Erste türkische Lesestücke [PDF]

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Zitiervorschau

dtv

Türkçe Okuma Kitabı Erste türkische Lesestücke

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Dieses türkisch-deutsche Lesebuch versammelt kurze Texte, welche die türkische Erzähltradition widerspiegeln, aber auch bis in die Gegenwart reichen: kleine Geschichten, wie sie zu Hause oder im Kaffeehaus erzählt werden, Volkslieder und Sprichwörter, Prosa und Lyrik moderner Autoren und landeskundliche Artikel. Alle Texte sind für den Anfänger sprachlich leicht zugänglich, gleichzeitig wird eine so inter-, essante wie vergnügliche Lektüre geboten. Damit wird der Lernende ermuntert und von Beginn an mit der türkischen ; Literatur vertraut gemacht.

Türkçe Okuma Kitabı Erste türkische Lesestücke Herausgegeben von Celal Özcan und Rita Seuß

Illustrationen von Ina Seeberg

Deutscher Taschenbuch Verlag

dtv zweisprachig Begründet von Kristof Wachinger-Langewiesche

Originalausgabe l . Auflage Oktober 2008 Deutscher Taschenbuch Verlag GmbH & Co. KG, München Der Band ist gegenüber der Ausgabe von 1992 (dtv 9296) leicht verändert und mit neuen Illustrationen versehen. www.dtv.dezweisprachig@ dtv.de Die Übersetzung ist urheberrechtlich geschützt. Sämtliche, auch auszugsweise Verwertungen bleiben Vorbehalten. Copyright-Nachweise S. 125 Umschlagkonzept: Balk & Brumshagen Um schlagbild: Ina Seeberg S atz: Greiner & Reichel, Köln Druck und Bindung: Kösel, Krugzell Gedruckt auf säurefreiem, chlorfrei gebleichtem Papier Printed in Germany • i s b n 978-3-423-09482-5

So ist es richtig Eines Tages machte sich Nasrettin mit seinen Schülern auf den Weg in die Moschee. Er setzte sich aber verkehrt auf seinen Esel. Seine Schüler fragten: «Lieber Hodscha, warum setzt du dich verkehrt auf den Esel? Das ist doch so unbequem.» Der Hodscha wandte sich seinen Schülern zu und antworte­ te : « Meine lieben Schüler, wenn ich mich richtig auf den Esel setzen würde, würdet ihr hinter mir bleiben. Wenn ihr vor­ ausginget, dann würde ich euren Rücken vor mir haben. Des­ wegen ist es das Richtige, so zu reiten.»

N asrettin H odscha sucht sein en R ing Nasrettin Hodscha geht aufgeregt aus dem Haus und fängt an, etwas auf der Straße zu suchen. Seine Frau sieht es und fragt: «Was ist los, Hodscha? Was suchst du denn mitten auf der Straße?» « Ich habe meinen Ring verloren, Frau. Jetzt suche ich ihn », antwortet er.

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Seine Frau wundert sich. «Aber du hast doch das Haus heute noch gar nicht verlassen. Wie kannst du denn da deinen Ring auf der Straße verloren haben ?», fragt sie. « Wer hat dir gesagt, dass ich den Ring auf der Straße ver­ loren habe, Frau?», erwidert der Hodscha. «Aber drinnen im Haus ist es dunkel, darum suche ich draußen.»

W o ist die Katze? Einmal kauft Nasrettin Hodscha zwei Okka Fleisch, damit seine Frau Dünstfleisch kocht. Als die Frau allein ist, lädt sie die ganze Nachbarschaft zum Mittagessen ein. Abends kommt der Hodscha heim. Seine Frau stellt einen Teller Weizengrütze hin und bittet ihn zu Tisch. Der Hodscha fragt: «Was ist das, Frau? Ich hatte Fleisch gekauft, du solltest Dünstfleisch kochen. Wo ist es denn?» « Ach, Herr », sagt die Frau, « frag nicht! Unsere diebische Ratze hat das ganze Fleisch gefressen.» Der Hodscha springt auf: « Was ? Die Katze hat das Fleisch gefressen? Geh sofort und hol mir die K atze! » Da kommt die Katze herein. Das arme Tier war nur Haut und Knochen. Der Hodscha hat einen Verdacht. Er befiehlt seiner Frau: « Schnell! Lauf und hol die Waage ! »

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Er stellt die Katze auf die Waage. Die Katze wiegt ganze zwei Okka. Da sagt der Hodscha: « Frau, nehmen wir mal an, das ist das Fleisch; wo ist dann die Katze?»

Das R ezept habe ich Jemand gibt dem Hodscha ein Rezept für Leber und m eint: « Probier es mal; du wirst sehen, wie fein es schmeckt! » Abends auf dem Weg nach Hause geht der Hodscha am Markt vorbei und sucht bei allen Metzgern, bis er die für das Rezept geeignete Leber gefunden hat. Dann macht er sich auf den Heimweg. Wie er so in Gedanken geht, stürzt ein Habicht pfeilschnell vom Himmel herab, entreißt dem Hodscha die Leber und fliegt davon. Da ist der Hodscha verdutzt. Er versteht nicht, was geschehen ist. Dann aber rafft er sich auf, ballt die Faust gen Himmel und ruft: « Mach dir keine Mühe, das Rezept habe ic h ! »

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O m ein G o t t ! Schiff gerät in einen schweren Sturm und fängt an zu Da fleht ein ängstlicher Passagier: «O mein Gott, w e n n ich mit dem Leben davonkomme, werde ich den Armen Almosen g eb en !» Als der Sturm stärker wird, ruft e r : « O mein Gott, ich werde ein Schaf opfern ! » Der Sturm wird noch heftiger. « Gott, hilf mir. Ich werde hundert Goldstücke verteilen », fleht der Passagier. Der Bektaşi, der dies alles mitverfolgt hat, kichert leise: « O mein Gott, halte noch ein bisschen durch! Er wird be­ stimmt noch mehr bieten! » E in

schw anken.

Einen Tag länger Die Nachbarn wünschen sich zum Abschluss des Ramadan gesegnete Feiertage. Beim Beglückwünschen fragen sie einan­ der, wie sie den Ramadan verbracht haben. Einer der Nach­ barn sagt: « Ich habe mich nicht wohlgefühlt, deshalb konnte ich nur einen Tag fasten.» Der Bektaşi ist an der Reihe. Er

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d e u te t

auf den Nachbarn, der einen Tag gefastet hat, und «Dieser Herr hier hat einen Tag länger gefas­

a n tw o rte t:

tet als ich.»

Traubensaft Der Sultan Abdülmecid besucht einen Bektaşi, der am Bosporus wohnt. Ihm fällt auf, dass der Bektaşi einen großen Weinberg hat. Und er fragt: «Wunderbar, wie groß dein Weinberg i s t ! Was machst du denn mit den vielen Trauben?» « Wir essen sie zusammen mit unseren Nachbarn und Freunden, mein Sultan », antwortet der Bektaşi.

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« Aber so viele Trauben kann man doch gar nicht e sse n ! », sagt Sultan Abdülmecid. « Wir essen, soviel wir können », erwidert der Bektaşi, «was übrig bleibt, keltern wir; wir lagern den Saft in Fässern und trinken ihn dann.» «Ja, aber wird denn der Traubensaft nicht zu Wein?» « Ach, mein Sultan », erwidert der Bektaşi und zuckt die Schultern. «Wir pressen den Saft aus und tun ihn in die Fässer. Was danach geschieht, da mischen wir uns nicht ein. Was Gott will, das macht er daraus.»

Der Traum des Sultans Der Sultan erwachte im Morgengrauen. Er rieb sich die A u­ gen, seufzte «Allah, A lla h ! » und wischte sich den Schweiß von der Stirn. Beunruhigt stand er auf und lief zur Tür. Der Wache befahl e r : « Schnell, ruf mir meinen Leibarzt! » Dann ging er wieder in sein Bett. Kurz darauf kam der Leibarzt und begrüßte den Sultan ehrerbietig: « Ihr habt mich rufen lassen, mein Sultan.»

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Der Sultan winkte: «Setz dich! » Nachdenklich fuhr er fort: «Gerade hatte ich einen Traum. Einen seltsamen Traum. Ich bin immer noch beunruhigt davon.» «Was für einen Traum, mein Gebieter?» « Nicht dir, sondern unserem Traumdeuter will ich meinen Traum erzählen. Sehen wir, was er dazu sa g t! Komm du zu mir und lege deine Hand auf meine Brust! » Der Leibarzt tat, was der Sultan wünschte, und lächelte: « Es ist nichts Bedenkliches, mein Sultan. Euer Herzklopfen wird Vorbeigehen. Wenn Ihr mir gestattet, werde ich unseren Enis benachrichtigen.» «Ja, tu das sofort! » Enis, der Traumdeuter am Hofe des Sultans, war ein alter Mann. Er war groß und hatte dicke schwarze Augenbrauen, einen dünnen Bart und kleine scharfe Augen. Ehrerbietig stand er vor dem Sultan und wartete auf seinen Befehl. «Willkommen, Enis», sagte der Sultan. «N im m P latz! » Der Traumdeuter setzte sich in einen der goldbestickten Sessel. Zögernd begann der Sultan zu erzählen: « In meinem Traum versetzte mir ein kräftiger Kerl einen Faustschlag gegen das Kinn, und alle meine Zähne fielen aus. Sag mir, was das bedeutet! » Enis dachte erst ein wenig nach, dann antwortete er mit ernster Miene: «Ich möchte etwas fragen, mein Gebieter. Ist aus Eurem Munde Blut geflossen?» « Ich weiß nicht mehr. Welche Bedeutung hat das Blut?» « Wenn Blut fließt, wird der Traum nicht wahr.» « Fahr fo rt! » Der Traumdeuter schluckte: « Die Zähne sind ein Symbol für die Familie. Wenn sie herausfallen ...» «Ja?» « Es bedeutet, dass Ihr Eure ganze Familie verlieren wer­ det. » Der Sultan erbleichte. Sein einziger Sohn, seine Frauen

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und seine über alles geliebte Zeynep ... Das war ein großes U n g l ü c k . Er wurde zornig: « Schon am frühen Morgen hast du mein Herz betrübt! Geh mir aus den A u g e n ! », schrie er. Enis verbeugte sich und ging hinaus. Der Sultan war mit dem Arzt wieder allein. « Mein Gebieter », sagte der Arzt, « ich kenne einen klugen und erfahrenen Weissager mit Namen Derviş. Wenn Ihr wollt, kann auch er Euren Traum deuten. Derviş ist ein klu­ ger Traumdeuter.» « Wenn es so ist, geh und hol ihn ! » Der Arzt verbeugte sich und ging hinaus. Kurze Zeit später kam er mit Derviş zurück. Dervis war vierzig Jahre alt, klein und schmächtig. Ein spitzer Bart schmückte sein schmales Kinn. «Mein Leibarzt hat dich sehr gelobt», sagte der Sultan. «Wie lange bist du schon Traumdeuter?» « Seit fünfundzwanzig Jahren, mein Sultan.» « Und wie häufig sind deine Voraussagen bis heute wahr geworden ?» « Fast immer, mein Sultan. Allerdings: Irren ist mensch­ lich, ich bin nur Deuter. Bitte, erzählt mir Euren Traum.»

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«Mir wurde ein solch kräftiger Schlag gegen das Kinn ver­ dass mir alle Zähne in den Schoß fielen.» «Und dann?» « Das ist alles.» Derviş lächelte bedeutungsvoll. « Das ist ein Traum, der viel Gutes verheißt, mein Gebieter.» Verwundert fragte der Sultan: «Wieso?» « Weil es bedeutet, dass Ihr länger leben werdet als alle Eure Familienmitglieder.» « Deine Klugheit schätze ich hoch, D erviş.» Und zu seinem Arzt gewandt, sagte e r : « Ab heute wird Derviş in meinem Schloss bleiben.» setzt,

Der W ettbew erb der Bilder Eines Tages setzte sich der Sultan nieder, trank seinen Kaffee und besprach mit seinen Ministern die Probleme des Landes. Da wurde an die Tür geklopft, und ein Wächter trat herein: «Mein Gebieter», sagte er, «draußen ist ein Fremder. Er soll ein meisterhafter Maler sein. Er möchte mit Euch sprechen.» Der Sultan antwortete: « Ruf ihn herein! » Der Fremde trat ein, begrüßte den Sultan und die M inis­ ter und begann: « Mein Sultan! Ich komme von weit her. Ich

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habe viele Länder durchwandert und viel erlebt. Ich war in vielen Sultanspalästen zu Gast und habe Bilder gemalt. Die Leidenschaft des Reisens und Erlebens hat mich jetzt auch in Euer Land geführt. Wenn Ihr gestattet, will ich auch für Euch Bilder m alen.» Der Sultan dachte kurz nach. Dieser Fremde schien ein be­ achtlicher Mensch zu sein. « G u t! », sagte er, « aber unter ei­ ner Bedingung. Ich will dich erst auf die Probe stellen. Wenn du sie bestehst, sollst du in meinem Palast bleiben, solange du willst. Im Palast gibt es einen meisterhaften Maler. Mit ihm sollst du dich m essen.» Der Sultan rief den Wächter. «Hol mir den Maler Nakkaş ! », befahl er. Kurz danach traf Nakkaş ein. Beide Maler waren einver­ standen, miteinander in Wettbewerb zu treten. Nakkaş ver­ langte vom Sultan hundert verschiedene Farben. Der Fremde überlegte erst und sagte dann: « Ich brauche keine Farbe. Gebt mir nur einen großen Spiegel.» Der Sultan befahl, die Wünsche der Maler zu erfüllen. Er ließ ihnen in seinem Palast einen Raum mit zwei Türen als Arbeitszimmer einrichten. Das Zimmer wurde durch einen Vorhang in der Mitte geteilt, und die beiden Maler konnten mit der Arbeit beginnen. Der Sultan verabschiedete sich mit den Worten: «Ihr habt einen Monat Zeit. Dann komme ich wieder und betrachte eure Bilder. Einstweilen wünsche ich euch gute Arbeit und viel Glück.» Ein Monat ist eine sehr kurze Zeit, im Nu war er vorbei. Da kam der Sultan in Begleitung seiner Minister. Zuerst ging er zu dem Maler Nakkaş. Er betrachtete lange das Ge­ mälde an der Wand. Dargestellt war eine wunderschöne Park­ landschaft. Die Harmonie der Farben gefiel ihm, und er war v°n dem Gemälde sehr beeindruckt. Nakkaş lächelte und freute sich. Jetzt war das Gemälde des fremden Malers an der Reihe. 25

y\ls der Sultan eintrat, zog der Maler den Vorhang beiseite, der das Zimmer in der Mitte teilte. Das Wandgemälde des Malers Nakkaş bildete sich mit allen seinen Farben und in a l l e n Einzelheiten in dem Spiegel ab. Das Spiegelbild war so schön, dass das Auge geblendet war: Blumen blühten in tausendundeiner Farbe, unter den Bäumen aber spazierten wie verzaubert der Sultan und seine Minister.

Der betrügerische Freund Ein Kaufmann ging auf Geschäftsreise. Seinen schweren Goldklumpen gab er einem Freund in Verwahrung. Als er seine Reise beendet hatte und zurückgekehrt war, bat er seinen Freund, ihm das Gold wiederzugeben. Der Freund sagte: « Frag nicht. Dein ganzes Gold haben die Mäuse gefressen.» Der Kaufmann lächelte unter seinem Schnurrbart und erwiderte: «Nun ja, das ist schon möglich. Mäuse haben ja sehr scharfe Zähne ! » Der Freund freute sich, dass er mit einer solchen Ausrede den Kaufmann hatte betrügen können. Der Kaufmann stand auf und ging. Unterwegs begegnete ihm der Sohn seines Freundes. Der Kaufmann nahm ihn 1Tlit zu sich nach Hause und sperrte ihn dort ein. 27

Am nächsten Tag trafen sich die beiden Freunde wieder. « Mein Sohn ist gestern nicht nach Hause gekommen. Hast du ihn gesehen?», fragte der betrügerische Freund. Der andere sagte schlagfertig: « H m ! ... Als wir uns ges­ tern getrennt hatten, sah ich, wie ein Milan ein Kind packte und mit fortnahm; war das etwa dein Sohn?» Der betrügerische Freund sagte: « Das gibt's doch nicht, dass ein Milan ein Kind in die Luft hebt und mit ihm w eg­ fliegt. Hat man so etwas schon einmal gehört?» Da sagte der Kaufmann prompt: «Was ist so erstaunlich daran? Wenn Mäuse mit ihren scharfen Zähnen einen Klum­ pen Gold fressen können, dann kann ein Milan nicht nur ein Kind wie deinen Sohn, sondern sogar einen Elefanten packen und in die Luft heben.» Da sagte der betrügerische Freund: «Nun, dein Gold haben nicht die Mäuse gefressen; ich habe es verkauft. Hier, nimm den Gelderlös, und gib mir meinen Sohn wieder.»

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Die Sprache der V ögel Einmal versammelten sich alle Vögel der Welt. Sie sagten zueinander: « Heutzutage gibt es kein Land mehr ohne einen Herrscher. Nur wir haben keinen. Wir sollten uns auch einen Eadischah w ählen.»

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Auch der Wiedehopf nahm an der Versammlung teil. Er « Ihr Vögel, wir haben schon einen Padischah, er heißt Simurg; er lebt hinter dem Berg Kaf. Er ist uns sehr nahe, aber wir sind sehr weit weg von ihm. Er ist der wahre Herr­ scher. Aber es ist schwer, ihn zu erreichen. Denn der Weg ist sehr weit. Die Meere sind tief und stürmisch, die Berge sind mit Eis und Schnee bedeckt, die Täler jedoch sind heißer als das Feuer. Ich kenne den Weg. Wenn ihr zu ihm gelangen wollt, kann ich euch führen. Denkt heute darüber nach. Lasst uns morgen wieder Zusammenkommen und uns entscheiden.» Die Vögel waren einverstanden und gingen in ihre Nester. Am nächsten Tag versammelten sie sich wieder. Alle Vögel waren gekommen, die Versammlung begann. Die Vögel er­ griffen nacheinander das Wort. Zuerst sprach die Nachtigall. Sie war betrunken zur Ver­ sammlung gekommen. Sie sagte: « Ihr Vögel, ich bin in die Rose verliebt, und zwar so sehr, dass ich mich selber verloren habe. Jede Nacht singe ich für sie meine Lieder. Ich kann mich nicht einmal für eine einzige Nacht von ihr trennen. Diese Liebe reicht mir. Verzeiht m ir ! Ich kann nicht mitkom m en.» Der Wiedehopf antwortete: « Du bist in die Farbe der Rose verliebt, aber diese Liebe ist oberflächlich und vergänglich, denn du liebst nicht den Kern ! » Danach trat der Schwan vor. Er schlug ein paarmal mit den Flügeln und begrüßte so die Vögel. Seine Federn waren schneeweiß. «Ihr Vögel», sagte er, «mein Dasein ist abhän­ g i g vom Wasser. Jeden Tag schwimme ich im kühlen Nass sa g te :

und ruhe mich im tiefen Schatten aus. Ohne Wasser kann ich nicht leben. Das ist mein Schicksal. Wie kann ich ein vor Hitze glühendes Tal durchqueren? Verzeiht mir, ich bin mit meinem Leben zufrieden.» Der Wiedehopf antwortete: « Du liebst deine Bequemlich­ keit. Aber man reift durch Schwierigkeit. Du bist nicht geeig­ net für diesen W eg.» Dann erhob sich das Steinhuhn. Gut gelaunt und sich in der Hüfte wiegend, trat sie in die Mitte. Ihr Schnabel war rot, und sie trug ein schwarzes Kleid. Sie sagte: « Liebe V ögel! Meine Leidenschaft sind Edelsteine. Darum fliege ich auf hohe Berge und schlafe auf Felsblöcken, immer auf der Suche nach Edel­ steinen. Ich brauche keinen Simurg oder sonst etwas. Diese meine Leidenschaft ist mir genug. Und außerdem ist der Weg zu Simurg ziemlich beschwerlich. Verzeiht mir b itte ! » Als Nächstes trat der grüngekleidete Papagei vor: «Ihr Meeresvögel und ihr Landvögel», begann er. « Ich habe mit mir selbst zu tun. Ich lebe am Ufer des Meeres. Ich kann nicht schwimmen, aber ich liebe das Wasser so sehr, dass ich lieber mit trockenem Mund am Meer entlanggehe, als auch nur einen Tropfen Wasser zu trinken. Ich wache eifersüchtig darüber, dass kein Tropfen aus dem Meer verloren geht. Ich kann das Meer nicht verlassen. Ich wünsche euch eine gute R eise!» Der Wiedehopf antwortete: « Du liebst das Wasser, aber du kennst es nicht. Das Wasser des Meeres ist einmal bitter und emmal salzig, einmal ruhig und einmal bewegt. Das Meer ist

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nicht beständig. Einmal zieht es sich zurück, einmal stürmt es, einmal schäumt es und wirft sich von Ufer zu Ufer. Denn es hat in seinem Herzen keine Ruhe gefunden und sein Ver­ langen nie erfüllt. Wer das Meer liebt, kann keine Ruhe fin­ den. Es hat viele Schiffe verschlungen. Viele Menschen sind in seine Strudel geraten und ums Leben gekommen. Deshalb atmen die Taucher auch nicht unter Wasser, sondern halten den Atem an. Denn sonst ertränkt und tötet sie das Meer. Am Ende wirft es sie wie einen Holzsplitter ans Ufer.» Der grün gekleidete Papagei ging an seinen Platz zurück. Es trat der Uhu vor. «Ihr Vögel», sprach er, «ich bin in Rui­ nen geboren, und Ruinen habe ich mir als mein Schloss aus­ gesucht. Denn an solchen Orten sind immer Schätze vergra­ ben. Um einen Schatz zu finden, streife ich in Trümmern umher. Ich lebe mit der Hoffnung, eines Tages einen Schatz zu finden und glücklich zu werden. Lebt wohl. Mit Simurg habe ich nichts im Sinn, verzeiht m ir ! » Daraufhin stand der Wiedehopf auf und sprach zu den Vögeln: « V ögel! Unser Ziel, den Vogel Simurg zu erreichen, ist nur mit Liebe möglich. Die Liebe aber verlangt Mut und Selbstentäußerung. Ohne sie können wir nicht zu Simurg gelangen.» Die Vögel, es waren wohl hunderttausend, wählten den Wiedehopf zu ihrem Führer und brachen auf.



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Es war ein seltsamer Weg, und niemand begegnete ihnen. Qie Vögel fürchteten sich. Sie drängten sich dicht aneinander und flogen Kopf an Kopf. Dann wurden die Berge höher und höher, die Täler brannten wie Feuer. Ein stürmischer Wind wehte. So flogen sie jahrelang. Viele stürzten ins Meer und ertranken, viele erfroren auf den Bergen, viele verbrannten sich ihre Flügel in der Sonne. Nur dreißig Vögel erreichten das Ziel. Sie sahen auf einem Hügel ein wunderschönes Schloss. Der Wiedehopf sagte: «Das ist das Schloss unseres Padischah Sim urg.» Die Vögel waren sehr müde. Sie klopften an das Tor des Schlosses und traten ein. Dreißig Vögel erblickten Simurg. Sie sahen sich selber. Sie selber waren Simurg, sie hatten ihr Ziel erreicht.

Der Sufi und der Gast In einer Stadt lebte einmal ein Sufi. Eines Tages bekam er Besuch. Sie aßen zusammen, und der Sufi bewirtete seinen Gast mit Datteln. Die Datteln schmeckten dem Gast sehr. Er sagte: «M ein Freund, wie süß doch diese Datteln sin d ! Solche wachsen bei uns nicht. Gib mir ein paar Kerne, damit ich sie auch in meinem Garten pflanze!» « Das nützt nichts. Diese Datteln gedeihen nur hier bei uns. Ich glaube nicht, dass sie in eurer Erde wachsen. Aber wer weiß, welche anderen schönen Früchte es bei euch gibt. Du brauchst also die Kerne nicht mitzunehmen. Ich finde L 's nicht recht, hinter einer Sache herzulaufen, die unerfüll­ bar ist.» Danach unterhielten sie sich über Religionen. Dieses Mal beneidete der Gast den Gastgeber um dessen Religion, die er sehr überzeugend bezeichnete. « Mein lieber Freund », entgegnete der Sufi. « Du hast doch

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eine sehr schätzenswerte Religion. Die eigene Religion a u f z u g e b e n wäre nicht richtig. Es ist, wie wenn ein Rabe ei­ nen Spatzen nachahmen w ollte.» Und er fing an zu erzählen: « Ein Rabe war begeistert von dem hüpfenden Gang des Spatzen, und er wollte genauso laufen. Doch trotz aller Mühe gelang es ihm nicht, seinen Gang dem des Spatzen anzuglei­ chen. Dabei vergaß er jedoch den eigenen Gang und wurde s c h l i e ß l i c h der Vogel mit der schlechtesten Gangart. Ich bin in Sorge, dass auch du vergessen könntest, was dein Eigenes ist.» auch

Der E nten-A li Es war einmal ein Junge mit Namen Ali. Da er einen watschelnden Gang hatte, gaben ihm seine Freunde den Spitznamen « Enten-Ali». Mit der Zeit wurde der «Enten-Ali» erwachsen. Aber seinen Spitznamen wurde er nicht mehr los. Da Ali Efen­ di jedoch ein sehr empfindlicher und reizbarer Mensch war, wagte es niemand, ihn mit seinem Spitznamen an­ zusprechen. Eines Tages war Ali mit einem Freund unterwegs ... « Heute ist es ziemlich bewölkt, Ali Efendi.» « Was, du nennst mich ? Da hast du eins ! » « Halt, Ali Efendi, h a lt! So etwas hab ich doch nicht gesagt! Ich habe nur gesagt, dass es heute bewölkt ist.» «Ja eben, du hast gemeint ...» «Wie kommst du darauf, Bruder?» « Ist doch klar! Was bedeutet es, wenn es bewölkt ist?» « Was denn ?» « Es bedeutet, dass es bald regnet. Und was passiert, wenn es regnet?» « Was denn ?»

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« Überall sammelt sich Wasser und bilden sich Teiche. Und was schwimmt im Teich ?» «Was denn?» « Enten natürlich. Es liegt also auf der Hand, dass du gemeint hast.»

W ieg en lied Ich habe das Kleinste aufs Kamel geladen ich habe das Kleinste aufs Kamel geladen nenni nenni nenni nenni vay. Ich habe dem Kamel das Halfter übergeworfen nenni de nenni de nenni de nenni. Auf den Bergen heulen die Hunde auf den Bergen heulen die Hunde nenni nenni nenni nenni vay. Meine Schwägerin kichert im Zelt nenni de nenni de nenni de nenni.

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Volkslied Der Sturzbach kommt lalala lalala er bringt feinen Sand mit lalalala. Komm, nimm mich mit, Bach lalala lalala dorthin, wo der Geliebte ist lalalala. Ich hab in die Birne gebissen lalala lalala und hab ihren Stiel versilbert lalalala. Den Namen meines Geliebten lalala lalala hab ich in mein Taschentuch gestickt lalalala.

Volkslied Ich legte die Sardelle in die Pfanne, sie fing an zu tanzen. Ich hob den Deckel und sah: die Pfanne war leer, da fing ich an zu weinen.

Das Schiff kommt, das Schiff, ich möchte sein Schornstein sein. Und von diesem Mädchen aus Istanbul möchte ich der Ehemann sein. Von hier aus runtersteigen kann ich nicht. Du bist noch jung, meine Schöne, ich kann deinen Worten nicht trauen.

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Lied Ach, ach ! Lauf, meine Schöne, lauf, du Granatapfel meines Lebens. Der Schnee auf den Bergen ist weggeschmolzen, o w e h ! O weh, o weh, du meine Schöne mit den bemalten Augen. Die Geliebte, die ich fünfzehnmal am Tag sah, Monate, Jahre sind dahin, ich sah sie nicht mehr, o weh. O weh, o weh, du meine Schöne mit den bemalten Augen. Ach, ach! Die Brauen sind schwarz, die Augen bernsteinfarben, ich bin in Liebe entflammt für die bemalten Augen, o weh. O weh, o weh, du meine Schöne mit den bemalten Augen. Ach, ach! Ich war ein Häufchen Schnee auf der Spitze jenes Berges. Es regnete, die Sonne schien, ich bin geschmolzen, o weh. O weh, o weh, du meine Schöne mit den bemalten Augen. Früher war ich der Geliebte der Geliebten, jetzt sehe ich sie nur noch aus der Ferne, o weh. O weh, o weh, du meine Schöne mit den bemalten Augen. Ach, ach! Die Brauen sind schwarz, die Augen bernsteinfarben. Ich bin in Liebe entflammt für die bemalten Augen, o weh. O weh, o Weh, du meine Schöne mit den bemalten Augen.

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Sprichwörter und R edensarten Mit vier Augen warten (Sehnsüchtig warten) Wer einen Freund ohne Fehler sucht, bleibt ohne Freund. Wer die Rose liebt, erträgt ihren Dorn. Benutz deinen Kopf! Ein Hund beißt den anderen nicht. (Eine Krähe hackt der anderen kein Auge aus.) Streck deinen Fuß nach deiner D ecke! Das Herz will weder Kaffee noch Kaffeehaus. Das Herz will Unterhaltung, der Kaffee ist der Vorwand. Von draußen ein Liebeslied singen (Seinen Senf dazugeben) Die Sache hat sich hingelegt. (Die Sache ist geplatzt.) Meinetwegen ist das Wetter schön. (Mir ist es egal.) Das Wetter hat weder Schnur noch Griff. (Es ist richtiges Aprilwetter.) Luft und Wasser reden (Leer reden)

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$ieh entweder so aus, wie du bist, oder werde so, wie du aussiehst! Wer sich an Milch verbrannt hat, bläst auch beim Joghurt. (Ein gebranntes Kind scheut das Feuer.) Was von «Hay» kommt, geht nach «H uy». (Wie gewonnen, so zerronnen.) Der Geschmack ist mir am Gaumen geblieben. (Das hat mir sehr geschmeckt.)

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Orhan Pam uk: Ein zw eiter O rhan Ais Kind wurde ich lange den Gedanken nicht los, irgendwo in Istanbul, in einem Haus wie dem unseren, müsse noch ein zweiter Orhan leben, ein Ebenbild von mir, ein Zwilling, ein zweites Selbst. Wann und wie mich diese Vorstellung zum ersten Mal überkam, das weiß ich nicht mehr. Sie hat sich wohl allmählich in mir festgesetzt, durch Spiele, Ängste, Missverständnisse und Zufälle. Um zu verdeutlichen, was damals in mir vorging, möchte ich einen der ersten Momente schildern, in denen jener Gedanke mir klar vor Augen stand.

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Als ich fünf war, kam ich für eine Zeitlang zu einer anderen Familie. Bei meinen Eltern war es nach Streit und Trennung einmal wieder zu einer Versöhnung ge­ kommen, allerdings in Paris, und mein großer Bruder und ich waren inzwischen getrennt untergebracht. Wäh­ rend mein Bruder im « Pamuk Apartmanı», dem mehr­ stöckigen Wohnhaus unserer Familie im Stadtviertel Nişantaşı, unter der Obhut meiner Großmutter blieb, schickte man mich zu einer Tante in den Stadtteil Cihan­ gir. In deren Haus, in dem ich stets freundlich aufgenom­ men wurde, hing in einem weißen Rahmen ein kleines Kinderfoto, und immer wieder mal zeigte meine Tante oder mein Onkel darauf und sagte lächelnd zu mir: « Schau, das bist d u ! » Irgendwie ähnlich sah mir der drollige Junge auf dem Foto schon, und er trug auch so eine Mütze, wie ich selbst sie oft aufhatte. Dennoch wusste ich, dass das nicht wirklich ein Foto von mir war. (Es handelte sich wohl um ein kitschiges europäisches Kalenderfoto.) War vielleicht das jener zweite Orhan, der in einer anderen Wohnung lebte und mir nicht aus dem Kopf ging? Aber nun war ich ja selbst in einer anderen Wohnung, und das war quasi die Voraussetzung gewesen, um den anderen Orhan zu treffen. Mir war jedoch diese Begeg­ nung gar nicht recht, ich wollte zurück in mein eigent­ liches Zuhause, in das Pamuk Apartmanı. Wenn mir ge­ sagt wurde, der Junge auf dem Foto sei ich, geriet mir alles ein wenig durcheinander, mein eigenes Foto und das des Jungen, ich selbst und mein Ebenbild, dazu noch meine Visionen von einer anderen Wohnung, und dann wollte kh nur noch zu Hause sein, im trauten Kreis unserer gro­ ßen Familie.

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Yaşar K e m a l: M em ed der Falke in der Stadt Sie kamen mitten auf den Basar, bewundernd blieben sie ste­ hen und sahen sich nach allen Seiten um. Die Sonne brannte schon heftig. Die Menschenmenge auf dem Markt erschien ihnen so groß, wie sie noch nie eine gesehen hatten. Memed dachte bei sich: «Es wimmelt ja hier wie in einem Am eisen­ haufen. » Die Sirupverkäufer mit Messingbehältern auf dem Rücken klapperten mit ihren Messingschalen und riefen: « Sirup! Sirup! Honigsirup! Sü ßholz! Wer davon trinkt, bereut es, wer nicht davon trinkt, ebenso ! » Die Sonnenstrahlen spielten so lebhaft auf den Messing­ gefäßen, dass sich Memed einem der Händler näherte, um das goldblanke Metall aus der Nähe betrachten zu können: « Sirupverkäufer, gib mir einen Sirup ! Meinem Freund da auch! » Während sich der Sirupverkäufer vorbeugte, um eine Schale zu füllen, ließ Memed seine Hand scheu über die blanke M es­ singfläche gleiten. Der Sirupverkäufer füllte jedem der beiden eine Schale und reichte sie ihnen. Der Sirup schäumte und war kalt wie Eis. Sie konnten ihn aber nur zur Hälfte trinken. Fr schmeckte ihnen nicht. In einer Ecke saß ein Mann auf einem großen Baumstumpf Und hämmerte ein Hufeisen. Im Takt der metallischen Ham­

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merschläge sang er Lieder. Das war der stadtberühmte blinde Hacı, ein Mekkapilger. Dann stieg ihnen ein verlockender Geruch in die Nase, der Geruch von Kebap. Sie drehten sich um und sahen dicken Rauch aus einem verfallenen Laden strömen. Der Qualm ver­ breitete einen so starken Geruch nach Fleisch und Fett, dass sie ganz benommen waren. Willenlos traten sie in die Kebapstube ein. Schüchtern aßen sie ihr Kebap, als sähen die Leute nur auf sie. Als sie wieder hinausgingen, waren sie wie be­ täubt. Dreimal durchstreiften sie den Basar von einem Ende zum anderen. Memed wandte sich an Mustafa und sagte: « Und hier soll es keinen Ağa geb en ! » Mustafa fragte: «Wirklich?» Memed nickte: « Ein Dorf ohne A ğ a ! » Sie traten in einen Stoffladen. Memed wählte einen gelben Seidenstoff. Er knüllte ihn und öffnete die Hand wieder. Der Stoff entglitt ihm. Es war wirklich Seid e! Als sie mit dem Kauf draußen waren, zwinkerte Mustafa: « Für Hatçe, nicht wahr?»

t, ii V ,m . s

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Memed spottete: « Richtig geraten, Mustafa. Bist ein kluger Junge! » Sie kauften Helva bei dem Händler, bei dem sie am Tag zuvor auch schon Helva gegessen hatten, und frisches, war­ mes Brot bei einem Bäcker. Das Brot dampfte noch. Helva und Brot knoteten sie zusammen in ein Taschentuch. Sie setzten sich auf einen weißen Stein am Marktplatz und starrten auf die im Obstladen aufgehäuften goldgelben Orangen. Schließlich standen sie auf, kauften jeder eine und schälten sie. • Als sie sich Richtung Dorf auf den Weg machten, war es schon gegen Mittag.

Ferit E d g ü : Fünf Fotos v o n Çakır, dem buckligen Pferdeknecht Foto i Ein etwa zweijähriges Kind. Auf einem staubigen Weg. Weit und breit ist außer ihm kein lebendes Wesen zu sehen. Weder Mensch noch Tier. Auch kein Gegenstand. Nur ein Weg. Das Kind, eine Hand an der Nase, weint. Es sieht aus, als habe es Mühe, aufrecht zu stehen.

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Ein verlassenes, einsames Kind. Seine Mutter hat es ver­ lassen. Wahrscheinlich wird sie nicht zurückkommen und es suchen. Vielleicht wird das Bild dieses dicken, verlassenen Kindes in einer Zeitung erscheinen. Wahrscheinlich mit dem Begleittext: « Mitten auf der Straße wurde ein ausgesetztes Kind gefunden. Das körperbehinderte Kind, dessen Identität nicht ermittelt werden konnte, wurde dem Waisenhaus übergeben.» Foto 23 Çakır und mein Vater am Bodentisch. Beide im Schneidersitz. Çakırs rechte Hand ist erhoben, wahrscheinlich erzählt er etwas. Mein Vater biegt sich vor Lächen. Foto 11 Çakır bei einem Picknick. Auf der Wiese liegen Strohmatten. Auf die Strohmatten fällt der Schatten eines Baumes (wahr­ scheinlich eines Maulbeerbaumes). Ein ziemlich dunkles Foto. Neben Çakır mein Vater. Vorn meine Mutter. Meine Schwester steht. Ich bin nicht auf dem Bild. Çakır hat das Glas, das er in der Hand hält, hochgehoben. Vater sieht Çakır an und lacht. Es ist ein kühler Tag. Foto 10 Çakır in einem Boot, am Ruder. Sein Hemd ist offen. Um den Hals trägt er ein riesiges Tuch. Seine Augen lachen. Als ob er auf einen Kunden wartet. Oder auf mehrere Kunden. Ich weiß aber, dass wir - ich, meine Schwester, Zehra, die Freundin meiner Schwester, meine Mutter, die Nachbarin mei­ 61

ner Mutter, Frau Kıymet, ihre Tochter Işık, ihr Sohn, der Vier­ finger Aslan - mit diesem Boot nach Kâğıthane fahren werden. Çakır rudert noch nicht, wir haben Sütlüce noch nicht er­ r e i c h t - da man keine Spur von Müdigkeit auf seinem Ge­ sicht sieht. Foto 3 Ein Melonenstand. Laternen aus ausgehöhlten Melonen sind aufgehängt. Inmitten der Melonen steht Çakır. Er hält in der einen Hand ein Messer, in der anderen, mühsam, eine riesige Melone. Mit dem Messer in der rechten Hand hat er in die Melone gestochen. Er ist sicher, dass die Melone blutrot ist. Vielleicht rief er, als das Foto geknipst wurde, mit seiner selt­ samen Stim m e: « Ich habe die Melone aufgeschnitten, Blut ist herausgeflossen ...» Foto 25 i c h : Im Bett. Ich lächle, habe aber ein blasses Gesicht.

Vielleicht ist das Foto während der Ruhr, an der ich er­ krankt war, aufgenommen worden. Çakır an meinem Bett, er sitzt auf dem Boden und hält meine Hände, die auf der Decke liegen. Er erzählt mir wahrscheinlich eines der Märchen, die ich nicht vergessen habe: « Es war einmal vor langer Zeit ein Çakır, der war Kut­ scher, und als der Sohn des Herrn krank wurde ...»

A ziz N e s i n : A u f dem Dach ist ein Verrückter Das ganze Viertel war auf den Beinen: « Auf dem Dach ist ein Verrückter! » Die Straße füllte sich von einem Ende bis zum ändern mit Schaulustigen, die den Verrückten sehen wollten.

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Zuerst kamen Polizisten von der Polizeiwache, dann vom Polizeipräsidium mit ihren Wagen. Es folgte die Feuerwehr. Die Mutter des Verrückten flehte inständig : « Mein Kind, mein Sohn, komm runter! Los, Junge! » Der Verrückte aber wandte sich an die Untenstehenden: « Wenn ihr mich nicht zum Ortsvorsteher macht, stürze ich mich runter!» Die wackeren Feuerwehrleute breiteten das Sprungtuch aus, um den Verrückten aufzufangen, wenn er spränge. Neun Männer waren schweißgebadet von der Anstrengung, mit dem Sprungtuch, das sie an den Enden festhielten, dauernd an der Hauswand hin und her zu laufen.

Der Kommissar rief: « Bruder, h e ! Komm doch runter! » « Schaut euch die a n ! Statt mich runterzuholen, kommt ihr doch rauf! » Einer aus der Menge sagte zu den Umstehenden: « Sagen wir doch, wir machen ihn zum Ortsvorsteher.» Ein anderer m einte: « Das geht doch nicht, kann denn ein Verrückter Ortsvor­ steher sein?» « Allah Allah, wir machen ihn doch nicht wirklich zum Ortsvorsteher.»

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Ein Alter, der sich auf seinen Stock stützte, sagte : « Das wird nicht klappen. Gleichgültig, ob ihr es ernst meint oder nur Spaß macht.» « Vielleicht kommt er doch runter.» « Er wird nicht kommen. Ich kenne diese Leute ! Wenn sie einmal hochsteigen, kommen sie nicht mehr runter.» Einer der Umstehenden schrie: « Wir haben dich zum Ortsvorsteher bestimmt. Also, komm runter! » Der Verrückte fing an zu tanzen: «Ich komm nicht runter! Wenn ich nicht Stadtratsmitglied werde, stürze ich mich hinab.» Der Alte sagte zu denen, die neben ihm standen: « Na, seht ihr, hab ich's euch nicht gesagt! » Der Kommissar rief: «Du bist jetzt Stadtratsmitglied. Los, komm runter, Bruder, und lass deine Freunde nicht warten ! » « Ich komm nicht runter. Ernennt mich zum Bürgermeister, dann komm ich runter! » Der Alte sagte : « Seht ih r ! Jetzt kommt er überhaupt nicht m ehr.»

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Der Feuerwehrkommandant rief: « Komm runter, Bruder! Du bist jetzt Bürgermeister, komm, und walte deines Amtes ! » Der Verrückte wackelte mit den H üften: «Ich komm nicht, was soll ich unter Leuten, die einen Ver­ rückten zum Bürgermeister machen ? Ich komm nicht runter! » « Also, was willst du dann ?» Der Verrückte brüllte: « Wenn ich nicht Präsident werde, stürze ich mich hinunter.» « Du bist es schon! », riefen die Leute, « wir haben dich zum Präsidenten ernannt.» Der alte Mann schüttelte den Kopf: « Der kommt nicht! » Der Verrückte tanzte und sagte: « Macht mich zum Kaiser, dann komm ich, sonst stürze ich mich hinab.» Der Alte sagte: « Er wird sich hinabstürzen.» « G u t! », schrien die Leute. «Du bist jetzt Kaiser. Also los, komm runter!» Der Verrückte erwiderte: « Was hat ein Kaiser wie ich unter Landstreichern wie euch zu suchen?» «Also, was willst du dann? Wir tun, was du sagst. Komm nur runter! »

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Der Verrückte auf dem Dach fragte: «Bin ich nun Kaiser?» Die Untenstehenden riefen: « Du bist Kaiser! » « Also, wenn ich Kaiser bin, komm ich runter, wann ich Lust habe. Ich komm jetzt nicht runter! » Der Kommissar wurde wütend, er dachte: Soll er sich doch runterstürzen. Dann gibt es einen Verrückten weniger. Er dachte aber auch: Das könnte mich teuer zu stehen kommen. Der Feuerwehrkommandant fragte den A lten : «Was sollen wir jetzt machen? Wird denn dieser Verrückte nie runterkommen?» « Er wird schon kom m en.» « Und wie ?» « Lasst mich ihn runterholen! » Alle waren gespannt, wie der Alte das zustande bringen wollte. Der wandte sich an den Verrückten auf dem Dach: « Eure kaiserliche H o h eit! », rief er. « Beliebt Ihr, in den sechsten Stock herunterzusteigen?» Mit ernster Miene antwortete der Verrückte: « Einverstanden!» Er stieg durch die Dachluke herab und kam die Treppe Herunter. Durch das Fenster vom sechsten Stock sah er auf die Menschenmenge. Der Alte fragte: « Majestät! Wollt Ihr jetzt nicht in den fünften Stock her­ untersteigen?» « Das tue ich », erwiderte der Verrückte. Alle waren verblüfft. Der Verrückte stieg in den fünften Stock herunter. Der Alte sagte: « Herr, möchtet Ihr nicht in den vierten Stock herunter­ steigen?»

Der Verrückte kam noch ein Stockwerk mehr herunter. Der Alte sagte zu dem Verrückten: « Mein hochverehrter Kaiser, mögt Ihr wohl auch in den dritten Stock heruntersteigen?» Der Verrückte antwortete: « Aber natürlich.» Er war nun am Fenster des dritten Stocks angelangt. Er wackelte nicht mehr mit den Hüften wie auf dem Dach und tanzte nicht, er besaß vielmehr königlichen Ernst. « Verehrter Kaiser, möchtet Ihr wohl in den zweiten Stock heruntersteigen?» «Ja, das tue ich.» Und auch in den zweiten Stock stieg er hinab. « Eure Hoheit, ob Ihr wohl in den ersten Stock herunter­ steigen mögt?» Der Verrückte stieg in den ersten Stock, dann auf die Straße und war nun in der Menge. Er ging gleich auf den Alten zu und legte ihm die Hand auf die Schulter. «Mensch», rief er, «klar, du bist auch ein Verrückter. Nur ein Verrückter versteht die Lage des Verrückten.» Während der Verrückte weggebracht wurde, umringte den Alten eine neugierige M enschenmenge: «Väterchen, wie hast du denn das geschafft?» Der Alte entgegnete:

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«Na ja ... es war nicht leicht ... Aber wenn man fünfzig p r e durch die Mühle der Politik gedreht worden ist ... » gUnd mit einem Seufzer fuhr er fort: I« Ach j a ! Wenn ich noch Kraft in den Beinen hätte, würde Ich ich auf das Dach hinaufsteigen, und niemand könnte Ifch dann herunterholen.»

Cahit Külebi: Eine Geschichte Deine Lippen sind rot Deine Hände sind weiß, Nimm, fass meine Hände, Kind, Fasse sie ein w e n ig ! In den Dörfern, wo ich geboren bin, Gab es keine Walnussbäume, Darum sehne ich mich nach der Frische, Streichle mich ein w e n ig ! In den Dörfern, wo ich geboren bin, Gab es keine Weizenfelder, Bring deine Haare ein wenig durcheinander, Kind, Zause sie ein w e n ig ! Die Dörfer, wo ich geboren bin, Wurden nachts von Räubern überfallen, Darum liebe ich die Einsamkeit nicht, Sprich ein w e n ig ! In den Dörfern, wo ich geboren bin, Konnten die Menschen nicht lachen. Darum bin ich so hilflos. Lach ein w e n ig !

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In den Dörfern, wo ich geboren bin, Wehten die Nordwinde, Darum sind meine Lippen immer so rau. Küsse sie ein w e n ig ! Wie die Türkei bist du hell und schön! Die Dörfer, wo ich geboren wurde, waren auch schön. Erzähl auch du von den Orten, wo du geboren bist. Erzähl ein w e n ig !

Nâzım Hikmet: Einladung Im Galopp aus dem fernen Asien kommend, reckt es sich wie ein Stutenkopf ins M ittelm eer: Das ist unser Land. Handgelenke blutig, Zähne verkeilt, Füße nackt, und die Erde ein seidener Teppich: das ist unsere Hölle, unser Himmel. Die Werktore der Fremde sollen zugehen und nie mehr auf, dass die Knechtung von Menschen durch Menschen endet: Das ist unsere Einladung. Leben ! Jeder einzeln und frei wie ein Baum und alle brüderlich wie ein Wald, das ist unsere Sehnsucht.

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Orhan Veli: Ich lausche Istanbul Ich lausche Istanbul, die Augen geschlossen. Erst weht ein leichter Wind, ganz leise bewegen sich die Blätter an den Bäumen; weit, ganz weit in der Ferne das unaufhörliche Klingeln der Wasserverkäufer. Ich lausche Istanbul, die Augen geschlossen. Ich lausche Istanbul, die Augen geschlossen. Vögel fliegen vorbei hoch oben, in Scharen, kreischend; an den Fischplätzen werden die Netze eingezogen; die Füße einer Frau berühren das Wasser. Ich lausche Istanbul, die Augen geschlossen. Ich lausche Istanbul, die Augen geschlossen. Der kühle Kapalı Çarşı; das lebhafte Treiben im Mahmutpaşa-Viertel; die Höfe voller Tauben. Von den Docks kommt ein hämmerndes Geräusch; im schönen Frühlingswind der Duft von Schweiß. Ich lausche Istanbul, die Augen geschlossen.

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Ich lausche Istanbul, die Augen geschlossen, im Kopf den Taumel vergangener Vergnügungen, ein Sommerhaus mit halbdunklen Bootshäusern; das Rauschen der Südwinde legt sich. Ich lausche Istanbul, die Augen geschlossen. Ich lausche Istanbul, die Augen geschlossen. Ein hübsches Mädchen geht auf dem Gehsteig vorbei, Flüche, Lieder, Rufe tönen hinter ihr her; etwas fällt ihr aus der Hand und auf den Boden es muss eine Rose sein. Ich lausche Istanbul, die Augen geschlossen. Ich lausche Istanbul, die Augen geschlossen. Ein Vogel flattert an deinen Hängen. Ich spüre, ob deine Stirn heiß ist oder nicht, ich spüre, ob deine Lippen feucht sind oder nicht. Weiß geht der Mond hinter den Nussbäumen auf ich merke es an deinem Herzschlag. Ich lausche Istanbul.

% A

Nâzım Hikmet: Das schönste der Meere Das schönste der Meere ist jenes, das wir noch nicht sahen. Das schönste der Kinder ruht noch in bergender Wiege. Die Tage, die schönsten, sind jene, die wir noch nicht lebten. Und was ich dir sagen möchte, das Schönste, ich hab es noch nicht gesagt.

Aşık Veysel: Die Früchte der Heimat Die Früchte dieser Erde O wie fein, o wie fein Wenn ich das Echte fände O wie fein, o wie fein Äpfel aus Amasya Traubengelee aus Zile Hackfleisch aus Sivas O wie fein, o wie fein Spaziergänge in den Weingärten Tokats Frische Butter aus Emlek Sahne aus Erzurum O wie fein, o wie fein Schöner Weizen aus Konya ebenso gut aus Sivas und Çorum Rohe Hackfleischklößchen aus Ayintap O wie fein, o wie fein

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Schön sind die turkmenischen Mädchen Mit ihren roten Wangen Melonen aus Diyarbakır O wie fein, o wie fein Orangen aus Dörtyol, aus Mersin Aus Maraş kommt Reis Maulbeeren und Aprikosen aus Malatya O wie fein, o wie fein Ach, Korinthen aus Izmir Die mag mein Gaumen Frische Trauben aus Kazova O wie fein, o wie fein Hanf aus Kastamonu Seidentücher aus Bursa Feiner Käse aus Edirne O wie fein, o wie fein Gleich, ob Istanbul oder Ankara Es gibt, was man sich nur denken kann Wein passt gut zum Lammkotelett O wie fein, o wie fein

Melisa Gürpınar: frau lamia einst gab es starken schneefall in İstanbul viel schnee die herren mit mantel und filzhut zogen ihre kaninchenpelzgefütterten handschuhe an und gingen zum teetrinken in die cafes in beyoğlu

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französische Zeitungen in den taschen

auch die damen mit Überschuhen und fuchspelz in den fuat bey apartments von şişhane in der dunklen und nach gas riechenden wohnung von frau lamia tranken tee hinter samtvorhängen tee aus kristallgläsern auf langen tischen wurden kekse serviert vielleicht genug für ein ganzes leben

Melih Cevdet Anday: Faulig Akazienbäume riechen nach Akazien In den Gärten riechen die Rosen und riecht der Mist Das vorbeifahrende Auto riecht nach Benzin Die Frau, die im Auto sitzt, riecht nach Lavendel Der Lavendel der Frau riecht fabelhaft Der Mann, der den Lavendel der Frau riecht, riecht wonach Er riecht nach Raki Mädchen und Jungen riechen nach Schweiß Die offenen Wunden der Kranken riechen

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Die sich erst öffnenden Wunden der Gesunden riechen Die Hände, Augen, Herzen der Menschen riechen Der Atem der Hungrigen riecht Ihre faulenden Zähne, ihre Häute, ihre Gehirne riechen Ihre Gefühle, Gedanken, Stimmen, Worte riechen Was sie geschrieben und gelesen haben, riecht Es fault und riecht Bücher, Zeitschriften, Plakate, Briefe riechen Kameradschaften, Liebschaften, Freundschaften riechen Ungelüftete Zimmer riechen Gelüftete Zimmer riechen Sofas, Häuser, Wohnungen riechen Stadtviertel, Städte, Länder, Kontinente riechen Sie faulen und riechen Merkt ihr nicht, es riecht Riecht, riecht, riecht, riecht.

Serkan Acar: A bend in der K azim -D irik -Straße Onkel Hüseyin Hat seine Wasserpfeife in der Hand und Lässt den Tabakrauch durchs Wasser ziehen. Seine Gedanken schweifen zurück in seine Kindheit, Bis zur Insel Kreta. Wie er barfuß hinter seinem Drachen herläuft. Her Milchmann Nurettin Lehnt am Akazienbaum, Lin Glas Salbeitee vor sich auf dem Tisch. Erzählt zum soundsovielten Mal Von der Verteidigung der Stadt Çanakkale.

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Tante Ayşe Häkelt ihre Spitzendeckchen. Als Aussteuer für Zeynep, ihre Enkelin. Hin und wieder blinzelt sie über ihre Brille hinweg Den Vorübergehenden nach. Seyhun, der Sohn des Kebapverkäufers Nihat, Schimpft seinen Onkel, weil er Ihm aus Deutschland keinen Ball mitgebracht hat. Der Metzger Ali Verscheucht die knurrenden Hunde. In der Hand einen Stock, Schimpfwörter auf den Lippen. Melahat, die Tochter des Briefträgers, Putzt Fenster und summt dabei leise vor sich hin. Sie blinzelt dem Sohn des Kaffeehausbesitzers zu.

Die Tochter des Steuereinnehmers Kemal Spielt Seilhüpfen. Ihre Haare schwingen mit, einmal hin, einmal her. Bald gehen die ersten Straßenlampen an. Geruch von Essen erfüllt die Luft. Die ersten Arbeiter kommen nach Hause, mit müdem Blick. Die Taube auf dem Dach ist längst in ihrem Nest.

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Orhan Veli: Wie schön Wie schön ist die Farbe des Tees, Früh am Morgen, Draußen im Freien! Wie schön ist das W etter! Wie schön ist der Junge! Wie schön ist der Tee !

Ahmet Kutsi Tecer: Dort in der Ferne ist ein Dorf Dort in der Ferne ist ein Dorf Dieses Dorf ist unser Dorf Ob wir hingehen oder nicht dieses Dorf ist unser Dorf Dort in der Ferne ist ein Haus Dieses Haus ist unser Haus Ob wir darin wohnen oder nicht dieses Haus ist unser Haus

Dort in der Ferne ist eine Stimme Diese Stimme ist unsere Stimme Ob wir sie hören oder nicht diese Stimme ist unsere Stimme Dort in der Ferne ist ein Berg Dieser Berg ist unser Berg Ob wir ihn besteigen oder nicht dieser Berg ist unser Berg Dort in der Ferne ist ein Weg Dieser Weg ist unser Weg Ob wir ihn gehen oder nicht dieser Weg ist unser W eg

Die Süleymaniye-Moschee und der Baumeister Sinan Die Süleymaniye-Moschee, die sich im Istanbuler Stadtviertel Süleymaniye befindet, ist eines der bekanntesten Bauwerke des Baumeisters Sinan. Sinan baute die Moschee im Auftrag Sultan Süleymans des Prächtigen (des Gesetzgebers) in den Jahren zwischen 1550 und 1557. Die vier schlanken Minarette deuten an, dass Sultan Süleyman der vierte Sultan nach der Eroberung Konstantinopels war. Die drei Umgänge an jeweils zwei Minaretten und die zwei Umgänge an den beiden ande-

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ren Minaretten - also insgesamt zehn Umgänge - bedeuten seine Amtszeit als Sultan, die die zehnte im Osmanischen Reich war. Sinan setzte die Minarette in die vier Ecken des Hofraums, in dem die Moschee steht. Die beiden, die näher an der M o­ schee sind, sind höher und haben je drei Umgänge, die ande­ ren beiden sind weniger hoch und haben je zwei. In den Hof führen drei Türen. Die mittlere ist die größte, ihr oberer Teil besteht aus ziseliertem Marmor, eine Verzie­ rung, die an die seldschukischen Ornamente erinnert. In der Mitte des Hofes befindet sich eine schöne rechteckige Brun­ nenanlage mit einem Bronzegitter. In die Zentralkuppel ließ Sinan 64 Tongefäße von je fünf Meter Durchmesser einbauen, deren Öffnungen nach innen zeigen; dadurch schuf er eine ausgezeichnete Akustik. Wenn man unter der großen Kuppel auch nur flüstert, kann man es überall in der Moschee gut hören. Die Bauten um den M o­ scheenhof herum - Schule, Krankenhaus, Hamam, Bibliothek, Brunnen und Armenhaus - bilden mit der Moschee ein archi­ tektonisches Ensemble. Die Geschichte der Moschee ist folgende: Eines Tages ließ Süleyman den bereits berühmten sechzigjährigen Sinan ins Schloss rufen und sagte ihm, er habe die Absicht, eine präch-

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tige Moschee bauen zu lassen. Sinan erbat sich eine Woche Zeit, um den geeigneten Platz zu finden. Er ging in Istanbul umher und dachte nach. Die Moschee sollte wie die Hagia Sophia weithin sichtbar sein, und sie sollte erhaben sein wie der Berg Erciyes in seiner Heimat Kayseri. Mit diesen Gedan­ ken stieg er auf den dritten Hügel der Stadt. Das Goldene Horn und das Marmarameer lagen zu seinen Füßen. Hier war der geeignete P latz!

Dem Sultan gefiel der Vorschlag. Sinan versprach, in der kurzen Zeit von acht Jahren den Bau zu vollenden. Er machte sich sogleich an die Arbeit. Aus dem ganzen Land wurden die tüchtigsten Steinmetze und Maurer und die kräftigsten Arbei­ ter nach Istanbul gerufen. Auf dem Hügel wimmelte es wie in einem Bienenkorb. Tag und Nacht wurde gearbeitet. Innerhalb eines Jahres war das Fundament gegraben, und die Maurer mauerten es mit Quadersteinen aus. Als sie fertig waren, ließ Sinan die Arbeit ruhen. Er zahlte den Meistern und den ein­ fachen Arbeitern ihren Lohn und schickte sie in ihre Heimat. Alle wunderten sich. Der Hügel war noch leer und unbebaut. Viele meinten: «Sinan ist alt geworden, er wird das Werk nicht mehr fertigstellen.» Aber Sinan ließ die Arbeit ruhen, damit das Fundament sich setzen konnte. Als der Winter vor­ bei war, kehrten alle Arbeiter nach Istanbul zurück.

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Als Stütze für die Zentralkuppel benötigte Sinan vier große Säulen. Zwei davon fand er in Istanbul. Sie waren noch aus byzantinischer Zeit. Von den anderen beiden wurde die eine aus Alexandrien, die zweite aus Baalbek herbeigeschafft. Der weiße Marmor wurde von den Marmarainseln, der grüne Marmor aus Arabien geholt. Nach acht Jahren war der Bau fertig. Das Eröffnungsfest konnte beginnen. Sinan überreichte dem Sultan den goldenen Schlüssel. Der Sultan schüttelte den Kopf: «Es ist dein Werk. Dir gebührt die Ehre, die Tür zu öffnen.» Sinan « der Große », 1489 in dem Dorf Ağrınaz bei Kayseri geboren, war durch Knabenaushebung in den Dienst des Osmanischen Reiches aufgenommen worden. Nach seiner Erzie­ hung in der Palastschule in Istanbul hatte er im Janitscharenheer gedient und sich dort beim Brückenbau und ähnlichen Arbeiten im militärischen Ingenieurwesen hervorgetan. 1539 bekam er den Titel «Erster Baumeister». Zwischen Mekka und der Balkanhalbinsel hat Sinan an verschiedenen Orten des Osmanischen Reiches 84 größere und 51 kleinere M o­ scheen gebaut, 57 Medresen, 7 Lesesäle, 22 Mausoleen, 17 Armenküchen, 5 Aquädukte, 8 Brücken, 18 Karawansereien, 3 Krankenhäuser, 35 Paläste, 8 Lagerhallen und 46 Hamams, insgesamt also 361 Bauwerke. Er ist im Jahr 1588 in Istanbul gestorben und wurde wie Sultan Süleyman neben der Süleymaniye-Moschee begraben.

Die ersten Kaffeehäuser in Istanbul Etwa im Jahr 1635 verfasste der Geschichtsschreiber Ibrahim Peçevi folgenden Bericht: Bis zum Jahr 962 (1555) gab es in der erhabenen Stadt Istanbul keinen Kaffee und kein Kaffeehaus. In jenem Jahr kamen aus Aleppo ein Mann mit Namen Hakim und aus 101

Damaskus ein Possenreißer mit Namen Şems nach Istanbul. Die beiden fingen an, Kaffee zu verkaufen, und eröffneten im Stadtviertel Tahtakale große Läden. Diese Läden wurden Treffpunkte für Müßiggänger und Vergnügungssüchtige, aber auch für Gebildete. Man las Bücher, man spielte Tavla oder Schach und sprach über Literatur. Es kam schließlich so weit, dass Beamte, die nichts zu tun hatten, Hodschas, die ihr Ver­ gnügen suchten, und alle möglichen anderen Müßiggänger diese Läden füllten. Die Kaffeehäuser erlangten einen solchen Ruhm, dass auch wichtige Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens daran Ge­ schmack fanden. Die Imame, die Muezzins und die heuchlerischen Frommen brachen in lautes Geschrei aus und riefen: « Die Menschen besuchen die Kaffeehäuser, und niemand mehr kommt in die Moschee.» Und die Ulemas m einten: « Die Kaffeehäuser sind Lasterhöhlen geworden. Da ist es noch besser, in die Kneipe zu gehen als ins Kaffeehaus.» Die Prediger unternahmen al­ les, um die Kaffeehäuser zu verbieten. Die Muftis erließen den Rechtsspruch, dass alles, was geröstet ist, mit der Scharia in Widerspruch stehe. Sultan Murat der Dritte - er möge ruhen in Frieden - erließ strenge Verbote, aber einige fuhren trotzdem fort, in Nebengassen und in unauffälligen Läden Kaffee zu verkaufen. Da drückte man dann ein Auge zu.

Im Lauf der Zeit verbreitete sich der Kaffeeausschank so sehr, dass das Verbot in aller Form aufgehoben wurde. Jetzt sagten die Muftis, der Kaffee sei ja gar nicht ganz schwarz geröstet, deswegen sei Kaffeetrinken keine Sünde. Unter Ulemas, W e­ siren und anderen Würdenträgern ist niemand mehr, der nicht Kaffee trinkt. Das Kaffeetrinken hat so um sich gegriffen, dass sogar Großwesire ihr Kapital in großen Kaffeehäusern anlegen, die sie für ein oder zwei Goldstücke pro Tag vermieten.

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Auberginensalat (Vorspeise) Zutaten:

2 Auberginen 1 große Tomate 1 Zitrone Salz Petersilie Olivenöl

Die Auberginen waschen und mit einer Nadel mehrmals ein­ stechen. Auf ein Gitter legen und in den Ofen schieben. Bei mittlerer Hitze so lange grillen, bis die Schale geschrumpft ist (etwa 30 Minuten). Die Auberginen aus dem Ofen nehmen, die Schale abziehen, die Auberginen der Länge nach halbieren und die Kerne herausnehmen. Das Auberginenfleisch mit Zi­ 105

tronensaft beträufeln und zehn Minuten stehen lassen. In eine Schüssel geben und mit einem Holzlöffel gut zerdrücken. Die feingewürfelte Tomate hinzugeben. Mit Salz und gehackter Petersilie würzen, Olivenöl darüber gießen und servieren.

Almsuppe (4 Personen) Zutaten:

1 Ei 8 Esslöffel Joghurt 1,5 Liter Wasser 1 Handvoll Reis, gewaschen Salz frische oder getrocknete Pfefferminze

Joghurt und Ei verquirlen. Mit dem kalten Wasser in einem Topf gut verrühren. Einen halben Teelöffel Salz und den ge­ waschenen Reis hinzufügen. Unter ständigem Rühren bei leichter Hitze so lange kochen lassen, bis der Reis weich ist (20-25 Minuten). Die Suppe wird mit fein gehackter Pfeffer­ minze serviert.

Ein Brief Lieber Freund, du schreibst, dass du einige Wörter in meinem Brief im Wör­ terbuch nicht findest, und willst wissen, woran das liegt. Das ist eine komplizierte und lange Geschichte. Aber ich will sie dir gerne erzählen. Wie du weißt, wurde das Osmanische Reich am Ende des Ersten Weltkriegs durch das Abkommen von Sevres aufgelöst. Die Türkei wurde von Engländern, Franzosen, Italienern und später auch Griechen besetzt. Da begann Mustafa Kemal 1919 107

in Anatolien den Befreiungskrieg. Dieser Krieg dauerte vier Jahre. 1923 wurde die Türkische Republik gegründet. Mustafa Kemal, ihr erster Präsident, führte eine Reihe von Reformen durch. Diese Reformen nennt man in der Türkei die «Ata­ türk-Revolution». Die wichtigsten sind: Das Sultanat und das Kalifat wurden abgeschafft; die Religion wurde von den welt­ lichen Angelegenheiten getrennt (1928); das bürgerliche Ge­ setzbuch der Schweiz wurde übernommen (1926); damit löste die Monogamie die Polygamie ab; den Frauen wurde das ak­ tive und passive Wahlrecht zuerkannt; die internationale Uhr­ zeit und Jahreszählung wurden eingeführt (1926); religiöse Kleidung und Schleier wurden verboten: statt des Fes wurde der Hut als Kopfbedeckung eingeführt (1925); die Derwischor­ den wurden aufgelöst, Klöster und Mausoleen geschlossen (1925). 1934 wurden Familiennamen eingeführt. Mustafa Kemal erhielt den Namen Atatürk. Zum Modernisierungs- und Erneuerungsprozess gehörte auch die Reform der Sprache und der Schrift. Die Türken hat­ ten mit dem islamischen Glauben auch das arabische Alphabet übernommen. Das war nicht geeignet für die türkische Spra­ che; ein Wort konnte unterschiedlich geschrieben und aus­ gesprochen werden. 1928 wurde die arabische Schrift abge­ schafft und die lateinische eingeführt.

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Von der Gründung des Osmanischen Reichs im 13. Jahr­ hundert bis 1928 war die Amtssprache Osmanisch. Osmanisch war eine hochentwickelte Hof- und Literatursprache aus tür­ kischen, arabischen und persischen Elementen. Es gab eine Redensart: Der Türke spricht mit seiner Familie Türkisch, betet zu seinem Gott Arabisch und redet mit seiner Geliebten Persisch. Das einfache Volk sprach jedoch Türkisch. Daran knüpfte Atatürk an. Das neue Nationalbewusstsein gründete er auf die sprachlichen Wurzeln des Türkischen. Er wollte die Spra­ che von fremden Elementen reinigen. Denn der prozentuale Anteil der Fremdwörter war höher als der Anteil der tür­ kischen Wörter: Gegenüber 43 % türkischen gab es 57 % Fremdwörter. Heute hingegen sind immerhin 72 % des Wort­ schatzes türkischen Ursprungs. Um die arabischen und persi­ schen Wörter durch neue Wörter mit türkischen Wurzeln zu ersetzen, wurde 1932 das Türkische Sprachinstitut gegründet. Schon seit dem 19. Jahrhundert war die Reinigung der Sprache und die Einführung der lateinischen Buchstaben dis­ kutiert worden. Und noch heute gibt es unter den Intellektuel­ 111

len unterschiedliche Auffassungen vom Sprachgebrauch. Die einen bekennen sich zur kemalistischen Sprachreform und be­ vorzugen es, « rein Türkisch » zu sprechen, die anderen wollen am kulturellen Erbe des Osmanischen Reichs festhalten und verwenden auch osmanische Wörter und Begriffe. Das Türkische Sprachinstitut hat viele neue Wörter gebil­ det. Viele sind lebendige Bestandteile der Sprache geworden. Aber viele « rein türkische » Wörter sind nicht in die Wörter­ bücher aufgenommen worden. Da liegt das Problem. Wenn du mir die Wörter nennst, die du nicht findest, erkläre ich dir deren Bedeutung im nächsten Brief. Ich küsse dich.

Ein Lebenslauf Ich bin 1941 in einem kleinen Dorf in Anatolien geboren. Mein offizielles Geburtsdatum stimmt nicht. Meine Mutter weiß noch, dass ich im Kirschenmonat geboren wurde. Es kann Juni gewesen sein, auch Juli. Früher kannte man bei uns kein Geburtsdatum. Das Alter wurde nur geschätzt. « Du », sagten die Erwachsenen, « bist geboren, als in Erzincan das Erdbeben war », oder: « im Çanakkale-Krieg.» Das Geburts­ datum von Kindern, die in einem ereignislosen Jahr geboren wurden, konnte man sich nicht merken. Bei uns haben auch die Namen eine Bedeutung. Wenn man zum Beispiel keine Kinder mehr will, nennt man das zuletzt geborene Yeter [«es ist genug»]. Ich heiße Dursun [«er soll bleiben»]. Die Kinder, die meine Mutter geboren hatte, blie­ ben nicht am Leben, sie starben gleich nach der Geburt. Um auszudrücken, dass wenigstens dieses Kind am Leben bleiben solle, nannte man mich Dursun. Allah versagte meiner Mutter diesen Wunsch nicht und schenkte mich ihr. Mein Vater starb, als ich noch klein war. 113

Im Dorf war keine Schule. Meine Mutter wollte mich nicht in die Stadt zur Schule schicken; «dieses Kind ist mir zuhause eine unentbehrliche Stütze », sagte sie. Aber « damit mein Sohn nicht blind und dumm bleibt», ließ sie mich vom Dorf­ hodscha unterrichten. Zwei Jahre lernte ich Alttürkisch, da­ neben brachte er mir auch Neutürkisch bei. Ich wurde groß, heiratete, wurde Soldat. Da wurde unser Dorf von einem Erdrutsch zerstört. Die Geschädigten durften vorrangig als Arbeiter nach Europa gehen. Mit einer Gruppe von jungen Leuten aus unserem Dorf bewarb ich mich nach Deutschland. Schon bald erhielten wir das Anwerbeformular. Genau zu dieser Zeit wurde meine Mutter schwer krank. « Junge, es ist dein Schicksal», sagte, sie. « Wenn du nicht gehst, werde ich es dir nie verzeihen.» Ich küsste ihr die Hand und nahm Abschied, zum letzten Mal. Meiner Frau und den Kindern versprach ich, bald zu schreiben. Das ganze Dorf, Frauen, Männer, Alte, Junge, Kind und Kegel, versammelte sich zum Abschied. Einige umarmten uns weinend, einige steckten uns etwas Geld zu. Die Fremde, was konnte da nicht alles passieren ! Man konnte gehen und nicht wiederkommen, man konnte zurückkommen und die nicht mehr sehen, die einem vertraut waren. Hinter uns wurde Wasser ausgegossen. So schnell wie das Wasser fließt, sollten wir zurückkehren.

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Als Erstes mussten wir eine Lese- und Schreibprüfung ma­ chen. Dann untersuchte uns im deutschen Konsulat in Istan­ bul ein deutsches Ärztegremium von Kopf bis Fuß. Sogar wer nur etwas hohen Blutdruck hatte, wurde nicht genom­ men. Aus unserer Gruppe durfte nur einer nicht. Auf die Fra­ ge, wie viele Kinder er habe, hatte er geantwortet, fünf; dar­ aufhin wurde ihm gesagt: « Du kannst nicht mitkom m en.» Höchstens drei Kinder waren erlaubt. Für die, die nach Deutschland gingen, wurden viele Lieder geschrieben: « Deutschland ist ein bitteres Land, es lacht kei­ nem », hieß es zum Beispiel. Entweder kamen die, die gingen, nicht zurück, oder sie vergaßen ihre Familie und schickten kein Geld mehr. Ich wollte nicht so ein Kerl wie in den Lie­ dern sein. Wenn ich etwas gespart hätte, wollte ich ins Dorf zurückkehren, bei Hochzeiten Halay tanzen, auf dem Pferd reiten. In den Sommernächten wollte ich unter freiem H im ­ mel, im Glitzern der Sterne auf den Feldern schlafen, begleitet vom Zirpen der Zikaden, und sobald es hell wurde, mit der Feldarbeit beginnen. In Deutschland hatte mich eine Baufirma angeworben. Dort fing ich an zu arbeiten. Wie schwer mir das f ie l! Ich verstand kein Wort. Da hieß mich der Meister einen Nagel holen, ich aber brachte einen Hammer. Wie tollkühn war es doch gewe­ sen, Anatolien zu verlassen und in ein fremdes Land zu ge­ hen, dessen Sprache man nicht versteht und dessen Sitten und Gebräuche man nicht kennt. Später wurde ich in einer Glasfabrik eingestellt. In drei Schichten. Jede Woche im Wechsel. Und ich warte bei jedem Schichtwechsel schlaflos auf das Klingeln des Weckers. Es gibt weder Wochenenden noch Feiertage. Das soll nicht hei­ ßen, dass ich nicht arbeiten mag, ich erzähle es nur, um zu sagen, dass man in Deutschland sein Geld nicht so leicht ver­ dient. Der Zeitpunkt der Rückkehr zögerte sich mehr und mehr 1* 7

hinaus. Frau und Kinder waren dort, und ich hier. Ich ertrug es nicht mehr, und so holte ich sie nach. Auch wollte ich, dass meine Kinder eine Ausbildung machen. Sie alle erlernen ei­ nen Beruf. Nun bin ich hier gebunden. Es ist wirklich schwer, in einem fremden Land zu leben, noch dazu, wenn man die Sprache nicht versteht. Einen Sprachkurs habe ich nie ge­ macht, so etwas gab es nicht, Deutsch haben wir nur vom Zuhören gelernt. Meine Arbeitskollegen sind auch Ausländer. So sind wir Fremde geblieben in dieser Gesellschaft. Nur in dieser? Wir haben uns auch unserem eigenen Land entfrem­ det. Es ist für uns ein Urlaubsland geworden. Die gleiche Freude wie wenn wir in Urlaub fahren, erleben wir bei der Rückkehr aus dem Urlaub. Ich habe also zwei Zuhause, zwei Heimatländer. Mal ist das eine wichtiger, mal das andere.

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Anmerkungen Ağa: Großgrundbesitzer; auch: die volkstümliche Anrede «Herr». Bektaşi: Mitglied des Bektaşi-Ordens, eines türkischen Der­ wischordens, der im 13. Jahrhundert durch Hacı Bektaş gegründet wurde. Die Bektaşi bekennen sich zu den zwölf imamen der Schia. Der Orden, einer der größten der Tür­ kei, entstand als Protest gegen den sunnitischen Islam. Der Ordensmeister hatte seinen Sitz im Kloster Hacıbektaş zwischen Kırşehir und Kayseri. Derwisch: Angehöriger eines islamischen Ordens. Die Lehren dieser Religionsgemeinschaften beruhten auf der islami­ schen Mystik, dem Sufismus. Die Derwische versuchten, durch Askese und geistliche Übungen die mystische Verei­ nigung mit Gott zu erreichen. Fes: Kegelstumpfförmige Kopfbedeckung aus rotem Filz mit Quaste, die im Orient und in Nordafrika in Gebrauch war. Fetwa: Religiöses Rechtsgutachten; eine Urkunde, die Fragen nach den religiösen Rechtsprinzipien klärt. H am am : Türkisches Bad. Hodscha: Lehrer, aber auch Geistlicher in der Moschee. Im am : Der Vorbeter in der Moschee. Bei den Schiiten gewann der Begriff noch eine weitere - zentrale - Bedeutung: Die Anhänger Alis, des Schwiegersohns und Cousins Moham­ meds, erkannten für die Nachfolge des Propheten nicht das Prinzip der Wahl, sondern allein das der Abstammung von der Familie Mohammeds an. Sie nannten die Stellvertreter Mohammeds Imame - eine Bezeichnung, die der des Kalifen entspricht. Die Imame gelten als besonders gottesfürchtige sündenlose Menschen. Im Iran, wo der Schiismus Staats­ religion ist, werden zwölf Imame verehrt. Der zwölfte, Mehdi, über den es besonders viele Wundergeschichten gibt, soll immer noch - «in großer Verborgenheit» - leben. 121

Am Ende der Zeiten soll Mehdi wiederkehren und ein Reich der Gerechtigkeit und Wahrheit errichten. Kaf: Nach dem arabischen Buchstaben gaf ist dies der Name der 50. Sure des Koran. Kaf ist im islamischen Volksglaube! der Berg, der die Welt umgibt. Dem liegt die Vorstellung der Welt als einer Scheibe zugrunde. Hinter dem Berg Kaf liegt das Jenseits. Kalif (arabisch): Stellvertreter Mohammeds, Führer der Mus-, lime und Schützer der Scharia. Nach dem Tod Moham­ meds gab es vier große Kalifen: Abu Bakr, Omar, Osman und Ali, dessen Kalifat zu ersten politischen Streitig­ keiten innerhalb der islamischen Religionsgemeinschaft führte. Ab dem 9. Jahrhundert verlor das Kalifat seine po­ litische Bedeutung. Mit der Eroberung von Bagdad, dem Sitz der Kalifen, durch die Mongolen (1258) ging der abbassidische Kalifenstamm nach Kajro. Ab dem 13. Jahrhun-^ dert wurde von der islamischen Lehre anerkannt, dass die muslimische Gemeinschaft auf viele Staaten verteilt ist. mit wurde die Idee eines einzigen Kalifen aufgegeben. Jed^F islamische Herrscher, der nach den islamischen Prinzipien handelte und die Scharia in Kraft setzte, konnte als Kalif gelten. So nahmen auch die osmanischen Sultane ab dem 15. Jahrhundert den Kalifentitel an. 1924 hob die türkische Nationalversammlung sowohl das Sultanat als auch das Kalifat auf. Kapalı Çarşı: Großer überdachter Basar in Istanbul. M edrese: Islamische Hochschule für Religionswissenschaften M ufti: Ursprünglich geistlicher Würdenträger, der eine Fetw i erteilt; heute in der Türkei oberster Geistlicher eines größt ren Bezirks. Okka: Alte türkische Gewichtseinheit, die auch auf dem Bal­ kan und in arabischen Ländern in Gebrauch war. 1 okka — 1,28 kg. Padischah: Fürstentitel, der etwa dem deutschen « Kaiser » 122

entspricht und vor allem von den osmanischen Sultanen und den Mogulnkaisern geführt wurde. Ramadan: Islamischer Fastenmonat, der neunte des muslimi­ schen Mondjahres. Den Abschluss bildet das Fest des Fasten­ brechens, der Bayram. Scharia: Die Gesamtheit der islamischen religiösen Regeln und Vorschriften, die im Koran und in den Hadithen (Aus­ sprüche und Handlungen des Propheten Mohammed) niedergeschrieben sind; das arabische Wort bedeutet: der Weg, der zu den Wassern führt. Schia (arabisch): Parteilichkeit. Die Anhänger Alis (siehe Imam) organisierten sich unter dem Namen Schia. Aus die­ ser Partei - oder vielleicht besser: Konfession - entwickel­ ten sich im Iran der Schiismus, in Syrien, Yemen, Indien und der Türkei mystische religiöse Richtungen. Simurg (arabisch): dreißig. Simurg ist der Name des Vogels der Mythologie, der sich und sein Nest in Brand steckt; aus seiner Asche entsteht der neue Simurg (Phönix). Su fi: Islamischer Mystiker, der sich der mystischen Philoso­ phie (Tasavvuf) anschließt. Sein Bestreben ist es, dort, wo die Vernunft aufhört, durch Intuition, Herz und Willen die Wahrheit in Gott zu suchen. « Nicht durch Anbetung, sondern nur durch die Liebe gelangt man zu G ott», lautet der Leitspruch der islamischen Mystik. Da diese Mystiker in Armut lebten und ein Gewand aus Wolle (arabisch: sof) trugen, nannte man sie Sufi. Sultan: Herrschertitel in islamischen Ländern seit dem 11. Jahr­ hundert. Ulema: Islamische hohe Geistlichkeit. Wesir: Minister im Osmanischen Reich.

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Copyright-Nachweise

Ferit Edgü: Ein Sommer im Septemberschatten; deutsch von Sezer Duru. © 1990 Unionsverlag Zürich. Nâzim Hikmet: Nâzim Hikmet; herausgegeben vom Türken­ zentrum Berlin 1982. Das Gedicht