgegenwärtigen Themas stattfinden. Wenn die Darstellung des Sturzes also ohne weiteres auch ohne Felsen auskommt, stellt sich die Frage, welchen Beitrag der Felsen in dieser Ikonographie überhaupt bringt. Die bereits angesprochenen Bilder des Schweine-Malers mit dem auf einen Felsen stürzenden Minotauros84 zeigen, dass eine Erklärung des Motivs, nach der der Fels den Boden sichtbar mache, auf den die stürzenden Figuren ohnehin stürzen, zu kurz greift. Da das Labyrinth, in dem der Kampf mit Theseus stattfindet, ein gebauter Raum ist, und die in den Bildern häufig erscheinenden Säulen dem auch Rechnung tragen, ist der Boden des Labyrinths nämlich gar kein felsiger. In dieselbe Richtung weist die Tatsache, dass die entsprechenden Felsen nicht die gesamte Grundlinie bedecken, wodurch sie wahrhaftig zum felsigen Boden würden, sondern meist nur eine einzige Erhöhung an dem Punkt bilden, wo sich die Hand des Gestürzten befindet: Auf einen isolierten Fels von nicht größeren Ausmaßen als unbedingt notwendig, stützt sich Argos auf einer Hydria des Eucharides-Malers in Würzburg (Abb. 326).85 Auf einer Schale des Triptolemos-Malers in Münchner Privatbesitz mit einer Hoplitenschlacht hat der Stein, auf den sich ein sterbender Hoplit stützt, gerade die Ausmaße, um in seinen Handteller zu passen (Abb. 327).86 Nicht viel anders ist dies auf einem Stamnos des Kopenhagen-Malers mit Antaios, der im Kampfe mit Herakles gestürzt ist (Abb. 328).87 Dieselbe Ökonomie der Form ist auch dann festzustellen, wenn die Figur mit anderen Körperteilen als nur der Hand auf den Felsen gestürzt ist, wie man es auf einer fragmentierten Schale in Boston noch erkennen kann (Abb. 329):88 Ein gefallener Krieger liegt dort mit Schienenbein, Fußknöchel und wahrscheinlich auch mit der Hand auf dem Felsen auf, der wiederum genau die benötigte Form annimmt. Diese Ökonomie der Form wurde im vorhergehenden Hauptteil als allgemeines Charakteristikum von Felsdarstellungen erwiesen. Für die Interpretation des Felsens bedeutet sie, dass nicht das Vorhandensein eines Felsens im Bildfeld, sondern die Verbindung der Figur mit dem Felsen zu erklären ist: Es geht um das Aufkommen des Gestürzten auf einem Felsen, durch das das Motiv des Sturzes eine dramatischere Inszenierung erfährt. Dass die Hinzufügung eines Felsens zur Figur des im Kampfe Fallenden, ein Mittel ist, auf das harte Aufkommen auf dem Boden zu fokussiert kommt besonders eindrücklich auf der Zyklusschale des Malers von Lou-

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395 Abb. 326 Hermes tötet Argos, der auf einen Felsen stürzt. Hydria des EucharidesMalers, Würzburg, Martin von Wagner Mus., um 470

vre G 265 zum Ausdruck, wo der Felsen des Prokrustes, auf den dieser stürzt, eine zusätzlich Nase aufweist, auf der Prokrustes – sicherlich sehr schmerzhaft – mit den Rippen aufkommt, so dass ihm auch das Aufstützen auf dem Felsen mit der Hand zur Abfederung des Sturzes nicht mehr hilft (Abb. 307).89 Auf einer Halsamphora des Edinburgh-Malers um 490 im Kunsthandel ist beidseitig die Ermordung eines bärtigen Mantelträgers dargestellt ist, einmal durch den an Keule und Bogen erkenntlichen Herakles, einmal durch einen gewöhnlichen Hopliten (Abb. 330).90 Der bärtige Mann ist auf beiden Seiten rückwärts auf einen mit weißen ‚Flecken‘ besetzten Fels gefallen. Auch wenn es schwer fällt, angesichts der unspezifischen Ikonographie die Figuren zu benennen, wird durch die zivile Manteltracht des jeweils Ermordeten deutlich, dass es sich um illegitime Gewalt handelt.91 Das jeweils harte Aufkommen des alten Mannes auf dem Fels verleiht der Inszenierung dieser Gewalttat zusätzliche Pathetik. Wie sehr der Felsen als Teil der Figur anzusehen ist, die auf ihn gestürzt ist, und keine neutrale Terrainangabe ist, zeigt sich besonders schön auf der Namensvase des Erzgießerei-Malers (Abb. 331):92 Die beiden Bronze-

Abb. 327 Hoplitenschlacht. Ein gestürzter Hoplit stützt sich auf einen Stein. Schale des TriptolemosMalers, München, Slg. Waltz, um 480–470 Abb. 328 Herakles kämpft gegen Antaios, der auf einen Fels gestützt ist. Stamnos des Kopenhagen-Malers, Warschau, Nationalmuseum, um 470

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Abb. 329 Kampfbild. Ein Krieger ist auf einen Fels gefallen. Schalenfragment des Eleusis-Malers, Boston, Mus. of Fine Arts, um 500

figuren, an denen in der Erzgießereiwerkstatt gearbeitet wird, bilden eine Gruppe mit einem siegreichen Hopliten im Ausfallschritt und einem Unterliegenden, dessen Kopf noch nicht an den Rumpf angefügt wurde. Der Unterliegende, der seiner Körperhaltung nach zu schließen rücklings zu Boden gefallen ist, liegt mit dem Oberschenkel, dem Gesäß und dem Rücken auf einem Felsen auf. Aus der Perspektive des Bronzehandwerks ist diese Bettung vollkommen sinnwidrig, da die Figur, mit deren Bearbeitung einer der Handwerker beschäftigt ist, auf einem Felsen liegend verkratzt würde, und die Übertragung der Hammerschläge auf den harten Felsen nur Beschädigungen der Oberfläche zur Folge haben könnte. Die Figur liegt also nicht auf einem Felsen, weil in dieser Erzgießereiwerkstatt zufällig ein Felsen aus dem Fußboden hervorkommt, und ein Handwerker die schlechte Idee hatte, die Figur dort abzulegen, sondern weil ihr dieser Felsen qua Gefallenem zukommt: Der Felsen ist Teil der Bronzeskulptur, an der hier gearbeitet wird.93 Daran, dass der Felsen, auf dem der stürzende Besiegte aufkommt, diesem ausschließlich qua Gefallenem – also situativ zur Darstellung seines Unterliegens – zukommt, ist bei Hoplitenkämpfen nicht zu zweifeln. WeAbb. 330 Herakles ermordet einen unbewaffneten, bärtigen Mann, der rücklings auf einen Felsen gefallen ist. Halsamphora des Edinburgh-Malers, London, Kunsthandel, um 490

Der Erhalt des ästhetischen Eigenständigkeit

397 Abb. 331 Bronzegießer-Werkstatt. Die Figur eines im Kampf Gefallenen, an dem die Handwerker gerade arbeiten, liegt auf einem großen Felsen. Schale des Erzgießerei-Malers, Berlin, Antikensammlung, um 490

niger eindeutig ist das bei den mythischen Figuren Prokrustes und Minotauros. Im Falle des Prokrustes hat die Verbindung zu dem Felsen offensichtlich nicht nur eine situative Qualität, die zu einer dramatischeren Inszenierung seines Sturzes verhilft, sondern auch eine attributive Qualität, insofern es sich nicht um einen beliebigen Felsen, sondern um das Prokrustesbett handelt. Wenn das Prokrustesbett nun als Felsen, auf den Prokrustes fällt,94 in die Darstellung des Sturzes integriert wird, kann man dies als situative Zuspitzung der attributiven Verbindung von Prokrustes und dem Felsenbett verstehen. Das harte Aufkommen auf dem Felsen kann als dramatische Inszenierung des Sturzes natürlich umso mehr überzeugen, je ‚felsiger‘ dieser Felsen ist. So, wie es auf der Onesimos-

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schale in Paris dargestellt ist, bleibt es mit der Interpretation des Felsens als Bett noch kompatibel, insofern der Felsen als Erhöhung am Kopfende des Bettes verstanden werden kann (Abb. 48).95 So, wie das Aufkommen auf dem Felsen allerdings auf der Zyklusschale des Malers von Louvre G 265 dargestellt ist, wo Prokrustes mit seiner Seite auf einem zusätzlichen Felsvorsprung aufkommt, ist der Felsen damit nicht mehr kompatibel (Abb. 307).96 Im Zweifelsfall wird der situativen Zuspitzung der Verbindung des Prokrustes mit seinem Felsen also die Bettähnlichkeit und somit die Grundlage der attributiven Verbindung, geopfert. Auch in einer zweiten Art, den Sturz des Prokrustes dramatisch zu inszenieren, bei der Prokrustes an seinem Felsen Halt sucht, geht die situative Zuspitzung der Verbindung von Prokrustes und seinem Felsen auf Kosten der Bettähnlichkeit. Um das Halt Suchen überzeugend darstellen zu können, muss der Felsen nämlich nach oben verlängert werden, damit Prokrustes diesen mit dem Arm umfassen kann, wie man es auf der Zyklusschale des Kleophrades-Malers in Bologna sieht (Abb. 10).97 Selbiges sieht man auf der Schale des Stiefel-Malers in der Villa Giulia (Abb. 303).98 Das Halt Suchen des Prokrustes an seinem Felsen, wie man es in den zuletzt erwähnten Bildern sieht, kann mit dem Klammern des Skiron an seinen Felsen in den Bildern, wo dieser von Theseus ins Meer herabgestürzt wird, verglichen werden. Auch hier wird das attributive Verhältnis von Skiron und seinem Felsen situativ zugespitzt und intensiviert. Es lässt sich feststellen, dass mit dem Erscheinen der markanten Felsformationen in den Skironbildern um 500–49099 auch das Motiv des verzweifelten Klammerns des Skiron an den Felsen in die Ikonographie Einzug erhält. Nachdem Skiron auf früheren Bildern von dem Felsen nur in halb sitzender, halb liegender Position rücklings heruntergekippt wird,100 stürzt er von den späteren hochaufragenden Felsen kopfüber herab und versucht, sich mit einer Hand an diesen festzuhalten, wie man es etwa auf der Theseusschale des Onesimos im Louvre sieht (Abb. 48).101 Das verzweifelte Klammern des Skiron an seinen Felsen erscheint auch auf den drei Darstellungen dieses Themas im Oeuvre des Douris. Auf der Londoner Zyklusschale erscheint dabei als zusätzliches Motiv das Lösen des Griffs der an den Felsen geklammerten Hand durch Theseus (Abb. 8).102 Dadurch wird sowohl auf das Klammern an den Felsen durch Skiron zusätzlich fokussiert als auch die Zwecklosigkeit seines Bemühens verdeutlicht. Mit besonderer Pathetik ist das Motiv des Klammerns an den Felsen auf der Zyklusschale des Kleophrades-Malers in Bologna behandelt (Abb. 10):103 Anstatt wie gewöhnlich dem stürzenden Skiron als Folie zu dienen, befindet sich hier der Felsen vor dem Körper des Skiron, so dass dessen Oberkörper von ihm verdeckt ist, er den Felsen jedoch mit beiden Armen umfasst. Durch diese Inszenierung des Sturzes wird das Klammerungsmotiv voll zur Geltung gebracht: Skiron sucht sein Heil nur noch in diesem ver-

Der Erhalt des ästhetischen Eigenständigkeit

399 Abb. 332 Theseus im Kampf mit Skiron, der sich verzweifelt an seinem Felsen festklammert. Weißgrundige Lekythos, Berlin, Antikensammlung, 480–470

zweifelte ‚Umarmen‘ des Felsens und leistet keinerlei Gegenwehr mehr.104 Ein ‚Umarmen‘ des Felsens zeigt auch eine kaum spätere weißgrundige Lekythos in Berlin, die jedoch bereits die neue Ikonographie mit dem geschleuderten Becken verwendet, wo das eigentliche Herabstürzen des Skiron also gar nicht dargestellt ist (Abb. 332).105 Obwohl hier das Motiv der Umklammerung gar nicht durch den (fehlenden) Sturz motiviert ist, wird es in der neuen ikonographischen Form beibehalten. Dies gilt ebenso für den Skiron auf der späteren Zyklusschale des Pistoxenos-Malers in München, der den Felsen mit einer Hand umklammert, obwohl dieser ebensowenig stürzend dargestellt ist, sondern wie auf der Berliner Lekythos in wankender Haltung zurückweicht (Abb. 333).106 Das Motiv des Umklammerns des Felsens wird auch auf den um 480–470 wieder erscheinenden Bildern des noch sitzenden Skiron, den Theseus am Bein packt, um ihn herabzustürzen, beibehalten, wie man es auf der Bauchamphora des Gallatin-Malers in New York (Abb. 334)107 oder der späteren Zyklusschale des Penthesilea-Malers in Ferrara sieht (Abb. 335).108 Während das Motiv des Halt Suchens des stürzenden Prokrustes an seinem Felsen mit den Klammerungsmotiven der Skironikonographie zu verbinden ist, ist die Parallele des Motivs des Aufkommens des stürzenden Prokrustes auf seinem Fels mit den entsprechenden Bildern des stürzenden Minotauros nicht zu übersehen. Der Schweine-Maler, der in die Ikonographie des Minotauroskampfes den Felsen integriert hatte, auf den

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Semantische Untersuchung

Abb. 333 Taten des Theseus. Auch hier klammert sich Skiron hilflos an seinen Fels. Schale des PistoxenosMalers, München, Antikensammlung, um 450

der Minotauros fällt, stellt auf einer Halsamphora in Cambridge den Prokrusteskampf mit einem Felsen dar, der in Form und Funktion im Bild durch nichts von den Felsen in Minotauroskämpfen zu unterscheiden ist (Abb. 305).109 Die Angleichung des Prokrustesfelsens und des Minotaurosfelsens kann aber auch in umgekehrter Richtung vonstatten gehen: Auf einem Stangenkrater desselben Malers im Kunstmarkt fällt der Minotauros auf einen breiten und flachen Felsen, der die Matratzenform hat, welche für Prokrustesbetten ‚angebracht‘ wäre (Abb. 336).110 Sollte man bei

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401 Abb. 334 Theseus stürzt Skiron von seinem Felsen herab. Amphora des GallatinMalers, New York, Metropolitan Mus., um 480

Abb. 335 Taten des Theseus (Fries). Schale des Penthesilea-Malers, Ferrara, Mus. Nazionale di Spina, um 460–450

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Abb. 336 Theseus tötet den Minotauros. Der breite und flache Felsen, auf den der Minotauros fällt, ist offensichtlich eine Übernahme aus der Prokrustes-Ikonographie. Stangenkrater des Schweine-Malers, New York, Kunsthandel, 480–470

so weitgehender Angleichung der Ikonographie des auf einen Felsen Stürzens bei Prokrustes und dem Minotauros auf den Unterschied bestehen, dass es nur im Falle des Prokrustes auch eine attributive Verbindung zwischen Fels und Figur gebe, und diese Verbindung beim Minotauros ausschließlich situativ sei? Das scheint wenig plausibel. Dass sich die Felsen, auf die der Minotauros fällt, in die Reihe der Felsen der anderen Gegner des Theseus Skiron und Prokrustes einordnen lassen und somit ebenso wie diese situativ und attributiv auf ihn bezogen sind, zeigt eine Zyklusschale des Dokimasia-Malers in Florenz, in deren Innenbild der Minotauroskampf erscheint (Abb. 95).111 Der stürzende Minotauros ist hier zwar noch in freiem Fall begriffen, wird im nächsten Moment aber auf zwei an den Tondorand angefügten Felsen aufschlagen.112 Man wird diese Felsen nicht anders verstehen als die Felsen, die auf den Außenseiten erscheinen. Die Felsen des Minotauros nur situativ, die des Prokrustes und des Skiron dafür situativ und attributiv zu lesen ist auch aus einem weiteren Grund wenig überzeugend: Die Unterscheidung von situativer und attributiver Verbindung wird in diesen Bildern nämlich zunehmend artifiziell: Wenn es das Bestreben der Maler ist, die attributive Verbindung zwischen Prokrustes und Skiron und ihren jeweiligen Felsen situativ zuzuspitzen, und sie dafür im Falle des Prokrustes bereit sind, die Grundlage der attributiven Verbindung des Felsens, nämlich seine Bettähnlichkeit, zu opfern, lässt dies stark vermuten, dass es zuvorderst um die Intensivierung der Verbindung dieser beiden Räuber mit ihren jeweiligen Felsen ging, und dass dafür die situative Zuspitzung dieser Verbindung in einem dramatischen Geschehen eben ein bevorzugtes Mittel darstellte. Schließlich steht einem attributiven (zusätzlich zu dem evidenten situativen!) Verständnis

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der Verbindung des stürzenden Minotauros mit dem Fels auch aus inhaltlichen Erwägungen nichts im Wege: Der Fels passt als roher Gegenstand offensichtlich zum wilden, menschenfressenden Monster Minotauros. Auch bei der Figur des Argos, der im Kampf mit Hermes auf einen Felsen stürzt, wird man eine attributive Dimension der Verbindung mit dem Felsen kaum bestreiten können: Ebenso wie der Räuber Prokrustes und der menschenfressende Minotauros lebt Argos fernab von der Gesellschaft der Menschen. Schon in seiner Eigenschaft als Hirte wäre ihm ein Fels ein passendes Attribut. Auf einer fragmentierten Schale des Onesimos in Würzburg, auf deren Außenseiten der Prokrusteskampf und der Argoskampf dargestellt sind,113 wird von dem Wenigen, was die Schale noch zu erkennen gibt, deutlich, dass sich die Felsen, auf die die Unterliegenden jeweils stürzen, formal und funktional vollkommen entsprechen. Man wird sie also auch in ihrer jeweiligen Bedeutung für die Figuren nicht dissoziieren wollen. Das Motiv des Felsens, auf den der Besiegte fällt, ist für die zuletzt besprochenen Figuren also nicht nur ein Mittel zur dramatischen Inszenierung ihrer Niederlage, sondern auch eine intensivierte Form attributiven und somit charakterisierenden Bezugs, was dieses Motiv mit den diversen Motiven des Klammerns an den Fels des Skiron verbindet. Dieses doppelte Potenzial, welches das Motiv für diese Figuren hat, ist wohl auch der Grund dafür, dass es in diesen Ikonographien mehr Erfolg hatte als in Hoplitenkämpfen, wo nur eine situative Lesart funktioniert. Zum Schluss sei noch darauf hingewiesen, dass die Schilderung des auf dem Boden Aufkommens dessen, der im Kampfe fällt, im homerischen Formelrepertoire einen festen Platz hat, mithin als Ausdrucksmittel des Sterbens im Kampf schon seit dem 8. Jh. etabliert ist.114 Daran zeigt sich eindeutig, wie sehr das Auftauchen des Motivs des Stürzens auf einen Fels in der Vasenmalerei des frühen 5. Jh. ein mediales Phänomen ist: Würde der ikonographische Befund der Vasenmalerei zu jeder Zeit die Vorstellungswelt der Griechen ohne mediale Brechung unmittelbar wiederspiegeln, wäre es nicht zu erklären, warum entsprechende Bilder erst im frühen 5. Jh. erscheinen. Eine Voraussetzung dafür, dass das harte Aufschlagen auf einem Felsen in der Vasenmalerei zu einem Mittel dramatischer und pathetischer Schilderung des Sterbens im Kampf werden konnte, ist – so möchte ich behaupten – die Entwicklung einer Ästhetik des Felsens, die dessen Eigenschaften des Rauen und Kantigen im Bild spürbar macht. Ebenso wie sich die im letzten Unterkapitel diskutierten Beispiele für besonders ‚felsige‘ Gestaltung von Felsen auf das erste Drittel des 5. Jh. konzentrierten, gehören auch die hier diskutierten Beispiele für die Verwendung des Motivs des Felsens, auf den der Besiegte fällt, meist diesem Zeitraum an und verlieren sich weitgehend zur Jahrhundertmitte hin. Die vorerst letzte Verwendung dieses Motivs findet sich auf

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einer Schale um 460–450 in Florenz mit einem vom Gegner hart bedrängten Krieger, der sich mit Knie und rechter Hand auf einen Fels stützt (Abb. 337).115 Interessant ist jedoch, dass sich auch nach dem Ende der dichten Überlieferung des Motivs vereinzelte Beispiele entsprechender Verwendung des Felsens zur Inszenierung des Sturzes im Kampf finden. So erscheint etwa auf einem Askos um 430 mit der Darstellung der Tötung des Minotauros ein Fels, auf dem der fallende Minotauros im nächsten Moment aufkommen wird (Abb. 338).116 Auf einer Pelike aus dem Umkreis des Pronomos-Malers in Athen mit einer Gigantomachie stützt sich ein gestürzter Gigant mit der Hand auf einen Felsen (Abb. 238).117 Ein Stangenkrater ebenfalls aus dem Umkreis des Pronomos-Malers zeigt in einer Amazonomachie eine stark bedrängte Amazone, wie sie ihr linkes Knie auf einen Haufen Steine stützt (Abb. 339).118 Diese Beispiele sind zu vereinzelt, als dass man von einer ungebrochenen ikonographischen Tradierung des Motivs sprechen könnte. Eher kann man diese Beispiele als Neuerfindungen desselben Motivs ansehen: Sie aktualisieren ein ikonographisches Potenzial des Felsens, das dieser seit dem Erhalt seiner ästhetischen Eigenständigkeit zwar zu jeder Zeit besitzt, von dem die Maler aber nicht zu jeder Zeit Gebrauch machen. Beispiele für Verbindungen von Figuren und Felsen, die einen situativen Charakter haben, ließen sich viele anführen, doch ist es zweifelhaft, ob eine auf Vollständigkeit zielende Auflistung dieser Beispiele großen Erkenntnisgewinn mit sich brächte. Es sollen hier also nur mehr einige besonders interessante Bilder herausgegriffen werden. Auf einem Stangenkrater des Malers von Tarquinia 707 um 450 mit dem musizierenden Orpheus und einem thrakischen Reiter und einem Satyrn als Zuhörer ragt der Fels, auf dem Orpheus sitzt, hinter der eigentlichen Sitzfläche in einem schmalen Felsstreifen bis hinauf zum Ellbogen des Satyrn (Abb. 340).119 Diese sehr auffällige morphologische Eigenart, welche auf den ersten Blick die Regel der Ökonomie der Formgebung von Felsen zu widerlegen scheint, da der zusätzliche Felsstreifen der Funktion des Sitzens nicht dient, hat offensichtlich den Zweck, dem Satyrn ein Auflager für seinen aufgestützten Ellbogen zur Verfügung zu stellen. Dieses Auflager wird auf eine ausgesprochen wenig naheliegende Weise bereitgestellt – man hätte die Sitzfläche des Felsens schließlich einfach nach hinten verlängern können. Wenn man sich dennoch für das sperrige und geradezu aufdringlich irreale Motiv des schmalen Felsstreifens entschieden hat, dann tat man dies offensichtlich, um die Tatsache, dass sich der Satyr mit dem Ellbogen auf den Fels stützt, möglichst auffällig zu präsentieren.120 Worauf der Maler den Betrachter damit aufmerksam machen wollte, ist klar: Es wird die Tatsache hervorgehoben, dass der Satyr eine Ruhehaltung eingenommen hat. Das Gewicht liegt auf seinem Standbein, er hat seine

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405 Abb. 337 Kampfszene. Der Unterlegene stützt sich mit Knie und Hand auf einen Felsen. Auf einer Außenseite erkennt man noch ein Knie, das ebenfalls auf einen Felsen aufgestützt ist. Schale des Malers von London E 777, Florenz, Mus. Archeologico, 460–450

Abb. 338 Theseus verfolgt den Minotauros, der im Begriffe ist, auf einen Felsen zu fallen. Askos, Ruvo, Mus. Jatta, um 430

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Abb. 339 Amazonomachie. Eine stark bedrängte Amazone ist mit dem Knie auf einen Haufen Steine aufgestützt. Stangenkrater aus dem Umkreis des Pronomos-Malers, Deutschland, Privatbesitz, 410–400

Abb. 340 Thraker und ein Satyr sind gebannt von der Musik des Orpheus. Der Satyr stützt sich dabei mit dem Ellbogen auf den Felsen, auf dem Orpheus sitzt. Stangenkrater des Malers von Tarquinia 707, Portland, Art Mus., um 450

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rechte Hand in die Hüfte gestützt und lehnt mit seinem Oberkörper auf dem auf dem Felsen aufgesetzten Ellbogen. Der Satyr, zu dessen Wesen es gehört, ständig in Bewegung zu sein, ist durch die Musik des Orpheus ‚gezähmt‘ worden und hat den ekstatischen Tanz gelassen. Auch der sonst so wilde und gefährliche thrakische Reiter ist von seinem Pferd abgestiegen und lauscht der Musik in vollkommener Passivität. Während der schrille Klang der Doppelflöte, des Instruments des dionysischen Thiasos, zur Bewegung treibt, besänftigt der Klang der apollinischen Lyra, von Orpheus gespielt, das Gemüt.121 Aufgestützte Haltungen, die Passivität zum Ausdruck bringen, sind ein bestimmender Zug aller Bilder von Orpheus unter den Thrakern, wobei der Fels, auf dem Orpheus sitzt, diesen aufgestützten Haltungen in seiner Form in einigen Fällen entgegenkommt. Am besten lässt sich das am namensgebenden Stangenkrater des Orpheus-Malers in Berlin exemplifizieren (Abb. 341):122 Der Thraker am linken Bildrand hat das Körpergewicht auf ein Bein verlagert, stützt sich auf seine Lanzen und hat den Kopf auf die Schulter seines Kameraden gelegt. Dieser steht ebenfalls mit seinem Gewicht auf dem Standbein, ist auf seine Lanzen aufgestützt und hat zudem seinen Kopf mit geschlossenen Lidern aus dem Bild heraus in die Frontalität gedreht.123 Der rechteste Thraker hat sich in seinen Mantel eingewickelt, so dass seinen Armen die Bewegungsfähigkeit genommen ist, wodurch wiederum seine Passivität zum Ausdruck gebracht wird. Der Thraker rechts von Orpheus stützt sich auch auf seine Lanzen, der linke Arm ruht an der Hüfte, und der rechte Fuß ist außerdem auf den Felsen aufgestützt.124 Wenn auch viel weniger plakativ als im Falle des zuvor beschriebenen Stangenkraters, ist das Aufsetzen des Fußes dadurch hervorgehoben, dass dies nicht der primären Bestimmung des Felsens, Sitzgelegenheit zu sein, entspricht.125 In beiden beschriebenen Bildern dient die Berührung mit dem Felsen der Schilderung der Ruhehaltung der von der Musik gebannten Zuhörer. Bezeichnend ist dabei, dass die von der Musik ‚Gezähmten‘ ihrem Wesen nach genau die gegenteiligen Werte repräsentieren, nämlich Kampfkraft, was die thrakischen Reiter betrifft, und übermäßige Bewegungsintensität, was die Satyrn betrifft. Diesbezüglich ist es interessant, dass die Musik des Orpheus im Gegenzug Steine bewegt, wie man es auf einem Stangenkrater des Neapler Malers in Hamburg sieht (Abb. 342):126 An dem durch Geländelinien angegebenen Fels, auf dem Orpheus sitzt, bewegt sich ein Stein herauf.127 Dass dieser Stein als ein sich bewegender gedacht ist, was aufgrund des Mythos von der Steine bewegenden Kraft der Musik des Orpheus naheliegt, wird daran deutlich, dass er die Grundlinie nicht berührt, ohne gleichwohl herabzurollen. Der Stein ist somit ‚animiert‘, während die umstehenden Thraker so regungslos wie Felsen geworden sind.128 Auf der Namensvase des Nausikaa-Malers setzt Odysseus seinen Fuß auf einen Felsen, hält Äste in den Händen und hat auch einen Ast im Haar

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Abb. 341 Die wilden thrakischen Reiter lauschen der Musik des Orpheus. Einer stützt seinen Fuß auf den Felsen des Orpheus. Stangenkrater des OrpheusMalers, Berlin, Antikensammlung, um 440

(Abb. 343).129 Wie in der Odyssee geschildert, erschrecken die Töchter des Alkinoos vor der wüsten Erscheinung des Odysseus, der sich gerade anschickt, in die Gesellschaft der Menschen zurückzukehren. Der Fels und die Äste sollen dabei offensichtlich den verwilderten Zustand des Odysseus zum Ausdruck bringen, der so lange von der Gesellschaft der Menschen entwöhnt war. Wiewenig das Verständnis der Ankunft des Odysseus auf der Phäakeninsel als Wiedereintritt von der Wildnis in die menschliche Gesellschaft ein Hirngespinst von Besessenen des Natur-Kultur-Gegensatzes ist, zeigt sich an einem eigenartigen Detail des homerischen Textes, wo präzisiert wird, dass sich der an Land gespülte Odysseus unter zwei ineinander gewachsene Olivenbäume schlafen legt, von denen der Abb. 342 Orpheus singt vor den Thrakern. Während sich eine Schildkröte und ein Stein durch die Musik in Bewegung setzen, verharren die wilden Thraker in Regungslosigkeit. Stangenkrater des Neapler Malers,Hamburg, Mus. für Kunst und Gewerbe, um 450

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eine ein wilder Olivenbaum sei, der andere ein Kulturbaum sei.130 Ob man den ikonographischen Gebrauch des Felsens und der Zweige hier nun situativ nennen möchte oder nicht, ist gleichgültig: Odysseus vollführt mit seinen Zweigen zwar keine bestimmte Handlung, sondern sie charakterisieren ihn so, wie es auch ein Attribut täte. Doch charakterisieren sie nicht sein zeitloses Wesen, sondern nur seinen aktuellen Zustand, der eine spezifische Relevanz für die Narration des Bildes hat: Die Mädchen fliehen. Einen Fall, wo die Verbindung einer Figur mit einem Felsen zwar mit einer konkreten Handlung situativ erklärt werden kann, aber gleichzeitig auch ein allgemein attributives Verhältnis besteht, wo also wie bei Prokrustes und Skiron eine allgemein charakterisierende Verbindung von Figur und Fels durch das Mittel situativer Zuspitzung intensiviert wird, stellt ein Stamnos des Sirenen-Malers mit der Flucht des Odysseus aus der Höhle des Polyphem dar (Abb. 344).131 Es ist dargestellt, wie Polyphem den Eingang seiner Höhle mit dem großen Fels wieder verschließt.132 Mit seinen weit ausgestreckten Armen, die die gesamte Breite des Bildfelds durchmessen, und seiner gebückten Haltung wird aber gleichzeitig gezeigt, wie der Kyklop erfolglos nach möglichen Flüchtlingen tastet, während das letzte Tier, unter dem sich Odysseus befindet, die Höhle schon

Abb. 343 Nausikaa und ihre Gespielinnen erschrecken vor der verwilderten Gestalt des Odysseus, welche durch den Felsen, auf dem er steht, und die Zweige, die er in den Händen hält und im Haar hat, charakterisiert wird. Halsamphora des Nausikaa-Malers, München, Antikensammlung, 450–440

410 Abb. 344 Flucht aus der Höhle des Polyphem (A). Frauen am Louterion, die von einem Mann belästigt werden (B). Stamnos des SirenenMalers, New York, Kunsthandel, um 480

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verlassen hat. Der Widder hat den Kopf erhoben, so dass er in intime Nähe zum Kopfe des Polyphem rückt. Widder und Kyklop haben beide einen geöffneten Mund. Auch wenn der geöffnete Mund ebenso als Zeichen für die großen Schmerzen des Polyphem gedeutet werden könnte, sprechen die unmittelbare Nähe der beiden Köpfe, der hochgereckte Kopf des Tieres und nicht zuletzt die in der Odyssee geschilderte Anrede des Polyphem an seinen Lieblingswidder, der entgegen seinen Gewohnheiten als letzter die Höhle verlässt,133 dafür, dass hier die Zwiesprache zwischen Polyphem und dem Tier gemeint ist. Dass die ausschließliche Berührung des Polyphem mit dem Felsen, obwohl er nach den flüchtigen Gefährten tastet, und seine Zwiesprache mit dem Widder, nachdem er die Menschen, nach denen er tastet, nicht finden kann, Polyphem – das mythologische Paradebeispiel für eine Figur, die außerhalb der menschlichen Gemeinschaft und Kultur lebt134 – auch allgemein charakterisieren soll, und die situativ motivierte Berührung mit dem Felsen somit als Mittel zur Intensivierung jener attributiv-charakterisierenden Verbindung angesehen werden kann, liegt nahe, auch wenn es, anders als bei Skiron und Prokrustes, nicht beweisbar ist. Möglicherweise kann das Bild auf der Gegenseite eine solche Interpretation befördern: Dort sieht man nackte Frauen am Louterion, die von einem Mann belästigt werden, der quer über das Bildfeld nach der Brust einer der Frauen greift. Ist dies nicht ein Rekurs auf die Geste des Polyphem, durch die hervorgehoben wird, dass Polyphem eben nur Felsen erreicht? Wie Polyphem hat der Mann auch einen geöffneten Mund, doch muss er sich nicht wie dieser an Tiere wenden. Ein weiteres Beispiel, in dem eine situationsgebundene Verbindung einer Figur mit einem Felsen gleichzeitig eine attributive Qualität hat, in dem diese situationsgebundene Verbindung also als Konkretisierung und – in der Wirkung des Bildes auf den Betrachter – Intensivierung der attributiv-charakterisierenden Verbindung angesehen werden kann, ist das Innenbild der Schale des Onesimos in Malibu mit dem Satyrn, der eine schlafende Frau anfällt (Abb. 143).135 Um die schlafende Frau zu erreichen, muss der Satyr einen steilen Felsen herabklettern, von dem er im Effekt allerdings mehr herunterpurzelt, dabei aber exakt dort landet, wo er hin wollte, nämlich zum Mund der begehrten Frau.136 Dass der Satyr über rohen Felsen klettert, während die ruhig schlafende Frau auf einer Matratze liegt, ist also narrativ vollkommen motiviert. Umso überzeugender formuliert das Bild somit jedoch das allgemein bestehende attributive Verhältnis von Satyrn und Felsen.137 Es zeigt sich an den zuletzt vorgestellten Ikonographien und Einzelbildern, dass mit dem Erhalt der ästhetischen Eigenständigkeit, durch die Felsen nun wahrhaftig als Felsen in Bildern erscheinen, statt nur andere Gegenstände zu substituieren, keineswegs der Erhalt einer eigenen, präzi-

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sen Semantik einhergeht, die in jedem Bild dieselbe wäre. Wollte man Bedeutungen, für die die Felsen in den besprochenen Bildern ‚stehen‘, über deren allgemeinste Beschreibung als rohe, unbearbeitete, feste und unbewegliche Gegenstände hinausgehend präzisieren und ausformulieren, käme man zwangsläufig dazu, diese von den Figuren und ihrem Handeln auf die Felsen zu übertragen: Die Felsen der Räuber Prokrustes und Skiron stünden für deren Eigenschaft als Feinde der Polisordnung, der Felsen des Polyphem wäre Ausdruck seines einsamen und kulturlosen Daseins, der Felsen des Satyrn Ausdruck seiner Wildheit, usw. Die Ergebnisse dieses Verfahrens wären nicht unbedingt falsch. Das Verfahren selbst wäre jedoch vollkommen zirkulär und deshalb aus hermeneutischer Perspektive sinnlos. Das ist die direkte Folge daraus, dass Felsen wie alle Landschaftselemente, Nebenmotive sind: Nicht in den Felsen kristallisiert sich die Bedeutung eines Bildes, sondern in den Figuren und deren Handeln. Gleichwohl bleibt es richtig, dass Felsen trotz ihrer vollkommen unpräzisierbaren Semantik Figuren und ihr Handeln charakterisieren können, denn auch die Bedeutung des Felsens, die so allgemein gehalten wird, wie möglich, verhilft bereits dazu, die Figur, die damit in Verbindung gebracht wird, von der Figur zu unterscheiden, die damit nicht in Verbindung gebracht wird. Einen wirklich beunruhigenden Verlust an Semantik trifft den Felsen erst dadurch, dass sich der Kreis der Figuren, welche mit Felsen in Verbindung gebracht werden, im Laufe des 5. Jh. immer weiter verbreitert. Dieser Prozess ist, wie wir noch sehen werden, um die Jahrhundertmitte so weit fortgeschritten ist, dass die Assoziation mit einem Felsen dann kaum mehr ein Unterscheidungskriterium zwischen Figuren ist.

Attributhafte Landschaftselemente Attributhafte Landschaftselemente gibt es in der attischen Vasenmalerei bereits seit dem Beginn des in dieser Arbeit behandelten Zeitraums: Die dionysischen Gewächse Wein und Efeu stehen seit ihrem Auftauchen in einem eindeutigen Attributverhältnis zu Dionysos.138 Ebenso ließen sich Pinien, derer sich die Kentauren beim Kampf bedienen, in vielen Fällen auch dann als Attribute dieser letzten ansehen, wenn sie von ihnen nicht direkt in den Händen gehalten werden. Bei Palmen besteht auch ein offensichtliches Attributverhältnis mit apollinischen Figuren, auch wenn die Ikonographie der Palme viele weitere Aspekte umfasst. Der Attributstatus dieser Bäume und Pflanzen ergibt sich ganz selbstverständlich aus mythologischen und kultischen Referenzen und bedarf kaum eines besonderen ikonographischen Erweises.139 Dasselbe ließe sich zum Felsenbett des Prokrustes und zum Skironfelsen sagen, die genauso einen festen

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mythologischen Bezug zu den entsprechenden Figuren aufweisen, der unabhängig von deren Darstellung in einzelnen Bildern besteht. Bei mythologisch nicht motivierten Felsen und unspezifizierten Bäumen hat die Frage nach deren möglichen Attributstatus dagegen keineswegs eine einfache, eindeutige Antwort. Sie erscheinen in so vielen verschiedenen ikonographischen Kontexten, dass es schwer fällt, spezifische und ausschließliche Verbindungen mit bestimmten ikonographischen Kontexten zu benennen, die Ausgangspunkt ihres Attributstatus sein könnten. In den vorangegangenen Untersuchungen des zweiten Hauptteils wurden sogar einige Ikonographien diskutiert, bei denen ein Attributverhältnis von Felsen und den Figuren, die mit ihnen in Zusammenhang stehen, geradezu ausgeschlossen werden kann: Der Fels, auf den Herakles sein Gewand legt, oder der Baum, an den er es hängt, sind alles andere als Attribute seiner Figur, da sie vielmehr eine Antithese zum sogfältig abgelegten oder aufgehängten Gewand des Helden darstellen.140 Auch hat der Felsenbrunnen in Auflauerungsbildern der Polyxena mit der Figur des (hoplitischen) Achill nichts zu tun, sondern nur mit seiner aktuellen Handlungsweise, die seiner hoplitischen Identität geradezu entgegengesetzt ist.141 Dasselbe ließe sich zu den Felsenklinen des lagernden Herakles sagen: Auch sie sagen nicht etwas über die allgemeine Charakteristik des Herakles aus, sondern qualifizieren ein aktuelles, normwidriges Handeln.142 Die Frage nach dem Attributstatus von mythologisch unmotivierten Landschaftselementen143 eröffnet ihre Problematik am besten, wenn man sich vergegenwärtigt, in welchen Ikonographien sie bis zum Beginn des 5. Jh. fehlen. In der Tat glänzen Bäume und Felsen, die man gerne und sicherlich zu recht für Vertreter der wilden Natur und des unkultivierten Landes hält, gerade in der ‚wildesten‘ aller Ikonographien, der dionysischen, im 6. Jh. vor allem durch Abwesenheit: In der frühen rotfigurigen Vasenmalerei der Pioniere etwa, in der die freischwebenden Zweige der spätschwarzfigurigen Vasen fehlen, sucht man Landschaftselemente in dionysischen Bildern vergeblich. In den mythischen Kämpfen gegen die Kentauren, jene anderen Vertreter von wilder Natur, werden Bäume und Felsen zwar als Waffen verwendet, doch findet man sie im 6. Jh. nicht als eigentliche Landschaftselemente aus der Grundlinie wachsend, bzw. hervorkommend. In den Herakleskämpfen gegen ebenso wilde Gegner wie den Löwen, den Stier oder den Eber finden sich zwar isolierte Bäume, doch wurde diesen (wie den isolierten Felsen in Löwenkampfbildern) der Weg in diese Ikonographien nur durch das Motiv des aufgehängten Gewands und der aufgehängten Waffen geebnet.144 Man könnte also sagen, dass im 6. Jh. Landschaftselemente genau dort fehlen, wo sie als Attribute der Figuren ganz besonders gut passen würden – in der dionysischen Ikonographie, in Kentauromachien –, und dort

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vermehrt auftreten, wo sie gerade nicht passen – in Gelagebildern (des Herakles), in Brunnenhausbildern (der Polyxena). Diese Formulierung des Befundes ist natürlich ein wenig überspitzt: Höhlenfelsen etwa tauchen im späten 6. Jh. in Löwenkämpfen auf, ebenso wie das Auftreten isolierter Bäume in der Heldenikonographie auch durch den Hinweis auf ihre Herkunft vom Motiv der aufgehängten Waffen nicht wegzudiskutieren ist. Dennoch gibt diese Formulierung die allgemeine Tendenz wieder: Das Erscheinen von Landschaftselementen im 6. Jh. ist grundsätzlich antithetisch und weist nicht die für Attribute charakteristische Redundanz auf, bei der der Athlet mit Sportgeräten, der Symposiast mit Symposionsrequisiten oder die sich schmückende Frau mit Spiegeln u.Ä. umgeben wird. Eine zweite allgemeine Eigenschaft von Attributen, nämlich in keiner unmittelbaren situativen Verbindung mit der entsprechenden Figur zu stehen, trifft auf Bäume145 und Felsen des 6. Jh. ebensowenig zu: Es finden sich kaum isolierte Felsen, und auch Bäume dienen in der Mehrzahl dem Aufhängen von Gegenständen.146 Vor diesem Hintergrund stellt der Attributstatus, den Bäume und Felsen im frühen 5. Jh. Jahrhundert, wie wir sehen werden, in vielen Fällen bekommen, eine signifikante Veränderung der Verwendung von Landschaftselementen dar. Im vorhergehenden Unterkapitel wurde behauptet, dass bei Prokrustes und Skiron das Fallen auf und das Klammern an den Felsen nicht nur ihre verzweifelte Lage im Kampf mit Theseus zum Ausdruck bringen, sondern die Gegner des Theseus auch allgemein als Figuren charakterisieren, die sich sowohl räumlich als auch ethisch jenseits der Poliskultur befinden.147 Diese Interpretation kann sich nicht zuletzt darauf berufen, dass die Motive des Aufstützens auf und des Klammern an Felsen in verzweifelter Lage mit auffälliger Häufigkeit gerade bei solchen Figuren erscheinen, auf die ebenjene Charakterisierung zutrifft, und sich diese Motive deswegen nicht nur auf deren aktuelle Lage im Kampf, sondern wohl auch auf deren allgemeines Wesen beziehen. Diese Argumentation hat offensichtlich gewisse zirkuläre Züge.148 Dass diese Felsen in den Bildern tatsächlich attributiv auf das Wesen der Gegner des ‚héros civilisateur‘ Theseus verweisen, zeigt sich an der Anreicherung dieser Felsen mit weiteren Landschaftselementen, die ihrerseits mythologisch nicht motiviert sind. Dieses Phänomen soll im Folgenden näher beschrieben werden. Auf der Zyklusschale des Onesimos im Louvre erscheint neben jedem der vier Theseuskämpfe ein Baum, in dem das Schwert und das Gewand des Helden hängen (Abb. 48).149 Sie werden für die Narration nicht gebraucht. Solche mit Gewand und Waffen behangenen Bäume sind aus der Heraklesikonographie übernommen und sind in Heldenkämpfen nichts Ungewöhnliches. Bemerkenswert ist nur ihre große Zahl, durch die sie in nicht unerheblichem Maße den Gesamteindruck der Bilder bestimmen.

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Während auf der knapp zwei Jahrzehnte früheren Schale des EuergidesMalers mit dem Minotauroskampf, dem Löwenkampf des Herakles und dem Prokrusteskampf auf einer Außenseite nur über dem im Liegeschema dargestellten Löwenkampf der an dieser Stelle ‚kanonische‘ Baum erscheint (Abb. 345),150 ist auf der Onesimos-Schale jedem Kämpferpaar konsequent ein Baum an die Seite gestellt. Anders als auf der Schale des Euergides-Malers setzt Onesimos nicht nur dort einen Baum hinein, wo es einen Freiraum zu füllen gilt,151 sondern auch dort, wo es eigentlich gar keinen Platz gibt: Die Bäume links vom Skiron- und links vom Kerkyonkampf wachsen mit ihren Ästen jeweils über den Henkel, bzw. werden von diesem überschnitten. Die Saturierung der Bildfeldfläche mit Bäumen und Zweigen, welche Onesimos dadurch erreicht, ist gleichwohl von ganz anderer Art als die Saturierung der Bildfeldfläche durch freischwebende Zweige auf zeitgenössischen schwarzfigurigen Vasenbildern: Die Äste richten sich in ihrem Verlauf nicht nach den Freiräumen im Bildfeld, sondern folgen ihrem eigenen Formprinzip. Obwohl den vier Bäumen an den Stellen, wo sie wachsen, ganz unterschiedliche freie Flächen zur Verfügung stehen, haben sie alle ungefähr dieselbe Form.152 Sie vervollständigen nicht das Füllen der Bildfeldfläche durch Figuren, indem sie von diesen ausstrahlen würden, sondern stehen beim Saturieren der Bildfeldfläche als eigenständige Bildelemente an der Seite der Figuren. Folgerichtig ist die Saturierung der Bildfeldfläche durch Bäume und ihre Zweige auch nicht ein allgemeiner Zug aller Bilder des Onesimos, sondern ein Charakteristikum dieser Zyklusschale: Die ungewöhnliche Dichte an Bäumen auf dieser Schale steht offensichtlich im Zusammenhang mit dem Thema der Darstellung. Der Maler erachtete Bäume als passend für die Darstellung der Kämpfe des Theseus.153 Diesbezüglich ist es bemerkenswert, dass die vier Theseuskämpfe auf die Außenseiten der Schale derart angeordnet sind, dass sich der Skironund der Prokrusteskampf mit ihren jeweiligen, zur Narration direkt zugehörigen Felsen auf derselben Seite befinden, wodurch in diesem Sektor des Außenfrieses eine maximale Konzentration von Landschaftselementen erreicht wird. Man wäre geneigt, diese Tatsache dem Zufall zu über-

Abb. 345 Taten des Theseus und des Herakles. Lediglich über der LöwenkampfGruppe im Liegeschema erscheint ein Baum. Schale des EuergidesMalers, Paris, Louvre, um 510

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antworten, würde sich Selbiges nicht auf einer signifikanten Anzahl von Zyklusschalen bis ins späte 5. Jh. wiederfinden: Auf der Schale des Dokimasia-Malers in Florenz sind sämtliche Theseuskämpfe, deren Handlung ein Landschaftselement beinhalten – Sinis, Skiron und Prokrustes –, auf einer Seite zusammengezogen (Abb. 346).154 Auf der berühmten Schale des Penthesilea-Malers in Ferrara (Abb. 335),155 wo ganze acht Theseustaten im Innenfries aneinander gereiht sind, ist die Hälfte des Frieses von Szenen eingenommen, die alle entweder Landschaftselemente aus erzählerischen Gründen integrieren, oder die mit ‚fakultativen‘ Landschaftselementen versehen sind,156 wogegen der Rest des Frieses (außer des obligatorischen Baumes des Sinis) gar kein Landschaftselement aufweist.157 Auf der Schale des Kodros-Malers in London ist im Innenfries dasselbe Phänomen eines besonders ‚felsigen‘ Friesabschnitts, der sich von einem von Landschaftselementen gänzlich freien Abschnitt absetzt, zu beobachten (Abb. 347).158 Hier ist es bemerkenswert, dass der niedrige Felsen, auf den Sinis seinen rechten Fuß setzt, auch dem Theseus des daran angrenzenden Stierkampfes als Fußstütze dient.159 Die Landschaftselemente bilden auf dem besagten Friesabschnitt also im wahrsten Sinne des Wortes ein Kontinuum. Auch auf den Außenseiten dieser Schale, welche dieselben Szenen wiederholen, sind die Landschaftselemente auf einer Seite konzentriert.160 Schließlich ist auch die Aisonschale in Madrid derart gestaltet, dass die Landschaftselemente auf einer der Außenseiten mit Skiron, Sinis und der Sau ein Kontinuum bilden.161 Die ungleichmäßige Verteilung der Landschaftselemente auf die verschiedenen Bereiche einer Zyklusschale, auf dass ein besonders ‚landschaftlicher‘ Sektor entstehe, ist also eine Strategie, welche von vielen Malern gewählt wurde.162 Was könnte die Maler dazu bewogen haben, diese Strategie zu wählen und nicht eher die gegenteilige, die darin bestünde, die Landschaftselemente möglichst gleichmäßig auf die Vase zu verteilen? So wie auf den Zyklusschalen insgesamt eine Vielzahl von gleichartigen Taten des Theseus, der jedesmal Feinde der guten Ordnung bezwingt, zu einem Kontinuum von Kämpfen zusammengefasst wurden, haben einige Maler auch die in einigen der einzelnen Kämpfe erscheinenden Landschaftselemente zu einem Kontinuum an Landschaftselementen zusammengezogen und dabei ggf. zusätzliche Landschaftselemente eingesetzt. Die allgemeine Bildidee der Zyklusschalen wurde gewissermaßen auf die Landschaftselemente angewendet. Dass man dabei nicht versucht hat, die gesamte Vase zu ‚verlandschaftlichen‘, sondern sich nur auf einen Sektor konzentriert hat, liegt offenbar daran, dass bei gleichmäßiger Verteilung der Landschaftselemente deren Dichte nicht ausgereicht hätte, um das angestrebte Kontinuum an Bäumen und Felsen zu erreichen. Dies ist in zweierlei Hinsicht bemerkenswert: Einerseits macht es deutlich, dass man ein solches Kontinuum erreichen wollte, man die Kämpfe des Theseus

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Abb. 346 Taten des Theseus. Schale des Dokimasia-Malers, Florenz, Mus. Archeologico, um 470 (Innenbild: Abb. 95)

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Abb. 347 Taten des Theseus. Schale des Kodros-Malers, London, British Mus., 440–420

Semantische Untersuchung

also als ein Agieren zwischen Bäumen und Felsen, mit anderen Worten als ein Agieren in der wilden Natur, darstellen wollte. Hier hätte man also endlich das, was in dieser Arbeit bisher vergeblich gesucht wurde, nämlich ein Konzept von wilder Natur, das nicht nur von Figuren, sondern auch von Landschaftselementen verkörpert wird. Dem Kontinuum der Gegner der Poliskultur entspricht das Kontinuum der Landschaftselemente, die den Raum jenseits der Poliskultur repräsentieren und letzteren attributiv zukommen. Andererseits zeigt sich daran aber auch, dass man nicht bereit war, ganz einfach sämtliche Theseuskämpfe mit Landschaftselementen anzureichern – alle Gegner sind schließlich Gesetzlose, die jenseits der Poliskultur hausen –, sondern sich bei der Schaffung des Kontinuums an Landschaftselementen weitgehend auf die Landschaftselemente beschränkt hat, die ohnehin vom Mythos vorgegeben waren, und nur äußerst behutsam den einen oder anderen zusätzlichen Baum oder Felsen eingefügt hat, mit der in Kauf genommenen Folge, dass damit jeweils nur ein Teil der Vasenwand ‚verlandschaftlicht‘ werden konnte.

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Um diesem Phänomen näher zu kommen, soll jene behutsame Anreicherung mit Landschaftselementen im Einzelnen untersucht werden. Es wurde bereits gezeigt, wie Onesimos durch konsequente Darstellung der an einem Baum hängenden Waffen und Gewänder neben jeder Kampfszene die ‚Bewaldung‘ des Bildfelds forciert hat. Obwohl es sich bei diesen Bäumen um nicht notwendige Landschaftselemente handelt, die auch nicht mehr allein dem kompositorischen Zweck des Füllens von freien Flächen dienen, und man es daher mit der besagten Anreicherung der Theseustaten mit Landschaftselementen zu tun hat, bleiben diese Bäume grundsätzlich an die aufgehängten Gegenstände funktional gebunden und beziehen ihren Sinn aus dem im vorhergehenden Kapitel beschriebenen Gegensatz zwischen den sorgsam aufgehängten und Kultivierung anzeigenden Waffen und Gewändern und dem für diesen Zweck nicht hergestellten Baum,163 ein Gegensatz, der das ordentliche Verhalten des Helden auch in kulturferner Umgebung betont. Dem entspricht es, dass zwar für jede der vier Theseustaten ein behangener Baum erscheint, diese Maximalzahl aber auch nicht überschritten wird. Trotz ihrer unbestreitbaren Rolle bei der Saturierung des Bildfelds mit Landschaftselementen, die sich positiv auf das Thema des Kampfes mit Gegnern der Poliskultur bezieht, behalten sie also auch den Aspekt des antithetischen Landschaftselements, das negativ auf das kultivierte Auftreten des Theseus verweist. In jeder der vier Szenen befindet sich der zugehörige Baum denn auch auf Seiten des Theseus und nicht auf Seiten seines gesetzlosen Gegners. Das Motiv aufgehängter Kleider und Waffen bleibt noch bis zur Mitte des Jahrhunderts verhältnismäßig häufig und verschwindet auch bis zum späten 5. Jh. nicht vollständig.164 Es verliert allerdings eindeutig an Prägnanz: Auf der Zyklusschale des Douris in London hängen Mantel und Hut an einem Baum, der hinter dem gestürzten Sinis emporwächst, wobei sowohl der Theseus des Siniskampfes als auch der Theseus des angrenzenden Kampfes mit der Sau gänzlich bekleidet ist, und nur Sinis selbst nackt erscheint (Abb. 8).165 Douris hat das Motiv des aufgehängten Gewandes offenbar nicht mehr genügend ‚ernst‘ genommen, um es in eine klare Interaktionsbeziehung mit einem entsprechend entkleideten Theseus zu bringen. Daraus zu schließen, dass das hängende Gewand nun Sinis zuzuordnen wäre, geht wohl zu weit, da Nacktheit im Bild ja keineswegs fehlende Bekleidung bedeutet. Man kann sich des Eindrucks dagegen nicht erwehren, dass das Motiv ein wenig zur Formel erstarrt ist und den beschriebenen Sinn in seiner Zuspitzung verloren hat. Auf der Zyklusschale des Pistoxenos-Malers in München um 450 hat nun der behangene Baum in drei von vier Fällen die Seite gewechselt und befindet sich nicht mehr neben der Figur des Theseus, sondern neben der seines jeweiligen Gegners, wobei auch hier der Maler nicht konsequent darauf achtet, dem aufgehängten Gewand die Entkleidung des Theseus entsprechen zu lassen

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Abb. 348 Theseus und Sinis nehmen den Kampf auf. Das Gewand hängt am Baum des Sinis. Glockenkrater des Malers der Kentauromachie des Louvre, Aleppo, Mus., um 430

(Abb. 333).166 Auf einem Glockenkrater des Malers der Louvre-Kentauromachie schließlich hängt das Gewand unmittelbar am Baum des Sinis, woraus diesmal wohl tatsächlich zu schließen ist, dass es sich um den Mantel des Verbrechers handelt (Abb. 348).167 Spätestens hier hat sich die ursprüngliche Bedeutung des Motivs verloren, doch hat sich bereits im Laufe der ersten Hälfte des 5. Jh. gezeigt, dass es nicht mehr das aufgehängte Gewand ist, das die ikonographische Verwendung des Baumes bestimmt, sondern der Baum das Entscheidende wird, dem das Gewand mehr und mehr nur noch aus ikonographischer Trägheit angehängt wird. Der deutlichste Beleg dafür ist, dass im Laufe des 5. Jh. die aufgehängten Gewänder zwar weitgehend verschwinden, die Bäume allerdings bleiben. Standen die Bäume auf der Onesimos-Schale also noch auf der Schwelle zwischen einem Verweis auf das kultivierte Verhalten des Theseus und einer Referenz auf die Zugehörigkeit der Gegner des Theseus zum Raum jenseits der Poliskultur, wird diese Schwelle im weiteren Verlauf des 5. Jh. deutlich überschritten: Sie gesellen sich als zusätzliche Landschaftselemente zu den Felsen des Skiron und des Prokrustes und zum Baum des Sinis. Während die mit Waffen und Gewändern behangenen Bäume einen allmählichen Bedeutungswandel hin zu bloßen Landschaftselementen erleben, erscheinen Bäume ohne aufgehängte Gewänder schon früh an der Seite der ikonographisch notwendigen Felsen des Skiron und des Prokrustes. So wächst im Innenbild einer Schale des Douris in Berlin ein kleines Bäumchen aus dem mächtigen Felsen, an den sich Skiron verzweifelt festzuhalten versucht (Abb. 9).168 Im Zwickel zwischen dem aufragenden Skironfelsen und dem Tondorand wachsend, stellt das Bäumchen eine Ausschmückung des Felsens mit einem weiteren Landschaftselement dar. Damit ist einerseits das Bäumchen attributiv dem Skiron zugewiesen. Andererseits zeigt sich daran, dass der Felsen des Skiron nicht mehr nur als

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mythologische Referenz, sondern auch als Landschaftselement begriffen wird, dessen Darstellung durch weitere, mythologisch unmotivierte Landschaftselemente angereichert werden kann. Selbiges lässt sich beim Felsen des Prokrustes auf einer Schale des Dokimasia-Malers beobachten, wo die felsige Erhöhung, auf die Prokrustes fällt, in einem Baum mündet (Abb. 349).169 Auch dieser Felsen ist also in erster Linie Landschaftselement und lädt in dieser Eigenschaft dazu ein, mit weiteren Landschaftselementen kombiniert zu werden. Die Besinnung der Skiron- und Prokrustesfelsen auf ihre Eigenschaft, Landschaftselemente zu sein, entspricht der im selben Zeitraum festgestellten Tendenz, diese Felsen immer ‚felsiger‘ darzustellen, bis jede Ähnlichkeit des Prokrustesfelsens mit einem Bett verschwindet.170 Dieselbe Anreicherung mit weiteren Landschaftselementen geschieht mit dem Baum des Sinis: Schon auf der Schale des Elpinikos-Malers in München erscheint im Innenbild zu Füßen des Sinisbaumes und unmittelbar hinter dem rechten Fuß des Sinis ein Fels am Tondorand (Abb. 350).171 Systematisch wird die Kombination von Fels und Baum in der um 470–460 sowohl für das Skiron- als auch für das Sinisabenteuer aufkommenden Ikonographie, wo der Moment vor der Aufnahme des eigentlichen Kampfes dargestellt ist. Der stets auf einem Felsen sitzende Skiron oder Sinis wird in den meisten Fällen von einem Baum begleitet, so dass die Unterscheidung der beiden nur noch über das Vorhandensein des Waschbeckens wie auf einem Stangenkrater des Kopenhagen-Malers im

Abb. 349 Theseus im Kampf mit Prokrustes. Aus dem Felsen des Prokrustes wächst ein Baum heraus. Schale des DokimasiaMalers, Aleria, Mus. Archéologique, um 470

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Semantische Untersuchung

Abb. 350 Theseus im Kampf mit Sinis. Auf Seiten des Räubers befindet sich ein Fels am Boden. Schale des Elpinikos-Malers, München, Antikensammlung, um 490

Kunstmarkt (Abb. 351),172 über das gelegentliche Fehlen des Baumes wie auf einer Schale in Zürich (Abb. 352),173 oder über eine Namensbeischrift wie auf einem Skyphos des Euaion-Malers in Berlin (Abb. 354)174 geschehen kann. Der zusätzliche Baum in Skironbildern, bzw. der zusätzliche Fels in Sinisbildern erscheint dabei in vollkommener Gleichberechtigung neben seinem mythologisch motivierten ‚Bruder‘, wobei die Zuordnung des mythologisch nicht motivierten Landschaftselements zu Skiron bzw. Sinis und nicht zu Theseus durch seine Stellung im Bildfeld stets eindeutig ist. In Bildfeldern, in denen es keinen Platzmangel gibt, sind die Landschaftselemente um den sitzenden Sinis oder Skiron konzentriert, wobei Theseus von der anderen Seite des Bildfelds herankommt, die von Landschaftselementen gänzlich frei bleibt. Im engeren Bildfeldern, in denen eine solch klare Unterteilung in eine mit Landschaftselementen besetzte und eine davon freie Hälfte nicht möglich ist, wird die Zuordnung der Landschaftselemente an den Verbrecher auf andere Weise deutlich gemacht: Wenn sich Überschneidungen zwischen dem Felsen und Theseus nicht vermeiden lassen, wird meist darauf geachtet, dass Theseus diese dennoch nicht berührt, sondern auf der Grundlinie steht, wie man es im Innenbild einer Schale des Euaion-Malers (Abb. 353)175 oder auf dem Henkelfragment eines Volutenkraters des Syriskos-Malers sieht (Abb. 46).176 Eine radikale Lösung zur Erreichung einer ausschließlichen Zuordnung der Landschaftselemente dem Gegner des Theseus zeigt der

Der Erhalt des ästhetischen Eigenständigkeit

423 Abb. 351 Theseus nähert sich dem auf einem Felsen sitzenden Skiron. Zu dem Felsen gesellt sich ein Baum. Stangenkrater des Kopenhagen-Malers, Basel, Kunsthandel, um 460

Abb. 352 Theseus nähert sich Sinis. Schale des Malers der Yaler Lekythos, Zürich, Universität (ETH), um 470

Abb. 353 Theseus steht vor Skiron. Schale des Euaion-Malers, Frankfurt, Mus. für Vorund Frühgeschichte, um 450–440

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Abb. 354 Theseus nähert sich dem auf der gegenüberliegenden Seite sitzenden Sinis. Skyphos des Euaion-Malers, Berlin, Antikensammlung, um 450

Semantische Untersuchung

bereits erwähnte Skyphos des Euaion-Malers in Berlin, wo der herannahende Theseus schlicht auf die andere Gefäßseite gesetzt wurde. Die Landschaftselemente, die in diesen Bildern keinerlei unmittelbare narrative Funktion mehr haben,177 bekommen stattdessen eine Rolle in der gegenteiligen Charakterisierung des Theseus und seiner Gegner, indem diese als Figuren gekennzeichnet werden, die – im Gegensatz zu Theseus – von Bäumen und Felsen umgeben sind. Der Attributstatus dieser Landschaftselemente steht außer Frage. Die Anreicherung der mythologisch motivierten Felsen und Bäume mit weiteren Landschaftselementen geschieht also mit dem Ziel einer Charakterisierung der Gegner des Theseus. Dieser selbe Zweck, der die Anreicherung mit Landschaftselementen in den besprochenen Theseusikonographien bedingt, gibt der Anreicherung mit Landschaftselementen wiederum eine natürliche Grenze vor, da die Landschaftselemente nicht auf den Raum übergreifen dürfen, den jeweils die Figur des Theseus auf dem Bildfeld besetzt. Aus dem Zusammenspiel dieses fördernden und jenes begrenzenden Faktors der ‚landschaftlichen Ausgestaltung‘ der Theseuskämpfe sind die kompakten, aus kleinen Fels-Baum-Ensembles bestehenden ‚Mini-Landschaften‘ entstanden, welche man auf der Schale des Kodros-Malers in London sieht (Abb. 347):178 Sowohl Sinis als auch Skiron sitzen im Innenfries je auf einem niedrigen Felsen, hinter dem ein

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Baum hervorkommt. Wollte man wie ein Forscher des 19. Jh. von diesen Landschaftselementen auf den darin sich äußernden ‚Natursinn‘ schließen, kämen die Griechen wohl nicht ganz schlecht weg: Die Bäume mit ihren feingliedrigen Zweigen und der geradezu spürbaren Elastizität der Pinie des Sinis und die Felsen mit ihren schroffen Kanten und Zacken lassen in ihrer differenzierten und sensiblen Darstellungsweise die mittlerweile recht lange Tradierung solcher Motive in der rotfigurigen Vasenmalerei erkennen und zeigen, wenn man so möchte, eine ausgereifte Ästhetik von Landschaftselementen. Diese Landschaftselemente stehen den Körpern in ihrer sicheren Durchbildung jedenfalls in nichts nach. Umso bezeichnender ist es, dass dieses Können der Maler auf so dosierte Weise eingesetzt wird. Die oben angesprochenen ‚landschaftlich verdichteten‘ Zonen auf Zyklusschalen, für die diese Schale eines der Beispiele ist, werden nicht durch ein Auseinanderziehen und eine unbegrenzte Vermehrung der Landschaftselemente einer einzelnen Szene erreicht, sondern durch ein Zusammenschieben der verschiedenen Szenen, welche Landschaftselemente integrieren, und in denen die mythologisch motivierten Landschaftselemente ggf. durch weitere angereichert wurden. Den Kämpfen mit dem Stier und mit der Sau wird manchmal ein Fels am Boden beigefügt, doch geschieht das nur, wenn sich diese Kampfszene innerhalb einer solchen ‚landschaftlich verdichteten‘ Zone befindet, nicht aber wenn sie sich zwischen ‚landschaftsfreien‘ Szenen oder als alleiniges Motiv auf einem Bildfeld befindet. So erscheint auf der Schale des Kodros-Malers im Stierkampf ein Fels, nicht aber im Kampf mit der Sau, mit dem der ‚landschaftlich verdichtete‘ Friesabschnitt endet,179 während es auf der Madrider Aisonschale der Kampf mit der Sau ist, der im ‚landschaftlichen‘ Abschnitt erscheint und folglich einen Felsen integriert, und der auf der anderen Gefäßseite erscheinende Stierkampf ohne Fels auskommen muss (Abb. 355).180 Ebenso wie der Skironfelsen einen Baum und der Sinisbaum einen Felsen an sich binden kann, können also die Landschaftselemente angrenzender Theseuskämpfe einen Felsen in eine Szene einbringen, die für sich genommen keine aufweist. Die Regel, nach der es für eine Anreicherung mit Landschaftselementen eines bereits bestehenden Landschaftselements gewissermaßen als Agglutinationspunkts bedarf, äußert sich in umgekehrter Richtung in den Prokrustesbildern: Während die Felsenbetten des Prokrustes noch Agglutinationspunkt für einen Baum sein konnten, verschwinden mit der Umstellung der Ikonographie auf hölzerne Klinen um 460–450 Bäume weitgehend aus den Prokrusteskämpfen.181 Ebenso wie die Maler für Prokrustes mit der Umstellung der Ikonographie auf hölzerne Klinen auf eine Charaktersierung der Figur durch sie umgebende Landschaftselemente verzichtet haben, wenden sie das ikonographische Konzept der ‚Verlandschaftlichung‘ für Gegner wie Kerkyon von vorne herein nicht an. Nicht jedem Gegner der Poliskultur kommt

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Abb. 355 Taten des Theseus. Schale des Aison, Madrid, Mus. Arqueológico Nacional, um 420–410

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also automatisch das Attribut der Wildnis assoziierenden Bäume und Felsen zu. Die Auseinandersetzung mit Kerkyon, die als Ringkampf nach allen Regeln der Kunst geführt wird, und als solche in der Palästra stattfinden könnte, bietet keinerlei Ansatzpunkt zu einer ‚Verlandschaftlichung‘. Die Kämpfe mit Skiron oder Sinis dagegen sind in der außergewöhnlichen Form, in der sie geführt werden, ohne Landschaftselemente gar nicht darstellbar, was die Maler daraufhin dazu veranlassen konnte, aus der Not eine Tugend zu machen und die ‚Verlandschaftlichung‘ weiter zu treiben, so dass diese Kämpfe des Theseus als ein souveränes Agieren unter Bäumen und Felsen, also gewissermaßen in feindseliger Umgebung, erscheinen. Dass ein solches Agieren in der rauen und feindseligen Umgebung von Bäumen und Felsen überzeugender dargestellt werden konnte, wenn die Landschaftselemente mehrerer Theseuskämpfe auf einen Sektor des Frieses konzentriert wurden, leuchtet unmittelbar ein. So erklären sich also einerseits die ‚landschaftlich verdichteten‘ Zonen und andererseits die von Landschaftselementen freien Zonen der Zyklusschalen: Die Anreicherung mit Landschaftselementen war eine Option, die nicht für alle Theseuskämpfe in das ikonographische Konzept der Darstellung passte. Sie wurde nur gewählt, wenn sich durch die ohnehin vorhandenen, mythologisch motivierten Landschaftselemente der Anlass dafür bot. Es konnten dadurch verschiedene Qualitäten des Helden hervorgehoben werden: Während der Ringkampf mit Kerkyon die perfekte Beherrschung der erlernten Kunst des Ringkampfes – einer ausgesproche-

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nen Kulturtechnik – vorführte, konnten die Kämpfe mit Skiron oder Sinis das Zurechtkommen des Helden auch im unwegsamen, unberechenbaren Terrain der Feinde der Poliskultur veranschaulichen.182 Nach allem, was im Vorhergehenden gesagt wurde, ist eindeutig, dass das mit Landschaftselementen besetzte Bildfeld der entsprechenden Bereiche auf Zyklusschalen und einiger isolierter Theseuskämpfe kein neutraler Grund ist, auf dem die Kämpfe gewissermaßen zufällig stattfinden, sondern durch die Attribution der Landschaftselemente an die Gegner des Theseus für diesen Feindesland ist. Dennoch muss man eingestehen, dass die Bindung der Landschaftselemente an die Gegner des Theseus in vielen Fällen nicht so eng ist, wie man es aus den im vorhergehenden Unterkapitel diskutierten Ikonographien gewöhnt war. Was ist etwa mit dem hochaufragenden Felsen am linken Rand einer Außenseite der namensgebenden Schale des Malers von Louvre G 265 (Abb. 307)?183 Dieser Fels ist weder mit dem Marathonischen Stier noch mit Prokrustes graphisch irgendwie verbunden, sondern erscheint als eine für das im Bild Dargestellte allgemein passende figurative Bildfeldbegrenzung und ist insofern etwa mit den seitlich begrenzenden Felsen auf einigen spätschwarzfigurigen Darstellungen des Löwenkampfes zu vergleichen.184 Einen am Bildfriesende aufragenden Felsen, der mit keiner Figur in handlungsmäßigem Bezug steht, zeigt auch eine Schale des Stiefel-Malers in der Villa Giulia mit dem Prokrusteskampf (Abb. 303).185 Die lose Verbindung zwischen Felsen und Figur, die ganz ohne interaktive Zuspitzung auskommt, ist gerade das Charakteristische an den in diesem Unterkapitel behandelten attributhaften Landschaftselementen. In loser Verbindung mit Figuren stehende Landschaftselemente sind in den ersten Jahrzehnten des 5. Jh. nicht neu. Vor allem Bäume konnten schon lange ohne funktionale Bindung in Bildern erscheinen. Doch ist das mythologisch unmotivierte Erscheinen eines Baumes im Schwarzfigurigen, wo der Übergang zwischen Bäumen und freischwebenden Zweigen, die ohnehin in jeglichem Bild und jeglichem thematischen Kontext erscheinen können, fließend ist, kein so bemerkenswerter Vorgang wie im Rotfigurigen, wo das Zeichnen eines Baumes einen erheblichen Aufwand bedeutet. Auch Höhlenfelsen erscheinen schon am Ende des 6. Jh. funktionslos am Bildrand, wie auf der Amphora des Rycroft-Malers im Louvre mit einem Löwenkampf (Abb. 134).186 Doch steigert sich die Zahl solcher isolierter Felsen, seien es vertikale Felsen, die am seitlichen Bildrand anliegen, oder Felsen auf der Grundlinie, im ersten Drittel des 5. Jh. erheblich. Isolierte Landschaftselemente, die allgemein attributiv einer Szene beigefügt werden, finden sich insbesondere in Bildern des Kampfes mit wilden Wesen, die für den Raum am Rande des kultivierten Landes stehen.

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Semantische Untersuchung

Dies sind zum einen Jagdbilder: Auf einer Schale des Dokimasia-Malers in Kopenhagen sind auf den Außenseiten die Jagd einmal auf einen Hirsch und einmal auf einen Eber dargestellt, wobei auf beiden Außenfriesen im linken Drittel ein Fels auf der Grundlinie, in der Mitte ein Baum und am rechten Rand ein weiterer Fels auf der Grundlinie erscheint, der am Ende des Bildfelds nach oben abknickt und bis zum oberen Rand hochragt (Abb. 148).187 Weder die Tiere noch die Jäger interagieren in irgendeiner Weise mit diesen Landschaftselementen, die somit lediglich thematisch passende Zusätze darstellen. Sie unterscheiden sich in ihrer Bedeutung wohl wenig von den Landschaftselementen, mit denen die oben ausführlich diskutierten Theseuskämpfe angereichert werden:188 Sie weisen die dargestellte Jagd als ein souveränes Agieren inmitten von Bäumen und Felsen, mithin außerhalb des Polisraumes aus.189 Ein anderes, späteres Jagdbild, das mit Felsen ausgestaltet wurde, findet sich etwa im Innenbild einer Schale des Penthesilea-Malers in New York mit einem Jäger, der mit einer Machaira zum Schlag gegen einen Eber ausholt und in der Linken zudem eine Keule hält (Abb. 142).190 Der Tondorand ist um die Figurengruppe herum mit Felsen besetzt. Es ist kein Bemühen der Maler zu erkennen, eine Assoziation der Landschaftselemente mit den wilden Tieren graphisch zu unterstreichen. Darin unterscheiden sich diese Bilder von späten schwarzfigurigen Jagdbildern aus der Zeit um 500–480, wo der Bezug der Bäume und Felsen zu den gejagten Tieren nach Möglichkeit durch deren gegenseitige Positionierung im Bildfeld deutlich gemacht wird.191 Daran zeigt sich einmal mehr die Tendenz der rotfigurigen Landschaftselemente des ersten Drittels des 5. Jh. zur ästhetischen Verselbstständigung: Der Bezug der Landschaftselemente zu den wilden Tieren, der im schwarzfigurigen Bild noch eigens verdeutlicht werden musste, ist im Rotfigurigen in deren konnotativen Spektrum bereits inbegriffen. Dies erlaubt den Malern wiederum ein freieres Verteilen der Landschaftselemente über das gesamte Bildfeld – gewissermaßen eine graphische Attribution nicht mehr nur an einzelne Figuren, sondern an die gesamte Szene – wodurch die Jagd überhaupt erst als ein Agieren inmitten von Bäumen und Felsen dargestellt werden kann. Die Grenze zwischen der Attribution von Landschaftselemente an bestimmte Figuren und einer allgemeinen Charakterisierung des Handlungsschauplatzes wird fließend. Bezeichnend für die erweiterten Möglichkeiten des Gebrauchs von Landschaftselementen in dieser neuen, lose attributiven Funktion ist insbesondere deren Erscheinen als isolierte Motive in Kentauromachien, dem Paradebeispiel für den Kampf der Griechen gegen wilde Wesen, die der Polisordnung nicht angehören, einem ikonographischen Kontext, wo Bäume und Felsen zwar immer schon vorkamen, jedoch ausschließlich als Waffen verwendet wurden.192 So erscheint auf einer allseitig mit Kentau-

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renkämpfen geschmückten Schale des Erzgießerei-Malers um 490–480 in München ein Baum mit kräftigem Stamm zwischen einem Kentauren und einem ihn von hinten angreifenden Lapithen (Abb. 61).193 Der Baum unterscheidet sich deutlich von der festen Typologie der Pinien, welche die Kentauren als Waffen verwenden. Derselbe Maler setzt auf einer weiteren Kentauromachieschale in München einen aus der Grundlinie hervorkommenden Felsen zwischen die Hufe eines Kentauren (Abb. 356).194 Dadurch, dass der Felsen nicht auf der Grundlinie liegt, sondern in ihr steckt, mithin fest im Boden verwurzelt ist, ist er wie der eben erwähnte Baum nicht unmittelbar mit den Landschaftselementen assimiliert, welche die Kentauren als Waffen verwenden. Im Innenbild einer Schale des Ancona-Malers mit einem einzelnen Kentaur, der mit einem Felsen ausholt, ist ein ganzer Abschnitt des Tondorands mit Fels überzogen (Abb. 65).195 Wenn die Zahl solcher aus dem Boden hervorkommenden Felsen in Kentauromachien der Jahrzehnte um 490–470 trotz der sehr häufigen Kentauromachiedarstellungen dennoch nicht sehr groß ist, liegt das nicht zuletzt an der rein technischen Schwierigkeit, im meist dichten Gewirr der Füße und Hufe für einen Felsen Platz zu finden.196 So sind auf einer Schale des Malers der Pariser Gigantomachie in die zwei sich bietenden Freiräume Felsen eingefügt, die sich, wie oft, in dezentraler Lage befinden, wo sich das Gedränge der Beine etwas lichtet (Abb. 357).197 Auch Bäume finden sich öfters am Rand des Bildfelds, wie man es auf dem

Abb. 356 Kentauromachie. Der Fels auf der Grundlinie kann nicht als Waffe der Kentauren interpretiert werden, da er tief im Boden steckt. Schale des Erzgießerei-Malers, München, Antikensammlung, um 480

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Abb. 357 Herakles im Kampf mit den Kentauren. Zwei Felsen und ein Baum wachsen aus der Grundlinie. Schale des Malers der Pariser Gigantomachie, Vatikan, Mus. Gregoriano Etrusco, 470–460

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Schulterbild des Volutenkraters des Niobiden-Malers in Agrigent sieht (Abb. 108).198 Deutlich leichter lassen sich Pinien in das Gewirr der Körper integrieren, da sie, wie im Kapitel zum Gegenstandscharakter ausgeführt,199 in jeder möglichen Schräglage aus der Grundlinie herauswachsen können und dadurch komplizierten Überschneidungen mit Körperextremitäten der Kentauren und Lapithen aus dem Weg gehen können. Pinien erscheinen in Kentauromachien denn auch häufiger als gewöhnliche Bäume.200 Diese Pinien sind jedoch durch ihre Parallele zu den als Waffen verwendeten mit den gewöhnlichen Landschaftselementen nicht auf eine Stufe zu stellen, was man nicht zuletzt daran erkennt, dass im selben Zeitraum, in dem Pinien häufig aus der Grundlinie wachsen, sie auch öfters im Bildfeld schweben.201

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In all den bisher genannten Beispielen von Landschaftselementen in Kentauromachien bestand nie eine interaktive Beziehung mit den Figuren. Ab der Jahrhundertmitte erscheinen in Kentauromachien Felsen, auf die Lapithen einen Fuß in kraftvoller Pose setzen, sei es, dass sie sich dem Ansturm eines Kentauren in abwehrbereiter Haltung entgegenstellen, wie auf einem Stangenkrater des Neapler Malers in Bologna (Abb. 358),202 oder dass sie aggressiv vorschreiten, wie auf dem namensgebenden Stangenkrater des Malers der Kentauromachie des Louvre (Abb. 359).203 Diese Darstellungen stehen jedoch im Kontext der noch zu diskutierenden Ikonographie des Kampfes von Reitern (Amazonen) gegen Fußsoldaten, zu dessen Inszenierung die Figuren auf unebenem Terrain positioniert werden.204 Im gleichen Zeitraum verschwinden die hier besprochenen isolierten Landschaftselemente aus den Kentauromachien weitgehend. Die Ausschmückung dieses Kampfes mit Landschaftselementen ist also ein Phänomen der ersten Hälfte des 5. Jh., das mit dem Aufkommen der Kentauromachien im Bankettsaal um die Mitte des Jahrhunderts, wo nun nicht mehr Lapithen im ‚Feindesland‘ der Kentauren agieren, sondern umgekehrt die Kentauren ihre wilden Sitten in den Bankettsaal einbringen, aufhört. Ebenso, wie sich im ersten Drittel des 5. Jh. Landschaftselemente in Bildern von mythischen Kämpfen mit Gegnern, die die gute Ordnung der Poliskultur herausfordern,205 etablieren, finden sie im selben Zeitraum auch in die dionysische Ikonographie Einzug.206 Während man in den oben besprochenen mythischen Kämpfen noch mit einer gewissen Berechtigung von einem Auftreten der Landschaftselemente als Antithese zu den griechischen Hopliten und Helden sprechen könnte, ist in der dionysischen Ikonographie von einem Gegensatzverhältnis zwischen dem erscheinenden ‚Personal‘ und den Landschaftselementen keine Spur vorhanden. Isolierte Felsen als seitliche Begrenzung von Bildfriesen oder an den Rand von Schalentondos angefügt erscheinen zuerst beim Brygos-Maler

Abb. 358 Zwei Lapithen erwehren sich des Angriffs eines Kentauren. Der hintere Lapith setzt seinen Fuß auf einen Felsen. Stangenkrater des Neapler Malers, Bologna, Mus. Civico, 450–430 Abb. 359 Zwei Lapithen im Kampf mit zwei Kentauren. Ein Lapith setzt dabei in offensivem Vorschreiten seinen Fuß auf einen Felsen. Stangenkrater des Malers der Kentauromachie des Louvre, Paris, Louvre, 450–430

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und seiner Gruppe. In aller Regel findet keine Interaktion zwischen den Figuren und diesen Felsen statt. Eine Schale in der Art des ErzgießereiMalers bildet hier eine einsame Ausnahme: Ein Satyr sitzt auf einem solchen Felsen und schaut dem Treiben seiner Kameraden zu, die gemeinsam versuchen, eine Mänade zu vergewaltigen, wobei sich einer dabei mit seinem Fuß an dem Felsen abstützt.207 Berührung mit den Felsen ist also nicht ausgeschlossen, doch umso mehr fällt auf, wie selten sie ist, und wie wenig folglich die Felsen einer handlungsmäßigen Integration zur Rechtfertigung ihrer Präsenz in den Bildern bedurften. Die Felsen sind dort eingefügt, wo sich für sie Platz bietet, also vornehmlich an den Rändern, wo sie als figurative Bildfeldbegrenzung dienen. Nur auf zwei Schalen des Briseis-Malers im Kunsthandel und in Oxford befindet sich ein isolierter Fels in der Mitte des Bildfelds (Abb. 360).208 Sie besitzen auch keine funktionale Form (etwa als Sitzgelegenheit), und mit den seitlichen Begrenzungsfelsen sind wohl auch keine Höhlen gemeint.209 Die Felsen stehen in einem unspezifizierten, assoziativen Verhältnis zu den Figuren und ihrem Treiben, das mit dem Verhältnis zu vergleichen ist, das zwischen einem Palästriten und dem im Bildfeld hängenden Schwamm, der Strigilis, dem Ölfläschchen oder dem Sportgerät besteht: So wie das Paket aus Schwamm und Strigilis auf die männliche Körperpflege im Kontext der Palästra verweist, eine bestimmte Kultur des Körpers assoziiert, den Betrachter möglicherweise auf die Schönheit des Knabenkörpers lenkt und das Bild somit auf den Bereich der Päderastie öffnet – oder aber auch das Bild ganz im engeren Kontext der körperlichen Ertüchtigung hält210 – eröffnen die Felsen in den Bildern des dionysischen Thiasos die Vorstellungswelt wilder Natur. Welche Diskurse diese generieren kann, illustrieren wohl am besten einige Passagen aus den Bakchen des Euripides.211 Zum Verhältnis des Dionysos und seines Thiasos zur wilden Natur ließen sich treffliche Ausführungen machen, die sich auf zahlreiche schriftliche Quellen stützen könnten. Ich möchte dafür jedoch auf die bereits existierende Literatur verweisen212 und hier stattdessen der genuin bildmedialen Frage nachgehen, auf welche Weise die Felsen in der dionysischen Ikonographie der ersten Hälfte des 5. Jh. ihre Wirkung im Bild entfalten. Dass das Erscheinen von Landschaftselementen in dionysischen Bildern der Vasen dieser Zeit nicht allein durch eine Beschreibung des Verhältnisses der dionysischen Welt mit der wilden Natur erklärt werden kann, ergibt sich aus der einfachen Tatsache, dass die Affinität des Dionysos zur wilden Natur in der ersten Hälfte des 5. Jh. nicht neu ist, die Landschaftselemente aber dennoch erst dann erscheinen. Es handelt sich also um ein mediales Phänomen, das zwar in den kulturgeschichtlichen Kontext einer besonderen Affinität des Weingottes mit der wilden Natur eingebunden ist, das aber erst innerhalb der den Vasenbildern eigenen Struktur Form annimmt. Die Frage, die sich stellt, ist also die folgende: Was machte das äs-

Der Erhalt des ästhetischen Eigenständigkeit

433 Abb. 360 Dionysos und sein rasender Thiasos. In den Henkelzonen ragen Felsen mit stark welligem Kontur auf. Ein Fels befindet sich in der Mitte des Bildfelds. Schale des Briseis-Malers, Oxford, Ashmolean Mus., um 480

thetische Potenzial der Felsen in den Bildern des Thiasos aus, das die Maler am Beginn des 5. Jh. dazu bewog, dieses Motiv in eine Ikonographie einzuführen, die bis dahin ohne dieses ausgekommen war, und warum war ebenjenes ästhetische Potenzial um die Mitte des Jahrhunderts, als Felsen dieser spezifischen Form wieder verschwanden, nicht mehr gefragt? An den Felsen auf der eben erwähnten Schale des Briseis-Malers fällt der zum Extrem gesteigerte, wellige Kontur ins Auge: Statt in regelmäßiger, säulenhafter Form bis zum oberen Rand des Bildfelds hinaufzuragen, bilden die Felsen in den Henkelzonen außerordentlich ausladende Wölbungen, die sich mit äußerst schmalen Einziehungen abwechseln. Der Felsen am Tondorand im Inneren der Schale hat dieselben formalen Eigenschaften. Wenn auch sie auf dieser Vase am stärksten ausgeprägt ist, ist diese Form für viele Felsen auf dionysischen Bildern aus der Gruppe des Brygos-Malers charakteristisch. Kaum weniger extrem sind die Auswölbungen und Einziehungen der Felsen in den Henkelzonen einer weiteren Schale des Briseis-Malers mit dem rasenden Thiasos (Abb. 361).213 Stark wellig sind auch die entsprechenden Felsen des Brygos-Malers, wie man es im Innenbild einer Schale in Basel mit einer rasenden Mänade sieht (Abb. 141).214 In abgeschwächter Form findet sich der wellige Kontur im Innenbild einer Schale mit einem Satyrn, der ein Kind auf dem Arm hat (Abb. 362).215 Auf den entsprechenden Darstellungen des Penthesilea-Malers findet sich der wellige Kontur der Felsen wieder, wie man ihn z.B. im Innenbild einer Schale in München mit einem Satyrn, der einer Mänade nachstellt, sehen kann (Abb. 363).216

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Warum haben sich die Maler für diese geradezu phantastische Form entschieden, die jeder Tektonik zuwider läuft und jedes reale Modell von unregelmäßigen Felsformationen bei weitem überzeichnet? Um die extravagante Form der Felsen richtig zu beurteilen, ist es nötig, den Kontext zu betrachten, in dem sie stehen, nämlich die Henkelzone von Schalen und die Innenseite des Ornamentbands, welches das Schalentondo umgibt. Sie knüpfen sich, wie im Unterkapitel zur figurativen Bildfeldbegrenzung ausgeführt,217 an die ‚Wände‘ des Bildfelds, seien sie durch ein Ornamentband explizit markiert, wie im Schalentondo, oder nur gedacht, wie in der Henkelzone von Schalen, mithin an den Teilen der Vase, wo die ‚Öffnung‘ des Bildfelds architektonisch gefasst ist, wo das Bildfeld mit der Architektur der Vase zusammentrifft.218 Im Falle der Schaleninnenbilder ist das Zusammentreffen des ‚offenen‘ Bildfelds mit der festen, architektonischen Struktur der Vase durch das begrenzende Ornamentband materialisiert. Im Falle der Außenfriese sind es die Henkel, welche die Tektonik der Vase, in die das ‚offene‘ Bildfeld eingefügt ist, materialisieren.219 Diesen tektonischen Elementen der Vase entsprechen die Felsen in ihrer Festigkeit, mit der die Bewegung im Bildfeld endet. Die Unförmigkeit der Felsen mit ihren ungestümen und vollkommen übermäßigen Auswölbungen konterkariert dagegen auf krasse Weise die Gemessenheit und Formschönheit der Architektur der Vase: Über den mit dem Zirkel gezogenen Tondoumkreis, auf den das Ornamentband mit akribischer Sorgfalt gezeichnet ist, wird ein Fels gelegt, dessen unregelmäßiger Kontur zum Formprinzip erhoben wurde, und in die Achse der Henkel wird eine ‚Felsensäule‘ gesetzt, die durch ihre übertriebenen Ausbuchtungen und Einziehungen jeder Tektonik spottet, und deren Unförmigkeit im deut-

Abb. 361 Dionysos und sein rasender Thiasos. Die phantastisch geformten Felsen in den Henkelzonen finden sich auch hier. Schale des BriseisMalers, London, British Mus., um 480

Abb. 362 Ein Satyr spielt mit seinem Kind. Schale, Berlin, Antikensammlung, zweites Viertel 5. Jh. Abb. 363 Ein Satyr setzt einer Mänade nach. Schale des Penthesilea-Malers, München, Antikensammlung, um 460

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lichsten Kontrast zu den an analoger Stelle erscheinenden Palmettenornamenten steht.220 Die Felsen mögen, als Vertreter der wilden Natur, zum dionysischen Thiasos passen. Aufgespannt auf die Architektur der Vase, bezogen also auf den Ort ihres Erscheinens, stellen sie allerdings den reinsten Kontrapunkt dar und produzieren so einen starken Verfremdungseffekt.221 Die Besinnung auf die Definition des Bildraums als des Bildfelds mit seiner Einfassung durch die Gliederungselemente der Vase erlaubt es also, die Wirkungsweise im Bild der Felsen in der dionysischen Ikonographie der ersten Jahrzehnte des 5. Jh. genauer zu fassen. Interessant dabei ist, dass mit dem Wegfall des Gegensatzes zwischen den Landschaftselementen und den Figuren, auf die sie bezogen sind, welches im Kapitel zum heteronomen Gebrauch der Landschaftselemente besprochen wurde, ein anderer Gegensatz die Wirkungsweise der Felsen im Bild bestimmt: Dieser setzt nun nicht mehr verschiedene Elemente im Bild gegeneinander ab, sondern besteht zwischen dem Bild und seinem Umfeld, nämlich der Vase und – dies kann man hier bereits vorwegnehmen – ihren Nutzern, den Symposiasten, in deren Bankettsaal Felsen an den Wänden ebenso den Rahmen sprengen würden, wie sie es an den ‚Wänden‘ des Bildfelds tun. In der Tat entspricht der Verfremdungseffekt, den die felsigen Bildfeldbegrenzungen in den Bildern des dionysischen Thiasos produzieren, einer ästhetischen Strategie, die in den ersten Jahrzehnten des 5. Jh., als der dionysische Taumel seinen Höhepunkt erreicht, allgemein zu erkennen ist: Die gesteigerte Rauschhaftigkeit der dionysischen Ikonographie gibt den Zechern, die sich der bemalten Gefäße in ihrem eigenen Rauschfest bedienen, zwar gewissermaßen die Richtung vor, sie geht aber gleichzeitig in diese Richtung so weit, dass die unmittelbare Parallele zum realen Geschehen gar nicht mehr im Vordergrund steht. Sie setzt den Zechern zwar einen Spiegel vor und lässt das Bild mit dem Betrachter so in einen Dialog treten, doch ist es ein stark verfremdender Spiegel.222 Nicht immer wird den Felsen die beschriebene wellige Form gegeben. In dionysischen Bildern, die Felsen von weniger extravaganter Form zeigen, werden diesen jedoch zuweilen verfremdende Zusätze angefügt. So wachsen auf einer bereits erwähnten Schale des Dokimasia-Malers eigenartige, grasbüschelähnliche Gewächse aus den Felsen, die sich in beiden Henkelzonen befinden.223 So sehr Efeu- und Weinranken, die spätschwarzfigurige Symposionsvasen überwuchern, zu der Funktion eines Weingefäßes passen, so sehr ist der Bewuchs ein Fremdkörper auf der Vasenwand. Auf einer Schale des Ancona-Malers im Kunsthandel sitzt auf dem Felsen, mit dem einer der Außenfriese rechts endet, ein mit Fellumhang und Fellmütze bekleideter Hirte, der sich zum Treiben der Satyrn und Mänaden umblickt (Abb. 147).224 Kaum eine Figur steht dem edlen

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Symposion der Athener Oberschicht ferner als die des mit Fell bekleideten, fernab und unter Tieren lebenden Hirten. Auch hier handelt es sich um einen Verfremdungseffekt. Die Schale des Ancona-Malers erlaubt es, auf eine andere Gattung von Bildern zu sprechen zu kommen, in denen in den ersten Jahrzehnten des 5. Jh. Landschaftselemente auftauchen, nämlich Bilder von Hirten und Landleuten.225 Eine Vase in Form eines Hufes um 480 in New York zeigt einen mit Fellmütze, Fellumhang und Chiton bekleideten Hirten, der auf einem Felsen sitzt, zwei Kühe, die symmetrisch um ein Bäumchen angeordnet sind, und einen Hirtenhund226 am anderen Ende des Frieses, neben dem ein Höhlenfelsen aufragt und sich ein Stück weit am oberen Bildfeldrand hinzieht (Abb. 364).227 Ein Hase erscheint vor dem Baum.228 Die karge Welt des Hirten, der auf einem durch verdünnten Tonschlicker ‚aufgerauten‘ Fels sitzt, dessen Kühe im Verhältnis zu den sonst in der Va-

Abb. 364 Ein auf einem Felsen sitzender Hirte wacht auf seine Herde, die aus zwei schmächtigen Rindern besteht. Links befindet sich ein Hirtenhund unter einem Höhlenfels. Trinkgefäß in Form eines Hufes, New York, Metropolitan Mus., um 480

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senmalerei erscheinenden Rindern ausgesprochen mager sind, dessen Behausung eine Höhle ist, und der nur einen Zähne fletschenden Hund zum Gefährten hat, hat wiederum mit der Welt des Symposions, in der dieses Trinkgefäß verwendet wurde, nichts gemeinsam. Der Kontrast des rauen Felsens auf der glatten und glänzenden Bildfeldfläche ist evidenterweise schon in der zoomorphen Form der Vase und dem faserig-rauen Huf enthalten. Das Stichwort des Verfremdungseffektes im Kontext des Symposions passt hier auf den gesamten Gegenstand, der, wenn ihn der Zecher absetzt, mit der Vorstellung spielt, dass ein Tier den Huf auf den feinen Beistelltisch gesetzt hätte. Einen Sonderfall bukolischer Ikonographie, auf die die Interpretation der eben genannten Bilder nicht ungebrochen übertragen werden kann, stellen die Bilder des Parisurteils dar, in denen Paris in seiner Doppelidentität als Hirte und Prinz erscheint.229 Was über die Felsen in dionysischen Bildern gesagt wurde, nämlich dass sie nicht einen Gegensatz zwischen verschiedenen Elementen im Bild, sondern zwischen dem Bild und seinem Umfeld aufbauen würden, gilt für die Bilder des Prinzen, der wie ein gewöhnlicher Hirte auf einem von Kleinvieh umgebenen Felsen sitzt, gerade nicht: Die Felsen dienen dort evidenterweise der gegensätzlichen Charakterisierung des Paris selbst als Prinz und als Hirte. Damit soll nicht behauptet werden, dass in Bildern wie der Schale des Briseis-Malers im Louvre, wo der mit verdünntem Firnis ‚aufgeraute‘ Felsen, auf dem Paris sitzt, bis zum oberen Bildfeldrand reicht und mit der ‚sauberen‘ Achse des glänzenden, den rauen Felsen überschneidenden Henkels in Konkurrenz tritt, der ästhetische Kontrast des Felsens zur ‚Architektur‘ der Vase vom Maler als Wirkung nicht beabsichtigt worden wäre (Abb. 26):230 Er bedient sich dieses Kontrastes, um wiederum den reich gewandeten Paris, dessen Szepter am Henkel lehnt, dagegen abzuheben. Die Berliner Makronschale mit der Ziegenherde, die nicht nur den Felsen des Paris umgibt, sondern den gesamten Raum unter dem Henkel einnimmt und durch die ungewöhnlich lebendige Zeichnung der durch die Ankunft der Götter in Aufregung versetzten Tiere eine starke Präsenz auf der Vase bekommt, bedient sich ebenfalls bewusst des Kontrasts zwischen dem bukolischen Ambiente um den Felsen des Paris und der feierlichen Götterprozession, an deren anderen Ende die Henkelzone – statt zur Ziegenweide zu werden – mit gezierten Palmetten geschmückt ist, in die einer der Eroten in einem komplizierten Spiel von Überschneidungen verwoben ist (Abb. 27).231 Auch hier ist der Kontrast aber einer zwischen Elementen im Bild und nicht zwischen dem Bild und seinem Umfeld. Die Parisikonographie muss also, so sehr sie sich bukolischer Motive bedient, in einem eigenen interpretatorischen Zusammenhang bleiben und hier ausgeklammert werden. Dass die Gegenwelt der Hirten und Landleute mit der dionysichen Iko-

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nographie in Berührung steht, macht nicht nur die oben erwähnte Schale des Ancona-Malers deutlich. Eine Halsamphora in Berlin zeigt einen auf einem Felsen sitzenden Hirten, auf dessen Flötenklänge ein Satyr tanzt (Abb. 28).232 Der Fels, bei dem ein Schaf liegt und ein Baum wächst, hat einen welligen Kontur, der an die Form der oben besprochenen Felsen erinnert. Im Innenbild einer Schale des Briseis-Malers mit einem Mann, der durch seine Bekleidung – Pilos und gescheckter Fellumhang – vom bürgerlichen Himationträger abgesetzt ist und neben einem Altar steht, erscheint am Tondorand ein Fels, der mit der Morphologie der besprochenen Felsen exakt übereinstimmt (Abb. 365).233 Felsen sind der dionysischen Ikonographie und der Hirten- und Landleute-Ikonographie also nicht nur als Attribute gemeinsam, sie können darin jeweils auch dieselbe ästhetische Wirkung erzielen, das Gleichmaß der ‚Architektur‘ der Vase zu sprengen. Dies kann nicht verwundern, stellen doch die Hirten und Landleute ebenso wie der dionysische Thiasos eine Gegenwelt dar, wenn auch die Art der Gegenüberstellung nicht ganz dieselbe ist: Einmal wird dem Luxus des Symposions die Kargheit der Hirten entgegengesetzt, einmal wird dem kontrollierten Rausch der Zecher der vollkommen entgrenzte dionysische Taumel entgegengesetzt: Beides sprengt den Rahmen des Symposions wie die Felsen die ‚Architektur‘ der Vase. Wellige Felsen, die über das begrenzende Ornamentband der Tondi gelegt werden, finden sich schließlich vereinzelt auch in Jagdbildern, wie es Abb. 365 Ein mit einem Fellumhang bekleideter Hirte (?) steht zwischen einem Altar und einem welligen Felsen, der morphologisch den Felsen in dionysischen Bildern entspricht. Schale des Briseis-Malers, Berlin, Antikensammlung, um 480

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das oben bereits erwähnte Innenbild einer Schale des Penthesilea-Malers zeigt (Abb. 142).234 Der für die Felsen in dionysischen Bildern als konstitutiv herausgestellte Verfremdungseffekt gegenüber dem Umfeld des Bildes, der Vase und deren Benutzer, wird hier wohl auch eine Rolle spielen. Das Agieren in rauer, feindseliger Umgebung, das in Jagdbildern wie auf der erwähnten Schale des Dokimasia-Malers in Kopenhagen (Abb. 148)235 gezeigt werden sollte, wird durch die von den Felsen verursachte ästhetische Wirkung der Verfremdung gegenüber dem klaren und formschönen ‚Raum‘ der Vasenwand denn auch gut betont. Eine fragmentierte Schale des Dokimasia-Malers lässt im Innenbild noch einen Felsen und eine Figur mit Pilos erkennen, bei der es sich wohl um einen Jäger handelt, wobei auf einer der Außenseiten ein mit einer Keule operierender Held neben einem Satyr erscheint (Abb. 366).236 Ein Fragment mit den Tatzen eines Raubtiers und dem Stamm eines Baumes ist wohl der anderen Außenseite zuzuordnen.237 Auf dieser Schale sind somit die drei ikonographischen Bereiche des Heldenkampfes (Theseus oder Herakles), der dionysischen Welt und der Jäger, die alle drei Felsen integrieren können, miteinander verbunden. Auf einer anderen Schale des Dokimasia-Malers mit den Kämpfen des Herakles mit dem Löwen und des Theseus mit dem Stier, einem hochragenden Felsen am rechten Henkel auf der Stierkampfseite238 und je einem Baum hinter den Tieren, erscheint auf jeder Seite zu den eigentlichen Protagonisten je ein Satyr, ein Zusatz, der auch in anderen Theseuskämpfen anzutreffen ist (Abb. 367).239 Die Ikonographien der Heldenkämpfe, des dionysischen Thiasos, der Jäger und der Hirten haben also, so verschieden sie auch seien, Berührungspunkte, und eine ihrer Gemeinsamkeiten ist das Auftreten von Felsen und Bäumen. Wie sollte diese Gemeinsamkeit nicht mit einer allen gemeinsamen Assoziation mit dem Raum der Wildnis jenseits des kultivierten Landes der Polis zusammenhängen? In der Verbindung, die diese Landschaftselemente zwischen verschiedenen ikonographischen Sphären herstellen, äußert sich ein entscheidendes Potenzial von deren lose attributiven Gebrauch: Als Attribute ohne allzu spezifische Bedeutung im einzelnen Bild verweisen sie nicht nur in pleonastischer Manier auf die jeweils dargestellte Figur oder Handlung zurück und bestätigen das, was die Figur oder Handlung von sich ohnehin bereits ‚erzählt‘, sondern verweisen auch auf andere Ikonographien, die in der Darstellung nicht unmittelbar präsent sind, und machen deren Konnotationsspektrum für das Bild nutzbar, machen dies jedoch auf so unverbindliche Weise, dass der Betrachter keinerlei Zwang zur Assoziation von Unvereinbarem unterliegt. In Erweiterung und Verallgemeinerung dessen, was zu den Felsen in dionysischen Bildern des früheren 5. Jh. gezeigt wurde, lässt sich hier aber weiter sagen, dass das Verbindende zwischen diesen ikonographischen

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441 Abb. 366 Ein Jäger (?) im Innenbild mit einem Fels am Tondorand, ein Held mit einer Keule, ein Satyr und die Tatzen eines Löwen vor einem Baumstamm lassen sich erkennen. Schalenfragmente des Dokimasia-Malers, Athen, Ephorat, um 480–470

Bereichen weniger in der gemeinsamen Landschaft liegt – eine Landschaft der Bergwildnis als eigenständiges Bildthema existiert weiterhin nicht – sondern in der allen gemeinsamen Verfremdung gegenüber dem architektonisch gefassten Raum aus Grundlinie und Bildfeld:240 Aus ‚Boden‘ und ‚Wänden‘ des Bildfelds kommen Felsen hervor, und in der ‚Öffnung‘ des Bildfelds breiten sich die Äste von Bäumen aus. Dieser Verfremdungseffekt wiederum hängt wesentlich mit dem Erhalt der ästhetischen Eigenständigkeit der Felsen zusammen: Erst wenn die Felsen den für sie charakteristischen unregelmäßigen Kontur bekommen, treten sie in Konflikt mit der Gerade oder der gleichmäßigen Krümmung der Grundlinie, und erst wenn ihre Oberfläche durch verdünnten Firnis ‚aufgeraut‘ wird, stellen sie einen ästhetischen Kontrapunkt auf der Glanzoberfläche der Vasenwand dar. Dennoch ist es angebracht, die Verallgemeinerung nicht zu weit zu treiben und Abstufungen in der Stärke dieses Verfremdungseffekts zu machen. Nicht alle Felsen treiben die Bewegtheit ihres Konturs so weit wie die welligen Felsen der dionysischen Bilder. Doch trifft auch nicht auf alle Ikonographien, die Felsen integrieren, das Maß an Verfremdung gegen-

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Abb. 367 Kampf des Herakles mit dem Löwen (A). Kampf des Theseus mit dem Marathonischen Stier (B). Auf beiden Seiten befindet sich je ein Satyr. Schale des DokimasiaMalers, Florenz, Mus. Archeologico, 480–470

über der ‚normalen‘ Welt zu, das der dionysische Thiasos in den ersten Jahrzehnten des 5. Jh. durch sein in jeder Hinsicht entgrenztes Verhalten erreicht. Das Mittel der Verfremdung wird bei Darstellungen von Felsen also nicht immer im selben Maße genutzt. Keine Spur von Verfremdung enthalten etwa die Felsen, welche im selben Zeitraum in den ‚Bürgerikonographien‘ erscheinen, wie es im nächsten Unterkapitel gezeigt werden soll.241 Bei der Bewertung von Felsen ist diesbezüglich also Vorsicht geboten und nicht jede Ikonographie, die Felsen integriert, grundsätzlich als Gegenwelt anzusehen. Zur Mitte des Jahrhunderts hin verschwinden die bis zum oberen Bildfeldrand aufragenden Felsen und die auf den Tondoumkreis gelegten Felsen wieder aus der dionysischen Ikonogaphie.242 Dafür erscheinen nun

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isolierte Felsen auf der Grundlinie in größerer Zahl. Man findet sie insbesondere auf einer großen Gruppe von Skyphoi, wo jeweils einzelne Figuren – Satyrn und Mänaden – auf den gegenüberliegenden Seiten des Gefäßes erscheinen und von wenigen und unscheinbaren Motiven umgeben sind, Thyrsoi, Felsen und schmale Bäume. Ein Skyphos aus dem Kunsthandel ist dafür ein beliebiges Beispiel (Abb. 368):243 Der Fels, der sich neben der stehenden Mänade auf der Grundlinie befindet, hat die auf dieser Vasengattung häufige zur einen Seite hin ausladende Form. Auf diese sonderbare, in der Natur für Felsen nicht geläufige Morphologie, trifft das Stichwort des Verfremdungseffekts durchaus zu, doch tritt der Felsen durch seine geradezu winzigen Dimensionen nicht ernsthaft in Konkurrenz zur regelmäßigen Architektur der Vase.244 Er ist nicht mehr als ein Attribut der unauffällig auftretenden Mänade. Dasselbe ließe sich zu dem Felsen sagen, auf dem die Mänade auf der gegenüberliegenden Gefäßseite sitzt, und der die Morphologie des isolierten Felsens in vergrößerter, den Dimensionen eines Stuhls angepasster Form wiederholt: Er wirkt wie ein fremder Einschub in das Motiv der ruhig dasitzenden Mänade. Anstatt die ‚verkehrte Welt‘ der Satyrn und Mänaden durch den ausgelebten Rausch in aller Heftigkeit von der bürgerlichen Welt abzusetzen, wie es die dionysische Ikonographie des frühen 5. Jh. tat, werden den ruhig und züchtig auftretenden Mänaden verfremdende, aber in ihren Dimensionen unauffällige Motive beigefügt, welche erst durch das Wissen des Betrachters um das eigentliche Wesen der Begleiterinnen des Dionysos ‚vergrößert‘ werden. Diese Bildstrategie, bei der anstelle einer expliziten Darstellung der dionysischen Ekstase nur kleine Hinweise im Bild erscheinen, die den Betrachter, der weiß, dass der Schein trügt, dazu auffordern, sie durch seine Vorstellungskraft zu komplettieren, kann ein Glockenkrater des Lykaon-Malers in Warschau besonders gut exemplifizieren (Abb. 369):245 Ein auf einem Felsen sitzender Satyr spielt die Doppelflöte, eine Mänade hört seinem Spiel in betonter Ruheposition zu, ein Satyr füllt Wein in einen großen Kelchkrater, neben dem der Gott Dionysos steht, und am

Abb. 368 Zwei Mänaden, die miteinander kommunizieren, auf den gegenüberliegenden Seiten eines Skyphos. Anstelle raumgreifender Landschaftselemente erscheinen hier ein winziger Fels und ein kleiner Baum. Skyphos der Gruppe von Ferrara T 981, Paris, Privatbesitz, um 460

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Abb. 369 Dionysos, zwei Satyrn und zwei Mänaden. Ein Satyr gießt Wein in einen Krater, ein anderer sitzt auf einem Fels und spielt die Doppelaulos. Glockenkrater des Lykaon-Malers, Warschau, Nationalmuseum, um 440

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rechten Ende des Bildes streichelt eine Mänade den Hals eines zahmen Rehs. Bei diesen Vorbereitungen auf das Trinkgelage, wo der Wein sogar im Krater gemischt wird, weist auf den ersten Blick nichts auf einen Ausbruch wilder Raserei hin, doch wird dieser Schein durch kleine Winke gezielt untergraben: Die Mänade, welche in so zärtlichen Beziehung mit dem Reh gezeigt wird, ist durch die Namensbeischrift MAINA[S] als die „Rasende“ qualifiziert. Dies bringt dem Betrachter ins Bewusstsein, dass der Moment, in dem die Mänade das Reh in ihrer Raserei in Stücke reißen wird, vielleicht gar nicht so fern ist. Diese Potenzialität, welche der in den Krater gegossene Wein möglicherweise bald aktualisieren wird, ist auch in der Namensbeischrift der zweiten Mänade enthalten, die POLYNIKA genannt ist, und deren hingebungsvolles Zuhören wohl auch nicht ewig andauern wird. Wodurch ist schließlich garantiert, dass der Krater wahrhaftig zum Mischen des Weines verwendet wird, und darin nicht eher reiner Wein eingegossen wird?246 Die Beruhigung des dionysischen Thiasos, die ab den Jahren um 470 zu beobachten ist, sollte insgesamt unter dem Aspekt einer möglicherweise nur scheinbaren Beruhigung betrachtet werden, in der die explizite Darstellung dionysischer Ekstase einer subtileren, impliziten Darstellung weicht. Dass innerhalb dieser neuen Bildstrategie die ästhetische Wirkung der plakativen Felsen, mit denen der Boden und die Seiten des Bildfelds im vorhergehenden Zeitraum eingekleidet wurden, nicht mehr zweckdienlich ist, leuchtet unmittelbar ein. Die veränderte dionysische Ikonographie, in der Satyrn und Mänaden zuweilen sogar in trautem Familienglück mit Satyrkindern verbunden sind,247 nähert sich der bürgerlichen Welt, welcher die Nutzer der Vasen angehören, wieder stärker an. Dementsprechend muss die ‚felsige Verfremdung‘ des Bildraums nun stärker

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dosiert werden.248 Das Verschwinden der bukolischen Bilder von ärmlichen Hirten und Landleuten in den mittleren Jahrzehnten des 5. Jh. (und mit diesen auch die Landschaftselemente, welche diese auf den Vasen begleiteten)249 kann auch in Rahmen einer allgemeinen Tendenz gesehen werden, den ‚Spiegel‘ der Bilder dem Benutzer der Vasen und seiner Welt wieder stärker anzunähern und auf allzu plakative Verfremdungseffekte zu verzichten. In diesem Kontext ist möglicherweise auch die Tatsache zu erklären, dass die markantesten Beispiele für die Ästhetisierung des Felsens aus dem frühen 5. Jh. stammen und sich daraufhin mehr vereinzeln. All diese Phänomene ließen sich mit der von den Malern in den Jahrzehnten um und nach 500 bevorzugten Bildstrategie in Verbindung bringen, das Bild, welches die Vase seinem Betrachter zurückwirft, von diesem maximal abzusetzen, es zu verfremden. Als sich diese Bildstrategie in den darauffolgenden Jahrzehnten dann wiederum umkehrte, hörte auch die Tendenz zur felsigen Verfremdung des Bildfelds auf.250 Dieser Wandel, welcher hier in solch pauschaler Formulierung natürlich nicht mit genügender Differenzierung vorgetragen wurde, erfasst nicht alle Figuren und Ikonographien: Die Theseuszyklen weisen bis ins späte 5. Jh. ganze Friesabschnitte auf, die mit Landschaftselementen saturiert sind, wie es oben zur Genüge behandelt wurde.251 Eine andere Gruppe von Figuren bedient sich über das ganze 5. Jh. hinweg des verfremdenden Elements des Felsens: Es sind die Fabeltiere, Sirenen und die Sphinx, welche der Vollständigkeit halber am Schluss dieses Unterkapitels zu attributhaften Felsen noch kurz behandelt werden sollen. Bereits auf spätschwarzfigurigen Darstellungen des Sirenenabenteuers sitzen diese auf Felsen, wie es eine Lekythos des Edinburgh-Malers in Athen zeigt (Abb. 3).252 Auf Felsen sitzen die Sirenen bekanntlich auch auf der Namensvase des Sirenen-Malers (Abb. 144).253 Auf einigen Lekythen des späteren 5. Jh., auf denen Sirenen als alleinige Motive erscheinen, sitzen sie ebenfalls auf Felsen, wie auf einer Lekythos um 450 in München (Abb. 371).254 Auf einer Schale des Poseidon-Malers um 500 in Münster Abb. 370 Die Thebaner sind um die Sphinx versammelt, die auf einem Felsen sitzt. Schale des PoseidonMalers, Münster, Universität, um 500

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Abb. 371 Eine Sirene sitzt auf einem Felsen. Vor ihr steckt ein Thyrsos-Stab im Boden. Lekythos eines Nachfolgers des Seireniske-Malers, München, Antikensammlung, um 450 Abb. 372 Hier sitzt die Sphinx auf einem hohen Felsen mit ausgesprochen extravaganter Form. Pelike des Malers der Kentauromachie des Louvre, Deutschland, Privatbesitz, 440–430

sitzt die Sphinx zwischen den thebanischen Bürgern auf einem Felsen (Abb. 370).255 Der Fels auf der Grundlinie betont das Unerhörte an der Präsenz der Sphinx inmitten der Bürgerschaft Thebens. Auf einem Felsen sitzt auch die Sphinx auf einer Lekythos des Achilleus-Malers, wo ihr nur Ödipus gegenübersteht.256 Auf einer Pelike des Malers der Kentauromachie des Louvre sitzt die Sphinx auf einem hohen Felsen von vollkommen irrealer Form (Abb. 372).257 Eine solche extravagante Morphologie weist auch der Felsen der Sphinx im Innenbild einer Schale des Veii-Malers auf (Abb. 373).258 Ausgesprochen irreale Felsen finden sich zuweilen auch auf Bildern orientalischer Krieger des späten 5. Jh., was der Felsen exemplifizieren kann, der auf einer Oinochoe des Schuwalow-Malers einem Perser als Sitzgelegenheit dient (Abb. 374).259 Auf einem nicht ganz so extravaganten Felsen sitzt ein thrakischer Krieger auf einem Glockenkrater im Kunsthandel (Abb. 376).260 Auch in Bildern von Amazonen unter sich tauchen Felsen auf, wie auf einem Stangenkrater in Bologna mit einer Reihe berittener und zu Fuß laufender Amazonen, wo ein Fels mit herauswachsendem Bäumchen auf der Grundlinie erscheint (Abb. 375).261 Offensichtlich funktionieren Felsen auch als Attribute exotischer Figuren, seien es Fabelwesen oder Barbaren. Auf die extravaganten Formen der Felsen, die hier mehrfach zu verzeichnen waren, werden wir in einem späteren Unterkapitel noch zu sprechen kommen.262

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447 Abb. 373 Ödipus und die Sphinx sitzen sich gegenüber. Schale des Veii-Malers, Gotha, Schlossmuseum, um 450

Abb. 374 Drei Perser. Einer setzt seinen Fuß auf einen Auf einer Schale des Erzgießerei-Malers in München sind mehrere Hima- Felsen, ein anderer sitzt tionträger im Gespräch dargestellt, wobei ein Bärtiger vor seinem stehen- auf einem Felsen. Oinodes Schuwalowden, unbärtigen Gesprächspartner auf einem Felsen sitzt (Abb. 295).263 choe Malers, Marzabotto, Dies ist ein Beispiel einer kleineren Anzahl von Felsen, die sich im ersten Mus., 430–420

Landschaftselemente in der Bürgerwelt

Drittel des 5. Jh. in ausgesprochenen Bürgerikonographien finden. Wie kann ein Felsen einem Bürger in Manteltracht als Sitzgelegenheit dienen, wenn sich Felsen im selben Zeitraum als Attribute von Räubern, rasenden Begleitern des Dionysos, Hirten und Fabelwesen, mithin all jener Figuren

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Abb. 375 Ausziehende Amazonen. Auf der Grundlinie erscheint ein Fels, aus dem ein Bäumchen wächst. Stangenkrater des Malers von London E 489, Bologna, Mus. Civico, 460–450

etablieren, für die eine wie auch immer geartete Entfernung von der Bürgerwelt konstitutiv ist? Die Antwort auf diese Frage ist in der Morphologie der Felsen zu suchen: Für ihr Erscheinen in Bürgerikonographien wird den Felsen nämlich die charakteristische Hockerform gegeben, welche uns schon mehrfach begegnet war, sich in der Ikonographie der Vasen jedoch zuerst in Bürgerikonographien des ersten Jahrhundertdrittels etabliert und erst von dort Einzug in andere, ‚unbürgerliche‘ Ikonographien erhält. Der Prüfbeamte auf der Namensvase des Dokimasia-Malers sitzt auf einem Hockerfelsen (Abb. 378).264 Ein jugendlicher Mantelträger mit Bürgerstock sitzt auf einem Hockerfelsen im Innenbild einer Schale aus dem Umkreis des Antiphon-Malers (Abb. 377).265 Später etwa Abb. 376 Zwei thrakische Krieger und ein Knabe mit Hunden. Ein Thraker sitzt auf einem Fels. Glockenkrater, London, Kunsthandel, um 440

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sitzen männliche Bürger auf Hockerfelsen auf drei Vasen des Hermonax, der Pelike in Wien mit den Bürgern von Theben um die Sphinx (Abb. 379),266 der Pelike in der Villa Giulia mit dem zurückgekehrten Perseus mit dem Kopf der Medusa beim König Polydektes und den ihn umgebenden Bürgern (Abb. 380),267 sowie der Pelike in Glasgow mit einem Kriegerabschied, in dem der alte Vater auf einem Hockerfesen sitzt (Abb. 381).268 Die morphologischen Eigenschaften der Felsen der dionysischen Ikonographie in der Gruppe des Brygos-Malers mit ihrem außerordentlich bewegten Kontur passen keineswegs auf die einfache und regelmäßige Form des Hockerfelsens, wie er auf den eben genannten Schalen des Erzgießerei-Malers und des Dokimasia-Malers, zweier Maler der Gruppe des Brygos-Malers, erscheint. Da die Felsen in der dionysischen Ikonographie mit ihrer plakativen Unförmigkeit und die regelmäßig geformten Hockerfelsen in Bürgerikonographien somit in derselben Malergruppe entstanden sind, muss es sich um eine bewusst unterschiedene Gestaltung der Felsen handeln.269 Von dem im vorhergehenden Unterkapitel viel be-

Abb. 377 Ein junger Mann sitzt auf einem Hockerfelsen. Im Bildfeld weisen Schwamm und Strigilis auf den Palästrakontext. Schale aus dem Umkreis des Antiphon-Malers, Bonn, Akademisches Kunstmuseum, 490–480

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Abb. 378 Dokimasie. Der Prüfbeamte, der die zu ihm geführten Pferde begutachtet, sitzt auf einem Felsen in Hockerform, hinter dem ein Baum wächst. Schale des Dokimasia-Malers, Berlin, Antikensammlung, 480–470

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schworenen Verfremdungseffekt der Felsen ist bei den Hockerfelsen nichts zu spüren. Die regelmäßige Form der Felsen, die Bürgern als Sitzgelegenheit dienen, negiert den aleatorischen Charakter der Morphologie von Felsen und konterkariert damit das ‚Felsige‘ am Felsen. Gleichwohl handelt es sich nicht um geglättete sondern um rohe, unbearbeitete Felsen.270 Um dieses Phänomen richtig einzuordnen, muss der ikonographische Kontext der Hockerfelsen betrachtet werden. Auf der eingangs erwähnten Schale des Erzgießerei-Malers erscheint neben dem Hockerfelsen auch ein gewöhnlicher Hocker. Felsenhocker stellen offenbar eine von mehreren Darstellungsoptionen von Sitzgelegenheiten in der im frühen 5. Jh. zahlreich vertretenen Ikonographie vom Zusammensein jüngerer und älterer männlicher Bürger dar. Neben der eher selten gewählten Option des Hockerfelsens erscheinen vor allem hölzerne Hocker und gelegentlich rechteckige Blocksitze.271 Auffallend ist in dieser Ikonographie dagegen das weitgehende Fehlen des Klismos.272 Dieser im Verhältnis zum einfachen Hocker luxuriöse und stärker weiblich konnotierte Lehnstuhl273 wurde für die Bilder des Zusammenseins der Männer offensichtlich als wenig geeignet angesehen. Er gehört wie die Klinen zum Mobiliar des reichen Oikos und verweist auf die Annehmlichkeiten, welcher dieser zur Verfügung stellt. Zum Klismos, der zum angelehnten Sitzen einlädt, bildet der raue Hockerfelsen, der weder die Assoziation des Häuslichen, noch des Luxuriösen weckt, das Gegenstück.274

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Der Felsenhocker assoziiert somit ein Leben im ‚Draußen‘, wie es sich für den männlichen Bürger geziemt. Dasselbe gilt offenbar auch für Bäume, welche neben den Hockerfelsen als weitere Landschaftselemente in Bürgerikonographien ab dem frühen 5. Jh. erscheinen, wie auf einem Stamnos des Syriskos-Malers in Frankfurt mit stehenden und auf Blocksitzen sitzenden Bürgern im Gespräch, wo hinter einem der sitzenden Mantelträger ein Baum wächst (Abb. 382).275 Neben der selbstverständlichen Tatsache, dass Felsen und Bäume per se nicht im Haus zu finden sind und somit in einem ganz konkreten Sinne das ‚Draußen‘ denotieren, ist für die Bilder auch von Bedeutung, dass die Felsen und Bäume den Anschluss an Ikonographien der kämpferischen Bewährung der Bürger gegen die Feinde der Polis schaffen, insofern das Konnotationsspektrum dieser Bildmotive durch deren häufigen Gebrauch in Ikonographien wie den Theseuskämpfen geprägt ist. Neben den Kämpfen des mythischen Musterepheben Theseus sind es aber auch gewöhnliche Hoplitenkämpfe,276 die im frühen 5. Jh. neuerdings Landschaftselemente integrieren können, auf die Bäume und Felsen in den besprochenen Bürgerikonographien rekurrieren. Der Baum, der in einem Hoplitenkampfbild des Dokimasia-Malers in der Ermitage erscheint (Abb. 383),277 ähnelt mit seinem unten ver-

Abb. 379 Die Bürger von Theben sind um die Sphinx versammelt. Zwei von ihnen sitzen auf Hockerfelsen, einer gar auf einem Felsen mit Lehne. Pelike des Hermonax, Wien, Kunsthistorisches Mus., 470–460

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Abb. 380 Perseus kehrt mit dem Medusenhaupt zurück zu König Polydektes und die ihn umgebenden Bürger. Einer von ihnen sitzt auf einem Hockerfelsen. Pelike des Hermonax, Rom, Villa Giulia, um 460

Abb. 381 Kriegerabschied. Der Vater sitzt auf einem Hockerfelsen. Pelike des Hermonax, Glasgow, Mus. and Art Gallery, 460–450

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453 Abb. 382 Bürger im Gespräch. Einer sitzt auf einem rechteckigen Blocksitz. Ein Baum wächst am Bildfeldrand. Stamnos des Syriskos-Malers, Frankfurt, Mus. für Vor- und Frühgeschichte, 480–470

breiterten Stamm ganz und gar einem Baum auf der namensgebenden Dokimasieschale des Malers. Der am Bildfeldrand aufragende Felsen auf einer Schale des Erzgießerei-Malers hat dagegen nicht die zurückhaltende Form der Hockerfelsen in den besprochenen zivilen Bürgerikonographien, sondern findet vielmehr Parallelen in den Theseusikonographien oder in dionysischen Bildern (Abb. 385).278 Auch Krieger, die nicht im aktuellen Kampf dargestellt sind, können mit Landschaftselementen in Verbindung gebracht werden, wie man es im Innenbild der berühmten Schale des Erzgießerei-Malers in Boston mit der Verfolgung des Hektor um die Mauern von Troja sieht, wo von zwei Kriegern einer auf einem Hockerfelsen sitzt (Abb. 384).279 Insofern Hockerfelsen und Bäume in den besprochenen Bildern vom Zusammensein männlicher Bürger Aspekte des Bürgerbilds thematisieren – insbesondere den Kampf mit Feinden der Polis –, die im Bild nicht unmittelbar zum Ausdruck kommen,280 kann man sie in der Art, wie sie an der Charakterisierung der Figuren beteiligt sind, mit anderen Gegenständen im Bildfeld vergleichen, wie insbesondere den Palästrarequisiten, die nicht zufällig manchmal mit Felsenhockern im selben Bild erscheinen, wie im oben erwähnten Innenbild einer Bonner Schale (Abb. 377). Felsenhocker, Bäume oder Palästrarequisiten verweisen weniger auf einen jeweils konkreten Ort der Handlung, als dass sie den Bildern Konnotationsspektren erschließen: Ein hängender Schwamm mit Strigilis impliziert eine spezifisch männliche Kultur des Körpers, bei der es sowohl um den Aspekt der Härtung des Körpers durch das mühevolle und strapazenreiche Training als auch um den Aspekt männlicher Schönheit und Körperpflege geht. Das gilt auch dann, wenn diese Gegenstände in Bildern hängen, die nichts dergleichen zeigen, wie etwa auf den Außenseiten einer Schale des Makron, wo zwischen acht im Gespräch befindlichen Männern insgesamt vier Päckchen aus Strigilis, Schwamm und Ölfläschchen im

454 Abb. 383 Hoplitenkampf. Am Bildfeldrand wächst ein Baum aus einem Felsen. Schale des DokimasiaMalers, St. Petersburg, Ermitage, um 480

Abb. 384 Zwei Krieger bei der Rast. Einer sitzt auf einem Hockerfelsen. Schale des Erzgießerei-Malers, Boston, Mus. of Fine Arts, 490–480 (Außenbilder: Abb. 81)

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Bildfeld erscheinen.281 Ebenso schaffen Hockerfelsen und Bäume auch dann den Anschluss an die felsenreichen Ikonographien der kämpferischen Bewährung der Bürger gegen die Feinde der Polis, wenn die dargestellten Mantelfiguren sich nur im (manchmal erotisch aufgeladenen) Gespräch gegenübersitzen. In welchem Maße Hockerfelsen Teil eines kontextübergreifenden Bürgerbilds werden können, zeigen die oben erwähnten Bilder des Hermonax. Auf der Pelike in Wien mit der Sphinx, die den Bürgern Thebens ihr Rätsel aufgibt, sitzen zwei der zehn Bürger auf Hockerfelsen und ein dritter auf einem Felsensitz mit Rückenlehne (Abb. 379).282 Man wird wohl kaum Vasenbilder finden, bei denen man mit mehr Berechtigung von einer Darstellung der Gemeinschaft der männlichen Bürger sprechen kann.283 Wenn man für diese Versammlung von Bürgern einen Ort nennen sollte, wäre dieser die Agora.284 Wollte man dem Erscheinen dieser Felsensitze eine situative Qualität geben, könnte man anführen, dass sich die Bürger Thebens hier dem (sehr speziellen) Angriff eines Wesens der wilden Natur stellen. Diese Interpretation wäre nicht ganz sinnleer, doch scheint es mir überzeugender, die Hockerfelsen als Teil eines allgemeinen Bürgerbildes zu verstehen, das sich eben auch hier auf durchaus sinnvolle Weise aktualisiert. Eine ähnliche Versammlung von Bürgern zeigt die Pelike des Hermonax in der Villa Giulia mit dem zurückgekehrten Perseus, der den Kopf der Medusa in der Rechten hält (Abb. 380).285 Von den Bürgern, die den König Polydektes umgeben, sitzt einer auf einem Klappstuhl und ein anderer auf einem Hockerfelsen. Auf der Pelike des Hermonax in Glasgow schließlich sitzt in einem Kriegerabschied der alte Vater auf einem Hockerfelsen (Abb. 381).286 Man hätte die Erwartung haben können, dass der aufbrechende Krieger, der sich in die unsicheren Randbereiche der Polis begibt, mit einem Felsen verbunden sein sollte, wie dies in späteren Kriegerabschieden auch öfters der Fall ist.287 In diesem Kriegerabschied ist es jedoch gerade die Figur, die zurückbleibt, welche auf einem Felsen sitzt. Der Hockerfelsen ist in den Bildern des Hermonax, welche einige Jahrzehnte nach den ersten Bürgern auf Hockerfelsen erscheinen, offenbar zu einem situationsübergreifenden Bestandteil des Bürgerbilds geworden. Die Hockerfelsen, an denen das ‚Felsige‘ durch ihre dem Zwecke des Sitzens ganz und gar angepasste Form auf ein Minimum reduziert wurde, sind hier kein Element der wilden Natur, welches dem darauf sitzenden Bürger entgegengesetzt wäre, sondern vielmehr ein Zeichen der Hoheit des Bürgers über die wilde Natur, welche er für seine Zwecke – hier für das Sitzen – nutzbar macht. In diesem Sinne kann der Hockerfelsen geradezu als Innbegriff des Raumes der Polis gelten, der sich gegenüber dem unkultivierten Umland durch ebenjene Verzwecklichung auszeichnet. Der Hockerfelsen steht somit für die kontrollierte und gerade nicht für die wilde Natur.

Abb. 385 Hoplitenkampf. Ein steiler Fels ragt von der Henkelzone ins Bildfeld hinein. Schale des Erzgießerei-Malers, Cambridge (Mass.), FoggMus., um 480

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Die Intention der Maler, kontrollierte Natur, die unter der Hoheit der Menschen steht, zu zeigen, mag als der zentrale Grund für das Erscheinen jenes merkwürdigen Bildmotivs des Hockerfelsens gelten. Sie würde jedenfalls das Erscheinen solcher Felsen in Bürgerikonographien vollkommen befriedigend erklären. Besonders gut passt dieser grundsätzliche Sinn des Hockerfelsens in den Kontext der Palästra, wo es um die Kultivierung des Körpers geht, den die Menschen mit den Tieren zwar gemein haben, den sie aber, anders als die Tiere, beherrschen und zu ihren Zwecken verwenden lernen.288 Dabei ist es bezeichnend, dass sich die Hockerfelsen, jene ‚domestizierte‘ Version des Felsens, genau in demselben Zeitraum in den Bürgerikonographien etablieren, in dem besonders ungestüm sich gebärdende Felsen Einzug in die Ikonographien der Theseuskämpfe und des dionysischen Thiasos erhalten: Nur wenn die Hockerfelsen in einem klaren Kontrast zur plakativen ‚Felsigkeit‘ jener anderen Felsen stehen, kann die Intentionale Regelmäßigkeit ihrer Form für den Betrachter ästhetisch erfahrbar werden. Damit ist der Bedeutung der Hockerfelsen als kontrollierter Natur jedoch auch ein ‚natürliches Ende‘ vorgegeben: Sobald die ‚wilde Formensprache‘ der Felsen in den dionysischen und den Theseusikonographien zurückgefahren wird, was in den Jahrzehnten vor der Jahrhundertmitte geschieht,289 bröckelt auch der formale Kontrast zu den Hockerfelsen, auf dem ihre Bedeutung als kontrollierte Natur beruht. Dieser Prozess lässt sich an der ikonographischen Verwendung der Hockerfelsen unmittelbar ablesen: War deren Verwendung am Beginn des 5. Jh. noch weitestgehend auf Figuren in Bürgertracht beschränkt, erscheinen ab ca. 470 Felsen mit einer zumindest annähernden Hockerform etwa auch in den Ikonographien des Sinis- und des Skironabenteuers in der neuen Form, die den Moment vor dem eigentlichen Kampf zeigt.290 Im selben Zeitraum finden sich auch in dionysischen Bildern Felsen, die der Form des Hockerfelsen nahe kommen: Auf einer Pelike des Alkimachos-Malers sieht man eine Liebeswerbung zwischen einem Satyrn und einer Mänade, die auf einem Hockerfelsen sitzt (Abb. 386).291 Dieser Hockerfelsen im dionysischen Kontext mag noch als eine Ausnahme gelten, die die Regel bestätigt, da hier ganz offensichtlich mit der Parallele zur ‚bürgerlichen‘ Liebeswerbung gespielt wird – der Satyrn trägt ein Himation, hält einen Knotenstock und nähert sich dem Objekt seiner Lust auf gänzlich unsatyreske Weise.292 Schwieriger wird es schon mit dem Innenbild einer Schale in Bologna um 450 mit einem Satyr und einer Mänade, die sich gegenüberstehen, wobei rechts neben dem Satyr ein Sitzfelsen mit Rückenlehne erscheint, von dem sich der Satyr offenbar gerade erst erhoben hat, und der keinen Vergleich mit ‚domestizierten‘ Felsen aus den Bürgerikonographien scheuen muss (Abb. 387).293 Umgekehrt finden sich in diesem Zeitraum in Schaleninnenbildern mit Bürgern – zwei Männer oder Mann und Frau – mit meist erotischer Thematik in nicht unerhebli-

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457 Abb. 386 Ein Satyr mit Himation und Bürgerstock überreicht artig ein Liebesgeschenk. Die beschenkte Mänade sitzt auf einem Hockerfelsen. Pelike des Alkimachos-Malers, St. Petersburg, Ermitage, um 470

Abb. 387 Ein Satyr und eine Mänade im Gespräch. Ein Fels am Tondorand gibt sich als Sitzfelsen mit Rückenlehne zu erkennen. Schale des Aberdeen-Malers, Bologna, Mus. Civico, um 450

Abb. 388 Ein Mann und eine Frau im Gespräch. Der Felsen am Tondorand bleibt morphologisch unbestimmt. Schale des Malers von London E 777, Oxford, Ashmolean Mus., Mitte 5. Jh.

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Abb. 389 Drei Männer im Gespräch. Der mittlere sitzt auf einem Hockerfelsen. Glockenkrater, Kopenhagen, Nationalmuseum, um 420

cher Zahl Felsen am Tondorand, die meist keine eindeutige formale Parallele mehr zu Hockerfelsen aufweisen und daher eher an die Tondorandfelsen der dionysischen Bilder des frühen 5. Jh. erinnern, wenn auch in miniaturisierter und abgeschwächter Form. Beispiele dafür finden sich insbesondere in der Werkstatt des Penthesilea-Malers, wie man es auf einer Schale in Oxford sieht (Abb. 388).294 Dass der Hockerfelsen mit dieser ‚ikonologischen Relativierung‘ aus den Bürgerikonographien nicht gleich verschwindet, liegt sicherlich daran, dass er sich im Bürgerbild bereits etabliert hat und zur Rechtfertigung seines Auftretens auf den pointierten Sinn einer ‚domestizierten Natur‘ nicht mehr angewiesen war. Er findet sich denn auch noch in der zweiten Hälfte des 5. Jh. gelegentlich als Sitzgelegenheit von Bürgern, wie man es etwa auf der Rückseite eines Glockenkraters in Kopenhagen um 420 mit drei sich unterhaltenden Bürgern sieht, von denen einer auf einem Hockerfelsen sitzt (Abb. 389).295 Auf einem Hockerfelsen sitzt auch einer der Bürger, die auf einem Kelchkrater des Kleophon-Malers an einem Opfer teilnehmen (Abb. 390).296 So unwesentlich der Verlust an pointierter Bedeutung des Hockerfelsens in der Bürgerikonographie aufgrund des insgesamt geringen quantitativen Gewichts dieser ikonographischen Verwendung des Felsens auf den ersten Blick scheint, so macht er doch ein grundsätzliches Phänomen deutlich: Wenn sich die Felsen in Bürgerikonographien von Felsen in deren ‚klassischen‘ Auftrittskontexten, die im vorhergehenden Unterkapitel behandelt wurden, formal nicht mehr unterscheiden, mithin das Auftre-

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459 Abb. 390 Opferdarstellung. Ein Mann sitzt auf einem Hockerfelsen. Kelchkrater des Kleophon-Malers, St. Petersburg, Ermitage, um 420

ten von Felsen in ‚zivilen‘ Bürgerikonographien nicht mehr etwas außergewöhnliches ist, das mit einer ebenso außergewöhnlichen Morphologie – dem Hockerfelsen297 – einher gehen muss, dann ist offenbar einiges an ikonographischer Spezifizität und semantischer Prägnanz des Felsens verlorengegangen. Die Konnotation wilder Natur, bzw. kulturfreien Raumes haftet dem Felsen im mittleren 5. Jh. nicht mehr so stark an, wenn Felsen gewissermaßen kommentarlos in Bürgerikonographien erscheinen können. Ob dieser allgemeine Verlust an semantischer Prägnanz kausal mit der Integration des Felsens in Bürgerikonographien – eine Gratwanderung, die nicht lange gut gehen konnte – zu verbinden ist, oder ob der Verlust der pointierten Bedeutung des Hockerfelsens in Bürgerikonographien nur eine Folge einer allgemeinen Entsemantisierung ist, lässt sich nicht sagen, auch wenn letzteres aufgrund des geringen quantitativen Gewichts der Felsen in Bürgerikonographien wahrscheinlicher ist. Schließlich muss noch hinzugefügt werden, dass diese allmähliche Entsemantisierung nicht einheitlich fortschreitet und z.B. in den TheseusZyklusschalen, welche eine besonders starke ikonographische Kontinuität im 5. Jh. aufweisen, nicht festzustellen ist: Das Interpretationsmodell, welches an Zyklusschalen des frühen 5. Jh. entwickelt wurde, passt auch noch auf die Aison-Schale.298

Felsen und Frauen: Neue Assoziationsmöglichkeiten Die Assoziation von Felsen und bürgerlichen Frauen, welche ab den mittleren Jahrzehnten des 5. Jh. zu greifen ist, macht deutlich, wieviel der Felsen von seiner im frühen 5. Jh. starken Konnotation wilder Natur und

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kulturlosen Raumes eingebüßt hat. Hätten die Felsen, auf denen männliche Bürger sitzen, und die Bäume, die sie umgeben, deren prägnante Bedeutung als Verweis auf das Leben im ‚Draußen‘ bis zur Mitte des Jahrhunderts in vollem Maße behalten, müsste das diese Motive aus der Darstellung der bürgerlichen Frau geradezu verbannen, gehört zum Ideal der guten Athenerin doch umgekehrt ein Leben im ‚Drinnen‘, welches die Öffentlichkeit meidet. Die insgesamt nicht sehr zahlreichen Darstellungen aus dem mittleren und späteren 5. Jh. von Frauen, die auf Felsen sitzen, können dieses für alle Epochen der griechischen Kultur geltende Ideal der Frau nicht in Frage stellen. Wie wenig die Bilder von auf Felsen sitzenden bürgerlichen Frauen diese Wertvorstellungen in Frage stellen, lässt sich etwa an dem geradezu minimalistischen Bild auf einer Lekythos des Klügmann-Malers in Laon ersehen (Abb. 391):299 Die auf einem blockförmigen Felsen sitzende Frau hält in der Rechten einen Kalathos vor sich und stützt sich mit der Linken auf dem Felsen ab. Nichts ist für die Frauengemachsikonographie typischer und dem Ideal der bürgerlichen Frau konformer als die Wollbearbeitung,300 auf die der Kalathos verweist. Nicht viel anders ist dies auf einem Skyphos um 450 in Amsterdam, wo auf jeder Seite eine Frau erscheint, die einmal auf einem Hockerfelsen sitzt und einen Zweigekranz in den Händen hält, und auf der gegenüberliegenden Seite mit einem Spiegel in der Hand nach links läuft, wohl auf die gegenüber sitzende Frau zu (Abb. 393).301 Auch wenn das Laufen nicht unbedingt zu den typischen Handlungsweisen von Frauen gehört,302 sind Kranz und Spiegel vollkommen unauffällige Attribute, die nicht darauf hindeutet, dass hier eine außergewöhnliche Situation oder außergewöhnliche Figuren dargestellt wären: Es erscheinen auf diesem Trinkgefäß zwei Frauen in einer wie auch immer gearteten Interaktion, die weder besondere Fragen aufwerfen, noch auf solche Fragen Antworten liefern. Im Innenbild einer Schale des Hochzeitsmalers in Chiusi überreicht ein junger Mann einer auf einem Felsen sitzenden Frau einen Spiegel (Abb. 394).303 Die züchtig in ihren Mantel gehüllte Frau weicht in ihrer Haltung vom Ideal der bürgerlichen Frau keineswegs ab.304 Ein späteres Bild auf dem Hals einer Olpe des Schuwalow-Malers zeigt zwei Frauen, die sich ein Ölfläschchen und ein Kästchen entgegenhalten, wobei eine der beiden Frauen den Fuß auf einen Felsen setzt (Abb. 392).305 In welcher Wildnis sollten sich Frauen gegenseitig mit solcherlei Gegenständen beglücken? Es ist offensichtlich, dass auch diese Frauen die (ikonographische) Welt des Frauengemachs nicht verlassen haben. Wenn es also ganz gewöhnliche bürgerliche Frauen sind, die dort in ebenso gewöhnlichen Situationen mit Felsen in Verbindung stehen, warum lassen sie die Maler dann nicht einfach auf ihren angestammten Hockern und Klismoi sitzen, die ja auch weiterhin die große Mehrheit der

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461 Abb. 391 Eine Frau sitzt auf einem Felsen und hält einen Wollkorb in der Hand. Lekythos des KlügmannMalers, Laon, Mus., um 430 Abb. 392 Zwei Frauen mit Kästchen und Alabastron. Diese typisch weiblichen Requisiten und der Fels, auf den eine Frau ihren Fuß setzt, scheinen sich nicht auszuschließen. Olpe des SchuwalowMalers, Ferrara, Mus. Nazionale di Spina, 430–420

Abb. 393 Eine Frau sitzt auf einem Felsen mit einem Kranz in der Hand. Eine andere Frau rennt (von der anderen Vasenseite) mit einem Spiegel hinzu. Skyphos, Amsterdam, Allard Pierson Mus., um 450

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Abb. 394 Liebeswerbung. Ein junger Mann reicht einer auf einem Felsen sitzenden Frau einen Spiegel. Schale des Hochzeitsmalers, Chiusi, Mus. Archeologico, 470–450

Sitzgelegenheiten für Frauen darstellen? Eine kontrollierte Natur wie sie durch die Hockerfelsen in Bildern männlicher Bürger zumindest in den ersten Jahrzehnten des 5. Jh. noch auf pointierte Weise zum Ausdruck kam, sollte in Bildern athenischer Bürgerinnen sicherlich nicht gezeigt werden: Auf die Fähigkeit von Frauen, die äußere Natur, geschweige denn ihre eigene Natur zu kontrollieren, haben die Griechen nie viel gesetzt, und noch weniger werden sie in einer solchen ‚starken Rolle‘ dargestellt. Diesem allgemeinen Vorbehalt lässt sich der Befund der Bilder zur Seite stellen, insofern die Felsen, auf denen Frauen sitzen, keineswegs konsequent die Hockerform aufweisen, welche für diese Semantik von Felsen zu fordern ist.306 In den genannten Beispielen weichen die Felsen von dieser Form zwar in keinem Fall erheblich ab. Einerseits jedoch reicht eine allgemeine Hockerform in den mittleren Jahrzehnten des 5. Jh., wie im vorhergehenden Kapitel ausgeführt,307 nicht mehr aus, um kontrollierte Natur prägnant gegen die Folie der ‚wilden Felsen‘ der Satyrn und Mänaden zu formulieren. Andererseits gibt es auch Beispiele felsiger Sitzgelenheiten ohne jegliche Ähnlichkeit mit einem Hocker, wie auf einem Teller in Gießen mit einer Frau, der sich eine Nike mit Ölzweig308 von hinten nähert (Abb. 30).309 Man kommt dem Phänomen der Felsen in der Frauengemachsikonographie wohl näher, wenn man es in den Kontext der allgemeinen ‚Verweiblichung‘ des ikonographischen Spektrums des Felsens im mittleren 5. Jh. stellt. Besonders bezeichnend ist dabei der Einzug von Felsen (und Pflanzen!) in die Ikonographie der Musen. Eine Frauenwelt,310 die, wie wir noch näher sehen werden, mit der Frauengemachsikonographie vieles gemeinsam hat. Eine Hydria der Polygnot-Gruppe in Berlin mit Apollon und sieben Musen gehört zwar nicht zu den frühesten Beispielen dieser

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neuen ikonographischen Entfaltung von Landschaftselementen, lässt dafür aber einige Charakteristika besonders deutlich hervortreten, weswegen diese Hydria nun exemplarisch untersucht werden soll (Abb. 395).311 Die drei Felsen, die hier erscheinen, haben alle ausgesprochen extravagante Formen mit dünnen und langgezogenen Felszungen, wie sie in der Wirklichkeit kaum vorstellbar sind. Die Muse, welche die Doppelflöte spielt, sitzt auf einem erhöhten Felsen, so dass sie mit den Füßen die Grundlinie nicht mehr berührt, sondern diese auf unterschiedlicher Höhe auf dem Felsen selbst absetzt. Dieser Sitzfelsen hat also, anders als Hockerfelsen, nicht die einfachste mögliche Form, wiewohl er sich einem entspannten Sitzen keineswegs in den Weg stellt. In betont entspannter Haltung steht ihr eine zuhörende Muse mit Schrifttäfelchen in der Hand gegenüber: Sie hat den Fuß auf einen Felsen gesetzt, den Ellbogen auf das erhöhte Knie gestützt, lässt ihr Körpergewicht darauf aufruhen und hat zudem die linke Hand in die Hüfte gelegt. Auch ihr Felsen hat eine wunderliche Form, ebenso wie der Felsen, auf dem eine Kithara spielende Muse sitzt. Diese Felsen, die bewusst als nicht geglättete Gegenstände gestaltet sind, haben die betonte Unregelmäßigkeit ihrer Form mit den Felsen des früheren 5. Jh. in Bildern des Thiasos oder der Theseuskämpfe gemeinsam. Von hier aus könnte man ihnen einen ähnlichen verfremdenden Effekt gegenüber dem sauber und gleichmäßig gezeichneten LotusPalmetten-Band attestieren, aus dem sie hervorkommen.312 Hier hört die Parallele zu den Felsen des früheren 5. Jh. allerdings bereits auf. Die ästhetische Wirkung, welche die Felsen auf dieser polygnotischen Hydria entfalten, ist nämlich von ganz anderer Art als die jener Felsen, die mit ihren großflächigen Wellen den präzis gezeichneten Tondoumkreis auf geradezu brutale Weise sprengten: Hier sind die Felsen nicht besonders raumgreifend, sondern füllen mit ihren filigranen Formen nur geringe Flächen des Bildfelds. Sie konterkarieren das gleichfalls filigran gezeichnete Ornamentband, das als Grundlinie dient, nicht durch grobe Formen, sondern durch gewissermaßen kapriziöse Formen, die eigenwillig mal hierhin, mal dorthin spitz zulaufende Felsenzungen bilden, ohne einer erkennbaren Ordnung zu unterliegen. Dieses spezifische Gegensatzverhältnis zu dem die Grundlinie bildenden Ornamentband trifft auch auf ein anderes Landschaftselement in dem Musenfries zu, nämlich die Pflanze, die hinter der flötenden Muse aus der Grundlinie herauswächst: Das aus kleinen Voluten zusammengesetzte Phantasiegewächs, an dem Blätter nicht an den ‚Zweigen‘ selbst, sondern in den Zwickeln der ‚Verzweigungen‘ wachsen, ist eine freie Improvisation aus Elementen des Motivrepertoires der Vasen- und Architekturornamentik.313 Die gezierten Einzelformen, die im Ornamentband der Grundlinie in einer festen Ordnung stehen, wachsen an dem Pflänzchen frei ins Bildfeld hinein. Für die anderen beiden Pflanzen in diesem Bild-

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Abb. 395 Apollon im Kreise der Musen. Einige wunderliche Felsen und Pflanzen erscheinen. Hydria der Polygnot-Gruppe, Berlin, Atnikensammlung, 450–440

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Abb. 396 Apollon im Kreise der Musen. Neben den Felsen und Pflanzen findet sich auch ein Stuhl. Hydria des Villa Giulia-Malers, Vatikan, Mus. Gregoriano Etrusco, 460–450

fries, die nicht aus Ornamentmotiven zusammengesetzt sind, lässt sich diese Beschreibung natürlich nicht übernehmen. Dennoch ist bei ihnen die miniaturisierte Größe auffällig: Statt als Bäume mit kräftigem Stamm die gesamte Bildfeldhöhe einzunehmen, sind sie künstlich verkleinert dargestellt, wie man es insbesondere an der Palme hinter Apollon sieht, die nicht als junge, gerade erst aus dem Boden sprießende Pflanze, sondern als ausgewachsene Palme gestaltet ist, die nur in ihren Dimensionen reduziert wurde. Statt kräftiger Bäume sollten offenbar filigrane Pflänzchen dargestellt werden. Dadurch, dass die Bäumchen in diesem Bild sehr

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zurückhaltend gestaltet sind, vereinnahmen sie trotz ihrer Zahl das Bild nicht für sich. Dies ließe sich auch zu den Felsen sagen. Der Gebrauch, den der Maler hier von Landschaftselementen macht, ist diesbezüglich also sehr verschieden von dem Gebrauch, der davon in manchen oben diskutierten Theseuszyklen gemacht wird, in denen das Bildfeld mit Landschaftselementen saturiert ist, und aus dem ‚Bildfeldkasten‘ ein felsiger und bewaldeter Raum wird.314 Ähnliches ließe sich allgemein zu Landschaftselementen in den Musenikonographien sagen. Wenn auch sie an der Berliner Hydria stärker ausgeprägt sind als in manch anderen Musenbildern,315 stehen die beschriebenen Phänomene in der zeitgenössischen Vasenmalerei nämlich nicht allein. Wunderliche Formen haben auch die Felsen auf zwei ca. 10–20 Jahre früheren Hydrien des Villa-Giulia-Malers mit sehr ähnlicher Ikonographie in der Villa Giulia und im Vatikan (Abb. 29 und 396).316 Auf dem Exemplar des Vatikans erscheint auch ein miniaturisierter Baum. Dass die Felszungen, auf die sich die Musen mit der Hand hinten aufstützen, noch viel kräftiger dargestellt sind als die hauchdünnen Felszungen der Hydria in Berlin, zeigt gleichwohl, dass sich diese Formensprache in den mittleren Jahrzehnten des 5. Jh. erst progressiv entwickelt. Auf einem Lekanisdeckel mit acht Musen in München sitzt eine auf einem Felsen mit zur einen Seite hin verbreiterter Sitzfläche, wobei sich eine flache Felsenzunge an der Grundlinie ohne funktionalen Zwang weiterzieht (Abb. 397).317 Die Form dieses Sitzfelsens mit seiner sehr breiten, flachen Basis, die in einem schmalen Bereich unvermittelt auf Sitzhöhe hochragt, um sich oben wieder zu verbreitern, ließe sich ebenfalls als kapriziös beschreiben. Auf dem namensgebenden Glockenkrater des Klio-Malers in Berlin sitzt eine Muse

Abb. 397 Acht Musen. Eine Muse sitzt auf einem Fels. Lekanis, München, Antikensammlung, 440–430

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auf einem Felsen, der in drei Zungen verschiedener Größe aufgeteilt ist, mithin viel zerklüfteter ist, als es für die Funktion der Sitzgelegenheit nötig gewesen wäre, gleichzeitig aber auch filigraner und weniger massiv (Abb. 398).318 Auch Phantasiegewächse, die aus Motiven der Vasenornamentik zusammengesetzt sind, finden sich in anderen Musenbildern. Ein besonders schönes Beispiel dafür ist eine weißgrundige Pyxis in Boston mit sechs Musen und einem Hirten, bei dem eine Kuh steht (Abb. 399).319 Ein vertikal aufragender Fels und ein Baum sind unmittelbar dem Hirten mit seiner Kuh zugeordnet. Zwischen den Musen, von denen eine auf einem Hocker und eine weitere auf einem Klappstuhl sitzen, wachsen dagegen zwei aus Palmettenranken gebildete Pflanzen. Der Hirte gehört durch seine Tracht, die Kuh und die Landschaftselemente deutlich einer anderen ‚Welt‘ als der des Frauengemachs, in der das Salbgefäß steht, an. Die Musen, zu deren Wirkraum gleichermaßen die bergige Wildnis eines Helikon als auch das Frauengemach mit den darin musizierenden Frauen gehören, werden dagegen durch die Palmettenpflanzen, welche die Ästhetik der Vasenornamentik aufgreifen und zu Pflanzen in freiem Wachstum umwandeln, in keinen plakativen Kontrast zum ‚realen‘ Raum der Vasenwand und des Frauengemachs, dem die Pyxis angehört, gebracht. Trotz der oben genannten Beispiele muss betont werden, dass in vielen Musenbildern die Felsen keine besonderen Auffälligkeiten zeigen. Was für Musenbilder jedoch allgemein gilt, ist, dass die Landschaftselemente das Bildfeld nicht großflächig besetzen, sondern die von der Architektur der Vase gefassten Bildfelder nur sehr zurückhaltend ‚verlandschaftlichen‘. Dem entspricht, dass Klismoi und Hocker oder Architekturelemente in der Musenikonographie vollkommen gleichberechtigt neben Landschaftselementen, oft sogar im selben Bild stehen. Das Paradebeispiel hierfür ist ein Kelchkrater des Niobiden-Malers, auf dessen einer Seite drei Musen erscheinen, von denen eine auf einem Felsen sitzt, während sich hinter Abb. 398 Apollon und zwei Musen. Die Extravaganz des Felsens, auf dem eine Muse sitzt, ist auffällig. Glockenkrater des KlioMalers, Berlin, Antikensammlung, 3. Viertel 5. Jh.

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den beiden ihr gegenüberstehenden und aneinander gelehnten Musen ein Klismos und eine die ‚Decke‘ des Bildfelds stützende Säule befinden (Abb. 400).320 Auf der anderen Gefäßseite stehen sich zwei Frauen gegenüber, von denen die eine die Doppelaulos spielt, und die andere ihr eine Lyra entgegenhält. Zwischen beiden steht ein offenes Kästchen auf der Grundlinie. Ohne den Felsen auf der Vorderseite käme niemand auf die Idee, in diesen beiden Frauen Musen zu erkennen, und es lässt sich in der Tat fragen, ob der Maler bei diesen Frauen zwischen Musen und Bürgerinnen überhaupt unterscheiden wollte: Zwischen ‚gewöhnlichen‘ Frauen und Musen liegt ein ikonographisches Kontinuum, in dem sich die Maler keineswegs immer eindeutig positionieren, mithin positionieren wollen. Auf den beiden Hydrien des Villa-Giulia-Malers mit Musenfriesen erscheinen neben den Landschaftselementen ebenfalls Klismoi und in einem Fall eine Säule, die die ‚Decke‘ des Bildfelds stützt. Durch die Präsenz des Apoll ist hier die Musenidentität der Frauen zwar gesichert, doch mag man die sehr zurückhaltende ‚Verlandschaftlichung‘ des Bildfelds, die durch Requisiten aus dem Frauengemach in einer Balance gehalten wird, als Strategie des Malers verstehen, eine Identifikation der Betrachterinnen mit den dargestellten Musen zu befördern. So, wie die ewig berauschten Satyrn und ihr Treiben auf Symposionsvasen eine Option der Identität des Symposiasten darstellen, stellen die Musen eine Option der Identität der Frauen dar, welche auf Vasenbildern bekanntlich ebenfalls musizierend erscheinen können. Die mal auf Felsen, mal auf Lehnstühlen sitzenden Musen geben das kulturell geformte Abb. 399 Sechs Musen beimMusizieren. Aus der Grundlinie wachsen Phantasiepflanzen, die aus Ornamenten zusammengesetzt sind. Ein Hirte mit einer Kuh wohnt der Szene bei. Weißgrundige Pyxis des Hesiod-Malers, Boston, Mus. of Fine Arts, 460–450

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Abb. 400 Drei Musen. Eine sitzt auf einem Felsen, während hinter den beiden anderen ein Stuhl und eine Säule erscheinen. Kelchkrater des NiobidenMalers, London, British Mus., 460–450

Bild der athenischen Frauen in einer spezifischen Brechung wieder. Die Verfremdung dieser mythischen Figuren gegenüber den ‚realen‘ Frauen321 wird durch die nicht allzu aufdringlichen und raumgreifenden, dafür aber oftmals phantastisch geformten Felsen und Pflanzen in einem Gleichgewicht gehalten, das die Glückswelt der Musen vom Hier und Jetzt der Vase nicht zu weit entfernt. Die Nähe oder Ferne der Musen besteht dabei nicht in einer Zuordnung der Figuren einem nahen oder einem fernen Ort, etwa dem Frauengemach oder der Bergwildnis: Die Bilder, die Felsen und Stühle miteinander verbinden, schließen ein solches Verständnis von vorne herein aus. Der Ort der Figuren bleibt auch hier wieder schlicht das Bildfeld, bzw. die Vase. Nähe und Ferne drücken die Landschaftselemente, Möbel oder Architekturelemente durch das Maß an Konformierung an den durch die Architektur der Vase gefassten Bildraum aus. Felsen und Bäume, die aus der Grundlinie hervorkommen, stellen dabei grundsätzlich eine Verfremdung dieses Raumes dar, wobei diese durch die jeweilige Morphologie der Felsen und Bäume und durch das Maß, in dem sie das Bildfeld für sich vereinnahmen, gesteigert oder aber auch auf ein Minimum reduziert werden kann, wie es bei den Hockerfelsen der männlichen Bürger der Fall war. An den Landschaftselementen in den beschriebenen Musenbildern fallen somit zwei Dinge auf: (1) die oftmals phantastischen Formen der Felsen und (2) das geringe Maß, in dem sie das Bildfeld füllen und für sich vereinnahmen. Das zweite lässt sich ohne größere Schwierigkeiten erklären: Eine vollständige ‚Verlandschaftlichung‘ des Bildfelds hätte die Zerstörung des ikonographischen Kontinuums zwischen Musen und bürgerlichen Frauen zur Folge. Die Vermischung von Elementen der Frauengemachsikonographie und musenspezifischer Elemente (wie Felsen oder der Präsenz des Apollon), welche für die besprochenen Bilder charakteris-

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tisch ist, zeigt aber, dass ein Anliegen der Maler war, gerade dieses Kontinuum herzustellen. Doch wie erklären sich die phantastischen Formen der Felsen? Betrachtet man sie im Kontext des allgemeinen Verlustes an pointierter Bedeutung von Felsen, kann man sie als Versuch verstehen, das mittlerweile banalisierte Motiv des Felsens durch eine extravagante Morphologie wieder zu einem ‚starken‘ Motiv werden zu lassen, das der Betrachter nicht kommentarlos übergehen kann, und das somit den Zweck erfüllen kann, die Musen in ihrer besonderen Beziehung zur Bergwildnis zu charakterisieren. Diese Erklärung gewinnt dadurch an Plausibilität, dass eine Tendenz zu wunderlich geformten Felsen in verschiedensten Ikonographien feststellbar ist und deshalb nicht als Charakteristikum einer bestimmten Ikonographie mit entsprechend spezifischer Bedeutung, sondern als übergreifendes Phänomen anzusehen ist, das Felsen ebenso allgemein betrifft, wie deren Bedeutungsverlust. In der dionysischen Ikonographie waren uns bereits die kleinen, zur einen Seite hin ausladenden Felsen auf Skyphoi der Jahrzehnte um die Jahrhundertmitte aufgefallen, für die ein Skyphos aus der Gruppe von Ferrara T 981 ein Beispiel ist (Abb. 368).322 Der berühmte weißgrundige Kelchkrater des Phiale-Malers im Vatikan, auf dessen Hauptseite Hermes den Dionysosknaben dem alten Silen und seinen weiblichen Begleiterinnen übergibt, während auf der Rückseite eine lyraspielende Muse mit zwei Zuhörerinnen erscheint, zeigt auf beiden Seiten Felsen, deren zahlreiche Ausbuchtungen und Einziehungen ihre ‚Felsigkeit‘ gleichermaßen überbetonen (Abb. 401).323 Felsen, auf denen die Sphinx sitzt, haben ab diesem Zeitraum ebenfalls zuweilen extravante Formen, wie auf einer Pelike des Malers der Kentauromachie des Louvre (Abb. 372),324 oder im Innenbild einer Schale des Veii-Malers (Abb. 373).325 Felsendarstellungen, welche die reale morphologische Eigenschaft der Unregelmäßigkeit und Zufälligkeit der Form bei weitem überzeichnen und ihre ‚Felsigkeit‘ somit umso betonter zur Schau stellen, finden sich auch in Bildern von Amazonen oder anderen barbarischen Kriegern, wie es eine Oinochoe des Schuwalow-Malers in Marzabotto (Abb. 374)326 und ein Glockenkrater im Kunsthandel (Abb. 376) zeigen.327 Diese phantastischen Felsen mögen hier auch ein Mittel sein, die Exotik der Figuren zu steigern. Doch ist das höchstens die halbe Wahrheit, da sich erstaunlich geformte Felsen in der zweiten Jahrhunderthälfte auch in Bildern von Hopliten finden, wie auf einem Stangenkrater eines späten Manieristen mit einem Kriegerabschied in Syrakus (Abb. 402).328 Entscheidend für die Beurteilung dieser extravagant geformten Felsen ist, dass ihre überzeichnete ‚Felsigkeit‘ nicht mit der Steigerung ihrer Größe zusammengeht, wie dies noch bei den welligen Felsen in dionysischen Bildern der Brygos-Gruppe oder etwa bei einigen Skironfelsen des frühen 5. Jh. der Fall war: Dort wurden die Dimensionen der Felsen und ihre ausladenden Formen ge-

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Abb. 401 Hermes bringt das Dionysos-Kind zu den Nymphen. Ein alter Silen nimmt ihn in Empfang (A). Drei Musen (B). Phantastisch geformte, efeubewachsene Felsen erscheinen auf beiden Gefäßseiten. Weißgrundiger Kelchkrater des PhialeMalers, Vatikan, Mus. Gregoriano Etrsusco, 440–430

meinsam gesteigert, wenn es darum ging, sie besonders prominent und plakativ ins Bild zu setzen. In den hier genannten Beispielen der Mitte und der zweiten Hälfte des Jahrhunderts sind die Felsen in den Bildern jedoch keineswegs immer besonders prominent. Sie bedürfen dieser überzeichneten ‚Felsigkeit‘ bereits, um der Banalisierung des Motivs zu entgehen und das alte Konnotationsspektrum des Felsens überhaupt erst abzurufen. Dass die extravagante Morphologie vieler Felsen ab den Jahrzehnten der Jahrhundertmitte im Sinne einer Kompensation mit dem allmählichen Verlust prägnanter Bedeutung von Felsen zu verbinden ist, zeigt sich schließlich daran, dass die Beispiele auffällig geformter Felsen im Überzeichnen der ‚Felsigkeit‘ mit der Zeit immer weiter gehen. Um sich davon zu überzeugen, stelle man die erwähnten Hydrien des Villa-Giulia-Malers in der Villa Giulia und im Vatikan (Abb. 29 und 396),329 die Hydria der Polygnot-Gruppe in Berlin (Abb. 395),330 den Kelchkrater des Phiale-Malers im Vatikan (Abb. 401)331 und schließlich die Oinochoe des Schuwalow-Malers in Marzabotto mit der kaum zentimeterdicken felsigen Sitzfläche (Abb. 374)332 nebeneinander. Je weiter die Entsemantisierung des

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Felsens fortschreitet, desto weitergehender sind auch die Versuche ihrer Kompensation.333 Der Versuch, den Verlust ikonographischer Prägnanz des Felsens durch extravagant geformte Felsen zu kompensieren, leuchtet als bildnerisches Mittel für die Darstellung von Musen, deren primärer Ort des Wirkens mythische Berge wie der Helikon oder der Parnassos sind, und für die somit die Konnotation von Bergwildnis passend ist, unmittelbar ein. Für die Darstellung bürgerlicher Frauen gilt das Gegenteil: Der Verlust ikonographischer Prägnanz des Felsens bildet gerade die Voraussetzung dafür, dass Felsen mit ihnen in Verbindung gebracht werden können. Folgerichtig finden sich in Bildern bürgerlicher Frauen kaum vergleichbare Beispiele extravaganter Formgebung von Felsen.334 Der Nutzen, den die Darstellung von Felsen in Bildern bürgerlicher Frauen mit sich bringt, besteht Abb. 402 Kriegerabschied. Einer der ins Feld ziehenden Krieger sitzt auf einem Felsen mit welligem Umriss. Stangenkrater des Duomo-Malers, Syrakus, Mus. Archeologico, 3. Viertel 5. Jh.

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Abb. 403 Apollon und zwei Musen. Eine Muse setzt ihren Fuß auf einen Felsen, während sie eine Lyra von Apollon in Empfang nimmt. Schale des Kalliope-Malers, Erlangen, Universität, 3. Viertel 5. Jh.

darin, dass sie die Verbindung zu mythischen Frauenfiguren herstellen, ohne – qua Banalisierung des Motivs – die unpassende Konnotation von wilder Natur mit in das Bild einzubringen. Gleichzeitig führt auch die Verbindung zu den mythischen Frauenfiguren selbst diese ungewollten Konnotationen nicht ins Bild der athenischen Frauen ein. Das Auftreten der Musen entspricht nämlich keinem der traditionell mit Felsen verbundenen Aspekte von Wildheit, Gewalttätigkeit und Kulturlosigkeit auch nur ansatzweise. Auffällig am Habitus der Musen dagegen ist deren zur Schau gestellte Entspanntheit, welche insbesondere durch die vielfältigen Motive des Aufstützens zum Ausdruck kommt. Die Figur der Muse auf der Berliner Hydria der Polygnot-Gruppe, die einen Fuß auf einen Felsen gesetzt hat, und dem Flötenspiel der vor ihr sitzenden Schwester lauscht, kann gut exemplifizieren, wie das Können der Maler in der Darstellung des menschlichen Körpers bei den Musen dazu eingesetzt wird, entspannte Haltungen überzeugend wiederzugeben: Durch ihren vorgebeugten Oberkörper verlagert die Muse das Gewicht auf den aufgesetzten Fuß und leitet es somit auf den Felsen über, der es statt ihrer trägt. Der reduzierte Muskeltonus wird dabei durch das Absacken des Nackens deutlich, wodurch die linke Schulter gegenüber der rechten deutlich abgesenkt ist. Der linke Arm ist – gewissermaßen in Verlängerung der völlig entspannten Schulter – in die Hüfte gestützt, welche ebenfalls abgesenkt ist und von dem eingeknickten linken Bein in keiner Weise hochgedrückt wird. Die Muse gibt sich dem Lasten ihres Körpers vollkommen hin. Für die Wiedergabe dieses entspannten Körpers spielt der Felsen, von dem die Muse ihr gesamtes Gewicht tragen lässt, eine entscheidende Rolle. Solche Felsen, die dem Aufstützen eines Fußes dienen, erscheinen in der Musenikonographie denn auch regelmäßig. Eine Schale des Kalliope-Malers in Erlangen mag dies illustrieren (Abb. 403).335 Von dieser Möglichkeit zur Wiedergabe des entspannt stehenden Körpers, welche unter den Möbeln nur der in der Ikonographie wenig geläufige Fußsche-

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mel ermöglichen würde, machen die Maler auch für die Darstellung gewöhnlicher Frauen Gebrauch. Ein Beispiel hierfür wäre das Schulterbild einer bereits erwähnten Olpe des Schuwalow-Malers (Abb. 392).336 Felsen eignen sich allgemein zur Darstellung der Hingabe an das Gewicht des eigenen Körpers, insofern sie die Anpassung des Körpers an dessen zufällige Formen zeigen können. Bei Sitzfelsen kann dies etwa durch die auf verschiedener Höhe abgesetzten Füße dargestellt werden.337 In diesen Funktionen transportiert der Felsen ein Bild freier, ungezwungener Haltung, das in die Welt der Musen und ihrer von musischer Tätigkeit erfüllten Muße bestens hineinpasst. An diese Glückswelt der Musen knüpfen die Felsen in Bildern bürgerlicher Frauen an. Eine solche mythische Bezugnahme ordnet sich gut in die allgemeine Entwicklung der Frauengemachsikonographie ab der Mitte des Jahrhunderts ein, wo neben der häuslichen Arbeit mit der Wolle immer mehr Bilder von Schönheitspflege, Musizieren oder ohne erkennbare Beschäftigung erscheinen.338 Konkrete Realitätsbezüge treten zugunsten eines ‚verklärten‘ Bildes der Frauen in den Hintergrund.339 Das beste Beispiel dafür ist die Tatsache, dass die Bilder von Eroten bevölkert werden, die häufig in Dienerfunktionen auftreten oder die Frauen bekränzen. Bezeichnend ist es nun, dass im mittleren 5. Jh. auch Eroten neuerdings mit Felsen dargestellt werden, und sie diese Felsen in die Frauenikonographien, in denen sie auftreten, oftmals mit einbringen. Auf einer Hydria um 450 in Kopenhagen etwa sitzt ein Eros mit Tympanon auf einem großen Felsen zwischen zwei Frauen (Abb. 404).340 Auf einer späteren Spitzamphora des Eretria-Malers hält ein Eros, der den Fuß auf einen Felsen setzt, einer sitzenden Frau auf der gegenüberliegenden Gefäßseite ein Kästchen hin (Abb. 405).341 In anderen Fällen fliegt ein Eros auf eine Frau zu, die ihrerseits auf einem Felsen sitzt oder den Fuß darauf stellt, wie im Innenbild einer Schale um 430 in Genf, wo ein Eros der auf einem Felsen Abb. 404 Ein Tympanon spielender Eros sitzt auf einem Felsen zwischen zwei Frauen. Hydria, Kopenhagen, Nationalmuseum, um 450

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Abb. 405 Ein Eros präsentiert einer sich schmuckenden Frau ein Kästchen und setzt dabei den Fuß auf einen Felsen. Die Figuren sind auf die zwei Seiten des Gefäßes verteilt. Spitzamphora des Eretria-Malers, Boston, Mus. of Fine Arts, 430–420

Abb. 406 Ein Eros bringt einer auf einem Felsen sitzenden Frau eine Leier. Schale in der Art des Malers von Heidelberg 209, Genf, Mus. d’Art et d’Histoire, um 430

Abb. 407 Ein Eros bringt einer sich ankleidenden Frau ein Gewand. Die Frau setzt beim Schnüren ihrer Schuhe den Fuß auf einen Felsen. Pelike des Washing-Malers, Paris, Louvre, um 430

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sitzenden Frau eine Leier bringt (Abb. 406),342 oder auf einer Pelike des Washing-Malers im Louvre, wo ein Eros einer sich ankleidenden Frau, die beim Schnüren des Schuhs den Fuß auf einen Felsen setzt, das Gewand reicht (Abb. 407).343 Auf einem Teller um 430 in Gießen ist es eine Nike, die sich einer auf einem Felsen sitzenden Frau von hinten mit einer Binde in den Händen nähert (Abb. 30).344 Stellt man sich die Frage, ob es sich in diesen Bildern um gewöhnliche Frauen oder um mythische Frauen handelt, wird das Verfließen dieser Kategorien deutlich.345 Den Frauen einen gewissen ‚mythischen Flair‘ zu verleihen, war in der Frauengemachsikonographie ab der Mitte des Jahrhunderts offensichtlich beabsichtigt. Ein besonders flagrantes Beispiel dafür ist die Pyxis in London, die eine gewöhnliche Frauengemachsszene zeigt, in der den Frauen allerdings die klingenden Namen Helena, Klytaimnestra, Kassandra, Iphigenie und Danae beigeschrieben sind (Abb. 408).346 Gerade dadurch, dass Felsen kaum eigene Semantik mehr transportieren, sondern nur ein gemeinsames Element der apollinischen, aphrodisischen und dionysischen Ikonographien darstellen, können sie der Frauengemachsikonographie diesen ‚mythischen Flair‘ verleihen, indem sie die bürgerlichen Frauen in die Nähe ihrer mythischen Schwestern rücken, der Musen, oder den in diesem Zeitraum weitgehend beruhigten Mänaden.

Abb. 408 ‚Frauengemachsszene‘. Den Frauen sind mythische Namen beigeschrieben: Helena, Klytaimnestra, Kassandra, Iphigenie und Danae. Pyxis eines Nachfolgers des Douris, London, British Mus., um 450

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Abb. 409 Zwei Mänaden im Gespräch. Eine setzt ihren Fuß auf einen Felsen. Pelike des Phiale-Malers, London, British Mus., 440–430 Abb. 410 Helena sitzt auf dem Schoß der Aphrodite auf einem Felsen. Sie wird überredet, die Beziehung einzugehen mit Paris, der wiederum von Eros bearbeitet wird. Spitzamphora des HeimarmeneMalers, Berlin, Antikensammlung, 430–420

Semantische Untersuchung

Letztere wurden in diesem Unterkapitel bisher nicht bedacht, doch wurde die Entwicklung der Landschaftselemente in Bildern des dionysischen Thiasos im mittleren 5. Jh., als die ‚wilden‘ Felsen des frühen 5. Jh. zugunsten zurückhaltender gestalteter Felsen aufgegeben wurden, im Unterkapitel zu den attributhaften Landschaftselementen bereits skizziert. Wie ähnlich die Gestaltungsweise von Felsen in dionysischen Bildern und Bildern der Musen nach der Jahrhundertmitte werden konnte, zeigt etwa der berühmte weißgrundige Kelchkrater des Phiale-Malers im Vatikan (Abb. 401).347 Auf beiden Seiten erscheinen ähnliche efeubewachsene Felsen mit phantastisch überzeichneten Konturen. Der von jeglicher Anstrengung freie Habitus der Musen trifft auf Mänaden oftmals auch zu, wie man es etwa auf einer Pelike des Phiale-Malers sieht, wo eine Frau mit Lyra in der Hand in entspannter Haltung den Fuß auf einen Felsen setzt und sich mit einer vor ihr stehenden und sich auf den Thyrsos stützenden Frau unterhält (Abb. 409).348 Ohne den Thyrsosstab wäre es hier unmöglich, zwischen Mänaden und Musen zu unterscheiden. Als weitere entscheidende Aspekte der von den Mänaden repräsentierten Gegenwelt, für die es in der Musenwelt keine unmittelbare Entsprechung gibt, kommen natürlich der Weinkonsum und der offene Umgang mit Angehörigen des männlichen Geschlechts, den Satyrn, hinzu. Dennoch stehen die Gegen-, bzw. Glückswelten der Musen und der Mänaden, wenn auch mit je anderen Akzenten, zu einander in einem Kontinuum. In dieses Kontinuum tritt im späteren 5. Jh. verstärkt der Kreis der Aphrodite und ihrer Begleiterinnen ein, die, wie schon Eros, ebenfalls mit Felsen in Verbindung

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gebracht werden können. So ist es denn ein Fels, auf dem Aphrodite, die Helena auf ihrem Schoß hält, auf der kleinformatigen Amphora des Heimarmene-Malers in Berlin sitzt (Abb. 410).349 In diesem Kontinuum von Gegen-, bzw. Glückswelten können Felsen an jeder Stelle erscheinen. Ihr gänzlich unspezifischer ikonographischer Gebrauch in sämtlichen Gegenwelten, welche die attische Vasenmalerei aufzubieten hat – man vergesse hier nicht die latent weiterlaufenden traditionellen Verwendungen von Felsen als Attribute wilder Wesen oder gewalttätiger Zivilisationsfeinde wie etwa in Theseusikonographien –, macht sie zu einem allgemein mythisierenden Element. In dieser Funktion haben die Felsen keine pointierte Bedeutung mehr und werden zu einem ausgesprochen ‚schwachen‘ Bildmotiv. So ist es kein Wunder, dass die Felsen in dieser Funktion im Laufe der zweiten Jahrhunderthälfte mehr und mehr durch Geländelinien ersetzt werden, die zwar dieselbe Loslösung der Figuren von der Grundlinie und der strengen Architektur der Vase bewirken und die der Darstellung der Figuren in entspanntem Habitus sogar noch viel größere Möglichkeiten eröffnen, bei denen dafür aber das gegenständliche Motiv des Felsens selbst wegfällt. Musste man mit dem Motiv des Felsens trotz allem noch sorgfältig haushalten, um die Konnotation der wilden Natur in den Bildern der ganz 1und gar nicht wilden Frauenfiguren nicht dennoch aufscheinen zu lassen, hatte man solche Beschränkungen mit Geländelinien nicht mehr, bleiben sie doch stets eine leere Projektionsfläche für die Bedürfnisse der Figuren. Diese Geländelinien werden Thema des folgenden Kapitels sein.

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Geländelinien und ihre Bedeutung im Bild

Tongrundige Felsen und Geländelinienformen: Ein Gegensatzverhältnis? Am Schluss des letzten Kapitels wurde darauf hingewiesen, dass in der zweiten Hälfte des 5. Jh. die Felsen, welche in Bildern von Musen oder Mänaden um die Jahrhundertmitte zahlreich erschienen, mehr und mehr von Geländelinien ersetzt werden. Dieses Phänomen wurde damit erklärt, dass das gegenständliche Motiv des Felsens in diesen Bildern keine pointierte Bedeutung mehr aufweist, und folglich mit der Substitution durch Geländelinien, welche die Zwecke, denen die Felsen dienten, genauso gut oder besser erfüllen, nicht viel verloren ging. Dieses Erklärungsmodell impliziert, dass zwischen tongrundigen Felsen und Umrissfelsen kein Gegensatzverhältnis besteht, sondern beides grundsätzlich austauschbar ist, und ausgehend von dieser Austauschbarkeit das weitgehend überflüssige gegenständliche Motiv des Felsens gewissermaßen herausgekürzt werden konnte. Nun zeigen einige Bilder des mittleren und späteren 5. Jh., in denen tongrundige Felsen und Geländelinien nebeneinander erscheinen, und die Wahl der jeweiligen Technik ganz offensichtlich bewusst getroffen wurde, dass die Austauschbarkeit beider Darstellungsweisen zumindest nicht immer zutrifft. Eine Oinochoe des Mannheimer Malers um 450–440 in London zeigt auf dem Halsbild einen Satyrn, der sich an eine schlafende Mänade heranschleicht (Abb. 411).1 Während sich der Satyr mit der linken Hand auf einen tongrundigen Felsen stützt, ist die Bodenerhöhung, auf der die Mänade liegt, nicht tongrundig dargestellt. Da der Fels, auf dem sich der Satyr abstützt, sehr niedrig ist, verändert er die Haltung des Satyrn nur minimal.2 Wenn der Maler ihn in das Bild eingefügt hat, ging es ihm also um das Motiv des Felsens selbst, mit dem er den Satyrn in Verbindung bringen wollte. Anders als die meisten schlafenden Mänaden des früheren 5. Jh.,3 liegt die Mänade hier in ruhiger und züchtiger Haltung auf einer Bodenerhöhung, die dem entspannten Liegen vollkommen

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angepasst ist. In die Gegenüberstellung des Satyrn, der seine tierische Natur durch das lüsterne Heranschleichen deutlich macht, und der ganz und gar nicht wilden Mänade, fügt sich der nur für den Satyrn tongrundig dargestellte Felsen als Wildheitsattribut ganz offensichtlich ein. Die Wahl der Darstellungstechnik ist hier also von inhaltlichen Gesichtspunkten geleitet, und beide Techniken sind nicht austauschbar. Auf einem fragmentarischen Kelchkrater des Kadmos-Malers in Bologna mit dem Wettkampf zwischen Apollon und Marsyas steht der Gott auf einer Geländelinie, während der flötende Silen auf einem tonrundigen Felsen sitzt, ebenso wie der zuhörende Hermes den linken Fuß auf einen tongrundigen Felsen setzt.4 Wie auf der Oinochoe des Mannheimer Malers wurden hier die beiden Optionen zur Darstellung von Felsen für die gegensätzliche Charakterisierung der entsprechenden Figuren eingesetzt, wobei dem mit Reisehut, Chlamys und Schürschuhen bekleideten Hermes – dem Gott des ‚Draußen‘ – wie Marsyas ein tongrundiger Fels beigefügt wurde. Ein Beispiel für den selektiven Gebrauch des Motivs des tongrundigen Felsens mit dem Ziel einer gegensätzlichen Charakterisierung verschiedener Figuren im Bild ist auch ein Glockenkrater vom Ende des 5. Jh. mit Theseus vor Sinis (Abb. 412).5 Während Sinis auf einem tongrundigen Felsen sitzt, hat der vor ihm stehende Theseus seinen Fuß auf erhöhtes, nicht tongrundiges Gelände gesetzt. Dass in diesem Bild, welches den Moment vor dem eigentlichen Kampf wiedergibt und ganz auf das face à face der beiden Kontrahenden konzentriert ist, die jeweilige Wahl der Darstellungstechnik der Felsen für die Figuren signifikant ist, und den Räuber und Zivilisationsfeind Sinis vom ‚héros civilisateur‘ Theseus absetzt, ist unbestreitbar. Diese Beispiele zeigen, dass tongrundige Felsen bis ins späte 5. Jh. trotz der allgemeinen Tendenz zur Entsemantisierung eine prägnante Bedeutung als Element der wilden Natur behalten können, wenn sie Umrissfelsen direkt gegenübergestellt werden und in einem narrativen Kontext ste-

Abb. 411 Ein Satyr schleicht sich an eine schlafende Mänade heran. Während er sich auf einen tongrundigen Felsen stützt, liegt sie auf Geländelinien. Oinochoe des Mannheimer-Malers, London, British Mus., 450–440

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Semantische Untersuchung

Abb. 412 Theseus steht vor Sinis. Während Theseus seinen Fuß auf Geländelinien setzt, sitzt der Räuber auf einem tongrundigen Fels. Glockenkrater, Neapel, Mus. Nazionale, Ende 5. Jh.

hen, der eine solche Lektüre nahelegt – was bei den Themen der von einem Satyrn überfallenen schlafenden Mänade, des Wettkampfs zwischen Apollon und Marsyas und des Kampfes zwischen Theseus und Sinis zweifellos der Fall ist. Diesen insgesamt sehr seltenen Beispielen signifikanter Entgegensetzung von tongrundigem Fels und Geländelinienformation stehen v.a. im mittleren 5. Jh. Ikonographien gegenüber, in denen die tongrundige Darstellungsweise und die Geländelinientechnik zwei Optionen darstellen, zwischen denen die Maler scheinbar frei wählen können. So gibt es unter den Amazonomachien des mittleren 5. Jh., welche für Bodenerhebungen in der großen Mehrzahl Geländelinien verwenden, dennoch einige Beispiele tongrundiger Felsen, welche analoge Funktionen für die Figuren übernehmen. Auf einer Pelike der PolygnotGruppe in Syrakus mit einer berittenen Amazone, die auf einen griechischen Hopliten und einen Leichtbewaffneten zustürmt, setzt der Hoplit seinen linken Fuß auf einen tongrundigen Fels (Abb. 413).6 Für seine leicht geduckte Haltung, in der er in der Deckung seines Schildes bleibt, gibt es enge zeitgenössische Parallelen, wo der Hoplit den Fuß allerdings auf eine Geländelinienform setzt, wie etwa auf einem Stamnos des Epimedes-Malers aus der Polygnot-Gruppe in London (Abb. 231).7 In Kentauromachien der Zeit um 450–430 des Neapler Malers oder des Malers der Kentauromachie des Louvre stehen tongrundige Felsen und Geländelinien im umgekehrten quantitativen Verhältnis: Während die Mehrheit der Bilder tongrundige Felsen aufweist, ist auch die Verwendung von Geländelinien möglich, wie man es etwa auf einem Stangenkrater des Neapler Malers in Wien sehen kann (Abb. 414).8 Das nach dem Modell der berittenen Amazonomachien der Polygnot-Gruppe gestaltete Bild zeigt den vorderen Lapithen in einem außerordentlich labilen Stand auf Geländelinien. Ein Stangenkrater mit Kentauromachie desselben Malers in Bologna

Geländelinien und ihre Bedeutung im Bild

483 Abb. 413 Zwei Griechen erwehren sich des Angriffs einer berittenen Amazone. Der Vordere setzt seinen Fuß auf einen tongrundigen Felsen. Pelike der Polygnot-Gruppe, Syrakus, Mus. Archeologico, 450–440 (Rückseite: Abb. 453)

Abb. 414 Ein Kentaur stürmt auf zwei Griechen zu. Hier sind sämtliche Felsen in Geländelinien dargestellt. Stangenkrater des Neapler Malers, Wien, Kunsthistorisches Mus., 450–430

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Semantische Untersuchung

zeigt den vorderen Lapithen in einem ähnlich vorpreschenden, wenn auch stabileren Stand, wobei die Bodenerhebung, auf die er sein Knie und der hintere Lapith seinen Fuß setzt, hier tongrundig wiedergegeben ist (Abb. 358).9 Weder im Falle der Amazonomachien mit tongrundigen Felsen, noch im Falle der Kentauromachien mit Geländelinien bewirkt die untypische Wahl der Darstellungstechnik des Felsens irgendwelche gravierenden Veränderungen an den Figuren, die mit diesem tongrundig oder in Geländelinien dargestellten Felsen in Verbindung stehen: Die wehrhafte Verteidigungshaltung des Griechen gegen die anreitende Amazone ist auf der Syrakuser Pelike und dem Londoner Stamnos die gleiche, ebenso wie die ausgesprochen unsouveräne Haltung des (wohl dennoch siegreichen) Lapithen auf dem Krater in Wien der Haltung des Lapithen auf dem Krater in Bologna weitgehend entspricht. Ein Detail des Kraters in Bologna zeigt desweiteren, dass die Entscheidung des Malers, die Bodenerhöhung tongrundig wiederzugeben, erst während des Bemalungsprozesses gefallen ist: Der breite schwarze Streifen, mit dem die Figuren umrissen werden, ist hier auch um den Fuß des hinteren Lapithen gezogen, der auf dem Felsen steht, obwohl zwischen Fuß und Fels ein schmaler Umriss, der den Eindruck der Berührung von Fuß und Felsen nicht konterkariert, zu fordern wäre. Der Maler hatte also zuerst vor, die Bodenerhöhung, auf die der Lapith seinen Fuß setzt, durch eine Geländelinie anzugeben, mit der er den schwarzen Tonschlicker übermalen hätte können, und hat sich beim Ausfüllen der Zwischenräume mit schwarzem Firnis nach der Zeichnung der Figuren umentschieden und die Fläche des Felsens ausgespart. Besonders deutlich wird diese nachträgliche Planänderung am rechten Ende des Felsens, wo der Kontur des Felsens den Einschnitt des breiten Umrissstreifens der Ferse des vorderen Lapithen klar erkennen lässt. Wenn sich nun der Maler bei der Wahl der Darstellungstechnik des Felsens zu einem Zeitpunkt umentscheiden konnte, als die Figuren bereits angelegt (und wohl auch fertig gezeichnet) waren, war die Frage, ob der Felsen tongrundig oder im Umriss wiedergegeben wird, für die Figuren und ihre Interpretation offenbar nicht essentiell.10 In der Tat setzt eine Figur den Fuß nicht weniger auf einen Felsen, wenn dieser in Geländelinien dargestellt ist. Doch ist dann die Geländelinienform ein Felsen nur aus der Perspektive der Figur, die ihren Fuß darauf setzt, für sich selbst jedoch nur eine leere Linie.11 Der Unterschied zwischen einem Bild, in dem die Felsen tongrundig dargestellt sind, und einem Bild, in dem sich der Maler stattdessen einer Geländelinien bedient, liegt also schlicht darin, dass einmal im Bild das gegenständliche Motiv des Felsens erscheint, und einmal nur auf Felsen stehende Figuren erscheinen, nicht aber der Fels selbst. Daher ist es nur folgerichtig, dass sich die Maler in Amazonomachien, in deren Ikonographie Felsen bis dahin keinen festen Platz hatten,12 mehrheitlich für die Option ohne Felsen ent-

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scheiden, und es dagegen bei den Kentauromachien, in denen Felsen am Boden schon seit dem Beginn des 5. Jh. erscheinen, umgekehrt ist.13 Während sich die Maler um die Mitte des Jahrhunderts in den meisten Fällen entscheiden, in einem Bild entweder nur tongrundige Felsen oder nur Geländelinien darzustellen, und nur in wenigen Ausnahmen tongrundige Felsen und Geländelinien in einem Bild kombiniert werden, wird es am Ende des 5. Jh. üblicher, die Vorteile beider Darstellungsoptionen zu nutzen. So erscheinen auf einer Pelike aus dem Umkreis des Pronomos-Malers in Athen mit einer vertikal angeordneten Gigantomachie, in der die Götter die Giganten von oben herab bekämpfen, zwei tongrundige Felsen an der Grundlinie, auf die sich einmal ein stürzender Gigant abstützt und einmal ein kampfkräftig vorstürmender Gigant den Fuß aufsetzt (Abb. 238).14 Die Verwendung der Kompositionsweise in Geländelinien erlaubt es, den Kampf zwischen Göttern und Giganten in der vertikalen Anordnung der Kontrahenden als Kampf zwischen Himmlischen und Erdensöhnen überzeugend zu formulieren.15 Die Charakterisierung der teilweise mit Fellen bekleideten Giganten als wilde Erdensöhne wird gleichzeitig durch die Felsen im unteren Bildfeldabschnitt verstärkt. Auf einem Kelchkrater des späten 5. Jh. aus dem Schweizer Kunsthandel mit Herakles, der mit dem Kretischen Stier ringt und dabei von diversen göttlichen und sterblichen Figuren umgeben ist, wird die Geländelinienkomposition zur Anordnung der Figuren auf der gesamten Höhe des Bildfelds genutzt, während die abgelegte Keule des Herakles auf einem tongrundigen Felsen an der Grundlinie liegt, und so ein altes Motiv zur Formulierung des in der Wildnis agierenden Helden wieder aufgreift (Abb. 237).16 Auf einem Glockenkrater des Kadmos-Malers liegt ein Satyr-MänadenPaar auf Geländelinien, über denen ein Weinstock ebenfalls aus Geländelinien wächst, während links eine Mänade im Gespräch mit einem Satyrn ihren Fuß auf einen tongrundigen Fels setzt, und unterhalb der Liegenden ein isolierter tongrundiger Fels aus der Grundlinie hervorkommt (Abb. 415).17 Auch in diesem Geländelinienbild ist das konnotative Spektrum des Felsens, so schwach es auch sei, willkommen, weswegen das Motiv des Felsens ungeachtet dessen, dass andere Bodenformationen in Geländelinien wiedergegeben sind, in das Bild eingebracht wurde.18 Auch wenn von der vormals prägnanten Bedeutung des Felsens als Wildheitsattribut im späten 5. Jh. nur wenig übrig ist, kann dieses geringe Bedeutungspotenzial dennoch in solchen Bildern mobilisiert werden, in denen, wie hier, die Identität der Figuren oder die Ikonographie eine entsprechende Lesart eindeutig nahelegen. Hatten die Maler um die Mitte des 5. Jh., als Geländelinien in der Vasenmalerei noch neu waren, Hemmungen, die ‚Substanzlosigkeit‘ der Geländelinienformen durch die direkte Gegenüberstellung mit tongrundigen Felsen allzu deutlich vorzuführen – es sei denn, es ging ihnen gerade

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Semantische Untersuchung

Abb. 415 Zwei Paare von Satyr und Mänade. Der Fels, auf den eine Mänade ihren Fuß setzt, ist tongrundig, der, auf dem das zweite Paar sitzt dagegen im Umriss dargestellt. Glockenkrater des Kadmos-Malers, Paris, Louvre, 420–410

um diesen Kontrast, wie in den zuerst genannten Beispielen –, wurde die Verwendung beider Darstellungsoptionen des Felsens im selben Bild im späten 5. Jh. also unproblematisch. Man kann diese Entwicklung damit parallelisieren, dass im Laufe der zweiten Hälfte des 5. Jh. Geländelinien immer häufiger gar nicht erst gezeichnet wurden, sondern nur von der Haltung der Figuren impliziert waren. Diese Entwicklung liegt ganz und gar in der Logik des Gestaltungsmittels der Geländelinien, insofern deren gegenständliche Bedeutung von Anfang an äußerst schwach ausgeprägt war, und die Hinzufügung von tongrundigen Felsen in den Geländelinienbildern, in denen man sich Felsen wünschte, nur die Konsequenzen aus dem Fehlen eigenständiger Gegenständlichkeit der ‚Geländelinienfelsen‘ zieht. Dass die Geländelinientechnik und die tongrundige Darstellungsweise von Felsen grundsätzlich keine konkurrierenden Darstellungsweisen sind, sondern je nach den spezifischen Bedürfnissen einzelner Bilder oder Figuren die eine, die andere oder beide Darstellungsweisen verwendet werden konnten, erklärt auch, warum die Geländelinientechnik die tongrundigen Felsen nicht einfach verdrängt, sondern tongrundige Felsen bis ans Ende des 5. Jh. gelegentlich erscheinen: Da den Geländelinien die Gegenständlichkeit der tongrundigen Felsen fehlt, können sie diese nicht vollständig ersetzen, und wenn in einem Bild des späten 5. Jh. ein Fels tongrundig dargestellt wird, ist dies nicht einfach einer rückständigen Stilistik des Malers zuzurechnen, sondern muss in der inhaltlichen Deutung des Bildes berücksichtigt werden.19

Geländelinien und ihre Bedeutung im Bild

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Die friedliche Koexistenz von Geländelinienformen und Felsen bis in einzelne Bilder hinein lässt die Frage drängender werden, was man gewann, indem man das gegenständliche Motiv des Felsens durch Geländelinien ersetzte, wie es am Ende des 5. Jh. in der großen Mehrzahl geschieht. Wie sich die Wirkung eines Bildes, in dem Felsen durch Geländelinien ersetzt wurden, von einem analogen Bild mit tongrundigen Felsen unterscheidet, kann man sich anhand zweier etwa zeitgleicher Bilder mit der schlafenden Medusa, der sich Perseus nähert, klar machen. Ein Glockenkrater des Villa Giulia-Malers in Madrid zeigt die schlafende Gorgo auf einem tongrundigen Fels liegend, während sich Perseus von rechts und mit abgewendetem Blick heranschleicht. Das Bild bezieht seine Spannung aus der Möglichkeit eines plötzlichen Aufwachens der Medusa, wobei das versteinernde Gesicht der Gorgo wie immer frontal zum Betrachter gewendet ist, und so deren fürchterlichste ‚Waffe‘ für den Betrachter unmittelbar erlebbar ist (Abb. 417).20 Auf einer Hydria des Nausikaa-Malers in Richmond erscheint dieselbe Szene mit einigen Unterschieden, welche die Spannung der Szene weiter zuspitzen (Abb. 416):21 Die Medusa liegt mit dem Kopf nach rechts, so dass sich der heranschleichende Perseus direkt auf das Gorgonenhaupt, die Quelle der Gefahr, zubewegt. Anders als in den allermeisten anderen Bildern wendet er den Kopf nicht vollständig ab, sondern lässt den Blick offenbar nur über die Gorgone schweifen, so dass die Gefahr eines unachtsamen Blickes in die verhängnisvolle Richtung unmittelbarer vor Augen geführt wird. Das frontale Gesicht der Medusa ist außerdem deutlich überlebensgroß wiedergegeben, was deren erschreckenden Anblick steigert. Schließlich liegt die Gorgo hier auf Geländelinien. Obwohl diese den Körper der Medusa nur unwesentlich über das Niveau der Grundlinie heben, ist er dadurch von allen Seiten von schwarzem Firnis umgeben, was ihn aus dem dunklen Glanz der Vasenoberfläche umso mehr hervorstechen lässt. Das Weglassen des tongrundigen Felsens erzeugt somit eine Fokalisierung auf den Körper der Medusa. Diese Fokalisierung auf den aus dem schwarzen Firnis herausgeschälten Körper verhilft dem Bild zu einer gesteigerten Wirkung, ist es doch der Anblick der Medusa, von dem die größte Gefahr ausgeht. Neben diesem unmittelbar ästhetischen Fokalisierungseffekt, welcher auf dem Farbkontrast zwischen der hellen Figur und dem dunklen Vasengrund beruht, können Geländelinien auch eine Art inhaltlicher Fokalisierung auf den Habitus der Figur erzielen, welche ich an den Bildern der berittenen Amazonomachien der Polygnot-Gruppe exemplifizieren möchte. Die erwähnte Pelike in Syrakus ist eines der insgesamt fünf Beispiele von berittenen Amazonomachien der Jahre um 450–430, in denen statt der gewöhnlichen Geländelinien tongrundige Felsen erscheinen (Abb. 413).22 Der vordere der beiden Griechen, die dem Ansturm der berittenen Amazone begegnen, hat den linken Fuß auf einen Felsen gesetzt, der nicht

488 Abb. 416 Perseus nähert sich der schlafenden Medusa, die hier auf Geländelinien liegt. Hydria des Nausikaa-Malers, Richmond, Virginia Mus. of Fine Arts, um 450

Abb. 417 Perseus schleicht sich an die schlafende Medusa heran. Der Fels, auf dem sie liegt, ist tongrundig angegeben. Glockenkrater des Villa GiuliaMalers, Madrid, Mus. Arqueològico Nacional, 460–450

Semantische Untersuchung

Geländelinien und ihre Bedeutung im Bild

489 Abb. 418 Eine berittene Amazone stürmt auf einen Hopliten zu, der sich hinter seinem Schild verschanzt hat und seinen Fuß auf einen tongrundigen Felsen gesetzt hat. Glockenkrater der Polygnot-Gruppe, Neapel, Mus. Archeologico, um 450

größer ist, als er es für seine Funktion als Fußschemel sein muss. Dies gilt auch für den tongrundigen Felsen, auf den der Grieche seinen linken Fuß auf einem Glockenkrater mit Amazonomachie in Neapel setzt (Abb. 418).23 Diese Felsen entsprechen in ihrer Form dem Felsen, auf den ein Grieche seinen Fuß bereits auf dem Amazonomachie-Krater des Niobiden-Malers in Agrigent setzt (Abb. 108).24 Die ökonomische und zweckdienliche Form dieser Felsen weist sie jeweils als Bestandteil der Darstellung des Kriegers in wehrhafter Verteidigungshaltung aus, der vor dem Angriff des Feindes nicht zurückweicht. Der Felsen betont dabei die Festigkeit seines Stands und nimmt so an der Charakterisierung des Kriegers teil, wie eine im Bildfeld hängende Strigilis an der Charakterisierung eines Epheben teilnehmen kann. Ein Stamnos des Christie-Malers in London zeigt eine ganz analoge Szene wie die auf der Syrakuser Pelike, nur, dass der vordere Grieche seinen Fuß auf eine Geländelinie gesetzt hat (Abb. 419).25 Ebenso wie der Hoplit auf der Pelike in Syrakus hat sich der Krieger hier fest verschanzt, um aus der Deckung heraus einen gefährlichen Gegenangriff zu führen, doch hat der Maler dabei auf das gegenständliche Motiv des Felsens verzichtet und vertraut bei der Charakterisierung des Kriegers ganz auf die von ihm eingenommene Haltung, welche gegenüber der Syrakuser Pelike als Bedeutungsträger somit in den Vordergrund rückt. Nicht nur wird allerdings auf die Haltung des Kriegers inhaltlich fokussiert, auch wird sie als ein allgemeines Position Beziehen im Gelände formuliert: Es wird nicht die spezifische, nur diesen einen Krieger betreffende Handlung des Aufsetzens des Fußes auf einen Felsen gezeigt, sondern ein allgemeines, souveränes Agieren im Raum. Da dieses souveräne Agieren im Raum

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Semantische Untersuchung

Abb. 419 Amazonomachie. Der vordere Grieche setzt seinen Fuß in aggressiver Pose weit vor und hoch. Stamnos des ChristieMalers, London, British Mus., 450–430 (Rückseite: Abb. 441)

nicht an das gegenständliche Motiv des Felsens gebunden ist, kann es als Bildthema auch jene Figuren mit einbeziehen, die auf der Grundlinie stehen, insofern Geländelinien nur eine Vervielfältigung der Grundlinie sind, und das Stehen auf der Grundlinie oder auf Geländelinien nur zwei Spielarten des Stehens im Raum sind. In der Tat trifft die Beschreibung eines souveränen Agierens im Raum auch auf den Leichtbewaffneten in der zweiten Reihe zu, insofern beide in einer konzertierten Aktion gezeigt werden: Der Leichtbewaffnete hat die Bedrängnis seines Waffengefährten erkannt und eilt herbei. Doch auch die berittene Amazone nimmt am Agieren im Raum teil: Wie es der leicht über der Grundlinie aufsetzende hinterste Huf ihres Pferdes zeigt, reitet auch sie über unebenes Gelände. Der ‚kriegerische Agon‘ zwischen Amazone und Griechen wird um den Aspekt der Behauptung im Raum bereichert: Wird die Amazone in ihrem Abb. 420 Amazonomachie. Der vordere Hoplit weicht zurück, während der hintere Leichtbewaffnete offensiv auf eine Geländelinie vorschreitet. Stamnos der Polygnot-Gruppe, ehemals Paris, Privatbesitz, 450–430

Geländelinien und ihre Bedeutung im Bild

491 Abb. 421 Amazonomachie. Hier ist es das Pferd der Amazone, welche auf Geländelinien steht. Pelike des Polygnot, Syrakus, Mus. Archeologico, um 450 (Rückseite: Abb. 452)

gefährlichen Anreiten die beiden griechischen Fußsoldaten überrennen können, oder werden diese ihre Position halten und den Ansturm der Amazone bremsen? In diesem ‚Agon‘ um die Behauptung im Raum haben die Amazone und die griechischen Fußsoldaten ein sehr gegensätzliches Profil, insofern diese vorstürmt, und jene ihre Position zu halten versuchen. Dieses Grundschema der Auseinandersetzung zwischen anreitender Amazone und verteidigendem Hopliten wird in der PolygnotGruppe in vielen Varianten durchgespielt, wobei es durchaus sein kann, dass lediglich die Amazone über Geländelinien reitet, während die griechischen Fußsoldaten auf der Grundlinie stehen. Diese seltenere Option ist etwa auf einer Pelike des Polygnot in Syrakus gewählt worden (Abb. 421).26 In anderen Fällen ist es nicht der vordere, sondern der hintere, Beistand leistende Grieche, der den Fuß auf eine Geländelinie setzt, wie auf einem heute verschollenen Stamnos der Polygnot-Gruppe, auf dem der vordere Hoplit (mit gleichwohl gefährlicher Lanzenführung) vor dem Ansturm der Amazone zurückweicht, und der von hinten anrückende Leichtbewaffnete einen Fuß offensiv auf eine Geländelinie vorsetzt (Abb. 420).27 Manchmal stehen alle Figuren im Gelände, wie auf einem Stamnos aus dem Kreis der Polygnot-Gruppe in Bologna.28 Nun wird man nicht behaupten wollen, dass in Bildern mit tongrundigen Felsen festes Positionbeziehen, wehrhafte Verteidigungshaltungen

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Semantische Untersuchung

und die agonale Behauptung der Figuren im Raum überhaupt nicht Thema seien. Auf die oben besprochene Pelike in Syrakus mit tongrundigem Felsen würden diese Stichworte ebenso passen. Allgemein kann man nicht bestreiten, dass es sich bei den Amazonomachien der Jahre um 450–430 um eine homogene ikonographische Gruppe handelt, in der Bilder mit tongrundigen Felsen nicht aus dem Rahmen fallen. Es ist also nicht ratsam, die Unterschiede zwischen Geländelinienbildern und Bildern mit tongrundigen Felsen künstlich aufzubauen. Ich möchte sogar behaupten, dass die Verwendung des Motivs des Felsens, auf den ein Krieger im Kampf den Fuß setzt, um sich dahinter zu verschanzen, bzw. um einen sicheren Stand zu bekommen, und die Verwendung der Geländelinien – beides beginnt nicht zufällig im selben Zeitraum29 – Symptome eines selben, im mittleren Drittel des 5. Jh. erwachenden Interesses von Maler und Publikum an differenzierterer und ausdrucksstarker Darstellung des Habitus der Figur im Raum sind, dem nur mit unterschiedlichen Mitteln entsprochen wurde.30 Der Unterschied zwischen Amazonomachien mit Felsen und mit Geländelinien ist also kein allgemein thematischer sondern ein Unterschied darin, wie dieses Thema in eine überzeugende bildliche Form gebracht wird. Dabei erweisen sich die Geländelinien den tongrundigen Felsen in mehrerer Hinsicht überlegen: (1) Statt das Aufsetzen des Fußes auf den Felsen als spezifische Handlung einer Figur darzustellen, zeigen sie allgemeines Agieren der Figuren im Raum, ohne dabei auf eine Figur im Besonderen zu fokussieren. (2) Geländelinien treten als eigenes Motiv kaum hervor und überlassen alle Aufmerksamkeit des Betrachters dem Habitus, welche die Figuren im Kampf einnehmen. (3) Durch die unbegrenzte Flexibilität der Geländelinien erlauben sie es, Stehen und Agieren der Figuren im Raum in den unterschiedlichsten Spielarten darzustellen. Wenn es darum ging, das Wie des Stehens im Raum zu formulieren, konnte das gegenständliche Motiv des Felsens dagegen von keinem großen ikonographischen Nutzen sein.31 Um auf die diesem Unterkapitel überschriebene Frage zurückzukommen, kann man sagen, dass tongrundige Felsen und Felsen, die durch Geländelinien umrissen sind, nicht zwei gleichwertige Weisen sind, einen Felsen dazustellen. Ihre ikonographische Gleichwertigkeit täuscht über den entscheidenden Unterschied hinweg, dass im Falle der Geländelinienform dessen ikonographische Bedeutung keine oder nur eine völlig untergeordnete Rolle spielt. Tongrundige Felsen und Geländelinien stellen nicht Anderes dar, haben keine gegensätzliche Semantik, sondern sie setzen den Akzent im Bild anders. Vereinfacht könnte man es folgendermaßen formulieren: Tongrundige Felsen lenken die Aufmerksamkeit des Betrachters darauf, dass eine Figur, statt auf der Grundlinie zu stehen, auf einem Felsen steht. Indem sich Geländelinien dagegen ganz in den Dienst der Figur

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stellen, und kein eigenes ikonographisches Gewicht beanspruchen, lenken sie die Aufmerksamkeit des Betrachters auf das Stehen der Figur selbst, auf den Habitus, den die Figur im Raum einnimmt.

Geländelinien und der Habitus der Figur im Raum Der Schluss des letzten Unterkapitels fordert, sich diesem Habitus der Figur im Raum und der Rolle, die dabei Geländelinien übernehmen, zuzuwenden, was im Folgenden geschehen soll.32 An den behandelten Amazonomachien der Polygnot-Gruppe wurden die kraftvollen Haltungen, in denen die Griechen dem Ansturm der Reiterinnen begegnen, bereits hervorgehoben. Stellt man nun den Stamnos des Christie-Malers in London (Abb. 419),33 den Stamnos des Epimedes-Malers in London (Abb. 231),34 einen Stangenkrater in Würzburg (Abb. 422)35 und den verschollenen Stamnos der Polygnot-Gruppe (Abb. 420),36 mithin vier Beispiele einer eng zusammengehörigen Ikonographie der berittenen Amazonomachie, nebeneinander, so fällt auf, dass die jeweilige Haltung des vorderen (oder einzigen) Hopliten mit allen Abstufungen von einer kraftvollen, offensiven Vorwärtsbewegung bis zu einem geschmeidigen Sich-ZurückfallenLassen reichen kann. Im ersten Fall hat der vordere der beiden Griechen den linken Fuß auf eine erhöhte Geländelinie vorgesetzt, wobei der rechte Fuß nur mit dem Ballen auf der Grundlinie steht. Er ist somit in einer Vorwärtsbewegung gezeigt, die jedoch nicht den Beginn eines Laufes bezeichnet, sondern mit dem Aufsetzen des linken Fußes auf die Bodenerhebung bereits wieder gebremst wird. Die Haltung des Hopliten, welche sowohl das offensive Element einer Vorwärtsbewegung, als auch das defensive Element eines Anhaltens durch festes Aufsetzen des Fußes auf erhöhtem Grund beinhaltet, zeigt ein ebenso dynamisches, wie festes Stehen im Gelände. Der Stamnos des Epimedes-Malers zeigt grundsätzlich eine analoge Haltung, wobei im Detail andere Akzente gesetzt werden. Hier setzt der Grieche seinen Fuß auf eine deutlich niedrigere Bodenerhebung und erscheint in seinem Auftreten dadurch vorsichtiger. Anders als auf dem Stamnos des Christie-Malers ist das rechte Knie angewinkelt, und signalisiert dadurch die Elastizität seines Standes und seine Bereitschaft, jederzeit einen strategischen Rückzug anzutreten. Auf dem Stangenkrater in Würzburg ist die Bodenerhebung, auf die der vordere Hoplit seinen Fuß setzt, nochmals niedriger. Die Lanze, welche im ersten Fall im erhobenen Arm horizontal, und im zweiten Fall im halb erhobenen Arm leicht ansteigend geführt wurde, hält der Hoplit hier im vollständig gesenkten Arm steil auf den Körper der Amazone zu. Statt der affirmativen Geste des offensiv erhobenen Lanzenarmes wird hier ein unscheinbarer, aber nicht minder gefährlicher Gegenangriff des Hopliten gezeigt. Auf

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Abb. 422 Amazonomachie. Die Griechen treten verhalten offensiv auf. Stangenkrater der PolygnotGruppe, Würzburg, Martin von Wagner Mus., 450–430

dem verschollenen Stamnos der Polygnot-Gruppe schließlich verzichtet der Maler beim vorderen Griechen ganz auf das Motiv des aufgesetzten Fußes und lässt diesen zurückweichen, während der offensivere Habitus mit aufgesetztem Fuß dem hinteren Leichtbewaffneten überlassen wird. Doch auch der zurückweichende Hoplit bleibt der Amazone durch seine Lanzenführung gefährlich und wird voraussichtlich den Sieg davontragen.37 Man sieht an diesen Beispielen, dass das Gestaltungsmittel der Geländelinien nicht dazu genutzt wird, Sieger- und Unterlegenenposen mit größerer Deutlichkeit und Polarisierung wiederzugeben, sondern umgekehrt dazu genutzt wird, feine Abstufungen zwischen diesen beiden Polen zu machen und Posen differenzierter wiederzugeben, wobei es durchaus sein kann, dass ein schwach auftretender Krieger dennoch den Sieg davontragen wird. Daran lässt sich ein grundsätzlicher Wandel in dem ablesen, was der von einer Figur eingenommene Habitus im Bild darstellt: Das

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habituelle Auftreten einer Figur ist nicht mehr nur eine gewissermaßen attributive Eigenschaft dieser Figur, welche sich unmittelbar und eindeutig aus deren Rolle im Bild ergibt, so wie dem Sieger die Siegerpose und dem Unterlegenem die Unterlegenenpose gebührt, sondern es wird nun mit dem habituellen Auftreten der Figuren bewusst gespielt: Das starke Auftreten der Amazonen kann darüber hinwegtäuschen, dass sie geradewegs in die Lanzen ihrer Gegner hineinreiten, oder das Zurückweichen des Griechen kann unverhofft zum Sieg führen. Der Habitus der Figur geht somit in die ‚Verhandlungsmasse‘ ein, mit welcher der Maler beim Konzipieren des Bildes spielen kann und wird Gegenstand einer bewussten Gestaltung. Die Haltung der Figur verliert an Signifikanz – man kann den Sieger nicht mehr unbedingt an seiner Haltung erkennen – gewinnt dafür aber an Komplexität. Diese Komplexität löst sich erst auf, wenn man sie im Kontext des gesamten Bildes liest. Der zurückweichende Krieger des verschollenen Kraters wirkt, isoliert betrachtet, nur wie ein schändlich fliehender Hoplit.38 Im Rahmen seiner Interaktion mit der anreitenden Amazone, die im nächsten Moment von der Lanze durchbohrt werden wird, bekommt dieses Zurückweichen jedoch einen anderen Sinn: Das vermeintliche Zeichen von Schwäche wird zum strategischen Rückzug, der die Klugheit des Kriegers zum Ausdruck bringt, durch die sich der Tapfere vom Tollkühnen unterscheidet. Auch wenn also der Sieger nicht mehr unbedingt kraftvoll auftritt, und man dem Unterlegenen die Schwäche nicht mehr ansieht, bleibt das habituelle Auftreten einer Figur ein Mittel zu ihrer Charakterisierung, wobei – und das ist entscheidend – diese Charakterisierung im Medium der Interaktion geschieht: Die Figur wird in ihrer Interaktion mit anderen Figuren charakterisiert. Der Habitus der Figur betrifft also nicht nur die einzelne Figur, sondern auch deren Interagieren mit anderen Figuren, mithin den räumlichen Zusammenhang, in dem die Figuren eines Bildes stehen, insofern sich das Zusammenwirken der Figuren im Bild in der Gestaltung der einzelnen Figur niederschlägt. Der Gebrauch von Geländelinien, welcher das habituelle Auftreten der Figuren stärker in den Blickpunkt rückt, dient also auch dazu, die Figuren auf überzeugendere Weise in einen Interaktionsraum zusammenzuspannen. Da nun sowohl das Auftreten des einzelnen Kämpfers, als auch die zugespitzte Interaktion der Figuren untereinander in jeder Kampfikonographie von entscheidender Bedeutung sind, verwundert es nicht, dass Geländelinien nicht nur in Amazonomachien, sondern ab der Jahrhundertmitte auch in Kentauromachien zum Einsatz kommen. In den Bildern des Neapler Malers oder des Malers der Kentauromachie des Louvre, die meist nur eine oder zwei Kampfgruppen zeigen, den berittenen Amazonomachien der Polygnot-Gruppe somit strukturell ähneln, und die noch den althergebrachten Kampf mit Bäumen und Felsen zeigen, finden sich ab der Mitte des 5. Jh. (also kaum später als in den

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Abb. 423 Kentauromachie. Die Funktion der (hier tongrundigen) Felsen bei der Inszenierung der Figuren ist dieselbe wie in den Amazonomachien der Polygnot-Gruppe. Stangenkrater des Neapler Malers, Neapel, Mus. Archeologico, um 440

Amazonomachien) Geländelinien und funktional analoge tongrundige Felsen. Man sieht dies etwa auf dem namensgebenden Stangenkrater des Neapler Malers mit zwei tongrundigen Felsen, auf die die beiden Lapithen je einen Fuß setzen (Abb. 423),39 oder auf dem ebenfalls namengebenden Stangenkrater des Malers der Kentauromachie des Louvre mit einem entsprechenden tongrundigen Fels (Abb. 359).40 Bezeichnender ist aber noch, dass sich auch die Kentauromachien in der neuen Ikonographie, welche den Kampf bei der Hochzeit des Perithoos zeigen, zuweilen der Geländelinien bedienen, wie es das Kraterfragment des Niobiden-Malers in Berlin und die späteren Beispiele von Saalschlachten mit Geländelinien zeigen (Abb. 207).41 Dass der Kampf hier im Bankettsaal stattfindet, und die Geländeunebenheiten somit keine Referenz in der dem Bilde zugrunde liegenden Geschichte haben, scheint zweitrangig gewesen zu sein. Die Maler wollten auf die neuen Gestaltungsmöglichkeiten, welche die Geländelinien zur Verfügung stellten, offenbar auch bei diesem Thema nicht verzichten. Die Darstellung des entspannten Habitus Ein ganz anderes Feld, in dem Geländelinien ihr Potenzial als Gestaltungsmittel voll ausbilden, ist die Darstellung von entspanntem, weichem und mühelosem Habitus. Auch wenn sich, wie wir noch sehen werden, diese Verwendung der Geländelinien erst im späten 5. Jh. ganz entfalten wird, liefert der Maler der Zottigen Silene aus der Gruppe des NiobidenMalers dafür bereits ein frühes Beispiel auf einem Kelchkrater in Palermo mit dem ausruhenden Herakles nach dem Löwenkampf (Abb. 424).42 Für

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dieses außergewöhnliche Thema, das erstmals in einer Metope des ZeusTempels in Olympia dargestellt wurde und in der attischen Vasenmalerei einzigartig ist,43 hat sich der Maler des neuen Mittels der Geländelinien bedient, indem er Herakles oberhalb des auf der Grundlinie liegenden toten Löwen auf Geländelinien sitzend dargestellt hat. Herakles hat die Beine auf unterschiedlicher Höhe abgesetzt, stützt beide Ellbogen auf sein linkes Knie, und lässt zusätzlich seine rechte Hand auf der im Gelände abgestellten Keule ruhen. Dieser ausgesprochen entspannte, für Herakles untypische Habitus mit seinen frei in verschiedene Richtung ausgebreiteten Gliedern ist nur mithilfe von Geländelinien möglich.44 Die Passivität des Helden wird zusätzlich durch seine Frontalität betont, die ihn von der Interaktion der beiden links anschließenden, sich unterhaltenden Figuren, bei denen es sich wohl um Iolaos und Eurystheus handelt, ausschließt.45 Eine ähnliche Kombination von Sitzen auf Geländelinien mit aufgestütztem Ellbogen und Frontalität, welche das Interaktionskontinuum des Bildes bricht, findet sich auf einer Halsamphora des TropaionMalers in London, wo es Athena ist, die in dieser für sie untypischen,46 passiven Rolle erscheint und wohl beim Nachdenken gezeigt werden soll (Abb. 425).47 Der entspannte, von jeder Mühe befreite Habitus, der bei der Figur des Herakles seinen Reiz aus dem Kontrast zu dessen mühevollen Taten bezieht, wird bei vielen anderen, meist weiblichen Figuren geradezu zu einem Wesensmerkmal. Dies gilt etwa für Musen und die Begleiter/innen von Dionysos und Aphrodite. Wie es sich im vorhergehenden Kapitel v.a. an Musenbildern gezeigt hatte, werden tongrundige Felsen mit ihrer beliebig wählbaren Form dazu genutzt, diesen Figuren Auflager für einen aufgestützten Fuß oder eine aufgestützte Hand (beim Sitzen) zur Verfügung zu stellen, und dienen so der Inszenierung entspannter und müheloser Haltung.48 Es wurde jedoch bereits darauf hingewiesen, dass die tongrundigen Felsen, welche in diesen Ikonographien erscheinen, seit der Mitte des 5. Jh. mehr und mehr von Geländelinien ersetzt werden.49 Die Haltungen, welche Geländelinien den Figuren ermöglichen, unterscheiden sich oft nicht von analogen Haltungen auf tongrundigen Felsen, wie man es auf einer Hydria aus dem Umkreis des Frauenbad-Malers in Berlin mit vier Musen sieht (Abb. 239).50 Zwei der Musen sitzen ohne besondere Auffälligkeiten im Gelände, eine dritte hat ihren Fuß auf erhöhtes Gelände gesetzt, in einer Haltung, wie sie ganz ähnlich auf der im letzten Kapitel beschriebenen polygnotischen Hydria mit tongrundigem Felsen erscheint.51 Außer der Tatsache, dass die Geländeformationen, wären sie tongrundig dargestellt, ein erhebliches Gewicht im Gesamteindruck des Bildes erhalten würden – man stelle sich allein die Fläche des Felsens der in erhöhter Position sitzenden, Lyra spielenden Muse vor –, wäre dieses Bild auch mit tongrundigen Felsen gut denkbar. Wenn der Maler die Op-

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Abb. 424 Herakles ruht nach dem Kampf mit dem Löwen. Er sitzt in mehrfach aufgestützter Haltung auf Geländelinien. Kelchkrater des Malers der Zottigen Silene, Palermo, Slg. Mormino, um 450

tion der Geländelinien den tongrundigen Felsen vorgezogen hat, wollte er vermutlich ebenjenes ästhetische Gewicht vermeiden, was die tongrundigen Felsen erhalten würden, und mit dem sie vom Wesentlichen des Bildes, nämlich den Musen und ihrem ‚musischen‘ Treiben, ablenken würden. Auch andere, besonders häufig wiederkehrende Haltungsmotive funktionieren sowohl mit Geländelinien als auch mit tongrundigen Felsen, wie das Motiv der rückwärtig aufgestützten Hand bei sitzenden Figuren. Man findet es auf einer Hydria des Villa Giulia-Malers mit Apollon und Musen, von denen eine die entsprechende Sitzhaltung auf einem tongrundigen Fels einnimmt (Abb. 29),52 oder auf einer Hydria der Polygnot-Gruppe in Basel mit der Auffindung des Kopfes des Orpheus, wo eine Muse diese selbe Sitzhaltung auf Geländelinien eingenommen hat (Abb. 426).53 Im Falle der Sitzhaltung mit rückwärtig aufgestütztem Ellbogen, welche in Geländelinienbildern ebenfalls sehr häufig erscheint, gibt es eine motivische Entsprechung nicht mit dem Sitzen auf tongrundigem Fels, sondern mit dem Sitzen auf einem Klismos, bei dem ein Arm auf der Rückenlehne liegt. Der sich umblickende Eros auf dem Poseidon-Amymone-Fries des Kelchkraters des Nekyia-Malers in Wien (Abb. 213)54 sitzt auf seiner Geländelinie exakt so, wie die sich zu einem sie ansprechenden Mann umwendende Frau auf einem Klismos auf einer Hydria des Orpheus-Malers in New York (Abb. 427).55 Die entspannten Haltungsmotive von Figuren im Gelände ließen sich also oft auch mithilfe von tongrundigen Felsen oder Sitzmöbeln darstellen. Wenn dies in den entsprechenden Bildern nicht geschieht, dann muss der Grund dafür sein, dass es den Malern in diesen Bildern um die Haltung der Figur für sich genommen ging, und sie folglich weder Felsen, noch Stühle darstellen wollten.

Geländelinien und ihre Bedeutung im Bild

499 Abb. 425 Athena in nachdenklicher Pose, mit aufgestütztem Kinn auf Geländelinien sitzend. Neben ihr steht eine Frau mit ebenfalls aufgestütztem Kinn. Halsamphora des Tropaion-Malers, London, British Mus., 450–440

Besonders eindeutig ist das, wenn der für das Haltungsmotiv zu fordernde Felsen eine besonders ungewöhnliche und somit auffällige Form haben müsste. Auf einem Glockenkrater des Pothos-Malers um 430–420 in Heidelberg mit dem Wettkampf zwischen Apollon und Marsyas steht am rechten Bildrand eine Muse, die sich mit dem rechten Ellbogen auf eine Geländeformation stützt, welche steil vor ihr hochragt (Abb. 233).56 Wäre diese höchst artifizielle ‚Armstütze‘ tongrundig dargestellt, würde sie zu einem Blickfang, der den Betrachter vom Wesentlichen, der Figur in ihrer anmutsvollen Haltung, ablenken würde.57 Dasselbe gilt für die Geländeformation, auf der ein Satyr auf einem weiteren Glockenkrater des Pothos-Malers mit seinem linken Ellbogen seitlich lehnt (Abb. 428).58 Auch hier hat der Felsen, an dem der Satyr lehnt, eine unmögliche Form. Wäre der Felsen tongrundig wiedergegeben, riefe dieser nach einer Erklärung, die die vollkommen unspektakuläre Figur des Satyrn jedoch nicht geben könnte: Er steht angelehnt – woran er lehnt, spielt keine Rolle.59

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Abb. 426 Auffindung des Kopfes des Orpheus im Kreise der Musen. Die sich umwendende Muse sitzt in einer Haltung, wie sie auch für das Sitzen auf tongrundigen Felsen typisch ist. Hydria der Polygnot-Gruppe, Basel, Antikenmuseum, um 440 Abb. 427 ‚Frauengemachsszene‘. Eine auf einem Klismos sitzende Frau wendet sich zu einem Mann um und legt ihren Arm auf die Stuhllehne. Dieselbe Sitzhaltung findet sich auf Geländelinienbildern. Hydria des OrpheusMalers, New York, Metropolitan Mus., um 440

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Sucht man den Corpus der Vasen des späteren 5. Jh. nach analogen Haltungen durch, die eine ‚unmögliche‘ Felsformation voraussetzen, welche folglich in Geländelinientechnik dargestellt ist, wird man schnell und reichlich fündig. Waren um die Mitte des 5. Jh. die allermeisten Geländelinienformen solche, die ohne weiteres auch tongrundig wiedergegeben werden könnten, so nutzen die Maler im letzten Jahrhundertdrittel die Möglichkeit, durch Geländelinien auch die unwahrscheinlichsten Bodenund Felsformationen darzustellen, ohne dem Auge des Betrachters zum skandalon zu werden, ausgiebig. Das Ziel, das die Maler dabei verfolgen, lässt sich eindeutig benennen: Es geht um eine möglichst vielfältige Darstellung von angelehntem und abgestütztem Habitus. Eine Bauchlekythos des Eretria-Malers um 430–420 mit Dionysos und zahlreichen Satyrn und Mänaden kann dies gut exemplifizieren (Abb. 232):60 Von den 13 Figuren, die gleichmäßig über den Gefäßbauch verteilt im Gelände sitzen, stehen oder liegen, gleicht keine der eingenommenen Haltungen ganz der anderen. Das ist in einer Bildkunst, die nicht auf der ‚akademischen‘ Fähigkeit basiert, jede mögliche Haltung von einem lebenden Modell abzumalen, sondern auf der Beherrschung einer bestimmten Anzahl von Figurentypen aufgebaut ist, durchaus bemerkenswert, und zeigt an, dass in dieser Vielfalt der Haltungen ein bewusstes Bemühen des Malers zu erkennen ist. Mit Ausnahme zweier in ‚dionysischer Trance‘ befindlicher Mänaden61 und eines Satyrn, der sich einer Mänade nähert, ist allen Figuren gemeinsam, dass sie weitgehend handlungslos und in ausgesprochener Ruhehaltung erscheinen. Der reduzierte Körpertonus der Figuren wird durch eine Kumulation der Stützmotive zur Anschauung gebracht: Die Mänade „Chrysis“ hat den Fuß auf eine

Geländelinien und ihre Bedeutung im Bild

501 Abb. 428 Wettstreit zwischen Apollon und Marsyas, der entspannt an einem in Geländelinien angegebenen Felsen lehnt. Glockenkrater des Pothos-Malers, Paris, Cabinet des Médailles, 430–420

Bodenerhöhung gesetzt, und lässt den Arm auf dem erhöhten Knie ruhen. Die ihr gegenüber sitzende Mänade „Kisso“ hat den Ellbogen auf den Oberschenkel gesetzt und stützt den Kopf auf ihre Hand. Die rechts anschließende, ebenfalls sitzende „Antheia“ lehnt sich zurück auf den aufgestützten rechten Arm. Die Mänade „Makaria“ ist halb sitzend, halb liegend, auf ihren linken Ellbogen gestützt. Die sitzende „Periklymene“ braucht beide Hände zum Trommeln, doch hat sie als Zeichen entspannten Sitzens die Beine übereinander geschlagen. Dionysos sitzt mit abgestütztem rechten Ellbogen. Der neben ihm sitzende Satyr hat die Arme, soweit die beschädigte Oberfläche dies erkennen lässt, in den Schoß gelegt. Die liegende „Choro“ hat den Kopf in die verschränkten Arme gelegt. Schließlich lehnt die stehende Mänade „Kale“ mit beiden Ellogen auf einer vor ihr aufragenden Geländeformation. Die Figurenlandschaft, welche auf der Bauchlekythos ausgebreitet ist, zeigt eine Welt ohne Mühe und Anstrengung, in der sich die Figuren nicht aus eigener Kraft halten, sondern sich stattdessen dem Gewicht des Körpers und der Morphologie des Geländes, auf das sie sich stützen, hingeben. Stehen, Sitzen, Lagern und Liegen werden dabei in allen Varianten vorgeführt, ohne dass es möglich wäre, zwischen diesen verschiedenen Varianten des ‚Platz Nehmens‘ zu unterscheiden: Die Figuren „Choro“ und „Makaria“ haben sich in einer Haltung niedergelassen, die man weder ganz ein Sitzen, noch ganz ein Liegen oder Lagern nennen kann. Nun sind das Stehen, das Sitzen und das Lagern drei Haltungsweisen, die in der attischen Bilderwelt durchaus ein je eigenes ikonographisches Profil und

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damit eine gewisse Signifikanz haben: Das Lagern gehört zum Trinkgelage der Männer, Frauen und ältere Männer werden bevorzugt im Sitzen dargestellt – man denke etwa an attische Grabstelen – und junge Männer dagegen bevorzugt im Stehen. Wenn diese Haltungsweisen hier nicht klar voneinander geschieden sind, könnte man sagen, dass das ‚Was‘ der Haltung (Ist es Sitzen, Stehen oder Lagern?) gegenüber dem ‚Wie‘ der Haltung (Wie hält sich die Figur?) in den Hintergrund tritt, mit der Folge, dass die Haltungen an Signifikanz verlieren. Anstatt die generischen Haltungsweisen des Stehens, Sitzens und Lagerns nur korrekt und überzeugend wiederzugeben, entwickeln die Haltungen der Figuren ein Eigenleben, und machen sich selbst zum Thema: Indem die Haltung der „Makaria“ nicht als Sitz- oder Liegehaltung ad acta gelegt werden kann, treten ihre Entspanntheit und Mühelosigkeit umso mehr hervor, und werden – da sie an vielen anderen Figuren ebenso hervorstechen – zu einem wesentlichen Merkmal der dionysischen Glückswelt, welche das Bild vor Augen führt. Ein Eigenleben, das sich insbesondere durch fließende Übergänge zwischen Stehen, Sitzen und Lagern äußert, entwickeln die Haltungen der Figuren auf Geländelinien schon vor dem letzten Drittel des 5. Jh. Auf einem Stangenkrater des Io-Malers aus dem dritten Viertel des 5. Jh. hat sich Apollon zwischen zwei Musen niedergelassen, wobei sein rechtes Bein fast horizontal im Gelände liegt, und so dem Eindruck eines Sitzens wie auf einem Stuhl zuwiderläuft (Abb. 201).62 Die Abweichung von der normalen Sitzhaltung betont die weiche Hingabe des Apollon an die Morphologie des Geländes und seinen entspannten Habitus. Bereits aus der Mitte des Jahrhunderts stammt das Innenbild einer Schale des EuaionMalers im Louvre, das einen Satyrn zeigt, der sich auf Geländelinien gelagert hat, einen Kantharos hochhält, und von einer vor ihm stehenden Mänade mit Oinochoe bedient wird (Abb. 429).63 Die Haltung des Satyrn unterscheidet sich von der gewöhnlichen Haltung eines auf einer Kline Lagernden zwar nur durch das nicht hochgestellte rechte Knie, doch macht letztlich schon diese kleine Abweichung von der typologisch korrekten Haltung die entspannte Hingabe an die Morphologie des Geländes deutlich, womit die Werte eines Daseins ohne Mühe und Anstrengung in den Blick geraten. Die Möglichkeit, welche Geländelinien eröffnen, Sitzen, Stehen und Lagern nicht mehr nur korrekt und überzeugend wiederzugeben, sondern mit der Haltung von Figuren zu spielen, um Entspanntheit und Mühelosigkeit stärker hervortreten zu lassen, wurde also schon bald nach der Einführung von Geländelinien in die Vasenmalerei entdeckt. Mit aller Konsequenz wird das Prinzip jedoch erst im Reichen Stil durchgeführt. Die Bauchlekythos des Meidias-Malers in Ruvo mit dem Sänger Thamyras, der von einer Vielzahl von Musen, vom Gott Apollon, von Aphrodite und

Geländelinien und ihre Bedeutung im Bild

503 Abb. 429 Ein Satyr ist bequem auf Geländelinien gelagert. Eine Mänade steht vor ihm. Schale des EuaionMalers, Paris, Louvre, um 450

von Eroten umgeben ist, kann dies exemplifizieren (Abb. 219).64 Was oben bezüglich der Bauchlekythos des Eretria-Malers gesagt wurde, nämlich dass das ‚Was‘ gegenüber dem ‚Wie‘ der Haltung in den Hintergrund rückt, gilt für dieses Bild in hervorragendem Maße: Die fünf sitzenden Frauenfiguren sind in der jeweils eingenommenen Haltung in so vielen Details untereinander differenziert, dass die allen gemeinsame Beschreibung ihrer Haltung als Sitzen (das ‚Was‘ ihrer Haltung) den bildlich-ästhetischen Befund nur mehr sehr oberflächlich und teilweise wiedergäbe. Man kommt bei genauerem Betrachten65 gar nicht umhin, die vielen kleinen Details zu bemerken, in denen sich jede Figur von der anderen unterscheidet: Während sich die linkste Figur mit dem rechten Arm beim Sitzen rückwärtig abstützt, lässt die Figur am rechten Bildrand den Arm locker herabhängen. Haben letztere beiden Figuren ihre Füße in etwa parallel nebeneinander gesetzt, haben Aphrodite und die ihr gegenübersitzende Muse dagegen die Beine übereinandergeschlagen, wobei auch zwischen diesen beiden differenziert wird, insofern die Beine der Muse eng nebeneinander liegen, die von Aphrodite dagegen weit geöffnet sind, und die auf dem Schoß ruhende Hand folgerichtig bei ihr nicht auf beiden, sondern nur auf einem Oberschenkel liegt. Desweiteren stützt sich die Muse mit ihrem rechten Ellbogen rückwärtig ab, während Aphrodite mit dem symmetrisch entsprechenden linken Arm einen Eros umarmt.66 Damit übereinstimmend hat sie den Oberkörper, anders als die Muse, nicht zurückgelehnt, sondern eher noch leicht vorgebeugt. Ähnliche Unterschiede im Detail ließen sich auch an den stehenden Figuren zeigen. Bemerkenswert ist, dass diese Differenzierungen in der Haltung zwischen den Figuren beim Meidias-Maler auch die Wendung des Kopfes mit einbeziehen können: Während die eben beschriebenen sitzenden Figuren

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aufgrund dessen, dass sie sich im untersten Bildregister befinden, alle eine leichte Aufwärtsneigung des Kopfes zum musizierenden Thamyras hin aufweisen, wird bei den Figuren in den oberen Registern zwischen Abwärts- und Aufwärtsneigung des Kopfes variiert. Signifikanter noch als das Variieren zwischen Aufwärts- und Abwärtsneigung des Kopfes ist jedoch das Variieren zwischen Profil und Halbprofil, insofern es mit einer alten Bildtradition bricht: Das Verlassen des Profils ist hier nämlich nicht mehr das starke bildnerische Mittel zur Isolation einer Figur aus dem Interaktionskontinuum des Bildes, welches es bis dahin war,67 sondern wird zur bloßen Variante der Kopfhaltung: Bei beiden Figuren, die auf dieser Bauchlekythos im Halbprofil wiedergegeben sind, erklärt sich die ungewöhnliche Wendung gerade durch die Interaktion mit einer Figur, bei Thamyras mit der Muse, die sich ihm von der Seite nähert, bei der rechts neben ihm sitzenden Frau mit dem Eros, der sich auf ihrer Schulter niedergelassen hat. Dass auch die Kopfwendung als Variabel in den Dienst der Vervielfältigung der Haltungen gestellt wird, zeigt, welch entscheidende Bedeutung diese Vervielfältigung im späten 5. Jh. hat. Interessant ist schließlich auch, dass die Differenzierung der Haltung der Figuren bis in die Extremitäten, die Füße und die Hände, geht. Man beachte etwa, wie verschieden das Spielbein des Apollon, der rechts anschließenden Muse, der auf den Schoß ihrer Gefährtin gelehnten Frau oder der am rechten Bildende stehenden Muse jeweils gestaltet ist. Bei Apollon erscheint der Fuß des Spielbeins frontal zum Betrachter und steht in einem rechten Winkel zum Fuß des Standbeins. Bei der anschließenden Muse erscheint er im Profil und fast ohne Berührung mit dem Boden. Bei der angelehnten Frau erscheint er ebenfalls im Profil, doch ist das Spielbein hier das (vom Betrachter aus gesehen) hintere Bein, wobei jedoch der Fuß wiederum vor das Standbein geführt ist, die Frau also gewissermaßen die Beine von hinten überschlägt. Bei der am weitesten rechts stehenden Figur ist das Spielbein schließlich mit deutlichem Abstand zum Standbein und wiederum frontal auf den Boden gesetzt.68 Ginge man die Hände der Figuren durch, ließen sich bis in die Fingerspitzen unzählige kleine und kleinste Unterschiede in der Haltung aufzeigen. Einzelne abgespreizten Finger, gebeugte Handgelenke und ähnliche Details, die keinen unmittelbaren handlungsmäßigen Zweck erfüllen und denen keine ikonographische Bedeutung zukommt, ist man gewohnt, als Ausdruck des gezierten, manieristischen Stils der Bilder des Meidias-Malers und anderer Vertreter des Reichen Stils in der Vasenmalerei anzusehen und somit zu übergehen. Ich möchte solche Details, in die ein großer Teil der Aufmerksamkeit des Malers eingegangen sein muss, als Teil der Bemühungen der Maler ansehen, die Haltung der Figuren zum Thema zu machen, und die Aufmerksamkeit des Betrachters darauf zu richten: Das scheinbar so handlungslose Stehen oder Sitzen der einzelnen Figur präsentiert sich als

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eine Reihe von kleinen ‚Ereignissen‘ – die Wendung des Kopfes nach oben, nach unten oder zur Seite, das Aufstützen oder lockere Herabhängen der Arme, der abgespreizte Finger oder die gänzlich entspannte Hand, der gerade, vor- oder zurückgelehnte Oberkörper, die überkreuzten oder parallel liegenden Beine, das Spielbein, welches das Standbein beliebig ‚umspielt‘. All diese für sich genommen vollkommen unwesentlichen Details werden insofern zu ‚Ereignissen‘, als sie nicht vorhersehbar sind, und sich nicht aus der allgemeinen Haltung der Figur ableiten lassen, so wie sich die Haltung einer archaischen Kourosfigur bis in alle Einzelheiten aus dem Abdruck der Füße in der Plinthenbettung ableiten ließe.69 Man könnte ähnliche Erscheinungen an beliebig vielen Vasen des Reichen Stils aufzeigen. Was unseren Sehgewohnheiten entsprechend geziert und manieristisch aussieht, ist die Folge davon, dass der Habitus der Figuren von den Füßen bis in die Fingerspitzen zum Gegenstand einer bewussten Gestaltung wird. Interessant ist, dass mit der gesteigerten Aufmerksamkeit, die dem Habitus der Figur gewidmet wird, ein anderes, bis dahin absolut zentrales Mittel der Charakterisierung von Figuren etwas in den Hintergrund tritt, nämlich deren Charakterisierung durch die von ihnen vollführten Handlungen und Tätigkeiten. Es fällt beispielsweise auf, dass die Darstellung häuslicher Arbeit, insbesondere der Wollbearbeitung, die in der Ikonographie der Frau bis dahin von entscheidender Bedeutung war, in den weiblichen ‚Figurenlandschaften‘ des späten 5. Jh. kaum mehr eine Rolle spielt, wobei dies nicht einem Wandel von Wertvorstellungen geschuldet ist – Kalathoi, die diese Arbeit in synthetischer Form denotieren, stehen auch weiterhin im Bildfeld, wie man es auf der Namensvase des Chrysis-Malers in New York sieht (Abb. 217)70 – sondern einem Wandel der Darstellungsmittel. Ein anderes Beispiel für diese Entwicklung wäre die dionysische Ikonographie, bei der der Wandel jedoch schon früher beginnt. Die Hyperaktivität der Satyrn und Mänaden des frühen 5. Jh. weicht mehr und mehr handlungsarmen Bildern. Die dionysische Gegenwelt, welche in der Spätarchaik durch explizit transgressive Handlungen zum Ausdruck kam, wird im späten 5. Jh. u.a. über den lässigen Habitus der Figuren formuliert. Ohne behaupten zu wollen, dass eine lineare Entwicklung von den Bildern des Kleophrades-Malers oder der Brygos-Gruppe zu den Bildern des Reichen Stils führt, scheint mir diese Gegenüberstellung signifikant. Der Habitus der Figur wird in der zweiten Jahrhunderthälfte denn auch zu einem entscheidenden Bedeutungsträger im Bild. Das vorgeschlagene Modell zum Verständnis des ikonographischen Potenzials der Geländelinien gewinnt an Plausibilität, wenn man sich vor Augen führt, dass in der Plastik dieser Zeit das Stehen im Raum und der Umgang der Figur mit dem Lasten seines Körpers zu dem Thema schlechthin avanciert. Das Spektrum vom aus eigener Kraft, aber dennoch mühelos gehaltenen Körper des Doryphoros71 bis zum angelehnten

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Knaben72 mit seinem weicheren Körper und Habitus existiert auch in der Plastik, und ist darin ein zentrales Mittel der ethischen Charakterisierung und Profilierung der Figuren. Die differenzierte Behandlung des Motivs des sich Aufstützens und die prägnante Bedeutung, die dieses Motiv in der Plastik der Hochklassik bekommt, zeigen wohl am deutlichsten die Statuen der verwundeten Amazonen, die die Unfähigkeit zum Stehen aus eigener Kraft durch je unterschiedliche Stützmotive zum Ausdruck bringen.73 Schließlich finden sich hellenistische Musentypen wie die auf einen hohen Felsenpfeiler aufgelehnte Muse74 in der Vasenmalerei des späten 5. Jh. schon vorgeformt, und zwar nicht im Sinne einer direkten Übernahme der Motive, aber doch insofern, als dass das ikonographische Konzept, das in der Plastik erst in hellenistischer Zeit realisiert wird, in der Vasenmalerei schon viel früher ausgebildet war. Die Darstellung räumlich gegliederter Figurengruppen In dieser neuen Darstellung der Figur, und nicht in einer vermeintlichen neuen Darstellung des Raumes liegt also die Bedeutung der Geländelinien für die Vasenbilder des späten 5. Jh.: Sie stehen im Dienste der Figur und der freien Entfaltung deren habituellen Auftretens im Bildfeld. Dennoch wäre es zu kurz gegriffen, den Geländelinien, bzw. der Geländelinienkomposition, nicht auch einen räumlichen Aspekt zuzuerkennen, nicht im Sinne einer eigenständigen Darstellung von Raum, wohl aber im Sinne einer Integration der Figuren in einen Raum. Auf der besprochenen Bauchlekythos des Meidias-Malers fällt auf, dass einige Figuren über ein ‚Höhengefälle‘ hinweg interagieren. Am deutlichsten ist dies bei der hinter Aphrodite stehenden Frau, die dabei ist, einen Vogel entgegenzunehmen, den ihr ein kleiner Eros reicht, der bei seiner Herrin Aphrodite steht. Beide Figuren müssen sich strecken, um die jeweils andere zu erreichen. Dieses unscheinbare Detail ist bemerkenswert, da ein geflügelter Eros im Prinzip die Möglichkeit hätte, ohne Mühe auf Augenhöhe mit der Figur zu schweben, mit der er in Interaktion tritt, und er dies in seinem Diensteifer gewöhnlicherweise auch tut: Musste sich jemals eine Figur bücken, um von Eros bekränzt zu werden? Wenn er es hier nicht tut, dann zeigt dies, dass die dadurch nötig werdende Interaktion über ein ‚Höhengefälle‘, mithin die diagonale Interaktion vom Maler erwünscht war.75 Dies ist umso offensichtlicher, als diese Interaktion in ein ganzes Netz von sich kreuzenden diagonalen Blick- und Interaktionsachsen eingefügt ist: Aphrodite schaut, statt sich mit den sie unmittelbar umgebenden Eroten zu beschäftigen, zum musizierenden Thamyras auf, der diesen Blick nicht erwidert, sondern sich zu der Frau links von ihm umwendet. Die rechts von Thamyras sitzende Frau blickt zurück zu dem auf ihrer Schulter sitzenden Eros, der seinerseits mit der rechten Hand auf Thamyras herabweist, und damit die Blickachsendiagonale zwischen ihm und der Frau

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durch eine dazu rechtwinklige Diagonale konterkariert. An diesem Netz von Blick- und Interaktionsbeziehungen fällt v.a. deren gesuchte Komplexität auf. Der Maler wählt jedesmal die weniger naheliegende Interaktionsbeziehung: Die beiden in engem körperlichen Kontakt stehenden Frauen über Aphrodite treten nicht miteinander in Kommunikation, sondern – in divergierender Richtung! – mit zwei Eroten, von denen einer eigentlich bei Aphrodite steht. Diese hält zwar einen der beiden sie umgebenden Eroten umarmt, blickt aber zu dem entfernten und weiter oben sitzenden Sänger. Schließlich blicken Thamryras und die rechts anschließende Frau nicht in die ihrer jeweiligen Köperausrichtung entsprechende Richtung, sondern wenden sich beide zu ihrem Interaktionspartner um. Einerseits kann man diese gegenläufigen und räumliche Nähe konterkarierenden Blick- und Interaktionsbeziehungen im Sinne der Konzeption der Figuren als einer Reihe kleiner ‚Ereignisse‘, und so als Teil von deren bewusster habitueller Gestaltung verstehen. Gleichzeitig kann man diese Interaktionsbeziehungen aber auch als Strategie verstehen, die einzelne Figur in einen größeren räumlichen Kontext mit anderen Figuren zu stellen, und so das Bildfeld insgesamt zu einem zusammenhängenden Interaktionsraum werden zu lassen. Diese zweite Interpretationsmöglichkeit wird durch eine Vielzahl weiterer Geländelinienbilder des späten 5. Jh. bestätigt, auf denen insbesondere drei Phänomene, welche uns teilweise schon auf der besprochenen Bauchlekythos aufgefallen waren, wiederkehren und die einer Erklärung bedürfen: (1) Es werden häufig Blickund Interaktionsbeziehungen über größere Distanzen hergestellt, welche nicht unbedingt die Figuren verbinden, die sich auf dem Bildfeld am nächsten sind. (2) Mit auffälliger Häufigkeit wenden Figuren den Kopf, heben oder senken ihn oder machen eine sonstige Bewegung des Körpers, um mit einer anderen Figur in Interaktion zu treten, bzw. um sich einer Figur oder einem Geschehen zuzuwenden. Dadurch bekommt das Richten der Aufmerksamkeit einen intentionalen Charakter, wird zur Handlung. Die Figuren wenden sich dabei oftmals von einem räumlich näherliegenden potenziellen Interaktionspartner ab. Dieses Abwenden wird manchmal im Bild explizit gemacht, so dass die entsprechende Figur beim Umlenken ihrer Aufmerksamkeit von einer in eine andere Richtung dargestellt wird. (3) Es gibt eine deutliche Vorliebe für diagonale Bezüge zwischen Figuren auf dem Bildfeld. Diese drei Phänomene sollen im Folgenden anhand einiger Vasenbilder aufgezeigt und analysiert werden. Die beiden prachtvollen Hydrien des Meidias-Malers in Florenz bieten zu unseren Fragen ausgiebiges Anschauungsmaterial (Abb. 227 und 430).76 Auf der Hydria mit Aphrodite und Adonis wären zu nennen der diagonale Blickkontakt zwischen Adonis und einem Eros, für den ersterer den Kopf hebt, das Umwenden der über dem linken Henkel sitzenden Frau zu einem weiteren Eros, die Interaktion zwischen der neben diesem Hen-

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Abb. 430 Phaon inmitten zahlreicher Frauen, Aphrodite auf einem von Eroten gezogenen Wagen, Apollon und Leto. Hydria des Meidias-Malers, Florenz, Mus. Archeologico, um 410

kel stehenden Frau mit der vor ihr sitzenden und sich wiederum umwendenden Frau, das Aufblicken eines Eros zu der trommelnden Frau und schließlich die Bezugnahme der drei beieinander sitzenden Frauen über dem rechten Henkel auf das zentrale Aphrodite-Adonis-Paar. Es kehren hier alle Phänomene, die an der Bauchlekythos in Ruvo beobachtet wurden, wieder: diagonale Blick- und Interaktionsbeziehungen, die Bezugnahme nicht nur zwischen räumlich naheliegenden Figuren, sondern auch über eine gewisse Distanz hinweg und das Motiv des Umwendens, das eine bewusste Aufnahme von Kommunikation signalisiert. Der Leser wird keine Schwierigkeiten haben, analoge Erscheinungen auch auf der zweiten Florentiner Meidias-Hydria zu erkennen. Auf beiden Hydrien fällt der Wechsel zwischen der Interaktion auf dem Bildfeld unmittelbar benachbarter Figuren einerseits, und der Bezugnahme von Figuren teils über größere Entfernung auf die jeweilige Hauptszene mit Aphrodite und Adonis, bzw. Phaon andererseits. Die zahlreichen Figuren auf den beiden Gefäßen bilden dadurch sowohl kleine Untergruppen, als auch ein überge-

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ordnetes Ganzes, das von der jeweiligen Hauptszene zusammengehalten wird. Bezeichnend ist dabei, dass gerade die an der Peripherie des Bildfelds in den Henkelzonen befindlichen Figuren auf das entfernte Zentrum hin bezogen sind.77 Die Figuren also, bei denen die Gefahr, dass sie sich durch ihre abseitige Stellung aus dem Verbund der Figuren lösen, am größten ist, werden durch den Maler umso aktiver in den Verbund integriert. Dieses große Ganze, das in eine Hauptgruppe und mehrere Nebengruppen untergliedert ist, kann man als hypotaktisch strukturiert ansehen. Bei zwei anderen prominenten Malern großer Gefäße des späten 5. Jh., dem Kadmos-Maler und dem Dinos-Maler, lassen sich analoge Phänomene aufzeigen. Auf der verschollenen Hydria des Kadmos-Malers aus Berlin mit einem Parisurteil finden sich zahlreiche Blickbezüge über größere Distanzen (Abb. 431).78 Man achte etwa auf den Eros, der oberhalb der Athena im Gelände sitzt und sich zu dem in beträchtlicher Distanz sitzenden Paris umwendet.79 Durch die Krümmung der Vase, welche bewirkt, dass man beide Figuren nicht gleichzeitig gut sehen kann, wird die Distanz zwischen ihnen in der Rezeption noch vergrößert. Der Blickbezug zwischen dem Eros und Paris lässt sich nicht unmittelbar erfahren, sondern nur aus der Haltung des Eros erschließen. Umso mehr zeigt sich daran der Versuch des Malers, die Figuren in einen Interaktionsraum zusammenzuspannen, insofern er die (visuelle) Interaktion zwischen Figuren und somit die Einheit des Interaktionsraums auch dort betont, wo sie für den Betrachter gerade nicht besteht.80 Wieder zeigt sich das Bemühen

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Abb. 431 Parisurteil. Hydria des Kadmos-Malers, ehemals Berlin, Antikensammlung (verschollen), 420–410

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des Malers um Integration in den Verbund der Figuren besonders an den peripheren Figuren, für die diese Integration nicht selbstverständlich ist. Blickbezüge über große Distanzen und in diagonaler Richtung finden sich auch auf einem Kelchkrater des Dinos-Malers in Bologna mit Pelops und Atalante, wo von den beiden Regionen über den Henkeln Figuren sich teilweise umwendend auf die zentralen Figuren herabblicken (Abb. 223).81 Ein schönes Beispiel für den Versuch, eine größere Gruppe von Figuren in einen einheitlichen Interaktionsraum zusammenzuspannen – diesmal allerdings ohne Unterscheidung zentraler und peripherer Figuren – stellt ein Volutenkrater des Dinos-Malers in Bologna mit dem dionysischen Thiasos dar (Abb. 432).82 Man bemerke etwa das Umwenden des Satyrkinds, welches auf den Schultern einer Mänade sitzt, zu einem höher im Gelände sitzenden Satyr, der die Doppelrohrflöte spielt.83 Bezeichnend sind auf diesem Krater außerdem die beiden Gesprächspaare im oberen und im rechten Bereich des Thiasosbildes, welche nicht mit den übrigen Figuren interagieren: Ist durch die ausgiebige Verwendung des Motivs des Umwendens und anderer Weisen, die bewusste Bezugnahme zwischen räumlich nicht unmittelbar benachbarten Figuren zu verdeutlichen, die Einheit des Interaktionsraumes einmal hergestellt, ergibt sich die Möglichkeit, das Unter-sich-Bleiben von Untergruppen trotz räumlicher Einheit zu zeigen. Indem nicht alle Figuren miteinander

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in visueller oder anderweitiger Interaktion stehen, tritt die Bezugnahme von Figuren aufeinander umso mehr hervor. Überhaupt wird das Richten der Aufmerksamkeit von Figuren aufeinander zu einem bestimmenden Thema in solchen vielfigurigen Bildern. Besonders deutlich wird dies an den bereits angekündigten Darstellungen von wechselnder Aufmerksamkeit von einer zu einer anderen Figur, wie sie besonders in meidiasischen

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Abb. 432 Der dionysische Thiasos. Volutenkrater des DinosMalers, Bologna, Mus. Civico, 420–410

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Bildern häufig anzutreffen sind. Ein schönes Beispiel dafür bietet die Phaon-Hydria des Meidias-Malers in Florenz mit den beiden Figuren, welche an den linken Henkel anschließen, von denen sich eine zu Phaon zu ihrer Linken umgewendet hat, während die andere, welche zu ihrer Rechten steht,84 diese an Oberschenkel und Unterarm berührt, wohl um ihre Aufmerksamkeit zu erhalten und sie zu animieren, sich in deren Richtung zurückzuwenden, welche der ursprünglichen Richtung ihrer Sitzhaltung entspricht (Abb. 430).85 Ebenso denkbar wäre die umgekehrte Interpretation, nach der sich die sitzende Frau, angezogen von der Musik des Phaon, von der vor ihr stehenden Frau abwendet, obwohl sie mit dieser gerade interagierte. Welche der Interpretationen vom Meidias-Maler intendiert war, ist unerheblich. Entscheidend ist die unbestreitbare Tatsache, dass bei diesen Figuren mit dem Zu- und Abwenden gespielt wird, und somit das Richten der Aufmerksamkeit zum Thema wird. Für das Spiel mit der wechselnden Aufmerksamkeit einer Figur von einer in eine andere Richtung finden sich viele weitere Beispiele. Auf der Bauchlekythos des Medias-Malers in Cleveland mit der Geburt des Erichthonios etwa ist eine der vielen Frauen, die die zentralen Figuren Ge, Erichthonios und Athena umgeben, in einer ambivalenten Haltung wiedergegeben, die sowohl in Richtung der zentralen Figurengruppe weist, auf die sie mit der rechten Hand deutet, als auch in die umgekehrte Richtung auf eine Gefährtin hin weist, zu der sie sich umwendet (Abb. 234).86 Wie dies genau zu verstehen ist – ob die Gefährtin ihre Aufmerksamkeit von dem zentralen Ereignis weg auf sich gelenkt hat, oder ob die Frau umgekehrt die Gefährtin auf das zentrale Ereignis aufmerksam machen möchte – lässt sich hier wieder nicht mit Si-

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cherheit sagen.87 Eine ausgesprochen prominente Parallele hat das Spiel mit der wechselnden Aufmerksamkeit im Ostgiebel des Parthenon mit der Geburt der Athena (Abb. 433):88 Während die gewöhnlich als Dionysos gedeutete nackte männliche Figur, die im linken Giebelwinkel an den Wagen des Helios anschließt und nach rechts gelagert ist, so dass ihr Gesicht nach links weist, von der spektakulären Geburt noch nichts mitbekommen hat, die Kunde ihn gleichwohl sehr bald erreichen wird, haben sich die beiden rechts anschließenden weiblichen Figuren bereits zur Giebelmitte gewendet, und die vordere der beiden weist mit der Hand gar in Richtung des zentralen Ereignisses. Die darauffolgende, stark bewegte Figur schließlich ist – offenbar in Folge der spektakulären Geburt – bereits in heller Aufregung. Ein allmähliches Wenden der Figuren in Richtung des zentralen Ereignisses lässt sich auch für die sog. „Tauschwestern“ an der rechten Giebelseite erschließen, wo die liegende Aphrodite (?) noch vollkommen entspannt und nichts wissend nach rechts gewendet ist, die frontal sitzende weibliche Figur ihren Blick allerdings bereits zur Mitte hin gerichtet hat.89 Das Motiv der wechselnden Aufmerksamkeit von einer in eine andere Richtung ist die Steigerungsstufe des in den betrachteten vielfigurigen Geländelinienbildern omnipräsenten Motivs des umgewendeten Kopfes. Beides kann als eine Strategie angesehen werden, den Blick und die gerichtete Aufmerksamkeit einer Figur im Bild explizit zu formulieren. Das lässt sich auch über das dritte oben angekündigte signifikante Phänomen sagen, nämlich die offensichtliche Vorliebe der Maler von Geländelinienbildern des späten 5. Jh. für diagonale Bezüge zwischen Figuren: Blickt eine Figur geradeaus auf eine andere Figur, kann man nicht entscheiden, ob dieser Blick intentional ist, oder ob die gerade Haltung des Kopfes – als naheliegendste Lösung – nichts weiteres zu bedeuten hat. Hebt oder senkt eine Figur jedoch den Kopf in Richtung einer anderen Figur, steht der intentionale Charakter des Blickes außer Frage. Wie es die bereits erwähnten Vasen gezeigt haben, wird dieses Mittel, Kommunikation zwischen Figuren im Bild zu explizitieren, extensiv genutzt. Es geschieht z.B. sehr häufig, dass der Höhenunterschied zwischen einer sitzenden und einer stehenden Figur, wenn beide zueinander in Beziehung gesetzt werden sollen, nicht etwa mithilfe von Geländelinien nivelliert, sondern noch verstärkt wird, wie man es auf dem Kelchkrater des Dinos-Malers in Bologna mit Apollon und Marsyas sehen kann:90 Der stehende Apollon, der dem sitzenden Marsyas beim Flöten zuhört, ist durch eine Geländelinie gegenüber diesem zusätzlich erhöht. Ein anderes Beispiel wäre die Rückseite einer Pelike des Kadmos-Malers in München mit zwei Satyr-MänadenPaaren im Gespräch (Abb. 434).91 Beim linken Paar steht der Satyr auf höherem Niveau als seine sitzende Gesprächspartnerin.92 Auf dem Deckel einer Pyxis des Meidias-Malers in Oxford beugt sich eine Frau zu einem auf sie zu kriechenden Eros herab (Abb. 218).93 Hieran erweist sich das ak-

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Abb. 433 Die Götter werden der Geburt der Athena (im Giebelzentrum zu rekonstruieren) gewahr. Parthenon, Figuren des Ostgiebels, London, British Museum

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tive Streben des Malers nach diagonalen Bezügen zwischen Figuren ebenso, wie die Verstärkung des Höhenunterschieds zwischen einer sitzenden und einer stehenden Figur durch Geländelinien dieses Bestreben verrät: Warum sollte ein Eros kriechen, wenn er auch fliegen kann? All diese Wege, die Aufnahme von Kommunikation oder Interaktion und das Richten der Aufmerksamkeit zu betonen und als intentionale Handlungen der Figuren auszuweisen,94 lassen in diesen vielfigurigen Bildern ein neues Thema erkennen, dem von den Vasenmalern bis dahin kaum Beachtung geschenkt wurde: das Verhalten der einzelnen Figur in einer Gruppe von Figuren. Diese Gruppe von Figuren ist meist hypotaktisch gegliedert, insofern es eine Unterscheidung von Haupt- und Nebenfiguren gibt, bzw. von einer Hauptgruppe und Nebengruppen. Die einzelne Figur steht nicht mehr für sich allein in einem neutralen Bildfeld, sondern steht in einem Verbund von Figuren. Wem die einzelne Figur darin ihr Handeln und ihre Aufmerksamkeit widmet, steht zur Disposition und wird im Bild zum Thema, und das umso mehr, als oftmals nicht die naheliegendste Interaktionsbeziehung zwischen Figuren gewählt wird. Die einzelne Figur steht in einem räumlichen Kontext, der nicht mehr nur das ikonographisch bedeutungslose Bildfeld ist, vor dem alle Figuren gleich sind, sondern aus einem – oft hierarchisch – gegliederten Verbund von Figuren besteht. Dass eine Figur nun in einem räumlichen Verhältnis zu anderen Figuren steht, das nicht nur vom Bildfeld vermittelt ist und insofern bildirrelevant ist, bedeutet einen klaren Bruch mit dem das Verhältnis von Figur und Raum betreffenden Status quo, der im ersten Teil dieser Arbeit beschrieben wurde. Besonders deutlich wird dieser Bruch an der bereitwilligen Aufgabe der Isokephalie, jenes Kompositionsprinzips, das besagt, dass die einzelne Figur a priori nicht im Kontext anderer Figuren steht, sondern alle Figuren unabhängig voneinander im Bildfeld stehen und sich in ihrer Größe an diesem bemessen.95 In der Tat geht die Vorliebe für diagonale Bezüge zwischen Figuren zwangsläufig mit der Aufgabe der Isokephalie einher. Bestand im isokephalen Bild eine räumliche Beziehung zwi-

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schen Figuren nur qua Interaktion, besteht sie nun auch unabhängig von der aktuellen Interaktion, oder anders formuliert: Figuren, die nicht aktuell miteinander interagieren oder in einem sonstigen Bezug zueinander stehen, können potenziell jederzeit in einen Bezug zueinander treten. Die immer bestehende Möglichkeit von Interaktion zwischen Figuren äußert sich direkt in dem so häufigen Motiv des Umwendens: Wendet sich eine Figur zu ihrem Interaktionspartner um, folgt daraus, dass sie sich jederzeit auch zu einem anderen, potenziellen Interaktionspartner umwenden könnte, sei es auch, dass sich dieser in einiger Entfernung im Bildfeld befindet, wie es die häufigen Bezugnahmen über größere Distanzen zeigen. Man kann die potenzielle Erreichbarkeit aller Figuren untereinander in eine einfache Formulierung fassen: Sie bedeutet die Einheit des Raumes.96 Nun zieht die Stärkung des räumlichen Bezugs zwischen den Figuren im Bild eine Schwächung des Bezugs zu den ‚Figuren‘ außerhalb des Bildes, den Betrachtern, mit sich. Man erkennt dies an der bereits erwähnten Banalisierung der Frontalität.97 Steht eine Figur ohnehin in einem räumlichen Verhältnis zu den anderen Figuren des Bildes, egal ob sie sich an der Handlung des Bildes beteiligt oder sich dieser Handlung zuwendet, kann sie auch nicht mehr ‚aus dem Bild heraus‘ auf den Betrachter schauen: Das Halbprofil, mit dem sich eine Figur aus der Fläche des Bildfelds herauswendet, ist zu einer Spielart unter anderen im Spiel des Zu- und Abwendens zwischen Figuren geworden. Durch die Einheit des Raumes der Figuren untereinander entsteht somit erstmals ein Bildraum, der sich vom Raum der Betrachter absondert, und es ist sicherlich kein Zufall, dass die bildnerischen Mittel, welche die Einheit des Raumes der Figuren herstellen, gerade und fast ausschließlich in Bildern von Gegenwelten zum Einsatz kommen. Darauf werden wir noch zurückkommen.98

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Abb. 434 Auffahrt des Herakles zum Olymp (A). Satyrn und Mänaden im Gespräch (B). Pelike des Kadmos-Malers, München, Antikensammlung, um 410

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Chronologie Fragt man sich, wann dieser Bruch mit dem Status quo bezüglich des Verhältnisses von Figur und Raum zeitlich anzusetzen ist, fällt auf, dass er keineswegs bereits mit der Einführung der Geländelinien und der Lösung der Figuren von der Grundlinie einsetzt. Wie bereits beoachtet wurde,99 behalten die berittenen Amazonomachien der Polygnot-Gruppe – die Ikonographie, in der zum ersten Mal ein regelmäßiger Gebrauch von Geländelinien gemacht wurde – die Isokephalie zwischen berittener Amazone und Fußsoldat bei. Diagonale Bezüge zwischen den Figuren bestehen darin nur in der häufig schrägen Lanzenführung, wie man es etwa auf einem Stangenkrater der Sammlung Kiseleff sieht (Abb. 422).100 Der Kampf von oben nach unten, welcher für die bildliche Formulierung der Auseinandersetzung zwischen Reitern und Fußsoldaten naheliegt, findet also einen gewissen Einzug in die Bilder,101 geht aber nicht in die räumliche Beziehung der Kontrahenden im Bildfeld ein. Deutlicher noch als an den Amazonomachien der Polygnot-Gruppe zeigt sich der bezüglich des

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Verhältnisses von Figur und Raum ‚konservative‘ Gebrauch der Geländelinienkomposition im mittleren Drittel des 5. Jh. allerdings noch in den (verhältnismäßig seltenen) Bildern, die Figuren über die gesamte Höhe des Bildfelds verteilen. Auf dem Baseler Amazonomachie-Krater des Malers von Bologna 279 aus der Gruppe des Niobiden-Malers zeigt sich bei genauerem Hinsehen, dass trotz des ersten Eindrucks einer chaotischen und dichtgedrängten Massenschlacht die Figuren in zwei übereinander liegende Bildregister aufgeteilt sind, und Griechen und Amazonen bis auf wenige Ausnahmen nicht von einem Bildregister auf das andere hinüberagieren (Abb. 204).102 Die Ordnung der zahllosen Zweikämpfe in zwei horizontale Register kommt nur in den Henkelzonen ein wenig durcheinander, wo durch den Ansatz der Henkel die Höhe des Bildfelds etwas reduziert ist, und wo folglich für zwei übereinanderliegende Bildregister kein Platz vorhanden ist. Nur für eine spezifische Kampfkonstellation wird vertikales, bzw. diagonales Agieren von oben nach unten gezeigt,

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nämlich für das Stechen der Lanze in den Körper eines bereits in die Knie gegangenen Gegners, wie man es auf der Vase insgesamt dreimal sieht.103 Das nach unten Verschieben des in Bedrängnis geratenen Kämpfers bedeutet in dieser Kampfkonstellation allerdings nur die Verstärkung eines Zuges, der in analogen Kampfkonstellationen in Grundlinienbildern bereits vorhanden ist, nämlich die Tatsache, dass der aufrechte Krieger auch so schon über dem in die Knie gegangenen Krieger steht. Noch konsequenter ist die Aufteilung der Kämpfer in zwei übereinanderliegende Register auf dem Volutenkrater desselben Malers mit dem Kampf der Sieben gegen Theben durchgeführt (Abb. 241).104 Auf dessen Rückseite, wo eine Götterversammlung erscheint, ist die Verteilung der Figuren in zwei horizontale Register und das Fehlen jeglichen diagonalen Bezuges auf den ersten Blick zu erkennen. Der Maler von Bologna 279 konserviert somit das Prinzip der Isokephalie in die Geländelinienkomposition hinein: Seine Figuren begegnen sich, wenn sie miteinander interagieren, stets auf Augenhöhe, außer in dem Fall, in dem die niedrigere Position eines Interaktionspartners im wiedergegebenen Motiv bereits vorgegeben ist, in welchem Fall dieses Höhengefälle mittels Geländelinien verstärkt werden kann. Einen entscheidenden Schritt weiter geht demgegenüber ein Kelchkrater um 440–430 in Ferrara mit einer Gigantomachie, in der die Götterund Gigantenfiguren über die Höhe des Bildfelds verteilt sind, ohne in übereinander liegende Bildregister gegliedert zu sein (Abb. 435).105 Sowohl Hera, Athena, als auch Hekate bekämpfen ihre jeweiligen Gegner über ein Höhengefälle hinweg, wobei es im Falle von Athena sogar die siegreiche Göttin ist, die ihren Gegner von niedrigerem Terrain aus bekämpft, da der Gigant in einer Aufwärtsbewegung vor ihr flieht. Anders als auf dem Amazonomachie-Krater in Basel wird die höhenmäßige Verschiebung eines Kämpferpaars also nicht nur zur Verstärkung eines bereits bestehenden Sieger-Unterlegenen-Gefälles gebraucht. Desweiteren fällt auf dem Krater die teilweise größere Distanz auf, über die hinweg Götter ihre jeweiligen Gegner bekämpfen: Der fliehende Gigant, gegen den Zeus zum finalen Blitzschlag ausholt, ist deutlich weiter von ihm entfernt, als es für Zweikampfpartner üblich ist. Ebenso liegt der bereits verwundete Gigant, gegen den Hera anrennt, einige Schritte von ihr entfernt auf dem Boden. Nicht nur diagonale Interaktionsbeziehungen, sondern auch Interaktion über größere Distanzen finden sich also auf diesem Bild. Bemerkenswert ist, dass in dieser Gigantomachie zwar Kämpfe über ein Höhengefälle hinweg stattfinden, dass aber von einer vertikalen Unterteilung des Bildfelds in einen oberen Bereich der Himmelsgötter und einen unteren Bereich der Erdensöhne, durch die sich einige Gigantomachien des späten 5. Jh. die Möglichkeiten der Geländelinienkomposition auf eindrückliche Weise zunutze machen, noch nichts zu sehen ist.

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In derselben Zeit um 440–430 finden sich auch weniger komplexe Bildkompositionen, welche Geländelinien zu einer neuen Form von räumlichem Bezug zwischen Figuren nutzen. Auf einem Kelchkrater des Phiale-Malers in Toronto mit Dionysos und vier Satyrn und Mänaden verfolgt ein Satyr eine Mänade über stark ansteigendes Gelände (Abb. 436).106 Ebenso wie auf dem eben besprochenen GigantomachieKrater wird hier die bis dahin feststellbare strukturelle Unmöglichkeit schräg ansteigenden Terrains107 gebrochen. Ab der Wende zum dritten Drittel des 5. Jh. werden diagonale Bewegungsrichtungen von Figuren zu einem einigermaßen geläufigen Gestaltungsmittel. Ein schönes Beispiel hierfür ist eine Oinochoe des Schuwalow-Malers um 420 mit der Verfolgung des Perseus durch eine Gorgone (Abb. 206).108 Sowohl die Gorgone, als auch Perseus sind in einer aufsteigenden Bewegung gezeigt. Der geflügelte Lauf dieser beiden Figuren wird von gewöhnlichem Laufen hier nicht mehr durch ein Schweben über der Grundlinie, bzw. durch ein Laufen ohne aufzutreten,109 abgesetzt, sondern durch ein müheloses Laufen über steil ansteigendes Terrain: Man beachte das fast vertikale Ansteigen der Geländelinie, über die Perseus läuft. Auch in Kampfikonographien des späten 5. Jh. werden diagonale Bewegungsrichtungen und Interaktionsbezüge zu einem geläufigen Gestaltungsmittel, wobei es nicht automatisch der Unterliegende ist, der aus niedrigerer Position agiert. Ein gutes Beispiel hierfür wäre der Amazonomachiefries auf der großen Lekythos des Eretria-Malers in New York (Abb. 437).110 Von den acht Kämpferpaaren agieren fünf über ein deutliches Höhengefälle, ohne dass die höhere oder niedrigere Position eines Kontrahenten unmittelbar auf dessen Stärke oder Schwäche im Kampf schließen ließe. Interessant ist dabei, dass der Bildfries kaum über die Höhe einer stehenden Figur hinausgeht. Der Maler wollte also keine Massenschlacht über mehrere ‚Etagen‘ nach der Art der Bilder des Malers von Bologna 279 darstellen, sondern eine Frieskomposition beibehalten, und hat sich darin nur genügend Spielraum gegeben, um die Figuren innerhalb der Zweikampfpaare in der Höhe gegeneinander leicht zu versetzen und so diagonale Interaktionsbezüge zu erhalten. Auch fallen einige Kämpfe über etwas größere Distanzen auf. Bezeichnend sind hier insbesondere die beiden nahe beieinander dargestellten Zweikampfpaare, wo einmal ein Grieche seine Lanze einer gestürzten Amazone in den Nacken stößt, und einmal ein griechischer Leichtbewaffneter mit einem Stein nach einer Amazone wirft. Die Kämpferpaare sind hier ineinander verschachtelt und nur in der Höhe versetzt, so dass die Krieger jeweils nicht mit der Figur im Kampf interagieren, die ihnen auf dem Bildfeld am nächsten ist, sondern mit der nächst weiteren Figur. Durch diese Verschränkung der Interaktionsbezüge wird der Interaktionsraum der verschiedenen Figuren zu einer Einheit zusammengespannt.

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Abb. 435 Gigantomachie. Kelchkrater, Ferrara, Mus. Nazionale di Spina, 440–430

Die Gigantomachien des späten 5. Jh., in denen sich Götter und Giganten das Bildfeld vertikal aufteilen, bezeichnen den Abschluss der hier nachgezeichneten Entwicklung, insofern sie die Gestaltungsmittel der diagonalen Interaktionsbezüge und des Agierens über eine größere Distanz hinweg einsetzen, um Bilder zu konstruieren, in denen sowohl die räumliche Beziehung zwischen einzelnen interagierenden Figuren, als auch die Raumstruktur des Bildes insgesamt in einem umfassenden Sinne Bedeutungsträger werden: Die Himmelsgötter und die Erdensöhne werden als solche durch ihre jeweilige Position im Bildfeld charakterisiert. Gleichzeitig bezeichnet die jeweilige Position von Göttern und Giganten die Überlegenheit der Götter, aber auch die Kühnheit der Himmelsstürmer, die sich davon nicht beeindrucken lassen.111 Man führe sich etwa das Auftreten der beiden rechten Giganten auf der Pelike aus dem Umkreis des PronomosMalers im Nationalmuseum in Athen vor Augen: Beide setzen in affirmativer Pose einen Fuß auf erhöhtes Terrain, das in einem Fall sogar tongrundig dargestellt ist (Abb. 238).112 Wenn auch mit ganz anderen Inhalten gefüllt, ist hier das Agieren im Raum ebenso bedeutungsträchtig, wie es der Habitus im Raum in Bildern entspannt sitzender Frauen und Männer aus der dionysischen, aphrodisischen oder apollinischen Welt.113 Geländelinienbilder versus Grundlinienbilder Hat sich das den attischen Vasenbildern zugrunde liegende Konzept vom Bildraum also schließlich doch verändert? Die herausgestellte neue Bedeutung räumlicher Aspekte in der Darstellung der Figuren und ihrer Interaktion legt diesen Schluss nahe. Doch genügt ein Blick auf die Rücksei-

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ten vieler der in diesem Kapitel behandelten Vasen, auf denen zwei oder drei meist männliche Bürger beieinander auf der Grundlinie stehen, um zu verstehen, dass diese Entwicklung keineswegs alle Ikonographien erfasst: Das Bild des männlichen Bürgers bleibt bis ins späte 5. Jh.114 ganz im traditionellen Muster von parataktischer Gliederung der Figuren auf der Grundlinie verhaftet. Ein beliebiges Beispiel für solche Rückseitenbilder mit unbewegten Mantelfiguren, welche im Folgenden diskutiert werden sollen, findet sich auf einem Kelchkrater um 440 in Bologna mit einem apollinischen Bild auf der Vorderseite und drei sich unterhaltenden unbärtigen Mantelfiguren mit Bürgerstock auf der Rückseite (Abb. 438).115 Der zahlenmäßig geradezu riesigen Gruppe solcher Rückseitenbilder mit Mantelfiguren wurde von der Forschung bisher kaum Beachtung geschenkt, und dies aus verständlichen Gründen: Einerseits bietet deren äußerst repetitive Ikonographie wenig Stoff zu inhaltlichen Interpretationen. Andererseits handelt es sich um ausgesprochene Rückseitenbilder, insofern die Zeichnung meist flüchtig ist, und auf ihnen offensichtlich nicht der Fokus der Maler lag. Auf einem Stangenkrater des ObstgartenMalers, einem besonders frühen Gefäß mit entsprechendem Mantelfigurenbild, dessen Vorderseite ein spektakuläres Kaineus-Bild schmückt, ist die ‚Rückseitigkeit‘ der Mantelfigurenseite dadurch zusätzlich betont, dass die dicht gereihten Hängeknospen auf dem Gefäßhals der Vorder-

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seite dort weggelassen wurden (Abb. 439).116 Wenn auch die Bilder von nebeneinander stehenden Mantelträgern also je einzeln keine eingehende Beschäftigung lohnen, so bleibt doch das Phänomen ihres massenweisen Erscheinens in der zweiten Hälfte des 5. Jh. insbesondere in unserem Kontext interessant, da es die zuletzt besprochenen Geländelinienbilder des Abb. 436 Dionysos und sein Thiasos. Ein Satyr verfolgt eine Mänade über aufsteigendes Terrain. Kelchkrater des Phiale-Malers, Toronto, Slg. Borowsky, 440–430

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mittleren und v.a. des späten 5. Jh. in einem anderen Licht erscheinen lässt: Durch die neue Räumlichkeit dieser Bilder wird das hergebrachte Bildraumkonzept mit singulärer Grundlinie keineswegs obsolet. Diese neue Räumlichkeit zeugt somit nicht von einer Veränderung einer jedem Bild unbewusst zugrunde liegenden Konzeption vom Bildraum, sondern ist als das von den Malern bewusst hergestellte Charakteristikum bestimmter Ikonographien gegenüber anderen anzusehen, das folglich für das Verständnis dieser Ikonographien von Bedeutung ist. Die Rückseitenbilder mit zwei oder drei Mantelfiguren stehen in der ikonographischen Tradition von Bildern vom ruhigen Beisammensein männlicher Bürger mit oder ohne Frauen, welche sich im ersten Drittel des 5. Jh. bei Malern wie Douris oder Makron besonderer Beliebtheit erfreuen. Eine Schale des Makron in Genfer Privatbesitz, deren eine Außenseite mit drei Gesprächspaaren bärtiger und bartloser Himationträger, und deren andere Außenseite mit drei Gesprächspaaren von je einem Mann und einer Frau bemalt ist, mag diese Ikonographie illustrieren (Abb. 440).117 Diese oft erotisch aufgeladene aber nicht ausschließlich erotische118 Ikonographie kann dabei ohne weiteres den einzigen Bildschmuck einer Vase bilden, wie es im genannten Beispiel der Fall ist.119 Zum typischen ‚Rückseitenbild‘ werden die beisammen stehenden Himationträger erst im weiteren Verlauf des 5. Jh. In der Polygnot-Gruppe finden sich Bilder von meist drei Mantelträgern männlichen oder beiderlei Geschlechts zum ersten Mal regelmäßig auf den Rückseiten großer Gefäße ohne umlaufendes Bildfeld wie Stamnoi oder Krateren, wobei diese Figu-

Abb. 437 Amazonomachie. Mehrere Kämpferpaare agieren in diagonaler Richtung. Lekythos des Eretria-Malers, New York, Metropolitan Mus., um 420

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Abb. 438 Apollon, Artemis, Leto (?) und ein leierspielender Mann (A). Drei Mantelfiguren im Gespräch (B). Kelchkrater des Hephaistos-Malers, Bologna, Mus. Civico, um 440

Abb. 439 Zwei junge Männer und eine Frau. Stangenkrater des Obstgarten-Malers, Mariemont, Mus. Royal, um 470 (Vorderseite: Abb. 310)

Semantische Untersuchung

ren allerdings noch nicht immer gänzlich unbewegt und handlungslos erscheinen.120 Unter den Vasen mit Amazonomachien auf der Hauptseite, welche uns hier besonders interessieren, finden sich v.a. einige Fälle, in denen die Mantelfiguren beiderlei Geschlechts durch Hinzufügung von Oinochoen und Phialen in die Nähe der Ikonographie des Kriegerabschieds rücken, oder in denen zwei weibliche Mantelfiguren auf eine männliche Figur mit Szepter von beiden Seiten zulaufen, wie es in Frauenraubszenen üblich ist. Ersteres sieht man auf dem oben erwähnten Stamnos des Christie-Malers in London (Abb. 441).121 Zweites erscheint auf dem ebenfalls

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oben erwähnten Stamnos des Epimedes-Malers in London (Abb. 442).122 Darauf, wie diese beiden ikonographischen Spezifizierungen der Mantelfiguren zu verstehen sind, werden wir noch kommen. Die Tendenz im weiteren Verlauf des 5. Jh. geht aber dahin, die Mantelfiguren ohne Handlung und ohne spezifisch deutbare Attribute darzustellen. Auf Vasen des späten 5. Jh. halten die männlichen Mantelfiguren, die nun deutlicher als vorher gegenüber den weiblichen in der Mehrheit sind, außer den Bürgerstock nur manchmal ein weiteres, unverfängliches Attribut wie eine Strigilis, und führen als Handlungen höchstens noch Gesprächsgesten aus.

Abb. 440 Gesprächspaare. Die eine Seite zeigt Paare von Mann und Frau, die andere Seite Paare je zweier Männer. Schale des Makron, Genf, Privatbesitz, um 480

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Abb. 441 Zwei Frauen und ein Mann. Die Oinochoe und die Phiale, welche die Frauen tragen, rücken das Bild in die Nähe der Ikonographie des Kriegerabschieds. Stamnos des Christie-Maler, London, British Mus., 450–430 (Vorderseite: Abb. 419) Abb. 442 Zwei Frauen laufen auf einen szeptertragenden Mann zu. Diese Anleihe aus der Ikonographie des Frauenraubs lässt sich als Reaktion auf die dramatischen Geschehnisse auf der Vorderseite deuten. Stamnos des EpimedesMalers, London, British Mus., 450–430 (Vorderseite: Abb. 231)

Semantische Untersuchung

Die Rückseite eines Glockenkraters in der Art des Meleager-Malers aus dem frühen 4. Jh. in Leiden, dessen Vorderseite mit fröhlichen Komasten geschmückt ist, zeigt die Richtung an, in die die Entwicklung geht (Abb. 443):123 Die drei Mantelmänner stehen handlungslos nebeneinander auf der Grundlinie, der mittlere hält eine Strigilis, und der rechte hält seinen rechten Unterarm vor, was wohl als Gesprächsgestus zu deuten ist. Desweiteren sind die Figuren ausgesprochen flüchtig gezeichnet, was für die polygnotischen Rückseitenfiguren noch nicht im selben Maße galt. Was sollen nun diese außerordentlich repetitiven Bilder, welche sich mit solcher Konstanz über die Zeit behaupten? Allgemein kann man sagen, dass sie eine Folie der Normalität für die auf der Vorderseite der Vase wiedergegebene, mehr oder weniger außergewöhnliche Situation abgeben. Die Gegenüberstellung von Gewöhnlichem auf der Rückseite und Außergewöhnlichem auf der Vorderseite kann von unterschiedlicher Art sein: Die Vorderseite kann ein mythologisches Bild schmücken, welches mit dem nicht mythisch-überhöhten Rückseitenbild kontrastiert. Dies träfe etwa auf den Stamnos des Polygnot in Oxford zu, auf dessen Vorderseite die beiden Dioskuren auf wundersame Weise über dem Meer124 schwebend reiten, während auf der Rückseite drei Manteljünglinge nebeneinander auf der Grundlinie stehen, zwischen denen Strigilis, Schwamm und Sprunggewichte im Bildfeld hängen (Abb. 444).125 Auf ebenso wundersame Weise, wie die Dioskuren über dem Meer reiten, erhält Achilleus seine göttlichen Waffen auf einem Glockenkrater der Polygnot-Gruppe in Gela, wo dem in den Mantel gehüllten und unter einem Zeltdach126 sitzenden Achill der Helm von einer stehenden Nereide ge-

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reicht wird, während eine zweite Nereide mit dem Brustpanzer auf einem Delphin angeritten kommt (Abb. 445).127 Die mittels Geländelinien auf verschiedener Höhe im Bildfeld angeordneten und in außergewöhnlicher Handlung gezeigten Figuren der Hauptseite kontrastieren mit den parataktisch auf der Grundlinie angeordneten Mantelfiguren der Rückseite. Der Stangenkrater des Neapler Malers in Hamburg zeigt drei Mantelfiguren als Kontrastfolie für die fremdländischen Thraker, die der Musik des auf Geländelinien sitzenden Orpheus lauschen (Abb. 342).128 Die Rückseitenfiguren in Bürgertracht können auch mythischem Personal in ebenso handlungslosem Beisammensein entgegengesetzt werden, wie es etwa auf dem erwähnten Kelchkrater des Hephaistos-Malers mit Apollon, einem männlichen Leierspieler und zwei Musen, von denen eine auf Geländelinien sitzt, der Fall ist (Abb. 438).129 Handlungslos, wenn auch in spezifischer mythischer Situation stehen Orest und Pylades bei dem auf Ge-

Abb. 443 Komos. Symposiasten und eine Hetäre ziehen fröhlich umher (A). Drei Mantelfiguren im Gespräch (B). Glockenkrater in der Art des Meleager-Malers, Leiden, Rijkmuseum van Oudheden, frühes 4. Jh.

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Abb. 444 Die Dioskuren reiten über dem Meer (A). Drei Manteljünglinge. Sprunggewichte, Strigilis und Schwamm verweisen auf den Palästrakontext (B). Stamnos des Polygnot, Oxford, Ashmolean Mus., 450–440

Semantische Untersuchung

ländelinien sitzenden Apollon und seiner Schwester Artemis auf einem Stangenkrater des Malers von Brüssel R 330 in Bologna, dessen Rückseite mit zwei männlichen und einer weiblichen Mantelfigur geschmückt ist.130 Eine weitere Art der Gegenüberstellung von Vorder- und Rückseite, könnte man folgendermaßen formulieren: Das Bild einer Gegenwelt wird auf die Folie des die Bürgerwelt repräsentierenden Mantelfigurenbilds gesetzt.131 Die Beispiele dafür sind zahllos. Ein eher frühes Beispiel, auf dem die Mantelfigurenseite noch nicht so eintönig ist, wie sie im späten 5. Jh. wird, und auf dem auch das Qualitätsgefälle kaum ins Auge fällt, wäre ein Kelchkrater des Phiale-Malers in Ferrara mit Apollon zwischen zwei Musen, von denen eine entspannt auf einer Geländelinie sitzt, und auf der Gegenseite einem jungen Mantelträger, der auf seinen Bürgerstock gestützt zwischen zwei Frauen steht, mit denen er sich offenbar unterhält (Abb. 446).132 Die Dreizahl der Figuren auf beiden Seiten und das jeweilige Wenden der mittleren männlichen Figur zu der rechten der beiden weiblichen Seitenfiguren macht die Parallelität beider Bilder deutlich. In ihrer jeweiligen Dreizahl entsprechen sich Vorder- und Rückseite auch auf einem oben schon erwähnten Stangenkrater des Io-Malers in Tarquinia, wo dem lockeren, auf Geländelinien ausgebreiteten Beisammensein von Apollon und zwei Musen auf der Hauptseite zwei junge Bürger und eine Frau in parataktischem Nebeneinander gegenüberliegen (Abb. 448).133 Auf einem Glockenkrater des letzten Viertels des 5. Jh. in Turin sind es Dionysos und zwei Satyr-Mänaden-Paare, welche sich durch ihren entspannten Habitus und ihre Verteilung auf dem Auf und Ab des Geländes von den nurmehr sehr flüchtig gemalten drei Mantelfiguren auf der Grundlinie absetzen (Abb. 447).134 Auf einer Pelike aus der Gruppe des Dinos-Malers in New York sind die Mantelfiguren, die dem dionysischen

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Geländelinienbild der Vorderseite gegenüberliegen, ebenfalls sehr flüchtig gemalt (Abb. 449).135 Als dritte Art der Gegenüberstellung von Vorder- und Rückseite bilden schließlich die unbewegt dastehenden Mantelmänner oft auch die Folie für Bürger (oder Bürger unmittelbar repräsentierende mythische Figuren) im Kampf oder in einer sonstigen Situation, die sich vom friedlichen Normalzustand des Bürgers absetzt. Dies ist etwa in den diskutierten Amazonomachien der Polygnot-Gruppe der Fall, auf deren Rückseiten sehr häufig Mantelfiguren erscheinen. Während die athenischen Hopliten und Leichtbewaffneten den Angriff der Amazonen abwehren, erscheinen auf der Rückseite Bürger und Frauen im Friedenszustand, den es auf der Vorderseite zu erhalten oder wiederherzustellen gilt. Der Bürgerstatus, den Manteltracht und Bürgerstock auf der Rückseite denotieren, steht auf der Vorderseite in seiner kämpferischen Bewährungsprobe. Dass die Vorderseite mit Bürgern im Kampf und die Rückseite mit Bürgern (und Frauen) in friedlichem Dasein aufeinander bezogen sind, lässt sich in den Amazonomachien der Polygnot-Gruppe, als die Mantelfigurenbilder ikonographisch noch nicht auf das Minimum reduziert waren, mit dem sich die Rückseitenbilder des späten 5. Jh. und des 4. Jh. begnügen, teilweise auch unmittelbar ikonographisch festmachen: Auf einem Kelchkrater in Kassel ist das Rückseitenbild nicht nur durch Hinzufügung einer Oinochoe und einer Phiale in die Richtung eines Kriegerabschieds gebracht, sondern die mittlere Figur ist selbst als Krieger dargestellt, womit alle Elemente des Kriegerabschieds versammelt sind (Abb. 450).136 Es kann kein Zweifel daran sein, dass dieser Kriegerabschied auf den umseitig dargestellten Kampf bezogen ist. Die beim Kriegerabschied zurückbleibenden Figuren, nämlich Frauen und alte Männer, finden sich in der zweiten oben genannten ikonographischen Spezifizierungsmöglichkeit des Mantelfigurenbilds, wenn zwei Frauen auf den in der Mitte stehenden bärtigen

Abb. 445 Nereiden bringen Achill die neuen Waffen des Hephaistos (A). Drei Manteljünglinge (B). Glockenkrater der Polygnot-Gruppe, Gela, Mus. Archeologico, 3. Viertel 5. Jh.

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Abb. 446 Apollon zwischen zwei Musen, von denen eine auf Geländelinien sitzt (A). Ein junger Mann unterhält sich mit zwei Frauen (B). Kelchkrater des Phiale-Malers, Ferrara, Mus. Nazionale di Spina, 440–430

Abb. 447 Dionysos, Satyrn und Mänaden im Gespräch (A). Drei Manteljünglinge im Gespräch (B). Glockenkrater, Turin, Mus. di Antiquità, letztes Viertel 5. Jh.

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Szepterträger zulaufen, wie man es außer im oben genannten Beispiel etwa noch auf einem Stamnos des Christie-Malers in Kopenhagen sieht (Abb. 451).137 Diese Anleihe aus der Ikonographie des Frauenraubs, wo die Zuflucht suchenden Mädchen den Schrecken zum Ausdruck bringen, den das Einbrechen des Mannes in die geschützte Welt der Parthenoi bewirkt, formuliert hier offenbar den Schrecken, den der bedrohliche Kampf zwischen Athenern und Amazonen bei denen produziert, deren Schicksal von dessen Ausgang abhängt. Statt dieses unmittelbar zeitlichinteraktiven Verhältnisses von Vorder- und Rückseite stehen in anderen zeitgenössischen Amazonomachievasen, v.a. aber in Amazonomachievasen des späteren 5. Jh. Vorder- und Rückseite in einem rein räumlichen Verhältnis ohne handlungsmäßige Bezüge, bei dem die Amazonomachieseite den Bürger im Kampf sowohl ethisch, als auch räumlich außerhalb der Polis zeigt, die Rückseite ihn dagegen im friedlichen Normalzustand, ethisch und räumlich also innerhalb der Polis zeigt. Dabei ist es bezeichnend, dass auf früheren Amazonomachievasen oftmals darauf geachtet

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531 Abb. 448 Eine Frau und zwei Manteljünglinge. Stangenkrater des Io-Maler, Tarquinia, Mus. Nazionale, 3. Viertel 5. Jh. (Vorderseite: Abb. 201)

Abb. 449 Der gelagerte Dionysos, eine Mänade, ein junger und ein alter Satyr (A). Drei Manteljünglinge (B). Pelike aus der Gruppe des Dinos-Malers, New York, Metropolitan Mus., 420–410

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Abb. 450 Amazonomachie im Gelände (A). Kriegerabschied mit einer Frau, die eine Phiale und eine Oinochoe hält, einem gerüsteten jungen Mann und einem alten Mann (B). Kelchkrater der Polygnot-Gruppe, Kassel, Antikensammlung, um 440

Abb. 451 Amazonomachie (A). Zwei Frauen um einen szeptertragenden Mann. Die linke Frau läuft auf ihn zu (B). Stamnos des Christie-Maler, Kopenhagen, Nationalmuseum, 450–430

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wird, nur Frauen und bärtige, also ältere Männer auf der Rückseite zu zeigen, mithin solche Figuren, die tatsächlich nicht mit in den Krieg ziehen: So auf der Pelike des Polygnot in Syrakus mit zwei ruhig stehenden Frauen und einem bärtigen Mann mit Szepter auf der Rückseite (Abb. 452),138 ebenso wie auf der zweiten frühen polygnotischen Amazonomachiepelike in Syrakus mit sehr ähnlichem Rückseitenbild (Abb. 453).139 Auf Vasen des späteren 5. Jh. wird darauf jedoch nicht mehr geachtet, und junge und alte Männer erscheinen gleichermaßen auf den Rückseiten.140 Das Verhältnis von Vorder- und Rückseite wird somit sowohl abstrakter, als auch allgemeiner: Mit ihren beiden Gefäßseiten, auf denen der Bürger einmal in einer Situation extremer Bewährung, einmal im ereignislosen Normalzustand erscheint, zeigen die Vasen zwei komplementäre Facetten des Bürgerbilds, die zusammen ein vollständiges Bild des Bürgers zeichnen. Was hier an Amazonomachievasen gezeigt wurde, ließe sich auch an Vasen zeigen, auf deren Vorderseite eine Kentauromachie (in der althergebrachten Form des Kampfes mit Bäumen und Felsen) erscheint. So befinden sich auf sechs der sieben Kentauromachiekrateren des Neapler Malers Mantelfiguren auf der Rückseite.141 Dasselbe gilt für die Kentauromachiekratere des Malers der Kentauromachie des Louvre.142 Ebenso funktioniert das Modell einer Gegenüberstellung von Bürgern im ereignislosen Normalzustand auf der Rückseite und Figuren in ihrem Agieren

Abb. 452 Zwei Frauen um einen szeptertragenden Mann. Pelike des Polygnot, Syrakus, Mus. Archeologico, um 450 (Vorderseite: Abb. 421) Abb. 453 Zwei Frauen um einen szeptertragenden Mann. Pelike der PolygnotGruppe, Syrakus, Mus. Archeologico, 450–440 (Vorderseite: Abb. 413)

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im ethisch-räumlichen Grenzbereich der Polis auf der Vorderseite für Vasen mit Jagdbildern, auf denen in der zweiten Hälfte des 5. Jh. ebenfalls häufig parataktische Mantelfigurenbilder erscheinen. Beispiele wären hier etwa die beiden Glockenkratere in Basel, einmal des Barclay-Malers um 450–440 mit einer Rehjagd (Abb. 454)143 und einmal des Eupolis-Malers um 440–430 mit einer Eberjagd.144 Auf dem Glockenkrater des LykaonMalers in Boston mit dem Tod des Aktaion ist es eine missglückte Jagd mit tragischem Ende, der drei Mantelfiguren auf der Rückseite entgegenstehen (Abb. 455).145 Die zwei Frauen, die laufend und gestikulierend zu den Seiten einer männlichen Mantelfigur mit Bürgerstock erscheinen, reagieren mit ihrer heftigen Bewegtheit offenbar auf das Geschehen der Vorderseite, ähnlich wie die Schutz suchenden Frauen auf den Rückseiten der oben diskutierten Amazonomachievasen. Analoge Beispiele für die vorgestellten drei Arten der Gegenüberstellung der Mantelfiguren im bürgerlichen Normalzustand auf der Rückseite mit den Figuren und dem Geschehen auf dem Hauptbild ließen sich beliebig vervielfältigen, und oftmals lägen sie zwischen den hier aufgestellten Kategorien. Da in der zweiten Hälfte des 5. Jh. ein großer und mit der Zeit wachsender Anteil der entsprechenden Gefäße – v.a. Kratere mit zwei getrennten Bildfeldern und Stamnoi – die besagten Mantelfiguren auf ihrer Rückseite aufweisen, ist die ikonographische Vielfalt der Vorderseiten so groß, dass es sinnlos wäre, eine genaue und vollständige Typologie der Vorderseiten zu entwerfen. Außerdem sind die Mantelfigurenbilder der Rückseiten ikonographisch so unspezifisch, dass sie für jedes erdenkliche Vorderseitenbild als neutrale Folie dienen können, gegenüber der das Vorderseitenbild einen irgendwie gearteten Kontrast bildet. Zwei allgemeine Regeln, die in unserem Kontext von Bedeutung sind, können dennoch festgehalten werden: (1) Geländelinien erscheinen nur auf den Vorderseiten, während die Mantelfiguren der Rückseiten stets auf der Grundlinie stehen.146 (2) Mantelfigurenbilder erscheinen nie auf beiden Gefäßseiten, etwa vorne in sorgfältiger und hinten in flüchtiger Zeichnung, wie man es sich vorstellen hätte können, sondern die Mantelfigurenbilder bilden stets ein Gegenstück zur Hauptseite. Man könnte geneigt sein, diese beiden Regeln lediglich mit der deutlicher werdenden Unterscheidung von Haupt- und Rückseite zu verbinden, dass also (1) das Fehlen von Geländelinien nur ein Zeichen des geringeren Aufwands wäre, den die Maler für die Rückseite treiben, und (2) das Fehlen beidseitiger Mantelfigurenbilder daraus folgen würde, dass solch einfache Bilder den Ansprüchen von Malern und Publikum eben nur für Rückseiten genügen würden. Dass diese Erklärung nicht ausreicht, lässt sich jedoch eindeutig belegen. Die Münchner Pelike des Kadmos-Malers mit der Fahrt des Herakles in den Olymp zeigt auf der Rückseite ausnahmsweise nicht bürgerliche Mantelfiguren im Gespräch, sondern zwei Satyr-Mänaden-Paare,

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535 Abb. 454 Jagd auf ein Reh (A). Drei Manteljünglinge im Gespräch (B). Glockenkrater des Barclay-Malers, Basel, Antikenmuseum, 450–440

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Abb. 455 Aktaion wird von seinen Hunden zerfleischt, die ihn für einen Hirsch halten (A). Zwei heftig bewegte Frauen und ein junger Mann (B). Glockenkrater des Lykaon-Malers, Boston, Mus. of Fine Arts, 440

die nun bezeichnenderweise nicht auf der Grundlinie, sondern im Auf und Ab des Geländes stehen (Abb. 434).147 Diese Vase zeigt, dass das Stehen der Mantelfiguren auf der Grundlinie nicht nur mit ihrer Rückseitigkeit zu tun hat, sondern auch mit ihrer ikonographischen Identität, da das Grundliniengebot fällt,148 sobald auf der Rückseite statt Bürgern in Manteltracht Vertreter einer Gegenwelt erscheinen.149 Auf der Pelike aus dem Umkreis des Pronomos-Malers in Athen mit einer vertikalen Gigantomachie auf der Hauptseite erscheinen auf der Rückseite statt Mantelfiguren jugendliche Figuren mit Chlamyden, Petasoi und Speeren, die auch hier nicht auf der Grundlinie, sondern im Gelände stehen und sitzen

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537 Abb. 456 Jugendliche Männer mit Speeren (darunter die Dioskuren?). Obwohl es sich um ein Rückseitenbild handelt, stehen die Figuren nicht auf der Grundlinie. Pelike aus dem Umkreis des Pronomos-Malers, Athen, Nationalmuseum, um 400 (Vorderseite: Abb. 238)

(Abb. 456).150 Ob dies nun jugendliche Heroen (darunter die Dioskuren?) oder athenische Epheben ‚im Feld‘ sind, in jedem Fall wäre nicht der bürgerliche Normalzustand gemeint, den die Mantelfiguren verkörpern. Auch dieses rückseitige Geländelinienbild zeigt, dass das Fehlen der Geländelinien in Mantelfigurenbildern nicht nur ihrer Rückseitigkeit geschuldet ist. Den zweiten möglichen Einwand, nach dem Mantelfigurenbilder nur deshalb lediglich auf Rückseiten auftauchen, weil eine solch einfache Ikonographie für Vorderseiten nicht genügen würde, widerlegen jene Vorderseitenbilder, die eine ebenso einfache Ikonographie zeigen, wie es etwa auf dem bereits erwähnten Glockenkrater in Turin der Fall ist (Abb. 447).151 Auch auf der Vorderseite sind hier die Figuren – Satyrn, Mänaden und Dionysos – bei keiner komplexeren Tätigkeit gezeigt als der Unterhaltung, welcher auch die rückseitigen Mantelfiguren nachgehen. Doch tun die dionysischen Figuren der Vorderseite dies auf eine ganz und gar andere Weise als die Mantelfiguren der Rückseite: Sie sitzen, stehen und lehnen entspannt im Gelände, und wenden sich zu ihrem Gesprächspartner herauf, herab oder zurück, während die Mantelmänner auf der Rückseite im wahrsten Sinne des Wortes Haltung bewahren. Damit wären wir wieder am Ausgangspunkt der hier eingeschobenen Untersuchung der Mantelfigurenbilder: Die Verwendung von Gelände-

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linien zur differenzierteren Darstellung des Habitus einzelner Figuren einerseits und zur Integration der einzelnen Figur in einen räumlich gegliederten Zusammenhang von Figuren andererseits betrifft nur bestimmte Ikonographien und steht in einem Gegensatz zu Bildern, die sich dieses Gestaltungsmittels bewusst nicht bedienen.152 Wenn die Entwicklung hin zu einer Integration der einzelnen Figur in einen größeren Kontext hypotaktisch gegliederter Figuren nur in bestimmten Ikonographien stattfindet, dann lässt sie auf eine bewusste Charakterisierung bestimmter Figuren und Ikonographien gegenüber anderen schließen. Es ergibt sich daraus, dass die formale Ausgestaltung der dionysischen, apollinischen oder aphrodisischen Gegenwelt auf Vasen des Reichen Stils als eine hypotaktisch gegliederte Gemeinschaft von Figuren, in der es meist Hauptfiguren und Nebenfiguren gibt, und in der Figuren sowohl in bildüberspannenden Bezügen zueinander stehen, als auch kleine Untergruppen bilden, inhaltlich zu deuten ist. Gemeinschaft – in dem Sinne, in dem sie mehr ist als die Summe ihrer Teile153 – scheint als ein Charakteristikum von Gegenwelten verstanden worden zu sein.154 Das in den oben besprochenen Geländelinienbildern so zahlreich und unterschiedlich gezeigte Sicheinander-Zuwenden, sei es im Handeln, im Gespräch oder nur in Blicken, thematisiert das Agieren der einzelnen Figur in einer Gemeinschaft von Figuren. Eine solche Gemeinschaft gehört zum Glücksentwurf der dionysischen oder aphrodisischen Welt. Gemeinschaftliches Handeln wird auch in den Amazonenkämpfen thematisiert, wo oft zwei griechische Krieger – und zwar oftmals ein Hoplit und ein Leichtbewaffneter, mithin Angehörige unterschiedlicher gesellschaftlicher Schichten – in der Abwehr der anreitenden Amazone kooperieren. Für den Bürger im friedlichen Normalzustand wie er auf den besprochenen Rückseitenbildern massenweise dargestellt ist, scheinen die Integration in eine Gemeinschaft und das Agieren in einer hypotaktisch gegliederten Gruppe von Figuren zumindest in seinem bildlichen Entwurf auf den Vasen der zweiten Hälfte des 5. Jh. dagegen keine Rolle zu spielen.155 Dies mag für die Epoche der athenischen Demokratie, in der nach allem, was die Altertumswissenschaften darüber erfahren konnten, das Politische und politisches Handeln wichtiger denn je waren, verwundern. Es lässt sich jedoch mit der Tatsache verbinden, dass die athenischen Volksversammlungen, die im demokratischen Athen sowohl politisch, als auch im Privatleben des einzelnen Bürgers eine so entscheidende Rolle gespielt haben müssen, im Bild nie dargestellt werden. Doch äußert sich darin möglicherweise gerade das spezifisch demokratische156 Ideal politischer Gemeinschaft, in der keiner einem anderen über- oder untergeordnet ist, die mithin vollkommen parataktisch gegliedert ist. Anstelle einer Unterwerfung des Einzelnen unter die Zwecke der Gemeinschaft steht die Autarkie des Einzelnen, der sich ganz aus freien Stücken für die Polis einsetzt.

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Zusammenfassung

Betrachtet man die Ikonographien, in denen Bäume und Felsen erscheinen, in ihrer zeitlichen Abfolge, stellt sich als allgemeine Tendenz heraus, dass Landschaftselemente mit der Zeit in einem immer breiteren ikonographischen Spektrum verwendet werden. Bereits in den letzten Jahrzehnten des 6. Jh. ist dieses Spektrum so breit, dass diesen Motiven mit einer klassischen ikonographischen Untersuchung nicht mehr beizukommen wäre, und folglich andere Wege zu ihrem Verständnis eingeschlagen werden müssen. Auch wenn die absolute Zahl an Bäumen und Felsen nach der Zeit um 500 wohl eher abgenommen hat, bleiben im Verlauf des 5. Jh. immer weniger ikonographische Bereiche von Landschaftselementen vollkommen unberührt. Von einer vornehmlichen Assoziation der Bäume und Felsen mit Wesen der wilden Natur und des kulturlosen Raumes, wie sie bis in die ersten Jahrzehnte des 5. Jh. zu beobachten war, kann ab der Jahrhundertmitte keine Rede mehr sein. Dafür treten Landschaftselemente mehr und mehr in den ‚Frauenwelten‘ der Musen und der Aphrodite auf. Die typologische Vielfalt der Bäume und Felsen hält sich zu jeder Zeit in engen Grenzen: Unter den Bäumen und Pflanzen haben Pinien, Palmen, Weinreben und Efeu ein genügend scharfes typologisches Profil, um kontextunabhängig als solche identifizierbar zu sein. Jeder dieser Bäume und Pflanzen besitzt eine mythologisch-kultische Referenz: Pinien sind die Bäume der Kentauren, Palmen der Baum des Apollon, Efeu und Wein die Pflanzen des Dionysos. Die Typologie der Felsen erwies sich als abhängig von den Funktionen, die sie für die Figuren übernehmen. Isolierte Felsen bleiben zu allen Zeiten deutlich in der Minderheit, auch wenn ihre Zahl im frühen und mittleren 5. Jh. zeitweise zunimmt. Im ersten Teil wurden Bäume und Felsen v.a. auf ihre räumlichen Eigenschaften hin untersucht. In einem ersten Schritt wurde ihr Gegenstandscharakter herausgestellt, der sich in den Eigenschaften der räumlichen Begrenztheit, der Formbarkeit und der Mobilität äußert: Statt den Raum selbst darzustellen und zu verkörpern, sind Landschaftselemente

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Gegenstände im Raum. Dieser Raum wiederum ist – so die an dieser Stelle aufgestellte These – gleichbedeutend mit dem Bildfeld. Im Fortlauf des ersten Teils sollte diese Definition mit Inhalt gefüllt, und die Struktur jenes nicht-figurativen Raumes untersucht werden, der aus Grundlinie und Bildfeld besteht. Insbesondere wurde dabei im Sinne einer Art ‚Bildgrammatik‘ die Stellung von Felsen, Bäumen und Zweigen in dieser Struktur untersucht. Zum Schluss wurden die Geländelinien der zweiten Hälfte des 5. Jh., welche das Konzept des nicht-figurativen Bildraumes scheinbar aufbrechen, einer systematischen Analyse unterzogen. Diese machte trotz eines so andersartigen Bildaufbaus ein erstaunliches Maß an Kontinuität mit der im Vorhergehenden beschriebenen Struktur des Bildraums deutlich. Als methodische Anweisung für die weitere Untersuchung ergab sich aus diesem ersten Teil v.a., dass man Landschaftselemente nicht danach befragen sollte, welchen Raum sie darstellen, sondern in welcher Weise sie in die Darstellung der einzelnen Figuren und ihres Handelns eingreifen. Der grob chronologisch gegliederte zweite Teil hat sich mehr semantischen Aspekten der Bäume und Felsen gewidmet. Dabei wurde nicht nach einer kontextübergreifenden Bedeutung dieser Bildmotive gesucht. Vielmehr wurde der Beitrag untersucht, den Felsen und Bäume im Sinngefüge einzelner Bilder und Ikonographien leisten. Zu Beginn wurden vor allem schwarzfigurige Bilder behandelt. Dabei hat sich als gemeinsamer Zug vieler ikonographischer Verwendungen von Landschaftselementen deren Heteronomie herausgestellt: Statt eigenen Gesetzen zu gehorchen, lehnen sich Landschaftselemente, und insbesondere Felsen, sowohl in den Funktionen, die sie für jeweilige Figuren einnehmen, als auch vielfach in ihrer formalen Gestaltung an bestimmte Gegenstände der Kultur wie Waffen oder Klinen an. Indem rohe Felsen ‚zivilisierte Gegenstände‘ vertreten, formulieren sie ein Abweichen von normativen Verhaltensweisen seitens der mit diesen Landschaftselementen in Verbindung stehenden Figuren. Im weiteren Verlauf wurde der Prozess der ästhetischen Verselbstständigung der Landschaftselemente beschrieben, die in den ersten Jahrzehnten des 5. Jh. in ihrer formalen Gestaltung vermehrt spezifische Charakteristika aufwiesen. Wie sich gezeigt hat, wirkt sich dieser Prozess auf den ikonographischen Gebrauch des Felsens aus. Insbesondere qualifiziert er ihn zu seiner Verwendung als Attribut verschiedenster Figuren. Im ersten Jahrhundertdrittel sind es vor allem Wesen der wilden Natur und Figuren wie Gegner des Theseus oder dionysische Figuren, die sich räumlich und ethisch jenseits der Poliskultur bewegen, denen Landschaftselemente beigesellt werden. Räumlichkeit definieren Felsen in diesen Fällen weniger als Vertreter eines bestimmten Ortes denn als Gegensatz zur ‚Architektur‘ der Vase und des Bildfelds. Felsen mit deutlich gedämpfter ‚Felsigkeit‘ werden auch dazu genutzt, männliche Bürger in ihrem Leben ‚im Draußen‘ zu charakterisieren. Ab dem mittleren 5. Jh. erweitert sich die Band-

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breite der ikonographischen Verwendung von Felsen, insofern nun auch Musen und (in seltenen Fällen) bürgerliche Frauenfiguren mit ihnen in Zusammenhang gebracht werden. Dazu treten im späten 5. Jh. vermehrt Eroten und Begleiterinnen der Aphrodite. An diesen Figuren wird insbesondere Entspannung und Mühelosigkeit hervorgehoben, wobei die Felsen diesem habituellen Auftreten in ihrer Morphologie stets entgegenkommen. Allgemein hatte sich gezeigt, dass die Breite der ikonographischen Verwendung des Felsens im mittleren 5. Jh. eine gewisse Verwässerung der vormals prägnanten Bedeutung von Felsen verursacht hat. In einem letzten Schritt wurde schließlich der Funktion der Geländelinien für die Darstellungen der Figuren nachgegangen. Dabei wurde v.a. deren Rolle bei der habituellen Charakterisierung von Figuren erwiesen, welcher im Laufe des 5. Jh. eine immer entscheidendere Bedeutung zugekommen ist. Insbesondere werden mithilfe von Geländelinien kraftvolles Auftreten im Kampf und entspannte Ruhehaltungen differenzierter und ausdrucksstärker dargestellt. Desweiteren wurde auf die Verwendung der Geländelinienkomposition zur Schaffung hypotaktisch gegliederter, untereinander kommunizierender und interagierender Gruppen von Figuren hingewiesen. Dabei fiel auf, dass solche Darstellung von lebendiger und interagierender Gemeinschaft – entgegen dem, was man für die ‚klassischen Jahrzehnte‘ der athenischen Demokratie hätte erwarten können – gerade nicht das Bild des männlichen Bürgers bestimmt. Vielmehr ist dies die Charakteristik von dionysischen, apollinischen oder aphrodisischen Gegenwelten. Ausblick Die Untersuchung der Landschaftselemente hat uns im Laufe der Arbeit somit in verschiedenste Fragebereiche, Zeithorizonte und Ikonographien geführt. Es wurden sowohl allgemeine Aussagen getroffen, deren Geltungsbereich die gesamte attische Vasenmalerei ist, Aussagen, die auf bestimmte Ikonographien oder Epochen bezogen sind, als auch Aussagen zur Interpretation einzelner Bilder. Der einzige gemeinsame Nenner dieser vielfältigen Ausführungen ist, dass sie alle ihren Ausgang mehr oder weniger direkt von Bäumen und Felsen genommen haben. Das macht das Schreiben eines Schlusses zu einer schwierigen Aufgabe, wenn dieser Schluss nicht einfach im additiven Wiederholen der verschiedenen Einzelbeobachtungen bestehen soll. Die Frage scheint berechtigt, ob es hier überhaupt so etwas wie ein allgemeines Fazit geben kann, oder ob ein solches auf der Grundlage so vielfältiger Ergebnisse nicht künstlich wäre. Sie ist wohl eher negativ zu beantworten: Die Motive Baum und Fels – der gemeinsame Ausgangspunkt der hier geführten Diskussionen – bilden nur unter der Perspektive der Landschaftsdarstellung eine echte Einheit, doch hatte sich schon sehr bald gezeigt, dass man in der attischen Vasenmalerei

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mit der Kategorie Landschaft nicht weit kommt. Die Natur, wie wir sie verstehen, nämlich als die Gesamtheit der Vegetation, der Tierwelt, der Berge und Täler, der Flüsse und Meere, ist im Griechischen weder begrifflich zu fassen, noch tritt sie einem als Bildthema entgegen. Rechnet man Bäume und Felsen nun nicht mehr zur Landschaft, sondern wählt die neutralere Kategorie des räumlichen Kontextes der Figuren, löst man das Problem nur scheinbar. Es hatte sich nämlich gezeigt, dass der Kontext der Figuren – definiert als die Gesamtheit der Motive, welche die Figuren umgeben – auch keinen Umraum der Figuren bilden, sondern dass die räumliche Einheit, in der sowohl die Figuren, als auch alle sie umgebenden Motive stehen, das ikonographisch bedeutungslose Bildfeld ist. Diese allgemeine Aussage ließ sich anhand vieler Einzelbeobachtungen bestätigen. Bezüglich des Weinbergs als (vermeintlich) räumlichem Kontext für das Treiben der Satyrn und Mänaden in der spätarchaischen schwarzfigurigen Malerei hatte sich z.B. herausgestellt, dass es weniger die dionysischen Figuren sind, die sich im Weinberg tummeln, als dass vielmehr es die Weinreben sind, die dort wachsen, wo Dionysos, Satyrn und Mänaden sind: Die Präsenz von Wein und dionysischen Figuren auf dem Bildfeld bedingen sich gegenseitig. Der Ort ist nicht eine Eigenschaft eines Bildes insgesamt, sondern eine Eigenschaft einzelner Figuren. Der Weinberg fiele in sich zusammen, wenn Dionysos ihn mit seinem Tross verließe. Auch fielen die Geländelinientopographien der Vasenbilder des späten 5. Jh. in sich zusammen, wenn man ihnen die Figuren abzöge. Ebenso wenig löst man das Problem, wenn man anstelle einer Darstellung präziser Orte in der attischen Vasenmalerei lediglich von einer Markierung der allgemeinsten räumlichen Kategorien von ‚Innen‘ und ‚Außen‘ ausgeht, bei der Landschaftselemente selbstverständlich das ‚Außen‘ repräsentieren würden. Diese (vermeintliche) Lösung des Problems des Fehlens einer Darstellung von Umraum scheint besonders dadurch verlockend, dass man sich einerseits mit ihr nur selten in offene Widersprüche verwickelt – diese Raumkategorien bleiben so im Allgemeinen, dass man (fast) jedes Bild mit geringem interpretatorischen Aufwand einer der beiden Alternativen zuordnen kann. Andererseits scheinen die Kategorien von ‚Innen‘ und ‚Außen‘ eine kulturelle Relevanz zu haben, insofern man sie mit beliebig vielen anderen Gegensatzpaaren korrespondieren lassen kann: weiblich-männlich, privat-öffentlich, Oikos-Polis, Polis-Wildnis, Eigenes-Fremdes usw. Wenn es dann darum geht, der Raumdarstellung in einem Bild Sinn zu verleihen, wird sich stets ein passendes Begriffspaar finden. Nun möchte ich keineswegs abstreiten, dass die Kategorien von ‚Innen‘ und ‚Außen‘ eine kulturelle Relevanz haben – am Funktionieren dieser Beschreibungskategorien in kulturanthropologischer Perspektive kann

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überhaupt kein Zweifel sein. Sie lassen sich auf Vasenbilder nur deshalb nicht anwenden, weil es in ihnen keine Raumdarstellung gibt. Der Raum der Figuren muss nicht dargestellt werden, da er bereits in der Vase besteht. Nicht das Bild, sondern der Bildträger hat einen Ort. Die Figuren wiederum werden durch ihre Darstellung an diesem Ort gegenwärtig. Den Ort nun, der den Figuren jeweils attributiv zukommt, können diese in den Raum der Vase mit einbringen: Die rasende Mänade im Inneren der Trinkschale führt die Felsen, von denen sie in der für sie charakteristischen Bergwildnis umgeben ist, mit in das Bild ein. Die Felsen am Tondorand sind Teil der Vergegenwärtigung der rasenden Mänade auf der Vase – ihre Präsenz ist so stark, dass sie sich auf die ‚Wände‘ des Bildfelds aufprägt. In der attischen Vasenmalerei blickt der Betrachter nicht in einen fiktiven Raum, in dem die Figuren stehen. Vielmehr sind es die Figuren, die in den Raum des Betrachters eintreten und dabei den für sie charakteristischen Umraum mitbringen können. Diese Untersuchung attischer Vasenmalerei, welche sich ausnahmsweise mit einer anderen Motivgruppe als den Figuren beschäftigt hat, bestätigt also die Leitfunktion der Figur im Bild. Es fällt durch diese Untersuchung auf die Darstellung der Figur jedoch ein neues Licht: Die Figur besteht nicht nur aus ihrem Körper, sondern all die Elemente des (vermeintlichen) Kontextes sind zur Figur hinzuzurechnen. Dass die Figuren nun also den Kontext ‚aufgesogen‘ haben, ist als Aufforderung zu verstehen, den die Figuren umgebenden Motiven nicht weniger, sondern mehr Aufmerksamkeit zu schenken, jedoch nicht als eigenständige Darstellung von Raum, sondern als integrierender Bestandteil der Darstellung der Figuren. Die Ergebnisse der Untersuchung der Landschaftselemente lassen sich auch auf die Frage nach der Beziehung von Bild und Betrachter richten. Das Konzept eines fiktiven Bildraums, welchen es gemäß der hier aufgestellten These in der attischen Vasenmalerei nicht gibt, nähme den Betrachter mit in eine andere Welt. Das Bildraumkonzept der attischen Vasen dagegen holt eine andere Welt ins Hier und Jetzt des Betrachters. Die Betrachterhaltung, die diesem Bildraumkonzept entspricht, ist keine kontemplative: Der Betrachter muss weder sein Umfeld vergessen, noch in das Bild ‚eintauchen‘, um diesem gerecht zu werden (was nicht heißt, dass es keine anderen Formen des intensiven Betrachtens gegeben haben kann!). Dagegen wird es für die Bedeutung eines Bildes entscheidend, wo sich dieses befindet, da der Ort des Bildträgers nun gleichzeitig auch der Ort der dargestellten Figuren ist. Die Erkenntnis der entscheidenden Bedeutung des Kontextes, in dem ein Bild steht, für dessen Interpretation ist natürlich nicht neu und wird schon seit Jahrzehnten in zahllosen Untersuchungen erfolgreich erprobt. Doch bekommt diese Kontextforschung hierdurch eine zusätzliche, rechtfertigende Grundlage im Bild selbst.

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Schließlich stellt sich die Frage, inwieweit sich die Ergebnisse dieser Arbeit auf andere Bildgattungen übertragen lassen, mithin inwieweit sie eine allgemeine Charakteristik griechischer Bilder zum Vorschein bringen. Diese Frage ließe sich letztlich nur nach einer ebenso kleinteiligen Untersuchung anderer Bildgattungen beantworten. Es sollen hier also lediglich einige Bemerkungen ohne den geringsten systematischen Anspruch gemacht werden: Sucht man zur Verwendung von Landschaftselementen in der attischen Vasenmalerei nach Parallelen in der Rundplastik, wird schnell deutlich, dass sich Vergleichbares v.a. in späteren Epochen findet: Der Barberinische Faun schläft auf einem Felsen, hellenistische Musenfiguren können sich auf Felsen stützen, praxitelische Figuren lehnen an Baumstümpfen, und die Tyche von Antiochia ist von Landschaftselementen umgeben. Der an den Landschaftselementen der attischen Vasenmalerei festgestellte Gegenstandscharakter ließe sich in den rundplastischen Parallelen in Vielem wiederfinden: Es ist auch in rundplastischen Bildwerken üblich, dass Felsen aus einer ansonsten glatten Plinthe hervorkommen und so nicht Teil eines allgemein felsigen Geländes werden, sondern ein einzelner, räumlich begrenzter und den Bedürfnissen der Figur gänzlich angepasster Gegenstand bleiben. Bei der Anpassung der Felsen an die Bedürfnisse der Figuren können diese wie in der attischen Vasenmalerei vollkommen irreale Formen annehmen, wie man es etwa am Barberinischen Faun sehen kann, dem ein schmaler Felsstreifen als Rückenlehne dient. Schließlich ist es in der Plastik ganz offensichtlich, dass die Bäume und Felsen, welche den Figuren als Stützen dienen, zur Darstellung der Figuren zu rechnen und nicht als eigenständige Darstellung von Landschaft anzusehen sind. Diese Parallelen zwischen der attischen Vasenmalerei und der Rundplastik sind weniger seitens der Rundplastik als seitens der Vasenmalerei überraschend: Von Landschaftselementen, die als Statuenstützen dienen, hätte man sich ohnehin keine eigenständige Darstellung von Landschaft erwartet. Doch wer hätte gedacht, dass die zahlreichen Felsen in der attischen Vasenmalerei zu den Figuren in einem Verhältnis stehen, das dem Verhältnis von Statuenstützen zu Statuen ähnelt? Diese Ähnlichkeit kann nicht das Ergebnis von Beeinflussung sein, da sich der Gebrauch von Landschaftselementen in der Plastik erst viel später generalisiert. Eher wäre man geneigt, hier die Wirkung eines gleichbleibenden Grundprinzips der Figuration zu erkennen. In der griechischen Literatur, die in dieser Arbeit sträflich vernachlässigt wurde, ließen sich ebenfalls Parallelen zu den an Vasenbildern herausgestellten Phänomenen finden. Interessant ist hier allerdings, dass es weniger die reichen und stimmungsvollen Naturevokationen bei Homer oder Sappho – wie die Beschreibung der Grotte der Kalypso (Odyssee V, 55ff.) oder die Beschreibung eines heiligen Haines im Sappho-Fragment

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192 (nach Page (1968)) – als die ausgesprochen kargen ‚Landschaften‘ der Tragödie sind, in denen es Vergleichbares gäbe: die Höhle des von den Griechen in der Wildnis ausgesetzten Philoktet (Sophokles, Philoktet 15–39), der Fels, an den Prometheus gefesselt ist (Aischylos, Prometheus Vinctus 1–6, 15, 20ff.), der Felsensitz, auf den sich der blinde Ödipus niederlässt, wodurch sein Betreten – und somit die Befleckung – attischen Landes materialisiert wird (Sophokles, Oedipus Colonus 14ff.). Es handelt sich im wahrsten Sinne des Wortes nur um Landschaftselemente. Ebenso wie Landschaftselemente in der attischen Vasenmalerei reichen sie keineswegs aus, um eine Landschaft entstehen zu lassen, erfüllen aber jeweils eine wichtige Funktion für bestimmte Figuren. Auch hier sind die Parallelen im Gebrauch von Landschaftselementen weniger seitens der Tragödie als seitens der Vasenmalerei überraschend: Wen wundert es, dass im Drama, wo sprechende und handelnde Figuren auftreten, Landschaft nur in Form von isolierten Landschaftselementen vorkommt, und dies nur dann, wenn die jeweiligen Landschaftselemente eine spezifische Funktion für Figuren übernehmen? Bemerkenswert ist dagegen, dass sich für die ‚Landschaft‘ in der attischen Vasenmalerei bessere Vergleiche in den minimalistischen Landschaftserwähnungen der Tragödien als in den teilweise eingehenden Landschaftsbeschreibungen in Epos und Lyrik finden. Die engste literarische Entsprechung mit dem, was hier zum Verhältnis von Figur und Raum in der attischen Vasenmalerei erschlossen wurde, bietet allerdings eine Passage aus dem „Schild des Herakles“, mit der ich schließen möchte: Von dem auf dem Schild dargestellten Perseus berichtet Pseudo-Hesiod, er berühre in seiner Flucht vor den Schwestern der Medusa den Schildgrund nicht („o¾t# ¡r# ãpica÷vn sˇkeo« pos›n o¾ù# `k@« a\toÜ/ ùaÜma mwga Ærˇssasù#“; „weder mit den Füßen den Schild berührend, noch zu weit davon entfernt, ein großes Wunder zu beschreiben“ (Scutum Herculis 217–218)). Die besonderen Fähigkeiten des flügelbeschuhten Perseus sind durch die Kunst des Hephaistos unmittelbar auf sein Bild übertragen worden, das nun ebenso vom Schildgrund gelöst ist wie der ‚reale‘ Perseus vom Boden. Die Gleichheit von Bildträger und Bildraum könnte nicht besser zum Ausdruck kommen: Das Verhältnis des ‚realen‘ Perseus zum Raum, den er blitzschnell durchmisst, wird im Bild im Verhältnis der Figur zum Bildträger realisiert. Was die attischen Vasenmaler mit ihren begrenzten Mitteln nur durch die Lösung der Figur von der festen Grundlinie zum Ausdruck bringen konnten, wird durch das Können des Hephaistos zur physischen Wirklichkeit.

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This book considers the iconography of trees and rocks in Attic vasepainting between the early 6th century and late 5th century BC, observing an ever-increasing diversification of their use over time. Already by the late 6th century, the range of different uses is so large that traditional modes of iconographic analysis can no longer deal with these motifs, and we need to experiment with new methodological tools in order best to understand how the motifs function. Even if the total number of trees and rocks seems to have diminished after 500 BC, fewer and fewer iconographic fields stay completely bare of landscape elements. While in the first half of the 5th century, the association of trees and rocks with figures of the ‚wilderness‘ and the ‚uncivilized world‘ still predominates, this is no longer true in the second half of the fifth century, when landscape elements increasingly occur in the feminine worlds of the muses and of Aphrodite. On the other hand, the typological diversity of trees and rocks remains limited throughout the sixth and fifth centuries: among the different sorts of trees trees, only the pine, palm, ivy and vine are sufficiently individualized to be identified by formal grounds alone. The reason for their formal specificity seems clear, since they all have a mythological/cultic reference: the pines refer to centaurs, the palms to Apollo, and the ivy and vine to Dionysus. The formal typology of rocks turns out to depend on the functions that they fulfill for the figures associated with them. Isolated rocks that do not fulfill any function for the figures remain very rare, although their number is slightly larger in the early and middle 5th century. The first part of this study analyzed the spatial properties of trees and rocks. It argued that these landscape elements corresponded, in terms of their spatial properties, to objects: they have what I call a ‚finite extension‘ (räumliche Begrenztheit), they are moldable and mobile. They do not themselves constitute and embody pictorial space, but instead comprise objects in space. At this point, the argument was put forward that this space is equivalent to the non-figurative pictorial field (Bildfeld). The rest

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of part one tries to fill this basic definition of pictorial space with content by analyzing the structure of that non-figurative space which is composed of the single ground-line at the bottom of the image (Grundlinie) and the pictorial field. For the purpose of what could be called a ‚grammar of images‘, we studied in detail the position that trees and rocks occupy within the non-figurative space. Finally, we studied the pictorial fields of the later 5th century with their multiple ground-lines (Geländelinien) within the pictorial field, which seem to conflict with the concept of a non-figurative space. These proved to be in keeping in many respects with the structure of the pictorial space described earlier, despite the very different figurecompositions that they allow. As a methodological directive for the rest of the book, this first part demonstrated the need not to look at trees and rocks as depictions of space, but rather to ask what role they play in the depiction and characterization of the figures and their actions. Part two of the study proceeded in roughly chronological order, dealing with the more semantic aspects of trees and rocks. Instead of looking for a general meaning for these motifs, it tried to define the way in which they contribute to the specific construction of meaning in single pictures and iconographies. First, I dealt mainly with black-figure vases: what the trees and rocks on these vases have in common is what could be called their ‚heteronomy‘: instead of following their own rules, they correspond both in their function and in their morphology (especially in the case of rocks) to objects like weapons, stools and beds. As ‚raw‘ entities, rocks substitute objects of the civilized world and thereby point to the divergent behavior of the figures which come into contact with them. The following section of the study described the process in which trees and rocks receive aesthetic autonomy in the early 5th century by developing more and more morphological specificity. As could be seen, this process had an effect on the iconographic use of trees and rocks. In particular, it led to their use as attributes for the figures. In the first third of the fifth century, landscape elements function mainly as attributes for figures connected with wild nature, as well as for figures (like the enemies of Theseus or members of the Dionysiac thiasos) that stand both spatially and ethically beyond the boundaries of the polis. In these cases, rocks do not so much indicate certain places, but rather define space in opposition to the ‚architecture‘ of the vase and the pictorial field. Rocks with a much more regular morphology can be used to characterize male citizens as living in the outside world. From the mid 5th century onwards, the range of iconographic uses of rocks widens, as they begin to be associated with Muses and (in some cases) with ‚normal‘ women; finally, towards the later 5th century, rocks enter the world of Aphrodite and Eros. There, the rocks contribute by the form that they take (or rather, by the form that they take in relation to respective figures) to the depiction of a relaxed and effortless pose. Due to

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the diversity of the iconographic use of rocks in the second half of 5th century, we can distinguish a general trend toward a more ‚dilute‘ semantic sense of the formerly strong motif of the rock. A last chapter dealt with the function of multiple ground-lines (Geländelinien) for the depiction of figures. Their role in the differentiated depiction of pose, which gains more and more importance in characterizing figures during the course of the fifth century, was also highlighted. In particular, ground-lines (Geländelinien) help to depict more convincingly and in more detail powerful appearances and relaxed attitudes. Finally, it was shown how the multiple ground-line-compositions of the late 5th century help to depict structured groups of communicating and interacting figures. Thus, the interesting fact emerged that the depiction of interacting, vivid communities never entered the image of the male citizen, even in these ‚classic decades‘ of Athenian democracy. On the contrary: it remains specific to the worlds of Dionysus, Apollo and Aphrodite, as opposed to the sphere of the male Athenian citizen. Perspectives The study of landscape elements has raised many different kinds of questions and led us in different chronological, iconographic and interpretative directions. I have made a number of overarching observations about Attic vase-painting and about general groups of iconographies and pictures, as well as about the interpretation of single vases. The only thing all these observations have in common is that they have their origins more or less directly in the study of trees and rocks. This makes the writing of a conclusion a difficult task – unless we were simply to repeat our findings, or else to offer some all-embracing (and therefore wholly artificial) general summary. The difficulty is that the category of ‚landscape‘ with which the book began turned out to be highly problematic: we chose material according to a category which turned out not to exist in Attic vase-painting. Nature as we understand it – the entire vegetation, animals, valleys, mountains, rivers, etc. – can neither be conveyed by a single ancient Greek word, nor does it appear as the autonomous subject matter of Greek art. What, then, to conclude about the use of trees and rocks specifically? Privileging ‚trees‘ and ‚rocks‘ instead of landscape, and focusing on the more neutral category of the spatial context of figures, does not quite solve the problem. Indeed, it emerged that the context of the figures – defined as the totality of motifs surrounding the figures – does not constitute the space of the figures, but that the spatial entity which embraces both the figures and their surrounding motifs is the pictorial field, which is itself bare of any iconographical meaning. That general statement showed itself applicable to many single observations. Concerning the frequent grapevine surrounding the figure of Dionysus, for example, it appeared better

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to say that the vine grows where Dionysus and his thiasos are, than to say that Dionysus, the satyrs and maenads hang around in vineyards: the presence of Dionysus, satyrs and maenads calls for the presence of grapevine and ivy, and vice-versa. The vineyard would implode as soon as Dionysus and his thiasos were to leave it, as would the ‚landscapes‘ built of wavy ground-lines in later 5th century vase-paintings were the figures to withdraw. The problem is not resolved, either, by assuming – instead of precise locations – the iconographic existence of more general spatial categories of ‚inside‘ and ‚outside‘ (where landscape elements would of course represent the ‚outside‘ world). This (alleged) solution to the problem of the missing depiction of the surrounding space of the figures in iconography may appear seductive because it rarely leads to open contradictions: the alternatives of ‚inside‘ and ‚outside‘ are so broad that most of the pictures fit into one of these categories with little interpretative effort. Furthermore, the categories of ‚inside‘ and ‚outside‘ seem to have a lot of cultural relevance; indeed, they can be associated with many other dialectic pairs, like feminine-masculine, private-public, oikos-polis, polis-wilderness, self-alien, etc. Thus, it is always possible to introduce sense into the ‚inside‘ or ‚outside‘-space that the image supposedly represents by choosing the appropriate pair of concepts. Of course, I by no means claim that the categories of ‚inside‘ and ‚outside‘ are without any cultural relevance – there can be no doubt that they are useful categories of anthropological description. But they cannot be applied to Attic vase-painting because, on Attic vase-painting, there is simply no depiction of space. There is no need for it, as the space of the figures already exists: it is the vase itself. The picture does not require a location, in other words, because the location is the material support, which is to say the pot. The figures on their part become present in that location by their depiction on the vase. In turn, the location linked attributively to each figure can be brought into the space of the vase by the particular figure: so, the furious maenad dancing in the tondo of a cup can bring the rocks that surround her in the wilderness of the mountains with her into the picture. The rocks on the rim of the tondo are part of her presentification on the vase; indeed, the maenad’s presence is so strong that it stamps itself on the ‚walls‘ of the pictorial field. In Attic vase-painting, the viewer does not look into a fictional space in which the figures are standing. On the contrary, it is the figures which enter the space of the viewer, bringing their characteristic surroundings with them. By dealing not with figures, then, but rather with other motifs, this study has ended up confirming the leading role that the figure plays in the image. But it has also shed new light on the way in which those figures are depicted: as we have seen, the figure is not limited to its body, but rather

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comprises all of the elements of its so-called context. So the fact that the figures have ‚usurped‘ their context should be understood as an invitation to draw not less but more attention to their surrounding motifs, even if not as an independent depiction of space, but rather as part of the depiction of the figures. The results of this study can therefore be turned toward questions about the relationship between image and viewer. The concept of a fictional pictorial space, which according to my thesis does not apply to Attic vase-painting, would take the viewer into another world. The concept of the specific pictorial space of Attic vase-painting brings another world into the presence of the viewer. The ‚viewing-attitude‘ (Betrachterhaltung) corresponding to that concept of the pictorial space is not a contemplative one: the viewer does not have to forget his own surroundings and to ‚dive‘ into the picture in order to live up to it (although this does not imply that there cannot be any other kind of intense viewing). On the other hand, the placement of the picture becomes essential for its meaning, because the location of its material support also serves as the location of the represented figures. Of course, an awareness of the essential importance of its context for the meaning of an image is not new; this theme has proved highly productive for several decades now, and in countless earlier studies. Here, though, the subject receives a new and additional justification in the study of the images themselves. Eventually, the question must arise as to whether the results of the present study can apply to other types of images: to what extent, in other words, do Attic vase-paintings betray a general characteristic of all Greek art? In fact, this question can only properly be answered after an equally close iconographic study of other visual media. But some initial, tentative claims might nevertheless suggest themselves. There are parallels in the use of landscape elements in round sculpture, mainly in later epochs: the Barberini Faun sleeps on a rock, Hellenistic muse-statues sometimes lean on rocks, Praxitelean figures lean on tree trunks, and the Tyche of Antiochia is surrounded by landscape elements. The object-like spatial properties of landscape elements in Attic vase-painting can be found in many aspects of sculpture too. Rocks project out of otherwise flat plinths, for example: they are not part of a general rocky ground but remain an isolated, spatially delimited and mobile object that conforms perfectly to the needs of the figure. By doing so, rocks can occasionally take on a completely unreal morphology, like the thin and elongated rock on which the sleeping Barberini Faun reclines. Finally, the tree trunks to which figures are attached (especially in marble copies of bronze sculpture) are obviously to be understood as part of the depiction of the figure and not as an independent depiction of landscape. These parallels between vase-painting and sculpture are less surprising

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from the perspective of sculpture than they are from the perspective of vase-painting: indeed, no one would have expected an independent landscape-depiction from a tree trunk supporting a marble figure. But who would have thought that the relationship of landscape elements and figures in Attic vase-painting corresponds to that of a sustaining tree trunk and a statue? These parallels are certainly not due to direct influence, as the use of landscape elements in sculpture is generalized only much later than in vase-painting. Rather one might be inclined to see here the effect of an unchanging and consistent principle of figuration. In Greek literary texts, otherwise neglected in this book, one might also find similar phenomena. Surprisingly, however, these parallels are not found in Homer or Sappho, with their rich and insightful evocations of nature – like the description of Kalypso’s grotto (Od. V, 55ff.) or the sacred grove in a fragment of Sappho (frg. 192 Page). Rather, the closest parallels come from tragedy, despite its rather more sparse ‚landscapes‘: the cave of Philoktetes, abandoned in the wilderness by the Greeks (Sophokles, Philoktetes 15–39), the rock to which Prometheus is bound (Aischylos, Prometheus Vinctus 1–6, 15, 20ff.), the rock on which the blind Oedipus sits (thereby materializing his simultaneous entering and defilement of Attic land: Sophokles, Oedipus Colonus 14ff.). These are – in the truest sense of the word – landscape-elements: just as in vasepainting, they should in no way be called a ‚landscape‘, but instead fulfill on each occasion an important function in characterizing the particular figures with which they are associated. Here too, parallels in the use of landscape elements are less surprising from the perspective of tragedy than they are from the perspective of vasepainting. Who would be worried by the fact that landscape appears as isolated elements in drama, a medium dominated by speaking and acting figures? But it is nevertheless noteworthy that the ‚landscape‘ of Attic vase-painting is closer to the minimalistic allusions to landscape in tragedy than it is to the lengthy descriptions of landscape in epic and lyric. However, the closest parallel to what was said here about the relationship between figure and space can be found in the „Shield of Herakles“ with which I would like to end: concerning the figure of the fleeing Perseus, Pseudo-Hesiod states in his description of the shield that the hero does not touch the ground of the shield („o¾t# ¡r# ãpica÷vn sˇkeo« pos›n o¾ù# `k@« a\toÜ/ ùaÜma mwga Ærˇssasù#“; „nor does he touch with his feet the shield, nor is he too far from it, a great miracle to describe“ (Scutum Herculis 217–218)). By the exceptional craft of Hepahaistos, the special abilities of Perseus, wearing his winged sandals, are directly transposed to his image: just as the ‚real‘ Perseus is detached from the ground of the land while running, so is his figure detached from the ground of the shield. The identity of the pictorial space and its material

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Zusammenfassung/Summary

support could not be brought out better: the relationship between the ‚real‘ Perseus and space – which he crosses at an incredible speed – is realized in terms of the relationship between the figure and the material support of the image. What Attic vase-painters managed to show by detaching Perseus from the drawn ground-line becomes, thanks here to the artistic mastery of Hephaistos, physical reality.

Anhang

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Anmerkungen

Einleitung 1 Löwy (1900), 4. Unter Naturwiedergabe versteht der Autor folgerichtig auch nicht die Wiedergabe der Natur, sondern eher die Naturtreue der Wiedergabe des Menschen. 2 Hölscher (2003), 165. 3 In der Tat besteht zwar in sehr vielen Einzelfragen zwischen der communis opinio um 1900 und heute Einigkeit, doch würden sich die Archäologen beider Epochen kaum darauf einigen können, ob z.B. die griechische Kunst mimetisch sei, eine Aussage, an deren allgemeiner Richtigkeit um 1900 wohl niemand gezweifelt hätte. 4 Der Begriff „Thema“ ist hier beliebig gewählt. Es geht um die Präponderanz der menschlichen Figur gegenüber anderen Motiven. Man könnte auch sagen, dass die menschliche Figur der Grundbaustein der allermeisten Bilder ist. 5 Diese Ausnahmen fügt Hölscher übrigens gleich im darauffolgenden Satz in das entworfene Bild ein: „Es gibt Ausbrecher, zu allen Zeiten: ein ausgemaltes Grab aus dem 6. Jahrhundert v. Chr. im etruskischen Tarquinia mit einer Meerlandschaft, in der vornehme Jugendliche vergnüglich baden und fischen; oder die berühmten Landschaften mit den Abenteuern des Odysseus aus der Zeit des Augustus. Aber in aller Regel beherrschen die Menschen das Bild: mit ihren Körpern.“ Für die attische Vasenmalerei wären in der Reihe solcher Ausnahmen etwa die Amphora des PriamosMalers mit den badenden Nymphen oder Mädchen zu nennen (sf. Bauchamphora, Rom, Museo Nazionale Etrusco di Villa Giulia 2609, Para 146.8ter, ca. 520–500, Abb. in: Hurwit (1991), 41 (hier Abb. 20), Abb. 5, BA: 351080) oder die Amphora mit der Trauernden im Vatikan (Museo Gregoriano Etrusco Vaticano 350, ABV 140.1, 686, Para 58: Painter of the Vatican Mourner, Abb. in: Beazley (1951), Taf. 78.5 (hier Abb. 296), BA: 310352). Sehr viel länger würde diese Reihe jedoch auch durch intensives Suchen nicht. Diese Ausnahmen stehen somit bloß Zeuge für die Vielfalt der Bildproduktion und für die Tatsache, dass die Regel, zu der sie Ausnahmen bilden, nicht durch ‚externen‘ Zwang, der jedes Ausschwenken unterbinden würde, auferlegt ist, sondern eine wahrhaft kulturelle (oder, wenn man möchte, anthropologische) Charakteristik dieser Bilderwelt ist. Zu der Reihe der Ausnahmen, siehe hier Einleitung, S. 15f. 6 Die Zahl der attischen Vasenbilder – also der Bildgattung, um die es in dieser Arbeit gehen wird –, in denen Bäume und Felsen erscheinen, dürfte größenordnungsmäßig bei 5000 liegen. Diese Schätzung kommt folgendermaßen zustande: Bereits durch die Eingabe der Suchbegriffe „TREE“, „ROCK“ und „SPRIG“ (mit ihren entsprechenden Pluralformen) im digitalen Beazley-Archiv erreicht man eine Zahl von etwa 3000 Vasen. In dieser Zahl sind freilich auch solche Bilder enthalten, die

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keine eigentlichen Landschaftselemente zeigen, wenn z.B. „sprig“ Zweige meint, die von einer Figur beim Opfer gehalten werden. Vor allem aber fehlen bei diesen ca. 3000 Vasen all die Bilder, deren Landschaftselemente in der Bildbeschreibung nicht erwähnt wurden. Letzteres geschieht insbesondere dann, wenn das Vorkommen von Bäumen, Zweigen oder Felsen eine Selbstverständlichkeit darstellt und daher nicht eigens angesprochen wird. Dies gilt für bestimmte Ikonographien (wie etwa viele Herakles- oder Theseus-Taten), oder ganz allgemein für spätschwarzfigurige Bilder, auf denen die Zweige im Bildhintergrund ein fast obligatorisches Element darstellen, und nicht als erwähnenswert erachtet werden. Die ‚Dunkel-Ziffer‘ muss also sehr deutlich über diesen ca. 3000 liegen. Ich erlaube mir, diese These ohne weitere Begründung bereits hier vorauszuschicken. Sie wird sich im Laufe dieser Arbeit an zahllosen Beobachtungen bestätigen. Löwys bewusster Umgang mit der Photographie wird etwa daran deutlich, dass er die Erkenntnisse der damals neuen Momentphotographie in seine Forschungen integriert. Es wird im Folgenden sicherlich der eine oder andere kunstgeschichtliche Fehler zu finden sein. Doch geht es hier bloß um grobe Züge, die nicht feiner sein müssen, als die landläufige Vorstellung von dem, was ein Landschaftsbild ist. Ich habe nicht im geringsten den Anspruch, der neuzeitlichen Landschaftsmalerei gerecht zu werden und sie in allen Facetten darzustellen. Während hier die Träger der Handlung deutlich größer erscheinen, als die Hirtenfiguren, die gewissermaßen Teil der Landschaft sind, kann sich dieses Verhältnis auf anderen Bildern Lorrains auch umkehren, wie etwa auf einer Flucht nach Ägypten in Dresden von 1647, wo die Heilige Familie im verschatteten Randbereich des Bildes gegenüber den Hirten im Vordergrund fast verschwindet. Bezüglich der Landschaftsmalerei von Caspar David Friedrich wäre man hier vielleicht zu einem anderen Ergebnis gekommen … Bérard u. Vernant (1984). Nicht im Sinne einer Abbildung von Realia, sondern im Sinne eines ideologischen Bezugs auf die Bürgerwelt. Einem Autor der „cité des images“ … Lissarrague (1987). Ein zweiter Autor (und Herausgeber) der „cité des images“, Claude Bérard, geht in seiner weiteren Forschung einen anderen Weg, nämlich den einer dezidiert semiotischen Analyse der Vasenbilder, was ihn noch weniger zu einer Reformulierung des Bildraums führt. Als Beispiel aus der unmittelbaren Vergangenheit könnte man die 2005 in Buchform erschienene Habilitation von S. Schmidt mit dem bezeichnenden Titel „Rhetorische Bilder“ nennen: Schmidt (2005). Hedreen (2001). Dieses einzige umfangreichere Buch über Landschaftselemente der zeitgenössischen Forschung wird im Laufe dieser Arbeit noch an verschiedener Stelle diskutiert werden. Siehe hier unten, S. 17; Teil I, S. 37, Anm. 45; S. 97, Anm. 173; S. 98–99. Dies führt oftmals zu ausgesprochen komplizierten Diskussionen verschiedener schriftlicher Überlieferungen, wenn die geläufige Mythenversion auf die auftretenden Landschaftselemente nicht passen will, mit dem Ergebnis, dass in dem Buch wohl mehr über Textüberlieferungen als über Bilder verhandelt wird. Diese Problematik wird im Kapitel zum Gegenstandscharakter der Landschaftselemente eingehend diskutiert werden. Siehe hier Teil I, S. 92–104. Rühfel (2003). Siehe etwa: Mannack (2002). Diese sehr knappe Einführung, welche nach einem minimalistischen Überblick über die Ikonographie – die bezeichnenderweise zusammen mit der Verwendung der jeweiligen Vasen vorgestellt wird – und über die

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Grundlagen der Chronologie vor allem einzelne Maler anhand ihrer ‚Meisterwerke‘ portraitiert, lässt an keiner Stelle Platz für grundsätzliche Aussagen über den Raum der Vasenbilder. Das weniger systematische, dafür aber ungleich anspruchsvollere und zum Denken anregende Buch von F. Lissarrague (Lissarrague (1999) – der Vergeich ist nicht gerecht, da letzteres kein Handbuch sein will) versucht bewusst, die vermeintliche Autonomie des Vasenbilds zu konterkarieren. Diese Forderung ist nicht neu. Wenn auch auf einen ganz anderen Gegenstandsbereich bezogen, wird sie sehr explizit von T. Hölscher in seinem Aufsatz zur Römischen Bildsprache als semantischem System aufgestellt: „Die Bemühungen der jüngsten Zeit, römische Bildwerke als Zeugnisse politischer Absichten und gesellschaftlicher Verhältnisse zu begreifen, haben häufig dazu geführt, dass formale Phänomene gegenüber Ikonographie und Ikonologie stark in den Hintergrund traten, wenngleich diese Einseitigkeit bei der Begründung moderner Ikonologie durch E. Panofsky nicht notwendig angelegt war. Gewiß konnte man um der neuen Fragestellung willen eine Weile auf die traditionelle Formanalyse verzichten – aber der Verzicht hat schwerere Folgen als vielfach bewusst ist, und zwar gerade für die Sozialgeschichte. Denn nur wenige kuturelle Phänomene haben einen derart ausgeprägten kollektiven und sozialen Charakter wie der künstlerische Stil und die Bildsprache.“ (Hölscher (1987), 9). Dennoch kann man nicht behaupten, diese Forderung sei seitdem in vollem Umfang eingelöst worden. Neer (2002). Der Autor wird seinem Programm einer Verbidung von „style“ und „politics“ in der Interpretation von Vasenbildern gleichwohl nicht in jedem seiner sehr heterogenen Kapitel gerecht (Es gilt, die viel breitere und z.T. vielleicht etwas ‚verwaschene‘ Verwendung des Begriffs „politics“ im Englischen zu beachten.). Besonders interessant und orginell scheint mir das Kapitel „The evolution of naturalism“ (27–86), in dem u.a. die Erfindung des rotfigurigen Stils auf neue Weise beleuchtet wird, indem er nicht gegen den schwarzfigurigen ausgespielt, sondern als konsequente Fortführung schwarzfiguriger Könnerschaft erwiesen wird. Bezüglich der Einfigurenbilder des Berliner Malers werden interessante Bemerkungen zum Verhältnis von Figur und Raum gemacht (65ff.). Giuliani (2003). Überhaupt lief die Beschäftigung mit auffälligen Phänomenen in der Darstellung von Raum bisher oft über die Diskussion von Mythenikonographien, denen gerade ein zeitlicher Ablauf zugrunde liegt. Die präzise Kenntnis der dargestellten Begebenheiten und der damit einhergehenden Orten gab dem Interpreten ein Mittel in die Hand, Unstimmigkeiten in der Raumdarstellung (gemessen an unserer Vorstellung von Raumdarstellung!) zu identifizieren, und zum Gegenstand einer Interpretation zu machen. Siehe dazu Raeck (1984), 1ff. (mit älterer Literatur. Siehe insbesondere Himmelmann (1967)). Eine kurze und intelligente Diskussion der bis dahin aufgestellten Thesen findet sich auch in den ersten Seiten von: Stewart (1987), 29ff. (mit Literaturhinweisen in Anm. 4). Siehe auch: Stansbury-O’Donnell (1999), v.a. 83–91. Dass man solche räumlichen Unstimmigkeiten in nicht-narrativen Ikonographien seltener entdecken kann, liegt daran, dass mangels Narration erst gar keine Orte in das Bild eingebracht werden, sich diese Orte also auch nicht widersprechen können. Wenn S. Moraw behauptet, die mangelnde raum-zeitliche Einheit vieler Mythenbilder treffe auf dionysische Ikonographien nur sehr selten zu, lässt dies also keinewegs darauf schließen, dass dort Raum anders dargestellt würde als in Mythenbildern (siehe Moraw (1998), 211, Anm. 874). Martens (1992). Viele Thesen dieses Buches werden im Laufe dieser Arbeit noch diskutiert werden. Siehe: Strawczynski (2003), mit einer Diskussion der Bilder des Kirke-Abenteuers, an denen sich viele Studien zu Raum- und Zeitdarstellung in der griechischen Bildkunst festmachen. Siehe auch: Strawczynski (2005), mit der Forderung nach einem

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Bildverständnisses, das sich von der Indentifizierung bestimmter Orte lösen solle. Ein kleiner Artikel bereits von 1980 von Durand und Lissarrague zum „Raum des Louterions“, in dem sich die Autoren unmittelbar mit der Frage nach der Natur des Raumes in Vasenbildern beschäftigen, darf hier nicht unerwähnt bleiben: Durand u. Lissarrague (1980). Die darin vorgeschlagene Unterscheidung von „constructeurs d’espace“ und „indicateurs d’espace“ (92–93) ist zwar als Unterscheidung sachlich vollkommen richtig, konnte sich aber nicht durchsetzen, wohl weil das vorgeschlagene Modell zu kompliziert war, um für den praktischen Gebrauch tauglich zu sein. Natürlich ist es letztlich unmöglich, ganz ohne eine Fragestellung an einen Befund heranzugehen. Diesen hermeneutischen Grundsatz möchte ich hier nicht in Frage stellen, sondern bloß das Ziel verfolgen, beim notwendigen Zusammenspiel und der gegenseitigen Beeinflussung von Befund und (zumindest anfangs extern herangetragener) Fragestellung, das relative Gewicht des Befunds und seinen Einfluß auf die Fragestellung so groß wie möglich werden zu lassen. Hölscher (2003), 165. Gemeint ist die reale griechische Landschaft. Woermann (1876). Dieses Überblickswerk scheint zumindest in der deutschsprachigen Forschung in der Folgezeit den Charakter eines Standartwerks bekommen zu haben, wie man es aus dessen Erwähnung am Beginn der Dissertation von M. Heinemann erschließen kann, wo es als verdienstlich, aber (offenbar durch neu hinzugekommenes Material) veraltet beschrieben wird (Heinemann (1910), 7). Der Autor hat sich auch in anderen Werken mit dem Thema der Landschaft in der Antike beschäftigt. Siehe: Woermann (1871); Woermann (1876a). Die Theorie von einer ‚Wesensverwandtschaft‘ zwischen griechischer Kunst und griechischer Landschaft findet sich auch in: Straub (188