Fallbuch Psychiatrie
 9783131401816, 3131401818 [PDF]

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Zitiervorschau

Fall 1 34−jähriger Mann mit pektanginösen Beschwerden Während Ihres Notfalldienstes in einer Ambu− lanz für Innere Medizin wird ein sportlich wirkender junger Mann mit Verdacht auf Herzinfarkt bei Stenokardien und Erstickungs− gefühlen eingeliefert. Das EKG zeigt Ihnen den folgenden Befund (s. Abb.).

Fall

1 2

EKG des Patienten

1.1 . . Befunden Sie das EKG!

Körperliche und laborchemische Untersuchungen sind unauffällig. Der Patient berichtet Ihnen aufgeregt und atemlos davon, dass es sich nun um die 5. Einlieferung in eine Klinik mit der gleichen Symptomatik handele und man bisher nie etwas gefunden habe. Er erleide aber beim Auftreten der Symptome eine so schreckliche Angst, an einem Herzversagen zu sterben, dass er den Notarzt rufen und sich untersuchen lassen müsse. Er käme sich manchmal schon fast al− bern vor, da er stets am nächsten Tag wieder entlassen werde. Er könne sich sein Leiden nicht erklären, obwohl ihm klar sei, dass sein Vater an einem Herzinfarkt verstorben sei.

1.2 . . Stellen Sie eine Diagnose!

1.3 . . Was tun Sie weiterhin?

1.4 . . Nennen Sie weitere Organsysteme mit den dazugehörigen Schlagwortdiagnosen, die sich in dieselbe Systematik einordnen lassen!

1.5 . . Wie sind Affekte und vegetative Symptome physiologisch miteinander verbunden?

Antworten und Kommentar Seite 68 Aus J. Becker-Pfaff, St. Engel: Fallbuch Psychiatrie (ISBN 3-13-140181-8) © Georg Thieme Verlag Stuttgart 2006 Dieses Dokument ist nur für den persönlichen Gebrauch bestimmt und darf in keiner Form an Dritte weitergegeben werden!

Fall 2 38−jähriger Mann mit Drogennotfall“ der Patient bisher unauffällig“ gewesen sei. Sie nehmen sich daher die Akte vor und lesen: Einweisung 3 Tage zuvor wegen seltsamer Ängste, zunehmenden Rückzugs, zeitweiliger Abwesenheitszustände; bisheriger Verlauf un− auffällig, viel Bettruhe; Beruf: Rockmusiker; aktuelle Medikation 2 3 50 mg Perazin und Lorazepam bei Bedarf, nicht in Anspruch ge− nommen; 2 Tage altes Labor: Leukozyten 13 500/ml, unauffälliges Drogenscreening; kör− perliche Untersuchung: kein pathologischer Befund bei unwilligem Patienten; Verdachts− diagnose: Psychose aus dem schizophrenen Formenkreis.

2.1 . . Wie bezeichnen Sie den Zustand des Patienten?

Fall

Als Dienstarzt in einem psychiatrischen Kran− kenhaus werden Sie am frühen Abend zu ei− nem 38−jährigen Patienten gerufen, den Sie nicht kennen. Die Krankenschwester hatte Sie gerufen, weil sie glaubte, dass der Patient mit irgendwelchen Drogen“ intoxikiert sei, stamme er doch aus dem entsprechenden Mi− lieu. Der Patient ist schläfrig, stöhnt leise vor sich hin und reagiert auf Ihre Ansprache nur sehr zögerlich. Seine Antworten verstehen Sie kaum, er droht immer wieder einzuschlafen. Er kann Ihnen jedoch zeigen, dass ihm der Kopf wehtut. Die Schwester kann Ihnen zum bisherigen Verlauf keine Angaben machen, da

2 3

2.2 . . Welche Gründe für seinen Zustand erwägen Sie?

2.3 . . Wie gehen Sie diagnostisch vor?

2.4 . . Definieren Sie die unterschiedlichen Ausprägungen von Bewusstseinsstörungen!

2.5 . . Was tun Sie im Fall einer Nackensteifigkeit und erhöhten Körpertemperatur?

Antworten und Kommentar Seite 69 Aus J. Becker-Pfaff, St. Engel: Fallbuch Psychiatrie (ISBN 3-13-140181-8) © Georg Thieme Verlag Stuttgart 2006 Dieses Dokument ist nur für den persönlichen Gebrauch bestimmt und darf in keiner Form an Dritte weitergegeben werden!

Fall 3 29−jähriger hilflos wirkender Mann

Fall

3 4

Ende März wird Ihnen im psychiatrischen Notfalldienst durch die Polizei ein 29−jähriger Mann gebracht, der gegen 23 Uhr in Badelat− schen, einer Trainingshose und einem ver− schmutzten T−Shirt unterwegs und Passanten aufgefallen war. Der Patient wirkt verstört, guckt sich fragend um und scheint nicht zu verstehen, was mit ihm vorgeht. Er spricht kein Wort deutsch und kann anhand seines Ausweises als Russe identifiziert werden. Er führt eine seit 2 Tagen geltende Aufenthaltser− laubnis mit sich. Als er sich Ihnen gegenüber setzt, lächelt er Sie verwirrt an, schüttelt den Kopf und sagt:  Deutsch njet.“ Er weist wie− derholt auf den Telefonapparat in dem Unter−

suchungszimmer und versucht, Ihnen etwas verständlich zu machen. Seine leichte Bier− fahne veranlasst Sie dazu, eine Alkoholbestim− mung in der Ausatemluft durchzuführen, die einen Wert von 0,5  ergibt. Seine Ausführun− gen, die Ihnen ein wenig gehetzt und aufge− regt vorkommen, können Sie leider nicht ver− stehen. Sie hören nur immer wieder den Namen Alexander heraus, wobei der Mann dies jedes Mal mit Schulterzucken kommen− tiert. Die Polizei möchte von Ihnen wissen, was mit dem Mann weiter geschehen soll und ob er psychisch krank sei, so dass ein Verbleib im psychiatrischen Krankenhaus gerechtfertigt wäre.

3.1 . . Begründen Sie anhand der Definitionen der Begriffe Psychiatrie, Psychologie und Psychopathologie, warum der Patient durch die Polizei bei Ihnen vorgestellt wird!

3.2 . . Welche Bereiche des psychischen Erlebens müssen Sie im Rahmen eines psychopathologischen Befundes beschreiben? Nennen Sie für die einzelnen Bereiche mögliche Abweichungen!

3.3 . . Welche Psychopathologie können Sie bei dem Patienten beschreiben?

Sie erinnern sich daran, dass der diensthabende Krankenpfleger russisch spricht und holen ihn hinzu. Dieser übersetzt Folgendes: Der Patient sei erst wenige Tage zuvor nach Deutschland eingereist und wohne bei einem Freund namens Alexander. Dieser hatte den Patienten mit einer mündlichen Wegbeschreibung zum Zigaretten holen geschickt, und der Patient hatte sich in der unbekannten Stadt verlaufen. Er habe jedoch die Telefonnummer des Freundes auswendig ge− lernt, weswegen er darum bitte, das Telefon benutzen zu dürfen.

3.4 . . Was tun Sie?

Antworten und Kommentar Seite 71 Aus J. Becker-Pfaff, St. Engel: Fallbuch Psychiatrie (ISBN 3-13-140181-8) © Georg Thieme Verlag Stuttgart 2006 Dieses Dokument ist nur für den persönlichen Gebrauch bestimmt und darf in keiner Form an Dritte weitergegeben werden!

Fall 4 37−jährige Patientin mit Wahneinfällen möchte das Haus auch gerne haben, deswegen sorgt sie jetzt dafür, dass ich hier in die Psy− chiatrie komme und für unzurechnungsfähig erklärt werde. Dann kann sie ja das Haus kau− fen.“ Im weiteren Gespräch versuchen Sie, die verstrickte Geschichte zu klären und stoßen dabei auf immer mehr Widersprüche, die die Patientin dann wortreich aufzuklären ver− sucht. Ihre Fragen nach Stimmen, die sie höre, oder anderen Sinnestäuschungen verneint sie, ebenso Ihr vorsichtiges Erkunden von Beein− flussungserleben, Gedankeneingebung oder Gedankenentzug. Zu ihrer Stimmung sagt sie: Ich bin traurig und verzweifelt. Wie würde es Ihnen gehen, wenn sich einige Menschen ge− gen Sie verschworen hätten, wo ich doch so ein schönes Leben haben könnte?“ Dabei weint sie.

Fall

Eine ambulant tätige Psychiaterin weist Ihnen in die psychiatrische Klinik eine 37−jährige Pa− tientin ein, die gegen ihren Willen von der Po− lizei gebracht wird. Sie hatte eine Betreuerin im Frauenhaus angegriffen. Bei Ankunft schil− dert sie Ihnen freundlich ihre Sicht der Ereig− nisse: Ich habe die Sozialarbeiterin angegrif− fen, weil sie versucht, mich um mein Erbe zu bringen. Sie steckt mit meinem Rechtsanwalt unter einer Decke, der mich in einem Erbstreit vertritt. Er hat mich als Kind im Haus meiner wirklichen Eltern in Rumänien schon mehr− fach vergewaltigt und ist mir nun vom Sozial− amt als Rechtsbeistand zugeteilt worden. Er will mich heiraten, da er weiß, dass ich adlige Eltern in Slowenien habe und noch viel erben werde. Er ist völlig verliebt in mich. Jetzt geht es aber um das Haus meiner Adoptiveltern hier in Deutschland. Die Sozialarbeiterin, die

4 5

4.1 . . Beschreiben Sie die inhaltlichen Denkstörungen der Patientin!

4.2 . . Definieren Sie den Begriff Wahn!

4.3 . . Welche verschiedenen Arten des Wahnerlebens kennen Sie?

4.4 . . Grenzen Sie die wahnhafte Störung von der paranoid−halluzinatorischen Schizophrenie ab! Welche Diagnose stellen Sie bei dieser Patientin?

4.5 . . Würden Sie der Patientin ein Antidepressivum verordnen? Begründen Sie Ihre Ansicht!

Antworten und Kommentar Seite 74 Aus J. Becker-Pfaff, St. Engel: Fallbuch Psychiatrie (ISBN 3-13-140181-8) © Georg Thieme Verlag Stuttgart 2006 Dieses Dokument ist nur für den persönlichen Gebrauch bestimmt und darf in keiner Form an Dritte weitergegeben werden!

Fall 5 74−jähriger, durch Suizid verstorbener Mann

Fall

5

Gegen Abend Ihres Nachtdienstes in einer Ab− teilung für Innere Medizin werden Sie von ei− ner aufgeregten Krankenschwester gerufen. Ein 74−jähriger Mann habe sich in seinem Zimmer suizidiert. Als Sie ankommen, können Sie nur noch den Tod des Patienten feststellen, der durch Strangulation mit dem Ärmel seiner Schlafanzugjacke an der Garderobe herbeige− führt worden war. Das Pflegeteam der Station, das Sie nicht näher kennen, zeigt sich scho−

ckiert. Es berichtet, dass der Patient am nächsten Tag in ein Heim verlegt werden sollte und sehr dement gewesen sei. Er habe eigentlich nicht mehr gewusst, wo er sei, und unter seiner Situation sehr gelitten. Im Zim− mer des Pflegedienstes finden Sie einen wei− nenden Krankenpflegeschüler vor, der den letzten Kontakt zu dem Patienten gehabt und ihn dann eine halbe Stunde später tot aufge− funden hatte.

5.1 . . Was veranlassen Sie?

6

!!! 5.2 . .

Nennen Sie Suizidraten und Suizidversuchsraten bei Männern und Frauen in Deutschland! Wie entwickelt sich Suizidalität mit zunehmendem Alter?

!!! 5.3 . .

Beschreiben Sie Theorien zur Psychodynamik der Suizidalität!

5.4 . . Ist Suizidalität eine Krankheit?

Antworten und Kommentar Seite 76 Aus J. Becker-Pfaff, St. Engel: Fallbuch Psychiatrie (ISBN 3-13-140181-8) © Georg Thieme Verlag Stuttgart 2006 Dieses Dokument ist nur für den persönlichen Gebrauch bestimmt und darf in keiner Form an Dritte weitergegeben werden!

Fall 6 39−jährige Patientin mit Atemnot und Thoraxschmerz Während Ihres Bereitschaftsdienstes in der In− neren Medizin wird Ihnen notfallmäßig eine 39−jährige Patientin vorgestellt. Sie können kaum eine Anamnese erheben, weil die Pa−

tientin hechelnd atmet und ein Würgegefühl im Hals sie am Sprechen hindert. Sie wirkt wie benommen und klagt über Schmerzen in der Brust.

6.1 . . Stellen Sie eine Verdachtsdiagnose!

Fall

6 Sie möchten die Symptomatik medikamentös durchbrechen.

7

6.2 . . Was geben Sie der Patientin?

Die Patientin beruhigt sich daraufhin innerhalb weniger Minuten. Jetzt können Sie eine Anam− nese erheben und erfahren, dass sie 2 Jahre zuvor Augenzeugin eines schweren Unfalls gewesen sei. Seitdem leide sie immer wieder und von Mal zu Mal stärker unter Stechen in der Brust, Herzrasen, Schwindel, einem taumeligen“ Gefühl, Schwitzen und Frösteln im Wechsel sowie dem Gefühl, sie bekomme nicht genug Luft. Von diesen Symptomen werde sie wie aus heiterem Himmel überrascht, völlig unabhängig davon, mit was sie gerade beschäftigt sei. Eigenartiger− weise seien die Beschwerden nach einer halben Stunde bis Stunde wieder weg. Trotzdem habe sie Angst, langsam verrückt zu werden. Sie sei schon bei einigen Allgemeinärzten und Internis− ten gewesen, die aber keine Ursache gefunden hätten.

6.3 . . Welche Symptome Ihrer Verdachtsdiagnose beschreibt die Patientin? Zählen Sie weitere Symptome auf, die bei dieser Erkrankung auftreten können!

6.4 . . Nennen Sie Differenzialdiagnosen zum Symptom Angst!

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Fall 7 25−jährige aggressive Frau mit Behinderung

Fall

7

Über einen Allgemeinarzt, der ein Heim für Behinderte betreut, wird eine 25−jährige Frau auf Ihre psychiatrische Station eingewiesen. Der begleitende Betreuer erklärt Ihnen, dass sie sich sehr aggressiv verhalte. Sie habe an− dere Bewohner und das Personal des Heimes geschlagen und drohe, sich umzubringen. Sie lebe schon seit 5 Jahren in der Einrichtung und habe einen Arbeitsplatz in einer betreu− ten Werkstätte. Seit der Geburt habe sie eine Intelligenzminderung, deshalb eine Sonder− schule besucht, und nun werde sie in einer

Einrichtung für Behinderte betreut. Die Eltern seien nicht bekannt, sie sei unmittelbar nach der Geburt in einer Klinik abgegeben worden. Bisher sei es noch nie zu irgendwelchen Vor− fällen gekommen, die Patientin sei manchmal nur etwas gereizt. In den letzten Wochen habe sie sich jedoch zunehmend für einen Mitar− beiter der Werkstätte interessiert und sich möglicherweise verliebt. Während der Aufnahme eskaliert die Situati− on: Die Patientin beginnt, wild um sich zu schlagen, und muss fixiert werden.

Sie müssen die Patientin medikamentös sedieren.

8

7.1 . . Was ist diesbezüglich bei Patienten mit Intelligenzminderungen besonders zu beachten?

Die Patientin ist aggressiv.

7.2 . . Nennen Sie weitere abnorme Reaktionen bei Intelligenzminderung!

7.3 . . Nennen Sie 3 chromosomale Erkrankungen, die eine Intelligenzminderung verursachen können!

7.4 . . Zählen Sie andere Ursachen einer Intelligenzminderung auf!

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Fall 8 38−jährige Professorin mit Beratungsbedarf zur Alzheimer−Demenz Bilder durch den Kopf, ich weine, kann mich nicht mehr auf meine Arbeit konzentrieren – wissen Sie, ich bin Dozentin für Biologie an der Uni. Ich habe auch so eine große Angst, der ich keinen Namen geben kann.“

Fall

In Ihre psychiatrische Praxis kommt eine auf− gebrachte, den Tränen nahe, gepflegte Frau, die sich Ihnen kurz vorstellt und Ihnen dann zwei Abbildungen vorlegt. Sie sagt: Sehen Sie, der Uhrentest meiner Mutter vor 2 Jahren und jetzt! Wie schrecklich! Ich habe nun sol− che Angst, dass mir das auch zustoßen kann!“ Die Patientin berichtet weiter: Ich kann kaum noch schlafen, seit mir der Arzt, der meine Mutter betreut, gesagt hat, dass sie Alzheimer hat. Ich bin so geschockt, weil ich sie lange nicht gesehen hatte. Ich habe ein Sabbatjahr in den USA gemacht und bin erst vor wenigen Wochen zurückgekehrt. Ich kann an nichts an− deres mehr denken, ständig gehen mir diese

8 Uhrentest 2 Jahre zuvor und in der Gegenwart

9

8.1 . . Welche Diagnose stellen Sie bei Ihrer Patientin nach ICD−10?

Die Patientin sagt: Ich weiß gar nicht, was da vorgeht bei meiner Mutter. Ich dachte, Sie könn− ten mir das bestimmt gut erklären als Psychiater?“

!!! 8.2 . .

Beschreiben Sie die neuroanatomischen Prozesse bei der Demenz vom Alzheimer−Typ!

Was kann ich tun, damit es meiner Mutter besser geht?“

8.3 . . Welche Behandlungsoptionen kennen Sie bei der Demenz vom Alzheimer−Typ?

8.4 . . Was raten Sie Ihrer Patientin für sich selbst?

Antworten und Kommentar Seite 81 Aus J. Becker-Pfaff, St. Engel: Fallbuch Psychiatrie (ISBN 3-13-140181-8) © Georg Thieme Verlag Stuttgart 2006 Dieses Dokument ist nur für den persönlichen Gebrauch bestimmt und darf in keiner Form an Dritte weitergegeben werden!

Fall 9 43−jähriger Patient mit Oberbauchbeschwerden

Fall

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In Ihre Allgemeinarztpraxis kommt ein 43− jähriger Patient, der über diffuse Oberbauch− schmerzen klagt. Er habe diese seit ca. 3 Mo− naten, was ihn nervös und unruhig mache. Auch könne er nicht mehr ruhig schlafen und fühle sich ständig müde. Er verneint Ihre Fra− ge nach einem Gewichtsverlust, berichtet aber recht weinerlich über eine schwierige Arbeits− platzsituation. Er fühle sich von Kollegen ge− mobbt. Während er das erzählt, fällt Ihnen in seiner Akte auf, dass der Patient in den letzten

Monaten mehrfach um Krankschreibungen wegen unterschiedlichster Symptome gebeten hatte. Dazu hatten Unruhezustände, Vergess− lichkeit, Kopfschmerzen und Stimmungs− schwankungen gehört. Ein internistisches Konsil 8 Wochen zuvor hatte lediglich zu der Diagnose einer Fettleber geführt, die durch die Adipositas des Patienten erklärt worden war. Ihre Fragen nach regelmäßigem erhöh− tem Alkoholkonsum hatte der Patient mit na ja, so viel wie andere halt auch“ beantwortet.

9.1 . . An welche Diagnosen aus dem psychiatrischen Fachgebiet denken Sie?

10

9.2 . . Mit welchen Laborparametern können Sie Ihre Verdachtsdiagnose festigen?

In Ihrem Gespräch erfahren Sie vom Patienten, dass er täglich 3 bis 4 Flaschen Bier trinke und diese Menge trotz Drängens seiner Frau nicht reduzieren könne. An Wochenenden habe er auch morgens den Wunsch, Alkohol zu trinken. Es käme sogar vor, dass er vor seiner Frau verberge, noch ein weiteres Bier am Abend zu trinken.

9.3 . . Welche weiteren Verfahren zur Diagnostik dieser Erkrankung kennen Sie?

9.4 . . Erläutern Sie ein Therapiekonzept für diesen Patienten!

9.5 . . Grenzen Sie die Begriffe schädlicher Gebrauch“ und Abhängigkeit“ voneinander ab!

Antworten und Kommentar Seite 83 Aus J. Becker-Pfaff, St. Engel: Fallbuch Psychiatrie (ISBN 3-13-140181-8) © Georg Thieme Verlag Stuttgart 2006 Dieses Dokument ist nur für den persönlichen Gebrauch bestimmt und darf in keiner Form an Dritte weitergegeben werden!

Fall 10 58−jähriger Patient mit akuter psychotischer Symptomatik Auf Ihre Frage nach den Medikamenten zeigt die Ehefrau Ihnen einen Medikamentenver− ordnungszettel des Hausarztes (s. Abb.). Au− ßerdem gibt der Sohn an, dass er mit dem Va− ter in der vergangenen Woche bei einem Internisten gewesen sei, der ein neues Mittel gegen den Hochdruck angesetzt habe. Er könne sich an den Namen nicht erinnern, es habe jedoch auf −il“ geendet.

Fall

Während des Nachtdienstes im psychiatri− schen Krankenhaus wird Ihnen durch die Poli− zei ein sehr erregter, laut polternder und of− fenkundig paranoider Patient gebracht. Die Ehefrau und der erwachsene Sohn des Patien− ten hatten die Polizei verständigt und kom− men zur Aufnahme mit. Nach der ersten Ver− sorgung des Patienten (Fixierung, Medikation) sprechen Sie mit den Angehörigen. Sie berich− ten Ihnen, dass der Ehemann eine manisch− depressive Erkrankung habe, dass es aber noch nie so schlimm gewesen sei wie jetzt. Auch habe es sich noch nie so plötzlich ent− wickelt, zumal er seine Medikamente immer zuverlässig eingenommen habe. Vielleicht läge es daran, dass der ältere Sohn vor einiger Zeit von zu Hause ausgezogen sei. Seit einigen Mo− naten habe der Patient einen sehr hohen Blut− druck. Er habe am Vortag über Durchfall ge− klagt und sei viel auf der Toilette gewesen.

10 11

Medikamentenverordnungszettel des Patienten

10.1 . Erklären Sie die Situation des Patienten!

10.2 . Welche Maßnahmen veranlassen Sie?

10.3 . Welche von der Norm abweichenden Laborergebnisse befürchten Sie?

10.4 . Was veranlassen Sie vor einer Einstellung auf ein Lithiumpräparat?

!!! 10.5 .

Welche Nebenwirkungen der Lithiumtherapie sind ab welchem Serumspiegel möglich?

Antworten und Kommentar Seite 86 Aus J. Becker-Pfaff, St. Engel: Fallbuch Psychiatrie (ISBN 3-13-140181-8) © Georg Thieme Verlag Stuttgart 2006 Dieses Dokument ist nur für den persönlichen Gebrauch bestimmt und darf in keiner Form an Dritte weitergegeben werden!

Fall 11 23−jährige Frau mit Einweisungsdiagnose akute paranoide Schizophrenie“ In Ihre psychiatrische Klinik wird vom psy− chiatrischen Facharzt eine 25−jährige griechi− sche Patientin mit der Diagnose akute para− noide Schizophrenie“ eingewiesen. Bei Auf− nahme wirkt die Patientin ruhig, fällt Ihnen aber durch ihre Desorientiertheit auf, die we− gen ihrer mangelhaften Deutschkenntnisse nur schwer quantifizierbar ist. Sie beschreibt,

depressiv“ zu sein und Ängste zu haben. Wei− tere anamnestische Angaben sind nicht zu er− heben. Der Ehemann ergänzt noch, dass die Patientin am Vortag alle Kochstellen des Gas− herdes angemacht hätte, ohne zu kochen, so dass Schlimmes passiert wäre, wenn er nicht zu Hause gewesen wäre.

Fall

11.1 . Welche Sofortmaßnahmen ergreifen Sie?

11 12

Am Folgetag berichtet die deutschsprechende Schwägerin der Patientin: Seit einem halben Jahr finde ich sie verändert. Damals ist ihr Vater gestorben. Erst war sie abwesend und traurig, dann war sie zu Hause in Griechenland im Urlaub außer Rand und Band. Seit einem weiteren Todes− fall im Freundeskreis spricht sie mehr über Ängste als früher. Seit 4 Monaten trinkt sie jeden Tag 4 Liter Wasser. Immer wieder sind Pilzinfektionen des Mundes und der Genitalien behan− delt worden. Seit einer Woche weiß sie nun nicht mehr, was sie tut und welcher Tag ist.“ Bei der körperlichen Untersuchung können Sie folgende pathologische Auffälligkeiten feststellen: reduzierter Allgemein− und Ernährungszustand, 10 kg Gewichtsabnahme in den letzten 4 Wo− chen bis auf 43 kg bei 150 cm Größe, axilläre Lymphknotenschwellungen, sehr trockene hyper− keratotische Haut mit Rhagaden in den Mundwinkeln, Lackzunge, starkes Frieren, ständige Mü− digkeit, Körpertemperatur 37,4 8C, symmetrische Hyperreflexie, sehr taumeliges und unsicheres Gangbild“

11.2 . Können Sie mit diesen Angaben die Einweisungsdiagnose akute paranoide Schizophrenie“ bestätigen? Begründen Sie Ihre Entscheidung!

11.3 . Welche Differenzialdiagnosen fallen Ihnen ein? Welche weiterführenden Untersuchungen veranlassen Sie, um diese auszuschließen?

11.4 . Wie behandeln Sie die Patientin im Falle einer organischen, wie im Falle einer psychogenen Ursache?

Bei Ihrer Patientin findet sich ein positiver HIV−Test, während ihr Ehemann einen negativen HIV−Befund hat.

11.5 . Wie lässt sich das mit ihrer Klinik vereinbaren?

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Fall 12 57−jähriger Mann mit Angriff auf einen Jugendlichen sieht anders aus, wenn ich würge! Ich habe ihm gesagt, er soll sich entschuldigen. Das hat er getan, und dann war es gut. Allerdings kam dann auch schon die Polizei. Man kann sich doch nicht alles gefallen lassen, was die Ju− gend sich erlaubt. Es gibt ja auch gute Kinder, aber die! Ich lasse mich nicht einfach so belei− digen. Jetzt habe ich wohl das Problem, muss mit einer Anzeige rechnen und bin hier in der Klapse.“ Die Polizei bittet Sie um die Abschätzung der Gefährdung, die von dem Patienten ausgeht, und will wissen, ob hier möglicherweise eine psychische Störung zugrunde liegt. Sie macht Ihnen auch deutlich, dass das Geschehene nicht ausreichend ist, den Mann zu inhaftie− ren.

Fall

In Ihrem psychiatrischen Notfalldienst wird Ihnen von der Polizei ein 57−jähriger Mann vorgestellt, der in der U−Bahn unvermittelt ei− nen Jugendlichen gewürgt hatte. Die Freunde des Jugendlichen hatten die Polizei hinzugezo− gen. Die Polizisten berichten Ihnen, dass der Mann nicht vorbestraft sei, über eine Waffen− sammlung verfüge und bereitwillig mitgegan− gen sei, als sie ihn psychiatrisch vorstellen wollten. Der Patient berichtet Ihnen Folgendes: Ich habe den Jungen heute zufällig in der U−Bahn wiedergetroffen. Er hat mich vor 4 Wochen als ,alten Cowboy‘ bezeichnet. Als ich ihm dann hinterher wollte, ist er abgehauen und hat mir den Stinkefinger gezeigt. Heute habe ich ihn mir dann schnappen können und am Hals gepackt. Gewürgt habe ich ihn nicht, das

12 13

12.1 . Welche differenzialdiagnostischen Erwägungen stellen Sie an? Wie lautet Ihre Verdachtsdiagnose?

12.2 . Wie gehen Sie weiter vor?

Der Patient verbringt eine Nacht auf Ihrer Station und verhält sich dabei sehr loyal und koope− rativ. Er bittet am nächsten Morgen unter der Zusicherung, seine Lektion gelernt zu haben und niemanden mehr angreifen zu wollen, um seine Entlassung.

12.3 . Welche Entscheidung treffen Sie? Wie rechtfertigen Sie diese?

12.4 . Definieren Sie den Begriff Persönlichkeitsstörung! Welche verschiedenen Persönlichkeitsstörungen kennen Sie?

Antworten und Kommentar Seite 89 Aus J. Becker-Pfaff, St. Engel: Fallbuch Psychiatrie (ISBN 3-13-140181-8) © Georg Thieme Verlag Stuttgart 2006 Dieses Dokument ist nur für den persönlichen Gebrauch bestimmt und darf in keiner Form an Dritte weitergegeben werden!

Fall 13 34−Jährige mit Konflikten am Arbeitsplatz und belastender Kindheit

Fall

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Die Abteilung für Innere Medizin eines nahe gelegenen Krankenhauses bittet Sie als Psy− chiater, eine konsiliarische Untersuchung bei einer 34−jährigen Türkin vorzunehmen. Anam− nestisch habe sie einen Suizidversuch mit 6 Tabletten Paracetamol unternommen. Der kli− nische Verlauf war unauffällig. Die Frau berichtet in einem längeren Gespräch eindrücklich von ihren Problemen. Sie arbeite im Einzelhandel und habe Probleme mit ih− rem konservativ−muslimischen Chef. Obwohl sie in ihrer Position unersetzlich sei, tyranni− siere er sie, weil sie nicht streng gläubig sei. Auch trage sie kein Kopftuch. Eindrücklich schildert sie, dass sie aufgrund ihres Klinik− aufenthaltes auf ihren Urlaub verzichten müsse, weil der Chef das erwarte. Eine andere Lösung könne sie sich nicht vorstellen. Sie befragen die Patientin nach ihrer Familie. Dazu erfahren Sie Folgendes: Als die Patientin

ein Jahr alt war, verstarb ihre Mutter an Krebs. Ihre Stiefmutter habe sie geschlagen und ver− nachlässigt, sie habe immer die eigenen Kin− der bevorzugt. Der Vater sei Alkoholiker, häu− fig abwesend und unberechenbar gewesen. Beim Erzählen fallen der Patientin immer mehr Beispiele ihrer desolaten Kindheit ein, und sie beginnt heftig zu weinen: Nein, mit diesen Dingen will ich nichts mehr zu tun ha− ben, die sind abgeschlossen! Ich habe sie ver− gessen, und das sollen sie auch bleiben!“ Nur allmählich kann sie sich wieder beruhigen. Die Patientin kann sich eindeutig von ihrer Suizidalität distanzieren, es sei eine Kurz− schlusshandlung gewesen. Sie versichert, sich nicht umbringen zu wollen, so dass Sie auf eine stationäre Einweisung in eine psychiatri− sche Klinik verzichten.

13.1 . Welche Art von Abwehrmechanismen erwarten Sie bei dieser Patientin?

13.2 . Welcher Abwehrmechanismus liegt dem Verzicht auf Urlaub wahrscheinlich zugrunde?

13.3 . Was empfehlen Sie der Patientin?

Antworten und Kommentar Seite 91 Aus J. Becker-Pfaff, St. Engel: Fallbuch Psychiatrie (ISBN 3-13-140181-8) © Georg Thieme Verlag Stuttgart 2006 Dieses Dokument ist nur für den persönlichen Gebrauch bestimmt und darf in keiner Form an Dritte weitergegeben werden!

Fall 14 22−jähriger Patient aus verwahrloster Wohnung kommen.“ Während der Polizist Ihnen das übergibt, beobachten Sie den Patienten, der äußerst unruhig wirkt und angstvoll auf das Fensterbrett des Untersuchungszimmers starrt. Als Sie ihn fragen, wie es ihm ginge, ruft er gehetzt: Da, da sitzt er, er will mich holen! Was habe ich bloß verbrochen? Alles habt Ihr mir genommen, sogar meine Erinne− rungen versucht Ihr mir zu stehlen! Was soll ich eigentlich hier? Ich habe alles verstanden, alle stecken unter einer Decke. Er hat es wirk− lich getan, er hat den Krieg befohlen. Hätte ich nicht geschlafen, wäre es vielleicht nicht passiert. Herrgott im Himmel, jetzt springe ich aus dem Fenster, das ist ja nicht zum Aus− halten! Sei doch still, sei doch still, ich tue es ja schon!“ Der Patient lässt sich dann nur mühsam davon abhalten, zum Fenster zu ren− nen.

Fall

Das Amt für öffentliche Ordnung hat Ihnen ei− nen jungen Mann auf Ihre psychiatrische Sta− tion einweisen lassen. Die Nachbarschaft hatte sich wegen Geruchs− und Lärmbelästigung aus der Wohnung des Patienten an die Polizei ge− wandt. Die Polizisten schildern Ihnen das fol− gende Bild: Weil uns der Patient nicht die Tür öffnete und wir von innen die Worte Weiche von mir, Satan!“ gehört hatten, ver− schafften wir uns Zutritt zu der Wohnung. Dort stank es bestialisch, da der Patient seinen Kot und seinen Urin in Flaschen gesammelt hatte. Er selbst saß inmitten dieses Chaos aus Fäkalien und Scherben vor einer Art Schrein, in dem sich ein Kreuz, eine Bibel und ein Ge− sangbuch befanden. Er schien uns zunächst nicht zu bemerken, sondern starrte auf das Fensterbrett, fuchtelte abwehrend mit den Ar− men und rief immer wieder: Weiche von mir, Satan!“ Dann ist er ohne Gegenwehr mitge−

14 15

14.1 . Welche Sofortmaßnahmen ergreifen Sie? Begründen Sie Ihre Vorgehensweise!

14.2 . Erstellen Sie einen psychopathologischen Befund, und erschließen Sie daraus eine Verdachtsdiagnose!

Ihre Sofortmaßnahmen sind nach einer Weile erfolgreich, und der Patient wird ruhiger.

14.3 . Was tun Sie jetzt?

Antworten und Kommentar Seite 93 Aus J. Becker-Pfaff, St. Engel: Fallbuch Psychiatrie (ISBN 3-13-140181-8) © Georg Thieme Verlag Stuttgart 2006 Dieses Dokument ist nur für den persönlichen Gebrauch bestimmt und darf in keiner Form an Dritte weitergegeben werden!

Fall 15 52−jährige Patientin mit Ängsten und Todeswünschen

Fall

15 16

Auf eine psychiatrische Station wird Ihnen eine 52−jährige Patientin mit Angstzuständen und Todeswünschen eingewiesen. Äußerlich nehmen Sie ein unauffälliges Erscheinungs− bild, ungepflegt wirkende Haare, dunkle Ringe unter den Augen und eine falsch geknöpfte Bluse wahr. Auf die Frage nach ihren Ängsten antwortet die Patientin mit kaum verständli− cher Stimme: Ach, ich weiß auch nicht. Das macht doch alles keinen Sinn mehr. Wissen Sie, ich habe Schulden, 35 000 Euro. Ich bin ja selbst schuld. Es war nicht klug zu glauben, dass ich mein Geld in Anlagen vermehren kann. Schließlich wird das ja anderen Men− schen weggenommen. Das war wohl die ge− rechte Strafe. Um die Schulden zu bezahlen, muss ich jetzt meine Wohnung verkaufen. Ob ich danach noch genug zum Leben haben wer− de, ist fraglich. Ich kann nicht mehr schlafen, ständig geht mir der Gedanke ums Geld im Kopf herum. Mir macht nichts mehr Spaß,

meine Freunde vom Kegelverein wollen auch nichts mehr mit mir zu tun haben. Ich sitze zu Hause herum und denke, dass ich am lieb− sten tot sein würde. Auf einer Schulung für neue Team−Kommunikations−Strategien muss− te ich hinaus laufen, weil ich es nicht mehr aushalten konnte, ich hatte eine schreckliche innere Unruhe in mir, weiß aber nicht warum. Ich konnte mich dort nicht konzentrieren, kann mir sowieso nichts mehr merken. Es geht nichts mehr, ich kann mich nicht freuen, ich kann nicht weinen, ich bin einfach leer. Mein Hausarzt hat mich jetzt hierher ge− schickt, aber ich glaube nicht, dass Sie mir helfen können. Wenn ich meine Katze nicht hätte, dann hätte ich mir längst etwas ange− tan. Aber ich werde sie nicht allein lassen.“ Sie berichtet ohne jede Regung, ihre Mimik ist unbewegt, der Redefluss langsam und mono− ton.

15.1 . Erstellen Sie einen ausführlichen psychopathologischen Befund!

15.2 . Welche Verdachtsdiagnose stellen Sie? Was tun Sie, um diese zu erhärten?

!!! 15.3 .

Beschreiben Sie das triadische System der Psychiatrie, und diskutieren Sie es anhand dieses Fallbeispiels!

15.4 . Welche Ursachen für die Erkrankung der Patientin fallen Ihnen ein?

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Fall 16 42−jährige erschöpfte Patientin mit unwillkürlichen Bewegungen Eine 42−jährige Frau stellt sich Ihnen als psychiatrischer Gruppentherapeut im Rahmen eines Vorgesprächs vor. Sie erzählt Ihnen wei− nend vom Tod ihres Freundes ein halbes Jahr zuvor. Das Paar plante die Hochzeit, als ihr Freund auf einem Kurzurlaub mit dem Motor− rad tödlich verunglückte. Für die Beerdigung

habe sie sich einen Tag freigenommen, mehr Urlaub habe sie sich aber seitdem nicht leis− ten können. Jetzt sei sie völlig erschöpft. Eine Kollegin habe ihr diese Tagesklinik empfohlen, damit sie sich mal eine Auszeit nehmen könne, um sich um ihre eigenen Probleme zu kümmern.

16.1 . Welche Verdachtsdiagnose stellen Sie bei der Patientin?

Fall

16 Als sich die Patientin etwas von ihrem Weinen erholt hat, stellen Sie ihr weitere Fragen, um eine mögliche Indikation zur teilstationären Behandlung zu sichern. Dabei fällt Ihnen auf, dass die Frau immer wieder plötzlich beide Augen zusammenkneift und sie dann erst langsam wie− der öffnet. Sie sprechen sie darauf an, worauf sie berichtet, dass sie das seit ihrer Jugend habe. Sie wisse aber auch nicht genau, woher das komme.

17

16.2 . Wie werden solche Störungen genannt? Wie sind sie definiert?

16.3 . Wie kann man diese Störungen einteilen?

16.4 . Wie kann diese Störung mit der Verdachtsdiagnose der Patientin in Verbindung gebracht werden?

16.5 . Kennen Sie eine solche Störung, bei der multiple motorische und mindestens ein vokaler Tic auftreten?

16.6 . Welche psychiatrischen Erkrankungen sind mit diesen Störungen assoziiert?

Antworten und Kommentar Seite 97 Aus J. Becker-Pfaff, St. Engel: Fallbuch Psychiatrie (ISBN 3-13-140181-8) © Georg Thieme Verlag Stuttgart 2006 Dieses Dokument ist nur für den persönlichen Gebrauch bestimmt und darf in keiner Form an Dritte weitergegeben werden!

Fall 17 59−jährige Frau mit Angst vor demenzieller Entwicklung

Fall

17 18

In Ihrer Allgemeinarztpraxis stellt sich eine 59−jährige Frau vor und macht ihren Sorgen mit folgenden Sätzen Luft: Mir fällt an mir selber auf, dass ich mich manchmal nicht mehr daran erinnern kann, was ich 3 Tage zu− vor gemacht habe, und ich muss lange überle− gen, um darauf zu kommen. Beim Richten des Frühstücks vergesse ich manchmal das Messer für das Brot, manchmal den Zucker für den Kaffee. Alles geht langsamer als früher, ich mag auch nicht mehr so recht. Seit mein Mann erkrankt ist und zu Hause sitzt, fällt mir das alles besonders auf. Er neigt dazu,

mich zu korrigieren, was mich sehr verunsi− chert. Natürlich hat er meistens recht, es geht ja wirklich alles langsam bei mir. Ich habe nun Angst davor, einen Alzheimer zu bekom− men. In wenigen Jahren wird es dann mit mir wohl komplett vorbei sein, oder?“ Die Patientin wird seit ca. 10 Jahren wegen ei− ner arteriellen Hypertonie und eines Diabetes mellitus behandelt. Sie erfahren noch, dass sie aus eher einfachen sozialen Verhältnissen kommt und dass ihre Kinder bis vor 2 Jahren im eigenen Haushalt lebten und durch sie ver− sorgt worden waren.

17.1 . Teilen Sie die Sorge der Patienten, dass sie an Alzheimer erkranken könnte? Begründen Sie Ihre Meinung!

17.2 . Stellen Sie eine Verdachtsdiagnose! Wie steht Ihre Verdachtsdiagnose im Zusammenhang mit einer Demenz?

17.3 . Welche 2 Argumente sprechen für die Entwicklung einer Demenz bei Ihrer Patientin, welche 2 dagegen?

17.4 . Was ist die wichtigste Differenzialdiagnose zur Verdachtsdiagnose der Patientin?

17.5 . Welche Möglichkeiten haben Sie in Ihrer Praxis, sich und Ihrer Patientin mehr Klarheit zu verschaffen?

Die Patientin fragt sie: In meiner Frauenzeitschrift hieß es, dass es ganz neue Medikamente gegen den Alzheimer gäbe. Können Sie mir die nicht verschreiben?“

17.6 . Wie beraten Sie die Patientin?

Antworten und Kommentar Seite 99 Aus J. Becker-Pfaff, St. Engel: Fallbuch Psychiatrie (ISBN 3-13-140181-8) © Georg Thieme Verlag Stuttgart 2006 Dieses Dokument ist nur für den persönlichen Gebrauch bestimmt und darf in keiner Form an Dritte weitergegeben werden!

!!!

Fall 18

16−jahriger Junge mit nachlassenden schulischen Leistungen funden, das er wohl während einer seiner vie− len schlaflosen Nächte gezeichnet habe. Sie habe es heimlich mitgenommen, da ihr Sohn ihr so misstrauisch erscheine.

Fall

In Ihrer Allgemeinarztpraxis sorgt sich eine Mutter um ihren Sohn. Sie behandeln ihn seit seiner frühen Kindheit und kennen ihn als freundlich zugewandtes und körperlich gesun− des Kind. Die Mutter berichtet Ihnen, dass sich die Leistungen des 16−Jährigen seit ca. ei− nem halben Jahr kontinuierlich in allen Fä− chern verschlechtern würden. Sie habe mit unterschiedlichen Lehrern Kontakt aufgenom− men. Denen sei aufgefallen, dass sich der zu− vor gut eingebundene Schüler zunehmend zu− rückziehe und in den Pausen allein auf dem Schulhof stehe. Er wirke häufig unkonzent− riert. Einmalig sei es zu einem Wutausbruch gekommen, den er anschließend nicht habe erklären wollen. Wenige Tage zuvor habe sie folgendes Bild (s. Abb.) in seinem Zimmer ge−

18 Zeichnung des Patienten

19

18.1 . Welche Symptome erkennen Sie im Bericht der Mutter? Welche Verdachtsdiagnose stellen Sie daher?

18.2 . Nach welchen weiteren Symptomen sollten Sie fragen, um Ihre Verdachtsdiagnose zu bestätigen?

18.3 . Wieso ist es wichtig, in diesem Zusammenhang auch die Familienanamnese zu erheben?

Die Mutter bittet Sie um Ratschläge für ihr weiteres Vorgehen und fragt Sie: Ist das schlimm oder ist es die Pubertät?“

18.4 . Was antworten Sie ihr?

18.5 . Nennen Sie die wichtigsten epidemiologischen Zahlen Ihrer Verdachtsdiagnose!

18.6 . Nennen Sie das Risiko der Entwicklung einer Schizophrenie für eineiige Zwillinge, Kinder eines erkrankten Elternteils und Geschwister eines Patienten!

Antworten und Kommentar Seite 100 Aus J. Becker-Pfaff, St. Engel: Fallbuch Psychiatrie (ISBN 3-13-140181-8) © Georg Thieme Verlag Stuttgart 2006 Dieses Dokument ist nur für den persönlichen Gebrauch bestimmt und darf in keiner Form an Dritte weitergegeben werden!

Fall 19 22−jähriger somnolenter Patient

Fall

19 20

Während Ihres Nachtdienstes in einer psy− chiatrischen Klinik wird Ihnen durch einen Rettungswagen ein 22−jähriger somnolenter Patient gebracht. Die internistischen Kollegen eines Kreiskrankenhauses hatten ihn wegen des Verdachts auf Drogenabhängigkeit weiter in die Psychiatrie verlegt. In kurzen Phasen ansatzweiser Wachheit verstehen Sie im Ge− murmel des Patienten die Wörter: . . .HIV. . .− Turkey. . .Kopfschmerz. . .“. Bei Ihrer ersten Un− tersuchung finden Sie eine Herzfrequenz von 122/min und einen Blutdruck von 140/ 110 mmHg. Der Patient schwitzt, hat eine Kör− pertemperatur von ca. 39 8C und ein blutiges Rinnsal läuft ihm aus dem rechten Ohr. Er ist

äußerst ungepflegt, und Sie finden Einstich− stellen an allen Extremitäten, die teilweise in− fiziert sind.

Arme des Patienten

19.1 . Wie gehen Sie noch in dieser Nacht weiter vor?

19.2 . Beschreiben Sie die medikamentösen Entgiftungstherapien für verschiedene hier in Frage kommende Substanzen!

19.3 . Wie behandeln Sie mögliche Begleitsymptome?

19.4 . Schildern Sie den optimalen weiteren Behandlungsverlauf dieses Patienten mit dem Ziel einer dauerhaften Abstinenz!

19.5 . Welche Ziele der Suchttherapie kennen Sie, und wie werden sie erreicht?

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Fall 20 36−jähriger Philosoph mit angstvoll−depressiver Symptomatik ist, verliebt zu sein. Eine Freundin hatte ich mal, aber das war mir viel zu eng, sie wollte mich mehrmals in der Woche sehen, für mich war das kaum auszuhalten.“ Während Sie die Anamnese erheben, fällt Ih− nen auf, dass der Patient kaum Blickkontakt mit Ihnen aufnimmt und kaum affektive Re− gungen zeigt, so dass Sie schnell ein hoff− nungsloses Gefühl entwickeln und den Aus− führungen des Patienten kaum mehr folgen können. Sie hören nur noch, dass der Patient schon immer eher zurückgezogen lebte und dass ihm die meisten Schwellensituationen wie der Wechsel vom Kindergarten in die Grundschule oder vom Gymnasium in das Studium sehr schwer gefallen waren. Jedes Mal habe er mit dem Gefühl der Einsamkeit kämpfen müssen.

Fall

In Ihrer psychotherapeutischen Praxis stellt sich ein 36−jähriger Patient vor. Er erzählt: Vor 3 Monaten habe ich mein Philosophiestu− dium mit der Promotion beendet. Danach ha− be ich ein Angebot an der Volkshochschule angenommen, doch nach 3 Tagen Arbeit dort habe ich furchtbare Ängste entwickelt. Ich kann mich zu nichts mehr aufraffen, habe Angst vor allen Aufgaben, die mir gestellt wer− den, und bin schrecklich einsam. An der Uni hatte ich meinen festen Tagesablauf, bin mor− gens in die Bibliothek gegangen, habe abends am Computer gesessen und meine Arbeit ge− macht. Nun fühle ich mich wie in einem dunklen Loch. Manchmal denke ich mir, dass es schön wäre, eine Frau zu haben. Die meis− ten meiner Schulfreunde sind inzwischen ver− heiratet und haben Kinder. Aber ich lerne nie− manden kennen, weiß auch gar nicht, wie das

20 21

20.1 . Stellen Sie eine symptomorientierte und eine persönlichkeitsorientierte Verdachtsdiagnose!

20.2 . Entwerfen Sie ein mögliches psychodynamisches Erklärungsmodell für die Symptomatik!

20.3 . Was empfehlen Sie dem Patienten, und was wollen Sie damit erreichen?

20.4 . Grenzen Sie die schizoide von der schizotypen Persönlichkeitsstörung ab!

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Fall 21

Krankenakte eines 43−jahrigen Mannes mit depressivem Syndrom

Fall

21 22

Die Akte eines Patienten in der von Ihnen übernommenen Praxis für Psychiatrie liest sich wie folgt: 4/2002: niedergedrückte Stimmung, antriebs− los, keine Suizidgedanken, keine Vorbehand− lung, häusliches Umfeld unauffällig, somatisch unauffällig. Verordnung von Fluoxetin 10 mg/d. WV (Wiedervorstellung) in 3 Monaten. DX (Diagnose): mittelschwere Depression 7/2002: keine Befundverbesserung, Pat. liegt ca. 16 von 24 h/d im Bett, äußert Todeswün− sche, Fluoxetin 10 mg bis dato eingenommen. Verordnung von 2 3 25 mg Amitryptilin, Pa− ckungsgröße N3, Empfehlung einer psycholo− gischen Beratungsstelle. WV in 8 Wochen. DX: dito 2/2003: kommt nach mehrwöchigem statio− nären Psychiatrieaufenthalt nach Suizidver− such mit Antidepressiva. Ist auf 40 mg Citalo−

pram, 30 mg Mirtazapin sowie 3 mg Risperidon eingestellt. Subjektive Besserung bei anhaltender Antriebs− und Freudlosigkeit. Fortsetzung vorgeschlagener Therapie. DX: di− to 5/2003: wünscht Reduktion der Medikamente, arbeitet seit 2 Wochen wieder im alten Beruf. Absetzen von Risperidon und Mirtazapin. Wei− ter 40 mg Citalopram. DX: dito 5/2004: wiederum schwere depressive Symp− tomatik. Citalopram vor 1/2 Jahr selber abge− setzt, da Symptomatik nicht besser oder schlechter wurde. Wieder Ansetzen von 40 mg Citalopram, WV in 8 Wochen. DX: dito 8/2004: Keine Veränderung. Patient äußert wieder Todeswünsche, ist hoffnungslos. Ein− weisung in die psychosomatische Klinik mit 3 Wochen Wartezeit. WV nach Entlassung. DX: dito

21.1 . Charakterisieren Sie die im Text vorkommenden Medikamente mit Wirkstoffgruppe, Wirkungen, Dosierung und Nebenwirkungen!

21.2 . Benennen Sie in jedem dokumentierten Behandlungsschritt einen Fehler, und schlagen Sie jeweils eine Verbesserung vor!

21.3 . Welche Behandlungsstrategie schlagen Sie unter Berücksichtigung des bisherigen Verlaufes vor?

21.4 . Welche nichtmedikamentösen Therapieverfahren bei Depression kennen Sie?

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Fall 22 25−jähriger Patient mit akuter Verwirrtheit zen und Erbrechen und sagt: Ich kann nicht mehr.“ Die Mitbewohner berichten Ihnen, dass der Patient in der heißen Phase“ seines Exa− mens stecke. Am Vormittag habe er sich noch ganz normal verhalten und wie immer Angst vor den Prüfungen geäußert. Drogen nähme er wohl eher nicht ein. Die Tablettenreste auf dem Schreibtisch lassen sich von Ihnen nicht identifizieren, auch eine Tablettenpackung fin− den Sie nicht. Als Sie dem Patienten mitteilen, dass Sie ihn in ein Krankenhaus mitnehmen wollen, lehnt er das ab.

22.1 . Weisen Sie den Patienten gegen seinen Willen in die Klinik ein?

Fall

Als gestresster Notarzt werden Sie in eine Stu− denten−WG gerufen. Mitbewohner des Patien− ten hatten Sie angefordert, nachdem ihnen aufgefallen war, dass er nicht mehr deutlich sprechen konnte, sich immer mehr zurückzog und nicht mehr orientiert war. Der Patient sitzt bei Ihrem Eintreffen vor einem unaufge− räumten Schreibtisch, auf dem Sie mehrere, teilweise ausgedrückte Tablettenstreifen lie− gen sehen. Als er Sie bemerkt, springt er auf, schreit und weint. Auf Ihre Fragen stammelt der Patient etwas von Examen, Kopfschmer−

22 23

22.2 . Wenn ja, welche Kliniken kommen in Frage?

Sie konnten den Patienten überzeugen, mit Ihnen in eine Klinik zu fahren. Weil gerade ein Volksfest stattfindet, sind die Ambulanzen der Inneren Kliniken mit alkoholintoxikierten Patien− ten überlastet, so dass sie überall abgewiesen werden und Ihnen der Transport in eine psychiat− rische Klinik wegen akuter Verwirrtheit angeraten wird. Bei der Aufnahme dort ist der Patient ruhiger, er hat auf der Fahrt im Krankenwagen allerdings mehrmals erbrochen.

22.3 . Welche Maßnahmen sollte der Aufnahmearzt der Psychiatrie einleiten?

Sie sind noch während der körperlichen Untersuchung des Patienten im Krankenhaus dabei. Folgende Befunde erhebt der aufnehmende Psychiater: Körpertemperatur 40,38C, Nackensteifig− keit, Kopfschmerzen. Er stellt die Verdachtsdiagnose akute Meningoenzephalitis.

22.4 . Welche Fehler sollten Sie als Notarzt das nächste Mal vermeiden?

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Fall 23 31−jähriger untergewichtiger Mann nach Suizidversuch

Fall

23 24

Von einer internistischen Station eines be− nachbarten Krankenhauses wird zu Ihnen in die Psychiatrie ein Patient mit der Diagnose Depression und Zustand nach Suizidversuch“ überwiesen. Der Patient erscheint Ihnen schrecklich dürr, sie haben die Assoziation ei− ner schweren konsumierenden körperlichen Erkrankung. Er misst 190 cm bei 40 kg Körper− gewicht. Er berichtet Ihnen sehr langsam da− von, dass er Wein getrunken und dann wohl die Zigarette im Bett fallen gelassen habe, was zu einem kleineren Brand geführt habe. Die Feuerwehr habe ihn ins Krankenhaus ge− bracht. Er habe nur noch an wenigen Dingen Freude, suche häufig grüblerisch nach dem Sinn des Lebens. Umbringen habe er sich nicht wollen. Er ist froh, im Krankenhaus ver− sorgt zu sein und schlurft aus dem Untersu− chungszimmer.

Labor− und andere Untersuchungen ergeben keinen Hinweis auf körperliche Erkrankungen. Die Krankenschwestern berichten aber, dass der Patient jedes Essenstablett unangerührt zurückgehen lasse. Darauf angesprochen be− richtet der Patient, dass es ihm an Appetit mangele und er lieber das esse, was er sich draußen besorge. Er zeigt kaum eine Regung, wenn man ihn auf sein Äußeres anspricht. Im weiteren Verlauf nimmt der Patient weitere 2 kg ab, an den ihm angebotenen Therapien nimmt er nicht teil. Als Sie ihm Sondenernäh− rung anbieten, entschließt er sich, die Klinik zu verlassen. Sein Untergewicht ist inzwischen als bedrohlich einzuschätzen, so dass Sie sich die schwierige Frage stellen müssen, ob sie den Patienten fürsorglich zurückhalten müs− sen oder nicht.

23.1 . Welche Erkrankung hat der Patient vermutlich? Nennen Sie die wichtigsten Symptome und klinischen Folgen!

!!! 23.2 .

Stellen Sie eine psychodynamische Hypothese für die Reaktion des Patienten auf das Angebot der Sondenernährung auf!

23.3 . Nennen Sie Pro− und Kontra−Argumente bezüglich der Unterbringung des Patienten gegen seinen Willen!

23.4 . Zu welchem Formenkreis von Erkrankungen zählt die Störung des Patienten? Grenzen Sie die Erkrankungen aus diesem Formenkreis gegeneinander ab!

23.5 . Nach welcher Formel berechnen Sie den Bodymass−Index (BMI), und welche diagnostischen Grenzwerte kennen Sie?

Antworten und Kommentar Seite 112 Aus J. Becker-Pfaff, St. Engel: Fallbuch Psychiatrie (ISBN 3-13-140181-8) © Georg Thieme Verlag Stuttgart 2006 Dieses Dokument ist nur für den persönlichen Gebrauch bestimmt und darf in keiner Form an Dritte weitergegeben werden!

Fall 24 30−jährige Frau mit Hyperphagie zwar schon 3 Jahre von ihm getrennt und dachte eigentlich, ich sei von ihm losgekom− men, aber irgendwie hänge ich wohl noch im− mer an ihm. Ich habe mir ein Buch über Ess− störungen besorgt, in dem Ratschläge zum Umgang mit dem Verlangen nach Süßem ste− hen. Ich habe mich sehr angestrengt, und es hat auch 3 Tage geklappt. Ich wollte gerade stolz werden, als mich dann doch wieder eine Fressattacke eingeholt hat. Was kann ich denn nun tun? Das ist ja kein Zustand so.“

24.1 . Welches Prozedere schlagen Sie der Patientin vor?

Fall

In Ihrer psychiatrischen Praxis stellt sich eine 30−jährige vital und aufgeschlossen wirkende normalgewichtige und hübsche Frau vor. Sie berichtet über ein Essproblem: Ich esse seit ca. einem dreiviertel Jahr in großen Mengen Süßigkeiten. 2 oder auch 3 Tafeln Schokolade, Schokoriegel und Chips sind gar kein Problem an einem Abend. Ich muss aber nicht erbre− chen. Es ist so ein Gefühl, als müsste ich die Süßigkeiten vernichten. Es hat angefangen, als ich die Nachricht von der zukünftigen Vater− schaft meines Ex bekommen habe. Ich bin

24 25

In den folgenden Gesprächen berichtet die Patientin von sich aus über ihre strenge Kindheit als Tochter eines Reeders und ihren unglaublichen Leistungsdruck, den sie selbst sich auferlege. Sie macht Ihnen deutlich, wie sehr sie sich mit dem, was Sie ihr jeweils sagten, auseinandergesetzt hat. Sie stutzt, als Sie ihr sagen, dass sie wohl selbst im Rahmen der ärztlichen Gespräche ihre Aufgabe perfekt machen muss, und wird darüber nachdenklich und traurig. Andererseits erzählt sie mehrfach von den Ratschlägen in dem Buch über Essstörungen, die ihr manchmal gut helfen würden.

24.2 . Beschreiben Sie der Patientin den Weg zu einer Psychotherapie!

!!! 24.3 .

Welche häufig angewandten Psychotherapieverfahren kennen Sie? Schildern Sie jeweils Merkmale!

!!! 24.4 .

Erläutern Sie den Begriff Psychodynamik!

Antworten und Kommentar Seite 114 Aus J. Becker-Pfaff, St. Engel: Fallbuch Psychiatrie (ISBN 3-13-140181-8) © Georg Thieme Verlag Stuttgart 2006 Dieses Dokument ist nur für den persönlichen Gebrauch bestimmt und darf in keiner Form an Dritte weitergegeben werden!

Fall 25 Psychiatrisches Konsil bei Patient mit offener Unterschenkelfraktur

Fall

25 26

Ein 43−jähriger Patient wird Ihnen konsilia− risch von Kollegen der chirurgischen Abteilung vorgestellt. Der Patient war dort wegen einer offenen Unterschenkelfraktur behandelt wor− den. Zur Aufnahme war es nach einer Verfol− gungsjagd durch die Polizei gekommen, bei der der Patient eine Böschung hinabgestürzt war. Bei Ihrer Anamneseerhebung gibt der Pa− tient sich großspurig und behauptet, die Poli− zei selbst gerufen zu haben. Er stehe mit dem Bundesnachrichtendienst in Verbindung, die Nummer sei auf seinem Handy. Es sei am Un− falltag verloren gegangen, doch Sie sollen es wiederbeschaffen und sich davon überzeugen. Gleichzeitig äußert er, dass er sich von Män− nern des Bundesnachrichtendienst verfolgt ge− fühlt habe, aber auch von anderen Männern, die es auf ihn abgesehen hätten. Deshalb habe

er die Polizei gerufen. Weiter berichtet er, dass er während der letzten Wochen sehr depressiv gewesen sei. Er habe kaum die Wohnung, die er mit seiner Mutter teile, verlassen. Kurz vor deren Geburtstag habe er zunehmend weniger geschlafen und am Geburtstag selbst, dem Un− falltag, habe er ihr eine ganz besondere Freu− de machen wollen. Sie erkundigen sich zuerst bei den chirurgi− schen Kollegen, dann bei der Polizei direkt, wie es zu der Verfolgungsjagd gekommen war. Man erzählt Ihnen, dass Passanten die Polizei gerufen hätten, weil sie einen sich merkwür− dig verhaltenden Mann in einen Garten ein− steigen sahen und einen Einbrecher vermute− ten. Als die Streifenpolizisten ihn daraufhin ansprechen wollten, war er geflohen.

25.1 . Welche Verdachtsdiagnose und Differenzialdiagnosen stellen Sie?

25.2 . Welchen Hinweis auf einen auslösenden Faktor gibt es in der Anamnese? Beschreiben Sie ein ätiologisches Modell für diese Erkrankung!

25.3 . Nennen Sie Formen dieser Erkrankung!

25.4 . Was empfehlen Sie den chirurgischen Kollegen als Therapie?

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Fall 26 62−jährige Patientin mit paranoiden Wahnvorstellungen ist die Frau freundlich zugewandt. Sie führen daraufhin verschiedene Tests durch: Der Mini− Mental−Status ergibt 18 von 30 Punkten; die Aufgabenstellung, eine Uhr zu zeichnen, kann sie nicht bewältigen (s. Abb.). In der neurolo− gischen Untersuchung fällt Ihnen eine diskrete Gangunsicherheit auf. Zeichen für einen Alko− holabusus finden sich nicht, die Patientin ver− neint jeglichen Alkoholgenuss. Im selben Atemzug klagt sie über vermehrte Harninkon− tinenz, weswegen es ihr peinlich sei, wenn ständig Menschen in ihre Wohnung kämen.

Fall

Von der Polizei wird Ihnen in der psychiatri− schen Klinik eine 62−jährige Frau vorgestellt, die schon mehrfach ihre Nachbarn wegen Diebstahls angezeigt hat. So sei die Frau auch dieses Mal wieder bei der Polizei vorstellig ge− wesen, um ihre Nachbarn wegen Diebstahls anzuzeigen. Aus Angst vor ihren Nachbarn hätte sie außerdem die letzten beiden Nächte in einem Hotel verbracht. Die Polizisten wir− ken hilflos, denn die Anschuldigungen der Pa− tientin hatten sich bislang nie bewahrheitet. Sie befragen nun die Patientin. Diese erzählt Ihnen weitschweifig und umständlich, dass ih− re Nachbarn ständig in ihre Wohnung eindrin− gen und manchmal sogar den Schlüssel ver− biegen würden. Auch sei ihr Auto schon mehrfach gestohlen worden, deshalb habe sie sich jetzt ein neues gekauft: Früher hatte ich einen Automatik, jetzt fahre ich eine Wegfahr− sperre.“ Im längeren Gesprächsverlauf wird die Patientin unkonzentrierter, es treten ver− mehrt Konfabulationen und Wortneuschöp− fungen auf. Während des gesamten Gesprächs

26 27

Uhren−Test der Patientin

Sie möchten die Patientin stationär aufnehmen.

26.1 . Aus welchen Gründen möchten Sie die Patientin aufnehmen?

Die Patientin lehnt eine stationäre Aufnahme jedoch ab, da sie wieder nach Hause müsse, um nach dem Rechten zu sehen.

26.2 . Dürfen Sie die Patientin auch gegen ihren Willen stationär aufnehmen?

26.3 . Welche Erkrankungsbilder ziehen Sie bei der Patientin in Erwägung? Für welche Verdachtsdiagnose entscheiden Sie sich?

26.4 . Welche Untersuchungen veranlassen Sie? Nennen Sie typische Untersuchungsbefunde, die Sie bei Ihrer Verdachtsdiagnose erwarten würden!

26.5 . Welche Therapieoption kommt in Frage, wenn sich Ihre Verdachtsdiagnose bestätigt?

Antworten und Kommentar Seite 120 Aus J. Becker-Pfaff, St. Engel: Fallbuch Psychiatrie (ISBN 3-13-140181-8) © Georg Thieme Verlag Stuttgart 2006 Dieses Dokument ist nur für den persönlichen Gebrauch bestimmt und darf in keiner Form an Dritte weitergegeben werden!

Fall 27 Gutachterauftrag: 36−jähriger Türke mit posttraumatischem Belastungssyndrom Ein Verwaltungsgericht muss über den Asyl− antrag eines 36−jährigen Kurden entscheiden, dessen Anwalt ein posttraumatisches Belas−

tungssyndrom geltend machen will. Sie wer− den als psychiatrischer Sachverständiger um ein Gutachten gebeten, ob dieses vorliegt.

27.1 . Definieren Sie den Begriff Trauma!

Fall

27

27.2 . Beschreiben Sie die Phasen der Traumaverarbeitung!

28

Zur Untersuchung erscheint ein äußerlich unauffälliger Mann, der mit leiser und monotoner Stimme zu erzählen beginnt. Er berichtet Ihnen in recht schwer nachzuvollziehenden Zusam− menhängen von seiner Zeit in einem kurdischen Dorf, von wo er in ein Gefängnis gebracht wor− den sei. Dort sei er mit kaltem Wasser abgespritzt worden und in größter Angst um seine Frau und seine 2 Kinder in einer dunklen Zelle dahinvegetiert, obwohl er sich in keiner Weise poli− tisch betätigt habe. Er betont immer wieder, wie unverständlich ihm das Geschehene sei und wie ausgeliefert er sich gefühlt habe. Der Mann erzählt, dass er sich auch in Deutschland häufig von seinen Erinnerungen überrollt fühle. Dann habe er Träume von den Erlebnissen damals. Er erwähnt auch, dass er abends häufig größere Mengen Alkohol trinke und dass er daran denke, sich das Leben zu nehmen, wenn er in sein Heimatland abgeschoben werde. Der Patient bestä− tigt Ihnen die aus den Akten hervorgehende Angabe, dass er bereits zweimal versucht habe, bei einer polizeilichen Personenkontrolle zu fliehen. Dies wurde ihm als gegen die Diagnose einer posttraumatischen Belastungsstörung sprechend ausgelegt, da sich ein kranker und Hilfe su− chender Mensch nicht gegen das Asyl gewährende Land und seine Vertreter wenden würde.

!!! 27.3 .

Stimmen Sie mit dieser Einschätzung überein? Begründen Sie Ihre Ansicht mit der Aufzählung der möglichen Symptome einer posttraumatischen Belastungsstörung!

!!! 27.4 .

Schildern Sie Therapiemöglichkeiten!

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Fall 28 27−Jährige mit langjähriger Psychose post partum bis 2 Wochen vor der Entbindung fest, um ei− ner Destabilisierung vorzubeugen. Auch ohne die neuroleptische Medikation blieb die Pa− tientin dann weiterhin stabil. Anfängliche Am− bivalenz und Affektlabilität wichen nach und nach einer zunehmenden Stabilität und Kon− zentration auf die bevorstehende Geburt, so dass mit ihr eine weiterführende Therapie auf einer stationären Mutter−Kind−Einheit in einer spezialisierten Einrichtung besprochen wer− den konnte.“ Der Arztbrief der Gynäkologie beschreibt eine unkomplizierte Geburt. Auf eine neurolepetische Medikation wurde, auf− grund des Wunsches der Mutter zu stillen, verzichtet. Bei Aufnahme wirkt die Patientin angespannt, ängstlich und verschlossen, sie klammert sich an ihre neugeborene Tochter. Nur zögerlich gibt sie über sich und ihre Ge− schichte Auskunft, dabei verliert sie immer wieder den Faden und wirkt verloren bis ver− stört. Fragen nach Halluzinationen oder Ich− Erlebens−Störungen verneint sie hartnäckig.

Fall

Eine 27−jährige Patientin wird 5 Tage post par− tum zu Ihnen auf die Mutter−Kind−Einheit für psychisch Kranke verlegt. Sie war einige Zeit zuvor auf einer psychiatrischen Akutstation behandelt worden. In den ärztlichen Unterla− gen der psychiatrischen Klinik steht Folgen− des: Patientin mit akuter Psychose aus Wohnheim für psychisch Kranke. Einweisung wegen Suizidankündigung bei akuter Affektla− bilität, teils systematisiertem Wahn von er− heblicher Dynamik sowie sehr ambivalentes Verhalten gegenüber Bezugspersonen und the− rapeutischem Personal. Körperliche Untersu− chung: Gravidität in der 36. Schwanger− schaftswoche, regelrecht. Therapie und Verlauf: Patientin zeigte sich im Verlauf über− wiegend in einem stabilisierten Zustand, je− doch wurde deutlich, dass schon bei geringer Konfrontation erneut eine paranoid gefärbte und projektive Symptomatik zutage trat, die sich rasch strukturieren ließ. An der Medikati− on mit Quetiapin (3 3 200 mg/d) hielten wir

28 29

Sie befürchten aufgrund des Zustandsbildes der Patientin, dass es zu einer erneuten psychoti− schen Dekompensation kommen könnte und raten der Patientin zum Abstillen.

28.1 . Nennen Sie Gründe dafür!

28.2 . Nennen Sie Beispiele für teratogene Psychopharmaka!

28.3 . Was wissen Sie über die Pharmakokinetik bei Neugeborenen?

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Fall 29 50−Jährige mit optischen Halluzinationen und Foetor alcoholicus Sie arbeiten als Stationsarzt auf einer psy− chiatrischen Station. Ein erregter Mann mit ei− ner gut gekleideten, freundlich wirkenden ca. 50−jährigen Frau kommt auf die Station und sagt: So kann es nicht weitergehen, das ist ja

nicht mehr erträglich!“ Dann verlässt er die Station wieder, ohne seine Frau mitzunehmen. Sie nehmen bei der ruhig umherschauenden Frau einen deutlichen Foetor alcoholicus wahr und beginnen, die Situation zu klären.

29.1 . Welche Frage stellen Sie sich als erstes?

Fall

29 30

29.2 . Welche Fragen stellen Sie der Patientin?

Die Patientin kann Ihnen sagen, wie sie heißt, wie alt sie ist, dass sie regelmäßig Alkohol kon− sumiere und ihr Mann sie nun deshalb in die Klinik gebracht habe. Sie berichtet Ihnen, dass sie sich körperlich unruhig fühle, zittrig sei und fragt sie dann unmittelbar: Wie kann es denn sein, dass meine Großmutter auch hier ist? Hallo, Oma! Sie ist doch längst tot?!“ Dabei winkt sie leicht verwundert auf den Flur hinaus, wo Sie selbst niemanden sehen können.

29.3 . Welche Verdachtsdiagnose stellen Sie? An welche Differenzialdiagnosen müssen Sie denken?

29.4 . Welche diagnostischen Maßnahmen leiten Sie ein?

29.5 . Welche medikamentösen Optionen haben Sie für die Behandlung des Krankheitsbildes?

Antworten und Kommentar Seite 125 Aus J. Becker-Pfaff, St. Engel: Fallbuch Psychiatrie (ISBN 3-13-140181-8) © Georg Thieme Verlag Stuttgart 2006 Dieses Dokument ist nur für den persönlichen Gebrauch bestimmt und darf in keiner Form an Dritte weitergegeben werden!

Fall 30 26−jähriger Mann mit akuter Suizidalität antwortet er Ihnen, dass er so etwas nie ge− sagt habe, er habe den einweisenden Notarzt lediglich um Hilfe gebeten“. Sie bemerken nach einer dreiviertel Stunde Gespräch, dass sich das Gespräch in die Länge zieht, der Pa− tient fortlaufend am Reden ist und Sie von seiner Not wenig wahrnehmen können. Als Sie ihm dann ankündigen, dass er das letzte freie Bett in einem 3−Bett−Zimmer bekäme, verfinstert sich seine Miene etwas, er lässt sich dann aber von der Schwester dorthin be− gleiten. Eine Weile später werden Sie von der Nacht− wache informiert, dass der Patient seine Ent− lassung wünsche, da er sich in dem Zimmer nicht wohl fühle und sich besser selbst helfen könne, da in diesem Krankenhaus niemand von dem inkompetent wirkenden Personal mit ihm rede.

Fall

Gegen 23 Uhr wird Ihnen ein 26−jähriger Mann von einem Notarzt wegen akuter Suizi− dalität“ in eine psychiatrische Klinik eingewie− sen. Sie sehen einen jungen Mann, an dem Ih− nen die großen Schriftzüge seiner Designerkleidung auffallen. Er berichtet, dass er Streit mit seiner Freundin gehabt habe, ob− wohl er sich immer um sie bemüht habe und sie ihm so viel verdanke. Im weiteren Ge− spräch erfahren Sie, dass der junge Mann be− reits 4 Ausbildungen begonnen und wieder abgebrochen habe, da er auf jeder Lehrstelle gemobbt worden sei. Man habe ihn stets die einfachsten Tätigkeiten machen lassen und ihm für die Erledigung dieser nicht ausrei− chend Lob gezollt, obwohl er jeweils wesent− lich begabter gewesen sei als die ihn anleiten− den Gesellen und Meister. Als Sie den Patienten nach seiner Suizidalität befragen,

30 31

30.1 . Was fällt Ihnen an dem Verhalten des Patienten auf?

30.2 . Welche Verdachtsdiagnose und Differenzialdiagnosen können Sie aufgrund der erhobenen Befunde stellen?

30.3 . Nennen Sie Merkmale einer narzisstischen Persönlichkeitsstörung!

30.4 . Beschreiben Sie die Ätiologie aus psychodynamischer und aus lerntheoretischer Sicht!

30.5 . Welche Behandlungsaspekte fallen Ihnen ein?

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Fall 31 32−jähriger suizidaler Mann

Fall

31 32

Im allgemeinen Notdienst wird Ihnen vom Bundesgrenzschutz ein 32−jähriger Mann vor− gestellt, der sich auf den Bahngleisen vor ei− nem Bahnhof herumgetrieben habe. Er habe den Beamten gegenüber geäußert, dass er sich vor einen Zug habe werfen wollen. Der Patient erscheint Ihnen ein wenig ungepflegt. Auf− grund eines Foetor alcoholicus machen Sie ei− nen Alko−Test und stellen 0,8  Alkohol im Blut fest. Der Patient berichtet Ihnen: Meine Freundin ist mir davongelaufen, immer wieder passiert mir das. Ich bin nicht beziehungsfä− hig, da kann ich mich doch umbringen. Scha− de, dass es wieder nicht geklappt hat. Die Ar− beitsmarktreformen betreffen mich, ich werde wohl demnächst Sozialhilfe bekommen, wer

soll davon schon leben? Wen habe ich denn noch auf der Welt? Niemand kümmert sich, alles muss man sich erkämpfen – also lassen Sie mich jetzt gehen, ich will heim.“ Dabei steht er hektisch auf und packt Sie am Arm. Dann sagt er: Ich werde mir schon nichts an− tun. Ich wollte nur eine Abkürzung über die Bahngleise nehmen, als mich die Bullen er− wischt haben. Sie können mich ja nicht hier festhalten oder in die Psychiatrie schicken, schließlich bin ich nicht verrückt! Sie müssen mich verstehen, ich muss morgen aufs Amt und meinen Antrag abgeben. . .“ Sie haben Mü− he, den Patienten in seinen Ausführungen zu bremsen und die Führung des Gesprächs an sich zu bringen.

31.1 . Lassen Sie den Patienten gehen? Begründen Sie Ihre Entscheidung!

31.2 . Welche Risikofaktoren für Suizidalität kennen Sie?

31.3 . Beschreiben Sie die unterschiedlichen Ausprägungen von Suizidalität!

31.4 . Wie gehen Sie bei akuter Suizidalität vor?

Antworten und Kommentar Seite 128 Aus J. Becker-Pfaff, St. Engel: Fallbuch Psychiatrie (ISBN 3-13-140181-8) © Georg Thieme Verlag Stuttgart 2006 Dieses Dokument ist nur für den persönlichen Gebrauch bestimmt und darf in keiner Form an Dritte weitergegeben werden!

Fall 32 30−jährige verwirrte Patientin auf der Straße aufgefunden einem Satz und verliert den Faden. Sie erfah− ren u. a., dass sie eigentlich mit einem Popstar in München liiert sei, der auf sie warte, wes− halb sie sofort gehen müsse. Außerdem erfah− ren Sie von 3 Klinikaufenthalten in den letzten 5 Jahren. Auf den Vorschlag, sie stationär auf− zunehmen, reagiert sie plötzlich panisch und ängstlich. Sie fühlt sich von dem umstehenden Personal verfolgt (alles ist ein Komplott gegen mich“) und kann nur mit Mühe überzeugt werden, mit auf die Station zu kommen.

32.1 . Welche Verdachtsdiagnose stellen Sie?

Fall

Eine 30−jährige Frau wird von Polizisten zu Ih− nen in die psychiatrische Klinik gebracht. Die Polizisten berichten, dass sie die Frau bei herbstlich kaltem Wetter barfuß und singend auf der Straße gefunden haben. Die Frau wirkte verwirrt, wie von einem anderen Stern“. Sie befragen nun die Patientin. Diese berichtet teilweise bereitwillig in schnellem Redefluss, teilweise versinkt sie aber auch in einen Dämmerzustand, aus dem sie kaum he− rauszuholen ist, manchmal stockt sie mitten in

32 33

32.2 . Welche Symptome sind bei Ihrer Verdachtsdiagnose allgemein von Bedeutung?

ICD−10 und DSM IV stellen Diagnosekriterien für diese Erkrankung auf.

!!! 32.3 .

Welche 3 bedeutenden Psychiater versuchten ebenfalls, die Symptomatik dieser Erkrankung zu systematisieren? Fassen Sie deren Thesen kurz zusammen!

32.4 . Welche Unterform dieser Erkrankung kann tödlich verlaufen, und welche ebenso letale Erkrankung kommt als Differenzialdiagnose in Betracht?

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Fall 33 17−Jähriger mit plötzlicher Verhaltensänderung nach Tod des Großvaters

Fall

33 34

In einer psychiatrischen Institutsambulanz, wo Sie gerade Dienst haben, erscheint eine Mutter mit ihrem 17−jährigen Sohn. Sie be− richtet, dass sie ihren Sohn nicht wiederer− kenne, er sei sonst ein ausgeglichener, intelli− genter Junge ohne jegliche Probleme. Seit gestern sei er jedoch wie verwandelt: Er rea− giere nicht mehr, sei auf der Straße beinahe in Autos gelaufen, weil er die Regeln nicht be− achte, und ein Lehrer habe ihr berichtet, dass er auf einmal enorm aggressiv gegenüber sei− nen Mitschülern sei. Die Mutter kann sich das alles nicht erklären. Nebenbei berichtet sie vom Tod des Großvaters väterlicherseits 2 Wochen zuvor. Dieser habe eine besondere

Bedeutung für ihren Sohn gehabt. Der Junge selbst wirkt während der Erzählung abwesend und unbeteiligt, als sei er weit weg. Auf Ihre ersten Fragen reagiert er nicht, erst als er wahrnimmt, dass Sie Interesse an ihm haben, wird er langsam etwas gesprächiger. Er schil− dert, dass ihm im Moment alles egal sei, was er von sich gar nicht kenne. Normalerweise habe er Interesse an allem möglichen, jetzt sei er wie anästhesiert“. Er vergleicht seinen Zu− stand mit seiner Hand, als diese lokal anäs− thesiert wurde, um einige Warzen darauf zu entfernen. Diese habe sich damals so ange− fühlt, als gehöre sie nicht zu ihm.

33.1 . Diagnostizieren Sie die Störung des Jungen!

33.2 . Mit welchen Symptomen müssen Sie rechnen?

33.3 . Nennen Sie typische Belastungsfaktoren, die zu einer solchen Störung führen!

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Fall 34 42−jähriger Lastwagenfahrer mit Herzrasen Herzinfarkt zu erleiden und zu sterben, des− halb sei er schon oft bei Ärzten und in Klini− ken gewesen. Noch nie sei etwas Pathologi− sches festgestellt worden, trotzdem habe er Angst. Er sei Lastwagenfahrer und lege seine Routen immer so, dass in der Nähe eine Klinik sei. Die weitere Anamnese zeigt keinen Sub− stanzmissbrauch; die Arztbriefe der zahlrei− chen Kliniken, die der Patient immer bei sich hat, zeigen keine somatischen Störungen. Au− ßer Betablockern habe er bisher keine Medi− kamente eingenommen.

34.1 . Welche Verdachtsdiagnose stellen Sie?

Fall

Über die Notfallambulanz der Abteilung für Innere Medizin kommt ein 42−jähriger Patient in Ihre psychiatrische Aufnahme. Der Patient wirkt verstört, er hyperventiliert und ist schweißnass. Das EKG zeigt eine Tachykardie (100/min), der Blutdruck beträgt 170/ 100 mmHg. Die begleitenden Sanitäter erzäh− len Ihnen, dass sie den Patienten schon ken− nen. Sie hätten ihn im letzten Monat schon mehrmals mit der gleichen Symptomatik in die unterschiedlichsten Kliniken gefahren. Der Patient berichtet Ihnen, er habe Angst, einen

34 35

34.2 . Was halten Sie von der Einnahme von Betablockern bei solchen Störungen?

Initial geben Sie dem Patienten Diazepam (10 mg), um einer Hyperventilationstetanie vorzubeu− gen. Dabei entspannt er sich. Anschließend bieten Sie ihm eine stationäre Aufnahme an, um nach weiterführender Diagnostik eine spezifische Therapie einzuleiten. Der Patient ist hin− und hergerissen.

34.3 . Mit welchen Argumenten überzeugen Sie den Patienten zu bleiben?

34.4 . An welche Therapieoptionen denken Sie?

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Fall 35 68−jährige Patientin mit zunehmender Vergesslichkeit

Fall

35 36

In Ihre Allgemeinarztpraxis kommt zum er− sten Mal eine 68−jährige Frau in Begleitung ihrer ca. 45−jährigen Tochter. Die Patientin wirkt gepflegt, ist freundlich und kooperativ. Sie sagt: Meine Tochter wollte, dass ich zu Ihnen komme. Eigentlich fühle ich mir sehr wohl. Stellen Sie sich vor, ich bin 56 Jahre alt und war noch nie im Leben im Krankenhaus. Mein Blutdruck stimmt, ich bin nicht so fett wie manch andere in meinem Alter.“ Dabei ki− chert sie ein wenig. Manchmal bin ich ein wenig einsam, seit mein Mann verstorben ist.“ Daraufhin fängt sie kurz und heftig an zu wei− nen, spricht dann aber unbekümmert fort: Ja, ich bin ganz gesund. Meine Tochter wollte, dass ich herkomme. Ich fühle mich wohl. Manchmal weiß ich nicht mehr, wo ich meine Brille hingelegt habe, doch das ist in meinem

Alter wohl normal, oder?“ Die Tochter der Pa− tientin ergänzt dann Folgendes: Meine Mut− ter wohnt seit 30 Jahren allein in ihrer Woh− nung. Sie ist 68 Jahre alt. Vor 3 Wochen waren wir zum ersten Mal seit langem ge− meinsam im Urlaub. Dort ist meinem Mann und mir aufgefallen, dass sie sich in der Fe− rienwohnung kaum zurechtfand. Sie suchte hilflos nach Geschirr und traute sich nicht mehr alleine aus der Wohnung, da sie meinte, dann nicht mehr nach Hause zu finden. Manchmal fallen ihr einfache Wörter nicht mehr ein, und sie wirkt ein wenig abwesend. Wir haben jetzt Angst, dass sie einen Parkin− son haben könnte.“ Bei der körperlichen Untersuchung stellen Sie fest, dass die Frau rüstig und in gutem Allge− meinzustand ist.

35.1 . Welche Diagnose ist anhand der geschilderten Symptomatik rein statistisch am wahrscheinlichsten?

35.2 . Zählen Sie Erkrankungen und deren Häufigkeiten auf, die zu einer solchen Symptomatik führen können!

35.3 . Welche Klassifizierungen dieser Erkrankungen kennen Sie?

35.4 . Beschreiben Sie den langfristigen klinischen Verlauf Ihrer Verdachtsdiagnose!

35.5 . Welche Untersuchungsmethoden stehen Ihnen zur möglichst genauen Diagnostik bei dieser Symptomatik zur Verfügung?

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Fall 36 38−jähriger Patient mit unerklärlicher Traurigkeit In Ihre Allgemeinarztpraxis kommt ein 38− jähriger Patient wegen Schlafstörungen. Er ist sehr ordentlich angezogen und begrüßt Sie mit leiser Stimme. In einem monotonen Sing− sang berichtet er Ihnen maskenhaft lächelnd, dass er seit ca. 3 Wochen eine große Traurig− keit und Antriebslosigkeit verspüre. Er müsse ständig darüber nachdenken, woher das komme, und habe festgestellt, dass er eine

große Leere in sich habe. Es fehle ihm zu al− lem die Lust, er könne seine Tage nicht mehr strukturieren und keine sozialen Kontakte hal− ten. Er fühle sich einsam. Es sei kein Wunder, dass niemand mehr etwas mit ihm zu tun ha− ben wolle, da er ein Langeweiler sei. Auch ha− be er finanzielle Sorgen, weil er seinen Ar− beitsplatz verloren und Schulden in Höhe von 30 000 Euro habe.

Verdachtsdiagnose ergibt sich daraus?

Fall

36.1 . Welche psychopathologischen Befunde erkennen Sie, und welche

36 37

36.2 . Erfragen Sie weitere psychopathologische Befunde!

Im Verlauf des Gesprächs berichtet der Patient Ihnen Folgendes: Ich weiß ja nicht, ob das für Sie wichtig ist, doch eigentlich ist es mir noch vor ein paar Wochen besser gegangen als je zu− vor. Ich war gut drauf, habe alles Mögliche gemacht. Schlafen musste ich gar nicht mehr. Ich habe mir Sachen geleistet, die ich mir sonst nie geleistet hätte. Zum Beispiel habe ich mir ein Klavier und eine Geige gekauft, obwohl ich nicht spielen kann und auch nicht besonders musi− kalisch bin. Ich habe Leute eingeladen, sehr viel Geld in Kneipen gelassen. Meine Schwester hat mich sogar angesprochen, ob alles bei mir in Ordnung sei oder ob ich Hilfe bräuchte. Ich hatte zwar meinen Job verloren, doch ich wollte mich ja schließlich mit einem eigenen deutschland− weiten Kurierdienst selbstständig machen. Heute habe ich dazu einfach keinen Antrieb mehr.“

36.3 . Welche Diagnose stellen Sie nun, und welche Komplikationen können eintreten?

36.4 . Welche Einteilungen der affektiven Störungen kennen Sie?

36.5 . Wie häufig verlaufen Depressionen einphasig und wie häufig rezidivierend? Wie viele Episoden kommen durchschnittlich bei rezidivierenden Verläufen vor?

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Fall 37 38−Jährige mit Rückenschmerzen und multiplen Behandlungsversuchen

Fall

37 38

In Ihre Allgemeinarztpraxis kommt zum er− sten Mal eine 38−jährige Frau, die über Rü− ckenschmerzen klagt. Sie beschreibt ihre Be− schwerden so: Überall am Rücken tut es weh, vor allem dann, wenn ich mich anstrengen muss. Wenn der Rücken besser ist, dann ist es das Bein und die Hüfte. Ich weiß gar nicht mehr, wie das ist ohne Schmerzen. Manchmal kann ich mich kaum bewegen, so schmerzt al− les. Das geht schon seit 3 Jahren so. Mein letz− ter Hausarzt wollte mich nun nach einem hal− ben Jahr Krankschreibungen nicht mehr krankschreiben, deswegen komme ich jetzt zu Ihnen. Ich kann so nicht arbeiten, ich bin Ver− käuferin im Supermarkt. Alles, was wir bisher versucht haben, hat nichts genützt. Bewe− gungsübungen in warmem Wasser, Kranken− gymnastik, Rückenschule. Massagen haben ein bisschen geholfen, aber die werden ja nicht

mehr bezahlt. Zu Hause ist alles in Ordnung, obwohl meine Kinder langsam auch keine Lust mehr haben, den Haushalt alleine zu machen, ich kann ja nicht. Von meinem Mann bin ich seit 3 Jahren geschieden. Er hat mich sitzen lassen. Ich denke ja, dass man irgendetwas finden müsste. Im Röntgen, in der Computer− tomographie des Rückens und beim Neurolo− gen konnte man angeblich nichts finden. Der Orthopäde hat allerdings gesagt, dass mein Rückgrat schon ganz schön abgenutzt sei. Wahrscheinlich kommt es daher. Vielleicht müsste man noch mal so eine Computertomo− graphie machen. Aber selbst das wollte mein alter Hausarzt nicht. Er wollte, dass ich zur psychologischen Beratungsstelle gehe, aber ich bin doch nicht verrückt, sondern mein Rücken tut weh.“

37.1 . Erläutern Sie anhand der Symptomschilderung die allgemeinen Kriterien für eine somatoforme Störung und die Kriterien für eine somatoforme Schmerzstörung!

Die Patientin fragt Sie: Vielleicht habe ich ja Fibromyalgie?“

!!! 37.2 .

Grenzen Sie die somatoforme Schmerzstörung vom Fibromyalgie− Syndrom ab!

37.3 . Welche therapeutischen Schritte können Sie einleiten?

37.4 . Welchen Anteil an Patienten mit somatoformen Störungen erwarten Sie in Ihrer Allgemeinarztpraxis?

37.5 . Schildern Sie ein Modell der Entstehung somatoformer Störungen!

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Fall 38 32−jähriger Mann mit Schlafstörungen noch mein Auto kaputt gegangen, mit dem ich jedes Wochenende meine Eltern besuche. Sie haben ziemlich viel Geld, sind auch großzügig, aber ich wollte sie nicht fragen, ob sie mir Geld für die Autoreparatur geben. Die hätte nämlich 1700 Euro kosten sollen. Aber ich kann das einfach nicht. Mir passiert immer so etwas. Meiner letzten Freundin habe ich mit all meinem Ersparten geholfen, dann ist sie weggegangen. Ich habe ihr wohl nicht genügt, wie auch? Aber ich kann doch nicht allein sein. Ich könnte Ihnen noch viel mehr solcher Geschichten erzählen aus den letzten 15 Jah− ren. Ständig mache ich mir Sorgen. Aus lauter Angst unternehme ich nichts mehr. Ich kann mich nirgends wohl fühlen, wenn ich nicht si− cher bin, dass man mich mag. Deswegen gehe ich auch kaum noch raus. Können Sie mir nicht etwas zum Schlafen geben?“

Fall

Ein 32−jähriger Mann kommt in Ihre Allge− meinarztpraxis. Er ist ausgesprochen freund− lich und scheint sich bei seiner Begrüßung vor Ihnen zu verbeugen. Er beginnt: Mir geht es nicht gut. Ich habe eine sehr liebe Freundin, der es auch nicht gut geht. Sie steht viel schlechter da als ich, weil sie bei falschen Be− kanntschaften aus dem Drogenmilieu viel Schulden gemacht hat. Ich verdiene als Aus− hilfe in der Bäckerei nicht gerade viel, doch ich muss meiner Freundin helfen, Ihre Schul− den zu bezahlen. Ich arbeite 10–12 Stunden am Tag, obwohl ich nur für 7 bezahlt werde. Es wäre schrecklich für mich, wenn man mir sagte, dass ich nicht gut arbeite. Nun kann ich nicht mehr schlafen, sorge mich sehr um meine Freundin, die auch immer mal einige Nächte nicht bei mir verbringt. Sie sagt mir aber nie, wo sie war. Neulich ist dann auch

38 39

38.1 . Welche psychiatrischen Symptome weist der Patient auf?

38.2 . Bei welchen Differenzialdiagnosen spielt die soziale Angst eine entscheidende Rolle? Grenzen Sie diese Differenzialdiagnosen voneinander ab!

38.3 . Welche Diagnosen geben Sie dem Patienten?

38.4 . Wie handeln Sie als nichtpsychotherapeutisch ausgebildeter Allgemeinmediziner?

Antworten und Kommentar Seite 142 Aus J. Becker-Pfaff, St. Engel: Fallbuch Psychiatrie (ISBN 3-13-140181-8) © Georg Thieme Verlag Stuttgart 2006 Dieses Dokument ist nur für den persönlichen Gebrauch bestimmt und darf in keiner Form an Dritte weitergegeben werden!

Fall 39 Lehrerin mit der Bitte um einen Vortrag zum Thema Sucht Eine Bekannte, die als Lehrerin der gymnasia− len Oberstufe arbeitet, bittet Sie als Psychiater, den Schülern einen Vortrag zum Thema Sucht zu halten. Sie berichtet Ihnen, dass viele ihrer Schüler Drogen idealisierten oder die Gefah− ren herunterspielten. Manche rauchten sogar offen Cannabis im Schulhof. Am meisten be− reite ihr Sorgen, dass die Schüler nicht in der Lage seien, die Gefahren der Drogen, aber

Fall

39 40

auch die unterschiedlichen Wirkmechanismen zu unterscheiden. Sie würden alles in einen Topf werfen und Polizei, Staat oder Schule für Diskriminierung von Drogenkonsumenten ver− antwortlich machen. Um eine Struktur in ein Übersichtsreferat zu bekommen, stellen Sie folgende Überlegungen an:

Das ICD−10 teilt die Störungen durch suchterzeugende Substanzen sowohl nach den Substanzen selbst als auch nach dem klinischen Erscheinungsbild der hervorgerufenen Störungen ein.

39.1 . Zählen Sie beide Einteilungen auf!

39.2 . Welche lernpsychologischen Faktoren haben bei der Entwicklung einer Sucht Bedeutung?

Sie möchten den Schülern Folgeschäden der Sucht am Beispiel Alkohol verdeutlichen.

39.3 . Fassen Sie diese zusammen!

39.4 . Was wissen Sie über die Phasen der Suchttherapie?

Antworten und Kommentar Seite 145 Aus J. Becker-Pfaff, St. Engel: Fallbuch Psychiatrie (ISBN 3-13-140181-8) © Georg Thieme Verlag Stuttgart 2006 Dieses Dokument ist nur für den persönlichen Gebrauch bestimmt und darf in keiner Form an Dritte weitergegeben werden!

Fall 40 28−jähriger verzweifelter Medizinstudent mit Gedankenkreisen“ er nachschauen. Seit ein paar Wochen sei hin− zugekommen, dass er ständig an dieselben Sa− chen denken müsse. Ihre Frage nach diesen Sachen ist ihm sichtlich peinlich. Er traut sich nicht so richtig, die genauen Inhalte zu nen− nen, deutet aber an, dass es mit Onanieren zu tun habe und er es als pervers empfinde. Nun habe er Angst, sein Freund könne ihn wegen dieser Symptomatik verlassen. Einen Psychia− ter habe er bis jetzt noch nie aufgesucht.

40.1 . Welches vorherrschende Symptom stellen Sie bei dem Patienten fest?

Fall

Die Chefarztsekretärin ruft Sie auf der psy− chiatrischen Station an und erklärt, bei ihr sei ein Privatpatient, der Hilfe benötige. Der Chef sei heute aber nicht da. Sie gehen zu ihr und treffen einen 28−jährigen Medizinstudenten an, der verzweifelt wirkt und Ihnen umständ− lich erklärt, er käme mit seinem Leben nicht mehr zurecht. Vor allem würde ihn plagen, dass er sich immer wieder vergewissern müsse, ob sein Geldbeutel in der Hosentasche sei. Er wisse, dass er da sei, trotzdem müsse

40

Wie lautet daher Ihre Verdachtsdiagnose? 41

40.2 . Kennen Sie dieses Symptom aus Ihrer eigenen Erfahrung? Was ist der Unterschied zur pathologischen Variante?

40.3 . Nennen und erklären Sie die einzelnen Phänomene dieses Symptoms!

Sie bieten dem Patienten an, ihn stationär aufzunehmen, um seine Symptomatik abzuklären und ggf. eine Behandlung zu beginnen. Er lehnt vehement ab und besteht auf einer ambulanten Behandlung. Medikamente seien für ihn unvorstellbar, schließlich studiere er Medizin, er wisse Bescheid.

40.4 . Welche Therapieoptionen haben Sie bei diesem Patienten?

40.5 . Welche Medikamente können bei diesem Krankheitsbild eingesetzt werden?

Antworten und Kommentar Seite 147 Aus J. Becker-Pfaff, St. Engel: Fallbuch Psychiatrie (ISBN 3-13-140181-8) © Georg Thieme Verlag Stuttgart 2006 Dieses Dokument ist nur für den persönlichen Gebrauch bestimmt und darf in keiner Form an Dritte weitergegeben werden!

Fall 41 24−jährige Patientin mit Antriebs− und Perspektivlosigkeit

Fall

41 42

Eine 24−jährige Patientin wird von ihren El− tern in Ihre psychiatrische Praxis begleitet. Die Patientin ist adipös, leicht ungepflegt, blickt Sie kaum an und lässt die Eltern für sich sprechen. Die Mutter berichtet: Unsere Tochter hat nach ihrem Abitur nichts mehr auf die Reihe gekriegt. Eigentlich wollte sie ein Freiwilliges Soziales Jahr machen, aber das hat sie nach 2 Wochen abgebrochen. Dann wollte sie eine Ausbildung zur Erzieherin be− ginnen, hat aber bisher nur 2 Bewerbungen geschrieben. Sie ist sehr viel in ihrem Zimmer, schläft viel, meist tagsüber; nachts spielt sie stundenlang Computer oder sieht fern. Sie nimmt so arg zu. Vor einem halben Jahr war sie mal ziemlich lange in einer Klinik, hatte einen Nervenzusammenbruch oder so. Wir wissen gar nicht so genau, was da los war, sie hat uns kaum was erzählt.“

Sie versuchen daraufhin, die Patientin in das Gespräch einzubeziehen: Wie war das denn mit dem Nervenzusammenbruch?“ Patientin: Och, ich weiß nicht mehr.“ Sie: Wie fühlen Sie sich denn zur Zeit?“ Patientin: Ganz gut.“ Sie:  Können Sie denn nachvollziehen, warum Ihre Eltern mit Ihnen zu mir gekommen sind?“ Patientin: Nö, ist doch alles ganz gut so, aber die wollten halt. Die Welt ist eben so, wie sie ist, da hilft nichts.“ Sie: Sie fühlen sich wohl irgendwie hilflos?“ Patientin: Meine Gedanken wirbeln so durch− einander, ich bin ganz leer, da bin ich froh, wenn ich Computer und Fernseher habe.“

41.1 . Welche Symptome können Sie dem bisherigen Gespräch entnehmen?

41.2 . Nennen Sie Ihre Verdachtsdiagnose und 2 Differenzialdiagnosen! Wie können Sie diese bestätigen bzw. ausschließen?

Die Eltern der Patientin können Ihnen sagen, in welcher Klinik ihre Tochter ein halbes Jahr zu− vor war. Sie lassen sich von dort einen Arztbrief zuschicken, der die Diagnose Schizophrenie bestätigt.

41.3 . Nennen Sie Verlaufsformen der Schizophrenie!

41.4 . Welche unterschiedlichen Subtypen der Schizophrenie unterscheidet die ICD−10?

Antworten und Kommentar Seite 148 Aus J. Becker-Pfaff, St. Engel: Fallbuch Psychiatrie (ISBN 3-13-140181-8) © Georg Thieme Verlag Stuttgart 2006 Dieses Dokument ist nur für den persönlichen Gebrauch bestimmt und darf in keiner Form an Dritte weitergegeben werden!

Fall 42 30−jährige Kunstlehrerin mit Zustand nach wiederholtem Suizidversuch Räume gesucht habe, bin ich überall abge− blitzt. Inzwischen kann ich das verstehen. Die Bilder aus dieser Zeit sind wirklich nichtssa− gend, schlecht, chaotisch. Aber damals hat es mich gar nicht interessiert, was die anderen sagen, ich habe einfach weitergesucht. Doch dann kam meine Katze eines Tages nicht mehr nach Hause, und ich habe angefangen, mir schrecklich Sorgen zu machen. Sie war am nächsten Tag wieder da, doch da war ich schon wieder so depressiv. Ich habe einfach keine Lust mehr auf dieses ständige Auf und Ab, es ist so anstrengend und sinnlos. Ich ha− be dann ganz viel von den Antidepressiva auf einmal genommen, ich weiß gar nicht mehr genau, ob ich wieder manisch werden oder ob ich lieber tot sein wollte.“

Fall

Als Stationsarzt in der Psychiatrie behandeln Sie zum wiederholten Mal eine 30−jährige Kunstlehrerin nach einem Suizidversuch mit einer Überdosis Antidepressiva. Sie berichtet monoton über Ihre Stimmung: Als ich das letzte Mal hier entlassen wurde, ging es mir eigentlich ganz gut. Ich habe wieder angefan− gen, Unterricht zu geben, wobei mich das fei− ne Zittern meiner Hände sehr störte. Sie hat− ten mir ja gesagt, dass das vom Lithium kommen könnte, so dass ich es abgesetzt ha− be. Die anderen Tabletten habe ich aber weiter genommen. Es ist auch nichts passiert, ich ha− be mich echt super gefühlt. Das Zittern ist weggegangen, ich hatte viele tolle Ideen und habe auch sehr viel gezeichnet. Ich hätte sogar eine Ausstellung machen können, doch als ich

42 43

42.1 . Stellen Sie eine Verdachtsdiagnose!

42.2 . Welche 4 medikamentösen Substanzklassen kennen Sie zur Behandlung dieser Erkrankung? Nennen Sie jeweils Indikationen und Beispielpräparate!

42.3 . Welche Präparate stehen zur Phasenprophylaxe dieser Erkrankung zur Verfügung? Wie sind die jeweiligen Dosierungen und therapeutischen Plasmaspiegel?

42.4 . Nennen Sie Indikationen, Durchführung und Nebenwirkungen der Elektrokrampftherapie!

Antworten und Kommentar Seite 150 Aus J. Becker-Pfaff, St. Engel: Fallbuch Psychiatrie (ISBN 3-13-140181-8) © Georg Thieme Verlag Stuttgart 2006 Dieses Dokument ist nur für den persönlichen Gebrauch bestimmt und darf in keiner Form an Dritte weitergegeben werden!

Fall 43 57−jährige Patientin mit Einschlafstörungen Eine Freundin Ihrer Mutter ruft Sie abends an und wendet sich hilfesuchend an Sie, weil Sie Medizin studieren. Sie klagt über seit 2 Mona− ten bestehende Einschlafstörungen. Sie liege wach im Bett, wälze sich herum und finde keinen Schlaf. Meist versuche sie krampfhaft,

Schäfchen zu zählen, doch sie schlafe erst ge− gen halb 3 Uhr morgens ein. Am Morgen sei sie dann völlig erschöpft und könne kaum ih− rem Beruf nachkommen. Sie befürchte einen Nervenzusammenbruch, wenn das so weiter− gehe.

43.1 . Nennen Sie mögliche Ursachen für Schlafstörungen!

Fall

43 44

43.2 . Welche Untersuchungen sollte die Ratsuchende von einem Arzt vornehmen lassen?

43.3 . Welche Arten von Schlafstörungen kennen Sie?

Antworten und Kommentar Seite 152 Aus J. Becker-Pfaff, St. Engel: Fallbuch Psychiatrie (ISBN 3-13-140181-8) © Georg Thieme Verlag Stuttgart 2006 Dieses Dokument ist nur für den persönlichen Gebrauch bestimmt und darf in keiner Form an Dritte weitergegeben werden!

Fall 44 61−jähriger Patient mit akuter psychotischer Symptomatik noch im Gartenhaus lagere. Obwohl er sehr unruhig und poltrig wirkt, antwortet er zu− nächst sinnvoll und zusammenhängend auf Ihre Fragen. Dann sagt er plötzlich: Ich muss dann jetzt gehen und meine Miete überwei− sen. Sonst fliege ich aus meiner Wohnung.“ Sie nehmen den Patienten auf und stellen im weiteren Verlauf des Krankenhausaufenthaltes fest, dass eine sinnvolle Kommunikation mit ihm kaum mehr möglich ist, sondern er nur noch eine Fassade aufrecht erhält. Wegen ei− ner anhaltenden psychotischen Symptomatik (Wahn, formale Denkstörungen, optische Hal− luzinationen) verabreichen Sie dem Patienten Risperidon (0,5 mg/d). Daraufhin muss er we− gen aggressiver Impulsdurchbrüche fixiert werden. Zusätzlich treten ein ausgeprägter Tremor und unwillkürliche Bewegungen im Mundbereich auf.

Fall

Ein 61−jähriger Patient wird wegen Eigen− und Fremdgefährdung von der Polizei in Ihre psychiatrische Klinik gebracht. Er hatte Nach− barn in seinem Wohnhaus mit einem Messer bedroht, die daraufhin die Polizei gerufen hat− ten. Die Nachbarn hatten der Polizei außer− dem berichtet, dass ihnen seit längerem nächtliche Unruhe und eine deutliche Verän− derung des allein lebenden Mannes aufgefal− len seien: An einem Tag war er ganz der alte, am anderen aggressiv und verwirrt.“ Außer− dem hätten sie bemerkt, dass er in den ver− gangenen Monaten häufiger gestürzt sei. Der Patient berichtet Ihnen bei der Aufnahme, dass er seit Monaten von verschiedenen Per− sonen belästigt würde, die ständig um ihn sei− en. Er gibt an, berentet zu sein, finanziell schlechter gestellt zu sein als vorher und sich deshalb bald umbringen zu wollen. Er habe vor, einige Schlucke E605 zu trinken, die er

44 45

44.1 . Zählen Sie die Symptome des Patienten auf!

44.2 . Zu welchen psychiatrischen Krankheitsbildern könnten diese Symptome passen?

!!! 44.3 .

Nennen Sie Ihre Verdachtsdiagnose!

!!! 44.4 .

Wie können Sie Ihre Verdachtsdiagnose eindeutig bestätigen?

!!! 44.5 .

Welche Möglichkeiten sehen Sie, den Patienten zu stabilisieren?

Antworten und Kommentar Seite 154 Aus J. Becker-Pfaff, St. Engel: Fallbuch Psychiatrie (ISBN 3-13-140181-8) © Georg Thieme Verlag Stuttgart 2006 Dieses Dokument ist nur für den persönlichen Gebrauch bestimmt und darf in keiner Form an Dritte weitergegeben werden!

Fall 45 18−Jährige nach Suizidversuch mit verschiedensten Schnittwunden an Armen

Fall

45 46

Auf Ihre psychiatrische Station kommt eine 18−jährige Patientin nach einem Suizidversuch mit Valium−Tabletten. Sie war von ihrer Mut− ter zu Hause aufgefunden worden, die sofort den Notarzt alarmiert hatte. Die Kollegen der Abteilung für Innere Medizin hatten die Akut− versorgung vorgenommen und die Patientin verlegt, nachdem ihr somatischer Zustand als unbedenklich eingestuft werden konnte. Die Patientin erzählt Ihnen: Als sie 14 Jahre alt war, habe ihr damaliger Freund sie zuerst ver− gewaltigt, dann auf den Straßenstrich ge− schickt. In dieser Zeit habe sie häufig Drogen genommen und begonnen, sich mit Rasier− messern an Unterarmen und Schenkeln zu rit− zen. Mit 16 Jahren habe sie eine Abtreibung

vornehmen lassen. Ihre Eltern wüssten nichts über diese Ereignisse. 17−jährig habe sie mit all dem abgeschlossen und sich seitdem von dem Milieu ferngehalten. Sie habe aber Prob− leme mit dem Essen, manchmal müsse sie ohne jeden Grund alles wieder erbrechen, manchmal esse sie über Tage wenig oder gar nichts. Trotzdem sei sie eine gute Schülerin und stehe kurz vor dem Abitur. Als Grund für den Suizidversuch gibt sie an, dass sich trotz ihrer Erfolge alles so leer anfühle: Sie wisse nicht, wer sie sei, und habe keinen Plan für die Zukunft gesehen. Im Verlegungsbrief lesen Sie, dass an beiden Unterarmen der Patientin großflächig zum Teil tiefe Schnittwunden zu sehen sind.

45.1 . Welche Verdachtsdiagnose stellen Sie?

45.2 . Zählen Sie typische Symptome dieser Erkrankung auf!

45.3 . Welche anderen psychiatrischen Erkrankungen sind mit dieser Krankheit assoziiert?

Das Aufnahmelabor zeigte keine pathologischen Befunde, das Drogenscreening im Urin dagegen positive Werte für Phencylidin (PCP, Angel’s Dust), Opiate und Benzodiazepine. Mit den positi− ven Werten für PCP und Opiate konfrontiert, erklärt die Patientin erstaunt: Nein, ich nehme keine Drogen! Das Labor muss etwas falsch gemacht haben, oder irgendjemand hat mir ohne mein Wissen etwas beigemischt.“ Diese Argumentation behält sie auch in den folgenden Tagen bei, die Werte bleiben trotz Ausgangsbeschränkung weiter positiv.

45.4 . Wie erklären Sie sich die Diskrepanz zwischen der Aussage der Patientin und dem Drogenscreening?

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Fall 46 51−jähriger Patient mit Niedergeschlagenheit nach Hirninfarkt sperrt. Es finden sich Gedankenabbrüche, Pa− tient erscheint wie verloren. Das Denken ist inhaltlich auf wenige Themen eingeschränkt, alles sei sinnlos, wertlos und ziellos. Affekt et− was depressiv, aber überwiegend leer, nicht spürbar, Stimmung eher verzweifelt und hoff− nungslos. Psychomotorik und Antrieb deutlich vermindert. Anamnestisch keine Suizidgedan− ken oder −absichten. Akute Suizidalität nicht sicher auszuschließen. Die Ehefrau ist sehr besorgt und kann sich noch gar nicht vorstellen, wie sie ihren Mann zu Hause versorgen soll. Sie fühlt sich von der Situation völlig überfordert, v. a. weil ihr Ehe− mann jede Hoffnung und Perspektive verloren zu haben scheint.

Fall

Konsiliarisch werden Sie als Psychiater von den Kollegen der Abteilung für Innere Medizin zu einem Patienten gerufen, der 3 Wochen zu− vor einen Schlaganfall erlitten hatte. Die Inter− nisten fühlen sich hilflos angesichts der zu− nehmenden Antriebs− und Lebensmüdigkeit des Patienten. Er klagt und jammert, lehnt je− den Vorschlag zur Besserung der Symptomatik ab. Sie begegnen einem 51−jährigen Mann mit einer brachiofazial betonten Hemiparese nach Hirninfarkt links. Die Ehefrau ist ebenfalls anwesend. Sie erheben folgenden psychopa− thologischen Befund: Patient voll orientiert, bewusstseinsklar. Aufmerksamkeit und Kon− zentration beeinträchtigt, Gedächtnis intakt. Formaler Gedankengang verlangsamt und ge−

46 47

46.1 . Stellen Sie eine Verdachtsdiagnose!

46.2 . Welche prädisponierenden Faktoren spielen bei dieser Erkrankung eine Rolle, wenn sie nach einem Hirninfarkt auftritt?

!!! 46.3 .

Wie häufig tritt diese Erkrankung nach einem Hirninfarkt auf?

Es gibt depressive Syndrome, bei denen v. a. eine körperliche Symptomatik ohne somatische Grunderkrankung im Vordergrund steht und nicht der depressive Affekt.

46.4 . Wie wird diese Form der Depression genannt?

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Fall 47 55−jähriger Patient mit vielfältigen somatischen Beschwerden

Fall

47 48

Als Psychiater werden Sie von einem verzwei− felten Internisten zu Rate gezogen: Ein 55−jäh− riger Patient, der schon seit 3 Wochen auf sei− ner Station liegt, klagt über eine fast täglich wechselnde Symptomatik von abdominellen Beschwerden, Kopfschmerzen, Atemnot, Rü− ckenbeschwerden, Lähmungserscheinungen, Parästhesien usw. Die bisherigen Untersu− chungen (Labor, Sonographie, Röntgen−Thorax, Schädel−CT, Abdomen−CT, Gastroskopie, Kolo− skopie, neurologisches Konsil, orthopädisches Konsil) hatten keine pathologischen Befunde erbracht. In der Akte finden Sie zahlreiche Vorbefunde aus den unterschiedlichsten Ab− teilungen nahe gelegener Krankenhäuser. Aus

diesen Befunden geht hervor, dass bei dem Patienten wegen vielfältiger Symptome eine umfangreiche Diagnostik durchgeführt wurde, bei der jedoch keine pathologischen Befunde erhoben werden konnten. Bei Ihrer Untersu− chung treffen Sie auf einen jammernden Pa− tienten, der zahlreiche Beschwerden angibt. Ihre neurologische Untersuchung ergibt einen unauffälligen Befund. Die psychiatrische Un− tersuchung ergibt: auffälliges Vorbeireden auf einfache Fragen, Erinnerungslücken, Zunahme der Beschwerden bei Konfrontation, Beharren auf hohem Leidensdruck, ansonsten unauffäl− liger psychopathologischer Befund.

47.1 . Nennen Sie eine Verdachtsdiagnose und 3 Differenzialdiagnosen!

47.2 . Was zeichnet Patienten mit dieser Erkrankung aus?

47.3 . Wie steht das Münchhausen−Syndrom zu Ihrer Verdachtsdiagnose? Geben Sie eine Definition!

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Fall 48 25−jähriger Mann mit Problem der geschlechtlichen Orientierung Der Patient merkt, dass sie sich für seine Ge− schichte interessieren, und beginnt, etwas lo− ckerer von sich zu erzählen. Dabei erfahren Sie, dass er als Kind nie gern Fußball gespielt habe, das sei ihm irgendwie zu aggressiv ge− wesen. Er habe lieber mit den Sachen seiner Schwester gespielt. Und später sei er zwar gerne mit Mädchen zusammen gewesen, habe sich aber nicht sexuell für sie interessiert. Be− sonders problematisch habe er in der Pubertät die Entwicklung seines Geschlechtsorgans er− lebt, er habe es als nicht zu sich gehörig und störend empfunden.

Fall

In Ihrer Allgemeinarztpraxis sucht Sie ein 25− jähriger Mann auf. Es fällt ihm sichtlich schwer, Ihnen sein Anliegen zu präsentieren, doch er fasst sich ein Herz und erzählt Ihnen seine Geschichte: Letzte Woche habe ich im Fernsehen eine Sendung gesehen. Das lässt mich jetzt nicht mehr los. Wissen Sie, es ging um Andere, die genau das gleiche Problem hatten wie ich. Vor ein paar Jahren habe ich angefangen, heimlich Frauenkleider zu tragen. Das hat mir immer gut getan, ich habe mich dann so richtig“ gefühlt. Andererseits habe ich mich dafür geschämt, denn das ist doch nicht normal, oder? Aber jetzt habe ich in die− ser Sendung gesehen, dass es auch Anderen so geht.“

48 49

48.1 . Stellen Sie eine Verdachtsdiagnose!

48.2 . Nennen Sie eine weitere Störung aus diesem Formenkreis? Geben Sie eine kurze Definition!

48.3 . Welche Differenzialdiagnosen müssen ausgeschlossen werden?

48.4 . Wie sieht die Behandlung Ihres Patienten aus?

48.5 . Gibt es einen gesetzlichen Rahmen für den Umgang mit dieser Störung?

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Fall 49 18−jährige Frau mit multiplem Substanzengebrauch und Bitte um Hilfe

Fall

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Sie werden als Dienstarzt einer städtischen psychiatrischen Klinik um 2 Uhr von der Pfor− te geweckt. Vor der Kliniktür steht eine junge Frau, die lärmend Hilfe fordert. Im Gespräch lassen sich die Umstände, die die Patientin veranlassten, die Klinik aufzusuchen, nur schwer ermitteln. Sie ist weitschweifig, diskret ideenflüchtig und wirkt paranoid, doch klar orientiert und scheint konkreteren Fragestel− lungen eher aus dem Weg gehen zu wollen. Auf keinen Fall möchte sie, dass ihre Eltern, bei denen sie wohnt, informiert werden, gleichzeitig möchte sie unter keinen Umstän− den die Nacht in der Klinik verbringen. Erst nach längerem Zögern räumt sie ein, schon

über einen längeren Zeitraum regelmäßig ein weißes Pulver zu schnupfen, das ihr Freund ihr gibt. Manchmal werfe sie auch Pillen ein, um gut drauf zu sein. Seit Jahren konsumiere sie regelmäßig Cannabis wie alle ihre Freunde, das sei doch normal. Nur heute sei irgendet− was anders gewesen. Vielleicht habe sie zu viel geschnupft. Nach einem längeren Ge− spräch beschließt die Patientin, bei einer Freundin zu übernachten, und verlässt die Kli− nik. Drogen− und Medikamentenabhängigkeit wer− den nach Substanzklassen unterschieden, Symptome und Verhaltensmuster unterschei− den sich je nach Drogentyp.

49.1 . Nennen Sie die verschiedenen Subtypen!

49.2 . Definieren Sie den Begriff Polytoxikomanie! Ist die Patientin davon betroffen?

!!! 49.3 .

Bei welcher Erkrankung hat Cannabisabusus einen besonderen Stellenwert?

49.4 . Nennen Sie Hinweise auf eine Drogeneinnahme!

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Fall 50 19−jähriger Patient mit gleichgültiger Zurückgezogenheit lauf immer wieder auftritt, besonders wenn Sie ihm Fragen stellen oder ihn mit seinem Verhalten konfrontieren. Seine Antworten fal− len so aus: Sollten Sie einmal von einem Son− nenstrahl beschienen werden, machen Sie be− stimmt Karriere.“; Die Psychiatrie ist die Toilette der Gesellschaft.“; Eile mit Weile.“; Jedem das Seine.“ Dabei wirkt er gekünstelt und überschwänglich. Über seine Mutter sagt er: Die Fotze soll sofort das Zimmer verlas− sen.“ Zum Vater fällt ihm ein: Der bringt’s doch überhaupt nicht.“

50.1 . Stellen Sie eine Verdachtsdiagnose!

Fall

Sie haben Dienst in der psychiatrischen Not− aufnahme. Ein 19−jähriger Mann wird Ihnen von seinen Eltern vorgestellt. Während des Gesprächs gewinnen Sie den Eindruck, dass die Eltern ihn zum Kommen gezwungen ha− ben, weil sie überfordert sind. Sie erzählen Ih− nen, dass der Patient sie in den letzten Tagen übel beschimpft und beleidigt habe. Er habe alle Hilfestellungen verweigert und sich in sein Zimmer zurückgezogen. Der Patient scheint sich nicht für die Situation zu interes− sieren. Auffallend ist ein unmotiviertes Ki− chern, das über den gesamten Gesprächsver−

50 51

50.2 . Unterscheidet sich die medikamentöse Therapie dieser Erkrankung von der einer paranoiden Schizophrenie?

50.3 . Wie beurteilen Sie den Verlauf dieser Erkrankung?

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Fall 51 45−jähriger misstrauischer Lehrer

Fall

51 52

In einer psychiatrischen Klinik behandeln Sie einen 45−jährigen Lehrer, der mit Verdacht auf eine depressive Anpassungsstörung eingewie− sen wurde. 15 Jahre zuvor war er schon ein− mal Patient in Ihrer Klinik gewesen. Er er− zählt: Ich werde gemobbt. Einem schwachen Schulkind in der ersten Klasse hatte ich ein schweres Buchstabierspiel gegeben, weil es das unbedingt haben wollte. Nachdem ich kurz abgelenkt gewesen war, hatte es all die Buchstaben auf den Boden geleert und baute Türmchen. Da bin ich kurz ausgerastet. Okay, das war nicht ganz in Ordnung, aber es war ja klar, dass der Junge das nicht schaffen würde, stattdessen wirft er alles auf den Boden! Am nächsten Tag hat mich meine Direktorin ein− bestellt, da sich die Eltern des Jungen be− schwert hatten. Außerdem sind mir die ande− ren Kollegen in den Rücken gefallen und

haben ihr erzählt, dass es solche Situationen schon häufiger gegeben habe. Seit 15 Jahren bin ich jetzt an dieser Schule und immer ist es das Gleiche, die anderen hacken nur auf mir herum. Dabei geht es mir doch schlecht, keiner hilft mir, keiner versteht mich, es ist fast wie eine Verschwörung gegen mich.“ Sie fragen den Mann: Ich wollte Ihre alte Akte kommen lassen, doch sie wurde im Archiv nicht gefunden, wann waren Sie noch einmal genau hier?“ Er antwortet: Ach! Das habe ich mir schon gedacht, dass Sie nach den alten Sachen schnüffeln werden. Ja, ja, die konnten Sie nicht finden. Ich habe damals noch anders geheißen, das habe ich Ihnen nicht gesagt. Was wollen Sie denn damit anfangen? Ich will eigentlich nicht, dass Sie da noch einmal rein− gucken. Wer weiß schon, was da alles drin steht.“

51.1 . Wie reagieren Sie?

51.2 . Welche Verdachtsdiagnose haben Sie? Zählen Sie dafür einige Diagnosekriterien auf!

51.3 . Grenzen Sie die paranoide Psychose von Ihrer Verdachtsdiagnose ab!

51.4 . An welche weiteren Differenzialdiagnosen denken Sie, was spricht dafür und was dagegen?

51.5 . Was beachten Sie bei der Behandlung des Patienten?

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Fall 52 19−jährige Patientin mit gehobener Stimmung voll orientiert, bewusstseinsklar, Aufmerksam− keit und Konzentration herabgesetzt, Gedächt− nis nicht sicher prüfbar. Patientin redet zeit− weise wirr, Wortsalat, dann wieder in schnellem Stakkato von ihrer Berufung als große Sängerin, sie sei kurz davor, von einer Plattenfirma entdeckt zu werden. Singt laut− stark. Größenideen und paranoide Vorstellun− gen: Ex−Freund habe Leute auf sie angesetzt, damit der Plattenvertrag nicht zustande kommt. Keine Halluzinationen. Affekt mani− form, Stimmung läppisch gehoben, groteskes bis bizarres Auftreten. Psychomotorisch ange− trieben, Antrieb gesteigert. Akute Suizidalität nicht sicher auszuschließen, Eigengefährdung aufgrund akuter Dekompensation und fehlen− der Krankheitseinsicht.“

Fall

Eine 19−jährige Frau wird Ihnen in der psychi− atrischen Ambulanz von 2 hilflos wirkenden Polizisten vorgestellt. Sie trägt Handschellen und kommt, obwohl es Winter ist, barfuß und äußerst leicht bekleidet. Die Polizisten hatten sie laut singend auf der Straße aufgefunden. Mit einiger Mühe war es ihnen gelungen her− auszufinden, dass die Patientin in einer weit entfernten Großstadt wohnt. Sie haben bereits Kontakt mit dem Vater aufgenommen, der sich sofort auf den Weg machen wollte, um seiner Tochter beizustehen. Er erzählte den Polizisten am Telefon, dass er bisher keine Auffälligkeiten bei seiner Tochter wahrgenom− men habe. Sie habe vor kurzem das Abitur mit besten Noten bestanden und wolle nun Architektur studieren. Sie befragen nun die Patientin und dokumen− tieren folgenden Aufnahmebefund: Wach,

52 53

52.1 . Wie lautet Ihre Verdachtsdiagnose?

52.2 . Welche Medikamente geben Sie der Patientin akut?

52.3 . Wie sieht die langfristige Medikation bei der Patientin aus?

52.4 . Unterscheiden Sie den manischen vom depressiven Wahn!

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Fall 53 54−jähriger verwirrter und alkoholisierter Patient

Fall

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In der morgendlichen Übergabe erfahren Sie, dass ein leicht alkoholisierter 54−jähriger Pa− tient in verwirrtem Zustand am Tag zuvor von der Abteilung für Innere Medizin in Ihre psychiatrische Abteilung verlegt worden war. Die internistische Untersuchung einschließlich EKG hatte keine Auffälligkeiten gezeigt. Dem aufnehmenden Arzt erschien der Patient ver− wahrlost, es fanden sich Hämatome und Haut− abschürfungen. Der Patient gab an, schon seit Tagen nichts mehr gegessen zu haben, er sei alkoholkrank, lebe auf der Straße, habe aber schon seit 2 Wochen keinen Alkohol mehr ge− trunken. Er wolle nicht mehr leben. Zur Per− son schien er ausreichend orientiert, nicht je− doch situativ, zeitlich und örtlich. Bekannte hätten ihn ins Krankenhaus gebracht, weil sie sich Sorgen machten. Er habe immer behaup− tet, dass er es mit fliegenden Aschenbechern zu tun hätte. In der Annahme eines beginnen−

den Alkoholdelirs entschied sich der dienstha− bende Arzt für die Gabe von Clomethiazol (2 Kapseln alle 6 h), Haloperidol (10 mg) und Dia− zepam (5 mg). Der Atemalkoholwert betrug 0,0. Das Labor zeigte pathologische Werte für CK, Bilirubin, g−GT, GOT, GPT; eine Elektro− lytverschiebung mit grenzwertig niedrigem K+, Na+, Cl− sowie eine Erythrozytopenie. Im Urin fanden sich Ketone, Erythrozyten (150/ ml), Bilirubin und Kristalle. Der Patient wird für einige Tage stationär überwacht. In dieser Zeit zeigt sich bei dem Patienten keine vegetative Begleitsymptoma− tik, lediglich ein Flapping tremor fällt dem Pflegepersonal auf. 5 Tage nach der Aufnahme stellen Sie bei der neurologischen Untersu− chung eine Hyperreflexie sämtlicher Extremi− täten fest. Der Patient selbst gibt an, undeut− lich zu sehen, woraufhin sie eine Augenmus− kelparese sowie einen Visusverlust feststellen.

Sie überlegen sich aufgrund der Zunahme der Symptomatik eine Verlegung auf eine internisti− sche Überwachungsstation.

53.1 . Welche wahrscheinlichen Verdachtsdiagnosen nennen Sie dem diensthabenden Internisten? Diskutieren Sie jeweils Pro und Kontra bei Ihren Verdachtsdiagnosen!

53.2 . Nennen Sie Ursachen der Alkoholfolgekrankheiten!

53.3 . Wie erklären Sie deren tödlichen Verlauf?

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Fall 54 54−jähriger Patient mit Schlafproblemen Konflikt geben. Der Patient ist seit 3 Jahren wieder glücklich verheiratet. Ausführlich be− schreibt er dann seine Not am Arbeitsplatz, er befürchtet, den Anforderungen nicht mehr ge− recht zu werden, er brauche dringend Schlaf: Ich arbeite in einer verantwortungsvollen Po− sition, wissen Sie, viele Abläufe in unserer Produktion sind von meiner Leistung abhän− gig. Ich kann es mir nicht leisten, schlecht zu arbeiten oder sogar einen Fehler zu machen. Aber gerade das passiert mir, wenn ich nicht ausreichend geschlafen habe. Mittlerweile ha− be ich Angst vor dem Nichteinschlafen.“

54.1 . Geben Sie dem Patienten einige Ratschläge zur Schlafhygiene!

Fall

Ein 54−jähriger Patient kommt in Ihre psychi− atrische Praxis und beklagt zunehmende Schlafstörungen. Er habe schon verschiedene Ärzte aufgesucht: einen Internisten, Allge− meinarzt, Allergologen, Pulmonologen und Neurologen. Bisher habe aber keiner eine Ur− sache feststellen können. Der Patient hat die jeweiligen Arztbriefe zur Hand, die organische Ursachen ausschließen. Psychiatrisch finden Sie in Ihrer Untersuchung keinen Hinweis auf schwerwiegende Erkrankungen, allenfalls der plötzliche Tod der Ehefrau 5 Jahre zuvor könnte einen Hinweis auf einen psychischen

54 55

Dazu erzählt Ihnen der Patient: Diese Tipps hat der Internist mir auch schon gegeben, und ich habe sie auch alle ausprobiert. Aber nichts hilft. Können Sie mir nicht ein Medikament ver− schreiben?“

54.2 . Wann sind Schlafmedikamente indiziert? Was muss man bei ihrer Gabe beachten?

54.3 . Welche Medikamentengruppen kommen bei der Behandlung von Schlafstörungen in Frage? Nennen Sie jeweils ein Beispiel mit Dosierung!

54.4 . Welche Probleme birgt der Einsatz von Benzodiazepinen bei Schlafstörungen?

54.5 . Beschreiben Sie kurz 2 therapeutische Entspannungsverfahren!

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Fall 55 25−jährige Mutter postpartal mit Suizidankündigung

Fall

55 56

Eine 25−jährige Patientin wird mit ihrem 3 Wochen alten Baby von der Polizei zu Ihnen in die psychiatrische Klinik gebracht. Der be− gleitende Partner berichtet, dass sie auf dem Balkon gedroht habe, sich hinunterzustürzen. Die Polizei gibt an, dass als Hintergrund ein Beziehungskonflikt mit dem aus Amerika stammenden Partner in Frage komme, da die− ser noch im selben Monat berufsbedingt in den Irak versetzt werde. Im Aufnahmege− spräch distanziert sich die Patientin immer wieder kurzfristig von der Suizidalität, sagt, sie sei überhaupt nicht suizidal. Doch zeigt sie

schnelle Wechsel bezüglich ihrer Absprachefä− higkeit, indem sie erneut behauptet, wenn nicht genau das geschehe, was sie wolle, brin− ge sie sich um. Daher leiten Sie eine stationä− re Aufnahme ein. Die Situation eskaliert, als sich die Mutter von ihrem Baby trennen muss, da der Kindsvater es mit nach Hause nehmen will. Die Patientin zeigt paranoide Ängste, psychomotorische Unruhe, schreit und droht, sich und ihr Kind umzubringen. Eine Fixie− rung kann nur mit Mühe vermieden werden. Kurze Zeit später reagiert sie wieder adäquat auf Ansprache.

55.1 . Nennen Sie Ihre Verdachtsdiagnose!

55.2 . Nennen Sie weitere Erkrankungen dieses Lebensabschnittes?

55.3 . Was ist bei der Anamneseerhebung besonders wichtig?

55.4 . Welche Maßnahmen leiten Sie ein?

55.5 . Was können Sie der Patientin und den Angehörigen über die Prognose dieser Erkrankung sagen?

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Fall 56 29−jährige Borderline−Patientin zu wiederholter Krisenintervention

!!! 56.1 .

Zeit wieder abgebrochen. Die Tendenz, Ange− fangenes wieder abzubrechen, zeigte sich ebenfalls in verschiedenen Versuchen, eine Ausbildung zu absolvieren, außerdem in zahl− reichen Beziehungsabbrüchen mit Partnern. Auch der aktuellen Krise voran ging eine Tren− nung von ihrem derzeitigen Freund. Sie drohte ihm, sich zu verletzen, wenn er sich trennen wolle. Er beendete die Beziehung trotzdem, und sie reagierte mit selbstverletzendem Ver− halten. Im Gespräch bemerken Sie, dass die Patientin sich seit ihrem letzten Aufenthalt umfangreich über ihr Störungsbild im Internet informiert hat. Sie provoziert Sie mit direkten Fragen, um Ihr Wissen über Therapiemöglich− keiten auszuloten: Ich habe beschlossen, eine EMDR−Therapie zu machen. Wissen Sie, was das ist?“

Fall

Am Wochenende wurde eine 29−jährige Pa− tientin mit Borderline−Persönlichkeitsstörung von den Chirurgen wegen akuter Selbstverlet− zung (zahlreiche tiefe Schnitte an beiden Un− terarmen) erstversorgt. Danach wurde sie auf einer psychiatrischen Station aufgenommen. Als zuständiger Arzt sehen Sie die Patientin am Montag zur weiteren Abklärung. Sie ken− nen die Patientin schon, da sie schon mehr− fach auf Ihrer Station einige wenige Tage ge− wesen war. Sie wissen aus der bisherigen Anamnese, dass die Patientin schon im Ju− gendalter in der Kinder− und Jugendpsychiat− rie untersucht und behandelt worden war. Eine sexuelle Traumatisierung im Kindesalter konnte damals nachgewiesen werden. Ver− schiedene Therapien hatte die Patientin schon begonnen, aber bislang jeweils nach kurzer

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Was bedeutet EMDR?

Sie gehen nicht direkt auf die Frage ein, sondern konfrontieren die Patientin damit, dass sie schon zahlreiche Versuche unternommen habe, eine Therapie aufzunehmen. Bislang sei ihr aber immer noch nicht gelungen, eine Therapie durchzustehen und zuerst müsse einmal geklärt wer− den, warum das so ist. Nachdem die Patientin zuerst ausweichen möchte, weisen Sie auf die letzten kurzen Klinikaufenthalte hin und nehmen Bezug auf ihre Beziehungsgestaltung und ihre vergeblichen Versuche, eine Ausbildung zu beginnen. Die Patientin wird daraufhin nachdenkli− cher und beginnt, ausführlicher mit Ihnen über Therapiemöglichkeiten zu sprechen.

56.2 . Nennen Sie 2 wichtige Psychotherapiemethoden zur Behandlung von Borderline−Persönlichkeitsstörungen! Fassen Sie kurz die Vor− und Nachteile der jeweiligen Behandlung zusammen!

56.3 . Was sind die wesentlichen Ziele einer medikamentösen Behandlung?

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Fall 57 40−Jähriger mit starker Impulsivität und Organisationsschwierigkeiten

Fall

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In der psychiatrischen Ambulanz stellt sich Ih− nen ein 40−jähriger Mann vor. Er berichtet Ih− nen, dass er sich in den letzten Tagen im In− ternet über das Zappelphilipp−Syndrom informiert habe. Er habe sich davon Hilfe im Umgang mit seinen beiden Söhnen erhofft, mit denen er im Moment einige Probleme ha− be. Sowohl der 8− als auch der 14−Jährige hät− ten große Schwierigkeiten in der Schule. Bei beiden sei schon mehrfach die Versetzung ge− fährdet gewesen. Außerdem, das sei seine größte Sorge, hätten beide schon Erfahrungen mit Marihuana gemacht. Eine Freundin habe ihn auf dieses Syndrom aufmerksam gemacht. Nun habe er gelesen, dass es auch bei Erwach− senen vorkäme, und er frage sich, ob er es vielleicht auch habe. Erst wenige Tage zuvor

habe er den Führerschein abgeben müssen, weil er mehrfach im Straßenverkehr andere Verkehrsteilnehmer gefährdet hatte. Alkohol habe er aber nicht getrunken. Es liege einfach daran, dass er manchmal impulsiv sei, häufig könne er das Risiko, das er eingehe, nicht ab− schätzen. Er habe z. B. bei 3 Autos einen Total− schaden verursacht. Auf die Beziehung zu sei− ner Frau angesprochen, schildert er, dass diese immer versuche, auf ihn aufzupassen. Beruf− lich sei es ein einziges Desaster, er sei selbst− ständiger Versicherungskaufmann. Meist be− komme er die Abwicklung seiner Verträge nicht geregelt, seine Frau müsse häufig ein− springen. Sie verwalte auch die Finanzen, sonst wäre die Familie wohl ruiniert.

57.1 . Wie heißt das Zappelphilipp−Syndrom medizinisch? Nennen Sie die Leitsymptome dafür!

57.2 . Zählen Sie Beispiele für Hyperaktivität auf!

57.3 . Welche Medikamente werden bei dieser Erkrankung angewendet?

Antworten und Kommentar Seite 177 Aus J. Becker-Pfaff, St. Engel: Fallbuch Psychiatrie (ISBN 3-13-140181-8) © Georg Thieme Verlag Stuttgart 2006 Dieses Dokument ist nur für den persönlichen Gebrauch bestimmt und darf in keiner Form an Dritte weitergegeben werden!

Fall 58 67−jährige Patientin mit Interessensverlust Monaten zum Tode geführt hatte. Die Patien− tin selbst äußert sich kaum zu den Ausführun− gen des Sohnes, manchmal nickt sie dazu, überwiegend schaut sie teilnahmslos auf den Boden. Auf Ihr Nachfragen schildert sie sto− ckend, dass ihr Leben bisher in geregelten Bahnen verlaufen sei. Schule, Ausbildung, Be− ruf sowie Heirat und Familiengründung seien ohne besondere Probleme verlaufen. Der Tod des Ehemannes sei ein schwerer Schlag für sie gewesen, sie beide hätten so vieles für die Zeit nach dem Berufsleben geplant. Trotzdem habe sie sich nicht unterkriegen lassen und weiter− hin ihre sozialen Kontakte und Aktivitäten or− ganisiert und wahrgenommen. Seit dem Tod des nahen Freundes habe sich jedoch die Welt für sie verändert, alles sei grau, nutz− und sinnlos. Am liebsten wäre sie schon tot.

Fall

Eine bisher sehr aktive 67−jährige Frau wird von ihrem Sohn in Ihrer Allgemeinarztpraxis vorgestellt, weil dieser sich zunehmend Sor− gen um sie macht. Er erzählt Ihnen, dass seine Mutter in ihrem Berufsleben als Richterin tä− tig gewesen sei. Bis 3 Monate zuvor habe sie ihre täglichen Aufgaben spielend erledigt und nebenher bei zahlreichen Vereinen und Veran− staltungen zum Teil in maßgeblicher Rolle mitgewirkt. Als mögliche Ursache für die Ver− änderung nennt der Sohn das Versterben ei− nes ihr nahestehenden Freundes mit 72 Jahren an einem Herzinfarkt. Er sei ebenfalls Richter gewesen, und sie habe viel mit ihm gemein− sam unternommen. Es habe sich fast so etwas wie eine Partnerschaft entwickelt. Der Ehe− mann der Patientin sei 12 Jahre zuvor an ei− nem Gehirntumor verstorben, der sich fou− droyant entwickelte und innerhalb von 5

58 59

58.1 . Schildern Sie den psychopathologischen Befund der Patientin!

58.2 . Welche Verdachtsdiagnose stellen Sie?

58.3 . Nennen Sie 3 Charakteristika dieser Erkrankung!

Antworten und Kommentar Seite 178 Aus J. Becker-Pfaff, St. Engel: Fallbuch Psychiatrie (ISBN 3-13-140181-8) © Georg Thieme Verlag Stuttgart 2006 Dieses Dokument ist nur für den persönlichen Gebrauch bestimmt und darf in keiner Form an Dritte weitergegeben werden!

Fall 59 21−jähriger Informatikstudent nach Erstmanifestation einer Schizophrenie

Fall

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In die psychiatrische Praxis, in der Sie als Wei− terbildungsassistent arbeiten, kommt ein jun− ger Mann in Begleitung seiner Eltern. Er wirkt etwas teilnahmslos und desinteressiert, die El− tern dagegen sehr besorgt, ständig auf ihn achtend. Sie überschütten Sie mit Darstellun− gen der bisherigen Ereignisse, Sorgen und Fra− gen. Sie erfahren, dass der junge Mann einen Monat zuvor aus einer psychiatrischen Lan− desklinik nach Erstmanifestation und −diag− nose einer paranoid−halluzinatorischen Psy− chose entlassen wurde. Dort befand er sich 6 Wochen lang. Die Symptomatik klang unter neuroleptischer Medikation rasch ab, doch

zeigte er sich gegenüber den Therapieangebo− ten und den Empfehlungen der behandelnden Ärzte widerspenstig und abweisend. Als Sie schließlich Gelegenheit dazu finden, den Patienten selbst zu befragen, meint dieser, dass er sein Studium wieder aufnehmen wolle, er sehe keine Probleme, nur dass er momentan etwas müde und lustlos sei. Die Medikamente, die er unter Aufsicht seiner El− tern immer noch nehme, vertrage er gut, ei− gentlich spüre er gar nichts davon, trotzdem möchte er sie am liebsten gar nicht mehr neh− men.

59.1 . Für welche Zeitdauer empfehlen Sie, die Medikamente weiter einzunehmen?

59.2 . Welche Möglichkeiten haben Sie bezüglich der Müdigkeit und Lustlosigkeit des Patienten?

59.3 . Welche Empfehlungen gaben vermutlich die behandelnden Ärzte?

59.4 . Was ist besonders wichtig bei einer sich so gestaltenden Situation?

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Fall 60 40−Jähriger mit Fieber und Unruhezuständen nach Medikamenteneinnahme sehr unwohl fühle. Er fragt Sie, ob das Neben− wirkungen des neuen Medikaments sein könnten, und stellt fest, dass es ihm psychisch besser gehe. Er berichtet dann auch noch, dass er ein anderes Antidepressivum namens Mo− clobemid, dass er vor längerer Zeit schon ein− mal bekommen habe, zusätzlich eingenom− men habe, da er seinen depressiven Zustand nicht mehr habe aushalten können. Sie kön− nen sehen, dass der Patient stark schwitzt. Plötzlich rennt er auf die Toilette und übergibt sich.

60.1 . Wie erklären Sie sich die Symptomatik?

Fall

Auf einer psychiatrischen Station behandeln Sie seit mehreren Wochen einen 40−jährigen Mann, der unter einer mittelschweren depres− siven Episode mit starker zwanghafter Kom− ponente leidet. Seine Behandlung ist schwie− rig. Die bisherigen Monotherapien mit Citalopram und Venlaflaxin hatten nicht ange− schlagen. Daraufhin wurde das Medikament Clomipramin angesetzt. Heute beobachten Sie, dass der Patient unruhig über den Flur Ihrer Station läuft. Bei der Visite spricht er davon, dass er einen schnellen Puls habe und sich

60 61

60.2 . Was veranlassen Sie, und was würde ohne Ihr Eingreifen passieren?

!!! 60.3 .

Nennen Sie mindestens 4 potenziell gefährliche Interaktions− mechanismen zwischen Psychopharmaka untereinander oder mit anderen Wirkstoffen!

!!! 60.4 .

Grenzen Sie das anticholinerge vom serotonergen Syndrom ab!

60.5 . Welche Besonderheiten sind bei der Psychopharmakotherapie älterer Patienten zu bedenken?

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Fall 61 40−jährige verzweifelte Frau nach Tod ihres Sohnes

Fall

61 62

Während Ihres Bereitschaftsdienstes in einer psychiatrischen Klinik ruft mitten in der Nacht eine 40−jährige Frau an. Sie klingt auf− geregt und verzweifelt. Sie berichtet Ihnen, dass ihr 17−jähriger Sohn eine Woche zuvor im Skiurlaub verunglückt und 2 Tage zuvor an den Folgen seiner Verletzungen verstorben sei. Es sei ein Schulausflug gewesen, seine ganze Klasse sei dabei gewesen. Keinem sonst sei et− was passiert, der Lehrer habe sich nicht rich− tig gekümmert. Ihr Ex−Ehemann habe die Nachricht nur zur Kenntnis genommen, sie hasse ihn dafür. Weitere Kinder habe sie nicht.

Sie sei verzweifelt, wisse nicht mehr ein noch aus, denke an Selbstmord, was sie bisher noch nie getan habe, aber alles habe keinen Sinn mehr. Die Darstellungen der Frau bewegen Sie emotional sehr. Sie nehmen sich Zeit und re− den mit der Frau, und nach und nach beruhigt sich die Frau ein wenig. Sie vereinbaren einen ambulanten Termin in der psychiatrischen In− stitutsambulanz, den sie dankend annimmt. Von sich aus beendet sie das Gespräch. Zuletzt sagt sie: Irgendwie muss es weitergehen, und ich werde damit klarkommen, mein Sohn hätte das auch so gewollt.“

61.1 . Stellen Sie eine Verdachtsdiagnose!

61.2 . Nennen Sie weitere Störungen aus diesem Formenkreis! Wodurch unterscheiden sie sich von der Erkrankung der Patientin?

61.3 . Was wären Indikationen für eine stationäre Aufnahme bei dieser Verdachtsdiagnose?

61.4 . Beschreiben Sie die normale Trauerreaktion!

61.5 . Zählen Sie Hinweise auf eine pathologische Trauerreaktion auf!

Antworten und Kommentar Seite 184 Aus J. Becker-Pfaff, St. Engel: Fallbuch Psychiatrie (ISBN 3-13-140181-8) © Georg Thieme Verlag Stuttgart 2006 Dieses Dokument ist nur für den persönlichen Gebrauch bestimmt und darf in keiner Form an Dritte weitergegeben werden!

Fall 62 80−jährige Patientin mit angstvollem Wahn das wissen Sie doch wohl selber, oder?“ Dann erkundigt sie sich: Wo sind wir denn hier ei− gentlich? Was mache ich hier?“ Von den Töchtern erfahren Sie am nächsten Tag Folgendes: Seit ungefähr einem Jahr be− obachten wir einen ganz langsamen Abbau ih− rer geistigen Fähigkeiten. Davor war sie zwei− mal kurz im Krankenhaus, weil sie zu Hause ohnmächtig geworden war. In letzter Zeit ha− ben wir zu hören bekommen, dass sie nachts im Haus herumgeistert. Sie läuft schlechter und kann seit ca. 3 Monaten nicht mehr rich− tig Urin halten. Ihre Medikamente der letzten 2 Tage gegen Diabetes und Bluthochdruck sind noch im Wochendispenser.“

Fall

Ein Kollege vom ärztlichen Notdienst weist Ih− nen in die psychiatrische Abteilung gegen 2 Uhr nachts eine 80−jährige Patientin ein. Sie hatte im Glauben einer bevorstehenden Sperr− müllabholung ihren sämtlichen Hausrat vor die Tür gestellt und voller Angst die Nachbarn informiert, sie müsse sofort ausziehen. Bei der Ankunft klären Sie die Patientin darüber auf, in welchem Krankenhaus sie sich befindet und fragen sie, wie alt sie sei, worauf sie strahlend antwortet: Oh, schon 70 Jahre.“ Auf Ihre Frage, in welcher Stadt sie sich befinde, antwortet sie: In der Hauptstadt unseres wunderschönen Landes.“ Als Sie fragen, wie diese denn hieße, kommt die Antwort: Na,

62 63

62.1 . Welche Verdachtsdiagnose stellen Sie?

62.2 . Welche Maßnahmen leiten Sie zur Diagnosesicherung und Differenzialdiagnostik ein?

Sie haben ein CT des Schädels der Patientin anfertigen lassen.

Schädel−CT der Patientin

62.3 . Bestätigt die CT−Aufnahme Ihre Diagnose?

62.4 . Definieren Sie den Begriff Demenz!

Antworten und Kommentar Seite 186 Aus J. Becker-Pfaff, St. Engel: Fallbuch Psychiatrie (ISBN 3-13-140181-8) © Georg Thieme Verlag Stuttgart 2006 Dieses Dokument ist nur für den persönlichen Gebrauch bestimmt und darf in keiner Form an Dritte weitergegeben werden!

Fall 63 73−jährige Patientin in starrem Zustand

Fall

63 64

Sie werden als diensthabender Arzt auf eine psychiatrische Station gerufen. Die Kranken− schwester fühlt sich hilflos, da eine 73−jährige Frau sehr eigenartig sei. Sie entnehmen der Akte der Patientin, dass sie 2 Tage zuvor sta− tionär aufgenommen worden war, weil sie im Altenpflegeheim aggressive Durchbrüche ge− habt und das Personal sogar geschlagen hatte. Als Verdachtsdiagnosen waren demenzielle Entwicklung und Morbus Parkinson angege− ben. Seit der Aufnahme erhält die Patientin aufgrund der Gefahr aggressiver Durchbrüche ein niederpotentes Neuroleptikum (Chlorpro− mazin) zur Sedierung; im Pflegeheim hatte sie keinerlei Medikamente erhalten.

Auf dem Weg zum Patientenzimmer erfahren Sie von einer Schwester, dass die Patientin während der letzten Nacht nicht geschlafen habe, sie musste sogar wegen Unruhezustän− den zu ihrem eigenen Schutz im Bett fixiert werden. Sie finden die Patientin halb liegend auf einem Stuhl. Sie ist wach, reagiert aber nicht auf Ansprache. Sie versuchen mit der Schwester zusammen, sie besser auf den Stuhl zu setzen, was Ihnen nicht gelingt. Bei der körperlichen Untersuchung fällt Ihnen eine ausgeprägte Steifigkeit sämtlicher Extremitä− ten auf; die Arme lassen sich nicht bewegen. Zuletzt heben die Schwester und Sie die Pa− tientin wie ein Brett auf das Bett.

63.1 . Nennen Sie eine Verdachtsdiagnose und 2 Differenzialdiagnosen!

63.2 . Nimmt die Patientin wahr, was Sie tun?

63.3 . Welche Ursachen kann ein solcher Zustand haben?

63.4 . Wie gehen Sie therapeutisch vor?

Antworten und Kommentar Seite 188 Aus J. Becker-Pfaff, St. Engel: Fallbuch Psychiatrie (ISBN 3-13-140181-8) © Georg Thieme Verlag Stuttgart 2006 Dieses Dokument ist nur für den persönlichen Gebrauch bestimmt und darf in keiner Form an Dritte weitergegeben werden!

Fall 64 22−jährige Patientin mit fraglicher Schlangenphobie der ein Terrarium habe, ausgebrochen sei. Diese habe sich auf ihren Balkon, wo sie ge− rade saß, heruntergelassen. Sie berichtet das gesamte Ereignis theatralisch und aus Ihrer Sicht etwas übertrieben. Auch glauben Sie die Geschichte nicht so ganz. Die Patientin kon− frontiert Sie damit, dass Sie ihr nicht glauben würden. So würde es ihr immer gehen, keiner kümmere sich um sie. Die vielen Angehörigen bestätigen Ihren Eindruck, dass die Patientin immer wieder auch bei kleinsten Anlässen in einen nicht ganz nachvollziehbaren Erre− gungszustand geraten würde und alle Men− schen um sich herum mobilisiere und zum Teil ängstige.

Fall

Sie werden in Ihrer Allgemeinarztpraxis von einer 22−jährigen türkischen Patientin aufge− sucht, die von der gesamten Familie (9 Perso− nen) begleitet wird. Die Patientin hyperventi− liert deutlich. Ihren atemlosen Sätzen können Sie entnehmen, dass sie eine Schlange gese− hen habe. Die Familie ist äußerst besorgt; ab− wechselnd umarmen sie die Patientin, halten ihr die Hand, reden beruhigend auf sie ein. Nach Gabe von 2,5 mg Lorazepam beruhigt sich die junge Frau allmählich, die Atemfre− quenz nimmt ab, und sie ist in der Lage, mit Ihnen zu sprechen. Sie berichtet ausführlich von ihrem Erlebnis: Sie habe eine Schlange auf dem Balkon gesehen, die vom Nachbarn,

64 65

64.1 . Wie bezeichnen Sie den Zustand der Patientin?

64.2 . Nennen Sie eine Verdachts− und eine Differenzialdiagnose, die diesem Zustand zugrunde liegen können!

64.3 . Welche weiteren Symptome gibt es bei Ihrer Verdachtsdiagnose?

64.4 . Welche therapeutische Option ist zur Behandlung dieser Erkrankung am wichtigsten?

Antworten und Kommentar Seite 189 Aus J. Becker-Pfaff, St. Engel: Fallbuch Psychiatrie (ISBN 3-13-140181-8) © Georg Thieme Verlag Stuttgart 2006 Dieses Dokument ist nur für den persönlichen Gebrauch bestimmt und darf in keiner Form an Dritte weitergegeben werden!

Fall 65 30−jährige Frau mit Sehstörungen und Muskelkrämpfen In Ihre psychiatrische Praxis kommt ohne Ter− min eine 30−jährige Frau. Sie klagt über Seh− störungen, Beinunruhe und immer wieder auftretende Muskelkrämpfe v. a. im Mundbe− reich. Des Weiteren gibt sie an, dass sie eine Woche zuvor aus einer psychiatrischen Klinik

entlassen worden sei. Dort habe man eine Psychose diagnostiziert, sie habe Stimmen ge− hört. Ihr Hausarzt habe ihr danach ein anderes Medikament, dessen Name sie nicht weiß, verordnet. In der Klinik habe sie keine Be− schwerden gehabt.

65.1 . Wie bezeichnen Sie die Symptomatik der Patientin? Was ist die Ursache dafür?

Fall

65 66

65.2 . Was schlagen Sie der Patientin vor?

65.3 . Nennen Sie Einteilungen der Neuroleptika und Beispiele für die einzelnen Gruppen!

65.4 . Auf welche Neurotransmittersysteme wirken Neuroleptika? An welchen lösen sie erwünschte, an welchen unerwünschte Wirkungen aus?

65.5 . Zählen Sie Indikationsgebiete von Neuroleptika auf!

Antworten und Kommentar Seite 190 Aus J. Becker-Pfaff, St. Engel: Fallbuch Psychiatrie (ISBN 3-13-140181-8) © Georg Thieme Verlag Stuttgart 2006 Dieses Dokument ist nur für den persönlichen Gebrauch bestimmt und darf in keiner Form an Dritte weitergegeben werden!

Fall 1

Somatoforme autonome Funktionsstörung

1.1 Befunden Sie das EKG! Kein pathologischer Befund 1.2 Stellen Sie eine Diagnose! Somatoforme autonome Funktionsstörung des kardiovaskulären Systems (Herzneurose; nach ICD−10: F 45.30); Begründung: stark körperlich wahrgenommene Symptome (Stenokardien, Er− stickungsgefühle, Todesangst), aber keine somati− sche Erkrankung diagnostizierbar

68

Fall

1

1.3 Was tun Sie weiterhin? K Beruhigende Zuwendung zum Patienten K Den Patienten und seine Not ernst nehmen, aber darüber aufklären, dass körperliche Symptome Ausdruck psychischer Vorgänge oder Belastungen sein können K Psychiatrisch−psychotherapeutisches oder psychosomatisches Konsil zur Herstellung ei− nes Kontaktes zum Patienten und zum zeitna− hen Ansprechen der psychischen Notlage K Evtl. milde Sedierung, z. B. mit Promethazin (25–50 mg bis zu 3 3 innerhalb von 3 Stun− den, bis 150 mg/d) oder Melperon (30 mg bis zu 3 3 innerhalb von 3 Stunden, bis zu 150 mg/d); cave: wenn möglich keine Benzo−

diazepine wegen der Gefahr einer Suchtent− wicklung!

1.4 Nennen Sie weitere Organsysteme mit den dazugehörigen Schlagwortdiagnosen, die sich in dieselbe Systematik einordnen lassen! Systematik der somatoformen Störungen (funk− tionellen Störungen): K Kardiovaskuläres System: Herzneurose, Herz− phobie, Herztod−Phobie, Da−Costa−Syndrom, hyperkinetisches Herzsyndrom K Oberer und unterer Gastrointestinaltrakt: Reizmagen, Dyspepsie, Pylorospasmus, Magen− neurose, Colon irritabile, nervöse Colitis, psy− chogene Diarrhoe K Respiratorisches System: Hyperventilations− syndrom, psychogener Husten K Urogenitalsystem: Reizblase, Dysurie 1.5 Wie sind Affekte und vegetative Symp− tome physiologisch miteinander verbunden? Physiologische Kaskade: auslösende Situation R Affekt R Reaktion des vegetativen Nervensys− tems R vegetatives Symptom (z. B. entlaufener Löwe R Angst R Adrenalinausschüttung R Herzfrequenzerhöhung)

Antworten und Kommentar

KOMMENTAR Definition: Bei einer somatoformen Störung des autonomen Nervensystems werden die Symptome so vorgetragen, als beruhten sie auf der körper− lichen Krankheit eines Organs, das weitgehend ve− getativ innerviert wird. . .“(ICD−10). Es findet sich aber kein organisches Korrelat, obwohl der Patient im Moment der Symptomatik von der körperlichen Genese seiner Erkrankung überzeugt ist. Manche Patienten sind auch in symptomarmen Zeiten von ihrer Erkrankung überzeugt und negieren syste− matisch jegliche psychische Beteiligung oder Ur− sache. Epidemiologie: Sichere Aussagen über die Epide− miologie der somatoformen autonomen Funkti− onsstörungen lassen sich nicht machen, da Komor− biditäten groß sind und damit die Diagnosestel− lung erschweren. Es gibt kaum differenzierte Erhebungen, u. a. weil die Definitionen und die zu− grunde liegenden Theorien sehr unterschiedlich sind. Es werden in der Allgemeinbevölkerung Punktprävalenzwerte von 15–35 % für Menschen, die unter funktionellen Beschwerden leiden, be− schrieben. Ätiologie: Die physiologische Kaskade von aus− lösender Situation zu vegetativem Symptom (s. Antwort zur Frage 1.5) kann bei Gesunden auf fol− gende Arten wahrgenommen werden: Manchmal sind Auslöser, Affekt und Symptom dem Betroffe− nen bewusst, z. B. bei Angst vor einem entlaufenen

Löwen. Manchmal sind ihm Auslöser und Affekt nicht von vornherein bewusst, er kann sie sich aber bewusst machen, z. B. können Bauchschmerzen (Symptom) von einer bevorstehenden Prüfung (Auslöser) verursacht sein. Die den Affekten zu− grunde liegenden Inhalte können verschieden sein, z. B. Angst vor dem Prüfer oder Trauer über das Ende des Studiums. Diese Inhalte sind häufig un− bewusst oder vorbewusst und weniger leicht zu− gänglich als die Todesangst vor dem Löwen. Kranke mit einer somatoformen Störung können sich Aus− löser und Affekt eines Symptoms nicht ohne Wei− teres bewusst machen, weil dies ihr psychisches Gleichgewicht stören würde. Sie nehmen nur noch das Symptom wahr und schieben es auf eine kör− perliche Erkrankung. Das Symptom macht ihnen Angst, so dass sie eine somatische Behandlung su− chen und sich einer psychischen Behandlung häu− fig entziehen, da diese das psychische Gleichge− wicht bedrohen würde. Klinik: s. Antwort zur Frage 1.4. Diagnostik: Bei Verdacht auf das Vorliegen einer somatoformen Störung sollte schon während der somatischen Abklärung der Versuch einer Be− schreibung der psychischen Vorgänge und eine Einordnung des Symptoms in den biopsychoso− zialen Kontext des Patienten erfolgen. Die wich− tigsten diagnostischen Instrumente sind Anamne− se, Arzt−Patienten−Beziehung und Beobachtung

Fall 1 Seite 2 Aus J. Becker-Pfaff, St. Engel: Fallbuch Psychiatrie (ISBN 3-13-140181-8) © Georg Thieme Verlag Stuttgart 2006 Dieses Dokument ist nur für den persönlichen Gebrauch bestimmt und darf in keiner Form an Dritte weitergegeben werden!

des Verhaltens des Patienten. Bei einer näheren Exploration sind Techniken wie halbstrukturierte Anamneseerhebung, biographisches Interview und sekundär auch testpsychologische Untersu− chungen anzuwenden. Nicht zu vergessen ist da− bei, dass die zur psychotherapeutischen Diagnos− tik angewandten Gespräche gleichzeitig schon the− rapeutische und motivationsbeeinflussende Aspekte haben. Die internistische Diagnostik zum Abklären der somatischen Beschwerden sollte sorgfältig erfol− gen, aber so minimal wie möglich gehalten wer− den. Differenzialdiagnosen: Neben körperlichen Er− krankungen sind zönästhetische Formen der Schizophrenie und somatoforme Symptome im Rahmen einer Depression zu berücksichtigen. Häufig bestehen Komorbiditäten mit depressiven Erkrankungen, Angsterkrankungen, Persönlich− keitsstörungen und Suchterkrankungen (v. a. Tran− quilizer und Alkohol).

ZUSATZTHEMEN FÜR LERNGRUPPEN Unterschied zwischen Affekt und Emotion Psychotherapeutische Maßnahmen in somatischen Abteilungen oder im Notdienst

Fall 2

Akute Bewusstseinsstörung

2.1 Wie bezeichnen Sie den Zustand des Patienten? Bewusstseinsgetrübt oder somnolent (s. Antwort zur Frage 2.4) 2.2 Welche Gründe für seinen Zustand erwä− gen Sie? K Intoxikation mit unbekannter Droge, (z. B. Benzodiazepine, Cannabinoide, Opioide, Alko− hol, Hypnotika) K Hirnorganische Störung (z. B. Meningitis, En− zephalitis, Tumor, Hirninfarkt, intrazerebrale Blutung, Abszess, Schädel−Hirn−Trauma, epi− leptischer Anfall) K Systemische Erkrankung (z. B. Hypo− oder Hyperglykämie, Elektrolytstörungen, kardio− pulmonale Ursachen, endokrine Störungen)

K Psychiatrische Erkrankung (z. B. katatoner Zustand bei schizophrener Psychose, mutisti− scher Zustand bei affektiver Störung, dissozia− tiver Zustand bei Persönlichkeitsstörung oder neurotischer Störung, Simulation)

2 Antworten und Kommentar

Prognose: Die Prognose ist abhängig von der Schwere der Erkrankung, ihrer Dauer, den psycho− dynamischen Zusammenhängen und der Persön− lichkeitsstruktur des Patienten.

69

Fall

Therapie: Die Behandlung erfolgt primär psycho− therapeutisch. Zur Wahl stehen psychoanalytisch, verhaltenstherapeutisch sowie kognitiv orientierte Therapieverfahren. Dabei spielen Leidensdruck, die Fähigkeit des Patienten zu psychologischem Verständnis und die Behandlungsmotivation eine große Rolle. Viele dieser Patienten kommen auf− grund ihrer Überzeugung, dass es sich um eine körperliche Erkrankung handelt, nicht in eine psy−

chotherapeutische Behandlung. Häufiger kommen sie zur Bewältigung der Folgen ihrer allein auf so− matischer Ebene unerklärlichen Symptome (z. B. Depression wegen Schmerzen) in psychotherapeu− tische Behandlung, ohne sich über die Ursache der Symptomatik (z. B. der Schmerzen) Gedanken ma− chen zu können. Allerdings gibt es genügend Fälle, in denen die Patienten mit Hilfe psychosomatisch geschulten Personals jeder Fachrichtung auf ihre psychische Problematik aufmerksam gemacht werden können. Diese können gut und erfolgreich behandelt werden. Die verhaltenstherapeutischen Maßnahmen zielen darauf ab, die Mechanismen aufzudecken, in deren Kontext das Krankheitsbild aktuell entstand und aufrechterhalten wird. Mit Hilfe psychodynami− scher Therapieverfahren versucht man die Patien− ten mit ihrem psychischen Erleben und ihren in− neren Vorgängen vertrauter zu machen. Dadurch sollen die unbewusst gehaltenen Vorstellungen, die den Somatisierungsvorgängen zugrunde lie− gen, bewusst gemacht oder gemildert werden. Zu den Psychotherapieverfahren s. auch Fall 24. Pharmakologisch sind v. a. komorbide Depressio− nen entsprechend antidepressiv zu behandeln (s. Fall 21).

2.3 Wie gehen Sie diagnostisch vor? K Weitere Fremdanamnese (Pflegepersonal, Mitpatienten) soweit möglich (v. a. bezüglich Vorerkrankungen und Einordnung der Symp− tome in einen Zeitrahmen) K Erheben der Vitalparameter (u. a. Blutdruck, Puls, Temperatur) K Internistische Untersuchung (u. a. kardiopul− monaler Status, Abdominalstatus) K Neurologische Untersuchung: Atmung, Pupil− len, Okulomotorik, Meningismus, Tonus, Mo−

Fall 2 Seite 3 Aus J. Becker-Pfaff, St. Engel: Fallbuch Psychiatrie (ISBN 3-13-140181-8) © Georg Thieme Verlag Stuttgart 2006 Dieses Dokument ist nur für den persönlichen Gebrauch bestimmt und darf in keiner Form an Dritte weitergegeben werden!

K

K

K K K

torik, Reflexe, Pyramidenbahnzeichen, Reak− tion auf Schmerzreize Laboruntersuchung (u. a. Differenzialblutbild, CRP, Elektrolyte, Nierenwerte, Leberwerte, Ge− rinnung, Harnstoff, Alcotest, Drogenscreening) Unverzügliche Verlegung bei schwerwiegen− der Bewusstseinsstörung oder dringendem Verdacht auf eine internistisch−neurologische Erkrankung in die entsprechende Abteilung zur weiteren Diagnostik Lumbalpunktion EEG Schädel−CT oder −MRT

2.5 Was tun Sie im Fall einer Nackensteifig− keit und erhohten Korpertemperatur? Aufgrund von Nackensteifigkeit und erhöhter Körpertemperatur muss der Verdacht auf eine Meningitis oder Meningoenzephalitis gestellt werden R Verlegung in eine neurologische Ab− teilung oder Anforderung eines neurologischen Konsiliarius zur Liquorpunktion

2.4 Definieren Sie die unterschiedlichen Aus− prägungen von Bewusstseinsstörungen! Graduierung der Bewusstseinslage

70

Fall

2

Bewusstseinslage

Klinischer Befund

bewusstseinsklar

örtlich, zeitlich und zur Person orientiert

Antworten und Kommentar

somnolent

schläfrig, apathisch aber erweckbar, bedingt kooperativ

soporös

tiefschlafähnlich, allenfalls durch heftigen Reiz kurz erweck− bar, gezielte Abwehr

komatös

nicht erweckbar, Augen geschlossen

– Grad I

gezielte Abwehr, okulozephaler Reflex und Pupillenlichtreak− tion positiv

– Grad II

ungezielte Abwehr, okulozephaler Reflex und Pupillenlichtre− aktion positiv

– Grad III (Mittelhirnsyndrom)

keine Abwehr, reizinduzierte Automatismen (Beugen, Stre− cken), okulozephaler Reflex negativ, Pupillenreaktion schwach

– Grad IV (Bulbärhirnsyndrom)

fehlende motorische Reaktion, allenfalls Streckautomatismus, Ausfall von Hirnstammreflexen, evtl. noch Spontanatmung

KOMMENTAR Definition: s. Antwort zur Frage 2.4. Ätiologie: s. Antwort zur Frage 2.2. In der Psychi− atrie finden sich als Ursachen für Bewusstseinsstö− rungen häufig Intoxikationen; Meningitiden; kata− tone, mutistische und dissoziative Zustände sowie Neoplasien. Klinik: s. Antwort zur Frage 2.4.

Diagnostik: Eine Bewusstseinsstörung ist ein auf− fälliges Symptom. Gerade im psychiatrischen Fach− gebiet kann es aber fehlinterpretiert werden, wenn somatische Ursachen nicht in Betracht gezogen werden. Mit den o.g. Maßnahmen (s. Antwort zur Frage 2.3) kann man der Ursache auf die Spur kom− men. Der Grad der Bewusstseinstrübung (s. Ant− wort zur Frage 2.4) kann mit folgendem Schema bestimmt werden:

Schema für die neurologische Basisuntersuchung bei bewusstseinsgetrübten Patienten

Patient ansprechen

– – – –

Orientierung? (Name, Geburtsdatum, Ort, Datum) sinnvolle Kommunikation Aphasie? Bewusstseinslage: Somnolenz−Sopor−Koma?

Spontanmotorik

– seitengleich – halbseitig?

Fall 2 Seite 3 Aus J. Becker-Pfaff, St. Engel: Fallbuch Psychiatrie (ISBN 3-13-140181-8) © Georg Thieme Verlag Stuttgart 2006 Dieses Dokument ist nur für den persönlichen Gebrauch bestimmt und darf in keiner Form an Dritte weitergegeben werden!

Abwehr auf Schmerzreize

– – – – –

ja – nein? gezielt – ungezielt? seitengleich – halbseitig – halbseitig gekreuzt? Streck−/Beugesynergismen? Tonus?

Meningismus

– Nackensteifigkeit? Cave: Nach Trauma bei Verdacht auf Halswirbelsäulen−Instabilität nicht prüfen!

Pupillenweite

– Lichtreaktion? – Isokorie – Anisokorie?

Bulbi

– – – – –

schwimmend“? divergent? konjugierte Blickwendung? spontane vertikale Bulbusbewegungen? Nystagmus?

okulozephaler Reflex

– positiv – negativ?

Kornealreflex

– einseitig/beidseitig abgeschwächt oder aufgehoben?

Muskeleigenreflexe/ Fremdreflexe/ pathologische Reflexe

– Eigenreflexe seitendifferent, abgeschwächt, gesteigert? – Babinski einseitig – beidseitig? – Bauchhautreflex seitendifferent?

Fall

Therapie: Die Behandlung der akuten Bewusst− seinsstörung richtet sich nach der zugrunde lie− genden Ursache.

3

Glasgow−Coma−Scale Pathologische Bulbusstellung zur Differenzialdiagnostik bei tiefem Koma  tiologie Therapie der akuten Bewusstseinsstorung entsprechend der A

Psychopathologischer Befund

3.1 Begründen Sie anhand der Definitionen der Begriffe Psychiatrie, Psychologie und Psy− chopathologie, warum der Patient durch die Polizei bei Ihnen vorgestellt wird! K Definitionen: – Psych−: griech. Seele, Gemüt – Psychiatrie: griech. Seelenheilkunde – Psychologie: Wissenschaft vom Verhalten und Erleben der Seele bzw. des Menschen – Psychopathologie: Beschreibung abnormen Erlebens, Befindens und Verhaltens

K Begründung: Der Polizei war das Verhalten des Patienten abnorm erschienen, so dass sie ihn durch einen Experten für Seelenheilkunde (Psychiater) untersuchen lassen wollte.

Antworten und Kommentar

ZUSATZTHEMEN FÜR LERNGRUPPEN

Fall 3

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3.2 Welche Bereiche des psychischen Erlebens müssen Sie im Rahmen eines psychopatholo−

gischen Befundes beschreiben? Nennen Sie für die einzelnen Bereiche mögliche Abweichungen!

Bereich

Mögliche Abweichungen

Äußere Erscheinung

Ungepflegt, verwahrlost, erschöpft, devot, abgebaut

Bewusstseinszustand, Vigilanz

Wach, somnolent, soporös, komatös, delirant, umdämmert, fluktuie− rend, überwach

Aufmerksamkeit, Konzentration

Reduziert, desinteressiert, zerstreut, abgelenkt, wechselnd, fahrig, ge− langweilt

Orientiertheit (Person, Unsicher orientiert, verwirrt, ratlos, lückenhaft, desorientiert, fehl− Ort, Zeit, Situation) orientiert, uninformiert

72

Fall

3

Kontaktaufnahme, In− teraktion

Freundlich, angepasst, überangepasst, negativistisch, ablehnend, ver− schlossen, introvertiert, extrovertiert, gehemmt, scheu, feindselig, ag− gressiv, distanzlos, unkooperativ, vorsichtig, hilflos

Psychomotorik, Antriebsverhalten

Stuporös, kataton, verlangsamt, umtriebig, manieriert, unruhig, getrie− ben, impulsiv, erregt, stereotyp, ruhig

Sprechweise, Sprache

Mutistisch, leise, monoton, aphasisch, danebenredend, stotternd, ton− los, gepresst, überlaut, logorrhoisch, neologistisch, konfabulierend

Kontrolle, Steuerung,

Gelockerte oder aufgehobene Impulskontrolle, impulsiv, gelockert, ge− spannt, verkrampft, hartnäckig, ziellos

Antworten und Kommentar

Denkabläufe (formales Gehemmt, gesperrt, verlangsamt, verworren, inkohärent, perseverie− Denken) rend, weitschweifig, ideenflüchtig, sprunghaft, zerfahren, eingeengt, grüblerisch, gedrängt Denkinhalte (inhaltli− ches Denken)

Wahnhaft (hypochondrisch, misstrauisch, zwanghaft, paranoid, de− pressiv), bizarr, überwertige Ideen

Intelligenz, intellek− tuelles Niveau

Hochbegabt, im unteren oder oberen Normbereich, minderbegabt, de− bil

Mnestische Funktio− nen (Alt−, Neu− gedächtnis)

Zerstreut, lückenhaft, vergesslich, retrograd oder anterograd amne− stisch, verfälscht

Gestimmtheit, Affekti− Bedrückt, depressiv, pessimistisch, ratlos, parathym, ängstlich, gereizt, vität misstrauisch, feindselig, verzweifelt, läppisch, dysphorisch, heiter, ge− hoben, hyperthym, euphorisch, ekstatisch Affektive Resonanz

Eingeengt, verflacht, verarmt, bewegt, blockiert, affektlabil, affektin− kontinent, überschießend

Wahrnehmung

Sensitiv, situationsverkennend, verzerrt, unwirklich, gesteigert, Hallu− zinationen (z. B. optische, akustische, zönästhetische, olfaktorische)

Ich−Erleben

Fremdbeeinflussung, Gedankenentzug, −eingebung, −ausbreitung, De− realisation, Depersonalisation

Gesamtpersönlichkeit, Motivation, Ich−Stärke, Belastbarkeit, Tagesrhythmik, Aggravation, Si− Charakterzüge mulation, Sexualität Hinweise auf Drogeneinnahme

Einstichstellen, Abszesse, vegetative Symptome, Foetor alcoholicus

Krankheitsgefühl, Krankheitseinsicht

Leidensdruck, Krankheitseinsicht, Behandlungseinsicht, Compliance, Freiwilligkeit der Behandlung

Suizidalität

Ruhe− oder Todeswünsche, Suizidgedanken, Suizidimpulse, Hand− lungsrelevanz

Fall 3 Seite 4 Aus J. Becker-Pfaff, St. Engel: Fallbuch Psychiatrie (ISBN 3-13-140181-8) © Georg Thieme Verlag Stuttgart 2006 Dieses Dokument ist nur für den persönlichen Gebrauch bestimmt und darf in keiner Form an Dritte weitergegeben werden!

3.3 Welche Psychopathologie konnen Sie bei dem Patienten beschreiben? K Äußere Erscheinung: leicht ungepflegtes Äu− ßeres; witterungsinadäquat bekleidet K Bewusstseinszustand: wach K Aufmerksamkeit und Konzentration: soweit beurteilbar ungestört K Kontaktaufnahme: vorsichtig, freundlich, hilf− los K Psychomotorik: ruhig K Antrieb: leicht angetrieben K Sprache: Perseverationen des Wortes Alexan− der K Affektivität: freundlich, etwas parathym

K Hinweise auf Drogeneinnahme: leichte Alko− holisierung K Nicht beurteilbar sind wegen Verständnis− schwierigkeiten: Orientierung, Gedächtnis, in− haltliches Denken, Sinnestäuschungen, Ich− Störungen, formales Denken, Intelligenz, Per− sönlichkeitsmerkmale, Krankheitsgefühl und Krankheitseinsicht

3.4 Was tun Sie? K Anruf beim Bekannten des Patienten und Überprüfung seiner Angaben K Bei Verifizierung Entlassung

KOMMENTAR Definition: Der psychophathologische Befund dient der Beschreibung der psychischen Funk− tionen, der Symptomatik und der Syndromato− logie eines Patienten. Dabei kann eine standardi− sierte Liste von psychischen Merkmalen hilfreich sein, um einen lückenlosen Status zu erheben. Die− ser dient maßgeblich der Diagnostik und der (häu− fig symptomorientierten) Therapie.

73

3 Antworten und Kommentar

Klassifikationssysteme: Aufgrund der Komplexi− tät psychischer Erkrankungen und deren Phäno− menologie wurden unterschiedliche Diagnosesys− teme und diagnostische Kriterien entwickelt (z. B. die unterschiedlichen Definitionen der Schizo− phrenie durch Bleuler und Schneider). Um eine internationale Vergleichbarkeit und eine einheitli− che Kommunikationsform zwischen Ärzten und anderen Institutionen des Gesundheitswesens zu ermöglichen, wurden Klassifikationssysteme ent− wickelt. Die derzeit aktuellsten sind die ICD−10 (International Classification of Diseases, 10. Revi− sion, verbindliches Klassifizierungssystem der WHO) und das DSM−IV (Diagnostic and Statistical Manual of mental Disorders, 4. Revision, haupt− sächlich in den USA eingesetzt). Diese beschreiben detailliert die notwendigen psychopathologi− schen Befunde sowie Schweregrade und Zeit− dauern, die erfüllt sein müssen, um eine be− stimmte Diagnose stellen zu können. Dadurch sind sie in der Psychiatrie viel bedeutsamer als in den somatisch−orientierten Fachgebieten, wo eine Pneumokokken−Pneumonie eben eine Pneumo− kokken−Pneumonie ist. Eine Depression ist aber eben nicht nur eine Depression, sondern kann leicht oder schwer ausgeprägt sein, als Reaktion auf ein Trauma oder ohne erkennbaren Grund auf− treten. Kritiker führen an, dass dabei Psychodyna− mik und Ätiologie in diesen Klassifikationssyste− men häufig nicht berücksichtigt werden und es nur eine scheinbare Klassifikation des Einzel− schicksals geben kann. Bei strikter Anwendung der Klassifikationen und daraus abzuleitender Be− handlungsstrategien droht die Individualität des Patienten und die seiner Erkrankung verloren zu gehen, was die Behandlung um einen entscheiden− den, individuellen Faktor schmälert.

Fall

Bedeutung: Seltene Fälle wie dieses Fallbeispiel veranschaulichen zum einen, welch wichtiges Werkzeug die Sprache für die Psychiatrie ist, zum anderen die Bedeutung des psychopathologischen Befundes. Die Ankündigung eines verwirrten 29− jährigen Mannes durch die Polizisten lässt den im psychiatrischen Diagnostizieren Geübten schnell an eine Intoxikation, eine Psychose oder eine schwere körperliche Erkrankung denken, was mas− sive Maßnahmen zur Folge hätte. Trotz der Verwir− rung während der Untersuchung sind psychopa− thologische Hinweise zu gewinnen. Auch in der Nichtbeurteilbarkeit einiger wesentlicher Punkte liegen Hinweise, denn die jeweiligen Pathologien können zumindest nicht ausgeprägt vorliegen. Auch ein nicht sprechender Patient kann seine Desorientierung zeigen, wenn er sich situationsin− adäquat verhält. Dieser Patient vermittelt jedoch nur seine Hilflosigkeit, die dann aufgeklärt werden kann. Der psychopathologische Befund dient ne− ben der objektiven Dokumentation dem Ordnen der oft komplexen psychiatrischen Situationen. Er ist wie ein Puzzle, mit dem man das psychische Verhalten und Erleben eines Patienten sehr detail− liert zusammensetzen kann. Diese Beschreibung ist als Grundlage für jede psychiatrische Diagnos− tik unentbehrlich. Ein Puzzlestein kann eine kom− plette Diagnose verändern: So kann eine Sinnes− täuschung in Verbindung mit einer akuten Des− orientiertheit auf ein Delir hinweisen, während die Sinnestäuschung in Kombination mit einem Erleben des Gedankenentzugs wichtiger Hinweis auf eine schizophrene Erkrankung ist. Je genauer

der psychopathologische Befund beschrieben wird, umso besser kann die Erkrankung des Patienten diagnostiziert und behandelt werden.

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ZUSATZTHEMEN FÜR LERNGRUPPEN Unterschiedliche Definitionen von Symptom, Syndrom und Erkrankung Definitionen der einzelnen Beschreibungen psychopathologischer Befunde Weitere Aspekte der psychiatrischen Untersuchung (z. B. neuropsychologische Untersu− chung) Anamneseerhebung in der Psychiatrie/Explorationsmethoden

Fall 4

74

Fall

4

Wahnhafte Störung

4.1 Beschreiben Sie die inhaltlichen Denk− störungen der Patientin! Komplexer systematisierter Wahn mit Aspekten eines K paranoiden Wahns: Verfolgung durch Rechts− anwalt und Sozialarbeiterin K Beziehungswahns: verstrickte Beziehungen zwischen den einzelnen in den Wahn einge− bundenen Personen, die alle in Beziehung zu der Patientin stehen K Liebeswahns: Verliebt sein des Rechtsanwalts in die Patientin K sexuellen Wahns: Vergewaltigung durch den Rechtsanwalt K Größenwahns: adlige Eltern und großes zu er− bendes Vermögen

Antworten und Kommentar

4.2 Definieren Sie den Begriff Wahn! Inhaltliche Denkstörung mit extremer Fehlbeur− teilung der Realität, die mit weitgehend erfah− rungsunabhängiger Gewissheit vertreten wird, auch wenn sie im Widerspruch zur Wirklichkeit der Mitmenschen steht. 4.3 Welche verschiedenen Arten des Wahn− erlebens kennen Sie? K Wahnstimmung: subjektive Stimmung, in der etwas anders, seltsam, fremd, bedeutungsvoll oder vieldeutig ist; häufig resultiert große Ver− ängstigung K Wahnwahrnehmung: realistische Wahrneh− mung bekommt wahnhafte Bedeutung (z. B. wird tatsächlicher Zigarettenrauch zum Gift− angriff) K Wahneinfall: plötzlicher wahnhafter Gedanke K Systematisierter Wahn: Wahnsystem, das dem Patienten in sich schlüssig und logisch erscheint und in dem sich häufig Wahneinfälle mit Wahnwahrnehmungen verknüpfen K Wahnthemen: Beziehungs−, Verfolgungs−, Größen−, Eifersuchts−, Schuld−, Verarmungs−,

Liebes−, Dermatozoenwahn, Hypochondrie, Nihilismus K Cave: Abzugrenzen ist die überwertige Idee“: inhaltliche Denkstörung ohne das Kriterium der Unkorrigierbarkeit

4.4 Grenzen Sie die wahnhafte Störung von einer paranoid−halluzinatorischen Schizophre− nie ab! Welche Diagnose stellen Sie bei dieser Patientin? K Wahnhafte Störung: Wahnerleben des Pati− enten dominierend, andere psychopathologi− sche Befunde wie formale Denkstörungen oder Affektstörungen im Hintergrund; oft jahrelang unbehandelt, da das Funktionieren im Alltag häufig nicht sehr beeinträchtigt ist K Paranoid−halluzinatorische Schizophrenie: größere und deutlichere Vielfalt psychopatho− logischer Symptome v. a. in den Bereichen for− male Denkstörungen (z. B. Denkbeschleuni− gung, Denkhemmung, Denkzerfahrenheit), inhaltliche Denkstörungen (Wahn), Sinnestäu− schungen und Ich−Störungen (z. B. Derealisa− tion, Depersonalisation, Gedankenausbrei− tung); häufig sehr auffällig und schnell in Behandlung K Verdachtsdiagnose: Wahnhafte Störung (nach ICD−10: F22.0), weil sich andere psychopatho− logische Symptome in der Fallbeschreibung nicht finden. 4.5 Würden Sie der Patientin ein Antidepres− sivum verordnen? Begründen Sie Ihre Ansicht! Nein; Begründung: K Psychose− und wahnfördernde Wirkung der Antidepressiva K Unterstützung der Verleugnung der Realität durch die Patientin K Antidepressiva erst bei Entwicklung eines de− pressiven Syndroms nach erfolgter neurolepti− scher Therapie indiziert

KOMMENTAR Definition: Die wahnhafte Störung (altes und missverständliches Synonym: Paranoia, paranoide Psychose) ist eine psychotische Erkrankung, die unterschiedlich definiert wird. Einige Autoren

zweifeln die Existenz der wahnhaften Störung an, da bei sorgfältiger Untersuchung doch häufig Epi− soden von Denkstörungen und Störungen des Ich− Erlebens exploriert werden können und damit die

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Diagnose der schizophrenen Psychose zu diskutie− ren ist. In den beiden großen Klassifikationssyste− men ICD−10 und DSM−IV ist sie jedoch aufgeführt. Sie zeichnet sich aus durch isolierte Wahnsyste− me bei ansonsten stabilem psychischen Befund bzgl. Affekt und formaler Denkstörungen. Epidemiologie: Sie beginnt meist im Erwachse− nenalter. Das Morbiditätsrisiko beträgt ca. 0,5 %. Ätiologie: Ähnlich wie bei den schizophrenen Psychosen wird eine multifaktorielle Genese ange− nommen (s. Fall 18).

Klinik und Diagnostik: s. Antworten zu den Fra− gen 4.1 und 4.4. Häufig können die Patienten ihren Wahn erfolgreich verborgen halten, so dass kein Arztkontakt zustande kommen muss. Die Anam− neseerhebung ist häufig irritierend, denn nicht im− mer sind die Symptome so eindeutig wahnhaft wie bei der im Fall geschilderten Patientin. Daher kommt der Fremdanamnese eine besondere Be− deutung zu. Insbesondere ist in der Exploration auf formale Denkstörungen, Ich−Störungen und Sinnestäuschungen zu achten. Es können unterschiedliche Wahnformen diagnos− tiziert werden:

Manifestationsformen von Wahn bei der wahnhaften Störung

Merkmale

sensitiver Beziehungs− wahn, Wahn in sprach− fremder Umgebung

F 22.0

wahnhafte Gefühle von Beeinträchtigung oder Miss− achtung, einhergehend mit Beschämung, Schuldgefühl, Minderwertigkeitsgefühl, Soziophobie und Depression

Liebeswahn

F 22.0

feste Überzeugung – entgegen aller Realität – von ei− ner anderen Person geliebt zu werden, bis zu (eroti− schen) Beziehungsphantasien

Schwangerschaftswahn

F 22.0

feste Überzeugung, schwanger zu sein; teils äußere Graviditätsmerkmale

Querulantenwahn

F 22.8

sthenisch−kämpferische Haltung gegen (tatsächliche oder vermeintliche) Zurücksetzung, Benachteiligung oder Ungerechtigkeit mit expansiver Ausweitung, Un− einsichtigkeit und Unterstellungen (Michael Kohl− haas“)

hypochondrischer Wahn

F 22.0

Vorstellung, an einer schweren (tödlichen) Krankheit zu leiden (trotz gegensinniger Untersuchungsbefunde)

Verfolgungswahn, Wahn bei Schwerhörigkeit

F 22.0

Gefühl von Bedrohung und Verfolgung ohne realisti− sche Begründung

wahnhafte Dysmorpho− phobie

F 22.8

Überzeugung, einen missgestalteten Körper zu besit− zen und/oder abstoßend zu wirken, Eigengeruchswahn

Eifersuchtswahn

F 22.0

feste Überzeugung, vom Partner betrogen zu werden

symbiontischer Wahn (Folie  deux), konformer Wahn

F 24

induzierter Wahn im Rahmen einer engen, nach außen abgeschirmten Lebensgemeinschaft mit einem Wahn− kranken, dessen Ideen übernommen und verinnerlicht werden

Dematozoenwahn

F 06.0

Überzeugung, an einer parasitären Hauterkrankung zu leiden mit zönästhetischen Halluzinationen und teil− weise schweren Selbstverletzungen zum Nachweis und Entfernen der vermeintlichen Parasiten

Größenwahn

F 30

Überzeugung, eine Person überragender Bedeutung zu sein (z. B. Weltretter, Reinkarnation einer bedeutenden Persönlichkeit); aber auch teilweise angstbesetzte Vor− stellung, omnipotent für Unglücke verantwortlich zu sein

75

4 Antworten und Kommentar

ICD−10

Fall

Form

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Differenzialdiagnosen: Die Abgrenzung von den schizophrenen Erkrankungen ist schwierig, da sich formale Denkstörungen und andere Sympto− me der Schizophrenie nicht immer sicher inner− halb eines kurzen Anamnesezeitraumes ausschlie− ßen lassen. Außerdem sind Borderline−Persön− lichkeitsstörung sowie chronische Suchterkran− kungen differenzialdiagnostisch abzugrenzen. Wie bei allen anderen psychischen Erkrankungen auch müssen zusätzlich körperliche Erkrankun− gen (z. B. Tumor, endokrine Störung, Infektion) ausgeschlossen werden. Therapie und Prognose: Wenn es – wie im vor− liegenden Fall – doch zu Auffälligkeiten kommt, so ist die Behandlung äußerst schwierig, da die Pati− enten häufig keine Behandlungsnotwendigkeit se− hen und außerdem die Denkstrukturen oft schon so chronifiziert sind, dass auch eine neuroleptische Therapie die Wahnsysteme mitunter nicht mehr günstig beeinflussen kann. Trotzdem ist die Gabe

eines atypischen Neuroleptikums, z. B. Risperidon (3–6 mg/d über 6 d in 0,5 mg−Schritten einschlei− chen) oder Olanzapin (10–30 mg/d), oder eines ty− pischen Neuroleptikums, z. B. Haloperidol (5– 15 mg/d), indiziert. Gegebenenfalls kann man die Gabe eines Depot−Neuroleptikums (Risperidon, Haloperidol, Flupentixol) erwägen, um eine besse− re Compliance zu erwirken. Häufig muss als Mini− malziel genügen, dass der Patient mit seinem Wahnerleben wieder ein geordnetes Leben führen und sein Erleben in die Realität integrieren kann. Beziehungen innerhalb des sozialpsychiatrischen Versorgungssystems sind dabei sehr hilfreich, da diesen Patienten von Laien meist nicht viel Ver− ständnis entgegengebracht wird. Häufig ist es den Patienten eine große Hilfe, wenn sie einen Ort kennen, an den sie sich wenden können, wenn sie sich belastet fühlen und wo sie Verständnis finden.

76 ZUSATZTHEMEN FÜR LERNGRUPPEN

Fall

5

Definitionen der verschiedenen Wahnthemen Konzepte der Paranoia bei Kraeplin und des sensitiven Beziehungswahns bei Kretschmer Dosierungen bei neuroleptischer Depotmedikation

Antworten und Kommentar

Fall 5

Suizid

!!! 5.2 Nennen Sie Suizidraten und Suizidver− 5.1 Was veranlassen Sie? suchsraten bei Mannern und Frauen in K Diskretes Vorgehen zum Schutz der anderen Deutschland! Wie entwickelt sich Suizidalitat Patienten der Station (ggf. Verlegung eines mit zunehmendem Alter? Mitpatienten desselben Zimmers in eine ande− re Abteilung) K Polizei informieren (nichtnatürliche Todesur− Suizidrate Suizidver− sache), Zimmer sperren bis zum Eintreffen suchsrate der Polizei K Ober− oder Chefarzt informieren Männer 20/100 000 108/100 000 K Angehörige informieren Frauen 7/100 000 131/100 000 K Gespräch mit Krankenpflegeschüler sowie Sicherstellung dessen weiterer Betreuung K Gespräch mit Pflegeteam (evtl. sog. Suizid− Mit zunehmendem Alter nimmt die Suizidgefähr− konferenz) dung zu (s. Kommentar). K Je nach Kapazität der Klinik Informieren der Mitpatienten, Bearbeitung des Geschehens !!! 5.3 Beschreiben Sie Theorien zur Psychody− und Beobachtung in der folgenden Zeit (obli− namik der Suizidalitat! gat in psychiatrischen Kliniken); cave: Ein Sui− Psychodynamik nach zidversuch löst häufig weitere aus! K Freud: realer oder phantasierter Verlust eines K Sorgfältige Dokumentation der Umstände wichtigen Objektes R Aggressionen, die zwar und der eingeleiteten Maßnahmen dem Objekt gelten, jedoch gegen sich selbst gerichtet werden, da das Objekt geliebt und deswegen geschützt wird R Schuldgefühle, Selbstentwertung und im Extremfall Suizid K Ringel: sog. präsuizidales Syndrom als typi− scher innerpsychischer Prozess, der mit Suizid enden kann:

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– Kränkungen, Misserfolge oder Enttäuschun− gen R zunehmende Einengung von Ge− fühlen, Werten, Beziehungen und Hand− lungsalternativen R innerer Rückzug – Hemmung der Aggression gegenüber ande− ren R Wendung der Aggression gegen sich selbst – Suizidphantasien K Henseler (Narzissmustheorie): Kränkung trifft auf labiles Selbstwertgefühl R Abwehr− mechanismen wie Idealisierung und Verleug− nung reichen nicht mehr aus R aktives Ein− greifen vor Zusammenbruch des psychischen Gleichgewichts (narzisstische Katastrophe) in Form von unbewusstem Verzicht auf Identität als Individuum R Regression auf harmoni− schen Primärzustand im Tod mit Geborgenheit und Seligkeit

K Kind (Typen der Suizidalität): – Fusionäre Suizidalität (Patient sucht Gebor− genheit mit Objekt, will verschmelzen) – Antifusionäre Suizidalität (Patient muss sich mit extremem Mittel abgrenzen, seine Integrität schützen) – Manipulative Suizidalität (Patient versucht, Objekt zu halten und zu sichern) – Resignative Suizidalität (Patient findet kei− ne anderen Auswege mehr)

5.4 Ist Suizidalität eine Krankheit? Nein; Suizidalität ist keine Krankheit an sich, aber oft Abschluss einer krankhaften Entwick− lung, in jedem Fall Ausdruck einer äußeren oder inneren Not.

KOMMENTAR 77

Männer .60 Jahre

Frauen .60 Jahre

Anteil an der Bevölkerung

20 %

27 %

Anteil der Suizidenten

35 %

50 %

5

80 % der Suizide werden angekündigt. 38 % der Männer und 46 % der Frauen unternehmen mehr als einen Suizidversuch, fast die Hälfte dieser in− nerhalb des ersten Jahres nach dem ersten Suizid− versuch. Insgesamt sinken die Suizidraten in eini− gen Ländern wie Deutschland seit Mitte der 1970− er Jahre leicht. In den höheren Altersstufen werden aber einige Suizide vermutlich nicht korrekt er− fasst, da sie mit sog. weichen Methoden wie Medi− kamentenüberdosierungen durchgeführt und nicht als Suizide erkannt werden. Ätiologie: Neben den in der Antwort zur Frage 5.3 erwähnten existieren eine Vielzahl anderer psy− chodynamischer Theorien zur Suizidalität. Es gibt also keine einheitliche Psychodynamik der Suizi− dalität, sondern in jedem einzelnen Fall muss ge− nau untersucht werden, was diesem Verhalten zu− grunde lag. Eines der vielfältigen verhaltensthe− rapeutischen Modelle der Suizidalität wurde von Kanfer entwickelt und nennt sich SORKC−Schema: Eine bestimmte Stimulusvariable (Lebensereignis und soziale Situation) stößt auf eine bestehende Organismusvariable (Verhaltensrepertoire und Persönlichkeit) und bewirkt eine Reaktion (Suizi− dalität). Danach werden die Ausgangsbedingungen erneut überprüft (Kontingenz [Verstärkerbedin− gungen]), und es folgt eine Consequence (negative und positive Verstärkung), die wiederum zur Re− aktion führt. Weiterhin werden biologische Erklä−

Antworten und Kommentar

Epidemiologie: s. Antwort zur Frage 5.2. Suizide gehören in den westlichen Industrienationen zu den 10 häufigsten Todesursachen. In Deutschland ist die Zahl der Verstorbenen durch Suizide höher als die der Verkehrstoten. Im Jahr 2000 nahmen sich ca. 8150 Männer und 2940 Frauen das Leben. Das sog. ungarische Muster stellt die Häufung von Suiziden in der älteren Bevölkerung dar (s. Tab.).

Ungarisches Muster

Fall

Definition: Ein Suizidversuch ist laut WHO eine Handlung mit nichttödlichem Ausgang, bei der ein Individuum absichtlich ein nichthabituelles Verhalten beginnt, das ohne Intervention von drit− ter Seite eine Selbstschädigung herbeiführen wür− de, oder absichtlich eine Substanz in einer Dosis einnimmt, die über die verschriebene oder im All− gemeinen als therapeutisch angesehene Dosis hi− nausgeht und die zum Ziel hat, durch die aktuellen und erwarteten Konsequenzen Veränderungen zu bewirken“. Man beachte, dass es zwar eine aktive Intervention, sich selbst zu schädigen, nicht aber unbedingt einen Todeswunsch geben muss. Der Suizid ist ein zum Tode führender Suizidversuch. Der Begriff Parasuizidalität (im deutschsprachi− gen Raum) ist missverständlich und daher umstrit− ten. Er wird umgangssprachlich verwendet und suggeriert, dass es suizidale Handlungen gibt, die nur“ appellativen Charakter oder andere Motiva− tionen als das Erreichen der Selbsttötung haben und dadurch weniger ernst genommen werden könnten. Er geht aber in der Definition des Suizid− versuches auf. Der Begriff Suizidalität beschreibt die verschiedenen Formen suizidalen Verhaltens und Erlebens. Zu den unterschiedlichen Ausprä− gungen der Suizidalität s. Fall 31.

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rungsmodelle diskutiert: Es scheint eine geneti− sche Komponente der Suizidalität zu geben, die mit der Fähigkeit zur Impulskontrolle und psychiat− rischen Grunderkrankungen in Verbindung steht.

Außerdem nehmen Patienten mit erniedrigtem Li− quorserotoninspiegel häufiger Suizidversuche vor. Risikofaktoren, Klinik, Diagnostik, Therapie und Prognose von Suizidalität: s. Fall 31.

ZUSATZTHEMEN FÜR LERNGRUPPEN Suizidraten in anderen europaischen Landern Entwicklung der Suizidraten in den vergangenen Jahrzehnten Ethische Aspekte der Suizidalitat Leichenschau

Fall 6

78

Fall

6

Angststörung

6.1 Stellen Sie eine Verdachtsdiagnose! Panikstörung; Begründung: Atemstörung, Tho− raxschmerzen und Globusgefühl; Verschiedenar− tigkeit der Symptome als Hinweis auf psychische Genese; v. a. Globusgefühl und dringliche Situati− on weisen auf Panikstörung hin. 6.2 Was geben Sie der Patientin? Lorazepam (z. B. Tavor 2,5 mg p.o.)

Antworten und Kommentar

6.3 Welche Symptome Ihrer Verdachtsdiag− nose beschreibt die Patientin? Zählen Sie weitere Symptome auf, die bei dieser Erkrankung auf− treten können! K Symptome der Patientin: spontanes Auftre− ten der Symptome, nicht mit bestimmter Si− tuation oder Person verbunden; Tachykardie, Palpitationen, Thoraxschmerzen, Atembe− schwerden, Schwindel, Schwäche, Hitzewal− lungen/Kälteschauer K Weitere Symptome einer Panikstörung: Schweißausbrüche, Kribbeln oder Gefühllosig− keit in Körperregionen, Zittern (Tremor), Mundtrockenheit, Beklemmungsgefühl, Erbre−

chen und/oder abdominelle Beschwerden, De− realisation/Depersonalisation, Angst vor Kon− trollverlust, Angst zu sterben

6.4 Nennen Sie Differenzialdiagnosen zum Symptom Angst! K Normale Angst (z. B. vor operativem Eingriff) K Allgemeinerkrankungen als Auslöser für ve− getative Symptomatik, z. B. Herz− und Lungen− krankheiten, hormonelle Störungen (v. a. Hy− perthyreose, Phäochromozytom), Karzinoide, Morbus Menire, Störungen des Glukosestoff− wechsels, Migräne, vasomotorische Kopf− schmerzen K Missbrauch oder Entzug von psychotropen Substanzen, z. B. Koffein, Aminophyllin, Natri− umglutamat, Drogen, Alkohol, Sympathomi− metika (z. B. Appetitzügler), Hypnotika, Neuro− leptika K Psychiatrische Erkrankungen, z. B. aus dem schizophrenen Formenkreis, affektive Störun− gen, Zwangsstörungen, somatoforme Störun− gen, Persönlichkeitsstörungen

KOMMENTAR Definition: Pathologische Formen der Angst un− terscheiden sich von physiologischer Angst durch Intensität, zeitlichen Verlauf und plötzliches Auftreten ohne Verhältnismäßigkeit zu der aus− lösenden Situation. Klassifikation: Die ICD−10 teilt die Angststörun− gen ein in: phobische Störungen (z. B. Agorapho− bie, soziale Phobie, spezifische Phobie) und sons− tige Angststörungen (z. B. Panikstörung, generali− sierte Angststörung, Angst und depressive Störung gemischt). Epidemiologie: Die Angststörungen gehören mit einer Lebenszeitprävalenz von 15 % und einer Punktprävalenz von 7 % zu den häufigsten psychi− schen Erkrankungen. Dabei treten generalisierte

Angststörung und Phobien am häufigsten auf. Frauen erkranken 2–3−mal häufiger als Männer. Ätiopathogenese: Genetische Faktoren werden für Angststörungen mitverantwortlich gemacht, da Verwandte von Betroffenen häufig selbst an einer Angststörung erkrankt sind. In der Zwillings− forschung treten Angststörungen konkordant häu− figer bei eineiigen Zwillingen auf als bei zweieii− gen. Spezifische Hirnregionen (limbisches System, Locus coeruleus, Raphekerne, Amygdala, Hippo− campus) sind an der Regulation von Angst betei− ligt; bei Patienten mit Angststörungen konnten dort Anomalien festgestellt werden. Für die Gene− rierung von Angststörungen kommen Störungen spezifischer Neurotransmittersysteme (norad− renerg, serotonerg, GABAerg) in Betracht. Daneben

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körperliche Symptome

Wahrnehmung

körperliche Veränderungen

Gedanken („Gefahr“)

Klinik: Bei der Agoraphobie bezieht sich die Angst häufig auf offene Plätze, überfüllte Räume (z. B. Kaufhaus) oder Verkehrsmittel. Die Patienten befürchten, hilflos zu sein oder dass ihnen etwas Peinliches passiert. Das Vermeiden der Situation ist ein entscheidendes Symptom und führt zu so− zialem Rückzug und Isolation. Die Klaustrophobie bezieht sich auf geschlossene, überfüllte oder enge Räume mit der Angst, nicht hinaus zu können. Soziale Phobien zeichnen sich durch die Angst aus, im Mittelpunkt zu stehen und von Anderen negativ bewertet zu werden. Die Patienten vermei− den daher Situationen, bei denen sie im Mittel− punkt stehen. Bei spezifischen Phobien ist die Angst auf spezielle Situationen oder spezifische Objekte beschränkt, z. B. Zoophobie (Spinnen, Mäuse, Schlangen), Akrophobie (Höhe), Keller− angst. Bei der Panikstörung handelt es sich um eine ohne Anlass plötzlich entstehende Angst mit vegetativer Begleitsymptomatik. Es kommt häufig zu einer Angst vor der Angst (Erwartungsangst) und sozialem Rückzug. Bei der generalisierten Angststörung handelt es sich um eine anhaltende Angst, die nicht auf bestimmte Situationen oder Objekte bezogen ist. Die Befürchtungen richten sich gegen verschiedenste variable Bedrohungen und beschäftigen den Patienten kontinuierlich.

Angst

79

6 Antworten und Kommentar

Auslöser z. B. Gedanken, körperliche Veränderungen

se Angst erlebt wird. Dabei spielen früheste emotionale Erfahrungen mit dem Objekt, den El− tern oder der Bezugperson (gelungenes oder misslungenes Containment), die inneren Objekt− beziehungen, libidinöse und destruktive Impulse eine besondere Rolle.

Fall

spielen Stresshormone (CRH, ACTH, Kortisol) eine wesentliche Rolle. Dabei kommt es zu Fehlfunk− tionen der sonst fein abgestimmten physiologi− schen Stressreaktion. Sowohl die Konzentrationen der einzelnen Hormone wie auch der Feed−back− Mechanismus ist verändert. Verhaltenstherapeutische Modelle verstehen ei− ne Angstattacke als konditionierte Reaktion auf einen Stimulus. Es wird unterschieden zwischen disponierenden, auslösenden und aufrechterhal− tenden Faktoren. Dabei kommen spezifische Ver− stärkersysteme zur Wirkung (operantes Konditio− nieren), die somatischen Reaktionen werden fehl− gedeutet (kognitive Fehlattribution). Wenn z. B. ein Panikgefühl als konditionierender Reiz zufällig verbunden mit Herzrasen aufgetreten ist, kann dieses einzelne Symptom weiterhin als Stimulus wirksam sein. Durch das körperliche Symptom und die Wahrnehmung der körperlichen Verände− rung kann es zu einer gegenseitigen Verstärkung kommen, eine erneut auftretende Symptomatik zu einer Fehlinterpretation führen, was wiederum ei− ne Verstärkung hervorruft und einen Teufelskreis initiiert (aufrechterhaltende Faktoren). Mitunter entsteht eine Erwartungsangst (Angst vor der Angst).

Angstkreis

Psychoanalytische Modelle vertehen Angst nicht nur als Determinante psychischer Erkrankungen, sondern auch als Entwicklungsmotor des Seelen− lebens. Dabei werden die verschiedenen Qualitä− ten der Angst bezogen auf die Abwehrvorgänge (s. Fall 13) und zugrunde liegenden Störungen unterschieden und klassifiziert: Die Qualität der neurotischen Angst, die man z. B. bei Tierphobien findet, wird deutlich unterschieden von der psy− chotischen Angst, die von den Patienten als un− aushaltbar, als Vernichtungsangst oder namenlo−

Objekte von Phobien

Diagnostik und Differenzialdiagnosen: Zur Diagnosestellung müssen die einzelnen Sympto− me abgefragt werden, da die Patienten über diese meist nicht von sich aus berichten oder nur ein− zelne Symptome betonen und andere vernachläs−

Fall 6 Seite 7 Aus J. Becker-Pfaff, St. Engel: Fallbuch Psychiatrie (ISBN 3-13-140181-8) © Georg Thieme Verlag Stuttgart 2006 Dieses Dokument ist nur für den persönlichen Gebrauch bestimmt und darf in keiner Form an Dritte weitergegeben werden!

sigen. Hinweise auf die Diagnose sind wiederholt auftretende Panikattacken, die nicht auf eine spe− zifische Situation oder ein Objekt bezogen sind und meist spontan auftreten. Dabei sind einige der folgenden Charakteristika vorhanden: abrup− ter Beginn einzelner Episoden von intensiver Angst oder einem Gefühl von Unbehagen mit einem Ma− ximum innerhalb weniger Minuten und einer Dau− er von mehreren Minuten. Mindestens vier der folgenden Symptome müssen vorhanden sein: Ta− chykardie, Palpitationen, Schweißausbrüche, Hit− zegefühl, Kälteschauer, Tremor, Mundtrockenheit, Atembeschwerden, Beklemmungsgefühl, Thorax−

schmerzen, Nausea oder abdominelle Missempfin− dung, Schwindel oder Schwäche, Derealisations−, Depersonalisationserleben, Angst vor Kontrollver− lust, Angst, verrückt zu werden oder zu sterben, Gefühllosigkeit oder Kribbelgefühl. Zur weiteren Diagnostik gibt es verschiedene testpsychologi− schen Verfahren in Form von Fremd− und Selbst− beurteilungsfragebögen. Wichtig ist der Aus− schluss von Differenzialdiagnosen (s. Antwort zur Frage 6.4). Therapie: s. Fall 34.

ZUSATZTHEMEN FÜR LERNGRUPPEN Suizidalitat und Angststorungen Angst als Achse−2−Symptom nach DSM−IV

80

Fall 7

Fall

7

Intelligenzminderung

Antworten und Kommentar

7.1 Was ist diesbezüglich bei Patienten mit Intelligenzminderungen besonders zu beachten? Intelligenzminderung geht meist mit Schädigung des Gehirns einher R Wirkung von psychotropen Substanzen auf vorgeschädigtes Gehirn nicht ab− sehbar und evtl. paradox R niedrigere Dosierung oder schwächer wirkendes Medikament: Diaze− pam 5 mg p.o. oder Haloperidol 5 mg p.o. 7.2 Nennen Sie weitere abnorme Reaktionen bei Intelligenzminderung! K Anpassungsstörungen K Abnorme Erlebnisreaktionen: Flucht, Angst, aggressive Reaktion, Selbstaggressivität K Depressive Reaktionen K Paranoid−wahnhafte Symptome K Zwangsstörungen

7.3 Nennen Sie 3 chromosomale Erkrankun− gen, die eine Intelligenzminderung verursachen können! K Trisomien (Chromosom 21, 13, 18) K Fragiles−X−Syndrom K Mukopolysaccharidose Typ II (Hunter) 7.4 Zählen Sie andere Ursachen einer Intelli− genzminderung auf! K Infektionen während Schwangerschaft oder perinatal (z. B. CMV, HIV, Toxoplasmose) K Toxische Schädigungen (Alkohol, Drogen, Me− dikamente) K Hypoxische Hirnschädigungen (meist auf− grund von Geburtskomplikationen) K Traumatische Schädigungen (meist aufgrund von Geburtskomplikationen)

KOMMENTAR Definition: Unter dem Begriff Intelligenzminde− rung versteht man eine sich im frühen Lebensalter manifestierende unvollständige Entwicklung der kognitiven Fähigkeiten: Denken, Sprechen, Moto− rik und Beziehungsaufnahme. Synonym spricht man von einer Minderbegabung, geistiger Unter− entwicklung oder der Oligophrenie. Epidemiologie: Aufgrund spezifischer Verer− bungsmuster (z. B. X−chromosomal) sind Männer um 20–50 % mehr betroffen als Frauen. 2,5–3 % der Bevölkerung sind intelligenzgemindert, davon 0,25–0,5 % mittelgradig bis schwer. Ätiopathogenese: Verschiedene Ursachen kön− nen zu einer Intelligenzminderung führen (s. Ant−

worten zu Fragen 7.3 und 7.4); in den meisten Fällen bleibt die Genese aber unklar. Klinik: Die Intelligenzminderung wird in ver− schiedene Schweregrade eingeteilt (s. Tab.). Je nach Schweregrad reicht die Symptomatik von einem verzögerten Entwicklungsverlauf mit ausreichen− den Fähigkeiten zum selbständigen Leben bis zur völligen Unfähigkeit, etwas zu verstehen oder sich verständlich zu machen (Schwerstpflegefall). Während Menschen mit leichter Intelligenzminde− rung Schulabschluss und Berufsausbildung errei− chen können, müssen Menschen mit höhergradi− gen Intelligenzminderungen z. T. in Heimen für Schwerstpflegefälle versorgt werden.

Fall 7 Seite 8 Aus J. Becker-Pfaff, St. Engel: Fallbuch Psychiatrie (ISBN 3-13-140181-8) © Georg Thieme Verlag Stuttgart 2006 Dieses Dokument ist nur für den persönlichen Gebrauch bestimmt und darf in keiner Form an Dritte weitergegeben werden!

Intelligenz− quotient (IQ) Leichte Intelligenzminderung 50–69 Mittelgradige Intelligenzminderung

35–49

Schwere Intelligenzminderung

20–34

Schwerste Intelligenzminderung

,20

Therapie: Wesentliches Therapieprinzip ist eine optimale, weder unter− noch überfordernde Förde− rung entsprechend der Schwächen und Defizite. Hierzu gibt es spezialisierte Sonderkindergärten und −schulen, heilpädagogische Einrichtungen, be− treute Heime usw. Psychiatrische Störungen wer− den je nach Störung symptomatisch behandelt, meist muss jedoch die medikamentöse Therapie in einer niedrigeren Dosierung vorgenommen wer− den (s. Antwort zur Frage 7.1).

ZUSATZTHEMEN FÜR LERNGRUPPEN Hospitalismus bei Intelligenzminderung Pranatale Diagnostik

Fall 8

Demenz vom Alzheimer−Typ (Pathologie, Therapie)

8.1 Welche Diagnose stellen Sie bei Ihrer Patientin nach ICD−10? Akute depressive und angstvolle Anpassungs− störung (ICD−10: F43.22); Begründung: depressi− ve Symptomatik (Weinen), Angstgefühle, Ein− schränkung sozialer Funktionen und Leistungen (Konzentrationsschwierigkeiten am Arbeitsplatz), belastendes Lebensereignis, Dauer , 6 Monaten !!! 8.2

Beschreiben Sie die neuroanatomischen Prozesse bei der Demenz vom Alzheimer−Typ! K Anreicherung amyloider Plaques: wahr− scheinlich genetisch gesteuerte extrazelluläre Ablagerung eines pathologischen b−Amyloids K Anreicherung neurofibrillärer Bündel: patho− logische Bildung von Neurofibrillen

K Neurodegeneration durch entzündliche Reak− tion K Ausbreitung der Veränderungen vom Nu− cleus basalis Meynert aus über die anderen Hirnregionen K Veränderungen der Transmittersysteme, v. a. cholinerges Defizit

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8 Antworten und Kommentar

Prognose: Der Verlauf wird maßgeblich durch das psychosoziale Umfeld und die Möglichkeit optima− ler Förderungsmaßnahmen bestimmt. Hierbei sind das Ausmaß der Intelligenzminderung und mögli− che Teilleistungsstärken (z. B. Musikalität, gutes Zahlengedächtnis) von besonderer Bedeutung. Psychische Störungen, aber auch zusätzliche Erkrankungen (z. B. Epilepsien oder Psychosen), können den Verlauf komplizierter gestalten und Verschlechterungen verursachen. Insbesondere genetische Erkrankungen, die mit einer Intelli− genzminderung einhergehen, entwickeln körperli− che Komplikationen und Folgeschäden, die die Prognose verschlechtern. Insgesamt ist bei schwe− ren Behinderungen die Lebenserwartung aufgrund der begleitenden Erkrankungen vermindert.

Fall

Diagnostik: Der Verdacht auf eine Intelligenzmin− derung wird aufgrund der Symptomatik gestellt und mittels Intelligenztest bestätigt (z. B. Ham− burg−Wechsler−Intelligenztest). In der Regel kann man durch Anamnese inklusive Erhebung der le− bensgeschichtlichen Umstände (Kindes− und Ju− gendalter, Schulerfolg, beruflicher Werdegang) die Verdachtsdiagnose einengen. Eine endgültige Diagnose kann nur nach einer ausführlichen kör− perlichen und neurologischen Untersuchung ein− schließlich spezifischer diagnostischer Methoden (z. B. EEG, CT, MRT, chromosomale Untersuchung, genetische Testverfahren) gestellt werden. Ausge− prägte Intelligenzminderungen werden schon im Kindesalter erkannt, leichtere Intelligenzminde− rungen können sich auch erst im beruflichen Wer− degang zeigen.

Differenzialdiagnosen: Differenzialdiagnostisch sind v. a. die Demenzen abzugrenzen. Bei diesen kommt es zu einem Abbau bereits erworbener in− tellektueller Fähigkeiten.

8.3 Welche Behandlungsoptionen kennen Sie bei der Demenz vom Alzheimer−Typ? K Medikamentöse Therapie der kognitiven Fä− higkeiten (so früh wie möglich, d. h. sobald die Diagnose einer demenziellen Entwicklung gesichert ist, sofern nicht bereits eine stark fortgeschrittene demenzielle Symptomatik vorliegt):

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Fall

8

– Nootropika, z. B. Gingko biloba; Ergotamin− derivate (Dihydroergotoxin, Nicergolin), Kalziumantagonisten (Nimodipin, Pirace− tam, Pyritinol): nur sehr gering wirksam – Cholinesteraseinhibitoren, z. B. Donepezil (5–10 mg/d), Rivastigmin (6–12 mg/d), Ga− lantamin (16–24 mg/d): Ausgleich des cho− linergen Defizits, Rest präsynaptisch vor− handener Aktivität nötig, nur Verzögerung der Neurodegeneration möglich; Nebenwir− kungen: gastrointestinale Beschwerden, Un− ruhe, cholinerge Symptome; Anhalten der Wirkung nur über 1–2 Jahre, danach Abset− zen – Memantin (10–20 mg/d): Modulation der glutamatergen Neurotransmission; Neben− wirkungen: Unruhe, Erniedrigung der Krampfschwelle; Wirksamkeit nur 1–2 Jah− re K Medikamentöse Therapie der nichtkogniti− ven Symptome: – Depression: Serotonin−Wiederaufnahme− hemmer, z. B. Citalopram (10–20 mg/d), Ser− tralin (50–100 mg/d) (keine trizyklischen Antidepressiva wegen Verstärkung des cho− linergen Defizits) – Angst: Serotonin−Wiederaufnahmehemmer, z. B. Citalopram (10–20 mg/d), Sertralin

(50–100 mg/d) oder sehr niedrig dosierte Benzodiazepine, z. B. Lorazepam (0,5–2 mg/d), Oxazepam (25–50 mg/d) (cave: evtl. paradoxe Wirkung) – Psychotische Symptomatik: Haloperidol (0,5–1 mg/d); Carbamazepin (200–300 mg/d) versuchsweise zur Stimmungsstabilisierung (cave: typische Neuroleptika Risperidon und Olanzapin verursachen erhöhte Morta− litätsraten R kontraindiziert bei geronto− psychiatrischen Patienten) K Nichtmedikamentöse Förderung der noch bestehenden Fähigkeiten: angepasstes Ge− dächtnistraining, kognitive Aktivierung, exter− ne Gedächtnishilfen, Erinnerungstherapie, Realitätsorientierung, Respektieren der Person, Milieutherapie (s. Kommentar)

8.4 Was raten Sie Ihrer Patientin für sich selbst? K Weitere Gesprächskontakte zur Beruhigung und Entlastung K Evtl. Behandlung der Schlafstörungen mit Zoplicon (7,5 mg zur Nacht) oder Chlorprothi− xen (30 mg zur Nacht) K Evtl. Kurzzeitpsychotherapie von 25 Stunden im Anschluss an die Krisenintervention

KOMMENTAR

Antworten und Kommentar

Epidemiologie, Ätiologie, Klinik und Diagnos− tik: s. Fall 35.

minderung der Acetylcholin−Konzentration einher. Es entsteht ein cholinerges Defizit.

Pathologie: s. Antwort zur Frage 8.2. Bei Alzhei− mer−Patienten entsteht ein pathologisches b−Amy− loid (Ab) mit modifizierten Eigenschaften: Es ag− gregiert schneller und ist schlechter abbaubar. Die neurofibrillären Bündel bestehen aus gepaarten helikalen Filamenten, die sich u. a. aus Ab− und einem t−Protein zusammensetzen. Bei der patho− logischen Bildung von neurofibrillären Bündeln verliert das t−Protein seine Funktion, das intrazel− luläre mikrotubuläre System zu stabilisieren. Be− reits in der frühen Erkrankungsphase werden Mik− rogliazellen (Immunzellen des Gehirns) aktiviert. Diese Entzündungsreaktion bewirkt eine Neuro− degeneration, die zu einem Synapsenverlust führt. Aus diesem Kerngeschehen ergibt sich die folgende Entwicklung entlang neuroanatomischer Struk− turen: In den Stadien I und II sind Nucleus basalis Meynert und transentorhinale Regionen mit Affe− renzen aus Amygdala und Hippocampus betroffen, in den Stadien III und IV das limbische System und der Hippocampus, in den Stadien V und VI korti− kale Assoziationsareale. Konsequenzen hat dieses Geschehen auch auf das cholinerge Transmittersystem, das eine entschei− dende Bedeutung für kognitive Funktionen hat. Mit dem Verlust cholinerger Axone geht eine Ver−

Therapie: s. Antwort zur Frage 8.3. Unter Ge− dächtnistraining versteht man die Unterstützung zum Speichern und Abrufen von Informationen. Im Gegensatz dazu bedeutet kognitive Aktivierung die Ausschöpfung des noch vorhandenen kogniti− ven Potenzials ohne das Ziel der Leistungsverbes− serung. Die Erinnerungstherapie soll durch einen Lebensrückblick einen positiven Einfluss auf die Bewältigung des Alters und der demenziellen, ins− besondere aber der begleitenden depressiven Ent− wicklung haben. Die Realitätsorientierung betont die Wichtigkeit kontinuierlicher und gleich blei− bender Informationszuflüsse und das Aufrechter− halten des Kontaktes zu den Mitmenschen. Die Milieutherapie zielt darauf ab, eine dem Erkrank− ten optimale Lebensumgebung zu gestalten, z. B. mit persönlichen Gegenständen, Licht, gleich blei− bender Tagesstruktur und Vermeiden von Reiz− überflutung. Ergänzt werden die genannten Optionen durch ei− ne allgemeinmedizinische Basistherapie, die sich den körperlichen Begleiterkrankungen widmet. Außerdem sollten die pflegenden Angehörigen beraten und entlastet werden. Dafür stehen die supportative Psychotherapie, Angehörigengrup− pen oder Versorgungseinrichtungen wie ambulan− te Pflegedienste oder Kurzzeitpflege zur Verfü− gung.

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ZUSATZTHEMEN FÜR LERNGRUPPEN Wirkmechanismen der Nootropika Methodik der nichtmedikamentosen Maßnahmen bei Alzheimer−Demenz Psychotherapieverfahren bei akuten Anpassungsstorungen

Fall 9

Alkoholmissbrauch

9.1 An welche Diagnosen aus dem psychiat− rischen Fachgebiet denken Sie? K Depressive Erkrankung; Begründung: nieder− gedrückte Stimmung, Unruhe K Somatisierungsstörung; Begründung: Fehlen eines organischen Korrelats für die körperli− chen Beschwerden K Alkoholmissbrauch; Begründung: Nervosität, Unruhezustände, Schlafstörungen, Fettleber, wiederholt gewünschte Krankschreibungen, hohe Komorbidität mit depressiven Sympto− men

Parameter− veränderung

Begründung

MCV q, Hb Q

Megaloblastäre Anämie wegen Fol− säuremangels und toxischer Knochen− markschädigung

HDL−Cholesterin Q

Leberschädigung

Lipase q, Amylase q

Chronische Pan− kreatitis

CDT (Carbohydrate de− ficient transferrin) q

Marker für Alko− holkonsum

9.3 Welche weiteren Verfahren zur Diagnos− tik dieser Erkrankung kennen Sie? K Gespräch: ausführlich und einfühlsam wegen häufig schambesetzter Reaktion und Neigung

9.5 Grenzen Sie die Begriffe schädlicher Gebrauch“ und Abhängigkeit“ voneinander ab! K Schädlicher Gebrauch: Konsummuster psy− chotroper Substanzen, das zu körperlichen oder psychischen Störungen führen kann K Abhängigkeit: zusätzlich zum Kriterium des schädlichen Gebrauchs“: – übermächtiger Konsumwunsch (Craving) – Toleranzentwicklung – Auftreten von Entzugserscheinungen – verminderte Kontrollfähigkeit – Vernachlässigung anderer Interessen

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9 Antworten und Kommentar

g−GT q, GOT q, GPT q Leberfolgeschäden

9.4 Erläutern Sie ein Therapiekonzept für diesen Patienten! Ziel des weiteren Vorgehens: im besten Fall Ab− stinenz, im ungünstigeren Fall Minimierung ge− sundheitlicher und sozialer Risiken, im schlimmsten Fall Lebenserhalt K Versuch, Problembewusstsein und Motivati− on für eine Behandlung herzustellen K Aufrechterhalten des Kontaktes, ggf. Mitein− beziehen von Familienangehörigen; Aufrecht− erhalten des Problembewusstseins K Je nach Ausprägung ambulante oder stationäre Entgiftung K Anschließend ambulante, teil− oder vollstatio− näre Entwöhnung K Empfehlung der regelmäßigen Teilnahme an Selbsthilfegruppen (z. B. Anonyme Alkoholi− ker, Freundeskreis), ggf. auch von Angehöri− gen−Selbsthilfegruppen

Fall

9.2 Mit welchen Laborparametern könnten Sie Ihre Verdachtsdiagnose festigen?

dazu, den Konsum zu verharmlosen oder zu verleugnen K Screening−Testverfahren: CAGE−Test (s. Kom− mentar), MALT (Münchener Alkoholismus− Test), KFA (Kurzfragebogen für Alkoholgefähr− dete)

KOMMENTAR Definition: Die Alkoholabhängigkeit ist durch psychische Abhängigkeit (unwiderstehliches Verlangen nach Alkohol) und körperliche Abhän− gigkeit (Toleranzsteigerung mit nachfolgender Do− sissteigerung und Entzugserscheinungen bei Ab− setzen) gekennzeichnet. Man muss die Alkoholab− hängigkeit abgrenzen von: Folgeerscheinungen (s. Fall 53), akuter Intoxikation, schädlichem Ge−

brauch von Alkohol, Alkoholentzugssyndrom, Al− koholentzugsdelir (s. Fall 29) und Alkoholhalluzi− nose. Epidemiologie: Unter einer Alkoholabhängigkeit leiden ca. 3–5 % aller Deutschen. Ca. 12 % der All− gemeinarzt−Patienten und ca. 15 % der Patienten in Krankenhäusern der Grund− und Regelversorgung

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sind alkoholabhängig. 37 % aller Alkoholiker leiden zusätzlich unter einer psychischen Erkrankung. 25 % aller Suizidversuche werden von alkoholab− hängigen Menschen begangen. Die Lebenserwar− tung eines Alkoholabhängigen sinkt um ca. 15 %. Die Alkoholkrankheit ist eines der wichtigsten so− zialmedizinischen Probleme und verursacht im Jahr ca. 40 Mrd. Euro Schaden in der Bundesrepu− blik Deutschland. Ca. 1/3 der Kinder von alkohol− kranken Eltern werden selbst abhängig. Ätiopathogenese: Dem Alkoholismus wird eine multifaktorielle Genese zugeschrieben. Geneti− sche Faktoren wurden durch Adoptionsstudien mit eineiigen Zwillingen bestätigt. Dass bevorzugt Kinder alkoholabhängiger Eltern ebenfalls süchtig werden, spricht aber auch für psychologische Fak− toren als Ursachen. Der Alkoholkonsum führt zu Transmitterveränderungen v. a. im ZNS. Es ent− wickeln sich nacheinander schädlicher Gebrauch und Abhängigkeit (s. Antwort zur Frage 9.5).

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Fall

9 Antworten und Kommentar

Klinik: Alkoholmengen von mehr als 40 g/d bei Männern und mehr als 30 g/d bei Frauen werden als gesundheitlich bedenklich eingestuft. (0,2 l Bier enthalten 8 g Alkohol, 0,2 l Wein 16 g, 0,02 l 40 %iger Schnaps 6,4 g.) Nach langem Substanzmissbrauch sind hirnorga− nische Störungen wie Wernicke−Enzephalopathie und Korsakow−Syndrom sowie bei massiver Le− berschädigung eine hepatotoxische Enzephalo− pathie zu befürchten (s. Fall 53). Der chronische Alkoholmissbrauch geht zudem mit vielen somati− schen Folgeerkrankungen einher (z. B. Pankreatitis, Leberzirrhose, Kardiomyopathie).

Mögliche organische Folgeerkrankungen des Alkoholis− mus

Übersicht über die Alkoholikertypen nach Jellinek

Art des Al− Versuch einer Suchtkennzeichen koholismus Typisierung

Abhängigkeit Häufig− keit

alpha

Konflikttrinker kein Kontrollverlust, Fähigkeit zur Abstinenz

nur psychisch

ca. 5 %

beta

Gelegenheits− trinker

kein Kontrollverlust, Fähigkeit zur Abstinenz

keine

ca. 5 %

gamma

süchtiger Trinker

Kontrollverlust, jedoch zeitweilige Fähigkeit zur Abstinenz, Toleranz− erhöhung

zuerst psy− chisch, später physisch

ca. 65 %

delta

Gewohnheits− Unfähigkeit zur Abstinenz, rauschar− trinker (Spie− mer, kontinuierlicher Alkoholkonsum geltrinker“)

physisch

ca. 20 %

epsilon

episodischer Trinker (Dip− somanie)

mehrtägige Exzesse mit Kontrollverlust psychisch

Diagnostik: s. Antwort zur Frage 9.2 und 9.3. Al− koholismus ist nicht so einfach zu erkennen, da die Patienten mit verschiedensten ungeklärten Be−

ca. 5 %

schwerden zum Arzt kommen, z. B. Stimmungs− schwankungen, Vergesslichkeit oder Schlafstörun− gen.

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Fall

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Der CAGE−Test setzt sich aus 4 Fragen an den Pa− tienten zusammen: Cut down: Stellen Sie sich die Frage, ob Sie weniger trinken sollen?“; Annoyed: Fühlen Sie sich belästigt oder gekränkt, wenn an− dere Ihren Alkoholkonsum kritisieren?“; Guilty: Haben Sie Schuldgefühle wegen des Trinkens?“ Eye opener: Trinken Sie morgens?“. Bei 2 Zustim− mungen besteht der Verdacht auf Alkoholmiss− brauch, bei 3–4 ist er wahrscheinlich. Neben der eigentlichen Alkoholismusdiagnostik sollten Folgeerkrankungen des Alkoholismus (s. Abb.) sorgfältig diagnostiziert werden. Differenzialdiagnosen: s. Antwort zur Frage 9.1. Ähnlich wie die Alkoholabhängigkeit kann sich auch der Missbrauch von Tranquilizern äußern. Es ist zu beachten, dass bei vielen Patienten eine Polytoxikomanie mit Tranquilizern, Cannabis oder anderen psychotropen Substanzen vorliegen kann. Weiter sind differenzialdiagnostisch Depres− sionen, Angststörungen, Psychosen aus dem schi−

zophrenen Formenkreis oder Persönlichkeitsstö− rungen zu bedenken, die häufig im Sinne einer Komorbidität vorliegen können. Therapie: s. Antwort zur Frage 9.4. Prognose: Nach einer für den Patienten adäqua− ten Therapie können nach einem Jahr ca. 1/3 der Patienten als geheilt (abstinent), 1/3 als gebessert (Reduktion des Konsums, Verbesserung der Folge− schäden) und 1/3 als nicht gebessert betrachtet werden. Die Behandlung der Alkoholkrankheit ist v. a. von der Motivation des Patienten abhängig. Das Ausbrechen aus dem Circulus vitiosus der Sucht erfordert eine hohe Frustrationstoleranz, über die abhängige Menschen häufig leider nicht verfügen. Ein trockener Alkoholiker darf keine Pralinen, Me− dikamente, Speisen mit Alkohol oder auch sog. al− koholfreies Bier zu sich nehmen, da bei geringsten Mengen Alkohol Rückfallgefahr besteht.

Antworten und Kommentar

Behandlungskette für Alkoholkranke

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ZUSATZTHEMEN FÜR LERNGRUPPEN Internistische Alkoholfolgekrankheiten Psychotherapeutische Maßnahmen in der Entwohnungsbehandlung Akute Alkoholintoxikation Alkoholhalluzinose

Fall 10

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Fall

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Lithiumintoxikation bei bipolarer Störung

Antworten und Kommentar

10.1 Erklären Sie die Situation des Patienten! K Der Patient leidet unter einer bipolaren affek− tiven Störung, die mit Lithium behandelt wur− de. K Die akute Symptomatik ist gemäß der fremd− anamnestischen Angaben nicht typisch für den Patienten. K Er hat in letzter Zeit neben den alten Medika− menten (Acetylsalicylsäure, ACE−Hemmer und Diuretikum) ein neues Medikament bekom− men, das mit . . .il“ endet und demzufolge ein weiterer ACE−Hemmer sein könnte. K ACE−Hemmer können die Nierenfunktion ein− schränken und somit die Lithiumelimination reduzieren. K Es könnte also eine eher atypische Lithiumin− toxikation mit psychotischer Symptomatik vorliegen. K Dazu passen auch der Durchfall, die häufigen Toilettengänge (Polyurie) sowie die Angabe der zuverlässigen Medikamenteneinnahme. 10.2 Welche Maßnahmen veranlassen Sie? K Unverzügliche Bestimmung des Lithiumspie− gels K Kontrolle von Nierenfunktion und Routinela− borparametern K Ständige Kontrolle der Vitalparameter bis zum Vorliegen der Laboruntersuchungen K Verlegung auf eine intensivmedizinische Überwachungseinheit bei Entgleisung der Vi− talparameter, Auftreten von Herzrhythmusstö− rungen oder bei Erhalt der Bestätigung der Li− thiumintoxikation

10.4 Was veranlassen Sie vor einer Einstellung auf ein Lithiumpräparat? Warum? Lithium hat einen sehr engen therapeutischen Bereich und verursacht eine Reihe von Nebenwir− kungen (s. Antwort zur Frage 10.5) und Wechsel− wirkungen. Daher sind folgende Untersuchungen zu veranlassen: K Ausschluss einer Nierenfunktionsstörung durch Blutuntersuchung (Kreatinin, Harnstoff, Kreatinin−Clearance), Urin−Status, Blutdruck− messung, da Lithium renal ausgeschieden wird und bei einer Nierenfunktionsstörung ak− kumuliert. K Erhebung des Körpergewichts zur Verlaufs− kontrolle K Ausschluss einer Herzinsuffizienz oder akuten koronaren Herzerkrankung durch EKG K Ausschluss einer Elektrolytstörung durch La− bor und EKG, da Lithium im Extrazellulärraum mit Natrium in Konkurrenz tritt. K Ausschluss einer Schilddrüsenfunktionsstö− rung durch Labor, da Lithium Hypo− oder Hy− perthyreosen auslösen kann. K Messung des Halsumfangs, da Lithium eine Struma hervorrufen kann. K Ausschluss von Schwangerschaft oder Still− zeit K EEG, da Lithium neurotoxisch sein kann. K Blutbild, da Lithium eine Leukozytose verur− sachen kann.

10.3 Welche von der Norm abweichenden Laborergebnisse befürchten Sie? K Lithiumspiegel .1,5 mmol/l, aufgrund der aus− geprägten Symptomatik wahrscheinlich im Bereich .2 mmol/l K Kreatinin .1,5 mg/dl K Teilweise massive Störungen des Elektrolyt− haushalts (Na Q, K q, Ca q) K Evtl. deutliche Hyperthyreose

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!!! 10.5 Welche Nebenwirkungen der Lithiumtherapie sind ab welchem Serumspiegel moglich?

Serumspiegel

Nebenwirkungen

0,5–0,8 mmol/l (thera− feinschlägiger Tremor, Übelkeit, weicher Stuhlgang, Durst, Polyurie, peutischer Spiegel) Gewichtszunahme, Schwindel, Leukozytose, Struma, Mattigkeit, EKG− und EEG−Veränderungen; selten: leichte kognitive Störungen; sehr sel− ten: Akne, Psoriasis, Haarausfall, Muskelschwäche 1,0–1,5 mmol/l

zusätzlich Erbrechen, Diarrhö, Konzentrationsstörungen, Müdigkeit, verwaschene Sprache

1,6–2,5 mmol/l

zusätzlich Desorientiertheit, Somnolenz, Verwirrtheit, psychotische Zustandsbilder, grobschlägiger Tremor, Muskelfaszikulationen, schwe− re Diarrhö

2,5–3,0 mmol/l

zusätzlich schwere Bewusstseinsstörungen, delirante Zustandsbilder, Ataxie, extrapyramidal−motorische Störungen, epileptische Krampfan− fälle, Nierenfunktionsstörungen

.3 mmol/l

Gefahr eines Schockzustandes mit Herz−Kreislauf−Stillstand

Fall

KOMMENTAR

Wirkung: Lithium wird als einzigem Medikament eine wissenschaftlich nachgewiesene langfristige suizidpräventive Wirkung zugeschrieben. Unerwünschte Wirkungen: s. Antworten zur Frage 10.5. Lithium hat einen sehr engen therapeu− tischen Bereich. Lebensumstände, Begleiterkran− kungen und Komedikationen eines Patienten kön− nen Lithiumintoxikationen verursachen. Indikationen: Lithium wird zur Phasenprophyla− xe bei bipolaren affektiven Störungen, akuter Manie sowie zur Augmentation bei therapiere− sistenten Depressionen eingesetzt. Kontraindikationen: Absolute Kontraindikatio− nen sind Nierenversagen, akuter Myokardinfarkt, Myasthenia gravis, myeloische Leukämie, deutli− che Hyponatriämie sowie das erste Trimenon der Schwangerschaft. Pharmakokinetik: Die Halbwertzeit liegt bei 16– 24 Stunden, der Steady−State bei 5 Tagen, der anti− manische Wirkbeginn setzt erst nach ca. 8 Tagen

ein, eine phasen− und suizidprophylaktische Wir− kung erst nach mehreren Monaten.

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Dosierung: Zur Vorbereitung s. Antwort zur Frage 10.4. Die Lithiumtherapie sollte einschleichend be− gonnen werden. Üblicherweise erzielen 15– 30 mmol/d einen Wirkspiegel (0,5–0,8 mmol zur Rezidivprophylaxe; 1,0–1,2 mmol zur antimani− schen Akutbehandlung), doch sollte streng nach Spiegel dosiert werden. In der Phase der Einstel− lung wird der Serumspiegel alle 2 Tage – immer 12 Stunden nach der letzten Einnahme – bis zum Er− reichen des erwünschten therapeutischen Spiegels kontrolliert. Bei Auftreten von Nebenwirkungen kann die Dosis gesenkt werden, sollte aber nicht in einen Bereich ,0,6 mmol/l fallen. Bei älteren Patienten kann die Hälfte der üblichen Dosis aus− reichen, um den gewünschten Serumspiegel zu er− reichen. Im Lithium−Pass“ werden Dosierungen und re− gelmäßige Laborkontrollen eingetragen. Nach der Einstellung werden im 1. Monat wöchentlich Se− rumspiegel, Kreatinin, Halsumfang und Körperge− wicht bestimmt, danach weitere 5 Monate monat− lich, danach vierteljährlich. Das Blutbild wird halb− jährlich kontrolliert.

Antworten und Kommentar

Wirkmechanismus: Der Wirkmechanismus von Lithium ist weitgehend unbekannt. Wahrschein− lich werden Signaltransduktionen moduliert.

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ZUSATZTHEMEN FÜR LERNGRUPPEN Pathophysiologische Vorgange an der Niere im Zusammenhang mit Lithium Wechselwirkungen mit anderen Medikamenten Dosierung und Vorgehen bei der Akutbehandlung der Manie

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Fall 11

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Fall

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Organische Psychose

11.1 Welche Sofortmaßnahmen ergreifen Sie? K Stationäre Aufnahme, ggf. auch gegen den Willen der Patientin im Rahmen des Unter− bringungsgesetzes wegen Eigen− und Fremd− gefährdung K Rasch erforderliche Untersuchungsschritte der seltsam anmutenden Psychopathologie: – Anamneseerhebung mit Dolmetscher – Weitere Fremdanamnese – Körperliche Untersuchung – Routinelabor sowie Bildgebung des Schä− dels K Erste symptomatische Medikation: – Anxiolytisch: z. B. Lorazepam (1 mg sofort, danach 2 3 0,5 mg/d bis 4 3 2 mg/d) – Neuroleptisch: z. B. Haloperidol (5 mg so− fort, dann 1–3 3 5 mg/d) oder atypische Neuroleptika, z. B. Risperidon (bis 3 3 2 mg/d einschleichend) oder Olanzapin (5 mg sofort, dann 1–3 3 5 mg/d)

Antworten und Kommentar

11.2 Können Sie mit diesen Angaben die Ein− weisungsdiagnose akute paranoide Schizo− phrenie“ bestätigen? Begründen Sie! Nein; Begründung: K Klinik: Psychotische Symptome, formale Denkstörungen und Hinweise auf paranoide Ängste sind zwar auch typisch für Erkrankun− gen aus dem schizophrenen Formenkreis, aber die im Vordergrund stehenden Symptome Ori− entierungsstörung und Verwirrtheit und die körperlichen Befunde passen nicht dazu K Anamnese: Der Ablauf Trauerreaktion – de− pressive Verstimmung – maniformer Um− schwung – erneuter depressiver Rückzug mit Ausbildung zwanghafter Symptome ist typi− scher für eine bipolare affektive Psychose K Körperliche Untersuchung und Fremdanam− nese: viele Hinweise auf eine organische Krankheit, z. B. Immunschwäche 11.3 Welche Differenzialdiagnosen fallen Ih− nen ein? Welche weiterführenden Untersu− chungen veranlassen Sie, um diese auszuschließen? K ZNS−Erkrankungen (z. B. Hirntumor, Epilep− sie, Meningitis, Multiple Sklerose, autoimmu− ne Gefäßerkrankungen): Bildgebung des Schä− dels (CT, MRT), EEG, Liquoruntersuchung (Zell− zahl, Zelldifferenzierung, Glukose, Laktat, Pro−

K

K

K K

K K K K

teine mit Antikörperbestimmungen auf Borreliose, Lues, HIV, Herpesviren, CMV; oligo− klonale Banden), neurologisches Konsil Endokrine Erkrankungen (z. B. Hypo− oder Hyperthyreose, Hypo− oder Hyperparathyreoi− dismus, Morbus Addison, Morbus Cushing): Blutlabor (z. B. Na, K, Ca, Cl, TSH, fT3, fT4) Metabolische Störungen (z. B. Niereninsuffizi− enz, Hyper− oder Hypoglykämie, Porphyrie, Hämochromatose, Morbus Wilson, Paraneo− plasien, Vitaminmangel): Blutlabor (Kreatinin, Harnstoff, Blutzucker, Ferritin, Coeruloplasmin, Kupfer, Harnsäure, Vitamine) Hämatologische Störungen (z. B. Leukämie, Funikuläre Myelose): Differenzialblutbild Infektionskrankheiten (z. B. Tbc, HIV, Lues, Neuroborreliose, Mononukleose): CRP, HIV− Test, TPHA−Test, Urinstatus Kollagenosen Toxisch induzierte Psychose (z. B. Medika− mente, Drogen): Drogenscreening Schwangerschaftspsychose: Schwanger− schaftstest Atypisch verlaufende Psychose aus dem schi− zophrenen Formenkreis: psychopathologi− scher Befund

11.4 Wie behandeln Sie die Patientin im Falle einer organischen, wie im Falle einer psycho− genen Ursache? K Organische Ursache: möglichst kausale Thera− pie der Grunderkrankung, dazu evtl. Verlegung in eine Abteilung für Neurologie oder Innere Medizin, Behandlung der psychopathologi− schen Symptome weiter anxiolytisch und neu− roleptisch (s. Antwort zur Frage 11.1) K Psychogene Ursache: Behandlung der psycho− pathologischen Symptomatik weiter anxioly− tisch und neuroleptisch (s. o.) 11.5 Wie lässt sich das mit ihrer Klinik ver− einbaren? Vorliegen einer akuten HIV−Infektion; evtl. nach Tod des Vaters tatsächlich pathologische Trauer− reaktion oder affektive Psychose, evtl. in mani− scher Phase ungeschützter Geschlechtsverkehr mit HIV−Infektion; somit evtl. fatale Mischung aus klassisch psychiatrischer Erkrankung und or− ganischer Psychose

KOMMENTAR Definition: Die Begriffsbestimmung der organi− schen Psychose ist etwas unscharf, da sich auch bei einer tatsächlichen Schizophrenie körperliche Veränderungen nachweisen lassen und diese somit auch organisch“ wäre. In der ICD−10 sind mit or− ganischen Psychosen Störungen gemeint, deren

Ursache eine Hirnfunktionsstörung ist, die primär durch eine zerebrale Erkrankung oder sekundär durch eine Systemerkrankung hervorgerufen wird. Außerdem dürfen diese Störungen nicht an anderer Stelle der ICD−10 angeführt sein. Die Au− toren der ICD−10 definierten also zuerst die nicht−

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organischen“ psychiatrischen Erkrankungen – ob− wohl diese mit organischen Veränderungen ein− hergehen können – und grenzten dann die orga− nisch verursachten psychischen Störungen davon ab. In der Hauptsache geht es darum, das Augen− merk auf eine zusätzlich kausale Behandlung zu lenken, die dann meist nicht mehr in den klassi− schen Bereich der Psychiatrie fällt. Klinik: Eine organisch bedingte Psychose kann mit allen psychopathologischen Auffälligkeiten einhergehen, die Psychosen auszeichnen. Es kom− men v. a. affektive Veränderungen, inhaltliche und formale Denkstörungen, Sinnestäuschun− gen und Veränderungen der Persönlichkeit vor. Orientierungsstörungen und Bewusstseinsstö− rungen sind besonders markante Hinweise auf or−

ganische Ursachen einer psychischen Symptoma− tik. Da es nicht möglich ist, mit ausreichender kli− nischer Sicherheit aufgrund der Psychopathologie organische von anderen Psychosen zu differenzie− ren, ist bei jeder psychotischen Symptomatik die somatische Differenzialdiagnostik mitzubeden− ken. Diagnostik: s. Antwort zur Frage 11.3. Therapie: s. Antwort zur Frage 11.5. Prognose: Die Prognose richtet sich nach der Grunderkrankung. Ist diese behandelbar, bessert sich meist auch der psychopathologische Befund. Auch sonst sind meist durch eine symptomatische psychopharmakologische Therapie Verbesserun− gen erreichbar.

ZUSATZTHEMEN FÜR LERNGRUPPEN Psychiatrische Folgen einer HIV−Infektion  tiologie Klinik anderer organischer Psychosen entsprechend ihrer A

Schwere Persönlichkeitsstörung

12.1 Welche differenzialdiagnostischen Erwä−

12.2 Wie gehen Sie weiter vor? Einschätzung der akuten Bedrohung durch den Patienten durch Erhebung eines psychopatholo− gischen Befundes und Differenzialdiagnostik seiner vermutlichen Störung: Exploration bezüg− lich Anamnese, Denkstörungen, Sinnestäuschun− gen, Affektlage, Intoxikation und ob es sich um einen Wiederholungsfall handelt K Möglichst freiwillige stationäre Aufnahme: Zeitgewinn zur Beobachtung; Reaktion des Pa− tienten auf diesen Vorschlag als wichtiges dif− ferenzialdiagnostisches Kriterium (Wenn Rea− litätsprüfung vorhanden, zeigt Patient Einsicht und Bemühen, Situation möglichst schnell zu klären; wenn Realitätsprüfung nicht vorhan− den, zeigt Patient Gefühl der Verfolgung, be− streitet die Notwendigkeit des Bleibens, macht evtl. Fluchtversuch.) K Möglichst Erhebung einer Fremdanamnese zur Überprüfung der Angaben des Patienten K Medikation akut nicht notwendig; bei Per− sistieren des Erregungszustandes zunächst

12 Antworten und Kommentar

gungen stellen Sie an? Wie lautet Ihre Ver− dachtsdiagnose? Differenzialdiagnosen: K Akute paranoid−halluzinatorische Schizo− phrenie; dagegen spricht: schwere formale Denkstörungen fehlen, Kontakt gestaltet sich wenig chaotisch, Patient zeigt Einsicht in die Situation, keine Hinweise auf Vorgeschichte und Vorbehandlungen, Alter spricht gegen Erstmanifestation K Wahnhafte Störung; dagegen spricht: Patient beschreibt die Situation differenziert und be− trachtet das Vorgefallene als erledigt; Aus− schluss der Diagnose durch längere Verlaufs− beobachtung K Schwere narzisstische Persönlichkeitsstö− rung; dafür spricht: klarer Bewusstseinszu− stand, gute Orientiertheit, keine schweren in− haltlichen oder formalen Denkstörungen; Pati− ent fühlt sich situationsinadäquat schwer ge− kränkt, reagiert überschießend, impulsiv und gewalttätig, ist sich seiner Handlungen be− wusst und findet sie gerechtfertigt, verfügt über Fähigkeit zur Realitätsprüfung, die ihm dazu verhilft, sich in der Untersuchungssitua− tion adäquat und ohne Impulskontrollverlust zu verhalten K Intoxikation; dagegen spricht: keine Hinweise wie Foetor oder körperliche Auffälligkeiten, keine veränderte Bewusstseinslage

Verdachtsdiagnose: akuter Erregungszustand unklarer Ätiologie, bei Vorstellung bereits abge− klungen; Verdacht auf schwere Persönlichkeits− störung; Begründung: veränderte Wahrnehmung des Patienten im kognitiven (unzureichende Ver− arbeitung der Provokation), affektiven (Gefühle lange andauernder und heftiger Wut) und im Be− reich der zwischenmenschlichen Beziehungen (Angriff auf den Jungen), s. Kommentar

Fall

Fall 12

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Fall 12 Seite 13 Aus J. Becker-Pfaff, St. Engel: Fallbuch Psychiatrie (ISBN 3-13-140181-8) © Georg Thieme Verlag Stuttgart 2006 Dieses Dokument ist nur für den persönlichen Gebrauch bestimmt und darf in keiner Form an Dritte weitergegeben werden!

niederpotentes Neuroleptikum, z. B. Chlorpro− thixen (30–50 mg p.o. bis zu 3 3 /24 h), bei Nichtwirksamkeit Benzodiazepin, z. B. Diaze− pam (5–10 mg p.o.) oder Lorazepam (1–2,5 mg p.o.)

12.3 Welche Entscheidung treffen Sie? Wie rechtfertigen Sie diese? K Entscheidung: Angebot weiterer Behandlung, aber keine Zurückhaltung gegen den Willen des Patienten K Begründung: Kooperatives und angepasstes Verhalten des Patienten zeigt keine akute Fremdgefährdung; andererseits kein sicherer Ausschluss einer schweren Impulskontrollstö− rung oder eines Wahns, was als Begründung für eine Zurückhaltung juristisch jedoch nicht ausreicht

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12 Antworten und Kommentar

12.4 Definieren Sie den Begriff Persönlich− keitsstörung! Welche verschiedenen Persönlich− keitsstörungen kennen Sie? Definition: tief verwurzelte, anhaltende und weitgehend stabile Verhaltensmuster, die sich in starren Reaktionen auf unterschiedliche persönli− che und soziale Lebenslagen zeigen; Wahrneh− men, Denken und Fühlen in Beziehungen zu an− deren weichen deutlich von kulturell erwarteten und akzeptierten Vorgaben ab; meist persönli− ches Leiden und gestörte soziale Funktionsfähig− keit; Abgrenzung zu ungestörtem und tolerier− tem Verhalten schwierig.

Einteilung: K Paranoide: Neigung, ungerechtfertigt die Handlungen anderer als erniedrigend, bedroh− lich oder in anderer Weise extrem verzerrt zu empfinden; s. Fall 51 K Antisoziale: verantwortungsloses und disso− ziales Verhalten K Schizoide: Gleichgültigkeit gegenüber sozialen Beziehungen und eingeschränkte emotionale Erlebnis− und Ausdrucksfähigkeit; s. Fall 20 K Schizotype: Eigentümlichkeit der Vorstel− lungswelt, der äußeren Erscheinung, des Ver− haltens und Mangel an zwischenmenschlichen Beziehungen; s. Fall 20 K Zwanghafte (anankastische): Überwiegen von pedantischen und rigiden Zügen K Ängstlich−vermeidende (selbstunsichere): un− sicher, besorgt, mutlos; s. Fall 38 K Abhängige (depedente): unselbständig, ab− hängig, Ich−schwach; s. Fall 38 K Histrionische (hysterische): Theatralisch, dra− matisch, manipulativ; s. Fall 64 K Narzisstische: übersteigertes Selbstwertgefühl mit hoher Kränkbarkeit; s. Fall 30 K Depressive: grüblerisch, niedergestimmt, freudlos K Borderline oder emotional instabil: diverse und multiple Veränderungen des Erlebens und Verhaltens, häufig mit Impulskontrollverlusten und starken Stimmungsschwankungen; s. Fälle 45 und 56

KOMMENTAR Definition: s. Antwort zur Frage 12.4. Die Konzep− te der Begriffe Persönlichkeit, Persönlichkeitszug, Persönlichkeitsstruktur, Charakter und Persönlich− keitsstörung haben sich im Laufe der Psychiatrie− geschichte deutlich verändert. Unter anderem wurde die Formulierung Abweichung von kultu− rell erwarteten und akzeptierten Vorgaben“ in die Definition der Persönlichkeitsstörung aufgenom− men. Noch Anfang der zweiten Hälfte des 20. Jahr− hunderts wurde z. B. eine haltlose Persönlichkeit, insbesondere sexuell haltlos“ beschrieben, die heute im Rahmen größerer gesellschaftlicher Ak− zeptanz von Promiskuität nicht mehr haltbar und auch in den gängigen Typologien nicht mehr auf− geführt ist. Der Begriff der Persönlichkeitsstörung hat den Begriff und das Konzept des Psychopa− then“, des Soziopathen“ sowie den Begriff der Charakterneurose abgelöst. Epidemiologie: Persönlichkeitsstörungen kom− men bei ca. 5–8 % der Bevölkerung vor, angeblich häufiger bei Frauen als bei Männern. Aufgrund der Schwammigkeit des Begriffs sind diese Zahlen sehr vorsichtig zu beurteilen.

Ätiopathogenese:

Schemata

äußere Ereignisse

voreingenommene Wahrnehmung und Erinnerung

Reaktionen anderer

automatische Gedanken

emotionale Reaktionen

zwischenmenschliches Verhalten

Intrapsychische und interpersonelle Kreisläufe in der Entstehung und Aufrechterhaltung von Persönlich− keitsstörungen

Fall 12 Seite 13 Aus J. Becker-Pfaff, St. Engel: Fallbuch Psychiatrie (ISBN 3-13-140181-8) © Georg Thieme Verlag Stuttgart 2006 Dieses Dokument ist nur für den persönlichen Gebrauch bestimmt und darf in keiner Form an Dritte weitergegeben werden!

Klinik und Diagnostik: Die Diagnose einer Per− sönlichkeitsstörung ist schwierig zu stellen und erfordert häufig einen längeren Beobachtungszeit− raum. Nach der ICD−10 sollten folgende Merkmale zu belegen sein: Das Abweichen von Erfahrens− und Verhaltensmustern in mehr als einem der Be− reiche Kognition, Affektivität oder zwischen− menschliche Beziehungen sollte ausprägt und auf mehr als eine spezielle Situation zutreffend sein. Entweder der Patient selber oder die betroffene Umgebung des Patienten sollten unter diesen Ver− haltens− oder Erlebensweisen leiden. Diese sollten sich über einen sehr langen Zeitraum, bestenfalls bis in die späte Adoleszenz, zurückverfolgen lassen und nicht auf eine andere psychische oder organi− sche Erkrankung zurückgeführt werden können. Sehr häufig finden sich Komorbiditäten mit Sucht− erkrankungen und affektiven Störungen. Patienten mit Persönlichkeitsstörungen sind Risikopatienten für Suizidversuche und Suizide.

Prognose: Die Behandlung von Persönlichkeits− störungen ist langwierig und schwierig. Eine prog− nostische Aussage für Persönlichkeitsstörungen im Allgemeinen ist nicht möglich. Antisoziale Persön− lichkeiten weisen eine ungünstige Prognose auf.

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Konzepte fur die Begriffe Personlichkeit und Personlichkeitsstorung Atiologie der Personlichkeitsstorungen gemaß der verschiedenen Psychiatrieschulen (biologisch, verhaltenstherapeutisch, psychoanalytisch)

Abwehrmechanismen

13.1 Welche Art von Abwehrmechanismen er− warten Sie bei dieser Patientin? Frühe/unreife Abwehrmechanismen, z. B. Spal− tung, Projektion, projektive Identifizierung, Ent− wertung, Omnipotenz; Begründung: früher Tod der Mutter und vermutliche Traumatisierung der Patientin beginnend im frühen Kindesalter 13.2 Welcher Abwehrmechanismus liegt dem Verzicht auf Urlaub wahrscheinlich zugrunde? Identifizierung mit dem Angreifer“: Chef wird als überwertig empfunden; um Konflikte zu ver− meiden, werden seine Ansprüche ohne Überprü− fung als gegeben angenommen

13.3 Was empfehlen Sie der Patientin? K Psychotherapie ambulant, teilstationär oder stationär; zur genaueren Indikationsstellung probatorische diagnostische Erstinterviews, um Motivation, Introspektions− und Behand− lungsfähigkeit eingehender zu überprüfen und zu klären, ob tiefenpsychologisch fundierte, psychoanalytische oder verhaltenstherapeuti− sche Verfahren sinnvoll sind K Psychopharmaka nur bei anhaltend akuter Symptomatik zur Entlastung: Benzodiazepine (z. B. Lorazepam bis zu 3 mg/d über eine Wo− che), alternativ mittelpotentes Neuroleptikum (z. B. Perazin 3 3 25 mg/d über wenige Wo− chen) oder sedierendes Antidepressivum (z. B. Mirtazapin einschleichend bis 15 mg abends über mehrere Monate)

Antworten und Kommentar

ZUSATZTHEMEN FÜR LERNGRUPPEN

Fall 13

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Differenzialdiagnosen: s. Antwort zur Frage 12.1. Häufig können erst nach längerer Beobachtung Differenzialdiagnosen ausgeschlossen werden. Auszuschließen oder als Begleiterkrankungen zu klassifizieren sind Erkrankungen aus dem schizo− phrenen Formenkreis, affektive Störungen, Suchterkrankungen und organisch bedingte Persönlichkeitsveränderungen.

Therapie: Allgemein sind Persönlichkeitsstörun− gen Domäne der unterschiedlichen Psychothera− pieverfahren. Je nach Bedarf und Möglichkeiten des Patienten, seiner Krankheitseinsicht und Be− handlungsmotivation können dabei unterschiedli− che Ziele aufgestellt werden: entweder die Symp− tomreduktion und Aneignung eines adäquaten Verhaltensrepertoires (Domäne der Verhaltens− therapie) oder die Veränderung der Persönlich− keitsstruktur (Domäne der Psychoanalyse). Zur symptomatischen Therapie können auch Psy− chopharmaka eingesetzt werden. Gegen depres− sive und ängstliche Symptome können dabei Anti− depressiva eingesetzt werden (z. B. Sertralin 50– 150 mg/d), gegen Unruhezustände nieder− und mittelpotente Neuroleptika (z. B. Chlorprothixen 25–100 mg/d oder Perazin 25–300 mg/d) und ge− gen Impulskontrolldurchbrüche und hochgradiges dissoziatives Erleben hochpotente Neuroleptika (z. B. Risperidon 1–2 mg/d oder Amisulprid 50– 200 mg/d).

Fall 13 Seite 14 Aus J. Becker-Pfaff, St. Engel: Fallbuch Psychiatrie (ISBN 3-13-140181-8) © Georg Thieme Verlag Stuttgart 2006 Dieses Dokument ist nur für den persönlichen Gebrauch bestimmt und darf in keiner Form an Dritte weitergegeben werden!

KOMMENTAR Definition: Abwehrmechanismen, auch Abwehr− organisationen genannt, sind psychische Maßnah− men gegen das bewusste situations− und reali− tätsgerechte Wahrnehmen von Konflikten und Frustrationen. Sie dienen dem Zweck, unerträg− liche Zustände und Vorstellungen (z. B. Affekte, Triebansprüche, Über−Ich−Anforderungen, Ängste) abzuwehren. Dabei dienen sie jedem Mensch so− wohl als Schutz als auch als Entwicklungsmotor für seinen Reifungsprozess. Die Kenntnis der ver− schiedenen Mechanismen leitet sich aus der Theo− rie Sigmund Freuds ab und wurde von seiner Toch− ter Anna Freud systematisiert. Heutzutage sind sie ein wichtiges diagnostisches Instrument, um psy− chische Störungen zu differenzieren. Dazu werden sie in frühe/unreife und reifere Me− chanismen eingeteilt. Wenn reifere Mechanismen in Konfliktsituationen zu versagen drohen, kann dies zur Mobilisierung früher Mechanismen füh− ren.

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Fall

13 Antworten und Kommentar

Frühe Abwehrmechanismen: K Projektion: Wahrnehmung eigener nicht ak− zeptierbarer Vorstellungen in anderen Men− schen; Bekämpfung und Kritik dieser Vorstel− lungen in den anderen; Beispiel: Ein aggressi− ver Jugendlicher nimmt seine Umgebung als aggressiv war. K Identifikation: Teilbereiche oder das Ganze des Gegenübers werden als dem eigenen Ich zugehörig empfunden; Beispiel: Slogan einer Werbung: Wir haben verstanden.“ K Projektive Identifizierung: Abgespaltene Af− fekte oder schwer erträgliche psychische Zu− stände werden im Gegenüber untergebracht und als diesem zugehörig wahrgenommen; Beispiel: Säugling bedient sich der projektiven Identifizierung, um seiner Mutter seine Be− dürfnisse mitteilen zu können (z. B. Schreien bei Hungergefühl), damit diese Abhilfe schafft; Mutter spürt Bedürfnisse intuitiv, weil sie sich mit Baby identifiziert, und verhält sich ent− sprechend (z. B. Stillen). K Verleugnung: Ausführung konflikthafter Handlungen, ohne deren Bedeutung wahrzu− nehmen, Richten der Aufmerksamkeit auf et− was weniger Schmerzhaftes; Grundlage der Ich−Spaltung; Beispiel: Ein Raucher nimmt sein Suchtverhalten nicht wahr. K Spaltung: Aufspaltung der inneren Vorstellun− gen (Objektrepräsentanzen) in gut“ und bö− se“, ohne beides als zusammenhängend erle− ben zu können; einerseits nötig für normale Entwicklung zur Differenzierung z. B. zwi− schen Ich und Umwelt; andererseits patholo− gische Anwendung z. B. bei Borderline−Persön− lichkeitsstörung (s. Fall 45). K Isolierung: Erinnerung an ein konfliktbesetz− tes Erlebnis ohne Erinnerung an den beglei− tenden Affekt; Beispiel: Der verlassene Ehe−

mann weiß von der Trennung, nimmt aber seine Wut nicht war. K Idealisierung: Vergrößerung und Erhöhung ei− nes Objektes in der eigenen Wahrnehmung; Beispiel: Ein Dozent wird nur als genial erlebt, kritischere Punkte werden nicht wahrgenom− men. K Introjektion: Aufnahme von anderen zuge− schriebenen (Projektion) oder realen Vorstel− lungen ins eigene Ich; Beispiel: Ein depressi− ver Patient übernimmt die von ihm unterstell− ten Schuldzuweisungen der Eltern in sein ei− genes Ich. K Konversion: körperliches Ausdrücken eines verdrängten Konfliktes ohne eigene Wahrneh− mung des Konfliktes; Beispiel: Patientin wird aufgrund von Schwindel, Kreuzschmerzen und Atemnot arbeitsunfähig, ohne ihren Konflikt mit dem Arbeitgeber zu bemerken. Reifere Abwehrmechanismen: K Verdrängung: Unbewusstes Zurückschieben unangenehmer Vorstellungen in das Unbe− wusste, häufigster Abwehrmechanismus; Bei− spiel: Ein Patient hat als Kind seine Mutter se− xuell begehrt, kann sich als Erwachsener da− ran nicht erinnern, wählt aber als Partnerin− nen wie zufällig immer ältere Frauen aus. K Regression: Zurückgehen auf frühere Verhal− tensweisen als Wiederaufnahme von bereits überwundenen Organisationsformen aus der Kindheit; Beispiel: Depressive Patienten um− gehen ihre aggressiven Tendenzen mit Versor− gungstendenzen (Bemuttern). K Reaktionsbildung: Wendung ins Gegenteil, z. B. Verkehrung sozial nicht akzeptierten Ver− haltens in sozial anerkanntes Verhalten; Bei− spiel: überfürsorgliche Pflege eines nahen An− gehörigen anstelle dessen Ablehnung. K Rationalisierung: Vermeiden innerseelischer Konflikte mit logisch erscheinenden Argumen− ten; Beispiel: Ein Bewerber, der die Stelle nicht bekam, vermeidet aufkeimende Minder− wertigkeitsgefühle mit der Erklärung, dem Chef habe seine Nase nicht gepasst. K Vermeidung: Konfliktbesetzte Bereiche und Situationen werden gemieden; Beispiel: Pati− ent mit Angststörung vermeidet Situationen (z. B. Plätze, Brücken), bei denen Angst auftre− ten könnte. K Identifizierung mit dem Angreifer: Das Sub− jekt, das sich einer äußeren Gefahr gegenüber sieht, identifiziert sich mit dem Angreifer, in− dem es sich entweder für die Aggression als solche verantwortlich macht oder die Proble− me des Angreifers imitiert; Beispiel: Aneig− nung bestimmter Machtsymbole des Angrei− fers. Der Angegriffene macht sich zum Aggres− sor.

Fall 13 Seite 14 Aus J. Becker-Pfaff, St. Engel: Fallbuch Psychiatrie (ISBN 3-13-140181-8) © Georg Thieme Verlag Stuttgart 2006 Dieses Dokument ist nur für den persönlichen Gebrauch bestimmt und darf in keiner Form an Dritte weitergegeben werden!

K Intellektualisierung: abstrakte Beschreibung von konflikthaften Gefühlen, Theoretisierung und damit Distanzierung vom praktischen Er− leben; Beispiel: Beschreibung und Erleben ei− nes begehrten Liebespartners anhand von Ei− genschaften und Aussehen, um eigenes Begeh− ren und abhängige Gefühle nicht wahrzuneh− men. K Verschiebung: Konzentration auf ein anderes, ähnliches, leichter zu lösendes Problem an− stelle des primären Konfliktes; Beispiel: Ar− beitsstörung in der Prüfungsvorbereitung wird durch Ordnen der Bücher und Aufräumen ge− löst. K Sublimierung: höherwertige (ethische, ästhe− tische, geistige, politische) Ziele anstelle des Triebzieles; Beispiel: Pädophil veranlagter Mann wählt als Beruf Kinderbuchautor.

In der psychoanalytischen Therapie wird der Ab− wehrvorgang nicht nur als ein unbewusster Me− chanismus angesehen, sondern als ein dynami− scher Vorgang, der u. a. die Grundlage des Widerstandes in der Therapie bildet. Dabei wird das Leid, das durch die Abwehrmechanismen hervorgerufen wird, geringer empfunden als die Auseinandersetzung mit dem abgewehrten Im− puls oder den abgewehrten Affekten. Therapeu− tisch versucht man bei neurotisch abgewehrtem Konflikterleben, den konflikthaften Charakter der Situation wahrnehmbarer (bewusster) zu ma− chen. Dadurch sollen nach wiederholter Durchar− beitung dieser Konflikte, diese allmählich aufge− geben werden können und die damit verbundenen bis dahin unerträglichen Affekte und Impulse erträglicher erlebt werden.

ZUSATZTHEMEN FÜR LERNGRUPPEN

93

Fall

Projektive Testverfahren  ber−Ich Ich, Es und U Entwicklungspsychologie und Triebabwehr Bedeutung von Objektbeziehungen fur die Entwicklung

14 Notfalltherapie bei akutem psychotischem Zustand

14.1 Welche Sofortmaßnahmen ergreifen Sie? Begründen Sie Ihre Vorgehensweise! K Fixierung des Patienten; Begründung: – Akuter psychotischer Ausnahmezustand mit krankheitsbedingter Uneinsichtigkeit des Patienten – Dringender Verdacht auf imperative Stim− men, die Suizidhandlungen befehlen, da− raus resultierende massive Suizidgefähr− dung durch Fenstersprung wegen nicht be− herrschbarer Suizidimpulse – Medikamentöse Behandlung in diesem Fall nur in Fixierung möglich und nötig we− gen Gefahr der Entwicklung einer lebens− bedrohlichen Katatonie (s. Fall 63) bei Be− lassen in psychotischem Erregungszustand – Keine andere Möglichkeit zur Schaffung ei− nes Reizschutzes aufgrund der Agitation des Patienten – Fixierung als äußere Struktur, nachdem der Patient die innere Struktur verloren hat K Durchsuchung des Patienten zur Entfernung gefährdender Gegenstände, z. B. Feuerzeug K Anordnung einer Sitzwache zur Beruhigung und Beobachtung des Patienten K Erste Differenzialdiagnostik zum Ausschluss einer akuten Intoxikation (akute entzündliche, neoplastische oder unfallbedingte Ursache

aufgrund der Vorgeschichte eher unwahr− scheinlich): – Körperliche Untersuchung: Vitalparame− ter, Foetor ex ore, Pupillomotorik, Abdo− men, Hinweise auf Verletzungen – Drogenscreening im Urin – Blutentnahme: BSG, CRP, Blutbild, Leber− werte, Elektrolyte, Serumglukose, TSH, Ge− rinnungsparameter K Sofortige Medikation (noch vor Fertigstellung aller Untersuchungsergebnisse) zur Beendi− gung des qualvollen Zustandes des Patienten: Anbieten einer oralen Medikation, bei Ableh− nung auch gegen den Willen des Patienten i.m.− oder i. v.−Gabe, bei i. v.−Gabe schnellerer Wirkungseintritt und bessere Titrierbarkeit: – Neurolepsie: Haloperidol (initial 10 mg p.o., i.m. oder i. v.; danach bis zu 4 3 10 mg/d; neuroleptische Wirkung bei allen Darrei− chungsformen ähnlich, bei i. v.−Gabe ausge− prägterer sedierender Effekt günstig); alter− nativ atypische Neuroleptika p.o. wie Olan− zapin (initial 10–20 mg, danach bis zu 30 mg/d) oder Risperidon (initial 3–6 mg, danach bis zu 6 mg/d); alternativ Ziprasi− don (p.o.: initial bis 80 mg, danach 120– 160 mg/d; i.m.: 10 mg alle 2 h bis max. 40 mg)

Antworten und Kommentar

Fall 14

Fall 14 Seite 15 Aus J. Becker-Pfaff, St. Engel: Fallbuch Psychiatrie (ISBN 3-13-140181-8) © Georg Thieme Verlag Stuttgart 2006 Dieses Dokument ist nur für den persönlichen Gebrauch bestimmt und darf in keiner Form an Dritte weitergegeben werden!

– Sedierung mit Benzodiazepinen: Loraze− pam (sehr wirksam, gut angstlösend; initial 1–2,5 mg p.o. oder 1–2 mg i.m oder i. v., da− nach 2–10 mg/d) oder Diazepam (stärker sedierend, weniger angstlösend; initial 5 mg i. v. oder i.m. oder 5–10 mg oral, da− nach bis zu 4 3 5 mg/d). Cave: Atemdepres− sion und Abhängigkeit! – Sedierung mit niederpotenten Neurolep− tika: alternativ zu Benzodiazepinen bei Kontraindikationen oder bei Erreichen der Maximaldosierungen der Benzodiazepine ohne ausreichende Wirkung: Chlorprothi− xen (initial 50–100 mg langsam i. v., i.m. oder p.o., danach bis zu 150 mg/d p.o.) oder Levomepromazin (nicht i. v., da sehr kreis− laufdepressiv; initial 25–50 mg i.m. oder 50–100 mg p.o., danach 40–200 mg/d)

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Fall

14 Antworten und Kommentar

14.2 Erstellen Sie einen psychopathologischen Befund und erschließen Sie daraus eine Ver− dachtsdiagnose! K Psychopathologischer Befund: – Äußere Erscheinung: ungepflegtes, ver− drecktes Äußeres – Kontaktaufnahme: instabil, angstvoll, miss− trauisch, mit Kontaktabbrüchen, nicht schwingungsfähig – Bewusstseinszustand: wach – Orientierung: nicht beurteilbar – Aufmerksamkeit, Konzentration und Auffas− sung: massiv beeinträchtigt – Gedächtnis: nicht beurteilbar – Formales Denken: beschleunigtes Denktem− po, deutliches Gedankendrängen, Ideen−

flucht, Gedankenabreißen, Zerfahrenheit, Inkohärenz – Inhaltliches Denken: religiös gefärbter pa− ranoider (Verfolgungs−)Wahn – Sinnestäuschungen: dringender Verdacht auf optische Halluzinationen sowie auf akustische Halluzinationen in Form impera− tiver Stimmen – Ich−Störungen: Gedankenentzug sowie Ver− dacht auf Fremdbeeinflussungserleben – Affektivität: erregt, angstvoll gereizt, dabei nicht affizierbar und misstrauisch – Psychomotorik: unruhig, angespannt – Antrieb: deutliche Agitation – Suizidalität: deutliche Suizidimpulse bei imperativen Stimmen, schwere Selbstge− fährdung – Intelligenz: nicht beurteilbar – Sonstiges: keine Krankheits− oder Behand− lungseinsicht K Verdachtsdiagnose: Akut exazerbierte para− noid−halluzinatorische Schizophrenie mit schweren formalen und inhaltlichen Denkstö− rungen, Sinnestäuschungen und Ich−Störungen

14.3 Was tun Sie jetzt? K Sobald wie möglich Defixierung K Sobald möglich ausführlichere Eigen− und Fremdanamnese, weitere körperliche und technische Untersuchungen (z. B. EKG, EEG, Schädel−CT) K Juristische Schritte nach dem Unterbrin− gungsgesetz des jeweiligen Bundeslandes (s. Kommentar)

KOMMENTAR Epidemiologie, Ätiologie, Klinik und Diagnos− tik: s. Fälle 18 und 32. Differenzialdiagnosen: Es kommen psychotische Entgleisungen bei Persönlichkeitsstörungen, In− toxikationen mit psychotropen Substanzen, orga− nisch bedingten psychotischen Störungen oder schizoaffektiven Störungen in Frage. Therapie: Im Fallbeispiel wurde eine typische Notfallsituation im psychiatrischen Krankenhaus geschildert, die alle Beteiligten maximalem Stress aussetzt. Um eine solche Situation möglichst er− träglich zu gestalten, sollte das Risiko einer Eskala− tion frühzeitig eingeschätzt, die Ängste und Be− fürchtungen des Patienten ernst genommen, eine reizarme Umgebung geschaffen (z. B. durch Isola− tion in einem ruhigen Zimmer, Beschränkung des Kontaktes zu Mitpatienten und Angehörigen, kein Fernsehen, im drastischen Fall durch die Fixierung, die allerdings ihren eigenen heftigen Reiz“ bietet) und schnell und entschieden gehandelt werden. Den Handelnden sollte dabei bewusst sein, dass sie mit einem gewaltvollen Prozedere dem noch gewaltvolleren Prozess der akuten schizophrenen

Erkrankung begegnen. Die juristische Legitimation dieses massiven Eingriffs in die Grundrechte des Patienten ist auf Landesebene geregelt. Grundsätz− lich gilt jedoch, dass binnen einer gesetzlich defi− nierten, kurzen Zeit (unterschiedlich je nach Bun− desland: 12 Stunden bis 3 Tage) ein Richter die Zwangsmaßnahmen bewilligen muss. Die Anre− gung dazu ist Sache des behandelnden Arztes. Der Richter hat zu untersuchen, ob erstens eine akute Gefährdung des Patienten oder seiner Um− welt vorliegt und ob diese zweitens durch eine Krankheit bedingt ist. Nur in dieser Kombination darf ein Unterbringungsbeschluss gefällt werden. In verschiedenen Staaten gibt es für diesen speziel− len Fall unterschiedliche Vorgehensweisen. So sind in einigen Staaten Fixierungen verboten. Dort gibt es als Alternative abschließbare Zimmer, die voll− ständig mit weichem Material ausgekleidet sind, so dass man sich nicht verletzen kann (sog. weiche Zimmer). In den meisten deutschen psychiatri− schen Krankenhäusern wird jedoch die Fixierung eingesetzt. Die oben angegebenen Dosierungen der Medika− tion (s. Antwort zur Frage 14.1) gelten nur für den

Fall 14 Seite 15 Aus J. Becker-Pfaff, St. Engel: Fallbuch Psychiatrie (ISBN 3-13-140181-8) © Georg Thieme Verlag Stuttgart 2006 Dieses Dokument ist nur für den persönlichen Gebrauch bestimmt und darf in keiner Form an Dritte weitergegeben werden!

Notfalleinsatz. Nur der kleinere Teil der Ersterkran− kungen geht mit einem solchen Erscheinungsbild einher. Häufiger kommen die Patienten in einem weniger schlimmen Zustand in die Praxis, wo man mit ihnen ausführlich über die Medikation disku− tieren und sie adäquat darüber aufklären kann. Unter Psychiatern gibt es sehr kontroverse Ansich− ten über den Einsatz klassischer und moderner (atypischer) Neuroleptika in der Akuttherapie. Die Einen sehen einen entscheidenden Vorteil in den sedierenden und schnellen neuroleptischen Wirkungen der klassischen Neuroleptika. Die An−

deren weisen auf die erheblichen Nebenwirkungen der klassischen Neuroleptika hin und bevorzugen moderne Neuroleptika mit weniger Nebenwirkun− gen. Dies fördere die Compliance im Langzeitver− lauf. Sie empfehlen daher auch in einer Situation wie der hier wiedergegebenen sofort die Gabe mo− derner Neuroleptika, da diese die Weichen für die zukünftige Compliance des Patienten stellen kön− nen. Prognose: s. Fall 41.

ZUSATZTHEMEN FÜR LERNGRUPPEN Unterbringungsgesetz in den einzelnen Bundeslandern Atypische Neuroleptika in der Akuttherapie der Schizophrenie

Fall 15

Ätiologie und Diagnostik des depressiven Syndroms

Fall

15 Antworten und Kommentar

15.1 Erstellen Sie einen ausführlichen psycho− 15.2 Welche Verdachtsdiagnose stellen Sie? pathologischen Befund! Was tun Sie, um diese zu erhärten? K Äußere Erscheinung: unauffällig, leicht unge− K Verdachtsdiagnose: Mittelschwere bis schwere pflegt depressive Episode mit fraglich psychotischen Symptomen K Kontaktaufnahme: Hilfe suchend, zugewandt, K Maßnahmen: leicht entwertend gegenüber dem Untersu− – Weitere Anamnese: Realitätsbezug, Bewäl− cher, wenig schwingungsfähig K Bewusstseinszustand: wach tigung der täglichen Aufgaben, Beziehungs− gestaltung, Ausmaß des fraglichen Schuld− K Orientierung: geht aus dem Text nicht sicher und Verarmungswahns hervor; wahrscheinlich zeitlich, örtlich, zur Si− – Fremdanamnese wenn möglich tuation und zur Person orientiert K Aufmerksamkeit, Konzentration: leicht einge− !!! 15.3 Beschreiben Sie das triadische System der schränkt Psychiatrie, und diskutieren Sie es anhand dieses K Auffassung: nach dem Text nicht sicher beur− Fallbeispiels! teilbar; wahrscheinlich ungestört K Gedächtnis: subjektives Empfinden von Ge− K Triadisches System: Modell zur ätiologischen Einteilung psychopathologischer Zustandsbil− dächtnisstörungen K Formales Denken: leicht gedankenflüchtig, der; historisch gewachsen und mehrfach mo− deutlicher Grübelzwang, leichte Denkver− difiziert; durch neuere Forschungsansätze ver− langsamung wischt, die bei vielen psychiatrischen Erkran− kungen von einer multifaktoriellen Genese K Inhaltliches Denken: Hinweise auf Verar− ausgehen; bestehend aus den Gruppen: mungs− und Schuldwahn K Sinnestäuschungen: werden nicht angegeben – Exogene Erkrankungen: körperliche Erkran− kung als Ursache K Ich−Störungen: werden nicht beschrieben – Endogene Erkrankungen: ohne körperli− K Affektivität: deutlich niedergestimmt, affekt− ches Korrelat; veränderte Stoffwechsel− und starr, Gefühl der Leere und Beschreibung des Gefühls der Gefühllosigkeit, ängstliches Rück− Transmittervorgänge ohne ausreichend er− zugsverhalten klärenden äußeren Auslöser K Psychomotorik: äußerlich starr bei subjekti− – Psychogene Erkrankungen: abnorme Varia− vem Empfinden schwerer innerer Unruhe tionen seelischen Wesens als Reaktion auf K Antrieb: reduziert Lebensereignisse K Suizidalität: Todeswünsche, indirekter Hinweis K Diskussion anhand des Fallbeispiels: Deutung auf Suizidgedanken, keine Suizidimpulse (s. der Depression als Fall 31) – exogene Störung: als Ursache z. B. Hypo− K Intelligenz: keine Hinweise auf Intelligenzmin− thyreose oder maligne Erkrankung derung

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Fall 15 Seite 16 Aus J. Becker-Pfaff, St. Engel: Fallbuch Psychiatrie (ISBN 3-13-140181-8) © Georg Thieme Verlag Stuttgart 2006 Dieses Dokument ist nur für den persönlichen Gebrauch bestimmt und darf in keiner Form an Dritte weitergegeben werden!

– endogene Störung: Entstehung der Depres− sion ohne hinreichend erklärendes Lebens− ereignis. Im Fall ist der Verlust der Geldan− lage bei weiterhin vorhandenem Vermögen nicht ausreichend schwer, um Diagnose psychogene Depression zu stellen – psychogene Störung: Verlust der Geldanla− ge, drohender Verkauf der Wohnung sowie evtl. Kränkungen im Verlauf eines Kommu−

genetische Prädisposition (vor allem bei bipolaren Erkrankungen)

nikationstrainings als Ursachen der Depres− sion K Diskussion verdeutlicht die gesunkene Rele− vanz dieses Schemas in Zeiten der Theorien multifaktorieller Ätiopathogenesemodelle.

15.4 Welche Ursachen für die Erkrankung der Patientin fallen Ihnen ein?

endogener Faktor konstitutionelle Prädispostion Dsybalance der Neurotransmittersysteme neuroendokrinologische/chronobiologische Dysregulation

Persönlichkeitsfaktoren (Typus melancholicus)

Depression

96 somatischer Faktor

Fall

15 Antworten und Kommentar

• aktuelle oder chronische körperliche Erkrankungen • depressionsauslösende Medikamente • physikalische Einwirkungen (z. B. Lichtentzug)

relativer Faktor Entwicklungsfaktor • ängstlich-fürsorglicher Erziehungsstil • unzureichend verarbeitete Verlusterlebnisse/Traumata • gelernte Hilflosigkeit

• akute Verluste • lebenszyklische Krisen • chronische Konflikte

Modellvorstellungen zur Ätiopathogenese von Depressionen

KOMMENTAR Ätiologie: Man geht heute von einer multifakto− riellen Genese der depressiven Erkrankung aus. Es gibt mehrere Hinweise aus Zwillings− und Adop− tionsstudien, dass genetische Faktoren eine Rolle spielen. Diese sind jedoch höchstwahrscheinlich nicht auf ein Depressionsgen“ zurückzuführen, sondern wiederum multifaktoriell bedingt. Nach der Hypothese der Neurotransmitterdysbalance sind sowohl die Konzentrationen der Neurotrans− mitter Serotonin, Noradrenalin u. a. als auch die Zahl der entsprechenden Rezeptoren pathologisch verändert. Als wichtiger ätiologischer Faktor der Depression wird eine Störung der Hypothala− mus−Hypophysen−Nebennierenrinden/Schild− drüsen−Achse angenommen. Bei bis zu 50 % der Depressiven ist ein Hyperkortisolismus festzu− stellen. Andere neurobiologische Auffälligkeiten lassen sich mit bildgebenden Verfahren (Hirnstoff− wechselasymmetrie), der Beobachtung der chro− nobiologischen Rhythmen (Verschiebung von Schlafphasen) und psychophysiologischen Unter− suchungen (Verlauf von Blutdruck und anderen somatischen Parametern) beschreiben. Die Befun−

de waren bisher jedoch nicht richtungsweisend und schwer miteinander in Verbindung zu setzen. Zu psychologischen Ursachen s. Fall 36. Klinik und Diagnostik: Der psychopathologi− sche Befund stellt die Grundlage der Diagnostik der depressiven Erkrankung dar. Besonders folgen− de Symptome müssen aktiv erfragt werden: im Affekt Niedergeschlagenheit, Traurigkeit, Leerege− fühl, Gefühl der Gefühllosigkeit“, Hoffnungslosig− keit, Freudlosigkeit, Angst und Verzweiflung. Der Antrieb ist bis zum Stupor gemindert. Bei den for− malen Denkstörungen dominieren Denkhemmung und Grübelzwang. In schweren Fällen lassen sich auch inhaltliche Denkstörungen mit Verarmungs− oder Schuldwahn oder ein hypochondrischer Wahn finden. Vitalstörungen wie körperliche Missempfindungen, Schmerzen, Erschöpfung und Müdigkeit führen häufig als erstes in hausärztliche Behandlung. Ergänzend sind vegetative Symptome wie Schlafstörungen, Inappetenz, Gewichtsverlust möglich. Viele Patienten sind mit Todeswünschen und Suizidphantasien beschäftigt.

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Klinische Prägnanztypen der Depression

Manifestationsform

Vorherrschende klinische Symptomatik

agitierte Depression

Getriebenheit, ängstliche Unruhe

larvierte (maskierte) Depression (depressio sine depressione“)

vielfältige Körpermissempfindungen, Leibge− fühlsstörungen, Schmerzen

wahnhafte Depression

Wahngedanken, psychotische Symptome

anankastische Depression

Zwangsgedanken, −impulse

phobische Depression

phobische Ängste

hysteriforme Depression (Jammerdepression“)

demonstrativ anmutende, gebärdenreiche Klagsamkeit

zirkumskripte Hypochondrie

umschriebene Körpermissempfindungen und Schmerzen, oft als Glossodynie

Erschöpfungsdepression

Müdigkeit, Erschöpfungs− und Schwächegefühl (Merkmale des chronic fatigue syndrome“)

Therapie: s. Fall 21.

ZUSATZTHEMEN FÜR LERNGRUPPEN Rolle der Hypothalamus−Hypophysen−Nebennierenrinden/Schilddrusen−Achse bei depres− siven Erkrankungen Unterschiedliche Klassifikationssysteme in der Psychiatrie Depression in der ICD−10

Fall 16 16.1 Welche Verdachtsdiagnose stellen Sie der Patientin? Anpassungsstörung (s. Fall 61); Begründung: Symptome (Erschöpfung, Trauer), Symptombe− ginn innerhalb eines Monats nach belastendem Ereignis (Tod des Freundes), Symptomdauer meist nicht länger als 6 Monate

97

16 Antworten und Kommentar

Differenzialdiagnosen: In der ICD−10 werden De− pressionen einerseits mit unterschiedlichen Schweregraden im Kapitel der affektiven Störun− gen (F 3) und andererseits als reaktive Depressio− nen auch in Kombination mit Angst und anderen Gefühlen bei den neurotischen Störungen (F 4) klassifiziert.

Die depressive Erkrankung muss in einen überge− ordneten Kontext gebracht werden. Geht sie mit manischen Episoden einher, dann liegt eine bipo− lare affektive Störung vor, kommt sie im Anschluss an ein schwerwiegendes Lebensereignis vor, so ist sie reaktiv. In Verbindung mit einem erhöhten TSH basal liegt eine Hypothyreose vor, je nach Gewich− tung eines evtl. Angstaffektes muss auch an eine Angststörung gedacht werden. Abzugrenzen sind weiterhin Residualsyndrome schizophrener Er− krankungen, eine Schwangerschafts− oder Wo− chenbettdepression und Persönlichkeitsstörun− gen.

Fall

Die depressiven Erkrankungen weisen verschiede− nen Prägnanztypen auf (s. Tab.). Ergänzend können psychologische Testverfahren, z. B. Becksches Depressions−Inventar, angewandt werden. Die körperliche Diagnostik ist wie im− mer zum Ausschluss organischer Ursachen unab− dingbar.

Tic−Störung 16.2 Wie werden solche Störungen genannt? Wie sind sie definiert? Tics: sich unregelmäßig wiederholende, unwil− lentliche Bewegungsfolgen einzelner Muskeln oder Muskelgruppen oder vokale Äußerungen, die unterdrückt und provoziert werden können und während des Schlafs verschwinden

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16.3 Wie kann man diese Storungen einteilen? K Motorische Tics – Einfache, z. B. blinzeln – Komplexe, z. B. Berühren von Gegenständen K Vokale Tics – Einfache, z. B. Räuspern – Komplexe, z. B. Wörter oder Sätze K Vorübergehende Tics: Dauer ,12 Monate K Chronische Tics: Dauer .12 Monate 16.4 Wie kann diese Störung mit der Ver− dachtsdiagnose der Patientin in Verbindung gebracht werden? Tic−Störungen sind häufig mit anderen Störungen (z. B. Depressivität) assoziiert, in diesem Fall mit einer abnormen Trauerreaktion

16.5 Kennen Sie eine solche Storung, bei der multiple motorische und mindestens ein vokaler Tic auftreten? Gille−de−la−Tourette−Syndrom: multiple motori− sche Automatismen (Gesichts− und/oder Extre− mitätenbewegungen, plötzliches Lachen, Schla− gen, z. B. mit der Faust auf den Kopf) und unwill− kürliches Ausstoßen obszöner oder fäkaler Worte (Koprolalie); Unterdrückung der Bewegungen durch Willensanstrengung höchstens für Minu− ten bis Stunden, jedoch nicht dauernd möglich; meist chronischer Verlauf 16.6 Welche psychiatrischen Erkrankungen sind mit diesen Störungen assoziiert? K Zwangsstörungen (s. Fall 40) K Hyperkinetisches Syndrom (s. Fall 57)

KOMMENTAR Definition: s. Antwort zur Frage 16.2.

98

Fall

16

Epidemiologie: Bei 5–15 % aller Kinder findet man zu irgendeinem Zeitpunkt meist zwischen dem 5. und 18. Lebensjahr einen Tic. Jungen sind bis zu 4−mal häufiger und oft auch schwerer be− troffen als Mädchen. Kinder und Jugendliche er− kranken 10−mal häufiger als Erwachsene.

Antworten und Kommentar

Ätiopathogenese: Es gibt keine gesicherte Ursa− che für das Auftreten von Tic−Störungen. Einzig eine familiäre Häufung konnte beobachtet wer− den. Pathophysiologisch geht man von Störungen im Neurotransmittersystem (dopaminerges und se− rotonerges System) v. a. des Mittelhirns (Basal− ganglien, Thalamus) und des motorischen Kortex aus. Die klassische Hypothese besagt, dass übermäßi− ge Einschränkung und Hemmung von Kindern zu überschießenden Durchbruchshandlungen führe. Psychoanalytisch interpretiert ist ein Tic die kör− perliche Darstellung eines seelischen Konflikts und dient der Entladung von Affekt− und Triebspan− nung, aber auch der Selbstbestrafung. Einerseits ist der Tic also Abwehr eines überstarken Trieb− impulses, andererseits Versuch, einen inneren Konflikt nach außen zu projizieren. Im Erwachsenenalter findet man bei den unter− schiedlichsten Personengruppen unterschiedlich ausgeprägte Tic−Störungen. Diese sind weder si− chere Zeichen einer seelischen Störung noch einer geistigen Behinderung (z. B. Blinzeln, Gesichtszu− ckungen, Schulterzucken). Meist werden diese durch Belastungen oder Stress verstärkt. Klinik: s. Antworten zu den Fragen 16.3 und 16.5. Die Symptomatik wird nach dem betroffenen Kör−

perteil oder der Aktion beschrieben: Blinzeltic, Fazialistic, Schnüffeltic, Kratztic, Hustentic usw. Erscheinungsformen komplexer vokaler Tics sind Echolalie oder Palilalie (Nachsprechen von Wör− tern oder Sätzen) und Koprolalie (Ausstoßen obs− zöner, fäkaler Wörter oder Sätze). Diagnostik und Differenzialdiagnosen: Die Diagnose ist klinisch zu stellen. Abzugrenzen sind Tics von Epilepsien (EEG zum Ausschluss z. B. komplex−fokaler Anfälle), Zwangshandlungen, Dyskinesien (z. B. Athetose, Chorea) und anderen Stereotypien, z. B. motorische Stereotypien bei Au− tismus und Schizophrenien. Therapie: Bei psychogenen Tics kommen v. a. psy− chotherapeutische Verfahren zur Anwendung. Basis ist eine stützende Entlastung für den Patien− ten und die Familie. Meist ist eine Klärung aktu− eller Probleme hilfreich. Neben Strategien zur Be− wältigung von Belastungssituationen kommen verschiedene Entspannungsverfahren zur An− wendung (z. B. Autogenes Training, Progessive Muskelrelaxation nach Jacobson). Eine medika− mentöse Therapie richtet sich meist nach der – wenn vorhandenen – komorbiden Störung (z. B. Zwangserkrankung: Antidepressiva). Bei schweren Tic−Störungen ist das Mittel der Wahl Tiaprid (100–800 mg/d). Mittel der 2. Wahl sind vor allem die modernen Neuroleptika (z. B. Olanzapin 5– 15 mg/d, Risperidon 2–6 mg/d). Diese werden auch zur Augmentation von Tiaprid eingesetzt. Prognose: Die Spontanremission einfacher Tics liegt bei 50–70 %, die des Gille−de−la−Tourette−Syn− droms zwischen 3 und 40 %. Tics, die im Kindes− oder Jugendalter beginnen, nehmen meist im Er− wachsenenalter an Intensität ab.

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ZUSATZTHEMEN FÜR LERNGRUPPEN Tiaprid Katatone Hyperkinesen Flexibilitas cerea

Fall 17

Leichtes kognitives Defizit

17.1 Teilen Sie die Sorge der Patienten, dass sie an Alzheimer erkranken könnte? Begründen Sie Ihre Meinung! Nein. Die Diagnosekriterien für eine Demenz (ge− mäß ICD−10: jeweils objektiv verifiziert: Ge− dächtnisstörungen; andere kognitive Defizite, z. B. beim Planen, Organisieren, bei Informations− verarbeitung; Veränderung des Verhaltens, min− destens 6 Monate Dauer der Symptomatik) sind nicht erfüllt 17.2 Stellen Sie eine Verdachtsdiagnose! Wie

17.4 Was ist die wichtigste Differenzialdiag− nose zur Verdachtsdiagnose der Patientin? K Depressive Störung: Passende Symptome sind Antriebsschwäche, gedrückte Stimmung, Unsi− cherheit, Ängstlichkeit. Eine depressive Stö−

17.6 Wie beraten Sie die Patientin? K Acetylcholinesterasehemmer wie Rivastig− min, Donepezil, Galantamin (s. auch Fall 8): – Gut wirksam gegen Progredienz einer de− menziellen Entwicklung, v. a. bei Morbus Alzheimer – Medikamente sind nicht zur Behandlung der leichten kognitiven Störung zugelassen; Indikation ist erst bei Progression der kog− nitiven Störung zu einer leichten oder mit− telschweren demenziellen Erkrankung gegeben; zum Zeitpunkt des Gespräches mit der Patientin besteht also keine Indika− tion – Ohne gesicherte Diagnose Gabe wegen Ne− ben− und Wechselwirkungen sowie hoher Kosten nicht gerechtfertigt

99

17 Antworten und Kommentar

17.3 Was spricht für die Entwicklung einer Demenz bei Ihrer Patientin, was dagegen? K Pro: – Risiko für Demenzentwicklung höher, wenn Patienten beginnen, selbst leichte kognitive Störungen wahrzunehmen – Deutlichere Abnahme der Gedächtnislei− stungen bei Personen mit niedrigerem Bil− dungsstand und erhöhtes Risiko für mani− feste Demenz K Kontra: – Abnahme der kognitiven Fähigkeiten wäh− rend des Alterns normal – Korrelation zwischen subjektiv wahrge− nommenen und objektiv durch klinische Untersuchungen verifizierten Störungen kognitiver Fähigkeiten sehr niedrig

17.5 Welche Möglichkeiten haben Sie in Ihrer Praxis, sich und Ihrer Patientin mehr Klarheit zu verschaffen? K Basisdiagnostik (z. B. Labor, EKG): Ausschluss potenziell behandelbarer Ursachen (z. B. kar− diologische oder chronisch entzündliche Er− krankungen wie Enzephalitis, HIV, Multiple Sklerose; Schlafapnoe−Syndrom) K Mini−Mental−Test: einfaches und schnelles Aufdecken einer mittelschweren demenziellen Symptomatik und sinnvolle Methode zur Ver− laufsbeobachtung, Diagnostik einer leichten kognitiven Störung jedoch nicht möglich K Fremdanamnese (z. B. durch Familienangehö− rige): evtl. Erhalt von objektiven Angaben K Untersuchung auf depressives Syndrom: Ab− fragen von Stimmung, Antrieb, Vitalgefühlen, somatischen Beschwerden, Schlafstörungen, Konzentration, Interesse, Motivation, Gedan− keninhalten, Wahn, psychosozialer Situation K Überweisung an Psychiater oder psychiatri− sche Abteilung oder an sog. Memoryklinik, wenn schwierige Differenzialdiagnostik anzu− nehmen oder Eile geboten ist

Fall

steht Ihre Verdachtsdiagnose im Zusammen− hang mit einer Demenz? K Verdachtsdiagnose: leichtes kognitives Defi− zit; Begründung: die angegebenen Symptome (Vergesslichkeit, Verlangsamung, Antriebs− schwäche) sind nur leicht ausgeprägt und rei− chen nicht für die Diagnose Demenz aus (vgl. Antwort zur Frage 17.1); vaskuläre Risikofakto− ren in der Anamnese (Diabetes mellitus, arte− rielle Hypertonie) K Zusammenhang mit Demenz: Risiko für Ent− wicklung einer Demenz erhöht, Beobachtung des weiteren Verlaufs nötig

rung kann kognitive Defizite (sog. Pseudode− menz) hervorrufen, die unter antidepressiver Therapie remittieren. Häufig liegt aber Ko− morbidität von Demenz und Depression vor.

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– Zuerst Ausschluss oder Behandlung poten− ziell behebbarer Ursachen, z. B. depressive Störung K Empfehlung von Vitamin E, Vitamin C und Ginkgo biloba (empirisch abgesichert wirk− sam) K Motivation zu aktivem Gedächtnistraining und kognitiver Aktivierung: Prävention und

Verminderung der Progression einer demen− ziellen Entwicklung möglich K Motivation zu regelmäßiger sportlicher“ Betä− tigung, z. B. täglich eine Stunde Spazierenge− hen, was nachgewiesenen positiven Effekt auf kognitive Funktionen hat. K Behandlung der vaskulären Risikofaktoren (arterieller Hypertonus, Diabetes mellitus)

KOMMENTAR Definition: Das leichte kognitive Defizit befindet sich in der Grauzone zwischen normalem kogniti− ven Altern und demenziellen Entwicklungen.

normales Altern

Epidemiologie: Aufgrund der Beschreibung eines fließenden Übergangs zwischen normalem Al− tern“ und einer demenziellen Pathologie sind kei− ne epidemiologischen Aussagen möglich.

Demenz 2 Gruppen

altersassozierte Gedächtnisstörung

Klinik: s. Fallbeispiel und Antwort zur Frage 17.2.

3 Gruppen

Diagnostik: s. Antwort zur Frage 17.5.

100

Differenzialdiagnose: s. Antwort zur Frage 17.4.

diagnostische „Grauzone“ leichte Demenz

Therapie: s. Antwort zur Frage 17.6.

Fall

18 Antworten und Kommentar

Prognose: Sie hängt zum einen von der prämor− biden kognitiven Leistungsfähigkeit ab: Das kog− nitive Altern eines hochintelligenten Menschen führt diesen nicht unbedingt in eine Demenz, das eines weniger begabten Menschen kann ihn unter die Demenzschwelle führen. Zum anderen spielen die Schnelligkeit des Alterungsprozesses bzw. der Zunahme der kognitiven Defizite eine Rolle. Auch psychische und somatische Begleiterkrankung sind prognostisch zu berücksichtigen.

Kontinuum

kognitive Beeinträchtigung Drei Konzepte von normalem Altern“ und Demenz: Gemäß der ersten beiden gibt es eine Diskontinuität (in 2 oder 3 Gruppen), gemäß der untersten eine Grau− zone, die nicht weiter diagnostisch abklärbar ist.

ZUSATZTHEMEN FÜR LERNGRUPPEN Definition der sog. kognitiven Fahigkeiten Potenziell behandelbare Erkrankungen mit demenzieller Symptomatik oder leichten kognitiven Storungen

Fall 18

Prodromalsymptomatik der Schizophrenie

18.1 Welche Symptome erkennen Sie im Be− richt der Mutter? Welche Verdachtsdiagnose stellen Sie daher? K Symptome: Leistungsabfall, sozialer Rückzug, Konzentrationsstörungen, Reizbarkeit, Aggres− sivität, Misstrauen, Schlafstörungen K Verdachtsdiagnose: Prodromalsyndrom einer schizophrenen Erkrankung 18.2 Nach welchen weiteren Symptomen soll− ten Sie fragen, um Ihre Verdachtsdiagnose zu bestätigen? K Ungewöhnliche Überzeugungen oder Vorstel− lungen

K Verändertes Erleben (Derealisation) K Antriebs− und Motivationsverlust auch für al− terstypische Interessen K Verändertes Denken K Depressive Symptomatik (z. B. Weinen, Nieder− geschlagenheit) K Stimmungsschwankungen K Unruhe K Angstgefühle K Appetitveränderungen K Delinquentes Verhalten K Gedächtnisstörungen K Licht− und Geräuschempfindlichkeit K Belastende Lebensereignisse

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K K K K K

Psychosozialer Stress Drogenmissbrauch Kopfverletzungen Geburtstraumata Psychische Erkrankungen in der Familien− anamnese

18.3 Wieso ist es wichtig, in diesem Zusam− menhang auch die Familienanamnese zu erhe− ben? K Genetische Belastung wird als wichtiger Risi− kofaktor für die Entwicklung einer Schizo− phrenie beschrieben K Die Erkrankung eines Familienmitglieds kann ein wichtiger Stressfaktor“ sein

18.5 Nennen Sie die wichtigsten epidemiolo− gischen Zahlen Ihrer Verdachtsdiagnose! K Prävalenz schizophrener Psychosen: 0,5–1 % K Jährliche Inzidenz: 0,05 % K Wahrscheinlichkeit, im Laufe des Lebens an einer schizophrenen oder schizoaffektiven Psychose zu erkranken: 0,6–1 % K Männer und Frauen und unterschiedliche Be− völkerungen sind jeweils etwa gleich häufig betroffen K Ausbruch der Erkrankung bei Männern durch− schnittlich im 21. Lebensjahr, bei Frauen ca. im 26. Lebensjahr. K 90 % aller an einer Schizophrenie erkrankten Männer und ca. 65 % der an einer Schizophre− nie erkrankten Frauen: Erstmanifestation vor dem 30. Lebensjahr 18.6 Nennen Sie das Risiko der Entwicklung einer Schizophrenie für eineiige Zwillinge, Kin− der eines erkrankten Elternteils und Geschwister eines Patienten! K Eineiige Zwillinge: 44 % K Kinder eines erkrankten Elternteils: 9,5 % K Geschwister eines Erkrankten: 7,5 %

Bedeutung der Prodromalsymptomatik: Der Verlauf einer Schizophrenie hängt u. a. von der rechtzeitigen Diagnose und damit dem rechtzeiti− gen Therapiebeginn ab. Die o.g. Symptome (s. Ant− worten zu Fragen 18.1 und 18.2) ließen sich als Prodromi isolieren. Sie müssen nicht zur Schizo− phrenie führen, aber ihr Auftreten macht unabhän− gig von der späteren Diagnose eine therapeutische Begleitung (z. B. Familien−, Sozio−, Psychotherapie) sinnvoll. Die Frage nach dem Beginn einer neuro− leptischen Therapie ist schwieriger zu beantwor− ten und muss sorgfältig abgewogen werden. Uner− wünschte Nebenwirkungen einer neuroleptischen Therapie und Stigmatisierung durch die frühe Diagnosestellung können zu mangelnder Com− pliance führen, andererseits sind die Folgen einer nicht oder zu spät behandelten schizophrenen Psy− chose zu berücksichtigen: K Erschwerte Genesung K Schlechtere Prognose mit Beeinflussung der gesamten Persönlichkeitsentwicklung K Mehr und heftigere Rückfälle K Erhöhung des Depressions− und Suizidrisikos K Belastung zwischenmenschlicher Kontakte mit Verlust der wichtigen Unterstützung durch Angehörige und Freunde K Risiko des Substanzmissbrauchs mit Ausbil− dung einer Sucht K Gefahr der Entwicklung einer Delinquenz

K Höheres Risiko einer längeren Hospitalisie− rung K Höherer Medikamentenverbrauch, damit er− höhte Behandlungskosten. Eine Behandlungsverzögerung kann durch die ca. 2−jährige Prodromalphase ohne produktive psy− chotische Symptomatik zustande kommen, da in dieser Zeit eine sichere Diagnosestellung nicht möglich ist. Treten produktiv psychotische Symp− tome auf, vergeht häufig ein weiteres Jahr, in dem viele Patienten bereits Arztkontakte haben, ohne dass die entsprechende Verdachtsdiagnose gestellt und eine fachärztliche Untersuchung ver− anlasst wird. Durch frühzeitige Diagnostik und Intervention soll die Prognose schizophrener Erkrankungen verbessert werden: Reduktion der Rückfallraten oder zumindest der Heftigkeit der Rückfälle, Ver− ringerung der Suizidgefahr, seltenere und weni− ger heftige biographische Einbrüche, Verringe− rung der psychologischen, familiären und finanziellen Belastungen, Reduktion der notwen− digen Medikamentendosen, Verringerung der Be− handlungsresistenz.

18 Antworten und Kommentar

KOMMENTAR

101

Fall

18.4 Was antworten Sie ihr? K Zuordnung der geschilderten Symptome und Beurteilung der weiteren Entwicklung ist im Alter der Pubertät schwierig K Die geschilderten Symptome, v. a. sozialer Rückzug und Leistungsabfall, sind aber für das Prodromalsyndrom einer schizophrenen Er− krankung typisch, daher sollte der Patient von einem Kinder− und Jugendpsychiater unter− sucht und weiter beobachtet werden K Liegt das Prodromalstadium einer schizophre− nen Erkrankung vor, kann durch frühe Inter− ventionen der Verlauf dieser Erkrankung posi− tiv beeinflusst werden, eine Behandlungsver−

zögerung kann sich ungünstig auf die mittel− und langfristige Prognose auswirken (s. Kom− mentar)

Epidemiologie: s. Antwort zur Frage 18.5 und 18.6. Die o.g. Wahrscheinlichkeiten sind in allen Kulturen vergleichbar. Männer und Frauen erkran− ken etwa gleich häufig. Es gibt keine Unterschiede

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in den sozialen Schichten; es scheint nur so, dass in unteren sozialen Schichten mehr Erkrankungen vorliegen, da Erkrankte häufig in untere soziale Schichten abrutschen. Die Schizophrenie gehört zu den 10 häufigsten zur Behinderung führenden Erkrankungen. Ätiopathogenese: Die Ursache der Schizophrenie ist letztlich nicht bekannt. Man muss von einer multifaktoriellen Genese ausgehen. Die Befunde der angegebenen Tabelle (Tab.1) sprechen für eine genetische Disposition. Tab.1 Erkrankungswahrscheinlichkeit für Schi− zophrenie in Abhängigkeit vom Verwandt− schaftsgrad zum Erkrankten

Verwandtschaftsgrad zu einem an Schizophrenie erkrankten Familienmit− glied

102

Fall

18

Erkrankungs− wahrschein− lichkeit

Ehepartner

1%

Enkelkinder

3%

Nichten und Neffen

2,5 %

Kind eines erkrankten Elternteils

9,5 %

Geschwister

7,5 %

Antworten und Kommentar

Zweieiige Zwillinge

12 %

Eineiige Zwillinge

44 %

Kinder zweier erkrankter Eltern

37 %

Aus der Psychopharmakaforschung ergab sich die Dopaminhypothese (relatives Übergewicht bzw. Überaktivität bzw. Überempfindlichkeit dopa− minerger Neurone). Ursprünglich wurde ein Do− paminüberschuss an D2−Rezeptoren des Gehirns angenommen, da Dopaminagonisten psychoti− sche Zustände hervorrufen können, Dopaminan− tagonisten dagegen antipsychotisch wirken. Spä− ter fand man eine frontale dopaminerge Hypoaktivität (Negativsymptomatik, s. Fall 41) und eine mesolimbische Hyperaktivität (Plus− symptomatik). Diese Theorien gehen des Weite− ren von einer Überregulation im serotonergen und einer Unterfunktion im glutamatergen Sys− tem aus. Östrogenen wird eine protektive Funkti− on zugeschrieben, da diese evtl. die Empfindlich− keit von D2−Rezeptoren absenken. Auch pränatale bzw. perinatale Komplikatio− nen kommen als Ursachen in Betracht. Morpho− logisch findet sich eine Erweiterung der Hirn− ventrikel mit Parenchymverlust in zentralen limbischen Strukturen des Temporallappens ver− mutlich infolge einer frühen Hirnentwicklungs− störung oder einer Geburtskomplikation. Daraus resultiert eine gestörte Informationsverarbeitung im limbischen System, die eine psychotische Symptomatik mitverursachen kann. Aufmerk− samkeits− und Informationsverarbeitungsdefizite sind im sog. P300−Potenzial (ereigniskorreliertes Hirnpotenzial) nachweisbar. Dies geht mit ent− sprechenden kognitiven Symptomen der Schizo− phrenie einher. In einem weiteren Modell wird der Thalamus als Reizfilter verstanden, der bei der Schizophrenie gestört sei. Psychische Faktoren spielen ebenfalls eine Rolle, z. B. ein ungünstiges Umfeld mit seelischen Be−

Tab. 2 Krankheits− und Therapiemodell (modifiziert nach Alanen)

Krankheitsmodell

Therapiemodell

Biomedizinisch (Die Krankheit beruht auf or− ganischen Prozessen)

Pharmakologische und andere somatische Be− handlungsformen

Individualpsychologisch (Die Krankheit beruht Einzelpsychotherapie Methoden, die sich aus der Einzelpsychothera− auf tief verwurzelten Störungen der Persön− pie herleiten (z. B. Gruppen−, Kunst−, Musik−, lichkeitsentwicklung) Familientherapie) Interaktionell (Krankheit ist Teil eines belaste− Systemische Therapie Therapeutische Gemeinschaften ten sozialen Netzwerks und/oder wirkt sich Rehabilitation mit umweltorientierten Aktivi− als interaktionelles Anpassungsproblem aus) täten Integriert (Alle Ansätze sind gerechtfertigt; ih− Die Behandlung ist umfassend nach fallspezi− re Bedeutung und ihre wechselseitigen Bezie− fischen Bedürfnissen durchzuführen hung sind in den unterschiedlichen Fällen jeweils anders gewichtet)

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lastungen während der kindlichen Entwicklung. Die erhöhte Rate schizophrener Patienten in un− teren sozialen Schichten wird dadurch erklärt, dass Schizophrene im Verlauf ihrer Erkrankung in untere Schichten abgleiten (Drift−Hypothese). Sowohl psychosoziale Überstimulation als auch Unterstimulation kann zur Entwicklung einer schizophrenen Psychose beitragen. Die Hypothe− sen zum Konzept der schizophrenogenen Mutter

sowie der Double−Bind−Theorie wurden verwor− fen. Verschiedene psychologische Zugangsweisen (z. B. psychoanalytische, kognitiv−behaviorale) ha− ben unterschiedliche Modelle zum Entstehen ei− ner schizophrenen Erkrankung entwickelt. Zusammen ergibt sich folgendes Krankheits− und damit auch Therapiemodell (leicht modifiziert nach Alanen) s. Tab. 2.

ZUSATZTHEMEN FÜR LERNGRUPPEN Verschiedene psychologische Entstehensmodelle gemaß psychodynamischer und behavioural−kognitiver Therapieschulen Verlaufsformen der Schizophrenie

Fall 19

Polytoxikomanie

19.1 Wie gehen Sie noch in dieser Nacht weiter

19 Antworten und Kommentar

19.2 Beschreiben Sie die medikamentösen Entgiftungstherapien für verschiedene hier in Frage kommende Substanzen! K Nur Benzodiazepine: ausschleichend Diaze− pam oder Oxazepam (Faustregel: zu Beginn die Hälfte der missbrauchten Tagesdosis, dann alle 3 Tage wiederum die letzte Dosis halbie− ren, ab ca. 4 mg Diazepam−Äquivalent in 0,5 mg−Schritten wochenweise reduzieren). Pa− tienten geben meist eher zu hohe als zu nied− rige Dosen an, bei mangelnder Auskunftsfä−

19.3 Wie behandeln Sie mögliche Begleit− symptome? K Schwere psychotische oder delirante Symp− tomatik: hochpotente Neuroleptika (Halope− ridol 5–20 mg/d) K Krampfanamnese: Carbamazepin (600– 1200 mg/d; cave: bei schweren Leberschädi− gungen wegen hepatischen Abbaus des Carba− mezepins und dessen eigener Hepatotoxizität) K Vegetative Begleitsymptomatik: b−Blocker (z. B. Propranolol 20–100 oder max. 150 mg/d) oder Clonidin (0,5–0,75 mg/d)

103

Fall

vor? K Sorgfältige Diagnostik bezüglich der Somno− lenz: – Körperliche Untersuchung: Verletzungen, Zungenbiss (epileptischer Anfall), kardio− pulmonaler Status bei Verdacht auf Schlag− anfall bei Endokarditis, neurologische Aus− fälle – Schädel−CT: Verletzung des Neurocraniums nach Sturz, Schlag o.ä. (Blut aus dem Ohr) – Notfall−Labor: Blutbild, Entzündungspara− meter (CRP, BSG), Leberwerte (GOT, GPT, g−GT), Kreatinin, Pankreasenzyme (Amyla− se, Lipase), Herzenzyme (CK, CK−MB, Tropo− nin T, LDH); später HIV−Status, Hepatitis− Serologie – Drogenscreening (meist Teststreifen mit Opioiden, Kokain, Amphetaminen, Antide− pressiva, Benzodiazepinen, Stimulanzien) K Intensivmedizinische Überwachung bis zur Herstellung eines stabilen Allgemeinzustandes K Entgiftung mit anfänglich mindestens stünd− licher Kontrolle der Vitalparameter und ggf. medikamentöser Unterstützung

higkeit Dosen bis zu Stabilisierung der Vital− parameter. K Nur Opioide: Antidepressivum Doxepin (50– 200 mg/d) oder niederpotentes Neuroleptikum Levomepromazin (50–300 mg/d) über 1–2 Wochen ausschleichend K Opioide und Benzodiazepine gemischt: Ben− zodiazepine allein oder mit Antidepressiva und niederpotenten Neuroleptika kombiniert in o.g. Dosierungen K Zusätzlich Alkohol: Benzodiazepine (s. o., An− fangsdosis bis zu 4 3 10 mg/d Diazepam, auch nach klinischer Entzugssymptomatik titrieren)

19.4 Schildern Sie den optimalen weiteren Behandlungsverlauf dieses Patienten mit dem Ziel einer dauerhaften Abstinenz! K Während der Entgiftung bereits Motivation zur langfristig angelegten Entwöhnungsthera− pie, meist im Rahmen von Kontakten zu Suchtberatungsstellen K Anschließende Entwöhnung (s. Kommentar) im voll− oder teilstationären Rahmen K Besuch von Selbsthilfegruppen

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K Betreuung des gesamten sozialen Umfeldes, v. a. der Familie durch Therapeuten, Sozialar− beiter und Selbsthilfegruppen K Psychiatrische Betreuung bei psychiatrischer Komorbidität K Fachärztliche Behandlung der somatischen Komorbidität

19.5 Welche Ziele der Suchttherapie kennen Sie, und wie werden sie erreicht? K Sicherung des Überlebens: akutmedizinische Betreuung

K Schadensminimierung (Harm−reduction“): Reduzierung von Begleit− und Folgeerkrankun− gen durch niederschwellige Zugänge zum Dro− genhilfesystem, z. B. Spritzentauschprogram− me, Drückerräume, Safer−Use−Beratung K Sicherung der Gesundheit und des sozialen Lebens: Reduktion des Konsums durch Dro− genberatung, Substitutionsprogramme und Entwöhnungstherapien K Verlängerung von Abstinenzzeiten und totale Abstinenz: ambulante und stationäre Betreu− ung, Selbsthilfegruppen K s. auch Kommentar

KOMMENTAR

104

Fall

19

Definition: In der ICD−10 werden unter dem Ka− pitel F 19 Störungen durch multiplen Substanzge− brauch und Konsum anderer psychotroper Sub− stanzen“ beschrieben. Der klinische Begriff der Po− lytoxikomanie wird jedoch enger gefasst: Es handelt sich meist um Patienten, die viele Drogen nebeneinander konsumieren. Alkohol− oder Ben− zodiazepinabhängigkeiten kommen noch relativ häufig als alleinige Abhängigkeiten vor. Opioide dagegen werden meist mit Nikotin, Cannabinoi− den, Alkohol, Hypnotika, Halluzinogenen oder Ko− kain konsumiert. Die Polytoxikomanie in diesem Sinne ist ein möglicher Verlauf einer Suchterkran− kung.

Antworten und Kommentar

Epidemiologie: Etwa 1 % der Bevölkerung miss− brauchen illegale Drogen oder sind von ihnen ab− hängig. Von diesen konsumieren ca. 0,2 % Heroin, Methadon, LSD und Kokain. Für die Prävalenz der Polytoxikomanie gibt es aufgrund der schwierigen Definition keine genauen Angaben. Pro Jahr ster− ben ca. 2000 Personen in Deutschland an den Fol− gen eines Betäubungsmittelkonsums. Die meisten von ihnen litten unter einer Polytoxikomanie. Ätiologie: Die Affinität des einzelnen Menschen zu psychotropen Substanzen wird durch biologi− sche, psychische und soziale Faktoren bestimmt. Das Zusammenwirken dieser vielen Faktoren er− scheint jedoch zu vielschichtig und kompliziert, um die Krankheitsverläufe in einer einheitlichen Ätiopathogenese jeweils schlüssig kausal erklären zu können. Klinik: Schädlicher Gebrauch, Abhängigkeit und Sucht s. Fall 9. Komplikationen: Eine Suchterkrankung steht in wechselseitig verstärkender Beziehung zu psychi− atrischen Erkrankungen. Die Suizidraten sind deutlich erhöht. Es besteht eine Komorbidität mit somatischen Erkrankungen, v. a. HIV, Hepatitis, Endokarditis nach Injektionen unter schlechten hygienischen Bedingungen, sexuell übertragbare Erkrankungen. Die sozialen Folgen sind sozialer Abstieg, soziale Entbindung, (Beschaffungs−)Kri− minalität, Arbeitslosigkeit.

Diagnostik: Neben Anamnese und Untersuchung kann man verschiedene Screening−Fragebögen (z. B. BDA [Basler Drogen− und Alkoholfragebogen] und andere speziell für die Alkoholsucht definier− ten Bögen [s. Fall 9]) einsetzen. Sollte ein Patient seine Suchtproblematik verbergen wollen, ist der mehrfache Nachweis von Substanzen im Urin mit dem Patienten zu thematisieren. In Anamnese und Untersuchung ist sorgfältig auf Komorbiditäten zu achten. Differenzialdiagnosen: Die Differenzialdiagnos− tik ist wegen der hohen Komorbidität mit psychi− schen Erkrankungen schwierig. Wichtig ist der Ausschluss evtl. primärer psychotischer oder affek− tiver Störungen, die zu einem sekundären Sucht− problem im Sinne einer Selbstmedikation geführt haben. Therapie: An die Entgiftung (s. Antwort zur Frage 19.2) sollte sich eine Entwöhnung anschließen. Diese soll durch multimodale Therapiekonzepte die Voraussetzungen zum Erhalt der Abstinenz schaffen. In den vergangenen Jahren wich man zu− nehmend davon ab, die dauerhafte Abstinenz als wichtigstes Ziel einer Suchtbehandlung anzuse− hen. Nun definiert man in einem hierarchischen Modell Therapieziele (s. Antwort zur Frage 19.5), von denen die Lebenserhaltung das wichtigste und die dauerhafte Abstinenz das letzte Ziel ist. Vor und während einer Behandlung werden die Ziele immer wieder neu gesetzt und mit dem Verlauf abgeglichen. So gewinnt man auch einen Zugang zu den Patienten, die keine dauerhafte Abstinenz erreichen wollen oder können. Prognose: Hinsichtlich der Lebenserhaltung von polytoxikomanen Patienten konnten prognostisch gute Fortschritte erzielt werden (die Zahl der Dro− gentoten in der BRD sinkt). Die Prognose bezüglich des Erreichens einer dauerhaften Abstinenz ist äußerst ungünstig zu bewerten. Dabei sind z. B. bei Substitutionsprogrammen gute Erfolge bezüg− lich der Wiedereingliederung und Entkriminalisie− rung der Patienten zu verzeichnen. Insgesamt je− doch ist jede Suchttherapie durch viele Rückfälle gekennzeichnet.

Fall 19 Seite 20 Aus J. Becker-Pfaff, St. Engel: Fallbuch Psychiatrie (ISBN 3-13-140181-8) © Georg Thieme Verlag Stuttgart 2006 Dieses Dokument ist nur für den persönlichen Gebrauch bestimmt und darf in keiner Form an Dritte weitergegeben werden!

ZUSATZTHEMEN FÜR LERNGRUPPEN Charakteristika der haufig missbrauchten Substanzen bei Polytoxikomanie Auseinandersetzung mit dem Begriff der Prognose Behandlung von Co−Abhangigkeit Konzepte der verschiedenen Selbsthilfegruppen

Fall 20

Schizoide Persönlichkeitsstörung

misches Erklärungsmodell für die Symptomatik! K Mutter depressiv und Vater beruflich zu stark absorbiert, beide emotional nicht genug für Patient da (unzureichende Primärobjekte) K Zu wenig Möglichkeit für das Kind, seine Emotionen, Bedürfnisse und destruktiven Re− gungen zu bewältigen K Zum Schutz vor schmerzlichen Gefühlen Ab− spaltung dieser Regungen sowie Rückzug in sein Inneres, omnipotente Vorstellung, alles alleine bewältigen zu können, und soziale Iso− lierung K In Schwellensituationen drohender Zusam− menbruch der psychischen Abwehr mit Wahrnehmung der eigentlich basalen Gefühle von Angst, Einsamkeit, Mutlosigkeit K Weiterwirken der abgespaltenen Wünsche nach befriedigenden Beziehungen, bei Ent− wicklung einer solchen jedoch erneuter Rück− zug aus Angst vor Enttäuschung (R paradoxes Bild: scheinbar selbst herbeigeführte Vereinsa− mung trotz intensiver Beziehungswünsche); Möglichkeit der Wiederholung dieses parado− xen Verhaltens auch dem Therapeuten gegen− über (Übertragung und Reinszenierung)

105

20 Antworten und Kommentar

20.2 Entwerfen Sie ein mögliches psychodyna−

20.3 Was empfehlen Sie dem Patienten, und was wollen Sie damit erreichen? K Psychotherapie: – Psychodynamisch: besseres Verständnis seiner inneren Vorgänge und differenzierte− re Wahrnehmung seiner Affekte; Kurzzeit− therapie zur Symptomreduktion und zur Annäherung an den Wunsch nach tiefer ge− hender Veränderung; Langzeittherapie zum weiteren Reifungsprozess mit Erfolgen über eine spontane Symptomreduktion hinaus und zur Verbesserung der langfristigen Prognose – Kognitiv−behavioral: Wahrnehmungsübun− gen zur Verbesserung der Selbsteinsicht und zur Stärkung sozialer Fähigkeiten – Gruppentherapie: psychodynamisch oder kognitiv−behavioral mit o.g. Zielsetzungen; soziale Problematik des Patienten ist in der Gruppe für ihn besser erfahrbar und be− sprechbar K Medikamentöse Therapie bei Ablehnung des psychotherapeutischen Vorgehens oder bei zu stark ausgeprägter depressiv−angstvoller Symptomatik (nur Symptomreduktion mög− lich): – Antidepressiva: 1. Wahl: Serotoninwieder− aufnahmehemmer, z. B. Citalopram (20– 40 mg/d) oder Sertralin (50 mg–150 mg/d); 2. Wahl: andere moderne Antidepressiva“, z. B. Mirtazapin (15–30 mg/d); 3. Wahl: klassische Antidepressiva, z. B. Doxepin (25–100 mg/d); cave: Suizidalität! – Anxiolytika: Lorazepam (1–4 mg/d in min. 2, besser 4 Einzeldosen), Cave: Abhängig− keit und Suizidalität!; alternativ: niederpo− tente Neuroleptika, z. B. Chlorprotixen (25– 100 mg/d)

Fall

20.1 Stellen Sie eine symptomorientierte und eine persönlichkeitsorientierte Verdachtsdiag− nose! K Symptomorientiert: Anpassungsstörung mit Angst und depressiver Reaktion. Deutung der Symptome Angst, Antriebslosigkeit und Niedergeschlagenheit (depressive Symptoma− tik) als Folgen der Veränderung der Lebens− umstände; s. Fall 61 K Persönlichkeitsorientiert: schizoide Persön− lichkeitsstörung. Deutung der extremen Zu− rückgezogenheit, der Abwesenheit warmer“ Gefühle und der flachen Affektivität sowie die Einordnung der rezidivierenden Symptomatik in den biographischen Kontext als Ausdruck einer Persönlichkeitsstörung

Fall 20 Seite 21 Aus J. Becker-Pfaff, St. Engel: Fallbuch Psychiatrie (ISBN 3-13-140181-8) © Georg Thieme Verlag Stuttgart 2006 Dieses Dokument ist nur für den persönlichen Gebrauch bestimmt und darf in keiner Form an Dritte weitergegeben werden!

20.4 Grenzen Sie die schizoide von der schizo− typen Persönlichkeitsstörung ab!

Schizoide Persönlichkeitsstörung

106

Fall

20

Schizotype Persönlichkeitsstörung

K ICD−10: Persönlichkeitsstörungen“ (F6) K ICD−10: Schizophrenie und wahnhafte Stö− K Klinik: rungen“ (F2) – Emotionale Kühle, flache Affektivität K Klinik: – Geringe Fähigkeit zur Äußerung von Ge− – Inadäquater oder eingeschränkter Affekt fühlswahrnehmungen – Ungewöhnliche Wahrnehmungserfahrun− – Scheinbare Gleichgültigkeit gegenüber Lob gen oder Kritik – Denk− und Sprechweise sowie Verhalten – Freude an wenigen Tätigkeiten und Aussehen seltsam – Mangel an vertrauensvollen Beziehungen – Überzeugungen, die nicht mit den Normen und dem Wunsch danach der kulturellen Gruppe übereinstimmen – Einzelgängertum – Gehäufte Beziehungsideen ohne Bezie− – Übermäßige Beschäftigung mit Phantasie hungswahn (Gedanken, dass besondere Be− und Introspektion ziehungen zu anderen Menschen bestehen K Häufige Komorbidität mit Angst und Depressi− oder diese solche anstreben) on, die zur Behandlung führen – Verstärkter Argwohn K Je schwerer die Störung, desto geringer die Be− – Ausgeprägte soziale Angst, die nicht mit reitschaft zur Behandlung zunehmender Vertrautheit abnimmt K Sorgfältige Diagnostik nötig, ob es sich um die Entwicklung einer schizophrenen Psychose handelt

KOMMENTAR

Antworten und Kommentar

Definition: Die schizoide Persönlichkeit zeichnet sich durch mangelnde Fähigkeit, Gefühle wahrzu− nehmen und auszudrücken, und durch distanziert kühles, schroffes und einzelgängerisches Verhalten und daraus resultierende soziale Isoliertheit aus (s. auch Antwort zur Frage 20.4). Epidemiologie: Die Prävalenz beträgt in der All− gemeinbevölkerung ca. 0,5–1,5 % , doch die epide− miologischen Daten sind nur schwierig beurteil− bar, da sich diese Patienten nur selten psychiatri− sche und psychotherapeutische Hilfe suchen. Ätiologie: s. Antwort zur Frage 20.2.

Komplikationen: Es können sich depressive Symptome, Suizidalität oder Suchterkrankungen entwickeln. Diagnostik: Zuerst muss eine sorgfältige Anam− nese erhoben und der Behandlungsverlauf sowie die entstehende Arzt−Patienten−Beziehung beur− teilt werden. Man muss z. B. eine depressive Symp− tomatik von Persönlichkeitszügen abgrenzen. Bei schwieriger Differenzialdiagnostik werden auch psychologische Tests zur Abgrenzung von begin− nenden schizophrenen Erkrankungen (z. B. Bonner Skala für die Beurteilung von Basissymptomen) eingesetzt.

Klinik: s. Antwort zur Frage 20.4.

Kontaktschwäche soziale Isoliertheit Einzelgängertum

schizotype PS

schizoide PS

selbstunsichere PS

Motivationshintergrund

soziale Ängstlichkeit bis hin zu paranoiden Befürchtungen

Desinteresse an zwischenmenschlichen Kontakten

Angst vor Kritik, Zurückweisung und Beschämung

begleitende Symptome

Verzerrung in Denken und Wahrnehmung skurrile, exzentrische Verhaltensweisen

mangelnde emotionale Erlebnisfähigkeit

Minderwertigkeitsgefühle, nagende Selbstzweifel Entscheidungsunfähigkeit

Differenzialtypologie in Verbindung mit dem Symptom soziale Isoliert− heit“ (PS = Persönlich− keitsstörung)

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Differenzialdiagnose: Begriffe mit dem Wortteil schizo−. . .“ werden vielfältig verwendet und ver− standen. Ursprünglich waren sie eng mit der Schi− zophrenie assoziiert. Man nahm an, dass Patienten mit einer schizoiden Persönlichkeit ein höheres Risiko hätten, eine manifeste Schizophrenie zu entwickeln. Diese Annahme konnte empirisch nicht bestätigt werden. Einen Zusammenhang mit schizophrenen Erkrankungen war nur für die schizotype Störung herzustellen. Beide Störungen sind jedoch durch einige Gemeinsamkeiten ver− bunden. Die wichtigste davon ist die soziale Isolie− rung, die auch bei selbstunsicheren Patienten vor− kommt. In der Abbildung sind die Unterschiede festgehalten. Eine weitere wichtige Differenzialdiagnose stellt die leichtere Form des Asperger−Autismus dar.

Therapie: s. auch Antwort zur Frage 20.3. Meist gelangen die Patienten mit schizoider Persönlich− keitsstörung aufgrund anderer Symptome in Be− handlung (z. B. Angst, Depression, psychosomati− sche Beschwerden). Diese muss man dann im Rah− men der Persönlichkeitsstörung verstehen und behandeln, um eine langfristig stabile Prognose zu erreichen. Leider bringt es die Symptomatik der Patienten mit sich, dass sich gerade die Schwerkranken nicht in Behandlung begeben, da sie zu sehr gehemmt und isoliert sind. Prognose: Die Prognose der strukturellen Verän− derung ist aufgrund der zugrunde liegenden Psy− chodynamik eher ungünstig. Die begleitenden Symptome können häufig zufrieden stellend (aber häufig nur kurzfristig) behandelt werden.

ZUSATZTHEMEN FÜR LERNGRUPPEN 107

Fall

Psychotherapeutische Strategien bei schizoider Personlichkeitsstorung Differenzialdiagnose zum Asperger−Syndrom Begriff der Personlichkeitsstorung und seine Abgrenzung zu den schizophrenen Erkran− kungen

21 Fall 21

Medikamentöse Therapie des depressiven Syndroms

21.1 Charakterisieren Sie die im Text vorkom− menden Medikamente mit Wirkstoffgruppe, Wirkungen, Dosierung und Nebenwirkungen!

Medika− ment

Wirkstoff− gruppe

Fluoxetin

Wirkungen

Dosierung

Nebenwirkung

selektiver Se− stimmungsaufhellend, rotoninwie− antriebssteigernd deraufnahme− hemmer (SSRI)

20 mg am− bulant, bis 60 mg sta− tionär

Übelkeit, Schlaflosigkeit, Kopfschmerzen, Angstzu− stände, innere Unruhe

Amitrypti− lin

trizyklisches Antidepressi− vum

stimmungsaufhellend, angstdämpfend, schlaf− anstoßend

50–150 mg ambulant, bis 225 mg stationär

anticholinerg: Mundtro− ckenheit, Miktionsstö− rungen, Müdigkeit, Hypotonie, kardiale Erre− gungsleitungsstörungen

Citalopram

SSRI

stimmungsaufhellend, antriebssteigernd

20–60 mg/d Übelkeit

Mirtazapin

selektiv nor− adrenerges und seroton− erges Antide− pressivum

leicht sedierend, stim− mungsaufhellend

30–45 mg/d Müdigkeit, Appetitsteige− rung, Blutbildverände− rungen

Antworten und Kommentar

!!!

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Medika− ment

Wirkstoff− gruppe

Wirkungen

Dosierung

Risperidon

atypisches Neurolepti− kum

neuroleptisch mit Wir− 2–6 mg/d kung auf formale und in− haltliche Denkstörungen, Sinnestäuschungen, bei Depression gegen psy− chotische Komponente (z. B. Nihilismus, Verar− mungswahn)

Nebenwirkung selten extrapyramidal− motorische Symptoma− tik, Schlaflosigkeit, Agi− tation, Kopfschmerzen

21.2 Benennen Sie in jedem dokumentierten Behandlungsschritt einen Fehler, und schlagen Sie jeweils eine Verbesserung vor!

108

Fehler

Verbesserung

4/2002

Zu niedrige Dosierung des Fluoxetins

20 mg die ersten 2 Wochen, bei Ver− träglichkeit und unzureichender Wir− kung danach 40 mg

Fall

Datum

Wiedervorstellungstermin zu spät zur Kontrolle der Wirksamkeit und Dosis− anpassung

21 Antworten und Kommentar

7/2002

Fluoxetin nicht ausdosiert

Vor Medikamentenwechsel sollte die Maximaldosis (hier 40 mg) erreicht sein, um Nichtwirksamkeit bewiesen zu haben

Wechsel zu trizyklischem Antidepressi− Wechsel zu einem anderen moderneren vum Antidepressivum (anderer SSRI oder andere Substanzklasse) adäquater, da bei besserer Verträglichkeit auch unter anderem modernen Antidepressivum gutes Ansprechen zu erwarten wäre Amitryptilin−Dosis trotz notwendiger einschleichender Dosierung nicht der schweren Symptomatik entsprechend

Rasche Aufdosierung bis zu 150 mg in− diziert

Packungsgröße zu groß bei Suizidge− fahr des Patienten

Verordnung einer kleineren Packung

Wiedervorstellung zu spät wegen nied− Neuer Termin spätestens in 2 Wochen rig dosierter Therapie und Suizidalität Empfehlung der psychotherapeutischen Wäre zu Therapiebeginn notwendig ge− Beratungsstelle zu spät wesen 2/2003

Kein Fehler

5/2003

Absetzen der beiden Medikamente

Ausschleichen nacheinander über 3–6 Wochen je Medikament

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Datum

Fehler

Verbesserung

5/2004

Wiederansetzen eines als wirkungslos erwiesenen Antidepressivums

Alternatives Antidepressivum einer an− deren Substanzgruppe indiziert

Wiedervorstellung zu spät

Nach höchstens 2 Wochen Beurteilung des Therapieerfolgs

Zu späte Einweisung nach Suizidver− such und aktueller Suizidalität

Einweisung als Notfall in die psychiatri− sche Klinik mit Begleitung indiziert

8/2004

Antidepressiva (z. B. Doxepin bis 150 mg/d, Amitryptilin bis 150 mg/d) – oder Kombination des bisher am besten wirksamen Antidepressivums mit einem weiteren aus anderer Wirkstoffklasse unter Beachtung von Wechselwirkungen K Augmentationstherapie: Ergänzung der Anti− depressiva durch – Lithiumsalze (Eindosierung vorsichtig nach Lithiumspiegel, angestrebte Plasmakonzent− ration 0,6–0,8 mmol/l) – Alternativ Schilddrüsenhormone (cave: wi− dersprüchliche Aussagen über Nutzen) K Infusionstherapie (schnellerer Wirkungsein− tritt) K Nichtmedikamentöse Therapieverfahren (s. Antwort zur Frage 21.5)

KOMMENTAR Die Behandlung einer Depression ist wegen ver− schiedener symptomatischer Ausprägungen und Schweregrade schwierig. Abhängig vom Schwere− grad einer Depression ist z. B. die Entscheidung, ob eine Pharmakotherapie erforderlich ist oder ob psychotherapeutische Maßnahmen ausrei− chend sind. Auch gibt es keine Glückspille“, wie die Medien häufig behaupten und die die Patien− ten vom Arzt fordern. Wahl des Medikaments: Der Markt für Antide− pressiva ist unüberschaubar. Alle Antidepressiva bringen eine stimmungsaufhellende Wirkung mit sich, die sie jedoch nicht bei Gesunden“ haben. Die Herausforderung besteht in der genauen Be− schreibung der zu behandelnden Symptome, die die Wahlmöglichkeiten einschränken: K Einem unruhigen Patienten mit Schlafstö− rungen wird man eher ein leicht sedierendes Antidepressivum verordnen, z. B. Mirtazapin,

oder alternativ – bei fehlenden Kontraindika− tionen – Doxepin (25–150 mg/d) oder Ami− tryptilin (50–150 mg/d). K Einem antriebsarmen oder zwanghaften Pa− tienten würde initial eher ein antriebssteigen− des Antidepressivum helfen, z. B. Citalopram oder Sertralin (SSRI, 50–150 mg/d). K Einem gleichzeitig antriebsarmen und inner− lich unruhigen Patienten könnte man die Kombination eines Sedativums, z. B. Diazepam (bis 10 mg/d) oder Lorazepam (bis 5 mg/d), mit einem SSRI verabreichen. K Wahnhafte Depressionen sollten zusätzlich neuroleptisch behandelt werden, z. B. Risperi− don (2–6 mg/d) oder Olanzapin (5–15 mg/d).

21 Antworten und Kommentar

21.4 Welche nichtmedikamentösen Therapie− verfahren der Depression kennen Sie? K Psychotherapie K Schlafentzugstherapie K Photo− bzw. Lichttherapie K Transkranielle Magnetstimulation K Elektrokrampftherapie

109

Fall

21.3 Welche Behandlungsstrategie schlagen Sie unter Berücksichtigung des bisherigen Verlaufes vor? K Bisheriger Verlauf: – SSRI−Monotherapie unwirksam – Kombinationsbehandlung aus SSRI und se− lektiv noradrenergem und serotonergem Antidepressivum partiell erfolgreich – Erfolg des Neuroleptikums nicht sicher be− urteilbar – Wirksamkeit des trizyklischen Antidepres− sivums wegen nicht ausreichender Dosie− rung nicht beurteilbar K Bisher wirksamstes Antidepressivum hochdo− siert, in diesem Fall Mirtazapin (45 mg), Wir− kungskontrolle nach 2–3 Wochen, Plasma− spiegelkontrolle zum Ausschluss von Resorp− tionsstörungen, Complianceüberprüfung zum Ausschluss einer Pseudotherapieresistenz“ K Bei Nichtwirkung Wechsel auf hochdosiertes Antidepressivum aus anderer Wirkstoffklasse, z. B. Reboxetin (4–8 mg/d, noradrenalin−selek− tiv), Wirkungskontrolle nach 2–3 Wochen K Bei Nichtwirkung: – Entweder Monotherapie mit Substanz aus weiterer Wirkstoffklasse, z. B. trizyklische

Andere Auswahlkriterien sind folgende: Hat der Patient bereits früher auf ein Antidepressivum angesprochen, steigt die Wahrscheinlichkeit ei− nes erneuten Therapieerfolges. Patient und Arzt

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sollten das Wirkungs−, Nebenwirkungs− und Risi− koprofil der alternativen Medikamente kennen und diese sorgfältig berücksichtigen. Für unter− schiedliche Schweregrade der Erkrankung ste− hen unterschiedliche Medikamente zur Verfü− gung. Bei Suizidgefahr ist das Sicherheitsprofil (d. h. Toxizität und Menge, die zu einer Intoxika− tion führt) des Antidepressivums zu beachten (trizyklische Antidepressiva haben eine hohe To− xizität, SSRI eine deutlich geringere). Auch die

unterschiedlichen Kosten tragen zur Entschei− dungsfindung bei. Dauer der Medikation: Bei einer ersten depressi− ven Episode und bei Behandlungserfolg wird min− destens über 4–6 Monate medikamentös thera− piert. Bei rezidivierenden depressiven Episoden – wie im Fallbeispiel – muss man mindestens 1–2 Jahre oder länger mit Antidepressiva behandeln.

ZUSATZTHEMEN FÜR LERNGRUPPEN Techniken, Nebenwirkungen und Kontraindikationen der nichtmedikamentosen und nichtpsychotherapeutischen Behandlungsverfahren Molekulare Wirkmechanismen, Neben− und Wechselwirkungsprofile, Kontraindikationen der verschiedenen Antidepressiva

110

Fall

22

Fall 22

Akute Verwirrtheit

Antworten und Kommentar

22.1 Weisen Sie den Patienten gegen seinen Willen in die Klinik ein? K Ja. Es liegt eine akute Verwirrtheit unklarer Ätiologie vor. Diese ist ein Warnsignal, die Ur− sachen hierfür sind vielfältig (s. Kommentar) und müssen sorgfältig abgeklärt werden K Der Patient ist trotz seiner scheinbar klar for− mulierten Willensäußerung nicht in der Lage, seine Situation und die Gefahr für seine Ge− sundheit und sein Leben einzuschätzen. Es be− steht eine unmittelbare Eigengefährdung. So− mit besteht nicht nur ein formales Recht, den Patienten auch gegen seinen Willen einzuwei− sen, sondern sogar eine Pflicht, ihn einer adä− quaten Diagnostik und Behandlung zuzufüh− ren K Zum Umgang mit Behandlungsverweigerung s. Fall 14 22.2 Wenn ja, welche Kliniken kommen in Frage? K Gründe für eine psychiatrische Klinik: – Wertung der akuten Verwirrtheit als psy− chopathologisches Leitsymptom, das eine Einweisung in die Psychiatrie rechtfertigt – Fast nur psychiatrische Kliniken verfügen über geschlossene Stationen R Verhinde− rung eines Entweichens des Patienten – Verdacht auf Tabletteneinnahme in suizida− ler Absicht R psychotherapeutische Inter− vention notwendig K Gründe für eine auf somatische Krankheiten spezialisierte Klinik (Innere Medizin/Neurolo− gie): – Bei Verdacht auf Intoxikation intensivme− dizinische Überwachung nötig, da Folge−

schäden evtl. erst mit Latenz auftreten, z. B. Leberversagen durch Paracetamol nach 1–2 Tagen oder Bewusstseinsstörung durch Se− dativa nach vollständiger Resorption – Wertung des Erbrechens als internistisches Leitsymptom – Evtl. internistische oder neurologische Grunderkrankung als Ursache der akuten Verwirrtheit

22.3 Welche Maßnahmen sollte der Aufnah− mearzt der Psychiatrie einleiten? K Nochmals Erhebung des psychopathologi− schen Befundes K Versuch der Eigen− und v. a. Fremdanamnese− erhebung K Körperliche Untersuchung mit Blutdruck, Herzfrequenz und Temperatur K Neurologische Untersuchung K Glukose im Kapillarblut R Ausschluss Hypo−/ Hyperglykämie K Labordiagnostik: Elektrolyte, Kreatinin, Harn− stoff, CK, Leberwerte, Blutbild, CRP, TSH R Ausschluss internistische Grunderkrankung K Liquorpunktion bei geringsten neurologi− schen Auffälligkeiten R Ausschluss Meningi− tis/Meningoenzephalitis K EEG, wenn kurzfristig verfügbar, als Screening für massive morphologische Veränderungen oder Verdacht auf postiktalen Zustand K Schädel−CT oder −MRT baldmöglichst zum Ausschluss Tumor, Blutung, Ischämie, massive Infektion K Doppler−Sonographie der hirnversorgenden Arterien nach vorangehender Basisversorgung zum Ausschluss von Stenosen, Dissektionen

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oder sonstigen Läsionen hirnversorgender Ge− fäße

22.4 Welche Fehler sollten Sie als Notarzt das nächste Mal vermeiden? K Keine suffiziente körperliche Untersuchung in der Wohnung des Patienten; hohe Körper− temperatur wäre Indikation für Versorgung in internistischer Klinik gewesen K Zu starke Gewichtung des Tablettenfundes; Patient hatte Kopfschmerzen bei beginnender Meningoenzephalitis bekämpfen wollen

K Unzureichende Interpretation der Anamnese des Patienten, der Kopfschmerzen und Erbre− chen angegeben hatte K Zu wenig Geduld, so weit Kontakt zum Patien− ten herzustellen, dass mehr Angaben oder ei− ne körperliche Untersuchung möglich gewesen wären K Keine ausreichende Beharrlichkeit bei der Ab− lehnung durch die überlasteten Kliniken K Fazit: Nicht durch scheinbar offenkundige Si− tuationen blenden lassen, sondern stur ein Untersuchungs− und Beurteilungsschema an− wenden!

KOMMENTAR

111

Diagnostik: s. Antwort zur Frage 22.3. Während der Diagnosephase sind die Patienten sorgfältig zu überwachen.

22

Differenzialdiagnosen: Man sollte die Verwor− renheit, die ein verworrenes, durcheinander ge− hendes Denken als formale Denkstörung darstellt und häufig bei Psychosen vorkommt, von dem Be− griff der Verwirrtheit sorgfältig unterscheiden.

Antworten und Kommentar

Ätiologie: Ursachen sind Intoxikationen (z. B. Al− kohol, Drogen), zerebrale Durchblutungsstörungen (z. B. Exsikkose, arterielle Hypotonie, Vaskulitis, Karotisstenose), Enzephalitiden, ZNS−Neoplasien, Traumata (z. B. Subarachnoidalblutung, Subdural− hämatom, Contusio cerebri), Hämorrhagien, Stoff− wechselstörungen (z. B. Hyperthyreose, Hyper− oder Hypoglykämien, Hyperparathyreoidismus), posttraumatische Belastung oder dissoziativer Zu−

stand. Demenzielle Erkrankung fallen nur selten durch akute Verwirrungen auf. Treten diese bei einer demenziellen Erkrankung auf, muss man sorgfältig diagnostizieren, warum diese plötzlich auftritt. Auch die meisten psychotischen Erkran− kungen sind nicht durch akute Verwirrtheitszu− stände charakterisiert, wenngleich manche psy− chotischen Zustandsbilder an eine Verwirrtheit denken lassen. Zumeist ist eine Orientierung doch gegeben, und die Denkstörungen stehen im Vor− dergrund.

Fall

Definition und Klinik: Akute Verwirrtheit ist kein eigenes Krankheitsbild, sondern ein Leit− symptom für einen medizinischen Notfall. Es han− delt sich um eine akut auftretende Orientierungs− störung, die mit Unruhe, Ratlosigkeit, Angst, Fremd− und/oder Eigengefährdung und schweren Denkstörungen einhergehen kann. Die Orientie− rungsstörung kann sich in unterschiedlichen Di− mensionen oder kombiniert ausdrücken: K Bei einer zeitlichen Desorientiertheit kann der Patient häufig Jahr, Monat, Tag oder Tages− zeit nicht angeben. K Bei einer örtlichen Desorientiertheit kann der Patient seinen Aufenthaltsort, die Stadt, das Bundesland oder die Etage, in der er sich befindet, nicht angeben. K Die situative Orientierungsstörung bezieht sich auf eine Fehleinschätzung der Situation. Der Patient erkennt z. B. nicht, dass er dem Notarzt gegenüber steht, der ihn zum eigenen Schutz in die Klinik einweisen will, und dass er sich in einer gefährdenden gesundheitli− chen Situation befindet. Diese kann von einem Wahn schwierig zu unterscheiden sein. K Ist der Patient zur eigenen Person desorien− tiert, weiß er nicht mehr, wie er heißt, wann er geboren ist, welchen Familienstand er hat usw.

Therapie: Es sollte möglichst eine Behandlung der Grunderkrankung durchgeführt werden. Sind behandlungsbedürftige somatische Grunderkran− kungen ausgeschlossen, kann bei starker Agitation (Betonung des motorischen Anteils einer psycho− motorischen Unruhe) oder Erregung (Betonung des psychischen Anteils einer psychomotorischen Unruhe) eine Sedierung mit Diazepam (5 mg p.o. oder i.m.) oder eine Neurolepsie mit Haloperidol (5 mg p.o. oder i.m.) erwogen werden. Die Wahl zwischen Sedierung und/oder Neurolepsie wird durch die vermutete Grunderkrankung (z. B. kein Diazepam bei Intoxikation), die Schwere der be− gleitenden Denkstörungen (wenn schwer, dann eher Neurolepsie) und die jeweils individuelle Er− fahrung im Umgang mit den Substanzen be− stimmt.

ZUSATZTHEMEN FÜR LERNGRUPPEN Psychiatrische Erkrankungen mit Leitsymptom Orientierungsstorungen  berwachung Kriterien fur intensivmedizinische U

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Fall 23

112

Fall

23

Anorexia nervosa

Antworten und Kommentar

23.1 Welche Erkrankung hat der Patient ver− mutlich? Nennen Sie die wichtigsten Symptome und klinischen Folgen! Verdacht auf Anorexia nervosa; Symptome und klinische Folgen: K Selbst herbeigeführter Gewichtsverlust von mindestens 15 % des zu erwartenden Körper− gewichtes bzw. vorpubertär das Ausbleiben des zu erwartenden Gewichtsanstieges K Vermeidung von (v. a. hochkalorischem) Es− sen, Induzieren von Erbrechen oder Abführen, exzessives Bewegen, Einnahme von Appetit− züglern oder Diuretika K Körperschemastörung (Angst vor dem Dick− werden, obwohl Untergewicht besteht) K Endokrine Störungen: bei Frauen Amenor− rhoe, bei Männern Potenzstörungen; bei Er− krankungsbeginn vor der Pubertät verzögerte oder fehlende Abfolge der pubertären Ent− wicklungsschritte; evtl. sonstige Störungen der hypothalamisch−hypophysär gesteuerten Hormonachsen (z. B. CRH−ACTH−Kortisol−Ach− se) K Elektrolytstörungen, z. B. Hypokaliämie K Fettstoffwechselstörungen mit teilweise deutlichen Cholesterinerhöhungen durch Ei− weißverlust K Bradykardie und Hypotonie durch Down−Re− gulation der adrenergen Achse K Ödeme durch Eiweißverlust K Osteoporose durch Kalziummangel K Bei extremen Untergewicht hirnorganische Veränderungen mit unterschiedlichen psy− chopathologischen Auswirkungen wie demen− zieller Symptomatik, Verlangsamung, Erregt− heitszustände !!! 23.2 Stellen Sie eine psychodynamische Hy− pothese fur die Reaktion des Patienten auf das Angebot der Sondenernahrung auf! Das Angebot der Sondenernährung bedeutet ei− nen Angriff auf die rigiden intrapsychischen Kon− trollmechanismen des Patienten. Er stabilisiert sein labiles Selbstwertgefühl u. a. über die Kon− trolle des Körpergewichts. Dem Hunger nachzu− geben oder in die Sondenernährung einzuwilli− gen bedeutet, sich von Essen oder Sonden und dem Krankenhauspersonal abhängig zu fühlen und somit die Kontrolle des Selbstwerts zu ver− lieren. Diese schwere narzisstische Kränkung kann der Patient nicht ertragen.

23.3 Nennen Sie Pro− und Kontra−Argumente bezüglich der Unterbringung des Patienten ge− gen seinen Willen! K Pro: evtl. hirnorganische Veränderungen, vita− le Bedrohung K Kontra: Patient ist voll orientiert, weist nur fragliche formale Denkstörungen auf, über ambulanten und freiwilligen Ansatz könnte die Chance größer sein, dem Patienten lang− fristig doch zu helfen K Problematik: Abwägung der äußerst auto− destruktiven, krankheitsbedingten Handlun− gen des Patienten in Kombination mit nur sehr schwer fassbaren psychopathologischen Veränderungen in Denken, Wahrnehmen und Handeln gegen die Freiheit des Patienten und sein Recht auf Selbstbestimmung 23.4 Zu welchem Formenkreis von Erkrankun− gen zählt die Störung des Patienten? Grenzen Sie die Erkrankungen aus diesem Formenkreis ge− geneinander ab! K Formenkreis der Essstörungen: – Störung des eigenen Körperbildes – Störung der introzeptiven, propriozeptiven und emotionalen Wahrnehmung – Alles bestimmendes Gefühl eigener Unzu− länglichkeit K Anorexia nervosa: – Selbst herbeigeführter Gewichtsverlust – Definition des Selbstwerts über Erreichen des niedrigen Zielgewichts – Panische Angst vor Gewichtszunahme K Bulimia nervosa: – Andauernde Beschäftigung mit Essen – Essattacken mit unwiderstehlicher Gier – Ausgleich der Nahrungsaufnahme durch Er− brechen, Abführmittel, Diuretika u. a. – Krankhafte Furcht, dick zu werden K Adipositas: – Übermäßiges Essen in großen Mengen mit Überschreiten des Normalgewichtes K Binge−Eating−Disorder: – Wiederholte Episoden von Essanfällen mit Gefühl des Kontrollverlustes – Meist ohne Kompensation wie bei Bulimia oder Anorexia nervosa – Häufige Folge: Adipositas 23.5 Nach welcher Formel berechnen Sie den Bodymass−Index (BMI), und welche diagnos− tischen Grenzwerte kennen Sie? K Bodymass−Index (BMI) = Körpergewicht in kg/(Körpergröße in m)2, z. B. 40 kg/(1,90 m)2 = 40/3,61 kg/m2 = 11,08 kg/m2 K Anorexie: BMI,17,5 kg/m2 K Ausgeprägte Adipositas: BMI.30 kg/m2

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KOMMENTAR Definition: Anorexia nervosa (Syn. Magersucht) ist eine häufig im Jugendalter und in der Adoles− zenz auftretende, aber auch im weiteren Lebens− verlauf vorkommende schwere Essstörung. Sie ist durch extremes Streben nach Schlanksein ge− kennzeichnet, wobei Untergewicht und Gefähr− dung der eigenen Gesundheit lange Zeit geleugnet werden. Epidemiologie: Die Krankheit kommt zu 90 % beim weiblichen Geschlecht vor. Ihre Prävalenz zwischen dem 15.–35. Lebensjahr liegt bei 0,5– 1,5 %. Bestimmte Berufsgruppen (z. B. Models, Bal− letttänzer) haben wesentlich höhere Prävalenzra− ten.

Therapie: Die Therapie der Anorexia nervosa stützt sich auf 3 Säulen: Behandlung somatischer Komplikationen, Ernährungstherapie sowie Psy− chotherapie. Die Patienten müssen häufig initial stationär, anschließend ambulant behandelt wer− den. Notwendige Voraussetzung für eine erfolgrei− che psychotherapeutische Arbeit ist das Erreichen eines ausreichenden Körpergewichts. Daher ist das oberste Ziel der Therapie das Herstellen eines nicht mehr vital gefährdenden Körpergewichts ggf. mit Sondennahrung. Bei nicht lebensbedroh− lichem Untergewicht erfolgt keine forcierte Ge− wichtsnormalisierung, sondern ein klar umrisse− nes Therapieangebot mit eindeutigen Regeln und Vorgaben. Verhaltenstherapeutische und psycho− dynamische Elemente werden in diesen psycho− therapeutischen Behandlungen miteinander kom− biniert, um Erfolge zu erzielen. Ziel muss zunächst der Gewinn von Krankheitseinsicht sein. Es wer− den einerseits die Ängste auf dem Gebiet des Es− sens und andererseits die verdrängten Ängste be− züglich anderer Lebensbereiche bearbeitet. Im Therapieverlauf sollte eine Normalisierung des Essverhaltens (z. B. Ausbalancierung der Nährstof− fe, Ernährungsplan, Hinzunahme verbotener“ Nahrungsmittel, regelmäßige Mahlzeiten) erreicht werden. Zur Unterstützung kann eine Familienthe−

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23 Antworten und Kommentar

Klinik: s. Antworten zu Fragen 23.1 und 23.4. Cha− rakteristisch für die Anorexia nervosa ist eine in− tensive Beschäftigung mit Aussehen, Körperge− wicht sowie Kalorien− und Fettgehalt der Nah− rung. Die Gewichtsphobie“ führt zu einem extrem niedrigen Wunschgewicht und zuneh− mend restriktiveren Essverhalten kombiniert mit gewichtsreduzierenden Maßnahmen (z. B. Appe− titzügler, Abführmittel, Diuretika, selbstinduzier− tes Erbrechen, exzessive körperliche Betätigung). Der extreme Gewichtsverlust bis hin zur Kachexie führt u. a. zu primärer oder sekundärer Amenor−

Diagnostik und Differenzialdiagnosen: Das kli− nische Bild der ausgeprägten Anorexia nervosa ist im Allgemeinen so typisch, dass die Diagnosestel− lung keine Schwierigkeiten bereitet. Ist die Ano− rexia nervosa nicht so stark ausgeprägt, müssen bei Verdacht die Patienten genau exploriert wer− den. Problematisch dabei ist, dass die Patienten ihre Symptome verleugnen, was die Diagnosestel− lung erschwert. Zur Berechnung des Bodymass−In− dex (BMI) s. Antwort zur Frage 23.5. Bei der Be− rechnung des BMI wird zwar die Körpergröße, aber nicht das Alter berücksichtigt. Zur Beurteilung bei Kindern und Jugendlichen sind daher altersbezo− gene Perzentilenkurven zu benutzen. Differenzialdiagnostisch sollten immer somati− sche und psychiatrische Erkrankungen ausge− schlossen werden, die mit einem Gewichtsverlust einhergehen (z. B. Neoplasien, Diabetes mellitus, Zöliakie, schwere Depression, schizophrene Psy− chosen).

Fall

Ätiologie: Essstörungen werden multifaktoriell verursacht. Ein soziokultureller Faktor ist z. B. das in der westlichen Welt verbreitete Schlank− heitsideal. Auch wird in einer Überflussgesell− schaft die Nahrungsaufnahme wahrscheinlich über soziologische Mechanismen geregelt, die Ess− störungen wären die Extremausprägung dieser Re− gulation. Biologische Faktoren sind genetische Komponenten sowie die Veränderungen der Hor− monachsen. Das Essverhalten wird über das Hypo− thalamus−Hypophysen− und das periphere Drü− sensystem reguliert, die bei Essstörungen verän− dert sind. Die Frage, ob es sich dabei um Folgen oder Ursachen der Erkrankungen handelt, ist un− geklärt. Als weitere Ursachen sind spezifische Fa− milieninteraktionsmuster beschrieben: So kann eine überfürsorgliche Mutter bei abwesendem Va− ter die Verselbständigung der Kinder erschweren. Diese tragen den Kampf um Autonomie dann mög− licherweise auf der Ebene des Essens aus, d. h. die Abwehr des Wunsches zu essen bedeutet demnach Unabhängigkeit von der Mutter. Auch individuelle Faktoren sind beschrieben worden: Typische Per− sönlichkeitsmerkmale wie depressive Verstim− mung, Leistungsorientiertheit, Ehrgeiz, Angst− und Zwangsstörungen, Beharrlichkeit bis zur Rigi− dität, Introvertiertheit, Harmoniebedürfnis und hohe Intelligenz sowie gestörte Identitätsfindung und psychosexuelle Rollenfindung lassen sich ge− häuft bei Patienten mit Anorexia nervosa finden. Die empirische Bewertung der verschiedenen psy− chologischen Theorien ist jedoch unterschiedlich.

rhoe, Obstipation, Haarausfall, Hypothermie, Blutbildveränderungen (Leukopenie, Anämie), Hypoglykämie, Hypotonie, Bradykardie, Osteo− porose, (z. T. lebensbedrohlichen) Elektrolytver− schiebungen, EKG−Veränderungen und hirnor− ganischen Veränderungen. Typisch ist die man− gelnde Krankheitseinsicht der Patienten. Sie leiden unter einer schweren Körperschemastörung mit Fehleinschätzung ihrer Körperproportionen – sie halten sich für viel dicker, als sie tatsächlich sind.

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rapie erfolgen, um intrafamiliäre Konflikte zu be− wältigen. Ergänzend kommen Beschäftigungs− und Musiktherapie oder der Besuch von Selbsthilfe− gruppen zum Einsatz. Medikamentöse Therapie− versuche wurden mit Serotoninwiederaufnahme− hemmern gemacht (z. B. Citalopram 20–40 mg/d). Es wurden jedoch nur ergänzende Effekte zu den psychotherapeutischen Maßnahmen erzielt. Essgestörte Patienten sind ein seltenes Klientel in der Psychiatrie. Sie werden eher in psychosomati− schen Abteilungen behandelt. In die psychiatri− schen Abteilungen kommen meist die schwersten oder die psychiatrisch komorbiden Patienten, bei denen die Frage der vitalen Selbstgefährdung im

Vordergrund steht. Meist wird man diesen Patien− ten mit der Diagnose Essstörung nicht gerecht, häufig sind zusätzlich schwere Persönlichkeitsstö− rungen zu diagnostizieren. Prognose: Aufgrund unterschiedlicher Kohorten und Beobachtungsdauern ergeben sich uneinheit− liche prognostische Angaben: Bei etwa 30–40 % der Patienten soll die Anorexie komplett remittieren, bei 30–40 % nimmt die Erkrankung einen chroni− schen Verlauf. Die Mortalitätsrate liegt bei 10–15 % im Langzeitverlauf. Insgesamt verbessert sich die Prognose, je eher eine Therapie eingeleitet wird.

ZUSATZTHEMEN FÜR LERNGRUPPEN

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Veranderungen der endokrinen Achsen bei Essstorungen Psychodynamische Konzepte bei Essstorungen Ethische Aspekte der Zwangsernahrung Weitere Essstorungen (z. B. Bulimia nervosa)

Fall

24

Fall 24

Psychotherapieverfahren

Antworten und Kommentar

24.1 Welches Prozedere schlagen Sie der Pa− tientin vor? K Gemeinsam mit der Patientin Feststellung des Vorliegens einer psychotherapeutisch behan− delbaren Krankheit (Bing−Eating−Störung“, s. Fall 23) K Beratende Gespräche zur Indikationsstellung einer Psychotherapie: – Nähere Exploration der Symptomatik der Patientin und ihrer Lebenssituation – Beschreibung ihrer psychischen Struktur, ihres psychischen Funktionierens, ihrer Introspektionsfähigkeit und ihrer Therapie− motivation – Beobachtung des entstehenden Therapeut− Patienten−Kontaktes und der Beziehungsge− staltung der Patientin – Wecken von Neugier auf die inneren Vor− gänge und auf die Behandlungsmöglichkei− ten K Stellen einer Indikation für ein Therapiever− fahren, Besprechen mit der Patientin und ggf. Vermittlung eines Behandlungsplatzes bzw. Einführung in das entsprechende Prozedere (s. Antwort zu Frage 24.2)

24.2 Beschreiben Sie der Patientin den Weg zu einer Psychotherapie! K Suche nach einem geeigneten Therapiever− fahren in psychiatrisch−psychotherapeutischer Praxis oder in psychologischen Beratungsstel− len K Sog. probatorische Sitzungen, ggf. bei unter− schiedlichen Psychotherapeuten (max. 5 pro Therapeut) K Nach Entschluss für einen Therapeuten An− tragstellung für die Psychotherapie bei der Krankenkasse meist durch den Therapeuten; Gutachterverfahren (Bericht des Therapeuten wird in anonymisierter Form von einem Gut− achter beurteilt) K Nach Antragsgenehmigung Beginn der Psy− chotherapie

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!!! 24.3 Welche haufig angewandten Psychothe− rapieverfahren kennen Sie? Schildern Sie jeweils Merkmale!

Psychotherapieverfahren

Merkmale

K Allen psychodynamischen Therapieverfahren liegen psychoana− lytische Konzepte zugrunde K Zentrale Aspekte: – Das Unbewusste – Übertragung (frühkindliche Erfahrungen werden auf Thera− K Psychoanalytische Psychothe− peuten übertragen, wird zu wichtigstem diagnostischem rapie und therapeutischem Werkzeug) K Tiefenpsychologisch fundierte – Gegenübertragung (Reaktionen des Therapeuten auf den Pa− Psychotherapie tienten) K Fokaltherapie – Therapeutische Beziehung K Gestaltungstherapie, Musik− – Psychische Abwehr und Widerstand (die Bewusstmachung therapie, Konzentrative Be− unbewusster Vorgänge bedeutet für Patienten Bedrohung wegungstherapie des seelischen Gleichgewichts, dagegen wehrt er sich unbe− K Analytisch orientierte Paar− wusst mit psychischen Abwehrmechanismen, s. Fall 13) und Familientherapie K Ziel: Erkennen, Aufzeigen und Durcharbeiten unbewusster Kon− flikte und Strukturen

Aus der Psychoanalyse abge− leitete Therapieverfahren, auch psychodynamische Ver− fahren genannt:

K Systemische Therapie

K Verhalten des Einzelnen wird aus dessen Beziehungen zu ande− ren erklärt K Beobachtungskonzepte: – Zirkularität (Verhalten eines Mitglieds ist zugleich Ursache und Wirkung für Verhalten anderer) – Kommunikation (Unterschied Inhalts− und Beziehungs− aspekt) – Regeln (immer, wenn dies und das passiert, folgt dies und jenes) – System−Umwelt−Grenzen (gehört jemand oder etwas dazu oder nicht?)

Humanistische Therapiever− fahren, z. B.

K Phänomenologisch−existenzialphilosophische Position (Wesen des Menschen und die ganz konkrete Position des therapeuti− schen Handelns und der zu beobachtenden Vorgänge wird in den Mittelpunkt gestellt) K Ganzheitlich−systemische Theoriekonzeption

K Gesprächspsychotherapie nach Rogers K Gestalttherapie

24 Antworten und Kommentar

K Säulen der Verhaltenstherapie: – Funktionelle Analyse (Beschreiben von vorausgehenden, be− gleitenden und nachfolgenden Bedingungen eines Verhal− tens) – Lerntheorien – Kognitive Verhaltenstherapie (Gesichtspunkte der Informati− onsverarbeitung und des Gedächtnisses) – Verhaltensmedizin (über die psychischen Störungen hinaus− gehend) – Methodologie (besondere Bedeutung von Evaluation und empirischer Absicherung) K Methoden: – Techniken von Stimuluskontrolle und Konfrontations− und Bewältigungsverfahren – Operante Verfahren (Kontrolle von Verhalten durch Verände− rung der Konsequenzen) – Modelllernen – Selbstkontrolle – Kognitive Verfahren (z. B. Modifikation von Denken, Bewer− ten, Vorstellung)

Fall

K Verhaltenstherapie K Kognitive Therapie

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!!! 24.4 Erlautern Sie den Begriff Psychodynamik! Vorgänge, die K sämtlichem menschlichen Handeln, Denken, Fühlen und Beziehungsgestaltung zugrunde liegen K zum größten Teil unbewusst sind und

K von der Psychoanalyse und von abgeleiteten Psychotherapierichtungen (gemeinsam mit dem Patienten) erforscht werden. Das Verständnis der Psychodynamik ermöglicht Veränderungen des Denkens und Handelns und damit auch der zu behandelnden Symptome.

KOMMENTAR Definition: Psychotherapie ist die Behandlung von psychischen, psychosomatischen und soma− topsychischen Störungen durch gezielten Einsatz von psychologischen Techniken unter bewusster Nutzung der Beziehung zwischen Patient und The− rapeut.

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Fall

24 Antworten und Kommentar

Einteilung: Einteilungen sind nach mehreren Kri− terien möglich: K In welchem Setting (mit welchen Personen, an welchem Ort, wie häufig) findet die Thera− pie statt (Einzel−, Gruppen−, Familien−, Paar− therapie, stationäre oder teilstationäre Psycho− therapie) K Welches Medium wird primär verwendet (verbal oder nonverbal, z. B. Musik−, Kunstthe− rapie) K Welches theoretische Konzept liegt der The− rapie zugrunde (s. Antwort zur Frage 24.3) K Zeitdauer der Therapie (z. B. kurzzeitige Kri− senintervention oder Langzeittherapie) K Welche Wirkfaktoren werden angenommen (z. B. suggestiv, strukturverändernd, verhal− tensmodifizierend). Als wissenschaftlich anerkannt (und somit durch die Krankenkassen bezahlt) gelten bisher in Deutschland nur die tiefenpsychologisch−psycho−

dynamisch orientierte Psychotherapie (Psycho− analyse und Modifikationen), die Verhaltensthe− rapie und die Gesprächspsychotherapie. Indikation: Hauptdomäne der Psychotherapie sind Angststörungen, Depressionen, Zwangsstö− rungen, psychosomatische Störungen, Essstörun− gen, Persönlichkeitsstörungen, Suchterkrankungen und Störungen in Folge von körperlichen Erkran− kungen. Auch unter einer Psychose leidende Pati− enten sollten psychotherapeutisch begleitet wer− den, was seitens des Therapeuten eine besondere Qualifikation erfordert. Es sollte weniger eine bestimmte Erkrankung zu einer bestimmten Psychotherapieindikation füh− ren, sondern entscheidend sollte vielmehr die Struktur des Patienten sein: seine Motivation; die Interessen, die er mit einer Therapie verfolgt; seine Möglichkeit, eigene psychologische Vorgänge zu betrachten (Introspektionsfähigkeit), seine Bezie− hungsgestaltung und die der Erkrankung zugrunde liegende Psychodynamik. Als einer der wichtigsten psychotherapeutischen Wirkfaktoren konnte die Therapeut−Patienten−Beziehung isoliert werden. Die komplexen Verbindungen dieser Beziehung gibt die folgende Abbildung wieder:

Allgemeines Modell von Psychotherapie von Orlinsky und Howard

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Gemäß diesem Modell bestimmen 4 Faktoren je− de Psychotherapie: K das Behandlungsmodell des Therapeuten K die Erkrankung des Patienten K die therapierelevanten Merkmale des Thera− peuten K und die therapierelevanten Merkmale des Pa− tienten. Je mehr Übereinstimmungen sich ergeben, umso wahrscheinlicher wird ein Therapieerfolg. Das Modell erfasst allerdings nicht explizit die unbe− wussten Prozesse, die sich in jeder Beziehung abspielen, die den bewussten konträr gegenüber− stehen können und eine weitere mitentscheiden− de Bedeutung für den Behandlungsverlauf haben. Beispielsweise kann eine Patient mit einer Tren− nungsproblematik ein überfürsorgliches Verhal− ten beim Therapeuten auslösen. Der Therapeut nimmt den Patienten dann in eine ebenso enge Bindung wie die, die dieser gerade auflösen soll− te.

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Fall

24 Antworten und Kommentar

Von der Psychoanalyse abgeleitete Verfahren: Die von Sigmund Freud und seinen Schülern ent− wickelte und vielfältig modifizierte Psychoanalyse beruht auf der Annahme der Existenz des Unbe− wussten: ein dynamisches, intra− und interperso− nell wirksames Wissen“ und Geschehen, das jeder Mensch hat, das sich der Bewusstmachung ent− zieht und zu großen Teilen immer verborgen bleibt. Nach Freuds Strukturtheorie gibt es in je− dem Menschen: K eine triebhafte, unkontrollierte Seite (das Es) K eine mehr oder weniger strenge Seite, die Re− geln und Normen vertritt (das Über−Ich) K und das Ich, das zwischen beiden Seiten ver− mittelt und ein Gleichgewicht im ständig herr− schenden Konflikt zwischen Es und Über−Ich herstellen soll. Dabei gibt es bewusste und unbewusste Aspekte. Aus diesem Aufbau ergeben sich vielfältige mögliche und in jedem Menschen auftauchende intrapsychische Konflikte, die sich unbewusst abspielen. So gibt es z. B. den Prototypen des Konfliktes im psychoanalytischen Sinne: der ödi− pale Konflikt. Zum einen herrscht der Wunsch Ich will mit meiner Mutter alleine sein, der Va− ter soll weg sein (tot sein).“ Zum anderen gibt es die Forderung Das darf nicht sein, seinen Vater darf man sich nicht tot wünschen, er wird schließlich auch geliebt und gebraucht.“ Das Ich muss zwischen diesen beiden Positionen vermit− teln und ein weiteres psychisches Funktionieren sichern. Dazu bedient es sich verschiedener sog. Abwehrmechanismen (s. Fall 13), die an sich Krankheitswert haben können (z. B. die Konversi− on eines innerpsychischen Konfliktes in Schmerz). Je unbewältigbarer und bedrohlicher diese unbewussten Konflikte sind, desto heftiger werden die Abwehrmechanismen. Im schlimms− ten Fall bricht die Abwehr komplett zusammen,

und es entsteht ein psychotischer Zusammen− bruch, der seinerseits aber häufig immer noch als Abwehr gegen einen besonders heftigen Af− fekt interpretiert werden kann. Die (früh−)kindlichen Erfahrungen des Patienten reinszenieren sich in vielfältiger Form im späte− ren Leben wieder. Die Beziehungsgestaltung des Patienten wird entscheidend durch diese frühen Erfahrungen geprägt. Die innere, zum größten Teil unbewusste Welt des Patienten ist immer auf das Engste mit der seiner Beziehungen und Objekte verknüpft. Beide stehen in wechselseiti− gen Beziehungen zueinander. Allen sich aus der Psychoanalyse abgeleiteten Therapieformen liegt diese Annahme zugrunde und wird in verschie− dener Form therapeutisch nutzbar gemacht. In der Psychoanalyse im engeren Sinn versucht man, diese Reinszenierungen in der Therapeut− Patienten−Beziehung zu verstehen und zu bear− beiten. In der tiefenpsychologisch fundierten The− rapie bewegt man sich eher in der äußeren Welt des Patienten, in der Fokaltherapie widmet man sich lediglich einem genau bestimmten Problem− feld. Folgendes hier – sehr vereinfacht – dargestellte Modell wird in verschiedenen Behandlungsfor− men angewendet: In der hochfrequent durchge− führten Psychoanalyse (3–5−mal/Woche, als sog. psychoanalytische Psychotherapie mit 3−mal/ Woche bis zu max. 300 Stunden durch die Kran− kenkassen finanziert) wird die Entwicklung, Be− obachtung und Bearbeitung der sog. Übertra− gungsbeziehung in den Fokus gerückt. Der Pati− ent liegt dabei auf einer Couch und kann den Therapeuten nicht sehen; dieser gibt möglichst wenig von sich preis, hört zu und stellt sich auf den Patienten ein. Die Grundannahme ist, dass sich aufgrund der sog. Abstinenz des Therapeu− ten zwischen Patient und Therapeut Beziehungen entwickeln, die den frühen Beziehungen des Pati− enten gleichen. Diese können in der Analyse er− kannt und gemeinsam mit den entsprechenden Konflikten bearbeitet werden. Durch die Bearbei− tung der Übertragungsbeziehung werden Ab− wehrmechanismen und Symptombildungen mo− difiziert und bestenfalls im Sinne einer Nachrei− fung“ in gesündere“ Mechanismen überführt. In der tiefenpsychologisch fundierten (auch als psy− chodynamisch bezeichneten) Therapie (1–2−mal/ Woche, bis zu max. 100 Stunden durch die Kran− kenkassen finanziert) werden eher die Außenbe− ziehungen des Patienten auf unbewusste Prozes− se und Konflikte untersucht, um diese modifizie− ren zu können. Verhaltenstherapie: Im Gegensatz zu den psy− choanalytisch begründeten Verfahren werden in der Verhaltenstherapie weniger die (unbewussten) Ursachen einer Erkrankung, sondern eher die Be− dingungen, die zur Erkrankung führen und sie aufrecht erhalten, gesucht und behandelt. Das im

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Laufe des Lebens Gelernte“ soll im Rahmen einer Verhaltenstherapie zu gesünderen Mechanismen verändert werden. Nach einer umfassenden Diag− nostik, in der das Problem, die jeweilige Situation, das darauffolgende Verhalten und die durch dieses Verhalten ausgelösten Reaktionen und Bedingun− gen erfasst werden, versucht man mit Hilfe der unten angeführten Methoden, das Verhalten und die Kognition zu verändern. Dazu stehen in der Kurzzeittherapie 25 Stunden, in der Langzeitthe− rapie 45 bis maximal 60 Stunden krankenkassen− finanziert zur Verfügung. Häufig angewandte Tech− niken sind: K systematische Desensibilisierung: Anxiolyse durch Entspannung und Gewöhnung (Einsatz z. B. bei Ängsten, Phobien) K kognitive Umstrukturierung: über Einsicht in negative Denkstrukturen wird dem Patien− ten die Möglichkeit zur Veränderung gegeben

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(Einsatz z. B. bei Depressionen, Angststörun− gen, somatoformen Störungen) K Gedankenstopp: Verhaltenskontrolle zum Ab− bau störender Gedanken (Einsatz z. B. bei Zwangsstörungen, Phobien) K Aktivitätsplanung: bestimmte Aktivitäten werden in fester Struktur als Training geplant, um Verbesserungen des psychischen Funktio− nierens zu erreichen (Einsatz z. B. bei Depres− sion, Residualsyndromen nach Psychosen). Für bestimmte Indikationen haben sich dabei ei− gene streng abgegrenzte Therapieformen entwi− ckelt, so z. B. die Dialektisch−Behaviorale Thera− pie für Borderline−Persönlichkeitsstörungen oder die Interpersonelle Psychotherapie, die insbe− sondere zur Behandlung von Depressionen ent− wickelt wurde.

ZUSATZTHEMEN FÜR LERNGRUPPEN

Fall

Psychische Abwehrmechanismen Verhaltenstherapeutische Techniken Wirksamkeitsnachweise und Qualitatssicherung in der Psychotherapie

25 Antworten und Kommentar

Fall 25

Schizoaffektive Störung

25.1 Welche Verdachtsdiagnose und Differen− zialdiagnosen stellen Sie? K Verdachtsdiagnose: schizoaffektive Störung; Begründung: affektive Beteiligung (Hinweis auf depressive Phase), großspuriges Verhalten, überwertige Idee (Kontakt zum Bundesnach− richtendienst) Differenzialdiagnosen: K Akute Psychose bei paranoider Schizophre− nie; dafür sprechen Verfolgungsängste und angebliche Verbindung zum Bundesnachrich− tendienst K Persönlichkeitsstörung, dagegen sprechen die ausgeprägten Wahnideen und die paranoi− de Symptomatik; Patient mit paranoider Per− sönlichkeitsstörung neigt eher zu Misstrauen, Groll; dazu, Erlebtes zu verdrehen K Agitierte Depression, dagegen sprechen eben− falls die Wahnideen und die Paranoia K Manie, dafür sprechen die Angabe einer vo− rausgegangenen depressiven Phase und die Größenideen

25.2 Welchen Hinweis auf einen auslösenden Faktor gibt es in der Anamnese? Beschreiben Sie ein ätiologisches Modell für diese Erkrankung! K Geburtstag der Mutter könnte Live Event“ sein, d. h. belastendes oder konfliktreiches Er− eignis K Modell: Zusammenwirken von Stressoren, ein− geschränkten Möglichkeiten der Bewältigung und psychophysischer Disposition R erhöhte Vulnerabilität führt zu funktioneller Dysregu− lation in störungsrelevanten ZNS−Regionen (limbisches System, medialer Thalamus, Basal− ganglien, präfrontale Areale) mit nachfolgend strukturellen Veränderungen und Störungen der Transmittersysteme 25.3 Nennen Sie Formen dieser Erkrankung! K Schizomanische Störung: manische Episode mit schizophrenen Symptomen K Schizodepressive Störung: depressive Episode mit schizophrenen Symptomen

Fall 25 Seite 26 Aus J. Becker-Pfaff, St. Engel: Fallbuch Psychiatrie (ISBN 3-13-140181-8) © Georg Thieme Verlag Stuttgart 2006 Dieses Dokument ist nur für den persönlichen Gebrauch bestimmt und darf in keiner Form an Dritte weitergegeben werden!

K Gemischte (bipolare) schizoaffektive Störung: bipolare Störung mit schizophrenen Sympto− men

25.4 Was empfehlen Sie den chirurgischen Kollegen als Therapie? K Stimmungsstabilisator: Lithium (30–40 mmol/ d) oder Antikonvulsivum (z. B. Valproinsäure 600–1000 mg/d)

K Hochpotentes Neuroleptikum ggf. kombiniert mit niederpotentem Neuroleptikum (z. B. Ha− loperidol 10–20 mg/d p.o. oder i. v., Levopro− mazin 50–100 mg/d p.o. oder i.m., Olanzapin 15 mg/d p.o.) K Benzodiazepine (z. B. Diazepam 4 3 10 mg/d) K Bei Verstärkung der Symptome evtl. Aufnah− me in geschlossene Abteilung einer psychia− trischen Klinik

KOMMENTAR Definition: Nach ICD−10 liegt bei einer schizoaf− fektiven Störung eine depressive und/oder mani− sche Erkrankung zusammen mit schizophrenen Symptomen vor. Man ist sich nicht einig, ob die Störung dem affektiven oder dem schizophrenen Formenkreis zuzurechnen ist oder ob es sich um eine eigenständige Erkrankung handelt.

Klinik: Bei einer schizomanischen Störung tre− ten neben typischen Symptomen einer Manie (z. B. Euphorie, Größenideen, vermindertes Schlafbe− dürfnis, Logorrhoe, erhöhte Ablenkbarkeit) schi− zophrene Symptome auf (z. B. Ich−Störungen, Ge− dankenausbreitung, Gedankenentzug, paranoider Wahn, Hören von Stimmen). 40–50 % der Patienten entwickeln innerhalb der ersten 2 Jahre nach der ersten manischen Episode ein Rezidiv. Mehr als 30 % entwickeln im Verlauf eine chronische Symp− tomatik. Die schizodepressive Störung zeichnet sich durch schizophrene Symptome neben denen einer Depression aus (z. B. depressive Stimmung, Antriebsarmut, vermindertes Selbstwertgefühl, pessimistische Zukunftsperspektive). Die Rezidiv− neigung entspricht ungefähr der der Depression. Meist entwickelt sich ein polyphasischer Verlauf. Diagnostik: Eine eindeutige Diagnose ergibt sich nur, wenn neben der affektiven Symptomatik gleichzeitig oder mit einem Abstand von nur we− nigen Tagen eindeutig schizophrene Symptome vorhanden sind. Differenzialdiagnosen: Die akute Phase einer Manie stellt eine schwer abzugrenzende Differen− zialdiagnose dar, weil bis zu 50 % der manischen Patienten in dieser Phase schizophren anmutende Symptome aufweisen. An somatischen Ursachen

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25 Antworten und Kommentar

Ätiologie: s. Antwort zur Frage 25.2. Heute geht man von einer multifaktoriellen Genese aus im Sinne des Vulnerabilitätskonzeptes (s. Fall 18). Kri− tische Lebensereignisse (sog. Life Events) finden sich anamnestisch häufig, sind jedoch nicht als ur− sächlich, sondern als auslösend anzusehen.

Therapie: Die Akutbehandlung von Patienten mit schizomanischer Störung stellt für Arzt und Personal wegen fehlender Krankheitseinsicht, mangelnder Kooperation und Allmachtsphantasi− en des Patienten eine Herausforderung dar. Bei ausgeprägten Manien ist eine stationäre Behand− lung unerlässlich, meist muss wegen Eigen− und/ oder Fremdgefährdung eine geschlossene Unter− bringung gegen den Willen des Patienten erfolgen. Unter Berücksichtigung des Ausprägungsgrades der Manie kommen folgende Medikamente zur Anwendung: Stimmungsstabilisatoren (Lithium, Antikonvulsiva), Neuroleptika (z. B. Haloperidol, Olanzapin, Levopromazin) und Benzodiazepine (z. B. Diazepam) (s. Antwort zur Frage 25.4). Lithi− um ist zwar Mittel der Wahl zur Behandlung einer akuten Manie sowie zur Phasenprophylaxe, doch sorgt die meist mangelnde Kooperation des Pati− enten, der enge therapeutische Wirkspiegel sowie die Gefahr der Toxizität für eine eingeschränkte Anwendbarkeit. Bei der Gabe von Lorazepam ist darauf zu achten, dass der Patient noch manischer werden und die Situation dabei entgleisen kann. Meist bewährt sich im akuten Stadium, v. a. wenn eine Fixierung notwendig wurde, die intravenöse Gabe von Haloperidol und Diazepam bis zum Ab− klingen der akuten Symptomatik und Eintreten einer Behandlungseinsicht. Danach kann eine Umstellung auf orale Applikationsformen (z. B. atypische Neuroleptika) erfolgen. Diese Erhal− tungstherapie wird über ein halbes Jahr fortge− führt. Die Therapie der schizodepressiven Störung be− inhaltet die Behandlung der depressiven Sympto− matik mit einem klassischen oder modernerem Antidepressivum (z. B. Amitryptilin aufsteigend bis zur Erhaltungsdosis 2 3 75 mg/d, Venlafaxin 2 3 75 mg/d) in Kombination mit einem Neurolep− tikum (z. B. Olanzapin 10 mg/d) zur Behandlung der schizophrenen Symptome. Die alleinige Gabe

Fall

Epidemiologie: Aufgrund der diagnostischen Un− einigkeit liegen keine exakten Daten vor. Schät− zungsweise sind bis zu 25 % der Diagnosestellun− gen affektive Störung“ oder Schizophrenie“ den schizoaffektiven Psychosen zuzuordnen. Frauen erkranken häufiger als Männer, die Erkrankung kann in jedem Alter auftreten.

müssen ausgeschlossen werden: Medikamenten−, Drogenwirkungen, neurologische Erkrankungen (z. B. entzündliche und vaskuläre Prozesse, Raum− forderungen), internistische Erkrankungen (z. B. Infektionen, Hyperthyreose, akute intermittieren− de Porphyrie). Dazu sind neben einer sorgfältigen internistisch−neurologischen Untersuchung Labor, EEG, EKG und bei Ersterkrankung ein Schädel−CT unerlässlich.

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eines Antidepressivums erzielt meist keine günsti− gen Therapieeffekte, während insbesondere atypi− sche Neuroleptika in einigen Fällen eine ausrei− chende Wirkung zeigen. Einige Autoren empfehlen eine Rezidivprophylaxe bei den schizoaffektiven Psychosen bereits nach der ersten Manifestation, andere weisen auf die unterschiedlichen Verläufe hin und bleiben eher abwartend. Dabei haben Aufklärung des Patienten und Aufbau einer tragfähigen therapeutischen Be− ziehung einen hohen Stellenwert. Lithium ist bei

der Rezidivprophylaxe das Mittel der Wahl, Carba− mazepin Mittel der 2. Wahl. Bei dysphorisch−ma− nischen Mischzuständen hat sich die Gabe von Valproinsäure bewährt. Prognose: Schizoaffektive Störungen verlaufen häufig rezidivierend und polyphasisch. Die Prog− nose ist deutlich günstiger als bei Schizophrenien: Die Ausbildung von Residualsymptomen ist sel− ten.

ZUSATZTHEMEN FÜR LERNGRUPPEN Einteilung der zykloiden Psychosen nach Leonhardt Manie

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Fall

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Demenz bei Normaldruckhydrozephalus

Antworten und Kommentar

26.1 Aus welchen Gründen möchten Sie die Patientin aufnehmen? K Evtl. Eigen− und/oder Fremdgefährdung, da Patientin Folgen ihrer Handlungen nicht ein− schätzen kann K Dringlichkeit diagnostischer Maßnahmen, um therapeutische Maßnahmen einleiten zu kön− nen, falls behandelbare organische Erkrankung vorliegt; außerdem verschlechtert sich die Symptomatik der Patientin noch während der Anamneseerhebung, was auf dynamisches Ge− schehen (Zunahme der Symptomatik aufgrund eines hirnorganischen Prozesses, z. B. entzünd− lich, raumfordernd) hinweisen kann 26.2 Dürfen Sie die Patientin auch gegen ihren Willen stationär aufnehmen? Ja, es besteht die Möglichkeit als Arzt, die Patien− tin auch gegen ihren Willen fürsorglich zurück− zuhalten, bis ein Richter Weiteres entscheidet (Unterbringungsgesetz) 26.3 Welche Erkrankungsbilder ziehen Sie bei der Patientin in Erwägung? Für welche Ver− dachtsdiagnose entscheiden Sie sich? Mögliche Erkrankungen: K Paranoide Erkrankung; dagegen sprechen die pathologischen Ergebnisse von Mini−Mental− und Uhren−Test K Akuter Prozess des Gehirns, z. B. Entzündung, Raumforderung; dagegen spricht längerfristige Anamnese (mehrfaches Anzeigen der Nach− barn bei der Polizei) K Demenz dafür sprechen pathologische Ergeb− nisse von Mini−Mental− und Uhren−Test: – Alzheimer−Demenz – Vaskuläre Demenz

– Demenz bei Morbus Parkinson – Verdachtsdiagnose: Demenz bei Normal− druckhydrozephalus (NPH); Begründung: typische Trias R Demenz, Gangstörung, Harninkontinenz

26.4 Welche Untersuchungen veranlassen Sie? Nennen Sie typische Untersuchungsbefunde, die Sie bei Ihrer Verdachtsdiagnose erwarten würden! K Routineuntersuchungen: Labor, EKG, Blut− druckprofil K Doppler−Sonographie der zuführenden Hirnge− fäße zum Ausschluss von Stenosen K EEG K Schädel−CT oder −MRT K Weiterführende psychologische Tests (z. B. SCL−90 = Symptom−Checkliste): Nachweis ei− ner Demenz

Schädel−MRT bei Normaldruckhydrozephalus: gleich− mäßige Erweiterung der inneren Liquorräume, eher en− ge äußere Liquorräume, insbesondere enge hochfrontale bis hochparietale Hirnfurchen, eher gerin− ge allgemeine Atrophie

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K Schädel−MRT mit dynamischer Liquormessung K Lumbalpunktion mit Ablassen von 30–50 ml Liquor: sofort oder innerhalb von einigen Ta− gen Verbesserung der Symptomatik

26.5 Welche Therapieoption kommt in Frage, wenn sich Ihre Verdachtsdiagnose bestatigt? Einbau eines Shuntsystems zur Liquorableitung (ventrikulo−peritonaler Shunt)

KOMMENTAR Definition: Beim Normaldruckhydrozephalus (NPH) handelt es sich um eine zerebrale Liquorab− flussstörung meist ohne oder mit nur geringer Er− höhung des mittleren intrakraniellen Drucks. Epidemiologie: Die Inzidenz des idiopathischen NPH liegt bei 10/100 000 pro Jahr, der Altersgipfel zwischen dem 60. und 70. Lebensjahr. 25 % der Patienten sind jünger als 50 Jahre.

Therapie: s. Antwort zur Frage 26.5. Nach Shunt− anlage kommt es bei den meisten Patienten zu einer deutlichen Verbesserung der Symptomatik. Proble− matisch sind perioperative Komplikationen (Infek− tionen, Shunt−Probleme, postoperative Krampfan− fälle), die in bis zu 40 % der Fälle auftreten. Eine sorg− fältig durchgeführte Shuntnachsorge ist daher unabdingbar (4–6 Wochen postoperativ, dann halb− jährliche, später jährliche Kontrollen). Prognose: Eine günstige Prognose haben Patien− ten mit Ventrikelshunt, wenn sie folgende Kriteri− en erfüllen: K Symptomdauer , 2 Jahre K Klassische Trias; im Vordergrund steht v. a. die Gangstörung, weniger die Demenz K Typischer CT− bzw. MRT−Befund K Deutliche klinische Besserung nach Ablassen von 50 ml Liquor in der Lumbalpunktion K Symptomatischer statt idiopathischer NPH.

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26 Antworten und Kommentar

Klinik: Der NPH ist durch die Symptomtrias Gang− störung, Demenz und Harninkontinenz gekenn− zeichnet. Häufig beginnt die Erkrankung mit einer Gangstörung, diese kann unterschiedlich ausge− prägt sein. Meist kann man eine Gangataxie, eine Gangapraxie oder ein parkinsonoid anmutendes kleinschrittiges Gangbild beobachten. Besonders deutlich treten die Auffälligkeiten bei der Aufforde− rung sich umzudrehen zu Tage. Die Demenz entwi− ckelt sich meist schleichend, im Vordergrund stehen kognitive Defizite. Die Harninkontinenz wird häufig von den Patienten als einziges Symptom bemerkt und tritt meist im späteren Verlauf hinzu.

Differenzialdiagnosen: s. Antwort zur Frage 26.2. Der NPH beginnt charakteristischerweise mit einer Gangstörung, die der einer Parkinsonerkrankung durchaus ähnlich sein kann. Differenzialdiagnosti− sche Schwierigkeiten bereitet dies v. a. dann, wenn zunächst die weiteren beiden Charakteristika des NPH fehlen und zusätzlich Symptome wie Rigor, Tremor und Hypokinese auftreten.

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Ätiologie: Meist handelt es sich um einen idiopa− thischen NPH, seltener um einen symptomati− schen (sekundären), z. B. nach Subarachnoidalblu− tung, Meningitis, Schädelbestrahlung oder intra− kraniellen Eingriffen. Während man bei der idiopathischen Form einen Zusammenhang zwi− schen einem jahrelangen arteriellen Hypertonus und konsekutiver Arteriosklerose sowie gestörter Autoregulation der Hirngefäße vermutet, können die symptomatischen Formen auf pathologisch veränderte Arachnoidalzotten (z. B. durch Entzün− dungsprozesse) mit konsekutiver Störung des Li− quorabflusses zurückgeführt werden. Eine Kom− munikation von inneren und äußeren Liquorräu− men ist bei beiden Formen vorhanden. Man geht von einer Störung im Liquorabfluss im äußeren Liquorraum aus. Der (mittlere) Liquordruck ist bei Messung normal (,15 mmHg). Es scheinen jedoch Druckspitzen mit einer Dauer von etwa 1 bis 2 Minuten vorzukommen, die dazu führen, dass Li− quor in den periventrikulären Markraum übertritt und schließlich zu subkortikalen Läsionen füh− ren kann. Die Symptomtrias lässt sich damit erklä− ren, dass während dieser Druckspitzen v. a. die Mantelkante des Gehirns gegen die Falx cerebri gedrückt wird.

Diagnostik: s. Antwort zur Frage 26.4. Besonders eindrücklich ist die Symptomverbesserung nach Lumbalpunktion mit Ablassen von 30–50 ml Li− quor. Sie wird objektiviert durch die Messung der Gehgeschwindigkeit bezogen auf eine definierte Weglänge jeweils vor und nach der Punktion. Zu beachten ist, dass manchmal bis zu 2 Tage verge− hen können, bis sich Besserungen zeigen. Mehr− malige Punktionen (bis zu 3−mal) sind dann indi− ziert, wenn trotz fehlender Befundbesserung nach der ersten Lumbalpunktion ein starker Verdacht auf das Vorliegen eines NPH besteht.

Klinische Besserungen sind noch nach bis zu 1 Jahr postoperativ möglich, nach 2 Jahren jedoch nicht mehr zu erwarten. Am längsten dauert es, bis die demenziellen Symptome sich bessern. Ein nichttherapierter NPH kann in eine völlige Im− mobilität münden. Es finden sich dann oft Spas− tik, positive Pyramidenbahnzeichen und patholo− gisches Greifen oder Saugreflexe als Ausdruck einer zunehmenden zentralen Enthemmung“.

ZUSATZTHEMEN FÜR LERNGRUPPEN Shuntvarianten bei Normaldruckhydrozephalus Durchfuhrung eines Mini−Mental−Status

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Posttraumatische Belastungsstörung

Antworten und Kommentar

K Suizidalität 27.1 Definieren Sie den Begriff Trauma! K Griechisch: Verletzung K Wiederholtes Erleben des Traumas in sich auf− drängenden Erinnerungen (Flashbacks) oder in K ICD−10: belastendes Ereignis oder Situation Träumen außergewöhnlicher Bedrohung oder katastro− phalen Ausmaßes, die bei fast jedem eine tiefe K Andauerndes Gefühl von Betäubtheit oder Verzweiflung hervorrufen würde. Hierzu gehö− emotionaler Stumpfheit K Gleichgültigkeit gegenüber anderen Menschen ren eine durch Naturereignisse oder von Men− und Abgestumpftheit gegenüber der Umge− schen verursachte Katastrophe, eine Kampf− bung handlung, ein schwerer Unfall, Zeuge eines ge− K Anhedonie (Freud− und Lustlosigkeit) waltsamen Todes anderer zu sein oder selbst K Zustand vegetativer Übererregbarkeit mit Vigi− Opfer von Folter, Terrorismus, Vergewaltigung lanzsteigerung, übermäßiger Schreckhaftigkeit oder anderen Verbrechen zu sein K Psychotraumatologische Definition (nach Fi− und Schlaflosigkeit scher und Riedesser): Diskrepanzerlebnis zwi− schen bedrohlichen Situationsfaktoren und in− !!! 27.4 Schildern Sie Therapiemoglichkeiten! dividuellen Bewältigungsmöglichkeiten, das K Krisenintervention in der Schockphase: mit Gefühlen von Hilflosigkeit und schutzloser – Sicherheit vermitteln, z. B. durch Entfernen aus der Umgebung des Traumas, Erklärung Preisgabe einhergeht und so eine dauerhafte Erschütterung von Selbst− und Weltverständ− was passiert, Respektieren von Abwehrme− nis bewirkt chanismen, unaufdringlicher Körperkontakt (z. B. Hand halten) kann hilfreich sein, ist aber sehr vorsichtig einzusetzen 27.2 Beschreiben Sie die Phasen der Trauma− – Empathischer und einfühlsamer Gesprächs− verarbeitung! partner sein, Gefühlsausbrüche begleiten, K Schockphase: eine Stunde bis eine Woche; bei emotionaler Starre einfach nur da sein Symptome: Gefühl der Unbeweglichkeit mit – Verständnis für die Traumawirkungen ha− häufig folgender Verleugnung der Situation ben und beim Patienten fördern und/oder der durchlebten Gefühle von Bedro− K Regeln der postexpositorischen Traumathe− hung und Verängstigung; dissoziative Sympto− rapie (nach Wilson): me wie veränderte Wahrnehmungen (Tunnel− 1. Nicht beurteilendes Akzeptieren des Opfers sicht, Depersonalisation, Derealisation) K Einwirkungsphase: bis zu 2 Wochen; Symp− 2. Sofortige Intervention und die Beschaffung tome: Ärger, Schuldzuweisungen, Selbstzwei− von Hilfe unterstützt den Erholungsprozess fel, Depression, Gefühle von Hoffnungslosig− 3. Erwartung massiver Gegenübertragungsreak− keit und Ohnmacht; Unfähigkeit, an positive tionen Möglichkeiten zu denken 4. Bereitschaft, sich als Therapeut testen“ zu las− K Erholungsphase: langsames Abklingen der sen o.g. Symptome, ggf. mit Hilfe; in dieser Phase 5. Übertragung ist in der Traumatherapie ein Pro− Entscheidung, ob sich ein langfristiges Belas− zess der Wiederaufnahme von Beziehungen tungssyndrom entwickelt; Anfälligkeit für 6. Ausgehen von der Hypothese, dass das post− Drogen und Alkohol traumatische Belastungssyndrom durch ein trau− matisches Ereignis hervorgerufen wurde 7. Information über die Natur und Dynamik von !!! 27.3 Stimmen Sie mit dieser Einschatzung uberein? Begrunden Sie Ihre Ansicht mit der traumatischen Reaktionen ist Bestandteil der Aufzahlung der moglichen Symptome einer Traumatherapie posttraumatischen Belastungsstorung! 8. Traumatische Ereignisse können in jedem Le− Nein; das Verhalten des Patienten kann zur bensalter zu Veränderungen der Ich− und Identi− Symptomatik der posttraumatischen Belastungs− tätsentwicklung führen störungen gehören: 9. Verwerfung, Spaltung und Formen von Disso− ziation gehören zu den Abwehrmechanismen, die K Vermeidung von Aktivitäten und Situationen, einem psychischen Trauma folgen die Erinnerungen an das Trauma wachrufen 10. Selbstbehandlungsversuche durch Drogen könnten oder Alkohol sind verbreitet K Furcht vor und Vermeidung von Stichworten, 11. Die erfolgreiche Transformation der traumati− die Erinnerungen auslösen könnten schen Erfahrung kann die Entwicklung positiver K Selten auch dramatisch akute Ausbrüche von Charakterzüge zur Folge haben Angst, Panik und Aggression durch plötzliches 12. Soziales Engagement und Sprechen über das Erinnern oder Wiedererleben der Situation Trauma fördern den Erholungsprozess K Suchtproblematik K Angst und Depression

Fall 27 Seite 28 Aus J. Becker-Pfaff, St. Engel: Fallbuch Psychiatrie (ISBN 3-13-140181-8) © Georg Thieme Verlag Stuttgart 2006 Dieses Dokument ist nur für den persönlichen Gebrauch bestimmt und darf in keiner Form an Dritte weitergegeben werden!

13. Die Transformation des Traumas ist ein le− benslanger Prozess

K Evtl. Einsatz symptomorientierter Psycho− pharmaka wie Antidepressiva, Benzodiazepi− ne (cave: Sucht!), Neuroleptika

KOMMENTAR Definition: s. Antwort zur Frage 27.1. Bei den meisten psychiatrischen Krankheitsbildern muss man sich mit Traumata auseinandersetzen. Dabei muss man mit dem Begriff Trauma umsichtig um− gehen, denn er kann zu vielen Erklärungen heran− gezogen werden (jeder von uns hat sein Trauma“ zu bearbeiten). Durch den unkritischen Gebrauch wird die dynamische und tragische Wucht eines schweren Traumas verharmlost. Die posttraumati− sche Belastungsstörung (Syn. posttraumatisches Belastungssyndrom, posttraumatisches Belas− tungssymptom, posttraumatisches Psychosyn− drom, posttraumatisches Stresssyndrom, psycho− traumatisches Belastungssyndrom, traumatische Neurose) ist die einer psychischen Krankheit ent− sprechende Reaktion auf ein Trauma.

Differenzialdiagnosen: Die akute Belastungsre− aktion unterscheidet sich v. a. durch die kürzere Dauer und die unmittelbar an ein Trauma anschlie− ßende Symptomatik, die eher durch Erregung oder Erstarrung, Angst und Körperstörungen wie Läh− mung oder vegetative Symptome gekennzeichnet ist. Eine affektive Störung wird durch die Anam− nese, den zeitlichen Zusammenhang der Sympto− matik mit dem Trauma sowie die fehlenden typi− schen Symptome wie Flashbacks, Vermeidungsver− halten usw. abgegrenzt. Die Unterscheidung psychotischen Erlebens von dem Erleben im Rah− men einer posttraumatischen Belastungsstörung kann schwierig sein. Differenzialdiagnostisch müssen auch die möglichen Begleiterkrankungen erfasst werden, v. a. Suchterkrankungen, Angster− krankungen, depressive Störungen und antisoziale Persönlichkeitsstörungen. Therapie und Prognose: s. Antwort zur Frage 27.5. Eine frühe Intervention verbessert die Prog− nose. Aufgrund der komplexen Zusammenhänge bei der Entstehung der posttraumatischen Belas− tungsstörung (s. Ätiologie) lassen sich keine pau− schalen Aussagen zur Prognose machen. Sie hängt ebenso wie die Entstehung von den individuellen Voraussetzungen, der Schwere des Traumas und den Möglichkeiten der Therapie ab.

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28 Antworten und Kommentar

Ätiologie: Ob nach einem Trauma eine posttrau− matische Belastungsstörung entsteht, hängt einer− seits vom objektiven“ Trauma (z. B. Schweregrad des Traumas, Häufung traumatischer Ereignisse, Mittelbarkeit des traumatischen Ereignisses, Ver− hältnis zwischen Täter und Opfer), andererseits vom subjektiven“ Trauma ab (z. B. individuelle Disposition, Vorliegen protektiver Faktoren wie stabile Familiensysteme, überdurchschnittliche In− telligenz; Risikofaktoren wie Vereinsamung, psy− chische Vorerkrankungen, unterschiedliche psy− chische Abwehr−, Coping− [Umgang mit der Krank− heit] und Persönlichkeitsstile). Neurobiologisch findet man eine Überaktivierung der Amygdala und des Hippocampus sowie erniedrigte Kortisol− spiegel im Blut. Eine andere ätiologische Zugangs−

Klinik und Diagnostik: s. Antwort zur Frage 27.2.

Fall

Epidemiologie: Aufgrund der unterschiedlichsten Definitionen, diagnostischen Instrumente und Klassifikationen sowie der unterschiedlichen Trau− mata und deren Folgen gibt es keine zuverlässigen epidemiologischen Daten.

weise ist die Definition unterschiedlicher Trauma− ta: Gemäß der o.g. Definition subsummieren sich u. a. unter dem Begriff Trauma (früh−)kindliche Traumata (z. B. durch Vernachlässigung, Gewalt, sexuellen Missbrauch), Traumata durch Gewalter− fahrungen (z. B. im Rahmen von Krieg, Kriminali− tät, Vergewaltigung) und Traumata nach Verfol− gungssituationen (z. B. Holocaust, Folter und Exil).

ZUSATZTHEMEN FÜR LERNGRUPPEN Psychodynamische und verhaltenstherapeutische Behandlungsmethoden Eye Movement Desensitization and Reprocessing (EMDR) Trauerreaktion

Fall 28

Psychopharmakotherapie während Schwangerschaft und Stillzeit

28.1 Nennen Sie Gründe dafür! K Medikamentöse Therapie bei akuten psychiat− rischen Erkrankungen meist unverzichtbar; Behandlung einer akuten Symptomatik hat Vorrang vor Stillen

K Übertreten sämtlicher Psychopharmaka in Muttermilch R unerwünschte Wirkungen beim Neugeborenen (z. B. Floppy−Infant−Syn− drom [muskuläre Hypotonie] nach Gabe von Benzodiazepinen bei Stillenden, Gefahr der

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Benzodiazepinabhängigkeit und Atemdepressi− on beim Neugeborenen; extrapyramidal−moto− risches Syndrom des Neugeborenen [EPS] nach Gabe von Neuroleptika, z. B. Haloperidol, vor Entbindung)

28.2 Nennen Sie Beispiele für teratogene Psy− chopharmaka! Trizyklische Antidepressiva, Monoaminoxidase− hemmer, Lithium, Carbamazepin, Valproinsäure

28.3 Was wissen Sie uber die Pharmakokinetik bei Neugeborenen? K Das Gehirn Neugeborener reagiert ausgespro− chen sensitiv auf psychotrope Substanzen K Die Blut−Hirn−Schranke ist noch nicht voll− ständig ausgebildet K Die Plasmaproteinbindungskapazität ist er− niedrigt K Die Leberenzymfunktionen und oxidative Me− tabolisierungfähigkeit sind noch nicht ausge− bildet, so dass Psychopharmaka akkumulieren K Die Nierenfunktion (glomeruläre Filtrationsra− te, tubuläre Sekretionsrate) beträgt nur 20– 40 % eines Erwachsenen

KOMMENTAR

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Fall

28 Antworten und Kommentar

Epidemiologie: Die Schwangerschaft stellt nicht nur für psychisch erkrankte Frauen, sondern für alle Frauen eine Phase besonderer physischer und psychischer Belastung dar. Etwa 90 % der schwan− geren Frauen nehmen während der Schwanger− schaft Medikamente ein. Mindestens 35 % der Schwangeren sollen wenigstens einmal während der Schwangerschaft psychotrope Medikamente eingenommen haben; häufig handelt es sich um Benzodiazepine. Im Vergleich zu der übrigen Zeit gebärfähiger Frau− en sinkt während einer Schwangerschaft die Inzi− denz für bipolare affektive Störungen auf ca. 75 %, steigt aber postpartal innerhalb des 1. Monats auf das 8−fache an. Bei ca. 10 % der Schwangeren wird während einer Schwangerschaft eine manifeste Depression diagnostiziert. Die Inzidenz kurzfristi− ger depressiver Verstimmungen während einer Schwangerschaft liegt dagegen bei 25–50 %, die der postpartalen Depression bei 10–15 %. Bei den Schizophrenien schätzt man, dass 5,5 % der Ersterkrankungen im Wochenbett beginnen. Die Wahrscheinlichkeit einer Remanifestation ei− ner bestehenden Schizophrenie ist deutlich selte− ner (3 %). Die Inzidenz von Zwangserkrankungen steigt während einer Schwangerschaft deutlich an. Bei bis zu 50 % manifestiert sich die Zwangserkran− kung erstmals während der Schwangerschaft. Psychopharmakotherapie während Schwanger− schaft und Stillzeit: Die Therapie psychisch er− krankter Frauen während Schwangerschaft, Wo− chenbett und Stillzeit stellt sowohl für die Betrof− fenen als auch für den behandelnden Psychiater eine große Herausforderung dar. Die Indikation für die Gabe von Psychopharmaka während Schwangerschaft und Stillzeit muss sehr streng ge− stellt werden. Dabei ist die Risiko−Nutzen−Abwä−

gung oft mit Schwierigkeiten verbunden: Einer− seits kann die pharmakologische Behandlung mögliche Komplikationen (Teratogenität, Perina− talsyndrome, postnatale Entwicklungs− und Ver− haltensstörungen) verursachen, andererseits ist z. B. eine unbehandelte psychotische Störung der Mutter nicht ohne Risiko für das Kind (z. B. Suizi− dalität). Falls irgend möglich, sollte im 1. Trime− non auf Psychopharmaka verzichtet werden, weil hier die Gefahr von Fehlbildungen des Ungebore− nen am größten ist. Dennoch ist auch eine Behand− lung nach dem 1. Trimenon nicht ohne Gefahren, da es hier zu Intoxikationen und unerwünschten Wirkungen beim Ungeborenen kommen kann. Klinisch werden eher klassische hochpotente Psychopharmaka, z. B. Haloperidol (Neurolepti− kum der 1. Wahl) eingesetzt, da ihre Nebenwirkun− gen schon besser erforscht sind. Die Medikamente werden in möglichst niedrigen Dosierungen und fraktioniert verabreicht, um Peaks im Serum zu vermeiden. Schwangere und Kindsvater müssen über die Risiken aufgeklärt werden. Vor der Geburt (10–14 Tage vor Termin) wird die Dosis reduziert oder das Präparat ganz abgesetzt, damit es nicht zu Komplikationen kommt (extrapyramidal−motori− sches Syndrom des Neugeborenen nach Neurolep− tikagabe). Innerhalb von 2 Tagen sollte post par− tum die neuroleptische Medikation wieder aufge− nommen werden, um einer psychotischen Exazerbation vorzubeugen. Folgende Medikamente sind während einer Schwangerschaft kontraindiziert: trizyklische Anti− depressiva, MAO−Hemmer, Lithiumsalze, Carbama− zepin und Valproinsäure, weil sie mit großer Wahr− scheinlichkeit eine teratogene Wirkung haben und zu Fehlbildungen führen können. Eindeutige Belege existieren hierfür noch nicht, da Studien bislang wi− dersprüchliche Ergebnisse erbrachten.

ZUSATZTHEMEN FÜR LERNGRUPPEN Richtlinien zur medikamentosen Behandlung wahrend Schwangerschaft, Perinatal− und Stillzeit Kinderwunsch bei psychisch Kranken

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Fall 29

Alkoholentzugssyndrom und beginnendes Alkoholentzugsdelir

29.1 Welche Frage stellen Sie sich als erstes? K Warum bringt ein erregter Mann diese Frau in ein psychiatrisches Krankenhaus, obwohl sie doch bis auf ihre Alkoholfahne recht geordnet wirkt? K Der Druck und die Not des Mannes sowie die erst auf den zweiten Blick situationsinadäquat ruhige Art der Patientin könnten auf eine ver− borgene Notfallsituation schließen lassen

29 Antworten und Kommentar

29.3 Welche Verdachtsdiagnose stellen Sie? An welche Differenzialdiagnosen müssen Sie den− ken? K Verdachtsdiagnose: beginnendes Alkoholent− zugsdelir; Begründung: optische Halluzinatio− nen in Verbindung mit Alkoholanamnese so− wie vegetative Symptome des Alkoholentzugs− syndroms (Unruhe, Zittern) K Differenzialdiagnosen: – Alkoholhalluzinose (in der Regel kaum ve− getative Begleitsymptomatik, eher akusti− sche Halluzinationen) – Sinnestäuschungen organischer Ätiologie, z. B. entzündliche oder neoplastische Pro− zesse des Gehirns mit unterschiedlichen charakteristischen Begleitsymptomen (in Verbindung mit der Alkoholanamnese eher unwahrscheinlich, doch nur durch Bildge− bung auszuschließen, da Tumoren und Ent− zündungen verschiedenste Symptome aus− lösen können) – Sinnestäuschungen im Rahmen eines schi− zophreniformen Geschehens (erst im län− geren Verlauf zu beurteilen)

29.5 Welche medikamentösen Optionen haben Sie für die Behandlung des Krankheitsbildes? K Behandlung des Alkoholentzugs: Clomethiazol oder Benzodiazepine; Kontraindikation: Alko− holintoxikation (wegen atemdepressiver Wir− kung), bei beginnendem Alkoholentzugsdelir ist aber Risikoabwägung notwendig; Aus− schleichen beider Substanzklassen innerhalb von ca. 10 Tagen, Reduktion um ca. 10 %/d. – Clomethiazol (Distraneurin): Beginn der Behandlung unterhalb von 1 Blutalkohol; max. 24 Kapseln/d (also max. 2 Kapseln al− le 2 h), Titration nach klinischer Symptoma− tik; bei leichteren Verläufen 2 Kapseln alle 4–6 h; bei schweren Verläufen i. v. (cave: wegen starker bronchialer Verschleimung und Gefahr der Atemdepression nur unter intensivmedizinischen Bedingungen!) – Diazepam (4 3 10 mg/d) K Behandlung der psychotischen Symptomatik: Haloperidol (5–15 mg/d p.o.), auch bei beste− hender Alkoholintoxikation möglich K Bei bekannter Anfallsneigung: Carbamazepin (1. Tag 2 3 200 mg; ab 2. Tag 2 3 400 mg für eine Woche, dann mit Reduktion um jeweils 100 mg/d ausschleichen); cave: Lebertoxizität!

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29.2 Welche Fragen stellen Sie der Patientin? K Fragen zur Person: Wie heißen Sie? Wo woh− nen Sie? Wie alt sind Sie? K Fragen zur Situation und Orientierung: Was ist los? Wer hat Sie gebracht? Wissen Sie, wo Sie sind? Wissen Sie, welcher Tag heute ist? K Fragen zum Alkoholkonsum: Trinken Sie re− gelmäßig? Wie viel trinken Sie regelmäßig? Wie viel haben Sie heute schon getrunken? Wann haben Sie den letzten Alkohol getrun− ken? Was passiert, wenn Sie keinen Alkohol trinken? Haben Sie schon einmal einen Alko− holentzug durchgemacht? Nehmen Sie noch andere Drogen? K Fragen zur sonstigen somatischen Anamne− se: Haben Sie körperliche Erkrankungen (v. a. arterielle Hypertonie, Hyperthyreose, epilepti− sches Leiden)?

29.4 Welche diagnostischen Maßnahmen lei− ten Sie ein? Cave: Alkoholentzugsdelir ist lebensbedrohli− cher Notfall! K Bestimmung von Blutdruck, Puls, Tempera− tur: Erfassung des vegetativen Zustandes (ers− te 12 h mindestens stündlich, danach bei Sta− bilisierung für weitere 12 h alle 2 h, danach für weitere 2–3 d alle 4 h, dann entsprechend der klinischen Situation) K Bestimmung des Alkoholspiegels in Ausatem− luft (Alkomat“: schnell, aber ungenau, zur Verlaufsbestimmung gut geeignet) oder Blut; bei Aufnahme und ca. 1 h später oder bei be− ginnender Eintrübung K Blutentnahme mit Bestimmung von Blutzu− cker, Na, K, Ca, Kreatinin, g−GT, GOT, GPT, Quick, Blutbild, Entzündungsparameter, TSH: Beurteilung des Stoffwechsels und Diag− nose somatischer Grund− oder Begleiterkran− kungen K Körperliche Untersuchung: Beurteilung der somatischen Situation K Möglichst Fremdanamnese: Verifizierung der Angaben der Patientin

KOMMENTAR Definition: Das Alkoholentzugsdelir (Syn. Deliri− um tremens) ist bezüglich der Symptomatik der Prototyp für das Zustandsbild Delir“. Das Delir

wird u. a. auch als akute organische Psychose“, akutes organisches Psychosyndrom“ oder als symptomatische Psychose“ bezeichnet. Es be−

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schreibt einen Verwirrtheitszustand, der v. a. durch qualitative und quantitative Bewusstseinsver− änderungen gekennzeichnet ist. Das Alkoholent− zugsdelir ist das Vollbild eines Alkoholentzugssyn− droms. Das Alkoholentzugssyndrom kann in die Stadien unvollständiges Delir“ oder Prädelir“, vollständiges Delir“ und lebensbedrohliches De− lir“ eingeteilt werden.

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Klinik: Das leichte Alkoholentzugssyndrom ist durch Unruhe, Zittern, Schwitzen, Schlafstörun− gen, Tachykardie und arterielle Hypertonie ge− kennzeichnet. Es kann in das Prädelir übergehen, bei dem sich zu den Symptomen noch flüchtige, meist optische Halluzinationen gesellen. Im aus− geprägten Delir kommen schwerere Bewusst− seins− und Orientierungsstörungen sowie para− noide Vorstellungen und eine massive psycho− motorischen Unruhe hinzu. Sehr charakteristisch ist die erhöhte Suggestibilität, so dass die Patien− ten beispielsweise nach einem nicht vorhandenen Faden greifen, der ihnen durch den Untersucher angeboten“ wird. Das lebensbedrohliche Delir ist durch schwere vegetative Entgleisungen (arteri− elle Hypertonie, Tachykardie, Herzrhythmusstö− rungen und Elektrolytentgleisungen) charakteri− siert. Eine Komplikation aller Stadien sind die Al− koholentzugskrämpfe.

Antworten und Kommentar

Diagnostik: s. Antworten zu Fragen 29.2 und 29.4. Das Alkoholentzugssyndrom wird anamnestisch, durch die klinische Untersuchung, labortechnisch und durch die apparativen Zusatzuntersuchungen diagnostiziert. In Krankenhäusern können sich bei Patienten Al− koholentzugssyndrome entwickeln, wenn die Pa− tienten ihren täglichen Alkoholkonsum verschwei− gen oder schamvoll falsche Angaben machen. Eine sorgfältige Alkoholanamnese bekommt so auch in somatisch orientierten Fachrichtungen eine wich− tige Bedeutung. Besonders gefährdet für ein Alko− holentzugsdelir sind Patienten, die ein solches schon in ihrer Anamnese haben. Differenzialdiagnosen: s. Antwort zur Frage 29.3. Die Alkoholintoxikation zeichnet sich durch ver− schiedene Stadien und erst bei hohen Alkoholkon− zentrationen im Blut durch Halluzinationen, Be− wusstseins− und Vigilanzstörungen aus. Der pa−

thologische Rausch ist nicht abhängig von der Alkoholkonzentration im Blut und besteht aus ei− nem Dämmerzustand mit Erregtheit, Angst, Hallu− zinationen und Aggressivität mit anschließender Amnesie. Die Alkoholhalluzinose hat als Leit− symptom die akustischen Halluzinationen über lange Zeit (Monate bis Jahre) ohne Bewusstseins− störungen oder Desorientiertheit. Bei chronischem Alkoholismus kann sich ein Korsakow−Syndrom entwickeln, bei dem die Bewusstseinsstörungen und Sinnestäuschungen des Delirs fehlen, jedoch Desorientiertheit und Konfabulationen auftreten. Therapie: Das leichte Alkoholentzugssyndrom muss nicht unbedingt medikamentös behandelt werden. Eine sorgfältige klinische Kontrolle mit Beobachtung der Vitalparameter und des Bewusst− seinszustandes des Patienten sollte jedoch durch− geführt werden. Bei Alkoholentzugsdelir oder Al− koholentzugskrämpfen in der Anamnese sollten prophylaktisch Clomethiazol, Bezodiazepine oder Carbamazepin gegeben werden. Bei deutlichen ve− getativen Zeichen sollte die medikamentöse The− rapie mit Clomethiazol oder Benzodiazepinen be− gonnen werden (s. Antwort zur Frage 29.5). Diese wirken psychomotorisch und vegetativ dämpfend und leicht antikonvulsiv. Dabei ist zu beachten, dass Clomethiazol ausgeprägt suchtinduzierend wirkt, so dass von einer ambulanten Verordnung dringend abzuraten ist. Die Entscheidung über den Behandlungsort ist vom Stadium des Alkoholent− zugssyndroms abhängig. Unkomplizierte Entzüge mit medikamentöser Unterstützung sind auf All− gemeinstationen gut durchzuführen, während de− lirante Zustandsbilder engmaschig überwacht werden sollten. Patienten mit lebensbedrohlichem Delir müssen auf der Intensivstation behandelt werden. Die hier vorgestellte Behandlung des Alkoholent− zugssyndroms wird im allgemeinen Sprachge− brauch als Entgiftung bezeichnet. Schon in dieser Zeit sollte die weitere Versorgung des Suchtkran− ken geplant werden. Der Arzt stellt Kontakt zu Suchtberatungsstellen her, empfiehlt eine Selbst− hilfegruppe und leitet ggf. eine stationäre oder teil− stationäre Entwöhnungstherapie ein (s. Fall 19).

ZUSATZTHEMEN FÜR LERNGRUPPEN Korperliche Ursachen fur delirante Zustandsbilder Dosierungen und Halbwertszeiten verschiedener Benzodiazepine Prophylaxe von Krampfanfallen

Fall 29 Seite 30 Aus J. Becker-Pfaff, St. Engel: Fallbuch Psychiatrie (ISBN 3-13-140181-8) © Georg Thieme Verlag Stuttgart 2006 Dieses Dokument ist nur für den persönlichen Gebrauch bestimmt und darf in keiner Form an Dritte weitergegeben werden!

Fall 30

Narzisstische Persönlichkeitsstörung

30.1 Was fällt Ihnen an dem Verhalten des Patienten auf? K Inanspruchnahme des Notarztes mit Angabe eines schweren Symptoms (Suizidalität) K Betonung der eigenen Großartigkeit (Klei− dung, Bemühungen um die Freundin, Be− schreibung seiner Fähigkeiten am Arbeits− platz) K Große Kränkbarkeit (Streit mit Freundin führt zu Suizidgedanken, Verrichten einfacher Tätig− keiten führt zum Abbruch der Ausbildungen, 3−Bett−Zimmer wird kränkend erlebt) K Bagatellisierung der eigenen Not im stabili− sierenden Umfeld (Verleugnung der Suizidali− tät) K Hohe Erwartungshaltung (Aufnahme und langes Gespräch nicht genug) K Rückzug auf vermeintliche innere Kompe− tenzen nach Wahrnehmung der Kränkung (kann sich selbst besser helfen“)

30 Antworten und Kommentar

30.3 Nennen Sie Merkmale einer narzisstischen Persönlichkeitsstörung! K Übertriebenes Selbstwertgefühl und Annahme einer übersteigerten und elitären Einzigartig− keit K Übertriebene Phantasien über absoluten Er− folg, absolute Macht, Schönheit oder Liebe K Verlangen nach ständiger Bewunderung K Ausgeprägtes Anspruchsdenken K Gestaltung zwischenmenschlicher Beziehun− gen dient meist eigenem Interesse K Mangelndes Einfühlungsvermögen in Andere K Neid und Glaube, dass Andere neidisch auf ihn/sie seien K Arrogantes und überhebliches Verhalten

30.5 Welche Behandlungsaspekte fallen Ihnen ein? K Behandlung depressiver Symptome: Antide− pressiva, z. B. Citalopram (20 mg/d) K Behandlung von Angst, Getriebenheit und Unruhe: nieder− oder mittelpotente Neurolep− tika, z. B. Chlorprothixen (30–100 mg/d) oder Perazin (25–150 mg/d), ggf. auch Benzodiaze− pine, z. B. Diazepam (1–10 mg/d) (cave: Sucht− entwicklung!) K Krisenintervention zur Restabilisierung: Wi− derherstellung eines (pseudo−)stabilen Selbst− bildes und Konsolidierung der Abwehrmecha− nismen gegen die drohenden Ängste; in der klinischen Praxis wird dies häufig schon durch den intensiven, um den Patienten zentrierten medizinischen Aufwand und die Halt gebende Struktur eines Krankenhauses oder einer Pra− xis erreicht K Behandlung der Persönlichkeitsstörung: Do− mäne der Psychotherapie mit psychoanalyti− schen und verhaltenstherapeutischen Metho− den; therapeutische Beziehung als Grundlage; Ziel: Einordnung kränkender Erfahrungen und Entwicklung von Alternativen zum narzissti− schen Verhaltensrepertoire

127

Fall

30.2 Welche Verdachtsdiagnose und Differen− zialdiagnosen können Sie aufgrund der erhobe− nen Befunde stellen? K Verdachtsdiagnose: Akute Anpassungsstö− rung nach Partnerschaftskonflikt mit Suizida− lität bei dringendem Verdacht auf narzissti− sche Persönlichkeitsstörung; Begründung: s. Antwort zur Frage 30.1 K Differenzialdiagnosen: – Hypomanie bei bipolarer affektiver Psycho− se mit leichten Größenideen (erst im Rah− men einer Verlaufsbeobachtung abzugren− zen) – Subakute paranoide Psychose; dagegen sprechen fehlende Denkstörungen

30.4 Beschreiben Sie die Ätiologie aus psycho− dynamischer und aus lerntheoretischer Sicht! K Psychodynamisch: Erleben einer schweren oralen Mangelerfahrung, Deprivation oder Traumatisierung; Reaktion darauf mit Erschaf− fung eines Systems, das den Patienten vor sich selbst und vor anderen als großartig und bes− ser als alle anderen inszeniert; damit Ver− drängung und Kompensation der unbewuss− ten Mangelerfahrung; Patient bleibt aber von Umwelt abhängig und somit in ständiger Wiederholungsgefahr der frühkindlichen Man− gelerfahrung; bei Zusammenbruch der Ver− leugnung dieser Abhängigkeit und der Illusion der eigenen Großartigkeit häufig Symptome wie Suizidalität oder Depression; die in oft nur kurze Behandlungen führen K Lerntheoretisch: Erleben von Verwöhnung und Schmeichelei in Verbindung mit einem unberechenbaren und inkonsequenten Er− ziehungsstil; daher schwer korrigierbare Er− fahrung, ohne persönliche Anstrengung alles erreichen zu können und Objekt ständiger Be− wunderung zu sein

KOMMENTAR Definition: Der Begriff der narzisstischen Persön− lichkeitsstörung geht auf die griechische Sage vom schönen Jüngling Narziss zurück. Dieser weist die Liebe der Nymphe Echo zurück und wird dafür von

Nemesis damit bestraft, sich in der Liebe zum ei− genen Spiegelbild zu verzehren. Im psychiatrisch− psychotherapeutischen Sprachgebrauch werden die Begriffe Narzissmus, narzisstisch, Narziss

Fall 30 Seite 31 Aus J. Becker-Pfaff, St. Engel: Fallbuch Psychiatrie (ISBN 3-13-140181-8) © Georg Thieme Verlag Stuttgart 2006 Dieses Dokument ist nur für den persönlichen Gebrauch bestimmt und darf in keiner Form an Dritte weitergegeben werden!

usw. in verwirrender Weise verwendet. Sie sind stets mit dem Begriff des Selbstwerts verknüpft und beschreiben ein allgemeines Problem mit dem Selbstwertgefühl. So gesehen hat jeder psy− chisch kranke Patient eine narzisstische“ Störung, in der das Selbstwertgefühl massiv nach oben oder unten beeinträchtigt ist. Unter der Diagnosegrup− pe der narzisstischen Persönlichkeitsstörung wer− den jedoch nur diejenigen Patienten subsumiert, die die narzisstische Störung durch ein überhöhtes, wenn auch überaus labiles Selbstwertgefühl kom− pensieren. Epidemiologie: Gemäß der DSM−IV−Kriterien lei− den weniger als 1 % der Allgemeinbevölkerung un− ter dieser Störung. Ätiopathogenese: s. Antwort zur Frage 30.4. Die Ätiopathogenese lässt sich nur mit psychologi− schen Modellen erklären. Bisher konnten keine biologischen oder genetischen Faktoren sicher be− schrieben werden.

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Fall

31 Antworten und Kommentar

Klinik und Diagnostik: s. Antwort zur Frage 30.1 und 30.3. Der beschriebene Fall ist insofern ty− pisch, als dass er beim behandelnden Team viel Ärger auslöst. Man fühlt sich missbraucht und ent− wertet, was häufig dem inneren Erleben der Pati− enten entspricht. Bei mehrmaligen Vorkommnis− sen dieser Art sind Ablehnungen der Aufnahme oder massiver Unwille auf Seiten der Behandeln− den zu befürchten. Damit stellt der Patient meist die Situation wieder her, die seinem inneren Bild der Welt entspricht: Er ist der einzige, der sich helfen kann und der sich ernst nimmt. Daraus kön− nen sich sehr unvermittelt schwere suizidale Kri− sen oder fremdgefährdendes Verhalten ent− wickeln.

Die Diagnostik beschränkt sich auf Anamnese, Be− obachtung des Patienten, Beurteilung seiner Bezie− hungsgestaltung sowie ergänzend auf testpsycho− logische Instrumente (z. B. Freiburger−Persönlich− keits−Inventar) Differenzialdiagnosen: s. Antwort zur Frage 30.2. Gerade in der Gruppe der Persönlichkeitsstörun− gen finden sich viele Überlappungen, die häufig erst nach längeren Verläufen sicher diagnostiziert werden können. Die narzisstische Persönlichkeits− störung ist leicht mit einer histrionischen, para− noiden oder dissozialen Persönlichkeitsstörung zu verwechseln (s. Fälle 12, 51 und 64). Häufig muss die Diagnose gemischte Persönlichkeitsstö− rung“ gestellt werden. Die Abgrenzung von Erkran− kungen aus dem schizophrenen Formenkreis oder von affektiven Störungen ergibt sich häufig erst aus einer längeren Verlaufsbeobachtung und der vertieften Exploration der (häufig diskreten) Denkstörungen und der affektiven Symptome. Therapie: s. Antwort zur Frage 30.5. Die Diagnos− tik kann bei dieser Erkrankung schon Teil der The− rapie der akuten Krise sein: Im vorliegenden Fall z. B. konnte sich der Patient nur mit Hilfe des Not− arztes aus der Krise befreien. Über die Einweisung und Aufnahme konnte er einen Teil seiner Kompe− tenzen wiederherstellen, so dass ihm dann die vor− her noch so wichtige Aufnahme als überflüssig und kränkend erschien. Anstelle die Hilfe anzunehmen, entwertet er sie, um seine eigene Großartigkeit und damit vor allem seine eigene psychische Sta− bilität endgültig wiederherzustellen. Zur langfri− stigen Therapie der narzisstischen Persönlichkeits− störung wurden viele psychotherapeutische Kon− zepte entwickelt.

ZUSATZTHEMEN FÜR LERNGRUPPEN Psychotherapeutische Behandlungsansatze Narzisstische Figuren in Politik und Kultur (z. B. Slobodan Milosevic, Michael Jackson) Charakteristika weiterer Personlichkeitsstorungen

Fall 31 31.1 Lassen Sie den Patienten gehen? Begrün− den Sie Ihre Entscheidung! Nein; fürsorgliche Zurückhaltung des Patienten auch gegen seinen Willen; Begründung: akute Suizidalität: K Wiederholte suizidale Äußerungen Ihnen und anderen gegenüber K Anschließende Rücknahme bagatellisierend und nicht nachvollziehbar

Suizidalität K Deutlich eingeschränkte Impulskontrolle und Steuerungsfähigkeit durch Alkoholintoxikation und/oder evtl. psychische Erkrankung K Erwähnung einer früheren suizidalen Situa− tion

31.2 Welche Risikofaktoren für Suizidalität kennen Sie? K Psychische Erkrankung: v. a. affektive Störun− gen, Schizophrenien, Suchterkrankungen, Per− sönlichkeitsstörungen

Fall 31 Seite 32 Aus J. Becker-Pfaff, St. Engel: Fallbuch Psychiatrie (ISBN 3-13-140181-8) © Georg Thieme Verlag Stuttgart 2006 Dieses Dokument ist nur für den persönlichen Gebrauch bestimmt und darf in keiner Form an Dritte weitergegeben werden!

K Biologische und soziale Krisenzeiten, die Ver− änderungen mit sich bringen, z. B. Vereinsa− mung im Alter, chronische Arbeitslosigkeit, Gruppen mit erhöhter Hoffnungs− und Per− spektivlosigkeit K Bestimmte Psychopathologie, z. B. Hoffnungs− losigkeit, Resignation, Isolation, Gefühl der Wertlosigkeit, Schuldgefühle, Wahn, Halluzi− nationen, Panikzustände, Anfälligkeit für nar− zisstische Kränkungen K Suizidale Krisen oder Suizidversuche in der Vorgeschichte sowohl des Patienten selbst als auch der Familie oder des näheren Umfeldes des Patienten

K K

K

K

K

K

K

K

KOMMENTAR Definition, Epidemiologie und Ätiologie: s. Fall 5 und Antwort zur Frage 31.2. Klinik: s. Antwort zur Frage 31.3. Diagnostik: Die Diagnostik dient zum einen der Einschätzung der aktuellen Suizidgefährdung und zum anderen deren Einordnung in den bio− psychosozialen Kontext des Patienten. Die Beur− teilung der Suizidgefährdung ist nur im Rahmen des kompletten psychopathologischen Befundes sinnvoll. Dabei geht es v. a. um die Einschätzung der Absprachefähigkeit und der Steuerungsfähig− keit des Patienten: So sind z. B. intoxikierte oder psychotische Patienten meist deutlich weniger ab− sprache− und steuerungsfähig als z. B. depressive oder neurotische Patienten. Die Diagnostik der Grunderkrankung spielt daher eine ebenso wich− tige Rolle. Krankheitsgeschichte und chronologi− sche Entwicklung der Suizidalität müssen v. a. auf

psychische Erkrankungen, zurückliegende Suizid− versuche und die anderen o.g. Risikofaktoren (s. Antwort zur Frage 31.2) überprüft werden; wenn möglich sollte eine Fremdanamnese erhoben wer− den. Auch die Einschätzung der sozialen Situation fließt in die Diagnostik der Suizidalität ein. Anam− nese und körperliche Untersuchung sind auch zum Einschätzen der Begleiterkrankungen, aber auch der Folgen eines (evtl. verheimlichten) vorange− gangenen Suizidversuchs wichtig. In der Diagnos− tik sollte man sich stets bewusst sein, dass suizi− dale Patienten im Untersucher unterschiedlichste Gefühle auslösen können, die von tiefem Mitleid und Verständnis für den Todeswunsch bis hin zum Bagatellisieren und Abweisen des Patienten führen können. Die Äußerung von Suizidalität ist immer Ausdruck einer großen seelischen Not und einer Ambivalenz zwischen dem Wunsch zu Leben und zu Sterben.

129

31 Antworten und Kommentar

31.4 Wie gehen Sie bei akuter Suizidalität vor? K Aufbau einer Beziehung zwischen Patient und Therapeut (Suizidalität ist häufig das Ergebnis

K

Fall

31.3 Beschreiben Sie die unterschiedlichen Ausprägungen von Suizidalität! K Ruhewünsche: Wunsch nach einer Auszeit“, ohne Wunsch zu sterben K Todeswünsche: Wunsch, tot zu sein, ohne da− bei selbst Hand anlegen zu wollen; kein Handlungsdruck K Suizidideen: Ideen, sich zu töten, mit mehr oder weniger konkreten Plänen; kein akuter Handlungsdruck, noch eher passive Beschäfti− gung mit diesem Thema K Suizidabsichten: Ideen mit konkret geplantem Vorgehen und Handlungsdruck K Suizidimpulse: v. a. im Rahmen dissoziativer oder psychotischer Zustände plötzlich und un− mittelbar auftretender Impuls, sich sofort das Leben zu nehmen; großer Handlungsdruck K Suizidversuch: suizidale Handlung, die über− lebt wird K Suizid: suizidale Handlung, die mit dem Tod des Durchführenden endet

K

einer längeren Entwicklung, die zu innerer Vereinsamung und sozialer Isolation geführt hat) Ansprechen der Suizidalität bei geringstem Verdacht oder Zugehörigkeit des Patienten zu einer o.g. Risikogruppe (wird von suizidalen Patienten fast immer als Entlastung empfun− den) Versuch der Einordnung des Patienten in die o.g. Ausprägungsformen von Suizidalität, um Entscheidung für weiteres Vorgehen zu treffen In jedem Fall engmaschige ambulante oder stationäre Kontakte Ambulante Betreuung möglich bei erhaltener Absprachefähigkeit, ausreichender sozialer Einbindung Stationäre Einweisung und ggf. geschlossene Unterbringung in psychiatrischer Klinik bei unzureichender Absprachefähigkeit, z. B. im Rahmen von Intoxikationen, psychotischen Er− krankungen, gehäuften dissoziativen Zustän− den, aber auch auf Patientenwunsch Erstellen eines Kontaktschemas (von tägli− chen Kontakten durch Bezugspersonen bis hin zu Einzelbetreuung rund um die Uhr) je nach Ausprägung der Suizidalität und Handlungs− druck des Patienten Behandlung der Grundkrankheit (z. B. Schi− zophrenie mit Neuroleptika, Depression mit Antidepressiva) Evtl. leichte Sedierung mit Benzodiazepinen oder niederpotenten Neuroleptika zur Entlas− tung des Patienten (z. B. Diazepam 2–10 mg/d oder Chlorprothixen 25–100 mg/d) Dokumentation der Suizidalität sorgfältig und zeitnah, immer wieder neue Beurteilung in kurzen Zeitabständen Beachtung der gesetzlichen Bestimmungen (z. B. Unterbringungsgesetz, Bürgerliches Ge− setzbuch)

Fall 31 Seite 32 Aus J. Becker-Pfaff, St. Engel: Fallbuch Psychiatrie (ISBN 3-13-140181-8) © Georg Thieme Verlag Stuttgart 2006 Dieses Dokument ist nur für den persönlichen Gebrauch bestimmt und darf in keiner Form an Dritte weitergegeben werden!

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Fall

Therapie: s. Antwort zur Frage 31.4. Folgende Punkte sind Bestandteil einer sinnvollen Behand− lung von Suizidalität: K Akzeptanz der Suizidalität als Notsignal K Aufbau einer tragfähigen Beziehung K Diagnose einer evtl. Grunderkrankung K Erarbeiten und Benennen der Notsituation mit Blick auf bereits gescheiterte Bewältigungsver− suche K Entwicklungsversuch einer alternativen Prob− lemlösung für die aktuelle Krise K Entwicklungsversuch von Problemlösungen für zukünftige Krisen K Wiederherstellen wichtiger Außenbeziehun− gen mit Einbeziehung der Angehörigen soweit möglich und sinnvoll K Vermittlung von weitergehender Beratung und Betreuung, z. B. durch Selbsthilfegrup− pen. Probleme entstehen meist durch die Ambivalenz der Patienten, die einerseits Beziehung und Zu− wendung suchen, andererseits aber die Hilfsan− gebote nicht annehmen oder bei Fortbestehen der Suizidalität entwerten. Die dabei entstehen− den wechselseitigen Ansprüche zwischen Thera− peut und Patient führen oft zu Enttäuschungen. Für den Therapeuten ist es häufig eine Herausfor−

derung und Enttäuschung, wenn der Patient sich trotz seiner Bemühungen nicht von der Suizidali− tät distanzieren kann. Als Reaktion darauf oder zur Vermeidung dieser Enttäuschung können fol− gende Fehler resultieren: K Überhöhter Anspruch an das eigene therapeu− tische Können (daher Behandlung im Team wichtig) Therapeuten bagatellisieren Suizidalität K Ursache für suizidale Krise wird zu wenig ge− klärt Vermeintliche Alternativen werden zu schnell vorgeschlagen K Aggressionen werden dem Patienten einseitig zugeschoben K Mangelnde professionelle Distanz zum Agie− ren des Patienten K Übersehen von Trennungsängsten bei Thera− peutenwechsel, Urlauben, Entlassung K Mangelndes Bewusstsein für narzisstische Kränkungen (wirken für Außenstehende harmlos) oder für unbewusste Vorgänge Prognose: Die Prognose ist von der Grunderkran− kung, den Lebensumständen und der Qualität der therapeutischen Betreuung abhängig.

32 Antworten und Kommentar

ZUSATZTHEMEN FÜR LERNGRUPPEN Suizidmethoden Unterschiede und Gemeinsamkeiten von Patienten mit Suiziden und Suizidversuchen Komorbiditatsraten mit Angststorungen, Sucht, Personlichkeitsstorungen und korperli− chen Erkrankungen

Fall 32

Schizophrenie

32.1 Stellen Sie die Verdachtsdiagnose der Patientin! Paranoid−halluzinatorische Schizophrenie; Be− gründung: formale Denkstörungen (Gedankenab− reißen, Gedankenbeschleunigung, Logorrhoe), Verdacht auf inhaltliche Denkstörungen (Bezie− hung zu einem Popstar), Angst− und Verfolgungs− gefühle, Manierismen (barfuß und singend) 32.2 Welche Symptome sind bei Ihrer Ver−

K

K K

sche, taktile, olfaktorische, gustatorische, zönästhetische) Störungen des Ich−Erlebens (Gedankenentzug, Gedankeneingebung, Gedankenausbreitung, Depersonalisation, Derealisation, Beeinflus− sungserlebnisse) Störungen der Affektivität (Gefühlsarmut, Af− fektleere, Parathymie, läppisches Verhalten) Störungen des Antriebs (Antriebsarmut, Ste− reotypien, Manierismen, Mutismus, Katatonie) Störungen des Sozialverhaltens (sozialer Rück− zug, verminderte Leistungsfähigkeit)

K dachtsdiagnose allgemein von Bedeutung? K Formale Denkstörungen (Zerfahrenheit, Brü− che und Einschiebungen in den Gedanken− fluss, Gedankensperrung, Vorbeireden) !!! 32.3 Welche 3 bedeutenden Psychiater ver− suchten ebenfalls, die Symptomatik dieser Er− K Inhaltliche Denkstörungen (wahnhafte Symp− krankung zu systematisieren? Fassen Sie deren tomatik: Beziehungswahn, paranoider Wahn, Thesen kurz zusammen! Beeinflussungswahn, religiöser Wahn) K Halluzinationen (akustische/häufig kommen− K Kraepelin (1899): Erkennen gemeinsamer tierende oder dialogisierende Stimmen, opti− Merkmale in den verschiedenen Erscheinungs−

Fall 32 Seite 33 Aus J. Becker-Pfaff, St. Engel: Fallbuch Psychiatrie (ISBN 3-13-140181-8) © Georg Thieme Verlag Stuttgart 2006 Dieses Dokument ist nur für den persönlichen Gebrauch bestimmt und darf in keiner Form an Dritte weitergegeben werden!

bildern der Schizophrenie und Benennen als Dementia praecox“ K Bleuler (1911): Prägung des Begriffs Schizo− phrenie“ = Spaltungsirresein; Beobachtung ty− pischer Veränderungen von Gedankengang, Af− fektivität und Erleben der eigenen Persönlich− keit; Einteilung der Symptome in Grundsymp− tome (Störungen des Denkens [Zerfahrenheit], der Affektivität [Ambivalenz], des Antriebs [Autismus]) und akzessorische Symptome (eindrucksvoll, aber nicht obligatorisch, spezi− fisch oder diagnostisch ausschlaggebend: Wahn, Halluzinationen, katatone Störungen) K Schneider (1939): Unterscheidung von Sym− ptomen 1. und 2. Ranges; Symptome 1. Ranges ohne organische Störung bedeuten Schizo− phrenie, ausschließlich Symptome 2. Ranges machen Schizophrenie wahrscheinlich; Symp− tome 1. Ranges: dialogisierende und kom− mentierende Stimmen, Gedankenlautwerden, leibliche Beeinflussungserlebnisse, Gedanken− eingebung, −entzug, −ausbreitung, Willensbe−

einflussung, Wahnwahrnehmung; Symptome 2. Ranges: akustische, optische, olfaktorische, gustatorische Halluzinationen, Wahneinfall, −gedanke

32.4 Welche Unterform der Schizophrenie kann tödlich verlaufen, und welche ebenso letale Erkrankung kommt als Differenzialdiagnose in Betracht? K Perniziöse Katatonie: Sonderform der katato− nen Schizophrenie, häufig mit tödlichem Aus− gang, psychiatrischer Notfall; Symptomatik: Katatonie, Hyperthermie (.408C), Rigor, Aki− nese, vegetative Entgleisung (s. Fall 63) K Differenzialdiagnose: Malignes neurolepti− sches Syndrom; Symptomatik: Rigor, Akinese, meist nach Beginn einer neuroleptischen The− rapie, Hyperthermie, vegetative Entgleisung, Koma/Stupor (s. Fall 63) Cave: Entgegengesetzte Therapie!

131

KOMMENTAR

Klinik: Die erste psychotische Episode, meist ver− bunden mit der ersten Hospitalisierung, manifes− tiert sich im Allgemeinen zwischen der Pubertät und dem 30. Lebensjahr. Die Erkrankung beginnt aber nicht von heute auf morgen“, sondern ent− wickelt sich schleichend über viele Jahre hinweg.

Veränderungen psychischer Funktionen bei Schizophrenie

Psychische Funktionen

Typische psychopathologische Symptome

Ich−Erleben, Ich−Identität

Derealisation, Depersonalisation, Gedankenbeeinflussung, −einge− bung, −entzug, −ausbreitung, −lautwerden, Gefühl des Gemachten“

Formales Denken

Assoziative Lockerung, Zerfahrenheit, Sperrung, Gedankenabreißen, Kontamination, Begriffszerfall, Inkohärenz, Ideenflucht, Neologis− men, Paralogien

Inhaltliches Denken, Erleben

Überwertige Ideen, wahnhafte Ideen, Wahnstimmung, Wahnwahr− nehmung, Wahneinfall, systematischer Wahn

Verhalten

Manierismen, Mutismus, Negativismus

Antrieb, Affektivität

Parathymie, Ambivalenz, Verflachung, Theatralik, Antriebsstörung (z. B. Hemmung, Minderung, Steigerung), Enthemmung, Euphorie, deprimierte oder ängstliche Gefühle

Wahrnehmung

Halluzinationen: akustisch, olfaktorisch, optisch, zoenästhetisch, taktil/haptisch, gustatorisch

32 Antworten und Kommentar

Epidemiologie und Ätiologie: s. Fall 18.

Grundsätzlich kann eine schizophrene Phase in jedem Lebensalter auftreten. Unspezifische Frühsymptome, wie Rückzug, Vitali− tätsverlust, depressive Verstimmungen, Ängste, soziales und schulisches/berufliches Versagen, tre− ten im Durchschnitt bereits 5 Jahre vor der ersten akuten Manifestation auf (Prodromalphase, s. Fall 18). Des Weiteren können sich sog. Basissympto− me ausbilden, die Defizite im Bereich der Sprache, des Denkens, der Motorik und Wahrnehmung auf− weisen. Hier spricht man von psychosefernen Prodromi. Die attenuierte psychotische Sympto− matik stellt ein psychosenahes Prodrom dar. Hier findet man bereits Beziehungsideen, ungewöhnli−

Fall

Definition: Die Schizophrenie (Syn. schizophrene Psychose, Dementia praecox, Psychose aus dem schizophrenen Formenkreis) ist durch grundlegen− de und charakteristische Störungen des Denkens, der Wahrnehmung und des Affekts gekennzeich− net.

Fall 32 Seite 33 Aus J. Becker-Pfaff, St. Engel: Fallbuch Psychiatrie (ISBN 3-13-140181-8) © Georg Thieme Verlag Stuttgart 2006 Dieses Dokument ist nur für den persönlichen Gebrauch bestimmt und darf in keiner Form an Dritte weitergegeben werden!

che Denkinhalte und z. B. eine eigentümliche Sprechweise. Häufig findet man psychosenah auch nur wenige Tage anhaltende positive Symptome (Halluzinationen, Wahn, formale Denkstörungen), die sich jedoch wieder zurückbilden. Schizophrenien können alle psychischen Funktio− nen verändern (s. Tab.). Im Langzeitverlauf stehen die sog. Negativ−Symptome wie Affektverflachung, sozialer Rückzug und Antriebsarmut im Vorder− grund. Häufig bildet sich ein Residualsyndrom aus (s. Fall 41). Dazu finden sich häufig eine depres− sive Begleitsymptomatik und kognitive Defizite.

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Fall

33 Antworten und Kommentar

Diagnostik: Nach der DSM−IV müssen mindes− tens 2 der folgenden Symptome vorhanden sein, und jedes muss mindestens über 1 Monat beste− hen (oder weniger, wenn erfolgreich behandelt wurde): K Wahn K Halluzinationen K desorganisierte Sprechweise (z. B. häufiges Entgleisen, Zerfahrenheit) K grob desorganisiertes oder katatones Verhal− ten K negative Symptome, d. h. flacher Affekt, Alogie oder Willensschwäche. Nach der ICD−10 ist mindestens 1 der folgenden Symptome von besonderer Bedeutung für die Diagnosestellung: K Gedankenlautwerden, −eingebung, −entzug, −ausbreitung K Kontrollwahn, Beeinflussungswahn, Wahn− wahrnehmung, Gefühl des Gemachten K Kommentierende oder dialogisierende Stim− men

K Anhaltender, bizzarer Wahn (z. B. eine be− rühmte Persönlichkeit oder im Kontakt mit Außerirdischen zu sein). Oder 2 der folgenden Symptome sind nach der ICD−10 von besonderer Bedeutung für die Diag− nosestellung: K Anhaltende Halluzinationen K Störungen des Denkens (Abreißen, Einschie− ben, Zerfahrenheit, Neologismen) K Katatone Symptome (Stereotypien, Negativis− mus, Mutismus, Stupor) K Negative Symptome oder inadäquater Affekt K Eindeutige und durchgängige Veränderung be− stimmter umfassender Aspekte des Verhaltens (Ziellosigkeit, Trägheit, sozialer Rückzug). Differenzialdiagnosen: Differenzialdiagnostisch sind folgende Erkrankungen auszuschließen: K organisch bedingte Psychosen (z. B. entzünd− lich, toxisch, neoplastisch) K schizoaffektive und affektive Erkrankungen einschließlich somatoformer Störungen K schizophreniforme Störungen (Hierunter ver− steht man die schizotype Störung, die wahn− haften Störungen, die akut vorübergehenden psychotischen Störungen. Allen gemeinsam ist, dass die Symptomatik und/ oder die Dauer nicht für die Diagnosestellung einer Schizo− phrenie ausreichen.) K Persönlichkeitsstörungen K Zwangs− und Angststörungen. Therapie: s. Fall 59. Prognose: s. Fall 41.

ZUSATZTHEMEN FÜR LERNGRUPPEN Geschichte der Schizophrenie Psychopathologie der Schizophrenie von Scharfetter Konzept der Basisstorungen Attenuierte psychotische Symptomatik und der Gebrauch von Cannabis und Exstacy

Fall 33

Depressive Anpassungsstörung

33.1 Diagnostizieren Sie die Störung des Jun− gen! Depressive Anpassungsstörung; Begründung: protrahierte depressive Symptomatik nach einem belastenden Ereignis (Tod des Großvaters), gleichgültiger Affekt mit Gefühl der Gefühllosig− keit, aggressive Durchbrüche

33.2 Mit welchen Symptomen müssen Sie rechnen? Meist innerhalb eines Monats nach dem be− lastenden Ereignis: K Emotionale Taubheit, eingeengtes Bewusst− sein, verminderte Aufmerksamkeit; Unfähig− keit, Reize zu verarbeiten und darauf zu rea− gieren; aggressives, dissoziales Verhalten v. a. bei Jugendlichen K Desinteresse, Antriebsminderung, sozialer Rückzug oder Unruhe, Überaktivität, Panikat−

Fall 33 Seite 34 Aus J. Becker-Pfaff, St. Engel: Fallbuch Psychiatrie (ISBN 3-13-140181-8) © Georg Thieme Verlag Stuttgart 2006 Dieses Dokument ist nur für den persönlichen Gebrauch bestimmt und darf in keiner Form an Dritte weitergegeben werden!

tacken, ängstliche Stimmung, vegetative Über− erregbarkeit K Einschlafstörungen ohne Früherwachen K Evtl. Entwicklung vegetativer Symptome wie Tachykardie, Schwitzen, Erröten Bis zu 6 Monate nach dem belastenden Ereignis: Symptome ähnlich einer depressiven Episode

33.3 Nennen Sie typische Belastungsfaktoren, die zu einer solchen Storung fuhren! Schulprobleme, Probleme am Ausbildungsplatz, Konflikte mit Eltern, Trennung von Freunden, Substanzmissbrauch, Delikte, Umzug, Tod naher Angehöriger, Beziehungsprobleme, Probleme mit Kindern, Arbeitsplatzprobleme, Trennung, Schei− dung, Krankheit

KOMMENTAR Definition: Die depressive Anpassungsstörung ist ein Zustand subjektiven Leidens und emotionaler Beeinträchtigung und tritt im Zusammenhang mit einem belastenden Lebensereignis auf. Epidemiologie: Die Störung tritt in jedem Lebens− alter auf, gehäuft bei Jugendlichen und bei älteren Menschen. Die Lebenszeitprävalenz beträgt 5– 20 %, Frauen sind ca. doppelt so häufig betroffen wie Männer.

Diagnostik: Für die Diagnosestellung muss ein zeitlicher Zusammenhang zwischen der einge− tretenen Störung und dem Auslösefaktor (Belas− tung) bestehen. Somatische und psychiatrische Ur− sachen müssen ausgeschlossen werden. Differenzialdiagnosen: Die akute Belastungs− störung tritt meist sofort auf, die Symptomatik geht meist innerhalb von 3 Tagen zurück. Aus dem psychiatrischen Spektrum kommen v. a. Angststörungen, depressive Störungen, Persön−

Prognose: Dauer und Grad der depressiven An− passungsstörung sind in hohem Maße von den psychisch verfügbaren Ressourcen des Patienten und der Persönlichkeitsstruktur abhängig. Insofern sind sehr verschiedene Verlaufsformen möglich. In der Regel bildet sich die Symptomatik innerhalb eines halben Jahres zurück.

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33 Antworten und Kommentar

Klinik: s. Antwort zur Frage 33.2. Bei der Anpas− sungsstörung beginnt die Symptomatik innerhalb eines Monats nach einem belastenden Ereignis und hält – außer bei einer verlängerten depressi− ven Reaktion – nicht über 6 Monate an.

Therapie: Als mögliche Therapieoptionen kom− men sämtliche psychotherapeutische Verfahren in Betracht, insbesondere Kriseninterventionen und Kurzzeitpsychotherapieverfahren (z. B. Verhal− tenstherapie, kognitive Verfahren, tiefenpsycholo− gisch fundierte Psychotherapie, Gruppenpsycho− therapie, Psychoanalyse). Unterstützend können Antidepressiva, wie selektive Serotonin−Wieder− aufnahmehemmer (z. B. Fluoxetin 20 mg/d, Sertra− lin 50 mg/d) oder trizyklische Antidepressiva (z. B. Amitryptilin 50 mg/d), eingesetzt werden. Benzo− diazepine sollten, wenn überhaupt, wegen ihres Abhängigkeitspotenzials nur kurzfristig gegeben werden. Niederpotente Neuroleptika, z. B. Perazin (3–4 3 25 mg/d), wirken v. a. bei Erregungszustän− den, aber auch bei dissoziativen Phänomenen.

Fall

Ätiologie: Die Belastung ist der entscheidende auslösende Faktor (s. Antwort zur Frage 33.3). Da− bei ist die psychische Vulnerabilität des Einzelnen ebenso wie seine soziale Integration von Bedeu− tung. Faktoren, die die Vulnerabilität und Wahr− scheinlichkeit einer pathologischen Reaktion erhö− hen, sind körperliche Erkrankungen, vorbestehen− de auffällige Persönlichkeitszüge, vorbestehende neurotische Auffälligkeiten und Erschöpfung.

lichkeitsstörungen und Psychosen in Frage. Hier− bei ist durch genaue Anamneseerhebung zu klären, ob die Symptomatik neu und nur im Zusammen− hang mit einem Ereignis aufgetreten ist oder z. B. nur eine Verstärkung einer vorbestehenden Symp− tomatik darstellt. Beispielsweise kann der Tod ei− nes Angehörigen eine akute Dekompensation mit depressiver Symptomatik bei vorbestehender bi− polarer Störung auslösen (Life Event). Hier darf die Diagnose einer Anpassungsstörung nicht ge− stellt werden.

ZUSATZTHEMEN FÜR LERNGRUPPEN Burn−out−Syndrom Mobbing Hyperreaktivitat bei Jugendlichen

Fall 33 Seite 34 Aus J. Becker-Pfaff, St. Engel: Fallbuch Psychiatrie (ISBN 3-13-140181-8) © Georg Thieme Verlag Stuttgart 2006 Dieses Dokument ist nur für den persönlichen Gebrauch bestimmt und darf in keiner Form an Dritte weitergegeben werden!

Fall 34

Therapie der Angststörung

34.1 Welche Verdachtsdiagnose stellen Sie dem Patienten? Angststörung; Begründung: episodische, plötz− lich auftretende und intensiv empfundene Angst (Panikattacke) mit kardialer Symptomatik (Herz− klopfen, Beklemmungsgefühl, Brustschmerz); kein Nachweis organpathologischer Befunde

134

Fall

34

34.2 Was halten Sie von der Einnahme von Betablockern bei solchen Störungen? K Betablocker (z. B. Propanolol 40–80 mg/d) sen− ken den gesteigerten Sympathikotonus K Sie können hilfreich sein bei Phobien, Belas− tungssituationen, situationsabhängigen Ängs− ten (z. B. öffentlicher Rede); Wirkung meist je− doch nicht ausreichend K Cave: Kontraindikationen sind Asthma bron− chiale, Lungenerkrankungen, Herzinsuffizienz, Diabetes mellitus!

Antworten und Kommentar

34.3 Mit welchen Argumenten überzeugen Sie den Patienten zu bleiben? K Genaue Diagnostik ermöglicht zielgerichtete Therapie K Vielfältige Methoden zur Behandlung von Angsterkrankungen verfügbar K Appell an den Leidensdruck des Patienten (Festlegen der Fahrtrouten nach Krankenhäu− sern)

K Verhindern weiterer notfallmäßiger Interven− tionen möglich

34.4 An welche Therapieoptionen denken Sie? K Pharmakotherapie: – Benzodiazepine (z. B. Diazepam 10 mg p.o./ i. v.) v. a. zur Akuttherapie bei starker Symptomatik, adjuvant bis zum Wirkungs− eintritt der Antidepressiva; cave: Abhängig− keitspotenzial beachten, Ausschleichen zur Vermeidung von Entzugssymptomen! – Antidepressiva: trizyklische Antidepressiva (z. B. Imipramin oder Clomipramin ein− schleichend bis 75–150 mg/d), selektive Se− rotonin−Wiederaufnahmehemmer (z. B. Flu− voxamin einschleichend bis 75–150 mg/d, Paroxetin einschleichend bis 20–50 mg/d), Monoaminooxidase−Hemmer (z. B. Moclo− bemid 300–600 mg/d, nicht 1. Wahl); Wir− kungseintritt erst nach 3–4 Wochen, bei ausbleibender Wirkung Dosiserhöhung oder Umstellung auf anderes Präparat – Buspiron (Bespar 10–60 mg/d) bei Thera− pieresistenz v. a. bei generalisierter Angst− störung K Psychotherapie s. Kommentar

KOMMENTAR Definition, Epidemiologie, Ätiopathogenese, Klinik, Diagnostik und Differenzialdiagnosen: s. Fall 6. Therapie: s. Antwort zur Frage 34.4. Die Psycho− therapie gliedert sich in verhaltenstherapeuti− sche, tiefenpsychologisch fundierte, psychoana− lytische und gesprächstherapeutische Verfahren. Zur Verhaltenstherapie zählen u. a. kognitive Ver− fahren. Hier sollen Patienten mit Angststörungen Informationen über Angstentstehung und Folgen der Angst vermittelt werden, damit fehlerhafte kognitive Muster korrigiert werden können. Das Verhalten bzw. der Regelkreis der Angst soll mit− tels Methoden zur Angstbewältigung und Reizkon− trolle (Angstmanagement) beeinflusst werden. Bei den sog. Konfrontationsverfahren kann dies durch Konfrontation, systematische Desensibili− sierung und paradoxe Vorgehensweisen gesche− hen. Gleichzeitig werden Strategien zur Selbstkon− trolle erarbeitet (Selbstkontrollmanagement). Psychoanalytisch und tiefenpsychologisch ori− entierte Verfahren werden empfohlen, wenn die Entwicklung der Angststörung im Zusammenhang mit Beziehungs− und Entwicklungskonflikten steht. Unterschieden werden

K Kurzzeittherapien und Fokaltherapien, die ak− tiv stützend aktuelle Konflikte bearbeiten K Niederfrequente (1−mal/Woche) und hochfre− quente (3–5−mal/Woche) Behandlungen, die eine meist mehrere Jahre dauernde Behand− lung voraussetzen. Zum einen stärken sie die Ich−Funktionen (tiefenpsychologisch fundierte Therapie), zum anderen decken sie unbewuss− te Konflikte unter Zuhilfenahme regressiver Prozesse (Psychoanalyse) auf. Andere Verfahren zur Therapie der Angststörun− gen sind das Psychodrama, die progressive Mus− kelrelaxation nach Jacobson (s. Fall 54), autoge− nes Training (s. Fall 54) und Biofeedback. Im Rahmen des Psychodramas werden meist in der Gruppe Situationen durchgespielt, um die dabei auftretenden Ängste zugänglich zu machen. Da− bei werden Angst machende Szenen nachge− spielt, gespiegelt oder mittels Rollentausch wie− derholt. Beim Biofeedback wird dem Patienten über ein biologisch−technisches Feedback der Grad seiner An−/Entspannung vermittelt (EEG, EKG, Hautwiderstand, Blutdruck), hierbei soll ei− ne normalisierende Beeinflussung der vegetati− ven Symptome erreicht werden.

Fall 34 Seite 35 Aus J. Becker-Pfaff, St. Engel: Fallbuch Psychiatrie (ISBN 3-13-140181-8) © Georg Thieme Verlag Stuttgart 2006 Dieses Dokument ist nur für den persönlichen Gebrauch bestimmt und darf in keiner Form an Dritte weitergegeben werden!

Prognose: Sowohl die generalisierte Angst− als auch die Panikstörung und Agoraphobie zeigen häufig einen chronischen Verlauf bis hin zur völli−

gen sozialen Isolation. Vollständige Remissionen sind ohne Therapie selten (,10 %).

ZUSATZTHEMEN FÜR LERNGRUPPEN Angst aus analytischer und behavioraler Sicht Neuronale Strukturen im limbischen System

Fall 35

Demenz vom Alzheimer−Typ (Epidemiologie, Klinik, Diagnostik)

35.3 Welche Klassifizierungen dieser Erkran− kungen kennen Sie? K Klassifizierung nach der Grunderkrankung: – Primäre Demenz: Erkrankung des Gehirns – Sekundäre Demenz: körperliche Erkran− kungen (z. B. Intoxikation, neoplastischer Prozess, Unfall, HIV, arterielle Hypertonie), die eine Demenz bedingen können K Klassifizierung nach psychopathologischen Erscheinungsbildern: – Kortikale Demenz: Gedächtnisstörungen, Wortfindungsstörungen, Beeinträchtigung des Abstraktionsvermögens und der räum− lichen Orientierung; Veränderung der Per− sönlichkeit weniger ausgeprägt – Subkortikale Demenz: Störung basaler Funktionen wie Vigilanz, Motivation, Affekt, Konzentration und motorischer Abläufe – Frontale Demenz: Veränderung der Persön− lichkeit, Störung von Planung und Organi− sation; Fehlfunktionen von Gedächtnisleis−

35.4 Beschreiben Sie den langfristigen kli− nischen Verlauf Ihrer Verdachtsdiagnose! K Klinisch stumme Phase: Nachweis histopa− thologischer Veränderungen möglich K Prädemenzphase und dreigeteilte Demenz− phase (5–8 Jahre) (s. Tab. nächste Seite) 35.5 Welche Untersuchungsmethoden stehen Ihnen zur möglichst genauen Diagnostik bei dieser Symptomatik zur Verfügung? K Anamnese: Chronologie, früher Verlauf, Symptomprofil, Sozialanamnese, somatische und psychische Vorerkrankungen, aktuelle Medikation, Suchtstoffanamnese K Fremdanamnese: Befragung einer Bezugsper− son (gleiche Fragen wie bei Anamnese) K Kognitive Prüfung: – CERAD−Testbatterie (Consortium to Estab− lish a Registry for Alzheimer’s Disease): 7 Tests zur Messung kognitiver Defizite bei Alzheimer−Patienten – ADAS (Alzheimer’s Disease Assessment Sca− le): Messung kognitiver und nichtkognitiver Funktionseinbußen bei Alzheimer−Patienten K Körperliche Untersuchung: Suche nach kar− diopulmonalen, metabolisch−endokrinen, nephrologischen, urologischen, malignen und neurologischen Erkrankungen K Technische Untersuchungen: – Blutlabor: Differenzialblutbild, Glukose, Blutfette, Elektrolyte, Leberwerte, Kreatinin, TSH, Vitamin B12, Folsäure, BSG, TPHA− Suchtest; bei klinischem Verdacht außer− dem HIV, Borrelien−Antikörper, HbA1C, Kup− fer, Coeruloplasmin, Parathormon, fT3, fT4, CRP, immunologische Marker (z. B. Rheu− mafaktoren), Toxikologie – Liquoruntersuchung: Ausschluss infektiöser Erkrankungen – EKG – EEG – Weitere Untersuchungen s. S. 137

135

35 Antworten und Kommentar

35.2 Zählen Sie Erkrankungen und deren Häu− figkeiten auf, die zu einer solchen Symptomatik führen können! K Demenz vom Alzheimer−Typ 55–70 % K Vaskuläre Demenz 15–20 % K Gemischte Demenzen 10 % K Demenz mit Lewy−Körperchen 5–10 % K Sonstige Demenzformen: Frontotemporale De− menzen, Morbus Parkinson, Normaldruck− Hydrozephalus, HIV−Enzephalopathie 15 %

tungen und Orientierung weniger ausge− prägt

Fall

35.1 Welche Diagnose ist anhand der geschil− derten Symptomatik rein statistisch am wahrscheinlichsten? Demenz vom Alzheimer−Typ (DAT): Vergesslich− keit, Orientierungsstörungen (räumlich und zur eigenen Person), Wortfindungsstörungen und Af− fektlabilität sind Symptome einer Demenz; kör− perliche Grunderkrankung mit demenzieller Be− gleitsymptomatik bei dieser Patientin wegen des guten Allgemeinzustandes unwahrscheinlich, DAT häufigste Demenzform (55–70 %)

Fall 35 Seite 36 Aus J. Becker-Pfaff, St. Engel: Fallbuch Psychiatrie (ISBN 3-13-140181-8) © Georg Thieme Verlag Stuttgart 2006 Dieses Dokument ist nur für den persönlichen Gebrauch bestimmt und darf in keiner Form an Dritte weitergegeben werden!

Kognitive Funk− tionen

Alltags− Antrieb kompetenz und Affekt

Körperliche Funk− Krankheits− tionen einsicht

Prä− demenz− phase

reduzierte Fähig− keit, neue Infor− mationen zu speichern

Arbeitsleis− tung sin− kend, aber durch Hilfs− maßnah− men aus− gleichbar

häufig leichte de− pressive Verstim− mungen und sozialer Rückzug

Veränderungen nur mit sehr fei− nen Untersu− chungsmethoden bestimmbar

Frühe Demenz− phase

die Alltagsleistung einschränkende Lernschwäche bzgl. Gespräche, gelesener Texte, Verabredungen; Details alter Erin− nerungen und komplexe Alltags− aufgaben unsicher, erste Wortfin− dungsstörungen, reduzierter Sprachschatz

nur noch einfache Alltagsakti− vitäten durchführ− bar

depressive Verstim− mungen, er− höhte emo− tionale La− bilität, Min− derung der Spontanini− tiative

Veränderungen nur mit sehr fei− nen Untersu− chungsmethoden bestimmbar

Mittlere Demenz− phase

Speicherung neuer Informationen nur noch für Sekun− den, biographi− sches Gedächtnis stark reduziert, Planen und Orga− nisieren unmög− lich, deutliche Sprachstörungen, Apraxien, Desori− entierung selbst in gewohnter Umge− bung

auch bei einfachen Alltagstätig− keiten Hil− festellung erforderlich, eigenständi− ge Lebens− führung er− heblich ein− geschränkt

Unruhe, ag− unsicherer Gang, gressives Harninkontinenz Verhalten und Impuls− kontrollver− luste, wahnähnli− che Phäno− mene

Späte Demenz− phase

biographische Er− innerung nicht mehr erfragbar, Sprechen und Sprachverständnis sehr reduziert, aufgehobenes logi− sches Denken

völlige Pfle− gebedürf− tigkeit und Abhängig− keit von Be− zugsperso− nen auch bei ein− fachsten Tätigkeiten

massive Un− ruhe oder Apathie, Störung des Tag−Nacht− Rhythmus

136

Fall

35

noch vor− handen

Antworten und Kommentar

schwindend

Steigerung des nicht mehr Muskeltonus, kom− vorhanden plette Inkontinenz, schwere Schluck− störungen und Gangstörungen, häufig Immobili− tät, die durch Fol− geerkrankungen (z. B. Pneumonie, Lungenembolie, Kachexie) zum Tode führt

Fall 35 Seite 36 Aus J. Becker-Pfaff, St. Engel: Fallbuch Psychiatrie (ISBN 3-13-140181-8) © Georg Thieme Verlag Stuttgart 2006 Dieses Dokument ist nur für den persönlichen Gebrauch bestimmt und darf in keiner Form an Dritte weitergegeben werden!

– CT oder MRT: komplexe, meist im Rahmen funktioneller Bildgebung erfasste Befunde für frühe Diagnosestellung der Alzheimer− Erkrankung vorhanden; routinemäßiger Einsatz aber zum Ausschluss anderer De−

menzformen (z. B. vaskulär, Normaldruck− hydrozephalus) – Post mortem histopathologische Untersu− chung zur Diagnosesicherung

KOMMENTAR nicht befriedigend behandeln kann und die zu ei− nem Verlust der Persönlichkeit führt. Vorurteile und über die Medien verbreiteten Bilder über De− menzkranke spielen dabei eine wichtige Rolle. Gleich zu Beginn der Erkrankung sollte daher über die Gründe, Resultate und Konsequenzen der durchgeführten Untersuchungen sowie über Be− handlung und Prognose aufgeklärt werden.

Ätiologie: Neben dem Alter konnte nur eine po− sitive Familienanamnese zweifelsfrei als Risiko− faktor isoliert werden. Weder Schädel−Hirn−Trau− mata noch Nikotinkonsum, Alkoholkonsum oder Geschlecht konnten mit einer erhöhten Inzidenz in Verbindung gebracht werden. Neuere Untersu− chungen erbrachten Hinweise darauf, dass die kar− diovaskulären Risikofaktoren Diabetes mellitus, Hyperlipidämie, arterielle Hypertonie und Herz− rhythmusstörungen den Verlauf einer DAT un− günstig beeinflussen.

Therapie: s. Fall 8.

Klinik: s. Antwort zur Frage 35.4.

ZUSATZTHEMEN FÜR LERNGRUPPEN Bestandteile der CERAD−Testbatterie Uhrentest und Mini−Mental−Status Befunde der bildgebenden Verfahren bei demenziellen Erkrankungen

Fall 36

Bipolare affektive Störung

36.1 Welche psychopathologischen Befunde erkennen Sie, und welche Verdachtsdiagnose ergibt sich daraus? K Affekt: niedergeschlagene Grundstimmung, Traurigkeit, Affektstarrheit K Antrieb: Antriebslosigkeit K Wahrnehmung: Gefühl der Leere und Wertlo− sigkeit K Formales Denken: gehemmt, verarmt, trotz− dem grüblerisch K Inhaltliches Denken: Selbstanklage; überwer− tige Idee, langweilig zu sein K Kontakt: bemüht, wenig lebendig, masken− haft; nach außen Kontaktabbrüche

137

36 Antworten und Kommentar

Diagnostik: s. Antwort zur Frage 35.5. Die De− menzdiagnostik ist für den Patienten und seine Angehörigen meist ein sehr belastendes Prozedere. Im Vordergrund steht die Angst, die Diagnose einer Krankheit gestellt zu bekommen, die man noch

Prognose: Bisher gibt es keine kausale, den Krank− heitsprozess stoppende Therapie. Die derzeitigen Therapieoptionen führen bestenfalls zu einer ca. 1− bis 2−jährigen Verzögerung des Fortschreitens der Erkrankung bei leichten bis mittelschweren For− men. Die Lebenserwartung von Alzheimerpatien− ten ist auf ca. 1/3 anderer Patienten vergleichbaren Alters reduziert. Die Demenzphase, die stets mit dem Tod endet, dauert ca. 5 bis 8 Jahre. Das Be− wusstsein über den drohenden eigenen Verfall und die teilweise realitätsfernen Vorstellungen führen zu einer deutlich erhöhten Suizidrate der demen− ten Patienten, denen Suizidgedanken oder Planung und Umsetzung des Suizids schon gar nicht mehr zugetraut werden.

Fall

Epidemiologie: s. Antwort zur Frage 35.2. In Deutschland leben derzeit ca. 660 000 Patienten mit der Diagnose Demenz vom Alzheimer−Typ (DAT). Jenseits des 65. Lebensjahres liegt die Prä− valenz bei 8–10 %. Gemäß der sich verändernden Alterspyramide dürfte die Zahl der erkrankten Pa− tienten in den kommenden 20 Jahren deutlich stei− gen.

K Sonstiges: Schlafstörungen K Verdachtsdiagnose: Depressives Syndrom

36.2 Erfragen Sie weitere psychopathologische Befunde! K Antrieb: Gibt es Ziele? K Empfinden und Fühlen: Was fühlen Sie? Gibt es noch etwas, das Ihnen Freude macht? Gibt es etwas, das Sie beschäftigt? Macht Ihnen et− was Angst? K Denken: Können Sie sich konzentrieren? Kön− nen Sie sich erinnern?

Fall 36 Seite 37 Aus J. Becker-Pfaff, St. Engel: Fallbuch Psychiatrie (ISBN 3-13-140181-8) © Georg Thieme Verlag Stuttgart 2006 Dieses Dokument ist nur für den persönlichen Gebrauch bestimmt und darf in keiner Form an Dritte weitergegeben werden!

K Wahrnehmung: Wie kommt Ihnen die Welt vor? Hat sich in Ihrer Wahrnehmung etwas verändert? K Vegetatives: Wie geht es Ihnen körperlich? Haben Sie Lust auf Sexualität? K Suizidalität: Haben Sie auch schon daran ge− dacht, sich etwas anzutun? K Verlauf: Wie war die Entwicklung? War ihre Stimmung vorher anders?

138

Fall

36

36.3 Welche Diagnose stellen Sie nun, und welche Komplikationen können eintreten? K Diagnose: Bipolare affektive Störung mit der− zeitig depressiver und vorausgegangener ma− nischer Phase; Begründung: inadäquat geho− bene Stimmung (Einschätzung durch die Schwester), Antriebssteigerung wahrscheinlich mit Ideenflucht (Kauf der Musikinstrumente), Selbstüberschätzung mit Verdacht auf Größen− wahn (Gründung des eigenen Unternehmens), Schlaflosigkeit, Distanzlosigkeit (Kennen ler− nen fremder Leute), fehlendes Krankheitsge− fühl K Komplikationen: Suizidalität mit Suizidver− such, Entwicklung eines depressiven Wahns, Rückfall in die Manie mit selbstschädigendem Verhalten, Rezidive beider Affektlagen, evtl. schnell wechselnde Stimmungsbilder

Antworten und Kommentar

36.4 Welche Einteilungen der affektiven Störungen kennen Sie? K Einteilung nach Symptomatologie: – Depressive Störung (leicht, mittelgradig, schwer) – Rezidivierende depressive Störung (leicht, mittelgradig, schwer) – Dysthymie (weniger stark ausgeprägt als depressive Störungen, dafür lang anhal− tend)

– Bipolare affektive Störung (Kombination depressiver und manischer Phasen) – Zyklothymie (mäßig ausgeprägte Stim− mungsschwankungen depressiver und hy− pomanischer Art) – Depressive Symptomatik im Rahmen einer Anpassungsstörung (als Reaktion auf eine Belastung, die zeitlich begrenzt bleibt) – Depressive und maniforme Störungen im Rahmen somatischer Grunderkrankungen K Einteilung nach Ätiologie (veraltet, bei allen affektiven Störungen spielen sowohl psychi− sche als auch somatische Prozesse eine Rolle): – Exogene“ Depression: Anlass ist körperli− che Erkrankung des Patienten (z. B. Hypo− thyreose) – Endogene“ Depression: kein suffizienter Anlass im äußeren Erleben des Patienten und keine somatische Ursache im Sinne der Definition exogen, aber Vermutung von biologischen, zerebralen Prozessen – Psychogene“ Depression: Reaktion auf ein Geschehen im Leben des Patienten (Ar− beitsplatzverlust, Tod eines Angehörigen)

36.5 Wie häufig verlaufen Depressionen ein− phasig und wie häufig rezidivierend? Wie viele Episoden kommen durchschnittlich bei rezidi− vierenden Verläufen vor? K 25 % der Depressionen verlaufen einphasig, 75 % rezidivierend K Bei Rezidiven: – Bei unipolaren Depressionen im Schnitt 4 Episoden im Laufe eines Lebens – Bei bipolaren Störungen im Schnitt 6 Episo− den im Lauf des Lebens

KOMMENTAR Definition: Affektive Störungen sind durch ausge− prägte Veränderungen von Stimmung (niederge− stimmt, manisch), Antrieb und Kognition charak− terisiert. Epidemiologie: Während es sehr hohe Prävalen− zen für unipolare depressive Störungen gibt (5– 10 % der deutschen Bevölkerung), sind bipolare Störungen (bipolare affektive Psychosen) seltener. Von allen affektiven Störungen verlaufen 65 % uni− polar depressiv, 30 % bipolar wie im geschilderten Fall und 5 % unipolar manisch. Es wird kontrovers diskutiert, ob es unipolare Verläufe überhaupt gibt. Ätiologie: Wie bei vielen psychischen Erkrankun− gen wird von einer multifaktoriellen Genese aus− gegangen. Gerade bei bipolaren affektiven Störun− gen sind genetische Faktoren mitverantwortlich. Bei Depressionen liegt v. a. ein Ungleichgewicht von Serotonin und Noradrenalin vor, bei Manien ein Ungleichgewicht von Dopamin und Noradre−

nalin. Es finden sich außerdem hormonelle Auf− fälligkeiten (z. B. Veränderungen der Hypothala− mus−Hypophysen−Nebennierenrinden−Achse, Schilddrüse). Diese korrelieren auch mit depressi− ven Verstimmungen bei entsprechenden somati− schen Grunderkrankungen. Weitere Befunde wur− den bezüglich hirnmorphologischer Faktoren (reduziertes Volumen limbischer Basalganglien und Minderungen von Hirndurchblutung und −me− tabolismus) und chronobiologischer Faktoren (jahres− und tageszeitliche Rhythmik) erhoben. Auf psychologischer Ebene spielen Life−Events (kritische Lebensereignisse, z. B. Tod eines Kindes, Tod des Ehepartners, Scheidung, Arbeitsplatzver− lust) eine Rolle. Psychodynamische Ansätze fo− kussieren auf reale, reaktivierte oder phantasierte Verlusterlebnisse, die zu emotionaler Überbedürf− tigkeit und Selbstwertproblemen führen. Verhal− tenstherapeutisch werden Veränderungen der Ei−

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genwahrnehmung sowie der Wahrnehmung von Umwelt und Zukunft beschrieben.

Prognose: s. Antwort zur Frage 36.5.

ZUSATZTHEMEN FÜR LERNGRUPPEN Definitionen der affektiven Storungen nach ICD−10 Psychologische Modelle zur Atiologie von Depression und Manie Historische Entwicklung der Begriffe Melancholie, Depression und Manie

Fall 37

Somatoforme Schmerzstörung

37.1 Erläutern Sie anhand der Symptomschil− derung die allgemeinen Kriterien für eine so− matoforme Störung und die Kriterien für eine somatoforme Schmerzstörung! K Allgemeine Kriterien für somatoforme Stö− rungen: – Mindestens 2 Jahre anhaltende multiple, wiederholt auftretende und häufig wech− selnde körperliche Symptome (. . .Rücken− schmerzen und Schmerzen an anderen Stel− len. . .“) – Meist vorangegangene ausführliche Diag− nostik ohne richtungsweisende Befunde,

139

37 Antworten und Kommentar

Diagnostik: Die Diagnose der bipolaren affektiven Störung beruht auf dem psychopathologischen Befund, der Entwicklung der Symptomatik und

Therapie: s. Fall 42. Die Therapie besteht aus ei− nem Stimmungsstabilisator (Lithiumsalze, Car− bamazepin oder Valproinsäure). Zusätzlich müs− sen in der depressiven Phase der bipolaren affek− tiven Störung Antidepressiva verabreicht werden, die der Symptomatologie und den Kontraindika− tionen gerecht werden. Selektive Serotonin−Wie− deraufnahmehemmer (SSRI) scheinen dabei ein niedrigeres Risiko für einen Wechsel in die Manie zu bergen als trizyklische Antidepressiva. Nicht− medikamentöse Maßnahmen sind v. a. psychothe− rapeutische Maßnahmen (Verhaltenstherapie, psychodynamische Therapieformen, Familien− oder Paartherapie), aber auch Lichttherapie, Schlafentzugsbehandlungen und bei sehr schwe− ren Krankheitsbildern die Elektrokrampfthera− pie. Als Standard sollte sich aus empirischer Sicht eine Kombinationstherapie aus psychopharmako− logischen und psychotherapeutischen Maßnah− men etablieren.

Fall

Klinik: Die bipolare affektive Störung ist durch depressive und manische Symptome gekennzeich− net. Die depressive Symptomatik umfasst u. a. niedergedrückte Stimmung, Gefühl der Gefühllo− sigkeit“, verminderter Antrieb, gehemmtes und grüblerisches Denken, teilweise wahnhafte inhalt− liche Denkstörungen (z. B. Verarmungswahn), Schlafstörungen, Vitalstörungen (z. B. Appetitlosig− keit, Sexualstörungen), psychosomatische Sympto− me (z. B. Schmerzen, Herzbeschwerden) und Sui− zidalität. Die manische Episode ist durch eine in− adäquat gehobene Stimmung (Euphorie), beschleunigtes Denken und Ideenflucht, Antriebs− steigerung, Verminderung der Steuerungsfähig− keit, Selbstüberschätzung und häufig mangelnde Krankheitseinsicht charakterisiert. Bei der bipola− ren Störung können manische und depressive Epi− soden in unterschiedlichen Schweregraden in un− terschiedlichen Zeitabständen und mehreren Pha− sen auftreten. Allerdings existieren auch Mischzustände, bei denen gleichzeitig depressive und manische Symptome auftreten (z. B. Niederge− stimmtheit mit Antriebssteigerung und Ideen− flucht). Je nach Ausprägung des Schweregrades grenzt man auch den Begriff Zyklothymie (nur leichte gehobene Stimmung im Wechsel mit leich− ten depressiven Verstimmungen) von der bipola− ren affektiven Störung ab.

auf Fremdanamnesen. Diese sind für die Beurtei− lung der manischen Phasen häufig von besonderer Bedeutung, da die Patienten selbst in diesen Pha− sen sehr verschobene Wahrnehmungen haben oder sich für ihr Verhalten schämen und nicht ex− akt berichten. Ein Grundsatz ist immer, zuerst or− ganische Ursachen auszuschließen. Dazu sind kör− perliche (internistische und neurologische) Unter− suchung, Laboruntersuchungen, EEG, EKG (auch für Indikationsstellung der Medikation) und ein Schädel−CT notwendig.

teilweise sogar Operationen (. . .CT, Neuro− loge, Orthopäde. . .“) – Hartnäckige Weigerung, den Rat mehrerer Ärzte anzunehmen, dass für die Sympto− me keine Erklärung zu finden ist (Hausarzt− wechsel) – Beeinträchtigung familiärer und sozialer Funktionen (Arbeitsunfähigkeit, Haushalts− führung durch die Kinder) K Kriterien für somatoforme Schmerzstörun− gen: – Andauernder schwerer und quälender Schmerz, der durch physiologischen Pro−

Fall 37 Seite 38 Aus J. Becker-Pfaff, St. Engel: Fallbuch Psychiatrie (ISBN 3-13-140181-8) © Georg Thieme Verlag Stuttgart 2006 Dieses Dokument ist nur für den persönlichen Gebrauch bestimmt und darf in keiner Form an Dritte weitergegeben werden!

zess oder körperliche Störung nicht voll− ständig erklärt werden kann (Rücken− schmerzen) – Auftreten des Schmerzes in Verbindung mit emotionalen Konflikten oder psychoso− zialen Problemen (Scheidung, Arbeitsunfä− higkeit, Belastung zu Hause) – Als Folge beträchtliche medizinische Zu− wendung (Arztwechsel, viele Untersuchun− gen)

!!! 37.2 Grenzen Sie die somatoforme Schmerz−

140

Fall

37 Antworten und Kommentar

storung vom Fibromyalgie−Syndrom ab! K Definition der somatoformen Schmerzstörung durch ICD−10, Definition des Fibromyalgie− Syndroms durch American College of Rheuma− tology (1990) K Kriterien für somatoforme Schmerzstörung s. Antwort zur Frage 37.1, für Fibromyalgie−Syn− drom: – Multilokuläre muskuloskeletale Schmerzen über mindestens 3 Monate in mehreren Körperabschnitten (rechte und linke Kör− perhälfte, oberhalb und unterhalb des Zwerchfells, Beteiligung des Achsenskeletts) – Druckschmerz bei ca. 4 kg Druck an 11 von 18 genau definierten sog. Tender Points K Streitfrage: Schließt die Diagnose Fibromyal− gie“ als somatische Erkrankung die Diagnose somatoforme Schmerzstörung“ aus, oder ist die Fibromyalgie eine Sonderform der somato− formen Schmerzstörung?

37.3 Welche therapeutischen Schritte konnen Sie einleiten? K Anerkennung der Schmerzen des Patienten als begründet vorhanden K Keine Indikation für Analgetika trotz häufiger Rezeptur und trotz Patientenwunsch K Bei Vorliegen depressiver Symptome trizykli− sche Antidepressiva, z. B. Amitryptilin (25– 100 mg/d) K Psychotherapeutische Betreuung oder vorsich− tige Vermittlung in Psychotherapie K Vermittlung zu progressiver Muskelentspan− nung, Biofeedback und Physiotherapie (Kran− kengymnastik, Bewegungsübungen in war− mem Wasser) K Suchttherapie eines häufig mitbestehenden Substanzmissbrauchs von Benzodiazepinen, opioidhaltigen Schmerzmitteln oder Alkohol im Rahmen eines Gesamtbehandlungsplanes 37.4 Welchen Anteil an Patienten mit somato− formen Störungen erwarten Sie in Ihrer Allge− meinarztpraxis? K In ca. einem von 5 Fällen wird bei einem am− bulanten Arztbesuch keine spezifische organi− sche Ursache für die Symptomatik gefunden, die Punktprävalenz für somatoforme Störun− gen liegt in Hausarztpraxen und verschiede− nen stationären Fachabteilungen bei 20–40 %. 37.5 Schildern Sie ein Modell der Entstehung somatoformer Störungen!

Zusammenspiel von psychosozialem Stress, Persönlichkeit, Krankheits− konzept und Affektzuständen mit Mechanismen der Somatisierung und des Krankheitsverhaltens

Fall 37 Seite 38 Aus J. Becker-Pfaff, St. Engel: Fallbuch Psychiatrie (ISBN 3-13-140181-8) © Georg Thieme Verlag Stuttgart 2006 Dieses Dokument ist nur für den persönlichen Gebrauch bestimmt und darf in keiner Form an Dritte weitergegeben werden!

Jede somatoforme Erscheinung sollte multikausal verstanden werden. Die Persönlichkeit (z. B. mit Schwierigkeiten, Gefühle schlecht wahrzuneh− men oder alles kontrollieren zu müssen) mit den einhergehenden patienteneigenen Krankheits− konzepten (z. B. alles muss eine organische Ursa− che haben, es gibt nichts psychisch Bedingtes) und der jeweiligen Stimmungslage (Affektzu− stand) des Patienten (z. B. Angst, Wut) führen ge− meinsam zu den Mechanismen der Somatisie− rung (z. B. Affekt wird auf Körperwahrnehmung verschoben). Diese äußern sich in körperlichen Beschwerden und lösen ein typisches Krankheits−

verhalten (z. B. Rückzug, Arztfixierungen, Scho− nung durch Angehörige) aus. Auch das Krank− heitsverhalten wird wiederum durch die 3 Fakto− ren Persönlichkeit, Krankheitskonzept und Af− fektzustand bestimmt. Das Krankheitsverhalten steht in enger Wechselwirkung mit der Versor− gung durch das Gesundheitssystem (z. B. hoch− technisierte Diagnostik mit Angst der Ärzte vor Klagen, erst im Aufbau befindliche Ausbildung zum psychosomatischen Grundverständnis). Durch psychosozialen Stress (z. B. Arbeitslosig− keit, Partnerprobleme) wird das System verstärkt

KOMMENTAR Definition: Die somatoforme Schmerzstörung ist eine Unterform der somatoformen Störung (Syn. Somatisierungsstörung, Konversionsstörung). Die somatoforme Störung zeichnet sich durch somati− sche Symptome ohne organisches Korrelat und den in der Antwort zu Frage 37.1 beschriebenen Um− gang der Patienten mit ihren Symptomen, ihrer Umwelt und der Arzt−Patienten−Beziehung aus.

Amnesie, Sorgen, Nervosität, Schwindel, Schwächegefühl Kurzatmigkeit, Thoraxschmerzen Brennen in den Geschlechtsorganen, Dysmenorrhö

Schluckbeschwerden Rückenschmerzen Erbrechen

37 Antworten und Kommentar

Ätiologie: Im Verständnis vieler Patienten (und auch Ärzte) ist der Schmerz Folge einer körperli− chen Schädigung, die gefunden und dann behan− delt werden muss (dualistisches Verständnis). Dass Schmerz zudem eine emotionale Komponen− te hat und eine subjektive Empfindung ist, die oh− ne entsprechende Reize einhergehen kann (non− dualistisches Verständnis), wird in Diagnostik und Therapie häufig übergangen. Psychoanalyti− sche (psychodynamische) Modelle vermitteln ei− nen wichtigen Einblick in das unbewusste Gesche− hen bei somatoformen Schmerzstörungen: Affekte werden hauptsächlich körpernah“ ausgedrückt und bleiben für den Patienten unverbalisierbar. Es ist dementsprechend schwierig, diese Affekte als solche spürbar zu machen, da sie im Rahmen der individuellen Lebensgeschichten und Veranla− gungen als unerträglich in körperlichen Schmerz umgewandelt wurden. (Beispiel: Eine Patientin er− fährt beim Auszug ihres letzten erwachsenen Sohns eine Verschlechterung ihrer Schmerzsymp−

Klinik: s. Antwort zur Frage 37.1.

141

Fall

Epidemiologie: s. Antwort zur Frage 37.4. Die Er− hebung genauerer epidemiologischer Daten ist sehr unsicher, da bei unterschiedlich definierten und unterschiedlich klassifizierten und verstande− nen Krankheitsbildern (s. Differenzialdiagnose) die diagnostische Zuordnung uneinheitlich ist. Die Dunkelziffer somatoformer Symptome dürfte hoch, aber nicht genau quantifizierbar sein. So gibt es Erhebungen darüber, dass ca. 80 % der Bevölke− rung mindestens einmal pro Woche somatische Symptome erleben, denen kein umschriebener körperlicher Befund zugrunde liegt. Allerdings ist nicht das Erleben körperlicher Vorgänge krankhaft, sondern erst die Verarbeitung dieser Empfindun− gen zu psychischem Erleben kann krankhaft ver− ändert sein.

tomatik. Die (vereinfachte) psychodynamische Hy− pothese lautet, dass durch den Auszug des Sohnes unerträgliche Trennungsängste oder Wut oder Traurigkeit oder eine Mischung aus mehreren Af− fekten ausgelöst werden, die die Patientin jedoch nicht als solche, sondern nur als Schmerz wahr− nehmen kann. Sie erklärt sehr überzeugt, dass ihr die Trennung vom Sohn nichts ausmache.) Die ver− haltenstherapeutischen Ansätze erklären in den Modellen der klassischen und operanten Konditio− nierung die Aufrechterhaltung des Schmerzes. (Beispiel: Die o.g. Patientin hat gelernt, dass ihr mehr Aufmerksamkeit zuteil wird, wenn es ihr schlecht geht und sie Schmerzen hat. Sie kann den Sohn so dazu bewegen, den Auszug zu ver− schieben oder sie häufiger zu besuchen, ohne das von ihm explizit fordern zu müssen. Das hat sie vielleicht verlernt, weil sie gelernt hat, dass direkte Forderungen häufig enttäuscht wurden oder gar negative Konsequenzen für sie hatten.).

Schmerzen in den Extremitäten

Symptome somatoformer Störungen in verschiedenen Organsystemen Diagnostik und Differenzialdiagnosen: Schon während einer sorgfältigen, aber nicht übertriebe− nen somatischen Diagnostik ist auf typische An−

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142

Fall

38 Antworten und Kommentar

zeichen für eine Somatisierungsstörung zu achten. Diese Anzeichen können sein: multiple Beschwer− den in den jeweiligen Organsystemen (s. Abb.), häufiger Symptomwandel, Diskrepanz zwischen objektivierbaren somatischen Befunden und sub− jektiven Beschwerden, lange Anamnese, affektiv inadäquate Beschwerdeschilderung, psychische Symptome wie Konzentrationsschwierigkeiten, depressive Symptomen u. a. sowie ein häufiger Arztwechsel. Je nach Symptomatik ließe sich dann die allgemeine Somatisierungsstörung (mit mul− tiplen Beschwerden in mehreren Organsystemen), die autonome somatoforme Störung eines be− stimmten Organsystems oder eine Schmerzstö− rung beschreiben. Differenzialdiagnostisch sind neben den vielfältig− sten somatischen Ursachen für die jeweilige Symptomatik auch Störungen aus dem affektiven Formenkreis (somatische Symptome einer de− pressiven Episode) und dem schizophrenen For− menkreis (zönästhetische Symptome) abzugren− zen. Eine hypochondrische Störung äußert sich eher in ausgeprägten Befürchtungen vor Erkran− kungen als in dem massiven Wahrnehmen von Beschwerden (obwohl auch diese Patienten Be− schwerden haben). Komorbiditäten mit affektiven Erkrankungen, Angststörungen und Persönlich− keitsstörungen sind häufig. In sozialmedizinischen Gutachten ist häufig zu klären, ob Simulationen (bewusstes Vortäuschen von nicht empfundenen Beschwerden) oder Aggravationen (bewusste übertriebene Darstellung tatsächlich vorhandener Symptomatik) vorliegen. Die Gegenübertragung

des Untersuchers, die häufig von Aggressivität ge− prägt ist, führt dabei häufig zu Fehleinschätzun− gen, in denen die chronisch und schwer kranken Patienten in ihren Fähigkeiten überschätzt wer− den. Die Diagnostik (und auch Therapie) der So− matisierungs− und Schmerzstörungen ist im Dunstkreis von Modediagnosen wie dem chroni− schen Müdigkeitssyndrom, der multiplen Substan− zunverträglichkeit oder der Fibromyalgie sowie ih− rer schwer objektivierbaren Ätiologie, ihrer Sym− ptomvielfalt und der stark unbewussten Prozesse im Patienten und in der Arzt−Patienten−Beziehung sehr schwierig. Therapie und Prognose: s. Antwort zur Frage 37.5. Trotz guter psychodynamischer Erklärbarkeit gibt es keine wirklich befriedigenden Therapiean− sätze für somatoforme Störungen. Zur Wirksam− keit psychoanalytisch orientierter Therapiever− fahren gibt es unterschiedliche Befunde. Es muss individuell entschieden werden, ob ein solches Therapieverfahren indiziert ist. Über verhaltens− therapeutische Methoden (z. B. Schmerztagebü− cher) können Schmerzwahrnehmung und Schmerzverhalten beeinflusst werden. Ebenso können Verfahren wie progressive Muskelent− spannung, Biofeedback−Verfahren und Physio− therapie zu leichten Symptomreduktionen und Aktivitätserhöhungen führen. Weder pharmakolo− gische noch psychotherapeutische Ansätze noch deren Kombination erreichen Heilungen bei den stets sehr komplexen somatoformen (Schmerz−) Störungen.

ZUSATZTHEMEN FÜR LERNGRUPPEN Verhaltenstherapeutische Konditionierungsmodelle Psychodynamische Modelle der somatoformen Storungen Gegenubertragung

Fall 38

Kombinierte ängstlich−vermeidende und abhängige Persönlichkeitsstörung

38.1 Welche psychiatrischen Symptome weist der Patient auf? K Großer Leidensdruck (Aufsuchen ärztlicher Hilfe unter dem Vorwand Schlafstörungen“, die aber nur nebenbei erwähnt werden)

K Extreme Aufopferungsbereitschaft (wieder− holte Unterstützung einer Freundin), kann aus eigener Kraft nicht verändert werden K Unfähigkeit, adäquat für sich selbst zu sor− gen (keine Bitte der Eltern um Unterstützung) K Unfähigkeit, sich Kritik auszusetzen

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38.2 Bei welchen Differenzialdiagnosen spielt die soziale Angst eine entscheidende Rolle? Grenzen Sie diese Differenzialdiagnosen vonei− nander ab! Patient berichtet über Angst in sozialen Situationen

Patient hat Angst, in sozialen Situationen eine Angstanfall zu bekommen, die Angst bezieht sich jedoch nicht auf die sozialen Situationen an sich

Patient hat Angst unmittelbar im Kontakt mit Personen

Die Angst des Patienten bezieht sich nur auf spezifische soziale Situationen

ja

Agoraphobie (F40.0) oder Panikstörung (F41.0)

soziale Phobie (F40.1)

selbstunsichere (vermeidende) Persönlichkeitsstörung (F60.0) oder generalisierte soziale Phobie (F40.1)

KOMMENTAR Definition: Kombinierte Persönlichkeitsstö− rungen weisen Züge mehrerer Persönlichkeitsstö− rungen auf, ohne dass davon eine schwerwiegend genug ist, um sie zur alleinigen Diagnose zu ma− chen. Die ängstlich−vermeidende (Syn. selbstun− sichere) Persönlichkeitsstörung ist durch ein Muster von Hemmungen in sozialen Situationen, Minderwertigkeitsgefühlen und extremer Emp− findlichkeit gegenüber negativer Bewertung defi− niert. Die abhängige (Syn. dependente) Persön− lichkeitsstörung ist durch die Überzeugung, das Leben nicht eigenständig führen zu können und intensiv auf die Hilfe anderer angewiesen zu sein, gekennzeichnet. Epidemiologie: Ängstlich−vermeidende und ab− hängige Persönlichkeitsstörungen sind neben der

Borderline−Persönlichkeitsstörung häufig vor− kommende Persönlichkeitsstörungen. Die Präva− lenz der ängstlich−vermeidenden Persönlichkeits− störung in der deutschen Bevölkerung liegt bei bis zu 1,3 %, die der abhängigen Persönlichkeitsstö− rung bei 1–2 %.

38 Antworten und Kommentar

38.4 Wie handeln Sie als nichtpsychothera− peutisch ausgebildeter Allgemeinmediziner? K Beziehungsaufbau, z. B. durch genaue Anam− nese und Therapie der Schlafstörung evtl. auch in mehreren Terminen; nach ausreichen− dem Beziehungsaufbau und Fortbestehen des Leidensdrucks ausführliche Besprechung einer Überweisung zu Psychotherapeut oder psy− chologischer Beratungsstelle unter Berück− sichtigung der hohen Kränkbarkeit und Ängste des Patienten K Berücksichtigung, evtl. taktvolles Ansprechen der Neigung des Patienten, in der Arzt−Patien− ten−Beziehung eine abhängige Rolle zu über− nehmen; sorgfältige Überprüfung des eigenen Handelns auf Überfürsorge oder zu distanzier− tes oder zurückweisendes eigenes Verhalten

143

Fall

38.3 Welche Diagnosen geben Sie dem Pa− tienten? K Insomnie (weiter abzuklären) K Kombinierte Persönlichkeitsstörung aus – ängstlich−vermeidender Persönlichkeits− störung; Begründung: andauerndes Gefühl der Besorgnis; ausgeprägte Sorge davor, so− zial abgelehnt zu werden; Vermeidung zwischenmenschlicher Kontakte – abhängiger Persönlichkeitsstörung; Be− gründung: Unterordnung eigener Bedürf− nisse unter die Bedürfnisse Anderer; man− gelnde Bereitschaft, Ansprüche zu äußern; Angst vor dem Verlassen werden

nein

Differenzialdiagnose der selbstunsicheren Persön− lichkeitsstörung (Die unter− schiedliche Diagnostik leitet sich aus unterschied− lichen Angstqualitäten ab, die einen fließenden Übergang haben können und sorgfältig exploriert werden müssen. Eine Un− terscheidung zwischen ge− neralisierter sozialer Phobie und ängstlicher Persönlich− keitsstörung ist schwierig: Beide liegen auf unter− schiedlichen quantitativen Stellen einer gemeinsamen Entwicklung.)

Ätiopathogenese: Biologische Faktoren werden allenfalls als prädisponierend beschrieben. In den meisten Erklärungsmodellen der verschiedenen psychologischen Schulen wird ein psychosoziales Klima beschrieben, in dem die Entwicklung eines gesunden Selbst mit Autonomie, Durchsetzungs− vermögen, Selbstständigkeit und Selbstwert be− hindert wird. Klinik und Diagnostik: Für die Diagnose der ängstlich−vermeidenden Persönlichkeitsstö−

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rung müssen mindestens 3 der folgenden Kriteri− en vorhanden sein: K Andauernde und umfassende Gefühle von An− spannung und Besorgtheit K Überzeugung, selbst sozial unbeholfen, un− attraktiv und minderwertig im Vergleich zu Anderen zu sein K Ausgeprägte Sorge, in sozialen Situationen kri− tisiert oder abgelehnt zu werden K Abneigung, sich auf persönliche Kontakte ein− zulassen, außer man ist sicher, gemocht zu werden K Eingeschränkter Lebensstil wegen des Bedürf− nisses nach körperlicher Sicherheit K Vermeidung sozialer und beruflicher Aktivitä− ten, die zwischenmenschliche Kontakte vo− raussetzen, aus Angst vor Kritik, Missbilligung oder Ablehnung K Überempfindlichkeit gegenüber Ablehnung und Kritik.

144

Fall

38 Antworten und Kommentar

Für die Diagnose der abhängigen Persönlich− keitsstörung müssen mindestens 3 der folgen− den Kriterien vorliegen: K Bei Lebensentscheidungen Appell an die Hilfe Anderer oder Abgabe der Entscheidungen K Unterordnung eigener Bedürfnisse unter die anderer Personen, zu denen eine Abhängigkeit besteht, und unverhältnismäßige Nachgiebig− keit gegenüber den Wünschen Anderer K Mangelnde Bereitschaft zur Äußerung ange− messener Ansprüche gegenüber Personen, zu denen eine Abhängigkeit besteht K Unbehagliches Gefühl beim Alleinsein aus übertriebener Angst, nicht für sich allein sor− gen zu können K Häufige Angst, von einer Person verlassen zu werden, zu der eine enge Bindung besteht, und auf sich selbst angewiesen zu sein K Eingeschränkte Fähigkeit, Alltagsentscheidun− gen zu treffen ohne ein hohes Maß an Rat− schlägen und Bestätigung von Anderen K Selbstwahrnehmung als hilflos, inkompetent und nicht leistungsfähig. In der Diagnostik spielen neben der Anamnese und der Beurteilung des Arzt−Patienten−Kontak− tes Fragebögen zur Persönlichkeitsdiagnostik eine

Rolle (z. B. Freiburger Persönlichkeits−Inventar = FPI). Differenzialdiagnosen: s. Antworten zu dem Fra− gen 38.2 und 28.4. In erster Linie muss eine blande oder beginnende schizophrene Erkrankung diffe− renzialdiagnostisch abgegrenzt werden. Besonders der zeitliche Verlauf wird dabei berücksichtigt, denn eine beginnende Schizophrenie führt meist zu wahnhaften Symptomen, eine blande Schizo− phrenie zu Denkstörungen. Auch eine schwere de− pressive Symptomatik kann den beiden bespro− chenen Persönlichkeitsstörungen ähneln. Aller− dings sind dann Niedergestimmtheit und Antriebslosigkeit stärker ausgeprägt. Posttrauma− tische Störungen können nach langem Verlauf ähnlich imponieren. Therapie: Diese Persönlichkeitsstörungen sind psychopharmakologisch kaum zu beeinflussen. Sie können mit unterschiedlichen Psychothera− pieverfahren behandelt werden. Das jeweilige Verfahren ist mit dem Patienten individuell zu besprechen und auszuwählen, so dass es kaum generalisierte Empfehlungen geben kann. Aus− schlaggebend ist u. a., ob das Ziel der Therapie Ver− haltensänderung oder Veränderung der Persön− lichkeitsstruktur sein soll. Folgende therapeuti− sche Ebenen sollten abgedeckt werden: kognitive, behaviorale, affektive und interpersonale. Patien− ten mit ängstlich−vermeidenden Störungen neigen dazu, schnell gekränkt zu sein oder aus Angst vor Zurückweisung oder Kritik eine Behandlung abzu− brechen. Patienten mit abhängigen Persönlich− keitsstörungen profitieren in psychodynamischen Therapieformen von der Analyse der Beziehungs− gestaltung und der Entwicklung eigener Wünsche und Bedürfnisse, die verhaltenstherapeutischen Maßnahmen fördern soziale Kompetenz, Selbst− vertrauen und Unabhängigkeit. Prognose: Prognostische Aussagen sind schwierig zu treffen, da der Therapieerfolg unterschiedlich definiert wird (z. B. Symptomreduktion, besseres Wohlbefinden oder Verbesserung der Persönlich− keitsstruktur). Etwa 2/3 der Patienten profitieren von einer Verhaltenstherapie in Kombination mit anderen Therapieverfahren.

ZUSATZTHEMEN FÜR LERNGRUPPEN Psychotherapieverfahren dieser Personlichkeitsstorungen Fragebogen zur Erfassung der Personlichkeitsstorungen

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Fall 39 39.1 Zählen Sie beide Einteilungen auf! Art und Typ der hauptsächlich konsumierten Substanzen

Störungen durch

ICD−10

Alkohol

F10

Opioide

F11

Cannabinoide

F12

Sedativa oder Hypnotika

F13

Kokain

F14

Andere Stimulanzien

F15 F16

Tabak

F17

Flüchtige Lösungsmittel

F18

Multipler Substanzgebrauch

F19

Missbrauch von nicht abhängig− keitserzeugenden Substanzen (z. B. Antidepressiva, Laxanzien, Analgetika, Antazida)

F55.2

Störung

ICD−10

Akute Intoxikation (Rausch)

F1 x.0

Schädlicher Gebrauch

F1 x.1

Abhängigkeitssyndrom (Sucht)

F1 x.2

Entzugssyndrom

F1 x.3

Entzugssyndrom mit Delir

F1 x.4

Psychotische Störung

F1 x.5

Amnestische Störung

F1 x.6

Persönlichkeitsstörung

F1 x.71

Affektives Syndrom

F1 x.72

Demenz

F1 x.73

39.2 Welche lernpsychologischen Faktoren ha− ben bei der Entwicklung einer Sucht Bedeutung? K Ich−Schwäche und Labilität K Verminderte Frustrationstoleranz

39.3 Fassen Sie diese zusammen! Folgeschäden des Alkoholkonsums

Organsystem Störungen Gastrointesti− Ösophagusvarizen, Mallory− naltrakt Weiss−Syndrom, Gastritis, Gastropathie, Pankreatitis, Leberstörungen (Fettleber, al− koholische Hepatitis, Zirrho− se), Malabsorption, Karzinome (z. B. Ösophagus, Mund) Herz−Kreis− laufsystem

Kardiomyopathie, Hyperto− nus

Endokrines System

Hodenatrophie, Östrogen q, Testosteron Q

Nerven− system

Krampfanfälle, Wernicke−Kor− sakow−Syndrom, kortikale Atrophie, zerebelläre Atro− phie, Demenz, Polyneuropa− thie, Myopathie

Immun− system

Infektionskrankheiten

Schwanger− schaft

Fetales Alkoholsyndrom: kör− perliche und geistige Retar− dierung

39.4 Was wissen Sie über die Phasen der Suchttherapie? Ziel: Abstinenz; Phasen: K Kontakt− und Motivationsphase K Entgiftungsphase K Entwöhnungsphase K Nachsorge und Rehabilitation

145

39 Antworten und Kommentar

Klinisches Erscheinungsbild

K Fehlende Entwicklung von Konfliktbewälti− gungsstrategien K Reizhunger K Konditionierung durch Umgebung und soziale Situation K Positive Verstärkung durch drogeninduzierte angenehme Zustände

Fall

Halluzinogene

Sucht

KOMMENTAR Definition: Von schädlichem Gebrauch (Miss− brauch) spricht man, wenn wiederholter Sub− stanzgebrauch dazu führt, dass wichtige Verpflich− tungen nicht mehr erfüllt werden, es zu Situatio− nen mit körperlicher Gefährdung oder Problemen

mit dem Gesetz kommt und der Substanzgebrauch trotz hierdurch bedingter sozialer oder zwischen− menschlicher Probleme fortgesetzt wird. Für eine Abhängigkeit (Sucht) müssen nach ICD10 min− destens 3 der folgenden Kriterien vorliegen: star−

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kes Verlangen oder eine Art Zwang, Substanzen zu konsumieren; verminderte Kontrollfähigkeit, kör− perliches Entzugsyndrom, Toleranzentwicklung (Dosissteigerung), Vernachlässigung von Interes− sen, anhaltender Substanzkonsum trotz Nachweis schädlicher Folgen. Das Charakteristische an Suchtkrankheiten im Gegensatz zum schädlichen Gebrauch ist das unabweisbare Verlangen nach einem bestimmten Erlebniszustand, dem die Kräfte des Verstandes untergeordnet werden. Dies führt zu Störungen in körperlichen, psychischen und sozialen Bereichen. Suchtsubstanzen: s. Antwort zur Frage 39.1 und Fall 49.

146

Fall

39

Epidemiologie: 5–7 % der deutschen Bevölkerung leiden an einer Suchterkrankung. Meist sind Män− ner häufiger betroffen als Frauen. Nur bei Benzo− diazepinabhängigkeit sind Frauen und Männer gleich häufig betroffen, bei Schmerzmittelabhän− gigkeit sind Frauen häufiger betroffen. Die häufig− ste Suchterkrankung ist die Alkoholabhängigkeit (s. Fall 9). Der Konsum illegaler Substanzen (z. B. Cannabis, Designerdrogen, Amphetamine) ist bei Jugendlichen und jungen Erwachsenen am höch− sten.

Antworten und Kommentar

Ätiopathogenese: Sucht entsteht aus dem Zu− sammenspiel von individuellen Faktoren (s. Ant− wort zur Frage 39.2, genetische Vulnerabilität), so− zialem Umfeld und Droge. Viele Drogen steigern die Dopaminfreisetzung und lösen so Wohlbeha− gen und Euphorie aus.

Modellvorstellungen zur Suchtentstehung

von einem starken bzw. übermächtigen Wunsch, eine Substanz zu konsumieren. Zeichen einer psy− chischen Abhängigkeit sind: Nichtaufhören kön− nen mit der Substanz und Angewiesen sein auf die Substanz. Ohne die Substanz kommt es zu einem Missempfinden, v. a. dem Fehlen angenehmer Ge− fühle. Dadurch entsteht ein starkes Verlangen oder ein Zwang, die Substanz zu konsumieren (Craving), und es entwickelt sich ein Kontrollverlust (Verlan− gen, weiter zu konsumieren). Zeichen physischer Abhängigkeit zeigen sich bei dem Versuch, die Substanz zu reduzieren oder abzusetzen. Die Symptome, die sich dann entwickeln, unterschei− den sich jeweils bei den einzelnen Substanzen und reichen von Zittern, Schwitzen und Übelkeit bis hin zum Delir. Diagnostik: Neben Gesprächen mit dem Patien− ten und evtl. den Angehörigen sind körperliche und psychiatrische Untersuchungen sowie Selbst− und Fremdbeurteilungsfragebögen bedeut− sam. Labormarker und Screening−Methoden er− gänzen die Diagnostik und können zur Verlaufsbe− obachtung verwendet werden. Therapie: s. Fall 19. Das gesamte Suchthilfesystem hat sich in den letzten Jahrzehnten zu einem hoch differenzierten System von Spezialangeboten ent− wickelt. Die beiden wichtigsten Behandlungsmo− dalitäten sind die abstinenzorientierte Behand− lung und bei illegalem Drogenkonsum die medi− kamentengestützte Behandlung. Prävention: Im Rahmen der Primärprävention wird die Bevölkerung im Allgemeinen und be− stimmte Gruppen im Besonderen (z. B. Lehrer, Er− zieher) über Sucht aufgeklärt. Man erhofft sich davon, dass dadurch weniger Sucht entsteht. In Deutschland wie in der EU wird die Primärpräven− tion durch Projekte und Forschungsgelder stark gefördert. Schulen werden als Ort von Präventions− angeboten bevorzugt. Des Weiteren bekommen sozialhygienische Maßnahmen (Verbot von Wer− bung, steuerliche Maßnahmen) immer mehr Be− deutung. Wenn es schon zur Sucht gekommen ist, wird die Sekundärprävention wichtig, d. h. die Früherkennung und −behandlung sowie die Ver− minderung von Folgeschäden. Folgende Maßnah− men werden angewendet, um drogenbedingte ge− sundheitliche Schäden und Todesfälle und Belas− tungen der Öffentlichkeit zu reduzieren: Spritzenaustauschprogramme, aufsuchende Dro− genarbeit, niederschwellige Dienste, Impfungen, Safer−Use−Aufklärung, beaufsichtigte Drogenkon− sumräume, Verschreibung von Heroin, Vergabe von Opiatantagonisten.

Klinik: s. Antwort zur Frage 39.1 und Fall 49. Eine Sucht hat psychische, physische und soziale Fol− gen. Sie entwickelt sich meist langsam, meist aus einem schädlichen Gebrauch oder einer Gewöh− nung heraus. Charakteristisch für die Abhängigkeit ist, dass ein aktueller Konsum besteht, begleitet

Fall 39 Seite 40 Aus J. Becker-Pfaff, St. Engel: Fallbuch Psychiatrie (ISBN 3-13-140181-8) © Georg Thieme Verlag Stuttgart 2006 Dieses Dokument ist nur für den persönlichen Gebrauch bestimmt und darf in keiner Form an Dritte weitergegeben werden!

ZUSATZTHEMEN FÜR LERNGRUPPEN Methadonsubstitution Legalisierung von Drogen Kriminalitat im Zusammenhang mit Drogenkonsum

Fall 40

Zwangsstörung

40.1 Welches vorherrschende Symptom stellen Sie bei dem Patienten fest? Wie lautet daher Ihre Verdachtsdiagnose? K Symptom: Zwang K Verdachtsdiagnose: Zwangsstörung

40.5 Welche Medikamente können bei diesem Krankheitsbild eingesetzt werden? K Antidepressiva: oft deutlich höhere bis dop− pelt so hohe Dosierung als bei Depressionen erforderlich, Therapieerfolge in der Regel erst nach 12 Wochen, z. B. Clomipramin 150– 300 mg/d, Paroxetin 20–50 mg/d K Neuroleptika: bei Therapieresistenz Antide− pressiva plus Neuroleptika, z. B. Risperidon 2–4 mg/d, Olanzapin 5–10 mg/d

147

40 Antworten und Kommentar

40.3 Nennen und erklären Sie die einzelnen Phänomene dieses Symptoms! K Zwangsgedanken: sich aufdrängende, als un− sinnig und als nicht von außen generiert er− kannte Denkinhalte K Zwangsimpulse: sich gegen den eigenen Wil− len aufdrängende Handlungsimpulse mit meist intensiver Angst, diese könnten ausge− führt werden, was jedoch nicht geschieht K Zwangshandlungen: gegen den eigenen Wil− len ausgeführte Handlungen; Versuche, auf

40.4 Welche Therapieoptionen haben Sie bei diesem Patienten? K Verhaltenstherapeutische Verfahren, z. B. kognitive Strategien; Vorgehen: Analyse der Zwänge, der Situation und der Bedingungen, Veränderung dysfunktionaler Einstellungen (Perfektionismus, Hypochondrie), Beeinflus− sung interaktioneller Bedingungen, Aufbau al− ternativ positiver Aktivitäten; Beispiel: Ein Pa− tient soll lernen, Zwangssymptome als solche zu identifizieren. Dies geschieht durch das ge− naue Durchsprechen der jeweiligen Situation. Bemerkt er nun das Auftreten eines Zwangs− symptoms, lernt er unter Anleitung, seine Ein− stellung schrittweise zu verändern (Was ich eben tue, ist eine Zwangshandlung. Dies ist ein Symptom meiner Erkrankung. Ich bin we− der gefährdet, noch kann mit irgendetwas pas− sieren.“). Im Weiteren lernt er, andere Verhal− tensweisen ohne Zwang auszuüben. K Entspannungsverfahren (Progressive Muskel− relaxation, Autogenes Training)

Fall

40.2 Kennen Sie dieses Symptom aus Ihrer eigenen Erfahrung? Was ist der Unterschied zur pathologischen Variante? Beispiele: K Ohrwurm K Wenn man nicht ohne weiteres davon ablas− sen kann, Treppenstufen zu zählen oder glaubt, den Schreibtisch nicht unaufgeräumt hinterlassen zu können K die Zigarette danach“ K Normaler“ Zwang ist ich−synton, d. h. wird nicht als qualvoll empfunden, kann ohne Angst unterbrochen werden, es besteht wei− testgehend Entscheidungsfreiheit K Pathologischer Zwang ist ich−dyston, d. h. wird als unsinnig erkannt, qualvoll empfun− den, kann nicht ohne unerträgliche Angst un− terbrochen werden

die Handlungen zu verzichten, verursachen Spannungs− und Angstgefühle

KOMMENTAR Definition: Zwänge sind willentlich nicht kontrol− lierbare, als fremd und aufgezwungen erlebte re− petitive Stereotypien. Epidemiologie: Die Lebenszeitprävalenz liegt bei 2–3 %. Männer sind etwas häufiger betroffen. Ätiopathogenese: Anzunehmen ist eine Kombi− nation genetischer, neurobiologischer und ver− haltenstheoretischer Ursachen. Aus der Beobach− tung, dass neurologische Erkrankungen gehäuft Zwangssymptome zeigen, konnte man auf eine

Dysfunktion der Basalganglien schließen. Auch neurochirurgische stereotaktische Eingriffe zur Unterbrechung von Projektionsbahnen zwischen Basalganglien und Frontalhirn führten zu einer Symptomreduktion bei Zwangserkrankten. Diese Befunde konnten durch PET−Untersuchungen be− stätigt werden. Insbesondere das serotonerge Transmittersystem scheint bei dem fronto−striata− len Regelkreis eine große Rolle zu spielen, was der therapeutische Effekt von Serotonin−Wiederauf− nahmehemmer bestätigt.

Fall 40 Seite 41 Aus J. Becker-Pfaff, St. Engel: Fallbuch Psychiatrie (ISBN 3-13-140181-8) © Georg Thieme Verlag Stuttgart 2006 Dieses Dokument ist nur für den persönlichen Gebrauch bestimmt und darf in keiner Form an Dritte weitergegeben werden!

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Fall

41

Aus psychodynamischer Sicht dienen Zwangsge− danken und −handlungen in erster Linie dazu, Angst zu binden. Dabei sollen auf der Ebene des magischen Denkens bedrohliche Triebimpulse ag− gressiver und sexueller Natur unschädlich ge− macht werden. Durch das Erleben des Zwanges als fremd und ich−dyston wird gleichzeitig der In− halt des Triebimpulses abgewehrt. In der klassi− schen psychoanalytischen Theorie wird aufgrund des Vorherrschens des magischen Denkens und dem häufig vorliegenden analen Themenkomple− xen vermutet, dass der abgewehrte ursprüngliche Konflikt der analen Phase, in der es um Autono− miebestrebungen und Abhängigkeitsgefühle geht, zugeordnet werden kann. Auch lerntheoretische Modelle gehen von einem engen Zusammenhang zwischen der Zwangs− symptomatik und Angst aus. Dabei geht man da− von aus, dass ein ursprünglich neutraler Gedanke oder eine neutrale Handlung durch die Bindung an einen angstbesetzten Stimulus selbst zu einem angstbesetzten Vorgang wird. Die Zwangssympto− matik tritt dann zunehmend an die Stelle von Angst.

Antworten und Kommentar

Klinik: s. Antwort zur Frage 40.3. Meist beginnt die Erkrankung in der Jugend oder im frühen Er− wachsenenalter, seltener im Kindesalter. Sie be− ginnt meist unbemerkt und nimmt einen chroni− schen Verlauf. Allen Zwangsstörungen liegen fol− gende Merkmale zugrunde: Die Zwänge können nicht vermieden werden, drängen sich auf, wer− den als ich−dyston erlebt und wiederholen sich. Häufig bedingen Zwangssymptome eine depressi− ve Entwicklung. Zwangsgedanken lösen meist Angst aus, Zwangshandlungen mindern diese. Die häufigsten Zwangsgedanken sind aggressiv, obs−

zön (Beleidigungen, jemanden umbringen), sexu− ellen Inhalts (verbotene, perverse Gedanken), Ver− schmutzungsgedanken (Speichel, Urin, Kot, Bakte− rien), religiöse Gedanken (Gotteslästerungen oder Befürchtungen, diese zu begehen), Gedanken be− züglich Genauigkeit (schief, schräg, unkorrekt). Häufige Zwangshandlungen sind Reinigungs− und Waschzwang (ritualisiertes Händewaschen, Duschen, Baden), Kontrollzwang (Kontrollieren von Schlössern, Herd, Türen, Fenstern), psychoso− zialer Kontrollzwang (ob man keinen Fehler macht, nichts Schreckliches passiert), Wiederholungs− zwänge (mehrmaliges Lesen, Schreiben, Rechnen), Zählzwänge, Ordnungszwänge, Sammelzwänge. Diagnostik: Nach ICD−10 müssen über 2 Wochen an den meisten Tagen Zwänge nachweisbar sein und dabei als eigene Impulse, die unangenehm sind, wahrgenommen werden. Differenzialdiagnosen: Bei den Schizophrenien werden die Wahngedanken ich−synton erlebt, so dass meist kein subjektiver Leidensdruck gegeben ist. Organische Ursachen werden meist von neu− rologischen Erkrankungen begleitet (z. B. posten− zephalitisches Parkinson−Syndrom, Chorea minor Sydenham, traumatische Läsionen der Basalgang− lien). Eine Sonderstellung nimmt das Gille−de−la− Tourette−Syndrom ein (s. Fall 16). Hier finden sich neben Zwangssymptomen auch Tics und Selbst− schädigungen. Therapie: s. Antworten zu Fragen 40.4 und 40.5. Prognose: Der Krankheit verläuft – trotz Therapie – meist chronisch, manchmal erscheint dem Pati− enten der Suizid als einziger Ausweg.

ZUSATZTHEMEN FÜR LERNGRUPPEN Gille−de−la−Tourette−Syndrom Zwang und Essstorungen Zwang und Sucht Suizid

Fall 41

Negativ−Symptomatik einer Schizophrenie

41.1 Welche Symptome können Sie dem bisherigen Gespräch entnehmen? K Verarmung von Sprache (Alogie) und Denken K Interessensverlust K Eingeschränkte affektive Ausdrucks− und Mo− dulationsfähigkeit K Antriebsverlust K Gedankenkreisen

41.2 Nennen Sie Ihre Verdachtsdiagnose und 2 Differenzialdiagnosen! Wie können Sie diese bestätigen bzw. ausschießen? K Verdachtsdiagnose: Negativ−Symptomatik im Rahmen einer schizophrenen Erkrankung entweder als Bestandteil einer akuten Phase oder eines Residualsyndroms; Diagnostik: Er− fragen einer aktuellen oder vergangenen Posi− tiv−Symptomatik (Wahn, Sinnestäuschungen, Ich−Störungen)

Fall 41 Seite 42 Aus J. Becker-Pfaff, St. Engel: Fallbuch Psychiatrie (ISBN 3-13-140181-8) © Georg Thieme Verlag Stuttgart 2006 Dieses Dokument ist nur für den persönlichen Gebrauch bestimmt und darf in keiner Form an Dritte weitergegeben werden!

K Differenzialdiagnosen: K Negativ−Symptomatik oder Parkinsonoid im Rahmen einer neuroleptischen Therapie; Diagnostik: Erhebung der Medikamentenan− amnese (bei atypischen Neuroleptika wenig wahrscheinlich) K Antriebslosigkeit, Sprach− und Denkverarmung im Rahmen einer depressiven Erkrankung, isoliert oder in Folge einer schizophrenen Psy− chose; Diagnostik: genauere Untersuchung der Affektlage

KOMMENTAR Definition: Bei einem schizophrenen Residuum handelt es sich um eine unspezifische Restsymp− tomatik nach schizophrener Erkrankung. Meist liegt eine Negativ−Symptomatik (Minus−Sympto− matik = Wegfall vorher vorhandener Fähigkeiten) mit Affektverarmung, Sprachverarmung, Antriebs− mangel, sozialem Rückzug und Interessenverlust vor. Die Positiv−Symptomatik (Plus−Symptomatik = Wahn, Halluzinationen, Erregungs− oder Stupor− zustände) ist dabei weitgehend remittiert, kann aber in milder Form weiterbestehen und in Krisen− situationen exazerbieren. Epidemiologie und Ätiologie: s. Fall 18. Klinik: s. Antwort zur Frage 41.1 und Fall 32. Mit dem Begriff Schizophrenie wird von Nichtpsychia− tern häufig nur die beeindruckende sog. Positiv− Symptomatik assoziiert. Diese ist durch massive Sinnestäuschungen, Wahnsymptome, Ich−Störun− gen und motorische Erregungszustände gekenn− zeichnet. Parallel oder im Verlauf kann sich jedoch die sog. Negativ−Symptomatik entwickeln, die zwar weniger dramatisch, doch wahrscheinlich folgenschwerer ist als die Positiv−Symptomatik. Die Patienten wirken ausgebrannt und sind häufig nicht mehr in der Lage, ein selbständiges Leben ohne Betreuung aufrechtzuerhalten. Besonders

tragisch zeigt sich dies bei jungen Patienten mit chronischen und in ein Residualsyndrom münden− den Verläufen. Patienten mit einer Negativ−Symp− tomatik klagen häufig über Konzentrations−, Denk− und Gedächtnisstörungen; leichte Erschöpfbarkeit, Leistungsdefizite, Einbuße an Spannkraft; Impuls− verarmung, zönästhetisches Erleben, erhöhte Beeindruckbarkeit; Überempfindlichkeit bei Geräuschen, Witterungsempfindlichkeit; Schlaf− störungen; Gefühl der Insuffizienz, dysthyme Ver− stimmungen, vegetative Störungen, Verlust der Unbefangenheit. Grob lässt sich die schizophrene Erkrankung in verschiedene Phasen einteilen (s. Tab.).

149

41 Antworten und Kommentar

41.4 Welche unterschiedlichen Subtypen der Schizophrenie unterscheidet die ICD−10? K Paranoide Schizophrenie (Wahn, Halluzina− tionen) K Hebephrene Schizophrenie (affektive Verän− derungen mit Verflachung, läppischem Verhal− ten und nur flüchtiger produktiver Symptoma− tik) K Katatone Schizophrenie (psychomotorische Störungen zwischen extremer Erregung und Stupor) K Undifferenzierte Schizophrenie (unklare Zu− standsbilder, die nicht eindeutig den anderen 3 zuzuordnen sind) K Postschizophrene Depression (an abklingen− de schizophrene Symptomatik anschließende Depression) K Schizophrenes Residuum (Vorherrschen einer Negativ−Symptomatik nach eindeutiger Diag− nose einer vorangegangenen produktiven Symptomatik) K Schizophrenia simplex (seltenes Zustandsbild schleichender Progredienz mit Unmöglichkeit, soziale Anforderungen zu erfüllen, Verschlech− terung der Leistungsfähigkeit, psychischer Entleerung“, ohne vorangehende produktive Symptomatik)

Fall

41.3 Nennen sie Verlaufsformen dieser Erkrankung! Verlaufsformen können von vollständigen und stabilen Remissionen bis hin zu chronisch pro− duktiven und zu langjährigen Hospitalisierungen führenden Zuständen reichen; folgende Verlaufs− formen werden nach der ICD−10−Klassifikation unterschieden: K Kontinuierlich (keine Symptomremission im Beobachtungszeitraum) K Episodisch mit zunehmender Entwicklung negativer“ Symptome in den Krankheitsinter− vallen K Episoden mit anhaltenden, aber nicht zuneh− menden negativen“ Symptomen in den Krankheitsintervallen K Episodisch (remittierend), mit vollständiger oder praktisch vollständiger Remission zwi− schen den psychotischen Episoden K Unvollständige Remission

K Vollständige Remission K Sonstiger Verlauf K Verlauf unsicher, Beobachtungszeitraum , 1 Jahr

Diagnostik: Die Diagnostik des schizophrenen Residuums ergibt sich aus der Verlaufsbeobach− tung der schizophrenen Erkrankung, deren Plus− symptomatik abnimmt. Die Beschreibung der Ne− gativ−Symptomatik im zeitlichen Verlauf unter Be− rücksichtigung depressiver Bilder führt zur Diagnose des Residualzustands. Differenzialdiagnosen: Verläufe ohne eine vo− rangegangene oder mit einer verkannten produk− tiv psychotischen Phase werden häufig übersehen oder fehldiagnostiziert. Typische Fehldiagnosen sind: Depression, das sog. Messie−Syndrom oder

Fall 41 Seite 42 Aus J. Becker-Pfaff, St. Engel: Fallbuch Psychiatrie (ISBN 3-13-140181-8) © Georg Thieme Verlag Stuttgart 2006 Dieses Dokument ist nur für den persönlichen Gebrauch bestimmt und darf in keiner Form an Dritte weitergegeben werden!

Verlauf der Schizophrenie

150

Fall

42

Phase

Kennzeichen

Prämorbide Phase

Prämorbides Funktionsniveau entscheidend für Prognose

Prodromalphase (s. Fall 18)

Ca. 1–5 Jahre vor Ausbruch der Psychose; unspezifische Symp− tome, deren Erkennung und Behandlung den Gesamtverlauf günstig beeinflusst; evtl. erste psychotische Entgleisungen, kann ohne Therapie wieder remittieren

Akutphase der Psychose

Volle Ausprägung der psychotischen Symptomatik; mögliche Ausprägungen: paranoid, hebephren, kataton, undifferenziert

Erholungsphase

Nach erfolgreicher Behandlung, Förderung der Compliance und Bearbeitung der Stigmatisierung

Langzeitphase, Genesungs− phase

Rückfälle in bis zu 75 % innerhalb der ersten 5 Jahre, daher medikamentöse, soziale und psychotherapeutische Rückfall− prophylaxe

auch schlicht die Stigmatisierung als Faulenzer oder Taugenichts. Manche dieser Patienten bege− ben sich erst nach Jahren eines schleichenden Ver− laufs in eine ärztliche, noch seltener in eine psychi− atrische Behandlung.

Antworten und Kommentar

Therapie: Die schizophrene Negativ−Symptoma− tik ist wesentlich schwieriger und langwieriger zu behandeln als die Positiv−Symptomatik. Vor al− lem die Verarmung des Denkens und Sprechens, der Verlust von Ideen und Antrieb, die Affektver− flachung und der soziale Rückzug bieten wenig Ansatzpunkte zur Therapie. Prognose: Eine Stellungnahme zur Prognose ist bei der Schizophrenie schwierig. Was wird als Er− folg gewertet: die Symptomfreiheit, die Genesung,

die Entlassung aus dem Krankenhaus, die Wieder− herstellung der Arbeitsfähigkeit? Als mögliche Ausgänge werden die Vollremission, das schi− zophrene Residuum und die Persistenz schizo− phreniformer Symptome angegeben, von denen nur das schizophrene Residuum, das durch eine Negativ−Symptomatik gekennzeichnet ist, in der ICD−10 kodiert ist. Eine Faustregel besagt, dass ca. 1/3 der Patienten gesunden bzw. nur unspezifische und diskrete Residualsyndrome ausbilden. Ein weiteres Drittel zeigt gelegentliche Rückfälle und/ oder ein mittelschwer ausgeprägtes Residualsyn− drom. Bei dem verbleibenden Drittel persistieren deutliche schizophrenietypische Symptome oder schwere Persönlichkeitsveränderungen.

ZUSATZTHEMEN FÜR LERNGRUPPEN Der Begriff Prognose Definitionen der schizophrenen Unterformen gemaß ICD−10 Postschizophrene Depression Typische Symptome der Schizophrenie−Unterformen (z. B. der hebephrenen Schizophrenie)

Fall 42

Therapie der bipolaren affektiven Störung

42.1 Stellen Sie eine Verdachtsdiagnose! Bipolare affektive Störung; Begründung: de− pressive Symptome (niedergedrückte Stimmung, Todeswünsche) und manische Symptome (geho− bene Stimmung, Größenideen)

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42.2 Welche 4 medikamentosen Substanz− klassen kennen Sie zur Behandlung dieser Erkrankung? Nennen Sie jeweils Indikationen und Beispielpraparate!

Substanzklasse

Indikationen

Beispielpräparate

Antidepressiva

Depressive Symptomatik

Fluoxetin (SSRI), Venlaflaxin (kombiniert noradrenalin− und serotoninselektiv), Reboxetin (noradrenalin−selektiv), Ami− tryptilin (trizyklisch), Moclobe− mid (MAO−Hemmer)

Neuroleptika

Manische Erregtheit, maniforme oder Haloperidol, Perazin (klassisch); depressive Wahnideen, Olanzapin Risperidon, Olanzapin (atypisch auch zur Prophylaxe zugelassen bzw. modern)

Phasenprophylaktika Lithium Antikonvulsiva

Phasenprophylaxe, therapieresistente Lithium Depression, manische Episode

151

Manische Episode, Phasenprophylaxe Carbamazepin, Valproinsäure

KOMMENTAR Therapie: Die Behandlung der bipolaren affekti− ven Störungen besteht aus 2 Komponenten: K 1. Akutbehandlung der jeweiligen depressi− ven oder manischen Phase (s. Fälle 21 und 52) K 2. Phasenprophylaxe, die nach 2 Phasen ei− ner bipolaren Störung mit einem Stimmungs− stabilisator (Mood Stabilizer) indiziert ist. Bei Depressionen ist dabei zusätzlich die Erhal− tungstherapie des jeweiligen Antidepressiv− ums, bei Manie ggf. die des jeweiligen Neuro− leptikums zu verordnen. Lithium ist bei fehlenden Kontraindikationen Mittel der 1. Wahl. Die Gabe erfordert umfang− reiche Voruntersuchungen (s. Fall 10), v. a. der

Nieren− und Schilddrüsenfunktion. Es wird abends eingenommen, um Nebenwirkungen zu verschlafen“. Diese können sein: feinschlägiger Tremor, Müdigkeit, Übelkeit, Diarrhö, EKG−Verän− derungen, Polyurie, Ödeme, Strumabildung, Leu− kozytose, Akne, Psoriasis. Cave: wegen der gerin− gen therapeutischen Breite besteht bei Intoxika− tionen Lebensgefahr! Daher ist eine regelmäßige Überwachung des Lithiumspiegels unerlässlich. Außerdem verschlechtern die Nebenwirkungen die Compliance. Nach Absetzen einer wirksamen Lithiumtherapie steigt die Wahrscheinlichkeit, dass es beim zweiten Versuch nicht mehr wirkt. Die Wirkung tritt erst nach Wochen bis Monaten ein, vermutlich auf der Basis von veränderten

42 Antworten und Kommentar

42.4 Nennen Sie Indikationen, Durchführung und Nebenwirkungen der Elektrokrampfthera− pie! K Indikationen: – Akute lebensbedrohliche Katatonie – Schwere therapieresistente Psychosen aus schizophrenem und affektivem Formen− kreis nach Ausschöpfen aller anderen the− rapeutischen Mittel K Durchführung: in Anwesenheit von Anästhe− sist und Psychiater Kurznarkose und unter Monitorkontrolle elektrische Stimulation über nichtdominanter Hemisphäre 0,5–8 Se− kunden lang insgesamt 6–10 bei 2 Behand− lungen pro Woche K Nebenwirkungen: Blutdruckanstieg, kognitive Störungen (retro− und anterograde Gedächt− nisstörungen, punktuelle Erinnerungslücken)

Fall

42.3 Welche Präparate stehen zur Phasenpro− phylaxe dieser Erkrankung zur Verfügung? Wie sind die jeweiligen Dosierungen und therapeu− tischen Plasmaspiegel? K Lithium: einschleichend, z. B. mit 12 mmol/d, bis zum Erreichen eines Serumspiegels von 0,5–0,8 mmol/l, bei älteren Menschen evtl. schon Spiegel von 0,4 mmol/l ausreichend K Carbamazepin: einschleichend über 3 Tage mit bis zu 600–1000 mg/d bis zum Erreichen eines Plasmaspiegels von 6–12g/ml K Valproinsäure: einschleichend mit 150– 300 mg/d bis zu 900–1500 mg/d über 3–4 Ta− ge bis zum Erreichen eines Plasmaspiegels von 50–100g/ml

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152

Fall

43 Antworten und Kommentar

neuronalen Signaltransduktionen. Erst nach meh− reren Wochen bis zu 6 Monaten kann man eine deutliche Reduktion der Phasenhäufigkeit bis hin zur Symptomfreiheit bei 65–80 % der Patienten feststellen. Ebenso vermindert Lithium das Suizi− drisiko und ist damit das einzige Medikament, für das diese Wirkung nachgewiesen werden konnte. Carbamazepin kommt bei Lithium−Non−Respon− dern oder bei Kontraindikationen für Lithium (z. B. Nierenversagen und schwere Nierenerkran− kungen, Myokardinfarkt, erstes Schwanger− schaftsdrittel, Psoriasis, Morbus Addison, Myas− thenie gravis, Bradyarrythmien) zum Einsatz. Sei− ne antimanische Wirkung ist stärker ausgeprägt als seine antidepressive. Es wirkt prophylaktisch bei 60–90 % der Patienten, insbesondere bei Pati− enten mit schizoaffektiven Störungen. An Neben− wirkungen kommen vor: Blutbild− und Leber− schädigungen, allergische Hautreaktionen, neuro− toxische und teratogene Wirkungen. Valproinsäure ist allein, aber insbesondere in Kombination mit Lithium phasenprophylaktisch wirksam und dies v. a. bei reinen bipolaren Stö− rungen, etwas weniger bei schizoaffektiven. Seine Nebenwirkungen sind: gastrointestinale Störun− gen, Leberschädigungen, Tremor, Ataxie, Ge− wichtszunahme, Alopezie und Wechselwirkungen mit anderen Medikamenten (z. B. Verstärkung vieler zentral dämpfender Medikamente wie Neuroleptika, Benzodiazepine, Barbiturate; Plas− maspiegelveränderungen anderer Antiepileptika, Erhöhung der Plasmaspiegel von Antikoagulant− zen).

Eine Prophylaxe mit anderen Substanzen (z. B. Lamotrigen, Oxcarbazepin, Gabapentin, Schild− drüsenhormone) wird derzeit erforscht. Langfristige intrapsychische Veränderungen und Bearbeitung akuter Konflikte sind Ziele jeder Psychotherapie, die damit ebenfalls phasenpro− phylaktisch wirksam ist. Nachgewiesen werden konnte dies für verhaltenstherapeutische, psy− chodynamische und familientherapeutische Ver− fahren. Der Patient soll Strategien erlernen, mit unverarbeiteten Gefühlen und unbewussten Pro− zessen, die in der bipolaren Erkrankung ausge− drückt werden, in anderer Weise als der sympto− matischen umzugehen. Bei der Elektrokrampftherapie (EKT) (s. Ant− wort zur Frage 42.4) wird ein generalisierter Krampfanfall aus therapeutischen Gründen elek− trisch ausgelöst. Die Wirkmechanismen sind noch nicht sicher aufgeklärt. Man geht davon aus, dass es zu einer Veränderung von Hirn− durchblutung und −stoffwechsel kommt und dass serotonerge, dopaminerge und noradrenerge Rezeptorsysteme beeinflusst werden. Zur Wir− kungsentfaltung bei affektiven Störungen muss die Krampfaktivität im Thalamus ankommen. Es handelt sich um die effektivste, aber umstritten− ste Therapieform bei mono− und bipolaren Stö− rungen. Es sollen möglichst keine Psychopharma− ka begleitend gegeben. Diese senken die Krampf− schwelle und steigern die Empfindlichkeit für ein delirantes Geschehen und erhöhen damit das Ri− siko, dass ein Status epilepticus oder Delir ausge− löst wird. Je nach Kultur und Verständnis psychi− scher Prozesse wird die EKT unterschiedlich be− urteilt. Meist wird sie jedoch nur als Ultima ratio angewandt.

ZUSATZTHEMEN FÜR LERNGRUPPEN Wirkmechanismen von Antikonvulsiva Psychotherapiemethoden bei bipolaren affektiven Storungen

Fall 43

Schlafstörung

43.1 Nennen Sie mögliche Ursachen für Schlafstörungen! K Situativ, z. B. Jetlag/Zeitverschiebung, Schicht− arbeit K Physikalisch, z. B. Lärm, Temperatur K Pathophysiologisch, z. B. Schlafapnoe, Kreis− laufregulationsstörungen K Psychologisch, z. B. Reaktion auf Konflikte K Psychiatrisch, z. B. Depression, Psychose, hirn− organisches Psychosyndrom K Pharmakologisch, z. B. psychotrope Substan− zen, Betablocker

43.2 Welche Untersuchungen sollte die Ratsu− chende von einem Arzt vornehmen lassen? K Sorgfältige schlafbezogene Anamneseerhe− bung: – Art (z. B. Ein−, Durchschlafstörungen, Früh− erwachen) – Dauer, Rhythmus – Einschlafgewohnheiten, Schlafverhalten (z. B. Grübeln, Atemstörung, unruhige Beine, Alpträume) – Umgebung (Lärm, Temperatur, Schlafnach− bar)

Fall 43 Seite 44 Aus J. Becker-Pfaff, St. Engel: Fallbuch Psychiatrie (ISBN 3-13-140181-8) © Georg Thieme Verlag Stuttgart 2006 Dieses Dokument ist nur für den persönlichen Gebrauch bestimmt und darf in keiner Form an Dritte weitergegeben werden!

– Befindlichkeit am Tag (Aktivitäten, Leis− tungsfähigkeit, Hang−over von Medikamen− ten) – Vorbehandlungen – Private und berufliche/soziale Lebenssitua− tion K Ergänzende psychiatrische und allgemein−in− ternistisch und neurologische Anamnese und Untersuchung einschließlich Routinelabor, EKG und EEG K Evtl. Untersuchung in einem Schlaflabor

43.3 Welche Arten von Schlafstorungen ken− nen Sie? K Schlaflosigkeit (Insomnie) K Einschlafstörungen K Durchschlafstörungen K Morgendliches Früherwachen K Parasomnien: Schlafwandeln (Somnambulis− mus), nächtliche Angst (Pavor nocturnus), Alp− träume K Hypersomnien (exzessive Schläfrigkeit wäh− rend des Tages oder Schlafanfälle)

KOMMENTAR Definition: Schlafstörungen werden unter dem Begriff Dyssomnien zusammengefasst. Es liegt ei− ne subjektiv empfundene Störung zwischen dem Bedürfnis nach Schlaf und dem Vermögen zu schlafen vor. Schlafstörungen werden nur als ei− genständige Diagnose betrachtet, wenn keine an− deren organischen oder psychischen Störungen vorliegen. Das bedeutet, dass manche Ursachen, z. B. eine Depression, gleichzeitig Differenzialdiag− nosen sind. 90 % der Depressiven leiden an einer Schlafstörung.

Ätiopathogenese: s. Antwort zur Frage 43.1. Klinik: s. Antwort zur Frage 43.3. Hyposomnien und Insomnien sind die häufigsten Dyssomnien. Dabei findet man insbesondere Ein− und Durch− schlafstörungen sowie morgendliches frühes Er− wachen. Meist entwickeln die Patienten eine Fixie− rung auf den Gedanken, schlafen zu müssen, und eine Angst vor der Schlaflosigkeit, was zu einem Circulus vitiosus führt. Zusätzlich besteht die Ge− fahr eines sich entwickelnden Substanzmiss− brauchs (Alkohol, Tabletten). Neben der Schlaflo− sigkeit führt dies vermehrt zu einer verminderten Leistungsfähigkeit und Reizbarkeit am Tag. Bei Hypersomnien handelt es sich um massive Schläfrigkeit während des Tages, die sich in Schlaf− anfällen äußern kann, ohne dass ein Schlafdefizit vorhanden ist. Häufigste Ursachen hierfür sind das Schlafapnoe−Syndrom (nächtliche Atempausen, typisch intermittierende Schnarchgeräusche) und die Narkolepsie (Kataplexie mit plötzlichem Er− schlaffen des Muskeltonus, imperative Einschlafat− tacken und/oder kontinuierliches Müdigkeitsge− fühl, hypnagoge Halluzinationen). Andere Ursa− chen sind Arbeiten im Schichtdienst mit Umkehr des Tag−Nacht−Rhythmus und Fernreisen.

153

43 Antworten und Kommentar

Physiologie des Schlafens: Der Schlafprozess ist eingeteilt in 5 sich wiederholende Schlafphasen (s. Abb.). Die Phase V wird auch als paradoxer Schlaf oder REM−Phase (Rapid Eye Movement) be− zeichnet. Hier bewegen sich die Augen unter den Lidern rasch hin und her. In dieser Zeit treten die meisten Träume auf. Mit zunehmendem Alter ver− ändert sich das Schlafprofil des Menschen: Die Dauer und Tiefe des Schlafes sowie die REM−Pha− sen nehmen ab. Normalerweise schläft man inner− halb von 30 Minuten ein; die Schlafdauer beträgt durchschnittlich 5,8–9 Stunden.

Fall

Epidemiologie: 1/3 der Deutschen leiden unter Schlafstörungen. Mehr als 1 Mio. nehmen regel− mäßig Schlafmittel ein. Bei den Schlafstörungen, die nicht organisch bedingt sind, überwiegen die psychisch bedingten Schlafstörungen. Ältere Menschen und Frauen leiden häufiger unter

Schlafstörungen. Alpträume sind die häufigste Form der Parasomnien. Somnambulismus kommt gelegentlich bei ca. 2,5 % der Erwachsenen vor. Somnambulismus und Pavor nocturnus findet man überwiegend im Kindes− und frühem Jugend− alter.

Diagnostik: s. Antwort 43.2. Im Zentrum der Diagnostik steht der Ausschluss organischer Er− Schlafphasen und Schlafprofil

Fall 43 Seite 44 Aus J. Becker-Pfaff, St. Engel: Fallbuch Psychiatrie (ISBN 3-13-140181-8) © Georg Thieme Verlag Stuttgart 2006 Dieses Dokument ist nur für den persönlichen Gebrauch bestimmt und darf in keiner Form an Dritte weitergegeben werden!

krankungen und symptomatischer Ursachen. Hierzu zählen internistische (z. B. Herz−Kreislauf−, Atemwegserkrankungen, Stoffwechselstörungen [Schilddrüse, Bauchspeicheldrüse]) und neurologi− sche Erkrankungen (z. B. Restless−Legs−Syndrom, Epilepsien, demenzielle Entwicklungen). Besonde− res Augenmerk ist auf das Eruieren von möglichem Substanzmissbrauch (Tabletten, Alkohol, Drogen) und gewöhnlichen Genussmitteln (Kaffee, Tee, Cola) zu richten. Erst nach Ausschluss organischer und/oder symptomatischer Ursachen, aber auch bei Verdacht auf Restless−Legs−Syndrom, Narko− lepsie, nächtliche Myoklonie oder Epilepsien emp− fiehlt sich die Diagnostik in einem Schlaflabor. Im Schlaflabor werden elektrophysiologische Vorgän− ge des Schlafes untersucht. Dabei werden die Ak− tivität der Hirnregionen (EEG), die Muskelaktivität (EMG) , die Augenbewegungen (EOG = Elektrooku− lometrie), die Herzaktivität (EKG) und die Atem− frequenz aufgezeichnet, und es wird ein indivi− duelles Schlafprofil erstellt. Dabei können insbe−

sondere Schlafapnoe, Herzrhythmusstörungen, nächtlicher Myoklonus und Störungen der Schlaf− kontinuität detektiert und objektiviert werden. Differenzialdiagnosen: Auszuschließen sind alle psychischen Erkrankungen, v. a. affektive Störun− gen, Belastungsreaktionen, Psychosen und Persön− lichkeitsstörungen. An somatischen Erkrankun− gen kommen v. a. Schmerzen, kardiovaskuläre oder endokrine Störungen (z. B. Hyperthyreose, Hypothyreose, Perimenopause) in Frage. Sowohl Medikamente als auch Suchtsubstanzen müssen als Ursachen ausgeschlossen werden. Für Hyper− somnien lassen sich v. a. affektive Störungen, Nar− kolepsie, Schlafapnoe−Syndrom und Infektions− krankheiten verantwortlich machen. Therapie: s. Fall 54. Erst bei Erfolglosigkeit von beratenden, eventuell verhaltenstherapeutisch strukturierten Empfehlungen kommt eine medika− mentöse Therapie in Frage.

154 ZUSATZTHEMEN FÜR LERNGRUPPEN

Fall

Hyperaktivitatsstorung des Erwachsenenalters Symptomatik der Parasomnien

44 Antworten und Kommentar

Fall 44

Lewy−Körper−Demenz (LKD)

Dauer und Charakteristik nicht psychosety− 44.1 Zählen Sie die Symptome des Patienten pisch) auf! K Fremdanamnese: Stürze, fluktuierende Ver− K Demenz s. Antwort zur Frage 44.3 wirrtheitszustände und Persönlichkeitsverän− !!! 44.3 Nennen Sie Ihre Verdachtsdiagnose! derungen, Unruhe K Eigenanamnese: dringender Verdacht auf op− Lewy−Körper−Demenz (LKD); Begründung: tische Halluzinationen, wahnhaftes Erleben K Symptomkombination am ehesten zu LKD mit paranoider Wahrnehmung und Verar− passend (Stürze, visuelle Halluzinationen, mungsthematik, Suizidalität Wahnvorstellungen, Auslösung extrapyrami− K Eigene Beobachtung: deutliche kognitive De− dal−motorischer Symptome nach Neurolepti− fizite, Affektverflachung, Impulskontrollver− kagabe) lust, psychomotorische Unruhe, Neurolepti− K Fluktuierende Symptomatik ist typisch für kaunverträglichkeit LKD K Bei vaskulärer und Alzheimer−Demenz wahn− 44.2 Zu welchen psychiatrischen Krankheits− hafte Symptomatik häufig nicht so ausgeprägt bildern könnten diese Symptome passen? !!! 44.4 Wie konnen Sie Ihre Verdachtsdiagnose K Delir bei Alkoholentzug nach chronischem Missbrauch; dagegen spricht fehlende Alko− eindeutig bestatigen? holanamnese, langsamer Verlauf, schlechte Be− Histopathologische Untersuchung (erst post mor− tem möglich): Nachweis von Lewy−Körpern in handelbarkeit mit Neuroleptika, fehlende ve− Kortex und Hirnstamm, ohne dass klinisch ein getative Symptomatik Morbus Parkinson vorhanden gewesen wäre K Korsakow−Syndrom nach chronischem Alko− holabusus; dagegen spricht fehlende Alkohol− anamnese, stark fluktuierende Symptomatik K Psychose aus schizophrenem Formenkreis; dagegen sprechen kognitive Defizite (in dieser

Fall 44 Seite 45 Aus J. Becker-Pfaff, St. Engel: Fallbuch Psychiatrie (ISBN 3-13-140181-8) © Georg Thieme Verlag Stuttgart 2006 Dieses Dokument ist nur für den persönlichen Gebrauch bestimmt und darf in keiner Form an Dritte weitergegeben werden!

!!! 44.5 Welche Moglichkeiten sehen Sie, den Patienten zu stabilisieren? K Möglichst Auslassen von Neuroleptika und Anticholinergika, weil diese die Symptomatik noch verstärken können K Bei psychotischen Symptomen: sehr niedrig dosiert Clozapin (25–50 mg/d) oder Quetiapin (25–100 mg/d) K Bei Unruhe: Lorazepam (bis zu 431 mg/d) oder Oxazepam (10–60 mg/d); cave: vorsichti−

ge Dosierung, da die vorgeschädigten Hirn− strukturen unterschiedlich empfindlich und teilweise paradox reagieren. K Bei extrapyramidal−motorischen Symptomen: L−Dopa (62,5–187,5 mg/d) K Bei kognitiven Defiziten: Cholinesterase−Hem− mer, z. B. Donepezil (5–10 mg/d), Rivastigmin (3–6 mg/d) (für diese Art der Demenz noch im Versuchsstadium)

KOMMENTAR Lewy−Körper−Demenz (LKD, Definition: Die Lewy−Body−Demenz) ist definiert durch das Vorlie− gen einer Demenz mit gleichzeitigem Nachweis von Lewy−Körpern (Lewy−Bodys). Die Diagnose wird auch dann gestellt, wenn parallel zu den Le− wy−Körpern Alzheimer−Veränderungen (z. B. Plaques, Neurofibrillen) nachgewiesen werden können.

Lewy−Körper sind Einschlüsse mit einem hyali− nen Kern und einem bleichen Ring im Locus coe− ruleus und/oder in der Substantia nigra. Im Kor− tex kommen Lewy−Körper vor, die keinen Ring, aber granuläre eosinophile Einschlüsse aufwei− sen. Sie sind mit konventionellen histologischen

Klinische Kriterien der Lewy−Körper−Demenz (LKD) (nach McKeith at al. 1996, 1999)

Beschreibung

1

zentrale Kennzeichen sind fortschreitende kognitive Defizite, die mit nor− maler oder beruflicher Alltagstätigkeit interferieren ausgeprägte oder persistierende Gedächtnisdefizite müssen in frühen Krankheitsstadien nicht vorhanden sein, manifestieren sich in der Regel mit Krankheitsprogression Defizite bei Testungen für Aufmerksamkeit und frontosubkortikale bzw. visuell−räumliche Fähigkeiten können besonders auffällig sein

2

2 (wahrscheinliche LKD) oder 1 (mögliche LKD) der folgenden Kriterien: K 2.1

wechselnde Kognition mit deutlich variierender Aufmerksamkeit und Kon− zentration

K 2.2

rezidivierende visuelle Halluzinationen (detailliert und konkret)

K 2.3 3

parkinsonähnliche motorische Defizite (Rigor und Bradykinese)

44 Antworten und Kommentar

Kriterium

155

Fall

Epidemiologie: Bei ca. 15–20 % der Autopsien de− menzkranker Patienten findet man im Kortex oder im Hirnstamm Lewy−Körper. Lewy−Körper sind an− sonsten eher mit Morbus Parkinson assoziiert, hier dann aber v. a. in der Substantia nigra lokalisiert.

Klinik und Diagnostik: In der Tabelle finden sich K unter 1 die Beschreibung des Krankheitsbildes K unter 2 die Kriterien, die die Diagnose wahr− scheinlich (wenn 2 stimmen) oder möglich (wenn 1 stimmt) machen K unter 3 die Diagnose stützende Kriterien K unter 4 Ausschlusskriterien.

Unterstützende LKD−Kriterien: K 3.1

wiederholte Stürze, Synkopen, Bewusstseinsverluste

K 3.2

hohe Empfindlichkeit auf neuroleptische Medikation (Parkinson−Exazerba− tion)

K 3.3

systematisierte Wahnvorstellungen, Depression, REM−Schlafstörungen

4

eine LKD−Diagnose ist unwahrscheinlich bei Vorliegen von (Ausschlusskri− terien): K 4.1

Schlaganfallerkrankung, entweder klinisch als fokales neurologisches Defi− zit oder bildgebend

K 4.2

Vklinische oder paraklinische Hinweise für weitere Erkrankungen, die das klinische Bild erklären können

Fall 44 Seite 45 Aus J. Becker-Pfaff, St. Engel: Fallbuch Psychiatrie (ISBN 3-13-140181-8) © Georg Thieme Verlag Stuttgart 2006 Dieses Dokument ist nur für den persönlichen Gebrauch bestimmt und darf in keiner Form an Dritte weitergegeben werden!

Methoden schwierig nachweisbar. Sie bestehen aus Aggregaten des Proteins a−Synuklein (s. auch Antwort zur Frage 44.4). Differenzialdiagnosen: s. Antwort zur Frage 44.2. Differenzialdiagnostisch sind alle anderen De− menzarten auszuschließen. Die Demenz vom Alz− heimertyp ist am häufigsten, geht aber viel weni− ger häufig mit einer derart fluktuierenden und psychotischen Symptomatik einher. Für die vasku− lären Demenzen gilt Ähnliches. Sie sind zusätzlich noch durch kardiovaskuläre Risikofaktoren und andere Befunde in der kranialen Bildgebung ge− kennzeichnet (z. B. Infarkte). Andere Demenzfor− men sind auszuschließen (z. B. HIV, Lues). Therapie und Prognose: s. Antwort zur Frage 44.5. Die Prognose ist schlecht. Die Behandlung ist wegen der massiven psychotischen Symptoma− tik und Unruhe sehr schwierig, die Erkrankung führt nach 2 bis 5 Jahren zum Tod. Lewy− Körper

156

Fall

45

ZUSATZTHEMEN FÜR LERNGRUPPEN Demenz und Morbus Parkinson Bedeutung von a−Synuklein und die Synukleinopathien als neue Krankheitsentitat

Antworten und Kommentar

Fall 45

Borderline−Persönlichkeitsstörung

45.1 Welche Verdachtsdiagnose stellen Sie? Borderline−Persönlichkeitsstörung; Begrün− dung: wiederholte Selbstverletzungen, auch Sui− zidhandlungen; Instabilität des eigenen Selbstbil− des; anhaltendes Gefühl von Leere; Schwierigkei− ten, Handlungen beizubehalten; Missbrauch von psychotropen Substanzen; Essstörungen; biogra− phisch häufig sexueller Missbrauch 45.2 Zählen Sie typische Symptome dieser Erkrankung auf! K Instabile, aber intensive zwischenmenschliche Beziehungen, Wechsel zwischen den Extre− men der Idealisierung und Entwertung K Verzweifeltes Bemühen, tatsächliches oder be− fürchtetes Verlassenwerden zu vermeiden K Große Schwierigkeiten beim Eingehen oder Aufrechterhalten intimer Beziehungen und beim Finden eines passenden Partners K Identitätsstörung: andauernde und ausge− prägte Instabilität des Selbstbildes oder der Selbstwahrnehmung K Affektive Instabilität infolge ausgeprägter Re− aktivität der Stimmung K Chronisches Gefühl der Leere

K Unangemessene und heftige Wut oder Aus− brüche intensiven Ärgers mit gewalttätigem und explosiblem Verhalten K Tendenz zu impulsiven Handlungen ohne Be− rücksichtigung von Konsequenzen K Impulsivität in potenziell selbstschädigenden Aktivitäten (z. B. Substanzmissbrauch, Sexua− lität, Geldausgabe) K Geringe Fähigkeit zu planen K Schwierigkeiten, eigene Interessen zu defi− nieren und sich in den Bereichen Arbeit, Be− ruf, ethische und ästhetische Ideale festzule− gen K Beeinträchtigung im beruflichen und sozialen Fortkommen K Suizidale Handlungen, Selbstmordandeutun− gen, −drohungen oder selbstverletzendes Ver− halten K Vorübergehende, durch Belastung ausgelöste paranoide Vorstellungen oder schwere disso− ziative Symptome K Schwere Essstörungen

Fall 45 Seite 46 Aus J. Becker-Pfaff, St. Engel: Fallbuch Psychiatrie (ISBN 3-13-140181-8) © Georg Thieme Verlag Stuttgart 2006 Dieses Dokument ist nur für den persönlichen Gebrauch bestimmt und darf in keiner Form an Dritte weitergegeben werden!

45.3 Welche anderen psychiatrischen Erkran− kungen sind mit dieser Krankheit assoziiert? Substanzabusus (Drogen, Alkohol, Medikamente), Essstörungen, Angsterkrankungen, posttraumati− sche Belastungsstörung, affektive Störungen, psy− chotische Episoden, dissoziative Störungen, Per− versionen

45.4 Wie erklaren Sie sich die Diskrepanz zwischen der Aussage der Patientin und dem Drogenscreening? K Patientin lügt, um Drogenabhängigkeit zu ver− tuschen K Einnahme der Drogen in dissoziativem Zu− stand, danach keine Erinnerung mehr daran K Psychische Spaltungsvorgänge (typischer Ab− wehrmechanismus bei Borderline−Persönlich− keitsstörung) isolieren Drogenabhängigkeit, diese wird nicht mehr als dem Ich zugehörig wahrgenommen

KOMMENTAR Definition: Bei der Borderline−Persönlichkeitsstö− rung handelt es sich um eine Persönlichkeitsstö− rung mit deutlicher Tendenz, impulsiv zu handeln, ohne Konsequenzen zu berücksichtigen (mangeln− de Impulskontrolle), und mit wechselnder, insta− biler Stimmung (Stimmungslabilität, emotionale Instabilität).

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45 Antworten und Kommentar

Ätiopathogenese: Es existiert keine einheitliche Theorie zur Entstehung der Borderline−Persönlich− keitsstörung. Grundsätzlich ist anzunehmen, dass genetische und neurobiologische Faktoren eine Ba− sis darstellen, von der aus sich – je nach äußeren Bedingungen – unterschiedliche Störungen ent− wickeln können. An neurobiologischen Faktoren wurden z. B. eine minimale zerebrale Dysfunktion, diskrete EEG−Veränderungen und Anomalien im frontalen Kortex im Schädel−MRT gefunden. Aus psychodynamischer Sicht überwiegen bei der Borderline−Persönlichkeitsstörung die sog. unrei− fen Abwehrmechanismen der Spaltung, Entwer− tung, Omnipotenz usw., die auf eine Störung in der frühen kindlichen Entwicklung hinweisen (s. Fall 13). Es konnte gezeigt werden, dass bei Bor− derline−Patienten primär prozesshafte Denkvor− gänge (sofortige Erfüllung von Wünschen, soforti− ge Abfuhr unerträglicher Gefühle) signifikant mit der Aktivierung primitiver Affekte (Wut, Hass, Gier, Neid), Abwehrmechanismen (z. B. Spaltung) und Objektbeziehungen (Ich liebe Dich, ich hasse Dich“, Ich bringe mich um, wenn Du nicht nach mir schaust“) korrelieren. Biographisch finden sich häufig frühe Traumatisierungen (z. B. sexuel− ler und/oder körperlicher Missbrauch, Vernachläs− sigung). Es kann mitunter schwierig sein abzu− schätzen, ob ein Missbrauch stattgefunden hat oder der Phantasie des Patienten zuzuschreiben ist.

Diagnostik: ICD−10 und DSM−IV beschreiben die Borderline−Störungen zum Teil mit unterschiedli− chen Namen und Kriterien. In der ICD−10 wird die emotional instabile Persönlichkeitsstörung weiter unterteilt in einen impulsiven und einen Border− line−Typ. Die wesentlichen Charakterzüge des im− pulsiven Typs sind emotionale Instabilität und mangelnde Impulskontrolle. Ausbrüche von be− drohlichem und/oder gewalttätigem Verhalten sind häufig, meist bei Kritik von Anderen. Der Bor− derline−Typ ist gekennzeichnet durch emotionale Instabilität und mangelnde Impulskontrolle. Zu− sätzlich sind das eigene Selbstbild und innere Prä− ferenzen (einschließlich der sexuellen) gestört. Die Neigung zu intensiven, aber unbeständigen Bezie− hungen kann zu wiederholten Krisen – einherge− hend mit Suiziddrohungen oder selbstschädigen− dem Verhalten – führen. Diagnostisch wegweisend ist häufig eine Vielfalt von Symptomen (s. o.). In der Arzt−Patienten−Be− ziehung kommt es sehr häufig zu emotional auf− geladenen Situationen, die zur Diagnosefindung beitragen können. Auch kommen psychometri− sche Tests zur Anwendung, z. B. Aachener inte− grierte Merkmalsliste zur Erfassung von Persön− lichkeitsstörungen, Internationale Diagnosen− Checkliste für Persönlichkeitsstörungen, MMPI, Personality Disorders Scale.

Fall

Epidemiologie: Die Prävalenz der Borderline− Persönlichkeitsstörung liegt bei 0,2–1,8 %. 2–10 % aller ambulant und 20–30 % aller stationär behan− delten Psychiatriepatienten leiden darunter. Das Erkrankungsrisiko ist bei Frauen größer als bei Männern.

Klinik: s. Antworten zu den Fragen 45.2 und 45.3. Der Beginn der Erkrankung liegt meist im frühen Erwachsenenalter.

Differenzialdiagnosen: Eine Persönlichkeitsstö− rung kann nur diagnostiziert werden, wenn die psychopathologischen Auffälligkeiten nicht durch eine andere psychiatrische Erkrankung erklärt werden können. Hirnorganische Ursachen müs− sen ausgeschlossen sein. Andererseits müssen Per− sönlichkeitsstörungen generell gegenüber Persön− lichkeitszügen abgegrenzt werden, die nicht das Ausmaß einer psychischen Störung erreichen. Ins− besondere ist auf die Komorbidität mit anderen psychiatrischen Erkrankungen zu achten (s. Ant− wort zur Frage 45.3). Die Abgrenzung der posttrau− matischen Belastungsstörung bzw. der andauern− den Persönlichkeitsänderung nach Extrembelas−

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tung von der Borderline−Persönlichkeitsstörung kann schwierig sein, da sich Symptome beider Er− krankungen ähneln.

Prognose: Die Suizidrate liegt zwischen 5–10 %. Ein günstigerer Krankheitsverlauf wird nach inten− siver Psychotherapie beschrieben.

Therapie: s. Fall 56.

ZUSATZTHEMEN FÜR LERNGRUPPEN Missbrauch und Misshandlung Gemeinsamkeiten von Borderline−Personlichkeitsstorungen und posttraumatischen Belastungsstorungen Diagnostisches Interview nach Kernberg

Fall 46

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Fall

46

Somatogene Depression

Antworten und Kommentar

46.1 Stellen Sie eine Verdachtsdiagnose! K Niedriges prämorbides Intelligenzniveau Somatogene Depression; Begründung: niederge− K Gefäßerkrankungen (z. B. Arteriosklerose, Aor− drückte Stimmung, gesperrter Gedankengang, tenstenose) verminderter Antrieb, Perspektivlosigkeit, körper− !!! 46.3 Wie haufig tritt diese Erkrankung nach liche Grunderkrankung (Hirninfarkt) einem Hirninfarkt auf? 46.2 Welche prädisponierenden Faktoren spie− In 20–55 % der Fälle; große Unterschiede wahr− scheinlich durch unterschiedliche Untersu− len bei dieser Erkrankung eine Rolle, wenn sie chungszeitpunkte erklärbar, da Prävalenz im nach einem Hirninfarkt auftritt? K Ausmaß der körperlichen Beeinträchtigung Langzeitverlauf nach Hirninfarkt deutlich sinkt. K Höheres Alter K Ungünstige soziale Verhältnisse (z. B. Rente, 46.4 Wie wird diese Form der Depression Trennung, Auszug der Kinder) genannt? Larvierte Depression (s. Fall 47) K Allgemeine prämorbide Angstsymptomatik

KOMMENTAR Definition: Bei somatogenen Depressionen han− delt es sich um eine depressives Krankheitsbild als Folge einer allgemeinen körperlichen Grunder− krankung. Somatogene Depressionen werden bzgl. ihrer Ätiologie unterschieden in symptomatische und organische Depressionen. Symptomatische Depressionen treten bei körperlichen Erkrankun− gen auf, organische Depressionen sind auf Verän− derungen des ZNS zurückzuführen.

schwäche, Niedergeschlagenheit, Interesselosig− keit und Leeregefühl (s. Fallbeispiel). Daneben fin− den sich körperliche Symptome je nach Grunder− krankung.

Epidemiologie: Aufgrund der unterschiedlichs− ten Ursachen für eine somatogene Depression gibt es keine grundsätzlichen epidemiologischen Da− ten.

Therapie: Primäres Behandlungsziel ist die The− rapie der somatischen Grunderkrankung, das Ab− setzen verursachender Medikamente oder Vermei− den auslösender Substanzen. Im Weiteren erfolgt die Behandlung nach den Therapieoptionen der Depression (s. Fall 21).

Ätiopathogenese: Im Prinzip kann jede Erkran− kung eine Depression auslösen, am häufigsten fin− den sich jedoch neurologische Erkrankungen als Ursache (z. B. zerebrale Ischämie, ZNS−Tumor, De− menz, zerebrale Infektion, Epilepsie). Bislang ist ungeklärt, ob sich die depressive Symptomatik re− aktiv entwickelt oder auf hirnorganische Läsionen zurückzuführen ist.

Diagnostik: s. Fall 15. Differenzialdiagnosen: s. Fall 15 und Tab.1. Auch Medikamente (s. Tab. 2) können Depressionen ver− ursachen (sog. pharmakogene Depression).

Prognose: Ist die somatische Grunderkrankung therapeutisch behandelbar, ist die Prognose güns− tig. Bei schwerwiegenden Grunderkrankungen oder strukturellen hirnorganischen Veränderun− gen entwickelt sich häufig ein eher chronischer Verlauf.

Klinik: Es findet sich ein depressives Syndrom u. a. mit Erschöpfungsgefühl, Müdigkeit, Antriebs−

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Tab. 1

Beispiele für Ursachen somatogener Depressionen

Endokrinologie

– Hypo−/Hyperthyreose, Riesenzellthyreoiditis, Hypo−/Hy− perparathyreoidismus, Hypophysenvorderlappen−Insuffi− zienz, Morbus Addison, Morbus Cushing, Phäochromozy− tom, Akromegalie

Kardiologie

– Vitien (Ventrikelseptumdefekt, Mitralstenose), essenzielle Hypertonie, funktionelle kardiovaskuläre Störung, Z. n. Bypass−Operation, Z. n. Myokardinfarkt

Gastroenterologie

– Leberzirrhose, Morbus Meulengracht, Sprue, Encephalo− pathia pancreatica, entzündliche Darmerkrankungen

Nephrologie

– chronische (Pyelo−)Nephritis, Dialyse−Patienten, Prostata− adenom

Kollagenosen, Immuno− pathien

– Lupus erythematodes, Panarteriitis nodosa, rheumatoide Arthritis

Stoffwechselkrankheiten

– Porphyrie, Hämochromatose, Hypoglykämie

Infektionskrankheiten

– Lues, Tbc, Bruzellose, Toxoplasmose, Monoukleose, AIDS, Borreliose

Intoxikation

– chronische Hg−/CO−Intoxikation, Alkoholismus

Gynäkologie

– prämenstruelles Syndrom, Klimakterium

Malignome

– chronische Leukosen, Pankreaskarzinom, Bronchialkarzi− nom, Ovarialkarzinom

Sonstige Ursachen

– Anämie, Sarkoidose, Strahlentherapie, postoperativ, Schlafapnoe

Tab. 2

Beispiele für pharmakogen ausgelöste Depressionen

Antihypertensiva

– Reserpin, a−Methyl−Dopa, Clonidin, Betablocker, Prazosin, Hydralazin

Parkinsonmittel und Muskelrelaxanzien

– L−Dopa, Amantadin, Baclofen, Bromocriptin

Steroidhormone

– Glukokortikoide, Gestagene, Danazol, ACTH

Antirheumatika, Analgetika

– Indometacin, Gold, Chloroquin, Phenazetin, Phenylbuta− zon, Ibuprofen, Opiate

Tuberkulostatika, Antibiotika, Zytostatika, Antimykotika

– INH, Sulfonamide, Tetrazykline, Nalidixinsäure, Strepto− mycin, Vinblastin, Nitrofurantoin, Griseofulvin, Metronidazol, Interferon, Ofloxacin

Ophthalmologika

– Acetazolamid

Antiepileptika

– Hydantoin, Clonazepam

Kardiaka

– Digitalis (?), Procainamid, Lidocain

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46 Antworten und Kommentar

– Epilepsie, Hirntumoren, zerebrovaskuläre Erkrankungen, Hirnatrophie, Morbus Parkinson, Hirntraumen, Arteriitis temporalis, Enzephalitis (z. B. FSME−Virus), multiple Skle− rose, amyotrophe Lateralsklerose, Myasthenie, funikuläre Myelose, Chorea Huntington

Fall

Neurologie

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Psychopharmaka

– Neuroleptika, Barbiturate, Disulfiram, Amphetamin−Ent− zug, Benzodiazepin−Langzeiteinnahme (?)

Sonstige

– Flunarizin, Cimetidin, Cholesterinsynthesehemmer, Pizo− tifen, Methysergid

ZUSATZTHEMEN FÜR LERNGRUPPEN Pseudodemenz versus demenzielle Entwicklung Standardisierte Rating−Scales zur Erfassung depressiver Symptomatik

Fall 47

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Fall

47

Artifizielle Störung

Antworten und Kommentar

47.1 Nennen Sie eine Verdachtsdiagnose und 3 Differenzialdiagnosen! K Verdachtsdiagnose: Artifizielle Störung; Be− gründung: Aufsuchen zahlreicher Kliniken durch den Patienten und in Kauf nehmen auch invasiver diagnostischer Maßnahmen K Differenzialdiagnosen: – Somatisierungsstörung; Begründung: zahlreiche somatische Beschwerden ohne klinisches Korrelat; dagegen spricht der psychische Befund und das in Kauf nehmen invasiver Diagnostik – Larvierte Depression; Begründung: zahl− reiche somatische Beschwerden ohne klini− sches Korrelat; dagegen spricht der psychi− sche Befund und das in Kauf nehmen inva− siver Diagnostik – Simulation; Begründung: häufiges Aufsu− chen verschiedener Kliniken, dagegen spricht Inanspruchnahme invasiver Diag− nostik

47.2 Was zeichnet Patienten mit dieser Er− krankung aus? Patienten mit artifiziellen Störungen K berichten in Krankenhäusern oder Arztpraxen von Krankheitssymptomen, die auch selbstzu− gefügt sein können (z. B. Entzündungen durch Kratzen) K ist zumindest partiell bewusst, dass sie andere täuschen K sind in der Lage, ihren Körper selbst zu schä− digen, um eine Krankheit vorzutäuschen, neh− men z. B. invasive diagnostische und therapeu− tische Maßnahmen in Kauf 47.3 Wie steht das Münchhausen−Syndrom zu Ihrer Verdachtsdiagnose? Geben Sie eine Defi− nition! Unterform der artifiziellen Störung; Definition: Erfinden und Vortäuschen von Beschwerden und Krankheitsbildern unter pseudologischer Ausge− staltung einer umfangreichen Krankengeschichte mit dem Ziel, eine Krankenhausaufnahme und Behandlung zu erreichen

KOMMENTAR Definition: s. Antwort zur Frage 47.2. Epidemiologie: Die Inzidenz dieser Störung be− trägt ca. 0,6 %. Das Erkrankungsalter liegt meist vor dem 35. Lebensjahr. Frauen sind häufiger betroffen als Männer (Verhältnis ca. 4:1). Etwa 60 % der Frau− en üben pflegerische/helfende Berufe aus. Ätiologie: Meist findet man bei Patienten mit ar− tifiziellen Störungen schwerwiegende biographi− sche Belastungen (z. B. gravierende Störungen der frühkindlichen Entwicklung). Anamnestisch lassen sich häufig folgende Erfahrungen erheben: Heimerziehung, Alkoholmissbrauch eines Eltern− teils, körperlicher oder sexueller Missbrauch, frü− hes Versterben naher Angehöriger oder schwere körperliche Beeinträchtigungen.

Klinik: Am häufigsten werden unklares Fieber und Wundheilungsstörungen beobachtet. Außer− dem finden sich Blutungen und Anämien, diffuse Schmerzen, Lähmungserscheinungen, als un− fallbedingt“ angegebene Verletzungen, der Ver− dacht auf eine Krebserkrankung, Unterzucker und Blutdruckkrisen. Bei bis zu 30 % der Patienten kommt es aufgrund der Symptomatik zu operati− ven Eingriffen. Häufig sind mit den artifiziellen Störungen Persönlichkeitsstörungen assoziiert. Beim Ganser−Syndrom täuschen die Patienten ei− ne Geisteskrankheit“ vor, wie der Laie sich diese vorstellt: systematisch verkehrte Antworten, Vor− beireden, Unsinn reden, Faxen machen“ im Sinne eines demonstrativen motorischen Gebarens. Pati− enten mit Puerilismus ahmen ein kleines Kind nach, indem sie in Infinitiven sprechen und sich

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entsprechend bewegen. Die Pseudodemenz als ar− tifizielle Störung ist zu unterscheiden von der Pseudodemenz bei einer depressiven Erkrankung. Es werden Ausfall elementarer Kenntnisse, Intelli− genzverlust, Ausfall von Denkvermögen und Ge− dächtnisleistung vorgespielt. Antworten auf einfa− che Fragen werden unter theatralisch zum Aus− druck gebrachten Denkanstrengungen vergeblich gesucht. Häufig werden zusätzlich auffällige mo− torische Störungen gezeigt. Neben dem Münch− hausen−Syndrom (Syn. Traumatophilie, Dermati− tis autogenica, Hämorrhagia hysterionica, Lapara− tomophilie, Pseudologica phantastica, s. Antwort zur Frage 47.3) gibt es das Münchhausen−Stellver− treter−Syndrom (Syn. Münchhausen−by−proxy− Syndrom), bei dem meist Mütter bei ihren Kindern Krankheiten vortäuschen, um medizinische Maß− nahmen durchführen zu lassen. Es handelt sich um eine bizarre Form der Kindesmisshandlung. Diagnostik: Die Diagnosestellung gestaltet sich meist schwierig. Hinweisend sind wiederholte Un− tersuchungen, auch Operationen bei verschiede− nen Anlaufstellen trotz mehrfach negativer Befun− de.

Definition Depressives Syndrom, das sich hinter somatischen Symptomen versteckt Klinik

Im Vordergrund somatische/ve− getative Beschwerden, z. B. Kopf− schmerzen, Schwindel, Wirbelsäulenbeschwerden, Glo− bus−, Enge− oder Würgegefühl, Atemnot, Herzrasen, −stolpern, Thoraxschmerzen, Steifigkeits−, Taubheits−, Schweregefühl, Obsti− pation, Diarrhö, Bauchschmerzen, Appetitlosigkeit, Zyklusstörun− gen, Libidomangel, Reizblase

Diagno− stik

Aufdecken der überlagerten depressiven Symptomatik: Denk− und Antriebshemmung, Gedächtnisstörung, Verstim− mung, Einbuße emotionaler Resonanzfähigkeit Somatogene Depression, Anpas− sungsstörung, Konversionsstö− rung

Therapie

s. Fall 21

Therapie und Prognose: Therapie der Wahl sind psychotherapeutische Verfahren (s. Fall 24). Da− bei ist eine unaggressive und flexible Konfronta− tion sinnvoll. Psychotherapeuten müssen sich auf schwierige und langwierige Behandlungen einstel− len: Nur etwa 30 % der Patienten sind einer Thera− pie zugänglich. 60 % der Betroffenen leugnen kon− stant die Eigenbeteiligung an der Symptomatik, so dass eine Therapie kaum möglich ist. Die Prognose ist daher eher als ungünstig einzuschätzen.

47 Antworten und Kommentar

Differen− zialdia− gnosen

161

Fall

Differenzialdiagnosen: Vor allem die Simulation steht der artifiziellen Störung nahe. Sie hat ihre Motivation in einer äußeren Lebenssituation (z. B. Rentenbegehren), während bei der artifiziellen Störung nachvollziehbare Anreize fehlen. Des Wei− teren muss selbstverletzendes Verhalten im Rah− men anderer psychischer Erkrankungen mit Störungen der Impulskontrolle (z. B. Borderline− Persönlichkeitsstörung, s. Fall 45) abgegrenzt wer− den. Bei diesen besteht nicht die Absicht, eine Er− krankung vorzutäuschen. Außerdem müssen lar− vierte Depressionen (s. Tab.) ausgeschlossen wer− den. Bei den Somatisierungsstörungen (s. Fall 3) finden sich häufig organbezogene Beschwerden (kardiopulmonal, gastrointestinal, neurologisch, gynäkologisch), bei denen trotz lang anhaltender Symptomatik keine somatische Ursache nachge− wiesen werden kann. Diese Beschwerden werden subjektiv als beeinträchtigend empfunden und von den Patienten nicht vorgetäuscht.

Larvierte Depression

ZUSATZTHEMEN FÜR LERNGRUPPEN Selbstverletzendes Verhalten Normales und pathologisches Korpererleben (kulturelle Unterschiede)  bertragung und Gegenubertragung U

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Fall 48

Transsexualismus

48.1 Stellen Sie eine Verdachtsdiagnose! Transsexualismus; Begründung: Identifizierung mit dem anderen Geschlecht 48.2 Nennen Sie eine weitere Störung aus diesem Formenkreis? Geben Sie eine kurze Definition! Transvestismus (Syn. Transvestitismus): Störung der Geschlechtsidentität mit Tragen gegenge− schlechtlicher Kleidung (Crossdressing) ohne Wunsch nach Geschlechtsumwandlung 48.3 Welche Differenzialdiagnosen müssen

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Fall

48

ausgeschlossen werden? K Psychosen K Endokrine Störungen, z. B. Hermaphroditis− mus (= Zwitterbildung), chromosomale Stö− rungen K Vorübergehende Störungen der Geschlechts− identität (Adoleszentenkrise) K Fetischistischer Transvestismus K Homosexualität K Persönlichkeitsstörungen

Antworten und Kommentar

48.4 Wie sieht die Behandlung Ihres Patienten aus? Da es kein allgemeingültiges Therapieschema gibt, hier mögliche therapeutische Optionen: K Evaluation über 1 Jahr, d. h. psychotherapeuti− sche Exploration und Begleitung durch einen erfahrenen Psychiater mit dem Ziel, den Pati− enten die für ihn richtige Entscheidung finden

K

K K

K

zu lassen und Kontraindikationen für eine Ge− schlechtsumwandlung auszuschließen (Sub− stanzabhängigkeit, Psychosen, illegale Hor− montherapien) Crossdressing: im sog. Alltagstest erprobt sich der Patient in der gewünschten Geschlechter− rolle, z. B. durch Tragen von Kleidung des an− deren Geschlechts; die Alltagserprobung ist Bestandteil der Behandlungsleitlinien Lebenslange gegengeschlechtliche Hormon− therapie; Auswirkungen zum Teil irreversibel Geschlechtsumwandelnde Operationen (Brustamputation oder Brustvergrößerung, an− gleichende Genitaloperation) und evtl. weitere kosmetische Operationen (z. B. Laserbehand− lung des Bartwuchses) Namensänderung (vorher nur geschlechts− neutrale Namen erlaubt, z. B. Kim)

48.5 Gibt es einen gesetzlichen Rahmen für den Umgang mit dieser Störung? Transsexuellengesetz von 1980: Regelung von Mindestanforderungen für Hormonbehandlung und/oder Transformationsoperation sowie Vorna− mens− (kleine Lösung“) und Personenstandsän− derung (große Lösung“); Mindestanforderungen sind: seit mindestens 3 Jahren bestehender Zwang, sich als dem anderen Geschlecht zugehö− rig zu empfinden und den Vorstellungen entspre− chend zu leben; hohe Wahrscheinlichkeit, dass sich daran nichts ändern wird; Mindestalter 18 Jahre

KOMMENTAR Definition: Bei Transsexualismus besteht der dringende Wunsch, als Angehöriger des anderen anatomischen Geschlechts zu leben und anerkannt zu werden. Dafür möchte der Patient durch eine Hormonbehandlung und/oder einen chirurgischen Eingriff den eigenen Körper dem bevorzugten Ge− schlecht so weit wie möglich anpassen. Epidemiologie: Transsexualität tritt bei Männern mit der Wahrscheinlichkeit von 1:30 000, bei Frau− en mit der von 1:100 000 auf. Nur ein kleiner Teil der Kinder mit einer Störung der Geschlechtsiden− tität entwickelt einen Transsexualismus. Ätiopathogenese: Die Vorstellungen zur Ursache sind vielgestaltig und kontrovers. Neben endokri− nen Aspekten werden genetische, aber auch früh− kindlich prägende Erfahrungen angeführt. Klinik: Transsexualismus ist gekennzeichnet durch die dauerhafte Gewissheit, sich dem biolo− gisch anderen Geschlecht zugehörig zu fühlen. Da− zu gehören der dringende Wunsch, anerkannt im gewünschten Geschlecht zu leben, und die Ableh− nung der mit dem biologischen Geschlecht ver−

bundenen Rollenerwartung. Die Symptomatik oder das Leiden der Transsexuellen manifestiert sich auf verschiedene Weisen. Häufig führen Kon− flikte in Beziehungen zu gleichgeschlechtlichen Al− tersgenossen durch Ächtung und Hänseleien zur Isolation. Beziehungsschwierigkeiten sind häufig, die berufliche Leistungsfähigkeit kann in Mitlei− denschaft gezogen sein. Nicht selten kommt es zu Substanzmissbrauch, Depressionen und Suizidver− suchen. Diagnostik: Eine Störung der sexuellen Orientie− rung wird nur diagnostiziert, wenn keine anderen psychischen oder körperlichen Erkrankungen vor− liegen, zu deren Symptomen die entsprechende sexuelle Störung gehören kann. Wichtig ist hierzu, eine Erhebung der biographischen Anamnese mit den Schwerpunkten Geschlechtsidentitäts− und psychosexuellen Entwicklung sowie der gegen− wärtigen Lebenssituation und eine psychiatrische Untersuchung, um die häufig gleichzeitig beste− henden psychopathologischen Auffälligkeiten ab− zugrenzen (depressive Reaktion, Suchtverhalten zur Konfliktbewältigung).

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Differenzialdiagnosen: s. Antwort zur Frage 48.3. Eine körperliche Untersuchung unter Einbezie− hung andrologischer, urologischer bzw. gynäkolo− gischer sowie endokriner Befunde schließt andere organische Ursachen aus. Therapie: Die wenigsten Menschen mit einer Stö− rung der sexuellen Orientierung lassen sich auf

eine Psychotherapie ein, da sie befürchten, etwas Wesentliches zu verlieren. Transsexuelle wün− schen eine Transformation in das andere Ge− schlecht (s. Antworten zu den Fragen 48.4 und 48.5). Auch nach der Geschlechtsumwandlung ei− nes Mannes in eine Frau gehen diese übrigens häu− fig eher Partnerschaften mit Frauen ein.

ZUSATZTHEMEN FÜR LERNGRUPPEN Homosexualitat Hermaphroditen Paraphilien (Perversionen)

Fall 49

Suchtsubstanzen

49.1 Nennen Sie die verschiedenen Subtypen! Morphin−/Opiat−Typ Barbiturat−/Alkohol−Typ Kokain−Typ Cannabis−Typ Amphetamin−Typ Halluzinogen−Typ Missbrauch von Lösungsmitteln Polytoxikomanie

!!! 49.3 Bei welcher Erkrankung hat Cannabis− abusus einen besonderen Stellenwert? Psychosen: Einige Untersuchungen deuten dar− auf hin, dass sie bei Cannabiskonsumenten deut− lich häufiger auftreten als in der Normalbevölke− rung. Im klinischen Alltag kommen häufig psy− chotische junge Menschen zur Aufnahme, die

49.4 Nennen Sie Hinweise auf eine Drogenein− nahme! K Zeichen fehlender Ich−Stärke; z. B. vermehrte Beeinflussbarkeit; mangelnde Fähigkeit, Versa− gungen zu ertragen K Vorherrschen bestimmter psychodynamischer Abwehrformen: Dissimulation (Herunterspie− len von Krankheitssymptomen), Verleugnung, manipulatives Verhalten, Täuschung K Anklagende und fordernde Haltung, schwer vertröstbar, wenig Frustrationstoleranz K Reaktion auf Konfrontation: gereizt, affektla− bil oder schnelles Verlassen der Praxis, um ei− ne andere aufzusuchen K Äußeres Erscheinungsbild: z. B. Vernachlässi− gung der Körperpflege, blasses Hautkolorit, Einstichstellen, Abszesse K Labor: pathologische Werte der Lebertrans− aminasen und Elektrolyte, auffälliges Drogen− screening im Urin

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49 Antworten und Kommentar

49.2 Definieren Sie den Begriff Polytoxikoma− nie! Ist die Patientin davon betroffen? K Polytoxikomanie: Einnahme von Suchtsub− stanzen über einen Zeitraum von einem Jahr aus mindestens 3 verschiedenen Substanz− gruppen, keine davon dominierend K Evtl. ja: Konsum von weißem Pulver (evtl. Ko− kain), Pillen (evtl. Amphetamine) und Cann− abis; Zeitraum ein Jahr

anamnestisch Cannabisabusus angeben. Nicht selten zeigt sich im Verlauf eine endogene Psy− chose. Nicht sicher zu unterscheiden bleibt meis− tens, ob die Psychose drogeninduziert ist oder der Drogenkonsum Teil einer Eigenbehandlung bei beginnender Erkrankung darstellt.

Fall

K K K K K K K K

KOMMENTAR Morphin−/Opiat−Typ: Opiate und Opioide besit− zen das höchste Abhängigkeitspotenzial mit einer raschen Toleranzentwicklung. Fast alle gebräuchli− chen Stoffe unterliegen dem Betäubungsmittelge− setz. Schon 10–20 Sekunden nach intravenöser Ap− plikation tritt der sog. Kick ein. Typischerweise kommt es zu Euphorie, die 10–30 Minuten anhält und dann in einen 2–6 Stunden andauernden Zu− stand übergeht, der durch Lethargie, Antriebsmin− derung, Somnolenz und affektive Verstimmung ge− kennzeichnet ist. Typische Symptome einer Über−

dosierung sind stecknadelkopfgroße Pupillen, Schock, Koma und Atemlähmung mit potenziell tödlichem Ausgang. Weitere Symptome sind Hy− poreflexie, pulmonale Störungen (Lungenödem) bis hin zu Rhabdomyolyse. Entzugssymptome tre− ten schon 6–8 Stunden nach Absetzen ein und er− reichen ihren Höhepunkt am 2. oder 3. Tag. Sie umfassen Drogenhunger (Craving), Unruhe, Hitze− und Kältegefühle, Muskelzucken und −krämpfe, Schlaflosigkeit, Blutdruck− und Temperaturanstieg, Tachykardie, Tachypnoe, Erbrechen und Durchfall.

Fall 49 Seite 50 Aus J. Becker-Pfaff, St. Engel: Fallbuch Psychiatrie (ISBN 3-13-140181-8) © Georg Thieme Verlag Stuttgart 2006 Dieses Dokument ist nur für den persönlichen Gebrauch bestimmt und darf in keiner Form an Dritte weitergegeben werden!

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Fall

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Die Symptome klingen innerhalb von ungefähr 10 Tagen ab.

konsum mit einer Latenz von Tagen bis Monaten (sog. Flash backs) können vorkommen.

Barbiturat−/Alkohol−Typ: Neben dem erhebli− chen Abhängigkeitspotenzial besitzen diese Sub− stanzen zum Teil eine beträchtliche Toxizität. Sie werden überwiegend oral eingenommen, können aber auch intravenös appliziert werden. Die Ein− nahme führt zu Euphorie, Sedierung, aber auch paradoxer Aktivierung; über längere Zeit zu Dys− phorie, Gleichgültigkeit und Leistungsminderung. Bei Intoxikationen ist die Gefahr der Atemdepres− sion gefürchtet. Neurologische Symptome sind verwaschene Sprache, Koordinationsstörungen, Ataxie, Areflexie und kognitive Störungen. Zu den Entzugssymptomen zählen Schlafstörungen, Tre− mor, Unruhe, vegetative Begleitsymptomatik, De− personalisation, Derealisation und epileptische Anfälle. Die Entzugssymptomatik hält häufig über mehrere Wochen an.

Amphetamin−Typ: Zu den Amphetaminen zählen chemisch hergestellte sog. Designer−Drogen (z. B. Exstacy, Angel’s Dust [PCP = Phenylcyclidin], Keta− nest). Sie haben in den letzten Jahren an Bedeu− tung gewonnen. Es entsteht psychische, aber keine physische Abhängigkeit. Eine Toleranzentwicklung findet nur langsam statt. Einnahme von Ampheta− minen führt zu Enthemmung, Euphorie, Kritiklo− sigkeit, Ideenflucht, aber auch zu optischen und akustischen Halluzinationen. Die Amphetaminin− toxikation ist klinisch kaum von einer Kokaininto− xikation zu unterscheiden. Im Vordergrund steht der erhöhte Sympathikotonus. Bei Auftreten von Fieber und epileptischen Anfällen können lebens− bedrohliche Situationen eintreten.

Antworten und Kommentar

Kokain−Typ: Die Applikation von Kokain erfolgt intranasal, intravenös oder inhalativ (Rauchen). Es kommt zu einer starken psychischen, nicht je− doch physischen Abhängigkeit, die mit einer er− heblichen Toleranzentwicklung einhergeht. Kokain führt in der frühen Phase (Kick) zu euphorischer Enthemmung, Antriebssteigerung, vermehrtem Lustempfinden und reduziertem Schlafbedürfnis, vor allem jedoch zu einer subjektiv empfundenen Steigerung der Leistungsfähigkeit. Im weiteren Rauschzustand treten Halluzinationen oder para− noides Erleben in den Vordergrund. Danach tritt meist ein depressives Stadium mit Angst ein, das das Verlangen nach erneuter Drogeneinnahme ver− stärkt. Bei Intoxikationen finden sich Mydriasis, Tachykardie, Hypertonie, Stereotypien und epilep− tische Anfälle bis hin zu massiven Erregungszu− ständen, Koma und Atemdepression. Zu Entzugs− symptomen zählen Katerstimmung“, der sog. Crash (vermehrte Depressivität und starkes Ver− langen nach Kokain), Unruhe, Erregungszustände, Reizbarkeit und Angst. Suizide sind bei Kokainkon− sumenten besonders häufig. Cannabis−Typ: Tetrahydrocannabiol (THC; Syn. Marihuana, Haschisch) wird entweder aus getrock− neten Blättern oder aus dem Harz der Blütenstau− den des indischen Hanfs hergestellt. Meist werden Cannabinoide geraucht, seltener gekaut oder oral eingenommen. Eine typische körperliche Abhän− gigkeit findet sich nicht, jedoch eine psychische mit Gewöhnung und, wenn auch geringer, Tole− ranzsteigerung. Cannabiskonsum führt zu Eupho− rie und Entspannung, bei chronischem Gebrauch zu organisch bedingten psychischen Störungen (z. B. paranoide Reaktionen, Halluzinationen). Re− lativ häufig kommen Horrortrips (Bad trips“) vor, die psychopathologisch schizophrenen Psychosen ähneln. Auch psychotische Episoden ohne Drogen−

Halluzinogen−Typ: Halluzinogene (z. B. LSD) sind teils pflanzlichen, teils synthetischen Ursprungs. Sie stellen eine heterogene Gruppe von Substan− zen dar, die eine starke psychische, aber keine physische Abhängigkeit verursachen. Sie werden ausschließlich oral eingenommen. Sie führen zu einem breiten Spektrum von Rauscherleben, wo− bei die halluzinogene Wirkung im Vordergrund steht. Vor allem findet sich eine Veränderung des Ich−Erlebens, des Körpergefühls, des Zeiterlebens mit Omnipotenzgefühlen und Gefühlsintensivie− rung. Daneben finden sich Mydriasis, arterieller Hypertonus und Tachykardie sowie gesteigerte Muskeleigenreflexe. Gefürchtete Komplikationen bei Intoxikation sind vasomotorischer Kollaps, Hyperthermie, Rhabdomyolyse und epileptische Anfälle. Missbrauch von Lösungsmitteln: Bestandteile von Benzin, Verdünnungsmitteln oder Farben ge− hören zu den Substanzen, die v. a. von älteren Kin− dern und Jugendlichen über Mund oder Nase in− haliert werden. Es entwickelt sich eine psychische Abhängigkeit, keine physische. Im Rauschzustand erleben die Sniffer“ eine euphorische Stimmung und Entspannung. Es tritt ein traumartiger Zu− stand ein. Im akuten Rausch kann es zu deliranter Symptomatik kommen bis hin zu Stupor oder Ko− ma bei Intoxikationen. Polytoxikomanie: s. Antwort zur Frage 49.2 und Fall 19. Sie ist heute keine Ausnahme mehr und eher die Regel. Die meisten Drogenabhängigen und Patienten in Substitutionsprogrammen mit Metha− don konsumieren zahlreiche Rauschmittel als sog. Beigebrauch, um Entzugssymptomen oder drogen− induzierter Schläfrigkeit entgegenzuwirken. Durch die Mehrfachabhängigkeit werden die therapeuti− schen Möglichkeiten, aber auch die Akutbehand− lung von Entzugs− oder Intoxikationssymptomen erheblich erschwert.

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ZUSATZTHEMEN FÜR LERNGRUPPEN Nikotinabhangigkeit (Symptome, Entwohnungskonzepte) Substitutionsprogramm mit Methadon

Fall 50

Hebephrene Schizophrenie

50.1 Stellen Sie eine Verdachtsdiagnose! Hebephrene Schizophrenie; Begründung: Ent− hemmung mit ungeniert distanzlosem und al− bern schnippischem Benehmen; schizophrene Er− lebensweisen (z. B. Halluzinationen, Wahn) feh− len

50.3 Wie beurteilen Sie den Verlauf dieser Erkrankung? Hebephrene Symptomatik bei Erkrankungsbe− ginn einer Schizophrenie prognostisch ungünstig, v. a. bei weiblichen Erkrankten; häufiger in einem chronisch defizitären Residualzustand endend als bei anderen Schizophrenien

50.2 Unterscheidet sich die medikamentöse Therapie dieser Erkrankung von der einer para− noiden Schizophrenie? Nein, ebenfalls Anwendung von Neuroleptika und fakultativ Antidepressiva (s. Kommentar)

165

KOMMENTAR

Ätiopathogenese: Die hebephrene Schizophrenie ist wie die anderen Unterformen der Schizophre− nien multifaktoriell bedingt (s. Fall 18). Klinik: Die hebephrene Schizophrenie ist durch die Trias Affektstörungen (läppische Grundstim− mung, aber auch apathisch−indifferent), Denkstö− rungen (zerfahren, manieriert−bizarr) und Aktivi− tätsstörungen (Antrieb verarmt oder gesteigert) sowie durch den frühen Beginn gekennzeichnet. Wahnsymptome und Halluzinationen finden sich selten, mehr dafür eine heiter−läppische oder apa− thisch−dysthyme Grundstimmung sowie Aus− drucksstörungen. Diagnostik und Differenzialdiagnosen: Der psy− chopathologische Befund ist ausschlaggebend bei der Diagnosestellung. Folgende Differenzial− diagnosen müssen ausgeschlossen werden: orga− nische Psychosen (v. a. bei Marihuana−Miss− brauch), schizophrenes Residualsyndrom (s. Fall 41), Zwangsstörungen, schizotype Persönlich− keitsstörung (s. Fall 20) oder jugendliche Entwick− lungs− und Reifestörung.

50 Antworten und Kommentar

Epidemiologie: Etwa 10 % aller Schizophrenien haben hebephrene Symptome. Die Lebenszeitprä− valenz beträgt 0,1 % der Bevölkerung. Die hebe− phrene Schizophrenie manifestiert sich meist zwi− schen dem 15. und 25. Lebensjahr. 90 % erkranken vor dem 30. Lebensjahr.

Therapie: Bei der medikamentösen Langzeitthe− rapie kommen Neuroleptika zum Einsatz, die fa− kultativ mit Antidepressiva kombiniert werden können. Bevorzugt sollten atypische Neuroleptika eingesetzt werden. Einerseits weisen sie bei Lang− zeitbehandlung nicht die z. T. sehr schweren Ne− benwirkungen der typischen Neuroleptika auf (z. B. tardive Dyskinesien, Anhedonie, neurolep− tisch induziertes Defizitsyndrom), andererseits verfügen sie über günstige Effekte bezüglich der Negativ−Symptomatik. Atypische Neuroleptika sind z. B. Clozapin (bis zu 300 mg/d), Risperidon (bis zu 6 mg/d), Quetiapin (bis zu 300 mg/d), Aripi− prazol (bis zu 40 mg/d) und Amisulprid (bis zu 900 mg/d). Meist ist ein Depotpräparat aufgrund fehlender Compliance hilfreich. Bei den atypischen Neuroleptika steht bislang nur ein Depotpräparat zur Verfügung (Risperidon). Bei ausgeprägt de− pressiven Zuständen kann z. B. ein Serotonin−Wie− deraufnahmehemmer zusätzlich gegeben werden (z. B. Citalopram 20–40 mg). Aufgrund der starken Rückzugstendenzen der Pa− tienten sind v. a. arbeits− und soziotherapeuti− sche Maßnahmen sowie die Einbeziehung der An− gehörigen in die Behandlung von Bedeutung. Au− ßerdem kommt Psychoedukation zum Einsatz. Ziele der Psychoedukation sind umfassende Aufklärung über die Erkrankung, Förderung der Patientencompliance, Reduktion von Angst, Verän− derung der Lebensweise und Erarbeiten von Copingfähigkeiten (Bewältigungsmöglichkeiten). Zielgruppe sind zum Einen die Patienten selbst, zum Anderen auch die Angehörigen. Das Setting kann dabei unterschiedlich sein und reicht von einmaliger Informationsveranstaltung bis hin zu längerfristigen Maßnahmen. Dabei kommen so−

Fall

Definition: Bei der hebephrenen Schizophrenie handelt es sich um einen Subtyp der Schizophre− nie, der meist im Jugendalter beginnt und durch die Trias Affekt−, Denk− und Aktivitätsstörungen im Sinne einer läppischen oder apathischen Grund− stimmung gekennzeichnet ist.

Fall 50 Seite 51 Aus J. Becker-Pfaff, St. Engel: Fallbuch Psychiatrie (ISBN 3-13-140181-8) © Georg Thieme Verlag Stuttgart 2006 Dieses Dokument ist nur für den persönlichen Gebrauch bestimmt und darf in keiner Form an Dritte weitergegeben werden!

wohl didaktische als auch psychotherapeutische Elemente zur Anwendung. Soziotherapie umfasst eine Behandlung des sozialen und beruflichen Kompetenzbereiches. Durch Tagesstrukturierung, Freizeitgestaltung und allgemeine soziale Unter− stützung unter Einbeziehung der Angehörigen soll erreicht werden, dass der Patient eine subjektiv ausreichend gute Lebensqualität erzielt. Eine För−

derung z. B. durch Arbeitstherapie, Beschäfti− gungstherapie, betreute Werkstatt oder betreutes Wohnen ist bei manchen Patienten sinnvoll. Prognose: Meist findet sich ein ungünstiger Ver− lauf, der in einem ausgeprägten Residualsyndrom endet und eine Unterbringung in Langzeiteinrich− tungen notwendig macht.

ZUSATZTHEMEN FÜR LERNGRUPPEN Schuldgefuhle Angehoriger (Schizophrenogene Mutter) High expressed Emotions/low expressed Emotions Families Bedeutung von Angehorigen− und Selbsthilfegruppen

Fall 51 166

Fall

51

Paranoide Persönlichkeitsstörung

Antworten und Kommentar

51.1 Wie reagieren Sie? K Patient ernst nehmen K Nicht von Ärger übermannen lassen, der in solchen Situationen häufig hochkommt K Den Realitätsgehalt der Angaben nicht hinter− fragen K Das konkrete Beispiel der alten Akte anspre− chen und sachlich nachfragen, was der Patient befürchtet K Die erfragte Angst zum Gesprächsthema ma− chen und hinführen auf die Qual, einerseits Hilfe und Behandlung zu benötigen und ande− rerseits so misstrauisch sein zu müssen K Akute Medikation ist nicht erforderlich und sollte auch nicht vorgeschlagen werden, da es das Vertrauensverhältnis Patient−Arzt belasten würde 51.2 Welche Verdachtsdiagnose haben Sie? Zählen Sie dafür einige Diagnosekriterien auf! Verdachtsdiagnose: paranoide Persönlichkeits− störung; Diagnosekriterien (nach ICD−10): K Übertriebene Empfindlichkeit bei Rückschlä− gen und Zurücksetzung K Neigung zu ständigem Groll wegen der Weige− rung, Beleidigungen, Verletzungen oder Miss− achtungen zu verzeihen K Misstrauen und starke Neigung, Erlebtes zu verdrehen, indem neutrale oder freundliche Handlungen Anderer als feindlich oder ver− ächtlich missgedeutet werden K Streitsüchtiges, beharrliches und situations− unangemessenes Bestehen auf eigenen Rechten K Häufiges, ungerechtfertigtes Misstrauen ge− genüber der sexuellen Treue des Partners K Tendenz zu stark überhöhtem Selbstwertge− fühl, das sich in ständiger Selbstbezogenheit zeigt K Verschwörungen als Erklärungen für Ereig− nisse

51.3 Grenzen Sie die paranoide Psychose von Ihrer Verdachtsdiagnose ab! Symptome, die auf eine paranoide Psychose hin− deuten: K Schwere formale Denkstörungen, meist inko− härentes und unlogisches Denken K Inhaltliche Denkstörungen mit häufig augen− fälligem wahnhaftem Charakter K Ich−Störungen mit Verlust der Ich−Grenzen, z. B. Gefühl der Beeinflussung durch Strahlen K Häufig Sinnestäuschungen K Affektstörungen, lassen sich aber zur Diffe− renzialdiagnose der paranoiden Persönlich− keitsstörung nur schwer heranziehen 51.4 An welche weiteren Differenzialdiagnosen denken Sie, was spricht dafür und was dagegen?

Diagnose

Pro

Kontra

Wahnhafte Störung

Ist Verfol− gungserleben an Arbeitsstel− le real?

Mit den vor− liegenden An− gaben nicht zu diagnosti− zieren

Depressive Episode

Leichte Nie− dergestimmt− heit, Einwei− sungsdiagnose

keine An− triebsstörung, keine Selbst− anklage

51.5 Was beachten Sie bei der Behandlung des Patienten? K Klare professionelle Haltung mit Geduld, Ehr− lichkeit und Respekt K Herstellung einer vertrauensvollen und tragfä− higen Beziehung als Basis (sehr schwierig)

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K Möglichst Beleuchtung von aktuellen, im Be− handlungsrahmen anfallenden Kränkungen und Bedrohungen

K Hinterfragung der Realitätsverzerrungen, ohne den Eindruck zu erwecken, dass man Wahr− nehmung des Patienten anzweifelt

KOMMENTAR Definition: Die paranoide Persönlichkeitsstörung geht mit ausgeprägtem Misstrauen und Argwohn einher. In ihrem Rahmen entsteht die Tendenz, die Motive und Handlungen anderer Menschen als feindselig, bedrohlich und zurückweisend zu erle− ben und zu interpretieren. Epidemiologie: Die epidemiologischen Zahlen sind vorsichtig zu beurteilen, da sich Patienten mit und aufgrund dieser Störung eher selten in Behandlung begeben. Man rechnet mit einer Prä− valenz von ca. 0,5–2,5 % der Gesamtbevölkerung.

Therapie: s. auch Antwort zur Frage 51.5. Ein Ziel der Therapie ist es, den Teufelskreis der Self−full− filling Prophecy zu unterbrechen. Medikamentös

ZUSATZTHEMEN FÜR LERNGRUPPEN Verhaltenstherapeutische Techniken Definitionen der Personlichkeitsstorungen in der ICD−10 Risikofaktoren fur die Entwicklung von Personlichkeitsstorungen

Fall 52 52.1 Wie lautet Ihre Verdachtsdiagnose? Manie; Begründung: maniformer Affekt, läppi− sche Stimmung, gehobener Antrieb, Enthem− mung, Ideenflucht, Größenideen 52.2 Welche Medikamente geben Sie der Patientin akut? K Hochpotentes Neuroleptikum, z. B. Haloperidol 10 mg p.o., Olanzapin 15 mg p.o. K Benzodiazepin: Diazepam 10 mg p.o., Loraze− pam 2,5–5 mg p.o. K Lithium 15–30 mmol/d (Plasmaspiegel 1,0– 1,2 mmol/l)

Manie

52 Antworten und Kommentar

Klinik: s. Antwort zur Frage 51.2. Die Betroffenen fühlen sich ständig bedroht, so dass auch kleine Kritik große Affektstürme hervorruft. Das Gegen− über empfindet diese Reaktion ungerechtfertigt und verteidigt sich häufig ebenso wütend, so dass die vom Patienten befürchtete Situation des Kamp− fes tatsächlich entsteht (Self−fullfilling Prophecy).

167

Fall

Ätiologie: Angehörige von Patienten mit schizo− phrenen Psychosen und wahnhaften Störungen entwickeln oft paranoide Züge. Es wird diskutiert, ob die Ursprungsfamilien durch einen erniedrigen− den und rigiden Erziehungsstil ohne liebevolle Zu− wendung gekennzeichnet sind. Systematische Un− tersuchungen zu biologischen Befunden liegen nicht vor.

sind die Störungen kaum beeinflussbar. Psychothe− rapeutische Maßnahmen beruhen meist auf ver− trauensvollen Beziehungen zum Therapeuten, welche jedoch schwer zu erreichen sind. Hilfreich ist die Psychoedukation, in der das Erleben des Patienten in einen strukturierten und verlässlichen Rahmen gebracht wird. Mit Hilfe der Psychoeduka− tion kann dem Patienten vermittelt werden, was er erlebt, dass das ein Teil von ihm ist, der in seinem sozialen Umfeld bestimmte Konsequenzen hat. Damit wird sein Erleben und Handeln in seine innere Struktur eingefügt und verliert damit im besten Fall seine Bedrohlichkeit. Grundlage der Behandlung ist ein Einzelsetting, das je nach Aus− prägung der Störung durch eine Gruppenpsycho− therapie ergänzt werden kann. Hier ergeben sich häufig Konflikte, die sofort besprochen werden können. Psychodynamische Ansätze schlagen vor, aktuelle Krisen− und Konfliktsituationen zu besprechen. Dabei wird der Patient ermutigt, ak− tuelle Beziehungserfahrungen zu verbalisieren. Rückblicke in seine Biographie sollen dem Patien− ten verdeutlichen, dass seine Reaktionsweisen aus der Kindheit zwar verständlich, dem aktuellen Ge− sprächspartner gegenüber jedoch nicht mehr not− wendig sind. Der kognitiv−behaviorale Ansatz geht davon aus, dass die Bearbeitung konkreter Problemsituationen die Minderwertigkeitsgefühle der Patienten reduziert. Das schafft die Grundlage für weitere verhaltenstherapeutische Techniken.

52.3 Wie sieht die langfristige Medikation bei der Patientin aus? Phasenprophylaxe mit einem der folgenden Me− dikamente: K Lithium (15–30 mmol/d, Plasmaspiegel: 0,5– 0,8 mmol/l); s. Fall 10 K Carbamazepin (200–400 mg/d mit täglicher Dosissteigerung von 100–200 mg, Serumspie− gel: 6–12 mg/l) K Valproinsäure (Dosissteigerung von 250 mg auf 750–1200 mg innerhalb von 3 Tagen, Plas− maspiegel: 50–125 mg/l)

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52.4 Unterscheiden Sie den manischen vom depressiven Wahn! K Manischer Wahn: tendenziell Größenwahn mit Omnipotenzgefühlen, Patient geht davon aus, alle Probleme, Planungen und Vorhaben

spielend lösen zu können; Hinwegsetzen über gültige Normen ohne Schuldgefühle; manch− mal paranoides Erleben K Depressiver Wahn: tendenziell Schuld−, Verar− mungs− und Versündigungswahn

KOMMENTAR Definition: Die Manie ist eine Störung des Affekts, der Stimmung und des Antriebs meist mit forma− len und inhaltlichen Denkstörungen. Epidemiologie: Eine isolierte manische Episode ist, ebenso wie rezidivierende manische Episoden ohne depressive Episoden, sehr selten. Bei einer bipolaren Störung liegt die Lebenszeitprävalenz zwischen 0,4 und 1,6 %. Das Erkrankungsrisiko be− zogen auf das Geschlecht ist gleich.

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Fall

52

Ätiologie: Die ätiologischen Faktoren entsprechen denen bei bipolaren affektiven Störungen, s. Fall 36. Wahrscheinlichbestehenwährendeiner manischen Phase regionale Hyperaktivitäten im dopaminergen und noradrenergen Neurotransmittersystem.

Antworten und Kommentar

Klinik: Bei einer hypomanischen Episode fühlen sich die Patienten über längere Zeit wohler als sonst, sind lustiger, manchmal aber auch gereizt oder aggressiv. Sie erleben ein gesteigertes Selbst− wertgefühl und −bewusstsein. Die Leistungsfähig− keit ist gesteigert, und sie haben das Gefühl, schneller denken zu können. Das Schlafbedürfnis ist vermindert, das sexuelle Bedürfnis gesteigert. Die Patienten entwickeln Pläne und Ziele, die rea− listisch, aber auch unrealistisch sein können. Eine manische Episode zeichnet sich aus durch K Antriebssteigerung: unrealistische, ständig wechselnde Pläne und Ziele bis hin zu Ver− schuldung; schnell wechselnde Beziehungen, Distanzlosigkeit in sozialen Kontakten K Euphorie unabhängig von Situation; teilweise aggressive, gereizte oder schnell wechselnde Stimmung K Größenideen: Gefühl, etwas Besonderes zu sein bzw. zu leisten bzw. zu haben bis hin zum Größenwahn, Selbstüberschätzung K Beschleunigung des formalen Denkens: Ideen− flucht, gelockerte Assoziationen, Logorrhoe bis hin zum Verlust der Zusammenhänge K Leichtsinniges Verhalten mit Hang zum Risiko K Schlaflosigkeit: Erwachen nach kurzer Zeit oh− ne Schlafbedürfnis K Fehlende Krankheitseinsicht.

Diagnostik und Differenzialdiagnosen: Der Be− griff der manischen Episode bezieht sich auf ein erstmals auftretendes Ereignis. Traten bereits früher manische oder depressive Episoden auf, muss eine bipolare affektive Störung mit derzeit manischer Symptomatik diagnostiziert werden. Hypomanien befinden sich an der Grenze zum Normalen“, meist sind die Betroffenen in ihren Aktivitäten nicht eingeschränkt. Manische Episo− den sind anhand ihrer typischen Symptomatik (s. o.) leicht zu erkennen. Manien mit psychoti− scher Symptomatik oder atypische Verläufe der Manie (z. B. Wahnbildung ohne euphorische Stim− mung) sind schwerer zu diagnostizieren. Auszuschließen sind organisch begründbare psy− chische Störungen (z. B. Hyperthyreose, Enzepha− litis, Medikamentennebenwirkungen; Substanz− missbrauch, v. a. Kokain, Amphetamine, Alkohol). Therapie: Wegen der fehlenden Krankheitsein− sicht der Patienten sind zur Akutbehandlung meist eine stationäre Einweisung und Zwangs− maßnahmen nötig. Die medikamentöse Therapie erfolgt mit hochpotenten Neuroleptika und Ben− zodiazepinen (s. Antwort zur Frage 52.2). Die Ga− be von Lorazepam ist grundsätzlich nur bei Über− wiegen paranoider Ängste sinnvoll. Zu beachten ist, dass bei Gabe von Lorazepam durch eine Ent− hemmung ohne ausreichende Sedierung die Ge− fahr besteht, dass es zu einer Eskalation der Manie kommen kann. Zur Sedierung eignen sich nieder− potente Neuroleptika (z. B. Chlorprothixen 200 mg/ d, Levomepromazin 200 mg/d, Chlorpenthixol 100 mg/d). Prophylaxe s. Antwort zur Frage 52.3. Prognose: Die Prognose der einzelnen manischen Phasen ist gut, d. h. meist wird eine Vollremission erreicht. Etwa 10 % der Patienten leiden unter ma− nische Residualsyndromen mit einer dauerhaft leicht gehobenen Stimmung oder verstärkter Reiz− barkeit, Kritiklosigkeit und persistierenden Schlaf− störungen.

ZUSATZTHEMEN FÜR LERNGRUPPEN Lithium Zyklothymien Bipolar−I und Bipolar−II−Storungen Rapid Cycling

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Fall 53

Alkoholfolgekrankheiten 53.2 Nennen Sie Ursachen der Alkoholfolgek− rankheiten! K Wernicke−Enzephalopathie/Korsakow−Syn− drom: Thiaminmangel (Vitamin−B1−Mangel) in Verbindung mit Transketolasemangel (Enzym des Thiaminstoffwechsels) führt zu petechia− len Einblutungen u. a. in Corpora mamillaria, Thalamus und Cerebellum K Hepatotoxische Enzephalopathie: Leitung to− xischer Substanzen (v. a. von Ammoniak und anderer toxischer Produkte des Aminosäure− stoffwechsels) durch Kollateralkreisläufe an der Leber vorbei direkt ins ZNS K Zentrale pontine Myelinolyse: vermutlich Hyponatriämie als Ursache für Demyelinisie− rung der Pons K Marchiafava−Bignami−Syndrom: evtl. über− mäßiger Rotweingenuss als Ursache für Dege− neration des Corpus callosum

Definition: Nach neueren Auffassungen stellen diese Erkrankungen keine verschiedenen Krank− heitsbilder dar, sondern gelten als verschiedene Stadien derselben Krankheit. Oft geht die Wer− nicke−Enzephalopathie in ein Korsakow−Syndrom über, letzteres kann sich aber auch primär entwi− ckeln. Ätiologie: s. Antwort zur Frage 53.3. Alkoholabu− sus steht als Ursache an erster Stelle. Wernicke hatte das Syndrom aber anhand eines Falles mit Schwefelsäurevergiftung beschrieben, was darauf hinweist, dass die Wernicke−Enzephalopathie auch bei anderen Erkrankungen auftreten kann, z. B. bei Anorexie, Zöliakie, Urämie, Hämodialyse, Tu− berkulose, Hyperemesis gravidarum, Infektions− krankheiten, Magenerkrankungen. Klinik: Die Kardinalsymptome der Wernicke−En− zephalopathie sind Augenmuskelparesen, Nys− tagmus, Ataxie sowie ein akutes hirnorganisches Psychosyndrom. Die Symptome können einzeln oder in Kombination auftreten und entwickeln sich akut innerhalb von Stunden bis Tagen manchmal aus einem Delir heraus. Ungeklärte Bewusstseins− störungen oder ein plötzliches Koma mit Hypo−

thermie und Hypotonie bei einem Alkoholkran− ken sind immer auf eine Wernicke−Enzephalopa− thie verdächtig. In 10–20 % der Fälle verläuft die Erkrankung letal durch vorwiegend zentral be− dingte vegetative Entgleisungen. Richtungsweisend für das Korsakow−Syndrom sind Desorientiertheit, Merkfähigkeits− und Ge− dächtnisstörungen sowie Konfabulationen, um Gedächtnislücken zu verbergen. Manchmal finden sich zusätzlich Sprach− und Artikulationsstörun− gen. Meist verläuft die Erkrankung chronisch. Diagnostik: Anamnese (langjähriger Alkohol− abusus) und pathologische Befunde in der neuro− logischen und psychiatrischen Untersuchung sind richtungsweisend. Eine laborchemische Abklärung sollte zusätzlich durchgeführt werden (Elektrolyte, Differenzialblutbild, Gerinnungsfaktoren, Nieren− retentionswerte, Leberenzyme, Schilddrüsenpara− meter). Es kann ein erniedrigter Thiamin−Spiegel (Vitamin−B1−Spiegel) nachgewiesen werden. Li− quoruntersuchungen und EEG zeigen meist einen Normalbefund. Im Schädel−MRT lassen sich in T2− gewichteten Bildern hyperintense Bereiche um Ventrikel und Aquädukt und eine Volumenminde− rung der Corpora mamillaria nachweisen (s. Abb.).

53 Antworten und Kommentar

K Wernicke−Enzephalopathie: vegetative Ent− gleisungen K Hepatotoxische Enzephalopathie: Koma als Endstadium K Zentrale pontine Myelinolyse: Koma als End− stadium K Marchiafava−Bignami−Syndrom: Koma als End− stadium

KOMMENTAR Wernicke−Enzephalopathie/Korsakow−Syndrom

169

53.3 Wie erklären Sie deren tödlichen Verlauf?

Fall

53.1 Welche wahrscheinlichen Verdachtsdiag− nosen nennen Sie dem diensthabenden Inter− nisten? Diskutieren Sie jeweils Pro und Kontra bei Ihren Verdachtsdiagnosen! K Wernicke−Enzephalopathie, dafür spricht die situative Desorientiertheit, dagegen sprechen Augenmuskelparesen und fehlende Ataxie K Hepatotoxische Enzephalopathie, dafür spre− chen Flapping Tremor, Visusverlust, Verwirrt− heitszustand; dagegen spricht der fehlende Foetor hepaticus (Geruch nach roher Leber) K Alkoholentzugsdelir, dagegen spricht fehlen− de vegetative Symptomatik (Blutdruckkrisen, Tachykardie, Fieber, Schwitzen) und Verlauf K Zentrale pontine Myelinolyse, dafür spricht die Augenmuskelparese, dagegen sprechen fehlende extrapyramidale Symptome (z. B. Tetraparese) K Marchiafava−Bignami−Syndrom, dafür spricht die Hyperreflexie, dagegen sprechen fehlende Spachstörungen und Krampfanfälle Fazit: Wernicke−Enzephalopathie und hepatotoxi− sche Enzephalopathie sind am wahrscheinlichs− ten; das Alkoholentzugsdelir ist aufgrund des Verlaufs und der fehlenden vegetativen Sympto− matik am wenigsten wahrscheinlich. Marchiafa− va−Bignami−Syndrom und zentral pontine Myeli− nolyse sind insgesamt eher selten

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zuerst einen Anstieg des Bilirubins und der Leber− enzyme, später eine Verminderung neben patho− logisch veränderten Gerinnungswerten und einer Ammoniakerhöhung. Therapie: Zentraler Bestandteil der Therapie ist die Verminderung der Eiweißzufuhr auf 20– 30 g/d und die medikamentöse Regulierung der Darmentleerung mit Laktulose (z. B. Bifiteral). Angestrebt werden sollte mindestens 1 Stuhlgang pro Tag. Laktulose senkt den pH−Wert im Darm, wodurch die Ausscheidung von Stickstoff gefördert wird. Bei Ausbleiben einer Besserung kommen schwer resorbierbare Antibiotika zur Anwendung, um ammoniakbildende und eiweißspaltende Darmbakterien zu eliminieren. Zentrale pontine Myelinolyse

170

Fall

53

Definition und Ätiologie: Bei der zentralen pon− tinen Myelinose handelt es sich um eine Funkti− onsstörung der zentralen Ponsregion meist ver− bunden mit Elektrolytstörungen (s. Antwort zur Frage 53.3). Transversale T2−gewichtete MRT−Aufnahme mit typischer Signalanhebung periaquäduktal und periventrikulär

Antworten und Kommentar

Therapie: Nach Asservierung einer Blutprobe zur Bestimmung des Thiamins und der Transketolase− aktivität ist bei einer Wernicke−Enzephalopathie sofort mit einer parenteralen Thiaminsubstitu− tion zu beginnen. Die empfohlenen Dosen schwanken zwischen 100–1000 mg/d; es sollte mit 100 mg/d i. v. begonnen werden. Bei adäquater Behandlung liegt die Letalität bei 10–20 %. Beim Korsakow−Syndrom kann die Thiaminapplikation (100 mg/d) oral erfolgen und durch Vitamin−B− Komplex, Folsäure und Magnesium ergänzt wer− den.

Klinik: Akut oder subakut finden sich Hirn− stammsymptome, die von leichten Pyramiden− bahnzeichen über eine Tetraparese bis hin zum Locked−in−Syndrom reichen. Diagnostik: Im Labor zeigt sich meist eine Hypo− natriämie, die als pathogenetischer Faktor vermu− tet wird. In Schädel−CT und −MRT kann man die Läsionen in der Brücke nachweisen (s. Abb). Therapie: Beim Ausgleich der Hyponatriämie muss in jedem Fall eine Hypernatriämie vermie− den werden. Der Natriumspiegel sollte nicht um mehr als 0,6 mmol/l/h angehoben werden.

Hepatotoxische Enzephalopathie Definition und Ätiologie: Unter diesem Begriff werden neurologische und psychiatrische Sympto− me bei Lebererkrankungen, die auf einer unzurei− chenden Entgiftungsfunktion bei portokavalem Shunt beruhen, zusammengefasst (s. Antwort zur Frage 53.3). Klinik: Das klinische Bild ist durch folgende Trias gekennzeichnet: hirnorganisches Psychosyndrom, Flapping tremor, pathologisches EEG. Des Weite− ren können sich Rigor, Hyperkinesen, Sprechstö− rungen, Hyperreflexie und Koordinationsstörun− gen finden. Das Vollbild imponiert als Delir oder Bewusstseinstrübung (Stupor) bis hin zum Koma. Diagnostik: Das EEG zeigt keine spezifischen, aber sog. Allgemeinveränderungen (symmetrisch abnorme Rhythmisierung im Frequenzbereich der a− und d−Wellen), die mit dem Schweregrad korre− lieren (s. Abb. S. 171). Im Endstadium hat sich das EEG wieder normalisiert. Im Serum findet man

Schwere pontine Myelinolyse (Pfeil) sowie ausgeprägte Kleinhirnatrophie

Fall 53 Seite 54 Aus J. Becker-Pfaff, St. Engel: Fallbuch Psychiatrie (ISBN 3-13-140181-8) © Georg Thieme Verlag Stuttgart 2006 Dieses Dokument ist nur für den persönlichen Gebrauch bestimmt und darf in keiner Form an Dritte weitergegeben werden!

Normales EEG mit alpha−Rhythmus

171

Definition: Beim Marchiafava−Bignami−Syndrom (Extrapontine Myelinolyse) handelt es sich um ei− ne Corpus−callosum−Degeneration, die häufig mit einer Sklerose der 3. Rindenschicht assoziiert ist. Histologisch imponieren streng symmetrisch auftretende Entmarkungen im vorderen Corpus callosum, aber auch im Centrum semiovale und anderen Kommissurensystemen, manchmal im Sehnerv sowie im Kleinhirnstiel. Epidemiologie: Bei ca. 0,05 % der Alkoholkranken sind die Veränderungen zu finden. Ätiologie: s. Antwort zur Frage 53.3. Klinik: Trotz der streng symmetrischen Morpho− logie sind unterschiedliche Verläufe mit vielfälti− ger Symptomatik bekannt. Klinisch wird eine aku− te von einer subakuten chronischen Verlaufsform

unterschieden. Meist entwickeln sich folgende Symptome: kognitive und psychiatrische Störun− gen, zerebrale Krampfanfälle, Hyperreflexie, mus− kulärer Hypertonus, positive Pyramidenzeichen, Aphasie oder Dysarthrie, Tremor, Ataxie, Harnin− kontinenz, Greifreflexe als Zeichen der Diskon− nektion. Diagnostik: Die Diagnose kann heute bildgebend (Schädel−CT, −MRT) gestellt werden, gelingt bei kleineren Läsionen mit dem MRT aber deutlich besser.

53 Antworten und Kommentar

Marchiafava−Bignami−Syndrom

Fall

EEG bei hepatoxischer Enzephalopathie (a – EEG: triphasische Deltawellen; b – Schematische Darstellung der triphasischen Deltawellen [Die Wellen haben 3 Phasen: eine Phase befindet sich oberhalb, eine unterhalb und eine weitere wieder oberhalb einer gedach− ten Nullinie])

Therapie: Eine kausale Therapie ist nicht bekannt. Aufgrund der ätiologischen und pathogenetischen Unklarheiten fehlen therapeutische Richtlinien. Neben absoluter Alkoholkarenz ist die Gabe von B−Vitaminen und Folsäure sinnvoll. Bei Störungen der Vitalfunktionen ist eine intensivmedizinische Überwachung notwendig.

ZUSATZTHEMEN FÜR LERNGRUPPEN Weitere Alkoholfolgekrankheiten (z. B. Alkoholentzugsdelir) Andere metabolische Enzephalopathien (z. B. uramische oder endokrine Enzephalo− pathien) Therapie der Alkoholsucht

Fall 53 Seite 54 Aus J. Becker-Pfaff, St. Engel: Fallbuch Psychiatrie (ISBN 3-13-140181-8) © Georg Thieme Verlag Stuttgart 2006 Dieses Dokument ist nur für den persönlichen Gebrauch bestimmt und darf in keiner Form an Dritte weitergegeben werden!

Fall 54

Therapie der Schlafstörungen

54.1 Geben Sie dem Patienten einige Ratschläge zur Schlafhygiene! K Körperliche Aktivität tagsüber K Vermeiden von Schlaf tagsüber K Vermeiden von anregenden Genussmitteln (Kaffee, Tee, Alkohol) K Vermeiden von schwerer Kost vor dem Schla− fengehen K Adäquate Schlafumgebung (Schlafzimmer ru− hig, leicht abgedunkelt, Zimmertemperatur 16–188C, kein Fernseher) K Gutes Bett K Tag ausklingen“ lassen, um den physiologi− schen Übergang von Spannung auf Entspan− nung zu ermöglichen (z. B. kein spannendes Buch vor dem Einschlafen lesen) K Evtl. Führen eines Schlaftagebuches zum He− rausfinden von Zusammenhängen

172

Fall

54 Antworten und Kommentar

54.2 Wann sind Schlafmedikamente indiziert? Was muss man bei ihrer Gabe beachten? K Indikation: wenn Verbesserung der Schlafhy− giene nicht zum Erfolg führt K Cave bei Benzodiazepinen: Information des Patienten über Absetzphänomene, ausschlei− chendes Absetzen, Abhängigkeitspotenzial, Gewöhnung, Einschränkung der Fahrtüchtig− keit! K Cave bei Antidepressiva: große interindividu− elle Unterschiede bei Ansprechen und Neben− wirkungen! 54.3 Welche Medikamentengruppen kommen bei der Behandlung von Schlafstörungen in Frage? Nennen Sie jeweils ein Beispiel mit Dosierung! K Phytopharmaka (z. B. Schlaf− und Beruhi− gungstees, Baldrian) K Sedierende Antidepressiva (z. B. Amitryptilin 25–75 mg zur Nacht) K Niederpotente Neuroleptika (z. B. Promethazin 25–50 mg, Melperon 25–75 mg)

K Benzodiazepine (z. B. Temazepam 10–20 mg) K Non−Benzodiazepin−Präparate: Cyclopyrrolone (Zopiclon 3,75–7,5 mg zur Nacht), Imidazopy− ridin (Zolpidem 10 mg) K Chloralhydrat (Dosen bis zu 1 g verursachen keine Unterdrückung des REM−Schlafes)

54.4 Welche Probleme birgt der Einsatz von Benzodiazepinen bei Schlafstörungen? K Suchtentwicklung: sehr kurz wirksame Ben− zodiazepine können schon während Behand− lung Entzugssymptomatik auslösen, die zu vermehrter Einnahme führt K Entzugsinsomnie (Reboundinsomnie): Auftre− ten nach Einnahme von Benzodiazepinen v. a. mit kurzer Halbwertszeit, bei Absetzen auch nach kurzer Einnahmezeit massive Schlafstö− rungen, daher nur schrittweise Dosisreduktion K Hang over: lange oder mittellange Halbwert− zeiten und aktive Metaboliten der Benzodiaze− pine verursachen Tagessedierung, verminderte kognitive Leistungsfähigkeit (Konzentration, Aufmerksamkeit), verminderte Reaktionsfähig− keit und verminderte Verkehrstauglichkeit 54.5 Beschreiben Sie kurz 2 therapeutische Entspannungsverfahren! K Autogenes Training (AT) nach Schultz: auto− suggestive Methode zur Beeinflussung ver− spannungsbedingter Symptome; Beispiel: ge− zieltes Entspannen einer Extremität nach der anderen (Mein rechter Arm ist schwer“ usw.) K Progressive Muskelrelaxation (PMR) nach Ja− cobsen: An− und Entspannung bestimmter Muskelgruppen zur tieferen Entspannung des ganzen Körpers; Beispiel: gezieltes Anspannen und anschließend sofortiges Entspannen ein− zelner Muskelgruppen (Anspannen der Arme in Flexion, Spannung halten, dann Entspan− nen)

KOMMENTAR Definition, Epidemiologie, Ätiologie, Klinik, Diagnostik und Differenzialdiagnosen: s. Fall 43. Therapie: Am Anfang der Therapie von Schlafstö− rungen sollte der Patient über die Physiologie des Schlafes (s. Fall 43) aufgeklärt werden. Beispiels− weise nimmt das Schlafbedürfnis mit dem Alter ab, und die Schlafdauer beträgt bei Erwachsenen 6–8 Stunden. Wenn man also um 9 Uhr ins Bett geht, ist man möglicherweise um 4 Uhr wieder wach. Ne− ben Ratschlägen zur Schlafhygiene (s. Antwort zur Frage 54.1) können auch Schlaf− und Traumtage− bücher hilfreich sein, um den Patienten zur Selbst−

beobachtung anzuregen. Verhaltenstherapeutische Ansätze versuchen durch verschiedene Techniken, die kognitive Einstellung und den Umgang mit Schlafstörungen zu beeinflussen: Durch Gedan− ken−Stopp−Training soll z. B. das nächtliche Grü− beln unterbrochen werden (Beispiel: Therapeut unterbricht den Patienten, indem er auf den Tisch haut und laut Stopp“ ruft, Patient merkt, seine Gedanken wurden unterbrochen, lernt so, seine Gedanken selbst zu unterbrechen.). Bei einer Rest− riktion der Schlafzeit wird die Dauer des Schlafes zuerst verkürzt, dann allmählich verlängert. Durch kognitive Fokussierung soll der Patient sich auf angenehme, wohltuende und beruhigende Gedan−

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ken konzentrieren. Diese Technik ähnelt den Ent− spannungsverfahren (s. Antwort zur Frage 54.5). Benzodiazepine als klassische Schlafmittel soll− ten nur in schweren Fällen, vorübergehend und unter ärztlicher Kontrolle verordnet werden. Es muss ein ausführliches Aufklärungsgespräch vor− ausgehen, da sowohl Abhängigkeit als auch Re− boundphänomene (s. Antwort zur Frage 54.4) auftreten können. Kontraindiziert ist diese Sub− stanzgruppe für Patienten mit Alkohol−, Drogen− und/oder Medikamentenmissbrauch in der Anamnese, weil bei dieser Patientengruppe das Suchtpotenzial höher ist und weil die Gefahr ei− ner Atemdepression bei Intoxikation (Wechsel−

wirkung zwischen Opiaten und Benzodiazepinen) besonders hoch ist. Cyclopyrrolone binden ähn− lich den Benzodiazepinen, jedoch an einer ande− ren Bindungsstelle, an den GABA−Komplex. Der selektive s1−Agonist Zolpidem soll weder Ab− hängigkeit hervorrufen noch Überhang− oder Ab− setzphänomene zeigen. Klinisch zeigt sich jedoch zumindest eine Gewöhnung bei den Patienten, was einem Absetzen bzw. Verzicht auf Einschlaf− hilfen entgegenwirkt. Prognose: Die Prognose ist abhängig von interin− dividuellen Faktoren; allgemeine Angaben können hierzu nicht gemacht werden.

ZUSATZTHEMEN FÜR LERNGRUPPEN Biofeedback Hypnose Suggestive und autosuggestive Techniken

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Puerperale Psychose

55.2 Nennen Sie weitere Erkrankungen dieses Lebensabschnittes? Weitere psychische Störungen des Wochenbetts: Postpartale Depression (s. Kommentar) Sog. Heultage (Baby−Blues) (s. Kommentar) 55.3 Was ist bei der Anamneseerhebung be− sonders wichtig? K Ähnliche Symptomatik bei früherer Schwan− gerschaft? K Psychische Beschwerden/psychiatrische Er− krankungen in der Vorgeschichte? K Psychiatrische Erkrankungen in der Familien− anamnese? 55.4 Welche Maßnahmen leiten Sie ein? K Sicherstellung der Versorgung und des Wohl− ergehens des Babys

K Fürsorgliche Zurückhaltung (stationäre Be− handlung) bei Vorliegen von Eigen− und/oder Fremdgefährdung K Einleiten einer anxiolytischen, neuroleptischen und ggf. antidepressiven Pharmakotherapie (z. B. Lorazepam 3 3 1 mg/d bis zum Abklin− gen der Akutsymptomatik, Haloperidol 1 3 10 mg/d bis zum Abklingen der Akutsympto− matik, dann Umstellung auf ein atypisches Neuroleptikum) K Abstillen mit Bromocriptin (1. Tag 1,25 mg, dann 2 3 2,5 mg über 14 Tage) wegen Über− tritt der Psychopharmaka in die Muttermilch

55.5 Was können Sie der Patientin und den Angehörigen über die Prognose dieser Erkran− kung sagen? Wochenbettpsychosen haben eine günstige Lang− zeitprognose mit meist vollständigen Remissio− nen. Nur bei einem geringen Anteil ist mit einer Defektbildung zu rechnen. Trotzdem zeigen die Wochenbettpsychosen eine hohe Rezidivneigung: bis zu 50 % bei erneuten Geburten, bis zu 60 % unabhängig von einer Geburt

55 Antworten und Kommentar

55.1 Nennen Sie Ihre Verdachtsdiagnose! Puerperale Psychose; Begründung: paranoide Ängste, schnell wechselnde Symptomatik, akut aufgetretene Suizidalität, psychomotorische Un− ruhe bis hin zu Verwirrtheitszuständen im Wo− chenbett

Fall

Fall 55

KOMMENTAR Definition: Die puerperale Psychose (Syn. Wo− chenbettpsychose, postpartale Psychose) tritt in zeitlichem Zusammenhang mit der Geburt auf und zeigt typische Symptome einer psychotischen Störung.

Epidemiologie: Die Erkrankung tritt bei ca. 1–2 von 1000 Geburten meist in den ersten 3 Wochen nach der Geburt auf. Ätiopathogenese: Auszugehen ist – wie bei ande− ren endogenen Psychosen – von einer multifakto−

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riellen Genese und individuellen Vulnerabilität (s. Fall 18).

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Fall

55

Klinik: Manchmal finden sich Prodromi (Kon− zentrationsstörungen, Anhedonie, Interessever− lust), meist bricht die Symptomatik aber plötzlich und heftig aus völliger Gesundheit kurz nach der Geburt aus. In seltenen Fällen kann die Symptoma− tik schon während der Schwangerschaft beginnen (Präpartalpsychose). Meist treten verschiedene af− fektive psychotische Symptome auf, die schnell wechseln: K Störungen des formalen und inhaltlichen Ge− dankenablaufs (sprunghaft, zerfahren, inkohä− rent, wahnhaft) K Sinnestäuschungen und Wahrnehmungsstö− rungen, Ich−Störungen K Störungen der Handlungsweisen und Psycho− motorik (Stupor, Erregungszustand) K Ausgeprägte Ratlosigkeit bis hin zur Verwirrt− heit K Schlafstörungen bis hin zur Schlaflosigkeit K Störungen des Affekts, insbesondere Angst.

Antworten und Kommentar

Manchmal tritt eine puerperale Psychose mit Symptomen einer akut polymorphen psychoti− schen Störung, einer schizophrenen oder einer schizotypen Störung auf. Insgesamt unterschei− den sich die Wochenbettpsychosen in ihrer Symptomatik nicht von endogenen Psychosen, die zu anderen Zeitpunkten auftreten. Daher gibt es eigentlich keinen Grund, diese als eigenständi− ge Krankheit zu betrachten. Diagnostik: Die Diagnostik entspricht der bei psy− chotischen Störungen(s. Fall 32). Differenzialdiagnosen: Die postpartale Depres− sion betrifft ca. 10–15 % der Mütter und beginnt meist später (innerhalb von 8 Wochen post par− tum). Diskutiert werden folgende Risikofaktoren: Stressbelastung während der Schwangerschaft, ungewollte Schwangerschaft, traumatische Erleb− nisse bzw. Vernachlässigung in der eigenen Kind− heit, finanzielle oder soziale Notlagen, zu wenig Unterstützung durch Partner oder Unzufriedenheit

in der Partnerschaft. Hier finden sich alle Sympto− me, die bei Depressionen auftreten können, wie gedrückte Stimmung, Antriebs− und Energielosig− keit, Interesseverlust. In Bezug auf den Säugling findet sich bei der Mutter mangelndes Verständnis für die Bedürfnisse des Säuglings, Passivität, weni− ger positiver, d. h. mehr negativer Affekt, reduzier− tes mimisches Ausdrucksverhalten, Mangel an Em− pathie und emotionaler Verfügbarkeit. Von beson− derer Bedeutung sind Schuldgefühle und damit einhergehende Suizidgedanken. Hier besteht die Gefahr eines erweiterten Suizids mit dem Säug− ling. Da sich die frühe Mutter−Kind−Beziehung auf die kindliche Entwicklung in erheblichen Maße auswirken kann, ist die Therapie der postpartalen Depression von großer Bedeutung (s. Fall 21). Die sog. Heultage (Syn. Baby−Blues) gelten nicht als Krankheit. Sie treten meist zwischen dem 3. und 5. Tag post partum bei vielen Wöchnerinnen (30–75 %) auf. Typisch ist ein Stimmungseinbruch, der wenige Stunden bis einige Tage anhält. Die Symptomatik äußert sich in Weinerlichkeit, Reiz− barkeit, Energielosigkeit und Überempfindlichkeit, manchmal auch in Merkfähigkeits− und Konzent− rationsstörungen. Eine spezifische Therapie ist nicht notwendig, meist reicht ein unterstützendes Gespräch mit einer Hebamme aus. Therapie: s. Antwort zur Frage 55.4. Die Behand− lung besteht meist aus einer kombinierten anti− psychotischen, anxiolytischen und ggf. antide− pressiven Therapie. Dosierung, Applikationsform und Dauer unterscheiden sich nicht von der Be− handlung normaler“ Psychosen. In manchen Zentren wird bei therapieresistenten Fällen die Elektrokrampftherapie (EKT) eingesetzt. Komplikationen: Eine gefürchtete Komplikation ist die Kindstötung, die in bis zu 4 % der Fälle vor− kommt. Prognose: s. Antwort zur Frage 55.5. Die Prognose ist insgesamt günstig. Im Falle weiterer Schwan− gerschaften kann es zu Rückfällen kommen.

ZUSATZTHEMEN FÜR LERNGRUPPEN Psychopharmakotherapie wahrend Schwangerschaft und Stillzeit Interdisziplinare Zusammenarbeit wahrend des Wochenbetts (Gynakologie, Kinderarzt, Hebamme, Pflegepersonal) Einfluss peripartaler Storungen auf die Entwicklung des Kindes

Fall 55 Seite 56 Aus J. Becker-Pfaff, St. Engel: Fallbuch Psychiatrie (ISBN 3-13-140181-8) © Georg Thieme Verlag Stuttgart 2006 Dieses Dokument ist nur für den persönlichen Gebrauch bestimmt und darf in keiner Form an Dritte weitergegeben werden!

Fall 56

Therapie der Borderline−Persönlichkeitsstörung

!!! 56.1 Was bedeutet EMDR? EMDR (Eye Movement Desensitization und Re− processing): strukturiertes Verfahren zur Bearbei− tung von traumabedingten Erinnerungen, Verhal− tensproblemen in der Gegenwart und Zukunfts− ängsten; geleitete Augenbewegungen und andere taktile oder auditive Stimuli bewirken beschleu− nigtes Erinnerungsvermögen an traumatisierende Erlebnisse; insbesondere unbearbeitete (rohe) Af− fekte können durch Wiedererinnerung besser verarbeitet werden

56.2 Nennen Sie 2 wichtige Psychotherapie− methoden zur Behandlung von Borderline− Persönlichkeitsstörungen! Fassen Sie kurz die Vor− und Nachteile der jeweiligen Behandlung zusammen! K Verhaltenstherapien: Fokus auf bestimmte Symptome oder Konflikte (z. B. Selbstunsicher− heit, Misstrauen, Beziehungsabbrüche); Vor− teil: kurzfristige Erfolge auf Symptomebene;

Nachteile: langfristig keine dauerhafte Verhal− tensänderung, Symptomverschiebung (fokus− siertes Symptom ist zwar weg, aber ein neues aufgetreten) K Psychodynamische (tiefenpsychologisch fun− dierte/analytische) Therapien: Vorteil: dauerhafte Änderung z. B. der Bezie− hungsfähigkeit; Nachteil: eher langfristige Me− thode, kurzfristig wenig erfolgreich auf Symp− tomebene

56.3 Was sind die wesentlichen Ziele einer medikamentösen Behandlung? K Symptomorientierte Behandlung (angstdämp− fend, Sedierung, Krisenintervention) v. a. bei Suizidgefährdung und selbstverletzendem Ver− halten K Unterstützende Behandlung (antidepressiv, neuroleptisch) bei Überwiegen dysthymer/de− pressiver oder ängstlich/angespannter Symp− tomatik

Definition, Epidemiologie, Ätiopathogenese, Klinik, Diagnostik und Differenzialdiagnosen: s. Fall 45.

56 Antworten und Kommentar

Therapie: Es gibt psychotherapeutische und me− dikamentöse Optionen zur Behandlung der Bor− derline−Persönlichkeitsstörung. Die von den Krankenkassen anerkannten Psycho− therapieverfahren gliedern sich in verhaltens− therapeutische und tiefenpsychologisch fundierte psychoanalytische Verfahren. Ein verhaltens− therapeutischer Ansatz ist die dialektisch−beha− viorale Therapie (DBT) nach Linehan. Ihr liegt die Theorie einer ständigen Interaktion zwischen bio− logischen Gegebenheiten und Umweltbedingun− gen zugrunde. Zahlreiche Symptome der Borderli− ne−Persönlichkeitsstörung lassen sich demnach von einer Dysregulation des Erlebens von Emotio− nen ableiten. Als zentrales Merkmal der Borderli− ne−Persönlichkeitsstörung wird die Tendenz gese− hen, intensive, meist negative, Emotionen zu erle− ben. Problematische Verhaltensweisen werden mit Hilfe der funktionalen Analyse untersucht, um zu verstehen, wie diese aufrechterhalten und dann verändert werden können. Der Therapeut ver− sucht, die Bedingungen zu untersuchen, die das Verhalten des Patienten beeinflussen, und die Funktion des Verhaltens für den Patienten inner− halb dieses Rahmens zu verstehen. Zusammenfas− send richtet sich dieser verhaltenstherapeutische Ansatz nach den Symptomen, die verändert wer− den sollen, und bedient sich einer Vielzahl von Techniken zum Festigen sozialer Kompetenz und Einüben alternativer Verhaltensweisen. Metho− disch handelt es sich häufig um Einübungen, meist

als Gruppentraining, von sozialen Fertigkeiten (Diagnostizieren, Problemlösen, Hilfestellungen in Konfliktfällen), Nachbildungen sozialer Bezie− hungen (z. B. Rollenspiele), um das Zusammenle− ben konfliktfähiger und kooperationstüchtiger zu gestalten. Folgende verhaltenstherapeutische Me− thoden kommen beispielsweise dabei zum Ein− satz: Das Kontingenzmanagement ist eine Me− thode der Verhaltenskontrolle. Hierbei wird ver− sucht, Reaktionen, die dem gestörten Verhalten entgegenstehen, häufiger zu provozieren, indem man sie vor gewohnten Verhaltensweisen ein− schiebt. Beim Fertigkeitstraining werden Proble− me innerhalb von Planspielen simuliert und be− sprochen. In Expositionsverfahren werden Pati− enten schrittweise den Situationen ausgesetzt, die sie vermeiden oder vor denen sie Angst haben. Bei der kognitiven Umstrukturierung werden festgefahrene irrationale Überzeugungen vom The− rapeuten direkt angesprochen und erkennbar ge− macht. Dadurch soll eine Veränderung erzielt wer− den. Bei der kognitiven Verhaltenstherapie nach Beck und Freeman soll das Alles−oder−nichts−Denken von Patienten mit Borderline−Persönlichkeitsstö− rung herausgearbeitet und verändert werden. Hauptstrategie dabei ist die Realitätsprüfung. Spe− zifische Denkschemata (Niemand ist für mich da“, Ich muss meine Emotionen kontrollieren, sonst passiert etwas Fürchterliches“, Ich bin von Natur aus inakzeptabel“) sollen aufgedeckt und modifi− ziert werden. Ziel ist, dass der Patient lernt, seine unangemessenen Denkschemata selbst zu erken− nen, und die selbstschädigenden Auswirkungen auf seine Gefühle und sein Verhalten erfährt. Da−

Fall

KOMMENTAR

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Fall

56 Antworten und Kommentar

durch wird eine Basis geschaffen, alternative Denk− modelle zu ermöglichen. Die übertragungsfokussierte Psychotherapie nach Kernberg gehört zu den psychoanalytischen Verfahren und basiert vereinfacht dargestellt auf dem Grundgedanken, dass ein Kind von Beginn an in Beziehung zu den ihn umgebenden Men− schen (Eltern) steht, und sich diese auf eine be− stimmte Art und Weise gestaltet. Wird dieses Beziehungsgefüge gestört, entstehen pathologi− sche Übertragungsmechanismen und frühe Ab− wehrmechanismen (s. Fall13). Das Ziel des thera− peutischen Vorgehens besteht darin, diese frühen Übertragungsmechanismen zu identifizieren und schrittweise zu integrieren, so dass frühe Ab− wehrmechanismen durch reifere ersetzt werden können. Ausgangspunkt ist die unbewusste Wie− derholung von pathologischen Übertragungsme− chanismen der Beziehungen aus der Vergangen− heit im Hier und Jetzt. Das Vorgehen besteht aus 3 Schritten: K Identifizierung der dominierenden Bezie− hungsform und Verdeutlichung derselben mit Hilfe metaphorischer Umschreibungen (z. B. benennt der Therapeut die vorherrschende Be− ziehungssituation in der Therapiestunde: Sie erleben mich gerade wie Ihren Vater, von dem sie sich abgelehnt fühlten.“) K Beschreibung der Gefühls des Patienten in Be− zug auf die bedeutsame Beziehung (z. B. Sie fühlen sich dabei hilflos, nicht beachtet und hoffnungslos.“) K Integration verfolgender und abgespaltener Anteile (vgl. Spaltung, Fall13) mit zunehmen− der Akzeptanz gegensätzlicher Anteile (z. B. Gestern haben Sie erlebt, dass Sie mich als einen sehr ablehnenden Therapeuten erleben, heute machen Sie die Erfahrung, dass ich auch hilfreich sein kann.“) Als therapeutische Techniken dienen: K Technische Neutralität (Therapeut soll neutral im Hinblick auf religiöse, moralische und so− ziale Werte bleiben und sich jeden Rates ent− halten) K Klärung (gemeinsames Erforschen all jener Elemente der Mitteilung des Patienten, die va− ge, unklar oder verwirrend sind) K Interpretation (Verknüpfen aktueller Informa− tionen mit zugrunde liegenden un−/vorbe− wussten Ängsten und Konflikten) K Konfrontation (Hinweisen auf widersprüchli− che Verhaltensweisen sowie vermindertes Realitätsbewusstsein). Die übertragungsfokussierte Psychotherapie wird hauptsächlich in der ambulanten Therapie ange−

wandt und unterscheidet sich deutlich von der klassischen Psychoanalyse (weniger Sitzungen/ Woche, sich gegenüber sitzen). Mehr als 80 % der Patienten mit Borderline−Per− sönlichkeitsstörung werden zumindest vorüber− gehend oder auch intermittierend mit Psycho− pharmaka behandelt. Klinisch rechtfertigt sich der Einsatz von Psychopharmaka besonders in akuten Krisen. Neuroleptika (z. B. Perazin 50– 600 mg/d, Quetiapin 300–750 mg/d) beeinflussen nicht nur Störungen der Wahrnehmung und Kog− nition, sondern auch affektive Symptome wie Angst und Depression günstig. Aufgrund der Ne− benwirkungen werden Neuroleptika aber von Pa− tienten mit Borderline−Persönlichkeitsstörung al− lerdings eher schlecht toleriert. Die starke affektive Empfindlichkeit und Instabilität, wie− derkehrende depressive Einbrüche, das chroni− sche Gefühl der Leere, Dysphorie und Angst le− gen den Einsatz von Antidepressiva nahe. Diese wirken aber weniger gut als Neuroleptika. Auch konnten paradoxe Effekte (Anstieg von paranoi− den Ideen) beobachtet werden. Günstig wirken v. a. selektive Serotonin− und Serotonin−Noradre− nalin−Wiederaufnahmehemmer (z. B. Fluoxetin 20 mg/d, Sertralin 50 mg/d, Venlafaxin 75– 150 mg/d). Das Auftreten von starken Affekt− durchbrüchen, Selbstverletzungen, Angstzustän− den, paranoiden Zuständen und Schlafstörungen rechtfertigt zunächst den Einsatz von Benzodia− zepinen (z. B. Lorazepam 1–2,5 mg/d). Angesichts der häufigen Abhängigkeits− und Missbrauchs− probleme von Borderline−Patienten ist aber eher Zurückhaltung beim Einsatz dieser Präparate an− gezeigt. Eine definitive Aussage über die Wirk− samkeit von Stimmungsstabilisatoren bei Pa− tienten mit Borderline−Persönlichkeitsstörung ist derzeit nicht möglich. Dennoch werden in der Behandlung der Borderline−Persönlichkeitsstö− rung Lithium (Dosierung nach Plasmaspiegel 0,5–0,8 mmol/l), Valproinsäure (600–2100 mg/d nach Plasmaspiegel) und Carbamazepin (bis zu 800 mg/d nach Plasmaspiegel) eingesetzt. Bei der Behandlung von Persönlichkeitsstörungen mit Psychopharmaka ist zu beachten, dass die Arzt− Patienten−Beziehung eine zentrale Bedeutung hat, sich die Verordnung von Medikamenten zu einem Agierfeld ausweiten und die psychothera− peutische Behandlung erheblich beeinflussen kann. Hier ist es notwendig, mit dem Patienten klar zu besprechen, welches Präparat warum und mit welchem Ziel verschrieben wird, welche Ne− benwirkungen auftreten können, und dass die Wirksamkeit nach einer gewissen Zeitspanne überprüft wird.

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ZUSATZTHEMEN FÜR LERNGRUPPEN Strukturelles Interview nach Kernberg Operationalisierte psychodynamische Diagnostik Rational−emotive Therapie

Fall 57

Aufmerksamkeitsdefizit−/Hyperaktivitätssyndrom (ADHS)

57.1 Wie heißt das Zappelphilipp−Syndrom medizinisch? Nennen Sie die Leitsymptome dafür! Aufmerksamkeitsdefizit−/Hyperaktivitätssyndrom (ADHS); Leitsymptome: Aufmerksamkeitsstörung, Impulsivität, emotionale Instabilität, Hyperaktivi− tät, Desorganisiertheit

57

KOMMENTAR

Epidemiologie: Bis vor kurzem wurde diese Diag− nose nur bei Kindern und Jugendlichen gestellt, doch heute weiß man, dass diese Störungen bis ins Erwachsenenalter persistieren können. Bei Kin− dern wird eine Häufigkeit von 4–5 % beschrieben, bei Erwachsenen eine von 0,1–8 %. Männer sind häufiger betroffen als Frauen. Ätiologie: Folgende Faktoren werden als Ursache diskutiert: K Erworbene minimale Hirnfunktionsstörung K Genetische Faktoren K Exogene Faktoren (Umwelt, Erziehung) K Störungen der Neurotransmittersysteme (Katecholamine, Dopamin, Serotonin) K Störungen im fronto−striatalen Regelkreis. Klinik: Man unterscheidet einen vorwiegend un− aufmerksamen, einen vorwiegend hyperaktiven und einen Mischtyp. Das Syndrom besteht aus verschiedenen Symptomen:

K Konzentrationsprobleme, leichte Ablenkbar− keit K Nervosität (Zappeligkeit) und geringes Durch− haltevermögen (Abbrechen von Tätigkeiten) K Affektive Durchbrüche und starke Stimmungs− schwankungen K Impulsives Handeln (fehlende Risikoeinschät− zung), Verlust der Kontrollfähigkeit K Störungen in der Beziehungsaufnahme zu an− deren Menschen K Autoritätsprobleme, geringes Selbstwertgefühl K Neigung zu rebellischem Verhalten, aber auch ängstlichem Vermeiden K Hyperaktivität v. a. in Situationen, die ein be− sonderes Maß an Verhaltenskontrolle erfor− dern.

Antworten und Kommentar

Definition: Das Aufmerksamkeitsdefizit−/Hyper− aktivitätssyndrom (ADHS, Syn. Hyperaktivitätsstö− rung, hyperkinetisches Syndrom) wird als persis− tierendes Symptom mit nachweisbaren Störungen der Aufmerksamkeit und Aktivität (Kognition, Mo− torik, Verhalten, Affekt) beschrieben. Zappelphi− lipp−Syndrom wird es genannt nach dem Zappel− philipp aus dem Kinderbuch Der Struwwelpeter von Heinrich Hoffmann.

177

Fall

57.2 Zählen Sie Beispiele für Hyperaktivität auf! K Exzessive Ruhelosigkeit, v. a. in Situationen, die Ruhe erfordern K Aufstehen bei der Aufforderung sitzen zu bleiben K Wackeln und Zappeln K Ausgeprägte Redseligkeit und Lärmen

57.3 Welche Medikamente werden bei dieser Erkrankung angewendet? K Mittel der Wahl: Methylphenidat (Ritalin, Be− ginn mit 5 mg/d und Steigerung auf 40– 120 mg/d) K Lithium (Dosierung nach Plasmaspiegel: 0,5– 0,8 mmol/l) K Bupropion (100–300 mg/d) K Nikotin−Pflaster, Nikotin−Kaugummis K Desipramin (100–200 mg/d), Venlaflaxin (75– 1550 mg/d), Reboxetin (8 mg/d) K Antiepileptika (Carbamazepin bis 800 mg/d, Valproat 900–2100 mg/d)

Diagnostik: Die Diagnose ADHS wird klinisch, d. h. aufgrund eines Interviews mit dem Patienten und des darin erhobenen aktuellen psychopatho− logischen Befundes, der anamnestisch eruierbaren Symptome und des Verlaufs gestellt. Im Schädel− MRT finden sich evtl. minimale Hirnläsionen im fronto−striatalen Regelkreis. Zum Nachweis der kognitiven Leistungsdefizite kommen psychologi− sche Tests zur Anwendung. Differenzialdiagnosen: Auszuschließen oder als Komorbidität zu berücksichtigen sind folgende Er− krankungen: Organische psychische Störungen (z. B. Epilepsie, Chorea, Restless−Legs−Syndrom, Fragiles−X−Syndrom), Schizophrenien, Angststö−

Fall 57 Seite 58 Aus J. Becker-Pfaff, St. Engel: Fallbuch Psychiatrie (ISBN 3-13-140181-8) © Georg Thieme Verlag Stuttgart 2006 Dieses Dokument ist nur für den persönlichen Gebrauch bestimmt und darf in keiner Form an Dritte weitergegeben werden!

rungen, affektive Störungen (Depression oder Ma− nie), Persönlichkeitsstörungen, Intelligenzminde− rung, Teilleistungsstörungen, Suchterkrankungen, Substanzmissbrauch, Tic−Störungen, Schlafstörun− gen. Insbesondere muss nachgewiesen werden, dass seit der Jugend oder dem frühen Erwachse− nenalter durchgehend folgende Merkmale beste− hen: Unaufmerksamkeit/Konzentrationsstörun− gen, Desorganisiertheit, Impulsivität, emotionale Instabilität bzw. Affektlabilität, Hyperaktivität. Liegt eine Komorbidität vor, kann man nur im wei− teren meist längerfristigen Verlauf (Jahre) die Symptomatik beurteilen und einteilen.

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Fall

58

Therapie: Als medikamentöse Therapie (s. Ant− wort zur Frage 57.3) im Kindes− und Jugendalter ist Methylphenidat Therapie der Wahl, aber umstrit− ten. Kontraindiziert ist die Anwendung von Stimu− lanzien (z. B. Methylphenidat) bei dissozialen Symptomen und Substanzabhängigkeit. Erwachse− ne reagieren weniger auf Stimulanzien, v. a. weil sich die Grundsymptome im Langzeitverlauf ver− festigt haben. Alternativ kommen Antidepressiva (z. B. Venlafaxin, Reboxetin, Desipramin, Bupro−

pion) zum Einsatz und können mit Medikamenten zur Phasenprophylaxe bei affektiven Störungen (Lithium, Carbamazepin, Valproinsäure) sowie Neuroleptika in niedriger Dosierung ergänzt wer− den. Für die genannten Medikamente besteht in Deutschland keine Zulassung zur Anwendung bei Hyperaktivitätsstörungen im Erwachsenenalter. Sie unterliegen deshalb der ärztlichen Therapie− freiheit; Nutzen und Risiken müssen sorgfältig ab− gewogen werden. Psychotherapeutisch kommen überwiegend strukturierende, kognitive Verfahren zur Anwen− dung, aber auch dialektisch−behaviorale (s. Fall 56). Ziel dabei ist v. a., dass der Patient lernt, seine Symptome zu akzeptieren und zu berücksichtigen sowie seine Stärken und Ressourcen besser für sich zu nutzen. Prognose: Bei einem Teil der Kinder bildet sich die Störung im Jugendalter vollständig zurück, bei einem Teil der Kinder bleiben die Symptome im weiteren Verlauf bestehen. In ungünstigen Fäl− len entwickeln sich Dissozialität, Impulsivität und Substanzmissbrauch.

ZUSATZTHEMEN FÜR LERNGRUPPEN:

Antworten und Kommentar

Verhaltensauffalligkeiten im Kindes− und Jugendalter (z. B. Schulphobie) Teilleistungsstorungen (Lesen, Rechtschreibung, Rechnen) Definitionen von Rumination, Enkopresis, Enuresis, Pica

Fall 58

Altersdepression

58.1 Schildern Sie den psychopathologischen Befund der Patientin! K Bewusstsein: ungestört K Aufmerksamkeit, Konzentration: ungestört K Zu Person, Situation, Zeit, Ort: orientiert K Gedächtnis: ungestört K Kontaktaufnahme: zögerlich, verschlossen K Formales Denken verlangsamt, keine inhaltli− chen Denkstörungen K Affekt: depressiv, Stimmung hoffnungslos K Psychomotorik: verlangsamt, Antrieb herabge− setzt K Keine akute Suizidalität, jedoch Todessehn− sucht

58.2 Welche Verdachtsdiagnose stellen sie? Altersdepression; Begründung: typische Symp− tome (s. Antwort zur Frage 58.1), Alter .60 Jahre, erstmaliges Auftreten der Symptomatik 58.3 Nennen Sie 3 Charakteristika dieser Erkrankung! K Auslösung durch stark einschneidende Ereig− nisse (s. Kommentar) K Protrahierte Phasendauer K Dominieren ängstlicher psychomotorischer Unruhe K Histrionische und/oder zwanghafte Persön− lichkeitszüge K Relative Therapieresistenz K Häufig nur einmaliges Erkranken

KOMMENTAR Definition: Tritt eine Depression erstmalig, d. h. ohne dass zuvor depressive oder manische Phasen vorkamen, nach dem 45. Lebensjahr auf, spricht man von Involutionsdepression, tritt sie nach dem 60. Lebensjahr auf, von Altersdepression. Ty−

pisch sind eine protrahierte Phasendauer und psychische oder somatische Auslöser. Epidemiologie: Frauen erkranken deutlich häufi− ger als Männer. Die Prävalenz liegt bei ca. 10 %.

Fall 58 Seite 59 Aus J. Becker-Pfaff, St. Engel: Fallbuch Psychiatrie (ISBN 3-13-140181-8) © Georg Thieme Verlag Stuttgart 2006 Dieses Dokument ist nur für den persönlichen Gebrauch bestimmt und darf in keiner Form an Dritte weitergegeben werden!

Ätiologie: Wie bei allen affektiven Psychosen ist von einer multifaktoriellen Genese auszugehen (s. Fall 15). Zusätzlich können degenerative sowie kardio− und zerebrovaskuläre Funktionsstörungen (z. B. demenzielle Entwicklungen, arterielle Hyper− tonie, Schlaganfall) die Genese beeinflussen. Häu− fig auslösende Faktoren der Spätdepressionen sind: Trennung von Kindern, Umzug in neue Um− gebung, Verlust des Partners oder nahestehender Personen, Ausscheiden aus dem Berufsleben, Min− derung materieller Einkünfte, Nachlassen der psy− chischen und physischen Leistungsfähigkeit. Klinik: Man findet häufig eine Kombination mit Wahnsymptomen (hypochondrisch, paranoid), aber auch hysteriforme (übertreibende) und/oder anankastische (zwanghafte) Züge. Insbesondere letztere scheinen prädisponierend für die depres− sive Entwicklung zu sein. Es überwiegen psycho− motorische Unruhezustände (agitierte Depressi− on), Ängstlichkeit und pseudodemenzielle Ent− wicklungen. Die pseudodemenzielle Entwick− lung unterscheidet sich von einer Demenz (z. B. Alzheimer−Demenz) durch detaillierte und betrof− fene Schilderungen der Beschwerden sowie ge−

naues Erinnern von Einzelheiten und Fakten. Meist klagen die Patienten über ausgeprägte somatische Beschwerden (z. B. Herz−, Kreislauf−, Abdominal− beschwerden, Kopfschmerzen) und Leibmissemp− findungen (z. B. Hitzegefühl, Kribbeln). Diagnostik: Anamnese und körperliche Untersu− chung bilden die Basis der Diagnostik. Ein beson− deres Augenmerk ist auf die Funktionsfähigkeit von Herz, Kreislauf, Nieren und Leber zu legen, um somatische Ursachen auszuschließen. Differenzialdiagnosen: Wichtigstes Ziel der Dif− ferenzialdiagnostik ist der Ausschluss organischer Ursachen (z. B. internistische, neurologische, en− dokrine, pharmakogene Erkrankungen). Therapie: Die Therapie erfolgt nach den allgemei− nen Richtlinien bei depressiven Erkrankungen (s. Fall 21). Klinisch beobachtet man häufig eine rela− tive Therapieresistenz, die ein mehrfaches Wech− seln der Wirksubstanz oder eine Augmentation notwendig machen. Prognose: Die Prognose ist insgesamt günstig, Rezidive sind eher selten.

179

Fall

ZUSATZTHEMEN FÜR LERNGRUPPEN

Fall 59

Therapie der Schizophrenie

59.1 Für welche Zeitdauer empfehlen Sie, die Medikamente weiter einzunehmen? Nach erster akuter psychotischer Episode Einnah− me von Neuroleptika mindestens 1, besser 2 Jah− re (nach 2 oder mehr Manifestationen 4–5 Jah− re); Begründung: Patienten, die . 2 Jahre Neuro− leptika erhalten, erleiden deutlich weniger Rezi− dive 59.2 Welche Möglichkeiten haben Sie bezüg− lich der Müdigkeit und Lustlosigkeit des Pa− tienten? K Medikamentös: gegen Zeichen einer postpsy− chotischen Depression additiv Antidepressi− vum (z. B. Cipramil 20 mg/d) oder atypisches Neuroleptikum (z. B. Olanzapin 10 mg/d, hat antidepressive Komponente) K Psychotherapeutisch: Empfehlung der Teil− nahme an Psychoedukation; Aufnahme einer

Psychotherapie (verhaltenstherapeutisch oder tiefenpsychologisch fundiert)

59.3 Welche Empfehlungen gaben vermutlich die behandelnden Ärzte? K Empfehlungen zur medikamentösen Therapie K Empfehlungen zur Tagesstruktur K Belastungserprobung in Form von Arbeitsthe− rapie innerhalb rehabilitativer Maßnahmen zur Feststellung von Fähigkeiten und Defiziten

59 Antworten und Kommentar

Pseudodemenz und senile Demenz Larvierte Depression Altersabhangige Ausloser einer depressiven Entwicklung

59.4 Was ist besonders wichtig bei einer sich so gestaltenden Situation? Einbeziehung und Aufklärung der Angehörigen, dadurch Entlastung von Schuldgefühlen (z. B. schizophrenogene Mutter“, Double−Bind−Situa− tion“) und Einbeziehung dieser als Co−Therapeu− ten

KOMMENTAR Wichtigste Bestandteile der Therapie der Schizo− phrenie sind medikamentöse Behandlung sowie

psychotherapeutische und rehabilitative Maß− nahmen.

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Medikamentöse Therapie: Die Therapie schizo− phrener Symptome erfolgt vorrangig medikamen− tös. Je nach Symptomatik, individuellem Anspre− chen auf das Medikament und Nebenwirkungspro− fil werden die Präparate ausgewählt und müssen z. B. aufgrund individueller genetischer und fami− liärer Faktoren, unterschiedlicher Symptomatik und Widerstandes gegen die Behandlung häufig mehrfach verändert werden. Neuroleptika

Hochpotent

180

Fall

59

Typische (klassische) Neuroleptika

Atypische (moderne) Neuro− leptika

Benperidol Flupentixol Fluphenazin Haloperidol

Clozapin Olanzapin Risperidon Aripiprazol Ziprasidon Amisulprid Quetiapin

Mittelpotent Perazin Perphenazin Zuclopenthixol

Antworten und Kommentar

Nieder− potent

Chlorprothixen Levomepromazin Melperon

Bei der Therapie unterscheidet man Akutthera− pie, Stabilisierungstherapie und Rezidivprophy− laxe. In der produktiven Akutphase mit Angst, Unruhe und Schlafstörungen werden meist zusätzlich zu hochpotenten Neuroleptika (z. B. Haloperidol, Olanzapin) Benzodiazepine (z. B. Lorazepam, Dia− zepam) und/oder niederpotente Neuroleptika (z. B. Levomepromazin) eingesetzt, um einen se− dierenden Effekt zu erreichen. Wird auch nach Dosiserhöhung keine ausreichende antipsychoti− sche Wirkung (Rückgang der Symptomatik nach ca. 2–6 Wochen) erzielt, sollte der Plasmaspiegel bestimmt werden, um ggf. mögliche Malabsorp− tion, Wechselwirkung mit anderen Pharmaka mit möglichem Wirkverlust und Nichtansprechen auf das Präparat auszuschließen. Gegebenfalls muss die Substanzklasse der Neuroleptika geändert werden. Clozapin ist bei 25–70 % der Non−Res− ponder erfolgreich. Da unter Clozapingabe eine Leukopenie auftreten kann, muss regelmäßig das Differenzialblutbild bestimmt werden (18 Wo− chen lang wöchentlich, dann alle 4 Wochen; bei Leukopenien , 3000/ml oder Granulozytopenien , 1500/ml Clozapin absetzen).

Prinzipiell ist als Dauerbehandlung (Stabilisie− rungsphase und Rezidivprophylaxe) eine Mono− therapie anzustreben, um die Compliance sicher− zustellen. Hier kommen typische und atypische sowie hoch− und mittelpotente Neuroleptika zum Einsatz (s. Tab.). Insbesondere bei Überwiegen von Negativ−Symptomatik oder Residualsyndro− men sind atypische Neuroleptika den typischen überlegen. Nach einer ersten psychotischen Epi− sode wird eine Rezidivprophylaxe für minde− stens 1 Jahr empfohlen, nach Auftreten einer zweiten Episode für mindestens 5 Jahre oder län− ger. Um die Compliance zu erhalten, wird hierbei eine Mindestdosierung mit einmaliger Gabe pro Tag angestrebt (z. B. Olanzapin 5 mg/d, Halope− ridol 2,5–5 mg/d, Flupentixol 5 mg/d, Risperidon 2 mg/d). Unterdosierungen oder ein Absetzen der Medikamente seitens des Patienten machen sich meist innerhalb von 1–6 Monaten bemerkbar, meist mit kurz dauernden Prodromi/Vorzeichen (Schlafstörungen, Konzentrationsstörungen, An− triebsarmut) gefolgt von einer akut psychoti− schen Dekompensation. Am häufigsten kommen folgende Nebenwirkun− gen bei Neuroleptikagabe vor: extrapyramidal− motorische Störungen, Gewichtszunahme, ortho− statische Dysregulationen, Blutbildveränderun− gen. Unruhezustände und Akathisie können so− wohl Anzeichen einer Nebenwirkung als auch für ein psychotisches Erleben sein. Negativ−Sympto− matik und Residualsyndrome sind schwer von postpsychotischen depressiven Zuständen zu un− terscheiden, auch kann sich hinter einer depres− siv erscheinenden Symptomatik ein subklinisches Parkinsonoid verbergen. Psychotherapeutische und rehabilitative Maß− nahmen: Psychosoziale Behandlung, Rehabilitati− on und Psychotherapie beginnen schon in der Akutphase. Hier sind strukturierende Maßnahmen Hauptbestandteil der Therapie; dazu zählen der stationäre Alltag und die dazugehörenden multi− modalen Therapiebausteine, z. B. Ergotherapie, Ar− beitstherapie, Musiktherapie, Gestaltungstherapie, Morgenrunden, Gruppenaktivitäten, supportive psychotherapeutische Einzelgespräche. Weitere wichtige Therapiebestandteile sind die Vermitt− lung von Basisfertigkeiten zur besseren Einsichts− fähigkeit und zur Vermittlung effizienterer Bewäl− tigungsinstrumente, um dem Patienten zu ermög− lichen, mit krankheitsbedingten Problemen besser zurecht zu kommen. Verhaltenstherapeutische Ansätze fokussieren auf verschiedene kognitive Trainingsverfahren. Sie werden insbesondere zur Veränderung der sub− jektiven Krankheitsverarbeitung, der Bewältigung psychosozialer Schwierigkeiten, zur Verbesserung der Rezidivprophylaxe sowie zur Behandlung einer persistierenden Plus−Symptomatik eingesetzt (Beispiel: Patienten erlernen durch Rollenspiel und Selbstbeobachtung mehr Selbstsicherheit

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Nebenwirkungen einer Neuroleptikatherapie und deren Behandlung

Nebenwirkung

Symptomatik

Behandlung

Extrapyramidal−moto− Dystonie, Parkinsonoid, Akathisie, rische Störungen tardive Dyskinesie

Biperiden bis zu 3 3 2–4 mg i. v., Dosisreduktion, Anwenden eines atypischen Neuroleptikums, bei Akathisie: Propanolol 30–80 mg/d

Appetitsteigerung

Gewichtszunahme, vermehrtes Ri− Aufklärung, Diätberatung, Umstel− siko für Diabetes mellitus und Hy− lung auf anderes Neuroleptikum perlipidämie

Hypotone Dysregula− tion

Schwindel, Müdigkeit

Etilephrin 10 mg Dihydroergotamin 4–6 mg

Agranulozytose

Leukopenien

Bei gravierenden Leukopenien: Absetzen des Neuroleptikums

Photosensibilisierung

Sonnenbrand

Verminderung der Sonnenexposi− tion

Anticholinerge Neben− Mundtrockenheit, Akkomodati− wirkungen onsstörungen, Obstipation, Mikti− onsstörungen, Tachykardien

Dosisreduktion, symptomorien− tierte Therapie: Flüssigkeit, Kau− gummi, Bonbons, Umstellung auf anderes Neuroleptikum

EKG−Veränderungen

Verlängerung des QT−Intervalls

Regelmäßige EKG−Kontrollen; bei .520 ms Absetzen des Neurolepti− kums

Kognitive Einschrän− kungen

Müdigkeit, Konzentrationsstörun− gen

Vorübergehende Nebenwirkung, Aufklärung des Patienten

und soziale Kompetenz). Insbesondere die Psycho− edukation hat in den letzten Jahrzehnten zuneh− mend an Bedeutung gewonnen. Ziel dabei ist, Pa− tienten und Angehörige umfassend über die Er− krankung aufzuklären, die Compliance zu fördern, Angst zu reduzieren, eine Veränderung der Lebensweise zu unterstützen und bessere Be− wältigungsstrategien (Coping) zu ermöglichen. Psychoedukation wird in unterschiedlichen Set− tings durchgeführt (z. B. für Patienten, Angehörige, gemischt, Gruppen; stationär, ambulant; eine oder mehrere Sitzungen). Dabei haben sich 4 Schwer− punkte bewährt: K Aufklärung und Informationsvermittlung über die Erkrankung, die Symptomatik und die Diagnosestellung K Aufklärung über die Ursachen K Informationsvermittlung über die Behandlung im akuten Stadium K Möglichkeiten zur Rückfallvermeidung (Pro− phylaxe).

Bei den tiefenpsychologischen und analyti− schen Psychotherapieverfahren wurden in den letzten Jahren zahlreiche Modifikationen einge− führt mit dem Ziel, die therapeutische Beziehung als zentralen Bestandteil zur Behandlung der zu− grunde liegenden basalen Beziehungsstörung an− zusehen. In der therapeutischen Beziehung kann der Patient neue konstruktivere Interaktionsmus− ter erleben und dadurch neue Einsichten gewin− nen. Dabei gibt es unterschiedliche Ansätze, die von einer eher klassischen analytischen bis hin zu einer supportiven, realitätsorientierten Hal− tung reichen. Neben einzeltherapeutischen Sit− zungen gibt es die analytische Gruppenpsycho− therapie. Alle Verfahren sind als mehrjährige Langzeittherapien konzipiert, die Frequenz der Sitzungen und die Dauer der Behandlung variie− ren. Rehabilitative Maßnahmen helfen bei der Be− wältigung des Alltags (einschließlich Wohnen) sowie bei der materiellen Grundsicherung. Es werden Fertigkeiten zur Beschäftigung und Tages−

181

59 Antworten und Kommentar

Hormonstatus zum Ausschluss an− derer Ursachen, ggf. Umstellung auf anderes Präparat; alternativ: Bromocriptin 2,5–5 mg/d

Fall

Anstieg des Prolaktins Störung des Menstruationszyklus, Laktation, Gynäkomastie

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strukturierung erworben, die Eingliederung im allgemeinen oder betreuten Arbeitsmarkt (z. B. Werkstätte für Behinderte) wird ermöglicht. Zen− tral dabei ist die Aufnahme und Aufrechterhal− tung zwischenmenschlicher Beziehungen und Kontakte. Deshalb sind wesentliche Elemente re− habilitativer Maßnahmen: K Compliance bezüglich der erforderlichen psy− chopharmakologischen Medikation fördern

K Psychotherapeutische Begleitung (z. B. bessere Krankheitsbewältigung, Herstellung positiver Zukunftsperspektiven) K Psychoedukative Maßnahmen K Handlungsorientierte Maßnahmen zur Abklä− rung der Fähigkeiten und Defizite (Arbeits− und Belastungserprobungsphase).

ZUSATZTHEMEN FÜR LERNGRUPPEN Gemeindenahe psychiatrische Versorgung Psychose aus psychodynamischer Sicht Das integrierte psychologische Therapieprogramm Betreuungsverfahren und sozialrechtliche Aspekte

Fall 60 182

Fall

60

Serotonerges Syndrom

Antworten und Kommentar

60.1 Wie erklären Sie sich die Symptomatik? K Clomipramin: trizyklisches Antidepressivum, Hemmung der Wiederaufnahme von Seroto− nin im synaptischen Spalt K Moclobemid: Monoaminooxidase−Hemmer, Hemmung des Serotoninabbaus im synapti− schen Spalt K Kombination beider Medikamente R übermä− ßige Erhöhung von Serotonin im synaptischen Spalt R serotonerges Syndrom mit typischen Symptomen (Schwitzen, Übelkeit, Unruhe, Ta− chykardie) K Kombination von Clomipramin und Moclobe− mid kontraindiziert!

ausreichende Flüssigkeitszufuhr sorgen, ggf. symptomatische Behandlung der Tachykardie und Hyperthermie) K Verlauf ohne Therapie (Absetzen der Medika− tion): vital bedrohliches serotonerges Syn− drom: – Neurologische Symptome: generalisierte Hyperreflexie, Tremor, Rigor, Akathisie, mo− torische Koordinationsstörungen, Myoklo− nien, zerebrale Anfälle, Parästhesien, Des− orientiertheit, Verwirrtheit, Halluzinatio− nen, Erregungszustände, agitiertes Delir, Somnolenz, Koma – Vegetative Symptome: Fieber, abdominelle Schmerzen, Übelkeit, Erbrechen, Diarrhoe, Schwitzen, arterielle Dysregulation (meist arterielle Hypertonie), Tachykardie

60.2 Was veranlassen Sie, und was würde ohne Ihr Eingreifen passieren? K Maßnahmen: Absetzen der serotonergen Me− !!! 60.3 Nennen Sie mindestens 4 potenziell ge− dikamente und intensive Überwachung des Patienten ggf. auf Intensivstation (Kontrolle fahrliche Interaktionsmechanismen zwischen von Puls, Blutdruck und Temperatur zunächst Psychopharmaka untereinander oder mit ande− alle 2 h, bei deutlichen Entgleisungen und In− ren Wirkstoffen! stabilität der Vitalparameter Monitoring; für

Substanz 1

Mechanismus Substanz 2

Mechanismus

Wechselwirkung

Paroxetin, Fluoxetin

Hemmung des Haloperidol, Pera− Enzyms zin, Risperidon, CYP 2D6 Quetiapin

Abbau durch CYP 2D6

Schnelleres Auftre− ten der Neurolepti− ka−Nebenwirkungen

Fluvoxamin

Hemmung des Clozapin Enzyms CYP 1A2

Abbau durch CYP 1A2

Bis zu 10−fach er− höhte Clozapin− Werte

Lithium

Serotoninkon− SSRI zentration im synaptischen Spalt q

Serotoninkonzentra− Serotonerges Syn− tion im synapti− drom schen Spalt q

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Substanz 1

Mechanismus Substanz 2

Mechanismus

Wechselwirkung

Lithium

Anregung einer Struma− bildung

Schilddrüsenhor− mone

SSRI

größtenteils hepatische Metabolisa− tion

Virostatika bei HIV− Infektion

Hepatische Metabo− Entgleisung der Vi− lisation rostatika−Spiegel, deutlichere Virosta− tika−Nebenwirkun− gen

Paroxetin, Citalopram

Leberenzym− Hemmung

Terfenadin

Verminderte hepati− Terfenadin q R sche Metabolisation Herzrhythmusstö− rungen

Fluvoxamin

Leberenzym− Hemmung

Theophyllin

Verminderte hepati− Früheres Auftreten sche Metabolisation der Theophyllin−Ne− benwirkungen

Johannis− kraut

Induktion des Enzyms CYP 3A4

Immunsuppressiva, Antikoagulanzien, Glykoside

Werden durch CYP 3A4 abgebaut

Reduktion der Wirkung von Sub− stanz 2

Johannis− kraut

Induktion des Enzyms CYP 3A4

Tetrazykline

Werden durch CYP 3A4 abgebaut

Photosensibilisie− rung

Hyperthyreose

Serotonerges Syndrom

Anticholinerges Syndrom

Verstärkte Wirkung serotonerger Substanzen

Verstärkte Wirkung anticholinerger Sub− stanzen, z. B. tri− und tetrazyklische Anti− depressiva, Antiparkinsonmittel, Biperiden, Antihistaminika, Phenothiazine

Unterschiedli− che Symptome

Ähnliche Symp− tome

Medikamentenanamnese K Schwitzen K Diarrhöe

K K K K K K K K

60.5 Welche Besonderheiten sind in der Psy− chopharmakotherapie älterer Patienten zu be− denken?

Trockene Haut und Schleimhäute Obstipation bis zum paralytischen Ileus Harnverhalt Mydriasis

Antworten und Kommentar

serotonergen Syndrom ab!

Diagnostik

Fall

60

!!! 60.4 Grenzen Sie das anticholinerge vom

Entstehung

183

Hyperthermie Tachykarde Herzrhythmusstörungen Agitiertes Delir Somnolenz, Koma

K Änderung von Verteilung und Elimination R häufig erhöhte Plasmaspiegel bei normaler Dosierung“ K Biochemische Veränderungen im ZNS R meist erhöhte pharmakodynamische Wirkung, im Einzelfall Wirkungsabschwächung

Fall 60 Seite 61 Aus J. Becker-Pfaff, St. Engel: Fallbuch Psychiatrie (ISBN 3-13-140181-8) © Georg Thieme Verlag Stuttgart 2006 Dieses Dokument ist nur für den persönlichen Gebrauch bestimmt und darf in keiner Form an Dritte weitergegeben werden!

K Höhere Anfälligkeit für Arzneimittelinterak− tionen, besonders bei additiven Effekten

K Fazit: Dosisanpassung und langsamere Dosis− steigerung!

KOMMENTAR

184

Fall

61 Antworten und Kommentar

Medikamenteninteraktionen: Viele psychiat− risch kranke Patienten benötigen mehrere ver− schiedene Medikamente. Insbesondere im statio− nären Bereich werden viele Patienten mit einer kombinierten Therapie aus Neuroleptika, Antide− pressiva, Sedativa und anderen Substanzen behan− delt. Während Klinikärzte häufig viele Substanzen gleichzeitig einsetzen, führt die Angst vor Neben− und Wechselwirkungen in der ambulanten Praxis häufig zu unterlassenen oder zu niedrig dosierten Medikamentenverordnungen. Die hoch dosierte medikamentöse Kombinationstherapie ist häufig ein Ausdruck der Hilflosigkeit, die schwer kranke Patienten bei Medizinern hervorrufen. Eine der wichtigsten Fragen bei der Pharmakotherapie lau− tet häufig: Warum wirkt das angesetzte Präparat nicht? Antworten können u. a. sein: Schwere der Erkrankung, zu niedrige Dosierung, zu kurze Zeit der Beobachtung, Einsatz von sich gegensei− tig in der Wirkung aufhebenden Medikamen− ten, erhöhter Nikotin− oder Kaffeegenuss (z. B. 20 Zigaretten am Tag schwächen die Wirkung von Olanzapin um 50 %), Magen− oder Darmer− krankungen, die die Resorption verhindern (Se− rumspiegelkontrollen der jeweiligen Medikamen− te können darauf hinweisen). Dementsprechend ist es sehr wichtig, über mögliche Interaktionen zwischen Medikamenten Bescheid zu wissen. Ei−

nige davon kann man schnell lernen, doch die Möglichkeit einer Interaktion sollte man immer im Hinterkopf behalten und lieber einmal zu viel als zu wenig in entsprechenden Werken nach− schlagen. (Beispiel: Warum variiert der Quick−Wert der marcumarisierten antidepressiv behandelten Patientin so? Weshalb muss sich der HIV−positive und therapierte Patient seit Einführung seines Neuroleptikums auf einmal jeden Morgen erbre− chen? Warum steigt der vorher gut eingestellte Augeninnendruck des Patienten nach Umstellung des Antidepressivums? Warum kommen gehäuft Asthmaanfälle bei einem Patienten vor, der mit einem Phasenprophylaktikum behandelt wird?) Besondere Probleme stellt dabei die Psychophar− makotherapie älterer Patienten (s. Antwort zur Frage 60.5). Am deutlichsten wird dies an der Ver− ordnungspraxis von Haloperidol: Während bei ei− nem akut psychotischen 30−jährigen Patienten Do− sen von 15–20 mg/d nicht ungewöhnlich sind, rei− chen bei einer 70−jährigen psychotischen Patientin 1–2 mg/d schon aus. Bei den zunehmend multimorbider werdenden Pa− tienten ist daher die interdisziplinäre Zusammen− arbeit ebenso von Bedeutung wie die umfassende Medikamentenanamnese über den eigenen Fach− bereich hinaus.

ZUSATZTHEMEN FÜR LERNGRUPPEN Weitere Interaktionen bei haufigen internistischen Krankheitsbildern und psychiatrischer Komorbiditat (z. B. Antikoagulation und Depression, Hyperthyreose und Schizophrenie) Bedeutung von Cytochrom−P450 fur die Psychopharmakologie Cholinerges und serotonerges System

Fall 61

Akute Belastungsreaktion

61.1 Stellen Sie eine Verdachtsdiagnose! Akute Belastungsreaktion; Begründung: wenige Tage zurückliegendes plötzlich eingetretenes be− lastendes Ereignis, niedergedrückte Stimmung, wechselnde affektive Stimmungen (Wut, Hass, Verzweiflung), Suizidalität 61.2 Nennen Sie weitere Störungen aus diesem Formenkreis! Wodurch unterscheiden sie sich von der Erkrankung der Patientin? Formenkreis der Störungen von Reaktionen auf Belastungen: K Posttraumatische Belastungsstörung: protra− hierte Reaktion auf traumatisierendes Ereignis

von außergewöhnlicher Schwere, wiederholte Erinnerung daran; Vermeiden von Situationen, die Erinnerung hervorrufen könnten (s. Fall 27) K Depressive Anpassungsreaktion: protrahierte Reaktion auf belastendes Ereignis, evtl. aus akuter Belastungsreaktion hervorgehend; de− pressive Symptomatik (s. Fall 33)

61.3 Was wären Indikationen für eine statio− näre Aufnahme bei dieser Verdachtsdiagnose? K Akute Suizidalität K Stupor K Schwere Erregungszustände

Fall 61 Seite 62 Aus J. Becker-Pfaff, St. Engel: Fallbuch Psychiatrie (ISBN 3-13-140181-8) © Georg Thieme Verlag Stuttgart 2006 Dieses Dokument ist nur für den persönlichen Gebrauch bestimmt und darf in keiner Form an Dritte weitergegeben werden!

K Patienten mit Symptomen, die durch Krisenin− tervention nicht ausreichend gemildert wer− den können (z. B. massive Rückzugstendenzen, fehlende Distanzierung von Suizidalität); cave: schnell wechselnde Gemütszustände (z. B. Teil− nahmslosigkeit, Angetriebensein)!

61.4 Beschreiben Sie die normale Trauerreak− tion! K 1. Phase (einige Tage): Schock, gefühlsmäßige Lähmung K 2. Phase (mehrere Wochen/Monate bis ca. 1 Jahr): Protest und Verleugnung, affektive Emp− findungen und Aktivität noch ganz auf verlo− renes Objekt gerichtet K 3. Phase (mehrere Jahre): Verzweiflung und Anerkennung des Verlustes, schmerzhaftes Verlusterleben, Ruhelosigkeit, Angst, Depressi− vität, sozialer Rückzug

K 4. Phase (ein bis mehrere Jahre): Trennung, Reorganisation der Beziehung zum verlorenen Objekt und zu neu gewonnen Objekten

61.5 Zählen Sie Hinweise auf eine patholo− gische Trauerreaktion auf! K Ausgeprägtes Gefühl der Wertlosigkeit K Starke Todeswünsche, Suizidalität K Entwicklung von Substanzmissbrauch oder −abhängigkeit K Übersteigerte Vorwürfe und Schuldgefühle K Emotionale Erstarrung K Einschränkungen in der Bewältigung von All− tagsaktivitäten K Verlängerter Trauerprozess K Starke Ambivalenz K Abkapselung und Verbitterung bzw. feindliche Einstellung gegenüber der Umwelt

KOMMENTAR

Ätiologie: Die akute Belastungsreaktion lässt sich direkt und eindeutig auf eine akute starke physi− sche und/oder psychische Traumatisierung zu− rückführen. Es kann sich dabei z. B. um eine schwere seelische Belastung oder ein tiefgreifend lebensveränderndes Ereignis handeln. Die Auslö− sesituation ist dabei notwendige Vorraussetzung, d. h. die Störung wäre ohne sie nicht aufgetreten. Dies steht im Kontrast zu anderen psychischen Er− krankungen, bei denen Auslöser zwar eine beson− dere Bedeutung haben können (z. B. affektive Stö− rungen, Schizophrenien), die aber in Verbindung mit anderen ätiologischen Faktoren auftreten. Be− deutsam für die Verarbeitung des auslösenden Er− eignisses ist nicht das Erlebnis an sich, sondern die prädisponierenden Faktoren der individuellen Per− sönlichkeit, v. a. die Erfahrungen und Einstellungen gegenüber eingreifenden Erlebnissen. Klinik: Leitsymptome sind Schreck, Angst und Depressivität, außerdem eher hysteriforme Reak− tionen: Wut, Eifersucht, Verfolgungswahn, Disso− ziativität (Derealisation, Depersonalisation). Bei charakterlich prädisponierten Menschen können neurotische Depressionen, Zwänge, vegetative und Konversionssymptome dominieren. Diagnostik: Die Diagnose ergibt sich aus Anam− nese (Traumatisierung) und klinischer Symptoma− tik.

Therapie: Im Vordergrund steht die Kriseninter− vention, die individuell auf den Patienten abge− stimmt werden sollte. An erster Stelle steht das Gespräch mit supportivem Charakter, um den Pa− tienten von seinem emotionalen Druck zu entlas− ten. Sinnvoll kann es auch sein, körperlichen Kon− takt in angemessener Form mit dem Patienten auf− zunehmen (z. B. Hand halten). Es ist hilfreich, Familienangehörige oder nahestehende Freunde in die Krisenintervention mit einzubeziehen. Me− dikamente sind dann notwendig, wenn der Pati− ent über ein Gespräch nicht ausreichend erreich− bar ist oder keine ausreichende Entlastung erfährt. Dabei kommen bedarfsmäßig als Mittel der 1. Wahl Benzodiazepine (z. B. Lorazepam 1–2,5 mg, Diazepam 5–10 mg) zum Einsatz, alternativ nie− derpotente Neuroleptika (z. B. Promethazin 25 mg, Perazin 25–50 mg) oder sedierende Antide− pressiva (z. B. Trimipramin 25–50 mg, Doxepin 25– 50 mg). Letztere eignen sich v. a., wenn zusätzlich Schlafstörungen auftreten. Eine längerfristige An− wendung von Psychopharmaka ist wegen der ra− schen Remission meist nicht erforderlich.

185

61 Antworten und Kommentar

Epidemiologie: Die akute Belastungsreaktion kann je nach individueller Disposition zum Zeit− punkt des Ereignisses jeden Menschen betreffen.

Differenzialdiagnosen: Depressive Reaktion, re− aktive Depression und abnorme Trauerreaktion stellen eigene Diagnosekriterien in der ICD−10 dar und werden durch den Verlauf (Dauer der Be− schwerden) abgegrenzt. Die normalen Reaktionen auf Belastungen können im Einzelfall durchaus diagnostische Schwierigkeiten bereiten. Hier sind Vorgeschichte, Art und Umfang der Beschwerden und Symptome hinweisend.

Fall

Definition: Andere Bezeichnungen für die akute Belastungsreaktion sind abnorme Erlebnisreakti− on, reaktive depressive Reaktion bzw. Entwicklung, Nervenzusammenbruch oder Krise. Es handelt sich um eine akute und vorübergehende, meistens schon innerhalb weniger Stunden bis Tage abklin− gende Reaktion auf ein belastendes Ereignis.

Prognose: Akute Belastungsreaktionen verlaufen sehr unterschiedlich. Sie können spontan abklin− gen, aber auch zu lebenslänglich andauernden neurotischen Entwicklungen führen, evtl. bis zur Berufsunfähigkeit.

Fall 61 Seite 62 Aus J. Becker-Pfaff, St. Engel: Fallbuch Psychiatrie (ISBN 3-13-140181-8) © Georg Thieme Verlag Stuttgart 2006 Dieses Dokument ist nur für den persönlichen Gebrauch bestimmt und darf in keiner Form an Dritte weitergegeben werden!

ZUSATZTHEMEN FÜR LERNGRUPPEN Posttraumatische Belastungsstorung Neurotische Neurasthenie, Konversionsneurose (z. B. hysterische Reaktionen)

Fall 62

Vaskuläre Demenz

62.1 Welche Verdachtsdiagnose stellen Sie? Vaskuläre Demenz; Begründung: Orientierungs− schwierigkeiten, Merkfähigkeitsstörungen, fluk− tuierender Wahn, 2 vaskuläre Risikofaktoren (Diabetes mellitus, arterielle Hypertonie), ver− mutlich 2 transitorische ischämische Attacken (= Ohnmachtsanfälle) in der Anamnese; langsamer und fluktuierender Verlauf; Inkontinenz und Gehprobleme evtl. aufgrund weiterer arterioskle− rotischer Veränderungen

186

Fall

62

62.2 Welche Maßnahmen leiten Sie zur Diag− nosesicherung und Differenzialdiagnostik ein?

Antworten und Kommentar

Maßnahme

Suche nach

Blutdruck, Puls

Hyper− oder hypoten− siver Krise, Arrhyth− mie, akuter Embolie

Blutzucker

Hyper− oder Hypo− glykämie

Körperliche Untersu− Neurologische Aus− chung mit neurologi− fälle schem Schwerpunkt Routinelabor (Elekt− rolyte, Leber−, Pan− kreas−, Herzenzyme, LDL, CRP, BSG, Quick, PTT, TSH, Blutbild, Vitamin B1 und B12)

Akuten Stoffwechs− elentgleisungen, ali− mentären Mangelzu− ständen

Maßnahme

Suche nach

Schädel−CT

Infarkten, Hämorrha− gien

Doppler−Sonographie Stenosen der hirnversorgenden Gefäße EKG, Röntgen−Thorax, Arrhythmie, Throm− Echokardiographie ben, Herzinsuffizienz EEG

Epilepsie, Stoffwech− selstörungen

Psychologische Tests, Kognitiven Einschrän− z. B. Mini−Mental−Sta− kungen tus, Benton−Test 62.3 Bestätigt die CT−Aufnahme Ihre Diagnose? Ja; Begründung: ausgedehnte beidseitige thala− mische Infarzierungen, linksseitiger Infarkt des Versorgungsgebietes der A. cerebri posterior 62.4 Definieren Sie den Begriff Demenz! K Demenz im engeren Sinne: objektivierbarer Verlust vorher erworbener kognitiver Fähig− keiten (z. B. Gedächtnis, Denken, Konzentrati− on), in späteren Erkrankungsphasen häufig mit Veränderungen der Persönlichkeit ein− hergehend K Demenz im weiteren Sinne: allgemeiner psy− chischer Leistungsverlust infolge einer Groß− hirnerkrankung alle psychischen Funktionen betreffend bis hin zur vegetativen Steuerung der vitalen Funktionen

KOMMENTAR Definition: Demenz s. Antwort zur Frage 62.4. Bei der vaskulären Demenz kommt es infolge vasku− lärer Schädigungen (v. a. arterielle Hypertonie) zu einer disseminierten Hirnparenchymschädigung, in deren Folge die Gehirnfunktionen beeinträchtigt werden. Epidemiologie: Mit einem Anteil von 20 % an al− len Demenzen des Seniums sind die vaskulären Demenzen die zweithäufigsten nach der Demenz vom Alzheimer−Typ. Allerdings sind die epidemio− logischen Daten aufgrund uneinheitlicher Klassifi−

kationen und der nur post mortem möglichen Diagnosebestätigung unsicher. Ätiologie: Die vaskulären Demenzen lassen sich je nach Zahl und Lage von Infarkten und Angiopa− thien in verschiedene Typen einteilen. Multiple Infarkte lassen sich von strategischen Infarkten (kleine Infarkte an kritischen Stellen) und von De− myelinisierungen des Marklagers (Morbus Bins− wanger) nach jahrelangem arteriellen Hypertonus unterscheiden. Allen Bildern liegt eine Arterioskle− rose zugrunde, die zum Untergang von Nervenzel− len und zur Unterbrechung neuronaler Verbin−

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dungsbahnen führt. Die Arteriosklerose ist v. a. durch typische vaskuläre Risikofaktoren (z. B. Li− pidstoffwechselstörungen, arterielle Hypertonie, Diabetes mellitus, Adipositas, Nikotinabusus) und durch hereditäre oder entzündliche Angiopathien bedingt. Die vaskuläre Demenz kann also Aus− druck einer zerebral lokalisierten arteriellen Ver− schlusskrankheit sein.

Differenzialdiagnosen: s. Antwort zur Frage 62.2. Andere Demenzformen müssen abgegrenzt und ausgeschlossen werden (v. a. potenziell behandel− bare wie entzündliche, metabolisch oder alimentär bedingte). Es reicht nicht aus, aus dem Vorliegen einer arteriellen Verschlusskrankheit und deren Risikofaktoren sofort auf eine vaskuläre Demenz zu schließen, da eine arterielle Verschlusskrank− heit auch Risikofaktor für andere Demenzformen (z. B. Alzheimer−Demenz) ist. Der manchmal auf−

Prognose: Der Verlauf einer vaskulären Demenz ist schwer vorhersehbar; die Lebenserwartung der Patienten ist jedoch häufig verkürzt. Häufige To− desursachen sind Pneumonien (durch lange Bett− lägerigkeit), Schlaganfälle und akute Koronarsyn− drome.

187

62 Antworten und Kommentar

Diagnostik: s. Antwort zur Frage 62.2 und 62.3. Für eine vaskuläre Demenz spricht das Vorliegen einer Demenz in Kombination mit Hinweisen auf zerebrovaskuläre Defekte (z. B. Gefäßrisiko− faktoren; in CT/MRT vaskulär erklärbare Läsionen in ausreichender Anzahl vorwiegend im Marklager der Großhirnhemisphären; klinische Zeichen zent− raler fokaler Läsionen; diskontinuierliche Entwick− lung, oft Verschlechterung im Rahmen eines er− neuten vaskulären Ereignisses). Eine endgültige Diagnosebestätigung ist nur durch eine histopa− thologische Untersuchung des Gehirns, also post mortem, möglich.

Therapie: Durch Kontrolle der Risikofaktoren soll die Progredienz der Demenz aufgehalten wer− den. Eine effektive Blutdrucksenkung steht dabei im Vordergrund (optimal systolisch 135– 150 mmHg), wobei der Blutdruck nicht zu schnell zu stark gesenkt werden darf, um keine Minder− perfusion des Gehirns auszulösen. Der Psychiater muss internistische Grunderkrankungen beden− ken und interdisziplinär behandeln. Thrombozy− tenaggregationshemmer (z. B. Acetylsalicylsäure 100–300 mg/d oder bei Vorhofflimmern und Vor− hofthromben Marcumar) können protektiv wirken. Zur Behandlung der Symptomatik werden Ace− tylcholinesterasehemmer (z. B. Rivastigmin 3– 6 mg/d, Donepezil 10–20 mg/d) oder Memantine (10–20 mg/d) verwendet. Die im Fall beispielhaft geschilderte wahnhafte Symptomatik ist sehr schwierig zu behandeln. Die Gabe von Neurolepti− ka ist aufgrund der Vorschädigung des Gehirns sowie des veränderten Stoffwechsels bei älteren Menschen und den häufig vorliegenden Komedi− kationen kritisch zu bewerten. Sie sind in jedem Fall sehr niedrig dosiert anzuwenden, z. B. Halope− ridol 0,5 mg/d. Wegen erhöhter Mortalität unter atypischen Neuroleptika wird von den bisher üb− licherweise eingesetzten Risperidon oder Olanza− pin abgeraten. Alternativ wäre der Einsatz von Clo− zapin (12,5–75 mg) oder Quetiapin (25–100 mg) zu erwägen. Neuere Studien bezüglich deren Effekts sind abzuwarten. Außerdem sind kognitives Trai− ning und Beratung der Angehörigen wichtig.

Fall

Klinik: Die vaskuläre Demenz kann alle Sympto− me einer Demenz zeigen, z. B. Gedächtnisverlust, Orientierungsstörungen, Persönlichkeitsverän− derungen. Zusätzlich und diagnostisch richtungs− weisend kommen bei ihr bedingt durch ihre vas− kuläre Pathogenese auch andere neurologische Ausfälle vor (z. B. motorische und sensible Ausfäl− le, positive Pyramidenbahnzeichen, Hemiparese, Kleinhirnsymptome, rezidivierende Stürze, Inkon− tinenz). Typisch für eine vaskuläre Demenz und ausgeprägter als bei der Demenz vom Alzheimer− Typ sind zudem: Störungen des Affektes, des An− triebs, der Konzentration, der Vigilanz und der Auffassung. Oft ist sie mit anderen arteriosklero− tisch bedingten Erkrankungen des Körpers assozi− iert (z. B. koronare Herzkrankheit, periphere arte− rielle Verschlusskrankheit).

tretende Wahn lässt an eine schizophrene Er− krankung denken, die allerdings im Senium höchst ungewöhnlich ist und ohne Orientierungs− störungen einhergehen würde. Manchmal wirken die Patienten, als würden sie unter einer akuten Verwirrtheit leiden, eine Fremdanamnese kann dann Auskunft über die Zeitdauer des Symptoms geben. Bei der Abgrenzung gegen eine Spätdepres− sion mit Pseudodemenz muss man vor allem auf die Stimmungslage der Patienten achten.

ZUSATZTHEMEN FÜR LERNGRUPPEN Typen der vaskularen Demenz Psychologische Tests bei Demenz Wechselwirkungen von Neuroleptika mit internistisch haufig verordneten Medikamenten Therapie der arteriellen Hypertonie

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Fall 63

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Katatonie

63.1 Nennen Sie eine Verdachtsdiagnose und 2 Differenzialdiagnosen! K Verdachtsdiagnose: Katatonie; Begründung: Steifigkeit und Starre; Nichtreagieren auf An− sprache; Auslöser in der Anamnese (Erre− gungszustand, schlaflose Nacht) Differenzialdiagnosen: K Akinetische Krise bei Morbus Parkinson; da− gegen spricht, dass sich die Gliedmaßen nicht mehr passiv bewegen lassen, das wäre bei der akinetischen Krise noch der Fall K Malignes neuroleptisches Syndrom (MNS), dagegen spricht die Einnahme eines niederpo− tenten Neuroleptikums erst seit 2 Tagen bei einer älteren Frau (häufiger bei Männern und unter 40 Jahren); MNS entwickelt sich meist innerhalb von 2 Wochen nach Beginn einer hochdosierten Neuroleptikatherapie; es fehlen folgende Leitsymptome: Fieber, Tachykardie, Tachypnoe, Schwitzen, Blutdrucklabilität

63.2 Nimmt die Patientin wahr, was Sie tun? Ja, selbst bei geschlossenen Augen und fehlender Reaktion auf Ansprache nimmt die Patientin ihre Umgebung genau wahr 63.3 Welche Ursachen kann ein solcher Zu− stand haben? K Akut−katatone Schizophrenie K Stupor bei affektiven Störungen K Schwere Belastungsreaktion 63.4 Wie gehen Sie therapeutisch vor? Cave: lebensbedrohlicher psychiatrischer Notfall! K Benzodiazepine hochdosiert, z. B. Lorazepam (2,5–5 mg i. v.) K Adjuvant hochpotente Neuroleptika, z. B. Ha− loperidol (10 mg i. v.) oder Olanzapin (10 mg p.o.)

KOMMENTAR

Fall

63

Definition: Die Katatonie zeichnet sich durch eine motorische Erstarrung mit ausgeprägtem Rück− zugsverhalten aus, aber auch durch Erregungszu− stände. Es können aber auch Symptome einer Schi− zophrenie auftreten (s. Fall 32).

Antworten und Kommentar

Epidemiologie: Schizophrenien mit katatonem Verlauf sind eher selten (5 % der Schizophrenien). Ätiologie: Ein katatoner Zustand kann im Zusam− menhang mit verschiedenen psychiatrischen Er− krankungen vorkommen (s. Antwort zur Frage 63.3). Die Ursachen der katatonen Form der Schi− zophrenie unterscheiden sich nicht von denen der anderen Schizophrenien.

Klinik: Betroffene Patienten wirken wie verstei− nert und reagieren nicht auf Kommunikations− versuche, sind aber bei klarem Bewusstsein. Oder aber sie befinden sich in einem akuten Erregungs− zustand mit Bewegungsstereotypien, rhythmi− schen Hyperkinesen und Manierismen. Bei der perniziösen Katatonie weisen die Patienten zu− sätzlich Fieber (bis 408C), Exsikkosezeichen, Tachy− kardie und arterielle Hypertonie auf. Diagnostik: Neben der körperlichen Untersu− chung ist v. a. die Fremdanamnese von Bedeu− tung, bei der besonderen Wert auf die Exploration von Vorerkrankungen und Medikation gelegt wer−

Malignes neuroleptisches Syndrom Epidemiologie

0,01–0,5 % aller mit typischen Neuroleptika behandelten Patienten; Rezidiv− risiko: 15 %

Ätiopathogenese

Neuroleptikatherapie, v. a. Beginn oder Dosissteigerung; wahrscheinlich: Dopaminblockade R Funktionsstörung in Basalganglien und Thalamus

Klinik

Bewusstseinsstörung bis hin zum Koma, Rigor, Flexibilitas cerea (wäch− serne Beweglichkeit), Akinese, vegetative Symptome (Fieber, Tachykardie, Hypertonie, selten Hypotonie, Dyspnoe, Hyperventilation, Hyperhidrosis); Herz−Kreislaufversagen, Atemdepression, Nierenversagen

Diagnostik

Labor (CK q, Leukozyten q)

Therapie

Absetzen der Neuroleptika, evtl. intensivmedizinische Überwachung, Volu− mengabe, Kühlung, Dantrolen (Schnellinfusion mit 2,5 mg/kg KG i. v. über 15 min, danach 7,5 mg/kg KG i. v. oder 50–150 mg p.o. in 24 h), evtl. Bromo− criptin oder Amantadin

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den sollte. Notfalllabor, Schädel−CT oder −MRT und EEG sollen Differenzialdiagnosen ausschließen und Hinweise auf eine perniziöse Katatonie liefern (z. B. Elektrolytverschiebungen).

insbesondere die Differenzialdiagnose malignes neuroleptisches Syndrom dar, weil die Sympto− matik ähnlich, die Therapie jedoch gegensätzlich ist (s. Tab.).

Differenzialdiagnosen: Es kommen schwere In− toxikationen, zerebrale Störungen (z. B. Blutung, Entzündung, Epilepsie) und andere Komaursa− chen (z. B. hepatotoxische Enzephalopathie) in Frage. Zusätzlich tritt bei diesen Erkrankungen in der Regel – im Gegensatz zur Katatonie – eine Be− wusstseinsstörung auf. Eine Schwierigkeit stellt

Therapie: s. Antwort zur Frage 63.3. Prognose: Die Prognose der katatonen Form der Schizophrenie gilt als relativ günstig. Die Remissi− onsrate ist etwa doppelt so hoch wie bei den übri− gen Schizophrenien, häufig findet sich ein phasen− hafter Verlauf.

ZUSATZTHEMEN FÜR LERNGRUPPEN Koma Ursachen der Katatonie Eletrokonvulsionstherapie, Indikationen bei Katatonie Mutismus

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Fall 64

Histrionische Persönlichkeitsstörung

64.3 Welche weiteren Symptome gibt es bei Ihrer Verdachtsdiagnose? K Erhöhte Suggestibilität K Dauerndes Verlangen nach Anerkennung K Übertriebene Nähe bei sozialen Kontakten 64.4 Welche therapeutische Option ist zur Behandlung dieser Erkrankung am wichtigsten? Psychoanalyse: tiefenpsychologisch fundierte oder analytische Therapie (jeweils einzeln oder in der Gruppe), s. Fall 24

KOMMENTAR Definition: Die histrionische (alt: hysterische) Persönlichkeitsstörung ist gekennzeichnet durch übertriebenen Ausdruck von Gefühlen (Dramati− sierung), leichte Beeinflussbarkeit durch Personen oder Umgebung, labile Affektivität, andauerndes Verlangen nach Aufmerksamkeit, verführerisches Erscheinen oder Verhalten sowie übermäßiges In− teresse an körperlicher Attraktivität. Epidemiologie: Die histrionische Persönlichkeits− störung gehört zu den häufigeren Persönlichkeits− störungen. Die Diagnosestellung erfolgt häufiger bei Frauen. Dabei liegt die Punktprävalenz zwi− schen 0,5 und 3 %.

64 Antworten und Kommentar

64.2 Nennen Sie eine Verdachts− und eine Differenzialdiagnose, die diesem Zustand zu− grunde liegen können! K Verdachtsdiagnose: Persönlichkeitsstörung; Begründung: – Verlangen nach Aufregung, in der die eige− ne Person im Mittelpunkt steht – theatralische Selbstdarstellung mit über− triebenem Gefühlsausdruck – unangemessenes, z. T. provokantes Verhal− ten – erhöhte Kränkbarkeit – Mobilisieren und Manipulieren der Umge− bung

K Differenzialdiagnose: Psychose; Begründung: Schlange“ könnte auch Halluzination sein, Hyperventilation und Erregungszustand Aus− druck von Angsterleben im Rahmen einer psy− chotischen Dekompensation

Fall

64.1 Wie bezeichnen Sie den Zustand der Patientin? Histrionischer (hysterischer) Erregungszustand mit Hyperventilation

Ätiopathogenese: Die Genese der Hysterie war Ende des 19. Jahrhunderts von großem wissen− schaftlichen Interesse. Zum Einen führte man hys− terische Symptome auf Suggestion (Eingeredetes), Autosuggestion (Eingebildetes) oder sogar Simula− tion (vorgetäuschte Beschwerden) zurück, zum Anderen wurde die Hysterie als eine definierte, zuerst neurologische, dann aber psychische eigen− ständige Erkrankung angesehen. Sigmund Freud führte erstmals hysterische Phänomene und Vor− gänge auf eine unbewusste Verarbeitung intrapsy− chischer Konflikte zurück. Er entwickelte die ödi− pale Konflikthypothese der Hysterie: Libidinös (lustvoll) gefärbte Bedürfnisse gegenüber dem ge−

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gengeschlechtlichen Elternteil, ebenso aggressiv gefärbte gegenüber dem gleichgeschlechtlichen Elternteil werden verdrängt, bleiben aber unbe− wusst wirksam. Das Konversionssymptom (z. B. ei− ne Lähmung) stellt dabei eine Kompromissbildung dar, die den Wunsch oder den Versuch der Erfül− lung ausdrückt. Wie auch bei den anderen Persönlichkeitsstörun− gen geht man heute davon aus, dass genetische Veranlagung und neurobiologisch bedingte Merk− male eine Grundlage darstellen, auf der sich, ab− hängig von den äußeren Bedingungen, unter− schiedliche Störungen entwickeln können.

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Fall

65 Antworten und Kommentar

Klinik: s. Antwort zur Frage 64.3. Das Bedürfnis der Patienten, mehr zu scheinen, als sie sind, kann sich auf vielfältige Weise äußern: Übertreibungen, Märchengeschichten“, Hochstapelei, Renommier− gehabe, Prahlerei, Pseudologie (= frei erfundene, echt“ wirkende Geschichten), Exzentrik, Simula− tion von Krankheiten, Lähmungserscheinungen, funktionelle Krampfanfälle. Patienten mit histrio− nischen Persönlichkeitszügen gestalten ihre Bezie− hungen häufig so, dass sie mittels einer geschick− ten Rollenverteilung die Bezugsperson manipu− lieren, sich so zu verhalten, dass sie die Hysterie der Patienten unterstützt. Man ist von solchen Pa− tienten meist fasziniert und angezogen und da− durch besonders anfällig für ein Mitagieren. Zur histrionischen Persönlichkeitsstörung gehören auch die folgenden Konversionsstörungen: disso− ziative Störungen (Amnesie, Fugue, Stupor), Trance und Besessenheitszustände sowie die multiple Persönlichkeitsstörung. Narzisstische und/oder

Borderline−Persönlichkeitsstörung sind oft mit der histrionischen kombiniert. Diagnostik: Die Diagnose ist meist schwierig zu stellen. Wegweisend sind diagnostische Inter− views. Auch kommen – wie bei allen Persönlich− keitsstörungen – testpsychologische Manuals, z. B. Freiburger Persönlichkeits−Inventar (FPI), Münchner Persönlichkeitstest (MPT), zum Einsatz. Differenzialdiagnosen: Ausgeschlossen werden muss jedes andere psychiatrische Krankheitsbild neben symptomatischen Ursachen. Therapie: Die Therapie der histrionischen Persön− lichkeitsstörung ist eine Domäne der Psychoana− lyse (s. Fall 24). Aber auch andere therapeutische Verfahren sind wirksam und für die Bewältigung der Alltagsprobleme des Patienten hilfreich, z. B. kognitive Verhaltenstherapie, Psychodrama, tie− fenpsychologisch fundierte Psychotherapie. Medikamentös werden z. B. depressive Symptome mit Antidepressiva behandelt (s. Fall 21). Im aku− ten Stadium, z. B. bei Hyperventilationstetanie, kommen Benzodiazepine (Diazepam 10 mg p.o. oder i.v.) zum Einsatz. Prognose: Hystrionische Störungen haben unbe− handelt eine Tendenz zur Verfestigung und Chro− nifizierung. Das Krankheitsbild kann jedoch güns− tig durch Psychoanalyse beeinflusst werden. Meist ist eine langjährige (über 5 Jahre) hochfrequente Therapie notwendig, um eine Verbesserung der Symptomatik zu erreichen.

ZUSATZTHEMEN FÜR LERNGRUPPEN Andere Personlichkeitsstorungen (z. B. narzisstische Personlichkeitsstorung)  dipaler Konflikt, Kastrationskomplex und die Bedeutung unbewusster Phantasien O Neurotische Symptome als Kompromissbildung Inzest, Perversion und Sexualstorungen

Fall 65

Neuroleptika

65.1 Wie bezeichnen Sie die Symptomatik der Patientin? Was ist die Ursache dafür? K Symptomatik: Extrapyramidal−motorische Störungen (Akathisie [Beinunruhe], Muskel− krämpfe), anticholinerge Nebenwirkung (Sehstörungen, Akkomodationsstörungen) K Ursache: typische Neuroleptika 65.2 Was schlagen Sie der Patientin vor? K Akutbehandlung der extrapyramidal−motori− schen Störungen: Biperiden 4 mg p.o./i. v.; bei i. v.−Gabe kommt es fast sofort zu einer Symp− tomverbesserung, bei p.o.−Gabe nach ca. 10–

20 min; eine i. v.−Gabe rechtfertigt sich z. B. bei schweren Zungen− und Schlundkrämpfen sowie Augenmuskelkrämpfen K Umstellung auf nebenwirkungsarmes atypi− sches Neuroleptikum, z. B. Olanzapin 10 mg/d, Aripiprazol 15 mg/d

65.3 Nennen Sie Einteilungen der Neuroleptika und Beispiele für die einzelnen Gruppen! K Einteilung nach chemischer Struktur: – Trizyklische Neuroleptika (Phenothiazine, Thioxanthene), z. B. Levomepromazin, Thio− ridazin, Perazin, Chlorprothixen

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– Butyrophenone und Diphenylbutylpiperidi− ne, z. B. Benperidol, Haloperidol, Fluspirilen – Benzamide, z. B. Sulpirid – Chemisch neuartige Antipsychotika, z. B. Risperidon, Zotepin K Einteilung nach neuroleptischer Potenz: – Hochpotente Neuroleptika, z. B. Haloperidol, Benperidol, Olanzapin – Mittelpotente Neuroleptika, z. B. Sulpirid, Perazin – Niederpotente Neuroleptika, z. B. Melperon, Chlorprothixen K Klinische Einteilung: – Typische (klassische) Neuroleptika, z. B. Haloperidol, Perazin – Atypische (moderne) Neuroleptika, z. B. Olanzapin, Risperidon, Zotepin

65.4 Auf welche Neurotransmittersysteme wirken Neuroleptika? An welchen lösen sie erwünschte, an welchen unerwünschte Wir− kungen aus? K Dopaminerges System: erwünschte und uner− wünschte Wirkungen

K Serotonerges System: erwünschte Wirkungen K Histaminerges System: unerwünschte Wirkun− gen K Adrenerges System: unerwünschte Wirkungen K Cholinerges System: unerwünschte Wirkun− gen

65.5 Zählen Sie Indikationsgebiete von Neuro− leptika auf! K Schizophrenie (Positiv− und Negativ−Sympto− matik; s. Fall 59) K Schizoaffektive Störung K Manie K Organisches Psychosyndrom K Demenz K Verhaltensstörungen im Kindesalter K Unruhe− und Erregungszustände (psychoti− scher und nichtpsychotischer Genese) K Delir K Persönlichkeitsstörungen K Schmerzsyndrome (Neuroleptanalgesie) K Hyperkinetische Erkrankungen K Übelkeit, Erbrechen

Einteilung: s. Antwort zur Frage 65.3.

vomepromazin), Tachykardie und Schwindel. Die Hemmung des cholinergen Systems verur− sacht ebenfalls unerwünschte Wirkungen wie Mundtrockenheit, Akkomodationsstörungen, Bla− senentleerungsstörungen bis hin zum Harnverhalt und Obstipation. Klinisch kann man außerdem häufig ein Nachlassen der kognitiven Leistungen bei Einsatz stark anticholinerg wirkender Neuro− leptika (z. B. Chlorprothixen) beobachten. Während typische Neuroleptika verschiedene Neurotransmittersysteme hemmen oder aktivie− ren, zeigen atypische Neuroleptika ein differen− zierteres Wirkprofil. Diese binden meist aus− schließlich an serotonerge und dopaminerge Re− zeptoren, so dass v. a. eine Beeinflussung der psychotischen Positiv− und Negativ−Symptomatik erreicht wird. Unerwünschte Wirkungen (v. a. extrapyramidal−motorische Störungen) konnten minimiert werden. Das stellt einen wesentlichen Beitrag zur Verbesserung der Patientencompliance dar.

65 Antworten und Kommentar

Wirkmechanismus und Wirkung: Die Wirkun− gen der Neuroleptika erklären sich durch ihre Be− einflussung der verschiedenen Neurotransmitter− systeme (s. Antwort zur Frage 65.4). Ein Neurotransmitteranstieg im dopaminergen System ist für psychotische Symptome verant− wortlich. Alle Neuroleptika hemmen diesen Dopa− minanstieg. Das dopaminerge System besteht aus 4 Bahnen: nigrostriatales, mesolimbisches, meso− kortikales und tuberoinfundibuläres System. Neu− roleptika zeigen hier verschiedene Wirkungen: ex− trapyramidal−motorische Störungen (nigrostriata− les System), Milderung von Positiv− (mesolimbisches System) und Negativsymptoma− tik (mesokortikales System), Prolaktinanstieg (tu− beroinfundibuläres System). Bei Transmitterüberschuss im serotonergen Sys− tem treten ebenfalls psychotische Symptome auf, aber auch Depressivität, Angst, Schlafstörungen und Schmerzsyndrome. Durch Blockade der Sero− toninrezeptoren werden v. a. Minus−Symptomatik und extrapyramidal−motorische Störungen redu− ziert. Die Hemmung des histaminergen Systems wirkt sedierend und zentral dämpfend. Bei der Akutbe− handlung psychotischer Zustände, bei Erregungs− zuständen oder Schlafstörungen kann diese phar− makologische Eigenschaft hilfreich sein (z. B. lyti− scher Cocktail“: Haloperidol 10–20 mg, Diazepam 10–15 mg, Promethazin 50 mg). Bei der längerfris− tigen Behandlung ist dies unerwünscht. Wird das adrenerge System gehemmt, treten v. a. unerwünschte Wirkungen auf: Hypotonie (v. a. Le−

Fall

KOMMENTAR

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Unerwünschte Wirkungen: Die wichtigsten un− erwünschten Wirkungen sind extrapyramidal−mo− torische Symptome. Man unterscheidet: K Frühdyskinesien: akute hyper−, dyskinetische oder dystone Bewegungsstörungen K Parkinsonoide: Hypo−, Amimie, kleinschritti− ger Gang, Rigor, Tremor, Akinese K Akathisie: Sitzunruhe meist verbunden mit Tasikinesie (Drang nach Bewegung) K Tardive Spätdyskinesien: verzögert auftreten− de hyperkinetische häufig irreversible Dauer− syndrome vorwiegend im Gesichtsbereich, aber auch in distalen Muskelgruppen.

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Neben den extrapyramidal−motorischen Neben− wirkungen und anderen o.g. unerwünschten Wir− kungen kommen vor: K Appetitsteigerung, Gewichtszunahme, Diabe− tes mellitus, Hyperlipidämie K Vorübergehende Leberfunktionsstörungen K QT−Streckenverlängerung (Risiko für Auftreten von Torsades−de−pointes−Tachykardien) K Blutbildveränderungen (z. B. Agranulozytose bei Clozapin) Eine gefürchtete Komplikation bei Neuroleptika− gabe ist das maligne neuroleptische Syndrom (s. Fall 63) mit einer Mortalität von bis zu 20 %. Dies geht einher mit extrapyramidal−motorischen

Störungen, Bewusstseinsstörungen, Kreislaufstö− rungen, hohem Fieber und bedarf neben dem Ab− setzen der Neuroleptika einer intensivmedizini− schen Überwachung. Indikationen: s. Antwort zur Frage 65.5. Neuro− leptika werden nicht krankheitsspezifisch, son− dern symptom− und syndromspezifisch ange− wandt. Dosierung: Die Dosierung richtet sich nach der Art der Symptomatik, bei der Neuroleptika ange− wendet werden sollen, z. B. Schizophrenie s. Fall 59.

ZUSATZTHEMEN FÜR LERNGRUPPEN Depot−Neuroleptika Rezidivprophylaxe Interaktionen mit anderen Pharmaka

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Anhang

Anhang 193

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Quellenverzeichnis der Abbildungen Förstl, H. (Hrsg.), Lehrbuch der Gerontopsy− chiatrie und −psychotherapie, 2. Auflage, Georg Thieme Verlag, Stuttgart, New York, 2003 Fall 8, Fall 17, Fall 62 Gerlach, R., Bickel, A., Fallbuch Neurologie, Georg Thieme Verlag, Stuttgart, New York, 2005 Fall 44, Fall 53 (23 )

Anhang 194

Herpertz, S. C., Saß, H., Persönlichkeitsstörun− gen, Georg Thieme Verlag, Stuttgart, New York, 2003 Fall 20, Fall 38 Kampfhammer, H.−P., Gündel, H. (Hrsg.), Psy− chotherapie der Somatisierungsstörungen, Georg Thieme Verlag, Stuttgart, New York, 2001 Fall 37

Klinge, R., Das Elektrokardiogramm, 6. Auflage, Georg Thieme Verlag, Stuttgart, New York, 1992 Fall 1 Möller, H.−J. et al., Duale Reihe Psychiatrie und Psychotherapie, 2. Auflage, Georg Thieme Ver− lag, Stuttgart, New York, 2001 Fall 6, Fall 9, Fall 12, Fall 15, Fall 19, Fall 37, Fall 39, Fall 43 Reiser, M. et al., Duale Reihe Radiologie, Georg Thieme Verlag, Stuttgart, New York, 2004 Fall 26, Fall 53 Senf, W., Broda, M., Praxis der Psychotherapie, 3. Auflage, Georg Thieme Verlag, Stuttgart, New York, 2005 Fall 24

Quellenverzeichnis der Tabellen Beyreuther, K. et al., Demenzen – Grundlagen und Klinik, Georg Thieme Verlag, Stuttgart, New York, 2002 Fall 44

Möller, H.−J., et al., Duale Reihe Psychiatrie und Psychotherapie, 2. Auflage, Georg Thieme Verlag, Stuttgart, New York, 2001 Fall 41, Fall 46

Grehl, H., Reinhardt, F., Checkliste Neurologie, Georg Thieme Verlag, Stuttgart, New York, 2000 Fall 2 (23 )

Payk, T., Checkliste Psychiatrie und Psychothe− rapie, 4. Auflage, Georg Thieme Verlag, Stutt− gart, New York, 2003 Fall 1 (modifiziert), Fall 4, Fall 15

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Internationale Klassifikation psychischer Störungen, 10. Revision 1991 (ICD 10) der Weltgesundheitsorganisation, Kapitel V (F) Klinisch−diagnostische Leitlinien

F 06.33 organische gemischte affektive Störung F 06.4 organische Angststörung F 06.5 organische dissoziative Störung F 06.6 organische emotionale labile oder asthenische Störung

Überblick über die zwei− bis fünfstelligen diagnostischen Kategorien (gekürzt) F0

Organische einschließlich symptoma− tischer psychischer Störungen bei Alzheimer−Krankheit mit frühem Beginn (Typ 2) mit spätem Beginn (Typ 1) atypische oder gemischte Form

F 01 vaskuläre Demenz F 01.0 vaskuläre Demenz mit akutem Beginn F 01.1 Multiinfarktdemenz (vorwie− gend kortikal) F 01.2 subkortikale vaskuläre Demenz F 01.3 gemischte (kortikale und sub− kortikale) vaskuläre Demenz F 02 Demenz bei andernorts klassifizierten Er− krankungen F 02.0 bei Pick’scher Erkrankung F 02.1 bei Creutzfeldt−Jacob−Erkran− kung F 02.2 bei Huntington−Erkrankung F 02.3 bei Parkinson−Erkrankung F 02.4 bei HIV−Infektion F 03 nicht näher bezeichnete Demenz F 04 organisches, amnestisches Syndrom (Kor− sakow−Syndrom), nicht durch Drogen oder psychotrope Substanzen bedingt F 05 Delir, nicht durch Alkohol oder psychotro− pe Substanzen bedingt F 05.0 Delir ohne Demenz F 05.1 Delir bei Demenz F 06 andere psychische Störungen aufgrund ei− ner Schädigung oder Funktionsstörung des Gehirns oder einer körperlichen Er− krankung F 06.0 organische Halluzinose F 06.1 organische katatone Störung F 06.2 organische wahnhafte (schizo− phreniforme) Störung F 06.3 organische affektive Störung F 06.30 organische manische Störung F 06.31 organische bipolare Störung F 06.32 organische depressive Störung

F 07 Persönlichkeits− und Verhaltensstörungen aufgrund einer Erkrankung, Schädigung oder Funktionsstörung des Gehirns F 07.0 organische Persönlichkeitsstö− rung F 07.1 postenzephalitisches Syndrom F 07.2 organisches Psychosyndrom nach Schädel−Hirn−Trauma F1

Psychische und Verhaltensstörungen durch psychotrope Substanzen F 10 Störungen durch Alkohol F 11 Störungen durch Opioide F 12 Störungen durch Cannabinoide F 13 Störungen durch Sedativa oder Hypnotika F 14 Störungen durch Kokain F 15 Störungen durch andere Stimu− lanzien einschließlich Koffein F 16 Störungen durch Halluzino− gene F 17 Störungen durch Tabak F 18 Störungen durch flüchtige Lö− sungsmittel F 19 Störungen durch multiplen Substanzgebrauch und Konsum anderer psychotroper Substan− zen Die 4. und 5. Stelle beschreiben das kli− nische Erscheinungsbild: F 1x.0 akute Intoxikation .00 ohne Komplikationen .01 mit Verletzung oder anderer körperlicher Schädigung .02 mit anderer medizinischer Komplikation .03 mit Delir .04 mit Wahrnehmungsstörungen .05 mit Koma .06 mit Krampfanfällen .07 pathologischer Rausch

Anhang

F 00 Demenz F 00.0 F 00.1 F 00.2

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F2

Schizophrenie, schizotype und wahn− hafte Störungen

F 20 Schizophrenie F 20.0 paranoide Schizophrenie F 20.1 hebephrene Schizophrenie F 20.2 katatone Schizophrenie F 20.3 undifferenzierte Schizophrenie F 20.4 postschizophrene Depression F 20.5 schizophrenes Residuum F 20.6 Schizophrenia simplex F 21 schizotype Störung F 22 anhaltende wahnhafte Störungen

Anhang

F 23 vorübergehende akute psychotische Stö− rungen F 24 induzierte wahnhafte Störungen (folie  deux) F 25 schizoaffektive Störungen

196

F3

Affektive Störungen

F 30 manische Episode F 31 bipolare affektive Störung F 32 depressive Episode F 33 rezidivierende depressive Störungen F 34 anhaltende affektive Störungen F 34.0 Zyklothymia F 34.1 Dysthymia F4

Neurotische, Belastungs− und somato− forme Störungen

F 40 phobische Störung F 40.0 Agoraphobie .00 ohne Panikstörung .01 mit Panikstörung F 40.1 soziale Phobien F 40.2 spezifische (isolierte) Phobien F 41 andere Angststörungen F 41.0 Panikstörung (episodisch par− oxysmale Angst) F 41.1 generalisierte Angststörung F 41.2 Angst und depressive Störung, gemischt F 42 Zwangsstörung F 43 Reaktionen auf schwere Belastungen und Anpassungsstörungen F 43.0 akute Belastungsreaktion F 43.1 posttraumatische Belastungs− störung F 43.2 Anpassungsstörung F 43.20 kurze depressive Reaktion

F 44 dissoziative (Konversions−)Störung F 44.0 dissoziative Amnesie F 44.1 dissoziative Fugue F 44.2 dissoziativer Stupor F 44.3 Trance und Besessenheitszu− stände F 44.4 dissoziative Bewegungsstörun− gen F 44.5 dissoziative Krampfanfälle F 44.6 dissoziative Sensibilitäts− und Empfindungsstörungen F 45 somatoforme Störungen F 45.0 Somatisierungsstörung F 45.1 undifferenzierte Somatisie− rungsstörung F 45.2 hypochondrische Störung F 45.3 somatoforme autonome Funk− tionsstörung .30 kariovaskuläres System .31 oberer Gastrointestinaltrakt .32 unterer Gastrointestinaltrakt .33 respiratorisches System .34 Urogenitalsystem F 45.4 anhaltende Schmerzstörung F 48 andere neurotische Störungen F 48.0 Neurasthenie (Erschöpfungs− syndrom) F 48.1 Depersonalisations−, Derealisa− tionssyndrom F5

Verhaltensauffälligkeiten mit körperli− chen Störungen und Faktoren

F 50 Essstörungen F 50.0 Anorexia nervosa F 50.1 atypische Anorexia nervosa F 50.2 Bulimia nervosa F 50.3 atypische Bulimia nervosa F 50.4 Essattacken bei anderen psy− chischen Störungen F 50.5 Erbrechen bei psychischen Stö− rungen F 51 nicht−organische Schlafstörungen F 52 sexuelle Funktionsstörungen, nicht verur− sacht durch eine organische Störung oder Krankheit F 52.0 Mangel oder Verlust von sexu− ellem Verlangen F 52.1 sexuelle Aversion und man− gelnde sexuelle Befriedigung F 52.2 Versagen genitaler Reaktionen F 52.3 Orgasmusstörung

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F F F F

52.4 52.5 52.6 52.7

Ejaculatio praecox nicht−organischer Vaginismus nicht−organische Dyspareunie gesteigertes sexuelles Verlan− gen

F 53 psychische oder Verhaltensstörungen im Wochenbett, nicht anderenorts klassifi− zierbar F 54 psychische Faktoren oder Verhaltensein− flüsse bei anderenorts klassifizierten Er− krankungen

F6

Persönlichkeits− und Verhaltensstö− rungen

F 60 Persönlichkeitsstörungen F 60.0 paranoide F 60.1 schizoide F 60.2 dissoziale F 60.3 emotional instabile .30 Impulsiver Typus .31 Borderline Typus F 60.4 histrionische F 60.5 anankastische (zwanghafte) F 60.6 ängstliche (vermeidende) F 60.7 abhängige (depressive) F 61 kombinierte und andere Persönlichkeits− störungen F 62 andauernde Persönlichkeitsänderung, nicht Folge einer Schädigung oder Er− krankung des Gehirns F 62.0 nach Extrembelastung F 62.1 nach psychischer Erkrankung F 63 abnorme Gewohnheiten und Störungen der Impulskontrolle F 63.0 pathologisches Spielen F 63.1 pathologische Brandstiftung (Pyromanie) F 63.2 pathologisches Stehlen (Klep− tomanie) F 63.3 Trichotillomanie F 64 Störungen der Geschlechtsidentität F 64.0 Transsexualismus F 64.1 Transvestitismus unter Beibe− haltung beider Geschlechtsrol− len F 64.2 Störung der Geschlechtsidenti− tät des Kindesalters

F 66 psychische und Verhaltensprobleme in Verbindung mit der sexuellen Entwick− lung und Orientierung F 66.0 sexuelle Reifungskrise F 66.1 ichdystone Sexualorientierung F 66.2 sexuelle Beziehungsstörung F 68 andere Persönlichkeits− und Verhaltens− störungen F 68.0 Entwicklung körperlicher Symptome aus psychischen Gründen F 68.1 artifizielle Störung (absichtli− ches Erzeugen oder Vortäu− schen von körperlichen oder psychischen Symptomen oder Behinderungen) F7

Anhang

F 55 Missbrauch von Substanzen, die keine Ab− hängigkeit hervorrufen

F 65 Störungen in der Sexualpräferenz F 65.0 Fetischismus F 65.1 fetischistischer Transvestismus F 65.2 Exhibitionismus F 65.3 Voyeurismus F 65.4 Pädophilie F 65.5 Sadomasochismus F 65.6 multiple Störungen der Sexual− präferenz

197

Intelligenzminderung

F 70 leichte Intelligenzminderung F 71 mittelgradige Intelligenzminderung F 72 schwere Intelligenzminderung F 73 schwerste Intelligenzminderung F 78 andere Intelligenzminderung F 79 nicht näher bezeichnete Intelligenzminde− rung Mit der 4. Stelle kann das Ausmaß der begleitenden Verhaltensstörung be− schrieben werden: F 7x.0 keine oder minimale Verhal− tensstörung F 7x.1 deutliche Verhaltensstörung, betreuungs− oder behand− lungsbedürftig. F8

Entwicklungsstörungen

F 80 umschriebene Entwicklungsstörungen des Sprechens und der Sprache F 80.0 Artikulationsstörung F 80.1 expressive Sprachstörung F 80.2 rezeptive Sprachstörung F 80.3 erworbene Aphasie mit Epilep− sie

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F 81 umschriebene Entwicklungsstörung schu− lischer Fertigkeiten F 81.0 Lese− und Rechtschreibstörung F 81.1 isolierte Rechtschreibstörung F 81.2 Rechenstörung F 81.3 kombinierte Störung schuli− scher Fertigkeiten F 82 umschriebene Entwicklungsstörung der motorischen Funktionen F 83 kombinierte umschriebene Entwicklungs− störung

Anhang 198

F 84 tiefgreifende Entwicklungsstörungen F 84.0 frühkindlicher Autismus F 84.1 atypischer Autismus F 84.2 Rett−Syndrom F 84.3 andere desintegrative Störung des Kindesalters F 84.4 hyperkinetische Störung mit Intelligenzminderung und Be− wegungsstereotypien F 84.5 Asperger−Syndrom F9

Verhaltens− und emotionale Störun− gen mit Beginn in der Kindheit und Jugend

F 90 hyperkinetische Störung F 90.0 einfache Aktivitäts− und Auf− merksamkeitsstörung F 90.1 hyperkinetische Störung des Sozialverhaltens F 91 Störung des Sozialverhaltens F 92 gemischte Störung des Sozialverhaltens und der Emotionen

F 93 emotionale Störungen mit Beginn in der Kindheit F 93.0 emotionale Störung mit Tren− nungsangst des Kindesalters F 93.1 phobische Störung des Kindes− alters F 93.2 Störung mit sozialer Überemp− findlichkeit des Kindesalters F 93.3 emotionale Störung mit Ge− schwisterrivalität F 94 Störungen sozialer Funktionen mit Beginn in der Kindheit oder Jugend F 94.0 elektiver Mutismus F 94.1 reaktive Bindungsstörung des Kindesalters F 94.2 Bindungsstörung des Kindesal− ters, mit Enthemmung F 95 Ticstörungen F 95.0 vorübergehende Ticstörung F 95.1 chronische motorische oder vokale Ticstörung F 95.2 kombinierte, vokale und mul− tiple motorische Tics (Tou− rette−Syndrom) F 98 andere Verhaltens− und emotionale Stö− rungen mit Beginn in der Kindheit oder Jugend F 98.0 Enuresis F 98.1 Enkopresis F 98.2 Fütterstörung im Kindesalter F 98.3 Pica im Kindesalter F 98.4 stereotype Bewegungsstörung F 98.5 Stottern (Stammeln) F 98.6 Poltern

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Psychopharmaka Benzodiazepine

paratebeispiele Wirkstoffe und Pra

Tagesdosis in mg

Tranquilizer

Alprazolam (Tafil) Bromazepam (Lexotanil) Chlordiazepoxid (Librium) Clobazam (Frisium) Diazepam (Valium) Dikaliumclorazepat (Tranxilium) Lorazepam (Tavor) Medazepam (Rudotel) Nordazepam (Tranxilium N) Oxazepam (Adumbran) Prazepam (Demetrin)

0,5–4 3–6 10–50 20–40 5–20 10–50 0,5–7,5 10–30 2,5–15 10–50 20–40

Antiepileptika

Clobazam (Frisium) Clonazepam (Rivotril) Diazepam (Valium) Nitrazepam (Mogadan)

20–40 2–6 5–20 5–10

Muskelrelaxanzien

Tetrazepam (Musaril)

50–400

Hypnotika

Brotizolam (Lendormin) Flunitrazepam (Rohypnol) Flurazepam (Dalmadorm) Loprazolam (Sonin) Lormetazepam (Noctamid) Nitrazepam (Mogadan) Temazepam (Planum, Remestan) Triazolam (Halcion)

0,125–0,25 0,5–1,0 15–30 0,5–2 0,5–2 5–10 10–40 0,125–0,25

Narkotikum

Midazolam (Dormicum)

7,5–15

Anhang

Indikation

199

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Antipressiva

nicht sedierend (aktivierend)

Tagesdosis (mg)

Trizyklische Antidepressiva Desipramin (Pertofran u. a.) Nortriptylin (Nortrilen) Clomipramin (Anafranil u. a.) Dibenzepin (Noveril) Imipramin (Tofranil u. a.) Lofepramin (Gamonil)

Tagesdosis (mg)

Tri−/tetrazyklische Antidepressiva 50–250 75–300 50–225 120–720 75–225 70–280

Maprotilin (Ludiomil u. a.) Mianserin (Tolvin u. a.) Amitriptylin (Saroten u. a.) Amitriptylinoxid (Equilibrin) Doxepin (Aponal u. a.) Trimipramin (Stangyl u. a.) Trazodon (Thomran)

50–225 30–180 50–225 60–300 50–300 50–300 50–300

Anhang

MAO−Hemmer Tranylcypromin (Jatrosom) Moclobemid (Aurorix)

20– 60 300–900

Selektive Antidepressiva

200

sedierend mpfend) (da

Citalopram (Cipramil, Sepram) Fluoxetin (Fluctin u. a.) Fluvoxamin (Fevarin) Paroxetin (Seroxat, Tagonis) Sertralin (Gladem, Zoloft) Venlafaxin (Trevilor) Reboxetin (Edronax) Duloxetin (Cymbalta)

Selektive Antidepressiva 20– 60 20– 60 50–300 20– 50 50–200 75–375 2– 8 15– 30

Mirtazapin (Remergil) Nefazodon (Nefadar)

15– 45 400–600

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Neuroleptika

Tagesdosis in mg Hochpotente Neuroleptika: Benperidol (Glianimon) Bromperidol (Impromen, Tesoprel) Flupentixol (Fluanxol) Fluphenazin (Dapotum, Lyogen, Omca) Haloperidol (Haldol−Janssen u. a.) Olanzapin (Zyprexa) Perphenazin (Decentan) Pimozid (Orap u. a.) Risperidon (Risperdal) Aripiprazol (Abilify) Ziprasidon (Zeldox) Quetiapin (Seroquel) Clozapin (Leponex) Amisulprid (Solian)

4– 5– 5– 5– 5– 5– 8– 2– 2– 15– 60– 300– 75– 100–

45 20 30 40 60 20 64 16 6 30 180 800 900 800

75– 75– 75– 2– 50– 100–

600 300 450 75 200 150

Anhang

– – – – – – – – – – – – – –

201

Mittelpotente Neuroleptika: – – – – – –

Chlorpromazin (Propaphenin) Perazin (Taxilan) Zotepin (Nipolept) Zuclopenthixol (Ciatyl−Z) Trianpromazin (Psyquil) Clopentirol (Ciatyl)

Schwachpotente Neuroleptika: – – – – – – – –

Chlorprothixen (Truxal, Taractan) Levomepromazin (Neurocil) Melperon (Eunerpan) Pipamperon/Floropipamid (Dipiperon) Promazin (Protactyl) Promethazin (Atosil u. a.) Prothipendyl (Dominal) Thioridazin (Melleril)

50– 800 25– 400 50– 400 60– 360 50–1200 50–1200 40– 480 75– 700

Depot−Neuroleptika: – – – – – – –

Flupentixol−Decanoat (Fluanxol Depot) Fluphenazin−Decanoat (DapotumD, Lyogen Depot) Fluspirilen (Imap) Haloperidol−Decanoat (Haldol−Janssen Decanoat) Perphenazinenanthat (Decentan Depot) Zuclopenthixol−Decanoat (Ciatyl−Z−Acuphase/−Depot) Risperidon (Risperdal Consta)

20–100 mg/2–3 Wochen 12,5–100 mg/2–3 Wochen 4–8 mg/Woche 50–300 mg/3–4 Wochen 50–200 mg/2 Wochen 200–400 mg/2 Wochen 25–50 mg/2 Wochen

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