Ermüdungsfestigkeit : Grundlagen für Ingenieure [3., neubearb. und erw. Aufl] 3540714588, 9783540714583 [PDF]


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Ermüdungsfestigkeit : Grundlagen für Ingenieure [3., neubearb. und erw. Aufl]
 3540714588, 9783540714583 [PDF]

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Zitiervorschau

Dieter Radaj, Michael Vormwald Ermüdungsfestigkeit

Dieter Radaj · Michael Vormwald

Ermüdungsfestigkeit Grundlagen für Ingenieure

Dritte, neubearbeitete und erweiterte Auflage mit 453 Abbildungen

12

Professor Dr.-Ing. habil. Dieter Radaj Technische Universität Braunschweig Bernsteinstraße 68 70619 Stuttgart, Germany

Professor Dr.-Ing. Michael Vormwald Technische Universität Darmstadt Petersenstraße 12 64287 Darmstadt, Germany e-mail: [email protected]

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

ISBN 978-3-540-71458-3 Springer-Verlag Berlin Heidelberg New York ISBN 9-783-540-44063-5 2. Aufl. Springer-Verlag Berlin Heidelberg New York Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Die dadurch begründeten Rechte, insbesondere die der Übersetzung, des Nachdrucks, des Vortrags, der Entnahme von Abbildungen und Tabellen, der Funksendung, der Mikroverfilmung oder der Vervielfältigung auf anderen Wegen und der Speicherung in Datenverarbeitungsanlagen, bleiben, auch bei nur auszugsweiser Verwertung, vorbehalten. Eine Vervielfältigung dieses Werkes oder von Teilen dieses Werkes ist auch im Einzelfall nur in den Grenzen der gesetzlichen Bestimmungen des Urheberrechtsgesetzes der Bundesrepublik Deutschland vom 9. September 1965 in der jeweils geltenden Fassung zulässig. Sie ist grundsätzlich vergütungspflichtig. Zuwiderhandlungen unterliegen den Strafbestimmungen des Urheberrechtsgesetzes. Springer ist ein Unternehmen von Springer Science+Business Media springer.de © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 1995, 2003 und 2007 Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen, Handelsnamen, Warenbezeichnungen usw. in diesem Werk berechtigt auch ohne besondere Kennzeichnung nicht zu der Annahme, dass solche Namen im Sinne der Warenzeichen- und Markenschutz-Gesetzgebung als frei zu betrachten wären und daher von jedermann benutzt werden dürften. Sollte in diesem Werk direkt oder indirekt auf Gesetze, Vorschriften oder Richtlinien (z. B. DIN, VDI, VDE) Bezug genommen oder aus ihnen zitiert worden sein, so kann der Verlag keine Gewähr für die Richtigkeit, Vollständigkeit oder Aktualität übernehmen. Es empfiehlt sich, gegebenenfalls für die eigenen Arbeiten die vollständigen Vorschriften oder Richtlinien in der jeweils gültigen Fassung hinzuzuziehen. Satz: K+V Fotosatz, Beerfelden, Germany Herstellung: Le-TeX Jelonek, Schmidt & Vöckler GbR, Leipzig Einbandgestaltung: eStudio Calamar Steinen S. L., F. Steinen-Broo, Paul/Girona, Spanien Gedruckt auf säurefreiem Papier 60/3180/YL – 5 4 3 2 1 0

Vorwort

Das vorliegende Fachbuch wendet sich an Ingenieure in Entwicklung, Berechnung und Versuch sowie an Forscher, Hochschullehrer und Doktoranden. Es behandelt die phänomenologischen, theoretischen und versuchstechnischen Grundlagen der Gestaltung, Dimensionierung und Optimierung ermüdungsfester Bauteile. Zur Phänomenologie gehören die mikroskopisch und makroskopisch beobachtbaren Erscheinungen, die dem Versagen durch Ermüdungsbruch vorausgehen, also Rißeinleitung durch zyklische Beanspruchung und anschließender stabiler Rißfortschritt. Der Theorie sind die zahlreichen Modellbildungen zuzuordnen, die den Ermüdungsprozeß in physikalisch vereinfachter und dennoch mathematisch aufwendiger Form beschreiben. Zur Versuchstechnik gehören eine Vielzahl von Prüfverfahren mit Proben und Bauteilen unter Einschluß statistisch fundierter Auswertungen. Die angesprochenen Grundlagen ermöglichen rechnerische Verfahren des Festigkeitsnachweises und der Lebensdauerprognose, zu denen ein Überblick gegeben wird: Nennspannungs-, Strukturspannungs- und Kerbspannungsnachweis (elastisch), Kerbdehnungsnachweis (elastisch-plastisch) und Rißfortschrittskonzept. Der Leser erhält einen umfassenden Einblick in die Abhängigkeit von Schädigung, Rißeinleitung und Rißfortschritt von den anwendungstechnisch bedeutsamen Einflußgrößen auf die Ermüdungsfestigkeit: Werkstoff (Art, Legierung, Mikrostruktur), Bauteilgeometrie (Form, Größe), Bauteiloberfläche (Rauhigkeit, Härte, Eigenspannungen), Umgebungsbedingungen (Temperatur, Korrosion), Beanspruchungsart (Mittelspannung, Mehrachsigkeit) und Beanspruchungsablauf (Amplitudenfolge, Mittelspannungsänderung, Reihenfolgeeffekt). Er wird mit den gängigen und auch ausgefalleneren analytischen, numerischen und statistischen Berechnungsverfahren sowie mit dem alternativ bzw. ergänzend eingesetzten Prüfverfahren bekannt gemacht. Sowohl die makroskopische als auch (mit Einschränkungen) die mikroskopische Ebene des Ermüdungsvorgangs einschließlich Lang- und Kurzrißbruchmechanik werden angesprochen. Schließlich wird die Umsetzung der Grundlagen in praktische Nachweis- und Prognoseverfahren an konkreten Beispielen erläutert. Die FKM-Richtlinie für Maschinenbauteile, der Eurocode für Bauten aus Stahl und Aluminium sowie der ASME-Code für Druckbehälter werden ergänzend dargestellt. Diese zugleich einführende, integrierende und vertiefende Darstellung der Grundlagen für Ingenieure kommt einem spürbaren Bedarf in Forschung und

VI

Vorwort

Lehre sowie in Industrie- und Dienstleistungsunternehmen nach. Die inhaltliche und strukturelle Komplexität des angesprochenen Wissensgebietes erfordert Einstiegshilfen für neu eintretende Fachleute. Selbst ausgewiesene Experten benötigen die aktualisierte Zusammenfassung des in Breite und Tiefe rasch anwachsenden Wissens. Das betrifft den Wissenschaftler, der Forschungsprojekte definiert und Lehrveranstaltungen vorbereitet, ebenso wie den Entwicklungsingenieur, der das vorhandene Wissen in innovative Produkte umsetzen will, oder den Verantwortlichen für Berechnungs- und Prüfvorschriften, der den jeweils neuesten Wissensstand in die laufende Überarbeitung einzubringen versucht. Nicht zuletzt wird Doktoranden eine facettenreiche Gesamtsicht des angesprochenen Fachgebiets geboten, aus der sich Anregungen zu weiterführender Forschung gewinnen lassen. Die Notwendigkeit der Vorbereitung der Drittauflage schon bald nach der Zweitauflage ergab sich aufgrund des überraschend guten Verkaufsergebnisses. Wiederum wurde eine Neubearbeitung mit wesentlichen Erweiterungen eingeleitet. Folgende Teilgebiete sind erstmals voll ausgearbeitet: Einfluß der Beanspruchungsmehrachsigkeit einschließlich Nichtproportionalität, Einfluß der Korrosion, Kerbwirkung einspringender Ecken, Lebensdauer bei Temperaturwechselbeanspruchung, Berechnungsverfahren zur Rißfrontbeanspruchung, Rißfortschritt im Modus II und III einschließlich gemischtem Modus, Kurzrißverhalten im polykristallinen Gefüge, Kurzrißmodell bei mehrachsiger und möglicherweise nichtproportionaler Beanspruchung sowie Umsetzung der Grundlagen in praktikable Berechnungsverfahren. Anläßlich der vorliegenden Drittauflage des Buches tritt erstmals der Mitautor in Erscheinung, während Erst- und Zweitauflage (1995 bzw. 2003) vom Erstautor alleine verfaßt waren. Die gemeinsame Verantwortlichkeit zweier anerkannter Fachleute hat neue Inhalte und Blickwinkel in die Darstellung eingebracht und deren Zuverlässigkeit und Fehlerfreiheit erhöht. Außerdem steht der jüngere Mitautor für die Fortführung des Werkes in zukünftigen Auflagen. Das vorliegende Werk strebt nach Integration der unterschiedlichen Ansätze und „Schulen“, wobei Vollständigkeit bei der großen Anzahl alter und neuer Publikationen (derzeit über 1000 Fachaufsätze pro Jahr, Tendenz steigend) ein unerreichbares Ziel bleibt. Eine umfassende Darstellung ist dennoch erwünscht, um die Einheit der Wissenschaft im angesprochenen Bereich zu wahren. Insbesondere jüngere, weniger erfahrende Fachkollegen sollen durch die Zusammenfassung in die Lage versetzt werden, sich am wissenschaftlichen Diskurs zu beteiligen, fundierte Urteile abzugeben und die Forschungsergebnisse in der Praxis umzusetzen. Die Anwendung des in diesem Buch vermittelten Grundlagenwissens auf den industriell bedeutsamen Bereich der Schweißverbindungen wird in einem weiteren Fachbuch dargestellt, von dem die überarbeitete und erweiterte Zweitauflage im vergangenen Jahr erschienen ist (D. Radaj, C. M. Sonsino u. W. Fricke: Fatigue assessment of welded joints by local approaches. Woodhead Publishing, Cambridge 2006). Bei der Klärung schwieriger Fragen zu nicht immer mängelfreien Modellansätzen in der Literatur, darunter die Beiträge zur elastisch-plastischen Kerbwir-

Vorwort

VII

kung, war uns Timm Seeger ein jederzeit diskussionsbereiter und verläßlicher Berater. Auch an Entscheidungen zu einer verständlicheren Fachsprache war er beteiligt. Die Autoren danken für diese uneigennützige und zugleich anspornende Mitwirkung an dem Buchprojekt. Desweiteren ist die Unterstützung durch Paolo Lazzarin (Universität Padua) dankend hervorzuheben. Die Darstellung zur Kerbwirkung an einspringenden Ecken beruht hauptsächlich auf den von ihm publizierten Beiträgen. Erwin Haibach und Cetin-Morris Sonsino haben in Einzelfällen fachmännischen Rat erteilt. Jörg Ellermeier und Alfred Scholz (Institut für Werkstoffkunde in Darmstadt) haben an der Kurzdarstellung der Korrosions- und Kriechermüdung mitgewirkt. Allen vier genannten Fachkollegen gilt unser besonderer Dank. Für die elektronische Textverarbeitung war Claudia Raschke (Stuttgart) verantwortlich. Ihre Kompetenz und Zuverlässigkeit hat die Autorentätigkeit mit vielen Iterationsschleifen sehr erleichtert. Die neu eingefügten Strichzeichnungen wurden von Eveline Heimig (Darmstadt) und Herbert Jäger (Hamburg) in hervorragender Qualität elektronisch erstellt. Kerstin Breidenbach (Darmstadt) war bei der Beschaffung von Literatur behilflich. Wir sind auch diesen Personen für Ihre engagierte Mitwirkung überaus dankbar. Den Mitarbeitern des Springer-Verlags und des Verlagsdienstleisters LE-TEX, die das Buchprojekt verwirklicht haben, danken wir für die stets konstruktive und angenehme Zusammenarbeit. Stuttgart und Darmstadt, im Februar 2007

Dieter Radaj und Michael Vormwald

Inhaltsverzeichnis

Liste der Formelzeichen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . XIII 1

Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

1.1 1.2 1.3 1.4

Problem des Ermüdungsschadens . . . . . . . Phänomen Materialermüdung . . . . . . . . . Strukturierungen zur Ermüdungsfestigkeit Einschlägige Buchpublikationen . . . . . . .

. . . .

1 5 10 12

2

Schwingfestigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

15

2.1 2.2 2.3 2.4 2.5

Begriffe und Bezeichnungen . . . . . . . . . . . . . Wöhler-Versuch und Wöhler-Linie . . . . . . . . . Dauer- und Zeitfestigkeitsschaubild . . . . . . . . Dehnungs-Wöhler-Linie . . . . . . . . . . . . . . . . Statistische Auswertung der Schwingfestigkeit

. . . . .

15 18 25 33 42

3

Einflüsse auf die Schwingfestigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

59

3.1 3.2 3.3 3.4 3.5 3.6 3.7 3.8 3.9 3.10

Einfluß Einfluß Einfluß Einfluß Einfluß Einfluß Einfluß Einfluß Einfluß Einfluß

4

Kerbwirkung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 147

4.1 4.2 4.3 4.4

Erscheinung und Beschreibung der Kerbwirkung . . Kerbbeanspruchung an eigentlichen Formkerben . . . Kerbbeanspruchung an Öffnungen und Einschlüssen Elastisch-plastische Kerbbeanspruchung . . . . . . . . .

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des Werkstoffs (Werkstoffkennwerte) . . . . . . . . . . . . . . . . der Beanspruchungsmehrachsigkeit (Langzeitfestigkeit) . . der Beanspruchungsmehrachsigkeit (Kurzzeitfestigkeit) . . . der Beanspruchungsmehrachsigkeit (Nichtproportionalität) der Probengröße . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . der Oberflächenverfestigung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . der Eigenspannungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . der Oberflächenrauhigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . der Korrosion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . der Temperatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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1

59 67 81 95 105 110 116 121 128 140

147 154 163 172

X

Inhaltsverzeichnis

4.5 4.6 4.7 4.8 4.9 4.10 4.11 4.12 4.13 4.14 4.15 4.16

Kerbwirkung bei Dauerfestigkeit . . . . . . . . . . . Spannungsgradientenansatz . . . . . . . . . . . . . . . Spannungsmittelungsansatz . . . . . . . . . . . . . . . Spannungsabstandsansatz . . . . . . . . . . . . . . . . Weitere Ansätze und Vergleich . . . . . . . . . . . . Kerbwirkung abhängig von der Mittelspannung Kerbwirkung abhängig von Eigenspannungen . . Kerbwirkung abhängig vom Oberflächenzustand Kerbwirkung bei Zeit- und Kurzzeitfestigkeit . . Kerbwirkung bei zusammengesetzter Belastung Kerbwirkung abhängig von der Temperatur . . . Kerbwirkung an Eckkerben . . . . . . . . . . . . . . .

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5

Betriebsfestigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 255

5.1 5.2 5.3 5.4 5.5 5.6

Beanspruchung-Zeit-Funktion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Lastkollektiv . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Betriebsfestigkeitsversuch und Lebensdauerlinie . . . . . . . . . . . . . . . Schädigung und Schadensakkumulation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Schädigungsparameter, Schädigungsmechanik und Kriechschädigung Kerbmechanische Ansätze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

6

Langrißbruchmechanik zur Ermüdungsfestigkeit . . . . . . . . . . . . 335

6.1 6.2 6.3 6.4 6.5 6.6 6.7 6.8 6.9 6.10 6.11 6.12

Anrißbildung und Rißfortschritt . . . . . . . . . . . . . . . . . . Elastische Rißfrontbeanspruchung . . . . . . . . . . . . . . . . Rißfrontbeanspruchung im Kerbgrund . . . . . . . . . . . . . Berechnungsverfahren zur Rißfrontbeanspruchung . . . . Rißfortschrittsrate und Schwellenwert . . . . . . . . . . . . . Rißfortschritt im gemischten Beanspruchungsmodus und keitseinfluß . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Lebensdauer bei zyklischem Rißfortschritt . . . . . . . . . . Einfluß der Mittelspannung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Einfluß des Rißschließens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Einfluß des Werkstoffs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Einfluß der Korrosion, Temperatur und Frequenz . . . . . Einfluß der nichteinstufigen Belastung . . . . . . . . . . . . .

7

Kurzrißbruchmechanik zur Ermüdungsfestigkeit . . . . . . . . . . . . 445

7.1 7.2 7.3 7.4 7.5 7.6

Bedeutung des Kurzrißverhaltens . . . . . . . . . . . . . . . Schwellenwert zum Kurzrißfortschritt . . . . . . . . . . . Zyklische elastisch-plastische Rißfrontbeanspruchung Kurzrißfortschrittsmodelle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Kurzrißfortschritt im Kerbgrund . . . . . . . . . . . . . . . Schädigungssumme und Lebensdauer mit Kurzriß . .

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......... ......... ......... ......... ......... Mehrachsig......... ......... ......... ......... ......... ......... .........

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188 191 197 202 204 208 211 214 218 228 235 237

255 258 281 293 311 324

335 337 348 356 363 375 383 394 401 413 420 428

445 449 473 485 498 524

Inhaltsverzeichnis

XI

8

Rechnerischer Nachweis der Ermüdungsfestigkeit . . . . . . . . . . . 549

8.1 8.2 8.3 8.4 8.5 8.6 8.7 8.8 8.9 8.10

Komponenten des Nachweises der Ermüdungsfestigkeit Nennspannungsnachweis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Strukturspannungsnachweis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Kerbspannungsnachweis (elastisch) . . . . . . . . . . . . . . . Kerbdehnungsnachweis (elastisch-plastisch) . . . . . . . . . Rißfortschrittskonzept . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Sicherheitszahl und Ausfallwahrscheinlichkeit . . . . . . . FKM-Richtlinie für Maschinenbauteile . . . . . . . . . . . . . Eurocode für Bauten aus Stahl und Aluminium . . . . . . ASME-Code für Druckbehälter . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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549 553 557 560 564 569 575 579 589 592

Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 599 Sachverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 679

Liste der Formelzeichen

Die Liste der wichtigsten Formelzeichen in den Gleichungen, im Text und in den Abbildungen folgt erst dem lateinischen, dann dem griechischen Alphabet. Innerhalb der einzelnen Buchstabengruppen werden zuerst die Zeichen in Großschreibung und dann in Kleinschreibung aufgelistet. Spannungen werden mit r bzw. s, Dehnungen mit e bzw. c bezeichnet. Beanspruchungskennwerte tragen im allgemeinen kleine Indizes, Festigkeitskennwerte große Indizes. Die historisch ältere Schreibweise rF , r0;1 , r0;2 und rZ wird anstelle der neueren regelwerkskonformen Schreibweise Re , Rp 0;1 , Rp 0;2 und Rm beibehalten, weil sie mit der Spannungsbezeichnung übereinstimmt und die Verwechslung mit dem Spannungsverhältnis R oder der Rauhtiefe Rt bzw. Rm ausgeschlossen wird. Nennspannungen und Nenndehnungen werden entgegen der angelsächsischen Konvention (S und e) in herkömmlicher Weise sinnfällig durch den Index n am Spannungs- bzw. Dehnungszeichen ausgedrückt (rn und en ). Die Exponentialfunktion ex wird exp…x† geschrieben. Die Liste kann hinsichtlich der möglichen Kombinationen von Hauptbuchstabe und Indizes nur ein unvollständiges Orientierungsraster bieten. Weitere Zeichen sind durch Analogieschluß deutbar. Die mehrfache Bedeutung einzelner Zeichen war nicht zu vermeiden, denn von der Schreibweise in den maßgebenden Originalveröffentlichungen sollte möglichst wenig abgewichen werden. A0 AZ A a a0 ; a0 a0 a 0 Da Da ao ac a; a Da a a a; a

Ausgangsquerschnitt Bruchquerschnitt Projektionsfläche Rißlänge, Rißtiefe Anfangsrißlänge Vergleichsrißlänge, Grenzrißlänge, Übergangsrißlänge Grenzrißlänge nach Lukáš Rißlängenänderung Übergangslänge bei Rißfortschrittsverzögerung Oberflächenrißlänge kritische Rißtiefe Ellipsenhalbachse rißwirksamer Teil der Ellipsenhalbachse halbe Breite bzw. Radius des Kerbquerschnitts halbe Länge des Rechtecks Längenparameter für Kurzrißverhalten nach El Hadad, Smith u. Topper

a; a as b b b b b; b C C; C 0 ; Ce ; Cc Cscc c c c

Längenparameter für Mikrostützwirkung nach Peterson bzw. Heywood Ausdehnung der Schädigungszone an der Rißspitze Schwingfestigkeitsexponent Radius des Brutto- bzw. Nettoquerschnitts halbe Stab- bzw. Rechteckbreite Randabstand Ellipsenhalbachse Kohlenstoffgehalt Werkstoffkonstanten zum zyklischen Rißfortschritt Werkstoffkonstante zur Spannungsrißkorrosion zyklischer Duktilitätsexponent Ellipsenhalbachse halbe Oberflächenrißlänge

XIV

D; Dj D; Dj D dg dh dk d

Liste der Formelzeichen

Gesamtschädigung, Teilschädigung durch Ermüdung Gesamtschädigung, Teilschädigung durch Kriechen Stabdurchmesser Grübchendurchmesser mikrostruktureller Hindernisabstand Korndurchmesser Längenparameter für Kurzrißverhalten nach Sähn

K1 ; K2 ; K3

km

Eckspannungsintensitätsfaktoren Größtwert des Spannungsintensitätsfaktors Kleinstwert des Spannungsintensitätsfaktors Ober-, Unter- und Mittelwert des Spannungsintensitätsfaktors Spannungsintensität beim Rißschließen bzw. Rißöffnen kritischer Spannungsintensitätsfaktor Schwellenwert des Spannungsintensitätsfaktors Schwellenwert der (Kurzriß-) Spannungsintensitätsamplitude Schwellenspannungsintensität bei Spannungsrißkorrosion zyklischer Verfestigungskoeffizient, dieser bei nichtproportionaler Beanspruchung zyklischer (effektiver) Spannungsintensitätsfaktor Schwellenwert der zyklischen (effektiven) Spannungsintensität zyklischer äquivalenter Spannungsintensitätsfaktor zyklischer (effektiver) Dehnungsintensitätsfaktor Schwellenwert der zyklischen Spannungsintensität beim Abknick- bzw. Kurzriß Neigungskennzahl der Wöhlerbzw. Lebensdauerlinie Geometriekoeffizienten zur Eckspannungsintensität Kerbeinflußfaktor

l

Stablänge

M; Mb M; ME

Moment, Biegemoment Mittel- und Eigenspannungsempfindlichkeit Kerbmittelspannungsempfindlichkeit zyklischer Rißfortschrittsexponent

KI max ; Kmax KI min ; Kmin Ko ; Ku ; Km Kcl ; Kop KIc ; Kc

E Elastizitätsmodul Es Sekantenmodul ed1 ; ed2 ; ed3 Winkelfunktionsintegrale

K0

F; Fa DF Fo ; Fq ; F g Fa

KIscc

Fm f fi;j …u† fnp G GIc ; Gc Hi H H; H0 HV H h hi i0 J; Jges DJ; DJeff DJel ; DJpl DJI , DJII , DJIII DJeff;pm ; DJeff;nm JV ; JL jr ; jN

Kraft, Kraftamplitude zyklische Kraft Oberlast, Querkraft, Grenzlast Höchstwert der Lastamplitude im Lastkollektiv Mittellast des Lastkollektivs Frequenz Winkelfunktion Nichtproportionalfaktor Energiefreisetzungsrate, Rißerweiterungskraft kritische Rißerweiterungskraft Häufigkeit Häufigkeit des Kollektivmittelwerts Härte, Bezugshärte Vickers-Härte Verfestigungsmodul Probendicke, halbe Stabbreite relative Häufigkeit Regelmäßigkeitsfaktor der Last-Zeit-Funktion J-Integral zyklisches (effektives) J-Integral elastischer bzw. plastischer Anteil des DJ-Integrals zyklisches J-Integral (modusbezogen) zyklisches J-Integral bei proportional bzw. nichtproportional mehrachsiger Beanspruchung J-Integral an Eckkerben Sicherheitszahl für r bzw. N

K Spannungsintensitätsfaktor KI ; KII ; KIII derselbe modusbezogen

 Ka0 ; Ka0

0 K 0; Knp

DK; DKeff DK0 ; DK0 eff DKaq DKe ; DKe eff DK0 k; k k1 ; k2 ; k3

Mk m; m0 N; NB ; NA ND ; ND N0;1 ; N0;9 NT Ni

Schwingspielzahl, diese bis Bruch bzw. Anriß (Ersatz-)Grenzschwingspielzahl zur Dauerfestigkeit Schwingspielzahl bei Pu ˆ 10 % bzw. 90 % Übergangsschwingspielzahl Überschreitungszahl

Liste der Formelzeichen N NG Naq DN N0 Nsp NR DN   N N; n; n0 nv npl ; n0;1 n1 ; n2 ; n3 Pa ; Pu ; Pe Pu P; PB ; Pf P PSWT PHL PDQ PKBM PJ PJ ; PJ0 p p p p…x† Q q R Rmax R R R0 Rp ; Rm

Mittelwertüberschreitungszahl, Kollektivumfang Mittelwertüberschreitungszahl für Gauß-Normalkollektiv äquivalente Schwingspielzahl Schwingspielzahl im Block Nulldurchgangszahl Spitzenwertzahl Restlebensdauer Lebensdauergewinn durch Rißfortschrittsverzögerung Mittelwert bzw. Medianwert der Schwingspielzahlen zyklischer Verfestigungsexponent Stützziffer aus Spannungsgradient Stützziffer aus plastischer Verformung Schwingspielzahl im Block Ausfall-, Überlebens- bzw. Eintretenswahrscheinlichkeit Überschreitungshäufigkeit Bruch- bzw. Versagenswahrscheinlichkeit Schädigungsparameter Schädigungsparameter nach Smith, Watson u. Topper Schädigungsparameter nach Haibach u. Lehrke Schädigungsparameter nach DuQuesney et al. Schädigungsparameter nach Kandil, Brown u. Miller Schädigungsparameter nach Vormwald u. Seeger dauerfest ertragbares PJ hydrostatische Spannung Kollektivbeiwert Größenfaktor Wahrscheinlichkeitsfunktion Konstante zur Schädigungsparameter-Wöhler-Linie Kollektivbeiwert Spannungs- bzw. Spannungsintensitätsverhältnis Spannungsintensitätsverhältnis bei Spitzenlast Last- bzw. Spannungsverhältnis im Kollektiv Lochradius, Rundstabradius Sektorradius Fließgrenze, Zugfestigkeit

R t ; Rm R0 r Dr rpl r Smax s; sr ; sN s sg

XV

maximale bzw. mittlere Rauhtiefe Schwellenwert der Rauhtiefe Radius an Rißspitze Werkstoffstrukturlänge vor Rißspitze halbe Länge der plastischen Zone an Rißspitze Eckradius am Rechteck Spannungsintensitätsverhältnis bei Spitzenlast (oberlastbezogen) Standardabweichung, basierend auf r bzw. N Mikrostützwirkungsfaktor nach Neuber Gleitschichtdicke

T; T0 ; Tmax Temperatur, Umgebungsbzw. Höchsttemperatur Tr ; TN Streuspanne von r bzw. N t; Dt Zeit, Zeitspanne Zeitspanne bis Bruch tB t1 ; t2 ; t3 ; t4 Haltezeit t; teff Kerbtiefe, wirksame Kerbtiefe t Tiefe ab Oberfläche t Plattendicke U; U0

Rißöffnungsverhältnis bzw. dessen Sättigungswert

Wd1 ; Wd2 ; Wd3

deviatorische Formänderungsenergiedichten an Eckkerbe (modusbezogen) elastische bzw. plastische Wel ; Wpl Formänderungsenergiedichte DW; DWt gesamte (totale) zyklische Formänderungsenergiedichte DW  fiktiver Wert von DW DWI , DWII , zyklische FormänderungsDWIII energiedichten (modusbezogen) x xi x

Merkmalsgröße, Zufallsvariable Einzelwert in Stichprobe Mittelwert in Stichprobe

Y; Y ; Yo ; Yk

Geometriefaktor im Spannungsintensitätsfaktor

Z Zd

zyklisches J-Integral nach Wüthrich Schädigungsparameter nach Neumann et al.

XVI

Liste der Formelzeichen

k ; ks

eZ e0f

wahre Bruchdehnung zyklischer Duktilitätskoeffizient

g gk ; gk

Interaktionsgrad der Hysteresen Kerbempfindlichkeit

j

Mehrachsigkeitsfaktor der Rißspitzenbeanspruchung

k

km

Mehrachsigkeitszahl der Grundbeanspruchung Eigenwerte zur Eckspannungsintensität (modusbezogen) Abmessungsverhältnis

m

Querkontraktionszahl

q q0 qf q

Kerbradius Grenzkerbradius für Schädigung fiktiver Kerbradius nach Neuber Ersatzstrukturlänge nach Neuber Ersatzkerbradius nach Petersen Dichte

pl

elastische Kerbformzahl, diese bei Schubbeanspruchung rißwirksame Kerbformzahl elastisch-plastische Spannungsbzw. Dehnungsformzahl Grenzlastformzahl Neigungswinkel

b; bk b; b

Kerbwirkungszahl Neigungswinkel

c13

Hauptscherdehnung zwichen Hauptrichtungen 1 und 3 plastischer Anteil von c13 Scherdehnung, elastischer bzw. plastischer Anteil Oktaederscherdehnung Scherdehnungskomponente zyklischer (Scher-)Duktilitätskoeffizient Teilsicherheitsfaktor Abminderungsfaktor bei Oberflächenrauhigkeit Entlastungszahl bei Kerbreihe

k1 ; k2 ; k3

Phasenwinkel zyklische (effektive) Rißspitzenöffnungsverschiebung, CTOD zyklische (effektive) Rißspitzenabgleitverschiebung, CTSD Schwellenwert der (effektiven) Rißspitzenöffnungsverschiebung

r; rn rna ra ; rm

k ; ke r ; e

c13 pl c; cel ; cpl cokt cxy c0f cf ; cm cr c d D d; D deff D d D d0 ; D d0 eff e; en eij ex ; ey ea ; ea el ; ea pl eA em ; ev e1 ; e2 ; e3 ek ek max ; emax ecl ; eop e? Deel ; Depl De; Deges DeD eL

Dehnung, Nenndehnung Dehnungstensor Normaldehnungen Dehnungsamplitude, elastischer bzw. plastischer Anteil ertragbare Dehnungsamplitude Mitteldehnung, Vergleichsdehnung Hauptdehnungen Kerbdehnung Höchstwert der Kerbdehnung Dehnung beim Rißschließen bzw. Rißöffnen Normaldehnung in kritischer Ebene elastischer bzw. plastischer Anteil der zyklischen Dehnung zyklische Dehnung bzw. Gesamtdehnung dauerfest ertragbare zyklische Dehnung Dehnungskennwert zur Langzeitfestigkeit

q q

ro ; ru rv ; rv rc rw r1 rx ; ry ; rz rr ; ru r1 ; r2 ; r3 rE ; rL ri ri;max rk rk max ; rmax k max r ra aq rcl ; rop rhm ; rh max r? ; r? max Dr; Dreff D r

Spannung, Nennspannung Nennspannungsamplitude Spannungsamplitude bzw. Mittelspannung Ober- bzw. Unterspannung Vergleichsspannung, fiktive Variante kritische Spannung wirksame Spannung Spannung im Unendlichen Normalspannungen polare Normalspannungen Hauptspannungen Eigenspannung, Lastspannung innere Spannung höherer Ordnung innere Größtspannung nach Phasenverschiebung Kerbspannung Höchstwert der Kerbspannung festigkeitswirksamer Kerbspannungshöchstwert äquivalente Spannungsamplitude Spannung beim Rißschließen bzw. Rißöffnen mittlere bzw. maximale hydrostatische Spannung Normalspannung in kritischer Ebene, deren Höchstwert zyklische (effektive) Spannung gemittelte zyklische Spannung

Liste der Formelzeichen a r m r  r r0 r0 ; rn0 ra0 Dr0 ; Drn0 rA ; rnA rAD rO ; rnO rU ; rnU rAT A r rD rW ; rSch rbW ; rzdW DrD ; DrnD DrF rF ; rFd rZ ; rT

höchste Amplitude des Spannungskollektivs Mittelspannung des Spannungskollektivs Erwartungswert der Mittelspannung Spannung auf Horizont null Schwellenwert der Spannung bzw. Nennspannung Schwellenwert der Spannungsamplitude Schwellenwert der zyklischen Spannung bzw. Nennspannung ertragbare Spannungs- bzw. Nennspannungsamplitude dauerfest ertragbare Spannungsamplitude ertragbare Ober(nenn)spannung ertragbare Unter(nenn)spannung ertragbare Spannungsamplitude bei NT ertragbare Höchstamplitude des Spannungskollektivs Dauerfestigkeit Wechselfestigkeit, Schwellfestigkeit Biegewechselfestigkeit, ZugDruck-Wechselfestigkeit dauerfest ertragbare zyklische Spannung bzw. Nennspannung Schwingbreite zwischen Zugund Druckfließgrenze Fließgrenze, Druckfließgrenze Zugfestigkeit, Trennfestigkeit

XVII

F r r00;2 r0f  rF ; r0;2 rV

Ersatzfließspannung zyklische Fließgrenze Schwingfestigkeitskoeffizient Formdehngrenze ertragbare Vergleichsspannung

s; sxy ; sxz sur ; suz s1 sa sA

Schubspannungen polare Schubspannungen Hauptschubspannung Schubspannungsamplitude ertragbare Schubspannungsamplitude Hauptschubspannung zwischen Hauptrichtungen 1 und 2 dauerfest ertragbare zyklische Schubspannung dauerfest ertragbare zyklische Oktaederschubspannung mikroskopische Fließschubspannung (Schub-)Schwingfestigkeitskoeffizient Schubwechselfestigkeit

s12 DsD Ds0 sF s0f sW u u0

Polarwinkel Hauptspannungsrichtung relativ zur x-Achse

v; v0

bezogener Spannungsgradient

w

Brucheinschnürung

x xpl ; xpl

Kerböffnungswinkel Länge der plastischen (Umkehr-) Zone an Rißspitze

1

1.1

Einführung

Problem des Ermüdungsschadens

Schäden durch Materialermüdung Unter Materialermüdung wird die Schädigung oder das Versagen von Werkstoff und Bauteil unter zeitlich veränderlicher, häufig wiederholter Beanspruchung verstanden. Es bilden sich bevorzugt an Fehlstellen, Kerben und Querschnittsübergängen nach kleinerer oder größerer Schwingspielzahl Anrisse. Die Risse vergrößern sich mit den weiteren Schwingspielen, schließlich tritt der Restbruch ein. Dies geschieht bei einer Beanspruchungshöhe, die weit unterhalb der statischen Festigkeit liegen kann. Je höher die Beanspruchung, desto kürzer die Lebensdauer. Die Gefahr des Ermüdungsschadens ist bei allen häufig wiederholt belasteten Bauteilen gegeben. In den Schadensfallstatistiken von Unternehmen, die Maschinen, Fahrzeuge, Anlagen oder Bauwerke herstellen, betreiben oder versichern, bildet der Ermüdungsschaden eine größere Gruppe neben den Schäden durch Gewaltbruch, Sprödbruch und Instabilität sowie durch Korrosion und Verschleiß [3, 11]. Außerdem werden Sprödbrüche vielfach durch Ermüdungsanrisse eingeleitet, und auch bei Korrosion und Verschleiß kann Ermüdung eine mitbestimmende Rolle spielen. Der nicht unerhebliche Anteil von Ermüdung und Korrosion an den Schadensursachen bei Flugzeugen sowie Chemieund Offshoreanlagen wird auch von Lancaster [10] festgestellt und mit Zahlen belegt. Ermüdungsschäden an Brücken wurden von Fisher [6] dokumentiert. Katastrophale Schadensfälle Die folgenden Schadensereignisse jüngeren Datums werden als Beispiele gebracht, weil sie wegen ihres katastrophalen Ausmaßes breite Beachtung in der Öffentlichkeit fanden. Daneben stehen unzählige weniger spektakuläre Schadensfälle, mit denen sich Ingenieure auseinanderzusetzen haben. Im Jahr 1954 stürzten zwei Flugzeuge des Typs De-Havilland Comet, des ersten Verkehrsflugzeuges mit Strahlturbinenantrieb, mit Passagieren an Bord aus 9000 m Höhe ab, weil ein von den Fensteröffnungen ausgehender Ermüdungs-

2

1 Einführung

Abb. 1.1: Gekenterte Bohrplattform; Rohrfachwerk zwischen den Pontonsäulen (a), Strebenausschnitt mit Ermüdungsbruch am Hydrophonstutzen (b); nach Hobbacher [8]

riß den Druckrumpf schon nach kurzer Betriebszeit des Flugzeuges explosionsartig aufriß. Als Ursache wurden nachträglich Auslegungs- und Konstruktionsfehler ausgemacht [12, 14]: Zu hohe Beanspruchung im Rumpf beim Höhenflug und einteilige statt zweiteilige Rumpfspante. Die Gefährdung war während des Innendruckschwingversuches am Boden nicht erkannt worden, weil unzulässigerweise ein im Abnahmeversuch durch Innendruck statisch überlasteter Rumpf (mit günstigen Eigenspannungen an den Fensteröffnungen) verwendet worden war. Die Weiterentwicklung des Flugzeuges mußte zunächst eingestellt werden. Die Herstellerfirma ging in den Konkurs. Im Jahr 1980 verloren 123 Menschen ihr Leben, als die halbtauchende Bohrplattform Alexander L. Kielland durch Ermüdungsbruch in einer der Rohrstreben zwischen den im Fünfeck angeordneten Pontonsäulen kenterte und unterging, Abb. 1.1. Der Ermüdungsbruch ging von den Nahtübergangskerben an einem eingeschweißten Stutzen aus [8, 10] und mündete in einen Sprödbruch ein. Durch den Bruch der Zugstrebe D6 drehte die Säule D nach außen und riß sich von der Plattform los, die dadurch ihr Gleichgewicht verlor.

1.1 Problem des Ermüdungsschadens

3

Im Jahr 1988 riß das vordere Rumpfoberteil eines Verkehrsflugzeuges des Typs Boeing 737 von Aloha Airlines während des Fluges in 7300 m Höhe bei Hawaii ab [2]. Die Ursache war Mehrfachrißbildung (multiple site damage) durch Ermüdung und Vereinigung der von benachbarten Nietlöchern in einem längsgerichteten Überlappstoß des Rumpfes ausgehenden Anrisse. Die zusätzliche Kaltklebung des Stoßes hatte sich vorher gelöst. Der Schaden ereignete sich nach 90 000 Flügen bei einer Auslegung für etwa 50 000 Flüge und ist ein typisches Problem von im Betrieb überalternden Flugzeugen (ageing aircrafts). Das Spektakuläre am vorliegenden Fall war, daß das Flugzeug mit den teilweise im Freien sitzenden Passagieren sicher gelandet wurde. Im Jahr 1992 raste ein Großraumfrachtflugzeug des Typs Boeing 747-200 (EL AL, Flight 1862) kurz nach dem Start in Amsterdam vollgetankt in einen Wohnblock [1]. Durch Ermüdungsbruch eines Bolzens der Triebwerksaufhängung waren zwei Triebwerke abgerissen. Der zugehörige Flügel wurde dabei beschädigt. Die Flugfähigkeit und Steuerbarkeit des Flugzeugs ging verloren. Wahrscheinlich war ein Ermüdungsriß von 3,5 mm Tiefe am Umfang des Bolzens bei der letzten Inspektion übersehen worden. Neben der Besatzung des Flugzeuges verloren 43 Bewohner des Wohnblocks ihr Leben. Im Jahr 1998 verunglückte ein Hochgeschwindigkeitszug des Typs IntercityExpress ICE der Deutschen Bahn vor Eschede zwischen Hannover und Hamburg infolge eines durch Materialermüdung gebrochenen Radreifens [4]. Die anstelle der herkömmlichen Monoblockräder zur Verbesserung der Laufruhe eingesetzten Verbundräder des Zuges wiesen einen Radreifen aus gewalztem und vergütetem Kohlenstoffstahl auf, der über eine Gummimanschette mit der Radscheibe verbunden war. Durch die Vertikalkraft im Radaufstandspunkt wird der Radreifen örtlich nach innen gebogen, wodurch an seiner Innenseite Zugbiegespannungen in Umfangsrichtung hervorgerufen werden. Bei jeder Radumdrehung erfolgt ein Beanspruchungswechsel von Druck nach Zug und wieder zurück nach Druck [5, 7]. Die Schwingbreite der Beanspruchung war durch Verschleiß und Unrundheit des Reifens zusätzlich erhöht. Der Ermüdungsbruch des unzutreffenderweise als dauerfest gelieferten Rades trat nach einer Laufstrecke von 1,8 × 106 km entsprechend 6,2 × 108 Schwingspielen der Beanspruchung auf. Der gebrochene und aufgebogene Reifen verkeilte sich im Radlenker. Durch die so ausgelösten Gewaltbrüche wurde das defekte und das gegenüberliegende intakte Rad von den Schienen gedrückt. Das intakte Rad prallte auf eine gerade passierte Weiche und verstellte diese. Die nachfolgenden Waggons entgleisten. Ein Brückenpfeiler wird eingerissen. Die einstürzende Brücke begräbt einen Waggon unter sich. Die restlichen Waggons werden durch den schweren hinteren Triebwerkskopf aufgeschoben. Das Zugunglück forderte 101 Tote und über 100 Verletzte. Weitere katastrophale Schadensfälle an Chemie- und Offshoreanlagen, Schiffen und Flugzeugen, bei denen die Materialermüdung den Ausschlag gab, werden von Lancaster [10] mit vielen Detailinformationen beschrieben. Auch zwei der vorstehend genannten Fälle sind dabei erfaßt, nämlich der Absturz der Flugzeuge vom Typ Comet und das Kentern der Bohrplattform Kielland.

4

1 Einführung

Lebensdauerabschätzung, Konstruktionsoptimierung, Schadensfallanalyse Dem Ingenieur ist die Aufgabe gestellt, Ermüdungsschäden während der Betriebsdauer der Konstruktion zu vermeiden (safe life). Soweit Anrisse nicht vermeidbar sind, muß durch Inspektionsmaßnahmen sichergestellt werden, daß der Anriß nicht zum katastrophalen Bruch führt. Letzteres kann durch Austausch oder Reparatur des geschädigten Teils oder über ein günstiges Rißauffangoder Lastumlagerungsverhalten geschehen (fail safe). In all diesen Fällen ist die Frage nach der sicheren Lebensdauer der Konstruktion gestellt. Eigentliche und betriebliche Lebensdauer werden als endlich projektiert. Im Gefolge davon ist gefragt, welche Lebensdaueränderung durch abweichende Betriebsbelastung auftritt oder auch, ob und wie sich die Lebensdauer von Altkonstruktionen verlängern läßt. Eine andere Aufgabe des Ingenieurs in Verbindung mit der Ermüdungsproblematik ist die Konstruktionsoptimierung hinsichtlich Leichtbau. Das Funktionsziel soll mit kleinstmöglichem Material- bzw. Gewichtsaufwand erreicht werden. Neben Auslegung und Dimensionierung sind dafür Formgestaltung und Oberflächenbehandlung ausschlaggebend. Schließlich ist es eine besonders anspruchsvolle Ingenieursaufgabe, die konstruktiven, fertigungstechnischen und/oder betrieblichen Ursachen von Ermüdungsschäden zu ergründen und quantitativ darzustellen. Historischer Abriß der Ermüdungsproblematik Die Problematik der Materialermüdung bzw. die Aufgabe der Bemessung auf Ermüdungsfestigkeit und Lebensdauer zusätzlich zur Bemessung auf statische Festigkeit ist für alle Bauteile und Konstruktionen aktuell, die zeitlich oder örtlich veränderlichen Lasten ausgesetzt sind. Es sind dies nicht nur die Leichtbaukonstruktionen im Flugzeug-, Fahrzeug- und Landmaschinenbau, sondern ebenso schwere Konstruktionen wie Brücken, Behälter, Schwermaschinen, Krane und Bagger. Ein kurzer historischer Abriß der Auseinandersetzung mit der Ermüdungsproblematik mag dies verdeutlichen (s. a. Schütz [13]). Das um 1830 erkannte Ermüdungsproblem bei eisernen Förderketten im Bergbau wurde durch die Erfindung des Drahtseils umgangen. Dagegen führten die sich häufenden Ermüdungsbrüche an den Achsen von Postkutschen und Eisenbahnwagen ab 1840 zur Entwicklung der im wesentlichen auch heute noch gültigen Ermüdungsprüftechnik. Beim Bau von Eisenbahnbrücken (zunächst aus Gußeisen) wurde das Ermüdungsproblem seit 1850 berücksichtigt. Ermüdungsfest auszulegende Maschinenelemente (u. a. Absätze, Nute und Bohrungen an Wellen, Schrauben, Wälzlager), Motor- und Getriebeteile (u. a. Zahnräder, Pleuel, Kurbelwellen), Kraftfahrzeugteile (u. a. Achsschenkel, Federn, Radfelgen) und Landmaschinenteile (u. a. Kurbeln, Rahmen) standen in den Jahren 1920 bis 1940 im Vordergrund des Interesses. Im Flugzeugbau erhielt die Ermüdungsproblematik ab 1930 Gewicht. Der Aufschwung der Forschung zur Ermüdungsfestigkeit seit 1940 wurde von den rasch steigenden Leistungsanforderungen an Flugzeuge und Automobile getragen. Der Behälterbau entwickelte

1.2 Phänomen Materialermüdung

5

gleichzeitig ein einfaches eigenes Bemessungskonzept. Seit 1970 schenkten auch Kranbau, Baggerbau, Hüttenwerksanlagenbau, Schiffbau und OffshoreTechnik der ermüdungsfesten Auslegung der Konstruktion verstärkt Beachtung und nutzten das Wissen der zuerst genannten Bereiche. Trotz der großen Anstrengungen, die Materialermüdung im Bauteil zu beherrschen, sind nach wie vor wichtige Detailfragen unzureichend geklärt. Bei der Entwicklung ermüdungsfester Bauteile und Konstruktionen kann zwar auf ein umfangreiches theoretisches und empirisches Wissen zurückgegriffen werden, und es stehen vielfältige rechnerische und experimentelle Verfahren zur Absicherung des Entwicklungsergebnisses zur Verfügung, dennoch können in diesem Technikbereich die Unwägbarkeiten nicht ganz ausgeschaltet werden. Die ermüdungsfeste Konstruktion ist eine besondere Herausforderung für den Ingenieur geblieben.

1.2

Phänomen Materialermüdung

Makroskopische Betrachtung Bei zeitlich veränderlicher, häufig wiederholter (schwingender) Beanspruchung werden in den Mikro- und Makrobereichen von Proben oder Bauteilen zyklische plastische Verformungen ausgelöst, welche die weitere Beanspruchbarkeit herabsetzen, erst im Mikrobereich, dann im Makrobereich Risse einleiten und stabil vergrößern und schließlich zu einem instabilen Restbruch führen. Die mit bloßem Auge erkennbaren Merkmale eines beginnenden Ermüdungsbruchs sind in Abb. 1.2 dargestellt: mehrere mikroskopische Rißansatzstellen (Rißkeime), Ausbildung radialer Stufen, dazwischen Bereiche mit mikroskopischen Riefen (striations), Zusammenwachsen der Einzelrisse unter Bildung von Verbindungsstufen, Ausbildung von Rastlinien bzw. Rißfortschrittsbändern (shell markings) und Ausrichtung der resultierenden Rißfront senkrecht zur zyklischen Hauptzugspannung. Im Bereich der Langzeitfestigkeit setzt sich im allgemeinen ein einziger Rißkeim bis zum Bruch durch (Schwellenwertproblem),

Abb. 1.2: Makroskopisches Bild des beginnenden Ermüdungsbruchs: Anriß ausgehend von mehreren Rißkeimen, Ausbildung von Bruchflächenstufen und Rastlinien, resultierende Rißfront senkrecht zur zyklischen Hauptzugspannung

6

1 Einführung

Abb. 1.3: Ermüdungsbruchbilder: Rundstabproben unter Zug- und Biegebelastung, unterschiedliche Lasthöhe und Kerbwirkung, feinkörnige Schwingbruchfläche (weiß) und grobkörnige Restbruchfläche (grau); nach Jacoby [9]

während im Bereich der Zeitfestigkeit eine zunehmende Zahl von Rißkeimen sich gleichzeitig zu größeren Rissen entwickelt und das Versagen vorbereitet. Je nach Beanspruchungshöhe, Kerbzustand und Belastungsart bilden sich die Anteile von feinstrukturierter Schwingbruchfläche (mit Rastlinien) und grobstukturierter Restbruchfläche unterschiedlich aus, Abb. 1.3. Ermüdung umfaßt Rißeinleitung, Rißfortschritt und Restbruch, wobei, nach Schwingspielen gezählt, die Phase stabilen Rißfortschritts einen wesentlichen Teil der Gesamtlebensdauer umfassen kann. Die Mikro- und Makrokerben mit ihren örtlichen Kerbspannungsspitzen sowie die Formunstetigkeiten mit ihren großräumigen Strukturspannungserhöhungen sind dabei ausschlaggebend. Oberflächen und Umgebungseinflüsse (Rauhigkeit, Korrosion, Temperatur) haben außerdem starken Einfluß. Eine große Zahl weiterer konstruktions-, werkstoff- und fertigungsbedingter Parameter bestimmt zusätzlich in vielfältiger Kopplung den Ermüdungsvorgang. Die Wirkung einzelner entkoppelter Einflußparameter auf die Schwingfestigkeit bzw. Lebensdauer von Proben im Wöhler-Versuch ist in Abb. 1.4 schematisch dargestellt.

1.2 Phänomen Materialermüdung

7

Abb. 1.4: Einflußparameter zur Schwingfestigkeit von Proben oder Bauteilen im WöhlerVersuch; schematische Darstellung nach Gudehus u. Zenner [32]

Ermüdung ist ein eigentlich nicht entkoppelbares Vielparameterproblem. Letztere Eigenschaft hat nicht nur die bekannte große Streuung der Festigkeitswerte innerhalb einer Versuchsreihe und zwischen unterschiedlichen Laboratorien zur Folge, sie behindert auch die angestrebte quantitative Vorhersage der Phänomene. Ermüdungsprognosen in der technischen Praxis (Betriebsfestigkeit), abgeleitet aus dem allgemeinen Kenntnisstand und Theoriebestand ohne unmittelbare Betriebsfestigkeitsversuche oder dem gleichwertigen Erfahrungswissen, sind kaum zuverlässiger als die bekanntermaßen problematischen mittelfristigen Wetter- oder Wirtschaftsprognosen. Im Unterschied zur Wetteroder Wirtschaftsprognose kann die Betriebsfestigkeitsvorhersage im konkreten Einzelfall durch verfeinerte und durchdachte Versuchstechnik am konkreten Objekt unter Hinzunahme des Erfahrungswissens mit der in den Naturwissenschaften üblichen Exaktheit verbessert werden. In diesem Buch sind die mit der erwähnten quantitativen Unsicherheit verallgemeinerungsfähigen Aussagen im Sinne einer Lehre für technisches Handeln bei Dimensionierung, Gestaltung, Fertigung und Betrieb metallischer Bauteile zusammengestellt.

Mikroskopische Betrachtung Der mikroskopische Ermüdungsanriß wird im allgemeinen an der Bauteiloberfläche gebildet. Hier tritt in einzelnen Kristalliten bei relativ niedriger (Schub-) Spannung zyklisches Fließen auf, das im Werkstoffinneren stärker behindert ist. Die Spannungen sind über die Kristallite aufgrund von deren elastischer Anisotropie ungleichmäßig verteilt. Die Schubspannungen in den kristallographischen Scherebenen hängen außerdem von der Orientierung des Kristalls relativ

8

1 Einführung

Abb. 1.5: Gleitbandbildung unter zwei Beanspruchungszyklen mit Intrusion und Extrusion an der Oberfläche bei kubisch flächenzentriertem Werkstoff; schematische Darstellung nach Schijve [53]

zum Spannungszustand ab. Je nach Kristalltyp (kubisch flächenzentriert, kubisch raumzentriert, hexagonal) sind die Verhältnisse unterschiedlich. In einzelnen Kristalliten sind die Bedingungen für ein Abgleiten besonders günstig. Der Vorgang der Gleitbandbildung mit Intrusion oder Extrusion ist in Abb. 1.5 veranschaulicht (Schijve [53], Eßmann et al. [1413]). Der erste Halbzyklus der Beanspruchung (Belastung) erzeugt die Gleitverschiebung Ds mit einer Gleitstufe an der Oberfläche (a). Im zweiten Halbzyklus (Entlastung) wird eine benachbarte Gleitebene aktiviert, weil sich die ursprüngliche Gleitebene verfestigt und die Gleitstufe sich mit harter Passivschicht überzogen hat (b). Damit ist ein einschichtiges Gleitband mit Oberflächenintrusion gebildet. Im zweiten Beanspruchungszyklus wiederholt sich der Vorgang mit Bildung einer weiteren Gleitbandschicht (c, d). Unter bestimmten Bedingungen erscheint statt der Intrusion eine Extrusion (e). Der erste Anriß erscheint an der Oberfläche entlang eines Gleitbandes. Die Werkstofftrennung erfolgt durch Schubspannungen in der Gleitebene und/oder Zugspannungen senkrecht zu dieser Ebene. Wenn die Hauptscherebene senkrecht zur Oberfläche liegt (s. Abb. 3.16) treten keine Intrusionen oder Extrusionen auf. Die vorstehend beschriebenen Gleitbänder treten bei kubisch flächenzentrierten Werkstoffen auf, während für kubisch raumzentrierte Werkstoffe Lüders-Bänder kennzeichnend sind. Aus metallphysikalischer Sicht stellt sich das Ermüdungsphänomen als äußerst verwickelt dar. Die Wirkung aufgestauter Versetzungsgruppen, die das statische Festigkeitsverhalten duktiler Metalle bestimmt, erklärt nicht den Ermüdungsbruch, der weit unterhalb der Zugfestigkeit auftritt. Für den Ermüdungsbruch ist das Bilden und Wandern von Versetzungen wesentlich, denn die ersten (Mikro-)Anrisse werden an der Probenoberfläche entlang von Gleitbändern beobachtet, und durch wiederholtes Abätzen oder Abpolieren der angeris-

1.2 Phänomen Materialermüdung

9

Abb. 1.6: Mikrostrukturelle Modelle für Ermüdungsrißfortschritt mit Riefenbildung (striation): Beanspruchungsablauf (a), Modell mit scharfer Rißspitze nach McMillan u. Pelloux [1135] (b) sowie Modell mit gerundeter Rißspitze nach Laird [1128] (c); nach Schijve [53]

senen Gleitbänder läßt sich die Ermüdungsfestigkeit wesentlich erhöhen. Auch ist die Änderung der Oberflächenrauhigkeit ein Maß für die eingetretene Schädigung. Mikroskopische nichtmetallische Einschlüsse (10–100 lm) an oder dicht unter der Oberfläche begünstigen bei hochfesten Werkstoffen die Anrißbildung (Ransom [1487], Kung u. Fine [1435], Schijve [53]). Die Mikrorisse vereinigen sich bei fortgesetzter zyklischer Beanspruchung zum Makroanriß. Der weitere, zunächst stabile Rißfortschritt wird durch Gleitvorgänge an der Rißspitze beschrieben, die bei Be- und Entlastung in unterschiedlichen Gleitebenen erfolgen. Die mikrostrukturellen Langrißfortschrittsmodelle gehen von der Auffassung aus, daß in der Belastungsphase des Schwingspiels ein mit Rißlängenzunahme verbundener Zustand auftritt, der in der Entlastungsphase nicht umgekehrt wird, sondern einschließlich der Rißverlängerung ganz oder teilweise erhalten bleibt. Die Gleitebenen werden schräg zum Riß beidseitig zur Rißspitze angenommen. Es werden zwei Gruppen von Modellen unterschieden, Abb. 1.6. Die eine, auf McMillan u. Pelloux [1135] zurückgehende Gruppe von Modellen (zutreffend bei Aluminiumlegierungen) ist durch eine scharfe Rißspitze und sägezahnförmig profilierte Rißflanken gekennzeichnet, wobei sich der Riß ausgehend von der Rißspitze schließt und dabei zuschärft. Die andere auf Laird et al. [1100, 1127, 1128] zurückgehende Gruppe von Modellen (zutreffend bei reinen Metallen) ist durch eine gerundete Rißspitze und entsprechend profilierte Rißflanken gekennzeichnet, wobei ein Hohlraum an der Rißspitze beim Rißschließen erhalten bleibt. Die Profilierung der Rißflanken erklärt die auf der Bruchfläche unter dem Mikroskop sichtbaren Riefen (striations).

10

1.3

1 Einführung

Strukturierungen zur Ermüdungsfestigkeit

Schwingfestigkeit, Betriebsfestigkeit, Gestaltfestigkeit Ermüdungsfestigkeit wird als Oberbegriff zu Schwingfestigkeit und Betriebsfestigkeit verwendet. Schwingfestigkeit bezeichnet die Ermüdungsfestigkeit bei periodisch wiederholten Belastungen, insbesondere bei sinusähnlichem Lastablauf. Betriebsfestigkeit umfaßt die Ermüdungsfestigkeit bei zufallsartig oder auch aperiodisch deterministischem Lastablauf. Während bei Betrachtungen der Schwingfestigkeit eine Entkopplung der Einflußgrößen in gewissem Maße möglich ist, ist die Kopplung der Parameter bei Fragen der Betriebsfestigkeit vielfach nicht aufhebbar. Die Verallgemeinerung der im Einzelfall gewonnenen Erkenntnisse ist dadurch erschwert. Der Begriff Betriebsfestigkeit steht heute, nach den grundlegenden Arbeiten von Gaßner [829] und den Buchpublikationen von Buxbaum [19] und Haibach [34, 35], für die lebensdauerorientierte Auslegung und Optimierung von Bauteilen und Konstruktionen ausgehend von den wirklichen Betriebsbeanspruchungen, Umgebungsbedingungen, Konstruktionsdetails, Werkstoffverhältnissen und Fertigungsgegebenheiten. Betriebsfestigkeit ersetzt daher durch den engeren Anwendungsbezug vielfach die Ermüdungsfestigkeit als Oberbegriff. Der Begriff Schwingfestigkeit wird ebenfalls gelegentlich alternativ für Ermüdungsfestigkeit verwendet und schließt dann die Betriebsfestigkeit ein. Ein wichtiger Teilbereich der Ermüdungsfestigkeit wird durch die Gestaltfestigkeit abgedeckt. Dieser von Thum [61, 73] eingeführte Begriff hebt hervor, daß (örtliche) Ermüdungsfestigkeit keine reine Werkstoffeigenschaft ist, sondern zusätzlich von Bauteilform, Bauteilgröße und Bauteilbelastungsart abhängt. Der Werkstoff besitzt in anderer Gestalt eine andere Festigkeit. Ermüdungsfestigkeit von Werkstoff, Probe und Bauteil Zum besseren Verständnis der Strukturierung des nachfolgenden Textes zur Ermüdungsfestigkeit von Werkstoff, Probe und Bauteil wird das Schema nach Abb. 1.7 vorangestellt. Es wurde von Haibach [34, 35] eingeführt, um die möglichen Wege zur Gewinnung der ertragbaren Beanspruchungen im Bauteil aufzuzeigen. Einige der darin verwendeten Begriffe werden erst später genauer erläutert. Die Basis für die Beschreibung der Ermüdungsfestigkeit bildet die WöhlerLinie für die ungekerbte Probe (a). Über Formzahl und Kerbradius ergibt sich daraus die Wöhler-Linie der gekerbten Probe (b) und schließlich unter Hinzunahme von Größen- und Oberflächeneinfluß (einschließlich Eigenspannungen) die Bauteil-Wöhler-Linie (c). Diese Übertragung (a–b–c oder auch e–f–g) ist mit der Problematik der Gestaltfestigkeit verbunden. Von der Wöhler-Linie bei konstanter Beanspruchungsamplitude kann andererseits mittels einer Hypothese für die Schadensakkumulation auf die Lebensdauerlinie bei veränderlicher Beanspruchungsamplitude, also von der Schwingfestigkeit auf die Betriebsfestigkeit geschlossen werden (a–e, b–f oder c–g). Die Aufnahme der Lebensdauer-

1.3 Strukturierungen zur Ermüdungsfestigkeit

11

Abb. 1.7: Problemfeld der Ermüdungsfestigkeit, Strukturierung hinsichtlich ertragbarer Beanspruchungen; nach Haibach [34, 35]

linie der gekerbten Probe unter Standardlastfolgen kann die Problematik der Schadensakkumulation wesentlich mildern (d–f–g statt c–g). Das Verhalten von Proben und Bauteilen aus makroskopisch homogenem Werkstoff ist Thema des vorliegenden Grundlagenfachbuches. Der ungekerbte Stab im Wöhler-Versuch wird in Kap. 2 und 3 betrachtet. Der gekerbte Stab im Wöhler-Versuch wird in Kap. 4 und schließlich der ungekerbte und gekerbte Stab im Betriebsfestigkeitsversuch in Kap. 5 behandelt. Es folgt das Verhalten des ungekerbten und gekerbten Stabes mit langem bzw. kurzem Anriß nach bruchmechanischer Betrachtung in Kap. 6 und 7. Den Abschluß des Buches, Kap. 8, bildet der rechnerische Nachweis der Ermüdungsfestigkeit. Die Übertragung der dargestellten Grundlagen der Ermüdungsfestigkeit auf geschweißte Proben und Bauteile (komplexe Geometrie, inhomogener Werkstoff, hohe Eigenspannungen) erfolgt in den Fachbüchern [70, 71]. Globale und lokale Beschreibung der Festigkeit Die Ermüdungsfestigkeit von Bauteilen und Proben läßt sich ausgehend von globalen oder lokalen Phänomenen und Größen beschreiben. Ein globales Phänomen ist der vollständige Bruch, dem die lokalen Phänomene vorausgegangen sind. Lokale Phänomene sind die Bildung des Anrisses und der anschließende stabile Rißfortschritt bis zum instabilen Restbruch. Je nach Umständen ist das eine oder andere Phänomen als Versagenskriterium besser geeignet. Die wichtigsten globalen und lokalen Größen sind in Abb. 1.8 zusammen mit den zugehörigen Schwingfestigkeitsdiagrammen dargestellt. Es ist erkenntlich, daß sich

12

1 Einführung

Abb. 1.8: Globale und lokale Konzepte zur Abschätzung der Schwingfestigkeit, zyklische Parameter und Festigkeitsdiagramme, Kurven in doppeltlogarithmischer Auftragung; mit el. für elastisch und el-pl. für elastisch-plastisch; mit zyklischer Last DF, zyklischer Nennspannung Drn , zyklischer Strukturspannung Drs , zyklischer Kerbspannung Drk , zyklischer Kerbdehnung Dek , zyklischer Spannung Dr am Rißort, Rißfortschrittsrate da/dN, Schwingspielzahl N bis zum Versagen (Rißeinleitung oder Bruch) und zyklischem Spannungsintensitätsfaktor DK

die lokalen Größen (rechts im Bild) aus den globalen Größen (links im Bild) durch fortschreitende Hinzunahme lokaler Gegebenheiten bestimmen lassen. Folgende Schwingfestigkeitsdiagramme sind den Größen zugeordnet (von links nach rechts): Last-Wöhler-Linie eines Bauteils, Nennspannungs-Wöhler-Linien von Bauteilen mit unterschiedlicher Kerbwirkung, Strukturspannungs-WöhlerLinie von Bauteilen, Kerbspannungs- und Kerbdehnungs-Wöhler-Linie (nur noch werkstoffabhängig), Kitagawa-Diagramm der ungekerbten Probe mit kurzem Riß und Rißfortschrittsrate des langen Risses. Die nähere Erklärung bleibt den späteren Ausführungen vorbehalten. Die Betrachtung läßt sich sinngemäß auf Betriebsfestigkeit und Lebensdauer übertragen. Die technischen Festigkeitsnachweise werden auf der Basis der erwähnten globalen und lokalen Größen geführt. Über einige grundsätzliche Angaben in diesem Buch hinaus, sind die unterschiedlichen Nachweise ein Schwerpunkt der Fachbücher [70, 71] zur Ermüdungsfestigkeit von Schweißverbindungen.

1.4

Einschlägige Buchpublikationen

Es gibt eine große Zahl älterer und neuerer Buchpublikationen zum Thema der Ermüdungs-, Betriebs- oder Schwingfestigkeit von Werkstoff und Konstruktion, die benachbarten Gebiete eingeschlossen. Das angesprochene Wissensgebiet ist groß (u. a. Werkstoffverhalten, Formeinfluß, Betriebslastabläufe, Fertigungsmaßnahmen, Umgebungseinfluß). Die wissenschaftlichen und ingenieurmäßigen Methoden der Erfassung des Wissens sind vielfältig (u. a. Wöhler- und Betriebsfestigkeitsversuche, Beanspruchungsanalysen, statistische Verfahren, globale und lokale Konzepte, Schadensakkumulation und Bruchmechanik), und

1.4 Einschlägige Buchpublikationen

13

die Zielsetzungen der zugehörigen Publikationen sind unterschiedlich (u. a. Grundlagenklärung, Bemessungsunterlagen, Lehrbücher, Tagungsberichte, spezielle Anwendungsgebiete, Übersichten zum aktuellen Forschungsstand, Datensammlungen). Auch die Nähe des jeweiligen Autors zu einer der maßgebenden Traditionen (oder seine Unabhängigkeit davon) spielt bei der Auswahl des Stoffes und der Art seiner Präsentation eine gewisse Rolle, wobei außerdem die kulturelle Zuordnung des Autors nicht zu vernachlässigen ist. Ermüdungsfestigkeit, Schwingfestigkeit und Betriebsfestigkeit werden zusammenfassend in den neueren Büchern [15–62] behandelt. Die Ermüdungsfestigkeit von Schweißverbindungen ist in den Fachbüchern [63–73] angesprochen. Der umfassendere Rahmen der Festigkeitslehre und Festigkeitsberechnung wird in den Büchern [74–95] geboten. Über aktuelle Forschungsthemen informieren die Fortschrittsberichte [96–112, 258–271]. Hinweise zu Buchpublikationen über Teilgebiete wie beispielsweise Kerbspannungslehre oder Rißbruchmechanik sind in den entsprechenden Kapiteln des vorliegenden Buches zu finden. Die Literaturstellen zur Ermüdungsfestigkeit aus der Zeit zwischen 1838 und 1969 wurden in vier Bänden kompiliert (Mann [47]) und sind nach Themenbereichen, Autoren und Jahreszahlen einsehbar. Die seinerzeit erfaßte Gesamtzahl von 21 075 Zitaten ist bis heute auf ein Vielfaches unkompilierter Literaturstellen angewachsen mit exponentiell steigender Tendenz. Als um so dringlicher erscheint die Darstellung der einheitlichen Grundlagen.

2

2.1

Schwingfestigkeit

Begriffe und Bezeichnungen

Ermüdungsfestigkeit und Beanspruchungsablauf Unter Ermüdung wird Werkstoffschädigung, Rißeinleitung und Rißfortschritt unter zeitlich veränderlicher, häufig wiederholter Beanspruchung verstanden. Der Beanspruchungsablauf kann ursächlich bedingt sein (deterministisch, periodisch oder aperiodisch), er kann aber auch mehr oder weniger zufallsbedingt, also regellos (stochastisch) sein. Bei konstanter Beanspurchungsamplitude wird auch von schwingender Beanspruchung gesprochen. Die schwingende Beanspruchung kann relativ zu einer ruhenden oder veränderlichen Mittelbeanspruchung auftreten. Ermüdungsfestigkeit ist die gemäß Versagenskriterium bei begrenzter oder unbegrenzter Schwingspielzahl ertragbare Beanspruchungsamplitude. Als Versagenskriterium kann gewählt werden: ein Anriß definierter Größe, der vollständige Bruch der Probe oder ein bestimmter Steifigkeitsabfall des Bauteils durch den fortschreitenden Riß. Ausgangspunkt der Darstellung ist die Schwingfestigkeit, d. h. die Ermüdungsfestigkeit der ungekerbten und polierten (glatten) Werkstoffprobe bei zum Beispiel sinusförmig zwischen zwei festen Grenzwerten zeitlich veränderlicher Beanspruchung. Ausgehend von der Schwingfestigkeit der ungekerbten Probe wird später auf die Betriebsfestigkeit der gekerbten Probe und des Bauteils bei beliebig veränderlichem, regelhaftem oder regellosem Beanspruchungsablauf geschlossen. Diese Vorgehensweise wurde im Rahmen der Einführung (Beschreibung zu Abb. 1.7) näher erläutert. Die wichtigsten Begriffe und Bezeichnungen zur Beschreibung der Ermüdungsfestigkeit sind nach DIN 50 100 [115] genormt. Diese ältere Norm entspricht jedoch in vielen Punkten nicht mehr dem heutigen Stand von Forschung und Anwendung. Den Vorgaben der Norm wird daher nur teilweise gefolgt. Die grundlegenden Begriffe und Bezeichnungen werden in der genannten Norm ausgehend von der Spannungs-Wöhler-Linie gebracht. Sie sind auf die Dehnungs-Wöhler-Linie sowie auf Problemstellungen der Betriebsfestigkeit oder des Rißfortschritts (Bruchmechanik) sinngemäß übertragbar. Notwendige Erweiterungen werden bei Bedarf eingeführt.

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2 Schwingfestigkeit

Abb. 2.1: Beanspruchungskennwerte im Dauerschwingversuch

Beanspruchungskennwerte Die Beanspruchung wird nachfolgend durch die Spannung in ungekerbter oder die Nennspannung in gekerbter Probe gekennzeichnet, ist also mit der Probenbelastung verbunden. In der nachfolgenden Darstellung steht die einachsige Normalspannung r auch stellvertretend für eine Schubspannung s oder für andere Spannungsgrößen. Neben der Spannungsamplitude ra (auch Spannungsausschlag) und der Mittelspannung rm werden weitere Größen zur Kennzeichnung des periodischen (hier sinusförmig dargestellten) Beanspruchungsablaufs verwendet, Abb. 2.1: die Oberspannung ro , die Unterspannung ru , die Spannungsschwingbreite Dr (auch zyklische Spannung) und das Spannungsverhältnis R ˆ ru =ro (im Druckbereich manchmal auch Rd ˆ ro =ru ). Nur je zwei der angegebenen sechs Größen sind voneinander unabhängig, die weiteren Größen sind jeweils abhängig. Die Ableitung entsprechender Formeln ist problemlos möglich. Einige häufig verwendete Beziehungen lauten: 1 ra ˆ …ro 2

1 ru † ˆ ro …1 2

1 R 1‡R

…2:1†

1 1 1‡R rm ˆ …ro ‡ ru † ˆ ro …1 ‡ R† ˆ ra 2 2 1 R

…2:2†

R† ˆ rm

ro ˆ rm ‡ ra ˆ

2ra 2rm ˆ 1 R 1‡R

…2:3†

ru ˆ rm

ra ˆ

2ra R 2rm R ˆ 1 R 1‡R

…2:4†

Dr ˆ ro

ru ˆ 2ra



ru ro

…2:5† …2:6†

2.1 Begriffe und Bezeichnungen

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Abb. 2.2: Beanspruchungsbereiche im Dauerschwingversuch

Diese Bezeichnungsweise läßt sich auf die Höchstwerte von Beanspruchungskollektiven sinngemäß übertragen, die zur Kennzeichnung aperiodischer oder auch regelloser Beanspruchungsabläufe verwendet werden. Es wird bei schwingender Beanspruchung zwischen den Bereichen der Zugschwell-, Wechsel- und Druckschwellbeanspruchung unterschieden, Abb. 2.2. Hervorzuheben sind die reine Wechselbeanspruchung mit R ˆ 1 bzw. rm ˆ 0, die reine Zugschwellbeanspruchung mit R ˆ 0 bzw. ru ˆ 0, die reine Druckschwellbeanspruchung mit R ˆ  1 bzw. ro ˆ 0 und die statische Zugoder Druckbeanspruchung mit R ˆ 1 bzw. ro ˆ ru . Festigkeitskennwerte Die im Dauerschwingversuch mit konstanter Beanspruchungsamplitude ermittelten ertragbaren Beanspruchungen oder Festigkeitskennwerte (sie tragen Indizes in Großbuchstaben im Unterschied zu den einfachen Beanspruchungen mit Indizes in Kleinbuchstaben) werden folgendermaßen bezeichnet. Dauerschwingfestigkeit (kurz Dauerfestigkeit) ist die beliebig häufig (oder häufiger als eine technisch sinnvoll gewählte, relativ große Grenzschwingspielzahl) ertragbare Spannungsamplitude rA oder die entsprechende ertragbare Oberspannung rO . Zeitschwingfestigkeit (kurz Zeitfestigkeit) ist der (höhere) ertragbare Wert bei endlicher (also niedrigerer) Schwingspielzahl. Die Dauerfestigkeit im Unterschied zur Zeitfestigkeit kann durch den Zusatzindex D gekennzeichnet sein. Zur Mittelspannung rm ˆ 0 gehört die Wechselfestigkeit rW , zur Mittelspannung rm ˆ ra (bzw. zur Unterspannung ru ˆ 0) die Schwellfestigkeit rSch . Die ertragbare Spannungsamplitude rA könnte Amplituden- oder Ausschlagfestigkeit genannt werden, um auch diesem besonders wichtigen Festigkeitskennwert einen eigenen Namen zu geben. Die nach DIN 50 100 [115] der Dauerfestigkeit vorbehaltenen Werte werden nachfolgend auch im Zeitfestigkeitsbereich verwendet.

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2 Schwingfestigkeit

Ermüdungsfestigkeitsversuche Bei den Ermüdungsfestigkeitsversuchen wird zwischen Einstufen-, Mehrstufenund Betriebsfestigkeitsversuch unterschieden. Im Einstufenversuch ist die Beanspruchungsamplitude konstant, im Mehrstufenversuch ändert sie sich nach einer vorgegebenen Stufenfolge, im Betriebsfestigkeitsversuch folgt sie einem betriebsähnlichen Ablauf, der zwischen regelhaft und regellos liegen kann. Auch der programmgesteuerte Mehrstufenversuch ist als Betriebsfestigkeitsversuch einzustufen. Die Versuche zur Betriebsfestigkeit werden in Kap. 5.3 näher beschrieben. Bei der statistischen Erfassung der streuenden Ergebnisse aus Ermüdungsfestigkeitsversuchen werden die komplementären Begriffe Ausfallwahrscheinlichkeit Pa (auch Bruch- bzw. Versagenswahrscheinlichkeit P) und Überlebenswahrscheinlichkeit Pu verwendet, deren Zahlenwerte sich zu eins aufaddieren (Pa ‡ Pu ˆ 1). Weitere Angaben werden in Kap. 2.5 gemacht.

2.2

Wöhler-Versuch und Wöhler-Linie

Wöhler-Versuch Der grundlegende technische Ermüdungsfestigkeitsversuch ist der auf August Wöhler [132–134] zurückgehende und nach ihm benannte Schwingfestigkeitsversuch, bei dem ungekerbte (polierte), gekerbte oder auch bauteilähnliche Proben periodisch wiederholten Lastamplituden konstanter Größe unterworfen werden. Als Belastungsart tritt Axial-, Biege- und Torsionsbelastung auf. Der Lastverlauf über der Zeit ist sinusförmig oder sägezahnartig. Eine ruhende Mittellast tritt nicht auf oder hat einen konstanten Wert. Die bis zum Versagen der Probe bei unterschiedlich hohen Lastamplituden (oder Spannungsamplituden) ermittelten Schwingspielzahlen N werden horizontal neben den Amplitudenwerten (daher „Horizonte“) aufgetragen. Versagenskriterium ist meist der vollständige Probenbruch, kann aber auch ein Anriß definierter Größe oder ein bestimmter Steifigkeitsabfall sein. Die zu einer Kurve verbundenen Ergebnispunkte bilden die Wöhler-Linie, Abb. 2.3 und 2.4. Der Kurzzeitfestigkeitsbereich reicht bis etwa N = 104 Schwingspiele. Die Langzeitfestigkeit beginnt bei etwa N ˆ 105 Schwingspielen. Der Knickpunkt (knee point) zur Dauerfestigkeit oder zu einem weiteren, weniger ausgeprägten Schwingfestigkeitsabfall liegt bei ND ˆ 106–107 Schwingspielen. Im Kurzzeitfestigkeitsbereich überwiegen die plastischen Dehnungen, im Langzeitfestigkeitsbereich die elastischen Dehnungen. Vereinfachend kann die Wöhler-Linie im Bereich der Kurzzeitfestigkeit durch einen horizontalen Auslauf zur statischen Zugfestigkeit bzw. Formfestigkeit in Fortsetzung des (doppeltlogarithmisch) linear ansteigenden Verlaufs der Linie im Zeitfestigkeitsbereich gezeichnet werden. Der obere Knickpunkt liegt je nach Kerbstärke und Mittelspannung unterschiedlich bei N ˆ 10–1000 Schwingspielen. Da

2.2 Wöhler-Versuch und Wöhler-Linie

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Abb. 2.3: Wöhler-Linie für Baustahl in ungekerbter Probe; doppeltlineare (a) und halblogarithmische (b) Auftragung, rechnerische Näherung von Versuchsergebnissen; nach Stüssi [58]

Abb. 2.4: Kennwerte der Wöhler-Linie (doppeltlogarithmisch aufgetragen) und Abgrenzung der Bereiche der Dauerfestigkeit (D), der Zeitfestigkeit (Z) und der Kurzzeitfestigkeit (K), ungekerbte Proben (rA ) und gekerbte Proben (rnA ); nach Haibach [35]

die Versuchsergebnisse im Wöhler-Versuch stark streuen, ist Planung und Auswertung nach statistischen Verfahren unabdingbar [184, 209] (s. Kap. 2.5). Die Koordinatenbezeichnungen bedürfen einer Erläuterung. Von der herkömmlichen Versuchsauswertung her betrachtet ist die Wöhler-Linie die Grenzlinie der Schwingspielzahlen bis zum Bruch der Probe als Funktion der Spannungsamplitude, also eine NB ra -Linie, allerdings in ungewohnter horizontaler Auftragung. Diese Darstellung von Versuchsergebnissen als Lebensdauerschaubild ist allgemein üblich. Aus Sicht der Anwendung in der Konstruktion (Festigkeitsnachweis) ist dagegen die Wöhler-Linie die Grenzlinie der Spannungsamplitude (also die zyklische Festigkeit) als Funktion der Schwingspielzahl, also eine rA N-Linie in der gewohnten vertikalen Auftragung. Die NB ra Darstellung wird also nur dann bevorzugt, wenn die Versuchsauswertung im

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2 Schwingfestigkeit

Vordergrund steht. Sie ist auch bei der Miner-Regel der Schadensakkumulation angesprochen. Anstelle von NB wird meist nur N geschrieben. Wöhler-Versuch und Wöhler-Linie lassen sich verallgemeinern. Anstelle des Probenbruchs kann ein anderes Versagenskriterium gewählt werden, etwa ein Anriß bestimmter Größe. Die Beanspruchungsamplitude kann als globale Größe (z. B. Nennspannung) oder als lokale Größe (z. B. Kerbspannung) eingeführt werden. Anstelle der Spannungen können Dehnungen treten. Die Amplituden können durch Schwingbreiten ersetzt sein. Dauer-, Zeit- und Kurzzeitfestigkeit Das für unlegierte Stähle typische horizontale Auslaufen der Wöhler-Linie bei sehr hoher Schwingspielzahl kennzeichnet die eigentliche Dauerfestigkeit. Oberhalb einer Grenzschwingspielzahl tritt bei beliebig langer Fortsetzung des Versuchs kein Bruch auf. In der Praxis wird als Ersatzwert die technische Dauerfestigkeit bei der niedrigeren technischen Grenzschwingspielzahl, ND ˆ 2  106 (oder größer bis ND ˆ 1  107 , gelegentlich auch kleiner) bestimmt, vor allem um die Versuchsdauer zu reduzieren. Im Bereich der technischen Dauerfestigkeit ungekerbter Proben wird der größte Teil der Lebensdauer anrißfrei bzw. mit sehr kleinem Anriß (< 0,1 mm) verbracht (Schijve [53]). Das horizontale Auslaufen der Wöhler-Linie tritt bei ungekerbten Proben nur bei unlegierten Stählen und Titanlegierungen auf (kubisch-raumzentrierte Gitter mit Kohlenstoff- oder Stickstoffatomen auf Zwischengitterplätzen, die das Abgleiten zunächst blockieren), während bei legierten Stählen, Aluminium- und Kupferlegierungen (kubisch-flächenzentrierte Gitter) oberhalb der Ersatzgrenzschwingspielzahl ND ˆ 2  106 (oder größer bis ND ˆ 1  109 ) ein weiterer stetiger Schwingfestigkeitsabfall zu beobachten ist (s. Abb. 2.32). Der weitere stetige Abfall tritt auch bei Baustählen und Titanlegierungen ein, wenn regelmäßige Überlastungen, korrosive Einflüsse oder erhöhte Temperaturen den Ermüdungsvorgang mitbestimmen. Andererseits ist das horizontale Auslaufen auf niedrigem Horizont typisch für scharf gekerbte Proben, bedingt durch das Auffangen kurzer Risse im Kerbgrund. Die Frage, ob und unter welchen Bedingungen der Praxis eine wirkliche Dauerfestigkeit, also das horizontale Auslaufen der Wöhler-Linie auftritt, wird trotz der grundsätzlich geklärten Sachlage im Hinblick auf Berechnungsverfahren kontrovers diskutiert [114, 124–127]. Überzeugend ist der Hinweis auf die Möglichkeit von Versagensereignissen auch noch unterhalb der Dauerfestigkeit. Weniger überzeugend ist der Verweis auf Ergebnisse des Wöhler-Versuchs bei Schwingfrequenzen im Ultraschallbereich, die einen weiteren Abfall der Wöhler-Linie ausweisen. Der weitere Abfall bei hochfesten Federstählen ist durchaus typisch für legierte Stähle. Oberhalb der Dauerfestigkeit tritt bei N  ND ein steiler Anstieg der Schwingfestigkeit auf (Zeitfestigkeit), der sich bei kleinen Schwingspielzahlen der Zugfestigkeit oder statischen Formfestigkeit (bei einmaliger Belastung) nähert (Kurzzeitfestigkeit). Der Übergang von der steiler verlaufenden Zeitfestigkeitslinie in die flacher verlaufende Kurzzeitfestigkeitslinie erfolgt im Bereich

2.2 Wöhler-Versuch und Wöhler-Linie

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Abb. 2.5: Wechselfestigkeit einer Aluminiumlegierung als Funktion der Schwingfrequenz im Bereich der Zeit- und Dauerfestigkeit; nach Harris [37]

von N ˆ 102 –104 Schwingspielen (abhängig von Kerbgeometrie, Mittelspannung und weiteren Einflußgrößen) oder, alternativ ausgedrückt, im Bereich der Fließgrenze oder Formdehngrenze. Je nach Höhe der statischen Mittelspannung ergeben sich unterschiedliche Wöhler-Linien, hervorgehoben die Wechselfestigkeit bei Schwingbelastung um die Mittelspannung Null und die (Zug-)Schwellfestigkeit bei Schwingbelastung zwischen der Unterspannung Null und der Oberspannung. Der Mittelspannungseinfluß wird im Dauer- und Zeitfestigkeitsschaubild dargestellt (s. Kap. 2.3). Die Mittelspannung ist nach der Spannungsamplitude die wichtigste Einflußgröße auf die Lebensdauer. Zugmittelspannungen verkürzen, Druckmittelspannungen verlängern die Lebensdauer im Vergleich zur Lebensdauer ohne Mittelspannung. Schubmittelspannungen haben dagegen nur sehr geringen Einfluß auf die Lebensdauer. Der Einfluß der Schwingfrequenz auf die Schwingfestigkeit im Wöhler-Versuch ist vielfach untersucht worden [37, 38, 116, 121, 122, 129, 131]. Die Schwingfrequenz f ist bei Stahl im Bereich 1  f  103 Hz von nur geringem Einfluß auf die Schwingfestigkeit, vorausgesetzt Korrosion, erhöhte Temperatur und Annäherung an die Fließgrenze werden vermieden. Bei Leichtmetallegierungen wird dagegen zum Teil ein erheblicher Einfluß festgestellt, Abb. 2.5. Der Anstieg der Schwingfestigkeit mit der Frequenz (bzw. Dehngeschwindigkeit) erklärt sich aus dem zunehmenden Widerstand gegen die Versetzungsbewegung. Wenn sich die Probe infolge dieser Bewegung, welche die plastische Formänderung ausmacht, erwärmt, wird der Anstieg abgeschwächt oder durch einen Abfall ersetzt. Im Kurzzeitfestigkeitsbereich hat es sich in vielen Fällen bewährt, anstelle der last- bzw. spannungsgeregelten Versuche solche mit geregelter Verformung bzw. Dehnung durchzuführen und die Schwingspielzahl bis Anriß auszuwerten. Das Ergebnis ist die Dehnungs-Wöhler-Linie (s. Kap. 2.4).

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2 Schwingfestigkeit

Anriß-Wöhler-Linien, häufig auf die örtliche Spannung oder Dehnung am Anrißort bezogen, lassen sich in herkömmlicher Auftragung der (Nenn-)Spannungen darstellen. Ihre Lage, links von der Bruch-Wöhler-Linie und in die Dauerfestigkeitshorizontale einlaufend (bei genügend kleinem stillstehendem Anriß auch tiefer liegend), hängt besonders von der Kerbschärfe der Probe und der ausgewerteten Anrißgröße ab. Je schärfer die Kerbe, um so früher die Rißeinleitung. Genügend kurze Anrisse werden in scharfen Kerben dauerfest ertragen (s. Kap. 7.5). Gleichungen der Wöhler-Linie Formelmäßig wird die Wöhler-Linie am einfachsten als Gerade in doppeltlogarithmischer Auftragung (nach Basquin [113]) dargestellt, wobei in diesem Fall nur der Zeitfestigkeitsbereich erfaßt wird, nach unten durch die Dauerfestigkeit begrenzt (Abknickpunkt bei (rD ; ND )), nach oben durch die Fließgrenze oder Formdehngrenze:  1=k ND rA ˆ rD N

…R ˆ konst:†

…2:7†

Die Größe k im Exponenten kennzeichnet die Neigung der Wöhler-Linie, k ˆ D…log N†=D…log rA † ˆ tan , wobei der Neigungswinkel von der Senkrechten aus gemessen und R konstant vorausgesetzt wird (gleiche Teilung beider Achsen wird außerdem angenommen). Die Neigungskennzahl k hängt vom Werkstoff und von der Kerbschärfe der Probe ab. Beispielsweise wurde für ungekerbte Proben aus Stahl k ˆ 15, für solche mit milder Kerbe k ˆ 5 und für solche mit sehr scharfer Kerbe oder Anriß k ˆ 3 ermittelt (Haibach [35]). Bei Schweißverbindungen haben sich Werte k ˆ 3–4 bewährt, entgegen der kerbtheoretischen Voraussage k ˆ 6–7 von Gimperlein [117]. Die Werte bei Schubbeanspruchung liegen allgemein höher als die bei Normalbeanspruchung. In allen Fällen bewirken relativ kleine Änderungen der Spannungsamplitude relativ große Änderungen der Schwingspielzahl, jedoch am ausgeprägtesten beim ungekerbten Stab, dem die relativ geringste Neigung der Wöhler-Linie zugeordnet ist. Anstelle von (rD ; ND ) kann jedes andere Wertepaar (rA ; N† auf der Zeitfestigkeitsgeraden als Bezugsgröße in Gleichung (2.7) verwendet werden (s. Abb. 2.4). Wesentlich genauer ist die polygonale Darstellung der Wöhler-Linie: steiler Abfall bis N  5  106 , flacherer weiterer Abfall bis N  108 und horizontaler Auslauf daran anschließend im Falle von unlegiertem Stahl. Ein stetiger weiterer Abfall über N  108 hinaus ist für Aluminiumlegierungen kennzeichnend. Die auf August Wöhler zurückgehende Darstellung der Wöhler-Linie als Gerade in halblogarithmischer Auftragung wird ebenfalls gelegentlich verwendet, etwa bei den Entwurfsspannungen nach Lang [1647], Abb. 2.6. Komplexere Gleichungen, die den gesamten geschwungenen Verlauf der Wöhler-Linie er-

2.2 Wöhler-Versuch und Wöhler-Linie

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Abb. 2.6: Wöhler-Linien für Maschinenbaustähle (halblogarithmische Auftragung), linearisierte untere Streubandgrenzen für die konstruktive Auslegung; nach Lang [1647]

Abb. 2.7: Wöhler-Linien für zwei Baustähle bei unterschiedlichen Spannungsverhältnissen R, berechnet nach der Kontinuumstheorie der Schädigung und übereinstimmend mit Versuchsergebnissen (doppeltlogarithmische Auftragung); nach Chaboche u. Lesne [977]

fassen, sind von anderer Seite vorgeschlagen worden. Beispielsweise entspricht der Kurvenverlauf in Abb. 2.3 einem Ansatz von Stüssi [58]. Die unterschiedlichen Gleichungen der Wöhler-Linie nach Wöhler, Basquin, Stromeyer, Palmgren, Weibull, Stüssi und Bastenaire werden von Haibach [35] zusammenfassend diskutiert. Wöhler-Linien, die ausgehend von der Kontinuumstheorie der Ermüdungsschädigung berechnet wurden (s. (5.15)), sind in Abb. 2.7 dargestellt. Der Einfluß der Mittelspannung ist über das Spannungsverhältnis R erfaßt.

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2 Schwingfestigkeit

Normierte und synthetische Wöhler-Linie Bei Auftragung der streuenden Zeitfestigkeitsergebnisse des Wöhler-Versuchs bezogen auf die Dauerfestigkeit (beispielsweise bei ND ˆ 106 und Pu ˆ 50 %), in beiden Fällen wird die Schwingfestigkeit rA bei konstantem Spannungsverhältnis R betrachtet, ergibt sich für unterschiedliche Stähle und unterschiedliche Spannungsverhältnisse ein nach Neigung, Breite und Abknickpunkt einheitliches Streuband. Dieses ursprünglich für Schweißverbindungen und später für Kerbstäbe entwickelte Konzept der normierten Wöhler-Linie nach Haibach et al. [118–120, 128] wird für die ungekerbte Probe in Abb. 2.8 dargestellt. Kennzeichnend ist der relativ flache Verlauf der Wöhler-Linie im Zeitfestigkeitsbereich (k ˆ 15). Die dargestellte Streuspanne Ts ˆ Tr (s. bei (2.36)) ist relativ klein. Die dargestellte Normierung unterdrückt etwaige Unterschiede in den Wöhler-Linien, ist jedoch für die Festlegung von zulässigen Spannungen für die Bauteilauslegung gut geeignet.

Abb. 2.8: Normierte Wöhler-Linie für ungekerbte Flachstäbe aus Vergütungsstahl mit Streuspanne Ts ˆ Tr ; nach Haibach [35]

Abb. 2.9: Einheitliche Wöhler-Linien von Stählen, Eisengußwerkstoffen und Aluminiumlegierungen für die Bauteilauslegung; mit Neigungskennzahl k; nach FKM-Richtlinie [1746]

2.3 Dauer- und Zeitfestigkeitsschaubild

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Unter Beachtung der vorstehenden Ausführungen ist in der FKM-Richtlinie [1746] je eine einheitliche Wöhler-Linie für die Auslegung von Bauteilen aus Stählen oder Eisengußwerkstoffen sowie aus Aluminiumlegierungen angegeben, Abb. 2.9. Die für schwach gekerbte Proben entwickelten Diagramme gelten mit Ausnahme der Zahlenwerte an der Ordinate auch hinsichtlich der Bauteilnennspannungen. Allerdings werden für geschweißte Bauteile andere Neigungskennzahlen empfohlen. Auch bei Schubbeanspruchung ändert sich die Neigung der Wöhler-Linien (k ˆ 8 bzw. 25). Bei Stählen und Eisengußwerkstoffen ist die Wöhler-Linie zweifach linear in doppeltlogarithmischer Auftragung mit Abknickpunkt bei ND ˆ 106. Bei Aluminiumlegierungen ist sie dreifach linear mit Abknickpunkten bei ND ˆ 106 und ND ˆ 108. Auf die „synthetischen Wöhlerlinien“, die aus werkstoffmechanischen Grunddaten abgeleitet werden, sei ergänzend hingewiesen (Hück et al. [123], Forschungsbericht [130] und Kap. 3.1).

2.3 Dauer- und Zeitfestigkeitsschaubild Varianten des Schaubilds Der Zusammenhang zwischen ertragbarer zyklischer Spannung und Mittelspannung bzw. Spannungsverhältnis wird in Dauer- und Zeitfestigkeitsschaubildern dargestellt [135–145]. In der heute bevorzugten Darstellungsweise nach Haigh wird die ertragbare Spannungsamplitude als primär schwingfestigkeitsrelevante Beanspruchungsgröße über der Mittelspannung aufgetragen, Abb. 2.10. In der Darstellungsweise nach Smith [143] erscheinen ertragbare Ober- und Unterspannung über der Mittelspannung, Abb. 2.11, und nach Gerber bzw. Goodman [135, 136] (s. a. Kommerell [138]) die ertragbare Oberspannung über der Unterspannung (Spannungshäuschen), Abb. 2.12. Schließlich wird die ertragbare Oberspannung nach Moore et al. [139, 140] über dem Spannungsverhältnis aufgetragen, Abb. 2.13. Ein in der Berechnungspraxis vereinfachtes Dauer-

Abb. 2.10: Dauer- und Zeitfestigkeitsschaubild nach Haigh [137]

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2 Schwingfestigkeit

Abb. 2.11: Dauer- und Zeitfestigkeitsschaubild nach Smith [143]

Abb. 2.12: Dauer- und Zeitfestigkeitsschaubild nach Gerber bzw. Goodman [135, 136]

Abb. 2.13: Dauer- und Zeitfestigkeitsschaubild nach Moore et al. [139, 140]

2.3 Dauer- und Zeitfestigkeitsschaubild

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Abb. 2.14: Dauerfestigkeitsschaubild nach Smith für unterschiedliche Stähle, linearisierte und durch Fließspannung begrenzte Auftragung für die konstruktive Auslegung; nach Pomp u. Hempel [142]

festigkeitsschaubild nach Smith für verschiedene Stähle (linearisiert und durch die Fließgrenze begrenzt) zeigt Abb. 2.14. Die gewählte Ordinatenbezeichnung bedarf wie beim Wöhler-Diagramm einer Erläuterung. In der üblichen Darstellungsweise werden anstelle der ertragbaren die im Versuch eingestellten Spannungen aufgetragen, denen nunmehr Bruchschwingspielzahlen zugeordnet werden, also Grenzlinien NB in einem (z. B.) ra rm -Diagramm. Vorstehend und nachfolgend betrachtet werden jedoch ertragbare Spannungen (oder Festigkeitswerte), die von der Schwingspielzahl abhängen, also Grenzlinien rA über rm für unterschiedliche N (in Übereinstimmung mit der Bezeichnungsweise in einem Festigkeitsschaubild). Alle vorstehend gezeigten Diagramme erfassen nur den Bereich positiver Mittelspannungen (rm  0 bzw. 1  R < 1), also den Zugbereich, der in der Praxis besonders wichtig und hinsichtlich der Festigkeit kritischer als der Druckbereich (rm < 0) ist. In den Druckbereich erweitert, zeigen die Diagramme zunächst eine weitere Erhöhung der ertragbaren Spannungsamplitude (verursacht durch günstige Rißschließeffekte), die allerdings anschließend, bis hin zur statischen Druckfestigkeit, auf null absinkt. Dieser Sachverhalt ist in Abb. 2.15 durch sich überschneidende gegenläufige, ansonsten ähnlich geformte Kurven im Haigh-Diagramm dargestellt, die von der unterschiedlichen Größe der statischen Zug- und Druckfestigkeit ausgehen. Eine bei der Bauteil-

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2 Schwingfestigkeit

Abb. 2.15: Dauerfestigkeitsschaubild nach Haigh mit Zug- und Druckbereich der Mittelspannung, typisch für Baustähle und Aluminiumlegierungen; nach Stüssi [58]

Abb. 2.16: Dauerfestigkeitsschaubild nach Haigh mit Zug- und Druckbereich der Mittelspannung, typisch für Baustähle und Aluminiumlegierungen, extrem konservativ vereinfacht

Abb. 2.17: Dauerfestigkeitsschaubild nach Haigh mit Zug- und Druckbereich, typisch für Eisengußwerkstoffe

auslegung gelegentlich verwendete, konservativ linearisierte Vereinfachung des Diagramms mit horizontaler Kurvenverlängerung in den Druckbereich und mit der Fließgrenze als Grenzwert der Ober- bzw. Unterspannung zeigt Abb. 2.16. Besonders ausgeprägt ist der Unterschied zwischen Zug- und Druckfestigkeitswerten bei relativ spröden metallischen (Guß-)Werkstoffen, Abb. 2.17. Das bei der konstruktiven Auslegung von hochbeanspruchten Maschinenteilen auf

2.3 Dauer- und Zeitfestigkeitsschaubild

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Abb. 2.18: Dauerfestigkeitsschaubild nach Haigh für Maschinenbaustähle mit unterschiedlicher Zugfestigkeit rZ ; linearisierte untere Streubandgrenzen für die konstruktive Auslegung; nach Lang [1647]

Dauerfestigkeit bewährte Haigh-Diagramm nach Abb. 2.18 zeigt einen linearen Kurvenanstieg vom Zugbereich in den Druckbereich. Die Linien sind entsprechend der Zugfestigkeit rZ gestaffelt. Sie sind nicht durch die jeweilige Fließgrenze als Oberspannung begrenzt. Näherungsformeln zum Mittelspannungseinfluß Formelmäßig werden die Grenzwerte der Spannungsamplituden im Dauerfestigkeitsschaubild nach Haigh ausgehend von der Wechselfestigkeit rW durch folgende Gleichungen dargestellt ((2.8) nach Goodman [136], (2.9) nach Gerber [135] und (2.10) nach Smith [143], allgemeinere Gleichungen bei Troost u. El-Magd [145]), Abb. 2.19:   rm rA ˆ rW 1 …2:8† rZ "  2 # rm rA ˆ rW 1 …2:9† rZ rA ˆ rW

rZ rm rZ ‡ rm

…2:10†

Eine Variante von (2.8) nach Soderberg [144] setzt an die Stelle der Zugfestigkeit rZ die Fließgrenze rF und bleibt damit weit auf der sicheren Seite. Eine Variante von (2.8) nach Morrow beinhaltet an Stelle der konventionellen Zugfestigkeit rZ die wahre Zug- oder Trennfestigkeit rT (wird auch von Troost u. El-Magd [145] diskutiert). Duktile Werkstoffe erweisen sich damit als weniger mittelspannungsempfindlich. Die Versuchsergebnisse für Stähle und Aluminiumlegierungen bei Zugmittelspannungen liegen meist im Bereich zwischen (2.8) und (2.9), zum Teil auch oberhalb von (2.9). Der lineare Abfall von rA

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2 Schwingfestigkeit

Abb. 2.19: Dauerfestigkeitslinien nach Gerber [135], Goodman [136], Soderberg [144] und Morrow [167] im Haigh-Diagramm

Abb. 2.20: Dauerfestigkeitslinie im Haigh-Diagramm nach Haibach [35], vergleichsweise Linien nach Gerber und Goodman bei Annahme identischer Wechsel- und Schwellfestigkeitswerte, Darstellung von ertragbaren Nennspannungen

über rm nach (2.8) ist in Abb. 2.18 verwirklicht, der parabelförmige Abfall nach (2.9) in Abb. 2.10 (der entsprechende Abfall für rm < 0 nach (2.9) ist allerdings unrealistisch). Die vorstehenden Näherungsformeln zum Mittelspannungseinfluß lassen sich auf gekerbte Proben und Bauteile anwenden, wenn Nennspannungen eingeführt und anstelle der Zugfestigkeit die jeweilige Formfestigkeit (sowie anstelle der Fließgrenze die Formdehngrenze) gesetzt wird. Es ist möglich, den Zusammenhang mit der statischen Festigkeit ganz aufzugeben und die Gleichungen bzw. die Dauerfestigkeitslinie ausgehend von den Wechsel- und Schwellfestigkeitswerten festzulegen, Abb. 2.20. Dem vorstehenden Ansatz entspricht auch das Dauerfestigkeitsschaubild der FKM-Richtlinie [1746] mit der im folgenden Abschnitt definierten Mittelspannungsempfindlichkeit M im Bereich R ˆ 1 bis R ˆ 0 bzw. M/3 im Bereich R ˆ 0 bis R ˆ 0;5 sowie M0 ˆ 0 außerhalb dieser Bereiche, Abb. 2.21. Das Diagramm gilt unverändert für die Bauteilnennspannungen. Nach dem Diagramm werden die Mittelspannungsfaktoren KAK für den Ermüdungsfestigkeitsnach-

2.3 Dauer- und Zeitfestigkeitsschaubild

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Abb. 2.21: Einheitliche Dauerfestigkeit rA als Funktion der Mittelspannung rm mit zugehörigen Spannungsverhältnissen R für die Bauteilauslegung; mit Wechselfestigkeit rW , Mittelspannungsempfindlichkeit M bzw. M0 sowie Überlastkurvenpunkten F1 und F2; nach FKM-Richtlinie [1746]

weis bestimmt (s. Kap. 8.8). Es wird zwischen vier Überlastungsfällen unterschieden: Überlastung bei konstanter Mittelspannung, Überlastung bei konstantem Spannungsverhältnis, Überlastung bei konstanter Unterspannung und Überlastung bei konstanter Oberspannung. Nur die ersten beiden Fälle lassen sich als Grenzwert für Spannungsamplitude ra und Mittelspannung rm im Diagramm darstellen (Kurvenpunkte F1 und F2). Die vorstehenden Angaben zum Mittelspannungseinfluß gelten für Zug-Druck- und Biegebeanspruchung, also für Normalspannungen. Bei Schubbeanspruchung verschwindet der (Schub-)Mittelspannungseinfluß. Mittelspannungsempfindlichkeit Zur Kennzeichnung des Einflußes der Mittelspannung rm bzw. des Spannungsverhältnisses R auf die ertragbare Spannungsamplitude durch einen einzigen Zahlenwert wird die Mittelspannungsempfindlichkeit M (nach Schütz [843]) eingeführt: Mˆ

rA …R ˆ 1† rA …R ˆ 0† rA …R ˆ 1† ˆ rm …R ˆ 0† rA …R ˆ 0†

1

…2:11†

Die Mittelspannungsempfindlichkeit bezeichnet im Haigh-Diagramm die Neigung der Dauer- oder Zeitfestigkeitslinie (N konstant) zwischen Wechsel- und Schwellfestigkeit, R ˆ 1 und R ˆ 0, M ˆ tan b, wobei der Neigungswinkel b von der Horizontalen aus gemessen wird. Im Grenzfall M ˆ 0 verläuft die Linie horizontal, die ertragbare Spannungsamplitude ist dann von der Mittelspannung unabhängig. Im Grenzfall M ˆ 1 ist die Linie unter 45 geneigt, Mittelspannung und Spannungsamplitude teilen sich dann den Bereich einer konstanten

32

2 Schwingfestigkeit

ertragbaren Oberspannung, sind daher gleichermaßen schädigend. Inwieweit die Extrapolation der betrachteten Linie nach R < 1 und R > 0 zulässig ist, bleibt zunächst offen. Haibach [34, 35] schlägt vor, die Zeit- oder Dauerfestigkeitslinie mit M im Bereich 1 < R  0 zu verwenden und für Werte R > 0 mit der flacheren Neigung tan b  ˆ M=3 bis zum Erreichen der Fließgrenze durch die Oberspannung fortzusetzen, Abb. 2.20. Die flachere Neigung entspricht einzelnen experimentellen Befunden. Eine Erklärungsmöglichkeit liegt im elastisch-plastischen Kerbverhalten. Macherauch u. Wohlfahrt [486, 490] verringern die Neigung der Dauerfestigkeitslinie erst ab der zyklischen Fließgrenze (s. Abb. 3.36 u. 3.37). Für den Zusammenhang zwischen Schwell- und Wechselfestigkeit folgt aus (2.11) mit rSch ˆ 2rA …R ˆ 0† und rW ˆ rA …R ˆ 1†: rSch ˆ

2 rW 1‡M

…2:12†

Ebenso ergibt sich aus (2.11) mit von Null verschiedenem Spannungsverhältnis R (statt R ˆ 0) eine wichtige Formel für den Mittelspannungseinfluß auf die Schwingfestigkeit rA : rA ˆ rW

Mrm

…2:13†

Die Mittelspannungsempfindlichkeit gibt demnach an, in welchem Maße die Mittelspannung die Wechselfestigkeit abmindert. Die Mittelspannungsempfindlichkeit für Stähle, Stahlguß, Gußeisen, Aluminium- und Magnesiumlegierungen in ungekerbten und gekerbten Proben steigt mit der Zugfestigkeit der betrachteten Legierung, Abb. 2.22 (bei gekerbten Proben mit Nennspannungen in (2.11)). Der Anstieg wird mit der abnehmenden zyklischen Relaxations- bzw. Kriechfähigkeit bei höherfestem Werkstoff erklärt. Dieser Effekt kommt in der häufigen Näherung (2.8) nach Goodman

Abb. 2.22: Mittelspannungsempfindlichkeit von Metallegierungen, ungekerbte und gekerbte Proben; nach Schütz [843] (vereinfacht und erweitert)

2.4 Dehnungs-Wöhler-Linie

33

nicht zum Ausdruck, denn hier ist M ˆ rW =rZ und damit annähernd konstant (s. Kap. 3.1). Auf Basis der tatsächlichen Abhängigkeit der Mittelspannungsempfindlichkeit wurden von Hück et al. [123] verfeinerte Näherungsformeln für die Dauerfestigkeitslinien im Haigh-Diagramm entwickelt, deren (mittlere) Steigung von der Zugfestigkeit abhängt.

2.4 Dehnungs-Wöhler-Linie Dehnungsamplitude statt Spannungsamplitude Während bei Beanspruchung nahe der Dauerfestigkeit (N  5  105 ) in kritischen Bauteilbereichen oder an Kerben ein weitgehend linearer Zusammenhang zwischen örtlicher Spannung und örtlicher Dehnung (sowie äußerer Belastung) besteht und der örtliche Beanspruchungsablauf sowohl durch kraftgeregelte als auch durch dehnungsgeregelte Wöhler-Versuche an ungekerbten Proben bis zur Entstehung des technischen Anrisses simuliert werden kann, ist dies bei höherer Beanspruchung (N  5  105 ) nicht mehr der Fall. Im kritischen Bauteilbereich bzw. an der Kerbe treten bei duktilen Metallegierungen elastisch-plastische Verformungen auf, deren Größe (unterhalb der Formdehngrenze) durch die Stützwirkung der elastischen Umgebung auf die Größenordnung der elastischen Verformung begrenzt bleibt. Das gilt auch dann noch, wenn sich die ersten Anrisse bilden. Nur der dehnungsgeregelte Wöhler-Versuch an der ungekerbten Vergleichsprobe wird diesem Sachverhalt hinreichend gerecht. Es werden daher Wöhler-Versuche mit konstant gehaltener (Gesamt-) Dehnungsamplitude durchgeführt und die Versuchsergebnisse als ertragbare (Gesamt-)Dehnungsamplitude über der Schwingspielzahl bis Anriß dargestellt. Das Versagenskriterium im kritischen Bauteilbereich oder an der Kerbe ist der technisch erfaßbare Oberflächenanriß von etwa 0,5 mm Tiefe und 2 mm Oberflächenlänge (abhängig vom Erkennungsverfahren). Dem entspricht in der ungekerbten Vergleichsprobe näherungsweise der vollständige Bruch. Im Bauteil oder auch in der gekerbten Probe folgt dem Anriß eine getrennt zu erfassende stabile Rißfortschrittsphase. Der dehnungsgeregelte Versuch an der ungekerbten Vergleichsprobe entspricht also den Verhältnissen bei der Rißeinleitung im Kerbgrund besser als der spannungsgeregelte Versuch, weil das elastische Umfeld der Kerbe gleichbleibende elastisch-plastische Dehnungen (statt Spannungen) im Kerbgrund erzwingt, auch dann noch, wenn die ersten Anrisse auftreten. Ein weiterer Grund für die Bevorzugung des dehnungsgeregelten Versuchs liegt vor, wenn die Beanspruchung im Bauteil bei vorgegebener Verformung anstelle von vorgegebener Kraft auftritt. Auch die Temperaturwechselbeanspruchung erzeugt vorgegebene Dehnungen. Zur Dehnungs-Wöhler-Linie sind die Publikationen [147–169] grundlegend. Bei der Durchführung des dehnungsgeregelten Kurzzeitschwingfestigkeitsversuchs sind die Hinweise in der ASTM-Norm E 606 [146] zu beachten.

34

2 Schwingfestigkeit

Abb. 2.23: Hystereseschleife der Spannungen und Dehnungen bei zyklischer Beanspruchung, zugehörige Kenngrößen

Spannungs-Dehnungs-Hystereseschleife Der bei elastisch-plastischer Beanspruchung im Wöhler-Versuch mit ungekerbten Proben aus duktilen Metallegierungen auftretende nichtlineare Zusammenhang zwischen Spannung und Dehnung äußert sich in einer Hystereseschleife, in Abb. 2.23 für den allgemeinen Fall einer von null verschiedenen statischen Mitteldehnung em und Mittelspannung rm dargestellt. Spannungs- und (Gesamt-) Dehnungsamplituden ra bzw. ea , entsprechende Schwingbreiten Dr bzw. De sowie die Aufteilung der Dehnungsschwingbreiten in einen elastischen und plastischen Anteil, Deel und Depl , sind ersichtlich. Die elastische Dehnung folgt nach Hookeschem Gesetz (2.15) linear der Spannung (Elastizitätsmodul E), und die plastische Dehnung ist nach (2.16) nichtlinear von ihr abhängig: ea ˆ ea el ‡ ea pl

…2:14†

ra E

…2:15†

ea el ˆ

Zyklische Spannungs-Dehnungs-Kurve Die Gesamtdehnungsschwingbreite De bzw. die entsprechende Dehnungsamplitude ea ist über die Spannungs-Dehnungs-Kurve mit der Spannungsschwingbreite Dr bzw. mit der Spannungsamplitude ra verbunden, jedoch nicht über die aus dem statischen Zugversuch bekannte zügige Kurve, sondern über die im stabilisierten Schwingversuch ermittelte zyklische Kurve (genauer: Kurven bei statischer bzw. zyklischer Beanspruchung). Die zyklische Spannungs-Dehnungs-Kurve ergibt sich als Verbindungslinie der Extremwerte der Hysterese-

2.4 Dehnungs-Wöhler-Linie

35

Abb. 2.24: Zyklischer Beanspruchungsablauf: Hystereseschleifen (a), zyklische SpannungsDehnungs-Kurve (b) und Vergleich mit zügiger Kurve (c)

schleifen, Abb. 2.24. Gegenüber der zügigen Kurve der Einmal- bzw. Erstbelastung kann zyklische Verfestigung oder zyklische Entfestigung vorliegen. Die Gleichung der zyklischen Kurve lautet mit Elastizitätsmodul E, zyklischem Verfestigungskoeffizienten K 0 und zyklischem Verfestigungsexponenten n0 (Dreiparameteransatz nach Ramberg u. Osgood [168]): ea ˆ

ra  ra 1=n0 ‡ E K0

…2:16†

Der plastische Anteil von (2.16) ist als Potenzgesetz zwischen Spannungs- und Dehnungsamplitude bekannt: 0

ra ˆ K 0 …ea pl †n

…2:17†

Aus (2.17) folgt der Zusammenhang zwischen zyklischer Fließgrenze r00;2 , zyklischem Verfestigungskoeffizienten K 0 und zyklischem Verfestigungsexponenten n0 : 0

r00;2 ˆ K 0 0;002n

…2:18†

Die Werkstoffkennwerte werden über eine Regressionsanalyse der im zyklischen Spannungs-Dehnungs-Versuch gemessenen Daten ermittelt. Stabilisierung der Spannungs-Dehnungs-Kurve Die zyklische Spannungs-Dehnungs-Kurve wird an ungekerbten Proben im dehnungsgeregelten Schwingversuch bei rein wechselnder Zug-Druck-Beanspruchung (R ˆ 1) ermittelt. Die zyklische Verfestigung oder Entfestigung tritt innerhalb der ersten 10 bis 1000 Schwingspiele auf und stabilisiert sich danach, Abb. 2.25. Weichgeglühte Metallegierungen neigen zur zyklischen Verfestigung, kaltverfestigte Metallegierungen zur zyklischen Entfestigung. Es tritt

36

2 Schwingfestigkeit

Abb. 2.25: Zyklische Stabilisierung der Spannungs-Dehnungs-Kurve, Diagrammausschnitt; nach Bergmann et al. [147]

Abb. 2.26: Incremental-Step-Test zur Ermittlung der zyklischen Spannungs-Dehnungs-Kurve im abgekürzten Verfahren, Dehnungsschwingspiele (a) und Hystereseschleifen (b)

auch gemischtes Verhalten auf, beispielsweise zyklische Entfestigung bei kleinen Dehnungsamplituden und zyklische Verfestigung bei großen Dehnungsamplituden (s. Abb. 2.24). Die Bestimmung der stabilisierten Spannungs-Dehnungs-Kurve in Einstufenschwingfestigkeitsversuchen mit je einer Probe bei unterschiedlichen Dehnungsamplituden [948] ist sehr aufwendig. Als Abkürzungsverfahren ist der Incremental-Step-Test [157] mit nur einer Probe im Gebrauch. Die zyklische Beanspruchung wird in Blöcken zu etwa 40 Schwingspielen mit zu- und abnehmender Schwingbreite der Dehnung (Auswickeln und Einwickeln) aufgebracht, Abb. 2.26. Verbreitet ist jene Variante, bei der zuerst die zügige Kurve aufgenommen wird, gefolgt von erst abnehmender und dann wieder zunehmender Schwingbreite. Die der stabilisierten Linie hinreichend nahe kommende Linie stellt sich nach wenigen Beanspruchungsblöcken ein. Nach etwa 20 Blöcken

2.4 Dehnungs-Wöhler-Linie

37

muß mit einem Bruch der Probe gerechnet werden. Die Anrißschwingspielzahl im Incremental-Step-Test kann zur Abschätzung der Dehnungs-Wöhler-Linie verwendet werden [169]. Eine erneute Destabilisierung der Hystereseschleifen stellt sich anläßlich der Rißbildung ein. Im dehnungsgeregelten Versuch bricht die Zugseite der Schleife durch Rißöffnung mehr und mehr zusammen, während die Druckseite infolge Rißschließens erhalten bleibt. Zyklenabhängiges Relaxieren und Kriechen Die Form der zyklischen Spannungs-Dehnungs-Kurve wird als weitgehend unabhängig von Mittelspannung und Mitteldehnung angesehen, jedoch kann im dehnungsgeregelten Schwingversuch zyklenabhängiges Mittelspannungsrelaxieren, im spannungsgeregelten Schwingversuch zyklenabhängiges Mitteldehnungskriechen (ratchetting) auftreten, besonders bei hoher Mittelspannung bzw. erhöhter Temperatur [147, 153, 158, 162, 166], Abb. 2.27. Dabei wird im allgemeinen eine stabilisierte Kombination von Mittelspannung und Mitteldehnung erreicht (shake down). Im spannungsgeregelten Versuch ist aber auch instabiles zyklenabhängiges Kriechen möglich. Die Stabilisierung von Mittelspannung und Mitteldehnung ist von jener der Spannungs-Dehnungs-Kurve zu unterscheiden. Zyklisch stabilisierte Kurven können durchaus noch hinsichtlich der Mittelwerte relaxieren oder kriechen. Zeitabhängiges Relaxieren bzw. Kriechen kann sich besonders bei erhöhter Temperatur bzw. längerer Haltezeit den zyklenabhängigen Vorgängen überlagern. Masing-Modell der Hystereseschleife Ausgehend von einem beliebigen Umkehrpunkt des zyklischen SpannungsDehnungs-Pfades läßt sich der zugehörige Hystereseschleifenast in guter Näherung dadurch gewinnen, daß geometrisch ähnliche Schleifenäste, beginnend

Abb. 2.27: Zyklenabhängiges Mittelspannungsrelaxieren (a) und zyklenabhängiges Mitteldehnungskriechen (b)

38

2 Schwingfestigkeit

Abb. 2.28: Masing-Hypothese, Äste der (hier zentrischen) Hystereseschleife durch Verdoppeln der Parameterwerte der zyklischen Spannungs-Dehnungs-Linie; nach Masing [165]

mit linearer Entlastung bzw. Belastung gezeichnet werden, die sich aus der zyklischen Spannungs-Dehnungs-Kurve durch Verdoppeln der vom Umkehrpunkt aus auftretenden Spannungs- und Dehnungswerte ergeben (Masing-Modell [165]), Abb. 2.28. Die Gleichung des vom Punkt …ea ; ra † ansteigenden bzw. abfallenden Schleifenastes folgt nach Seeger [56] (ibid. S. 64) ausgehend von (2.16):  1=n0 Dr Dr ‡2 De ˆ …2:19† E 2K 0 Das Verfahren versagt bei Werkstoffen mit unsymmetrischem („bimodularem“) Verhalten der zyklischen Kurve im Zug- und Druckbereich (z. B. Gußeisen). Vierparameteransatz zur Dehnungs-Wöhler-Linie Als Dehnungs-Wöhler-Linie werden die zu unterschiedlichen stabilisierten zyklischen Gesamtdehnungsamplituden gehörenden, bis zu einem technischen Anriß ertragenen Schwingspielzahlen (horizontal) aufgetragen. Die Schwingspielzahl bis Anriß kommt nur bei axialbelasteten ungekerbten Proben der Schwingspielzahl bis Bruch nahe (NA  0;95 NB ). Im Vergleich zur Spannungs-Wöhler-Linie weist die Grundform der Dehnungs-Wöhler-Linie weder einen horizontalen Auslauf zur Zugfestigkeit (bei N ˆ 0,5) noch einen Knickpunkt zur horizontalen Dauerfestigkeit (bei ND ˆ 106–107) auf. Anstelle der stabilisierten Dehnungsamplituden werden insbesondere bei unzureichend stabilisierenden Werkstoffen die Dehnungsamplituden bei halber Anrißschwingspielzahl verwendet. Die Dehnungs-Wöhler-Linie läßt sich durch Überlagerung der elastischen und plastischen Dehnungsanteile darstellen, die im doppeltlogarithmischen Maßstab in guter Näherung als Geraden erscheinen, Abb. 2.29 u. 2.30. Daraus leitet sich der Vierparameteransatz (vier Parameter mit r0f =E als Einzelparameter) der ertragbaren Dehnungsamplituden nach

2.4 Dehnungs-Wöhler-Linie

39

Abb. 2.29: Dehnungs-Wöhler-Linie gebildet aus elastischem und plastischem Anteil mit kennzeichnenden Größen (s. Text); Übergangsschwingspielzahl NT (transition life) und Dauerfestigkeitsschwingspielzahl ND

Abb. 2.30: Dehnungs-Wöhler-Linie eines Baustahls mit elastischem und plastischem Anteil der Gesamtdehnung; nach Higashida in [240]

Coffin [149–151], Morrow [166, 167] und Manson [159–164] ab (s. a. [152, 155, 157]): r0 …2:20† eA ˆ eA el ‡ eA pl ˆ f …2N†b ‡ e0f …2N†c E Es bedeuten r0f Schwingfestigkeitskoeffizient, e0f zyklischer Duktilitätskoeffizient, b Schwingfestigkeitsexponent, c zyklischer Duktilitätsexponent, E Elastizitätsmodul, N Schwingspielzahl bis Anriß. Die Verwendung der Zahl (2N) von

40

2 Schwingfestigkeit

Schwingumkehrungen (reversals to failure) in (2.20) ist dadurch bedingt, daß bei N ˆ 1=2 (oder 2N ˆ 1) aus dem Schnittpunkt der elastischen bzw. plastischen Dehnungs-Wöhler-Linie mit der Vertikalen die Werte r0f =E und e0f abgelesen werden können. Die Umformung von (2.20) auf N statt 2N ist durch Ausklammern von 2b bzw. 2c problemlos möglich [35]. Der Zusammenhang N Schwingspiele ˆ 2N Schwingumkehrungen ist zu beachten, wobei Zahlenwert und Einheit untrennbar zusammengehören, in der Formel ebenso wie im Wöhler-Diagramm. Der Schwingfestigkeitsexponent wird für metallische Werkstoffe mit b ˆ 0;05 bis 0;12 angegeben, der Duktilitätsexponent mit c ˆ 0;5 bis 0;7. Die zyklischen Werkstoffkennwerte gelten für reine Wechselbeanspruchung (R ˆ 1) mit konstanter Dehnungsamplitude. Sie werden im dehnungsgeregelten Schwingversuch mit Abbruch des Versuchs beim Auftreten des Anrisses, also aus den Versuchsdaten zur Dehnungs-Wöhler-Linie über eine Regressionsanalyse unter Beachtung des Zusammenhangs nach (2.23) und (2.24), ermittelt. Die von Manson [159] ursprünglich vorgeschlagene Beziehung (universal slopes method) beinhaltet einheitliche Neigung der Linien und Anbindung an die Spannungs- und Dehnungskennwerte des statischen Zugversuchs, (wahre) Zugfestigkeit rZ und (wahre) Bruchdehnung eZ , wobei letztere durch das Verhältnis von Ausgangsquerschnitt A0 zu Bruchquerschnitt AZ , ausgedrückt durch die Brucheinschnürung w ˆ …1 AZ =A0 †, ersetzt werden kann: De ˆ 3;5 eZ ˆ ln

rZ N E

0;12

‡ e0;6 Z N

A0 1 ˆ ln 1 w AZ

0;6

…2:21† …2:22†

Die Gleichsetzung von r0f und e0f mit den Kennwerten rZ und eZ des statischen Zugversuchs (N ˆ 1=2) ist bei höheren Genauigkeitsansprüchen unzulässig, denn es handelt sich bei r0f und e0f um Extrapolationswerte bei N ˆ 1=2 von statistisch gemittelten Versuchsergebnissen, nicht um tatsächliche Versuchswerte bei einmaliger Belastung. Die zyklische Spannungs-Dehnungs-Kurve nach (2.16) und die DehnungsWöhler-Linie nach (2.20) sind insofern nicht unabhängig voneinander, als das Verhältnis von elastischem und plastischem Dehnungsanteil im Gesamtbereich der Dehnungen identisch sein muß. Die Gleichsetzung der Dehnungsanteile nach (2.16) und (2.20) ist nur möglich, wenn folgende Kompatibilitätsbedingungen erfüllt sind: n0 ˆ K0 ˆ

b c

…2:23† r0f

…e0f †n

0

…2:24†

2.4 Dehnungs-Wöhler-Linie

41

Durch Einführen des Schnittpunkts der Wöhler-Linien für elastischen und plastischen Dehnungsanteil, eA el ˆ eA pl ˆ 0;5 eA T , zugeordnet Schwingumkehrungen 2NT (transition life), und Übertragung auf rAT mittels (2.16), läßt sich die praktische Ausführung der Berechnung durch Parameterreduktion vereinfachen (nach Landgraf [156], siehe auch [35]). Bei den Stählen verschiebt sich 2NT mit abnehmender Duktilität zu niedrigeren Schwingspielzahlen. Die Dehnungs-Wöhler-Linie nach Abb. 2.29 bzw. 2.30 gibt keine Dauerfestigkeit wieder (kein horizontaler Kurvenauslauf). Sie kann daher in diesem Bereich unzureichend sein, wie nachfolgend gezeigt wird. Kurzzeit- und Langzeitschwingfestigkeitsgesetz Der erste Term von (2.20) bzw. (2.21) entspricht der (Spannungs-)WöhlerLinien-Darstellung nach Basquin, die bereits in (2.7) verwendet wurde, der zweite Term dem nach Manson und Coffin benannten Kurzzeitschwingfestigkeitsgesetz (nachfolgend die Fassung von Manson, ausgewertet 29 Werkstoffe mit eZ nach (2.22) bei N ˆ 1=2):  Depl N 0;6 ˆ

ln

0;6

1 1

w

N  105



…2:25†

Es sind auch Fassungen mit Exponenten c ˆ 0;3 bis 1;0 im Gebrauch. Statt Depl wird gelegentlich De oder Deel eingeführt. Die rechte Seite von (2.25) kann auch eine von w unabhängige Konstante sein (Aurich [74]). Im Bereich der Langzeitschwingfestigkeit ist der zweite Term von (2.20) durch Einführung eines werkstoffabhängigen Dehnungskennwertes eL zu modifizieren (Klee [154]): eA pl ˆ e0f …2N†c ‡ eL

…N > 104 †

…2:26†

Abb. 2.31: Plastische Dehnungs-Wöhler-Linien für unlegierte und legierte Stähle im Langzeitfestigkeitsbereich; nach Klee [154]

42

2 Schwingfestigkeit

Positive Werte des Kennwerts eL bewirken ein Abbiegen der plastischen Dehnungs-Wöhler-Linie zu höheren Schwingspielzahlen, negative Werte das Gegenteil, Abb. 2.31. Die betrachteten plastischen Dehnungsamplituden sagen über die mögliche Existenz einer Dauerfestigkeit nichts aus. Mittelspannungseinfluß Während der Einfluß der Mitteldehnung auf die Schwingfestigkeit zumindest im Bereich der Kurzzeitschwingfestigkeit weitgehend vernachlässigbar ist, trifft das auf den Einfluß der Mittelspannung nicht zu. Der Einfluß der Mittelspannung ist im Bereich der Langzeitfestigkeit besonders stark, wobei Druckmittelspannungen festigkeitserhöhend, Zugmittelspannungen festigkeitsmindernd wirken. Der Einfluß verschwindet im Kurzzeitfestigkeitsbereich bedingt durch die hier verstärkt auftretende Mittelspannungsrelaxation. Der Mittelspannungseinfluß wird nach Morrow [166] durch Modifikation des elastischen Gliedes der Dehnungs-Wöhler-Linie in (2.20) erfaßt: ea ˆ

r0f

rm E

…2N†b ‡ e0f …2N†c

…2:27†

Genauere Ansätze (Schädigungsparameter) auf Basis der Hystereseschleifen folgen in Kap. 5.5.

2.5 Statistische Auswertung der Schwingfestigkeit Angewandte Statistik Statistisch begründete Verfahren werden im Ingenieurwesen insgesamt und in der Schwingfestigkeitsforschung insbesondere erst seit etwa 1935 angewendet. Fachbücher zur angewandten Statistik sind seit etwa 1950 verfügbar, anfangs größtenteils englische Titel. Hier wird zunächst auf eine größere Zahl neuerer Fachbücher zur angewandten Statistik hingewiesen [170–183], ergänzt durch Hinweise zur statistischen Analyse von Versuchsergebnissen zur Ermüdungsfestigkeit: Freudenthal u. Gumbel [199–203], Johnson [208], Lawless [211], Little u. Jebe [212], Nelson [224], Tanaka et al. [233] und Weibull [234–236]. Mittelwert und Streuung Schwingfestigkeitsversuche werden aus Zeit- und Kostengründen mit relativ kleiner Zahl von Proben durchgeführt. Andererseits muß mit relativ großer Streuung der Versuchsergebnisse gerechnet werden. Ursache der Streuungen sind die Werkstoffinhomogenitäten im mikrostrukturellen Bereich, die Schwankungen in Werkstoffzusammensetzung und Fertigungsprozessen sowie Abwei-

2.5 Statistische Auswertung der Schwingfestigkeit

43

chungen in der Versuchsdurchführung. Die Streuung wird als zufallsbedingt eingeführt und nach statistischen Verfahren erfaßt, um aus den Versuchsergebnissen zuverlässige Aussagen abzuleiten. Das bei konstant gehaltenen Versuchsbedingungen streuende Versuchsergebnis, beispielsweise die Bruchschwingspielzahl bei vorgegebener Beanspruchungsschwingbreite, wird als diskrete Zufallsvariable x eingeführt. Die (relativ kleine) endliche Zahl von Versuchswerten stellt einen Ausschnitt, genannt Stichprobe, aus der größeren Grundgesamtheit dar. Nur wenn die Stichprobe repräsentativ für die Grundgesamtheit ist, kann von der Verteilung der Werte in der Stichprobe auf die Verteilung in der Grundgesamtheit geschlossen werden. Dafür ist Voraussetzung, daß der Stichprobenumfang genügend groß ist. Aus n Stichprobenwerten xi …i ˆ 1; 2;    ; n† der Zufallsvariablen (oder des Merkmals) lassen sich der Stichprobenmittelwert x (sample mean) und die Stichprobenstreuung s2 (sample variance), das Quadrat der Standardabweichung s in der Stichprobe (sample standard deviation), ermitteln: x ˆ

n 1X xi n iˆ1

s2 ˆ

1 n

1

…2:28†

n X …xi

x†2

…2:29†

iˆ1

Die genannten Stichprobengrößen sind auch als Schätzwerte der eigentlichen Größen der Grundgesamtheit bekannt. Durch Rechnersimulation wurde gezeigt, daß nach (2.29) die Streuung der Grundgesamtheit bei den in der Schwingfestigkeitsprüfung üblichen Stichprobenumfängen erheblich unterschätzt wird (Hück [206]). Ein zuverlässigerer Wert ergibt sich aus: s2 ˆ

n …n

n 0;41 X

1†2

…x i

x †2

…2:30†

iˆ1

Vertrauensgrenzen und Häufigkeitsverteilung Mittelwert und Streuung der Grundgesamtheit werden über einen begrenzten Stichprobenumfang mit gewissen Vertrauensgrenzen bestimmt. Die Vertrauensgrenzen sind abhängig von der Streuung der Grundgesamtheit, dem Stichprobenumfang und der Irrtumswahrscheinlichkeit bzw. der Vertrauenswahrscheinlichkeit (1 ). Die der Irrtumswahrscheinlichkeit zugehörige Merkmalsgröße (Quantile) hängt von der im Einzelfall maßgebenden Verteilungsfunktion ab (s. Tabellenwerke zur Statistik [183]). Zur Kennzeichnung der Verteilung der Zufallsvariablen innerhalb des Streubereichs wird dieser in Klassen unterteilt. Aus der Klassenzugehörigkeit der Einzelwerte ergibt sich deren Häufigkeit. Dies ist nur bei großem Stichprobenumfang (z. B. n > 50) praktikabel.

44

2 Schwingfestigkeit

Bei dem meist kleinen Stichprobenumfang aus Schwingversuchen (n < 50) wird die Häufigkeitsverteilung aus den Stichprobenwerten direkt bestimmt (Schätzformeln (2.31) bis (2.35)). Die wichtigsten Verteilungsfunktionen sind am Ende dieses Unterkapitels dargestellt. Die Gleichungen (2.28) und (2.29) für Mittelwert und Streuung gelten unabhängig von der Verteilungsfunktion. Streuband der Wöhler-Linie Ein Charakteristikum von Wöhler-Versuchen (und Betriebsfestigkeitsversuchen) ist die relativ kleine Probenzahl und die relativ starke Streuung der Versuchsergebnisse. Eine Mindestzahl von Proben sowie Planung und Auswertung der Versuche nach statistischen Verfahren sind für sichere Ergebnisse unabdingbar; dennoch müssen viele Untersuchungen aus Zeit- und Kostengründen ohne statistische Absicherung durchgeführt werden. In der Praxis werden bis zu 5 Beanspruchungshorizonte im Zeit- und Dauerfestigkeitsbereich gewählt, auf denen je 6–10 identische Proben bis zum Bruch (oder bis zu einem Anriß definierter Größe) geprüft werden. An die Stelle der Wöhler-Linie tritt ein Streuband von Versuchsergebnissen, aus dem jedoch Wöhler-Linien bestimmter Überlebenswahrscheinlichkeit nach statistischen Verfahren ableitbar sind [184, 188, 192, 193, 196, 199–206, 208–212, 214, 215, 219, 224, 225, 228–237]. Das Streuband der Bruchereignisse ist in Abb. 2.32 für Werkstoffe mit und ohne ausgeprägte Dauerfestigkeit dargestellt. Das als Übergangsgebiet gekennzeichnete Streuband grenzt den tieferliegenden Bereich vollkommener Festigkeit vom höherliegenden Bereich ausgeschlossener Festigkeit ab. Inwieweit eine 0%- bzw. 100%-Bruchwahrscheinlichkeit realistisch ist, muß im Einzelfall geklärt werden. Bei üblicher Annahme der logarithmischen Gauß-Normalverteilung im Streuband werden diese Grenzwerte erst mit Amplituden bei null und im Unendlichen erreicht. Für die statistische Auswertung der Bruchschwingspielzahlen auf den unterschiedlichen Beanspruchungshorizonten wird im Zeitfestigkeitsbereich meist eine

Abb. 2.32: Wöhler-Diagramme mit Streuband der Versuchsergebnisse: mit ausgeprägter Dauerfestigkeit (a) und ohne ausgeprägte Dauerfestigkeit (b); nach Maennig [217]

2.5 Statistische Auswertung der Schwingfestigkeit

45

Abb. 2.33: Häufigkeitsverteilung der Schwingspielzahlen bis Bruch von 57 Proben aus einer Aluminiumlegierung im Wechselbiegeversuch (Mittelwert N bzw. log N sowie Standardabweichung s), Balkendiagramm oder Histogramm; nach Sinclair u. Dolan in [82]

Gauß-Normalverteilung der logarithmisch aufgetragenen ertragenen Schwingspielzahlen zugrunde gelegt. Nur die logarithmische Auftragung der Merkmalsgröße ergibt näherungsweise die Normalverteilung, Abb. 2.33. In einem entsprechenden Wahrscheinlichkeitsnetz der Überschreitungshäufigkeiten (Schätzwerte nach (2.31) bis (2.35)) lassen sich die Ergebnispunkte gemittelten Geraden zuordnen (soweit die Gauß-Normalverteilung zutrifft) und von dort in das Streuband des Wöhler-Diagramms übertragen, Abb. 2.34. Die Wöhler-Streubandlinien sind im vorliegenden Fall nach Augenmaß gezeichnet. Höhere Genauigkeit wird erzielt, wenn die auf den unterschiedlichen Beanspruchungshorizonten ermittelten Wöhler-Linienpunkte gleicher Überschreitungshäufigkeit (d. h. Überlebenswahrscheinlichkeit) mittels Ausgleichsrechnung einer der bewährten Wöhler-Linien-Funktionen (etwa der Zeitfestigkeitsgeraden in doppeltlogarithmischer Auftragung) zugeordnet werden. Überschreitungshäufigkeit Schätzwerte der Überschreitungshäufigkeit Pu werden durch lineare Regression der Versuchsergebnisse im Wahrscheinlichkeitsnetz gewonnen. Zur Auftragung im Wahrscheinlichkeitsnetz werden die bis Bruch ertragenen Schwingspielzahlen der durchgeführten n Versuche (pro Beanspruchungshorizont) beim Größtwert beginnend mit der Ordnungszahl j ˆ 1;    ; n versehen. Die der jeweiligen ertragenen Schwingspielzahl zuzuordnende Überschreitungshäufigkeit Pu ergibt sich nach Rossow [227] aus: Pu ˆ

3j 1 3n ‡ 1

…2:31†

46

2 Schwingfestigkeit

Abb. 2.34: Statistische Auswertung der Schwingspielzahlen bis Bruch im Wahrscheinlichkeitsnetz (a) und Übertragung in das Streuband der Versuchsergebnisse im Wöhler-Diagramm (b); nach Haibach [35]

Damit wird der wahrscheinlichste Pu -Wert bestimmt, während die ältere Formel nach Weibull [234–236] und Gumbel [203] den mittleren Pu -Wert ergibt: Pu ˆ

j n‡1

…2:32†

Weitere, in Einzelfällen genauere Schätzformeln wurden vorgeschlagen von Schmidt [230]: Pu ˆ

j

0;5 n

…2:33†

sowie von Weibull [234–236] und von Blom [187]: Pu ˆ

j 0;375 n ‡ 0;25

und schließlich von Hück [206]:

…2:34†

2.5 Statistische Auswertung der Schwingfestigkeit

Pu ˆ

j 0;535 n 0;07

47

…2:35†

Abweichungen von der Linearverteilung der logarithmierten Schwingspielzahlen treten bei Beanspruchungshorizonten an den Übergängen zur Dauerfestigkeit und zur Kurzzeitfestigkeit auf. Im Bereich der Dauerfestigkeit (N  106 ) verläuft die Wöhler-Linie flacher oder horizontal. Hier sind daher Sonderverfahren der statistischen Auswertung angebracht. Auch mit dem Auftreten einzelner ungleichwertiger Versuchsergebnisse (Ausreißer) muß gerechnet werden. Letztere werden gesondert bewertet. Untere und obere Streubandgrenze Aus den Streuungsgeraden im Wahrscheinlichkeitsnetz lassen sich die ertragbaren Schwingspielzahlen für vorgegebene Werte der Überlebenswahrscheinlichkeit Pu abgreifen und in das Wöhler-Diagramm übertragen. Für eine untere Streubandgrenze bei Pu ˆ 90 % und eine obere Streubandgrenze bei Pu ˆ 10 % ergeben sich bei vorstehenden Pu -Werten folgende Zusammenhänge zwischen der Standardabweichung s der logarithmierten Schwingspielzahlen und der Streuspanne TN ˆ N0;9 =N0;1 der nicht logarithmierten Schwingspielzahlen: sˆ

1 1 log 2;56 TN

…2:36†

Diese Beziehung gilt sinngemäß für die Streuspanne Tr ˆ rA0;9 =rA0;1 der ertragbaren Spannungsamplituden. Im Dauerfestigkeitsbereich ist nur die Streuspanne Tr definierbar. Die Streuspannen werden als die Basis der Sicherheitsbeiwerte bei der konstruktiven Auslegung benötigt. Erfahrungswerte zu den Streuspannen werden von Haibach [35] für spanabhebend bearbeitete, geschmiedete und geschweißte Proben und Bauteile angegeben (1/TN ˆ 2,5–5,0, 1/Tr ˆ 1,2–1,5). Wenn sich im Gauß-Wahrscheinlichkeitsnetz keine Gerade ergibt, trifft die Gauß-Normalverteilung nicht zu, und es darf daher nicht auf Extremwerte der Überlebenswahrscheinlichkeit linear extrapoliert werden. In diesem Fall bietet es sich an, die Weibull-Verteilung zugrunde zu legen oder eine arcsin-Transformation vorzunehmen, wie nachfolgend näher ausgeführt wird. Signifikanztests Die streuenden Ergebnisse von Schwingfestigkeitsversuchen werden vielfach miteinander verglichen, um Aussagen über bestimmte Einflußgrößen der Schwingfestigkeit zu machen. Es stellt sich die Frage, ob die festgestellten Unterschiede zweier Streuverteilungen (Mittelwert und Standardabweichung) zufälliger oder ursächlicher Art sind. Im letzteren Fall wird von signifikanten Unterschieden gesprochen. Die Frage hat bei Schwingfestigkeitsauswertungen besondere Bedeutung, weil der Stichprobenumfang normalerweise klein ist, so daß

48

2 Schwingfestigkeit

Mittelwerte und Standardabweichungen nur unsicher ermittelt werden. Zur Entscheidung der Frage stehen Signifikanztests zur Verfügung, sofern eine GaußNormalverteilung zugrunde gelegt wird (t-Test nach Student oder F-Test nach Fisher, s. Buxbaum [19]). Das Ergebnis des Signifikanztests zeigt an, mit welcher Wahrscheinlichkeit die verglichenen Stichprobenumfänge verschiedenen Grundgesamtheiten zuzuordnen sind. Durch Konvention ist festgelegt, daß mit  95 % Wahrscheinlichkeit ein signifikanter Unterschied nachgewiesen ist. Sonderverfahren der Dauerschwingfestigkeitsprüfung Die statistische Belegung des Dauerschwingfestigkeitswertes (sofern nicht vereinfachend durch Extrapolation von Zeitschwingfestigkeitswerten bestimmt) erfolgt nach Verfahren, bei denen mehrere Beanspruchungshorizonte im Bereich der Dauerschwingfestigkeit gewählt werden und auf jedem Horizont festgestellt wird, wie viele Proben die gewählte Grenzschwingspielzahl ND erreichen und wie viele vorzeitig brechen [189–191, 194, 195, 197, 198, 207, 213, 216–218, 226]. Nachfolgend werden das Treppenstufen-, das PROBIT-, das Abgrenzungs- und das arcsin-Verfahren erläutert. Außerdem werden das Prot- und das Locati-Verfahren dargestellt, die beide nicht zu den statistisch abgesicherten Verfahren gehören. Abschließend wird die statistisch begründete Freigabeprüfung erläutert. Die vorstehend eingeführten Wahrscheinlichkeitsgrößen beziehen sich im Bereich der Dauerfestigkeit auf das Merkmal Spannungsamplitude (anstelle von Schwingspielzahl). In der Praxis werden die Streubandlinien des Zeitfestigkeitsbereichs mit den Streubandlinien des Dauerfestigkeitsbereichs (z. B. ermittelt nach dem arcsin-Verfahren) verbunden, Abb. 2.35.

Abb. 2.35: Bruchwahrscheinlichkeitsfunktionen P ˆ f …N† im Zeitfestigkeitsbereich (bei Beanspruchungshöhe ra ) und P ˆ f …ra † im Dauerfestigkeitsbereich (bei Grenzschwingspielzahl ND ); nach Dengel [192]

2.5 Statistische Auswertung der Schwingfestigkeit

49

Treppenstufenverfahren Im Treppenstufenverfahren [188, 195, 216] nach Dixon und Mood wird die mittlere Schwingfestigkeit (Pu ˆ 50 %) und deren Standardabweichung bei vorgegebener Grenzschwingspielzahl bestimmt. Zunächst wird die kritische Spannungsamplitude geschätzt. Die erste Probe wird mit dieser Amplitude beansprucht. Bricht sie vor Erreichen der genannten Schwingspielzahl, wird die Amplitude bei der zweiten Probe herabgesetzt, bricht sie nicht, wird die Amplitude heraufgesetzt. Die Spannungsamplitude der nachfolgenden Probe richtet sich immer nach dem Prüfergebnis der vorhergehenden Probe. Zur systematischen Vorgehensweise werden äquidistante Spannungshorizonte ausgehend von einer ersten Spannungsschätzung vorgegeben, nach denen die Probenbeanspruchung gewählt wird. Ist die Stufung hinreichend fein vorgegeben, so streuen die Versuchsergebnisse um einen Mittelwert. Der Erwartungs dieses Mittelwertes und die zugehörige Standardabweichung s ergeben wert r sich aus der Spannung r0 des untersten Horizonts i ˆ 0, der Spannungsstufenhöhe Dr (nicht zu verwechseln mit der Spannungsschwingbreite Dr) und der Häufigkeit Hi der nicht gebrochenen Proben auf den Spannungshorizonten i ˆ 0; 1; 2;    ; n (Gurney [63]): P  iHi 1  ˆ r0 ‡ Dr P ‡ r Hi 2 "P P # P Hi i2 Hi … iHi †2 ‡ 0;029 s ˆ 1;62Dr P … Hi †2

…2:37†

…2:38†

Tabelle 2.1: Auswertebeispiel zum Treppenstufenverfahren, nach Gurney [63] Spannungshorizont i

Spannung N=mm2 r

3 2 1 0

165 150 135 120

Folge und Ergebnis der Versuche: × ˆ gebrochen bei N < 2  106 * ˆ nicht gebrochen bei N ˆ 2  106 *

×

×

× *

*

×

*

×

×

*

*

×

× *

Spannungshorizont i

Aufsummierung:

Häufigkeit der nicht gebrochenen Proben:

gebrochen

nicht gebrochen

Hi

iHi

i 2 Hi

3 2 1 0

1 4 3 0

0 1 3 3

Summen

8

7

0 1 3 3 P

0 2 3 0 P

0 4 3 0 P

Hi ˆ 7

iHi ˆ 5

i 2 Hi ˆ 7

50

2 Schwingfestigkeit

Ein Auswerteergebnis ist in Tabelle 2.1 dargestellt, wobei sich nach Einset ˆ 138 N=mm2 zen der angegebenen Werte in (2.37) und (2.38) das Ergebnis r errechnet (nach [63]). Verfahrensverbesserungen wurden von Deubelbeiss [194] und Hück [207] angegeben. Der Vorteil des Treppenstufenverfahrens ist, daß sich der Versuch selbsttätig auf den Mittelwert (bzw. Medianwert bei unsymmetrischer Verteilung) einpendelt. Nachteilig ist neben der zeitintensiven sequentiellen Versuchsdurchführung die relativ große Zahl von Proben (40–50 nach [216]), die zur Ermittlung eines Ergebnispunktes mit Streuung benötigt werden. Die Information, die in den Durchläuferproben enthalten ist, bleibt ungenutzt. Mit relativ geringem Mehraufwand könnten die Versuche bis zum Bruch fortgesetzt werden, sofern dieser in Nähe der vorgegebenen Grenzschwingspielzahl auftritt.

PROBIT-Verfahren Das PROBIT-Verfahren nach Finney [197] ist ein Vorläufer des Treppenstufenverfahrens. Etwas oberhalb und etwas unterhalb der geschätzten Dauerfestigkeit werden mehrere Lasthorizonte gewählt, auf denen insgesamt etwa 50 Proben bis zur gewählten Grenzschwingspielzahl beansprucht werden. Die Auswertung hinsichtlich Mittelwert und Streuung der Dauerfestigkeit erfolgt in einem Wahrscheinlichkeitsnetz mit logarithmischer Merkmalsteilung für die Beanspruchung. Das PROBIT-Verfahren mit Gewichtung wurde von Nishijima [225] zur Bestimmung der gesamten Wöhler-Linie weiterentwickelt. Neben einem Verfahren für große Probenzahl (ca. 100) wird ein solches für kleine Probenzahl (ca. 10) angegeben. Das Verfahren setzt keine bestimmte funktionale Form der Wöhler-Linie voraus, wird aber schließlich auf eine bilineare sowie auf eine hyperbolische Form in doppeltlogarithmischer Auftragung angewendet (Kennwerte: Dauerfestigkeit, Neigungskennzahl, Grenzschwingspielzahl, Übergangsrundung und Varianz).

Abgrenzungsverfahren Das Abgrenzungsverfahren nach Maennig [217, 218] hat seinen Namen von der Abgrenzung des Streubands der Brüche im Wöhler-Diagramm gegenüber dem tieferliegenden Bereich vollkommener Festigkeit und dem höherliegenden Bereich ausgeschlossener Festigkeit (s. Abb. 2.32). Die Besonderheit des Abgrenzungsverfahrens besteht darin, daß die Versuche nahe der Streubandgrenzen durchgeführt werden, wodurch nach Angabe des Verfahrensentwicklers größtmögliche Genauigkeit der statistischen Kennwerte bei vorgegebener Probenzahl erzielt wird. Der Schwingversuch wird für die vorgegebene Schwingspielzahl auf zwei Beanspruchungshorizonten nahe der oberen und unteren Streubandgrenze mit je zehn Proben durchgeführt. Weitere Proben werden zum Anfahren des Aus-

2.5 Statistische Auswertung der Schwingfestigkeit

51

Abb. 2.36: Abgrenzungsverfahren zur Bestimmung der Dauerfestigkeit; zwei Versuchsreihen mit unterschiedlicher Ausgangsspannung (a) und Ergebnisauftragung im Wahrscheinlichkeitsnetz (b); nach Maennig [217]

gangshorizonts der Beanspruchung benötigt. Das Verfahren ist in Abb. 2.36 für die beiden möglichen Fälle dargestellt. Die Probe läuft im ersten Versuch durch (Versuchsreihe I) oder sie bricht im ersten Versuch (Versuchsreihe II). Die Beanspruchung wird im darauf folgenden Versuch stufenweise erhöht (Versuchsreihe I) oder abgemindert (Versuchsreihe II), und zwar solange, bis der Bruch erstmals eintritt (Versuchsreihe I) oder erstmals ein Durchläufer auftritt (Versuchsreihe II). Der untere Beanspruchungshorizont wird ausgehend von den Versuchsergebnissen des oberen Horizonts aufgrund von Erfahrung geschätzt. Die Auftragung der Ausfallwahrscheinlichkeit Pa für die beiden Beanspruchungshorizonte, ausgehend von je zwei Erwartungswerten Pa ˆ …3r 1†= …3n ‡ 1† mit Gesamtprobenzahl n und Probenbruchzahl r, ergibt den Mittelwert und die Streuung. arcsin-Verfahren Das auf Fisher [198] zurückgehende und von Dengel [191] fortgeführte arcsinVerfahren ähnelt in der Versuchsdurchführung dem Abgrenzungsverfahren. Jedoch wird auf mehr als pzwei Spannungshorizonten geprüft. Die Ergebnisse werden einer arcsin P-Transformation (mit Versagenswahrscheinlichkeit P ˆ r=n, Zahl der gebrochenen Proben r, Gesamtzahl der Proben n) unterzogen, bevor sie im Gauß-Wahrscheinlichkeitsnetz aufgetragen werden. Der Vorteil der Transformation besteht darin, daß die Varianz der Transformationsgröße ab 5–7 Stichproben einen konstanten Wert erreicht. Die Transformationsfunktion hat eine nur empirische Basis.

52

2 Schwingfestigkeit

Prot-Verfahren Nach dem Prot-Verfahren [190, 226] wird die Dauerfestigkeit mit drei Proben bestimmt, die mit unterschiedlich schnell gesteigerter Beanspruchungsamplitude bis Bruch belastet werden. Die ertragenen Beanspruchungsamplituden werden über der Quadratwurzel der Steigerungsrate (Amplitudenzunahme pro Schwingspiel) aufgetragen und linear auf die Steigerungsrate Null extrapoliert. Locati-Verfahren Nach dem Locati-Verfahren [213] wird die Dauerfestigkeit mit einer einzigen (Bauteil-)Probe abgeschätzt, Abb. 2.37. Es wird eine Wöhler-Linie mit zwei dem Streuband entsprechenden Parallellinien realistisch angenommen. Der Einzelprobe wird ein ansteigend geblocktes Belastungsprogramm aufgeprägt, bis der Bruch eintritt. Die Belastung beginnt etwas unterhalb der gesuchten Dauerfestigkeit und erhöht sich stufenweise, wobei die Schwingspielzahl pro Block konstant gewählt wird. Aus Blockprogramm und jeweiliger Wöhler-Linie wird die (lineare) Schädigungssumme berechnet (s. Kap. 5.4). Als zutreffend wird die Wöhler-Linie angesehen, für welche sich die Schädigungssumme 1,0 ergibt. Sie läßt sich durch Interpolation der drei Schädigungssummen bestimmen.

Abb. 2.37: Locati-Verfahren zur Abschätzung der Dauerfestigkeit mit nur einer Probe: Blockprogramm der Belastung und hypothetische Wöhler-Linien (a), Interpolation der Schädigungssummen zur Bestimmung der Dauerfestigkeit (b); nach Gurney [63]

2.5 Statistische Auswertung der Schwingfestigkeit

53

Die Treffsicherheit des Locati-Verfahrens, sofern mit nur einer Probe durchgeführt, ist unzureichend. Die Neigung der Wöhler-Linie muß bekannt sein, die lineare Schadensakkumulation muß zutreffen und die Streuung der Dauerfestigkeit muß gering sein, wenn das Ergebnis zutreffen soll. Diese Voraussetzungen sind in der Wirklichkeit kaum gegeben. Interaktives Verfahren Ein interaktives Verfahren zur zuverlässigen Ermittlung der Zeit- und Dauerfestigkeit mit nur wenigen Proben (besonders auch im Übergangsbereich) wurde von Block u. Dreier [186] entwickelt. Grundlage ist eine im Gesamtbereich anpassungsfähige Näherungsfunktion der Wöhler-Linie mit drei freien Parametern, die mittels Regressionsanalyse nach der Fehlerquadratmethode fortlaufend und zunehmend stabilisiert bestimmt werden. Die ersten vier Versuche erfolgen bei Schwingbreiten zwischen Elastizitätsgrenze und (zunächst geschätzter) Dauerfestigkeit. Nach dem Ergebnis dieser Versuche werden die ähnlich gestaffelten Schwingbreiten der nächsten vier Versuche festgelegt, und so geht es weiter. Eine Gesamtzahl von 24 Proben pro Wöhler-Linie mit Mittelwert und Streuband wird als ausreichend angesehen, aber auch schon eine kleinere Zahl erlaubt stabilisierte Ergebnisse. Statistisch begründete Freigabeprüfung In der Praxis ist häufig die Aufgabe gestellt, mit nur wenigen Bauteilproben die Lieferfreigabe hinsichtlich Dauerschwingfestigkeit zu begründen. Es wird gefordert, daß bei kleiner Anzahl von Prüfproben unter erhöhter Beanspruchung (Faktor nr  1;5 gegenüber der Betriebsbeanspruchung) Ausfälle sehr selten oder gar

Abb. 2.38: Ausfallwahrscheinlichkeit von Serienteilen aufgrund des Ergebnisses der Freigabeprüfung; nach Liu [44]

54

2 Schwingfestigkeit

nicht auftreten. Zu dieser Prüftechnik läßt sich die maximale Ausfallwahrscheinlichkeit der Serienteile nach Verfahren der Statistik berechnen (Liu [44]). Ein Berechnungsergebnis zeigt Abb. 2.38. Die Logarithmen der ertragenen Spannungsamplituden werden als normalverteilt mit bestimmter Streuspanne Tr angenommen. Die Vertrauenswahrscheinlichkeit (1 ) betrage 95 %. Variiert werden Probenzahl n und Erhöhungsfaktor nr. Bei der Prüfung falle keine Probe aus, c ˆ 0. Derartige Diagramme ermöglichen die Festlegung der Prüfanforderungen (n, nr , c) bei begrenzter Ausfallwahrscheinlichkeit der Serienteile. Statistische Fehlstellenanalyse und Schwingfestigkeit Die technisch bedeutsame Untergrenze der Dauerschwingfestigkeit läßt sich ausgehend von der im Werkstoff auftretenden größten Fehlstelle voraussagen – ungekerbte Proben vorausgesetzt, denn nur in diesem Fall ist allein die größte Fehlstelle für die Schwingfestigkeit maßgebend. Dies konnte in zahlreichen experimentellen Untersuchungen auf statistischer Basis nachgewiesen werden (Murakami et al. [220–223]). Für die erfolgreiche Anwendung der Methode ist die Wahl des „richtigen“ statistischen Verfahrens für einen guten Schätzwert der größten Fehlstelle und die dabei auszuzählende Minimalzahl von extremen Fehlstellen ausschlaggebend (Beretta u. Murakami [185]). Die statistische Basis bilden Extremwertverteilungen, deren Theorie von Gumbel [172, 203] entwickelt wurde (Einführung dazu bei Buxbaum [19]). Die Extremwertverteilungen geben die Wahrscheinlichkeit an, mit der ein bestimmter Extremwert innerhalb eines bestimmten Beobachtungsbereichs erreicht oder überschritten wird. Im Unterschied zu herkömmlichen Verfahren der Statistik müssen also keineswegs alle Merkmalswerte ausgezählt werden. Im vorliegenden Fall werden extreme Fehlstellen aus Schliffbildern oder an Bruchausgangsstellen ausgewertet, beispielsweise harte Gefügeeinschlüsse oder auch schrumpfbedingte Lunker. Eine äquivalente Kurzrißlänge a0 wird als Quadratwurzel aus der Projektionsfläche A der Fehlstelle senkrecht zur Zugp richtung bestimmt, a0 ˆ A, wobei a0 ≤ 1 mm. Als Verteilungsfunktion der Wahrscheinlichkeitsdichte wird in Übereinstimmung mit Gumbel [172, 203] eine besondere zweiparametrige Exponentialfunktion verwendet. Die Zuordnung der Zähldaten kann über die Methode der kleinsten Fehlerquadrate, über die Momentenmethode oder über die MaximumLikelihood-Methode erfolgen. Für ein 95 %-Konfidenzintervall sind nach Untersuchungen von Beretta u. Murakami [185] zwischen 50 und 220 extreme Fehlstellen zu erfassen. Die Umrechnung auf die Dauerschwingfestigkeit erfolgt nach einer Beziehung vom Typ der Gleichung (7.32). Verteilungsfunktionen Häufigkeitsverteilungen werden in der angewandten Statistik [170–183] durch Verteilungsfunktionen beschrieben, mit deren Hilfe auch Inter- und Extrapolationen über den erfaßten Bereich hinaus möglich werden. Sie beziehen sich zu-

2.5 Statistische Auswertung der Schwingfestigkeit

55

nächst auf die Grundgesamtheit (Population), von der aus die Teilmengen (Stichproben) beschrieben werden. Bei der Auswertung und Darstellung der Ergebnisse von Schwingfestigkeitsversuchen (oder von Betriebslastabläufen, s. Kap. 5.1) spielt die Wahl einer geeigneten Verteilungsfunktion eine wichtige Rolle. Die Eignung ist am Verhalten von Funktion und wirklichem Ablauf im mittleren Bereich häufiger Ereignisse ebenso wie im Randbereich sehr seltener Ereignisse zu diskutieren. Die Verteilungsfunktion beschreibt die Auftretenshäufigkeit als Funktion der Zufallsvariablen x, auch Merkmalsgröße genannt (z. B. Schwingspielzahl bis Bruch oder Logarithmus der Schwingspielzahl bis Bruch). Ausgangsbasis ist ein Balkendiagramm oder Histogramm (s. Abb. 2.33), in dem die Balkenhöhe die Auftretenszahl selbst (d. h. die absolute Auftretenshäufigkeit) oder aber die Auftretenszahl in der jeweiligen Klasse bezogen auf die Gesamtzahl (d. h. relative Auftretenshäufigkeit) kennzeichnet, während die Balkenbreite der Klassenbreite der Merkmalsgröße zugeordnet ist. Im mathematischen Grenzfall der unendlich großen Grundgesamtheit bei unendlich kleiner Klassenbreite ergibt sich anstelle des gestuften Histogramms eine stetige Verteilungskurve. Bei hinreichend großer, aber endlicher Auswertemenge in der Stichprobe ist die Verbindungslinie der Balkenhöhen eine Näherung dieser Verteilungskurve. Durch Bezug der relativen Auftretenshäufigkeit (oder Auftretenswahrscheinlichkeit) auf die Klassenbreite ergibt sich die Wahrscheinlichkeitsdichte p. Eine dimensionslose Darstellung wird gewonnen, wenn letztere mit der Standardabweichung s multipliziert und die Merkmalsgröße gleichzeitig auf die Standardabweichung bezogen wird. Es ist zwischen der Klassenhäufigkeit selbst und deren Summenhäufigkeit zu unterscheiden. Die Klassenhäufigkeit ist der Klassenmitte zugeordnet, die Summenhäufigkeit dagegen der unteren bzw. oberen oder auch rechten bzw. linken Klassengrenze. Unter absoluter Häufigkeit Hj wird die Auftretenszahl selbst in der jeweiligen Klasse verstanden, unter relativer Häufigkeit hj ˆ Hj =n dagegen die auf die Gesamtzahl n in der Stichprobe bezogene Auftretenszahl (mit Klassennummerierung j ˆ 1; 2;    ; k). Die nachfolgend erläuterten Verteilungsfunktionen der Auftretenshäufigkeit (oder Auftretenswahrscheinlichkeit) bezeichnen jeweils die Klassenhäufigkeit. Der einfachen Klassenhäufigkeit ist die Wahrscheinlichkeitsdichtefunktion p(x) der Merkmalsgröße x zugeordnet, der Summenhäufigkeit die Verteilungsfunktion P(x), wobei sich letztere aus ersterer durch Integration von 1 bis x ergibt. Als Merkmalsgröße tritt bei Schwingfestigkeitsversuchen die ertragene Schwingspielzahl N (im Bereich der Zeit- und Betriebsfestigkeit) oder die Spannungsamplitude ra (im Bereich der Dauerfestigkeit) in logarithmierter Form auf. Nachfolgend werden die anwendungstechnisch besonders wichtigen Verteilungen mit Formel und Grafik aufgeführt. Hinsichtlich der notwendigen detaillierten Diskussion dieser Verteilungen sowie der weiteren für die Anwendung wichtigen Verteilungen (v2-Funktion, t-Funktion oder Student-Verteilung, F-Funktion oder Fisher-Verteilung) wird auf die erwähnten Fachbücher zur angewandten Statistik verwiesen. Eine kurze instruktive Einführung im Hinblick auf die Schwingfestigkeit ist bei Juvinall [82] zu finden.

56

2 Schwingfestigkeit

Abb. 2.39: Binomialverteilung (a) und Poisson-Verteilung (b) der Häufigkeit oder Wahrscheinlichkeit p des Auftretens der diskreten Merkmalsgröße x

Binomialverteilung und Poisson-Verteilung Die Binomialverteilung und die Poisson-Verteilung kennzeichnen in unterschiedlicher Weise die Auftretenswahrscheinlichkeit p…x† einer diskreten (z. B. ganzzahligen) Merkmalsgröße x, Abb. 2.39. Die Wahrscheinlichkeitsfunktion folgt den Gliedern der Binomialreihe (mit 0 < q < 1;0† :   n x q …1 q†n x …x ˆ 0; 1; 2;    ; n† …2:39† p…x† ˆ x oder den Gliedern der Poisson-Reihe (gültig bei kleiner Zahl k ˆ nq): p…x† ˆ

kx e x!

k

…x ˆ 0; 1; 2;    ; 1†

…2:40†

Die Binominalverteilung spielte in der Anfangszeit der Lastkollektivermittlung eine Rolle. Sie wurde später durch die Gauß-Normalverteilung ersetzt. Verteilungen nach Gauß und Rayleigh Die nach Gauß oder auch Laplace benannte Normalverteilung der Wahrscheinlichkeitsdichte p…x† einer stetigen Merkmalsgröße folgt der Exponentialfunktion: ! 1 …x x†2 p…x† ˆ p exp … 1 < x < 1† …2:41† 2s2 2ps2 mit Merkmalsgröße x, Merkmalsmittelwert x und Standardabweichung s bzw. Varianz s2 . Sie kann sich auch auf den Logarithmus der Merkmalsgröße beziehen. Die nach Rayleigh benannte (lineare) Exponentialverteilung folgt dem Ansatz: p…x† ˆ

x

x s2

exp

…x

x†2 2s2

! … 1 < x < 1†

…2:42†

2.5 Statistische Auswertung der Schwingfestigkeit

57

Abb. 2.40: Verteilungskurven der Wahrscheinlichkeitsdichte nach Gauß und Laplace (a) sowie nach Rayleigh (b), aufgetragen über der Abweichung der Merkmalsgröße x

Die beiden Verteilungen sind in Abb. 2.40 veranschaulicht. Sie sind durch zwei Parameter, Mittelwert und Streuung, eindeutig gekennzeichnet. Die GaußNormalverteilung erlaubt rechentechnisch einfache Lösungen einschließlich statistischer Signifikanztests (Konfidenzintervall bei Rückschluß von einer Stichprobe auf die Grundgesamtheit). Nachteilig ist die problematische Extrapolation auf sehr kleine Wahrscheinlichkeiten ( 1 %), da die Kurve erst im Unendlichen den Wert null erreicht. Gerade die kleinen Wahrscheinlichkeiten sind jedoch bei der Auswertung von Schwingfestigkeitsdaten sicherheitstechnisch relevant. Diesen Nachteil behebt die Rayleigh-Verteilung, die aber dennoch nur selten bei der Schwingfestigkeitsauswertung angewendet wird. Lastkollektive werden gelegentlich so beschrieben. Verteilungen nach Weibull und Gumbel Die nach Weibull [234–236] benannte und bei genaueren Lebensdauerauswertungen verwendete (dreiparametrige) Exponentialverteilung folgt dem Ansatz: p…x† ˆ j

…x

xmin †j xj0



1

exp

…x

xmin †j xj0

 …x  xmin †

…2:43†

mit Merkmalsgröße x, minimaler Merkmalsgröße xmin (Lageparameter), charakteristischer Merkmalsgröße x0 (Maßstabfaktor: entspricht der Merkmalsgröße bei (e 1)/e ˆ 0,63 mit e ˆ 2,718) und Weibull-Gradienten j (Formfaktor: entspricht dem Gradienten der Summenhäufigkeit). Diese dreiparametrige Dar-

58

2 Schwingfestigkeit

Abb. 2.41: Verteilungskurven der Wahrscheinlichkeit nach Weibull mit unterschiedlichem Formfaktor j, Unterscheidung zwischen Mittelwert x und Medianwert x; nach Juvinall [82]

stellung bietet einerseits mehr Anpassungsspielraum, ist andererseits allerdings mathematisch verwickelter. Vier typische Verteilungsfunktionen sind in Abb. 2.41 veranschaulicht, wobei zwischen Mittelwert x (Durchschnittswert der Gesamtheit) und Medianwert x (Wert bei halber Grundgesamtheit) unterschieden wird. Für j ˆ 1 reduziert sich (2.43) zu einer einfachen Exponentialfunktion, j ˆ 2 ergibt die Rayleigh-Verteilung und j ˆ 3,57 führt zu einer symmetrischen Gauß-ähnlichen Verteilung. Die Gumbel-Extremwertverteilung [172, 203] kann als eine Verallgemeinerung der Weibull-Verteilung aufgefaßt werden.

3

3.1

Einflüsse auf die Schwingfestigkeit

Einfluß des Werkstoffs (Werkstoffkennwerte)

Variationsbreite der Dauerfestigkeit Die Dauerfestigkeit einer Probe oder eines Bauteils hat eine überaus große Variationsbreite. Sie ist abhängig von der Werkstoffart und dem Werkstoffzustand, der Oberflächengüte, der Proben- oder Bauteilgröße, der Belastungsart, der Temperatur, dem Korrosionseinfluß, der Mittelspannung und Eigenspannung sowie der Spannungskonzentration. Die Variationsbreite beträgt etwa 1–70 % der Zugfestigkeit [29]. Nur 1% der Zugfestigkeit werden beispielsweise von einer scharf gekerbten Probe aus hochfestem Stahl in korrosiver Umgebung bei Wechselbeanspruchung erreicht. Andererseits können 70 % der Zugfestigkeit bei einer mild gekerbten Probe aus niedrigfestem Stahl in inerter Atmosphäre erzielt werden, sofern die Druckeigenspannungen in der Oberfläche genügend hoch sind. Der eigentliche Werkstoffkennwert Dauerfestigkeit bezieht sich auf relativ kleine ungekerbte und polierte Proben bei 106 –108 Schwingspielen unter Laborbedingungen. Die nachfolgenden Angaben in Kap. 3 betreffen überwiegend diesen Fall, während in Kap. 4 die Kerbwirkung und in Kap. 5 die Betriebsfestigkeit folgt. Auf die in Kap. 2 bereits genannten Einflüsse sei ergänzend hingewiesen. Abhängigkeit der Dauerfestigkeit von der statischen Festigkeit Schwingfestigkeitskennwerte von metallischen Werkstoffen sind in den Übersichten [130, 238–241, 243, 244, 246, 249–251] zusammengestellt. Die Dauerfestigkeit des Werkstoffs in der ungekerbten und polierten Probe hängt primär von dessen Zugfestigkeit ab, wobei letztere zur Härte in einem festen Verhältnis steht [29, 247]. Warum die Zugfestigkeit, die sich nach globalem Fließen einstellt, und nicht die Fließgrenze, bei der Ermüdungsrisse eingeleitet werden, der primäre Bezugsparameter ist, muß als ungeklärt bzw. historisch bedingt gelten. Die zu betrachtende Größe ist demnach das Verhältnis von Wechselfestigkeit zu Zugfestigkeit. Um die Eignung der Werkstoffe für den Leichtbau zu kennzeichnen, werden Wechsel- und Zugfestigkeit auf die Dichte des jeweiligen Werkstoffs bezogen.

60

3 Einflüsse auf die Schwingfestigkeit

Zusätzlich zur Zugfestigkeit bestimmt aber die Fließgrenze (rF bzw. r0;2 ) die Dauerfestigkeit. Dies geht u. a. aus einigen der vorgeschlagenen Näherungsformeln für den Zusammenhang zwischen Dauerfestigkeit und statischer Festigkeit hervor, von denen es eine größere Zahl gibt [89]. Es spricht daher vieles dafür, den Mittelwert …rF ‡ rZ †=2 als Bezugswert zu verwenden. Die Wechselfestigkeit ist deutlich kleiner als die Zugfestigkeit. Sie steigt innerhalb einer Werkstoffgruppe zunächst proportional mit der Zugfestigkeit, später bei hochfestem Werkstoff unterproportional mit Abflachung in die Horizontale. Vor allem der Oberflächenzustand entscheidet darüber, wann die Abflachung einsetzt. Die Abflachung wird bei den Stählen aus der Mikrokerbwirkung von Karbideinschlüssen erklärt, die beim Anlassen von Martensit entstehen. Einen Überblick zur Wechselfestigkeit …ND ˆ 2  106 † von Stählen, Aluminium- und Titanlegierungen bei Axial- und Biegebelastung unter dem Gesichtspunkt des Werkstoffleichtbaus vermittelt Abb. 3.1. Die Titanlegierungen liegen deutlich über den Aluminiumlegierungen, die Stähle überdecken beide Bereiche mit Ausnahme der Spitzenwerte bei Titanlegierungen. Da sowohl die Dauerfestigkeit als auch die Fließgrenze polykristalliner Werkstoffe von deren Korngröße abhängen (linear ansteigend mit der Wurzel über dem Kehrwert der Korngröße), kann auf eine lineare Beziehung zwischen Wechselfestigkeit und Fließgrenze geschlossen werden (Liu [44]). Eine solche Näherungsbeziehung für mikrolegierte Stähle ist auch tatsächlich aus einer Datensammlung von Hück u. Bergmann [248] ableitbar, Abb. 3.2: rW ˆ 0;44 r0;2 ‡ 100 ‰N=mm2 Š

…3:1†

Bei gewalztem Werkstoff und Beanspruchung quer zur Walzrichtung tritt eine Festigkeitsminderung auf, die beispielsweise in der FKM-Richtlinie [1746] durch einen Anisotropiefaktor berücksichtigt wird (Faktor 0,8–0,9 bei

Abb. 3.1: Dauerfestigkeit unterschiedlicher metallischer Werkstoffe als Funktion der Zugfestigkeit unter Leichtbaugesichtspunkten; nach Hempel [247]

3.1 Einfluß des Werkstoffs (Werkstoffkennwerte)

61

Abb. 3.2: Wechselfestigkeit von mikrolegierten Stählen unterschiedlicher Korngröße als Funktion von deren Fließgrenze; nach Hück u. Bergmann [248]

Stahl bzw. Faktor 0,9–1,0 bei Aluminiumlegierungen, abfallend mit ansteigender Werkstoffestigkeit). Die vorstehenden und nachfolgenden Angaben zur Wechselfestigkeit sind unter Verwendung geeigneter Näherungsformeln zum Mittelspannungseinfluß (s. Kap. 2.3) auf die Schwellfestigkeit übertragbar. Näherungsformeln für Stähle und Eisengußwerkstoffe Für unlegierte und legierte Stähle gilt näherungsweise [29]: rW  0;5 rZ

…rZ  1400 N=mm2 †

rW  700 N=mm2

…rZ  1400 N=mm2 †

…3:2† …3:3†

Die Streuung um rW  0;5 rZ ist zu beachten, rW ˆ …0;35 0;65†rZ bei ND ˆ 107 – 108 . In der FKM-Richtlinie [1746] werden niedrigere Werte empfohlen, rW ˆ …0;40 0;45†rZ bei ND ˆ 106. Eine neuere umfassende Auswertung [123] ergab als Mittelwert: rW ˆ 0;385 rZ ‡ 30 N=mm2

…Streubreite  15 %†

…3:4†

Eine Zusammenstellung weiterer Näherungsformeln, die teilweise zusätzlich zur Zugfestigkeit die Fließgrenze, Bruchdehnung und Brucheinschnürung enthalten, bietet Lang [1647]. Aufgrund der Proportionalität zwischen Zugfestigkeit rZ und Härte H läßt sich die Wechselfestigkeit rW auch abhängig von der Härte angeben. Eine Näherungsformel lautet mit rZ in N=mm2 und H in HV bzw. HB:

62

3 Einflüsse auf die Schwingfestigkeit

Abb. 3.3: Streuband der Wechselfestigkeit von Stählen bezogen auf deren Zugfestigkeit; nach Lipson u. Juvinall [85]

rZ ˆ …3;4 3;6†H

…3:5†

Ein Streuband von Versuchsergebnissen zur Wechselfestigkeit von Stählen im Zeit- und Dauerfestigkeitsbereich zeigt Abb. 3.3. Für Eisengußwerkstoffe gilt näherungsweise [29]: rW  0;4 rZ

…rZ  500 N=mm2 †

…3:6†

In der FKM-Richtlinie [1746] werden niedrigere Werte empfohlen, rW ˆ …0;30–0;34†rZ bei ND ˆ 106 . Näherungsformeln für Aluminium- und Magnesiumlegierungen Für Aluminiumlegierungen gilt näherungsweise [29, 82]: rW  0;4 rZ

…rZ  325 N=mm2 †

rW  130 N=mm2

…rZ  325 N=mm2 †

…3:7† …3:8†

Die Streuung um rW  0;4 rZ ist zu beachten, rW ˆ …0;35–0;5†rZ bei ND ˆ 108 . In der FKM-Richtlinie [1746] werden für Aluminiumknetlegierungen und Aluminiumgußlegierungen niedrigere Werte empfohlen, rW  0;3 rZ bei ND ˆ 106 bzw. rW  0;22 rZ bei ND ˆ 108. Magnesiumlegierungen sind mit rW  0;35 rZ ähnlich zu bewerten. Zugfestigkeit und Dichte von Magnesiumlegierungen liegen niedriger als die entsprechenden Werte von Aluminiumlegierungen. Streubänder von Versuchsergebnissen zur Wechselfestigkeit von Aluminiumund Magnesiumlegierungen im Zeit- und Dauerfestigkeitsbereich zeigen Abb. 3.4 und Abb. 3.5. Neuere Untersuchungsergebnisse von Sonsino u. Hanselka [257] für im Automobilbau eingesetzte Magnesiumdruckgußlegierungen liegen im gezeigten Streuband der Sandgußlegierungen.

3.1 Einfluß des Werkstoffs (Werkstoffkennwerte)

63

Abb. 3.5: Streubänder der Wechselfestigkeit von Magnesiumlegierungen; nach Juvinall [82]

Abb. 3.4: Streubänder der Wechselfestigkeit von Aluminiumlegierungen; nach Juvinall [82]

Näherungsformeln für Titanlegierungen Für Titanlegierungen gilt näherungsweise [82]: rW  0;55 rZ rW  620 N=mm2

…rZ  1130 N=mm2 † …rZ  1130 N=mm2 †

…3:9† …3:10†

Die Streuung um rW  0;55 rZ ist zu beachten, rW ˆ …0;45–0;65†rZ bei ND ˆ 106 –107 . Die Dauerfestigkeit von Titanlegierungen hängt in besonders hohem Maße von der Art und Qualität der Oberflächenbearbeitung ab.

64

3 Einflüsse auf die Schwingfestigkeit

Näherungsformeln für Kupfer- und Nickellegierungen Für Kupferlegierungen gilt näherungsweise [29, 82]: rW  0;4 rZ

…rZ  750 N=mm2 †

rW  300 N=mm2

…rZ  750 N=mm2 †

…3:11† …3:12†

Die Streuung um rW  0;4 rZ ist zu beachten, rW ˆ …0;3–0;5†rZ bei ND ˆ 108 . Nickellegierungen sind ähnlich zu bewerten. Einfluß der Belastungsart Die vorstehenden Schwingfestigkeitsangaben beruhen überwiegend auf Umlaufbiegeversuchen. Die Schwingfestigkeit bei Zug-Druck-Belastung ist kleiner (Faktor 0,8–0,9) und liegt, soweit miterfaßt, am unteren Rand der Streubänder. Die differierenden Festigkeitswerte werden durch die unterschiedliche Spannungsverteilung im Probenquerschnitt verursacht. Bei der Umlaufbiegebelastung von Rundproben oder bei der einfachen Biegebelastung von Flachproben ist die Spannungsverteilung inhomogen: verschwindende Spannungen in der Probenachse, Höchstspannungen am Außenrand und dazwischen ein linearer Anstieg. Die zunächst niedrig beanspruchten Bereiche im Innern der Biegeproben wirken auf die Rißvergrößerung hemmend, so daß die Festigkeit bei vorgegebener Schwingspielzahl erhöht wird. Bei der Zug-Druck-Belastung entfällt die Stützwirkung der Innenbereiche, der gesamte Querschnitt ist von Anfang an hoch beansprucht. Im Torsionsversuch zur Schwingfestigkeit liegt anstelle der einachsigen eine zweiachsige Beanspruchung vor. Die Festigkeit folgt daher einer der Festigkeitshypothesen bei mehrachsiger Beanspruchung. Dabei wird im Hinblick auf die inhomogene Spannungsverteilung von der Umlaufbiegefestigkeit ausgegangen. Bei duktilen metallischen Werkstoffen gilt die Gestaltänderungsenergiehypothese (s W ˆ 0;58 rW ) mit schmalem Streuband der Versuchsergebnisse: sW ˆ …0;55 0;61†rW

…3:13†

Bei spröden metallischen Werkstoffen wird dagegen die Normalspannungshypothese (sW ˆ rW ) empfohlen bei Verschiebung der Versuchsergebnisse zu etwas tieferen Werten: sW ˆ …0;8 0;9†rW

…3:14†

Die vorstehenden Umrechnungsfaktoren werden durch Angaben zu Versuchsergebnissen bei Forrest [25] bestätigt, Tabelle 3.1. Eine Ausnahme bildet Titan. Die Tatsache, daß bei duktilen Werkstoffen die Gestaltänderungshypothese (sW ˆ 0,58rW) der Hauptschubspannungshypothese (sW ˆ 0,5rW) überlegen ist, ist in den unterschiedlichen Rißvergrößerungsbedingungen bei Torsions-

3.1 Einfluß des Werkstoffs (Werkstoffkennwerte)

65

Tabelle 3.1: Verhältnis der Dauerfestigkeit bei Torsionsbelastung (sW) und Biegebelastung (rW) bei unterschiedlichen Werkstoffen; Mittelwerte nach Forrest [25] Werkstoff

sW/rW

Stähle Aluminiumlegierungen Kupfer u. Kupferlegierungen Magnesiumlegierungen Titan Gußeisen Aluminium- u. Magnesiumgußlegierungen

0,60 0,55 0,56 0,54 0,48 0,90 0,85

und Biegebelastung begründet. Bei Torsionsbelastung fehlt die Normalspannung in der Hauptschubebene, wodurch die Rißvergrößerung erschwert ist. Außerdem tritt makroskopisch spiralförmiges Rißwachstum auf, das mit weiteren Hemmnissen verbunden ist. Bei den spröderen Gußwerkstoffen sind dagegen die regellos verteilten nichtmetallischen Einschlüsse (z. B. Graphitplättchen) für die Rißeinleitung ausschlaggebend, sodaß es auf den Wert der größten Zugspannung ankommt (sW ˆ rW). Dauerfestigkeitserhöhung durch Anhebung der Zugfestigkeit Nach den Näherungsformeln (3.1) bis (3.12) kann die Dauerfestigkeit der ungekerbten und polierten Werkstoffprobe bis zu einer bestimmten Obergrenze erhöht werden, indem Zugfestigkeit und Fließgrenze angehoben werden. Dieses kann durch folgende Maßnahmen geschehen, die einzeln oder in Kombination anwendbar sind (nach Dahl [75]): – Kornverfeinerung: Mit abnehmender Korngröße erhöht sich die Fließgrenze, gleichzeitig verbessert sich die Duktilität. Bei den alternativen Maßnahmen ist letzteres nicht der Fall. – Mischkristallbildung: Durch Legierungsmaßnahmen wird die Mikrostruktur dahingehend verändert, daß Zugfestigkeit und/oder Fließgrenze angehoben werden. – Ausscheidungshärtung: Durch fein verteilte harte Teilchen einer zweiten Phase können Zugfestigkeit und Fließgrenze erhöht werden. Diese zunächst bei Nichteisenmetallen (Aluminium- und Nickellegierungen) verbreitete Maßnahme spielt heute auch bei Stählen eine wichtige Rolle (z. B. mikrolegierte Stähle). – Verformungsverfestigung: Durch Kaltverformen verfestigt sich der Werkstoff, verliert aber gleichzeitig an verbleibender Duktilität. Die Verfestigung ist nutzbar, soweit Beanspruchungsrichtung, Beanspruchungsgeschwindigkeit und Temperatur der Kaltverformung im Betrieb beibehalten werden. Bei der Auslegung von Bauteilen steht aber nicht die Dauerfestigkeit der ungekerbten und polierten Probe im Vordergrund des Interesses, sondern die Zeit-

66

3 Einflüsse auf die Schwingfestigkeit

und Betriebsfestigkeit unter Einschluß von Kerbwirkung und Rißfortschritt. Hierzu ist ausreichende Duktilität ein wichtigerer Gesichtspunkt als sehr hohe Zugfestigkeit oder Fließgrenze. Besonders die als Kaltverfestigung bekannte versprödende Verformungsverfestigung ist hinsichtlich der Schwingfestigkeit eine fragwürdige Maßnahme. Die Wöhler-Linie verläuft nach Kaltverfestigung flacher, die Dauerfestigkeit ist erhöht (sofern Korrosion ausgeschlossen werden kann), die Kurzzeitfestigkeit jedoch vermindert. Der plastische Anteil an der ertragbaren zyklischen Dehnung ist stark herabgesetzt (Buxbaum [19], Sonsino [252]). Eine hinsichtlich der Auswirkung auf die Schwingfestigkeit ähnliche unvorteilhafte Versprödung tritt nach Neutronenbestrahlung ein (Buxbaum [19]). Schwingfestigkeit von Sinterstahl und keramischen Werkstoffen Die unter dem Gesichtspunkt des Werkstoff- und Energieeinsatzes günstig zu beurteilenden Sinterstähle und keramischen Werkstoffe sind relativ spröde, jedoch hinsichtlich ihrer Dauerfestigkeit, besonders im ungekerbten oder schwach gekerbten Zustand, den Baustählen und Vergütungsstählen gleichwertig. Die Kerbempfindlichkeit und die Mittelspannungsempfindlichkeit sind extrem hoch [242, 245, 255]. Eine Besonderheit der Al2O3- und Si3N4-Keramiken ist der fast horizontale Verlauf der Wöhler-Linie [253, 254]. Wöhler-Versuchsergebnisse zur Si3N4-Keramik, die bei thermisch und mechanisch hochbeanspruchten Triebwerksteilen eingesetzt wird, zeigt Abb. 3.6. Den Versuchsergebnissen bei unterschiedlichen Prüftemperaturen ist das Streuband einer normierten Wöhler-Linie überlagert. Kennzeichnend für keramische Werkstoffe ist die geringe Neigung der Wöhler-Linie und die geringe Temperaturabhängigkeit der Schwingfestigkeit. Erst für T > 1000  C ist eine Erweichung des Werkstoffs zu beobachten.

Abb. 3.6: Wechselfestigkeit von Si3N4-Keramik mit Streuband einer normierten WöhlerLinie; nach Sonsino [253]

3.2 Einfluß der Beanspruchungsmehrachsigkeit (Langzeitfestigkeit)

67

Tabelle 3.2: Schätzwerte zu den zyklischen Werkstoffkennwerten von Metallegierungen ausgehend von den statischen Werkstoffkennwerten; nach Bäumel u. Seeger [56, 239] zyklische Werkstoffkennwerte

Stähle, unlegiert und niedriglegiert

Aluminiumund Titanlegierungen

r0f b e0f c rD eD ND K' n''

1,50rZ –0,087 0,59w –0,58 0,45rZ 0,45rZ =E ‡ 1;95  10 4 w 5  105 1,65rZ 0,15

1,67rZ –0,095 0,35 –0,69 0,42rZ 0,42rZ =E 1  106 1,61rZ 0,11

w ˆ 1;0 für rZ =E  3  10

3

w ˆ …1;375 125rZ =E†  0 für rZ =E > 3  10 3

rZ : Zugfestigkeit, rZ ˆ Rm rD , eD : technische Dauerfestigkeit als Spannung und Dehnung

Zyklische Werkstoffkennwerte zur Dehnungs-Wöhler-Linie Umfassende Sammlungen von zyklischen Werkstoffkennwerten insbesondere zur zyklischen Spannungs-Dehnungs-Kurve und Dehnungs-Wöhler-Linie von technisch bedeutsamen Metallegierungen sind von Boller u. Seeger [240], Bäumel u. Seeger [239], Boyer [241] sowie Conle et al. [243] vorgelegt worden. Die zyklischen Werkstoffkennwerte lassen sich ausgehend von den Kennwerten des statischen Werkstoffverhaltens abschätzen, bekannt als „einheitliches Werkstoffgesetz“ nach Bäumel u. Seeger [56, 239] (s. a. Haibach [35]), Tabelle 3.2.

3.2

Einfluß der Beanspruchungsmehrachsigkeit (Langzeitfestigkeit)

Problemstellung Die Frage nach dem Einfluß der Beanspruchungsmehrachsigkeit auf die Schwingfestigkeit stellte sich schon bald nach den grundlegenden Versuchen von Wöhler an biegebeanspruchten Eisenbahnachsen. Auslöser war die Überlagerung der Biege- und Torsionsbelastung besonders bei Kurbelwellen. Wie war der Einfluß von zyklischer Biegespannung, zyklischer Torsionsspannung, statischer Biegespannung und statischer Torsionsspannung bei allgemeiner Überlagerung zu bewerten? Beim zyklischen Spannungsablauf ist zwischen phasengleicher und phasenverschobener Überlagerung zu unterscheiden, während allgemeiner zwischen proportionaler und nichtproportionaler Überlagerung unterschieden wird. Obwohl heute bei Problemstellungen der Betriebsfestigkeit auch wesentlich komplexere Verhältnisse betrachtet werden, hat die einfache Überla-

68

3 Einflüsse auf die Schwingfestigkeit

gerung von zyklischer Biege- und Torsionsbelastung zentrale Bedeutung in der Grundlagenforschung behalten. Zum Einfluß der Beanspruchungsmehrachsigkeit auf die Ermüdungsfestigkeit besteht ein umfangreiches, teilweise kontrovers diskutiertes Wissen, das durch fortwährende Forschungsanstrengungen erweitert wird (siehe Forschungsberichte [258–271] und Einzelbeiträge [272–393]). Ein Abriß dieses Wissens wird in den nachfolgenden drei Kapiteln gegeben, aufgeteilt nach Langzeitfestigkeit (Kap. 3.2), Kurzzeitfestigkeit (Kap. 3.3) und Nichtproportionalität (Kap. 3.4). Als diesbezüglich wegweisend erwies sich die neuere Publikation von Socie u. Marquis [270]: Multiaxial Fatigue. Sie hat die vorstehend beschriebene Neugliederung in drei Kapitel ausgelöst, wobei die bisherigen Texte und Bilder weitgehend integriert werden konnten. Nachfolgend werden nur die grundlegenden Sachverhalte aufgezeigt. Hinsichtlich weiterer Details sowie hinsichtlich Demonstrationsberechnungen und Vergleichsbetrachtungen wird auf das genannte Spezialwerk verwiesen, in dem die meisten der nachfolgend angesprochenen Mehrachsigkeitshypothesen erfaßt sind. Interessante weitere Entwicklungen und Daten zum Einfluß der Beanspruchungsmehrachsigkeit auf die Ermüdungsfestigkeit sind für Schweißverbindungen dokumentiert (Radaj et al. [70]). In diesem Kapitel wird die Langzeitfestigkeit bei phasengleicher und phasenverschobener mehrachsiger Beanspruchung betrachtet. Sie läßt sich in ausreichender Weise über den zyklischen elastischen Spannungsablauf unter Beachtung seiner statischen Komponenten beschreiben (spannungsbasierte Hypothesen).

Bezeichnungsweisen Nachfolgend werden gelegentlich die Bezeichnungen „proportionale“ und „nichtproportionale“ Beanspruchung verwendet, die erst in Kap. 3.4 in drei Varianten genauer erklärt werden. Vorab sei folgende Information gegeben. Als proportional gelten solche Beanspruchungsabläufe über der Zeit (Spannungen oder Dehnungen, nur im linearelastischen Bereich beide gleichzeitig), bei denen alle Spannungs- bzw. Dehnungskomponenten sich im gleichen Verhältnis verändern. Andernfalls handelt es sich um nichtproportionale Beanspruchung. Diese Bezeichnungen sind für den Nichtspezialisten schwer verständlich. Anschaulicher wären die Bezeichnungen „konstant mehrachsig“ bzw. „variabel mehrachsig“. Bei der Anwendung der Bezeichnungen auf die periodischen Beanspruchungsabläufe in der Prüftechnik wird zwischen Spannungs- bzw. Dehnungsamplitude und deren statischen Mittelwerten unterschieden. Proportionalität verlangt dann identische Faktoren für beide Größen. Da der Mittelspannungseinfluß nur sekundär bedeutsam ist bzw. separat ermittelt wird, kann die vorstehende Differenzierung vielfach übergangen werden. Die Bezeichnungen beziehen sich dann ausschließlich auf die zyklischen Beanspruchungskomponenten. Relevant hinsichtlich der Anrißbildung ist dagegen das zeitliche Verhalten der Hauptspannungsrichtung: konstante Richtung bei proportionaler Beanspruchung, variable Richtung bei nichtproportionaler Beanspruchung (mit einer Ausnahme, s. Abb. 3.21).

3.2 Einfluß der Beanspruchungsmehrachsigkeit (Langzeitfestigkeit)

69

Wissenschaftlich untersucht wurde bisher vor allem die Auswirkung periodischer Beanspruchungsabläufe in Sinus- oder Sägezahnform über der Zeit, gekennzeichnet durch Amplitude und Mittelwert bei Unterscheidung von „phasengleich“ und „phasenverschoben“ (meist d ˆ 908 als ungünstigster Fall). Phasengleiche mehrachsige Wechsel- oder Schwellbeanspruchung (rm ˆ 0 bzw. rm ˆ ra) ist proportionale Beanspruchung. Phasenverschobene mehrachsige Beanspruchung ist dagegen nichtproportionale Beanspruchung (mit Ausnahme von d ˆ 1808). Vergleichsspannungshypothesen bei phasengleicher mehrachsiger Schwingbeanspruchung Die Schwingfestigkeit bei mehrachsiger Beanspruchung (im Sinne von mehrachsiger Spannung) läßt sich mit der Festigkeit bei einachsiger Beanspruchung (im Sinne von einachsiger Spannung) über eine Festigkeitshypothese verbinden. Die Festigkeitshypothese ordnet jedem mehrachsigen Spannungszustand einen festigkeitsmäßig gleichwertigen einachsigen Spannungszustand zu. Die so gewonnene Vergleichsspannung rv (auch Anstrengung genannt) ist dem Festigkeitskriterium bei einachsiger Prüfbeanspruchung gegenüberzustellen. Die herkömmlichen Festigkeitshypothesen für die Schwingfestigkeit setzen die Hauptspannungsrichtung als körperfest voraus. Die Spannungskomponenten schwingen außerdem phasengleich. Die Amplituden und Mittelwerte der Komponenten stehen in konstantem Verhältnis. Das ist insbesondere bei reiner Wechsel- oder Schwellbeanspruchung der Fall, allerdings nur bei eigenspannungsfreien Proben. Die Hypothesen sind im dauerfestigkeitsnahen Bereich anwendbar. Sie können sich auf Versagen durch Anriß oder Bruch beziehen. Die mathematische Struktur der Zuordnung von mehrachsiger zu einachsigerBeanspruchung hängt davon ab, welche physikalische Größe als maßgebend für den Bruch oder die Rißeinleitung angesehen wird. Aufgrund der Vorgänge im Bereich der Mikrostruktur ist für die Einleitung des Ermüdungsrisses primär eine Kombination aus (zyklischer) Hauptschubspannung und zugehöriger Normalspannung maßgebend. Die Schubspannung leitet die mikrostrukturellen Anrisse ein. Die (Zug-)Normalspannung öffnet und vergrößert die entstehenden Risse. Im Rahmen der makroskopischen Betrachtungsweise wird zwischen duktilem Werkstoffverhalten mit Neigung zum Gleitbruch und sprödem Werkstoffverhalten mit Neigung zum Trennbruch unterschieden. Sprödes Verhalten wird durch Kerben begünstigt. Die Festigkeitshypothesen beziehen sich auf homogene oder linear-inhomogene Spannungszustände in ungekerbten Proben. Sie lassen sich auf die örtlichen Verhältnisse in Kerben unter Beachtung weiterer Einflußgrößen des inhomogenen Beanspruchungsfeldes übertragen. Die Hypothesen werden nachfolgend für den zweiachsigen Spannungszustand an der Oberfläche angegeben, von der die Ermüdungsrisse im allgemeinen ausgehen. Die nachfolgend zusammengestellten Vergleichsspannungshypothesen sind ursprünglich zur Beschreibung des Fließbeginns bei statischer Beanspruchung

70

3 Einflüsse auf die Schwingfestigkeit

entwickelt worden (Übersichten in [81, 90, 95)]. Die mit den einzelnen Hypothesen verknüpften Namen gehören zu diesem Bereich. Die Anwendung auf zyklische Beanspruchung hinsichtlich der Dauerfestigkeit ist neueren Datums. Die Formeln werden in Analogie verwendet mit der Begründung, daß auch Ermüdung durch Gleitvorgänge ausgelöst wird. Die Spannungskomponenten in (3.15) bis (3.26) sind als Spannungsamplituden oder Spannungsschwingbreiten zu interpretieren. Bei phasengleicher mehrachsiger Beanspruchung duktiler Werkstoffe hat sich in Nähe der Dauerfestigkeit die Hypothese der Gestaltänderungsenergie nach Maxwell, Huber, Hencky und von Mises bewährt, die mit der Hypothese der Oktaederschubspannung nach Nadai hinsichtlich der einachsigen Vergleichsspannung identisch ist und nach Novozhilov auch als Hypothese des quadratischen Mittelwerts der Schubspannungen in sämtlichen Schnittebenen interpretiert werden kann. Die einachsige Vergleichsspannung rv des zweiachsigen Spannungszustands mit den Hauptspannungen r1 und r2 lautet: 1 h rv ˆ p r21 ‡ r22 ‡ …r1 2

r 2 †2

i1=2

…3:15†

Für den zweiachsigen Spannungszustand, gekennzeichnet durch rx ; ry und sxy , gilt: rv ˆ …r2x ‡ r2y

rx ry ‡ 3s2xy †1=2

…3:16†

Für die Überlagerung von Normalspannung r und Schubspannung s (z. B. infolge von Biege- und Torsionsbelastung) ergibt sich: rv ˆ …r2 ‡ 3s2 †1=2

…3:17†

Bei reiner Schubbeanspruchung gilt: rv ˆ

p 3s ˆ 1;73s

…3:18†

Die auf duktile Werkstoffe ebenfalls anwendbare Hypothese der größten Schubspannung nach Tresca, Guest und Mohr ergibt anstelle von (3.15) bis (3.18) folgende Gleichungsfolge: rv ˆ r1 h rv ˆ …rx

r3

…r1 > r2 > r3 †

ry †2 ‡ 4s2xy

i1=2

…3:19† …3:20†

rv ˆ …r2 ‡ 4s2 †1=2

…3:21†

rv ˆ 2s

…3:22†

3.2 Einfluß der Beanspruchungsmehrachsigkeit (Langzeitfestigkeit)

71

Die maximale Abweichung der ertragbaren Werte r1/rv und r2/rv nach (3.15) im Vergleich zu (3.19) beträgt 15 %. Bei proportionaler mehrachsiger Beanspruchung spröder Werkstoffe hat sich in Nähe der Dauerfestigkeit die Hypothese der größten Normalspannung nach Lamé und Rankine bewährt: rv ˆ r1

…3:23†

Für den zweiachsigen Spannungszustand, gekennzeichnet durch rx , ry und sxy , folgt:  1=2 rx ‡ ry r x r y 2 2 ‡ rv ˆ ‡ sxy 2 2

…3:24†

Für die Überlagerung von Normal- und Schubspannung ergibt sich: rv ˆ

  1=2 r r 2 ‡ ‡ s2 2 2

…3:25†

Bei reiner Schubbeanspruchung gilt: rv ˆ s

…3:26†

Die Hypothesen der Gestaltänderungsenergie sowie der größten Schub- und Normalspannung beim ebenen Spannungszustand (r3 ˆ 0) sind in Abb. 3.7 gegenübergestellt. Sofern ein kritischer Wert der einachsigen Vergleichsspannung rv eingeführt wird, kennzeichnen die Kurven die Festigkeitsgrenze bei unter-

Abb. 3.7: Festigkeitsgrenze mit kritischer Vergleichsspannung rV beim ebenen Spannungszustand …r3 ˆ 0†, Hauptspannungen r1 und r2 (a), Normal- und Schubspannung r und s (b), Gestaltänderungsenergiehypothese (GEH), Schubspannungshypothese (SH) und Normalspannungshypothese (NH)

72

3 Einflüsse auf die Schwingfestigkeit

schiedlichen Kombinationen der Hauptspannungen r1 und r2 bzw. der Normalspannung r und Schubspannung s. Im Hinblick auf die angesprochene (Dauer-)Schwingfestigkeit sind in (3.15) bis (3.26) – wie einleitend dargestellt – die Spannungsamplituden oder Spannungsschwingbreiten einzuführen. Die Formeln gelten für die proportionale Wechsel- oder Schwellbeanspruchung, also für entsprechende zyklische mehrachsige Beanspruchung ohne Phasenverschiebung der Spannungskomponenten. Als kritische Vergleichsspannung ist die Wechsel- bzw. Schwellfestigkeit einzusetzen. Auch Haigh-Diagramme werden ersatzweise angeboten (Kiocecioglu et al. [331]). Vergleichsspannungshypothesen bei phasenverschobener mehrachsiger Schwingbeanspruchung Die dargestellten herkömmlichen Festigkeitshypothesen lassen sich formal unverändert auf die mehrachsige gleichfrequente aber phasenverschobene reine Wechselbeanspruchung anwenden, indem der Maximalwert der jeweiligen zeitlich veränderlichen Vergleichsspannung rechnerisch bestimmt wird. Dies wird am Sonderfall der phasenverschoben wirkenden Normalspannungsamplituden ra und Schubspannungsamplituden sa (z. B. aus überlagerter Biege- und Torsionsbelastung einer Rundstabprobe) gezeigt. Die für spröde Werkstoffe nach der Hypothese der größten Normalspannung und für duktile Werkstoffe nach der Hypothese der Gestaltänderungsenergie für unterschiedliche Phasenwinkel d sich ergebenden Grenzkurven der Beanspruchung (bezogen auf die Wechselfestigkeit bei einachsiger Beanspruchung) sind in Abb. 3.8 dargestellt. Nach der Normalspannungshypothese ergibt sich für d ˆ 0 (bzw. 180 ) der bei phasengleicher Beanspruchung gültige Parabelbogen als ungünstigster Fall. Bei zunehmendem Phasenwinkel vergrößern sich die ertragbaren Spannungsamplituden. Sie erreichen für d ˆ 90 ihre Höchstwerte. Dieses Verhalten wird bei spröden Werkstoffen experimentell bestätigt. Nach der Hypothese der Gestaltänderungsenergie (oder Hypothese der Oktaederschubspannung) ergibt sich für d ˆ 0 der bei phasengleicher Beanspruchung gültige Ellipsenbogen als ungünstigster Fall. Auch hier vergrößern sich die ertragbaren Spannungsamplituden mit zunehmendem Phasenwinkel und erreichen für d ˆ 90 Höchstwerte. Dieses Verhalten wird bei duktilen Werkstoffen experimentell nicht bestätigt [322, 370, 371]. Die ertragbaren Amplituden liegen bei phasenverschobener Beanspruchung zum Teil wesentlich niedriger. Von Sonsino [367, 369] wird bei überlagerter Zug- und Schubbeanspruchung im spannungsgeregelten Versuch eine Erhöhung der Anrißfestigkeit für d ˆ 90 festgestellt, während im dehnungsgeregelten Versuch (typisch für Kerbbeanspruchung) die vorstehend erwähnte Abminderung eintritt. Der Effekt erklärt sich aus unterschiedlichem zyklischem Stabilisierungsverhalten des Werkstoffs. Ein weiterer Sonderfall mehrachsiger gleichfrequenter aber phasenverschobener reiner Wechselbeanspruchung stellt die Belastung durch die körperfesten,

3.2 Einfluß der Beanspruchungsmehrachsigkeit (Langzeitfestigkeit)

73

Abb. 3.8: Grenzwerte der Spannungsamplituden sA und rA nach der Normalspannungshypothese (a) und Gestaltänderungsenergiehypothese (b) für phasenverschoben überlagerte (mit Phasenwinkel d), gleichfrequente Zug-Druck- und Schubbeanspruchung …R ˆ 1†, z. B. aus Biegeund Torsionsbelastung; nach Wellinger u. Dietmann [95] bzw. Dietmann u. Lempp [298]

Abb. 3.9: Grenzwerte der Spannungsamplituden r1A und r2A nach der Oktaederschubspannungshypothese für phasenverschoben überlagerte (mit Phasenwinkel d) gleichfrequente zweiachsige Normalspannungsbeanspruchung …R ˆ 1†; nach Issler [325, 326]

jedoch phasenverschobenen Hauptspannungsamplituden r1a und r2a dar. Nach der Hypothese der größten Normalspannung gilt unabhängig vom Phasenwinkel die einachsige Wechselfestigkeit als Grenzwert für jede der beiden Hauptspannungsamplituden (also die Quadratkurve nach Abb. 3.7 (a)). Dieses Verhalten wird experimentell bestätigt. Nach der Hypothese der Gestaltänderungsenergie (oder auch Hypothese der Oktaederschubspannung) ergeben sich für unterschiedliche Phasenwinkel die in Abb. 3.9 dargestellten Grenzkurven. Die

74

3 Einflüsse auf die Schwingfestigkeit

niedrigsten Amplitudengrenzwerte werden für d ˆ 180 ermittelt (der zugehörige Ellipsenbogen kann als die Fortsetzung des Ellipsenbogens für d ˆ 0 in die benachbarten Quadranten, gespiegelt an den Koordinatenachsen, aufgefaßt werden). Die höchsten Amplitudengrenzwerte (höher als die einachsige Wechselfestigkeit) werden für d ˆ 0 bis etwa d ˆ 60 ausgewiesen. Dieses Verhalten wird ebenfalls experimentell bestätigt (im Unterschied zur phasenverschobenen Überlagerung von Normalspannungs- und Schubspannungsamplituden, bei der die Hauptrichtung veränderlich ist). Eine inhaltliche Erweiterung der Vergleichsspannungshypothesen auf phasenverschobene mehrachsige Schwingbeanspruchung mit statischer Grundbeanspruchung wurde von Mertens u. Hahn [345, 346] zur Diskussion gestellt. Gough-Ellipse Der früheste Ansatz zur Beschreibung des Mehrachsigkeitseinflusses auf die Langzeitfestigkeit wurde von Gough u. Pollard [318–320] auf Basis von Versuchsergebnissen entwickelt. Geprüft wurden ungekerbte Rundstabproben aus unlegierten und legierten Stählen (duktile Werkstoffe) unter phasengleich überlagerter Biege- und Torsionsbelastung, also jeweils konstanter Hauptspannungsrichtung. Folgender elliptischer Verlauf der ertragbaren Spannungsschwingbreiten (Dauerfestigkeit) wurden festgestellt: 

Dr DrD

2   Ds 2 ‡ ˆ1 DsD

…R ˆ



…3:27†

mit den überlagert ertragbaren Biege- und Torsionsspannungsschwingbreiten (Dr, Ds) relativ zu den einfach ertragbaren Werten (DrD, DsD). Für Eisengußwerkstoffe sowie gekerbte Rundstabproben (sprödes Werkstoffverhalten) wird ein nur wenig abweichender elliptischer Kurvenverlauf mit komplexerer Formel vorgeschlagen. Es liegt nahe, nach einem Modell zu suchen, mit dem die Ergebnisse der einfachen Biegeversuche auf die der einfachen Torsionsversuche übertragen werden können, phasengleiche mehrachsige Beanspruchung vorausgesetzt. Entsprechend den vorstehend eingeführten Vergleichsspannungsmodellen gilt DsD ˆ p DrD nach der Normalspannungshypothese, DsD ˆ DrD = 3 nach der Gestaltänderungsenergie- oder Oktaederschubspannungshypothese und DsD ˆ DrD/2 nach der Schubspannungshypothese. Hypothese nach Sines Die über die Untersuchungen von Gough hinausgehende Frage nach dem Einfluß unterschiedlicher statischer Grundbeanspruchungen auf die Schwingfestigkeit bei phasengleicher mehrachsiger Beanspruchung wurde erstmals von Sines [360, 361] aufgegriffen. Er betrachtete die Überlagerung von zyklischen Biegeoder Axialnormalspannungen bzw. Torsionsschubspannungen mit entsprechen-

3.2 Einfluß der Beanspruchungsmehrachsigkeit (Langzeitfestigkeit)

75

den Spannungen statischer Art (bei Sines Lastspannungen, grundsätzlich ebenso Eigenspannungen), wobei die Hauptrichtung während der Schwingbeanspruchung jeweils konstant bleibt. Zur einheitlichen Beschreibung der Versuchsergebnisse erwies sich die zyklische Oktaederschubspannung als besonders geeignet, die nach Novozhilov als quadratischer Mittelwert der Schubspannungen in sämtlichen Schnittebenen interpretiert werden kann. Statische Biegenormalspannungen beeinflussen die Dauerfestigkeit bei Biege- und Torsionsbelastung linear, statische Torsionsschubspannungen haben keinen Einfluß. Daraus wurde gefolgert, daß die ertragbare Oktaederschubspannungsamplitude Ds0/2 linear von der mittleren hydrostatischen Spannung rhm abhängt: Ds0 ‡ rhm ˆ b 2

…3:28†

wobei die Werkstoffkonstanten und b aus Versuchen mit zwei oder mehr Spannungszuständen bestimmbar sind. Der Ansatz erfaßt die günstige Wirkung von Druckmittelspannungen bzw. die ungünstige Wirkung von Zugmittelspannungen und weist aus, daß Druck in der einen Orthogonalrichtung durch Zug in der anderen Orthogonalrichtung neutralisiert wird (letzteres widerspricht der Erfahrung). Aus (3.28) ergeben sich in einem DsDr-Diagramm elliptische Grenzkurven in koordinatenparalleler Ausrichtung, deren Größe von der mittleren hydrostatischen Spannung abhängt. Die Hypothese von Sines wurde von Fuchs u. Stephens [29] auf mehrachsige phasenverschobene Spannungszustände (mit demnach veränderlicher Hauptrichtung) erweitert. Crossland [293] ersetzt in seinem Ansatz den Mittelwert der hydrostatischen Spannung durch deren Größtwert: Ds0 ‡ rhmax ˆ b 2

…3:29†

Hypothesen nach Findley und McDiarmid Auf Basis der von Sines und Gough herangezogenen Versuchsdaten entwikkelte Findley [311, 312] einen zu (3.28) formal ähnlichen Ansatz, der aber auf grundsätzlich andersartigen physikalischen Vorstellungen beruht. Einen gleichartigen Ansatz haben Matake u. Imai [339, 340] angegeben. Die Einleitung und Vergrößerung von Ermüdungsrissen wird in lokalen Schnittebenen angenommen, die sich durch den Maximalwert eines geeigneten Schadenskriteriums auszeichnen („kritische Ebene(n)“). Das vorstehend angesprochene Versagenskriterium nach Findley wird durch eine lineare Kombination von Schubspannungsamplitude Ds/2 und mittlerer Normalspannung r⊥ in der kritischen Ebene ausgedrückt:

76

3 Einflüsse auf die Schwingfestigkeit



Ds ‡ kr? 2

 ˆg

…3:30†

max

wobei wiederum die Werkstoffkonstanten k und g aus Versuchen mit zwei oder mehr Spannungszuständen bestimmt werden. Den Versuchsdaten von Gough und Sines entspricht k ˆ 0,2–0,3. Im Bereich der Langzeitschwingfestigkeit kann g dem elastischen Teil der (Scher-)Dehnungs-Wöhler-Linie weitgehend gleichgesetzt werden [270]: gˆ

p 1 ‡ k2 s0f …2N†b

…3:31†

p mit dem Schubschwingfestigkeitskoeffizient s0f und 1 ‡ k2  1;04. Bei phasengleicher Beanspruchung (und somit konstanter Hauptrichtung) kann die kritische Ebene aus den Schwingbreiten und Maximalwerten der Hauptspannungen in einem Lastzyklus bestimmt werden [270]. Ausgehend von einer erweiterten Versuchsdatenbasis schlug McDiarmid [341–344] einen etwas abweichenden Ansatz vor. Als kritisch wird die Schnittebene angesehen, in der die Schubspannungsamplitude ihren Extremwert erreicht, also der Hauptschubspannung entspricht (s12 ˆ (r1 – r2)/2). Ihr ertragbarer Wert hängt vom Größtwert der in derselben Ebene wirkenden Normalspannung r⊥max ab [270]: Ds12 r?max ‡ ˆ1 2DsD 2rZ

…3:32†

mit der Schubdauerfestigkeit DsD und der Zugfestigkeit rZ (diese zwei Versuchsdaten sind ausreichend). Im Bereich der Langzeitfestigkeit kann wiederum der elastische Teil der (Scher-)Dehnungs-Wöhler-Linie eingeführt werden [270]:   Ds12 DsD ‡ …3:33† r?max ˆ s0f …2N†b 2 2rZ Die Lage der kritischen Ebene hier kann sich von der bei Findley erheblich unterscheiden. Hypothesen bei nichtproportionaler Beanspruchung Die vorstehenden Betrachtungen und Hypothesen zum Mehrachsigkeitseinfluß beziehen sich überwiegend auf phasengleiche, also proportionale mehrachsige Schwingbeanspruchung, sind aber teilweise auch auf phasenverschobene sowie allgemeinere nichtproportionale Vorgänge anwendbar. Im Hinblick auf die nichtproportionale mehrachsige Beanspruchung, von der es eine große Vielfalt bei unterschiedlicher Definition von „nichtproportional“ gibt (s. Kap. 3.4), sind zahlreiche weitere Hypothesen entwickelt worden. Deren spannungsbasierte Formen beschränken sich auf die Dauer- und Langzeitschwingfestigkeit.

3.2 Einfluß der Beanspruchungsmehrachsigkeit (Langzeitfestigkeit)

77

Die Hypothesen zur nichtproportionalen mehrachsigen Langzeitfestigkeit lassen sich zwei Gruppen zuordnen. Die Hypothese der Schubspannungsintensität oder integralen Anstrengung berücksichtigt den arithmetischen oder quadratischen Mittelwert der Schubspannungen sämtlicher Schnittebenen (teilweise eingeschränkt auf Schnittebenen senkrecht zur Oberfläche) in der Versagensbedingung (integral approach), während die Versagenshypothese der kritischen Schnittebene die Versagensbedingung einer einzigen kritischen Ebene zuordnet (critical plane approach). Teilweise sind für spröde, semiduktile und duktile Werkstoffe ausgehend von der Hypothese der größten Normal- oder Schubspannung unterschiedliche Umrechnungen vorgesehen. Die Hypothesen der integralen Anstrengung wurden von Grubisic, Simbürger u. Sonsino [322, 323, 359], Zenner et al. [388–393] und Liu u. Zenner [44, 333–335] vorgeschlagen und entwickelt. Die Hypothesen der kritischen Schnittebene wiederum basieren auf Ableitungen und Untersuchungen folgender Autoren: Bhongbhibhat [279], Carpinteri et al. [285–289], Crossland [293], Dang Van et al. [294–296], El-Magd et al. [304–306], Fatemi et al. [308–310], Findley [311, 312], Fuchs u. Stephens [29], Häfele u. Dietmann [324], Issler [325, 326], Matake u. Imai [339, 340], McDiarmid [341–344], Morel [347], Nøkleby [349], Papadopoulos et al. [350–353], Sines [360, 361], Sonsino u. Grubisic [372, 373] und Troost u. El-Magd [379–382]. Die Ergebnisse nach den verschiedenen Hypothesen wurden untereinander und mit Versuchsergebnissen wiederholt verglichen (u. a. von Gorla et al. [317], Flavenot u. Skalli [313], Garud [315], Troost et al. [377, 378]). Die Abweichungen sind in vielen Fällen überraschend gering. Die in der Praxis wichtige Frage der Ermüdungsfestigkeit bei phasenverschobener mehrachsiger Schwingbeanspruchung mit statischer Grundbeanspruchung (insgesamt nichtproportional) wurde von Grubisic u. Neugebauer [321] wie folgt beantwortet. Die kritische Schnittebene und die Versagensgrenze bei Überlagerung von phasenverschoben wirkender …d ˆ p=2† gleichfrequenter, schwellend aufgebrachter …R ˆ 0† und körperfest gerichteter Zug- und Schubbeanspruchung …rna ; sna † ergeben sich aus der Beanspruchungscharakteristik ra ˆ f …rm † durch Vergleich mit der Werkstoffcharakteristik rA ˆ F…rm † im Haigh-Diagramm, Abb. 3.10. Bei dem relativ spröden Gußeisen mit Kugelgraphit, ebenso wie bei Sinterstählen und Aluminium-Gußlegierungen [372, 373], werden die Normalspannungen in der jeweiligen Schnittebene als maßgebend für das Versagen angesehen. Der Punkt der Beanspruchungscharakteristik mit dem geringsten (radialen) Abstand zur Zeit- oder Dauerfestigkeitsgrenzlinie kennzeichnet die kritische Schnittebene. Der Abstand ist ein Maß für den etwa noch vorhandenen Beanspruchungsspielraum. Bei duktilem Werkstoff sind anstelle der Normalspannungen die Schubspannungen in die beiden Charakteristiken einzuführen. Als Ergebnis der Untersuchungen ergab sich, daß die Phasenverschiebung zwischen der örtlichen Zug- und Schubbeanspruchung die Schwingfestigkeit bei spröden Werkstoffen erhöht, bei duktilen Werkstoffen erniedrigt (die Schwingfestigkeit ausgedrückt durch die ertragbare Zugspannungsamplitude).

78

3 Einflüsse auf die Schwingfestigkeit

Abb. 3.10: Beanspruchungscharakteristik (ra über rm ) im Haigh-Diagramm (rA über rm ) für phasenverschoben überlagerte gleichfrequente Zug- und Schubschwellbeanspruchung (Phasenwinkel d ˆ p=2, R ˆ 0), Normalspannungsamplitude ra in Schnittebenen mit Neigungswinkel u ˆ 0 90  relativ zur körperfesten Zugsenkrechten, geringster radialer Abstand zur Schwingfestigkeitsgrenzlinie bei u ˆ 20  ; nach Grubisic u. Neugebauer [321]

Eine für die Praxis bedeutsame neuere Hypothese zur Erfassung des Mehrachsigkeitseinflusses bei nichtproportionaler Beanspruchung im Bereich der Langzeitschwingfestigkeit wurde von Dang Van et al. [294–296] entwickelt. Die Hypothese geht von einem stabilisierten mikrostrukturellen Zustand im Bereich der Dauerfestigkeit aus. Sie bezieht sich auf den mikroskopischen Spannungszustand in einzelnen kritisch ausgerichteten Kristalliten, wird aber mangels mikrostruktureller Daten meist auf Basis der lokalen makroskopischen Spannungen angewendet. Die Hypothese in allgemeiner Form besagt, daß die zyklisch ertragbare Hauptschubspannung s12 linear vom hydrostatischen Spannungsanteil rh abhängt: s12 ‡ arh ˆ b

…3:34†

In einem entsprechenden Diagramm wird durch (3.34) eine abfallende Grenzlinie beschrieben, bei deren zyklisch wiederholter Tangierung oder Überschreitung durch den Beanspruchungspfad der Anriß eingeleitet bzw. die entsprechende Schädigung ausgelöst wird, Abb. 3.11. Die Schädigungslinie kann im Wöhler-Versuch bei Variation der Mittelspannung ermittelt werden. Sie wird in diesem Fall beschrieben durch Ds12 ‡ arh max ˆ b 2

…3:35†

mit dem zyklisch wiederholten Größtwert des hydrostatischen Spannungsanteils rh max.

3.2 Einfluß der Beanspruchungsmehrachsigkeit (Langzeitfestigkeit)

79

Abb. 3.11: Schädigungslinie für den Stahl 100 C6 (geglüht) und örtlicher zyklischer Beanspruchungspfad in einem Wälzlagerring ohne (a) und mit Schädigung (b); nach Dang Van et al. [296]

Von den mikrostrukturellen Gegebenheiten (speziell im Einkristall) gehen auch die Untersuchungen zum Mehrachsigkeitsfluß nichtproportionaler Beanspruchungen auf die Schwingfestigkeit von Morel et al. [348], Papadopoulos et al. [350–353] sowie von Susmel u. Lazzarin [376] aus. Zur Erfassung mehrachsiger nichtproportionaler Random-Beanspruchungen in der Festigkeitshypothese liegen erste Untersuchungen von Carpinteri et al. [285– 289] vor. Die zu erwartende kritische Rißebene wird nach diesem Ansatz über eine Mittelung der drei gewichteten Euler-Winkel der momentanen Hauptspannungen gewonnen. Der Gewichtungsfaktor ergibt sich entsprechend der unter der momentanen ersten Hauptspannung zu erwartenden Schädigung, die wiederum ausgehend von einer Wöhler-Linie mit erniedrigter Dauerfestigkeit abgeschätzt wird. Der Ansatz wurde über Versuchsergebnisse bei überlagerter zyklischer Biege- und Torsionsbelastung von Rundstabproben validiert. Zenner u. Esderts [389] behandelten die Problemstellung der mehrachsigen Random-Beanspruchungen nach der Hypothese der integralen Anstrengung.

Einheitliche Theorie der mehrachsigen Dauerfestigkeit Nach den vorangegangenen Ausführungen gibt es hinsichtlich der Auswirkung nichtproportionaler mehrachsiger Beanspruchung auf die Dauerfestigkeit zahlreiche unterschiedliche Festigkeitshypothesen. Die Hypothesen lassen sich zwei Gruppen zuordnen, Hypothesen der integralen Anstrengung und Hypothesen der kritischen Schnittebene. Beide Gruppen lassen sich zusammen mit den herkömmlichen empirischen Ansätzen als Sonderfälle einer einheitlichen Theorie der mehrachsigen Dauerfestigkeit herleiten (Liu [44, 333] sowie Batdorf et al. [275–277] und Evans [307]). Die Ausgangsbasis ist die Weibull-Theorie des schwächsten Gliedes (weakest link theory) für die Versagenswahrscheinlichkeit eines begrenzten Werkstoffvolumens (oder einer begrenzten Werkstoffoberflä-

80

3 Einflüsse auf die Schwingfestigkeit

Abb. 3.12: Dauerfestigkeit abhängig von der Mittelspannung in Quer- und Längsrichtung (a) sowie abhängig von der Überlagerung von Zug- und Schubbeanspruchung mit gleichen und unterschiedlichen Frequenzen fr und fs der Beanspruchungskomponenten (b); verbesserte Schubspannungsintensitätshypothese (SIH); nach Liu [44]

che) mit statistisch verteilten Fehlstellen unter Zugbeanspruchung bei sprödem Werkstoff oder mit statistisch verteilter Orientierung der Gleitsysteme (bestehend aus Gleitebene und Gleitrichtung in dieser Ebene) unter Schubbeanspruchung bei duktilem Werkstoff. Es läßt sich zeigen, daß die Normalspannungshypothese für spröde Werkstoffe mit einem Weibull-Formfaktor j ˆ 1 folgt, während die Gestaltänderungsenergiehypothese und die Schubspannungshypothese für duktile Werkstoffe mit j ˆ 2 bzw. j ˆ 1 verbunden sind. Die herkömmlichen Festigkeitshypothesen sind daher als Sonderfälle des allgemeinen Ansatzes darstellbar. Vielfältige weitere Hypothesen sind bei Variation der j-Werte ableitbar. Der eigentliche Wert des allgemeinen Ansatzes besteht darin, daß er ohne empirische Zusatzinformation auf beliebige nichtproportionale Beanspruchungen übertragbar ist. Insbesondere die Schubspannungsintensitätshypothese (SIH) konnte so verbessert werden. Das wurde von Liu dargestellt für den Einfluß unterschiedlich gerichteter Mittelspannungen auf die Dauerfestigkeit sowie für den Einfluß von Phasenverschiebungen, von Frequenzunterschieden und von Unterschieden der Schwingungsform. Beispielhaft zeigen Abb. 3.12 (a) die Dauerfestigkeit als Funktion der Mittelspannung in Quer- oder Längsrichtung der zyklischen Beanspruchung (letzteres erweist sich als ungünstiger) und Abb. 3.12 (b) die Dauerfestigkeit bei überlagerter zyklischer Schub- und Zugbeanspruchung (aus Torsions- und Biegebelastung einer Rundstabprobe) für übereinstimmende Frequenzen … fs ˆ fr † und vergleichsweise für stark unterschiedliche Frequenzen. Die nach der einheitlichen Theorie der mehrachsigen Dauerfestigkeit berechneten Kurven werden durch die Ergebnisse von Dauerschwingversuchen bestätigt.

3.3 Einfluß der Beanspruchungsmehrachsigkeit (Kurzzeitfestigkeit)

3.3

81

Einfluß der Beanspruchungsmehrachsigkeit (Kurzzeitfestigkeit)

Problemstellung In diesem Kapitel wird die Zeit- und Kurzzeitfestigkeit (bis Rißeinleitung) bei proportionaler mehrachsiger Beanspruchung betrachtet, wobei auch Erweiterungen in den nichtproportionalen Bereich erwähnt werden. Die nichtproportionale mehrachsige Beanspruchung wird schwerpunktmäßig in Kap. 3.4 behandelt. Sie läßt sich über den elastisch-plastischen zyklischen Dehnungsablauf unter Beachtung seiner statischen Komponenten beschreiben (dehnungsbasierte Hypothesen). Die Hypothesen der herkömmlichen Vergleichsdehnung werden durch Hypothesen der kritischen Schnittebene ergänzt. Eine weitere Teilgruppe umfaßt Hypothesen auf Basis der plastischen oder erweiterten Formänderungsenergiedichte je Zyklus. Letztere wird auf Basis von Dehnungen und Spannungen berechnet. Auch Kombinationen der Hypothesen sind anzutreffen. Wiederum existieren eine große Zahl unterschiedlicher Hypothesen und Ansätze, die hier nur in Kurzform dargestellt werden können. Detailinformationen, Demonstrationsberechnungen sowie Vergleichsbetrachtungen zu den Eigenarten der Hypothesen sind bei Socie u. Marquis [270] zu finden. Vergleichsdehnungshypothesen bei phasengleicher mehrachsiger Schwingbeanspruchung Als Vergleichsdehnung wird die bei einachsiger Spannung auftretende gleichgerichtete Dehnung verstanden, wobei die Querdehnungen unbehindert auftreten. Es handelt sich also um einen speziellen mehrachsigen Dehnungszustand, nicht um eine einachsige Dehnung. Vergleichsdehnungshypothesen werden in Analogie zu den Vergleichsspannungshypothesen formuliert. Im einfachsten Fall werden die Vergleichsspannungsformeln quasielastisch umgerechnet (Issler et al. [81]): ev ˆ

rv E

…3:36†

Mit dieser Umrechnung, die für die Aufzeichnung von Spannungs-DehnungsLinien nützlich ist, wird jedoch noch kein neuartiges Versagenskriterium begründet. Von einem solchen kann erst gesprochen werden, wenn die Vergleichsdehnungsansätze allein vom Verformungstensor ausgehen. Die resultierenden Vergleichsdehnungsformeln können sich hinsichtlich Struktur und eingehenden Parametern von den entsprechenden elastisch umgerechneten Vergleichsspannungsformeln stark unterscheiden. Das trifft auf die Normaldehnungs- und Scherdehnungshypothese zu (vergl. Issler et al. [81] mit Socie u. Marquis [270]). Bemerkenswerterweise ist jedoch bei der Oktaederschubspannungs- und Oktaederscherdehnungshypothese eine gleichartige Struktur und Parameterzuordnung festzustellen.

82

3 Einflüsse auf die Schwingfestigkeit

Zentrale Bedeutung bei allen Vergleichsdehnungshypothesen hat die Frage, ob die elastisch-plastischen Gesamtdehnungen oder nur deren plastische Komponenten in die Formeln einzufügen sind. Da für das Versagen durch Ermüdung nicht nur plastische Dehnungen über Gleitlinienbildung und Rißeinleitung ausschlaggebend sind, sondern ebenso Zugspannungen, die Anrisse vergrößern, sind gemischte Ansätze mit elastischen und plastischen Anteilen zu bevorzugen. In den Vergleichsdehnungsformeln drückt sich das darin aus, daß anstelle von m ˆ 0,5 für rein plastische Verformung ein Wert zwischen 0,3 und 0,5 bei elastisch-plastischer Verformung eingeführt wird. Die Vergleichsdehnungshypothesen lassen sich im Unterschied zu den Vergleichsspannungshypothesen an Oberflächen nicht auf zweiachsige Verhältnisse reduzieren. Auch an der Oberfläche von Proben oder Bauteilen, von der die Ermüdungsrisse im allgemeinen ausgehen, liegt ein dreiachsiger Dehnungszustand vor. Die Dehnungskomponenten in den nachfolgenden Vergleichsdehnungsformeln (3.37) bis (3.51) sind als Dehnungsamplituden oder Dehnungsschwingbreiten zu interpretieren. Die folgenden Vergleichsdehnungshypothesen stehen zur Verfügung, um die Kurzzeitfestigkeit bei proportionaler mehrachsiger Beanspruchung (u. a. phasengleiche mehrachsige Schwingbeanspruchung) zu beschreiben. Über deren Eignung im Einzelfall entscheiden die experimentellen Befunde. Die Normaldehnungshypothese, umgerechnet aus der Normalspannungshypothese (NH) und angewendet auf den zweiachsigen Spannungszustand an der Oberfläche (r3 ˆ 0), ergibt folgende Form [81]: evNH ˆ

1 m2

1

…e1 ‡ me2 †

…r2 ˆ 0†

…3:37†

während nach der eigentlichen Normaldehnungshypothese folgende einfachere Gleichung gilt: ev ˆ e1

…3:38†

Die Scherdehnungshypothese umgerechnet aus der Schubspannungshypothese (SH) und angewendet auf den zweiachsigen Spannungszustand an der Oberfläche ergibt folgende Form [81]: evSH ˆ

1 1

m2

…e1 ‡ me2 †

…r3 ˆ 0†

…3:39†

während nach der eigentlichen Scherdehnungshypothese folgende einfachere Gleichung gilt: ev ˆ e1

e3

…3:40†

Besondere Bedeutung zur Beschreibung der Kurzzeitfestigkeit hat jedoch die Oktaederscherdehnungshypothese erlangt. Es ist nicht korrekt, diese mit der

3.3 Einfluß der Beanspruchungsmehrachsigkeit (Kurzzeitfestigkeit)

83

Gestaltänderungsenergie namentlich in Verbindung zu bringen, was nur bei linearelastischen Verhältnissen zulässig wäre. Die von der Oktaederschubspannungshypothese abgeleitete Vergleichsdehnung lautet [81]: h 1 evOS ˆ p …e1 2…1 ‡ m†

e2 †2 ‡ …e2

e3 †2 ‡ …e3

e1 †2

i1=2

…3:41†

Gegenüberzustellen ist die eigentliche Oktaederscherdehnungsformel, die unter Annahme verschwindender Volumendilatation (e1 ‡ e2 ‡ e3 ˆ 0), also Vergleichsdehnung aus e2 ˆ e3 ˆ – 0;5e1 oder m ˆ 0,5, wie folgt lautet (I. Szabó: Höhere Technische Mechanik (2. Aufl.), Springer, Berlin 1958, ibid. (16.20)): ev ˆ

p h 2 …e1 3

e2 †2 ‡ …e2

e3 †2 ‡ …e3

e1 †2

i1=2

…3:42†

Offensichtlich stimmen (3.41) und (3.42) für rein plastische Formänderungen (m ˆ 0,5) überein. Wie man sich aber durch elementare Berechnung überzeugen kann, folgt mit elastisch-plastischer Volumendilatation, also e2 ˆ e3 ˆ – me1 mit m < 0,5, ebenfalls die Form nach (3.42). Bei der Oktaederscherdehnungshypothese sind also umgerechnete und eigentliche Form identisch. Die Vergleichsdehnung ev nach der Oktaederscherdehnungshypothese, ausgedrückt durch die elastisch-plastischen Gesamtdehnungen ex , ey , ez und cxy , lautet bei Beschränkung auf den dreiachsigen Dehnungszustand an freier Oberfläche (zugehörig ein zweiachsiger Spannungszustand): 1 ev ˆ p 2…1 ‡ m† ez ˆ

m m

1

 ex

ex ‡ ey

2

ey ‡ ey

2

ez ‡ …ez

3 2 ex † ‡ cxy 2

1=2

2

…3:43†



…3:44†

Mit den Hauptdehnungen e1 und e2 ergibt sich (Sonsino u. Grubisic [370]): ev ˆ

(

e1 1

m2

1

m‡m

2



"

 2 # e2 1‡ e1

e2 1 e1

4m ‡ m

2



)1=2 …3:45†

Die effektive Querkontraktionszahl m läßt sich aus der elastischen Querkontraktionszahl mel , der plastischen Querkontraktionszahl mpl …mpl  0;5†; dem Elastizitätsmodul E und dem Sekantenmodul Es des betrachteten Beanspruchungszustands auf der zyklischen Spannungs-Dehnungs-Kurve nach folgender Gleichung bestimmen (Gonyea [1627]): m ˆ mpl

…mpl

mel †

Es E

…3:46†

84

3 Einflüsse auf die Schwingfestigkeit

Alternativ kann nach Bannantine et al. [15] auch folgende Näherung verwendet werden: mˆ

mel eel ‡ mpl epl eel ‡ epl

…3:47†

Für die Überlagerung von Dehnungen aus einachsiger Spannung …e ˆ ex ; ey ˆ mex ; ez ˆ mex † und Scherdehnung c ˆ cxy aus Schubbeanspruchung (beispielsweise bei Überlagerung von Axial- und Torsionsbelastung) ergibt sich aus (3.43) die Vergleichsdehnung: " ev ˆ e2 ‡

#1=2

3 4…1 ‡ m†2

c2

…3:48†

Für die Scherdehnung aus reiner Schubbeanspruchung folgt daraus mit e ˆ 0 die Vergleichsdehnung: p 3 c ev ˆ 2…1 ‡ m†

…3:49†

Für den ebenen Dehnungszustand (e2 ˆ 0) am Grund von scharfen Kerben folgt mit e ˆ e1 aus (3.45): ev ˆ

…1

m ‡ m2 † 1 m2

1=2

e

…3:50†

Die Zeit- und Kurzzeitfestigkeit im dehnungsgeregelten Wöhler-Versuch (vergleichbar der Kerbgrundbeanspruchung) bei mehrachsiger proportionaler Beanspruchung sowie körperfester Hauptbeanspruchungsrichtung wird nach Sonsino u. Grubisic [370] bei duktilen Werkstoffen durch die elastisch-plastische Vergleichsdehnung nach der Hypothese der Oktaederscherdehnung zutreffend beschrieben. Bei spröden Werkstoffen bleibt dagegen die Hypothese der größten Normalspannung gültig [372]. Bei mehrachsiger proportionaler oder auch nichtproportionaler Beanspruchung duktiler Werkstoffe mit veränderlicher Hauptbeanspruchungsrichtung erweist sich der arithmetische Mittelwert der Scherdehnungsamplituden in den möglichen Schnittrichtungen u in der Oberfläche als maßgebend für die Schwingfestigkeit, also die integrale Scherdehnung [370, 371] (in Analogie zur Mittelung der Schubspannungsamplituden nach Simbürger [359] im spannungsgeregelten Versuch): 1 cˆ p

Zp c…u†du 0

…3:51†

3.3 Einfluß der Beanspruchungsmehrachsigkeit (Kurzzeitfestigkeit)

85

Für überlagerte zyklische Axial- und Torsionsbeanspruchung von dünnwandigen Rundstabproben wird nachgewiesen, daß die Phasenverschiebung der Beanspruchung die Lebensdauer bis Anriß im dehnungsgeregelten Wöhler-Versuch vermindert, sowohl bei zyklisch verfestigenden als auch bei zyklisch entfestigenden Stählen [359, 367–371]. In Fortführung des Rechengangs läßt sich auf Basis der Oktaederscherdehnungshypothese eine Vergleichsdehnung ohne Phasenverschiebung aus den Dehnungskomponenten mit Phasenverschiebung bestimmen [367–369]. Der vorstehend beschriebene Ansatz (3.51) wurde auch auf mehrachsig proportional und nichtproportional beanspruchte Schweißverbindungen übertragen (Sonsino [366, 368]). Außerdem wird für mehrachsige, nichtproportional überlagerte Betriebsbeanspruchungsfolgen ein ingenieurgemäßer Lösungsansatz geboten (Sonsino u. Pfohl [375], Sonsino u. Küppers [374]). Die Gültigkeit der Oktaederscherdehnungshypothese in originaler oder modifizierter Form wird durch die vorstehend genannten Untersuchungen von Sonsino und Mitarbeitern überzeugend belegt. Andere Autoren stellen dagegen die Gültigkeit unter vergleichbaren Bedingungen in Frage. So erwies sich bei Yokobori et al. [386] die Torsionsbeanspruchung von Hohlstabproben aus Baustahl des Typs 1035 gegenüber Axialbeanspruchung als weniger schädigend im Sinne von ertragbaren Oktaederscherdehnungen, Abb. 3.13. Dieses Verhalten wurde auch bei anderen Werkstoffen beobachtet, etwa bei Inconel 718 (Socie et al. [364, 365]). Die Widersprüchlichkeit gegenüber den Ergebnissen von Sonsino ist ungeklärt. Weitere Festigkeitshypothesen für mehrachsige nichtproportionale Beanspruchung im Zeit- und Kurzzeitfestigkeitsbereich beinhalten einerseits die Beschreibung der anisotropen zyklischen Verformungsverfestigung (Ansätze nach Chu [398, 399], Garud [314, 315], McDowell [406, 407], Mróz [408–410]) und andererseits die Bedingung für das Eintreten des Schadens, d. h. eines

Abb. 3.13: Wöhler-Diagramm der ertragbaren Oktaederscherdehnung bei Torsions- und Axialbeanspruchung; Versuchsergebnisse nach Yokobori et al. [386]

86

3 Einflüsse auf die Schwingfestigkeit

technischen Anrisses definierter Größe. Die Grenzbedingung für den Anriß folgt dem Konzept der kritischen Schnittebene. Die eine Gruppe von Ansätzen sieht die Ebene größter Scherdehnung als kritisch an und darin eine bestimmte Kombination von Scherdehnungs- und Normaldehnungsamplitude unter Hinzunahme einer Mittelspannungskorrektur (Ansätze nach Bannantine u. Socie [273], Findley [311, 312], Brown u. Miller [280–283], Kandil et al. [330], Lohr u. Ellison [337], Socie et al. [362–365]). Die andere Gruppe von Ansätzen kombiniert die Dehnungen und Spannungen in der kritischen Ebene als Formänderungsenergieausdrücke (Ansätze nach Chu et al. [291], Fatemi u. Kurath [308, 309], Smith et al. [948], Wang u. Brown [383–385]). Formänderungsenergiehypothesen bei mehrachsiger Schwingbeanspruchung Der bekannte Vierparameteransatz nach (2.20) zur Dehnungs-Wöhler-Linie bei einachsiger Beanspruchung beruht nach Morrow [166] auf der Betrachtung der dem Beanspruchungszyklus zugeordneten plastischen Formänderungsenergiedichte DWpl (Symbol D für „zyklisch“), die nach dem Masing-Modell wie folgt berechnet wird [270]: DWpl ˆ DrDepl

1 n0 2…1 n0 † ˆ …2K 0 † 1 ‡ n0 1 ‡ n0

1=n0

Dr1‡1=n

0

…3:52†

mit den zyklischen Verfestigungskennwerten n' und K' nach (2.16). Bei proportional mehrachsiger Beanspruchung tritt anstelle der einachsigen Spannung Dr die von Mises Vergleichsspannung Drv . Der Bezug zur Versagensschwingspielzahl wird durch folgende Gleichung hergestellt: DWpl ˆ 4r0f e0f

c b …2N†b‡c c‡b

…R ˆ



…3:53†

mit den Werkstoffparametern r0f , e0f , c und b nach (2.20). Die versagenskritische Formänderungsenergiedichte je Zyklus fällt mit zunehmender ertragbarer Schwingspielzahl N, während der versagenskritische aufsummierte Wert entsprechend ansteigt (lineare Verläufe in doppeltlogarithmischer Auftragung), also entgegen erster Erwartung nicht konstant ist. Dieses Konzept der Formänderungsenergie bei einachsiger Beanspruchung wurde von Garud [314] auf die phasengleiche (proportionale) und phasenverschobene (nichtproportionale) Überlagerung von zyklischer Axial- und Torsionsbeanspruchung übertragen. Es ergibt sich folgende Überlagerungsgleichung für die plastische Formänderungsenergiedichte des Beanspruchungszyklus: DWpl ˆ …DrDepl ‡ nDsDcpl †

1 n0 1 ‡ n0

…n ˆ 0;5†

…3:54†

in der der Gewichtungsfaktor n zur Anpassung der höheren ertragbaren Werte bei (reiner) Torsionsbeanspruchung gegenüber (reiner) Axialbeanspruchung ein-

3.3 Einfluß der Beanspruchungsmehrachsigkeit (Kurzzeitfestigkeit)

87

Abb. 3.14: Wöhler-Diagramm der ertragbaren plastischen Formänderungsenergie(dichte) je Beanspruchungszyklus bei Axial- und Torsionsbeanspruchung sowie bei deren Überlagerung mit Phasenwinkel d; Auswertung von Versuchsergebnissen ohne und mit Gewichtungsfaktor n; nach Garud [314]

Abb. 3.15: Plastische und positiv-elastische Formänderungsenergiedichte (Symbol D für „zyklisch“) im einachsigen Beanspruchungszyklus; nach Ellyin et al. [300–303]

geführt ist. Bei gemischter Belastung ist dies eine auf der sicheren Seite liegende Näherung, Abb. 3.14. Genauer wird die Formänderungsenergie je Zyklus bei nichtproportionaler mehrachsiger Beanspruchung durch numerische Integration der Spannungskomponenten mit den gleichgerichteten plastischen Dehnungsinkrementen in einem Zyklus bestimmt. Die Hypothese der Formänderungsenergie wurde von Ellyin et al. [299–303] weiter ausgebaut. Als ermüdungsrelevant wird nunmehr die gesamte (oder totale) Formänderungsenergiedichte DWt angesehen, Abb. 3.15. Sie setzt sich aus der plastischen Formänderungsenergiedichte DWpl und der positiv-elastischen Formänderungsenergiedichte DWel+ zusammen:

88

3 Einflüsse auf die Schwingfestigkeit

DWt ˆ DWpl ‡ DWel‡

…3:55†

Der plastische Anteil DWpl bestimmt sich bei einachsiger Beanspruchung nach (3.52), der elastische Anteil DWel+ ausgehend von der Größtspannung rmax im Umkehrpunkt der Hystereseschleife nach folgender Beziehung: DWel‡ ˆ

r2max 2E

…3:56†

Bei proportional mehrachsiger Beanspruchung ist in DWpl nach (3.52) die einachsige Spannung Dr durch die von Mises Vergleichsspannung Drv zu ersetzen, während anstelle von (3.56) folgender Ausdruck tritt: DWel‡ ˆ

1‡m 2 …1 2m† 2 rv max ‡ pmax 3E 6E

…3:57†

wobei p ˆ …rx ‡ ry ‡ rz †=3 den hydrostatischen Spannungsanteil bezeichnet. Durch Hinzunahme der positiven elastischen Formänderungsenergie lassen sich Mittelspannungseffekte in der Formänderungsenergiehypothese berücksichtigen. Außerdem werden dadurch Genauigkeitsprobleme beim Berechnen sehr kleiner plastischer Formänderungen vermieden. Der Bezug zur Versagensschwingspielzahl wird in Erweiterung von (3.53) wie folgt hergestellt: DWt ˆ 4r0f e0f

c b r02 …2N†b‡c ‡ f …2N†b c‡b 2E

…R ˆ



…3:58†

Auf Basis experimenteller Befunde schlägt Ellyin [299] bei einachsiger Beanspruchung folgende Beziehung vor: DWt ˆ jN ‡ C

…3:59†

mit einachsig bestimmtem DWt und der dauerfest ertragenen elastischen Energiedichte C ˆ (DrD)2/8E bei R ˆ – 1 sowie den weiteren Kennwerten j und , die den Verlauf der Wöhler-Linie kennzeichnen. Bei proportional mehrachsiger Beanspruchung wird (3.59) erweitert zu: DWt ˆ …Aq ‡ B†N ‡ C

…3:60†

mit mehrachsig bestimmtem DWt und dem Mehrachsigkeitskoeffizienten q ˆ 2e2 =…e1 e3 †. Kritische-Ebene-Hypothesen bei mehrachsiger Schwingbeanspruchung Die Hypothesen der kritischen Ebene gehen von der Beobachtung aus, daß Ermüdungsrisse entlang von Scherebenen eingeleitet und früher oder später ent-

3.3 Einfluß der Beanspruchungsmehrachsigkeit (Kurzzeitfestigkeit)

89

lang von zugsenkrechten Ebenen vergrößert werden. Ebenso wie im Bereich der Langzeitfestigkeit entsprechende spannungsbasierte Kriterien verwendet werden, sind im Bereich der Kurzzeitfestigkeit entsprechende dehnungsbasierte Kriterien eingeführt. Abhängig von Werkstoffverhalten (duktil oder spröde), vom Oberflächenzustand und von der Beanspruchungsamplitude sind unterschiedliche Kriterien vorgeschlagen und unter speziellen Versuchsbedingungen experimentell bestätigt worden. Ausschlaggebend für die Eignung eines Kriteriums ist das beobachtete Rißeinleitungs- und Rißvergrößerungsverhalten: Scherriß oder Querzugriß sowie deren Anteile an der Gesamtlebensdauer. Es gibt daher kein einheitliches Kriterium für beliebige Anwendungsfälle. Die von Rißfortschrittsebenen ausgehende Dehnungshypothese von Brown u. Miller [281] wird wegen ihrer bruchmechanischen Fundierung und ihrer Bewährung bei proportionaler und nichtproportionaler Beanspruchung duktiler Werkstoffe nachfolgend hervorgehoben. Die Dehnungen werden statt der Spannungen bevorzugt, weil sich die kurzen Ermüdungsanrisse insbesondere an Kerben in einem dehnungsgeregelen Beanspruchungsfeld vergrößern. Im Rißstadium I des sehr kurzen Risses (s. Kap. 7.1) ist die größte Scherdehnung für die Rißvergrößerung in der zugehörigen Scherebene maßgebend. Im Rißstadium II des längeren Risses bleiben die Scherdehnungen, nunmehr an der Rißspitze im Verbund mit den Zugdehnungen senkrecht zu den Scherebenen, bestimmend für den Rißfortschritt senkrecht zur größten Dehnung. Dabei sind an der nur zweiachsig beanspruchten Bauteiloberfläche (Mehrachsigkeitsgrad k ˆ r2 =r1 ) zwei unterschiedliche Bruchmechanismen möglich, Abb. 3.16, die mit unterschiedlicher Lebensdauer verbunden sind. Bei negativen k-Werten werden Scherebenen senkrecht zur Oberfläche betätigt mit bevorzugtem Rißfortschritt entlang der Oberfläche (Risse des Typs A). Bei positiven k-Werten werden Scherebenen unter 45 zur Oberfläche aktiviert, und der eingeleitete Riß setzt sich überwiegend senkrecht zur Oberfläche fort (Risse des Typs B). Vorstehend ausgeschlossen ist zweiachsige Druckbeanspruchung in der Oberfläche (0 > r1 > r2 ) mit der größten Dehnung senkrecht dazu. Nach obiger Dehnungshypothese sollten sich Linien konstanter Lebensdauer (d. h. Grenzlinien der Zeitfestigkeit) in der Form e1

e3 2

ˆf

e ‡ e  1 3 2

…e1  e2  e3 †

…3:61†

ausdrücken lassen, mit der Hauptscherdehnung (e1 e3 ) und der Normaldehnung en ˆ …e1 ‡ e3 †=2 senkrecht zur Hauptscherebene. Wiederum sind mit e die Dehnungsamplituden bezeichnet. Die vorstehend genannten Grenzzustände der Lebensdauer sind in einem Diagramm darstellbar, in dem die Scherdehnungsamplitude horizontal neben der Normaldehnungsamplitude aufgetragen wird (C-plot, C-plane), Abb. 3.17. Die möglichen Dehnungszustände liegen in einem keilförmigen Bereich, dem sowohl positive als auch negative Mehrachsigkeitsgrade zugeordnet werden können (0  k  1;0 und 0  k  1). Dem entsprechen die beiden unterschiedlichen Rißfortschrittsmechanismen. Ausgehend von einem bestimmten

90

3 Einflüsse auf die Schwingfestigkeit

Festigkeitswert bei einachsiger Beanspruchung sind Grenzlinien nach unterschiedlichen herkömmlichen Festigkeitshypothesen gezeichnet (mit der Querkontraktionszahl m ˆ 0,5 quasielastisch auf Dehnungen umgerechnet), die mit Ausnahme der Normalspannungshypothese bei positiven und negativen k-Werten zusammenfallen.

Abb. 3.16: Hauptdehnungen bei zweiachsigem Spannungszustand an der Bauteiloberfläche (r1 , r2 ˆ kr1 ), Rißfortschritt in Stadium I und II; nach Brown u. Miller [281]

Abb. 3.17: Herkömmliche Festigkeitshypothesen im Dehnungsdiagramm nach Brown u. Miller [281]: Normalspannungshypothese NH, Schubspannungshypothese SH, Gestaltänderungsenergiehypothese GEH und (Haupt-)Dehnungshypothese DH

3.3 Einfluß der Beanspruchungsmehrachsigkeit (Kurzzeitfestigkeit)

91

Ein typisches Versuchsergebnis für Stahl nach Parsons [354] im Bereich der Kurzzeitfestigkeit ist in Abb. 3.18 dargestellt. Es zeigt sich, daß bei negativen und positiven k-Werten, zugehörig die unterschiedlichen Rißtypen A und B, deutlich unterschiedliche Scherdehnungen bei vorgegebener Lebensdauer ertragen werden. Brown und Miller [280–283] schlagen folgende Kriterien für die Bereiche der Rißtypen A und B vor (es sind weiterhin die Amplituden der Dehnungen gemeint, ohne das durch einen Index kenntlich zu machen). Bei Typ A wird eine der Gough-Ellipse ähnliche Form gewählt, in der die Spannungen durch Dehnungen ersetzt sind: 

c13 2g

j   e? j ‡ ˆ1 h

c13 ˆ e1

…k < 0†

e3

…3:62† …3:63†

mit der Hauptscherdehnung c13, der Normaldehnung e⊥ in der Wirkebene von c13, mit den von der Schwingspielzahl abhängigen empirischen Konstanten g und h sowie j & 2 für duktile Werkstoffe und j & 1 für spröde Werkstoffe. Bei Typ B wird folgendes Scherdehnungskriterium eingeführt: c13 ‡ f …e? † ˆ C

…k > 0†

…3:64†

mit der von der Schwingspielzahl abhängigen empirischen Konstanten C und der im allgemeinen nichtlinearen Funktion f (e⊥), die häufig vereinfachend

Abb. 3.18: Grenzlinien der Lebensdauer NB (bis Bruch) für den Stahl QT35 bei unterschiedlichem Mehrachsigkeitsgrad k der Oberflächenspannungen; Versuchsergebnis dargestellt im Dehnungsdiagramm nach Brown u. Miller [281]

92

3 Einflüsse auf die Schwingfestigkeit

gleich null gesetzt wird. Die Hauptscherdehnung c13 nach (3.63) tritt jetzt in anderer Ebene auf (s. Abb. 3.16). Eine vereinfachte Formulierung zu (3.62) bei Rissen des Typs A wurde von Kandil, Brown u. Miller [330] eingeführt. Unter Einschluß des Mittelspannungseffekts in der Dehnungs-Wöhler-Linie (Morrow [166]) führt das zu folgender Versagensbedingung (Wang u. Brown [383–385], s. [270]): Dc13 r0 ‡ SDe? ˆ A f 2

2r?m …2N†b ‡ Be0f …2N†c E

…3:65†

mit A ˆ 1,3 ‡ 0,7 S und B ˆ 1,5 ‡ 0,5 S, wobei die empirische Konstante S von Werkstoff, Temperatur und Schwingspielzahl abhängt (duktile Stähle bei Raumtemperatur: S & 1,5 für N & 103 bzw. S & 0,3 für N & 5 × 106). Mit r?m ˆ 0;5rm ist die mittlere Normalspannung senkrecht zur Wirkebene von c13 bei einachsiger Mittelspannung rm bezeichnet. Das Versagenskriterium von Brown und Miller für Rißeinleitung und frühen Rißfortschritt als Scherriß und erst spät einsetzende Rißvergrößerung unter Querzugbeanspruchung wurde durch Hinzunahme der Normalspannung r⊥ senkrecht zur Scherebene erweitert (Socie et al. [365]). Das gründet sich auf dem Argument und der Beobachtung, daß die entstehenden Bruchflächen geometrisch uneben sind und erst nach Auseinanderrücken derselben (durch die Normalspannung r⊥) die Scherkräfte an der Rißspitze voll wirksam werden können. Bei gleichen Amplituden von c13 und e⊥ führen höhere Werte r⊥m zu rascherem Rißfortschritt und somit kürzerer Lebensdauer. Um diesen Effekt zu berücksichtigen ist die linke Gleichungsseite von (3.65) um das gewichtete Glied r⊥m/E additiv zu erweitern (vergl. (5.25)) und die Größe 2r⊥m im Zähler auf der rechten Gleichungsseite zu streichen (vergl. (5.26)). Später haben Fatemi u. Socie [310] das Glied mit der Normaldehnung e⊥ weggelassen und folgende Form des Versagenskriteriums eingeführt:   Dc13 r?max s0 1‡k ˆ f …2N†b ‡ c0f …2N†c 2 rF G

…3:66†

mit der empirischen Werkstoffkonstanten k&1, der Fließgrenze rF  r0f , der maximalen Normalspannung r⊥maxpin  der Wirkebenepvon  c13, dem Gleitmodul G und den Koeffizienten s0f ˆ r0f = 3 sowie c0f ˆ e0f = 3 (Umrechnung für kritische Schubspannung bzw. Scherdehnung in der Oktaederebene mit m ˆ 0,5). Die Exponenten b und c bei Scher- und Zugbeanspruchung sind näherungsweise gleichgesetzt. Über r⊥max läßt sich die Wirkung von Mittelspannung und Dehnungsverfestigung berücksichtigen. Die vorstehend beschriebenen Versagenskriterien bei mehrachsiger Beanspruchung beziehen sich überwiegend auf Ermüdung durch Scherrißeinleitung mit relativ weitreichender Scherrißvergrößerung bevor die zugsenkrechte Ebene aktiviert wird, also auf duktiles Werkstoffverhalten. Sie wurden vor allem bei proportionalen Beanspruchungen experimentell bestätigt (Axial- und Torsionsbelastung sowie zweiachsige Zugbelastung, R ˆ –1). Nichtproportionale Beanspru-

3.3 Einfluß der Beanspruchungsmehrachsigkeit (Kurzzeitfestigkeit)

93

chungen wurden nur in Sonderfällen miterfaßt. Die Anwendung der Versagenskriterien auf Random-Beanspruchungen wurde von Brown et al. [284] sowie Macha [338] gezeigt. Die Verbindung zum DJ-Konzept wurde von Berard u. McDowell [278] hergestellt. Bei weniger duktilen Werkstoffen, darunter Eisengußwerkstoffe und nichtrostender Stahl, wird der Ermüdungsvorgang ebenfalls über Scherrisse eingeleitet, die jedoch früher als bei den duktilen Werkstoffen in die zugsenkrechte Ebene übergehen. In diesem Fall erweist sich das Versagenskriterium von Smith, Watson und Topper [948] in der von Socie [362] auf Mehrachsigkeit angepaßten Form als geeigneter (vergl. (5.21) u. (5.22)): r?max

De1 r0f ˆ …2N†2b ‡ r0f e0f …2N†b‡c 2 E

…3:67†

mit der maximalen Normalspannung r⊥max in der Wirkebene von De1. Das Kriterium hat sich bei proportionaler und nichtproportionaler Beanspruchung relativ spröder Werkstoffe bewährt. Mittelspannungseinflüsse ebenso wie Dehnungspfadverfestigung können berücksichtigt werden. Kritische-Ebene-Formänderungsenergiehypothesen Es ist naheliegend, die Hypothese der kritischen Ebene mit jener der Formänderungsenergie zu kombinieren, denn in der Rißbruchmechanik wird gezeigt, daß die freigesetzte elastische oder elastisch-plastische Formänderungsenergie die Rißvergrößerung steuert. Der Ansatz der „virtuellen“ Formänderungsenergiedichte nach Liu [336] beinhaltet eine derartige Kombination. Die verwendeten Energiegrößen sind im einachsigen Beanspruchungsfall die zyklische plastische Formänderungsenergiedichte, DWpl ˆ DrDepl, vereinfacht berechnet einschließlich der komplementären plastischen Energie (nicht schraffierte Zwickel) und erweitert um die elastische Formänderungsenergiedichte DWel, die sich zur virtuellen Gesamtenergie aufaddiert, Abb. 3.19: DW ˆ DWpl ‡ DWel  DrDe

…3:68†

Das führt zu folgender Wöhler-Linie der zyklischen Formänderungsenergiedichte [270]: DW ˆ 4r0f e0f …2N†b‡c ‡

4r02 f …2N†2b E

…3:69†

Entsprechende Gleichungen gelten bei Scherbeanspruchung, wobei DsDc anstelle von DrDe tritt und die der Scherbeanspruchung entsprechenden Werkstoffkonstanten in (3.69) einzuführen sind. Der Einfluß der Mittelspannung bleibt bei diesem Ansatz unberücksichtigt, kann aber problemlos ergänzt werden [270].

94

3 Einflüsse auf die Schwingfestigkeit

Abb. 3.19: Plastische und elastische virtuelle Formänderungsenergiedichte (Symbol D für „zyklisch“) im einachsigen Beanspruchungszyklus; nach Liu [336]

Bei mehrachsiger Beanspruchung wird zwischen folgenden Versagensmoden unterschieden: Querzugversagen und Scherversagen, letzteres unterschieden nach den Rißtypen A und B. Versagen (oder Rißbildung) wird der Ebene mit maximaler virtueller Gesamtenergie zugeordnet (maximal zunächst hinsichtlich der möglichen Schnittebenen und dann hinsichtlich der drei Versagensmoden). Welcher Versagensmodus dominiert, hängt bei vorgegebener Mehrachsigkeit von Werkstoff, Temperatur und Beanspruchungshöhe ab. Auch beim Ansatz von Chu et al. [290, 291] wird eine fiktive zyklische Formänderungsenergiedichte additiv aus Querzug- und Scheranteil gebildet, deren Größtwert die versagenskritische Ebene bestimmt. Anstelle der Spannungsschwingbreiten treten jedoch die Spannungsmaxima in der kritischen Ebene, um Mittelspannungseffekte mitzuführen:   Dc De DW  ˆ smax ‡ rmax …3:70† 2 2 max Bei einachsiger Beanspruchung tritt der Größtwert DW  beim Winkel 20,78 auf, was nach Einführung der elastischen bzw. plastischen Querkontraktionszahl zu folgender Gleichung der Wöhler-Linie der zyklischen Formänderungsenergiedichte führt [270]: DW  ˆ 1;02

r02 f …2N†2b ‡ 1;04r0f e0f …2N†b‡c E

…3:71†

Nach Glinka et al. [316] kann DW  als Versagenskriterium durch folgende einfachere Beziehung ausgedrückt werden, die nur noch die Scherenergie mit einer Mittelspannungskorrektur enthält:

3.4 Einfluß der Beanspruchungsmehrachsigkeit (Nichtproportionalität)

   Ds Dc r0f s0f  DW  ‡ 2 2 r0f rmax s0f smax max

95

…3:72†

Das führt zu folgender Wöhler-Linie der zyklischen Formänderungsenergiedichte [270]:  0  sf 2b b‡c 2 0 0  …2N† ‡ sf cf …2N† DW ˆ G 1

3.4

…2N†b …2N†b

…3:73†

Einfluß der Beanspruchungsmehrachsigkeit (Nichtproportionalität)

Nichtproportionale mehrachsige Schwingbeanspruchung Bisher sind mehrachsige zyklische Beanspruchungen hinsichtlich Ermüdungsfestigkeit (Lang- und Kurzzeitfestigkeit) betrachtet worden, die als phasengleich eingeführt und teilweise auch mit Phasenverschiebung untersucht wurden. Bei den phasenverschobenen Vorgängen fand die um 908 phasenverschobene Überlagerung von Axial- und Torsionsbeanspruchung besondere Beachtung. Die phasengleichen Beanspruchungsabläufe wurden auch als proportional bezeichnet (s. Kap. 3.2). Es sollen jetzt die proportionalen von den nichtproportionalen mehrachsigen Beanspruchungen abgegrenzt und letztere hinsichtlich ihrer Auswirkung auf die Zeit- und Kurzzeitfestigkeit diskutiert werden. Die einfacheren Verhältnisse hinsichtlich der Dauerfestigkeit kamen bereits in Kap. 3.2 zur Sprache. Die Beanspruchungen werden, wie schon bisher, durch Spannungen und/oder Dehnungen beschrieben. Der Zusammenhang zwischen Spannungen und Dehnungen in einem zyklisch, mehrachsig, inhomogen und elastisch-plastisch beanspruchten Bauteil bzw. in entsprechenden geometrisch einfacheren Proben kann äußerst komplex sein. Zahlreiche Publikationen [394–418, 638– 677] sind allein dieser eingeschränkten Aufgabe gewidmet (s. a. Kap. 4.4). Leider wird der Begriff der proportionalen bzw. nichtproportionalen mehrachsigen Beanspruchung nicht einheitlich verwendet. Es sind drei unterschiedliche Definitionen im Gebrauch. Sie werden nachfolgend ausgehend vom Dehnungszustand und Dehnungsablauf erläutert. Sinngemäß können anstelle der Dehnungen die Spannungen eingeführt werden, deren nichtproportionaler Zusammenhang mit den Dehnungen im elastisch-plastischen Bereich jedoch zu beachten ist. Die erste und allgemeinste Definition von proportionaler Beanspruchung besagt, daß während des Beanspruchungsablaufs über der Zeit t die Komponenten des Dehnungstensors eij(t) zueinander und zu einem Ausgangstensor e0 ij proportional bleiben:

96

3 Einflüsse auf die Schwingfestigkeit

eij …t† ˆ C…t†e0 ij

…3:74†

mit einer beliebig zeitabhängigen Skalargröße C(t). Diese Definition wird im vorliegenden Buch bevorzugt. Die zweite und eingeschränktere Definition besagt, daß nur die Komponenten des Dehnungsänderungstensors e_ ij …t†, also beispielsweise die zyklischen Dehnungsschwingbreiten Deij unabhängig von deren statischer Mitteldehnung, zueinander und zu einem Ausgangstensor e0 ij proportional bleiben: e_ ij …t† ˆ D…t†e0 ij

…3:75†

wieder mit einer beliebig zeitabhängigen Skalargröße D(t). Diese Definition ist ausreichend, wenn der Mitteldehnungseinfluß auf die Ermüdungsfestigkeit vernachlässigbar ist. Die dritte, eher pragmatische Definition besagt, daß als proportional Beanspruchungsabläufe anzusehen sind, bei denen die Hauptachsen des Dehnungstensors ihre Richtung beibehalten. Diese Festlegung versucht, die bei manchen Werkstoffen auftretende zusätzliche zyklische Dehnungsverfestigung bei veränderlicher Hauptachsenrichtung zum Ausgangspunkt der Abgrenzung von proportional und nichtproportional zu machen. Sie wird in dem bekannten Buch von Socie u. Marquis [270] verwendet. Periodische mehrachsige Beanspruchungsabläufe, insbesondere solche mit Sinus- oder Sägezahnform, werden nach „phasengleich“ und „phasenverschoben“ unterschieden. In der Prüftechnik spielt die Überlagerung von Axial- und Torsionsbeanspruchung eine dominante Rolle. Daneben wird die Überlagerung von um 908 versetzten Hauptspannungen häufig verwendet. Phasen- und frequenzgleiche („synchrone“) Überlagerungen erzeugen proportionale Beanspruchungen im Sinne aller drei Definitionen, wenn von der Mitteldehnung abgesehen oder auch diese proportional eingeführt wird. Phasenverschobene Überlagerungen sind nichtproportional im Sinne der ersten und zweiten Definition (ausgenommen um 1808 phasenversetzte Hauptspannungen), während nach der dritten Definition nur die phasenverschobene Überlagerung von Axial- und Scherdehnung als nichtproportional einzustufen ist. Eine erweiterte Klassifizierung der mehrachsigen zyklischen Beanspruchung (hier Oberflächenspannungen rx, ry und sxy) zeigt Abb. 3.20. Neben der Phasenverschiebung werden veränderte Frequenz und veränderte Schwingungsform betrachtet. Die vorgestellte Untergliederung der nichtproportionalen Beanspruchung erweitert sich bei Einführung allgemeinerer deterministischer oder stochastischer Beanspruchung-Zeit-Abläufe. Der Zusammenhang zwischen den Koordinatenspannungen und den Hauptspannungen (einschließlich Hauptrichtung) bei proportionaler und nichtproportionaler Beanspruchung (nichtproportional im ursprünglichen Sinn) wird am Beispiel zweiachsiger Oberflächenspannungen veranschaulicht, Abb. 3.21. Bei proportionalen Koordinatenspannungen sind auch die Hauptspannungen bei konstanter Hauptrichtung proportional. Bei nichtproportionalen Koordinatenspannungen sind die Hauptspannungen ebenfalls nichtproportional, wobei die

3.4 Einfluß der Beanspruchungsmehrachsigkeit (Nichtproportionalität)

97

Abb. 3.20: Unterscheidung von proportionaler und nichtproportionaler zyklischer Beanspruchung und deren weitere Untergliederung mit Veranschaulichung der Schwingungsabläufe; Grafik ausgehend von Angaben bei Zacher et al. [387] und Seeger [56]

Abb. 3.21: Zusammenhang zwischen proportionalen und nichtproportionalen Koordinatenspannungen und Hauptspannungen, Grafik gemäß Angaben von Seeger [56]

Hauptrichtung variabel oder konstant sein kann. Im ersten Fall dreht, springt oder pendelt die Hauptrichtung. Der dargestellte Zusammenhang läßt sich mathematisch weiter erhellen. Die periodischen Spannungsabläufe rx(t), ry(t) und sxy(t) lassen sich durch Amplituden (Index a) und Mittelwert (Index m) in Verbindung mit der Zeitfunktion f (t), im einfachsten Fall eine Sinusfunktion, wie folgt beschreiben: rx …t† ˆ rxm ‡ rxa f…t†

…3:76†

ry …t† ˆ rym ‡ rya f…t†

…3:77†

sxy …t† ˆ sxym ‡ sxya f…t†

…3:78†

98

3 Einflüsse auf die Schwingfestigkeit

Für die Hauptspannungsrichtung u0(t) relativ zur x-Achse gilt: 2sxy …t† 1 u0 …t† ˆ arctan rx …t† ry …t† 2

…3:79†

Die Bedingung konstanter Hauptrichtung, u0(t) ˆ konst., wird erfüllt, wenn der Quotient von Amplitude zu Mittelwert in (3.76) bis (3.78) gleich ist (proportionale Beanspruchung), beispielsweise bei synchroner Wechsel- oder Schwellbeanspruchung (R ˆ –1 bzw. R ˆ 0). Sie wird auch für sxy(t) ˆ 0 bei nichtproportionaler Beanspruchung erfüllt. Grafische Darstellung der nichtproportionalen Schwingbeanspruchung Die Schwingfestigkeitsuntersuchungen bei mehrachsiger Beanspruchung werden durch die grafische Darstellung der zeitlich veränderlichen Beanspruchungsgrößen erleichtert. Die Darstellung geschieht zunächst für den relativ einfachen aber häufig untersuchten Fall der phasenverschobenen Überlagerung von Axial- und Torsionsbeanspruchung in einer Rundstabprobe (a), Abb. 3.22. Die auftretenden Kombinationen von Torsions- und Axialbeanspruchung sind in einem Beanspruchungsschaubild erfaßt (b). Der zeitliche Verlauf wird durch Beanspruchungs-Zeit-Funktionen dargestellt (c). Die Änderung des vollständi-

Abb. 3.22: Phasenverschobene Überlagerung von Axial- und Torsionsbeanspruchung in einer Rundstabprobe (a), Beanspruchungsschaubild (b), Beanspruchung-Zeit-Funktionen (c) und zugehörige Mohrsche Spannungskreise (d); mit r ˆ rx und s ˆ sxy ; in Anlehnung an Bannantine et al. [15]

3.4 Einfluß der Beanspruchungsmehrachsigkeit (Nichtproportionalität)

99

gen Spannungszustandes geht schließlich aus Mohrschen Spannungskreisen hervor, von denen nur die ersten fünf (in den Punkten A bis E) gezeichnet sind (d). Im dargestellten Bereich vergrößert sich die Hauptnormalspannung bis auf den Wert 1,62 mal die aufgebrachte Axialnormalspannung, während die Hauptschubspannung den Wert der aufgebrachten Torsionsschubspannung gemäß dem Faktor 1,12 übersteigen kann und die Hauptrichtung sich um maximal 908 dreht. Eine andere Darstellung verfolgt die Spannungsamplituden und Spannungsmittelwerte in unterschiedlich geneigten Schnittebenen unabhängig von der jeweiligen Hauptspannungsrichtung. Diese „Beanspruchungscharakteristik“ ra ˆ f1(rm) kann der Werkstoffcharakteristik rA ˆ f2(rm) im Haigh-Diagramm gegenübergestellt werden, um eine Aussage über die Schwingfestigkeit bei nichtproportionaler phasenverschobener Schwingbeanspruchung zu machen (s. Abb. 3.10). Vorstehend wird dominant elastisches Werkstoffverhalten im Bereich der Langzeitfestigkeit betrachtet, denn es sind allein Spannungen aufgetragen. In entsprechender Weise werden im Bereich der Kurzzeitfestigkeit Dehnungen verwendet, insbesondere Axial- und Scherdehnungen, deren Überlagerung in einer dünnwandigen Hohlstabprobe als Basisversuch gilt. Einige einfache Grundformen des nichtproportionalen Dehnungsablaufs sind in Abb. 3.23 der proportionalen Variante gegenübergestellt. Besonders bedeutsam unter den nichtproportionalen Abläufen ist die um 908 phasenverschobene gleichfrequente Beanspruchung durch Axial- und Scherdehnungen. Eine weitere besonders aussagefähige Grundform ist der zweischleifige „Schmetterlingspfad“, der

Abb. 3.23: Proportionale mehrachsige (a) und nichtproportionale mehrachsige (b–e) periodische Dehnungsabläufe; Scherdehnung cxy/2 über Axialdehnung ex mit ey ˆ ez ˆ –mex und cyz ˆ czx ˆ 0; phasengleiche Sinuswellen (a), um 908 phasenverschobene Sinuswellen (b), um 908 phasenverschobene Sägezahnwellen (c), phasenverschobene Trapezwellen (d) und kreuzsequentielle Sinuswellen (e); nach Socie u. Marquis [270]

100

3 Einflüsse auf die Schwingfestigkeit

durch unterschiedliche Frequenz (Verhältnis eins zu zwei) der beiden Beanspruchungsabläufe entsteht. Kreise, Quadrate und gleichschenklige Kreuze anstelle von Ellipsen, Rechtecken bzw. Rhomben und ungleichschenkligen Kreuzen ergeben sich nur bei entsprechender Gewichtung der aufgetragenen Größen. Sofern 2sxy über rx bzw. cxy/2 über ex aufgetragen wird, ähnelt dies der Darstellung von Mohrschen Kreisen, darf damit aber nicht verwechselt werden. Mohrsche Kreise veranschaulichen stationäre Beanspruchungszustände, nicht Beanspruchungsabläufe.

Einfluß nichtproportionaler Beanspruchung auf die Versagensschwingspielzahl Wie stark sich unterschiedliche Nichtproportionalität des Beanspruchungsablaufs auf die Versagensschwingspielzahl auswirkt, wird zunächst bei dominant elastischer Beanspruchung (also Langzeitfestigkeitsbereich) für die in Abb. 3.23 dargestellten Beanspruchungsabläufe nach dem Findley-Kriterium (3.30) und (3.31) gezeigt, Tabelle 3.3 (nach Socie u. Marquis [270]). Die Schubspannungsamplitude Dsxy/2 ist halb so groß wie die Axialspannungsamplitude Drx/2 eingeführt. Folglich wäre in den Diagrammen der vorstehend genannten Abbildung 2sxy über rx aufzutragen. Im Beanspruchungsfall (e) werden Axialdehnungsschwingung und Scherdehnungsschwingung nacheinander aufgebracht. Die mitgeteilten Ergebnisse beziehen sich auf die Annahme, nur die Axialdehnungsschwingung (e1) oder nur die Scherdehnungsschwingung (e2) sei versagensrelevant, und leider nicht auf den ungünstigsten Fall der kombinierten Wirkung. Auf Grund des großen Unterschieds zwischen den Schwingspielzahlen zu (e1) und (e2) kann jedoch bei kombinierter Wirkung eine Ergebniszahl nahe der von (e1) vermutet werden. Die Berechnungsergebnisse in Tabelle 3.3 zeigen, daß Nichtproportionalität der Beanspruchung die Lebensdauer in erheblichem Maße beeinflussen kann und daher in praxisrelevanten Analysen mitzuführen ist.

Tabelle 3.3: Versagensschwingspielzahl N bei nichtproportionaler Überlagerung von rx und sxy relativ zur Versagensschwingspielzahl N0 bei proportionaler Überlagerung; Voraussage nach dem Findley-Kriterium (3.30) und (3.31) mit Schwingfestigkeitsexponent b ˆ –0,1; Beanspruchungsabläufe nach Abb. 3.23; Angaben nach Socie u. Marquis [270] Beanspr. ablauf

Drx/2 N/mm2

Dsxy/2 N/mm2

Ds/2 N/mm2

r⊥ N/mm2

(Ds/2 + 0,3r⊥) N/mm2

N/N0 –

a b c d e1 e2

500 500 500 500 500 500

250 250 250 250 250 250

353 250 250 353 250 250

250 500 500 603 250 0

428 400 400 534 325 250

1,0 2,0 2,0 0,11 16 216

e1: Axialkomponente Drx versagensrelevant e2: Scherkomponente Dsxy versagensrelevant

3.4 Einfluß der Beanspruchungsmehrachsigkeit (Nichtproportionalität)

101

Die Untersuchung des Einflusses nichtproportional mehrachsiger Beanspruchung im Kurzzeitfestigkeitsbereich führte zur Beobachtung einer zusätzlichen Dehnungsverfestigung, die bei einachsiger oder proportional mehrachsiger Beanspruchung nicht auftritt. Die Abgrenzung von „nichtproportional“ und „proportional“ erfolgt nach der eingangs drittgenannten Definition gemäß veränderlicher oder nichtveränderlicher Hauptachsenrichtung des zyklischen Beanspruchungsanteils. Die nichtproportionale Beanspruchung wird demnach typischerweise durch Überlagerung einer um 908 phasenverschobenen Axial- und Schubbeanspruchung erzeugt. Die im dehnungsgeregelten Versuch mit proportionaler (d ˆ 08) und nichtproportionaler (d ˆ 908) Überlagerung von zyklischer Axial- und Schubbebeanspruchung an austenitischem Stahl des Typs 304 gemessenen rxex- und sxycxyHystereseschleifen sind in Abb. 3.24 dargestellt (Socie u. Marquis [270]). Leider sind die Dehnungsschwingbreiten Dex und Dcxy des nichtproportionalen Versuchs gegenüber dem proportionalen Versuch vergrößert (Faktor etwa 1,4). Dennoch ist abschätzbar, daß bei gleicher Dehnungsschwingbreite die Spannungsschwingbreite im nichtproportionalen Versuch ungefähr verdoppelt ist. Dies ist auf die vorstehend angesprochene zusätzliche Dehnungsverfestigung bei nichtproportional mehrachsiger Beanspruchung zurückzuführen. Der Sachverhalt wird zusätzlich erhellt durch Auftragen der Spannungen und Dehnungen senkrecht zur kritischen Ebene (Anrißebene), im vorliegenden Fall zugeordnet die größte Hauptdehnungsschwingbreite De1 mit zugehöriger Normalspannungsschwingbreite Dr⊥, Abb. 3.25. Bei proportionaler Beanspruchung ist die Richtung der kritischen Ebene (im vorliegenden Fall die Hauptachsenrichtung) konstant, bei nichtproportionaler Beanspruchung ist sie zeitlich veränderlich. Die Dehnungsschwingbreiten Dex und Dcxy dürften mit jenen der pro-

Abb. 3.24: Spannungs-Dehnungs-Zyklen der Axialbeanspruchung (a) und Schubbeanspruchung (b) bei proportionaler (phasengleicher, d ˆ 08) und nichtproportionaler (phasenverschobener, d ˆ 908) Überlagerung der beiden Beanspruchungen im dehnungsgeregelten Versuch (Dex bzw. Dczy größer für d ˆ 908); austenitischer Stahl des Typs 304; nach Socie u. Marquis [270]

102

3 Einflüsse auf die Schwingfestigkeit

Abb. 3.25: Spannungs-Dehnungs-Zyklen der Hauptbeanspruchung (r⊥, e1) bei proportionaler (phasengleicher, d ˆ 08) und nichtproportionaler (phasenverschobener, d ˆ 908) Überlagerung von Axial- und Schubbeanspruchung im dehnungsgeregelten Versuch; austenitischer Stahl des Typs 304; nach Socie u. Marquis [270]

portionalen Beanspruchung in Abb. 3.24 identisch sein. Die phasenverschoben mehrachsige (nichtproportionale) Beanspruchung ist mit erhöhten Spannungen (ermöglicht durch zusätzliche Dehnungsverfestigung) und mit verkleinerten plastischen Dehnungen (Breite der Hystereseschleife auf der Abszisse) verbunden. Die plastischen Dehnungen allein genügen demnach nicht, um das Versagen durch Ermüdung zu beschreiben, die zugeordneten elastischen Spannungen spielen eine ebenso wichtige Rolle. Die Lebensdauer vermindert sich durch die nichtproportionale Beanspruchung im vorliegenden Fall auf ungefähr ein Zehntel des Wertes bei proportionaler Beanspruchung (Socie u. Marquis [270]). Nichtproportionalfaktor und Verfestigungskoeffizient Aus den vorangegangenen Ausführungen geht hervor, daß der Grad der Nichtproportionalität des Beanspruchungsablaufs für die zusätzliche Dehnungsverfestigung maßgebend ist. Es gibt unterschiedliche Vorschläge zur Definition des Nichtproportionalitätsgrades, von denen die Festlegung nach Kanazawa et al. [329] größere Verbreitung gefunden hat (s. a. McDowell [407]). Ausgehend von den für die besondere Dehnungsverfestigung notwendigen Interaktionen unterschiedlich gerichteter Gleitebenen wird im Hinblick auf die Überlagerung von Axial- und Scherbeanspruchung folgender Nichtproportionalfaktor definiert: fnp ˆ

Dcp=4 Dc13

…3:80†

mit der größten Scherdehnung Dc13 und der Scherdehnung Dcp/4 in einem Schnitt unter 458 zur Richtung von Dc13.

3.4 Einfluß der Beanspruchungsmehrachsigkeit (Nichtproportionalität)

103

Abb. 3.26: Überlagerung von sinusförmigen Axial- und Schubdehnungsabläufen mit unterschiedlicher Phasenverschiebung d (a) bzw. unterschiedlichem Amplitudenverhältnis Dcxy/2Dex (b); nach Socie u. Marquis [270]

Tabelle 3.4: Nichtproportionalfaktor fnp bei Überlagerung von sinusförmigen Axial- und Scherdehnungsabläufen mit unterschiedlichem Phasenwinkel d bzw. unterschiedlichem Amplitudenverhältnis Dcxy/2Dex; nach Socie u. Marquis [270] Phasenwinkel d

fnp

Amplitudenverhältnis Dcxy/2Dex

08

308

608

908

1,0

0,67

0,33

0

0,27

0,57

1,0

1,0

0,67

0,33

Der Nichtproportionalfaktor fnp ˆ 0–1,0 hängt bei Überlagerung sinusförmiger Axial- und Scherbeanspruchung vom Phasenwinkel d und vom Amplitudenverhältnis Dcxy/2Dex ab, Abb. 3.26 und Tabelle 3.4. Er kennzeichnet das Abmessungsverhältnis der gezeigten Ellipsen. Bei komplexeren nichtproportional mehrachsigen Dehnungsabläufen, etwa nach Abb. 3.27, werden in den entsprechenden Spannungsdiagrammen komplexe Ablaufschleifen beobachtet (Itoh et al. [327, 328]), deren Nichtproportionalität über eine umbeschriebene Ellipse veranschaulichbar ist. Der Nichtpropor nach Itoh ist unter den Diagrammen vermerkt. tionalfaktor fnp Der Nichtproportionalgrad der mehrachsigen Beanspruchung bestimmt die zusätzliche zyklische Verfestigung des Werkstoffs, was im rechnerischen Modell durch eine Erhöhung des zyklischen Verfestigungskoeffizienten K 0 auf den 0 Wert Knp nach folgender Beziehung berücksichtigt wird: 0 ˆ K 0 …1 ‡ np fnp † Knp

…3:81†

mit dem Koeffizienten np der zusätzlichen nichtproportionalen Verfestigung. Er hängt vom Werkstoff und von dessen Temperatur ab. Werte bei Raumtempe-

104

3 Einflüsse auf die Schwingfestigkeit

Abb. 3.27: Überlagerung einfacher und komplexer Axial- und Scherdehnungsabläufe (proportionale bzw. nichtproportionale mehrachsige Beanspruchung) mit zugehörigem Nichtproportio ; nach Itoh et al. [327, 328] nalfaktor fnp

Tabelle 3.5: Koeffizient np der nichtproportional bedingten Zusatzverfestigung für unterschiedliche Werkstoffe bei Raumtemperatur nach Literaturangaben; nach Socie u. Marquis [270] Werkstoff

Koeffizient np

Werkstoff

Koeffizient np

C-Stahl CrMo-Stahl austenitischer Stahl

0,3 0,15 0,5–1,0

Kupfer Inconel Aluminiumlegierung

0,3 0,2 0,2

ratur für unterschiedliche Werkstoffe sind auf Grund von Literaturangaben nach Socie u. Marquis [270] in Tabelle 3.5 zusammengefaßt. Der Koeffizient np ist für die meisten Werkstoffe relativ klein und somit auch der zusätzliche Verfestigungseffekt nichtproportionaler Beanspruchung, dies im Unterschied zum Einfluß der Nichtproportionalität selbst auf die Lebensdauer. Die zusätzliche Dehnungsverfestigung durch nichtproportionale zyklische Beanspruchung (nonproportional hardening, cross hardening, out-of-phase hardening) läßt sich aus den mikrostrukturellen Gegebenheiten des jeweiligen Werkstoffs erklären. Entscheidend ist die Fähigkeit des Werkstoffs, mehrfache Kreuzgleitsysteme zu entwickeln. Ist das leicht zu erreichen, so gibt es kaum zusätzliche Dehnungsverfestigung (Aluminiumlegierungen), sind jedoch größere Gleitwiderstände zu überwinden, so ist die zusätzliche Dehnungsverfestigung erheblich (austenitische Stähle). Die mikrostrukturellen Mechanismen der nichtproportional bedingten Verfestigung werden von Sakane et al. [415] sowie Rother [1606] diskutiert.

3.5 Einfluß der Proben- oder Bauteilgröße

3.5

105

Einfluß der Proben- oder Bauteilgröße

Arten von Größeneinfluß Die (Dauer-)Schwingfestigkeitswerte bei Biege- und Torsionsbeanspruchung von ungekerbten Proben mit kleinem und mit großem Durchmesser sind unterschiedlich groß. Dünne Drähte zeigen höhere Festigkeit als Proben mit gängigem Durchmesser (etwa 10 mm). Bei noch größerem Durchmesser ist ein weiterer Abfall um 10–20 % zu beobachten. In ähnlicher Weise beeinflußt die Probenlänge die Festigkeit. Die Abhängigkeit der Schwingfestigkeit von der Größe der hochbeanspruchten Bereiche tritt verstärkt bei gekerbten Proben und Bauteilen auf. Es wird zwischen spannungsmechanischem (oder geometrischem), technologischem, oberflächentechnischem und statistischem Größeneinfluß unterschieden [95, 422]. Die Darstellung bezieht sich schwerpunktmäßig auf ungekerbte Proben. Gekerbte Proben (und Bauteile), an denen der Größeneffekt bei geometrischer Ähnlichkeit und demnach identischer Kerbformzahl beobachtet wird, werden durch Kap. 4.5 erfaßt. In die nachfolgenden Ausführungen zum statistischen Größeneinfluß ist der Kerbeffekt allerdings einbezogen. Ältere Publikationen beschreiben vor allem den spannungsmechanischen Größeneinfluß, neuere Publikationen dagegen überwiegend den statistischen Größeneinfluß, s. [419–449]. Spannungsmechanischer Größeneinfluß Der spannungsmechanische oder geometrische Größeneinfluß beruht auf unterschiedlicher Stützwirkung bei unterschiedlichem Spannungsgradienten. Bei Axialbeanspruchung tritt im ungekerbten Stab keine Stützwirkung auf. Die Stützwirkung bei Biege- und Torsionsbeanspruchung ist um so ausgeprägter, je steiler der Spannungsgradient über dem Probendurchmesser d ist. Der Gradient ergibt sich bei Biege- und Torsionsbeanspruchung zu v0 ˆ 2=d (s. Kap. 4.1). Der spannungsmechanische Größeneinfluß ist daher bei kleinem Probendurchmesser besonders ausgeprägt, während bei größerem Probendurchmesser (ab etwa 50 mm) kaum noch ein Einfluß festzustellen ist. Quantitativ lassen sich die Festigkeitsverhältnisse ähnlich wie bei Kerben erfassen (s. Kap. 4.5). Nachfolgend wird der Spannungsabstandsansatz von Peterson (s. Kap. 4.8) bevorzugt. In einer Oberflächenschicht von werkstoffabhängiger kleiner Dicke a darf der Wert der Zug-Druck-Wechselfestigkeit rzdW bis zur Biegewechselfestigkeit rbW überstiegen werden: rbW ˆ

rzdW 1 2a=d

…3:82†

Bei großem Durchmesser …d  a† ist rbW  rzdW , d. h. die Zug-Druck-Wechselfestigkeit wird nicht überschritten. Gegenüber der üblichen Biegeprobe mit etwa 10 mm Durchmesser bedeutet das einen Abfall um maximal 10–20 %.

106

3 Einflüsse auf die Schwingfestigkeit

Technologischer und oberflächentechnischer Größeneinfluß Der technologische Größeneinfluß umfaßt die Wirkung unterschiedlichen Gefüges im großen Bauteil gegenüber der kleinen Probe, hervorgerufen durch unterschiedliche mechanische und thermische Herstellungsverfahren. Besonders zu beachten sind dabei Größe, Form und Verteilung der nichtmetallischen Einschlüsse. Entsprechend unterschiedlich stellt sich die Schwingfestigkeit dar. In der FKM-Richtlinie [1746] wird der technologische Größeneinfluß in der Zugfestigkeit berücksichtigt, von der sich die Schwingfestigkeit ableitet. Der Durchmesser der Referenzprobe ist d0 ˆ 7,5 mm. Für den betrachteten Bauteilausschnitt ergibt sich der zu vergleichende wirksame Probendurchmesser als Quotient von Volumen und Oberfläche, deff ˆ 4V/A. Die Festigkeitsminderung beginnt je nach Stahlsorte ab deff ˆ 11–250 mm. Ähnliche Angaben gelten für Eisengußwerkstoffe. Bei den Aluminiumknetwerkstoffen ist der technologische Größeneinfluß gegenüber dem Einfluß des Werkstoffzustandes vernachlässigbar. Bei den Aluminiumgußwerkstoffen verhält es sich umgekehrt. Eng verbunden mit dem technologischen Größeneinfluß ist der oberflächentechnische Größeneinfluß. Er beruht auf der unterschiedlichen relativen Tiefenwirkung der Verfahren zur Oberflächenverfestigung bei unterschiedlicher Querschnittsgröße (s. Kap. 3.6). Statistischer Größeneinfluß Der statistische Größeneinfluß ist darin begründet, daß die Wahrscheinlichkeit des Auftretens einer zu einem Anriß führenden mikrostrukturellen Schwachstelle (einer Fehlstelle) in der Oberflächenschicht oder auch im Innern einer großen Probe größer ist als in der geometrisch ähnlichen kleineren Probe. Der Einfluß ist bei überwiegend elastischer Beanspruchung besonders ausgeprägt, also bei relativ spröden Werkstoffen (z. B. hochfeste oder gehärtete Metallegierungen sowie Sinterwerkstoffe) oder auch bei duktileren Werkstoffen bei Annäherung an die Dauerschwingfestigkeit. Der experimentelle Nachweis für die Existenz einer größenabhängigen Wahrscheinlichkeit für das Auftreten rißeinleitender Fehlstellen wurde von Köhler [429] erbracht, der die unterschiedliche Bruchwahrscheinlichkeit kurzer und langer ungekerbter Proben gegenüberstellte, Abb. 3.28. Ein statistisches Fehlstellenmodell für die Sprödbruchfestigkeit wurde von Weibull [444] entwickelt und später von Kogaev und Serensen (s. [423, 694, 695]) sowie Heckel und Mitarbeitern [420, 424–426, 430, 441, 448, 449] auf Fragen der Ermüdungsfestigkeit übertragen. Das Fehlstellenmodell beruht auf folgenden Annahmen: Rißbildungskeime mit statistisch (nach Weibull) verteilter Größe sind gleichmäßig über das Werkstoffvolumen oder die Werkstoffoberfläche (bei Anrißbildung nur an der Oberfläche) gestreut. Der Anriß erscheint, wenn die örtliche Beanspruchung die Festigkeit des größten Rißkeims im betrachteten örtlichen Bereich erreicht (weakest link concept). Der weitere Rißfortschritt wird rißbruchmechanisch beschrieben. Bei gekerbten Proben ist neben der Spannung der Spannungs-

3.5 Einfluß der Proben- oder Bauteilgröße

107

Abb. 3.28: Bruchwahrscheinlichkeit bei langer und kurzer Probe im Wöhler-Versuch, statistischer Größeneinfluß; nach Köhler [429]

gradient bedeutsam. Die rechnerische Vorgehensweise läßt sich folgendermaßen zusammenfassen. Maßgebend für die Anrißlebensdauer ist das auf rmax bezogene Spannungsintegral I über das betrachtete Volumen V oder über die betrachtete Oberfläche A in der xy-Ebene (Böhm u. Heckel [420]): Z  Iˆ V

Z  Iˆ A

 r…x; y; z† j dV rmax

…3:83†

 r…x; y† j dA rmax

…3:84†

Dabei wird der Weibull-Formfaktor j der Anrißwahrscheinlichkeitsverteilung über der Spannungsamplitude bei gegebener Schwingspielzahl verwendet. Diese Verteilung wird unter der Annahme gewählt, daß die größte Fehlstelle in einem gegebenen Volumen kleiner als ein bestimmtes Maß ist und daß zwischen Fehlstellengröße und ertragbarer Spannungsamplitude ein vereinfachter, rißbruchmechanisch begründeter Zusammenhang besteht (Scholz [439]). Wenn die (Anriß-)Wechselfestigkeit rW0 einer ungekerbten Referenzprobe mit Spannungsintegral I0 bekannt ist, kann die örtliche (Anriß-)Wechselfestigkeit rWk einer gekerbten Probe mit Spannungsintegral Ik (über den Kerbbereich) bestimmt werden: rWk ˆ rW0

 1=j I0 Ik

…3:85†

108

3 Einflüsse auf die Schwingfestigkeit

Als zyklische Stützziffer folgt daraus: rWk nˆ ˆ rW0

 1=j I0 Ik

…3:86†

Den statistischen Größeneinfluß an gekerbten Proben zeigt Abb. 3.29. Die unter Gauß-Random-Belastung bis Bruch ertragene Schwingspielzahl sinkt mit der Zahl gleichartig beanspruchter Lochkerben bzw. mit der Größe der hochbeanspruchten Kerboberfläche (der Entlastungseffekt der Mehrfachanordnung ist vernachlässigbar, der Spannungsgradient ist an allen Kerben gleich groß). Ausgehend von einer Weibull-Verteilung der größten Fehlstellen bzw. der fiktiven Anfangsrisse im Werkstoffvolumen oder an der Werkstoffoberfläche (nur die Größtwerte sind für die Ermüdungsfestigkeit maßgebend) ist eine Vorhersage des Verhaltens der mehrfach gelochten Probe auf der Basis der einfach gelochten Probe möglich. Ein statistisch begründetes Fehlstellenmodell wurde von Bazios u. Gudladt [419] zur Bestimmung der Langzeitschwingfestigkeit bei konstanter und bei variabler Lastamplitude an ungekerbten und (loch-)gekerbten Flachproben aus der Aluminiumlegierung AlMgSi0,7 (AA6009) herangezogen. Ausgehend von der Dehnungs-Wöhler-Linie, der Makrostützwirkungsformel nach Neuber, dem Schädigungsparameter PSWT nach (5.21), dessen Modifikation PSI gemäß den Spannungsintegralen und einem durch Messung gewonnenen Rauhigkeitsfaktor cr ˆ 1,15 nach (3.89) – Kratzer in der Oberfläche – ergibt sich gute Übereinstimmung der berechneten und gemessenen Schwingspiele bis Anriß im Bereich 105 ≤ N ≤ 108. Demgegenüber wird die Lebensdauer über die Schädi-

Abb. 3.29: Bruchwahrscheinlichkeit einfach und mehrfach gelochter Zugstäbe im GaußRandom-Versuch, statistischer Größeneinfluß der hochbeanspruchten Kerboberfläche; nach Schweiger [441]

3.5 Einfluß der Proben- oder Bauteilgröße

109

gungsparameter PSWT (ohne Modifikation) nach (5.21), Zd nach (7.79) und PJ nach (7.80), mit unzureichender Genauigkeit vorausgesagt. Die Anwendung des statistisch begründeten Fehlstellenmodells auf die Dauerschwingfestigkeit (örtliche Wechselfestigkeit) ungekerbter und gekerbter Proben aus hochfestem (und hochreinem) Wälzlagerstahl 100Cr6 im bainitischen Zustand hatte das in Abb. 3.30 dargestellte Ergebnis. Die rechnerische Grenzlinie zwischen Dauerfestigkeit (unterhalb) und Zeitfestigkeit (oberhalb) wurde ausgehend von den Versuchsergebnissen für die ungekerbten Referenzproben bei Umlaufbiegung einerseits und bei Torsion andererseits bestimmt. Dabei wurden Vergleichsspannungen nach der Festigkeitshypothese für mehrachsige Beanspruchung nach Dang Van et al. [294–296] (siehe Kapitel 3.2) verwendet (Index DV). Die Versuchsergebnisse für die gekerbten Proben sowie für die ungekerbte Probe bei Zug-Druck-Belastung sind hinsichtlich Mittelwert und Streuung der rechnerischen Linie gegenübergestellt und zeigen ausreichende Übereinstimmung. Ergänzend ist in Abb. 3.31 die rechnerische Dauerfestigkeitslinie als Ergebnis der Referenzprobenversuche gezeigt. Als Abszissengröße ist die maximale hydrostatische Spannung aufgetragen, wie sie sich bei Anwendung der Hypothese von Dang Van auf proportionale zyklische Beanspruchung ergibt. Bei R ˆ –1 ist der Maximalwert mit dem Amplitudenwert identisch. Die getrennte Erfassung des spannungsmechanischen und des statistischen Größeneinflusses auf der Basis des Kurzrißverhaltens wird von Vormwald et al. [1612] gezeigt (s. Kap. 7.5). Spannungsmechanischer und statistischer Größeneinfluß lassen sich in einem Werkstoffvolumenansatz ingenieurmäßig zusammenfassen (s. Kap. 4.9).

Abb. 3.30: Örtliche (Anriß-)Wechselfestigkeit ungekerbter und gekerbter Proben bei unterschiedlicher Belastung abhängig vom Spannungsintegral; rechnerische Grenzlinie für Dauerfestigkeit und Versuchsergebnisse; Mehrachsigkeitshypothese nach Dang Van (DV); nach Linkewitz et al. [431]

110

3 Einflüsse auf die Schwingfestigkeit

Abb. 3.31: Grenzlinie der Dauerfestigkeit für den Wälzlagerstahl 100Cr6 (bainitisch) auf Basis der Versuchsergebnisse mit zwei Referenzproben (Torsion und Umlaufbiegung bei R ˆ –1) im Dang-Van-Diagramm; nach Linkewitz et al. [431]

3.6

Einfluß der Oberflächenverfestigung

Arten des Oberflächeneinflusses Der innere und äußere Zustand der Proben- oder Bauteiloberfläche hat starken Einfluß auf die Schwingfestigkeit, da sich Ermüdungsrisse vorzugsweise an der Oberfläche bilden. Die Werkstoffkennwerte werden meist an der eigenspannungsfreien, hinsichtlich des Gefüges homogenen und polierten Probe ermittelt. In der Praxis können ganz andere Oberflächenzustände vorliegen, die die Schwingfestigkeit in unbeabsichtigter (meist negativer) oder beabsichtigter (meist positiver) Weise beeinflussen. Zur ersten Gruppe gehören geschmiedete, gegossene oder spanabhebend bearbeitete Oberflächen (sofern Zugeigenspannungen vorliegen), zur zweiten Gruppe kaltverfestigte oder gehärtete Oberflächen (mit Druckeigenspannungen). Der Einfluß des Zustands der Oberfläche auf die Schwingfestigkeit läßt sich bei Anrißbildung an der Oberfläche nach folgenden Zustandsgrößen ordnen: – Oberflächenrauhigkeit mit Spannungserhöhungen im Mikrobereich (festigkeitsmindernd). – Mechanische Veränderung der Oberflächenschicht durch Kaltverfestigung, damit verbunden Ausheilen von Mikrofehlern (festigkeitssteigernd). – Metallurgische Veränderung der Oberflächenschicht durch chemische Veränderung und thermische Beeinflussung, z. B. Entkohlung (festigkeitsmindernd infolge Härteabnahme) oder Aufkohlung, Nitridbildung, Auflegieren (festigkeitssteigernd infolge Härtezunahme).

3.6 Einfluß der Oberflächenverfestigung

111

– Eigenspannungen in der Oberflächenschicht, z. B. Zugeigenspannungen durch Schleifen (festigkeitsmindernd) oder Druckeigenspannungen durch Kugelstrahlen (festigkeitssteigernd). – Korrosive Wirkung des umgebenden Mediums (festigkeitsmindernd). Nachfolgend werden die beabsichtigten verfestigenden Wirkungen von mechanischen und metallurgischen Veränderungen und von Eigenspannungen an der Oberfläche dargestellt, auf denen die Fertigungsverfahren zur Verbesserung der Oberfläche hinsichtlich Schwingfestigkeit beruhen [450–482]. Der Einfluß der Eigenspannungen ist in Kap. 3.7 u. 4.11 weitergehend erläutert. Der Einfluß von Oberflächenrauhigkeit und Korrosion wird in Kap. 3.8 u. 3.9 behandelt. In der Praxis ist Ermüdung ein nur unzureichend entkoppelbares Vielparameterproblem. Insbesondere wird bei praxisrelevanten Untersuchungsergebnissen selten zwischen den Einflüssen von Rauhigkeitsänderung, Werkstoffverfestigung und Eigenspannungsbildung an der Oberfläche unterschieden. Die unmittelbar anschließende Darstellung ist nach den Verfahren der Oberflächenverfestigung unterteilt. Die aufgeführten Verfahren werden außer zur Steigerung der Ermüdungsfestigkeit zur Verbesserung der Korrosions- und Verschleißfestigkeit eingesetzt. Kaltverfestigen der Oberfläche – Kugelstrahlen und Festwalzen Die Kaltverfestigungsverfahren beruhen darauf, eine relativ dünne Oberflächenschicht unter Querdruck plastisch zu weiten (d. h. auseinanderzudrücken), so daß bei elastisch verbleibendem Innenbereich von Probe oder Bauteil Druckeigenspannungen in der Oberflächenschicht entstehen. Gleichzeitig verfestigt sich der Werkstoff. Für die Schwingfestigkeitsverbesserung ist vor allem der Eigenspannungseinfluß ausschlaggebend. Die Wechsel- und Zugschwellfestigkeit kann wesentlich gesteigert werden, während bei Druckschwellbeanspruchung die Druckfließgrenze vorzeitig erreicht wird, wodurch die Druckeigenspannungen abgebaut werden. Anrisse können je nach Festigkeits- und Beanspruchungsverteilung im Querschnitt an der Oberfläche oder im Innern der Probe entstehen (s. Kap. 4.12). Die verbreitetsten Varianten des Verfahrens sind das Kugelstrahlen, Festwalzen und Hämmern sowie bei Lochkerbstäben das Aufdornen und Querdrücken oder Coinen. Das Kugelstrahlen ist ein besonders vielseitiges Kaltverfestigungsverfahren, anwendbar bei den meisten Werkstoffen (bewährt bei Stählen, Aluminiumlegierungen, Gußeisen) und bei beliebiger Oberflächenform. Die Oberfläche wird mit Stahl-, Keramik- oder Glaskugeln (Durchmesser 0,2–4 mm) beaufschlagt (Aufprallgeschwindigkeit etwa 50 m/s), die aus rotierenden Düsen geschleudert werden. Die Kugeln müssen härter als die Oberfläche sein. Diese ist danach mit kleinen Dellen übersät, deren Tiefe (relativ zum Kugeldurchmesser) jedoch gering ist. Sie wird also geometrisch nur wenig verändert. Die erzielte Druckeigenspannungsschicht ist je nach verwendeter Kugelgröße 0,02–0,2 mm tief. Der Druckeigenspannungshöchstwert tritt dicht unter der Oberfläche auf und

112

3 Einflüsse auf die Schwingfestigkeit

erreicht etwa die Hälfte der Fließgrenze des Werkstoffs, nur in besonderen Fällen auch mehr. Höherfeste Werkstoffe sind für das Verfahren besonders geeignet, weil hohe Eigenspannungen erzielt und diese relativ gut gehalten werden können. Bei weicheren Werkstoffen tritt dagegen die erzielte Härtesteigerung in den Vordergrund. Durch optimiertes Kugelstrahlen lassen sich Steigerungen der Dauerfestigkeit um den Faktor 1,1–2,0 erzielen [82, 455, 456, 482]. Besonders ausgeprägt ist die Lebensdauersteigerung bei kugelgestrahlten hochfesten Federstählen unter Korrosion [520–523]. Im Zeitfestigkeitsbereich ist die Schwingfestigkeitssteigerung mit einer Abflachung der Wöhler-Linie verbunden, wobei die Dauerfestigkeit besonders ausgeprägt angehoben ist. Kugelstrahlen wird bei Federn, Zahnrädern, Wellen, Pleueln und anderen hochbeanspruchten Bauteilen eingesetzt. Das dem Kugelstrahlen ähnliche Reinigungsstrahlen, auch mit nicht kugelförmigen Partikeln (z. B. Sandstrahlen), oder das Reinigungsbürsten erhöht ebenfalls die Schwingfestigkeit, jedoch der geringeren Strahlintensität entsprechend weniger stark. Bei durch Reinigungsstrahlen entzunderten Schmiedestücken kann günstigstenfalls die alternativ durch Schleifen erzielbare Festigkeitssteigerung erreicht werden. Das Festwalzen der Oberfläche wird vorzugsweise bei rotierbaren Bauteilen aus hinreichend verformungsfähigem Werkstoff angewendet. Eine harte Rolle drückt mit angepaßter Querschnittskontur in das rotierende Werkstück. Es sind hohe Druckeigenspannungen erzielbar. Oberflächenrauhigkeiten werden eingeebnet, Poren zusammengedrückt und oberflächennahe Werkstoffbereiche kaltverfestigt. Die Schwingfestigkeitssteigerung durch Festwalzen hängt von der Werkstofffestigkeit und von der Höhe der Walzkraft ab, die im Einzelfall optimal abzustimmen ist [451]. Die Dauerfestigkeit des gekerbten Stabes (bezogen auf die Nennspannung im Nettoquerschnitt) kann nach der Optimierung sogar höher als die des ungekerbten Stabes liegen, weil in der Kerbe besonders hohe Druckeigenspannungen aufgebaut werden können, Abb. 3.32. Diese Aussage wird durch eine weitere Untersuchung von Kloos et al. [470] an festgewalzten Wellenabsätzen aus Vergütungsstahl 42CrMo4 sowie Gußeisen mit Kugelgraphit GGG60 bestätigt. Die optimale Festwalzkraft folgt dem Nettodurchmesser mit dem Exponent 1,45. An Proben mit Hohlkehle und an glatten Wellen mit Preßsitz wurden Dauerfestigkeitssteigerungen um den Faktor 1,3–2,5 erzielt [29]. Die Neigung der Wöhler-Linie von optimal festgewalzten Proben im Zeitfestigkeitsbereich ist entsprechend der Erhöhung der Dauerfestigkeit relativ flach, Abb. 3.33. Das Festwalzen ist ein besonders kostengünstiges Verfahren zur Erhöhung der Schwingfestigkeit von gekerbten Bauteilen (s. Kap. 4.12). Die Hohlkehlen der Kurbelwelle von Pkw-Motoren werden im allgemeinen festgewalzt. Die Dauerfestigkeitssteigerung durch Festwalzen wird bei den modernen Kaltformverfahren für Keilwellen, Zahnräder oder Schraubengewinde als vorteilhafte Nebenwirkung genützt. Ähnlich vorteilhaft wie das Festwalzen wirkt das Hämmern der Bauteiloberfläche.

3.6 Einfluß der Oberflächenverfestigung

113

Abb. 3.32: Dauerfestigkeitssteigerung durch Festwalzen bei ungekerbter (a) und gekerbter (b) Probe als Funktion der Walzkraft, Biegenennspannung auf Nettoquerschnitt bezogen; nach Kloos et al. [465]

Abb. 3.33: Normierte Wöhler-Linie für festgewalzte ungekerbte Proben aus Vergütungsstahl 37CrS4, Temperguß GTS65 und Gußeisen mit Kugelgraphit GGG60; nach Kloos et al. [465]

Härten der Oberfläche – Induktions-, Flamm-, Einsatz- und Nitrierhärten Das Härten der Oberfläche (normalerweise auf 650–1000 HV), das ursprünglich zur Verschleißminderung entwickelt wurde, kann die Schwingfestigkeit wesentlich steigern. Es beruht auf der Austenit-Martensit-Umwandlung bei schneller Abkühlung (Abschrecken mit anschließendem Anlassen) sowie ausreichend hohem Kohlenstoffgehalt (C  0;3 %, Vergütungsstähle). Alternativ kann Nitridbildung zur Härtung eingesetzt werden. Die Martensitbildung ist mit einer Volumenzunahme des Materials von 3–4 % verbunden. Je nach Zusammensetzung des Stahls und Martensitanteil sind tatsächlich nur 1–2 % wirksam. Wird das Erhitzen und Abkühlen auf die Oberflächenschicht beschränkt, wie beim Induktions- und Flammhärten, so entstehen in der gehärteten Oberfläche hohe

114

3 Einflüsse auf die Schwingfestigkeit

Druckeigenspannungen, die sich gegen Zugeigenspannungen im ungehärteten Innern elastisch abstützen. Anrisse können sich ebenso wie bei den kaltverfestigten Proben an der Oberfläche oder im Innern bilden. Aufhärtung und Druckeigenspannungen steigern die Dauerfestigkeit ungekerbter Proben bis auf den zweifachen Wert und noch mehr die gekerbter Proben (s. Kap. 4.12). Die Steigerung ist abhängig von Werkstoff, Geometrie, Beanspruchungsart, Einhärtetiefe, erzielter Höhe der Druckeigenspannungen bzw. von den Aufheizund Abkühlbedingungen [452, 454, 477]. Härtbar sind zunächst nur Stähle mit höherem Kohlenstoffgehalt …C  0;3 %†. Wenn der Stahl weniger Kohlenstoff enthält, kann die Oberfläche durch längerzeitige Glühbehandlung in kohlenstoffreicher Umgebung aufgekohlt werden, Eindringtiefe 0,7–2,5 mm, Aufkohlung bis C  0;9 %. Die Oberflächenschicht ist danach härtbar (Einsatzhärten). Die Dauerfestigkeitssteigerung hängt bei vorgegebener Härte von der Härtetiefe und der erzielten Höhe der Druckeigenspannungen ab. Eine Steigerung bis auf den zweifachen Wert bei einer Tiefe von 0,5 mm ist bei ungekerbten Proben erreichbar [17, 480]. Noch höhere Werte sind bei gekerbten Proben erreichbar (s. Kap. 4.12). Für das Härten durch Nitridbildung eignen sich besondere legierte Stähle. Die sehr harten Nitride bilden sich mit Legierungselementen wie Titan, Aluminium, Magnesium, Chrom, Molybdän, Vanadium und Wolfram, aber auch Verbindungen zwischen Kohlenstoff und Stickstoff sind bedeutsam (Nitrocarburieren [462]). Dazu wird die Oberfläche über einen längeren Zeitraum (1–100 h) bei Glühtemperatur (550–600  C) einer nitridbildenden Umgebung ausgesetzt (Nitrierhärten), wobei Gasatmosphäre (Ammoniak) oder Salzbad (Cyansalz) Anwendung finden. Die sich bildende Härteschicht ist relativ dünn ( 0,6 mm). Das Anlassen auf höhere Temperatur entfällt in vielen Fällen. Ein Anlassen auf 180  C wird jedoch häufig durchgeführt. Die Härteschicht weist hohe Druckeigenspannungen auf. Die Dauerfestigkeitssteigerung im Umlaufbiegeversuch nimmt mit der Nitriertiefe und der erzielten Höhe der Druckeigenspannungen zu. Eine Steigerung um den Faktor 2,5 ist bei einer Nitriertiefe von 0,5 mm nach Buch [17] erzielbar, nach

Abb. 3.34: Normierte Wöhler-Linie für nitriergehärtete ungekerbte Proben aus Vergütungsstahl 30CrNiMo8; nach Kloos et al. [465, 466]

3.6 Einfluß der Oberflächenverfestigung

115

Overbeeke u. van Lipzig [473] jedoch nur um den Faktor 2,0 bei gekerbten und ungekerbten Proben. Bei oberflächenverfestigten gekerbter Proben kann der Anriß unterhalb der Oberfläche eingeleitet werden (s. Kap. 4.12). Eine normierte Wöhler-Linie für ungekerbte nitriergehärtete Proben mit Anrißbildung unter der Oberfläche zeigt Abb. 3.34. Auf die normierte Wöhler-Linie für entsprechende gekerbte Proben mit Anrißbildung an der Oberfläche sei ergänzend hingewiesen, ebenso auf Lebensdauerwerte aus Betriebsfestigkeitsversuchen [465, 466, 475]. Randschichtfaktoren nach FKM-Richtlinie Die FKM-Richtlinie [1746] bietet eine Zusammenstellung empfohlener Randschichtfaktoren für Stähle und Eisengußwerkstoffe. Der Randschichtfaktor ist definiert als das Verhältnis der Wechselfestigkeiten von Probe oder Bauteil mit und ohne Oberflächenverfestigung bzw. Oberflächenhärtung. Er wird für gekerbte Bauteile höher als für ungekerbte Bauteile angegeben. Zu den aufgeführten herkömmlichen mechanischen, thermischen und chemisch-thermischen Verfahren der Oberflächenverfestigung werden auch Angaben über erreichbare Härte und Härtetiefe gemacht. Bei Aluminiumlegierungen mit mechanischer Randschichtverfestigung (Kugelstrahlen, Festwalzen) werden ähnliche Randschichtfaktoren wie bei Stahl empfohlen. Das axiale Drücken von Augenstabbohrungen (Coinen) ermöglicht Randschichtfaktoren um 1,5. Genauere Angaben zur Randschichtverfestigung bei Aluminiumlegierungen sind bei Hertel [38] zu finden. Oberflächenverbesserung mit Strahlverfahren Mit hochenergetischen Strahlverfahren (Plasmastrahl, Elektronenstrahl, Laserstrahl, Ionenstrahl) lassen sich unterschiedliche Oberflächenbehandlungen mit dem Ziel einer Steigerung von Korrosions-, Verschleiß- und Schwingfestigkeit durchführen [474, 476]. Die Erhöhung der Verschleißfestigkeit sowie die Verbesserung der tribologischen Oberflächeneigenschaften steht im Vordergrund des Interesses. Beim Strahlhärten der Oberfläche wird die Randschicht (Tiefe  3 mm) durch den auftreffenden Strahl kurzfristig auf Temperaturen knapp unterhalb der Schmelztemperatur erhitzt und anschließend durch die rasche Wärmeableitung „selbstabgeschreckt“. Stahl und Gußeisen mit Kohlenstoffgehalt C  0;1 % sind so durch Martensitbildung umwandlungshärtbar. Beim Strahlumschmelzen der Oberfläche wird die Randschicht kurzzeitig bis knapp über die Schmelztemperatur erhitzt und kristallisiert anschließend neu aus. Dadurch werden die Feinkörnigkeit erhöht und Entmischungsvorgänge behindert, die Oberflächeneigenschaften folglich verbessert. Beim Strahlschmelzlegieren werden der Randschmelzschicht Fremdelemente zugeführt (bei Stählen insbesondere Stickstoff oder Kohlenstoff), wodurch diese auflegiert wird. Besondere Erfolge verspricht man sich von der hochenergetischen Ionenimplantation.

116

3 Einflüsse auf die Schwingfestigkeit

Beim Strahlbeschichten verschweißt ein Beschichtungswerkstoff mit der Oberfläche, ohne sich in größerem Umfang zu vermischen. Schwingfestigkeitswerte zu den vorstehend genannten Strahlverfahren sind bisher nicht bekannt geworden. Die Werte von herkömmlichen Härtungsverfahren sind nur bei vergleichbarer Aufhärtung, Druckeigenspannungshöhe und Tiefenwirkung näherungsweise übertragbar. Eine in der Praxis bewährte Variante des Plasmaverfahrens ohne Strahlbündelung ist die plasmathermochemische Diffusionsbehandlung. Die gesamte Oberfläche des zu behandelnden Teils wird in einer Vakuumkammer einer Glimmentladung ausgesetzt, die den Molekültransport zur Oberfläche hin bewirkt und die Oberfläche erwärmt (zusätzlich kann fremderwärmt werden). Stähle werden plasmanitriert, plasmacarburiert oder plasmanitrocarburiert. Unter einer dünnen Verbundschicht von Eisennitriden (Schichtdicke bis 25 lm) bildet sich eine Diffusionsschicht, deren Tiefe von Einwirkdauer und Temperatur des Prozesses abhängt (z. B. 0,3 mm, 10 h, 500  C). Schwingfestigkeitsuntersuchungen sind gelegentlich durchgeführt worden [459, 471, 474, 476]. Der erste Anriß bildet sich bei ausreichender Oberflächenverfestigung unterhalb der Oberfläche am Übergang von der Diffusionsschicht zum Kernbereich. Die Biegewechselfestigkeit wird bei hinreichender Diffusionsschichtdicke gegenüber der unbehandelten (und ungekerbten) Probe um den Faktor 1,5 angehoben. Die normierte Wöhler-Linie in Abb. 3.34 umfaßt auch plasmanitrierte Proben.

3.7

Einfluß der Eigenspannungen

Beschreibung und Entstehung der Eigenspannungen Eigenspannungen sind innere Kräfte ohne Wirkung äußerer Kräfte. Sie stehen innerhalb des Bauteils mit sich selbst (Zwängungsspannungen) oder an Lagerstellen mit Reaktionskräften (Reaktionsspannungen) im Gleichgewicht. Die Spannungen infolge von Bauteilbelastung (Lastspannungen) überlagern sich den Eigenspannungen. Es wird zwischen Eigenspannungen erster, zweiter und dritter Art unterschieden, die (in vorstehender Reihenfolge) über makroskopische Bereiche, über mehrere Kristallite bzw. innerhalb eines Kristallits wirken. Bedeutsam hinsichtlich der Schwingfestigkeit ist vor allem der Einfluß der makroskopischen Eigenspannungen. Eigenspannungen entstehen durch ungleichmäßig verteilte bleibende Formänderungen, die am Werkstoffelement in Volumenänderung durch Wärmedehnung, chemische Umsetzung, Gefügeumwandlung oder Zustandsänderung und in Gestaltänderung (Scherdeformation) durch plastische oder viskoplastische Formänderung unterteilbar ist. Eigenspannungen entstehen während der Herstellung der Probe oder des Bauteils insbesondere durch Gießen, Schmieden, Walzen, Schweißen, Löten, Beschichten, Oberflächenbehandeln, Härten und Vergüten. Spanende Bearbei-

3.7 Einfluß der Eigenspannungen

117

tung der Oberfläche erzeugt bzw. verändert Eigenspannungen in einer dünnen Oberflächenschicht. Auch bei der Montage können Eigenspannungen erzeugt werden. Eigenspannungen werden im Betrieb des Bauteils durch Überschreiten der Fließgrenze verändert, erhöht oder vermindert. Durch Schwingbeanspruchung kann ein teilweiser Abbau erfolgen. Größe und Verteilung der Eigenspannungen sind nur näherungsweise bekannt. Kleine Änderungen im Herstellprozeß oder Betriebsablauf können große Änderungen der Eigenspannungen zur Folge haben. Die Verfahren zur Messung und Berechnung der Eigenspannungen sind hoch entwickelt, jedoch aufwendig und führen nicht immer zu einem aussagefähigen Ergebnis. Sie sind in der Praxis vorerst wenig verbreitet. Hinsichtlich weiterer Einzelheiten zu den Eigenspannungen, insbesondere zu den Schweißeigenspannungen, wird auf die Fachbücher [487, 488] verwiesen. Eigenspannungswirkung auf die Schwingfestigkeit Da Ermüdungsrisse meist an der Proben- oder Bauteiloberfläche eingeleitet werden, wirkt sich vor allem die Oberflächeneigenspannung auf die Schwingfestigkeit aus. Der Einfluß hält über eine Tiefe an, die der (technischen) Anrißphase entspricht (etwa 0,5 mm). Es gibt jedoch auch Fälle, in denen sich der Anriß im Innern, unterhalb der Oberfläche bildet. Dazu gehört die Rißentstehung unter Hertzscher Wälzpressung und die Rißbildung in oberflächenverfestigten Teilen unter bestimmten Bedingungen hinsichtlich des Lastspannungsgradienten. In diesen Fällen sind Werkstoffzustand und Eigenspannung am tieferliegenden Rißentstehungsort für die Festigkeit maßgebend. Die Eigenspannung in tieferliegenden Schichten ist unabhängig vom Rißentstehungsort im Bereich der Kurzzeit- und Betriebsfestigkeit von besonderer Bedeutung (Lowak [484]). Die Wirkung der Eigenspannung auf die Schwingfestigkeit ist der Wirkung einer entsprechenden Lastmittelspannung, abzulesen am Dauerfestigkeitsschaubild, vergleichbar. Der Einfluß ist demnach sehr ausgeprägt. Im Unterschied zur Lastmittelspannung kann sich die Eigenspannung jedoch durch die Schwingbeanspruchung selbst verändern, vielfach im Sinne eines Eigenspannungsabbaus, bedingt durch Fließgrenzenüberschreitung, zyklenabhängige Relaxation und zyklenabhängiges Kriechen sowie durch die Rißeinleitung selbst, sofern sie eintritt. Eigenspannungen sind auch vielfach besonders unregelmäßig über die Querschnittsfläche verteilt, häufig mit Extremwerten an den Rändern. Während Lastspannungen im Versuch reproduzierbar und genau eingestellt werden können, macht dies bei Eigenspannungen Schwierigkeiten. Die Ergebnisse von Untersuchungen zum Einfluß der Eigenspannungen auf die Schwingfestigkeit [483, 485, 486, 489, 490] geben daher ein komplexes und uneinheitliches Bild, abgesehen von den recht allgemeinen Feststellungen, daß der Einfluß bei hochfesten Werkstoffen wegen den höheren Eigenspannungswerten besonders ausgeprägt ist und daß die (Zug-)Schwingfestigkeit durch Druckeigenspannungen erhöht, durch Zugeigenspannungen vermindert wird. Nachfolgend werden die Grundzüge einer einheitlichen quantitativen

118

3 Einflüsse auf die Schwingfestigkeit

Beschreibung zunächst für ungekerbte Proben dargestellt und später (s. Kap. 4.11) auf Kerbstäbe erweitert. Die Wirkung der Eigenspannung rE auf die Schwingfestigkeit rA in ungekerbter Probe für den Fall rm ˆ 0 läßt sich nach Macherauch u. Wohlfahrt [486, 490] analog zu (2.13) ausdrücken: rA ˆ rW

ME r E

…rm ˆ 0†

…3:87†

Die Eigenspannungsempfindlichkeit ME ist ebenso wie die Mittelspannungsempfindlichkeit M von der Zugfestigkeit des Werkstoffs abhängig, jedoch bei gleicher Zugfestigkeit etwas kleiner als diese, Abb. 3.35. Dabei ist zu beachten, daß auch die Wechselfestigkeit rW von der Zugfestigkeit abhängt. Der Grund für das Anwachsen der Eigenspannungsempfindlichkeit mit der Zugfestigkeit ist der erschwerte Eigenspannungsabbau im höherfesten Werkstoff. Die Abminderung von ME gegenüber M kann tendenziell aus der ungleichförmigen Eigenspannungsverteilung über den Querschnitt erklärt werden. Die besonders starke Abminderung für den hochfesten Stahl gilt dennoch als ungeklärt. Die vorstehende Gleichung (3.87) für den Eigenspannungseinfluß stellt sich im Haigh-Diagramm über den Eigenspannungen rE als schräg verlaufende (Neigung tan b E ˆ ME ), von der Wechselfestigkeit rW ausgehende Gerade für die Schwingfestigkeit rA über der Eigenspannung rE dar, Abb. 3.36. Sobald die Oberspannung rO ˆ rA ‡ rE die zyklische Fließgrenze r0F überschreitet, werden die Eigenspannungen teilweise abgebaut, wodurch rA von der Geraden nach (3.87) nach oben abweicht, um nach Erreichen der statischen Fließgrenze rF horizontal auszulaufen (duktiler Werkstoff, Verfestigung über rF hinaus vernachlässigt). Ein analoges Verhalten gilt bei Druckeigenspannungen hinsichtlich Unterspannung und Druckfließgrenze. Das Zusammenwirken von Lastmittelspannung rm und Eigenspannung rE hinsichtlich der Schwingfestigkeit rA läßt sich in Erweiterung von (3.87) darstellen:

Abb. 3.35: Eigenspannungsempfindlichkeit ME und Mittelspannungsempfindlichkeit M für Stähle als Funktion der Zugfestigkeit, Mittelwerte von Streubändern; nach Macherauch u. Wohlfahrt [486, 490]

3.7 Einfluß der Eigenspannungen

rA ˆ rW

Mrm

ME r E

119

…3:88†

Im Haigh-Diagramm über den Eigenspannungen rE bei vorgegebener Mittelspannung rm wird zunächst, ausgehend von der Wechselfestigkeit rW bei der Mittelspannung rm ˆ 0, die Schwingfestigkeit rAm bei der Mittelspannung rm gewonnen (Neigung tan b ˆ M), Abb. 3.37. Durch den Wert rAm wird die weiter oben erläuterte Gerade gelegt (Neigung tan b E ˆ ME ). Die Eigenspannungen werden bei einer Mittelspannung gleichen Vorzeichens um so stärker abgebaut, je größer die Mittelspannung ist. Demnach sind sie in geringerem Maße schwingfestigkeitswirksam.

Abb. 3.36: Dauerfestigkeitsschaubild nach Haigh mit dem Einfluß der Eigenspannung rE auf die Schwingfestigkeit rA von ungekerbten Proben bei der Mittelspannung rm ˆ 0; nach Macherauch u. Wohlfahrt [486, 490]

Abb. 3.37: Dauerfestigkeitsschaubild nach Haigh mit dem Einfluß der Eigenspannung rE auf die Schwingfestigkeit rA von ungekerbten Proben bei vorgegebener Mittelspannung rm ; nach Macherauch u. Wohlfahrt [486, 490]

120

3 Einflüsse auf die Schwingfestigkeit

Diese mehr abschätzenden als quantitativ genauen Betrachtungen wurden von Haibach [35] im Hinblick auf die zugehörigen Wöhler-Linien weiter ausgebaut, allerdings mit der Vereinfachung einer einzigen Fließgrenze rF im Dauerfestigkeitsschaubild (elastisch-idealplastischer Werkstoff), Abb. 3.38. Aus vorstehendem Haigh-Diagramm lassen sich die Wöhler-Linien bei unterschiedlichen Eigenspannungszuständen gewinnen, Abb. 3.39. Im Wöhler-Diagramm für rm ˆ 0 bzw. R ˆ 1 werden zunächst die Dauerfestigkeiten für rE ˆ rF , rE ˆ 0 und rE ˆ rF eingetragen (Punkte A, B, C im Haigh-Diagramm). Die Zeitfestigkeitslinie für rE ˆ 0 wird mit der Neigungskennzahl k ˆ 5 der normierten Wöhler-Linie gezeichnet und ergibt den Schnittpunkt D mit der Fließgrenze (Beginn der Kurzzeitfestigkeit, identisch mit Punkt D im Haigh-Diagramm). Aus der Schar der Linien mit konstantem N oberhalb der

Abb. 3.38: Schwingfestigkeit rA ungekerbter Proben bei unterschiedlicher Eigenspannung rE und gleichbleibender Mittelspannung rm ˆ 0 (also Wechselfestigkeit); nach Haibach [35]

Abb. 3.39: Wöhler-Linien ungekerbter Proben ohne und mit Eigenspannungen, abgeleitet aus dem Haigh-Diagramm in Abb. 3.38; Bereich möglicher Lagen in grau; nach Haibach [35]

3.8 Einfluß der Oberflächenrauhigkeit

121

Linie N ˆ 1 im Haigh-Diagramm lassen sich schließlich die Zeitfestigkeitswerte für die Wöhler-Linien mit Extremwerten der Eigenspannungen gewinnen. Die Wöhler-Linien für rE 6ˆ 0 und rm 6ˆ 0 liegen zwischen den Linien für rE ˆ rF . Sie haben im Zeitfestigkeitsbereich bei konstantem R die gleiche Neigung wie die Linie für rE ˆ 0. Ihre genaue Lage läßt sich, wie Haibach [35] gezeigt hat, ebenfalls aus dem Haigh-Diagramm ableiten. Bei gekerbten Proben sind die Zusammenhänge komplexer (s. Kap. 4.11 u. 4.13). Die vorstehenden Ableitungen auf Basis des Haigh-Diagramms sind auf einachsige Beanspruchungen beschränkt. Sie lassen sich nicht ohne weiteres auf mehrachsige Gegebenheiten übertragen. Mehrachsigkeit ist jedoch ein Merkmal der meisten Eigenspannungssysteme. Beispielsweise sind die in der Oberfläche etwa durch Bearbeitungs- oder Wärmebehandlungsvorgänge erzeugten Eigenspannungen notwendigerweise immer zweiachsig. Derartige Fälle sind nur unter Hinzunahme einer geeigneten Mehrachsigkeitshypothese behandelbar (Kleemann u. Zenner [497]).

3.8

Einfluß der Oberflächenrauhigkeit

Oberflächenrauhigkeit und Mikrostruktur Der Einfluß der Rauhigkeit technischer Oberflächen auf die Dauerfestigkeit [491–505] ist überwiegend ein Einfluß der durch das mikrogeometrische Oberflächenprofil verursachten Spannungserhöhung verglichen mit der weitgehend mikrokerbfreien polierten Probe. Würde sich demnach der Werkstoff auch im Mikrobereich elastisch, homogen und isotrop verhalten, müßte die Dauerfestigkeitsminderung allein vom Rauhigkeitsprofil abhängen. Dies ist aber nicht der Fall. Die realen technischen Werkstoffe weisen bereits in der polierten Oberfläche eine durch Mikrostruktur (Körnung, Mikroeinschlüsse, Mikroporen) bedingte „innere Kerbwirkung“ auf (s. Kap. 4.5), der sich die Kerbwirkung des Rauhigkeitsprofils überlagert. Das Ausmaß der Dauerfestigkeitsminderung bei vorgegebener Rauhigkeit hängt daher von der mikrostrukturellen Homogenität der Werkstoffoberfläche ab. Eine starke Minderung tritt bei den relativ homogenen feinkörnigen Werkstoffen auf, während die Minderung bei den relativ inhomogenen grobkörnigen Werkstoffen gering ist. Die Rauhigkeit selbst kann sich infolge der Schwingbeanspruchung ändern. So ist die Gleitlinienbildung auf polierter Oberfläche mit einer Rauhigkeitszunahme verbunden, die interferenzoptisch nachweisbar ist [494]. Die Rauhigkeitszunahme korreliert mit der plastischen Dehnungsamplitude. Der Einfluß der Oberflächenrauhigkeit ist in der Praxis vom Einfluß der Eigenspannungen und der Ver- oder Entfestigung in einer dünnen Oberflächenschicht nicht zu trennen. Bei gleichem Oberflächenprofil und Werkstoff sind demnach unterschiedliche Schwingfestigkeitswerte möglich. Die nachfolgenden

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3 Einflüsse auf die Schwingfestigkeit

quantitativen Angaben sind daher nur grob näherungsweise auf die konkreten Praxisfälle übertragbar, zumal die zugrunde liegenden Versuchsergebnisse im Kernbestand relativ alt sind. In den nachfolgenden Diagrammen wird die Rauhtiefe mit bestimmten spanabhebenden Bearbeitungsverfahren in Verbindung gebracht. Das Zerspanen beruht auf Werkstofftrennung und Werkstoffquetschung. Im Gefolge von Quetschungen treten meist Druckeigenspannungen in der Oberfläche auf, im Gefolge von Trennungen dagegen Zugeigenspannungen. Die beiden Vorgänge werden von der Wärmewirkung des Zerspanens überlagert, die insgesamt Zugeigenspannungen begünstigt. Die durch Zerspanen hervorgerufenen Eigenspannungen (es werden sowohl Zug- als auch Druckeigenspannungen beobachtet) erfassen eine Oberflächenschicht von etwa 15 lm Dicke. Sie können durch zyklische Beanspruchung verringert werden. Abminderungsfaktor bei Stählen Der Einfluß der Oberflächenrauhigkeit und der mit ihr untrennbar verbundenen weiteren Oberflächeneinflüsse auf die Dauerfestigkeit wird als Abminderungsfaktor dargestellt. Der Abminderungsfaktor cr ist das Verhältnis der Dauerfestigkeit rDr des Werkstoffs mit vorgegebener Oberflächenrauhigkeit (bzw. vorgegebenem Fertigungszustand der Oberfläche) zur Dauerfestigkeit rD des Werkstoffs mit polierter Oberfläche (zunächst werden nur ungekerbte Proben betrachtet): cr ˆ

rDr rD

…3:89†

Der Abminderungsfaktor hängt nach älteren Untersuchungen von der maximalen oder gemittelten Rauhtiefe, Rt oder Rm (Maßzahlen nach DIN 4768 [491]), vom Werkstoff und von der Zugfestigkeit bzw. Härte des Werkstoffs in der Oberflächenschicht ab. Dies wird durch ältere Versuchsergebnisse für Stähle und Aluminiumlegierungen belegt [493, 499], von denen das Diagramm nach Abb. 3.40 abgeleitet ist. Die überholte VDI-Richtlinie [1760] empfiehlt auf Basis dieser und weiterer Versuche das Diagramm nach Abb. 3.41 (s. a. Hertel [38]). Für die heutige Berechnungspraxis ist das entsprechende Diagramm der FKM-Richtlinie [1746] nach Abb. 3.42 maßgebend, in dem auch die Eisengußwerkstoffe erfaßt sind. Offensichtlich sind die Abminderungsfaktoren für Stähle in Abb. 3.40 gegenüber den Angaben in Abb. 3.41 und 3.42 zum Teil weit auf der sicheren Seite. Nach Meinung der Bearbeiter der FKM-Richtlinie liegen den Versuchen von Siebel u. Gaier [493, 499] (Abb. 3.40) extreme Fertigungsbedingungen zugrunde, so daß die Versuchsergebnisse nicht verallgemeinerbar sind [1749]. Näherungsgleichungen für den Rauhigkeitseinfluß auf die Dauerfestigkeit sind gelegentlich anzutreffen [32]. Die Abminderung ist für hochfeste Stähle bei größerer Rauhtiefe besonders ausgeprägt. Sie läßt sich nur teilweise aus der Kerbwirkung des Rauhigkeitsprofils erklären. Das Ergebnis einer zusammenfassenden Auswertung für Stähle auf Basis amerikanischer

3.8 Einfluß der Oberflächenrauhigkeit

123

Abb. 3.40: Abminderungsfaktor der Dauerfestigkeit von Stählen als Funktion der Zugfestigkeit für unterschiedliche Rauhtiefe; auf Basis von Siebel u. Gaier [493, 499] in Gudehus u. Zenner [32] (2. Aufl.)

Abb. 3.41: Abminderungsfaktor der Dauerfestigkeit von Stählen und Aluminiumlegierungen als Funktion der Rauhtiefe bzw. des Bearbeitungsgrades; auf Basis von Siebel u. Gaier [493, 499] in der VDI-Richtlinie 2226 [1760]

124

3 Einflüsse auf die Schwingfestigkeit

Abb. 3.42: Abminderungsfaktor der Dauerfestigkeit von Stählen als Funktion der Zugfestigkeit für unterschiedliche Rauhtiefe (a) und von Eisengußwerkstoffen (GG: Gußeisen mit Lamellengraphit, GGG: Gußeisen mit Kugelgraphit, GT: Temperguß, GS: Stahlguß) als Funktion der Zugfestigkeit (b); nach FKM-Richtlinie [1746] (umgezeichnet)

Quellen ist in Abb. 3.43 dargestellt, wobei der Korrosionseinfluß von Leitungsund Salzwasser mit erfaßt ist. Die gezeigten Diagramme erlauben lediglich eine grobe Abschätzung der zu erwartenden Abminderung. Bei der gewalzten und geschmiedeten Oberfläche ist dem Rauhigkeitseinfluß (Rauhigkeit einschließlich Riefen, Narben, Poren) ein Einfluß der Entkohlung bzw. Oxidation überlagert. Sofern die Riefen der Oberflächenrauhigkeit in Richtung der Beanspruchung liegen, ist der Abminderungsfaktor gegenüber den angegebenen Linien erhöht. Der Einfluß der Oberflächenrauhigkeit verschwindet im Kurzzeitfestigkeitsbereich …N  103 †. Die Zeitfestigkeit kann durch eine Gerade zwischen jeweiliger Dauerfestigkeit und einheitlicher Kurzzeitfestigkeit im doppeltlogarithmischen Wöhler-Diagramm angenähert werden, sofern nicht die normierte Darstellung mit einheitlicher Steigung der Wöhler-Linie bevorzugt wird. Demnach ist die Abminderung der Schwingfestigkeit infolge der Oberflächenrauhigkeit im Bereich der Zeit- und Kurzzeitfestigkeit weitaus geringer als im Bereich der Dauerfestigkeit. Der Einfluß der Oberflächenrauhigkeit bei unterschiedlicher Mittelspannung ist aus dem Haigh-Diagramm nach Abb. 3.44 ersichtlich. Der Abminderungsfaktor ist demnach, wie aus der relativen Kurvenlage ableitbar, von der Mittelspannung weitgehend unabhängig.

3.8 Einfluß der Oberflächenrauhigkeit

125

Abb. 3.43: Abminderungsfaktor der Dauerfestigkeit von Stählen als Funktion der Zugfestigkeit für unterschiedliche Oberflächenzustände; nach Juvinall [82]

Abb. 3.44: Dauerfestigkeit als Funktion der Mittelspannung (Haigh-Diagramm) für Proben mit unterschiedlicher Oberflächenrauhigkeit nach spanabhebender Bearbeitung und darauffolgendem Warmentspannen; vergleichsweise Proben mit V-Spitzkerbe (Kerbetiefe a); nach Suhr [502]

In einer Untersuchung von Gaier [493] wird nachgewiesen, daß der Schwingfestigkeitsabfall durch Oberflächenrauhigkeit erst ab einem Schwellenwert der Rauhtiefe, R0 ˆ 1–6 lm, eintritt (der niedrigere Wert gültig für feinkörnigen Stahl, der höhere für grobkörnigen Stahl). Dieses Verhalten wird durch neuere Untersuchungen nach der Kurzrißbruchmechanik bestätigt (s. Kap. 7.2).

126

3 Einflüsse auf die Schwingfestigkeit

Abminderungsfaktor bei Aluminiumlegierungen Der Abminderungsfaktor bei Aluminiumlegierungen unterscheidet sich nur unwesentlich von dem für Stähle, soweit der Einfluß der spanabhebenden Bearbeitung betrachtet wird [38] (entgegen den Angaben in Abb. 3.41). Andererseits ist der abmindernde Einfluß einer Walzhaut oder Oxidhaut wesentlich schwächer als bei Stahl. Chemisches Abtragen von Werkstoff (Tiefätzen) anstelle der mechanischen Bearbeitung verursacht einen zusätzlichen Schwingfestigkeitsabfall, der auf das Fehlen günstiger Eigenspannungen in der Oberflächenschicht und auf die Aufrauhung der Oberfläche durch das Ätzen zurückgeführt wird [37]. Kerbmechanische Betrachtung Eine kerbmechanische Betrachtung zum Einfluß der Oberflächenrauhigkeit auf die Dauerfestigkeit wurde von Liu [44] vorgelegt. Dieser Ansatz umfaßt folgende Modelle, deren Aussagekraft kritisch bewertet wird. Die die Oberflächenrauhigkeit ausmachenden Oberflächenriefen der spanenden Bearbeitung werden als Oberflächenmehrfachkerbe nach Abb. 3.45 (a) elastizitätstheoretisch analysiert (Boundary-Elemente-Methode). Die Oberflächenkerbformzahl ko ergibt sich abhängig vom Kerbtiefe-Kerbradius-Verhältnis Rt/q sowie vom Kerbbreite-Kerbabstand-Verhältnis b/B (Entlastungseffekt der Mehrfachanordnung). Die Kerbformzahlen liegen bei realistischer Wahl der genannten Abmessungsverhältnisse zwischen 1,2 und 2,4 bei Zugbeanspruchung quer zu den Riefen bzw. zwischen 1,1 und 1,7 bei Schubbeanspruchung in Richtung der Riefen. Somit wird die Oberflächenkerbformzahl nicht allein von der Kerbbzw. Rauhtiefe bestimmt, sondern bei vorgegebener Rauhtiefe auch von der Kerbschärfe der Oberflächentopografie, was durch Versuchsergebnisse bestätigt wird [500, 503]. Die Dauerfestigkeit der polierten Proben läßt sich rißbruchmechanisch so interpretieren, daß kurze Oberflächenrisse nach Abb. 3.45 (b) sich nicht vergrößern, sofern der werkstoffspezifische Schwellenwert DK0 des zyklischen Spannungsintensitätsfaktors nicht überschritten wird. Dabei wird die dauerfest

Abb. 3.45: Halbelliptische Oberflächenmehrfachkerbe (a), Riß senkrecht zur Oberfläche (b) und halbelliptische Oberflächenkerbe mit Riß im Kerbgrund (c); nach Neuber [587]

3.8 Einfluß der Oberflächenrauhigkeit

127

ertragbare fiktive Eigenrißlänge a nach El Haddad et al. [1412], Gleichung (7.17), als Mikrostrukturlänge eingeführt. Der Spannungsintensitätsfaktor eines Anrisses der (fiktiven) Länge a am Grund der halbelliptischen Oberflächenmehrfachkerbe mit Kerb- bzw. Rauhtiefe Rt nach Abb. 3.45 (c) ergibt sich nach Neuber [587] als Funktion der Oberflächenkerbformzahl ko und des Verhältnisses Rt /a. Die (theoretische) Dauerfestigkeit der Probe mit Oberflächenrauhigkeit bzw. der Abminderungsfaktor cr gegenüber der polierten Probe nach vorstehendem Ansatz ist in Abb. 3.46 aufgetragen. Dabei ist die Rauhtiefe Rt durch die effektive Rauhtiefe Reff ersetzt, wodurch Streueinflüsse berücksichtigt werden. Bei begründeter Wahl der Parameter Reff , a und ko werden die Versuchsergebnisse von Gaier [493] und Syren [503] mit hinreichender Genauigkeit wiedergegeben. Es ist jedoch anzumerken, daß der Anpassungsspielraum für die genannten Parameter groß und die physikalische Interpretation von a mangelhaft ist. Die Anwendbarkeit des Konzeptes von Liu wurde in einer neueren Untersuchung von Kleemann u. Zenner [497] überprüft (Rundstabproben unter Umlaufbiegebelastung, zwei Stähle und drei Sphärogußlegierungen, Rauhtiefe

Abb. 3.46: Theoretischer Abminderungsfaktor der Dauerfestigkeit als Funktion der effektiven Rauhtiefe für unterschiedliche Oberflächenkerbformzahlen ko bei vorgegebener Mikrostrukturlänge a (oben) und für unterschiedliche Mikrostrukturlängen a bei vorgegebener Oberflächenkerbformzahl ko (unten); nach Liu [44]

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3 Einflüsse auf die Schwingfestigkeit

5–80 lm sowie poliert, teilweise auch spannungsarm geglüht). Vergleichsweise wurden die Mehrachsigkeitshypothesen von Sines [360, 361], Mertens [345] und Liu [44] eingeführt, um die Wirkung der röntgenographisch gemessenen Eigenspannungen darzustellen. Nur die Schubspannungsintensitätshypothese von Liu, die den Einfluß der Eigenspannungen relativ schwach bewertet, ergab zutreffende Aussagen.

3.9

Einfluß der Korrosion

Aspekte der Darstellung Der schädigende Einfluß der Korrosion auf die Ermüdungsfestigkeit von Proben und Bauteilen ist überaus bedeutsam. Mit Schwingrißkorrosion ist die gleichzeitige Wirkung von Schwing- und Korrosionsbeanspruchung gemeint, während die Ermüdungsfestigkeit korrodierter Oberflächen ausgehend von deren geometrischer Veränderung abgeschätzt werden kann. Nur im Versuch läßt sich Korrosion (realitätsfern) ganz ausschalten, etwa bei der Schwingfestigkeitsprüfung in Vakuum, Inertgas oder säurefreiem Öl. Korrosion und Korrosionsschutz von metallischen Werkstoffen ist daher ein eigenständiges Wissensgebiet, in dem überlagerte Schwingbeanspruchung nur eine Untergruppe bildet. Die zusammenfassende Darstellung von Speckhardt u. Gugau [542] wird zur Einführung in das Gesamtgebiet besonders empfohlen, neben den Übersichten [509, 528, 531, 532, 543–545]. Auch die nachfolgenden Ausführungen kommen nicht umhin, den Gesamtbereich der Korrosion zu umreißen, von dem aus die zusätzliche Schwingbeanspruchung zu betrachten ist. Auf den rißbruchmechanischen Ansatz zur Beschreibung der Schwingrißkorrosion sei ergänzend hingewiesen (s. Kap. 6.11). Der mechanische Vorgang der Ermüdung im Bereich der Mikrostruktur des Werkstoffs wird durch überlagerte korrosive Vorgänge vorbereitet, eingeleitet und kontinuierlich unterstützt (Gugau et al. [518] sowie Ellermeier et al. [515]). Durch die mechanisch-(elektro-)chemische „Komplexbeanspruchung“ kann die Ermüdungsfestigkeit bzw. Lebensdauer erheblich herabgesetzt werden. Es sind dann Maßnahmen der Korrosionsminderung einerseits sowie der Verbesserung des Korrosionsschutzes andererseits erforderlich. Sowohl die unterschiedlichen Korrosionsvorgänge als auch die Korrosionsschutzmaßnahmen sind daher zu beschreiben. Während die mechanische Schwingbeanspruchung in ihrer Auswirkung auf die Ermüdungsfestigkeit von Bauteilen im Verbund von Rechnung und Experiment (in erster Näherung auch rein rechnerisch) bestimmt werden kann, ist das hinsichtlich der (elektro-)chemischen Korrosionsbeanspruchung nicht möglich. Die Vielfalt der Einflußgrößen bei Korrosionsbeanspruchung und ihr weitgehend ungeklärtes Zusammenwirken mit den Einflußgrößen der Schwingbeanspruchung haben bisher eine theoretische Erfassung verhindert. Auch eine additive Überlagerung von getrennt ermittelten Schädigungsvorgängen ist von vorn

3.9 Einfluß der Korrosion

129

herein ausgeschlossen. In der Praxis muß die jeweils interessierende Kombination von Werkstoff, Medium und Beanspruchung experimentell untersucht werden. Die Ergebnisse sind mangels theoretischer Basis auf abweichende Verhältnisse nicht übertragbar. Dennoch werden in der FKM-Richtlinie [1746] bei entsprechend großen Sicherheitsabständen Richtwerte der Schwingfestigkeit unter Korrosion im Langzeitfestigkeitsbereich angegeben. Vorgänge bei Korrosion Korrosion ist die unerwünschte chemische oder elektrochemische Reaktion der Werkstoffoberfläche mit dem umgebenden Medium (unter Wasserstoffentwicklung oder Sauerstoffverbrauch), die zur Abtragung, Grübchen- oder Rißbildung führt (s. a. Begriffsdefinition nach DIN EN ISO 8044 [513]). Sie tritt bevorzugt an Metallen auf, weil nur hier die hohe elektrische Leitfähigkeit eine ausreichende Reaktionsgeschwindigkeit der elektrochemischen Vorgänge ermöglicht. Der Oberflächenzustand hat ausschlaggebende Bedeutung. Das umgebende Medium kann gasförmig (z. B. schwefelsaure Luft), flüssig (z. B. Salzwasser) oder fest (z. B. Ruß) sein. Metallkorrosion wird durch galvanische Elementbildung wesentlich beschleunigt, die immer dann auftritt, wenn unterschiedliche elektronenleitend verbundene Metalle einem gemeinsamen Elektrolyten ausgesetzt sind. Im Metall fließt ein Elektronenstrom, im Elektrolyten ein entgegengerichteter Ionenstrom. Das als Anode wirkende weniger edle Metall korrodiert. Die Stärke des elektrolytischen Angriffs auf die jeweilige Werkstoffpaarung hängt von der (elektrochemischen) Potentialdifferenz der beteiligten Metalle oder Metallegierungen im jeweiligen Elektrolyten bei der betreffenden Temperatur ab. Demzufolge lassen sich die Metalle und Metallegierungen in eine Reihenfolge zwischen edelstem Werkstoff (Gold, Platin) und unedelstem Werkstoff (Magnesium) bringen, wobei die Legierungszusammensetzung eine Rolle spielt. Daraus folgt wiederum die Kompatibilität (hinsichtlich Korrosion) unterschiedlicher Metallpaarungen (für Luftund Raumfahrtwerkstoffe in feuchter Luft bei Juvinall [82] dargestellt). Der beschriebene Korrosionsvorgang kann auch zwischen unterschiedlichen Oberflächenbereichen oder Gefügebestandteilen in Gegenwart einer Elektrolytlösung auftreten. Nach Merkmalen der elektrochemischen Umsetzung wird zwischen Wasserstoffkorrosionstyp und Sauerstoffkorrosionstyp unterschieden (Berger [510]). In beiden Fällen geht der anodische Metallbereich in Lösung. Die elektrochemische Reaktion der Korrosion in wäßriger Lösung ist nach Speckhardt u. Gugau [542] dadurch gekennzeichnet, daß positiv geladene Metallionen anodisch in Lösung gehen („Oxidation“), dabei negativ geladene Elektronen im Metall freigesetzt werden, wodurch wiederum Metallionen aus dem Elektrolyten kathodisch entladen werden („Reduktion“). In sauren Medien, in denen Wasserstoffionen überwiegen, werden diese aus der Lösung entladen (Wasserstoffkorrosionstyp). In neutralen sauerstoffhaltigen Medien werden die Elektronen von dem in der Lösung vorhandenen Sauerstoff aufgenommen, was zu Folgereaktionen führt (Sauerstoffkorrosionstyp).

130

3 Einflüsse auf die Schwingfestigkeit

Korrosion wird vielfach selbsttätig durch die Bildung schützender Oberflächenfilme aus Korrosionsprodukten begrenzt (Passivierung durch Oxid- oder Hydroxidfilme). Zu den passivierbaren Werkstoffen gehören Nickellegierungen, austenitische CrNi-Stähle und ferritische Cr-Stähle. Gelegentlich werden künstliche Schutzschichten durch chemische Zusätze im elektrolytisch wirksamen Medium gebildet (Korrosionsschutzmittel, Inhibitoren). Allgemein fördert plastische Formänderung den korrosiven Angriff durch das mit ihr verbundene Aufreißen der Passivschicht. Die Korrosionsprodukte wiederum erzeugen Zugspannungen in angrenzenden Gefügebereichen. Erscheinungsformen der Korrosion Die Erscheinungsformen elektrochemischer Korrosion sind in Abb. 3.47 zusammengefaßt. Eine detaillierte Zusammenstellung der Korrosionsarten und der Merkmale der Korrosionserscheinungsformen findet sich in der VDI-Richtlinie 3822 [544]. Es wird zwischen gleichmäßigem und ungleichmäßigem Korrosionsangriff unterschieden. Der ungleichmäßige Angriff kann unabhängig oder abhängig von mechanischer Beanspruchung auftreten. Spaltkorrosion ist durch Sauerstoffverarmung bei Anreicherung mit Korrosionsprodukten in Spalten oder Schlitzen und die dort zurückgehaltene Feuchtigkeit bedingt. Kontaktkorrosion bezeichnet die Abtragung des unedleren von zwei sich berührenden Metallen. Selektive Korrosion betrifft nur die Kristallite einer Werkstoffphase. Grübchenkorrosion geht von Kristallitbaufehlern in der Metalloberfläche aus. Interkristalline Korrosion erfaßt nur die Korngrenzen. Spannungsrißkorrosion ist die durch hohe Zugspannungen in der Oberfläche (meist Eigenspannungen) geförderte Korrosion [540]. Schwingrißkorrosion (oder Korrosionsermüdung) bezeichnet die Ermüdungsrißbildung unter Mitwirkung von Korrosion [534–539, 525]. Eine Reihe weiterer ähnlicher Vorgänge werden ebenfalls der Korrosion zugeordnet, jedoch fehlt bei ihnen das Merkmal der Elektrolytbildung: – Erosionskorrosion: abrasive mechanische Oberflächenbeanspruchung durch mehrphasige Flüssigkeitsströmung. – Kavitationskorrosion: Dampfblasenbildung im Unterdruckbereich einer strömenden oder schwingenden Flüssigkeit mit anschließender Implosion im Überdruckbereich zerschlägt die Passivschicht und schädigt den Werkstoff. – Wasserstoffrissigkeit: Rißbildung im Zusammenwirken von diffusiblem Wasserstoff, wasserstoffempfindlichem Gefüge und Zugeigenspannungen besonders bei Schweißverbindungen (Wärmeflußzone), aber auch allgemeiner infolge von eindiffundierendem Korrosionswasserstoff. – Verzundern bzw. Anlaufen von Stahl: Oxidbildung mit Luftsauerstoff bei erhöhter Temperatur. – Reibkorrosion: Schwingverschleiß in Passungsflächen. Einige der in Abb. 3.47 aufgeführten Erscheinungsformen der elektrochemischen Korrosion sowie die Reibkorrosion werden im Anschluß an die nachfolgenden Abschnitte über den Korrosionsschutz eingehender beschrieben.

3.9 Einfluß der Korrosion

131

Abb. 3.47: Erscheinungsformen der elektrochemischen Korrosion; nach Kloos et al. in Dubbel, 15. Aufl., 1983

Korrosionsschutzmaßnahmen (Übersicht) Zur Herabsetzung bzw. Vermeidung von elektrochemischer Korrosion bei Herstellung, Transport und Betrieb von Bauteilen wird aktiver und passiver Korrosionsschutz betrieben [508, 512, 529, 537]. Aktiver Korrosionsschutz umfaßt Maßnahmen, die die Korrosivität des angreifenden Mediums mildern (Inhibitoren) oder sein örtliches Festsetzen konstruktiv verhindern. Passiver Korrosionsschutz beinhaltet den Schutz des angegriffenen Werkstoffs. Die folgenden passiv vor Korrosion schützenden Maßnahmen sind zu empfehlen [508, 512]: – Verwendung von Metallen und Metallegierungen mit geringer Korrosionsneigung (z. B. wetterfeste kupferlegierte Baustähle oder nichtrostende Cr- oder

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3 Einflüsse auf die Schwingfestigkeit

CrNi-legierte Stähle, austenitisches oder martensitisches Gefüge). Hohe Werkstoffreinheit ist Voraussetzung für eine zuverlässige Passivschicht. Abdecken gegenüber dem korrodierenden Medium: Ölfilm, Farbanstrich oder Kunststoffschicht, Walz- oder Sprengplattieren, Auftragschweißen oder Metallspritzen, anodisches Oxidieren (Eloxieren), elektrolytisches Plattieren (Galvanisieren: Verchromen, Vernickeln, Verzinken) oder Tauchplattieren (z. B. Feuerverzinken). Der Untergrund der Abdeckung muß frei von Zunder, Rost und anderen Verunreinigungen sein, was durch Sandstrahlen oder Beizen erreicht werden kann. Bildung von Passivschichten, die dem Metallionenübergang entgegenstehen (durch Legieren mit Cr, Mo, Ni): Oberflächenbehandlung mit Strahlbearbeitungsverfahren, insbesondere das Strahlschmelzlegieren oder die Plasmadiffusion (s. Kap. 3.6). Mechanische Oberflächenverfestigung, meist durch Kugelstrahlen oder Festwalzen [520–523]. Kathodischer Korrosionsschutz [506, 519]: Das als Opferelektrode angeschlossene unedlere Metall löst sich anstelle des zu schützenden Bauteils auf (z. B. Zink oder Magnesium an Stahl). Alternativ kann Außenstrom als Schutz geschaltet werden. Vermeiden von einseitig offenen Schlitzen oder Spalten durch konstruktive Maßnahmen oder Auffüllen derselben mit Kunststoff. Herabsetzen hoher Zugeigenspannungen bzw. Erzeugen von Druckeigenspannungen in der Oberfläche (z. B. durch Randschichtverfestigung).

Korrosionsschutz durch Elektroplattieren Metallische Bauteile werden aus verschiedenen Gründen beschichtet, vielfach durch elektrolytische Verfahren (Elektroplattieren, Galvanisieren): als Korrosionsschutz, zur Verbesserung des Aussehens, zum Aufbau abgetragener oder unterdimensionierter Oberflächen, zur Reduzierung von Reibung oder zur Schaffung einer verschleißfesten Oberfläche. Das Elektroplattieren von Stahl mit duktilen Metallen wie Kupfer, Kadmium, Zink, Blei oder Zinn verursacht keine Minderung der ohne Korrosion hohen Dauerfestigkeit, steigert also die mit Korrosion niedrige Dauerfestigkeit erheblich. Andererseits verursacht das Elektroplattieren von Stahl mit harten Metallen wie Chrom oder Nickel eine Minderung der Dauerfestigkeit an Luft auf weniger als die Hälfte [82, 507, 524, 527, 546]. Neben der Duktilität bzw. Härte der Deckschicht spielt das Verhältnis der Elastizitätsmodule von Deckschicht und Grundwerkstoff sowie die Dicke der Deckschicht eine Rolle. In Korrosionselektrolyten wird ein weiterer stetiger Abfall der Zeitfestigkeit anstelle der Dauerfestigkeit beobachtet. Als Ursache der starken Dauerfestigkeitsminderung gelten primär Eigenspannungen und sekundär freier Wasserstoff [82, 527]. In der harten Chrom- oder Nickelschicht können sich hohe Zugeigenspannungen aufbauen, die eine entsprechend niedrige Schwingfestigkeit zur Folge haben. Die Deckschicht reißt auf, der dadurch freiliegende Grundwerkstoff kann sich anodisch auflösen. Die

3.9 Einfluß der Korrosion

133

Abb. 3.48: Abminderung der Dauerfestigkeit (an Luft) von Stählen durch Chrom- oder Nickelplattierung, Streuband der Versuchsergebnisse; nach Juvinall [82]

Zugeigenspannungen werden durch niedrige Stromstärke beim Elektroplattieren, durch vorausgehendes oder nachfolgendes Kugelstrahlen oder durch Nachwärmen (begrenzt auf etwa 400  C) vermindert. Niedrige Stromstärke und Nachwärmen reduzieren auch den freien Wasserstoff. Die publizierten Versuchsergebnisse zu Chrom- und Nickelplattierungen sind in Abb. 3.48 als Streubänder zusammengefaßt. Die Abminderung der Dauerfestigkeit nimmt mit der Schichtdicke zu. Bei Chrom- oder Nickelplattierung auf Aluminiumlegierungen werden teils positive, teils negative Wirkungen auf die Schwingfestigkeit festgestellt. Reinaluminiumplattierungen auf Aluminiumlegierungen („Alclad“) vermindern die Schwingfestigkeit, während die Korrosionsfestigkeit erhöht wird. Die als Korrosionsschutz bei Aluminiumlegierungen eingesetzte anodische Oxidation der Oberfläche kann die Dauerfestigkeit bis auf den Faktor 0,5 vermindern. Die Abminderung nimmt mit der Schichtdicke zu. Atmosphärische Korrosion Die Umgebungsluft ist der häufigste Korrosionselektrolyt. Elektrochemische Korrosion in Gegenwart von Sauerstoff wird nicht nur bei Befeuchtung durch Regen- oder Spritzwasser ermöglicht, sondern auch durch Adsorption (an „trokkenen“ Metallflächen) oder Kondensation (an kälteren Metallflächen oder festen Partikeln) dünner Wasserfilme an metallischen Oberflächen [510]. Die Korrosionsintensität hängt vom Feuchte- und Verunreinigungsgrad der Luft ab. Der kritische relative Feuchtegrad, ab dem an unlegierten und niedriglegierten Stählen in reiner Luft Rost auftritt, liegt bei 60 % und kann bei Verunreinigung durch Schwefel- und Chlorverbindungen sowie durch Staubpartikel auf unter 20 % sinken. Die entstehende Rostschicht verringert die weitere Korrosionsgeschwindigkeit, soweit sich nicht lokale Korrosionsmulden mit lokal erhöhter Korrosionsge-

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3 Einflüsse auf die Schwingfestigkeit

schwindigkeit bilden. Der Flächenabtrag durch atmosphärische Korrosion beträgt je nach Aggressivität der vorherrschenden Bewitterungszustände 0,01–0,1 mm pro Jahr. An Seigerungszeilen ist die Korrosion besonders ausgeprägt. Die Ermüdungsfestigkeit korrodierender oder korrodierter Stähle ist herabgesetzt. Meerwasserkorrosion Meerwasser läßt unlegierte und niedriglegierte Stähle, soweit diese ungeschützt sind, korrodieren. In stark bewegtem Oberflächenwasser ist die Korrosionsgeschwindigkeit infolge der stärkeren Sauerstoffzufuhr um den Faktor drei höher als in der Tauchzone und nimmt mit der Tauchtiefe weiter ab (Sauerstoffkorrosionstyp) [542]. Süßwasser ist nur bei längerer Einsatzzeit weniger korrosiv. Die Ermüdungsfestigkeit von Baustählen in künstlichem Meerwasser ist zum Teil stark herabgesetzt (s. Abschnitt „Schwingrißkorrosion“). Grübchenkorrosion Grübchenkorrosion (pitting corrosion) tritt an unlegierten und niedriglegierten Stählen auf, wenn deren Oberfläche nur bereichsweise bedeckt oder verunreinigt ist (z. B. Walzzunder, Farb- oder Ölreste). Die bedeckten Teilflächen wirken infolge von Sauerstoffverarmung als Anode, während sich die besser befeuchtbare Umgebung kathodisch einstellt [542]. Unter der Deckschicht schreitet daher die Korrosion rasch fort. Durch Grübchenkorrosion vorgeschädigte Proben weisen eine starke Verringerung der Zeit- und Dauerfestigkeit auf. Dies wurde von Scheerder [530] am Beispiel einer kerbempfindlichen Aluminiumlegierung nachgewiesen, Abb. 3.49, oder von Zhou u. Turnbull [547] für einen martensitischen Cr-legierten Stahl für Turbinenschaufeln.

Abb. 3.49: Schwingfestigkeit der (kerbempfindlichen) Aluminiumlegierung AA7075-T6 ohne und mit Grübchenkorrosion (mittlere Grübchentiefe tm ˆ 0,33 mm); nach Scheerder [530]

3.9 Einfluß der Korrosion

135

Grübchenkorrosion kann auch an rost- und säurebeständigen Cr- und CrNilegierten Stählen in wäßriger Halogenidlösung auftreten, wenn die Passivschicht durch Kristallitbaufehler (z. B. Mangansulfide) unterbrochen wird und sich an den Unterbrechungen anodische Zentren bilden [542]. Die Grübchenbildung beginnt bei Überschreitung des Grübchenkorrosionspotentials, das von Kenngrößen des Stahls und des Elektrolyten abhängt. Alternativ ist eine kritische Grübchenkorrosionstemperatur angebbar. Spaltkorrosion Die im wesentlichen konstruktiv bedingte Spaltkorrosion (crevice corrosion) ist auf die Behinderung des Austauschs des Elektrolytinhalts (Sauerstoffverarmung, Senkung des pH-Werts, Halogenidanreicherung) in engen Spalten oder Schlitzen zurückzuführen. Der Spaltbereich wirkt dadurch als Anode, der umgebende besser umspülte Bereich als Kathode (Wasserstoffkorrosionstyp) [542]. Bei den austenitischen CrNi-Stählen, deren Neigung zur Spaltkorrosion besonders ausgeprägt ist, ist lokal mit einer Abtraggeschwindigkeit von über 0,5 mm pro Jahr zu rechnen. Spaltkorrosion tritt auch auf, wenn einer der spaltbildenden Werkstoffe nichtmetallisch ist (z. B. bei Dichtungen). Die Ermüdungsfestigkeit wird durch Spaltkorrosion erheblich herabgesetzt. Interkristalline Korrosion Die interkristalline Korrosion ist durch elektrochemischen Stoffumsatz allein an den Korngrenzen gekennzeichnet. Sie tritt bei höherlegierten Stählen auf, die eine Passivschicht bilden. An den Korngrenzen scheiden sich bei erhöhter Temperatur (Glühen) Chromkarbide aus, wodurch die Passivierung lokal aufgehoben wird und das Metall anodisch in Lösung geht [510]. Interkristalline Korrosion tritt besonders an Schweißverbindungen aus rost- und säurebeständigen Stählen im Bereich der Wärmeeinflußzone auf. Austenitische Stähle (geringe Ausscheidungsgeschwindigkeit) sind beim Spannungsarmglühen besonders gefährdet. Bei ferritischen Stählen (hohe Ausscheidungsgeschwindigkeit) ist kurzzeitiges Anlassen vorteilhaft. Die Ermüdungsfestigkeit wird bei interkristalliner Korrosion herabgesetzt. Genauere Untersuchungen sind nicht bekannt. Spannungsrißkorrosion Spannungsrißkorrosion (stress corrosion cracking) tritt transkristallin bei speziellen Kombinationen von metallischem Werkstoff und elektrolytischem Medium auf, sofern hohe Zugspannungen (Last- und/oder Eigenspannungen) in der Oberfläche wirken. Sie ist bei austenitischen CrNi-Stählen in chloridhaltigen Medien häufig anzutreffen. Gleitbänder, die die Passivschicht durchstoßen, bilden eine lokale Anode. Der Korrosionsangriff folgt von hier aus dem Gleitband [510]. Auch bei unlegierten und niedriglegierten Stählen in alkalischen Medien kann Spannungsrißkorrosion auftreten. Die Ermüdungsfestigkeit ist in diesen

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3 Einflüsse auf die Schwingfestigkeit

Fällen entsprechend dem rißartigen Korrosionsschaden vermindert. Zur Überlagerung von Schwingbeanspruchung und Spannungsrißkorrosion existieren eingehende rißbruchmechanische Untersuchungen (s. Kap. 6.11). Schwingrißkorrosion Schwingrißkorrosion (corrosion fatigue) tritt überwiegend transkristallin bei kombinierter schwingender und korrosiver Beanspruchung auf [38, 537, 541]. Die Schwingrißbildung bei korrosionsaktiver Oberfläche geht von den Korrosionsgrübchen bzw. der korrosionsbedingten Rauhigkeit aus (zahlreiche Rißansätze). Bei korrosionspassiver Oberfläche dagegen (Cr- und CrNi-Stähle) werden nur dort vereinzelte Rißausgangszentren gebildet, wo Gleitbänder die Passivschicht durchdringen (extrusions bzw. intrusions). Im letzteren Fall ist der Bruch durch Schwingrißkorrosion vom Schwingbruch ohne Korrosion nicht zu unterscheiden. Die im vorliegenden Fall relativ gut erforschten Schädigungsmechanismen lassen sich vier Gruppen zuteilen [542]. Bereits trockene Umgebungsluft vermindert die Dauerfestigkeit mancher Metalle gegenüber dem Vakuum um nennenswerte Beträge. Der Effekt verstärkt sich, wenn die Luft feucht ist und korrosiv wirkende Verunreinigungen aufweist. Eine weitere Minderung der Dauerfestigkeit tritt auf, wenn die in korrosivem Medium ausgelagerte Probe anschließend in Luft schwinggeprüft wird. Die eigentlichen Korrosionsermüdungsversuche mit starker Schwingfestigkeitsminderung werden in anwendungsnah gewählten Korrosionsmedien, beispielsweise in Salzlösung (künstliches Meerwasser), durchgeführt. Durch das Hinzutreten der Korrosion ist eine ganze Reihe weiterer Einflußgrößen zu beachten, die sich einerseits auf das korrosive Medium beziehen (chemische Zusammensetzung, Bewegungszustand, Temperatur), andererseits auf den Versuchsablauf (Schwingfrequenz, Amplitudenfolge, Haltezeiten). Eine Dauerfestigkeit im eigentlichen Sinn, also das horizontale Auslaufen der Wöhler-Linie, tritt nicht mehr auf. Einen Orientierungswert für die Minderung der Dauerfestigkeit von Baustählen durch Korrosion in Leitungs- und Salzwasser geben die entsprechenden Kurven in Abb. 3.43. Bei überlagerter Korrosion weisen hochfeste Stähle kaum höhere Schwingfestigkeit auf als niedrigfeste Stähle, außer die Legierung ist auf Korrosionsbeständigkeit ausgelegt (Cr- und CrNi-legierte Stähle). Genauere Angaben zu Stählen und anderen Metallegierungen wurden von Juvinall [82] zusammengestellt. Schließlich wird die Langzeit- und Kurzzeitschwingfestigkeit bei überlagerter Korrosion (Schwingrißkorrosion) am Beispiel mehrerer Stähle mit genaueren Versuchsdaten (Wöhler-Linien) belegt. Korrosion bewirkt im Bereich der Langzeitfestigkeit einen weiteren Abfall der Wöhler-Linie, Abb. 3.50. Der Abfall ist um so ausgeprägter, je stärker die Salzlösung bzw. je höher die Chloridkonzentration und je länger die Versuchsdauer bzw. je geringer die Beanspruchungsfrequenz ist. Der ausgeprägte Abfall wurde erstmals 1933 von Gough u. Sopwith [517] für unterschiedliche Stähle und Aluminiumlegierungen dokumen-

3.9 Einfluß der Korrosion

137

tiert. Eine Untersuchung von Duquette u. Uhlig [514] zeigt, daß bei entlüftetem Leitungs- oder Salzwasser der Abfall weitgehend unterdrückt wird, was auf die Wichtigkeit des Sauerstoffangebots für die Korrosion hinweist. Die Verringerung der ertragbaren Dehnungsschwingbreite im Bereich der Kurzzeitfestigkeit zeigt Abb. 3.51. Im linken Diagramm kommt außerdem der Einfluß der Belastungsfrequenz zum Ausdruck (weitere Angaben zum Frequenzeinfluß bei Endo u. Miyao [516]). Der starke Einfluß der Korrosion im Kurzzeitfestigkeitsbereich dürfte aus der niedrigen Schwingfrequenz (mit entsprechend verlängerter Versuchsdauer) zu erklären sein. Die Schwingfestigkeitsminderung durch Salzwasserkorrosion bei Punktschweißverbindungen aus nichtrostendem Stahl wurde von Linder u. Melander [526] experimentell bestimmt.

Abb. 3.50: Langzeitschwingfestigkeit von Stahlguß bei überlagerter Korrosion in Leitungs-, Salz- und Meerwasser (Schwingrißkorrosion); nach Sonsino u. Dietrich [533]

Abb. 3.51: Kurzzeitschwingfestigkeit von Vergütungsstahl und austenitischem Stahl bei überlagerter Korrosion in Salzlösung bei zwei Frequenzen (Schwingrißkorrosion); nach Bernstein u. Loeby [511]

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3 Einflüsse auf die Schwingfestigkeit

Abb. 3.52: Dauerfestigkeitsminderung durch Korrosion bei Walzstahl in feuchter oder wäßriger Umgebung als Funktion der Zugfestigkeit; mit minimaler Zugfestigkeit rZ0 innerhalb der Werkstoffgruppe „Walzstähle“ und Neigungskennzahl k der Wöhler-Linie im Dauerfestigkeitsbereich; formalisierte Festigkeitsberechnung nach FKM-Richtlinie (Kommentar) [1749]

Formalisierte Angaben zur Festigkeitsberechnung bei Schwingrißkorrosion von Stählen und Eisengußwerkstoffen in feuchter bzw. wäßriger Umgebung enthält der Kommentar zur FKM-Richtlinie [1749]. Die Korrosion bewirkt einerseits eine Abnahme der Wechselfestigkeit, die um so stärker ist, je höher die statische Festigkeit des Werkstoffs, Abb. 3.52 (a). Der statisch hochfeste Werkstoff bietet also bei Korrosionsermüdung kaum einen Vorteil. Mit rZ0 wird die minimale Zugfestigkeit innerhalb der Werkstoffgruppe (hier der Walzstähle) bezeichnet. Die Korrosion hat andererseits einen weiteren Abfall der Wöhler-Linie ausgehend von der (technischen) Dauerfestigkeit bei ND ˆ 106 zur Folge, Abb. 3.52 (b). Die Neigungskennzahlen k im Dauerfestigkeitsbereich werden über eine Näherungsformel ermittelt, die auch schon bei trockener Luft eine schwache Neigung anstelle des horizontalen Auslaufs ergibt. Die Neigungskennzahl k ˆ 5,6 im Dauerfestigkeitsbereich für Salzwasser ist mit der gemäß FKM-Richtlinie [1746] vorgesehenen Neigungskennzahl k ˆ 5,0 im Zeitfestigkeitsbereich nahezu identisch. Vereinfachend kann daher die Zeitfestigkeitslinie in den Dauerfestigkeitsbereich hinein verlängert werden. Entsprechende Diagramme lassen sich für Stahlguß (GS), Gußeisen mit Kugelgraphit (GGG), Temperguß (GT) und Gußeisen mit Lamellengraphit (GG) ableiten. Dabei stellt sich heraus, daß die Dauerfestigkeitsminderung durch Korrosion in der vorstehenden Reihenfolge der Werkstoffe abnimmt. Gußeisen mit Lamellengraphit ist relativ korrosionsunempfindlich. Reibkorrosion Reibkorrosion (fretting corrosion) [38, 53, 82, 548–563, 1567] kann auftreten, wenn hochbeanspruchte Preßflächen kleinen wiederholten Relativbewegungen unterworfen werden, wie sie bei schwingender elastischer Beanspruchung sich berührender Teile möglich sind. Derartige Vorgänge werden an Preßfügungen,

3.9 Einfluß der Korrosion

139

an Schraub- und Nietverbindungen, an Einspannbacken, an Blattfedern und an nicht rotierenden Wälzlagern beobachtet. Die der Reibkorrosion zugrunde liegenden Mechanismen sind nur unzureichend geklärt. Offenbar werden auf den Rauhigkeitserhebungen der Oberfläche Oxidfilme wiederholt gebildet und abgerieben. Außerdem werden Metallpartikel nach Mikrorißbildung aus der Oberfläche herausgelöst (Abrieb, Schwingverschleiß) und anschließend oxidiert (brauner Oxidstaub bei Stahl, schwarzer Oxidstaub bei Aluminium und Magnesium). Da die Reaktionsprodukte voluminöser als der Ausgangswerkstoff sind, treten im angrenzenden Metallgefüge Zugeigenspannungen auf. Die durch Reibkorrosion geschädigte Oberfläche und die Zugeigenspannungen begünstigen die anschließende Einleitung und Vergrößerung von Ermüdungsrissen (Reibkorrosionsermüdung). Derartige Risse werden vorzugsweise am Rand der Berührungsfläche eingeleitet, bedingt durch die dortige (Kerb-) Spannungserhöhung. Zur Untersuchung der Reibkorrosionsermüdung kann ein von Fenner u. Field [553] vorgeschlagenes Prüfverfahren verwendet werden. Auf eine zyklisch axialbelastete ungekerbte Flachstabprobe drücken im mittleren Bereich von beiden Seiten je ein zweiflächig rechteckiger Reibschuh. Eine ähnliche Anordnung mit einseitigem einflächigem Reibschuh wird von Hertel [38] verwendet. Der Reibdruck wird in beiden Fällen nach Einleitung des Ermüdungsanrisses weggenommen. Mit dieser Vorrichtung werden Wöhler-Versuche unter Reibkorrosion durchgeführt. Durch Reibkorrosion wird vor allem die Langzeitschwingfestigkeit erniedrigt (Faktor 0,5 und kleiner, bezogen auf die Dauerfestigkeit, die vielfach erst oberhalb von 107–108 Schwingspielen auftritt), während die Kurzzeitschwingfestigkeit weitgehend unbeeinflußt bleibt, Abb. 3.53. Die Reibkorrosionsermüdung an Augenstäben mit Bolzen in plastisch aufgeweiteter Bohrung wurde von Schijve et al. [560, 561] untersucht.

Abb. 3.53: Schwingfestigkeit der Titanlegierung Ti6Al4V ohne und mit Reibkorrosion; mit Anpreßdruck p; nach Hoeppner u. Gates [557]

140

3 Einflüsse auf die Schwingfestigkeit

Die wichtigsten Einflußparameter bei Reibkorrosionsermüdung werden nachfolgend in Anlehnung an Hertel [38] und Schijve [53] zusammengefaßt: – Der Einfluß des Anpreßdrucks auf die Schwingfestigkeit ist je nach Werkstoff, Oberfläche und Schmiermittel unterschiedlich. Einen steilen Festigkeitsabfall bereits bei kleinen Drücken stellt Waterhouse [562, 563] fest, während Hertel [38] dafür Drücke mittlerer Größe angibt. – Der abmindernde Einfluß der Reibwegamplitude auf die Schwingfestigkeit nimmt bis etwa 10 lm Schwingbreite zu und bleibt anschließend unverändert (Fenner u. Field [553]). – Der Einfluß des Werkstoffs (bzw. der Werkstoffkombination) entspricht der jeweiligen Kerbempfindlichkeit: die Dauerfestigkeit hochfester kerbempfindlicher Werkstoffe wird durch Reibkorrosion auf die Hälfte bis auf ein Viertel vermindert, während weichere kerbunempfindliche Werkstoffe (z. B. weiche Stähle oder Messing) eine geringere Abminderung aufweisen (Waterhouse [562, 563]). – Oberflächenverfestigung im Verbund mit Druckeigenspannungen, etwa durch Kugelstrahlen erzeugt, wirkt der Reibkorrosionsermüdung nachhaltig entgegen. – Der Einfluß korrosiver Umgebung auf die Reibkorrosionsermüdung ist groß, die zugehörige Langzeitfestigkeit dementsprechend extrem niedrig. Die Zusammenhänge sind dennoch sehr komplex: beispielsweise ist Reibkorrosion in trockener Luft ausgeprägter als in feuchter Luft. – Zugmittelspannungen verstärken die Dauerfestigkeitsminderung durch Reibkorrosion, weil unter Zugspannungen Mikrorisse leichter gebildet und vergrößert werden (King u. Lindley [559], Fenner u. Field [553]). Andererseits wirken sich Druckmittelspannungen günstig aus (Fischer [554]). – Reibkorrosionsermüdung tritt auch bei Belastung mit variablen Amplituden auf, wie für Stahl und Stahlguß (Buxbaum u. Fischer [549]) sowie für eine Aluminiumlegierung des Flugzeugbaus (Edwards u. Ryman [550]) nachgewiesen wurde. – Konstruktive Maßnahmen können das Problem der Reibkorrosionsermüdung wesentlich entschärfen: Trennung von Kerbstelle und Reibstelle bzw. Entlastungskerbe an Preßverbindungen, Augenstäbe mit seitlicher Bohrungsaufweitung bzw. seitlichem Abflachen des Bolzens (Schijve [53]).

3.10

Einfluß der Temperatur

Themenübersicht Bei gegenüber Raumtemperatur erniedrigter oder erhöhter Temperatur folgt das Schwingfestigkeitsverhalten dem der statischen Festigkeitskennwerte (Zugfestigkeit und Fließgrenze), wobei im ersteren Fall der Sprödbruch, im letzte-

3.10 Einfluß der Temperatur

141

ren Fall der Verformungsbruch (allerdings nicht immer) begünstigt wird. Bei stark erhöhter Temperatur treten dagegen das Kriechen des Werkstoffs und der weniger duktile Kriechbruch, d. h. Zeitstandfestigkeit oder Zeitdehngrenze, in den Vordergrund. Ermüdungs- und Kriechschädigung überlagern sich. Das Schwingfestigkeitsverhalten bei tiefer Temperatur [567, 578] bzw. bei hoher Temperatur [565, 566, 568–577, 579–582] ist ein anwendungstechnisch bedeutsames und wissenschaftlich breit angelegtes Wissensgebiet, das nachfolgend nur kurz umrissen werden kann. In neuerer Zeit wird über die Methoden der Schädigungsmechanik (s. Kap. 5.5) ein einheitlicher Zugang gesucht. Mikrostrukturelle Merkmale des Schwingbruchs bei tiefer Temperatur sind die verminderten Gleitspuren, die Zwillingsbildung, der frühe Restbruch. Die entsprechenden Merkmale des Kriechschwingbruchs bei hoher Temperatur sind die Neigung zur Korngrenzenoxidation und der Übergang vom duktileren transkristallinen zum spröderen interkristallinen Bruch. Schwingfestigkeit bei tiefer Temperatur Die Dauerfestigkeit bei tiefer Temperatur [567, 578] nimmt dem Verlauf der Zugfestigkeit entsprechend mehr oder weniger stark zu, Abb. 3.54. Bei gekerbten Proben ist jedoch die Bruchgefährdung durch wachsende Kerbempfindlichkeit zu beachten (s. Kap. 4.15). Der Einfluß korrosiver Umgebung ist infolge verringerter Reaktions- und Diffusionsgeschwindigkeit herabgesetzt.

Abb. 3.54: Dauerfestigkeitsschaubild für ungekerbte Proben aus Baustahl St 50 bei tiefer Temperatur; nach Hempel u. Luce [567] in [95]

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3 Einflüsse auf die Schwingfestigkeit

Schwingfestigkeit bei hoher Temperatur Die Dauerfestigkeit …ND  107 † bei erhöhter Temperatur nimmt dem Verlauf der Zugfestigkeit entsprechend mehr oder weniger stark ab, Abb. 3.55. Der Abfall über der Temperatur tritt bei Leichtmetallegierungen früher, bei Stählen und Nickellegierungen später auf. Maßgebend ist die Rekristallisationstemperatur des jeweiligen Werkstoffs. Bei niedrigfesten Stählen wird zunächst (bis etwa 400  C) ein Anstieg der Dauerfestigkeit beobachtet (Bereich der Blausprödigkeit). Bei Temperaturen über 600  C sind austenitische Stähle den gängigen Baustählen hinsichtlich Schwingfestigkeit, Korrosions- und Oxidationsbeständigkeit deutlich überlegen. Bei noch höherer Temperatur werden Legierungen auf Nickel- und Kobaltbasis eingesetzt. Bei hoher Temperatur tritt an die Stelle der eigentlichen Dauerfestigkeit ein stetiger weiterer Schwingfestigkeitsabfall im Bereich sehr hoher Schwingspielzahlen …N > 107 †. Die Zeitfestigkeitslinie zeigt größere Abweichungen vom Verlauf bei Raumtemperatur. Auch der Einfluß der Beanspruchungsfrequenz macht sich stärker bemerkbar. Warmfestigkeitskennwerte für den Festigkeitsnachweis sind in der FKMRichtlinie [1746] zusammengestellt (s. Kap. 8.8). Für die konstruktive Auslegung geeignete Dehnungs-Wöhler-Linien von Baustählen bei erhöhter Temperatur zeigt Abb. 3.56. Vergleichbare Linien sind im ASME-Code für Druckbehälter angegeben (s. Abb. 8.27 u. 8.28). Nach Manson [572] sind derartige Linien ausgehend von den Kennwerten des Warmzugversuchs darstellbar (universal slopes method nach Manson [159]; das Konzept der Dehnungs-Wöhler-Linie wurde von Manson [159–163] und Coffin [149, 565] im Hinblick auf

Abb. 3.55: Dauerfestigkeit von Stahl, Aluminium-, Titan- und Sonderlegierungen als Funktion der Temperatur; nach Allen u. Forrest in [29]

3.10 Einfluß der Temperatur

143

Abb. 3.56: Dehnungs-Wöhler-Linien von Baustählen bei hoher Temperatur, vereinfachtes Auslegungsdiagramm im Behälterbau; nach Schwaigerer [92]

zyklische thermische Beanspruchung entwickelt). Allerdings sollten sicherheitshalber nur etwa 10 % der so bestimmten Schwingspielzahlen bis Anriß tatsächlich in Anspruch genommen werden. Sofern Zughaltezeiten bei hoher Temperatur auftreten, wird besonders im Schwingfestigkeitsbereich nahe der Grenzschwingspielzahl ND die Schwingspielzahl bis Anriß zusätzlich vermindert. Bei entsprechend langer Haltezeit ist die Höhenlage der Linien schließlich durch die zugehörige Dauerstandfestigkeit gegeben. Festigkeit bei erhöhter Temperatur nach FKM-Richtlinie In der FKM-Richtlinie [1746] werden Werkstoffkennwerte für Ermüdungsfestigkeit (Zug-Druck-Wechselfestigkeit) zusammen mit solchen für statische Festigkeit (Fließ- bzw. Dehngrenze, Zeitstandfestigkeit und Zeitdehngrenze, letztere für 105 Stunden) temperaturabhängig für die rechnerische Auslegung von Bauteilen aus unlegiertem Stahl, Gußeisen und Aluminiumlegierungen angegeben, Relativwerte in Abb. 3.57 und 3.58. Die Kennwerte sind auf die Zugfestigkeit rZ0 bei Raumtemperatur bezogen und enthalten bereits angemessene Sicherheitsfaktoren (in den Abbildungen spezifiziert). Bei unlegiertem Stahl und Gußeisen beginnt der Festigkeitsabfall bei etwa 100  C. Ab etwa 400–500  C begrenzt die Zeitstandfestigkeit bzw. die Zeitdehngrenze die langzeitig wirkende Beanspruchung. Bei Aluminiumlegierungen ist hinsichtlich der statischen Festigkeit zwischen den (kalt oder warm) aushärtbaren und den nicht aushärtbaren Legierungen zu unterscheiden. Erstere verlieren ihre statische Festigkeit früher (ab 50  C) als letztere (ab 100  C). Die Zeitstandfestigkeit begrenzt den zulässigen Bereich bei langzeitiger Beanspruchung noch enger. Die Wechselfestigkeit zeigt dagegen einen nur mäßigen Abfall.

144

3 Einflüsse auf die Schwingfestigkeit

Abb. 3.57: Relative Warmfestigkeitskennwerte von unlegierten Baustählen und Gußeisen (GG) unter Berücksichtigung angemessener Sicherheitsfaktoren; nach FKM-Richtlinie [1746] (umgezeichnet)

Überlagerung von Schwing- und Kriechbeanspruchung Die Überlagerung von Schwing- und Kriechbeanspruchung bedingt kritische Zustände, die sich vereinfachend in einem entsprechend modifizierten Dauerfestigkeitsschaubild darstellen lassen (Kriechdauerfestigkeitsschaubild). Die Schwingfestigkeit rA wird über der Mittelspannung rm aufgetragen. Die Grenzkurve schmiegt sich nunmehr im Bereich hoher Mittelspannung nicht der Zugfestigkeit an, sondern einer das Kriechen begrenzenden statischen Spannung. Als solche bietet sich die Spannung an, die nach bestimmter Zeitspanne zum Kriechbruch oder zu einer Kriechdehnung von beispielsweise 0,5 % führt. Die Grenzkurve beinhaltet unter der angegebenen Zeitspanne t auch die Zahl der Schwingspiele N (Berechnung aus der Schwingfrequenz f nach N ˆ t  f ). Das Versuchsergebnis für einen austenitischen Stahl in ungekerbter Probe ist in Abb. 3.59 dargestellt. Zur Überlagerung von Ermüdungs- und Kriechschädigung bis zu einem Ermüdungs- bzw. Kriechbruch werden in Kap. 5.5 genauere Angaben gemacht.

3.10 Einfluß der Temperatur

145

Abb. 3.58: Relative Warmfestigkeitskennwerte von Aluminium(knet)legierungen unter Berücksichtigung angemessener Sicherheitsfaktoren; nach FKM-Richtlinie [1746] (umgezeichnet)

Abb. 3.59: Kriechdauerfestigkeitsschaubild für ungekerbte Proben aus austenitischem Stahl; Schwingfrequenz f ˆ 60 Hz (10 h gleichbedeutend N ˆ 2;16  106 Schwingspielen); nach Matters u. Blatherwick [573]

146

3 Einflüsse auf die Schwingfestigkeit

Temperaturwechselbeanspruchung und thermische Ermüdung Inhomogene Temperaturverteilungen bedingen beanspruchungsseitig Wärmespannungen. Bei (ganz oder teilweise) behinderter Wärmedehnung geraten Bereiche hoher Temperatur unter Druckspannungen und solche niedriger Temperatur unter Zugspannungen. Die Höhe dieser Wärmespannungen ist eine Funktion der Temperaturerhöhung, der Wärmeausdehnungszahl, des Elastizitätsmoduls, der (Warm-)Fließgrenze, der geometrischen Parameter und des Grades der Verformungsbehinderung. Wechselnde Temperaturen erzeugen eine Temperaturwechselbeanspruchung, die wiederum zu thermischer Ermüdung führen kann. Ändert sich die Temperatur abrupt, so spricht man von Thermoschock, Thermoschockbeanspruchung und Thermoschockermüdung. Thermische Ermüdung spielt beispielsweise im Motoren- und Turbinenbau (Ventile, Schaufeln, Brennkammern) oder bei der Warmformgebung (Kokillen) eine Rolle. Zur Nachbildung der thermischen Ermüdung dienen spannungs- oder dehnungsgeregelte Wöhler-Versuche, die je nach darzustellendem Temperaturablauf (stetige Erwärmung und Abkühlung oder Haltezeiten) mit dreieck- oder rechteckförmig wiederholter Last-Zeit-Funktion gefahren werden. Vielfach werden nur die Zughaltezeiten im Versuch berücksichtigt, weil die Druckhaltezeiten nicht schädigend wirken. Diese Versuche werden im allgemeinen bei konstanter Temperatur durchgeführt. Als solche wird die Höchsttemperatur des abgebildeten Vorgangs verwendet. Es gibt aber auch temperaturgeregelte Wöhler-Versuche, z. B. mit fest eingespannter Hohlzylinderprobe, die abwechselnd innen gekühlt und außen erwärmt wird. Ein betriebsnaher mehrstufiger Kriechermüdungsversuch mit Auswertung der Kriech- und Ermüdungsschädigungen wird am Ende von Kap. 5.5 beschrieben.

4

4.1

Kerbwirkung

Erscheinung und Beschreibung der Kerbwirkung

Bedeutung der Kerbwirkung Die Kerbwirkung, aufgefaßt zunächst als örtliche Beanspruchungserhöhung durch Kerben, ist für die Schwingfestigkeit von ausschlaggebender Bedeutung. Neben der Werkstoffestigkeit interessiert daher die Gestaltfestigkeit (zum Begriff s. Kap. 1.3). Dies gilt insbesondere für die Dauerfestigkeit bei nicht zu hoher Mittelspannung. Sie wird durch Kerben im Ausmaß von deren Spannungserhöhung (allerdings unterproportional je nach Kerbempfindlichkeit) herabgesetzt. Dies ist darin begründet, daß die Rißeinleitung bei Ermüdung ein äußerst lokaler Vorgang ist, bei dem die Gegebenheiten in der Umgebung der Kerbe nur sekundäre Bedeutung haben, im Gegensatz zur anschließenden Makrorißvergrößerung. Wesentlich andere Vorgänge kommen im Bereich der Kurzzeitfestigkeit oder bei hoher Mittelspannung zum Tragen, nämlich die des statischen Bruchverhaltens. Bei duktilem Werkstoff dominiert die plastische Formänderung. Sie führt an gekerbten Rundstabproben zu einer Steigerung der Tragfähigkeit, höher als die Fließgrenze, sofern deren Nettoquerschnitt dem Querschnitt der ungekerbten Probe gleichgesetzt wird. Die Brucheinschnürung des ungekerbten Stabes wird im gekerbten Stab unterdrückt. Bei sprödem Werkstoff können dagegen im gekerbten Stab Sprödbrüche unterhalb der Fließgrenze auftreten (Niederspannungsbrüche). Kerbspannungslehre Mit der Kerbwirkung im Sinne von örtlicher Beanspruchungserhöhung befaßt sich die Kerbspannungslehre, die von Neuber [587, 588] begründet und in gewisser Hinsicht auch vollendet wurde. Daneben sind die Autoren Sawin [599, 600] und Radaj [596, 598] zu nennen, welche die von Mußchelischwili [615] entwickelten mathematischen Verfahren auf breiter Basis anwendeten. Das praxisnahe Werk von Peterson [594] bzw. Pilkey [595] ist außerdem hervorzuheben. Auch der kürzere Beitrag von Thum et al. [602] verdient Beachtung. In japanischer Sprache liegt die ältere Monographie von Nishida [589] vor.

148

4 Kerbwirkung

Abb. 4.1: Arten von Kerben im Sinne von Kerbwirkung

Arten von Kerben Kerbwirkung entsteht durch Unstetigkeit der Form (Formkerben), des Werkstoffs (Werkstoffkerben) oder der Belastung (Belastungskerben), Abb. 4.1. Sie kann durch eine einzige Kerbart oder durch mehrere Kerbarten in Überlagerung verursacht sein. Den drei Kerbarten gemeinsam ist die örtliche Beanspruchungserhöhung (Spannung, Dehnung, Formänderungsenergie). Formkerben sind durch starke Oberflächenkrümmung bei hinreichend großem Oberflächenversatz gekennzeichnet. Man unterscheidet milde und scharfe, flache und tiefe sowie äußere und innere Kerben. Risse, Schlitze und einspringende Ecken sind Grenzfälle von Formkerben, gekennzeichnet durch den gegen null gehenden Kerbradius. Zu den konstruktiv bedingten Formkerben gehören die Rillen, Nuten, Schlitze, Absätze und Bohrungen ebenso wie die Querschnittsübergänge, Öffnungen und Ausschnitte. Werkstoffkerben sind abgegrenzte Bereiche erniedrigter oder erhöhter Steifigkeit, Elastizität oder Fließgrenze im ansonsten homogenen Werkstoff (Einschluß, Kern oder Schicht). Anstelle der freien Kerboberfläche tritt die durch den Werkstoffübergang gebildete Grenzfläche als gebundene Kerboberfläche. Starrer Einschluß und freie Öffnung sind Grenzfälle derartiger Werkstoffkerben. Konstruktive Versteifungen sind zum Teil auf elastische Einschlußmodelle zurückführbar (z. B. Öffnungsrandversteifungen und Laschen). Die Schichtung der Wärmeeinflußzone einer Schweißverbindung stellt hinsichtlich der inhomogenen Fließgrenze eine Werkstoffkerbe dar. Belastungskerben sind Bereiche örtlich konzentrierter Krafteinleitung oder Hertzscher Pressung. Die Bezeichnung ist ungewohnt, jedoch im Sinne der Untergliederung konsequent. Die Werkstoffermüdung unter örtlichem Roll- und Gleitkontakt ist ein anwendungstechnisch bedeutsames Sondergebiet, das in diesem Buch nicht erfaßt ist. Rechen- und Meßverfahren zur Kerbbeanspruchung Das Kerbbeanspruchungsproblem wird überwiegend unter der vereinfachenden Annahme linearelastischen Werkstoffverhaltens, also auf Basis der Elastizitätstheorie rechnerisch gelöst. Daneben gibt es eine gut entwickelte Theorie der

4.1 Erscheinung und Beschreibung der Kerbwirkung

149

Abb. 4.2: Finite-Elemente-Modell für die Kerbspannungsberechnung am Leitschaufelfuß einer Fahrzeuggasturbine; gröberes Netz für Leitkranzsegment (a), feineres Netz für Schaufelfuß mit Höhenlinien der thermischen Kerbspannungen (b); nach Hempel in [617]

elastisch-plastischen Kerbbeanspruchung. Es wird bei den Kerbbeanspruchungsproblemen zwischen funktionsanalytischen und numerischen Lösungsverfahren unterschieden [617].

150

4 Kerbwirkung

Abb. 4.3: Boundary-Elemente-Modell für die Kerbspannungsberechnung an der um 30  verschränkten Kröpfung einer Kurbelwelle unter Querkraftbiegebelastung; Vernetzung der Bauteiloberfläche; nach Möhrmann in [617]

Die funktionsanalytisch basierten Verfahren erzielen die Lösung in weitgehend geschlossener Form. Zu diesen Verfahren gehören der „Dreifunktionenansatz“ nach Neuber [587] (triharmonische Funktionen in krummlinigen Koordinaten) und das Verfahren der komplexen analytischen Spannungsfunktionen nach Kolosov und Mußchelischwili [615], das mit konformer Abbildung und Integralgleichungsformulierung verbunden wird. Funktionsanalytische Verfahren eignen sich vor allem zur Klärung der grundsätzlichen Parameterabhängigkeiten des jeweiligen Kerbproblems. Sie bilden die Grundlage der Übersichten in Kap. 4.2 und 4.3. Die numerischen Verfahren gehen von einem diskretisierten Kontinuum mit vereinfachten lokalen Elementansätzen aus, deren freie Parameter durch Lösen algebraischer Gleichungssysteme bestimmt werden. Zu den numerischen Verfahren gehören das Finite-Elemente-Verfahren [603, 605, 607, 609, 610, 612, 619– 621] und das Boundary-Elemente-Verfahren [604, 606, 608, 611]. Diese Verfah-

4.1 Erscheinung und Beschreibung der Kerbwirkung

151

ren verlangen an den Kerbstellen wegen der dort herrschenden Ungleichmäßigkeit der Beanspruchungen relativ feine Netzteilung. Bei vergleichbarer Feinheit der Netzteilung erfordert das Boundary-Elemente-Verfahren weniger Aufwand und führt zu genaueren Ergebnissen. Der Aufwand ist dadurch vermindert, daß bei räumlichen Problemen nur die Oberfläche, bei ebenen Problemen nur der Rand diskretisiert werden muß. Numerische Verfahren eignen sich vor allem zur Lösung des konkreten Einzelfalls in der Praxis einschließlich der Optimierung im Hinblick auf niedrige Kerbspannungen. Beispielhaft ist das grob und fein vernetzte Finite-Elemente-Modell für die Berechnung der thermischen Kerbspannungen am Leitschaufelfuß einer Fahrzeuggasturbine dargestellt, Abb. 4.2. Ebenso ist das Boundary-Elemente-Modell für die Kerbspannungsberechnung an der verschränkten Kröpfung einer Kurbelwelle gezeigt, Abb. 4.3. Zu den für die Erfassung der Kerbbeanspruchung bei Problemstellungen der Praxis geeigneten Meßverfahren gehören u. a. das spannungsoptische Modellverfahren, die Dehnungsmeßstreifentechnik, verschiedene Oberflächenschichtverfahren und die thermoelastische Spannungsmessung [613, 616, 618]. Das Ergebnis von Rechnung oder Messung wird in Diagrammen sowie Näherungsformeln für Kerbformzahlen zusammengefaßt, die dem Anwender den Einfluß der unterschiedlichen Abmessungs-, Belastungs- und Lagerungsparameter aufzeigen [583–602]. Die Kerbformzahlen von Schweißverbindungen sind bei Radaj et al. [70, 71] zu finden.

Kerbformzahl Unter Kerbformzahl (kurz Formzahl, auch nach Neuber [588]) oder Kerbfaktor k wird das Verhältnis von Kerbspannungshöchstwert rk max zur Nennspannung rn bei linearelastischem Werkstoff verstanden: k ˆ

rk max rn

…4:1†

Der Kerbspannungshöchstwert, der im Kerbgrund auftritt, ist an den freien Rändern scheibenartiger Modelle die Tangentialspannung rt max , an deren gebundenen Rändern die erste Hauptspannung r1 max . Bei räumlichen Modellen und Formkerben wird meistens die erste Hauptspannung in der Kerbgrundfläche ausgewertet. Die Nennspannung kann sich auf den Ausgangsquerschnitt ohne Kerbe (ungeschwächter Querschnitt, Bruttoquerschnitt) oder bei freien Kerbrändern auf den bruchgefährdeten Restquerschnitt mit Kerbe (geschwächter Querschnitt, Nettoquerschnitt) beziehen. Entsprechend unterschiedlich ergeben sich Größe und Abhängigkeit der Formzahl. Bei Längsschubbelastung prismatischer Körper (nichtebene Schubbeanspruchung) gilt sinngemäß: ks ˆ

sk max sn

…4:2†

152

4 Kerbwirkung

Bei inelastischem Werkstoffverhalten im Kerbbereich wird neben der inelastischen Spannungsformzahl r (oder s ) die inelastische Dehnungsformzahl e (oder c ) verwendet, das Verhältnis von Kerbdehnungshöchstwert ek max zur Nenndehnung en : e ˆ

ek max en

…4:3†

Die Nenndehnung ist bei hinreichend niedriger Beanspruchung über den Kehrwert des Elastizitätsmoduls der Nennspannung proportional. Da der Beanspruchungszustand im Kerbgrund mehrachsig ist (zweiachsig an der Kerbgrundoberfläche, dreiachsig in der Grenzfläche von Einschlüssen), wird anstelle einer Kerbspannung (oder Kerbdehnung) auch die Kerbvergleichsspannung rkv max (oder Kerbvergleichsdehnung) verwendet, die nach unterschiedlichen Festigkeitshypothesen aus den Komponenten des mehrachsigen Zustands bestimmt wird: kv ˆ

rkv max rnv

…4:4†

Da sich die Kerbspannung oder Kerbdehnung auf Basis der Nennspannung oder Nenndehnung ausbildet, haben die letzteren Größen den Charakter einer Grundbeanspruchung. Diese Bezeichnungsweise wird auch im Zusammenhang mit Rißmodellen verwendet. Die Kerbformzahlen bei elastischem Werkstoff hängen von den (voneinander unabhängigen) Abmessungsverhältnissen des betrachteten Kerbproblems, nicht von den Absolutwerten der Abmessungen ab. Sie sind vom Elastizitätsmodul unabhängig und von der Querkontraktionszahl im betrachteten Bereich metallischer Werkstoffe …m ˆ 0;28–0;33† nur geringfügig beeinflußt. Einige grundlegende Formzahlabhängigkeiten sind in Kap. 4.2 und 4.3 zusammengefaßt. Die Kerbformzahlen hängen außerdem von der Belastungsart ab. Bei gleicher Probengeometrie ist die Formzahl bei Axialbelastung größer als die Formzahl bei Biegebelastung. Letztere ist wiederum größer als die Formzahl bei Torsionsbelastung (s. a. Abb. 4.8). Die Kerbformzahlen nach Überschreiten der Fließgrenze im Kerbgrund hängen schließlich von der Belastungshöhe und vom Verlauf der SpannungsDehnungs-Kurve ab. Kerbspannungsgradient Neben dem Kerbspannungshöchstwert, ausgedrückt durch die Kerbformzahl, interessiert der Spannungsgradient senkrecht zur Kerboberfläche am Ort des Spannungshöchstwerts. Der Gradient wird direkt oder indirekt benötigt, wenn Stützwirkungseffekte in der Oberflächenschicht zu erfassen sind (s. die Ansätze zur Kerbwirkungszahl) oder wenn bei oberflächenverfestigten Bauteilen die Festigkeit unter der Oberfläche stärker als die Spannung abnimmt, so daß

4.1 Erscheinung und Beschreibung der Kerbwirkung

153

die Rißeinleitung nicht mehr an der Oberfläche, sondern im Innern des gekerbten Körpers erfolgt. Der bezogene Spannungsgradient v (auch bezogenes Spannungsgefälle, Dimension 1/mm) ist folgendermaßen definiert (mit Koordinate n senkrecht zum Kerbgrund): vˆ

1 drk rk max dn

…4:5†

Ist die Kerbgrundnormale n in die Kerbtiefe gerichtet, dann ergibt sich v negativ, weil rk mit n abnimmt. Bei entgegengesetzter Normalenrichtung erscheint v positiv. Nachfolgend wird v unabhängig von der Normalenrichtung als positiv betrachtet. Die Tiefe t0 , in der die linearisierte Kerbspannung den Wert Null erreicht (siehe Abb. 4.29), ergibt sich aus: t0 ˆ

1 v

…4:6†

Der bezogene Kerbspannungsgradient hängt hauptsächlich vom Kerbradius und von der Belastungsart ab (und nur geringfügig von der Kerbformzahl) [95, 601, 698]. Für das Ellipsenloch in der Zugscheibe ist v ˆ …2 ‡ 1= k †=q, woraus für das Kreisloch v ˆ 7=…3q† ˆ 2;33=q folgt, wobei q den Lochradius bezeichnet. Als Näherungswert für zugbelastete Kerben mit Kerbradius q wird v ˆ 2=q verwendet (s. a. Abb. 4.29). Dieser Wert gilt auch für biegebelastete Kerben, während bei torsionsbelasteten Kerben (gleichbedeutend mit nichtebener Schubbeanspruchung) v ˆ 1=q zu setzen ist. In beiden Fällen ist der Gradient v0 der Grundbeanspruchung (im Fall von Biege- oder Torsionsbelastung) additiv zu überlagern. Für den Gradienten v0 der Biege- bzw. Torsionsgrundbeanspruchung von ungekerbten Rundstabproben mit Durchmesser d (bzw. Flachstabproben entsprechender Breite) ergibt sich v0 ˆ 2=d. Kerbradius q bei Zug oder Biegung gekerbter Proben und Probenbreite oder Probendurchmesser d bei Biegung oder Torsion ungekerbter Proben sind demnach hinsichtlich des Spannungsgradienten annähernd gleichwertig. Bei Torsion ist der Einfluß des Kerbradius auf den Gradienten nur halb so groß. Die in Handbüchern (siehe z. B. [95]) tabellarisch angegebenen Näherungswerte für unterschiedlich gekerbte Stäbe unter Zug-, Biege- und Torsionsbelastung leiten sich von den vorstehenden Angaben ab, die als übertragbar auf beliebige Ingenieurskerben gelten (Schijve [601]). Als Beispiel sind in Tabelle 4.1 die Spannungsgradienten für die Rundstabprobe mit Umfangskerbe angegeben. Neben dem steilen Spannungsgradienten senkrecht zur Kerbrundung ist der wesentlich flachere Spannungsverlauf entlang der Kerbrundung im Hinblick auf die (Langzeit-)Ermüdungsfestigkeit von Interesse. Sieht man das Werkstoffvolumen als maßgebend an, in dem mehr als 90 % des Kerbspannungs-

154

4 Kerbwirkung

Tabelle 4.1: Spannungsgradient vges für Rundstabprobe mit Umfangskerbe bei unterschiedlicher Belastung abhängig von Probendurchmesser (v0 ) und Kerbradius (v); Näherungswerte Probengeometrie

Belastung

v0

v

vges

Zug Biegung Torsion

0 2=d 2=d

2=q 2=q 1=q

2=q 2=d ‡ 2=q 2=d ‡ 1=q

höchstwerts erreicht wird, dann ist dieser Bereich etwa zehn mal so lang (entlang der Kerbrundung) wie maximal tief (senkrecht zur Kerbrundung). Hertzsche Pressung als Belastungskerbe Belastungskerben in Form der Einzelkrafteinleitung in elastische Körper sind mit unendlich hohen Spannungen, also mit einer Spannungssingularität im Krafteinleitungspunkt verbunden. Spannungssingularitäten treten aber nur im Modell, nicht in der Wirklichkeit auf. Auch am Rand der Druckfläche eines starren Stempels tritt im Modell die Spannungssingularität auf. Wenn dagegen realistischerweise zwei elastische Körper mit relativ zueinander gekrümmter Oberfläche aufeinanderpressen, bleiben die Spannungen in der Berührungsfläche endlich. Zur Feststellung von Form und Abmessungen der Berührungsfläche müssen abweichend von der linearen Elastizitätstheorie die großen elastischen Formänderungen berücksichtigt werden, durch welche die Berührungsfläche erst gebildet wird. Die größte Pressung tritt im Zentrum der Berührungsfläche auf und ist außer von der Preßkraft (unterproportionale Abhängigkeit) von den Hauptkrümmungsradien der sich berührenden Körper abhängig [622–626]. Die größte Schubspannung tritt nicht in der Berührungsfläche selbst, sondern etwas unterhalb dieser Fläche im Innern der beiden Körper auf. Der Einfluß von Oberflächenwelligkeit und Schmierfilm auf die Spannungsverteilung läßt sich errechnen (mit Anwendung auf Wälzlager [627]).

4.2

Kerbbeanspruchung an eigentlichen Formkerben

Abgrenzung und Übersicht Zu den eigentlichen Formkerben (im Unterschied zu den anschließend behandelten Öffnungen und Einschlüssen) werden die in der Praxis auftretenden Rillen, Nuten, Absätze und Bohrungen in stabartigen Körpern gerechnet. Sie sind durch die geometrischen Größen Kerbkrümmungsradius, Kerbtiefe, Kerbquerschnittsbreite (oder Kerbquerschnittsdurchmesser) und gegebenenfalls Kerböffnungswinkel gekennzeichnet.

4.2 Kerbbeanspruchung an eigentlichen Formkerben

155

Abb. 4.4: Funktionsanalytische Lösungen für Kerbprobleme; nach Neuber [587]

Mit den eigentlichen Formkerben befaßt sich vor allem die Neubersche Kerbspannungslehre [587], die hinsichtlich der Lösungsmethodik auf dem Dreifunktionenansatz aufbaut. Die Kerbspannungslehre umfaßt die Grundgesetze der Kerbbeanspruchung und bietet Lösungen für die Formzahlen von Außen- und Innenkerben in Scheiben, Platten, Prismen und Drehkörpern unter Zug-, Querkraft-, Biege- und Torsionsbelastung, Abb. 4.4. Nur die anwendungstechnisch wichtigsten Kerbfälle mit Lösung nach Neuber sind dargestellt. Die Neubersche Kerbspannungslehre umfaßt außerdem Lösungen für Rißprobleme sowie für weitere grundlegende Festigkeitsfragen.

156

4 Kerbwirkung

Erhöhungs- und Abklinggesetz der Kerbwirkung Die Kerbspannungserhöhung ist um so größer, je kleiner der Kerbkrümmungsradius am Ort der Erhöhung relativ zur Kerbtiefe oder relativ zur kennzeichnenden Kerbquerschnittsgröße ist. Die geometrischen Gegebenheiten in größerer Entfernung vom Spannungshöchstwert haben nur geringen Einfluß. Der Spannungsabfall in Umgebung von Kerben ist um so ausgeprägter, je größer die Spannungserhöhung an der Kerbe ist. Überlagerungs- und Entlastungsgesetz der Kerbwirkung Die zweifache Spannungserhöhung an einer Kerbe mit kleinem Krümmungsradius im Kerbgrund einer Kerbe mit großem Krümmungsradius ergibt sich näherungsweise durch multiplikative Überlagerung der beiden Einzelkerbwirkungen, ausgedrückt durch deren Formzahlen. Die Spannungserhöhung von in Kraftflußrichtung benachbarten Kerben ist andererseits gegenüber der Einzelkerbwirkung herabgesetzt (Anwendung bei Entlastungskerben [594]). Mikro- und Makrostützwirkung an Kerben Scharfe tiefe Kerben mit ausgeprägter Spannungserhöhung wirken stark schwingfestigkeitsmindernd, dies jedoch nicht in dem Maße, wie es die Spannungserhöhung ausweist. Milde flache Kerben mit weniger ausgeprägter Spannungserhöhung zeigen einen gleichartigen Stützeffekt, wenn die Kerbabmessungen insgesamt sehr klein sind (z. B. feine Bohrungen oder Oberflächenrauhigkeit). Die bei Dauerschwingfestigkeit auftretende, weitgehend elastische Mikrostützwirkung kann aus der Kristallitstruktur und der Fehlstellenpopulation erklärt werden. Die bei Zeit- und Kurzzeitschwingfestigkeit wesentliche elastisch-plastische Makrostützwirkung beruht dagegen auf dem Kerbspannungsabbau durch lokales Fließen. Die Mikrostützwirkung wird in Kap. 4.5 und 4.7 ausführlicher behandelt, die Makrostützwirkung dagegen in Kap. 4.4. Flache Kerben Flache Kerben (das sind Kerben, deren Tiefe relativ zur Restquerschnittsabmessung p klein ist) weisen eine Formzahl auf, die überwiegend vom Kennwert t=q mit Kerbtiefe t und Kerbkrümmungsradius q abhängt; weitere Abmessungsparameter haben untergeordnete Bedeutung. Ein typisches Beispiel ist die elliptische Innenkerbe (oder auch halbelliptische Randkerbe) in einer Scheibe unter Zugbeanspruchung oder in einem prismatischen Körper unter nichtebener Schubbeanspruchung. Für die Kerbformzahlen bei Zug- und Schubbeanspruchung ergibt sich: k ˆ 1 ‡ 2

r t q

…4:7†

4.2 Kerbbeanspruchung an eigentlichen Formkerben

r t ks ˆ 1 ‡ q

157

…4:8†

Aus (4.7) und (4.8) folgt für den Zusammenhang der Kerbformzahlen: 1 ks ˆ … k ‡ 1† 2

…4:9†

Bei Beschränkung auf scharfe Kerben …t=q  1† gilt näherungsweise: r t k ˆ 2 q r t ks ˆ q

…4:10† …4:11†

Aus (4.10) und (4.11) folgt für den Zusammenhang der Kerbformzahlen: 1 ks ˆ k 2

…4:12†

p Die Kerbspannungserhöhung folgt der Kerbschärfe t=q. Die Kerbspannungen werden bei gegen Null gehendem Kerbkrümmungsradius, also an der zum Riß entarteten Ellipse, unendlich groß. Die Gleichungen (4.7) bis (4.12) gelten exakt für die flache elliptische Innenkerbe in der unendlichen Scheibe. Die Anwendung auf die flache Außenkerbe in der halbunendlichen Scheibe ist bereits eine (allerdings recht genaue) Näherung.

Tiefe Kerben Tiefe Kerben (das sind Kerben, deren Tiefe relativ zur Restquerschnittsabmessung pgroß ist) weisen eine Formzahl auf, die überwiegend vom Kennwert a=q mit Kerbquerschnittsbreite 2a (oder Kerbquerschnittsradius a) und Kerbkrümmungsradius q abhängt; weitere Abmessungsparameter haben untergeordnete Bedeutung. Ein typisches Beispiel ist die beidseitige hyperbelförmige Außenkerbe in einer Scheibe unter Zugbeanspruchung oder in einem prismatischen Körper unter nichtebener Schubbeanspruchung. Für die Kerbformzahlen bei Zug- und Schubbeanspruchung ergibt sich: p 2…a=q ‡ 1† a=q p p k ˆ …a=q ‡ 1†arctan a=q ‡ a=q

…4:13†

p a=q p ks ˆ arctan a=q

…4:14†

158

4 Kerbwirkung

Bei Beschränkung auf scharfe Kerben …a=q  1† gilt näherungsweise: k ˆ

4 p

ks ˆ

r a q

2 p

…4:15†

r a q

…4:16†

p Die Kerbspannungserhöhung folgt der Kerbschärfe a=q. Auch hier werden die Kerbspannungen bei gegen null gehendem Kerbkrümmungsradius unendlich groß. Die Beziehung (4.9) bleibt näherungsweise gültig. Die Beziehung (4.12) gilt exakt. Mitteltiefe Kerben Kerben p mittlerer p Tiefe weisen eine Formzahl auf, die von den Kennwerten t=q und a=q gleichermaßen abhängt. Die Formzahlkurve liegt etwas unterhalb der gegenläufigen Lösungen für flache und tiefe Kerben, Abb. 4.5. Die Mittelungsfunktion nach Neuber [587] (1. u. 2. Aufl.) lautet: 1 … k



2

ˆ

1 … kf



2

‡

1 … kt

1†2

…4:17†

Hierbei sind kf bzw. kt die Formzahlen, die sich bei der Berechnung als flache bzw. tiefe Kerbe ergeben. Eine auf der Basis von (4.17) bestimmte zweiparametrige Formzahlabhängigkeit für den Flachstab mit beidseitiger Außenkerbe unter Zugbelastung ist in Abb. 4.6 dargestellt. Ein Großteil der in der Ingenieurpraxis verwendeten Formzahldiagramme (u. a. in [89, 90, 549, 1752]) für gekerbte Flachstäbe und Rundstäbe (Wellen), vornehmlich unter Zug-, Biegeund Torsionsbelastung, basiert auf der Näherung (4.17), bei den abgesetzten

Abb. 4.5: Formzahlnäherung bei mitteltiefer Kerbe; nach Neuber [587, 588]

4.2 Kerbbeanspruchung an eigentlichen Formkerben

159

Kerbstäben durch Messung korrigiert [616] (zum Querkrafteinfluß s. a. [597]). Zu den Diagrammen sind Näherungsformeln verfügbar, die den Einfluß der Abmessungsverhältnisse auf die Formzahl direkt wiedergeben (u. a. in [35, 89, 90, 1752]). Die Formzahldiagramme bei Peterson [594, 595] sind dagegen aus Messungen an spannungsoptischen Modellen gewonnen. Anstelle der einfachen aber gelegentlich ungenauen Näherung (4.17) wird auch ein zuverlässigeres

p Abb. 4.6: Kerbformzahl als Funktion der Kerbschärfe t=q (anstelle von t=q) für unterschiedliche relative Kerbtiefen; beidseitig gekerbter Flachstab unter Zugbelastung; nach Neuber [660]

p Abb. 4.7: Kerbformzahl als Funktion der Kerbschärfe t=q (anstelle von t=q) für unterschiedliche relative Kerbtiefen; Rundstab mit Umfangskerbe unter Zugbelastung; nach Mayr u. Drexler [585]

160

4 Kerbwirkung

aber aufwendigeres Verfahren empfohlen (Neuber [587], 3. Aufl.), das von den Formzahldiagrammen für schubbeanspruchte prismatische Kerben ausgeht, deren Geometrie besonders genau erfaßt wurde. Im Vergleich zum gekerbten Flachstab wird der praktisch bedeutsamere Rundstab mit Umfangskerbe in Abb. 4.7 hinsichtlich der Kerbformzahlen erfaßt. Die U-förmige Kerbrille hat eine Halbkreiskontur. Die Kerbspannungen wurden nach der Boundary-Elemente-Methode berechnet. Sie sind erwartungsgemäß bei der räumlichen Kerbe etwas kleiner als bei der ebenen Kerbe. Neuere parametrische Kerbspannungsuntersuchungen nach der Boundary-ElementeMethode an Rand- bzw. Schulterkerben von Flach- und Rundstäben bei unterschiedlicher Belastung wurden von Nisitani et al. [590–592] sowie Noda et al. [593] durchgeführt. Kerbbelastungsart Mit den Lösungen von Neuber für flache und tiefe Kerben läßt sich die Abhängigkeit der Formzahl von der Kerbbelastungsart belegen, die in Kap. 4.1 angesprochen wurde: Kerbwirkung bei Zug größer als bei Biegung sowie bei Biegung größer als bei Torsion. Bei vorgegebener Kerbschärfe werden unter Biegebeanspruchung und nichtebener Schubbeanspruchung deutlich niedrigere Formzahlen ermittelt als unter Zugbeanspruchung, Abb. 4.8. Als flache Kerben sind die elliptische Innenkerbe und die muldenförmige Außenkerbe erfaßt. Die Formzahlen bei Zug sind fast doppelt so groß wie bei Schub (in Übereinstimmung mit (4.9)) oder Biegung. Als tiefe Kerben werden beidseitige hyperbelförmige Außenkerben betrachtet. Das eben erwähnte Verhältnis von Zug- zu

Abb. 4.8: Kerbformzahlen für flache und tiefe ebene Kerben als Funktion der Kerbschärfe für Zugbeanspruchung, Biegebeanspruchung und nichtebene Schubbeanspruchung; ausgewertet sind Lösungen von Neuber [587] (3. Aufl., ibid. Gln. 3.9/8, 3.10/7, 3.21/7, 4.3.1/22, 4.3.2/32, 4.5.1/14, 4.5.2/25, 4.6/15)

4.2 Kerbbeanspruchung an eigentlichen Formkerben

161

Schubformzahl tritt auch hier auf, während die Biegeformzahl zwischen Zugund Schubformzahl liegt. Der relativ zur Kerbtiefenrichtung entgegengesetzte Biegespannungsgradient bei flacher Innenkerbe und tiefer Außenkerbe ist zu beachten. Die Angabe von Neuber [587], bei der flachen Außenkerbe ergebe sich für Biegebeanspruchung die gleiche Formzahl wie für Zugbeanspruchung, gilt nur bei vernachlässigbarem Biegespannungsgradient, also doch nur bei Zugbeanspruchung der Kerbe. Die in vorstehender Betrachtung nicht erfaßte Biegeschubbeanspruchung ist mit gegenüber homogener Schubbeanspruchung verkleinerten Formzahlen verbunden. Kerböffnungswinkel Kerben mit schrägen Kerbflanken weisen p p eine Formzahl auf, die außer von den genannten Kennwerten t=q und a=q vom Kerböffnungswinkel x abhängt. Große Kerböffnungswinkel bewirken eine starke Abminderung der Formzahl der entsprechenden U-Kerbe (x ˆ 0 †, Abb. 4.9. Kerbreihe Benachbart angeordnete Kerben (Kerbreihe) vermindern wechselseitig die zugehörigen Formzahlen. Die Formzahl der im Abstand b periodisch wiederholten flachen Randkerbe kann nach (4.7) oder (4.8) berechnet werden, wenn statt der Tiefe t die wirksame Tiefe teff ˆ ct mit der Entlastungszahl c als Funktion der Kerbnähe b=t nach Abb. 4.10 eingeführt wird.

Abb. 4.9: Kerbformzahl der flachen Kerbe unter nichtebener Schubbeanspruchung als Funktion der Kerbschärfe für unterschiedliche Kerböffnungswinkel; nach Neuber [587]

162

4 Kerbwirkung

Abb. 4.10: Entlastungszahl bei benachbarten Kerben (Kerbreihe) als Funktion der Kerbnähe, Lösung für nichtebene Schubbeanspruchung; nach Neuber [587]

Schrägkerbe An Kerbrillen, die schräg zur zweiachsigen Grundbeanspruchung …r2 ˆ kr1 † liegen, überlagern sich Querzug, Längszug und Längsschub. Die Formzahl hängt außer von den bereits genannten Größen von der Mehrachsigkeitszahl k und dem Schrägwinkel w (zwischen Kerbrichtung und Hauptrichtung der Grundbeanspruchung) ab. Die Formzahl der Schrägkerbe kann durch Überlagerung der Kerbspannungen aus Querzug und Längsschub unter Hinzufügung der Längszugspannungen gebildet werden [70]. Räumliche Kerbe Räumliche Kerbwirkung liegt z. B. bei äußeren und inneren Rotationskerben unter Zug-, Biege-, Schub- und Torsionsbeanspruchung vor. Die Formzahlen ergeben sich nach Neuber kleiner oder höchstens gleich der Formzahl des vergleichbaren ebenen Kerbproblems. Außerdem tritt ein geringer Einfluß der Querkontraktionszahl auf. Optimales Kerbprofil Ein Kerbprofil ist dann hinsichtlich des Kerbeffekts optimal, wenn an ihm keine oder eine nur geringe Kerbspannungserhöhung auftritt (vielfach identisch mit konstanter Profilrandspannung). Eine umfassende Literaturübersicht zu den experimentellen, funktionsanalytischen und numerischen Verfahren der Formoptimierung (s. [628, 631, 634, 635, 637]) bieten Waldman et al. [636]. Als Optimalprofil am abgesetzten Zugstab mit parallel verlaufenden Rändern wird

4.3 Kerbbeanspruchung an Öffnungen und Einschlüssen

163

Abb. 4.11: Formoptimierter Querschnittsübergang für abgesetzten Zugstab mit unterschiedlicher Absatzhöhe, Berechnungsergebnis mit Finite-Elemente-Methode; nach Schnack [634]

von Baud [628] und Neuber [587] die Stromlinie ermittelt. Die Finite-Elemente-Lösung nach Schnack [634] zeigt Abb. 4.11. An der Zugstabeinmündung in die halbunendliche Scheibe ist nach Neuber [587, 630, 631] die Exponentialfunktion optimal, bei der beidseitigen tiefen Außenkerbe die Kettenlinie. In der Praxis werden weniger optimale aber geometrisch einfachere Randkurven zur Verbesserung des Kerbprofils bevorzugt, beispielsweise der elliptische oder parabelförmige Querschnittsübergang. Am Übergang von der Geraden in die gekrümmte Kurve des Profils tritt dann jeweils eine geringe Spannungserhöhung auf.

4.3

Kerbbeanspruchung an Öffnungen und Einschlüssen

Abgrenzung und Übersicht Zu den Öffnungen gehören Ausschnitte und Löcher unterschiedlicher Randform in Scheiben, Platten und Schalen sowie Hohlräume in dreidimensional ausgedehnten Körpern. Wird der Innenbereich der Öffnung durch Werkstoff höherer oder auch niedrigerer Steifigkeit aufgefüllt und mit den Rändern der Öffnung fest verbunden, so ist damit der Einschluß gekennzeichnet. Öffnung und Einschluß sind als Makrophänomene konstruktiv begründet, als Mikrophänomene dagegen werkstoffstrukturell (Poren, Lunker, Fremdpartikel). Sie sind durch die geometrischen Größen Eckrundungsradius, Breite, Länge und weitere Formparameter gekennzeichnet. Die Abgrenzung zu den eigentlichen Kerben ist unscharf, denn Innenkerben sind mit Sonderfällen der Öffnung identisch. Öffnungen und Einschlüsse werden bei mathematisch zweidimensionaler Aufgabenstellung (Scheiben, Platten, Rotationskörper) besonders vorteilhaft nach dem Verfahren der komplexen analytischen Spannungsfunktionen, verbunden mit konformer Abbildung und dem Integralgleichungsansatz nach Mußchelischwili [615], gelöst. Die wichtigsten Anwendungen wurden von Sawin [599, 600] zusammengefaßt. Die Lösungen wurden von Radaj [596, 598] auf Basis

164

4 Kerbwirkung

Abb. 4.12: Randkurven von Öffnungen und Einschlüssen, zusammengesetzt aus Geraden und Kreisbögen; Kerbproblemlösungen nach Radaj [596, 598]

eines besonderen Verfahrens der konformen Abbildung wesentlich ausgeweitet. Sie umfassen die in Abb. 4.12 dargestellten Randformen (bestehend aus Geraden und Kreisbögen, mit Ausnahme der Ellipse) und die aus den Abb. 4.13 und 4.14 ersichtlichen Lastfälle an der Öffnung bzw. am Einschluß. Öffnung und starrer Einschluß in Ellipsenform Relativ einfache Formeln ergeben sich für die Öffnung und den starrenpEin schluß in Form einer Ellipse. Die Formzahl wächst mit dem Kennwert b=q bei der Öffnungp(bereits  aus (4.7) bis (4.11) bekannt, dort mit t ˆ b) bzw. mit dem Kennwert a=q beim Einschluß (Breite 2b quer zur Zugrichtung, Länge 2a in Zugrichtung, Krümmungsradius q im Scheitelpunkt in Quer- bzw. Längsrichtung). Für die Kreisöffnung bzw. den Kreiseinschluß …b=q ˆ a=q ˆ 1;0† ergeben sich einfache Zahlenwerte, höhere Werte bei der Kreisöffnung, niedrigere Werte beim Kreiseinschluß.

4.3 Kerbbeanspruchung an Öffnungen und Einschlüssen

165

Abb. 4.13: Lastfälle an der Öffnung, Rechteck stellvertretend für Randkurven nach Abb. 4.12; Kerbproblemlösungen nach Radaj [596, 598]

Abb. 4.14: Lastfälle am Einschluß, Rechteck stellvertretend für Randkurven nach Abb. 4.12; Kerbproblemlösungen nach Radaj [596, 598]

166

4 Kerbwirkung

Öffnung und Einschluß in Rechteck-, Rauten- und komplexerer Polygonform Die Formzahlen für die aufgezeigten Randformen und Lastfälle sind für die Öffnung und den starren Einschluß abhängig von den Abmessungsverhältnissen dokumentiert [598]. Beim Rechteck mit gerundeten Ecken, beispielsweise, lassen sich drei Abmessungsverhältnisse bilden, von denen zwei voneinander unabhängig sind. Daraus folgt eine zweiparametrige Formzahlabhängigkeit, die in Abb. 4.15 für die Rechtecköffnung unter einachsiger Zugbeanspruchung dargestellt ist. Verallgemeinerte Formzahlabhängigkeit, Formzahloptimierung Die mehrparametrige Formzahlabhängigkeit läßt sich in vorgegebenen Wertebereichen der jeweils relevanten, voneinander unabhängigen n Abmessungsverhältnisse km auf folgende multiplikative Form bringen, die als Näherung verwendet werden kann [532, 533]: k ˆ k

n Y mˆ1

kpm m

…m ˆ 1; 2;    ; n†

…4:18†

Abb. 4.15: Kerbformzahl der Rechtecköffnung (Ecken durch Kreisbögen gerundet) in der zugbeanspruchten Scheibe als Funktion der Abmessungsverhältnisse; nach Radaj [596, 598]

4.3 Kerbbeanspruchung an Öffnungen und Einschlüssen

167

Die Größen k und pm sind kerbfallspezifische Konstanten … 1  pm  ‡1†. Im besonders einfachen Fall der einparametrigen Abhängigkeit nach (4.10) ist beispielsweise k ˆ 2; n ˆ 1; k1 ˆ t=q und p1 ˆ 0;5. Die Anwendung von (4.18) auf kehlnahtgeschweißte Kreuzstöße mit fiktiv gerundeten Nahtübergangs- und Nahtwurzelkerben wird in [70] (ibid. Kap. 4.4.4) gezeigt. Auf der Grundlage von (4.18) kann die Kerbe bei mehrparametriger Abhängigkeit der Formzahl durch geeignete Veränderung der Abmessungsverhältnisse auf möglichst niedrige Kerbspannungen optimiert werden. Lösung der Übertragungsaufgabe Die vorstehend genannten Lösungen von Kerbspannungsproblemen gelten für stark vereinfachte Modelle einer wesentlich komplexeren Wirklichkeit. Es besteht daher die Aufgabe, die Formzahl des vereinfachten Modells näherungsweise auf die komplexere Wirklichkeit zu übertragen. Dabei geht es im allgemeinen um die zusätzliche Wirkung mehrerer Einflußgrößen. Die Übertragungsaufgabe wird formal so gelöst, daß die Formzahl k0 des vereinfachten Modells über Kerbeinflußfaktoren km auf die Formzahl k der komplexeren Wirklichkeit mit n zusätzlichen Einflußgrößen umgerechnet wird [598]: n Y k ˆ k0 km …m ˆ 1; 2;    ; n† …4:19† mˆ1

Die Kerbeinflußfaktoren km werden näherungsweise dem Verhältnis der Formzahl k des den jeweiligen Einzeleinfluß repräsentierenden Modells zur Formzahl k0 des vereinfachten Modells gleichgesetzt: km ˆ

k k0

…4:20†

Die Näherung (bei Wirkung mehrerer Einflußgrößen) besteht darin, daß immer wieder neu auf k0 Bezug genommen wird, statt eine Folge schrittweise modifizierter Modelle zu betrachten und die neue Formzahl jeweils auf die vorhergehende zu beziehen. Das Berechnungsergebnis nach (4.19) und (4.20) ist daher nur bei Werten von km nahe 1,0 eine brauchbare Näherung. Bei größeren Werten von km wird lediglich eine obere Grenze für die zu erwartende Formzahl ermittelt. Gerade Scheibenränder Die Vielfalt der in der Wirklichkeit auftretenden Scheibenbegrenzungen wird nachfolgend auf die Wirkung gerader Quer- und Längsränder reduziert. Das Formzahlverhältnis der als Beispiel gewählten Kreis- und Langlochöffnung im zugbeanspruchten Scheibenstreifen einschließlich der Quadratscheibe ist

168

4 Kerbwirkung

Abb. 4.16: Kerbformzahlverhältnis der Kreis- und Langlochöffnung im zugbeanspruchten Scheibenstreifen als Funktion des Breitenverhältnisses; Auswertung nach Radaj u. Schilberth [598]

über dem Verhältnis von Öffnungsbreite 2b zu Streifenbreite 2B aufgetragen, Abb. 4.16. Die Nennspannung in der Formzahl ist dem ungeschwächten Streifenquerschnitt zugeordnet. Wäre dagegen die Nennspannung dem geschwächten Querschnitt zugeordnet, dann würden die Formzahlverhältniskurven nicht ansteigen, sondern leicht abfallen. Die Formzahlverhältnisse beim Einschluß sind in allen betrachteten Fällen gegenläufig [598].

Mehrfachanordnung von Öffnung und Einschluß Die Mehrfachanordnung von Öffnung und Einschluß ist vorzugsweise für Kreis und Ellipse untersucht worden. Das Formzahlverhältnis der als Beispiel gewählten Kreisöffnungsreihe längs und quer zur Zugbeanspruchung der Scheibe wird über dem Verhältnis von Radius r zu halbem Abstand B aufgetragen, Abb. 4.17. Die Auswirkung der Queranordnung ist der von Längsrändern ähnlich. Die Längsanordnung zeigt den nach Kap. 4.2 für die Kerbreihe zu erwartenden Kerbentlastungseffekt. Die Formzahlverhältnisse beim Einschluß sind gegenläufig [598].

4.3 Kerbbeanspruchung an Öffnungen und Einschlüssen

169

Abb. 4.17: Kerbformzahlverhältnis der Kreisöffnungsreihe längs und quer zur Zugbeanspruchung der Scheibe als Funktion des Radius-Abstand-Verhältnisses; Auswertung nach Radaj u. Schilberth [598]

Abb. 4.18: Kerbformzahlverhältnis der breiten Kreisöffnungsversteifung in der zugbelasteten Scheibe als Funktion des Volumenverhältnisses; Auswertung nach Radaj u. Schilberth [598]

Randversteifung der Öffnung Die relativ hohen Kerbspannungen an Öffnungen lassen sich durch eine Randversteifung abmindern. Die zugehörigen Formzahlen werden vorzugsweise in Abhängigkeit des Verhältnisses von Versteifungs- zu Öffnungsvolumen angegeben. Das Formzahlverhältnis der Kerbvergleichsspannungen (Gestaltänderungsenergiehypothese) für die als Beispiel gewählte breite Kreisöffnungsversteifung wird in Abb. 4.18 dargestellt.

170

4 Kerbwirkung

Der Formzahlabminderung in D folgt bei zu starker Versteifung ein Wiederanstieg der Formzahl in C (Einschlußwirkung). Zur optimalen Gestaltung einer versteiften Öffnung gehört eine günstige Randform (vom Lastfall abhängig), ein günstiger Randversteifungsquerschnitt (Form, Abmessungen, Verteilung am Rand) und eine günstige Kraftflußführung (Entlastungslöcher, Versteifungsrippen). Bei Kombination der Maßnahmen sind „neutrale“ Öffnungen möglich, d. h. Öffnungen ohne Kerbspannungserhöhung [598].

Öffnung und Einschluß in Platten Platten sind ebene Flächentragwerke, die im Unterschied zur Scheibe durch Biegemomente und Querkräfte beansprucht werden. Bei dünnen Platten wird die Kirchhoffsche Plattentheorie angewendet (Schubdeformation vernachlässigt), nach der sich die Formzahlen unabhängig von der Plattendicke ergeben. Bei dicken Platten trifft die Reissnersche Plattentheorie zu (Schubdeformation berücksichtigt), nach der die Formzahlen dickenabhängig ermittelt werden. Die Formzahlen der Öffnung in dünnen Platten sind kleiner, höchstens gleich der Formzahl der Scheibenöffnung im entsprechenden Beanspruchungsfall (z. B. einachsige Biegung statt einachsigem Zug). Die Formzahlen des Einschlusses in dünnen Platten sind größer, allenfalls gleich der Formzahl des Scheibeneinschlusses im entsprechenden Beanspruchungsfall. Bei sehr dicken Platten nähern sich die Formzahlen der Platte denen der Scheibe [598].

Öffnung und Einschluß in Schalen Schalen sind gekrümmte Flächentragwerke, die Membran- und Biegespannungen aufweisen. Die Kerbspannungen in Schalen sind gegenüber den Kerbspannungen in vergleichbaren Scheiben- und Plattenproblemen erhöht, weil Membran- und Biegespannungen gekoppelt auftreten. Das ansteigende Formzahlverhältnis für die als Beispiel gewählte elliptische Öffnung in der durch Axialzug beanspruchten Kreiszylinderschale als Funktion der Schalenkrümmungszahl ist in Abb. 4.19 dargestellt. Der Kerbspannungshöchstwert tritt im Scheitelpunkt C auf der Schaleninnenseite auf. Der Anstieg des Formzahlverhältnisses ist beim Einschluß im allgemeinen weniger ausgeprägt [598].

Räumliche Kerbwirkung, Hohlraum und Einschluß Der rotationssymmetrische Hohlraum im unendlichen Körper weist gegenüber der Öffnung in der unendlichen Scheibe erniedrigte Formzahlen auf. Der Einschluß verhält sich gegenläufig, es treten erhöhte Formzahlen auf. Die Kerbspannung in Scheiben endlicher Dicke, behandelt als räumliches Kerbproblem,

4.3 Kerbbeanspruchung an Öffnungen und Einschlüssen

171

Abb. 4.19: Kerbformzahlverhältnis der elliptischen Öffnung in der Kreiszylinderschale unter Axialzug als Funktion der Schalenkrümmungszahl; Auswertung nach Radaj u. Schilberth [598]

ist in der Scheibenmittelfläche gegenüber der Scheibenoberfläche infolge der Querdehnungsbehinderung etwas erhöht. Das Ausmaß der Erhöhung hängt von den Kerbabmessungen relativ zur Scheibendicke ab [598]. Schwingende und schlagartige Belastung Auf die schwingende Belastung sind die statisch ermittelten Formzahlen übertragbar, wenn die Schwingfrequenz deutlich unterhalb der ersten Eigenfrequenz des Bauteils bleibt. Sie sind ebenfalls übertragbar, wenn die betrachtete Kerbe klein gegenüber der Wellenlänge der bei Schwingbeanspruchung sich ausbildenden stehenden Wellen ist und als Nennspannung in der Formzahl die örtliche, zyklisch veränderliche Grundbeanspruchung verwendet wird. Kerben in einem Schwingungsknoten weisen demnach geringe, Kerben in einem Schwingungsbauch dagegen hohe Nenn- und Kerbspannungen auf. Hinsichtlich der Formzahl bei schlagartigen Vorgängen ist ein wenig bekanntes Dynamiktheorem von Love [614] aussagefähig. Eine schlagartig aufgebrachte Last verdoppelt alle Spannungen gegenüber dem statischen Fall, eine schlagartig umgekehrte Last verdreifacht sie. Die statischen Formzahlen sind auf schlagartig erfolgende Beanspruchungsvorgänge übertragbar, wobei aber die angesprochene Erhöhung der Bezugsspannungen und Kerbspannungen zu beachten ist.

172

4.4

4 Kerbwirkung

Elastisch-plastische Kerbbeanspruchung

Makrostützwirkungsformel nach Neuber Die elastisch-plastische Kerbbeanspruchung kann nach überwiegend einachsig konzipierten Modellen und einfachen Formeln näherungsweise bestimmt werden. Weit verbreitet ist die Makrostützwirkungsformel von Neuber, gefolgt von Näherungen von Glinka auf Basis der Formänderungsenergiedichte. Die Verallgemeinerung dieser einfachen Konzepte auf mehrachsige Beanspruchung hat sich als schwierig erwiesen, besonders im Fall nichtproportional mehrachsiger Beanspruchung. Dies gilt bereits für den nachfolgend betrachteten monotonen Beanspruchungsanstieg. Bei zyklischer Beanspruchung treten weitere Einflußgrößen hinzu. Wenn die Fließgrenze im Kerbgrund lokal überschritten wird, steigen die Kerbspannungen unterproportional und die Kerbdehnungen überproportional (Makrostützwirkung). Der Zusammenhang zwischen elastisch-plastischer Spannungs- und Dehnungsformzahl, r und e , und rein elastischer Formzahl k bei starker oder auch einschließlich milder Kerbwirkung ist nach Neuber [587, 659, 660] durch folgende Beziehungen gegeben: r e ˆ 2k r … e

… k  1†

1† ˆ k … k

…4:21† …4:22†



Ausgedrückt durch die Kerbhöchstspannungen rk und Kerbhöchstdehnungen ek (im elastisch-plastischen Bereich) sowie die Nennspannungen rn und Nenndehnungen en (im elastischen Bereich) lauten diese Gleichungen: rk ek ˆ rn en 2k ˆ r k …ek

r2n 2 E k

en † ˆ rn en k … k

…4:23† 1† ˆ

r2n k … k E



…4:24†

Der Inhalt von (4.21) bis (4.24) ist in Abb. 4.20 veranschaulicht, wobei die Annahme der elastischen Nennspannungen und Nenndehnungen (dem Nettoquerschnitt zugehörig) zugunsten einer tatsächlich auftretenden möglicherweise zu beachtenden Plastizität aufgegeben wird. Im Einklang mit Neubers theoretischen Ableitungen der Gleichungen werden die Kerbhöchstspannungen rk und Kerbhöchstdehnungen ek auf der Spannungs-Dehnungs-Kurve des Werkstoffs ausgehend von der rein elastischen Kerbhöchstspannung rkH (zugehörig ekH ) auf der Hookeschen Geraden ermittelt. Der Zusammenhang wird durch hyperbelartige Kurvenbögen hergestellt, die bei scharfen Kerben nach (4.21) flacher, bei milden Kerben nach (4.22) steiler verlaufen. Damit werden nach (4.21) etwas höhere Spannungen und Dehnungen im Kerbgrund ermittelt als nach (4.22).

4.4 Elastisch-plastische Kerbbeanspruchung

173

Abb. 4.20: Veranschaulichung der Berechnung der elastisch-plastischen Beanspruchung im Kerbgrund (Makrostützwirkung) bei scharfen und milden Kerben mit den Kerbhöchstspannungen rk und den Kerbhöchstdehnungen ek , den Nennspannungen rn und den Nenndehnungen en sowie mit Index H für Hooke; in Anlehnung an Neuber [587, 660]

Die Hookeschen Kerbhöchstspannungen rkH ergeben sich aus den Hookeschen Nennspannungen rnH (zugehörig enH ) durch Multiplikation mit der elastischen Formzahl k . Auch die Hookeschen Nennspannungen sind mit den wirklichen Nennspannungen rn (zugehörig en ) über die erwähnten hyperbelartigen Kurvenbögen verbunden, liegen also etwas höher und je nach Näherung der elastisch-plastischen Lösung unterschiedlich. Letzteres bedingt bei einheitlicher Formzahl k unterschiedliche Werte rkH . Auf der Hookeschen Geraden erscheinen demnach als elastische Referenzwerte zwei unterschiedliche, leicht erhöhte Nennspannungen. Unterschied und Erhöhung verschwinden, wenn die reale Nennspannung rn im elastischen Bereich bleibt. Werden die für scharfe Kerben abgeleiteten Beziehungen (4.21) und (4.23) auf mildere Kerben angewendet, wie es in der Praxis häufig geschieht, dann werden offensichtlich zu hohe Werte rk und ek berechnet. Nach einem Vorschlag von Sonsino [252] wird deshalb die nach (4.23) sich ergebende Gesamtdehnung ek ˆ ek el ‡ ek pl um die Hälfte des ekH übersteigenden Dehnungsanteils auf die korrigierte Gesamtdehnung ek verkleinert: 1 ek ˆ …ek ‡ ekH † 2

…4:25†

Die vorstehend beschriebenen vereinfachten Ansätze sind für die Anwendung auf gekerbte Flachstab- und Rundstabproben unproblematisch, besonders dann, wenn die Nennspannung im elastischen Bereich bleibt, also der vollplastische Zustand weit entfernt ist. Es treten aber sofort Fragen auf, wenn das nicht der

174

4 Kerbwirkung

Fall ist oder wenn komplexere Aufgaben im Rahmen der Strukturberechnung zu lösen sind, etwa die Bestimmung der elastisch-plastischen Kerbbeanspruchung ausgehend von den elastischen Kerbspannungen ohne eine Nennspannungsfestlegung. Es stellt sich also ein Übertragungsproblem für die in den betrachteten Grundfällen funktionsanalytisch abgeleiteten einfachen Formeln. Um das Übertragungsproblem im Einzelfall angemessen zu lösen, werden nachfolgend die wichtigsten Eigenheiten der verwendeten theoretischen Lösungen dargestellt. Diese Lösungen beziehen sich auf die nichtebene (out-of-plane) Schubbeanspruchung ebener Kerben idealisierter Form (der Einfluß der Kerbform ist sekundär) bei speziellem nichtlinearen Werkstoffgesetz mit stetig abflachendem Verlauf zu unterschiedlich einstellbaren Grenzwerten. Die Ableitung nach Neuber [659] bezieht sich zwar zunächst auf ein beliebiges Werkstoffgesetz, den Näherungsformeln liegt aber ein spezielles zugrunde. Bei andersartigem Verlauf der Werkstoffkurve, beispielsweise elastisch-idealplastisch, ist mit gewissen Abweichungen bei den Ergebnissen zu rechnen. Das verwendete Werkstoffgesetz beinhaltet modellbezogen Schubspannungen und Scherdehnungen, wird aber, wie in (4.21) bis (4.24) und in Abb. 4.20 geschehen, auf Normalspannungen und Normaldehnungen übertragen, was nach Neuber [659] bei Gültigkeit der Gestaltänderungsenergiehypothese für das Fließen als zulässig angesehen wird. Die einfache Formel (4.21) wurde für scharfe Kerben abgeleitet (Neuber [659]), die allgemeine Formel (4.22) dagegen für Kerben beliebiger Schärfe (Neuber [587], 3. Auflage). In beiden Fällen ist die Nennspannung als rein elastisch angenommen, ohne die Auswirkung des elastisch-plastischen Verhaltens zu quantifizieren. Durch genaue Berechnung der elastisch-plastischen Kerbbeanspruchung in stabartigen Proben und in komplexeren Strukturen nach der Finite-ElementeMethode läßt sich zeigen, daß die einfachen Beziehungen (4.21) bis (4.24) die realen Verhältnisse überraschend gut annähern (auch bei stärker abweichendem Werkstoffgesetz), wenn die Nennspannung sinngemäß definiert und die Annäherung an den vollplastischen Zustand vermieden wird. Die Nennspannung ist sinngemäß definiert, wenn eine gemittelte konstante Spannung im Kerbquerschnitt gewählt wird, die die Gleichgewichtsbedingung erfüllt. Bei Biege- oder Torsionsbelastung bedingt das die Einführung einer bikonstanten (stufenförmigen) Spannungsverteilung. Wenn die Spannungs-Dehnungs-Kurve nach Anpassung an die Fließspannung r0;2 den weiteren Verfestigungsverlauf nur unzureichend wiedergibt oder wenn der vollplastische Zustand miterfaßt werden soll, bieten sich genauere Näherungsformeln an, deren Grundstruktur theoretisch begründet ist, die jedoch über zunächst offene Parameter Spielraum für die Anpassung an die Gegebenheiten des Einzelfalls bieten. Die dabei wichtigste Bezugsgröße ist die Grenzlastformzahl (auch Traglastformzahl) pl , das Verhältnis der Nennspannung rn pl bei voller Plastifizierung des Nettoquerschnitts unter Annahme elastisch-idealplastischen Werkstoffs zur Nennspannung rnF ˆ rF = k bei lokalem Fließbeginn nach Saal [662]: pl ˆ

rn pl rnF

…4:26†

4.4 Elastisch-plastische Kerbbeanspruchung

175

Die Näherungsformeln nach [645, 647, 662, 666, 672] (s. a. [252, 641, 646, 655, 674]) sind von Seeger u. Beste [665] einem einheitlichen Herleitungsschema zugeordnet worden. Auf Basis der Grenzlastformzahl kann außerdem die Neuber-Gleichung (4.21) in einer modifizierten Form angegeben werden, die den Übergang in den vollplastischen Zustand zutreffend erfaßt [667]. Eine weitere Möglichkeit der Bestimmung der elastisch-plastischen Kerbbeanspruchung, besonders in unübersichtlichen Fällen, ist durch die Finite-ElementeMethode gegeben [658]. Auf die Möglichkeit, Anrisse bzw. rißartige Fehlstellen im Kerbgrund im elastisch-plastischen Beanspruchungsbereich von Kerbe und Riß zu beschreiben, sei ergänzend hingewiesen. Dazu wird die Neuber-Formel für elastisch-plastische Kerbbeanspruchung mit der HRR-Lösung (Hutchinson-Rice-Rosengren [1081, 1082, 1089] für Rißspitzenplastizität kombiniert (Cornec et al. [644]). Neuber-Formeln mit Eigenspannungen Um die elastisch-plastische Kerbbeanspruchung nach der Neuber-Formel auch dann annähern zu können, wenn anfängliche Kerbeigenspannungen rkE bzw. Kerbeigendehnungen ekE vorliegen, wurden von Lawrence et al. [656], Reemsnyder [661] und Seeger et al. [642, 668] folgende Modifizierungen der Neuber-Formel (4.21) vorgenommen (in der Reihenfolge der genannten Autoren): 1 …rn k ‡ rkE †2 E  2 1 rn k r k ek ˆ E 1 rkE =rk

…4:27†

1 …r n k †2 E

…4:29†

r k ek ˆ

r k …ek

ekE † ˆ

…4:28†

Die elastisch-plastischen Kerbspannungen rk und Kerbdehnungen ek in den Gleichungen (4.27) bis (4.29) werden ausgehend von bekannten Kerbeigenspannungen rkE bzw. Kerbeigendehnungen ekE bestimmt. Also gilt bei gleichsinnig-monotoner Zugbelastung rk > rkE und ek > … ekE †. Zu einer positiven Eigenspannung rk gehört eine negative Eigendehnung ekE . Erst das Rückgängigmachen der Eigendehnung erzeugt die Eigenspannung. Die (elastische) Nennspannung rn , die die äußere Belastung kennzeichnet, ist dagegen unabhängig von Eigenspannung und Eigendehnung. Nach den Formeln von Lawrence (4.27) und Reemsnyder (4.28) werden die Kerbeigenspannungen als monotone Vorbelastung aufgefaßt, was nur teilweise zutrifft. Diese Vorbelastung wird von Lawrence in den Nennspannungen und nach Reemsnyder in den Kerbspannungen berücksichtigt. Der Formel (4.29) von Seeger liegt eine andere Modellvorstellung zugrunde. Es wird die Kerbe mit dünner Randschicht betrachtet, Abb. 4.21 (a). In der

176

4 Kerbwirkung

Abb. 4.21: Modell der Kerbe mit dünner Randschicht und Eigenspannung rE bzw. Eigendehnung (–eE) unter Zugbelastung rL (a), Last-Dehnungs-Pfade (b) und örtliche Beanspruchungspfade (c); nach Seeger [56]

Randschicht herrschen die Eigenspannungen rE , während die damit im Gleichgewicht stehenden Eigenspannungen im Kernwerkstoff (einschließlich Kerbgrund) vernachlässigbar klein sind. Die Kerbdehnungen des Kernwerkstoffs bei Belastung werden der Randschicht unvermindert aufgezwungen, ähnlich den Gegebenheiten bei einem Dehnungsmeßstreifen [56]. Die örtliche Dehnung e (bzw. ek ) der Kerbe im Kernwerkstoff ist deshalb in der Randschicht der unter Eigenspannungsaufbau rückgängig gemachten Eigendehnung eE (bzw. ekE ) zu überlagern, woraus (4.29) folgt. Bei zyklischer Belastung verlaufen die LastDehnungs-Pfade nach Abb. 4.21 (b) und die örtlichen Beanspruchungspfade nach Abb. 4.21 (c) um den Betrag der Eigendehnung gegeneinander versetzt. Die örtlichen Spannungen und Dehnungen im Diagramm sind den Kerbspannungen und Kerbdehnungen gleichzusetzen. Die Lastspannung rL entspricht der Nennspannung rn im Nettoquerschnitt. Randschicht und Kernwerkstoff haben im Diagramm unterschiedliche Fließ- und Verfestigungskennwerte bei identischem Elastizitätsmodul. Hinsichtlich der Vorgehensweise bei dicker Randschicht nach Bäumel u. Seeger [640] wird auf Kap. 4.12 verwiesen. Kerbspannungsformel nach Glinka Alternativ zum Neuberschen Ansatz wird von Glinka [646] ein Ansatz auf Basis der Formänderungsenergiedichte gewählt, um die elastisch-plastische Kerbbeanspruchung zu bestimmen (ähnlicher Ansatz bei Kühnapfel u. Troost [655]). Die Annahme wird eingeführt, daß die Formänderungsenergiedichte in der elastisch gestützten plastischen Zone der Kerbe (small scale yielding) dem Wert der rein elastischen Lösung gleich bleibt. Diese Annahme liegt für einachsige und proportional zweiachsige Spannungszustände nahe, da sich Spannungen und Dehnungen nach Überschreiten der Fließgrenze gegenläufig verhalten, während die Hauptrichtungen des Spannungszustands beibehalten werden. Daß der Ansatz eine höhere Lösungsgenauigkeit bietet als die einfache Neuber-Formel nach (4.21), wurde über eine größere Zahl von Versuchsergebnissen nachgewiesen.

4.4 Elastisch-plastische Kerbbeanspruchung

177

Die nichtlineare Spannungs-Dehnungs-Beziehung (2.16) wird den Ableitungen zugrunde gelegt. Nachfolgend wird der einfachere Fall betrachtet, daß die Nennspannungen im elastischen Bereich bleiben. Die Ausweitung auf elastischplastische Nennspannungen ist problemlos möglich. Zunächst wird die Kerbe unter ebenem Spannungszustand untersucht. Die mit der Nennspannung quadratisch ansteigende elastische Formänderungsenergiedichte wird der nichtlinear ansteigenden elastisch-plastischen Formänderungsenergiedichte gleichgesetzt: 2k

r2n r2 rk rk 1=n ˆ k‡ 2E 2E n ‡ 1 K

…4:30†

mit elastischer Formzahl k , elastischer Nennspannung rn , elastisch-plastischer Kerbhöchstspannung rk , Elastizitätsmodul E, Verfestigungskoeffizient K und Verfestigungsexponent n. Vorstehende Gleichung (4.30) kann auf den ebenen Dehnungszustand umgerechnet werden. Es ergibt sich derselbe Gleichungsaufbau, wobei die Größen E, K und n zu modifizieren sind. Es interessiert der Vergleich von (4.30) mit der einfachen Neuber-Gleichung (4.21). Dafür wird letztere mit (2.16) umgeformt: 2k

  r2n rk rk rk 1=n ˆ ‡ 2E 2 E K

…4:31†

Die Lösungen nach Glinka (Kurvenpunkt G) und Neuber (Kurvenpunkt N) sind in Abb. 4.22 gegenübergestellt. Die Formänderungsenergiedichte Wn der Nennspannung erscheint als schraffierte Dreiecksfläche. Die entsprechende Energiedichte Wk der Kerbbeanspruchung ist durch Punktraster veranschaulicht. Der Neuber-Lösung entspricht die Fläche unter der hervorgehobenen

Abb. 4.22: Veranschaulichung der Kerbbeanspruchungslösungen von Glinka (Punkt G) und Neuber (Punkt N); erstere Lösung auf Basis der Formänderungsenergiedichten Wk (elastischplastische Kerbbeanspruchung) und Wn (elastische Nennbeanspruchung); nach Glinka [646]

178

4 Kerbwirkung

Dreieckshypothenuse. Die Kerbdehnungen nach Neuber sind deutlich größer als die nach Glinka, wobei Versuchsergebnisse die Lösung von Glinka bestätigen. Dabei ist anzumerken, daß auch Neubers modifizierte Gleichung (4.22) eine Verkleinerung der Kerbdehnung ausweist. Ein physikalisch begründeter Zusammenhang zwischen einfacher NeuberFormel (4.21) und Formänderungsenergiedichtekonzept konnte von Ye et al. [677] hergestellt werden. Die Neuber-Formel läßt sich aus der Formänderungsenergiedichte im Kerbgrund erklären, wenn die Dissipation des plastischen Energieanteils vernachlässigt wird. Last-Kerbdehnungs-Kurven nach Seeger In der Praxis wird der Zusammenhang zwischen den äußeren Lasten und den örtlichen Spannungen und Dehnungen nach Überschreiten der Fließgrenze benötigt (Bauteilfließkurve). Die örtlichen Beanspruchungen werden nachfolgend als Kerbbeanspruchungen aufgefaßt (Kerbfließkurve). Die vorstehenden Angaben zur elastisch-plastischen Kerbwirkung eröffnen die Möglichkeit der näherungsweisen Berechnung der Kerbfließkurve ausgehend von elastischer Formzahl und Spannungs-Dehnungs-Kurve (Seeger et al. [638, 639, 648–653, 665– 668]). Im Hinblick auf zyklische Beanspruchungen ist dabei die Schwierigkeit zu überwinden, daß elastisch-plastische Nenndehnungen vorliegen, etwa bei hohen Mittelspannungen, bei Beanspruchung im Kurzzeitfestigkeitsbereich oder bei einer Spannungs-Dehnungs-Kurve, die sich frühzeitig von der elastischen Geraden ablöst. Die elastisch-plastische Kerbbeanspruchung nach teilweiser oder vollständiger Plastifizierung des Nettoquerschnitts läßt sich nach Seeger u. Heuler [667] über folgende Modifikation der Neuber-Gleichung (4.21) bestimmen: r e ˆ 2k rn ˆ rn

enE E ˆ 2k  E rn

k pl

…4:32† …4:33†

Dabei werden die traglastbezogene Nennspannung rn zusammen mit der gemäß Spannungs-Dehnungs-Kurve des Werkstoffs modifizierten Nenndehnung en ˆ f (rn) sowie der elastisch-plastische Sekantenmodul E* ˆ rn/en und die Traglastformzahl pl nach (4.26) eingeführt. Eine kurzgefaßte Diskussion der vorstehenden Gleichungen im Fall von elastisch-idealplastischem oder stetig verfestigendem Werkstoff ohne oder mit Überschreitung der Fließgrenze im Nettoquerschnitt ist im Anhang von [650] aufgenommen. Es ist meist ausreichend, die in (4.33) benötigte Traglastformzahl pl aus den Traglastnennspannungen rn pl (bei elastisch-idealplastischem Werkstoff) gemäß elementaren Gleichgewichtsbetrachtungen unter Vernachlässigung innerer Mehrachsigkeit zu bestimmen [652, 653]. In Abb. 4.23 ist dies für die Biege- und Tor-

4.4 Elastisch-plastische Kerbbeanspruchung

179

Abb. 4.23: Traglastnennspannungen aus elementaren Gleichgewichtsbetrachtungen für einen gekerbten Rundstab unter Querkraftbiegung und Torsion (Querschubspannungen vernachlässigt); nach Hoffmann u. Seeger [652, 653] (Belastung modifiziert)

Abb. 4.24: Kerbfließkurven für die Kreislochkerbe in einer Zugscheibe bei unterschiedlich stark verfestigendem Werkstoff; modifizierte Neuber-Gleichung (gestrichelte Linien) und Finite-Elemente-Ergebnisse (durchgehende Linien); nach Amstutz u. Seeger [638]

sionsbelastung eines gekerbten Rundstabes veranschaulicht. Bei ausgeprägter innerer Mehrachsigkeit ist ein genaueres Näherungsverfahren anwendbar [648]. Die mit dem modifizierten Neuber-Ansatz berechneten Kerbfließkurven für die Kreislochkerbe in einer Zugscheibe (weit, aber nicht unendlich ausgedehnt, wie an k < 3,0 erkenntlich) bei unterschiedlich verfestigendem Werkstoff sind in Abb. 4.24 den genaueren Ergebnissen nach der Finite-Elemente-Methode gegenübergestellt [638]. Die Ordinate ist identisch mit dem Nennspannungsverhältnis rn /rnF bzw. mit dem entsprechenden Lastverhältnis. Der modifizierte Neuber-Ansatz wurde von der einachsigen auf die mehrachsige elastisch-plastische Kerbbeanspruchung ausgedehnt [638, 651]. Dabei konnte die Plastizitätstheorie mit dem vereinfachten Fließgesetz von Hencky angewendet werden, weil im elastisch-plastischen Kerbbereich annähernd gleichbleibende Dehnungsverhältnisse e2 /e1 und e3 /e1 (ausgehend vom rein elastischen Zustand) bei unveränderten Hauptrichtungen herrschen. In den Glei-

180

4 Kerbwirkung

Abb. 4.25: Kerbfließkurven für den gekerbten Rundstab unter Zugbelastung bei unterschiedlich stark verfestigendem Werkstoff; modifizierte Neuber-Gleichung (gestrichelte Linien) und Finite-Elemente-Ergebnisse (durchgehende Linien); nach Hoffmann u. Seeger [650, 651]

chungsformalismus sind die Vergleichsspannungen und Vergleichsdehnungen nach von Mises anstelle der einachsigen Spannungen und Dehnungen einzuführen. Das Ergebnis einer vergleichenden Berechnung für den gekerbten Rundstab unter Zugbelastung ist in Abb. 4.25 dargestellt. Schließlich wurde der modifizierte Neuber-Ansatz auch auf die mehrachsige Kerbbeanspruchung bei proportional zusammengesetzter Belastung ausgedehnt und am Beispiel der überlagerten Biege- und Torsionsbelastung einer gekerbten Rundstabprobe demonstriert [652, 653]. Ebenso konnte für die nichtproportional zusammengesetzte Belastung ein Näherungsverfahren angegeben werden (Hoffmann et al. [649]). Bei nichtproportionaler zyklischer Belastung (vorstehend war monotone Belastung betrachtet) komplizieren sich die Verhältnisse. Die nichtproportionale Kombination von Axial- und Torsionsbelastung an einem Kerbrundstab (statische Axiallast kombiniert mit zyklischer Torsionslast sowie synchrone Axialund Torsionslast kombiniert) wurde auf Basis der Fließbedingung nach von Mises und der kinematischen Verfestigungshypothese mit der Finite-ElementeMethode untersucht (Savaidis et al. [663, 664]). Die numerischen Ergebnisse zeigen die Hysteresisschleifen der örtlichen (Kerb-)Beanspruchung, deren Lage und Größe im Spannungs-Dehnungs-Diagramm der Axial- bzw. Schubbeanspruchung von Mittelwert und Amplitude der kombinierten Belastung abhängen. Das Memory- und Masing-Verhalten ist örtlich nachweisbar. Formdehngrenze nach Siebel Zum lokalen Fließvorgang bei inhomogener Beanspruchung (Kerbstäbe, aber auch ungekerbte Stäbe oder Bauteile unter Biege- oder Torsionsbelastung) sind

4.4 Elastisch-plastische Kerbbeanspruchung

181

im Hinblick auf die Festigkeitsbewertung bei statischer Last in einem frühen Stadium der Entwicklung einfache Ingenieursformeln abgeleitet worden (Siebel et al. [669, 670], Wellinger u. Dietmann [675]). Der örtliche Fließbeginn wird durch die Formdehngrenze gekennzeichnet, das ist die fiktive örtliche Spannung, die sich bei linearelastischem Werkstoff an der höchstbeanspruchten Stelle unter der Last einstellen würde, unter der in Wirklichkeit eine plastische Dehnung bestimmter Größe auftritt, beispielsweise epl ˆ 0;2 %. Der Ansatz ist auf den vollplastischen Zustand übertragbar. Die plastische Stützwirkung bezeichnet das Verhältnis der Last im teil- oder vollplastischen Zustand zur Last bei Fließbeginn. Die Formdehngrenze rF ist um die plastische Stützziffer npl größer als die Fließgrenze rF [669, 675, 676]: rF ˆ npl rF

…4:34†

Die plastische Stützziffer npl hängt vom Verfestigungsverhalten des Werkstoffs, von der Querschnittsform und von der Kerbgeometrie sowie von der betrachteten Größe der plastischen Grenzdehnung ab. Die in (4.34) zum Ausdruck kommende plastische Stützwirkung tritt bereits beim ungekerbten Stab auf, wenn dieser inhomogen beansprucht wird. Dies ist bei Biege- und Torsionsbelastung der Fall. Beim Hinzutreten einer Kerbe verstärkt sich die Inhomogenität. Durch die Kerbe wird bereits bei Axialbelastung die inhomogene Beanspruchung im Stabquerschnitt verursacht. In allen genannten Fällen ist die Formdehngrenze ein für die Bauteildimensionierung bei statischer Last maßgebender Festigkeitskennwert (s. Kap. 8.8).

Näherungslösungen bei mehrachsiger Kerbbeanspruchung Analytische Näherungen für mehrachsige elastisch-plastische Kerbbeanspruchung sind für die Bewertung komplexer Beanspruchungsabläufe hinsichtlich Kurzzeitfestigkeit unabdingbar. Es besteht zwar auch die Option der elastischplastischen Finite-Elemente-Berechnung an Kerben, diese ist jedoch für die Problemstellungen in der Praxis zu aufwendig und ist eher in wissenschaftlich orientierten Vergleichsuntersuchungen zu finden. Die Näherungslösungen bei mehrachsiger elastisch-plastischer Kerbbeanspruchung werden nachfolgend zusammengestellt, basierend auf der Übersicht von Socie u. Marquis [270]. Dabei findet der ebene Dehnungszustand bzw. die reine Scherbeanspruchung im Kerbgrund besondere Beachtung. Es wird von proportional mehrachsigen Zuständen bei monotonem Beanspruchungsanstieg ausgegangen. Die nächstliegende Näherung besteht darin, die Neubersche Näherung nach (4.21) auf die Vergleichsspannungen bzw. Vergleichsdehnungen nach von Mises im elastisch-plastischen (linke Gleichungsseite) bzw. elastischen (rechte Gleichungsseite) Zustand zu beziehen: rkv ekv ˆ rkv el ekv el

…4:35†

182

4 Kerbwirkung

Die Spannungs-Dehnungs-Beziehung nach Ramberg und Osgood wird ebenfalls in Vergleichsspannungen bzw. Vergleichsdehnungen formuliert: ev ˆ

rv rv 1=n ‡ E K

…4:36†

Die Vergleichsspannungen bzw. Vergleichsdehnungen sind durch die erste Hauptspannung r1 bzw. erste Hauptdehnung e1 ausdrückbar, wenn das Verhältnis der Hauptspannungen bzw. Hauptdehnungen zueinander konstant (und mit den elastischen Verhältnissen übereinstimmend) gehalten wird: r1 rv ˆ p 2

" 1

e1 ev ˆ p 2…1 ‡ m†

r2el r1el

2  ‡ 1

" 1

e2el e1el

r3el r1el

2  ‡ 1

2  r2el ‡ r1el e3el e1el

r3el r1el

2  e2el ‡ e1el

2 #1=2 …4:37† e3el e1el

2 #1=2 …4:38†

Mit (4.35) bis (4.38) ist der elastisch-plastische Beanspruchungszustand an Kerben ausgehend von den elastischen Gegebenheiten eindeutig bestimmbar. Relativ kleine, elastisch gestützte plastische Formänderungen sind vorausgesetzt. Ein entsprechender Lösungsgang von Dowling [77, 1624], zunächst für den ebenen Dehnungszustand im Kerbgrund (e2 ˆ 0), aber erweiterbar auf allgemeinere Beanspruchung …e2 6ˆ 0† führt zur Dehnungs-Spannungs-Beziehung r1  r1 1=n e1 ˆ  ‡ E K

…4:39†

mit modifizierten Werkstoffkennwerten E und K anstelle von E und K (Modifikation abhängig von e2 =e1 , m und n). Das Ergebnis einer derartigen Umrechnung der Ausgangskurve beim einachsigen Spannungszustand …e2 ˆ mel e1 † zeigt Abb. 4.26 für den ebenen Dehnungszustand …e2 =e1 ˆ 0† und den reinen Scherzustand …e2 =e1 ˆ 1†. Mit (4.37) und (4.38) können rv und ev im Kerbgrund bestimmt werden. Der Rechengang ist offensichtlich auf proportional mehrachsige Beanspruchung mit kleinen plastischen Formänderungen beschränkt. Die vorstehend beschriebene Vorgehensweise wurde von Hoffmann u. Seeger [650–653] dahingehend modifiziert, daß die Spannungs-Dehnungs-Beziehung im plastischen Bereich nach dem Ansatz von Hencky mit veränderlichem „Plastizitätsmodul“ beschrieben wird (mit entsprechender Anpassung der Querkontraktionszahl). Die Einführung eines konstanten Verhältnisses e2 =e1 (dem elastischen Zustand entsprechend) erwies sich als geeigneter als die Annahme eines konstanten Verhältnisses r2 =r1 . Die Lösung wurde bereits im vorstehenden Abschnitt über die Last-Kerbdehnungs-Kurven angesprochen.

4.4 Elastisch-plastische Kerbbeanspruchung

183

Abb. 4.26: Umrechnung der Spannungs-Dehnungs-Kurve (nach Ramberg–Osgood) bei einachsiger Beanspruchung (e2/e1 ˆ 0,3) auf die Kurven beim ebenen Dehnungszustand (e2/e1 ˆ 0) und reinen Scherzustand (e2/e1 ˆ 1); nach Dowling in Socie u. Marquis [270]

Anstelle des stetigen Deformationsgesetzes von Hencky verwenden Moftakhar et al. [657] das inkrementelle Gesetz nach Prandtl und Reuss. Hier wird das Inkrement der Formänderungsenergiedichte dem elastischen Wert gleichgesetzt: rij Deij ˆ rij el Deij el …4:40† Innerhalb des Gesamtwertes bleibt das Verhältnis der ij-Komponenten konstant (anstelle von e2/e1 bzw. r2/r1). Dies entspricht proportionaler Beanspruchung. Bei nichtproportionaler Beanspruchung wird der Ansatz der Formänderungsenergiedichte wie folgt erweitert: rij Deij ‡ Drij eij ˆ rij el Deij el ‡ Drij el eij el

…4:41†

Die Gleichungen (4.40) bzw. (4.41) treten anstelle der Neuber-Gleichung (4.21) und werden daher auch als deren inkrementelle Form bezeichnet. Einen ähnlichen Zugang, kombiniert mit isotroper und/oder kinematischer Verfestigung, wählt Chu [643], wobei im Hinblick auf zyklische Beanspruchung Zusatzinformationen zum Memory- und Masing-Verhalten mitgeführt werden. Wahlweise kann Proportionalität der Spannungen, der Dehnungen oder der Formänderungsenergiedichten eingeführt werden. Eine auf die Möglichkeiten und Anforderungen der elastischen Finite-Elemente-Strukturberechnung zugeschnittene Fassung der grundlegenden Beziehungen (4.35) bis (4.38) mit Hinzufügung des zyklischen Hystereseverhaltens wurde von Koettgen et al. [654] angegeben. Das Last-Kerbdehnungs-Verhalten wird analog zur Spannungs-Dehnungs-Beziehung (4.36) beschreiben: ekv

 1=n F F ˆ ‡ E K

…4:42†

184

4 Kerbwirkung

mit Konstanten E, K und n, die nunmehr für das Kerbverhalten in der Struktur kennzeichnend sind. Im Zusammenhang mit dem Berechnungsverfahren wird auch eine Kerbfließfunktion anstelle der Werkstoffließfunktion eingeführt. Zu den vorstehend beschriebenen Näherungslösungen sind von Socie u. Marquis [270] Vergleichsberechnungen in einfachen Beanspruchungsfällen durchgeführt worden. Allgemeinere Werkstoffmodelle für zyklische Beanspruchung Die vorstehend beschriebenen Näherungslösungen für die elastisch-plastische Kerbbeanspruchung beschränken sich weitgehend auf den monotonen und proportionalen Beanspruchungsanstieg. Nur in wenigen Fällen wird die Ausweitung auf zyklische und nichtproportionale Beanspruchungen ansatzweise verwirklicht. Das Problem der elastisch-plastischen Kerbbeanspruchung stellt sich im allgemeinen Fall nichtproportionaler und nichteinstufiger zyklischer Beanspruchung als äußert komplex dar. Andererseits ist eine hinreichend genaue Beschreibung der zyklischen Beanspruchungsabläufe (Spannungen und Dehnungen) Voraussetzung für eine realistische Schwingfestigkeitsprognose ausgehend von Kurzrißmodellen. Zentral für die Problemlösung ist ein vielseitiges und anpassungsfähiges Werkstoffmodell, das sich in die Finite-Elemente-Methode zur Bestimmung der Beanspruchungsabläufe in Kerben integrieren läßt. Die kontinuumsmechanischen Werkstoffmodelle umfassen zunächst Fließbedingung, Fließgesetz und Verfestigungsgesetz. Die Fließbedingung wird nach von Mises oder Tresca formuliert (zylindrische oder prismatische Fließgrenzfläche im Hauptspannungsraum). Das Fließgesetz drückt sich in unterschiedlichen kontinuierlichen oder inkrementellen Spannungs-Dehnungs-Beziehungen aus (Normalenregel hinsichtlich Fließgrenzfläche). Die Verfestigungsgesetze unterscheiden sich nach isotroper Verfestigung (korreliert mit akkumulierter plastischer Dehnung) und kinematischer Verfestigung (korreliert mit Rückspannungstensor). Ein allgemeineres Werkstoffmodell für die Voraussage der Ermüdungsfestigkeit muß Hystereseschleifen bzw. Spannungs-Dehnungs-Abläufe bei beliebiger mehrachsiger zyklischer Beanspruchung beschreiben können, darunter: – isotrope und anisotrope (kinematische) Verfestigung, – zyklische Ver- und Entfestigung, – zyklenabhängiges Mitteldehnungskriechen (ratchetting) bei ein- und mehrachsiger spannungskontrollierter Beanspruchung, – zyklenabhängiges Mittelspannungsrelaxieren bei ein- und mehrachsiger dehnungskontrollierter Beanspruchung, – Zusatzverfestigung durch nichtproportional mehrachsige Beanspruchung. Zusätzlich ist in manchen Fällen der Beanspruchungsablauf bei zyklischer Erstbelastung zu modellieren, etwa bei vorausgehender Überlastung. Die Überlagerung von zeitabhängigem Kriechen bzw. Relaxieren ist eine weitere Modellanforderung hinsichtlich der Beanspruchung bei erhöhter Temperatur.

4.4 Elastisch-plastische Kerbbeanspruchung

185

Zyklenabhängiges Mitteldehnungskriechen und Mittelspannungsrelaxieren bei einachsiger Beanspruchung ist in Kap. 2.4 beschrieben, nichtproportional bedingte Zusatzverfestigung in Kap. 3.4. Das durch zyklenabhängiges Kriechen verursachte Ratchetting bei nichtproportional mehrachsiger Beanspruchung wird durch den Dehnungsablauf in Abb. 4.27 veranschaulicht. Eine dünnwandige Hohlstabprobe wird bei statischer Axialbelastung Fx (konstante Axialspannung rx) einem zyklischen Torsionsmoment DMt mit konstanter Scherdehnungsschwingbreite Dcxy unterworfen. Zunächst wird bis zum Kurvenpunkt A proportional belastet, dann wird die Scherdehnung zyklisch verändert. Bis zum Kurvenpunkt B verläuft der Entlastungsvorgang elastisch, die Axialdehnung bleibt konstant. Bei der anschließenden elastisch-plastischen Scherbeanspruchung vergrößert sich jedoch die Axialdehnung. Im vorliegenden Beispiel stabilisiert sich das Ratchetting mit zunehmender Schwingspielzahl (shake down). Bei größeren plastischen Scherdehnungen kann jedoch auch ein instabiles Anwachsen der Axialdehnung auftreten. Besondere Schwierigkeiten macht eine hinreichend allgemeine und gleichzeitig genaue mathematische Beschreibung des mehrachsigen zyklenabhängigen Verfestigungsverhaltens einschließlich Kriechen und Relaxation (Dafalias u. Popov [400]). Es wird zwischen Mehrflächenmodellen (benannt nach den Fließgrenzflächen) mit linearer kinematischer Verfestigung nach Prager [414] und Ziegler [417] und weiterreichenden Modellen mit nichtlinearer kinematischer Verfestigung, zunächst nach Armstrong u. Frederick [394] und weiterentwickelt von Chaboche [396, 397], Ohno u. Wang [412, 413], Jiang u. Sehitoglu [403–405] und Döring et al. [401, 402, 1592], unterschieden (s. a. Tanaka [416]). Zur Veranschaulichung eines Mehrflächenmodells der anisotropen Verfestigung dient das Modell von Mróz [408–411] in der Anwendung auf den zweiachsigen Spannungszustand (Hauptspannungen r1 und r2). Die Fließbedingung

Abb. 4.27: Ratchetting bei nichtproportional zweiachsiger Beanspruchung; Axialspannung rx aus Zugkraft Fx überlagert von zyklischer Scherdehnung Dcxy aus zyklischem Torsionsmoment DMt; nach Socie u. Marquis [270]

186

4 Kerbwirkung

Abb. 4.28: Inkrementell linearisierte Spannungs-Dehnungs-Kurve (a) und elliptische Fließgrenzlinien (b) zum anisotropen Verfestigungsmodell von Mróz [408, 409]

nach von Mises wird durch eine diagonal ausgerichtete Ellipse als Fließgrenzlinie im r1r2-Diagramm gekennzeichnet. Bei isotroper Verfestigung weitet sich die Ellipse in allen Richtungen abhängig vom Anstieg der einachsigen Vergleichsspannung. Bei anisotroper Verfestigung wird die Ellipse entsprechend translatorisch verschoben (kinematische Verfestigung). Nach dem Modell von Mróz werden gestuft aufgeweitete Fließgrenzlinien und stetige translatorische Verschiebung verknüpft. Die Spannungs-Dehnungs-Kurve des einachsigen Vergleichsversuchs wird inkrementell linearisiert, und den Punkten am Übergang zwischen den linearisierten Kurvenabschnitten werden elliptische Fließgrenzlinien zugeordnet, Abb. 4.28. Im Zuge eines beliebigen Beanspruchungspfades werden die Ellipsen als starre Gebilde bewegt, zuerst die kleinste Ellipse innerhalb der mittleren Ellipse, ab der Kontaktierung auch die mittlere Ellipse innerhalb der großen Ellipse und schließlich die große Ellipse selbst. Um ein tangentiales Berühren der Ellipsen ohne Überschneidung auch bei nichtproportionaler Beanspruchung zu sichern, wurde das Verfahren von Garud [314] modifiziert. Weitere Verfahrensvorschläge stammen von McDowell [406] und Chu [398, 399]. Die vorstehende grafische Veranschaulichung macht deutlich, daß der Verfestigungszustand im allgemeinen nicht allein von der Vergleichsspannung abhängt, sondern vom gesamten Beanspruchungspfad. Eine Anwendung zur Berechnung elastisch-plastischer Kerbbeanspruchung bieten Singh et al. [671]. Ein andersartiges Modell der anisotropen Dehnungsverfestigung (mit Masing-Verhalten, aber ohne den Ansatz der kinematischen Verfestigung) wurde von Besseling [395] auf Basis der grundlegenden Theoreme der elastischplastischen Kontinuumsmechanik entwickelt (das Modell umfaßt außerdem Kriechen, Kriecherholung und Relaxation). Die makroskopisch homogenen und anfänglich isotropen Volumenelemente des Werkstoffs werden als zusammengesetzt aus einer endlichen Zahl kleinerer Subelemente aufgefaßt, die sich

4.4 Elastisch-plastische Kerbbeanspruchung

187

gegeneinander verspannen können. Den Subelementen sind unterschiedliche Fließgrenzen bei Gültigkeit der Fließbedingung nach von Mises zugeordnet. Dadurch sind in den Subelementen unterschiedliche Spannungszustände bei gleichem elastisch-plastischem Gesamtdehnungszustand möglich. Die Skalierung der Subelemente erfolgt über die deviatorischen Komponenten der SpannungsDehnungs-Linie. Nach dem beschriebenen Modell wird die makroskopisch anisotrope Dehnungsverfestigung aus den unterschiedlichen Fließgrenzen der isotrop verfestigenden (oder ideal-plastischen) Subelemente unter Hinzunahme der mikrostrukturellen Verspanneffekte erklärt. Ein derartiges Überlagerungsmodell (overlay model) wurde auch von Zienkiewicz et al. [418] im Rahmen der Finite-Elemente-Entwicklung angegeben. In der Literatur wird das Modell vielfach unter Einschränkung auf ebene Spannungsfelder über einen mehrlagigen Werkstoff veranschaulicht (sublayer model). Den Lagen werden unterschiedliche Fließgrenzen und Dicken zugeordnet. Von den Modellen mit nichtlinearer kinematischer Verfestigung sind die von Jiang und Döring am weitesten entwickelt (Hoffmeyer [1600]). Das Modell von Jiang [403–405] umfaßt elastisch-plastisches Werkstoffverhalten bei zyklischer mehrachsiger (proportionaler und nichtproportionaler) Beanspruchung, zyklischer Verfestigung oder Entfestigung sowie zyklenabhängigem Mitteldehnungskriechen (ratchetting) und Mittelspannungsrelaxieren. Es beinhaltet Besonderheiten wie Abweichungen vom Masing-Verhalten oder Abhängigkeit der Fließspannung von der Beanspruchungsvorgeschichte. Im Verfestigungsgesetz tritt ein Erholungsterm nach Armstrong u. Frederick [394] mit Gewichtung nach Chaboche [396, 397] bzw. nach Ohno u. Wang [412, 413] auf, der den Rückspannungstensor festlegt. Letzterer ist für die Lage der Fließgrenzfläche maßgebend. Gewisse Mängel des Jiang-Modells wurden durch die Modifizierung und Erweiterung von Döring [1591] beseitigt: durch Berücksichtigung der nichtproportional bedingten Zusatzverfestigung, durch Erweiterung des Bereichs der zyklischen Ver- und Entfestigung (gesamter Übergang vom monoton statischen Erstbeanspruchungsablauf in den zyklisch stabilisierten Beanspruchungszustand), durch verbesserte Abbildung des Ratchetting bei nichtproportionaler Beanspruchung und durch Erhöhung der numerischen Effizienz (Routinen zum Finite-Elemente-Programm ABAQUS). Die beschriebenen allgemeineren Modelle zum zyklischen Werkstoffverhalten beinhalten zahlreiche Werkstoffparameter, die teils aus herkömmlichen Schwingversuchen mit einachsiger Beanspruchung, teils aus Schwingversuchen mit proportionaler und hochgradig nichtproportionaler mehrachsiger Beanspruchung abgeleitet werden (Döring et al. [402, 1591]). Die große Zahl von Werkstoffparametern in den allgemeineren Modellen ist erforderlich, um die vielfältigen Phänomene der zyklischen Plastizität mit befriedigender Qualität abzubilden. Die Parameterzahl reduziert sich in den meisten Anwendungsfällen, weil eine Beschränkung auf bestimmte Phänomenaspekte möglich ist. Um den Aufwand für die Parameteridentifikation zu verringern, empfiehlt es sich, automatisierte Prozeduren einzusetzen. Auch sind besondere Strategien zur Findung der Modellparameter vorstellbar.

188

4.5

4 Kerbwirkung

Kerbwirkung bei Dauerfestigkeit

Kerbwirkungszahl Unter Kerbwirkung wird nachfolgend nicht nur die Beanspruchungserhöhung an Kerben verstanden, wie das bei den bisherigen Ausführungen der Fall war, sondern auch die Auswirkung der Beanspruchungserhöhung auf die Schwingfestigkeit. Die Kerbwirkungszahl b k bezeichnet das Verhältnis der Dauerfestigkeit der ungekerbten polierten Probe zu jener der gekerbten Probe oder des entsprechenden Bauteils, ausgedrückt durch die Nennspannung, zunächst bei der Mittelspannung null (Wechselfestigkeit). Sie ist jedoch auch auf die Zeit- und Kurzzeitfestigkeit und auf Mittelspannungen ungleich null übertragbar, wobei sich aber die Zahlenwerte ändern. Die engere Festlegung lautet: bk ˆ

rAD … k ˆ 1† rnAD … k > 1†

…R ˆ

1; ND ˆ 106 107 †

…4:43†

mit der in glatter Probe dauerfest ertragbaren Spannungsamplitude rAD , der in gekerbter Probe bzw. im Bauteil dauerfest ertragbaren Nennspannungsamplitude rnAD , der Kerbformzahl k , dem Spannungsverhältnis R und der Grenzschwingspielzahl ND . Die Kerbwirkungszahl hängt von der relativen und absoluten Kerbschärfe (gleichbedeutend Kerbradius relativ zur Probengröße und Kerbradius absolut), von der Belastungsart (Zug-Druck, Biegung, Torsion) und vom Werkstoff ab [678–705]. Sie hängt auch von der Proben- oder Bauteilgröße ab, die über den Kerbradius als spannungsmechanischer Größeneinfluß zum Tragen kommt, während technologischer oder oberflächentechnischer und statistischer Größeneinfluß (vielfach unberechtigterweise) unberücksichtigt bleiben. Ausnahmen bilden der Ansatz von Sähn [1493, 1495], nach dem die herkömmliche spannungsmechanisch begründete Kerbwirkungszahl durch einen den statistischen Größeneffekt beinhaltenden Faktor modifiziert wird, sowie der Werkstoffvolumenansatz nach Kuguel [682] und Sonsino [1682]. Spannungsmechanischer, technologischer, oberflächentechnischer und statistischer Größeneinfluß zusammen (s. Kap. 3.5) verursachen die Größenabhängigkeit der Kerbwirkung. Die Kerbwirkungszahl wird vielfach zur Formzahl in Beziehung gesetzt. Für ein dauerfestes Bauteil kann zunächst angenommen werden, daß plastische Verformungen im Kerbgrund von nur untergeordneter Bedeutung sind. Würden sie in größerem Umfang auftreten, wären Rißeinleitung und Rißfortschritt die Folge und das Bauteil wäre nicht mehr dauerfest. Kerbwirkungszahl und Formzahl müßten übereinstimmen. Dies ist aber bei duktilem Werkstoff nicht der Fall. Insbesondere für scharfe Kerben mit hoher Formzahl ist die Kerbwirkungszahl wesentlich kleiner als die (hohe) Formzahl. Im Grenzfall verschwindender Kerbrundung ist die Formzahl unendlich groß, während die Kerbwirkungszahl endlich bleibt. Technische Kerbwirkungszahlen …ND  106 † übersteigen kaum den Wert b k  6.

4.5 Kerbwirkung bei Dauerfestigkeit

189

Mikrostützwirkung Kerben wirken stark dauerfestigkeitsmindernd, aber doch nicht so stark, wie aufgrund der elastischen Formzahl zu erwarten wäre. Man erklärt diese Tatsache pauschal aus der Mikrostützwirkung: – Die den Formzahlen zugrunde liegende Elastizitätstheorie verliert im Bereich der Kristallitabmessungen, insbesondere an scharfen Kerben, ihre Gültigkeit. Die Annahme des homogenen und isotropen elastischen Kontinuums trifft hier nicht zu. Kristallite mit unterschiedlich gerichteter anisotroper Elastizität bestimmen das Geschehen. In günstig orientierten Oberflächenkristalliten tritt bevorzugt Mikrofließen auf. – An scharfen Kerben kann die (Makro-)Fließgrenze überschritten und können (Mikro-)Risse eingeleitet werden, ohne daß es bei fortgesetzter Schwingbelastung zu weiterem Rißfortschritt kommt. Das örtliche Fließen ist mit einer Verminderung der Spannungserhöhung verbunden. – Von technischer Rißeinleitung kann erst gesprochen werden, wenn mindestens ein Kristallit vom Riß durchdrungen ist. Damit wird die über wenigstens einen Kristallit gemittelte Spannung maßgebend, die kleiner ist als der Kerbspannungshöchstwert. Mikrorisse können im Kerbgrund in größerer Zahl auftreten, bevor sie sich (teilweise) zu einem technischen Anriß vereinigen. Dem Konzept der Mikrostützwirkung liegt daher die Vorstellung zugrunde, daß nicht die Kerbhöchstspannung die Dauerfestigkeit bestimmt, sondern die über ein elementares Werkstoffteilchen im Kerbgrund gemittelte Spannung oder auch die Kerbspannung unterhalb dieses Werkstoffteilchens. Die kennzeichnende Länge dieses Teilchens ist größer als die Abmessung eines Kristallits (daher „Ersatzstrukturlänge“ nach Kap. 4.7). Zu den zugrunde liegenden Vorgängen der Rißeinleitung und des Verhaltens kurzer Risse werden in Kap. 7.1 nähere Angaben gemacht. Die Kerbwirkungszahl b k als Mittelwert eines Streubandes ist aufgrund der Mikrostützwirkung kleiner als die elastische Kerbformzahl k . Das Ausmaß der Abminderung von k auf b k hängt vom Kerbradius (bzw. von der Probengröße), vom Werkstoff und von der Beanspruchungsart ab. Streuungsbedingt kann zwar im Einzelfall auch b k > k auftreten. Alle nachfolgenden Angaben beziehen sich jedoch auf den Mittelwert b k < k . Scharfe Kerben mit hoher Formzahl weisen einen besonders großen Unterschied zwischen k und bk auf. Unter geometrisch ähnlichen, gekerbten Proben mit gleicher Formzahl hat die große Probe mit großem Kerbradius die höhere Kerbwirkungszahl. Dies macht einen wesentlichen Teil des Größeneffekts auf die Dauerfestigkeit gekerbter Proben aus. Bei Biege- und Torsionsbeanspruchung ist der Unterschied größer als bei Zug-Druck-Beanspruchung. Kerbempfindliche Werkstoffe sind durch einen nur geringen Unterschied zwischen k und b k gekennzeichnet. Auch bei milden Kerben führt die Mikrostützwirkung zu einer wesentlichen Abminderung der Kerbwirkung, wenn die Kerbabmessungen sehr klein sind.

190

4 Kerbwirkung

So verschwindet die Kerbwirkung einer Bohrung mehr und mehr, wenn sich der Bohrungsradius der Ersatzstrukturlänge nähert. Genügend feine Bohrungen verursachen keine Abminderung der Dauerfestigkeit. In gleicher Weise nimmt der Kerbeffekt der Oberflächenrauhigkeit ab. Das Konzept der Mikrostützwirkung reicht allerdings nicht aus, die Kerbwirkungsminderung oberhalb der technischen Dauerfestigkeit …ND  106 † zu begründen. Hier sind plastische Verformung und Rißfortschritt erklärend hinzuzuziehen. Da an scharfen Kerben Risse frühzeitig eingeleitet werden und folglich ein wesentlicher Teil der Lebensdauer Rißfortschritt beinhaltet, ist die Kerbschärfe im Ausgangszustand ebenso wie im plastisch gemilderten Zustand in diesem Fall von nur zweitrangiger Bedeutung für die Abschätzung der Gesamtlebensdauer scharf gekerbter Proben. Kerbempfindlichkeit Das Verhältnis von Kerbwirkungszahlüberhöhung zu Formzahlüberhöhung ist nach Thum et al. [61, 703] die werkstoffabhängige Kerbempfindlichkeit: gk ˆ

bk k

1 1

…4:44†

Der voll kerbempfindliche Werkstoff ist durch g k ˆ 1 (also b k ˆ k ) gekennzeichnet, der völlig kerbunempfindliche Werkstoff durch g k ˆ 0 (also bk ˆ 1). Die Kerbempfindlichkeit ist experimentell oder nach unterschiedlichen Ansätzen rechnerisch zu ermitteln (s. a. Abb. 4.37 u. 4.38). Tatsächlich ist sie keine Werkstoffkonstante, sondern außer vom Werkstoff vom Kerbradius und von der Beanspruchungsart abhängig. Die Abhängigkeit vom Absolutwert des Kerbradius entspricht der Erfahrung, daß die Kerbempfindlichkeit mit der Probengröße steigt, geometrische Ähnlichkeit vorausgesetzt. Der genaue Zusammenhang der Kerbempfindlichkeit mit den grundlegenden statischen Werkstoffkennwerten ist unzureichend geklärt. Tendenzmäßig sind höherfeste (oder härtere) Werkstoffe (bei gleichem Kerbradius) kerbempfindlicher als niedrigfeste (oder weichere) Werkstoffe. Feinkörnige Werkstoffe sind kerbempfindlicher als grobkörnige Werkstoffe. Bei sehr kleinem Kerbradius tendiert die Kerbempfindlichkeit gegen null, bei sehr großem Kerbradius gegen eins. Gelegentlich wird als Kerbempfindlichkeit auch das Verhältnis von Kerbwirkungszahl zu Formzahl verwendet, der Kehrwert der Stützziffer nach (4.46): g k ˆ

bk k

…4:45†

Innere Kerbwirkung des Werkstoffs Die unterschiedliche Kerbempfindlichkeit der Werkstoffe wird mit deren „innerer Kerbwirkung‘‘ in Verbindung gebracht. Die innere Kerbwirkung umfaßt

4.6 Spannungsgradientenansatz

191

die Inhomogenität der Mikrostruktur (einschließlich Mikroeigenspannungen). Werkstoffe mit hoher innerer Kerbwirkung, z. B. Gußeisen mit Graphiteinschlüssen in Form von Graphitplättchen (Grauguß), weisen bereits im glatten Stab eine relativ niedrige Dauerfestigkeit auf. Diese wird durch zusätzliche äußere Kerbwirkung nur noch wenig herabgesetzt (kerbunempfindlicher Werkstoff). Die Kerbempfindlichkeit verringert sich demnach mit zunehmender innerer Kerbwirkung des Werkstoffs.

4.6

Spannungsgradientenansatz

Stützziffer und Spannungsgradient Nach dem Ansatz von Siebel et al. [696–698, 701], der in den deutschen Richtlinien [1746, 1760, 1761] zur Festigkeitsberechnung aufgenommen wurde, wird die Kerbwirkungszahl abhängig von Formzahl und Stützziffer dargestellt: bk ˆ

k nv

…4:46†

Die (spannungsmechanische) Stützziffer nv hängt von Werkstoffart und Werkstoffestigkeit sowie vom bezogenen Spannungsgradienten v am Ort der Höchstspannung (nach (4.5)) ab, Abb. 4.29–4.32. Der Spannungsgradient bestimmt die Fortschrittsrate des eingeleiteten Kurzrisses. Je größer dieser Gradient (also je steiler der Spannungsabfall) ist, desto wirksamer ist die Rißfortschrittsverzögerung und daher auch umso stärker die Abminderung der Formzahl zur Kerbwirkungszahl. Niedrigfeste Stähle stützen mehr als hochfeste. Die besonders hohe Stützziffer von Gußeisen und Stahlguß erklärt sich aus der durch Graphitplättchen verursachten hohen inneren Kerbwirkung, die bei ungekerbten und gekerbten Proben gleichermaßen das Bruchgeschehen unter Schwingbeanspruchung bestimmt (nicht so unter statischer Beanspruchung). Die teilweise gewählte Darstellung in Abhängigkeit der Fließgrenze anstelle der Zugfestigkeit ist allerdings umstritten. Über den Spannungsgradienten gehen (absoluter) Kerbradius, Probengröße und Beanspruchungsart in die Kerbwirkungszahl ein, während über die Formzahl der relative Kerbradius erfaßt wird. Der Ansatz ist auf scharfwinklige Kerben und Rißspitzen nicht anwendbar ( k unendlich, v unbestimmt). Er ist andererseits bei milden Kerben und bei biege- oder torsionsbelasteten ungekerbten Stäben besonders aussagefähig, wie mit zahlreichen Versuchsergebnissen belegt wird. Eine empirische Näherungsformel für die in Abb. 4.30 dargestellte Abhängigkeit der Stützziffer lautet: nv ˆ 1 ‡

p sg v

…4:47†

192

4 Kerbwirkung

Abb. 4.29: Bezogener Kerbspannungsgradient v, Stützziffer nv, Formzahl k und Kerbwirkungszahl b k an Halbkreiskerbe, 1=v  q=2 bei Zugbelastung (zum Minuszeichen s. (4.5)); in Anlehnung an Haibach [35]

Abb. 4.30: Stützziffer und Festigkeitskennwerte unterschiedlicher Werkstoffe (Grauguß identisch mit Gußeisen) als Funktion des (bezogenen) Spannungsgradienten; nach VDI-Richtlinie 2226 [1760] in Anlehnung an Siebel u. Stieler [698]

4.6 Spannungsgradientenansatz

193

Abb. 4.31: Stützziffer und Festigkeitskennwerte unterschiedlicher Werkstoffe (Grauguß identisch mit Gußeisen) als Funktion des (bezogenen) Spannungsgradienten; nach Siebel u. Stieler [698]

Abb. 4.32: Stützziffer und Festigkeitskennwerte von Eisenwerkstoffen als Funktion des (bezogenen) Spannungsgradienten; Stahl und Gußeisen (GG Gußeisen mit Lamellengraphit, GGG Gußeisen mit Kugelgraphit, GT Temperguß, GS Stahlguß); mit dem Wechselfestigkeitsverhältnis rzdW /rbW für Probendurchmesser d0 ˆ 7,5 mm; nach FKM-Richtlinie [1746] (umgezeichnet)

194

4 Kerbwirkung

Tabelle 4.2: Gleitschichtdicke sg und mittlerer Korndurchmesser dk für unterschiedliche Werkstoffe und Behandlungszustände; nach Siebel u. Stieler [698] Werkstoff

Behandlung

Reineisen (Armco) Vergütungsstahl (C45) Vergütungsstahl (C45) Legierter Stahl (für Federn) Aluminiumlegierung (Dural)

normalisiert normalisiert vergütet vergütet ausgehärtet

dk [mm] 0,14 0,03 0,01 < 0;003 0,10

sg [mm] 0,15 0,05 0,01 < 0;001 0,075

Die Größe sg , die vom Werkstoff und dessen Festigkeit (rZ , rF bzw. r0;2 ) abhängt, wird Gleitschichtdicke genannt. Dahinter steht die Vorstellung, daß ein Abgleiten der Kristallite in dünner Oberflächenschicht unter gemittelter Kerbspannung Voraussetzung für Rißeinleitung ist. Die Gleitschichtdicke wird daher mit der Kristallitgröße in Verbindung gebracht. Sie ist für einige Werkstoffe in Tabelle 4.2 angegeben und mit dem mittleren Korndurchmesser dk verglichen. Die relativ gute Übereinstimmung von sg und dk darf nicht verallgemeinert werden. Sie wird beispielsweise nicht bei Gußlegierungen auf Nickelbasis beobachtet, die eine Korngröße von 5–10 mm aufweisen. Eine kerbmechanisch befriedigendere Festlegung der Schichtdicke aufgrund der Versuchsergebnisse von Siebel und Stieler erfolgt im Rahmen des Spannungsmittelungsansatzes von Neuber.

Herkömmliche Näherung Die Näherung nach (4.47) wurde von Dietmann [679] auf eine zweiparametrige Form gebracht, die höhere Genauigkeit bietet (K in N=mm2 , q in mm): nv ˆ 1 ‡

 c m r c 1

2

K

q

…4:48†

Die Größe K stellt den statischen Festigkeitskennwert des Werkstoffs dar, also r0;2 bzw. rZ . Als zusätzlicher Werkstoffkennwert ist der Exponent m eingeführt. Er wird zusammen mit der Konstanten c1 in Tabelle 4.3 werkstoffabhängig angegeben. Die Konstante c2 hat den Wert 2 mm bei Zug-Druck- und Biegebeanspruchung und den Wert 1 mm bei Schub- und Torsionsbeanspruchung (von v ˆ 2=q bzw. 1=q herrührend). Für ferritische Stähle (Kohlenstoff-, Vergütungs- und Federstähle) wird in [679] auch folgende Formel mit m ˆ 1,0 empfohlen: 55 nv ˆ 1 ‡ r0;2

r c2 q

…4:49†

4.6 Spannungsgradientenansatz

195

Tabelle 4.3: Werte der Parameter c1 und m für unterschiedliche Werkstoffe; nach Dietmann [679] auf Basis von Abb. 4.31 Werkstoff

K ‰N=mm2 Š

c1 ‰N=mm2 Š

m

Ferritische Stähle Austenitische Stähle Gußeisen, Stahlguß Al- und Mg-Legierungen Messing AlCuMg-Legierungen

r0;2 r0;2 rZ r0;2 r0;2 r0;2

127,0 28,3 12,5 5,5 23,5 14,5

1,16 0,45 0,21 0,59 0,80 0,45

Zug-Druck- und Biegebeanspruchung Die Kerbwirkungszahl nach (4.43) läßt offen, ob die Wechselfestigkeit am ungekerbten Stab unter Zug-Druck- oder Biegebeanspruchung ermittelt wird. Die zugehörigen Wechselfestigkeitswerte rzdW und rbW unterscheiden sich etwas. Die Dauerfestigkeit bei Biegebeanspruchung ist, bedingt durch Spannungsgradienten und Stützwirkung, etwas höher. Dieser Sachverhalt wird mit (4.46) und (4.47) richtig wiedergegeben, denn für den ungekerbten Stab … k ˆ 1† unter Biegebeanspruchung ergibt sich unter Beachtung des Biegespannungsgradienten v0 das Wechselfestigkeitsverhältnis: rzdW 1 ˆ p 1 ‡ sg v0 rbW

…4:50†

Die Kombination von (4.46) mit (4.47) trifft zu, wenn in (4.43) rAD ˆ rW und rW ˆ rzdW gesetzt wird. Wird dagegen rW ˆ rbW eingeführt, dann gilt (4.46) mit folgendem Ausdruck für nv, in dem auf den Gradienten v0 der verwendeten ungekerbten Biegeprobe Bezug genommen wird: nv ˆ

p 1 ‡ sg v p 1 ‡ sg v0

…4:51†

Eine alternative Vorgehensweise nach Roš u. Eichinger [88] kommt dadurch zu einheitlichen Kerbwirkungszahlen bei Zug-Druck- und Biegebeanspruchung, daß als Bezugsspannung in der Formzahl bei Biegebeanspruchung nicht der lineare Spannungsanstieg, sondern konstante Spannungen im Zug- und Druckbereich bei gleichem Biegemoment eingeführt werden, vergleichbar mit der Spannungsverteilung im vollplastischen Zustand ohne Verfestigung. Ersatzkerbe Nach dem Ansatz von Petersen [689] (nicht zu verwechseln mit Peterson [690, 691]) wird zur Beschreibung der Mikrostützwirkung eine Ersatzkerbe mit werkstoffspezifischem Rundungsradius q eingeführt. Sie soll die durch

196

4 Kerbwirkung

die Werkstoffinhomogenität (Kristallitstruktur mit Fehlstellen) verursachten Spannungserhöhungen im Mikrobereich kennzeichnen und nur in Verbindung mit dem Spannungsgradienten v der Formkerbe wirksam werden: nv ˆ 1 ‡

p qv

…4:52†

Der Vergleich mit (4.47) zeigt q ˆ sg , der Vergleich mit (4.62) unter Beachtung von (4.45) und (4.46) für p=…p x† ˆ 1, k  1, nv ˆ 1=gk und v  2=q ergibt q ˆ q. Demnach wäre die Vorstellung einer Ersatzkerbe mit Krümmungsradius q unzutreffend, wohl aber durch die Hypothese der Gleitschichtdicke sg oder der Ersatzstrukturlänge q ersetzbar. Die Größe q wird für Stähle abhängig von deren Härte (und damit von deren Zugfestigkeit) angegeben: q ˆ

 2 H0 H

…4:53†

Die Härte H wird im Vickers- oder Brinellmaß eingesetzt; H0 ˆ 40 HV ist der bei Stählen übliche Bezugswert. Neuartige Näherung Nach einer von Hück et al. [123] vorgenommenen Analyse einer Vielzahl von publizierten Ergebnissen zu Wöhler-Versuchen mit wechselbeanspruchten (Zug-Druck und Biegung) gekerbten Proben aus Eisenwerkstoffen unterschied-

Abb. 4.33: Stützziffer von Eisenwerkstoffen (Grauguß identisch mit Gußeisen) als Funktion des (bezogenen) Spannungsgradienten, Mittelwerte von Streubändern; nach Hück et al. [123]

4.7 Spannungsmittelungsansatz

197

licher Zugfestigkeit ergeben sich folgende Abhängigkeiten der Stützziffer nur noch vom Spannungsgradienten, Abb. 4.33 (Mittelwerte von Streubändern, v in mm 1 ):

4.7

nv ˆ 1 ‡ 0;45v0;30

…Stahl, 250  rZ  1200 N=mm2 †

…4:54†

nv ˆ 1 ‡ 0;33v0;65

…Stahlguß, 250  rZ  800 N=mm2 †

…4:55†

nv ˆ 1 ‡ 0;43v0;68

…Gußeisen, 150  rZ  350 N=mm2 †

…4:56†

Spannungsmittelungsansatz

Ersatzstrukturlänge Nach dem Ansatz von Neuber [587, 660] bestimmt nicht die Kerbhöchstspannung, sondern die über ein kleines Werkstoffteilchen am Ort der Höchstspannung gemittelte Kerbspannung die Rißeinleitung (Mikrostützwirkung). Die maßgebende Größe des kleinen Werkstoffteilchens ist die als Werkstoffkenngröße eingeführte Ersatzstrukturlänge q. Über diese Länge senkrecht zum Kerbgrund werden die rißeinleitenden Kerbspannungen rechnerisch gemittelt. Die Ersatzstrukturlänge q, von Neuber [660] zurückgerechnet aus den Ergebnissen der Wöhler-Versuche von Siebel u. Stieler [698] für unterschiedlich stark gekerbte Proben bzw. aus der geringfügig geänderten Auftragung gemäß

Abb. 4.34: Ersatzstrukturlänge unterschiedlicher Werkstoffe als Funktion der Fließgrenze; nach Neuber [660] auf Basis der VDI-Richtlinie 2226 [1760]

198

4 Kerbwirkung

Abb. 4.35: Ersatzstrukturlänge von Schmiedestählen und Aluminiumknetlegierungen als Funktion der Zugfestigkeit; nach Kuhn et al. [684–686]

VDI-Richtlinie 2226 [1760] (s. Abb. 4.30), ist in Abb. 4.34 aufgetragen. Die Darstellung in Abhängigkeit der Fließgrenze anstelle der Zugfestigkeit ist anfechtbar. Kuhn et al. [683–686] stellen die Ersatzstrukturlänge aufgrund eigener Versuche über der Zugfestigkeit dar, Abb. 4.35. Die Angaben nach Neuber und Kuhn unterscheiden sich zum Teil erheblich. Die steilen Anstiege bei niedriger Zugfestigkeit sind zumindest teilweise aus örtlicher plastischer Formänderung zu erklären (Makrostützwirkung). Die Unabhängigkeit der Ersatzstrukturlänge von Probenform und Probengröße wird von Teubl [702] bestätigt. Werner et al. [705] ermittelten für die Aluminiumlegierung AlMg 4,5Mn (AA5083) die Ersatzstrukturlänge q ˆ 0,11 mm. Die relativ umfangreichen Versuchsergebnisse von Kuhn et al. [685, 686] zur Ersatzstrukturlänge von Schmiedestählen und Aluminiumknetlegierungen wurden an mild und scharf gekerbten Proben über die Auswertung von (4.61) gewonnen. Als Ordinate ist in Abb. 4.35 die Wurzel aus dem zweifachen Wert der Ersatzstrukturlänge aufgetragen, während in den Originalpublikationen die Wurzel aus einer Neuber-Konstanten aufgetragen ist, die nach beigegebenem Text mit dem halben Wert der Ersatzstrukturlänge identisch sein soll. Letzteres entspricht nicht dem Inhalt der ausgewerteten Formeln und würde zu unrealistisch hohen Werten der Ersatzstrukturlänge führen (Faktor 4 gegenüber den Angaben in Abb. 4.35). Leider sind auch die Angaben von Neuber [587] (3. Aufl., ibid. S. 17–19 u. 103–105) nicht immer eindeutig. Während bei den funktionsanalytischen Lösungen exakt über die Länge des (fiktiven) Gefügeteilchens gemittelt wird, wird beim rißbruchmechanischen Ansatz die ungemittelte Spannung im Abstand q von der Rißspitze ausgewertet (3. Aufl., ibid. Gl. (21) auf S. 104).

4.7 Spannungsmittelungsansatz

199

Abb. 4.36: Reale und fiktive Kerbspannung an scharfer Kerbe ohne und mit fiktiver Kerbrundung; mit Kerbformzahl k und Kerbwirkungszahl b k

Festigkeitswirksame Kerbhöchstspannung, fiktive Kerbrundung Für den ingenieurmäßigen Gebrauch kann der rechentechnisch aufwendige Mittelungsprozeß nach Neuber [660] dadurch vermieden werden, daß das betrachtete Kerbspannungsproblem mit in bestimmter Weise fiktiv vergrößertem k max als Kerbradius gelöst und die sich daraus ergebende Höchstspannung r festigkeitswirksam eingeführt wird, Abb. 4.36: bk ˆ

k max r rn

…4:57†

Die Spannungen in (4.57) bezeichnen zunächst Dauerfestigkeitswerte. Sie sind jedoch in der vorstehenden Schreibweise ohne Dauerfestigkeitsindex formal auf beliebige Beanspruchungswerte übertragbar. Aus dem Festigkeitskennwert b k wird damit ein Beanspruchungskennwert unter Einschluß des Grenzzustandes der Festigkeit. Das Ausmaß der fiktiven Radiusvergrößerung (Ausgangsradius q, fiktiv vergrößerter Radius qf ) ergibt sich aus der funktionsanalytischen Darstellung der Kerbspannungen und der Ersatzstrukturlänge q je nach Beanspruchungsfall (ebener Spannungszustand, ebener Dehnungszustand, nichtebener Schub) und gültiger Festigkeitshypothese unterschiedlich, mit dem Faktor s nach Tabelle 4.4: qf ˆ q ‡ sq

…4:58†

Formeln für Kerbwirkung Aufgrund von (4.58) in Verbindung mit (4.7) und (4.8) ergibt sich die Kerbwirkungszahl aus: k 1 b k ˆ 1 ‡ p 1 ‡ sq=q

…4:59†

200

4 Kerbwirkung

Tabelle 4.4: Faktor s der Mikrostützwirkung an Kerben für unterschiedliche Mehrachsigkeitsgrade und Festigkeitshypothesen (mit Querkontraktionszahl m); in Anlehnung an Neuber [587, 660], mit Korrektur nach Radaj u. Zhang [692] Festigkeitshypothese

Mehrachsigkeitsgrad ESZ Flachstab unter ZugDruck oder Biegung Faktor s

EDZ Rundstab unter ZugDruck oder Biegung Faktor s

NES Rundstab unter Torsion Faktor s *)

2

2

0,5 bzw. 1,0

Schubspannungshypothese

2

2 1

m m

0,5 bzw. 1,0

Oktaederschubspannungs- u. Gestaltänderungsenergiehypothese

2,5

5 2

2m ‡ 2m2 2m ‡ 2m2

0,5 bzw. 1,0

Dehnungshypothese

2‡m

2 1 2 1

m m m m

Normalspannungshypothese

Formänderungsenergiehypothese 2 ‡ m

0,5 bzw. 1,0 0,5 bzw. 1,0

ESZ: ebener Spannungszustand, EDZ: ebener Dehnungszustand, NES: nichtebene Schubbeanspruchung *) s ˆ 0;5 nach Neuber [587] und Radaj u. Zhang [692] für rißartige Kerben, s ˆ 1;0 nach Neuber [660] für allgemeine Kerben, Widerspruch ungeklärt

Die Kerbempfindlichkeit folgt mit (4.59) aus (4.44): 1 gk ˆ p 1 ‡ sq=q

…4:60†

Die ältere Formel von Neuber [587] (1. Aufl.) berücksichtigt explizit den Öffnungswinkel x der Kerbflanken: bk ˆ 1 ‡

k 1 ‡ ‰p=…p

1 x†Š

p 2q=q

…4:61†

Daraus folgt die Kerbempfindlichkeit: gk ˆ

1 1 ‡ ‰p=…p

p x†Š 2q=q

…4:62†

Die Abweichung zwischen (4.59) u. (4.61) bzw. (4.60) u. (4.62) erklärt sich nach Heywood [39] aus einer zweifachen Berücksichtigung des Flankenwinkeleinflusses in (4.61) bzw. (4.62). Somit wäre p=…p x† ˆ 1 zu setzen. Auch hinsichtlich 2q bestehen Unklarheiten, denn in den Originalformeln wird diese Größe als „halbe Blocklänge A“ eingeführt.

4.7 Spannungsmittelungsansatz

201

Abb. 4.37: Kerbempfindlichkeit von Stählen unterschiedlicher Festigkeit als Funktion des Kerbradius bei Zug-Druck- und Biegebeanspruchung; gk nach (4.62) mit q gemäß Abb. 4.35; nach Peterson [691] auf Basis von Neuber [587]

Die Kerbempfindlichkeit nach (4.62) von Stählen unterschiedlicher Zugfestigkeit läßt sich über dem Kerbradius auftragen, Abb. 4.37 (nach Peterson [691] mit q nach Abb. 4.35). Die Kerbempfindlichkeit wächst mit dem Kerbradius und der Zugfestigkeit. Demnach ist die Wechselfestigkeit, ausgedrückt durch die Nennspannung, bei großem Kerbradius und hoher Zugfestigkeit besonders hoch. Der Vorteil der Vorgehensweise nach Neuber gegenüber jener von Siebel und Stieler ist neben der größeren Anschaulichkeit und Einfachheit die formale Miterfassung des Kerbradius Null und die Berücksichtigung unterschiedlicher Mehrachsigkeitsgrade und Festigkeitshypothesen. Variante nach Sähn Der Spannungsmittelungsansatz wurde von Sähn [90, 1493, 1495] ausgebaut und insbesondere auf Risse und rißartige Kerben angewendet (s. Kap. 7.2). Der Kerbspannungszustand im Nahfeld um rißartige Kerben (oder stumpfe Risse) kann ausgehend von der schlanken Ellipsenöffnung durch die Spannungsintensitätsfaktoren näherungsweise beschrieben werden (Lösung nach Creager u. Paris [1012]). Mit der bruchmechanisch festgelegten Mikrostrukturlänge d  des Werkstoffs ergibt sich bei Querzugbeanspruchung rißartiger Kerben folgender Zusammenhang zwischen Formzahl und Kerbwirkungszahl: k b k ˆ p 1 ‡ 2d =q

…4:63†

202

4 Kerbwirkung

4.8 Spannungsabstandsansatz Formeln für Kerbwirkung Nach dem überwiegend empirischen Ansatz von Peterson [594, 690, 691] wird bei Kerben ein vom Werkstoff abhängiger kritischer Abstand a eingeführt (critical distance approach). Das ist die Tiefe unter der Kerboberfläche, in der die Kerbspannung der Dauerfestigkeit gleichzusetzen ist. Sie wird später von Buch [17, 678] als Schichtdicke interpretiert, in der die elastische Kerbspannung die Dauerfestigkeit übersteigt (letzteres wird infolge der Stützwirkung tiefer liegenden Werkstoffs zugelassen). Für die Kerbwirkungszahl ergibt sich bei Annahme eines linearen Kerbspannungsabfalls unter der Kerboberfläche: bk ˆ 1 ‡

k 1 1 ‡ a=q

…4:64†

Die Größe a hängt vom Werkstoff und von dessen Zugfestigkeit ab, Tabelle 4.5. Eine von Lawrence et al. [1648–1650] unter Bezug auf Peterson angegebene Näherung lautet (mit a in mm und rZ in N=mm2 ): a ˆ 0;025

  2068 1;8 10870  rZ r2Z

…4:65†

Die Kerbempfindlichkeit folgt mit (4.64) aus (4.44): gk ˆ

1 1 ‡ a=q

…4:66†

Die mittlere Kerbempfindlichkeit von Vergütungsstählen (HB  360, a ˆ 0;0635 mm), weichgeglühten Stählen (HB  170, a ˆ 0;254 mm) und Aluminiumlegierungen (a ˆ 0;635 mm) ist in Abb. 4.38 aufgetragen (nicht gültig für tiefe Kerben, t=q > 4). Die vorstehenden Angaben treffen nur auf die Biegebeanspruchung gekerbter Stäbe zu. Bei Torsionsbeanspruchung ist näherungsweise der Faktor 0,6 vor a in (4.64) und (4.66) einzuführen. Peterson hat aber auch mit (4.62) anstelle von (4.66) gearbeitet (s. Abb. 4.37). Die Kurven der Kerbwirkungszahlen nach (4.64) weisen ein Maximum bei kleinem Kerbradius auf, Abb. 4.39 (a), die Kurven der Wechselfestigkeit der gekerbten Probe ein entsprechendes Minimum, Abb. 4.39 (b). Kerben mit noch

Tabelle 4.5: Kritischer Abstand a bei Biegebeanspruchung gekerbter Stäbe für Stähle unterschiedlicher Festigkeit; nach Peterson [594] Zugfestigkeit rZ ‰N=mm2 Š Kritischer Abstand a [mm]

345 0,38

518 0,25

690 0,18

863 0,13

1035 0,089

1380 0,051

1725 0,033

4.8 Spannungsabstandsansatz

203

Abb. 4.38: Kerbempfindlichkeit von Stählen und Aluminiumlegierungen als Funktion des Kerbradius; nach Peterson [691]

Abb. 4.39: Kerbwirkungszahl und Kerbformzahl von zwei Stählen als Funktion des Kerbradius für Rundproben unter Umlaufbiegung (a) sowie zugehörige Wechselfestigkeit (b) (Nennspannung im Nettoquerschnitt); nach Peterson [690]

kleinerem Rundungsradius (z. B. sehr kleine Löcher oder Oberflächenkratzer) wirken kaum noch festigkeitsmindernd. Mehrparametrige Erweiterung Der Ansatz von Peterson wurde von Buch [17, 678] erweitert. Als weiterer werkstoffabhängiger Parameter wird der Faktor eingeführt, der die Erhöhung

204

4 Kerbwirkung

der Dauerfestigkeit in der „Gleitschicht“ kennzeichnet (interpretiert als zyklische Verfestigung). Der erweiterte Ansatz läßt eine genauere Anpassung an Versuchsergebnisse zu. Zwischen Wechsel- und Schwellfestigkeit kann außerdem durch die Zuordnung unterschiedlicher Erhöhungsfaktoren der Dauerfestigkeit differenziert werden. Metallphysikalische Begründung Der Spannungsabstandsansatz läßt sich folgendermaßen metallphysikalisch begründen: An der Werkstoffoberfläche ist die Fließspannung aus kristallografischen Gründen erniedrigt. Sie steigt im Werkstoffinnern senkrecht zur Oberfläche durch zyklische Verfestigung an (nur bei verfestigenden Werkstoffen möglich). Ein Maximum wird in der Tiefe a erreicht. In dieser Tiefe erfolgt der Übergang vom Mikrorißfortschritt (Mehrfachrisse) zur Makrorißeinleitung (Einzelriß), verbunden mit einem abrupten Anstieg der Rißfortschrittsrate (Ansatz von Panasyuk et al. [688]).

4.9

Weitere Ansätze und Vergleich

Verformungsgradientenansatz Nach dem Ansatz von Bollenrath u. Troost [641] wird der Kerbspannungshöchstwert durch plastische Mikroverformungen abgebaut, wodurch die Dauerfestigkeit der gekerbten Probe etwas angehoben wird. Als maßgebend für die Anhebung wird der Verformungsgradient im Kerbgrund angesehen. Die Bestimmungsgleichung für die Kerbwirkungszahl lautet (mit Zugfestigkeit rZ in N=mm2 und Kerbradius q in mm):   154=rZ k …4:67† bk ˆ 1 1=…1 ‡ rZ =1370† ‡ 0;1q Werkstoffvolumenansatz Anstelle des Spannungsgradienten-, Spannungsmittelungs-, Spannungsabstandsoder Verformungsgradientenansatzes wird auch ein Werkstoffvolumenansatz verwendet (Kuguel [682], Sonsino [1682]). Dieser besagt, daß die (Dauer-) Schwingfestigkeit bis Anriß um so größer ist, je kleiner das höchstbeanspruchte Werkstoffvolumen. Das ist in Abb. 4.40 für den hochfesten Baustahl St 52-3 und in Abb. 4.41 für den niedriglegierten Vergütungsstahl 37Cr4V aufgrund von Auswertungen der lokalen Dauerfestigkeit gekerbter und vergleichsweise ungekerbter Proben dargestellt (weitere Diagramme für den Vergütungsstahl Ck45 und den Sinterstahl Fe-1,5%Cu in [1682]). Das höchstbeanspruchte Volumen ist als der Bereich definiert, in dem 90 % der tatsächlichen örtlichen

4.9 Weitere Ansätze und Vergleich

205

Abb. 4.40: Örtliche (Dauer-)Schwingfestigkeit (Vergleichsspannungsamplitude nach der Gestaltänderungsenergiehypothese) als Funktion des hochbeanspruchten Werkstoffvolumens für den hochfesten Baustahl St 52-3 bei unterschiedlicher Kerbschärfe; nach Sonsino u. Werner [700] mit Versuchsergebnissen von Saal [693]

Abb. 4.41: Örtliche (Dauer-)Schwingfestigkeit (Vergleichsspannungsamplitude nach der Gestaltänderungsenergiehypothese) als Funktion des hochbeanspruchten Werkstoffvolumens für den niedriglegierten Vergütungsstahl 37Cr4V bei unterschiedlicher Kerbschärfe; nach Sonsino et al. [699]

Höchstbeanspruchung überschritten werden. Dieses Volumen steht mit dem Beanspruchungsgradienten in einem festen Zusammenhang. Die Tiefe t 0;9 , in der 90 % der Höchstspannung überschritten werden, folgt nach (4.6) aus: t 0;9 ˆ

0;1 v

…4:68†

Dieses Volumen hängt außerdem von der Ausdehnung des höchstbeanspruchten Bereichs in den beiden anderen Raumrichtungen ab. Die Einbeziehung der beiden anderen Raumrichtungen bedeutet, daß spannungsmechanischer und statistischer Größeneffekt zusammengefaßt werden. Dies kann anwendungs-

206

4 Kerbwirkung

technisch ein Vorteil sein, ist jedoch nur dann zulässig, wenn sich die beiden bruchmechanisch ganz unterschiedlich begründeten Effekte ähnlich stark auf die ertragene Schwingspielzahl auswirken. Anrißstreckenansatz Die Kombination von spannungsmechanischem und statistischem Größeneffekt in der Kerbwirkungszahl wird auch mit dem Anrißstreckenansatz von Kogaev et al. [423, 694, 695] vollzogen. Die Kerbempfindlichkeit gk nach (4.45), hier genauer die Kombination von Kerb- und Größenempfindlichkeit, wird als Funktion der Verhältniszahl L/v bezogen auf L0/v0 (dadurch dimensionslos) für unterschiedliche statische Festigkeit des betrachteten Walzstahls dargestellt: gk ˆ

bk 2 ˆ k 1 ‡ ‰…L=v†=…L0 =v0 †Š

m ˆ j…0;2

0; 0001rZ †

m

…4:69† …4:70†

Die Anrißstreckenlänge L bzw. L0 bezeichnet die Linie möglicher Anrißorte im Kerbgrund unter Einschluß der nur schwach gekerbten „glatten“ Proben (Umfang der Rundprobe unter Umlaufbiegung, doppelte Breite der Probe mit Rechteckquerschnitt unter körperfester Biegung). Sie wird ins Verhältnis gesetzt zum bezogenen Spannungsgradienten v bzw. v0 . Die Größen mit Index 0 bezeichnen die schwach gekerbte Referenzprobe, für die gk ˆ 1,0, also b k ˆ k ist. Für die Rundprobe mit d0 ˆ 7,5 mm, also L0 ˆ pd0 und v0 ˆ 2/d0, folgt L0 /v0 ˆ pd02 =2 ˆ 88,3 mm2. Die Kerbempfindlichkeit hängt außerdem über den Exponenten m nach (4.70) von der Zugfestigkeit rZ ab, die in N/mm2 einzuset-

Abb. 4.42: Kerbempfindlichkeit von Walzstahl unterschiedlicher statischer Festigkeit als Funktion des Verhältnisses von Anrißstreckenlänge L [mm] zu bezogenem Spannungsgradienten v [mm–1] nach Kogaev et al. [694, 695] gemäß Kommentar zur FKM-Richtlinie [1749]

4.9 Weitere Ansätze und Vergleich

207

zen ist. Bei Zug- und Biegebeanspruchung ist j ˆ 1,0. Bei Schubbeanspruchung (Torsion von Rundproben) gilt j ˆ 1,5. Das Gleichsetzen der Wirkungen von veränderter Spannungsmechanik und Fehlstellenstatistik, wie es in der Verhältniszahl L/v zum Ausdruck kommt, muß jedoch als hinterfragungsbedürftig angesehen werden. Die Auswertung von (4.69) und (4.70) mit d0 ˆ 7,5 mm (Umlaufbiegung) zeigt Abb. 4.42. Aus dem Diagramm ist ersichtlich, daß die (Biege-)Kerbwirkungszahl bei großen Bauteilen größer als die Formzahl sein kann. Daß dieser Effekt bei niedrigfestem Stahl besonders stark ist, erklärt sich aus dem stärkeren Wegfall von Stützwirkung, während für extrem hochfeste Stähle unabhängig von der Proben- oder Bauteilgröße b k  k gilt. Der für den Vergleich von Versuchsergebnissen an gekerbten Rund- und Rechteckproben geeignete Ansatz stößt bei komplexen Bauteilen auf Schwierigkeiten. Die Linien möglicher Anrißorte sind hier weniger offenkundig. Empirische Ansätze Die Darstellung von Heywood [39, 681] faßt eine Fülle von Versuchsergebnissen in folgender Näherungsformel zusammen: bk ˆ

k 1 ‡ 2…1

1= k †

p a=q

…4:71†

Die Werkstoffkonstante a, die die Länge eines äquivalenten Werkstoffehlers kennzeichnet, ist für unterschiedliche Werkstoffe in Tabelle 4.6 angegeben. Der empirische Ansatz nach Rühl [89] unterscheidet sich von den vorstehenden Ansätzen dadurch, daß kein Versuch einer hypothetischen Begründung gemacht wird, sondern die seinerzeit vorliegenden Versuchsergebnisse in Form von Kerbwirkungszahlkurven über der Formzahl (unterschiedlich für ZugDruck- und Biegewechselbeanspruchung) für unterschiedliche Zugfestigkeiten aufgetragen sind. Vergleich der Ansätze Über die Brauchbarkeit der verschiedenen Ansätze entscheidet der Vergleich mit den vorliegenden experimentellen Ergebnissen, die jedoch recht unterschiedlich sind und darüber hinaus stark streuen. Solche Vergleiche sind bei Wellinger u. Dietmann [95] sowie bei Buch [17] zu finden. Im technisch beTabelle 4.6: Länge a des äquivalenten Fehlers für unterschiedliche Werkstoffe (rZ in N=mm2 , GS: Stahlguß, GG: Gußeisen mit Lamellengraphit, GGG: Gußeisen mit Kugelgraphit); nach Heywood [39, 681] Werkstoff Fehlerlänge a [mm]

GS 0,047

GG 0,37

GGG …174=rZ †2

Al-Leg. …166=rZ †6

Mg-Leg. 0,0057

208

4 Kerbwirkung

sonders wichtigen Bereich mittlerer Formzahlen … k ˆ 1;0–3;0† treten einerseits größere Abweichungen zwischen den Kerbwirkungszahlen auf, andererseits stimmt jedes der Verfahren nur mit einem Teil der Versuchsergebnisse ausreichend überein. Die Ersatzstrukturlänge q nach Neuber sollte nach den Ableitungen von Taylor [1576] (s. Kap. 7.2) etwa um den Faktor vier größer als der kritische Abstand a nach Peterson sein, was nicht der Fall ist. Einzelne Hinweise auf die jeweiligen Stärken und Schwächen der Ansätze wurden vorstehend bereits gegeben. Verständlicherweise bieten die zweiparametrigen Darstellungen mehr Anpassungsspielraum als einparametrige Ansätze. Der Werkstoffvolumenansatz besitzt den Vorteil der Einbeziehung des statistischen Größeneinflusses. Die Wahl des Ansatzes richtet sich nach dem jeweiligen Anwendungsfall, nach der verfügbaren experimentellen Basis und nach dem tragbaren rechnerischen Aufwand [680]. Weitere Ansätze zur Kerbwirkungszahl sind auf Basis des Kurzrißverhaltens entwickelt worden (s. Kap. 7.5). Eine weitere Stützwirkungsformel (3.86) folgt aus dem statistischen Fehlstellenmodell für spröde Werkstoffe. Liu u. Zenner [687] kombinieren diese statistische Stützziffer multiplikativ mit der spannungsmechanischen Stützziffer.

4.10

Kerbwirkung abhängig von der Mittelspannung

Dauerfestigkeitsschaubild für Kerbstäbe Die Wirkung von Kerben auf die Dauerfestigkeit hängt von der Mittelspannung ab, Abb. 4.43. Die Schwingfestigkeit über der Mittelspannung für den unge-

Abb. 4.43: Dauerfestigkeit von ungekerbten und gekerbten Proben aus einer Aluminiumlegierung als Funktion der Mittelspannung (rA , rm bei ungekerbter Probe; rnA , rnm bei gekerbter Probe; an die Stelle der Fließgrenze r0;1 im ungekerbten Stab tritt im gekerbten Stab die Formdehnungsgrenze r0;1 ); nach Fuchs u. Stephens [29]

4.10 Kerbwirkung abhängig von der Mittelspannung

209

kerbten Stab …b k ˆ k ˆ 1;0† folgt näherungsweise einer Geraden durch die Wechselfestigkeit …rm ˆ 0† und die Zugfestigkeit …rm ˆ rZ †, auch noch zu Beginn des Druckbereichs …rm < 0†. Die Schwingfestigkeit für den gekerbten Stab (hier b k ˆ 2;9 für rm ˆ 0† verläuft ganz anders. Bei höherer Zugmittelspannung gibt es eine niedrige, über der Mittelspannung konstante Dauerfestigkeit, die mit dem Schwellenwert der Spannungsintensitätsamplitude überschlägig in Verbindung gebracht werden kann (der Schwellenwert nimmt allerdings mit der Mittelspannung ab). Bei Mittelspannungen näher bei null steigt die Kurve parallel zur Linie des ungekerbten Stabes (identische Mittelspannungsempfindlichkeit). Im Druckbereich tritt schließlich ein steiler Anstieg auf, wobei im vorliegenden Fall die Linie des ungekerbten Stabes überschritten wird. Der steile Anstieg über die gestrichelte Fortsetzung hinaus begrenzt jenen Bereich, in dem die im Kerbgrund eingeleiteten Risse sich infolge der Druckmittelspannung nicht vergrößern. Dies gilt im oberen Teil auch für den ungekerbten Stab. Kerbwirkungszahl abhängig von der Mittelspannung Folgende Kerbwirkungszahlen lassen sich aus Abb. 4.43 ableiten, wenn unter Kerbwirkungszahl das Verhältnis der Schwingfestigkeiten des ungekerbten und gekerbten Stabes bei gleicher Mittelspannung verstanden wird. Bei der Mittelspannung Null ist die (eigentliche) Kerbwirkungszahl b k ˆ 2;9. Bei der Mittelspannung rm ˆ 110 N=mm2 ist b k ˆ 4;8, also größer als die elastische Formzahl (zu erklären aus überproportional ansteigenden plastischen Kerbdehnungen, die den Bruch auslösen). Bei der Druckmittelspannung rm ˆ 165 N=mm2 ist b k ˆ 1;0 und bei noch kleinerer Mittelspannung b k < 1;0. Aus dieser Betrachtung geht hervor, daß es keine einfache allgemeine Abhängigkeit der Kerbwirkungszahl von Formzahl und Mittelspannung gibt. Analog zum Mittelspannungseinfluß nach (2.13) bei ungekerbten Proben gilt bei gekerbten Proben: rkA ˆ rkW

Mk rkm

…4:72†

Die Kerbmittelspannungsempfindlichkeit Mk wächst ähnlich wie die Mittelspannungsempfindlichkeit M mit der Zugfestigkeit rZ (tatsächlich umfassen die Streubänder in Abb. 2.22 auch gekerbte Proben). Tendenziell ist bei duktilen Werkstoffen Mk < M, weil die Fließgrenze rF im Kerbgrund früher als in der ungekerbten Probe erreicht wird. Die Dauerfestigkeitslinie im HaighDiagramm wird bereits ab der Oberspannung rF= k < rF abgeflacht (mit der Formdehngrenze rF nach (4.34)). Kerbwirkungszahl abhängig vom Spannungsverhältnis Zur Abhängigkeit der Kerbwirkungszahl vom Spannungsverhältnis, R ˆ 0 gegenüber R ˆ 1, liegen experimentelle Ergebnisse für hochfeste Aluminium-

210

4 Kerbwirkung

Abb. 4.44: Kerbempfindlichkeit einer hochfesten Aluminiumlegierung als Funktion des Kerbradius bei Wechsel- und Schwellbeanspruchung; Zweiparameteransatz nach Buch und Einparameteransatz nach Peterson; Vergleich mit Versuchsergebnissen; nach Buch [17, 678]

Abb. 4.45: Schwellbelastung ansteigender Höhe am Kerbstab (a), zugehörige Schwellbeanspruchung im Kerbgrund begrenzt durch Fließgrenze (b) und Abbildung im Dauerfestigkeitsschaubild über der Kerbmittelspannung (c); hochfester Stahl, Kerbwirkungszahl b k , Kerbquerschnittsfläche An; nach Juvinall [82]

4.11 Kerbwirkung abhängig von Eigenspannungen

211

legierungen vor [17, 678]. Unter Kerbwirkungszahl wird in diesem Fall das Verhältnis der Schwingfestigkeiten des ungekerbten und gekerbten Stabes bei gleichem Spannungsverhältnis verstanden. Die Abminderung der Kerbwirkungszahl für R ˆ 0 gegenüber R ˆ 1 beträgt in den ausgewerteten Fällen zwischen 0 und 20 %. Der Fall besonders großer Abweichung ist in Abb. 4.44 nach dem zweiparametrigen Ansatz von Buch [17] erfaßt. Aus der Darstellung ist ersichtlich, daß die einparametrige Näherungsformel (4.64) nach Peterson auf der sicheren Seite liegt. Die Tatsache, daß der gekerbte Stab bei Zugschwellbeanspruchung …R ˆ 0† kerbunempfindlicher reagiert als bei Wechselbeanspruchung …R ˆ 1†, erklärt sich aus der plastischen Formänderung im Kerbgrund bei der Erstbelastung. Letztere hat bei R ˆ 0 Druckeigenspannungen im Kerbgrund zur Folge, die (bei Dauerfestigkeit) eine weiterhin elastische Schwingbreite im Kerbgrund ermöglichen, wobei die örtliche Schwingfestigkeit rkA infolge der örtlichen Mittelspannungsminderung durch örtliche Druckeigenspannungen ansteigt, Abb. 4.45. Die verschiedenen Möglichkeiten der rechnerischen Vorausbestimmung der Dauerfestigkeit gekerbter Stäbe werden von Juvinall [82] und Buch [17] diskutiert und gegenübergestellt. Eine wertvolle einführende und vergleichende Darstellung mit Anwendungsbeispielen ist bei Dowling [77] zu finden.

4.11

Kerbwirkung abhängig von Eigenspannungen

Eigenspannungen an Kerben Globale Eigenspannungen in Proben oder Bauteilen bilden an Kerben lokale Eigenspannungserhöhungen. Es überlagern sich lokale Eigenspannungen, hervorgerufen durch Oberflächenverfestigung des Kerbgrundes (s. Kap. 4.12). Diese Kerbeigenspannungen werden durch überlagerte (Kerb-)Lastspannungen verändert, sobald die Fließgrenze örtlich überschritten wird, was bei hohen Kerbeigenspannungen schon bei geringer Last der Fall ist. Der Kerbeigenspannungsaufbau durch äußere Belastung ist in Abb. 4.46 am Beispiel des gelochten Zugstabes dargestellt. Die elastische Spannungsverteilung rel über dem Querschnitt mit Spannungshöchstwert am Lochrand wird durch das Überschreiten der Fließgrenze rF abgeflacht, rel pl . Nach elastischer Entlastung verbleiben die Eigenspannungen rE . Erneute elastische Belastung F erzeugt die Oberspannungen ro . Schwingbelastung DF hat ein Schwingen zwischen Oberspannung ro und Unterspannung ru zur Folge, wobei der anrißkritische Kerbbereich unter (günstiger) Druckbeanspruchung verbleibt. Der Effekt wird für die Steigerung der Wechselfestigkeit durch Überlasten genutzt.

212

4 Kerbwirkung

Abb. 4.46: Aufbau von Eigenspannungen rE in einem Lochstab durch Überlasten mit darauffolgendem Entlasten (a), verringerte (Zug-)Lastspannungen (rel auf ro ) an der Kerbe bei erneuter (geringerer) Belastung F (b) und bei Schwingbelastung DF (c); nach Gurney [63]

Der Kerbeigenspannungsabbau durch äußere Belastung läßt sich ebenfalls am betrachteten gelochten Zugstab mit aufgebrachter Eigenspannung veranschaulichen. Eine Belastung in den Druckbereich ist aufgrund der Druckkerbeigenspannung mit einem vorzeitigen Überschreiten der Druckfließgrenze rFd verbunden. Wird die Last entsprechend dem örtlichen Erreichen der Fließgrenze im eigenspannungsfreien Lochstab gewählt, so wird die Kerbeigenspannung vollständig abgebaut (vorausgesetzt: rFd ˆ rF ).

Kerbwirkung unter Eigenspannungen Auch für gekerbte Stäbe (und Bauteile) gilt, daß hochfeste Werkstoffe einen besonders ausgeprägten Eigenspannungseinfluß zeigen. Dies folgt aus den höheren Eigenspannungen in hochfesten Werkstoffen und aus dem Anwachsen von Mk in (4.72) mit der Zugfestigkeit, auch wenn die Mittel- und Eigenspannungsempfindlichkeit gekerbter Stäbe nicht gleich gesetzt werden darf (aus ME < M kann aber auf MkE < Mk geschlossen werden). Die von Haibach [35] für ungekerbte Stäbe entwickelte Modellvorstellung (s. Kap. 3.7) läßt sich nur mit Einschränkung auf gekerbte Stäbe übertragen.

4.11 Kerbwirkung abhängig von Eigenspannungen

213

Der Grund dafür ist die Tatsache, daß der Eigenspannungsabbau an Kerben anders als im ungekerbten Stab erfolgt. Die Fließspannung im Kerbgrund wird schon bei relativ niedriger (gleichgerichteter) Mittelspannung erreicht. Andererseits ist die Makrostützwirkung der Kerbe zu berücksichtigen. Eine kerbmechanische Beantwortung der Fragestellung (analog zur kerbmechanischen Wöhler-Linie, s. Kap. 4.13) ist von Lawrence u. Mazumdar [1650] vorgelegt worden. Für einen Schweißstoß mit Stumpfnaht wird nachgewiesen, daß der Eigenspannungseinfluß auf die Schwingfestigkeit beim hochfesten Werkstoff besonders ausgeprägt ist. Durch eine experimentelle Untersuchung an Flachstäben mit aufgeweitetem Kreisloch hat Lowak [484] gezeigt, daß die Lebensdauersteigerung bis Anriß durch tangentiale Druckeigenspannungen im Kerbgrund um so ausgeprägter auftritt, je größer die Differenz zwischen kerbmechanisch berechneter Kerbhöchstspannung und (höherer) Druckeigenspannung ist. In der Rißfortschrittsphase ergaben sich weitere Lebensdauererhöhungen, die auf das Rißschließen durch Druckeigenspannungen zurückzuführen sind. Ein Teilergebnis der Untersuchung, nämlich Wöhler-Linien und Lebensdauerlinien ohne und mit Druckeigenspannungen im Kerbgrund, ist in Kap. 4.12 dargestellt. Die lebensdauererhöhende Wirkung des Lochquerdrückens (Coinen), das ebenfalls tangentiale Druckeigenspannungen am Lochrand hervorruft, wurde von Ogeman [1660] und Josefson et al. [1703] nach der Finite-ElementeMethode kerb- und rißbruchmechanisch untersucht. Günstige Druckeigenspannungen an der Innenwand von dickwandigen Rohren oder von Bohrungen in massiven Bauteilen lassen sich bei hinreichend duktilem Werkstoff durch inneren Überdruck erzeugen. Dadurch wird die Ermüdungsfestigkeit unter wechselndem Innendruck gesteigert. Dieses ursprünglich an Geschützrohren und später an Druckbehältern erfolgreich eingesetzte Verfahren der radialen Kaltreckung (Autofrettage) wird heute insbesondere an Bauteilen von Pkw-Dieseleinspritzsystemen eingesetzt. Eingehende kerb- und rißbruchmechanische Untersuchungen zur Dauerfestigkeitssteigerung (Faktor 2,5 bis 3,5) in derartigen Komponenten aus Vergütungsstahl 42CrMo4 deckten auf, daß über die anrißfreie Dauerfestigkeit hinaus eine solche mit stillstehenden Anrissen in Betracht zu ziehen ist (Schön et al. [1671–1673], Greuling et al. [1628–1631]). Die Eigenspannungsberechnung erfolgt nach dem Kerbdehnungskonzept mit besonderen vordehnungsabhängigen Erstentlastungskurven im Spannungs-Dehnungs-Diagramm (sie unterscheiden sich sowohl von der monotonen Belastungskurve als auch von den zyklischen Hysteresekurven). Die Dauerfestigkeitsbewertung erfolgt zunächst im Hinblick auf das Versagenskriterium Anriß. Der Anriß kann jedoch ohne Rißvergrößerung weiterbelastet werden solange er infolge der Druckeigenspannungen geschlossen bleibt bzw. der Schwellenwert des zyklischen Spannungsintensitätsfaktors nicht überschritten wird. Auch im Bereich der Zeit- und Betriebsfestigkeit dürfte eine Auslegung mit Anrißvermeidung zu konservativ sein. Durch die Einbeziehung von Rißfortschrittsanalysen dürfte sich eine wesentliche Verbesserung der Auslegungsqualität erzielen lassen.

214

4 Kerbwirkung

4.12

Kerbwirkung abhängig vom Oberflächenzustand

Oberflächenrauhigkeit Die Kerbwirkungszahl ist je nach örtlichem Oberflächenzustand zu modifizieren. Das betrifft zunächst die Oberflächenrauhigkeit, die am ungekerbten Stab durch den Abminderungsfaktor cr relativ zum polierten Stab erfaßt wird (s. Kap. 3.8). Bei Werten cr  1;0 kann beim gekerbten Stab die Multiplikation mit 1=cr zu konservativ sein. Der Einfluß der Oberflächenrauhigkeit ist im Kerbgrund geringer als am ungekerbten Stab. In Wirklichkeit vermindern innere Kerbwirkung (ausgedrückt durch die Kerbempfindlichkeit gk ) und Oberflächenrauhigkeit (ausgedrückt durch den Abminderungsfaktor cr ) die Dauerfestigkeit in konkurrierender Weise. Die Modifikation der Kerbwirkungszahl läßt sich daher ausgehend von (4.44) durch folgenden Ansatz verbessern: b k ˆ 1 ‡ … k

1†g k =cr

…cr  1;0; k  1;0†

…4:73†

Zu beachten ist, daß im Abminderungsfaktor cr teilweise auch der festigkeitsmindernde Einfluß einer Randschichtentkohlung erfaßt ist (bei geschmiedeter oder gewalzter Oberfläche von Stahl), während im Kerbgrund in vielen Fällen nur der Rauhigkeitseinfluß auftritt. Oberflächenverfestigung Die am ungekerbten Stab möglichen thermischen, thermochemischen und mechanischen Verfahren der Oberflächenverbesserung hinsichtlich Dauerfestigkeit (Induktions-, Flamm-, Einsatz- und Nitrierhärten, Rollen, Hämmern und Kugelstrahlen, moderne Strahl- und Plasmaverfahren, s. Kap. 3.6) haben bei gekerbten Stäben besondere Bedeutung. Zum einen wird angestrebt, die örtliche Kerbspannungserhöhung durch örtliche Kerbverfestigung zu neutralisieren. Zum anderen sind die Verfestigungsverfahren lokal besonders wirkungsvoll einsetzbar. Insbesondere gilt das für den Druckeigenspannungsaufbau durch Festwalzen, Drücken, Hämmern, Kugelstrahlen oder Aufdornen. Die Dauerfestigkeitsverbesserung des Kerbstabes beruht einerseits auf der örtlichen Anhebung der Werkstoffestigkeit, andererseits auf hohen Druckeigenspannungen im Kerbgrund. Daneben kann die Verbesserung von Kerbform und Kerboberfläche eine Rolle spielen. Bei korrosiver Umgebung hat außerdem das Beschichten und Elektroplattieren praktische Bedeutung. Mit den genannten Verfahren ist es möglich, die Dauerfestigkeit von Kerbstäben, ausgedrückt durch ertragbare Nennspannungen, auf den zwei- bis dreifachen Wert der Ausgangsfestigkeit anzuheben und dadurch die Festigkeit des ungekerbten, aber unbehandelten Stabes zu übertreffen. Das setzt bei den meisten Verfahren voraus, daß die verfestigte Oberflächenschicht dicker als die vorliegende Kerbtiefe ist, wobei die Kerbe vor oder nach der Oberflächenbehandlung eingebracht sein kann.

4.12 Kerbwirkung abhängig vom Oberflächenzustand

215

Abb. 4.47: Schwingfestigkeitssteigerung durch Aufdornen; Wöhler-Linien und Lebensdauerlinien (Random-Versuch); Flachstäbe mit Kreisloch aus Aluminiumlegierung; nach Lowak [484]

Beim Aufdornen wird ein schlanker Konus oder eine Kugel in Übergröße durch ein Kreisloch gepreßt. Dadurch werden Kaltverfestigung und Druckeigenspannungen im Kerbgrund erzeugt. Schwingfestigkeitssteigerungen etwa um den Faktor 1,5 relativ zum unbehandelten Lochkerbstab sind möglich, Abb. 4.47. Mit ähnlicher Wirkung wird beim Coinen der Kreislochrand unter Querdruck gestaucht. Die vorstehend genannten Verfahren der Oberflächenverfestigung sind im Bereich der Dauerfestigkeit besonders wirksam. Die Wirksamkeit nimmt im Bereich der Zeit-, Kurzzeit- und Betriebsfestigkeit infolge des durch die höhere Belastung verursachten Abbaus der Druckeigenspannungen ab.

Kerbmechanische Beschreibung der Oberflächenverfestigung Die genauere Analyse oberflächenverfestigter Kerbstäbe (auch im Vergleich zu ungekerbten Stäben) hinsichtlich der Dauerfestigkeit stellt die lokale Beanspruchung (bei Umlaufbiegung ist das der Verlauf der zyklischen Biege- und Kerbspannungen) dem Tiefenprofil der lokalen Dauerfestigkeit (bestimmt aus Härteund Eigenspannungsverteilung) gegenüber, Abb. 4.48 (Konzept der örtlichen Dauerfestigkeit bei oberflächenverfestigten Proben nach Kloos et al. [465, 466]). Im betrachteten Fall ist der Anriß im ungekerbten Stab unterhalb der oberflächenverfestigten Schicht bei relativ hoher Nennspannung zu erwarten, während er im gekerbten Stab an der Kerbgrundoberfläche bei relativ niedriger Nennspannung auftritt (allerdings möglicherweise in der oberflächenverfestigten Schicht stehen bleibt). Im Zeitfestigkeitsbereich muß dagegen zyklisch

216

4 Kerbwirkung

Abb. 4.48: Anrißbildung und Dauerfestigkeit von oberflächenverfestigten Proben: Härteverlauf (a) und Eigenspannungsverteilung (b), daraus resultierender Dauerfestigkeitsverlauf (c), Gegenüberstellung der Lastspannung aus Umlaufbiegung …R ˆ 1† in ungekerbter Probe (d) und gekerbter Probe (e); nach Kloos et al. [465, 466]

elastisch-plastisches Werkstoffverhalten zugrunde gelegt und der Rißfortschritt berücksichtigt werden. Zur Analyse der Rißeinleitungsphase sind von Seeger et al. [640, 642, 668] einfache Modelle entwickelt worden. Im Grenzfall einer dünnen Randschicht mit Eigenspannung und Verfestigung werden die örtlichen Beanspruchungszyklen nach einem in Kap. 4.4 angegebenen Verfahren bestimmt [642, 668]. Bei entsprechender dicker Randschicht ist ein Mehrschichtmodell anwendbar [640, 642], bestehend aus konzentrischen Hohlzylindern um einen Vollzylinder im Kern, Abb. 4.49 (a). Den Zylindern sind unterschiedliche Eigendehnungen eE in Axialrichtung zugeordnet, welche nach Anschluß der starren Abschlußplatten die Eigenspannungen rE hervorrufen, Abb. 4.49 (b). Jedem der Zylinder ist eine eigene zyklische Spannungs-Dehnungs-Kurve zugeordnet. Die äußere Belastung (Lastspannung rL ) wird über die Abschlußplatte aufgebracht, Abb. 4.49 (c). Die Zulässigkeit der Betrachtung nur der axialen Beanspruchungen unter Vernachlässigung der radialen und tangentialen Effekte bedarf der Begründung im Einzelfall. Die Rißeinleitungs- und Rißfortschrittsphase an Kreislöchern nach dem Coinen wurde, wie bereits erwähnt, von Ogeman [1660] und Josefson et al. [1703] nach der Finite-Elemente-Methode kerb- und rißbruchmechanisch analysiert. Die Dauerfestigkeit der gekerbten Probe (ausgedrückt durch die Nennspannungen im Nettoquerschnitt) kann höher liegen als die der ungekerbten Probe (Abb. 3.32). Die normierte Wöhler-Linie der ungekerbten Probe (Abb. 3.34)

4.12 Kerbwirkung abhängig vom Oberflächenzustand

217

Abb. 4.49: Mehrschichtmodell für Rundprobe mit dicker Randschicht (a), dazu Eigenspannungen rE infolge von Anfangsdehnungen eE relativ zu starrer Abschlußplatte (b) und Überlagerung von Last- und Eigenspannungen (c); nach Bäumel u. Seeger [640]

bleibt anwendbar, soweit die Anrißstelle sich nicht an die Oberfläche verlagert. Tritt die Verlagerung ein, so ist die normierte Wöhler-Linie der gekerbten Proben anzuwenden. Bei vorgegebener Verfestigung, Druckeigenspannungshöhe und Oberflächenschichtdicke ist die an Proben und Bauteilen erzielbare Belastbarkeitssteigerung um so größer, je steiler der Spannungsgradient senkrecht zur Oberfläche ist. Die Belastbarkeitssteigerung ist demnach bei scharfen Kerben und kleinen Durchmessern von Biege- und Torsionsstäben besonders groß. Zu beachten ist, daß die vorstehenden Angaben vor allem für die Zugschwellbeanspruchung im Dauerfestigkeitsbereich gelten. Bei Druckschwellbeanspruchung sind Druckeigenspannungen kein Vorteil. Hier muß in erster Linie auf die örtliche Anhebung der Werkstoffestigkeit gesetzt werden. Im Bereich der Zeitfestigkeit werden die Eigenspannungen durch äußere Belastung mehr oder weniger abgebaut. Ebenso wie bei der Dauerfestigkeit stellt sich die Frage, inwieweit die Eigenspannungen zyklisch relaxieren. Erfahrungsgemäß werden die Eigenspannungen im hochfesten Werkstoff besser als im niedrigfesten Werkstoff gehalten. Zur unterschiedlichen Stabilität der Eigenspannungen in niedrigfestem und vergleichsweise hochfestem Werkstoff stellt Haibach [35] folgende Überlegung an. Um eine einachsig wirkende Eigenspannung in Höhe der Fließgrenze …rE ˆ rF † abzubauen, ist die plastische Dehnung epl ˆ rF =E erforderlich. Bei niedrigfestem Stahl ist epl  0;1 %, bei hochfestem Stahl dagegen epl ˆ 0;4– 0;8 %. Nur die kleinere plastische Dehnung ist problemlos örtlich aufbringbar, etwa durch Überlasten.

218

4 Kerbwirkung

4.13

Kerbwirkung bei Zeit- und Kurzzeitfestigkeit

Kerbstab-Wöhler-Linien Die bisherigen Angaben zur Kerbwirkung bezogen sich hauptsächlich auf die Dauerfestigkeit …N ˆ 106 –107 †, also auf den Zustand der Vermeidung von Makrorißeinleitung. Die Kerbwirkung ändert sich beim Übergang in den Zeitfestigkeitsbereich, in welchem die plastische Formänderung im Kerbgrund zunimmt und der Rißfortschritt einen immer größeren Anteil an der Gesamtlebensdauer ausmacht. Für die Darstellung der Wöhler-Linien gekerbter Proben im Zeitfestigkeitsbereich sind zwei unterschiedliche Schemata anzutreffen, Abb. 4.50. In dem einen Fall wird die Dauerfestigkeit bei N ˆ 106 (ausgedrückt durch die ertragbare Nennspannungsamplitude) mit dem Zugfestigkeitswert rZ , aufgetragen bei N ˆ 101 –103 , oder auch mit der höheren wahren Zugfestigkeit oder Trennfestigkeit rT , aufgetragen bei N ˆ 0;5 oder 1,0, im doppeltlogarithmischen Maßstab linear verbunden (fluchtende Wöhler-Linien). In dem anderen Fall wird allen Wöhler-Linien der Kerbstäbe dieselbe Neigung zugeordnet, nach oben durch die flachere Wöhler-Linie des ungekerbten Stabes begrenzt (oder auch über diese Linie hinaus fortgeführt). Beide Schemata gehen von der Tatsache aus, daß die Bruchfestigkeit rnZ des gekerbten Stabes bei duktilem Werkstoff deutlich über der Zugfestigkeit rZ des ungekerbten Stabes liegt (somit ist rZ eine sichere Grenze für rnA ) und im Kurzzeitfestigkeitsbereich zunächst nur wenig mit wachsender Schwingspielzahl abfällt. Kerbwirkungszahl im Zeitfestigkeitsbereich Ermittelt man die den dargestellten Linienscharen zugehörigen Kerbwirkungszahlen auch im Zeitfestigkeitsbereich (durch Bezug der Schwingfestigkeit rA

Abb. 4.50: Wöhler-Linien für Kerbstäbe mit unterschiedlicher Formzahl k : Schematisierung mit gemeinsamem Fluchtpunkt in Höhe der Zugfestigkeit rZ , aufgetragen bei N ˆ 102 (a) und Schematisierung mit identischer Neigung (b)

4.13 Kerbwirkung bei Zeit- und Kurzzeitfestigkeit

219

des ungekerbten Stabes auf die Schwingfestigkeit rnA des gekerbten Stabes), so stellt man einen Abfall der Kerbwirkungszahl bei Verkleinerung der ertragenen Schwingspielzahl fest. Ein nicht schematisiertes experimentelles Ergebnis dazu zeigt Abb. 4.51. Es sind Stähle sowie Aluminium- und Magnesiumlegierungen erfaßt. Der Abfall der Kerbwirkungszahl ist nach Heywood [39, 681] von der Zugfestigkeit des Werkstoffs abhängig, Abb. 4.52. Der Abfall von der Kerbwirkungszahl b k bei Dauerfestigkeit (zugehörig die ertragene Schwingspielzahl ND ˆ 106 ) auf die Kerbwirkungszahl b k bei Zeitfestigkeit (zugehörig die ertragene Schwingspiel-

Abb. 4.51: Kerbwirkungszahl als Funktion der ertragenen Schwingspielzahl für eine Aluminiumlegierung; nach Mann [46]

Abb. 4.52: Kerbwirkungszahlverhältnis als Funktion der Zugfestigkeit bei Stählen, Aluminium- und Magnesiumlegierungen; nach Heywood [39]

220

4 Kerbwirkung

Abb. 4.53: Fluchtende Wöhler-Linien von ungekerbten und gekerbten Proben aus hochfestem Stahl; Näherung nach Heywood [39, 681] (durchgehende Linien) und Auslegungsempfehlung nach Peterson (gestrichelte Linien); nach Juvinall [82]

zahl N ˆ 103 ) ist für niedrigfeste (oder weiche) Werkstoffe stärker als für hochfeste (oder harte) Werkstoffe. Bei Überschneidung der Wöhler-Linien von gekerbter und ungekerbter Probe im Zeitfestigkeitsbereich treten im Kurzzeitfestigkeitsbereich Kerbwirkungszahlen b k < 1;0 auf. Fluchtende Kerbstab-Wöhler-Linien Das Schema der fluchtenden Wöhler-Linien für Kerbstäbe ergibt sich bei Anwendung der Abhängigkeit b k ˆ f …b k ; rZ † für N ˆ 103 nach Abb. 4.52 auf einen hochfesten Stahl, Abb. 4.53. Die Wöhler-Linie des ungekerbten Stabes wird nach (2.7) und die Wechselfestigkeit nach (3.2) angenähert. Davon ausgehend ergeben sich die Wöhler-Linien der Kerbstäbe (durchgehende Linien). Gegenübergestellt ist die Auslegungsempfehlung nach Peterson (gestrichelte Linien). Ein ähnliches, im Behälterbau eingeführtes Diagramm (in halblogarithmischem Maßstab, mit ungewöhnlich weit vorverlegtem Dauerfestigkeitsübergang) zeigt Abb. 4.54. Normierte Kerbstab-Wöhler-Linie Das Schema der parallelen Wöhler-Linien für Kerbstäbe liegt dem Konzept der normierten Wöhler-Linie nach Haibach [34, 35, 120, 128] zugrunde (ursprünglich für Schweißverbindungen entwickelt). Das Konzept besagt, daß bei Auftragung der Zeitfestigkeitsergebnisse des Wöhler-Versuchs mit Kerbstäben bezo-

4.13 Kerbwirkung bei Zeit- und Kurzzeitfestigkeit

221

Abb. 4.54: Fluchtende Wöhler-Linien von ungekerbten und gekerbten Proben aus Baustählen; Diagramm für die konstruktive Auslegung nach Liebrich in [92]

gen auf deren Dauerfestigkeit …Pu ˆ 50 %) sich im doppeltlogarithmischen Maßstab ein einheitliches Streuband ergibt (einheitlich hinsichtlich Breite und Neigung). Einbezogen sind unterschiedliche Kerbschärfe, unterschiedliche Werkstoffe innerhalb einer Gruppe (z. B. Gruppe der Baustähle oder Gruppe der Aluminiumlegierungen), unterschiedliche Belastung (z. B. Zug-Druck, Biegung und Torsion) sowie unterschiedliche Spannungsverhältnisse (insbesondere R ˆ 1 und R ˆ 0). Voraussetzung für die Vereinheitlichung sind Wöhler-Linien bei konstantem Spannungsverhältnis. Wöhler-Linien bei konstanter Mittelspannung lassen sich so nicht vereinheitlichen. Sofern der Abknickpunkt zur Dauerfestigkeit …ND  106 † unterschiedlich liegt, muß zusätzlich die Schwingspielzahl auf das jeweilige ND normiert werden, um die Streubänder bei identischer Neigungskennzahl zusammenfallen zu lassen [35]. Die Neigungskennzahl k ˆ 5 gekerbter Proben aus Stahl ist wesentlich kleiner als die Neigungskennzahl k ˆ 15 ungekerbter Proben, Abb. 4.55 (vgl. Abb. 2.8). Der in seiner Formzahlabhängigkeit unstetige Übergang von k ˆ 5 auf k ˆ 15 kann kerbmechanisch erklärt werden. Demnach weist die Wöhler-Linie des ungekerbten Stabes keinen steilen Zeitfestigkeitsverlauf auf, sondern nur den flacheren Kurzzeitfestigkeitsverlauf, der sich nunmehr bis zur Dauerfestigkeit erstreckt [35]. Eine umfassende Schrifttumsauswertung für Stähle nach Hück et al. [123] ergibt im Mittel einen stetigen Abfall der Neigungskennzahl von k ˆ 12;5 für k ˆ 1;0 auf k ˆ 4 für k ˆ 8;0 bei großer Streuung. Ebenso wird ein Anstieg der Schwingspielzahl im Abknickpunkt der Wöhler-Linie von ND ˆ 4  105 für k ˆ 3 auf ND ˆ 2  106 für k ˆ 23 bei ebenfalls großer Streuung ermittelt. Die Möglichkeit der Normierung der Wöhler-Linie auf die Einheitsform ist bei Aluminiumlegierungen auf die Zeitfestigkeit (N  106 ) mit dem Bezugs-

222

4 Kerbwirkung

Abb. 4.55: Normierte Wöhler-Linie von gekerbten Proben aus zwei Vergütungsstählen mit Streuspanne Ts ˆ Tr ; nach Haibach [35]

Abb. 4.56: Wöhler-Linien von gekerbten Proben aus einer Aluminiumlegierung; nach Ostermann in [35]

wert der Dauerfestigkeit ND ˆ 106 beschränkt. Im Dauerfestigkeitsbereich mit N  106 tritt besonders bei Wechselbeanspruchung, weniger bei Schwellbeanspruchung, ein weiterer Abfall der Schwingfestigkeit auf. Die ertragbaren Spannungsamplituden für R ˆ 1 und R ˆ 0 gleichen sich im Dauerfestigkeitsbereich an, Abb. 4.56. Engeres Kerbgrundkonzept Das engere Kerbgrundkonzept umfaßt die Analyse der Beanspruchung und Anrißbildung im Kerbgrund bei einachsiger Kerbbeanspruchung (einachsige Span-

4.13 Kerbwirkung bei Zeit- und Kurzzeitfestigkeit

223

nung bzw. Dehnung) und bei Schwingbelastung mit konstanter Amplitude und Mittellast. Es ist nach elastischer Kerbbeanspruchung (anwendbar im Bereich der Dauerfestigkeit) und elastisch-plastischer Kerbbeanspruchung (anwendbar im Bereich der Zeit- und Kurzzeitfestigkeit) unterteilbar. Dem engeren Kerbgrundkonzept steht das erweiterte Kerbgrundkonzept gegenüber, welches die Belastung mit variabler Amplitude und Mittellast sowie die mehrachsige Kerbbeanspruchung mitumfaßt (s. Kap. 5.6). Die bruchmechanische Analyse des der Anrißbildung folgenden (Makro-)Rißfortschritts wird dagegen nicht dem Kerbgrundkonzept zugerechnet. Anstelle der Bezeichnungsweise „Kerbgrundkonzept“ wird insbesondere bei Schweißverbindungen vom „Kerbspannungskonzept“ bei elastischer Kerbbeanspruchung und vom „Kerbdehnungskonzept“ bei elastisch-plastischer Kerbbeanspruchung gesprochen. Die in unterschiedlichen Versionen vorliegenden Konzepte für Schweißverbindungen werden von Radaj et al. [70, 71] beschrieben (s. a. [1621, 1626, 1634, 1645, 1648–1650, 1652, 1661–1667, 1683]). Von Seeger [56] wird anstelle von „Kerbgrundkonzept“ die Bezeichnungsweise „örtliches Konzept“ bevorzugt, weil nicht allein die Kerbwirkung angesprochen ist, sondern jede örtliche Bauteilbeanspruchung. Das Kerbgrundkonzept wurde ab etwa 1970 ausgehend von der Neuber-Formel [1655] von amerikanischen Forschern entwickelt [1614, 1623–1625, 1627, 1641, 1646, 1648–1652, 1654, 1681, 1684, 1686, 1688, 1689]. Es wurde von deutschen Forschern aufgegriffen und unabhängig weiterentwickelt [1615– 1617, 1620, 1622, 1626, 1632, 1635–1640, 1656–1659, 1662, 1663, 1668, 1674–1679, 1687, 1690]. Um die Ausgestaltung und Anwendung haben sich Seeger und Mitarbeiter [56] besonders verdient gemacht. Die Kerbgrundkonzepte zur Dauerfestigkeit wurden von Taylor u. Wang [1685] validiert.

Vorgehensweise beim engeren Kerbgrundkonzept Die Wöhler-Linie von gekerbten Proben oder Bauteilen läßt sich durch kerbmechanische Analyse, eingeschränkt zunächst auf das Anrißverhalten (d. h. ohne Rißfortschritt), rechnerisch bestimmen. Es wird von der Annahme ausgegangen, daß sich der Werkstoff im Kerbgrund hinsichtlich Verformung und Anriß ähnlich verhält wie eine dort gedachte (oder auch tatsächlich herausgelöste und geprüfte) ungekerbte axialbelastete Vergleichsprobe hinsichtlich Verformung und Bruch („engeres Kerbgrundkonzept‘‘), Abb. 4.57. Die zu lösende Aufgabe besteht darin, die Kerbgrundbeanspruchung nach elastischem und plastischem Anteil zu berechnen (oder zu messen) und die zugehörige Schwingfestigkeit der Dehnungs-Wöhler-Linie für die ungekerbte Probe zu entnehmen. Über besondere Verfahrensschritte können auch Eigenspannungs-, Mehrachsigkeits- und Größeneffekte berücksichtigt werden. Eine Rißfortschrittsberechnung nach Kap. 8.6 kann sich anschließen, um neben der AnrißWöhler-Linie auch die Bruch-Wöhler-Linie zu erhalten. Die Erweiterung des kerbmechanischen Ansatzes auf die Lebensdauerlinie („erweitertes Kerbgrundkonzept“) erfolgt in Kap. 5.6.

224

4 Kerbwirkung

Abb. 4.57: Ungekerbte Vergleichsprobe im Kerbgrund zur Simulation des Verformungsund Anrißverhaltens

Das engere Kerbgrundkonzept in seiner einfachsten (elastischen) Form beschränkt sich auf die Ermittlung der Dauerfestigkeit des Kerbstabs oder Bauteils. Ausgehend von der Kerbformzahl wird die Kerbwirkungszahl nach einem der in Kap. 4.6–4.9 beschriebenen Verfahren ermittelt. Die aus der Kerbwirkungszahl bei vorgegebener Nennspannung ableitbare dauerfestigkeitswirksame Kerbhöchstspannung muß kleiner als die Dauerfestigkeit der Vergleichsprobe bleiben. Mittelspannungs-, Eigenspannungs- und Oberflächeneinflüsse werden nach Kap. 4.10–4.12 überschlägig berücksichtigt. Das Verfahren ist auch ohne Bezug auf Nennspannungen, also ohne Einführung von Formzahlen und Kerbwirkungszahlen, durchführbar. Es hat sich bei dauerfest auszulegenden Maschinenteilen wie Kurbelwellen, Pleuel oder Zahnrädern bewährt [1647] und wird bei Schweißverbindungen angewendet [69–71, 1650, 1661, 1662–1667]. Das engere Kerbgrundkonzept in umfassenderer (elastisch-plastischer) Form schließt neben der Dauerfestigkeit die Zeit- und Kurzzeitfestigkeit bis Anriß bei Belastung mit konstanter Amplitude ein. Dabei wird vom elastisch-plastischen Werkstoffverhalten im Kerbgrund ausgegangen (s. Kap. 4.4). Das bekannteste Verfahren zur Ermittlung der elastisch-plastischen Beanspruchung im Kerbgrund ist die Makrostützwirkungsformel (4.21) bzw. (4.22) nach Neuber (statt (4.22) auch (4.25) nach Sonsino) sowie ihre nach Seeger und Heuler unter Verwendung der Grenzlastformzahl modifizierte Form (4.32) und (4.33). Als Spannungs-Dehnungs-Kurve ist die zyklische Kurve (meist nach (2.16)) einzuführen. Die rechnerische Vorgehensweise bei zyklischer Belastung ist in Abb. 4.58 veranschaulicht. Die Beanspruchung folgt der zyklischen Spannungs-Dehnungs-Kurve bis zur Neuber-Hyperbel re ˆ … k rn †2 =E (mit den elastisch-plastischen Kerbbeanspruchungen r und e). Die Belastungsumkehr wird durch den Ast der Hystereseschleife bis zur Neuber-Hyperbel DrDe ˆ … k Drn †2 =E beschrieben. Wenn das Zeitfestigkeitsverhalten ausgehend

4.13 Kerbwirkung bei Zeit- und Kurzzeitfestigkeit

225

Abb. 4.58: Erstbelastung auf zyklischer Spannungs-Dehnungs-Kurve und Belastungsumkehr auf einem Ast der Hystereseschleife jeweils bis zur Neuber-Hyperbel für Spannungen und Dehnungen im Kerbgrund

von der Kerbwirkungszahl b kD für Dauerfestigkeit näherungsweise bestimmt wird, ist anstelle der elastischen Formzahl k die Kerbwirkungszahl b kD in die kerbmechanische Betrachtung einzuführen. Die Wöhler-Linie des gekerbten Stabes kann dann aus der Wöhler-Linie des ungekerbten Stabes (jeweils im Zeitfestigkeitsbereich) entsprechend der Formel p DrDeE Drn ˆ …4:74† b kD bestimmt werden, sofern die Nennspannung im elastischen Bereich bleibt. Die realen Verhältnisse weichen vom Neuberschen Makrostützwirkungsansatz dann ab, wenn hinsichtlich Kerbgeometrie, Probenbelastung oder Werkstoffkennlinie die Voraussetzungen des Ansatzes nur unzureichend erfüllt werden. Ein derartiger Fall ist die Einführung elastisch-idealplastischen Werkstoffs anstelle des stetig verfestigenden Werkstoffs. Mit der Größtspannung rmax ˆ rF bei elastisch-idealplastischem Werkstoff folgt aus (4.23) recht ungenau der Größtwert der Gesamtdehnung im Kerbgrund: emax ˆ

…rn k †2 ErF

…4:75†

Abweichungen sind auch dann zu erwarten, wenn sich im Kerbquerschnitt hohe dreiachsige Zug- oder Druckspannungen aufbauen, z. B. bei Axialbelastung scharf gekerbter Rundproben. Praktisch bedeutsam sind vor allem Abweichungen durch elastisch-plastisches Verhalten der Nennspannungen im Nettoquerschnitt bedingt durch niedrige Fließgrenze, hohe Mittelspannung oder hohe zyklische Beanspruchung im Kurzzeitfestigkeitsbereich. In diesen Fällen ist die nach Seeger und Heuler modifizierte Version (4.32) und (4.33) der Neuber-Formel zu verwenden. Genauer läßt sich die elastisch-plastische Kerbbeanspruchung nach der Finite-ElementeMethode ermitteln.

226

4 Kerbwirkung

Abb. 4.59: Anriß-Wöhler-Linien für Lochscheiben aus Baustahl StE 690 bei unterschiedlichen Spannungsverhältnissen R, Berechnung nach dem engeren Kerbgrundkonzept und Versuchsergebnisse; nach Seeger u. Führing [56, 1677]

Durch die Kombination der im Kerbgrund errechneten elastisch-plastischen Beanspruchung mit der ertragbaren Beanspruchung der ungekerbten Vergleichsprobe gemäß Vier-Parameter-Ansatz (2.20) bzw. (2.27) für die DehnungsWöhler-Linie ergibt sich schließlich die (Nennspannungs-)Anriß-Wöhler-Linie des Kerbstabes oder Bauteils. Die nach dem engeren Kerbgrundkonzept von Seeger u. Führing [56, 1677] berechneten Anriß-Wöhler-Linien für Lochscheiben aus Baustahl StE 690 bei unterschiedlichen Spannungsverhältnissen R zeigt Abb. 4.59. Der Grad der Übereinstimmung mit den Versuchsergebnissen ist überzeugend. Ähnlich gute Ergebnisse wurden in Untersuchungen von Saal [693] an Kerbstäben aus Baustahl St 52 mit unterschiedlichen Formzahlen sowie von Seeger u. Zacher [1680] an ausgeklinkten Biegeträgern aus gleichem Werkstoff erzielt. Eine weitere Wöhler-Linien-Berechnung nach dem engeren Kerbgrundkonzept für Kerbstäbe aus Stahl mit unterschiedlichen Formzahlen wurde von Haibach [35] vorgelegt, Abb. 4.60. Die als Bezugsgrößen gewählten Werte rT und NT entsprechen der Transition-Life-Bedingung gleich großer elastischer und plastischer Dehnungsamplituden im Kerbgrund. Durch den Bezug wird die Berechnung nach (2.16) und (2.20) bzw. (2.27) wesentlich vereinfacht. Die gestrichelten Kurven ergeben sich bei Annahme rein elastischer Nennspannungen, während die durchgehenden Kurven den wahren Verhältnissen mit elastischplastischen Nennspannungen entsprechen.

4.13 Kerbwirkung bei Zeit- und Kurzzeitfestigkeit

227

Abb. 4.60: Nennspannungs-Wöhler-Linien von gekerbten Proben aus Stahl, berechnet für unterschiedliche Formzahlen nach dem engeren Kerbgrundkonzept unter Verwendung des Neuber-Ansatzes mit elastischer Nennspannung (gestrichelte Linien) oder elastisch-plastischer Nennspannung (durchgehende Linien); nach Haibach [35]

In einer weiteren Wöhler-Linien-Berechnung nach dem engeren Kerbgrundkonzept (mit Makrostützwirkungsformel nach Neuber und vereinheitlichten Werkstoffkennwerten nach Bäumel u. Seeger [239]) ging es darum, die Neigungskennzahl k für geschweißte Bauteilproben abzuschätzen (Gimperlein [117]). Die Neigung der Wöhler-Linie sollte vom Ausmaß der elastischen Stützwirkung während der plastischen Verformung im Kerbgrund abhängen. Maximale Stützwirkung ist der dehnungsgeregelt ermittelten GesamtdehnungsWöhler-Linie (ea–N) zuzuordnen, minimale Stützwirkung dagegen der spannungsgeregelt ermittelten elastischen Dehnungs-Wöhler-Linie (ea,el–N). Die möglichen Neigungskennzahlen liegen demnach zwischen k ˆ 1/(–c) ˆ 1,7 für die plastische Dehnungs-Wöhler-Linie und k ˆ 1/(–b) ˆ 11,5 für die elastische Dehnungs-Wöhler-Linie, Abb. 4.61 (a). Um den Exponenten k in der Gleichung der Bauteil-Wöhler-Linie (ausgedrückt durch elastische Nennspannungen bzw. Nenndehnungen en ˆ ea,e) zu bestimmen, wird die linearelastische Kerbdehnung ek ˆ ken in die Makrostützwirkungsformel nach Neuber eingeführt. Das Ergebnis nach dem Kerbgrundkonzept ist k & 6,8 für hochfesten Stahl (rZ ˆ 630 N/mm2), Abb. 4.61 (b), bzw. k & 6,0 für niedrigfesten Stahl (rZ ˆ 400 N/mm2). Unterschiede im tatsächlichen (Makro-)Stützwirkungsverhalten werden durch die vorstehend verwendete Neuber-Formel offensichtlich nicht aufgedeckt. Die WöhlerLinien geschweißter Bauteilproben weisen tatsächlich kleinere Neigungskennzahlen k ˆ 3–4 auf. Die Veränderung von Eigenspannungen im Kerbgrund durch Fließgrenzenüberschreitung bei Beginn der Schwingbeanspruchung läßt sich ebenfalls nach

228

4 Kerbwirkung

Abb. 4.61: Neigungskennzahl k von Bauteil-Wöhler-Linien (b) abgeleitet aus den DehnungsWöhler-Linien (a) unter Verwendung der Makrostützwirkungsformel von Neuber; nach Gimperlein [117]

dem kerbmechanischen Ansatz bestimmen (s. Kap. 5.6). Die Umsetzung in Dauerfestigkeitsschaubilder und Wöhler-Linien ist bisher nicht erfolgt. Weitere Anwendungsbeispiele zum elastisch-plastischen Kerbgrundkonzept sind in Kap. 8.5 zusammengestellt. Ausgehend von der kerbmechanisch errechneten Anriß-Wöhler-Linie der gekerbten Probe oder des Bauteils kann die Bruch-Wöhler-Linie auf Basis einer nachgeschalteten Rißfortschrittsberechnung bestimmt werden (s. Kap. 8.6).

4.14

Kerbwirkung bei zusammengesetzter Belastung

Komplizierung der Kerbproblematik Den bisherigen Betrachtungen zur Kerbwirkung liegen Einzelbelastungen zugrunde, deren zeitlicher Ablauf über die elastische Kerbformzahl auf die überwiegend einachsig wirkende Kerbgrundbeanspruchung übertragen wird. Die Verhältnisse komplizieren sich erheblich, wenn mehrere Einzellasten am Bauteil wirken (zusammengesetzte Belastung) und mehrachsige örtliche Beanspruchungen (zweiachsig im Kerbgrund) zu berücksichtigen sind. Die Rückrechnung von den Lasten auf die anrißwirksamen Kerbbeanspruchungen setzt voraus, daß der Anrißort bekannt ist. Letzterer ist abhängig vom zeitlichen Ablauf der Einzellasten und von der gültigen Festigkeitshypothese. Bei der zusammengesetzten Belastung wird zwischen proportionaler und nichtproportionaler Belastung unterschieden. Bei proportional zusammengesetzter Belastung ist das Verhältnis der Einzellastwerte zu jedem Zeitpunkt gleich, bei nichtproportional zusammengesetzter Belastung ist das nicht der Fall. Zur nichtproportional zusammengesetzten Belastung gehören zyklische BelastungsZeit-Abläufe mit unterschiedlichem Quotienten von Amplitude zu Mittelwert,

4.14 Kerbwirkung bei zusammengesetzter Belastung

229

mit unterschiedlicher Schwingungsform, mit unterschiedlicher Phase und mit unterschiedlicher Frequenz. Die nichtproportionalen Belastungsarten erweitern sich bei Betrachtung allgemeinerer deterministischer oder stochastischer Belastungs-Zeit-Abläufe. Während bei (relativ zum Bauteil) richtungskonstanten und ortsfesten Lasten die Auswirkung auf die örtlichen Beanspruchungen durch allein ortsabhängige Übertragungsfaktoren erfolgt, ist das bei richtungsveränderlichen und/oder ortsbeweglichen Lasten nicht der Fall. Die Übertragungsfaktoren sind im letzteren Fall außerdem zeitabhängig. Proportionale bzw. nichtproportionale Belastung kann sowohl proportionale (einachsige) als auch nichtproportionale örtliche Beanspruchung hervorrufen. Art und Höhe der Belastung bestimmen den Anrißort und dessen Beanspruchung. Last-Beanspruchungs-Gruppen Der Aufwand bei der Lösung von Problemen der Betriebsfestigkeit nach dem lokalen Konzept hängt in hohem Maße von der angesprochenen Komplizierung der Kerbproblematik ab. Es lohnt sich daher, hinsichtlich des Zusammenhanges zwischen äußerer Belastung und örtlicher Beanspruchung zwischen einfacheren und komplexeren Aufgabenstellungen zu unterscheiden. Dafür wird von Seeger [56] folgende Unterteilung in Last-Beanspruchungs-Gruppen vorgeschlagen, Abb. 4.62. Die äußere Belastung wird nach einzeln und zusammengesetzt unterschieden, die zusammengesetzte Belastung wiederum nach proportional und nichtpropor-

Abb. 4.62: Last-Beanspruchungs-Gruppen bei der Lösung von Problemstellungen der Betriebsfestigkeit nach dem örtlichen Konzept; in Anlehnung an Seeger [56]

230

4 Kerbwirkung

tional. Die Lastabläufe an den betrachteten gekerbten Bauteilen sind grafisch veranschaulicht. Als örtliche Beanspruchung sind die einachsige Kerbspannung am Rand eines Kreisloches in einem Doppel-T-Träger und die zweiachsige Kerbspannung im Kerbgrund einer Umfangsrille an einem Rundstab grafisch dargestellt, beide Bauteile unter der zusammengesetzten Belastung von Zugkraft und Querkraft. Die Bezeichnung „zweiachsig“ meint die Hauptspannungen, denen drei Koordinatenspannungen zugeordnet sind. Grundlegend für die Betrachtungen von Seeger ist die Proportionalität zwischen orts- und zeitabhängiger (elastischer) örtlicher (Kerb-)Spannung rk (s, t) und zeitabhängiger äußerer Last F(t), vermittelt über den meist nur ortsabhängigen Übertragungsfaktor c(s) wobei s ˆ x, y, z. Der Übertragungsfaktor kann in diesem Fall aus einer einmaligen elastischen Beanspruchungsanalyse unter Annahme einer Einheitslast ermittelt werden. Bei richtungs- und/oder ortsveränderlichen äußeren Lasten tritt allerdings die Zeitabhängigkeit hinzu, c(s, t). Die Last-Beanspruchungs-Gruppe EE (einzeln und einachsig) ist der Standardfall des örtlichen Konzepts. Die einachsigen Kerbspannungen rk (t) ergeben sich aus der äußeren Last F1(t) multipliziert mit dem ortsabhängigen Übertragungsfaktor c(s). Der Anriß wird am Ort mit größtem Übertragungsfaktor eingeleitet. Die Beanspruchungsanalyse ist dafür ausreichend. In der Last-Beanspruchungs-Gruppe PE (proportional und einachsig) wird gegenüber dem vorhergehenden Fall eine zweite äußere Last proportional wirksam, F2(t)/F1(t) ˆ konst. Die einachsigen Kerbspannungen rk (t) ergeben sich durch Überlagerung der Wirkungen der äußeren Lasten, c1(s)F1(t) und c2(s)F2(t), was aufgrund der vorstehenden Proportionalität zu c12(s)F1(t) umgeformt werden kann. Der Anriß wird am Ort mit größtem kombiniertem Übertragungsfaktor eingeleitet. Die Beanspruchungsanalyse ist dafür ausreichend. Dieser Ort ist meist mit den Anrißstellen der Einzelbelastungen nicht identisch. Bei der Last-Beanspruchungs-Gruppe NE (nichtproportional und einachsig) ist vorstehende Kombination der Übertragungsfaktoren nicht möglich, weil die äußeren Lasten F1(t) und F2(t) nichtproportional wirken. Der Anrißort ist nicht mehr allein aufgrund einer Beanspruchungsanalyse bestimmbar. Es müssen vollständige Lebensdauerberechnungen für potentielle Anrißorte durchgeführt und die Ergebnisse verglichen werden. Beanspruchungsanalysen allein reichen meist nicht aus. In der Last-Beanspruchungs-Gruppe EM (einzeln und mehrachsig) sind die Kerbspannungen im Kerbgrund zweiachsig. Jede der beiden Spannungskomponenten ist über einen eigenen Übertragungsfaktor mit der äußeren Last verbunden. Ihre Größtwerte erscheinen meist an unterschiedlichen Orten. Der Anrißort ist aus dem Größtwert des gemäß gültiger Festigkeitshypothese resultierenden Übertragungsfaktors bestimmbar. Die Beanspruchungsanalyse ist dafür ausreichend. Die Abhängigkeit des Anrißorts von der Hypothesenart ist allerdings gering, wenn eine der beiden Spannungskomponenten dominiert. In der Last-Beanspruchungs-Gruppe PM (proportional und mehrachsig) sind ebenso wie in PE aufgrund der Proportionalität F1(t)/F2(t) ˆ konst. kombinierte Übertragungsfaktoren bestimmbar. Die gemäß gültiger Festigkeitshypo-

4.14 Kerbwirkung bei zusammengesetzter Belastung

231

Abb. 4.63: Last-Beanspruchungs-Fälle mit zeitkonstantem (a) und zeitvariablem (b, c) Übertragungsfaktor bei orts- und richtungskonstanter Last (a), ortskonstanter und richtungsvariabler Last (b) sowie ortsvariabler und richtungskonstanter Last (c); nach Seeger [56]

these zu einem resultierenden Faktor verbundenen kombinierten Faktoren legen den Anrißort fest. Beanspruchungsanalysen sind dafür ausreichend. In der Last-Beanspruchungs-Gruppe NM (nichtproportional und mehrachsig) ist ebenso wie in NE die Kombination der Übertragungsfaktoren nicht mehr möglich. Der tatsächliche Anrißort kann nur über vollständige Lebensdauerberechnungen für potentielle Anrißorte gefunden werden, wobei die gültige Festigkeitshypothese einzubeziehen ist. Beanspruchungsanalysen allein reichen nicht aus. Bisher war unausgesprochen vorausgesetzt, daß die zeitveränderlichen Lasten ortsfest und richtungskonstant wirken, Abb. 4.63 (a). Ist das nicht der Fall, wie in Abb. 4.63 (b, c), dann sind die Übertragungsfaktoren über die Lastorte und Lastrichtungen auch zeitabhängig. Der Anrißort muß über vollständige Lebensdauerberechnungen bestimmt werden. Sofern anstelle des elastischen Verhaltens örtlich elastisch-plastisches Verhalten tritt, verändern sich die Übertragungsfaktoren lasthöhenabhängig, was auch den Anrißort beeinflussen kann. Kerbmechanische Analyse zur zusammengesetzten Belastung Die zusammengesetzte Belastung hat im Kerbgrund zweiachsige Beanspruchung zur Folge, z. B. entsprechen der Biege- und Torsionsbelastung einer Probe Normal- und Schubspannungen, die ebenfalls „zusammengesetzt“, also proportional oder nichtproportional überlagert auftreten. Die Angaben in Kap. 3.2 zur Dauerfestigkeit ungekerbter Proben bei mehrachsiger Beanspruchung lassen sich auf das Anrißverhalten im Kerbgrund übertragen. Tatsächlich bezieht sich ein Teil der in Kap. 3.2 besprochenen Untersuchungsergebnisse auf gekerbte Proben.

232

4 Kerbwirkung

Abb. 4.64: Quadratscheibe mit Kreislochkerbe unter phasenverschobener, gleichfrequenter, zweiachsiger Schwingbelastung (a, b) und zugehörige kerbmechanisch berechnete relative Schwingfestigkeit (Interaktionslinien) (c), mit Grundbeanspruchungen oder Nennspannungen r1 und r2 ; nach Zacher et al. [1690]

Die Wirkung der zusammengesetzten Belastung auf die örtlichen Beanspruchungen und die Anrißbildung im Kerbgrund läßt sich auf Basis der linearelastischen oder elastisch-plastischen Kerbmechanik (je nachdem, ob der Dauerfestigkeitsbereich oder der Zeit- und Kurzzeitfestigkeitsbereich angesprochen ist) rechnerisch analysieren. Die kritische Stelle des Kerbrandes (Rand bei ebenem Kerbmodell) folgt aus der vergleichenden Betrachtung des Beanspruchungsund Schädigungszustandes aller Randpunkte. In Sonderfällen kann die kritische Stelle jedoch allein aufgrund der Kerbspannungsanalyse bestimmt werden, so im Fall der gelochten Quadratscheibe unter zweiachsiger, mit Phasenverschiebung d auftretender Grundbeanspruchungen r1 und r2 , Abb. 4.64. Der betrachtete Fall einer proportionalen asynchronen Belastung (proportional nur hinsichtlich Amplitude und Mittelwert) ist insofern besonders einfach, als der örtliche Kerbspannungszustand einachsig bei konstanter Hauptrichtung der zusammengesetzten Belastung wirkt. Die sägezahnartige anstelle der sinusförmigen Last-Zeit-Funktion wurde gewählt, um den Rechenaufwand bei nur geringen Abweichungen in den Ergebnissen wesentlich zu verringern. Kritisch hinsichtlich der Rißeinleitung sind die Scheitelpunkte des Kreislochs, in denen die Spannungserhöhung gemäß Formzahl k  3;0 (nur bei unendlich ausgedehnter Scheibe genau 3,0) der einen Grundbeanspruchungskomponente mit der Spannungsverminderung gemäß Formzahl k  1;0 der anderen, senkrecht zur ersten wirkenden Grundbeanspruchungskomponente zu überlagern ist. Die Verhältnisse werden zunächst für zwei phasenverschobene gleichfrequente Lastabläufe gleicher Amplitude aufgezeigt. Im festigkeitsmäßig günstigsten Fall zweiachsiger Zugbeanspruchung, nämlich bei der Phasenverschiebung

4.14 Kerbwirkung bei zusammengesetzter Belastung

233

d ˆ 0, ergibt sich die resultierende Formzahl k ˆ 2;0, so daß gegenüber einachsigem Zug ( k ˆ 3;0) eine Schwingfestigkeitserhöhung mit dem Faktor 1,5 auftritt. Umgekehrt ergibt sich im festigkeitsmäßig ungünstigsten Fall mit der Phasenverschiebung d ˆ p die resultierende Formzahl k ˆ 4;0, so daß eine Schwingfestigkeitsminderung mit dem Faktor 0,75 ermittelt wird. Die genauere kerbmechanische Berechnung von elastisch-plastischer Beanspruchung und Schädigung ergibt die Festigkeitsgrenze bei zusammengesetzter Belastung als „Interaktionslinie“. Das Verhältnis der Schwingfestigkeiten r1A =r1A0 und r2A =r2A0 in den beiden Koordinatenrichtungen bei zwei- und einachsiger Belastung wird voneinander abhängig aufgetragen. Es werden die aufgrund der Belastungskomponenten sich einstellenden ertragbaren Nennspannungen r1A und r2A betrachtet. Im vorliegenden Fall ergeben sich je nach Phasenverschiebung der Lastkomponenten unterschiedliche Interaktionslinien. Sie fallen für die Schwingspielzahlen N ˆ 105 und N ˆ 1;2  106 innerhalb der Zeichengenauigkeit zusammen, weil die Schwingfestigkeiten im betrachteten Bereich etwa umgekehrt proportional zu den elastischen Formzahlen auftreten. Die kerbmechanische Beanspruchungs- und Schädigungsrechnung am ebenen Kerbmodell läßt sich nach [1690] auch in komplexeren Belastungsfällen anwenden, z. B. bei unterschiedlichen Amplituden, Mittelwerten oder Frequenzen der Belastungskomponenten, bei Überlagerung von Normalspannungsbelastung und Schubspannungsbelastung, bei deterministischen oder stochastischen Betriebslastabläufen. Die Interaktionslinien verlaufen je nach betrachtetem Fall etwas unterschiedlich, verbleiben jedoch im wesentlichen in dem durch die frequenzgleiche Einstufenbelastung aufgezeigten Bereich. Eine wesentliche Komplizierung des kerbmechanischen Ansatzes tritt auf, wenn anstelle des ebenen Kerbmodells mit einachsiger Kerbhöchstspannung ein solches räumlicher Art mit zweiachsiger Kerbhöchstspannung betrachtet wird, an dem die zusammengesetzte Belastung eine nichtproportionale Überlagerung der Beanspruchungskomponenten im Kerbgrund mit meist veränderlicher Hauptbeanspruchungsrichtung erzeugt. In diesem Fall wird zunächst eine Verfestigungshypothese für anisotrope zyklische Verformungsverfestigung benötigt, die bei einachsiger Beanspruchung mit dem Masing- und Werkstoffgedächtnismodell im Einklang steht. Die Hypothesen nach Mróz [408, 409], McDowell [406] und Chu [398, 399] werden dieser Anforderung gerecht [649]. Des weiteren werden Festigkeitshypothesen für diese Art von mehrachsiger elastisch-plastischer (im Grenzfall der Dauerfestigkeit auch rein elastischer) Beanspruchung benötigt, wie sie in Kap. 3.2–3.4 angegeben werden. Ein bekanntes Anwendungsbeispiel für derartige Kerbbeanspruchung ist der SAEAchsschenkel, der bei überlagerter Biege- und Torsionsbelastung mehrfach untersucht wurde [291]. Näherungsformel in Nennspannungen Bei proportional überlagerter äußerer Belastung und ebensolcher örtlicher Beanspruchung im Kerbgrund sind gemäß Regelwerk, je nach Duktilität des Werkstoffs, die herkömmlichen Hypothesen der Gestaltänderungsenergie, der

234

4 Kerbwirkung

größten Schubspannung oder der größten Normalspannung anzuwenden. Die zugehörigen Gleichungen werden in Nennspannungen angeschrieben. Da den unterschiedlichen Nennspannungskomponenten im allgemeinen unterschiedliche Kerbwirkungen (im Sinne von Spannungserhöhung) bzw. Schwingfestigkeiten zuzuordnen sind, werden die Hypothesen für „anisotrope Festigkeit“ benötigt. Beispielsweise liegt bei Nahtschweißverbindungen eine orthogonal ausgerichtete Nahtgeometrie vor, aus der die orthogonale Anisotropie der ertragbaren Normal- und Schubnennspannungsamplituden …rA? ; rAjj ; sA † senkrecht und parallel zur Naht folgt (Gestaltänderungsenergiehypothese im Behälterbau nach Roš u. Eichinger [88]):         2 rAjj 2 rAjj rA? 2 rA? sA ‡ ˆ1 …4:76† ‡ rA?0 rAjj0 rA?0 rAjj0 sA0 Die mit dem Index 0 versehenen Größen stellen die ertragbaren Werte im jeweils reinen (also nicht zusammengesetzten) Beanspruchungsfall dar. Die Gleichung (4.76) ist formal identisch mit der für die gelochte Quadratscheibe unter proportionaler Belastung ableitbaren Form. Sie ist auch als Auslegungsformel im Kran- und Brückenbau anzutreffen:         2 r1A 2 r2A 2 r1A r2A sA ‡  ˆ1 …4:77† ‡ r1A0 r2A0 r1A0 r2A0 sA0 Die Grenzlinien nach (4.77) ohne Schubanteil sind in Abb. 4.65 dem Feld der Interaktionslinien in einem speziellen Fall nichtproportionaler Belastung gegen-

Abb. 4.65: Quadratscheibe mit Kreislochkerbe unter phasenverschobener, gleichfrequenter, zweiachsiger Schwingbelastung mit unterschiedlichen Mittellasten (a, b), zugehörige gestrichelte Interaktionslinien und durchgehende Grenzlinien nach Regelwerk (c), mit Grundbeanspruchungen oder Nennspannungen r1 und r2 ; nach Zacher et al. [1690]

4.15 Kerbwirkung abhängig von der Temperatur

235

übergestellt. Durch das in (4.77) gegenüber (4.76) hinzugefügte Pluszeichen wird der Verlauf der Grenzkurven unabhängig vom Vorzeichen von r1A und r2A in einem einzigen Quadranten erfaßt. Das den Grenzkurven gegenübergestellte Feld der Interaktionslinien ist nicht nur für die betrachtete Einstufenbelastung bei bestimmten Mittelspannungen an der Quadratscheibe mit Kreisloch repräsentativ, sondern in erster Näherung auch für allgemeinere Betriebsbelastungen, abweichende Mittelspannungen und andersartige Kerbfälle. Aus der Gegenüberstellung geht hervor, daß die Auslegungsformel nur tendenziell brauchbare Ergebnisse erwarten läßt. Insbesondere bei phasenverschobener Überlagerung von Schubschwingbelastungen führt (4.77) zu nichtkonservativen Ergebnissen.

4.15

Kerbwirkung abhängig von der Temperatur

Kerbwirkung und Kerbzähigkeit bei tiefer Temperatur Die Kerbwirkung auf die Ermüdungsfestigkeit hängt von der Temperatur ab, insbesondere dann, wenn die statische Kerbzähigkeit ausgeprägt temperaturabhängig ist. Ein plötzlicher Abfall der Kerbzähigkeit bei erniedrigter Temperatur (verbunden mit einem Sprödbruch) tritt bei Metallen mit kubisch-raumzentrier-

Abb. 4.66 Dauerfestigkeitsschaubild von gekerbten Proben aus Baustahl St 50 bei tiefer Temperatur; nach Hempel u. Luce [567] in [95]

236

4 Kerbwirkung

tem Gitter (ferritische Stähle, Titanlegierungen) oder auch hexagonalem Gitter (Magnesiumlegierungen) auf. Er wird durch schlagartige Beanspruchung zusätzlich begünstigt. Der plötzliche Abfall fehlt bei Metallen mit kubischflächenzentriertem Gitter (austenitische Stähle, Aluminiumlegierungen). Aus dem Dauerfestigkeitsschaubild für gekerbte Proben aus Baustahl St 50 bei erniedrigter Temperatur, Abb. 4.66, verglichen mit dem entsprechenden Schaubild für ungekerbte Proben, Abb. 3.54, ist die Zunahme der Kerbwirkungszahl bei tiefer Temperatur ersichtlich (von b k ˆ 1;47 bei Raumtemperatur auf b k ˆ 3;2 bei tiefer Temperatur (–188  C) für die Formzahl k ˆ 4;3). Sie steht mit der erläuterten Versprödung als Grenzbedingung für den Restbruch im Zusammenhang. Überlagerung von Schwing- und Kriechbeanspruchung bei hoher Temperatur Die für ungekerbte Proben gebräuchlichen Kriechdauerfestigkeitsschaubilder lassen sich auch für gekerbte Proben aufstellen. Die Wechselfestigkeit der gekerbten Probe wird über die Kerbwirkungszahl gewonnen. Die Grenzkurve schmiegt sich der Kriechbruchfestigkeit der gekerbten Probe an (oder einer entsprechenden Kriechdehngrenze). Ein solches Diagramm ist in Abb. 4.67 gezeigt (Versuchsergebnisse für einen austenitischen Stahl, Formzahl k ˆ 2;4 bezogen auf den Nettoquerschnitt). Der Vergleich mit den Versuchsergebnissen für die ungekerbte Probe, Abb. 3.59, zeigt eine veränderte, im rechten Teil allerdings kaum durch Versuchspunkte belegte, fast geradlinige Kurvenform mit deutlich erhöhter Kriechbruchfestigkeit. Die gekerbte Probe mit gleichem Nettoquerschnitt ist bei hohen Mittelspannungen der ungekerbten überlegen. Im Bereich der Zeit- und Betriebsfestigkeit komplizieren sich die Verhältnisse erheblich. Sie sind hinsichtlich gekerbter Bauteile weitgehend unerforscht.

Abb. 4.67: Kriechdauerfestigkeitsschaubild für gekerbte Proben aus austenitischem Stahl; Schwingfrequenz f ˆ 60 Hz (10 h gleichbedeutend N ˆ 2;16  106 ); nach Matters u. Blatherwick [573]

4.16

4.16

Kerbwirkung an Eckkerben

237

Kerbwirkung an Eckkerben

Einführung Die Kerbwirkung ist in den vorstehenden Kapiteln unter der Annahme eines endlichen Kerbradius betrachtet worden. Die scharfe einspringende Eckkerbe mit verschwindendem Kerbradius wurde lediglich als Grenzfall erwähnt, jedoch nicht in quantifizierende Betrachtungen einbezogen. Die Kerbwirkung gekerbter Proben wurde durchwegs in den Vergleich zum Verhalten ungekerbter Proben gesetzt. Diese Beschränkung wird jetzt aufgegeben. Es wird vom Grenzfall des verschwindenden Kerbradius ausgegangen. Zugeordnet sind im Eckpunkt unendlich hohe Kerbspannungen, also eine Kerbspannungssingularität. Dies macht eine besondere, dem singulären Verhalten angepaßte analytische Beschreibung erforderlich, die sich von der bisherigen Darstellung unterscheidet. Der Prototyp der scharfen Eckkerbe (auch „Spitzkerbe“) ist die V-förmige Außenkerbe bzw. die rautenförmige Innenkerbe, gekennzeichnet durch Kerbtiefe a und Kerböffnungswinkel x, Abb. 4.68. Wird der Kerböffnungswinkel auf null reduziert, dann erscheint als Grenzfall der scharfen Eckkerbe der Riß. Die Beanspruchung der Rißspitze und das Verhalten von Rissen wird im Rahmen der Rißbruchmechanik umfassend beschrieben. Die Erfassung der Verhältnisse an scharfe Eckkerben ähnelt dieser Darstellung. Die Kerbwirkung kann dabei in Relation zum Rißverhalten gesehen werden. Die Eigenschaften von Eckkerben mit kleinem Kerbrundungsradius lassen sich aus den Lösungen für scharfe Eckkerben herleiten, wiederum unter Einschluß der Gegenüberstellung von U-förmigen Kerben oder Schlüssellochkerben und Rissen. Die Sicht der Kerbwirkung in Relation zum Rißverhalten anstelle des Bezugs zur ungekerbten Probe ist neueren Datums. Wegen des beschriebenen methodischen Unterschieds wird die Kerbwirkung an scharfen Eckkerben nachfolgend im Rahmen dieses eigenständigen Kapitels beschrieben. Die Basis bildet eine zusammenfassende Darstellung der Grundlagen und Anwendungen des Konzepts der Eckspannungsintensitätsfaktoren nach Radaj u. Lazzarin [738].

Abb. 4.68: Scharfe Eckkerben: V-förmige Außenkerbe (a) und rautenförmige Innenkerbe (b)

238

4 Kerbwirkung

Spannungsintensität an scharfen Eckkerben Das bekannte Konzept der Spannungsintensitätsfaktoren zur Beschreibung der Spannungssingularität an Rißspitzen bei elastischem Werkstoffverhalten läßt sich auf scharfe einspringende Eckkerben übertragen, beispielsweise auf V-förmige Spitzkerben, auf Schulterstäbe und Schweißnahtübergangskerben. Während der asymptotische Spannungsabfall von der Singularität an Rißspitzen durch den Kehrwert der Quadratwurzel über dem Radialabstand r von der Rißspitze beschrieben wird (der Exponent ist minus 0,5), tritt ein kleinerer, vom Kerböffnungswinkel abhängiger Exponent im Falle von Eckkerben auf, d. h. der Grad der Singularität ist reduziert. Das Spannungsfeld in der Umgebung von Eckkerben (ebenso wie das Spannungsfeld in der Umgebung von Rißspitzen) läßt sich durch Spannungsintensitätsfaktoren beschreiben (Gross u. Mendelson [721]). Letztere werden „Eckspannungsintensitätsfaktoren“ genannt, im Unterschied zu den gewöhnlichen Spannungsintensitätsfaktoren an Rißspitzen. Die Bezeichnung „Eckspannungsintensitätsfaktor“ wird statt „Kerbspannungsintensitätsfaktor“ (übliche englische Bezeichnung „notch stress intensity factor“) gewählt, um das geometrische Unterscheidungsmerkmal zum Riß, nämlich die einspringende Ecke, hervorzuheben (beides sind Kerben im weiteren Sinn). Derartige Eckspannungsintensitätsfaktoren treten auch an Zweistoffecken auf, eingeschlossen der ungekerbte Rand mit senkrecht oder schräg aufstoßender Werkstoffgrenze. Ebenso ist die Druckverteilung unter einem starren Flachstempel auf elastischer Unterlage am Rand des Stempels singulär. Das singuläre ebene (Beanspruchung in der Feldebene) und quasiebene (Schubbeanspruchung senkrecht zur Feldebene) Spannungsfeld an scharfen Eckkerben kann durch drei Kerbbeanspruchungsmoden (analog zu den Rißöffnungsmoden) in der winkelhalbierenden Ebene, auch „Ligamentebene“ genannt, beschrieben werden: symmetrische Spannungen in der Feldebene (Modus I), gegensymmetrische Spannungen in der Feldebene (Modus II) und Schubspannungen senkrecht zur Feldebene (Modus III). Die entsprechenden Beanspruchungsmoden sind Querzug-, Querschub- und Längsschubbelastung („quer“ und „längs“ relativ zur Rißfront). Die Gleichungen zu diesen Spannungsfeldern wurden von Williams [739], Hasebe et al. [722], Lazzarin u. Tovo [727] sowie von weiteren Autoren abgeleitet (eingliedrige asymptotische Lösungen): …1†

…1†

1

…Modus I; ij ˆ uu; rr; ur†

…4:78†

…2†

…2†

1

…Modus II; ij ˆ uu; rr; ur†

…4:79†

…3†

…3†

1

…Modus III; ij ˆ zr; uz†

…4:80†

rij …r; u† ˆ K1 fij …u†rk1 rij …r; u† ˆ K2 fij …u†rk2 rij …r; u† ˆ K3 fij …u†rk3 …1†

…2†

…3†

mit den Tensoren rij ; rij ; rij der modusbezogenen ebenen und quasiebenen Spannungen, den Eckspannungsintensitätsfaktoren K1, K2, K3, den Winkelfunktio…1† …2† …3† nen fij ; fij ; fij , den Eigenwerten k1 ; k2 ; k3 und den Zylinderkoordinaten r, u, z.

4.16

Kerbwirkung an Eckkerben

239

Die Darstellung der Spannungsgleichungen beschränkt sich nachfolgend auf die kennzeichnenden Spannungskomponenten in der Ligamentebene (u ˆ 0), wobei die Spannungskomponenten in anderen Ebenen die gleiche prinzipielle Abhängigkeit zeigen: 1 ru …r; 0† ˆ p K1 rk1 2p 1 sur …r; 0† ˆ p K2 rk2 2p 1 suz …r; 0† ˆ p K3 r k3 2p

1

…Modus I†

…4:81†

1

…Modus II†

…4:82†

1

…Modus III†

…4:83†

Es wird ein zylindrisches Koordinatensystem mit der z-Achse senkrecht zur ruEbene verwendet, Abb. 4.69 (a). Die Eckspannungsintensitätsfaktoren K1, K2, K3 beziehen sich auf die drei Belastungsmoden. Sie hängen von den geometrischen Parametern (z. B. Kerbtiefe oder Ligamentlänge) und von der Belastungsart (z. B. Zug oder Biegung) des betrachteten Eckkerbproblems ab, jedoch nicht von den Koordinaten r, u und z. Die Parameter k1 ; k2 ; k3 im Exponenten bezeichnen den jeweils ersten Eigenwert des mathematisch formulierten elastischen Eckspannungsproblems, ursprünglich bei unendlicher Bereichsausdehnung, aber unter bestimmten Bedingungen auf endliche Bereiche übertragbar. Diese Eigenwerte hängen lediglich vom Kerböffnungswinkel x ab (Williams [739], Carpenter [712]), Abb. 4.70, 0,5 ≤ (k1 ; k2 ; k3 ) ≤ 1,0. Der Eigenwert 0,5 ist den Rißspitzen (x ˆ 0) zugeordnet, der Eigenwert 1,0 (keine Singularität) dem geraden Rand (x ˆ p). Die Eigenwerte bei Modus I sind etwas kleiner als bei Modus III und wesentlich kleiner als bei Modus II, wodurch sich eine ausgeprägtere Spannungssingularität

Abb. 4.69: Koordinatensysteme, Symbole und Kerbspannungskomponenten an scharfer V-Kerbe (a) und an der entsprechenden gerundeten V-Kerbe (b); nach Lazzarin u. Tovo [728]

240

4 Kerbwirkung

Abb. 4.70: Eigenwerte k1 ; k2 ; k3 , die den Grad der Spannungssingularität an scharfen V-Kerben bei Beanspruchung nach Modus I, II, III kennzeichnen; Abhängigkeit vom Kerböffnungswinkel x; nach Lazzarin et al. [726]

ausdrückt. Die Spannungssingularität bei Modus II ist weniger ausgeprägt und verschwindet vollständig für große Kerböffnungswinkel (x ≥ 102,68). Die Eckspannungsintensitätsfaktoren K1 ; K2 ; K3 können nach (4.84) bis (4.86) aus der Spannungsverteilung in der Ligamentebene nahe der Eckkerbe bestimmt werden (Gross u. Mendelson [721]): K1 ˆ

p 2p limbru …r; 0†r1

k1

K2 ˆ

p 2p limbsur …r; 0†r1

k2

K3 ˆ

p 2p limbsuz …r; 0†r1

k3

r!0

c

r!0

r!0

…Modus I†

…4:84†

c

…Modus II†

…4:85†

c

…Modus III†

…4:86†

Die Dimension von K1, K2 und K3 ist N/mm1+k1, N/mm1+k2 bzw. N/mm1+k3. Die Zahlenwerte von K1, K2 und K3 können nur dann, beispielsweise als Versagenskriterien, direkt miteinander verglichen werden, wenn deren Dimension übereinstimmt, d. h. bei identischem Kerböffnungswinkel und Beanspruchungsmodus, was etwa bei den Spannungsintensitätsfaktoren an Rissen der Fall ist. Bei Beanspruchung nach Modus I sind die Eck- und Rißspannungsintensitätsfaktoren für x ≤ 608 näherungsweise direkt vergleichbar (siehe Abb. 4.70). In allen anderen Fällen müssen übergeordnete Versagenskriterien verwendet werden (z. B. die gemittelte Dehnungsenergiedichte oder ermüdungswirksame Spannungen). Bei Kerbquerschnitten endlicher Breite anstelle des gekerbten unendlichen Bereichs – bei Schweißverbindungen entspricht diese Breite vielfach der Plat-

4.16

Kerbwirkung an Eckkerben

241

tendicke – können die Eckspannungsintensitätsfaktoren in folgender Form angegeben werden (Lazzarin u. Tovo [728]): K1 ˆ k1 rn t1

k1

…Modus I†

…4:87†

K2 ˆ k2 sn? t1

k2

…Modus II†

…4:88†

K3 ˆ k3 snjj t1

k3

…Modus III†

…4:89†

Die dimensionslosen Geometriekoeffizienten k1, k2 und k3 hängen von der Form und den Abmessungsverhältnissen des jeweiligen Eckkerbproblems ab (ähnlich den Formzahlen von gerundeten Kerben) und werden aus Finite-Elemente-Berechnungsergebnissen bestimmt. Die Nennspannungen im betrachteten Querschnitt sind die Zugspannung rn, die Querschubspannung sn? und die Längsschubspannung snjj . Aus den vorstehenden Gleichungen (4.87) bis (4.89) kann der Größeneffekt auf die statische Festigkeit oder die Ermüdungsfestigkeit bei scharf gekerbten Teilen abgeleitet werden, soweit die Festigkeit durch den Eckspannungsintensitätsfaktor erfaßt wird (identische Kerböffnungswinkel sind eine zusätzliche Voraussetzung). Folgende Beziehung besteht für das Verhältnis der ertragbaren Nennspannungen rn1 und rn2 bei Plattendicken t1 bzw. t2, sofern der Eckspannungsintensitätsfaktor K1 als maßgebend für die Festigkeit angesehen wird: rn2 ˆ rn1

 1 t1 t2

k1

…4:90†

Für Schweißverbindungen mit Kehlnaht (x ˆ 1358) ist (1 – k1) ˆ 0,326. Bei relativ großer Breite des Nettoquerschnitts zwischen den Kerbspitzen ist die Kerbtiefe a der ausschlaggebende Parameter: K1 ˆ T rn a1 rn2 ˆ rn1

 1 a1 a2

k1 k1

…4:91† …4:92†

mit Y ˆ Y(x), nach einer Lösung von Dunn et al. [715] (s. a. Chen [713]).

Eckspannungsintensität an gerundeten Eckkerben Die Eckspannungsintensitätsfaktoren scharfer Eckkerben können zur Berechung des Spannungsfeldes an gerundeten Eckkerben verwendet werden. Umgekehrt können die Eckspannungsintensitätsfaktoren ausgehend von den Spannungen an gerundeten Eckkerben angenähert werden. Das Kerbspannungsfeld ist mehr oder weniger identisch, sofern das Bezugskoordinatensystem vom Eck-

242

4 Kerbwirkung

punkt der scharfen Kerbe zu einem bestimmten Punkt nahe der gerundeten Kerbspitze auf der Winkelhalbierenden der Kerbe verschoben wird, Abb. 4.69 (b), dort der Abstand r0. Um die Grundstruktur der Gleichungen für das Spannungsfeld aufzuzeigen, werden nachfolgend die Kerbspannungen in der Ligamentebene angegeben. (Lazzarin u. Tovo [727]): 1 ru …r; 0† ˆ p K1 rk1 2p

1 sur …r; 0† ˆ p K2 rk2 2p

" 1

…3 k1 † v1 …1 1‡ …1 ‡ k1 † ‡ v1 …1

" 1

1

 l2 r r0

k2

  k1 † r l1 k1 † r0

k1

#

…Modus I†

…4:93†

…Modus II†

…4:94†

#

Der Wertebereich von k1 und k2 ist in Abb. 4.70 angegeben, außerdem gilt 0;5  l1  0 und 0;5  l2   0;5 abhängig vom Kerböffnungswinkel x. Die weiteren Parameter sind: sin‰…1 k1 †qp=2Š sin‰…1 ‡ k1 †qp=2Š  x qˆ2 1 2p   1 r0 ˆ q 1 q

v1 ˆ

…4:95† …4:96† …4:97†

Die Näherungslösung von Creager u. Paris [1012] für stumpfe Risse ergibt sich als Sonderfall für x ˆ 0; q ˆ 2; r0 ˆ q=2; k1 ˆ k2 ˆ 0;5; l1 ˆ l2 ˆ 0;5; v1 ˆ 1;0. Die Ausdrücke in geschlossener Form nach Glinka u. Newport [720] zu diesen Gleichungen sind eingeschlossen. Die Kerbspannungen in der Ligamentebene bezogen auf ihren Höchstwert im gerundeten Kerbgrund fallen für unterschiedliche Kerbrundungsradien zusammen, wenn sie über dem Kerbgrundabstand (r r0 ) bezogen auf den Kerbrundungsradius q aufgetragen werden. Die Lösung von Lazzarin u. Tovo [727] für die gerundete V-Kerbe im unendlichen Bereich wird mit Finite-ElementeBerechnungsergebnissen für die gerundete Doppel-V-Kerbe an einem Flachstab unter Zugbelastung verglichen, Abb. 4.71. Die analytische Lösung kann in der Ligamentlinie bis zu dem Punkt verwendet werden, in dem die Kerbspannungskurve unter die Nennspannungshöhe im Nettoquerschnitt abfällt. Mit zusätzlichem analytischem Aufwand können auch die Spannungen in diesem Bereich angenähert werden (Lazzarin et al. [729]).

4.16

Kerbwirkung an Eckkerben

243

Abb. 4.71: Kerbspannung ru in der Ligamentebene über dem Abstand (r – r0) vom Kerbgrund für V-Kerben mit unterschiedlichem Kerbrundungsradius q; analytische Lösung für den unendlichen Bereich verglichen mit Ergebnissen nach der Finite-Elemente-Methode (FEM); Flachstab mit Doppel-V-Kerbe unter Zugkraft F; mit x ˆ p=3; q ˆ 5=3; r0 ˆ q=2;5; nach Lazzarin u. Tovo [727]

Die Eigenarten des Kerbspannungsfeldes wurden von Atzori et al. [706– 710], Dini u. Hills [714], Filippi et al. [718, 719], Nui et al. [736] und Xu et al. [740] genauer untersucht. Es wird gezeigt, daß das Spannungsfeld in unmittelbarer Nähe des Kerbgrundes, …r r0 †   0;2q, überwiegend vom Kerbrundungsradius und nur in geringem Maße vom Kerböffnungswinkel abhängt, während außerhalb dieses Bereichs der Einfluß des Kerböffnungswinkels in zunehmendem Maße durch die Lösung für die scharfe Kerbe angenähert werden kann. Diese Angaben werden durch Abb. 4.72 bestätigt, in dem die Kerbspannungen in der Ligamentlinie nahe dem Kerbgrund für unterschiedliche Kerbrundungsradien bei konstantem Kerböffnungswinkel aufgetragen sind. Die als Bezugsgröße verwendete Nennspannung im Nettoquerschnitt besteht aus überlagerten Zug- und Biegespannungen. Die im Diagramm aufgetragenen Ergebnisse wurden aus einer Lösung nach komplexen analytischen Spannungsfunktionen, verbunden mit konformer Abbildung, gewonnen. Die Lösung bezieht sich auf einen Probentyp, mit dem spröde Werkstoffe geprüft werden. Für den Zusammenhang zwischen den Spannungsintensitätsfaktoren scharfer Rißspitzen und den Kerbhöchstspannungen der entsprechenden gerundeten Rißspitzen sind einfache Grenzwertgleichungen bekannt (Radaj u. Zhang [1035]). Die Beziehung (6.8) für die Belastung nach Modus I ist auf Eckkerben näherungsweise anwendbar, soweit der Kerböffnungswinkel hinreichend klein ist, d. h. der Exponent (k1 1) sollte nahe –0,5 bleiben. Eine allgemeine Beziehung, die nicht auf hinreichend kleine Kerböffnungswinkel beschränkt ist, wurde von Hasebe et al. [722] und Nui et al. [736] für Belastung nach Modus I abgeleitet:

244

4 Kerbwirkung

Abb. 4.72: Kerbspannung ry in Ligamentebene bezogen auf die Nennspannung rn (Zug- und Biegespannung) für einseitige V-Kerbe in quadratischer Platte; unterschiedliche Kerbrundungsradien q bei Kerböffnungswinkel x ˆ p=4; Berechnungsergebnisse von Nui et al. [736]

p K1 ˆ p lim …ru max q1 2 q!0

k1

†

…Modus I†

…4:98†

Die Genauigkeit der vorstehenden Beziehung bei Verwendung eines endlichen Kerbradius ohne Grenzwertbildung wurde von Atzori et al. [707] untersucht. Es stellte sich heraus, daß K1, bestimmt nach Gl. (4.98) für die gerundete Kerbe, größer ist als K1, bestimmt nach Gl. (4.84) aus dem asymptotischen Spannungsabfall an der scharfen Kerbe, und daß sich der Unterschied mit wachsendem Kerbradius vergrößert. Die Lösung für gerundete Eckkerben ist durch Hinzufügen eines weiteren Gliedes zum Polynom der analytischen Spannungsfunktionen wesentlich verbessert worden (Filippi et al. [719]), was zu guter Übereinstimmung mit Ergebnissen nach der Finite-Elemente-Methode selbst bei großen Kerböffnungswinkeln führte. Die Kerbspannungsverteilung in der Ligamentlinie unter dem Kerbgrund bei unterschiedlichen Kerbrundungsradien und Kerböffnungswinkeln wird durch explizite Ausdrücke beschrieben (zur Biegebelastung Atzori et al. [708]). Zusätzlich wurde die Spannungsverteilung entlang der freien Ränder der gerundeten V-Kerbe bei symmetrischer (Modus I) und gegensymmetrischer (Modus II) Beanspruchung numerisch ausgewertet und mit Finite-Elemente-Berechnungsergebnissen verglichen. Hierbei kann es zu größeren Abweichungen kommen, wenn sich der Kerbspannungshöchstwert außerhalb der Ligamentlinie einstellt und die Kerbform von den Idealbedingungen abweicht (d. h. von der Aufeinanderfolge von Geraden und Kreisbögen). Alternative Formulierungen zu (4.93) bis (4.97), die die Umverteilung der Kerbspannungen auf Grund des endlichen Kerbradius direkt erkennen lassen, sind von Lazzarin u. Filippi [724] ergänzend angegeben worden.

4.16

Kerbwirkung an Eckkerben

245

Plastische Spannungsintensität an Eckkerben Die bisherigen Darlegungen bezogen sich auf die Spannungsintensität an scharfen Eckkerben bei linear-elastischem Werkstoffverhalten. Sie werden jetzt auf das nichtlineare elastisch-plastische Verhalten ausgedehnt. Die Spannungssingularität an scharfen Kerben bleibt bestehen, sofern Dehnungsverfestigung auftritt. Plastische Eckspannungsintensitätsfaktoren werden in Analogie zu den elastischen Eckspannungsintensitätsfaktoren definiert. Die theoretischen Lösungen zum elastisch-plastischen Eckkerbproblem legen das Potenzgesetz der Dehnungsverfestigung zugrunde, jedoch mit einer Modifikation gegenüber der bekannten Beziehung (2.16) nach Ramberg u. Osgood. Der Verfestigungsexponent 1/n wird durch seinen Kehrwert n ersetzt, sodaß 1  n  1 anstelle von 0  n  1 tritt. Dieser als Kehrwert definierte Verfestigungsexponent liegt bei Metallen im Bereich 2  n  20. Außerdem kann nahe der Kerbspitze die Annahme eingeführt werden, daß die elastischen Dehnungen gegenüber den plastischen Dehnungen vernachlässigbar sind. Die Fließbedingung nach von Mises wird eingeführt, um die Wirkung mehrachsiger Beanspruchung in duktilen Werkstoffen zu erfassen. Deshalb unterscheiden sich die Lösungen zum ebenen Spannungszustand und zum ebenen Dehnungszustand etwas. Frühe Lösungen dieser Art beziehen sich auf scharfe Rißspitzen (Hutchinson [1081, 1082], Rice u. Rosengren [1089]). In neuerer Zeit haben Lazzarin et al. [733] das Problem im allgemeineren Fall scharfer V-Kerben (einschließlich Rissen) unter gemischter Beanspruchung nach Modus I und II gelöst. Die weitere Darstellung beschränkt sich auf die Beanspruchung nach Modus I, die für Festigkeitsanalysen besonders wichtig ist. Die formalen Aspekte sind auf die Beanspruchung nach Modus II und Modus III übertragbar. Es ist jedoch zu beachten, daß die Lösung für Beanspruchung im gemischten Modus nicht als lineare Kombination der Lösungen zur Beanspruchung nach Modus I, II und III dargestellt werden kann. Das Superpositionsprinzip ist unter nichtlinearen Bedingungen nicht anwendbar. Die Spannungsverteilung nahe der Eckkerbe wird durch folgende Beziehungen dargestellt: …1†

…1†

rij …r; u† ˆ K1p fij …u†r sˆ

2…1 k1 † 1‡n 2=…1‡n†

K1p ˆ AK1

s

…Modus I; ij ˆ uu; rr; ur†

…4:99† …4:100† …4:101†

Gleichung (4.99) ist eine vereinfachte Beziehung bei örtlichem Fließen ohne größere Spannungsumverteilung. Sie muß bei allgemeinem Fließen durch eine komplexere Beziehung ersetzt werden. Der plastische Eckspannungsintensitäts-

246

4 Kerbwirkung

Abb. 4.73: Kerbspannung ru (r, 0) in der Ligamentebene über dem Abstand r von der Kerbspitze für unterschiedliche Nennspannungen rn im ungekerbten Querschnitt; Ergebnisse theoretischer Analysis auf Basis von plastischen Eckspannungsintensitätsfaktoren K1p verglichen mit Ergebnissen nach der Finite-Elemente-Methode (FEM); Bereiche lokalen und allgemeinen Fließens; nach Lazzarin u. Zambardi [732]

faktor K1p ergibt sich aus dem elastischen Eckspannungsintensitätsfaktor K1 über einen Faktor A, der vom Kerböffnungswinkel und von den Parametern des Werkstoffgesetzes, aber nicht von der Höhe der aufgebrachten Last abhängt. Der Grad der Spannungssingularität ist um 2=…1 ‡ n† reduziert. Die Winkelfunktion fij ist durch den Verfestigungsexponenten n modifiziert (Filippi et al. [717]). Die elastischen Bedingungen stellen sich mit n ˆ 1 ein. Typische Berechnungsergebnisse auf Basis von plastischen Eckspannungsintensitätsfaktoren werden nachfolgend vorgestellt. Sie beziehen sich auf den Baustahl des Typs AISI 1008 und den Kerböffnungswinkel x ˆ 60 . Folgende Werkstoffkennwerte sind eingeführt: Elastizitätsmodul E ˆ 2,06 × 105 N/mm2, Verfestigungskoeffizient H ˆ 600 N/mm2, Verfestigungsexponent n ˆ 4,0, Fließgrenze rF ˆ r0,2 ˆ 125 N/mm2 und Querkontraktionszahl m ˆ 0,3. Die Nennspannung ist dem Bruttoquerschnitt zugeordnet. Die Genauigkeit der Ergebnisse wird durch Vergleich mit der Finite-Elemente-Berechnung für einen Zugstab mit Doppel-V-Kerbe überprüft. In Abb. 4.73 sind die Kerbspannungen in der Ligamentebene für unterschiedlich hohe Nennspannungen über dem Abstand von der Kerbspitze aufgetragen. Abweichungen von den theoretischen Kurven (linear im logarithmischen Maßstab) treten in größeren Abständen von der Kerbspitze auf. In Abb. 4.74 ist der plastische Eckspannungsintensitätsfaktor über der Nennspannung im Bruttoquerschnitt aufgetragen. Die vereinfachte Formel nach (4.102) weicht im Bereich allgemeinen Fließens erheblich von der allgemeineren Beziehung ab.

4.16

Kerbwirkung an Eckkerben

247

Abb. 4.74: Plastischer Eckspannungsintensitätsfaktor K1p über der Nennspannung rn im ungekerbten Querschnitt; exakte und vereinfachte theoretische Lösung verglichen mit Ergebnissen nach der Finite-Elemente-Methode (FEM); nach Lazzarin u. Zambardi [732]

Abb. 4.75: Schwingfestigkeitsverhältnis rn2/rn1 über Plattendickeverhältnis t2/t1 für zugbeanspruchte Bauteile mit Eckkerben (x ˆ 135 ), gefertigt aus Stahl; vollplastischer Zustand am linken Rand des Diagramms gegenüber rein elastischem Zustand am rechten Rand; nach Lazzarin u. Zambardi [732]

Die der Gleichung (4.101) entsprechende Beziehung, die den Einfluß einer endlichen Bruttoquerschnittsbreite oder Plattendicke t kennzeichnet (vgl. (4.87)), lautet wie folgt: K1p ˆ k1p rn ts

…4:102†

248

4 Kerbwirkung

Der Größeneffekt auf die Festigkeit wird somit um 2/(1‡n) im Exponenten des Verhältnisses der Plattendicken reduziert (der Grenzwert der Festigkeitserhöhung wird für den vollplastischen Zustand dünner Platten erreicht), Abb. 4.75. Entsprechende Beziehungen ergeben sich, wenn anstelle der Querschnittsbreite die Kerbtiefe verwendet wird (zu übertragen: (4.91) und (4.92)). J-Integral an Eckkerben Das von Rice [1088] angegebene wegunabhängige Linienintegral, bekannt als J-Integral, ist ein wirkungsvolles Hilfsmittel zur Bestimmung der Spannungsoder Dehnungskonzentration an Rißspitzen. Es wurde ursprünglich für linearelastisches Werkstoffverhalten abgeleitet, jedoch später auf nichtlineares elastisch-plastisches Werkstoffverhalten mit monoton ansteigender Beanspruchung erweitert. Auf diese Weise konnte das vollplastische Spannungsfeld an Rißspitzen unter Beanspruchung nach Modus I quantifiziert werden (Hutchinson [1081, 1082], Rice u. Rosengren [1089], s. a. [1079, 1090, 1091]). Das Konzept des J-Integrals wurde unter anderem von Lazzarin et al. [725] auf scharfe V-Kerben übertragen, zunächst unter linear-elastischen und später unter elastisch-plastischen Bedingungen. Das Integral ist bei Eckkerben unter Beanspruchung nach Modus I bzw. Modus II wegabhängig. Das JV-Integral für V-Kerben kann bei linear-elastischem Werkstoff in folgender Form dargestellt werden: JV ˆ 2…A11 K12 ‡ A22 K22 †

…4:103†

wobei A11 und A22 vom Kerböffnungswinkel x und vom Radius R des kreisförmigen Weges um die Kerbspitze abhängen. Die Dimension von JV ist (N/mm2)mm. Das vorstehende Integral kann bei Beschränkung auf Modus I (bzw. Modus II) wegunabhängig gemacht werden, bekannt als JL-Integral, bleibt jedoch abhängig vom Kerböffnungswinkel x : JL ˆ

JV R2k1

1

…4:104†

Die vorstehenden Integrale können von linear-elastischem Werkstoffverhalten auf elastisch-plastisches Werkstoffverhalten (Potenzgesetz) erweitert werden (eingeschränkt auf Modus I), wodurch sich die Integrale JVp und JLp ergeben, die von K1p und s nach (4.100) und (4.101) anstelle von K1 und (1–k1) abhängig sind (Lazzarin et al. [725]). Durch das Konzept des (elastischen) JV- oder JL-Integrals können die Beiträge aus Beanspruchung nach Modus I und II überlagert werden, d. h. es ist ein Festigkeitskriterium bei Kerbbeanspruchung im gemischten Modus begründbar (erfolgreich angewendet auf Nahtübergangskerben bei Schweißverbindungen durch Lazzarin et al. [725]). Elastische J-Integrale an Eckkerben bei Beanspruchung nach Modus III wurden von Quian u. Hasebe [737] abgeleitet. Das J-Integral ergibt sich wegunabhängig, wenn die Kerbflanken kräftefrei sind.

4.16

Kerbwirkung an Eckkerben

249

Versagenskriterium an Eckkerben auf Basis der Formänderungsenergiedichte Es werden Versagenskriterien benötigt (bei statischer ebenso wie bei Ermüdungsbeanspruchung), die allgemein anwendbar sind, im elastischen ebenso wie im lokal plastischen Bereich, bei scharfen ebenso wie bei gerundeten Eckkerben mit beliebigem Kerböffnungswinkel unter Einschluß der Risse. Es sollten keine Unterschiede in den Dimensionen bestehen, die den direkten Vergleich unmöglich machen (die Eckspannungsintensitätsfaktoren haben bei unterschiedlichen Beanspruchungsmoden und/oder unterschiedlichen Kerböffnungswinkeln unterschiedliche Dimension). Ein derartiges allgemeines Kriterium läßt sich auf Basis der Formänderungsenergiedichte, gemittelt in einem bestimmten Bereich um die Kerbspitze, formulieren. Bei spröden Werkstoffen ist die Gesamtenergiedichte der Formänderung maßgebend (Hypothese nach Beltrami), während bei duktilen Werkstoffen der deviatorische Anteil geeigneter ist (Hypothese nach von Mises). Nach dem von Lazzarin u. Zambardi [731] vorgeschlagenen biparametrischen Kriterium der Formänderungsenergiedichte (nicht zu verwechseln mit dem gleichnamigen Kriterium an Rißspitzen nach Sih [1154]) tritt Versagen durch Ermüdungsbeanspruchung ein, wenn der Mittelwert der deviatorischen Formänderungsenergiedichte einen kritischen Wert in einem zylindrischen Sektorvolumen um die Kerbspitze erreicht. Der werkstoffabhängige Radius R0 des betrachteten Zylindersektors wird als unabhängig vom Beanspruchungsmodus eingeführt. Zu beachten ist, daß das Sektorvolumen vom Kerböffnungswinkel linear abhängt. Für lokales Fließen an der Kerbspitze ist eine einfachere theoretische Ableitung möglich. Es wird die realistische Annahme eingeführt, daß die Verformungsenergie rein elastisch berechnet werden kann, weil der unterproportionale Anstieg der Kerbspannungen und der überproportionale Anstieg der Kerbdehnungen zu einer fortgesetzt (annähernd) proportionalen Vergrößerung der Verformungsenergie führt, solange eine Spannungsumverteilung vermieden wird. Die genaue Lösung für allgemeines Fließen ist komplexer (Lazzarin u. Zambardi [732]). Die Komponenten der deviatorischen Formänderungsenergiedichte (in einem Beanspruchungszyklus mit Spannungsverhältnis R ˆ 0), gemittelt über den Zylindersektor mit Radius R0, lassen sich wie folgt ausdrücken (Lazzarin et al. [726]): W d1 ˆ

ed1 2 2…k1 K R E 1 0

W d2 ˆ

ed2 2 2…k2 K R E 2 0

W d3 ˆ

ed3 2 2…k3 K R E 3 0



…Modus I†

…4:105†



…Modus II†

…4:106†



…Modus III†

…4:107†

250

4 Kerbwirkung

Abb. 4.76: Winkelfunktionsintegrale ed1, ed2, ed3 (unter Bezug auf Modus I, II, III, erstere Moden bei ebenem Dehnungszustand) über dem Kerböffnungswinkel x ; mit Querkontraktionszahl m; nach Lazzarin et al. [726]

wobei die Integrale der Winkelfunktionen ed1, ed2, ed3 vom Kerböffnungswinkel x und von der Querkontraktionszahl m abhängen, Abb. 4.76. Ähnliche Ausdrücke ergeben sich bei Verwendung der Gesamtverformungsenergie (Lazzarin u. Zambardi [732]). Ein vom Spannungsverhältnis R abhängiger Faktor ist in die vorstehenden Gleichungen einzuführen, um die Wirkung von R 6ˆ 0 zu berücksichtigen (die Verformungsenergie eines Beanspruchungszyklus hängt vom Spannungsverhältnis R ab). Innerhalb einer vereinfachten Vorgehensweise wird angenommen, daß die Beiträge der gemittelten Formänderungsenergiedichten in den Beanspruchungsmoden I, II und III einfach addiert werden können, um die gesamte gemittelte Formänderungsenergiedichte zu erhalten, bei deren kritischem Wert Versagen eintritt. Das ist bei lokalem Fließen eine vertretbare Näherung. Bei allgemeinerem Fließen ist dieses Superpositionsprinzip nicht anwendbar. Ermüdungsfestigkeit ausgedrückt durch Eckspannungsintensitätsfaktoren Nach dem Konzept der Eckspannungsintensitätsfaktoren kann die Rißeinleitungslebensdauer gekerbter Teile (einschließlich Schweißverbindungen) abgeschätzt werden (Bourkharouba et al. [711], Verreman u. Nie [1580, 1581]). Die Bewertung der Ermüdungsfestigkeit gekerbter Teile umfaßt erstens die Bestimmung der Ermüdungsgrenze bei hoher Schwingspielzahl (d. h. der technischen Dauerfestigkeit), zweitens die Ausweitung dieser Grenze auf den Bereich mittlerer und geringer Schwingspielzahlen (d. h. die Wöhler-Linie der Spannungen oder Dehnungen) und drittens die Festlegung eines Mehrachsigkeitskriteriums (z. B. die Vergleichsspannung oder Vergleichsdehnung nach von Mises bei duktilen Werkstoffen). Der Ermüdungsprozess wird aufgefaßt als Aufeinanderfolge

4.16

Kerbwirkung an Eckkerben

251

von Rißbildung, Kurzrißvergrößerung und Langrißausbreitung. Die Rißbildung wird durch zyklische plastische Verformung an der Rißspitze verursacht. Die an scharfen Kerben eingeleiteten Kurzrisse können zum Stillstand kommen, sofern der Kerbspannungsabfall genügend steil und die Grundbeanspruchungen hinreichend niedrig sind (stillstehende Kurzrisse). Die Ermüdungsfestigkeit bei hoher Schwingspielzahl kann ausgehend von elastischem Werkstoffverhalten beschrieben werden. Die Ermüdungsgrenze gekerbter Teile bei hoher Schwingspielzahl wurde bisher hauptsächlich unter Bezug auf die Ermüdungsgrenze der ungekerbten Werkstoffprobe betrachtet. Ausdruck dafür ist die Kerbwirkungszahl b k , die sich als kleiner als die elastische Formzahl k ergibt. Die Beziehung zwischen der Ermüdungsfestigkeit gerundeter und scharfer Kerben (einschließlich der Risse) ist nur ausnahmsweise untersucht worden. Eckspannungsintensitätsfaktoren sind grundlegend für derartige Untersuchungen. Sie machen es möglich, ohne eine detaillierte Analyse des Kurzrißfortschritts auszukommen, die sich vorerst als zu kompliziert für Ingenieurszwecke erweist. Statt dessen wird das Spannungsfeld in der Versagenszone der Kerbe ausgewertet, das durch die Eckspannungsintensitätsfaktoren charakterisiert wird. Es erzeugt die Triebkraft (driving force) für Rißeinleitung und Rißfortschritt. Weit verbreitet sind Kriterien der gemittelten Spannung (Kerbspannungen gemittelt über eine werkstoffabhängige mikrostrukturelle Länge, Fläche oder ein entsprechendes Volumen an der Kerbspitze) oder, als Alternative, Kriterien des kritischen Abstandes (Kerbspannung in einem werkstoffabhängigen mikrostrukturellen Abstand von der Kerbspitze). Die grundlegende Vorstellung zu dem nachfolgend erläuterten Konzept ist die Betrachtung zweier unterschiedlicher Ermüdungsgrenzen im Fall scharfer Kerben (der Kerbrundungsradius verschwindet oder ist sehr klein, die Formzahl ist entsprechend groß). Die eine Ermüdungsgrenze bezieht sich auf die Einleitung von Rissen, die sich nicht fortpflanzen, maßgebend die Formzahl k . Die andere Ermüdungsgrenze bezieht sich auf die Einleitung von Rissen, die sich fortpflanzen, maßgebend der Schwellenwert DK0 des Spannungsintensitätsfaktors, angewendet auf Rißlänge plus Kerbtiefe. Hinsichtlich der Ermüdungsgrenze des Rißfortschritts an Kerben ist es naheliegend, eine für den Rißfortschritt relevante Mikrostrukturlänge einzuführen, die sich aus dem Schwellenwert DK0 des Spannungsintensitätsfaktors von Rissen und der entsprechenden Ermüdungsgrenze DrD des Rißfortschritts ergibt. Ein solcher Längenparameter a0 ist von El Haddad et al. [1412] definiert worden, siehe (7.17). Lazzarin et al. [730] haben gezeigt, daß die geeignete Integrationsstrecke für ermüdungswirksame Spannungen an Riß- und Kerbspitzen die Länge 2a0 ist, unabhängig von Kerbrundungsradius und Kerböffnungswinkel. Ausgehend von vorstehendem Konzept wurden folgende Beziehungen von Atzori et al. [707, 710] für die Kerbbeanspruchung nach Modus I abgeleitet: k 2DK1 1 p b k ˆ p ˆ Dr p…q ‡ 4a0 † 1 ‡ 4a0 =q n

…4:108†

252

4 Kerbwirkung

r q DK1 cr …q > 0† ˆ 1 ‡ DK1 cr …q ˆ 0† 4a0

…4:109†

mit der Kerbwirkungszahl b k , der Formzahl k , der Schwingbreite der Nennspannung Drn im Bruttoquerschnitt und der kritischen Schwingbreite des Spannungsintensitätsfaktors DK1 cr , ab der sich eingeleitete Risse vergrößern. Die vorstehende Ableitung verwendet die Näherung …1 k1 †  0;5, die für Kerböffnungswinkel x  60 gerechtfertigt ist. Man beachte, daß der Ausdruck auf der rechten Seite von (4.108) somit nur näherungsweise dimensionslos ist. Allgemeiner gültige Beziehungen scheinen möglich zu sein, indem die Quadratwurzeln durch den Exponenten …1 k1 † ersetzt werden. Die nach (4.109) vorausgesagte Ermüdungsfestigkeit ist in Abb. 4.77 für unterschiedliche Kerbrundungsradien und Werkstoffe aufgetragen und mit verschiedenen experimentellen Ergebnissen aus der Literatur [730, 735, 741] verglichen. Der Übereinstimmungsgrad ist befriedigend. Die Eckspannungsintensitätsfaktoren müssen nicht direkt, wie vorstehend dargestellt, die Ermüdungsgrenze kennzeichnen, sie können auch indirekt ermüdungsrelevant sein, wie am J-Integral-Kriterium und am Kriterium der gemittelten Formänderungsenergiedichte ersichtlich ist. Beide Kriterien sind bei Kehl- und Stumpfnahtschweißverbindungen mit Rißausgang von Nahtübergang und Nahtwurzel erfolgreich angewendet worden (Livieri u. Lazzarin [734], s. Radaj et al. [70, 738]). Ausgehend von der Ermüdungsgrenze bei hoher Schwingspielzahl, insbesondere am Verzweigungspunkt zwischen den Rißeinleitungs- und Rißfortschritts-

Abb. 4.77: Verhältnis der kritischen Schwingbreiten der Eckspannungsintensitätsfaktoren von gerundeten und scharfen V-Kerben in unterschiedlichen Werkstoffen in Abhängigkeit des Verhältnisses von Kerbrundungsradius zur Mikrostrukturlänge; analytische Kurve verglichen mit Versuchsergebnissen von Lazzarin et al. [730], Noda et al. [735] und Yao et al. [741]; nach Atzori et al. [710]

4.16

Kerbwirkung an Eckkerben

253

kurven im Frost-Diagramm, kann die Wöhler-Linie im Bereich mittlerer Schwingspielzahlen empirisch angenähert werden, mit einer Neigungskennzahl k, die vom Ausmaß plastischer Kerbstützwirkung während der Rißeinleitung und des Rißfortschritts abhängt. Eine theoretisch begründetere Vorgehensweise besteht darin, Rißeinleitungskriterien auf Basis elastischer oder elastisch-plastischer Eckspannungsintensitätsfaktoren im Bereich mittlerer oder kleiner Schwingspielzahlen zu verwenden, was die Erweiterung in den Rißfortschrittsbereich zuläßt. Solche Methoden sind derzeit nur rudimentär entwickelt. Mehrachsigkeitseffekte, d. h. die gleichzeitige Beanspruchung der scharfen oder gerundeten Kerbe nach den unterschiedlichen Moden, werden über Mehrachsigkeitskriterien berücksichtigt. Letztere lassen sich als Superposition der Wirkungen der einzelnen Beanspruchungsmoden darstellen, sofern elastische Eckspannungsintensitätsfaktoren anwendbar sind, d. h. einschließlich des Bereichs lokalen Fließens. Ein von den elastischen Eckspannungsintensitätsfaktoren ausgehender Ausdruck, der eine elliptische Kurve beschreibt, wird von Lazzarin et al. [726] für schweißnahtähnliche Kerben mit großem Kerböffnungswinkel (x ˆ 1358) vorgeschlagen. Im letzteren Fall erzeugt die Beanspruchung nach Modus II keine Spannungssingularität, so daß die Beziehung für den Grenzzustand auf die Beanspruchungsmoden I und III beschränkt werden kann: 

DK1 DK1D

2   DK3 2 ‡ ˆ1 DK3D

…4:110†

mit den Dauerfestigkeiten K1D und K3D in den Beanspruchungsfällen nach reinem Modus I und reinem Modus III. Äquivalente Eckspannungsintensitätsfaktoren lassen sich unter Verwendung des Singularitätsgrades des Beanspruchungszustandes nach Modus I bzw. nach Modus III definieren: DK1aq ˆ

q …DK1 †2 ‡ h2 …DK3 †2

r 1 DK3aq ˆ …DK3 †2 ‡ 2 …DK1 †2 h   DK1D 2 h ˆ DK3D

…4:111† …4:112† …4:113†

wobei h ein dimensionsbehafteter Parameter ist, der im allgemeinen vom Kerböffnungswinkel abhängt. Bei Anwendung des Versagenskriteriums der gemittelten Formänderungsenergiedichte kann der Parameter h durch den werkstofftypischen Radius R0 ausgedrückt werden (Lazzarin et al. [726]): h2 ˆ

ed3 2…k3 R ed1 0

k1 †

…4:114†

254

4 Kerbwirkung

Zur Anwendung des Konzepts der Eckspannungsintensitätsfaktoren auf die Ermüdungsfestigkeit von Schweißverbindungen gibt es vielseitige Entwicklungen von Lazzarin et al. bzw. Atzori et al., die an anderer Stelle dargestellt werden (Radaj et al. [70, 738]). Die Anwendung auf die statische Festigkeit scharf gekerbter Proben aus sprödem Werkstoff (Akrylglas und hochfeste Aluminiumlegierung) wird von Lazzarin u. Zambardi [731, 738] sowie Lazzarin u. Berto [723] erläutert. Auch Eckspannungsintensitätsfaktoren infolge stationärer und instationärer Wärmeleitvorgänge und zugehöriger Wärmedehnung werden mit Anwendung auf Schweißnähte angegeben (Ferro et al. [716]). Das Ergebnis ist eine „Eigenspannungsintensität“ des scharf gekerbten Nahtübergangs. Grundlage ist eine nichtlineare, thermisch elastisch-plastische Finite-ElementeBerechnung des Schweißvorgangs unter Verwendung eines Querschnittsmodells (s. Radaj [488]).

5

5.1

Betriebsfestigkeit

Beanspruchung-Zeit-Funktion

Beanspruchungsablauf und Betriebsfestigkeit Der Beanspruchungsablauf, ausgedrückt durch eine Beanspruchung-Zeit-Funktion, insbesondere aber die Beanspruchungsamplitudenfolge ist für die Ermüdungsfestigkeit und Lebensdauer von ausschlaggebender Bedeutung. Neben der Schwingfestigkeit bei zeitlich konstanter Beanspruchungsamplitude, dargestellt im Wöhler-Versuch, interessiert daher die Schwingfestigkeit bei zeitlich veränderlicher Beanspruchungsamplitude, dargestellt im Betriebsfestigkeitsversuch. Die Lebensdauer im Betriebsfestigkeitsversuch kann die Lebensdauer im Wöhler-Versuch bei gleicher maximaler Beanspruchungsamplitude um mehrere Zehnerpotenzen übersteigen. Die bei gleicher Schwingspielzahl ertragbare maximale Beanspruchungsamplitude kann auf ein Mehrfaches erhöht sein. Betriebsfestigkeit ist nach vorstehender Unterscheidung der Beanspruchungsabläufe die Schwingfestigkeit unter zeitlich veränderlichen Beanspruchungsamplituden, zugehörig der Betriebsfestigkeitsversuch [829, 844]. Im Bereich des Automobilbaus wird Betriebsfestigkeit heute allgemeiner gefaßt, nämlich unter Einschluß von statischer Festigkeit, Schlagfestigkeit, Kriechfestigkeit und Korrosionsfestigkeit neben der Schwingfestigkeit bei konstanten und veränderlichen Amplituden. Die zeitlich veränderliche Betriebsbeanspruchung eines Bauteils wird als Beanspruchung-Zeit-Funktion meist durch Messung bestimmt, Abb. 5.1. Für Betriebsfestigkeitsaussagen sind Langzeitmessungen erforderlich, wobei die typischen Betriebsbedingungen im repräsentativen zeitlichen Verhältnis zu erfassen sind. Die Abbildung beschränkt sich auf einparametrig darstellbare Vorgänge. In der Praxis spielen auch zusammengesetzte Beanspruchungen eine wichtige Rolle, die durch mehrere zeitabhängige Parameter gekennzeichnet sind. Grund- und Zusatzbeanspruchung Bei der Beanspruchung-Zeit-Funktion wird zwischen Grund- und Zusatzbeanspruchung unterschieden [19, 746], Abb. 5.2. Die Grundbeanspruchung kann

256

5 Betriebsfestigkeit

Abb. 5.1: Gemessene Beanspruchung-Zeit-Funktionen, Beispiele aus der Praxis; nach Buxbaum [19]

Abb. 5.2: Unterscheidung zwischen Grund- und Zusatzbeanspruchung bei der Beanspruchung-Zeit-Funktion, in Anlehnung an Buxbaum [19]

5.1 Beanspruchung-Zeit-Funktion

257

ständig statisch, zeitweise statisch (quasistatisch) oder periodisch veränderlich wirken (Beispiele in der Reihenfolge der Wirkarten: Eigengewicht, Zuladung, Kurbelkraft). Die Zusatzbeanspruchung kann periodisch veränderlich (Schwingungserregung), einmalig aperiodisch (Einzelereignisse, Stoßerregung) oder regellos aperiodisch (Umwelteinflüsse) auftreten. Als Bemessungs- und Versuchsgrundlage wird vielfach die Trennung gemessener Beanspruchung-Zeit-Funktionen nach ihrer Ursache gewünscht. Trennungskriterien können z. B. Frequenzbereiche, Kurvenformen oder Amplitudenbereiche sein. Die Trennung nach Verfahren der Frequenz- oder Schwingungsfilterung wird in [19, 755, 756] erläutert. Deterministische und stochastische Beanspruchung Bei den Beanspruchung-Zeit-Funktionen wird zwischen deterministischen (d. h. ursächlich bedingten) und stochastischen (d. h. zufallsbedingten, auch regellos genannten) Vorgängen unterschieden, Abb. 5.3. Die deterministischen Vorgänge unterteilen sich in periodische und aperiodische, die periodischen Vorgänge in sinusförmige und nichtsinusförmige, die stochastischen Vorgänge in stationäre und instationäre, die stationären wiederum in ergodische und nichtergodische. Deterministische Vorgänge sind eindeutig beschreibbar und streng vorhersagbar. Stochastische Vorgänge lassen sich nur statistisch beschreiben, dann allerdings mit bestimmter Wahrscheinlichkeit voraussagen. Bei stationären Vorgängen sind die statistischen Kennwerte zeitlich konstant, bei instationären Vorgängen zeitlich veränderlich. Nur die ergodischen stationären Vorgänge sind einer einfachen mathematischen Analyse zugängig. Ergodisch ist ein Vorgang dann, wenn die statistischen Kennwerte, die aus der Momentanbeobachtung einer Vielzahl gleichwertiger Vorgänge gewonnen werden, identisch sind mit jenen, die aus der längerzeitigen Beobachtung eines einzigen dieser Vorgänge resultieren. Zu den deterministischen Vorgängen gehören vorzugsweise die Arbeitsvorgänge, also das Steuern, Regeln, Manövrieren, Fertigen und Transportieren, zu

Abb. 5.3: Unterscheidung zwischen deterministischer und stochastischer Beanspruchung-ZeitFunktion, in Anlehnung an Buxbaum u. Svenson [770]

258

5 Betriebsfestigkeit

den stochastischen Vorgängen vorzugsweise die Umgebungseinflüsse, also Böen, Seegang, Bodenunebenheiten und Beschallung. Die technischen Beanspruchung-Zeit-Funktionen stellen meist eine Überlagerung von deterministischen und stochastischen Anteilen dar. Solche überlagerte Vorgänge werden ebenfalls dem Formalismus der statistischen Analyse unterworfen. Das vereinfacht die Anwendung, schließt aber auch grundsätzliche Schwierigkeiten ein. Standardisierte Lastfolgen Um bei Betriebsfestigkeitsuntersuchungen von unterschiedlichen Bauteilen, Werkstoffen oder Fertigungen vergleichbare Ergebnisse zu gewinnen und um Hinweise für die Lebensdauerabschätzung während der Vorentwicklung einer Konstruktion zu erhalten, werden konstruktions- und betriebstypische Standardlastfolgen festgelegt [859–872]. Neben der Häufigkeit ist in ihnen die Aufeinanderfolge der unterschiedlichen Lastamplituden festgelegt (ein Vorteil gegenüber den mit ähnlicher Zielsetzung standardisierten Lastkollektiven, die keine Information über die Art der Aufeinanderfolge enthalten). Standardlastfolgen sind im Flugzeugbau (Flügel-Rumpf-Anschluß), im Hubschrauberbau (Rotoranschluß), im Automobilbau (Radaufhängung, Antriebsstrang) und für Offshore-Anlagen verfügbar (Heuler u. Schütz [862]).

5.2

Lastkollektiv

Begriff des Lastkollektivs Die im Hinblick auf die Ermüdungsfestigkeit wichtigste Kenngröße einer allgemeinen Beanspruchung-Zeit-Funktion sind deren Umkehrpunkte, also die relativen Maxima und Minima, nachfolgend Lastspitzen genannt. An diesen Punkten kehrt sich auch der für die Rißbildung und Rißvergrößerung maßgebende Gleitmechanismus um. Die Lastumkehrpunkte lassen sich zu Lastamplituden (oder Lastschwingbreiten) verbinden, die als ausschlaggebend für die Schwingfestigkeit angesehen werden. Aus der Beanspruchung-Zeit-Funktion wird nach unterschiedlichen statistischen Zählverfahren (Klassierverfahren) der Amplitudengehalt als Beanspruchungskollektiv gewonnen. Als Beanspruchungskollektiv bezeichnet man die nach Größe und Häufigkeit statistisch erfaßten Beanspruchungsamplituden, also deren Häufigkeitsverteilung. Das Beanspruchungskollektiv wird der historischen Entwicklung und ihrer Bedeutung für die konstruktive Auslegung entsprechend nachfolgend zunächst als Lastkollektiv eingeführt, obwohl die Lastamplituden meist aus gemessenen Beanspruchungsamplituden gewonnen werden, demnach also abgeleitete Größen darstellen. Bei der Hervorhebung des Amplitudengehalts ist zunächst nicht festgelegt, von welchem Mittelwert aus die jeweilige Amplitude bestimmt wird (der Mittelwert kann zeitlich konstant, zeitlich veränderlich oder sogar in jedem

5.2 Lastkollektiv

259

Schwingspiel neu gewählt sein). Auch der wichtige Einfluß der Amplitudenfolge auf die Ermüdungsfestigkeit bleibt ebenso wie der gewisse Einfluß von Kurvenform und Zeitdauer eines Schwingspiels (Frequenzeinfluß) bei dieser Vorgehensweise unberücksichtigt. Das Lastkollektiv wird nach Verfahren der angewandten Statistik [170, 172, 813, 821, 823] erfaßt, auch wenn es sich nicht oder nur teilweise um regellose Vorgänge handelt. Die Grundbegriffe zu diesen Verfahren sind in Kap. 2.5 im Zusammenhang mit der Auswertung von Schwingversuchen dargestellt: – – – – –

die die die die die

Unterscheidung zwischen Stichprobe und Grundgesamtheit, Klassenzuordnung der Stichprobenwerte, Verteilungsfunktionen für absolute und relative Häufigkeit, Unterscheidung zwischen Klassenhäufigkeit und Summenhäufigkeit, Bestimmung von Mittelwert und Streuung sowie weiterer Kenngrößen.

Diese Begriffe und Verfahren werden nummehr auf die Amplituden der Beanspruchungsabläufe als Stichprobenwerte angewendet, wobei die Formalismen dem Ziel der Lebensdauervorhersage angepaßt sind [19, 745, 764, 765, 767].

Vorgehensweise bei der Lastkollektivermittlung Lastkollektive wurden erstmals in den Jahren 1931/32 von Kloth und Stroppel [773] an Landmaschinen ermittelt und ab 1940 auf breiterer Basis von Gaßner [829, 830] im Flugzeug- und Fahrzeugbau eingeführt. Bis dahin wurden statisch beanspruchte Bauteile ausgehend von der Fließgrenze, ermüdungsbeanspruchte Bauteile ausgehend von der Dauerfestigkeit dimensioniert. Der unter Umständen große Bereich zwischen den beiden Auslegungsweisen konnte nicht genutzt werden. Das stand dem vielfach geforderten Leichtbau entgegen. Mit der Einführung von Lastkollektiven und zugehöriger Betriebsfestigkeit konnte die Forderung nach Leichtbau erfüllt werden. Die frühen Untersuchungen von Kloth u. Stroppel [773] sind besonders geeignet, die Vorgehensweise bei der Lastkollektivermittlung verständlich zu machen (weitere Ausführungen in [769–827]). Bei dem in Abb. 5.4 dargestellten klassenweisen Auszählen der (positiven und negativen) Amplitudenspitzenwerte sowie (alternativ) der Momentanwerte in gleichen kleinen Zeitabständen ergeben sich Häufigkeitskurven, die im Fall der Spitzenwertzählung einer GaußNormalverteilung (Glockenkurve) nahekommen. Es handelt sich um einen ausgeprägt periodischen Vorgang mit streuenden Spitzenwerten. Ein Vorgang mit gleichbleibender Grundbeanspruchung, jedoch relativ regellos veränderlicher Zusatzbeanspruchung ist in Abb. 5.5 gezeigt. Die Momentanwerte der Zusatzbeanspruchung entsprechen näherungsweise der Gauß-Normalverteilung (Balkendiagramm gegenüber durchgehender Kurve). Die Abweichungen bestehen darin, daß der häufigste mittlere Wert häufiger als nach Gauß auftritt und daß es einen Kleinst- und Höchstwert endlicher Größe gibt, während die Kurve der Gauß-Normalverteilung erst im Unendlichen gegen null geht.

260

5 Betriebsfestigkeit

Abb. 5.4: Häufigkeit der oberen und unteren Spitzenwerte des Drehmoments (o. Sp., u. Sp.) und der Momentanwerte des Drehmoments (Mw.), letztere in gleichen kleinen Zeitabständen, an der Messerkurbelwelle einer Mähmaschine (5 Umdrehungen pro Sekunde); nach Kloth u. Stroppel [773]

Abb. 5.5: Häufigkeit der Momentanwerte der Zugkraft in gleichen kleinen Zeitabständen an der Kupplung eines Bindemähers; nach Kloth u. Stroppel [773]

Die heute übliche Darstellung des Lastkollektivs entspricht nicht der Glokkenkurve nach Gauß, sondern der zugehörigen (halblogarithmischen) Summenhäufigkeitskurve im Bereich bis 50 % Summenhäufigkeit, Abb. 5.6. Die Summe der positiven Spitzenwerte (Maxima), von oben kommend, bzw. die Summe der negativen Spitzenwerte (Minima), von unten kommend, ist gleich der Zahl der Überschreitungen bzw. Unterschreitungen der unteren bzw. oberen Lastklassengrenzen durch die Last-Zeit-Funktion. Dabei wird zunächst vereinfachend angenommen, daß die Spitzenwerte nach Gauß normalverteilt sind und auf jeden positiven Spitzenwert oberhalb der Mittellast Fm immer ein negativer Spitzenwert unterhalb dieser Last folgt und umgekehrt, so daß die Zahl der positiven bzw. negativen Spitzenwerte gleich der Zahl der Überschreitungen bzw. Unterschreitungen der für alle Lastausschläge gleichbleibenden Mittellast ist (Regelmäßigkeitsfaktor nach (5.3): i0 ˆ 1;0). Sofern sich die Mittellast (ggf. stochastisch) ändert …i0 < 1;0†, sind bei gleichem Fa die Kurvenäste etwas verschoben, N < NG . Vergleichsweise sind die Gauß-Summenkurven auch in linearer Auftragung dargestellt.

5.2 Lastkollektiv

261

Abb. 5.6: Summenkurven für Gauß-Normalverteilung der Spitzenwerte, Zahl der positiven bzw. negativen Spitzenwerte gleich Über- bzw. Unterschreitungszahl der Mittellast …i0 ˆ 1;0† sowie Abweichungen davon …i0 < 1;0†, übliche halblogarithmische Auftragung (a) und vergleichsweise lineare Auftragung (b); nach Kowalewski [910]

Zur Bestimmung des Lastkollektivs aus der Last-Zeit-Funktion wird im didaktisch einfachsten Fall (weitere Zählverfahren später) der zu erfassende Lastamplitudenbereich ausgehend von der Mittellast Fm (hier aufgefaßt als das am häufigsten erreichte Lastniveau) nach oben und unten in gleich große Lastklassenintervalle DF unterteilt. Die Lastklassen i ˆ 1; 2;    ; n sind durch ihre jeweilige Lastklassengrenze Fi gekennzeichnet, die Obergrenze oberhalb der Mittellast Fm und die Untergrenze unterhalb davon. Es werden die Überschreitungen Ni der Obergrenzen Fi oberhalb von Fm ausgezählt und ebenso die Unterschreitungen Ni der Untergrenzen Fi unterhalb davon. In Höhe der Mittellast Fm selbst werden Überschreitungen oder Unterschreitungen gezählt. Die Über- bzw. Unterschreitungszahlen Ni werden horizontal neben den Lastklassengrenzen Fi im halblogarithmischen Maßstab aufgetragen, Abb. 5.7. Die Kurvenäste log Ni ˆ f …Fi †, aufgefaßt als Fi ˆ f …log Ni †, stellen das gängige Lastkollektiv dar. Hier liegt die schon von der Wöhler-Linie her bekannte ungewohnt horizontale Funktionsauftragung vor, die aber als gewohnt vertikale Funktionsauftragung interpretiert werden kann. Die beiden Kurvenäste verlaufen in vielen Fällen symmetrisch zur Mittellast, so daß die Angabe des oberen Astes zur Kennzeichnung des Lastkollektivs ausreicht. Unsymmetrische Kollektive lassen sich formal symmetrisieren, indem aus den Mittelwerten Fmi von Foi und Fui (obere und untere Kurve) eine gemittelte Mittellast Fm gebildet wird und die Lastamplituden Fai ˆ …Foi ‡ Fui †=2 darüber (und darunter) aufgetragen werden. Über die physikalische Zulässigkeit einer derartigen Symmetrisierung muß im Einzelfall entschieden werden. Bei der Überschreitungs- bzw. Unterschreitungszählung von Lastklassengrenzen bleiben Umkehrpunktpaare, also Schwingbreiten unerfaßt, die innerhalb eines Klassenintervalls auftreten. Die Intervallgröße ist daher so zu wählen, daß nur solche Umkehrpunktpaare unerfaßt bleiben, deren Auswirkung auf die

262

5 Betriebsfestigkeit

Abb. 5.7: Überschreitungs- bzw. Unterschreitungszählung zur Last-Zeit-Funktion (a) und sich ergebendes Lastkollektiv (b); Prinzipdarstellung

Ermüdungsfestigkeit vernachlässigbar ist. Die engen Umkehrpunktpaare sind nachträglich auch dort zu ignorieren, wo sie zunächst mitgezählt werden, weil die Intervallgrenze zufällig zwischen den Punkten verläuft. Kenngrößen des Lastkollektivs Das Lastkollektiv wird durch die folgenden vier Größen eindeutig gekennzeichnet, die zur Unterscheidung von entsprechenden Größen im Wöhler-Versuch einen Querstrich tragen: – die Mittellast Fm bzw. das Lastverhältnis R ˆ Fu =Fo , – die Mittellastüberschreitungszahl N (der Kollektivumfang), – die maximale Lastamplitude Fa ˆ Fo Fm bei Ni ˆ 1, der Kollektivhöchstwert (bei unsymmetrischem Kollektiv zusätzlich Fa ˆ Fu Fm ), – die Kollektivform Fai ˆ f …log Ni † (bei unsymmetrischem Kollektiv zusätzlich die Funktion des unteren Kurvenastes). Die Mittellastüberschreitungszahl (nach Gaßner [831] „Zahl der einsinnigen Mittellastdurchgänge“) entspricht der Gesamtzahl aller großen und kleinen Lastausschläge. Die Kollektivform gibt den relativen Anteil der großen und kleinen Lastausschläge an. Zur Vereinheitlichung der Darstellung werden Lastkollektive in bezogenen  für Größen folgendermaßen dimensionslos angegeben: Fai =Fa ˆ f …N=N† N ˆ 106 . Lastkollektive werden vielfach aus Aufnahmen mit N < 106 durch Extrapolation auf N ˆ 106 gewonnen. Aus dem vereinheitlichten Kollektiv wird auf die im Einzelfall tatsächlich vorliegenden Werte zurückgerechnet. Die Über- bzw. Unterschreitungszahl Ni ist mit der gelegentlich verwendeten absoluten Über- bzw. Unterschreitungshäufigkeit Hi identisch. Das Verhältnis der Über- bzw. Unterschreitungszahlen Ni =N entspricht der relativen Über- bzw. Un Die Überschreitungshäufigkeit (oberhalb terschreitungshäufigkeit hi ˆ Hi =H.  Fm ) bzw. Unterschreitungshäufigkeit (unterhalb Fm ) wiederum ist mit der Sum-

5.2 Lastkollektiv

263

menhäufigkeit der Lastspitzenwerte (Summenbildung von oben bzw. unten kommend) identisch. In der Fachliteratur wird an der Abszissenachse des Lastkollektivdiagramms im allgemeinen die relative Überschreitungs- oder Summenhäufigkeit angegeben. Die Form der Lastkollektivkurve kann sehr unterschiedlich sein, Abb. 5.8. Grundformen sind die Gauß-Normalverteilung (d) und die Einstufenverteilung (a), also der rein zufallsbedingte und der streng deterministische Prozeß. Dem stationären Gauß-Prozeß kommt die 1948 von Gaßner verwendete Binomialverteilung (s. Kap. 2.5) der Lastamplituden nahe, die seitdem von zahlreichen Laboratorien als Einheitskollektiv übernommen wurde. Die für Berechnungen im Kran- und Brückenbau vorgeschlagenen Kurven (b, c) stellen Mischkollektive dar, in denen sich Gauß-Normalverteilung und Einstufenverteilung überlagern. Die für den Fahrzeugbau bzw. für Bodenunebenheiten, Seegang oder Böenbelastung typischen Kurven (e, f) wiederum stellen Mischkollektive dar, die sich als Überlagerung (in horizontaler Richtung) der Überschreitungszahlen mehrerer Gauß-Normalverteilungen mit Kollektivhöchstwerten und Kollektivumfängen deuten lassen, deren Größe gegenläufig gewählt ist, Abb. 5.9. Die überlagerten Prozesse können gleichzeitig oder nacheinander auftreten. Sonderfälle sind die (halblogarithmische) Geradlinienverteilung (e), auch als (lineare) Exponentialverteilung bekannt, und die logarithmische Normalverteilung (f). Die unterschiedlichen Kollektivkurven in Abb. 5.8 lassen sich durch folgende Gleichung annähern [771, 772, 776]: Ni log  ˆ N

 n Fai 6  Fa

…5:1†

Der Exponent n hat je nach Kurvenform unterschiedliche Größe (s. a. Abb. 5.37): n ˆ 1 bei der Einstufenverteilung (a), n ˆ 2 bei der Gauß-Normalverteilung (d) und n ˆ 1 bei der Geradlinienverteilung (e). Zu den Kurven

Abb. 5.8: Lastkollektivformen in dimensionsloser Darstellung: Einstufenverteilung (a), Mischverteilungen (b, c), Gauß-Normalverteilung (d), Mischverteilungen (e, f), unter ihnen die Geradlinienverteilung (e) und die logarithmische Normalverteilung (f); nach Gaßner et al. [834]

264

5 Betriebsfestigkeit

Abb. 5.9: Mischkollektiv (IV) in dimensionsloser Darstellung, gewonnen durch Überlagerung mehrerer Normalverteilungen (I, II, III) mit gegenläufigen Werten …FaI , FaII , FaIII † und …NI , NII , NIII ); nach Ostermann [841]

(b, c) gehört n > 2, zur Kurve (f) n < 1. Der Faktor –6 entspricht der Festlegung N ˆ 106 . Werden die Kollektivkurven über Ni für 1  Ni  N betrachtet (anstelle der identisch verlaufenden Kollektivkurven über Ni/N für 10–6  Ni/N  100, s. Abb. 5.37), dann lautet die (5.1) entsprechende Bestimmungsgleichung: Ni ˆ Nm ;

mˆ1

n …Fai =Fa †

…5:2†

Zum Zweck von Berechnungsvorschriften und einheitlicher Versuchsdurchführung werden die oberhalb des Normalkollektivs liegenden Mischkollektive als Überlagerung eines Einstufenkollektivs mit einem Normalkollektiv im oberen Amplitudenbereich bzw. im oberen Überschreitungszahlbereich einheitlich festgelegt, Abb. 5.10. Im ersten Fall, der durch streuende Spitzenwerte gekennzeichnet ist, wird der Kollektivbeiwert p eingeführt, der dem Verhältnis der N ˆ 106 mal auftretenden kleinsten Lastamplitude zur Ni ˆ 1 mal auftretenden größten Lastamplitude entspricht. Im zweiten Fall, der durch unveränderliche größte Spitzenwerte gekennzeichnet ist, wird der Kollektivbeiwert q eingeführt, der dem Verhältnis der Zahl der größten Spitzenwerte zum Kollektivumfang (in logarithmischem Maßstab) entspricht. Die p-Werte treten auch kombiniert mit (halblogarithmisch) geradlinigen Kollektivkurven auf. Praktische Ermittlung der Lastkollektive Lastkollektive werden in der Praxis meistens aus gemessenen Last-Zeit-Funktionen bestimmt. Die Extrapolation von kurzzeitig gemessenen Kollektiven auf solche des Langzeitverhaltens erfolgt unter Berücksichtigung der nachfolgend dargestellten Gesichtspunkte. Nur im Sonderfall genau bekannter Lastfolgen (aus Betriebs-, Beladungs- oder Fahrplänen) können Lastkollektive hinsichtlich der Grundbeanspruchung auch rechnerisch ermittelt werden (z. B. bei Druck-

5.2 Lastkollektiv

265

Abb. 5.10: Standardisierte Mischkollektive in dimensionsloser Darstellung: p-Wert-Kollektive (a) und q-Wert-Kollektive (b)

behältern, Laufkranträgern und Eisenbahnbrücken; allgemeine Betrachtung in [777]). Meßtechnisch wird so vorgegangen, daß eine örtliche Dehnung mit Dehnungsmeßstreifen erfaßt, gespeichert und schließlich digitalisiert und klassiert wird. Der örtlichen Dehnung ist im elastischen Bereich eine örtliche Spannung proportional. Letztere wird unter Beachtung möglicher Bauteilschwingungen auf die äußere Belastung umgerechnet. Vielfach wird der Dehnungsmeßstreifen auch direkt auf äußere Lasten kalibriert. Bei der Umrechnung bzw. Kalibrierung ist sicherzustellen, daß das Meßsignal allein von der gesuchten Lastkomponente herrührt. Massenkraftkollektive lassen sich auch über Beschleunigungsgeber messen (z. B. Lastvielfache im Flugzeugbau), Innendrücke auch über Druckgeber. Lastkollektive wurden an Landmaschinen [794, 801], Flugzeugen [778, 784, 785, 798, 808], Straßenfahrzeugen [779, 782, 791, 792, 795, 802, 805–807], Schienenfahrzeugen [788], Schiffen und meerestechnischen Anlagen [789], Luftseilbahnen [783], Krananlagen [781, 797, 811], Brücken [793, 809, 812], Pipelines [786] und Hüttenwerksanlagen [780, 799, 800, 803] ermittelt und werden in zugehörigen Auslegungsregeln [787, 790, 796, 1742] berücksichtigt. Häufig wird von kurzzeitig aufgenommenen Lastabläufen auf die langzeitigen Verhältnisse extrapoliert. In diesem Fall muß sichergestellt werden, daß die Kurzzeitaufnahme repräsentativ ist und die Art der Extrapolation den physikali-

266

5 Betriebsfestigkeit

schen Gegebenheiten nicht widerspricht. Die Forderung sowohl nach einer zuverlässigen Extrapolation einer gemessenen Häufigkeitsverteilung als auch nach der Angabe einer Wahrscheinlichkeitsfunktion für die Kollektivhöchstwerte, die dann sinngemäß für das gesamte Kollektiv gilt, lassen sich nach Buxbaum [19, 769] unter bestimmten Voraussetzungen nach einem Verfahren erfüllen, das auf der Theorie der Extremwertverteilungen von Gumbel [172] beruht. Mit derartigen Extremwertverteilungen wird heute in vielen Bereichen der Technik bei der Erfassung insbesondere der Zusatzbeanspruchungen gearbeitet (z. B. Verteilung der Meereswellenhöhen oder der Böenbelastungen). Sie bilden die Grundlage für die konstruktive Bemessung und die experimentelle Lebensdauerprüfung. Bemessungskollektive für den Schiff- und Bohrinselbau sowie

Abb. 5.11: Bemessungslastkollektiv (bei einzelfallbezogener Festlegung des Kollektivhöchstwerts) für Schiffe und Bohrinseln; nach Germanischer Lloyd [790]

Abb. 5.12: Bemessungsspannungskollektiv (bei einzelfallbezogener Festlegung des Kollektivhöchstwerts) für Transportflugzeuge; nach Luftfahrttechnisches Handbuch Strukturberechnung [796]

5.2 Lastkollektiv

267

für den Transportflugzeugbau zeigen die Abb. 5.11 und 5.12. Im Kranbau werden Betriebsschwere und Betriebshäufigkeit den standardisierten Kollektiven mit unterschiedlichem Kollektivbeiwert p zugeordnet [787]. Für sorgfältige Einzelfallanalysen sind die genannten Bemessungskollektive nicht ausreichend. Insbesondere im Schiffbau sind hinsichtlich der Belastung durch Wellengang differenziertere statistische Verfahren ausgearbeitet [804, 810]. Der Wellengang bei ruhiger See wird als stationärer Zufallsprozeß erfaßt, der dazwischen auftretende Wellengang bei stürmischer See dagegen als instationärer Zufallsprozeß mit erst ansteigenden, dann wieder abfallenden Amplituden. Die Belastung des Schiffes folgt aus einem Wellenbegegnungsmodell mit statistischer Verteilung des Wellenbegegnungswinkels. Einparametrige Klassierverfahren Das Auszählen von Überschreitungen (oder Unterschreitungen) von Klassengrenzen ist nur eines von mehreren bewährten Zählverfahren (oder „Klassierverfahren“) zur Registrierung von Betriebslastamplituden (oder entsprechenden Beanspruchungen) hinsichtlich der Ermüdungsfestigkeit. Die folgenden weiteren einparametrigen Zählverfahren, deren Entwicklung zunächst auf spezielle Zählgeräte abgestellt war, sind bekannt: – Spitzenwertzählung (peak counting), klassenweises Auszählen der Lastspitzen (Oberwerte bzw. Unterwerte); Variante mit Zählung nur der jeweils höchsten Spitze zwischen zwei Mittellastdurchgängen (mean crossing peak counting). – Bereichszählung (range counting), auch Spannenzählung, Auszählen der Klassenübergänge der ansteigenden bzw. abfallenden Lastausschläge unabhängig von ihrem jeweiligen Ausgangs- bzw. Mittelwert; Bereichspaarzählung (range pair counting), auch Spannenpaarzählung, Auszählen der Klassenübergänge erst dann, wenn sich zu dem ansteigenden Lastausschlag der entsprechende gleich weit abfallende Ast eingestellt hat (volles Schwingspiel). – Momentanwertzählung (level distribution counting), klassenweises Auszählen der momentanen Lasthöhen in konstanten kleinen Zeitabständen; Verweildauerzählung als Variante. Die Vorgehensweise bei diesen einparametrigen Zählverfahren ist in Abb. 5.13 veranschaulicht. Hinsichtlich weiterer Details wird auf die ASTMNorm E 1049 [743] und das FVA-Merkblatt [768] verwiesen. Auch die Norm DIN 45 667 [749] zu den Klassierverfahren für regellose Schwingungen kann herangezogen werden. Allerdings ist sie nicht auf Betriebsfestigkeitsfragen abgestellt. Eine ausführliche Darstellung der wissenschaftlichen Grundlagen und der Anwendungsmöglichkeiten der Klassierverfahren ist bei Buxbaum [19] und Haibach [35] zu finden. Einen Vergleich mit Beispielen bieten WestermannFriedrich u. Zenner [768]. Die unterschiedlichen einparametrigen Zählverfahren führen bei den technischen Last-Zeit-Funktionen, die weder stochastisch noch mittellastkonstant

268

5 Betriebsfestigkeit

Abb. 5.13: Einparametrige Klassierverfahren: Überschreitungszählung (a), Spitzenwertzählung (b), Bereichszählung (c) und Momentanwertzählung (d); in Anlehnung an Buxbaum [19]

sind, zu unterschiedlichen Zählergebnissen, insbesondere zu unterschiedlichen Kollektivformen. Das Zählverfahren ist daher auf den jeweiligen Anwendungsfall abzustimmen. Die damit gewonnenen Aussagen sind auf vergleichbare Fälle zu beschränken. Klassengrenzenüberschreitungszählung und Bereichszählung werden häufig parallel eingesetzt, um aus der Gegenüberstellung der unterschiedlich ermittelten Kollektive Rückschlüsse auf die Mittelwertschwankungen zu ziehen [760]. Ein weiteres Problem stellt, von Sonderfällen abgesehen, die Rücktransformation der einparametrigen Zählergebnisse (d. h. der Kollektive) in vollständige Schwingspiele unterschiedlicher Amplitude zum Zwecke der versuchs- und rechentechnischen Weiterverarbeitung dar. Es gibt dafür mehrere Möglichkeiten. Die hinsichtlich der Ermüdungsfestigkeit besonders schädigende Kombination von Zählergebnissen (oberer und unterer Kollektivkurvenast des Kollektivs der Überschreitungen bzw. Unterschreitungen, der oberen bzw. unteren Spitzenwerte oder auch der Momentanwerte) besteht darin, zuerst das Schwingspiel mit größtmöglicher Amplitude zu bilden, dann das mit zweitgrößter Amplitude und so fort, Abb. 5.14. Das entspricht einer Beanspruchung-Zeit-Funktion ohne Mittelwertänderung (Regelmäßigkeitsfaktor i0 ˆ 1;0 nach (5.3)), so wie es bei der Erklärung der Gauß-Summenkurve bereits vorausgesetzt wurde. Das Ergebnis der Rücktransformation hängt dabei von der erwähnten Interpretation des Ausgangskollektivs ab. Abbildung 5.15 zeigt, daß selbst unter der Bedingung i0 ˆ 1;0 für zwei unterschiedliche Beanspruchung-Zeit-Funktionen (mit und ohne Mittelwertänderung) identische Ergebnisse bei Zählung der Über- und Unterschreitungen

5.2 Lastkollektiv

269

Abb. 5.14: Rücktransformation des Ergebnisses einer Zählung der Überschreitungen bzw. Unterschreitungen von Klassengrenzen (a) und einer Zählung der oberen bzw. unteren Spitzenwerte je Klasse (c) auf volle Schwingspiele (b, d) beginnend mit der größtmöglichen Amplitude; nach Bannantine et al. [15]

Abb. 5.15: Unterschiedliche Dehnungsabläufe mit identischem Zählergebnis nach Klassengrenzenüberschreitungen (a, b) und zugehörige zyklische Spannungs-Dehnungs-Diagramme (c, d); nach Bannantine et al. [15]

270

5 Betriebsfestigkeit

Abb. 5.16: Unterschiedliche Reihenfolge einer vorangestellten Über- und Unterbeanspruchung mit identischem Zählergebnis nach Klassengrenzenüberschreitungen (a, b) und zugehörige zyklische Spannungs-Dehnungs-Diagramme (c, d); nach Bannantine et al. [15]

oder der oberen und unteren Spitzenwerte auftreten können. Die dargestellten unterschiedlichen Dehnungsabläufe sind mit unterschiedlichen Zustandsfolgen im Spannungs-Dehnungs-Diagramm verbunden, wodurch die Ermüdungsfestigkeit wesentlich beeinflußt wird. Das Ergebnis der Rücktransformation ist wiederum nicht eindeutig. Die festigkeitsrelevanten Reihenfolgeeffekte werden von den einparametrigen (ebenso wie von den zweiparametrigen) Zählverfahren nicht erfaßt, wie in Abb. 5.16 gezeigt wird. Die gegenübergestellten zwei Dehnungsabläufe unterscheiden sich bei identischem Zählergebnis in der Aufeinanderfolge von Überund Unterbeanspruchung am Beginn des ersten Schwingspiels. Wie aus den zugehörigen zyklischen Spannungs-Dehnungs-Diagrammen ersichtlich ist, erfolgt der darauffolgende Schwingvorgang im ersten Fall unter Zugmittelspannung, im zweiten Fall unter Druckmittelspannung. Entsprechend unterschiedlich ist die Auswirkung auf die Ermüdungsfestigkeit. Zweiparametrige Klassierverfahren, Rainflow-Zählung Die zweiparametrigen Zählverfahren können als Erweiterung der einparametrigen Verfahren aufgefaßt werden und umgekehrt die einparametrigen Verfahren als Sonderfälle der zweiparametrigen. Erstere erlauben eine eindeutige Rücktransformation hinsichtlich Amplituden und Mittelwerten. Der Reihenfolgeeffekt und der Frequenzeinfluß sind jedoch wiederum nicht erfaßt. In der einfachsten und historisch frühesten Verfahrensform nach Teichmann [844] werden zusätzlich zu den Lastamplituden die Mittellasthöhen der ansteigenden und abfallenden Kurvenzüge klassenweise ausgezählt. Die Häufigkeit der Lastamplituden wird über der Häufigkeit der Mittellasten in einer Matrix

5.2 Lastkollektiv

271

Abb. 5.17: Zweiparametriges Klassierverfahren, Zuordnung der Umkehrpunkte der Last-ZeitFunktion zu Ausgangs- und Zielklassen, Zählung der Übergangshäufigkeiten und Darstellung in einer Matrix; nach Haibach [35]

aufgetragen. Diese Verfahrensform hat sich nicht durchgesetzt, weil trotz des höheren Klassieraufwandes keine Verbesserung der Lebensdauervorhersage erzielt wurde. Das erfolgreichere Matrix-Verfahren [752–754, 757] ordnet die Umkehrpunkte der Last-Zeit-Funktion (die Spitzenwerte) den Ausgangs- und Zielklassen einer Übergangsmatrix zu, Abb. 5.17. Soweit es sich um regellose Vorgänge handelt, wird angenommen, daß der jeweils nächste Umkehrpunkt in eine Klasse fällt, die von der Klasse des vorausgehenden Umkehrpunkts stochastisch abhängig ist (Markovsche Abhängigkeit erster Ordnung). Das MatrixVerfahren wurde entwickelt, um die dem stationären Gauß-Prozeß gleichwertigen Standardzufallsfolgen für den Betriebsfestigkeitsversuch zu definieren. Neben den Amplituden und Mittelwerten ist durch die Übergangsmatrix auch der Regelmäßigkeitsfaktor i0 festgelegt. Das zugehörige eigentliche Zählverfahren, genannt „Rainflow-Zählung“, wurde von Matsuishi u. Endo [761] und (unabhängig) von de Jonge [748] entwickelt, offenbar aber auch schon von Burns [744] angegeben (s. a. [35, 747, 750, 751, 758, 759, 762, 763]). Es wertet die vertikal gestellte Dehnung-ZeitFunktion in grafischer Analogie zum (in Japan geläufigen) „Regenwasserfluß von Pagodendach zu Pagodendach“ aus. Dadurch werden die im zyklischen Spannungs-Dehnungs-Diagramm durchlaufenen Hystereseschleifen erfaßt, Abb. 5.18. Die Zählweise wird nach Maddox [65] anhand von Abb. 5.19 näher erläutert: „Regenwasserflüsse“ beginnen an jeder positiven oder negativen Spitze der Beanspruchung-Zeit-Funktion (der Kurvenbeginn im Diagrammursprung ist einer negativen Spitze gleichzusetzen). Sie bewegen sich schräg abfallend in negativer bzw. positiver Richtung, bis die entgegengerichtete Spitze erreicht wird, um von hier senkrecht auf das darunterliegende „Dach“ zu fallen und dann weiterzufließen. Der Regenwasserfluß endet, sobald eine der folgenden Bedingungen eintritt:

272

5 Betriebsfestigkeit

Abb. 5.18: Zweiparametriges Klassierverfahren Rainflow-Zählung, Beziehung zwischen Dehnung-Zeit-Funktion, zyklischem Werkstoffverhalten und gezählten Hystereseschleifen; nach Steinhilber u. Schütz [775]

– Regenwasserfluß entlang des Dachs (nach rechts oder links gerichtet) trifft auf Regenwasserfall von einem höheren Dach (z. B. E – G endet in F oder C – E endet in D). – Regenwasserfall erfolgt horizontal gegenüber einer Spitze, die weiter links (bei nach rechts gerichtetem Fluß) oder weiter rechts (bei nach links gerichtetem Fluß) liegt als die Ausgangsspitze des betrachteten Flusses (z. B. 0 – A – F – G endet gegenüber H oder A – B – D – E endet gegenüber G). – Regenwasserfall trifft auf kein weiteres Dach (Pfeile unterhalb von L, V und T). Jeder Regenwasserfluß vom Anfangs- bis zum Endpunkt wird als Halbzyklus gewertet. Halbzyklen gleicher Größe, aber entgegengesetzter Richtung ergeben einen vollen Zyklus. Jeder volle Zyklus entspricht einer geschlossenen Hystereseschleife. Die in Pfeilspitzen endenden Regenwasserflüsse am unteren Diagrammrand entsprechen offengebliebenen Halbschleifen. Alternativ zur Rainflow-Zählung kann die weniger bekannte „Reservoir-Zählung“ angewendet werden [65].

5.2 Lastkollektiv

273

Abb. 5.19: Rainflow-Zählung, Regenwasserflüsse zwischen Ausgangs- und Endpunkt; nach Maddox [65]

Abb. 5.20: Veranschaulichung der sequentiellen Rainflow-Zyklenzählung bei gestufter Schwingbreite (a–c), mit Residuum (d); nach Schijve [53]

274

5 Betriebsfestigkeit

Die Vorgehensweise der Rainflow-Zählung wird in Abb. 5.20 weniger bildhaft, jedoch physikalisch relevanter veranschaulicht. Die Zählung erfolgt nacheinander für Schwingbreiten ansteigender Größe: fünf kleinere Zyklen (a), drei mittlere Zyklen (b), zwei größere Zyklen (c) und das Residuum (d). Die zwischen Ausgangs- und Zielklasse geschlossenen Schleifen werden in der Übergangsmatrix dokumentiert. Aus ihr lassen sich die herkömmlichen Kollektive der Klassengrenzenüberschreitungen oder auch der Bereichspaare gewinnen, Abb. 5.21. Der umgekehrte Weg bleibt versperrt. Die nicht geschlossenen Schleifen bilden das Residuum. Das Residuum verschwindet, wenn die Zählung beim betragsmäßig größten Dehnungswert beginnt und endet. Bei nicht verschwindendem Residuum werden die offenen Schleifen zum Zwecke der Weiterverarbeitung künstlich geschlossen und der Übergangsmatrix zugeschlagen. Aus der Übergangsmatrix läßt sich die der Ingenieursanschauung geläufigere Amplituden-Mittelwert-Matrix der Hystereseschleifen gewinnen, die in einer Schadensakkumulationsrechnung nach der Miner-Regel weiterverarbeitet werden kann. Dabei wird so vorgegangen, daß zunächst unter Verwendung des Haigh-Diagramms der Einfluß der Mittelspannung auf die jeweils ertragbare Spannungsamplitude kompensiert wird (Amplitudentransformation auf R ˆ 1). Die transformierten Spannungsamplituden werden der Wöhler-Linie (für R ˆ 1) gegenübergestellt, um die Teilschädigungen gemäß Miner-Regel zu bestimmen. Aus den Teilschädigungen folgt durch Aufsummieren die Gesamtschädigung. Derartige Rainflow-Matrizen zeigt Abb. 5.22. Ebenso können über einen Schädigungsparameter, der auf geschlossenen Hystereseschleifen beruht

Abb. 5.21: Rainflow-Übergangsmatrix (a) und zugehörige Überschreitungs- und Bereichspaarkollektive (b); nach Krüger u. Petersen [758]

5.2 Lastkollektiv

275

Abb. 5.22: Rainflow-Matrizen von Dehnungsschwingbreite und Mitteldehnung mit Schwingspielanteilen und Schädigungsbeiträgen; nach Haibach [35]

(z. B. PSWT nach (5.21), PHL nach (5.23), Zd nach (7.79) oder PJ nach (7.80)), die Teilschädigungen berechnet werden. Die Matrizen aufeinanderfolgender Beanspruchungsabläufe lassen sich addieren. Die Extrapolation der Matrix aus relativ kurzzeitiger Messung auf längere Einsatzzeiten über statistisch und physikalisch begründete Schätzroutinen [758] kann nicht allgemein empfohlen werden. Zuverlässiger sind Verfahren, die von der unklassierten Beanspruchung-Zeit-Funktion in ursächlich begründeten Beanspruchungsabschnitten ausgehen. Überlegenheit der Rainflow-Zählung Die Rainflow-Zählung läßt sich durch Hystereseschleifen im Spannungs-Dehnungs-Diagramm physikalisch zutreffend interpretieren. Sie bewahrt dadurch etwas von der Information über die Beanspruchung-Zeit-Funktion im Hinblick auf die Ermüdungsfestigkeit, was als Vorteil zu werten ist. Es wird dies in Abb. 5.23 am Beispiel einer kleinen Schwingbreite im mittleren Teil einer großen Schwingbreite im Vergleich zur Bereichspaarzählung veranschaulicht. Nur die Rainflow-Zählung weist die volle Schwingbreite aus, die den Hauptteil der Schädigung verursacht. Die Überlegenheit der Rainflow-Zählung gegenüber den herkömmlichen Zählverfahren hinsichtlich der Rücktransformation in einen Schwingversuch wird an einem im Sinne der herkömmlichen Zählverfahren „bösartigen“ Bean-

276

5 Betriebsfestigkeit

Abb. 5.23: Ergebnis von Rainflow-Zählung (a) und Bereichspaarzählung (b) für große Schwingbreite mit Unterbrechung durch kleine Schwingbreite im mittleren Bereich; nach Schijve [53]

Abb. 5.24: Klassierungen eines „bösartigen“ Beanspruchungsablaufs (a) zu Kollektiven (b) sowie Ersatzprozesse unterschiedlicher „Härte“ (c, d, e); Amplituden ra1 und ra2 sowie Frequenzen f1 und f2; Spitzenwertklassierung (Sp), einparametrige Rainflow-Klassierung (Rf mit Fortsetzung in Am) und Amplitudenklassierung (Am); dementsprechende Ersatzprozesse unterschiedlicher Härte; nach Kommentar zur FKM-Richtlinie [1749]

spruchungsablauf demonstriert, Abb. 5.24. Einer Grundschwingung mit großer Amplitude ra1 und niedriger Frequenz f1 ist eine Oberschwingung mit kleiner Amplitude ra2 und hoher Frequenz f2 überlagert, f1/f2 ˆ 1/100, Abb. 5.24 (a). Reihenfolgeeffekte seien vernachlässigbar.

5.2 Lastkollektiv

277

Das Klassierergebnis nach 100 Grundschwingungen, gewonnen nach drei unterschiedlichen Klassierverfahren, zeigt Abb. 5.24 (b). Das niedrige und lange Rechteckkollektiv der Amplitudenzählung ohne Beachtung des Mittelwerts (entspricht range pair counting) verläuft in Höhe ra2 und endet bei N ˆ 104 . Die Summenhäufigkeitskurve der Spitzenwertzählung beginnt in Höhe (ra1 ‡ ra2 ) und endet bei N ˆ 0;5  104 (Faktor 0,5, weil nur die Hälfte der Spannungsspitzen oberhalb der Nullinie auftreten). Schließlich ist das Ergebnis einer RainflowZählung durch das hohe und kurze Rechteckkollektiv der Grundschwingung mit Höhe (ra1 ‡ ra2 ), senkrecht abfallend bei N1 ˆ 102 und sich fortsetzend in das Rechteckkollektiv der Amplitudenzählung erfaßt. Eine solche grafische Darstellung des Rainflow-Zählergebnisses ist möglich, wenn die zugehörigen Mittelspannungen unbeachtet bleiben (einparametrige Darstellung). Die Rücktransformation der drei Klassierergebnisse in die Ersatzprozesse eines Betriebsfestigkeitsversuchs oder einer entsprechenden rechnerischen Analyse ist mit Abb. 5.24 (c, d) veranschaulicht. Die Spitzenwertzählung ergibt einen zu „harten“ Ersatzprozeß, die Amplitudenzählung einen zu „weichen“ Ersatzprozeß. Die Rainflow-Zählung begründet einen „mittleren“ Prozeß, der brauchbare Anhaltswerte der Lebensdauer erwarten läßt. Der Zweck der Rainflow-Zählung hinsichtlich der Schädigungsrechnung ist die Feststellung der Schädigungsereignisse bei Schwingbeanspruchung mit variablen Amplituden. Registriert werden geschlossene Spannungs-DehnungsZyklen. Die Schädigung eines jeden Zyklus wird ausgehend von der WöhlerLinie quantifiziert, wobei der Einfluß der Mittelspannung berücksichtigt wird. Schädigung, aufgefaßt als Ermüdungsrißfortschritt, hängt dabei von der effektiven Spannungs- oder Dehnungsschwingbreite ab, während der der Riß geöffnet bleibt. Die Spannung oder Dehnung bei Rißöffnung wiederum hängt von der Beanspruchungsvorgeschichte ab, die nach einer gewöhnlichen Rainflow-Zählung nicht rekonstruierbar ist. Letztere bringt daher noch keine durchgreifende Verbesserung der Treffsicherheit der Lebensdauervorhersage. Die Verbesserung der Lebensdauervorhersage ist jedoch möglich, wenn die Information über die Aufeinanderfolge der Spannungs-Dehnungs-Zyklen anläßlich der Rainflow-Zählung mitgeführt wird, was über die Markov-Matrix der Umkehrpunkte geschehen kann. Eine Schwäche des Verfahrens bleibt dennoch, da nur geschlossene Zyklen gezählt werden, während auch nichtgeschlossene Zyklen einen Einfluß auf nachfolgende Unterzyklen nehmen. Die Schwäche ist behebbar, indem bereits Halbzyklen als Schädigungsereignisse erfaßt werden (Anthes [742]). Ausgehend vom Ergebnis einer derart modifizierten RainflowZählung sind die Beanspruchungen im Kerbgrund und das Kurzrißverhalten wirklichkeitsnah modellierbar. Frequenzgehalt der Last-Zeit-Funktion Beim Ersatz der Last-Zeit-Funktion durch das Lastkollektiv wird nur der Amplitudengehalt, ggf. mit den zugehörigen Mittellasten, bewahrt. Die Informationen über den zeitlichen Ablauf gehen verloren: Reihenfolge der Lastamplitu-

278

5 Betriebsfestigkeit

den, Schnelligkeit der Lastanstiege, Frequenzgehalt der Last-Zeit-Funktion. Diese Informationen werden aber bei genaueren Lebensdauervorhersagen benötigt. Zur vereinfachten Kennzeichnung des relativen Frequenzgehalts bzw. der relativen Mittellastschwankungen stochastischer Last-Zeit-Funktionen dient der Regelmäßigkeitsfaktor i0 (Bezeichnung nach [19], im Gebrauch auch „Unregelmäßigkeitsfaktor“ [818], in [53] allerdings für 1=i0 ), das Verhältnis von Mittellastüberschreitungszahl N0 zur Lastspitzenzahl NSp (Lastmaxima oder Lastminima): i0 ˆ

N0 NSp

…5:3†

Die schmalbandige Erregung des Bauteils in Nähe einer isolierten Eigenfrequenz, die vielfach für Versuchsbelastungen typisch ist, ist durch Werte i0  1;0 gekennzeichnet. Andererseits tritt im praktischen Einsatzfall von Bauteilen vielfach breitbandige Erregung unter Mitwirkung mehrerer Eigenfrequen-

Abb. 5.25: Schmalbandige (a) und breitbandige (b) Schwingungserregung; nach Hesselmann [819]

Abb. 5.26: Regelmäßigkeitsfaktor i0, beispielhaft für schmalbandige (a) und breitbandige (b) Schwingungserregung

5.2 Lastkollektiv

279

zen auf, was zu Werten i0  1;0 führt. Sofern Eigenschwingungen keine Rolle spielen, können stark unterschiedliche Regelmäßigkeitsfaktoren sogar innerhalb derselben Baugruppe auftreten. So kann dem Achsschenkel mit i0  1;0 eine Nabe mit i0  1;0 zugeordnet sein. Schmalbandige und breitbandige Erregung sind in Abb. 5.25 einander gegenübergestellt. Eine konkrete Zählung ist in Abb. 5.26 veranschaulicht. Bei schmalbandiger Erregung liegt zwischen Lastmaximum und Lastminimum in den meisten Fällen ein Mittellastdurchgang. Bei breitbandiger Erregung tritt der Mittellastdurchgang nur gelegentlich auf. Frequenz- und Leistungsspektrum der Beanspruchung Für die vollständige Erfassung der Amplituden- und Frequenzinformation bietet die Theorie der Zufallsprozesse die formalen Elemente [813, 814, 817, 819, 822–825]. Diese Darstellung ist insbesondere dann zu bevorzugen, wenn nicht nur eine direkte Betriebsfestigkeitsbewertung ansteht, sondern mit den erfaßten Größen (Amplituden und Frequenzen) schwingungsfähige Systeme erregt werden. Beispielsweise genügt es nicht, das Unebenheitskollektiv der Fahrbahn zu kennen, um aus ihm und dem Schwingungsersatzsystem des Fahrzeugs das

Abb. 5.27: Leistungsspektrum der Unebenheitshöhen unterschiedlicher Fahrbahnen, Mittelwerte in logarithmisch linearisierter Darstellung; nach Wendeborn [827]

280

5 Betriebsfestigkeit

Radlastkollektiv zu bestimmen. Es wird die vollständige Unebenheitsfunktion über der Zeit benötigt, die sich aus dem Unebenheitsprofil der Fahrbahn und der Fahrgeschwindigkeit unter Berücksichtigung des Radabrollens ergibt [820]. Als Alternative zur vorstehenden Darstellung der Beanspruchungen über der Zeit bietet sich deren Auftragung über der Frequenz an (Frequenzspektrum). Das Frequenzspektrum kennzeichnet die Beanspruchung-Zeit-Funktion vollständig. Die Sinusschwingung wird durch eine einzige Linie im Spektrum dargestellt. Periodische Vorgänge werden der Fourier-Analyse entsprechend als Linienspektrum erfaßt, dessen einzelne Linien ganzzahlige Vielfache der Grundfrequenz repräsentieren (harmonisches Linienspektrum). Nichtperiodische Vorgänge ergeben dem Fourier-Integral entsprechend ein kontinuierliches Spektrum. Weist dieses Spektrum nur einzelne schmale Spitzen auf (nichtharmonisch verteilt), so entspricht das einem quasiperiodischen Vorgang. Stochastische Vorgänge lassen sich ebenfalls über der Frequenz statt über der Zeit darstellen, wobei sich gleichfalls kontinuierliche Spektren ergeben. Als Ordinate werden jedoch nicht frequenzzugehörige Amplituden aufgetragen, sondern eine zeitlich gemittelte Leistungsdichte (z. B. der quadratische Zeitmittelwert) in einem engen Frequenzintervall zentrisch zur jeweiligen Frequenz (Leistungsspektrum). Die Leistungsdichte ergibt sich über eine Fourier-Transformation des Vorgangs. Das Leistungsspektrum stationärer Vorgänge ist zeitlich konstant, das instationärer Vorgänge zeitlich veränderlich. Als Beispiel ist in Abb. 5.27 das auf Wegfrequenzen bezogene Leistungsspektrum der Fahrbahnunebenheiten, d. h. die spektrale Unebenheitsdichte, für unterschiedliche Fahrbahnen (Flugzeuglandebahn bis Panzererprobungsgelände) dargestellt, so wie es für Fahrzeugentwurf und Fahrzeugerprobung Anwendung finden kann (siehe auch [815, 820, 826]). Die Größe der Unebenheitsdichte nimmt im Mittel der vermessenen Bahnen mit wachsender Wegfrequenz X

Abb. 5.28: Leistungsspektrum der an der Hinterachse eines Pkw gemessenen Spannung-ZeitFunktion; nach Buxbaum [816]

5.3 Betriebsfestigkeitsversuch und Lebensdauerlinie

281

bzw. kleiner werdender Wellenlänge L der Unebenheiten ab, d. h. lange Wellenlängen treten mit großer, kurze mit kleiner Spektraldichte auf. Das auf Zeitfrequenzen bezogene Leistungsspektrum der an einer Pkw-Hinterachse gemessenen Spannungen ist in Abb. 5.28 gezeigt. Aufbau- und Achseigenfrequenz prägen sich als Höchstwerte aus. Die Frequenz- und Leistungsspektren haben für die rechnerische Darstellung schwingungsfähiger Systeme große Bedeutung (Buxbaum [19, 816]). Es lassen sich auf diesem Wege auch Last- bzw. Beanspruchungskollektive für die Baugruppen dieser Systeme gewinnen. Auch der Unregelmäßigkeitsfaktor der Kollektive kann berechnet werden (Haibach u. Wendt [818]). Der anschließende Teil der Betriebsfestigkeits- und Lebensdauervorhersage wird aber durch die Zusatzinformation zu den Frequenzen im allgemeinen nicht verbessert (Ausnahme: Korrosions- und Hochtemperaturermüdung).

5.3

Betriebsfestigkeitsversuch und Lebensdauerlinie

Beanspruchungskollektiv Um Aussagen über Betriebsfestigkeit und Lebensdauer unter veränderlichen Beanspruchungsamplituden zu gewinnen, müssen die den Lastkollektiven zugeordneten Beanspruchungskollektive bekannt sein. Nur die Nennspannungskollektive können den Lastkollektiven näherungsweise proportional gesetzt werden. Für Betriebsfestigkeit und Lebensdauer von Bauteilen sind jedoch die örtlichen Beanspruchungen ausschlaggebend. Die Last-Zeit-Funktion erzeugt im Bauteil eine meist von Ort zu Ort unterschiedliche Beanspruchung-Zeit-Funktion. Bei kompakten Bauteilen hoher Steifigkeit ist bei nicht zu hoher Belastung das elastische Beanspruchungsfeld maßgebend, dessen Ortsabhängigkeit von der statischen Belastung her bekannt ist. Die örtlichen Beanspruchungen sind der äußeren Last proportional. Bei zusammengesetzter Belastung, also mehreren gleichzeitig wirkenden Lasten, kommt es auch örtlich zu einer zusammengesetzten Beanspruchung. Diese ist mehrachsig, an der Oberfläche zweiachsig. Bei phasenverschoben wirkenden äußeren Lasten und bei Kombinationen voneinander unabhängiger Lastabläufe (beschrieben durch Mittellast und Lastamplitude) ergeben sich nichtproportional zusammengesetzte Beanspruchungsabläufe mit veränderlicher Hauptbeanspruchungsrichtung (s. Kap. 4.14). An Stellen besonders hoher Beanspruchung wird bei zunehmender Lasthöhe die Fließgrenze örtlich überschritten, wodurch eine weitere Nichtlinearität in der Beziehung zwischen äußerer Last und örtlicher Beanspruchung entsteht. Der Zusammenhang zwischen Last und Beanspruchung kompliziert sich bei Bauteilen geringerer Steifigkeit zusätzlich dadurch, daß Trägheitskräfte den Beanspruchungszustand mitbestimmen. Dies trifft insbesondere auf die Erregung in Höhe der Eigenfrequenzen der Struktur zu. Hier bilden sich die Eigenformen der Bauteilschwingung mit den bekannten Bäuchen und Knoten der Ver-

282

5 Betriebsfestigkeit

formung (und damit der Beanspruchung) aus. Je nach Amplituden- und Frequenzgehalt der Last-Zeit-Funktionen entstehen unterschiedliche „erzwungene“ Schwingungs- und Beanspruchungszustände. Der Zusammenhang zwischen Belastung und Beanspruchung läßt sich in einfachen (linearelastischen) Fällen durch Übertragungsfunktionen darstellen. Die Zuordnung kann bereits in diesem Stadium nichtproportional sein. Die bereits erwähnten weiteren nichtlinearen Effekte schließen sich an. Der Zusammenhang zwischen Last-Zeit-Funktion und Beanspruchung-ZeitFunktion und damit auch zwischen Lastkollektiv und Beanspruchungskollektiv kann demnach sehr komplex sein. Nur in Sonderfällen, etwa bei wohldurchdachten Meßaufbauten zur Bestimmung von Lastkollektiven aus örtlich gemessenen Beanspruchungen, ist ein annähernd proportionaler Zusammenhang sichergestellt. Analog zum Lastkollektiv wird das Spannungskollektiv (oder sinngemäß das Dehnungskollektiv) durch folgende Größen gekennzeichnet: Kollektivhöchstwert  Mittelspannung r a , Kollektivumfang N, m und Kollektivform rai ˆ f …log Ni †. r Vereinheitlichungen und Standardisierungen sind sinngemäß möglich. a bei vorgegebenem N oder umDie Frage nach dem ertragbaren Wert von r a eingekehrt die Frage nach dem ertragbaren Wert von N bei vorgegebenem r schließlich des Einflusses von Kollektivform und Mittelspannung wird im Betriebsfestigkeitsversuch beantwortet, dem Schwingfestigkeitsversuch mit veränderlichen Last- bzw. Beanspruchungsamplituden (im Unterschied zum WöhlerVersuch mit konstanten Amplituden). Blockprogrammversuch Der Blockprogrammversuch nach Gaßner [829, 830] und Teichmann [844, 845] ist der historisch erste Schwingfestigkeitsversuch mit stufenweise veränderlichen Lastamplituden (daher auch „Mehrstufenschwingfestigkeitsversuch“ oder genauer „Achtstufenschwingfestigkeitsversuch“ genannt). Er entstand unter den seinerzeit (um 1940) gegebenen technischen Möglichkeiten, Schwingprüfmaschinen damaliger Bauart (Resonanzpulser bzw. Exzenterprüfmaschinen) mit nur geringen apparativen Ergänzungen einzusetzen. Derartige Prüfmaschinen besitzen zwei Antriebssysteme, von denen das eine die hohen Lastamplituden im Langsamantrieb erzeugt, das andere die niedrigen Lastamplituden im Schnellantrieb. Die Veränderung der Amplituden ist nur stufenweise möglich. Auch heute noch ist der Blockprogrammversuch [828–845] eine kostengünstige Methode der Betriebsfestigkeitsprüfung, durchgeführt mit Resonanz- oder Hydraulikpulsern. Den moderneren Zugang zur Lösung von Betriebsfestigkeitsfragen ermöglichen die vielseitiger einsetzbaren servohydraulischen Prüfmaschinen. Das im Versuch nachzuvollziehende, stetig verlaufende Spannungskollektiv wird zunächst durch ein treppenartig gestuftes Kollektiv ersetzt, Abb. 5.29. Die dargestellte obere Kollektivhälfte ist nach unten symmetrisch oder unsymme-

5.3 Betriebsfestigkeitsversuch und Lebensdauerlinie

283

Abb. 5.29: Treppenkollektiv der Spannungsamplituden, abgeleitet aus einer Normalverteilung (gestrichelte Linie), Stufen j ˆ 1; 2;    ; 8; nach Gaßner [829, 831]

trisch zu ergänzen. Im so vervollständigten Treppenkollektiv werden die oberen Kollektivstufen mit den jeweils gegenüberliegenden unteren Kollektivstufen durch Schwingbreiten Drj ˆ 2raj konstanter Größe mit zugehöriger Teilschwingspielzahl DNj verbunden (näherungsweise richtig nur zur Abbildung stochastischer Prozesse mit i0 ˆ 1;0). Die Spannungsschwingbreiten des Treppenkollektivs werden in periodisch wiederholten Teilfolgen der zu prüfenden Probe (bzw. dem Bauteil) aufgeprägt, Abb. 5.30. Jede Teilfolge besteht aus acht Blöcken unterschiedlicher Schwingbreite mit bestimmter, zu DNj proportionaler Zahl von Schwingspielen, die programmgesteuert ablaufen. Im vorliegenden Fall einer nachvollzogenen Normalverteilung (die der Gauß-Normalverteilung ähnliche Binomialverteilung) wird mit einem Block mittlerer Schwingbreite begonnen, es folgen die höheren Schwingbreiten bis zum Höchstwert und schließlich ein Abfall bis zum m ist geKleinstwert mit anschließendem Wiederanstieg. Die Mittelspannung r u = mäß R ˆ r ro gewählt und während des Versuchs konstant (und damit m 6ˆ 0). Es gibt auch die VerRj ˆ ruj =roj stufenweise veränderlich, sofern r suchsdurchführung mit konstantem Rj ˆ R bzw. konstantem ruj [35]. Der Teilfolgenumfang ist so zu wählen, daß mehrere Teilfolgen bis zum Bruch durchlaufen werden. Dies soll sicherstellen, daß eine wirklichkeitsnahe Durchmischung hoher und niedriger Schwingbreiten stattfindet. Die Blockoder Stufenfolge innerhalb der Teilfolgen hat erheblichen (mittelspannungsabhängigen) Einfluß auf die erreichbare Lebensdauer (Naumann et al. [840]). Der Versuchsbeginn auf mittlerer Stufe soll eine mögliche Anfangsschädigung durch die Höchstlast ausschließen. Der Teilfolgenumfang wird bei der Ermittlung von Lebensdauerlinien auf allen Spannungshorizonten gleich gewählt. In Wirklichkeit kann auf eine Spannungsspitze der oberen Kollektivkurve (aufgefaßt als Überschreitungszählung fester Klassengrenzen) eine beliebige

284

5 Betriebsfestigkeit

Abb. 5.30: Blockprogrammversuch, achtstufige Folge der Spannungsschwingbreiten; nach Gaßner [829, 831]

Spitze der unteren Kurve folgen (bei stochastischen Prozessen mit i0 < 1;0), so daß obige Vorgehensweise hinsichtlich der Schwingbreiten unzureichend begründet wäre. Tatsächlich läßt sich das Spannungskollektiv auch so interpretieren, daß es die Amplituden bzw. Schwingbreiten unabhängig vom jeweiligen Mittelwert wiedergibt (Bereichszählung). Die (vielfach vertretbare) Näherung besteht also darin, daß der Einfluß der Mittelspannung vernachlässigt wird. Zufallslastenversuch Im Zufallslastenversuch (oder Random-Versuch) [35, 846–858] werden anstelle von stufenweise konstanten Lastamplituden solche in regelloser Größe aufgebracht. Dazu dienen die historisch jüngeren servohydraulisch gesteuerten Schwingprüfmaschinen. Die Zufallsfolge der Lastamplituden kann digital nach dem Matrix-Verfahren (s. Kap. 5.2) oder analog mit einem Rauschgenerator erzeugt werden. Die spektrale Zusammensetzung der so erzeugten Beanspruchungsfolge hat Einfluß auf das Prüfergebnis. Es wird zwischen schmal- und breitbandigem Beanspruchungsablauf unterschieden. In der Prüfpraxis überwiegt der schmalbandige Zufallslastenversuch mit definiertem Regelmäßigkeitsfaktor i0 bzw. definierter Spektraldichteverteilung. Aus meß- und versuchstechnischen Gründen werden auch im Zufallslastenversuch Lastfolgen wiederholt. Das Gesamtlastkollektiv wirkt bei vorgegebener Höchstamplitude um so „härter“, je kleiner der wiederholte Teilfolgenumfang ist. Bei kleinerem Teilfolgenumfang tritt die Höchstamplitude insgesamt häufiger auf.

5.3 Betriebsfestigkeitsversuch und Lebensdauerlinie

285

Nachfahrversuch und standardisierte Lasteinzelfolgen Beim Nachfahrversuch [35, 859–861] wird die im realen Betrieb aufgenommene Last-Zeit-Funktion der servohydraulischen Prüfmaschine als Steuersignal übergeben. Um die Versuchszeit zu kürzen, werden dabei Beanspruchungspausen und kleine Amplituden, soweit vertretbar, weggelassen. Die Erprobung des Bauteils kann so in das Prüflabor verlegt werden. Beim Lasteinzelfolgenversuch [35, 862–872] werden immer wiederkehrende Lastfolgen am Bauteil als wiederholte Einzelfolgen in der servohydraulischen Prüfmaschine verwirklicht. Die Einzelfolgen werden dabei teils als deterministischer Ablauf, teils als Zufallsfolge rechnerisch generiert. Als Beispiel wird die standardisierte Fluglasteinzelfolge für Transport- und Militärflugzeuge genannt. Es kommt für eine zutreffende Lebensdauerermittlung entscheidend darauf an, daß nach jedem Einzelflug ein Landeschwingspiel ausgeführt wird. Diese wirklichkeitsnahe Berücksichtigung der Belastungsreihenfolge ist besonders dann notwendig, wenn sich dabei die Mittellast stark ändert. Letzteres ist bei Flugzeugen an der Flügelunterseite der Fall (s. Abb. 5.59). Am Boden wird die Flügelunterseite auf Druck beansprucht (Flügelbiegung nach unten unter dem Eigengewicht), im Flug dagegen auf Zug (Flügelbiegung nach oben unter den Auftriebskräften). Die Beanspruchungen im Flug und am Boden bilden je ein Kollektiv zusätzlich zum Start-LandeKollektiv (s. Abb. 5.12). Das Bodenkollektiv um eine Druckmittelspannung ist so schmal, daß es auf ein einziges Landeschwingspiel je Einzelfolge reduziert wird. Das Flugkollektiv (Manöver- und Böenbelastung) um eine Zugmittelspannung ist dagegen ausladend. Es hängt nach Umfang und Form von den Flugbedingungen, also von der Länge und Härte des Einsatzes ab. Ähnliche standardisierte Lasteinzelfolgen sind für Hubschrauber- und Windkraftrotoren, Flugturbinenscheiben, Offshore-Bauwerke, Walzwerksantriebe sowie für die Radlagerung und Antriebswelle von Automobilen bekannt (Heuler u. Schütz [862]).

Kürzen der Versuchsdauer Eigentlich müßte im Betriebsfestigkeitsversuch die Gesamtlebensdauer eines Bauteils nachvollzogen werden, um ganz im Einklang mit der Wirklichkeit zu bleiben. Eine derart lange Versuchsdauer verbietet sich jedoch aus wirtschaftlichen Gründen. Für das Kürzen der Versuchsdauer ohne eine wesentliche Beeinträchtigung des Versuchsergebnisses gibt es die nachfolgend erläuterten Möglichkeiten: – Wegfall der Beanspruchungspausen, deren Einfluß auf die Betriebsfestigkeit vernachlässigbar ist. – Erhöhung der Beanspruchungsfrequenz, soweit diese nur geringen Einfluß auf die Betriebsfestigkeit hat.

286

5 Betriebsfestigkeit

Abb. 5.31: Beanspruchung-Zeit-Funktion (a), bandförmige Erweiterung mit gestricheltem Kurs des Rennfahrers (b) und kondensierter Ablauf ohne und mit Zeitverkürzung (c, d)

– Wegfall der Schwingspiele mit hinreichend kleiner Amplitude (omission), kleiner als etwa die Hälfte der Dauerfestigkeit, sofern erhöhte Temperatur, überlagerte Korrosion und relativ hohe Mittelspannungen ausgeschlossen oder anderweitig berücksichtigt werden können. – Vergrößerung der Beanspruchungsamplituden, soweit nicht die Kollektivhöchstwerte durch im Betrieb nicht auftretende plastische Verformungen das Schwingfestigkeitsverhalten verfälschen und einen vorzeitigen statischen Bruch oder Kurzzeitschwingbruch bzw. eine Verzögerung des Langzeitschwingbruchs hervorrufen. Als Gegenmaßnahme kann die Abflachung des Kollektivs (truncation) in Betracht gezogen werden. – Erhöhung der Völligkeit des Kollektivs, um einen mit dem Betriebslastablauf schädigungsgleichen, verkürzten Versuchsablauf zu erzielen. Dies erfolgt auf der Basis einer als gültig angesehenen Schadensakkumulationshypothese. Die genannten Modifikationen können nach unterschiedlichen Verfahren teils bei der Aufnahme der Beanspruchungen, teils bei deren Reproduktion verwirklicht werden. Die Betrachtung der örtlichen Beanspruchungen ist wichtig [903]. Moderne Abkürzverfahren modifizieren die Rainflow-Matrix in entsprechender Weise. Ein bekanntes älteres Verfahren zum Ausscheiden der kleinen und hochfrequenten Ausschläge ist die „Rennbahnmethode“ (race track method). Die Ausgangsfunktion wird durch vertikales Verschieben zu einem Band erweitert. Im Band stellt man sich einen Rennfahrer vor, der einen möglichst „glatten“ Kurs verfolgt. Nur noch die Umkehrpunkte des geglätteten Kurses werden weiter verwendet, Abb. 5.31. Das Verfahren führt jedoch dann zu falschen Aussagen, wenn hohe Mittelspannungen auftreten, deren überlagerte kleine Amplituden relativ hohe Schädigungen hervorrufen.

5.3 Betriebsfestigkeitsversuch und Lebensdauerlinie

287

Lebensdauerlinie Durch Auftragen der bis zum Versagen (Bruch, Anriß oder eine Verformung infolge des Anrisses) ertragenen Schwingspielzahlen N (Kollektivumfang) horia (Kollektivhöchstwert) ergibt sich zontal neben den Spannungsamplituden r die Lebensdauerlinie (auf Vorschlag von Haibach [34] auch Gaßner-Linie genannt), Abb. 5.32. Die Linie ist andererseits als Festigkeitslinie interpretierbar. A (ausgedrückt durch den KollektivSie gibt an, welche Schwingfestigkeit r höchstwert) bei vorgegebenem Kollektivumfang N (und vorgegebener Kollektivform) erwartet werden kann. Die Lebensdauerlinie wird ebenso wie die Wöhler-Linie durch Versuche auf unterschiedlichen Horizonten der Spannungsamplitude ermittelt. Auf allen Horizonten ist der mehrfach wiederholte Teilfolgenumfang des gewählten Kollektivs derselbe. Variiert werden dagegen der Kollektivhöchstwert und proportional dazu alle übrigen Amplituden des Kollektivs. Da die Versuchsergebnisse im Betriebsfestigkeitsversuch ähnlich wie im Wöhler-Versuch streuen (die Streuung ist im allgemeinen geringer), liegt zunächst ein Streuband von Versuchsergebnissen vor, zu dem sich einzelne Linien mit definierter Überlebenswahrscheinlichkeit Pu festlegen lassen, Abb. 5.33. Es ist heute üblich, bei den Versuchen zur Lebensdauerlinie das Spannungsu = verhältnis R ˆ r ro konstant zu halten. Das bedingt eine mit der Spannungsa ansteigende Mittelspannung r m . Grundsätzlich ist auch die Veramplitude r m möglich. suchsdurchführung bei gleichbleibender Mittelspannung r a kann der quadratische Mittelwert der Anstelle des Kollektivhöchstwerts r Spannungsamplituden zur Auftragung der Lebensdauerlinie verwendet werden.

Abb. 5.32: Statistisch ausgewertete Versuchsergebnisse des Wöhler-Versuchs und des Blockprogrammversuchs (Normalkollektiv); nach Ostermann [842]

288

5 Betriebsfestigkeit

Abb. 5.33: Zusammenhang zwischen Beanspruchungskollektiv und Lebensdauerlinie, Nei A ) gungskennzahl k ˆ D…log N†=D…log r

In Sonderfällen sind damit brauchbare Korrelationen zwischen den Lebensdauerwerten bei konstanter und veränderlicher Amplitude hergestellt worden. Diese Vorgehensweise ist keineswegs allgemein zu empfehlen (Sonsino [856]). Der Bezug zur statischen Festigkeit als oberem Grenzwert und zur Dauerfestigkeit als unterem Grenzwert der ertragbaren Beanspruchung ist nicht mehr augenfällig. Auch wird der starke Einfluß der Kollektivform auf die Lebensdauer verdeckt. Gleichung der Lebensdauerlinie Die Lebensdauerlinie ist eine abfallende Kurve, die im Bereich N ˆ 106 108 in doppeltlogarithmischer Auftragung als Gerade angenähert wird. Mindestens auf zwei Spannungshorizonten müssen die Lebensdauerwerte vorliegen, um die Lage und Neigung der Geraden zu bestimmen. Die Lebensdauerlinie liegt deutlich über bzw. rechts neben der Wöhler-Linie, wenn die Auftragung der Lebensdauer wie üblich zu den Kollektivhöchstwerten erfolgt. Der Unterschied ist dadurch bedingt, daß im Wöhler-Versuch alle Schwingspiele N mit der vollen Spannungsamplitude ra aufgebracht werden, während im Betriebsfestigkeitsa nur einmal pro Teilfolge auftritt und allen versuch die Spannungsamplitude r weiteren Schwingspielen in N eine niedrigere Spannung rai (gemäß Spannungskollektiv) zugeordnet ist. Der genaue Verlauf der Lebensdauerlinie, insbesondere bei sehr hohen  hängt von der Form des Spannungskollektivs und vom Schwingspielzahlen N, Verlauf der Wöhler-Linie ab. Nur bei Kollektiven mit horizontalem Kurvenauslauf bei Ni ˆ 1 kann auch die Lebensdauerlinie horizontal auslaufen (dann, wenn die Wöhler-Linie horizontal ausläuft und der Kollektivhöchstwert häufiger als die Grenzschwingspielzahl aufgetreten ist).

5.3 Betriebsfestigkeitsversuch und Lebensdauerlinie

289

Abb. 5.34: Normierte Auftragung der Lebensdauerlinien aus rechnerisch nachvollzogenen Blockprogrammversuchen mit Normalkollektiv für Kerbstäbe aus zwei Vergütungsstählen; Schadensakkumulationsrechnung nach Haibach [35]

Der als abfallende Gerade angenäherte Teil der Lebensdauerlinie läßt sich ausgehend von einem beliebigen bekannten Punkt … rA ; N† der Linie und ihrer  A † ˆ tan  (mit Winkel  gegenüber der SenkNeigung k ˆ D…log N†=D…log r rechten, gleiche Teilung beider Achsen vorausgesetzt) in Analogie zu (2.7) darstellen:  1=k N A ˆ r A  r N

…R ˆ konst:†

…5:4†

Die Neigungskennzahl k liegt für ungekerbte und gekerbte Proben aus Stahl im Bereich k ˆ 4–10 (nach Haibach [35]), wobei k  k zu erwarten ist, die Lebensdauerlinie also flacher als die Wöhler-Linie verläuft. Relativ kleine Änderungen der Spannungsamplitude bewirken ebenso wie bei der Wöhler-Linie relativ große Änderungen der bis zum Bruch bzw. Anriß ertragenen Schwingspielzahl. Lebensdauerlinien lassen sich durch Normierung beider Diagrammachsen vereinheitlichen, allerdings nicht in dem bei Wöhler-Linien möglichen Maß, sofern unterschiedliche Beanspruchung-Zeit-Funktionen betrachtet werden. Dabei ist nA auf rnAD sowie die Schwingspielzahl N auf die Nennspannungsamplitude r ND zu beziehen, Abb. 5.34. Dem dargestellten Streuband der Lebensdauerlinie liegt das Wöhler-Versuchsergebnis nach Abb. 4.55, umgerechnet nach der modifizierten Hypothese der Schadensakkumulation, zugrunde. Die Ergebnisse des Betriebsfestigkeitsversuchs fallen weitgehend in das Streuband. Einfluß von Mittelspannung und Kollektivform nm auf die ertragbare Der Einfluß unterschiedlicher (konstanter) Mittelspannung r nA wird in einem Betriebsfestigkeitsschaubild dargestellt, Spannungsamplitude r

290

5 Betriebsfestigkeit

Abb. 5.35: Dauer- und Zeitfestigkeitsschaubild (a) sowie Betriebsfestigkeitsschaubild (b), Darstellung des Mittelspannungseinflusses auf die (Einstufen-)Schwingfestigkeit und Betriebsfestigkeit; Nennspannungen in gekerbter Probe; nach Gaßner u. Schütz in [35]

das dem Dauer- und Zeitfestigkeitsschaubild beim Wöhler-Versuch entspricht, Abb. 5.35. Die Mittelspannungsempfindlichkeit M in den beiden Versuchsarten ist offensichtlich stark unterschiedlich. Der Unterschied kann aus dem Kerbund Rißeigenspannungsaufbau durch die seltenen hohen Lastamplituden im Betriebsfestigkeitsversuch und aus der überwiegenden Schädigung durch die häufigeren mittleren Lastamplituden in diesem Versuch erklärt werden [35]. Die Kollektivform hat überaus großen Einfluß auf die Lebensdauer, wie aus den Lebensdauerlinien bei unterschiedlicher Kollektivform für einen Kerbstab aus Aluminiumlegierung hervorgeht, Abb. 5.36 (Faktor 104 zwischen den Lebensdauerwerten bei Einstufenbelastung und bei Belastung gemäß logarithmischer Normalverteilung). Ähnliche Verhältnisse ergeben sich aus einer Schadensakkumulationsrechnung für Kollektivformen nach (5.2), die einfachheitshalber nach der elementaren Miner-Regel durchgeführt wurde, Abb. 5.37. Reihenfolgeeinfluß und Interaktionseffekt Reihenfolgeeinfluß und Interaktionseffekt der Schwingspiele auf die Lebensdauer liegen vor, wenn die im aktuellen Beanspruchungszyklus auftretende Schädigung vom bis dahin erreichten Schädigungszustand abhängt [889]. Es handelt sich um austauschbare Begriffe. Bei der Reduktion der Last-Zeit-Funktion auf das Lastkollektiv geht neben der Frequenzinformation auch die Information über die Reihenfolge der Lastamplituden verloren. Während die Beanspruchungsfrequenz die Schwingfestigkeit nur wenig beeinflußt, sofern Korrosion, erhöhte Temperatur und elastisch-

5.3 Betriebsfestigkeitsversuch und Lebensdauerlinie

291

Abb. 5.36: Lebensdauerlinien für unterschiedliche Kollektivformen (Einstufenverteilung mit p ˆ 1;0, Gauß-Normalverteilung mit p ˆ 0 und logarithmische Normalverteilung), Aluminiumlegierung, gekerbte Proben; nach Ostermann [841]

Abb. 5.37: Berechnungsbeispiel zum Einfluß der Kollektivform (a) auf die Lebensdauer (b), mit Neigungskennzahl k ˆ 5 der Wöhler-Linie; nach H. Zenner, Einführung zum DVMBericht 119, Bauteillebensdauer – Rechnung und Versuch, Arbeitskreis Betriebsfestigkeit, DVM, Berlin 1993

plastische Verformung ausgeschlossen werden, kann die Reihenfolge kleiner und großer Beanspruchungsamplituden die Betriebsfestigkeit bzw. Lebensdauer stark beeinflussen. Sofern die höchsten Beanspruchungen am Anfang des Versuchs aufgebracht werden, mag das schon nach wenigen Schwingspielen zum Versagen führen, während durch Anordnung am Ende die Lebensdauer nahezu beliebig verlängert werden kann. Andererseits wirkt sich der plötzliche Übergang von hoher auf niedrigere Beanspruchungsamplitude vielfach verlängernd auf die Lebens-

292

5 Betriebsfestigkeit

dauer aus, während der plötzliche Übergang von niedriger auf höhere Beanspruchungsamplitude die entgegengesetzte Wirkung hat. Ebenso können einzelne hohe Beanspruchungen, in eine Einstufenbeanspruchung eingestreut, die Lebensdauer gegenüber der Einstufenbeanspruchung ohne Einstreuung erhöhen. Das ist dann der Fall, wenn durch die Überlastung an Kerben und eingeleiteten Rissen ein günstiger Eigenspannungs-, Rißschließ- und Verfestigungszustand erzeugt wird, der die weitere Schädigung bzw. den Rißfortschritt bei kleineren Beanspruchungsamplituden zunächst stark reduziert. Ebenso können Beanspruchungsamplituden knapp unterhalb der Dauerfestigkeit (understressing) die Schwingfestigkeit im Dauerfestigkeitsbereich bei stufenweiser Erhöhung der Beanspruchungsamplitude bis weit über die Dauerfestigkeit steigern (Hochtrainieren, coaxing), wie für Stähle und Aluminiumlegierungen mehrfach nachgewiesen wurde [882, 908, 946, 950, 955]. Die Unterschiede der Lebensdauer in Blockprogramm- und Zufallslastenversuchen sind auf den Reihenfolgeeinfluß bzw. auf Interaktionseffekte zurückzuführen, ebenso ein Teil der Abweichungen von der Miner-Regel. Die Reihenfolge niedriger und hoher Beanspruchungsamplituden im Versuch sollte der Beanspruchung-Zeit-Funktion in der Wirklichkeit möglichst weitgehend entsprechen. Die Teilfolgen sollten mehrfach wiederholt werden, um eine ausreichende Durchmischung der Amplituden zu erzielen. Seltene hohe Beanspruchungsamplituden können die Lebensdauer gekerbter oder angerissener Proben oder Bauteile erheblich erhöhen. Da aber mit diesen seltenen Ereignissen nicht in allen Einsatzfällen sicher gerechnet werden kann, werden die entsprechenden Lastkollektive zur Erzielung eines konservativen Ergebnisses bei der Lebensdauerprüfung abgeschnitten (truncation), wobei schwer zu entscheiden ist, auf welchem Beanspruchungsniveau der Schnitt erfolgen soll. Seltene überhöhte Beanspruchungen durch Sonderereignisse wie Bedienungsfehler oder unvorhergesehene Vorkommnisse beeinflussen die Betriebsfestigkeit in besonders schwer überschaubarer Form. Eigenspannungen können stark verändert werden, Kaltverfestigung ebenso wie Rißbildung sind möglich. Auch dies ist eine Form des Interaktionseffekts. Reihenfolgeeinfluß bzw. Interaktionseffekt bedingen in besonders hohem Maße das Problem der Übertragbarkeit von Ergebnissen der Betriebsfestigkeitsprüfung im Labor (neuere Übersicht bei Gurney [893]) auf reale Bauteile unter Betriebsbedingungen. Zur Frage der Übertragbarkeit haben Haibach [35] sowie Bergmann u. Heuler [873] ausführlich Stellung genommen. Die relative Lebensdauerabschätzung wird dagegen von Kotte et al. [909] behandelt. Lebensdauervergleich für Blockprogramm- und Zufallslastenversuch Da der Blockprogrammversuch bis zum Aufkommen der servohydraulischen Prüfeinrichtungen (etwa 1970) die einzige Möglichkeit war, die Lebensdauer unter veränderlichen Lastamplituden, darunter auch die Zufallslastfolgen, zu bestimmen und da diese Versuchsart noch heute den geringeren Aufwand erfordert, wurden große Anstrengungen unternommen, die Größe der Abweichun-

5.4 Schädigung und Schadensakkumulation

293

gen zwischen den Ergebnissen von Blockprogramm- und Zufallslastenversuchen auf statistisch abgesicherter Grundlage zu klären. Die Abweichungen können trotz der wohlüberlegten Vorgehensweise im Blockprogrammversuch erheblich sein. Sie sind im Reihenfolgeeinfluß begründet. Aus einer älteren Schrifttumsauswertung von Fischer et al. [753] (fortgeführt von Schütz [944] und bestätigt von Jacoby [852]) geht hervor, daß die Lebensdauer in den Blockprogrammversuchen (mit acht Stufen) in der überwiegenden Zahl der Fälle höher liegt als in den entsprechenden Zufallslastenversuchen (Faktoren 0,2–6,0, mittlerer Faktor 1,74). Zu einem tendenzmäßig gleichartigen Ergebnis kommt die neuere Auswertung von Gaßner u. Kreutz [836] nach dem „U0 -Verfahren“ [890] (mittlerer Faktor 3,4 bei N ˆ 106 im Zufallslastenversuch). Der Faktor hängt von Werkstoff, Geometrie, Belastungsart, Kollektivform und Beanspruchungshöhe (ausgedrückt durch den Kollektivhöchstwert) ab. Die Lebensdauerlinien im Blockprogrammversuch verlaufen höher und flacher geneigt als die entsprechenden Linien im Zufallslastenversuch. Die Linien nähern sich einander in Richtung Kurzzeitfestigkeit. Die Ergebnisse im Blockprogrammversuch nähern sich insgesamt den Ergebnissen im Zufallslastenversuch, wenn die Blocklänge drastisch verkürzt wird. Für die Verkürzung der Lebensdauer im Zufallslastenversuch gegenüber dem Blockprogrammversuch (und auch für die Verkürzung der Lebensdauer mit der Verkürzung der Blocklänge) kann eine metallphysikalische Erklärung gegeben werden. Kurzrisse werden durch mikrostrukturelle Hindernisse (z. B. Korngrenzen) aufgehalten. Die mikrostrukturellen Hindernisse werden schneller überwunden, wenn sich die Spannungsamplitude oder Mittelspannung häufiger ändert. Die Lebensdauer kann in vielen Fällen überwiegend aus dem Kurzrißfortschritt erklärt werden. Datensammlung zur Betriebsfestigkeit Die verfügbaren Versuchsergebnisse zur Betriebsfestigkeit von Stählen (Baustähle, Feinkornbaustähle, Einsatz- und Vergütungsstähle, hochlegierte Stähle), Eisengußwerkstoffe (Gußeisen mit Kugelgraphit und Temperguß), Aluminiumknet- und Aluminiumgußlegierungen sowie Titanlegierungen liegen als Datensammlung vor [885]. Es sind gekerbte und ungekerbte, geschweißte und ungeschweißte Proben und Bauteile erfaßt.

5.4

Schädigung und Schadensakkumulation

Hypothese der linearen Schadensakkumulation (Miner-Regel) Die versuchstechnische Ermittlung von Lebensdauerlinien ist relativ aufwendig, weil die Schwingspielzahlen gegenüber der Wöhler-Linie erhöht sind und weil für komplexere Beanspruchungsfolgen servohydraulische Prüfmaschinen einge-

294

5 Betriebsfestigkeit

setzt werden müssen. Es besteht daher das Bedürfnis, derartige Versuche durch eine Abschätzung der Lebensdauerlinie aufgrund der vorliegenden Information über Lastkollektiv und Wöhler-Linie zu ersetzen. Die Abschätzung wird über Schädigungshypothesen angestrebt, von denen es eine größere Zahl gibt [886]. Nach der zugehörigen Schadensakkumulationshypothese wird jedem Schwingspiel eine Teilschädigung zugeordnet, deren zur Gesamtschädigung aufsummierter Betrag bei Erreichen eines bestimmten Wertes auf ein mögliches Versagen hinweist. Je nach Zusammenhang zwischen Schädigung und Schwingspielzahlverhältnis wird zwischen Hypothesen der linearen und nichtlinearen Schadensakkumulation unterschieden. Nur die Hypothese der linearen Akkumulation nach Palmgren [932], Langer [915], Müller-Stock [928] und Miner [927] hat in unterschiedlicher Form große praktische Bedeutung erlangt, obwohl sie zu ungenauen und unsicheren (um nicht zu sagen falschen) Ergebnissen führen kann und in der originalen Form auf Fälle mit wenig veränderlicher Mittelspannung sowie mit Beanspruchungsamplituden oberhalb der Dauerfestigkeit beschränkt werden muß. Die Hypothese besagt, daß die Gesamtlebensdauer durch lineares Aufaddieren der durch die Beanspruchungszyklen relativ zur Wöhler-Linie „verbrauchten“ Lebensdaueranteile bestimmt werden kann, wobei Versagen bei einer Schädigungssumme eintritt, die der WöhlerLinie entspricht. Unberücksichtigt bleiben die Reihenfolge- und Interaktionseffekte. Die Schädigung (mit Formelzeichen D von damage) wird demnach bei Ermüdungsvorgängen ausgehend vom Schwingspielzahlverhältnis definiert. Die mit Spannungsamplitude ra aufgebrachten Schwingspiele DN werden auf die Bruchschwingspielzahl NB bei dieser Amplitude bezogen und ergeben so die Teilschädigung DD ˆ

DN NB

…5:5†

Die Teilschädigung des Einzelschwingspiels folgt mit DN ˆ 1 zu DD ˆ 1=NB . Der Bruch tritt bei der Schädigungssumme D ˆ DD ˆ 1;0 ein. Nach vorstehender Darstellung wird die Schädigung bei Ermüdung dem aufsummierten Schwingspielzahlverhältnis gleichgesetzt (linearer Anstieg). In der allgemeineren Theorie wird die Gleichsetzung aufgehoben und eine beliebige Schädigungsentwicklung über dem Schwingspielzahlverhältnis zugelassen [84, 907], Abb. 5.38. Die nichtlineare Schädigungsentwicklung ist der Regelfall bei technischen Werkstoffen und Bauteilen. Wenn die Schädigung unabhängig von der Beanspruchungsamplitude eine eindeutige Funktion des Schwingspielzahlverhältnisses ist, bleibt es trotz nichtlinearer Schädigungsentwicklung bei der linearen Akkumulation, also z. B. im Zweistufenversuch bei der Bruchbedingung (DN1 /NB1 ‡ DN2 /NB2) ˆ 1,0. Dies sei als „quasilineare Akkumulation“ bezeichnet. Erst wenn die Schädigung von der Beanspruchungsamplitude abhängt, ist eine zweckmäßig auszuformulierende nichtlineare Akkumulation maßgebend. Zu beachten ist, daß die Schadensakkumulation nicht allein dadurch nichtlinear wird, daß die Schädigungsentwicklung nichtlinear verläuft, es muß außerdem

5.4 Schädigung und Schadensakkumulation

295

Abb. 5.38: Schädigung als Funktion der Schwingspielzahlverhältnisse mit quasilinearer bzw. nichtlinearer Akkumulation; Spannungsamplituden ra1 und ra2 , aufgebrachte Schwingspielzahlen DN1 und DN2 , Bruchschwingspielzahlen NB1 und NB2 sowie Schädigung D1 nach Abschluß von DN1 ; nach Lemaitre u. Chaboche [84]

die Beanspruchungsabhängigkeit hinzutreten. Bei linearer Schädigungsentwicklung ist dagegen eine Beanspruchungsabhängigkeit ausgeschlossen. Das Verständnis der nichtlinearen Schädigung als („verbrauchtes“) Schwingspielzahlverhältnis wird erleichtert, wenn man sich dessen Bestimmung aus dem gemessenen Restschwingspielzahlverhältnis vergegenwärtigt. Eine von (5.5) abweichende Definition der Schädigung wird von Henry [902] u. Gatts [892] verwendet, nämlich die Schädigung als Abminderung der ursprünglichen Dauerfestigkeit durch die vorausgehende Belastung bezogen auf den Ausgangswert. Dieses Schädigungsmaß wird bei herkömmlichen und modernen Hypothesen zusätzlich berücksichtigt. Im Rahmen der Schädigungsund Bruchmechanik werden weitere Schädigungsmaße verwendet, darunter die Kurzrißhäufigkeit und Langrißtiefe. Metallphysikalische Erklärung der Schädigung Metallphysikalisch kann Schädigung durch Ermüdung als Einleitung, Vergrößerung und Zusammenwachsen kurzer Risse sowie deren Vergrößerung zu einem Makroriß kritischer Größe interpretiert werden (Corten u. Dolan [881], Valluri [952]). Die Schädigung bis zur physikalischen Rißeinleitung ist vorerst nur durch überwiegend empirisch begründete Hypothesen erfaßbar, weil die zugrunde liegenden physikalischen Phänomene wie Versetzungsbewegung, Gleitbandbildung und Mikrorißentstehung theoretisch nicht genau verfolgt werden können. Dagegen kann bei der anschließenden Mikro- und Makrorißvergrößerung die Schädigung mit der Rißgröße und Rißhäufigkeit in Verbindung gebracht werden, deren Veränderung kontinuumsmechanisch beschrieben wird, erst nach der Schädigungsmechanik, dann nach der Bruchmechanik. Da bei Metallegierungen niedriger

296

5 Betriebsfestigkeit

und mittlerer Festigkeit die (Mikro-)Rißeinleitungsphase vielfach vernachlässigbar klein ist, kann in diesem Fall die Schädigung allein über die Rißvergrößerung erfaßt werden. Dabei ist es methodisch wünschenswert, zwischen Mikro- und Makrorißfortschritt zu unterscheiden [911, 925, 926]. Die Dominanz der Schädigung durch Kurzrisse an der Probenoberfläche wurde von Walla et al. [953] demonstriert. Ungekerbte Proben aus Stahl CK45N, deren Oberflächenschicht nach Schwingbelastung bis zur Schädigungssumme D ˆ 0,7 abgetragen worden war, erreichten bis Bruch die Gesamtschädigungssumme D ˆ 2,14 (statt D ˆ 1,0 ohne Oberflächenabtrag). Der Einfluß der Belastungsreihenfolge auf die Lebensdauer konnte daher aus den Besonderheiten der Kurzrißvergrößerung an der Oberfläche erklärt werden (Bomas et al. [874]). Das vermindert die Bedeutung des kontinuumsmechanischen Ansatzes der Schädigungsmechanik. Die metallphysikalische Erklärung der Schädigung ermöglicht weitere Meßverfahren für die Schädigung neben der herkömmlichen Bestimmung der Restlebensdauer. Mögliche Meßgrößen sind die Häufigkeit und Abmessungen der Mikro- und Makrorisse, die Änderung des Elastizitätsmoduls, die Geschwindigkeit von Ultraschallwellen sowie die Veränderung der Mikrohärte. Die Verwendung eines einparametrigen Schädigungsmaßes ist allerdings physikalisch nicht vertretbar, worauf im Hinblick auf die Miner-Regel besonders hingewiesen wird. Nur mehrparametrige Ansätze erlauben eine hinreichend differenzierte Beschreibung des Schädigungszustands. Auch der Eigenspannungszustand im Rißeinleitungsbereich bzw. an der Rißspitze sowie das Rißschließverhalten müssen zur Feststellung des Schädigungsmaßes erfaßt werden. Rechenformalismus bei linearer Schadensakkumulation Die formale rechnerische Vorgehensweise gemäß Miner-Regel ist in Abb. 5.39 veranschaulicht, wobei ein gestuftes Amplitudenkollektiv und eine Wöhler-Linie gegenübergestellt sind. Es kann sich um ungekerbte oder gekerbte Proben oder Bauteile handeln, zugeordnet sind die Amplituden von Nennspannungen oder örtliche Spannungen. Anstelle von Spannungsamplituden können auch Dehnungsamplituden [1649] oder Schädigungsparameter (s. Kap. 5.5) betrachtet werden, was aber zunächst ausgeschlossen wird. Die Teilschädigung Dj von DNj Schwingspielen der Stufe j des Beanspruchungskollektivs mit Spannungsamplitude raj wird dem Verhältnis von DNj zur Bruchschwingspielzahl NBj (oder Anrißschwingspielzahl NAj ) bei der betrachteten Spannungsamplitude (laut zugehöriger Wöhler-Linie, der Bezugs-Wöhler-Linie) gleichgesetzt: Dj ˆ

DNj NBj

…5:6†

Jedes Schwingspiel „verbraucht“ sozusagen einen kleinen Teil der insgesamt möglichen Lebensdauer (genau 1=NBj ). Der „Verbrauch“ ist nach der Miner-

5.4 Schädigung und Schadensakkumulation

297

Abb. 5.39: Berechnung der Schadensakkumulation nach originaler Miner-Regel, Treppenkollektiv (a) und Wöhler-Linie (b) mit Neigungskennzahl k und Schwingspielzahl NB bis Bruch

Regel unabhängig vom Zeitpunkt des Auftretens des jeweiligen Schwingspiels in der Schwingspielfolge. Die Gesamtschädigung D nach Aufbringen der Schwingspiele der unterschiedlichen Beanspruchungsstufen j ˆ 1; 2; . . . ; n ist gegeben durch: Dˆ

n X

Dj

…5:7†

jˆ1

Der Ermüdungsbruch erfolgt nach dieser Hypothese beim Erreichen von D ˆ 1;0. Die tatsächliche Gesamtschädigung kann im Einzelfall erheblich von diesem hypothetischen Wert abweichen [925, 943–945, 957]. So wurden Werte D ˆ 0;25–7;0 (bei Beschränkung auf konstante oder nur wenig veränderliche Mittelspannung) ermittelt. Bei stark veränderlicher Mittelspannung können die Abweichungen noch wesentlich größer sein, D ˆ 0;1–10. Andererseits wurde für bestimmte mehrstufige Lastfolgen, die Zufallsprozesse abbilden, eine gute Annäherung an den Wert D ˆ 1;0 festgestellt. Durch Einführen einer abweichenden Gesamtschädigung D 6ˆ 1;0 läßt sich in manchen Fällen eine Verbesserung der Lebensdauervorhersage erzielen. Diese „relative Miner-Regel“ setzt voraus, daß sich die in Versuch und Berechnung betrachteten BeanspruchungZeit-Funktionen bzw. Beanspruchungskollektive nicht oder nur wenig unterscheiden. Die Interaktionseffekte müssen gleichartig sein (Buch et al. [875– 877]). Die Voraussetzung der originalen Miner-Regel, daß die Mittelspannung annähernd konstant bleibt, kann dagegen entfallen. Die Bezugs-Wöhler-Linie der ertragbaren Spannungsamplituden (Werkstoff, Oberflächenzustand, Probengeometrie und Belastungsart müssen übereinstimmen) sollte den Mittelspannungseinfluß richtig wiedergeben, d. h. sie sollte bei dem Wert der Mittelspannung rm oder des Spannungsverhältnisses R aufgenommen sein, der den Betriebsbeanspruchungsablauf kennzeichnet. Abschätzende Umrechnungen bei veränderlichem rm bzw. R sind im Gebrauch (s. Abb. 5.44), jedoch ungenau und unsicher. Bei stark veränderlicher Mittel-

298

5 Betriebsfestigkeit

spannung und ausgeprägten Reihenfolgeeffekten ist die lineare Hypothese der Schadensakkumulation eigentlich nicht anwendbar, jedoch in Form der relativen Miner-Regel anzutreffen. Die Bezugs-Wöhler-Linie sollte sich außerdem auf nur eine Rißeinleitungsstelle bei allen Lastamplituden beziehen. Bei inhomogenen (z. B. oberflächenverfestigten) Proben und noch eher bei inhomogenen (z. B. geschweißten) Bauteilen kann es mehrere kritische Bereiche geben, die gleichzeitig geschädigt werden, jedoch je nach Lastamplitude in unterschiedlicher Reihenfolge versagen. Die zugehörige zusammengesetzte Wöhler-Linie ist für die Schadensakkumulationsrechnung ungeeignet. Wenn allerdings die Versagensstelle im Betriebsfestigkeitsversuch bekannt ist, kann mit der zugehörigen lokalen WöhlerLinie gerechnet werden. Der Rechenformalismus kann durch Einführen der Wöhler-Linien-Gleichung (2.7) (ohne Berücksichtigung einer Dauerfestigkeit, also mit stetigem weiterem Abfall) weiterentwickelt (s. (5.18), (5.19)) und zur Ermittlung der Lebensdauerlinie herangezogen werden („elementare Miner-Regel“). Die Lebensdauerlinie ergibt sich dann parallel zur Wöhler-Linie, Abb. 5.40. Aus der Darstellung der Schädigungsbeiträge der Beanspruchungsstufen des Kollektivs ist ein Maximum bei relativ niedriger, aber häufiger Beanspruchung ersichtlich (meistschädigende Beanspruchungsstufe). Der relativen Miner-Regel vergleichbar ist das im Rahmen von Schrifttumsauswertungen von Buch et al. [878] bzw. Heuler et al. [904] verwendete Q0 Verfahren, bei dem die ausgehend von der verlängerten Zeitfestigkeitsgeraden mit D ˆ 1;0 berechnete Lebensdauerlinie zur Angleichung an die Versuchs-

Abb. 5.40: Lebensdauerlinie, berechnet nach elementarer Miner-Regel für geradliniges Beanspruchungskollektiv ausgehend von der aus dem Zeitfestigkeitsbereich stetig verlängerten a ˆ 350 N=mm2 ; nach HaiWöhler-Linie; Schädigungsbeiträge Dj der Kollektivstufen für r bach [35]

5.4 Schädigung und Schadensakkumulation

299

Abb. 5.41: Q0 -Verfahren der Schadensakkumulationsrechnung, Faktor Q0 zwischen Lebensdauerlinien aus Rechnung und Versuch bei Schwingspielzahl NQ , damit Korrektur der BezugsWöhler-Linie; nach Heuler et al. [904]

ergebnisse nachträglich um den Faktor Q0 korrigiert wird, Abb. 5.41. Der Faktor Q0 wird bei vorgegebener Schwingspielzahl NQ ermittelt …NQ  106 107 †. Die Autoren schlagen vor, die nachträgliche Korrektur der Lebensdauerlinie durch eine Vorabkorrektur der Wöhler-Linie zu ersetzen. Modifizierte Hypothesen der linearen Schadensakkumulation Nach der originalen Miner-Regel bewirken Schwingspiele mit Beanspruchungsamplituden kleiner als die Dauerfestigkeit, auch wenn sie zusammen mit höheren Beanspruchungsamplituden im Kollektiv auftreten, keine Schädigung. Es hat sich herausgestellt, daß dies nicht immer der Wirklichkeit entspricht (Conle [880], Miller et al. [1604]). Durch höhere Beanspruchungsamplituden vorgeschädigte Teile weisen eine erniedrigte Dauerfestigkeit auf (Vorbeanspruchungs-WöhlerLinien nach Kommers [908] und Bergmann [1615]), so daß nachfolgende Beanspruchungsamplituden unterhalb der Ausgangsdauerfestigkeit, jedoch höher als die erniedrigte Dauerfestigkeit, weitere Schädigung hervorrufen können. Ab welcher Schwingspielzahl abhängig von der Vorbeanspruchungsamplitude eine bestimmte Schädigung eintritt, kann eine Schadenslinie links von der Wöhler-Linie angeben, die in die Dauerfestigkeit horizontal einmündet. Sie kann auch als Rißeinleitungslinie interpretiert werden, Rißeinleitung aufgefaßt als Entstehung ausbreitungsfähiger Mikrorisse. Der Verlauf der Schadenslinie ist im übrigen unbestimmt, der Versuchsaufwand zu ihrer Ermittlung im allgemeinen nicht lohnend. Eine andere Situation ist gegeben, wenn Schädigung bruchmechanisch als Rißfortschritt beschrieben wird (s. Kap. 6.7, 6.12 u. 7.6). Beanspruchungskollektive mit dem Höchstwert unterhalb der Ausgangsdauerfestigkeit sollten keine Schädigung hervorrufen. Allerdings können auch unterhalb der Dauerfestigkeit Mikrorisse eingeleitet werden. Die Dauerfestigkeit kennzeichnet dann die kritische Bedingung für deren Vergrößerung. Auch entgegengesetzte Effekte sind beobachtet worden. Schwingbeanspruchung knapp

300

5 Betriebsfestigkeit

unterhalb der Dauerfestigkeit kann bei nachfolgendem Beanspruchungsanstieg aus dem Dauerfestigkeitsbereich heraus bei Stählen und Aluminiumlegierungen eine Erhöhung der Schwingfestigkeit zur Folge haben (Hochtrainieren [882, 908, 946, 950, 955]). Die Dauerfestigkeitsminderung durch Vorbeanspruchungsamplituden oberhalb der ursprünglichen Dauerfestigkeit wird nach Haibach [894] in der Schädigungsrechnung wie folgt zur Geltung gebracht. Zur Ermittlung der Schädigung durch Beanspruchungsamplituden unterhalb der ursprünglichen Dauerfestigkeit wird die Zeitfestigkeitsgerade mit der Neigungskennzahl k am Knickpunkt zur Dauerfestigkeit nicht horizontal, sondern mit der Neigungskennzahl k ˆ …2k 1† schräg nach unten fortgesetzt („modifizierte Miner-Regel“), Abb. 5.42 (a). Dies entspricht ungefähr der Winkelhalbierenden zwischen der Horizontalen und der unveränderten Fortsetzung der Zeitfestigkeitsgeraden. Die Neigungskennzahl k ˆ …2k 1† gilt für duktile Werkstoffe, bei spröden Werkstoffen (z. B. Gußeisen) wird k ˆ …2k 2† empfohlen. Die nach der modifizierten Miner-Regel gewonnene Lebensdauerlinie ist nahe der Dauerfestigkeit zu größeren Schwingspielzahlen verschoben und mündet flacher in den Bereich der Dauerfestigkeitshorizontalen ein. Die modifizierte Miner-Regel wird in der Praxis vielfach mit der Schadenssumme D 6ˆ 1;0 verbunden, also als „relative modifizierte Miner-Regel“ angewendet. Durch schwingspielweises Einbeziehen einer schädigungsbedingten Dauerfestigkeitsminderung in die rechnerische Vorgehensweise gemäß originaler Miner-Regel läßt sich erreichen, daß die Lebensdauerlinie im Bereich der ursprünglichen Dauerfestigkeit noch weiter zu größeren Schwingspielzahlen verschoben ist und asymptotisch in die Horizontale einmündet („konsequente Miner-Regel“ nach Haibach [35]). Voraussetzung dafür ist, daß Kollektivkurve und Wöhler-Linie horizontal auslaufen. Beide Hypothesen, modifizierte und konsequente Miner-Regel, haben zum Ziel, die Lebensdauer bei Kollektiven, deren Höchstwerte nicht weit oberhalb der Dauerfestigkeit liegen (bis etwa Faktor zwei), zutreffend abzuschätzen. Bei größeren Höchstwerten ist der Unterschied zur elementaren Miner-Regel gering.

Abb. 5.42: Varianten der Miner-Regel: original und elementar nach Miner [927] sowie modifiziert nach Haibach [894] (a) und modifiziert nach Zenner u. Liu [956] (b)

5.4 Schädigung und Schadensakkumulation

301

Eine andere Version der linearen Schadensakkumulationsrechnung bis Bruch auf Basis von Nennspannungen mit Schädigung durch Amplituden auch unterhalb der ursprünglichen Dauerfestigkeit nach Zenner u. Liu [956] besagt, daß die Dauerfestigkeit der Bezugs-Wöhler-Linie auf den halben Wert der Ausgangs-Wöhler-Linie festgelegt wird und die zugehörige Zeitfestigkeitsgerade vom Kollektivhöchstwert auf der Wöhler-Linie ausgehend mit größerer Steilheit abfällt, Abb. 5.42 (b). Die Halbierung der Ausgangsdauerfestigkeit entspricht der Erfahrung, daß kleinere Beanspruchungsamplituden (der Nennspannung am Bauteil) kaum noch schädigen, sofern Korrosion, erhöhte Temperatur und relativ hohe Mittelspannungen ausgeschlossen werden. Der Abknickpunkt der Zeitfestigkeitsgeraden ist so gewählt, daß auch noch im Sonderfall des Rechteckkollektivs, also der Einstufenbelastung, die Lebensdauer richtig berechnet wird. Die neue Neigungskennzahl k ˆ …k ‡ kr †=2 ergibt sich als Mittelwert der Neigungskennzahlen der Wöhler-Linien von Bauteilen ohne Riß …k  5† und von Proben mit Riß …kr  3†. Die von den Autoren im Hinblick auf das Nennspannungskonzept mit Versagenskriterium Bruch sowie stochastische Lastabläufe mit merklichem Dauerfestigkeitsanteil konzipierte Hypothese erzielte im Bereich der durchgeführten Versuche mit konstanter Mittelspannung eine relativ hohe Vorhersagesicherheit (Schädigungssumme im Random-Versuch mit Proben aus Stahl und Aluminiumlegierung: D ˆ 0,5 – 2,0). Das vorstehende Verfahren ähnelt der älteren Hypothese von Corten u. Dolan [881]. Auch bei dieser Hypothese wird eine modifizierte Bezugs-Wöhler-Linie eingeführt, die in Höhe des Kollektivhöchstwerts auf der originalen WöhlerLinie beginnt, jedoch steiler als diese verläuft. Die modifizierte Neigungskennzahl wird abhängig vom Verhältnis der Streckgrenze zur Dauerfestigkeit gewählt. Eine abgeminderte Dauerfestigkeit wird nicht eingeführt, was der Vorgehensweise der elementaren Miner-Regel mit modifizierter Bezugs-WöhlerLinie entspricht. Schädigungsgleiche Spannungsamplituden im Haigh-Diagramm Die Bezugs-Wöhler-Linie zur Miner-Regel sollte bei dem Wert der Mittelspannung rm oder des Spannungsverhältnisses R aufgenommen sein, der den Bedingungen beim Betriebsbeanspruchungskollektiv entspricht. Andernfalls ist eine schädigungsgleiche Umrechnung der Spannungsamplituden der einzelnen Kollektivstufen auf die Bedingungen der Wöhler-Linie vor Anwendung der MinerRegel notwendig. Nach der FKM-Richtlinie [1746] haben drei Kollektivtypen in der Praxis besondere Bedeutung, Abb. 5.43. Beim Typus (a) weisen alle Kollektivstufen dieselbe Mittelspannung auf, beim Typus (b) haben alle Stufen dasselbe Spannungsverhältnis. Der Typus (c), das Schwellbeanspruchungskollektiv, ist schließlich ein Sonderfall des Typus (b) mit dem Spannungsverhältnis R ˆ 0. Da die Miner-Rechnung nach FKM-Richtlinie mit der Bauteil-Wöhler-Linie für konstantes Spannungsverhältnis durchzuführen ist, sind Kollektive mit konstanten Mittelspannungen auf Kollektive mit konstantem Spannungsverhältnis

302

5 Betriebsfestigkeit

Abb. 5.43: Spannungskollektive mit unterschiedlichem Mittelspannungsverlauf: konstante Mittelspannung rm (a), konstantes Spannungsverhältnis R (b) und Spannungsverhältnis R ˆ 0 (c); Darstellung für binomial verteiltes Normkollektiv mit Beiwert p ˆ 1/3 und Umfang H ˆ 106 ,  nach FKM-Richtlinie [1746] umzurechnen auf den interessierenden Kollektivumfang N;

Abb. 5.44: Veranschaulichung der Umrechnung einer Spannungsamplitude ra mit Mittelspannung rm auf eine (nach elementarer Miner-Regel) schädigungsgleiche Spannungsamplitude raR beim Spannungsverhältnis R mit bekannter Wöhler-Linie (vielfach R ˆ –1) und vorgegebener Mittelspannungsempfindlichkeit M; nach FKM-Richtlinie [1746]

umzurechnen. Als solches kann das Spannungsverhältnis beispielsweise der größten Amplituden gewählt werden. Die Umrechnung der Spannungsamplituden ra der Kollektivstufe mit Mittelspannung rm auf eine schädigungsgleiche Spannungsamplitude raR beim Spannungsverhältnis R erfolgt über die Mittelspannungsempfindlichkeit M nach dem in Abb. 5.44 grafisch veranschaulichten Verfahren. Die Amplitudenänderung erfolgt über zwei Parallele zur Dauerfestigkeitslinie im Haigh-Diagramm. Nach erneutem Klassieren wird die veränderte Kollektivform gewonnen. Die Versuchung liegt nahe, auf dieselbe Weise auch Kollektive mit veränderlicher Mittelspannung zu konvertieren. Da aber bei veränderlicher Mittelspannung Interaktionseffekte eine wichtige Rolle spielen, führt eine derartige Vorgehensweise im allgemeinen nicht zu zuverlässigen Ergebnissen.

5.4 Schädigung und Schadensakkumulation

303

Einstufen-Ersatzkollektiv Ausgehend von den Hypothesen der linearen Schadensakkumulation läßt sich zu jedem beliebigen Beanspruchungskollektiv ein Einstufen-Ersatzkollektiv (in Rechteckform) mit identischer Gesamtschädigung herleiten. Die Umrechnung kann mit unterschiedlichen Vorgaben erfolgen: äquivalente Zahl von Schwingspielen mit der Höchstspannungsamplitude des Ausgangskollektivs, äquivalente Beanspruchungsamplitude bei identischem Kollektivumfang oder äquivalente Beanspruchungsamplitude bei der Grenzschwingspielzahl für Dauerfestigkeit (z. B. ND ˆ 2  106 ). Die letztgenannte Umrechnung zielt auf Berechnungsvorschriften, deren zulässige Spannungen im Hinblick auf einen dauerfestigkeitsnahen Bezugspunkt auf der Wöhler-Linie gewählt sind. Der Berechnungsgang wird nachfolgend für den Fall der originalen MinerRegel angegeben, d. h. Beanspruchungsamplituden unterhalb der Dauerfestigkeit bleiben unberücksichtigt und Beanspruchungsamplituden oberhalb der Dauerfestigkeit schädigen gemäß der Wöhler-Linie in der doppeltlogarithmisch linearen Darstellung nach (2.7): NBj rkaj ˆ C

…5:8†

Aus (5.6) bis (5.8) folgt für die Schädigung: Dˆ

n 1X …DNj rkaj † C jˆ1

…5:9†

Die Schädigung des Einstufen-Ersatzkollektivs ergibt sich aus: Dˆ

1 Naq rka aq C

…5:10†

Durch Gleichsetzen von (5.9) und (5.10) folgt: Naq rka aq ˆ

n X

…DNj rkaj †

…5:11†

jˆ1

Durch Einführen von einer der oben genannten Vorgaben in (5.11) kann Näq bzw. ra äq für das gewünschte Einstufen-Ersatzkollektiv bestimmt werden. Derartige Ersatzkollektive beinhalten die nachfolgend zur Miner-Regel angegebenen Gültigkeitsgrenzen. Gültigkeit der Miner-Regel Eine Vielzahl von Forschungsarbeiten und Publikationen setzt sich mit der Treffsicherheit oder Gültigkeit der Miner-Regel in der originalen, elementaren oder auch modifizierten Form auseinander. Stellvertretend seien die statistisch

304

5 Betriebsfestigkeit

fundierten Schrifttumsauswertungen von Schütz u. Zenner [945, 957] und von Eulitz u. Kotte [885] sowie die wertenden Ausführungen bei Buxbaum [19] und Haibach [35] genannt. Eine einheitliche Bewertung liegt bis heute nicht vor, weil die Prämissen und Folgerungen der einzelnen Autoren zu stark differieren. Die folgenden recht pauschalen Aussagen mögen dennoch allgemeine Zustimmung finden: – Die nach der originalen Miner-Regel vorhergesagte Lebensdauer kann um den Faktor 0,2–6 von der tatsächlichen Lebensdauer abweichen; die aus der tatsächlichen Lebensdauer errechneten Schädigungssummen streuen im genannten Bereich [19]. – Durch Modifikation der originalen Miner-Regel kann die Lebensdauervorhersage hinsichtlich Mittelwert und Streuung der Schädigungssummen verbessert werden, jedoch nur bei Einschränkung des Anwendungsbereichs. – Die festgestellten Streuspannen dürfen nur teilweise der Miner-Regel angelastet werden, denn sowohl die Ausgangsdaten der Berechnung (aus WöhlerVersuchen) als auch deren Vergleichsdaten (aus Betriebsfestigkeitsversuchen) streuen nicht unerheblich und sind mit Unsicherheiten behaftet [35]. – Systematische Abweichungen von der Miner-Regel sind aus dem Einfluß des Rißschließens und der Eigenspannungen zu erklären, die im Wöhler- und Betriebsfestigkeitsversuch unterschiedlich ausgebildet sein können, sich unterschiedlich verändern und somit unterschiedlich auswirken [19, 35, 1674]. – Systematische Abweichungen sind auch auf die weithin fehlende Unterscheidung zwischen den Versagenskriterien Anriß und Bruch zurückzuführen. Der ausschlaggebende methodische Grund für die Mängel der Miner-Regel ist die nur einparametrige Darstellung der Schädigung durch DN/NB (Schijve [53, 936]). Schädigung ist jedoch ein komplexes vielparametriges Phänomen, was sich besonders auffällig im Interaktions- und Reihenfolgeeffekt ausdrückt. Hypothesen der nichtlinearen Schadensakkumulation Die Hypothesen der linearen Schadensakkumulation beschreiben die wirklichen Schädigungsvorgänge unzureichend. So bleiben Reihenfolgeeffekte sowohl der Beanspruchungsamplituden als auch von Mittelspannungsänderungen unberücksichtigt. Beispielsweise läßt ein bei hoher Beanspruchungsamplitude vorzeitig geschädigtes und möglicherweise angerissenes Bauteil unter nachfolgenden niedrigen Beanspruchungsamplituden eine geringere Lebensdauer erwarten als dasselbe Bauteil unter umgekehrter Belastungsfolge. Ebenso bleiben Interaktionseffekte unberücksichtigt, die in unterschiedlicher Eigenspannungsänderung an Kerben sowie in unterschiedlichem Rißschließverhalten begründet sind. Jede beanspruchungsamplitudenabhängige nichtlineare Schädigungsentwicklung wird durch die lineare Schadensakkumulation unzureichend erfaßt. Als nichtlinear gilt die rechnerische Schadensakkumulation dann, wenn die Schädigung bei unveränderter Bezugs-Wöhler-Linie außer vom Schwingspielzahlverhältnis von der Beanspruchungsamplitude sowie weiteren Beanspru-

5.4 Schädigung und Schadensakkumulation

305

Abb. 5.45: Schädigung als Funktion des Schwingspielzahlverhältnisses bei unterschiedlichen Vergleichsdehnungsamplituden im Kurz- und Langzeitfestigkeitsbereich des Stahls SAE 1045; überlagerte zyklische Zug-Druck- und Torsionsbelastung von dünnwandigen Hohlstabproben; nach Hua u. Socie [905]

chungsparametern abhängt, was mit nichtlinearer Schädigungsentwicklung verbunden ist. Interaktionseffekte können durch besondere Schädigungsterme berücksichtigt sein. Den nichtlinearen Hypothesen werden außerdem Verfahren zugeordnet, die die Ausgangs-Wöhler-Linie entsprechend der erfolgten Belastung modifizieren (Folge-Wöhler-Linien), was auf eine nichtlineare Schadensakkumulation hinausläuft. Es ist aber zu beachten, daß die bereits dargestellte Abminderung der Dauerfestigkeit vielfach noch im Rahmen der linearen Hypothesen vollzogen wird (Haibach [35, 894]) und daß nichtlineare Hypothesen in Teilbereichen linearisiert werden können (doppeltlineare Schädigungsfunktionen nach Manson et al. [918–922], ursprünglich mit Rißeinleitungs- und Rißfortschrittsphase in Verbindung gebracht, s. Schott [55]). Auch lassen sich die nichtlinearen Effekte der Schädigungsentwicklung speziellen Schädigungsparametern zuordnen, auf die dann die lineare Akkumulation anwendbar ist. Die beobachtbare Schädigungsentwicklung ist bereits im Einstufen-WöhlerVersuch an ungekerbten Proben nichtlinear vom Schwingspielzahlverhältnis und von der Beanspruchungsamplitude abhängig. Versuchsergebnisse für den Stahl SAE 1045 bei proportional überlagerter Zug-Druck- und Torsionsbelastung (De/Dc ˆ 1) zeigen einen ausgeprägten Einfluß der Beanspruchungsamplitude, Abb. 5.45. Die Schädigung im Kurzzeitfestigkeitsbereich (NB  103) wurde über die Kurzrißhäufigkeit an der Probenoberfläche gemessen, während im Langzeitfestigkeitsbereich (NB  105) die Oberflächenrißlänge im Hinblick auf die Rißtiefe ausgewertet wurde. Die höhere Beanspruchung erzeugt den steileren Schädigungsanstieg. Die Schädigungsentwicklung für den nichtrostenden Stahl AISI 316 im Langzeitfestigkeitsbereich und die des dehnungsverfestigten Stahls AISI 1010 im Kurzzeitfestigkeitsbereich ist in Abb. 5.46 gezeigt. In diesem Fall wurde die Schädigung über die Änderung des Elastizitätsmoduls gemessen.

306

5 Betriebsfestigkeit

Abb. 5.46: Schädigung als Funktion des Schwingspielzahlverhältnisses bei unterschiedlicher Spannungs- bzw. Dehnungsschwingbreite im Lang- bzw. Kurzzeitfestigkeitsbereich zweier Stähle; nach Lemaitre [982]

Rechenformalismus bei nichtlinearer Schadensakkumulation Nichtlineare Schädigungsverläufe mit mehrparametriger Abhängigkeit werden in unterschiedlicher Form angegeben, am häufigsten abhängig vom Schwingspielzahlverhältnis bei Variation der Beanspruchungsamplituden. Die Vielfalt der Ansätze ist in den unterschiedlichen Modellvorstellungen und Einflußgrößen zur Schädigung begründet. Außerdem ist die zunehmende Integration in kontinuumsmechanische Schädigungstheorien prägend. Der ursprüngliche Schädigungsansatz wird häufig in differentieller Form gewählt. Dabei wird Schädigung als stetiger Vorgang über den Schwingspielen aufgefaßt, so daß die Schädigungsrate dD/dN betrachtet werden kann (ähnlich der Rißfortschrittsrate in der Bruchmechanik). Die Integration über die Schädigungsbeiträge der einzelnen Schwingspiele ergibt den Schädigungsverlauf beispielsweise im Einstufen-Wöhler-Versuch. Derartige Schädigungsfunktionen von unterschiedlichen Autoren werden nachfolgend erläutert. Nach Richart u. Newmark [935], Marco u. Starkey [923] sowie Subramanyan [951] ist:  Dˆ

N NB

p …5:12†

mit der Werkstoffkonstanten p, die von der Beanspruchungsamplitude abhängt.

5.4 Schädigung und Schadensakkumulation

307

Nach Manson u. Halford [919, 920] (Ausgangsgleichung für die doppeltlineare Hypothese) ist ausgehend von einem kombinierten Rißeinleitungs- und Rißfortschrittsansatz:  Dˆ

N NB

f NBg

…5:13†

mit den Werkstoffkonstanten f und g (g  0,4), die von der Beanspruchungsamplitude unabhängig sind (Darstellung nach [905]). Die Nichtlinearität der Schadensakkumulation wird allein durch die Bruchschwingspielzahl NB im Exponenten verursacht. Nach Chaboche et al. [972–977] sowie Lemaitre et al. [84, 981–983] ist im Rahmen einer Kontinuumstheorie der Schädigung (in Analogie zu Ansätzen von Rabotnov [576] und Kachanov [978, 979] für die Kriechschädigung):  Dˆ

N NB

1=…1

†

…5:14†

mit der Werkstoffkonstanten , die vom Verhältnis Oberspannung zu Zugfestigkeit und von der Neigungskennzahl der Wöhler-Linie für R ˆ 0 im mittleren Bereich der Zeitfestigkeit abhängt. Für die Wöhler-Linie folgt aus der allgemeinen Theorie:   b 1 ro rm …5:15† NB ˆ 1 rW Mrm mit der Oberspannung ro , der Mittelspannung rm , der Wechselfestigkeit rW , der Mittelspannungsempfindlichkeit M (linearisierter Mittelspannungseinfluß nach Goodman, s. Abb. 2.19) und einer weiteren Werkstoffkonstanten b, die proportional zur erwähnten Neigungskennzahl gesetzt werden kann. Nach Fong [887] ist bei Annahme einer Proportionalität zwischen Schädigungsrate dD/dN und Schädigung D: Dˆ

exp…hN=NB † 1 exp…h† 1

…5:16†

mit der Werkstoffkonstanten h, die von der Beanspruchungsamplitude abhängt. Nach Peerlings et al. [986], ausgehend von Paas et al. [984, 985], gilt:   1 N ln 1 ‰1 exp… †Š Dˆ …5:17† NB mit der Werkstoffkonstanten , die von der Beanspruchungsamplitude abhängt. Die Anwendung von (5.12) bis (5.14) auf den Zweistufen-Wöhler-Versuch ergibt folgende Formeln für die nichtlineare Schadensakkumulation (veranschaulichbar in Abb. 5.47 mit Punkt C verschoben nach D ˆ 1):

308

5 Betriebsfestigkeit

Abb. 5.47: Veranschaulichung einer Hypothese der nichtlinearen Schadensakkumulation: Beanspruchungsamplitudenfolge (Zweistufenversuch) (a), Wöhler-Diagramm (b) und Schadensakkumulation gemäß Pfad A–B–B'–C (c); nach Bannantine et al. [15]

N2 ˆ1 NB2 N2 ˆ1 NB2

N2 ˆ1 NB2







N1 NB1 N1 NB1

N1 NB1

p1 =p2

…NB1 =NB2 †0;4

…1

2 †=…1 1 †

…5:18†

…5:19†

…5:20†

Bei Lastabläufen mit gelegentlichen Zug- oder Drucküberlastungen wird vorgeschlagen, in der aufsummierten Gesamtschädigung drei Anteile zu unterscheiden: Normallastschädigung, Überlastschädigung und Interaktionsschädigung, wobei letztere nur über eine begrenzte Zyklenzahl wirksam ist [933]. Veranschaulichung der nichtlinearen Schadensakkumulation Die rechnerische Vorgehensweise bei Zweistufenversuchen und sinngemäß bei Mehrstufenversuchen ist mit Abb. 5.47 veranschaulicht. Nur die Teilschädigung des zeitlich ersten Schwingblocks folgt direkt aus einer der angegebenen Beziehungen, beispielsweise aus (5.12). Die Teilschädigungen der weiteren Schwingblöcke sind ausgehend von der jeweils erreichten Gesamtschädigung auf der jeweiligen Teilschädigungskurve zu ermitteln und aufzuschlagen. Auf diese Weise sind Reihenfolgeeffekt und Spannungsamplitudeneinfluß unter einschränkenden Bedingungen empirisch erfaßbar. Aus der überlappenden Lage von DN1/NB1 und DN2/NB2 im Bild ist ersichtlich, daß die quasilineare Akkumulation eine zu hohe Gesamtschädigung anzeigen würde, während bei umgekehrter Amplitudenfolge (zuerst die großen Amplituden) ein zu kleiner Wert

5.4 Schädigung und Schadensakkumulation

309

berechnet wird. Die Anpassung an die Wirklichkeit gelingt hier, wie schon bei den Varianten der linearen Hypothese, nur bei Beschränkung auf spezielle Beanspruchung-Zeit-Funktionen, Proben- oder Bauteilgeometrien sowie auf bestimmten Werkstoff. Von Schott [55, 937–942] wurde vorgeschlagen, die Teilschädigungen unter Drehung der Ausgangs-Wöhler-Linie und Absenkung der Dauerfestigkeit entsprechend der jeweils erreichten linear akkumulierten Gesamtschädigung zu ermitteln (Konzept der Folge-Wöhler-Linien). Die Lebensdauer in Mehrstufen-, Blockprogramm- und Zufallslastenversuchen läßt sich demnach berechnen, wenn zwei „Ermüdungsfunktionen“ bekannt sind, die eine für Schwingspiele mit stufenweise erhöhter Amplitude, die andere für solche mit stufenweise erniedrigter Amplitude. Diese werden in entsprechenden Zweistufenversuchen ermittelt. Das Verfahrensprinzip wird anhand von Abb. 5.48 erläutert. Eine zyklische Vorbelastung im Zeitfestigkeitsbereich (Spannungsamplitude ra1 ) mit Schwingspielzahl DN1 erzeugt nach der Miner-Regel die Schädigung DN1 /NB1. Geht man im Zweistufenversuch bei konstanter Mittelspannung auf eine höhere oder tiefere Amplitude über, dann wird die Restschwingspielzahl DNR2 bzw. DNR3 ermittelt, die gleich groß, größer oder kleiner als die nach der Miner-Regel zu erwartende Zahl sein kann. In Abb. 5.48 (a) ist bei erhöhter ebenso wie mit erniedrigter Amplitude eine erhöhte Restschwingspielzahl dargestellt. Die Folge-Wöhler-Linie ist nach unten mit einer (hypothetischen) Dauerfestigkeitsminderung verbunden, während die Miner-Regel die Dauerfestigkeit der Ausgangs-Wöhler-Linie beibehält. Die nach unterschiedlich langer zyklischer Vorbelastung verfügbare Restlebensdauer geht aus Abb. 5.48 (b) mit der Schädigung D ˆ (1 – DNR/NB) hervor. Für die Aluminiumlegierung AlCuMg2 wurde bei erhöhter Spannungsamplitude durchweg eine gegenüber Miner erhöhte Restlebensdauer ermittelt, während bei erniedrigter Spannungsamplitude teilweise die gegenteilige Wirkung auftrat.

Abb. 5.48: Folge-Wöhler-Linien nach zyklischer Vorbelastung im Vergleich zur Miner-Regel (schematisch) (a) und relative Restlebensdauer nach zyklischer Vorbelastung für eine Aluminiumlegierung (b); in Anlehnung an Schott [941]

310

5 Betriebsfestigkeit

Die Stärke des Konzepts der Folge-Wöhler-Linien ist die Berücksichtigung des Reihenfolgeeffekts bei stufenweise erhöhter oder erniedrigter Beanspruchungsamplitude, soweit dieser abhängig von der Beanspruchung und Beanspruchungsstufenhöhe im gewählten Zweistufenversuch zum Tragen kommt. Die Voraussetzung konstanter Mittelspannung und die verfahrensnotwendige Dominanz des Zeitfestigkeitsbereichs schränken die Anwendbarkeit des Verfahrens ein. Der zusätzliche Versuchsaufwand ist nicht unerheblich, kann aber fallspezifisch reduziert werden, beispielsweise über vereinfachende Annahmen zum Verlauf der Folge-Wöhler-Linien. Weitere Verfahrensvorschläge, die durch zyklische Vorbelastung modifizierte Bezugs-Wöhler-Linien verwenden, darunter die Drehung der Zeitfestigkeitsgeraden, die Absenkung der Dauerfestigkeit und die Verlagerung des Knickpunktes der Wöhler-Linie, stammen von Corten und Dolan [881], Franke [888], Gatts [891], Gnilke [30], Hashin et al. [900, 901], Henry [902], Manson u. Halford [919, 920], Reppermund [934], sowie Srivatsavan u. Subramanyan [949, 951].

Wertung von linearer und nichtlinearer Schadensakkumulation Die einfach zu handhabenden Verfahren der linearen Schadensakkumulation, obwohl von der physikalischen Realität teilweise weit entfernt, sind in der praktischen Anwendung überwiegend vertreten. Die weniger anwenderfreundliche nichtlineare Schadensakkumulation, obwohl der physikalischen Realität anpaßbar, ist dagegen selten anzutreffen. Der Grund für diesen widersprüchlich erscheinenden Sachverhalt ist die Tatsache, daß die herkömmlichen nichtlinearen Hypothesen nur Teilaspekte des komplexen physikalischen Verhaltens „richtig“ erfassen und andere Teilaspekte dennoch unberücksichtigt bleiben. Anders verhält es sich mit den moderneren, nur vordergründig linearen Akkumulationshypothesen, die auf Modellen des Kurzrißfortschritts basieren und in Schädigungsparametern ihren Ausdruck finden. Des weiteren ist jede dieser Hypothesen mit zusätzlichen Werkstoffkonstanten verbunden, die in besonderen Versuchen ermittelt werden müssen (Harre [899]). Schließlich erschwert die Vielzahl der vorgeschlagenen herkömmlichen nichtlinearen Hypothesen (mehr als 50 bis zum Jahr 1996 nach Angaben von Fatemi u. Yang [886]) die in der Praxis erforderliche Vereinheitlichung der rechnerischen und versuchstechnischen Vorgehensweisen. Es bleibt dennoch festzuhalten, daß die herkömmlichen nichtlinearen Akkumulationshypothesen unter der Voraussetzung „ähnlicher“ Beanspruchungsabläufe in Versuch und Berechnung eine Verbesserung der Lebensdauerprognose bringen und dadurch die Zahl der notwendigen Betriebsfestigkeitsversuche herabsetzen können. Die in der Praxis vielfach anzutreffende ausschließliche Verwendung der linearen Hypothesen ist unter diesem Gesichtspunkt keineswegs zwingend.

5.5 Schädigungsparameter, Schädigungsmechanik und Kriechschädigung

5.5

311

Schädigungsparameter, Schädigungsmechanik und Kriechschädigung

Schadensakkumulation gemäß Schädigungsparametern Schädigungsparameter sind physikalisch begründete Beanspruchungsgrößen, die die Schädigung durch Ermüdung ausgehend von den einzelnen Beanspruchungszyklen und deren Hystereseschleifen kennzeichnen. Je nach Vorstellung, welche Prozesse bzw. welche Teile der Hystereseschleifen die Ermüdungsschädigung bedingen, haben diese Parameter unterschiedliche Form. Die Hystereseschleifen selbst sind aus der Beanspruchung-Zeit-Funktion über eine RainflowZählung ermittelbar. Die maßgebenden Beanspruchungen können als Spannungen, Dehnungen und Verformungsenergiedichten eingeführt werden. Sie können globaler oder lokaler Art sein. Dem lokalen Ansatz ist bei gekerbten Proben oder Bauteilen und veränderlicher Mittelspannung der Vorzug zu geben. Schädigungsparameter umfassen den Einfluß der Beanspruchungsamplituden und der Beanspruchungsmittelwerte auf die Schädigung. Reihenfolgeeffekte sind zunächst nicht erfaßt, jedoch grundsätzlich integrierbar. Durch Anwendung des jeweiligen Schädigungsparameters auf die DehnungsWöhler-Linie (konstante Amplitude, Mittelspannung gleich null, Versagenskriterium Anriß) kann letztere als Schädigungsparameter-Wöhler-Linie dargestellt werden [929]. Von ihr ausgehend ergeben sich bei variabler Amplitude und Mittelspannung ungleich null die Schädigungsbeiträge der einzelnen Schwingspiele aus den Kehrwerten der den jeweiligen Schädigungsparameterwerten zugehörigen Anrißschwingspielzahlen. Die Aufsummierung der Schädigungsbeiträge ergibt die Gesamtschädigung D. Sofern die gewählte Schädigungshypothese zutrifft, ist der Anriß bei der Schädigungssumme D ˆ 1,0 zu erwarten. Im einfachsten Fall wird die Dehnungsschwingbreite der lokalen Hystereseschleifen relativ zur Dehnungs-Wöhler-Linie als Schädigungsmaß eingeführt, wobei die Makrostützwirkungsformel nach Neuber (4.21) angewendet wird (Dowling et al. [77, 1624, 1625], Landgraf [914], Wetzel [954]). Differenziertere Schädigungsparameter sind erwünscht und zwischenzeitlich verfügbar, wie nachfolgend dargestellt wird. Der Schädigungsparameter PSWT nach Smith, Watson und Topper [948] sieht das Produkt aus Oberspannung ro und (Gesamt)Dehnungsamplitude ea ˆ De=2 als schädigend an, wobei der Elastizitätsmodul E als zusätzliche (schädigungsirrelevante) Größe mitgeführt wird: PSWT ˆ

p r o ea E

…5:21†

Das Produkt ro ea kann als eine Formänderungsenergiedichte interpretiert werden, die den oberen Teil der Hystereseschleife kennzeichnet, Abb. 5.49. Aus der Dehnungs-Wöhler-Linie nach (2.20) und dem Schädigungsparameter nach (5.21) folgt die für beliebige Mittelspannung und Mitteldehnung gültige Schädigungsparameter-Wöhler-Linie:

312

5 Betriebsfestigkeit

Abb. 5.49: Kennwerte der Spannungs-Dehnungs-Hystereseschleife im Hinblick auf die Schädigungsparameter PSWT und PHL

PSWT ˆ

q 0 0 0 rf2 …2N †2b ‡ ef rf E…2N †b‡c

…5:22†

Sie kann aus Versuchsergebnissen mit rm ˆ 0 und em ˆ 0 gewonnen werden. Aus ihr läßt sich die von rm und (indirekt) em abhängige Schar von DehnungsWöhler-Linien ableiten. Wenn der Einfluß von rm und em in Betracht gezogen wird, ist es wichtig, das Ausmaß der zyklischen Mittelspannungsrelaxation bzw. des zyklischen Mitteldehnungskriechens zutreffend abzuschätzen. Nach Hanschmann [898] ist die Schädigung gemäß dem Schädigungsparameter PSWT um ein Zusatzglied zu vergrößern, das die erhöhte Schädigung durch kleine Amplituden unmittelbar nach einer großen Amplitude berücksichtigt (ein Teil des Reihenfolgeeffekts). Da der Schädigungsparameter PSWT nur eine Mittelspannungsempfindlichkeit M  0,4 erfaßt (s. Haibach [35]), während nach Abb. 2.22 Werte 0 < M < 0,7 vorliegen können, wird von Bergmann et al. [147] vorgeschlagen, die Oberspannung ro in (5.21) um einen mittelspannungsabhängigen Term zu vergrößern oder zu verkleinern. Auf die Notwendigkeit, den statistischen Größeneinfluß in PSWT zu berücksichtigen, wird von Boller [1617] sowie Bazios u. Gudladt [419] hingewiesen. Der Schädigungsparameter PHL nach Haibach und Lehrke [35, 895] sieht das Produkt aus effektiver Spannungs- und Dehnungsschwingbreite, Dreff Deeff nach Abb. 5.49, als maßgebend für die Schädigung an, wobei eine mit (5.21) direkt vergleichbare Formulierung bevorzugt wird (auf Kosten der Vergleichbarkeit mit den Schädigungsparametern Zd und PJ): PHL ˆ

p Dreff Deeff E

…5:23†

Dieser Parameterdefinition liegt die Vorstellung eines kurzen Risses im hochbeanspruchten Bereich der ungekerbten oder gekerbten Probe zugrunde. Schä-

5.5 Schädigungsparameter, Schädigungsmechanik und Kriechschädigung

313

digung tritt nur ein, wenn der Riß geöffnet ist. Die größte aufgetretene Spannungsamplitude legt für alle nachfolgenden kleineren Amplituden die Rißschließspannung senkrecht unter der beim Nulldurchgang des linken Hystereseastes angenommenen Rißöffnungsspannung fest, Abb. 5.49 (Bezugspunkt für Dreff und Deeff ). Gegenüber PSWT ist der Schädigungsbereich der Hystereseschleife vergrößert, wobei die Reihenfolge großer und kleiner Amplituden berücksichtigt wird. Auch ist der Gesamtbereich der Mittelspannungsempfindlichkeit, M ˆ 0 bis M ˆ 1,0, abgedeckt. Der Schädigungsparameter PHL wurde in ein weitergehendes Konzept der Berücksichtigung des Reihenfolgeeinflusses eingebunden (Verfahren der Amplitudentransformation [895]). Der Schädigungsparameter PJ nach Vormwald u. Seeger [1526] beschreibt das Kurzrißverhalten auf Basis des effektiven zyklischen J-Integrals DJeff unter Einschluß des Rißschließverhaltens, des Reihenfolgeeffekts, des Mehrachsigkeitseinflusses sowie der schädigungsbedingten Dauerfestigkeitsminderung (s. Kap. 7.6). Von Vormwald [1523] wird auch eine ausführliche Diskussion und Bewertung der herkömmlichen linearen und bilinearen Schadensakkumulationshypothesen im Vergleich zu den Schädigungsparametern PSWT , PHL und PJ gegeben. Die vorstehend beschriebenen Schädigungsparameter PSWT , PHL und PJ können, wie dargestellt, als (Formänderungs-)Energiedichtegrößen aufgefaßt werden, die sich auf Teilbereiche der Hystereseschleifen der Grundbeanspruchung des Kurzrisses beziehen. Es sind auch vereinzelt Energiedichte-Wöhler-Kurven publiziert worden. Schon die Miner-Regel läßt sich als Energiedichtehypothese (ohne die Kurzrißvorstellung) interpretieren. Das Energiedichtekonzept ist auch von Morrow [166], Halford [897], Zuchowski [958], Leis [916, 917], Niu et al. [930] sowie Lagoda [912, 913] weiterverfolgt worden. Der Schädigungsparameter PDQ nach DuQuesnay et al. [883, 884] beruht auf der Vorstellung der Schädigung als Kurzriß und führt die reduzierte Dehnungsschwingbreite am Ort des Kurzrisses als schädigungswirksam ein. Letztere ergibt sich aus der effektiven Dehnungsschwingbreite Deeff , während der der Kurzriß geöffnet ist, abzüglich der werkstoffabhängigen eigentlichen Dauerfestigkeitsdehnungsschwingbreite DeD (intrinsic fatigue limit strain range), das ist die Dehnungsdauerfestigkeit bei vollständig geöffnetem Riß: PDQ ˆ E…Deeff

DeeD †

…5:24†

Der Schädigungsparameter ist geeignet, die Dehnungs-Wöhler-Linie im Bereich mittlerer bis hoher Schwingspielzahlen bis Anriß (überwiegend elastische Grundbeanspruchung) unabhängig von der Mittelspannung einheitlich darzustellen. Der Mittelspannungseinfluß ist damit ausschließlich auf Rißschließvorgänge zurückgeführt. Ebenfalls lassen sich Lebensdauerberechnungen bei veränderlicher Dehnungsamplitude mit diesem Parameter durchführen. Der Schädigungsparameter PKBM nach Kandil, Brown u. Miller [281, 283, 330], erweitert um den Mittelspannungseinfluß von Socie et al. [363–365], geht von der Hypothese aus, daß Ermüdungsrisse durch die Hauptscherdehnungsamplitude c1a unter Mitwirkung der Dehnungsamplitude e?a senkrecht

314

5 Betriebsfestigkeit

zum Riß sowie der Mittelspannung r?m ebenfalls senkrecht zum Riß eingeleitet werden: PKBM ˆ c1a ‡ e?a ‡

r?m E

…5:25†

Die Größen e?a und r?m /E in (5.25) können mit experimentell zu bestimmenden Gewichtungsfaktoren versehen werden. Aus (2.20) und (5.25) folgt über den einachsigen mittelspannungsfreien Referenzfall die Schädigungsparameter-Wöhler-Linie zu: 0

PKBM

r 0 ˆ 1;65 f …2N †b ‡1;75ef …2N †c E

…5:26†

Bei Beschränkung der Dehnungen in (5.25) auf deren plastischen Anteil (Kurzzeitfestigkeit) entfällt in (5.26) der Term mit r0f =E. Der Schädigungsparameter PKBM ist eine Dehnungsgröße im Unterschied zu den Schädigungsparametern PSWT , PHL und PJ , die als Spannungsgrößen erscheinen. Auf die Hystereseschleife der Beanspruchung wird nicht Bezug genommen (vergleichbar mit PSWT), aber der Mehrachsigkeitseinfluß ist erfaßt (vergleichbar mit PJ). Ein von geschlossenen Beanspruchungszyklen und deren Hysterese unabhängiger Schädigungsparameter wird von Nowack et al. [931] verwendet, um die Lebensdauer bis zum technischem Anriß bei mehrachsigen Beanspruchungsabläufen mit variablen Amplituden zu bestimmen. Es wird die plastische Formänderungsenergiedichte als primärer Schädigungsparameter betrachtet und unter Verwendung der Mróz-Garud Fließ- und Verfestigungshypothese inkrementell bestimmt, wobei die Normalspannung in der Ebene der Hauptschubspannung bzw. der Oktaederschubspannung modifizierend hinzutritt. Die Schädigungsinkremente werden linear zur kritischen Schädigungssumme akkumuliert. Die Kurzrißmechanik bleibt ebenso wie die Langrißmechanik unberücksichtigt, und damit auch der Reihenfolge- bzw. Rißschließeffekt. Kontinuumstheorie der Schädigung (Schädigungsmechanik) Die Kontinuumstheorie der Schädigung, continuum damage mechanics, kurz „Schädigungsmechanik“, betrachtet die Schädigung als makroskopische Feldund Zustandsvariable in einem homogenen Kontinuum [84, 972–987]. Der mikroskopische Schädigungszustand wird über eine Länge von etwa 0,1–1,0 mm (oder über eine entsprechende Fläche oder über ein entsprechendes Volumen) gemittelt. Schädigung umfaßt die Bildung von Mikrorissen oder Mikrohohlräumen. Die Abgrenzung der Schädigungsmechanik der Mikrofehlstellen zur Bruchmechanik des Makrorisses ist in Abb. 5.50 gezeigt. Die Feld- und Zustandsvariable „Schädigung“ (die Schädigungsvariable) erscheint in den Grundgleichungen, die das Verformungsverhalten des Werkstoffs beschreiben [987]. Sie wächst ausgehend von einem Schwellenwert mit zuneh-

5.5 Schädigungsparameter, Schädigungsmechanik und Kriechschädigung

315

Abb. 5.50: Abgrenzung der Kontinuumstheorien von Schädigungsmechanik und Bruchmechanik; zugehörige charakteristische Längen von Fehlstellen und Rissen; nach Chaboche [974]

mender Beanspruchung oder Beanspruchungsdauer, bis der Makroriß eingeleitet wird. Von da an konzentriert sich die Schädigung auf die unmittelbare Umgebung der Rißspitze. Die Feld- und Zustandsvariable „Schädigung“ kann auf unterschiedliche Weise definiert und gemessen werden, nämlich über die Restlebensdauer, über die Dauerfestigkeitsminderung, über die in den Hystereseschleifen der Beanspruchung umgesetzte spezifische Formänderungsenergie, über effektive Spannungen in dem durch Mikrofehlstellen geschädigten Kontinuum (Messung der Elastizitätsmoduländerung) oder über weitere schädigungsrelevante Größen (z. B. Dichteänderung, elektrische Widerstandsänderung, Schallemission). Die Schädigungsmechanik läßt sich ausgehend von der Thermodynamik irreversibler Prozesse mit inneren Zustandsvariablen einheitlich und umfassend begründen. In der einfacheren Form der Theorie werden kleine Dehnungen, isotrope Dehnungsverfestigung und isotrope Schädigung eingeführt. In der allgemeineren Theorie werden große Dehnungen, anisotrope („kinematische“) Dehnungsverfestigung und anisotrope Schädigung einbezogen. Die Schädigungsmechanik umfaßt die Teilbereiche der Kriechschädigung, der duktilen und spröden Verformungsschädigung sowie der Ermüdungsschädigung im Kurz- und Langzeitfestigkeitsbereich. Die historisch frühesten Ansätze von Kachanov [978, 979] und Rabotnov [576] beziehen sich auf die Kriechschädigung bei Hochtemperaturbeanspruchung. Der eigentliche Theorieausbau erfolgt insbesondere durch Chaboche [972–975] und Lemaitre [982]. In der Schädigungsmechanik ist die Schädigungsvariable die wichtigste Ausgangs- und Bezugsgröße, vergleichbar mit der Wöhler-Linie bei herkömmli-

316

5 Betriebsfestigkeit

chen Betrachtungen zur Ermüdungsfestigkeit oder mit der Rißgröße beim bruchmechanischen Ansatz. Einheitliches Schädigungsmodell zu Rißeinleitung und Rißfortschritt Ausgehend von der Kontinuumstheorie der Schädigung lassen sich Rißeinleitung und Rißfortschritt nach einem einheitlichen Modell erfassen. Voraussetzung für die praktische Durchführung der Berechnung ist die Diskretisierung des räumlichen oder ebenen Kontinuums in finite Elemente, die unter Einschluß der Zustandsvariablen „Schädigung“ definiert sind (Paas et al. [984, 985], Peerlings et al. [986]). Bei der Problemlösung mit finiten Elementen ist die extreme Empfindlichkeit des Berechnungsergebnisses gegenüber der Netzfeinheit an der Rißspitze hinderlich. Die Empfindlichkeit läßt sich aus dem Singulärwerden der Schädigungsrate an der Rißspitze erklären. Das Problem ist behebbar, indem in den Grundgleichungen nichtlokale Beziehungen zwischen bestimmten Zustandsvariablen oder entsprechenden Gradienten eingeführt werden [986]. Nachfolgend werden Rißeinleitung und Rißfortschritt bei Langzeitermüdung ausgehend von einer Strukturkerbe über ein Finite-Elemente-Modell beispielhaft dargestellt [986]. In der Rißeinleitungsphase wächst die Schädigungsvariable unter dem Einfluß der zyklischen Beanspruchung stetig an. Bei einer bestimmten Höhe der akkumulierten Schädigung kann der Werkstoff keine Spannungen mehr übertragen, so daß ein Riß eingeleitet wird. Die weitere Schädigung lokalisiert sich an Rißspitze und Rißflanken. Der Riß vergrößert sich im Zusammenwirken von lokaler Schädigungszunahme und Spannungsumverteilung beim Rißfortschritt.

Abb. 5.51: Schädigung als Funktion des Schwingspielzahlverhältnisses im Langzeitfestigkeitsbereich; Versuchsergebnisse nach Hua u. Socie [905] und rechnerische Näherung auf Basis der Schädigungsmechanik; nach Peerlings et al. [986]

5.5 Schädigungsparameter, Schädigungsmechanik und Kriechschädigung

317

Die Schädigungsfunktion (5.17) wird mit ˆ 10 entsprechend den Versuchsergebnissen von Hua u. Socie [905] für den Stahl SAE 1045 eingeführt, Abb. 5.51. Die dünne Scheibe mit quer angeordneter U-förmiger Kerbe (ebener Spannungszustand) wird über die Randverschiebung Dw zyklisch beansprucht,

Abb. 5.52: Einseitig gekerbte Scheibe unter zyklischer Randverschiebung (a) und Finite-Elemente-Netz für die Schädigungsberechnung (b); nach Peerlings et al. [986]

Abb. 5.53: Ergebnis der Schädigungsberechnung mit finiten Elementen für die Kerbscheibe nach Abb. 5.52; Rißeinleitung und Rißfortschritt (Rißlänge a) dargestellt über entfernte Elemente; nach Peerlings et al. [986]

318

5 Betriebsfestigkeit

Abb. 5.52 (a). Der Werkstoff wird als elastisch mit zyklischer Schädigung eingeführt. Das Finite-Elemente-Netz der oberen Symmetriehälfte (ohne das noch feinere Netz mit der Elementlänge h ˆ 0,005 mm im Ausschnitt) zeigt Abb. 5.52 (b). Schließlich ist das Berechnungsergebnis am feineren Netz des Ausschnittes in Abb. 5.53 (a–c) gezeigt. Die Elemente, in denen die Vollschädigung erreicht wurde, sind entfernt. Bei N ˆ 16 000 ist die Rißlänge a ˆ 0,25 mm erreicht. Sie steigt bei N ˆ 36 000 auf a  0,5 mm an. Es konnte gezeigt werden, daß die berechnete stationäre Rißfortschrittsrate von der Elementgröße weitgehend unabhängig ist (h  0,005–0,05 mm), wenn die gradientengestützte Schädigungsmodellierung gewählt wird. Überlagerung von Ermüdungs- und Kriechschädigung Bei Schwingbeanspruchung im Hochtemperaturbereich tritt zusätzlich zur Schädigung durch Ermüdung (Rißbildung) eine solche durch Kriechen (Hohlraumbildung) auf. Die Hypothese der linearen Schadensakkumulation erhält dann eine erweiterte Form. Ebenso wie die Teilschädigungen Dj durch Ermüdung ausgehend von Spannungsamplitude raj (bzw. Dehnungsamplitude eaj ), Schwingspielzahl DNj und Bruch- oder Anrißschwingspielzahl NBj bzw. NAj (gemäß Wöhler-Linie) bestimmt und aufsummiert werden, wird bei den Teilschädigungen Dj durch Kriechen ausgehend von Spannung rj , Spannungswirkdauer Dtj (in den Beanspruchungszyklen) und Zeitspanne bis Kriechbruch tBj (gemäß Kriechzeitfestigkeitslinie) verfahren (Robinson [967, 968], Mordfin et al. [966]): Dj ˆ D ˆ

Dtj tBj n X Dj

…5:27† …5:28†

jˆ1

Bei reiner Kriechbeanspruchung soll der Bruch theoretisch bei D ˆ 1;0 eintreten, bei überlagerter Ermüdungs- und Kriechbeanspruchung bei …D ‡ D† ˆ 1;0. In der Praxis wird an die Stelle von 1,0 meist ein kleinerer Wert gesetzt (relative Version der Hypothese). Die Vorgehensweise ist mit der von der Miner-Regel her bekannten grundsätzlichen Problematik verbunden, die durch das Hinzutreten der Kriechschädigung verstärkt wird. Eine bewährte Verfahrensverbesserung nach Halford et al. [962, 963] sowie Hales [961] besteht darin, den Beanspruchungszyklus für die Schädigungsberechnung in Teilzyklen zu unterteilen und deren inelastische Dehnungsschwingbreiten auszuwerten (strain range partitioning), Abb. 5.54. Es wird zwischen vier Grundtypen von Zyklen, je nach Kombination von elastisch-plastischem und elastisch-viskoplastischem Werkstoffverhalten, unterschieden, Abb. 5.55. Den zugehörigen inelastischen Dehnungsschwingbreiten Depp , Depv , Devp und Devv entsprechen unterschiedliche, experimentell zu ermittelnde Dehnungs-

5.5 Schädigungsparameter, Schädigungsmechanik und Kriechschädigung

319

Abb. 5.54: Beanspruchungszyklus bei Hochtemperaturermüdung mit Unterteilung in Dehnungsschwingbreiten für die Schädigungsberechnung (strain range partitioning); nach Halford et a. [962], Darstellung nach Lemaitre u. Chaboche [84]

Abb. 5.55: Grundformen der Beanspruchungsteilzyklen für die Schädigungsberechnung bei Hochtemperaturermüdung; Werkstoffverhalten elastisch (el), elastisch-plastisch (pl) und elastisch-viskoplastisch (vp); Dehnungsschwingbreiten Depp , Depv , Devp und Devv nach strain range partitioning; nach Halford et al. [962]

Wöhler-Linien mit den Bruchschwingspielzahlen NBpp , NBpv , NBvp und NBvv . Die Bruchschwingspielzahl NB bei der inelastischen (Gesamt-)Dehnungsschwingbreite Dein ergibt sich bei linearer Schadensakkumulation nach Lemaitre u. Chaboche [84]: 1 1 Depp 1 Depv 1 Devp 1 Devv ˆ ‡ ‡ ‡ NB NBpp Dein NBpv Dein NBvp Dein NBvv Dein

…5:29†

Aber auch dieses verbesserte Verfahren ist in vielen Fällen unzureichend. Ein wichtiger Fortschritt ist die Einführung von nichtlinearer Akkumulation und Interaktion zu den beiden Schädigungsarten (Ermüdung und Kriechen). Dies leistet die Kontinuumstheorie der Schädigungsmechanik. In dieser Theorie wird

320

5 Betriebsfestigkeit

die Kriechschädigung bei monotoner einachsiger Beanspruchung nach Rabotnov [576] und Kachanov [978, 979] wie folgt dargestellt: D ˆ 1

 1=…k‡1† t tB

…5:30†

mit der (temperaturabhängigen) Werkstoffkonstanten k. Die (reine) Ermüdungsschädigung wird andererseits durch (5.14) bzw. (5.15) erfaßt. Bei Überlagerung der beiden Schädigungsvorgänge (Indices k und e) werden die Schädigungsdifferentiale dD ˆ fk …r; D; T †dt ‡ fe …ro ; rm ; D; T †dN

…5:31†

fortlaufend integriert [84]. Dieser Ansatz beinhaltet ein einheitliches Schädigungsmaß D für Kriechen und Ermüdung. Metallphysikalisch liegen unterschiedliche Prozesse zugrunde (Hohlraumbildung bzw. Rißbildung). Es kann jedoch argumentiert werden, daß Hohlraumbildung durch Korngrenzenentfestigung den (Mikro-)Rißfortschritt begünstigt und umgekehrt (Mikro-)Rißbildung durch die rißbedingten Spannungskonzentrationen das Hohlraumwachstum fördert. Der vorstehende Ansatz erfaßt nichtlineare Interaktionen der vielfach stark unterschiedlichen Schädigungsentwicklungen durch Kriechen und Ermüdung. Einen alternativen rechnerischen Zugang zur Schadensakkumulation bei Hochtemperaturbeanspruchung bieten Methoden, die die Schädigung ausgehend von der Formänderungsenergiedichte der Hystereseschleifen definieren (Leis [916, 917]). Zu diesen Methoden gehört auch die nachfolgend beschrieben Vorgehensweise. Lebensdauer unter betriebsnaher Temperaturwechselbeanspruchung Ein von der verallgemeinerten Schadensakkumulationshypothese (D ‡ D*) ˆ 1 in Verbindung mit den Hystereseschleifen einer betriebsnahen Temperaturwechselbeanspruchung ausgehendes Verfahren zur Abschätzung der Lebensdauer unter überlagerter Ermüdungs- und Kriechschädigung wurde von Scholz et al. [959, 960, 964, 965, 969–971] entwickelt. Es wird nachfolgend in den Grundzügen dargestellt. Die Überlagerung von Ermüdung und Kriechen bei Temperaturwechselbeanspruchung der Oberfläche von Hochtemperaturbauteilen in thermischen Kraftwerken bedingt vielfach die Lebensdauergrenze dieser Bauteile. Ursache sind die zahlreichen An- und Abfahrvorgänge im Laufe einer angestrebten Betriebsdauer von 100 000 bis 300 000 h (Kaltstarts, Warmstarts, Heißstarts). Sie lassen sich zur Abschätzung der Schädigung vereinfachend als dreistufige Dehnungswechselfolge bei der Höchsttemperatur Tmax darstellen, Abb. 5.56. Die Beanspruchung durch äußere Belastung (beispielsweise Fliehkraft oder Dampfdruck) hat auf die Lebensdauer keinen nennenswerten Einfluß. Der Zusammenhang eines typischen Beanspruchungsablaufs mit dem zugehörigen Hystereseschaubild ist in Abb. 5.57 dargestellt. Dem Temperaturablauf (a)

5.5 Schädigungsparameter, Schädigungsmechanik und Kriechschädigung

321

Abb. 5.56: Betriebsähnliche Dreistufen-Beanspruchungsfolge der Temperatur- und Dehnungswechsel durch Kalt-, Warm- und Heißstarts in Hochtemperaturbauteilen von thermischen Kraftwerken; mit Zykluszeit tz, Kollektivzeit tk und Versuchszeiten bis 15 000 h (schematisch); nach Scholz u. Berger [969]

Abb. 5.57: Typischer thermischer Beanspruchungsablauf infolge An- und Abfahrvorgängen in der Kraftwerktechnik: Temperaturverlauf (a), Dehnungsverlauf mit Haltezeiten (b, c), Spannungsverlauf (d) und Hystereseschleife (e) ; nach Scholz u. Berger [969]

322

5 Betriebsfestigkeit

wird der schädigungsrelevante isotherme Dehnungsablauf (b) mit Zug- und Druckamplituden ea z und ea d sowie Haltezeiten t1 bis t4 (c) zugeordnet, dem wiederum der Spannungsverlauf (d) als Werkstoffreaktion entspricht. Letzterer folgt aus dem Hystereseschaubild (e). Die Dehnung e umfaßt elastische und plastische Anteile unter Abzug der Wärmedehnung. Während der vier Haltezeiten tritt Spannungsrelaxation auf, die sich in der Hystereseschleife durch senkrechte Abschnitte markiert (zugehörig sind die minimalen und maximalen Dehnungen sowie die Dehnung null). Der vollständigen Hystereseschleife ist die Mittelspannung rm zugeordnet. Dem schraffierten linken Teilbereich entspricht die Mittelspannung ri , in deren Richtung die Relaxation der wirksamen Spannung rw erfolgt. Die Mittelspannung ri ist eine innere Spannung höherer Ordnung, die durch kinematische Verfestigung bei unsymmetrischen Haltezeiten und Dehnungsamplituden bedingt ist. Die Äste der Hystereseschleifen werden in bekannter Weise durch die Beziehung nach Ramberg–Osgood beschrieben (Masing-Verhalten). Die Entfestigung durch Relaxation während der Haltezeiten wird durch das (dehngeschwindigkeitsunabhängige) Kriechgesetz nach Norton–Bailey erfaßt: e ˆ Krnw tm

…5:32†

Die Lebensdauerabschätzung erfolgt über die eingangs erwähnte verallgemeinerte Schadensakkumulationshypothese: n X DNj jˆ1

NAj

‡

m X Dti iˆ1

tBi

ˆ D ‡ D

…5:33†

mit der Gesamtschädigung …D ‡ D† und den zu (5.6) und (5.27) erläuterten Parametern. Der Ermüdungsschädigung ist das Versagenskriterium Anriß (Index A) zugeordnet, der Kriechschädigung dagegen das Versagenskriterium Bruch (Index B). Die ermüdungsrelevanten Referenzwerte NAj werden einer Dehnungs-Wöhler-Linie für Anriß entnommen. Bei der Auswertung isothermer betriebsähnlicher Kriechermüdungsversuche wird hierbei eine Anriß-Wöhler-Linie für die gewählte Temperatur herangezogen, dagegen werden bei der entsprechenden Auswertung anisothermer Versuche Anriß-Wöhler-Linien bei der oberen und unteren Zyklustemperatur zugrunde gelegt. Die kriechbruchrelevanten Referenzwerte tBj lassen sich aus Zeitbruchkurven unter Vorgabe der in den Haltephasen wirkenden Spannungen ableiten. Die ertragbare Gesamtschädigung …D ‡ D† liegt, wie nachfolgend detaillierter dargestellt, bei ferritischen und martensitischen Stählen unter 1,0 und ist werkstoffabhängig. Das vorstehende Grundverfahren wurde zur Erhöhung der Treffsicherheit von Lebensdauerprognosen in verschiedener Hinsicht verfeinert. Zunächst werden im Dehnungswechselversuch Haltezeiten von je 3 min nach jedem Dehnungsanstieg bzw. Dehnungsabfall (mit e_ ˆ 6 %/min) eingefügt, was die Lebensdauer vermindert, Abb. 5.58 (a). Dies wird damit begründet, daß die Rißeinleitung an der Oberfläche und der anschließende Rißfortschritt durch die Kriechschädigung in Form von Poren und Mikrorissen verstärkt werden.

5.5 Schädigungsparameter, Schädigungsmechanik und Kriechschädigung

323

Abb. 5.58: Dehnungs-Wöhler-Linien ohne und mit überlagerter Kriechschädigung für den Stahl X10CrMoVNbN9-1 (a) und ertragbare Kriechermüdungsschädigung für die martensitischen Stähle X bzw. GX12CrMoWVNbN10-1-1 (Schmiedeversion bzw. Gußversion) sowie X10CrMoVNb9-1 (Rohrleitungsstahl) (b); Hohlpunkte für Einstufenbelastung und Vollpunkte für Dreistufenbelastung; nach Scholz u. Berger [969]

Im Rahmen des verfeinerten Verfahrens mit Haltezeitzuordnung werden drei Fälle unterschieden. Bei kleinen Dehnungsschwingbreiten mit vernachlässigbaren plastischen Anteilen wird der Schwingversuch ohne Haltezeiten durchgeführt; letztere werden allein dem Kriechversuch zugeordnet. Bei mittleren Dehnungsschwingbreiten werden im Schwingversuch kurze Haltezeiten t1 ˆ t3 ˆ 3 min mitberücksichtigt, während die Haltezeiten im Kriechversuch entsprechend gekürzt werden. Schließlich werden bei großen Dehnungsschwingbreiten noch längere Haltezeiten anteilig im Schwingversuch verwendet. Die Haltezeiten in den Phasen 2 und 4 (s. Abb. 5.57 (b)) bleiben von den vorstehenden Zuordnungen unbeeinflußt. Die beschriebene time fraction method tritt an Stelle der strain range partitioning method (Abb. 5.54). Die unterschiedliche Zuordnung der Haltezeit läßt sich physikalisch damit begründen, daß hohe Spannungen entsprechend hohe Relaxationsgeschwindigkeiten bewirken, was kurzzeitiger Verformung mit transkristalliner (und somit ermüdungsähnlicher) Schädigung entspricht. Dagegen liegen bei niedrigen Spannungen entsprechend niedrige Relaxationsgeschwindigkeiten vor, was eher zu einer Kriechschädigung mit typischer Hohlraumbildung führt. Schließlich werden im Rahmen des verfeinerten Verfahrens die Eingabedaten zu (5.33) über Informationen verbessert, die der Hystereseschleife entnommen werden können. Dazu gehören die bereits erwähnte Relaxation in Richtung der inneren Spannung ri sowie eine Mittelspannungskorrektur zu NAj, die entsprechend dem Schädigungsparameter PSWT nach Smith, Watson und Topper (s. (5.21)) formuliert wird. Zur Definition der Hystereseschleife bei den mehrstufigen Dehnungsfolgen können die Rainflow-Zählung oder das ihr ähnliche Spannenpaarverfahren (range pair counting) eingesetzt werden.

324

5 Betriebsfestigkeit

Nach den vorstehend beschriebenen Verfahren wurden herkömmliche ferritische und moderne martensitische warmfeste Stähle unter den dargestellten einund mehrstufigen Dehnungswechselfolgen im Hinblick auf die tatsächlich ertragene Gesamtschädigung …D ‡ D† untersucht. Die Versuchstemperatur wurde fallabhängig mit Tmax ˆ 500–600 8C gewählt. Die Versuchszeit ∑ tk bis zum Anriß betrug bis zu 20 000 h bei martensitischen Stählen bzw. bis zu 70 000 h bei ferritischen Stählen. Variiert wurden die Dehnungsschwingbreiten und die Haltezeiten. Das Versuchsergebnis für die martensitischen Stähle X10CrMoWVNbN (geschmiedet und gegossen) sowie X9CrMoVNb bei einstufiger und dreistufiger Dehnungswechselfolge zeigt Abb. 5.58 (b). Die ertragbare Gesamtschädigung wird mit …D ‡ D† ˆ 0; 68 angegeben.

5.6

Kerbmechanische Ansätze

Zyklische Belastung mit veränderlicher Mittellast Die erläuterten Hypothesen der linearen Schadensakkumulation führen, wenn sie auf Nennspannungsamplituden ohne örtliche Beanspruchungsanalyse an der Rißeinleitungsstelle, meist eine Kerbe, angewendet werden, nur dann zu brauchbaren Ergebnissen, wenn die Mittellast bzw. die Mittelnennspannung sich nur wenig ändert und somit deren Reihenfolgeeffekt unberücksichtigt bleiben kann. Dies ist aber bei betriebsbeanspruchten Bauteilen eher die Ausnahme. In Fällen veränderlicher Mittellast ist zusätzlich der Verlauf der Kerbgrundbeanspruchung zu beachten. In letzter Konsequenz führt das zur Anwendung der Schadensakkumulationshypothese auf die Kerbgrundbeanspruchungen statt auf die Nennspannungen. Ein bekannter und intensiv erforschter Fall stark veränderlicher Mittellast tritt am Flugzeugflügel auf, dessen Unterseite im Flug veränderliche Zugspannungen aufweist (Biegung durch Auftriebskraft überlagert von Böenbeanspruchung) und im Rollen am Boden veränderliche Druckspannungen (Biegung durch Flügelgewicht überlagert von Bodenerregung). Es superponieren sich die Lastkollektive der Start-Lande-Wechsel, der Böenbeanspruchung und der Bodenerregung. Der Beanspruchungsablauf ist in Abb. 5.59 schematisch gezeigt. Der Lastablauf (a) wird zunächst im zyklischen Spannungs-Dehnungs-Diagramm (b) verfolgt und dann als Gesamtspannung (c) und Eigenspannung (d) im Kerbgrund über der Zeit dargestellt. Die Dehnung in (b) ist näherungsweise der Last in (a) proportional gesetzt. Die Gesamtspannung (c) kann dann abgegriffen werden. Die Eigenspannung (d) ergibt sich nach jeweils vollständiger Entlastung gegenläufig zur plastischen Dehnung. Die historisch früh konzipierten Diagramme sind ungenau und sollen nur das Phänomen der veränderlichen Eigenspannung im Kerbgrund tendenziell veranschaulichen.

5.6 Kerbmechanische Ansätze

325

Abb. 5.59: Spannungsamplitudenfolge im Kerbgrund mit starker Mittelspannungsänderung (Flügelunterseite bei Betriebsbelastung): Lastamplitudenfolge (a), Spannungs-Dehnungs-Hystereseschleife (b), Gesamtspannungsablauf im Kerbgrund (c), Eigenspannungsablauf im Kerbgrund (d); nach Haibach et al. [1635]

Erweitertes Kerbgrundkonzept In Fällen stark veränderlicher Mittellast führt nur der kerbmechanische Ansatz mit Berücksichtigung der veränderlichen Kerbmittelspannungen zu realistischen Lebensdauerwerten von Proben und Bauteilen. In Erweiterung des kerbmechanischen Ansatzes bei konstanter Amplitude und Mittellast wird angenommen, daß sich der Werkstoff im Kerbgrund auch bei veränderlicher Amplitude und Mittellast hinsichtlich Verformung und Anriß ähnlich verhält wie eine dort gedachte (oder auch tatsächlich herausgelöste und geprüfte) axialbelastete ungekerbte Vergleichsprobe hinsichtlich Verformung und vollständigem Bruch („erweitertes Kerbgrundkonzept“ bei Betriebsbelastung im Unterschied zum „engeren Kerbgrundkonzept“ bei Einstufenbelastung, s. Kap. 4.13). Die zu lösende Aufgabe besteht wieder darin, einerseits den Beanspruchungsablauf im Kerbgrund und andererseits die diesem Beanspruchungsablauf entsprechende Schädigung einschließlich der Bruchgrenze für die Vergleichsprobe rechnerisch und experimentell zu ermitteln (auf Basis von zyklischer Spannungs-Dehnungs-Kurve, Dehnungs-Wöhler-Linie oder Schädigungsparameter-WöhlerLinie, Haigh-Diagramm usw.). Daraus ergibt sich eine Lebensdauerlinie für

326

5 Betriebsfestigkeit

den Anriß in der gekerbten Probe oder im Bauteil, von der ausgehend die Lebensdauerlinie für den Bruch über die bruchmechanische Berechnung des Rißfortschritts abgeschätzt werden kann. Lebensdauerberechnung Die Berechnung der Lebensdauer bis Anriß oder Bruch folgt dem in Abb. 5.60 dargestellten Ablaufschema, eine ältere Grafik, in der heute der Mehrachsigkeitseinfluß zusätzlich hervorzuheben wäre. Die Kerbgrundbeanspruchung kann nach einer der bekannten Näherungsformeln sowie nach numerischen Verfahren bestimmt werden (dabei ist bei scharfen Kerben mit kleinem Kerbradius bzw. bei kleinem höchstbeanspruchten Werkstoffvolumen anstelle der Formzahl k die kleinere Kerbwirkungszahl b k einzuführen). Die Basis dafür bildet die zyklische Spannungs-Dehnungs-Kurve und die daraus nach dem MasingModell direkt ableitbaren Hystereseschleifen. Im Unterschied zum engeren Kerbgrundkonzept ist jetzt neben der Spannungsamplitude die Mittelspannung veränderlich, was auch als Eigenspannungsänderung aufgefaßt werden kann. Für zyklische Relaxation bzw. zyklisches Kriechen gelten Näherungsansätze, die abhängig von Amplitudenhöhe und Schwingspielzahl die zyklisch verursachte Mittelspannungs- bzw. Mitteldehnungsänderung angeben. Bei Vorgängen mit veränderlicher Lastamplitude und/oder Mittellast spielt außerdem das

Abb. 5.60: Ablaufschema der Lebensdauerberechnung bis Anriß oder Bruch nach dem hinsichtlich Betriebsfestigkeit erweiterten Kerbgrundkonzept für gekerbte Proben und Bauteile; nach Beste [1616]

5.6 Kerbmechanische Ansätze

327

„Werkstoffgedächtnis“ eine entscheidende Rolle. Es verbürgt die „richtige“ Aufeinanderfolge der Umkehrpunkte der Hystereseschleifen. Schließlich ergeben sich aus den Hystereseschleifen der Kerbgrundbeanspruchung die Teilschädigungen, die sich bis zur Bildung eines Anrisses aufsummieren. Dazu ist eine Schadensakkumulationsrechnung mit Bezug auf die Dehnungs-Wöhler-Linie unter Einschluß des Mittelspannungseinflusses oder mit Bezug auf die Schädigungsparameter-Wöhler-Linie durchzuführen. Dem Anriß folgt erst der stabile Rißfortschritt und dann der vollständige Bruch. Die letzteren Vorgänge lassen sich, wie schon bei konstanter Lastamplitude und Mittellast, auf der Basis des Rißfortschrittskonzepts rechnerisch darstellen (s. Kap. 6.7). Werkstoffgedächtnis Der Spannungs-Dehnungs-Pfad zwischen den Umkehrpunkten der Hystereseschleifen ergibt sich aus der Form der zyklischen Spannungs-Dehnungs-Kurve nach dem Masing-Modell, wobei die in Abb. 5.61 veranschaulichten drei Arten von Werkstoffgedächtnis (M1, M2, M3) zu beachten und in den Berechnungen zu berücksichtigen sind: – Werkstoffgedächtnis M1: bei Erstbelastung wird nach Schließen einer Hystereseschleife die zyklische Spannungs-Dehnungs-Kurve fortgesetzt. – Werkstoffgedächtnis M2: auf Schleifenästen wird nach Schließen einer Hystereseschleife der ursprüngliche Schleifenast weiterverfolgt.

Abb. 5.61: Lastfolge an ungekerbter Probe (a) und zugehöriger Spannungs-Dehnungs-Pfad (b) zur Veranschaulichung dreier Arten von Werkstoffgedächtnis (memory M1, M2 und M3); nach Clormann u. Seeger [747]

328

5 Betriebsfestigkeit

– Werkstoffgedächtnis M3: ein auf der zyklischen Spannungs-DehnungsKurve begonnener Schleifenast endet, wenn der Spiegelpunkt des Startpunktes im diagonal gegenüberliegenden Quadranten erreicht ist; danach wird die zyklische Spannungs-Dehnungs-Kurve fortgesetzt. Zur rechnerischen Simulation des komplexen zyklischen Verhaltens kann das von Martin et al. [1651], Wetzel [1689] sowie Jhansale u. Topper [1641] eingeführte rheologische Hysterese-Modell dienen, das die stückweise linearisierten Kurvenäste durch einen Verbund diskreter Feder- und Reibelemente darstellt. Wesentlich günstiger hinsichtlich Rechenzeit ist es, die geschlossenen Hystereseschleifen mittels Rainflow-Zählung zu identifizieren (s. Kap. 5.2). Dabei wird von der Tatsache Gebrauch gemacht, daß jeder Schleife im Last-Verformungsbzw. Nennspannungs-Nenndehnungs-Diagramm eine ebensolche im Kerbspannungs-Kerbdehnungs-Diagramm entspricht. Der Zusammenhang kann durch die Neuber-Formel (4.21) oder deren Modifikationen sowie nach Glinka [1549] näherungsweise beschrieben werden. Schadensakkumulation im Kerbgrund Die Berechnung der Schadensakkumulation im Rahmen des erweiterten Kerbgrundkonzepts für gekerbte Proben oder Bauteile unter Betriebsbelastung er-

Abb. 5.62: Schädigungsparameter-Wöhler-Linien für Stahl und Aluminiumlegierung auf Basis der Dehnungs-Wöhler-Linien (R ˆ 1, ohne zyklische Vorbelastung), Schwingspielzahl N bis Bruch der Begleitprobe bzw. bis Anriß des Bauteils; nach Heuler [1636]

5.6 Kerbmechanische Ansätze

329

folgt einerseits ausgehend von den Hystereseschleifen im Kerbgrund als Maß für die Teilschädigungen und andererseits ausgehend von der Dehnungs-Wöhler-Linie als Maß für die ertragbare Gesamtschädigung [1636, 1639]. Die Teilschädigung Dj einer Schleife wird im einfachsten Fall durch direkten Bezug auf die Dehnungs-Wöhler-Linie ohne oder mit Mittelspannungseinfluß ermittelt, Dj ˆ 1=NBj . Dabei wird die elastisch-plastische Dehnungsschwingbreite im Kerbgrund als Schädigungsmaß verwendet (s. Dowling [77, 1624, 1625]). Die Teilschädigungen Dj werden zur Gesamtschädigung D aufsummiert. Der Anriß ist nach der originalen Schadensakkumulationshypothese nach Miner für D ˆ 1;0 zu erwarten. Ebenso lassen sich die modifizierten Hypothesen oder auch relative Hypothesen mit D 6ˆ 1;0 anwenden. Physikalisch plausibler ist der Vergleich eines Schädigungsparameters, beispielsweise PSWT nach (5.21), mit dem entsprechenden Grenzwert gemäß Dehnungs-WöhlerLinie. Zur Vereinfachung der Berechnung wird letztere als Schädigungsparameter-Wöhler-Linie (oder P-Wöhler-Linie) dargestellt, Abb. 5.62. Der horizontale Auslauf der Linien im Dauerfestigkeitsbereich gilt nur bei Abbildung der Schädigung im Einstufenversuch ohne überhöhte zyklische Vorbelastung. Durch einmalige oder wiederholte Vorbelastung (typisch für Mehrstufen- und RandomBelastung) wird die Zeitfestigkeitslinie mit nur wenig veränderter Steigung in den Dauerfestigkeitsbereich hinein verlängert (s. Abb. 7.70). Reihenfolgeeinfluß Der Mittelspannungs- und Mitteldehnungseinfluß kommt im Schädigungsparameter der Hystereseschleifen zum Ausdruck, während die Schädigungsparameter-Wöhler-Linie im allgemeinen für rm ˆ 0 und em ˆ 0 ermittelt wird. Der Reihenfolgeeinfluß ist damit insoweit erfaßbar, als die Mittelspannungs- und Mitteldehnungsfolge im Kerbgrund wirklichkeitsnah vorgegeben wird (Buxbaum et al. [879], Haibach u. Matschke [896]). Ergänzend zum Schädigungsparameter PSWT kann die zusätzliche Schädigungswirkung kleiner Schwingamplituden nach einer großen Schwingamplitude nach Hanschmann [898] berücksichtigt werden. Auf Basis des Schädigungsparameters PJ nach dem Kurzrißmodell (Vormwald u. Seeger [1525, 1526], s. Kap. 7.6) kann die Lebensdauervorhersage weiter verbessert werden. Eine methodisch andersartige Weiterentwicklung der Schadensakkumulationsrechnung unter Berücksichtigung von Reihenfolgeeffekten stellt das „Verfahren der Amplitudentransformation“ nach Haibach u. Lehrke [895, 1633] dar. Es ist darauf angelegt, Ergebnisse herkömmlicher Schwingfestigkeitsforschung auf Basis der Nennspannungen mit den Erkenntnissen zur verbesserten Lebensdauerberechnung auf Basis der Kerbgrundbeanspruchungen zu verbinden. Der Grundgedanke besteht darin, die Nennspannungsamplitude für jedes ermittelte Schwingspiel derart zu verringern (oder zu erhöhen), daß günstige (oder ungünstige) Einflüsse der Mittelspannung oder auch Wechselwirkungen abgedeckt sind. Das Ausmaß der Amplitudentransformation wird aus der Hystereseschleife der örtlichen Spannung und Dehnung für die schwingbruchkritische Kerbstelle über den Schädigungsparameter berechnet.

330

5 Betriebsfestigkeit

Mehrachsigkeitseinfluß Der Einfluß unterschiedlicher oder veränderlicher Mehrachsigkeit der Beanspruchung im Kerbgrund konnte im kerbmechanischen Ansatz bisher nur überschlägig berücksichtigt werden. Bei proportional mehrachsiger Beanspruchung (Hauptspannungsrichtung konstant) wird bei duktilem Werkstoff die Vergleichsspannung nach der Hypothese der Gestaltänderungsenergie anstelle der einachsigen Spannung im Kerbgrund eingeführt und hinsichtlich der Dehnungen sinngemäß verfahren. Bei spröden Werkstoffen tritt an die Stelle der Hypothese der Gestaltänderungsenergie die Hypothese der größten Normalspannung. Das Festigkeitsverhalten im Kerbgrund bei nichtproportional mehrachsiger Beanspruchung (Hauptspannungsrichtung veränderlich) wird durch besondere Festigkeitshypothesen beschrieben (s. Kap. 3.2–3.4). Hinzu treten modifizierte Zyklenzählmethoden und Schädigungsberechnungen je Zyklus. Folgende Schwierigkeiten sind zu überwinden. Zunächst sei der Dehnungspfad nach Abb. 5.63 (a) betrachtet, der an einer Hohlstabprobe unter zusammengesetzter Axial- und Torsionsbelastung mit jeweils variablen Amplituden gemessen wurde (genauere Angaben fehlen in der Originalpublikation [385]). Im betrachteten Sonderfall eines statisch bestimmten Zusammenhanges zwischen äußerer Belastung und inneren Spannungen lassen sich die Zyklen der Axial- und Schub-

Abb. 5.63: Dehnungspfad (a) und Beanspruchungszyklen (b, c) an einem Probestab unter nichtproportional zusammengesetzter Axial- und Torsionsbelastung mit variablen Amplituden; nach Wang u. Brown [385]

5.6 Kerbmechanische Ansätze

331

beanspruchung im Rohr durch Messung bestimmen, Abb. 5.63 (b, c). Im allgemeineren statisch unbestimmten Fall (der Normalfall bei Bauteilkerben) ist bereits die Zuordnung der Spannungen zu den gemessenen Dehnungen problematisch. Das Problem ist grundsätzlich lösbar, indem der mehrachsige anisotrope Verfestigungsvorgang auf theoretischer Basis numerisch verfolgt wird (Hoffmann et al. [649], Döring [1591]). Damit ergibt sich die Möglichkeit, eine Rainflow-Zählung (oder Bereichszählung) für die Zyklen der Axial- und Schubbeanspruchung unabhängig voneinander durchzuführen. Es bleibt jedoch das Problem, wie die Ergebnisse der beiden Zählungen zu Schadensereignissen zu überlagern sind. Nur bei Dominanz eines der beiden Vorgänge sind Näherungslösungen einfach. Die Lösung des allgemeineren Problems gelingt nach dem Konzept der versagenskritischen Ebene. Das neue Problem besteht jedoch darin, die Lage der kritischen Ebene zu bestimmen. Wenn die Art der Rißbildung bekannt ist (Modus I oder Modus III), kann Normal- oder Schubbeanspruchung als dominant rißbildend angesehen und deren Beitrag in den Vordergrund gestellt werden. Im allgemeinen kann jedoch die Art der Rißbildung nicht als bekannt vorausgesetzt werden, zumal sich bei nichtproportionaler Beanspruchung die Rißebene von Zyklus zu Zyklus ändern kann (Rißverzweigungen). Für den Fall der koplanaren Rißvergrößerung schlagen Bannantine u. Socie [273] vor, die kritische Ebene als Ebene mit maximaler Schädigung unter allen möglichen Schnittebenen (senkrecht und schräg zur Oberfläche) zu bestimmen (numerischer Suchprozeß). Je nach Art der Rißbildung werden die Normaloder Schubbeanspruchungszyklen als schädigend angesehen und die Schädigungsbeiträge ausgehend von Rainflow-Zählung und Dehnungs-Wöhler-Linie (Schädigungsparameter PSWT) bestimmt. Die Schadenssumme wird nach der Miner-Regel gebildet und bewertet. Für den Fall allgemeiner (auch abknickender) Rißvergrößerung schlagen Wang u. Brown [383–385] vor, die Umkehrpunkte des Dehnungspfades auf Basis der Vergleichsdehnung nach von Mises (oder Tresca) festzulegen (fragwürdig), um davon ausgehend eine Rainflow-Zählung durchzuführen. Als kritisch wird die Schnittebene maximaler Scherdehnung angesehen (gilt für duktile Werkstoffe). Die Schädigung pro Zyklus ergibt sich aus der Scherdehnung plus einem Anteil der senkrecht zur Scherebene wirkenden Normaldehnung (ausreichend im Bereich der Kurzzeitfestigkeit). Ein Mittelspannungsterm kann hinzutreten (zu empfehlen im Bereich der Zeit- und Langzeitfestigkeit). Die Abstimmung mit der Dehnungs-Wöhler-Linie erfolgt auf Basis des Schädigungsparameters PKBM nach (5.25). Die Mittelspannung kann vereinfachend als arithmetischer Mittelwert der Spannungen in den Umkehrpunkten eingeführt werden. Wiederum schließt sich die Bildung der Schadenssumme nach der Miner-Regel an. Beide Lösungsansätze wurden bei nichtproportional zusammengesetzter Axial- und Torsionsbelastung von ungekerbten Hohlstabproben unter veränderlichen Amplituden angewendet. Sie bereiten bei allgemeinerer Problemstellung (Bauteilkerben unter nichtproportionaler Beanspruchung) Schwierigkeiten, sofern neben den örtlichen Dehnungen auch die örtlichen Spannungen benötigt werden. Beide erläuterten Verfahren beinhalten erhebliche Vereinfachungen. Nach dem erstgenannten Verfahren wird vielfach eine zu hohe Lebensdauer

332

5 Betriebsfestigkeit

ermittelt, nach dem zweitgenannten Verfahren dagegen im allgemeinen eine zu niedrige Lebensdauer. Der Mehrachsigkeitseinfluß wurde an Schweißverbindungen wiederholt untersucht, besonders in Form der phasenverschobenen Überlagerung von Axialund Torsionsbelastung konstanter Amplitude an einer Rohr-Platte-Kehlnahtverbindung (Übersicht bei Radaj et al. [70]). Während bei den (duktileren) Stählen eine starke Abminderung der Festigkeit bzw. Lebensdauer durch die Phasenverschiebung auftritt, ist dies bei den (spröderen) Aluminiumlegierungen nicht der Fall. Oberflächeneinfluß und statistischer Größeneinfluß Sofern sich der Oberflächenzustand im Kerbgrund und an der Vergleichsprobe (hinsichtlich Gefüge, Rauhigkeit und Eigenspannungen) unterscheidet, ist die Berücksichtigung des Unterschieds im kerbmechanischen Ansatz notwendig (Boller [1617]). Das trifft insbesondere auf den Fall festigkeitssteigernder Kerbgrundbehandlungen zu. Sofern das höchstbeanspruchte Werkstoffvolumen im Kerbgrund und in der Vergleichsprobe unterschiedlich groß ist, kommt der statistische Größeneinfluß zum Tragen, der in der Kerbwirkungszahl zunächst nicht erfaßt ist. Auch dies ist dann im kerbmechanischen Ansatz zu berücksichtigen. Begleitprobenversuch Zum experimentellen Nachweis der Praktikabilität des erweiterten Kerbgrundkonzepts wurde der Begleitprobenversuch entwickelt, Abb. 5.64. Die einachsige Kerbgrundbeanspruchung in einer Scheibenprobe mit Lochkerbe, gemessen als Kerbdehnungsablauf e…t† unter äußerer Last F…t†, wird auf eine ungekerbte axialbeanspruchte Begleitprobe (companion specimen) übertragen. An der Begleitprobe ist der Kerbspannungsablauf r…t† meßbar, der im Kerbgrund nicht direkt bestimmt werden kann. Die Begleitprobe dient außerdem zur Simulation der Schädigung im Kerbgrund. Bei Gültigkeit des Kerbgrundkonzepts treten,

Abb. 5.64: Prinzipdarstellung des Begleitprobenversuchs nach Crews u. Hardrath [1623] (RV Regelverstärker, HZ Hydraulikzylinder); Darstellung nach Haibach [35] (vereinfacht)

5.6 Kerbmechanische Ansätze

333

Abb. 5.65: Prinzipdarstellung des Neuber-Control-Versuchs nach Wetzel [1688] (RV Regelverstärker, HZ Hydraulikzylinder); Darstellung nach Haibach [35] (vereinfacht)

unabhängig von der Art des Belastungsablaufs, der Anriß in der gekerbten Scheibe und der Bruch in der Begleitprobe etwa gleichzeitig auf. Vorausgesetzt wird, daß die für den Anriß im Kerbgrund und für den Bruch in der Begleitprobe maßgebenden Werkstoffvolumina etwa gleich groß sind. Bei mehrachsiger Kerbgrundbeanspruchung ist deren Vergleichsdehnung gemäß gültiger Festigkeitshypothese vom Kerbgrund auf die Begleitprobe zu übertragen. Der Neuber-Control-Versuch nach Abb. 5.65 (s. a. [1658, 1659]) ist eine Weiterentwicklung des Begleitprobenversuchs mit dem Ziel, den Versuchsaufwand zu reduzieren. Die Kerbbeanspruchung wird nunmehr gemäß Neuber-Formel (4.21) rechnerisch simuliert, die Begleitprobe dient nur noch der Simulation der Schädigung und, soweit erforderlich, der Bestimmung der zyklischen Spannungs-Dehnungs-Kurve. Das seinerzeit auf einem Prozeßrechner installierte Programm vollzieht die folgenden Berechnungsschritte. Aus der Last-ZeitFunktion F…t† folgen die Nennspannungsschwingbreiten Drn . Die Neuber-Formel (4.21), angewendet auf Schwingbreiten von Kerbspannung Dr, Kerbdehnung De und Nennspannung Drn (mit Nenndehnung Den ˆ Drn =E†, lautet: Dr De ˆ

2k …Drn †2 E

…5:34†

Modifikationen dieser Gleichung, die auf eine Minderung der Kerbdehnung bei milden Kerben hinauslaufen, sind ebenfalls im Gebrauch. Demnach kann aus …Drn †2 und 2k =E das Produkt DrDe berechnet werden. Das Produkt bestimmt die Höhenlage der Neuber-Hyperbel, deren Schnittpunkte mit der zyklischen Spannungs-Dehnungs-Kurve r ˆ r…e† und dem zugehörigen Hysteresekurvenast die tatsächlichen Kerbbeanspruchungen Dr und De festlegt (s. Abb. 4.58). Die Funktion r ˆ r…e† kann an der Probe ermittelt werden oder (alternativ) dem Berechnungsprogramm schon vorgegeben sein. Das Aneinanderreihen der Werte De ergibt schließlich die Kerbdehnungs-Zeit-Funktion e…t†, wobei es in erster Linie darauf ankommt, die Aufeinanderfolge der Kerbdehnungsamplituden zutreffend wiederzugeben.

6 Langrißbruchmechanik zur Ermüdungsfestigkeit

6.1

Anrißbildung und Rißfortschritt

Phasen der Ermüdung durch Rißbildung Der Ermüdungsvorgang, aufgefaßt als Rißbildung, unterteilt sich in die Phasen der Rißeinleitung, des stabilen zyklischen Rißfortschritts und des instabilen Restbruchs, Abb. 6.1. Rißeinleitung umfaßt die Versetzungsbewegung in den Gleitebenen mit darauffolgenden Werkstofftrennungen an den Gleitbändern in Bereichen kleiner als die Korngröße. Die Gleitbänder entstehen bevorzugt an Stellen örtlicher Spannungserhöhung, d. h. an Kerben, Werkstoffimperfektionen, Einschlüssen, Hohlräumen und schon vorhandenen Anrissen. Ein wachstumsfähiger Mikroriß (oder Kurzriß) wird spätestens dann erreicht, wenn die Rißlänge ungefähr der Korngröße entspricht. Der Mikroriß vergrößert sich stabil mit der Schwingspielzahl und durch Vereinigung mit benachbarten Mikrorissen, um zunächst den beginnenden Makroriß (oder Langriß) mit Abmessungen in der Größenordnung 1 mm zu bilden. Erfahrungsgemäß wird ein größerer Teil der Betriebslebensdauer im Kurzrißstadium und nur ein kleinerer Teil im Langrißstadium verbracht. Schließlich tritt bei hinreichender Rißlänge der duktile Restbruch durch statische Überlastung des Restquerschnitts auf. Bei weniger duktilem Werkstoff kann der spröde Restbruch bereits vom Kurzriß ausgehen. Der Anteil der Rißeinleitungsphase an der Gesamtlebensdauer kann unterschiedlich sein. Er hängt wesentlich davon ab, in welchem Zustand sich die Probenoberfläche befindet, ob die physikalische oder die technische Rißeinleitung gemeint ist, welche Rißlänge dem technischen Anriß zugeordnet wird und welche den Restbruch auslöst, ob die Probe ungekerbt oder gekerbt ist, ob die

Abb. 6.1: Phasen der Ermüdung durch Rißbildung

336

6 Langrißbruchmechanik zur Ermüdungsfestigkeit

Kurzzeit- oder Langzeitfestigkeit untersucht wird und ob Druck- oder Zugmittelspannungen herrschen. Durch Wöhler-Versuche und Betriebsfestigkeitsversuche mit Ermittlung frühester Mikrorisse an ungekerbten Proben aus makroskopisch homogenem Werkstoff ohne Mittelspannung nach Neumann et al. [1599, 1605] wurde nachgewiesen, daß etwa 90 % der Zyklenzahl bis zu einem technischen Anriß von 1 mm Tiefe dem Fortschritt des Mikrorisses zuzuordnen sind, also nur 10 % auf die eigentliche, physikalische Anrißbildung entfallen. Ganz anders stellen sich die Verhältnisse hinsichtlich der technischen Rißeinleitung dar. Im Extremfall der ungekerbten Probe nahe der Dauerfestigkeit entfällt der größere Teil der Lebensdauer auf die technische Anrißbildung. Im gegensätzlichen Extremfall der gekerbten Probe im Bereich der Kurzzeitfestigkeit überwiegt dagegen der Rißfortschritt. Eine mangels quantitativer Daten nur verbal befriedigende Abgrenzung der Rißeinleitungsphase schlägt Schijve [53] vor: das Ende des Einflusses der ursprünglichen Oberflächenstruktur auf das Mikrorißverhalten. Anwendung der technischen Bruchmechanik Für den Ingenieur ist die Frage der Lebensdauer bis zur Bildung des technischen Oberflächenanrisses (Tiefe etwa 0,5 mm, Oberflächenlänge etwa 2 mm) durch herkömmliche Wöhler-Versuche und Betriebsfestigkeitsversuche weitgehend abgedeckt. Ihn interessiert in erster Linie die Frage, unter welchen Bedingungen sich der Anriß oder rißartige Fehler, sofern vorhanden, weiter ausbreitet, ob der fortschreitende Riß aufgefangen werden kann, wann der instabile Restbruch eintritt und wie groß demnach die Sicherheitsspanne ist. Diesen Bereich des zyklischen Langrißverhaltens erfaßt die kontinuumsmechanisch begründete technische Bruchmechanik [988–1005, 1126, 1155]. Die Frage nach der Einleitung und dem Wachstum des Kurzrisses ist dennoch, abgesehen vom grundsätzlichen Klärungsbedarf, auch für den Ingenieur bedeutsam, da Schädigung und Schadensakkumulation in hohem Maße auf Kurzrißeinleitung und Kurzrißfortschritt zurückgeführt werden können. Die technische Bruchmechanik beschreibt das Verhalten von makroskopischen Rissen bei mechanischer Beanspruchung auf der Basis kontinuumsmechanischer Konzepte. Sie beschränkt sich demnach auf die makroskopische Beschreibung von in Wirklichkeit hochgradig mikroskopischen Phänomenen. Sie sieht von Mikrostruktureffekten wie z. B. inhomogener und anisotroper Kristallitstruktur, Gleitbandbildung und Versetzungsbewegung vollständig ab. In der häufigsten Form wird überwiegend elastisches Werkstoffverhalten zugrunde gelegt (linearelastische Bruchmechanik). Nur an den Rißspitzen werden plastische Zonen zugelassen, die aber klein gegenüber der Rißlänge bleiben müssen. Bei kurzen und auch längeren Rissen in hinreichend duktilem Werkstoff mit entsprechend höherer Belastbarkeit und Belastung ist diese Bedingung nicht erfüllt. Die technische Bruchmechanik kann jedoch auch dieses Rißverhalten erfassen, wenn die Annahme überwiegend elastischen Werkstoffverhaltens fallengelassen und durch elastisch-plastische Konzepte ersetzt wird (elastischplastische Bruchmechanik).

6.2 Elastische Rißfrontbeanspruchung

337

Der stabile Langrißfortschritt unter Schwingbeanspruchung läßt sich auch durch physikalisch begründete Mikrostrukturmodelle beschreiben, nach denen an der Rißspitze bei Be- und Entlastung unterschiedliche Gleitebenen betätigt werden (s. Abb. 1.6). Derartige Modelle sind für die Grundlagenforschung unabdingbar, für die ingenieurmäßige Anwendung haben sie jedoch kaum Bedeutung.

6.2

Elastische Rißfrontbeanspruchung

Beanspruchungsmoden der Rißfront Die bei elastischem Werkstoff an der Rißfront (oder Rißspitze) auftretende Spannungssingularität läßt sich aus drei Grundbeanspruchungsarten superponieren, Abb. 6.2: Zugbeanspruchung senkrecht zur Rißebene, nachfolgend als Querzugbeanspruchung bezeichnet (Modus I), Schubbeanspruchung senkrecht zur Rißfront (Modus II) und Schubbeanspruchung längs der Rißfront (Modus III). Zugeordnet sind die Spannungsintensitätsfaktoren KI , KII und KIII . Der beherrschende Parameter der angewandten linearelastischen Bruchmechanik ist der Spannungsintensitätsfaktor KI, der die Stärke der Spannungssingularität an der Rißfront bei Zugbeanspruchung senkrecht zur Rißebene kennzeichnet. Die vielfach mögliche Beschränkung auf den Rißbeanspruchungsmodus I hinsichtlich des Rißfortschritts (formal auch hinsichtlich der Rißeinleitung) ist darin begründet, daß der fortschreitende Riß erfahrungsgemäß eine Richtung einschlägt, die ihn im Bereich der Rißfront unter Zugbeanspruchung senkrecht zur Rißebene bringt. Außerdem ist der Rißfortschritt unter Modus II oder Modus III durch die wechselseitige Reibung der Rißoberflächen gehemmt. Die nachfolgenden Ausführungen behandeln daher überwiegend den Rißfortschritt nach Modus I. Das Konzept der elastischen Spannungsintensitätsfaktoren ist bei kurzen Rissen, die man sich in eine plastische Zone eingebettet vorzustellen hat, weniger

Abb. 6.2: Grundbeanspruchungsarten der Rißfront mit singulärer Spannung: Modus I (Zugbeanspruchung senkrecht zur Rißebene), Modus II (Schubbeanspruchung senkrecht zur Rißfront), Modus III (Schubbeanspruchung längs der Rißfront)

338

6 Langrißbruchmechanik zur Ermüdungsfestigkeit

geeignet. Es liegt bei formaler Anwendung auf der unsicheren Seite. Das zyklische J-Integral der elastisch-plastischen Bruchmechanik (s. Kap. 7.3) ist in diesem Bereich zur Kennzeichnung von Beanspruchung und Beanspruchbarkeit besser geeignet. Spannungen und Verschiebungen an der Rißfront Der Riß kann als scharfe Kerbe mit gegen null gehendem Kerbradius und Kerböffnungswinkel aufgefaßt werden. Die Spannungen an der Rißfront sind bei Annahme elastischen Werkstoffs unendlich groß, also singulär, und fallen in Umgebung der Rißfront auf endliche Werte ab p(Wieghardt [1163], Irwin [1022], Williams [1044]). Der Abfall erfolgt mit r hyperbelförmig, wobei r den radialen Abstand von der Rißfront bezeichnet. Die Höhenlage der Hyperbel wird durch den Spannungsintensitätsfaktor KI bestimmt (bei Beschränkung auf die Querzugbeanspruchung des p Risses nach Modus I). Gleichzeitig verschieben sich die Rißflanken mit r parabelförmig gegeneinander. Die Höhenlage des Parabelbogens der Rißöffnung wird ebenfalls durch den Spannungsintensitätsfaktor KI festgelegt. Die Formeln für die Spannung ry senkrecht zum Riß im Ligament (das ist die Schnittebene in Fortsetzung der Rißebene) und für die den Riß öffnende Verschiebung v der Rißflanken beim ebenen Spannungszustand (ESZ, typisch für den Durchriß in dünner Scheibe) bzw. ebenen Dehnungszustand (EDZ, typisch für den Durchriß in dicker Scheibe sowie für die inneren Scheitelpunkte am Oberflächen- und Innenriß) lauten mit dem Elastizitätsmodul E und der Querkontraktionszahl m, Abb. 6.3: KI ry ˆ p 2pr

…6:1†

Abb. 6.3: Spannung ry (im Ligament) und Verschiebung v (der Rißflanken) an der Rißfront senkrecht zur Rißebene, über Dr gemittelter Wert rym vor der Rißfront proportional zum Spannungsintensitätsfaktor KI

6.2 Elastische Rißfrontbeanspruchung

4KI vˆ E vˆ

r r 2p

4…1

…ESZ†

m2 †KI E

r r 2p

339

…6:2† …EDZ†

…6:3†

Ähnliche Gleichungen gelten für die Spannungen und Verschiebungen an der Rißfront unter Beanspruchung nach Modus II und Modus III. Die Gleichungen lassen sich in erweiterter Form auch auf stumpfe Risse mit dem Kerbkrümmungsradius q anwenden, wobei die Kerbkontur durch r ˆ q beschrieben wird (Creager u. Paris [1012]). Spannungsintensitätsfaktor Der Spannungsintensitätsfaktor KI ist ein Maß für die Höhenlage der Querspannungshyperbel, wie aus dem über die Strecke Dr vor der Rißfront gemittelten Wert rym hervorgeht (s. Abb. 6.3, erstmals von Wieghardt [1163] vollzogen, in der Kerbspannungslehre ist Dr die Ersatzstrukturlänge q, s. Kap. 4.7): rym

r 2 ˆ KI pDr

…6:4†

Der Spannungsintensitätsfaktor ergibt sich aus der elastizitätstheoretischen Lösung für das jeweilige Rißproblem unter Beschränkung auf radiale Abstände r von der Rißfront, die klein gegenüber der Rißlänge sind (Grenzübergang „Radialabstand r gegen null“). Alternativ kann der Grenzübergang „Krümmungsradius q gegen null“ für die scharfe Vergleichskerbe vollzogen werden. Aus (6.1) bis (6.3) lassen sich die folgenden Grenzwertformeln ableiten: p KI ˆ lim ry 2pr

…6:5†

r!0

KI ˆ KI ˆ

p E lim v 2p=r 4 r!0 E 4…1

lim v

m2 † r!0

…ESZ† p 2p=r

…6:6† …EDZ†

…6:7†

p p Aus k ˆ rk max =rn ˆ 2 t=q nach (4.10) und KI ˆ r pa nach (6.9) (zur Angleichung der Formeln ist t ˆ a und r ˆ rn zu setzen) folgt eine weitere Grenzwertformel (Irwin [1022]): KI ˆ

p 1 lim rk max pq 2 q!0

…6:8†

Ähnliche Gleichungen gelten für die Spannungsintensitätsfaktoren KII und KIII bei Beanspruchung der Rißfront nach Modus II und Modus III, woraus sich wie-

340

6 Langrißbruchmechanik zur Ermüdungsfestigkeit

derum Ausdrücke für gemischte Beanspruchung ableiten lassen (Radaj u. Zhang [1035], Radaj et al. [70], ibid. S. 467–471). Umgekehrt lassen sich die Kerbspannungen aus den Spannungsintensitätsfaktoren bestimmen (Radaj et al. [1667]). An der Rißfront können auch nichtsinguläre Spannungsanteile auftreten. Dies sind die Grundbeanspruchungskomponenten, die durch den Riß nicht gestört werden. Dazu gehört die homogene Zug- oder Druckspannung in Richtung der Rißebene senkrecht zur Rißfront (T-stress nach Williams [1044], numerische Lösungen in [1017, 1048]) oder parallel dazu. Aber auch inhomogene Biegespannungen in Richtung der Rißebene (B-stress) sowie homogene Schubspannungen in Richtung der Rißfront (S-stress) werden durch den Riß nicht gestört (Radaj et al. [1667]). Die nichtsingulären Spannungsanteile an der Rißfront beeinflussen Plastizierung, Rißeinleitung und Rißfortschritt. Auch die Grenzwertformel (6.8) ist ggf. zu modifizieren. Der Spannungsintensitätsfaktor hat gemäß (6.5) bis (6.8) die Dimension N/mm3/2 oder MN/m3/2 (1 MN/m3/2 ˆ 31,62 N/mm3/2).

Einfache Fälle von Innen- und Außenrissen Für den Innenriß mit Länge 2a bzw. für den beidseitigen Außenriß mit Restquerschnittsbreite 2b unter Zugspannung r (am unendlich fernen Rand, im Schrifttum auch als r1 eingeführt) bzw. Nennspannung rn ˆ F=2b (im Nettoquerschnitt) senkrecht zur Rißebene in der unendlich ausgedehnten Scheibe nach Abb. 6.4 ergibt sich (Hahn [998], Tada et al. [1041]): p KI ˆ r pa 2 p KI ˆ rn pb p

…6:9† …6:10†

Für den einseitigen Außenriß am freien Rand der halbunendlich ausgedehnten Scheibe unter Zugspannung r senkrecht zur Rißebene in Richtung des Randes ergibt sich [998, 1041]: p …6:11† KI ˆ 1;12 r pa Für den kreisflächigen Innenriß mit Durchmesser 2a bzw. für den ringflächigen Außenriß mit Restquerschnittsdurchmesser 2b unter Zugspannung r bzw. Nennzugspannung rn ˆ F=pb2 senkrecht zur Rißebene im unendlich ausgedehnten Körper nach Abb. 6.5 ergibt sich [998, 1041]: 2 p r pa p 1 p KI ˆ rn pb 2 KI ˆ

…6:12† …6:13†

6.2 Elastische Rißfrontbeanspruchung

341

Abb. 6.4: Scheibe mit Innenriß (a) bzw. Außenrissen (b) unter Zugbeanspruchung senkrecht zur Rißebene

Abb. 6.5: Körper mit kreisflächigem Innenriß (a) bzw. ringflächigem Außenriß (b) unter Zugbeanspruchung senkrecht zur Rißebene

Für den zentrischen Längsriß im unendlich langen Scheibenstreifen mit Breite 2h unter Querkraft Fq mit Biegemoment Mb ˆ Fq c ˆ rb h2 =6 nach Abb. 6.6 (Fq im Abstand c von der Rißfront wirkend, mit c  h, also s aus Fq gegenüber rb aus Mb vernachlässigbar klein) ergibt sich [1041]: p 1 KI ˆ p rb ph 3p

…6:14†

342

6 Langrißbruchmechanik zur Ermüdungsfestigkeit

Abb. 6.6: Scheibenstreifen mit zentrischem Längsriß unter Querkraftbiegung

Der Spannungsintensitätsfaktor KI wächst nach (6.9) bis (6.14) mit der Grundbeanspruchung (hier r, rn oder rb ) und mit der Wurzel aus der jeweils kennzeichnenden Abmessungsgröße (hier a, b oder h). Die Zahl p wird, historisch bedingt, der jeweiligen Abmessungsgröße vorangestellt. Geometriefaktor Bei Vorhandensein weiterer Abmessungsgrößen des betrachteten Rißproblems tritt zu den Ausdrücken nach Art von (6.9) bis (6.14) ein Geometriefaktor Y hinzu, der bei vorgegebenem Lastfall (im Sinne von Belastungsart, mit den Sonderfällen Zug oder Druck, Biegung und Torsion) und vorgegebener Definition der Grundbeanspruchung von den voneinander unabhängigen Abmessungsverhältnissen des jeweiligen Modells abhängt. Die multiplikative Überlagerung nach dem Muster der vielparametrigen Formzahlabhängigkeit ist auch hier anwendbar (siehe (4.18)). Damit werden Risse beliebiger Form in Proben und Bauteilen beliebiger Geometrie und Belastung (im folgenden eingeschränkt auf Zugbeanspruchung quer zum Riß) erfaßt. Als Grundbeanspruchung kann die Nennspannung im Brutto- oder Nettoquerschnitt (Bruttoquerschnitt identisch mit rißfreiem Querschnitt) oder die Struktur- oder Kerbspannung am Ort des Risses (berechnet für ein Modell ohne Riß) eingeführt werden. Der Spannungsintensitätsfaktor ergibt sich unabhängig von der jeweiligen Definition der Grundbeanspruchung, während der Geometriefaktor in erheblichem Maße davon abhängig ist. Nur wenn die Grundbeanspruchung nahe der tatsächlichen mittleren Spannung im Bereich der Rißfront vereinbart wird, hat der Geometriefaktor Y die Eigenschaft eines Korrekturgliedes (übliche Bezeichnung „Korrekturfaktor“). Extrem große Geometriefaktoren besagen, daß in ihnen Effekte der Querschnittsschwächung, der Querschnittsbiegung, der Strukturspannungs- und Kerbspannungserhöhung enthalten sind, die zweckmäßiger in der Grundbeanspruchung zu erfassen sind. Als Beispiel für den Geometriefaktor wird der Rundstab mit kreisflächigem Innenriß bzw. ringflächigem Außenriß betrachtet, Abb. 6.7. Der Geometriefaktor Yo , der den Einfluß der freien Oberfläche kennzeichnet, wächst mit der Rißtiefe a relativ zum Stabdurchmesser 2R …Yo ! 1 für a=R ! 1;0 infolge der Querschnittsschwächung). Zu beachten ist, daß beim Innen- und Außenriß

6.2 Elastische Rißfrontbeanspruchung

343

Abb. 6.7: Geometriefaktor für den Rundstab mit kreisflächigem Innenriß bzw. ringflächigem Außenriß bezogen auf die Nennspannung r im Bruttoquerschnitt; berechnet nach Hahn [998] und Murakami [1026]

dieselben Kenngrößen, Nennspannung r im Bruttoquerschnitt und Rißabmessung a, verwendet werden, so daß Abweichungen gegenüber der Form (6.13) auftreten. Die Kurven wurden nach Angaben von Hahn [998] und Murakami [1026] berechnet, wobei Murakami hinsichtlich des Innenrisses auf Benthem und Koiter, hinsichtlich des Außenrisses auf Murakami und Nisitani verweist. Man beachte die unterschiedlichen Faktoren zu Y0, nämlich 2/p ˆ 0,64 beim Innenriß gegenüber 1,12 beim Außenriß. Rißprojektion mit elliptischer Näherung Die in der Praxis auftretenden Anrisse und rißartigen Fehlstellen werden in der bruchmechanischen Festigkeitsanalyse als durchgehende Innen- oder Außenrisse, viertelelliptische Eckrisse, halbelliptische Oberflächenrisse und elliptische Innenrisse aufgefaßt, die quer zur Zugbeanspruchung liegen. Schräg zu den Hauptspannungen liegende Fehlstellen werden zur Vereinfachung der Analyse in die Ebenen senkrecht zu diesen Beanspruchungen projiziert, etwa nach dem ASME-Code für Druckbehälter, Abb. 6.8 (nur zwei Hauptspannungsrichtungen sind dargestellt). Die projizierte Fehlstellenkontur wird durch eine umbeschriebene Ellipse ersetzt, wobei eng benachbarte kleinere Fehler zu einem größeren Fehler zusammengefaßt werden. Die umbeschriebene Ellipse deckt die Erhöhung des Spannungsintensitätsfaktors und damit die Rißfortschrittsrate bei Annäherung und Vereinigung benachbarter Risse (coalesence of cracks) auf der sicheren Seite liegend ab (Bayley u. Bell [1007]). Die projizierte Ellipsen-

344

6 Langrißbruchmechanik zur Ermüdungsfestigkeit

Abb. 6.8: Projektion der tatsächlichen rißartigen Fehlstelle in Ebenen senkrecht zu den Hauptspannungsrichtungen und Ersatz durch umbeschriebene Ellipsen; nach dem ASME-Code für Druckbehälter

fläche mit dem größten (Zug-)Spannungsintensitätsfaktor wird als maßgebend für die Festigkeit angesehen (Kritik des Ansatzes bei Radaj u. Heib [1177]). Elliptischer Innenriß Am elliptischen Innenriß im unendlichen elastischen Körper unter Zugbeanspruchung r senkrecht zur Rißebene tritt der größte Spannungsintensitätsfaktor am Ende der kleineren Halbachse a, der kleinste Spannungsintensitätsfaktor am Ende der größeren Halbachse c auf (Tada et al. [1041], Murakami [1026]): p KI max ˆ r pa

1 E…k†

p KI min ˆ r pa

1 E…k†

…6:15† r a c

…6:16†

Die Größe E…k† ist das vollständige elliptische Integral zweiter Art mit dem Argument: r a2 …6:17† kˆ 1 c Eine viel verwendete Näherungsformel lautet: r a1;64 …a=c  1;0† E…k† ˆ 1 ‡ 1;47 c

…6:18†

6.2 Elastische Rißfrontbeanspruchung

345

Abb. 6.9: Geometriefaktoren für den elliptischen Innenriß unter Zugbeanspruchung senkrecht zur Rißebene, Maximal- und Minimalwerte in den Scheitelpunkten; nach Radaj [1032]

Abb. 6.10: Geometriefaktor aus Wirkung der freien Oberfläche am senkrecht zur Rißebene zugbeanspruchten elliptischen Innenriß (Ymax nach Abb. 6.9); nach Radaj [1032]

p Statt E…k† wird auch der Rißformparameter Q gesetzt, der zusätzlich eine Plastizitätskorrektur enthält. Das Ergebnis nachp(6.15)  und (6.16), ausgedrückt durch die Korrekturfaktoren Ymax und Ymin zu r pa, ist in Abb. 6.9 dargestellt. Für den kreisflächigen Innenriß ist Ymax ˆ 2=p ˆ 0;637. Eine freie Oberfläche in Nähe des elliptischen Innenrisses erhöht den Spannungsintensitätsfaktor, ausgedrückt in Abb. 6.10 durch den Korrekturfaktor Yoi .

346

6 Langrißbruchmechanik zur Ermüdungsfestigkeit

Halb- und viertelelliptischer Oberflächenriß Der längliche halbelliptische Oberflächenriß unter Zugbeanspruchung senkrecht zur Rißebene weist den Höchstwert des Spannungsintensitätsfaktors am tiefsten Punkt der Halbellipse auf. Nur bei größeren Werten a=c, also tieferen Rissen, kann sich der Höchstwert an den Oberflächenaustritt der Rißfront verlagern. Für den Oberflächenriß im halbunendlichen elastischen Körper ist (6.15) in Verbindung mit einem Geometriefaktor Yo (auch Oberflächenfaktor genannt) zu verwenden. Im tiefsten Punkt der Halbellipse gilt nach Shah und Kobayashi in [1026, 1041]:  a 2 Yo ˆ 1 ‡ 0;12 1 …a=c  1;0† …6:19† 2c Der Einfluß der freien Oberfläche auf den Spannungsintensitätsfaktor am tiefsten Punkt der Rißfront ist demnach gering, 1;12  Yo  1;03 für 0  a=c  1; 0. Der Faktor am Oberflächenaustritt der Rißfront ist für a=c ˆ 1;0 am größten, nämlich Yo ˆ 1;22, also auch hier ein nur geringer Einfluß. Andererseits ist der Einfluß der Scheibenrückfläche (kombiniert mit dem der Oberfläche) im tiefsten Punkt des Oberflächenrisses in der elastischen Scheibe mit Dicke h relativ stark, Yor nach Abb. 6.11 (Näherung nach Newman u. Raju [1029] in [90]). Die Genauigkeit der dargestellten empirischen Näherung auf der Basis von Finite-Elemente-Berechnungen ist fragwürdig, weil sowohl Newman u. Raju selbst als auch zahlreiche andere Autoren Lösungen vorgelegt haben, die zum Teil erheblich voneinander abweichen (aufgrund der von Murakami [1026], ibid. S. 706–708, dargestellten Kurvenvielfalt muß mit einer Unsicherheit von bis zu 20% gerechnet werden).

Abb. 6.11: Geometriefaktor aus Wirkung der freien Oberfläche und Rückfläche am senkrecht zur Rißebene zugbeanspruchten halbelliptischen Oberflächenriß; nach Newman u. Raju [1029]

6.2 Elastische Rißfrontbeanspruchung

347

Die Spannungsintensitätsfaktoren KI am halbelliptischen Oberflächenriß in der Platte (Raju u. Newman [1031]) unter Biegebeanspruchung sowie in der Zylinderschale unter Belastung durch Innendruck wurden von Sommer [1004] diskutiert. Die Spannungsintensitätsfaktoren KI am halbelliptischen Oberflächenriß unter Zugbeanspruchung senkrecht zur Rißebene, die über die Tiefenkoordinate nichtlinear veränderlich ist (typisch für Eigenspannungen), wurden von Fett u. Munz [1018] angegeben (s. a. [1016]). Der Einfluß einer starren Einspannung der Plattenenden unter Zug- und Biegebelastung wurde von Wang u. Lambert [1042, 1043] untersucht. Die Spannungsintensitätsfaktoren KII und KIII am halbelliptischen Oberflächenriß unter Schubbeanspruchung in der Oberfläche wurden von He u. Hutchinson [1021] abhängig vom Abmessungsverhältnis der Halbellipse nach der Finite-Elemente-Methode ermittelt. Die Größtwerte von KII treten in den Oberflächenscheitelpunkten auf, die Größtwerte von KIII dagegen im tief liegenden Scheitelpunkt. Der halbelliptische Oberflächenriß am Rundstab ist im Hinblick auf Achsen und Wellen an rotierenden Maschinenteilen praktisch bedeutsam. Es interessieren die Spannungsintensitätsfaktoren bei Axial- und Biegebelastung (Modus I) sowie bei Torsionsbelastung (Modus III, zusätzlich Modus II an der Oberfläche). Die Rißfrontform wird dem Versuch entnommen, kann aber auch das Ergebnis einer Rißfortschrittsberechnung sein. Die Näherung als Halbellipse mit Zentrum am Ort der Rißeinleitung an der Staboberfläche (einschließlich der Entartung zu einer Geraden) ist eine vielfach vertretbare Näherung. Für derartige Konfigurationen wurden die Spannungsintensitätsfaktoren nach der FiniteElemente-Methode berechnet (Carpinteri [1009, 1010], da Fonte et al. [1013, 1014], s. a. Murakami [1026]). Für den viertelkreisförmigen Eckriß unter Zugbeanspruchung senkrecht zur Rißebene gilt am Oberflächenaustritt der Rißfront näherungsweise (6.15) mit dem oberflächenbedingten Geometriefaktor Yo ˆ 1;26. Im Innenbereich der Rißfront fällt dieser Wert etwas ab (Sähn u. Göldner [90], Murakami [1026]). Die publizierten Lösungen für den Spannungsintensitätsfaktor KI am viertelelliptischen Eckriß am Rand von Befestigungslöchern ohne oder mit Bolzen wurden von Lin u. Smith [1024] diskutiert. Die Spannungsintensitätsfaktoren KI für den bei Rißfortschritt anschließenden teilelliptischen Durchriß (das ist ein Durchriß mit schräger Rißfront) wurden von Fawaz [1015] angegeben. Näherung für Außen- und Innenrisse an Flach- und Rundstäben Für Außen- und Innenrisse an Flach- und Rundstäben sind die Spannungsintensitätsfaktoren nicht immer einfach zu ermitteln (etwa ausgehend von (6.9) bis (6.13)). In den Handbuchformeln für komplexere Fälle sind die Nennspannungen rn senkrecht zur Rißebene unterschiedlich festgelegt. Die Geometriefaktoren Y sind daher nicht direkt vergleichbar. Somit ist es kaum möglich, Abschätzungen in dazwischen liegenden überlagerten Lastfällen durch Interpolation vorzunehmen. Abhilfe ist möglich, wenn die überlagerte Zug- und Biegenennspannung

348

6 Langrißbruchmechanik zur Ermüdungsfestigkeit

Abb. 6.12: Geometriefaktor für Außenrisse an Flach- und Rundstäben (Modelle M1 bis M3) unter Zug- bzw. Biegebelastung, (F) bzw. (M), bezogen auf die überlagerte Zug- und Biegenennspannung im Nettoquerschnitt an der Rißfront, also rn ˆ rnz ‡ rnb ; nach Radaj u. Heib [1034]

rn ˆ rnz ‡ rnb an der Rißfront, berechnet für den Nettoquerschnitt, zugrunde gelegt wird (Radaj u. Heib [1034]). Der zugehörige Geometriefaktor ist dann relativ einheitlich vom Rißtiefeverhältnis a=b abhängig (Rißtiefe a, Stabbreite bzw. Stabdurchmesser 2b), Abb. 6.12. Ein ähnliches, aber tiefer verlaufendes und weniger einheitliches Kurvenfeld ist für Innenrisse verfügbar.

6.3

Rißfrontbeanspruchung im Kerbgrund

Allgemeine Angaben Da Risse bevorzugt an Kerben eingeleitet werden, ist die Frage nach dem Spannungsintensitätsfaktor von Rissen im Kerbgrund von erheblicher praktischer Bedeutung. Nachfolgend werden einfache Grundfälle betrachtet: Querrisse am Kreis- und Ellipsenloch, an halbelliptischer Randkerbe sowie an scharfer V-Kerbe. Es überlagern sich die Spannungserhöhung durch Kerbe und Riß in schwer zu übersehender Weise. Bei kurzer Rißlänge (kurz relativ zum Kerbkrümmungsradius, also unter Ausschluß der scharfen V-Kerbe) nähert sich der Spannungsintensitätsfaktor dem eines Risses am freien geraden Rand der halbunendlichen Scheibe unter Zugbeanspruchung in Höhe des Kerbspannungs-

6.3 Rißfrontbeanspruchung im Kerbgrund

349

höchstwertes. Bei großer Rißlänge ist der Spannungsintensitätsfaktor annähernd mit jenem identisch, der sich für einen Riß quer zur Zugbeanspruchung mit aufaddierter Kerbtiefe und Rißlänge ergibt. Querrisse am Kreisloch Risse quer zur Grundbeanspruchung des jeweiligen Modellkörpers werden nachfolgend als Querrisse bezeichnet. Der Spannungsintensitätsfaktor für symmetrisch angeordnete Querrisse am Kreisloch in der unendlich ausgedehnten Scheibe unter Zugbeanspruchung kann auf die Rißlänge a oder auf die Summe von Lochradius R und Rißlänge a bezogen sein: p KI ˆ r pa Y p KI ˆ r p…R ‡ a† Y 

…6:20† …6:21†

Die Geometriefaktoren Y und Y  sind in Abb. 6.13 dargestellt. Der Geometriefaktor Y beinhaltet bei kurzer Rißlänge die Kerbspannungserhöhung … k ˆ 3;0) und die Wirkung der freien Kerboberfläche …Yo ˆ 1;12†, also Y ˆ Yo k ˆ 3;36 für a ! 0. Er fällt bei großer Rißlänge auf den Wert Y ˆ 1;0 ab. Zum Vergleich ist das Verhalten eines Risses mit Länge 2…R ‡ a† ohne Kreisloch dargestellt p (ergibt Y ˆ 1 ‡ R=a ). Der Geometriefaktor Y  andererseits steigt bei kurzer Rißlänge von Null ausgehend steil an und nähert sich bei großer Rißlänge (groß relativ zum Lochradius) nach geringem Überschwingen dem Wert 1,0. Das Überschwingen erklärt sich aus der Verlagerung der Druckabstützung in Rißrichtung (Druckwert gleich äußerem Zugwert) durch das Kreisloch. Es tritt unter zweiachsiger Zugbeanspruchung kennzeichnenderweise nicht auf.

Abb. 6.13: Geometriefaktoren für Querrisse am Kreisloch in der zugbeanspruchten (unendlichen) Scheibe; nach Newman [1028]

350

6 Langrißbruchmechanik zur Ermüdungsfestigkeit

Abb. 6.14: Geometriefaktor für Querrisse am Kreisloch im zugbeanspruchten Scheibenstreifen; nach Newman [1028]

Nunmehr werden symmetrisch angeordnete Querrisse am Kreisloch im Scheibenstreifen der Breite 2b betrachtet. Der Geometriefaktor Y  zu (6.21) ist in diesem Fall von zwei Abmessungsverhältnissen abhängig. Als voneinander unabhängige Abmessungsverhältnisse der Problemstellung können die Größen R=b und …R ‡ a†=b gewählt werden. Das Ergebnis einer rechnerischen Untersuchung ist in Abb. 6.14 dargestellt. Der Wert R=b ˆ 0 entspricht dem Querriß ohne Kreisloch zunächst in der Scheibe …a=b ˆ 0† und dann im Scheibenstreifen …a=b > 0†. Die Kurven für Risse mit Kreisloch …R=b > 0† schmiegen sich bei größerer Rißlänge vorstehender Kurve an, während bei kleiner Rißlänge der von Abb. 6.13 (b) her bekannte steile Anstieg mit Überschwingen auftritt. Querrisse am Ellipsenloch Lösungen für den Spannungsintensitätsfaktor von symmetrisch angeordneten Querrissen am Ellipsenloch unter Zugbeanspruchung senkrecht zur Rißebene (als Grundtypus von Kerben unterschiedlicher Schärfe) wurden von Newman [1028] (Verfahren der Randkollokation), Nisitani u. Isida [1030] (body force method), Xiao et al. [1047] (Verfahren der Gewichtsfunktion) und von Amstutz u. Seeger [1006] (Modifikation der funktionsanalytischen Lösung von Neuber [587, 1027] für die Randkerbe mit Riß) entwickelt. Für relativ kurze Risse im Kerbgrund …a=q  1;0† kann die Lösung von Newman als Funktion von a=q angenähert werden. Der dem Kurzriß entspre-

6.3 Rißfrontbeanspruchung im Kerbgrund

351

chende Geometriefaktor Yk wird zweckmäßigerweise mit der Kerbhöchstspannung rk max ˆ k rn verbunden, die in diesem Fall als Grundbeanspruchung des Risses wirkt: p KI ˆ k rn pa Yk …6:22† Die Näherung von Yk nach Schijve [1038] lautet: Yk ˆ 1;1215

 1;5  2  2;5 a a a a 3;21 ‡ 5;16 3;73 ‡ 1;14 …6:23† q q q q

Die Näherung von Yk nach Lukáš [1025] (s. (7.70)) lautet: 1;1215 Yk ˆ p 1 ‡ 4;5 a=q

…6:24†

Beide Näherungen beinhalten einen steilen Abfall von Yk mit a=q, welcher in Abb. 6.15 der auch für längere Risse gültigen vorstehend erwähnten Modifikation der Lösung von Neuber (s. (6.29)) gegenübergestellt ist. Von Zettlemoyer u. Fisher [1049] wird darauf hingewiesen, daß der Abfall des Geometriefaktors Y ˆ k Yk etwas oberhalb des ursprünglichen Kerbspannungsabfalls (des Körpers ohne Riß) liegt und damit verbunden der Wert Y ˆ 1;0 kaum unterschritten wird, Abb. 6.16. Die unterschiedlichen Lösungen und ihre Genauigkeit sind von Amstutz u. Seeger [1006] eingehend untersucht worden, wobei die Abhängigkeit des Geo-

Abb. 6.15: Geometriefaktor für den Riß im Kerbgrund elliptischer Kerben (Rißtiefe a, Kerbkrümmungsradius q) unter Zugbeanspruchung senkrecht zur Riß- und Kerbebene; nach Amstutz u. Seeger [1006]

352

6 Langrißbruchmechanik zur Ermüdungsfestigkeit

metriefaktors Yk allein vom Verhältnis a=q mit praktisch ausreichender Genauigkeit auch über ein J-Integral der rißfreien scharfen Kerbe nachgewiesen wird. Dieses Ergebnis ist allerdings auf nichtelliptische Kerben nicht ohne weiteres übertragbar.

Abb. 6.16: Geometriefaktor Y ˆ k Yk für einen Riß im Kerbgrund verglichen mit dem Kerbspannungsabfall rk =rn für dieselbe Kerbe ohne Riß; Finite-Elemente-Berechnungsergebnis für eine Schweißnahtkerbe; nach Zettlemoyer u. Fisher [1049]

Abb. 6.17: Geometriefaktor für Querrisse am Ellipsenloch in der zugbeanspruchten (unendlichen) Scheibe; mit Kerbtiefe t ˆ a; nach Nisitani u. Isida [1030]

6.3 Rißfrontbeanspruchung im Kerbgrund

353

Die Abhängigkeit des Spannungsintensitätsfaktors vom Rißlängenverhältnis a=t für symmetrisch angeordnete Querrisse am Ellipsenloch wurde von Smith u. Miller [1570, 1571] auf Basis der Lösungen von Newman [1028] und Nisitani u. Isida [1030] dargestellt, Abb. 6.17, und auf tiefe Kerben allgemeinerer Form tendenzmäßig übertragen. Dieser Darstellung liegen folgende Vereinbarungen zugrunde: Länge a des tatsächlichen Risses in der gekerbten Probe, Länge a0 des Vergleichsrisses in der ungekerbten Probe mit gleichem Spannungsintensitätsfaktor bei gleicher Grundbeanspruchung r von gekerbter und ungekerbter Probe, rißwirksamer Teil Da ˆ …a0 a† der Ellipsenhalbachse a (oder der Kerbtiefe t im übertragenen Sinn), Ellipsenhalbachse a quer zur Zugrichtung, Ellipsenhalbachse b in Zugrichtung, Kerbkrümmungsradius q ˆ b 2= a im Ellipsenscheitel quer zur Zugrichtung. Der rißwirksame Kerbtiefeanteil Da=t, berechnet auf der Grundlage der Lösungen von Newman [1028] sowie Nisitani u. Isida [1030], ist in Abb. 6.18 über dem Rißlängeverhältnis a=t aufgetragen. Das Ergebnis ist auf Außenkerben am freien Rand nur näherungsweise übertragbar. Die Kurven zeigen einen von null ausgehenden steilen Anstieg bei kleiner Rißlänge, die Annäherung an Da=t ˆ 1 bei größerer Rißlänge (Kerbtiefe voll wirksam) und ein geringes Überschwingen dazwischen. Die Erklärung für das Überschwingen wurde beim Kreisloch gegeben und ist übertragbar, wobei Y 2 als Rißlängenkorrektur aufzufassen ist. Die gezeigten Kurven für das Ellipsenloch und weitere Kurven für die entsprechende Außenkerbe lassen sich bei Auftragung über a=b anstelle von a= a (bzw. a=t) einem bandartigen Bereich zuordnen, der durch den gestrichelten

Abb. 6.18: Rißwirksamer Kerbtiefeanteil für Querrisse am Ellipsenloch in der zugbeanspruchten (unendlichen) Scheibe; mit Kerbtiefe t ˆ a; nach Smith u. Miller [1570]

354

6 Langrißbruchmechanik zur Ermüdungsfestigkeit

Abb. 6.19: Rißwirksamer Kerbtiefeanteil für Querrisse am Ellipsenloch sowie an ellipsenähnp lichen Randkerben; verminderter Kerbeinfluß nur für a  0;13 tq (gestrichelte ansteigende Gerade); mit Kerbtiefe t ˆ a; nach Smith u. Miller [1570]

Linienzug angenähert wird, Abb. 6.19 (konservative Näherung im Hinblick auf  2 a und a ˆ t eine mittlere Rißfortschrittsrate). p Anstelle von a=b wird mit q ˆ b = das Rißlängeverhältnis a= tq eingeführt (mit Kerbtiefe t). Diese Größe eignet sich zur Kennzeichnung des Kerbeinflußbereichs (Kerbeinfluß auf den Spannungsintensitätsfaktor) auch bei Kerbformen, die von der Ellipse abweichen. Dem gestrichelten Linienzug entsprechen folgende Beziehungen:   Da a a ˆ 7;69 p 0  p  0;13 t tq tq   Da a ˆ1 p  0;13 t tq

…6:25† …6:26†

p Damit ist die Zone mit vermindertem Kerbeinfluß auf a  0;13 tq festgelegt. Der Spannungsintensitätsfaktor in diesem Bereich läßt sich ausgehend von (6.25) wie folgt angeben (zwei Versionen wie bei (6.20) und (6.21)): p KI ˆ r pa

s r t 1 ‡ 7;69 q

s p p 1 ‡ 7;69 t=q KI ˆ r p…a ‡ t† 1 ‡ t=a

…6:27†

…6:28†

6.3 Rißfrontbeanspruchung im Kerbgrund

355

Querriß an halbelliptischer Randkerbe und scharfer V-Kerbe Die halbelliptische Kerbe (Kerbtiefe t, Kerbkrümmungsradius q) am geradlinigen Rand der zugbeanspruchten halbunendlichen Scheibe, versehen mit einem Riß (Rißlänge a) senkrecht zur Zugbeanspruchung im Kerbgrund, wurde von Neuber [587, 1027] als Kerbspannungsproblem funktionsanalytisch beschrieben. Davon leitet sich eine Näherungsformel für den Spannungsintensitätsfaktor bzw. den zugehörigen Geometriefaktor Y ab, dessen möglicher Fehler mit weniger als 1,5 % angegeben wird: 8 2 < Y ˆ 1;1215 1 ‡ 4… k :



2;5

‡

r t‡a a

! 1

2;5

3 5

0;4 9

= ;

…6:29†

Im Grenzfall a ! 0 ist Y ˆ Yo k ˆ 1;12 k , und im Grenzfall a ! 1 ist Y ˆ Yo ˆ 1;12 (typisch für den Randriß im Unterschied zum Innenriß mit Y ˆ 1;0). Die Lösung (6.29) für den Riß in der Randkerbe läßt sich mittels einer von Amstutz u. Seeger [1006] angegebenen Modifikation auf die Risse im Ellipsenloch übertragen, wobei sich eine gute Übereinstimmung mit der Lösung von Newman [1028] ergibt. Schließlich ergibt sich nach Hasebe u. Iida [1019] für den Riß der Länge a im Kerbgrund einer scharfen V-Kerbe der Tiefe t am Rand der halbunendlich ausgedehnten Scheibe unter Zugbeanspruchung der Geometriefaktor Y  abhängig vom Verhältnis a=t für unterschiedliche Kerböffnungswinkel, Abb. 6.20. Die Eckspannungssingularität an der scharfen Kerbe ohne Riß bleibt außer

Abb. 6.20: Geometriefaktor für den Querriß im Kerbgrund einer scharfen V-Kerbe am Rand der halbunendlichen Scheibe unter Zugbeanspruchung; nach Hasebe u. Iida [1019]

356

6 Langrißbruchmechanik zur Ermüdungsfestigkeit

Betracht. Auch hier tritt der bereits erwähnte steile Kurvenanstieg bei kleinen Werten a=t auf, dessen weiterer Verlauf vom Kerböffnungswinkel x abhängt. Bei großen Werten a=t nähern sich die Kurven dem Geometriefaktor des Querrisses an freier Oberfläche, Yo ˆ 1;12. Das Überschwingen der Kurven tritt nicht auf, weil sich die Druckspannungen in Rißrichtung infolge des freien Scheibenrandes nicht aufbauen können (im Unterschied zum Querriß am entsprechenden rautenförmigen Loch [1020]).

6.4 Berechnungsverfahren zur Rißfrontbeanspruchung Übersicht zu den Berechnungsverfahren Lösungen zu Spannungsintensitätsfaktoren sind für eine große Zahl von Rißkonfigurationen an Proben und Bauteilen einfacher Form und Belastung bekannt. Sie wurden in umfangreichen Kompendien zusammengetragen, beispielsweise von Murakami [1026], Rooke u. Cartwright [1037], Sih [1039] und Tada et al. [1041]. Eine Übersicht zu den Spannungsintensitätsfaktoren von Anrissen und Schlitzen in Schweißverbindungen (u. a. an der Nahtwurzel oder am Schweißlinsenrand) ist bei Radaj et al. [70] zu finden (s. a. Radaj [1033] und Lehrke [1023]). Trotz der Vielzahl der vorliegenden Lösungen für Spannungsintensitätsfaktoren in vereinfachten Modellen ist der praktische Anwendungsfall vielfach nicht hinreichend genau erfaßbar. Komplexe Geometrie und Belastung von Bauteilen und Riß lassen sich häufig nicht auf einfache Modelle reduzieren. Über die vorhandenen Lösungen hinaus werden daher Berechnungsverfahren benötigt, die für Ingenieure handhabbar sind. Zu diesen Berechnungsverfahren wird nachfolgend eine Übersicht gegeben. Es wird zwischen drei Gruppen von Berechnungsverfahren unterschieden: ältere einfache Verfahren, ältere numerische Verfahren und neuere numerische Verfahren. Zu den älteren einfachen Verfahren gehört die Überlagerung bekannter Lösungen nach unterschiedlichen Kriterien sowie die Auswertung von Integralen über vereinfachte Funktionen. Den älteren numerischen Verfahren sind Feldanpassung und Energiefreisetzung auf Basis von Finite-Elemente- und Boundary-Element-Modellen zugeordnet. Zu den neueren numerischen Verfahren gehören schließlich die Energiefeldverfahren, die sich vorteilhaft mit Verfahren der Rißpfadberechnung verbinden lassen. In diesem Zusammenhang wird auch von „Computational Fracture Mechanics“ gesprochen. Ältere einfache Berechnungsverfahren Zunächst stehen ältere einfache Berechnungsverfahren zur Verfügung, die sich durch geringen Anwendungsaufwand auszeichnen, jedoch die genaue Beachtung der Einschränkungen der verwendeten Teillösungen erfordern. Zu diesen

6.4 Berechnungsverfahren zur Rißfrontbeanspruchung

357

Verfahren, die teilweise von Cartwright u. Rooke [1011, 1036] unter Bezug auf den Spannungsintensitätsfaktor KI diskutiert werden, gehören: – Verfahren der einfachen Überlagerung: der Spannungsintensitätsfaktor der komplexen Rißkonfiguration ergibt sich durch additive Überlagerung (oder multiplikative Überlagerung, s. Radaj [1032]) der Spannungsintensitätsfaktoren einfacher Rißkonfigurationen mit bekannter Lösung. – Verfahren der alternierenden Überlagerung: der Spannungsintensitätsfaktor der komplexen Rißkonfiguration ergibt sich durch additive Überlagerung der Spannungsintensitätsfaktoren einer Folge von Rißkonfigurationen mit bekannter Lösung bei alternierenden Randbedingungen. – Verfahren der Grundbeanspruchung an der Rißspitze: die lokale Strukturspannung an der Rißspitze, berechnet ohne Spannungssingularität, wird als Grundbeanspruchung in den Spannungsintensitätsfaktor einer einfachen Rißkonfiguration mit bekannter Lösung eingeführt (Radaj u. Heib [1034]). – Verfahren der Greenschen Funktion: der Spannungsintensitätsfaktor ergibt sich aus einem Integral über die Spannung senkrecht zur Rißebene im Körper ohne Riß, multipliziert mit einer geeigneten Greenschen Funktion. – Verfahren der Gewichtsfunktion: der Spannungsintensitätsfaktor ergibt sich aus einem Integral über die Spannung senkrecht zur Rißebene im Körper ohne Riß, multipliziert mit einer Gewichtsfunktion, die sich aus der Lösung für einen beliebigen anderen Belastungsfall bei identischer Geometrie ergibt (Bueckner [1008], Rice [1069], Wu u. Carlsson [1046]). – Verfahren der verteilten (Makro-)Versetzungen: Lösungen entsprechend den Übersichten von Hills et al. [1001] und Weertmann [1005]. Zu den aufwendigeren älteren Berechnungsverfahren gehören zunächst die elastizitätstheoretischen Verfahren der Funktionsanalysis und Integraltransformation, die jedoch nur bei einfachen Rißkonfigurationen erfolgreich anwendbar sind. Durch spezielle numerische Approximationen kann diese Einschränkung gemildert werden (z. B. Verfahren der Randkollokation bei ebenen Problemen). Die ingenieurmäßige Anwendung ist jedoch auf die einfacher handhabbaren numerischen Berechnungsverfahren angewiesen. Ältere numerische Berechnungsverfahren Den älteren numerischen Berechnungsverfahren für Spannungsintensitätsfaktoren sind Methoden der Energiefreisetzung zugeordnet, die an Finite-Elementeoder Boundary-Elemente-Modellen eingesetzt werden. Bei den Feldanpassungsverfahren wird der Spannungsintensitätsfaktor aus dem Spannungs- und Verschiebungsfeld an der Rißspitze ermittelt. Bei den Energiefreisetzungsrateverfahren wird die bei Rißvergrößerung freigesetzte Formänderungsenergie bestimmt, die bei elastischem Werkstoff mit dem Spannungsintensitätsfaktor fest verbunden ist. Anstelle der Energiefreisetzungsrate wird vorteilhafter das wegunabhängige Konturintegral J (um die Rißspitze) ausgewertet. Diese älteren

358

6 Langrißbruchmechanik zur Ermüdungsfestigkeit

numerischen Berechnungsverfahren zur Ermittlung von Spannungsintensitätsfaktoren gelten nach Anderson [988] als überholt, weil sie durch die genaueren und effizienteren Energiefeldverfahren (weiter unten beschrieben) ersetzt werden können. Die Finite-Elemente-Methode [603, 605, 607, 609, 610, 612, 619–621] wird in Form der Verschiebungsmethode (auch „Steifigkeitsmethode“) angewendet. Der interessierende Bauteil- und Rißbereich wird in einfach berandete Elemente unterteilt (Diskretisierung), beispielsweise in isoparametrische ebene Viereckselemente (mit 4 Eck- und 4 Zwischenknotenpunkten) oder entsprechende räumliche Hexaederelemente (mit 8 Eck- und 12 Zwischenknotenpunkten). Die Elementsteifigkeitsmatrizen werden zur Struktursteifigkeitsmatrix assembliert. Letztere ermöglicht die Lösung für die Knotenpunktverschiebungen bei Wirkung vorgegebener Knotenpunktkräfte (algebraisches Gleichungssystem). Die zugehörigen Spannungen und Dehnungen werden in den Gauß-Punkten (oder „Integrationspunkten“) des Elements ausgewertet (4 Punkte im Viereckselement, 8 Punkte im Hexaederelement). Die vielseitige Anwendbarkeit der Finite-Elemente-Methode in der linearen (elastischen) und nichtlinearen (elastisch-plastischen) Kontinuumsmechanik ist bekannt. Die Boundary-Elemente-Methode [604, 606, 608, 611] (auch „Randelementemethode“ oder „Randintegralmethode“) ist ein alternativ anwendbares numerisches Verfahren, besonders effizient bei der Bestimmung der Beanspruchung am Rand ebener oder an der Oberfläche räumlicher Bereiche, aufwendiger jedoch hinsichtlich der Beanspruchungen im Innern. Die Methode geht vom Bettischen Umkehrtheorem aus, wobei die Spannungs- und Verschiebungsfunktionen zur Einzelkraftwirkung auf die elastische Halbebene oder den entsprechenden Halbkörper als Referenzlösungen verwendet werden. Um die Rand- bzw. Oberflächenwerte der Beanspruchung in komplexeren Fällen zu bestimmen, wird der Rand bzw. die Oberfläche in Elemente unterteilt, was die Lösung unter vorgegebenen Belastungen der Struktur über ein algebraisches Gleichungssystem ermöglicht. Die Rand- bzw. Oberflächenelemente haben einen Grad geringere Dimension als der zu analysierende ebene oder räumliche Strukturbereich. Ebene Bereiche sind von eindimensionalen Elementen umrandet, räumliche Bereiche mit Flächenelementen belegt. Die Boundary-ElementeMethode wird meist auf elastische Probleme angewendet, kann aber auch bei elastisch-plastischem Verhalten eingesetzt werden (Blandford u. Ingraffea [1053], Cruse [1056, 1057], Mendelson u. Albers [1065]). Die Feldanpassungsverfahren beruhen auf den Grenzwertformeln (6.5) bis (6.7) für KI . Analoge Beziehungen lassen sich für KII und KIII angeben. Von den aus den Spannungen und Verschiebungen an den Rißflanken in endlichen Abständen von der Rißspitze gewonnenen Spannungsintensitätsfaktoren wird auf deren Wert an der Rißspitze extrapoliert. Die Anforderungen an die Netzfeinheit lassen psich verringern, wenn an der Rißspitze spezielle finite Elemente mit einer 1= r-Singularität eingeführt werden (Tracey [1072]). Später haben Henshell u. Shaw [1063] bzw. Barsoum [1050–1052] gezeigt, daß die Spannungssingularität durch eine einfache Modifikation gängiger isoparametrischer Elemente erzeugt werden kann.

6.4 Berechnungsverfahren zur Rißfrontbeanspruchung

359

Beim Randkollokationsverfahren (Kobayashi et al. [1064], Gross u. Srawley [1061]) werden reelle oder komplexe analytische Spannungsfunktionen mit Singularität an der Rißspitze als Polynome (gültig im Gesamtbereich) vorgegeben, deren Koeffizienten aus ebenfalls vorgegebenen Randpunktwerten bestimmt werden, ggf. unter der Bedingung kleinster Fehlerquadrate. Das Verfahren ist durch die Finite-Elemente- und Boundary-Elemente-Methode überholt. Beim Energiefreisetzungsrateverfahren (Irwin [1022]) wird die Veränderung der globalen Formänderungsenergie W bei einer kleinen aber endlichen koplanaren Vergrößerung der Rißlänge a (in einer Scheibe der Dicke 1) unter fixierten Randbedingungen zur Bestimmung der Energiefreisetzungsrate G ausgewertet: Gˆ

DW Da

…6:30†

Nach Irwin wird das im Umkehrschluß über Da gebildete Rißschließintegral für Da ! 0 ausgewertet. Der Spannungsintensitätsfaktor KI folgt nach (6.47), wenn Rißbeanspruchung nach reinem Modus I vorausgesetzt werden kann. Das Konturintegral J, bei ebenen Modellen auf beliebigem, rechentechnisch günstig gewähltem Integrationspfad um die Rißspitze, läßt sich in gleicher Weise mit KI in Verbindung bringen. Im allgemeinen Fall der Rißbeanspruchung im gemischten Modus I und II bleibt allerdings der Anteil von KI und KII offen, K2 ˆ K2I ‡ K2II in (6.47). Mit entsprechenden Korrekturgliedern ist das J-Integral auch mit beanspruchungspfadabhängiger Plastizität an der Rißspitze sowie bei Wärmedehnungen angebbar (Budiansky u. Rice [1054], Carpenter et al. [1055]). Bei räumlichen Modellen tritt an Stelle des Konturintegrals ein Flächenintegral, das nicht mehr einfach zu lösen ist. Nach neueren Entwicklungen wird bei ebenen Modellen eine Flächenintegration, bei räumlichen Modellen eine Volumenintegration vorgenommen, was zu höherer Genauigkeit und einfacherer Implementierung führt (s. Energiefeldverfahren). Neuere numerische Berechnungsverfahren Zu den neueren numerischen Berechnungsverfahren gehören das Energiefeldverfahren und sein Vorläufer, das Steifigkeitsgradientenverfahren. Sie basieren auf Finite-Elemente-Modellen und führen zur Energiefreisetzungsrate bzw. zum J-Integral. Das Steifigkeitsgradientenverfahren wurde bereits in den Siebzigerjahren von Parks [1067, 1068] und Hellen [1062] angegeben. Die Energiefreisetzungsrate ist dem Gradienten der Steifigkeitsmatrix über der Rißlänge proportional. Vorausgesetzt ist ein ebenes Finite-Elemente-Modell. Bei einer virtuellen (gedachten) Rißvergrößerung durch Verschieben des gleichbleibenden Rißspitzenbereichs C0 innerhalb des ebenfalls gleichbleibenden Außenbereichs C1, Abb. 6.21, werden nur die im Zwischenbereich befindlichen Elemente verzerrt. Deren Steifigkeitsänderung ist durch numerische Differentiation zu bestimmen, wodurch sich eine erneute Vernetzung des Gesamtbereichs erübrigt. Die ermit-

360

6 Langrißbruchmechanik zur Ermüdungsfestigkeit

Abb. 6.21: Virtuelle Rißvergrößerung im Finite-Elemente-Modell mit Beschränkung der Netzverzerrung auf einen ringförmigen Zwischenbereich: Ausgangszustand (a) und Zustand mit Rißvergrößerung (b); nach Anderson [988]

telte Energiefreisetzungsrate G entspricht dem J-Integral auch darin, daß das Ergebnis von der Wahl der Konturlinien zu den Bereichen C0 und C1 unabhängig ist. Von de Lorenzi [1058, 1059] wurde das Verfahren dahingehend verbessert, daß die Einschränkung auf finite Elemente und numerische Differentiation im Zwischenbereich zugunsten einer Bereichsintegration aufgegeben wurde. Zweidimensionale Probleme erfordern dann eine Flächenintegration, dreidimensionale Probleme eine Volumenintegration. Bei dreidimensionalen Problemen kann die Energiefreisetzungsrate entlang der Rißfront veränderlich sein. Wird die virtuelle Rißvergrößerung im letzteren Fall konstant über die Rißfront eingeführt, dann ergibt sich ein gemittelter G-Wert, bei lokaler Vorgehensweise dagegen ein lokaler G-Wert. Eine gelegentlich anzutreffende Variante der Verfahren mit virtueller Rißvergrößerung geht von dem zu (6.30) erwähnten Rißschließintegral aus, um Rißspitzenelemente mit Spannungssingularität durch Versetzen der Zwischenknotenpunkte zu definieren (Sethuraman u. Maiti [1070]). Eine allgemeinere Methode der numerischen Bestimmung des J-Integrals, unter Einschluß statischen und dynamischen, elastischen, plastischen und viskoplastischen Werkstoffverhaltens sowie thermischer Beanspruchung, wurde von Shih et al. [1066, 1071] entwickelt, das Energiefeldverfahren. Dieses sehr effiziente und relativ leicht zu implementierende Verfahren (Dodds u. Vargas [1060]) ähnelt der Methode der virtuellen Rißvergrößerung. Die aufwendigeren mathematischen Ableitungen zum Energiefeldverfahren sind von Anderson [988] verständlich zusammengefaßt und können dort nachgelesen werden. Das J-Integral auf Basis des Energiefeldverfahrens ist in fortschrittlicher kommerzieller Finite-Elemente-Software verfügbar. Die innere Kontur wird meist zusammenfallend mit der Rißspitze gewählt, die äußere Kontur folgt Netzlinien in etwas Abstand von der Rißspitze. Die q-Funktion der virtuellen Knotenpunktverschiebungen entspricht beispielsweise einer Pyramidenfunktion

6.4 Berechnungsverfahren zur Rißfrontbeanspruchung

361

mit dem Maximalwert 1 an der Rißspitze und linearem Abfall auf den Wert null in einem rechteckigen Quadratnetzbereich um die Rißspitze. Bei dreidimensionalen (statt ebenen) Problemstellungen wird im räumlichen Netz sinngemäß verfahren. Netzgestaltung an der Rißfront Zur Diskretisierung oder Vernetzung von Rißmodellen werden ebene Viereckselemente bzw. räumliche Hexaederelemente empfohlen, Abb. 6.22. An der Rißspitze bzw. Rißfront selbst werden zu Dreieckselementen entartete Viereckselemente (3 Knotenpunkte in der Rißspitze zusammenfallend und fest verbunden) bzw. zu Keilelementen entartete Hexaederelemente eingesetzt, Abb. 6.23. Außerdem wird in den an pder Rißspitze aufstoßenden Dreiecks- bzw. Keilelementen die elastische 1= r-Spannungssingularität nach Henshell u. Shaw [1063] bzw. Barsoum [1052] durch Versetzen der Zwischenknoten auf ein Viertel der Seitenlänge verwirklicht, Abb. 6.24 (a). Nur bei diesen Elementen wird durch das Versetzen der Zwischenknoten die Singularität im gesamten Winkelbereich erzeugt. Bei den Vierecks- bzw. Hexaederelementen bleibt die Singularität auf die Elementränder bzw. Elementseitenflächen beschränkt. Bei idealplastischem p Werkstoff tritt an Stelle der 1= r-Spannungssingularität eine 1/r-Dehnungssingularität, die nach Anderson [988] ohne Versetzen der Zwischenknoten erzeugt wird, Abb. 6.24 (b). Die in der Rißspitze zusammenfallenden Knotenpunkte sind nicht mehr fest verbunden sondern können sich bei Beanspruchung gegenseitig verschieben, so daß eine Rißöffnungsverschiebung (CTOD) darstellbar ist. Von Barsoum [1050, 1052] werden dagegen für elastisch-plastische Rißspitzen ebenfalls Dreieckselemente mit versetzten Zwischenknoten vorgeschlagen.

Abb. 6.22: Isoparametrische Elemente für zwei- und dreidimensionale Rißmodelle: Viereckselemente mit 8 bzw. 9 Knoten (a, b) und Hexaederelemente mit 20 bzw. 26 Knoten (c, d); nach Anderson [988]

362

6 Langrißbruchmechanik zur Ermüdungsfestigkeit

Abb. 6.23: Viereckselement (a) entartet zum Dreieckselement (b) und eingefügt in Elementenetz an der Rißspitze; nach Anderson [988]

Abb. 6.24: Rißspitzenelemente für elastisches (a) und idealplastisches (b) Werkstoffverhalten; p zugeordnet eine 1/ r-Spannungssingularität (a) bzw. eine 1/r-Dehnungssingularität (b); nach Anderson [988]

An der Rißspitze wird somit eine spinnwebenartige Netzstruktur (Vierecksbzw. Hexaederelemente in konzentrischer Anordnung) mit zur Rißspitze hin zunehmender Netzfeinheit sowie mit Dreiecks- bzw. Keilelementen an der Rißspitze selbst empfohlen. Die Spinnwebenstruktur ermöglicht den stetigen Übergang von feiner Netzteilung an der Rißspitze zu grober Netzteilung in größerem Abstand. Elemente mit Singularität an der Rißspitze sind bei elastischen Problemen zu empfehlen, sofern sich das Bereichsintegral nur über einen kleinen Bereich an der Rißspitze erstreckt, andernfalls genügen Rißspitzenelemente ohne Singularität. Höhere Anforderungen an die Netzfeinheit stellen plastische Rißspitzenmodelle. Sie erfordern außerdem die Berücksichtigung großer Dehnungen.

6.5 Rißfortschrittsrate und Schwellenwert

363

Netzadaption bei fortschreitenden Rissen Zur Vorhersage von Rißpfad und Rißfront im Rahmen komplexerer Rißfortschrittsberechnungen muß das Elementenetz fortwährend der sich weiterentwickelnden Rißgeometrie angepaßt werden. Eine in Richtung Rißspitze sich gleichmäßig verfeinernde Netzteilung, ausgerichtet an der Rißfortschrittsrichtung, wird angestrebt. Das geschieht durch adaptive Netzgestaltung im Bereich der Rißfront, verwirklicht über eine geeignete Submodelltechnik. Um Entlastungseffekte an der Gesamtstruktur zu erfassen, die durch den Rißfortschritt verursacht werden, muß aber auch das Gesamtmodell wiederholt neu analysiert werden. Zur Bestimmung der Richtung und Größe des Rißfortschritts im jeweils darauffolgenden Beanspruchungszyklus sind Kenntnisse bzw. Hypothesen über das Rißfortschrittsverhalten unter Einschluß des Rißschließens bei mehrachsiger Rißbeanspruchung im gemischten Modus erforderlich (s. Kap. 6.6 u. 6.9). Zur Bewältigung des erheblichen Steueraufwandes für Erzeugung, Aktivierung und Auswertung des adaptiven Netzes werden hochentwickelte automatisierte Programme angeboten, die in Verbindung mit kommerziellen Finite-Elementeoder Boundary-Elemente-Programmsystemen einsetzbar sind. Sie basieren auf der über das Internet frei verfügbaren Software FRANC2D bzw. FRANC3D (Fracture Analysis Code) [1249, 1258]. Ein Beispiel zum Einsatz von FRANC3D wird in Kap. 8.6 erläutert.

6.5

Rißfortschrittsrate und Schwellenwert

Bruchmechanische Beschreibung des Rißfortschritts Nachfolgend wird der stabile zyklische Rißfortschritt bei zunächst konstanter Beanspruchungsamplitude betrachtet, oder, präziser ausgedrückt, bei konstanter Amplitude des für den Rißfortschritt maßgebenden Spannungsintensitätsfaktors. Letzterer ist im Rißfortschrittsversuch infolge der stetigen Rißvergrößerung trotz konstanter Lastamplitude nicht genau konstant, wohl aber für viele Auswertungen hinreichend konstant. Soweit die plastische Zone an der Rißfront klein bleibt (Bereich der Langzeitfestigkeit), kann der experimentell zu ermittelnde zyklische Rißfortschritt durch die Kenngrößen der linearelastischen Bruchmechanik vereinheitlichend beschrieben werden [1097–1164]. Der Rißfortschritt wird in hohem Maße vom Spannungsintensitätsfaktor KI unter Querzugbeanspruchung des Risses senkrecht zur Rißebene (Modus I) bestimmt. Schubbeanspruchung senkrecht zur Rißfront (Modus II) und Schubbeanspruchung längs der Rißfront (Modus III) sind vielfach von untergeordneter Bedeutung, zumal sich Ermüdungsrisse in der Regel senkrecht zur ersten Hauptspannung ausrichten. Eine Ausnahme bilden scharfkantige Übergänge, bei denen die Anrißebene vielfach mit der Kerb-

364

6 Langrißbruchmechanik zur Ermüdungsfestigkeit

Abb. 6.25: Rißlänge als Funktion der Schwingspielzahl bei unterschiedlichen Schwingbreiten Dr1 > Dr2 > Dr3 der Zugbeanspruchung senkrecht zur Rißebene; mit grafisch veranschaulichter Rißfortschrittsrate da=dN

linie identisch ist. In allen Fällen bezeichnet die Rißebene den makroskopischen Zustand, der sich vom mikroskopischen Zustand unterscheiden kann. In komplexeren Beanspruchungsfällen (z. B. beim Verwindungsbruch) besteht die makroskopisch ebene Bruchfläche mikroskopisch aus einer Folge zacken- bzw. dachförmig angeordneter Trenn- und Scherflächen. An Proben mit künstlich eingebrachtem Riß quer zur Zugbeanspruchung, CT-Probe (compact-type specimen), Dreipunktbiegeprobe (single edge cracked bend specimen) oder CCT-Probe (centre-cracked tension specimen) gemäß ASTM-Norm E 647 [1098] oder BS-Norm BS 6835 [1105]), wird zunächst die Vergrößerung der Rißlänge a bzw. 2a (Außenriß bzw. Innenriß) mit der Schwingspielzahl N bei unterschiedlichen Schwingbreiten der Grundbeanspruchung, ausgedrückt durch die Schwingbreiten der Nennspannung Dr, experimentell ermittelt, Abb. 6.25. Es stellt sich heraus, daß die Vergrößerung der Rißlänge mit der Schwingspielzahl, die Rißfortschrittsrate da/dN, in Abhängigkeit der Schwingbreite der Spannungsintensität, des zyklischen Spannungsintensitätsfaktors DK, einheitlich darstellbar ist, also unabhängig davon, ob bei vorgegebenem Spannungsintensitätsfaktor die Rißlänge klein bei hoher Nennspannungsschwingbreite oder die Rißlänge groß bei niedriger Nennspannungsschwingbreite ist („mechanische Ähnlichkeit“), Abb. 6.26. Dabei wird der zyklische Spannungsintensitätsfaktor DK mit dem Geometriefaktor Y für die jeweilige Proben- und Rißgeometrie verwendet: p DK ˆ Dr pa Y

…6:31†

Vorausgesetzt ist überwiegend elastisches Langrißverhalten, also Ausschluß des ungünstigeren elastisch-plastischen Kurzrißverhaltens. Die Grenze zwischen Lang- und Kurzrißverhalten ist abhängig von Werkstoffart und Werkstoffgefüge. Als Anhaltswert der Grenze kann die Rißlänge a ˆ 1 mm gelten.

6.5 Rißfortschrittsrate und Schwellenwert

365

Abb. 6.26: Rißfortschrittsrate von Langrissen als Funktion der zyklischen Spannungsintensität, Bereiche I, II und III (schematische Darstellung)

Neben der vorstehend beschriebenen Versuchsdurchführung mit veränderlichen DK-Werten ist die Einstellung konstanter DK-Werte über eine Lastregelung in Abhängigkeit der Rißlänge möglich (kleinere Last bei größerer Rißlänge), woraus sich ein linearer Anstieg der Rißlänge über der Schwingspielzahl bzw. ein konstanter Gradient da/dN ergibt. Eine derartige Versuchsdurchführung ist aufwendiger und daher nur im Sonderfall gerechtfertigt, etwa bei Untersuchungen zur Bruchflächenmorphologie. Mit DK ist vorstehend und nachfolgend im allgemeinen der zyklische Spannungsintensitätsfaktor DKI bei Beanspruchung nach Modus I gemeint. Die angegebenen Beziehungen zum Rißfortschritt gelten aber in gleicher Form mit entsprechend geänderten Parametern auch bei Beanspruchung nach Modus II oder Modus III, sofern der Riß als hinreichend geöffnet angesehen werden kann (was vielfach nicht zutrifft). In diesen Fällen ist DKII oder DKIII mit DK gemeint. Bei gemischter Beanspruchung werden äquivalente Werte DKaq eingeführt (Kap. 6.6). Die Bezeichnung Rißfortschrittsrate da/dN wird anstelle der üblichen Bezeichnung Rißgeschwindigkeit oder Rißfortschrittsgeschwindigkeit verwendet, um eine Verwechslung mit der zeitbezogenen Größe da/dt auszuschließen, die zur Kennzeichnung des Rißfortschritts durch Kriechen oder Korrosion oder auch des instabilen Rißfortschritts dient (abgesehen davon, daß in der Physik Geschwindigkeit die Ortsveränderung pro Zeiteinheit bezeichnet). Der Grenzwert da/dN nimmt auch insofern eine Sonderstellung ein (und erfordert die

366

6 Langrißbruchmechanik zur Ermüdungsfestigkeit

besondere Bezeichnung), als der Differentialquotient einer in Wirklichkeit nicht stetig differenzierbaren Funktion gemeint ist. Physikalisch vertretbar ist dagegen folgender Grenzwert:   da Da ˆ lim …6:32† dN DN!1 DN Es lassen sich drei Bereiche des zyklischen Spannungsintensitätsfaktors unterscheiden, Abb. 6.26. Im Bereich I (Schwellenwertbereich) kleiner Werte DK vergrößert sich der Riß unterhalb des Schwellenwerts DK0 überhaupt nicht und darüber zunächst nur sehr langsam (Da  1 mm für DN ˆ 107 ). Im Bereich II mittlerer Werte DK nimmt in doppeltlogarithmischer Auftragung die Rißfortschrittsrate etwa proportional zum zyklischen Spannungsintensitätsfaktor zu (Paris-Gleichung (6.35)). Im Bereich III (Bruchbereich) tritt bei Erreichen des kritischen Spannungsintensitätsfaktors KIc (überwiegend ebener Dehnungszustand dicker Proben) bzw. Kc (überwiegend ebener Spannungszustand dünner Proben) zunächst stabiles Reißen (stable tearing) und dann der instabile Restbruch ein. Das Abzweigen der Kurve zu Kc aus jener zu KIc erklärt sich daraus, daß bei höherem Spannungsintensitätsfaktor der bei hinreichender Probendicke anfänglich ebene Dehnungszustand durch Scherlippenbildung abgebaut wird. Die Scherlippen vermindern die Rißfortschrittsrate. Bei hoher Duktilität des Werkstoffs ist ein Restbruch unter Querschnittseinschnürung und Hohlraumbildung (also außerhalb des Kc -Konzepts) in Betracht zu ziehen. Im Bereich I wird der Kurvenverlauf durch Mikrostruktur, Mittelspannung und umgebendes Medium stark beeinflußt. Im Bereich II spielen die eben genannten Einflußgrößen eine geringere Rolle. Im Bereich III ist der Einfluß wiederum stark, außerdem tritt der Einfluß der Probendicke hinzu. Die Kurve der Rißfortschrittsrate kann neben den dargestellten Richtungsänderungen weitere Knickpunkte aufweisen. Letztere drücken eine Änderung des Bruchmechanismus aus, der mikrostrukturell bedingt ist (Wanhill [1160]). Nachfolgend wird zunächst Schwellbeanspruchung der Rißspitze mit konstanter Amplitude, also R ˆ Ku =Ko ˆ 0 vorausgesetzt.

Schwellenwert des zyklischen Spannungsintensitätsfaktors Im Bereich I niedriger zyklischer Spannungsintensität ist der Langriß nicht oder kaum fortschrittsfähig (wohl aber der Kurzriß, s. Abb. 7.3 u. 7.4): da ˆ0 dN

…DK  DK0 †

…6:33†

Dabei ist DK0 der Schwellenwert des zyklischen Spannungsintensitätsfaktors (threshold stress intensity factor), ab dem Rißfortschritt nachweisbar ist. Die experimentelle Bestimmung von DK0 ist zeitaufwendig, denn der Nachweis erfordert bei passender Beanspruchungsamplitude etwa 107 Schwingspiele. Ent-

6.5 Rißfortschrittsrate und Schwellenwert

367

weder wird die Amplitude bei konstantem R-Wert stufenweise verringert, bis Rißstillstand eintritt (Empfehlung in ASTM-Norm E 647 [1098]), oder sie wird in entsprechender Weise erhöht, bis Rißfortschritt auftritt. Es werden auch besondere Probenformen verwendet, bei denen der Spannungsintensitätsfaktor unter konstanter Lastamplitude mit der Rißlänge abnimmt (zyklische Belastung bis zum Rißstillstand). Der Beseitigung möglicher Eigenspannungen ist besondere Beachtung zu schenken. Der Schwellenwert DK0 ist vom Werkstoff, seiner Mikrostruktur und dem umgebenden Medium abhängig. Die Abhängigkeit von der Mittelspannung wird zunächst nicht betrachtet, da einheitlich R ˆ 0 vorausgesetzt ist. Für Baustähle ist DK0 ˆ 180 N=mm3=2 ein bewährter, die untere Streubandgrenze kennzeichnender Wert. Andererseits wird von Hanel [1201] für die Baustähle St 37 und St 52 der Wert DK0 ˆ 236 bzw. 245 N=mm3=2 angegeben. Für eine größere Gruppe von Stählen wird von Romaniv et al. (Hinweis in [1560]) eine Abhängigkeit des Schwellenwertes DK0 von der Dauerfestigkeit DrD ermittelt (für R ˆ 0, DK0 in N=mm3=2 , DrD in N=mm2 ): DK0 ˆ

3;48  103 p DrD

…6:34†

Unter Beachtung von (3.2) bis (3.4) schließt das die Abhängigkeit von der Zugfestigkeit ein, ausgenommen sehr hochfeste Stähle. Auch nach El Haddad et al. [1412] besteht eine werkstoffabhängige Korrelation zwischen DK0 und DrD (s. (7.17) in Kap. 7.2), die jedoch nach (7.19) nicht mit der Zugfestigkeit, sondern mit der Fließgrenze in Verbindung gebracht wird. Schwellenwerte DK0 für Schweißverbindungen aus Stahl oder Aluminiumlegierung sind bei Radaj et al. [70] zu finden. Die Werkstoffabhängigkeit des Schwellenwertes wird in Kap. 6.10 erneut angesprochen. Die Existenz eines Schwellenwertes wird beim Langriß ebenso wie beim Kurzriß auf das Rißschließen zurückgeführt (s. Kap. 6.9). Unterschiedliches Rißschließverhalten erklärt unterschiedliche Schwellenwerte beim Lang- und Kurzriß (Elber [1196, 1197]). Beim ebenen Spannungszustand ist das plastisch bedingte Rißschließen dominant, beim ebenen Dehnungszustand dagegen treten weitere Rißschließmechanismen in Erscheinung, darunter die Bruchflächenrauhigkeit [1234], der Bruchtrümmereinschluß [1193] und die Oxidbildung. In trokkener inerter Atmosphäre ist der Schwellenwert am niedrigsten und die benachbarte Rißfortschrittsrate am höchsten. In elektrochemisch aktiver Umgebung, z. B. feuchter Luft, nimmt das Rißschließen durch Oxidbildung zu. Dies hat einen höheren Schwellenwert und eine geringere Rißfortschrittsrate zur Folge. Andererseits ist der Schwellenwert für Stahl im Vakuum höher als an Luft. Das wird auf einen Kaltschweißeffekt an der Rißspitze zurückgeführt. Der schnellere Rißfortschritt in korrosiver Umgebung läßt sich dagegen nicht aus dem Rißschließeffekt erklären (s. Kap. 6.11). Die unterschiedlichen „Rißspitzenabschirmmechanismen“ wurden von Ritchie et al. [1147] genauer untersucht. Der Einfluß der Bruchflächenrauhigkeit auf den Schwellenwert bei relativ spröden technischen Metallegierungen und Keramiken wird von Wasén u.

368

6 Langrißbruchmechanik zur Ermüdungsfestigkeit

Heier [1161] hervorgehoben. Er ist besonders ausgeprägt, wenn sich die Rißbeanspruchungen nach Modus I und II überlagern. In diesem Fall stützen sich die im Modell sägezahnartig profilierten Bruchflächen bei der Rückbelastung vorzeitig ab. Außerdem wird eine lineare Abhängigkeit des Schwellenwertes vom Elastizitätsmodul festgestellt. Nach Untersuchungen von Gray et al. [1200] bildet grobkörniger Stahl rauhere Bruchflächen als feinkörniger Stahl, wodurch der Schwellenwert im ersteren Fall erhöht ist. Der Schwellenwert der Spannungsintensität ist bei technischen Berechnungen von nur begrenztem Wert, weil bei der Anwendung auf Fehlstellen vielfach nicht vorausgesetzt werden kann, daß Rißschließen auftritt, und weil Kurzrißfortschritt bei DK  DK0 möglich ist. In diesen Fällen ist die Verlängerung des doppeltlogarithmisch linearen Bereichs der Rißfortschrittskurve (Paris-Gleichung) in den Kurzrißbereich die konservativere Annahme (Schijve [53]). Stabiler zyklischer Rißfortschritt Im Bereich II mittlerer zyklischer Spannungsintensität kann die Rißfortschrittsrate da=dN proportional zur Potenz der Schwingbreite DK des Spannungsintensitätsfaktors gesetzt werden, wobei die Übergangsbereiche zu DK0 und zu KIc bzw. Kc unberücksichtigt bleiben (nach Paris et al. [1137–1139]): da ˆ C…DK†m dN

…6:35†

Die Größen C und m sind Werkstoffkonstanten, welche die Lage und Steigung der als Gerade im doppeltlogarithmischen Diagramm auftretenden Kurve bestimmen. Für Baustähle beispielsweise ist m ˆ 2;25 4;0. So werden von Hanel [1201] für den Baustahl St 37 bzw. St 52 die Werte m ˆ 3;33 bzw. 3,18 und C ˆ 1;37  10 14 bzw. 3;39  10 14 (für da=dN in mm je Schwingspiel und DK in N=mm3=2 ) angegeben. Hinsichtlich der Werte von C und m bei Schweißverbindungen aus Stahl und Aluminiumlegierung wird auf Radaj et al. [70] verwiesen. Weitere Angaben zur Werkstoffabhängigkeit der Größen C und m sind in Kap. 6.10 zu finden. Innerhalb eines Streubands von Versuchsergebnissen ist Variationsspielraum für die Festlegung der Größen C und m gegeben, was bei Wertevergleichen zu beachten ist. Die von verschiedenen Autoren festgestellte Korrelation zwischen diesen Größen ist physikalisch bedeutungslos (Cortie u. Garett [1109]). Die Rißfortschrittsrate ist in Aluminiumlegierungen etwa zwanzigmal so groß wie in Stählen, Abb. 6.27. Die Übergangsbereiche zu DK0 einerseits und zu KIc bzw. Kc andererseits werden im Zusammenhang mit dem Einfluß der Mittelspannung als erweiterte Formeln für den Rißfortschritt dargestellt (s. Kap. 6.8). Instabiler Restbruch Der instabile Restbruch, der nach Erreichen einer kritischen Rißgröße im Bereich III hoher zyklischer Spannungsintensität eintritt, wird bei Annahme einer

6.5 Rißfortschrittsrate und Schwellenwert

369

Abb. 6.27: Rißfortschrittsrate als Funktion des zyklischen Spannungsintensitätsfaktors für zwei Aluminiumlegierungen und zwei Stähle; nach Schwalbe [1003]

relativ kleinen plastischen Zone an der Rißspitze (Sprödbruch) durch einen kritischen Wert des Spannungsintensitätsfaktors beschrieben, durch KIc (dickenunabhängig) beim ebenen Dehnungszustand relativ dicker Proben oder Bauteile oder durch Kc (dickenabhängig) bei dünneren Proben oder Bauteilen mit zunehmend ebenem Spannungszustand (s. Prüfnorm ASTM E399-74 [1097]). Die Rißzähigkeit KIc ist der eigentliche Werkstoffkennwert, während Kc mit abnehmender Probendicke erst ansteigt und dann wieder abfällt. Für gängige Baustähle ist KIc  600–3000 N=mm3=2 . Die Rißzähigkeit folgt aus der kritischen (Nenn-)Spannung rc , die bei vorgegebener Rißlänge a den instabilen Restbruch einleitet (hinreichende Probendicke vorausgesetzt): p …6:36† KIc ˆ rc pa Y Umgekehrt folgen aus vorgegebener Rißzähigkeit die kritischen Kombinationen von (Nenn-)Spannung und Rißlänge, Abb. 6.28. Das KIc - bzw. Kc -Bruchkriterium entspricht der Annahme, daß die über eine Werkstoffstrukturlänge Dr vor der Rißspitze gemittelte Spannung rym senkrecht zur Rißebene in kritischer Größe rymc die instabile Rißvergrößerung bewirkt (nach (6.4)): r 2 …6:37† rymc ˆ KIc pDr Das Kriterium folgt indirekt aus der Annahme nach Griffith [1119], daß instabiler Rißfortschritt eintritt, wenn die dabei freisetzbare elastische Formände-

370

6 Langrißbruchmechanik zur Ermüdungsfestigkeit

Abb. 6.28: Kritische Spannung als Funktion der Rißlänge für unterschiedliche Rißzähigkeit KIc (schematisch), Erhöhung von rc oder a (vertikaler oder horizontaler Pfeil) bei Erhöhung von KIc

rungsenergie dUel =da (Energiefreisetzungsrate oder Rißerweiterungskraft GI ) die Grenzflächenenergie der zu bildenden Rißflanken dUG =da übersteigt: dUel dUG  da da

GI ˆ

…6:38†

Die kritische Rißerweiterungskraft GIc bzw. Gc ist mit KIc beim ebenen Dehnungszustand (EDZ) bzw. Kc beim ebenen Spannungszustand (ESZ) verbunden: m2

GIc ˆ

1

Gc ˆ

1 2 K E c

E

…EDZ†

KIc2

…ESZ†

…6:39† …6:40†

Die vorstehenden Bruchkriterien sind nicht nur bei extremer Sprödigkeit, sondern ebenso bei mäßiger Duktilität (technischer Sprödbruch) gültig. Die in KIc bzw. Kc einzuführende Rißlänge a ist bei mäßiger Duktilität, also insbesondere bei Kc , um den halben Abstand des Randes der plastischen Zone von der Rißspitze …rpl ˆ xpl =2† zu vergrößern: Kc ˆ rc

q p…a ‡ rpl † Y

…6:41†

Die Größe rpl folgt aus (6.1), also dem asymptotischen Anstieg der Spannung ry (senkrecht zur Rißebene wirkend) zur Spannungssingularität, indem ry der Fließgrenze rF gleichgesetzt wird (also rpl ohne und xpl mit Gleichgewichtskorrektur):   1 Kc 2 …ESZ† …6:42† rpl ˆ 2p rF

6.5 Rißfortschrittsrate und Schwellenwert

371

Elastisch-plastisch beschriebener zyklischer Rißfortschritt Bei größerer plastischer Zone an der Rißfront und Plastizierung des Probenquerschnitts (Bereich der Kurzzeitfestigkeit) sind die Voraussetzungen der linearelastischen Bruchmechanik nicht mehr erfüllt. Die Rißfortschrittsrate kann daher nicht mehr mit DK und KIc bzw. Kc eindeutig korreliert werden. Im Bereich des stabilen zyklischen Rißfortschritts ist die Rißfortschrittsrate mit der Schwingbreite Deges der elastisch-plastischen Gesamtdehnung oder auch nur des überwiegenden plastischen Dehnungsanteils Depl überschlägig korrelierbar, Abb. 6.29 (mit De ˆ Deges ˆ Depl ‡ Deel bzw. De ˆ Depl ): p da ˆ Ce …De a†2 dN

…6:43†

Die Dehnungsschwingbreite wird über die Probenlänge gemittelt, im Sonderfall auch zwischen Außenrissen in Probenmitte gemessen. Gelegentlich wird der zyklische Dehnungsintensitätsfaktor DKe in (6.43) eingeführt: p …6:44† DKe ˆ EDe a

Abb. 6.29: Angenähert einheitliche Rißfortschrittsrate im Bereich der Kurzzeitfestigkeit für einen Baustahl als Funktion des zyklischen Dehnungsintensitätsfaktors bei unterschiedlichen zyklischen plastischen Dehnungen; Versuchsergebnisse nach Solomon [1156] in der Darstellung von Schwalbe [1003]

372

6 Langrißbruchmechanik zur Ermüdungsfestigkeit

Abb. 6.30: Rißfortschrittsrate in einem Baustahl als Funktion des zyklischen J-Integrals mit Streuband der Versuchsergebnisse; dehnungsgeregelte Versuche mit anfänglich R ˆ 0; nach Dowling u. Begley [1115]

p Einzelne Autoren verwenden (6.43) ohne a bzw. führen pden Exponenten 4 statt 2 ein (s. Schwalbe [1003]), andere setzen in (6.44) pa an die Stelle von p a (s. (7.35)). Nach einem weiteren Ansatz wird die zyklische Rißöffnungsverschiebung Dd gemäß dem Modell von Dugdale [1077] bzw. Barenblatt [1073] zur Beschreibung der Rißfortschrittsrate herangezogen (s. Kap. 7.4): da ˆ Cd …Dd†m dN

…6:45†

Eine Möglichkeit, die Rißfortschrittsrate im elastisch-plastischen und vollplastischen Bereich darzustellen, bietet nach Dowling u. Begley [1114, 1115] das im nachfolgenden Abschnitt näher erläuterte zyklische J-Integral, Abb. 6.30: 0 da ˆ CJ …DJ†m dN

…6:46†

Auch die in Abb. 6.29 dargestellten Versuchsergebnisse konnten über das zyklische J-Integral auf eine einzige Kurve gemäß (6.46) gebracht werden (Zheng u. Liu [1164]). Der Vergleich von (6.46) mit (6.35) und (6.47) im Grenzfall linearelastischen 0 Verhaltens zeigt C ˆ CJ =E m und m ˆ 2m0 .

6.5 Rißfortschrittsrate und Schwellenwert

373

Die Eignung des zyklischen J-Integrals zur Beschreibung der Kurzzeitfestigkeit unter gemischter Beanspruchung (nach Modus I und II) wird von Wang u. Pan [1093] aufgrund theoretischer Untersuchungen zum koplanaren Kurzrißfortschritt unter überwiegend plastischen Bedingungen festgestellt. Der koplanare Rißfortschritt entspricht der Richtung größter Vergleichsdehnung im Nahfeld der Rißspitze. Bei duktilem anstelle von sprödem Restbruch sind die Kennwerte KIc bzw. Kc durch die kritische Rißöffnungsverschiebung dc nach Wells [1094, 1095] (crack tip opening displacement, CTOD-Wert) oder nach Lambert et al. [1129] durch den kritischen Wert des J-Integrals Jc zu ersetzen. Zyklisches J-Integral Das J-Integral ist als Energiefreisetzungsrate bei nichtlinear-elastischem Werkstoffverhalten konzipiert. Es ist als wegunabhängiges Linienintegral um die gegebenenfalls abgestumpfte Rißspitze darstellbar, gültig auch bei einsinnig elastisch-plastischer Beanspruchung (Rice [1087, 1088]). Es werden die elastische Formänderungsenergiedichte sowie bestimmte Spannungs- und Verschiebungskomponenten auf beliebig vorgebbarem Weg um die Rißspitze integriert. Das J-Integral ist im Grenzfall linearelastischen Verhaltens mit der Rißerweiterungskraft G identisch, die wiederum mit dem Spannungsintensitätsfaktor K in Verbindung steht (Darstellung für G ˆ GI, K ˆ KI und ebenen Spannungszustand): K2 …ESZ† …6:47† JˆGˆ E Das J-Integral ist auf zyklische Beanspruchung nicht direkt übertragbar, weil diese Beanspruchung nicht einsinnig erfolgt. Damit wird die Eigenschaft der Wegunabhängigkeit des Integrals verletzt, die wiederum Voraussetzung für das eindeutige Kennzeichnen der Beanspruchung an der Rißspitze ist. Es kann jedoch für Beanspruchungszyklen mit Masing-Verhalten gezeigt werden, daß die Wegunabhängigkeit zumindest bei Ausschluß von Rißschließeffekten erhalten bleibt. Dazu werden im J-Integral die ursprünglichen Beanspruchungsgrößen durch deren Differenzwerte relativ zum vorausgegangenen Hystereseumkehrpunkt ersetzt (Lamba [1085], Wüthrich [1096]). Bei gegensinnig symmetrischen Hystereseästen ist es gleichgültig, ob der Belastungs- oder Entlastungsast zur Berechnung von DJ verwendet wird. Durch Näherungsansätze läßt sich schließlich das bei kurzen Rissen unter Druckbeanspruchung stärker in Erscheinung tretende verzögerte Rißschließen erfassen (s. Kap. 7.3). Das zyklische J-Integral wird nach Wüthrich [1096] als Z-Integral eingeführt, hier dargestellt für den Grenzfall linearelastischen Werkstoffverhaltens bei ebenem Spannungszustand: p …DK†2 Z ˆ …D J †2 ˆ E

…ESZ†

…6:48†

374

6 Langrißbruchmechanik zur Ermüdungsfestigkeit

p Nachfolgend wird jedoch, wie allgemein üblich, anstelle von Z ˆ …D J †2 weniger präzise DJ geschrieben. Offensichtlich ist bereits bei linearelastischem Werkstoffverhalten DJ nicht gleich (Jmax Jmin), denn es ergibt sich 2 2 (DK)2 ˆ …Kmax Kmin †2 ˆ Kmax 2Kmax Kmin ‡ Kmin . Beim ebenen Dehnungszustand ist in (6.47) und (6.48) anstelle von E die Größe E=…1 m2 † einzuführen (s. (6.39)). J-Integral und Neuber-Formel (4.21), jeweils modifiziert hinsichtlich zyklischer Beanspruchung, führen bei rißartigen Kerben zu annähernd identischen Ergebnissen hinsichtlich der ermüdungswirksamen Beanspruchung, sofern die plastische Zone an der Rißspitze bzw. Kerbspitze relativ zur Rißlänge bzw. Kerbtiefe klein bleibt (Lamba [1085]). Mechanische Ähnlichkeit bei zyklischem Rißfortschritt Die Darstellung der Rißfortschrittsrate nach (6.35) und die Erweiterung dieser Darstellung um den Einfluß des Spannungsverhältnisses R nach (6.71) bis (6.74) läßt sich vereinheitlichen (Leis et al. [1440]): da=dN ˆ f1 …DK; R† ˆ f2 …DK; Kmax †

…6:49†

Die Beziehung gilt unabhängig davon, ob der kurze Riß hoch beansprucht oder der lange Riß niedrig beansprucht ist, sofern nur der Spannungsintensitätsfaktor an der Rißspitze übereinstimmt. Dies setzt mechanische Ähnlichkeit (Bezeichnung nach [1440]) an der Rißspitze voraus, d. h. das Spannungs- und Verschiebungsfeld an der Rißspitze muß unabhängig von der Rißlänge durch …DK; R† bzw. …DK; Kmax † eindeutig und vollständig beschrieben sein. Bereits im rein elastischen Bereich ist dafür Voraussetzung, daß der Mehrachsigkeitsgrad der Beanspruchung an der Rißfront übereinstimmt. Bei Rißspitzenplastizität müssen die gegenüber der Rißlänge kleinen plastischen Zonen gleichartig sein. Das schließt wiederum gleichartiges Rißschließverhalten ein. Die Bedingung der mechanischen Ähnlichkeit kann in vielerlei Hinsicht verletzt sein. Überhöhte Beanspruchung erzeugt globales statt lokales Fließen. Kurze Risse zeigen Besonderheiten. Die plastische Zone umhüllt den ganzen Riß, dadurch verändert sich der Rißschließeffekt, mikrostrukturelle Einflüsse treten zusätzlich verstärkt in Erscheinung. Bei Rißeinleitung an der freien Oberfläche ist die Fließgrenze mikrostrukturell verringert, und anfänglich wird der gemischte Rißbeanspruchungsmodus beobachtet. Belastungen mit veränderlicher Amplitude bedingen einen Einfluß der Belastungsvorgeschichte auf den Rißfortschritt, wodurch die mechanische Ähnlichkeit aufgehoben wird. Schließlich stellen Umgebungseinflüsse einschließlich veränderter Temperatur die mechanische Ähnlichkeit in Frage. In allen genannten Fällen verlieren die einfachen Rißfortschrittsgleichungen ihre Gültigkeit. Die Darstellung der Rißfortschrittsrate nach (6.35) bzw. (6.71) bis (6.74) ist demnach eine Vereinfachung, die erst nach Anpassung und Skalierung in vorgesehenen Einsatzbereichen ihren praktischen Wert erhält. Sie ist in dieser Form in einschlägige Regelwerke eingebunden.

6.6 Rißfortschritt im gemischten Beanspruchungsmodus und Mehrachsigkeitseinfluß

375

Lokale Festigkeitskennwerte und zyklischer Rißfortschritt Die Gleichungen zum stabilen zyklischen Rißfortschritt lassen zunächst keinen Zusammenhang mit Festigkeitskennwerten in der plastischen Zone an der Rißspitze erkennen. Besondere Ansätze stellen diesen Zusammenhang her. Sie gehen von der Beanspruchung in der plastischen Zone aus und begrenzen sie durch spezielle Versagenskriterien. Diese Ansätze lassen sich den folgenden drei Gruppen zuordnen (Schwalbe [1003]): – Der Rißfortschritt wird als Folge eines Schädigungsprozesses in der plastischen Zone angesehen, der von den zyklischen plastischen Verformungen verursacht wird (Ansätze nach Weertman sowie Rice). – Der Rißfortschritt wird aus der Geometrie der Verformung an der Rißspitze abgeleitet, beispielsweise wird der Rißlängenzuwachs je Schwingspiel der Rißöffnungsverschiebung gleichgesetzt (Ansätze nach Lardner, Frost und Dixon sowie nach Tomkins). – Der Rißfortschritt wird dem Abstand von der Rißspitze gleichgesetzt, bis zu dem die Bruchdehnung überschritten wird (Ansätze nach McClintock sowie Purushothaman und Tien). Ein Vergleich errechneter und gemessener Rißfortschrittsraten an einem Stahl, einer Aluminium- und einer Titanlegierung nach Schwalbe zeigt, daß zum Teil erhebliche Abweichungen zwischen Rechnung und Messung sowie zwischen den einzelnen Ansätzen auftreten.

6.6

Rißfortschritt im gemischten Beanspruchungsmodus und Mehrachsigkeitseinfluß

Übersicht Eine Reihe praktisch und grundsätzlich bedeutsamer Fragen zum zyklischen Rißfortschritt stellt sich bei gemischtem bzw. von Modus I abweichendem Rißbeanspruchungsmodus sowie bei mehrachsiger Grundbeanspruchung am Riß: – Schwellenwert des zyklischen Spannungsintensitätsfaktors im gemischten Beanspruchungsmodus, – Mehrachsigkeitseinfluß auf den Rißfortschritt nach Modus I, – Rißfortschritt in zyklisch tordierten Rundstäben, – Rißfortschritt im gemischtem Beanspruchungsmodus. Zu diesen Fragen, die bereits Einschränkungen enthalten, gibt es nur begrenzt verallgemeinerbare Antworten, die nachfolgend in Anlehnung an Pook [1142– 1144] sowie Socie u. Marquis [270] zusammengefaßt werden.

376

6 Langrißbruchmechanik zur Ermüdungsfestigkeit

Abb. 6.31: Form und Größe der plastischen Zone an der Rißspitze bei Beanspruchung nach Modus I (a) und Modus II (b); gleiche Rißlänge und gleiche Grundbeanspruchungen r1 und r2 ˆ –r1; nach Socie u. Marquis [270]

Es werden stetig sich vergrößernde Langrisse unter Ausschluß der Kurzrisse betrachtet. Letztere vergrößern sich unstetig in kritischen Ebenen, werden an mikrostrukturellen Hindernissen aufgehalten und vereinigen sich mit benachbarten Kurzrissen. Der makroskopische Scherrißfortschritt kann mikroskopisch durch eine Folge von Trennvorgängen nach unterschiedlichen Moden gekennzeichnet sein. Der wichtigste Einfluß- und Erklärungsparameter auf Seiten der Beanspruchung ist die Größe der plastischen Zone an der Rißspitze. Diese ist bei gleicher Rißlänge sowie gleicher Grundbeanspruchung r1 und r2 für die Rißbeanspruchung nach Modus II wesentlich größer und anders geformt als für Rißbeanspruchung nach Modus I, Abb. 6.31. Schwellenwert bei gemischtem Beanspruchungsmodus Die Besonderheit des zyklischen Rißfortschritts bei gemischter Beanspruchung (Modus I überlagert von Modus II und/oder Modus III) sowie bei reiner Beanspruchung nach Modus II oder Modus III ist es, daß sich der vorgegebene Riß im allgemeinen nur über wenige Körner koplanar vergrößert, dann zum Stillstand kommt und erst bei deutlich höherer Beanspruchung als abknickender Riß unter Modus I fortschreitet. Nur der abknickende Riß (auch „abzweigender Riß“, branch crack) kann dann bis zum Versagen der Probe fortschreiten. Als kritische Bedingung für den Schwellenwert des zyklischen Spannungsintensitätsfaktors bei gemischter Beanspruchung wird daher die Bildung des abknickenden Risses eingeführt (Pook [1142], Pook u. Greenan [1144]) und nicht das Einsetzen des koplanaren Rißfortschritts. Auf den abknickenden Riß sind die Spannungsintensitätsfaktoren des Hauptrisses anwendbar, solange der abknickende Riß genügend klein ist und das Rißspitzenspannungsfeld des Hauptrisses nicht grundlegend gestört wird. Die Schwellenwerte des abknickenden Rißfortschritts liegen erheblich höher als die des koplanaren Rißfortschritts

6.6 Rißfortschritt im gemischten Beanspruchungsmodus und Mehrachsigkeitseinfluß

377

(Pook [1142], Baloch u. Brown [1099], Bold et al. [1101], Guo et al. [1169], Matvienko et al. [1174], Tong et al. [1185], Yates u. Mohammed [1188]). Eine von vorstehender Betrachtung abweichende Meinung vertreten Plank u. Kuhn [1141] hinsichtlich nichtproportional gemischter Beanspruchung. Auch in diesem Fall wird zwar nur der nach dem Abknicken unter Modus I fortschreitende Rißfortschritt als stabil bezeichnet (es gibt keine Rückkehr in den vorangegangenen koplanaren Rißfortschritt unter Modus II), es ist aber auch der bis zum Restbruch führende Rißfortschritt unter Modus II (ohne Abknicken) möglich, sofern DKII eff > DKII 0 und DKII > DK I …u ˆ u0 † mit dem Schwellenwert DKII 0 des Rißfortschritts unter Modus II und dem nach dem Tangentialspannungskriterium (Erdogan u. Sih [1117]) unter dem Rißfortschrittswinkel u0 bestimmten zyklischen Modus-I-Spannungsintensitätsfaktor DK I . Wenn die Rißöffnung durch Querzug hinreichend groß ist, ist die Rißfortschrittsrate unter Modus II erheblich größer als unter Modus I (bis zum Faktor 10). Von Campbell u. Ritchie [1166, 1167] wird hervorgehoben, daß der Schwellenwert der zyklischen Spannungsintensität für koplanaren Rißfortschritt bei gemischter Beanspruchung (Modus I und II) gegenüber der reinen Modus-IBeanspruchung erheblich angehoben wird, weil die Scherdeformation an der Rißspitze das Rißschließen beim Langriß begünstigt. Der Schwellenwert der zyklischen Energiefreisetzungsrate (s. (6.38) bis (6.40)) ist ohne Mischbeanspruchung am kleinsten. Als Grenzbedingung des Rißfortschritts unter gemischter Beanspruchung läßt sich der Schwellenwert bei Modus-I-Beanspruchung nach unterschiedlichen Hypothesen verwenden. Das Tangentialspannungskriterium nach Erdogan u. Sih [1117] besagt, daß der Riß unter gemischter Beanspruchung nach Modus I und Modus II in der Richtung fortschreitet, in der die Tangentialspannung in kleinem Abstand von der Rißspitze ihr Zugmaximum erreicht, der fortschreitende Riß demnach die reine Modus-I-Beanspruchung an der Rißspitze herstellt. Der Rißfortschrittswinkel u0 relativ zur Rißebene hängt vom Verhältnis DKI /DKII ab und der Schwellenwert DK0 folgt aus einem einheitlichen kritischen Wert der Tangentialspannung: s     u0 1 DKI 1 DKI 2 ‡8 …6:50†  tan ˆ 4 DKII 4 2 DKII  DK0 ˆ

u DKI cos 0 2 2

 3 u DKII sin u0 cos 0 2 2

…6:51†

Die reine Modus-I-Beanspruchung im Ausgangszustand ergibt u0 ˆ 0 und DK0 ˆ DKI , während die reine Modus-II-Beanspruchung mit u0 ˆ 70;5 und DK0 ˆ 1;15DKII verbunden ist. Die Hypothese wurde von Pook [1142] als Basis einer unteren Grenzkurve der Versuchsergebnisse zum Schwellenwert bei koplanarem und bei abknickendem Rißfortschritt verwendet. Die Hypothese hat sich auch bei punkt- und nahtgeschweißten Überlappverbindungen bewährt, deren Schlitzflächen als Rißflächen betrachtet werden (Radaj [1718]).

378

6 Langrißbruchmechanik zur Ermüdungsfestigkeit

Abb. 6.32: Untere Grenzwertkurven für den Schwellenwert der zyklischen Spannungsintensitätsfaktoren hinsichtlich abknickenden Rißfortschritts unter gemischter Rißfrontbeanspruchung nach Modus I, II und III; nach Pook [1142]

Weitere Äquivalenzkriterien lassen sich unter Aufgabe des Modus-I-Rißfortschritts aus Hypothesen ableiten, die von der Formänderungsenergiedichteverteilung an der Rißfront ausgehen (Sih [1153, 1154], Radaj u. Zhang [1145, 1146]). Die folgende vereinfachte Form, verbunden mit unterschiedlichen Rißfortschrittswinkeln, ist bei den erwähnten Schweißverbindungen anzutreffen (Radaj et al. [70]): q DK0 ˆ …DKI †2 ‡ b …DKII †2 ‡ c …DKIII †2 …6:52† mit den Koeffizienten b ˆ 1,0–3,0 und c ˆ 1,0–2,27 in unterschiedlicher Kombination je nach Anwendungsfall. Eine aus der Abknickbedingung für den Riß bei gemischter Beanspruchung unter Modus I und Modus III abgeleitete Beziehung nach Pook [1142] lautet:  q  1  DK0 ˆ …1 ‡ 2m†DKI ‡ …1 2m†2 …DKI †2 ‡ 4…DKIII †2 …6:53† 2 Auf Basis von (6.51) und (6.53) wird auch eine Näherungsformel für den unteren Grenzwert des Schwellenwertes der zyklischen Spannungsintensitätsfaktoren bei gleichzeitiger Wirkung von DKI , DKII und DKIII angegeben, Abb. 6.32. Mit DK0 ist der Schwellenwert hinsichtlich abknickenden Rißfortschritts bezeichnet, der bei Stählen ungefähr dem Schwellenwert DK0 bei koplanarem Rißfortschritt unter Modus I entspricht. Die Grenzwertkurven haben Parabelform.

6.6 Rißfortschritt im gemischten Beanspruchungsmodus und Mehrachsigkeitseinfluß

379

Abb. 6.33: Rißfortschrittsrate in austenitischem Stahl AISI 316 bei mittlerer (a) und hoher (b) mehrachsiger Grundbeanspruchung (Dr2 ˆ kDr1, –1 ≤ k ≤ 1); nach Brown u. Miller [1165]

Mehrachsigkeitseinfluß auf den Rißfortschritt nach Modus I Es wird der Einfluß der Beanspruchungsmehrachsigkeit (Dr2 ˆ kDr1, –1 ≤ k ≤ 1) auf den Rißfortschritt nach Modus I betrachtet, also der Einfluß einer zusätzlichen Grundbeanspruchung in Richtung des Risses, die keine Spannungssingularität an der Rißspitze auslöst (s. a. [1172, 1211, 1212]). Nach Untersuchungen von Brown u. Miller [1165] an nichtrostendem Stahl des Typs AISI 316 wird die Rißfortschrittsrate bei niedriger bis mittlerer Beanspruchung vom Mehrachsigkeitsgrad k kaum beeinflußt, bei hoher Beanspruchung jedoch sehr wohl, Abb. 6.33. Die höchsten Rißfortschrittsraten treten bei k ˆ –1 auf, zu erklären aus der überproportional vergrößerten plastischen Zone an der Rißspitze bei hoher Grundbeanspruchung (durch Finite-Elemente-Berechnung nachgewiesen). Keinen Einfluß des Mehrachsigkeitsgrades stellen Liu et al. [1173] an den Aluminiumlegierungen AA2024 und AA7075 fest. Rißfortschritt in zyklisch tordierten Rundstäben Der Rißfortschritt in zyklisch tordierten Rundstäben (ohne oder mit Umfangskerbe, möglicherweise überlagert von zyklischer Biegebelastung) ist in der Praxis im Hinblick auf Achsen und Wellen eine bedeutsame Fragestellung (s. a. Kap. 6.7). An halbelliptischen Oberflächenanrissen in Umfangs- oder in

380

6 Langrißbruchmechanik zur Ermüdungsfestigkeit

Abb. 6.34: Makroskopische Anrißarten an zyklisch tordiertem Rundstab (b) und deren Abhängigkeit von Beanspruchungshöhe und Werkstoffestigkeit bei unlegiertem Vergütungsstahl (0,4 % C) (a); nach Zhizhong et al. [1189]

Längsrichtung tritt in den Austrittspunkten der Rißfront die Beanspruchung nach Modus II auf, während im Tiefstpunkt des Anrisses (unter Einschluß von Umfangsrissen) Beanspruchung nach Modus III herrscht und im Zwischenbereich Beanspruchung im gemischten Modus II und III. Tritt Biegebelastung hinzu, überlagert sich die Beanspruchung nach Modus I. An ungekerbten Rundstäben werden makroskopisch drei Anrißarten beobachtet, Abb. 6.34 (b): Querrisse in Umfangsrichtung bei großen Spannungsamplituden (Kurzzeitfestigkeit; unregelmäßiger, gestufter Verlauf durch Mehrfachrißbildung), Längsrisse bei mittleren Spannungsamplituden (Zeitfestigkeit; geringe Rißtiefe, entsprechend kleine Abmessungsverhältnisse) und spiralförmige Risse bei kleinen Spannungsamplituden (Langzeitfestigkeit; Einleitung in Hauptscherebene mit Richtungsänderung zu Modus I). Die Abhängigkeit der Anrißart von (Nenn-)Schubspannungsamplitude und Werkstoffestigkeit wurde von Zhizhong et al. [1189] für eine längsgekerbte Rundstabprobe (Probendurchmesser d ˆ 18 mm, Halbkreiskerbe mit r ˆ 1 mm) aus unterschiedlich angelassenem Vergütungsstahl quantifiziert, Abb. 6.34 (b). Der Bereich „keine Risse“ läßt Mikrorisse in einzelnen Körnern zu, soweit sich diese Risse nicht vergrößern. Besonders komplexe Rißvergrößerungsvorgänge treten an Umfangskerben von Rundstäben auf (Tschegg et al. [1186, 1187]). Bei kleinen Spannungsamplituden verläuft die Rißlinie im Kerbgrund im Zickzack und setzt sich dachförmig ins Stabinnere fort, wobei an den Schrägflächen die Beanspruchung nach Modus I auftritt. Der Rißfortschritt wird so durch Blockaden und Reibkräfte gehemmt. Erst bei größeren Spannungsamplituden erscheinen im Kerbgrund die glatteren Scherrisse. Die zyklische Rißfortschrittsrate nach Modus III

6.6 Rißfortschritt im gemischten Beanspruchungsmodus und Mehrachsigkeitseinfluß

381

wird durch überlagerte statische Zugbeanspruchung vergrößert, in Stahl bei KI ≥ (125–285) N/mm3/2. Infolge der beschriebenen Rißfortschrittshemmung ist die Rißfortschrittsrate bei Modus II und Modus III nicht mehr eindeutig mit dem zyklischen Spannungsintensitätsfaktor korrelierbar sondern verringert sich mit der Rißlänge (Tanaka et al. [1184]). Wird der Torsionsbelastung eine Biegebelastung überlagert, dann wird die Hemmung abgebaut und die Rißfortschrittsrate nimmt zu. Auch der Überlasteffekt ist verändert. Während die Überbeanspruchung nach Modus I den Rißfortschritt durch Druckeigenspannungen an der Rißspitze verzögert, tritt bei der Überbeanspruchung nach Modus III eine Rißfortschrittsbeschleunigung durch den Abrieb der Oberflächenrauhigkeit ein (Ritchie et al. [1179]). Die Rißfortschrittsrate bei konstanter Beanspruchungsamplitude nach Modus III ist ein bis zwei Größenordnungen kleiner als jene bei Modus I (Hurd u. Irving [1171]): p da ˆ C…DKIII †m ˆ C…Ds paY†m dN

…6:54†

wobei C, m und Y dem Scherbeanspruchungsfall anzupassen sind. Die Abnahme der Rißfortschrittsrate mit der Rißlänge a ≤ 1 mm wird von Tanaka et al. [1184] quantifiziert. Rißfortschritt im gemischtem Beanspruchungsmodus Der Rißfortschritt bei zyklischer Beanspruchung im gemischten Modus I und Modus II (s. a. [1180] wurde an Durchrissen untersucht, die in stab- und kreuzförmigen Flachproben schräg zur Hauptbeanspruchungsrichtung eingebracht sind, oder die in Hohlstabproben unter Torsions- und Biegebelastung auftreten. Die Risse haben die Tendenz, in die Senkrechte zur Beanspruchungsrichtung nach Modus I abzuknicken, während sie fortschreiten. Unter bestimmten Bedingungen ist jedoch auch Rißfortschritt nach Modus II möglich, beispielsweise an Schweißnähten in Proben aus hochfesten Aluminiumlegierungen (Otsuka et al. [1176]). Unter zyklischer Beanspruchung nach Modus II wurden gegenüber Modus I teils höhere, teils geringere Rißfortschrittsraten gemessen. Bei Tanaka et al. [1184] ergeben sie sich für den Stahl SNCM8 (etwa Typ 4340) und die Aluminiumlegierung AA7075 jeweils gleich groß. Von Otsuka et al. [1175] wird an unlegiertem Stahl festgestellt, daß die Risse bei Beanspruchung im gemischten Modus entweder nach Modus I oder nach Modus II fortschreiten. In der Auftragung von DKII über DKI lassen sich drei Bereiche abgrenzen: kein Rißfortschritt, Rißfortschritt im Schermodus (zickzack etwa senkrecht zur maximalen Zugspannung, also der Richtung im Zugmodus nahe) und Rißfortschritt im Zugmodus, Abb. 6.35. Die Grenzlinien der Bereiche ergeben sich unter Annahme eines konstanten Maximalwertes der Intensität Kr der Tangentialspannung

382

6 Langrißbruchmechanik zur Ermüdungsfestigkeit

Abb. 6.35: Rißfortschrittsbereiche für unlegierten Stahl bei gemischter Grundbeanspruchung nach Modus I und II; Grenzlinien Ks ˆ konst. und Kr ˆ konst.; nach Otsuka et al. [1175]

bzw. der Intensität Ks der polaren Schubspannung an der Rißspitze (Kr und Ks sind Funktionen des Polarwinkels). Ein ähnliches Diagramm wird von Gao et al. [1168] angegeben, aus dem der starke Einfluß einer statischen Zugbeanspruchung (R ˆ 0;2 0;65) auf den Schwellenwert des zyklischen Rißfortschritts hervorgeht, Abb. 6.36. Der koplanare Rißfortschritt oberhalb des Bereichs fehlenden Rißwachstums kommt zum Stillstand, außer es wird die vom Spannungsintensitätsverhältnis R abhängige Grenzlinie zum abwinkelnden Rißfortschritt nach Modus I überschritten. Die Rißfortschrittsgleichung bei gemischtem Beanspruchungsmodus wird unter Einführung des äquivalenten zyklischen Spannungsintensitätsfaktors DKäq analog zur Paris-Gleichung formuliert, wobei die Kurve der Rißfortschrittsrate nach Modus I der Skalierung dient: da ˆ C…DKaq †m dN

…6:55†

Bei der Bestimmung von DKäq sind unterschiedliche Hypothesen anwendbar. Eine kritische Gesamtverschiebung der Rißflanken wird von Tanaka [1183] als maßgebend angesehen. Das Energiefreisetzungsratekriterium kann sowohl in vereinfachter Form für koplanare Rißvergrößerung als auch (realistischer) in aufwendigerer Form für abknickende Rißvergrößerung (Anderson [988], ibid. S. 91–96) angewendet werden. Das Formänderungsenergiedichtekriterium nach Sih u. Barthelemy [1181] ist ebenfalls einsetzbar. Zum elastisch-plastisch beschriebenen Rißfortschritt bei überlagerter zyklischer Zug- und Scherbeanspruchung – bevorzugt im Kurzrißbereich – können äquivalente Dehnungsintensitätsfaktoren eingeführt werden (Socie et al. [1182],

6.7 Lebensdauer bei zyklischem Rißfortschritt

383

Abb. 6.36: Schwellenwerte des Rißfortschritts für austenitischen Stahl AISI 316 bei Rißbeanspruchung im gemischten Modus I und II; Einfluß des Spannungsverhältnisses R; koplanarer Rißfortschritt mit anschließendem Rißstillstand im Zwischenbereich; nach Gao et al. [1168]

Reddy u. Fatemi [1178]). Bei Verwendung des zyklischen J-Integrals in der Rißfortschrittsgleichung kann Beanspruchung im gemischten Modus nach Hoshide u. Socie [1170], Ishikawa et al. [1083] oder Döring [1591] berücksichtigt werden.

6.7

Lebensdauer bei zyklischem Rißfortschritt

Integration der Rißfortschrittsgleichung zur Lebensdauer Die Rißfortschrittsgleichung wird aus der Vergrößerung der Rißlänge a mit der Schwingspielzahl N gewonnen. Dies geschieht durch Bildung des Differentialquotienten da=dN nach (6.32). Umgekehrt kann bei bekannter Rißfortschrittsgleichung die Schwingspielzahl zwischen Anfangsrißlänge a0 und kritischer Rißlänge ac (für instabilen Restbruch bei sprödem Werkstoff oder für vollplastisches Fließen im Restquerschnitt bei duktilem Werkstoff) bestimmt werden. Dies geschieht durch Integration der Rißfortschrittsgleichung. Damit wird die Restlebensdauer einer Probe oder eines Bauteils mit Anriß ermittelt.

384

6 Langrißbruchmechanik zur Ermüdungsfestigkeit

Bei Integration der Paris-Gleichung (6.35) in der gemäß Forman hinsichtlich des Einflusses des Spannungsverhältnisses R modifizierten Form (6.74) von der Anfangsrißlänge a0 bis zur kritischen Rißlänge ac ˆ Kc2 =…r2o pY 2 † mit Oberspannung ro ergibt sich bei konstant, also rißlängenunabhängig angenommenem Geometriefaktor Y und m 6ˆ 2 die Restlebensdauer NR : NR ˆ

2…1 R† p 2†C…Dr pY†m

…m

"

 1 m p a0

2

 p m 2 # ro pY Kc

…6:56†

Im Sonderfall von m ˆ 2 ergibt sich ein einfacherer Ausdruck: NR ˆ

2…1



Cp…DrY†

2

ln

Kc p ro pa0 Y

…6:57†

Wenn ein größerer Teil der Lebensdauer im Bereich III der Rißfortschrittskurve erwartet wird, ist die vollständige Forman-Gleichung (6.71) zu integrieren. Bei elastisch-plastisch beschriebenem Rißfortschritt (nach (6.43)) lautet das Ergebnis der Integration zwischen den Rißlängen a0 und ac : NR ˆ

1 Ce …De†

2

ln

ac a0

…6:58†

Diese bei ungekerbten Proben gültige Beziehung hat die Form (2.25) des Manson-Coffin-Gesetzes der Kurzzeitfestigkeit. Die Rißfortschrittsgleichungen (6.45) bzw. (6.46) lassen sich ebenfalls problemlos integrieren, sofern die Beziehung zwischen Dd bzw. DJ und der Rißlänge a bekannt ist, beispielsweise nach (7.33) bzw. (7.42). Zu beachten ist, daß der Exponent m' etwa m/2 entspricht, weil Dd bzw. DJ mit dem Quadrat des Spannungsintensitätsfaktors verbunden sind. Bei den vorstehenden Integrationen nach (6.56) bis (6.57) ist der Geometriefaktor Y konstant, also rißlängenunabhängig eingeführt. Das ist nur im Sonderfall weit ausgedehnter Proben oder Bauteile mit konstantem Geometrieeinfluß eine vertretbare Näherung. Der Geometriefaktor Y ist im allgemeineren Fall von der Rißlänge a abhängig, über die integriert wird. Die Rißfortschrittsgleichungen sind mit dieser Abhängigkeit nicht mehr geschlossen integrierbar. Es muß numerisch integriert werden. Dazu wird der Bereich der Rißlängen a0 bis ac in Intervalle Dai unterteilt. Für jedes Intervall wird ausgehend von der mittleren Rißlänge ai und der zugehörigen Rißfortschrittsrate …da=dN†i die Teillebensdauer Ni bestimmt. Die Restlebensdauer NR ergibt sich durch Aufsummieren der Teillebensdauerwerte Ni : NR ˆ

n X iˆ1

Ni ˆ

n X iˆ1

Dai …da=dN†i

…6:59†

6.7 Lebensdauer bei zyklischem Rißfortschritt

385

Berechnungsbeispiele zur Restlebensdauer Die Problemstellung in der Praxis ist meistens komplexer. Hier spielen die Oberflächenrisse eine entscheidende Rolle, die durch zerstörungsfreie Fehlerprüfung entdeckt werden. Derartige Risse sind in Abb. 6.37 in der für die Berechnung vereinfachten Form (Ellipsen- und Kreisbogenkonturen) dargestellt, der Eck-, Oberflächen- und Innenriß in Platten und der Oberflächenriß an Rundstäben. Ihr Geometriefaktor Y hängt von der betrachteten Punktlage auf der Rißkontur sowie von den Abmessungsverhältnissen des Risses ab. Entlang der Rißkontur ist die Rißfortschrittsrate im allgemeinen veränderlich. Durch das Rißwachstum ändern sich Größe und Form des Risses und damit auch der Geometriefaktor. Die Rißfortschrittsberechnung muß daher schrittweise durchgeführt werden. Sie konzentriert sich auf die Scheitelpunkte der Ellipsenbögen bzw. auf die Mitten- und Endpunkte der Kreisbögen, während die dazwischenliegende Kontur der vorgegebenen einfachen Formbedingung (Ellipsen- oder Kreisbogen) unterliegt. Ein typisches Berechnungsergebnis (auf Basis vereinfachter Formeln), das auf die Bedeutung des Kurzrißstadiums für die Lebensdauer hinweist, zeigt Abb. 6.38. Die Lebensdauer bis zum Durchriß steigt erheblich mit der Verkleinerung der Anfangsrißtiefe a0 . Im oberen Bildteil (Riß mit a0 ˆ 0;5 mm) erreicht der Anriß erst bei N  1;6  248 000 Schwingspielen die Plattenrückseite. Von Hirt [1699] wird in diesem Zusammenhang nachgewiesen, daß neben dem dominierenden Einfluß von Anfangsrißgröße und zyklischer Spannung die Plattendicke und das Abmessungsverhältnis des Risses nur geringen Einfluß auf die Lebensdauer haben. Im betrachteten Fall wurde ein elliptischer Anriß angenommen, der bis zum Austritt an der Plattenrückseite (Durchriß) seine Form beibehält. Die Verhältnisse in der Wirklichkeit sind komplexer. Der Anfangsriß wird von der elliptischen Näherung mehr oder weniger stark abweichen. Das Abmessungsverhält-

Abb. 6.37: Eck-, Oberflächen- und Innenriß in einer Platte (a) sowie Oberflächenrisse in Rundstäben (b), geometrisch vereinfachte Rißkonturen; nach Munz [1711]

386

6 Langrißbruchmechanik zur Ermüdungsfestigkeit

Abb. 6.38: Rißfortschritt im Plattenquerschnitt bei unterschiedlicher Anfangsrißtiefe a0 , bruchmechanische Berechnung für Baustahl; nach Hirt [1699]

nis der angenäherten Ellipse kann sehr unterschiedlich sein; außerdem verändert es sich auf dem Wege zum Durchriß. Zwischen einem Durchriß der betrachteten Art, dessen Kontur die Plattenrückseite berührt, und einem weiter ausgebildeten Durchriß mit Rißfront ungefähr senkrecht zur Plattenebene liegen eine größere Zahl weiterer Schwingspiele (vorausgesetzt der instabile Bruch wird ausgeschlossen). Die Verhältnisse sind im Hinblick auf das Auslegekriterium leak-before-break für den Behälterbau eingehend untersucht worden (Sommer [1004]). Eine andere typische Anwendung der Restlebensdauerberechnung ist die Bestimmung der Wöhler-Linie im dauerfestigkeitsnahen Bereich (Einschränkung wegen der Voraussetzung des elastisch gesteuerten Rißfortschritts) für Proben mit fiktivem oder tatsächlichem kleinem Anriß unter Vernachlässigung der Rißeinleitungsphase. Nach (6.56) bzw. (6.57) ergibt sich als Zeitfestigkeitslinie eine Gerade im doppeltlogarithmischen Maßstab, wobei die Neigungskennzahl k mit dem Exponenten m identisch ist …k ˆ m†. Die geneigte Zeitfestigkeitslinie wird nach unten durch die horizontale Dauerfestigkeitslinie begrenzt, die sich bei vorgegebenem Schwellenwert DK0 abhängig von der Anfangsrißgröße ergibt (das nach linearelastischer Bruchmechanik nicht korrekt erfaßbare Kurzrißverhalten muß ausgeschlossen werden): DK0 DrD ˆ p pa Y

…6:60†

Derart berechnete Wöhler-Linien für geometrisch ähnliche Proben unterschiedlicher Größe mit entsprechend angepaßter Anfangsrißgröße (Größenfaktor p, a0  ac ; Y konstant) sind in Abb. 6.39 dargestellt. Dauerfestigkeit und Grenzschwingspielzahl ergeben sich als in hohem Maße von der Anfangsrißgröße

6.7 Lebensdauer bei zyklischem Rißfortschritt

387

Abb. 6.39: Bruchmechanisch berechnete Wöhler-Linien für geometrisch ähnliche Proben unterschiedlicher Größe mit entsprechend angepaßter Anfangsrißgröße (Größenfaktor p, a0  ac ; Y konstant); nach Pook in [35]

bzw. Probengröße abhängig (als geometrischer Größeneffekt der Schwingfestigkeit bekannt). Anwendungsnähere und daher komplexere Beispiele für die Restlebensdauerberechnung nach dem Rißfortschrittskonzept werden in Kap. 8.6 vorgestellt. Kombination von Rißeinleitungs- und Rißfortschrittsberechnung Die Gesamtlebensdauer NB gekerbter Proben und Bauteile (bis zum Versagen durch Bruch) läßt sich durch Kombination einer kerbmechanischen Rißeinleitungsberechnung (s. Kap. 4.13 u. 5.6) mit einer Rißfortschrittsberechnung, ausgehend von dem in der Rißeinleitungsberechnung erreichten Anriß, bestimmen, NB ˆ NA ‡ NR (Dowling [1693, 1694]). Die Rißfortschrittsberechnung läßt sich nach Socie et al. [1721, 1722] dadurch weiter vereinfachen, daß anstelle der genaueren Verfolgung des Kerbeffekts im Kurzrißstadium (s. Kap. 6.3) die Anfangsrißgröße der Kerbtiefe gleichgesetzt wird (soweit eine Kerbtiefe eindeutig definiert werden kann) und in der Grundbeanspruchung kein Kerbeffekt berücksichtigt wird. Ein Berechnungsergebnis nach diesem ingenieurmäßig vereinfachten Verfahren im Vergleich zu Versuchsergebnissen zeigt Abb. 6.40, wobei von Socie et al. auf Dowling [1694] verwiesen wird, bei dem jedoch nicht dasselbe, sondern ein ähnliches Diagramm zu finden ist (vgl. Abb. 7.59, unteres Diagramm). Die Anteile von Rißeinleitung und Rißfortschritt an der Gesamtlebensdauer hängen entscheidend von der Festlegung der Anrißgröße ab, welche die (technische) Rißeinleitung vom Rißfortschritt abgrenzt. Je kleiner die Anrißgröße gewählt wird, desto größer ist der Rißfortschrittsanteil an der Lebensdauer. Ausgehend von einem technischen Oberflächenanriß üblicher Größe (Rißtiefe

388

6 Langrißbruchmechanik zur Ermüdungsfestigkeit

Abb. 6.40: Gesamtlebensdauer, Rißeinleitung kerbmechanisch und Rißfortschritt bruchmechanisch berechnet (Kurven), Vergleich mit Versuchsergebnissen (Kreispunkte); nach Socie et al. [1721, 1722]

0,5 mm) ist der Rißfortschrittsanteil um so größer, je schärfer die betrachtete Kerbe ist und je höher im Zeitfestigkeitsbereich die Beanspruchung liegt. Hochfeste Werkstoffe weisen gegenüber artgleichen niedrigfesten Werkstoffen eine längere Rißeinleitungsphase auf, soweit anfängliche Rißfreiheit vorausgesetzt werden kann. Die Abgrenzung von Rißeinleitungs- und Rißfortschrittskonzept über die experimentell einfach feststellbare technische Anrißgröße ist insbesondere hinsichtlich der Rißbildung in Kerben methodisch unbefriedigend. Methodisch überzeugender ist der Ansatz von Socie et al. [1722], die Übergangsrißlänge aus den rechnerischen Rißeinleitungs- und Rißfortschrittsansätzen selbst zu gewinnen. Als Übergangsrißlänge a0 wird die Rißlänge festgelegt, bis zu der das Rißeinleitungskonzept kleinere Lebensdauerwerte liefert als das Rißfortschrittskonzept. Das gängige Rißeinleitungskonzept für Kerben (Kerbgrundkonzept) wird zuvor dahingehend modifiziert, daß die Anrißschwingspielzahl NA nicht nur in der Kerbgrundoberfläche, sondern auch darunter über dem angenommenen Rißpfad ermittelt wird, woraus sich ein Lebensdauergradient dNA/dx ergibt. Der mit dem Abstand x vom Kerbgrund abfallende Kehrwert dx/dNA wird mit der über x ansteigenden Rißfortschrittsrate da/dN verglichen. Die Übergangsrißlänge a0 folgt aus dem Schnittpunkt der zugehörigen beiden Kurven. Zu ihr werden auf Basis von Berechnungsergebnissen für Rißeinleitung und Rißfortschritt ausgehend von der Kreis- und Ellipsenkerbe (Lochbreite einheitlich 6,35 mm) in einer Scheibe aus der Aluminiumlegierung AA7075-T6 unter zyklischer Zugbeanspruchung folgende Angaben gemacht. Die Übergangsrißlänge wächst mit der Grundbeanspruchungshöhe (a0 ˆ 0,01–0,04 mm). Der Anteil der Rißeinleitung an der Gesamtlebensdauer vermindert sich mit der Kerbschärfe und der Grundbeanspruchungshöhe. Gegen den methodisch interessanten Ansatz ist einzuwenden, daß die Übergangsrißlänge für die Anwendung des Langrißfortschrittsgesetzes um eine Zehnerpotenz zu klein ist.

6.7 Lebensdauer bei zyklischem Rißfortschritt

389

Rißpfad- und Rißfrontentwicklung Die Rißpfadentwicklung ist ein derzeit besonders aktuelles Forschungsthema (Carpinteri [1106]). Wie bereits mehrfach angesprochen, folgt der Rißpfad bei Ermüdungsbeanspruchung, abgesehen von wenigen Ausnahmen, aus der Bedingung der Beanspruchung nach Modus I im Spannungsfeld des Bauteils, zunächst ohne, dann mit Anriß. Die Bevorzugung von Modus I mit Symmetrie der Rißspitzenbeanspruchung ist eine Erfahrungstatsache, für die es vorerst keine theoretische Erklärung gibt (Pook [1143], Cotterell [1110]). Besonders in den Fällen symmetrischer Geometrie und Beanspruchung von Prüfproben stellt sich die Frage nach der Richtungsstabilität des Rißpfades. Wird eine kleine Auslenkung des Rißpfades zunehmend verstärkt oder wird der ausgelenkte Riß zur Ausgangsrichtung rückgeführt? Für die Richtungsstabilität ist die nichtsinguläre Rißspitzenspannung in Richtung des Risses ausschlaggebend. Druckspannungen wirken stabilisierend, Zugspannungen destabilisierend. Von besonderem Anwendungsinteresse ist die Entwicklung der Rißfront bei Oberflächen- und Eckrissen. Erstere werden meist als halbelliptisch, letztere als viertelelliptisch angenähert. Die wirklichen Verhältnisse sind komplexer. Der technische Anriß entsteht häufig durch das Zusammenwachsen von annähernd kreisförmig sich vergrößernden Mikrorissen, besonders bei koplanarer Anordnung in scharfen Kerben (s. Abb 1.2). Der Vorgang des Zusammenwachsens ist am Schweißnahtübergang besonders ausgeprägt, unterschiedliche Modellierungen sind dazu bekannt (Radaj et al. [70]). Durch Spannungsumlagerung kann sich der Rißfortschritt in Tiefenrichtung bei gleichzeitiger Rißverbreiterung verzögern. Außerdem ist bemerkenswert, daß die Rißfront des annähernd halbelliptischen Oberflächenrisses in Wirklichkeit nicht senkrecht auf die Oberfläche trifft, wie es der Halbellipse entspricht, sondern mit einem darüber hinaus vergrößerten Winkel bei überwiegender Querzugbeanspruchung bzw. mit einem darunter bleibenden Winkel bei überwiegender Scherbeanspruchung (Pook [1143]). Zur Rißfrontentwicklung bei Oberflächenrissen liegt die ältere zusammenfassende Darstellung von Sommer [1004] vor. Die Rißfrontentwicklung bei Oberflächenrissen in Platten oder Schalen unter zyklischer Zug- und Biegebelastung (bedeutsam bei Druckbehältern) wird im allgemeinen durch eine Folge von halbelliptischen Rißkonturen mit veränderlichem Halbachsenverhältnis angenähert. Das halbelliptische Rißfortschrittsmodell hat nur zwei Freiheitsgrade: Rißfortschritt unter ebenem Dehnungszustand im Tiefenscheitelpunkt und unter ebenem Spannungszustand in den Oberflächenscheitelpunkten. In beiden Scheitelpunkten wird die Rißfortschrittsgleichung nach Paris integriert. Die Integration im Oberflächenscheitelpunkt erübrigt sich, wenn die Entwicklung des Abmessungsverhältnisses mit der Rißtiefe als Zwangsbedingung (forcing function) vorgegeben wird. Die Annahme des ebenen Spannungszustands im Oberflächenscheitelpunkt am Austritt der Rißkontur ersetzt einen tatsächlich komplep xeren Oberflächeneffekt, der mit einer Veränderung der 1=r-Singularität verbunden ist. Der singuläre Spannungszustand am Austrittspunkt der Rißfront wird von Pook [1143] eingehend diskutiert. Es hat sich in der Anwendung

390

6 Langrißbruchmechanik zur Ermüdungsfestigkeit

bewährt, die Rißfortschrittsrate an der Oberfläche um den Faktor 0,9m (mit Exponent m aus der Paris-Gleichung) zu verringern. Derartige Rißfortschrittsanalysen wurden von Newman u. Raju [1029] sowie Wu [1045] durchgeführt. Die Annahme der halbelliptischen Rißkontur wird vermieden, wenn der Rißfortschritt in allen Punkten der Rißkontur ausgehend von einem FiniteElemente-Modell schrittweise berechnet wird, so daß sich daraus die Rißfrontentwicklung ergibt (Smith u. Cooper [1040], Lin u. Smith [1264–1267]). Nach jedem Berechnungsschritt ist das rißkonturnahe Elementenetz der Rißfrontentwicklung anzupassen (remeshing). Die Netzknotenpunkte sind auf der neuen Kontur zu positionieren, die Netzlinien sind orthogonal zur neuen Kontur auszurichten und die Elementteilung auf der Konturlinie ist auf Gleichmäßigkeit zu korrigieren (s. a. Kap. 6.4). Die Berechnungen von Lin u. Smith [1264–1266] zur Rißfrontentwicklung beim Oberflächenriß in einer Platte unter zyklischer Zug- und Biegebelastung hatte folgendes Ergebnis. Die Abweichungen von der Lösung von Newman u. Raju [1029] mit Vorgabe der halbelliptischen Kontur sind gering. Die Halbachsenverhältnisse und Lebensdauerwerte stimmen ebenfalls weitgehend überein. Lediglich bei Annäherung der Rißfront an die Plattenrückseite ergeben sich etwas größere Abweichungen. Ähnliche Untersuchungen sind für den viertelelliptischen Eckriß an Befestigungslöchern durchgeführt worden (Lin u. Smith [1263]). Die vorstehend beschriebenen Berechnungsverfahren wurden auch auf die Rißfrontentwicklung bei Oberflächenrissen in Rundstäben unter zyklischer Zug-Druck- und Biegebelastung (bedeutsam hinsichtlich Achsen und Wellen rotierender Bauteile) angewendet, zunächst mit Vorgabe der halbelliptischen Kontur (Carpinteri et al. [1009, 1010, 1245–1248]) und später ohne diese Annahme (Lin u. Smith [1267], Couroneau u. Royer [1254]). Eine experimentell bestimmte Rißfrontentwicklung zeigt Abb. 6.41. Die Abweichungen von der halbelliptischen Form der Rißkontur sind in diesem Fall größer. Eine komplexere Problemstellung stellt sich mit der Frage nach dem Rißfortschritt unter gemischter Beanspruchung infolge bewegter zyklischer Lasten (z. B. Rollkontakt, Panasyuk et al. [1224]). Die Rißebene bleibt in diesem Fall

Abb. 6.41: Entwicklung der Rißfrontgeometrie beim Schwingbruch; experimenteller Befund für mild gekerbten Rundstab unter Biegeschwellbeanspruchung im Langzeitfestigkeitsbereich; nach Lin u. Smith [1267]

6.7 Lebensdauer bei zyklischem Rißfortschritt

391

nicht eben, die Rißfortschrittstrajektorien sind räumlich gekrümmt. Bereits die Front eines als eben angenommenen Anrisses steht innerhalb eines Beanspruchungszyklus unter nichtproportional veränderlichen Spannungsintensitätsfaktoren KI, KII und KIII. Jeder Zyklus wird daher rechnerisch in eine größere Zahl von Beanspruchungsinkrementen aufgelöst, zu denen der Rißfortschritt mit Richtungsänderung nach (6.50) zu bestimmen ist. Das räumlich strukturierte Berechnungsnetz ist nach makroskopisch erheblichem Rißfortschritt jeweils neu zu generieren (remeshing). Ein eindrucksvolles Berechnungsbeispiel, der Rißfortschritt in einem spiralverzahnten Kegelrad ausgehend von einem Anriß im Kerbgrund, wurde von Spievak et al. [1723] publiziert (siehe Kap. 8.6). Einfachere Berechnungsbeispiele zum nichtebenen Rißfortschritt an Querschnittsmodellen von Schweißverbindungen mit rißartigen Schlitzen sind bei Radaj et al. [70] zu finden. Software zur Rißpfad-, Rißfront- und Rißfortschrittsberechnung (Fracture Analysis Code FRANC2D bzw. FRANC3D) ist über das Internet verfügbar [1249, 1258]. Weitere Berechnungsprogramme zum Rißfortschritt werden von Harter [1315] hinsichtlich ihrer Leistungsfähigkeit verglichen. Entlastung durch Rißfortschritt Die Spannungsintensitätsfaktoren werden meist für vorgegebene Belastung angegeben. Von konstanter Lastamplitude an der Probe wird auf konstante Beanspruchungsamplitude am Riß geschlossen. Im lastgeregelten Rißfortschrittsversuch erhöht sich der Spannungsintensitätsfaktor mit wachsender Rißlänge. Beim Rißfortschritt in Bauteilen sind jedoch eher verformungskontrollierte Bedingungen anzutreffen. Die Abhängigkeit des Spannungsintensitätsfaktors von der Rißtiefe bzw. Rißlänge wird dann grundsätzlich verändert. Die auf die Ausgangsbeanspruchung bezogenen Geometriekorrekturfaktoren werden mit zunehmender Rißgröße vergleichsweise reduziert. Entsprechend verringert sich der Spannungsintensitätsfaktor, was in herkömmlichen Lösungen unberücksichtigt bleibt. Dieser Entlastungseffekt auf Grundbeanspruchung und Spannungsintensitätsfaktor ist auch als Lastabschirmeffekt (load shedding effect) bekannt. Die Verformungsvorgabe wird als Randbedingung auf das Modell übertragen, das die Spannungsintensitätsfaktoren für die Rißfortschrittsberechnung liefern soll. Der Entlastungseffekt hängt davon ab, wo diese Randbedingungen definiert werden, nahe am Riß oder in größerer Entfernung, sowie davon, wie sich der Strukturbereich mit Riß innerhalb der definierten Ränder mechanisch verhält. Besonders ausgeprägt ist der Entlastungseffekt bei Eigenspannungen, weil diese durch den Rißfortschritt abgebaut werden. Beispielhaft ist in Abb. 6.42 die Veränderung des Spannungsintensitätsfaktors mit der Rißtiefe unter Anfangsverteilungen von Eigenspannungen in einem langen Plattenstreifen mit fixierten Querrändern dargestellt. Die vorausgesetzten Biegespannungs- bzw. Gleichgewichtsspannungsverteilungen sind für rundnahtgeschweißte Rohre typisch. Nach einem anfänglichen Anstieg zu einem Größtwert tritt ein Abfall

392

6 Langrißbruchmechanik zur Ermüdungsfestigkeit

Abb. 6.42: Spannungsintensitätsfaktor als Funktion der (relativen) Rißtiefe unter zwei Anfangsverteilungen der Eigenspannungen, wie sie in rundnahtgeschweißten Rohren auftreten; Lösung nach der Methode der Gewichtsfunktionen unter fixierten Querrändern des Plattenstreifens; nach Dong u. Hong [1113]

des Spannungsintensitätsfaktors trotz vergrößerter Rißtiefe auf. Rißfortschritt bei statischer Last wird dadurch unterbunden, Rißfortschritt bei zyklischer Last, insbesondere über das veränderte Rißöffnungsverhalten, stark gehemmt. Einfluß der Eigenspannungen auf den Rißfortschritt Das Rißfortschrittsverhalten wird von Eigenspannungen in erheblichem Maße beeinflußt. Besonders ausgeprägte Eigenspannungsfelder entstehen beim thermischen Fügen (insbesondere beim Schweißen) sowie bei der thermischen Oberflächenverfestigung. Sie erreichen mit ihren Maximalwerten die Fließgrenze, sind also bei hochfesten Werkstoffen bedeutsamer als bei niedrigfesten Werkstoffen. Maßgebend für die Eigenspannungsausbildung ist die örtliche und zeitliche Konzentration der Wärmeeinbringung. Der Eigenspannungseinfluß ist bei geringer zyklischer Last relativ groß, bei hoher zyklischer Last dagegen relativ klein. Im letzteren Fall relaxieren die Eigenspannungen bevor sie zyklisch wirksam werden können. Zunächst wird der Ort kritischer Rißeinleitung im Bauteil („hot spot“) von der Eigenspannungsverteilung mitbestimmt, er kann also je nach Eigenspannungszustand variieren. Die Lebensdauer des Bauteils mit Anriß unter Ermüdungsbeanspruchung wird durch die Eigenspannungen verringert oder erhöht. Verläßliche Lebensdauervorhersagen setzen daher eine Eigenspannungsanalyse voraus. Dafür stehen geeignete Berechnungs- und Meßverfahren zur Verfügung (Radaj [488]). Diese können jedoch aufwendig und teuer sein, so daß begründete Schätzungen vielfach genügen müssen.

6.7 Lebensdauer bei zyklischem Rißfortschritt

393

Die berechneten oder geschätzten Eigenspannungen, deren lokale Größe sich unter dem wachsenden Riß verändert, beeinflussen die Form der Rißfront und den Rißpfad. Die Rißfortschrittsrate wird hauptsächlich durch das veränderte Rißöffnungsniveau bestimmt. Zugeigenspannungen senkrecht zu den Rißflanken lassen den Riß bei zyklischer Beanspruchung geöffnet, während Druckeigenspannungen das Rißschließen begünstigen. Die Rißfortschrittslebensdauer wird daher durch Zugeigenspannungen erniedrigt, durch Druckeigenspannungen erhöht. Die Änderung der Rißfortschrittsrate folgt dem Effektivwert DKeff des Spannungsintensitätsfaktors, bei dem der Riß geöffnet ist, einschließlich dessen vielfach vernachlässigbarem Schwellenwert DKeff 0 und einschließlich eines Spannungsintensitätsverhältnisses R ˆ Kmin/Kmax, das neben den Lastspannungen auch die Eigenspannungen umfaßt. Die Werkstoffkonstanten C und m bleiben unverändert. Weitere Angaben zum Rißfortschritt besonders in Schweißeigenspannungsfeldern sind bei Radaj et al. [70] zu finden. Zyklischer Rißfortschritt und Miner-Regel Schädigung und Schadensakkumulation können als zyklischer Rißfortschritt aufgefaßt werden (Corten u. Dolan [881]). Damit wird der empirisch begründeten Miner-Regel eine physikalische Basis gegeben. Nachfolgend wird dieser Zusammenhang, ausgehend von einem bereits angerissenen Teil, im Gültigkeitsbereich der linearelastischen Bruchmechanik hergestellt (zur Anrißphase s. Kap. 7.6, zum Reihenfolgeeffekt s. Kap. 6.9). Die Miner-Regel wird auf der Basis des zyklischen Rißfortschritts für die aufeinanderfolgenden Beanspruchungsblöcke …DNj ; Drj und DNj‡1 ; Drj‡1 † überprüft. Die Schwingspielzahlen DNj und DNj‡1 ergeben sich durch Integration der Rißfortschrittsgleichung (6.35) ausgehend von der Anfangsrißlänge a0 bis zur Rißlänge aj am Ende des ersten Blockes und dann von der Rißlänge aj bis zur kritischen Rißlänge ac im Rahmen des zweiten Blockes:   …1 m=2† …1 m=2† 2 a0 aj p …6:61† DNj ˆ …m 2†C…Drj p Y†m   …1 m=2† …1 m=2† 2 aj ac p …6:62† DNj‡1 ˆ …m 2†C…Drj‡1 p Y†m Die Bruchschwingspielzahlen NBj und NBj‡1 des angerissenen Teils bei jeweils einstufiger Beanspruchung auf den beiden Beanspruchungshorizonten (bei gleicher Anfangsrißlänge a0 und gleicher Endrißlänge ac ) haben folgende Form:

NBj ˆ

 …1 2 a0 …m

 …1 m=2† ac p 2†C…Drj p Y†m m=2†

…6:63†

394

6 Langrißbruchmechanik zur Ermüdungsfestigkeit

NBj‡1 ˆ

 …1 2 a0 …m

m=2†

…1 m=2†



ac

p 2†C…Drj‡1 p Y†m

…6:64†

Die Teilschädigungen Dj ˆ DNj =NBj und Dj‡1 ˆ DNj‡1 =NBj‡1 addieren sich gemäß Miner-Regel zur Schadenssumme D ˆ …Dj ‡ Dj‡1 † ˆ 1;0. Durch Einsetzen von (6.61) bis (6.64) wird die Miner-Regel bestätigt. Diese Ableitung ist auch dann gültig, wenn ein rißlängenabhängiger Geometriefaktor Y eingeführt wird. Die Schadenssumme D durch einen von a0 auf a vergrößerten Riß ergibt sich aus (6.61) und (6.63) mit aj ˆ a, a0  ac und m  3;0–4;0 als Funktion des Verhältnisses a=a0 :  a …m=2 1†  0 …6:65† Dˆ 1 a Die vorstehenden Aussagen über den Zusammenhang zwischen Rißfortschritt und Miner-Regel gelten auch im Fall der Rißfortschrittsgleichung (7.55), sofern das in dieser Gleichung auftretende effektive zyklische J-Integral DJeff als Produkt einer rißlängenabhängigen Funktion mit einer belastungs- und werkstoffabhängigen Funktion dargestellt werden kann (s. Kap. 7.6).

6.8

Einfluß der Mittelspannung

Spannungsverhältnis und Rißfortschritt Bisher ist die reine Schwellbeanspruchung am Riß betrachtet worden …R  0†. Nunmehr sollen davon abweichende zyklische Beanspruchungen einbezogen werden. Dabei sind weiterhin die Gültigkeitsgrenzen der linearelastischen Bruchmechanik einzuhalten. Der Einfluß der Mittelspannung läßt sich über das Spannungsverhältnis R von unterer zu oberer, gleichbedeutend kleinster zu größter Spannung im Schwingspiel einheitlich darstellen. Der Schwellbeanspruchung entspricht R ˆ 0, der statischen Zugbeanspruchung R ˆ 1, der Wechselbeanspruchung R ˆ 1. Anstelle des Spannungsverhältnisses der Grundbeanspruchung am Ort des Risses (entspricht im elastischen Bereich dem Lastverhältnis an der Probe) kann das Spannungsintensitätsverhältnis betrachtet werden (mit unterem zu oberem Spannungsintensitätsfaktor ohne Rißschließen): Rˆ

ru Ku ˆ ro Ko

…6:66†

In R ˆ Kmin =Kmax können bei Bedarf auch die Eigenspannungen einbezogen werden, etwa bei Schweißverbindungen [70, 1133].

6.8 Einfluß der Mittelspannung

395

Abb. 6.43: Rißfortschrittsrate als Funktion des zyklischen Spannungsintensitätsfaktors für ansteigende Werte von R (schematisch); nach Schwalbe [1003]

Der Einfluß des Spannungsverhältnisses R auf den Rißfortschritt ist in Abb. 6.43 schematisch und in Abb. 6.44 an einem konkreten Beispiel dargestellt. Die Kurve verschiebt sich mit wachsendem R-Wert nach links. Die Rißfortschrittsrate nimmt dabei zu. Entsprechend verringert sich der Schwellenwert DK0R in Abhängigkeit von R. Nachfolgend wird die R-Abhängigkeit zunächst des Schwellenwertes und dann der Rißfortschrittsrate näher betrachtet.

Schwellen- und Grenzwerte abhängig vom Spannungsverhältnis Eine ältere Näherung für den Schwellenwert DK0R lautet (mit m aus (6.35)): DK0R ˆ DK0 …1

R†1=m

…6:67†

Nach Klesnil u. Lukáš [1124, 1125] ergibt sich aus Versuchsergebnissen (mit c ˆ 0;7–1;0 für Stahl): DK0R ˆ DK0 …1

R†c

…R  0†

…6:68†

McEvily u. Ritchie [1134, 1215] geben folgende Beziehung an: DK0R

r 1 R ˆ DK0 1‡R

…R  0†

…6:69†

396

6 Langrißbruchmechanik zur Ermüdungsfestigkeit

Abb. 6.44: Rißfortschrittsrate als Funktion des zyklischen Spannungsintensitätsfaktors für unterschiedliche Spannungsverhältnisse R, Näherungsformel basierend auf dem Dugdale-Modell und übereinstimmend mit Versuchsergebnissen (Probendicke h, Mehrachsigkeitsfaktor j); nach Newman [1218]

Schmidt u. Paris [1151] führen die Abhängigkeit des Schwellenwerts vom Spannungsverhältnis auf das Rißschließen zurück, wofür wiederum vereinfachende Annahmen getroffen werden. Die unterschiedlichen Ansätze für DK0R sind in Abb. 6.45 miteinander verglichen. Der Kurvenverlauf nach Schmidt u. Paris, Abb. 6.46 (a, b), der durch viele Versuchsergebnisse bestätigt wird, beruht auf der Annahme, daß sowohl der Schwellenwert des (nach Abzug des Rißschließens) effektiven zyklischen Spannungsintensitätsfaktors Keff 0 (s. Abb. 6.53) als auch der Spannungsintensitätsfaktor Kcl beim Rißschließen vom Spannungsverhältnis R unabhängig sind. Daraus folgt ein kritisches Spannungsverhältnis Rc , bei dem (Ku ˆ Kmin) ˆ (Kcl  Kop) ist. Dennoch ist dieses Verhalten nicht verallgemeinerbar. So wurde für die Titanlegierung Ti6Al4V der Kurvenverlauf nach Abb. 6.46 (c, d) ermittelt. Aus der Umrechnung auf die Abhängigkeit des Schwellenwerts vom oberen Spannungsintensitätsfaktor Ko ˆ Kmax geht hervor, daß der Schwellenwert über Ko abfällt. Für dieses Verhalten dürften statisch bedingte Rißvergrößerungsvorgänge maßgebend sein. Experimentelle Ergebnisse zum Schwellenwert des zyklischen Spannungsintensitätsfaktors DK0R in Abhängigkeit des Spannungsverhältnisses R wurden von Tanaka [1159] für unterschiedliche Stähle zusammengetragen, Abb. 6.47. Abgesehen von dem hochfesten martensitischen Stahl, bei dem DK0R unabhängig von R ist, tritt ein annähernd linearer Abfall über R für R ≤ 0,6–0,8 auf,

6.8 Einfluß der Mittelspannung

397

Abb. 6.45: Schwellenwert des zyklischen Spannungsintensitätsfaktors als Funktion des Spannungsverhältnisses nach älterem Ansatz mit m ˆ 3 (a), nach Schmidt u. Paris (b), nach Klesnil u. Lukáš mit c ˆ 0;7 (c) und c ˆ 1;0 (e) sowie nach McEvily (d); nach Munz [1711]

Abb. 6.46: Schwellenwert des zyklischen Spannungsintensitätsfaktors in Abhängigkeit des Spannungsverhältnisses; nach Schmidt u. Paris herkömmlich genäherter Verlauf (a), genauerer Verlauf (c) für die Titanlegierung Ti6Al4V und Transformation auf die Abhängigkeit von Kmax (b, d); schematische Darstellung nach Boyce u. Ritchie [1103]

398

6 Langrißbruchmechanik zur Ermüdungsfestigkeit

Abb. 6.47: Schwellenwert des zyklischen Spannungsintensitätsfaktors in Abhängigkeit des Spannungsverhältnisses; experimentelle Ergebnisse für unterschiedliche Stähle; nach Tanaka [1159]

wodurch (6.68) mit c ˆ 1 bestätigt wird. Bei noch größeren Werten von R verlaufen die Kurven offenbar eher horizontal, was dem eigentlichen Schwellenwert DKeff 0 entsprechen könnte. Für die Anwendung hat der bei geöffnetem Riß auftretende eigentliche Schwellenwert DKeff 0 (s. Abb. 6.53) Bedeutung: für die Rißöffnung durch hohe Zugeigenspannungen beispielsweise in Schweißverbindungen, für die Rißöffnung nach Drucklastspitzen und für die natürliche Rißöffnung bei kurzen Rissen. Die experimentelle Ermittlung von DKeff 0 kann bei konstanter oberer Spannungsintensität Ko (und abfallendem DK) erfolgen, anstelle der Verfahrensweise nach ASTM-Norm E647 [1098] mit konstantem R-Wert (Hertzberg et al. [1419]). Die Relationen der Werkstoffeignung können sich bei Betrachtung von DKeff 0 anstelle von DK0 verändern. Die Beobachtung, daß der Schwellenwert DKeff 0 bei R  0 gegenüber R > 0,8 (ausgeschlossenes Rißschließen) vermindert ist (nur beim Langriß), wird von Kujawski [1431] nach der Hypothese erklärt, daß der (Lang-)Riß nicht ganz bis zur Rißspitze schließt, wodurch auch noch bei geschlossenem Riß eine zyklische Restschädigung auftritt. Ebenso wie der Schwellenwert DK0R ist die den Restbruch auslösende kritische Schwingbreite …DK†c des Spannungsintensitätsfaktors von R abhängig (anstelle von Kc kann auch KIc treten): …DK†c ˆ …1

R†Kc

…6:70†

6.8 Einfluß der Mittelspannung

399

Rißfortschrittsrate abhängig vom Spannungsverhältnis Die Abhängigkeit der Rißfortschrittsrate von den Parametern DK, DK0, R und Kc kommt in den nachfolgend aufgeführten Näherungsformeln zum Ausdruck, die für Beanspruchung im Zugbereich (R ≥ 0) abgeleitet sind. Von R unabhängige Werkstoffkennwerte C 0 und m sind verwendbar, wenn folgender Ansatz gewählt wird (Forman et al. [1118]): da C 0 …DK†m ˆ ˆ dN …1 R†Kc DK …1

C0 …DK†m R†…Kc Kmax †

…6:71†

Diese Gleichung beschreibt die Zunahme von da=dN mit R sowie die Aufwärtskrümmung der Kurve bei Annäherung von Kmax …ˆ Ko † an Kc (bzw. KIc ), da=dN ˆ ? für Kmax ˆ Kc. Sie ist auf die Abwärtskrümmung der Kurve bei Annäherung von DK an DK0R erweiterbar (Erdogan u. Ratwani [1116], Donahue et al. [1112]): da C 0 …DK DK0R †m ˆ dN …1 R†Kc DK

…6:72†

Auch folgende Form ist gelegentlich anzutreffen (Klesnil u. Lukáš [1125]): da C 0 ‰…DK†m …DK0R †m Š ˆ dN …1 R†Kc DK

…6:73†

Mit DK0R  DK  …1 R†Kc kann (6.72) bzw. (6.73) in die Form von (6.35), erweitert um den Einfluß von R, gebracht werden: da C…DK†m ˆ dN 1 R

…6:74†

Die Gleichungen (6.71) bis (6.74) stellen ebenso wie (6.35) empirische Näherungen dar, die sich experimentell nur mit teilweise erheblichen Abweichungen belegen lassen. Dennoch werden sie wegen ihrer Einfachheit bevorzugt. Bei Beanspruchung in den Druckbereich …R < 0† wird vereinfachend so verfahren, daß in die für R ˆ 0 angeschriebenen Rißfortschrittsgleichungen nur der positive Anteil von DK in Form von DKeff eingeführt wird. Die Rißfortschrittsrate wird dabei nur ungenau erfaßt (s. Kap. 6.9). Eine weitere Formel für die Rißfortschrittsrate im gesamten Bereich I bis III hat McEvily [1214] ausgehend von einer einfachen physikalischen Modellvorstellung angegeben (mit Kmin ˆ Ku und Kmax ˆ Ko): da ˆ C 0 …DK dN

DK0 †2

Kc Kc

Kmin Kmax

…6:75†

400

6 Langrißbruchmechanik zur Ermüdungsfestigkeit

Abb. 6.48: Rißfortschrittsrate als Funktion des zyklischen Spannungsintensitätsfaktors für ansteigende Werte von Ku , Km und Ko (schematisch); nach Schwalbe [1003] (korrigiert)

Ebenfalls auf weitgehend empirischer Basis hat Weertmann [1162] folgende Beziehung für die Rißfortschrittsrate in den Bereichen II und III formuliert: da C…DK†4 ˆ dN …Kc †2 …Kmax †2

…6:76†

Die Beziehungen (6.71) bis (6.75) für die Rißfortschrittsrate sind nur bei zyklischer Beanspruchung mit konstanter Amplitude streng gültig, denn der Reihenfolgeeinfluß bei variablen Amplituden ist nicht erfaßt. Die vorstehend durch (6.74) vereinfacht beschriebene Abhängigkeit der Rißfortschrittsrate von DK und R läßt sich über (2.1) bis (2.6), umformuliert auf K statt r, durch gleichwertige Abhängigkeiten von DK und Ku , DK und Km sowie DK und Ko ersetzen, wie in Abb. 6.48 schematisch dargestellt. Der Entwicklung des DK-Konzepts für den Rißfortschritt lag ursprünglich die Annahme zugrunde, daß nur die zyklischen plastischen Formänderungen an der Rißspitze den Rißfortschritt bestimmen. Aus dem dargestellten Einfluß von R, rm , ro bzw. ru muß jedoch gefolgert werden, daß neben den durch zyklische Schubspannungen an der Rißspitze bzw. durch DK hervorgerufenen plastischen Vorgängen (Abgleitvorgänge) Rißfortschrittsmechanismen auftreten, die von den Zugnormalspannungen an der Rißspitze bzw. von Kmax bestimmt werden (Trennvorgänge). Ein weiterer Grund für die Abhängigkeit der Rißfortschrittsrate vom Spannungsverhältnis ist der Rißschließeffekt (s. Kap. 6.9). Rißfortschrittsrate abhängig von der Probendicke Die Rißfortschrittsrate hängt über Kc (bzw. KIc ) in (6.71) oder (6.72) von der Probendicke ab, Abb. 6.49. Bei großer Probendicke bzw. niedrigem Spannungsintensitätsfaktor herrscht der Zustand ebener Dehnung vor und die Rißfortschrittsrate ist von der Probendicke unabhängig. Bei geringerer Dicke bzw. höherem Spannungsintensitätsfaktor bilden sich Scherlippen, der ebene Dehnungszustand wird zugunsten des ebenen Spannungszustands abgebaut. Die

6.9 Einfluß des Rißschließens

401

Abb. 6.49: Rißfortschrittsrate als Funktion des zyklischen Spannungsintensitätsfaktors bei zunehmender Probendicke und abnehmender Scherlippenbildung (schematisch); nach Schwalbe [1003]

Rißfront bleibt an der Probenoberflächen gegenüber dem Probeninneren zurück. Die über die Probendicke gemittelte Rißfortschrittsrate verringert sich und ist nunmehr von der Probendicke abhängig, was zum Auffächern der Kurven führt. Die Darstellung mit Kurvenknick nach Abb. 6.26 ist physikalisch zutreffender, entspricht jedoch nicht den Formeln (6.71) oder (6.72). Bei Annäherung an die plastische Grenzlast dünnwandiger Restquerschnitte kehren sich die Verhältnisse insofern um, als die Grenzlast im ebenen Spannungszustand früher als im ebenen Dehnungszustand erreicht wird. Die Rißfortschrittsrate nach (6.72) ist entsprechend vergrößert (mit Oberlast Fo und Grenzlast Fg , nach Schwalbe [1003], ibid. S. 618): Fg da C…DK DK0R †m ˆ dN …1 R†Kc DK Fg Fo

6.9

…6:77†

Einfluß des Rißschließens

Beschreibung des Rißschließens Unter Rißschließen ist zu verstehen, daß die Rißflanken bei Belastung der Probe oder des Bauteils sich wechselseitig berühren und dabei Druckkräfte übertragen. Im Last-Verschiebungs-Diagramm drückt sich das als Steifigkeitsänderung aus, Abb. 6.50. Der Vorgang des Rißschließens kann einen kleinen rißspitzennahen Bereich oder den gesamten Bereich der Rißflanken umfassen. Im Zustand des Rißschließens ist die Spannungssingularität an der Rißspitze unterdrückt. Rißfortschritt oder Schädigung wird bei geschlossenem Riß ausgeschlossen (s. a. Kujawski [1431] in Kap. 6.8).

402

6 Langrißbruchmechanik zur Ermüdungsfestigkeit

Abb. 6.50: Steifigkeitsänderung an einer Probe durch Rißöffnen bei Belastung bzw. durch Rißschließen bei Entlastung

Das Rißschließen erfolgt nicht beim Übergang von Zug- auf Druckgrundbeanspruchung, sondern bei einer Grundbeanspruchung oberhalb oder unterhalb dieses Übergangs. Es ist auch nicht gesagt, daß die Rißöffnungsbeanspruchung bei der Wiederbelastung mit der Rißschließbeanspruchung bei der vorhergegangenen Entlastung übereinstimmt. Als maßgebend für Schwingfestigkeit und Lebensdauer wird die Schwingbreite oberhalb der Rißöffnungsspannung abzüglich eines Schwellenwertes angesehen. Bei genauerer Kenntnis der Rißschließ- und Rißöffnungsbeanspruchung kann eine wesentliche Verbesserung der Lebensdauervorhersage bei Einstufenbelastung ebenso wie bei Mehrstufen- oder Random-Belastung erwartet werden. Es ist der Verdienst von Elber [1196, 1197], den großen Einfluß des Rißschließens auf die Schwingfestigkeit bzw. Lebensdauer erkannt zu haben. Insbesondere der Reihenfolgeeffekt der Betriebsfestigkeit und das Schwellenwertverhalten des Rißfortschritts konnten auf dieser Basis weitgehend erklärt werden. Der Rißschließeinfluß spielt beim Kurzriß eine noch größere Rolle als bei den zunächst betrachteten Langrissen (beim Kurzriß tritt eine Festigkeitsminderung durch vorzeitiges Rißöffnen auf). In die Gleichungen für den Rißfortschritt sind demnach die Effektivwerte der Beanspruchungsschwingbreiten einzuführen. Durch Rißschließen wird der Rißfortschritt gegebenenfalls ganz unterbunden. Das Rißschließverhalten in Nähe des Schwellenwertes des zyklischen Spannungsintensitätsfaktors war Gegenstand besonderer Untersuchungen [1190, 1193, 1206–1208, 1216, 1217, 1234, 1235, 1237–1240]. Für das Rißschließen ist bei duktilen Werkstoffen und ebenem Spannungszustand die bei Belastung mit Rißvergrößerung erzeugte plastische Verformung der Rißflanken (eine Aufdickung) maßgebend. Bei spröden Werkstoffen oder ebenem Dehnungszustand spielen die Rauhigkeit der Bruchflächen und die Oxidation oder Korrosion der Rißflanken eine wichtige Rolle (s. a. Kap. 6.6 nach (6.34)). Rißschließen kann auch über Flüssigkeitsdruck vermittelt werden. Schließlich können spannungsbedingte Umwandlungsvorgänge an der Rißspitze das Rißschließen hervorrufen. Die unterschiedlichen Rißschließmechanismen sind in Abb. 6.51 veranschaulicht. Nachfolgend wird das plastisch bedingte Rißschließverhalten beim Langriß behandelt [1190–1293], hinsichtlich des Kurzrisses wird auf Kap. 7.3 verwie-

6.9 Einfluß des Rißschließens

403

Abb. 6.51: Schematische Darstellung der unterschiedlichen Rißschließmechanismen: Aufdikkung der Rißflanken durch plastische Verformung (a), spannungsbedingte Martensittransformation (b), Oxidation der Rißflanken (c), Oberflächenrauhigkeit der Rißflanken (d) und viskose Flüssigkeit im Riß (e); nach Suresh u. Ritchie [1505]

Abb. 6.52: Darstellungsgesichtspunkte zum Rißschließverhalten beim Langriß

sen. Die Darstellung untergliedert sich nach Einstufen-, Mehrstufen- und Random-Belastung, Abb. 6.52. Die nichteinstufige Belastung mit dem durch unterschiedliches Rißschließen verursachten Reihenfolgeeffekt wird in Kap. 6.12 gebracht. Bei Einstufenbelastung bleiben die transienten Anlaufvorgänge unberücksichtigt, d. h. es wird der eingeschwungene oder stabilisierte Zustand betrachtet, der sich je nach Spannungsverhältnis R unterschiedlich einstellt. Wenn nur Langrisse untersucht werden, besteht kein Unterschied zwischen ungekerbter und gekerbter Probe. In letzterem Fall ist lediglich die Kerbtiefe der Rißlänge zuzuschlagen. Der eigentliche Kerbeinfluß kommt hauptsächlich beim Kurzriß zum Tragen. Wird die elastische Lösung in diesem Bereich als maßgebend angesehen, so sind dafür die Spannungsintensitätsfaktoren für Risse im Kerbgrund verfügbar (s. Kap. 6.3). Beanspruchungskennwerte zum Rißschließen Die Beanspruchungskennwerte zur Beschreibung des Rißschließeffekts bei Schwingbeanspruchung sowie deren wechselseitige Zuordnung werden in Abb. 6.53 dargestellt. Die im Diagramm aufgetragenen Spannungsintensitätsfaktoren

404

6 Langrißbruchmechanik zur Ermüdungsfestigkeit

Abb. 6.53: Beanspruchungsgrößen zum Rißschließeffekt bei Schwingbeanspruchung, Schwellenwerte mit Index 0; nach Schijve [1228]

sind für den Rißfortschritt maßgebend. Alternativ lassen sich die zugrunde liegenden Spannungen eintragen. Der Riß öffnet sich bei Kop und schließt sich bei Kcl (Indizes von opening und closure), wobei Kcl < Kop . Der Rißfortschritt wird nicht von DK, sondern vom Effektivwert DKeff gesteuert, wobei auch hierbei ein Schwellenwert, nämlich DKeff 0 zu überwinden ist. Die mit einem Fragezeichen versehene (weil nur unsicher bestimmbare) Schwingbreite ist schließlich für die Rißfortschrittsrate maßgebend. Aus dem Diagramm ist auch ersichtlich, daß der Schwellenwert DK0 überwiegend, aber nicht ausschließlich aus dem Rißschließeffekt zu erklären ist. Der Restanteil DKeff 0 beruht auf mikrostrukturellen Vorgängen, die vom Rißschließen unabhängig sind (z. B. Blockierung des Gleitbandes an der Korngrenze). Der Anteil (DK0 – DKeff 0) wird auch als uneigentlicher (intrinsic) Schwellenwert bezeichnet, der Anteil DKeff 0 dagegen als der eigentliche (extrinsic) Schwellenwert. Die für den Rißfortschritt maßgebenden Beanspruchungsgrößen sind nachfolgend formelmäßig erfaßt. Ausgangsgröße ist die Rißöffnungsspannung rop , die nach herkömmlicher Betrachtung der Rißschließspannung rcl gleichgesetzt wird (nach Kap. 7.3 ist jedoch rop > rcl ). Für die effektive Spannungsschwingbreite folgt: Dreff ˆ ro

rop

…6:78†

Analog gilt für die effektive Schwingbreite der Spannungsintensitätsfaktoren: DKeff ˆ Ko

Kop

…6:79†

6.9 Einfluß des Rißschließens

405

Zwischen DKeff und Dreff besteht folgender Zusammenhang: p DKeff ˆ Dreff pa Y

…6:80†

Es wird rop > ru bzw. Kop > Ku vorausgesetzt, andernfalls gilt Dreff ˆ Dr und DKeff ˆ DK. Zur Kennzeichnung von Dreff bzw. DKeff , also der Beanspruchungsschwingbreite bei geöffnetem Riß, wird das Rißöffnungsverhältnis U eingeführt: Uˆ

Dreff DKeff ˆ Dr DK

…6:81†

Vollständiges Rißöffnen mit rop ˆ ru ist durch U ˆ 1 gekennzeichnet, vollständiges Rißschließen mit rop ˆ ro durch U ˆ 0. Aus R ˆ ru =ro und U ˆ …ro rop †/…ro ru † folgt:   rop DK …6:82† DKeff ˆ 1 ro 1 R Eine weitere in der Literatur anzutreffende Form von (6.81) lautet: Uˆ

1 1

R

Kop DK

…6:83†

woraus mit U ˆ 0 (Rißschließen) der Schwellenwert DK0 folgt, sofern Kop konstant und DKeff 0 ˆ 0 eingeführt werden: DK0 ˆ …1

…6:84†

R†Kop

Andererseits kann aus (6.81) und (6.86) bei Betrachtung der Schwellenwerte von DK und DKeff folgender Zusammenhang zwischen DK0 und DKeff 0 hergestellt werden, der durch (6.95) genau und durch (6.96) näherungsweise bestätigt wird: DK0 ˆ

DKeff 0 0;5 ‡ 0;4R

…6:85†

Folgende Näherung für U wurde von Elber [1196, 1197] auf Grund von Versuchen mit der Aluminiumlegierung 2024-T3 angegeben (gleichbedeutend mit (6.95)) und für weitere Legierungen bestätigt [53, 1194, 1227]): U ˆ 0;5 ‡ 0;4R

… 0;1  R  0;7†

…6:86†

Die Näherung wurde von Schijve [53, 1227] wie folgt erweitert: U ˆ 0;55 ‡ 0;33R ‡ 0;12R2

… 1  R  1†

…6:87†

406

6 Langrißbruchmechanik zur Ermüdungsfestigkeit

Die Anhebung der Rißöffnungsspannung, rop/ro ˆ 0,45 für R ˆ 0 gegenüber dem Erwartungswert rop/ro ˆ 0, ist somit erheblich. Eine größere Zahl von weiteren Näherungsansätzen für U werden von Kumar u. Singh [1205] diskutiert. Bei vorgegebenem Werkstoff hängt U in erster Linie von R ab, aber auch Ko ˆ Kmax bzw. DK treten in einzelnen vorgeschlagenen Gleichungen auf. Eine bekannte ältere Näherung auf empirischer Basis nach Walker [1236] lautet beispielsweise (mit dem Exponenten c ≤ 1,0 als Werkstoffkenngröße): DKeff ˆ Ko …1

R†c

…6:88†

Die vorliegenden experimentellen und analytischen Ergebnisse wurden von McClung [1213] gesichtet mit der Schlußfolgerung, daß je nach betrachtetem Bereich von K bzw. DK unterschiedliche Näherungen für U angebracht sind. Rißfortschritt mit Rißschließeffekt Die effektive zyklische Spannungsintensität DKeff wird anstelle der ursprünglichen zyklischen Spannungsintensität DK in die Rißfortschrittsgleichung (6.35) eingeführt (Newman [1218, 1219, 1323]): da ˆ C…DKeff †m dN

…DKeff 0 < DKeff < 2KIc †

…6:89†

Der Bereich in Nähe des Schwellenwertes wird ausgehend von (6.72) bzw. (6.73) mit R ˆ 0 und DK  Kc , also C ˆ C 0 =Kc , wie folgt erfaßt (zwei alternative Formen): da ˆ C…DKeff dN da ˆ C ‰…DKeff †m dN

DKeff 0 †m …DKeff 0 †m Š

…6:90† …6:91†

Der Bereich in Nähe des Restbruchs wird eingeschlossen, wenn die vollständige Rißfortschrittsgleichung (6.72) bzw. (6.73) verwendet wird, in der anstelle von DK bzw. DK0 nunmehr DKeff bzw. DKeff 0 gesetzt ist. Eine demgegenüber leicht abgewandelte Form wird von Newman [1218, 1219, 1323] verwendet (s. a. [1222]). Rißfortschrittsberechnungen bei einstufiger Belastung lassen sich auf Basis von (6.89), (6.90) oder (6.91) durchführen, wenn die Rißöffnungsspannung zur Bestimmung von Dreff bzw. DKeff in Form eines analytischen Ausdrucks vorgegeben wird. Derartige Ausdrücke wurden von Schijve [1227], de Koning [1299], Ibrahim [1203], Newman [1219] und DuQuesnay et al. [1408, 1409] angegeben. Es tritt die Abhängigkeit vom Spannungsintensitätsverhältnis hervor (s. a. Abb. 6.44). Zu Berechnungsverfahren bei nichteinstufiger Belastung

6.9 Einfluß des Rißschließens

407

wird auf Kap. 6.12 verwiesen. Die Berechnungsverfahren für gekerbte Bauteile sind in Kap. 7.5 angesprochen. Rißöffnungsspannung nach modifiziertem Dugdale-Modell Um die Rißfortschrittsrate nach (6.89), (6.90) oder (6.91) zu bestimmen, muß DKeff bzw. Kop bekannt sein. Unter der Annahme, daß das Rißschließen allein durch plastische Restverformung der Rißflanken hinter der Rißspitze (also im „Kielwasser“ der fortschreitenden Rißfront) verursacht wird (zu den weiteren Ursachen s. Kap. 6.5, dort nach (6.34), sowie Abb. 6.51), kann der Vorgang des Rißschließens rechnerisch erfaßt werden. Zur rechnerischen Erfassung, die hinsichtlich nichteinstufiger Belastung besondere Bedeutung hat, eignet sich ein Berechnungsverfahren, das vom Ansatz nach Dugdale [1077] für den Fließbereich an der Rißspitze (Fließstreifenmodell) ausgeht und zusätzlich die Aufdickung der Rißflanken durch das plastisch verformte Material berücksichtigt. Der mathematische Vorteil dieses modifizierten Dugdale-Modells besteht darin, daß die plastische Zone durch Überlagerung elastischer Lösungen beschrieben wird. Newman [1218] sowie Führing u. Seeger [1310–1313], Ibrahim et al. [1203, 1204] und Wang u. Blom [1344] beschränken sich auf das Rißschließverhalten. Budiansky u. Hutchinson [1192] nehmen die Eigenspannungsausbildung hinzu. Seeger u. Führing [1229, 1312, 1313], Newman [1323], de Koning et al. [1299–1301], Dill u. Saff [1302–1304] sowie Wang u. Blom [1344] erweitern das Modell auf die Bestimmung der Lebensdauer bei beliebigen Lastfolgen. Das modifizierte Dugdale-Rißmodell nach Newman [1218], das in Abb. 6.54 bei Be- und Entlastung gezeigt wird, besteht aus drei Bereichen: einer linearelastischen Zone mit fiktiv verlängertem Riß der Halblänge …a ‡ x†, einer plastischen Zone der Länge x und einer Zone mit plastischer Restverformung entlang der Rißflanken. Der tatsächliche Riß hat die Halblänge a. Die plastische Druckzone ist durch die Länge xd gekennzeichnet. Der erstgenannte Bereich wird als elastisches Kontinuum behandelt. Die Querverschiebung der Rißflanken kann für beliebige Lastverteilung an den Rißflanken (resultierend aus Fließspannung und Kontaktspannung) angegeben werden. Die zweitgenannten Bereiche bestehen aus idealplastischen Stabelementen mit der Ersatzfließspannung nach (6.92). Die an den Rißflanken sichtbaren Stabelemente befinden sich im plastisch verformten Zustand. Sie sind in der plastischen Zone unversehrt und außerhalb derselben gebrochen. Die gebrochenen Elemente nehmen nur Druckkräfte auf. Dies geschieht im Fall wechselseitigen Kontaktes. Die Elemente verformen sich bei Erreichen der (Ersatz-)Druckfließgrenze erneut plastisch. Die Mehrachsigkeit des Spannungszustands in der plastischen Zone wird durch den Mehrachsigkeitsfaktor j erfaßt, der die Ersatzfließspannung in den Stabelementen auf j rF erhöht (ebener Spannungszustand mit j ˆ 1 vorherrschend in dünnen Scheiben bei hohem DK-Wert, ebener Dehnungszustand mit j ˆ 3 vorherrschend in Körpern und niedrigem DK-Wert, in Lebensdauerberechnungen bewährt j  2;0).

408

6 Langrißbruchmechanik zur Ermüdungsfestigkeit

Abb. 6.54: Aufdickung der Rißflanken durch zyklische plastische Verformung beim Rißfortschritt: Belastung mit Rißöffnen (a), Entlastung mit Rißschließen (b), zugehörige Spannungen an der Rißspitze (c, d); mit geschlossener Rißlänge Dacl , Ausdehnung x bzw. xd der plastiF und Mehrachsigkeitsfakschen Zug- bzw. Druckzone an der Rißspitze, Ersatzfließspannung r tor j; schematische Darstellung nach Newman [1218, 1323]

F anstelle der zyklischen Fließspannung r00;2 (in Die Ersatzfließspannung r [1218] wird die statische Fließspannung r0;2 verwendet) soll die Verfestigung des Werkstoffs nach Fließbeginn pauschal berücksichtigen: F ˆ r

r00;2 ‡ rZ 2

…6:92†

Nach dem Ansatz von Newman [1219] ergibt sich die Rißöffnungsspannung rop bei Einstufenbelastung in Abhängigkeit von Oberspannung, Spannungsverhältnis und Mehrachsigkeitszahl:   rop ro ˆf ; R; j F ro r

…6:93†

Die grafische Darstellung der nicht ausgeschriebenen komplexeren Beziehung (6.93) für j ˆ 1, Abb. 6.55, zeigt, daß die Rißöffnungsspannung bei niedrigen Werten R in erster Linie von der Oberspannung abhängt (wobei rop  ru ), während diese Abhängigkeit bei höheren Werten R zunehmend verschwindet (wobei rop  ru ). In der alternativen Auftragung nach Abb. 6.56 sind sowohl

6.9 Einfluß des Rißschließens

409

Abb. 6.55: Rißöffnungsspannung als Funktion des Spannungsverhältnisses R für unterschiedliche Oberspannungen beim ebenen Spannungszustand (ESZ), Näherung auf Basis des Dugdale-Modells; nach Newman [1218, 1219]

Abb. 6.56: Rißöffnungsspannung als Funktion der Oberspannung für unterschiedliche Spannungsverhältnisse R beim ebenen Dehnungszustand (EDZ: j ˆ 3) und beim ebenen Spannungszustand (ESZ: j ˆ 1), Näherung auf Basis des Dugdale-Modells; nach Newman [1218]

j ˆ 1 als auch j ˆ 3 erfaßt. Die Rißöffnungsspannung hängt bei niedrigen Werten R und ebenso bei niedrigen Werten j außer von R von der Oberspannung ab. Bei hohen Werten R ist die Rißöffnungsspannung unabhängig von der Oberspannung, rop ˆ ru (s. a. Abb. 7.66).

410

6 Langrißbruchmechanik zur Ermüdungsfestigkeit

Rißöffnungsspannung aus Finite-Elemente-Berechnung Die alternativ zum Dugdale-Modell zur Ermittlung der Rißöffnungs- bzw. Rißschließspannung vielfach angewendete Finite-Elemente-Berechnung [1241– 1293] (umfassende Darstellung der Anwendungsaspekte und Einflußparameter bei McClung u. Sehitoglu [1270–1275], Methodenaspekte auch in Kap. 6.4) ist aufwendig, erfaßt jedoch den Einzelfall genauer, besonders auch bei nichteinstufiger Belastung (s. Kap. 6.12). Während im Dugdale-Modell die Werkstoffdeformation im Bereich der Rißspitzen als einachsig und idealplastisch eingeführt wird, können im Rahmen der Finite-Elemente-Methode die Mehrachsigkeit der Beanspruchung an der Rißspitze und die Verfestigung des Werkstoffs infolge plastischer Verformung berücksichtigt werden. Derartige Finite-Elemente-Berechnungen können dazu dienen, grundsätzliche Fragen zu klären, unter anderem die Frage nach dem Wert von j im Dugdale-Modell oder Fragen nach dem Einfluß mehrachsiger Grundbeanspruchung auf die Rißöffnungsspannung. Die hier betrachteten Finite-Elemente-Berechnungen haben zum Ziel, die das Rißschließen bestimmende plastische Aufdickung der Rißflanken an der Rißspitze und die damit verbundene Rißöffnungs- und Rißschließspannung bei (beliebig) vorgegebenem Rißlängenzuwachs pro Schwingspiel zu bestimmen. Der rechnerisch stationäre Wert dieser Spannungen ist unabhängig von der Wahl des rechnerischen Rißlängenzuwachses. Die tatsächliche Rißfortschrittsrate ergibt sich aus dem Rißfortschrittsgesetz unter Berücksichtigung des Rißschließens. Sie ist nicht das direkte Ergebnis der Finite-Elemente-Berechnung. Eine diesbezügliche Erweiterung der Berechnung ist auf Basis der Schädigungsmechanik grundsätzlich möglich (s. Kap. 5.5). Die Finite-Elemente-Simulation des plastischen Rißschließens wurde zur Begrenzung des numerischen Aufwandes fast ausschließlich an Scheibenmodellen beim ebenen Spannungszustand durchgeführt. Die einzige dreidimensionale Simulation stammt von Chermahini et al. [1250–1252]. Simulationen beim ebenen Dehnungszustand ergaben Rißöffnungsspannungen nahe dem Wert null. Dieser Feststellung wird von Josefson et al. [1318] widersprochen. Auch die Mehrachsigkeitszahl j ˆ 3 in (6.93) steht dem entgegen. Bei Anwendung der Finite-Elemente-Methode zur Simulation des Rißschließens sind zwei besondere Probleme der numerischen Rechnung angemessen zu behandeln, die Wahl eines Netzes mit konvergenter Lösung und die Verwendung eines Verfestigungsgesetzes mit nicht zu starkem zyklenabhängigem Kriechen (ratchetting). In Nähe der Rißspitze ist eine überaus feinmaschige Netzteilung erforderlich, um das stark inhomogene Beanspruchungsfeld in diesem Bereich darzustellen (s. Abb. 5.52 u. 5.53). Die Größe der Rißspitzenelemente legt gleichzeitig die Größe des Rißlängenzuwachses bei der Berechnung fest. Nach Untersuchungen von McClung [1269] sollte die druckplastische Zone vor der Rißspitze mit mindestens drei Elementen in Rißrichtung abgebildet werden. Das zyklische Verfestigungsverhalten des Werkstoffs bei mehrachsiger Beanspruchung kann durch das kinematische Verfestigungsgesetz nach Prager und Ziegler oder durch das entsprechende Modell nach Mròz (s. Kap. 4.4) dargestellt

6.9 Einfluß des Rißschließens

411

werden. Bedingt durch das Rißschließen liegt an der Rißspitze nichtproportionale Beanspruchung vor. Bei Verwendung des Modells nach Mròz zeigt sich in der numerischen Rechnung ein starkes Ratchetting-Verhalten wesentlich stärker als es der Wirklichkeit entspricht (Anthes et al. [1242, 1389]). Der rechnerisch stillstehende Riß bleibt schon nach wenigen Schwingspielen vollständig geöffnet. Das Verfestigungsgesetz nach Prager und Ziegler ergibt demgegenüber realistischere Ergebnisse. Ein fortschrittliches Werkstoffmodell (Döring et al. [402]), das in der Lage ist, zyklische Verfestigung bzw. Entfestigung, Spannungsrelaxation und Ratchetting unter nichtproportional mehrachsiger Beanspruchung zu beschreiben, wurde in einer Untersuchung zur Dauerfestigkeit autofrettierter Einspritzrohre mit rißartigen Fehlstellen verwendet (Herz et al. [1698]). Experimentelle Ermittlung der Rißöffnungsspannung Die experimentellen Verfahren zum Erfassen des Rißschließens und Rißöffnens lassen sich unterschiedlichen Gruppen zuordnen: direkte Beobachtung der Rißfront, Aufnahme der Nachgiebigkeits- oder Steifigkeitsänderung bevorzugt im Rißnahfeld (Compliance-Verfahren) und schließlich Auswertung der Riefenbreite auf der Bruchfläche (indirekte Beobachtung der Rißfront). Die direkte Beobachtung der Rißspitze an der Oberfläche in zeitlich gestaffelter Bildfolge erfolgt unter dem Mikroskop oder Elektronenmikroskop. Das Oberflächenprofil an der Rißspitze kann über Abdruckverfahren oder Interferometrie registriert werden. Das Rißschließverhalten im Innern der Probe kann an transparenten Modellen interferometrisch gemessen werden. Das den direkten Beobachtungsverfahren zugehörige Schrifttum ist bei Schijve [1228] zu finden. Die Änderung der Nachgiebigkeit oder Steifigkeit im Rißnahbereich (mechanical compliance) kann mit einem aufgesetzten, die Rißflanken überbrükkenden Rißaufweitungsgeber (clip gauge, COD meter) oder mit einem Dehnungsmeßstreifen in unmittelbarer Nähe der Rißflanken (gelegentlich auch auf der dem Anriß gegenüberliegenden Probenseite) gemessen werden. Nach der ASTM-Norm E 647 [1098] wird dagegen empfohlen, die Rißöffnungslast aus der globalen Steifigkeitsänderung (> 2 %) der Probe bei deren Belastung zu ermitteln. Die Genauigkeit wird durch elektrische Kompensationsverfahren gesteigert, die das lineare Verhalten des vollständig geöffneten Risses extrapolieren (s. Kap. 7.3). Nach einem anderen Verfahren wird die Rißöffnung unmittelbar vor der Rißfront über zwei Stifte erfaßt, die durch zwei feine Bohrungen im Innern der Probe an die Rißflanken herangeführt sind und senkrecht zu ihnen stehen. Dagegen ergeben die Messung des elektrischen Potentialabfalls beim Rißflankenkontakt (potential drop method), das Wirbelstromverfahren (eddy current method) und die Aufnahme der Ultraschallwellen, welche durch das Rißschließen entstehen, weniger zuverlässige Ergebnisse (physical compliance). Die so genannte elektrische, induktive oder akustische Rißöffnung ist mit der mechanischen Rißöffnung nicht ohne weiteres identisch. Das den Compliance-Verfahren zugehörige Schrifttum ist ebenfalls bei Schijve [1228] zusammengestellt (s. a. [1209]).

412

6 Langrißbruchmechanik zur Ermüdungsfestigkeit

Abb. 6.57: Sättigungswert der Rißöffnungsspannung als Funktion der Oberspannung, Stähle und Aluminiumlegierungen, Versuchsergebnisse (Punkte) und zwei Näherungsformeln (Kurven); nach Vormwald et al. [1523, 1524, 1612]

Die Auswertung der Riefenbreite auf der Bruchfläche unter dem Elektronenmikroskop zur Bestimmung der Rißöffnungsspannung kann auf unterschiedliche Lastfolgen bezogen sein. Zunächst wird die Einstufenbelastung betrachtet. Es werden etwa zehn Schwingspiele mit kleinerer konstanter Lastschwingbreite eingestreut und die zugehörigen Riefenbreiten im Bruchbild ausgewertet [1225, 1233, 1572]. Die kleinere Lastschwingbreite wird nunmehr stufenweise verändert. Dabei wird entweder die Ober- oder die Unterspannung der Einstufenbelastung beibehalten. Bei konstanter Oberspannung und stufenweise verringerter Schwingbreite wird die Rißschließspannung dort angenommen, wo sich die Riefenbreite zu verkleinern beginnt. Bei konstanter Unterspannung und stufenweise vergrößerter Schwingbreite wird die Rißschließspannung dort bestimmt, wo Rißfortschritt beginnt und eine Riefenbreite erstmals auftritt. Die verbesserte und auch auf nichteinstufige Lastfolgen anwendbare Verfahrensweise verwendet eine eingestreute, bei konstanter Oberspannung linear abfallende und linear wieder ansteigende Schwingbreitenfolge in Verbindung mit dem Übergang von konstanter auf verringerte Riefenbreite (s. Abb. 7.31). Allen Verfahren mit Auswertung der Riefenbreite gemeinsam ist die berechtigte Annahme, daß sich die Rißschließ- bzw. Rißöffnungsspannung unter den eingestreuten Schwingspielen nicht verändert. Ein Verfahren der indirekten Ermittlung der Rißöffnungsbeanspruchung besteht darin, die Rißfortschrittsrate bei so hoher Zugvorspannung zu ermitteln, daß Rißschließen erfahrungsgemäß ausgeschlossen werden kann (also bei R  0;8). Die Rißfortschrittsrate da=dN ist in diesem Fall abhängig von DK ˆ DKeff ermittelt. Bei kleineren Werten R ergeben sich tiefer liegende da=dN-Linien. Aus den bei gleicher Rißfortschrittsrate abgegriffenen Werten DK (zugehörig unterschiedliche Ko -Werte) folgt die Rißöffnungsspannungsintensität gemäß Kop ˆ Ko DKeff mit DKeff abgegriffen bei R  0;8.

6.10 Einfluß des Werkstoffs

413

Ein frühes Ergebnis der experimentellen Untersuchungen war zunächst die Beobachtung, daß bei Rißstillstand der Riß vollständig geschlossen bleibt. Des weiteren wurde festgestellt, daß Rißschließen an der Oberfläche stärker als im Innern der Probe auftritt. Einige weitere quantitative Angaben sind nachfolgend zusammengefaßt. Aus den experimentellen Ergebnissen von McClung u. Sehitoglu [1446, 1447], Dowling u. Iyyer [1407, 1426], Rie et al. [1226] sowie Vormwald u. Seeger [1523, 1526] geht hervor, daß die Rißöffnungsspannung bei R ˆ 1 mit abfallender Tendenz von der Oberspannung abhängt, Abb. 6.57. In das Diagramm mit aufgenommen sind der Näherungsansatz von Newman [1219] (s. a. Schijve [1227]) sowie ein weiterer, Schijve zugeschriebener Ansatz. Der Näherungsansatz von Schijve (angegeben für Aluminiumlegierungen) lautet: Dreff ˆ

3;72 …3

R†1;74

Dr

…6:94†

Für die Aluminiumlegierung 2024 -T3 gibt Elber [1196, 1197] folgende Näherung an: DKeff ˆ …0;5 ‡ 0;4 R†DK

… 0;1  R  0;7†

…6:95†

Schwalbe [1003] modifiziert diesen Ansatz ausgehend von Versuchsergebnissen für die Aluminiumlegierung AlZnMgCu 0,5: DKeff ˆ …0;6 ‡ 0;5 R†DK

…0  R  0;8†

…6:96†

Bei der Aluminiumlegierung 2219-T851 und der Titanlegierung Ti6Al4V wurde DKeff ˆ DK für R  0;35 ermittelt [1003].

6.10

Einfluß des Werkstoffs

Rißfortschrittsrate abhängig vom Werkstoff Sammlungen von Werkstoffkennwerten zum Rißfortschritt liegen vor (Bäcklund et al. [1377], ESDU [1379], Taylor u. Li [1385, 1386]), ergänzt durch Einzelpublikationen [1380, 1381, 1383, 1384]. Zum Einfluß des Werkstoffs (einschließlich Werkstoffmetallurgie [1132]) auf die Rißfortschrittsrate wurden in Kap. 6.5 beispielhaft Angaben gemacht. Dieser Einfluß wird nachfolgend in allgemeinerer Form dargestellt. Eine Übersicht zu verschiedenen Werkstoffen mit unterschiedlicher Fließgrenze r0,2 gibt Abb. 6.58 ergänzt durch Tab. 6.1. Die Aluminiumlegierung weist die höchsten Rißfortschrittsraten auf. Titanlegierungen liegen etwas darunter. Stähle zeigen wesentlich geringere Rißfortschrittsraten. Der extrem hochfeste Baustahl D6AC wurde am Space Shuttle eingesetzt. Zwischen hochfesten und niedrigfesten

414

6 Langrißbruchmechanik zur Ermüdungsfestigkeit

Abb. 6.58: Rißfortschrittsrate als Funktion des zyklischen Spannungsintensitätsfaktors für unterschiedliche Werkstoffe mit unterschiedlicher Fließgrenze (s. Tab. 6.1); nach Schijve [53]

Tabelle 6.1: Werkstoffdaten und Autorenangaben zu den Rißfortschrittskurven in Abb. 6.58; nach Schijve [53] Werkstoff

Fließgrenze r0,2 [N/mm2]

Autoren

Aluminiumlegierung 2024-T3 *) Titanlegierung Ti-6-4 Titanlegierung Ti-62222 C-Stahl Fe510Nb Baustahl SAE 4340 Baustahl D6AC

364 987 1223 460 **) 989 1363

Broek u. Schijve [1104] Crooker [1111] Stephens et al. [1158] Houdijk [1120] Kim u. Tai [1123] Liaw et al. [1131]

*) Alclad (plattiert mit Reinaluminium) **) ausgeprägte Fließgrenze rF

Werkstoffen werden nur geringere Unterschiede festgestellt. Der hochfeste, gegebenenfalls wärmebehandelte Stahl weist höhere Rißfortschrittsraten als der niedrigfeste Stahl auf. Diese Tendenz wird auch für Aluminium- und Titanlegierungen bestätigt. Die festigkeitssteigernde Wärmebehandlung erweist sich hinsichtlich der Rißfortschrittsrate als nachteilig. Die experimentell ermittelten Rißfortschrittsraten hängen in erheblichen Maße vom Werkstoffhersteller und von der gelieferten Charge ab, ohne daß diese Streuungen mit konventionellen mechanischen Kennwerten, Korngröße oder

6.10 Einfluß des Werkstoffs

415

Abb. 6.59: Rißfortschrittsrate von Metallegierungen als Funktion des zyklischen Spannungsintensitätsfaktors bezogen auf den Elastizitätsmodul; nach Schwalbe [1003]

chemischer Zusammensetzung korrelierbar sind (Herstellerstreuung ± 35 % und Chargenstreuung ± 20 % nach Schijve u. DeRijk [1150]). Es überlagert sich ein Textureinfluß. Bei Belastung senkrecht zur Walzrichtung kann sich der Riß bis zu 40 % schneller vergrößern. Bei Betrachtung unterschiedlicher metallischer Werkstoffe erweist sich das Verhältnis von zyklischem Spannungsintensitätsfaktor DK zum Elastizitätsmodul E als ausschlaggebend für die Rißfortschrittsrate. Das weist auf die Bedeutsamkeit des Dehnungsintensitätsfaktors anstelle des Spannungsintensitätsfaktors hin. Eine Korrelation der Rißfortschrittsrate mit anderen Werkstoffkennwerten wie Zugfestigkeit, Fließgrenze oder Rißzähigkeit …KIc † ist im allgemeinen nicht nachweisbar. Die Versuchsergebnisse zu unterschiedlichen Metallegierungen lassen sich nach Schwalbe [1003] bei Auftragung über DK=E bzw. DKeff =E einem schmalen Streuband zuordnen, Abb. 6.59. Die zugehörige Näherungsgleichung lautet (mit DK in N=mm3=2 und E in N=mm2 ):  3;4 da DK  8000 dN E

…R  0†

…6:97†

Etwas genauere Näherungswerte werden durch folgende Gleichungen für die oberen Grenzwerte der Rißfortschrittsrate bei unterschiedlichen Legierungsgruppen ermittelt (nach Clark [1108], angegeben in [1003], s. a. [1148, 1152]):

416

6 Langrißbruchmechanik zur Ermüdungsfestigkeit

da ˆ 5;79  10 dN

11

…DK†2;25

da ˆ 9;82  10 dN

12

…DK†3

(Aluminiumlegierungen)

da ˆ 3;56  10 dN

15

…DK†4

(Titanlegierungen)

(Stahle)

…6:98† …6:99† …6:100†

Die Gleichungen (6.98) bis (6.100) kennzeichnen die obere Streubandgrenze. Im Einzelfall können beträchtliche Abweichungen auftreten. Das Streuband von Versuchsergebnissen für Stähle (13 Arten in 16 Wärmebehandlungszuständen, Fließgrenze r0;2 ˆ 250 1680 N=mm2 ) nach einer Schrifttumsauswertung von Schwalbe [1003] ist in Abb. 6.60 dargestellt. Genauere Daten zur Titanlegierung Ti6Al4V sind bei Campbell u. Ritchie [1166, 1167] zu finden. Ebenso wie die Rißfortschrittsrate ist der Schwellenwert DK0 des zyklischen Spannungsintensitätsfaktors, ab dem Rißfortschritt auftritt, vom Werkstoff abhängig. Auch er ist näherungsweise mit dem Elastizitätsmodul E korreliert (DK0 in N=mm3=2 und E in N=mm2 , nach Pook, angegeben in [1003]): DK0 ˆ …0;5 1;5†  10 3 E

…6:101†

Abb. 6.60: Rißfortschrittsrate von Stählen als Funktion des zyklischen Spannungsintensitätsfaktors; nach Schwalbe [1003]

6.10 Einfluß des Werkstoffs

417

Die oberen Grenzwerte der Rißfortschrittsrate von Stählen werden von Barsom u. Rolfe [989] wie folgt angegeben: da ˆ 5;71  10 dN

11

…DK†2;25

…martensitische Stahle)

…6:102†

da ˆ 2;17  10 dN

13

…DK†3;0

…ferritisch-perlitische Stahle)

…6:103†

da ˆ 0;75  10 dN

13

…DK†3;25

(austenitische Stahle)

…6:104†

Als untere Grenze des Schwellenwerts des zyklischen Spannungsintensitätsfaktors wird für die vorstehenden Werkstoffe folgender Wert verwendet: DK0 ˆ 220 N=mm3=2

…Stahle, R ˆ 0†

…6:105†

Davon beträgt der eigentliche Schwellenwert nach Tanaka [1159]: DKeff 0  105 N=mm3=2

(unlegierte Stahle, R ˆ 0†

…6:106†

Rißfortschrittsrate abhängig von Werkstoffgefüge und Werkstoffschichtung Das Werkstoffgefüge beeinflußt die Rißfortschrittsrate [1157]. Besonders ausgeprägt ist der Einfluß bei den Titanlegierungen, die infolge ihrer Zweiphasenkristallitstruktur als mikrostrukturempfindlich gelten. Die Abhängigkeit der Rißfortschrittsrate von der Gefügeart bei Stählen haben Tanaka et al. [1384] in einheitlicher Form dargestellt. Die Vereinheitlichung gelingt über den Bezugspunkt ……DK†; …da=dN†† im Rißfortschrittsratediagramm, von dem ausgehend folgende (ursprünglich dimensionslose) Form der gemäß (6.91) um DK0 erweiterten Rißfortschrittsgleichung nach Paris eingeführt wird: da ˆ dN

   da  DK m dN …DK†





DK0 …DK†

m  …6:107†

Die gemittelten Werkstoffkennwerte in dieser Gleichung sind in Tabelle 6.2 zusammengefaßt. Die Abhängigkeit der Rißfortschrittsrate vom Werkstoffgefüge wurde von Schwalbe [1003] folgendermaßen zusammengefaßt. Harte Teilchen im Werkstoff an der Rißspitze (z. B. grobe Einschlüsse in Aluminiumlegierungen, Karbide und intermetallische Phasen in austenitischen Stählen, lamellarer Zementit in ferritischen Stählen) wirken bei niedriger Spannungsintensität verzögernd, bei höherer Spannungsintensität beschleunigend auf die Rißfortschrittsrate. Bei

418

6 Langrißbruchmechanik zur Ermüdungsfestigkeit

Tabelle 6.2: Gemittelte Werkstoffkennwerte für die Rißfortschrittsgleichung (6.107), Stähle mit unterschiedlichem Gefüge; nach Tanaka et al. [1384] in [35] Stahlgefüge

…da=dN† lm/Schwingspiel

…DK† N=mm3=2

m

DK0 N=mm3=2

ferritisch-perlitisch vergütet gehärtet (zäh) gehärtet (spröde) austenitisch sonstige

0,17 0,17 0,17 0,03 0,17 0,17

1000 1000 1000 490 1000 1000

3,5 2,7 2,8 4,0 3,6 2,5

262 187 117 145 161 130

Abb. 6.61: Drei mögliche Orientierungen der Schichtung relativ zu Rißebene und Rißfront, dargestellt für die Rißfrontbeanspruchungsart Modus I; nach Radaj [1716]

niedriger Spannungsintensität wird die plastische Formänderung behindert, und der Riß muß die Einschlüsse umgehen. Bei höherer Spannungsintensität wird die Grübchen- und Hohlraumbildung vor der Rißspitze gefördert, der Riß kann sich schneller ausbreiten. Der Einfluß der Korngröße auf die Rißfortschrittsrate ist nach Kage et al. [1122] in der Kurzrißphase erheblich, jedoch in der Langrißphase gering. Der Einfluß inhomogener Werkstoffgefüge kann bei Schweißverbindungen bedeutsam sein. Letztere weisen in der Schmelz- und Wärmeeinflußzone eine Schichtung auf. Die Schichten repräsentieren Gefügezonen mit unterschiedlicher Korngröße, Härte, Verfestigung oder Entfestigung, Duktilität und möglicherweise Alterung oder Aushärtung, verursacht durch die örtlich stark unterschiedlichen Temperaturzyklen beim Schweißen. Die Schichtung in den drei möglichen Lagen relativ zur Rißfront, Abb. 6.61, bedingt Korrekturen am Spannungsintensitätsfaktor (soweit sich die elastischen Konstanten in den Schichten unterscheiden), ein möglicherweise stark verändertes elastisch-plas-

6.10 Einfluß des Werkstoffs

419

tisches Verhalten (strength mismatch) und demzufolge veränderte kritische Werte des Spannungsintensitätsfaktors bei statischer und bei zyklischer Beanspruchung. Wesentlich ausgeprägter ist die Werkstoffinhomogenität bei Schichtverbundwerkstoffen, die in hochgradig ermüdungsbeanspruchten Flugzeugbauteilen gelegentlich zum Einsatz kommen: Metallaminate (Aluminiumlegierungen 2024T3 oder 7475-T761) ohne oder mit Faserverstärkung in Zwischenlagen (Aramid- oder Glasfasern). Der weitere Rißfortschritt einer auf die Klebschicht treffenden Rißfront (Modus Ib) kann zeitweise oder ganz unterbunden werden. Die Rißfront senkrecht zur Schichtung (Modus Ic) bedingt durch den Übergang auf konkurrierenden Rißfortschritt in den dünnen Laminaten eine nachhaltige Verringerung der Rißfortschrittsrate. Lebensdauererhöhungen bis zum Faktor zehn bei praxisnahen Problemstellungen wurden nachgewiesen. Weitere Einzelheiten können dem Buch von Schijve [53] entnommen werden. Rißzähigkeit abhängig vom Werkstoff Die Rißzähigkeit KIc , ermittelt nach ASTM E399-74 [1097], hängt vom Werkstoff und dessen Behandlungszustand ab, letzterer näherungsweise erfaßt durch die jeweilige Fließgrenze r0;2 , Abb. 6.62. Die Walz- und Schmiedestähle ebenso wie die Nickel- und Titanlegierungen weisen bei Raumtemperatur relativ hohe Rißzähigkeit auf. Für unterschiedliche Feinblechwerkstoffe (Stähle, Aluminium- und Titanlegierungen) läßt sich ein einheitlicher Wertebereich angeben, wenn die auf die Fließgrenze bezogene Rißzähigkeit Kc über der auf den Elastizitätsmodul bezogenen Fließgrenze aufgetragen wird, Abb. 6.63.

Abb. 6.62: Bereiche der Rißzähigkeit unterschiedlicher Metallegierungsgruppen bei Raumtemperatur als Funktion der Fließgrenze; mit Walz- und Schmiedestählen Fe(St) und Eisengußwerkstoffen Fe(G); nach FKM-Richtlinie [1695] (Diagrammausschnitt)

420

6 Langrißbruchmechanik zur Ermüdungsfestigkeit

Abb. 6.63: Bereich der auf die Fließgrenze bezogenen Rißzähigkeit von Feinblechwerkstoffen als Funktion der auf den Elastizitätsmodul bezogenen Fließgrenze; nach Sullivan u. Stoop [1383] in [1003]

6.11

Einfluß der Korrosion, Temperatur und Frequenz

Umgebungseinfluß auf den Rißfortschritt Der Einfluß der Umgebungsbedingungen auf die Rißfortschrittsrate drückt sich im Einfluß der Korrosion aus [1003, 1130, 1349–1366]. Als neutrale Referenzumgebung hinsichtlich Korrosion dient das Vakuum, ein inertes Gas (Argon, Helium oder Stickstoff mit jeweils sehr niedrigem maximalem Wasserdampfgehalt) oder säurefreies Öl. Zunehmend aggressiv wirken die im Versuch häufig auftretenden Umgebungen: Laborluft, destilliertes Wasser und Kochsalzlösung. Brüche mit erheblichem Korrosionsanteil treten zunehmend spröde in Erscheinung. Wasserstoffversprödung kann in diesen Fällen mitwirken. Das umgebende Medium beeinflußt den Rißfortschritt durch Schwingrißkorrosion oder Spannungsrißkorrosion wie nachfolgend dargestellt (s. a. Kap. 3.9). Da der Korrosionsangriff zeitabhängig erfolgt, beeinflussen Frequenz und Kurvenform der Schwingbeanspruchung das Geschehen. Für die Schwingrißkorrosion ist der ansteigende Teil der Beanspruchungskurve maßgebend, für die Spannungsrißkorrosion die Beanspruchung oberhalb des Schwellenwertes KIscc . Dies ist in Abb. 6.64 veranschaulicht Schließlich wird das Rißfortschrittsverhalten unter Schwingbeanspruchung bei erhöhter Temperatur (ohne oder mit Korrosion) von weiteren zeitabhängigen Verformungsvorgängen (Kriechen) mitbestimmt [74, 1130, 1367–1376]. Die Rißfortschrittsrate hängt von der Temperaturerhöhung und zunehmend von der Beanspruchungsfrequenz ab.

6.11 Einfluß der Korrosion, Temperatur und Frequenz

421

Abb. 6.64: Rißfortschrittswirksame Abschnitte des Beanspruchungsablaufs (dick ausgezogen) bei Schwingrißkorrosion (a) und bei Spannungsrißkorrosion (b); nach Schwalbe [1003]

Rißfortschritt bei Schwingrißkorrosion Unter Schwingrißkorrosion (auch Korrosionsermüdung, corrosion fatigue) wird der beschleunigte zyklische Rißfortschritt unter der elektrochemischen Wirkung des korrosiven Mediums an der Rißfront verstanden. Die über plastische Verformung gebildeten frischen Rißoberflächen sind zunächst ungeschützt dem Korrosionsangriff ausgesetzt, weil sich die Schutzschicht erst noch bilden muß (Repassivierung). Maßgebend für das Ausmaß des Korrosionsangriffs ist die Zeit, während der die Spannungsintensität anwächst, Abb. 6.64 (a). Im allgemeinen steigt die Rißfortschrittsrate mit erhöhter Werkstoffestigkeit oder erniedrigter Schwingfrequenz, Abb. 6.65. Die bei Schwingrißkorrosion gelegentlich auftretenden erhöhten Schwellenwerte DK0 der zyklischen Spannungsintensität sind auf verstärktes Rißschließen, bedingt durch feste Korrosionsprodukte, zurückzuführen. Der Frequenzeinfluß (f ˆ 0,1–10 Hz) auf die Rißfortschrittsrate in Baustahl AISI 4340 unter Korrosion in feuchter Luft wurde von Pao et al. [1358] dokumentiert. Der vorliegende Partialdruck der Wassermoleküle (der Dampfdruck) ist dabei von entscheidender Bedeutung, wie an einer Aluminiumlegierung (etwa Typ 2618) nachgewiesen wurde (Bradshaw u. Wheeler [1352]). Für den martensitischen Stahl des Typs 12Ni5Cr3Mo bei niedriger Belastungsfrequenz (f ˆ 0,1 Hz) ergaben sich in Salzwasser (3 % NaCl) mit positiver Sägezahnkurve des Belastungsablaufs (Abb. 6.64 (a), erste Kurve von oben) dreimal so große Rißfortschrittsraten wie mit negativer Sägezahnkurve (Abb. 6.64 (a), zweite Kurve von oben) bzw. wie bei Beanspruchung an Luft (Barsom [1351]). Eine andere Untersuchung an unlegiertem Stahl (0,22 % C) ergab in ähnlicher Weise, daß die Rißfortschrittsrate in Salzwasser unter trapezförmigem Beanspruchungsablauf mit der Anstiegszeit der Beanspruchung zunimmt, während die Haltezeit bei der Oberlast keinen Einfluß hat (Atkinson u. Lindley [1349]).

422

6 Langrißbruchmechanik zur Ermüdungsfestigkeit

Abb. 6.65: Rißfortschrittsrate bei Schwingrißkorrosion als Funktion des zyklischen Spannungsintensitätsfaktors bei erhöhter Zugfestigkeit rZ bzw. Schwingfrequenz f (schematisch); Referenzkurve ohne Korrosion gestrichelt; nach Schwalbe [1003]

Rißfortschritt bei Spannungsrißkorrosion Unter Spannungsrißkorrosion wird der durch Korrosion und statische Zugspannung in Gang gehaltene Rißfortschritt verstanden (s. Kap. 3.9). Voraussetzung für Spannungsrißkorrosion ist, daß der Spannungsintensitätsfaktor KI den vom Werkstoff und korrodierenden Medium abhängigen Schwellenwert KIscc (stress corrosion cracking) übersteigt. Die Rißfortschrittsgeschwindigkeit da=dt (mit der Zeit t) kann in bestimmten Fällen näherungsweise dem Quadrat (oder einer höheren Potenz) des (statischen) Spannungsintensitätsfaktors proportional gesetzt werden, Abb. 6.66: da  Cscc KI2 dt

…KI  KIscc †

…6:108†

Bei ferritischen Stählen in Kochsalzlösung wird ein Plateauwert im Kurvenverlauf der Rißfortschrittsgeschwindigkeit beobachtet (s. Abb. 6.69 (a)). Die Zeitspanne DtB bis zum Bruch der Probe hängt außer von der Anfangsspannungsintensität KI i von der Probenform und Belastungsart ab, wie durch die Versuchsergebnisse in Abb. 6.67 (DtB horizontal zu KI i aufgetragen) bestätigt wird. Maßgebend für das Ausmaß des Korrosionsangriffs bei schwingender Beanspruchung ist die Zeitspanne, in der die Spannungsintensität den Schwellenwert KIscc übersteigt (s. Abb. 6.64 (b)). Die Rißfortschrittsgeschwindigkeit da=dt sollte demnach weitgehend frequenzunabhängig sein. Sie ist es jedoch nicht, weil der korrosive Angriff nicht sofort, sondern erst nach kurzer Inkubationszeit einsetzt. Aus gleichem Grund ist auch KIscc frequenzabhängig.

6.11 Einfluß der Korrosion, Temperatur und Frequenz

423

Abb. 6.66: Rißfortschrittsgeschwindigkeit in Messing bei Spannungsrißkorrosion als Funktion des (statischen) Spannungsintensitätsfaktors; nach McEvily u. Bond [1357]

Abb. 6.67: Zeitspanne bis Bruch bei Spannungsrißkorrosion in Stahl bei unterschiedlichen Proben (ZI: Zugprobe mit Innenriß; ZA: Zugprobe mit Außenriß; BA: Biegeprobe mit Außenriß) als Funktion des Anfangsspannungsintensitätsfaktors; Probenbelastung während des Versuchs konstant; nach Brown u. Beachem [1353] in erweiterter Darstellung von Heckel [999]

424

6 Langrißbruchmechanik zur Ermüdungsfestigkeit

Schwingrißfortschritt mit überlagerter Spannungsrißkorrosion Schwingrißfortschritt mit überlagerter Spannungsrißkorrosion ist an folgende Voraussetzungen geknüpft (Speidel [1361]): – die betrachtete Kombination von Werkstoff und Umgebungsmedium neigt zur Spannungsrißkorrosion, – der Rißfortschritt je Schwingspiel mit überlagerter Spannungsrißkorrosion ist größer als jener ohne die Überlagerung, – die Schwingbreite DK des Spannungsintensitätsfaktors überschreitet mit ihrem Oberwert Ko den kritischen Wert KIscc . Der Rißfortschritt wird durch Spannungsrißkorrosion beschleunigt (auch bei diesbezüglich unempfindlichem Werkstoff), jedoch nur in einem Teilbereich der in inerter Umgebung ermittelten Rißfortschrittskurve, Abb. 6.68. Die Annäherung erfolgt um so früher, je höher die Schwingfrequenz ist. Der Anteil der Spannungsrißkorrosion wird bei Wirkung eines kathodischen Potentials verstärkt. Die frequenzabhängigen Plateaus der Rißfortschrittskurven kennzeichnen einen Zustand, bei dem der Anteil der Spannungsrißkorrosion gegenüber dem der Ermüdung zunehmend zurückbleibt (zu erklären aus der Inkubationszeit der Spannungsrißkorrosion). Nach dem Superpositionsmodell von Wei u. Landes [1364] setzt sich die Rißfortschrittsrate additiv aus dem Anteil der Ermüdung in inerter Umgebung und dem der Spannungsrißkorrosion zusammen. In Erweiterung des Modells

Abb. 6.68: Rißfortschritt bei Spannungsrißkorrosion, Rißfortschrittsrate bei Überlagerung von Schwingbeanspruchung und Spannungsrißkorrosion; unterschiedliche Schwingfrequenzen f1 bis f4 ; niedriglegierter Stahl in Kochsalzlösung; nach Vosikovsky [1363]

6.11 Einfluß der Korrosion, Temperatur und Frequenz

425

Abb. 6.69: Rißfortschritt bei Spannungsrißkorrosion (schematisch): Rißfortschrittsgeschwindigkeit bei Korrosion ohne Schwingbeanspruchung (a), Rißfortschrittsrate bei konkurrierender Überlagerung von Korrosion und Schwingbeanspruchung (b), Einfluß des Spannungsintensitätsverhältnisses R bei bestimmter Frequenz (c); nach Austen u. Walker [1350]

schlagen Wei u. Simmons [1366] vor, die Anteile der rein mechanischen Ermüdung, der eigentlichen Korrosionsermüdung und der Spannungsrißkorrosion zur Rißfortschrittsrate aufzusummieren. Die Korrosionsermüdung wird auf Versprödung durch atomaren Wasserstoff zurückgeführt, der bei der Reaktion wasserstoffhaltiger Gase (z. B. Wasserdampf) mit den frisch gebildeten Oberflächen des Ermüdungsrisses entsteht. Nach dem Superpositionsmodell nach Austen und Walker [1350] werden Ermüdungs- und Korrosionsanteil konkurrierend eingeführt, d. h. der jeweils schnellere Vorgang setzt sich nach diesem Konzept durch. Das Modell bezieht sich auf eine Rißfortschrittskurve mit einem einzigen Plateauwert …da=dt†p für K > Kp , Abb. 6.69 (a). Mit der konservativen Näherungsannahme:     da 1 da ˆ …6:109† dN p f dt p ergeben sich je nach Frequenz f unterschiedliche Plateauwerte …da=dN†p , Abb. 6.69 (b). Aus der Bedingung für Spannungsrißkorrosion, Ko  KIscc folgt der Schwellenwert der Schwingbreite: …DKI †scc ˆ …1

R† KIscc

…6:110†

und daraus schließlich die vom Spannungsintensitätsverhältnis R abhängige Horizontalverschiebung der Rißfortschrittskurve mit frequenzabhängigem Plateauwert, Abb. 6.69 (c).

426

6 Langrißbruchmechanik zur Ermüdungsfestigkeit

Temperatur- und Frequenzeinfluß ohne Korrosion Bei hinreichend tiefer Temperatur und hinreichend hoher Beanspruchungsfrequenz ändert sich die Rißfortschrittsrate im Bereich II mittlerer zyklischer Spannungsintensität relativ wenig, wenn die genannten Größen verändert wer-

Abb. 6.70: Rißfortschrittsrate ohne zeitabhängige Vorgänge als Funktion des zyklischen Spannungsintensitätsfaktors bei erhöhter Temperatur; schematische Darstellung basierend auf publizierten Versuchsergebnissen; nach Schwalbe [1003]

Abb. 6.71: Rißfortschrittsrate bei erhöhter Temperatur für lösungsgeglühten austenitischen Stahl als Funktion des zyklischen Spannungsintensitätsfaktors bei unterschiedlichen Schwingfrequenzen f ; nach James [1121] in [1003]

6.11 Einfluß der Korrosion, Temperatur und Frequenz

427

den. Meist wird eine leichte Zunahme der Rißfortschrittsrate mit zunehmender Temperatur und mit abnehmender Frequenz beobachtet [1003, 1149]. Der Temperatureinfluß kann auf die Temperaturabhängigkeit von Elastizitätsmodul und Fließgrenze sowie auf die ebenfalls temperaturabhängigen Umgebungseinflüsse zurückgeführt werden. Er kann im Bereich des Schwellenwertes DK0 und des kritischen Wertes …DK†c ausgeprägter sein, Abb. 6.70. Die temperaturbedingte Abminderung von Kc bzw. KIc führt insgesamt zu einer Verkürzung der Gesamtlebensdauer. Der Frequenzeinfluß ist bei niedriger Temperatur gering, kann jedoch bei hoher Temperatur bedeutsam sein, Abb. 6.71. Bei hinreichend hohen Temperaturen und hinreichend niedrigen Frequenzen, die vom Werkstoff und von der Umgebung abhängen, nimmt die Rißfortschrittsrate stark zu, Abb. 6.72. Dies wird durch zeitabhängige Vorgänge, insbesondere durch Kriechvorgänge verursacht, die sich den Ermüdungsvorgängen

Abb. 6.72: Rißfortschrittsrate als Funktion der Temperatur und Schwingfrequenz (schematisch), Überhöhung der Fortschrittsrate durch Kriechen bei hoher Temperatur und niedriger Frequenz; nach Schwalbe [1003]

Abb. 6.73: Additive Überlagerung der Rißfortschrittsgeschwindigkeiten bei Ermüdung (frequenzabhängig) und Kriechen (frequenzunabhängig) bei vorgegebenem oberem Spannungsintensitätsfaktor; schematische Darstellung

428

6 Langrißbruchmechanik zur Ermüdungsfestigkeit

überlagern, Abb. 6.73. Für die Überlagerung der Rißfortschrittsgeschwindigkeiten gilt näherungsweise ein additives Gesetz. Nur bei kleiner (oberer) Spannungsintensität ist der Kriechanteil verschwindend klein. Bei Umrechnung auf die Rißfortschrittsrate da=dN tritt der Kriechanteil frequenzabhängig in Erscheinung, während der Ermüdungsanteil frequenzunabhängig auftritt (in vorstehender schematischer Dartellung). Hinsichtlich weiterer Details wird auf das Schrifttum [74, 1367–1376] verwiesen.

6.12

Einfluß der nichteinstufigen Belastung

Reihenfolgeeinfluß der Lastamplituden Das vorstehend dargestellte Rißfortschrittsverhalten bei einstufiger Belastung (Lastamplitude und Lastmittelwert sind konstant) unterscheidet sich von jenem bei nichteinstufiger, deterministischer oder stochastischer Betriebsbelastung (Lastamplitude oder Lastmittelwert sind veränderlich). Die aus den Momentanwerten DK und R nach den bisher angegebenen Rißfortschrittsgleichungen berechenbaren Rißlängeninkremente sind im Falle der nichteinstufigen Betriebsbelastung im allgemeinen zu groß (damit allerdings auf der sicheren Seite), gelegentlich jedoch zu klein (und damit auf der unsicheren Seite). Ursache dafür ist die Tatsache, daß der Rißfortschritt bei nichteinstufiger Belastung außer von den Momentanwerten DK und R auch von der Belastungsvorgeschichte abhängt, insbesondere von Anzahl, Höhe und Reihenfolge der unmittelbar vorangegangenen Lastamplituden (Reihenfolgeeinfluß, Interaktionseffekt; s. a. Kap. 5.3). Gegenüber einstufiger Belastung tritt beim Langriß vielfach Rißfortschrittsverzögerung, gelegentlich aber auch Rißfortschrittsbeschleunigung auf, Abb. 6.74. Die Verzögerung durch eine Zugspitzenlast wird durch eine darauffolgende Druckspitzenlast weitgehend abgebaut, Abb. 6.75. Zur Klärung des Reihenfolgeeinflusses dienen systematische Untersuchungen mit typischen Reihenfolgen der Lastamplituden bzw. Lastmittelwerte (kurz „Lastfolgen“), beispielsweise: – Abläufe konstanter Lastamplitude und Mittellast mit einmalig oder mehrmalig eingestreuten Spitzenlasten. – Übergang von einem Lastablauf mit hoher Amplitude zu einem solchen mit niedriger Amplitude (oder umgekehrt) bei konstanter Mittellast, Unterlast oder Oberlast. – Übergang von einem Lastablauf mit hoher Mittellast zu einem solchen mit niedriger Mittellast (oder umgekehrt) bei konstanter Lastamplitude. Die nachfolgende Darstellung des Reihenfolgeeffekts beim Langriß fußt auf der systematischen Übersicht von Schwalbe [1003], ergänzt durch neuere Untersuchungsergebnisse [1294–1348] sowie die Übersichten von Schijve [53] und Skorupa [1340].

6.12 Einfluß der nichteinstufigen Belastung

429

Abb. 6.74: Verzögerter bzw. beschleunigter Rißfortschritt als Folge von unterschiedlichen Lastfolgen; nach Führing [1311]

Abb. 6.75: Rißlänge als Funktion der Schwingspielzahl, Verzögerung des Rißfortschritts durch eine eingestreute Zugspitzenlast mit oder ohne darauffolgende Druckspitzenlast; nach Schijve [1329]

Eingestreute Spitzenlasten Eine in Einstufenbelastung einmalig eingestreute (Zug-)Spitzenlast bewirkt eine Verzögerung des Rißfortschritts, die meist allmählich einsetzt, einen Extremwert erreicht (delayed retardation) und danach wieder aufhört, wobei die ursprüngliche Rißfortschrittsrate zurückkehrt, Abb. 6.76. Der Gewinn an

430

6 Langrißbruchmechanik zur Ermüdungsfestigkeit

Abb. 6.76: Verzögerung des Rißfortschritts nach eingestreuter Zugspitzenlast: Rißlänge als Funktion der Schwingspielzahl (a) und Rißfortschrittsrate als Funktion der Rißlänge (b), Verzögerung und Wiederbeschleunigung innerhalb der Übergangslänge Da, Lebensdauergewinn DN ; nach Schwalbe [1003]

Abb. 6.77: Kennwerte der Rißfrontbeanspruchung bei einstufiger zyklischer Grundbelastung mit eingestreuter Spitzenlast (ohne Rißschließeffekt); nach Schwalbe [1003]

Lebensdauer beträgt DN  Schwingspiele. Der Riß vergrößert sich währenddessen um die Übergangslänge Da. Die Rißfortschrittsrate erreicht ein Minimum bei Da=4. Maßgebend für das Ausmaß der Lebensdauerverlängerung ist die Höhe der Spitzenlast relativ zu den Kennwerten der zyklischen Grundbelastung, ausgedrückt durch die Spannungsintensitätsverhältnisse Rmax und Smax , Abb. 6.77. Letztere kennzeichnen zusammen mit DK und R ˆ Ku =Ko den Lastablauf mit Spitzenlast (nur drei der genannten vier Größen sind voneinander unabhängig): Rmax ˆ

Ku Kmax

…6:111†

Smax ˆ

Kmax Ko

…6:112†

Die Lebensdauerverlängerung ist um so ausgeprägter, je größer Smax bei vorgegebenem Rmax oder auch je größer Rmax bei vorgegebenem Smax ist. Der Effekt tritt nur nach einer Zugspitzenlast, nicht nach einer Druckspitzenlast ein. Aus-

6.12 Einfluß der nichteinstufigen Belastung

431

Abb. 6.78: Lebensdaueränderung als Funktion des (negativen) Spannungsintensitätsverhältnisses R der Grundbelastung (a) für in unterschiedlicher Weise eingestreute Spitzenlasten (Z Zug, DZ Druck-Zug, ZD Zug-Druck, D Druck) (b); Aluminiumlegierung, NB Lebensdauer mit Spitzenlast, NB Lebensdauer ohne Spitzenlast; nach Stephens et al. [1341]

schlaggebend ist das Vorzeichen der Spitzenlast unmittelbar vor Rückkehr in die Grundbelastung, Abb. 6.78. Die Lebensdauer kann demnach durch (Zug-) Überlastung wesentlich gesteigert werden. Im günstigsten Fall wird der Riß zum Stillstand gebracht (s. a. [1295, 1298, 1317, 1319, 1320]). Die Verlängerung der Lebensdauer ist um so größer, je niedriger die Fließgrenze des Werkstoffs ist, weil die Größe der plastischen Zone an der Rißspitze für die Übergangslänge Da maßgebend ist (Petrak [1140]). Die Verzögerung des Rißfortschritts tritt daher auch verstärkt auf, wenn die Probendicke abnimmt, also anstelle des ebenen Dehnungszustands zunehmend der ebene Spannungszustand in Erscheinung tritt (Mills u. Hertzberg [1136]). Eine einmalig auftretende Druckspitzenlast bewirkt eine Beschleunigung des Rißfortschritts, die im Gegensatz zum entsprechenden Verzögerungseffekt sofort einsetzt. Die lebensdauerverlängernde Wirkung einer zweiten (Zug-)Spitzenlast nach Aufbringung einer ersten (Zug-)Spitzenlast hängt von deren Abstand relativ zur Rißfortschrittsstrecke ab. Die Wirkung der zweiten Spitzenlast ist am größten, wenn diese nach einer Rißfortschrittsstrecke von Da=4 auftritt. Die kombinierte Wirkung von erster und zweiter Spitzenlast ist andererseits am größten, wenn die zweite Spitzenlast nach einer Rißfortschrittsstrecke zwischen Da=4 und Da aufgebracht wird. Weiter auseinanderliegende Spitzenlasten beeinflussen sich kaum noch gegenseitig. Regelmäßig wiederholte Spitzenlasten erzielen im Abstand Da=4 ihre größte rißfortschrittsverzögernde Wirkung. Eine der Zugspitzenlast unmittelbar folgende Druckspitzenlast verringert die Wirkung, während eine im Abstand Da=4 aufgebrachte Druckspitzenlast nahezu wirkungslos bleibt (s. a. [1343]).

432

6 Langrißbruchmechanik zur Ermüdungsfestigkeit

Übergang zwischen Lastblöcken Beim Übergang von einem Lastblock mit hoher Last auf einen solchen mit niedriger Last (bzw. Spannungsintensität) tritt Rißfortschrittsverzögerung ebenso wie nach Aufbringen einer einmaligen (Zug-)Spitzenlast auf. Anschließend stellt sich die Rißfortschrittsrate der niedrigeren Last ein, Abb. 6.79. Die Rißfortschrittsstrecke Da, auf der Verzögerung auftritt, entspricht der Ausdehnung der plastischen Zone bei der vorausgegangenen höheren Last (xpl proportional K12 max =r2F ). Bei Da=4 tritt das Minimum der Rißfortschrittsrate auf. Beim Übergang von einem Lastblock mit niedriger Last auf einen solchen mit hoher Last (bzw. Spannungsintensität) tritt dagegen Rißfortschrittbeschleunigung ebenso wie nach Auftreten einer einmaligen Druckspitzenlast auf. Anschließend stellt sich die Rißfortschrittsrate der höheren Last ein, Abb. 6.80. Die Beschleunigung tritt im Gegensatz zur Verzögerung sofort auf.

Abb. 6.79: Rißfortschrittsrate als Funktion der Rißlänge (a) beim Übergang von hoher zu niedriger zyklischer Belastung (b) (drei Arten von Stufensprüngen), Übergangslänge Da proportional zur Ausdehnung der plastischen Zone xpl aus K1 max ; nach Schwalbe [1003]

Abb. 6.80: Rißfortschrittsrate als Funktion der Rißlänge (a) beim Übergang von niedriger zu hoher zyklischer Belastung (b) (drei Arten von Stufensprüngen), Übergangslänge Da proportional zur Ausdehnung der plastischen Zone xpl aus K2 max ; nach Schwalbe [1003]

6.12 Einfluß der nichteinstufigen Belastung

433

Die Aufeinanderfolge der Lastblöcke mit hoher und niedriger Last (oder umgekehrt) schließt drei unterschiedliche Kombinationen ein: die Veränderung der Oberlast bei konstanter Unterlast, die Veränderung der Oberlast bei konstanter Mittellast und die Veränderung der Mittellast bei konstanter Lastamplitude. Komplexere Lastfolgen Werden mehrere (Zug-)Spitzenlasten zusammenhängend (also als Spitzenlastblock) in den Grundlastblock eingestreut, so tritt verstärkt Rißfortschrittsverzögerung auf. Diese erreicht bald einen Grenzwert, von dem an die Spitzenlasten selbst den Rißfortschritt beschleunigen und dadurch den Verzögerungseffekt rückgängig machen. Auch für den Abstand von Spitzenlastblöcken gibt es einen von der Spitzenlastzahl pro Block abhängigen Optimalwert, bei dem die Rißfortschrittsverzögerung insgesamt größtmöglich ausfällt. Bei komplexeren Lastfolgen sind die Verzögerungs- und Beschleunigungseffekte schwer abzuschätzen (Schijve et al. [1329–1336]). Bei identischem Lastkollektiv ist die Lebensdauer einer Probe mit Anriß bei Random-Belastung im allgemeinen kleiner als bei entsprechender Blockprogrammbelastung (s. Kap. 5.3). Auf die Lebensdauer bei Blockprogrammbelastung hat die Länge der Teilfolgen und das gestufte Ansteigen oder Abfallen der Lastamplituden in den Teilfolgen einen Einfluß. Ein typisches Versuchsergebnis an Aluminiumproben mit Anriß zeigt Abb. 6.81. Im Blockprogrammversuch werden höhere

Abb. 6.81: Lebensdauer von Aluminiumproben mit Anriß (a0 ˆ 12 mm, ac ˆ 50 mm) bei Blockprogrammbelastung mit unterschiedlichem Teilfolgenumfang und Teilfolgenablauf (Böenkollektiv), vergleichsweise Random-Belastung mit Zug-Druck- gegenüber Druck-ZugSchwingspielen; nach Schijve [1330]

434

6 Langrißbruchmechanik zur Ermüdungsfestigkeit

Lebensdauerwerte ermittelt als im Random-Versuch. Der Unterschied ist aber nur bei großem Teilfolgenumfang erheblich. Die Teilfolgen mit abfallenden Amplituden weisen die höchsten Lebensdauerwerte auf. Die entgegengesetzte Wirkung ansteigender und abfallender Amplituden wurde auch durch Auswertung der Breite der Rißfortschrittsbänder auf der Bruchfläche am hochfesten Stahl D6AC nachgewiesen (Ryan [1327]). Ein ausgeprägter Effekt der Probendicke auf die Lebensdauer wurde für die Aluminiumlegierung 7075-T6 unter einem Lastkollektiv von Flugmanövern festgestellt (Saff u. Holloway [1328]). Die Lebensdauer der dünnen Proben (t ˆ 0,5 mm) war bis zu zehn mal so groß wie die der dicken Proben (t ˆ 12,7 mm). Der Effekt des Abschneidens der seltenen hohen Beanspruchungsamplituden im Kollektiv (truncation) auf die Lebensdauer angerissener Teile ist von Schijve et al. [1330, 1332, 1334, 1336] im Hinblick auf Fluglastsimulationen eingehend untersucht worden. Random-Lastfolgen Bei idealer Random-Belastung ist ein Reihenfolgeeffekt auf die mittlere Rißfortschrittsrate nicht gegeben, weil die Regellosigkeit des Vorgangs eine definierte Reihenfolge ausschließt. Die Beschleunigungen und Verzögerungen des Rißfortschritts treten dennoch auf und heben sich im allgemeinen nicht wechselseitig auf (Elber [1308]). Es kann daher nicht ohne weiteres vom Rißfortschritt bei Einstufenbelastung auf den Rißfortschritt bei Random-Belastung geschlossen werden. Dennoch erlaubt die Random-Belastung eine der Einstufenbelastung analoge Darstellung der Versuchsergebnisse. Bei Random-Belastung ergibt sich im Sonderfall der Gauß-Normalverteilung m oder Mittelspannungsmit konstanter Mittellast Pm (bzw. Mittelspannung r intensität Km ) ähnlich wie bei einstufiger Belastung ein Bereich stabilen Rißfortschritts mit einheitlichem linearem Anstieg von da=dN über DK in doppelt zyklischem logarithmischer Auftragung, Abb. 6.82 (mit Kollektivumfang N, Beanspruchungshöchstwert D r des Kollektivs, zugehörigem Spannungs verhältnis R und gemittelter Rißfortschrittsrate da=dN): da  K†  m ˆ C…D dN

…6:113†

p DK ˆ D r pa Y

…6:114†

Sofern von der Gauß-Normalverteilung oder Mittellastkonstanz abgewichen wird, geht der lineare und einheitliche Kurvenverlauf verloren. Die gemittelte Rißfortschrittsrate bei Random-Belastung kann auch über den quadratischen Mittelwert (root mean square) DKrms der zyklischen Spannungsintensität mit vorstehender Einschränkung zutreffend beschrieben werden (Barsom [1296]):

6.12 Einfluß der nichteinstufigen Belastung

435

Abb. 6.82: Rißfortschrittsrate bei Random-Belastung (Gauß-Normalverteilung mit Kollektivumfang N und Kollektivhöchstwert DK bei konstanter Mittellast, R ˆ 0); nach Buxbaum [19]

0 da ˆ C 0 …DKrms †m dN

…6:115†

Die Berechnung der Rißfortschrittsrate bei Random-Belastung ausgehend von der Rißfortschrittsgleichung bei Einstufenbelastung ist über eine äquivalente Rißschließspannung möglich, die von der Wahrscheinlichkeitsdichtefunktion der Lastspitzen, vom Werkstoff und von der Probengeometrie abhängt (Dominguez et al. [1305]). Veränderliche Mittellast oder ein Abweichen von der Gauß-Normalverteilung schließen die Anwendung der vorstehenden Random-Konzepte aus. Der Reihenfolgeeinfluß muß in diesen Fällen mitberücksichtigt werden. Überlagerung von Temperatur- und Lastfolge Erhöhte Temperatur kann sich je nach Zuordnung von Temperatur- und Lastfolge sehr unterschiedlich auf die Rißfortschrittsverzögerung nach einer einmalig eingestreuten Spitzenlast auswirken, wie am Beispiel einer Titanlegierung gezeigt wird, Abb. 6.83. Einerseits vergrößert sich die plastische Zone an der Rißspitze durch ein temperaturbedingtes Verringern der Fließgrenze, andererseits werden die Eigenspannungen an der Rißspitze stärker abgebaut. Die geringste Rißfortschrittsverzögerung (kleiner als im Versuch bei Raumtemperatur, mittlerer Balken) tritt auf, wenn unmittelbar nach der Spitzenlast die Tempera-

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6 Langrißbruchmechanik zur Ermüdungsfestigkeit

Abb. 6.83: Rißfortschrittsverzögerung in einer Titanlegierung durch (Zug-)Spitzenlast: unterschiedliche Zuordnung von Temperatur- und Lastfolge (a) und zugehöriger (relativer) Lebensdauergewinn (b); nach Shih u. Wei [1338] in [1003]

tur erhöht und bei dieser Temperatur weiter belastet wird (bedingt durch die relativ kleine plastische Zone bei Spitzenlast und die starke Relaxation). Die stärkste Rißfortschrittsverzögerung stellt sich ein, wenn die Spitzenlast bei hoher Temperatur und die zyklische Grundlast bei Raumtemperatur aufgebracht werden (bedingt durch die relativ große plastische Zone und die geringe Relaxation). Mechanismen des Reihenfolgeeinflusses Die Verzögerungs- und Beschleunigungseffekte beim Rißfortschritt lassen sich aus dem Einfluß der Lastfolge auf das Rißschließverhalten, auf die Eigenspannungen an der Rißspitze und auf die zyklische Verfestigung oder Entfestigung in diesem Bereich deuten. Zur Erklärung des Reihenfolgeeffekts ist die Erkenntnis wesentlich, daß sich Risse nach Zugbeanspruchung schließen können, noch bevor die Beanspruchung auf null zurückgegangen ist (Elber [1196, 1197]). Für die hier betrachtete Art des Rißschließens ist die plastische Aufdikkung der Rißflanken unmittelbar hinter der Rißspitze (im „Kielwasser“ der fortschreitenden Rißfront) maßgebend, die sich zusammen mit typischen Druckeigenspannungen an der Rißspitze einstellt. Bei einem ansteigenden Stufensprung der Lastamplitude bei R ˆ 0 bleibt der Riß zunächst länger offen, als es der erhöhten Last im eingeschwungenen Zu-

6.12 Einfluß der nichteinstufigen Belastung

437

Abb. 6.84: Rißschließbeanspruchung nach ansteigendem bzw. abfallendem Stufensprung der Beanspruchungsschwingbreite (a) und zugehörige Veränderung der Rißfortschrittsrate (b), Zeitachse und Rißlängenachse auf gleichliegende Sprungstellen skaliert; nach Schwalbe [1003]

stand entspricht, bei einem abfallenden Stufensprung tritt der entgegengesetzte Effekt auf, Abb. 6.84. Der neue Wert DKeff stellt sich jeweils erst allmählich ein. Daraus erklärt sich eine unmittelbare Über- bzw. Unterschreitung der stationären Werte der Rißfortschrittsrate. Maßgebend für den über das Rißschließen wirksamen Reihenfolgeeffekt ist in erster Näherung die Aufeinanderfolge der plastischen Zonen an der Rißspitze. Es wird daher deren Ausbildung bei Be- und Entlastung in Anlehnung an Rice [1087] näher betrachtet, Abb. 6.85. Bei Belastung bis auf Kmax ergibt sich die Länge der plastischen Zone in Fortsetzung des Risses nach dem DugdaleModell zu:   p Kmax 2 …6:116† xpl ˆ 8 rF Bei Entlastung auf null durch eine entgegengerichtet gleich große Last ist an der Rißspitze eine Spannung gleich der zweifachen Fließgrenze aufzubringen, Dr ˆ 2rF , um die plastische Druckzone innerhalb der plastischen Zugzone zu bilden (elastisch-idealplastischer Werkstoff ohne Bauschinger-Effekt vorausgesetzt). Die Länge der plastischen Umkehrzone ist somit: xpl ˆ

  p Kmax 2 8 2rF

…6:117†

Demnach ist xpl ˆ xpl=4. Nach Finite-Elemente-Berechnungen wird allerdings eine wesentlich kleinere Länge lpl vorausgesagt (McClung [1269]). Die Näherung nach dem Fließstreifenmodell von Dugdale wurde von Budiansky u. Hutchinson [1192] um die plastische Verformungsschicht auf den Rißflanken erweitert, um den Rißschließeffekt zu erklären.

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6 Langrißbruchmechanik zur Ermüdungsfestigkeit

Abb. 6.85: Eigenspannung rE an Rißspitze nach Entlastung von Spitzenlast mit Lastspannung rL (a) und dadurch hervorgerufene Verzögerung des Rißfortschritts bei zyklischer Grundlast (b); nach Schwalbe [1003]

In Abb. 6.85 (a) sind die vorstehend angenäherten plastischen Zonen und Spannungen veranschaulicht, wobei der Rißschließdruck ergänzt ist. Es ist die Wirkung einer einmaligen Spitzenlast ohne Berücksichtigung der Grundlasteffekte dargestellt. In Abb. 6.85 (b) ist die Rißfortschrittsrate bei konstanter zyklischer Grundlast nach einer einmaligen Spitzenlast aufgetragen, wobei sich die Rißspitze durch die plastischen Zonen bewegt. Die vorstehenden Betrachtungen ebenso wie die nachfolgenden Berechnungsmodelle gehen vom ebenen Spannungszustand dünner Proben mit entsprechend großer plastischer Zone aus. Tatsächlich liegt in dickeren Proben der ebene Spannungszustand nur an der Probenoberfläche vor, während im Probeninnern an der Rißfront der ebene Dehnungszustand angenähert wird. Somit ist zu erwarten, daß nur an der Probenoberfläche ein ausgeprägter Rißschließeffekt auftritt, der zum Probeninnern hin abnimmt. Dies wird sowohl durch experimentelle Untersuchungen (Grandt [1199], Sunder u. Dash [1233] und McEvily [1214]) als auch durch Berechnungen nach dreidimensionalen Finite-ElementeModellen (Chermahini et al. [1250–1252]) als zutreffend nachgewiesen. Die tatsächlichen Verhältnisse sind demnach komplexer als es nach den vereinfachten zweidimensionalen Betrachtungen erscheinen mag. Eine weitere Ursache für die Verzögerung des Rißfortschritts können unterschiedliche Rißvergrößerungsmoden bei großen und kleinen Lastamplituden sein. Bei großen Amplituden bilden sich in vielen Werkstoffen Scherlippen, während dies bei kleinen Amplituden nicht der Fall ist. Somit gibt es sowohl beim Übergang von großer zu kleiner Amplitude als auch beim umgekehrten Übergang eine Rißfortschrittsverzögerung, die durch die notwendige Neuausrichtung der Rißfront (ohne Rißfortschritt) verursacht wird. Dies wurde von Schijve [53, 1331] an der Aluminiumlegierung 2024-T3 und von Stubbington u. Gunn [1342] an der Titanlegierung Ti6Al4V nachgewiesen.

6.12 Einfluß der nichteinstufigen Belastung

439

Die Erkenntnisse zu den Mechanismen des Reihenfolgeeinflusses ermöglichen in bescheidenem Umfang die rechnerische Modellierung des Vorgangs, soweit er durch plastisch bedingtes Rißschließen gesteuert wird. Es gibt eine ganze Reihe solcher Modelle, deren programmierte rechnerische Durchführung dadurch gekennzeichnet ist, daß der Rißfortschritt schwingspielweise bestimmt und zur Lebensdauer aufsummiert wird. Die Rißlänge a nach N Schwingspielen ergibt sich ausgehend von der Anfangsrißlänge a0 (Parameter Pi für den Reihenfolgeeffekt): a ˆ a0 ‡

N X

Dai

…Dai ˆ f …DKi ; Ri ; Pi ††

…6:118†

iˆ1

Die Durchführung der Berechnung ist aufwendig und daher gegenüber rein experimentellen Vorgehensweisen nicht ohne weiteres gerechtfertigt.

Modelle mit plastischer Zone Die Modelle auf Basis der plastischen Zone an der Rißspitze wurden mit der Zielsetzung entwickelt, die durch eingestreute Spitzenlasten verursachte Rißfortschrittsverzögerung zu quantifizieren. Der seinerzeit noch nicht hinreichend beachtete Rißschließeffekt wurde dabei nur indirekt berücksichtigt. Diese Modelle entsprechen daher nicht mehr dem heutigen Stand der Kenntnisse, was aber nichts über ihre Eignung für die Praxis aussagt. Die Programme wurden besonders mit den an Flugzeugen im Flug und am Boden auftretenden Lastfolgen eingesetzt. Bei dem Berechnungsmodell nach Wheeler [1346] (s. a. [1314]) wird die Rißfortschrittsverzögerung in der Rißfortschrittsgleichung (6.71) nach Forman durch einen Faktor Cp  1;0 erfaßt, der von der Größe der plastischen Zonen in den vorangegangenen Schwingspielen abhängt: Cp C 0 …DK†m da ˆ dN …1 R†Kc DK

…6:119†

Je nachdem, ob die (zug-)plastische Zone xi des betrachteten i-ten Schwingspiels in der von der vorangegangenen Spitzenlast herrührenden (zug-)plastischen Zone mit Ausdehnung x0 verbleibt oder darüber hinausreicht, Abb. 6.86, gilt:  p xi Cp ˆ …xi < …a0 ‡ x0 ai †† …6:120† a0 ‡ x0 ai Cp ˆ 1;0

…xi  …a0 ‡ x0

ai ††

…6:121†

Die Ausdehnung x ˆ 2rpl der plastischen Zonen ergibt sich nach (6.42) aus der jeweiligen Oberspannungsintensität Ko proportional zu …Ko =rF †2 (Ko ohne

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6 Langrißbruchmechanik zur Ermüdungsfestigkeit

Abb. 6.86: Rißlängen a0 und ai sowie Ausdehnungen x0 und xi der plastischen Zonen (kreisförmig schematisiert) bei Spitzenlast (Schwingspielindex 0) und bei Grundlast (Schwingspielindex i) zur Verwendung im Wheeler- und Willenborg-Modell

Berücksichtigung der Eigenspannungen infolge der Spitzenlast), wobei der Proportionalitätsfaktor von der Mehrachsigkeit der Beanspruchung (ebener Spannungs- oder ebener Dehnungszustand) und der Verfestigung des Werkstoffs an der Rißspitze abhängt …x  …1=p†…Ko =rF †2 †: Der Exponent p wird von Wheeler aus einem Blockprogrammversuch mit eingestreuten Zugspitzenlasten bestimmt. Nach dem Wheeler-Modell werden Rißstillstand, allmähliche Rißfortschrittsverzögerung nach einmaliger Spitzenlast, verstärkte Rißfortschrittsverzögerung nach mehrmaligen Spitzenlasten sowie Rißfortschrittsbeschleunigung nicht erfaßt. Bei dem Berechnungsmodell nach Willenborg et al. [1347] (s. a. [1309, 1337, 1345]) werden in die Rißfortschrittsgleichung effektive Werte für DK und R eingeführt, die schwingspielweise aus der jeweiligen Größe der plastischen Zone unter Berücksichtigung der Eigenspannungen infolge der Spitzenlast bestimmt werden. Rißstillstand kann auf diese Weise vorhergesagt werden, die übrigen zum Wheeler-Modell erwähnten Mängel sind jedoch nicht beseitigt. Das Berechnungsmodell nach Eidinoff u. Bell [1307] verwendet eine besondere Rißfortschrittsgleichung, die neben Rißfortschrittsverzögerung auch Rißfortschrittsbeschleunigung einschließt. Es werden insgesamt acht Werkstoffkennwerte benötigt, die aus Rißfortschrittsversuchen bei unterschiedlichen Lastfolgen zu bestimmen sind. Die Ergebnisse des aufwendigen Berechnungsverfahrens sind dennoch nicht hinreichend verallgemeinerbar. Modelle mit Rißschließen Fortschrittlichere Modelle zur Voraussage der Lebensdauer im Flugzeugbau stellen das plastisch bedingte Rißschließen in den Mittelpunkt. Aus der zyklenweise veränderlichen Rißöffnungsspannung ergibt sich die ermüdungswirksame Schwingbreite des Spannungsintensitätsfaktors DKeff , mit der die Paris-Gleichung ebenfalls zyklenweise integriert wird. Kern dieser Modelle ist demnach die Berücksichtigung des plastisch bedingten Rißschließens bei veränderlichen Beanspruchungsamplituden in Abhängigkeit des vorausgegangenen Beanspruchungsablaufs. Hervorgehoben sind dabei die positiven und negativen Spitzenlasten, die an der Rißspitze besonders starke plastische Verformungen bzw. Rückverformungen auslösen. Je nach Art der Berücksichtigung der vorausge-

6.12 Einfluß der nichteinstufigen Belastung

441

Abb. 6.87: Öffnungsprofile der Rißflanken bei zyklischem Rißfortschritt ausgehend von einem eigenspannungsfreien Anfangsriß (Rißlänge a0 ): Einschwingvorgang (a) und Entlastungsvorgang aus eingeschwungenem Zustand (b); Finite-Elemente-Berechnungsergebnisse, Rißverlängerung Da0 um Knotenpunktsabstand bei Erreichen der Oberlast (Knotenpunkte A bis E); nach Newman [1278]

gangenen Beanspruchungsamplituden wurden unterschiedliche Näherungsansätze verwirklicht (Baudin u. Robert [1297], de Koning [1299] und Aliaga et al. [1294]). Nur die sofort auftretende Rißfortschrittsverzögerung wird abgebildet, also nicht eine verspätet einsetzende Verzögerung (delayed retardation) und auch keine Rißfortschrittsbeschleunigung. Dagegen wird der Übergang vom ebenen Dehnungszustand zum ebenen Spannungszustand bei größerer Rißlänge in allen drei Ansätzen erfaßt. Ein umfassender Vergleich der Berechnungsergebnisse nach den genannten Modellansätzen mit Versuchsergebnissen wurde von Padmadinata [1326] durchgeführt. Die Lebensdauer bei einer typischen Lastfolge an Flugzeugen wurde für die Aluminiumlegierungen 2024-T3 und 7075-T6 ermittelt. Die Genauigkeit der Vorhersagen ist sehr zufriedenstellend. Gegenüber einer Berechnung ohne Berücksichtigung der Interaktionswirkung wird die Lebensdauer auf etwa den fünffachen Wert erhöht. Eine wesentliche Modellverbesserung ist durch elastisch-plastische Simulation des Rißschließens erreichbar. Das Rißschließen bei nichteinstufiger Belastung wurde erstmals von Newman [1278] mittels der Finite-Elemente-Methode kontinuumsmechanisch dargestellt. Bei zyklischem Rißfortschritt ändert sich das Öffnungsprofil der Rißflanken bedingt durch deren plastische Aufdickung, Abb. 6.87. Während des Entlastungsvorgangs treffen die aufgedickten Bereiche der Rißflanken vorzeitig aufeinander. Es baut sich eine unter Querdruck stehende Kontaktzone auf. Der Riß wird scheinbar kürzer. Bei R ˆ 0 und Dr1 ˆ 0;5rF (Grundspannungsschwingbreite) stellt sich die Rißöffnungsspannung rop ˆ Dr1 =2 ein. Das wird experimentell bestätigt. Finite-Elemente-Berechnungen der vorstehend beschriebenen Art sind bei vertretbarem Aufwand nur für eine begrenzte Zahl von Beanspruchungszyklen

442

6 Langrißbruchmechanik zur Ermüdungsfestigkeit

Abb. 6.88: Aufdickung der Rißflanken durch zyklische plastische Verformung beim Rißfortschritt: Belastung durch ein typisches Böenkollektiv mit Abbruch bei hoher Last (b) im Vergleich zur Einstufenbelastung (a), zugehörige Spannungen an der Rißspitze nach weitgehender bzw. vollständiger Entlastung (d, c) (mit plastisch vergrößerter Rißlänge ax ˆ a ‡ x und mit F ); nach Newman [1218, 1323] Ersatzfließspannung r

möglich. Alternativ kann das Fließstreifenmodell nach Dugdale [1077] verwendet werden, um die Länge der plastischen Zone und die plastische Dehnung quer zum Riß in dieser Zone effizienter auszudrücken. Da sich der Riß in die plastische Zone fortsetzt, wird eine plastisch verformte Schicht auf den Rißflanken erzeugt, die das vorzeitige Rißschließen verursacht (modifiziertes Dugdale-Modell, siehe Kap. 6.9). Die Diskretisierung in eindimensionale plastische Elemente auf den Rißflanken und in der plastischen Zone dient dazu, das Rißschließen nach einem iterativen Verfahren zu berechnen. Soweit bei komplexen Lastfolgen zyklenweise vorgegangen werden muß, ist der Berechnungsaufwand dennoch erheblich. Eine rechnerische Lösung für den Reihenfolgeeffekt bei nichteinstufiger Belastung erzielte Newman et al. [1218, 1323–1325, 1348] auf der Basis des modifizierten Dugdale-Modells, Abb. 6.88. Das Verschiebungs- und Aufdickungsprofil der Rißflanken bei größter Last ist dem bei einstufiger Belastung sehr ähnlich (s. Abb. 6.51). Kleine Unterschiede in diesen Profilen verursachen dennoch große Unterschiede in den Querspannungen ry an der Rißspitze bei kleinster Last. Besonders die Kontaktkräfte zwischen den Rißflanken sind anders verteilt. Die Kontaktfläche ist an einer Stelle ganz unterbrochen. Zwei überschaubare Berechnungsbeispiele für den Reihenfolgeeinfluß auf die Rißöffnungsspannung sind nachfolgend dargestellt. In Abb. 6.89 (a) ist die Riß-

6.12 Einfluß der nichteinstufigen Belastung

443

Abb. 6.89: Berechnete Rißöffnungsspannung als Funktion der Rißlänge: zweistufige Lastfolge gegenüber einstufiger Lastfolge mit eingestreuter Spitzenlast (a) und einstufige Lastfolge mit Druck-Zug-Spitzenlast gegenüber Zug-Druck-Spitzenlast ohne und mit negativer Unterlast (b); Ausdehnung xSp der plastischen Zone infolge Zugspitzenlast; nach Newman [1323]

öffnungsspannung als Funktion der Rißlänge bei zwei Lastfolgen gezeigt, die sich nur durch die Zahl der Schwingspiele in der höheren Laststufe unterscheiden. Bei der Einzelspitzenlast in der Lastfolge fällt die Rißöffnungsspannung zunächst infolge des Abstumpfens der Rißspitze abrupt ab, steigt jedoch anschließend steil an und erreicht ein Maximum etwa in der Mitte der durch die Spitzenlast hervorgerufenen plastischen Zone. Die Rißfortschrittsrate hat hier ein Minimum. Die Rißöffnungsspannung fällt anschließend wieder auf den stabilisierten Wert der einstufigen Belastung ab. Bei der zweistufigen Belastung mit entsprechendem Lastsprung fehlt der abrupte Abfall der Rißöffnungsspannung und das Maximum der Rißöffnungsspannung liegt höher. Der Verzögerungseffekt ist demnach viel ausgeprägter. In Abb. 6.89 (b) ist die Rißöffnungsspannung als Funktion der Rißlänge bei einstufiger Belastung mit einmaliger Druck-Zug- bzw. Zug-Druck-Einzelspitzenlast gezeigt. Die Druckspitzenlast vor der Zugspitzenlast erweist sich als wirkungslos hinsichtlich der darauffolgenden starken Erhöhung der Rißöffnungsspannung. Die Druckspitzenlast nach der Zugspitzenlast vermindert dagegen diese Erhöhung, ohne sie ganz zu unterdrücken. Die Berechnung des Rißfortschritts bei veränderlichem DKeff infolge veränderlicher Werte ro , ru oder rop erfolgt schwingspielweise ausgehend von (6.89). Im k-ten Schwingspiel wird die Rißverlängerung Dak ˆ …da=dN†k  1 verursacht. Der gesamte Rißfortschritt Da ergibt sich durch Aufsummieren der Einzelwerte Dak . Einen Vergleich berechneter und experimentell ermittelter Rißlängen bei mehrfacher Wiederholung einer bestimmten geblockten Teillastfolge zeigt Abb. 6.90 (unklar ist, warum die Kurvenstufen horizontal gegeneinander verschoben sind).

444

6 Langrißbruchmechanik zur Ermüdungsfestigkeit

Abb. 6.90: Rißlänge als Funktion der Schwingspielzahl für wiederholte Teillastfolgen mit den Schwingspielblöcken N ˆ 2500 ‡ 50 ‡ 50, Vergleich berechneter und gemessener Werte; nach Newman [1323]

Fließstreifenmodelle der beschriebenen Art zur zyklenweisen Simulation des Rißschließens bei veränderlichen Beanspruchungsamplituden sind auch von de Koning et al. [1299–1301, 1306], Dill u. Saff [1302–1304], Führing u. Seeger [1310–1313], Ibrahim et al. [1204] und Wang u. Blom [1344] entwickelt worden.

7 Kurzrißbruchmechanik zur Ermüdungsfestigkeit

7.1

Bedeutung des Kurzrißverhaltens

Praxisrelevanz des Kurzrißverhaltens Der typische Kurzriß ist ein etwa halbkreisförmiger Oberflächenriß. Den Kurzrissen werden die Rißgrößen unter etwa 0,5 mm Rißtiefe bzw. unter etwa 1 mm Rißlänge an der Oberfläche zugeordnet. Da mit praxisüblichen zerstörungsfreien Fehlerprüfverfahren nur Fehlergrößen über 0,5 mm sicher ermittelt werden, ist das Kurzrißverhalten im Hinblick auf Sicherheitsbetrachtungen, die auf derartigen Prüfergebnissen aufbauen, weitgehend bedeutungslos. Es hat dagegen große Bedeutung (vorerst mehr wissenschaftlich als praktisch) für die Abschätzung der Lebensdauer bis zum technischen Anriß von Bauteilen und Proben unter komplexen Form- und Beanspruchungsbedingungen. Dabei ist zu beachten, daß der technische Anriß in der Regel etwas größer als die Obergrenze des Kurzrisses definiert wird. Das Kurzrißverhalten umfaßt im Bereich der Dauerfestigkeit einen größeren Teil der Lebensdauer als im Bereich der Kurzzeitfestigkeit, Abb. 7.1. Dargestellt sind Dehnungs-Wöhler-Linien bzw. Lebensdauerlinien für Proben oder Bauteile mit unterschiedlicher Ausgangsrißgröße, wobei die Bereiche des elastisch, elastisch-plastisch und mikrostrukturell beschreibbaren Rißfortschritts unterschieden werden. Das Phänomen des Rißstillstands bei gleichbleibender zyklischer Beanspruchung spielt im Bereich der Dauerfestigkeit insbesondere bei scharfen Kerben in duktilen Werkstoffen eine Rolle. Offensichtlich sollten sich ingenieurmäßige Verbesserungsmaßnahmen, insbesondere im Bereich der Dauerfestigkeit, am Kurzrißverhalten orientieren. Eine wirklichkeitsnahe Berechnung der Lebensdauer sollte ebenfalls darauf aufbauen. Merkmale des Kurzrißverhaltens Neuerdings gelingt es, zumindest im Labor, durch verfeinerte Meßtechnik immer kürzere Anrisse aufzuspüren und ihren zyklischen Rißfortschritt zu verfolgen. Die Größe derartiger Anrisse liegt weit unterhalb der Kristallitgröße des

446

7 Kurzrißbruchmechanik zur Ermüdungsfestigkeit

Abb. 7.1: Dehnungs-Wöhler-Linien bzw. Dehnungslebensdauerlinien für Proben oder Bauteile mit unterschiedlicher Ausgangsrißgröße, „elast. Rißfortschritt“ bedeutet „elastisch beschreibbarer Rißfortschritt“ usw.; schematische Darstellung in Anlehnung an Nowack et al. [1479, 1480]

jeweiligen Werkstoffs. Damit ist die Voraussetzung der Homogenität des Werkstoffs verletzt, auf der die kontinuumsmechanisch begründete Bruchmechanik aufbaut. Die bruchmechanischen Kennwerte sind daher nicht ohne weiteres anwendbar. Unter Bezug auf derart kleine Anrisse ist die Aussage richtig, daß der überwiegende Teil der technischen Rißeinleitung bei Schwingbeanspruchung mit zyklischem Mikrorißwachstum gleichzusetzen ist. Die Einleitung des Kurzrisses an der Oberfläche von Gleitbändern oder Lüders-Bändern in einzelnen Kristalliten erfolgt im Rißbeanspruchungsmodus II, d. h. unter Schubbeanspruchung in der Rißebene (ausgenommen der Kurzzeitfestigkeitsbereich). Der eingeleitete Kurzriß kann zum Stillstand kommen oder nach einigen Kristalliten in die Ebene senkrecht zur (Haupt-)Zugbeanspruchung abknicken (Rißbeanspruchungsmodus I). Der sehr kurze Riß bleibt auch im Druckbereich des Beanspruchungszyklus (R < 0) geöffnet, d. h. Rißschließen tritt nicht auf. Das Rißstadium I der Kurzrißeinleitung und des frühen Kurzrißfortschritts unterscheidet sich somit grundsätzlich vom Rißstadium II des späteren Kurzrißfortschritts und anschließenden Langrißfortschritts, das durch intensivere Gleitbandbildung an der Rißfront und daraus folgende Rißschließeffekte gekennzeichnet ist, Abb. 7.2. Im späteren Kurzrißstadium können mehrere Einzelrisse zusammenwachsen. Dies ist insgesamt mit beschleunigtem Rißfortschritt verbunden. Der herkömmlichen elastischen und elastisch-plastischen Bruchmechanik langer Risse liegt die Annahme zugrunde, daß die plastische Zone bei der zyklischen Beanspruchung auf relativ kleine Bereiche an der Rißspitze beschränkt und die Ausrundung der Rißspitze relativ zur Rißlänge klein bleibt. Diese Voraussetzungen sind bei kurzen Rissen in duktilen Werkstoffen nicht erfüllt. Die

7.1 Bedeutung des Kurzrißverhaltens

447

Abb. 7.2: Rißstadien I und II: Kurzrißeinleitung und Kurzrißfortschritt (a) sowie Langrißfortschritt (b)

plastische Zone beginnt ausgehend von den Rißspitzen den gesamten Riß zu umhüllen, während sich die Rißspitze zunehmend ausrundet. Die kontinuumsmechanische Annahme homogenen Werkstoffs mit entsprechend stetigem Rißfortschritt kann dabei zunächst aufrecht erhalten werden. Bei noch kleinerer Rißlänge treten Mikrostruktureffekte in den Vordergrund. Korngrenzen, Phasengrenzen, Gefügeeinschlüsse, Poren, Mikrolunker und Oberflächenkerben wirken teils hemmend, teils fördernd auf den Rißfortschritt. Ähnliche Verhältnisse treten an der Rißfront langer Risse auf, wenn bei hinreichend niedriger Grundbeanspruchung die plastische Zone die Korngröße oder den Hindernisabstand im Gefüge nicht übersteigt. Es ist daher möglich, Kurzriß- und Langrißverhalten nach vorstehendem Kriterium (und nicht nach der Rißgröße) abzugrenzen, also Langrisse mit entsprechend niedrigem Spannungsintensitätsfaktor dem Kurzrißverhalten zuzuordnen. Das Kurzrißverhalten schließt dann jegliche Art von Rißfortschritt in der Nähe des Schwellenwerts des zyklischen Spannungsintensitätsfaktors ein. Nach heutigem Wissensstand widerspricht das aber den mikromechanischen Gegebenheiten. Der Schwellenwert des Kurzrisses beruht primär auf Gleitbandblockierung, der des Langrisses jedoch primär auf Rißschließen. Das anomale Verhalten kurzer Risse ist in Abb. 7.3 dargestellt. Der Kurzriß verzögert sich mit der Rißlänge bei Annäherung an mikrostrukturelle Hindernisse wie Korngrenzen oder Einschlüsse. Der Vorgang kann sich mehrfach wiederholen (stop and go). Der Langriß beschleunigt sich dagegen mit der Rißlänge ohne merklichen Einfluß der Hindernisse. Der Verlauf der Rißfortschrittsrate über der Rißlänge ist des weiteren beim Kurzriß und Langriß von der Grundbeanspruchungshöhe relativ zur Fließgrenze bzw. relativ zur Dauerfestigkeit abhängig. Die Grenze zwischen Kurzriß- und Langrißverhalten hängt dagegen von Werkstoffart und Werkstoffgefüge ab. Als Anhaltswert mag die Oberflächenrißlänge ao ˆ 1 mm betrachtet werden. Der Begriff des anomalen Kurzrißverhaltens wird gelegentlich auch anders gefaßt. Es kann darunter jegliches Kurzrißverhalten verstanden werden, das

448

7 Kurzrißbruchmechanik zur Ermüdungsfestigkeit

Abb. 7.3: Rißfortschrittsrate kurzer Risse und Übergang zur Rißfortschrittsrate langer Risse als Funktion der Rißlänge bei unterschiedlicher Höhe der zyklischen Beanspruchung; schematische Darstellung nach Kujawski u. Ellyin [1433]

Abb. 7.4: Rißfortschrittsrate kurzer Risse und Übergang zur Rißfortschrittsrate langer Risse als Funktion des zyklischen Spannungsintensitätsfaktors; Wirkung unterschiedlicher Einflußgrößen; schematische Darstellung nach Nowack et al. [1479, 1480]

sich nicht nach der linearelastischen Bruchmechanik beschreiben läßt, also bereits die Abweichung vom Schwellenwert DK0 des Langrisses (s. Abb. 7.5). Das Kurzrißverhalten in der geläufigen Darstellung der Rißfortschrittsrate über dem zyklischen Spannungsintensitätsfaktor zeigt Abb. 7.4. Der herkömmliche Schwellenwert DK0 tritt bei langen Rissen unter entsprechend niedriger

7.2 Schwellenwert zum Kurzrißfortschritt

449

zyklischer Spannung auf. Kürzere Risse bzw. höhere Spannung verkleinern den Schwellenwert oder heben ihn ganz auf. In gleichem Sinne wirken gröberes Korn, korrosive Einflüsse und erhöhte Temperatur. Kurze Risse bei entsprechend hoher Spannung bzw. plastischer Dehnung, etwa am Grund von Kerben, liegen mit ihrer Rißfortschrittsrate deutlich über dem betrachteten Bereich der den Schwellenwerten benachbarten Rißfortschrittsraten. Die vorstehende Abgrenzung des Kurzrisses gegenüber dem Langriß ist mikrostrukturell begründet. Von Kurzrissen wird aber auch gesprochen, wenn Anrisse in scharfen Kerben stillstehen, weil das zyklische Fließen zum weiteren Rißwachstum nicht ausreicht. Dies sind dann (bruch-)mechanisch kurze Risse. Als Ausgangsbasis für weitergehende Forschung zum Kurzrißverhalten waren die zusammenfassenden Beiträge von Miller [1456–1459] sowie die von Miller u. de los Rios [1460, 1461] herausgegebenen Tagungsbände von besonderer Bedeutung. Sie werden dem Leser zur Durchsicht empfohlen, ebenso wie der neuere Fortschrittsbericht von Ravichandran et al. [1488]. In der nachfolgenden Darstellung nicht angesprochen sind einige ebenfalls wichtige Beiträge zum Kurzrißverhalten, die lediglich im Literaturverzeichnis mitgeführt werden [1394, 1399, 1418, 1478, 1481, 1484, 1485, 1491, 1492, 1500–1502, 1515–1517, 1529].

7.2

Schwellenwert zum Kurzrißfortschritt

Abhängigkeit und Erklärung des Schwellenwerts Das Kurzrißfortschrittsverhalten nahe dem Schwellenwert der zyklischen Spannungsintensität hängt von der Rißlänge ab. Nach Frost [1414] (der frühesten Publikation zu dieser Frage) ist die zyklische Schwellenspannung multipliziert mit der dritten Wurzel aus der Rißlänge eine werkstofftypische Konstante (untersucht für Stahl, Aluminium und Kupfer). Das bedeutet, daß sich der herkömmliche Schwellenwert derpzyklischen  pSpannungsintensität p pp mit abnehmender Rißlänge verringert (Dr0 3 a ˆ Dr0 a= 6 a ˆ DK0 =… 6 a p † ˆ konst). Kitagawa u. Takahashi [1429] stellen dagegen fest, daß der Abfall bei hochfestem Stahl für a  0;13 mm eintritt und daß sich der Schwellenwert der zyklischen Spannung bei sehr kleiner Rißlänge der Dauerfestigkeit der ungekerbten axialbelasteten Probe nähert. Später wurde erkannt, daß die Rißlänge, ab der der Abfall eintritt, von der Mikrostruktur des Werkstoffs abhängt. Zur Erklärung des Schwellenwertverhaltens wurden verschiedene Modelle entwickelt. Zunächst schlug Smith [1503] vor, den mit abnehmender Rißlänge ansteigenden Schwellenwert Dr0 des Langrisses durch die Dauerfestigkeit DrD „abzuschneiden“. Der sich ergebende Schnittpunkt entspricht einer fiktiven „Eigenrißlänge“ (intrinsic crack length) der ungekerbten Probe. Bei kleinerer Rißlänge ist DrD maßgebend, bei größerer Rißlänge dagegen DK0 . Zu einem ähnlichen Ergebnis, allerdings mit stetigem Übergang, kommen Sähn [1493] und El Haddad et al. [1412]. Sähn sieht eine über die Mikrostrukturlänge an der Rißspitze gemittelte, linearelastisch berechnete Spannung als maßgebend

450

7 Kurzrißbruchmechanik zur Ermüdungsfestigkeit

für den Rißfortschritt an. El Haddad et al. führen eine fiktive Rißverlängerung ein, deren Größe aus DrD und DK0 folgt. Ein mikrostrukturell begründetes Modell geht auf Tanaka et al. [1514] zurück. Zunächst beobachteten Taira et al. (Hinweis in [1574]), daß bei stillstehendem Riß die Gleitbandlänge die Korngrenze nicht überschreitet. Daraufhin schlugen Usami u. Shida [1522] vor, einen Grenzwert der Größe der plastischen Zone an der Rißspitze als Schwellenbedingung zu verwenden. Tanaka et al. [1514] erkannten, daß das von der Rißspitze ausgehende Gleitband in Nähe des Schwellenwertes von der Korngrenze blockiert wird, und definierten den Schwellenwert korngrößenabhängig auf dieser Basis. Die Schwellenwerte der zyklischen Spannungsintensität von Kurzriß und Langriß beruhen auf unterschiedlichen Mechanismen der Beanspruchung und der Werkstoffreaktion darauf. Bei gleicher Spannungsintensität ist die pGrundbeanspruchung beim Kurzriß hoch, beim Langriß niedrig …DK ˆ Dr pa †. Beim Kurzriß entsteht bei höherer Grundbeanspruchung eine den Riß umschließende plastische Zone, beim Langriß bleibt die plastische Zone auf die Rißspitzen beschränkt. Der Schwellenwert des Kurzrisses beruht primär auf Gleitbandblokkierung, der des Langrisses primär auf Rißschließen. Im Übergangsbereich sind beide Mechanismen gleichwertig wirksam. Kitagawa-Diagramm Der Schwellenwert der zyklischen Spannung (Spannungsschwingbreite Dr oder Spannungsamplitude ra ), bei dem die Vergrößerung von Kurzrissen einsetzt, wird nach Kitagawa u. Takahashi [1429] über der Rißlänge a in einem Diagramm mit anfangs horizontalem und anschließend abfallendem Kurvenverlauf dargestellt, Abb. 7.5. Unterhalb der Grenzkurve wird Stillstand etwa vorhandener oder eingeleiteter Risse beobachtet, oberhalb kommt es nach endlicher Schwingspielzahl zum Bruch. Der horizontale Kurventeil kennzeichnet die Dauerschwingfestigkeit des Werkstoffs mit (demnach) vernachlässigbar kurzen Rissen (im Diagramm mit dem Bereich der mikrostrukturell zu beschreibenden Vorgänge gleichgesetzt). Es kann die Dauerfestigkeitsschwingbreite DrD ˆ 2rA dem zweifachen Wert der zyklischen Fließgrenze, also 2r0F , ungefähr gleichgesetzt werden. Der anschließende zunehmende Abfall der Kurve umfaßt den Bereich der kontinuumsmechanisch beschreibbaren kurzen Risse. Schließlich wird der gleichbleibende weitere Abfall gemäß dem Schwellenwert des zyklischen Spannungsintensitätsfaktors DK0 der langen Risse erreicht, welcher entsprechend der Begrenzung der plastischen Zone an der Rißspitze in der linearelastischen Bruchmechanik unterhalb von 2r0F =3 gültig ist. Oberhalb der betrachteten Grenzkurve tritt Rißfortschritt auf, der je nach Bereich mikrostrukturell, elastisch-plastisch oder elastisch beschrieben werden kann. Das Ergebnis einer Schrifttumsauswertung (bis etwa 1980) von Versuchsergebnissen zur Rißlängenabhängigkeit des Schwellenwerts der zyklischen Spannung ist in Abb. 7.6 den Modellösungen nach Smith [1503] bzw. Tanaka et al. [1514] gegenübergestellt. Die Rißlängenabhängigkeit des zugehörigen Schwellenwerts des zyklischen Spannungsintensitätsfaktors zeigt Abb. 7.7.

7.2 Schwellenwert zum Kurzrißfortschritt

451

Abb. 7.5: Schwellenwert der zyklischen Spannung als Funktion der Rißlänge (Kitagawa-Diagramm [1429]): Definition kurzer und langer Risse (a) und Arten des Rißfortschritts (b), „elast. Rft.“ bzw. „elast.-plast. Rft.“ bedeuten elastisch bzw. elastisch-plastisch beschreibbaren Rißfortschritt; Stahl mit Korndurchmesser dk ; Oberflächenrißlänge ao ˆ 2c; in Anlehnung an Brown [1397]

Abb. 7.6: Schwellenwert der zyklischen Spannung als Funktion der Rißlänge (Kitagawa-Diagramm): Gleitbandblockiermodell nach Tanaka (durchgehende Kurve), Ansatz nach Smith und El Haddad (gestrichelter Linienzug) sowie Streuband der Versuchsergebnisse (punktgerastertes Band), mit äquivalenter Durchrißlänge aaq und werkstoffabhängigem Längenparameter a nach (7.17); nach Tanaka et al. [1514]

452

7 Kurzrißbruchmechanik zur Ermüdungsfestigkeit

Abb. 7.7: Schwellenwert des zyklischen Spannungsintensitätsfaktors als Funktion der Rißlänge: Gleitbandblockiermodell nach Tanaka (durchgehende Kurve), Ansatz nach Smith u. El Haddad (gestrichelter Linienzug) sowie Streuband der Versuchsergebnisse (punktgerastertes Band), mit äquivalenter Durchrißlänge aaq und werkstoffabhängigem Längenparameter a nach (7.17); nach Tanaka et al. [1514]

Abb. 7.8: Schwellenspannung als Funktion der Rißlänge (Kitagawa-Diagramm), Bereiche unterschiedlichen Rißfortschrittsverhaltens, zugehörig vereinfachte Rißfortschrittsgleichungen (EPFM: elasto-plastic fracture mechanics, LEFM: linear-elastic fracture mechanics); Stahl mit Korndurchmesser dk ; Oberflächenrißlänge ao ˆ 2c; nach Brown [1397]

Zusätzlich lassen sich im Kitagawa-Diagramm vereinfachte Rißfortschrittsgleichungen berücksichtigen und weitere Abgrenzungen aufgrund unterschiedlicher Rißphänomene vornehmen, Abb. 7.8. Mikrostrukturell und kontinuumsmechanisch kurze Risse werden durch eine Rißlänge voneinander getrennt, die dem Abstand der mikrostrukturellen Hindernisse entspricht. Als mikrostrukturelle Hindernisse wirken insbesondere Korngrenzen, Poren und Gefügeeinschlüsse. Im Rißstadium I bis zum mikrostrukturellen Hindernisabstand dh

7.2 Schwellenwert zum Kurzrißfortschritt

453

erfolgt Mikrorißfortschritt im Modus II nach (7.51) nur bei ansteigender Spannung, die aber unterhalb der Dauerschwingfestigkeit liegen kann. Im Bereich zwischen der Grenzkurve des Rißfortschritts und der Kurve der kristallographischen Gleitbandaktivierung können Mikrorisse bestehen oder sich neu bilden ohne daß weiterer Rißfortschritt eintritt. Im Rißstadium II oberhalb des mikrostrukturellen Hindernisabstandes ist der Bereich des Kurzrißstillstands durch (7.52) mit dao =dN  10 7 und der Bereich des Langrißstillstands durch den Schwellenwert DK0 begrenzt. Der Langrißschwellenwert DK0 kann ab einer Rißlänge als gültig angesehen werden, die etwa dem zehnfachen Wert des mikrostrukturellen Hindernisabstandes dh entspricht. Der Bereich elastischplastischen Rißfortschritts oberhalb der Grenzkurve ist, den Rißbeanspruchungsmoden I und III entsprechend, in eine obere und untere Zone geteilt. Der zweifache Wert der Zugfestigkeit rZ bildet die Obergrenze. Die (gestrichelte) Teilung bei der zweifachen zyklischen Fließgrenze r0F ist eine grobe Schätzung und nur als Anhaltswert gedacht. Als mikrostruktureller Hindernisabstand dh wird vorstehend eine Rißlänge bezeichnet, welche die Bereiche mikrostrukturell und kontinuumsmechanisch zu beschreibenden Rißfortschritts voneinander trennt. Sie ist nicht notwendigerweise mit ausgemessenen Einzelabständen der Hindernisse identisch, sondern umfaßt vielfach mehrere solche Abstände. Der Ausdruck Mikroriß wird nach dieser Festlegung nicht bedeutungsgleich mit Kurzriß verwendet. Beginn des Rißschließens Der Übergang vom Kurzrißverhalten ohne Rißschließen zum Langrißverhalten mit Rißschließen wurde von Blom et al. [1393] (s. a. [1490]) an zwei hochfesten Aluminiumknetlegierungen experimentell verfolgt und dokumentiert, Abb. 7.9. Ein Anriß mit halber Oberflächenlänge c ˆ 80 lm wurde entlastet und anschließend mit ansteigender Amplitude wiederbelastet, bis Rißfortschritt einsetzte. Der Ablauf wurde entsprechend der Zahl der Meßpunkte mehrfach wiederholt. Das experimentelle Ergebnis ist im Kitagawa-Diagramm aufgetragen, in dem die Grenzlinien zugehöriger Werte DK0 eff und DK0 (aus Langrißversuchen) ergänzt sind. Die Schwellenwerte mit ihren Grenzwerten DK0 eff und DK0 sind außerdem direkt über der Rißlänge aufgetragen. Eine Verringerung der Dauerfestigkeit tritt ab der Rißlänge c2 auf, die annähernd dem Übergang vom Rißstadium I zum Rißstadium II entspricht, allerdings ausdrücklich nicht mit der Korngröße korrelierbar ist. Der Langrißschwellenwert wurde bei der Rißlänge c1 erreicht. Die Rißlängen ceff und c0 kennzeichnen den Schnittpunkt der DK0 eff - bzw. DK0 -Linie mit der Dauerfestigkeitslinie. Damit ist der Beginn des Rißschließens im Rißstadium II als Kurzriß nachgewiesen (zum Rißschließen bei Kurzrissen s. a. [1439, 1477, 1483]). Formale Beschreibung nach Sähn Eine formal befriedigende Beschreibung des Kurzrißverhaltens wird von Sähn [1493–1495] auf der Basis des Spannungsmittelungsansatzes gegeben. Als aus-

454

7 Kurzrißbruchmechanik zur Ermüdungsfestigkeit

Abb. 7.9: Schwellenwerte von Spannungsamplitude und zyklischem Spannungsintensitätsfaktor; kurze Risse in Aluminiumlegierung; Rißfortschritt ohne und mit Rißschließeffekt (DK0 bzw. DK0 eff ); Meßpunkte kennzeichnen die Wiederaufnahme des Rißfortschritts; nach Blom et al. [1393]

lösend für den Rißfortschritt wird die über die Mikrostrukturlänge d  (s. (7.6)) gemittelte, linearelastisch berechnete, zyklische Spannung D r angesehen. Rißschließeffekte bleiben unberücksichtigt. Bei Kurzrissen der Länge 2a in Querlage zur zyklischen Grundbeanspruchung Dr ergibt sich durch Integration und Mittelung der vollständigen Gleichungen für die Normalspannung quer zum Riß an den benachbarten (Innen-) Rißspitzen die gemittelte Spannung: s r   2a 2 d D r ˆ Dr 1 ‡  ˆ DK 1‡ …7:1† 2a d pd  Im Grenzfall des langen Risses …2a  d † ergeben sich die einfacheren Beziehungen (s. a. (6.4)): r r 2a 2 D r ˆ Dr ˆ DK d pd 

…7:2†

Mit D r ˆ DrD ergeben sich die Schwellenwerte der zyklischen Spannung Dr0 bzw. des zyklischen Spannungsintensitätsfaktors DK 0 des Kurzrisses zu: DrD Dr0 ˆ p 1 ‡ 2a=d 

…7:3†

7.2 Schwellenwert zum Kurzrißfortschritt

455

Abb. 7.10: Zyklische Schwellenspannung als Funktion der Rißlänge, werkstoffunabhängige Auftragung bezogener Größen mit der Mikrostrukturlänge d ; nach Sähn [1493]

DK0 DK 0 ˆ p 1 ‡ d =2a

…7:4†

Damit ist eine in formaler Hinsicht allgemeingültige Auftragung der Grenzkurve im Kitagawa-Diagramm möglich, Abb. 7.10. Der Bereich der kontinuumsmechanisch kurzen Risse läßt sich ausgehend von (7.3) und einer bestimmten Abweichung vom Idealwert DrD bzw. DK0 (hier ca. 5 %) vom Bereich der Mikrorisse einerseits und der langen Risse andererseits abgrenzen. Über die Mikrostrukturlänge d  lassen sich die Versuchsergebnisse mit der Grenzkurve in Einklang bringen. Aus (7.4) folgt andererseits die Abminderung des Schwellenwerts des zyklischen Spannungsintensitätsfaktors beim Kurzriß. Die dem Schwellenwert DK 0 benachbarte Kurzrißfortschrittsrate ist nach Sähn [1493] konsequenterweise in folgender Form darstellbar: da ˆ C DK dN

r d 1‡ 2a

!m DK0

…7:5†

Die formale Richtigkeit der vorstehenden Ansätze wird von Sähn [1493] ausgehend von den Kurzrißversuchsergebnissen nach Tokaji et al. [1518–1520] nachgewiesen, Abb. 7.11. Eine analoge Auftragung wird für die feinkörnigere Version des Werkstoffes gezeigt. Die Mikrostrukturlänge d  wird aus den zusammengehörigen Schwellenwerten des zyklischen Spannungsintensitätsfaktors DK 0 und der zyklischen Spannung Dr0 der Probe mit Kurzriß (einschließlich Grenzfall Langriß) ermittelt:  2 2 DK 0  d ˆ p Dr0

…7:6†

456

7 Kurzrißbruchmechanik zur Ermüdungsfestigkeit

Abb. 7.11: Rißfortschrittsrate kurzer und (vergleichsweise) langer Risse als Funktion der zyklischen Spannungsintensität (Bereich kleiner Werte) bei unterschiedlich hoher zyklischer Spannung, Kurzrißergebnisse (Punkte) nach Tokaji et al. [1518–1520] und Rißfortschrittsberechnung (Kurven) nach Sähn, einheitliche Kurve bei Auftragung als Funktion der über die Mikrostrukturlänge d  gemittelten zyklischen Spannung D r; nach Sähn [1493] Tabelle 7.1: Mikrostrukturlänge d  unterschiedlicher Stähle (Fließgrenze r0;2 , Korndurchmesser dk, Wechselfestigkeit rW ) aus Versuchsergebnissen nach Tanaka et al. [1514] sowie Tokaji et al. [1518–1520], Auswertung nach Sähn [1493] Werkstoff

r0;2 N=mm2

SM41 SM50 HS80 13Cr-Gußstahl

251 373 726 769

S10C S10C SCM435

286 233 847

dk lm

rW N=mm2

d lm 40 60 10 2

24 84 15

220 190 500

180 250 20

Für die ausgewerteten Versuchsergebnisse [1518–1520, 1574] an unterschiedlichen Stählen werden die in Tabelle 7.1 zusammengestellten Werkstoffkennwerte angegeben. Andererseits ermittelte Seliger (Hinweis in [1493]) aus eigenen Versuchsergebnissen an Stählen mit r0;2 ˆ 300 700 N=mm2 folgende Beziehung (d  in lm, r0;2 in N=mm2 ):

7.2 Schwellenwert zum Kurzrißfortschritt

d  ˆ 105

0;0424 r0;2

457

…7:7†

Die Werte nach Tabelle 7.1 und nach (7.7) lassen sich nicht in Einklang bringen. Auch kann keine Identität mit der Ersatzstrukturlänge q nach Neuber (s. Kap. 4.7) erwartet werden, denn letztere ist nicht nach (7.6) aus der Schwellenintensität des Rißfortschritts, sondern aus der Dauerfestigkeit unterschiedlich scharf gekerbter Proben ermittelt. Die Größe d  nach Sähn deckt hauptsächlich plastische Verformungsvorgänge ab (unter Ausschluß des Rißschließens), während die Größe q nach Neuber (zumindest hypothetisch) elastische Mikrostützwirkung erfaßt. Formale Beschreibung nach Fujimoto Eine ähnliche, formal sehr befriedigende Beschreibung des Kurzrißverhaltens haben Fujimoto et al. [1415] auf Basis des Spannungsabstandsansatzes (s. Kap. 4.8) angegeben. Es wird eine elastische Eigenschädigungszone (inherent damage zone) eingeführt, Abb. 7.12. Im Abstand as von Kerbgrund oder Rißspitze (Größe der Zone) wird die elastizitätstheoretisch bestimmte Normalspannung rys quer zu Kerbe oder Riß als maßgebend für die Rißeinleitung angesehen, gleichzusetzen der Dauerfestigkeit. Die elastizitätstheoretische Lösung folgt dem Ansatz von Neuber für die elliptische Innenkerbe bzw. dem Ansatz von Westergaard für den Innenriß. Bei komplexeren Konfigurationen wird die Finite-Elemente-Methode angewendet. Bei der elliptischen Innenkerbe in der (unendlich ausgedehnten) Zugscheibe (Grundspannung rn ) ergibt sich für die relative Kerbspannung rys =rn eine Funktion f der Kerbtiefe a gleich der Ellipsenhalbachse, des Kerbkrümmungsradius q und der Ausdehnung der Schädigungszone as: rys ˆ f …a; q; as † rn

…7:8†

Abb. 7.12: Schädigungszone an ungekerbter (a), gekerbter (b) und rißbehafteter (c) Probenoberfläche (schematische Darstellung); Zonengröße as und Spannung rys am Zonenrand (mit Vertikalkoordinate y); nach Fujimoto et al. [1415]

458

7 Kurzrißbruchmechanik zur Ermüdungsfestigkeit

Beim kurzen Innenriß (mit Rißlänge 2a) in der Zugscheibe ergibt sich: rys a ‡ as ˆ p rn as …2a ‡ as †

…7:9†

Für den langen Riß folgt mit as  a nach Reihenentwicklung: rys ˆ rn

r a 2as

…7:10†

Die Ausdehnung der Schädigungszone as wird aus dem Schwellenwert DK0 des zyklischen Spannungsintensitätsfaktors des Langrisses und der zyklischen Dauerfestigkeit DrD des Werkstoffs bestimmt:   1 DK0 2 as ˆ 2p DrD

…7:11†

Gegenüber der vergleichbaren Mikrostrukturlänge d nach (7.6) tritt der Faktor 0,25 auf, gegenüber dem Längenparameter a nach (7.17) der Faktor 0,5. Für gängige Baustähle ergibt sich as ˆ 0,03–0,1 mm (die kleineren Werte sind den hochfesten Stählen zuzuordnen). Die der anrißauslösenden zyklischen Kerbspannung Drs (mit Drs ˆ 2rys für R ˆ 1) entsprechende Rißfortschrittsrate wird konsequenterweise oberhalb des Schwellenwerts in folgender Form dargestellt (mit Werkstoffkonstanten A, C, as und m): da ˆ A…Drs †m dN

…7:12†

p Mit Drs ˆ 2rys und rys nach (7.9) sowie DK ˆ Drn pa folgt: da ˆ C m …DK †m dN  m 1 C ˆ A p 2pas p 2…a ‡ as † p ˆ  a…2a ‡ as †

…7:13† …7:14† …7:15†

Das Ergebnis einer Berechnung der Rißfortschrittsrate nach (7.12) bis (7.15) für den hochfesten Stahl SM58Q mit as ˆ 0,065 mm über dem zyklischen Spannungsintensitätsfaktor DK zeigt Abb. 7.13. Dabei werden die Rißlängen a ˆ 0,01, 0,1 und 1,0 mm bei den zyklischen Nennspannungen Drn ˆ 600, 700 und 800 N/mm2 hervorgehoben. Die Langrißfortschrittsrate zeigt den nach

7.2 Schwellenwert zum Kurzrißfortschritt

459

Abb. 7.13: Berechnete Rißfortschrittsrate kurzer und (vergleichsweise) langer Risse in Abhängigkeit des zyklischen Spannungsintensitätsfaktors (Bereich kleiner Werte) bei unterschiedlichen zyklischen (Nenn-)Spannungen Drn ; nach Fujimoto et al. [1415]

der Paris-Gleichung (6.35) gewohnten linearen Verlauf oberhalb des Schwellenwerts (in doppeltlogarithmischer Auftragung). Die Kurzrisse vergrößern sich schneller als der Langriß. Sie vergrößern sich auch unterhalb des Schwellenwerts des Langrisses. Ab der Rißgröße a  1 mm ist die Fortschrittsrate kurzer und langer Risse praktisch identisch. Auch den Kurzrissen läßt sich ein von der Rißgröße abhängiger Schwellenwert der zyklischen Spannungsintensität zuordnen, der der zyklischen Dauerfestigkeit mit Riß entspricht (s. dazu [1415]). Die Berechnungsergebnisse werden von Versuchsergebnissen bestätigt, allerdings nur mit den mikrostrukturbedingten Unregelmäßigkeiten im Kurvenlauf bei den Kurzrissen. Insbesondere die Schwellenwerte treffen zu. Auch die von Frost [1414] postulierte lineare Abhängigkeit der Fortschrittsrate kurzer Risse von der Rißlänge a wird näherungsweise bestätigt (mit kritischer Grundspannungsschwingbreite Drn und Werkstoffkonstanten C1 und m1): da ˆ C1 …Drn †m1 a dN

…7:16†

Die Grenzkurve im Kitagawa-Diagramm, relative zyklische Schwellenspannung als Funktion der relativen Kurzrißlänge, wird ebenfalls zutreffend abgebildet.

460

7 Kurzrißbruchmechanik zur Ermüdungsfestigkeit

Der vorstehend beschriebene Ansatz einer elastischen Schädigungszone kann nur die Verhältnisse in unmittelbarer Nähe der Dauerfestigkeit richtig darstellen, weil nur hier die Annahme elastischen Werkstoffverhaltens gerechtfertigt ist. Plastische Verformungen, Mehrachsigkeitseffekte und Rißschließen sind nicht berücksichtigt. Das Modell wurde erfolgreich auch auf Kurzrisse im Kerbgrund angewendet (s. Kap. 7.5). Vergleich der theoretischen Ansätze nach Taylor Die Abhängigkeit der Dauerfestigkeit von der Kurzrißgröße (Grenzkurve im Kitagawa-Diagramm) bzw. von der vergleichbaren Kreislochgröße (etwas unterhalb der Grenzkurve) wurde von Taylor [1576] nach unterschiedlichen theoretischen Ansätzen einheitlich dargestellt und mit Versuchsergebnissen aus der Literatur belegt (Taylor u. Wang [1685]). An einer dünnen Scheibe unter Zugbelastung mit kurzem Innenriß bzw. kleinem Kreisloch wurden folgende Ansätze gegenübergestellt, Abb. 7.14: – Ansatz der „Punktspannung“ im kleinen Abstand a/2 von der Rißspitze bzw. vom Kerbgrund („Spannungsabstandsansatz“), – Ansatz der Mittelspannung über die kleine Strecke 2a vor der Rißspitze bzw. vor dem Kerbgrund und – Ansatz der Mittelspannung über die kleine Halbkreisfläche mit Radius a vor der Rißspitze bzw. vor dem Kerbgrund.

Abb. 7.14: Innenriß (a) und Kreisloch (b) unter Querzug mit Verlauf der Kerb- bzw. Rißspannung; Auswertung dieser Spannung im Punkt bei a=2, gemittelt über die Strecke bis 2a und gemittelt über die Halbkreisfläche bis a mit Werkstoffstrukturparameter a für die Dauerfestigkeit; nach Taylor [1576]

7.2 Schwellenwert zum Kurzrißfortschritt

461

Abb. 7.15: Berechnete Dauerfestigkeit (Schwellenspannung Dr0 ) als Funktion der Rißlänge (a) bzw. des Lochradius (b) für den Kohlenstoffstahl SAE 1045; unterschiedliche theoretische Ansätze und Vergleich mit Versuchsergebnissen; nach Taylor [1576]

Außerdem wurde die Verbindung zum Ansatz von El Haddad, Smith und Topper durch den werkstofftypischen Längenparameter a nach (7.17) hergestellt und der Spannungsabstandsansatz von Peterson (s. Kap. 4.8) einbezogen. Es ist zu beachten, daß die Ersatzstrukturlänge q in (4.58) bzw. die Mikrostrukturlänge d in (4.63) dem Wert 2a und der Abstand a nach (4.65) dem Wert a/2 hier entspricht. Als widersprüchlich erscheint, daß die in der Literatur angegebenen Werte von q nach Neuber und a nach Peterson nicht den Zusammenhang q  4a widergeben. Tatsächlich ist im allgemeinen q< a. Der Ansatz von Taylor zur Verbindung von Punkt- und Mittelspannung scheint auf die Schubbelastung (nach Modus II) von Rissen und Kerben übertragbar zu sein, wenn die Auswertung in Richtung der maximalen Randtangentialspannung erfolgt. Das Ergebnis einer überwiegend theoretischen Vergleichsuntersuchung an einer Zugscheibe aus dem Kohlenstoffstahl SAE 1045 (rF 0;2 ˆ 470 N=mm2 , rZ ˆ 745 N=mm2 ) mit Innenriß bzw. Kreisloch ist in Abb. 7.15 dargestellt. Beim Innenriß sind die Ergebnisse nach den unterschiedlichen Ansätzen weitgehend identisch, beim Kreisloch treten gewisse Abweichungen auf. Die Lösungen von El Haddad et al. und Peterson können als experimentell verifiziert gelten. Die Versuchspunkte zum Kreisloch stammen von DuQuesnay et al. [1542]. Es ist erkenntlich, daß die Dauerfestigkeit mit Kreisloch etwas geringer als die Dauerfestigkeit mit Innenriß vergleichbarer Größe sein kann. Am Lochrand eingeleitete Risse können demnach zum Stillstand kommen. Erweiterung nach Atzori und Lazzarin Die Feststellungen von Taylor wurden von Atzori et al. [1536–1538] erweitert. Es wird die Frage beantwortet, unter welchen Bedingungen die Kerbe (oder eine kerbartige Fehlstelle) als Riß behandelt werden kann, was Voraussetzung

462

7 Kurzrißbruchmechanik zur Ermüdungsfestigkeit

dafür ist, daß die vorstehend diskutierten unterschiedlichen Ansätze zu identischen Dauerfestigkeitswerten führen. Die Kerbe kann als Riß (oder als einspringende Ecke bei von null verschiedenem Kerböffnungswinkel) behandelt werden, wenn der Längenparameter a nach (7.17) wesentlich größer ist als der Kerbkrümmungsradius q. Der Einfluß der Abmessungen des Bauteils (ohne q) geht in die zugehörigen Spannungsintensitätsfaktoren ein. Andererseits ist die Kerbformzahl k für die Dauerfestigkeit maßgebend, wenn der Längenparameter a klein gegenüber dem Kerbkrümmungsradius q ist. Der Einfluß der Abmessungsverhältnisse (mit q) drückt sich in der Kerbformzahl aus. In beiden Fällen tritt ein geometrischer Größeneffekt auf. Von den genannten Autoren werden diese Gegebenheiten über ein kerbmechanisch erweitertes Kitagawa-Diagramm veranschaulicht, Abb. 7.16. Das Diagramm wurde mit zahlreichen Versuchsergebnissen aus der Literatur für Kerben und kerbartige Fehlstellen verglichen und für zutreffend befunden. Gegenübergestellt sind die Linienfolge (DrD–DK0–DrD/ k) für die zugbeanspruchte unendlich ausgedehnte Scheibe mit Innenkerbe bzw. Innenriß (Referenzmodell) und die Linienfolge (DrD–DK0/ –DrD/ k) für den zugbeanspruchten Scheibenstreifen mit Außenkerben (Ersatzmodell des Bauteils). Der Abstand der Linien DK0 und DK0/ entspricht dem Geometrieparameter p (vertikal) bzw. 2  (horizontal). Der Geometrieparameter folgt aus KI ˆ rn pa mit der Nennspannung rn im Bruttoquerschnitt. Hier ist > 1,0, bei halbelliptischen Oberflächenrissen wäre < 1,0. Die Ableitungen sind aber nur für zweidimensionale Modelle vollzogen. Den realen Gegebenheiten entsprechen Kurvenzüge mit gerundeten Übergängen (gestrichelt).

Abb. 7.16: Kerbmechanisch erweitertes Kitagawa-Diagramm (schematisch) mit oberer Kurve für Referenzmodell und unterer Kurve für Ersatzmodell des Bauteils; in Anlehnung an Atzori et al. [1538]

7.2 Schwellenwert zum Kurzrißfortschritt

463

Die Eckpunkte der Kurvenzüge werden durch folgende besondere Rißlängen gekennzeichnet: – Rißlänge a nach (7.17), fiktive Eigenrißlänge des Werkstoffs; – Rißlänge ak ˆ a= 2 , fiktive Eigenrißlänge der Probe; – Rißlänge a0 ˆ 2k =a, Schnittpunkt der Linien DK0 und DrD / k; – Rißlänge a ˆ a= 2 , Schnittpunkt der Linien DK / und Dr / . 0k

0

0

D

k

Die Rißlängen a bzw. ak sind mit der „Fehlstellenempfindlichkeit“ korreliert, die Rißlängen a bzw. a dagegen mit der Kerbempfindlichkeit. 0

0k

Bezugnehmend auf das gezeigte Diagramm kann die Dauerfestigkeit der bauteilähnlichen Probe unterteilt nach drei Bereichen der Kerbtiefe oder Rißlänge vorausgesagt werden: – im Bereich (a  a) ausgehend von der Werkstoffdauerfestigkeit Dr bei k

D

Vernachlässigung der Kerbe; – im Bereich (ak  a  a0k ) ausgehend vom Schwellenwert DK0 / unter Beachtung nur der Kerbtiefe bzw. Rißtiefe; – im Bereich (a  a0k ) ausgehend von DrD/ k mit der theoretischen Formzahl k unter Berücksichtigung der Kerbschärfe a/q. Formale Beschreibung nach El Haddad, Smith und Topper Einen anderen Ansatz zur Beschreibung des Schwellenverhaltens von Kurzrissen wählen El Haddad, Smith und Topper [1412]. Das Rißschließverhalten bleibt auch hier unberücksichtigt. Sie führen einen werkstoffabhängigen Längenparameter a ein, der sich aus der Dauerfestigkeit DrD und dem Schwellenwert DK0 der Spannungsintensität (langer Risse) ergibt: a ˆ

  1 DK0 2 p DrD

…7:17†

Diese Definition legt die Interpretation des Parameters a als werkstofftypische fiktive Eigenrißlänge (intrinsic crack length) nahe, die nicht vergrößerungsfähig ist, weil Dauerfestigkeit vorliegt. Von den Autoren wird allerdings eine solche physikalisch irrelevante Interpretation vermieden. Sie begründen ihren Ansatz allein mit der über den Parameter a erzielbaren Übereinstimmung der Rißfortschrittsrate für kurze und lange Risse, Abb. 7.17 mit DK  nach (7.20), und vermuten einen Zusammenhang mit der an der Probenoberfläche verringerten kristallografischen Fließgrenze. Für die Aluminiumlegierung AA 2024 wird a ˆ 0;26 mm angegeben, für den Stahl SAE 1045 a ˆ 0;17 mm. Die Werte werden als abhängig von der Korngröße angesehen. Eine Auswertung von Ting u. Lawrence [1577] für Stähle mit …194  r0;1  834† N=mm2 ergibt …0;458  a  0;052† mm (bei R ˆ 1). Für Aluminiumlegierungen mit r0;1 ˆ 357 bzw. 433 N=mm2 wird a ˆ 0;129 bzw. 0,062 mm angegeben.

464

7 Kurzrißbruchmechanik zur Ermüdungsfestigkeit

Abb. 7.17: Rißfortschrittsrate kurzer und langer Risse in einer Aluminiumlegierung als Funktion des einfachen (a) bzw. modifizierten (b) zyklischen Spannungsintensitätsfaktors; nach El Haddad et al. [1412]

Ausgehend vom Gleitbandblockiermodell des Schwellenwertes geben Tanaka et al. [1514] für Stähle unterschiedlicher Festigkeit folgende Beziehungen an, die durch Versuchsergebnisse unterschiedlicher Autoren bestätigt werden (Fließgrenze rF in N=mm2 , a in mm): a ˆ a ˆ

13;6 72;6†2

…rF

4;11 …rF

72;6†2

…R ˆ



…R ˆ 0†

…7:18†

…7:19†

Die hochfesten Stähle weisen demnach niedrige Werte von a auf. Die Werte für R ˆ 1 sind bei gleicher Fließgrenze um den Faktor 3,3 größer als die Werte für R ˆ 0. Der modifizierte zyklische Spannungsintensitätsfaktor DK  des kurzen Risses wird für die effektive Rißlänge …a ‡ a† berechnet, um ihn mit dem Schwellenwert DK0 für lange Risse direkt vergleichbar zu machen (Geometriefaktor Y  1;0): DK  ˆ Dr

p p…a ‡ a†

…7:20†

7.2 Schwellenwert zum Kurzrißfortschritt

465

Die Größe a kann daher als fiktive Rißverlängerung des ausbreitungsfähigen Kurzrisses aufgefaßt werden, wohl zu unterscheiden von der Plastizitätskorrektur in (6.41). Der Schwellenwert Dr0 der Grundbeanspruchung am Kurzriß der Länge a folgt aus dem Schwellenwert DK0 der Spannungsintensität am Langriß gemäß: DK0 Dr0 ˆ p p…a ‡ a†

…7:21†

Mit dem Grenzwert Dr0 ˆ DrD für a ˆ 0 folgt: r a Dr0 ˆ DrD a ‡ a

…7:22†

Mit Dr0 nach (7.21) oder (7.22) ist die Grenzkurve im Kitagawa-Diagramm beschrieben (s. z. B. Abb. 7.23 mit Y ˆ 1;12). Der vorstehende Ansatz läßt sich durch Einführen der (Gesamt-)Dehnung De anstelle der Spannung Dr zur Anwendung bei höherer Beanspruchung verbessern. Dazu wird anstelle des Spannungsintensitätsfaktors DK der Dehnungsintensitätsfaktor DKe nach (7.35) eingeführt. Anstelle der Rißlänge a wird …a ‡ a† gesetzt, wobei sich der Längenparameter a aus der Dehnung DeD bei Dauerfestigkeit ergibt:   1 DK0 2  a ˆ p EDeD

…7:23†

Der Ansatz von El Haddad et al. kann formal dahingehend pabgeändert  ˆ Dr p…a ‡ a† wie beim werden, daß auch beim Kurzriß anstelle von DK p p  Langriß üblich DK ˆ Dr pa gesetzt p  und der Schwellenwert DK 0 ˆ Dr0 pa anstelle von DK0 ˆ Dr0 p…a ‡ a† gegenübergestellt wird: DK 0 ˆ DK0

r a DK0 ˆ p a ‡ a 1 ‡ a=a

…7:24†

Unter Beachtung von (7.22) kann (7.24) auch in folgender Form geschrieben werden: r Dr0 a  …7:25† DK 0 ˆ DK0 DrD a Der Vergleich der Gleichungen (7.24) und (7.4) oder (7.17) und (7.6) ergibt (wie auch von Taylor [1576] festgestellt) den Zusammenhang a ˆ d =2. Tanaka et al. [1514] erweitern den Ansatz von El Haddad et al. dahingehend, daß sie in der ungekerbten Probe für die Dauerfestigkeitsbestimmung kleine Anrisse der Länge a0 zulassen (zugehörig die Dauerfestigkeit DrD

466

7 Kurzrißbruchmechanik zur Ermüdungsfestigkeit

anstelle der eigentlichen Dauerfestigkeit DrD der rißfreien Probe). Aus DK0 und DrD folgt der Parameter a analog zu (7.17), der sich nunmehr aus realem und fiktivem Anrißanteil zusammensetzt: a ˆ a0 ‡ a ˆ

  1 DK0 2 p DrD

…7:26†

Mit Dr0 ˆ DrD für a ˆ a0 in (7.21) und a ˆ a folgt aus (7.22): s a Dr0 ˆ DrD a ‡ a a0

…7:27†

Diese Beziehung gilt nur für Kurzrisse, die größer sind als die in der Referenzprobe zugelassene Anrißlänge a0 . Mit a ˆ …a a0 † nach (7.26) folgt aus (7.24): DK  ˆ DK 0

r a 0 a ‡ a a0

…7:28†

Tanaka u. Nakai [1574] führen in Gleichung (7.17) anstelle von DK0 den Effektivwert DK0 eff ein, der den Rißschließeffekt bei R < 0 berücksichtigt. Sie ermitteln so einen abgewandelten Wert a eff , der in Verbindung mit DKeff -Werten weiterverwendet wird, beispielsweise gemäß: DK0 eff  DK 0 eff ˆ p 1 ‡ a eff =a

…7:29†

Eine quantitativ befriedigende mikrostrukturelle Beschreibung des Schwellenwerts und der Dauerfestigkeit von Kurzrissen gelingt nach dem Barrieremodell von Tanaka et al. [1514, 1574] (s. Kap. 7.4 sowie Vormwald [1523]).

Einfluß der Mittelspannung auf den Schwellenwert kurzer Risse Der Einfluß der Mittelspannung auf den Schwellenwert K a0 der Spannungsintensitätsamplitude kurzer Risse drückt sich in der Abhängigkeit des Schwellenwertes vom Spannungsverhältnis R aus. Die Schwellenwerte liegen bei Wechselbeanspruchung …R ˆ 1† höher als bei Schwellbeanspruchung …R ˆ 0†, Abb. 7.18. Die beiden Kurven lassen sich ineinander überführen, wenn anstelle der Absolutwerte die Werte relativ zum Schwellenwert des langen Risses betrachtet werden. Die Schwellenwerte fallen bei Verkleinerung der Rißgröße stetig ab. Die gezeigten Schwellenwerte der Spannungsintensitätsamplituden wurden ausgehend von Schwellenwerten der Spannungsamplitude bei vorgegebener Rißtiefe bestimmt. An der polierten Oberfläche einer mild gekerbten Probe

7.2 Schwellenwert zum Kurzrißfortschritt

467

Abb. 7.18: Schwellenwert des Spannungsintensitätsfaktors kurzer Risse für einen Baustahl als Funktion der Rißtiefe bei R ˆ 0 und R ˆ 1, auseinandergezogene (a) und zusammenfallende (b) Darstellung von Meßergebnissen; nach Lukáš u. Kunz [1444]

Abb. 7.19: Schwellenspannung kurzer Risse für einen Baustahl, Meßergebnisse für R ˆ 0 und R ˆ 1, einheitliche Kurve bei Bezug auf die Dauerfestigkeit; nach Lukáš u. Kunz [1444]

wurden kurze Ermüdungsrisse eingeleitet. Die Rißlänge 2c der annähernd halbkreisförmigen Anrisse war mikroskopisch beobachtbar (kleinste Länge 2c  20 lm). Nach einem iterativen Verfahren mit wiederholter Lastabsenkung gelang es, die Schwellenspannung zu bestimmen. Die Spannungsamplitude und die Mittelspannung wurden ausgehend von ihren Anfangswerten etwa 5 % oberhalb der Dauerfestigkeit schrittweise vermindert, bis Rißstillstand eintrat. Die

468

7 Kurzrißbruchmechanik zur Ermüdungsfestigkeit

ermittelten Schwellenwerte der Spannungsamplitude stellen sich im KitagawaDiagramm über der Rißlänge bzw. Rißtiefe dar, Abb. 7.19. In diesem Diagramm lassen sich die beiden Kurven für R ˆ 0 und R ˆ 1 zur Deckung bringen, wenn auf die Dauerfestigkeit bezogene Größen verwendet werden. Verhalten flächen- und volumenhafter kleiner Fehlstellen Der Schwellenwert des elastischen Spannungsintensitätsfaktors ist für die Kennzeichnung des Beginns des Rißfortschritts an flächenhaften (d. h. rißartigen) kleinen Fehlstellen unzureichend. Usami u. Shida [1522] haben an unlegiertem Stahl gezeigt, daß ein Dauerfestigkeitskriterium ausgehend von der zyklischen plastischen Zone an der Rißspitze (gemäß Dugdale-Modell) angegeben werden kann, das die Wirkung von Rißlänge und Spannungsverhältnis zutreffend wiedergibt. Die flächenhaften Fehlstellen werden als Risse aufgefaßt. Die zugehörigen theoretischen Dauerfestigkeitswerte lassen sich als KitagawaDiagramm darstellen. Die an Proben mit natürlichen Fehlstellen wie Oberflächenrauhigkeit, Mikrolunker und Mikroeinschlüsse durchgeführten Dauerfestigkeitsversuche bestätigen die theoretischen Werte. Volumenhafte kleine Fehlstellen wie z. B. Grübchen, Poren, Lunker oder Mikrokerben verhalten sich hinsichtlich des Beginns des Rißfortschritts anders als flächenhafte (d. h. rißartige) kleine Fehlstellen. Es wird angenommen, daß sich volumenhafte Fehlstellen günstiger verhalten, weil sie gerundet sind und geringere Kerbwirkung aufweisen. Die Annahme trifft bei großen Fehlstellen gegenüber langen Rissen tatsächlich zu. Bei kleinen Fehlstellen gegenüber kurzen Rissen können sich die Verhältnisse jedoch umkehren. In der praktischen Fehlstellenbewertung ist es üblich, die Projektionsfläche A der Fehlstellen senkrecht zur Hauptrichtung der Beanspruchung als fiktiven Riß unter der Zugspannung senkrecht zur Rißebene zu betrachten (s. Abb. 6.8) und diesen Riß ausgehend von seinem Maximalwert KI max bruchmechanisch zu bewerten. Komplexere Konturen werden dabei durch geometrisch einfache, umbeschriebene Kurven ersetzt, meist durch eine rechteckige oder elliptische Kurve. Die Quadratwurzel aus der Projektionsfläche der Fehlstelle wird dabei vielfach als äquivalente Rißlänge eingeführt. Das Ergebnis DKI max < DK0 wird als konservativ angesehen. Durch Schwingversuche an ungekerbten und polierten Proben mit künstlich erzeugten Fehlstellen (z. B. Grübchen durch elektrochemischen Abtrag oder Hartkörpereindrücke) wurde jedoch nachgewiesen, daß die zu dauerhaftem Rißfortschritt führende kritische Fehlergröße bei vorgegebener Spannung kleiner sein kann als die kritische Rißgröße (Weiss et al. [1583], Yamada et al. [1584]). Die Grenzkurve im Kitagawa-Diagramm ist in diesem Fall enger zu ziehen, als es den eigentlichen Rissen entspricht. Dieser Sachverhalt läßt sich auch so ausdrücken, daß die Rißeinleitungsdauerfestigkeit der Fehlstelle niedriger liegen kann als die Rißfortschrittsdauerfestigkeit des vergleichbaren Risses. Es ist zu beachten, daß sich diese Aussage nur auf kleine Fehlstellen in Relation zu kurzen Rissen bezieht. Diese Feststellung ist nicht unumstritten. Zumindest im Zeitfestigkeitsbereich gilt die rißartige

7.2 Schwellenwert zum Kurzrißfortschritt

469

Abb. 7.20: Schwingspielzahl bis Bruch bei künstlichen Fehlstellen (Grübchen) unter zyklischer Beanspruchung in Höhe der ursprünglichen Dauerfestigkeit; nach Yamada et al. [1584]

flächige Fehlstelle wegen des Fehlens der Rißeinleitungsphase als ungünstiger (Murakami [1463]). Nahe der Dauerfestigkeit kann jedoch von der Gleichwertigkeit flächen- und volumenhafter Fehlstellen ausgegangen werden (Beretta u. Murakami [185]). Die Rißeinleitungsdauerfestigkeit kleiner Fehlstellen wird erwartungsgemäß von Eigenspannungen stark beeinflußt, Abb. 7.20. Der kritische Grübchendurchmesser dgc, ab dem Schwingbrüche bei endlicher Lebensdauer auftreten, ist im vorliegenden Fall ohne Spannungsarmglühen wesentlich kleiner als mit Spannungsarmglühen. Er stimmt mit der kritischen Größe der stillstehenden Kurzrisse nur dann ungefähr überein, wenn Grübchen und Risse spannungsarm geglüht werden. Im Kitagawa-Diagramm der Kurzrisse ist der Hindernisabstand dh die mit der Größe dgc zu vergleichende Größe. Schwellenwerte für Oberflächenfehlstellen Unter Hintanstellung der beschriebenen Besonderheiten konnten Murakami u. Endo [1465] (s. a. [1464, 1521]) den Schwellenwert des Spannungsintensitätsfaktors der Projektionsfläche (senkrecht zur Hauptrichtung der Beanspruchung) volumenhafter Oberflächenfehlstellen mit relativ kleinem Anriß für unterschiedliche Fehlstellengeometrien, Fehlstellengrößen und Werkstoffe (Stähle, Aluminiumlegierung, Messing) in einheitlicher Form angeben. Experimentell untersucht hinsichtlich Rißeinleitung und Rißfortschritt bei Wechselbeanspruchung (Umlaufbiegung, R ˆ 1) wurden gebohrte Sacklöcher, Vickers-Härteeindrücke, flache Kerben und kurze Risse in der Oberfläche von Rundstabproben, Abb. 7.21. Die Fehlergröße, ausgedrückt als Wurzel über die Projektionsfläche der Fehlstelle senkrecht zur Beanspruchung, lag zwischen 15 und 1000 lm. Die maximale Fehlertiefe betrug 250 lm. Durch geeignete

470

7 Kurzrißbruchmechanik zur Ermüdungsfestigkeit

Abb. 7.21: Form und Abmessungen der Fehlstellen in der Untersuchung von Murakami u. Endo [1465]: Sackloch (a), Hartkörpereindruck (b), Umfangskerbe (c) und Umfangsriß (d)

Abb. 7.22: Maximaler Spannungsintensitätsfaktor abhängig von der Fehlstellengröße bei unterschiedlicher Fehlstellengeometrie senkrecht zur Zugbeanspruchung; nach Murakami u. Endo [1465]

Maßnahmen wurde sichergestellt, daß keine nennenswerte Eigenspannung oder Verformungsverfestigung vorlag. Neben Stählen unterschiedlicher Art, Zusammensetzung und Mikrostruktur wurden Messing und eine Aluminiumlegierung erfaßt. Die Vickers-Härte HV lag zwischen 100 und 700 Einheiten. Der Spannungsintensitätsfaktor Kmax läßt sich näherungsweise aus der Grundbeanspruchung r und der Projektionsfläche A der geometrisch vereinfachten umbeschriebenen Kurve der Fehlstellenkontur bestimmen, Abb. 7.22:

7.2 Schwellenwert zum Kurzrißfortschritt

Kmax

q p  ˆ 0;65 r …p A †

471

…7:30†

Der Schwellenwert DK 0 der untersuchten kleinen Fehlstellen und Kurzrisse ließ sich durch folgende Näherung ausdrücken (mittlerer Fehler etwa 10 %): DK 0 ˆ 0;104 …HV ‡ 120†

p1=3 A

…7:31†

Für die Dauerwechselfestigkeit rW mit Fehlstelle folgt aus (7.30) und (7.31): rW ˆ

1;43 …HV ‡ 120† p … A†1=6

…7:32†

p Dabei ist DK 0 in N=mm3=2 , A in lm und rW in N=mm2 einzuführen. Das additive Glied zu HV drückt aus, daß in weicherem Werkstoff größere Fehlstellen ohne Rißfortschritt möglich sind.

Kurzrißmodell der Oberflächenrauhigkeit Die Oberflächenrauhigkeit nach spanabhebender Feinbearbeitung liegt im Größenbereich der Kurzrisse (gemittelte Rauhtiefe Rm ˆ 0;2 8 lm). Der Einfluß der Oberflächenrauhigkeit auf die Dauerfestigkeit kann nach einem Kurzrißmodell treffender als nach herkömmlichem Verfahren (s. Kap. 3.8) beschrieben werden (Suhr [502]). Proben aus niedriglegiertem Stahl wurden mit polierter, geschmirgelter und (längs und quer) geschliffener Oberfläche im Wöhler-Versuch geprüft. Die durch die Bearbeitung in der Oberfläche entstandenen Eigenspannungen (und Verfestigungen) waren durch Wärmebehandlung entfernt. Vergleichsweise wurden quer zur Schwingbeanspruchung liegende Spitzkerben untersucht. Das Ergebnis dieser Untersuchung läßt sich auf Basis eines Kurzrißmodells darstellen, wenn die tatsächlichen Bruchausgangsstellen ausgewertet werden. Die im Lichtschnittverfahren ermittelten Oberflächenprofile und die dazu ergänzten metallographischen Schnittbilder allein erwiesen sich als unzureichend. Die Rauhtiefe bzw. Kerbtiefe an den Bruchausgangsstellen war um die Länge der etwa vorhandenen MnS-Einschlüsse (typisch 40 lm), Einbettungen von Fremdpartikeln, Mikroporen und sonstigen Fehlstellen zu vergrößern. Mit dem Spannungsintensitätsfaktor für lange Risse senkrecht zum freien Rand und dem p Längenparameter a nach El Haddad et al. (DK0 ˆ 1;12 Dr0 p…a ‡ a†, a ˆ 0;013 mm bzw. 0,019 mm bei R ˆ 0;1 bzw. 1) ergibt sich das Kitagawa-Diagramm nach Abb. 7.23. Das zugehörige Dauerfestigkeitsschaubild ist in Kap. 3.8 gezeigt (s. Abb. 3.44). Aus dem Untersuchungsergebnis geht hervor, daß selbst bei Proben ohne Eigenspannungen und Verfestigung in der Oberfläche das Oberflächenprofil allein zur Beurteilung der Dauerfestigkeit nicht ausreicht. Andererseits macht

472

7 Kurzrißbruchmechanik zur Ermüdungsfestigkeit

Abb. 7.23: Schwellenspannung für die Einleitung des Ermüdungsbruchs durch Oberflächenfehlstellen in ungekerbter Probe als Funktion der Fehlstellentiefe; Fehlstellen nach spanabhebender Feinbearbeitung mit darauffolgendem Spannungsarmglühen; tatsächliche Fehlstellentiefe um Einschlußlänge vergrößert; nach Suhr [502]

Abb. 7.24: Abminderungsfaktor der Dauerfestigkeit zweier hochfester Stähle als Funktion der maximalen Rauhtiefe; nach Greenfield et al. [1550]

die Berücksichtigung von Eigenspannungen und Verfestigung keine grundsätzliche Schwierigkeit, sofern diese Einflußgrößen hinreichend bekannt sind. Als Ergebnis einer ähnlichen Untersuchung (Greenfield et al. [1550]) an zwei hochfesten Stählen wird der Abminderungsfaktor cr der Dauerfestigkeit in Abhängigkeit der maximalen Rauhtiefe Rt angegeben, Abb. 7.24. Die Darstellung entspricht einem modifizierten Kitagawa-Diagramm. Die Kurven zeigen die Rechenwerte ausgehend von DK0 , DrD und dem Längenparameter a nach El Haddad et al., wobei die Rißlänge a der maximalen Rauhtiefe Rt gleichgesetzt wird. Experimentell ermittelte Daten sind vergleichsweise eingetragen (die großen Werte Rt wurden durch Einzelspitzkerben realisiert). Der höher-

7.3 Zyklische elastisch-plastische Rißfrontbeanspruchung

473

feste Stahl weist erwartungsgemäß die stärkere Abminderung auf. Das Diagramm entspricht einer herkömmlichen Darstellung des Rauhigkeitseinflusses (s. Abb. 3.41).

7.3

Zyklische elastisch-plastische Rißfrontbeanspruchung

Beanspruchungskennwerte ohne Rißschließen Um Kurzrisse unter zyklischer Beanspruchung wachsen zu lassen, sind relativ hohe Beanspruchungsamplituden erforderlich. Die zur Festlegung von Schwellenwerten bei niedriger Beanspruchung gerade noch geeigneten Kennwerte der linearelastischen Bruchmechanik verlieren daher beim Kurzrißfortschritt ihre Gültigkeit und sind durch elastisch-plastisch begründete Kennwerte zu ersetzen. Das gilt für Kurzrisse in ungekerbten Proben bei Beanspruchung nahe der Fließgrenze ebenso wie für Kurzrisse in der lokal plastisch verformten Zone von Kerben. Als Kennwerte eignen sich die zyklische Rißöffnungsverschiebung Dd, der zyklische Dehnungsintensitätsfaktor DKe und das zyklische J-Integral DJ, die nachfolgend zunächst für die ungekerbte Probe mit Kurzriß angegeben werden. Die zyklische Riß(spitzen)öffnungsverschiebung D d (auch COD- oder CTOD-Wert genannt, abgeleitet von crack opening displacement bzw. crack tip opening displacement) läßt sich im Bereich ausgedehnter Plastizität an den Rißspitzen bzw. bei Annäherung der Grundbeanspruchung an die Fließgrenze anstelle des zyklischen Spannungsintensitätsfaktors DK verwenden, der in den vorstehend genannten Fällen seine Gültigkeit verliert. Aus dem DugdaleModell [1077], dem ein Durchriß im überwiegend ebenen Spannungszustand zugrunde liegt, folgt mit DrF ˆ 2rF :    8 DrF p Dr ln sec Dd ˆ a p E 2 DrF

…7:33†

(ESZ)

Für den halbkreisförmigen Oberflächenriß ergibt sich unter Annahme elastischidealplastischen Werkstoffverhaltens und des ebenen Dehnungszustands an der Rißspitze (Vormwald u. Seeger [1523, 1526] gemäß Tada et al. [1041]):

Dd ˆ 1;07

8…1

2 m2 † DrF 4 a 1 p E

3 s   Dr 2 5 1 DrF

(EDZ)

…7:34†

Bei verfestigendem Werkstoff wird diese Formel durch Verwendung der F ˆ …r00;2 ‡ rZ †=2 anstelle von rF und des (zyklischen) Ersatzfließspannung r Sekantenmoduls Es anstelle des Elastizitätsmoduls E modifiziert.

474

7 Kurzrißbruchmechanik zur Ermüdungsfestigkeit

Der zyklische Dehnungsintensitätsfaktor DKe ist analog zum zyklischen Spannungsintensitätsfaktor DK festgelegt. Als Grundbeanspruchung wird anstelle der Spannung Dr die (Gesamt-)Dehnung De eingeführt und quasielastisch auf einen p Dehnungsintensitätsfaktor umgerechnet (im Unterschied zu (6.44) wird p mitgeführt). Außerdem kann ein Schwellenwert über den Längenparameter a nach El Haddad et al. berücksichtigt werden (an Stelle von a ist …a ‡ a† zu setzen). Beim halbkreisförmigen Oberflächenriß ist der Geometriefaktor Y ˆ 0;68 zu ergänzen: p DKe ˆ 0;68 EDe pa …7:35† Im Rahmen der Fließbruchmechanik mit Potenzgesetz (2.17) der Dehnungsverfestigung (Exponent n ≥ 1,0) haben Hutchinson, Rice u. Rosengren [1081, 1082, 1089] den singulären Spannungs- und Dehnungszustand an plastizierten Rißspitzen über plastische Spannungs- und Dehnungsintensitätsfaktoren Kr und Ke ausgedrückt. Die Singularität von rij bzw. eij folgt r 1=…n ‡ 1† bzw. r n=…n ‡ 1† . Das zyklische J-Integral DJ bei der an kurzen Rissen bei Rißfortschritt stärkeren plastischen Verformung wird als additive Überlagerung elastischer und plastischer Anteile der Formänderungsenergiedichten aufgefaßt (Darstellung nach Dowling [1075, 1076, 1114, 1115], aber zunächst ohne Rißschließeffekt): DJ ˆ DJel ‡ DJpl

…7:36†

Der elastische Anteil wird ausgehend von dem Zusammenhang nach (6.48) zwischen DJ und DK bei überwiegend elastischem Verhalten bestimmt. Hierbei kann der Längenparameter a mitberücksichtigt werden, indem …a ‡ a† anstelle von a gesetzt wird. Unter Annahme des ebenen Spannungszustands (ESZ) bzw. des ebenen Dehnungszustands (EDZ) sowie des Geometriefaktors Y ˆ 1;07  2=p ˆ 0;68 beim halbkreisförmigen Oberflächenriß gilt: DJel ˆ 0;682 DJel ˆ …1

…Dr†2 pa E

m2 † 0;682

…7:37†

(ESZ) …Dr†2 pa E

(EDZ)

…7:38†

Mit der elastischen Formänderungsenergiedichte Wel ˆ …Dr†2 =2E gilt für den Durchriß in der unendlich ausgedehnten Scheibe: DJel ˆ 2paWel

…7:39†

Der plastische Anteil in (7.36) wird ausgehend vom Verfestigungsgesetz 0 Dr=2 ˆ K 0 …Depl =2†n nach (2.17) angenähert (Shih u. Hutchinson [1091]): DJpl ˆ 2pa f …n0 †Wpl

…7:40†

Die zyklische plastische Formänderungsenergiedichte DWpl wird nach Dowling [1075, 1076, 1114, 1115] aus Dr und Depl bestimmt. Für (7.40) folgt:

7.3 Zyklische elastisch-plastische Rißfrontbeanspruchung

DJpl ˆ 2pa f …n0 †

DrDepl n0 ‡ 1

475

…7:41†

Mit Depl ˆ …De

Dr=E† wird schließlich ein Ausdruck für DJ gewonnen: " #   f …n0 † 2 f …n0 † …Dr†2 DrDe 1 DJ ˆ 2pa 0 …7:42† n ‡1 n0 ‡ 1 2E

Eine vereinfachte Form von (7.42) ist aus (7.48) ableitbar. Zum Vergleich mit DK-Werten kann DJ quasielastisch auf DKJ umgerechnet werden: DKJ ˆ

p EDJ

…7:43†

Beanspruchungskennwerte mit Rißschließen Die Berücksichtigung des sowohl bei einstufigen als auch mehrstufigen und allgemeineren Beanspruchungsabläufen bedeutsamen Rißschließens kann weiterhin über die zyklischen Kennwerte Dd, DKe und DJ erfolgen, die nunmehr als Effektivwerte Ddeff , DKe eff und DJeff erscheinen (ähnlich der Verwendung von DKeff anstelle von DK beim Langriß). Die nachfolgenden Formeln für diese Kennwerte beziehen sich durchweg auf den halbkreisförmigen Oberflächenriß mit Rißtiefe a. Sie sind über das jeweilige Verhältnis der Geometriefaktoren (näherungsweise von den linearelastischen Gegebenheiten ableitbar) auf andere Kurzrißarten übertragbar (z. B. auf den halbelliptischen Oberflächenriß, den viertelelliptischen Eckriß und den Durchriß in einer Scheibe). Die effektive Rißöffnungsverschiebung Ddeff folgt aus (7.34) mit der Differenz zwischen Oberspannung ro und Rißschließspannung rcl  rop : Ddeff ˆ 1;07

8…1

2 m2 † DrF 4 a 1 p E

3 s   ro rcl 2 5 1 DrF

…7:44†

Der effektive zyklische Dehnungsintensitätsfaktor DKe eff folgt aus (7.35) mit De ˆ …Deel ‡ Depl † sowie EDeel ˆ …ro ru †:  DKe eff ˆ 0;68 …ro

rcl † ‡ EDepl

p pa

…7:45†

Erweiterte Formeln, die verfestigenden Werkstoff berücksichtigen, sind bei Vormwald u. Seeger [1523, 1526] angegeben. Die Näherung für das mit Rißschließen wirksame DJeff -Integral wurde von Heitmann et al. [1598, 1599, 1605] auf Basis einer numerischen Lösung von He u. Hutchinson [1079] angegeben. Es wird zwischen elastischem und plastischem Energiedichteanteil (Wel und Wpl ; das Symbol D für „zyklisch“ ist hier

476

7 Kurzrißbruchmechanik zur Ermüdungsfestigkeit

Abb. 7.25: Elastische und plastische Energiedichteanteile (Wel eff und Wpl ) zum DJeff -Integral, veranschaulicht im zyklischen Spannungs-Dehnungs-Diagramm; nach Heitmann et al. [1598, 1599, 1605]

weggelassen) unterschieden, die nach Kumar et al. [1084] getrennt bestimmt und additiv überlagert werden (eine Näherung): DJeff ˆ …2;9 Wel eff ‡ 2;5 Wpl †a

…7:46†

Das Rißschließen beeinflußt nach diesem Ansatz nur den elastischen Anteil (ergibt Wel eff ), Abb. 7.25. Der Unterschied der Faktoren 2,9 und 2p in (7.46) und (7.39) rührt vom Geometriefaktor Y ˆ 0;68 beim halbkreisförmigen Oberflächenriß gegenüber Y ˆ 1;0 beim in einer Scheibe innen liegenden Durchriß her …2p  …0;68†2 ˆ 2;90†. Für den Oberflächenriß geben Heitmann et al. [1598, 1599, 1605] folgende Näherung an (Z-Integral mit zyklischem Verfestigungsexponenten n ˆ 1=n0 aus Depl ˆ C1 …Dr†n sowie Grundbeanspruchungen r und e am Ort des Risses): " # …Dreff †2 2;5n ‡ DrDepl a …7:47† DJeff ˆ Z ˆ 1;45 E 1‡n Eine ähnliche Formel wird von Dowling [1076] empfohlen (n0 nach (2.17)): " # …Dreff †2 1;02 ‡ p DrDepl a DJeff ˆ 1;24 …7:48† E n0 Die Formel ist auf den ebenen Dehnungszustand abgestellt (Faktor 1,24 statt 1,36 bei der Querkontraktionszahl m ˆ 0;3), der nach einem Vergleich der analytischen Lösung [1076] mit der numerischen Lösung von Trantina et al. [1092] als maßgebend bei halbelliptischen Oberflächenrissen angesehen wird. Ausgehend vom Entlastungsast der Hystereseschleife (J-Integral hier bis zum Rißschließen wegunabhängig) bestimmen Vormwald u. Seeger [1523, 1526]

7.3 Zyklische elastisch-plastische Rißfrontbeanspruchung

477

Abb. 7.26: Darstellung der effektiven zyklischen Spannung und Dehnung an der Hystereseschleife des Beanspruchungszyklus mit Rißöffnen (Index op) und Rißschließen (Index cl); nach Savaidis u. Seeger [1670]

die Größe DJeff unter Verwendung der Differenz zwischen gemessener Rißschließspannung rcl bzw. Rißschließdehnung ecl und Oberspannung ro bzw. Oberdehnung eo : (  ) …ro rcl †2 1;02 …ro rcl † ‡ p …ro rcl † …eo ecl † a …7:49† DJeff ˆ 1;24 E E n0 Im Unterschied zu (7.48) wird in (7.49) neben dem elastischen Anteil auch der plastische Anteil durch das Rißschließen modifiziert. Die in (7.49) eingehenden Größen sind in Abb. 7.26 dargestellt. Dem Ausdruck in der eckigen Klammer entspricht die effektive plastische Dehnungsschwingbreite Depl eff . Die Darstellung beinhaltet den empirischen Befund, daß Rißschließen und Rißöffnen bei derselben Dehnung erfolgen. Rißschließen beim Kurzriß, allgemeine Angaben Der Rißschließeffekt tritt beim Kurzriß (Durchriß oder Oberflächenriß) in anderer Weise als beim Langriß auf. Er bestimmt als Anlaufvorgang das Anrißverhalten im Einstufenversuch ebenso wie als Reihenfolgeeffekt das Anrißverhalten im Mehrstufen- und Random-Versuch, Abb. 7.27 (vgl. Abb. 6.52). Der Kurzrißfortschritt im Kerbgrund weicht von den Verhältnissen in der ungekerbten Probe erheblich ab (im Gegensatz zum Langrißfortschritt), so daß eine eigenständige Darstellung des Kurzrißverhaltens im Kerbgrund notwendig ist. Die Beschreibung des Rißschließverhaltens beim Kurzriß folgt in formaler Hinsicht dennoch jener beim Langriß (s. Kap. 6.9).

478

7 Kurzrißbruchmechanik zur Ermüdungsfestigkeit

Abb. 7.27: Darstellungsgesichtspunkte zum Rißschließen beim Kurzriß

Abb. 7.28: Rißschließanteil der Nennspannungsschwingbreite …R ˆ 1† als Funktion der Rißlänge beim über die Scheibendicke durchgehenden Anriß am Kerbrand; nach Sehitoglu et al. [1554] (obere Kurve Versuchsergebnisse, mittlere und untere Kurve Berechnungsergebnisse, Stahl 1070), Newman [1472] (Berechnungsergebnisse, Stahl G50.11), Petit et al. [1486] (Versuchsergebnisse, AlZnMgCu) und Verreman et al. [1579] (Versuchsergebnisse, Stahl A36); Darstellung nach Vormwald u. Seeger [1582] (vereinfacht)

Bei kurzen Rissen tritt das Rißöffnen relativ früh auf (also im Fall von R ˆ 1 bei betragsmäßig hoher Druckspannung) und das Rißschließen dementsprechend spät. Die Schwellenwerte werden dadurch verkleinert und die Rißfortschrittsraten erhöht. Der Effekt tritt besonders ausgeprägt an Rissen auf, die im Kerbgrund beginnen. Nach der Anlaufphase mit weitgehend geöffnetem Riß (transientes Rißschließverhalten) wird erst bei größerer Rißlänge …a ˆ 0;2 1 mm† der Sättigungswert des Rißschließanteils der zyklischen Nennspannung erreicht (stabilisiertes Rißschließverhalten), Abb. 7.28. Der Kurvenverlauf ist von Werkstoff, Proben- und Rißgeometrie, Spannungshöhe und

7.3 Zyklische elastisch-plastische Rißfrontbeanspruchung

479

Spannungsverhältnis abhängig [1497]. Da die Kurven an gekerbten Proben ermittelt wurden, geben sie nicht das reine Werkstoffverhalten wieder. Der Übergang zum Sättigungswert des längeren Risses erfolgt nach Tanaka [1159, 1506–1509, 1514] abhängig von der Rißlänge a gemäß dem Rißöffnungsverhältnis U (s. (6.82)): r a ‡ a U ˆ U0 a

…a  a†

…7:50†

Es ist U0 der Sättigungswert des Rißöffnungsverhältnisses beim längeren Riß und a der Längenparameter nach El Haddad et al. [1412]. Selbstverständlich sind auch andersartige formale Übergangsbeschreibungen möglich. In den bisherigen Lebensdauerberechnungen auf Basis des Kurzrißverhaltens bleibt das transiente Rißschließverhalten meist unberücksichtigt. Die Berücksichtigung verbessert die Vorhersagen nur unwesentlich (Anthes [1389]). Rißschließen beim Kurzriß unter Einstufenbelastung Zur Ermittlung des Rißschließens am halbkreisförmigen Oberflächenriß dienen experimentelle Verfahren (s. Kap. 6.9). Das Verfahren mit Dehnungsmeßstreifen nach Vormwald u. Seeger [1523, 1526] ist auf Kurzrisse in der Oberfläche zugeschnitten. Neben der Rißflanke eines in der Probenoberfläche erzeugten Kurzrisses wird ein Dehnungsmeßstreifen appliziert, dessen Meßsignal für die lokale Dehnung el mit jenem für die globale Dehnung e verglichen wird, Abb. 7.29. Die Spannungs-Dehnungs-Hystereseschleifen werden aufgenommen,

Abb. 7.29: Experimentelle Bestimmung des Kurzrißschließens: Probe (a) mit Dehnungsmeßstreifen am (Ermüdungs-)Anriß (b), Messung von globaler Dehnung e und lokaler Dehnung el ; nach Vormwald u. Seeger [1526]

480

7 Kurzrißbruchmechanik zur Ermüdungsfestigkeit

Abb. 7.30: Spannungs-Dehnungs-Hystereseschleifen zur experimentellen Bestimmung von Rißöffnen und Rißschließen beim Oberflächenkurzriß; nach Vormwald u. Seeger [1526]

Abb. 7.31: Eingestreute Lastfolgen und zugehörige Riefenbreiten auf der Bruchfläche, Auswertung hinsichtlich Rißschließ- und Rißöffnungsniveau; nach Sunder [1572] in [1524]

Abb. 7.30. Es ist el < e, weil der Dehnungsmeßstreifen im Rißschatten liegt. Rißschließen und Rißöffnen markieren sich als schwacher Knick in der Linie der lokalen Dehnungen, während die Linie der globalen Dehnungen im Rahmen der Meßgenauigkeit unverändert bleibt. Untersuchungen zum Rißschließen und Rißöffnen bei ein- oder mehrstufiger Belastung kurzer (oder langer) Risse sind auch nach einer besonderen Markiertechnik in der Bruchfläche möglich. Nach Sunder et al. [1233, 1535, 1572] wird die Riefenbreite auf der Bruchfläche ausgewertet, die sich bei Aufbringung einer besonderen, zum Zwecke der Riefenvermessung eingestreuten Lastfolge einstellt. Die eingestreute Lastfolge weist linear ansteigende bzw. abfal-

7.3 Zyklische elastisch-plastische Rißfrontbeanspruchung

481

lende Schwingbreiten bei gleichbleibender Oberlast auf, Abb. 7.31. Dort, wo die zugehörige Riefenbreite auf der Bruchfläche einen konstanten Wert erreicht bzw. aufgibt, ist das Rißschließ- bzw. Rißöffnungsniveau der Beanspruchung erreicht. Aus Untersuchungen an Stählen und Aluminiumlegierungen ist ersichtlich, daß Rißschließen und Rißöffnen bei der gleichen Dehnung erfolgen, eop ˆ ecl (Indizes von opening und closure). Demnach liegt die Rißöffnungsspannung deutlich höher als die Rißschließspannung, rop > rcl (dies wird rechnerisch bestätigt, s. Abb. 7.66). Die Rißöffnungsspannung erhöht sich zunächst mit zunehmender Grundbeanspruchungsamplitude und fällt dann wieder ab (s. Abb. 6.57), während sich die Rißschließspannung weniger ändert. Die Rißschließspannung liegt beim Kurzriß nahe der Unterspannung im Druckbereich. Sie nimmt ebenso wie die Rißöffnungsspannung mit wachsender Rißlänge rasch zu und erreicht beim längeren Riß einen Sättigungswert, nach Vormwald u. Seeger [1526] bereits bei a  0;2 mm (s. a. Abb. 7.28).

Rißschließen beim Kurzriß in Kerben Die lokale Rißöffnungsspannung am Grund von Kerben läßt sich bei kleinen Kerbradien meßtechnisch nicht direkt erfassen. Der Messung zugängig ist dagegen die Auswirkung auf die Nennspannung. Es wird deshalb der analytische Zusammenhang zwischen lokaler Rißöffnungsspannung rop und globaler Rißöffnungsnennspannung rn op benötigt. Gleichzeitig sind zur Durchführung von Rißfortschrittsberechnungen an gekerbten Bauteilen oder Proben die in die Berechnung eingehenden rißbruchmechanischen Kenngrößen (zyklischer Spannungsintensitätsfaktor bzw. zyklisches J-Integral) in den Nennspannungen auszudrücken, wobei das Rißschließen zu berücksichtigen ist. Für die rechnerische Erfassung des Rißschließens von Kurzrissen im stark inhomogenen Beanspruchungsfeld von Kerben gibt es folgende Möglichkeiten. Newman [1218] und Sehitoglu [1230] schlagen eine analytische Berechnung vor, die von einem modifizierten Dugdale-Modell der plastischen Zone an der Rißspitze ausgeht. Weitere Näherungsansätze wurden ausgehend von FiniteElemente-Berechnungen für den (Kurz-)Rißfortschritt im Kerbgrund gewonnen (Sun [1292], Ogura u. Ohji [1281], Lalor et al. [1554], McClung u. Sehitoglu [1273, 1274]). Als besonders wirkungsvoll erweist sich jedoch die nachfolgend beschriebene Kombination von inhomogener Kerbbeanspruchung mit dem Kurzrißverhalten im homogenen Beanspruchungsfeld. Der Grundgedanke dieser analytischen Vorgehensweise, die auf McClung [1561, 1562] zurückgeht, ist mit Abb. 7.32 veranschaulicht. Das Verhalten des Kurzrisses im Kerbgrund nach Abb. 7.32 (a) wird zutreffend beschrieben, wenn die elastisch-plastisch wirkende Kerbspannung in der Kerbe ohne Riß am Ort der fiktiven Rißspitze nach Abb. 7.32 (b) als Grundbeanspruchung des Kurzrisses gleicher Größe im homogenen Spannungs- und Dehnungsfeld nach Abb. 7.32 (c) eingeführt wird, um die im letzteren Fall bekannten Näherungsgleichungen für die Rißöffnungsspannung verwenden zu können.

482

7 Kurzrißbruchmechanik zur Ermüdungsfestigkeit

Abb. 7.32: Berechnung der Rißöffnungsspannung für den Kurzriß im Kerbgrund (a) ausgehend von der elastisch-plastischen Kerbspannungsverteilung (b) und der Rißöffnungsspannung für den Kurzriß im homogenen Spannungsfeld (c); Vorgehensweise nach McClung [1561, 1562] in der Darstellung nach Savaidis et al. [1565]

Abb. 7.33: Berechnete Rißöffnungsspannung in Abhängigkeit des Rißtiefe-Kerbradius-Verhältnisses für unterschiedliche Beanspruchungsamplituden; mit Nennspannung rn und Formzahl k ; mit Kerbradius q an den Versuchsproben; nach Savaidis et al. [1565]

Von Vormwald u. Seeger [1526] wird dieser Grundgedanke derart umgesetzt, daß Näherungen für die elastisch-plastische Kerbbeanspruchung nach Amstutz u. Seeger [638, 639] sowie Seeger u. Beste [665, 666] mit der Näherungsformel für die Rißöffnungsspannung nach Newman [1219] kombiniert werden. Die Vorgehensweise wurde von Savaidis et al. [1565] in allgemeinerer Form (Verwendung unterschiedlicher Ansätze für die Rißöffnungsspannung) an Lochscheiben mit Anriß am Kerbrand (vgl. Abb. 7.33) erprobt, wobei der Feinkorn-

7.3 Zyklische elastisch-plastische Rißfrontbeanspruchung

483

Abb. 7.34: Elastisches, plastisches und gesamtes J-Integral (Effektivwerte mit Rißschließen) für den halbkreisförmigen Kurzriß im Kerbgrund (halbkreisförmige Außenkerbe, Plattendicke t ˆ 8 mm) in Abhängigkeit der (Brutto-)Nennspannung; Finite-Elemente-Berechnung verglichen mit Näherungsformel; nach Dankert et al. [1541]

stahl StE 460 und die Aluminiumlegierung AA 5086 zugrunde lagen. Es stellte sich heraus, daß die Näherungsformel nach Newman mit modifizierter Fließspannung nach (6.92) verläßlichere Rißöffnungsspannungen ergibt als dieselbe Formel ohne Fließspannungsmodifikation, verläßlicher auch als der Näherungsansatz von Sun [1292]. Das experimentell bestätigte Berechnungsergebnis für Lochscheiben aus Stahl StE 460 ist in Abb. 7.33 dargestellt. Der Kurzriß im Kerbgrund bleibt auch im Druckbereich der Nennspannungsschwingbreite geöffnet, während der längere Riß außer bei hoher Nennspannungsamplitude bereits im Zugbereich schließt. Das nach vorstehend beschriebener Vorgehensweise zu den Rißöffnungs- und Rißschließbeanspruchungen schließlich berechenbare (effektive) J-Integral mit elastischem und plastischem Anteil für eine etwas geänderte Kerb- und Rißkonfiguration (halbkreisförmige Außenkerbe mit halbkreisförmigem Anriß im Kerbgrund, Zugscheibe aus Stahl StE 460) ist in Abb. 7.34 mit den Ergebnissen der genaueren Finite-Elemente-Rechnung verglichen. Die Kurven für das Gesamtintegral stimmen weitgehend überein. Die Weiterverwendung dieses effektiven J-Integrals in einer Rißfortschrittsberechnung ist in Abb. 7.69 gezeigt.

Rißschließen beim Kurzriß unter Mehrstufen- und Random-Belastung Bei nichteinstufiger und insbesondere bei regelloser Beanspruchung sind Rißöffnungs- und Rißschließspannung oder vorteilhafter die Rißöffnungsdehnung für jedes Schwingspiel vorgeschichtsabhängig neu zu ermitteln. Als ein grund-

484

7 Kurzrißbruchmechanik zur Ermüdungsfestigkeit

Abb. 7.35: Geöffneter Kurzriß im Druckdehnungszyklus nach Zugspitzendehnung: Dehnungsfolge (a) und Spannungs-Dehnungs-Hystereseschleifen (b); nach Vormwald u. Seeger [1526]

legendes Phänomen ist festzustellen, daß der Kurzriß sofort vollständig offen bleibt, wenn auf eine größere (Zug-)Dehnungsamplitude eine (wesentlich) kleinere Dehnungsamplitude folgt, selbst wenn letztere fast ganz im Druckdehnungsbereich liegt, Abb. 7.35 (bei kleinerem Unterschied der Dehnungsamplituden erfolgt der Übergang allmählich). Das gilt insbesondere für die regellose Beanspruchung, bei der auf eine größere Dehnungsamplitude eine größere Zahl kleinerer Dehnungsamplituden folgen kann, und erklärt die in Blockprogrammversuchen höher als in entsprechenden Random-Versuchen ermittelte Lebensdauer. Erst nach einer größeren Zahl weiterer Schwingspiele …N  103 † stellt sich bei mehrstufiger Beanspruchung die höhere Rißöffnungsdehnung gemäß Einstufenversuch ein. Der Einspielvorgang wird nach Vormwald [1523] und anderen Autoren [1214, 1216, 1217, 1563] durch eine Exponentialfunktion beschrieben. Der negative Exponent dieser Funktion läßt sich z. B. aus der Dauerfestigkeitsminderung im Wöhler-Versuch mit gegenüber der Dauerfestigkeit überhöhter Vorbelastung (Prestrain-Wöhler-Linien) ermitteln. In formal ähnlicher Weise wird der Einspielvorgang auf die veränderte Rißöffnungsdehnung bei Erhöhung der (Zug-)Dehnungsamplitude dargestellt. Nur wenn alle Amplituden vollständig im Druckbereich liegen, bleibt der Riß unabhängig von der Amplitudenfolge geschlossen. Der bedeutsamste Unterschied zwischen Kurzriß- und Langrißverhalten kommt in der Reaktion auf eingestreute Spitzenlasten zum Ausdruck. Beim Langriß unter (notwendigerweise) niedriger Grundbeanspruchung erhöht die Spitzenlast die Rißschließspannung. Die Rißfortschrittsrate wird dadurch vermindert. Beim Kurzriß unter (zulässigerweise) hoher Grundbeanspruchung (Nennspannung im ungekerbten Stab oder Kerbspannung im gekerbten Stab) erniedrigt die Spitzenlast die Rißschließspannung. Die Rißfortschrittsrate wird dadurch erhöht.

7.4 Kurzrißfortschrittsmodelle

7.4

485

Kurzrißfortschrittsmodelle

Mikrostrukturelle Rißfortschrittsrate Die Arten des zyklischen Rißfortschritts und seine Beschreibung sind aus dem erweiterten Kitagawa-Diagramm nach Brown [1397] ersichtlich (s. Abb. 7.8). Kurzrisse mit einer Größe oberhalb des mikrostrukturellen Hindernisabstandes (dh  0;1 mm für den untersuchten 0,4%C-Stahl) müssen eine relativ hohe Schwellenspannung überwinden, um zyklisch fortzuschreiten. Die elastisch-plastische Bruchmechanik auf kontinuumsmechanischer Basis ist die angemessene Beschreibungsform. Kurzrisse mit einer Größe unterhalb des Hindernisabstandes können dagegen eine relativ niedrige Schwellenspannung aufweisen (unterhalb der Dauerfestigkeit). Die kontinuumsmechanische Betrachtung ist wegen der Dominanz mikrostruktureller Erscheinungen eigentlich nicht zulässig, wird aber als empirische Nährung auch in diesem Bereich angewendet. Die mikrostrukturelle Kurzrißfortschrittsrate tritt in wechselnder Größe auf: hohe Fortschrittsrate zwischen den mikrostrukturellen Hindernissen (speziell Korngrenzen oder Einschlüsse), auf null absinkende Fortschrittsrate an den

Abb. 7.36: Kurzrißfortschritt in hochfester Aluminiumlegierung als Funktion der Schwingspielzahl (a) und zugehörige Rißfortschrittsrate als Funktion der Rißlänge (b), Rißstillstand an mikrostrukturellen Hindernissen; nach Blom et al. [1393]

486

7 Kurzrißbruchmechanik zur Ermüdungsfestigkeit

Abb. 7.37: Kurzrißfortschritt in feinkörnigem (kohlenstoffarmem) Stahl: Schliffbild mit Rißpfad (a) und zugehörige Rißfortschrittsrate als Funktion der Rißlänge (b), Pfeile verweisen auf Rißstillstand (für mehrere Schwingspiele) an Korngrenzen; nach Tokaji et al. [1518]

Hindernissen (stop and go), Abb. 7.36 und Abb. 7.37. Der Rißfortschritt erfolgt unstetig. Kennzeichnend ist der wiederholte Abfall und Wiederanstieg der Rißfortschrittsrate bei zunehmender Rißlänge und gleichbleibender Beanspruchungsamplitude, der mit der Korngröße korreliert werden kann. Für Ingenieurszwecke bieten sich Näherungsformeln an, die einen einzigen Abfall beim mikrorißbegrenzenden Hindernisabstand dh anzeigen. Für kurze Oberflächenrisse (mit Rißlänge ao ˆ 2c an der Oberfläche) ergaben sich in Versuchen zur Kurzzeitschwingfestigkeit an axialbeanspruchten Proben aus kohlenstoffarmem Stahl folgende Rißfortschrittsraten unterhalb und oberhalb des Hindernisabstandes dh (dh  120 lm entsprechend Ferritplättchenlänge, Versuchsergebnisse nach Hobson et al. [1420–1422]): dao ˆ 1;54  105 …De†3;51 …dh dN dao ˆ 4;1…De†2;06 ao dN

ao †

4;24  10

3

…ao < dh †

…7:51†

…ao > dh †

…7:52†

7.4 Kurzrißfortschrittsmodelle

487

Abb. 7.38: Kurzrißfortschrittsrate als Funktion der Rißlänge bei unterschiedlichen Dehnungsschwingbreiten im dehnungsgeregelten Schwingversuch; nach Hobson [1420–1422] und nach Brown [1397]

Mit De wird die Gesamtdehnungsschwingbreite bezeichnet. Die subtrahierte Größe in (7.52) ist in lm pro Schwingspiel angegeben. Dieses phänomenologische Modell wurde von Murtaza u. Akid [1466] sowie von Angelova u. Akid [1388] erweitert. Die Rißfortschrittsrate nach (7.51) und (7.52) ist mit dh ˆ 100 lm in Abb. 7.38 dargestellt. Die doppeltlogarithmische Auftragung entspricht dem Langrißverhalten, die Auftragung im linearen Maßstab eignet sich offensichtlich besser für das Kurzrißverhalten. Beide Diagramme entsprechen dem dehnungsgeregelten Wöhler-Versuch. Beim Ersatz der Dehnungsschwingbreite durch die Spannungsschwingbreite, vermittelt über die zyklische SpannungsDehnungs-Kurve in der Formulierung (2.16) nach Ramberg und Osgood, werden die Verhältnisse im spannungsgeregelten Versuch dargestellt. Die grafische Auftragung nach Abb. 7.39 entspricht der Verwendung der Kurven im KitagawaDiagramm (s. Abb. 7.8). Für kurze Oberflächenrisse in torsionsbeanspruchten Proben aus 0,4%C-Stahl ergaben sich ähnliche Beziehungen unter Verwendung der plastischen Scherdehnungsschwingbreite Dcpl (Versuchsergebnisse nach Miller et al. [925, 1604]): dao ˆ 6;0…Dcpl †2;24 …dh dN

ao †

dao ˆ 17;4…Dcpl †2;68 ao dN

8;26  10

…ao < dh † 4

…ao > dh †

…7:53† …7:54†

Die subtrahierte Größe in (7.54) ist wieder in lm pro Schwingspiel angegeben. Der Hindernisabstand wird mit dh ˆ 330 lm eingeführt. Das entspricht ungefähr dem Abstand der harten Perlitbänder im ansonsten ferritischen Gefüge.

488

7 Kurzrißbruchmechanik zur Ermüdungsfestigkeit

Abb. 7.39: Spannungsschwingbreite als Funktion der Rißlänge bei unterschiedlichen Rißfortschrittsraten, umgerechnet aus den Daten des dehnungsgeregelten Schwingversuchs in Abb. 7.38; nach Brown [1397]

In ähnlicher Weise sehen Li u. Edwards [1441–1443] die maximale Scherdehnungsschwingbreite (maximal innerhalb des Dehnungstensors) als maßgebend für den Rißfortschritt im Stadium I an. Kontinuumsmechanische Kurzrißfortschrittsrate Auf kontinuumsmechanischer Basis (im Unterschied zur vorstehend in (7.51) bis (7.54) gewählten empirischen Basis) läßt sich die Rißfortschrittsrate beim mikrostrukturell unbeeinflußten Kurzriß abhängig von den elastisch-plastischen Beanspruchungsparametern an der Rißspitze angeben. Dabei sind die effektiven Werte einzuführen, die das (beim Kurzriß verminderte) Rißschließen berücksichtigen. Es sind dies die effektiven Schwingbreiten der Rißöffnungsverschiebung D deff nach (7.44) und des Dehnungsintensitätsfaktors DKe eff nach (7.45) sowie das effektive zyklische J-Integral DJeff nach (7.49). Der Ansatz von McEvily et al. [1452] auf Basis von DKeff mit kleiner werkstoffspezifischer Rißspitzenrundung ist dagegen weniger zu empfehlen (s. a. [1405]). Die beste Übereinstimmung zwischen den Versuchsergebnissen von Kurzriß und Langriß wird nach Heitmann et al. [1598, 1599, 1605] sowie Vormwald u. Seeger [1523, 1526] über das DJeff -Integral (von Heitmann et al. als Z-Integral eingeführt) erzielt, Abb. 7.40 und 7.41 im Vergleich sowie Abb. 7.42. Die Kurzrißfortschrittsrate wird daher als Funktion des DJeff -Integrals dargestellt (mit Schwellenwert DJ0 eff ): da ˆ CJ …DJeff †m dN

…DJeff > DJ0 eff ; m ˆ mJ †

…7:55†

Die Werkstoffkenngrößen CJ , m und DJ0 eff in (7.55) haben die in Tabelle 7.2 angegebene Größe.

7.4 Kurzrißfortschrittsmodelle

489

Abb. 7.40: Rißfortschrittsrate kurzer und langer Risse als Funktion des DKeff -Werts bei unterschiedlichen plastischen Dehnungsschwingbreiten; nach Heitmann et al. [1598, 1599, 1605]

Abb. 7.41: Einheitliche Rißfortschrittsrate kurzer und langer Risse als Funktion des DJeff -Integrals; mit Versuchsergebnissen aus Abb. 7.40; nach Heitmann et al. [1598, 1599, 1605]

490

7 Kurzrißbruchmechanik zur Ermüdungsfestigkeit

Abb. 7.42: Rißfortschrittsrate kurzer und langer Risse als Funktion des DJeff -Integrals; nach Vormwald u. Seeger [1526] Tabelle 7.2: Werkstoffkennwerte zum Kurzrißfortschritt gemäß da=dN ˆ CJ …DJeff †m ; mit CJ in (mm/Schwingspiel)/(N/mm)m , m dimensionslos, DJ0 eff in N/mm; StE 460 nach Heitmann et al. [1598, 1599, 1605], StE 460, StE 690 und AlMg4,5Mn nach Vormwald [1523] Werkstoff

CJ

StE 460 StE 460 StE 690 AlMg4,5Mn

7;3  10 3;9  10 3;8  10 2;1  10

5 5 5 4

m ˆ mJ

DJ0 eff

1,450 1,575 1,400 1,550

– 0,059 0,023 0,011

Barrieremodell des Kurzrißfortschritts nach Tanaka und Vormwald Eine kontinuumsmechanisch und mikrostrukturell fundierte, einheitliche Beschreibung des Rißfortschritts im Bereich des mikrostrukturellen Hindernisses (der Barriere) wurde von Vormwald [1523] auf der Basis von Tanaka et al. [1506–1509, 1574] gegeben, Abb. 7.43. Der erste Anriß wird als Bruch eines Einschlusses innerhalb eines Kristallits angenommen. An der Rißspitze treten bei Zugbeanspruchung senkrecht zur Rißebene unter 45  geneigte Gleitbänder auf, die an der Korngrenze zunächst aufgehalten werden und sich dann abknickend fortsetzen. Der Mikroriß vergrößert sich senkrecht zur Grundbeanspruchung. Die einheitliche Beschreibung des Rißfortschritts in Analogie

7.4 Kurzrißfortschrittsmodelle

491

Abb. 7.43: Barrieremodell des Kurzrißfortschritts nach Tanaka [1506]: Mikroriß im Ausgangskristallit mit Gleitbändern ausgehend von der Rißspitze und abknickend an der Korngrenze (a), Spannungsverteilung in der Rißebene bei erniedrigter Fließspannung im Ausgangskristallit (b); nach Vormwald [1523]

Abb. 7.44: Rißfortschrittsrate als Funktion der Rißlänge beim Überschreiten einer Korngrenze, Berechnungsergebnis auf Basis des Barrieremodells; nach Vormwald [1523]

zu (6.90) gelingt auf der Basis der zyklischen Riß(spitzen)öffnungsverschiebung D d nach dem Dugdale-Modell, wenn im Ausgangskristallit eine gegenüber den Nachbarkristalliten verminderte Fließgrenze angenommen wird: da ˆ Cd …D deff dN

D d0 eff †m

…m ˆ md †

…7:56†

Die Näherungsgleichung für D d hat je nach Lage der plastischen Zone an der Rißspitze unterschiedliche Form. Die plastische Zone liegt anfangs innerhalb

492

7 Kurzrißbruchmechanik zur Ermüdungsfestigkeit

des Ausgangskristallits (mit verminderter Fließgrenze), reicht später vom Ausgangskristallit in den Nachbarkristallit hinein und erfaßt schließlich mehrere Nachbarkristallite. Eine beispielhafte Rechnung nach Vormwald [1523] zeigt die Leistungsfähigkeit des Modells, Abb. 7.44. Das Modell ist auch geeignet, die Bedingung des Schwellenwerts und Rißstillstands innerhalb des Ausgangskristallits darzustellen (plastische Zone bis Korngrenze). Die Zielsetzung des Modells, den primär durch mikrostrukturelle Barrieren bedingten Reihenfolgeeffekt bis zur Bildung des technischen Anrisses zu beschreiben, wurde erreicht. Der durch mikrostrukturelle Barrieren bedingte Reihenfolgeeffekt ist jedoch gegenüber dem durch Rißschließen bedingten Reihenfolgeeffekt in erster Näherung vernachlässigbar (im Unterschied zur Beeinflussung von Schwellenwert und Dauerfestigkeit). Barrieremodell des Kurzrißfortschritts nach Navarro und de los Rios Ein weiteres Barrieremodell zur Beschreibung des wiederholten Verzögerns und Beschleunigens des Kurzrißfortschritts beim Durchlaufen der Korngrenzen wurde von Navarro und de los Rios [1468–1471] entwickelt (Beschreibung in Anlehnung an Anthes [1389]). Es wird angenommen, daß der Mikroriß in einem Gleitband in der Mitte des Korns oder der mikrostrukturellen Phase entsteht und sich proportional zur plastischen Rißspitzenabgleitverschiebung (oder gemäß Potenzgesetz) vergrößert. Die Rißspitzenabgleitverschiebung nach Modus II ist das Pendant zur Rißspitzenöffnungsverschiebung nach Modus I. Diese lassen sich ausgehend von verteilten Stufenversetzungen modellieren (Bilby et al. [1074], Navarro u. de los Rios [1086, 1471]; s. a. Verfahrensdarstellung von Hills et al. [1001] und Weertmann [1005]). Das Gleitband wird von Korn- und Phasengrenzen blockiert. Dadurch wird auch die plastische Zone an der Rißspitze behindert, was zur Verminderung der Rißfortschrittsrate führt. Erst bei einem kritischen Beanspruchungswert wird die Barriere überwunden. Im Nachbarkorn entsteht ein neues Gleitband, und die Plastizierung kann sich jetzt auch auf dieses Korn erstrecken. Die Rißfortschrittsrate nimmt dadurch wieder zu. Der Vorgang des Verzögerns und Beschleunigens wiederholt sich beim Durchlaufen jeder weiteren Korngrenze. Mit zunehmender Rißlänge wird jedoch der Anteil des unstetigen Rißwachstums an der Rißfortschrittsrate immer geringer. Das beschriebene Modell wurde für Stähle entwickelt, zeigt aber auch bei Aluminiumlegierungen befriedigende Ergebnisse. Nach vorstehendem Modell nimmt der Einfluß der Mikrostruktur mit der Rißlänge stetig ab. In der Wirklichkeit wird dagegen beobachtet, daß ab einer bestimmten Rißlänge überhaupt kein Einfluß der Mikrostruktur auftritt. Dies wird in einer Modellerweiterung nach Hussain et al. [1424, 1425] berücksichtigt. Für die von der Mikrostruktur unabhängige Rißfortschrittsphase wird angenommen, daß die aufgebrachte Spannung grundsätzlich ausreicht, um die Korngrenzenbarriere zu überwinden (d. h. ohne einen Schwellenwert der Spannung). Das vorstehend beschriebene Barrieremodell des Kurzrißfortschritts wurde mit einer stochastischen Simulation der Kristallitstruktur verbunden, um Texturein-

7.4 Kurzrißfortschrittsmodelle

493

flüsse auf den Kurzrißfortschritt abzubilden (Wilkinson [1530]). Ein ähnlicher Ansatz wird von Olfe et al. [1482] verfolgt.

Modellweiterentwicklung zum Kurzrißfortschritt nach Schick Das vorstehend beschriebene Barrieremodell zum Kurzrißfortschritt wurde von Schick et al. [1607–1609] wesentlich verbessert und erweitert, wobei folgende experimentelle Befunde an einer Titanlegierung (Floer et al. [1595–1597]) zugrundeliegen. Ab etwa der zyklischen 0,1%-Fließgrenze tritt intensive Gleitbandbildung an der Probenoberfläche auf, wobei die aktivierten Gleitsysteme gleich bleiben. Risse werden sowohl transkristallin als auch interkristallin an Großwinkelkorngrenzen (wechselseitiger Mißorientierungswinkel ≥ 158) eingeleitet. Die insgesamt dominierenden transkristallinen Risse im Stadium I folgen Gleitbändern, die etwa in Korngrenzenmitte zwischen zwei Tripelpunkten (das sind die Auftreffpunkte dreier Korngrenzlinien) aktiviert werden. Die Risse ändern den Gleitbändern entsprechend an Korngrenzen ihre Richtung. Deren Barrierewirkung ist besonders groß, wenn die Rißebene nicht nur abknickt, sondern durch Kippen oder Drehen die neue Gleitebene erreichen muß. Die abknickende Gleitbandspur an der Probenoberfläche bildet dementsprechend eine Stufe. Die Rißdichte steigt mit der Spannungsamplitude und der Zyklenzahl. Das Rißwachstum entlang der Probenoberfläche ist ausgeprägter als das Tiefenwachstum. Das durch Rißflankenrauhigkeit bedingte geometrische Rißschließen tritt im Stadium I des Rißfortschritts bei größerer Rißlänge auf. Das Stadium II wird erst nach dem Zusammenwachsen von Rissen erreicht, die sich bis dahin im Stadium I befanden (Floer et al. [1596, 1597]). Zu den wesentlichen Neuentwicklungen von Schick gehört ein Fließstreifenmodell des auf Längsschub beanspruchten Kurzrisses, die numerische Implementierung desselben als Linienelemente mit Dipolversetzung, darauf aufbauend Rißfortschrittsberechnungen an Einzelkörnern mit Nachbarbereichen und schließlich die Einbettung des Rißfortschrittsmodells in ein stochastisch simuliertes Gefüge. Das Fließstreifenmodell des Kurzrisses unter Längsschubbeanspruchung (Modus II) nach Bilby, Cottrell und Swinden [1074] (BCS-Modell) entspricht dem Dugdale-Modell bei Querzugbeanspruchung. An Stelle der Riß(spitzen) öffnungsverschiebung (COD- bzw. CTOD-Wert) tritt die Riß(spitzen)abgleitverschiebung (CSD- bzw. CTSD-Wert) als Beanspruchungsparameter, der den zyklischen Rißfortschritt im Stadium I steuert. Dieses Modell muß an die besonderen Verhältnisse in einem Gefügekorn mit beidseitiger Korngrenze angepaßt werden und sollte die abknickende Rißfortsetzung außerhalb der Korngrenzen miterfassen, Abb. 7.45. Die numerische Lösung erfolgt nach der Methode der (entlang des Risses und Fließstreifens) stetig verteilten Versetzungen nach Diskretisierung in Linienelemente mit Versetzungsdipolen, die den Randbedingungen ausgehend vom analytisch beschriebenen Basismodell angepaßt werden (Burgers-Vektoren, Greensche Funktionen, lineare Gleichungssysteme). Es wird unterschieden zwischen Rißelementen, Fließstreifenelementen

494

7 Kurzrißbruchmechanik zur Ermüdungsfestigkeit

Abb. 7.45: Gleitband mit Anriß in einem Gefügekorn; Rißspitzenabgleitverschiebung d (CTSD-Wert) unter Längsschubbeanspruchung des Gleitbands bei gleichzeitiger Rißöffnung; potentielle Gleitbänder in den Nachbarkörnern; nach Schick [1607] (leicht abgewandelt)

und Elementen, die der Bestimmung der potentiellen Rißrichtung im Nachbarkorn dienen. Rißschließen wird durch einen besonderen, iterativ vorgehenden Algorithmus erfaßt. Bei zyklischer Beanspruchung wird die Rißfortschrittsvergangenheit mitgeführt, die in Form von plastischen Vorverformungen bzw. Eigenspannungen den Fließstreifen beeinflußt. Als Ergebnis für die anschließende Rißfortschrittsberechnung erscheint die (effektive) Rißspitzenabgleitverschiebung. Als Eingabeparameter werden neben der äußeren Belastung (Grundbeanspruchung), den Elastizitätskonstanten und dem Korndurchmesser (aus Schliffbildern) folgende Größen benötigt: die mikroskopische Fließschubspannung sF , die sich von der makroskopisch meßbaren Fließschubspannung sF infolge der fehlenden Barrierewirkung wesentlich unterscheidet, desweiteren ein kritischer Wert der mikroskopischen Schubspannung, bei dem sich das Gleitband in das Nachbarkorn fortsetzen kann. Beide Kennwerte werden aus makroskopisch meßbaren Grenzbeanspruchungszuständen über versetzungstheoretisch begründete Näherungen bestimmt. Die Lebensdauerberechnung beruht auf der von Tanaka [1506, 1507] sowie Navarro u. de los Rios [1469] vorgeschlagenen Rißfortschrittsgleichung: da ˆ C…D d†m dN

…7:57†

in der D d die (effektive) zyklische Rißspitzenabgleitverschiebung (den zyklischen CTSD-Wert) bezeichnet und C und m experimentell zu bestimmende Anpassungsparameter sind. Diesem Gleichungsansatz liegt die Vorstellung zugrunde, daß die Rißspitzenabgleitverschiebung teilweise irreversibel ist und dadurch die Rißvergrößerung eintritt. Demnach sollte C  1,0 sein. Der Exponent m liegt nach experimentellen Untersuchungen in der Größenordnung von eins.

7.4 Kurzrißfortschrittsmodelle

495

Abb. 7.46: Gleitband mit Anriß in einem Gefügekorn (Anrißlänge 2a0 ˆ 5 lm, Korndurchmesser 100 lm) im Modell der Lebensdauerberechnung zu einer Titanlegierung; nach Schick [1607]

Zur Beschreibung des Kurzrißfortschritts in polykristallinen Werkstoffen ist das Kurzrißfortschrittsmodell in ein stochastisch strukturiertes Gefüge (MonteCarlo-Simulation [1382], Simulation des Kornwachstums [1586]) einzubinden. Verfahrensrelevante Kenngrößen des Gefüges sind Korndurchmesser und Kornorientierung (bzw. der Mißorientierungswinkel der angrenzenden Körner). Die Wahrscheinlichkeitsdichteverteilung der Korngröße wird im vorliegenden Fall durch die logarithmische Normalverteilung zutreffend beschrieben. Die Verteilung des Mißorientierungswinkels hat ein kristallographisch begründetes spitzes Maximum bei 458. Für die rechnerische Gefügegenerierung bietet sich der von Voronoi [1613] angegebene Algorithmus an, durch den im Mittel sechs gerade Kanten pro Korn entstehen (im Fall ebener Verhältnisse). Nach einem alternativen Verfahren wird eine regelmäßige zu einer regellosen Sechseckstruktur verzerrt. Aus der generierten Gefügestruktur ist die statistische Verteilung des Korndurchmessers ableitbar (bzw. überprüfbar). Jeder Gitterzelle wird nunmehr eine statistisch begründete Orientierung zugewiesen, woraus sich die Verteilung des Mißorientierungswinkels ergibt. Die Lebensdauerberechnung setzt die Definition des Anfangsrisses relativ zur Korngeometrie voraus. Ausgehend von den experimentellen Befunden an der betrachteten Titanlegierung wird der Anfangsriß in der Mitte zwischen zwei Tripelpunkten bei etwa zwei Drittel der Gleitbandlänge positioniert, Abb. 7.46. Ihm wird die (Oberflächen-)Rißlänge 2a0 ˆ 5 lm zugeordnet (bei einem mittleren Korndurchmesser von 100 lm), mit einer aus dem Experiment bekannten, von der Beanspruchungshöhe abhängigen Zyklenzahl für die Rißeinleitung. Die Bedingungen zum Korngrenzenübertritt des Risses machen im Modell besondere Schwierigkeiten. Nur Großwinkelkorngrenzen mit einem Mißorientierungswinkel der angrenzenden Körner von mehr als 158 zeigen den Barriereeffekt. Eine Verdrehung der Gleitebenen gegeneinander in Tiefenrichtung bedingt besonders hohen Widerstand, weil in der Korngrenzfläche zusätzliche Oberflächen gebildet werden müssen (Auffächern der Rißfläche im Raum, dadurch Stufen zwischen den Gleitspuren in der Ebene). Als Endrißlänge wurde

496

7 Kurzrißbruchmechanik zur Ermüdungsfestigkeit

2a0 ˆ 300 lm gewählt. Das entspricht dem mittleren Rißkeimabstand und damit dem Beginn des Rißzusammenwachsens. Es ist hervorzuheben, daß die Berechnung mit der Grundbeanspruchung des Gefüges durchgeführt wird, daß also die durch die Gefügestruktur besonders an den Korngrenzen hervorgerufenen lokalen Spannungserhöhungen unberücksichtigt bleiben. Auch ist bei allen Betrachtungen zu beachten, daß das ebene Modell den Schnitt durch ein räumliches Kristallithaufwerk darstellt und von daher zu interpretieren ist. Beide Einschränkungen lassen sich durch neuere Rechenprogramme beheben, die von der Cornell University Fracture Group (www.cfg.cornell.edu) angeboten werden. Das regellos strukturierte räumliche Gefüge wird hierbei mit der Finite-Elemente-Methode nachgebildet (derzeit maximal etwa 100 Körner, dargestellt durch 7 × 106 Tetraederelemente bei 3 × 106 Knotenpunkten). Weitere Modelle zum Kurzrißfortschritt Die Zahl der wissenschaftlichen Publikationen zum Kurzrißfortschritt und dessen modellhafter Beschreibung ist sehr groß. Eine befriedigende Gruppenordnung der Modelle ist nicht möglich. Gelegentlich wird zwischen phänomenologischen oder empirischen Modellen einerseits und mechanischen Modellen andererseits unterschieden, letztere weiter unterteilbar nach dem maßgebenden Abmessungsbereich (nano-mikro, mikro-meso und meso-makro nach Raabe [1382]). Zu analytischen Kurzrißmodellen gibt Hussain [1424] einen Überblick, zum Kurzrißfortschritt allgemein berichten McEvily [1451] und Miller [1458, 1459]. Nachfolgend wird eine von Anthes [1389] vorgelegte Zusammenstellung mit stichwortartiger Erläuterung in leicht abgeänderter Form wiedergegeben, wobei einige bereits besprochene Arbeiten weggelassen und neuere Arbeiten hinzugefügt sind: – Abdel-Raouf et al. [1387, 1534]: Beschreibung der Dauerfestigkeit und des Kurzrißfortschritts durch Abbildung der Oberflächendehnung und des Rißschließens. – Ahmadi u. Zenner [1587–1590]: Stochastisches Modell der Gefügestruktur und der Rißeinbringung angepaßt an die auf der Probenoberfläche beobachteten Risse (Parameteridentifikation); Schadensakkumulationsrechnung mit zunehmend steilerer Bezugs-Wöhler-Linie, den wachsenden Rißlängen entsprechend; Einfluß der Beanspruchungsmehrachsigkeit. – Barenblatt [1391]: Einfaches, theoretisch orientiertes, mikrostrukturelles Kurzrißmodell. – Bataille et al. [1392]: Statistisch basiertes numerisches Modell für Kurzzeitermüdung auf Basis spezieller Rißfortschrittsgleichungen; Annahme zum Zusammenwachsen von Mikrorissen. – Bomas et al. [874, 1395, 1396]: Rißfortschrittsrate dargestellt als Sägezahnfunktion; Verwendung des Schädigungsparameters PSWT; basierend auf dem Kurzrißmodell von Grabowski u. King.

7.4 Kurzrißfortschrittsmodelle

497

– Chan u. Lankford [1400, 1437, 1438]: Beschreibung der Rißfortschrittsrate in Abhängigkeit der akkumulierten plastischen Dehnung, die vom Abstand der Rißspitze zur nächsten Korngrenze abhängt. – de los Rios et al. [1401–1404, 1462, 1504, 1532]: Gleitbandblockiermodell; Beschreibung von Mikrorißentstehung und Mikrorißfortschritt in den Ferritphasen eines 0,4%C-Stahls; Erfassung auch der Kornorientierung und Verformungsverfestigung im Modell. – Doquet [1406]: Analytisches Modell des Kurzrißfortschritts, mehrachsige ebene Beanspruchung, Konzept der über die Rißlänge stetig verteilten Versetzungen. – Grabowski u. King [1416]: Beschreibung des Kurzrißfortschritts in einer Nickellegierung ausgehend von einem Zweiphasenmodell („weiche“ und „harte“ Barrieren); Erfassung der Rißpfadablenkung in den Körnern und an den Korngrenzen. – Hoshide et al. [1423, 1552, 1553]: Analytisches Modell des Kurzrißfortschritts, stochastisches Modell der Gefügestruktur und versetzungstheoretisches Modell der Rißeinleitung an Gleitbändern angewendet auf Kerben. – James et al. [1427, 1428]: Kurzrißmodell mit konservativer Lebensdauerabschätzung durch Verwendung des Schwellenwerts des Spannungsintensitätsfaktors mit den totalen statt den effektiven Schwingbreiten. – Kujawski u. Ellyin [1430–1434]: Kurzrißmodell mit Berücksichtigung des global feststellbaren Ermüdungsverhaltens sowie der mechanischen Eigenschaften der Oberflächenschicht; Modellierung des Rißfortschritts als lokales Versagen verursacht durch Akkumulierung plastischer Dehnungen in der Oberflächenschicht. – Matvienko et al. [1174, 1445]: Dehnungskriterium zum Kurzrißfortschritt im gemischten Modus. – McEvily et al. [1450–1455]: Kurzrißmodell mit drei Modifikationen gegenüber dem Langrißverhalten, nämlich Konstante zur Kopplung von rißfreien und rißbehafteten Konstellationen, Berücksichtigung des Verhältnisses von zyklischer plastischer Zone zur Rißlänge und Einbeziehung des transienten Rißöffnungs- und Rißschließverhaltens. – Meyer et al. [1603]: Stochastisches Modell zu Einleitung, Wachstum und Zusammenwachsen von Kurzrissen in Werkstoffen mit hoher Anrißdichte (hier martensitischer Stahl); stochastische Simulation der Gefügestruktur. – Miller et al. [1417, 1456–1459]: Drei Rißlängenbereiche mit unterschiedlichen Rißfortschrittsgleichungen, nämlich mikrostrukturelle Zone, Übergangszone und Zone mit Gültigkeit der Kontinuumsmechanik; davon ausgehend Berechnung der Schadensakkumulation. – Nakai u. Ohji [1467]: Beschreibung des Rißfortschritts bei physikalisch kurzen aber mikrostrukturell langen Rissen auf Basis des Rißschließverhaltens. – Newman et al. [1472–1476]: Beschreibung des Rißschließens auf Basis des Dugdale-Modells in Verbindung mit einem im Hinblick auf die zyklische plastische Zone korrigierten Spannungsintensitätsfaktor (Rißlänge um ein

498









7 Kurzrißbruchmechanik zur Ermüdungsfestigkeit

Viertel dieser Zone vergrößert); Erfassung des transienten Rißöffnungs- und Rißschließverhaltens über eine Anfangsfehlstelle mit elliptischer Form. Tanaka et al. [1506–1514]: Gleitbandblockiermodell; Mikrorißentstehung innerhalb eines Korns mit Gleitbändern ausgehend von den Rißspitzen, die an den Korngrenzen aufgehalten werden; versetzungstheoretisches Modell der Kurzrißeinleitung an Gleitbändern; Beschreibung des Rißwachstums bis zum Durchschreiten der ersten Korngrenze in Abhängigkeit der Rißspitzenabgleitverschiebung (crack tip sliding displacement) und anschließend in Abhängigkeit der Rißspitzenöffnungsverschiebung (crack tip opening displacement); Erfassung des transienten Rißöffnungs- und Rißschließverhaltens; stochastische Simulation der Kristallitstruktur. Wang u. Miller [1527, 1528]: Drei Phasen des Rißfortschritts, nämlich Ausbildung von plastischer Verformung, Fortschritt erst des mikrostrukturell kurzen und dann des physikalisch kurzen Risses; Gleitbandblockiermodell mit Dekohäsionsmechanismus auf Basis der Scherdeformation. Wu [1531]: Rißfortschrittsrate in Abhängigkeit der Größe der plastischen Zone; Unterscheidung zwischen mikrostrukturell kurzen und physikalisch kurzen Rissen; transientes Rißöffnungs- und Rißschließverhalten; Erfassung von Barrieren. Zhu [1533]: Normalisiertes und damit für unterschiedliche Werkstoffe einheitliches Kitagawa-Diagramm auf Basis des Gleitbandblockiermodells.

7.5

Kurzrißfortschritt im Kerbgrund

Problemstellung und Übersicht Die Schwingfestigkeit wird durch Kerben stark herabgesetzt, allerdings bei duktilen Werkstoffen nicht in dem Maße, wie es der linearelastischen Spannungserhöhung entspricht. Die Kerbwirkungszahl b k ist kleiner als die Kerbformzahl k . Im Dauerfestigkeitsbereich kann die Kerbwirkungszahl abhängig von Kerbformzahl, Kerbradius und einer Werkstoffkonstanten (als Maß für die mikrostrukturelle Stützwirkung) dargestellt werden. Im Zeitfestigkeitsbereich muß außerdem neben der von der Beanspruchungshöhe abhängigen plastischen Verformung im Kerbgrund, die zur Anrißbildung führt, der daran anschließende Rißfortschritt berücksichtigt werden. Der Anteil des Rißfortschritts an der Lebensdauer bei Schwingbeanspruchung ist um so größer, je ausgeprägter die Kerbwirkung ist und je mehr die Kurzzeitfestigkeit angesprochen wird. Innerhalb der Rißfortschrittslebensdauer hat wiederum das Kurzrißverhalten den größeren Anteil. Eine Überschneidung von kontinuumsmechanischer Rißeinleitungsberechnung und bruchmechanischer Rißfortschrittsberechnung tritt allerdings insofern auf, als technische Rißeinleitung einerseits und Kurzrißfortschritt andererseits weithin identische Vorgänge sind. Der technische Wert der Kurzrißbruchmechanik liegt gerade darin,

7.5 Kurzrißfortschritt im Kerbgrund

499

daß technischer Anriß und Schädigung auf Rißfortschritt zurückgeführt werden können. Allerdings macht die zutreffende Beschreibung des Rißfortschritts (oder auch des Rißstillstands) im inhomogenen Beanspruchungsfeld scharfer Kerben besondere Schwierigkeiten. Die Forschung ist im angesprochenen Problemfeld noch nicht hinreichend abgeschlossen, so daß eine halbwegs einheitliche und systematisch befriedigende Darstellung unmöglich ist. Dies hat zur Folge, daß die weitere Untergliederung nach Autoren erfolgt, zwischen denen vielfach der Brückenschlag fehlt. Unbesprochen bleiben die Beiträge [1539, 1540, 1551, 1555–1559, 1566, 1575, 1585] zum Vehalten von Kurzrissen in Kerben. Schwellenwerte und Rißfortschritt im Kerbgrund nach Fujimoto Eine formal sehr befriedigende Beschreibung des Kurzrißverhaltens im Kerbgrund bieten Fujimoto et al. [1415] ausgehend von der Vorstellung einer elastischen Schädigungszone (s. Kap. 7.2). Die Kerbspannung im Abstand as von Kerbgrund bzw. Rißspitze wird als maßgebend für die Dauerfestigkeit des Bauteils mit Kerbe oder Riß angesehen. Dieses Konzept ist auf Bauteile mit Kerbe und Anriß im Kerbgrund ohne weiteres übertragbar. In diesem Fall ist die funktionsanalytische Lösung für Kerbe oder Riß durch eine numerische Lösung, meist nach der Finite-Elemente-Methode, zu ersetzen. Der vorstehend genannte Ansatz kann insbesondere die Erscheinung stillstehender Kurzrisse im Kerbgrund erklären. Als maßgebend für die Rißeinleitung und die ihr zuzuordnende Dauerfestigkeit wird die Kerbspannung rys in kleinem Abstand as vom Kerbgrund angesehen. Diese Kerbspannung kann bei vorgegebener Belastung (bzw. Nennspannung) für die Kerbe größer als für einen Riß gleicher Tiefe bzw. Länge sein, Abb. 7.47 (sofern as > as , Schnittpunkt der beiden Spannungskurven). In diesem Fall wird der Riß im Kerbgrund eingelei-

Abb. 7.47: Querspannung ry im Kerbgrund bzw. vor der Rißspitze bei gleicher Nennspannung, mit Tiefe as der Schädigungszone und dauerfestigkeitswirksamer Kerbspannung rys ; nach Fujimoto et al. [1415]

500

7 Kurzrißbruchmechanik zur Ermüdungsfestigkeit

Abb. 7.48: Dauerfestigkeitswirksame Kerbspannung rys im Abstand as von der Rißspitze eines beidseitigen Anrisses im Kerbgrund einer Kreislochkerbe abhängig von aufaddierter Kerbtiefe und Rißlänge bei unterschiedlichen Kreislochgrößen; numerische Berechnung nach der Finite-Elemente-Methode verglichen mit der funktionsanalytisch bestimmten Kurz- und Langrißkurve; nach Fujimoto et al. [1415]

tet, kommt aber zum Stillstand, solange die Spannung rys vor der Rißspitze unterhalb der Dauerfestigkeit bleibt. Erst nach entsprechender Belastungserhöhung kann der Riß fortschreiten. Die nach der Finite-Elemente-Methode berechnete Kerbspannung rys für einen beidseitigen Anriß in der Kreislochkerbe ( a ˆ 0,17–5,0 mm) in der Zugscheibe (mit Nennspannung rn ) zeigt Abb. 7.48. Es ist erkenntlich, daß bei kleinen Kerbradien q ˆ a die Kerbspannung rys (bei vorgegebener Nennspannung rn ) anfänglich abfällt, während bei größeren Kerbradien ein stetiger steiler Anstieg auftritt. Vergleichsweise ist auch die Beziehung nach (7.9) für den Kurzriß im homogenen Spannungsfeld (gültig für ( a ‡ a)  1,0 mm) und die Beziehung nach (7.10) für den entsprechenden Langriß (gültig für ( a ‡ a)  1,0 mm) als durchgehende Grundkurve erkennbar (bei gleicher Gesamtrißlänge unter Einschluß der Kerbtiefe). Schließlich wird die Dauerfestigkeit rnD der gekerbten Probe (bezogen auf die Dauerfestigkeit rnD0 der ungekerbten Probe, also des Werkstoffs) als Funktion der Kerbformzahl k bei der Kerbtiefe a ˆ 1,0 mm für unterschiedliche Werte as (niedrig- bis hochfeste Stähle) betrachtet (Rißeinleitung) und mit der Dauerfestigkeit des entsprechenden kerbtiefelangen Risses verglichen (Rißfortschritt), Abb. 7.49. Die punktgerasterten Bereiche zwischen der Rißeinleitungsund Rißfortschrittskurve markieren den Rißstillstand. Die Kerbformzahl k  3;0 kennzeichnet die Kreislochkerbe. Höhere Formzahlen sind den schlankeren Ellipsenlochkerben zugeordnet.

7.5 Kurzrißfortschritt im Kerbgrund

501

Abb. 7.49: Anrißdauerfestigkeit rnD der elliptisch innengekerbten Zugscheibe (relativ zur Werkstoffdauerfestigkeit rnD 0 ) als Funktion der Kerbformzahl k bei der Kerbtiefe a ˆ 1,0 mm für unterschiedliche Werte as (niedrig- bis hochfeste Stähle); Vergleich mit der Rißfortschrittsfestigkeit; nach Fujimoto et al. [1415]

Schwellenwerte und Rißfortschritt im Kerbgrund nach Topper und El Haddad Die Schwellenwerte von Spannungsintensität und Spannung für Kurzrisse in ungekerbten Proben gemäß (7.20) bis (7.22) mit der Rißlänge a und dem werkstofftypischen Längenparameter a sind auf gekerbte Proben übertragbar, wobei eine rißlängenabhängige wirksame Kerbformzahl k zusammen mit der Nennspannung rn (im Nettoquerschnitt) eingeführt wird (Topper u. El Haddad [1544, 1578, 1725]). In den nachfolgenden Gleichungen fehlen der Geometriefaktor Y und der Oberflächenfaktor Yo ˆ 1;12, die bei genaueren Untersuchungen zu berücksichtigen sind: DK ˆ k Drn

p p…a ‡ a†

DK0 Drn0 ˆ p k p…a ‡ a† Drn0

DrD ˆ  k

r a a ‡ a

…7:58† …7:59†

…7:60†

Es ist DK0 der Schwellenwert des Spannungsintensitätsfaktors langer Risse und Drn0 der Schwellenwert der Nennspannung in der gekerbten Probe.

502

7 Kurzrißbruchmechanik zur Ermüdungsfestigkeit

Abb. 7.50: Nennspannungsschwellenwert als Funktion der Rißlänge für Flachstab mit V-Kerbe und Anriß im Kerbgrund, unterschiedliche Kerbradien bei gleicher Kerbtiefe, kein Rißfortschritt im mit Punktraster umrandeten Bereich; nach Topper u. El Haddad [1725]

Bei Rißeinleitung an der Oberfläche ist k ˆ k (ohne Oberflächenfaktor Yo ˆ 1;12). Bei langen Rissen im Kerbgrund von tiefen Kerben, die den Kerbeinflußbereich verlassen haben, die Kerbtiefe t der Rißlänge a zuzuschlapist   gen, ausgedrückt durch k ˆ …a ‡ t†=a (ohne Oberflächen- und Geometriekorrektur). Im Zwischenbereich stellt sich der in Kap. 6.3 näher erläuterte, erst steilere, dannp flachere Abfall der Kerbwirkung ein.   Mit k ˆ …a ‡ t†=a ergibt sich aus (7.60) ein unterer Grenzwert des Schwellenwertes der Nennspannung Drn0 für scharfe tiefe Kerben: Drn0

s aa ˆ DrD …a ‡ t†…a ‡ a†

Dieser Schwellenwert hat ein Maximum bei a ˆ Drn0 max ˆ

DrD p 1 ‡ t=a

…7:61† p ta: …7:62†

Die Schwellenwerte nach (7.60) und (7.61) sind in Abb. 7.50 veranschaulicht. Als Ausgangsgleichung wird außerdem (7.59) erfüllt. Die durchgehenden Kurven sind von Lösungen DK für den Riß im Kerbgrund einer V-Kerbe mit Rundungsradius q abgeleitet. Die gestrichelte Kurve nach (7.61) bezeichnet den unteren Grenzwert bei Erhöhung der Kerbschärfe. Es ist der zunächst über-

7.5 Kurzrißfortschritt im Kerbgrund

503

raschende Sachverhalt sichtbar, daß im Kerbgrund von scharfen Kerben eingeleitete Kurzrisse bei gleichbleibender Beanspruchungshöhe nicht fortschrittsfähig sind (mit Punktraster umrandeter Bereich). Zwischen milden und scharfen Kerben kann demnach in folgender Weise unterschieden werden. Bei milden Kerben ist der Kerbradius groß genug, um einen stetigen Abfall des Schwellenwerts Drn0 mit wachsender Rißlänge zu erzeugen. Der eingeleitete Riß schreitet fort. Bei scharfen Kerben ist der Kerbradius so klein, daß zunächst ein Anstieg des Schwellenwerts Drn0 mit wachsender Rißlänge auftritt. Der eingeleitete Riß bleibt stehen. Erst nach Überwindung von Drn0 max durch Beanspruchungserhöhung kann weiterer Rißfortschritt auftreten. Milde und scharfe Kerben werden im vorliegenden Fall durch den kritischen Kerbradius qc ˆ 4a voneinander getrennt. Die Kerbwirkungszahl der milden Kerben ist der Kerbformzahl gleichzusetzen, bk ˆ k . Die Kerbwirkungszahl der (zugbeanspruchten) p scharfen Kerben folgt mit b k ˆ rD =rn0 max nach (7.62) und k ˆ …1 ‡ 2 t=q† nach (4.7): k 1 b k ˆ 1 ‡ p 2 a=q

…q < 4a†

…7:63†

Die beschriebene Vorgehensweise ist theoretisch und experimentell nur unzureichend abgesichert. Insbesondere die Annahme elastischer Verhältnisse im Kerbgrund scharfer Kerben ist unzureichend, denn der Kurzriß ist hier in eine plastische Kerbeinflußzone eingebettet. Es wird daher anstelle von (7.58) eine Darstellungsweise bevorzugt, die von der elastisch-plastischen (Gesamt-)Dehnung De im Kerbgrund und dem zugehörigen Kerbdehnungsintensitätsfaktor DKek (anstelle von DKe nach (6.44)) ausgeht [1412] (mit a nach (7.23)): DKek ˆ E ke De

p p…a ‡ a†

…7:64†

Die wirksame Dehnungsformzahl ke wird rißlängenabhängig ausgehend von der Neuber-Formel (4.21) bestimmt. Sie ist im Kurzrißbereich des Kerbgrunds wesentlich größer als die wirksame Spannungsformzahl k . Dieser Sachverhalt ist in Abb. 7.51 für das Ellipsenloch mit beidseitigen Querrissen bei einer bestimmten Grundbeanspruchungshöhe dargestellt. Die zwei Kurven nähern sich mit zunehmender Rißlänge und gehen ungefähr dort ineinander über, wo die Grenze der plastischen Zone für das Ellipsenloch ohne Querrisse liegt. Auch die Rißfortschrittsrate von kurzen Rissen im Kerbgrund wurde von El Haddad et al. [1412] gemessen und formelmäßig dargestellt. Es wurden gegenüberliegende kurze Anrisse im Kreis- bzw. Ellipsenlochrand eines Zugstabes (zwei Stähle) mit den langen Querrissen ohne Loch bei identischem Rißspitzenabstand verglichen, Abb. 7.52. Die Rißfortschrittsrate ist durch die Kerbwirkung im Kurzrißstadium vergrößert, mündet aber bei größerer Rißlänge in das Langrißverhalten ein. Der Übergang erfolgt beim Kreisloch über einen flacheren Anstieg der Rißfortschrittsrate, beim Ellipsenloch über einen steilen

504

7 Kurzrißbruchmechanik zur Ermüdungsfestigkeit

Abb. 7.51: Wirksame Dehnungsformzahl und Spannungsformzahl als Funktion des Rißlängenverhältnisses für den Kurzriß im Kerbgrund (Ellipsenloch); nach El Haddad et al. [1544]

Abb. 7.52: Rißfortschrittsrate von Kurzrissen im Kerbgrund (Kreis- bzw. Ellipsenloch) und vergleichsweise von Langrissen ohne Loch als Funktion der zyklischen Spannungsintensitätsfaktors (Flachstabbreite 2b); nach El Haddad et al. [1544]

7.5 Kurzrißfortschritt im Kerbgrund

505

Abb. 7.53: Einheitliche Rißfortschrittsrate von Kurzrissen im Kerbgrund (Kreis- bzw. Ellipsenloch) und von Langrissen (ohne Loch) als Funktion des zyklischen Kerbdehnungsintensitätsfaktors; nach El Haddad et al. [1544]

Abb. 7.54: Zyklische Dehnnungsintensitätsfaktoren DKek (durchgehende Kurven) bzw. DKe (gestrichelte Kurve) von Rissen im Kerbgrund bzw. Rissen im ungekerbten Stab als Funktion der aufaddierten Riß- und Kerbtiefe; nach El Haddad et al. [1544]

506

7 Kurzrißbruchmechanik zur Ermüdungsfestigkeit

Abfall derselben. Die unterschiedlichen Kurvenäste fallen zu einer einzigen Kurve zusammen, wenn die Rißfortschrittsrate über DKek aufgetragen wird, Abb. 7.53. Das abweichende Kurzrißverhalten kann auch in einer Auftragung von DKek über der Rißlänge veranschaulicht werden, Abb. 7.54. Schließlich haben El Haddad et al. [1543] das DJ-Integral nach Kap. 7.3 anstelle von DKe verwendet, um den Kurzrißfortschritt zunächst in ungekerbten Proben zu beschreiben. In den Gleichungen (7.37) bis (7.42) wird die Rißlänge von a auf …a ‡ a† vergrößert. Die modifizierte Form von (7.42) ist auf gekerbte Proben mit Anriß anwendbar, wenn Dr und De im Kerbgrund (ohne Riß) rißlängenabhängig bekannt sind. Letzteres gelingt näherungsweise ausgehend von der Neuber-Formel (4.21) beiprißlängenabhängig vorgegebener, wirk samer Kerbformzahl k . Mit DKJ ˆ EDJ nach (7.43) lassen sich die im Kerbgrund experimentell ermittelten Kurzrißfortschrittsraten einer einheitlichen Kurve für Kurz- und Langrisse zuordnen [1543]. Schwellenwerte und Rißfortschritt im Kerbgrund nach Smith und Miller Die Feststellung, daß Rißeinleitung und Rißfortschritt im Kerbgrund durch die plastische Verformung gesteuert werden, steht im Mittelpunkt der Betrachtungen von Smith u. Miller [1570, 1571], allerdings ohne daß elastisch-plastische Kennwerte zur quantitativen Beschreibung eingeführt werden. Die Einleitung und der anfängliche Fortschritt eines Anrisses im Kerbgrund werden zunächst von der plastischen Kerbdehnung bestimmt, die im Kerbeinflußbereich steil abfällt. In entsprechender Weise nimmt die Rißfortschrittsrate ab. Der Riß kann sogar zum Stillstand kommen, wenn nach Durchqueren der Kerbeinflußzone der Schwellenwert des zyklischen Spannungsintensitätsfaktors nicht erreicht wird. Andererseits entwickelt der fortschreitende Riß eine eigene plastische Zone an der Rißspitze, deren Größe mit der Rißlänge zunimmt und für weiteren Rißfortschritt sorgt, sofern der Schwellenwert des zyklischen Spannungsintensitätsfaktors überstiegen bleibt. Die resultierende Rißfortschrittsrate kommt durch Überlagerung von plastisch (über Depl ) und elastisch (über DK) beschriebenem Rißfortschritt zustande, Abb. 7.55. Ihr Verlauf und ihr Minimum hängen von der Beanspruchungshöhe ab. Der Rißfortschritt im Kerbspannungsfeld mit Kerbgrundplastizität folgt näherungsweise dem (elastisch begründeten) Spannungsintensitätsfaktor nach (6.27). p Der kerbwirksame Bereich ist auf a  0;13 tq begrenzt. Der zweite Wurzelausdruck in (6.27) kann als Kerbwirkungszahl b k aufgefaßt werden: s r t  b k ˆ 1 ‡ 7;69 q

…7:65†

Die Kerbwirkungszahl bk kennzeichnet den Einfluß der Kerbe auf den Kurzrißfortschritt im Kerbgrund und ist nicht der herkömmlichen Kerbwirkungszahl b k nach (4.35) gleichzusetzen, obwohl Ähnlichkeiten bestehen. Bei milden Kerben …t=q  1† sind Kerbwirkungszahl b k und Kerbformzahl k annähernd

7.5 Kurzrißfortschritt im Kerbgrund

507

Abb. 7.55: Resultierende Rißfortschrittsrate als Funktion der Rißlänge (a) im Kerbgrund unter zyklischer Zugbeanspruchung (b), gesteuert anfangs von plastischer Kerbeinflußzone und später von plastischer Rißspitzenzone, zugehörige Rißfortschrittsraten additiv überlagert; schematische Darstellung nach Smith u. Miller [1571]

Abb. 7.56: Kerbwirkungszahl b k und Kerbformzahl k als Funktion der Kerbschärfe; nach Smith u. Miller [1570]

gleich groß, bei scharfen Kerben …t=q > 1† bleibt dagegen die Kerbwirkungszahl hinter der Kerbformzahl zunehmend zurück, Abb. 7.56. Versuchsergebnisse aus Wöhler-Versuchen belegen, daß sich die Rißeinleitung im Kerbgrund über die Kerbwirkungszahl b k näherungsweise kennzeichnen läßt: rD rnD ˆ  bk

…7:66†

Bei milden Kerben werden Risse nach (7.66) eingeleitet und vergrößert, also wird im Grenzfall die Dauerfestigkeit direkt beschrieben. Bei scharfen Kerben

508

7 Kurzrißbruchmechanik zur Ermüdungsfestigkeit

Abb. 7.57: Dauerschwingfestigkeit als Funktion der Kerbformzahl bei vorgegebener Kerbtiefe, Rißstillstand zwischen Rißeinleitungs- und Rißfortschrittskurve; nach Smith u. Miller [1571]

werden Risse nach (7.66) nur eingeleitet, während der weitere Fortschritt des Kurzrisses voraussetzt, daß der Schwellenwert DK0 (nach [1571] allein im Zugbereich wirksam) auch außerhalb der Kerbeinflußzone überschritten wird. Mit relativ zur Kerbtiefe kleiner Kerbeinflußzone gilt daher die Rißfortschrittsbedingung: p 1;12rn pt  DK0 …R ˆ 1† …7:67† p Für den Schwellenwert der Nennspannung rn0 folgt mit 1;12 p ˆ 2 als Näherung DK0 rn0 ˆ p 2 t

…7:68†

Bei vorgegebener Kerbtiefe t sind somit abhängig von der Kerbformzahl k (gleichbedeutend mit der Variation des Kerbradius) die Schwellenwerte der Rißeinleitung und des Rißfortschritts wie folgt darstellbar (Rißeinleitung bedeutet hier immer Langrißeinleitung einschließlich Kurzrißfortschritt in der Kerbeinflußzone). Die Rißeinleitung folgt der Beanspruchung rnD ˆ rD =bk , zum weiteren Rißfortschritt muß außerdem rn0 nach (7.68) überschritten werden, Abb. 7.57. Die eingetragenen Grenzkurven stimmen gut mit Versuchsergebnissen überein. Aus dem Diagramm ist ersichtlich, daß es bei scharfen Kerben einen größeren Beanspruchungsbereich gibt, in dem Risse eingeleitet werden, aber nicht fortschreiten (erstmals von Frost [1547, 1548] erkannt). Der Beginn dieses Bereichs, ausgedrückt durch einen Mindestwert der Kerbformzahl, hängt von der Kerbtiefe ab. Er kann zur Abgrenzung von milder und scharfer Kerbwirkung verwendet werden.

7.5 Kurzrißfortschritt im Kerbgrund

509

Aus dem Schwellenwert rn0 nach (7.68) folgt der spannungsmechanische Größeneinfluß auf die Dauerfestigkeit scharf gekerbter Proben, der neben dem technologischen und statistischen Größeneinfluß auftritt.

Rißeinleitung und Rißfortschritt im Kerbgrund nach Dowling Die Unterteilung der Ermüdungsschädigung von gekerbten Proben und Bauteilen in eine überwiegend vom Kerbeinfluß bestimmte Rißeinleitungsphase (gleichbedeutend mit Kurzrißfortschritt) und in eine überwiegend von aufaddierter Kerbtiefe und Rißlänge gesteuerte (Langriß-)Rißfortschrittsphase wird auch von Dowling [1693, 1694] vorgenommen. Die Grenztiefe des vom Kerbeinfluß bestimmten Kurzrißverhaltens p folgt  aus dem Schnittpunkt von Kurzrißspannungsintensität K ˆ 1;12 r pa und Langrißspannungsintensität I k p KI ˆ r p…t ‡ a† Y: ac ˆ

t …1;12 k =Y †2 1

…7:69†

p Für scharfe Kerben mit t=q  1 ergibt sich wegen k  2 t=q mit Y  1 die Näherung ac  q=5. Für den Bereich milder bis scharfer Kerben ist q=20  ac  q=4. Von Dowling [1694] wird gezeigt, daß schon bei kleiner Überlast gegenüber dem Fließbeginn im Kerbgrund die kerbwirksame Zone nach (7.69) vollständig plastifiziert und der Ansatz der linearelastischen Bruchmechanik in dieser Zone somit nicht mehr gültig ist. Bei der Bestimmung der Lebensdauer wird folgerichtig zwischen einer überwiegend experimentell erfaßten Rißeinleitungsphase (Dehnungs-Wöhler-Linie bis Anriß) und einer nach der linearelastischen Bruchmechanik behandelbaren Rißfortschrittsphase unterschieden. Als Bereichsgrenze wird die Grenztiefe ac nach (7.69) verwendet. Da die Grenztiefe von der Kerbschärfe abhängt, müssen Dehnungs-Wöhler-Linien für unterschiedliche Anrißtiefe a bzw. Oberflächenrißlänge 2c (mit c  a) zur Verfügung stehen, Abb. 7.58. Die plastische Dehnung im Kerbgrund wird nach einer Näherungsformel (z. B. Neuber-Formel (4.21)) abgeschätzt. Für weiteren Rißfortschritt muß der Schwellenwert K0 des Spannungsintensitätsfaktors überschritten werden. Das Ende der Rißfortschrittsphase wird mit dem Erreichen der Fließspannung im Restquerschnitt (Fließgrenzlast) gleichgesetzt. Das Ergebnis einer derartigen Untersuchung für mild und scharf gekerbte Flachstäbe aus hochfestem Stahl zeigt Abb. 7.59. An der mild gekerbten Probe überwiegt die Rißeinleitungsphase bei relativ groß zu wählender Grenztiefe ac ˆ 0;25 mm. An der scharf gekerbten Probe überwiegt die Rißfortschrittsphase bei relativ klein zu wählender Grenztiefe ac ˆ 0;0125 mm. Bei der mild gekerbten Probe ist der Schwellenwert K0 ohne Belang für die Dauerfestigkeit (r0 aus K0 mit ac ist kleiner als rnD bis Anriß). Bei der scharf gekerbten Probe ist dagegen die Dauerfestigkeit durch den Schwellenwert K0 gegeben.

510

7 Kurzrißbruchmechanik zur Ermüdungsfestigkeit

Abb. 7.58: Dehnungs-Wöhler-Linien für einen legierten Stahl, Schwingspielzahl bis Anriß bzw. Bruch, ungekerbte Probe mit Durchmesser 6,3 mm; nach Dowling [1694]

Abb. 7.59: Anriß- und Bruch-Wöhler-Linien für scharf und mild gekerbte Proben aus legiertem Stahl, Berechnungsergebnisse als Kurven, Versuchsergebnisse als Punkte; nach Dowling [1694]

7.5 Kurzrißfortschritt im Kerbgrund

511

Nach der beschriebenen Vorgehensweise kann die Gesamtlebensdauer scharf gekerbter Proben und Bauteile ausgehend von einem sehr kleinen Anriß definierter Größe …ac  q=5†, dessen Rißeinleitungszeit vernachlässigt wird, allein durch Rißfortschrittsberechnung nach der linearelastischen Bruchmechanik bestimmt werden. Bei den mild gekerbten Proben überwiegt dagegen die Rißeinleitungsphase, die von Dowling nach dem Kerbdehnungskonzept erfaßt wird. Kerben ohne Schädigung nach Lukáš Nach den vorangegangenen Ausführungen zum Kurzrißverhalten stellt die technische Dauerfestigkeit den Grenzwert für die Fortschrittsfähigkeit kurzer Risse dar. Solche Risse sind in technischen Werkstoffen und Bauteilen teils von Anfang an vorhanden, teils werden sie infolge von Ermüdungs- und Korrosionsvorgängen während des Betriebs eingeleitet. Aus der Praxis ist bekannt, daß nicht nur Risse, sondern ebenso Kerben ohne Einfluß auf die Dauerfestigkeit bleiben, sofern sie nur hinreichend klein sind. Es ist außerdem bekannt, daß die kritische Kerbgröße mit zunehmender Festigkeit des Werkstoffs Stahl abnimmt. Die Frage nach der schädigungsfreien (maximalen) Kerbgröße wird ausgehend von einem Gedankengang und einer Untersuchung von Lukáš et al. [1560] auf Basis der linearelastischen Kurzrißbruchmechanik beantwortet. Vereinfachend werden Flachproben ohne und mit Randkerbe jeweils mit Anriß der Länge a betrachtet und durch Spannungsintensitätsfaktoren gekennzeichnet. Für den Anriß am ungekerbten Außenrand ergibt sich die Spannungsintensität nach (6.11). Für den Anriß im Kerbgrund wird eine Näherung verwendet, die sich aus der genaueren Lösung von Newman [1028] ableiten läßt: p 1;12 k rn pa p   KI ˆ 1 ‡ 4;5 a=q

…7:70†

Der Anriß im Kerbgrund weist gegenüber dem Anriß am ungekerbten Außenrand anfangs die durch die Kerbwirkung erhöhte Spannungsintensität auf, die bei fortschreitendem Riß rasch auf den Wert des Risses ohne Kerbe abfällt. Somit sollte es bei hinreichend kleiner Kerbgröße im Zustand der Dauerfestigkeit eine Grenzrißlänge a 0 geben, die auf den ungekerbten und feingekerbten Rand gleichermaßen zutrifft. Beschränkt man sich auf den Grenzzustand gleicher Dauerfestigkeit von ungekerbter und feingekerbter Probe …rD ˆ rnD †, dann folgt für den Grenzkerbradius q0 durch Gleichsetzen von (6.11) und (7.70) mit a ˆ a 0 : … 2k

1†q0 ˆ 4;5a 0

…7:71†

Die (rechnerische) Grenzrißlänge a 0 folgt aus dem Schwellenwert K0 des Spannungsintensitätsfaktors (für R ˆ 1) und der Dauerfestigkeit rD (nahezu identisch mit (7.17)):

512

7 Kurzrißbruchmechanik zur Ermüdungsfestigkeit

Abb. 7.60: Schwingfestigkeit von Proben mit Halbkreiskerbe …q ˆ 10 800 lm, k ˆ 1;83 3;04†, Wöhler-Versuchsergebnisse mit Streubereichen und rechnerische Näherung mit a 0 ˆ 100 lm; nach Lukáš et al. [1560]

Abb. 7.61: Kerbgrenzradius hinsichtlich Schädigung bei Stählen als Funktion der Zugfestigkeit; Näherung nach Lukáš et al. [1560]

a 0 ˆ 0;25



K0 rD

2 …7:72†

Die Grenzbedingung (7.71) kann auch ausgehend von größeren Kerbabmessungen durch Grenzübergang zur kleinen, nicht mehr schädigenden Kerbe …rnD ˆ rD † gewonnen werden. Aus der Kombination von (6.11) und (7.70) mit KI ˆ K0 , a ˆ a 0 , r ˆ rD und rn ˆ rnD folgt zunächst:

7.5 Kurzrißfortschritt im Kerbgrund

rnD

rD ˆ k

s   a 0 1 ‡ 4;5 q

513

…7:73†

Die Ergebnisse aus Wöhler-Versuchen an Proben mit variiertem Kerbradius konnten durch (7.73) angenähert werden, wobei sich a 0 ˆ 100 lm (zugehörig q0 ˆ 60 lm) als günstigste Wahl ergab, Abb. 7.60. Links vom Minimum der Schwingfestigkeit rnA und unterhalb der Kurve werden Risse eingeleitet aber nicht vergrößert, rechts davon werden unterhalb der Kurve keine Risse eingeleitet. Mit Näherungsannahmen zum Rißschließverhalten (kein Kurzrißschließen bei R ˆ 1) und zum Zusammenhang zwischen K0 , rD und rZ ergibt sich für die Schädigungsgrenze sehr kleiner Lochkerben in Stahl (Kerbgrenzradius q0 in mm, rZ in N=mm2 ): q0 ˆ

5  106 r3Z

…7:74†

Die Auswertung nach Abb. 7.61 zeigt einen relativ starken Abfall des Kerbgrenzradius mit zunehmender Zugfestigkeit des betrachteten Stahls. Aus (7.73) folgt für die Kerbwirkungszahl: k  b k ˆ p 1 ‡ 4;5 a 0 =q

…7:75†

Schwellenwerte zum Rißfortschritt im Kerbgrund nach Ting und Lawrence Die vorangegangenen Ausführungen zum Rißfortschritt im Kerbgrund zeigen in unterschiedlicher Weise, welchen Einfluß auf Schwellenwerte der Beanspruchung die Kerbtiefe t und der Kerbradius q haben. Ting u. Lawrence [1577] haben den Zusammenhang zwischen den unterschiedlichen Darstellungsweisen geklärt. Das Frost-Diagramm (Bezeichnung nach Frost [1414]), Abb. 7.62 (a), stellt den Zusammenhang zwischen der Dauerfestigkeit DrnD gekerbter Proben und deren Kerbformzahl k (auf Bruttoquerschnitt bezogen) bzw. kn (auf Nettoquerschnitt bezogen) bei konstant gehaltener Kerbtiefe t her. Die ausgehend von der Dauerfestigkeit rD der ungekerbten Probe abfallende Kurve der Rißeinleitung wird durch die horizontale Kurve des Schwellenwerts Drn0 für Rißfortschritt abgeschnitten. Das Lukáš-Diagramm (Bezeichnung nach Lukáš [1560]), Abb. 7.62 (b), stellt den Zusammenhang zwischen der Dauerfestigkeit DrnD gekerbter Proben und deren Kerbtiefe t bei konstant gehaltener Kerbschärfe t=q (geometrisch ähnliche Kerben) her (s. a. Abb. 4.37 (b), hier t=q ˆ 1, Spannungsabstandsansatz von Peterson). Die ausgehend von der Dauerfestigkeit DrD der ungekerbten Probe nach horizontalem Beginn steil abfallende Kurve der Rißfortschrittsfestigkeit

514

7 Kurzrißbruchmechanik zur Ermüdungsfestigkeit

Abb. 7.62: Dauerfestigkeit gekerbter Proben als Funktion der (Netto-)Kerbformzahl bei konstanter Kerbtiefe (Frost-Diagramm) (a) und als Funktion der Kerbtiefe bei konstanter Kerbschärfe (Lukáš-Diagramm) (b), Bereiche unterschiedlichen Rißverhaltens; schematische Darstellung nach Ting u. Lawrence [1577] (modifiziert)

(Schwellenwert Drn0 ) steigt anschließend als Rißeinleitungskurve wieder schwach an (bedingt durch die Verkleinerung des Nettoquerschnitts relativ zur Kerbtiefe). Der Bereich der nicht fortschreitenden Risse liegt also links des Kurvenminimums. Die formale Ausarbeitung des Zusammenhangs zwischen Frost-Diagramm und Lukáš-Diagramm nach Ting u. Lawrence [1577] beinhaltet folgende Komponenten: – Der Schwellenwert der Beanspruchung zum Rißfortschritt im Kerbgrund wird ausgehend vom effektiven zyklischen Spannungsintensitätsfaktor DKeff ˆ Ko Kcl nach (6.79) bestimmt, der im Kerbeinflußbereich in komplexer Weise von der Rißlänge abhängt. – Im Kerbeinflußbereich wird plastisch bedingtes Rißschließen nach dem Ansatz von Sun u. Sehitoglu, Gl. (7.76), berücksichtigt. – Außerhalb des Kerbeinflußbereichs wird rauhigkeits- und korrosionsbedingtes Rißschließen nach dem Ansatz von Tanaka, Gl. (7.50), berücksichtigt. – Der Schwellenwert der Nennspannung Drn0 an der gekerbten Probe ergibt sich aus dem Minimalwert von DKeff , der außerhalb des Kerbeinflußbereichs auftritt. – Sofern der Schwellenwert Drn0 kleiner als DrD = kn ist, bildet sich kein Anriß im Kerbgrund. Der Einfluß des Spannungsverhältnisses auf Drn0 kommt hauptsächlich über die R-Abhängigkeit der Parameter DrD und a zum Tragen. Der Einfluß der Kerbgeometrie (gekennzeichnet durch kn und t) auf Drn0 (oder die Kerbwirkungszahl b kn ) wird hauptsächlich durch die effektive Kerbtiefe teff erfaßt, die sich aus der äquivalenten Rißlänge in der ungekerbten Probe (äquivalent hinsichtlich der Nennspannungshöhe beim Rißöffnen) ergibt. Ergebnisse entsprechender Berechnungen sind nachfolgend dargestellt.

7.5 Kurzrißfortschritt im Kerbgrund

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Abb. 7.63: Dauerfestigkeit gekerbter Proben als Funktion der (Netto-)Kerbformzahl für unterschiedliche Kerbtiefen; Berechnung nach Ting u. Lawrence [1577] (modifiziert)

Die Änderung des Frost-Diagramms bei Variation der Kerbtiefe ist in Abb. 7.63 gezeigt. Bei sehr kleiner Kerbtiefe ist der Bereich nicht fortschreitender Risse sehr groß. Die Rißfortschrittsfestigkeit ist selbst im ungünstigsten Fall scharfer Kerben nur wenig kleiner als die Dauerfestigkeit der ungekerbten Probe. Die maximale Kerbwirkungszahl ist nur wenig größer als 1,0. Bei mittlerer Kerbtiefe ist der Bereich nicht fortschreitender Risse kleiner. Die maximale Kerbwirkungszahl wird bei einer kritischen Kerbformzahl erreicht. Bei großer Kerbtiefe ist der genannte Bereich vollständig verschwunden. Die Dauerfestigkeit der gekerbten Probe nimmt gegenläufig zur Kerbformzahl bzw. Kerbschärfe ab. Die Änderung der Dauerfestigkeit im Frost- und Lukáš-Diagramm bei Variation der Kerbtiefe bzw. Kerbschärfe ist in Abb. 7.64 gezeigt. Im Frost-Diagramm (links) wird mit zunehmender Kerbtiefe (bei konstanter Kerbschärfe) ein Bereich nicht fortschreitender Risse nahezu senkrecht durchlaufen und anschließend die leicht ansteigende Rißeinleitungskurve verfolgt. Im Lukáš-Diagramm (rechts) wird mit zunehmender Kerbtiefe (und konstanter Kerbschärfe) zunächst bei abfallender Kurve der Bereich nicht fortschreitender (wohl aber eingeleiteter) Risse begrenzt, bevor ab der maximalen Kerbwirkungszahl b kn max ein leichter Wiederanstieg der Kurve erfolgt.

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7 Kurzrißbruchmechanik zur Ermüdungsfestigkeit

Abb. 7.64: Dauerfestigkeit gekerbter Proben als Funktion der (Netto-)Kerbformzahl für geringe und hohe Kerbschärfe (links) sowie als Funktion der Kerbtiefe für geringe und hohe Kerbformzahl (rechts); Berechnung nach Ting u. Lawrence [1577] (modifiziert)

Aus dem Minimum von DrnD (bei t3 für k ˆ 3, bei t4 für k ˆ 7) folgt, daß es unter der Annahme geometrischer Kerbähnlichkeit einen ungünstigsten Fall hinsichtlich der Dauerfestigkeit gibt (worst case notch), der nicht mit der größten Kerbschärfe zusammenfällt. Wenn allerdings geometrische Ähnlichkeit nicht nur hinsichtlich der Kerbe, sondern hinsichtlich der ganzen Probe eingeführt wird (mit konstanter Kerbformzahl k oder kn ), dann tritt anstelle des leichten Anstiegs ein horizontaler Verlauf. Dies wiederum besagt, daß die Kerbwirkungszahl nach Erreichen des Größtwertes unverändert bleibt. Rißfortschritt im Kerbgrund nach McClung Als dominante Einflußgröße für den Rißfortschritt im Kerbgrund wird von McClung [1562] das Rißöffnungsverhalten hervorgehoben. Der den Kurzrißfortschritt beschleunigende Effekt der plastischen Kerbverformungen wird demgegenüber vernachlässigt. Das vereinfachte Modell basiert auf dem effektiven Spannungsintensitätsfaktor. Rißöffnungsmessungen an Rissen, die von Kerben ausgehen, sind u. a. von Tanaka et al. [1573, 1574], Ogura et al. [1564], Shin u. Smith [1568, 1569] und Sehitoglu [1230, 1231] durchgeführt worden. Der sehr kurze Riß im Kerbgrund bleibt weitgehend geöffnet, während sich der etwas längere Riß im

7.5 Kurzrißfortschritt im Kerbgrund

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Abb. 7.65: Spannung im Kerbquerschnitt der zugbeanspruchten Kreislochscheibe ohne Riß bei unterschiedlich hoher Oberspannung (a) und Rißöffnungsspannung der Kreislochscheibe mit Riß als Funktion der Rißlänge (b); Finite-Elemente-Berechnungsergebnisse nach McClung [1562]

Kerbgrund vorzeitig schließt (s. Abb. 7.27). Der Übergang erfolgt im Bereich der plastischen Kerbeinflußzone (Ausdehnung in der Größenordnung des Kerbradius, jedoch abhängig von der Grundbeanspruchungshöhe). Ein typisches Berechnungsergebnis zeigt Abb. 7.65 am Beispiel der Zugscheibe mit (längeren) Querrissen am Kreisloch (ebener Spannungszustand, R ˆ 1, ry0 Spannung im Lochmittenschnitt ohne Riß, ro Grundbeanspruchung oder Oberspannung senkrecht zur Rißebene). Der Riß öffnet sich anfangs im Druckbereich und erreicht bei größerer Rißlänge einen Sättigungswert im Zugbereich. Anfangs- und Sättigungswert hängen von der Oberspannung (relativ zur Fließgrenze) und vom Spannungsverhältnis ab. Der Sättigungswert entspricht dem Langriß ohne Lochkerbe, Abb. 7.66 (in die Abbildung mit aufgenommen ist die Rißschließspannung, die sich von der Rißöffnungsspannung aufgrund der Spannungs-Dehnungs-Hystereseschleife unterscheidet). Das ausgeprägte Übergangsverhalten bei zunehmender Rißlänge erklärt sich aus der allmählichen Aufdickung der Rißflanken an der Rißspitze durch plastische Formänderung und aus der Tatsache, daß bei Kurzrissen im Kerbgrund die Druckabstützung nur über eine kurze Länge (relativ zum Langriß) stattfinden kann. Bei Erhöhung der Kerbschärfe (durch Übergang vom Kreisloch zum Ellipsenloch) ergeben sich noch niedrigere anfängliche Rißöffnungsspannungen, die jedoch über kürzere Strecken (relativ zur Kerbtiefe) den stabilisierten Zugspannungswert erreichen. Die Abhängigkeit der Rißöffnungsspannung im Kerbgrund von der Rißlänge wird in allgemeinerer Form, ebenfalls basierend auf Finite-Elemente-Berechnungsergebnissen (ebener Spannungszustand) von Sun und Sehitoglu, publiziert von Ting u. Lawrence [1577], formelmäßig angegeben (für 0;4  ro =rF  0;8 und 3;0  k  7;0):

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7 Kurzrißbruchmechanik zur Ermüdungsfestigkeit

Abb. 7.66: Rißöffnungs- und Rißschließspannung (Sättigungswerte) von langen Rissen als Funktion der Oberspannung bei R = 0 und R = –1, Werkstoff mit Dehnungsverfestigung (Elastizitätsmodul E, Verfestigungsmodul H); Finite-Elemente-Berechnungsergebnisse nach McClung [1562]

  rop rop 0 ro a H ˆf ; ; ; R; k ; ro ro rF t E

…7:76†

Es bedeuten rop 0 die Rißöffnungsspannung beim langen Riß ohne Kerbwirkung, H=E das Verhältnis von Verfestigungs- zu Elastizitätsmodul und t die Kerbtiefe. Das von McClung [1562] vorgeschlagene einfachere Ingenieursverfahren zur Berechnung des Rißfortschritts in gekerbten Proben und Bauteilen beinhaltet die folgenden drei Teilschritte: – Abschätzung der elastisch-plastischen Spannungsverteilung in der Rißebene für das gekerbte Teil ohne Riß (z. B. elastische Lösung modifiziert über die Neuber-Formel (4.21), s. Abb. 7.32). – Abschätzung der Abhängigkeit rop =ro von ro =rF bei vorgegebenem Spannungsverhältnis unter Gleichsetzung von örtlich erhöhter Spannung im Kerbgrund und homogener Grundbeanspruchung am Langriß, woraus das jeweilige Rißöffnungsverhältnis U folgt (z. B. nach Abb. 7.66 oder über eine Lösung nach dem Dugdale-Modell mit Rißflankenaufdickung). – Abschätzung des Spannungsintensitätsfaktors DK abhängig von der Rißlänge für den (elastischen) Körper mit Kerbe und Riß, woraus sich DKeff ˆ UDK ergibt (z. B. nach einer für Querrisse am Ellipsenloch gültigen Näherung). Nach diesem Verfahren berechnete Rißfortschrittsraten im Kerbgrund wurden im Experiment überprüft, Abb. 7.67. Die vergleichsweise durchgeführte Berechnung für den entsprechenden Langriß (ohne Kerbwirkung, jedoch mit Vergrößerung der Rißlänge um die Kerbtiefe) ergab die gestrichelte Kurve, die auf

7.5 Kurzrißfortschritt im Kerbgrund

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Abb. 7.67: Streuband von Versuchsergebnissen (punktgerastertes Band) zur Rißfortschrittsrate als Funktion des Rißlängenverhältnisses für Anriß im Kerbgrund von Proben aus unlegiertem Stahl (Probendicke s), verglichen mit Berechnung nach vereinfachtem Kurzrißmodell (durchgehende Kurve) und nach Langrißmodell (gestrichelte Kurve); nach McClung [1562]

der unsicheren Seite liegt. Bei extrem kurzen Anfangsrißlängen verläuft auch die durchgehende Kurve auf der unsicheren Seite, weil die den Rißfortschritt beschleunigende Wirkung der plastischen Kerbeinflußzone in der Berechnung nicht berücksichtigt ist. Rißfortschritt im Kerbgrund nach Vormwald Zur Beschreibung des Kurzrißfortschritts im Kerbgrund bis zu einem technischen Anriß definierter Größe und darüber hinaus verwendet Vormwald [1523] das DJ-Integral unter Einfluß des Rißschließeffekts, also das DJeff -Integral (s. a. [1525, 1526, 1582]). Dies setzt eine Näherung von DJeff für den Kurzriß in der inhomogen elastisch-plastisch beanspruchten Kerbeinflußzone voraus. Die Vorgehensweise wird dadurch erschwert, daß für halbelliptische Oberflächenrisse bzw. viertelelliptische Eckrisse keine genauen Lösungen für DJ verfügbar sind. Da es sich um dreidimensionale Problemstellungen handelt, sind derartige Lösungen selbst im Einzelfall (etwa über eine Finite-Elemente-Berechnung) nur schwer beibringbar. Die Vorgehensweise von Vormwald wird am Beispiel der zugbeanspruchten Scheibe endlicher Breite mit zentrischem Kreisloch erläutert [1523, 1582]: – Der Rißfortschritt im Kerbgrund wird in eine erste, von der Kerbbeanspruchung bestimmte Phase und in eine zweite, allein von der Grundbeanspruchung (ohne Kerbwirkung) gesteuerte Phase unterteilt. Der Kerbeinfluß macht sich über eine Rißlaufstrecke von ein bis zwei Kerbradien ab Kerbgrund bemerkbar.

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7 Kurzrißbruchmechanik zur Ermüdungsfestigkeit

– Solange sich der Riß in der Kerbeinflußzone befindet, wird das DJ-Integral unterteilt nach elastischem und plastischem Anteil gemäß (7.36) bestimmt. – Ausgangsgrößen sind dabei die elastisch-plastisch wirkenden Spannungen ry und Dehnungen ey senkrecht zur Rißebene am Ort der Rißfront vor Auftreten des Risses (Ansatz von McClung [1561, 1562], Abb. 7.32). Im Fall der betrachteten Lochscheibe werden diese Größen nach einer Näherung von Seeger et al. [666] berechnet, in welche die elastische Kerbformzahl k , die Grenzlastformzahl pl (Verhältnis von elastisch-idealplastischer Grenzlast zur Last bei Fließbeginn nach Saal [662], s. (4.26)) und ein Sekantenmodul zur Kennzeichnung der kerbfallabhängigen Verfestigung eingehen. Die zyklische Spannungs-Dehnungs-Kurve unter Einschluß des Masing- und Memory-Verhaltens bildet dabei die Basis. – Der elastische Anteil des DJ-Integrals wird nach (6.47) ausgehend vom p Spannungsintensitätsfaktor KI max ˆ ry pa Y des sehr kleinen, halbkreisförmigen Oberflächenrisses mit a  h (hier mit Y ˆ 1;035  2=p anstelle von 1;07  2=p ˆ 0;68 in (7.37)) und dem entsprechenden Spannungsintensitätsfaktor des Durchrisses am Rand der Lochkerbe mit a  h (hier mit Y ˆ 1;121, Durchriß für a  h experimentell nachweisbar) bestimmt, wobei zwischen a ˆ 0 und a ˆ h ein linearer Anstieg von Y in Ermangelung einer genaueren Lösung angenommen wird (mit Scheibendicke h). – Der plastische Anteil des DJ-Integrals wird in der vereinfachten Form von (7.41) gemäß (7.48) ausgehend von den Spannungen ry und den Dehnungen ey (genauer: deren plastischem Anteil ey pl ) bestimmt, wobei die Geometriefaktoren Y des elastischen Anteils unverändert übernommen werden. – Das Rißschließen wird im elastischen und plastischen Anteil des DJ-Integrals gemäß der Näherung von Newman berücksichtigt (stabilisierte Rißöffnungsspannung abhängig von Oberspannung, Abb. 6.57). Dabei wird die örtliche Spannung ry in der Kerbeinflußzone der Grundbeanspruchung in der ungekerbten Scheibe mit Innendurchriß bei Newman gleichgesetzt (mangels genauerer Kenntnisse). – Sobald der Riß die Kerbeinflußzone verlassen hat, wird für DJeff die relativ genaue Lösung von Kumar et al. [1084] für das J-Integral des innenliegenden Durchrisses (sie beruht auf umfangreichen Finite-Elemente-Berechnungen) verwendet. Ausgehend vom J-Integral mit Geometriefaktor bei einmaliger elastisch-plastischer Beanspruchung wird DJeff gemäß (7.49) unter Berücksichtigung des Rißschließeffekts bestimmt. Das Verlassen der Kerbeinflußzone wird dadurch angezeigt, daß der DJeff -Wert nach Kumar den DJeff Wert nach (7.49) übersteigt. – Der Rißfortschritt wird ausgehend von der fiktiven Anfangsrißgröße a0 der ungekerbten Probe nach (7.55), also gemäß da=dN ˆ CJ …DJeff †m , mit den Werkstoffkennwerten des Langrisses berechnet. Die absolute Treffsicherheit der vorstehend beschriebenen Vorgehensweise für gekerbte Proben war selbst bei Einstufenbelastung zunächst unbefriedigend [1582]. Relativaussagen sind dagegen vertretbar. Vergleichsrechnungen bis zu

7.5 Kurzrißfortschritt im Kerbgrund

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einem technischen Anriß mit der Oberflächenrißlänge a0 ˆ 2c ˆ 0;5 mm in Stahl StE 460 zeigen beispielsweise, daß bei vorgegebener Kerbgrunddehnung der lebensdauerverlängernde Effekt der inhomogenen Kerbbeanspruchung (gegenüber der homogenen Grundbeanspruchung) nur für q  1 mm praktisch relevant ist. Die vorstehend beschriebene Vorgehensweise wurde von Vormwald et al. [1611] dahingehend verbessert, daß der statistische Größeneinfluß, der Einfluß der Mehrachsigkeit der Kerbbeanspruchung und der Einfluß des Spannungsgradienten (letzterer anders als in [1523]) berücksichtigt werden: – Der statistische Größeneinfluß bezeichnet den Unterschied zwischen der Schwingfestigkeit der ungekerbten Probe mit relativ großer hochbeanspruchter Oberfläche und der gekerbten Probe mit relativ kleiner hochbeanspruchter Oberfläche. – Der Einfluß der Mehrachsigkeit des Spannungszustands im Kerbgrund drückt sich bei r2 =r1 > 0 einerseits in einer Verkleinerung des Schädigungsparameters PJ ˆ DJeff =a (s. Kap. 7.6) aus, andererseits wird r2 =r1 mit dem Mehrachsigkeitsfaktor j nach Newman korreliert, der im modifizierten Dugdale-Modell bei der Erfassung des Rißschließens auftritt (s. Kap. 6.9). – Der Einfluß des Spannungsgradienten wird durch eine einfache Näherung erfaßt. Die Formel für das J-Integral im Scheitelpunkt des halbelliptischen Oberflächenrisses wird über die Lösung von Newman u. Raju [1029, 1031] für den Spannungsintensitätsfaktor desselben Risses im Biegespannungsgradienten einer Platte gewonnen, deren Dicke dem Kerbradius gleichgesetzt ist, um einen vergleichbaren Spannungsgradienten zu erzeugen (s. Tabelle 4.1). Das Ergebnis zu einem Berechnungsbeispiel (Lebensdauer einer gekerbten Probe aus einer Aluminiumlegierung im Wöhler-Versuch) zeigt Abb. 7.68. Das einfache PJ -Konzept (ebenso wie das PSWT -Konzept) ergibt gerechnete Schwingspielzahlen bis Anriß, die weit auf der sicheren Seite liegen. Die Lebensdauer erhöht sich infolge des statistischen Größeneffekts etwa um den Faktor 2 (gleichbedeutend einer Verkleinerung der fiktiven oder physikalischen Anfangsrißgröße von a0 ˆ 0;057 mm auf a0 ˆ 0;032 mm für die Berechnung ohne Größeneffekt, die kleinere Kerboberfläche, wie statistisch zu erwarten, mit der kleineren maximalen Rißgröße verbunden). Eine Erhöhung in nochmals gleicher Größenordnung stellt sich durch den Mehrachsigkeitseffekt ein. Der Gradienteneffekt ist demgegenüber klein, zu erklären aus der kleinen technischen Anrißlänge a0 ˆ 0;15 mm. Das Streuband der Versuchsergebnisse stimmt mit dem rechnerischen Endergebnis gut überein. Demgegenüber ergeben sowohl der Schädigungsparameter PJ ˆ DJeff =a ohne Berücksichtigung der Zusatzeinflüsse als auch der kerbmechanische Schädigungsparameter PSWT (für k ˆ 2;7) eine Wöhler-Linie, die zu weit auf der sicheren Seite liegt. Der Parameter PSWT gibt außerdem das Probenverhalten im Bereich der Dauerfestigkeit nicht richtig wieder. Eine von Dankert et al. [1541] entsprechend der Vorgehensweise von Vormwald für die Lochscheibe aus Stahl StE 460 mit halbkreisförmigem Anriß im demgegenüber breiteren Kerbgrund berechnete Rißfortschrittskurve bei kon-

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7 Kurzrißbruchmechanik zur Ermüdungsfestigkeit

Abb. 7.68: Wöhler-Linien für gekerbte Proben aus Aluminiumlegierung: unterschiedliche Berechnungsweisen (Kurvenzüge) und Streuband der Versuchsergebnisse (punktgerastertes Band); PJ -Konzept, PJ1 -Konzept mit statistischem Größeneinfluß, PJ2 -Konzept zusätzlich mit Mehrachsigkeitseinfluß, PJ3 -Konzept zusätzlich mit Einfluß des Spannungsgradienten und kerbmechanisches PSWT -Konzept; nach Vormwald et al. [1611]

stanter Beanspruchungsamplitude ist in Abb. 7.69 mit Meßergebnissen verglichen (vorausgehende Teilergebnisse dazu in Abb. 7.33 und 7.34). Das Berechnungsergebnis bleibt hinreichend (und nicht zu weit) auf der sicheren Seite. Das Modell von Vormwald wurde von Anthes [1389] auf das transiente Rißöffnungs- und Rißschließverhalten erweitert, ohne daß die Treffsicherheit der Lebensdauervorhersagen dadurch wesentlich verbessert werden konnte. Das Verfahren wurde von Savaidis u. Seeger [1498] auf proportional mehrachsige Kerbgrundbeanspruchung erweitert und am Beispiel der proportional überlagerten zyklischen Axial- und Torsionsbelastung von dünnwandigen Hohlstabproben experimentell überprüft (s. Abb. 7.78). Diese Erweiterung umfaßt die folgenden zusätzlichen Verfahrensschritte: – Die mehrachsigen Spannungen und Dehnungen im elastisch-plastisch beanspruchten Kerbgrund bei proportional überlagerter Axial- und Torsionsbelastung der Probe (aus duktilem Werkstoff) werden ausgehend von den Vergleichsgrößen nach der Gestaltänderungsenergiehypothese und dem vereinfachten Fließgesetz nach Hencky bestimmt [650–652] (s. Kap. 4.4). Die vollständigen Last-Dehnungs- und Spannungs-Dehnungs-Pfade folgen unter Einbeziehung des Masing- und Memory-Verhaltens der Hystereseschleifen der zyklischen Beanspruchung. Der Ansatz setzt voraus, daß die Risse sehr klein und die Kerbspannungen gegenüber den Rißspannungen dominant bleiben (also ungeschädigter Werkstoff in der Kerbe ohne Riß).

7.5 Kurzrißfortschritt im Kerbgrund

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Abb. 7.69: Rißgröße im Kerbgrund als Funktion der Schwingspielzahl ausgehend von einem halbkreisförmigen Anriß (Tiefe a0 ˆ 0,25 mm) und fortgesetzt als Durchriß; Vergleich von Berechnungs- und Versuchsergebnissen; nach Dankert et al. [1541]

– Das zyklische J-Integral ist für mehrachsige Rißbeanspruchung (halbkreisförmiger Anriß, Modus I, II und III überlagert) zu bestimmen. Der elastische Anteil folgt bei Modus I aus (7.37). Bei Modus II und III sind entsprechende Gleichungen verfügbar. Der plastische Anteil wird nach einer Näherung von He [1078] berechnet, in der das Produkt Drv Dev pl aus den Schwingbreiten von Vergleichsspannung und plastischer Vergleichsdehnung abhängig vom Anteil der Belastungsarten (Axial- und Torsionsbelastung) und abhängig vom zyklischen Verfestigungsexponenten modifiziert wird. Der Ansatz setzt ein homogenes Beanspruchungsfeld voraus, vernachlässigt demnach Gradienteneffekte. – Zusätzlich ist im (effektiven) J-Integral das Rißschließen zu berücksichtigen. Näherungsgleichungen für die Rißöffnungsspannung bei zweiachsiger Rißbeanspruchung nach Modus I unter Einschluß des Spannungsverhältnisses R wurden aus Finite-Elemente-Berechnungsergebnissen von McClung [1562] abgeleitet und mangels genauerer Kenntnisse auf die Rißbeanspruchung nach Modus II und III sowie auf die gemischte Rißbeanspruchung übertragen (gegenüber der physikalischen Realität offenbar auf der sicheren Seite lie