Die Kleptomanin. Mit Hercule Poirot.
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Zitiervorschau

Agatha Christie

Die Kleptomanin

s&c by anybody Wenn eine sonst unfehlbare Sekretärin in einem Brief gleich drei Tippfehler macht, ist das nicht mehr als eine Fehlleistung. Wenn ihr Chef aus diesem menschlichen Versagen richtige Rückschlüsse zieht, ist das mehr als eine Meisterleistung. Und wenn er dabei keinen einzigen Denkfehler macht, ist das nicht mehr als selbstverständlich. Denn der Chef heißt Hercule Poirot. ISBN 3-502-50660-4 Scherz Bern München Wien Einzig berechtigte Übertragung aus dem Englischen Titel des Originals: »Hickory, Dickory, Dock« Umschlag von Heinz Looser Foto: Thomas Cugini 12. Auflage 1979 Copyright © 1958 by Scherz Verlag Bern und München Gesamtherstellung: Ebner Ulm

1 Hercule Poirot runzelte die Stirn. «Miss Lemon», sagte er. «Ja, Monsieur Poirot?» «In diesem Brief sind drei Fehler.» Seine Stimme klang sehr erstaunt, denn die häßliche, aber äußerst tüchtige Miss Lemon machte niemals Fehler. Sie war niemals krank, niemals müde, niemals erregt und niemals ungenau. Sie war im Grunde genommen keine Frau, sondern eine Maschine - sie war die perfekte Sekretärin. Sie wußte alles und tat stets das Richtige. Sie organisierte Hercule Poirots ganzes Leben, und alles lief wie am Schnürchen. Hercule Poirot hatte schon immer den größten Wert auf Ordnung und Planmäßigkeit gelegt. George, der perfekte Diener, und Miss Lemon, die perfekte Sekretärin, sorgten seit vielen Jahren dafür, daß sein Leben geordnet und planmäßig verlief, und Hercule Poirot hatte sich über nichts zu beklagen. An diesem Morgen jedoch hatte Miss Lemon in einem ganz einfachen Brief drei Tippfehler gemacht und hatte sie nicht einmal bemerkt. Die Sterne am Himmel standen still in ihrem Lauf! Hercule Poirot hielt ihr den unmöglichen Brief hin. Er war nicht verärgert, sondern nur über die Maßen erstaunt. So etwas konnte doch nicht geschehen ... aber es war geschehen! Miss Lemon nahm den Brief entgegen und betrachtete ihn. Poirot sah sie zum erstenmal in seinem Leben erröten - es war ein häßliches, dunkles Rot, das sich bis zu den Wurzeln ihres gekräuselten, grauen Haares ausbreitete. «Du liebe Zeit, wie konnte mir das nur passieren?» sagte sie. «Allerdings weiß ich, warum ich so zerstreut war... wegen meiner Schwester ...» «Wegen Ihrer Schwester?» Ein weiterer Schock. Poirot war noch nie auf die Idee gekommen, daß Miss Lemon eine Schwester haben könnte ­ oder einen Vater, eine Mutter und Großeltern. Für ihn war sie -2 ­

eine Maschine, ein Präzisionsinstrument - der Gedanke, daß sie Gefühle hatte oder Befürchtungen oder Familiensorgen, erschien ihm ganz unfaßbar. Es war eine bekannte Tatsache, daß Miss Lemon ihre gesamte Freizeit damit verbrachte, an einem neuen Registratursystem zu arbeiten, das demnächst patentiert werden und ihren Namen tragen sollte. «Ihre Schwester?» wiederholte Poirot daher mit ungläubiger Stimme. Miss Lemon nickte zustimmend. «Ja», sagte sie. «Ich glaube nicht, daß ich sie Ihnen gegenüber jemals erwähnt habe. Sie hat den größten Teil ihres Lebens in Singapur verbracht. Ihr Mann hatte dort mit dem Rohgummigeschäft zu tun.» Hercule Poirot nickte verständnisvoll. Es erschien ihm logisch, daß Miss Lemons Schwester den größten Teil ihres Lebens in Singapur verbracht hatte - dazu waren Orte wie Singapur da. Schwestern von Frauen wie Miss Lemon heirateten Geschäftsleute in Singapur, damit die Miss Lemons dieser Welt ihren Chefs und deren geschäftlichen Transaktionen ihre ungeteilte Aufmerksamkeit zuwenden konnten - (und in ihrer Freizeit der Erfindung neuer Registratursysteme). «Ich verstehe», sagte er, «fahren Sie fort.» «Vor vier Jahren starb ihr Mann; sie hatten keine Kinder, Ich verschaffte ihr eine hübsche, kleine und nicht sehr teure Wohnung ...» (Natürlich war es Miss Lemon gelungen, das fast Unmögliche zu erreichen!) «Es geht ihr finanziell nicht schlecht, obwohl das Geld einen Teil seines Wertes verloren hat, aber sie ist nicht sehr anspruchsvoll; wenn sie vorsichtig wirtschaftet, hat sie genug, um angenehm leben zu können.» Nach einer kurzen Pause fuhr Miss Lemon fort: «Aber sie war natürlich sehr einsam. Sie hatte niemals vorher in England gelebt und besaß daher keine alten Freunde und Bekannten. Sie begann sich zu langweilen. Und so erzählte sie mir vor sechs Monaten, daß sie die Absicht hätte, eine Stellung anzunehmen.» -3 ­

«Eine Stellung?»

«Ja, als Vorsteherin in einem Studentenheim, das einer Halb-

Griechin gehörte. Meine Schwester hätte sich um die

Bewirtschaftung und um die gesamte Leitung des Heims zu

kümmern. Es ist ein altmodisches, geräumiges Haus in der

Hickory Road - ich weiß nicht, ob Sie die Straße kennen.»

Poirot kannte sie nicht. «Es war früher einmal eine vornehme

Gegend, und die Häuser sind gut gebaut. Meine Schwester

sollte ein Schlafzimmer, ein hübsches Wohnzimmer und eine

eigene Küche mit Bad bekommen.»

Miss Lemon machte eine Pause. Poirot räusperte sich

ermutigend. Bis zu diesem Punkt der Erzählung schien es sich

nicht um irgendwelche Katastrophen zu handeln. «Ich war nicht

ganz sicher, ob ich ihr zureden sollte, die Stellung

anzunehmen, aber ich konnte mich den Argumenten meiner

Schwester nicht widersetzen. Sie hat es nie gemocht, den

ganzen Tag lang mit den Händen im Schoß in einem Sessel zu

sitzen, und sie ist eine praktische, tüchtige Frau. Außerdem war

es kein großes Risiko - schließlich sollte sie selbst kein Geld

investieren. Sie sollte ein Gehalt bekommen - kein sehr hohes

Gehalt - aber darauf war sie ja auch nicht angewiesen, und sie

würde keine schwere körperliche Arbeit zu verrichten haben.

Sie hat schon immer viel Interesse für junge Leute gehabt und

es gut verstanden, mit ihnen umzugehen. Da sie lange im

Osten gelebt hat, sind ihr Rassenprobleme nicht fremd. Die

Studenten in diesem Heim kommen nämlich aus aller Welt; die

Mehrzahl sind allerdings Engländer, aber soviel ich weiß, ist

einer der jungen Leute sogar kohlschwarz.»

«Ganz natürlich», meinte Poirot.

«Selbst in unseren Krankenhäusern ist heutzutage die Hälfte

der Schwestern farbig», sagte Miss Lemon, «aber wie ich höre,

sind sie netter und aufmerksamer als die englischen

Schwestern. Doch das gehört nicht zur Sache. Wir besprachen

die Angelegenheit gründlich, und schließlich zog meine

Schwester in das Heim. Weder sie noch ich halten sehr viel von

der Eigentümerin, einer Mrs. Nicoletis, die eine sehr launische

Person ist; sie kann reizend sein, aber manchmal auch

-4 ­

unausstehlich. Außerdem ist sie unpraktisch und geizig. Wenn

sie tüchtig wäre, würde sie ja schließlich auch ohne die Hilfe

meiner Schwester auskommen. Meine Schwester läßt sich

jedoch durch die Launen und Temperamentsausbrüche anderer

Leute nicht aus der Ruhe bringen. Sie kann es mit jedem

aufnehmen und läßt sich nichts gefallen.»

Poirot nickte. Miss Lemon und ihre Schwester schienen eine

gewisse Ähnlichkeit miteinander zu haben. Die Schwester

mochte durch die Ehe und das Klima von Singapur etwas

weicher und weiblicher geworden sein, aber sie schien den

gleichen gesunden Menschenverstand wie Miss Lemon zu

besitzen. «Ihre Schwester hat die Stellung also angenommen?»

fragte er.

«Ja. Sie ist vor etwa sechs Monaten in die Hickory Road

gezogen; die Arbeit ist interessant, und es gefällt ihr recht gut.»

Hercule Poirot hörte aufmerksam zu, obwohl die Geschichte

von Miss Lemons Schwester bisher reichlich zahm und

uninteressant war.

«Aber seit einiger Zeit macht sie sich große Sorgen... sehr

große Sorgen.»

«Weshalb?»

«Weil Dinge vorgehen, die ihr nicht gefallen.»

«Handelt es sich um Studenten beiderlei Geschlechts?» fragte

Monsieur Poirot taktvoll.

«O nein, Monsieur Poirot, das meine ich nicht! Auf

Schwierigkeiten dieser Art ist man ja immer vorbereitet, man

erwartet sie sogar. Nein ... es handelt sich darum, daß Sachen

verschwunden sind.»

«Verschwunden?»

«Ja. Und die merkwürdigsten Sachen... und alles auf eine

unnatürliche Art und Weise.»

«Meinen Sie, daß die Sachen gestohlen worden sind?»

«Ja.»

«Hat man die Polizei benachrichtigt?»

-5 ­

«Nein. Noch nicht. Meine Schwester hofft, das vermeiden zu können. Sie hat die jungen Leute gern - oder wenigstens einige von ihnen - und sie würde es vorziehen, der Sache selbst auf den Grund zu kommen.» «Das scheint mir sehr verständlich», sagte Poirot nachdenklich. «Aber ich kann mir Ihre eigene Erregung, die zweifellos durch die Besorgtheit Ihrer Schwester hervorgerufen wurde, nicht recht erklären.» «Die ganze Angelegenheit gefällt mir nicht, Monsieur Poirot. Ich habe das Gefühl, daß Dinge vorgehen, die ich nicht verstehe. Ich kann mir kein genaues Bild machen und keine Erklärung für die Vorgänge finden.» Poirot nickte nachdenklich. Phantasielosigkeit war von jeher Miss Lemons Achillesferse gewesen. Wenn es sich um Tatsachen handelte, war sie unschlagbar, wenn es zu Vermutungen kam, war sie verloren. «Kein gewöhnlicher Dieb - vielleicht ein Kleptomane?» «Das glaube ich nicht. Ich habe im Konversationslexikon und in einem medizinischen Nachschlagewerk darüber nachgelesen», sagte die gewissenhafte Miss Lemon, «aber ich bin zu der Überzeugung gekommen, daß es sich nicht um Kleptomanie handelt.» Hercule Poirot schwieg länger als eine Minute. Wollte er sich wirklich in die Angelegenheiten von Miss Lemons Schwester einmischen? Was gingen ihn die sonderbaren Vorfälle in einem vielsprachigen Studentenheim an? Aber es war höchst unangenehm, daß Miss Lemon plötzlich Tippfehler machte, und um das zu beseitigen, würde ihm wohl nichts anderes übrigbleiben, als sich einzumischen! Er wollte sich selbst nicht eingestehen, daß er sich in letzter Zeit etwas gelangweilt hatte und daß ihn gerade die scheinbare Unwichtigkeit der Vorgänge im Studentenheim reizte. «Schmilzt wie die Petersilie in der Butter an einem heißen Tag», murmelte er vor sich hin.

«Petersilie? Butter?» fragte Miss Lemon erstaunt. «Ein Zitat

von einem Ihrer Klassiker», sagte er.

-6 ­

«Gewiß sind Ihnen die Abenteuer und Erfolge von Sherlock Holmes bekannt.» «Sie meinen die Geheimgruppen in der Baker Street und all das», sagte Miss Lemon. «Wie können erwachsene Männer nur so kindisch sein! Aber so sind sie nun einmal; es macht ihnen Spaß, mit den Eisenbahnen ihrer Kinder zu spielen... Ich kann nicht behaupten, daß ich jemals die Zeit gefunden hätte, diese Geschichten zu lesen. Wenn ich einmal Zeit zum Lesen habe, nehme ich mir ein ernsthaftes Buch vor.» Hercule Poirot nickte anerkennend. «Was würden Sie davon halten, Ihre Schwester hierher einzuladen, Miss Lemon, vielleicht zum Nachmittagstee? Vielleicht könnte ich ihr in gewisser Weise behilflich sein.» «Das ist wirklich nett von Ihnen, Monsieur Poirot - ganz besonders nett. Meine Schwester ist nachmittags immer frei.» «Wie wäre es in diesem Fall mit morgen nachmittag?» Die Verabredung wurde getroffen und der wackere George beauftragt, warme Teekuchen, quadratisch geschnittene Sandwiches und alles, was sonst zu einem reichlichen englischen Nachmittagstee gehört, zu besorgen.

2 Mrs. Hubbard sah ihrer Schwester, Miss Lemon, ziemlich ähnlich. Ihre Haut war gelblicher, sie war etwas stärker, ihre Frisur war nicht ganz so streng und ihr Benehmen nicht ganz so schroff, aber die Augen in dem freundlichen, rundlichen Gesicht hatten den gleichen intelligenten Ausdruck wie Miss Lemons Augen hinter ihrem Kneifer. «Wie nett von Ihnen, mich einzuladen, Monsieur Poirot», sagte sie. Ihr Tee ist einfach köstlich. Ich habe bestimmt viel mehr gegessen als gut für mich ist - vielen Dank - ja, vielleicht noch ein Sandwich und ein halbes Täßchen Tee.» «Zuerst wollen wir in Ruhe Tee trinken», sagte Poirot, «danach kommt das Geschäftliche.»

-7 ­

Er sah sie liebenswürdig an und zwirbelte seinen Schnurrbart.

Mrs. Hubbard meinte: «Sie sind genau so, wie ich Sie mir nach

Felicitys Beschreibung vorgestellt habe.»

Nachdem er mit einigem Erstaunen festgestellt hatte, daß Fe­

licity der Vorname seiner gestrengen Sekretärin war, erklärte

er, daß ihn Miss Lemons genaue und gründliche Beschreibung

seiner Person in keiner Weise überraschte. Mrs. Hubbard nahm

sich geistesabwesend ein zweites Sandwich und sagte:

«Felicity hat sich niemals für andere Leute interessiert - aber

ich tue es, und deshalb bin ich so besorgt.»

«Können Sie mir erklären, worüber Sie sich solche Sorgen

machen?»

«Ja, das kann ich. Es wäre ganz natürlich, wenn hin und wieder

kleinere Geldsummen verschwinden würden, oder Juwelen,

das wäre auch in Ordnung - ich meine das natürlich nicht so

wörtlich - aber es würde sich ganz einfach mit Kleptomanie

oder mit Unehrlichkeit erklären lassen. Ich habe eine Liste der

Dinge gemacht, die abhanden gekommen sind. Ich werde sie

Ihnen vorlesen.»

Mrs. Hubbard öffnete ihre Handtasche und holte ein kleines

Notizbuch heraus.

«Abendschuhe. (Ein Schuh - es war ein neues Paar.) Ein

Armband. (Unecht.)

Ein Brillantring. (Wurde in einem Teller Suppe wiedergefunden.)

Eine Puderdose. Ein Lippenstift. Ein Stethoskop. Ein Paar

Ohrringe. Ein Feuerzeug. Ein Paar alte Flanellhosen.

Glühbirnen.

Eine Schachtel Schokolade.

Ein Seidenschal. (Wurde in Stücke geschnitten

wiedergefunden.)

Ein Rucksack. (Ebenso.) Borax. Badesalz. Ein Kochbuch.»

Hercule Poirot holte tief Atem.

«Bemerkenswert», sagte er, «faszinierend - wirklich

faszinierend.»

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Er blickte von Miss Lemons strengem, ablehnendem Gesicht

auf das gutmütige, verzweifelte Gesicht von Mrs. Hubbard. «Ich

gratuliere Ihnen», sagte er anerkennend zu Mrs. Hubbard. Sie

sah ihn erstaunt an.

«Aber warum denn, Monsieur Poirot?»

«Ich gratuliere Ihnen zu Ihrem einzigartigen und reizvollen

Problem.»

«Vielleicht werden Sie daraus klug, Mr. Poirot, aber ...»

«Ganz und gar nicht. Es erinnert mich höchstens an ein

Gesellschaftsspiel, das ich zu Weihnachten mit ein paar jungen

Freunden gespielt habe. Das Spiel hieß: Die drei gehörnten

Damen. Nacheinander mußten alle folgenden Satz sagen: und dann mußten sie einen

beliebigen Gegenstand nennen. Die nächste Person

wiederholte den Satz und fügte einen weiteren Gegenstand

hinzu; der Sinn des Spieles war, die Gegenstände in der

richtigen Reihenfolge im Gedächtnis zu behalten. Ich muß

sagen, daß einige der gewählten Gegenstände im höchsten

Maße dumm und lächerlich waren. Ein Stück Seife, ein weißer

Elefant, ein Klapptisch und ein Hammelbraten... Die

Schwierigkeit, sich an die Gegenstände zu erinnern, bestand

hauptsächlich darin, daß sie in keinerlei Beziehung zueinander

standen, genau wie die Gegenstände auf Ihrer Liste. Nachdem,

sagen wir, zwölf Gegenstände genannt worden waren, wurde

es fast unmöglich, sie in der richtigen Reihenfolge zu

wiederholen. Wenn man einen Fehler machte, bekam man ein

Papierhorn in die Hand gedrückt und mußte seinen Satz von

jetzt an folgendermaßen beginnen: und so weiter. Nachdem man drei Hörner

erhalten hatte, mußte man sich vom Spiel zurückziehen.

Derjenige, der sich am längsten hielt, war natürlich der Sieger.»

«Ich bin davon überzeugt, daß Sie das Spiel gewonnen

haben», sagte Miss Lemon mit dem unbedingten Vertrauen der

loyalen Sekretärin.

«Allerdings», sagte er. «Mit etwas Erfindungsgabe kann man

selbst wild durcheinander gewürfelte Gegenstände in eine

-9 ­

gewisse Ordnung und Reihenfolge bringen. Man sagt sich zum Beispiel: Sabrina Fair< - Sie haben wahrscheinlich davon gehört.»

-1 1 ­

«Stehen die beiden Mädchen gut miteinander?» Mrs. Hubbard

überlegte einen Augenblick. «Ich glaube ja, obwohl sie recht

verschieden sind. Patricia verträgt sich mit allen gut, ohne

jedoch besonders beliebt zu sein. Valerie Hobhouse hat eine

scharfe Zunge und einige Feinde; andererseits wird sie von

manchen Leuten sehr bewundert Habe ich mich klar

ausgedrückt? Können Sie sich ein Bild von den beiden

machen?»

«Ich glaube schon», antwortete Poirot

Patricia Lane war also nett und langweilig, Valerie Hobhouse

dagegen war eine Persönlichkeit Er begann wieder die Liste der

gestohlenen Gegenstände zu studieren.

«Was mich besonders interessiert, ist die Verschiedenartigkeit

der Dinge. Einerseits haben wir einige wertlose Kleinigkeiten,

wie die Puderdose, den Lippenstift und das Armband, das

Badesalz und die Schokolade, die vielleicht ein eitles junges

Mädchen mit wenig Geld reizen könnten. Andererseits haben

wir das Stethoskop, das vermutlich von einem Mann gestohlen

wurde, der die Absicht hat, es zu verkaufen oder zu versetzen.

Wem hat es gehört?»

«Es gehörte einem Mr. Bateson, einem freundlichen Jungen.»

«Ist er Medizinstudent?»

«Ja.»

«War er sehr ärgerlich?»

«Er war einfach außer sich, Monsieur Poirot. Er neigt zu

Wutausbrüchen, aber wenn er seinem Ärger einmal Luft

gemacht hat, beruhigt er sich schnell wieder. Er nimmt es nicht

auf die leichte Achsel, wenn ihm Sachen abhanden kommen.»

«Das tun die wenigsten Menschen.»

«Gopal Ram, einer unserer indischen Studenten, lächelt über

alles. Er sagt mit einer verächtlichen Geste, daß materielle

Dinge unwichtig sind.»

«Ist ihm etwas gestohlen worden?»

«Nein.»

«Aha. Und wem gehörten die Flanellhosen?»

-1 2 ­

«Einem Mr. McNabb. Es waren alte, abgetragene Hosen, die die meisten Leute längst weggelegt hätten, aber Mr. McNabb hängt sehr an seinen alten Sachen und wirft nie etwas fort.» «So wären wir also bei den Dingen angelangt, die es sich kaum zu stehlen lohnt - alte Flanellhosen, Glühbirnen, Borax, Badesalz, ein Kochbuch. Sie mögen eine gewisse Bedeutung für uns haben - aber das ist nicht sehr wahrscheinlich. Der Borax ist vielleicht irrtümlich fortgenommen worden, jemand kann die Glühbirne ausgeschraubt und vergessen haben, eine neue einzuschrauben, das Kochbuch könnte sich jemand geborgt haben, der es noch nicht zurückgegeben hat. Und die Hosen hat vielleicht die Putzfrau mitgenommen.» «Das halte ich für ausgeschlossen: Wir haben zwei sehr zuverlässige Frauen, die bestimmt nichts fortnehmen würden, ohne vorher zu fragen.» «Wahrscheinlich haben Sie recht. Dann kommen wir zu dem einzelnen Abendschuh - wem gehörte der?»

«Er gehörte Sally Finch, einer amerikanischen Studentin, die

ein Fulbright-Stipendium gewonnen hat.»

«Sind Sie ganz sicher, daß sie den Schuh nicht nur verlegt hat? Ich kann mir nicht vorstellen, was man mit einem einzelnen Schuh anfangen könnte.» «Nein, sie hat ihn nicht verlegt, Monsieur Poirot. Wir haben alles durchsucht, weil Miss Finch zu einer Gesellschaft eingeladen war, zu der sie sich ein Abendkleid anziehen mußte; sie besitzt nur ein Paar Abendschuhe,» «Es hat ihr also Ärger und Ungelegenheiten bereitet... ja ... ich versteh« ... vielleicht sollte man da anknüpfen ...» Er schwieg einen Augenblick, dann fuhr er fort: «Dann hätten wir noch zwei weitere Gegenstände - einen Seidenschal und einen Rucksack, die beide in Stücke geschnitten wiedergefunden wurden. Hier handelt es sich nun weder um Eitelkeit noch um Profit, sondern höchstwahrscheinlich um einen Racheakt. Wem hat der Rucksack gehört?» «Die Studenten haben fast alle einen Rucksack, da sie oft wandern und Ausflüge machen. Die meisten Rucksäcke -1 3 ­

stammen aus demselben Geschäft und sind schwer

voneinander zu unterscheiden. Wir sind aber ziemlich sicher,

daß dieser Rucksack entweder Leonard Bateson oder Colin

McNabb gehört hat.»

«Und der zerschnittene Seidenschal?»

«Gehörte Valerie Hobhouse. Er war ein Weihnachtsgeschenk ­

smaragdfarbene Seide - sehr gute Qualität.»

«Miss Hobhouse ... aha ...»

Poirot schloß die Augen. Er sah alles wie in einem Kaleidoskop:

einen zerschnittenen Rucksack, Seidenfetzen, ein Kochbuch,

einen Lippenstift, Badesalz; nirgends ein Zusammenhang,

nirgends eine feste Form. Unzusammenhängende

Zwischenfälle und Persönlichkeiten wirbelten durch den Raum.

Aber Poirot wußte nur zu gut, daß es irgendwo ein bestimmtes

Muster geben mußte. Wahrscheinlich verschiedene Muster,

wahrscheinlich jedesmal, wenn man das Kaleidoskop

schüttelte, ein anderes Muster.. . aber eins mußte das richtige

Muster sein ... Die Frage war nur, wo man anfangen sollte ...

Er öffnete die Augen.

«Ich muß mir diese Angelegenheit überlegen - gründlich

überlegen.»

«Das kann ich mir vorstellen, Monsieur Poirot... und ich wollte

Ihnen auch wirklich keine Mühe machen ...», versicherte Mrs.

Hubhard eifrig.

«Machen Sie sich darüber keine Sorgen; ich finde den Fall

hochinteressant. Aber während ich darüber nachdenke,

könnten wir vielleicht damit anfangen, einige praktische Schritte

zu unternehmen ... es ist natürlich nur ein Anfang. Vielleicht

könnten wir mit dem Abendschuh beginnen. Miss Lemon ...»

«Ja, Monsieur Poirot?»

Miss Lemon hörte sofort auf, sich mit ihrem Registratursystem

zu beschäftigen, und griff automatisch nach Stenogrammblock

und Bleistift.

«Mrs. Hubbard wird so gut sein, Ihnen den einen Abendschuh

zu geben; dann gehen Sie zum Fundbüro in der Baker Street...

-1 4 ­

wann ist der Schuh verloren worden?» Mrs. Hubbard sagte

nach kurzer Überlegung: «Ich kann mich leider nicht an das

genaue Datum erinnern. Es muß etwa vor zwei Monaten

gewesen sein, aber ich könnte Sally Finch fragen, wann die

Gesellschaft war.»

«So genau brauchen wir es ja nicht zu wissen.» Monsieur

Poirot wandte sich wieder an Miss Lemon. «Am besten sagen

Sie, daß Sie den Schuh in der Untergrundbahn liegen gelassen

haben, oder vielleicht in einem Autobus. Wie viele Busse fahren

durch die Gegend der Hickory Road?»

«Nur zwei, Monsieur Poirot.»

«Gut. Wenn Sie im Fundbüro nichts erreichen sollten, wenden

Sie sich an Scotland Yard; sagen Sie, daß der Schuh in einem

Taxi verloren worden ist.»

«Aber warum glauben Sie ...», unterbrach ihn Mrs. Hubbard.

«Lassen Sie uns zunächst einmal die Resultate abwarten, Mrs.

Hubbard; nachdem wir wissen, ob sie negativ oder positiv

ausgefallen sind, werden wir uns weiter unterhalten. Dann

können Sie mir alles Notwendige sagen.»

«Ich glaube, daß ich Ihnen bereits alles, was mir bekannt ist,

mitgeteilt habe.»

«Ich bin da nicht ganz Ihrer Meinung, Mrs. Hubbard. Junge

Mädchen und junge Männer mit verschiedenartigem

Temperament leben unter einem Dach zusammen. A liebt B,

aber B liebt C; D und E hassen sich - vielleicht wegen A. All das

muß ich wissen - die Gefühle, die Eifersüchteleien, die

Freundschaften und Feindschaften dieser jungen Menschen.»

«Über diese Dinge kann ich Ihnen leider wenig sagen», erklärte

Mrs. Hubbard unangenehm berührt. «Ich mische mich nicht in

die Privatangelegenheiten der Studenten ein. Ich leite das Heim

und kümmere mich um die Beköstigung - sonst um nichts.»

«Aber Sie haben Interesse für Menschen, das haben Sie mir

selbst erzählt, und Sie mögen junge Leute. Sie haben diesen

Posten nicht aus finanziellen Erwägungen angenommen,

sondern weil Sie sich für menschliche Probleme interessieren.

Unter den Studenten müssen einige sein, die Sie gern haben,

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andere wieder, die Sie nicht mögen oder die Ihnen sogar unsympathisch sind. Das alles werden und müssen Sie mir erzählen ! Denn Sie sind nicht nur beunruhigt über das, was sich bisher ereignet hat - sonst wären Sie ja zur Polizei gegangen ...» «Ich versichere Ihnen, daß Mrs. Nicoletis keinen Wert darauf legt, die Polizei im Haus zu haben.» Poirot fuhr fort, ohne ihren Einwand zu beachten: «Sie machen sich einer bestimmten Person wegen Sorgen -um jemand, der Ihrer Ansicht nach verantwortlich oder zum mindesten in die Angelegenheit verwickelt ist - um jemand, den Sie gern haben.» «Aber, Monsieur Poirot!» «Ganz bestimmt. Und ich glaube, Sie machen sich mit Recht Sorgen - der zerfetzte Seidenschal gefällt mir gar nicht... und der zerschnittene Rucksack. Der Rest erscheint mir ziemlich kindisch... aber selbst da bin ich nicht sicher. Nein, ich bin gar nicht sicher.»

3 Mrs. Hubbard ging ziemlich schnell die Stufen hinauf und steckte den Hausschlüssel in die Tür des Hauses Hickory Road Nr. 26. Während sie die Haustür aufschloß, rannte ein junger Mann mit brandrotem Haar hinter ihr die Stufen hinauf. «Hallo, Muttchen», sagte er - Len Bateson nannte sie meistens . Er war ein freundlicher Bursche mit einem Cockney-Akzent und ohne die Spur eines Minderwertigkeitskomplexes. «Wo haben Sie sich denn herumgetrieben?» «Ich war zum Tee eingeladen, Mr. Bateson. Bitte halten Sie

mich jetzt nicht auf, ich habe mich etwas verspätet.»

«Ich habe eine bildschöne Leiche seziert - einfach fabelhaft»,

sagte Len.

«Sie erzählen entsetzliche Sachen - eine bildschöne Leiche!

Was für eine Idee! Mir wird ganz übel!» Das Echo von Lens

lautem Lachen dröhnte durch die Diele. «Da hätten Sie erst mal

-1 6 ­

Celia sehen sollen», sagte er. «Ich stattete ihr einen Besuch in

der Krankenhaus-Apotheke ab und sagte: Daraufhin wurde sie

kreideweiß, und ich dachte, sie würde gleich ohnmächtig

werden. Wie finden Sie das, Muttchen?»

«Das erstaunt mich gar nicht», sagte Mrs. Hubbard.

«Wahrscheinlich dachte Celia, Sie meinten eine echte Leiche.»

«Was wollen Sie damit sagen, Muttchen? Glauben Sie

vielleicht, daß unsere Leichen synthetisch sind?» Ein dünner

junger Mann mit langem, unordentlichem Haar kam aus einem

Zimmer auf der rechten Seite und sagte vorwurfsvoll :

«Ach, du bist's nur ... ich dachte, es wäre eine ganze Horde von

Kraftmenschen ... nach dem Lärm zu urteilen ...»

«Hoffentlich geht dir meine Stimme nicht zu sehr auf die

Nerven.»

«Nicht mehr als gewöhnlich», erwiderte Nigel Chapman und

ging zurück in sein Zimmer. «Unser zartes Pflänzchen»,

bemerkte Len. «Ihr solltet euch nicht immer streiten», sagte

Mrs. Hubbard.

«Die Menschen sind nun einmal verschieden; wir müssen alle

etwas Rücksicht aufeinander nehmen.»

«Ich hab' ja gar nichts gegen Nigel», erklärte der kräftige junge

Mann mit einem gutmütigen Lächeln.

In diesem Augenblick kam ein Mädchen die Treppe herunter

und sagte:

«Ich soll Ihnen etwas bestellen, Mrs. Hubbard. Mrs. Nicoletis

möchte Sie sofort sprechen - sie ist in ihrem Zimmer.» Mrs.

Hubbard seufzte und stieg die Treppe hinauf. Das große dunkle

Mädchen, das mit ihr gesprochen hatte, lehnte sich gegen die

Wand, um sie vorbeigehen zu lassen. Len Bateson zog seinen

Regenmantel aus und sagte: «Was ist denn los, Valerie? Hat

sich jemand über uns beschwert? Soll Mrs. Hubbard die

Beschwerden an uns weiterleiten?» Das Mädchen zuckte ihre

schlanken, eleganten Schultern. Sie ging die Treppe hinunter

-1 7 ­

und durchquerte die Diele. «Man kommt sich hier immer mehr

wie in einem Irrenhaus vor», sagte sie.

Während sie sprach, ging sie durch eine Tür zur Rechten. Sie

bewegte sich mit der natürlichen Grazie eines berufsmäßigen

Mannequins.

Das Haus in der Hickory Road 26 hatte ursprünglich aus zwei

Häusern bestanden - Nummer 24 und Nummer 26. Dann hatte

man eine Wand im Erdgeschoß abgerissen und so ein großes

Eßzimmer und ein gemeinsames Wohnzimmer geschaffen;

außerdem waren noch zwei Toiletten und ein kleiner Raum im

hinteren Teil des Hauses. Zu den oberen Stockwerken, die

nicht miteinander verbunden waren, führten zwei verschiedene

Treppen. Die Schlafzimmer der Studentinnen befanden sich auf

der rechten Seite des Hauses, die der Männer auf der linken

Seite, der ursprünglichen Nummer 24. «Wahrscheinlich ist sie

wieder mal schlechter Laune», murmelte Mrs. Hubbard, als sie

an die Tür des Wohnzimmers klopfte.

Mrs. Nicoletis' Zimmer war wie immer überheizt. Der elektrische

Ofen war ganz aufgedreht und das Fenster fest verschlossen.

Mrs. Nicoletis saß rauchend auf dem Sofa, umgeben von

zahlreichen, ziemlich schmutzigen Seiden- und Samtkissen. Sie

war groß und dunkel, eine noch immer gutaussehende Frau mit

einem launischen Mund und riesigen braunen Augen. «Da sind

Sie also», sagte Mrs. Nicoletis, es klang vorwurfsvoll. In Mrs.

Hubbards Adern rollte das Blut der Lemons; so leicht ließ sie

sich nicht aus der Ruhe bringen.

«Jawohl», sagte sie scharf, «ich bin hier. Mir wurde gesagt, daß

Sie mich sehen wollten.»

«Ja - allerdings. Es ist unerhört - einfach unerhört!»

«Was ist unerhört?»

«Diese Rechnungen! Ihre Abrechnungen!» Mrs. Nicoletis zog

einen Stoß von Papieren mit der Miene eines erfolgreichen

Zauberkünstlers unter einem Kissen hervor. «Was geben wir

diesen elenden Studenten eigentlich zu essen?

Gänseleberpastete und Hummer? Sind wir vielleicht das Ritz?

Was erwarten die Studenten von uns?»

-1 8 ­

«Unsere Studenten sind junge Leute mit einem gesunden

Appetit», sagte Mrs. Hubbard. «Wir geben ihnen ein gutes

Frühstück und ein kräftiges Abendessen - einfache, nahrhafte

Kost. Wir wirtschaften sehr sparsam.»

«Sparsam? Sparsam nennen Sie das? Sie ruinieren mich!»

«Sie verdienen sehr gut an diesem Heim, Mrs. Nicoletis. Die

Studenten bezahlen Ihnen verhältnismäßig viel.»

«Aber ist das Haus nicht immer voll? Habe ich nicht jedesmal,

wenn ein Zimmer frei wird, zahllose Anfragen? Schicken sie mir

nicht alle Studenten zu... die Stadtverwaltung, die Londoner

Universität, die Gesandtschaften?»

«Hauptsächlich, weil es bei uns gute und reichliche Mahlzeiten

gibt. Junge Menschen müssen ordentlich essen.»

«Bah! Diese Summen sind lächerlich. Die italienische Köchin

und ihr Mann sind schuld - sie beschwindeln uns mit den

Preisen der Lebensmittel.»

«Ganz und gar nicht, Mrs. Nicoletis. Verlassen Sie sich darauf,

daß ich mir von keinem Ausländer Sand in die Augen streuen

lasse.»

«Dann müssen Sie selbst es sein - wahrscheinlich berauben

Sie mich.»

Mrs. Hubbard ließ sich noch immer nicht aus der Ruhe bringen.

«Diese Anschuldigungen sind ungerecht, und ich muß mich

ganz energisch dagegen wehren», erklärte sie im Ton einer

altmodischen Gouvernante, die ein ungezogenes Kind

abkanzelt. «So etwas sagt man nicht, und Sie werden sich noch

einmal in die größten Unannehmlichkeiten stürzen, wenn Sie

sich weiter so benehmen.»

«Ach was!» Mrs. Nicoletis warf einen Haufen Rechnungen mit

einer dramatischen Geste in die Luft; sie flatterten langsam

herunter und verteilten sich über den ganzen Fußboden. Mrs.

Hubbard verzog den Mund, bückte sich und begann die

Rechnungen aufzuheben. «Sie treiben mich zur Verzweiflung»,

sagte Mrs. Nicoletis.

-1 9 ­

«Das glaube ich gern», antwortete Mrs. Hubbard, «aber regen

Sie sich nicht zu sehr auf - es bekommt Ihnen nicht und wirkt

sich schlecht auf den Blutdruck aus.»

«Geben Sie zu, daß die Summe größer ist als die der

vergangenen Woche?»

«Natürlich. Lampsons hatten nämlich in dieser Woche sehr

günstige Sonderangebote von Konserven, und ich habe auf

Vorrat gekauft. Nächste Woche werden wir entsprechend

weniger verbrauchen.» Mrs. Nicoletis sah mürrisch aus. «Sie

finden auch für alles eine Erklärung.»

Mrs. Hubbard legte die Rechnungen auf einen ordentlichen

Haufen. «Sonst noch etwas?» fragte sie.

«Sally Finch, die amerikanische Studentin, hat die Absicht zu

kündigen. Aber ich möchte sie nicht verlieren - sie hat ein

Fulbright-Stipendium gewonnen, das es ihr ermöglicht, in

England zu studieren, und sie kann uns andere amerikanische

Studenten empfehlen ... ich will nicht, daß sie uns verläßt.»

«Warum will sie kündigen?» Mrs. Nicoletis zuckte die Achseln.

«Ich kann mir nicht alles merken - auf jeden Fall war ihre

Begründung nur eine Ausflucht. Ich bin ganz sicher, daß sie mir

nicht die Wahrheit gesagt hat.»

Mrs. Hubbard nickte nachdenklich. Sie hielt es für durchaus

möglich, daß Mrs. Nicoletis in diesem Punkt recht hatte. «Mir

gegenüber hat Sally nichts davon erwähnt», sagte sie.

«Werden Sie mit ihr reden?»

«Ja, selbstverständlich.»

«Und wenn es wegen der farbigen Studenten sein sollte ­

wegen der Inder und der Neger -, dann werden wir ihnen ganz

einfach kündigen. Die Rassenfrage spielt bei den Amerikanern

eine sehr große Rolle. Mir kommt es auf die Amerikaner an; auf

die Schwarzen lege ich nicht den geringsten Wert», erklärte

Mrs. Nicoletis mit einer wegwerfenden Handbewegung.

«Solange ich dieses Heim leite, kommt das gar nicht in Frage»,

entgegnete Mrs. Hubbard kalt. «Außerdem haben Sie unrecht.

Für unsere Studenten existiert dieses Problem nicht, und Sally

-2 0 ­

hat bestimmt keine Vorurteile. Sie ißt oft mit Mr. Akibombo zu

Mittag, und schwärzer als er kann man gar nicht sein.»

«Dann sind es die Kommunisten - Sie kennen ja die Einstellung

der Amerikaner in diesem Punkt. Ich denke an Nigel Chapman;

er ist bestimmt Kommunist.»

«Das bezweifle ich.»

«Doch, doch. Sie hätten ihn neulich abends hören sollen!»

«Nigel sagt die unmöglichsten Dinge, wenn er Leute ärgern will

- eine recht unangenehme Eigenschaft.»

«Sie kennen alle unsere jungen Leute so gut, Mrs. Hubbard ­

einfach großartig! Wie oft habe ich mich schon gefragt: was

würde ich nur ohne Mrs. Hubbard anfangen? Ich verlasse mich

vollkommen auf Sie. Sie sind eine wundervolle Frau!»

«So wird die Pille verzuckert», murmelte Mrs. Hubbard. «Was

sagten Sie?»

«Es war ganz unwichtig. Ich werde mein Bestes tun.» Sie

verließ schnell das Zimmer, um weiteren Lobreden zu

entgehen.

Welche Zeitverschwendung, dachte sie, als sie über den

Korridor zu ihrem eigenen Wohnzimmer ging. Die Frau geht mir

auf die Nerven.

Aber Mrs. Hubbard sollte noch nicht zur Ruhe kommen. Ein

großes, schlankes Mädchen erhob sich vom Sofa, als Mrs.

Hubbard ihr Zimmer betrat und sagte: «Könnte ich ein paar

Minuten mit Ihnen sprechen, Mrs. Hubbard?»

«Selbstverständlich, Elizabeth.» Mrs. Hubbard war ziemlich erstaunt. Elizabeth Johnston kam aus Westindien und studierte Jura. Sie war ehrgeizig, arbeitete viel und war meistens allein. Sie schien ein ruhiger, ausgeglichener Mensch zu sein, und Mrs. Hubbard hatte sie immer für eine der angenehmsten Studentinnen des Heims gehalten. Auch jetzt war sie sehr ruhig, aber das leichte Zittern ihrer Stimme entging Mrs. Hubbard nicht, obwohl die dunklen Züge des Mädchens keine Aufregung verrieten. «Ist etwas geschehen?» -2 1 ­

«Ja. Würden Sie bitte mit in mein Zimmer kommen?»

«Einen Augenblick, bitte.» Mrs. Hubbard warf ihren Mantel und

die Handschuhe auf einen Stuhl; dann ging sie mit dem

Mädchen die Treppe hinauf. Elizabeths Zimmer befand sich im

obersten Stockwerk. Sie öffnete die Tür, durchquerte das

Zimmer und führte Mrs. Hubbard zu einem Tisch am Fenster.

«Diese Artikel und Notizen sind das Werk monatelanger

Arbeit», sagte sie. «Bitte überzeugen Sie sich selbst, was man

mit meinen Papieren getan hat.» Mrs. Hubbard hielt

erschrocken den Atem an. Auf dem Tisch war Tinte verschüttet

worden; die Papiere waren voll davon und teilweise völlig

durchweicht. Mrs. Hubbard berührte sie mit den Fingerspitzen ­

sie waren noch feucht. Sie wußte selbst, daß ihre Frage töricht

war: «Sie haben die Tinte doch nicht selbst verschüttet?»

«Nein. Es ist passiert, während ich weg war.»

«Vielleicht Mrs. Biggs . . .?»

Mrs. Biggs war die Putzfrau, die die Zimmer im obersten Stock

saubermachte.

«Nein, Mrs. Biggs war es nicht. Es ist nicht einmal meine

eigene Tinte; die steht unberührt auf dem Bücherregal. Jemand

muß es absichtlich getan haben.» Mrs. Hubbard war entsetzt.

«So eine Gemeinheit!»

«Ja - ganz unbegreiflich.»

Das Mädchen sprach mit ruhiger Stimme, aber Mrs. Hubbard

beging nicht den Fehler, Elizabeths innere Erregung zu

unterschätzen. «Ich weiß wirklich nicht, was ich dazu sagen

soll, Elizabeth. Ich bin außer mir - einfach außer mir, und ich

werde alles daransetzen, herauszufinden, wer diese

Gemeinheit begangen hat. Haben Sie irgendeinen Verdacht?»

«Wie Sie sehen, ist die Tinte grün», sagte das Mädchen

schnell.

«Ja, das habe ich bemerkt.»

«Ich kenne nur eine Person hier im Heim, die grüne Tinte

benutzt - Nigel Chapman.»

«Würden Sie es für möglich halten, daß Nigel so etwas tut?»

-2 2 ­

«Eigentlich nicht, aber er schreibt seine Briefe und Notizen mit

grüner Tinte.»

«Ich werde ihn gründlich ausfragen. Ich kann Ihnen nicht

sagen, Elizabeth, so leid es mir tut, daß sich derartige Dinge in

diesem Haus ereignen, und ich kann Ihnen nur versprechen,

mir die größte Mühe zu geben, der Sache auf den Grund zu

kommen.»

«Vielen Dank, Mrs. Hubbard. Es sind... es sind noch andere

Dinge geschehen, nicht wahr?»

«Hm ... ja.»

Mrs. Hubbard verließ das Zimmer und begann die Treppe

hinunterzugehen, aber plötzlich kehrte sie um und ging statt

dessen den Korridor entlang. Am Ende des Korridors blieb sie

stehen und klopfte an eine Tür. Eine weibliche Stimme rief:

«Herein!»

Es war ein hübsches Zimmer, und seine Bewohnerin, Sally

Finch, war ein nettes, lustiges Mädchen mit einem roten Haar­

schopf.

Sie schrieb gerade einen Brief und blickte, mit vollem Munde

kauend, auf. Sie hielt Mrs. Hubbard eine offene Schachtel

entgegen und sagte:

«Bitte bedienen Sie sich - Süßigkeiten von zu Hause!»

«Vielen Dank, Sally - vielleicht später. Im Augenblick bin ich zu

nervös.» Sie machte eine Pause. «Haben Sie gehört, was

Elizabeth Johnston passiert ist?»

«Was ist denn unserer schwarzen Bess passiert?»

«Die schwarze Bess» war ein freundschaftlicher Spitzname,

den Elizabeth selbst längst akzeptiert hatte. Mrs. Hubbard

beschrieb die Ereignisse, und Sally zeigte sich äußerst empört.

«Das ist wirklich bösartig. Ich hätte es nie für möglich gehalten,

daß jemand so gemein zu unserer Bess sein könnte. Sie ist

allgemein beliebt, obgleich sie so zurückhaltend ist und man sie

nicht oft sieht; aber ich bin überzeugt, daß sie keine Feinde

hat.»

«Das hätte ich auch geglaubt.»

-2 3 ­

«Es hängt eben alles zusammen, nicht wahr? Deshalb will ich auch...» «Deshalb wollen Sie was?» fragte Mrs. Hubbard, als das Mädchen sich plötzlich mitten im Satz unterbrach. Sally sagte ruhig. «Deshalb will ich ausziehen. Hat Mrs. Nico-letis Ihnen das nicht erzählt?» «Ja, und sie hat sich sehr darüber aufgeregt. Sie glaubt, daß Sie ihr nicht den wahren Grund gesagt haben.» «Hab' ich auch nicht. Hätte ja keinen Sinn, einen Wutanfall herauszufordern - Sie kennen sie doch! Der wahre Grund ist, daß mir die Vorgänge in diesem Haus nicht gefallen. Es war sonderbar, daß mein Schuh verlorenging, und dann kam die Sache mit Valeries zerschnittenem Schal und mit Lens Rucksack. Man würde sich nicht weiter wundern, wenn Dinge gelegentlich abhanden kommen - aber was hier vorgeht, ist nicht mehr mit normalen Maßstäben zu messen.» Sie schwieg einen Augenblick, dann fuhr sie lächelnd fort: «Akibombo fürchtet sich. Er hält sich für zivilisiert und überlegen, aber der alte westafrikanische Glaube an Zauberei und Magie sitzt noch ziemlich nah an der Oberfläche.» «Aberglaube - lächerlich!» sagte Mrs. Hubbard ärgerlich. «Hier handelt es sich nicht um übernatürliche Vorgänge - es handelt sich um ein ungewöhnliches menschliches Wesen, das sich schlecht benimmt.» Sallys Mund verzog sich. «Gewöhnlich? Das glaube ich nicht. Meiner Ansicht nach befindet sich in diesem Haus eine höchst ungewöhnliche Person.» Daraufhin verließ Mrs. Hubbard Sally und begab sich in das gemeinsame Wohnzimmer der Studenten im Erdgeschoß, in dem sich zu dieser Stunde nur vier Leute aufhielten. Valerie Hobhouse saß auf dem Sofa und ließ ihre langen eleganten Beine über die Lehne baumeln; Nigel Chapman saß am Tisch und hatte ein dickes Buch vor sich aufgeschlagen; Patricia Lane lehnte sich an den Kaminsims. Ein Mädchen im Regenmantel war eben erst hereingekommen, als Mrs. Hubbard das Zimmer betrat. Das Mädchen war blond und -2 4 ­

untersetzt, mit weit auseinanderstehenden braunen Augen; ihr

Mund war leicht geöffnet, was ihr einen etwas erstaunten

Ausdruck verlieh. Valerie nahm ihre Zigarette aus dem Mund

und sagte mit gedehnter Stimme: «Na, Muttchen, haben Sie

unserer scheußlichen alten Pensionsinhaberin ein

Beruhigungsmittel verabreicht?»

Patricia Lane sagte: «Warum? Dicke Luft?»

«Und ob», meinte Valerie.

«Es hat sich etwas sehr Unangenehmes ereignet», erklärte

Mrs. Hubbard, «Sie müssen mir helfen, Nigel! »

«Ich?» fragte Nigel und klappte sein Buch zu. Über sein

hageres, boshaftes Gesicht breitete sich plötzlich ein

mutwilliges und dabei erstaunlich süßes Lächeln. «Was hab' ich

verbrochen?»

«Ich hoffe nichts», sagte Mrs. Hubbard. «Jemand hat

absichtlich grüne Tinte auf Elizabeth Johnstons Notizen

geschüttet... und Sie schreiben mit grüner Tinte, Nigel!» Er

starrte sie an, und das Lächeln verschwand von seinem

Gesicht.

«Ja, ich benutze grüne Tinte.»

«Wie geschmacklos, Nigel», sagte Patricia. «Mir wäre jede

andere Tinte lieber - schrecklich affektiert.»

«Ich lege Wert darauf, affektiert zu sein», bemerkte Nigel.

«Vielleicht wäre fliederfarbene Tinte noch besser - ich muß

versuchen, welche zu bekommen. Aber nun mal ernsthaft,

Muttchen, halten Sie es wirklich für einen Sabotageakt?»

«Ja - ich fürchte, ja. Haben Sie etwas damit zu tun, Nigel?»

«Nein, natürlich nicht. Wie Sie wissen, macht es mir manchmal

Spaß, Leute zu necken, aber so eine Gemeinheit würde ich

nicht fertigbringen. Und unsere vornehme, zurückhaltende

schwarze Bess, an der sich mancher von uns ein Beispiel

nehmen könnte, würde ich bestimmt nicht kränken wollen. Wo

ist eigentlich meine Tinte? Ich entsinne mich, meinen

Füllfederhalter gestern gefüllt zu haben. Meistens steht meine

Tinte drüben auf dem Regal.»

-2 5 ­

Er sprang auf und ging durchs Zimmer. «Hier ist sie.» Er nahm die Flasche in die Hand und stieß einen Pfiff aus. «Sie haben recht! Die Flasche ist fast leer, und sie müßte doch beinahe voll sein.» Das Mädchen im Regenmantel atmete schwer. «Du liebe Zeit», sagte sie, «das gefällt mir gar nicht.» Nigel sah sie herausfordernd an. «Hast du ein Alibi, Celia?» fragte er drohend. Das Mädchen seufzte. «Ich habe es nicht getan - bestimmt nicht. Ich bin ja sowieso den ganzen Tag über im Krankenhaus. Es wäre gar nicht...» «Bitte, Nigel, hören Sie auf, Celia zu necken», sagte Mrs. Hub­ bard. Patricia Lane bemerkte ärgerlich: «Ich sehe nicht ein, warum man Nigel verdächtigt - nur weil jemand seine Tinte genommen hat...» «Recht so, mein Kind», meinte Valerie giftig, «verteidige du nur deinen Kleinen!» «Es ist einfach nicht fair ...»

«Aber ich habe wirklich nichts damit zu tun», erklärte Celia mit

Nachdruck.

«Das denkt ja auch niemand», sagte Valerie ungeduldig, und dann mit einem Blick auf Mrs. Hubbard: «Die Sache fängt an, unheimlich zu werden - das ist kein Scherz mehr. Es muß unbedingt etwas geschehen.» «Und es wird auch etwas geschehen», versicherte Mrs. Hubbard grimmig.

4 «Hier, Monsieur Poirot», sagte Miss Lemon und gab ihm ein in braunes Papier eingepacktes Paket. Er wickelte es aus und betrachtete schmunzelnd einen eleganten silbernen Abendschuh. «Er war im Fundbüro in der Baker Street - wie Sie angenommen hatten.» -2 6 ­

«Das erspart uns viel Mühe und bestätigt meine Theorie»,

erklärte Poirot.

«Sehr richtig», bestätigte Miss Lemon uninteressiert, denn sie

war von Natur aus nicht neugierig; jedoch besaß sie einen stark

ausgeprägten Familiensinn. Sie wandte sich an Poirot: «Ich

wollte Ihnen nur mitteilen, daß ich einen Brief von meiner

Schwester bekommen habe; scheinbar haben sich inzwischen

wieder Dinge ereignet...»

«Gestatten Sie, daß ich den Brief lese?»

Sie gab ihm den Brief, und als er ihn gelesen hatte, bat er Miss

Lemon sofort, ihre Schwester anzurufen. Nachdem Miss Lemon

die Verbindung hergestellt hatte, ergriff Poirot den Hörer:

«Mrs. Hubbard?»

«Ach, Sie sind es, Monsieur Poirot. Wie nett von Ihnen, mich so

schnell anzurufen; ich ...» Poirot unterbrach sie: «Von wo

sprechen Sie?»

«Natürlich von zu Hause - von der Hickory Road Nr. 26... ach,

ich verstehe ... ich bin in meinem Wohnzimmer.»

«Sie haben mehrere Telefonapparate im Haus, nicht wahr?»

«Ja. Unser Haupttelefon ist unten in der Diele.»

«Ist jemand im Haus, der zuhören könnte?»

«Die Studenten sind um diese Zeit alle aus. Die Köchin ist auf

den Markt gegangen, und Geronimo, ihr Mann, versteht sehr

wenig englisch. Dann ist noch eine Putzfrau da, aber sie ist

schwerhörig und würde auch bestimmt kein Interesse haben,

zuzuhören.»

«Gut, dann kann ich also offen mit Ihnen reden. Finden bei

Ihnen hin und wieder am Abend Vorlesungen,

Filmvorführungen oder ähnliche Veranstaltungen statt?»

«Ja. Neulich hat Miss Baltrout, die bekannte

Forschungsreisende, bei uns einen Lichtbildervortrag gehalten;

an einem anderen Abend hat jemand über das Missionswerk im

Fernen Osten gesprochen. Bei dieser Gelegenheit waren die

meisten unserer Studenten allerdings nicht anwesend.»

-2 7 ­

«Sehr schön, dann wird es ganz logisch erscheinen, wenn Sie ankündigen, daß Monsieur Hercule Poirot, der Chef Ihrer Schwester, sich liebenswürdigerweise bereit erklärt hat, heute einen Vortrag über seine interessantesten Fälle zu halten.» «Das ist sehr nett von Ihnen, aber glauben Sie auch bestimmt ...» «Ich glaube nicht, ich weiß.» Als die Studenten an diesem Abend das gemeinsame Wohnzimmer betraten, sahen sie einen Anschlag am Schwarzen Brett, das neben der Tür angebracht war: Der berühmte Privatdetektiv M. Hercule Poirot hat sich liebenswürdigerweise bereit erklärt, heute abend einen Vortrag zu halten. Er spricht über Theorie und Praxis der Aufklärung von Verbrechen an Hand berühmter Kriminalfälle. Die Reaktion der Studenten war ziemlich verschieden. «Wer ist dieser Detektiv?» - «Ich hab' noch nie von ihm gehört.» «Doch, ich schon. Er war in einen Prozeß verwickelt, in dem ein Mann angeklagt worden war, eine Scheuerfrau ermordet zu haben; dieser Poirot hat im letzten Augenblick den wirklichen Mörder entdeckt, und daraufhin wurde der Angeklagte freigesprochen.» - «Klingt komisch!» - «Könnte ein ganz interessanter Vortrag sein.» - «Das ist etwas für Colin - der ist doch ganz verrückt auf Kriminalpsychologie!» - «Ich weiß nicht, ob er sich gerade damit beschäftigt, aber wahrscheinlich wäre es interessant, sich mit diesem erfahrenen Detektiv über Verbrechen zu unterhalten oder ihm Fragen zu stellen.» Das Abendessen wurde um halb acht serviert, und die meisten Studenten saßen bereits am Tisch, als Mrs. Hubbard im Eßzimmer erschien, nachdem sie mit dem berühmten Gast in ihrem Zimmer ein Glas Sherry getrunken hatte. Ein kiemer älterer Herr mit verdächtig schwarzem Haar und einem gewaltigen Schnurrbart, den er liebevoll zwirbelte, folgte Mrs. Hubbard auf dem Fuß. «Darf ich Sie mit unseren Studenten bekannt machen, Monsieur Poirot? Das ist Monsieur Hercule Poirot, der sich freundlicherweise bereit erklärt hat, uns nach dem Essen einen -2 8 ­

kleinen Vortrag zu halten.» Man begrüßte sich gegenseitig, und

Poirot nahm neben Mrs. Hubbard Platz. Er mußte sich

vorsehen, seinen Schnurrbart nicht in die ausgezeichnete

Minestrone zu tunken, die von einem kleinen, lebhaften

italienischen Diener aus einer großen Terrine serviert wurde.

Nach der Suppe gab es Spaghetti mit Fleischklößchen, und an

diesem Punkt faßte das junge Mädchen, das rechts von Poirot

saß, Mut und fragte schüchtern:

«Hat Mrs. Hubbards Schwester wirklich für Sie gearbeitet?»

Poirot wandte sich zu ihr: «Ja, natürlich. Miss Lemon ist seit

Jahren meine Sekretärin, und ich kann Ihnen verraten, daß sie

ungeheuer tüchtig ist - so tüchtig, daß ich es manchmal mit der

Angst zu tun bekomme.»

«Wirklich? Ich wollte nur gern wissen...»

«Was wollten Sie gern wissen, Mademoiselle?» Er lächelte ihr

auf väterliche Art zu und machte dabei gewisse

Beobachtungen. Hübsches Mädchen. Nervös. Nicht übertrieben

intelligent. Verängstigt...

Er sagte: «Wie heißen Sie, mein Kind, und was studieren Sie?»

«Ich heiße Celia Austin. Ich studiere nicht. Ich bin Apothekerin

und arbeite im St.-Catherine-Krankenhaus.»

«Interessanter Beruf!»

«Ja? Mag sein.» Es klang ziemlich unsicher. «Können Sie mir

vielleicht auch etwas über die anderen erzählen? Ich dachte,

hier wären hauptsächlich ausländische Studenten, aber die

meisten der jungen Leute scheinen Engländer zu sein.»

«Einige unserer Ausländer sind heute abend ausgegangen - die

Inder Chandra Lal und Gopal Ram - Miss Reinjeer, eine

Holländerin, und Mr. Achmed Ali, ein Ägypter, der sich nur für

Politik interessiert.»

«Vielleicht könnten Sie mir etwas über die Anwesenden

erzählen?»

«Also - links von Mrs. Hubbard sitzt Nigel Chapman; er studiert

an der Londoner Universität Geschichte des Mittelalters und

Italienisch. Das Mädchen mit der Brille neben ihm ist Patricia

-2 9 ­

Lane. Sie studiert Archäologie. Der große rothaarige Bursche

heißt Len Bateson und studiert Medizin, das dunkelhaarige

Mädchen ist Valerie Hobhouse; sie arbeitet in einem Salon für

Schönheitspflege. Neben ihr sitzt Colin McNabb, der

Psychiatrie studiert.»

Poirot bemerkte, daß sich ihre Stimme leicht veränderte, als sie

Colin erwähnte; er sah sie von der Seite an und bemerkte, daß

sie errötete.

Sie kann es kaum verbergen, daß sie in ihn verliebt ist, dachte

er. Außerdem fiel ihm auf, daß der junge McNabb die ihm

gegenübersitzende Celia niemals ansah, weil er sich mit einem

rothaarigen Mädchen, das neben ihm saß, äußerst angeregt

unterhielt.

«Das ist Sally Finch - eine Amerikanerin mit einem Fulbright-

Stipendium. Dann sehen Sie dort noch Genevieve Maricaud

und Rene Halle; die beiden studieren Englisch. Das kleine

blonde Mädchen ist Jean Tomlinson; sie ist auch im St.-Cathe-

rine-Krankenhaus, in der therapeutischen Abteilung. Der Neger

heißt Akibombo und kommt aus Westafrika; er ist ganz

besonders nett. Elizabeth Johnston ist aus Jamaika und studiert

Jura. Neben uns rechts sitzen zwei türkische Studenten, die

erst seit einer Woche hier sind und kaum Englisch können.»

«Vielen Dank ... Vertragen Sie sich gut miteinander, oder gibt

es oft Streit?»

Er sprach in einem so leichten Ton, daß man seinen Worten

kaum eine ernstere Bedeutung beimessen konnte. «Ach, wir

haben alle zuviel zu tun, um uns zu zanken, obwohl ...»

«Obwohl was, Miss Austin?»

«Nigel, der neben Mrs. Hubbard sitzt, macht sich ein

besonderes Vergnügen daraus, Leute zu ärgern - und Len

Bateson wird ärgerlich, er bekommt richtige Wutanfälle ­

trotzdem ist er ein netter Kerl.»

«Und wird Colin McNabb auch leicht ärgerlich?»

«Keineswegs. Colin hebt höchstens mit einem amüsierten

Lächeln die Augenbrauen.»

-3 0 ­

«Ich verstehe. - Gibt es nicht gelegentlich Mißverständnisse

zwischen den jungen Damen?»

«O nein; wir vertragen uns sehr gut. Genevieve ist etwas

empfindlich - ich glaube, die meisten Franzosen sind leicht

beleidigt ... aber ... entschuldigen Sie ...»

Celia war äußerst verwirrt.

«Ich selbst bin Belgier», erklärte Poirot feierlich. Bevor Celia

sich wieder gefaßt hatte, fuhr er schnell fort: «Sie sagten vorhin,

daß Sie gern etwas wissen wollten, Miss Austin - was war

das?»

Sie zerkrümelte nervös ein Stückchen Brot. «Ach, eigentlich

nichts - gar nichts - nur, daß hier jemand ziemlich alberne

Scherze gemacht hat - ich dachte, Mrs. Hubbard ... aber es

spielt wirklich keine Rolle ...» Poirot drang nicht weiter auf sie

ein. Er wandte sich zu Mrs. Hubbard und begann sich mit ihr

und mit Nigel Chapman zu unterhalten. Nigel machte die

sonderbare Bemerkung, daß Verbrechen eine Form von

schöpferischer Kunst seien und daß nicht die Verbrecher,

sondern die Polizisten als Außenseiter bezeichnet werden

müßten, weil sie sich ihren Beruf nur erwählt hätten, um ihren

verborgenen sadistischen Instinkten frönen zu können. Poirot

stellte belustigt fest, daß sich die junge Dame mit der Brille, die

neben Nigel saß, die größte Mühe gab, ihm eine harmlose

Erklärung von Nigels Theorien zu geben, obwohl Nigel ihre

Anwesenheit gar nicht zur Kenntnis zu nehmen schien. Mrs.

Hubbard lächelte freundlich.

«Die jungen Leute von heutzutage beschäftigen sich nur mit

Politik und mit Psychologie», sagte sie. «Zu meiner Zeit war

das anders; wir waren viel leichtlebiger, wir tanzten und

amüsierten uns. Wir brauchten hier nur den Teppich im

Wohnzimmer aufzurollen und das Radio anzustellen, aber

unsere Leutchen tanzen nie.»

Celia lachte und sagte spitz: «Aber früher hast du getanzt,

Nigel, einmal sogar mit mir, obgleich du dich wahrscheinlich

nicht daran erinnerst.»

«Ich hätte mit dir getanzt?» fragte Nigel erstaunt. «Wo denn?»

-3 1 ­

«In Cambridge - während der Mai-Woche.»

«Ach, während der Mai-Woche«, sagte Nigel mit einer

verächtlichen Geste. «Ein kindischer Zeitvertreib - gottlob geht

diese Phase schnell vorbei.»

Nigel war höchstens fünfundzwanzig Jahre alt, und Poirot

verbiß sich ein Lächeln.

Patricia Lane sagte ernst: «Wir haben so viel zu tun, Mrs.

Hubbard. Wir gehen zu den Vorlesungen, und dann müssen wir

zu Hause weiterstudieren; uns bleibt nur Zeit für wirklich

wichtige Dinge.»

«Mag sein, meine Liebe, aber man ist nur einmal jung», meinte

Mrs. Hubbard.

Auf die Spaghetti folgte eine Schokoladenspeise, und danach

gingen alle in das gemeinsame Wohnzimmer und nahmen sich

Kaffee aus einem großen Topf, der auf einem Tisch stand.

Dann wurde Poirot aufgefordert, seinen Vortrag zu beginnen.

Die beiden Türken entschuldigten sich höflich und verließen

das Zimmer. Die anderen nahmen Platz.

Poirot erhob sich und begann seinen Vortrag. Er hörte seine

eigene Stimme gern und sprach dreiviertel Stunden lang auf

seine gewohnt amüsante Weise über verschiedene seiner

Erfahrungen - nicht ohne einige Übertreibungen. Es gelang ihm,

sich auf diskrete Art als einen Teufelskerl hinzustellen.

Schließlich kam er zum Ende seiner Ausführungen und erklärte:

«Und so sagte ich in leichtem Ton und wie zufällig zu dem

Mann, daß er mich an einen Seifenfabrikanten aus Liege

erinnere, der seine Frau vergiftet hatte, weil er seine schöne

blonde Sekretärin heiraten wollte. Der Mann reagierte sofort, Er

drückte mir das gestohlene Geld, das ich gerade wieder

beigebracht hatte, in die Hand - er wurde blaß, und die Angst

spiegelte sich in seinen Augen. , sagte er. Und ich antwortete ihm bedeutsam: Er

nickte - er kann kein Wort herausbringen, und beim Verlassen

des Zimmers sehe ich, daß er sich den Schweiß von der Stirn

-3 2 ­

wischt. Ich habe ihm einen gewaltigen Schrecken eingejagt,

und ich habe ihm das Leben gerettet, denn obwohl er bis über

beide Ohren in seine Sekretärin verliebt ist, wird er nun nicht

versuchen, seine bornierte, unsympathische Frau zu vergiften.

Vorsicht ist besser als Nachsicht! Es ist unsere Aufgabe, Morde

zu verhindern und nicht zu warten, bis sie stattgefunden

haben.»

Er verbeugte sich und spreizte dabei seine Hände. «So, und

jetzt habe ich Sie lange genug aufgehalten.» Die Studenten

klatschten eifrig und Poirot verneigte sich. Und dann, als er im

Begriff war, sich zu setzen, nahm Colin McNabb die Pfeife aus

dem Mund und bemerkte:

«Würden Sie uns nun vielleicht mitteilen, warum Sie wirklich

hier sind?»

Kurzes Schweigen - dann sagte Patricia vorwurfsvoll: «Colin!»

«Wir haben es alle längst erraten, nicht wahr?» Er sah sich

ärgerlich im Kreise um. «Monsieur Poirot hat uns einen

amüsanten kleinen Vortrag gehalten, aber deshalb ist er nicht

hergekommen. Er ist beruflich hier. Sie glauben doch nicht,

Monsieur Poirot, daß wir das nicht gemerkt haben?»

«Vielleicht deiner Meinung nach, Colin», sagte Sally. «Aber es

stimmt, nicht wahr?» beharrte Colin. Wieder spreizte Poirot

seine Hände mit einer graziösen Geste der Zustimmung.

«Ich muß zugeben, daß mir meine liebenswürdige Gastgeberin

gestanden hat, daß sie durch gewisse Ereignisse etwas

beunruhigt ist.»

Len Bateson stand auf; er sah ärgerlich und aggressiv aus. Er

sagte: «Was soll das eigentlich bedeuten? Hat man uns in eine

Falle gelockt?»

«Fällt dir das wirklich jetzt erst auf, Bateson?» fragte Nigel mit

sanfter Ironie.

Celia sah erschrocken aus und sagte: «Dann hab' ich also doch

recht gehabt.»

Mrs. Hubbard erklärte mit ruhiger Autorität: «Ich bat Monsieur

Poirot, uns einen Vortrag zu halten; außerdem wollte ich ihn um

-3 3 ­

Rat bitten, weil sich hier verschiedene unangenehme Dinge zugetragen haben. Es muß etwas geschehen, und die einzige andere Möglichkeit wäre die Polizei gewesen.» Darauf folgte lautes Stimmengewirr. Genevieve brach in einen aufgeregten französischen Redeschwall aus. «So eine Schande! Unerhört! Die Polizei!» Andere Stimmen fielen ein ­ dafür und dagegen. Nachdem sich die Erregung etwas gelegt hatte, sagte Leonard Bateson energisch: «Vielleicht könnten wir uns einmal anhören, wie Monsieur Poirot über unsere Schwierigkeiten denkt.» Mrs. Hubbard bemerkte: «Ich habe Monsieur Poirot über alles informiert. Ich bin sicher, daß sich keiner von Ihnen weigern wird, etwaige Fragen zu beantworten.» Poirot verbeugte sich höflich und sagte: «Ich danke Ihnen.» Dann holte er mit der Miene eines Zauberkünstlers ein Paar Abendschuhe hervor und überreichte sie Sally Finch. «Gehören diese Schuhe Ihnen, Mademoiselle?» «Ja - allerdings - was, beide? Woher kommt der zweite Schuh?» «Aus dem Fundbüro in der Baker Street.»

«Aber wie sind Sie darauf gekommen, dort nachzufragen,

Monsieur Poirot?»

«Eine sehr einfache Schlußfolgerung. Jemand nimmt einen Schuh aus Ihrem Zimmer. Warum? Bestimmt nicht, weil er ihn tragen oder verkaufen will; da aber das ganze Haus durchsucht werden wird, muß er den Schuh irgendwie aus dem Haus bekommen. Es ist nicht so einfach, einen Schuh zu vernichten ­ es ist viel einfacher, ihn einzuwickeln und das Paket während der Hauptverkehrszeit in der Untergrundbahn oder im Autobus liegen zu lassen. Das war mein erster Gedanke, und wie Sie sehen, war meine Überlegung richtig. Ich nehme an, daß der Schuh von jemandem gestohlen worden ist, der Freude daran hatte, seine Mitmenschen zu necken.» Valerie lachte kurz auf. «Das ist dir wie auf den Leib geschrieben, Nigel.» Nigel entgegnete mit einem leicht gezierten Lächeln: «Paßt wie die Faust aufs Auge.» -3 4 ­

«Unsinn, Nigel hat meinen Schuh nicht genommen», erklärte

Sally.

«Natürlich nicht, was für eine lächerliche Idee», sagte Patricia

ärgerlich.

«Vielleicht ist sie gar nicht so lächerlich», meinte Nigel. «Aber

ich habe es wirklich nicht getan - und das werden wir natürlich

alle behaupten.»

Es war, als hätte Poirot gerade darauf gewartet, wie ein

Schauspieler auf sein Stichwort. Seine Augen verweilten

nachdenklich auf Len Batesons hochrotem Gesicht, dann sah

er die übrigen Studenten prüfend an. Er sagte: «Ich befinde

mich in einer schwierigen Situation. Ich bin ein Gast in diesem

Haus - Mrs. Hubbard hat mich aufgefordert, einen angenehmen

Abend bei Ihnen zu verbringen - das ist alles. Außerdem wollte

ich dieser jungen Dame ein Paar elegante Abendschuhe

zurückgeben. Und sonst...» Er machte eine kurze Pause.

«Monsieur - wie war doch der Name? Bateson - sehr richtig ­

Monsieur Bateson hat mich gefragt, was ich von... von Ihren

Unannehmlichkeiten halte. Aber ich würde es als impertinent

empfinden, Ihnen meine Meinung aufzudrängen, falls Sie mich

nicht alle darum bitten sollten.»

Mr. Akibombo gab seine Zustimmung durch heftiges Nicken

seines mit dicht gekräuseltem, schwarzem Haar bedeckten

Kopfes zu verstehen.

«Das sein sehr korrekte Prozedur», sagte er. «Echt

demokratisch Prozedur mit Abstimmung zu entscheiden.»

«Blödsinn», meinte Sally Finch ungeduldig. «Wir sind hier unter

Freunden. Ich schlage vor, daß Monsieur Poirot uns ohne

weitere Formalitäten seine Ansicht sagt!»

«Ich bin ganz deiner Meinung, Sally», stimmte Nigel zu. Poirot

neigte den Kopf und erklärte: «Also gut, da Sie mich nach

meiner Meinung fragen, werde ich sie Ihnen sagen: bitten Sie

Mrs. Hubbard oder Mrs. Nicoletis unverzüglich, die Polizei zu

holen. Sie haben keine Zeit zu verlieren.»

-3 5 ­

5 Das hatte offenbar niemand erwartet. Zwar protestierte keiner,

aber es herrschte ein plötzliches betroffenes Schweigen. Mrs.

Hubbard ergriff diese Gelegenheit, um Poirot wieder in ihr

Wohnzimmer hinaufzuführen. Er sagte zum Abschied nur kurz

und höflich: «Ich wünsche Ihnen allen eine gute Nacht.» Mrs.

Hubbard knipste das Licht an, machte die Tür zu und bat Poirot,

sich in den Sessel am Kamin zu setzen. Ihr nettes, freundliches

Gesicht zeigte Spuren von Angst und Zweifel. Als sie ihm

gegenübersaß, sagte sie nach kurzem Zögern:

«Wahrscheinlich haben Sie wirklich recht. Vielleicht sollten wir

zur Polizei gehen - besonders wegen der bösen Sache mit der

Tinte; aber ich wünschte, Sie hätten es nicht geradezu

herausgesagt.»

«Hätte ich lieber heucheln sollen?» fragte Poirot, zündete sich

eine seiner winzigen Zigaretten an und beobachtete, wie der

Rauch zur Decke stieg.

«Ich bin gewiß dafür, die Wahrheit zu sagen; aber in diesem

Fall wäre es vielleicht besser gewesen, nichts zu sagen und die

Polizei zu beauftragen, sich den Täter allein vorzunehmen. Ich

meine... was ich damit sagen will, ist, daß, wer immer es getan

hat, nun gewarnt ist.»

«Vielleicht ja.»

«Nicht vielleicht, sondern bestimmt», sagte Mrs. Hubbard

ziemlich scharf. «Selbst wenn es sich um einen der Dienstboten

handeln sollte oder um einen Studenten, der heute abend nicht

hier war - er wird sehr bald davon hören, darauf können Sie

sich verlassen.»

«Ich bin davon überzeugt.»

«Und außerdem weiß ich nicht, was Mrs. Nicoletis dazu sagen

wird; ihre Reaktionen sind schwer vorauszusehen.»

«Es wird interessant sein, festzustellen, wie sie darüber denkt.»

«Wir können die Polizei natürlich nicht ohne ihre vorherige

Zustimmung verständigen. Was ist denn jetzt los?» Es wurde

scharf und gebieterisch zweimal an die Tür geklopft, und fast

-3 6 ­

bevor Mrs. Hubbard irritiert «Herein» sagen konnte, betrat Colin

McNabb mit ärgerlich gerunzelter Stirn und einer Pfeife

zwischen den Zähnen das Zimmer.

Er nahm die Pfeife aus dem Mund, schloß die Tür und sagte:

«Bitte entschuldigen Sie, aber es würde mir viel daran liegen,

einen Augenblick mit Monsieur Poirot zu sprechen.»

«Mit mir?» fragte Poirot und sah ihn mit unschuldigem

Erstaunen an.

«Jawohl, mit Ihnen», entgegnete Colin grimmig. Er nahm sich

einen ziemlich unbequemen Stuhl und setzte sich Poirot

gegenüber.

«Sie haben uns heute abend einen unterhaltenden Vortrag

gehalten», sagte er höflich, «und ich kann nicht leugnen, daß

Sie ein auf vielen Gebieten erfahrener Mann sind, aber bitte

nehmen Sie es mir nicht übel, wenn ich Ihnen sage, daß Ihre

Ideen und Ihre Methoden sehr veraltet sind.»

Mrs. Hubbard errötete heftig und rief: «Das geht aber wirklich

zu weit, Colin!»

«Ich will Sie nicht beleidigen, Monsieur Poirot, aber ich muß die

Dinge klarstellen. Schuld und Sühne - weiter reicht Ihr Horizont

nicht.»

«Eine ganz logische Folge», meinte Poirot.

«Sie haben engstirnige und altmodische Ansichten. Heutzutage

erwartet man selbst von Juristen, daß sie mit den modernen

Theorien über die Ursachen von Verbrechen vertraut sind. Die

Ursachen sind wichtig, Monsieur Poirot.»

«Aber in diesem Punkt bin ich ganz Ihrer Meinung», sagte

Poirot beifällig.

«Dann müssen Sie die Ursachen der Vorgänge in diesem Haus

herausfinden - Sie müssen feststellen, warum diese Dinge

geschehen sind.»

«Ich bin noch immer Ihrer Meinung - natürlich ist das von

ausschlaggebender Bedeutung.»

«Denn alles hat seinen Grund, vielleicht einen sehr wichtigen

Grund für die betreffende Person.»

-3 7 ­

Jetzt konnte Mrs. Hubbard sich nicht mehr zurückhalten. «Alles

Unsinn», sagte sie scharf.

«Durchaus nicht», entgegnete Colin und drehte sich zu ihr um.

«Sie dürfen die psychologischen Hintergründe niemals

vergessen.»

«Dieser psychologische Blödsinn macht auf mich keinen

Eindruck», erklärte Mrs. Hubbard.

«Weil Sie keine Ahnung davon haben», sagte Colin

vorwurfsvoll. Dann wandte er sich wieder an Poirot «Ich bin

sehr an diesen Dingen interessiert. Ich studiere Psychiatrie und

Psychologie. Ich habe Gelegenheit, ungeheuer eigenartige und

komplizierte Fälle zu sehen. Meiner Meinung nach ist die

Doktrin von unmodern. Man macht es

sich zu leicht, wenn man glaubt, daß ein Mann, der

gegen die Gesetze des Landes verstoßen hat, bestraft werden

muß, und daß der Fall damit erledigt ist. Nein, wenn man hofft,

den Verbrecher doch noch zu einem nützlichen Mitglied der

menschlichen Gesellschaft zu machen, muß man versuchen,

die Wurzel des Übels zu finden. In Ihrer Jugend waren diese

Theorien gänzlich unbekannt, und ich nehme an, daß es Ihnen

schwerfällt, sie zu begreifen ...»

«Stehlen ist stehlen», warf Mrs. Hubbard unbeirrt dazwischen.

«Zweifellos sind meine Ideen altmodisch», sagte Poirot

bescheiden, «aber ich bin nur zu gern bereit, mich von Ihnen

belehren zu lassen, Mr. McNabb.»

Colin sah angenehm überrascht aus. «Sie sind wirklich sehr

fair, Monsieur Poirot, und ich werde mich bemühen, Ihnen

unsere Theorien auf leicht verständliche Weise zu erklären.»

«Vielen Dank», sagte Poirot sanft.

«Ich werde der Einfachheit halber mit den Schuhen beginnen,

die Sie Sally Finch heute abend zurückgebracht haben. Wie Sie

sich entsinnen werden, ist nur ein Schuh gestohlen worden ­

nur einer.»

«Ja, ich erinnere mich; auch mir ist diese merkwürdige

Tatsache aufgefallen.»

-3 8 ­

Colin McNabb beugte sich vor; sein strenges, gutgeschnittenes

Gesicht leuchtete vor Eifer.

«Ja, aber Sie haben die Bedeutung übersehen. Man könnte

sich kaum ein besseres Beispiel wünschen: hier handelt es sich

eindeutig um einen Aschenbrödelkomplex. Ich nehme an, daß

Ihnen die Geschichte vom Aschenbrödel bekannt ist.»

«Mais oui - ein Märchen französischen Ursprungs.»

«Das arme Aschenbrödel, das ohne Bezahlung schwer arbeiten

muß, sitzt traurig am Feuer, während ihre Schwestern fein

gekleidet zum Ball des Prinzen gehen. Eine gute Fee schickt

Aschenbrödel auch auf den Ball, aber um Mitternacht

verwandelt sich ihr elegantes Abendkleid wieder in ärmliche

Lumpen - sie entflieht und verliert in der Eile einen Schuh. Es

handelt sich also hier um eine Person, die sich im

Unterbewußtsein wie ein Aschenbrödel vorkommt. Hier haben

wir Enttäuschung, Neid, einen Minderwertigkeitskomplex. Ein

Mädchen stiehlt einen Schuh. Warum?»

«Ein Mädchen?»

«Natürlich ein Mädchen», erklärte Colin vorwurfsvoll, «das

sollte doch dem Unbegabtesten einleuchten.»

«Aber, Colin», sagte Mrs. Hubbard. «Bitte fahren Sie fort», bat

Poirot höflich.

«Sie selbst wird wahrscheinlich nicht wissen, warum sie es tut;

es handelt sich um einen Wunschtraum. Sie möchte eine

Prinzessin sein und von dem Prinzen umworben werden. Es ist

außerdem bedeutungsvoll, daß der gestohlene Schuh einem

reizvollen Mädchen gehört, das gerade auf einen Ball gehen

will.»

Colin schwenkte begeistert seine Pfeife, die schon längst

ausgegangen war.

«Und jetzt kommen wir zu verschiedenen anderen Ereignissen.

Eine diebische Elster stiehlt eine Anzahl von Gegenständen,

die alle zur Verschönerung des weiblichen Geschlechts dienen:

eine Puderdose, einen Lippenstift, Ohrringe, ein Armband,

einen Ring - all das hat eine doppelte Bedeutung ... das

-3 9 ­

Mädchen will auffallen, und es will sogar bestraft werden;

beides kommt bei jugendlichen Verbrechern ziemlich häufig

vor. Diese Dinge haben mit gewöhnlichem Diebstahl nichts zu

tun. Es handelt sich hier nicht um den Wert der Gegenstände.

Es ist der gleiche Vorgang, das gleiche Motiv, aus dem heraus

wohlhabende Frauen im Warenhaus Gegenstände stehlen, die

sie sich ebenso gut kaufen könnten.»

«Unsinn», sagte Mrs. Hubbard herausfordernd. «Es gibt ganz

einfach unehrliche Menschen - das ist alles.» Monsieur Poirot

meinte, ohne Mrs. Hubbards Einwurf zu beachten: «Und

trotzdem befand sich unter den gestohlenen Gegenständen ein

ziemlich wertvoller Brillantring.»

«Der ist ja sofort wieder aufgetaucht.»

«Und würden Sie ein Stethoskop als einen Gegenstand

bezeichnen, der zur Verschönerung des weiblichen

Geschlechts dient?»

«Das hat auch eine tiefere Bedeutung. Frauen, die glauben,

nicht genügend weibliche Reize zu besitzen, versuchen, ihren

Mangel an Anziehungskraft durch eine Karriere zu ersetzen.»

«Und das Kochbuch?»

«Ist ein Symbol für Mann und Familie.»

«Und der Borax?»

«Mein lieber Monsieur Poirot», sagte Colin irritiert. «Glauben

Sie wirklich, daß jemand eine Schachtel Borax stehlen würde?»

«Das hab' ich mich auch gefragt. Ich muß zugeben, daß Sie

scheinbar auf alles eine Antwort haben, Mr. McNabb. Können

Sie mir nun auch die Bedeutung des Diebstahls von einem

Paar alter Flanellhosen erklären, Ihrer eigenen Hosen, wie ich

höre?» Colin schien zum erstenmal etwas unsicher zu werden.

Er errötete und räusperte sich.

«Das kann ich ebenfalls erklären, aber es wäre etwas

schwierig... und ziemlich peinlich.»

«Sie wollen mich also nicht in Verlegenheit bringen.» Poirot

beugte sich plötzlich vor und klopfte dem jungen Mann aufs

Knie. «Und wie erklären Sie sich die verschüttete Tinte und den

-4 0 ­

zerfetzten Seidenschal? Haben Sie sich darüber nicht den Kopf

zerbrochen?»

Colins gelassenes, überlegenes Benehmen veränderte sich

plötzlich in einer durchaus nicht unsympathischen Weise.

«Doch - darüber habe ich mir Gedanken gemacht - sehr ernste

Gedanken. Sie müßte sich sofort in Behandlung begeben - in

ärztliche Behandlung. Das ist kein Fall für die Polizei. Das arme

Geschöpf weiß ja gar nicht, worum es sich handelt - es besteht

nur aus Hemmungen. Wenn ich ...» Poirot unterbrach ihn.

«Wissen Sie denn, wer es ist?»

«Ich habe einen sehr starken Verdacht.»

Poirot murmelte nachdenklich: «Ein Mädchen, das nicht viel

Erfolg bei Männern hat. Ein scheues Mädchen, ein Mädchen,

das sich nach Liebe sehnt, ein nicht allzu begabtes Mädchen,

das enttäuscht und einsam ist. Ein Mädchen ...» In diesem

Augenblick wurde an die Tür geklopft. Poirot unterbrach sich,

es wurde nochmals geklopft, und Mrs. Hubbard rief: «Herein!»

Die Tür öffnete sich, und Celia Austin kam herein. «Aha - Miss

Celia Austin», sagte Poirot und nickte. Celia sah Colin

verzweifelt an.

«Ich wußte nicht, daß du hier bist», sagte sie atemlos, «ich

dachte ... ich bin gekommen ...»

Sie holte tief Atem und wandte sich an Mrs. Hubbard. «Bitte

gehen Sie nicht zur Polizei... bitte, bitte nicht. Ich hab' es getan

- ich hab' die Sachen gestohlen - ich weiß selbst nicht, warum ­

ich hab' keine Ahnung - ich wollte es nicht tun - aber es ... es

war ganz einfach stärker als ich.» Sie drehte sich rasch zu

Colin um: «So - und jetzt weißt du, wie ich wirklich bin ...

wahrscheinlich wirst du nun nie wieder mit nur sprechen ... ich

weiß, daß ich unmöglich bin ...»

«Nicht die Spur», sagte Colin herzlich. «Du bist ein bißchen

durcheinander - sonst nichts. Es ist wie eine Krankheit, die

dadurch entstanden ist, daß du die Dinge nicht klar siehst.

Wenn du zu mir Vertrauen hast, Celia, kann ich dich davon

heilen.»

«Wirklich Colin?»

-4 1 ­

Celia sah ihn mit unverhohlener Bewunderung an. «Ich habe

mir die furchtbarsten Sorgen gemacht.» Er nahm ihre Hand und

meinte etwas onkelhaft: «Du brauchst dir keine Sorgen mehr zu

machen.» Er stand auf, legte seinen Arm um Celias Schulter

und sagte streng zu Mrs. Hubbard: «Ich hoffe, daß Sie den

törichten Gedanken, zur Polizei zu gehen, jetzt endgültig

aufgeben werden. Es ist nichts Wertvolles gestohlen worden,

und außerdem wird Celia alles zurückgeben.»

«Das Armband und die Puderdose kann ich nicht zurückgeben,

weil ich sie in den Rinnstein geworfen habe. Aber ich werde

beides ersetzen ...»

«Und wo haben Sie das Stethoskop?» fragte Poirot. Celia

wurde rot.

«Ich habe kein Stethoskop genommen - was sollte ich denn

damit anfangen?» Sie errötete noch stärker: «Und ich habe

auch keine Tinte auf Elizabeths Papiere geschüttet - so etwas

Gemeines würde ich nie tun.»

«Und warum haben Sie den Schal von Miss Hobhouse

zerschnitten, Mademoiselle?»

Diese Frage war Celia sichtlich peinlich; sie erwiderte unsicher:

«Das war etwas anderes - Valerie hat sich nichts daraus

gemacht.»

«Und der Rucksack?»

«Den hab' ich nicht zerschnitten.»

Poirot zeigte ihr die Liste, die er von Mrs. Hubbards Notizbuch

abgeschrieben hatte, und verlangte: «Bitte sagen Sie mir jetzt

die Wahrheit: sind Sie für diese Vorfälle verantwortlich oder

nicht?»

Celia sah sich die Liste an und antwortete prompt: «Mit dem

Rucksack, den Glühbirnen, dem Badesalz und dem Borax hab'

ich nichts zu tun, und den Ring hab' ich nur aus Versehen

genommen. Sowie ich bemerkte, daß er echt war, hab' ich ihn

zurückgegeben.»

«Ich verstehe.»

«Ich wollte wirklich nichts Unehrenhaftes tun... ich wollte nur...»

-4 2 ­

«Nur was?»

«Ich weiß es wirklich nicht», sagte Celia gequält. «Ich bin ganz

verwirrt...»

Colin schaltete sich mit gebieterischer Miene ein. «Ich wäre

Ihnen sehr dankbar, wenn Sie Celia nicht weiter ins Gebet

nehmen würden. Ich verspreche Ihnen, daß sich diese Vorfälle

nicht wiederholen werden. Von jetzt an bin ich selbst dafür

verantwortlich.»

«Du bist wirklich gut zu mir, Colin.»

«Ich möchte, daß du mir viel mehr von dir erzählst, Celia -von

deiner Kindheit zum Beispiel - haben sich deine Eltern gut

miteinander vertragen?»

«Nein... zu Hause war es ganz furchtbar...»

«Das wundert mich gar nicht. Und jetzt...» Mrs. Hubbard

unterbrach ihn und sagte energisch: «So, nun aber Schluß. Ich

bin sehr froh, daß Sie alles gestanden haben, Celia. Sie haben

uns viel Sorgen und Unannehmlichkeiten bereitet... Sie sollten

sich schämen! Aber ich will Ihnen glauben, daß Sie nicht

absichtlich Tinte über Elizabeths Papiere gegossen haben - so

eine Gemeinheit trau' ich Ihnen nicht zu. Und jetzt hab' ich für

heute abend genug von euch beiden. Macht, daß ihr

fortkommt.»

Als sich die Tür hinter ihnen geschlossen hatte, stieß Mrs.

Hubbard einen tiefen Seufzer aus und meinte: «Was halten Sie

davon, Monsieur Poirot?»

Poirot entgegnete mit einem schelmischen Zwinkern: «Ich

glaube, wir haben einer Liebesszene im modernen Stil

beigewohnt.» Doch Mrs. Hubbard war offensichtlich anderer

Meinung. «Autres temps, autres moeurs», murmelte Poirot. «In

meiner Jugend gab man seiner Freundin Bücher über

Theosophie, oder man sprach über den von

Maeterlinck. Man war voller Gefühle und voller Ideale.

Heutzutage finden sich junge Menschen, weil sie nicht mit dem

Leben fertigwerden können, weil sie Komplexe haben.»

«In meinen Augen ist das alles Unsinn.»

-4 3 ­

Poirot widersprach. «Nein, es ist nicht alles Unsinn. Es ist im

Grunde genommen ein richtiges Prinzip, aber ernsthafte junge

Studenten wie Colin sehen nichts mehr als Komplexe und die

unglückliche Kindheit ihrer Opfer.»

«Celias Vater starb, als sie vier Jahre alt war», berichtete Mrs.

Hubbard, «und ihre Kindheit war durchaus nicht tragisch; sie

hatte eine liebevolle, allerdings ziemlich dumme Mutter.»

«Aber sie ist klug genug, das in Colins Gegenwart nicht

zuzugeben. Sie sagt nur, was er hören will. Sie ist sehr in ihn

verliebt.»

«Glauben Sie an diesen Kram?»

«Ich glaube nicht, daß Celia einen Aschenbrödelkomplex hat,

oder daß sie nicht wußte, was sie tat, als sie die Sachen

entwendete. Sie hat das Risiko, wertlose Kleinigkeiten zu

stehlen, auf sich genommen, um Colin McNabbs

Aufmerksamkeit zu erregen - und sie hat damit Erfolg gehabt.

Wenn sie weiter ein zurückhaltendes, scheues Mädchen

geblieben wäre, wäre sie ihm wahrscheinlich niemals

aufgefallen. Übrigens hätte meiner Ansicht nach jedes

Mädchen das Recht, verzweifelte Maßnahmen zu ergreifen, um

den Mann ihrer Wahl zu ergattern.»

«Soviel Verstand hätte ich ihr gar nicht zugetraut», bemerkte

Mrs. Hubbard.

Poirot antwortete nicht. Er runzelte die Stirn. Mrs. Hubbard fuhr

fort: «Es war also nur ein blinder Alarm, und ich muß mich sehr

bei Ihnen entschuldigen, weil ich Ihre kostbare Zeit in dieser

unwichtigen Angelegenheit in Anspruch genommen habe. Aber

immerhin - Ende gut, alles gut.»

Poirot schüttelte den Kopf. «Ich glaube nicht, daß das bereits

das Ende ist. Wir haben bisher nur etwas verhältnismäßig

Unwichtiges beseitigt, das im Vordergrund stand. Aber vieles

bleibt noch ungeklärt, und ich persönlich fürchte, daß es sich

hier um eine sehr ernste Angelegenheit handelt.»

«Glauben Sie wirklich, Monsieur Poirot?» fragte Mrs. Hubbard

besorgt.

-4 4 ­

«Ich habe den Eindruck gewonnen... Könnte ich jetzt vielleicht

mit Miss Patricia Lane sprechen? Ich möchte mir gern den Ring

ansehen, der ihr abhanden gekommen war.»

«Selbstverständlich, Monsieur Poirot. Ich werde hinuntergehen

und sie bitten, zu Ihnen zu kommen. Ich habe inzwischen etwas

mit Len Bateson zu besprechen.»

Patricia Lane erschien kurz danach mit erstauntem Gesicht.

«Entschuldigen Sie bitte die Störung, Miss Lane.»

«Ach, das macht gar nichts. Ich war nicht beschäftigt. Mrs.

Hubbard sagt, daß Sie meinen Ring sehen wollen.» Sie streifte

den Ring vom Finger und gab ihn Poirot. «Es ist ein ziemlich

großer Brillant - die Fassung ist allerdings etwas altmodisch. Es

war der Verlobungsring meiner Mutter.» Poirot, der den Ring

eingehend betrachtete, nickte nachdenklich.

«Ihre Mutter lebt noch?»

«Nein, meine Eltern sind beide tot.»

«Das tut mir sehr leid.»

«Ja, es ist traurig. Beide waren sehr nett, aber leider habe ich

ihnen niemals wirklich nahegestanden. Später bedauert man

das. Meine Mutter wollte eine hübsche, lebenslustige Tochter

haben, ein Mädchen, das Wert auf schöne Kleider und

Gesellschaften legt. Sie war sehr enttäuscht, als ich statt

dessen begann, mich für Archäologie zu interessieren.»

«Sind Sie schon immer ein ernsthafter Mensch gewesen?»

«Ich glaube ja. Das Leben ist so kurz, und man möchte es nicht

mit unwichtigen Dingen verschwenden.» Poirot betrachtete sie

nachdenklich.

Er hielt Patricia Lane für Anfang der dreißig. Sie hatte

nußbraunes Haar, das glatt und einfach zurückgekämmt war,

und mit Ausnahme des ungeschickt geschminkten Mundes war

sie nicht zurechtgemacht. Sie trug eine Brille, hinter der ihre

sympathischen blauen Augen ernsthaft in die Welt blickten.

Pauvre petite, dachte Poirot mitleidig. Und wie sie sich anzieht ­

bon Dieu. Keine Spur von Geschmack.

-4 5 ­

Auch Patricias monotone, kultivierte Stimme sagte ihm nicht zu.

Das Mädchen ist intelligent und gebildet, sagte er sich, und

leider - leider wird sie mit jedem Jahr langweiliger werden.

Dann dachte er einen Augenblick an die Gräfin Vera Mos­

sakoff. Wie charmant, wie exotisch sie selbst im Alter geblieben

war! Diese Mädchen von heute... Wahrscheinlich empfinde ich

das nur, weil ich alt werde, sagte er sich. Selbst dieses brave,

langweilige Mädchen mag in den Augen eines anderen Mannes

eine Venus sein. Aber er bezweifelte es. Patricia sagte: «Was

man der armen Bess angetan hat, finde ich einfach unerhört;

und die grüne Tinte hat man meiner Ansicht nach benutzt,

damit Nigel die Schuld zugeschoben wird. Aber ich versichere

Ihnen, daß Nigel so etwas nicht tun würde.»

«Sehr interessant», bemerkte Poirot und sah sie aufmerksam

an. Sie hatte ein bißchen Farbe bekommen und sagte mit einer

etwas lebhafteren Stimme: «Es ist nicht leicht, Nigel zu

verstehen - er hat kein sehr glückliches Zuhause gehabt.»

«Mon Dieu - noch einer!»

«Was wollen Sie damit sagen?»

«Gar nichts. Bitte sprechen Sie weiter.»

«Ja - Nigel ist schon immer ein schwieriger Mensch gewesen;

er war von klein auf ein Rebell. Er ist sehr begabt ­

hochintelligent, aber ich muß zugeben, daß sein Benehmen

manchmal zu wünschen übrig läßt. Er erscheint hochmütig, weil

er nicht imstande ist, seine Gefühle zu erklären oder sich zu

verteidigen. Selbst wenn alle der Meinung sein sollten, daß er

für die Sache mit der Tinte verantwortlich ist, wird er sich nicht

die Mühe nehmen, es zu leugnen. Er wird einfach sagen: Diese Einstellung ist natürlich sehr

töricht.»

«Und kann leicht zu Mißverständnissen führen.»

«Es muß eine Art von Stolz sein - weil man ihn so oft

mißverstanden hat.» «Sie kennen ihn schon seit Jahren?»

«Nein, erst seit ungefähr einem Jahr. Wir haben uns auf einet

Gesellschaftsreise zu den Loire-Schlössern kennengelernt. Er

bekam die Grippe und im Anschluß daran eine

-4 6 ­

Lungenentzündung; ich habe ihn gepflegt. Er ist sehr anfällig

und nimmt überhaupt keine Rücksicht auf seine Gesundheit.

Obwohl er so unabhängig ist, muß man in gewisser Weise

immer auf ihn aufpassen - wie auf ein Kind. Er braucht

jemanden, der sich um ihn kümmert.»

Poirot seufzte. Er hatte plötzlich genug von der Liebe. Zuerst

Celia mit den flehenden Hundeaugen, und jetzt Patricia mit dem

ernsten Madonnenblick. Natürlich ging es nicht ohne Liebe;

junge Leute mußten sich kennenlernen und sich ineinander

verlieben, aber Gott sei Dank war er selbst an diesen Dingen

nicht mehr interessiert. Er stand auf.

«Mademoiselle, würden Sie mir gestatten, Ihren Ring zu

behalten? Ich werde ihn bestimmt morgen zurückgeben.»

«Selbstverständlich», sagte Patricia erstaunt. «Vielen Dank...

und bitte tun Sie mir einen Gefallen, Mademoiselle: seien Sie

sehr vorsichtig!»

«Vorsichtig? Inwiefern?»

«Wenn ich das nur selbst wüßte», seufzte Poirot. Er war noch

immer sehr besorgt.

6 Der folgende Tag wurde fast unerträglich. Mrs. Hubbard war mit

einem Gefühl der Erleichterung aufgewacht. Die quälenden

Zweifel über die unangenehmen Vorfälle waren so gut wie

beseitigt - ein dummes Mädchen, das voll alberner

neumodischer Ideen steckte, für die sie, Mrs. Hubbard, kein

Verständnis aufbringen konnte, war an allem schuld gewesen.

Von jetzt an würde alles wieder wie am Schnürchen gehen.

Mrs. Hubbard ging gut gelaunt hinunter, aber kaum hatte sie

sich an den Frühstückstisch gesetzt, als ihr eben erst

wiedergefundener Seelenfrieden bereits gestört wurde. Es

schien, als hätten sich sämtliche Studenten vorgenommen,

heute ganz besonders unangenehm zu sein.

Mr. Chandra Lal, der von der Tintenaffäre gehört hatte, war

erregt und gesprächig. «Unterdrückung - Unterdrückung der

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farbigen Massen», zischte er. «Klassisches Beispiel von

Hochmut, Verachtung, Rassenvorurteilen!»

«Wie können Sie so etwas nur sagen, Mr. Chandra Lal», wies

ihn Mrs. Hubbard scharf zurecht. «Niemand weiß, wer es getan

hat, und niemand kennt die Gründe.»

«Ach, ich dachte, Celia wäre freiwillig zu Ihnen gekommen und

hätte alles gestanden», meinte Jean Tomlinson. «Ich fand das

einfach fabelhaft - wir müssen alle sehr nett zu ihr sein.»

«Mußt du deine christliche Nächstenliebe wirklich so zur Schau

stellen, Jean?» fragte Valerie Hobhouse ärgerlich. «Also das ist

wirklich eine Gemeinheit!»

«Alles gestanden», sagte Nigel schaudernd, «das klingt ja

fürchterlich.»

«Worum handelt es sich eigentlich, Muttchen? Hat Celia

wirklich die ganzen Sachen gestohlen? Ist sie deshalb nicht

zum Frühstück gekommen?» erkundigte sich Len Bateson. «Ich

bitte nicht verstehen», sagte Mr. Akibombo. Niemand klärte ihn

auf. Alle waren nur darauf bedacht, selbst möglichst schnell zu

Wort zu kommen.

«Armes Ding», fuhr Len Bateson fort. «Was war denn los? War

sie so abgebrannt?»

«Ich bin eigentlich nicht überrascht», sagte Sally langsam. «Ich

fand schon immer ...»

«Sie glauben, daß Celia die Tinte über meine Papier gegossen

hat?» fragte Elizabeth Johnston ungläubig. «Das fände ich sehr

erstaunlich und höchst unwahrscheinlich.»

«Celia hat die Tinte nicht über Ihre Papiere gegossen», erklärte

Mrs. Hubbard, «und ich wünschte, Sie würden jetzt alle

aufhören, weiter darüber zu reden. Ich wollte Ihnen später alles

in Ruhe erzählen, aber ...»

«Aber Jean hat gestern abend an der Tür gelauscht», ergänzte

Valerie. «Ich hab' nicht gelauscht, ich bin nur zufällig

vorbeigekommen.»

-4 8 ­

«Du weißt ganz genau, wer die Tinte verschüttet hat, Bess»,

sagte Nigel. «Ich, der böse Nigel, ich habe meine grüne Tinte

über deine kostbaren Papiere gegossen.»

«Unsinn! Das ist doch nur ein Scherz. Wie kannst du nur so

albern sein, Nigel!»

«Ich handle nur aus den edelsten Motiven, Pat, um dich vor

Verdacht zu schützen. Wer hat sich gestern meine Tinte

geborgt? Du ...»

«Ich bitte nicht verstehen», sagte Mr. Akibombo. «Seien Sie

froh», meinte Sally, «ich würde mich an Ihrer Stelle auch gar

nicht einmischen.» Mr. Chandra Lal sprang auf.

«Und Sie fragen noch, warum es gibt Mau-Mau, Sie fragen

noch, warum Ägypten den Suezkanal beansprucht für sich?»

«Verflucht noch mal», rief Nigel böse und stellte seine Tasse

klirrend auf die Untertasse. «Jetzt wird's mir wirklich zu dumm ­

Politik am Frühstückstisch.»

Er stand auf, gab seinem Stuhl einen Stoß und verließ das

Zimmer.

«Es geht ein kalter Wind, du mußt dir einen Mantel anziehen»,

sagte Patricia und stürzte ihm nach. «Kluck, kluck, kluck ... wie

eine alte Henne, die mit den Flügeln schlägt», bemerkte Valerie

boshaft.

Genevieve, die Französin, deren Englisch noch nicht so gut

war, daß sie einer schnellen Unterhaltung hätte folgen können,

hatte sich von Rene Erläuterungen ins Ohr flüstern lassen. Jetzt

begann sie mit schriller Stimme schnell französisch zu

sprechen. «Comment donc? C'est cette petite qui m'a volé mon

compact? Ah, par exemple! J'irai a la police. Je ne supporterai

pas une pareille ...»

Colin McNabb hatte seit einiger Zeit versucht, sich Gehör zu

verschaffen, aber seine tiefe, kultivierte Stimme war von den

schrilleren Stimmen der anderen übertönt worden. Als er sah,

daß er mit der vornehmen Zurückhaltung nicht weiterkommen

würde, schlug er krachend mit der Faust auf den Tisch. Alle

schwiegen entsetzt, und ein Glas Orangenmarmelade fiel vom

-4 9 ­

Tisch und zerbrach. «Wollt ihr gefälligst alle den Mund halten

und mich reden lassen! Ich habe noch niemals soviel

bösartigen Unsinn gehört. Ihr scheint von Psychologie keine

blasse Ahnung zu haben! Ich sage euch, daß man das

Mädchen auf keinen Fall verurteilen darf; sie hat eine schwere

seelische Krisis durchgemacht, und sie muß von jetzt an mit

größter Vorsicht, Geduld und Sympathie behandelt werden ­

sonst wird sie zeitlebens haltlos und unglücklich sein. Ich

betone: mit größter Vorsicht.»

«Natürlich muß man sie verständnisvoll behandeln», meinte

Jean mit klarer, überlegener Stimme, «aber ich bin

grundsätzlich dagegen, Dinge wie Diebstahl zu unterstützen.»

«Diebstahl», wiederholte Colin. «Hier handelt es sich nicht um

Diebstahl. Habt ihr denn gar kein Verständnis - wißt ihr wirklich

nicht, worum es hier geht?»

«Ein interessanter Fall, nicht wahr, Colin?» fragte Valerie mit

einem frechen Grinsen.

«Vom psychologischen Standpunkt aus gesehen - ja.»

«Obwohl sie von mir nichts gestohlen hat», erklärte Jean,

«glaube ich nicht...»

«Nein, dir hat sie allerdings nichts gestohlen», unterbrach sie

Colin stirnrunzelnd, «und wenn du dir darüber klar wärest,

warum sie das nicht getan hat, würdest du bestimmt nicht

gerade erfreut sein.»

«Ich verstehe wirklich nicht...»

«Hört doch endlich auf, euch zu zanken», sagte Len Bateson.

«Komm, Jean, sonst werden wir beide zu spät kommen.» Sie

gingen zusammen fort. «Bestell Celia, sie soll sich nicht weiter

aufregen», meinte Len im Hinausgehen. «Hiermit wünsche

Beschwerde einzulegen», meldete sich Chandra Lal.

«Gestohlener Borax von großer Wichtigkeit für meine Augen,

sehr entzündet von viel Studieren.»

«Sie werden auch zu spät kommen, Mr. Chandra Lal», sagte

Mrs. Hubbard energisch.

-5 0 ­

«Mein Professor oft selbst unpünktlich», entgegnete Chandra

Lal düster, aber er stand auf und ging zur Tür. «Auch wird

ungeduldig leicht, wenn ich stelle viele bedeutungsvolle

Fragen.»

Mais il faut qu'elle me le rende, le compact», sagte Genevieve.

«Sie müssen unbedingt englisch sprechen, Genevieve; we nn

Sie jedesmal in der Aufregung französisch reden, werden Sie

nie Englisch lernen. Übrigens haben Sie am Sonntag hier zu

Abend gegessen und vergessen, dafür zu bezahlen.»

«Oh ... ich habe jetzt meine Geldtasche nicht mit - heute abend.

Viens, Rene, nous serons en retard.»

«Ich bitte nicht verstehen», sagte Mr. Akibombo und sah sich

hilfeflehend um.

«Komm, Akibombo, ich werde dir auf dem Weg zum Seminar

alles erklären», meinte Sally. Sie nickte Mrs. Hubbard

beruhigend zu und führte den verdutzten Akibombo hinaus.

«Ach du liebe Zeit», stöhnte Mrs. Hubbard, «warum habe ich

diese Stellung nur angenommen!»

Valerie, die als einzige zurückgeblieben war, grinste freundlich

und sagte: «Machen Sie sich keine Sorgen, Muttchen. Ein

Glück, daß alles ans Tageslicht gekommen ist. Wir waren

schon alle ziemlich nervös geworden.»

«Ich muß sagen, ich war sehr überrascht.»

«Weil es sich herausgestellt hat, daß es Celia war?»

«Ja. Waren Sie nicht auch erstaunt?»

«Nein, eigentlich nicht», sagte Valerie. «Hatten Sie es schon

vermutet?»

«Gewisse Dinge wiesen darauf hin. Auf jeden Fall aber hat sie

bei Colin erreicht, was sie wollte.»

«Das stimmt, und ich muß sagen - es gefällt mir nicht.»

«Mit vorgehaltenem Revolver kann man sich einen Mann nicht

ergattern», meinte Valerie lachend, «mit einem bißchen

Kleptomanie kommt man weiter. Regen Sie sich nicht mehr auf,

Muttchen. Sorgen Sie nur dafür, daß Celia Genevieve die

-5 1 ­

Puderdose zurückgibt, sonst haben wir beim Essen keine

ruhige Minute mehr.»

Mrs. Hubbard seufzte. «Nigels Untertasse hat einen Sprung,

und das Marmeladenglas ist zerbrochen.»

«Ein ungemütlicher Morgen, nicht wahr?» sagte Valerie und

verließ das Zimmer. Mrs. Hubbard hörte ihre Stimme aus der

Diele: «Guten Morgen, Celia, die Bahn ist frei. Alle wissen

Bescheid, und alles ist vergeben und vergessen - auf Befehl

des frommen Jean. Und Colin hat deinetwegen bereits wie ein

Löwe gebrüllt.»

Celia kam ins Eßzimmer. Ihre Augen waren vom Weinen

gerötet.

«Ach, Mrs. Hubbard ...»

«Sie sind zu spät heruntergekommen, Celia. Der Kaffee ist kalt,

und es ist auch nicht mehr viel zu essen da.»

«Ich wollte die anderen nicht treffen.»

«Das kann ich mir vorstellen. Aber früher oder später müssen

Sie doch mit ihnen zusammenkommen.»

«Ja, ich weiß. Ich dachte nur ... ich dachte, heute abend würde

es mir leichter fallen. Und ich werde natürlich nicht hier bleiben,

ich werde Ende der Woche ausziehen.» Mrs. Hubbard runzelte

die Stirn.

«Das halte ich durchaus nicht für nötig. Gewisse

Unannehmlichkeiten müssen Sie natürlich in Kauf nehmen, das

ist nicht anders zu erwarten, aber die meisten unserer jungen

Leute sind sehr großzügig. Natürlich müssen Sie versuchen,

die Verluste so weit wie möglich wieder gutzumachen.» Celia

unterbrach sie eifrig.

«Das ist ja selbstverständlich, ich wollte es Ihnen eben selbst

vorschlagen - hier ist mein Scheckbuch.» Sie senkte den Blick.

Sie hielt ihr Scheckbuch und einen Briefumschlag in der Hand.

«Ich hatte Ihnen für den Fall, daß ich Sie nicht sehen würde,

einen Brief geschrieben, um Ihnen zu sagen, wie leid es mir tut.

Eigentlich wollte ich einen Scheck beilegen, damit Sie gleich mit

-5 2 ­

allen abrechnen könnten, aber - aber ich hatte keine Tinte mehr

im Halter.»

«Wir müssen eine Liste machen.»

«Das hab' ich schon so weit wie möglich getan, aber ich weiß

nicht, ob ich die Sachen kaufen soll oder den Betreffenden

einfach das Bargeld geben.»

«Ich werde es mir überlegen - ich kann das nicht so schnell

entscheiden.»

«Bitte, kann ich Ihnen nicht gleich einen Scheck geben? Dann

würde ich mich wohler fühlen.»

Am liebsten hätte Mrs. Hubbard geantwortet: «Wirklich? Und

mit welchem Recht wollen Sie sich wohler fühlen?» Dann aber

fiel ihr ein, daß die Studenten immer knapp bei Kassa waren

und daß Bargeld die einfachste Lösung wäre. Außerdem würde

das Genevieve beruhigen und sie davon abhalten, Mrs.

Nicoletis eine Szene zu machen. (Es würde sowieso

Schwierigkeiten geben.)

«Also gut», sagte sie und sah sich die Liste der gestohlenen

Gegenstände an. «Aber ich weiß wirklich nicht, wieviel...»

«Darf ich Ihnen nicht einfach einen Scheck über eine Summe

geben, die Sie für ungefähr angemessen halten, und später

können Sie mir entweder den Rest zurückgeben oder mir

sagen, was ich Ihnen noch schulde.»

Mrs. Hubbard nannte nach kurzem Zögern eine Summe, die ihr

ausreichend erschien, und Celia stimmte sofort zu. Sie öffnete

ihr Scheckbuch.

«Ach, mein Füllfederhalter...» Sie ging zu dem Regal hinüber,

auf dem die Studenten verschiedene Kleinigkeiten

aufbewahrten. «Hier scheint nur Nigels gräßliche grüne Tinte zu

sein - also gut - dann werde ich die eben benutzen. Nigel wird

wohl nichts dagegen haben. Ich darf nicht vergessen, eine

Flasche Füllfedertinte zu kaufen, wenn ich ausgehe.» Sie füllte

ihren Federhalter, kam zurück und schrieb den Scheck aus. Als

sie ihn Mrs. Hubbard gab, sah sie auf die Uhr. «Ich werde mich

verspäten; ich habe keine Zeit mehr zu frühstücken.»

-5 3 ­

«Sie müssen unbedingt etwas zu sich nehmen, Celia,

wenigstens ein Butterbrot - mit einem leeren Magen soll man

nicht ausgehen. Ja? Was wollen Sie?»

Geronimo, der italienische Diener, war hereingekommen; er

gestikulierte heftig, und sein blasses Affengesicht war zu einer

komischen Grimasse verzogen.

«Die padrona - sie eben zurückgekommen - sie will sprechen

mit Ihnen...» und mit einer weiteren ausdrucksvollen Geste:

«Sie sein ganz wild.»

«Ich komme gleich.»

Mrs. Hubbard verließ das Zimmer, während sich Celia eilig und

ungeschickt eine Scheibe Brot absäbelte. Mrs. Nicoletis ging

mit großen Schritten im Zimmer auf und ab, wie ein Löwe vor

der Fütterung der Raubtiere im Zoologischen Garten. «Was

höre ich?» rief sie erregt, als Mrs. Hubbard eintrat. «Sie

haben, ohne mich zu fragen, die Polizei benachrichtigt? Wofür

halten Sie sich eigentlich? Was bilden Sie sich ein?»

«Ich habe die Polizei nicht benachrichtigt.»

«Das ist eine Lüge.»

«So können Sie mit mir nicht reden, Mrs. Nicoletis.»

«O nein, natürlich nicht... Ich bin an allem schuld, immer ich.

Sie machen niemals etwas falsch. Die Polizei in meinem

angesehenen Hause...»

«Es wäre nicht das erste Mal», warf Mrs. Hubbard ein, die an

einige unangenehme Zwischenfälle dachte. «Erinnern Sie sich

nicht an den westindischen Studenten, der von der Polizei

gesucht wurde, weil er seinen Lebensunterhalt auf

unmoralische Weise verdiente, und an den berüchtigten jungen

Kommunisten, der hier unter falschem Namen wohnte, und ...»

«Also das werfen Sie mir vor? Kann ich etwas dafür, daß mich

die Leute belügen, daß sie gefälschte Papier haben und daß

sie von der Polizei gesucht werden, weil sie in Mordfälle

verwickelt sind? Und Sie wagen es noch, mir Vorwürfe zu

machen - nachdem ich derart gelitten habe?»

-5 4 ­

«Ich denke gar nicht daran, Ihnen etwas vorzuwerfen; ich weise

Sie nur darauf hin, daß wir die Polizei nicht zum erstenmal im

Haus haben. In einem Studentenheim dieser Art ist das auch

wahrscheinlich nicht ganz unvermeidlich. Aber es steht fest,

daß niemand die Polizei hat. Ein bekannter

Privatdetektiv, mit dem ich befreundet bin, hat zufällig gestern

hier zu Abend gegessen. Er hat den Studenten einen sehr

interessanten Vortrag über Kriminalistik gehalten.»

«Als ob es notwendig wäre, unseren Studenten Vorträge über

dieses Thema zu halten! Darüber wissen sie sowieso mehr als

genug. Sie stehlen, sie zerstören mein Eigentum, und sie

treiben Sabotage, wenn es ihnen in den Kram paßt. Und es

geschieht nichts - gar nichts!»

«Ich habe etwas unternommen.»

«Ja, Sie haben Ihrem Freund von unseren

Privatangelegenheiten erzählt - ich halte das für einen

Vertrauensbruch.»

«Ich bin nicht Ihrer Ansicht. Ich bin verantwortlich für die

Vorgänge in diesem Haus, und ich bin froh. Ihnen mitteilen zu

können, daß sich inzwischen alles aufgeklärt hat. Eine unserer

Studentinnen hat gestanden, daß sie für das meiste

verantwortlich ist.»

«Eine solche Unverschämtheit! Wir müssen sie sofort

hinauswerfen.»

«Sie ist von sich aus bereit zu gehen, und sie hat erklärt, daß

sie die Verluste wieder gutmachen wird.»

«Was nützt uns das? Mein angesehenes Heim hat jetzt einen

schlechten Ruf, und es wird niemand mehr zu uns kommen

wollen.» Mrs. Nicoletis setzte sich aufs Sofa und brach in

Schluchzen aus. »An meine Gefühle denkt ja keiner», stieß sie

unter Tränen hervor. «Man behandelt mich wie ein Stück Dreck

- man ignoriert mich - was aus mir wird, interessiert keinen. Wer würde um mich trauern, wenn ich morgen sterben sollte?» Klugerweise zog es Mrs. Hubbard vor, diese Frage nicht zu beantworten; sie verließ statt dessen das Zimmer. Möge der liebe Herrgott mir Geduld verleihen, dachte sie. Dann ging sie -5 5 ­

in die Küche, um mit Maria zu sprechen. Maria war brummig und keineswegs hilfsbereit. Das Wort «Polizei» hing unausgesprochen in der Luft. «Mich wird man beschuldigen ­ mich und Geronimo ... Pove-rino ... kann man in einem fremden Land Gerechtigkeit erwarten? Nein, ich kann keinen Risotto kochen, Sie haben mir nicht den richtigen Reis besorgt. Ich werde statt dessen Spaghetti machen.» «Spaghetti hatten wir gestern.» «Das ist ganz egal. Bei uns ißt man jeden Tag Spaghetti -jeden

Tag. Basta - schmeckt immer gut.»

«Ja, aber jetzt leben Sie in England.»

«Gut, dann koche ich eben Stew - richtiges englisches Stew. Es

wird Ihnen nicht schmecken - es schmeckt nach nichts - anstatt die Zwiebeln in Olivenöl zu braten, wirft man sie ins Wasser ... Gekochte Zwiebeln und ausgelaugtes Fleisch! Aber wie Sie wollen.» Maria warf Mrs. Hubbard finstere Blicke zu und benahm sich wie ein Mensch, dem man eine schwere und unverdiente Kränkung zugefügt hat. «Kochen Sie, was Sie wollen», sagte Mrs. Hubbard ärgerlich und ging aus der Küche. Um sechs Uhr nachmittags hatte Mrs. Hubbard mit ihrer übli-dien Umsicht und Tüchtigkeit alles organisiert. Sie hatte allen Studenten ein Briefchen ins Zimmer gelegt, in dem sie sie bat, vor dem Abendessen in ihr Zimmer zu kommen. Als alle versammelt waren, teilte sie ihnen mit, daß Celia sich bereit erklärt habe, den Schaden wieder gutzumachen. Sie fand, daß sich alle sehr nett benahmen; selbst Genevieve, nachdem sie sich von der großzügigen Bewertung ihrer Puderdose überzeugt hatte, sagte liebenswürdig, daß nun alles in Ordnung wäre - sans rancune ­ und fügte hinzu: «Man weiß, diese Nerven-krisen kommen vor. Diese Celia, sie ist reich, hat nicht nötig zu stehlen; nein, nein, es sind nur die Nerven, Mr. McNabb hat so recht.» Als Mrs. Hubbard zum Abendessen nach unten kam, nahm Len Bateson sie beiseite.

-5 6 ­

«Ich werde hier in der Diele auf Celia warten, damit wir zusammen ins Eßzimmer gehen können, weil ihr das angenehmer sein wird, als allein hereinzukommen.» «Das ist sehr nett von Ihnen, Len.» «Das tu' ich doch gern, Muttchen.» Etwas später, als die Suppe herumgereicht wurde, hörte man Lens dröhnende Stimme aus der Diele. «Komm nur herein, Celia, wir sind ja unter Freunden.»

«Der hat seine gute Tat für heute hinter sich», sagte Nigel spitz,

aber als Len und Celia hereinkamen, unterdrückte er weitere

bösartige Bemerkungen und winkte dem Mädchen freundlich

zu.

Es entspann sich eine allgemeine, angeregte Diskussion über die verschiedenartigsten Themen, und alle bemühten sich, Celia in die Unterhaltung zu ziehen. Es war fast unvermeidlich, daß dieser überlebhaften Unterhaltung ein plötzliches Schweigen folgte. Und in dem Augenblick wandte Mr. Akibombo Celia sein strahlendes Gesicht zu, beugte sich über den Tisch und sagte: «Sie mir alles gut erklärt haben, was nicht verstanden zuerst. Sie sehr schlau mit Stehlen. Lange hat keiner gewußt! Sehr schlau!» «Du wirst mich noch zur Verzweiflung bringen, Akibombo», stöhnte Sally und bekam einen derartigen Lachkrampf, daß sie das Zimmer verlassen mußte. Damit war das Eis gebrochen, und alle begannen von Herzen zu lachen. Colin McNabb erschien spät zum Essen. Er war sehr reserviert und noch unzugänglicher als sonst. Als sich die Mahlzeit ihrem Ende näherte und bevor die anderen aufgegessen hatten, stand er auf und stammelte verlegen: «Ich muß noch einmal fortgehen, aber vorher möchte ich euch allen sagen, daß Celia und ich ... daß wir hoffen, im nächsten Jahr, nachdem ich meine Examen bestanden habe, zu heiraten.» Er wurde blutrot und ließ die Glückwünsche und ironischen Bemerkungen seiner Freunde mit Leidensmiene über sich -5 7 ­

ergehen, bevor er mit geducktem Kopf aus dem Zimmer

schlich. Celia dagegen war ruhig und gefaßt. «Wieder einer in

die Falle geraten», seufzte Len Bateson. «Ich freue mich sehr,

Celia, und ich hoffe, daß du glücklich sein wirst», sagte Patricia.

«Alles hat sich in Wohlgefallen aufgelöst», meinte Nigel.

«Morgen werden wir ein paar Flaschen Chianti kaufen und auf

dein Wohl trinken. Warum sieht unsere liebe Jean so ernst

aus? Bist du im Prinzip gegen die Ehe?»

«Nein, Nigel, natürlich nicht.»

«Ich halte die Ehe für sehr viel besser als die freie Liebe - auch

netter für die Kinder, findest du nicht? Schon wegen der

Reisepässe ...»

«Aber die Mutter sollte nicht sein zu jung», warf Genevieve ein,

«wir lernen das in Physiologiestunde.»

«Willst du damit andeuten, daß Celia noch ein unmündiges

Kind ist? Sie ist frei, weiß und mehrjährig.»

«Eine höchst beleidigende Bemerkung», sagte Mr. Chandra

Lal.

«Aber keine Spur», beschwichtigte Patricia, «es ist nur so eine

Redensart... ohne jede Bedeutung.»

«Ich nicht verstehen», murmelte Mr. Akibombo. «Wenn Sachen

nichts bedeuten, warum dann erst sagen?» Plötzlich meinte

Elizabeth Johnston mit leicht erhobener Stimme: «Es werden

manchmal Dinge gesagt, die scheinbar belanglos sind, aber in

Wirklichkeit eine tiefere Bedeutung haben.

Nein, ich spreche nicht von dieser amerikanischen Redensart ­

ich spreche von etwas anderem.» Sie blickte sich am Tisch um.

«Ich spreche von etwas, das sich gestern ereignet hat.»

«Was meinst du, Bess?» fragte Valerie scharf. «Bitte nicht»,

sagte Celia. «Ich glaube wirklich, daß sich bis morgen alles

aufgeklärt haben wird - die Sache mit der Tinte und die alberne

Geschichte mit dem Rucksack. Und falls - falls die Person, die

es getan hat, ein Geständnis ablegt, dann wird alles in Ordnung

sein.»

-5 8 ­

Sie sprach mit großem Ernst, ihr Gesicht war gerötet, und ein

oder zwei Köpfe wandten sich ihr erstaunt zu. Valerie ergänzte

mit einem kurzen Lachen: «Und danach werden alle glücklich

und zufrieden sein.»

Dann stand man auf und ging ins Wohnzimmer, wo sich unter

den Anwesenden ein edler Wettstreit entspann, Celia ihren

Kaffee zu bringen. Etwas später verteilte man sich auf Sofa und

Sessel und stellte das Radio an; einige der Studenten hatten

noch Verabredungen, andere wollten arbeiten, und schließlich

gingen alle Einwohner der Hickory Road Nr. 24 und 26 zu Bett.

Es ist ein langer, anstrengender Tag gewesen, dachte Mrs.

Hub-bard, als sie langsam die Treppe zu ihrem Schlafzimmer

hinaufging. Gottlob, daß er endlich vorbei ist.

7 Miss Lemon war fast nie unpünktlich. Nebel, Stürme, Grippe-

Epidemien und Verkehrsstreiks schienen dieser

bemerkenswerten Frau nichts anhaben zu können. Aber an

diesem Morgen kam Miss Lemon atemlos fünf Minuten nach

zehn an, anstatt um Punkt zehn Uhr. Sie entschuldigte sich

sehr, und sie war, für ihre Verhältnisse, ziemlich erregt.

«Ich bitte Sie um Entschuldigung, Monsieur Poirot. Als ich

gerade im Begriff war, die Wohnung zu verlassen, hat meine

Schwester mich angerufen.»

«Ich hoffe, daß sie gesund und munter ist.»

«Offen gesagt - nein.»

Poirot sah sie fragend an.

«Sie ist völlig fassungslos - eine der Studentinnen hat

Selbstmord begangen.»

Poirot starrte sie an, dann murmelte er etwas vor sich hin.

«Verzeihung, Monsieur Poirot.»

«Wie heißt die Studentin?»

«Celia Austin.»

«Auf welche Weise?»

-5 9 ­

«Man glaubt, daß sie Morphium genommen hat.»

«Könnte sie es versehentlich getan haben?»

«O nein, sie scheint einen Abschiedsbrief hinterlassen zu

haben.»

Poirot sagte leise: «Das habe ich nicht erwartet... das nicht...

und doch, irgend etwas habe ich erwartet.» Er sah auf und

bemerkte, daß Miss Lemon mit Bleistift und Stenogrammblock

bewaffnet auf ihn wartete. Er seufzte und schüttelte den Kopf.

«Nein. Ich werde Ihnen die Post überlassen; sehen Sie sie bitte

durch und beantworten Sie, was Sie können. Ich selbst werde

in die Hickory Road hinübergehen,»

Geronimo öffnete Poirot die Tür. Er erkannte ihn als den

Ehrengast von vor zwei Tagen und wurde sofort gesprächig, Er

flüsterte mit Verschwörermiene:

«Ah - Sie sind es, Signor. Wir haben hier die Schwierigkeiten ­

die großen Schwierigkeiten. Die kleine Signorina sein tot in ihr

Bett heute morgen. Erst kommen Doktor - schütteln Kopf. Dann

kommen Polizei-Inspektor - ist jetzt oben mit der Si-gnora und

der Padrona. Warum soll sie sich töten wollen... poverina? Und

gestern abend noch so fröhlich wegen Verlobung!»

«Verlobung?»

«Si, si. Mit Mr. Colin - Sie wissen, groß und dunkel, und immer

rauchen die Pfeife.»

«Ja, ich weiß.»

Geronimo öffnete die Tür zum Wohnzimmer, setzte zum

zweitenmal eine Verschwörermiene auf und führte Poirot

hinein. «Sie bleiben hier, ja? Wenn Polizei fortgehen, ich sagen

der Signorina, daß Sie hier sind. Gut, ja?»

Poirot nickte, und Geronimo zog sich zurück. Nachdem er allein

war, begann Poirot, der keine übertriebenen Skrupel besaß,

das Zimmer aufs genaueste zu untersuchen; seine besondere

Aufmerksamkeit galt den Gegenständen, die wahrscheinlich

den Studenten gehörten. Der Erfolg war recht mäßig. Die

Studenten bewahrten den größten Teil ihrer Sachen und

Papiere in ihren eigenen Zimmern auf.

-6 0 ­

Im oberen Stockwerk saß Mrs. Hubbard Kriminalkommissar

Sharpe gegenüber, der ihr mit leiser entschuldigender Stimme

Fragen stellte. Er war ein kräftiger, gemütlich aussehender

Mann mit einem verdächtig harmlosen Benehmen. «Ich weiß

wie unangenehm und peinlich das alles für Sie ist», sagte er

beruhigend, «aber wie Ihnen Dr. Coles bereits sagte, wird eine

gerichtliche Untersuchung stattfinden, und wir müssen natürlich

so genau wie möglich im Bilde sein. Sie fanden also, daß das

Mädchen in der letzten Zeit sehr deprimiert war?»

«Ja.»

«Eine Liebesgeschichte?»

«Eigentlich nicht», entgegnete Mrs. Hubbard zögernd. «Bitte

erzählen Sie mir alles, was Sie wissen», bat Kommissar Sharpe

eindringlich. «Wir müssen, wie gesagt, genau im Bilde sein. Sie

hatte also einen bestimmten Grund, sich das Leben zu

nehmen, oder sagen wir, sie glaubte, einen Grund zu haben,

nicht wahr? Besteht die Möglichkeit, daß sie schwanger war?»

«Das halte ich für ganz ausgeschlossen, Herr Kommissar. Ich

habe nur gezögert, weil das arme Kind etwas sehr Törichtes

getan hat und weil ich hoffte, daß es nicht unbedingt nötig wäre,

darüber zu sprechen.»

«Wir werden so diskret wie möglich sein; der

Untersuchungsrichter ist ein sehr erfahrener Mann. Aber wir

müssen alles wissen.»

«Ja, natürlich. Es war dumm, daß ich Ihnen etwas

verschweigen wollte. Es handelt sich darum, daß hier seit zwei

oder drei Monaten Sachen verschwunden sind - Kleinigkeiten ­

nichts wirklich Wertvolles.»

«Nippsachen vielleicht? Modische Kleinigkeiten, Nylonstrümpfe,

Geld?»

«Geld nicht - soviel ich weiß.»

«Aha. Und dieses Mädchen ist dafür verantwortlich gewesen?»

«Ja.»

«Haben Sie sie dabei ertappt?»

-6 1 ­

«Das nicht gerade. Vorgestern abend kam ein Freund von mir

zum Abendessen, ein Monsieur Poirot, ich weiß nicht, ob Sie

ihn kennen?»

Kommissar Sharpe sah mit großen Augen von seinem

Notizbuch auf. Ja, dieser Name war ihm bekannt. «Monsieur

Poirot? Tatsächlich? Außerordentlich interessant... interessant

.. .»

«Er hat uns nach dem Essen einen kleinen Vortrag gehalten,

und bei dieser Gelegenheit kam die Sprache auf die Diebstähle.

Er gab mir in Anwesenheit der anderen den Rat, zur Polizei zu

gehen.»

«Wirklich?»

«Danach kam Celia in mein Zimmer und legte ein Geständnis

ab. Sie war sehr unglücklich.»

«Sollte sie verklagt werden?»

«Nein, davon war nicht die Rede. Sie wollte alles ersetzen, und

die Studenten haben sich ihr gegenüber sehr nett benommen.»

«War sie in Geldnot?»

«Nein. Sie hat einen ganz gut bezahlten Posten als Apothekerin

im St.-Catherine-Krankenhaus und außerdem, soviel ich weiß,

ein kleines Privateinkommen. Es geht ihr besser als den

meisten unserer Studenten.»

«Sie hat also gestohlen, obwohl sie es nicht nötig hatte», sagte

der Kommissar und machte sich eine entsprechende Notiz.

«Ja. Es war wohl Kleptomanie», meinte Mrs. Hubbard. «So wird

es manchmal genannt. Meiner Ansicht nach handelte es sich

hier ganz einfach um eine Person, die ohne zwingenden Grund

stahl.»

«Ich weiß nicht, ob Sie sie nicht zu streng beurteilen. Hier ist

nämlich ein junger Mann ...»

«Der sich gegen sie gestellt hat?»

«O nein, ganz im Gegenteil. Er hat sie nach allen Regeln der

Kunst verteidigt und gestern abend hat er seine Verlobung mit

ihr angekündigt.» Kommissar Sharpe hob überrascht die

-6 2 ­

Augenbrauen. «Und dann legt sie sich ins Bett und nimmt

Morphium? Sehr sonderbar, finden Sie nicht?»

«Ja. Ich kann es mir auch nicht erklären», sagte Mrs. Hubbard

verstört.

«Und doch sind die Tatsachen ganz eindeutig.» Sharpe nickte,

und sein Blick fiel auf das abgerissene Papierstückchen, das

vor ihm auf dem Tisch lag.

«Liebe Mrs. Hubbard», stand auf dem Zettel, «bitte verzeihen

Sie mir, aber es scheint mir das beste zu sein . . .»

«Keine Unterschrift - sind Sie davon überzeugt, daß es ihre

Handschrift ist?»

«Ich glaube ja.»

Mrs. Hubbards Stimme klang unsicher, und sie runzelte die

Stirn, während sie auf den Zettel starrte. Warum hatte sie das

bestimmte Gefühl, daß irgend etwas nicht in Ordnung war?

«Wir haben einen deutlichen Fingerabdruck der Toten auf dem

Zettel gefunden», sagte der Kommissar. «Das Morphium war in

einem kleinen Flaschen mit einem Schild, auf dem Na, und dann stritten sie sich noch

ein Weilchen, und Len Bateson meinte schließlich, daß er seine

Wette wohl verloren hätte. Er würde seine Schulden bezahlen,

aber nicht sofort, weil er gerade etwas knapp bei Kasse sei; auf

jeden Fall wäre es Nigel gelungen, seine Theorie zu beweisen.

Dann sagte er: Nigel grinste und sagte, daß man es

loswerden müßte, bevor ein Unglück geschehen könne. Sie

leerten die Tube und warfen die Tabletten ins Feuer, und das

Morphiumpulver auch. Die Digitalis-Tinktur schütteten sie ins

Klosett.»

«Und die Behälter?»

«Das weiß ich nicht; wahrscheinlich haben sie sie in den

Papierkorb geworfen.»

«Aber das Gift selbst wurde vernichtet?»

«Ja, das hab ich selbst gesehen.»

«Und wann war das?»

«Vor etwa vierzehn Tagen.»

«Aha. Vielen Dank, Miss Tomlinson.» Jean zögerte; sie wollte

offensichtlich noch etwas beifügen. «Halten Sie diese Wettgeschichte für wichtig?» «Vielleicht. Schwer zu sagen.» Kommissar Sharpe blieb einen Augenblick in Gedanken versunken sitzen, dann ließ er Nigel Chapman noch einmal

kommen.

«Ich habe gerade eine interessante Unterhaltung mit Jean

Tomlinson gehabt», begann er.

-9 6 ­

«So? Und über wen hat sie giftige Bemerkungen gemacht?

Über mich?»

«Sie hat im Zusammenhang mit Ihnen über Gifte gesprochen.»

«Über Gifte? Was soll das bedeuten?»

«Stimmt es, daß Sie vor ein paar Wochen mit Mr. Bateson eine

Wette abgeschlossen haben? Sie behaupteten, imstande zu

sein, sich dreierlei Gifte zu verschaffen, ohne daß man Ihnen

auf die Spur kommen könne.»

Plötzlich schien sich Nigel zu erinnern. «Ach, das», sagte er.

«Ja, natürlich. Komisch, daran hab' ich gar nicht mehr gedacht.

Ich erinnere mich nicht einmal, daß Jean dabei war. Sie

glauben doch nicht, daß es damit eine besondere Bewandtnis

hat?»

«Das kann man nie wissen. Sie geben die Tatsache also zu?»

«Selbstverständlich. Wir haben uns gestritten. Colin und Len

waren ziemlich skeptisch, und ich sagte, daß man sich mit ein

bißchen Scharfsinn jedes gewünschte Gift verschaffen könnte;

ich behauptete sogar, daß ich es auf drei verschiedene Arten

fertigbringen könnte. Ich erklärte, ich wäre bereit, diese

Behauptung praktisch zu beweisen.»

«Was Sie dann auch taten?»

«Was ich dann auch tat.»

«Können Sie mir diese drei Methoden beschreiben, Mr.

Chapman?»

Nigel legte den Kopf etwas zur Seite und meinte: «Würde das

nicht bedeuten, daß ich unter Umständen den Verdacht der

Polizei auf mich lenke? Wäre es nicht Ihre Pflicht und

Schuldigkeit, mich davor zu warnen?»

«So weit sind wir noch nicht, Mr. Chapman; aber es kann Sie

natürlich niemand dazu zwingen, den Verdacht auf sich zu

lenken - um Ihre eigenen Worte zu gebrauchen. Sie haben

selbstverständlich das Recht, sich zu weigern, meine Fragen zu

beantworten.»

«Ich habe nicht die Absicht, mich zu weigern.» Nigel dachte

einen Augenblick nach; dann sagte er mit einem leichten

-9 7 ­

Lächeln: «Ich habe dabei natürlich gegen das Gesetz

verstoßen, und Sie könnten mich deswegen belangen. Da es

sich aber andererseits um einen Mord handelt und im

Zusammenhang mit dem Tod der armen kleinen Celia

irgendeine Bedeutung haben könnte, muß ich es Ihnen wohl

sagen.»

«Das ist bestimmt der einzig richtige Standpunkt.»

«Also gut, ich werde es Ihnen erzählen.»

«Was waren die drei Methoden?»

Nigel lehnte sich in seinem Stuhl zurück. «Man liest doch so oft

in der Zeitung, daß Ärzten gefährliche Medikamente aus dem

Auto gestohlen wurden, nicht wahr?»

«Ja.»

«Ich hielt es also für ganz einfach, aufs Land zu fahren, einem

Arzt bei seiner Besuchsrunde zu folgen, auf eine günstige

Gelegenheit zu warten, dann schnell die Wagentür

aufzumachen und mir das Gewünschte aus der Arzttasche zu

nehmen. In diesen Landbezirken braucht der Arzt seine Tasche

nicht jedesmal mit hirteinzunehmen - es kommt ganz darauf an,

was für einen Patienten er besucht.»

«Und?»

«Und... das ist alles. Das wäre die erste Methode. Ich mußte

drei Ärzte verfolgen, bis ich schließlich einen fand, der nicht

allzu vorsichtig war. Der Coup selbst war ein Kinderspiel. Der

Wagen stand vor einem ziemlich einsam gelegenen Bauern­

haus. Ich öffnete die Tür, besah mir den Inhalt der Arzttasche,

nahm eine Tube Hyozin heraus - und das war alles.»

«Und die zweite Methode?»

«Zu diesem Zweck mußte ich mich an die arme Celia

heranmachen. Sie schöpfte nicht den geringsten Verdacht. Ich

habe

Ihnen ja gesagt, daß sie ein dummes Geschöpf war; sie hatte

keine Ahnung, was ich vorhatte. Ich unterhielt mich einfach mit

ihr über die Art, wie Ärzte ihre Rezepte ausschreiben, über die

unleserlichen Handschriften und die geheimnisvollen

-9 8 ­

lateinischen Bezeichnungen. Dann fragte ich sie, ob sie mir

spaßeshalber ein Rezept für Digitalis geben könnte. Sie ging

auf den Scherz ein und schrieb mir das gewünschte Rezept.

Danach mußte ich mir nur noch einen Arzt aus dem

Telefonbuch heraussuchen, der in einem weit von hier

entfernten Londoner Bezirk praktiziert, und seine unleserliche

Unterschrift unter das Rezept setzen. Dann ging ich in eine

Apotheke in einem sehr belebten Stadtteil; ich nahm an, daß

die Unterschrift des Arztes dort kaum bekannt sein würde. Ich

hatte keinerlei Schwierigkeiten - das Rezept hatte ich auf

Hotelbriefpapier geschrieben. Digitalis wird bei Herzkrankheiten

in ziemlich großen Dosen verschrieben.»

«Sehr raffiniert», bemerkte Kommissar Sharpe trocken. «Jetzt

haben Sie wirklich Verdacht geschöpft - ich höre es Ihrer

Stimme an!»

«Und die dritte Methode?»

Nigel antwortete nicht gleich. Dann sagte er: «Auf was lasse ich

mich da eigentlich ein? Welche Folgen kann das für mich

haben?»

«Ihre Art, sich das Hyozin anzueignen, kann man nur als

Diebstahl bezeichnen», sagte Kommissar Sharpe. «Die

Fälschung eines ärztlichen Rezeptes ...»

«Es handelt sich wohl kaum um eine Fälschung... und meine

Unterschrift war keine Imitation einer mir bekannten

Arztunterschrift. Wenn ich ein Rezept ausschreibe und es mit

H.R. James unterzeichne, kann man doch nicht behaupten, daß ich die Unterschrift eines bestimmten Dr. James fälsche, nicht wahr? Verstehen Sie, was ich meine? Ich stecke meinen Kopf sozusagen in die Schlinge ... wenn Sie die Absicht haben sollten, mir Unannehmlichkeiten zu bereiten, sitz' ich in der Tinte. Andererseits...» «Ja, Mr. Chapman, andererseits?» «Ich hasse den Gedanken an Mord», brach Nigel plötzlich leidenschaftlich aus. «Es ist furchtbar, grauenhaft. Die arme kleine Celia hat es nicht verdient, ermordet zu werden. Ich will

-9 9 ­

gerne zur Aufklärung dieses Verbrechens beitragen. Aber wird es helfen, wenn ich Ihnen meine Abenteuer erzähle?» «Die Polizei ist da ziemlich frei, Mr. Chapman. Es bleibt uns überlassen, gewisse Dinge als Lausbubenstreiche zu betrachten. Ich bin bereit, Ihnen zu glauben, daß Sie uns bei der Aufklärung dieses Mordfalles helfen wollen. Bitte fahren Sie fort und beschreiben Sie mir die dritte Methode.» «Die dritte Methode ist eine ziemlich heikle Sache», gestand Nigel, «etwas riskanter als die beiden anderen Methoden, aber viel amüsanter. Wie Sie wissen, habe ich Celia einige Male in der Apotheke besucht, und ich wußte Bescheid ...» «Und so konnten Sie ohne allzu große Schwierigkeiten ein Fläschchen aus dem Giftschrank stehlen?» «Nein, nein, so einfach war es denn doch nicht, und das wäre auch von mir aus gesehen unfair gewesen. Übrigens - wenn ich das Gift wirklich für einen Mord hätte verwenden wollen, würde ich damit zu rechnen gehabt haben, daß mich jemand gesehen hat. Tatsächlich war ich seit ungefähr sechs Monaten nicht mehr in Celias Apotheke gewesen... Ich wußte, daß Celia immer gegen elf Uhr morgens ins Hinterzimmer ging, um dort eine Tasse Kaffee zu trinken; meistens gingen die Mädchen zu zweit, und das dritte Mädchen blieb in der Apotheke zurück. Ich wußte, daß vor kurzer Zeit ein junges Mädchen engagiert worden war, das mich noch nicht vom Sehen kannte. Ich zog mir also einen weißen Arztkittel an, hängte mir ein Stethoskop um den Hals und schlenderte in die Apotheke. Die Neue stand am Schiebefenster und gab Medizin für die Patienten der Poliklinik aus. Während sie also mit dem Rücken zu mir stand, ging ich zum Giftschrank, nahm eine kleine Flasche heraus und steckte sie ein. Dann schlenderte ich zu der Neuen hinüber und fragte: Sie nickte. Danach bat ich sie, mir zwei Gelonida-Ta-bletten zu geben, weil ich einen fürchterlichen Kater hätte. Ich schluckte die Tabletten und verließ die Apotheke. Sie hatte nicht den geringsten Verdacht, denn sie hielt mich natürlich für einen Studenten oder einen jungen Arzt. Es war kinderleicht, und Celia hatte keine Ahnung von meinem Besuch.» -1 0 0 ­

«Ein Stethoskop?» fragte Kommissar Sharpe neugierig.

«Woher hatten Sie das Stethoskop?»

Nigel grinste und sagte: «Das hatte ich Len Bateson geklaut.»

«Was? Hier aus dem Haus?»

«Ja.»

«Das erklärt das Verschwinden des Stethoskops; dafür war

Celia also nicht verantwortlich.»

«Weiß Gott nicht! Können Sie sich vorstellen, daß eine Klepto­

manin ein Stethoskop stiehlt? Ich nicht!»

«Was haben Sie später damit angefangen?»

«Ich mußte es versetzen», sagte Nigel entschuldigend. «War

das nicht ziemlich unfair gegen Bateson?»

«Sehr sogar. Da ich jedoch nicht die Absicht hatte, ihm meine

Methoden zu erklären, blieb mir nichts anderes übrig. Aber ich

hab' ihn kurz danach eingeladen und bin im großen Stil mit ihm

ausgegangen», fügte Nigel lachend hinzu. «Sie sind ein

leichtsinniger junger Mann», sagte Kommissar Sharpe.

«Sie hätten die Gesichter sehen sollen, als ich die drei

Präparate auf den Tisch legte», erzählte Nigel strahlend, «und

als ich ihnen sagte, daß es mir gelang, ihrer habhaft zu werden,

ohne daß es irgend jemandem auffiel.»

«Damit haben Sie also zugegeben, daß Sie in der Lage waren,

drei verschiedene Personen mit drei verschiedenen

Medikamenten zu vergiften, und daß es in keinem der Fälle

möglich gewesen wäre, den Diebstahl der Gifte auf Sie

zurückzuführen.» Nigel nickte.

«Allerdings», sagte er, «und wie die Dinge liegen, war es mit

nicht gerade angenehm, das zuzugeben. Aber es steht fest,

daß die verschiedenen Gifte alle vor mindestens zwei Wochen

vernichtet worden sind.»

«Das glauben Sie, Mr. Chapman, aber in Wirklichkeit mag es

sich anders verhalten.»

Nigel starrte ihn erstaunt an. «Was wollen Sie damit sagen?»

«Wie lange waren die Medikamente in Ihrem Besitz?»

-1 0 1 ­

«Die Tube mit den Hyozin-Tabletten etwa zehn Tage, das

Morphiumpulver vier Tage, und die Digitalis-Tinktur hatte ich mir

erst am selben Nachmittag verschafft.»

«Wo hatten Sie die Hyozin-Tabletten und das Morphium

aufbewahrt?»

«In der untersten Schublade meiner Kommode - unter den

Socken versteckt.»

«Hat irgend jemand gewußt, daß diese Medikamente dort

aufbewahrt wurden?»

«Nein, nein, ich glaube bestimmt nicht.»

Kommissar Sharpe meinte eine leichte Unsicherheit aus Nigels

Stimme zu hören, aber im Augenblick ging er nicht weiter

darauf ein.

«Haben Sie niemandem etwas über Ihre verschiedenen

Methoden erzählt?»

«Nein ... wenigstens .. . nein, bestimmt nicht.»

«Was soll das Wort in diesem Zusammenhang

bedeuten?»

«Gar nichts; ich wollte nur sagen, daß ich eigentlich vorhatte,

es Pat zu erzählen, aber dann fiel mir ein, daß Patricia sehr

strenge Prinzipien hat und wahrscheinlich nicht das richtige

Verständnis aufbringen würde.»

«Sie haben ihr nicht erzählt, daß Sie die Pillen aus dem Auto

des Arztes stahlen und das Morphium aus dem Krankenhaus

oder daß Sie ein Rezept fälschten?»

«Doch; später habe ich ihr dann erzählt, daß ich ein Rezept

ausgeschrieben hätte und auf diese Weise von einem

Apotheker die Digitalis-Tinktur bekam und daß ich mich im

Krankenhaus als Arzt verkleidet hatte. Ich muß leider zugeben,

daß Pat das gar nicht komisch fand. Von den gestohlenen

Tabletten hab' ich ihr nichts erzählt, weil ich fürchtete, daß sie

darüber zu empört sein würde.»

«Haben Sie ihr gesagt, daß Sie vorhatten, die Medikamente zu

vernichten, sowie Ihre Wette gewonnen war?»

-1 0 2 ­

«Ja. Und sie hat sich entsetzlich aufgeregt und darauf

bestanden, daß ich das Zeug wieder zurückbringen sollte - oder

so was Ähnliches.»

«Auf diesen Gedanken wären Sie selbst gar nicht gekommen?»

«Natürlich nicht, das wäre ja eine Katastrophe gewesen und

hätte mich in die größten Unannehmlichkeiten bringen können.

Nein, wir haben das Zeug einfach ins Feuer geworfen und die

Flüssigkeit ins Klosett gegossen, und damit war der Fall

erledigt.»

«Das sagen Sie so, Mr. Chapman, aber es ist durchaus

möglich, daß der Fall damit nicht erledigt war und daß Sie

großes Unheil angerichtet haben.»

«Aber wieso denn? Ich hab' Ihnen doch gesagt, daß alles

vernichtet worden ist!»

«Sind Sie wirklich nicht auf den Gedanken gekommen, daß

jemand vielleicht sah, wohin Sie die Gifte versorgten, oder sie

fand, und daß jemand den Inhalt der Morphiumflasche geleert

und etwas anderes hineingetan haben könnte?»

«Großer Gott! An so etwas hab' ich nicht gedacht.» Nigel starrte

ihn entsetzt an. «Und ich halte es auch nicht für möglich.»

«Aber die Möglichkeit besteht, Mr. Chapman.»

«Es ist ganz ausgeschlossen, daß es jemand gewußt hat.»

«Sagen Sie das nicht, Mr. Chapman. Sie würden staunen,

wieviel die Leute in einem Haus wie diesem wissen!»

«Wollen Sie damit sagen, daß einem hier nachspioniert wird?»

«Ja.»

«Da mögen Sie recht haben.»

«Wer hat normalerweise zu Ihrem Zimmer Zutritt?»

«Ich teile das Zimmer mit Len Bateson, und die meisten der

anderen Studenten sind hin und wieder erschienen... natürlich

nicht die Mädchen. Die Mädchen dürfen den ersten Stock auf

der Seite des Hauses, in dem sich unsere Schlafzimmer

befinden, nicht betreten. Weil sich das nicht schicken würde!»

-1 0 3 ­

«Es ist nicht gestattet, aber ich nehme an, daß es trotzdem hin

und wieder passiert, nicht wahr?»

«Möglich ist alles», gab Nigel zu, «besonders am Tag.

Nachmittags ist eigentlich nie jemand oben.»

«Kommt Miss Lane manchmal in Ihr Zimmer?»

«Ich hoffe, Sie meinen das nicht... Sie wissen schon wie, Herr

Kommissar. Pat kommt höchstens in mein Zimmer, wenn sie

mir Strümpfe, die sie für mich gestopft hat, zurückbringt. Sonst

nie.»

Kommissar Sharpe beugte sich vor und sagte: «Sind Sie sich

darüber klar, Mr. Chapman, daß Sie selbst derjenige sind, für

den es nur zu leicht gewesen wäre, den Inhalt des

Morphiumfläschchens umzufüllen und etwas anderes in das

Original-fläschchen zu tun?»

Nigels Gesicht sah plötzlich hart und entstellt aus. «Ja, das ist

mir genau vor einer Minute klargeworden», sagte er. «Das hätte

ich allerdings tun können. Aber ich habe nicht den geringsten

Anlaß gehabt, das arme Geschöpf aus dem Weg zu räumen.

Ich habe es nicht getan, Herr Kommissar. Aber ich weiß, daß

alles davon abhängt, ob Sie bereit sind, mir zu glauben.»

Len Bateson und Colin McNabb bestätigten die Wettgeschichte

und auch, daß die Gifte vernichtet worden waren. Sharpe bat

McNabb, noch zu bleiben. Nachdem die anderen gegangen

waren, sagte er:

«Ich werde mir die größte Mühe geben, Ihnen weiteren

Kummer zu ersparen. Es muß ein furchtbarer Schlag für Sie

gewesen sein, als Ihre Braut am Morgen nach der Verlobung

vergiftet aufgefunden wurde.»

«Darauf möchte ich jetzt nicht weiter eingehen», erwiderte Colin

McNabb mit starrem Gesicht. «Auf meine Gefühle brauchen Sie

keine Rücksicht zu nehmen. Stellen Sie mir ruhig alle Fragen,

die Ihnen wichtig erscheinen.»

«Glauben Sie, daß Celia Austins Handlungen psychologisch

bedingt waren?»

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«Darüber besteht meiner Ansicht nach nicht der geringste

Zweifel», erklärte Colin McNabb. «Wenn ich Ihnen meine

Theorie etwas ausführlicher auseinandersetzen dürfte ...»

«Nein, nein», sagte Kommissar Sharpe schnell. «Da Sie

Psychologie studieren, verlasse ich mich auf Ihr Urteil.»

«Sie hatte eine besonders unglückliche Kindheit, die einen

Leerlauf der Gefühle hinterlassen hat, und ...»

«Natürlich - ich verstehe», versicherte Kommissar Sharpe, der

sich um keinen Preis noch eine unglückliche

Kindheitsgeschichte anhören wollte - die von Nigel hatte ihm

reichlich genügt. «Hatten Sie sich schon seit längerer Zeit für

Celia Austin interessiert?»

«Genau genommen nicht», meinte Colin nach reiflicher

Überlegung. «Diese Dinge brechen manchmal mit erstaunlicher

Schnelle über einen herein. Im Unterbewußtsein muß ich mich

wohl schon lange zu ihr hingezogen gefühlt haben, ohne mir

jedoch darüber klar gewesen zu sein. Da ich ursprünglich nicht

beabsichtigte, jung zu heiraten, hatte ich gegen diesen

Gedanken wahrscheinlich einen beträchtlichen inneren

Widerstand aufgebaut.»

«Ja, natürlich. - War Celia Austin glücklich über die Verlobung?

War sie unsicher? Hatte sie irgendwelche Zweifel? Wollte sie

Ihnen noch irgend etwas gestehen?»

«Sie hat mir ein volles Geständnis abgelegt, und sie hatte

keinen Grund zur Beunruhigung.»

«Und wann wollten Sie heiraten?»

«Wir hatten noch keine Pläne gemacht, da ich vorläufig nicht in

der Lage bin, einen Haushalt zu finanzieren.»

«Hat Celia hier im Heim Feinde gehabt?»

«Das kann ich mir kaum vorstellen; obwohl ich viel darüber

nachgedacht habe. Celia war allgemein beliebt; ich bin der

Ansicht, daß ihr trauriges Ende nichts mit persönlichen Dingen

zu tun hat.»

«Was meinen Sie mit ?»

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«Darauf möchte ich im Augenblick nicht näher eingehen. Ich

habe eine bestimmte Vermutung, aber ich bin mir selbst

darüber noch nicht im klaren.»

Mehr konnte der Kommissar nicht aus ihm herausholen. Die

beiden letzten Interviews waren mit Sally Finch und mit

Elizabeth Johnston. Zuerst kam Sally Finch an die Reihe. Sally

war ein reizvolles Mädchen mit einem roten Haarschopf und

strahlenden, intelligenten Augen. Nachdem sie die üblichen

Fragen beantwortet hatte, ergriff Sally plötzlich die Initiative.

«Wissen Sie, was ich gern tun möchte, Herr Kommissar? Ich

möchte Ihnen meine persönliche Meinung sagen. In diesem

Haus gehen Dinge vor, die mir nicht gefallen - ganz und gar

nicht gefallen.»

«Im Zusammenhang mit Celia Austins Tod?»

«Nein, es begann schon vorher. Ich spürte es schon seit einiger

Zeit, und es war mir unheimlich; da war zum Beispiel die Sache

mit dem zerschnittenen Rucksack und Valeries zerfetztem

Schal, und die Tinte auf Elizabeth Johnstons Papieren...

Ich wollte eigentlich so schnell wie möglich ausziehen, und das

habe ich natürlich auch jetzt noch vor - sobald Sie es mir

gestatten.»

«Weil Sie Angst haben, Miss Finch?» Sally nickte.

«Ja, ich habe Angst. Hier ist irgend etwas nicht in Ordnung; hier

gibt es jemanden, der über Leichen geht. Ich weiß nicht, wie ich

es Ihnen erklären soll... der Schein trügt. Es gibt hier Leute...

Ich spreche nicht etwa von Kommunisten... ja, ich weiß, daß

Ihnen das Wort auf der Zunge liegt, Herr Kommissar, aber von

Kommunisten spreche ich nicht. Vielleicht handelt es sich nicht

einmal um einen Verbrecher, ich weiß es wirklich nicht, aber ich

wette mit Ihnen, daß diese scheußliche alte Frau weiß, was

vorgeht.»

«Welche alte Frau? Meinen Sie etwa Mrs. Hubbard?»

«Nein - nicht Muttchen Hubbard, die ist doch goldig. Ich meine

die alte Nicoletis - diese Hexe!»

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«Das ist sehr interessant, Miss Finch. Können Sie mir etwas

Näheres über Mrs. Nicoletis sagen?» Sally schüttelte den Kopf.

«Nein, das kann ich leider nicht. Ich kann nur sagen, daß es

mich jedesmal kalt überläuft, wenn ich sie sehe. Irgend etwas

ist hier nicht geheuer, Herr Kommissar.»

«Ich wünschte, Sie könnten sich ein wenig präziser

ausdrücken.»

«Ich auch. Sie müssen mich für überspannt halten - vielleicht

stimmt's sogar. Aber ich bin nicht die einzige, die ein

unheimliches Gefühl hat. Akibombo fürchtet sich auch und die

schwarze Bess ebenfalls, sie will es nur nicht zugeben. Und ich

glaube, daß Celia auch etwas geahnt hat, Herr Kommissar.»

«Wovon?»

«Das ist es ja eben - wovon? Aber am letzten Tag hat sie so

merkwürdige Sachen gesagt, daß sie noch verschiedenes

klären müßte ... sie hatte zwar alles, was sie selbst betraf,

gestanden, aber sie deutete an, daß sie auch noch andere

Dinge wisse, die sie klarstellen wollte. Ich glaube, sie hat etwas

über eine bestimmte Person gewußt, und deshalb ist sie

ermordet worden.»

«Aber wenn es etwas wirklich Ernsthaftes war ...» Sally

unterbrach ihn.

«Ich glaube, sie hatte keine Ahnung, wie ernst es war. Sie war

nicht übertrieben intelligent. Sie hat irgend etwas entdeckt und

nicht erkannt, wie gefährlich es war. Das ist jedenfalls meine

Theorie...»

«Eine sehr interessante Theorie ... vielen Dank. Sie haben Ce­

lia Austin zum letztenmal gestern nach dem Abendessen im

gemeinsamen Wohnzimmer gesehen, nicht wahr?»

«Stimmt... das heißt, eigentlich habe ich sie danach noch

einmal gesehen.»

«Danach? Wo? In ihrem Zimmer?»

«Nein. Als ich nach oben in mein Schlafzimmer gehen wollte,

sah ich sie, gerade in dem Augenblick, als ich aus dem

Wohnzimmer kam, durch die Haustür gehen.»

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«Durch die Haustür? Auf die Straße?»

«Ja.»

«Das ist allerdings erstaunlich. Das hat bisher noch niemand

erwähnt.»

«Wahrscheinlich hat es niemand gewußt. Sie hat uns allen gute

Nacht gewünscht und gesagt, daß sie zu Bett gehen wolle;

wenn ich sie nicht selbst gesehen hätte, würde ich natürlich

auch angenommen haben, daß sie in ihr Zimmer ging.»

«Während sie in Wirklichkeit nur nach oben ging, um sich einen

Mantel zu holen. Und danach hat sie das Haus verlassen,

stimmt das?» Sally nickte.

«Ich glaube, daß sie ausging, um sich mit jemandem zu

treffen.»

«Aha. Glauben Sie, daß es jemand aus diesem Haus gewesen

sein könnte?»

«Ich vermute ja; wenn sie sich mit jemandem allein unterhalten

wollte, wäre es hier im Hause unmöglich gewesen. Deshalb

mag sie sich mit der betreffenden Person außerhalb des

Hauses verabredet haben.»

«Und wann kam sie wohl wieder nach Hause?»

«Keine Ahnung.»

«Könnte der Hausdiener Geronimo das vielleicht wissen?»

«Nur wenn sie nach elf Uhr zurückkam, weil dann die Haustür

von innen zugeriegelt ist; bis dahin schließen wir die Tür mit

unseren eigenen Schlüsseln auf und brauchen nicht zu

klingeln.»

«Wissen Sie genau, wieviel Uhr es war, als Sie Celia aus dem

Haus gehen sahen?»

«Es muß gegen zehn gewesen sein, vielleicht ein paar Minuten

später.»

«Aha. Haben Sie vielen Dank für Ihre Informationen, Miss

Finch.»

Zum Abschluß sprach Kommissar Sharpe mit Elizabeth

Johnston, deren ruhige, intelligente Art ihm sofort angenehm

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auffiel. Sie beantwortete seine Fragen kurz und präzise und

wartete dann auf die nächste Frage.

«Celia Austin hat es entschieden abgestritten, Tinte über Ihre

Papiere gegossen zu haben», sagte der Kommissar. «Was

halten Sie davon, Miss Johnston?»

«Ich glaube nicht, daß Celia es getan hat.»

«Wissen Sie, wer es getan hat?»

«Es würde auf der Hand liegen, Ihnen zu antworten: Nigel

Chapman, aber mir erscheint das doch recht unwahrscheinlich.

Nigel ist nicht dumm; er würde bestimmt nicht seine eigene

Tinte benutzt haben.»

«Wer könnte es sonst gewesen sein?»

«Das ist eine schwierige Frage, aber ich glaube, Celia hat

gewußt, wer es war - oder es wenigstens vermutet.»

«Hat sie Ihnen das erzählt?»

«Sie hat sich nicht festgelegt, aber am Abend bevor sie starb,

ist sie vor dem Abendessen in mein Zimmer gekommen, um mir

zu sagen, daß sie zwar die Diebstähle begangen habe, aber für

die Sache mit der Tinte nicht verantwortlich gewesen sei. Ich

sagte, daß ich ihr glaubte, und ich fragte sie, ob sie wüßte, wer

es getan hätte.»

«Und was hat sie geantwortet?»

Elizabeth sagte nach einer kurzen Pause, in der sie sich

anscheinend bemühte, sich möglichst genau an Celias Worte

zu erinnern: «Sie hat gesagt: Dann sagte

sie noch: Verschiedenes kann ich nicht verstehen ... die Sache

mit den Glühbirnen am Tag, an dem die Polizei kam.>»

«Was ist das mit der Polizei und den Glühbirnen?»

«Ich weiß es nicht; Celia bemerkte nur: