Die Junghegelianer: Soziologie einer Intellektuellengruppe
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Zitiervorschau

Übergänge Texte und Studien zu Handlung, Sprache und Lebenswelt

herausgegeben von Richard Grathoff Bernhard Waldenfels

Band 16

Wolfgang Eßbach

Die Junghegelianer Soziologie einer Intellektuellengruppe

Wilhelm Fink Verlag

Als Habilitationsschrift auf Empfehlung des Fachbereichs Sozialwissenschaften der Georg-August Universität Göttingen gedruckt mit Unterstützung der Deutschen Forschungsgemeinschaft.

ISBN 3-7705-2434-9 © 1988 Wilhelm Fink Verlag München Gesamtherstellung: Ferdinand Schöningh, Paderborn Umschlagentwurf; Heinz Dieter Mayer

Inhalt

Abkürzungen Einleitung ................................................................................................

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1. 5. 6. 7. 8.

12 12 14 24 21

Fragestellung der Untersuchung............................................................. Geistige Tatsachen - gesellschaftliche Bedingungen............................. Soziologie der Intelligenz .................................................................. Übersicht über den Aufbau der Untersuchung .................................. Hinweise zum Umgang mit den Quellen...............................................

2. Zur Definition von Intellektuellengruppen im Kontext der vormärzlichen Gesellschaft ........................................................................................ 9. Publizistische Antizipationen ............................................................. 10. Hintergrund und Diskrepanzerfahrung................................................. 11. Übersicht über den junghegelianischen Gruppenzusammenhang . .

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3. Methodologisch-theoretische Fragen .................................................. 12. Bemerkungen zur Gruppensoziologie.................................................... 13. Interaktionistischer und diskursanalytischer Zugang ......................... 14. Zum Problem heterologer Zugänge ....................................................

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4. Forschungen zum Junghegelianismus....................................................

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1. Philosophische Schule

.........................................................................

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15. Zum Begriff >SchuleGeist< und sozialen Formen zu interpretieren. Daß ein Zusammenhang bestehen muß, steht für den Soziologen außer Frage. Er ist gleichsam professionell herausgefordert, wo ein nicht sozial vermittelter >Geist< sein Existenzrecht behaupten wollte. Gegen eine rein geisteswissenschaftliche Betrachtungsweise geistiger Tatsachen hat sich in der Soziologie - insbesondere unter dem Einfluß des Marxschen Ideologiebegriffs und der Mannheimschen Wissenssoziologie - als zentrale und spezifisch soziologische Fragestellung diejenige nach der sozio-ökonomischen und sozialen Bedingtheit geistiger Inhalte weitgehend durchgesetzt. In der Marxschen oder marxistisch inspirierten Ideologiekritik richtet sich der Blick darauf, welche sozialen Interessen sich in dem, was gedacht, gesagt und geschrieben wird, ausdrücken. Ideologiekritik hat es leicht, wenn sich das soziale Interesse unverhüllt zeigt, wenn etwa die Lebensinteressen und die Lebensformen einer Klasse verklärt, die der anderen Klasse mißachtet werden. Wo in den Ideen der Aristokratie die Verachtung bürgerlichen Geschäftssinnes, in den Ideen der Bürger die Legitimation des Privateigentums, in den Ideen der Arbeiter das Interesse an einer sozialen Reform oder Revolution sich ausspricht, hat der Ideologiekritiker keine theoretischen Probleme, weil hier seine Perspektive sich ungebrochen bewährt. Probleme entstehen in den Abweichungen. Der Adelige, der sich für die Not der Arbeiter interessiert, und der Arbeiter, dessen >objektives Interesse< in seinen Gedanken keinen Niederschlag findet, Gestalten, die ihre soziale Lage nicht erkennbar widerspiegeln - der grobschlächtige Ideologiekritiker wird sie marginalisieren, der differenziertere Ideologiekritiker wird sein Instrumentarium verfeinern müssen, um vielleicht doch Latentes zu entdecken, was auf ein soziales Interesse hinweist: vielleicht ein vorpolitisches, schüchternes Unbehagen des Arbeiters, Keime eines Klassenbewußtseins, oder eine Krise der sozialen Stellung bestimmter Adeliger, die den Horizont ihres festgefügten sozialen Interesses erweitert und sie befähigt, über ihren sozialen Schatten zu springen. Im Gegenzug zur marxistischen Ideologiekritik hat K. Mannheim in seinen wissenssoziologischen Arbeiten versucht, zwischen beiden Ebenen: soziale Trägerschaft und bestimmte Ideen, verschiedene umwegartige Vermittlungsinstanzen zu schieben. Das soziale Interesse, das Ideologiekritik entlarve, sei nicht die einzig mögliche Beziehung zwischen »geistigen Gehalten« und »sozialem Sein«. Vielmehr sei »das mittelbare Engagiertsein an bestimmte geistige Gehalte (. . .) die umfassendste Kategorie der Funktionalitätsbeziehungen zwischen geistigen Gehalten und sozialem Sein.«3 Zwischenglieder seien umfassendere Weltbilder, Denkstile, »geistige Schichten«, die eine relative Quasi-Autonomie besitzen. Der Preis der Mannheimschen Konstruktion, daraufhaben seine Kritiker hingewiesen, besteht darin, daß mit der Typisierung von Zwischengliedern beide Seiten, die es zu verbinden gilt, zunehmend verschwimmen: sozialstrukturelle Bestimmungen werden zu einer allgemeinen Seinsverbundenheit, und Ideen unterliegen einem

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genereDen Ideologieverdacht, in dem die Differenz von Theorie und Ideologie nicht mehr auszumachen ist.4 Ideologiekritik und Wissenssoziologie, so sehr beide Ansätze sich auch befehden mögen, der Verdacht liegt nahe, daß hier theoretische Schwachstellen hin- und hergeschoben werden. Denn die Grenze der Ideologiekritik: der Fall, in dem ein soziales Interesse, das die Theorie als objektiv gegeben annimmt, nicht zu einem adäquaten bewußtseins- oder wissensmäßigen Ausdruck gelangt, - diesen Fall könnte der Wissenssoziologe erklären, indem er den Inadäquatheiten nachgehend die Brechungen und Verwerfungen von Weltbildern, Denkstilen und »geistigen Schichten« nachzeichnet. Allerdings reichte die Erklärung nur bis zur Grenze der Wissenssoziologie, eine allgemeine Seinsverbundenheit des Denkens zu umschreiben. Ideologiekritik und Wissenssoziologie gehen beide vom Gedanken einer letztinstanzlichen Homologie bzw. eines Parallelismus der sozialen Lage von Individuen und ihren geistigen Produktionen aus. Dieser Gedanke hat eine großartige Evidenz, der sich niemand leicht entziehen kann. Aber ebenso evident ist, daß die Beziehung von je spezifischer sozialer Lage, sobald sie ausdifferenzierter in den Blick gerät, und geistigen Tatsachen, sobald diese mit ihrer immanenten Mehrdimensionalität entfaltet werden, ein solches Maß an Überkomplexität gewinnt, daß sich der Gedanke einer letztinstanzlichen Homologie der sozialen Lage von Individuen und ihren geistigen Produktionen im Rahmen eines Forschungsprogramms kaum realisieren läßt. Erinnert sei an die Zweifel, die Th. Geiger gegenüber dem Homologieansatz in einem nachgelassenen Text geäußert hat. Zusammenhänge zwischen »Realbasis« und in Kollektiven vorherrschenden Denkweisen seien zwar aufweisbar, aber: »Soziologische Interpretation ist freilich vielfach gar zu flott im Aufweis von Entsprechungen. Das alles sind doch Verstehensversuche expost. Würde man - Hand aufs Herz! - ohne vorheriges Wissen um die Gleichzeitigkeit von Frühkapitalismus und Renaissance beide einander zuordnen und zusammendatieren? Würde, wenn die Kultur einer Zeit ganz anders ausgesehen hätte als es der Fall ist, unser Verständnis- und Deutungsdrang nicht auch hier plausible Entsprechungen aufdecken? Riecht das alles nicht ein bißchen nach Rationalisierung von Fakten - so etwa wie ein Historiker scherzhaft definiert hat: Geschichte ist die Wissenschaft, die hintennach beweisen kann, daß es kommen mußte, wie es wirklich kam.«3 Geigers Zweifel sind schwer von der Hand zu weisen, insbesondere wenn man daran denkt, daß die Tatsachen gesellschaftlicher und ökonomischer Abhängigkeit und Verflechtung sich so tief in das Bewußtsein des modernen Menschen eingeprägt haben, daß kaum noch eine Denkmöglichkeit zu bestehen scheint, dem Bann totaler Sozialvermitteltheit zu entgehen. Es ist allerdings die Frage zu stellen, wie lange sich die großartige Evidenz einer Homologie von sozialer Lage und geistigen Produktionen noch als tragfähig erweisen wird. F. Tenbrucks Urteil: »im ganzen hat die Soziologie niemals ein Verhältnis zu den geistigen Tatsachen des gesellschaftlichen Lebens gewonnen«6, ist sicher provokativ, aber es ist gerechtfertigt angesichts der kaum noch reflektierten Gewohnheit, die soziologische Perspektive gegenüber geistigen Tatsachen allein in der Frage nach ihrer sozialen Bedingtheit zu sehen. Für marxistische Theoretiker wie O. Negt und A. Kluge ist schon auf einer erkenntnistheoretischen Ebene der klassische Widerspiegelungsansatz nicht mehr

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akzeptabel: »die Widerspiegelungstheorie wäre zutreffend, wenn wir davon ausgehen könnten, daß sowohl das Objekt wie das Subjekt eine fertige Gestalt gewonnen hätten. Davon aber kann geschichtlich keine Rede sein.«7 Rehabilitiert wird die »strikte Ungläubigkeit gegenüber der vorgeblichen Materialität der so beschaffenen Wirklichkeit«, und im »konsequenten Idealismus« entdecken sie ein »Protestpotential«, das es in den Marxismus einzubringen gelte.8 Das Modell eines Dualismus von sozialer Lage und Bewußtsein ist bei Negt und Kluge weitgehend aufgesprengt. Es gibt keinen zuverlässigen oder privilegierten sozialen Ort mehr für >richtiges< oder >falsches Bewußtsein^ erst in der Auflösung je definierter sozialer Lagen, d. h. an der »Konfrontationsstelle verschiedener Erfahrungsbereiche«9 besteht eine Chance für ein Ereignis von Bewußtseinsarbeit, das nicht auf Entsprechung beruht, sondern Nichtentsprechungen entspringt. Geistige Tatsachen - soziale Bedingungen, in dieser Arbeit versuche ich, mich ein Stück weit von dieser Vorlage zu entfernen. Sicherlich bleibt es eine Aufgabe, nach der sozialen Bedingtheit geistiger Tatsachen zu fragen, aber es kann sich nicht um die einzige Aufgabe handeln. Vor allem gilt es, deutlich zu machen, daß sich soziologisches Denken nicht in dieser einen Frage erschöpft, wenn es um eine Soziologie geistiger Produktionen geht. b) Soziologie der Intelligenz So relativ unangefochten sich der Homologieansatz in der Soziologie ausgebreitet hat, wo es um das Bewußtsein und die geistigen Produktionen sozialer Schichten oder Klassen geht, so kontrovers ist die Rede von der Homologie, wo es um diejenigen geht, die zur Intelligenzschicht gerechnet werden könnten. Gemäß der Entsprechungslogik ist auch der Soziologe als Teil der Intelligenz Ideenproduzent aus einer sozialen Lage heraus. Der selbstreflexiven Sogwirkung der Entsprechungslogik ist kaum zu entgehen. Wer mit Mannheim wissenssoziologisch jeder intellektuellen Äußerung qua Seinsverbundenheit Ideologiehaftigkeit zuspricht, muß dies traurige Los auch für seine eigenen Arbeiten auf sich nehmen. Wer umgekehrt auf der Trennung von Ideologie und wahrer Theorie insistiert, muß seine Wahrheit in sozialen Kontexten bewähren. Er hat zu entscheiden, wo er die Anerkennung seiner Wahrheit suchen will, und er muß einen gesellschaftlichen Kontext von Intelligenz mitreflektieren. »Es gibt keinen Selbstausweis des wahren Bewußtseins in seinem eigenen Element«, daran ist mit H. Plessner festzuhalten.10 Die selbstreflexive Sogwirkung kann gebremst werden, wenn es um die Rekonstruktion des Alltagswissens geht, an dem auch der Soziologe partizipiert. Aber auch A. Schütz trennt sorgsam zwischen der Selbstinterpretation innerhalb der sozialen Realität und der theoretischen und philosophischen Behandlung des Problems.11 Die Regeln, die innerhalb der Erkenntnisgemeinschaft wirksam sind, soziologisch zu reflektieren, ein derartiges Unternehmen bringt den, der es versucht, zwangsläufig in eine problematische Lage, weil er nicht mehr nur mit dem erwarteten ganzen Herzen Mitglied der Gemeinschaft ist, sondern diese zugleich mit ihrem Grund in Frage stellt. Die Reaktion von Teilen der Zunft auf den Mannheimschen totalen Ideologieverdacht könnte als ein soziologisches Exempel dafür dienen.

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Mehr als die Frage nach dem Verhältnis von Ideologie und Wahrheit, die im Rahmen einer erkenntnis- und wissenschaftstheoretischen Debatte zu erörtern wäre, steht im Zentrum dieser Arbeit das Problem einer Soziologie der Intelligenz, die sich näher an einem abgrenzbaren historischen Phänomen orientiert. Aber auch die Soziologie der Intelligenz ist überschattet von der Frage, wie Intellektuelle in den Kontext der sozialen Interessen verschiedener größerer Gesellschaftsschichten oder Hassen zu stellen sind. Sind sie Ideologen oder Theoretiker einer Klasse oder sind sie eine eigene Schicht, deren kleine Interessen nicht in den großen sozialen Interessen aufgehen und die sich z. T. davon distanzieren? Auch diese Fragen sind von ihrem selbstreflexiven Bezug kaum zu trennen, und sie kristallisieren sich immer wieder um jene Intellektuelle, die in hohem Maße traditions- und stilbildend für die europäische Intelligenz gewesen sind. Ohne Zweifel sind hier an erster Stelle die italienischen Humanisten zu nennen. Nicht nur, weil es sich um die erste größere Gruppe gebildeter Laien seit der Antike handelt, sondern mehr noch, weil die hier ausgebildeten Formen einer intellektuellen Kultur mit dem Selbstbewußtsein der europäischen Intelligenz innig verwachsen sind. Aber die nobilitas literaria, welche sozialen Interessen könnte sie ausgedrückt haben? Ihre Verachtung zünftiger Handarbeit und der großbürgerlichen Fixierung auf den Reichtum, ihre nie ganz gesicherte Loyalität der politischen Herrschaft gegenüber - wenn sie etwas ausdrücken, war es nicht die Behauptung eines eigenen Interesses an Distanz zu sozialen Interessen?12 Oder war ihr Insistieren auf Tugend und Vernunft gegen ständische Herkunft tief verwoben mit dem Interesse der aufsteigenden bürgerlichen Klasse?13 Die ersten Intellektuellengruppe der Neuzeit, bestand sie aus Ideologen einer Klasse, oder ist sie jenem gesellschaftlichen Unort zuzurechnen, den Mannheim mit dem Begriff »freischwebend« umschrieben hat?14 Geht man den einschlägigen Forschungen in der Sache nach, so wird man Belege für beide Thesen finden. Aber es bleibt zu fragen, ob nicht trotz aller Relativierung und Abschwächungen, die die zugespitzten Thesen erfahren würden, wenn man die Ideen der humanistischen Intellektuellen genauer sozial verorten wollte, der soziologischen Analyse ein zentraler Gesichtspunkt verloren ginge. Diesen Gesichtspunkt findet man am ehesten, wenn man das berühmte Fresco von Raffael »Die Schule von Athen« (1509/10) betrachtet. (Vergleiche Abbildung)15 In unserem Zusammenhang interessiert nicht die Symbolik der 59 Gestalten, die verschiedene philosophische Orientierungen darstellen. Soziologisch bedeutsam ist zunächst, daß sie nicht als kompakte Menge dargestellt sind, sondern in einer Weise, daß einzelne Personen und Teil-Gruppen fließend ineinander übergehen. Was die Größe und Sorgfalt der Darstellung angeht, so hat jede Person ihre unvergleichlich individuellen Züge. Die Personen sind zwar symbolisch plaziert, aber ihre Bewegungen zeigen, daß sie nicht an ihre Plätze gefesselt sind, sie können einen anderen >Standpunkt< einnehmen, sich abwenden oder zuwenden. Die Skala der Tätigkeiten reicht von meditativer Versunkenheit über den beiläufigenSeitenblick, die distanzierte Beobachtung zur intensiven Lektüre und dem aufmerksamen Gespräch. Die Bewegungen der einzelnen Personen divergieren und konvergieren zugleich. Die Spannung der Szene findet keine eindeutige Auflösung, auch nicht in den bei-

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den Figuren der Bildmitte, die Piaton und Aristoteles darstellen. Sie gehen Seite an Seite, harmonieren in den Gesten ihrer linken Hände, die ein Buch halten, und sie divergieren dramatisch in den Gesten ihrer rechten Hände: Piaton verweist auf den Himmel, Aristoteles über die Erde. Das Erkennen der himmlischen Vernunft und das Erkennen der Weltordnung - nicht durch hierarchische Setzung ist diese Alternative zu entscheiden, sondern nur im Dialog. Beide Protagonisten konkurrieren in einem buchstäblichen Sinne, sie gehen zusammen aus der vielleicht zeitlich zu deutenden Tiefe des Raumes in die Versammlung der Intellektuellen hinein und auf den Betrachter zu. Der Raum der Versammlung ist abgegrenzt und offen zugleich. Es ist ein eigener Raum, aber diesen Bildraum kann der Betrachter betreten, wenn er im Raum des Frescos in der Stanza della Segnatura sich der Szene zuwendet. Wenn man will, ist dieser Raum historisch und systematisch offen. Systematisch in der bildlichen Horizontalen, auf der die verschiedenen Intellektuellen synchron versammelt sind, und historisch in der bildlichen Vertikalen, die durch den Blick des Betrachters und die Schrittbewegung der Protagonisten gebildet wird. Man könnte nun ideologiekritisch die synchron versammelten Intellektuellen nach ihren unterschiedlichen Standpunkten gliedern und sie den sozialen Interessen attachieren, die außerhalb des Raumes in der städtischen Renaissancegesellschaft miteinander im Streit lagen. Man könnte auch wissenssoziologisch die verschiedenen »objektiv-geistigen Strukturzusammenhänge«, den Streit der verschiedenen »Weltwollungen« herausarbeiten, um Typen ihres »mittelbaren Engagiertseins« zu präzisieren.16 So legitim diese Perspektiven sind, es besteht die Gefahr, daß etwas soziologisch Naheliegendes übersehen wird: Raffaels Fresco zeigt schon eine soziale Situation, auch ohne daß die soziologische Perspektive erst umständlich von außen eingeführt werden müßte. Das Soziale von Intelligenz besteht nicht nur darin, daß sie eine gesellschaftliche Schicht, ob nun abhängig oder >freischwebendGesellschaft< sind. Der sowjetische Historiker L. Batkin, dessen Renaissancebuch mir über die Interpretation von Raffaels >Schule von Athen< hinaus wichtige Anregungen für meine Arbeit gegeben hat, macht darauf aufmerksam, daß die humanistischen Intellektuellen schon deshalb keine »ideologische Gruppe« sein können, weil ihr Menschen unterschiedlicher ideologischer Anschauungen angehören. Batkin spricht von einer »kulturellen Gruppe«, deren soziale Leistungsfähigkeit darin bestand, daß sie die gesellschaftlichen Widersprüche »als eigene innere Widersprüche deutete«17. Sie bilden die gesellschaftlichen Interessen nicht einfach ab, wie dies Ideologiekritik und Wissenssoziologie im Kern nahelegen, sondern sie bilden eine soziale Situation, in der die gesellschaftlichen Widersprüche, die divergierenden sozialen Interessen in einer anderen Weise erscheinen und erscheinen müssen, weil die Versammlung der Intelligenz selbst eine soziale Tatsache ist. Die sozialen Interessen werden in der Gruppe nicht verdoppelt oder repräsentiert, auch nicht auf eine höhere Stufe gehoben, sondern der soziale Seite-an-Seite-Dialog der Intellektuellen mißt sich die zur Sprache kommenden Bedürfnisse, Interessen, Anschauungen und

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Begründungen an. Als einzelne mögen sich die humanistischen Intellektuellen sozialen Interessen mehr oder weniger angepaßt haben. Aber als Gruppe haben sie soziale Interessen wie Seinsgebundenheiten aller Art ihrer spezifischen sozialen Interaktion angepaßt. Batkin formuliert treffend: die humanistische Intelligenz »versetzt die Gesellschaft in Erstaunen und in Bestürzung, weü sie nicht ihr >antwortetSoziale< von Intelligenz ausgehend von der Gegebenheit einer Gruppe von Intellektuellen untersucht wird. Ihren Ideen wird nicht vorab im Zusammenhang mit den großen sozialen Interessen von Gesellschaftsschichten oder Klassen nachgegangen, nicht eine makrosoziologische Perspektive bildet den Ausgangspunkt, sondern ich versuche in erster Linie, von dem kleineren sozialen Zusammenhang, den die Junghegelianer untereinander gebildet haben, auszugehen, um von dort aus zu analysieren, wie sie sich als Gruppe im Hinblick auf ihr gesellschaftliches Umfeld, auf gesellschaftliche Institutionen wie den Staat, auf soziale Bewegungen und soziale Interessen hin definiert haben. Diesen Ansatz kann man natürlich auf zahllose Intellektuellengruppen anwenden. Warum soll gerade die Gruppe der Junghegelianer zum Gegenstand einer Soziologie von Intellektuellengruppen gemacht werden? In der europäischen Geschichte sind zwar viele Intellektuellengruppen anzutreffen, aber sie sind nicht alle gleich >bedeutsamSchule von Athen< verpflichtet. Aber dieses Muster reicht ihnen nicht mehr, und sie beginnen, ihre soziale Situation als Gruppe umzudefinieren. In ihren Reihen kristallisieren sich die neuen Definitionen für das Verhältnis der Intelligenz zur eigenen Sozialität und der Gesellschaft >draußengeistigen Eigentums< von Marx bzw. Heß ungeklärt ist, grundsätzlich daraufhingewiesen, daß »das heikle Problem der >BeeinflussungPlagiats< und des intellektuellen Eigentums (. . .) bei der Arbeitsweise dieser gegenüber der Umwelt abgekapselten intellektuellen Gruppe methodisch nicht am Platze ist: was in sol-

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chen Kreisen ausgedacht wird, wird in nicht endenwollenden Diskussionen verarbeitet, tags in Arbeitskammern und nachts in der Kneipe. Wer zusammengehörte, benutzte die gleiche Terminologie, an der die >Partei< gleich kenntlich wurde, und innerhalb der >Partei< - die Fraktion (oder Clique, wenn man so will)«. 149 Gerade der interaktionistische Zugang eröffnet die Möglichkeit, die Gruppendiskussion als einen Austauschprozeß zu begreifen, bei dem das soziale Moment von aus der Interaktion entstehenden Gruppenvorstellungen gegenüber der isolierenden, auf die Kohärenz eines Theoretikers bezogenen ideengeschichtlichen Betrachtungsweise hervorgehoben wird. Dennoch reicht der interaktionistische Zugang allein nicht aus. Er konstituiert zwar eine soziale Perspektive des Tausches, die geeignet ist, die philosophische oder psychologische Fixierung von Bedeutung zu verflüssigen, aber diese Perspektive - bei all der Wertschätzung, die sie dem Dialogischen entgegenbringt - läuft Gefahr, einen bestimmten Typ von Gefährdung des Dialogs zu übersehen. Für diese Perspektive wäre ein adäquates Verständnis von Diskussion erreicht, wenn es gelänge, die beiden bedrohlichen Gestalten: das >letzte Wort< der Sache selbst und die Verweigerung der Kommunikation, die nicht von fetischistischer Obsession ablassen will, an den Rand zu drängen. Wie aber, wenn diese beiden Gefahren blind machten für eine dritte, die nicht von den Peripherien her droht, sondern gleichsam im Innern von Diskussion auftaucht? Ich möchte diese Gefahr die sophistische nennen und einen zweiten soziologischen Zugang um sie gruppieren. Es kann mir in der Diskussion geschehen, daß in irgendeiner Weise die Beziehung zwischen meiner Intention und meiner Aussage brüchig wird, oder daß ich eine Antwort gebe, die zwar der Forderung auszutauschen gehorcht, aber quasi eine >leere< Antwort ist. Ebenso kann ich die Beiträge anderer als bloß Gesagtes, aber nicht Gemeintes oder als >leeres Gerede< erfahren. Im Sinne des Interaktionismus könnte man zwar von verzerrter oder mißglückter Interaktion reden, bei der die Reziprozitäten gestört sind. Aber warum findet >leeres Gerede< statt? Offenbar gibt es in Diskussionen nicht nur das Problem, daß Intentionen zum Ausdruck gebracht werden, verzerrt oder nicht verzerrt, sondern auch das Problem, daß geredet werden muß, daß einfach eine Rede da ist, die fortgesetzt wird. Dieses Selbstzweckhafte der Rede macht das sophistische Problem aus.150 In die Richtung eines drohenden Sophismus geht die klassische Frage: »Und auf welche Weise willst Du denn dasjenige suchen, Sokrates, wovon du überhaupt gar nicht weißt, was es ist? Denn als welches Besondere von allem, was du nicht weißt, willst du es dir denn vorlegen oder suchen? Oder wenn du es auch so gut träfest, wie willst du denn erkennen, daß es dieses ist, was du nicht wußtest?«151 In dieser Frage scheint die Möglichkeit eines >leeren Geredes< auf. Die Rede gewinnt hier einen selbständigen Ereignischarakter. Durchtrennt sind die Bindungen zwischen Intention und Handlung, sie sind in doppelter Weise durchtrennt. Eine Differenzierung, die A. Schütz gemacht hat, aufgreifend, könnte gesagt werden: weder mein »Um-zu-Motiv« noch mein »Weil-Motiv« gelangen in der sophistischen Rede zum Ausdruck.152 Sophistische Rede ist prinzipiell möglich, weil sich Gesagtes nicht auf die Intention beschränken läßt, sondern Sprache mit jedem Wort zu >abwegigen< Assoziationen ebenso wie zu Pseudologik einlädt.

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Gadamer hat daraufhingewiesen, daß bei Piaton im Menon der 2itierte Einwand »bezeichnender Weise nicht durch eine überlegene argumentative Auflösung überwunden (wird), sondern durch die Berufung auf den Mythos der Präexistenz der Seele.«153 Nicht logisch, sondern mythisch wird der drohende Sophismus außer Kraft gesetzt. Im Medium des argumentativen Sprechens könnte ein Sophismus zu weiteren Sophismen Anlaß geben. Ein Wort gibt das andere. Eine wirksame Begrenzung des sophistischen Geredes ist interaktionistisch schwer vorstellbar. Um dieser Gefahr Herr zu werden, ist ein zweiter Zugang erforderlich. M. Foucault hat die These aufgestellt, »daß in jeder Gesellschaft die Produktion des Diskurses zugleich kontrolliert, selektiert, organisiert und kanalisiert wird und zwar durch gewisse Prozeduren, deren Aufgabe es ist, die Kräfte und die Gefahren des Diskurses zu bändigen, sein unberechenbar Ereignishaftes zu bannen, seine schwere und bedrohliche Materialität zu umgehen.«154 Weil in jeder Situation von Diskussion die sophistische Gefahr lauert, ist zu fragen, welche sozialen Arrangements vorliegen, um der latenten Tendenz sich verselbständigender Rede zu begegnen. Es darf nicht überall alles gesagt werden, es gibt soziale Regeln, die die Diskussion begrenzen. Solche Regeln lassen sich typisieren. Foucault nennt drei große Formen der Ausschließung: Das Verbot, das sich auf das Reden über bestimmte Dinge oder das Rederecht bestimmter Personen bezieht, die Entgegensetzung von Vernunft und Wahnsinn, mit der ein bestimmter Typ von Rede zu »sinnlosem Geräusch« wird, und schließlich eine dritte Form der Ausschließung, die in modernen Gesellschaften die beiden ersten zunehmend verdrängt: der Wille zur Wahrheit. Diese Form hat sich historisch früh um die Bewältigung der sophistischen Gefahr erstmals im Griechenland des 5. Jahrhunderts gebildet und zahlreiche Transformationen erfahren. Die Verbannung der Rede um der Rede willen, die Ermächtigung der Rede, die vom Willen zur Wahrheit geleitet ist, diese Grenzziehung ist rein diskursiv nicht zu erreichen, sie erfolgt vielmehr in Medien sozialer Macht. Die Ausscheidung der sophistischen Gefahr bedarf institutioneller Merkmale, die den Grund der Diskussion festlegen. Nur auf ihre Rede gestützt, hätten die Diskussionsteilnehmer nur wenig in der Hand, um >leeres Gerede< zu bannen. Wenn ein Teilnehmer das Wort ergreift, um der bedrohlichen Verselbständigung der Debatte zu begegnen, so wird er die Gruppe daran erinnern, wozu sie zusammengekommen sind, was ihre Aufgabe ist. Er wird auf die Existenzbedingungen der Gruppe zu sprechen kommen, mögen sie nun in selbstgesetzten sozialen Normen oder verordneten Aufgabengebieten liegen. Er wird versuchen, die Debatte auf ihren Grund zurückzuführen. Dieser Grund ist etwas, das nicht zur Disposition steht. Andernfalls ginge man in vier Himmelsrichtungen auseinander. Der Wille zur Wahrheit ist sozial nicht freischwebend, er wirkt erst in sozial definierten Zusammenhängen, deren Definitionen - in doppeltem Sinne von Begrenzung und Eindeutigkeit - das Maß dafür abgeben, was dem Willen zur Wahrheit folgt und was nicht. »Es ist immer möglich, daß man im Raum eines wilden Außen die Wahrheit sagt; aber im Wahren ist man nur, wenn man den Regeln einer diskursiven >Polizei< gehorcht, die man in jedem seiner Diskurse reaktivieren muß«.155 Um die diskursanalytische Perspektive von Foucault läßt sich insofern ein sozio-

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logischer Zugang gruppieren, als hier auf den Aspekt sozialer Macht Bezug genommen wird, einer sozialen Macht, die nicht am Vermögen des einzelnen festhaftet, sondern die immer zugleich mit den Anerkennungsbewegungen gegeben ist, die Individuen für ihr gemeinsames Dasein vollziehen. Für die Junghegelianer ist dieser zweite diskursanalytische Zugang von gleichwertiger Bedeutung wie der interaktionistische. Auch diese Gruppe definiert das entscheidende Feld, in dem allein der Wille zur Wahrheit als legitimer sich zeigen kann. Von besonderer Bedeutung ist nun, daß die Junghegelianer im Prozeß der Diskussion den kollektiven Grund ihrer Existenz verändert haben. Die Junghegelianer definieren sich zunächst als eine philosophische Schule. Aber sie wollen zugleich etwas anderes werden, nämlich eine politische Partei. Sie versuchen, ihre soziale Definition gleichsam umzubauen, indem sie den Willen zur Wahrheit nicht mehr nur in dem philosophischen Gespräch verorten, sondern ihn erst im Felde parteipolitischer Praxis aufblühen sehen. In den Zwischenräumen des Übergangs von der philosophischen Schule zur politischen Partei tut sich für sie jedoch eine dritte Möglichkeit der sozialen Definition auf: sie entdecken sich als eine Gruppe journalistischer Boheme. Schließlich sind ihre Debatten auch noch von einer vierten sozialen Definition durchzogen, die ihnen teils zugemutet wird und die sie teils als ein inneres Band akzeptieren. Was sie von anderen unterscheidet ist das Band, das sie als eine atheistische Sekte umschließt. Alle vier Definitionen lösen teils einander ab, teils überlagern sie sich, teils werden Kreisbewegungen vollzogen. In den Übergängen und Doppeldefinitionen dessen, was der soziale Sinn ihrer Gruppe ist, bricht immer wieder die sophistische Gefahr durch, und sie kann nur gebändigt werden durch eine angestrengte und sichernde Debatte über das, was der Grund der Gruppe sein soll. Am Ende der junghegelianischen Debatte werden schließlich Zeitgenossen, die nicht mehr wissen, womit sie es bei den Junghegelianern zu tun haben, auf die Idee kommen, daß in ihnen »moderne Sophisten« auferstanden sind.156 c) Zum Problem heterologer Zugänge Beide Zugangsweisen, die in dieser Arbeit erprobt werden, die interaktionistische und die diskursanalytische, sind theoretisch kaum zu vereinheitlichen. Sieht man in den Zugangsweisen nur die methodische Seite, so könnte wie selbstverständlich auf die Notwendigkeit eines Methodenpluralismus verwiesen werden, ohne den kein Gegenstand von hinreichender Komplexität zu bearbeiten ist. Beide Zugangsweisen enthalten jedoch darüber hinaus grundlegende Perspektivierungen, die verfügbar zu machen leichter gesagt als getan ist. Es handelt sich um Perspektivierungen, die jede für sich und heterolog zueinander das Soziale der Diskussion mit Blick auf ein mögliches Fundament bestimmen. Der interaktionistische Zugang rückt die kommunikative Seite der Situation des Austausches ins Zentrum. Was sich dem Austausch entzieht, gefährdet die Kommunikation. Es kann gezeigt werden, wie bestimmte Theoreme im kommunikativen Austausch verwandelt werden, wie die Logik des Gesprächs, die Annahme und Abwehr von Begründungen zu neuen Definitionen führen. Die Analyse des sozia-

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len Interaktionsprozesses der Gruppe kann Resultate aufweisen, die eine isolierte Betrachtung denkerischer Leistungen nur schwer in den Blick bekommt. Auch das >Wir< der Gruppe steht nicht außerhalb der Debatte. Die Begrenzungen des Diskurses werden thematisiert: die Begrenzungen des philosophischen Diskurses, in dem nur gesprochen, nicht praktisch gehandelt wird, die Begrenzungen des politischen Diskurses, der vor_: Realisierbaren her seine Schranken erfährt, die Begrenzungen der Diskurse subkultureller Boheme, deren Breitenwirkung in Zweifel steht, und die Begrenzung des religiösen Diskurses, dessen Dogmatismen den freien Tausch der Argumente behindern. Der interaktionistische Zugang kommt methodisch dem Phänomen einer kollektiven Selbstreflexion, die das Gesagte fortlaufend hinterfragt, entgegen. In diesem Zugang spricht sich das Ideal aus, daß Wahrheit nur dort erzeugt werden kann, wo Setzungen erkannt, Begrenzungen reflexiv überschritten, stumme Herrschaft der Kommunikation unterworfen wird.157 Heterolog dazu steht der diskursanalytische Zugang. Er rückt eine andere Erfahrung ins Zentrum: In jeder Kommunikation muß auch mit der Angst vor einer sich ausbreitenden Geschwätzigkeit umgegangen werden. Das Soziale von Kommunikation zeigt sich nicht in der Unendlichkeit der Worte, die gewechselt werden. Es geht nicht darum, Sprachlosigkeiten zur Sprache zu bringen, sondern die Unberechenbarkeit der Rede fortlaufend zu kontrollieren. Das Soziale, das sich konstituiert, wenn zusammen geredet wird, ist die gemeinsame Anstrengung, den Ereignischarakter von Rede zu bewältigen, ihre Überschüsse zu vernichten, ihren Mangel zu ertragen, ihre Unendlichkeit abzuschließen. Zugespitzt formuliert: der interaktionistische Zugang folgt einem Ideal, das gegen das sich verstockende Schweigen, in welcher Form es auch auftritt, gerichtet ist. Es gibt hier immer ein Zuviel von dem, was erst noch gesagt, gefragt, ins Spiel des Austausches gebracht werden muß. Der diskursanalytische Zugang folgt einem Ideal, das gegen die Inflation der Worte gerichtet ist. Es gibt hier immer ein Zuviel an Gerede, Berge von Sprachmüll, Assoziationsabfälle und pseudologische Ruinen, die nie vollständig beseitigt werden können, weil sie fortlaufend wieder anfallen. Beide Zugänge greifen Erfahrungsmomente auf, wie sie in Situationen von Diskussionen spontan entstehen. Im Alltag von Diskussionen in Gruppen - das kann reflektierte Selbsterfahrung und Gruppenbeobachtung zeigen - liegen beide Erfahrungen dicht beieinander, etwa als Erfahrung, daß etwas nicht zur Sprache kommt oder daß etwas zerredet wird. Auf eine methodische und theoretische Ebene lassen sich die Durchmischungen des Alltags jedoch nur schwer projizieren, weil methodisch-theoretische Reflexion programmatisch von einer geordneten, homogenen Struktur des intellektuellen Bewußtseins ausgehen muß. Theorie kann sich die Ungenauigkeiten des Alltags nicht leisten. Sie muß trennen, ausklammern, ebenso wie konstruieren, Verbindungen herstellen, die auf einen kohärenten Sinn verweisen. Der der Wirklichkeit abgerungene kohärente Sinn ist notorisch radikal, er drängt auf Entweder-Oder-Entscheidungen. Faule Kompromisse sind Sünden wider den theoretischen Geist. Als bloße methodische Varianten gefaßt ließen sich beide Zugangsweisen harmlos verbinden. Wie aber müßte eine theoretische Struktur beschaffen sein, in der die Gegensätzlichkeit beider Positionen ausgehalten und durchgeführt werden

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könnte, eine theoretische Struktur, die den fatalen Hang zum Fundamentalen zugleich großzügig anerkennt und jene Fallen vermeidet, in die jede Fundamentalisierung gerät? - Heterologie nennt Georges Bataille ein Denken, das sich auf das richtet, was theoretische Systeme ausscheiden, um sich zu beruhigen.158 An Batailles Heterologie wäre ebenso anzuschließen wie an ein Theorem von Siegfried Kracauer: Wo bewußt geworden ist, daß theoretische Kohärenzen einen Hang zur Ausschließlichkeit haben, muß das >Entweder-oder< durch ein >Seite an Seite< ersetzt werden.159 Was sich der Maler Raffael geleistet hat, Anliegen differenter Philosophien Seite an Seite zu stellen, darf sich auch Theorie leisten. Der Bezug, in dem zwei heterologe Ansätze zueinander stehen, muß Kracauer zufolge »theoretisch undefinierbar« gehalten werden. Er plädiert für einen »Halt auf halber Strecke«, der sich die hastige Herabsetzung der je heterologen Position versagt und versagen muß, weil in letzter Instanz nicht auf die homogene Struktur des intellektuellen Universums vertraut werden darf. »Bei Annahme dieser Einsicht ist der Boden für eine theoretische Bestätigung der namenlosen Möglichkeiten bereitet, von denen anzunehmen ist, daß sie in den Zwischenräumen der vorhandenen Lehren hoher Allgemeinheit existieren und auf Anerkennung warten.«160

4. Forschungen zum Junghegelianismus Der bei weitem größte Teil der vorliegenden Forschungen zum Junghegelianismus bezieht sich auf deren weitreichende theoriegeschichtliche Bedeutung. Saß hat auf einer Tagung anläßlich des 100. Todestages von Ludwig Feuerbach für die junghegelianischen Debatten der 40er Jahre des vorigen Jahrhunderts die These aufgestellt: »alle Spielarten überhaupt möglicher kritischer Theorie, alle Spielarten von Anarchismus und Existentialismus sind ja doch einfach in Berlin durchgespielt worden, und alles, was später kam - um jetzt meinerseits eine These zu überspitzen -: alles, was später kam, sind Neuauflagen: Adorno, Marcuse, Habermas und Heidegger; sie sind nicht nur historisch später, sie sind auch weniger originell, zugegeben in manchem gründlicher, im Grundsätzlichen schon lange durchgespielt in jenen Jahren in den zwei, drei Stammlokalen, die man in Berlin hatte.«161 Die These ist zugegeben überspitzt, aber schon ein kurzer Überblick über einige der Wirkungen junghegelianischer Debatten mag das kaum abzuschätzende Ausmaß von Traditionssträngen verdeutlichen, das von diesen Gruppenzusammenhängen ausgegangen ist. (Eine ausführliche Darstellung der Forschungssituation zu einzelnen Junghegelianern würde die Arbeit sprengen, ich versuche im folgenden, in den Anmerkungen einige orientierende Hinweise zu geben und verweise im übrigen auf das Literaturverzeichnis.) Zunächst ist an die bekanntesten Junghegelianer Marx und Engels zu denken. Innerhalb der junghegelianischen Debatten bilden sie die zentralen theoretischen Elemente ihrer gesellschaftstheoretischen und ökonomiekritischen Auffassungen aus. Der Junghegelianismus ist so seit langem zu einem festen Bestandteil der Literatur über Marx und Engels geworden.162 Unverkennbar ist dabei in vielen Arbei-

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ten aber auch das Bestreben, die Begründer des wissenschaftlichen Sozialismus aus dem Kontext der Junghegelianer herauszulösen, um ihre singuläre Stiftungsfunktion hervorzuheben.163 Die orthodox marxistische Literatur folgt bei der Darstellung der Genese der Marxschen Auffassungen zumeist der Marx-Engelsschen Selbstinterpretation ihrer junghegelianischen Phase. Den Junghegelianern wird hier eine temporäre Bedeutung im Zusammenhang der Auflösung des Hegelianismus und der politischen Radikalisierung im Vormärz zugewiesen. Ihre Auffassungen kommen unter der Perspektive der Marx-Engelsschen Polemiken zur Sprache, und diese nachvollziehend, werden ihre Positionen als mehr oder weniger ideologisch beurteilt. Ohne eine Ernstnahme der theoretischen Alternativen der junghegelianischen Mitstreiter von Marx und Engels ist jedoch ein fundiertes Marxverständnis kaum zu erreichen. Im Zusammenhang der Krise des Marxismus, die von K. Korsch bereits 1931 treffend analysiert wurde,164 sind jene Tendenzen zu sehen, die zu einer vermehrten Beschäftigung mit Sozialismus- und Anarchismuskonzeptionen geführt haben, die von der traditionellen deutschen Sozialdemokratie und dem Marxismus-Leninismus ausgegrenzt wurden. Auch hier weisen die Spuren zurück in die junghegelianischen Debatten: mit Michail Bakunin165 hat der europäische Anarchismus hier einen seiner Ausgangspunkte, und der Junghegelianer Moses Heß166 gilt heute nicht nur als einer der Begründer des Sozialismus in Deutschland; die >Philosophie der Tatde quoi vivra-t-on apres nous?«Kritik< Hegel und der Hegeischen Schule.200 Mader reflektiert die verschiedenen Varianten im Junghegelianismus, der Theorie unter dem Verwirklichungsdesiderat einen neuen Status zuzuweisen.201 Ruzicka bezieht die junghegelianischen Ideologiebegriffe auf die Hegeische >Phänomenologie des Geistes< zurück und zeigt, wie mit dem Verlust der Dialektik zugleich die Aporien eines Panideologismus entstehen.202 Aus dem literaturwissenschaftlichen Bereich sind die Arbeiten von Udo Köster (1972) und Claus Richter (1978) hervorzuheben. Unter dem Eindruck des gewachsenen literaturwissenschaftlichen Interesses an Autoren des Vormärz203 untersuchen beide die Junghegelianer im Zusammenhang mit den Dichtern des Jungen Deutschland. Köster legt den Schwerpunkt auf den politischen Gehalt der jungdeutschen Anti-Literatur und der junghegelianischen Publizistik, wobei er auf den letztendlichen Abstand hinweist, den diese Intellektuellen zu den Problemen der ökonomischen und sozialen Krise ihrer Zeit hatten. 204 Richter untersucht den Zusammenhang von jungdeutschem Emanzipationspathos und dem >Realismus< der nachmärzlichen Zeit. Er zeigt, daß die Junghegelianer in ihrer Kritik an den Jungdeutschen bereits wesentliche Programmpunkte der nachrevolutionären Realisten vorwegnehmen.205 Im historisch-politikwissenschaftlichen Bereich hat Peter Wende206 die Mayer sche Fragestellung nach der frühen demokratischen Bewegung im Vormärz erneut aufgeworfen und die programmatische Eigenständigkeit eines demokratischen Radikalismus, zu dem er die Junghegelianer Rüge und Nauwerck zählt, herausgearbeitet. Eine ausführliche Auseinandersetzung mit den Beziehungen der Junghegelianer zu den französischen Sozialisten hat Charles Rihs (1978) vorgelegt. Er analysiert die spannungsreichen Begegnungen, die zwischen deutschen und französischen Intellektuellen in den 30er und 40er Jahren stattgefunden haben. Auf den

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Kreis der Berliner Junghegelianer konzentriert sich die Arbeit von Robert J. Hellmann (1977). Er sieht Max Stirner im Mittelpunkt einer sozial randständigen, bohemeartigen Intellektuellengruppe, die sich, umstellt von der offiziellen Gesellschaft, einem blasphemischen Kritizismus hingibt. Hellmann versucht, die Berliner Junghegelianer ein Stück weit aus dem Dunstkreis von Skandalgeschichten herauszuholen, der die Hippeischen Weinkneipen-Intellektuellen in der Literatur umgibt. Für Ingrid Pepperle gehören diese Intellektuellen kaum noch zum Junghegelianismus.207 Sie setzt die Auflösung der junghegelianischen Bewegung um die Jahreswende 1842/43 an, d. h. mit der Trennung Marxens von dieser Gruppe. So unhaltbar und durchsichtig diese Periodisierung ist, es muß hervorgehoben werden, daß Pepperles Arbeit einen wichtigen Ansatz für die Rehabilitation des Junghegelianismus in der wissenschaftlichen Diskussion in der DDR darstellt.208 Der weit überwiegende Teil der neueren Forschung zum Junghegelianismus hat sich auf die theoriegeschichtlichen Impulse konzentriert, die von diesen Denkern ausgegangen sind.209 R. Bubner hat zurecht daraufhingewiesen, daß - so folgerichtig auch der Marxsche Ausgang aus den junghegelianischen Debatten sein mag - es die Geschichte der Marxschen Lehre und ihrer Prognosen waren, die »die vermeintlich erledigten Denker nach Hegel wieder zu Ehren«210 kommen ließen. In diese Problemlage fügt sich auch der Versuch von J. Habermas (1985). Er geht von einem Veralten des marxistischen Produktionsparadigmas aus und bestimmt die junghegelianische Hegelinterpretation als zentralen Startpunkt für den philosophischen Diskurs der Moderne: »Wir verharren bis heute in der Bewußtseinslage, die die Junghegelianer, indem sie sich von Hegel und der Philosophie überhaupt distanzierten, herbeigeführt haben. Seit damals sind auch jene auftrumpfenden Gesten wechselseitiger Überbietung in Umlauf, mit denen wir uns gerne über die Tatsache hinwegsetzen, daß wir Zeitgenossen der Junghegelianer geblieben sind.«2" Habermas geht davon aus, die Junghegelianer hätten von Hegel das Problem der geschichtlichen Selbstvergewisserung der Moderne übernommen und damit zwei Gegner herausgefordert: 1. die rechtshegelianische »Partei der Beharrung«, die er im »neukonservativen« Abschied von der Moderne, z. B. bei Gehlen, Ritter und Luhmann sich fortsetzen sieht, und 2. die an Nietzsche anschließende »Partei der Jungkonservativen«, deren »anarchistischen« Abschied von der Moderne er bei Autoren wie Heidegger und Bataille und bei den von ihm als »Neostrukturalisten« etikettierten Konkurrenten Derrida und Foucault zu erkennen glaubt. So übersichtlich dieses philosophische Dreiparteiensystem auch dargestellt ist, seiner ganzen Anlage nach dürfte es einer Überprüfung kaum standhalten. Habermas reduziert - wie in der marxistischen Junghegelianerinterpretation üblich - den Junghegelianismus auf Konzepte, die sich auf die Marxsche Theorie hin beschreiben lassen. Im Vergleich zu Löwiths differenzierter Analyse ist dies schon ein Rückschritt. Nach dieser Reduktion kann er in Nietzsche erstmals den Auftakt für eine Vernunftkritik festmachen, die zum »Jungkonservatismus« führe. Habermas ignoriert nicht nur die etatistischen, sozialdisziplinären Elemente in junghegelianischen Konzepten, die näher bei den sog. Rechtshegelianern liegen, als es seine Konstruktion zuläßt; er ignoriert auch, daß mit Stirner einige Jahrzehnte vor Nietzsche ver-

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nunftkritische Positionen formuliert waren, aus deren Aufnahme und Abwehr heraus Marx und Engels allererst zur Ausformulierung des historischen Materialismus kamen. Gegenüber der irrigen These, daß vernunftkritische Positionen erstmals als Reaktion auf marxistische Positionen aufgetreten seien, muß daran festgehalten werden, daß die Marxsche Theorie selbst erst in der Reaktion auf die vorgängige Vernunftkritik Stirners ihre spezifische Kontur gewonnen hat.212 Was die Zeit der Junghegelianer der unsrigen näher bringt, ist neben allen geistesgeschichtlichen Entwicklungen, die von ihnen zu uns reichen, die Erfahrung, in einer Zeit des Übergangs zu leben, in der sich neue Definitionen, Zugänge und Lösungen erst bilden. In Übergangssituationen stoßen sich die nachdenkenden Individuen an der Weisheit geschlossener Konstruktionen. Es gibt kaum einen Ansatz, der befriedigt, die Probleme wachsen schneller als die Lösungen, und der »Zeitdruck«213 nimmt zu. Lernprozesse, Umorientierungen, Verwerfungen von Interessen und Entwürfe neuer Ideale - all dies vollzieht sich mit einer größeren Intensität und Geschwindigkeit. Eine Erforschung des Junghegelianismus heute brächte jedoch wenig Ertrag, wenn sie blind die Schlachten der Vergangenheit nachspielte. Sie erfolgt in einer Zeit, in der die Leitbegriffe des 19. Jahrhunderts, wie >Fortschritt< und >Reaktion< zunehmend unscharf werden, in der die vertrauten Adjektive >freihumansozialungleichSchule von Athen< verdanke ich wichtige Hinweise: L. M. Batkin (1981) S. 483-491. 16 K. Mannheim (1964) S. 379 und 378. 17 L. Batkin (1981) S. 86. 18 Ebd. 19 Vgl. hierzu F. Hartmann, R. Vierhaus (1977); J. Voss (1980); K. Garber (1983) S. 36; O. Dann (1976); R. Vierhaus (1980). Von den älteren Arbeiten sei auf die bekannten Pionierstudien R. Koselleck (1959); J. Habermas (1965) hingewiesen. 20 Ch. P. Ludz (1976) hat darauf hingewiesen, daß der »Zusammenhang von Ideologie, Intelligenz und Organisation historisch in einer bestimmten Phase, nämlich der des Vormärz, sich selbst immer stärker und in mannigfaltigen Ausprägungen herauszukristallisieren beginnt.« (Edb. S. 124) Ludz untersucht drei Intellektuellengruppen, die er gemäß eines funktionalistisch inspirierten Ideologiebegriffs »ideologische Gruppen« nennt: Fichtes >Bund der freien MännerBund der Geächtetem und die >Rechts- und LinkshegelianerDoktorc'ub< und mit den >AthenensernNorddeutsche Freie Presse< heraus, in der die Befreiung Schleswig-Holsteins gefordert wird. Edgar Bauer lebt in Hannover und Flensburg. In den 50er Jahren geht er nach London, wo er Marx regelmäßig trifft. E. Bauer ist Redakteur der Londoner Zeitung >NeueZeitTrierschen ZeitungAbendpostReformDanziger ZeitungAthenäumAthenäum< und der RhZ. In den Berliner Fraktionskämpfen taucht er an der Seite von Köppen, Meyen und Stirner auf. Seine Schriften werden häufig beschlagnahmt, und Buhl gerät mehrmals in Haft. In der Revolution von 1848 taucht Buhl in demokratischen Clubs in Berlin auf, wo er wegen seiner ironischen Witzeleien die Emphase stört. Nach der Revolution lebt er zurückgezogen. Über sein weiteres Schicksal sind genauere Angaben nicht aufzufinden. (In der ADB ist Buhl nicht berücksichtigt.) 110 Zur junghegelianskhen Phase von Engels (1820-1895) vgl. die in Anm. 162 angegebene Literatur. An dieser Stelle sei an Engels Aufenthaltsorte erinnert: 1838-1841 Bremen; 1841-1842 Berlin im Kreise der Athenenser; 1842 Barmen, Köln, Treffen mit Heß und Marx; 1842-1844 England; 1844 Paris; 1845-1847 Brüssel. 111An dieser Stelle sei an Stirners Herkunft, Aufenthaltsorte und Kontakte erinnert. Stirner (1806-1856) stammt aus Bayreuth, sein Vater war Instrumentenmacher. 1826-28 Studium der Philosophie in Berlin, dort hört er Hegels Vorlesungen. 1828 Studium in Erlangen, 1829-1832 in Königsberg immatrikuliert, lebt zeitweise in Kulm, seit 1832 bis zu seinem Tode in Berlin. 1835 Lehrerexamen (Arbeit über Schulgesetze), 1835-1836 und 1839-1844 Lehrertätigkeit in Berlin. Er stößt Anfang der 40er Jahre zu den Berliner Junghegelianern. 1842 Mitarbeit an der RhZ und der >Leipziger Allgemeinen ZeitungBerliner MonatsschriftDer Einzige und sein EigentumGeschichte der Reaktion«. 1853 gerät Stirner in Schuldarrest. Er stirbt völlig verarmt. (ADB Bd. 36, vgl. die in Anm. 174 angegebene Literatur) 112 Eduard Gans (1798-1839) stammt aus einer jüdischen Berliner Kaufmannsfamilie. Er studiert in Berlin, Göttingen und Heidelberg, wo er vielleicht schon Hegelsche Ideen kennenlernt, Jura, Geschichte und Philosophie. 1820 kehrt Gans nach Berlin zurück, wo er 1828 eine Jura-Professur erhält. Auf seine Initiative hin kommt es zur Gründung der Berliner Jahrbücher (JWK). Als Kritiker der >historischen Rechtsschule< Savignys verteidigt er die Notwendigkeit von Rechtsschöpfungen aus den Bedingungen der Gegenwart. Gans hält an den progressiven Elementen der Hegelschen Rechtsphilosophie, wie sie vor 1820 entwickelt wurden, entschieden fest und formuliert die Hegelschen Grundsätze in einer auf tagespolitische Ereignisse offen Bezug nehmenden publizistischen, engagierten Sprache. Zu seinen zahlreichen Hörern gehört auch der junge Marx. Ruges HJ verfolgt Gans mit großer Sympathie. Auf die junghegelianische Rechts- und Staatsauffassung hat er großen Einfluß gehabt. (ADB Bd. 8; NDB Bd. 6; H. G. Reissner (1965); M. Riedel (1967). 113Carl Ludwig Michelet (1801-1893) stammt aus einer Berliner Kaufmannsfamilie französischer Calvinisten. Er studiert in Berlin Jura und wendet sich der Hegeischen Philosophie zu. Von 1825-1850 ist er Lehrer am französischen Gymnasium, seit 1826 lehrt er als Privatdozent, seit 1829 bis zu seinem Tode als außerordentlicher Professor Philosophie in Berlin. Michelet gehört seit 1827 zum Herausgeberkreis der JWK und beteiligt sich an der Herausgabe der Werke Hegels. Rosenkranz zufolge bildet Michelet »den Übergang von den Althegelianern zu den Junghegelianern«. (K. Rosenkranz, Aus einem Tagebuch, 1854, S. 140) Von Leo wird er 1839 als Vertreter der »junghegelschen Partei« angegriffen. 1843 gründet er zusammen mit dem befreundeten Cieszkowski die Philosophische Gesellschaft zu Berlins In der Revolution von 1848 tritt Michelet für ein Bündnis von Konstitutionellen und Demokraten ein. 1860-1866 redigiert er die Zeitschrift >Der GedankeVermittlungsdiensten< emanzipierte. (E. Silberner (1976) bes. S. 66-74 u. a.; L. Esau (1935) bes. S. 70 ff.; A. Jung, Königsberg und die Königsberger, 1846) 115 Karl Rosenkranz (1805-1879) stammt aus einer Königsberger Beamtenfamilie. Er studiert in Berlin (seit 1824) und in Halle (seit 1826) zunächst Theologie, dann Philosophie. Hinrichs veranlaßt ihn zum tieferen Studium der Hegelschen Philosophie. Rosenkranz promoviert und habilitiert sich 1828. Um 1830 präsidiert er in Halle der informellen

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hegelianischen »Gartengesellschaft« (»Gesellschaft zum ungelegten Ei«), der Hinrichs, Ritschi, Ruge, Echtermeier und Leo (damals noch Hegelianer) angehörten. Seit 1833 lehrt er bis zu seinem Tode in Königsberg. 1838 gründet Rosenkranz einen »Dichterbund« in Königsberg. R. Gottschall und W. Jordan werden seine Schüler, deren literarische Initiativen er fördert. Mit Ruge befreundet, unterstützt er anfangs die HJ und stellt so einen Kontakt zwischen den Königsbergern und den Junghegelianern der Jahrbücher her. Seit 1840 beginnt eine Entfremdung zwischen dem >radikalen< Ruge und dem >gemäßigten< Rosenkranz. Er unterhält Kontakte zu den Liberalen einerseits um den preußischen Oberpräsidenten Th. v. Schön und andererseits um den Arzt Johann Jacoby. Er unterstützt jedoch den ostpreußischen Liberalismus aus einer kritischen Distanz heraus. Die Spaltung der Königsberger Gruppe in >Liberale< und >Radikale< verfolgt er mit Skepsis. Rosenkranz bleibt ein Anhänger des preußischen Verwaltungsstaates, den er um sozialstaatliche Elemente angereichert sehen will. In der Revolution von 1848 beteiligt er sich am Königsberger Konstitutionellen Club und wird kurze Zeit vortragender Rat im preußischen Kultusministerium. 1849 ist er Mitglied des preußischen Landtags (Linkes Zentrum). Im Herbst 1849 kehrt er nach Königsberg zurück und konzentriert sich auf seine philosophisch-literaturästhetische Arbeit sowie auf ein Engagement in akademischen und kommunalen Angelegenheiten. (ADB Bd. 29; L. Esau (1935) 116 Rudolf Gottschall(1823-1909) stammt aus Breslau. Sein Vater war Artilleriehauptmann. Nach der Schulzeit in Koblenz studiert Gottschall in Königsberg und Breslau Jura. Er wird von Rosenkranz gefördert und gehört mit zum Königsberger Jacoby-Kreis. Zu den Berliner Junghegelianern hat er Kontakt während seines Militärdienstes in Berlin. Gottschall schreibt politische Lyrik (Lieder der Gegenwart, 1842; Zensurflüchtlinge, 1843). Nach der Aufführung seines Revolutionsdramas »Robesspierre« wird er aus Breslau ausgewiesen. 1846 promoviert er in Königsberg im Fach Jura. Gottschall strebt eine Universitätskarriere an, kann jedoch die vom Minister binnen Jahresfrist geforderten Beweise der Gesinnungsänderung nicht erbringen. In der Revolution von 1848 ist er 24jährig Mitglied des Königsberger Arbeitervereins. Gottschall wird Dramaturg in Königsberg und entfaltet eine breite literarische und literaturgeschichtliche Tätigkeit. Seit 1864 redigiert er die >Blätter für literarische Unterhaltung< Später wird er Mitarbeiter der >GartenlaubePreußen seit der Einsetzung Arndts bis zur Absetzung BauersKönigsberger ZeitungNeuen Elbinger AnzeigersWächter am RheinBerliner Monatsschrift«, die sich einerseits programmatisch gegen Rugesche und Nauwercksche Positionen wendet, andererseits gegenüber der Gruppe um B. Bauer Distanz hält. Diese fraktionelle >Mittellage< zeigt sich auch in anderen Schriften dieser Junghegelianer. Buhl vertritt eine Kritik der Politik, die nicht ins Konzept der politischen Radikalen paßt, und ebenso wendet er sich gegen die »Einsamkeit« der Bauerschen Kritik. Dies verbindet ihn mit Stirner, der versucht, eine Position zwischen Feuerbach und Bauer zu entfalten. E. Bauer und K. F. Koppen müssen auch diesem Gruppenkern zugeordnet werden, obwohl sie in der B. Bauerschen ALZ und den NB ihre Beiträge publizieren. E. Meyens Positionen dagegen liegen teilweise auch sehr nahe bei Ruge/Nauwerckschen Auffassungen.

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128 Ernst Jungnitz (1818-1848) stößt nach 1842 zu den Berliner Junghegelianern und schließt sich der Gruppe um B. Bauer an. Er ist eifriger Mitarbeiter der ALZ. Seit 1843 publiziert Jungnitz zahlreiche Arbeiten über die Französische Revolution: Religion und Kirche in Frankreich bis zur Auflösung der Konstituierenden Versammlung, 1843; Religion und Kirche in Frankreich seit der Auflösung der Konstituierenden Versammlung bis zum Sturz Robespierres, 2. Bde., 1844. Zum Teil werden seine Arbeiten in die von den Brüdern Bauer herausgegebenen Denkwürdigkeiten zur Geschichte der neueren Zeit seit der Französischen Revolution, 1843/44< aufgenommen. Die Vorgeschichte der Revolution behandelt Jungnitz in: Geschichte der französischen Revolution von 1787 und 1788, 2 Theile, 1846. Hervorzuheben ist darüber hinaus: Geschichte des religiösen Lebens, 1845.1848 stirbt Jungnitz im Alter von 30 Jahren. (Inder ADB ist Jungnitz nicht berücksichtigt.) 129 Julius Faucher 1820-1878) stammt aus einer Berliner hugenottischen Hutmacherfamilie. Er studiert in Berlin Philosophie. Nach 1842 stößt er zu den Berliner Junghegelianern und wird 1844 Mitarbeiter der ALZ. 1846 gründet er mit J. Prince-Smith u. a. den ersten deutschen »Freihandelsverein«. An den Märzkämpfen der Revolution von 1848 nimmt er lebhaften Anteil. 1850 ist er Mitbegründer und Redakteur der anarchistisch-freihändlerischen >AbendpostMorning Star< ist. Faucher wird literarischer Sekretär von R. Cobden. 1861 kehrt er nach Deutschland zurück und wird Mitglied des preußischen Abgeordnetenhauses (Fortschrittspartei). Mit Th. Fontane ist er seit der Zeit des Vormärz befreundet. (NDB Bd. 5) 130 Unter dem Pseudonym Szeliga hat der preußische Offizier Franz Zychlin von Zychlinski (1816-1900) an der ALZ und den NB mitgearbeitet. Bei den Berliner Junghegelianern hält er sich frühestens seit November 1842 auf. Seine letzte junghegelianische Schrift stammt aus dem Jahre 1846: Die Universalreform und der Egoismus. Aus seiner vormärzlichen Zeit stammt seine Freundschaft zu Th. Fontane. Zychlinski macht bei der preußischen Armee Karriere. Er veröffentlicht militärgeschichtliche Arbeiten: Geschichte des 24. Infanterieregiments. 2 Bde. (1854-1857); Anteil des 2. Magdeburgischen Infanterieregiments an dem Gefecht bei Münchengrätz und an der Schlacht von Königgrätz (1866). Zuletzt ist Zychlinski Kommandeur der 15. Infanteriedivision in Köln. (In der ADB ist Zychlinski nicht berücksichtigt.) 131 Karl Schmidt (1819—1864) stammt aus einer anhaltischen Bauernfamilie. 1841 studierter in Halle Theologie, 1843 wird er unter dem Einfluß von Erdmann und Schaller Hegelianer. 1844 geht er nach Berlin. Er vollzieht in kurzer Zeit, ausgehend von althegelianischen Positionen, den Übergang zu D. F. Strauß, zu Feuerbach, zu B. Bauer, zu Marx und zu Stirner nach, um sich 1846 selbst als Spitze der junghegelianischen Theorie zu präsentieren. Gleichzeitig vollzieht er einen dramatischen Bruch mit den Junghegelianern und wird Pfarradjunkt in Ederitz. Nach der Revolution von 1848 scheidet er aus dem Pfarrdienst aus und wird Lehrer in Köthen. K. Schmidt wird als »anthropologischer Pädagoge« durch zahlreiche Werke zur pädagogischen Theorie und Geschichte bekannt. (ADB Bd. 31; Paul Wätzel (1949) 132Über die Köthener >Kellergesellschaft< informiert P. Wätzel (1949) S. 66 ff. 133Gustav Julius (1810—1851) studiert Theologie und wird Anhänger der neupietistischen Orthodoxie. Wie B. Bauer entwickelt er sich vom Theologen zum Kritiker der Religion. 1842/43 ist er für kurze Zeit Chefredakteur der >Leipziger Allgemeinen ZeitungBauerianerBerliner ZeitungsHalle< heraus. In der Revolution von 1848 steht Julius auf der Seite der Linken und emigriert nach der

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Niederlage nach London. In der Emigrantenszene versucht er, eine unabhängige Position zu wahren. 1851 kommt es zu einer theoretischen und praktischen Annäherung zwischen Julius und Marx und Engels. (In der ADB und NDB ist Julius nicht berücksichtigt.) Zur Leipziger Dependance der >Kellergesellschaft< vgl. J. Schmidt, Geschichte der Deutschen Literatur, 1855, Bd. 3, S. 429. 134 In dieser Arbeit wird auf Aspekte der Hegelschen Philosophie nur insoweit eingegangen, als von ihnen her Bewegungsformen und Problemzonen der junghegelianischen Debatten sich erhellen lassen. Die Frage, ob und wie die junghegelianischen Hegelinterpretationen heute Hegel gerecht werden, wird ausgeklammert. Ein Beitrag zu Hegel ist diese Arbeit allenfalls unter einem spezifischen Blickwinkel, nämlich unter dem Blick auf die >Kollektivierbarkeit< von Grundzügen seines Denkens. Dieser Blick ist >ungerechtSchule machen< und vor allem machen können und mit welchen Elementen keine Schule zu machen ist. Es macht einen Unterschied, ob einer Geschichtsphilosophie treibt oder ob sich mehrere um eine Geschichtsphilosophie vereinen; ob die philosophische Polemik von einem Philosophen oder einer Gruppe im Namen eines Philosophen gemacht wird; ob die philosophische Gewißheit bei >mir< oder ob sie bei >uns< ist. In diesen Unterschieden liegt der Grund für die spezifisch soziologische Frage. - Zugänge zur Hegelschen Philosophie haben mir die Arbeiten von Lukács, Kojève, Marcuse und Adorno ebenso vermittelt wie Arbeiten von Ritter, Marquard, Saß, Riedel, Henrich, Theunissen und Bubner. Viel gelernt habe ich in den Diskussionen mit Kosmas Psychopedis. 133 Zur Hegelschen Schule vgl. S. 54 ff. angegebene Literatur. »Hegelschule« nenne ich den Gesamtkomplex der Schüler mit den verschiedenen Aufspaltungen und Fraktionierungen. »Hegelianisch« bezieht sich auf die Hegelschule, »hegelsch« auf Hegel selbst. Die Begriffe »Althegelianer«, »Junghegelianer«, »Rechtshegelianer« und »Linkshegelianer« werden weiter unten S. 137 ff. diskutiert. 136 Zum Begriff der »ideologischen Gruppe« vgl. A. Schweitzer (1944) S. 415, C. Mongardini (1979) sowie weiterführend P. C. Ludz (1976) S. 89 ff. Der Begriff »ideologische Gruppe« trifft das Phänomen der junghegelianischen Gruppenbildung nicht, weil er bereits eine politische und theoretische Zuspitzung enthält, die weit vorgreift. Der Gedanke, daß Ideen als Ideologien definiert werden können, entsteht zwar bei den Junghegelianern, aber er entsteht in einer spezifischen Diskussionslage. Selbst ihre Gegner haben die Junghegelianer nicht als »Ideologen« gesehen, sondern als Vertreter von »Prinzipien«, mit denen ein »geistiger Kampf« auszutragen ist. Die von Stirner erzwungene Marxsche Einführung des Ideologiebegriffs steht systematisch am Ende des Junghegelianismus, sie hat die Funktion, die Debatte zu beenden, den »Prinzipienkämpfen« einen Status zuzuweisen, der via argumenti sinique nicht mehr zu verändern ist. (Vgl. dazu W. Eßbach (1982) S. 63 ff.) Präziser als der Begriff der »ideologischen Gruppe« trifft F. W. Grafs der theologischen Diskussion entnommener Begriff der »Positionalität« und der »Positionenkonkurrenz«. Eine »Position« entsteht durch Selbstunterscheidung von geltenden Positionen, sie tritt damit in eine Konkurrenz, in der sie ihre Eigentümlichkeit behaupten muß. Die Rede von »Ideologie« wäre das Todesurteil für »Positionalität«, weil ihr die Kraft der Selbstunterscheidung abgesprochen wird. (vgl. F.W.Graf (1982 a) S. 44 ff.; ders. (1978 a)S. 383 ff.) 137 Die soziologische und sozialpsychologische Literatur zum Thema Gruppe ist unübersehbar. Einige wenige Arbeiten seien hervorgehoben. Zu einer Universalisierung des Gruppenbegriffs neigt der einflußreiche Ansatz von

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G. C. Homans (1965).Im Gegenzug muß hingewiesen werden auf G. Lapassade(1972); Lapassade insistiert auf dem Phänomen der Bürokratisierung von Gruppen. Stark theoriegeschichtlich systematisierend ist der Ansatz von Th. M. Mills ( 4 1973). Aus dem deutschsprachigen Bereich seien genannt: D. Ciaessens (1977); F. Neidhardt (1979). Analysen zu Gruppenstrukturen in politisch motivierten Studentengruppen finden sich bei L. Binger (1974). Vor einer Überschätzung der Leistungsfähigkeit kleiner Gruppen und einer Überhöhung von Gruppen im theoretischen Bereich warnt H. P. Bahrdt (1980). B. Schäfers (1980) bietet einen einführenden Überblick. Zum Stand der Diskussion siehe F. Neidhardt (1983). 138 Forschungen zu Intellektuellengruppen, bei denen ein besonderer Aspekt auf die Gruppenbildung gelegt wird, sind noch immer spärlich. Von älteren Arbeiten sind neben vielfältigen Hinweisen bei G. Simmel theoretisch anregend immer noch: K. Mannheim, Die Bedeutung der Konkurrenz auf dem Gebiete des Geistigen, in: ders. (1964) S. 566-613; S. Kracauer (1963). Die frühen Arbeiten von H. Rosenberg stellen Ansätze für eine »geistige Gruppengeschichte« dar. (H. Rosenberg (1972) S. 10) Die erkenntnistheoretischen Zuspitzungen im Streit um die Wissenssoziologie mögen mit dazu beigetragen haben, daß eine Weiterentwicklung der wissenssoziologischen Diskussion in Richtung auf eine Analyse von Intellektuellengruppen gebremst wurde. Hilfreich sind in diesem Zusammenhang immer noch die frühen Arbeiten von C. W. Mills, in denen z. B. die Auffassung, das Publikum eines Theoretikers bestehe in der »zeitlosen Schar derjenigen, die die Wahrheit suchen«, zurückgewiesen wird. Mills versucht den Begriff des Publikums in Richtung auf Gruppenzusammenhänge zu präzisieren. Es handelt sich dabei u. a. um Personen, »die so denken, daß die Bedingungen eines bestimmten Denkmodells erfüllt werden, dessen Formen ihnen mehr oder weniger bewußt sind und dem sie sich anzupassen trachten. Das ist es, was die >die Wahrheit suchen< bedeutet. ( . . . ) Die bloße Existenz einer solchen Gruppe ist bereits soziologisch bedeutsam. Der Ursprung und die Folgen solcher Gruppen in den verschiedenen Zusammenhängen haben bisher wenig ausdrückliche Beachtung gefunden.« (C.W. Mills (1964) S. 290) Richard Grathoff verdanke ich den Hinweis, daß C. W. Mills in seiner Dissertation (1943) ausgehend von der pragmatistischen Intellektuellengruppe um Peirce und James die Frage nach der Sozialität eines Intellektuellenmilieus aufwirft. Von neueren Arbeiten sind neben den Arbeiten von P. C. Ludz (1976) die Bemühungen hervorzuheben, die seit einigen Jahren vermehrt im Bereich der Erforschung der Freimaurer und geheimen Gesellschaften stattfinden (vgl. hierzu: Anm. 68). Im literaturwissenschaftlichen Bereich sind zahlreiche Arbeiten über spezielle Dichter und Schriftstellergruppen zu finden. Übergreifende Fragestellungen entwickeln: H. Kreuzer (1968); F. Krön (1976); F. Kröll (1978) Zum Stand soziologischer Analyse von historischen Intellektuellengruppen siehe insbesondere die Beiträge von K. W. Back, D. Polisar, Salons und Kaffeehäuser; H. P. Thurn, Die Sozialität der Solitären, Gruppen und Netzwerke in der Bildenden Kunst; F. Kröll, Gruppenzerfall. Versuch über die Gruppe 47, in: F. Neidhardt (1983). 139 Zum folgenden vgl. J. P. Sartre (1967) hier bes. S. 271 und 371. Auf Sartres Gruppentheorie hat mich Konrad Thomas aufmerksam gemacht. 140 Ebd. S. 375,292,307. 141 Ebd. S. 373,271. 142 »Ich fühle meine Ohnmacht im Anderen, weil ja der Andere als Anderer entscheidet, ob meine Tat eine verrückte Einzelinitiative bleibt oder mich in die abstrakte Isolierung zurückwirft oder die gemeinsame Tat einer Gruppe wird. So wartet jeder auf die Tatdes Anderen, und jeder macht sich zur Ohnmacht des Anderen, insofern der Andere seine Ohnmacht ist.« Ebd. S. 295.

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143 Ebd. S. 399,403. 144D. Ciaessens (1967) S. V, 59 ff. 145Ebd. S. 10. 146H. Blumer (1973) S. 81 ff. 147Zur erkenntnistheoretischen Problematik vgl. K. O. Apel (1972). 148G. Mayer (1913) S. 95. 149 Sh. Na'aman (1982) S. 133. H. Hirsch (1955) spricht pointiert von einer »junghegelsche(n) Arbeitsgemeinschaft, die das System einer objektiven Begriffsgeschichte an sich zu verwirklichen suchte, indem sie auf individuelle Schreibweise verzichtete.« (S. 46) 150Ich bediene mich bei der Zusammenstellung von sophistischen Problem< und »leerem Gerede< bewußt einer konventionellen antisophistischen Redeweise. Sie wird den historischen griechischen Sophisten keineswegs gerecht. Es ist legitim, in den Sophisten die Initiatoren des Konzepts einer intellektuellen Öffentlichkeit zu sehen und sie an den Beginn der Wissenschaft zu setzen, weil sie mit den verschiedensten Geheimformen der Wissensproduktion und -Vermittlung brachen und als mobile Wanderlehrer rationales Denken und Argumentieren jedermann zugänglich machten, (vgl. F. H. Tenbruck (1967) S. 63 ff.) In dieser Perspektive wären die Sophisten ein hervorragendes Beispiel für den interaktionistischen Zugang zur Analyse von Diskussion. Aber auch die konventionelle antisophistische Redeweise hat einen sozialen Sinn, denn mit dem öffentlichen Ereignis von Diskussion sind auch die Phänomene der Kontingenz von Debatten, ihrer Verselbständigung, der Labilität ihrer Verbindlichkeit und der möglichen >Leere< des Gesagten gegeben. Auf diese Phänomene bezieht sich meine Rede vom »sophistischen Probleme 151Platon, Menon (1957) S. 21, 80 d. 132 A. Schütz (1981) S. 115 ff. Das »Um-zu-Motiv« orientiert sich am Zukunftsentwurf einer Handlung, das »Weil-Motiv« kann erst nach Ablauf eines motivierten Erlebens gesehen werden. Erst auf einer zweiten Ebene könnte sophistische Rede vom Motiv her eingefangen werden: etwas zu sagen, um überhaupt zu reden, kann zwar Motiv sein, aber in diesem Motiv verlieren sich die kommunikativ vorausgesetzten Erwartungen an Sprache. 153H. G. Gadamer (1965) S. 328. 154M. Foucault (1977) S. 7. Vgl. dazu auch W. Eßbach (1985 b). 155Ebd. S. 25. 156Vgl. K. Fischer, Moderne Sophisten, Die Epigonen 5 (1848), S. 277-316. BeiK. Fischer heißt es: »Die Philosophie hat in der Sophistik ihren höchsten Feind, ihr eigenes diabolisches Prinzip zu bekämpfen, einen Feind, der mit ihr auf gleichem Niveau steht, indem er die Waffen des Denkens gegen das Denken selbst kehrt, einen Feind, der mit der Auflösung der theoretischen Wahrheit zugleich die sittliche Praxis fundamental angreift; erst in der Überwindung dieses Feindes gewinnt die Philosophie ihre volle Konkretion und die Sicherheit der philosophischen Praxis.« (Ebd. S. 277 f.) Im Anschluß an Hegel behandelt K. Fischer: Strauß, B. Bauer, Feuerbach und insbesondere Stirner und K. Schmidt. Eine Formulierung für den junghegelianischen Sophismus, die das Empfinden vieler Zeitgenossen gut ausdrückt, hat G. G. Gervinus gefunden: er spricht von »herzloser Spekulation«. (G. G. Gervinus, Die Mission der Deutschkatholiken, 1845.S. 47). 157Im Werk von J. Habermas hat dieses Ideal eine fundierte Gestaltung erfahren. Heterolog zur Idee der »herrschaftsfreien Kommunikation« stehen die Überlegungen von M. Foucault (1977): »Man muß wohl auch einer Denktradition entsagen, die von der Vorstellung geleitet ist, daß es Wissen nur dort geben kann, wo die Machtverhältnisse suspendiert sind, daß das Wissen sich nur außerhalb der Befehle, Anforderungen, Interessen der Macht entfalten kann. Vielleicht muß man dem Glauben entsagen, daß die

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Macht wahnsinnig macht und daß man nur unter Verzicht auf Macht ein Wissender werden kann. Eher ist wohl anzunehmen, daß die Macht Wissen hervorbringt (und nicht bloß fördert, anwendet, ausnutzt); daß Macht und Wissen einander unmittelbar einschließen; daß es keine Machtbeziehung gibt, ohne daß sich ein entsprechendes Wissensfeld konstituiert, und kein Wissen, das nicht gleichzeitig Machtbeziehungen voraussetzt und konstituiert.« (S. 39) 158G. Bataille (1975) S. 308. 159S.Kracauer (1971c) S 187. 160Ebd. S. 187,198 f. 161H. Lübbe und H. M. Saß (1975) S. 146. Über Zusammenhänge zwischen Junghegelianismus und Frankfurter Schule finden sich Hinweise bei R. Bubner(1971 a)S. 160-209. 162Aus der Literatur über Marx und Engels möchte ich nur einige wenige Arbeiten anführen, die im Zusammenhang dieser Arbeit von Bedeutung sind. Unverzichtbar, weil in hohem Maße traditionsbildend, sind die beiden klassischen Biographien: F. Mehring (1960); G.Mayer (1975). Für die junghegelianische Phase von Marx und Engels grundlegend ist A. Cornu (19541968). Von älteren Arbeiten ist noch heute lesenswert H. Speier (1952) S. 142-177; S. Hook (1936). Eine wichtige bibliographische Zusammenstellung der Rezeption der Werke von Marx und Engels in den 40er Jahren des 19. Jahrhunderts bietet B. Andreas (1964/65) S. 353-526. Angesichts der unübersehbar gewordenen Literatur zum >jungen Marxgroßen Gedankenbloße Menschen< hervorgehen. Der interne Positionenstreit (7) kann mit der brüchig werdenden Schuldefinition nicht mehr rein spekulativ gesichert werden, das politische Richtungsschema >Rechte-Mitte-Linke< indiziert nicht nur die Schulspaltung, es beruhigt auch das aufbrechende Sophismusproblem.

1. Zum Begriff >Schule< Der Ausdruck >SchuleRichtungenDenkweisenTheoriesysteme< ebenso wie bestimmte Gruppen von Wissenschaftlern. Man kann an .kleine Zusammenhänge mit ausgeprägtem >esprit de corps< denken und an sehr große Gebilde wie den >Marxismus< als >Schule< oder an sog. >nationale SchulenSchule< die Rede ist, so bezieht sich der Ausdruck nicht auf eine typologische Ebene derart, daß von mir aus wissenschaftsgeschichtlicher Perspektive verschiedene Denker zu einer Schule zusammengefaßt werden, weü ich bei ihnen Gemeinsamkeiten entdecke, die den Ausdruck >Schule< rechtfertigen könnten. Auch soll >Schule< nicht einen Kreis von Denkern bezeichnen, die mehr oder weniger gemeinsame Ansichten zu bestimmten Problemen entwickeln, die jedoch sozial kaum oder wenig miteinander zu tun haben. Der Ausdruck >Schule< soll dagegen einen Typ wissenschaftlicher Gruppenbildung bezeichnen, der zahlenmäßig und lokal definiert werden kann, dessen Zugehörigkeitskriterien sowohl von Seiten der Gruppe wie von Seiten des einzelnen bewußt anerkannt werden und dem über die Zugehörigkeit zu Institutionen der Wissenschaft hinausgehend besondere Bindungen eignen. E. Tiryakian hat eine idealtypische Definition von >Schule< gegeben, die sich

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zwar stark an den kunstgeschichtlichen Schulbegriff anlehnt, aber im Hinblick auf wissenschaftliche Schulen angelegt ist. >Schule< ist ihm zufolge eine »wissenschaftliche Gemeinschaft, die sich um eine zentrale Figur schart, einen geistigen charismatischen Führer und ein Paradigma über die vorfindliche Realität, die Gegenstand der Untersuchung ist.«2 Die paradigmatischen Kernformulierungen - oft auch solche esoterischer Art - stammen vom Gründer, die Gefolgschaft besorgt die Auslegung und Interpretation der >großen Gedanken< und kooptiert ihrerseits neue Schülergenerationen. In der Schule können neben Gründer und Schülern eine kleine Anzahl von Mitgliedern aus der Alterskohorte des Gründers sein, die, obwohl nicht seine Schüler, sich dennoch seinen Thesen aus Überzeugung angeschlossen haben. An der Peripherie der Schule sind oft >Helfer< anzutreffen, die, sei es als Verleger oder als Staatsbeamte, die Schule fördern, ihr angehören, ohne selbst im intellektuellen Bereich hervorzutreten. Tiryakian kommt bei seiner idealtypischen Definition von >Schule< nicht ohne religionssoziologische Begriffe aus. Zumindest im Stadium ihrer Entstehung sei die Schule mit einer Sekte oder Bruderschaft vergleichbar: ihr eigne ein »intellektueller Missionswille«, und anfangs werde der Schule »der Zutritt zum Tempel« verweigert. In dem Maße, wie die Schule sich etabliert, komme es wie bei Sekten zu einer Veralltäglichung des Charismas, und die Ideen der Schule werden in die Standardkonzeption der Disziplin integriert.3 So plausibel die Hereinnahme religionssoziologischer Begriff in die Schuldefinition auf den ersten Blick erscheinen mag, die bloße Analogie von >Schule< und >Sekte< verführt leicht zu einer polemischen Sicht. Sicher lassen sich zwischen Schule und Sekte vielfältige Übergangsformen ausmachen: so kann das gelehrte Wissen auf eine religiöse Heilswahrheit bezogen sein, oder die Anhänger eines Propheten oder Gottgesandten können die Verbreitung der Heilswahrheit als routinierten Schulbetrieb organisieren. Dennoch ist es sinnvoll, mit Max Weber den philosophischen Lehrer und seine Schule vom Propheten und seiner Gemeinde zu unterscheiden.4 Der philosophische Lehrer übt ein »professionelles Weisheitsgewerbe aus«, der Prophet ist definiert durch die Verkündigung einer religiösen Heilswahrheit kraft persönlicher Offenbarung. Dieser arbeitet gleichsam unentgeltlich kraft eigenem Charisma, jener lehrt professionell im Auftrag. Im Unterschied zur Sektenbildung ist die >Schule< von vornherein auf die jeweilige Weise der Institutionalisierung des philosophischen Wissens bezogen. Der Grad der Institutionalisierung mag hoch oder niedrig sein - bevor die Gruppe um einen Weisheitslehrer >Schule< genannt wurde, war >Schule< der Ort, an dem Mußezeit verbracht wurde -, entscheidend ist, daß mit der Abgrenzung von Bereichen, in denen philosophisches Wissen gelehrt wird, ein Raum für konkurrierende Weltauffassungen entsteht. Schulbüdung findet in einem Konkurrenzraum statt, der institutionalisiert ist. Der Glaubenskrieg von Sekten ist im strengen Sinne keine Konkurrenz, weil jede Sekte durch ihren Bezug zur Heilsoffenbarung außer Konkurrenz steht und weil Heilswahrheiten ihrer Natur nach der Einrichtung von Konkurrenzräumen, in denen sie >degradiert< werden könnten, widerstreiten. Im Unterschied zur >Sekte< bezieht sich >Schule< immer auf ein Forum. An dieser Differenz muß festgehalten werden, um die Selbstdefinitionsprobleme der Junghegelianer erhellen zu können,

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die sich sowohl als philosophische Schule als auch im Kontext häretischer Sektentraditionen begreifen.3 Im folgenden werde ich einige historische Strukturelemente skizzieren, die sich auf die Genese des Konkurrenzraumes philosophischer Schulbildung und auf die innerschulischen Verhältnisse beziehen. Im Unterschied zum klassischen Altertum, auf dessen Philosophenschulen hier nicht eingegangen werden soll, vollzieht sich die mittelalterliche philosophische Schulbildung im Rahmen der theologischen Anstalten und wird gemeinhin als Prozeß der Verselbständigung der Philosophie gegenüber der Theologie begriffen.6 Die Differenz von Priesterbeamten und Philosophen entwickelt sich über das metatheoretische Grundmuster der doppelten Wahrheit. Es gibt die Wahrheit der biblischen Offenbarung, die in der kirchlichen Lehre tradiert wird, und es gibt die Wahrheit, die durch logische, spekulative oder empirische Rekonstruktion der Offenbarung entsteht. Mit diesem Grundmuster ist der Prozeß einer Freisetzung der Philosophie von der Religion in Gang gesetzt. Entscheidend ist, daß gerade dort, wo es um die intellektuelle Rekonstruktion der Offenbarung geht, ein zunächst geringer, aber im Laufe der historischen Entwicklung größer werdender Raum für konkurrierende Rekonstruktionen gegeben ist. Dieser Konkurrenzraum ist aber eine der wesentlichen Voraussetzungen für die Genese konturierter philosophischer Schulbildungen, die sich zwar alle zunächst noch bei Strafe sozialer oder physischer Vernichtung dem kirchlichen Dogma unterordnen müssen, die aber doch unter sich um eine adäquate Rekonstruktion der Offenbarung konkurrieren können. Im Gefolge der Reformation und der Religionskriege wird ein zweites historisches Strukturelement wichtig, das den sozialen Raum für philosophische Schulbildung absichert. Die erstarkenden absolutistischen Staaten befördern durch Akademie-Gründungen und Einwirkung auf Universitäten nicht nur die gesellschaftliche Anerkennung wissenschaftlicher Forschung, sondern sie helfen mit, Institutionalisierungen zu schaffen, die den Wissenschaftler von den Wechselfällen größerer oder geringerer Toleranz der religiösen und politischen Herrschfat entlasten.7 Die Institutionalisierungen von neutralen Sphären der Wissenschaften geht, worauf Krohn hinweist, einher mit einer gesellschaftlichen Definition legitimer Wissenschaft. »Die neutrale Sphäre, die der Wissenschaft in ihren Institutionen geschaffen worden ist, ist zugleich ein Kompromiß, den sie gegenüber Kirche, Staat und Wirtschaft eingeht. Die gesellschaftliche Stabilisierung erreichen die Wissenschaftler um den Preis, daß ihre eigene Sicherung zugleich eine Zusicherung zu sein hat, keinen Anlaß zur Gefährdung der öffentlichen Ordnung, der religiösen Orientierung und der Legitimation von Herrschaft zu geben. Es legen damit die Institutionen fest, welches Forschungsverhalten als ein wissenschaftliches auf Anerkennung und auf Schutz rechnen kann.«8 Kernpunkt dieser gesellschaftlichen Definition legitimer Wissenschaft ist, daß die Wissensbereitstellung als eine neutrale Tätigkeit definiert wird, »die als solche weder herrschaftskonform noch dysfunktional ist«.9 Eliminiert sind in dieser Definition umfassendere emanzipatorische Ansprüche, die auf eine praktische Verän-

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derung sozialer und politischer Strukturen sich richten könnten. Das Abkappen der praktisch-emanzipatorischen Dimension verweist den Wissenschaftler auf den Modus der >Ratschlägeexterne< Voraussetzungen philosophischer Schulbildung. Mit ihnen ist virtuell der Konkurrenzraum gegeben, in dem sich die Schule bewegt. Im folgenden möchte ich auf zwei weitere historische Strukturelemente eingehen, die die Beziehungen der Mitglieder einer Schule untereinander betreffen: sie beziehen sich auf den Komplex der Pietät gegenüber dem Lehrer, der Verbrüderung der Schule und die Frage der Beschaffenheit der >großen GedankenGuru< ein souveräne Gewalt über seine Schüler hat, die die Familienpietät annulliert, kennt die christliche Tradition eine zweifache Antwort: Es gibt sowohl einen Traditionsstrang, in dem die Pietas gegenüber dem christlichen Lehrer als eine die Familienbande sprengende begriffen wird. Bezugspunkte dieser Tendenz sind die bekannten Jesu-Worte: »Es werden entzweit sein der Vater mit dem Sohn und der Sohn mit dem Vater, die Mutter mit der Tochter und die Toch-

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ter mit der Mutter«. (Lukas, 14,26) Auf der anderen Seite gibt es einen Traditionsstrang, in dem das Lehrer-Schüler-Verhältnis ganz nah an die familiale Situation angelehnt wird, so daß im Idealfall geistlicher Lehrer und Vaterschaft zusammenfallen, wie die Verbreitung der Idee einer >geistigen Vaterschaft< bezeugt.13 Schulpietät ist aufgrund dieser Ambivalenz sowohl eine Wiederholung der Familienpietät: der Vater als Lehrer wiederholt sich im Lehrer als Vater, als auch eine der Familienpietät entgegengesetzte Verbindung: der Lehrer depotenziert den Vater. Es kann hier nur daraufhingewiesen werden, daß diese Uneindeutigkeit eng verwoben ist mit dem von der psychoanalytisch orientierten Kulturtheorie entdeckten Zusammenhang von Vaterschaft, Sublimation und kultureller Produktivität. Der ödipale Vater, der sich dem Begehren des Sohnes in den Weg stellt, ist zugleich eine Gestalt, die den Prozeß der Öffnung der familiären Sozialbindungen in Gang setzt und zur Anerkennung der Person ebenso wie zur Konstitution der Realität herausfordert.14 Die Ambivalenz zwischen einer familialistischen und einer antifamilialistischen Fassung der Pietät gegenüber dem Lehrer scheint diese eher zu stärken als zu schwächen. Es ist eine fruchtbare Ambivalenz, weil sie in die Autoritätsbeziehung zugleich das Moment ihrer Auflösung einführt.15 Dies wird besonders deutlich, wenn man die der christlichen Tradition entstammende Idee einer Selbstaufhebung der Lehrer-Schüler-Beziehung in Betracht zieht. L. Schuckert hat darauf hingewiesen, daß das christliche Verständnis des Lehrers, wie es schon früh in den Benediktinischen Regeln erfaßt wird, zwar die Hierarchie von Lehrer und Schüler kennt, aber diese Hierarchie wird »nicht paternal im römischen Sinne und auch nicht als Verhältnis von Meister und Jünger aufgefaßt«.16 Im römischen Paternalismus und in der Meister-Jünger-Beziehung ist die innerschulische Hierarchie grundsätzlich unaufhebbar, lediglich die Folge der Generationen macht aus Söhnen-Schülern-Jüngern Väter-Lehrer-Meister. Dagegen kennt die christliche Lehrer-Definition nur die graduelle, nicht prinzipielle interschulische Differenz. Der Abstand zwischen Lehrer und Schüler verringert sich progressiv, bis er sich - jedenfalls der Idee nach - innerschulisch, d. h. schon vor dem generativen Platzwechsel, selbst aufhebt. Die sozialen Effekte dieser Auffassung liegen zum einen in der Möglichkeit, das Lehrer-Schüler-Verhältnis tendenziell egalitär zu definieren, zum anderen in der Möglichkeit einer Beschleunigung der Bildungsprozesse, wird doch das Abstandverringern zum gemeinsamen Bezugspunkt. Die Tendenz der Selbstaufhebung der Lehrer-Schüler-Beziehung liegt schon sehr nahe bei dem Komplex der Verbrüderung der Schule. Tiryakian hatte in seinem Idealtypus >Schule< auf die Schulmitglieder hingewiesen, die, neben dem Gründer stehend, seiner Alterskohorte entstammend, sich, obwohl sie ihre Ausbildung anderswo abgeschlossen haben, dem Schulgründer angeschlossen haben.17 Die Bedeutung dieser Mitglieder besteht darin, daß sich in ihrer Beziehung zum Lehrer gleichsam modellartig der Verbrüderungsaspekt darstellt. Denn ihr Anschluß an die Schule verdankt sich nicht einer jugendlichen Verehrung des Lehrers, die erst zu läutern wäre, sondern sie erfolgt als Zusammenschluß von virtuell Gleichen. Der Verbrüderungsaspekt in schulischen Beziehungen soll im folgenden histo-

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risch spezifischer dargestellt werden. Religionssoziologisch betrachtet, läßt sich die Brüderlichkeitsethik weit zurückverfolgen,18 und sie ist vielleicht als Reaktion auf die immer gegebene Erfahrung von Gewalt zurückzuführen, die auch in der Schule als pädagogische Gewalt zugegen ist. Im Zusammenhang dieser Untersuchung ist spezieller auf die eigentümliche Sentimentalisierung sozialer Beziehungen hinzuweisen, die im 18. Jahrhundert aufbricht und die auch den innerschulischen Verbrüderungsaspekt in ihren Bann schlägt. Es ist hier nicht der Ort, auf die komplexe Genese dieser Bewegung einzugehen, die zum Ende des 18. Jahrhunderts nahezu alle Bereiche des sozialen Lebens erfaßt hat. Genannt seien stichwortartig: die Empfindsamkeit, die Sentimentalisierung der Familienbeziehungen, der Freundschaftskult und die Protestbewegung des >Sturm und DrangMenschheitsfamilie< erhoben werden.20 Allgemein kann man sagen, daß in dieser Bewegung das Bürgertum seinen Anspruch auf moralische Integrität und auf die Authentizität der Emotionen gegen die politische Weltklugheit< der Oberschichten geltend macht, für die Emotion und Moral strategische Elemente im verhöflichten Spiel der Macht waren. Im Bereich der Universitäten macht sich die Sentimentalisierung der sozialen Beziehungen etwa im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts geltend. Seit den 70er Jahren zeichnet sich zunächst im studentischen Bereich ein tiefgreifender Wandel in den Formen der Gruppenbildung ab.21 Die traditionellen Gruppenformen der alten Orden, Landsmannschaften und >KränzchenWem gebührt der höchste Preis?< zu singen, und nachdem sprach er: >Wir wollen trinken: daß der Geist, der die Helden von Görschen beseelte, nicht ersterbe! < Gläserklänge und fröhliches Jubelrufen antwortete ihm. Dann sprach Dr. Förster einiges über Kotzebues Tod und endete so: >Nicht Sands Lebehoch wollen wir trinken, sondern daß das Böse falle, auch ohne Dolchstoß !< Mir schiens, als wurde nicht ganz laut Bescheid getan. Auch Jahns ward nicht vergessen. Endlich riß der Wein überall hindurch. An die Stelle des ruhigen Gesprächs trat jauchzende Lust; auch die Professoren wurden Jünglinge. Alles Bruder und Freund! >Lieber Bruder SchleiermacherDu bist ein zu herrlicher Kerl; laß uns Schmollis saufenU Und es geschah. Haake aber sprach zu demselben: >Schleiermacher, Du bist zwar sehr klein und ich sehr groß; ich bin Dir doch gar sehr gut!< Ich aber meinte: Ach wie wirst Du und alle morgen um 6 Uhr in Deine Ästhetik finden! - Selbst vor Lachen und Trunkenheit stammelnd, führte er uns salomonische Sprüche ins Gedächtnis. Alle riefen ihm zu: >Du liesest morgen nicht!geistigen Vaterschaft«:, die die mit der bloßen Lehrerschaft gegebene Hierarchie in eine Bewegungsform verwandelt, in der die Prozesse der > Abarbeitung< und Wertschätzung des so Angeeigneten ineinander greifen. In der Verbrüderung entsteht eine horizontale Kommunikationsebene, in der sich das Verpflichtungsgefühl zugleich mit der Bewältigung der persönlichen Autoritätsprobleme auf eine Symbolsphäre bezieht, deren >große Gedanken< den gemeinsamen Bezugspunkt darstellen. Diese gemeinsame Symbolsphäre entsteht, weil in einem doppelten Sinn der >Tod des Vaters< in der Schule präsent ist. Nicht nur in dem Sinne, daß von Schule nur geredet werden kann, wenn sie nach dem Tod des Gründers mindestens eine gewisse Zeit weiterlebt, sondern auch in dem Sinne, daß sie die >großen Gedanken< in eine tradierbare Struktur bringt, die ihnen Dauer und Bleiben sichert. Nicht jeder Philosoph oder Theoretiker hat >Schule< gemacht, und es wäre zu einfach, dies lediglich auf die Gunst oder Ungunst der Umstände zurückzuführen. Vielmehr ist daran zu denken, daß sich vielleicht gerade solche Theorien als >schulfähig< erweisen, in denen der >Tod des Vaters< in besonderer Weise anwesend ist. Dieser Gedanke muß nicht der Erfahrung widersprechen, daß es sich bei den Schulgründern in der Regel um außergewöhnlich selbstgewisse Persönlichkeiten handelt. Auch sind in der Regel die >großen Gedanken< so beschaffen, daß sie einen gleichsam paradigmatischen Charakter haben, der sie als verallgemeinerungsfähigen >SchlüsselMethode< oder als >Ansatz< zur Lösung zuvor verstreut erfahre-

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ner Phänomene und Probleme erscheinen läßt. Der >Tod des Vaters< ist jedoch in schulfähigen Theorien in der Weise anwesend, daß sich die >großen Gedanken< in seltsamer Weise um eine Leerstelle gruppieren. Auf einer persönlichen Ebene mag so etwas wie die Fülle des Charismas wirken - was die Theorie angeht, die Schule macht, so muß von einer Leerstelle im Zentrum gesprochen werden. Sie kann umschrieben werden als Arkanum oder esoterischer Bereich, aber sie ist in der Hauptsache nicht positiv bestimmbar. Sie ist daher auch nicht, wie bei Sektengründern, eine Offenbarung, sondern eher umgekehrt eine Verrätselung. Ein Artikel in der RhZ, der von B. Bauer stammen könnte, macht dies deutlich.28 Wie viele große Männer sei auch Hegel nach seinem Tode ein Gegenstand der Volksmythe geworden. Es wird erzählt, kurz vor seinem Tode soll er ausgesprochen haben: »>Keiner seiner Schüler habe ihn verstanden, außer einem, dieser habe ihn aber mißverstanden — >Sie haben mich nicht verstanden< hat der große Denker geseufzt und ist gestorben.« Diese Mythe sei populär bei den Gegnern der Schule, aber sie sei natürlich eine Erfindung, sie könne auch nicht in dem Sinne stimmen, daß Hegel nicht zu verstehen sei: »Hunderte von Schülern, Tausende von Lesern haben Hegel verstanden und verstehen ihn fortwährend sehr wohl.« Was könnte aber ein Sinn der Mythe sein, der für die Schule wichtig wäre? Worauf bezieht sich das mythische Hegel-Wort: »Sie haben mich nicht verstanden?« Dem junghegelianischen Autor zufolge bezieht sich das Mißverstehen nicht auf etwas vom Lehrer Gesagtes, sondern auf etwas Nicht-Gesagtes, gleichsam auf eine Leerstelle. Das Mißverstandene seien »gewiß nicht jene Worte, welche vernehmlich in die Ohren seiner Hörer drangen, und welche der Preßbengel verewigt hat; wohl aber das, was er nicht aussprach, was der nicht verstehen konnte, der den Lehrer zu sehr beim Wort nahm.« Wirkliche Schülerschaft konstituiert sich auf der Ebene des Paradigmas um eine Leerstelle. Der Mythos drückt dies im Tod des Lehrers aus. »Erst nach seinem Tode geht das wahre Verständnis seiner Philosophie auf; und so hat Mythos uns prophezeit, was wir jetzt erfüllt sehen.«29 Beziehen wir diesen symbolischen Tod des Lehrer-Vaters auf die Situierung der Schule im Konkurrenzraum philosophischer Schulbildung, so kann der soziale Sinn der Leerstelle deutlich gemacht werden. Der Konkurrenzraum kann als ein Feld gegenseitiger Herausforderungen umschrieben werden, in dem sich die Bewegungen des Bietens und Überbietens austauschen. Auf diesem Kampfplatz zählt die >StärkeKonturGeschlossenheitgroßen Gedanken< die Schule gemacht haben, eine Leerstelle befindet, die als symbolische Schuld des Vaters ihre Tilgung verlangt, wenn das Paradigma sich im Konkurrenzraum behaupten soll. Aus ideengeschichtlicher Perspektive mag es verwegen sein, im »Unbewußten« bei Freud, in der »Revolution« bei Marx, in der »societe« bei Durkheim, im »Ding an sich« bei Kant oder im »Absoluten« bei Hegel eine Leerstelle zu sehen. Meine Argumentation ist auch weit entfernt davon, die Leerstelle zum Anlaß einer schlichten Polemik gegen den >Stein der Weisen< zu nehmen. Entscheidend ist der Gedanke, daß sich die Schulbildung im Konkurrenzraum um so besser behaupten kann, je mehr es ihr gelingt, ihre Schwächen nach innen auf den Gründer zu zentrieren. Die Theorie, die in dieser Frage ein Angebot macht, indem sich ihre Aussagen um ein Rätsel gruppiert wie um ein Monopol der Abwesenheit, eignet sich für eine Schulbildung weitaus besser als eine Theorie, die auf dieses Angebot verzichtet. Die Überlegungen zum Begriff der >Schule< abschließend, möchte ich auf ein Paradox aufmerksam machen, das sich auftut, wenn man die Hegeische Philosophie mit den dargestellten Strukturelementen philosophischer Schulbildung in Beziehung setzt. Folgt man der Programmatik Hegels in bezug auf die dargestellten für die Schulbildung relevanten Strukturelemente, so kommt man zu dem Ergebnis, daß der Zielpunkt Hegeischen Denkens in der Idee einer Versöhnung zwischen der Philosophie und der Kirche, der Philosophie und dem Staat und zwischen seiner Philosophie und konkurrierenden Philosophien liegt. Im Verhältnis zur Kirche knüpft Hegel an das metatheoretische Grundmuster einer doppelten Wahrheit an, aber nicht nur oder nicht in erster Linie, um die Emanzipation der Philosophie von der Religion zu legitimieren, sondern eher, um das Zusammenfallen von philosophischem Wissen und religiösem Glauben zu affirmieren. Im Verhältnis zum Staat zielt die Versöhnung darauf, den Dualismus zwischen philosophischer Vernunft und unvernünftigem Staat zu überwinden. Im Verhältnis zum Konkurrenzraum philosophischer Schulbildung zielt die Versöhnung darauf, differente Auffassungen nicht einfach als wahr-falsch einander feindlich gegenüberzustellen, sondern alle Äußerungen der Denktätigkeit als wahr und berechtigt in das philosophische System aufzunehmen. Schließlich, im Verhältnis zum Problem innerschulischer Differenz, zielt die Versöhnung auf die Legitimation innerschulischer Abweichung durch ihre Einbettung in das Modell einer Totalität, in die sich widerstreitende Momente einfinden. Paradox ist nun, daß aus diesem umfassenden Versöhnungsprogramm eine Schule erwächst, die zu den aggressivsten philosophischen Schulbildungen gehört, die wir kennen. Eine Schule, die die externen wie internen Strukturen philosophischer Schulbildung angreift, die die Balancen zwischen Schule und Kirche, zwischen Schule und Staat, zwischen Schule und akademischem Konkurrenzraum wie auch die internen Beziehungen aus dem Gleichgewicht bringt und die einzelnen Strukturelemente revolutioniert. Kann es sein, daß in dieser Philosophie der >Tod des Vaters< als eine motivierende und herausfordernde Leerstelle gleichsam im Übermaß vorhanden gewesen ist? Die Aggressivität der Junghegelianer ist nicht restlos auf externe soziale Bedingungen zurückzuführen. In der Leerstelle, die

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»Versöhnung« heißt, ist der soziale Grund für das Drama der Schulbildung und ihres Zerfalls gegeben.

2. Das Bündnis der Schule mit dem modernen Staat Die These ist oft wiederholt worden: die Intelligenz des deutschen Idealismus habe über der Ausbildung eines apolitischen sittlichen Bewußtseins des Einzelmenschen die Aufgabe aus den Augen verloren, theoretische und praktische Entwürfe für die politische Gestaltung des gesellschaftlichen Lebens einzubringen. Das Prestigebewußtsein der bildungsbürgerlichen Intelligenz habe sich an einer geistig-sittlichen Rangordnung orientiert, die gleichsam unverbunden neben politischen Machtverhältnissen aufgebaut wurde. Dabei wird Bezug genommen auf die Spaltung des Bürgertums in Besitz und Bildung und konstatiert, daß das politische Interesse des Wirtschaftsbürgertums in den Ideen der Intelligenz nur einen schwachen Ausdruck gefunden habe. Für Mannheim war dies einer der Gründe, in der bildungsbürgerlichen Intelligenz eine freischwebende Schicht auszumachen.30 Für die Junghegelianer am Ausgang des deutschen Idealismus trifft diese These kaum zu, und zwar nicht erst in dem Moment, in dem sie daran denken, daß die Philosophie Partei ergreifen soll, sondern schon zu einem Zeitpunkt, wo sie sich primär als philosophische Schule definieren. 1838 schreibt Ruge programmatisch, es sei »nicht nötig, für die Vernunft Partei zu machen, solange der Staat durch und durch auf die Verwirklichung der Vernunft gerichtet ist.«31 Nur wenn man von einem bürgerlichen Politikverständnis ausgeht, kann man Ruges Programm unpolitisch nennen. Die Jungehegelianer definieren dagegen ihr Verhältnis zur Politik als ein Bündnis von philosophischer Schule und modernem Staat. 32 Gehen wir im folgenden den wesentlichen Argumentationsfiguren weiter nach. K. Riedels Ausführungen von 1840 stützen zunächst die These vom unpolitischen Charakter der Intelligenz. »Der deutsche intellektuelle Geist scheint die Bestimmung zu haben, das innerste Wesen der geistigen Menschennatur zu ergründen und zu repräsentieren.« Er sei »nach innen« gerichtet, steige in den »Schacht des Wissens« hinab und wohne »in dem so eroberten Lande ( . . . ) mit heimatlicher Liebe«. Entscheidend aber sei, daß der preußische Staat diese Intelligenz »in sich als Lebens- und Staatsprinzip« aufgenommen habe. Die Lehre, »welche den Menschen als freies, geistiges, sich selbst aus innern Kräften bestimmendes, und aus innern Gesetzen eine Welt konstruierendes Subjekt erfaßt«, sei in das staatliche Handeln eingegangen. »Die Philosophie Deutschlands, seine Seele, gewinnt so einen Leib.« Die Zeit des »bloß theoretisch glücklich«-Seins sei vorbei, und Riedel vergißt nicht, den Thesen des industriellen Bürgertums eine klare Absage zu erteilen. Nicht »auf Rechnung materieller Interessen« ginge der moderne Staat, »so großartiger Umschwung fließt nicht aus dem Eigennutze«, es sei Absicht des Weltgeistes, »der, was er dem sinnenden Geiste vertraut hat, auch im Leben verwirklicht sehen will.«33

Das Bündnis, das Riedel vorstellt, geht schon weit über die bloße staatliche Gewährung einer Sphäre legitimer Wissenschaft hinaus, vielmehr hat der Staat ein legitimes politisches Verhältnis zur Philosophie und die Philosophie ein legitimes politisches Verhältnis zum Staat: ein Bündnis gegenseitiger Erwartungen.

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Woher stammt dieses Bündnis? Bleiben wir bei den Selbstdeutungen der Junghegelianer. Hervorzuheben ist hier Ruges Schrift »Preußen und die Reaktion« (1838), in der der Versuch unternommen wird, die Genese des Bündnisses historisch-spekulativ zu konstruieren. Das allgemeine Charakteristikum der neueren Epoche ist für Ruge, daß sich der »Geist« als eine »Macht« erprobt. Dabei interessiert ihn nicht die »ganze Ausbreitung des modernen Geistes, sondern nur sein Mittelpunkt, der deutsche Geist, und dieser wiederum nur in seinem Kern, dem protestantischen Deutschland«,34 und d. h. in Preußen. In streng hegelianisch konstruierter Stufenfolge wird nun von Rüge dargetan, wie sich der neue Geist zunächst in der Unmittelbarkeit des subjektiven Gefühls, dann in seinen objektiven Gestalten in Staat und Kirche und schließlich - als Stufe der Aufhebung - im Bündnis von Philosophie und Staat darstellt. Der ehemalige Burschenschaftler Ruge, der wegen demagogischer Umtriebe mehrere Jahre lang im Gefängnis gesessen hat, rekonstruiert die erste Stufe der Ausbreitung des modernen Geistes als die der Begeisterung der Freiheitskriege und der burschenschaftlichen Aufbruchstimmung. Diese Stufe, gleichsam die primitive Form des modernen Geistes, basiert auf dem Gefühl des »vollkommenen Selbstbewußtseins«.35 Hegelianisch gedacht, handelt es sich dabei um eine notwendige, aber auch einseitige Entwicklung: notwendig, weil das freiheitliche Selbstgefühl erst einmal ein »erworbener Besitz«36 werden mußte, und einseitig, denn: das »Schäumen, die Phantasie und ihre Träume (. . .) könne nicht ohne weiteres staatenbildnerisch werden, wie sie es allerdings wohl gemocht hätten«.37 Interessanterweise erfährt die vom Wiener Kongreß ausgehende Restauration bei Ruge eine explizite Legitimation. Gegen die Begeisterung der Freiheitskriege »erhob sich die Gegenwirkung des besonnenen Staatslebens und seiner wirklichen Entwicklung auf den neuen im Kriege bewährten Grundlagen gegen den sich selbst verkennenden oder noch nicht begreifenden Geist der Freiheitskriege.«38 In Ruges selbstkritischer Argumentation bestand der Fehler derjenigen, die wie er auch Opfer der Demagogenverfolgungen wurden, darin: sie verlegten »törichterweise die wertvolle Sittlichkeit nicht in die Gestalten des wirklichen Lebens, sondern in den engen Kreis der vorgeblich gereinigten Jugend.« Aus diesem Freiheitsgefühl als einem »ausschließlichen Gemütsheiligtum« sei auch Sands Attentat entsprungen.39 Sinnlos sei eine Opposition aus der Zukunft, die sich an Utopiestaaten orientiere. Auf dieser neuen Stufe der Erkenntnis ist die Subjektivität des Freiheitsgefühls aufgehoben in den objektiven Institutionen. »Die Gewalt des Gedankens und die Macht des Gemütes sind in unwiderstehlichem Bunde.«40 Preußen ist in dieser Konstruktion ein moderner Staat, dem die Synthese von philosophischem Freiheitsbegriff und wirklicher Ordnung im Prinzip gelungen ist. Ruge nimmt die Hegelsche Figur von der Versöhnung zwischen Staat und Philosophie auf, wenn er fordert, das gewonnene Freiheitsgefühl in dem existierenden preußischen Staat bereits als realisiert zu betrachten. Was aber begründet die Fortschrittlichkeit des preußischen Staates 1838? Der eine moderne Faktor in Preußen, auf den Rüge setzt, ist das Militär: weil »jeder Bürger Soldat ist, so ist die Soldaten- und die Bürgerehre eine allgemeine, nur abgestuft durch Verdienst um den Staat.«41 Die egalitär-leistungsorientierten Prinzipien des preußischen Militärs bestimmen für Ruge den Charakter des gesamten Staates.

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»Und wenn nun bei uns ein großer Teil des Beamtenstandes im Zoll-, Polizei- und sonstigen Dienst aus der Armee hervorgeht; so ist die notwendige Folge davon die Übertragung dieses höheren, sittlichen und wahrhaft freien Geistes auf diesen Stand und zwar ist dies eine Übertragung durchs Leben und durch die bestimmteste Eingewöhnung in die Formen des ehrenhaften Dienstes.«42 Und der zweite moderne Faktor in Preußen? Dem Militär zur Seite tritt das preußische Unterrichtssystem. Das Ministerium Altenstein habe es »auf eine solche Höhe erhoben, daß es sogar die Franzosen sich zum Vorbild genommen.«43 Mit einer geschickt verdeckenden Argumentation werden die historischen Zeitabschnitte belegt, in denen Preußen versucht, die Oppositionsbestrebungen in seinen Unterrichtsanstalten niederzuhalten. Jahn und das Turnwesen hätten aufgrund ihrer Fixierung auf bloß subjektive Gesinnung einen »Geist des Mißvergnügens« bereitet, und dagegen habe sich auf Seiten der Regierung der »Geist des Mißtrauens« geltend gemacht. Auch »die ganze Gelehrsamkeit und Literatur trat sodann allmählich unter den Gesichtspunkt des Mißtrauens, und es entstanden vielfältige polizeiliche, vornehmlich die Zensurmaßregeln. Sie stellen den Widerspruch im Geist der Gegenwart dar, daß einerseits die freie Wissenschaftlichkeit und die Intelligenz für das Prinzip des Staates selbst, andererseits der wissenschaftliche Geist und die Intelligenz für verdächtig gilt«.44 Aber die Teilung Deutschlands, die verschiedenen Entwicklungsstufen der deutschen Staaten, die Uneinigkeit der Zensoren hebe »diese Einrichtung (die Zensur, d. V.) in ihrer Einseitigkeit wieder auf. »Die Wissenschaft ist ohnehin über die Gesinnung hinaus«. Es bestünde, so Ruge, gegenwärtig sowieso eine »faktische Freiheit der Wissenschaft«, die auch wohl bald »in den gesetzlichen Formalismus hineingebildet werden wird«.45 Ruge resümiert: Die »Zeit des Mißvergnügens und des Mißtrauens sei »im Prinzip überwunden«.46 Besonders aber werde das Vertrauen des Staates auf die freie Wissenschaft gestärkt, wo diese sich selbst zur Vorkämpferin eines modernen Staatsverständnisses gegenüber romantisch-mittelalterlichen Oppositionsbestrebungen mache. Rüge hat eine »freie Wissenschaft« im Auge, »die nun allerdings nicht bloß im unbefangenen Gewährenlassen, sondern in der ausdrücklichen Berufung des Staates ihre Freiheit erblickt.«47 An dieser Stelle wird deutlich, daß die Junghegelianer als philosophische Schule sich nicht allein auf den institutionalisierten Konkurrenzraum philosophischer Schulbildung verlassen, sondern zugleich sich im politischen Bündnis mit dem modernen Staat definieren. Wie bei Riedel wird auch bei Rüge die »liberale Opposition« aus dem Bündnis ausgeschlossen. Es handele sich um eine Opposition, »welche nur auf der einfachen Unkunde der wirklichen Staatszustände ihre Luftschlösser aufführte.«48 Das Bündnis zwischen Schule und modernem Staat ist jedoch nicht als eine konfliktfreie Beziehung anzusehen. Denn - wie B. Bauer ausführt: »Auch die Wissenschaft, das reine Denken geht über den Staat hinaus, das Denken kann und muß sogar mit seinen Gesetzen gegen die beschränkten Bestimmungen des Staates in Widerspruch geraten, es kann vermöge seiner reinen Notwendigkeit mit der vernünftigen Notwendigkeit, die im Staate durch die Verwicklung mit natürlichen Verhältnissen noch zufällige Bestimmungen an sich hat, in Kollision geraten.«49

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Aber entscheidend sei, daß auf Grund der Bündniskonzeption der Konflikt keine prinzipielle Staatsgegnerschaft erzeugen könne. »Der Staat streitet in diesen Kollisionen mit sich selber, führt darin sein eigenes Interesse aus, denn beide streitenden Mächte gehören ihm an, er ist sie beide.« Der moderne Staat hat das philosophische Denken »zu seinen innern Angelegenheiten gemacht.«50 Zu diesen »innern Angelegenheiten« zählt insbesondere der Bereich, der in der eingangs skizzierten These als apolitischer Bezugsrahmen bildungsbürgerlicher Intelligenz gesehen wurde. B. Bauer schreibt: »Die Menschlichkeit als solche in ihrer reinen Unbestimmtheit ist die Wut, die gegen alle positiven Statute sich empört, das Ich ist der Dämon, der mit seiner listigen Dialektik alle gesetzlichen Schranken zernagt.« Aber: »Der neuere Staat kann alle diese Dämonen und Ungeheuer in sich ertragen und sie bilden, zähmen und erziehen.«51 Diese Idee vom Erziehungsstaat hat bei den Junghegelianern, wenn sie sich als Schule definieren, eine weite Verbreitung. So faßt z. B. auch Heß den Staat als »Volkserziehungsanstalt« auf, durch dessen Gesetz die »humane Bildung« gefördert werde.52 Die bildungsbürgerlichen Werte liegen nicht außerhalb der staatlichpolitischen Sphäre, sondern in ihr. Der moderne Staat ist, wie B. Bauer schreibt, »die einzige Form, in welcher die Unendlichkeit der Vernunft, der Freiheit, der höchsten Güter des menschlichen Geistes in Wirklichkeit existiert.«53 Und Marx wird noch zu einem Zeitpunkt (1843), als er bereits die soziale Frage reflektiert, daran festhalten, daß »gerade der politische Staat, auch wo er von den sozialistischen Forderungen noch nicht bewußterweise erfüllt ist, in allen seinen modernen Formen die Forderungen der Vernunft (enthält)«.54 Die philosophische Schule sieht sich bereits 1838 im Bündnis mit einem solchen Staat. Ruge schreibt über Preußen: »Das Reich der Sittlichkeit ist in Preußen zu einer bewundernswürdigen Wirklichkeit gediehen, nirgends wird man das Pflicht- und Rechtsgefühl schärfer, wirksamer und gebildeter finden, als bei uns, das Beamtenverhältnis dient nur dazu, den Gemeinsinn zu verwirklichen, man braucht nicht weit nach Süden und Osten zu reisen, um den Unterschied zu erfahren, ferner das Recht des Staates auf den einzelnen hält das Militärwesen gegenwärtig und ist eine wichtige Kur der Feigheit und Philisterei, das Familienleben endlich und das Leben des Verkehrs, wo ist es in wahrerer Gestalt, als eben jetzt bei uns?«55 Das heißt nicht, daß es keine Bereiche mehr gäbe, in denen der moderne Staat noch auszubauen wäre, aber die im modernen Staat enthaltene Vernunft kann davon nicht tangiert werden: auch »wenn ja hin und wieder noch ein drückender Punkt herausspringt, so liegt in dem ganzen Gang der bisherigen Staatsentwicklung die sicherste Bürgschaft seiner endlichen Erledigung.«56 Angesicht des Bündnisses von philosophischer Schule und modernem Staat können die Denunziationen eines Leo die Schule nicht treffen. So muß sich der Denunziant von Rüge fragen lassen, »bei wem« er die Junghegelianer denunzieren wolle: »doch wohl nicht bei dem Ministerium des Unterrichts, welches die genaueste Kenntnis nicht nur der Terminologie, sondern auch der Begriffe dieser Philosophie hat?«57 Leo könne, außerhalb des Bündnisses stehend, die Denunziation doch nur an sich selbst richten.

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3. Beamtete Intelligenz Das Bündnis von Schule und modernem Staat, auf das die Junghegelianer setzen, ist für sie ein Modell, das sich bewährt hat. In den 30er Jahren erobern Schüler Hegels wichtige Lehrstühle in Preußen.38 Ihre Hauptstütze besitzt die Hegelschule im preußischen Kultusministerium, das, 1817 als ein selbständiges Ministerium für geistliche und Unterrichtsangelegenheiten gebildet, über 20 Jahre von dem Minister Altenstein geleitet wird. Die Verbindung zwischen dem Minister und der Hegelschule wird durch Johannes Schulze hergestellt. Schulze, der maßgeblich an der Schaffung des preußischen Gymnasial- und Hochschulsystems beteiligt war und zunehmend zur rechten Hand des Ministers wird, hatte sich ganz in den Zusammenhang der Hegelschule begeben.59 Um den Erfolg dieses Zusammenspiels zu verstehen, ist es notwendig, daran zu erinnern, daß seit den Karlsbader Beschlüssen die innere Situation der Universitäten prekärer wurde. Das Klima des Verdachts und der Bespitzelung behinderte die wissenschaftliche Arbeit ebenso wie die Prozesse der Verwaltung. In solchen sozialen Situationen besteht ein vermehrtes Bedürfnis nach direkten persönlich stabilen Kontakten, nach Loyalitäten, die eine Versicherung gegenüber wachsenden Kontingenzen darstellen. Die Loyalitätsbande der Hegelschule sind festgeknüpft gewesen, und ihr Erfolg hat sie noch mehr gefestigt. Darüber hinaus besaß das Ministerium über den Hegelianer Schulze einen verläßlichen Zugang zu den inneruniversitären Auseinandersetzungen, wie umgekehrt die Schule des Schutzes und der Protektion sicher sein konnte. Es handelt sich um ein Zusammenspiel, mit dem die Paralysierungen des Verdachts vermieden werden konnten. Über die Gründe, warum gerade die Hegelsche Philosophie und die Hegelschule diese bevorzugte Stellung an den preußischen Universitäten erhalten konnten, ist viel nachgedacht und geschrieben worden. Hat der Gründer der Schule sein System so angelegt, daß er zum >preußischen Staatsphilosophen< avancieren konnte? Hat der preußische Staat in Hegels Philosophie seine Legitimationsgrundlage gesucht?60 Hier ist zunächst darauf aufmerksam zu machen, was die Privilegierung einer Schule soziologisch bedeutet. Bei dem Konkurrenzraum philsophischer Schulbildung, der universitären Institution, handelt es sich um ein Überraschungen erzeugendes Feld, das unter administrativer Perspektive schwer zu beruhigen ist, und selbst wenn dies in Richtung auf eine totale Überwachung gelingen sollte, träte der Effekt ein, daß der Betrieb kaum noch akzeptable Resultate liefern würde. Wenn die Verwaltung vom Verdacht beherrscht wird, daß die Überraschungen, die diesem Ereignisfeld der Intelligenz entspringen, sie bedrohen könnten, so bleiben ihr zwei Möglichkeiten: entweder die Schließung der Universität als eines Konkurrenzraumes oder die Kooptation einer der konkurrierenden Konfigurationen, auf die sie setzt, wie jemand, der eine Wette mit großem Einsatz abschließt. Im Konkurrenzraum philosophischer Schulbildung kann die Verwaltung nicht selbst als Konkurrenz auftreten, ebensowenig kann dort eine Schule überleben, die sich nur auf Protektion verläßt.61 Wählt die Verwaltung den Weg der Privilegierung einer Schule, so >leistet< sie unter funktionalistischem Aspekt zweierlei: sie erhält eine Minimalstruktur von Konkurrenz, und sie steigert zugleich den Kampf

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der Positionen. So ist der Aufstieg der Hegelschule untrennbar verbunden mit der Konjunktur von Hegelkritiken und Hegeldenunziationen. Die Privilegierung hat sie dem Streit nicht entzogen, im Gegenteil, sie hat sie mehr als andere Positionen in den Streit hineingezogen. 2 Die Frage, welche philosophische Schule sich für eine Privilegierung >eignetbeamteten Intelligenz< im >auf Intelligenz sich gründenden StaatMacht des Geistes< der Preußens Kraft begründe. Der Topos bezieht sich auf eine ganze Reihe von Elementen: die Erinnerung an den Philosophen-König, die existenznotwendige Toleranz gegenüber Konfession, die >Künstlichkeit< der Staatskonstruktion, die mangels nationalem oder ethnischem Geist immer eines besonderen staatlichen Geistes bedurfte, die Erinnerung an die Begeisterung der Freiheitskriege. Der Topos zielt Koselleck zufolge auf einen Geist, »der allein die Einheit sicherte, einem Staat, dem die konfessionelle, ethnische, sprachliche, rechtliche, ja sogar die geographische Einheit abging. Der tätige Träger dieses Geistes war nun die berufsmäßige Intelligenz, die Beamtenschaft; sie bildete - neben dem Heer - das institutionelle Substrat einer Einheit, die eben nur >im Geiste< lag.«64 Auf diesen Topos bezieht sich Karl Rosenkranz in seiner Hegelbiographie von 1844.65 Preußen, als ein »noch nicht arrondierter Staat sucht seine Nachbarn zunächst von innen aus, durch ein Übergewicht der Bildung, sich ideell zu unterwerfen. Instinktmäßig fühlt er die ihm noch fehlenden Elemente heraus und sucht sie sich anzueignen, wenn sie in bereits fertiger Gestalt außer ihm existieren.« Daher habe auch die Wissenschaft eine weit wichtigere Bedeutung »als bei Staaten, welche sich durch ihre natürliche Lage, durch die nationale und kirchliche Einheit ihrer Bevölkerung, oder durch große materielle Hilfsmittel gesichert sehen.« Die Vermittlung der Bildung sei lebensnotwendig für den preußischen Staat, und so habe ja auch Preußen aus sich die Kantische Philosophie hervorgebracht. Diese sei aber durch Hegel vollendet, und »so ergibt sich hieraus die höhere Notwendigkeit, welche Hegels Berufung nach Preußen und die schnelle Einwurzelung seiner Philosophie in demselben bewirkte. Was Manche gern nur als Befriedigung eines Lieblingswunsches des Ministers Altenstein ansahen, war im Grunde das Werk der progressiven Tendenz des preußischen Geistes.« Der Staat kann sich aber nur auf die >Macht des Geistes< stützen, wenn er ihn von den partikularen Interessen der bürgerlichen Wirtschaftsgesellschaft und ihren repräsentativen Ausdrucksformen emanzipiert.66 Erst der >autonome Geist< kann zu einer Macht werden. Die Autonomie des >Geistes< spiegelt sich gleichsam in der Autonomie des Staates, und diese spiegelt jene zurück. Die Intelligenz ist als eine Macht erst gesichert als beamtete Intelligenz: »denn der Beamtenstaat vertritt die Intelligenz und die Bildung, während in den ständischen und repräsentativen Staaten geistig imponderable Elemente zur Geltung kommen.«67

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Die Figur der >beamteten Intelligenz< im >auf Intelligenz gegründeten Staat< beinhaltet zwei Bewegungen. Einmal schreibt sie dem Staat die Aufgabe zu, die Autonomie von >Geist< gegen die zerspaltenen Interessen der Gesellschaft an verschiedenartigsten Funktionalisierungen der Intelligenz durchzusetzen, andererseits schreibt sie der Intelligenz die Aufgabe zu, unter Berufung auf den Staat als rechtliche Form für deren Ausbau und Sicherung Verantwortung zu übernehmen. Für die Definition des Verhältnisses der Schule zum Staat bedeutet dies ein primäres Interesse an der Begründung von Reformpolitik. Hegelianer und Junghegelianer sehen sich in der Tradition der preußischen Reformpolitik als einer Leistung der beamteten Intelligenz. Ein Konzept philosophischer Schule, die den akademischen Raum nur nutzt, ohne auf die staatlichen Bedingungen der Existenz dieses Raumes zu reflektieren, kommt für den Junghegelianer nicht in Frage. Die Figur einer beamteten Intelligenz vor Augen, begründen sie eine Reformpolitik, die sich offensiv von revolutionärer Programmatik absetzt. So würdigen die HJ Autoren wie Gervinus, in denen »nicht die geringste Sympathie mit den unruhigen hitzköpfigen Wortführern der Staatsumwälzung (ist), welche vom ersten französischen Schusse aufgescheucht, aus dem Verstecke hervorstürzen, den kahlen Freiheitsbaum aufpflanzen und die rote Mütze schwingen.«68 Und Rüge fragt: »Wer wird nun irgendeinem vernünftigen Menschen den Gedanken zumuten, der Veitstanz der Revolution sei ebenso befriedigend, als der schöne Rhythmus der Freiheitsbewegung?«69 Auch für Buhl ist ein Anknüpfen an die Revolution kaum sinnvoll vorstellbar, denn sie kann nach dem Prozeß, den sie durchgemacht hat, nicht mehr als gleichsam jungfräuliches Prinzip begriffen werden. »Eine Idee, die so viele Stadien durchlaufen hat, langt endlich an einem Ruhepunkt an. Es wäre zuviel gesagt, wenn wir ihr die bewegende Kraft absprechen wollten, aber jedenfalls sind ihr die Fangzähne ausgebrochen.«70 Die Auseinandersetzungen zwischen Revolution und Legitimität haben im Laufe der Entwicklung zu einer qualitativ neuen Konstellation geführt. »Weder die Revolution noch die Legitimität haben sich rein zu erhalten gewußt, wie das allen großen geschichtlichen Gegensätzen auf die Dauer begegnet. Beide haben aufeinander zurückgewirkt. (...) Es fanden Annäherungen und Friedensschlüsse statt, die auch die Herbigkeit der Prinzipien mäßigten. Vor allem aber wurde der Ungestüm der Revolution durch ihren eigenen Fortschritt gemildert. Sie hatten in dem Schreckens-Systeme einen Punkt erreicht, vor dem sie nur herabsteigen konnte. (. . .); damals verrrauchte die furchtbarste Wut der Revolution und es wird ihr nie gelingen, sich zu einer ähnlichen aufzustacheln, weil nie wieder dieselben Bedingungen eintreten können.«71 Die »Revolution« existiere nur noch »in den Traumgesichtern des politischen Wochenblattes< als blutbefleckte Hyäne, als furchtbare Lawine, die jeden Augenblick droht, in die Ebene niederzustürzen. In der Wirklichkeit stellt sich die Sache anders. Die Revolution hat ihre Stadien durchlaufen; sie hat die Grundlagen des modernen Staates, welche die ideale Einheit aller einseitigen Staatsformen ist, aufgerichtet. Sie hat jetzt die Aufgabe, auf diesen Grundlagen weiterzubauen, die Revolution ist zum konstitutionellen Staate gelangt, und dadurch aus ihrer angreifenden Position herausgeworfen.«72 Wie in Frankreich Revolution und Legitimität koexistieren, so auch auf dem europäischen Kontinent. »Im Westen hat die Revolution ihre Herrschaft aufgerichtet, im Osten der Absolutismus in seiner reinsten Gestalt. Aber zwischen dem revolutionären Frankreich und dem absoluten Rußland liegt

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Deutschland, welches das Schicksal gehabt hat, wie religiös so auch politisch gespalten zu werden. Deutschland bildet den Übergang; hier sind alle Gegensätze vertreten. Hier finden sich die unbeschränkte Monarchie und der konstitutionelle Staat in ihren verschiedensten Nuancen und Abstufungen. Die politische Reform hat denselben Ausgang genommen wie die Religiöse: keine von beiden hat sich ganz durchsetzen können.«73 In diesem Übergangsfeld ist eine Revolution unwahrscheinlich. Beide Prinzipien seien in eine »so eigentümliche Stellung getreten, daß der Vorteil nicht auf Seite des angreifenden Teils, sondern des angegriffenen sein würde.«74 Auf die preußische Situation übersetzt heißt dies implizit: Bei der gegebenen Figur der beamteten Intelligenz, in der Revolution und Legitimität im Prinzip identisch sind, bleibt nur der Weg der Reformpolitik. Ihr gegenüber geraten klassisch revolutionäre wie klassisch reaktionäre Positionen quasi automatisch ins Abseits. Ausgehend vom Konzept einer Reformpolitik kann Rüge den Begriff »Revolution« auf die Bestrebung der >Rechtenbeamteten Intelligenz< im >auf Intelligenz gegründeten Staat< und der »Herrschaft einer Reflexionselite« im Sinne Schelskys nagelegt, sind die historischen Bezüge, die dieser selbst anführt. Sie sind jedoch - worauf hingewiesen werden muß - in einer spezifischen Weise doppeldeutig und ungeklärt. Auf der einen Seite zählt Schelsky Fichte zu den »geistigen Ahnen« der »Klassenherrschaft der >SinnproduzentenReform< und was >Nicht-Reform< ist. Vor allen inhaltlichen Aspekten, die verschiedenartigster Natur sein können, verweist >Reform< auf einen Erwartungshorizont. Mit der Abweisung von Revolution als einem vorgestellten Handeln, in dem sich Ziele beschleunigt erfüllen könnten, entsteht mit >Reform< eine Art Zielhemmung. Der Horizont mag derselbe sein wie bei der Revolution, aber es muß mehr gewartet werden. Die Reformtaten verblassen regelmäßig vor der Reformerwartung, so wie umgekehrt die Revolutionstaten die Revolutionserwartungen so oder so, d. h. im >Guten< oder >SchlechtenVorlesungen über die Geschichte der Philosophie< wendet sich Hegel gegen zwei geläufige Deutungen der Verschiedenheit der Philosophien. Die einen sehen in der Geschichte der Philosophie lediglich einen Vorrat von differenten Meinungen, denen man sich gelehrt nacherzählend zuwenden oder die man nach dem Maß der eigenen Ansicht als eine »Galerie der Narrheiten« bewerten müsse.87 Andere zögen aus der Verschiedenheit der Philosophien den skeptischen Schluß, »daß das Bestreben der Philosophie nichtig sei«. 88 Beide Lösungen sind für Hegel nicht akzeptabel. Der Skeptizismus bedeute gleichsam eine Kapitulation vor der Aufgabe, die Eine Wahrheit darzustellen, und das Verharren im »abstrakten Gegensatze von Wahrheit und Irrtum«89 führe nicht zu einem Zustand, in dem die Gültigkeit der Einen Wahrheit mit der Tatsache der Verschiedenheit der Philosophien versöhnt sei. Hegels originelle Lösung besteht bekanntlich darin, daß die Verschiedenheit philosophischer Systeme als Entwicklungsprozeß des Geistes selbst aufgefaßt wird. Für Hegel gibt es nicht einfach einerseits philosophische Wahrheiten und andererseits Irrtümer, vielmehr gehört das, was man die Irrtümer nennt, ebenso zum Entwicklungsprozeß des Geistes wie die Wahrheiten; ja mehr noch: das Denken, das auf der Scheidung von Wahrheit und Irrtum insistiert, gehört selbst einer bestimmten Stufe der Entwicklung des Geistes an und hat dort ein notwendiges, aber relatives Existenzrecht. Das Resultat der Geschichte der Philosophie ist für Hegel:

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»1. daß zu allerzeit nur Eine Philosophie gewesen ist, deren gleichzeitige Differenzen die notwendigen Seiten des Einen Prinzips ausmachen; 2. daß die Folge der philosophischen Systeme keine zufällige, sondern die notwendige Stufenfolge der Entwicklung dieser Wissenschaft darstellt; 3. daß die letzte Philosophie einer Zeit das Resultat dieser Entwicklung und die Wahrheit in der höchsten Gestalt ist, die sich das Selbstbewußtsein des Geistes über sich gibt. Die letzte Philosophie enthält daher die vorhergehenden, faßt alle Stufen in sich, ist Produkt und Resultat aller vorhergehenden.«90

Für unseren Zusammenhang ist nicht entscheidend, dem Hegelschen Stufengang im einzelnen zu folgen, vielmehr soll nach den sozialen Effekten gefragt werden, die Hegels Konstruktion für die Selbstdefinition der Philosophen unter sich besitzt. Zunächst handelt es sich um ein Programm der Versöhnung, es geht nicht um Ausstoßung und Abweisung von philosophischen Auffassungen, sondern um eine Totalität, die kein Außen kennt. »Die letzte Philosophie ist das Resultat aller früheren; nichts ist verloren, alle Prinzipien sind enthalten.«91 Die Versöhnung kommt jedoch um den Preis zustande, daß den konkurrierenden Philosophien gleichsam immer schon eine bestimmte Stelle im systematischen Stufengang der Entwicklung des Geistes sicher ist. So konnte die Hegeische Philosophie gerühmt werden, »den Inhalt der philosophischen Erkenntnis aller Zeiten und aller Systeme, selbst den scheinbar entgegengesetzten und widersprechenden, in sich zu vereinigen und den Gang der Entwicklung dieser Erkenntnis für alle Zeit abzuschließen«.92 So konsequent auch der Versöhnungsgedanke durchgeführt wurde, und so sehr Hegel auch forderte: »man muß sich erheben a) über die Kleinigkeiten einzelner Meinungen, Gedanken, Einwürfe, Schwierigkeiten: b) über seine eigene Eitelkeit, als ob man etwas Besonderes gedacht habe.«93 - allein schon der Anspruch einer Versöhnung führte zu einer feindlichen Polarisierung von Hegelianern und AntiHegelianern - einer Polarisierung, die den Philosophenstreit enorm verschärfte. So urteilten Zeitgenossen über die Hegelschule: »Schwerlich ist nämlich jemals eine Schule mit so gebieterischem Anspruch auf Alleinherrschaft, mit so wegwerfender Verdammung aller Andersdenkenden aufgetreten, wie die Hegelsche«.94 Der mit der Hegelschule streitende Prager Philosoph Franz Exner trifft das Problem genauer, wenn er schreibt, zwar böte die Hegelsche Philosophie »allerwärts Frieden an, und versichert, sie wolle die Gegner wohl gelten lassen: diese aber meinen, der gebotene Friede sei eben der ärgste Krieg, ein halbversteckter nämlich. Man gestehe ihnen zwar Wahrheit zu, aber eine solche, die eigentlich Unwahrheit ist; man lasse sie gelten, jedoch nur, indem man sie für aufgehoben erklärt.«95 Naheliegend ist der Gedanke, das Problem des Hegelschen Umgangs mit konkurrierenden Philosophien im Rückgriff auf religionssoziologische Kategorien zu lösen und seine Gewißheit der Versöhnung im außerphilosophischen Terrain der Heilsgewißheit anzusiedeln. So entlastend dies Verfahren auch im Moment sein mag - ich werde im letzten Kapitel darauf zurückkommen -, die philosophische Gewißheit gehört zunächst ganz dem Bereich konkurrierender Philosophien an, und auf diesem Felde wäre die Stigmatisierung einer Philosophie als dogmatisch religiös nur das umgekehrte Programm der Hegeischen Versöhnungsfigur: nicht Eingliederung der Positionen, sondern Ausstoßung. In diesem Zusammenhang interessiert vorrangig, wie sich der Hegeische

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Umgang mit konkurrierenden Philosophien sozial für diejenigen darstellt, die als Schüler dem Schulgründer folgen und nun ihrerseits als eine Gruppe von Denkern das Problem der Konkurrenz lösen müssen. Es sind drei eng miteinander verflochtene Fragen, die die Hegelschule beschäftigen: a. Wie läßt sich der Prozeß der Anerkennung der Hegelschen Philosophie durch die existierenden Philosophen denken? b. Welchen Status innerhalb des abgeschlossenen Hegeischen Systems kann eine philosophische Schule haben? c. Wenn mit Hegel der Endpunkt der philosophischen Entwicklung erreicht ist, was sind dann noch die Aufgaben der Hegelianer? a) Die Polemik Für Bayrhoffer bedeutet das Auftreten der Hegelschen Philosophie: nun sei erkannt, »daß der Begriff und seine unendliche Zentralität, der Geist, alle Wahrheit und daß die ganze Welt nur die unendlich scheinende Idee ist. Es ist die Materie und die Weltgeschichte durchdrungen und zum reinen durchsichtigen Kristalle verklärt worden. Die Hüllen und Substanzen der religiösen und künstlerischen Formen selbst auf ihren absoluten Höhepunkten sind aufgelöst worden in die Silberklarheit der reinen Idee«.

Erreicht sei ein Zustand »der sich wissenden Wahrheit«, d. h. konkurrierende Philosophien sind darin in allen ihren Möglichkeiten enthalten. Auf dieser Versöhnungsbasis muß die Frage kommen: »Warum denn haben nicht sogleich alle diese Philosophie, welche sich als die Sophia selbst zu wissen behauptet, ja sich als solche mit immanenter Auflösung aller anderen Gestalten beweiset, anerkannt?«96 Der eigentümliche Zugzwang der Versöhnungsfigur erlaubt nur zwei Antworten: entweder stimmt die Versöhnung nicht, sie erweist sich als Schein, als eine fehlerhafte Konstruktion, oder es handelt sich um ein Problem von der Art der Zeitverschiebung. Die erste Antwort kommt für die Schule nicht in Frage: der Gründer hat die Versöhnung der konkurrierenden Philosophien vollbracht, sie ist auch kein Schein, sondern eine wesentliche Grundlage. Was bleibt, ist die zweite Antwort: die Versöhnung ist eine Frage der Zeit. Die Sicherheit, daß die Versöhnung bereits als Grundlage vorliegt, könnte zu einer abwartenden Haltung führen, aber die Gelassenheit, die ein Philosoph der »sich wissenden Wahrheit« an den Tag legen könnte, kommt für eine soziale Gruppe, qua Gruppe, nicht in Frage. Sie bedarf der Legitimation für Aktivitäten. Wie aber kann eine Philosophie, die sich versöhnt hat, dafür herhalten? Die Philosophie der Versöhnung ist Bayrhoffer zufolge zugleich »eine neue Gestalt der Philosopie«, und sie hat »den Kampf gegen die anderen unmittelbaren Formen zu bestehen, gegen das Leben wie die Wissenschaft«.97 Man müsse einsehen, »daß der Weltgeist in den Momenten seiner neuen tiefsten Ausgeburten allerdings in dem Kampfe der bestehenden mit den neuen Gestaltungen sich entwickelt, und daß so jede neue geistige weltgeschichdiche Geburt, wie die physische, nur der Phönix ist, welcher aus den Weltwehen und Weltschmerzen emporsteigt, insofern er sich als neue Gestalt gegen alle früheren vorausgesetzten Formen nicht nur positiv, sondern zugleich auch negativ wendet, so daß er nun, indem jene Formen gleichfalls ihn zu negieren streben, sich in den Kampf mit denselben verwickelt.«98

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Implizit wird damit die Versöhnungsfigur auf den Kopf gestellt, indem sie zeitlich anders lokalisiert wird. Hervortritt eine Metaphorik des Kampfes, die einer schließlichen Versöhnung dienen soll, aber ebenso >unversöhnend< ist wie die Kriege, die gegen den Krieg geführt werden. Wo aber bleiben in dieser Konstruktion die anderen Philosophien, deren Recht doch immer noch im Rahmen der Versöhnungsfigur zu begründen wäre, auch wenn die Versöhnung zeitlich anders lokalisiert wird? Eine bloße Abweisung oder Verfemung der Konkurrenz würde die Idee desavouieren, daß die >neue< Philosophie in der Tendenz doch versöhnen kann. Es gilt, ein Verfahren zu entwickeln, mit dem die Kritik an der >neuen< Philosophie als zu dieser schon mit dazugehörig betrachtet wird. Diese Verwandlung der Feinde in unfreiwillige Helfer ist die »Ironie des Weltgeistes und der absoluten Idee«, sie besteht darin, »daß die Richtungen, welche die Philosophie über den Haufen zu werfen vermeinen, doch im letzten Resultate ihr den Thron bereiten müssen.«99 Diese seltsame Figur ist nicht leicht zu erklären. Warum »müssen« die der neuen Philosophie der Versöhnung entgegenstehenden Philosophien dieser einen zum Siege verhelfen, in der sie enthalten sind? Man könnte diese argumentative Figur durchaus mit der psychoanalytischen Deutung des Widerstands vergleichen, derzufolge die Heftigkeit des Widerstandes nicht etwa die Erkenntnis, der der Widerstand gilt, widerlegt, sondern vielmehr bestätigt. Die Verwandlung der Feinde in unfreiwillige Helfer erfolgt über eine Reflexion der unbeabsichtigten Folgen philosophischen Handelnsphilosophischen Handelns< gegenüber seinem Gegner - ein Ausspielen, dessen

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Pointe auch darin besteht, daß er in den von Hegel gegründeten JWK101 durch Eröffung einer Polemik, die auch auf ihn und diese Zeitschrift umkehrbar ist, eine andere hegelianische Konkurrenzzeitschrift, die sich auf die Versöhnungsfigur beruft, auf die unbeabsichtigten Effekte dieser Figur verweist, um so durch die Polemik hindurch gerade diese Figur zu retten. Für Schaller ist »die Polemik ein notwendiges Moment in der philosophischen Entwicklung und wird mit dieser bestehen und aufhören.«102 Um so wichtiger ist es für ihn, Kriterien für ihre Form zu erörtern. Seine Überlegungen zu Verhaltensregeln für Beurteilungen und zur Abfassung von Polemiken können als paradigmatisch für die Standards der Schule in dieser Frage gelten. Insgesamt zielen sie auf eine Enttabuierung polemischen Verhaltens. So zählt für ihn die Versicherung, daß es einem Verfasser allein um die Sache gehe, wenig, da »dieses Versichern des sich von selbst Verstehenden unwillkürlich zur Vermutung des Gegenteils auffordert.« Auch in diesem Bereich wirke der unbeabsichtigte Gegensinn. Die Berufung auf »gewisse Gesetze des Anstands«, die »jeder Gebildete des neunzehnten Jahrhunderts für heilig achten müsse«, greife kaum, da doch jeder die Erfahrung mache, »daß entweder diese Gesetze sehr vage sein müssen oder daß man sich eine Übertretung derselben so sehr hoch gerade nicht anzurechnen geneigt ist.« Die Forderung, in der Polemik die Person von der Sache zu trennen, sei eine »seltsame Prätention«, denn wenn es erlaubt ist, »die Sache platt, dürftig, schal zu nennen, so sind natürlich die Inhaber der Sache, wenigstens in diesem Falle, auch wenn man es nicht sagt, schale, dürftige Köpfe«.103 Auch für B. Bauer ist die Polemik gegen die »wissenschaftliche Persönlichkeit« gerechtfertigt, denn in der Person hat es der Polemiker »zugleich mit einer Form des allgemeinen Bewußtseins zu tun«. Und weitergehend: »Rein persönlich müßte der Kritiker in dem Falle werden, wenn die wissenschaftliche Persönlichkeit, die er charakterisiert, durch eigene Schuld, weil sie nur eine Meinung repräsentiert, keine allgemeinere Bedeutung hat und nur Gegenstand der Kritik werden kann, um in ihrer Bedeutungslosigkeit dargestellt zu werden.«104 Festzuhalten ist, daß im Bereich des Hegelianismus die Polemik nicht als eine bloße Randerscheinung philosophischer Arbeit gilt, vielmehr erfährt sie eine bedeutende Aufwertung: Die Polemik stellt als Kritik gleichsam die Seite philosophischer Arbeit dar, bei der es um den Kampf um die Anerkennung der Resultate der Philosophie geht. Diese Anerkennung kann die Philosophie fordern, weil sie nicht jenseits der Polemik steht, sondern weil, wie Schaller formuliert: »jedes philosophische System nicht nur nach außen, sondern in sich selbst polemisch (ist), indem es nicht nur ein abstraktes Resultat, eine einfache Versicherung aufstellt, sondern ein konkretes, sich selbst beweisendes Ganzes ist.«105 Die Polemik ist in dieser Zuspitzung eine Bewegung, die das gesamte Feld der konkurrierenden Philosophien durchzieht. Sie macht weder halt an der Grenze einer Person, noch an der Grenze einer Lehre. b) Selbstdefinition der Schule So sehr auch die Existenz philosophischer Schulen eine geschichtliche und soziale Tatsache ist, nicht selbstverständlich ist, daß Philosophien zur Schulbildung ein

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positiv begründetes Verhältnis entwickeln. Wo die Hegelianer dies tun, haben sie sich zunächst damit auseinanderzusetzen, die Schulbildung vom Geruch einer bornierten akademischen Cliquenwirtschaft zu befreien. Die landläufige Karikatur einer Schule skizziert Schaller: »Zu einer Schule gehört einmal, daß die Schüler nicht Anhänger des Systems sind, sondern Anhänger des Lehrers, daß sie also seine Worte auf Treu und Glauben annehmen und darauf schwören, daß sie lernen nicht etwa das System verstehen, sondern in den Formeln desselben sich bewegen und diese bestmöglich streng und ohne Abweichung nachschwatzen. Ferner gehört dazu, daß der Lehrer nicht bloß diese Stockblindheit duldet und erträgt, sondern er muß selbst stockblind sein, und in süßer Eitelkeit von seiner Infallibilität überzeugt, keinen Zweifel und Widerspruch dulden, sondern auf diese Ketzereien ein für alle Mal einen Bann legen. Drittens ist aber nötig, daß der Meister öffentlich Lob gegen die Schüler ausspricht, und die Schüler wieder den Meister mit begeisterter Salbung loben, und unter sich selbst, sich an den Schlagwörtern kennen, sich jubelnd empfangen und die Hände reichen und zur Teilnahme an der geoffenbarten Weisheit Glück wünschen. Endlich aber haben Meister und Schüler zusammenzutreten und allen anders Denkenden einen Kampf auf Leben und Tod anzukündigen. Jeder, der nicht die Schuluniform trägt, ist ein Feind und der Kampf ist nicht schwer, denn die Feinde sind - a priori - insgesamt blessiert, hinkend und krank.«106 In dieser Karikatur sind eine Reihe von Elementen versammelt, die wir schon aus Tiryakians moderner idealtypischer Schuldefinition kennen und die auch in Schopenhauers Kritik der »Philosophieprofessoren« eingegangen sind. 107 In Schallers Entkräftung der Karikatur sind für uns zwei Komplexe von besonderer Bedeutung, die einer Aufwertung des Phänomens philosophischer Schulbildung in der Regel im Wege liegen und die reflektiert werden müssen, wenn eine befriedigende Selbstdefinition der Schule vorgeschlagen werden soll. Es ist dies das Problem der Uniformität und das der Hierarchie, die, wo sie auftreten, die Produktion von Wahrheit behindern oder verknappen könnten. Schaller verteidigt die Notwendigkeit der Schule, indem er sich zunächst dagegen wendet, das Streben nach einer »Einheit in der Sache für leere gedankenlose Nachbetung« zu halten.108 Die kollektive Orientierung hat einen klaren Vorrang vor dem Streben nach Originalität. »Die Forderung der Originalität macht die Philosophie zur subjektiven Meinung des einzelnen Individuums. Indem jeder lernt, um nur fortzuwerfen, treibt jeder für sich ein besonderes Geschäft; die Wahrheit als der allgemeine Inhalt jedes Bewußtseins ist dann ein ganz leeres Wort, und nicht nur das Fleisch, sondern der Geist selbst ist durch und durch Egoist und die Zersplitterung in lauter inhaltslose Punkte sein Wesen und seine Bestimmung.«109 Ebenso weist Ruge den Vorwurf zurück, die HJ hätten keine »philosophische Berühmtheit gemacht, sondern alles nur der Schule, der Innung zu Gute kommen lassentut< in der Hegelschen Philosophie bekanntlich der Weltgeist, und »nicht Jeden kann das Glück treffen, der vom Weltgeist Auserwählte zu sein, die philosophische Erkenntnis in wesentlichen Punkten weiterzuführen, und einen neuen höheren Standpunkt des Wissens zu erreichen.«113 Bei dem »Glück«, einen wissenschaftlichen Fortschritt zu tun, handelt es sich um ein kontingentes Ereignis. Aber es ist notwendig, auf dieses kontingente »Glück« zu vertrauen. Ohne das Bewußtsein, einen wissenschaftlichen Fortschritt errungen zu haben, entfiele der Grund für die Aufstellung von Thesen, das Schreiben philosophischer Bücher usw. »Wenn nun ein Philosoph mit dem Bewußtsein auftritt, einen Fortschritt errungen zu haben, so knüpft sich notwendig an dieses Bedürfnis sogleich die Forderung, daß sich andere ihm anschließen, und zwar nicht an ihn als das einzelne Individuum, sondern vielmehr an die Sache (. . .). Und zwar ist die Sache ein ganz bestimmter Inhalt, und das Anschließen an dieselbe hat nicht die leere Bedeutung, daß andere nur mitphilosophieren, zur Erkenntnis der Wahrheit auch das Ihrige beitragen; ebensowenig wie einem Philosophen einfallen kann, durch sein System weiter nichts als anregen zu wollen, sondern er gibt vielmehr ein positives Resultat - dies behauptet er als die Wahrheit, und nicht bloß, daß es mit der Philosophie im allgemeinen eine schöne Sache ist.«114 Die »schöne Sache« der Philosophie im allgemeinen, das »Anregen« und »Mitphilosophieren« bezieht sich indifferent auf alle im Konkurrenzraum der Philosophie Versammelten. Schule dagegen ist ein Medium zur Verstärkung der Konkurrenz, indem von dem vorgetragenen Paradigma eine Aufforderung ausgeht, sich entweder als Konkurrent zu verhalten oder sich das Paradigma anzueignen. Von daher ist es für Schaller ein unproduktives philosophisches Verhalten, wenn Philosophen, wie der Pseudohegelianer Fichte, bei der Ankündigung seines Systems erklären, »daß es ihm nicht einfalle, dadurch auch eine neue Schule stiften zu wollen, sondern daß er sich diese Art Anhang geradezu verbitte.« Im Widerspruch stünde dazu, daß »jede philosophische Darstellung zugleich den Zweck habe, den Leser zum Verständnis zu zwingen, und ihn für jetzt wenigstens zu seinem Anhänger zu machen.«115 Die Schulbildung uniformiert die Positionen nicht, sie formiert die Positionen, die sonst uniform, d. h. bloß vereinzelt indifferent und streitlos nebeneinander bestünden. Daher sei »die philosophische Schule als ein notwendiges Moment in der Entwicklung der Philosophie anzuerkennen.«116 Die Karikatur der Hierarchie zwischen einem Lehrer und nachplappernden Schülern entkräftet Schaller, indem er zunächst gegenüber einem aschulischen, »geistreichen« Philosophieren darauf insistiert, daß die Philosophie wie die anderen Wissenschaften auch gelernt werden müsse.117 Auf schulisches Lernen sei nicht

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zu verzichten. Erst von diesem Ausgangspunkt aus entfaltet sich die Spannung zwischen der Forderung selbständigen Denkens und der Notwendigkeit des Lernens. Die Schule ist eine Institutionalisierung dieser Spannung. Die Lehrer-SchülerHierarchie soll entsprechend der oben skizzierten Idee des christlichen Lehrers sukzessiv aufgehoben werden. Wie ist aber eine Schuldefinition aufrecht zu erhalten, wenn die Emanzipation vom Lehrer mit zum Schulprogramm zählt? Für Michelet ist im Bezug auf die Arbeiten der Schüler selbstverständlich: »Ohne Abweichungen von Hegeischen Sätzen wird es dabei nicht abgehen können, ja in manchen Punkten ist ein Teil der Schule über dergleichen schon einig; und sie werden sich immer noch häufen.«118 Die Einheit der Schule sieht Michelet im Festhalten an der »absoluten Methode« gesichert. »Solche fortschreitende Entwicklung der Philosophie ist aber keine Aufstellung eines neuen Prinzips; der Hegeische Standpunkt, da er alles preisgibt außer der Methode, enthält vielmehr in sich die Möglichkeit weiterer Ausbildung nicht bloß als Geduldetes, sondern scheint sogar dazu aufzufordern. Und die Änderungen im einzelnen, weit entfernt, den ganzen Standpunkt zu gefährden, werden nur dazu dienen, ihn immer mehr zu bestätigen; denn die Quelle, aus der sie hervorgehen, die Methode, ist unversiegbar und in ewiger Jugendfrische stets dieselbige.«119 Löst Michelet das Problem des Schülerfortschritts gegenüber dem Lehrer durch die, nebenbei bemerkt, wenig hegelianische Trennung von Methode und Anwendung (Hegel: »die Methode ist nichts anderes als der Bau des Ganzen in seiner reinen Wesenheit aufgestellt«120), so kommt Schaller zu der Auffassung: »Indem aber die Philosophie ihrem ganzen Wesen nach produktiv ist, so treibt die durch die Zucht des Lernens und durch die Besitznahme der Sache errungene Selbständigkeit notwendig über die Reproduktion des Gegebenen hinaus. Man kann so allerdings sagen, daß jeder wahre Schüler darauf bedacht sei, über das System seines Meisters hinauszugehen; allein dies ist kein äußerlicher Vorsatz, der ohne weiteres mit dem Fortwerfen der Lehre der Schule beginnen könnte, sondern fällt mit dem freien Besitz der Sache zusammen.«121 Dieses »notwendige Hinaustreiben« ist ein konfliktreicher Prozeß, bei dem die Konfigurationen der Schule im Konkurrenzraum philosophischer Schulbildung innerschulisch sich wiederholen. Wenn ein Lehrer die Auffassung seines Schülers mißbilligt, so liegt darin »zunächst weiter nichts, als daß die Systeme beider wirklich verschieden voneinander sind; der Prozeß der Scheidung liegt jedem vor Augen«.122 Wollte man »dem Richterspruche des Meisters eine unbedingte Autorität zugestehen, sicherlich wäre die Entwicklung der Philosophie mit einem Male gehemmt.«123 Die Voraussetzung für eine Anerkennung der Abweichung der Schüler als progressive ist lediglich »die vollständige Besitznahme des schon errungenen Resultats«.124 Aber jeder freie Besitz der Sache ist schon ein Darüber-hinausgehen. So, wie die Philosophie der Versöhnung die konkurrierenden Philosophien in sich aufnimmt und >aufhebtaufgehobenSchuleMacht des Geistes< im Staatsleben durchführt.

5. Erwartungen Will man den Erwartungshorizont der philosophischen Schule präziser fassen, so ist zunächst an die beruflichen Erwartungen zu denken. Die Junghegelianer erwarten für sich Karrieren als Teile der beamteten Intelligenz: Koppen, Rutenberg, Stirner, Witt haben Lehrerexamen abgelegt; Bayrhoffer, B. Bauer, Feuerbach, Gottschall, Marx, Nauwerck, Prutz, Rüge erwarten für sich eine Karriere als Universitätsprofessoren. Für eine ganze Reihe von Junghegelianern handelt es sich bei dieser beruflichen Orientierung zudem um die Erwartung eines sozialen Aufstiegs durch Bildung. Rückenwind erhält diese Erwartung durch die Erfahrung des rapiden Ausbaus des preußischen Unterrichtssystems vor allem in den 20er und 30er Jahren. Von 1816bis 1846 steigt die Zahl der Volksschüler um 108 %. 137 Die Berliner Universität zählt im Sommer 1820 910 Studenten, im Winter 1833/34 sind es 2001. Seit dieser Zeit geht zwar die Gesamtzahl kontinuierlich zurück, aber die Entwicklungen sind in einzelnen Fächern unterschiedlich. Während die Zahl der Theologen bis

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1830/31 dramatisch steigt (641), um dann kontinuierlich abzufallen (1835: 509/ 1840: 396/1845: 267), ist die Zahl der Philosophen durch ein stetiges Wachstum gekennzeichnet. (1830: 241/1835: 291/1840: 360/1845: 425)138 Mit ihrer beruflichen Orientierung auf die Beamtenkarriere sind die Junghegelianer Teil einer umfassenden Entwicklung, die auch von den Zeitgenossen bemerkt und zum Teil skeptisch betrachtet wurde. So schreibt Wessenberg 1833: »Nicht ohne Grund hat man, besonders in den neuesten Zeiten, über zu großen Zudrang von minderfähigen Jünglingen an den Universitäten geklagt. Die Hauptursache dieses Zudrangs liegt nicht in dem Reize der Wissenschaft, sondern in dem Reize des bequemeren, behaglicheren Lebens, in einer mit Staatsbesoldung verbundenen Anstellung. Dieser Reiz wurde durch die ausnehmende Vervielfältigung der Werkzeuge der Staatsregierung sehr vermehrt. Jeder möchte nun lieber an der reich besetzten Tafel der Bürokratie mitgenießen«.139 In liberalen Kreisen wird diese Entwicklung sorgsam registriert. Der Altonaer >Freihafen< bemerkt 1840, daß die große Zahl der Studenten unmöglich in den Staatsdienst aufgenommen werden könne. »Auf der einen Seite wird der Drang der Jugend nach Bildung immer größer und auf der andern nehmen die Mittel zu einer ehrenvollen Stellung für gebildete Stände im Staate immer mehr ab. Um diesen künstlichen Zustand so wenig gefährlich als möglich zu machen, bleibt nichts anderes übrig, als nicht nur alle Nahrungsquellen der Gewerbe und der Industrie ohne irgendeine Ängstlichkeit freizugeben, sondern auch den Industriellen einen ebenso hohen Rang, als den Staatsbeamten und dem Adel einzuräumen.«140 Für die Mehrheit der Junghegelianer liegen diese Überlegungen unterhalb der Wahrnehmungsschwelle. Für sie ist entscheidend, daß das Bündnis von Schule und modernem Staat erhalten bleibt. Die große Erwartung richtet sich auf das Jahr 1840. Es handelt sich für die Gruppe um ein symbolisches Jahr in mehrfacher Hinsicht. Es hat seine Bedeutung schon im Voraus durch eine zahlenmystische Erwartung, es gewinnt eine zusätzliche Bedeutung durch die Ereignisse, die in dieses Jahr fallen, und schließlich werden die Erwartungen des Jahres 1840 in die Gruppengeschichte so inseriert, daß sie die Qualität eines Mythos erhalten. Auf das Jahr 1840 wird als ein bedeutendes Jahr gewartet. Die 400-Jahrfeier der Erfindung der Buchdruckerkunst, die als Beginn der modernen Zeit gilt, spielt dabei eine geringere Rolle als die wachgehaltene Erinnerung daran, daß mit der Jahreszahl 40 entscheidende Wendepunkte der preußischen Geschichte verbunden sind. 1440 das Todesjahr des ersten Kurfürsten von Brandenburg, 1540 die Reformation in Preußen durch Joachim II., 1640 der Regierungsantritt des großen Kurfürsten, und 1740 die Thronbesteigung Friedrich des Großen.141 Drei Jahre später, 1843, wird K. R. Jachmann die zahlenmystische Fixierung auf das Jahr 1840 in Zweifel ziehen und fragen: »Aber was weiß der Weltgeist, vor dem die Weltgeschichte von Anfang bis zu Ende oder besser von Ewigkeit zu Ewigkeit wie ein Gemälde aufgerollt daliegt, von den Jahreszahlen, von den Zeichen und Abschnitten, die wir erfunden haben, um unserem Gedächtnis zu Hilfe zu kommen?«142 Die Junghegelianer dagegen beginnen schon 1838, sich auf die Wiederkehr der Zahl 40 vorzubereiten.143 Im Zentrum steht dabei das Jubiläum der Thronbesteigung Friedrichs II.

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In einer dem Freunde Karl Marx aus Trier gewidmeten »Jubelschrift«: »Friedrich der Große und seine Widersacher« feiert K. F. Köppen den Philosophenkönig als den »freiesten Diener des Weltgeistes, der je gelebt und geherrscht hat«. 144 Ein Diktum Hegels abwandelnd, heißt es von Friedrich II: »Seine Zeit, seine Stellung in derselben, seine weltgeschichtliche Aufgabe, das Wesen und der Zweck seines Staates, des Staates überhaupt, des Gesetzes, der Verwaltung und Verfassung, der Religion und Kirche usw. hat er im Gedanken erfaßt und diesem Gedanken nach regiert.«145

Wiederkehrender Bezugspunkt der Schrift ist die Staatsauffassung des Königs: »Was ist der Zweck des Staates? Das öffentliche Wohl. Was ist der Fürst? Der erste Diener des Staats; diese beiden Sätze, die an der Spitze von Friedrichs philosophischer Staatstheorie stehen, sind auch die Basis seines königlichen Tuns.«146 Der Absolutismus Friedrichs wird von Koppen entschieden verteidigt. Für ihn ist Friedrich kein Despot. »Er hatte sein Ich rein und ganz hingegeben, damit es eben die Ichheit des Staats sei. Und so konnte er denn wie Ludwig der XIV, obwohl im entgegengesetzten Sinn sagen: l'etat c'est moi. Sein Ich war der Staat, aber nicht sein empirisches (car tel est notre plaisir), sondern sein transzendentes, in den Staatszweck aufgegangenes und mit diesem identisch gewordenes Ich.«147 Das Ideal des rationalen Verwaltungsstaats hat bei Koppen Vorrang vor der Frage der Repräsentativverfassung. Die Garantien liegen in der Gesetzmäßigkeit der Verwaltung und in der Rechtspflege. Die Offenheit gegenüber Beschwerden, die Friedrich seinen Beamten als Pflichterfüllung abverlangt, wird besonders hervorgehoben: Friedrich habe geduldet, »daß Winkeladvokaten, Aufhetzer und Rabulisten ihn bis zur Ungebühr mit Klagen und anderen Vorstellungen heimsuchten. >Die Leutehaben zwar sehr oft Unrecht, aber ich muß sie doch anhören, denn dazu bin ich da.Geist< als eine souveräne >MachtGeschichte der Parteikämpfe< aufgenommen hat.153 Der kollektiv >irrationale< Charakter dieser Verwandlung der sozialen Situation steht außer Frage, aber für die Zeitgenossen ist das Erlebthaben dieser Verwandlung ein gemeinsamer Bezugspunkt, der nicht so rasch vergessen wird. Die Verwandlung der sozialen Situation ist prägend durch die Entzauberung hindurch. Im strengen Sinne ist die erfüllt geglaubte Erwartung gar nicht zu enttäuschen, sofern ihr ein kollektives Erfahrungsbruchstück von auch nur kürzester Dauer zugrunde liegt. Was sich Pfingsten 1840 an Verwandlung der sozialen Situation für einen Moment ergeben hatte: »Alles, alles sieht anders aus«, bleibt ein Muster, das den Horizont bis zum Jahre 1848 bestimmt. 1843, zu einem Zeitpunkt, da beträchtliche desillusionierende Erfahrungen mit dem neuen König vorliegen, die auch ausgiebig reflektiert werden, ist das Muster dennoch präsent, wenn z. B. F. Wehl schreibt: »Friedrich Wilhelm der Dritte starb und Friedrich Wilhelm der Vierte folgte. Wie ein Wetterleuchten zuckte dies Leuchten empor. Die alte Zeit ging mit dem alten König zu Grabe und die neue Zeit hob den neuen König auf ihren Schild. Friedrich Wilhelm der Vierte mußte ein anderer sein, als sein Vater; es lag dieses weniger an seinem Willen, als an der Notwendigkeit der zeitlichen Zustände. Wie er ein anderer sein wird, wird uns die Zukunft lehren. Hoffen wollen wir das Beste, wir haben Grund dazu.«154 Den Moment der Verwandlung in ein Kontinuum zu transformieren, dieser Strategie folgen die Argumentationen der Junghegelianer, wenn sie, wie K. Riedel, auf den neuen König setzen. Die Erwartung verpflichtet den König, die Kette der erfüllten Weissagungen reißt nicht ab: »Was wir seit Friedrich Wilhelm des Vierten Thronbesteigung unter glückbedeutenden Zeichen kommen und erstehen sahen, weissagt uns, daß die Zeit, deren geistigen Inhalt wir andeuteten, auch vom Throne herab erstrebt und in Wirklichkeit gerufen werde, durch einen Willen, der nur im Trefflichsten seine Aufgabe gelöst sieht.155 Natürlich nährt sich das Muster von Anhaltspunkten, die im Verhalten des neuen Königs liegen. Seine Amnestie für politische Untersuchungshäftlinge, die Wiedereinsetzung Arndts, seine schwankende Haltung in der Frage der Einlösung des >Verfassungsversprechens< von 1815, schließlich seine Pressepolitik schienen die in ihn gesetzten Erwartungen immer auch zu einem Teil zu bestätigen. Selbst in den schärfsten junghegelianischen Kritiken Friedrich Wilhelms IV., wie z. B. in der von Marx 1843, reproduziert sich das Muster der Thronwechselerwartung: »Der alte König wollte nichts Extravagantes, er war ein Philister und machte keinen Anspruch auf Geist. Er wußte, daß der Dienerstaat und sein Besitz nur der prosaischen, ruhigen Existenz bedurfte. Der junge König war munterer und aufgeweckter, von der Allmacht des Monarchen, der nur durch sein Herz und seinen Verstand beschränkt ist, dachte er viel größer. Der alte verknöcherte Diener- und Sklavenstaat widerte ihn an. Er wollte ihn lebendig machen und ganz und gar mit seinen Wünschen, Gefühlen und Gedanken durchdringen; und er konnte das verlangen, er in seinem Staate, wenn es nur gelingen wollte.

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Daher seine liberalen Reden und Herzensergießungen. Nicht das tote Gesetz, das volle lebendige Herz des Königs sollte alle seine Untertanen regieren. Er wollte alle Herzen und Geister für seine Herzenswünsche und langgenährten Pläne in Bewegung setzen. Eine Bewegung ist erfolgt; aber die übrigen Herzen schlugen nicht wie das seinige, und die Beherrschten konnten den Mund nicht auftun, ohne von der Aufhebung der alten Herrschaft zu reden.«156

Marx projiziert hier das Erwartungsmuster auf den König als von ihm ausgehende Erwartungen, eine Umstellung, die legitim ist, denn Erwartung ist kein Phänomen, das sich getrennt entfaltet, die Verwandlung der sozialen Situation betrifft alle. Erst die Desillusionierung trennt und kann Versagen einer Seite zuschlagen. So ist im schließlichen Resultat der König vom Volk enttäuscht und das Volk von ihm. Der Wechsel an der Spitze des preußischen Staates tangiert die Junghegelianer in dramatischer Weise, weil ihre Konstruktion: das Bündnis von Schule und modernem Staat auf dem Spiel steht. B. Bauer schreibt 1840: »die Wissenschaft wird mit unerschöpflicher Pietät das Andenken Friedrich Wilhelms III. feiern, der sie in ihrer ruhigen Entwicklung nicht stören ließ. Der Schutzgeist der Wissenschaft saß auf dem Thron und verhinderte es, daß das Zeichen zum Kampfe gegeben würde.«157 Der Kampf, den Bruno Bauer im Auge hat, ist der Kampf um die Stellung der Schule im preußischen Staat unter der Regierung Friedrich Wilhelms IV. Die Prozesse der Destabilisierung des Bündnismodells lassen sich nur oberflächlich auf einen Konflikt zwischen den progressivem Junghegelianern und dem reaktionärem Verhalten der neuen Regierung beziehen. Die DeStabilisierungen finden auf beiden Seiten statt, und in ihnen wirkt das Erwartungsmuster vielfach gebrochen weiter. Im Unterschied zu seinem Vorgänger betreibt der neue König eine aktive Universitätspolitik, was schon ganz unabhängig von den Zielen eine Destabilisierung bedeutet, weil die Bürokratie kaum in der Lage ist, die Flut der Initiativen zu verarbeiten. Selbst diejenigen, die dem König seit seiner Kronprinzenzeit nahestehen wie die konservativen Brüder v. Gerlach, sehen in den Initiativen »absolutistische Exzesse«.158 Sie wirken um so destabüisierender, als der König seine Absichten, Ziele, Erwartungen öffentlich proklamiert und sich somit über die Bürokratie hinweg als Dialogpartner gesellschaftlicher Ansprüche präsentiert. Vor diesem Hintergrund ist auch der oft zitierte Ausspruch zu sehen, der König wolle die »Drachensaat des Hegelschen Pantheismus« aus den Geistern der Jugend ausrotten.159 In der Art, in der der neue König die Altensteinsche Politik der Protektion der Hegelschule revidiert, destabilisiert er zugleich einen gesellschaftlichen Funktionszusammenhang. Denn Friedrich Wilhelm IV. ersetzt nicht die Hegelschule durch eine andere, vielmehr betreibt er eine Berufungspolitik, die zwar konsequent antihegelianisch, aber in ihren positiven Aspekten nicht mehr vom Konzept der Privilegierung einer Schule ausgeht, die sich in besonderer Weise auf die >beamtete Intelligenz< beruft. Die neuen Berufungen, die auf die Initiative des Königs zurückgehen: z. B. den Theoretiker des christlichen Staates< Julius Stahl, der den Stuhl des verstorbenen Hegelianers E. Gans einnimmt, die Brüder Grimm, deren Protest im hannoverschen Verfassungsstreit sie zu Symbolgestalten liberalen Professorenmutes hatte werden lassen, den gelehrten Poeten Friedrich Rücken, der neben dem vom König verehrten Malerprofessor Cornelius und Musikprofes-

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sor Mendelssohn den künstlerischen Ruhm der Universität vergrößern sollte diese Berufungen folgen eher arbiträren Impulsen als einem überlegten Konzept. K. A. Varnhagen von Ense befürchtet angesichts der Vielzahl von Berufungen vergangener Berühmtheiten die Entstehung einer »verfluchten Rumpelkammer«.160 Die Erwartungen, die der König mit der spektakulären Berufung Schellings nach Berlin verbindet: mit diesem Philosophen jemanden zu gewinnen, der ein Gegengewicht gegen die Hegelschule darstellen könnte, werden ebenso enttäuscht wie die Erwartungen der Hegelianer, einem Kontrahenten gegenüberzustehen, mit dem gestritten werden kann. Es sind insbesondere die Junghegelianer, die sich intensiv auf die Ankunft Schellings in Berlin vorbereiten. Sie tun dies in dem Erwartungshorizont, daß mit dem von König protegierten Schelling gleichsam eine Alternative zum Bündnis der Hegelschule mit dem Staat aufgebaut werden soll. Im Juli 1841 eröffnete das >Athenäum< die Vorbereitungen mit einer Stellungnahme gegen einen Korrespondenten der >Augsburger Zeitungdie Hegelsche Schule (. .. ) über Rückschritte der Intelligenz in Preußenärgern und seufzen, daß sie, die bisher im Staat als die erste herrschende Richtung bevorzugt worden sei, jetzt andere nicht nur unter, sondern auch neben sich dulden solle.Augsburger Zeitung< den Vorschlag macht, Schellingianer und Junghegelianer sollten sich vereinigen und eine »dritte« Philosophie entwerfen, »welche dem preußischen Staat in der patriarchalischen Stellung, die er heute bekleidet, die politisch-kritische und ideale Kraft einzuflößen vermögen werde«165 - diese sollte von Ruge, jene vom neuen Schelling stammen -, dieses Kompromißangebot lehnen die Junghegelianer ab. Stattdessen publiziert K. Riedel eine Kampfschrift gegen Schelling, die von E. Meyen begeistert rezensiert wird.166 Als Zeichen der Schwäche werten es die Junghegelianer, daß Schelling häufig diejenigen, die sich ihm anschließen, desavouiere, und besonders kosten sie seine Desavouierung Stahls aus.167 Die junghegelianischen Vorbereitungen für einen Kampf der Schulen gehen jedoch ins Leere. Die mit Spannung erwartete erste Vorlesung Schellings im dicht besetzten Auditorium Maximum verläuft ebenso enttäuschend wie die folgenden. Schelling vermeidet eine direkte Auseinandersetzung mit Hegel und der Hegel-

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schule, im Gegenteil, er zitiert sogar anerkennend den verstorbenen Gans. Im übrigen sei er gekommen, um zu versöhnen, Schwächen sollten nicht schadenfroh aufgedeckt werden, sondern womöglich vergessen gemacht werden.168 Schelling will, wie er anläßlich eines verspäteten mit ministerieller Unterstützung zustande gekommenen dürftigen Fackelzuges kundgab, eine Philosophie, die »nicht bloß innerhalb der vier Pfähle einer engen Schule oder in einem beschränkten Kreis von Schülern sich behauptet.«169 Es kommt in Berlin trotz aller Protektion, die Schelling genießt, nicht zum Kampf der Schulen. Die antihegelianische Koalition findet nicht nur keinen gemeinsamen Nenner, die ganze Figur einer >beamteten Intelligenz< im >auf Intelligenz sich gründenden Staat< zerfließt. Diejenigen, die an der Figur festhalten wollen, finden nicht nur keinen Bündnispartner in der Regierung, auch das Gegenbild einer anderen Schule erweist sich als Illusion. Schelling wird nicht als neuer >StaatsphilosophHofphilosoph< gehandelt. Das Konzept einer philosophischen Schule, die mit anderen um eine adäquatere Wahrnehmung der mit dem Konkurrenzraum philosophischer Schulbildungen gegebenen Möglichkeiten konkurriert, indem sie die Progression der Intelligenz im Staate zum Maßstab erhebt, dieses Konzept fällt nicht einfach der Repression des Staates zum Opfer, sondern es implodiert, weil die Mitspieler gleichsam ausfallen. Mit anderen Worten: die Bindekraft des Modells, die darauf beruhte, daß die verschiedenen Interessen in eine Struktur eingelassen waren, die auf Herausforderungen abzielte und so immer mehr >verlangteangerechnet< werden, obwohl er bereit ist, sich von dieser Schrift als »Jugendschrift« zu distanzieren.171 Noch 1842/43 ist ihm der Staat »der Inbegriff aller Realitäten - der Staat die Vorsehung des Menschen«. 172 Das berufliche Schicksal dieser beiden wäre für die anderen Anlaß genug gewesen, die Karriereorientierung zu überdenken. Aber Marx will noch 1841 Professor werden, Prutz' Gesuch um eine Professur wird in dieser Zeit abgelehnt, Bayrhoffer wartet

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bis 1846 auf eine ordentliche Professur, Nauwerck bleibt Privatdozent, bis ihm 1844 die Lehrerlaubnis entzogen wird. Gottschall wiederholt die Rugeschen Erfahrungen fast 10 Jahre später. Das Karrieremuster der Junghegelianer hält sich trotz der Enttäuschungen relativ konstant durch. Widerstrebend wird es aufgegeben und die freie Schriftstellerexistenz gewählt, die für eine Reihe der Mitstreiter schon gegeben ist.173 Will man die kaum von der Hand zu weisende Tendenz, sich am Erwartungshorizont, der mit dem Jahre 1840 symbolisiert ist, festzuklammern, genauer untersuchen, so bietet es sich an, die Entlassung B. Bauers in den Mittelpunkt der Analyse zu stellen.174 Der >Fall B. Bauer< kann exemplarisch gemacht werden, weil im Unterschied zum Scheitern der anderen junghegelianischen Karrieren die Gruppe selbst diesen Fall für sich exemplarisch gemacht hat. In der Entlassung B. Bauers spiegelt sich für sie die Entlassung der Philosophie aus dem Staatsdienst. Auf Initiative Altensteins war B. Bauer an die Universität Bonn übersiedelt, teils weil an der Theologischen Fakultät in Berlin kein Platz war, und teils, weil in die Bonner Fakultät der Hegelianismus noch keinen Einzug gehalten hatte. Darüber hinaus hatte sich B. Bauer in Berlin durch seine Streitschrift gegen Hengstenberg die Gunst der Fakultätsmehrheit verscherzt. Die Finanzierung der Bauerschen Tätigkeit in Bonn, die er nach langer Zeit ärmlichster Verhältnisse erhält, ging jedoch zu Lasten zweier älterer Bonner Privatdozenten - eine Querele, die Bauers Stellung in Bonn nicht gerade verstärkte. Über diesen Auseinandersetzungen starb Altenstein. Der neue Minister, der von der Bonner Universität sogleich ersucht wurde, die Finanzierungslösung für B. Bauer rückgängig zu machen, versuchte zunächst, einen Kompromiß durchzusetzen: Dieser sollte sich mit einer Gehaltskürzung nach Charlottenburg zurückziehen, um dort auf dem neutralen Gebiet der Kirchengeschichte zu forschen. Mit Hilfe der Fürsprache seines Lehrers Marheineke gelingt es B. Bauer jedoch, wieder nach Bonn zurückzukehren. Der Bruch mit dem Ministerium erfolgt, als B. Bauer statt wenig brisanter kirchengeschichtlicher Forschung dem Minister am 20. Juni 1841 den ersten Band seiner >Kritik der evangelischen Geschichte der Synoptiker< mit der Bitte um einen theologischen Lehrstuhl übersendet.175 Hervorzuheben am Verlauf der Auseinandersetzung um die Entlassung B. Bauers sind zunächst Irritationen, die die Verhaltenskohärenz von Verwaltung und Ministerium betreffen. Für Entlassungen von mißliebigen Hochschullehrern hat es in Deutschland insbesondere während der Demagogenverfolgung eine Reihe von Präzedenzfällen gegeben (z. B. die Verfolgung De Wettes und die Gewaltsprüche gegen die Göttinger Sieben). Aber während damals Entlassungen relativ >problemlos< vollzogen wurden, eröffnet der Minister im Fall B. Bauers ein Verfahren, das den Liberalisierungserwartungen im Gefolge des Thronwechsels mehr zu entsprechen schien. Eichhorn legt zunächst den theologischen Fakultäten Preußens die Fragen vor: »1. welchen Standpunkt der Verfasser nach dieser seiner Schrift im Verhältnis zum Christentum einnimmt, und 2. ob ihm nach Bestimmung unserer Universitäten, besonders aber der theologischen Fakultäten auf denselben, die licentia docendi verstattet werden kann?«176

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B. Bauers Haltungen dem Prozeß, der mit seiner Entlassung endet, ist schwer zu rekonstruieren. Zwei Interpretationsmuster, die beide wenig befriedigen, drängen sich auf: die Rede vom >pathologischen BauerOpfer staatlicher Repression< in der B. Bauer als Held der freien Wissenschaft gefeiert wird. Der >pathologische Bauer< findet sich prägnant in dem Ministerialgutachten von J. Schulze.181 Er schreibt seinem Minister, nach mündlichen Unterredungen und nach der Lektüre der »Posaune« habe er von B. Bauer die Überzeugung gewonnen, »daß er sich in einer leidenschaftlichen krankhaften Aufregung befindet«, solange diese »fieberhafte Stimmung« andauere, »kann ich den B. Bauer nur als einen geistig Kranken betrachten, welcher um so gerechteren Anspruch auf meine Teilnahme hat, je größer die Gefahr ist, worin er mir zu schweben scheint und je bedeutender die Talente sind, welche ihm Gott verliehen hat.« Man kann dieses starke Urteil relativieren: der alte Protege der Schule will B. Bauer helfen, er rät dazu, B. Bauer »eine rettende Hand zu bieten«, ihn vielleicht an einer größeren Bibliothek anzustellen. Aber auch der Hegelianer Marheineke, der in seinem Separatvotum vorschlägt, B. Bauer aus der theologischen in die philosophische Fakultät überzuleiten, geht auf die Pathologie ein. Er spricht von der »schmerzlichen Erfahrung« B. Bauers, »sich stets und ohne Unterlaß zurückgesetzt zu sehen«, und erklärt sich so, »wie die Säure des Unmuts und die Bitterkeit, von der in seiner letzten Schrift (der erste Band der >SynoptikerVerrückheit< von dir, so zu handeln, wie du handelst: was du denn nachher anzufangen dächtest; freilich das müßtest du am besten wissen.«183 Der >pathologische B. Bauer< ist zunächst zu dechiffrieren als der B. Bauer, der nicht verstanden wird, der also ein abweichendes Verhalten zeigt, dessen Sinn sich verrätselt. Die Paradoxie des B. Bauerschen Verhaltens läßt sich zugespitzt auf die Formel bringen: Es insistiert darauf, in der theologischen Fakultät als beamteter Lehrer zu wirken, und baut gleichzeitig eine Konfliktstrategie auf, die absehbar mit seiner Remotion enden muß. B. Bauer testet mit einem lebensgeschichtlichen Einsatz die »politische Frage unserer Zeit«, die Ruge darin sieht: »ob der Staat in einer bestimmten Verfassung die Bewegungen des Geistes, welche über diese Bestimmtheit hinausgehen, unterdrücken, oder ob er Formen erfinden solle, welche die unendliche Bewegung ausdrücklich zu seiner eigenen Angelegenheit machen.«184 B. Bauer testet diese Frage, d. h. er läßt der Geschichte nicht ihre Evidenz, sondern fordert sie heraus. Er weiß spätestens seit dem Tode Altensteins, daß er kaum eine Chance hat, Theologieprofessor zu werden, aber diese Evidenz macht er zu einem historischen Experiment, in dem die Grenzen zwischen >gespieltem< Verhalten und >ernsthaftem< Einsatz verschwimmen. Daher ist B. Bauer auch nicht einfach >Opfer der Repression< Als >Opfer< müßte er die Evidenz der Repression in dem Sinne anerkennen, daß er aufhört mitzuspielen, um den Gegensinn authen-

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tisch zu entfalten. Aber in dieser Art will B. Bauer nicht >unschuldig< sein an dem, was ihm >passiertSynoptiker< mit dem Gesuch um einen Lehrstuhl übersandt hatte, berichtet er Ruge: »Eichhorn ist außer sich gegen mich. Ich war bei ihm, weil ich seine gegenwärtigen Absichten kennenlernen wollte, d.h. bestätigt haben wollte. Es war eine starke Expektoration. Wir sind aber Sieger. Die Ruhe, Selbstgewißheit, alles ist unser, den anderen nur die Unsicherheit, Unklarheit und dumpfe Leidenschaftlichkeit. Es war köstlich.«186 Angesichts der Erfolgsaussichten seines Prozesses ist das »Wir sind aber Sieger« eine völlige Verkehrung der Kräfteverhältnisse. Aber B. Bauers historisches Experiment zielt auf anderes als auf die Evidenz von Gewaltverhältnissen. Im Monat vor seiner Entlassung schreibt er Ruge: Jetzt habe er die Theologische Fakultät »vor Gericht geladen und die Sachen zwischen ihr und mir, da ich diese Leute nicht anders zu Wort bringen kann, vor das Ministerium in dem Sinne gebracht, daß dieses entscheiden soll, ob die Fakultät ein haltbares Argument vorbringen kann, welches mich für den Staat totmachen müßte. Ich will sie so gut wie den Staat zur Sprache und zur Entscheidung bringen, ob die Kritik vom Staate ausgeschlossen werden soll. Natürlich hoffe ich von diesem Prozeß nichts, aber er muß auch einmal entschieden werden. Indessen wanke und weiche ich nicht, sie mögen machen, was sie wollen, - es ist mir gleich.«187 Getestet werden soll mit B. Bauers Experiment die Fähigkeit von Staat und Universität, wissenschaftliche Kritik in sich aufzunehmen, d. h. es steht die Bündniskonzeption der Junghegelianer auf dem Prüfstand. In der RhZ macht B. Bauer deutlich, daß es in seinem Prozeß nicht primär um »Gewissensfreiheit« geht. Sie sei »in der neueren Zeit so stark und sicher geworden, daß sie nicht erst noch garantiert zu werden braucht.«188 Wenn aber »das Gewissen und das Bestehende nicht mehr

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schlechthin harmonieren«, so muß der Staat dafür sorgen, daß beide »nicht endlich zu weit auseinander treten.« Er tue dies durch die Garantie der »Druckfreiheit«. Aber auch um diese geht es B. Bauer nicht primär in seinem Prozeß. »Die Druckfreiheit läßt immer noch den Schein stehen, daß dieser einzelne Mensch, dieser Autor, dieser Schriftsteller, obwohl er eine allgemeine Idee präsentiert, nur als diese einzelne Person dastehe; dieser Schein kann bei aller Druckfreiheit geltend gemacht und diese Ansicht am Ende sehr nachteilig werden.« Die Druckfreiheit ist keineswegs ausreichend, um den Konflikt zwischen dem »Gewissen« und dem »Bestehenden« zu lösen. Denn trotz des Scheins, es handele sich um bloß einzelne Ideen, hätten zwar »alle tüchtigen Überzeugungen sich endlich Eingang, Anerkennung und Einfluß auf das Bestehende verschafft«, aber sie hätten dies in der Vergangenheit auf eine sehr unwürdige, inhumane Weise tun müssen. Bauer fragt: »Aber soll und darf der Mensch immer nur wie ein Tier durch die unorganischen, ungeordneten Massen hindurcharbeiten?« An Anspielung auf prominente Hegelsche Tiervergleiche schreibt B. Bauer, dies müsse zwar ein Hund, ein Wurm und ein Maulwurf tun, aber zu fragen sei: »Soll die Geschichte nur ein Gewühl sein? Sollen die Bewegungen der Geschichte nur dadurch herbeigeführt werden, daß die neuen Ideen sich wie ein Maulwurf durchwühlen und endlich die Rinde durchbrechen? Der Mensch ist mehr als ein Wurm. Sein Adel ist die Form. Und diese Form gibt ihm der Staat.« Auf dieser Ebene liegt für B. Bauer der Testpunkt seines Prozesses: »An dem Staat ist es, das Formlose, Gewühlartige, Unorganische und scheinbar Zufällige, was in den Bewegungen der Presse liegt, dadurch aufzuheben, daß er zur Druckfreiheit die Lehrfreiheit hinzufügt, d. h. für eine öffentliche, zum Staatsorganismus selbst gehörende Form, sorgt, in welcher sich die neuen Überzeugungen aussprechen können.«189 In der Schere, die sich zwischen der Öffentlichkeit und der beamteten Intelligenz auftut, steht B. Bauer bis zum Ende theoretisch auf der Seite der beamteten Intelligenz als einer der Wissenschaft angemessenen Form, die nicht in ein wildes Außen abgedrängt werden will. Zugleich tut er praktisch alles, um den Test für sich zu verlieren. Woher bezieht B. Bauer seine Energie für dieses Experiment? An zwei mögliche Quellen kann gedacht werden: er ist in dieser Zeit ein Symbol für die Junghegelianer, die sein Experiment mittragen, und er definiert den Prozeß zugleich als eine Selbstfindung. Für die Gruppe gewinnt B. Bauers Konzept der sich in den Staat verklammernden Kritik zunehmend an Bedeutung und wird zu einem intellektuellen Instrument, das auch über die Evangelienkritik hinausgehend Verwendung findet. Er selbst bleibt dagegen in eigentümlicher Weise sich selbst beschränkend bei der Durchführung seines Tests, so wie er es 1840 seinem Bruder annonciert. B. Bauer beglückwünscht ihn, daß er sein Theologiestudium abgebrochen hat, sagt aber über sich: »Ich stecke einmal darin und der Kampf hat sich zu tief in mich eingefressen, als daß ich mich davon abtrennen könnte. (Ich werde erst dann ein Ende machen können, wenn ich alle Wendungen durchgemacht habe.) Ich bin so fest mit der Theologie verwachsen, daß ich nur

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mir tue, was ich in der Theologie tue, d. h. ich wasche mich vom Unrat rein, indem ich dieTheologie aufräume. Wenn ich fertig bin, werde ich rein sein.«190 Diese durchhaltende und ausharrende Selbstfindung ist gebunden an das Bündnismodell von Schule und modernem Staat, und zwar auch über den Moment hinaus, wo dieses Bündnis zweifelhaft wird. Im Februar 1840, noch vor dem Tode Altensteins, schreibt B. Bauer: »Der Staat muß an sich selber ein religiöses Interesse nehmen und die Fortentwicklung der Philosophie beschränken. Sie war bisher durch ihre Verbindung mit dem Staate consolidarisch verpflichtet, also auch eingeengt; sie hatte sich, da sie scheinbar freigelassen und ohnehin begünstigt war, d. h. an den Vorteilen der Regierung teilnahm, selbst ihre Grenze gesetzt. Indem sie aber gefesselt wird, wird sie über alle Fesseln und Grenzen hinausgetrieben. Der gefesselte Prometheus war als solcher freier als damals, da er noch frei umherging und die Menschen opfern lehrte. Der freie Pometheus war bekanntlich in seiner Opferlehre ein Sophist, aber im Schmerz seiner Fesseln war er über alle Mächte erhaben.«191 Das Bewußtsein der heraufziehenden Fesselung kann aber nur zu einer intellektuellen Kraft werden, wenn die Philosophie es ablehnt, sich als >Opfer< zu definieren. Das ist der Sinn der Anspielung auf den Prometheus-Mythos. So antizipiert B. Bauer 1840 seine Entlassung auch nicht als einseitig repressiven Akt, dessen Opfer er sein würde. Im Gegenteil: »Indem die Wissenschaft verstoßen wird, ist sie sich selbst überlassen. Man will sie nicht mehr, gut! so ist sie emanzipiert und ich bin auch frei, soweit ich der Verstoßenen diene. Ich habe mich noch nie so glücklich, so frei gefühlt.«192 Die Entlassung der Philosophie aus dem Staatsdienst ist ein mehrschichtiger Vorgang: Die Karrieremuster, die sich auf die beamtete Intelligenz beziehen, werden brüchig. »Sich als Hegelianer bekennen, ist so gut, als sich für ewige Zeiten das Fortkommen versperren«, konstatiert ein Anonymus in den DJ.193 Aber auch die beamtete Intelligenz hat ihr Intelligenzmonopol verloren, für Intellektuelle verliert diese Figur an Anziehungskraft. Und mit ihr gerät die Selbstdefinition als eine philosophische Schule ins Wanken. Jetzt kann Rüge schreiben: »Diese eigentlich ungeschulte und andere schulende Schule kann nicht produktiv sein, das liegt in ihrem Begriff.« Ihr »Vorteil, mit dem fertigen Reiche Gottes, zu dem die Staatsregierung, eben weil es fertig vorlag und sein Urheber (Hegel, d. V.) dafür Bürgschaft leistete, das beste Zutrauen hatte, sehr schnell zum Guten dieser Welt und in den Staatsdienst zu gelangen« - dieser Vorteil zählt nicht mehr.194 B. Bauers historisches Experiment bringt für die Junghegelianer an den Tag, daß die Universitäten »sich nicht mehr für die Herde der Wissenschaft hielten, auf welchen das reine Feuer der freien Kritik brennen, auf denen jede Richtung ein Asyl finden könne; da konnte auch Bruno Bauer gar nicht mehr daran denken, auf einer Universität lehren und seinen Platz ausfüllen zu wollen. Da war die freie weite Welt sein würdigster Platz, sein großartigster Katheder.«195 Der moderne Staat, der seine Intelligenz entlassen hat, regrediert E. Bauer zufolge zum »Polizeistaat«, und die »Wissenschaft, die er lehren läßt, wird keine echte sein, weil sie stets unter Aufsicht und gezwungen ist, eine offizielle zu sein«.196 Die »offizielle« Wissenschaft ist hier zum negativen Bezugspunkt geworden. Die

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Gruppe muß sich umorientieren. Die entlassenen Philosophen bewegen sich gleichsam in einem definitorischen Vakuum, und sie feiern dies als eine Befreiung. Feuerbach, der zu denen gehört, dessen Karriere früh scheiterte, schreibt: »Es ist allerdings eine Tatsache, daß es bereits so weit gekommen ist bei uns, daß Philosophie und Professur der Philosophie absolute Widersprüche sind, daß es ein spezifisches Kennzeichen eines Philosophen ist, kein Professor der Philosophie zu sein, umgekehrt ein spezifisches Kennzeichen eines Professors der Philosophie, kein Philosoph zu sein. Aber der Philosophie gereicht diese humoristische Tatsache nur zum Vorteil.«197 Der philosophische Schulzusammenhang setzt sich nicht in der Aufhebung der Lehrer-Schüler-Hierarchie fort, vielmehr wird die Differenz bei Feuerbach am Konkurrenzraum philosophischer Schulbildung selbst festgemacht. »Ein wesendicher Unterschied endlich zwischen Hegel und meiner Wenigkeit besteht darin, daß Hegel Professor der Philosophie war, ich aber kein Professor, kein Doktor bin, Hegel also in einer akademischen Schranke und Qualität, ich aber als Mensch, als purer blanker Mensch lebe, denke und schreibe.« Die Philosophie ist so »nicht mehr zu einer bloßen Professoralangelegenheit, sondern zur Sache des Menschen, des ganzen, freien Menschen gemacht. Mit dem Austritt der Philosophie aus der Fakultät beginnt daher eine neue Periode der Philosophie.«198

Die Philosophie hat in den akademischen Schranken ihre Heimat verloren, und die entlassenen Philosophen definieren sich als pur-blanke Menschen, die weite Welt ist ihr Katheder. Die Rhetorik des Austritts und der Entlassung, sie bezieht sich nicht nur auf einen philosophiegeschichtlichen Sachverhalt, der auf das Problem von akademischer Theorie und gesellschaftlicher Praxis verweist, sie reflektiert zugleich eine der zentralen lebensgeschichtlichen Erfahrungen der Junghegelianer. Es sind dies nicht nur Momente der je einzelnen Biographie, sondern die Philosophen sehen in der Entlassung eine Emanzipation im wörtlichen Sinne, ein Geschehen, das sie als Gruppe betrifft. Und sie bleiben eine Gruppe. Aber eine Gruppe pur-blanker Menschen in der weiten Welt ist dem Soziologen nur schwer vorstellbar. Die »neue Periode der Philosophie« bedarf neuer sozialer Definitionen für die, die die Philosophie aus der »offiziellen« Wissenschaft ihrem Verständnis nach herausgerettet haben. Diese neuen Definitionen sind zu einem gewissen Teil noch an die alte Sei Dstdefinition als philosophische Schule gebunden, und zwar in den Bereichen, die die erlernten Umgangsweisen mit Phänomenen der Fraktionierung und der Spaltung betreffen.

7. Positionenstreit und Schulspaltung Das Hegelsche Paradigma eint die Schule. Aber wer in der Schule interpretiert das Paradigma angemessen? Wer macht philosophische Fortschritte, wer nicht? Wessen Gedanken offenbaren so große Abweichungen, daß sein Bezug zum Paradigma bezweifelt werden darf? Was kann als Lösung eines Streits angesehen werden, und was ist ein Grund für die Aufkündigung des Konsenses, für die Spaltung? Es gehört zu den Charakteristika der Hegelschule, daß sie für den innerschulischen Positionstreit und noch für ihre Zerfallsprozesse positive Interpretationen

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bereithält. So schreibt Michelet: Der »Kampf in der Schule selbst ist nichts Schlimmes, sondern das Zeichen ihres vollendeten Sieges, indem nun alles Interesse innerhalb ihrer fällt.«199 Weit entfernt davon, ein Indiz der Schwäche zu sein, bedeuten die Schulkämpfe, daß sich auf der mit der Hegelschule erreichten höheren Stufe der Entwicklung ein Lebensprozeß auf erweiterter Stufenleiter entfaltet. Die Hegelschule, als sich entwickelnde Totalität einer neuen Gestalt der Philosophie vorgestellt, kennt auch wieder Trennungen und Auseinandersetzungen, aber es handelt sich der Selbstdeutung zufolge nicht mehr um den alten Kampf der Philosophien untereinander, sondern um die >Eine Philosophie< die es auf der Höhe ihrer Zeit zwar immer gegeben hat, die aber nun - und das ist der qualitative Sprung - als >Eine Philosophie< erkannt, sich selbstbewußt entfalten, und d. h. eben auch in Momente auseinander treten kann. Es ist eine zentrale Figur der Hegelschen Dialektik, daß jede Einheit sich dadurch entfaltet, daß sie das Anderswerden aus sich heraus bewirkt. In der Einheit liegt ein latenter Widerspruch, der mit der Entwicklung manifest wird. Auf diesen anti-identischen Zug der Hegelschen Dialektik hat besonders Adorno hingewiesen: »Dialektik ist das konsequente Bewußtsein von Nichtidentität«.200 Das Insistieren auf dem Widerspruch, auf der Negativität ist zugleich das Eingedenken einer stets drohenden und anfallenden Ohnmacht des Begriffs gegenüber dem Anderswerden der Sachen. Der Dialektiker sucht nicht schlicht andere Begriffe, wenn Sachen sich ändern, er möchte den Widerspruch im Begriff selbst darstellen. Im Rahmen philosophischer Reflexion, den ein einzelner Philosoph entwirft, mag diese Dialektik auszuhalten sein - aber die sich dem Paradigma Hegels verpflichtende Schule, wie kann sie als soziale Figuration mit dieser Dialektik leben? Es entsteht ein gravierendes Gruppenproblem, wenn sich Philosophen unter der Vorstellung versammeln: »Die Dialektik, die sie am Begriffe aufweist, hat demnach diese Philosophie an sich selbst zu vollziehen, und dieser Prozeß, diese Bewegung zur eigenen Gegenständlichkeit und Aktualität ist ihre Geschichte.«201 Das Schulproblem lautet: Wie kann Einheit der Schule als ein Streit von Positionen definiert werden? Das Problem wird deutlicher, wenn man sich einen der verschiedenen Versuche ansieht, den Kampf der Positionen als dialektische Einheit geschichtlich zu konkretisieren. Für Bayrhoffer ist die Schule - für ihn das »Geisterreich der Idee« - im Jahre 1838 »im allgemeinen schon zahlreich«, und er versucht, die wesentlichen Schulmitglieder in ihren Streitpunkten dialektisch zu plazieren.202 Die »Idee« stellt sich in der Schule für ihn in »weltgeschichtlichen Momenten« dar, die als »besondere Totalitäten« anzutreffen sind. Es gibt zusammen mit »der gediegenen Fortbildung« auch »extreme Richtungen«, und durch die Entfaltung der Extreme kommt es überhaupt erst zu vermittelnden Bewegungen. Ohne Zerfall in extreme Positionen ist die Arbeit der Vermittlung nicht möglich. »So zeigt sich das, was man auf den ersten Blick für eine Entartung und Entstellung halten möchte, doch in der Vernunft und Notwendigkeit des Ganzen gegründet«.203 Es ist nur der >erste Blickzweite Blick< übersieht die Topographie der Positionen, für die das Ordnungsraster vorgegeben ist: die Vermittlung der Extreme der Negation und der Bewahrung. Das eine Extrem, »die negative Freiheit der Idee«, eine Richtung, die sich »kri-

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tisch gegen alle Unmittelbarkeit« verhält, sieht Bayrhoffer repräsentiert in Richter, Strauß und Vatke.204 Gerechtfertigt wird dies für Strauß und Vatke wegen ihrer religionskritischen Arbeit und für Richter wegen seiner positiven Religionsstiftungsversuche (das ist konsequent dialektisch: auch auf der negativen Seite gibt es wieder ein Zerfallen in kritisch und positiv). Der negativen Seite wird auch das junge Deutschland locker assoziiert, »welches Saft, Fleisch und Leben in die Idee bringen will«.205 Das andere Extrem ist die »Bewahrung der positiven konkreten Wirklichkeit«, die in »das Befangensein in der positiven Unmittelbarkeit« umgeschlagen ist.206 Zwar sei hier der »denkende Geist« in der »Tiefe des Gemüts offenbart«, aber er ist »gefesselt«, weil diese Richtung die positive Wirklichkeit ebenso wie die Form der Idee nur bewahren will und sich gegen das negative Moment der Freiheit stellt. In dieser Reihe finden sich Göschel, B. Bauer, Erdmann, Leo, Billroth und andere zusammen. B. Bauer wird dem positiven Extrem offensichtlich aufgrund seiner Polemik gegen Strauß zugeschlagen und gerät in eine Reihe mit Leo, der im gleichen Jahr seinen Angriff auf die »Hegelingen« startet. Gleichsam kontrapunktisch zum >jungen Deutschland< auf der negativen Seite erscheinen am Rande des positiven Extrems die Pseudohegelianer Fichte und Weiße.207 Schließlich definiert Bayrhoffer die Reihe derer, »welche die Idee wahrhaft, in der spekulativen Vermittlung von Form und Inhalt, denkender und seiender Vernunft fortzubilden strebten und streben, und so das wahre freie Reich der Idee bilden.«208 Die Liste der auf Vermittlung Zielenden, zu der sich auch Bayrhoffer selbst rechnen möchte, umfaßt 20 Personen. Neben den Herausgebern der Werke Hegels sind unter anderen Gabler, Hinrichs, Rosenkranz ebenso genannt wie Ruge und Feuerbach. Bayrhoffer konzediert, daß unter den Genannten »manche speziellere Gegensätze« herrschen, aber entscheidend sei, »daß die in die besonderen Gebiete eindringende Idee wie eine in denselben aufgehende Sonne die einseitigen Gegensätze, Extreme und Voraussetzungen in diesen Sphären auflöst, sie in den Begriff erhebt und in seinem konkreten Elemente entfaltet«.209 Die Bayrhoffersche Topographie der Positionen versucht zu balancieren. Negation und Bewahrung sind die Flügelmächte, die sich wieder in sich in Gegensätze aufspalten, um sich durch ihre Bewegung mit der vermittelnden Arbeit der dritten Reihe auszutauschen. Es handelt sich um ein dialogisches Modell, in dem die kontroversen Positionen im Hinblick auf ihren möglichen Dialog geordnet werden. Der >erste Blick< sieht das Trennende des Streits, der >zweite Blick< sieht eine Ordnung möglichen Fortschreitens, eine Ordnung, die dialogischen Austausch antizipiert. Negation ist eine Frage an die Bewahrung und umgekehrt. Die dritte vermittelnde Reihe ist die umfangreichste. Es ist heikel, diesen Ort personell allzu sehr auszudünnen. Zunächst ist es vom Modell her heikel, denn zwar ließe sich gedanklich auch diese Reihe noch positionalistisch in Dialoge aufspalten, in die unendlichen Verfeinerungen des Positiv/Kritisch zerteilen, aber da auf der Ebene geschichtlicher Konkretion Namen genannt werden müssen, wer bliebe dann in dieser Reihe übrig? Zum zweiten ist es heikel, hier nur wenige zu nennen, weil die Gefahr bestünde, daß die ganze Positionstopographie für die Genannten nicht akzeptabel wird. »Ob wohl alle hier von Herrn Dr. Bayrhoffer aufgezählten sich die Rubrizierung

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gefallen lassen werden, oder doch ihrer geistigen Stellung nach gefallen zu lassen brauchen?« fragt Leo und hält Bayrhoffer jene Reihungen vor, die Michelet im selben Jahr den Zeitgenossen darbietet.210 Und in der Tat besteht soziologisch das Problem darin, daß es zur personalen Bestimmung der Momente der sich entfaltenden Totalität Hegelschule einer innerschulischen Autorität bedürfte, die in der Lage wäre, die Definitionen durchzusetzen. Da eine solche Definitionsmacht in der Selbstdefinition der Schule nicht vorhanden ist, kommt es zu den differentesten spekulativen Deutungen der Spaltungssystematik, nicht nur in der Weise, daß zu einem gegebenen Zeitpunkt Uneinigkeit herrscht, wer wo anzusiedeln wäre, sondern auch dergestalt, daß die neuen hegelianischen Publikationen, die Fortschritte in der »Durchführung der absoluten Idee«, die personale Bestimmung der Momente der sich entfaltenden Totalität Hegelschule durcheinander bringen. So vorsichtig auch die Topographie der Positionen angelegt wird, auf der schwankenden Basis der Hegeischen Dialektik gerät die Topographie selbst zur Position. Wer der wahren vermittelnd aufhebenden Spur folgt, die dem Denken des Schulgründers gerecht wird, und wer im >abstrakt Negativem oder im >abstrakt Positivem sich verfängt - die Geschichte der Hegelschule und die Geschichte der Hegelinterpretation bis heute zeigt, daß diese Frage nicht einigungsfähig ist. Könnte diese Frage deshalb nicht einigungsfähig sein, weil die Topographie der Positionen immer nur auf den zweiten Blick erfolgt, weil sie Vermittlungen antizipieren muß, die die Unversöhnlichkeiten des ersten Blicks auf den Streit transzendieren? Wird die Topographie der Positionen selbst positionell, weil kein Intellektueller sich gern das Ereignis des Denkens vorsehen lassen will? Gadamer bemerkt: »Hegels Dialektik ist ein Monolog des Denkens, der vorgängig leisten möchte, was in jedem echten Gespräch nach und nach reift.«211 Für die Positionstafeln der Hegelschüler trifft dies zu, sie sind Vorgriff, auch wenn sie sich auf Positionen beziehen, die vorliegen. Am konsequentesten hat vielleicht Rosenkranz das Problem begriffen, indem er dem biederen Ernst, mit dem etwa Michelet eine komplizierte dialektische Schulsystematik entfaltet, den Charakter der Spiels entgegen hält. Rosenkranz publiziert 1840 die Komödie »Das Centrum der Speculation.«21"1 In der ersten Szene trauert der Chor der Eulen auf dem Berliner Kirchhof vor dem Oranienburger Tor an den Gräbern Fichtes, Solgers und Hegels: »Ringsum schauen wir aus, doch nirgends sehen wir Hilfe, / In das Zentrum (der Spekulation, d. V.) trifft keiner der Lebenden mehr.«21' Ein Herold überbringt den Hegelianern einen Vorschlag der um das Schicksal der Philosophie ebenso besorgten Göttin Athene, auf der Berliner Hasenheide ein Wettschießen zu veranstalten, um zu ermitteln, wer in der Lage sei, »den Punkt, / Zu treffen in der Scheibe, welchen Hegel traf, / Das Punctum saliens. Drauf kommt es jetzo an. / Es tret' ein jeder kampfgerüstet vor, /Je nach der Reihe schieße jeder los, / Denn also hat Minerva es befohlen mir«.214 Auf dem Schießplatz kommt es zum lärmenden Streit der Schüler, bei dem Rosenkranz die einzelnen Positionsbestimmungen des Zentrums in Szene setzt. Schließlich treten, durch den Streit aufmerksam geworden, zwei Polizisten auf, denen es gelingt, die Philosophenversammlung ohne Schwierigkeiten aufzulösen. Die anwesende George Sand, die beim Erscheinen der Polizei gleich an Aufstand und Barrikadenbau denkt, wird von Franz von Baader beruhigt: »Madame, restez transquille. Nous sommes en Prusse. Le gouvernement y est trop eclaire et se rejouit d'une trop grande Sympathie avec toutes les classes de la societe, pour craindre une revolte. (. . .) Vous verrez bientot, que ce n'est,

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qu'une comedie.«215 Sie reist nach Paris ab, »où l'on possède l'art, de composer des erneutes et des barricades, d'une manière si admirable.«216

Für den Soziologen ist Rosenkranz' Komödie sehr hilfreich, weil er den kontingenten Charakter des Positionenstreits deutlich macht. Seine Pointe - die Philosophen streiten sich, bis die Polizei kommt, und keiner ist zu einem Schuß gekommen - verweist darauf, daß im Zentrum des Paradigmas, das zur Debatte steht, sich eine Leerstelle befindet. Daher ist der Positionenstreit kaum zu beruhigen, im Gegenteil, er wird durch diese Leerstelle immer wieder genährt. Will die soziologische Analyse von Intellektuellengruppen nicht bei der Betrachtung >äußerer< Bedingtheiten geistiger Tätigkeiten stehenbleiben, sondern einen Schritt in Richtung auf ein soziologisches Verständnis des Phänomens >Positionenstreit< tun, so darf sie nicht das >Warum< des Streits als ein schon Gegebenes voraussetzen. Sie muß auf der Offenheit des Positionenstreites, die sich in einer philosophischen Schule als Leerstelle des Paradigmas zu erkennen gibt, insistieren. Wenn die Hegelschüler versuchen, ihren Streit als dialektische Einheit zu definieren und ihre Position in einer dialogischen Struktur vorgreifend zu plazieren, so dient dieses Verfahren einmal dazu, die Bedrohlichkeit des Streits zu bannen, denn einige werden sich vielleicht ihre Einordnung und die anderer gefallen lassen, zugleich aber entfesselt dieses Verfahren den Streit erneut, wenn die Positionalität des Verfahrens thematisch wird. Das Moment einer dialektischen Einheit der streitenden Positionen birgt aber über das Gesagte hinaus noch weitere Probleme. Auf der Ebene des Modells lassen sich bei jeder gegebenen Anzahl von Schulmitgliedern dialogische Ordnungen des Positiv/Kritisch antizipieren - zu fragen ist jedoch, wie gesichert werden kann, daß auch alle wesentlichen Positionen berücksichtigt werden. Für Bayrhoffer gibt es zwar in der Schule so etwas wie »Abfälle von der Idee«, aber diese Erscheinungen beträfen immer nur eine »Beschränktheit im Individium«. Dies seien »daher aber nicht eigentlich Abfälle von der Idee, sondern von ihrem Formalismus in einem Individuum«. Das bedeutet: »von der Idee selbst ist Abfall ohnmöglich«, weil sie »die Auflösung aller Standpunkte und aller Widersprüche ist«.217 Ins Soziologische übersetzt lautet Bayrhoffers Schulregel: wenn eine Position als ein Abfall vom Paradigma verdächtigt wird, so ist davon auszugehen, daß es sich nur um Störungen handelt, deren Grund in äußerlich-schematischen Dimensionen liegt, z. B. in einer ungewohnten Art zu formulieren, einer irritierenden Art der Systematik u.a.m. Von diesen Eindrücken her darf nicht darauf geschlossen werden, daß ein Abfall stattgefunden habe, sondern es ist ein Gebot der Gruppe, diese verdächtige Position als ein Moment der Entwicklung der Idee anzuerkennen. Überspitzt formuliert: der Schulregel zufolge kann kein Hegelianer der Schule verlorengehen. Natürlich ist dies eine prekäre Regel, denn sie ist kaum durchzuhalten. Dies zeigen besonders deutlich die Konstellationen, die zur Gründung der HJ geführt haben. Der Idee der Schule nach wäre diese Zeitschrift nicht nötig gewesen, denn die Schule besaß in den von Hegel begründeten Jahrbüchern JWK) ein Organ, das die Momente der Totalität Schule zur Darstellung bringen sollte. Aber in dem Augenblick, wo die Berliner Redaktion nicht mehr alle Positionen in die Zeitschrift aufnimmt, entsteht für die Abgewiesenen ein gravierendes Problem. Anlaß für

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Ruge, an die Gründung einer eigenen Zeitschrift zu denken, ist konkret gewesen, daß seine kritische Rezension von Erdmanns »Leib und Seele« (Halle 1837) von der Berliner Redaktion der JWK abgelehnt wird.218 Der Positionenstreit zwischen dem hegelianischen Ordinarius Erdmann und dem hegelianischen Privatdozenten Ruge, beide in Halle, drohte innerschulisch unentfaltet zu bleiben. Wichtig an diesem Vorgang ist in unserem Zusammenhang, daß das dialogische Positionenmodell durchkreuzt wird von einer anders gelagerten Ordnung, die diejenigen, die ganz dazugehören, von denen trennt, die noch nicht ganz dazu gehören. Das heißt, das dialogische Positionenmodell bedarf gleichsam adialogischer Begrenzungen, die hier nach Maßgabe des Universitätsranges erfolgen. F. W. Graf hat zu Recht darauf aufmerksam gemacht, daß die Spaltung der Hegelschule überwiegend zwischen denen verläuft, die keine akademische Laufbahn einschlagen können, und denen, die sich an der Universität durchsetzen.219 Die Entlassung der Philosophie aus dem Staatsdienst und die Spaltung der Schule greifen ineinander. Für die Selbstdefinition der Junghegelianer entscheidend ist, daß sie ihre Zeitung, die HJ, nicht positioneil bestimmen, sondern gleichsam das Modell der JWK wiederholen wollen. Ruge anerkennt, daß ohne die JWK und ohne den durch sie »gelegten Grund wir selbst nach keiner Seite hin mit diesen Jahrbüchern (den HJ, d. V.) den Erfolg und die Wirksamkeit gewonnen hätten«, deren sie sich rühmen könnten.220 Allerdings hätten die JWK »in der letzten Zeit nicht völlig dem Geiste entsprochen, aus dem sie hervorgegangen,« sie seien zu ängstlich bestrebt gewesen, »die Philosophie in dem von Hegel gegebenen Bestand zu erhalten und in verknöcherten Phrasen fortzupflanzen, anstatt das unsterbliche Prinzip, das er der Zeit zum Bewußtsein gebracht, sich frei entwickeln und zu neuen Konsequenzen und zu immer reineren Formen sich fortbilden zu lassen.«221 Mit der Wiederholung des dialogischen Positionsmodells wiederholen sich in der junghegelianischen Schule die Probleme, ihren Streit in einer binären Struktur von positiv/kritisch zu ordnen. Wenn der Althegelianer Hinrichs auf die Zerstrittenheit der Junghegelianer verweist, so wird ihm der Junghegelianer G. Julius dasselbe hegelianische Argument vorhalten, das Michelet zur Interpretation der Schulkämpfe gebrauchte: der junghegelianische »Streit der Stimmführer« könne nicht als ein »Zeichen der Zerrüttung und des Untergangs« angesehen wreden. »Als ob es nicht gerade ein Zeichen des regsten Lebens wäre! Im Denken stehen bleiben wäre ja Tod! Denken, Prüfen ist eine Parteisache, keine Sache, die sich durch die kompakte Masse ihrer Anhänger anempfehlen und durchsetzen müßte. Der Gedanke des einen setzt sich durch, indem er vom anderen erwogen, aufgenommen, weiter verarbeitet, umgebildet wird; nichts natürlicher, als daß unter strebenden, denkenden Menschen der eine immer wieder über den anderen hinausgeht oder hinauszugehen glaubt: es ist ein Wettlauf, der nie endet, und dessen Ende Tod und Fäulnis wäre.«222 Der Dialog der Positionen ist unendlich. Dies macht das Ungeheure intellektueller Tätigkeit aus, vor dem man wie Paul Valery erschrecken kann: »Intellektuell. . . Jedermann an meiner Stelle hätte begriffen. Aber ich! . . .Ä223 Für den Junghegelianer G. Julius wird die unendliche dialogische Binarität von positiv/kritisch »zu einem Spiele des Verstandes mit sich selbst«. 224 Es ist dies ein Spiel, an dem teilzunehmen die kulturelle Gruppe sich zur Pflicht machen muß, wenn sie Kultur begründen will. Gegen den Vorwurf von Zeitgenossen: »Vielrednerei ist Geschwätz!« setzt Rüge:

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»Die Rede ist die Tat des Menschen, nur die Rede ist rein menschliche Tat, die Tat eines geistigen Wesens. Nicht reden dürfen heißt, nicht Mensch sein dürfen, nicht reden wollen, heißt, das Bedürfnis, Mensch zu sein, noch nicht empfinden.«225 Der Wissenssoziologe kann sich zwar angesichts dieses Phänomens auf den Weg machen und hinter den Gründen, die in der Rede vorgebracht werden, andere Gründe ausmachen, Gründe, die nicht gesagt worden sind, weil sie einer >stummen< Basis entstammen, Gründe, die er nun sagt. Aber woher nimmt er sein Recht, dies zu tun? Nimmt er so nicht auch teil am »Spiele des Verstandes mit sich selbst«? Der Begriff der Ideologie führt hier nicht weiter, weil er das Ungeheure intellektueller Tätigkeit nur zu beruhigen, aber den leeren Grund der Beunruhigung nicht auszuhalten vermag. Wo der Positionenstreit entbrennt, passiert allerorts ähnliches. Nicht nur den preußischen Junghegelianern geht es so, sondern auch der Moskauer Intellektuellengruppe, an die sich Alexander Herzen erinnert: »Man sprach fortwährend über die Hegelsche Philosophie. Die drei Teile der Logik und die zwei der Ästhetik und Enzyklopädie enthalten keinen einzigen Paragraphen, der von uns nicht im Sturme und im verzweifelten Kampfe schwerer Nächte genommen wurde. Menschen, die sich schätzten und lieb hatten, sahen sich wochenlang nicht an, weil sie sich über die Definition des übergreifenden Bewußtseins< nicht einigen konnten, und faßten eine entgegengesetzte Ansicht über die >absolute Person und ihr An-sich-Sein< als persönliche Beleidigung auf.«226 Anerkennt man die Existenz eines leeren Grundes, der im Dialog der Positionen, wo er dem Strickmuster des Positiv/Kritisch bis zur Erschöpfung folgt, sich auftut, so kann das dringliche Bestreben der Individuen verständlich werden, nach Definitionsmerkmalen für den Positionenstreit zu greifen, mit denen der leere Grund gefüllt werden kann. Das »Spiel des Verstandes mit sich selbst« ist sozial nicht akzeptabel. Die sophistische Gefahr des Selbstzweckhaften der Rede, von der ich in der Einleitung gesprochen habe, fordert soziale Vorkehrungen heraus.227 Der dialektischen Selbstdefinition der Schule als einer produktiv in bewahrende Positivität, kritische Negation und Vermittlungsarbeit zerfallenden Totalität kam ein beiläufiger Einfall von D. F. Strauß zu Hilfe: die Definition der Hegeischen Rechten, Linken und des Zentrums. Man kann den Einfall getrost das Ei des Kolumbus für die Definition des Positionenstreites nennen. Der Einfall konnotierte die spekulative Ebene mit einer Ebene, die auf anderes verwies, auf ein weites Terrain unerschöpflicher Gründe, die bereit standen, dem autophagischen Dialog in den Rachen geworfen zu werden. Zugleich war es eine Ebene, die als >Notbremse< in Betracht kommen konnte, wenn das verräterische Überlaufen der Gedanken von der einen Seite zur anderen allzu große Turbulenzen zu erzeugen drohte. Mit der Rechten, Mitte oder Linken waren Orte bezeichnet, in denen für kürzere oder längere Momente Ruhe gefunden werden konnte. In dieser Arbeit wird nicht von Rechts- oder Linkshegelianern gesprochen. Das politische Richtungsschema war und ist dort, wo versucht wurde, es für die Definition der Schulspaltungen durchzuführen, auf der Ebene philosophischer Diskussion nicht einigungsfähig.228 Die Beschränkung auf die von W. R. Beyer vorge-

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schlagenen alten Oberbegriffe »Alt-« und »Junghegelianismus«229 bringt nicht nur pragmatisch gesehen erheblich weniger Einordnungsprobleme, sie reflektieren darüber hinaus als zunächst denunziatorisch von außen an die Schule herangetragene Begriffe, die dann z. T. als Selbstdefinition übernommen wurden,230 die Tatsache, daß das, was diese »Junghegelianer« sind, in ihren Diskussionen gerade zur Klärung ansteht. Der Straußsche Einfall bezieht sich zunächst nur auf ein spezielles Problem der spekulativen Deutung der Evangelien. Ob nun die Evangelien mit dem philosophischen Begriff des Gottmenschentums entweder ganz oder nur teilweise, schließlich weder ganz noch teilweise als historisch wahre Berichte zu erhärten seien, diese drei Antworten könne man »nach der herkömmlichen Vergleichung« als rechte Seite, Zentrum oder linke Seite bezeichnen.231 Zur Rechten zählt Strauß die überwiegende Zahl der Mitglieder der Hegelschule, für das Zentrum weiß Strauß eigentlich nur einen (Rosenkranz) zu nennen. Während er die Rechte ausgiebig über 24 Seiten charakterisiert, dem Zentrum 6 Seiten widmet, so ist die Linke mit einem vierzeiligen Halbsatz repräsentiert: Strauß würde »auf die linke Seite der Hegelschen Schule treten, wenn es diese Schule nicht vorzöge, mich aus ihrem Bereiche ganz auszuschließen, und anderen Geistesrichtungen zuzuwerfen; - freilich nur, um mich von diesen, wie einen Ball, wieder zurück geworfen zu bekommen«.232 Strauß steht vor demselben Problem wie Ruge, auch seine Positionen der Evangelienkritik werden in den JWK nicht publiziert. Für die Hegelschule ergeben sich zwei Probleme: 1. Ist die »herkömmliche Vergleichung«, die Strauß einbringt, d. h. die politische Richtungsebene, philosophisch überhaupt akzeptabel? 2. Wie soll sie sich auswirken? Michelet, der das politische Richtungsschema rasch aufgreift, muß sich von einem Rezensenten sagen lassen, die Analogie zur »französischen Kammer« sei kaum akzeptabel, denn in den politischen Begebenheiten träten die »Individuen mit ihren aufs Endliche gerichteten Leidenschaften auf den Schauplatz«. Philosophisch korrekt müsse man sich auf die »Weltgeschichte im Ganzen« und die »Philosophie der Geschichte« beziehen, es dürfe »nicht einem einseitigen politischen Treiben dieser hohe Wert beigelegt werden (. ..). Was sollen auch Kategorien, wie Rechts, Links und Zentrum, einer Schule dienen, die sich im Besitze der absoluten Wahrheit weiß?«233 Auch Michelet müßte sich eingestehen, wie ungenügend die politischen Kategorien seien, »da immer nur in Rücksicht auf einige Sätze des einen oder anderen die Klassifikation vorgenommen werden kann, die durch andere Behauptungen wiederum umgestoßen wird.«234 Der Einwand trifft ein Kernproblem der Versuche, eine politische Bezeichnungsebene für philosophische Positionen einzuführen. Denn die Attribute >rechts< und >links< können auf der spekulativen Ebene sich jeweils nur in einer Sache auf verschiedene Momente der Sache selbst beziehen, d. h. es geht hier allenfalls um eine dialektische Systematik von >rechten< bzw. >linken< Argumenten. Auf der politischen Ebene jedoch bezeichnen die Attribute jeweils die letztlich auf die ganze Person zielende Kohärenz eines in sich stimmigen Ensembles von Argumenten. Die möglichen Auswirkungen des politischen Richtungsschemas werden rasch deutlich, wenn Michelet 1838 schreibt:

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»So schlage ich die Koalition des Zentrums mit der linken Seite vor: was eine kompakte Majorität bilden würde, deren Leiter der Abgeschiedene (d. i. Hegel, d. V.) selber bleiben würde. Wenn dann Strauß in Berlin sich zu meinen Vorträgen hielt, so will auch ich mich jetzt meinerseits unter obiger Klausel zu ihm halten. Als diejenigen, die unbedenklich mit auf diese Seite treten, nenne ich, ihrer Zustimmung gewiß, Gans, Vatke, Benary: und dränge eine Menge sich mir darbietender Namen nur darum zurück, weil ich ihrer Erklärung nicht vorgreifen will.«235 Da Michelet den Tod des Lehrers nicht rückgängig machen kann, bedeutet sein Vorschlag nichts weniger, als eine Art demokratisches Abstimmungsverfahren in Fragen der Christologie. Entscheidend für die Zuordnung einzelner Hegelschüler bzw. einzelner Argumentationen im Rahmen einer spekulativen Totalität ist hier nicht mehr die systematische Interpretationsleistung eines Philosophen - so noch bei Strauß und Bayrhoffer -, sondern vielmehr das vereinsmäßige Abstimmungsverhalten selbst. Michelet will den Selbsterklärungen durch Interpretation nicht »vorgreifen«. Daß dieser Vorschlag jedoch dem Hegelschen Begriff der »Einen Philosophie«, die produktiv in ihre Momente zerfällt, zutiefst entgegenläuft, macht Hinrichs in den HJ deutlich.236 Ihm ist schon die Definition der Hegelschule bei Michelet nichts als eine »lächerliche Cliquenmacherei«. »Die Philosophie kann aber von niemand einer so komischen Frage bloßgestellt werden, als von einem Philosophen, der die Schule über sie zur Abstimmung aufruft.« Für Hinrichs sind gegen dies Verfahren selbst alle unphilosophischen Äußerungen, in denen sich die »Besorgnis um den Glauben, mit seiner Frage nach der Unsterblichkeit, der Persönlichkeit Gottes« ausspricht, vorzuziehen, weil sie »doch immer ein Anstoß zum Philosophieren, während die Parteimacherei irgend einer Koalition mit dem Philosophieren ein für allemal fertig ist.« Michelets Vorschlag ist aus Not geboren. Wenn die Positionstafeln, die ein Schulmitglied aufstellt, aus den oben genannten Gründen nicht einigungsfähig sind, wenn Gefahr besteht, daß der stille Ausschluß von Positionen nicht mehr funktioniert, weil sie wie ein »Ball wieder zurück geworfen« werden, was bleibt da übrig, als abzustimmen? >Schluß der Debatte - Abstimmung