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German Pages 224 [220] Year 2009
Ingrid-Ute Leonhäuser · Uta Meier-Gräwe Anke Möser · Uta Zander · Jacqueline Köhler Essalltag in Familien
Ingrid-Ute Leonhäuser · Uta Meier-Gräwe Anke Möser · Uta Zander · Jacqueline Köhler
Essalltag in Familien Ernährungsversorgung zwischen privatem und öffentlichem Raum
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1. Auflage 2009 Alle Rechte vorbehalten © VS Verlag für Sozialwissenschaften | GWV Fachverlage GmbH, Wiesbaden 2009 Lektorat: Frank Engelhardt VS Verlag für Sozialwissenschaften ist Teil der Fachverlagsgruppe Springer Science+Business Media. www.vs-verlag.de Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen, Handelsnamen, Warenbezeichnungen usw. in diesem Werk berechtigt auch ohne besondere Kennzeichnung nicht zu der Annahme, dass solche Namen im Sinne der Warenzeichen- und Markenschutz-Gesetzgebung als frei zu betrachten wären und daher von jedermann benutzt werden dürften. Umschlaggestaltung: KünkelLopka Medienentwicklung, Heidelberg Druck und buchbinderische Verarbeitung: Krips b.v., Meppel Gedruckt auf säurefreiem und chlorfrei gebleichtem Papier Printed in the Netherlands ISBN 978-3-531-16053-5
Inhalt Abbildungsverzeichnis ..................................................................................... 9 Tabellenverzeichnis ........................................................................................ 11 1 Einleitung ................................................................................................ 15 2 Stand der Forschung zum Ernährungsverhalten und Essalltag ......... 2.1 Einführende Bemerkungen ............................................................... 2.2 Ernährungsverhalten aus unterschiedlichen Perspektiven ................ 2.2.1 Sozialwissenschaftliche Perspektive ...................................... 2.2.2 Ernährungswissenschaftliche Perspektive ............................ 2.2.3 Ökotrophologische Perspektive ............................................ 2.3 Determinanten der praktischen Ausgestaltung des Essalltags .......... 2.3.1 Quantitative Studien in Deutschland ..................................... 2.3.2 Qualitative Studien in Deutschland ....................................... 2.3.3 Qualitative Studien außerhalb Deutschlands ........................ 2.4 Fazit ..................................................................................................
19 19 20 20 24 25 29 29 30 31 35
3 Forschungsdesign ................................................................................... 3.1 Ökotrophologischer Bezugsrahmen ................................................. 3.2 Methodische Vorgehensweise .......................................................... 3.2.1 Integratives Forschungsdesign zur Untersuchung der Ernährungsversorgung in Familienhaushalten ...................... 3.2.2 Methodische Umsetzung .......................................................
37 37 42 43 46
4 Zeitverwendung für die Ernährung in Famileinhaushalten: Ergebnisse der quantitativen Sekundäranalyse der Zeitbudgedaten 2001/02 ........ 55 4.1 Einleitung ......................................................................................... 55 4.2 Zeitbudgeterhebung 2001/02: methodisches Konzept und Auswertung ...................................................................................... 56 4.3 Soziodemografische Beschreibung der Stichprobe .......................... 60 4.4 Zeitverwendung für hauswirtschaftliche Arbeiten einschließlich Beköstigung ..................................................................................... 62 4.5 Zeitverwendung für die Ernährungsversorgung und Beköstigung ... 63 4.5.1 Zeitverwendung für die Ernährungsversorgung und Beköstigung nach dem Umfang der mütterlichen Erwerbstätigkeit .................................................................... 63
6
Inhalt
4.5.2 Zeitverwendung für die Ernährungsversorgung und Beköstigung nach Art der mütterlichen Erwerbstätigkeit ......... 4.5.3 Zeitverwendung für die Ernährungsversorgung und Beköstigung nach dem Alter der zu versorgenden Kinder .......... 4.5.4 Unterstützung durch Partner und ältere Kinder bei der Ernährungsversorgung und Beköstigung .............................. 4.6 Zeitverwendung für Essen und Trinken ........................................... 4.6.1 Zeitverwendung für Essen und Trinken nach dem Umfang der mütterlichen Erwerbstätigkeit ......................................... 4.6.2 Zeitverwendung für Essen und Trinken nach Art der mütterlichen Erwerbstätigkeit ............................................... 4.6.3 Zeitverwendung für Essen und Trinken nach Alter der zu versorgenden Kinder ............................................................. 4.6.4 Zeitverwendung von Kindern über zehn Jahren für Essen und Trinken ........................................................................... 4.7 Zusammenfassung ............................................................................
66 70 71 73 73 79 84 85 87
5 Der Essalltag von Familienhaushalten .................................................. 89 5.1 Die Mahlzeiten im Familienalltag: gemeinschaftliches Ritual oder individuelle Angelegenheit? ............................................................. 90 5.1.1 Frühstück .............................................................................. 90 5.1.2 Mittagessen ........................................................................... 92 5.1.3 Abendessen ........................................................................... 96 5.1.4 Außerhäusliche Mahlzeiten .................................................. 98 5.2 Die Beköstigung der Familie: die Mutter als Hauptverantwortliche oder partnerschaftliches Gemeinschaftswerk? ............................... 100 5.2.1 Partnerschaftliche Arbeitsteilung in der Familie ................. 101 5.2.2 Normative Leitbilder von Müttern ...................................... 104 5.2.3 Alltagskompetenzen von Müttern ....................................... 107 5.3 Die Ernährungssozialisation in der Familie: zwischen elterlichen Ansprüchen und außerhäuslichen Einflüssen ................................. 113 5.3.1 Ernährungssozialisation der Eltern ..................................... 114 5.3.2 Ernährungserziehung der Kinder ........................................ 118 5.3.2.1 Gesundes Ernährungsverhalten ............................. 119 5.3.2.2 Weitergabe und Vermittlung von Kochkenntnissen und -techniken .......................... 122 5.3.2.3 Benimm- und Tischsitten ...................................... 124 5.3.3 Einflüsse anderer Sozialisationsinstanzen .......................... 125 5.4 Zusammenfassung .......................................................................... 128
Inhalt
7
5.5 Gegenüberstellung quantitativer Zeitbudgetdaten und qualitativer Interviewbefunde im Kontext aktueller Forschung ........................ 130 5.5.1 Mahlzeitenmuster ................................................................ 131 5.5.2 Beköstigungstätigkeiten und Arbeitsteilung ....................... 137 6 Typologie der Ernährungsversorgung in Familien-Haushalten von erwerbstätigen Müttern ................................................................ 6.1 Generierung der familialen Ernährungsversorgungstypen ............. 6.2 Die sieben Ernährungsversorgungstypen in Familienhaushalten ... 6.2.1 Die familienorientierten Traditionalistinnen ....................... 6.2.2 Die ambivalenten Ess-Individualistinnen ........................... 6.2.3 Die entspannten Unkonventionellen ................................... 6.2.4 Die berufsorientierten Netzwerkerinnen ............................. 6.2.5 Die pragmatischen Selbstständigen .................................... 6.2.6 Die überlasteten Einzelkämpferinnen ................................. 6.2.7 Die aufopferungsvollen Umsorgerinnen ............................. 6.3 Abweichende Fälle ......................................................................... 6.3.1 Familie 28 ........................................................................... 6.3.2 Familie 29 ........................................................................... 6.4 Fazit ................................................................................................
143 144 151 151 153 155 158 160 163 166 168 169 172 176
7 Prozessorientierte Qualitätssicherung qualitativer Forschung – ein Anwendungsbeispiel ....................................................................... 179 7.1 Modell prozessorientierter Qualitätssicherung ............................... 180 7.1.1 Entwicklung der Forschungsfrage ...................................... 183 7.1.2 Datenerhebung .................................................................... 183 7.1.2.1 Reflexion der Beziehung zwischen Forscher und Interviewpartner ............................................. 183 7.1.2.2 Intersubjektive Nachvollziehbarkeit der Datenerhebung ...................................................... 185 7.1.2.3 Glaubwürdigkeitsprüfung der Datenerhebung ...... 187 7.1.3 Interpretation ........................................................................ 188 7.1.3.1 Intersubjektive Nachvollziehbarkeit der Interpretation ......................................................... 188 7.1.3.2 Glaubwürdigkeitsprüfung der Interpretation ......... 190 7.1.4 Abschluss des Forschungsprojektes .................................... 192 7.1.4.1 Empirische Verankerung ...................................... 192 7.1.4.2 Verallgemeinerbarkeit .......................................... 193
8
Inhalt
7.2 Kritische Bewertung des gewählten Forschungsansatzes und Handlungsempfehlungen ................................................................ 195 8 Schlussbetrachtugen ............................................................................. 197 8.1 Forschungsperspektiven ................................................................. 197 8.2 Handlungsempfehlungen ................................................................ 198 Literaturverzeichnis ...................................................................................... 215
Abbildungsverzeichnis Abb. 2.1: Abb. 3.1: Abb. 3.2: Abb. 3.3: Abb. 3.4: Abb. 4.1: Abb. 4.2:
Abb. 6.1: Abb. 6.2: Abb. 7.1:
Stand der Forschung zum Ernährungsverhalten und Essalltag ... 20 Ernährungsversorgung im mikro-sozioökonomischen Handlungssystem ........................................................................ 38 Determinanten des Essalltags ..................................................... 40 Integratives Forschungsdesign ................................................... 45 Forschungskonzept und Umsetzung ........................................... 46 Abgrenzung von Beköstigung und Ernährungsversorgung ........ 58 Beteiligungsgrad von Müttern an Essen und Trinken nach Umfang der Erwerbstätigkeit im Tagesverlauf (Zeitbudgeterhebung 2001/02) ................................................... 75 Stufenmodell der empirisch begründeten Typenbildung .......... 145 Darstellung des Merkmalsraums mit zugeordneten Untersuchungseinheiten und Einzelfällen ................................ 149 Prozessorientierte Qualitätssicherung ....................................... 182
Tabellenverzeichnis Tab. 3.1:
Stratifizierung der Familienhaushalte für die qualitativen Interviews ................................................................................... Tab. 4.1: Veränderungen von n und n-Personentagen durch die Gewichtung am Beispiel von Müttern mit unterschiedlichem Umfang der Erwerbsbeteiligung ................................................. Tab. 4.2: Einteilung der Berufsgruppen in der Zeitbudgeterhebung 2001/2002 und der eigene qualitativen Erhebung ...................... Tab. 4.3: Soziodemografische Beschreibung der ausgewählten Mütter (ZBE 2001/02) ............................................................................ Tab. 4.4: Durchschnittliche tägliche Zeitverwendung von Müttern für hauswirtschaftliche Tätigkeiten nach Umfang der Erwerbstätigkeit (ZBE 2001/02) ................................................. Tab. 4.5: Durchschnittliche tägliche Zeitverwendung von Müttern für Ernährungsversorgung nach Umfang der Erwerbstätigkeit (ZBE 2001/02) ............................................................................ Tab. 4.6: Durchschnittliche tägliche Zeitverwendung von Müttern für Beköstigung zu ausgewählten Uhrzeiten nach Umfang der Erwerbstätigkeit (ZBE 2001/02) ................................................. Tab. 4.7: Durchschnittliche tägliche Zeitverwendung von Müttern für die Hauptaktivität Beköstigung und gleichzeitige Nebenaktivitäten nach Umfang der Erwerbstätigkeit (ZBE 2001/02) ...................................................................................... Tab. 4.8: Durchschnittliche tägliche Zeitverwendung von Müttern für Ernährungsversorgung nach Art der Erwerbstätigkeit (ZBE 2001/02) ...................................................................................... Tab. 4.9: Durchschnittliche tägliche Zeitverwendung von Müttern für Beköstigung zu ausgewählten Uhrzeiten nach Art der Erwerbstätigkeit (ZBE 2001/02) ................................................. Tab. 4.10: Durchschnittliche tägliche Zeitverwendung von Müttern für Ernährungsversorgung nach dem Alter der Kinder (ZBE 2001/02) ...................................................................................... Tab. 4.11: Durchschnittliche tägliche Zeitverwendung der Väter für Tätigkeiten der Ernährungsversorgung nach Umfang der Erwerbstätigkeit der Partnerin (ZBE 2001/02) ........................... Tab. 4.12: Durchschnittliche tägliche Zeitverwendung von Kindern über zehn Jahren für ausgewählte Tätigkeiten der Ernährungsversorgung nach Umfang der Erwerbstätigkeit der Mütter (ZBE 2001/02) ................................................................
48
57 60 61
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Tabellen
Tab. 4.13: Durchschnittliche tägliche Zeitverwendung von Müttern für Essen und Trinken nach Umfang der Erwerbstätigkeit (ZBE 2001/02) ...................................................................................... 74 Tab. 4.15: Durchschnittliche tägliche Zeitverwendung von Müttern für Essen und Trinken für ausgewählte Tageszeiten, Orte und personelle Zusammensetzung nach Umfang der Erwerbstätigkeit (ZBE 2001/02) ................................................. 78 Tab. 4.16: Durchschnittliche tägliche Zeitverwendung von Müttern für die Hauptaktivität Essen und Trinken und gleichzeitigen Nebenaktivitäten nach Umfang der Erwerbstätigkeit (ZBE 2001/02) ...................................................................................... 79 Tab. 4.17: Durchschnittliche tägliche Zeitverwendung von Müttern für Essen und Trinken nach Art der Erwerbstätigkeit (ZBE 2001/02) ...................................................................................... 80 Tab. 4.18: Durchschnittliche tägliche Zeitverwendung von Müttern für Essen und Trinken für ausgewählte Tageszeiten und Orte nach Art der Erwerbstätigkeit (ZBE 2001/02) ............................ 81 Tab. 4.19: Durchschnittliche tägliche Zeitverwendung von Müttern für Essen und Trinken für ausgewählte Tageszeiten, Orte und personelle Zusammensetzung nach Art der Erwerbstätigkeit (ZBE 2001/02) ............................................................................ 82 Tab. 4.20: Durchschnittliche tägliche Zeitverwendung von Müttern für die Hauptaktivität Essen und Trinken und gleichzeitigen Nebenaktivitäten nach Art der Erwerbstätigkeit (ZBE 2001/02) .. 83 Tab. 4.21: Durchschnittliche tägliche Zeitverwendung von Müttern für Essen und Trinken nach dem Alter der Kinder (ZBE 2001/02) .. 84 Tab. 4.22: Durchschnittliche tägliche Zeitverwendung von Kindern über zehn Jahren für Essen und Trinken nach Umfang der Erwerbstätigkeit der Mütter (ZBE 2001/02) ............................... 85 Tab. 4.23: Durchschnittliche tägliche Zeitverwendung von Kindern über zehn Jahren für Essen und Trinken für ausgewählte Tageszeiten und Orte nach Umfang der Erwerbstätigkeit der Mütter (ZBE 2001/02) ................................................................ 86 Tab. 4.24: Zentrale Ergebnisse der Sekundäranalyse der Zeitbudgeterhebung 2001/02 und resultierende Leitfragen ........ 87 Tab. 6.1: Beschreibung der Ressourcenausstattung ................................. 147 Tab. 6.2: Art des Mahlzeitenmusters von Familienhaushalten an den Werktagen ................................................................................ 148 Tab. 6.3: Die familienorientierten Traditionalistinnen ............................ 153 Tab. 6.4: Die ambivalenten Ess-Individualistinnen ................................. 155
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Tabellen
Tab. 6.5: Tab. 6.6: Tab. 6.7: Tab. 6.8: Tab. 6.9: Tab. 7.1:
Die entspannten Unkonventionellen ......................................... Die berufsorientierten Netzwerkerinnen ................................... Die pragmatischen Selbstständigen .......................................... Die überlasteten Einzelkämpferinnen ....................................... Die aufopferungsvollen Umsorgerinnen ................................... Ausschnitte aus den Beobachtungsprotokollen zur Dokumentation des Interviewverlaufs und -atmosphäre ..........
157 160 162 165 167 184
1 Einleitung
Die vorliegende Veröffentlichung ist das Ergebnis eines umfänglichen Forschungsprojekts zum Essalltag von Paarhaushalten mit berufstätigen Müttern. Gestützt auf ein innovatives Forschungsdesign lotet es erstmals ganzheitlich die Organisation, Koordinierung und konkrete Umsetzung der familialen Ernährungsversorgung zwischen privatem und öffentlichem Raum (EVPRA) systematisch aus und überwindet damit die bis dato gängige Betrachtung von einzelnen Aspekten zu diesem Thema – sowohl in der nationalen als auch in der internationalen Forschungslandschaft. Das Projekt wurde zwischen 2004 und 2007 von der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) für drei Jahre gefördert, wofür die Autorinnen an dieser Stelle nochmals ihren aufrichtigen Dank bekunden möchten. Unser Erkenntnisinteresse war auf die Frage fokussiert, wie zu Beginn des 21. Jahrhunderts die an 365 Tagen im Jahr beständig wiederkehrende Anforderung der Ernährungsversorgung von Eltern und Kindern zwischen privatem und öffentlichem Raum in Deutschland bewältigt wird. Gleichermaßen wichtig war es den Autorinnen der vorliegenden Veröffentlichung in Erfahrung zu bringen, welche Intentionen und Ansprüche Mütter aus verschiedenen Bildungs- bzw. Berufsgruppen mit Familienmahlzeiten oder anders arrangierten Settings der täglichen Ernährungsversorgung verbinden – gesundheitsfördernd, erzieherisch, aber auch mit Blick auf die Herstellung von familialer Identität und Gemeinsinn. Dieses Anliegen wird vor dem Hintergrund der in der Öffentlichkeit und der Scientific Community äußerst widersprüchlich diskutierten Thesen verständlich: Auf der einen Seite die Annahme einer unaufhaltsamen Erosion familialer Mahlzeitenstrukturen hin zum individualisierten Verzehr von Nahrungsmitteln; auf der anderen Seite die These von der konstanten Zuständigkeit der Mütter für die familiale Ernährungsversorgung sowie einer kulturellen Persistenz von Mahlzeitenmustern. Das Thema dieses Forschungsprojekts steht zudem in einem unverkennbaren Zusammenhang mit fundamentalen Wandlungsprozessen europäischer Gesellschaften im Allgemeinen und der Bundesrepublik Deutschland im Besonderen. In vielen europäischen Ländern wurde spätestens seit den 1980er Jahren eine familien- und kindbezogene Infrastruktur zur Unterstützung weiblicher Erwerbsbeteiligung und schließlich – wenn auch weitaus zögerlicher –
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Einleitung
zur allmählichen Überwindung herkömmlicher Geschlechter(rollen)stereotypisierungen implementiert. Diese Entwicklungen schließen nicht zuletzt eine verlässliche Pausen- und Mittagessensversorgung in Kindertagesstätten und Schulen ein. Die Bundesrepublik Deutschland hat sich indessen mit der Übernahme einer öffentlichen Verantwortung für das gesunde Aufwachsen von Kindern und einer partiellen Entlastung der Mütter von den täglich anfallenden Routineaufgaben der Alltagsversorgung schwer getan. Erst in den letzten Jahren wurde ein familienpolitischer Paradigmenwechsel eingeleitet, der auf der empirisch gestützten Erfahrung beruht, dass sich das Festhalten an einem traditionellen Mutterbild nicht nur im internationalen Vergleich als obsolet, sondern letztlich auch als kontraproduktiv erwiesen hat: Traditionelle Politikstile, die dem Modell der „guten“, nicht erwerbstätigen Mutter verhaftet waren und mit der Erwartung einhergingen, dass Mütter als primäre Bezugspersonen für ihre Kinder eine Rundum-Betreuung bis ins Schulalter hinein (mit Ausnahme des Rechtsanspruchs auf einen Halbtagskindergartenplatz ohne Mittagessen) privat zu gewährleisten haben, führten immer häufiger gerade bei den gut ausgebildeten und beruflich ambitionierten Frauen zum Verzicht auf die Realisierung ihrer durchaus vorhandenen Kinderwünsche. Für diejenigen berufstätigen Frauen wiederum, die sich trotz widriger gesellschaftlicher Rahmenbedingungen der Vereinbarkeit von Beruf und Familie für Kinder entschieden hatten, waren vielfältige Formen von Zeitstress, gesundheitlichen Beeinträchtigungen und Partnerschaftskonflikten die Folge oder aber sie mussten deutliche Abstriche bei der Verwertung ihrer erworbenen Bildungs- und Qualifikationsabschlüsse für den Aufbau einer eigenständigen Erwerbsbiographie und Alterssicherung hinnehmen. Im Kontext dieser gesellschaftspolitischen Entwicklungen, deren Folgen inzwischen immer deutlicher werden und an Stichworten wie Work-LifeBalance, demographischer Wandel oder dem absehbarer Mangel an Fach- und Führungskräften in einer alternden Gesellschaft festgemacht werden können, ist schließlich auch die Entscheidung für unser Sample – berufstätige Mütter – zu sehen: Wir wollten systematisch und subjektorientiert untersuchen, wie der Essalltag in dieser Familienkonstellation organisiert und koordiniert wird, auf welche familialen und/oder institutionellen Netzwerke und Infrastrukturen zurückgegriffen wird (werden kann), welche Versorgungsarrangements letztlich praktiziert werden und wie unter der Bedingung weiblicher Erwerbsbeteiligung der Essalltag von Familien verlässlich hergestellt wird. Aus diesem Grunde wurden Zeitbudgets der Beköstigung, Mahlzeitenmuster und Strategien zur Organisation der familialen Ernährungsversorgung berufsgruppen- und milieuspezifisch analysiert.
Einleitung
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Der Studie liegt ein ökotrophologischer Bezugsrahmen zugrunde, um das Zusammenspiel von verfügbaren Ressourcen, Sinnsetzungen und Handlungsspielräumen der Familienhaushalte ganzheitlich in den Blick zu nehmen und eine individuumsfixierte Betrachtung des Essens und Trinkens konzeptionell zu vermeiden. Letztlich geht es im familialen Lebenszusammenhang um die keineswegs triviale Herausforderung, unterschiedliche Bedürfnisse, Zeitbindungen, Geschmacksvorlieben und Gewohnheiten von Müttern, Vätern und Kindern auszutarieren, Kompromisse zu finden und einen von allen Familienmitgliedern getragenen Ernährungsversorgungsstil auszuhandeln, der entlang der Familienbiographie immer wieder neu arrangiert werden muss. Dieser Zugang eröffnet die Chance, den Essalltag von Familien nicht nur in seiner ernährungs- und gesundheitsbezogenen Relevanz zu erfassen, sondern zudem in seinem kulturellen und sozialen Bedeutungsgehalt auszuloten. Somit leistet die vorliegende Studie einen wichtigen Beitrag zur Etablierung einer kulturund sozialwissenschaftlichen Perspektive in der Ernährungsforschung und wirkt der Dominanz ihrer bisher weitgehend einseitigen natur- und technikwissenschaftlichen Spezialisierung im deutschen Forschungsraum entgegen. Das Buch basiert sowohl auf einer Sekundäranalyse von repräsentativen Zeitbudgetdaten als auch auf 48 detaillierten qualitativen Fallanalysen, wobei wir großes Gewicht auf eine prozessorientierte Qualitätssicherung der qualitativen Daten gelegt haben. Aus dem umfänglichen Datenmaterial wurde eine Typologie der familialen Ernährungsversorgung generiert, die zum einen die Vielfalt der gelebten Ernährungsversorgungsstile im Kontext von verfügbaren Ressourcen, Sinnsetzungen und Handlungsspielräumen zwischen privatem und öffentlichem Raum offenbart und zugleich innovative Ansatzpunkte für eine zielgruppenbezogene Gesundheits- und Ernährungsprävention eröffnet. Das Projekt wäre ohne die breite Unterstützung vieler Personen kaum möglich gewesen, welche in der vorliegenden Publikation nicht oder nur indirekt erwähnt werden. Danken möchten wir zunächst Frau Prof. Dr. Eva Barlösius, ohne deren Initiative und Organisation eines DFG-Rundtischgespräches zur kultur- und sozialwissenschaftlichen Ernährungs- und Essforschung in Berlin im Juni 2002 die Idee zu unserem Forschungsantrag möglicherweise gar nicht zustande gekommen wäre. Frau Barlösius stand uns darüber hinaus mit ihrer langjährigen Forschungserfahrung für ein Expertengespräch im Rahmen eines peer debriefing1 zur Verfügung. Gleiches gilt für Frau Dr. Christine Brombach und Frau Dr. Heide Preuße, die ebenfalls für intensive Expertinnengespräche gewonnen werden konnten. Ihnen allen gilt unser herzliches Dankeschön. Auch die Bereitschaft von Vertretern des Statistischen Bundesamtes in 1
Peer debriefing bezeichnet die Validierung der Ergebnisse durch Gruppendiskussion mit anderen Wissenschaftlern (STEINKE 1999, LINCOLN/GUBA 1985).
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Einleitung
Wiesbaden, uns nicht nur die Zeitbudgetdaten als Scientific Use File zur Verfügung zu stellen, sondern auch bei aufgetretenen methodischen Fragen kompetent zu beraten, sei an dieser Stelle besonders hervorgehoben. Vor allem aber sind wir den vielbeschäftigten berufstätigen Müttern zu Dank verpflichtet, die uns als Expertinnen ihres Alltags so bereitwillig und ausführlich für ein Interview zur Verfügung standen und Einblicke in den Essalltag ihrer Familien gewährt haben. Wir danken außerdem Frau Gisela Beigi für ihr vielseitiges Engagement bei der schreibtechnischen Erstellung des Abschlussberichts unseres Projekts sowie den studentischen und wissenschaftlichen Hilfskräften Mareike Donner, Anneke von Reeken, Kerstin Hämel, Felicja Engel, Susanne Kühnel, Carina Walter, Beate Angelstein und Susanne Gastmann, die an der Auswertung der Zeitbudgetdaten und bei der Durchführung von Interviews sowie ihrer Transkription und Vercodung beteiligt waren. Dadurch konnten sie während ihres Studiums bzw. kurz nach Abschluss ihrer Ausbildung wertvolle Forschungserfahrungen im Rahmen eines DFG-Projekts gewinnen. Zu danken ist schließlich Frau Dipl. oec. troph. Frauke Wieting, die zudem eine ergänzende schriftliche Befragung der Väter in unseren Familienhaushalten durchgeführt hat. Besonders danken möchten wir schließlich auch Frau Mareike Bröcheler und Frau Dr. Stephanie Dorandt, die mit Akribie, Geduld und hohem zeitlichen Einsatz dazu beigetragen haben, dass das druckfertige Manuskript dem Verlag fristgerecht vorgelegt werden konnte.
Gießen, den 1. 9. 2008
Ingrid-Ute Leonhäuser, Uta Meier-Gräwe, Anke Möser, Uta Zander und Jacqueline Köhler
2 Stand der Forschung zum Ernährungsverhalten und Essalltag
2.1 Einführende Bemerkungen Essen und Trinken sind in vielfältiger Weise in unser Alltagshandeln eingebunden. Die Nahrungsaufnahme ist lebensnotwendiger Bestandteil unserer Daseinsvorsorge, das Ernährungsverhalten hingegen ist eine in Sozialisationsprozessen erlernte Handlung, die vielfach routine- und gewohnheitsmäßig ausgeübt wird (v. SCHWEITZER 2006, 1991; BARLÖSIUS 1999; PRAHL/SETZWEIN 1999). In ernährungswissenschaftlichen und medizinischen Studien wurde der notwendige physiologische Bedarf erforscht und beschrieben. Alle zum Lebenserhalt benötigten Nährstoffe sind heute analysiert und in ihren Wirkungen auf den menschlichen Organismus eingehend untersucht. Was den Forschungsgegenstand „Ernährungsverhalten“ betrifft, so sind die das Ernährungsverhalten beeinflussenden Determinanten ebenso bekannt und als solche in der Literatur weitgehend thematisiert worden (BARLÖSIUS 1999; GRUNERT 1993; BODENSTEDT 1983; NEULOH/TEUTEBERG 1979). Unklar ist jedoch nach wie vor, wie diese Größen auf das Ernährungsverhalten wirken, wie sie in Wechselwirkung stehen, welche Faktoren wann welche Wirkung haben und schließlich, wie diese den Alltag von Privathaushalten bzw. von Familien mitbestimmen (LEONHÄUSER 1995). In der graphischen Literaturübersicht2 (Abbildung 2.1) ist der Stand der Forschung zu diesen Fragen abgebildet. Die Übersicht ist in zwei Themenkomplexe unterteilt: Einerseits wird das Ernährungsverhalten aus unterschiedlichen disziplinären Blickrichtungen thematisiert; hierbei liegt das Augenmerk auf der Darstellung der theoretischen Diskussion zum Ernährungsverhalten und Essalltag. Andererseits werden Studien angeführt, welche die praktische Ausgestaltung des Essalltags von Familienhaushalten erläutern. In diesem Kontext werden empirische Erkenntnisse sowohl aus dem deutschen Forschungsraum als auch solche aus anderen europäischen Ländern und aus den USA angesprochen. 2
CRESWELL (2003, S. 39 ff.) empfiehlt eine „literature map“ zur Darstellung relevanter Literatur zum Forschungsgegenstand, zur Organisation dieser Literatur und zur Einordnung des Forschungsvorhabens in die bisherige Forschung.
20
2 Forschungsstand
Abbildung 2.1:
Stand der Forschung zum Ernährungsverhalten und Essalltag Ernährungsverhalten und Essalltag
Ernährungsverhalten aus unterschiedlichen Perspektiven Ernährungswissenschaftliche Perspektive
Sozialwissenschaftliche Perspektive Kultursoziologische Perspektive
Handlungstheoretische Perspektive Ökotrophologische Perspektive
Klassentheoretische Perspektive Alltägliche Lebensführung
Praktische Ausgestaltung des Essalltags
Gesellschaftliche Auswirkungen auf den Essalltag
Gender-Perspektive
Biologischnaturwissenschaftliche Perspektive Sozioökonomische Perpspektive
Untersuchungsgegenstand Haushalt
Zeit als soziale und strukturelle Kategorie
Studien in Deutschland Quantitative Studien
Qualitative Studien außerhalb von Deutschland Ernährung und Identität
Ernährungsverhalten und Essalltag Qualitative Studien Mahlzeitenzubereitung und AußerHaus-Verzehr Familienmahlzeiten Geschlechtsspezifische Arbeitsteilung
Quelle: Eigene Darstellung
2.2 Ernährungsverhalten aus unterschiedlichen Perspektiven Bestimmungsgründe für das Ernährungsverhalten können sowohl aus einer sozialwissenschaftlichen, ernährungswissenschaftlichen als auch aus der ökotrophologischen Perspektive heraus betrachtet werden.
2.2.1 Sozialwissenschaftliche Perspektive Ernährungsverhalten ist eine Handlung, die willentlich oder gewohnheitsmäßig abläuft. Sie umfasst die Nahrungsbeschaffung, Zubereitung, den Verzehr und die Nachbereitung von Lebensmitteln durch ein Individuum und/oder von sozialen Gruppen. Sie kann auch religiös-symbolischen Zwecken dienen und von diesen beeinflusst werden. Das Ernährungshandeln bzw. Ernährungsver-
2.2 Perspektiven Ernährungsverhalten
21
halten3 eines Individuums ist immer eine Folge endogener und exogener Ursachen; deren Wirkungen können sowohl individueller als auch überindividueller Art sein. Die Verschränkung von Ursachen, Wirkungen und Folgen des Ernährungsverhaltens lassen sich aus unterschiedlichen sozialwissenschaftlichen Forschungsperspektiven darstellen. Nachfolgend werden die dieser Studie zugrunde liegenden Ansätze einzelner Forschungsrichtungen kurz skizziert, analysiert und bewertet. Kultur-soziologische, klassentheoretische und handlungstheoretische Perspektiven beschreiben diejenigen Faktoren, die im Zusammenhang mit exogen wirksamen Determinanten eines Ernährungsverhaltens gesehen werden. Kultur-soziologische Perspektive4 Essen wird nach DURKHEIM und MAUSS (1971) als soziales Totalphänomen definiert. Damit ist gemeint, dass Essen und Trinken in soziale und kulturelle Belange des Menschen hinein reicht. Nahrung muss zuerst produziert werden, um nachfolgend mit kulturellen Verfahren in Speisen überführt zu werden. BARLÖSIUS (1999) weist darauf hin, dass dies nicht nur unter Anwendung von „Technik“ geschieht, sondern auch als Aneignungsprozess einer Kultur zu verstehen ist, sich die „Natur“ durch Essen einzuverleiben. Diese kulturellen Prozesse können entschlüsselt werden (DOUGLAS/KARMASIN 1999). Essen und Ernähren sind materiell „verankert“, an raum-zeitliche und personale Strukturen gebunden, die sozial ausgedeutet und ausgehandelt werden: in der Familie, in unseren Lebensbezügen, in Haushalten. Nach DOUGLAS (1972) ist die Nahrungsaufnahme des Menschen in allen menschlichen Kulturen weder beliebig noch unstrukturiert. Sie erfolgt nach sozialen Normen, die einen hohen Verbindlichkeitsgrad aufweisen. Diese Normen sind kulturell verschieden, sie werden sozial vermittelt und sozial bewertet (SCHÜTZ 1979). ELIAS untersucht, wie durch die Verfeinerung der Tischsitten bestimmte gesellschaftliche Normen den Umgang mit dem Essen und den am Tisch Versammelten regeln. Durch diese Vorstellungen und Erwartungen wird das ursprüngliche triebhafte Bedürfnis, zu essen, kultiviert bzw. zivilisiert (ELIAS 1969). Der Zivilisationsprozess einer Gesellschaft verläuft parallel zu den Veränderungsprozessen einer Gesellschaft und zeichnet sich durch eine Verschiebung der „Peinlichkeitsschwellen und Schamgrenzen“ aus. Diese kulturell geltenden ernährungsbezogenen Normen und Werte prägen das Ernährungs-
3 4
Im exakten wissenschaftlichen Gebrauch müsste von „Ernährungshandeln“ gesprochen werden. Da sich sprachgebräuchlich der Begriff „Ernährungsverhalten“ durchgesetzt hat, wird im Folgenden dieser Begriff verwendet. An dieser Stelle sei C. Brombach für die Zuarbeit in der Projektantragsphase gedankt.
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2 Forschungsstand
verhalten5. Die reziproke Wirkung eines Ernährungsverhaltens auf kulturelle Aspekte verläuft im Sinne von „Verfestigung durch Wiederholung“, weil sich ernährungsbezogene Normen durch ständige „Ausführung“ bestätigen (BARLÖSIUS 1999; MURCOTT 1983). Die in einer Gesellschaft geltenden Ernährungsnormen stehen in Wechselwirkung zum gesamtgesellschaftlichen Wandel und sind damit nicht permanent festgelegt. Retrospektiv können Veränderungen der „Ernährungsnormen“ festgestellt werden. Beispielsweise gelten heute Nahrungsmittel nicht mehr als essbar, die noch im Mittelalter und früher Neuzeit durchaus die Tafeln der Speisenden erfreuten oder es betrifft die veränderte Wertschätzung der Nahrungsmittel (ELIAS 1969). Klassentheoretische Perspektive BOURDIEU (1991) beschreibt in seinen Untersuchungen, wie durch die jeweilige (Ess-) Erziehung ein „Habitus“ erlernt, durch die soziale Herkunft bedingt und verursacht und die Zugehörigkeit zu einer bestimmten Klasse verdeutlicht wird. Die von ihm vorgelegten klassentheoretischen Untersuchungen sind sehr differenziert und erfolgten in Bezug auf die französische Gesellschaft. Auch wenn die Ergebnisse nicht in jedem Fall auf deutsche Verhältnisse übertragbar sind, so ist auch für unsere Gesellschaft von einer Stratifizierung der Einkommens- und Bildungsgruppen auszugehen. Gleichfalls ist hier beobachtbar, dass die Esserziehung im Kindesalter das gegenwärtige Ernährungsverhalten maßgeblich prägt (BROMBACH 2000; DEVAULT 1991). Nach BOURDIEU (1991) ist Ernährungsverhalten Merkmal einer Klassenzugehörigkeit. Individuelles Ernährungsverhalten ist nur dann verständlich und deutbar, wenn Klassenzugehörigkeit und Lage des sozialen Umfelds bekannt sind. Handlungstheoretische Perspektive Leben bedeutet „Handeln“, ohne Handeln ist kein Überleben möglich. Die „Weltoffenheit“ des Menschen zwingt diesen, sich für Handlungsalternativen zu entscheiden. Dabei bleibt der Mensch grundsätzlich auf seine „Grenzen“ bezogen, deren Binnenraum er imperativ zu nutzen hat. Handeln wird innerhalb der Phänomenologie als zielgerichtetes Tun verstanden (LUCKMANN 1992). Die Genese der Handlungstheorie lässt sich auf Aristoteles zurückführen, auf den sich nachfolgend WEBER bezieht6. Menschen können nach ihren Verhaltensweisen bestimmten „Verhaltenstypen“ zugeordnet werden. Nach RIESMAN (1958) wird die Entwicklung einer Gesellschaft durch demographische Veränderungen geprägt. Anhand der Untersuchung der amerikanischen 5 6
Dem Einzelnen oft nicht bewusst. WEBER unterscheidet affektuelles, traditionales, wertrationales sowie zweckrationales Handeln (WEBER 1972).
2.2 Perspektiven Ernährungsverhalten
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Gesellschaft resümiert er7 drei Verhaltenstypen, die sich parallel zu demographischen Entwicklungen konstituieren: traditionsgeleitete Verhaltenstypen, die konservative Werte vertreten, innen geleitete Verhaltenstypen, die sich einzig an ihren persönlichen und inneren Werten orientieren, außengeleitete Verhaltenstypen, die sich in ihrem Handeln in Übereinkunft zur „öffentlichen Meinung“ befinden und dabei ihre Werte- und Konsumorientierungen aus dem „allgemein Üblichen“ legitimieren. Handeln, somit auch das Ernährungsverhalten, erfolgt in einer Lebenswelt, die als „fraglos Gegebenes“ jedem Menschen anheim gestellt ist. Diese Lebenswelt ist auslegungsbedürftig und ist eine sozial geteilte, die Menschen für sich „erklären“ müssen, um darin (über)leben zu können. Handlungsleitend für Entscheidungen sind nach SCHÜTZ (1979) „alltagstheoretische Erklärungskonstrukte“, die verschiedene Funktionen und Bedeutungen für ein Individuum haben:
Orientierungsfunktion (Strukturierung und Ordnung der jeweils erfahrenen Wirklichkeit), Handlungsplanungsfunktion (Anlass und Planung von Handlungen), Handlungsrechtfertigungsfunktion (Bewertungen von Handlungen), Identitätswahrung (Einordnung des Selbst in die jeweiligen Handlungen und Handlungsfolgen sowie einer Kontinuität des Selbstverständnisses) und Kommunikationsfunktion (Austausch, Beziehungen). (SCHÜTZ 1979)
Außengeleitetes Handeln ist, wie SCHULZE für die modernen Gesellschaften darlegt, ein erlebnisorientiertes Tun, welches rekursiv die Gesellschaft verändert (SCHULZE 1992). Die Veränderlichkeit einer Gesellschaft, der „Wandel“, bleibt nicht ohne Folgen für das Individuum. Auch wenn Individuen sich zunehmend „individualisieren“ (BECK 1986), sind sie in die Strukturen einer Gesellschaft und ihre Veränderungen eingebunden. Die Folgen von „Handeln“ und „Ernährungsverhalten“ sind dynamisch und wechselseitig: Die sich verändernden Strukturen verändern die Handelnden, die ihrerseits handelnd die Gesellschaft verändern.
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Obgleich die Untersuchungen RIESMANS (1958) uns „doppelt distal“ vorkommen mögen (bezogen auf die historische Zeit und den geographischen Raum), sind seine Aussagen erstaunlich weitsichtig und aktuell. So beschreibt Riesman etwa die Ausdifferenzierung in eine Dienstleistungsgesellschaft mit Singularisierungsprozessen, zu denen auch BECK (1986) und BECK-GERNSHEIM (1983) in ihren zeitkritischen Analysen gelangen.
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2 Forschungsstand
2.2.2 Ernährungswissenschaftliche Perspektive Biologische Perspektiven der Verhaltensforschung beschreiben diejenigen Faktoren, die in der Literatur als vorrangig endogen wirksame Einflussfaktoren eines Ernährungsverhaltens identifiziert werden. Der ernährungswissenschaftliche Ansatz verbindet die endogenen und exogenen Perspektiven durch die biologisch-naturwissenschaftliche und sozioökonomische Orientierung, ohne jedoch den Alltagskontext unmittelbar zu berücksichtigen (LEONHÄUSER 1995). Biologisch-naturwissenschaftliche Perspektive Das Überleben ist an eine regelmäßige und ausreichende Zufuhr von Kohlenhydraten, Proteinen, Fetten, Mineralstoffen Vitaminen, Spurenelementen, Ballaststoffen und sekundären Pflanzenstoffen gebunden. Zwar ist die Ernährung eine biologische Notwendigkeit, aber die Auswahl, der Umgang mit und die Zubereitung von Nahrung wurde immer und zu jeder Zeit der Menschheitsgeschichte kulturell ausgestaltet (RATH 1984, KLEINSPEHN 1987). Sowohl im Alltagsverständnis als auch in der wissenschaftlichen Betrachtung können den Begriffen „Essen“ und „Ernährung“ unterschiedliche Bedeutungen zugeordnet werden (TEUTEBERG 1993; PUDEL, WESTENHÖFER 1998; SCHLEGEL-MATTHIES 2001). In dem Maße, wie die Naturwissenschaften an Einfluss gewannen, wurde der wissenschaftliche Deutungszusammenhang von Essen und Trinken als Heilkunst und Lebensweise verdrängt (TEUTEBERG 1993). Die Erfahrung der Einheit von Leben - Alltag - Essen - Lebensführung wurde abgelöst zugunsten von positivistischen Erklärungsmodellen. Exemplarisch verdeutlichen dies heute die quantitativen Referenzwerte der Deutschen Gesellschaft für Ernährung (DGE 2000a), die Richtwerte, Maßzahlen und Mengenangaben für eine „gesunde“ und damit „wissenschaftlich gesicherte“ Ernährung liefern. Ernährungslehre wird zu einer Naturwissenschaft, die das „Essen“ quantitativ und nach biochemischen, physiologischen UrsacheWirkungsmechanismen erklärt und bewertet. Ausgehend davon werden normative Vorgaben geschaffen, die die Grundlage für eine „richtige“ Ernährungsweise bilden. Heute ist die Ernährungsforschung zudem durch drei aktuelle Entwicklungen bestimmt:
„die zunehmende Erkenntnis, dass der Ernährung eine überragende Bedeutung in der Krankheitsprävention zukommt, die methodischen Möglichkeiten der biochemischen, zellulären und molekularbiologischen Forschung, einschließlich der funktionellen Genomik und
2.2 Perspektiven Ernährungsverhalten
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die Einführung von Lebensmitteln mit präventivmedizinischem Zusatznutzen (funktionelle Lebensmittel, functional food).“ (DEUTSCHE FORSCHUNGSGEMEINSCHAFT 2006, S. 1)
Sozioökonomische Orientierung Die wenigen durchgeführten sozioökonomischen Studien sind vorwiegend Studien aus ernährungsphysiologischer Sicht sowie Studien zum Lebensmittelverbrauch und Lebensmittelverzehr der Deutschen. Quantitative, repräsentative Daten zur Ernährungsversorgung und zum Ernährungsverhalten von Mitgliedern in Privathaushalten sind bislang für Deutschland kaum erhoben worden. Die erste Nationale Verzehrsstudie 1991 (NVS I) war bis vor kurzem die einzige repräsentative wissenschaftliche Untersuchung zum Lebensmittelverzehr der Westdeutschen. Ihre Ergebnisse liefern ein differenziertes Bild zur Nährstoffaufnahme sowie zu Einstellungen gegenüber Lebensmitteln und Gesundheit. Beim Ernährungssurvey als Unterstichprobe des Bundes-Gesundheitssurveys 1998 (ROBERT-KOCH-INSTITUT 2004) wurde lediglich der Konsum der Hauptlebensmittelgruppen nach Häufigkeit und Menge im Hinblick auf die Nährstoffsituation erfasst. Die Einkommens- und Verbrauchsstichprobe (EVS), die im fünfjährigen Turnus vom Statistischen Bundesamt erhoben wird, bezieht sich nach dem Marktentnahmekonzept auf die eingekauften Lebensmittel von Privathaushalten, bewertet nach Mengen und Preisen, sowie unterschieden nach Einkommensgruppen, Anzahl der Haushaltsmitglieder, Haushaltsform, sozialem Status etc. sowie auf den Außer-Haus-Verzehr. Da die EVS-Daten aggregierte eingekaufte Mengen, nicht jedoch den familiären Verzehr abbilden, können keine Rückschlüsse über Essgewohnheiten, Verteilungsmuster oder Entscheidungsstrukturen bezüglich der Nahrungszubereitung, Nahrungsvorund Nahrungsnachbereitung abgeleitet werden. Panel- Untersuchungen, beispielsweise von der GfK Panel Services Deutschland GmbH, Nürnberg, erfassen ebenso nur die eingekauften Lebensmittel, hier allerdings werden auch Motive, Einstellungen und Werte erfragt (KUTSCH/SZALLIES/WISWEDE 1991).
2.2.3 Ökotrophologische Perspektive Erst seit ca. dreißig Jahren gibt es vereinzelte Ansätze, die „black box“ der Lebensführung von Privathaushalten im Allgemeinen und ihrer Ernährung im Besonderen aufzuhellen, also den Blick auf die Individuen in diesen Haushalten in ihren sozialen, ökonomischen und emotionalen Bedürfnis- und Beziehungsstrukturen zu richten. In Bezug auf den Untersuchungsgegenstand „Haushalt“ sind die wegweisenden haushaltswissenschaftlichen Arbeiten von
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2 Forschungsstand
VON SCHWEITZER zu nennen (VON SCHWEITZER 2006; 1991; 1987; 1978; VON SCHWEITZER/PROSS 1976). Die von ihr konzeptualisierten systemtheoretischen
und handlungsorientierten Betrachtungsebenen von Haushaltsstrukturen und Haushaltshandlungen ermöglichen es, das Haushaltsgeschehen im Kontext von Daseinsvorsorge und der Ernährungsversorgung im Besonderen mit den damit in Verbindung stehenden Handlungen und Prozessabläufen zu analysieren (LEONHÄUSER 2002; 1993). Was den unmittelbaren Bezug zum Teilsystem Ernährung von Haushalten betrifft, so liegen bisher zwei Fallstudien von dem Volkskundler NEULOH und dem Historiker TEUTEBERG (NEULOH/TEUTEBERG 1979) sowie von den Medizin-Soziologen VON FERBER und ABT (1993) vor. Weder die Befunde dieser Untersuchungen noch der bisher in eigenen Arbeiten vertretene verhaltenswissenschaftliche Ansatz8 erlauben indessen Rückschlüsse auf die Beantwortung der Frage, ob und inwieweit Haushalte bereit sind, sich den gesellschaftlich bedingten (exogenen) Veränderungen in ihren Auswirkungen auf den Essalltag zu stellen – zu denken ist beispielsweise an die Organisation des Alltags in ihren räumlich-zeitlichen, sachlich-arbeitsteiligen und sozialen Dimensionen, insbesondere, was die Aushandlungs- und Abstimmungsleistungen betrifft. Zur Frage der Operationalisierung der in dieser Veröffentlichung vorgenommenen Begrifflichkeit „Essalltag“ kann auf das Ende der achtziger und Anfang der neunziger Jahre durchgeführte Forschungsprojekt „Alltägliche Lebensführung“ (JURCZYK/RERRICH 1993a) zurückgegriffen werden. Ihre Ergebnisse zur Gestaltung des beruflichen und familialen Alltags auf der Grundlage des theoretischen Konzepts „Lebensführung“ verweisen auf einen umfassenden Untersuchungsansatz, der mit der eher theoretisch angelegten „Soziologie des Alltags“ (AHLHEIT 1983; BAETHGE/EßBACH 1983; SCHÜTZ/LUCKMANN 1990, 1994) nicht vergleichbar, jedoch für den eigenen ökotrophologischen Ansatz hilfreich ist. „Alltägliche Lebensführung“ wird dort als integratives Konzept verstanden, welches das gesamte Tätigkeitsspektrum der Personen umfasst: Beruf, Hausarbeit, Familienarbeit, Freizeit und anderes mehr sowie die Organisation und Koordination dieser Tätigkeiten. JURCYK und RERRICH (1993b) definieren die Lebensführung als den systematischen Ort, an dem Personen in ihrem praktischen Alltagshandeln die unterschiedlichen gesellschaftlich ausdifferenzierten 8
Vgl. LEONHÄUSER (1999), KLAPP/LEONHÄUSER (1995), LEHMKÜHLER/LEONHÄUSER (1999); der verhaltenswissenschaftliche Untersuchungsansatz liefert eher eine deskriptivkausale Momentaufnahme des Essverhaltens von bestimmten Bevölkerungsgruppen und den das Verhalten bestimmenden endogenen und exogenen Faktoren.
2.2 Perspektiven Ernährungsverhalten
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Arbeits- und Lebensbereiche und ihre sozialen Beziehungen gestalten und integrieren. Essen und Trinken – verstanden als Alltagshandeln im Kontext von alltäglicher Lebensführung – wurden jedoch weder im o. g. Forschungsprojekt noch von Vertretern und Vertreterinnen unterschiedlicher sozialwissenschaftlicher Disziplinen bearbeitet, die sich mit dem „Phänomen“ Essen und/oder Ernährung9 (BARLÖSIUS 1999; 1995; BUNDSCHUH 1995; KUTSCH 1993; BODENSTEDT/VON FERBER 1980) auseinandersetzen. Die vorwiegend von Frauen geleistete Ernährungsversorgung der Familien als Teil ihrer „Alltagsarbeit“ ist eng mit den Haushalts- und Familienstrukturen verwoben. Diese Alltagsarbeit wird einerseits milieuspezifisch und gesamtgesellschaftlich geprägt und ist andererseits durch die familialen Ressourcen bedingt. Wird dieser Zusammenhang aus der Haushaltsperspektive untersucht, erscheint es sinnvoll, von Haushaltsstilen (MEIER 2000) zu sprechen. Hierbei wird sowohl die Kategorie „Geschlecht“ als auch die der „Ernährungsversorgung“ als Bestandteile der Daseinsvorsorge im Geschlechter- und Generationenzusammenhang berücksichtigt. Gesellschaftliche Auswirkungen Gesellschaftliche Auswirkungen können im thematischen Kontext des Essalltags z. B. anhand der Frage erörtert werden, inwieweit Familienhaushalte einen Teil ihrer Ernährungsversorgung durch Angebote zum Außer-Haus-Verzehr vornehmen und welche Einflussgrößen hier eine Rolle spielen. Vorhandene und sichtbare Ausgabenanteile privater Haushalte für Nahrungs- und Genussmittel beim Außer-Haus-Verzehr seit den 60er Jahren des zwanzigsten Jahrhunderts dokumentieren durchaus die Bereitschaft von Privathaushalten, unbezahlte Hausarbeit im Bereich der Ernährungsversorgung durch bezahlte Dienstleistungen zu ersetzen. Laut Feinaufschreibungen der Einkommens- und Verbrauchsstichprobe (STATISTISCHES BUNDESAMT 2003) wurden 2003 für den Außer-Haus-Verzehr monatlich durchschnittlich je Haushalt rund 87 Euro (1998: 83 Euro) ausgegeben. Deutliche Ausgabenunterschiede treten auf, wenn die soziale Stellung berücksichtigt wird. Im Jahr 2003 bezahlten die Haushalte von Beamten durchschnittlich 116 Euro pro Monat für den AußerHaus-Verzehr. Diese Summe entsprach rund 40% der monatlichen Aufwendungen für Nahrungsmittel, Getränke und Tabakwaren der Beamtenhaushalte. Weniger wurde in den Haushalten von Angestellten (104 Euro) bzw. von Arbeitern und Arbeiterinnen (88 Euro) aufgebracht. Dabei ist zu berücksichtigen, dass das Haushaltsnettoeinkommen ein wesentlicher determinierender Faktor für die Ernährungsausgaben insgesamt darstellt. Trotz vorhandener Differenzen 9
Mit einer Klärung dessen, welche Problembereiche für die Entwicklung einer Ernährungssoziologie essentiell sein könnten, hat sich BARLÖSIUS (1999) verdient gemacht.
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2 Forschungsstand
in den Ausgabenanteilen für das Essen außer Haus – unterschieden nach Einkommen bzw. der sozialen Stellung des Haupteinkommensbeziehers von Ostund Westdeutschen – lässt sich eine stetige Nachfrage nach Dienstleistungen für den Außer-Haus-Verzehr im In- und Ausland beobachten (CZAJKA/KOTT 2006). Der Trend, vorgefertigte Nahrung zu konsumieren, scheint als parallele Entwicklung zur Erwerbstätigenquote von Frauen zu verlaufen. Neben den veränderten Arbeitsbedingungen von Frauen lassen sich weitere sozialstrukturelle Faktoren anführen: Mittagsmahlzeiten verlagern sich auf Grund von Arbeits- und Freizeitaktivitäten auf einen späteren Zeitpunkt, das Abendessen gewinnt an Bedeutung, damit zumindest einmal am Tag alle Familienmitglieder daran teilnehmen können. Auch nimmt der Außer-Haus-Verzehr im Zuge von vielfältiger, neuer Freizeitgestaltung zu (GUTHRIE/BIING-HWAN/ FRAZAO 2001; BOWERS 2000; DEUTSCHE GESELLSCHAFT FÜR ERNÄHRUNG 2000). Es ist allerdings wenig über die Gründe und Motive bekannt, die Haushaltsmitglieder bei ihrer Daseinsvorsorge zum Außer-Haus-Verzehr veranlassen. Ob und in welchen Haushaltstypen die dadurch erzielte Zeitersparnis im Vordergrund steht oder ob es vorrangig um die Befriedigung sozial-kommunikativer Bedürfnisse geht, ist bisher nicht analysiert worden. Die Befunde der ersten repräsentativen gesamtdeutschen Zeitbudgeterhebung von 1991/92 (MEYER/WEGGEMANN 2001) sprechen für ein Verharren der deutschen Bevölkerung in überwiegend „traditionellen“ häuslichen Mahlzeitenmustern, trotz der Zunahme der Erwerbsbeteiligung von Frauen und der Tendenz zum schnelleren und situativen Essen außer Haus. Gender-Perspektive Der thematische Zusammenhang „Gender und Ernährung“ wurde in einer vorwiegend naturwissenschaftlich geprägten Ernährungswissenschaft bislang nur marginal aufgegriffen (SETZWEIN 2004). Die Ernährungsversorgung ist im Alltag von Familien – über alle strukturellen Unterschiede und Lebensstile hinweg – nach wie vor an eine geschlechtsbezogene Aufteilung gekoppelt: Die mit der Ernährungsversorgung verbundenen Vor-, Zu- und Nachbereitungen werden vorrangig von Frauen geleistet (BROMBACH 2001). Wie allerdings die Ernährungsversorgung in Alltags- und Lebensbezügen von beiden Partnern organisiert und bewältigt wird, wie dies vor allem erwerbstätige Mütter leisten, mit ihren Partnern absprechen und wie sich Väter an der Konstruktion des Essalltags beteiligen, ist noch nicht systematisch untersucht worden. Der Bereich der Daseins- und Ernährungsvorsorge wurde seit jeher öffentlich gering bewertet, obgleich dieser in seiner Funktionalität für den Erhalt einer Gesellschaft zentral ist. Diese kulturbedingte Einschätzung von Frauen-
2.3 Determinanten Essalltag
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arbeit spiegelt sich gleichfalls in der wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit „Alltagsthemen“ wider, die in einer bislang überwiegend „männlich geprägten Wissenschaft“ wenig thematisiert werden. Somit greift die GenderPerspektive eine „doppelte Leerstelle“ im Wissenschaftsbetrieb auf: Die marginalisierte Position der Ernährung in der Geschlechterforschung einerseits und die Vernachlässigung der grundlegenden Analysekategorie „Geschlecht“ in der Ernährungswissenschaft andererseits. Es liegen zwar mittlerweile Analysen vor, die über die geschlechtsspezifischen Verzehrsgewohnheiten Auskunft geben (MEIER 2002), größtenteils verbleiben diese Studien im Deskriptiven und reproduzieren bereits bekannte Zusammenhänge.
2.3 Determinanten der praktischen Ausgestaltung des Essalltags Die von der Öffentlichkeit bisher nur gering geschätzten essentiellen Leistungen der Ernährungsversorgung für die Gesellschaft spiegeln sich auch in der Tatsache wider, dass in Deutschland bislang wenige Studien zum Essalltag und Ernährungsverhalten von Familienhaushalten durchgeführt wurden.
2.3.1 Quantitative Studien in Deutschland Die Auseinandersetzung mit dem Essalltag von deutschen Familienhaushalten liegt in quantitativen Studien bislang nur als „Nebenprodukt“ des eigentlichen Forschungsgegenstandes vor. Unterschiedliche Erhebungen mit unterschiedlichen Erhebungszielen und Methoden im Rahmen der Ernährungs- und Gesundheitsberichterstattung des Bundes und der Länder werden hierzu mehr oder wenig regelmäßig durchgeführt, um die Ernährungs- und Gesundheitssituation der Bevölkerung und einzelner Bevölkerungsgruppen zu erfassen. Beispiele hierfür sind die Agrarstatistiken, Verbrauchsstatistiken und Wirtschaftsrechnungen privater Haushalte (STATISTISCHES BUNDESAMT 2003, DEUTSCHE GESELLSCHAFT FÜR ERNÄHRUNG 2004) sowie direkte Verzehrserhebungen im Rahmen von nationalen und europäischen Ernährungs- und Gesundheitssurveys des Robert- Koch Instituts und des Deutschen Instituts für Ernährungsforschung. Mit der in den vergangenen vier Jahren im Auftrag des Bundesministeriums für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz vorbereiteten und durchgeführten zweiten Nationalen Verzehrsstudie (NVS II) wurde indessen 2008 eine bundesweit repräsentative Studie zur Ernährung von Jugendlichen und Erwachsenen vom MAX- RUBNER-INSTITUT, KARLSRUHE, präsentiert. Dabei werden nicht nur Verzehrsdaten und anthropometrische Messdaten zu
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2 Forschungsstand
Körpergewicht, Körpergröße und BMI, sondern auch umfassende Befunde zu Ernährungswissen, Ernährungsweisen, zur Teilnahme an der Gemeinschaftsverpflegung, zur Risikoeinschätzung, Einnahme von Nahrungsergänzungsmitteln, Kochkompetenz u. a. m. vorgelegt (Max-Rubner-Institut 2008). Insgesamt sind in den angesprochenen Studien jedoch große Informationslücken zu beobachten, beispielsweise zur Frage, unter welchen sozioökonomischen Bedingungen Umfang und Qualität von häuslichen Ernährungsversorgungssystemen entstehen und durch welche Determinanten sich die Entscheidungsprozesse zum Ess- und Trinkverhalten einzelner Familienmitglieder herausbilden. Eine eigenständige quantitative Untersuchung zum Ernährungsverhalten von Familienhaushalten existiert nicht.
2.3.2 Qualitative Studien in Deutschland Ebenso wenig gibt es eine umfassende qualitative Studie zum Ernährungsverhalten von Familienhaushalten in Deutschland. Autoren vereinzelter Studien widmen sich allerdings unterschiedlichen Aspekten der Ernährungsversorgung von Familienhaushalten. Mahlzeiten stehen im Blickpunkt der Arbeiten von BROMBACH. Die Autorin beschreibt die subjektive Bedeutung von Mahlzeiten als Zeit der Kommunikation und Ort der Sozialisation, Ästhetik und Emotionen. Sie entwickelt eine Mahlzeitenpyramide, nach der sich Mahlzeiten durch den Ort, die anwesenden Personen und die Zeit konstituieren (BROMBACH 2001). In einer Untersuchung zum Mahlzeitenverhalten von Familienhaushalten, an der drei Generationen beteiligt waren, wird aufgezeigt, dass sich Zeit- und Arbeitsaufwand für die Nahrungszubereitung heute im Gegensatz zur Großelterngeneration deutlich reduziert haben und vermehrt Halbfertig- und Fertigprodukte genutzt werden. Neben diesen inhaltlichen sind auch strukturelle Veränderungen hinsichtlich einer flexiblen Anpassung der Mahlzeiten an zeitliche Erfordernisse zu beobachten. Das Ideal der gemeinsamen Familienmahlzeiten hat weiterhin Bestand und zeigt sich gegenüber den makro-sozial bedingten strukturellen und inhaltlichen Veränderungen als persistent (BROMBACH 2003). Anhand der Ergebnisse von zwei qualitativen Interviewstudien (BROMBACH 2005) werden sowohl die Veränderungen als auch die stabilen „Pfeiler“ familialer Kochkultur im Verlauf von drei Generationen beschrieben. In der Großelterngeneration, der sog. f1-Generation, erfolgt eine traditionelle Arbeitsteilung, indem Frauen für die Nahrungszubereitung verantwortlich sind und Männer im Umfeld mit helfen. Zahlreiche Großmütter verköstigen ihre Enkel bzw. eigenen Kinder, geben ihnen vorgefertigte Speisen mit oder sprechen Einladungen zum Essen
2.3 Determinanten Essalltag
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aus. Alle befragten Mütter, die berufstätig sind (f2-Generation), empfinden es als Belastung, Familie, Ernährungsversorgung und Beruf zu vereinbaren. Für sie ist die Zeit eine knappe Ressource, nach der sich auch Art und Umfang des Kochens richtet. Obwohl die befragten Mütter aussagen, dass sie meist sehr gern kochen, empfinden sie oft die Nahrungszubereitung an Werktagen als Stresssituation. Im Vergleich zur f1-Generation messen sie der zeitlichen Mahlzeitengestaltung einen größeren Freiraum bei, um z.B. unterschiedliche Freizeitaktivitäten der einzelnen Familienmitglieder zu ermöglichen. In der f3Generation werden Mädchen selbstverständlicher in die Nahrungszubereitung eingebunden als Jungen. Betätigen sich die Jungen, wird dies von den Müttern besonders hervorgehoben. KLAPP (1998) untersucht die Bedeutung von gemeinsamen Mahlzeiten der Kinder in Kindertagesstätten für die Ernährungssozialisation von Kindern. Die Autorin kommt u. a. zu dem Ergebnis, dass Ernährungssozialisation dann effektiv ist, wenn Art und Umfang der Ernährungsversorgung in der Familie und in den Betreuungs- und Bildungseinrichtungen aufeinander abgestimmt werden. Die Auswirkungen von Armut auf das Ernährungsverhalten von Familien mit niedrigem Einkommen beschreibt LEHMKÜHLER (2002). Anhand einer qualitativen Studie in 15 Armutshaushalten in Hessen zeigt sich, dass das Ernährungsverhalten von Familien mit niedrigem Einkommen deutlich von dem Verhalten der Familien mit höherem Einkommen abweicht. Gründe sind einerseits knappe finanzielle Ressourcen, andererseits spielen auch fehlende Ernährungskompetenzen im Umgang mit und bei der Verarbeitung von Lebensmitteln ebenso eine Rolle wie das Wissen um eine gesunde Ernährung. Um die Ernährungssituation von Familien mit niedrigem Einkommen zu verbessern, sollten Haushalte befähigt werden, sich relevante Fähigkeiten und Fertigkeiten anzueignen, um ein gesundheitsförderliches Ernährungsverhalten für sich und ihre Familie innerhalb ihrer finanziellen, kulturellen und sozialen Rahmenbedingungen zu praktizieren.
2.3.3 Qualitative Studien außerhalb Deutschlands In skandinavischen Ländern und auch im anglo-amerikanischen Sprachraum existieren einzelne Studien, die sich beispielsweise mit der Identität stiftenden Funktion der Ernährung oder aber mit spezifischen endogenen-exogenen Determinanten des Ernährungsverhaltens eines Haushalts oder einzelner Personen auseinandersetzen. Eine umfassende Darstellung des Essalltags von Familienhaushalten sucht man in diesen qualitativen Studien vergeblich. Nachfolgend
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2 Forschungsstand
werden die unterschiedlichen Schwerpunkte dieser Arbeiten kurz erläutert, ohne dabei einen Anspruch auf Vollständigkeit zu erheben. Identitätsstiftende Funktion von Ernährung BARTHES (1997) erörtert die Frage, welche Bedeutung die Ernährung für den Menschen hat und kommt zu dem Ergebnis, dass über eine bestimmte Ernährung oder den Konsum einzelner Lebensmittel Werte, Assoziationen und Wünsche transportiert werden. Im Rahmen der Studie „Food and Identity Among Families in Copenhagen“ (HOLM 1996) wird untersucht, inwieweit Essen und Trinken, die Wahl der Lebensmittel und Speisen dazu beitragen, für den Einzelnen und gesellschaftliche Gruppen Identität stiftend zu wirken10. CONNORS et al. (2001) untersuchen, wie ein Individuum zu seinem persönlichen Ernährungsverhalten gelangt. Sie gehen davon aus, dass jeder Mensch ein "personal food system" besitzt, dass auf bisherige Lebenserfahrungen und Lebensereignisse zurückzuführen ist und sich aus dem jeweiligen Kontext, den sozialen Beziehungen, persönlichen Ressourcen, Werten und Idealen herausbildet. Veränderungen und Neuerungen dieses individuellen Ernährungsverhaltens sind möglich. Die Erstellung eines gemeinsamen, häuslichen Ernährungsmusters erfordert nach GILL (1999) immer Angleichungen, Aushandlungen und Kompromissbereitschaft der einzelnen Individuen mit ihren eigenen Vorstellungen und Bedürfnissen. Die Rolle der Kinder wird dabei oft übersehen. Die Arbeit von MITCHELL (1999) ist auf die Frage gerichtet, ob trotz dynamischer wirtschaftlicher und gesellschaftlicher Veränderungen die Ernährungsmuster in ihrer Entwicklung stabil bleiben. Am Beispiel der britischen Ernährungsweise kommt die Autorin zu dem Schluss, dass die traditionelle Form der Hauptmahlzeit (d.h. Fleischgericht mit einer kohlenhydratbasierten Sättigungsbeilage und Gemüse) erhalten geblieben ist und als wichtig und gesund eingestuft wird. Allerdings haben sich die für den Verzehr gewählten Lebensmittel und auch die Zubereitungsart verändert (z.B. wird mehr Geflügelfleisch, mehr Reis und Nudeln verzehrt sowie Pommes Frites anstelle von frischen Kartoffeln). Die zukünftige Entwicklung wird als "menu pluralism" bezeichnet, was heißt, dass sich mit zunehmender Diversifizierung des Lebensmittel- und Dienstleistungsangebots auch die tradierte Ernährungsweise verändert.
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Zur näheren Erläuterung wird von HOLM (1996) ein Zitat von FISCHLER (1988) angeführt: „The way any given human group eats helps it assets its diversity, hierarchy and organization, and at the same time, both its oneness and otherness of whoever eats differently” (FISCHLER 1988, S. 275).
2.3 Determinanten Essalltag
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Ernährungsverhalten und Essalltag BEARDSWORTH/BRYNAN/KEIL (2002) weisen auf geschlechtsspezifische Präferenzen hinsichtlich der Nahrungsauswahl hin und sprechen Frauen mehr Fertigkeiten im Umgang mit Lebensmitteln zu als Männern; ein umfassenderes ernährungsrelevantes Wissen wird ebenso eher bei den Frauen beobachtet. In anderen Studien (BOVE/SOBAL/RAUSCHENBACH 2003, MARSHALL/ ANDERSON 2002, KEMMER 1999 und JANSSON 1995) wird analysiert, wie sich das individuelle Ernährungsverhalten durch das Zusammenleben mit einem Partner bzw. nach der Heirat verändert. Es wird ermittelt, welche Auswirkungen die unterschiedlichen Rollenverständnisse zur Arbeitsteilung im Haushalt (gleichberechtigte Arbeitsteilung vs. nicht mehr typische, traditionelle geschlechtsstereotype Vorstellungen von Arbeitsteilung) auf die Präferenzen für bestimmte Lebensmittel und Gerichte haben (BROWN/MILLER 2002). Die Autorinnen kommen zu dem Ergebnis, dass die Frauen eher ihre eigenen Wünsche den Wünschen des Partners und der Kinder nachordnen. DIXON/BANELL (2004) bestätigen, dass die Rücksichtnahme auf Vorlieben und Geschmackspräferenzen der Partner und auch der Kinder ein wesentliches Handlungsmotiv für Mütter sei. Untersuchungen zum kindlichen Ernährungsverhalten verdeutlichen, dass zahlreiche Faktoren das Essverhalten und die Lebensmittel- und Speisenpräferenzen von Kindern prägen. BIRCH/FISHER (1998) diskutieren die Vorbildfunktion der Eltern und die Bedeutung gemeinsamer Mahlzeiten bei der Prägung des kindlichen Ernährungsverhaltens. BOURCIER et al. (2003) stellen das Rollenverständnis der Mütter als Hauptverantwortliche für die Ernährungsversorgung heraus und untersuchen, welche Strategien Mütter anwenden, um Kinder und den Partner zu einer gesunden Ernährungsweise zu motivieren. Die Autoren betonen ebenfalls die Vorbildfunktion der Mutter. PÉREZRODRIGO/ARANCETA (2001) erläutern die Schlüsselrolle der Familie beim Erlernen und Entwickeln von Lebensmittelvorlieben sowie beim Ernährungsverhalten, die im Schulalter jedoch zunehmend durch Lehrer und „peers“ übernommen wird. Kinder beginnen dann zunehmend eigene Entscheidungen in Bezug auf Essen und Trinken zu treffen (VEREECKEN/KEUKELIER/MAES 2004). Die Bedeutung des erlernten Ernährungsverhaltens in der Kindheit für das spätere Ernährungsverhalten im Erwachsenenalter erläutern BRANEN und FLETCHER (1999). Die Abläufe des täglichen Ernährungsalltags von Familienhaushalten sind Gegenstand der qualitativen Untersuchung von HOLM/KILDEVANG (1996). Die Autorinnen identifizieren Aussagen, Meinungen und Einstellungen der Befragten über ihr Alltagsverständnis von Nahrungsmitteln, zum Essen im Allgemeinen und zur Lebensmittelqualität im Speziellen; dieses sind „themes of interest
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2 Forschungsstand
for food producers and retailers, public authorities and health educators.“ (HOLM/KILDEVANG 1996: 1) Mahlzeitenzubereitung und Außer-Haus-Verzehr BOWERS (2000) stellt für amerikanische Familienhaushalte fest, dass immer weniger Zeit für die Zubereitung von Mahlzeiten aufgewendet wird und Mütter vielfältige Strategien entwickelt haben, um den Zeitaufwand zu verringern. Beispiele hierfür sind die Inanspruchnahme von „home delivery“ - Angeboten, Convenienceprodukten sowie von Angeboten einfacher Mahlzeiten anstelle von mehrgängigen kompletten Menüs. GUTHRIE/BIING-HWAN/FRAZAO (2001) beschreiben bei amerikanischen Haushalten die Bedeutung des Außer-HausVerzehrs und die abnehmende Bereitschaft, selbst zu Hause zu kochen; dabei weisen sie auf mögliche ernährungsfehlbedingte Konsequenzen hin. (Familien-) Mahlzeiten Die sozialkommunikative Bedeutung von Mahlzeiten diskutieren BOUTELLE et al. (2003). Sie beobachten, dass einerseits während des Essens Konfliktgespräche geführt werden, andererseits während der Mahlzeiteneinnahme ferngesehen wird. Die ursprünglich bestehende Idealvorstellung, Mahlzeiten mit der Familie gemeinsam einzunehmen, wird nach den Studien von BOWERS (2000) in den USA immer seltener realisiert. Mahlzeitenmuster und soziale Funktionen von Mahlzeiten in skandinavischen Ländern stehen im Beitrag von KJAERNES (2002) im Mittelpunkt. MÄKELÄ et al. (1999) gehen der Frage nach, ob in modernen Gesellschaften feste regelmäßige Mahlzeiten durch unregelmäßiges „Snacken“ abgelöst werden, ob also eine Auflösung traditioneller Mahlzeitenstrukturen zu beobachten ist. Die Autorinnen kommen zu dem Ergebnis, dass das typische tägliche Mahlzeitenmuster in den untersuchten skandinavischen Ländern weiterhin aus drei bis fünf regelmäßigen Mahlzeiten besteht; „Snacking“ und „Grazing“ haben dieses Mahlzeitenmuster nicht abgelöst. Es konnten aber Unterschiede zwischen den einzelnen Ländern bezüglich der Anzahl und Abfolge von warmen und kalten Mahlzeiten ebenso beobachtet werden, wie das, was gegessen wird. NEUMARK-SZTAINER et al. (2003) fanden heraus, dass häufigere Familienmahlzeiten zu einer gesünderen Ernährungsweise von Jugendlichen beitragen. Dabei wird deutlich, dass ein höherer sozialer Status der Familien mit der Häufigkeit von gemeinsamen Mahlzeiten positiv korreliert.
2.4 Fazit
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Geschlechtsspezifische Arbeitsteilung Zur geschlechtsspezifischen Arbeitsteilung gibt es einige Untersuchungen. Beispielsweise bestätigen BEARDSWORTH/BRYNAN/KEIL (2002), dass ernährungsrelevante Entscheidungen und die Ernährungsversorgungsarbeit überwiegend in den Händen der Frauen liegen. BONKE (1999) zeigt auf, dass sich geschlechtsspezifisches Rollenverständnis zur Mithilfe im Haushalt bereits in der Kindheit manifestiert und nennt als Einflussfaktoren die Beteiligung von Kindern an der Hausarbeit, den Bildungsstand und den Erwerbsarbeitsumfang der Mütter.
2.4 Fazit Dieser kurze Überblick zum Stand der Forschung in und außerhalb Deutschlands dokumentiert, dass die Phänomene „Ernährungsverhalten“, „Ernährungsversorgung“, „Essalltag“ bereits im Mittelpunkt des Interesses von verschiedenen Disziplinen stehen (z.B. Soziologie, Psychologie, Ökonomie, Kulturwissenschaften). Er verdeutlicht aber auch den Bedarf nach umfassenden Untersuchungen zum Essalltag von Familienhaushalten. Dabei wird der Familienhaushalt nicht nur als Wirtschaftseinheit betrachtet, sondern als der Ort, an dem unter Berücksichtigung von familialen Ressourcen der Essalltag von allen Beteiligten eines Haushalts aktiv gestaltet wird und sozial vermittelte, ernährungsbezogene Deutungsmuster umgesetzt werden. Die in den einzelnen Studien dargelegten Befunde sind unter spezifischen Studienzielsetzungen und aus unterschiedlichen Studienrahmenbedingungen hervorgegangen; sie bieten dennoch die für die Intensivierung einer in Deutschland erst am Beginn stehenden sozialwissenschaftlichen Ernährungsforschung11 umfangreiche und unverzichtbare Basis, verschiedene Vorannahmen für die eigene Forschungsfragestellung zu treffen und die geeignete methodische Vorgehensweise zu wählen.
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In seinen Empfehlungen zur Entwicklung der Agrar- und Ernährungswissenschaften in Deutschland schlägt der Wissenschaftsrat angesichts der Zunahme an ernährungsbedingten Erkrankungen u. a. vor, die sozialwissenschaftliche Ernährungsforschung zu intensivieren (WISSENSCHAFTSRAT 2006).
3 Forschungsdesign
3.1 Ökotrophologischer Bezugsrahmen Im Fokus des Projektes und damit auch des vorliegenden Buches steht der Essalltag in Familienhaushalten von erwerbstätigen Müttern. In Deutschland sind in 51% aller Familienhaushalte beide Partner berufstätig (STATISTISCHES BUNDESAMT 2006). Dies prägt einerseits maßgeblich die materiellen Ressourcen eines Haushalts, da zwei Einkommensbezieher zum Haushaltseinkommen beitragen. Andererseits sinkt mit zunehmender Erwerbstätigkeit der Frau ihre arbeitsungebundene, frei verfügbare Zeit. Zudem bedingt die außerhäusliche Abwesenheit der Mutter, dass die Ernährungsversorgung von Familienhaushalten nicht auf den privaten Raum des eigenen Haushalts beschränkt bleibt, indem beispielsweise die Mutter sich selbst am Arbeitsplatz außer Haus versorgt bzw. durch Dritte versorgt wird. Verflechtungen von selbst erbrachten und in Anspruch genommenen Leistungen der Ernährungsversorgung, d. h. Verflechtungen zwischen dem eigenen Haushalt als privatem Raum und dem öffentlichen Raum12 sind von ihrer Bedeutung und Wertigkeit zur Bewältigung des Essalltags bislang nicht erforscht worden. Auswirkungen der mütterlichen Berufstätigkeit auf die Ausgestaltung der Ernährungsversorgung zwischen privatem und öffentlichem Raum gilt es daher zu untersuchen. Aufgrund einer im deutschsprachigen Forschungsraum dominierenden naturwissenschaftlich ausgerichteten Ernährungsforschung erscheint es den Autorinnen zur Gewinnung von weiterführenden und aktuellen Erkenntnissen unverzichtbar, die ernährungs- und haushaltswissenschaftlichen Ansätze im Rahmen einer umfassenden ökotrophologischen Perspektive miteinander zu verknüpfen. Die ökotrophologische Sichtweise spiegelt sich in der nachfolgenden Abbildung 3.1 wider. Für die ökotrophologische Forschungsarbeit ist es dabei wesentlich, die hier systemisch angeordneten, aber nur beispielhaft genannten Faktoren, nach und nach in ihren Zusammenhängen zu untersuchen.
12
Dies sind z.B. Kantinen, Mensen, Versorgungsangebote für Kinder und Heranwachsende in Bildungs- und Betreuungseinrichtungen, aber auch außerhäusliche Versorgungsangebote als Teil der Gastronomie und zur Freizeitgestaltung.
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3 Forschungsdesign
Abbildung 3.1: Ernährungsversorgung im mikro-sozioökonomischen Handlungssystem
Quelle: modifiziert nach VON SCHWEITZER (1991)
Die Ernährungsversorgung bzw. synonym der Essalltag ist elementarer Bestandteil haushälterischen Handelns und lässt sich aus handlungstheoretischer Perspektive darstellen (VON SCHWEITZER 2006, 1991). Die Ernährungsversorgung wird dabei als wesentlicher Versorgungsbereich verstanden, der zur Sicherstellung regenerativer Grundfunktionen aller Familienmitglieder unabdingbar ist. Art und Umfang, Anspruch und Wertschätzung der Ernährungsversorgungsaktivitäten sind das Ergebnis vielfältiger Wechselbeziehungen zwi-
3.1 Ökotrophologischer Bezugsrahmen
39
schen verschiedenen Einflussfaktoren auf der Mikro-, Meso- und Makroebene. Während auf der Mikroebene einerseits beispielsweise die psychosozialen Bedürfnisse, Bedarfe, Präferenzen und Leitbilder der einzelnen Familienmitglieder und andererseits ihre Ressourcen sichtbar werden, steht die Mesoebene für die Faktoren, die sich aus dem unmittelbaren Haushaltsumfeld (Standortfaktoren, soziales Netzwerk, gemeinnützige, betriebliche und gewerbliche Einrichtungen der Außer-Haus-Verpflegung) ergeben. Die Makroebene umfasst die kulturellen, wirtschaftlichen und gesellschaftlich-politischen Bereiche, in die der Haushalt eingebunden ist. Demzufolge resultiert das haushälterische Handeln13 bzw. der Handlungsspielraum aus dem Zusammenspiel der im Modell (Abb. 3.1) auf den einzelnen Ebenen veranschaulichten Faktoren. Auf die Ernährungsversorgung zwischen privatem und öffentlichem Raum bezogen, bilden sich haushaltsinterne und haushaltsexterne Handlungsoptionen heraus. Im Ergebnis sind diese sogenannten Haushaltsstile14 (MEIER 2000) als typische Muster der Alltagsorganisation zu sehen, denen in Bezug auf die Koordinierung von individuellen Bedürfnissen, Wertvorstellungen und Lebensstilpräferenzen haushaltsinterne Aushandlungs- und Entscheidungsprozesse zwischen den Haushaltsmitgliedern vorausgehen. Das Konzept des Haushaltsstils bildet die Grundlage dafür, auf der Basis von qualitativen Daten eine Typologie der Ernährungsversorgungsstile abzuleiten. Der Essalltag bzw. die Ernährungsversorgung wird vielfältig determiniert. Er konzentriert sich einerseits auf die räumliche, personelle, zeitliche und soziale Gestaltung der Mahlzeiten. Es entstehen familiale Mahlzeitenmuster, die von allen Beteiligten eines Haushalts konstruiert, erklärt und bewertet werden. 13
14
VON SCHWEITZER (1991, S. 137) geht davon aus, dass jeder haushälterischen Handlung eine Sinnsetzung bzw. Lebenseinstellung, die von Werten, Normen und Einstellungen geprägt wird, zugrunde liegt und von vorhandenen Ressourcen und Handlungsalternativen bedingt wird. Haushaltsstile werden definiert als „typische Muster der Alltagsorganisation von privaten Haushalten zur Sicherung der Daseinsvorsorge. Sie werden einerseits bestimmt durch die verfügbaren Ressourcen eines Haushalts und andererseits durch die getroffenen Lebensplanungen seiner Mitglieder. Haushaltsstile werden von den persönlichen Wertorientierungen und von Geschlechter- und Generationenbeziehungen, aber auch von den Rahmenbedingungen des haushälterischen Umfelds maßgeblich beeinflusst. Haushaltsstile ändern sich entlang der Haushaltsbiografie. Haushaltsstile sind kollektive haushälterische Gestaltungsleistungen, denen haushaltsinterne Aushandlungs- und Entscheidungsprozesse zwischen den Haushaltsmitgliedern vorausgehen, um ihre individuellen Bedürfnisse und Interessen, Wertvorstellungen und Lebensstilpräferenzen zu koordinieren (Mikroebene). Haushaltsstile bilden sich im Kontext milieuspezifischer Wahlmöglichkeiten und Zwänge (Mesoebene) und werden durch gesamtgesellschaftliche Strukturen (Makroebene) bestimmt“ (MEIER 2000, S. 59). Haushaltsstile bilden sich zeit- und ressourcengebunden heraus.
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3 Forschungsdesign
Andererseits bezieht sich der Essalltag auf die Beköstigung, unter der Aktivitäten der Informationsbeschaffung, Organisation und Planung von Mahlzeiten, des Einkaufs und der Vorratshaltung sowie der Zu- und Nachbereitung von Mahlzeiten verstanden werden. Sie werden mehr oder weniger innerhalb des eigenen Haushaltes, dem privaten Raum, oder außerhalb, durch den öffentlichen Raum, geleistet und sind für den Haushalt an sich, aber auch für die Gesellschaft unverzichtbar, um die physische und psychosoziale Versorgung von Menschen zu gewährleisten (Abbildung 3.2). Mahlzeitenmuster sind ohne Beköstigungsaktivitäten nicht zu realisieren. Abbildung 3.2:
Determinanten des Essalltags Physiologie Standort
Ökonomie Kultur
Organisation/ Planung
Zeit
Familienhaushalte und ihre Mitglieder
Einkauf
Raum
Vorratshaltung
Zubereitung
Nachbereitung
öffentlich privat
Realisierter Essalltag der Familienhaushalte
Quelle: Eigene Darstellung
Es wird zu prüfen sein, inwieweit Mahlzeitenmuster und Beköstigungsaktivitäten im sozioökonomischen und psychosozialen Gefüge eines Familienhaushalts weitgehend geschlechtsbezogen ausgeführt und bewertet werden 15. Zudem
15
Dieser mögliche Zusammenhang wird durch viele Studien bestätigt. Auch in anderen westlichen Ländern ist die Nahrungszubereitung ein typisch weibliches Aufgabenfeld. Auswahl-
3.1 Ökotrophologischer Bezugsrahmen
41
stehen folgende zentrale Fragestellungen im Mittelpunkt: Wie, mit welchen Ansprüchen und in welchem Umfang wird die Ernährungsversorgung insbesondere von erwerbstätigen Müttern im alltäglichen Geschehen erbracht? Welche zentrale Rolle und welche Funktionen üben die Mütter im Essalltag aus, der im Spannungsfeld zwischen Familien- und Erwerbsarbeit zu gestalten ist? Inwieweit können berufstätige Mütter beispielsweise auf haushaltsinterne oder haushaltsexterne Netzwerke zurückgreifen? Die Aktualität und Brisanz dieser Fragen ist nicht nur auf den in den letzten Jahrzehnten vollzogenen tief greifenden Strukturwandel von Familie und Gesellschaft zurückzuführen, sondern auch auf die zunehmende öffentliche Aufmerksamkeit, das Ernährungs- und Gesundheitsverhalten in den Familien zu beobachten, wenn nicht sogar in groß angelegten repräsentativen Studien (wie z. B. mit dem Kinder- und Jugendgesundheitssurvey und der Nationalen Verzehrsstudie II) zu analysieren. Das Forschungsanliegen dieser Studie besteht darin, den Essalltag aus Sicht der befragten Mütter zu beschreiben, zu analysieren und zu interpretieren. Dabei wird ein inhaltliches und ein methodisches Ziel verfolgt. Zunächst geht es darum, die Ernährungsversorgung in Familienhaushalten erwerbstätiger Mütter als konstitutiven Bereich der Alltagsorganisation zu untersuchen. Der Studie liegt ein fachwissenschaftlich-methodisch integratives Forschungsdesign zu Grunde, das einerseits ernährungs- und haushaltswissenschaftliche Perspektiven vereint und andererseits quantitative und qualitative Methoden miteinander verknüpft, um zu einem umfassenden und tiefgehenden Erkenntnisgewinn zu gelangen. Es wird angenommen, dass die Ernährungsversorgung der Familien nicht nur von den vorhandenen familialen Ressourcen Zeit, Geld und Alltagskompetenzen, sondern auch vom Alter der zu versorgenden Kinder sowie vom Erwerbstätigkeitsstatus der Mütter (Vollzeit-, Teilzeit-, Nichterwerbstätigkeit) beeinflusst wird. Ausgehend von der (vermuteten) Bedeutung der Ressource Zeit werden durch die Sekundäranalyse der repräsentativen Zeitbudgeterhebung 2001/02 (ZBE) des Statistischen Bundesamtes typische Zeitverwendungsmuster von Familienhaushalten für die Ernährung generiert. Auf der Basis dieser Ergebnisse und der vorliegenden Forschungsbefunde wird eine qualitative Befragung erwerbstätiger Mütter mit dem Ziel durchgeführt, die „Ist-Situation“ der Ernährungsversorgung zwischen privatem und öffentlichem Raum und den vorhandenen Ressourcen (Zeit, Geld, AlltagsKompetenzen) von Familienhaushalten zu analysieren. Dabei findet auch die Gender-Perspektive Berücksichtigung. Aus dem Datenmaterial werden familiaweise sei verwiesen auf die Arbeiten von CHARLES/ KERR (1988), DEVAULT (1991), KJAERNES (2001).
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3 Forschungsdesign
le Ernährungsversorgungsstile in Anlehnung an das Haushaltsstil-Konzept herausgearbeitet. Als methodisches Ziel erfolgt eine Evaluierung des qualitativen Instrumentariums. Die intersubjektive Nachvollvollziehbarkeit sowohl im Forscherinnenteam als auch für Dritte kann dabei während des Forschungsprozesses gewährleistet werden. Die aus dem Stand der Forschung bekannten, aber bislang unverbundenen disziplinären Sichtweisen werden in dieser Studie konzeptionell aufeinander bezogen: Die induktive Vorgehensweise anhand von Fallstudien ermöglicht es, eine sozialwissenschaftliche Methodik in eine vorwiegend naturwissenschaftlich geprägte Disziplin einzubringen. Es können ernährungs- und haushaltswissenschaftliche Fragestellungen integrativ vernetzt und auf den Untersuchungsgegenstand „Essalltag von Familien im Haushaltsgeschehen“ angewandt werden. Über die Beschreibung, Erklärung und Interpretation der Ernährungsversorgung in Familienhaushalten wird ein innovativer Zugang geschaffen, der bisher in der sozialwissenschaftlichen Ernährungsforschung in Deutschland kaum berücksichtigt wurde.
3.2 Methodische Vorgehensweise Aus der ökotrophologischen Perspektive zur Ernährungsversorgung wird abgeleitet, dass die vorwiegend von Frauen geleistete Ernährungsversorgung der Familien als Teil ihrer Alltagsarbeit eng mit den Haushalts- und Familienstrukturen verwoben ist. Diese Alltagsarbeit ist milieuspezifisch und gesamtgesellschaftlich geprägt und durch die familialen Ressourcen, insbesondere der zur Verfügung stehenden Zeit, bedingt. Es bietet sich daher an, die aktuelle Zeitbudgeterhebung 2001/02 des Statistischen Bundesamtes heranzuziehen, um Zeitverwendungsmuster von Familienhaushalten für die Ernährungsversorgung aufzudecken und den Umgang mit der Ressource Zeit zu thematisieren. Motive, Einstellungen und Werthaltungen, welche die Ernährungsversorgung in Familienhaushalten prägen, können mit Zeitbudgetdaten jedoch nicht erfasst werden (vgl. MEIER/KÜSTER/ZANDER 2003, S. 5 f., S. 148). Da das Ziel des Forschungsprojektes darin liegt, die Ernährungsversorgung aus Sicht berufstätiger Mütter darzustellen, zu analysieren und zu interpretieren, ist die induktive
3.1 Ökotrophologischer Bezugsrahmen
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Vorgehensweise mit qualitativen Methoden notwendig16. Diese methodische Vorgehensweise wird im Folgenden dargestellt.
3.2.1 Integratives Forschungsdesign zur Untersuchung der Ernährungsversorgung in Familienhaushalten In der Literatur existieren für die Kombination von unterschiedlichen Methoden in einem Forschungsprojekt mannigfache begriffliche Ansätze, die von "Methodentriangulation", „Mixed Methods“ bis hin zu "Integration qualitativer und quantitativer Verfahren" reichen und deren Abgrenzung voneinander schwierig erscheint (FLICK 2004, KELLE 2004a, KELLE/ERZBERGER 2004, CRESWELL et al. 2003, ERZBERGER/KELLE 2003, TASHAKKORI/TEDDLIE 2003). Die Zielsetzung der Verknüpfung unterschiedlicher Ansätze (d.h. verschiedene quantitative, verschiedene qualitative oder sowohl quantitative als auch qualitative Methoden innerhalb eines Forschungsprojektes) liegt darin, die Validität der Ergebnisse zu erhöhen. Die Verknüpfung von Methoden ist aber nicht zwangsläufig nur als Validierungsstrategie von Ergebnissen anzusehen, vielmehr steht die systematische Erweiterung und Vervollständigung möglicher Erkenntnisse im Vordergrund (FLICK 1995, S. 249 ff.). Im deutschen Sprachgebrauch findet sich der Begriff der Integration qualitativer und quantitativer Verfahren wieder (vgl. KELLE 2004a, ERZBERGER/KELLE 2003, KLUGE 2001)17. KLUGE (2001) weist darauf hin: „Es existieren zwar zahlreiche Möglichkeiten, qualitative und quantitative Verfahrensweisen bei der Stichprobenziehung sowie bei der Datenerhebung und -auswertung zu kombinieren, im Mittelpunkt eines jeden methodenintegrativen Verfahrens müssen jedoch (…) die Forschungsresultate stehen.“ (KLUGE 2001, S. 44) ERZBERGER/KELLE (2003, S. 467 ff., KELLE 2004a, S. 40) führen aus, dass sich bei der Integration 16
17
MORSE (2003, S. 193) plädiert dafür, bei der Konzeption des Forschungsdesigns zuerst den „theoretical drive“ zu bestimmen. Geht es in einem Forschungsprojekt um das Aufdecken und Analysieren von Strukturen, ist eine qualitative induktive Vorgehensweise sinnvoll. Im Rahmen des EVPRA-Projektes mit der beschriebenen Zielstellung liegt das Hauptaugenmerk auf einer qualitativen Vorgehensweise. Allerdings passen sich auch die quantitativen Daten der Zeitbudgeterhebung in die genannte Zielstellung ein, denn mit Hilfe der Zeitbudgetdaten sollen generelle Zeitverwendungsmuster der Ernährungsversorgung von Familienhaushalten aufgedeckt werden. KELLE/ERZBERGER (2004, S. 300 ff.) unterscheiden bei den Modellen zur Methodenintegration einerseits ein Phasenmodell und andererseits die Triangulation. Im Phasenmodell ist vorgesehen, dass qualitative Methoden der Hypothesengenerierung dienen, quantitative Methoden nachfolgend zur Hypothesenprüfung eingesetzt werden. Triangulation meint nach dem Verständnis der Forscher die Verbindung von quantitativen und qualitativen Methoden zur Vervollständigung des Bildes von einem Untersuchungsgegenstand.
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3 Forschungsdesign
unterschiedlicher Verfahren die Ergebnisse in spezifischer Weise ergänzen können:
die Ergebnisse der unterschiedlichen Methodenstränge stimmen überein und validieren sich gegenseitig, die Ergebnisse verhalten sich komplementär zueinander, indem sie unterschiedliche Aspekte eines sozialen Sachverhaltes beleuchten oder die Ergebnisse widersprechen sich und erfordern eine Überprüfung des Forschungsdesigns oder der theoretischen Grundannahmen.
Vor diesem Hintergrund kann das gewählte Forschungsdesign als integratives Verfahren beschrieben werden, bei dem sich die Ergebnisse komplementär zueinander verhalten und so zur Vervollständigung des „Bildes“ von der Ernährungsversorgung in Familienhaushalten beitragen18. ERZBERGER/KELLE (2003, S. 470) sehen ein solches Komplementaritätsmodell immer dann für sinnvoll an, wenn eine Forschungsmethode allein nicht ausreicht, um angemessene empirische Daten zur Beschreibung eines theoretischen Zusammenhanges zu erhalten19. In Abbildung 3.3 wird das integrative Forschungsdesign der EVPRA- Studie skizziert.
18
19
Aufgrund der zeitlichen Abfolge der Datenerhebung der Zeitbudgeterhebung 2001/02 und der Durchführung der qualitativen Interviews in den Jahren 2005/06 ist ein einheitlicher Gegenstandsbereich (d.h. die zu befragenden Personen) nicht gegeben, wie er vielfach in bisherigen empirischen Studien mit Triangulation und „Mixed Methods“ umgesetzt wurde. Aus Datenschutzgründen wurden Informationen zu den Haushalten, die an der Zeitbudgeterhebung teilgenommen haben, anonymisiert. Eine qualitative Befragung der Personen, die bereits an der Zeitbudgeterhebung teilgenommen haben, schließt sich daher aus. Auch aus diesem Grund wurde das gewählte Forschungsdesign als integratives Verfahren benannt. ERZBERGER/KELLE (2003, S. 471 f.) warnen insbesondere davor, dass Schlussfolgerungen, die nach ersten theoretisch fundierten Annahmen und der Analyse einer Datenbasis gezogen werden, oftmals „heuristics of commonsense knowledge“ darstellen, nach denen Forscher ergänzende theoretische Annahmen aufgrund ihrer eigenen persönlichen Werte, Vorstellungen und Zielsetzungen formulieren. Sie sehen es als notwendig an, zusätzliche theoretische Annahmen ebenfalls empirisch zu belegen und formulieren daher einen komplementären Forschungsablauf. Dabei werden quantitative Methoden zur Beschreibung der Verhaltensweisen einer Vielzahl von Untersuchungspersonen herangezogen, während die Hintergründe für die beobachteten Verhaltensweisen qualitativ ermittelt werden können. „Empirical results from qualitative studies help to build the necessary framework to understand the empirical results from statistical analyses.“ (ERZBERGER/KELLE 2003, S. 473)
3.1 Ökotrophologischer Bezugsrahmen
Abbildung 3.3:
45
Integratives Forschungsdesign
Theoretische Ebene Theoretische Prämisse 2
Theoretische Prämisse 1 Die Ernährungsversorgung von Familien wird durch familiale Ressourcen, insbesondere Zeit und Geld, den Erwerbsstatus der Mutter sowie das Alter der zu versorgenden Kinder bestimmt.
Weitere Einflussfaktoren sind die normativen Leitbilder und Werte der Mütter, deren Alltagskompetenzen sowie die Handlungsspielräume, insbes. Infrastruktur, und vorhandene Netzwerke hinsichtlich der Ernährungsversorgung.
Empirische Ergebnisse 1
Empirische Ergebnisse 2
Auswertung quantitativer Zeitbudgetdaten (Sekundäranalyse)
Qualitative Interviews (Primärerhebung)
Empirische Ebene
Quelle: Eigene Darstellung in Anlehnung an ERZBERGER/KELLE (2003, S. 475)
Zunächst wurden theoretische Annahmen aus dem aktuellen Stand der Forschung abgeleitet (Prämisse 1). Aufbauend darauf wurde eine Sekundäranalyse zum Zeitaufwand für die Ernährungsversorgung von Müttern in Familienhaushalten mit den quantitativen Zeitbudgetdaten 2001/02 des Statistischen Bundesamtes durchgeführt. Da Zeitbudgetdaten nicht die Handlungsmotive des Zeitverwendungsverhaltens erklären, wurden die theoretischen Annahmen erweitert. Die Forscherinnen gingen von der Hypothese aus, dass weitere Einflussfaktoren, wie normative Leitbilder und Werte, Handlungsspielräume, Alltagskompetenzen der Mütter sowie vorhandene Netzwerke, wichtige Determinanten der Ausgestaltung der Ernährungsversorgung sind (Prämisse 2). Die quantitativen und qualitativen Bestandteile des Forschungsvorhabens wurden so miteinander verknüpft: Die Entwicklung des Erhebungsinstruments der qualitativen Befragung basiert auf den Ergebnissen der Auswertung der Zeitbudgetdaten. Die Operationalisierung des Forschungsdesigns einschließlich der verwendeten Methoden ist in Abbildung 3.4 dargestellt.
46
3 Forschungsdesign
Abbildung 3.4:
Forschungskonzept und Umsetzung
Zeitbudgeterhebung
Qualitative Interviews
Entwicklung Leitfaden
Transkripte
Mittelwerte und Beteiligungsgrade mit Bezug zur Ernährungsversorgung
Qualitative Inhaltsanalyse nach MAYRING (2003)
Mittelwertvergleiche
Zeitverwendungsmuster der Ernährungsversorgung und Leitfragen
Beantwortung Methodentriangulation
Fallstudien der einzelnen Haushalte
Emp. begründete Typenbildung (KLUGE 1999)
Allg. Erkenntnisse
Typologie
Muster der familialen Ernährungsversorgung erwerbstätiger Mütter Quelle: Eigene Darstellung
3.2.2 Methodische Umsetzung Die Zeitbudgeterhebung 2001/2002 des Statistischen Bundesamtes ist die zweite repräsentative Erhebung zur Zeitverwendung der Gesamtbevölkerung der Bundesrepublik Deutschland. Sie ermöglicht einen umfangreichen Überblick über die durchschnittliche Zeitverwendung für die Ernährungsversorgung in Familienhaushalten. Das projektbezogene Auswertungsverfahren sowie Ergebnisse im Kontext der Ernährungsversorgung werden in Kapitel 4 dargestellt. Aufbauend darauf wurden qualitative Datenerhebungs- und Auswertungsmethoden eingesetzt, um ein tief greifendes Verständnis der Ernährungsversorgung von Familienhaushalten aus Sicht der befragten Mütter (und Väter) und der familieninternen Strukturen, die das Wie, Was und Wo des Ernährungshandelns bestimmen, zu erlangen, zu analysieren und zu interpretieren. Als vorherrschende Methode der Daten- bzw. Informationssammlung in der qualitativen Forschung wurden im Rahmen der EVPRA-Studie Interviews eingesetzt. Die unterschiedlichen intrafamilialen Abläufe bei der Gestaltung
3.1 Ökotrophologischer Bezugsrahmen
47
der Ernährungsversorgung konnten nur durch Offenheit der Forscherinnen gegenüber unterschiedlichen Ausprägungen der Ernährungsversorgung von Familien untersucht werden. Die Befragten hatten dabei die Möglichkeit, ihre Wirklichkeitsdefinitionen den Forscherinnen mitzuteilen, ohne in ein starres Schema hineingezwängt zu werden (GREEF 2005, S. 287; LAMNEK 2005, S. 348). Bezogen auf den Untersuchungsgegenstand „Ernährungsversorgung von Familienhaushalten“ berücksichtigen qualitative Interviews zudem, dass sich die Handlungsweisen verschiedener Familien unterscheiden, weil unterschiedliche subjektive Perspektiven und soziale objektive Bedingungen vorliegen (FLICK 1995, S. 15). Auf der Basis der Zeitbudgetdaten sind Leitfragen generiert worden, die den thematischen Schwerpunkt, die Problemzentrierung, ausmachen und anhand derer der Interviewleitfaden für die strukturierten qualitativen Interviews gestaltet wurde. Es haben sich sechs Schwerpunktthemen ergeben. Dazu zählen:
die Alltagsorganisation bzw. der Alltagsablauf der Ernährungsversorgung in den Familien, die Zuständigkeiten und Verantwortlichkeiten für bestimmte Tätigkeiten innerhalb der Familie, der Stellenwert, den die Ernährung im betreffenden Haushalt einnimmt, die alltäglichen Zeitstrategien, insbesondere im Spannungsfeld zwischen dem Berufsalltag der Mütter und der Organisation der Ernährungsversorgung im Haushalt und die Aushandlungen und Machtverhältnisse in Bezug auf die Ernährungsversorgung zwischen den einzelnen Familienmitgliedern.
Da die Formulierung des Fragetextes im qualitativen Interview nicht vorab festgelegt sein sollte (LAMNEK 2005, S. 352), ist der Leitfaden stichwortartig in Form eines Mind Maps angelegt worden. Vor Beginn der Erhebungsphase wurde – im Anschluss an die durchgeführten Pretests – eine Schulung durchgeführt, um Interviewerinnen und studentische Hilfskräfte, die mit der Transkription beauftragt waren, auf die durchzuführenden qualitativen Interviews vorzubereiten. Gegenüber der quantitativen Zeitbudgeterhebung unterliegen qualitative Interviews einer höheren Beeinflussung durch die Befrager, was eine gründliche Schulung erforderlich macht (GREEF 2005, S. 287). Auswahl der zu Befragenden Weil es in der qualitativen Forschung um Typisierungen und Typologien geht, spielt die Frage der Repräsentativität nur eine untergeordnete Rolle (LAMNEK
48
3 Forschungsdesign
2005, S. 384), stattdessen soll ein möglichst umfassendes Set relevanter Handlungsmuster in einer sozialen Situation generiert werden. Die Auswahlprozedur der Interviewteilnehmerinnen im Projekt kann als eine bewusste heterogene Stichprobenauswahl beschrieben werden. Diese stellt sicher, dass durch eine vorab festgelegte Definition relevanter Schichtungsmerkmale in der Stichprobe Träger dieser Merkmale vertreten sind und eine möglichst breite Streuung aller denkbaren, gewünschten Merkmale gegeben ist (KLUGE 2001, S. 46; LAMNEK 1995, S. 238 f.). Für die Untersuchung der Ernährungsversorgung in Familien mit erwerbstätigen Müttern ist es unumgänglich, verschiedene Haushaltstypen abzubilden. Die Auswahl der Familienhaushalte für die qualitativen Interviews erfolgte anhand der identifizierten Kriterien: Berufswelt der Mütter nach Umfang und Art der Erwerbstätigkeit auf der einen, sowie das Alter der Kinder auf der anderen Seite. Entgegen des häufig in quantitativen Untersuchungen eingesetzten Auswahlkriteriums „sozialer Status des Haushaltsvorstands“ – womit zumeist der Mann als Haupteinkommensverdiener gemeint ist – wurde Umfang und Art der Erwerbstätigkeit der Mutter in dieser Untersuchung als entscheidendes Kriterium gewählt, da auch davon auszugehen ist, dass Mütter den überwiegenden Arbeitsanteil an der Gestaltung der Ernährungsversorgung inne haben. Nicht erwerbstätige Mütter sind aus der Untersuchung ausgeschlossen worden, da im vorliegenden Projekt die Auswirkungen der Erwerbstätigkeit auf die Zeitverwendung und insbesondere daraus entstehende Aushandlungsprozesse und Strategien im Ernährungsversorgungsalltag von Familienhaushalten von Interesse sind. Aus den genannten Faktoren ergibt sich eine Matrix, die drei Haushalte pro „Feld“ enthält. So entstand ein Studienkollektiv von n = 48 Familienhaushalten. Tabelle 3.1 verdeutlicht das Ergebnis der Stratifizierung. Tabelle 3.1: Stratifizierung der Familienhaushalte für die qualitativen Interviews Berufsgruppe TZ 10 J* VZ10 J* Akademikerinnen in gehobenen Positionen n=3 n=3 n=3 n=3 Selbstständige
n=3
n=3
n=3
n=3
Angestellte
n=3
n=3
n=3
n=3
Arbeiterinnen
n=3
n=3
n=3
n=3
Quelle: Eigene Darstellung * TZ = Teilzeittätigkeit der Mütter, VZ = Vollzeittätigkeit der Mütter, 10 J = Kinder über 10 Jahren.
3.1 Ökotrophologischer Bezugsrahmen
49
Für die problemzentrierten Interviews wurde eine Familiengröße von zwei Kindern angestrebt, da vermutet wurde, dass der Versorgungsaufwand in Familien von Anzahl und Alter der Kinder abhängt. Darüber hinaus wurden überwiegend Haushalte mit zwei Kindern rekrutiert, deren Kinder entweder beide unter zehn Jahren oder beide zehn Jahre und älter waren. Damit ist über das Alter der Kinder eine konsistente Abbildung der Familienphase möglich. In einigen Familienhaushalten wurden junge Erwachsene im Alter von 18 Jahren und älter versorgt, die während ihrer Ausbildungszeit über keinen eigenen Haushalt verfügen20. Bedingt durch die unterschiedlichen Berufsgruppen der zu interviewenden Mütter waren zielgruppenspezifische Konzepte der Rekrutierung relevanter Familienhaushalte erforderlich. Als Anreiz zur Teilnahmebereitschaft erhielten die Mütter jeweils einen Warengutschein im Wert von 15 Euro. Mütter in den Berufsgruppen 1 (Akademikerinnen in gehobenen Positionen) und 3 (Angestellte) konnten zu einer großen Zahl über den zentralen Verteiler des Hochschulrechenzentrums aller Mitarbeiter einer hessischen Universität erreicht werden. Insgesamt meldeten sich auf diese Rundmail über 50 interessierte Mütter21. Die Ansprache der Berufsgruppe 2 (Selbstständige) erfolgte neben persönlichen Kontakten zu den Interviewten22 durch Weiterempfehlungen von bereits interviewten Müttern. Zusätzlich wurden durch Kontaktdaten im Branchenbuch und auf Internetseiten von Netzwerken selbstständiger Frauen mögliche Interviewpartnerinnen angesprochen. Mütter, deren berufliche Position in die Berufsgruppe 4 (Arbeiterinnen) einzuordnen ist, wurden gezielt über die Betriebsleitung bzw. den Betriebsrat verschiedener Unternehmen angesprochen. Allerdings erwies sich die Rekrutierung dieser Berufsgruppe aufgrund des geringen Interesses an der Interviewteilnahme schwieriger als in den übrigen drei Berufsgruppen. Die Schwierigkeiten der Rekrutierung dieser Berufsgruppe betrafen insbesondere die Arbeiterinnen, die einer Vollzeiterwerbstätigkeit nachgehen. Zur Gewinnung dieses schwer zu erreichenden und in der Alltagsrealität nicht stark vertretenen Teil-
20 21
22
Insgesamt lebten in elf Haushalten Kinder, die älter als 18 Jahre waren, davon sind sieben Haushalte der Berufsgruppe 4 (Arbeiterinnen) zuzuordnen. Die hohe Resonanz auf die Rundmail zeigt bereits die herausragende Bedeutung, die Mütter der Ernährungsversorgung in ihrem Haushalt beimessen. Die eingehenden Antworten bekundeten das Interesse der jeweiligen Frauen an der Thematik, teilweise folgten bereits recht ausführliche Beschreibungen der jeweiligen häuslichen Situation der Mütter hinsichtlich der Kombination von Berufstätigkeit und Ernährungsversorgung. In diesem Fall wurde das Interview von einer Projektmitarbeiterin geführt, die die entsprechende Person nicht kannte, um mögliche Beeinflussungen und Verzerrungen zu vermeiden.
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3 Forschungsdesign
samples mussten daher wiederholt Betriebsräte von Unternehmen kontaktiert werden. Die Interviews fanden zwischen April 2005 und Januar 2006 in Familienhaushalten in den Städten bzw. Landkreisen Gießen, Marburg, Bad Homburg, Wetzlar und Vogelsberg statt. Interviewdurchführung Bei jedem Interview waren zwei Interviewerinnen anwesend. Eine Person führte hauptverantwortlich das Interview, die Beisitzerin ergänzte nicht angesprochene, aber relevante Themen und beobachtete vor allem die Interviewsituation (z.B. Gestik und Mimik der Befragten). Die Interviews wurden mehrheitlich23 in den Wohnräumen der Befragten geführt – da für den Befragten die Interviewsituation ungewöhnlich ist, wirkt die gewohnte Umgebung kompensierend und bietet Sicherheit (LAMNEK 2005, S. 388). Gleichzeitig zur Datenerhebung erfolgte die Datenerfassung in Form einer Aufzeichnung mit digitalem Tonbandgerät24. Selbstverständlich wurde im Vorfeld das Einverständnis der Befragten zur Aufzeichnung eingeholt und die Anonymisierung der Daten zugesagt und eingehalten. Zum Zwecke des Informationsgewinns wurde kurz nach der Durchführung der Interviews ein so genanntes Postskriptum angefertigt, das die im Interview selbst nicht zum Ausdruck kommenden, für die Interpretation aber vielleicht wichtigen Aspekte enthält, wie z.B.:
eine kurze Beschreibung des Wohnumfelds und der Wohnlage; Atmosphäre der Wohnung; Charakterzüge, Reaktionen und äußere Kennzeichen der Gesprächspartnerin; Eindrücke über die Kommunikation; Besonderheiten der äußeren Situation, bspw. Störungen des Gesprächs, Anwesenheit Dritter etc. Reflexion des Interviewers über Gesprächsführung.
Es wurden auch Einzelheiten festgehalten, die von den Befragten erst nach Beendigung des „offiziellen“ Gesprächs geäußert wurden. Dieses Vorgehen ist ein weiterer Vorteil qualitativer Interviews, denn die zusätzlichen Informationen können in die Interpretation einbezogen werden und wertvolle ergänzende, bestärkende oder relativierende Hinweise liefern, die direkt der Auswertung 23 24
Nur einige wenige Interviews wurden auf Wunsch der Befragten nicht in der eigenen Wohnung, sondern an ihrem Arbeitsplatz durchgeführt. Für die Interviews des EVPRA-Projektes wurden digitale Aufnahmegeräte der Firma Olympus eingesetzt (Olympus DS 330 Digital Voice Recorder).
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zugute kommen und den Interpretationen der einzelnen Interviews nach LAMNEK manchmal erst ihre Gültigkeit verleihen. Solche Zusatzinformationen ermöglichen zusammen mit erhobenen sozialstatistischen Daten und dem eigentlichen Interview die realitätsgerechte und lebensweltlich angemessene Verortung des Befragten (vgl. LAMNEK 2005, S. 391 f.). Im Anschluss an das Interview füllten die Interviewerinnen deshalb unabhängig voneinander, ohne die Anwesenheit der Befragten, das Postskriptum in Form eines Beobachtungsprotokolls aus. Dieses beinhaltet auch Informationen zur Kontaktaufnahme mit der Interviewten, die Beschreibung der Interviewatmosphäre (Situationsbeschreibung, Verhalten des Interviewten z.B. anhand nonverbaler Äußerungen in Form von Mimik oder Gestik sowie persönliche Empfindungen der Interviewerin) und eine Beschreibung des Erhebungsortes. Zusätzlich wurden soziodemographische Daten abgefragt. Die 48 Interviews dauerten jeweils zwischen ein und zwei Stunden. Methodische Konzeption der Datenauswertung Folgende Phasen der Auswertung – entsprechend der Empfehlungen für qualitative Interviews (LAMNEK 1989, S. 104 ff.) – können im Forschungsprojekt unterschieden werden: In der Transkriptionsphase, in der die Übertragung des aufgezeichneten Interviewmaterials in Schriftform stattfand, wurden Regeln für die Behandlung nonverbaler Aspekte (längere Pausen, Lachen, Räuspern etc.) ausgearbeitet, die dann zur einheitlichen Übertragung der Interviews führten. Diese Äußerungen wurden in die Transkription aufgenommen, weil sie für die Interpretation von erheblicher Bedeutung sein können. Die Transkription des Materials wurde in der EVPRA-Studie von sieben studentischen Hilfskräften durchgeführt. Anschließend wurden die Transkripte durch die am Interview beteiligten Forscherinnen überprüft. Auch eine Anonymisierung der Informationen erfolgte bereits im Schritt der Transkription. Als nächster Schritt erfolgte die Einzelanalyse der Interviews mit dem Verfahren der qualitativen Inhaltsanalyse. Diese geht auf MAYRING zurück und beschreibt ein systematisches, aber dennoch flexibles Auswertungsverfahren zur Klassifikation und Beschreibung von Textbedeutung (K NAPP 2005, S. 20). Nach MAYRING ist inhaltsanalytisches Vorgehen grundsätzlich dreistufig. In einer ersten Phase wurden demnach Begriffe und Kategorien entwickelt, als Zweites erfolgte die Anwendung des so entwickelten Instrumentariums und in einer dritten Phase erfolgte der Rückbezug der Ergebnisse auf die Fragestellung (MAYRING 2005, S. 51). Kernstück einer strukturierenden qualitativen Inhaltsanalyse ist das Kategoriensystem (Mayring 2005, S. 11). Für die Bildung der Kategorien schlägt
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3 Forschungsdesign
MAYRING (2005, S. 76) unterschiedliche Vorgehensweisen vor: Zum einen können diese induktiv aus dem zu untersuchenden Material heraus gebildet werden, zum anderen aus vorhandenem Wissen, z.B. aus einer Theorie, abgeleitet werden (deduktives Vorgehen). Letztendlich besteht auch die Möglichkeit eines gemischt deduktiv-induktiven Verfahrens, das aus der Theorie abgeleitet und an das jeweilige Untersuchungsmaterial angepasst ist. Letztere Vorgehensweise wurde bei der Bildung der Kategorien im Projekt angewendet, zumal sich diese Form der Kategorienbildung doch häufig im Kontext von leitfadenorientierten Interviews findet, deren Fragen und Themen mehr oder weniger direkt in thematische Auswertungskategorien übersetzt werden (KUCKARTZ 2004, S. 457). Das Kategoriensystem, das der Codierung zugrunde gelegt wurde, basiert dementsprechend auf dem Leitfaden, der im Vorfeld der Interviews entwickelt wurde. Im Rahmen des Auswertungsprozesses ist es entsprechend eines qualitativen Forschungsvorgehens mehrfach überarbeitet und angepasst worden. Alle 48 Interviews wurden inhaltsanalytisch bearbeitet, d.h. den entsprechenden Textsequenzen wurden die jeweiligen Kategorien zugeordnet (Prozess der Codierung). Durch die Zusammenfassung der wichtigsten Textstellen des Transkriptes entstand ein neuer, konzentrierter Text. Dieses Ergebnis der Einzelfallanalyse stellt eine Charakteristik der Ernährungsversorgung der Familien in Form von Fallstudien der einzelnen Haushalte dar. Mit diesen Fallstudien soll das Ziel verfolgt werden, einen Überblick über die Ernährungsversorgung der einzelnen Haushalte zu bekommen; durch eine analytisch – beschreibende Darstellung wurde dabei das Interviewmaterial verdichtet. Ein fachlicher Kommentar zum Abschluss enthält Bewertungen und Interpretationsansätze aus der Sicht des Projektteams. Bei der Erstellung der Fallstudien wurden zudem die Beobachtungsprotokolle herangezogen. Die Entwicklung der Einzelfallbeschreibungen erfolgte computergestützt. Im Rahmen qualitativer Forschung sind in den letzten Jahren eine Reihe von Computerprogrammen (sogenannte ‚QDA-Software’) entwickelt worden, die die qualitative Arbeit mit Texten unterstützen. 25 Im Projekt hat sich das Forscherinnenteam für das Programm MAXqda entschieden. Inhaltlich bedeutsamen Textpassagen wurden mit dem Programm Codes zugeordnet. In einem folgenden Schritt ließen sich dann Textpassagen nach verschiedenen Kategorien oder Subkategorien zusammenstellen (KUCKARTZ 2004, S. 455 ff). Nach der Inhaltsanalyse auf der Ebene von Einzelinterviews wurde in einem weiteren Schritt eine generalisierende Analyse vorgenommen. In dieser 25
Für eine ausführliche Beschreibung des Nutzens und möglicher Analyseprozeduren von computergestützten qualitativen Datenanalyseprogrammen siehe FLICK (2005, S. 361 ff.) und KUCKARTZ (2004).
3.1 Ökotrophologischer Bezugsrahmen
53
Phase wird über das einzelne Interview hinausgeblickt, um zu allgemeinen Erkenntnissen zu gelangen. Es wird nach Gemeinsamkeiten gesucht, die in allen Interviews auftreten, da dies ein erster Schritt für eine typisierende Generalisierung sein kann; ebenso können inhaltliche Differenzen herausgearbeitet werden. Gemeinsamkeiten und Unterschiede ergeben bei weiterer Analyse Grundtendenzen, die für eine oder alle Befragten typisch erscheinen. Erhält man diese Typen, so werden sie unter Bezugnahme auf die konkreten Einzelfälle dargestellt und interpretiert (vgl. LAMNEK 2005, S. 404). Für diesen generalisierenden Schritt wurde in der EVPRA- Studie auf die Typenbildung nach KLUGE zurückgegriffen. Diese geht auf ein vierstufiges Modell zurück, das sich gegenüber anderen Verfahren durch ein systematisches, aber flexibles Vorgehen auszeichnet (KLUGE 2001, 1999). Im Anschluss an die Interviews mit den Müttern erfolgte eine ergänzende schriftliche Befragung der Väter. Sie bestätigt aus der Perspektive der befragten Väter, dass die Mütter die Hauptverantwortlichen für die Ernährungsversorgung sind. Weiterhin konnten Erkenntnislücken aus den qualitativen Interviews der Mütter über die Versorgung der Väter am Arbeitsplatz hinreichend geschlossen werden.
4 Zeitverwendung für die Ernährung in Familienhaushalten: Ergebnisse der quantitativen Sekundäranalyse der Zeitbudgetdaten 2001/02
4.1 Einleitung Die Vereinbarkeit von Familie und Beruf wird im Zusammenhang mit der Erwerbstätigkeit von Müttern vielfach diskutiert; eine umfassende Auseinandersetzung mit der Ernährungsversorgung in Familienhaushalten fehlt jedoch bislang. Insbesondere zu den Auswirkungen der mütterlichen Erwerbstätigkeit auf die Zeit, die zur Bewerkstelligung der Ernährungsversorgung als Teil der Alltagsarbeiten aufgewendet werden kann, fehlen detaillierte Untersuchungen in Deutschland. Dabei können Zeitbudgetdaten Hinweise auf die Verwendung der Ressource Zeit geben – die im Gegensatz zu finanziellen Mitteln allen Personen im gleichen Umfang, d.h. 24 Stunden am Tag, zur Verfügung steht. Während allerdings Zeitbudgetdaten zur deskriptiven Analyse der Zeitverwendung für die Ernährung bislang nur sporadisch genutzt wurden (ZANDER/MEIER-GRAEWE/MÖSER 2005; MESTDAG 2005; MEIER 2004), finden diese Daten zur Untersuchung der intrafamilialen Ressourcenallokation der Zeit für die Hausarbeit häufiger Anwendung: Forschungsschwerpunkte sind beispielsweise die Flexibilität der Hausarbeit (BONKE/DATTA GUPTA/SMITH 2005), Verhandlungsmodelle zur Aufteilung der Hausarbeit (DEDING/LAUSTEN 2006; ANXO/CARLIN 2004), komparative Vorteile am Arbeitsmarkt und deren Auswirkungen auf die Allokation der Hausarbeit (BONKE/MCINTOSH 2005) sowie die Vereinbarkeit von Familie und Beruf (ICHINO/SANZ DE GALDEANO 2005). NAYGA (2008) verknüpft erstmalig anthropometrische Informationen und Zeitbudgetdaten zur Analyse des Gesundheitsstatus von Familienmitgliedern. Auf der Basis der Zeitbudgeterhebung 2001/2002 des Statistischen Bundesamtes wurde der zeitliche Aufwand für den Ablauf und die Struktur der Organisation der Ernährungsversorgung von Familienhaushalten untersucht, um die Nutzung von Zeitbudgetdaten für ernährungsrelevante Fragestellungen aufzuzeigen. Die Erkenntnisse der Sekundäranalyse der Zeitbudgetdaten sind für den zweiten Teil der Studie, die qualitative Befragung erwerbstätiger Müt-
56
4 Ergebnisse Zeitverwendung für Ernährung
ter im beschriebenen Forschungsdesign der EVPRA-Studie, heranzuziehen. Nachfolgend wird die methodische Vorgehensweise von Zeitbudgeterhebungen und die Auswertung der Zeitbudgetdaten kurz erläutert, es folgt die soziodemografische Beschreibung der Stichprobe. Im Mittelpunkt des Kapitels steht die Zeitverwendung von Müttern für die Bewältigung der täglichen Ernährungsversorgung, ebenso wie die Darstellung der Zeitverwendung für die Tätigkeiten „Essen und Trinken“, wobei die Mahlzeiteneinnahme zu Hause im privaten Raum dem Zeitaufwand für Mahlzeiten im öffentlichen Raum (Außer-HausVerzehr) gegenübergestellt wird.
4.2 Zeitbudgeterhebung 2001/02: methodisches Konzept und Auswertung Die Zeitbudgeterhebung 2001/2002 des Statistischen Bundesamtes ist die zweite repräsentative Erhebung zur Zeitverwendung der Gesamtbevölkerung der Bundesrepublik Deutschland26. Methodisches Vorgehen bei der Auswertung der Zeitbudgetdaten Mit Hilfe des Zeitbudgetdatensatzes 2001/2002 konnte der zeitliche Umfang für die Ernährungsversorgung von Familienhaushalten mit erwerbstätigen und nicht erwerbstätigen Müttern ausgewertet werden. Bei der aktuellen Erhebung 2001/02 wurde ein Methodenmix aus Haushalts- und Personenfragebögen sowie Zeittagebuch eingesetzt. Alle Haushaltsmitglieder haben dazu über drei Tage hinweg ein Tagebuch geführt, in dem sie chronologisch in 10-MinutenSchritten ihre Tätigkeiten im eigenen Wortlaut eingetragen haben. Die so notierten Tätigkeiten wurden mit Hilfe einer aus über 230 Tätigkeiten bestehenden Aktivitätenliste signiert und vereinheitlicht (EHLING/HOLZ/KAHLE 2001, S. 430). Die Sekundäranalyse der Zeitbudgetdaten wurde mit dem Statistikprogramm SPSS durchgeführt. Notwendig war dabei die Gewichtung der Originaldaten mittels der in den Datendateien vorhandenen Gewichtungsfaktoren zur Erzielung repräsentativer Aussagen. Verwendung fanden ein Gewichtungsfaktor für die Haushaltsstruktur, wenn Daten zur Haushaltszusammensetzung betrachtet wurden, sowie ein Gewichtungsfaktor für die Zeitverwendung, wenn 26
Einen ausführlichen Überblick über die Methodik und die Forschungsgebiete der Zeitbudgetforschung liefert BLASS (1980). Das methodische Konzept der ersten Zeitbudgeterhebung 1991/92 und die Möglichkeiten, mit diesen Daten das zeitliche Ernährungsverhalten zu untersuchen, werden ausführlich in MEIER/KÜSTER/ZANDER (2003) erläutert. Dieses Konzept und die Zielsetzungen wurden in der zweiten Erhebung 2001/02 beibehalten bzw. an europäische Standards angeglichen (EHLING/HOLZ/KAHLE 2001).
4.2 Methode Zeitbudgeterhebung 2001/02
57
mit Zeitverwendungsdaten gearbeitet wurde. Die Vorgehensweise mit unterschiedlichen Gewichtungsfaktoren führte dazu, dass keine einheitlichen Angaben zur Anzahl n bzw. n-Personentagen27 gemacht werden können, da in den einzelnen Datendateien zum Personen- und Haushaltsfragebogen sowie zum Zeittagebuch einzelne Personengruppen unterschiedlich bewertet wurden. In den Ergebnistabellen wurde folglich darauf verzichtet, die Anzahl n bzw. nPersonentage zu nennen. Tab. 4.1 verdeutlicht die Veränderungen, die sich durch die Gewichtung ergeben. Tabelle 4.1: Veränderungen von n und n-Personentagen durch die Gewichtung am Beispiel von Müttern mit unterschiedlichem Umfang der Erwerbsbeteiligung
vollzeiterwerbstätige Mütter teilzeiterwerbstätige Mütter nicht erwerbstätige Mütter Gesamtzahl
Daten zur Haushaltsstruktur, Haushaltsausstattung und Zeiteinschätzung Anzahl n ungewichtet gewichtet 354 305
Daten zur Zeitverwendung
Anzahl n-Personentage ungewichtet gewichtet 1062 1025
1096
551
3277
1533
557
552
1665
1642
2007
1408
6004 4199 Quelle: Eigene Darstellung
Die in den nachfolgenden Tabellen zur Zeitverwendung angegebenen Zeiten sind Mittelwerte für alle befragten Personen bzw. für alle Personen, die die jeweilige Tätigkeit ausgeübt haben. Bei der Interpretation der Ergebnisse ist es unumgänglich zu prüfen, ob die ausgewiesenen Zeitdifferenzen zwischen einzelnen Gruppen, z.B. zwischen Voll- und Teilzeit erwerbstätigen Müttern, signifikant sind. GWOZDZ et al. (2006) führen aus, dass Daten aus Zeitbudgeterhebungen von üblichen Annahmen, wie Normalverteilung und gleiche Varianzen, in allen Gruppen abweichen können und deshalb genau geprüft werden muss, welche Testverfahren zum Vergleich von Mittelwerten angemessen sind28. 27 28
Da jede befragte Person möglichst über drei Tage hinweg ein Zeittagebuch geführt hat, ergibt sich die ungefähre Zahl der n-Personentage aus der Multiplikation von n mit der Zahl drei. Exemplarisch wurde für die Bereiche „Essen und Trinken“ und „Beköstigung“ mit Hilfe des Levene-Tests untersucht, ob zwischen vollzeit-, teilzeit- und nicht erwerbstätigen Müttern die
58
4 Ergebnisse Zeitverwendung für Ernährung
Abbildung 4.1 verdeutlicht die in den nachfolgenden Auswertungen verwendeten Begriffe der Beköstigung und der Ernährungsversorgung. Die Beköstigung umfasst nach der Definition der Zeitbudgeterhebung 2001/02 die „Mahlzeitenzubereitung“, „Backen“, „Geschirrreinigung einschließlich Tisch decken und abräumen“ sowie die „Vorratshaltung“ (Haltbarmachen/Konservieren von Lebensmitteln). Die Ernährungsversorgung beinhaltet neben den genannten Beköstigungsaktivitäten „allgemeine Haushaltsplanung“, „Einkauf“, „Essen und Trinken“ sowie „Wegezeiten im Zusammenhang mit haushälterischen Tätigkeiten, Einkäufen und Dienstleistungen“. Abbildung 4.1: Essen und Trinken (Code 02)
Abgrenzung von Beköstigung und Ernährungsversorgung
Tätigkeiten mit zugehöriger Codierung in der Zeitbudgeterhebung Allgemeine MahlzeiBacken GeschirrVorratsEinkauf Haushaltstenzube- (Code reinigung / haltung (Code planung reitung 312) Tisch decken (Code 361) 314) und abräu(Code 371) (Code men 311) (Code 313)
2001/02 Wegezeiten haushält. Tätigkeiten (Code 931)
Wegezeiten Einkauf und Dienstleistungen (Code 933)
Beköstigung Ernährungsversorgung
Quelle: Eigene Darstellung
Zentrale Begriffe bei der Darstellung der Ergebnisse sind die Zeitverwendung nach befragten Personen, die Zeitverwendung nach ausübenden Personen und der Beteiligungsgrad. Ausübende Personen sind jeweils die Personen, die während der drei Anschreibungstage die zu untersuchende Aktivität tatsächlich ausgeführt haben. Ihr durchschnittliches Zeitbudget spiegelt also wider, wie viel Zeit eine Tätigkeit tatsächlich im Tagesverlauf in Anspruch nimmt. Die durchschnittliche Zeitverwendung der ausübenden Personen kann zum Teil Gruppen gleiche Varianzen aufweisen und damit ein t-Test zum Vergleich der Mittelwerte angewendet werden kann. Bei der Hälfte der durchgeführten Tests muss die Nullhypothese gleicher Varianzen verworfen werden, so dass zur Überprüfung von Mittelwertunterschieden bei diesen Vergleichen nicht der parametrische t-Test, sondern der nicht-parametrische UTest nach Mann und Whitney angewendet werden muss (BÜHL 2006, S. 299). Der MannWhitney-Test bestätigt aber in allen durchgeführten Fällen, dass sich die ermittelten Zeitdifferenzen signifikant voneinander unterscheiden. Da eine Überprüfung aller Auswertungen hinsichtlich der Gleichheit der Varianzen und einem anschließendem t-Test (bei gleichen Varianzen) oder Mann-Whitney-Test (bei ungleichen Varianzen) den Rahmen der Analysen überschreitet, wird davon ausgegangen, dass sich die Ergebnisse des schwächeren MannWhitney-Tests, der in allen Beispielrechnungen signifikante Zeitdifferenzen bestätigt hat, auf alle übrigen Auswertungen übertragen lassen.
4.2 Methode Zeitbudgeterhebung 2001/02
59
beträchtlich vom Durchschnitt aller Personen abweichen, wenn bestimmte Tätigkeiten nur von einem geringen Prozentsatz aller Personen ausgeführt werden, wie z.B. Vorratshaltung. Bei der Tätigkeit Essen und Trinken dagegen ist kein großer Unterschied zwischen Zeitverwendung aller befragten Personen und Zeitverwendung ausübender Personen festzustellen, da mit Ausnahme von Krankheit oder Fasten jeder Mensch täglich Nahrung zu sich nimmt. Der Beteiligungsgrad beschreibt den Prozentsatz aller Personen, die im Untersuchungszeitraum eine Tätigkeit mindestens einmal oder aber auch mehrmals tatsächlich ausgeführt haben, d. h. bei denen sich im Tagebuch ein entsprechender Eintrag für die beschriebene Aktivität findet.29 Selektion relevanter Haushalte Die Gestaltung der Ernährungsversorgung von Familienhaushalten wird durch verschiedene Einflussfaktoren bedingt. Dazu zählen die Berufstätigkeit der Mütter, der Umfang dieser Berufstätigkeit, das Haushaltseinkommen, das Bildungsniveau bzw. die soziale Schichtzugehörigkeit, das Alter und die Anzahl der zu versorgenden Kinder. Hauptkriterium der Stratifizierung in der Sekundäranalyse der quantitativen Zeitbudgetdaten war jedoch die Berufsgruppe der Mutter, die im vorliegenden Datenmaterial durch den sozialen Status repräsentiert wird30. Der soziale Status fungiert in diesem Fall als Repräsentant unterschiedlicher Berufsgruppen mit unterschiedlichem Einkommensniveau. Tabelle 4.2 verdeutlicht die Einteilung unterschiedlicher Berufsgruppen.
29 30
Zur ausführlichen Erläuterung der Methodik der Zeitbudgeterhebung siehe EHLING/HOLZ/KAHLE (2001). In den nachfolgenden Ergebnistabellen und Textstellen wird die Unterteilung der Berufsgruppen der Mütter mit „Art der mütterlichen Erwerbstätigkeit“ umschrieben. Darunter sind im Rahmen dieser Studie sowohl Kriterien des sozialen Status (z.B. Beamte) wie auch die Art und Weise der Berufstätigkeit (z.B. selbstständige Tätigkeit) subsummiert.
60
4 Ergebnisse Zeitverwendung für Ernährung
Tabelle 4.2: Einteilung der Berufsgruppen in der Zeitbudgeterhebung 2001/2002 und der eigene qualitativen Erhebung Berufsgruppe
Quantitative Erhebung mit dem Kriterium „Sozialer Status“
Berufsgruppe 1
Beamtinnen
Berufsgruppe 2
Selbstständige
Berufsgruppe 3
Angestellte
Berufsgruppe 4
Arbeiterinnen
Qualitative Erhebung
Akademikerinnen in gehobenen Positionen (z.B. Managerinnen, Professorinnen, wissenschaftliche Mitarbeiterinnen, Lehrerinnen) Selbstständige (z.B. Architektin, Kosmetikerin, Raumausstatterin) Angestellte (z.B. Sachbearbeiterinnen, Verwaltungsangestellte) Arbeiterinnen (z.B. Verkäuferinnen, Produktionshelferinnen, Reinigungskräfte) Quelle: Eigene Darstellung
In den Auswertungen finden nur Mütter aus Paarhaushalten mit zwei Kindern Berücksichtigung, um eine möglichst vergleichbare Zielgruppe zu den qualitativen Interviews zu erhalten. Auf die Einbindung allein erziehender Mütter wird in Anlehnung an das Studienkollektiv des qualitativen Teils verzichtet.
4.3 Soziodemografische Beschreibung der Stichprobe Das Sample der quantitativen Untersuchung umfasst insgesamt 1408 Mütter, die aus allen Teilnehmerinnen der Zeitbudgetstudie 2001/2002 nach dem vorab beschriebenen Filtermodus selektiert wurden. Um die Beteiligung und Unterstützung anderer Familienmitglieder an der familialen Ernährungsversorgung zu analysieren, wurden ergänzend die in diesen Haushalten lebenden Väter sowie Kinder ab zehn Jahren und älter aus der Zeitbudgeterhebung selektiert. Tabelle 4.3 beschreibt das Untersuchungskollektiv der Mütter anhand ausgewählter soziodemografischer Merkmale. Die Hälfte aller Mütter ist zwischen 35 und 45 Jahre alt. Rund zwei Drittel der ausgewählten Mütter weisen als höchsten beruflichen Abschluss die Lehre auf und ca. 17% der Mütter sind Akademikerinnen mit Fachhochschul- oder Hochschulabschluss. Während jeweils ca. 39% der Mütter Teilzeit erwerbstätig
4.3 Soziodemographische Beschreibung
61
bzw. nicht erwerbstätig sind, gehen nur rund 22% der Mütter einer Vollzeitbeschäftigung nach31. Tabelle 4.3: Soziodemografische Beschreibung der ausgewählten Mütter (Zeitbudgeterhebung 2001/02) Ausgewählte soziodemografische Variablen Anteil Mütter (%) Alter von … bis unter … Jahren bis 30 8,0 30 – 35 15,1 35 – 40 29,4 40 – 45 20,7 45 – 50 15,7 50 und älter 11,3 Anzahl der Kinder im Haushalt (alle Altersgruppen) 1 Kind 40,6 2 Kinder 42,2 3 und mehr Kinder 17,2 Höchster beruflicher Abschluss Lehre 68,6 Meister 2,2 Fachhochschule 8,3 Hochschule 8,9 Sonstiger Abschluss 6,4 Kein berufl. Abschluss 5,6 Erwerbsstatus Vollzeit 21,7 Teilzeit 39,1 Nicht erwerbstätig 39,2 Quelle: Eigene Berechnung auf der Basis der Zeitbudgeterhebung 2001/02
31
Ergänzend dazu wurden die Haushaltsausstattung und die Infrastruktur der ausgewählten Familienhaushalte betrachtet. Die Haushaltsausstattung mit elektrischen Geräten, die für die Ernährungsversorgung von Bedeutung sind, ist sehr gut. Ein Kühlschrank bzw. eine Gefrierkombination gehört ebenso wie ein Herd zu der Standardausrüstung aller Haushalte. Geschirrspülmaschine und Mikrowelle sind ebenfalls in fast allen Familienhaushalten vorhanden, weniger als 10% der Familienhaushalte verfügen nicht über diese Geräte. Einkaufsmöglichkeiten für den täglichen Bedarf können von rund 90% der Mütter zu Fuß in ca. 10 Minuten erreicht werden, während Einkaufszentren für den Großeinkauf nur für knapp die Hälfte aller Mütter zu Fuß erreichbar sind. Die Infrastruktur des häuslichen Umfeldes an Gaststätten, Cafés und/oder Kneipen ist sehr gut, denn über 90% der Haushalte können diese innerhalb von max. 10 Minuten Gehzeit erreichen.
62
4 Ergebnisse Zeitverwendung für Ernährung
4.4 Zeitverwendung für hauswirtschaftliche Arbeiten einschließlich Beköstigung Die Anforderungen und Aufgaben des Alltags erfordern es, dass Menschen jeden Tag erneut ihre Zeit bewusst oder unbewusst einteilen und planen. Kennzeichen der Zeitverwendung von erwerbstätigen Müttern ist ein hoher Aufwand im Bereich der öffentlichen Zeit (Erwerbstätigkeit, Ehrenamt usw.) und der familialen Zeit (Fürsorge-, Pflege- und Versorgungsarbeit), der nur wenig Spielraum für die Gestaltung der persönlichen Zeit (Schlafen, Körperpflege, Essen und Trinken sowie Freizeit) lässt (BEBLO 2001). Tabelle 4.4 verdeutlicht den Stellenwert der Beköstigung innerhalb der hauswirtschaftlichen Arbeiten. Unabhängig davon, ob Mütter Voll- oder Teilzeit erwerbstätig sind, ist sowohl der Zeitaufwand als auch der Beteiligungsgrad an der Beköstigung deutlich höher im Vergleich zu anderen hauswirtschaftlichen Arbeiten, etwa der Wohnungsreinigung oder der Wäschepflege. Die Analyse der Zeitbudgetdaten weist darüber hinaus einen deutlichen Zusammenhang zwischen dem Umfang der Erwerbstätigkeit von Müttern und ihrem zeitlichen Einsatz für die Erledigung der täglich anfallenden Beköstigungsarbeiten aus. Während 85,7% aller vollzeiterwerbstätigen Mütter täglich durchschnittlich 1 h und 11 min für die Beköstigungsarbeiten benötigen, leisten 92,9% der teilzeiterwerbstätigen Mütter einen täglichen Zeiteinsatz von 1 h und 20 min für die Beköstigung. Im Vergleich dazu wenden nicht erwerbstätige Mütter mit 1 h und 41 min die meiste Zeit für die Beköstigung auf. Tabelle 4.4: Durchschnittliche tägliche Zeitverwendung von Müttern für hauswirtschaftliche Tätigkeiten nach Umfang der Erwerbstätigkeit (Zeitbudgeterhebung 2001/02) Umfang der Erwerbstätigkeit Zeitverwendung für ausgewählte Aktivitäten
Vollzeit Durchschnitt je Befr. Person1
Ausüb. Person2 h : min
Teilzeit Beteiligungs3 grad
Durchschnitt je Befr. Person1
%
Ausüb. Person2 h : min
Nicht erwerbstätig Beteiligungs3 grad %
Durchschnitt je Befr. Person1
Ausüb. Person2 h : min
Beteiligungs3 grad %
Beköstigung
01:01
01:11
85,7
01:14
01:20
92,9
01:36
01:41
94,9
Wohnungsreinigung
00:40
00:58
68,6
00:59
01:10
83,5
01:12
01:24
85,7
Wäschepflege
00:23
00:50
46,0
00:33
01:00
55,2
00:39
01:07
58,3
Quelle: Eigene Berechnung auf der Basis der Zeitbudgeterhebung 2001/02 1 2 3
Personen mit Tagebuchanschreibungen Personen mit Angaben zu den Aktivitäten Anteil der ausübenden Personen an den befragten Personen
4.5 Zeitverwendung Ernährungsversorgung und Beköstigung
63
4.5 Zeitverwendung für die Ernährungsversorgung und Beköstigung In diesem Abschnitt werden einzelne Tätigkeiten der Ernährungsversorgung unter Berücksichtigung der Beköstigung, differenziert nach Umfang der Erwerbstätigkeit der Mütter, der Art der mütterlichen Erwerbstätigkeit sowie dem Alter der Kinder betrachtet. Der Aktivität „Essen und Trinken“ ist ein eigenes Unterkapitel gewidmet.
4.5.1 Zeitverwendung für die Ernährungsversorgung und Beköstigung nach dem Umfang der mütterlichen Erwerbstätigkeit Der Umfang der Erwerbstätigkeit der Mütter übt einen entscheidenden Einfluss auf die Ernährungsversorgungsabläufe in Familienhaushalten aus (vgl. Tab. 4.5). Bei der Mahlzeitenzubereitung und der Geschirrreinigung ist ein Zusammenhang zwischen dem Zeitaufwand für diese Tätigkeiten und dem Umfang der Erwerbstätigkeit deutlich zu erkennen. Erwerbstätige Mütter in Vollzeitstellung geben zu 79,2% an, an der täglichen Mahlzeitenzubereitung beteiligt zu sein, Mütter in Teilzeitstellung sind es zu 87,2% und nicht erwerbstätige Mütter zu 91,9%.
64
4 Ergebnisse Zeitverwendung für Ernährung
Tabelle 4.5:
Durchschnittliche tägliche Zeitverwendung von Müttern für Ernährungsversorgung nach Umfang der Erwerbstätigkeit (Zeitbudgeterhebung 2001/02) Umfang der Erwerbstätigkeit
Zeitverwendung für ausgewählte Aktivitäten
Vollzeit Durchschnitt je Befr. Person1
Ausüb. Person2
h : min
Teilzeit Beteiligungs3 grad %
Durchschnitt je Befr. Person1
Ausüb. Person2
Nicht erwerbstätig Beteiligungs3 grad
h : min
Durchschnitt je Befr. Person1
%
Ausüb. Person2 h : min
Beteiligungs3 grad %
Allgemeine Haushaltsplanung
00:06
00:33
17,9
00:07
00:33
20,0
00:06
00:30
21,0
Einkauf
00:26
00:59
44,4
00:30
00:59
51,3
00:5
01:11
50,1
Vorratshaltung
00:00
(00:32)
0,8
00:01
(00:40)
1,8
00:01
(00:46)
1,6
Mahlzeitenzubereitung
00:39
00:49
79,2
00:48
00:55
87,2
01:02
01:07
91,9
Backen
00:03
00:51
6,5
00:03
00:42
8,1
00:04
00:45
8,4
Essen und Trinken
01:37
01:38
99,6
01:45
01:46
99,5
01:55
01:55
99,5
Geschirrreinigung / Tisch decken, abräumen
00:18
00:32
57,6
00:22
00:33
66,4
00:30
00:41
73,0
Wegezeiten für haushält. Tätigkeiten
00:03
00:35
7,9
00:03
00:32
7,8
00:03
00:32
8,7
Wegezeiten für Einkauf und Dienstleistungen
00:14
00:35
40,1
00:18
00:38
46,6
00:19
00:41
46,2
Quelle: Eigene Berechnung auf der Basis der Zeitbudgeterhebung 2001/02 1
Personen mit Tagebuchanschreibungen Personen mit Angaben zu den Aktivitäten 3 Anteil der ausübenden Personen an den befragten Personen (…): Stichprobenumfang