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German Pages 250 Year 2002
Über das Buch: Als »Drehscheibe des islamischen Terrorismus« gilt Deutschland Kennern seit Beginn der 90er Jahre. Bereits 1996 warnte der damalige Verfassungsschutzpräsident vor dieser »Gefahr Nr. 1«. Doch niemand wollte ihn hören. Erst nach den Attentaten in Amerika wachte man auch hierzulande auf. Doch inzwischen leben Hunderttausende Anhänger eines Gottesstaates auch in Deutschland – jeder dritte türkische Jugendliche ist für die Einführung der Scharia, dieses blutige »Gottesgesetz«. Wie konnte es soweit kommen? Warum hat niemand diesen Kreuzzug im Namen Allahs ernst genommen, solange »nur« Frauen die Opfer waren? Und was haben »Schläfer« in Hamburg mit dem Kosovo zu tun? In diesem Buch geht es um die falsche deutsche Toleranz und ihre fatalen Folgen und um die Talibanisierung ganzer Kontinente. Die Herausgeberin: Alice Schwarzer, geboren 1942, Journalistin und Essayistin, ist seit 1977 Herausgeberin und Verlegerin der Zeitschrift EMMA. Seit 1971 zahlreiche Buchveröffentlichungen, Mitglied des PEN-Clubs. Weitere Titel bei K&W: »Marion Dönhoff«, 1996. »So sehe ich das«, KiWi 449,1997. »Romy Schneider – Mythos und Leben«, 1998. »Simone de Beauvoir«, KiWi 538, 1999. »Man wird nicht als Frau geboren« (Hrsg.), KiWi 578, 2000. »Der große Unterschied«, 2000. »Eine tödliche Liebe, Petra Kelly und Gerd Bastian«, 1993; KiWi 640, 2001.
Alice Schwarzer (Hg.)
Die Gotteskrieger und die falsche Toleranz
Kiepenheuer & Witsch
© 2002 by Verlag Kiepenheuer & Witsch, Köln © Übersetzungen: Antje Görnig für das Kapitel Khalida Messaoudi, Die Kulturfalle, Susanne Aeckerle für das Kapitel Robin Morgan, Demon Lover. Copyright 2001 by Robin Morgan. All rights reserved. Excepted by permission of the author. Alle Rechte vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotografie, Mikrofilm oder ein anderes Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden. Umschlaggestaltung, Innenlayout: Katja Stuke, Düsseldorf Umschlagfoto: © Bettina Flitner Gesetzt aus der Times New Roman Regular Satz: Kalle Giese, Overath Druck und Bindearbeiten: Clausen & Bosse, Leck ISBN 3-462-03105-8
unverkäuflich v. 21.9.2005
INHALT
VORWORT 7 Die falsche Toleranz von Alice Schwarzer … UND MORGEN DIE GANZE WELT? 23 Die Talibanisierung Asiens von Gabriele Venzky 47 Das Einfallstor Balkan von Johannes von Dohnanyi 75 Die Islamisierung Tschetscheniens von Wolfgang Günter Lerch MITTEN UNTER UNS 91 Eine fromme Reise durch Deutschland von Cornelia Filter 125 Die deutsche verordnete Fremdenliebe von Bassam Tibi 145 Die halbierte Aufklärung Ein Gespräch mit Wilhelm Heitmeyer, geführt von Eberhard Seidel DIE FRAUEN ZUERST 155 Der Fall Ludin von Alice Schwarzer 167 Der verschleierte Verstand von Elisabeth Badinter 177 Tage in Algier von Bettina Flitner 201 Die Kulturfalle von Khalida Messaoudi 207 Tage in Teheran von Alice Schwarzer 219 Der Demon Lover von Robin Morgan 249 Die Autorinnen
VORWORT
Die falsche Toleranz von Alice Schwarzer
Die meisten AutorInnen dieses Buches kennen einander nicht, dennoch sind sie so etwas wie eine verschworene Gemeinschaft: Sie gehören zu den Wenigen, die seit Jahren, manche seit Jahrzehnten, vor der steigenden Gefahr des religiösen Fundamentalismus warnen – und die niemand hören wollte bis zum 11. September. Weder die Fortschrittlichen, noch die Konservativen; weder die Medien, noch die Politik; weder die Männer, noch die Frauen. Als ich sie im Oktober 2001 auf die Idee zu diesem Buch ansprach, reagierten sie fast alle ähnlich: Ja, ich schreibe gerne etwas darüber, in meiner Redaktion warne ich nämlich seit Jahren vergeblich: Meine Berichte wurden im besten Fall ignoriert oder belächelt – meistens jedoch gar nicht erst veröffentlicht. Man hätte es wissen können, aber man wollte es nicht wissen. Vor allem in Deutschland nicht. Jetzt, nach einem Vierteljahrhundert ungehinderter islamistischer Agitation – gefördert nicht nur von den Gottesstaaten, sondern 7
auch von so mancher westlichen Demokratie – lässt es sich nicht länger leugnen: Diese islamistischen Kreuzzügler sind die Faschisten des 21. Jahrhunderts – doch sind sie vermutlich gefährlicher als sie, weil längst global organisiert. Allein aus den seit Jahren bekannten Trainingslagern von al-Qaida strömten in den vergangenen Jahren mindestens 70.000 Gotteskrieger aus 50 Nationen in die ganze Welt; etliche Staaten sind ganz in der Hand der Fundamentalisten, wie der Iran; einige halb, wie Pakistan; und so manche zittern unter ihrer Faust, wie Algerien. Jetzt geht auch im Westen die Angst um. Denn über das »Einfallstor Balkan« sind die in Bosnien, Albanien und dem Kosovo wütenden islamistischen Söldner in das Herz von Europa gedrungen, mit der Unterstützung des Westens (siehe S. 41). Die selbst ernannten Gotteskrieger haben Italien zu ihrer »logistischen Basis«, England zu ihrer »propagandistischen Zentrale« und Deutschland zu ihrer »europäischen Drehscheibe« gemacht. Längst haben die pseudoreligiösen Terroristen mafiöse Strukturen, schaufeln sie ihre Dollars mit Drogen- und Frauenhandel. Nach der Lektüre dieses Buches stellt sich die Frage: Ist es noch fünf vor zwölf- oder schon später? Sind die Kreuzzügler auf dem Weg zur islamistischen Weltherrschaft noch zu stoppen – und ist die aufgeklärte Welt überhaupt noch zu retten? Optimisten weisen darauf hin, dass der Unmut der Bevölkerung in den real existierenden Gottesstaaten wachse und die Terroristen unter den Muslimen im Westen in der Minderheit seien. Was stimmt. Nur will das nicht viel besagen. Denn wo 8
die Schriftgläubigen die Macht haben, herrscht echter Terror; und wo sie agitieren, dümpelt falsche Toleranz. Verschärfend hinzu kommt, dass so mancher Mächtige auch im Westen geglaubt hat, mit dem Geist in der Flasche spielen, ihn für eigene Interessen benutzen zu können – gegen Kommunisten oder für Pipelines –, doch ist dieser Geist schon längst der Flasche entkommen. Die Parallelen zu 1933 drängen sich auf. Und auch damals handelte es sich um (zunächst) reine Männerbünde, waren von 42.000 NSDAP-Mitgliedern 1933 quasi alle männlich und zu 93 Prozent zwischen 27 und 29 Jahren. Auch damals handelte es sich (zunächst) um eine Minderheit, die von einer gleichgültigen oder sympathisierenden Mehrheit toleriert wurden. Auch damals waren (zunächst) die Juden im Visier – und die Frauen. Es gilt wieder SEIN Gesetz. Und nicht zufällig war eine der ersten Maßnahmen sowohl in Hitlers wie auch in Khomeinis Regime das Berufsverbot für weibliche Juristen. In beiden Fällen treibt diese Männerbünde ein explosives Gemisch aus Nationalismus und Sozialismus, aus Rassismus und Sexismus. Drei Fragen stellen sich nun seit dem 11. September endlich auch im Westen mit Dringlichkeit: 1. Ist der Geist wieder in die Flasche zurückzutreiben? 2. Wie konnte es überhaupt soweit kommen? 3. Was sind die wahren Ursachen? Genau diese Fragen bewegen mich seit über 20 Jahren. Genau gesagt: seit dem März 1979. Damals, zwei Wochen nach der Vertreibung des Schahs und der Machtergreifung durch Ayatollah Khomeini, folgte ich zusammen mit einem Dutzend Französinnen dem Hil9
feruf von Iranerinnen nach Teheran (siehe Seite 173). In diesen dramatischen drei Tagen traf ich nicht einen unter den neuen Machthabern, der nicht unmissverständlich verkündet hätte: die Überlegenheit des Islams und die Verachtung aller »Ungläubigen« und ihrer »westlichen Werte«; die Etablierung eines »Gottesstaates« samt Scharia; und den Schleierzwang und die Entmündigung der Frauen, inklusive Steinigung für (angeblichen) Ehebruch oder Homosexualität. Khomeini und seine Anhänger deklarierten dieses Programm unter dem Jubel des Volkes, allen voran der Linken, im Orient wie im Okzident. Als ich 1979 in EMMA und in der ZEIT das im Gottesstaat Iran Gesehene und Gehörte veröffentlichte, handelte ich mir damit eine der härtesten und längsten Diffamationskampagnen meines Lebens ein (»Schahfreundin«, »Rassistin« etc.) Der Vorwurf des »Rassismus« schien mir besonders makaber, da die ersten Opfer der Islamisten ja Musliminnen und Muslime selbst waren und sind. Das ignorieren heißt, diese Mehrheit dem Terror einer Minderheit zu überlassen. Doch all das wurde im Westen über Jahrzehnte ignoriert. Das Drama der entrechteten Frauen im Iran der 80er – ausgeblendet im Namen der »revolutionären Volksbewegung«. Das Leid der von den islamistischen Söldnern in blutige Bürgerkriege gestürzten Länder, wie Algerien oder Tschetschenien – geleugnet im Namen der »gerechten Sache der Entrechteten«. Die Warnung vor einer Unterwanderung Deutschlands und der internationalen Vernetzung der Islamisten in den 90ern – abgetan als Hirngespinste. 10
EMMA, in all den Jahren eine der raren Stimmen im
deutschsprachigen Raum, die kontinuierlich über die Gefahr des islamischen Fundamentalismus berichteten, bezahlte 1994 dafür sogar mit der einzigen physischen Attacke ihrer Geschichte: Maskierte Frauen stürmten die Redaktionsräume, zerstörten die Computer und hinterließen einen Haufen realen Mistes. Dazu Flugblätter, die den »Rassismus von EMMA« anklagten und sich auf ein im Juli 1993 veröffentlichtes Dossier über die steigende Macht der Islamisten »mitten in Deutschland« beriefen. Das Ganze war feministisch signiert, aber trug, laut der erstaunten Polizei, »die Handschrift der PKK«. Ich staunte weniger, denn mir waren die Verwicklungen zwischen »Befreiungsbewegungen« wie der kurdischen PKK oder der palästinensischen Hamas einerseits und revolutionsschwärmerische deutsche Linke beider Geschlechter andererseits schon länger klar … Nach solchen Erfahrungen haben mich auch die Reaktionen beim Friedenspreis des deutschen Buchhandels im Herbst 1995 an die Orientalistin Annemarie Schimmel nicht mehr wirklich überrascht. Da antworteten mir Professoren und Schriftsteller bei meiner Suche nach Verbündeten: Ich bin ganz ihrer Meinung, aber bitte haben Sie Verständnis, dass ich nicht unterzeichne – ich habe Angst. So weit war es also schon, dass selbst Nicht-Muslime mitten in Deutschland Angst hatten, die Islamisten öffentlich zu kritisieren. Ein Professor erzählte mir gar von Morddrohungen nach einem kritischen Seminar über die Muslimbrüder. Mit eben diesen ägyptischen Muslimbrüdern, die Ende 11
der 20er Jahre entstanden und heute als ideologischer Ursprung des internationalen islamischen Terrors gelten, sympathisierte die Friedenspreisträgerin Schimmel ganz unverhohlen, ebenso mit dem Gottesstaat Iran. Und nicht zufällig ist im fundamentalistisch unterwanderten Pakistan gleich eine ganze Allee nach der deutschen Professorin benannt, die Annemarie-Schimmel-Allee in Lahore – über die die verschleierten Frauen wohl nur noch in männlicher Begleitung huschen dürfen. Dennoch: Hätte es den damals von EMMA initiierten Intellektuellen-Protest gegen diesen Preis nicht gegeben – niemand hätte auch nur darüber nachgedacht, wie fragwürdig es ist, ausgerechnet eine Freundin der islamischen Kreuzzügler und der iranischen Ayatollahs zur Friedenspreisträgerin zu machen -und damit auf den Fundi-Trick hereinzufallen, eine Sympathisantin auf den Posten neutral-wissenschaft lichen »Botschafterin« im strategisch nicht unwichtigen Deutschland hieven zu wollen. Nur dank des aufk lärenden Protestes wurde dieser Friedenspreis wohl schon bei seiner Verleihung auch von den Verleihern selbst als unpassend empfunden – doch bis heute wurde nicht analysiert, wie es eigentlich dazu kommen konnte und wer dahinter steckte. Warum zum Beispiel hat bei der durchaus auch innerhalb der Jury stark umstrittenen Entscheidung ausgerechnet das Jury-Mitglied Prof. Wolfgang Frühwald, ein bekennender christlicher Fundamentalist, eine so entscheidende Rolle gespielt? Auf der internationalen Ebene probten die christlichen und die islamischen Fundamentalisten bereits 1985 den Schulterschluss: erstmals bei der 3. Weltfrauenkonferenz 12
in Nairobi, im Visier die Emanzipation der Frauen. Zehn Jahre später gingen sie dann auf der Weltfrauenkonferenz in Peking in die Offensive. Und auf der Nachfolgekonferenz im Jahre 2000 in New York trat die VatikanIran-Connection unverhüllt als der entschiedenste Gegner der Frauen auf: gegen Verhütung, Abtreibung oder freie Sexualität und für Verschleierung und Klitorisverstümmelung. Auch die Querverbindungen zwischen den jüdischen Ultraorthodoxen und den palästinensischen Fundamentalisten sind seit langem bekannt. Den Palästinenserinnen ist es ergangen wie den Algerierinnen und allen Frauen in den Freiheitsbewegungen der Ex-Kolonien, die sich auf ihre angeblichen »Wurzeln« berufen, dieses Gebräu aus Nationalismus und Religion. Einst kämpften diese Frauen mit dem Maschinengewehr in der Hand: für Freiheit für alle. Heute sind die Männer an der Macht und die Frauen unsichtbar geworden: unter den Schleier gezwungen von ihren einstigen Weggenossen. Diese Genossen sind offensichtlich überfordert durch den doppelten Verlust von männlicher Autorität: in der Welt und im Haus. Ihre Intellektuellen und meist im Westen ausgebildeten Anführer wissen nur zu gut um die »Bedrohung« ihrer patriarchalen Überlegenheit durch die Frauenemanzipation; und die von ihnen verführten arbeitslosen jungen Männer haben endlich wieder eine Perspektive: das Paradies; und einen, der noch unter ihnen ist: die Frauen. In diesem Buch wird eine klare und vielleicht zu einfache Trennung zwischen Islam und Islamismus, zwi13
schen Religion und Politik gemacht. Denn es geht hier nicht um Glauben, sondern um Macht. Der Frage, wie weit sich unter den drei großen monotheistischen Religionen der Islam besonders zum politischen Missbrauch eignet, wird nicht nachgegangen. Eine fatale Rolle bei der Verschleierung dieser Frage und der Verwischung von Islam und Islamismus hat bisher auch im Westen die dafür zuständige Wissenschaft, die Orientalistik, gespielt. In Deutschland wird dazu noch immer geschwiegen, in Ländern wie den USA oder Frankreich ist die Kritik an den Islamwissenschaften inzwischen lauter geworden. Die Orientalisten werden bezichtigt, den Gegenstand ihrer Forschung idealisiert zu haben und darüber hinaus nur allzu oft abhängig zu sein von den Gnaden islamischer Länder, wenn nicht sogar von ihren Zuwendungen. Die Folge ist nicht nur eine weitgehend unkritische Islamwissenschaft, die vom 11. September wie aus heiterem Himmel getroffen zu sein scheint, sondern auch eine unkritische Berichterstattung der Medien. Die lag nämlich bisher in den Händen von »Experten«, soll heißen: von IslamwissenschaftlerInnen und KonvertitInnen (nicht selten in Personalunion beides) – letztere aber spielen vermutlich nicht nur in Deutschland eine besonders fatale Rolle (siehe Seite 77). Die meisten deutschen Konvertiten kommen, laut dem Mitbegründer des »Zentralrats der Muslime« und Konvertit Murad Wilfried Hofmann, »aus den Kreisen der Grünen«. Nachdem eine verunsicherte westliche Linke ihren Glauben an die Revolution und ihre Halbgötter à la Mao oder Che Guevara verloren hat, sucht sie an14
scheinend nun ihr Heil in einem neuen Glauben, neuen Göttern und neuen Helden: was einst die Vietcong oder die Revolutionären Garden waren, sind ihnen heute die Gotteskrieger. Warum aber ist die Sympathie für die Islamisten gerade in Deutschland so besonders groß? Einige Gründe liegen auf der Hand, über andere muss noch genauer nachgedacht werden. Klar ist, dass die Deutschen seit der Nazizeit ganz besonders bemüht sind, über dem Verdacht des Rassismus zu stehen und Fremdes demonstrativ zu tolerieren. Klar ist ebenfalls, dass der Protestantismus ein besonderer Nährboden zu sein scheint für geißelnde Selbstverleugnung und adorierende Fremdenliebe. Aber da sind auch noch andere Motive, die nicht ganz so eindeutig sind. Zum Beispiel das der Überheblichkeit, für die Fremde die »Anderen« sind, Menschen mit anderen Sitten und einer anderen Kultur, für die uns elementar und unverzichtbar scheinenden Werte wie Menschenrechte und Freiheit des Individuums einfach nicht gelten. Oder auch das des Machotums, bei dem eine klammheimliche Freude aufkommt angesichts der brutal entrechteten Frauen – geht es denn den hiesigen Frauen dagegen nicht noch gold? Unterstützt wird dieses Denken von einem pseudofeministischen Differenzialismus, der schon immer der Überzeugung war, dass Frauen eigentlich »anders« seien als Männer und es Zeit sei für eine Rückbesinnung auf die »Wahren weiblichen Werte«. Das war in der ersten Frauenbewegung nicht anders, auch da mussten nur die Radikalen, die UniversalistInnen, vor den Nazis ins Exil fliehen – die DifferenzialistInnen 15
bzw. BiologistInnen glaubten, zunächst mitmischen zu können bei den Männerbünden. Die allerdings verwiesen selbst die willigsten KomplizInnen rasch auf ihre Plätze. Und wo im Namen einer »Natur der Frau« argumentiert wird, da ist selbstverständlich auch die »Natur des Juden« oder des »Negers« nicht weit. Sexismus und Rassismus sind zwei Seiten einer Medaille. Auch heute argumentieren vor allem die übereifrigen KonvertitInnen auch im Namen der Emanzipation. Ist es denn nicht besser, eine verschleierte Frau zu sein als ein nacktes Objekt? Nein. Denn Verhüllung und Entblößung sind nur zwei Seiten ein und derselben Medaille, auf der da geschrieben steht: Frauen sind der Besitz der Männer, sie gehören einem (bei Verhüllung) – oder allen (bei Entblößung). Von Anfang an war das Kopftuch darum das Symbol, die Fahne des Feldzuges der Gotteskrieger. Am Kampf für das Kopftuch sind sie zu erkennen: die Islamisten und ihre, bestenfalls, naiven Freundinnen. Der deutsche Paradefall dafür ist Fereshta Ludin, die per Gerichtsbeschluss erzwingen will, dass sie ihr »privates Kopftüchlein« auch in deutschen Schulen tragen kann. Von der »taz« (»Recht auf Toleranz«) über die »Süddeutsche Zeitung« (»nicht reduzieren auf ein Stück Stoff«) bis zur »Zeit« (»wie das Kreuzlein an der Kette«) ging ein Aufschrei der Empörung durch das Land, als Ludin ihren von den Gewerkschaften unterstützten Prozess in erster Instanz verlor (siehe Seite 129). Aber wer ist diese Fereshta Ludin, die mit einem deutschen Konvertiten verheiratete Afghanin wirklich? Diese 16
heute 29-Jährige, die die Tochter eines Botschafters und einer emanzipierten, unverschleierten Mutter ist, in Saudi-Arabien zur Schule ging und noch 1997 zusammen mit ihrem bärtigen Mann gern gesehener Gast der Taliban war. Mein Kapitel »Der Fall Ludin« zeigt, wie in Deutschland mit dem Kopftuch Politik gemacht wird – und wie fast alle dabei mitmachen, auch die potenziellen Opfer einer solchen Politik. Dabei hätte spätestens seit 1979, als die »revolutionären Garden« Khomeinis den Frauen verrutschende Kopftücher auf dem Kopf festnagelten, klar sein müssen, dass das Kopftuch alles andere ist als eine »religiöse Sitte« (schließlich leben Millionen gläubiger Musliminnen ohne) oder »Privatsache«, sondern ein Politikum, eben die Flagge des islamischen Kreuzzuges. Und seither tobt auch der »Kampf der Kulturen« – aber nicht etwa zwischen Christen und Muslimen, sondern unter Muslimen. Denn die nicht fundamentalistische islamische Mehrheit ist ja das erste Opfer der Fanatiker. Doch vor allem in Deutschland war jegliche Kritik an den religiösen Eiferern und ihrer Kopftuch-Propaganda jahrzehntelang tabu: Das ging so weit, dass selbst etwas so handfestes wie der Jahresbericht des Verfassungsschutzes (dessen Aufgabe es ja ist, ihm »verfassungsfeindlich« dünkende Kräfte zu beobachten) als Larifari abgetan wurde. Als der damalige Präsident des Verfassungsschutzes, Peter Frisch (SPD), im Herbst 1996 seinen Jahresbericht vorstellte und den islamischen Fundamentalismus als »Sicherheitsproblem Nr. 1 für Deutschland« und »größte Gefahr für das 21. Jahrhundert« benannte – da fragte 17
kein einziger Journalist auch nur nach. Und berichtet wurde darüber schon gar nicht. Die deutschen Journalisten wollten einfach viel lieber über »Neonazis« reden – dass hier eine ganz neue Art von Nazis im Namen Allahs die Welt verbessern und erobern wollen, übersahen sie beflissentlich. Im besten Falle. Meist trugen die Medien nicht nur zur Ignorierung, sondern sogar zur Idealisierung der Islamisten bei. Fragen nach dem, was da eigentlich wirklich in den (in der weltlichen Türkei verbotenen) Koranschulen in Deutschland gelehrt und in den (von den Gottesstaaten finanzierten) Moscheen gepredigt wird, wurden mit dem Hinweis auf die »Religionsfreiheit« und die »Toleranz« abgetan. Man war ja auch selbst nicht Opfer. Noch nicht. Über 20 Jahre lang waren in erster Linie die Frauen im Visier – genauer: die Musliminnen. Und die waren weit weg. Und sie schienen das ja auch selber nicht anders zu wollen. Ja, die Frauen. Mit ihnen fängt es immer an. Sie sind immer die ersten, die von allmachtssüchtigen Männerbünden entrechtet werden. Dann folgen die Juden (wo noch welche sind); sodann die Intellektuellen (von denen so manche bis dahin selber kräftig dazu beigetragen haben); und dann alle und alles, was den neuen Herren so nicht passt. Doch wenn es schon nicht das Mitgefühl für die weibliche Hälfte der Menschheit ist, so sollte es wenigstens die Erkenntnis sein, dass Menschenrechte unteilbar sind und das Los der Frauen schon immer der Gradmesser für Recht und Gerechtigkeit einer Gesellschaft waren. Eine Gesellschaft, in der ein männlicher Mensch den anderen erniedrigen kann, nur weil der weiblich ist 18
– eine solche Gesellschaft ist im Keim eine Unrechtsgesellschaft. Ein Mann, der es gewohnt ist, die eigene Mutter, Schwester, Frau zu verachten – der kann auch kein Mitgefühl für seine Nächsten haben und schon gar nicht für Fremde. Seit dem 11. September 2001 geht ein Schrecken durch die westliche Welt. Ein später Schrecken. Ob dieser Schrecken dem Westen wirklich die Augen geöffnet hat, ist zu bezweifeln. Verdächtig ist, dass bei dem Versuch, Psychologie und Motive der Täter zu begreifen, vieles in Erwägung gezogen wird, nur eines, das Sichtbarste, nicht: der Faktor Männlichkeit. Diese Männlichkeit – und vor allem: die verunsicherte Männlichkeit – ist der Stoff, der aus dem wirren Gebräu überhaupt erst ein explosives macht. Dieser Männlichkeitswahn mit seinem pathologischen Narzismus und Fremdenhass, der zu Beginn des 21. Jahrhunderts leider nicht nur in den orientalischen Gottesstaaten, sondern auch in westlichen Demokratien grassiert, ist der entscheidende Faktor. In den kommenden Jahren werden die Weichen gestellt werden: pro Menschlichkeit und Aufk lärung – oder pro Männlichkeit und Verdunklung. Dieses Buch will einen Beitrag leisten zur Erhellung.
Alice Schwarzer
Januar 2002
UND MORGEN DIE GANZE WELT ?
Die Talibanisierung Asiens Von Gabriele Venzky
Er wusste nichts von Öl- und Gasreserven, er wusste nichts von Pipelines und Transportwegen und ahnte schon gar nicht, dass es ihretwegen zum Krieg kommen könnte. Der Begriff Drogenmafia wird ihm ebenso fremd gewesen sein wie die Tatsache, dass sich mit Heroin Milliarden verdienen lassen. Dennoch schrieb er prophetisch: »Der Kontinent Asien ist vergleichbar einem Körper. Das Herz ist Afghanistan. An seinem Fortschritt und seiner Prosperität hängt das Wohlbefinden des Ganzen. Solange das Herz frei ist, wird auch der Körper frei sein. Ansonsten wird er wie ein Strohhalm vom Winde gebeutelt werden.« So vor über 60 Jahren Muhammad Iqbal, der größte islamische Denker des Subkontinents im 20. Jahrhundert, der Staatsphilosoph des Kunststaates Pakistan. Natürlich wusste Iqbal nicht, dass Pipelines und Rauschgift Afghanistan zum Verhängnis werden würden, und er ahnte auch nichts von den Taliban, ahnte nicht, dass ein radikaler, menschenverachtender Islam einmal das Herz Asiens vergiften, es zu einer Brutstätte des weltweiten Terrors machen würde und zur Heimstätte eines selbst ernannten Messias namens Osama bin Laden, der den Grundprinzipien der Zivilisation seinen Kampf angesagt hatte. Iqbal, der im aufgeklärten Islam 23
die Zukunftshoffnung für die Muslime Asiens sah, hätte wahrscheinlich nie für möglich gehalten, dass heute ein selbstgerecht eifernder, paranoider Islam die am schnellsten wachsende islamische Bewegung der Welt ist. Überall dort, wo Muslime sich frustriert und ohnmächtig fühlen, nistet sich der Fundamentalismus ein, und die Angst vor der eigenen Rückständigkeit und Unterlegenheitheit schürt den Hass auf alles, was fortschrittlich und modern ist. Denn das Herz Asiens ist nicht mehr frei. Nun wird sein ganzer Körper zerfressen. Die Bomben der Amerikaner haben das Terrorregime der Taliban zu Fall gebracht. Doch eine Konferenz auf dem Petersberg bei Bonn und die Entsendung einer internationalen Friedenstruppe bedeuten noch lange nicht, dass es mit den Taliban vorbei ist. Je schneller die Leute sagen, sie seien keine Taliban mehr, desto unglaubwürdiger ist das. Die steilen Berge, die öden Steppen und die tausend Jahre hinter der Zeit liegenden Dörfer Afghanistans verschließen sich der Außenwelt, und zwischen einem urbanen Kabul und dem bigotten Kandahar liegen Welten. Auch nach dem Zweiten Weltkrieg fanden sich merkwürdigerweise in Deutschland so gut wie keine Nazis mehr. Dabei ist es wahrscheinlich gar nicht einmal so entscheidend, dass die Vereinten Nationen die Falschen zur Friedenskonferenz gebeten hatten, nämlich die Kriegsparteien, die wohl an dem für sie lukrativen Krieg, nicht aber an dem für sie gar nicht lukrativen Frieden interessiert sind. Kriegsherr ist schließlich in Afghanistan ein angesehener Beruf. Verrat, Missgunst und Käuflichkeit 24
gelten als bestimmende Elemente afghanischer Machtpolitik und keineswegs als unehrenhaft. Die Herren Kriegsfürsten werden deshalb den friedensbereiten Afghanen noch so manchen Stolperstein in den Weg legen. Allen voran der durchtriebene Usbekengeneral Rashid Dostum, der sein ehemaliges Privatreich im Norden bei Mazar-iSharif zurückerobert hat, und der religiöse Eiferer Gulbuddin Hekmatyar, der mit Geld und Waffen voll gestopfte ehemalige Günstling der Amerikaner und Pakistani. Nun warten beide auf ihren Auftritt. Nein, viel beängstigender als der voraussichtliche Fehlschlag, in Afghanistan einen neuen Staat zu gründen, ist die Tatsache, dass der in Afghanistan ausgebrütete Terrorismus längst seine eigene Dynamik entwickelt hat. Da braucht es keinen Mullah Omar mehr, der den Mantel des Propheten Mohammed aus dem Reliquienschein heraus gezerrt und sich solchermaßen dekoriert zum »Anführer aller Gläubigen« erklärt hat. Und es braucht auch keinen Osama bin Laden mehr, der sich die Taliban kaufte, um unter ihrem Tarnnetz sein Terrornetzwerk al-Qaida aufzubauen. Die Legende reicht aus, und das Netzwerk funktioniert schon längst eigenständig. Weil das Herz Asiens infiziert ist, lässt sich auch in den anderen Teilen des Körpers der radikale Fundamentalismus kaum noch aufhalten. Denn den Schlüssel für die Talibanisierung Asiens hält nicht mehr das kleine Afghanistan mit seinen 15 Millionen Einwohnern, sondern das Nachbarland Pakistan mit seinen 150 Millionen Menschen. Dieses Land steht auf der Kippe, und wenn es kippt, dann wird es einen gewaltigen Sog entfalten, dem 25
sich kaum noch jemand in der Region entziehen kann. Die Scheinwerfer der Welt haben sich auf Afghanistan gerichtet. Aber wenn die Zivilisation vor weiteren und womöglich noch schlimmeren Anschlägen bewahrt werden soll, dann muss alles getan werden, um Pakistan vor dem Wegrutschen zu bewahren. Armut, Rückständigkeit und Perspektivlosigkeit sind der Nährboden für den radikalen Islam. Die meisten Djihadis sind wütende junge Männer, die keine Arbeit und keine Zukunft haben. Die These von der angeblichen Verschwörung des Westens gegen den Islam liefert den Strategen des Terrors immer neues Kanonenfutter für ihren so genannten Heiligen Krieg. Aber sie liefert auch die Terroristenelite, jene jungen Männer, welche die entführten Flugzeuge ins World Trade Center steuerten, allesamt aus Mittelklassefamilien mit Universitätsstudium und dem dumpfen Gefühl, irgendwo außen vor und zu kurz gekommen zu sein. Im Brustton der Überzeugung erklärt mir der Sohn von alten Freunden, der erst vor kurzem vom Studium aus Amerika zurückgekehrt ist und sich nun Osama bin Laden als Vorbild auserkoren hat, zum Entsetzen seiner Eltern im pakistanischen Lahore: »Ein Shaheed (ein Märtyrer) stirbt nie, er geht nur von einem Leben in ein anderes.« Nämlich ins Paradies, von dem sie alle träumen, wo angeblich 70 Jungfrauen pro Mann zur Verfügung stehen, um für alle nur erdenkbaren Wonnen zu sorgen. Intellektuell zu verstehen ist das nicht. So wenig wie der dumpfe Hass, mit dem der in Mazar-i-Sharif gefangene amerikanische Taliban John Walker, alias 26
Abdul Hamid, seinen Landsleuten begegnete. Für diesen Hass hatte er keine weitere rationale Begründung als den Hass: Ich hasse euch. Solch ein Denken ist das typische Produkt der Koranschulen. Die Madrassas hat es immer schon gegeben in der islamischen Welt, auch in Afghanistan, auch in Pakistan. Aber in den letzten 25 Jahren ist ein völlig neuer Typ Koranschulen entstanden. Wie die Pilze schießen diese Institutionen überall dort aus dem Boden, wo der Fundamentalismus auf dem Vormarsch ist, also auch in solchen bisher als moderat geltenden Staaten wie Bangladesh, Malaysia, Indonesien und auf den Philippinen. 300 Madrassas gab es Ende der siebziger Jahre in Pakistan, 50.000 sind es heute. Die größte und bekannteste, die Haqqania in Akora Khattak steht gleich an der Grand Trunk Road, die von Kalkutta nach Kabul führt und die schon immer Einfallstraße für Eroberer war. Der Chefindoktrineur des radikalen Islam in Pakistan, ein ehrwürdig aussehender Schriftgelehrter namens Samiul Haq, leitet diese Institution mit ihren fast 3.000 Zöglingen. Die gesamte TalibanFührung hat hier ihren islamistischen Schliff erhalten, inklusive Mullah Omar, der die Abschlussprüfung zwar nicht bestand, der aber mit dem Diplom eines Mullah »ehrenhalber« die Anstalt verließ. »Die Gehirne unserer Studenten sind noch frisch«, sagt einer der Lehrer. »Wir bereiten sie mental auf den Heiligen Krieg vor«. Anderswo würde man das Gehirnwäsche nennen. Die ungeheure Macht der Koranschulen liegt darin, dass sie Denken nur auf schmalster Bandbreite zulas27
sen. Nichts darf in Frage gestellt werden, Diskussionen sind verboten. Verlangt wird die völlige Unterwerfung unter den Mullah; was er sagt, wird nachgebetet. »Die Vereinigten Staaten haben es darauf angelegt, den Islam auszumerzen«, bekommen die Taliban – so heißen die Koranschüler – eingetrichtert, und: »Es waren die Juden, die die Anschläge auf New York und Washington ausführten, um einen Vorwand zu haben, gegen den Islam loszuschlagen.« Wunschgemäß reagiert ein echter Talib: »Wir werden uns wehren. Unsere Religion ist die einzig wahre und allen anderen Religionen auf der Welt überlegen.« Pakistan gibt gerade einmal zwei Prozent seines Budgets für Erziehung und Bildung aus. Da bleibt den Armen gar nichts anderes übrig, als ihre Kinder in die Koranschulen zu schicken, genauer: ihre Jungen, denn Mädchen sind nicht willkommen. Wenn sie es nicht in der Macho-Gesellschaft zu Hause schon mitbekommen haben, dann lernen die Jungen es spätestens jetzt: Frauen sind so minderwertig, dass selbst eine primitive Madrassa-Erziehung schon Verschwendung wäre. Freie Kost und Logis, das sind die größten Attraktionen, und auch der Unterricht ist umsonst. Dass der sich in den meisten Fällen auf das Auswendiglernen des Koran beschränkt, stört die Eltern nicht. Denn man lebt schließlich in einem frommen Land, und wer den Koran auswendig rezitieren kann oder gar später einmal Mullah wird, gilt als etwas Besonderes. Auch die Indoktrinierung kümmert die Eltern nicht. Kaum einer von ihnen weiß, dass die meisten Koranschulen von den Saudis 28
finanziert werden, die auf diese Weise für die Ausbreitung des Fundamentalismus sorgen, und zwar für die super-puristische Variante des wahabitischen Islam mit seinem Hass auf die moderne Gesellschaft und der Verweigerung von Menschenrechten für das dumme Volk, vor allem für die Frauen. Vor und zurück, vor und zurück wiegen sich unaufhörlich die Körper der Studenten in den Gebetssälen der Religionsschulen. Mechanisch murmeln sie die Suren des Koran ebenso wie die Beschwörung des Djihad, des Heiligen Krieges – und die Jungen glauben, dass dies der Anfang und das Ende ihrer Welt ist. Eine Million junger Männer sind durch die Madrassas allein in Pakistan geschleust worden. Sie stellen einen völlig neuen sozialen Faktor dar und eine ständige militärische Drohung. Denn Koran und Kalaschnikow sind das Rüstzeug, mit dem sie losgeschickt werden: in den Djihad. Immer auf Zerstörung bedacht, aber niemals am Aufbau interessiert. Wie in einem riesigen Konzentrationslager haben die Taliban in ihrem Afghanistan alles Menschliche vernichtet, die Männer gebrochen, die Frauen so gut wie ausgelöscht, und sie haben in all den Jahren nicht ein einziges Gebäude in Kabul wieder aufgebaut. Die Mujaheddin, diese so genannten Heiligen Krieger, die seinerzeit von den Amerikanern gepäppelt wurden, weil sie nützlich im Krieg gegen die Sowjetunion schienen, und die von den Pakistani nach rein islamistischen Gesichtspunkten ausgesucht wurden – was in den USA niemand weiter zu interessieren schien und wobei auch ein Osama bin Laden unterstützt wurde –, sie machten 29
mit dem Fall der Taliban abermals eine überraschende Karriere: als Alliierte des Westens. Vergessen war, dass es eben diese Mujaheddin gewesen waren, die Afghanistan nach dem Abzug der geschlagenen Sowjetunion in ein blutiges Chaosland verwandelt hatten, die während ihrer jahrelangen Machtkämpfe das bis dahin völlig intakte Kabul in Schutt und Asche legten, die plünderten, brandschatzten und vergewaltigten und die den Taliban praktisch den Weg bereiteten. Als Ordnungsbringer wurden die Träger des schwarzen Turbans ja zunächst sogar freudig von der verzweifelten Bevölkerung begrüßt. Vergessen ist freilich auch, dass es ausgerechnet die erste weibliche Regierungschefin der islamischen Welt war, die im liberalen Oxford erzogene Benazir Bhutto, die der Entsendung der Taliban nach Afghanistan ihren Segen gab. Aus opportunistischen Gründen und völlig ohne Not hatte sie den Fundamentalisten in Pakistan Tor und Tür geöffnet, immer in der Hoffnung, damit die Popularitätspunkte im Volk und Anerkennung bei den richtungsweisenden Schriftgelehrten zu gewinnen. Ja, sie hatte sogar die radikalste Islamistenpartei, die Jamiat Ulema-e-Islam oder Gemeinschaft Islamischer Gelehrter (JUI) mit in die Regierung genommen, auch das ohne Not. Deren Chef, der lebensfrohe Maulana Fazlur Rehman, hatte zusammen mit dem damaligen Innenminister Nasirul-lah Babbar, einem nicht minder lebensfrohen ExGeneral, die Puritaner-Truppe der Taliban in den Koranschulen des Landes heimlich aufgebaut. Der pakistanische Geheimdienst ISI brachte sie dann militärisch auf Vordermann, sodass die so genannten Religionsstu30
denten 1994 mit Panzern, Flugzeugen und schwerer Artillerie aufmarschieren konnten. Jeder Förderer der Taliban hatte etwas anderes mit ihnen im Sinn. Benazir Bhutto glaubte, sie würden Pakistan den Weg ins gelobte Land freikämpfen: nach Zentralasien mit seinen riesigen Bodenschätzen; nach Kasachstan, Aserbaidschan und Turkmenistan, wo die größten Öl- und Gasvorkommen der Welt vermutet werden; nach Usbekistan, das der größte Goldproduzent der Erde ist und Tadschikistan, das über die größten Silbervorkommen verfügt. Das pakistanische Militär träumte von einem ergebenen Vasallenstaat in seinem Rücken, eine Rückfallposition, falls es zu einem neuen Krieg mit Indien käme. Und die Islamisten, auch die im Militär, die dachten an die Errichtung eines Gottesstaates im Herzen Asiens. Die Amerikaner aber schwiegen auch dann noch, als die Taliban 1996 Kabul besetzten und als längst deutlich geworden war, welche Terrorherrschaft da im Namen Allahs errichtet wurde. Denn sie dachten an ihre Pipelines, die zum Teil schon angezahlt worden waren, und beruhigten sich mit dem Gedanken, dass es vor allem »nur« Frauen waren, denen Schreckliches widerfuhr. Außerdem: der radikale Extremismus der Taliban kam ja nicht überraschend. Zwar wusste man nicht, was in den Koranschulen geschah, in denen den Religionsstudenten das fanatische Credo eingebläut wurde. Aber in den afghanischen Flüchtlingslagern auf pakistanischem Boden mit ihren zweieinhalb Millionen Menschen, da hatte man schon jahrelang und noch ehe die Taliban in Afghanistan einmarschierten, erleben können, wes Geistes Kind diese 31
Leute waren. Diese Lager waren die Rekrutierungszentren, hier herrschten die halbgebildeten Mullahs, deren Markenzeichen Intoleranz, Isolationismus, Rückständigkeit und Rücksichtslosigkeit ist. Der Westen, der die Lager finanzierte, und die Kader der Vereinten Nationen, die dort arbeiteten, sie alle nahmen es hin, dass die Islamisten ihnen auf der Nase herum tanzten und westliche Wertvorstellungen lächerlich machten. Medizinische Versorgung für Frauen? Welch eine Verschwendung. Also wurde sie abgeschafft. Eine Schule für Mädchen, eine höhere gar? Wie unnötig. Also wurde eine bekannte afghanische Pädagogin, die so etwas mit Unterstützung der westlichen Hilfsorganisationen organisieren wollte, so lange mit Morddrohungen unter Druck gesetzt, bis sie fliehen musste. Die Hilfsorganisationen aber hakten nicht nach, und die Frauen verschwanden unter der Burka, verängstigt, stumm, ausgelaugt von meist über einem Dutzend Geburten. Ein Kabuler Professor, der es wagte, in seinem Informationszentrum demokratische Aufk lärung zu betreiben, wurde kurzerhand umgebracht. So ging das jahrelang, und jeder, der wollte, konnte sehen, was sich da zusammenbraute. Aber kaum jemand schaute hin. Auch nicht, als »das Ministerium zur Förderung der Tugend und Verhinderung des Lasters«, also die Sittenpolizei, sich nach der Eroberung Afghanistans durch die Taliban daran machte, im Namen Allahs ein ganzes Volk auszulöschen, ein ganzes Land zu einem freudlosen, trostlosen Ort des Jammers zu machen, wo alles, ja alles verboten war, sogar das Lachen. Die selbstge32
rechten Gotteskrieger gaben sich nicht einmal die Mühe, ihr Treiben zu verbergen. Mit Bajonetten jagten sie die Männer in die Moscheen, frisch operierte Frauen wurden aus den Krankenhäusern geworfen und damit in den sicheren Tod geschickt, vermeintlichen und wirklichen Dieben wurden die Hände abgehackt und angebliche Mörder flugs aufgeknüpft, bevor es eine Chance gab, sich zu verteidigen. Am schlimmsten traf es, wie schon in den Flüchtlingslagern, abermals die Frauen. Denn die Frauen gefährden am meisten den Vormachtsanspruch der Männer, aber ihre Unterdrückung bestätigt deren Machtposition. Die Frau als unreines Wesen und ohne Seele habe sich der Autorität der Männer zu unterwerfen, verfügten die Mullahs und beriefen sich dabei auf den Koran, oder genauer gesagt darauf, wie sie seit 1300 Jahren den Koran auslegen. Der Gleichheitsgrundsatz, der bereits in der Verfassung des Königs Zahir Schah und natürlich noch in der der Kommunisten verankert war, wurde gestrichen, die Frauen aus der Öffentlichkeit verbannt und unter die Burka getrieben. Arbeit? Schulen? Aus und vorbei. Denn Wissen ist gefährlich. »Aus dem angeblichen Respekt vor der Kultur Afghanistans« nahm die Welt die Diskriminierung der Frauen hin, klagt die Ärztin Sima Samar, eine der beiden Frauen, die auf internationalen Druck hin in die erste provisorische Nach-Taliban-Regierung aufgenommen worden war. »Doch die Kultur wird nur als Ausrede für die Diskriminierung der Frauen vorgeschoben.« Denn die Kultur erlaubt es den Mullahs zu behaupten, 33
Frauen seien unmoralisch, obszön und korrupt und, da sie eine Gefahr für die Männer darstellten, von diesen möglichst fern zu halten. Sie seien dumm und zu nichts nutze, außer als Objekt zur Befriedigung der sexuellen Begierde und zum Gebären von Kindern, Söhnen natürlich. Sie hätten keine eigene Identität und müssten deshalb von Entscheidungsprozessen ausgeschlossen werden. Die »Kommission über den Status der Frau« hat das alles penibel in einem Untersuchungsbericht festgehalten. Allerdings nicht in Afghanistan, sondern in Pakistan, der Brutstätte des Taliban-Regimes. Und das bereits im Jahre 1985. Der Bericht wurde übrigens niemals veröffentlicht. Er war wohl sogar dem damaligen islamistischen Militärherrscher Zia ul Haq zu brisant. Doch nur zehn Jahre später war die Region bereits so talibanisiert, dass die selbst ernannten Gotteskrieger das öffentliche Steinigen von angeblichen Ehebrecherinnen – eine solche ist auch eine Frau, die vergewaltigt wird, aber nicht vier unbescholtene islamische Männer als Zeugen beibringen kann –, die bis zu den Schultern im Boden eingegraben werden oder das Erschießen von unter ihrer Burka völlig orientierungslos dahertaumelnden Frauen zur öffentlichen Volksbelustigung machten. »Ein freudiges Ereignis der Freizeitgestaltung«, nannte ein Taliban-Minister solche Exekutionen, die ausgerechnet in dem Stadion stattfanden, welches der Westen den Afghanen zu einem anderen Zeitvertreib geschenkt hatte, zum Fußballspielen. Die Scharia, das islamische Gesetz, wolle es so. Das alles geschehe zum höheren Ruhm Allahs, erklärten die Taliban. Schon der sudanesische Chefide34
ologe des Islamismus, Hassan al-Turabi, hatte unmissverständlich verkündet: »Die Menschenrechte der UNO sind nicht die unseren. Für uns gilt nur das Wort Gottes als oberstes Gesetz.« Groß-Talibanistan vom Iran über Afghanistan und Pakistan bis Kaschmir und die zentralasiatischen Staaten als Anhängsel, das ist das erste Ziel der Islamisten, auch nach der Vertreibung der Taliban aus den Städten Afghanistans. Das Endziel freilich ist ein größeres: die Vernichtung aller so genannten Ungläubigen und die Errichtung des islamischen Gottesstaates weltweit. Taliban überall. Als Hitler in »Mein Kampf« die Ausrottung der Juden ankündigte, hat ihn kaum jemand ernst genommen. Als Osama bin Laden seinen Entschluss mitteilte, erst Amerika und dann – interessanterweise – Indien zu vernichten, wurde dies belächelt. Als Asien-Korrespondentin habe ich seit Ende der achtziger Jahre permanent ausführlicher über die Terrorstrukturen berichtet, die in Afghanistan und Pakistan ihren Anfang nahmen und die sich in stetig verbessernder Organisation über ganz Asien legte. – Es ist kaum etwas davon gedruckt worden. Denn es wurde nicht ernst genommen. Höchstens »Exotika« schienen erwähnenswert wie die Tatsache, dass Frauen in Afghanistan keine weißen Strümpfe mehr tragen und mit ihren Absätzen kein Geräusch machen durften, weil es die Männer hätte erregen können; oder dass sie hinter geschwärzten Scheiben in ihren Wohnungen sitzen mussten und, wenn überhaupt, nur in Begleitung eines männlichen Verwandten das Haus verlassen durften. Obwohl der Westen arrogant glaubte, die rasante Aus35
breitung des islamischen Fundamentalismus sei nichts Besonderes und würde keine Konsequenzen haben, wurde eines allerdings von Anfang an zur Kenntnis genommen: die brutalen Methoden, mit denen die Islamisten ans Werk gingen. Deshalb ist die Uninformiertheit, die etwa den Erfurter Studenten Dirk Hasert veranlasste, ausgerechnet im Bürgerkriegsland Kaschmir Ferien zu machen, mit nichts zu entschuldigen. Er wurde von Terroristen verschleppt und ist nie mehr aufgetaucht. Die gleiche Gedankenlosigkeit war es, die eine Familie Wallert in ein Tauchrevier reisen ließ, das unmittelbar an das Gebiet grenzte, in dem der philippinische al-Qaida-Ableger den Aufstand probt. Mit dem Geld der deutschen Steuerzahler musste diese Familie ihren Entführern abgekauft werden. Es ist diese unglaubliche politische Naivität, die Fakten nicht zur Kenntnis nimmt und die zu moralischen Belehrungen à la Arundhati Roy (Osama bin Laden und George Bush sind Zwillinge des Terrors) oder zu Aufrufen wie: »Stoppt die Bombardements!« führen. Wir alle sind gegen den Krieg. Aber was wäre denn die Alternative gewesen? Politisch korrekt den Dialog zu suchen, mit einem Gegenüber, das sich nie zu erkennen gibt und jeden Dialog ablehnt? Mit Toleranz und Verständnis Leuten begegnen, die selbst keine Toleranz zeigen, sondern den Krieg erklären, die all das vernichten wollen, was uns wichtig ist: die Freiheit, den Pluralismus, die Demokratie. Wer nicht begreifen will, welch hohen Preis Freiheit hat und sich stattdessen hinter wohlfeilen Klischees versteckt, der sollte sich immer wieder den bedrückenden Film von Zaira Shah anschauen, der, heim36
lich im Taliban-Afghanistan aufgenommen, zeigt, welch »Reich der Finsternis« (so der Titel) die so genannten Gotteskrieger auf der Erde errichten wollen. Natürlich ist die politische Kampfideologie des Islamismus nicht unbedingt identisch mit dem Islam. Aber es ist der Islam, der den Fundamentalismus hervorgebracht hat, durch seine Unfähigkeit zur Selbstreflexion, zur Selbsterneuerung und zur Anpassung an die moderne Zeit. Die Überzeugung, ein Monopol auf die einzig wahre Religion zu haben, und die daraus erwachsende Verachtung von Andersdenkenden und Andersgläubigen selbst dort, wo Muslime Gastrecht genießen, liefert den Fundamentalisten die Rechtfertigung für ihren »umgekehrten Kreuzzug«. Die einzige Antwort auf den Terrorismus sei eine gerechte Welt, sagt der indische Verteidigungsminister George Fernandes. Er weiß, wovon er spricht, denn er selbst lebt in einer Welt, die nicht nur besonders ungerecht ist, sondern die auch vom Terror heimgesucht wird wie kaum eine andere: Punjab und der Sikh-Terrorismus, der Aufstand im Nordosten, die ständigen blutigen Auseinandersetzungen zwischen Hindus und Moslems, und dann immer wieder Kaschmir, Kaschmir, Kaschmir. Schon Bill Clinton nannte das Territorium im Himalaja, um das sich Indien und Pakistan streiten, »den gefährlichsten Ort der Welt«, denn nach zwei konventionellen Kriegen kam es dort 1999 fast zum Atomkrieg. Zwar besteht kein Zweifel daran, dass Indien dem Terrorismus in die Hände gearbeitet hat. Indem die so genannte größte Demokratie der Welt sämtliche demokra37
tische Entwicklungen in ihrem Teil Kaschmirs unterdrückte und seine halbe Million Soldaten dort als brutale Besatzungsmacht aufmarschieren ließ, wurde der Volksaufstand geradezu provoziert. Für den islamischen Fundamentalismus tat sich dadurch eine ungeahnte Möglichkeit auf, sein Einflussgebiet auszuweiten. Seit Jahren beschuldigen die Inder das Nachbarland Pakistan, militante Organisationen, die Indien Terroristen und Pakistan Freiheitskämpfer nennt, in Afghanistan und Pakistan auszubilden und dann nach Kaschmir zu schicken, eine Behauptung, die Islamabad hartnäckig abstreitet. Doch mittlerweile gibt es Tausende von »ausländischen« Gefangenen in Afghanistan, die zugeben, in Kaschmir gekämpft zu haben: Tschetschenen, Bosnier, Araber, Sudanesen, Pakistani und selbst der »amerikanische Taliban« John Walker, ausgebildet in den Lagern von al-Qaida. 60.000 Tote hat es bisher in Kaschmir gegeben, und keine der beiden Seiten will sich offenbar vorwerfen lassen, weniger grausam zu sein als die andere. Die Inder fürchten einen Zerfall ihres Riesenreiches, wenn sie Kaschmir in die Autonomie entlassen, und blocken jeden Vermittlungsversuch wie auch eine Rückkehr zu den Selbstbestimmungsresolutionen der UNO ab. Die Pakistani sehen im Kampf für die Rückkehr der Glaubensbrüder den notwendigen Leim, der ihr auseinanderstrebendes Staatsgefüge zusammenkleben soll. Und das System Osama bin Laden betrachtet Kaschmir als Einfallstor in das Land, das mit 140 Millionen »unterdrückten« Muslims geradezu den idealen Nährboden für den Fundamentalismus zu bieten scheint. Der törichte Imam der Großen Moschee 38
in Delhi ist denn auch schon in die Falle gegangen und hat Osama bin Laden zu seinem Helden erklärt. Von den vielen militanten Gruppierungen, die in den letzten Jahren in Kaschmir gekämpft haben, sind manche, vor allem die moderateren, von der Bühne verschwunden, andere wurden umbenannt, weil sie auf die Terroristenlisten gerieten oder erschienen schlicht mit neuem Namen und neuer Mission. Heute operieren dort vor allem vier große radikale Gruppen: die Hizbul Mujaheddin, die sich vor allem aus Kaschmi-ris zusammensetzt; die »Heilige Armee« Lashkar-e-Tayba aus Pakistan, die Harkat-ul-Mujaheddin, die Teil der internationalen Brigade Osama bin Ladens und für die Entführung auch von Dirk Hasert verantwortlich ist, und die erst vor kurzem gebildete »Armee Mohammeds« Jaish-e-Mohammed, die sich als Speerspitze des Systems Osama bin Ladens versteht. In Kaschmir rekrutiert sie seit neuestem die Vierzehn- und Fünfzehnjährigen, weil die am wenigsten Fragen stellen und sich begeistern lassen für ein Leben als Muhajid, als Heiliger Krieger. Aber es geht um mehr. Lashkar-Chef Hafiz Sayeed macht denn auch aus seinen Zielen keinen Hehl: »Lasst alle Zivilisationen zusammenschmettern, bis der Islam überall akzeptiert wird«, bläut er seinen Truppen ein. Unterdessen arbeitet das Fußvolk mit den Einschüchterungsmethoden der Taliban auch in Kaschmir. Frauen, so verfügte die bis dato unbekannte Gruppe Lashkar-eJabbar, wären ab sofort ein Nichts, hätten wie die Frauen in Afghanistan das Krähengewand Burka zu tragen. Diejenigen, die sich weigerten, das in Kaschmir bisher unbe39
kannte Kleidungsstück anzulegen, wurden mit Schüssen und Säureanschlägen ins Gesicht gefügig gemacht. In Afghanistan ausgebildete Kämpfer sind in der ganzen Welt aufgetaucht, vom Kosovo und Albanien bis auf die Philippinen, von Marokko und Algerien bis nach China, vom Sudan bis nach Indonesien. Aber ein besonderes Augenmerk hat das Terrornetzwerk auf Südostasien geworfen, einen Erdteil mit einer halben Milliarde Menschen. Viele von ihnen sind Muslime. Hier, wo bislang ein gemäßigter, toleranter Islam die Regel war, weit entfernt von der engen Religiosität der Paschtunen und der fanatischen Intoleranz der saudischen Wahabis, hier breitet sich jetzt zunehmend ein radikaler Islam aus. Jener 24-jährige malaysische Student Muhammad Sattar, der mit seinem Motorroller zur Teilnahme am Djihad nach Afghanistan fahren wollte und der bereits an der Grenze zu Thailand gestoppt wurde, war alles andere als eine komische Figur. Er ist aufgewachsen in einem Land, in dem der Islam sich an dem Wirtschaftswunder des autokratisch herrschenden, aber überzeugt säkularen Vaters der Nation, Mahatir Mohammad, so erfolgreich gerieben hat, dass die Islam Partei PAS bei den letzten Wahlen bereits das zweite Länderparlament eroberte, nun die Scharia im ganzen Land einführen möchte und zum Djihad gegen die Amerikaner aufgerufen hat. Immer mehr Jeans-tragende junge Mädchen zwängen sich unter das Kopftuch, obwohl ihre Mütter stolz darauf sind, unverschleiert zu leben. Und immer mehr Jungen finden nichts dabei, im Osama-T-Shirt bei McDonald’s Hamburger zu essen. Dass ausgerechnet der Sohn des PAS-Führers als 40
angeblich in Afghanistan ausgebildeter Militanter verhaftet wurde, ist auch wohl nicht nur ein Propagandacoup Mahatirs. Umgeschlagen ist ebenfalls die Stimmung im bisher demonstrativ säkularen Bangladesch. Bei den letzten Wahlen schlug Khaleda Zia deshalb ihre ewige Rivalin Scheikh Hasina, weil sie den Islamisten größere Versprechungen machte. Die haben sich mittlerweile überall unter den 140 Millionen Menschen eingenistet, dank Saudi-Arabien und der von den Wahabis bezahlten flächendeckenden Koranschulen. Das buddhistische Thailand ist derweil für fundamentalistische Terroristen zum beliebten Reiseziel geworden. Denn in dem vom Tourismus lebenden Land sind die Einreiseformalitäten lasch, und in den vier südlichen muslimischen Provinzen lässt es sich gut untertauchen. Dort kämpfen die islamische United Liberation Front und die Islamic Youth Organization für Unabhängigkeit. Das gleiche Motiv haben die islamischen Befreiungsorganisationen auf den Philippinen, von denen freilich die beiden größten, die Moro National Liberation Front und ihre Rivalin, die Moro Islamic Liberation Front, den Dialog mit der katholischen Präsidentin in Manila suchen. Doch die unübersichtliche Inselwelt der südlichen Philippinen, die nach der Vertreibung aus Afghanistan ein ideales Versteck für die nun heimatlosen al-Qaida-Kämpfer abgeben können, und das Treiben der sich mit ihren engen Beziehungen zu Osama bin Laden brüstenden Abu Sayyaf Banditen haben in Washington die Alarmglocken klingeln lassen. Islamische Schulen und 41
so genannte Wohlfahrtsorganisationen, die von al-Qaida finanziert und sogar teilweise von Osama bin Ladens Schwager Mohammad Jalal Khalifa persönlich geführt wurden, sind ein weiteres Alarmzeichen. Auch in Indonesien, dem größten muslimischen Land der Erde, haben bewaffnete fundamentalistische Gruppen Geld, Waffen und Kämpfer von dem System bin Laden erhalten. In der Provinz Aceh sollen die Metzeleien mit Drogengeld aus Afghanistan finanziert worden sein, in Ambon, Sabah und Ost-Kalimantan wurden ausländische Kämpfer gesichtet. Der Führer der Lashkar Djihad, Jafar Umar, ist stolz darauf, ein alter AfghanistanKämpfer zu sein. Staatschefin Megawati Sukarnoputri hat er gewarnt, nur ja nicht die USA im Kampf gegen den weltweiten Terror zu unterstützen, denn dann könne sie anfangen, die Tage bis zu ihrer Entmachtung zu zählen. Megawati weiß, dass dies keine leere Drohung ist und hat seitdem geschwiegen. 10.000 Kämpfer kann die Lashkar aufbieten, und Geld von bin Laden braucht sie auch nicht. Das erhält sie, wird gemunkelt, von der Familie des gestürzten früheren Staatschefs Suharto. Bleibt das Schlüsselland Pakistan, ein Land, das nicht von ungefähr immer wieder eine gescheiterte Nation genannt wird. Dieses Kunstgebilde, das 1947 von dem restlichen Britisch-Indien abgetrennt wurde, weil die Muslime fürchteten, von der Mehrheit der Hindus überrollt zu werden, hat niemals eine eigene Identität entwickelt. Zu unterschiedlich sind die vier Provinzen, die eigentlich eher auseinander streben als zum Zusammenleben bereit sind. Vor allem die wilden Pathanen der Nord42
west-Grenzprovinz, die noch immer damit liebäugeln, sich mit ihren durch eine willkürliche koloniale Grenzziehung getrennten Brüdern, den Paschtunen in Afghanistan, in einem Groß-Paschtunistan zusammenzutun, sind ein Alptraum für die Machthaber. Deshalb haben sie alle, die vielen Militärdiktatoren wie die wenigen zivilen Regierungschefs versucht, sich Afghanistan Untertan zu machen, mit verheerenden Folgen, wie wir heute wissen. Mit amerikanischem Geld, aber pakistanischem Knowhow wurden erst die Mujaheddin und dann das Monster Taliban geschaffen. Und als die Amerikaner nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion ihr Interesse an der Region verloren und ihren Verbündeten Pakistan abrupt fallen ließen, da geriet auch das so genannte Land der Reinen in den Chaosstrudel, in dem Kalaschnikows, Drogen und Gesetzlosigkeit die bestimmenden Elemente waren und sind. Zusammengebrochen ist auch in Pakistan schon sehr früh das Rechtssystem, denn der Staat war nie stark genug, Gerechtigkeit zu garantieren. Indem sie den Islamismus übermäßig förderten, weil sie glaubten, ihre eigenen Schwächen damit überspielen zu können, überließen sämtliche Machthaber Pakistans den Mullahs das Recht, im Namen Allahs ihr eigenes Recht zu fabrizieren. Heute ist Pakistan weitgehend talibanisiert, denn der Taliban-Extremismus hat sämtliche Institutionen des Staates unterwandert. Das gilt besonders auch für die Armee und für ihren militärischen Geheimdienst ISI, die entscheidenden Elemente im pakistanischen Machtge43
füge. Dort sitzen als Absolventen der Koranschulen die jungen Offiziere, deren Herz im Einklang mit den Taliban schlägt, und dort planen die Strategen, die am Aufbau von al-Qaida kräftig mitgewirkt haben, schon ihre nächsten Schritte. Der Militärmachthaber General Pervez Musharraf, von dem es heißt, das er auf die Taliban vielleicht noch verzichten würde, aber niemals auf den Befreiungskampf für die Glaubensbrüder in Kaschmir, ist, weil ihm gar nicht anderes übrig blieb, für die Bezahlung von vielen Millionen für seinen bankrotten Staat auf die Anti-TerrorKoalition eingeschwenkt. Aber kann er auf Dauer dagegen halten, wenn die radikalen Fundamentalisten ihre Zeit für gekommen halten? Wenn die Terroristen nicht inzwischen über einen so genannten schmutzigen AtomSprengsatz verfügen, dann werden sie ihn spätestens haben, wenn »die Zeit für eine revolutionäre islamische Ordnung« gekommen ist. Dass diese Zeit unmittelbar bevorsteht, davon ist Qazi Hussein Ahmed überzeugt. »Die Zeit ist reif für den Umsturz«, sagt er. Die bevorstehende Revolution ist Qazis Lieblingsthema. Qazi heißt Richter, und Qazi Hussein Ahmed ist Chef der größten islamistischen Partei in Pakistan, der Jamaat-i-Islami. Blutig wird sie wohl werden, diese Revolution, meint Qazi und blickt ernst durch seine randlose Brille. Makellos sitzt die schwarze Weste über dem makellos weißen Shalwar Kameez, akkurat ist der schlohweiße Bart getrimmt. »Wir wollen eine egalitäre Gesellschaftsordnung, die sich auf Koran und Sunna stützt«. Qazi lächelt gewinnend: »Wir sind doch keine Taliban!« 44
Mit Koransuren ist sein spartanisches Büro im Hauptquartier der Partei vor den Toren von Lahore übersät. Gleich hinter der dreckigen Schlaglochpiste der Überlandstraße nach Multan erscheint dieses Hauptquartier in fast militärischer Ordnung. Am Tor die Moschee, die Bordsteine wie in der Kaserne weiß gekalkt, saubere Häuserblocks, Schulungsräume, sogar eine Koranschule für Frauen gibt es. Dort lernen die unter großen schwarzen Tüchern verschwindenden Studentinnen, »wie sie sich gegen eine kleine, aber sehr aktive Gruppe westlicher Frauen verteidigen können, die den Islam verunglimpfen«. Gemeint ist die pakistanische Frauenbewegung, die als einzige noch wirklichen Widerstand leistet gegen die schleichende Talibanisierung ihres Landes. Diszipliniert und straff organisiert ist die Jamaat, vier Millionen Mitglieder hat sie und 15.000 hoch motivierte und überdurchschnittlich qualifizierte Kader. Qazi selbst spricht fünf Sprachen. Ein gutes Dutzend radikaler islamistischer Organisationen und Parteien wetteifern miteinander, dem weltlichen Pakistan ein Ende zu machen. Auch wenn sich Qazi über die Taliban-Horden erhebt, weiß auch er: »Der Taliban-Islam ist zum Zukunftsmodell geworden«, wie es der Historiker Mubarak Ali formuliert. In den Stammesgebieten der wilden Nordwest-Grenzprovinz, in die sich keine pakistanische Polizei und keine pakistanische Behörde hinein trauen und die sich nach dem Fall der Taliban als ideales Versteck für radikale Flüchtlinge aus Afghanistan erwiesen haben, dort wurde bereits das islamische Emirat ausgerufen und die Scharia als oberstes
Gesetz eingeführt. Exekutionen, Händeabhacken, Steinigen, Auspeitschen, alles ist hier wie in Taliban-Afghanistan bereits Realität, und natürlich auch der Burka-Zwang für die Frauen. Qazi, der feinsinnige Emir der Jamaat, ist hier ein gefeierter Mann. Dass er es ist, der die islamische Revolution in Pakistan durchsetzen wird, davon ist Qazi überzeugt. Denn seine Partei verfügt über die größte der islamistischen Privatarmeen, gegen die nicht einmal das pakistanische Militär mehr einzuschreiten wagt. 10.000 Mann stark ist Qazis Truppe, eben jene Harkat-ul-Mujaheddin, deren Leute nicht nur Dirk Hasert entführt, sondern die zu den gefürchtetsten Kämpfern in Kaschmir gehören. Qazi hat seine internationale Brigade in Afghanistan ausbilden lassen, und dort sind seine Leute zu Hunderten beim Endkampf gegen die Taliban gefangen genommen worden. »Es ist uns eine Ehre, mit Osama bin Laden zusammenzuarbeiten«, haben die Harkat-Kämpfer immer wieder betont. Am 11. September haben die Attentäter die Atom-Bombe nur deshalb nicht eingesetzt, weil sie sie noch nicht hatten. Wochenlang wurden zwei am Bau dieser Bombe beteiligte führende pakistanische Nuklearwissenschaftler von pakistanischen Behörden verhört, die offenbar von al-Qaida rekrutiert worden waren. Doch der Staat Pakistan verfügt über die Bombe, und Osama bin Laden hat immer wieder sein Recht auf diese Bombe angemeldet. Bin Ladens Auftrag aber tragen alle so genannten Heiligen Krieger weiter: das Herz und den Körper Asiens zu erobern. Und dann die ganze Welt.
Das Einfallstor Balkan Von Johannes von Dohnanyi
Unterwegs nach Zentralbosnien. Links und rechts der Straße kleine schmucke Gehöfte und ausgebrannte Kriegsruinen. Vorbei an Müllhalden, Autowracks und rostenden Stahlskeletten von Fabriken. Kilometer um Kilometer, bis nach Zenica. Eine der typischen bosnischen Kleinstädte aus der jugoslawischen Erbmasse. Graue Rasenquadrate zwischen phantasielosen Plattensiedlungen. Das obligatorische Denkmal für den längst vergessenen Helden. In den wenigen verbliebenen Gassen der Altstadt Restaurants, Bars und kleine Kaffeehäuser. Hier trafen sich die »Bärtigen«. Harte Männer, die stundenlang im kleinen Kreis über Religion, Politik und vor allem über ihren Djihad, den Heiligen Krieg diskutierten. Fremde mit arabischen Zügen, die sich nicht scheuten, allzu neugierige, wiederum ihnen Fremde, mit einer demonstrativ langsam zwischen die Kaffeetassen gelegten Pistole zu warnen. Zu ihnen zählte auch der Algerier Bensayah Belkacem. Wie tausende von Muslimen aus aller Welt hatte auch er dem Alarmschrei des saudischen Afghanistan-Veteranen Abu Abdel Aziz von 1992 geglaubt, »Christen und Juden« täten auf dem Balkan das, »was sie seit Jahrhunderten am liebsten tun: Sie schlachten alle Muslime ab«. Wie 47
viele dieser Mujaheddin war auch Belkacem nach dem Krieg in Bosnien geblieben. Immer wieder waren sie in den Büros islamischer humanitärer Organisationen wie der saudischen »al-Haramayn«, im »Iranischen Zentrum« oder bei der»al-Muwafaq Stiftung« aufgetaucht. Vermutlich kämen Bensayah Belkacem und seine Freunde bis heute in das Kaffeehaus, hätte der Algerier die Attentate auf das World Trade Center und das Pentagon am 11. September 2001 nicht so überschwenglich bejubelt. Belkacem hätte wissen müssen, dass die Aufk lärer der in Bosnien stationierten multinationalen Friedenstruppe SFOR nach diesem Tag besonders aktiv sein würden. Doch offenbar fühlten sich die Mujaheddin so unangreifbar, dass sie selbst die elementarsten Regeln operativer Sicherheit vernachlässigten. Am Telefon sprach Belkacem offen von der Pflicht, sich körperlich und geistig auf »die nächste Phase des Djihad« vorzubereiten. Besonders alarmierend für die Lauscher: Ein gutes Dutzend Mal sprach der Algerier mit Osama bin Ladens besten Waffen- und Sprengstoffexperten Abu Mohamed al-Masry in Afghanistan. Abu Mohamed al-Masry, der während der Angriffe auf Afghanistan ums Leben gekommen sein soll, stand seit den Anschlägen von 1998 auf die amerikanischen Botschaften in Kenia und Tansania auf der Fahndungsliste des FBI. Seine Kontakte zu den Mujaheddin in Bosnien konnten nur eines bedeuten: Das Terrornetz von Osama bin Laden bereitete die nächste Angriffswelle vor. Diesmal in Europa. Bevor sie sich mit einem Sportflugzeug voller Sprengstoff auf einen der US-Stützpunkte in Bosnien stürzen konnten, 48
wurden Belkacem und sein Selbstmordkommando verhaftet. Über 100.000 DM wurden sichergestellt, mehrere islamische Organisationen auf Befehl von Innenminister Mohamed Besic durchsucht. Bosniens Regierung stehe fest auf der Seite der weltweiten Anti-Terror-Koalition, erklärte Polizeichef Dragan Lucac in Sarajevo. Auf die Frage, warum er in der Vergangenheit nicht energischer gegen die Mujaheddin vorgegangen sei, wollte Lucac nur sagen, dass »der 11. September 2001 auch bei uns viel verändert hat«. Damit ist der bosnische Polizist in illustrer Gesellschaft. Denn von einer globalen Strategie des Terrors hatten auch die meisten westeuropäischen Politiker ebenso wenig hören wollen wie von der Gefahr einer Penetration der demokratischen Gesellschaften durch das internationale organisierte Verbrechen. Solche Unkenrufe, erinnert sich ein hoher Nato-Offizier, wurden vor allem als Versuch der Geheimdienste interpretiert, sich mit der Erfindung neuer Feinde auch nach dem Ende des Kalten Krieges neu zu legitimieren. Doch seit al-Qaidas mörderischem Quantensprung vom 11. September sind das Netz des Terrors und seine Verbindungen zur organisierten Kriminalität nicht länger zu leugnen. Der balkanische Djihad begann vor gut einem Jahrzehnt. Und zu verantworten haben ihn die westlichen Demokratien. Nach einem relativ kurzen Krieg übten sich der serbische Diktator Slobodan Milosevic und sein kroatischer Gegenspieler Franjo Tudjman beim gemeinsamen Abendessen schon wieder in regionaler Machtpolitik. Auf einer 49
Serviette teilten sie Bosnien unter sich auf. Den Muslimen bliebe nur ein kleiner und auf allen Seiten von Feinden eingeschlossener Landkeil. Die internationale Konstellation war nicht günstig für die Bosniaken. Moskau fühlte sich den orthodoxen Slawen in Belgrad verpflichtet. Die USA erwarteten, dass Europa im eigenen Hinterhof für Ordnung sorgen würde. Doch von einer gemeinsamen europäischen Position konnte keine Rede sein. Die Mitglieder der Europäischen Union (EU) verfolgten im Wesentlichen eigene nationale Interessen. Paris, traditionell ein Freund Serbiens, hatte die schnelle Anerkennung der Unabhängigkeit Sloweniens und Kroatiens durch Deutschland und den Vatikan als Angriff auf die eigene Führungsrolle in Europa verstanden. Großbritannien setzte weiter auf Belgrad als balkanische Ordnungsmacht. Italien sah jede politische Neuordnung im Südosten Europas als Gefahr für die eigene Rolle auf dem Balkan und in der Union. Und Deutschland verspürte wenig Lust, sich erneut gegen den Rest Europas zu exponieren. Hinzu kam ein genuines Entsetzen der Westeuropäer über die Rückkehr des Krieges auf den Kontinent. Gewalt mit Gewalt zu unterdrücken, war im politischen Instrumentarium der Europäer nicht mehr vorgesehen. Die endlose Abfolge von Friedenskonferenzen, auf denen selbst Kriegsverbrecher wie Slobodan Milosevic und Radovan Karadzic hofiert wurden, entlarvte Europa als lächerlichen Papiertiger. Hilflos sahen die Politiker zu, wie die gleichen Männer, die mit ihnen vor der Öffentlichkeit 50
über den Fortschritt auf dem Weg zum Frieden faselten, hinter ihrem Rücken neue Massaker planten. Immer wieder, schreibt der ehemalige amerikanische Sonderbeauftragte für den Balkan, Richard Holbrooke, in seinen Erinnerungen, habe er nach dem Ausbruch des Bosnienkriegs die Aufhebung des Waffenembargos für die Bosniaken gefordert. Doch dass die US-Geheimdienste konkrete Hilfspläne radikaler islamischer Staaten und Organisationen an Sarajevo meldeten, schien die Europäer nicht zu beeindrucken. Unter der Führung von Präsident Alija Izetbegovic hatten die Bosniaken schon frühzeitig eine Doppelstrategie entwickelt. Einerseits würden sie alle Friedensinitiativen unterstützen. Andererseits aber würden sie das Waffenembargo der Vereinten Nationen unterlaufen. Und die Bosniaken wussten, an wen sie sich wenden konnten. Das iranische Regime der Mullahs hatte nicht vergessen, dass Alija Izetbegovic und der bosnische Imam Hasan Cengic für ihre Begeisterung über die Machtübernahme von Ayatollah Khomeini von einem jugoslawischen Gericht verurteilt worden waren. Teheran versprach doppelte Hilfe. Revolutionswächter würden zusammen mit dem Mullah-Geheimdienst Vevak die Lieferung der Waffen vorbereiten. Zum anderen wollten die Iraner kampferprobte Veteranen aus den Kriegen gegen den Irak und die Sowjets in Afghanistan schicken. Bei der Umgehung des UN-Waffenembargos half die sudanesische humanitäre Organisation »Third World Relief Agency« (TWRA) in Wien. Niemand schien sich da51
rüber zu wundern, dass der bettelarme Sudan sich eine der reichsten islamischen NGO’s leisten konnte. Und dass neben dem offiziellen TWRA-Gründer Elfatih Hassaneinomal-Fatih auch der Bosniake Hasan Cengic im Aufsichtsrat der Organisation saß, fiel ebenso wenig auf wie die Tatsache, dass Alija Izetbegovic und Hassanein langjährige Freunde waren. Im März 1992 wurde Hassanein vom Osteuropa-Berater der sudanesischen »Nationalislamischen Front« zum stellvertretenden Kulturattaché an der Wiener Botschaft befördert. Damit hatte er einen Diplomatenpass, der ihn vor jeder Kontrolle schützte. Nach einer direkten Intervention von Izetbegovic und seinem Außenminister Haris Selaidjic konnte Hassanein im Herbst 1992 bei der GiroCredit Bank in Wien ein von der TWRA verwaltetes Bosnienkonto einrichten. Zwischen 1992 und 1995 flossen nicht weniger als 350 Millionen Dollar über dieses Konto. Der größte Teil der Gelder kam aus Saudi-Arabien, Malaysia, Kuwait und Brunei. Mindestens die Hälfte davon wurde nach Schätzungen westlicher Geheimdienste für Waffen ausgegeben. Die Einkaufsliste für die bosnische Armee stellte Brigadegeneral Dzemal Merdan zusammen, in dessen Büro in Sarajevo nicht die bosnische, sondern die iranische Flagge und ein Bild von Ayatollah Khomeini hingen. Die Logistik des Transports und der Verteilung übernahm Hasan Cengic’s Vater Halid. Mindestens zwei Mal verzeichnete das Bosnienkonto der TWRA auch die Spende eines Afghanistanveteranen namens Osama bin Laden. Und mit Hilfe der TWRA 52
schickte bin Laden auch zwei Container mit gebrauchten sowjetischen und chinesischen Waffen, die aber 1993 an der slowenischen Grenze abgefangen wurden. Wenige Monate später betraten der Saudi bin Laden und der Tunesier Adouni Mehrez die provisorische bosnische Botschaft in Wien. Sarajevo leugnet, dass den beiden damals ein bosnischer Pass ausgestellt wurde. Aber fünf Jahre später wurde Mehrez im Zusammenhang mit den Attentaten auf die US-Botschaften in Nairobi und Daressalaam in der Türkei verhaftet. Bei dem Nordafrikaner wurde ein 1993 in Wien ausgestellter bosnischer Pass gefunden. Senad Becanin hat nicht nur recherchiert, dass bin Laden während des Krieges mehrfach in Bosnien war. Der Chefredakteur der kritischen Wochenzeitung »Dani« in Sarajevo hat auch keinen Zweifel daran, dass »bin Laden zumindest in der Vergangenheit einen bosnischen Pass besaß«. Weil Europa trotz des wachsenden islamischen Einflusses auf dem Waffenembargo gegen Bosnien bestand, riskierte Amerika einen gefährlichen Alleingang. Am 27. April 1994 stimmte Präsident Bill Clinton über seinen Botschafter in Zagreb, Peter Galbraith, den iranischen Waffenlieferungen an Bosniens Muslime zu. Washington verlangte lediglich eine Inspektion der Waffen vor der Auslieferung. Zusätzlich wurden offiziell von den USA an Argentinien gelieferte Waffen von Präsident Carlos Menem über Kroatien an Bosnien weitergeleitet. Die europäische Reaktion war ein Paradebeispiel diplomatischer Heuchelei. Obwohl längst allen klar war, dass es die UN-Sanktionen waren, die die Bosniaken in 53
die islamistischen Arme trieben, war niemand bereit, als Erster die logische Konsequenz zu ziehen. Europa bewahrte sich mit der Rolle des hilflosen Friedensstifters die Fassade der Unschuld und überließ realpolitische Entscheidungen den Anderen. Die Katastrophe war vorprogrammiert. Denn worauf Washington keinen Einfluss hatte: mit den Waffen kamen auch tausende meist afghanistan-erfahrene Mujaheddin. Ihr Einsatz wurde von der bulgarischen Hauptstadt Sofia aus von dem ägyptischen Integralisten Ayman al-Zawahari koordiniert. Al-Zawahiri gilt als religiös-politischer Mentor bin Ladens und als der eigentliche Kopf von al-Qaidas globaler Terrorstrategie. Am Ende des Bosnienkriegs hatten sich die Islamisten bestens positioniert. Kein einziges Haus war noch repariert, da hatte die jordanische Regierung bereits die erste Moschee finanziert und Teheran in der Innenstadt von Sarajevo eine Bank und ein »Iranisches Kulturzentrum« eröffnet. Von der 7. Mujaheddin-Brigade der bosnischen Armee, die gemäß dem Dayton-Abkommen das Land hätte verlassen müssen, zog nur wenig mehr als die Hälfte ab. Die anderen hatten entweder während des Kriegs einen bosnischen Pass erhalten oder bekamen jetzt durch die schnelle Heirat mit einheimischen Frauen die bosnische Staatsangehörigkeit. »Fürchtet Allah« schrieben die neuen Bosnier etwa auf ein Schild am Ortseingang von Bocinja Donja. Das Dorf war vor dem Krieg vorwiegend von Serben bewohnt gewesen. Unter Berufung auf die Zusage von Alija Izetbegovic weigerten sich die »bosnischen Araber« jetzt, Bocinja 54
Donja zu verlassen. »So lange auch nur ein Muslim hier lebt, sollte kein Serbe sich herwagen«, ließen sie die UNVerwalter wissen und nahmen für einige Stunden sogar den britischen Vize-Kommandeur von SFOR, Generalleutnant Michael Wilcox, und seine Begleiter als Geisel. Der Österreicher Wolfgang Petritsch musste bei den bosnischen Behörden sein ganzes Gewicht als hoher Vertreter der Europäischen Union einsetzen, um Ende 1999 wenigstens die Umsiedlung der Gotteskrieger aus dem serbischen Dorf durchzusetzen. Mehr war nicht drin. »Die Mujaheddin haben uns in der Not geholfen«, erklärte Präsident Izetbegovic. »Sie sind unsere Gäste, die wir jetzt nicht so einfach rauswerfen können.«Ähnlich würden im September 2001 die afghanischen Taliban argumentieren, warum sie den Terrorpaten Osama bin Laden nicht an die USA ausliefern könnten. Für die islamische Wiederaufbauhilfe für Bosnien hatte Saudi-Arabien von der kroatischen Regierung den halben Adriahafen von Ploce gepachtet. Hier landeten auch die TWRA und andere islamische NGO’s wie »al-Haramayn« oder »al-Muwafaq« ihre Container an. Über die von Abu Dabi aus operierende Bank »al-Baraka« war al-Haramayn zur Unterstützung der in Afghanistan gegen die Sowjets kämpfenden Mujaheddin gegründet worden. Im November 2001 verhaftete die afghanische Nordallianz in Kabul den lokalen »al-Haramayn« Direktor Nasser Bin Mohammed al Gilale. Auf direkte Anweisung aus Riad hatte der »humanitäre« Helfer die »saudischen Familien« in Afghanistan auch nach dem 11. September noch mit Lebensmitteln und Ausrüstung 55
versorgt. Al-Qaida Mitglieder hätten bei Verteilung von Hilfsmitteln durch »al-Haramayn« immer Priorität gehabt, erklärten verhaftete Kämpfer der Taliban. Doch »al-Haramayn« hat das Operationsgebiet längst ausgedehnt. Von Somalia, wo al-Qaida schon Anfang der 90er Jahre Fuß fasste, ist die Organisation heute über den Balkan bis hin in den Kaukasus aktiv. Al-Haramayn, meldete 1998 der russische Geheimdienst, sei »entscheidend für die Finanzierung, Aufrüstung und Versorgung der tschetschenischen Terroristen.« Im Sommer 1991 brach der albanische Kommunismus endgültig zusammen. Zehntausende flohen vor Hunger und Armut nach Italien. So aber waren die vom italienischen Fernsehen über die Adria geschickten Bilder westeuropäischer Opulenz nicht gemeint gewesen. Rom brachte mit der »Operazione Pelicano« ausreichend Hilfsmittel in das Land der Skipetaren, um den Exodus zu stoppen. Hilfe beim Aufbau demokratischer Strukturen sollte folgen. Als wenige Monate später die Bosnienkrise ausbrach, überließen Europa und die USA Tirana aber wieder sich selbst. So konnte der vom Leibarzt des kommunistischen Diktators Enver Hoscha zum demokratischem Präsidenten mutierte Nordalbaner Sali Berisha ungestört seine heimlichen groß-albanischen Träume pflegen. Der erste Schritt: Mit Hilfe der albanischen Rebellion im Kosovo wollte Berisha die traditionelle Macht der Südalbaner in der Regierung und Verwaltung in Albanien brechen. Die von Berisha betriebene Mitgliedschaft Albaniens 56
in der Islamischen Weltkonferenz erwies sich als hilfreich, um die vom Westen hinterlassene Lücke bei Berishas ehrgeizigen Entwicklungsplänen zu füllen. Teherans Mullahs brachten eine erste islamische Bank nach Tirana und einen »Ayatollah Khomeini Verein« in die Kleinstadt Skoder. Für die nach der kommunistischen Herrschaft ent-islamisierte Bevölkerung gab es, neben Essen und Kleidern, vor allem Kopien des Koran. Ein Jahr später präsentierte sich Osama bin Laden in Tirana als angeblicher Vertreter einer humanitären Organisation aus Saudi-Arabien. Fast vier Jahre konnte Berisha der Welt demokratische Reformen vorgaukeln, während er mit Hilfe seiner islamistischen Freunde heimlich an der Kosovokrise zündelte. Doch dann brach das auf Betrug gebaute albanische Wirtschaftswunder zusammen. Im Sommer 1997 versank das Land der Skipetaren im Strudel der kollabierenden Pyramidenbanken. Etwa zur gleichen Zeit, während al-Qaida-Instrukteure die ersten Einheiten der kosovarischen UCK auf Berishas Familienbesitz im nordalbanischen Tropoije trainierten und andere im Iran das fromme Kriegshandwerk lernten, befahl bin Laden einen Anschlag auf die amerikanische Botschaft in Tirana. Der Plan war die Summe der terroristischen Erfahrungen gegen die Sowjetunion und die USA. Wie schon 1989 durch den sowjetischen Abzug aus Afghanistan und vier Jahre später durch den vom Tod von 19 Elitesoldaten diktierten ruhmlosen Rückzug der USA aus Somalia sollte auch in Albanien durch Gewalt ein politisches 57
Vakuum geschaffen werden, aus dem heraus sich der radikale Islam als einziger politisch-militärischer Ordnungsfaktor etablieren würde. Die Ausgangslage schien günstig. Gut 600.000 Waffen hatten Albaner aus den Arsenalen der Armee gestohlen. Etwa 10.000 Blanko-Pässe waren aus den Tresoren der Verwaltung verschwunden. Im ganzen Land erklärten Familienclans sich zu lokalen Machthabem. Doch diesmal hatten sich die Islamisten verrechnet. Die Sorge vor einem Bürgerkrieg in Albanien mit unabsehbaren Folgen für die ganze Region führten zum Bruch der USA und der EU mit Sali Berisha. Nach dem erzwungenen Rücktritt des Präsidenten kehrte der Westen hastig nach Tirana zurück. »Wir waren es«, sagt der nach Berishas Sturz von der sozialistischen Regierung zum Direktor des Geheimdienstes Shik ernannte Fatos Klosi, »die den Amerikanern 1997 die entscheidenden Informationen über bin Laden und seine Helfer in Albanien gaben«. Die TerrorConnection hatte der Shik Anfang 1997 entdeckt. In Tirana wurde der aus Algerien stammende Franzose Claude Kader wegen des Mordes an seinem albanischen Übersetzer verhaftet. Im Verhör gab sich der 27-Jährige auch als Rekrutierer für al-Qaidas Heiligen Krieg im Kosovo zu erkennen. Klosi stellte eine lange Namensliste von Mujaheddin in Albanien und dem Kosovo zusammen. »Sie kamen aus Ägypten, Saudi-Arabien, Algerien, Tunesien, dem Sudan und Kuwait.« Klosi beschrieb der CIA, wie die albanische und die apulische Mafia Terroristen von al58
Qaida über die Adria nach Italien brachten. Er legte Beweise für die Zusammenarbeit von Berisha mit dem internationalen Terrorismus vor. Und gemeinsam mit der CIA entführten Agenten des Shik den für das geplante Attentat auf die US-Botschaft nach Albanien eingereisten Ägypter Ahmed Ibrahim alNajjir und sein al-Qaida Kommando. Ohne große Formalitäten wurden die Extremisten an Ägypten ausgeliefert. Wieder waren es die USA, die die entscheidende Weiche stellten. Auch Washington hatte bislang auf den »balkanischen Gandhi« Ibrahim Rugova gesetzt. Die Entdeckung der Kontakte zwischen Osama bin Laden und der UCK führte zu einer radikalen Kurs-Änderung. Im Sommer 1998 machte Washington der UCK ein klares Angebot. Als Belohnung für das Ende jeder Beziehung zu al-Qaida und den »albanischen Arabern« würde die Guerillatruppe von der US-Terrorliste gestrichen und zu Freiheitskämpfern aufgewertet werden. Der entscheidende Schritt auf dem Weg zum NATO-Krieg gegen Milosevic war getan. Wer sich nicht an die Abmachung hielt, war die UCK. Sie erlaubte den Heiligen Kriegern von al-Qaida, in der Region zu bleiben. Lange vor Beginn des Kosovokrieges waren die üblichen islamischen Hilfsorganisationen nach Albanien gekommen. Unter dem Namen »Kosovo Relief Fund« hatte »al-Haramayn« ein Büro in Tirana eingerichtet. Nicht weit von den Saudis arbeiteten die »Freiwilligen« von »al-Muwafaq«. Und dann war da noch der kuwaitische »Islamische Wieder-auferstehungsfond«, der 59
den ägyptischen Djihad und später Osama bin Laden unterstützt hatte. Mohammad Hassan Mahmud, der das Tiraner Büro des Fonds leitete, gilt als enger Freund von bin Ladens Vertrautem Ayman al-Zawahiri. Er hatte den verhinderten Botschaftsbomber al-Najjar und dessen Komplizen bei sich beschäftigt. In der Kosovokrise wollten die Europäer beweisen, dass sie aus ihren Fehlern in Bosnien gelernt hatten. »Nie wieder Auschwitz!« beschwor der grüne Außenminister Joschka Fischer den deutschen Bundestag vor der Abstimmung des ersten bewaffneten Einsatzes der Bundeswehr außerhalb der Nato-Grenzen. Allerdings: Ganz freiwillig waren die deutsche wie die anderen europäischen Regierungen auch diesmal nicht der amerikanischen Politik gefolgt, die das Milosevic-Regime über das Kosovo ein für alle Mal zu Fall bringen wollte. »Nicht nur bei den gescheiterten Verhandlungen in Rambouillet wurden uns die Arme bis zur Schmerzgrenze verdreht«, gestand ein deutscher Sozialdemokrat in der Nacht, in der die serbische Armee die Bewohner von Pristina über die Grenze nach Mazedonien trieb. Die Erfindung des »humanitären Krieges« war dabei nur politische Augenwischerei für die Öffentlichkeit. Tatsächlich ging es allein darum, nach über zehn Jahren dem Milosevic-Regime den Garaus zu machen und eine gesamt-balkanische Lösung der vor allem von Belgrad verursachten Konflikte auf den Weg zu bringen. Die direkte militärische Konfrontation war dabei vermutlich unvermeidlich. Nichts ließen die humanitären Krieger darüber an die Öffentlichkeit dringen, mit wem sie sich 60
für dieses Abenteuer eingelassen hatten. In der offiziellen Sprachregelung kämpfte die UCK allein um die Freiheit des Kosovo. Ihre Rolle im Drogenhandel wurde ebenso unterschlagen wie ihre Kontakte zum islamistischen Extremismus. Und so konnte man auch nicht recht reagieren, als die »humanitären« Helfer während des Kosovokriegs alle üblen Propaganda-Register zogen. Mit eigenen Augen habe er gesehen, wie »Christen und Juden« die kosovarischen Flüchtlinge zu bekehren versucht hätten, meldete Saleh Muhammad Ad-Daheeshi zum Beispiel am 8. April 1999 nach Riadh. Nur wer seinen Glauben aufgebe, erhalte Hilfe, verbreitete al-Haramayn die Lügen weiter. »Ich bitte um Allahs Beistand bei unserer Aufgabe, den leidenden Muslims auf dem Balkan zu helfen und ihre Feinde zu vernichten«. Europa und die USA schwiegen und kämpften weiter. An der Mission der Mujaheddin hat sich nichts geändert. Ein Jahr nach dem Kosovokrieg halfen die »balkanischen Araber« zuerst die Rebellion der Albaner im südserbischen Presevo-Tal und im Sommer 2001 dann die Krise in den albanischen Regionen Mazedoniens zu schüren. All diese so genannten »Freiheitskämpfer« stehen entweder in engem Kontakt oder gehören zum organisierten Verbrechen. Und kaum zufällig lagen seit dem Bosnienkrieg alle Konflikte längs der von den Albanern kontrollierten Balkanroute für das afghanische Heroin. Waffenhandel, Drogendeals, Frauenhandel, Menschenschmuggel, Geldwäsche und Zigarettenschmuggel: Zehn Jahre nach dem Ausbruch des Bosnienkriegs sieht Italiens 61
oberster Mafiajäger Pier Luigi Vigna den Balkan – mit dem Kosovo an der Spitze – dicht vor dem Abgrund eines »europäischen Kolumbien«. Der Vergleich ist von bedrückender Realität: Überall in der Region hängen längst auch politische Gruppierungen und Entscheidungsträger am Tropf der illegalen Finanzströme. Der Balkan hat sich zugleich aber auch zu einem Aufmarschgebiet für radikale islamische Organisationen entwickelt. Viele der islamischen Kriegsveteranen sind in den letzten Jahren mit bosnischen und albanischen Pässen und fiktiven Namen vom Balkan nach Westeuropa eingesickert. Allein in Italien wird die al-Qaida Truppe auf etwa 60 aktive Mitglieder geschätzt. Und so häufig kreuzen sich dabei überall auf dem Kontinent legitime Wirtschaftsinteressen, international operierende Kriminalität und fromme Gotteskrieger, dass eine klare Unterscheidung immer schwieriger wird. Die UCK war in der ersten Hälfte der 90er Jahre von Exil-Kosovaren in Genf als Alternative zu Ibrahim Rugovas Politik des gewaltlosen Widerstands gegründet worden. Doch legale Mittel für die Untergrundarmee fehlten. Der von der kosovarischen Diaspora gespeiste Solidaritätsfonds »Die Heimat ruft« finanzierte Rugovas Parallelregierung. Weder die Europäische Union noch die USA wollten von einer Guerillaarmee auf dem Balkan etwas wissen. Dass die Hilfe der kosovarischen Mafia dem politischen Aufstand schaden würde, war von Anfang an klar. Die Gangster drängten sich in die Gestaltung der politischen Zukunft der serbischen Provinz. Indirekt mit am Verhandlungstisch saßen damit auch diejenigen, die 62
die kosovarischen Verbrecher seit Jahren mit Drogen versorgt hatten. Aber umsonst, so der zynische Kommentar eines UCK-Kombattanten schon 1997 in einem Interview in Basel, »ist die Freiheit von Serbien nicht zu haben«. Aus Afghanistan stammen fast 80 Prozent der globalen Welt-Opium-Ernte. Von dort beziehen die Kosovaren ihren Drogennachschub. Die Heroin-Route aus dem Goldenen Halbmond führt über die Türkei. Und in Istanbul residiert der Sudanese Elfatih Hassanein, dessen »humanitäre« Third World Relief Agency Anfang der 90er Jahre von Wien aus die islamische Militärhilfe für die bosnischen Muslime koordiniert hatte. »Wenn Bosnien am Ende des Krieges kein rein islamischer Staat ist, war alles umsonst«, hatte Hassanein einmal in einem Interview erklärt. Dann hatte die CIA Telefonate des TWRA-Chefs mit dem blinden ägyptischen Geistlichen Scheich Omar Abdel Rahman in New York abgehört. Der stand unter dem – inzwischen durch eine lebenslange Haftstrafe bestätigten – Verdacht, Drahtzieher des ersten Attentats auf das World Trade Center von 1993 gewesen zu sein. Und von Rahman führte die Spur direkt zu Osama bin Laden. In dem sich abzeichnenden internationalen Terrornetz spielte Hassanein offenbar eine größere Rolle als bisher angenommen. 1995 hatte sich der Westen endgültig für eine Intervention in Bosnien entschieden. Der muslimische Waffenkanal störte jetzt. Hassanein musste Wien verlassen. Zurückgezogen hat er sich nicht. Unbehelligt koordiniert der Sudanese von Istanbul aus die Logistik für den Djihad in Tschetschenien. Ermittlern gilt er inzwischen 63
auch als wichtige Figur im Drogenhandel zwischen Afghanistan und Europa. Das afghanische Rauschgift kommt entweder über Zentralasien, wo es auch den tschetschenischen Terrorismus mit finanziert. Oder es kommt per Schiff aus Pakistan. Die beiden Ströme treffen in der Türkei wieder zusammen. Seit die Wirtschaftssanktionen der UN gegen Serbien die klassische Balkanroute über Belgrad und Zagreb unterbrachen, wird der Stoff über das südserbische Presevo-Tal oder die albanischen Gebiete in Mazedonien in das Kosovo und weiter nach Westeuropa transportiert. Nicht erst der Befreiungskampf gegen Milosevic trieb die Kosovaren in die Drogenszene. Als Oberstaatsanwalt von New York musste Bürgermeister Rudolf Giuliani schon in den frühen 80er Jahren lernen, »dass keine andere kriminelle Organisation den Drogenhandel mit solcher Brutalität betreibt wie die albanische und kosovarische Mafia«. Auch die NATO wusste, mit wem sie sich da eingelassen hatte. »Die UCK finanziert sich größtenteils über den Handel von Drogen und Waffen sowie über Erpressung von Schutzgeldern von den Auslands-Albanern«, schrieben die Analytiker des Bündnisses nur Wochen vor Beginn des Kosovokriegs. Niemanden schien es zu stören, dass die Drogenprofite nicht nur in die Kassen des organisierten Verbrechens und der UCK flossen, sondern auch den Gotteskrieg auf dem Balkan finanzierten. Auf den Drogenfrachtern aus Pakistan reisen in der Regel auch illegale Einwanderer. 64
Bis zu 20.000 Dollar zahlen sie für diese Reise ins Ungewisse. Die meisten von ihnen wollen nichts als eine bessere Zukunft. Aber unter dieses Heer der Habenichtse mischen sich immer wieder auch Männer, die ein anderes und gefährlicheres Handwerk im Sinn haben: Djihad, den Heiligen Krieg. »Ein Kinderspiel, weil unter den Augen und sicher mit der Komplizenschaft der türkischen Regierung«, nennt es ein Fahnder der italienischen Anti-Mafia-Behörde, der sich seit Jahren mit der illegalen Einwanderung und ihren kriminellen Nebenaspekten beschäftigt. An willigen Djihad-Helfern herrscht in der Türkei kein Mangel. Immer wieder ist die Rede etwa von der humanitären Organisation »Kafkafasya Yardimlasma Dernegi« oder der Fatih Moschee und dem Gotteshaus Beyazit in Istanbul. Der Weg an die Tschetschenienfront führt über das Ausbildungslager bei Ducze auf dem halben Weg zwischen Istanbul und Ankara. Für die anderen, die frommen Terroristen, die in Richtung Westen ziehen, beginnt die Weiterreise am staubigen Busbahnhof am Stadtrand von Istanbul. Gesorgt ist für alles: gefälschte Reisepapiere, korrupte Grenzposten, erfahrene Schleuser. Kein Problem bei der Einreise nach Mazedonien. Von Tetovo reisen die Mujaheddin weiter über das Kosovo zur vorläufigen Endstation: Zenica. Die zentralbosnische Kleinstadt ist internationalen Terrorfahndern nur allzu gut bekannt. Drei algerische Terroristen, nach denen die französische Polizei im Dezem65
ber 1995 nach einer Reihe von Bombenanschlägen auf die Pariser Untergrundbahn fahndete, waren in Afghanistan und in einem Lager bei Zenica ausgebildet worden. Mitte September 2001 wurden in Brüssel der ehemalige Fußball-Profi Nizar Trabelsi und sein Freund Abdelhrim El Hadouti verhaftet. Im Hinterraum eines arabischen Restaurants hatte das Duo genug Material für eine Bombe mit verheerender Sprengkraft gelagert. Gelernt hatten sie ihr explosives Handwerk bei al-Qaida in Afghanistan. Unterstützung bei ihrem Anschlag sollten die beiden von nordafrikanischen Mujaheddin bekommen, die von Zenica über Mailand nach Belgien unterwegs waren. Nach Zenica hatte auch der spanische al-Qaida-Vertreter Imad Eddin Barakat Yarkas eine Gruppe von Muslimen zur Ausbildung geschickt. Als Untersuchungsrichter Baltazar Garzon die Yarkas-Gruppe Mitte November 2001 in Madrid verhaftete, besaß er nicht nur stundenlange Abhör-Protokolle, in denen die Verdächtigen immer wieder auch Giftgas-Attacken in Europa diskutiert hatten. In Yargas’ Wohnung wurden auch die Hamburger Telefonnummern von Mohammed Atta und einigen anderen der Attentäter vom 11. September gefunden. Den Gotteskrieger Karim Said Atmani hatten die kanadischen Behörden 1998 mit einem gefälschten bosnischen Pass entdeckt und deportiert. Zurück auf dem Balkan erhielt Atmani in Zenica einen neuen, diesmal echten Pass, mit dem er wenig später verschwand. In Kanada hatte Atmani dem Algerier Ahmet Ressam bei den Vorbereitungen für ein Attentat auf den Flugha66
fen von Los Angeles in der Nacht der Jahrtausendwende geholfen. Ressam war am 14. Dezember 1999 mit einem Auto voller Sprengstoff an der amerikanisch-kanadischen Grenze gefasst und zu 140 Jahren Haft verurteilt worden. Im Juni 2001 machte er mit der amerikanischen Justiz einen Deal. Detailliert beschrieb der Algerier nicht nur die innere Struktur von al-Qaida, sondern auch die Versuche der Organisation, nukleare, chemische und biologische Waffen zu erwerben. Zum Lohn wurde seine Strafe auf 27 Jahre reduziert. Auch der von der CIA aus Albanien nach Kairo entführte äyptische Fundamentalist Ahmed Ibrahim al-Najjar hatte über das Massenvernichtungswaffenprogramm von al-Qaida ausgesagt. Al-Najjar hatte auch von al-Qaidas ersten Flugversuchen berichtet. Schon 1995 hatte sich ein Mujaheddin in San Francisco zum Instrukteur im Drachenfliegen ausbilden lassen. Sein Wissen gab er dann in einem Ausbildungslager bin Ladens am Hindukusch weiter. Es war nicht das erste und nicht das letzte Mal, dass die westlichen Demokratien solche Alarmsignale unbeachtet ließen. Im Juni 1994 kam es in der japanischen Kleinstadt Matsumoto zu einer Reihe geheimnisvoller Todesfälle. Die Erklärung fand sich in den Militärarchiven aus dem Zweiten Weltkrieg. Die Menschen von Matsumoto waren Opfer einer gezielten Attacke mit dem chemischen Kampfstoff Sarin geworden. Am Morgen des 20. März des darauf folgenden Jahres wurde Sarin auch in der Untergrundbahn von Tokyo freigesetzt. 12 Menschen starben. Fast 5.000 wurden verletzt. 67
Auf einer entlegenen Farm der außerhalb Japans wenig bekannten Sekte Aum Shinrikyo wurde ein Nervengaslabor entdeckt. Weltuntergangsprediger Shoko Asahara und Hunderte seiner Anhänger wurden verhaftet. Die Toten von Matsumoto, gestanden einige, waren nur ein Test gewesen. Nach einigen Tagen der Aufregung ging die Welt wieder zur Tagesordnung über. Die Sarin-Attacke schien sich mit den außerhalb Japans nur schwer zu decodifizierenden Ritualen einer obskuren fernöstlichen Sekte erklären zu lassen. Eine von Präsident Bill Clinton eingesetzte Expertenkommission erkannte zwar, dass in Matsumoto und Tokyo eines der letzten großen Tabus gebrochen worden war und erklärte den Chemie- und Biowaffen-Terror zur größten Bedrohung der Zukunft. Wie gering solche Warnungen aber bewertet wurden, zeigte sich sechs Jahre später. Als im Oktober 2001 in Florida, Washington und New York die ersten Anthraxfälle auftraten, waren die USA genauso wenig vorbereitet wie Europa, wo die Ermittler ebenfalls immer auf die Spuren chemischer Waffen gestoßen waren. Die Hinterhof-Moschee in der Mailänder Viale Jenner gilt als eines der europäischen Zentren des islamistischen Terrorismus, seit ihr 1995 in Bosnien erschossener Vize-Imam, Anwar Shabaan, damit begann, aus seiner Gebetsrunde frische Gotteskämpfer für den Balkan zu rekrutieren. Seine Nachfolger haben das »fromme« Werk nie unterbrochen. Wenn die Nachbarn abends durch die dünnen Wände laute Schreie und Explosionen hörten, hielten sie die 68
Gebetsrunde für Anhänger amerikanischer Actionfilme. Stattdessen jubelten die Djihad-Aspiranten über grausame Szenen aus den Kriegen in Bosnien und Tschetschenien, bei denen Mujaheddin ihren Gefangenen den Kopf abschnitten und als Siegestrophäen in die Luft hielten. Die Miete der als islamisches Kulturzentrum registrierten Moschee zahlte – zumindest bis Ende des Jahres 2001 – der gebürtige Syrer Ahmet Idris Nasreddine. Dieser ist ein enger Freund und Gesprächspartner des naturalisierten Italieners Youssef Nada, dem in der Schweiz wohnenden Syrer Ghaleb Himmat und dem Schweizer Rechtsextremisten und Holocaust-Leugner Albert »Ahmed« Huber, die wiederum Hauptanteilseigner der Anfang 2001 in »Nada Management« umgetauften und Ende des gleichen Jahres aufgelösten al-Taqwa-Gruppe waren. Unter den 600 Anteilseignern der auf den Bahamas registrierten al-Taqwa Bank befanden sich auch zwei Verwandte von Osama bin Laden. In der Vergangenheit war Himmat auch einer der Initiatoren des Islamischen Zentrums in München. Über »al-Taqwa« flossen ›Spenden‹ an islamische Hilfsorganisationen wie die in London registrierte »International Islamic Relief Organisation« (IRRO) oder die saudische »al-Haramayn«. Tatsächlich so die amerikanischen Ermittlungen, sollen die Gelder für al-Qaida bestimmt gewesen sein. Die Beschuldigten leugnen. Aber das Finanzministerium in Washington setzte die Gruppe um Youssef Nada und ihre Unternehmen sowie die Mailänder Moschee auf die Terrorliste. Auch Mohammed Atta besuchte die Kultstätte mindestens zweimal in den letzten Jahren. 69
Aus München war der 32-jährige Libyer Lased Ben Heni nach Mailand gekommen. Hier träumte er in den ersten Wochen des neuen Jahrtausends mit seinem tunesischen Freund Essid Sami Ben Khemais vom Märtyrertod. »Ich möchte wirklich dieses Gas ausprobieren«, hörten die italienischen Fahnder über die in der Wohnung installierte Wanze mit. »Der libysche Chemiker garantiert: es dauert nur Sekunden bis zum Tod.« Gott liebe ihn und seine extremistischen Verschwörer, faselte Ben Heni. »Schließlich hat er uns Europa in die Hände gespielt.« Lased Ben Heni wurde im April 2001 in München verhaftet und im November nach Mailand ausgeliefert. Dort wurden auch Essid Sami Ben Khemais und einige andere der Organisation festgenommen. Wenig später wurde auch ein Algerier verhaftet, der von der Moschee in der Viale Jenner aus die Reisen der Djihad-Aspiranten aus Europa in al-Qaidas Trainingslager in Afghanistan organisierte. Hinter Gittern sitzt auch der ägyptische Passfälscher der Organisation. »Der Fall ist wasserdicht«, sagt der Mailänder Staatsanwalt Stefano Dambruoso. »Mit den Verhaftungen in Deutschland und Italien haben wir al-Qaida einen schweren Schlag versetzt.« Der in Afghanistan begonnene Djihad, brüstete sich der wegen seines hennaroten Bartes »Barbarossa« genannte Balkanveteran Abu Abdel Aziz auf einer Konferenz radikaler Muslime in den Vereinigten Staaten, sei »in Kaschmir, auf den Philippinen und in Bosnien fortgesetzt« worden. Westeuropa werde die nächste Etappe sein. 1995 schickte der Ägypter Abu Abdel Aziz einen Marokkaner mit einer CD nach Italien. Ihr verschlüsselter 70
Inhalt: detaillierte Bau-Anleitungen für Giftwaffen und Angriffspläne auf die städtische TrinkwasserversorgungsAnlagen. Es war ein reiner Zufall, dass die CD bei einer Stichproben-Kontrolle an der Grenze bei Triest entdeckt wurde. Aber weil dem Terrorboten konkrete Attentatspläne nicht nachgewiesen werden konnten, schob die Polizei ihn über die Grenze ab. Das italienische Verhalten war symptomatisch für die Hilflosigkeit, mit der Europa zumindest bis zum 11. September 2001 dem radikalen Islamismus begegnete. Die tiefen Narben, die Kolonialismus, Ausbeutung und Sklaverei im Gewissen des Okzidents hinterlassen haben, hinderten die liberale Gesellschaft daran, den sich seit den 90er Jahren auch in Europa ausbreitenden islamistischen Extremismus öffentlich als Gefahr zu identifizieren. Diese an Dummheit grenzende Toleranz der Intoleranz gegenüber gipfelt darin, Verständnis und oft sogar Sympathie noch selbst für die gewalttätigsten Gruppen zu entwickeln und ihnen das eigene Territorium als Rückzugsetappe zu überlassen. In allen westlichen Demokratien konnten selbst in ihrer Heimat überführte islamistische Terroristen bisher auf politisches Asyl zählen. »Es ist so einfach, diese Idioten zu belügen«, hörten die italienischen Fahnder mit, wie Scheich Es Sayed Abdelkader Mahmoud sich im Herbst des Jahres 2000 über sein erschlichenes Asyl amüsierte. Von wegen politisch Verfolgter. In Wahrheit sei er mit 15 Komplizen auf dem Weg zu einem Attentat gegen Israel in Bagdad verhaftet worden, weil »wir die Syrer von der Ankunft des Kommandos nicht informiert hatten«. 71
Offenbar hatten die Terror-Reisenden beste Verbindungen. Der syrische Außenminister Moussa Tlass besuchte sie im Gefängnis. Präsident Assad befahl ihre Freilassung. In Bagdad hätten sie auch die Telefonnummern der palästinensischen Terrororganisationen Hamas und al-Djihad erhalten. »Die Syrer unterstützen uns.« Zum Zeitpunkt dieser Aufzeichnung war der Extremist schon seit Monaten im Visier der italienischen Fahnder. Und Schritt für Schritt begriffen sie die wichtige Rolle des Scheichs im globalen Terrornetz. Zu Hause hatte der Ägypter die fundamentalistische AI Jamaa al-Islamiya mit begründet. Vor der ägyptischen Polizei war er zuerst nach Jemen und von dort weiter nach Sudan und Syrien geflohen. Von Italien aus sollte er nun das europäische al-Qaida-Netz auf Vordermann bringen. Am 18. August 2000 holte Scheich Es Sayed am Flughafen in Rom den Jemeniten Abdulsalam Ali Ali Abdulrahman ab. Der Mann mit dem Endlos-Namen gehört zu einer Gruppe von al-Qaida Sympathisanten innerhalb des jemenitischen Geheimdienstes. Abdulsalam war mit einer präzisen Order gekommen. Für einen siebentägigen Perfektionskurs für 2.300 neue Gotteskrieger von al-Qaida »brauchen wir Einrichtungen und Ausrüstung für neue Trainingslager.« Neue Kurse in Bosnien abzuhalten sei zu auff ällig, warnte der Scheich. »Afghanistan ist sicherer«, stimmte der Besucher zu. Es Sayed telefonierte mit den Führern der Palästinenser-Organisation al-Fatah. An anderen Tagen sprach er mit Hamas oder mit Terroristen im Sudan. Und am 12. 72
Oktober 2000 erhielt er ein Gespräch aus Syrien: »Für einige Brüder ist es hier sehr kalt geworden. Ihr müsst für sie Aufnahme in Europa finden.« Warum nicht von der Türkei über Bosnien nach Italien, schlug Es Sayed vor. Die Route sei ideal. »Mach dich an die Arbeit. Sofort!«, befahl der Anrufer und legte auf. Wenige Stunden zuvor hatte al-Qaida im Hafen von Aden einen Sprengstoffanschlag auf den amerikanischen Kreuzer »Cole« verübt. Siebzehn Seeleute waren dabei ums Leben gekommen. Das Gespräch aus Syrien bewies nicht nur eine operative Verbindung zwischen dem Islamischen Kulturzentrum in Mailand und al-Qaida. Es bestätigte auch die Verbindung des Terrornetzes nach Damaskus. Am 22. Oktober 2000 fiel der nächste Mosaikstein an seinen Platz. In Ägypten war einer der Gründer der Al Jamaa Al Islamiya von der Polizei erschossen worden. AlQaida befahl Mailand einen Vergeltungsschlag. »Wir sind bereit«, versprach Es Sayed und löste damit überall Großalarm aus. Denn angerufen hatte Emir Rifa’ai Ahmad Taha Mousa. Er gilt nach Osama bin Laden und Ayman al-Zawahiri als die Nummer Drei von al-Qaida. Diesmal kam der Anruf aus dem Iran. Auch Teheran hat jede Beziehung zu bin Ladens Terrornetz stets geleugnet. Am 27. Oktober landete Rifa’ai Ahmad Taha Mousa auf dem Weg nach Saudi-Arabien in der Schweiz. »Wir brauchen Eure Hilfe bei diesem großen Projekt«, drängte der Topterrorist Minuten vor dem Weiterflug. Und dann: »Wir kommunizieren nur noch über Internet. Das ist am sichersten.« 73
Noch einmal konnten die Italiener im Juni 2001 dem Ägypter Es Sayed bei letzten Instruktionen an seine Gruppe zuhören. Wie die übrigen Europäer seien auch die Italiener bei der Aufnahme von Ausländern misstrauisch geworden. »Unsere Djihadi werden überall verfolgt. Die Europäer sind die wahren Terroristen!« Als die Polizei nur Minuten später die Wohnung stürmte, war Es Sayed bereits verschwunden. Seitdem haben sich seine Spuren verloren. Es hat seit dem 11. September 2001 Teilerfolge im Kampf gegen den islamischen Terrorismus gegeben. Die Bilder vom Einsturz des World Trade Center haben auch Europa endlich aus dem Schlaf gerissen. Doch es wäre eine gefährliche Illusion zu glauben, das Problem mit einigen Verhaftungen aus der Welt geschafft zu haben. »Der europäische Djihad hat zwar in Bosnien begonnen«, hatte der Kommandant der 7. islamischen Brigade in Bosnien, Abu Abdel Aziz schon zu Beginn der 90er Jahre das Ziel vorgegeben. »Aber enden wird der Heilige Krieg erst, wenn wir unsere Brüder überall in Europa, und Europa insgesamt, von der Herrschaft der Ungläubigen befreit haben.«
Die Islamisierung Tschetscheniens Von Wolfgang Günter Lerch
Der jüngste Krieg in und um Afghanistan, bei dem es darum ging, die radikal-islamischen Taliban von der Macht zu vertreiben und den Weg für eine neue politische Ordnung zu ebnen, hat auch ein neues Licht auf die kriegerischen Ereignisse in Tschetschenien geworfen. Im Zusammenhang mit den Kämpfen um Mazar-i Sharif und Kundus im Norden des Landes am Hindukusch wurde erstmals einer breiten Öffentlichkeit klar, dass neben den einheimischen oder aus Pakistan stammenden Taliban auch viele tausend Kämpfer islamistischer »Brigaden« in Afghanistan die Bataillone der afghanischen »Gotteskrieger« um Mullah Muhammad Omar und Osama bin Laden verstärkten. Darunter waren – neben Angehörigen arabischer Länder – auch nicht wenige Tschetschenen. Sie fielen, wie man hörte, durch besondere Härte und Grausamkeit auf. Haben sie am Hindukusch ihre Heimat gegen die Russen verteidigt? Oder ging es nicht einfach darum, im Rahmen jener von den Islamisten eingeforderten »islamischen Solidarität« sich am Aufbau des Taliban-Staates und daran anschließend an der Expansion von dessen radikal-islamistischer Ideologie nach Mittelasien hinein zu beteiligen – mit dem Fernziel Russland? Zu den Hin75
tergründen des Afghanistan-Krieges gehört neben dem Kampf gegen die Organisation al-Qaida, die mit Mullah Omar und dem Taliban-Regime eng verschränkt war, auch die Beseitigung neuer Bedrohungspotentiale, wie sie sich für die zentralasiatischen Anrainerstaaten an Afghanistans Nordgrenze abzeichneten: in Usbekistan, Tadschikistan, Kirgisistan. In diesen Staaten hatte man dem Treiben der Taliban, aber auch den Kämpfen in Kaukasien schon seit geraumer Zeit mit großer Sorge zugesehen. Diese Sorge wird nicht dadurch obsolet, dass auch diese Regime alles andere als lupenreine Demokratien sind, sondern postkommunistische Autokratien. Zwar ist die Region Mittelasien durch das Kaspische Meer vom Kaukasus getrennt, doch was in früheren Zeiten ein geografisches Hindernis für die Ausbreitung militanter Bewegungen und deren Propaganda gewesen sein mag, ist es heute, im Informations- und MobilitätsZeitalter, schon lange nicht mehr. Die Bedrohung der mittelasiatischen Länder, die allesamt Mitglieder der GUS sind, war etwas, das – unabhängig von den Ereignissen in Tschetschenien – auch den russischen Präsidenten Wladimir Putin nicht unbeeindruckt lassen konnte. Dieser saugt denn auch aus der Afghanistan-Krise am meisten politischen Honig; im Kampf gegen den Terrorismus im eigenen Lande – sprich: gegen die Tschetschenen – bekam er endgültig »carte blanche«, wenn nicht ausdrücklich, dann wenigstens unausgesprochen. Unter seinen russischen Landsleuten ist die Religion des Islams heute weitgehend diskreditiert, dazu haben die Tschetschenen nicht wenig beigetragen. Die Anschläge vom 11. 76
September in den Vereinigten Staaten verstärkten, wie überall, diese Aversionen. Um eines vorwegzunehmen: Wie alle Völker, so haben auch die Tschetschenen das Recht auf politische und kulturelle Selbstbestimmung. Sie »gehören« seit nun annähernd 200 Jahren zu Russland, erst zum Russischen Reich der Zaren, dann zur Sowjetunion, jetzt zur Russischen Föderation, ohne dass man sie jemals gefragt hätte, ob sie das überhaupt wollen. Stalin ließ sie, zusammen mit den stammesverwandten Inguschen, unter pauschalen Vorwänden 1944 aus ihren Siedlungsgebieten vorübergehend nach Mittelasien deportieren. Nicht allein aus ihrer Sicht leisten sie seit dem Untergang der Sowjetunion Widerstand gegen ungeliebte Besatzer und gegen Fremdherrschaft. Auch das neue Russland hat sich seit 1991 zahlreicher Verbrechen in Tschetschenien schuldig gemacht, nicht nur im ersten Krieg, dervon 1991 bis 1996 dauerte, sondern auch im zweiten, der 1999 begann und noch anhält. Doch der tschetschenische Prozess einer religiösen und kulturellen Selbstbesinnung, der ein Anknüpfen an islamische Traditionen sein sollte, geriet mehr und mehr in die Hände von Fanatikern. Der Aufbau einer islamischen Gesellschaft in Tschetschenien entwickelte sich, um es gelinde auszudrücken, zu einem Desaster. Die zehnjährige Geschichte der »Republik Itschkeria« – so der einheimische Name Tschetscheniens – wurde eine einzige militärische, menschliche und politische Katastrophe. Und längst nicht alle Tschetschenen, die im Prinzip die freiheitlichen Aspirationen ihres Volkes begrüßen, sind mit der terroristischen Art und Weise einverstanden, in der 77
auch auf ihrer Seite der Krieg geführt worden ist, von dem radikal-islamischen, islamistischen Eifer der wichtigsten »Feldkommandeure«, wie Schamil Bassajew oder Salman Radujew, gar nicht zu reden. Dieser mehr und mehr terroristische Charakter des tschetschenischen Kampfes hat es den Russen leicht gemacht, alle Tschetschenen pauschal als »Terroristen« und »Banditen« abzustempeln. Schon in sowjetischer Zeit hatten die Kaukasier keinen guten Ruf in Moskau oder Leningrad (heute St. Petersburg), hatte man doch mit ihnen und mit den Aserbaidschanern Begriffe wie »RauschgiftMafia« oder »kaukasische Mafia« assoziiert. Im letzten Jahrzehnt verstärkte sich das. Sehr bald wurde auch im gerade wiedervereinigten Berlin von der TschetschenenMafia geraunt – nicht zu Unrecht. Das tschetschenische Desaster begann im Winter des Jahres 1991. Das konnte damals freilich noch niemand ahnen. Die Sowjetunion zerfiel, ihre bis dahin gleichgeschalteten und unterdrückten Völker nutzten die Chance, die sich seit Gorbatschows Perestroika abgezeichnet hatte und nun Wirklichkeit wurde. Am 27. Oktober wählen die Tschetschenen bei allgemeinen Parlamentswahlen auch einen Präsidenten: Dschochar Dudajew, einen ehemaligen Fliegergeneral der Sowjetarmee; er erhält 85 Prozent der Wählerstimmen. Am 2. November erklärt Dudajew, der in der Folge immer wieder mafioser Machenschaften beschuldigt werden wird, einseitig die Unabhängigkeit Tschetscheniens. Davon werden auch all jene Kräfte ermutigt, die dem islamischen Tschetschenien eine islamische Ordnung geben wollen. 78
»Zurück zum Scheriat« (Scharia) lautet die Devise. In den Auls, den Dörfern der Tschetschenen, tanzen die Männer wieder den Zikr, jenen Ritus, der an den alten kaukasischen Derwischorden der Muriden, einen Kampfbund mystischer Prägung, anknüpft. Aus seinen Traditionen und aus der islamischen Ordnung soll das unabhängige Tschetschenien entstehen. Doch die Entwicklung gerät aus den Fugen, je länger der Prozess der Abnabelung von Moskau, in Verbindung mit dem Krieg, andauert. Doch im Unterschied etwa zu dem benachbarten Dagestan, das schon vor tausend Jahren anerkannte islamische Schriftgelehrte hervorbrachte, ist der Islam in Tschetschenien ein relativ junges Phänomen. Er ist ungelehrt, ohne bedeutende Traditionen der Theologie oder islamischen Rechtskunde (fiqh). Die letzten Dörfer der Tschetschenen und auch der Inguschen wurden erst im 19. Jahrhundert zum Islam bekehrt. Es war zudem ein Islam, der stark von der Bruderschaft der Muriden beeinflusst war. In ihm mischten sich Vorstellungen einer populären Mystik mit Elementen des religiösen Gesetzes (Scharia) und kaukasischem Gewohnheitsrecht der Stämme (adet). Den größten Einfluss erlangten die Muriden zwischen 1829 und 1859 unter ihrem dritten Imam, dem berühmten Schamil, einem Fürsten des Volkes der Awaren, dessen Name heute wieder in aller Munde ist im Kaukasus. Schamil leitete 30 Jahre lang den Widerstand der Tschetschenen und anderer Kaukasier des Nordens gegen die herandrängenden russischen Truppen, bis er schließlich mit seinen Kämpfern, die alle dem Muriden-Orden 79
angehörten, kapitulieren musste. Die Russen nahmen ihn gefangen und schickten ihn anschließend ins Exil. Dort starb er 1871 in der heiligen Stadt Medina. Tschetschenien wurde zaristisch, schließlich kommunistisch. Unter Schamil, dessen Wort Gesetz gewesen war, bestand für etwa eine Generation eine Art Kryptostaat im Nordkaukasus, in dem sich eine islamische Ordnung etablierte, die ganz seiner persönlichen Autorität als Führer der Muriden unterworfen war und sich nur zum Teil am religiösen Recht orientierte. Bevor sich dieser Staat strukturell ausgestalten konnte, brach er unter dem russischen Druck auch schon wieder zusammen. Der Kampf zwischen Russen und Tschetschenen vor eineinhalb Jahrhunderten war ungeheuer blutig, doch fiel immer wieder ein Element der Ritterlichkeit auf, das beide Seiten bewegte. Nicht so in den beiden letzten der kaukasischen Kriege. Beide Tschetschenien-Kriege zeichnen sich durch ein seltenes Ausmaß von Brutalität aus. Die Russen, die am 11. Dezember 1994 nach jahrelangen Scharmützeln mit großer Heeresmacht einmarschierten, um dem Separatismus endlich ein Ende zu machen, unterschätzten die militärische Kampfk raft der Tschetschenen sträflich und waren auf deren Taktik kaum vorbereitet. Nicht vorbereitet waren sie außerdem darauf, dass sie unter den Kämpfern der Kaukasier auch auf Leute trafen, die aus aller Herren Länder der islamischen Hemisphäre kamen: aus Jordanien, Algerien, Ägypten, zunehmend auch aus Afghanistan. Sie trugen um die Stirne das grüne, mit dem Glaubensbekenntnis geschmückte Band der Mujahed80
din (Grün gilt traditionell als die »Farbe des Propheten«), jener zum »Martyrium« bereiten »Gotteskrieger«, die man etliche Jahre zuvor schon auf den Straßen und Plätzen Teherans, ja auch im iranisch-irakischen Krieg gesehen hatte. Alarmiert waren davon nur wenige; besonders die professionellen Beobachter der Szene, die Journalisten, übersahen augenscheinlich die Gefahren, die von diesen Glaubenseiferern und ihrem Netzwerk ausgingen: Ihre Motivation war der »kompromisslose Djihad« mit allen, auch terroristischen Mitteln. Der jordanische Feldkommandeur Chattab, ein Schützling Osama bin Ladens, war der bekannteste dieser »Gotteskrieger« panislamischer, islamistischer Färbung. Er war bald ebenso berüchtigt wie die tschetschenischen Kommandeure Bassajew und Radujew. Die russischen Quellen sprachen und sprechen immer von »Wahabiten«, wenn sie jene terroristischen panislamischen Elemente im Kaukasus meinen – ein Begriff, der freilich zweideutig war und ist. Die Russen meinen damit oft genug alle Muslime in ihrem Land, die sich für ihre Religion einsetzen; so wird der Begriff auch pejorativ gebraucht. Eigentlich ist der Wahabismus in Saudi-Arabien zu Hause, wo er die herrschende Lehre stellt. Doch mit Hilfe des saudischen Geldes, das auch an die Tschetschenen floss, wurde der Einfluss dieser strengen islamischen Auslegung in Tschetschenien in einer Weise spürbar, die dort früher unbekannt gewesen war. Als es dann darum ging, die – theoretisch schon 1993 eingeführte – Scharia auszugestalten, war der Einfluss Saudi-Arabiens über die Kämpfer der internationalis81
tischen »islamischen Brigade« und über die Finanzmittel schon nicht mehr einzudämmen. Und die religiösen Kenntnisse im Lande waren gering, zumal nach Jahrzehnten der Fremdherrschaft, in denen Kundgebungen der Religion niedergehalten worden waren. Der Islam ist, nach einem berühmten Wort von Ernest Gellner, der Entwurf einer Gesellschaftsordnung. Die Scharia ist ihre Form. Große Teile dieses religiösen »Gesetzes«, etwa all jene, die nur das Glaubensbekenntnis und den Ritus betreffen, sind unproblematisch. Als schwierig und mit modernen Rechtsvorstellungen gänzlich unvereinbar erweisen sich hingegen alle Teile, die – neben der auf dem Vergeltungs-Prinzip beruhenden islamischen Strafjustiz – den Konzeptionen moderner Freiheitsrechte zuwiderlaufen, etwa dem Prinzip des religiösen Pluralismus, der Glaubens- und Gedankenfreiheit, der Gleichberechtigung von Mann und Frau. Die in Kaukasien weit verbreitete Blutrache (kanly) konnte zwar durch das islamische Recht ein wenig eingedämmt werden, da die »Rache« etwa für einen Mord, der Vergeltung erheischt, durch den Staat vollzogen wurde, doch ändert dies nichts daran, dass die schweren Körperstrafen der Scharia und auch das Vergeltungsprinzip in der Strafjustiz als Rückfälle in vormoderne Zeiten zu bewerten sind. Dies gilt ja selbst für den Fall, dass sie nicht vollstreckt werden. Vollstreckt wurden jedoch Todesurteile an Frauen, denen man »Ehebruch« vorgeworfen hatte – Urteile einer Terrorjustiz mit oft mehr als fragwürdigen »Beweismethoden« und juristischen »Verfahren«, wie man sie zur 82
selben Zeit meistens aus jenen Ländern mit islamistischer Staatsform, wie Iran, Sudan oder Saudi-Arabien, auch Pakistan, beobachten konnte und kann. Auch dieses Treiben gab nur wenigen im Westen zu denken, war es hier und da doch sogar Mode geworden, Kritiker solcher Entwicklungen pauschal als »Feinde des Islams« oder Fabrikanten eines »Feindbildes Islam« zu denunzieren. Berichte, unter dem Druck tschetschenischer Mujaheddin komme es zu Enthauptungen von »Verrätern« oder »Abtrünnigen«, wurden als russische Greuel-Propaganda bezeichnet. In der Sowjetzeit mochten die Tschetschenen religiös und kulturell unterdrückt worden sein, doch die Frauen hatten einen großen Teil ihres traditionellen Gehorsams und des Sich-Fügens in die alten Sitten mit dem Schleier abgelegt. Wenn der Kommunismus unter den Kaukasiern bei aller Entfremdung von den eigenen Wurzeln überhaupt etwas Positives bewirkt hatte, dann waren es deutlich sichtbare Zeichen einer Emanzipation der Frauen gegen die alten patriarchalischen, unter anderem durch die Scharia sanktionierten Praktiken. Dies alles kam nun wieder. Wieder kam auch, obschon nicht als durchgängige Regel, der Baschmet, der traditionelle Gesichtsschleier, und – was den Einfluss radikalislamischer Eiferer am deutlichsten zeigte – der Versuch, eine Verhüllung des gesamten Körpers der Frau durchzusetzen, wie sie in Iran unter den Mullahs (als Tschador oder Hedschab) und in Afghanistan unter den Taliban (als Burka) unter Strafandrohung angeordnet wurde. Doch berechtigt uns dies, von einer »Talibanisierung« 83
Tschetscheniens zu sprechen? Der amerikanische Reporter Peter Arnett, bekannt geworden durch seine exklusiven Berichte während des Golfk rieges aus dem Raschid-Hotel in Bagdad, erfuhr schon im Jahre 1998 in einem Gespräch mit dem aus Saudi-Arabien stammenden »Erzterroristen« Osama bin Laden, dass nicht allein Mujaheddin aus etlichen Ländern, sondern speziell Kämpfer der Terrororganisation al-Qaida an der Seite der Tschetschenen in den Krieg eingegriffen hätten, eine Nachricht, die damals kein großes Aufsehen in der westlichen Öffentlichkeit erregte, auch nicht in der amerikanischen. Beide Regime erkannten sich auch wechselseitig diplomatisch an, obwohl vor allem die Taliban um eine Anerkennung durch die übrigen Glaubensbrüder schwer zu ringen hatten. Nur Pakistan, das die Taliban geschaffen hatte, Saudi-Arabien, das sie finanzierte, und die Vereinigten Arabischen Emirate tauschten Botschafter mit ihnen aus. In Tschetschenien selbst endete der erste Krieg 1996 mit dem Abkommen zwischen dem als gemäßigt geltenden Aslan Maschadow und Alexander Lebed. Es regelte den Abzug der russischen Truppen und gewährte Tschetschenien eine faktische Autonomie bei Verbleib in der Russländischen Föderation. Der endgültige völkerrechtliche Status blieb jedoch ungeklärt. Manches spricht dafür, dass am Ausbruch des zweiten Tschetschenien-Krieges der Einfluss der Taliban wie der al-Qaida-Kämpfer im Kaukasus nicht unbeteiligt war. Hatten tschetschenische Kommandos schon im ersten Krieg vor terroristischen Übergriffen wie Geiselnahmen 84
schon nicht zurückgeschreckt, so verstärkte sich diese Taktik in der folgenden Zeit radikal. Besonders das Eindringen tschetschenischer (und anderer) Kämpfer in Dagestan am 10. August 1999, das als Auslöser des zweiten Krieges angesehen werden kann, trägt die Handschrift des islamischen Internationalismus im Stile von al-Qaida. Solche bewaffneten Vorstöße kleiner Guerillagruppen mit dem Ziel, das angegriffene Gebiet oder den betreffenden Staat zu verunsichern, ihn in Schwierigkeiten zu bringen, gehören zur Taktik islamistischer Banden auch in Zentralasien, etwa in Usbekistan, Tadschikistan oder Kirgisistan. Deren Bezug zu den Taliban war deutlich. Auff ällig ist auch, wie sehr die Auseinandersetzung Ende der 90er Jahre mit Sprengstoff geführt wurde, gerade zu einer Zeit, da die al-Qaida nachweislich schwere Anschläge in anderen Teilen der Welt unternahm. Im Sommer 1998 waren die amerikanischen Botschaften in Nairobi und Daressalam in die Luft geflogen, am 31. August 1999 beginnt nach der Explosion einer Bombe im Zentrum von Moskau eine Serie von Anschlägen in verschiedenen russischen Städten, bei denen fast 300 Menschen getötet werden. Die russischen Behörden beschuldigen tschetschenische Terroristen, die Bomben gelegt zu haben. Bis heute herrscht Unklarheit über die Hintergründe dieser grauenhaften Terrorwelle. Bisweilen schrieb man sie auch russischen »agents provocateurs« zu. Ausgeschlossen ist das nicht. Indessen machen der Zeitpunkt und unsere gründlicher gewordene Kenntnis der al-Qaida immer wahrscheinlicher, dass tschetschenische »hard85
liner«, denen der nach dem ersten Krieg errungene Status ihrer Republik nicht ausreichte, die Anschläge ausgeführt haben, um die Russen zu Gegenreaktionen zu veranlassen. Diese kamen. Am 23. September 1999 begannen die Russen mit einer Serie von Bombenangriffen auf Ziele in Tschetschenien, eine Woche später marschierten russische Bodentruppen ein und stießen auf erbitterten Widerstand tschetschenischer Krieger. Heute ist die Hauptstadt Grosnyj ein einziges Trümmerfeld, 30.000 Menschen haben ihr Leben verloren und der Krieg dauert fort. Das tschetschenische Desaster hat einen Scheinsieger hervorgebracht und viele Verlierer. Die Russen haben zwar, oberflächlich betrachtet, militärisch gesiegt, doch können sie die Tschetschenen in den südlichen Bergen niemals in die Knie zwingen. Die Städte des Landes sind zerstört, viele seiner Menschen auf der Flucht. Die Wirtschaft ist zerrüttet, die Erdölfelder im Norden, im TerekGebiet, wurden von den Tschetschenen selbst unbrauchbar gemacht. Eine funktionierende islamische Gesellschaft wurde nicht aufgebaut, sondern ist nicht zuletzt durch den Fanatismus und Terrorismus der »hardliner« gescheitert. Junge Tschetschenen, die zwar den Widerstand gegen die Russen unterstützen, beklagen den Despotismus islamistischer Eiferer, welcher der Unterdrückung durch die Russen nicht nachstehe. Umgekehrt kann auch Russland seines so genannten Sieges in Grosnyj nicht recht froh werden. Die Gefahr des Terrorismus ist nicht gebannt, der Krieg nicht wirk86
lich beendet. Präsident Putin fasst den internationalen, von den Amerikanern angeführten Kampf gegen islamistische Terroristen als eine Art Freibrief auf, der ihn zum Gebrauch aller Mittel gegen die Kaukasier berechtige. So bleiben nicht nur auf der Seite islamistischer Eiferer, sondern auch bei den Russen die Menschenrechte auf der Strecke. Russland muss, gerade wenn es mit seinen Millionen Muslimen auf Dauer in Frieden leben will, einen Weg finden, um den politischen und kulturellen Pluralismus seiner Minderheiten zu garantieren. Das ist nicht einfach, und bis heute kennt niemand den Weg. Die russischen Muslime, die Tschetschenen eingeschlossen, haben nur eine Zukunft, wenn sie sich auf eine Modernisierung und Demokratisierung einlassen, die auch dem übermächtigen Russland noch bevorsteht. Allerdings muss Russland sie daran auch teilhaben lassen. So ist heute – trotz des Endes der Taliban – ein Ende des tschetschenischen Desasters noch nicht abzusehen.
MITTEN UNTER UNS
Eine fromme Reise durch Deutschland Von Cornelia Filter
Ramadan 24, im Jahre 1422 Nach christlicher Zeitrechnung ist es Montag, der 10. Dezember 2001. In Hamburg, wo unsere fromme Reise durch Deutschland beginnt, geht heute die Sonne um 8.13 Uhr auf. Doch zu sehen ist sie nicht – am Ende der ersten Nacht der letzten Woche des Fastenmonats Ramadan. Die Morgenröte versteckt sich hinter grauen Nebelschwaden, dennoch verheißt sie Erlösung: »Für Meine Diener, die Ihn, den Herrn, zufrieden stellen.« Über diese schüttet der Verständige nicht »die Geißel der Strafe« aus. Mit ihnen geht der Barmherzige nicht so unbarmherzig ins Gericht wie mit den Ungläubigen: »Siehe, wer unsere Zeichen verleugnet, den werden WIR im Feuer verbrennen lassen. Sooft ihre Haut verbrannt ist, geben wir ihnen eine andere Haut, damit sie die Strafe kosten.« Ob Allah, der Mächtige und Weise, das wirklich gesagt hat, steht in den Sternen, die gerade am Himmel verblassen. Doch Mohammed Atta (33), Marwan al-Shehhi (23) und Ziad Jarrah (27) nahmen das Wort Gottes wörtlich, als sie am 11. September am Steuer der Boeings saßen, die 4.000 Menschen aus 62 Ländern den Tod brachten. 91
Dabei hatten die jungen Männer das Paradies vor Augen: »Diejenigen aber, die da glauben und das Rechte tun, werden Wir in Gärten einführen, durcheilt von Bächen, darin ewig und immerdar zu verweilen. Und dort sollen sie reine Partner haben.« Die arabischen Selbstmordattentäter studierten in Hamburg-Harburg und wurden in Deutschland für ihre Mission angeworben. Wo? Gebetet haben sie in der sunnitischen al-Quds-Moschee am Steindamm unweit des Hamburger Hauptbahnhofs. Nicht gerade eine feine Adresse. In dem heruntergekommenen Büro- und Geschäftshaus sprechen auch heute bärtige Männer das Morgengebet. Etwa einen Kilometer weiter, an der Außenalster, reckt sich ein Minarett der vom Nebel verhüllten Sonne entgegen. Es gehört zu einem luxuriösen Gebäude in maurischem Stil. Dort, in bester Lage, Schöne Aussicht 36, residiert das »Islamische Zentrum Hamburg«, auch Imam-Ali-Moschee genannt. Hier knien die Gläubigen auf einem kostbaren Teppich, wenn sie sich bei Anbruch eines neuen Tages zum Morgengebet versammeln. 20 Frauen aus Isfahan brauchten vier Jahre, um ihn fertig zu stellen. In den sieben Tagen unserer frommen Reise werden wir Erstaunliches erleben. Wir werden sehen, wie sich quer durch Deutschland ein islamistisches Netz zieht, so groß und so dicht wie der Teppich der Imam-Ali-Moschee. Und wie an der Produktion nicht nur »gewalttätige Islamisten« beteiligt sind, sondern auch so mancher angeblich »friedfertige Muslim«, allen voran eifernde Konvertiten, und tolerante Christen ebenso wie aufgeklärte 92
Demokraten. Außerdem werden wir erkennen, warum sich dieses nations-, religions- und konfessionsübergreifende Netzwerk ausgerechnet in Deutschland so ausbreiten konnte. Im schiitischen Iran gilt das »Islamische Zentrum Hamburg« an der noblen Außenalster als »hellstes Leuchtfeuer des Islam im Abendland«. Von 1978 bis 1980 war der heutige iranische Staatspräsident Khatami Zentrumsleiter. An ihn ist einer der raren Briefe gerichtet, die der iranische Revolutionsführer Ayatollah Khomeini schrieb. Sein persönliches Schreiben traf 1979, nach seiner Machtergreifung, aus Teheran in Hamburg ein und wird im Zentrumsarchiv wie ein Schatz gehütet: »Ich bitte Gott um Erfolg und Segen für Sie alle.« Auf den Spendenlisten für den Bau der Luxus-Moschee, in der im Herbst 1966 erstmals gebetet wurde, stehen laut »FAZ« nicht nur persische Kaufleute aus der Hamburger Speicherstadt, sondern auch aus dem Basarviertel von Teheran; nicht nur schiitische, sondern auch sunnitische Muslime; nicht nur Moslems, sondern auch Juden, Christen, Agnostiker und Atheisten. Vielen von ihnen ging es damals, Mitte des 20. Jahrhunderts, rein pragmatisch um die Intensivierung von Handelsbeziehungen. Anderen geht es heute, Anfang des 21. Jahrhunderts, scheinbar idealistisch um interreligiöse und interkulturelle Begegnungen im Namen aufgeklärter Toleranz. Hier, in der schiitischen Imam-Ali-Moschee, führen evangelische Bischöfinnen wie Maria Jepsen und katholische Kirchenkritiker wie Hans Küng christlich-is93
lamische Dialoge. Hier halten Orientalistinnen wie Annemarie Schimmel Vorträge, zum Beispiel über Goethes fernöstlichen Diwan. Hier wird die deutschsprachige Muslim-Zeitschrift »al-Fadschr/Die Morgendämmerung« redigiert, für die zum Islam konvertierte Deutsche wie der Ex-Botschafter Dr. Murad Wilfried Hofmann schreiben. Hier ging auch der 1926 in Isfahan geborene und 1996 in Berlin gestorbene Prof. Dr. Abdoljavad Fala-turi ein und aus, der für Peter Schutt von der »FAZ« zu »den bedeutendsten Gelehrten gehört, die am Hamburger Islamischen Zentrum wirkten«. Parallel zu seinem Wirken an der Alster in Hamburg arbeitete der Iraner Falaturi als Hochschullehrer an der Universität zu Köln am Rhein. In der Katholiken-Hochburg gründete er 1978 die »Islamwissenschaftliche Akademie« (IWA). Bekannt wurde er durch seine Schulbuchanalysen, mit denen er seit 1981 das »Feindbild Islam« im deutschen Schulunterricht anprangerte. In der Einleitung zu seiner von der IWA herausgegebenen Aufsatzgammlung »Der Islam im Dialog« beklagt Falaturi: »Die sich seit Jahrzehnten anbahnenden und gegenwärtig abzeichnenden Bewegungen in den islamischen Ländern zeichnen sich durch die Suche nach der Zurückgewinnung eigener verlorener Identität aus. Eine gesunde Entwicklung.« Schon unter Khatamis Ägide als Leiter des »Islamischen Zentrums Hamburg« wurden an der Außenalster interreligiöse und interkulturelle Beziehungen gepflegt. Im Gästebuch finden sich für die Jahre 1978 bis 1980 Namen wie Dorothee Solle (feministische Theologin), Luise Rinser (katholische Schriftstellerin), Pinchas Lapide 94
(jüdischer Mystiker), Petra Kelly (grüne Pazifistin) und Henning Scherf (linksliberaler Sozialdemokrat). All diese Menschenrechtler scheint es nicht gestört zu haben, dass sie in einem Haus verkehrten, das engste Kontakte zu dem islamistischen Gottesstaat Iran mit der Scharia als (Un)Rechtsordnung unterhält. Warum das gar nicht so schlimm ist, erklärt uns der konvertierte Jurist Dr. Murad Wilfried Hofmann, Botschafter a. D., der die demokratische Bundesrepublik 33 Jahre lang im Ausland vertrat, in seinem noch zu Amtszeiten erschienenen Buch »Der Islam als Alternative«: »Im engeren Sinne meint die Einführung der Scharia, dass der Koran zum Grundgesetz eines Staates gemacht wird. Dies ist die Forderung selbst des gemäßigten Moslems.« Was das ungemäßigt bedeutet, wissen wir aus »Gottesstaaten« wie Iran, Afghanistan und Saudi-Arabien. Dazu gehört nicht nur die Steinigung, sondern auch die »Zeitehe«, die den Frauenraub der Gotteskrieger im Nachhinein absegnet. So wie in Algerien, wo sie massenhaft junge Frauen entführen, ihnen wieder und wieder Gewalt antun und sie töten, sobald sie schwanger werden. »Alle schiitischen Quellen sagen, dass die Zeitehe zum Islam gehört. (…) Jedenfalls ist es Euch vielleicht zunächst noch nützlicher, wenn Ihr wisst, dass auch fast alle wichtigsten sunnistischen Quellen darauf hinweisen.« Das schreibt nicht etwa ein iranischer Ayatollah, sondern ein namentlich nicht genannter deutscher Konvertit aus Clausthal im Harz, nachzulesen im Internet unter www.islamischer-weg.de. Hinter dieser Homepage verbirgt sich eine »Vereinigung deutschsprachiger Musli95
me«, die als gemeinnützig anerkannt ist, weil sie sich laut Vereinssatzung »dem Abbau von Missverständnissen und Vorurteilen zwischen Religionsgemeinschaften« widmet. Ihren Sitz haben die Gemeinnützigen in Delmenhorst. Von dort aus kooperieren sie eng mit dem »Islamischen Zentrum Hamburg«, wo sie alljährlich »Internationale Tagungen deutschsprachiger Muslime« veranstalten. Bei der letzten deutschen Volkszählung 1987 wurden 47.800 zum Islam konvertierte Deutsche registriert, inzwischen sollen es mehr als 100.000 sein; »überwiegend Grüne«, wie Konvertit Hofmann weiß. Die Hunderttausend will der arabische Frauenarzt Nadeem Elyas gezählt haben, Vorsitzender des Dachverbandes »Zentralrat der Muslime in Deutschland« (ZMD), an dessen Gründung auch der Iraner Abdoljavad Falaturi und der Deutsche Wilfried Murad Hofmann beteiligt waren. Elyas kennen wir noch nicht, aber wir werden ihn kennenlernen. Die anderen beiden kennen wir bereits, und wir werden ihnen noch häufiger begegnen. Denn, das sei schon jetzt verraten: Es sind nur wenige und immer dieselben – auch wenn sie vorgeben, im Namen von drei Millionen Moslems in Deutschland zu sprechen. »Wie wird man Muslim? Ganz einfach, indem man sagt: ›Es gibt keine Gottheit außer GOTT und Muhammad ist GOTTES Gesandter!‹« heißt es in einer der vielen Bekehrungsschriften der »Deutschen Muslim-Liga Hamburg«. Dieser unbürokratische Vorgang schlägt sich in keiner offiziellen Statistik nieder, da Moslems die Organisationsform Kirche fremd ist und der deutsche Staat darum auch keine Kirchensteuern für sie eintreibt. 96
Eine der angeblich 100.000 zum Islam übergetretenen Deutschen ist Fatima Grimm. Sie wohnt in Hamburg und veröffentlicht über die »Informationszentrale« des »Islamischen Zentrums München«, das laut Verfassungsschutz mit der islamistischen Muslimbruderschaft aus Ägypten brüderlich verbunden ist. In einem ihrer Aufsätze bemängelt Grimm: »Wenn wir mit der Erziehung unserer Kinder so weitermachen wie bisher, werden sie im Laufe der Zeit eine Masse von halbgebildeten Kommunisten oder Humanisten, und das Gebäude des Islam wird in den nächsten 50 Jahren bis zur Unkenntlichkeit auseinder fallen und zerbröckeln.« Um die islamische Erziehung erwachsener Ungläubiger bemüht sich in der Hamburger Imam-Ali-Moschee ebenfalls eine Deutsche, die Muslima Halima Krausen. Ihr Vorgänger als Koran-Lehrer war für Deutsche der schiitische Imam Mehdi Razvi aus dem sunnitischen Pakistan. Laut FAZ-Autor Peter Schutt ein »Theologe der Zayditischen Rechtsschule und der einzige schiitische Rechtsgelehrte in Europa mit Fatwa-Kompetenz«. Schutt: »Nach Verkündigung der iranischen Todesfatwa gegen Salman Rushdie hat er mit aller Entschiedenheit in einem eigenen Rechtsgutachten klargestellt, dass Khomeinis Bannfluch für Deutschland keinerlei Gültigkeit besitzt.« Beruhigend. Und der Rest der Welt? Die luxuriöse ImamAli-Moschee an der Schönen Aussicht und die ärmliche al-Quods-Moschee am Steindamm scheinen auf den ersten Blick nichts miteinander gemein zu haben. Doch wenn man genau hinschaut, drängt sich die Frage auf, ob das wirklich so ist. 97
Die drei Hamburger Selbstmordattentäter mit arabischen Pässen waren so genannte Schläfer. Unauff ällige, gebildete Söhne aus gutem Hause,»lieb, nett und niemals böse« (»Spiegel«). Aber im Schlaf wird ein junger Mann nicht zum Gotteskrieger. Mit dem ideologischen Rüstzeug für den »Heiligen Krieg« wurden die drei Schläfer aus Hamburg laut Bundeskriminalamt (BKA) vermutlich im »Islamischen Zentrum Münster« versorgt, das schon vor dem 11. September offen seine Sympathie für die Taliban in Afghanistan bekundet hatte. Und auch danach tönte der zweite Zentrumsvorsitzende noch im »Spiegel«: »Die machen zu 95 Prozent gute Sachen!« Der da abwiegelt, ist nicht etwa ein afghanischer Taliban. Nein, es ist – wie könnte es anders sein? – ein zum Islam konvertierter Deutscher namens Marcel K. Im Internet ist das »Islamische Zentrum Münster« nur über virtuell verwinkelte Pfade von Link zu Link zu finden. Im WorldWideWeb führt es den Namen homepages. compuserve.de/fatimeversammlung/. Auf der Startseite muss man sich entscheiden zwischen »Arabisch« und »Deutsch«. Was unter »Arabisch« steht, bleibt für uns ein Geheimnis. Doch auch die deutsche Version ist erhellend: »Im Namen Gottes des Gnädigen und Barmherzigen« prangt dort als Headline zwischen den Porträts der beiden iranischen Ayatollahs Khomeini und Khamenei. Klickt man auf einen Button unter den Ayatollah-Porträts, landet man beim Web-Auftritt des »Islamischen Wegs e. V.« der als gemeinnützig anerkannten deutschsprachigen Muslime aus Delmenhorst. Klickt man auf einen zweiten, findet man sich im »Islamischen Zentrum 98
Hamburg« wieder und kann eine der Freitagsansprachen lesen. Zum Beispiel die vom 3. April ’98, die der damalige Zentrumsleiter Ansari in der Imam-Ali-Moschee hielt. Der an der iranischen Ayatollah-Hochschule Quom Ausgebildete war von 1982 bis 1993 stellvertretender Vorsitzender der »Organisation für Islamische Verbreitung« im Iran, also einer Missionierungszentrale. In seiner Hamburger Predigt verkündete Ansari im April ’98: »Wie Sie gehört haben, wurde letzte Woche ein elfjähriges Mädchen entführt, vergewaltigt und grausam ermordet, und bis zum heutigen Tag konnte der Mörder nicht gefasst werden. Es gibt viele gleichartige oder ähnliche Verbrechen in westlichen Ländern. Um solche Verbrechen zu verhindern, ist es für den Westen nötig, zur Abschreckung die körperliche Züchtigung und die Todesstrafe einzuführen.« Eine zweite Fährte, der die BKA-Ermittler bei ihrer Suche nach den geistlichen Beiständen der drei Selbstmordattentäter aus Hamburg folgten, führt ins romantische Greifswald an der Ostseeküste. Dort hatte sich bereits zu Vorwende-Zeiten ein Teil des Jarrah-Clans aus dem Libanon niedergelassen. Der Terrorpilot Ziad Jarrah lernte an einem Greifswalder Studienkolleg Deutsch, bevor er in Hamburg zu studieren begann, und wohnte bei seinem Onkel wie der Spiegel recherchiert hat. Ein mutmaßlicher Hilfsterrorist aus dem Umfeld der Hamburger al-Quds-Moschee habe geholfen in der Makarenko-Straße, Gebetsräume für »Abu Al-M.« einzurichten. Laut »Spiegel« ist dieser Greifswalder FreizeitIman »Student der Zahnmedizin im 23. Semester«. Der 99
muslimische Dentist soll enge Kontakte zum »al-AksaVerein« in Aachen unterhalten. Der sammelt Spenden für Palästina und wird vom Verfassungsschutz verdächtigt, der verlängerte Arm der islamistischen Terrorgruppe Hamas in Deutschland zu sein. Im Auftrag Allahs und seines Propheten Mohammed handeln angeblich auch die Protagonisten des deutschislamischen »Weimar Institut e. V.« (WI) mit Sitz in Potsdam. Schlagzeilen machte es durch seine Goethe-Fatwa, durch die der Weimarer Dichterfürst und Autor des »Fernöstlichen Diwan« posthum zwangskonvertiert wurde. Die Institutsgründung kurz nach der Wende hat der deutsche Muslim Abu Bakr Andreas Rieger initiiert. Ein Rechtsanwalt, der in Freiburg studierte und in Potsdam eine Kanzlei mit den Schwerpunkten Ausländerrecht, Vereinsrecht und Visafragen betreibt. Zudem fungiert Rieger als Herausgeber der »Islamischen Zeitung«. Auch die kennt den frommen Dentisten Abu al-M.: »Am Freitag, dem 27. April 2001, fand in der Universität Greifswald die erste von fünf geplanten Veranstaltungen des WI mit dem Titel ›Charaktere im Islam‹ statt. Die Gemeinschaft der Greifswalder Muslime besteht größtenteils aus arabischen Studenten, die überrascht und erfreut waren, als sie das WI-Team aus Potsdam in der Moschee besuchte. Die lokale Gemeinschaft wird von Abu al-M. geleitet. Sie halfen tatkräftig beim Verteilen der Flugblätter, beim Plakatieren und – am effektivsten – sie luden ihre deutschen Kommilitonen zum Vortrag ein.« Am Vorabend des Vortrags versammelte man sich in den Räumen einer strammdeutschen Greifswalder Burschenschaft, die das 100
Motto »Ehre, Freiheit, Vaterland« auf ihren Fahnen trägt, denn: »Der Islam«, so ein Teilnehmer der Runde, »ermögliche den Männern wieder ein ehrenvolles Dasein.« Solch nations- und religionsübergreifende Männerbündelei ist nicht wirklich überraschend, sie hat in Deutschland Tradition. Schon 1898 versicherte Wilhelm II. in Damaskus: »Mögen die dreihundert Millionen Mohammedaner gewiss sein, dass der deutsche Kaiser stets ihr Freund sein wird!« 16 Jahre später wütete der Erste Weltkrieg, und im deutschen Reich erschien eine Flut von populärwissenschaftlichen Bestsellern über den Islam: »Das Leben Mohammeds«, »Islamische Ethik« oder »Muhammedanische Glaubenslehre«. Mit der realen Lage der vom europäischen Kolonialismus ausgebeuteten Moslems in der Dritten Welt setzten sie sich nicht auseinander. Ihr Islam war zeitlos schön und mystifizierte den muslimischen Glauben zu einem Märchen aus »1001 Nacht«. So entpolitisiert, diente der Islam den kriegsmüden Deutschen als eskapistische Flucht in ein scheinbar besseres Leben. Heute, fast ein Jahrhundert später, setzen Werke wie die der Friedenspreisträgerin von 1995, Annemarie Schimmel, diese Tradition fort. In ihren Schriften verharmlost die Orientalistin aus Bonn den Schleier als »uralten Brauch« und die Klitorisverstümmelung als »öffentliches Fest«. Zur blutigen Scharia fallen der Mystik-Professorin nur die poetischen Worte des Sufi-Meisters Kaschani ein, nach denen die Scharia »ein Gewand« sei, das »die hässlichen Züge der rationalen Seele in Ordnung« bringe. Und in ihrer 1990 erschienenen »Einführung in den Islam« 101
singt die Orientalistin ein Loblied auf die 1928 in Ägypten gegründete Muslimbruderschaft – seit Jahrzehnten eine Keimzelle des weltweiten Islamisten-Terrors. Wie die für islamische Sufi-Mystik schwärmende Annemarie Schimmel war auch die 1918 in München gegründete »Thulegesellschaft« esoterisch angehaucht. Gleichzeitig war der logenartige Geheimbund, dem sich führende Nazis wie Alfred Rosenberg und Rudof Heß anschlossen, krass antisemitisch eingestellt. Gründer der geheimen Gesellschaft war – wie könnte es anders sein? – ein Konvertit: der deutsche Muslim Freiherr von Sebottendorf. Die für realitätsferne Esoterik anfälligen Nationalsozialisten fanden ebenfalls Gefallen am Islam. Und die Muslime an den Nazis. Im September 1941 bitten 40 usbekisch-muslimische Kriegsgefangene Adolf Hitler als »Führer der welterobernden deutschen Regierung« und »Wegbereiter des Glaubens« um Hilfe. Im August ’42 reift im Führer die Erkenntnis: »Hätte bei Poitiers nicht Karl Martell gesiegt, so hätten wir den Mohammedanismus übernommen, die Lehre der Belohnung des Heldentums. Die Germanen hätten die Welt damit erobert. Nur durch das Christentum sind wir davon abgehalten worden.« – Und im Oktober ’43 hält SS-Chef Heinrich Himmler in Posen eine Rede vor den versammelten Reichsund Gauleitern. Dabei erwähnt er die aus Balkan-Muslimen formierten Verbände der Waffen-SS: »Bei jedem Bataillon ist ein Imam. Die Imame sind für die Bosniaken und Albaner meine weltanschaulichen Schulungsleiter.« 102
Adolf Hitler war mit dem berüchtigten Großmufti von Jerusalem Mohammed Said Amin el-Husseini (1895– 1974) persönlich befreundet, Oberbefehlshaber der »Arabischen Legion«, der zeitweilig im Berliner Schloss Bellevue residierte. Nach 1945 gewährte Ägypten ihm Asyl, 1951 wurde er zum Sprecher des »Islamischen Weltkongresses« gewählt. Der existiert heute noch. Seine deutsche Sektion hat ihren Sitz in der westfälischen Kleinstadt Soest, Am Kuhfuß 8. Dort hat sich auch das »Zentralinstitut Islam-Archiv Deutschland« niedergelassen. Direktor ist Mohammad Salim Abdullah, der in Bochum geborene Sohn einer deutschen Christin und eines bosnischen Moslems. Abdullah hat 1986 auch den Dachverband »Islamrat für die Bundesrepublik Deutschland« mitbegründet. Und der wird von der islamistisch-türkischen Organisation »Milli Görüs« (heute IGMG, früher AMGT) dominiert, die der Verfassungsschutz in Verdacht hat, das deutsche Grundgesetz abschaffen zu wollen. Vorsitzender des Islamrats ist der EX-IGMG-Funktionär Hasan Özdogan, einer seiner Stellvertreter ist der deutsch-muslimische Rechtsanwalt Abu Bakr Rieger aus Potsdam. Ja, wir kennen ihn schon. Im Oktober 2000 erklärte sich in der IGMG-Moschee von Esslingen im Rahmen der Veranstaltungsreihe »Muslime in Stuttgart und ihr Glaube« ein Vertreter der »Wissenschaft lichen Forschungsstiftung« angeblich spontan bereit, für einen verhinderten Redner einzuspringen. Nun muss man wissen, dass diese so genannte Forschungsstiftung die deutsche Filiale der türkischen Agitationszen103
trale »Bilim Arasima Vakfi« ist. Ihr Vorsitzender Adnan Oktar schreibt unter dem Pseudonym Harun Yahya antisemitische Hetzschriften wie »Die Holocaust-Lüge« und unterhält freundschaft liche Beziehungen zu führenden Mitgliedern der Tugend-Partei, wie der baden-württembergische Verfassungsschutz weiß. Die wiederum ist die Nachfolgerin der in der Türkei verbotenen Wohlfahrtspartei des allmachtsbesessenen Necmettin Erbakan, der am liebsten aus der ganzen Welt einen islamistischen Gottesstaat machen würde. Doch damit ist das Verwirrspiel noch längst nicht vorbei. Necmettin Erbakan aus der Türkei ist der Onkel des gesamteuropäischen Milli Görus-Chefs Mehmet Sabri Erbakan aus Kerpen bei Köln und Schwager der verwitweten Kölnerin Hanna Amina Erbakan: deutsche Konvertitin, IGMG-Frauenfunktionärin und gern gesehener Podiumsgast, wenn auf christlichen Kirchentagen interreligiös über »Die Rolle der Frau im Islam« diskutiert wird. Dabei verschweigt sie tunlichst, dass der frühere IGMG-Vorsitzende Ali Yüksel »aus privaten Gründen« von seinem Amt zurücktrat, als aufzufallen drohte, dass er mit drei Frauen gleichzeitig verheiratet ist. Im Zivilberuf ist die muslimische Frauen-Missionarin Erbakan übrigens deutsche Rechtsanwältin und damit eigentlich dem Grundgesetz verpflichtet. Deutschland gewährt politisch, religiös und ethnisch Verfolgten Asyl. Doch der Asylgrund Geschlecht ist bis heute nicht anerkannt. Zwangsverheiratungen von minderjährigen Mädchen, Massenvergewaltigungen, die rituelle Tötung von vorehelich Entjungferten zur Ret104
tung der Familien-(männer)ehre – solche Gewalttaten an Frauen in islamischen Ländern gelten hierzulande immer wieder leicht als »kulturelle Eigenarten«, die ein demokratischer Staat zu akzeptieren hat. Nicht akzeptiert wird, wenn ein Terrorist wie Rabah Kebir von der »Islamischen Heilfront« (FIS) in seiner algerischen Heimat wegen vielfachen Mordes gesucht wird – dem Algerier gewährte Nordrhein-Westfalen Asyl. Genau wie dem Türken Metin Kaplan, Chef des »Kalifstaats von Köln« mit guten Kontakten zu dem Araber Osama bin Laden, den er 1997 in Afghanistan traf. Auch Cemalettin Kaplan, Metins Vater, Gründer des Kalifstaats und bekannt als der »Khomeini von Köln«, lebte bis zu seinem Tod unbehelligt als anerkannter Asylant in NRW. Und es war die Milli Görüs-Funktionärin Hanna Amina Erbakan, die in ihrer Eigenschaft als Rechtsanwältin den Asyl-Status durchgeboxt hat.
Ramadan 26, im Jahre 1422 Nach christlicher Zeitrechnung ist es Mittwoch, der 12. Dezember 2001. Um 12.25 Uhr wäre es eigentlich Zeit für das mohammedanische Mittagsgebet. Doch in KölnVingst, wo nahezu die Hälfte der 25.000 Einwohnerinnen aus der Türkei stammt, gibt es keine Moschee. Hier quälen die Menschen andere Sorgen: Im »Armenhaus Kölns« ist jeder fünfte Erwachsene arbeitslos und jeder zweite Haushalt auf Sozialhilfe angewiesen. Drüben auf der anderen Rheinseite, der linken, wo 105
der Dom als Wahrzeichen des reichsten Bistum der Welt thront, sieht das anders aus. Die islamischen Fundamentalisten haben Köln zu ihrer deutschen Hochburg erkoren. An der Merheimer Straße 229 in Nippes verwaltet die »Islamische Gemeinschaft Milli Görüs« (heute IGMG mit Sitz in Kerpen, früher AMGT mit Sitz in Köln) unter dem Tarnnamen »Europäische Moscheebau- und Unterstützungsgemeinschaft e. V.« ihren europaweiten Immobilienbesitz. Dort residiert auch die »Deutsch-islamische Frauengemeinschaft« (DIF) unter Vorsitz von Hanna Amina Erbakan (ja, wir kennen sie schon). Von Köln-Nippes aus streitet die zum Islam konvertierte deutsche Rechtsanwältin bundesweit durch alle Instanzen für das Menschenrecht muslimischer Lehrerinnen, im staatlichen Schulunterricht Kopftuch zu tragen. Oder für das Selbstbestimmungsrecht muslimischer Eltern, ihre Töchter vom Schwimm- und Sportunterricht zu befreien. Und für das elterliche Zivilrecht, den Mädchen auch noch die Teilnahme an Schulausflügen zu verbieten. Das wäre die klammheimliche Einführung einer »Kamel-Fatwa« ins deutsche Gesetzbuch. Die Fatwa hat der islamistische Theologe Amir Zaidan aus Frankfurt über muslimische Frauen und Mädchen verhängt. Die sollen nicht ohne Begleitung von Ehemännern, Vätern oder Brüdern weiter als 81 Kilometer und nicht länger als 24 Stunden reisen dürfen. Das ist die Entfernung, so der Araber Zaidan, die eine Kamel-Karawane in der Wüste von Morgengebet zu Morgengebet hinter sich legt. Zaidan war früher Generalsekretär der »Muslim Studenten Vereinigung« (MSV): eine der 106
19 Organisationen im vom honorigen Dr. Nadeem Elyas angeführten Dachverband »Zentralrat der Muslime in Deutschland«. Die MSV ist brüderlich mit der militant-islamistischen Muslimbruderschaft liiert. MSV-Generalsekretär ist Zaidan nicht mehr, stattdessen ist er jetzt Vorsitzender der »Islamischen Religionsgemeinschaft Hessen« (IRH). Die hat sich formiert, um den Koran-Unterricht an staatlichen Schulen durchzuboxen, so der hessische Landesverfassungsschutz. Was der Scharia-Islamist in Hessen bislang nicht geschafft hat, ist der »Islamischen Föderation Berlin« in der deutschen Bundeshauptstadt längst gelungen. Die Föderation überzog den Berliner Senat mit Klagen durch alle Instanzen, bis das Verwaltungsgericht ihr schließlich höchstinstanzlich gestattete, staatlich nicht kontrollierten Koran-Unterricht an staatlichen Schulen zu erteilen. Im Namen der Religionsfreiheit. Zum Glück gibt es auch klarsichtigere deutsche Richter. Metin Kaplan, der »Kalif von Köln«, hatte mitten in Deutschland einen Gegenspieler, der ihm die Macht streitig machen wollte, mit einer Todes-Fatwa verdammt. Wenig später wurde dieser »Gegen-Kalif« tatsächlich umgebracht. Obwohl Kaplan vermutlich nicht persönlich der Täter war und ihm die Anstiftung zum Mord nicht nachgewiesen werden konnte, verurteilte ihn ein mutiger Düsseldorfer Strafrichter – trotz massiver Gewaltandrohungen der Kaplan-Anhänger – zu vier Jahren Gefängnis und beklagte öffentlich das »wehrlose Wegschauen des Rechtsstaats«, der einem fanatischen Islamisten in Deutschland Asyl gewährt hatte. 107
Das Verwaltungsgericht in Mannheim schaute nicht weg, als es der muslimischen Lehrerin Fereshta Ludin, die inzwischen an einer islamischen Privatschule in Berlin unterrichtet, die Verbeamtung als demokratische Staatsdienerin auf Lebenszeit verweigerte. Grund: Die mit einem deutschen Konvertiten verheiratete Afghanin (und Tochter einer emanzipierten Mutter ohne Kopftuch) hatte als Referendarin in Baden-Württemberg demonstrativ ihr Kopftuch im Unterricht getragen und wollte das als Beamtin auf Lebenszeit ungehindert weiter tun: in Namen des Grundrechts auf freie Persönlichkeitsentfaltung. Worum geht es bei der Einführung islamistischen Religionsunterrichts an staatlichen Schulen? In Wahrheit gar nicht um Glauben, sondern um Mission: Heidenmission. Wobei mit »Heiden« auch Moslems gemeint sind, die zwar gläubig, aber keine Schriftgläubigen sind und deshalb von Islamisten als »Ungläubige« verachtet werden. Im Auftrag des Bundesministeriums befragte des »Zentrum für Türkeistudien« repräsentativ 2.000 von 2,5 Millionen Türkinnen in Deutschland, und – siehe da! – lediglich sieben Prozent fühlen sich von den Wenigen vertreten, die für alle 3,2 Millionen hier lebenden Moslems zu sprechen behaupten. 45 Prozent der 2,5 Millionen türkischstämmigen (gläubigen wie säkularen) Muslime wünschen sich, dass islamischer Religionsunterricht in Verantwortung des türkischen Staates und damit von dessen deutschen Dachverband DITIB (Türkisch-Islamische Union der Anstalt für Religion e.V.) angeboten werden sollte. Und weitere 40 Prozent würden begrüßen, wenn 108
eine weltanschaulich neutrale Kommission aus Vertretern des deutschen Staates und der demokratisch gewählten Ausländerbeiräte sowie von muslimischen Gemeinden Lehrpläne für islamischen Religionsunterricht an deutschen Schulen entwickelt. Allerdings bezweifelt Prof. Faruk Sen, der Leiter des Essener Türkeistudien-Zentrums, dass sich die drei Millionen Moslems in Deutschland – wegen ihrer unterschiedlichen Glaubensrichtungen – überhaupt auf eine gemeinsame Repräsentanz einigen können, wie es Deutschen und AusländerInnen jüdischen Glaubens gelang: mit dem Dachverband »Zentralrat der Juden in Deutschland«. Doch eine einzige, als öffentlich-rechtliche Körperschaft anerkannte Repräsentanz ist Voraussetzung dafür, dass der deutsche Rechtsstaat nicht nur die Ausbildung von Religionslehrerinnen an seinen staatlichen Schulen bezahlt, sondern auch die Theologieprofessorinnen an seinen staatlichen Hochschulen, wie er es bei den beiden großen christlichen Kirchen tut. Außerdem ist die Anerkennung als öffentlich-rechtliche Körperschaft Grundbedingung für die Eintreibung von Kirchensteuer. Hinzu kommt der Verzicht auf Grund- und Grunderwerbssteuern für den umfangreichen kirchlichen Immobilienbesitz, sowie die 90-prozentige Bezuschussung kirchlicher Sozialarbeit in konfessionellen Kindergärten, Krankenhäusern und Altenheimen. Solche gewinnbringenden Vorteile würden die beiden muslimischen Dachverbände »Islamrat« und »Zentralrat der Muslime« verständlicherweise gern auch für sich in Anspruch nehmen. Deshalb kämpfen ihre Vorsitzenden, 109
der Türke Hasan Özdogan und der Araber Nadeem Elyas, brüderlich Seite an Seite für den Koran-Unterricht an staatlichen Schulen und das Menschenrecht auf Kopftücher. Dabei werden die islamischen Spitzenfunktionäre von den christlichen Kirchen unterstützt. Denn die scheinen zu befürchten, dass sonst jemand auf die Idee kommen könnte, ihre Vor- und Sonderrechte ganz abzuschaffen, statt sie auch den Muslimen zu gewähren. Der bisher allseits respektierte Zentralratsvorsitzende Nadeem Elyas, ein Frauenarzt aus Mekka, dem für seine interreligiöse und interkulturelle Dialogbereitschaft 1999 – ausgerechnet zusammen mit Ignatz Bubis, dem damit posthum geehrten verstorbenen Vorsitzenden des »Zentralrats der Juden in Deutschland« – der »Alternative Friedenspreis« verliehen wurde, behauptet, sein Dachverband habe mehrere hunderttausend Mitglieder. Daran, sind Zweifel angebracht, schon allein, weil der »Zentralrat der Muslime« arabisch geprägt ist, denn die Mehrzahl der Moslems in Deutschland ist türkischstämmig. Das Gros ist in der DITIB (Türkisch-Islamische Union der Anstalt für Religion e. V.) organisiert. Dieser größte muslimische Dachverband untersteht dem staatlichen Präsidium für religiöse Angelegenheit in der laizistischen Türkei. Auch die 600.000 AlevitInnen muslimischen Glaubens, ebenfalls türkischstämmig, legen den Koran nicht wörtlich aus und lehnen die islamistische Scharia ebenso ab wie das Kopftuch. Deshalb betätigen sie sich nicht in Moscheevereinen und haben einen eigenen Dachverband: die »Vereinigung der Aleviten Gemeinden e.V.«. mit Sitz in Köln. Doch zu dem christlich-islamischen Dialog, der 110
dort am 7. Dezember 2001 im Schokoladenmuseum am noblen linken Rheinufer stattfand, wurde er nicht eingeladen – im Gegensatz zum »Zentralrat der Muslime«. Veranstalter war Alfred Neven DuMont, Verleger von »Kölner Stadtanzeiger« und »Express«. In seiner Rede rief der lokale Medienzar zu demokratischer Toleranz gegenüber Andersgläubigen auf: »Jeder muss sich fragen: Wie viele Vorurteile habe ich, und wie sieht die Welt wirklich aus?« Für die überwältigende Mehrheit der Musliminnen und Muslime in Deutschland sieht diese Welt auf jeden Fall nicht so aus wie für die im Schokoladenmuseum demonstrativ mit Kopftuch auftretende Asiye Köhler, eine – wie könnte es anders sein? – deutsche Konvertitin. Im Zentralrat unter Vorsitz von Nadeem Elyas leitet sie den »Pädagogischen Fachausschuss«. Asiye Köhler wohnt am Niehler Kirchweg in Köln-Nippes, wo bis zum 12. Dezember 2001 auch Kaplans »Kalifstaat« residierte. Das könnte ein Zufall sein. Kein Zufall ist, dass als Frauenbeauftragte des Zentralrats ebenfalls eine deutsche Konvertitin fungiert: die Grundschulkonrektorin Ulrike Thoenes aus Wuppertal. Selbstverständlich mit Kopftuch, natürlich im sozialdemokratisch regierten Nordrhein-Westfalen auch im Klassenzimmer. Die auf Lebenszeit verbeamtete Staatsdienerin findet den Gleichberechtigungsartikel 3 im deutschen Grundgesetz völlig überflüssig: »Als Frau will ich gar nicht alle Rechte der Männer, weil ich dann auch alle Pflichten hätte.« Das Wort Emanzipation hasst sie: »Ich hatte noch nie Probleme mit muslimischen Männern.« Generalsekretär des »Zentralrats der Muslime in 111
Deutschland« ist – wie könnte es anders sein? – ebenfalls ein deutscher Konvertit, der Ehemann von Asiye Köhler. Zugleich ist Dr. Ayyub Axel Köhler aus Köln Vorsitzender der »Deutschen Muslim-Liga e. V.« mit Sitz in Hamburg (ja, wir kennen sie schon), die Anfang der 50er Jahre der Konvertit Muhammad Aman Hobohm mitbegründet hat. Der wiederum ist stellvertretender Vorsitzender des Zentralrats und zugleich Geschäftsführer der saudiarabischen »König-Fahad-Akademie« in Bad Godesberg bei Bonn: ein prächtiges Bildungs- und Tagungszentrum mit Schule. Eröffnet wurde die muslimische Akademie am 15. September 1995 mit staatlichem Pomp und religiöser Glorie. Auf der Gästeliste standen Namen wie Klaus Kinkel (FDP, damals Bundesaußenminister), Johannes Rau (SPD, damals Ministerpräsident von NRW) und Prof. Dr. Annemarie Schimmel (Friedenspreisträgerin und Muslimbrüder-Schwester). EMMA berichtete über die Eröffnungsfeier: »Gastgeber an diesem regnerischen Freitagmorgen ist Prinz Abdulaziz Bin Fahad Bin Abdulaziz, Sohn des saudi-arabischen Königs Fahad, seines Zeichens ›Hüter der Beiden Heiligen Stätten‹. Er hat diese erste islamische Schule in Deutschland für 28 Millionen Mark aus der Staatskasse Saudi-Arabiens errichtet. Ein Land, das seit 20 Jahren weltweit Hauptgeldgeber der islamistischen Offensive ist.« Der 1926 geborene Akademie-Geschäftsführer Hobohm konvertierte 1939 zum Islam. Nach Kriegsdienst und Kriegsgefangenschaft studierte er Islamwissenschaft in London, von 1949 bis 1953 war er Imam in einer Berliner Moschee, von 1954 bis 1956 redigierte er in Kara112
chi die Zeitschrift »Voice of Islam«. 1957 trat Hobohm als Diplomat in den Auswärtigen Dienst der Bundesrepublik Deutschland ein. Zudem fungierte er als Deutschlandberater des »Islamischen Weltkongresses«. Den kennen wir schon durch das »Zentralinstitut Islam-Archiv« in Soest. Auch Dr. Murad Wilfried Hofmann ist uns schon mehrfach begegnet. Der 1980 zum Islam übergetretene Botschafter a. D. ist – haben wir etwas anderes erwartet? – Ehrenmitglied im Zentralrats-Beirat. Dort hat selbstverständlich auch Prof. Dr. Annemerie Schimmel aus Bonn Sitz und Stimme. Ebenso die deutsche Konvertitin Fatima Grimm aus Hamburg sowie Yussuf Islam aus London. Dieser britische Konvertit war früher Popsänger und führte unter dem Namen Cat Stevens die internationalen Hit-Paraden an. Den Kassenwart im Vorstand des Zentralrates der Muslime in Deutschland kennen wir noch nicht. Auch Muhammad Siddig, ein bärtiger Mann in langen Gewändern, ist ein deutscher Konvertit, obwohl Wolfgang Borgfeld alias Siddig wie ein typischer Vertreter der islamistischen Muslimbruderschaft aussieht. Und das ist er auch, wie er offen zugibt. In Lützelbach im Odenwald betreibt der deutsche Muslimbruder die Begegnungsstätte »Haus des Islams«. »Wir wollen keinen Larifari-Islam«, so der Zentralrats-Kassenwart zum Berliner »Tagesspiegel«: »Wir sind bewusste Muslime. Wir fasten, beten und geben unser Geld nicht auf Banken, weil uns Zinsen verboten sind.« Selbstverständlich ist Siddig alias Borgfeld für Polygamie: »Die ist dem Mann im Islam erlaubt.« 113
Auch die »Islamische Religionsgemeinschaft Berlin«, die unter ihrem Doppelnamen »Islamische Föderation Berlin« gleichzeitig vom Dach des fragwürdigen Islamrates unter Vorsitz von Hasan Özdogan behütet wird, ist Mitglied im Zentralrat. Ebenso das »Islamische Zentrum Hamburg« (iranisch), das »Islamische Zentrum Aachen« (syrisch) und das »Islamische Zentrum München« (ägyptisch). Dennoch wird Vorsitzender Elyas nicht müde zu beteuern, dass er mit der islamistischen MuslimbruderMischpoke in seinem hoch geschätzten Dachverband überhaupt nichts zu tun habe. Und Elyas Tätigkeit im syrischen »Islamischen Zentrum« in der Bilal-Moschee in Aachen? Da sei er lediglich Beiratsmitglied. Doch er kann nicht leugnen, dass er früher Vorstandsmitglied des Syrer-Zentrums und zudem dessen Sprecher war. Bis zum 11. September 2001 stand das sogar auf seiner Homepage im Internet. Danach verschwand die aufschlussreiche Information. Am 24. September 2001, also 13 Tage nach den Selbstmordattentaten in den USA, plädierte NRW-Landtagspräsident Ulrich Müller ausgerechnet in Elyas vom Verfassungsschutz des Radikal-Islamismus verdächtigten BilalMoschee in Aachen für ein »friedliches Zusammenleben der Kulturen«. Und Issam El-Attar, Ehrenvorsitzender des Islamischen Zentrums und gebürtiger Syrer mit deutschem Pass, appellierte: »Wir müssen hier als deutsche Staatsbürger mit unseren Mitbürgern eng zusammenarbeiten!« Hört sich gut an. Zehn Jahre zuvor jedoch, als der friedfertige Syrer aus Aachen noch Leiter des dortigen »Islamischen Zentrums« war, berichtete EMMA 114
über ihn: »Issam El-Attar ist der ehemalige Führer der syrischen Muslimbruderschaft.« Deshalb sei seine Frau im März 1981 in der gemeinsamen Aachener Wohnung, mutmaßlich von feindlichen Brüdern ihres Mannes, erschossen worden. In dem EMMA-Artikel vom Februar ’91 begegnen wir auch Prof Abdoljovad Falaturi wieder, den wir bereits in Hamburg getroffen haben: »Der iranische Islamwissenschaft ler reiste im Spätherbst 1990 nach Aachen, um in einer Podiumsdiskussion das Islamische Zentrum (Bilal-Moschee) zu verteidigen. Das ist in die Schlagzeilen geraten, weil es für 30 bis 40 Millionen Mark zur größten Moschee Mitteleuropas erweitert werden soll. Für den Schiiten Falaturi aus dem Iran ist das sunnitische Zentrum in Aachen ein ›Ort der Toleranz‹, der auch Christen und Juden offen stehe. Der Professor verschweigt allerdings, dass dort bärtige Gotteskrieger wie der afghanische Ingenieur Gulbuddin Hekmatyar Vorträge halten, auf dessen Konto zahlreiche politische Morde gehen.« Doch zurück zum alternativen Friedenspreisträger Dr. Nadeem Elyas aus Mekka. Dessen Homepage www.islam. de war noch nach dem 11. September zu entnehmen, dass sich unter dem Dach des Zentralrats auch die »Islamische Gemeinschaft in Deutschland e. V.« (IGD) zu Hause fühlt. Die wiederum steht in Verdacht, der deutsche Ableger der militant-islamistischen Muslimbruderschaft aus Ägypten zu sein. Der IGD-Chef Dr. Ahmad Al-Khalifa, der seine Büroräume beim »Islamischen Zentrum München« hat, trat am Dienstag, dem 12. September 2001 in der Talkshow des Femsehpfarrers Jürgen Fliege auf: als vorgeblich 115
designierter und legitimierter Vertreter von 3,2 Millionen Muslimen in Deutschland. Ausdrücklich distanzierte sich der charmante Mann mit Vollbart von Fundamentalismus und Terrorismus. Entspannt plauderte er sodann mit dem katholischen Bischof Mixa und dem evangelischen Bischof Kruse über interreligiöse Toleranz.
Ramadan 28, im Jahre 1422 Wir sind auf unserer frommen Reise durch Deutschland bei der »Christlich-Islamischen Gesellschaft« (CIG) mit Sitz in Sankt Augustin angekommen. Wie im Kölner Stadtteil Vingst gibt es auch hier keine Moscheen, denn hier haben die katholischen »Steyler Missionare« ihre Deutschland-Zentrale und betreiben eine eigene Hochschule. Dort hat der CIG-Geschäftsführer Dr. Thomas Lemmen Theologie »mit missionstheologischer Spezialisierung« studiert und mit summa cum laude über »Muslime in Deutschland« promoviert. Auf Kosten der sozialdemokratischen Friedrich-Ebert-Stiftung erforschte er »Muslimische Spitzenorganisationen in Deutschland«. Untertitel der von deutschen Medien gern und oft zitierten Studie: »Der Islamrat und der Zentralrat«. Beim Zentralrat, so stellt Lemmen es dar, geht es äußerst honorig und absolut respektabel zu. Kein Wunder! Denn Lemmens Chef, der Vorsitzende der »Christlich Islamischen Gesellschaft«, ist dort Mitglied: in seiner Eigenschaft als Vorsitzender der Bonner Filiale der »Deutschen Muslim-Liga e. V.« aus Hamburg. Wie üblich 116
ein Konvertit, der schlicht und einfach Dultz heißt und sich in seiner Funktion als geistiger und geistlicher Führer einer esoterischen Sufi-Bruderschaft »Scheh Bashir Ahmad« nennen darf. Mit seiner mystischen Sufi-Sekte zieht der alte Konvertit vor allem für Esoterik anfällige junge Menschen in seinen Bann, die – ganz wie die frustrierten Deutschen kurz nach dem Ersten Weltkrieg – heute von einem märchenhaften Leben à la »1001 Nacht« träumen. Solche Missionierungserfolge verzeichnen zunehmend auch die eigens für die türkischen Jungen- und Mädchenmission ausgebildeten IGM-Jugendarbeiterlnnen von Milli Görüs, wie der Bielefelder Forscher Prof. Wilhelm Heitmeyer belegt hat. Für seine Studie mit dem Titel »Verlockender Fundamentalismus. Türkische Jugendliche in Deutschland«, die erste empirische Untersuchung zu diesem Thema, befragte er über 1.200 junge Türken und Türkinnen in Nordrhein-Westfalen. Ergebnis: Die große Mehrheit sieht »durch ihren pragmatischen Umgang mit religiösen Anforderungen keinen Widerspruch zwischen ihrem islamischen Glauben und dem Leben in einer modernen westlichen und rechtstaatlichen demokratischen Gesellschaft«. Klingt beruhigend, aber: Gleichzeitig lockt der Fundamentalismus eine stetig wachsende Minderheit von durch chronische Minderwertigkeitsgefühle verunsicherten jungen Männern aus sozial schwachen Familien an. Jeder fünfte der Jungen war überzeugt, »dass die Religion auch im Sinne der Scharia die Politik bestimmen müsse«. Diese wachsende Minderheit vertritt auch die Meinung, 117
dass der Islam die einzig wahre von Gott gewollte Religion sei und Gläubige anderer Religionen in Wahrheit Ungläubige seien. Heitmeyer warnend: »Das Problem islamisch-fundamentalistischer Orientierungen wurde bisher weitgehend in Form von Tabuisierungsversuchen oder Skandalisierungen ›behandelt‹. Beide Varianten gehen zu Lasten der Jugendlichen, weil sie entweder mit Desinteresse durch die Tabuisierung oder mit Generalverdacht durch Verallgemeinerung belegt wurden.« Nicht nur die türkisch-islamistische Milli Görüs, auch die pakistanisch-mystische Amaddiya-Bewegung hat in Deutschland Missionszentralen errichtet. In ihrer Frankfurter Nuur-Mosschee predigt der 1969 zum Islam konvertierte »Schriftsteller und Journalist« Hadayatullah Hübsch (Jahrgang 1946) als Imam. Vor seiner Bekehrung war der Vater von acht Kindern ein sexuell befreiter Kommunarde und esoterisch angehauchter Hippie in Berlin. Eine befremdliche Verwandlung vom Saulus zum Paulus. Oder müsste man eher vom Paulus zum Saulus sagen – wie bei Horst Mahler, früher »antifaschistische« RAF und heute antisemitische NPD? Offenbar gefällt Imam Hübsch am muslimischen Glauben, was auch die deutschen RAF-Nachfolger in den »Antiimperialistischen Zellen« (IAZ) begeistert, die ebenfalls komplett zum Islam übergelaufen sind – ein Phänomen, das die früher grün-alternative Konvertitin Eva El-S. vom syrisch-islamistischen Zentrum in Aachen so erklärt: »Dass es eine Religion gibt, die sich nicht nur mit dem Himmel beschäftigt, sondern auch mit den praktischen Fragen des Alltags, das hat mich total fasziniert.« Die mit 118
einem Araber verheiratete Grundschullehrerin zieht ihrer deutschen Tochter Badeanzüge »mit langen Ärmeln und langen Hosen« an. Denn: »Im Islam fällt für uns Frauen dieser ganze entsetzliche Zwang weg, jung und schön zu sein.« Fundamentalistische Schwarzweißmalerei kommt nicht nur bei Alternativen und Linken besonders gut an, denen vor der Wende der rote Osten diktierte, was sie zu denken hatten, und die sich nun von braunen Alt-Nazis oder fanatischen Moslems fremdbestimmen lassen. Auch Ex-Hippies wie Hadayatullah Hübsch sind süchtig nach einer Ersatz-Droge: statt Marihuana Mystik, statt anbetungswürdiger Rock-Stars verehrungswürdige IslamistenGurus. Übrigens: Bei seinen Auftritten als Fernsehprediger im Berliner Religions-TV »Offener Kanal« wirbt der Imam aus Frankfurt unverhüllt offen für Kopftuch und Schleier. Ja, am Kopftuch kann man sie immer erkennen, die Missionarinnen von der islamistischen Erweckungsfront. Da nimmt auch der Meister der interreligiösen und interkulturellen Einerseits/Andererseits-Taktik, Nadeem Elyas, kein Blatt mehr vor den Mund. Für ihn ist »das Tragen des Kopftuchs nicht nur Teil der religiösen Überzeugung, sondern religiöse Pflicht«. Über das Kopftuch kommt man auch Irmgard Pinn von der postmodernen Differenzialistinnen-Front auf die Schliche, obwohl die Konvertitin öffentlich gar keins trägt und damit eigentlich sträflich gegen ihre »religiöse Pflicht« verstößt. Doch beim Missionieren heiligt der Zweck die Mittel. Hauptberuflich ist Irmgard Pinn Soziologie-Dozentin 119
an der Technischen Hochschule Aachen (dämmert uns da was?). Im Nebenamt analysiert sie für das Duisburger »Institut für Sprach- und Sozialforschung« Rassismus in Deutschland und kritisiert das angebliche »Feindbild Islam« von Alice Schwarzer oder Edit Schlaffer und Cheryl Benard – und damit drei der sehr raren Stimmen, die sich schon seit Jahrzehnten die Finger gegen den Terror der Islamisten wundschreiben. Ihre Elaborate veröffentlicht Pinn u. a. bei »Amana Online«, ein muslimischer Pressedienst im Internet, und in den »Beiträgen für feministische Theorie und Praxis«, einem viermonatlich erscheinenden Soziologinnen-Periodikum postmodern-pseudofeministischer Prägung. In »Beiträge« kritisierte 1994 auch die Differenzialistin Dr. Renate Kreile den »rassistischen Diskurs« von EMMA und pries »das Kopftuch« als »bewusstes Zeichen von Autonomie und Widerstand«: »Viele Frauen in Ägypten wie in Algerien tragen den Schleier aus Protest gegen neokoloniale Unterdrückung, gegen Überstülpung westlicher Lebens-, Konsum- und Rollenmuster.« Und 2001 wirft die Soziologie-Dozentin Irmgard Pinn via »Amana Online« in ihrem Aufsatz über »Aufk lärung, Feminismus, Islam: Is West Best?« EMMA und Alice Schwarzer unverhohlen nationalistisches Denken vor: »Generell zeigt sich in der Auseinandersetzung mit dem Islam eine bemerkenswerte, bei Feministinnen in anderen Kontexten kaum vorstellbare Identifikation mit herrschenden Werten und Lebensformen. Diese Bereitschaft, grundlegende Tugenden, Moral und Rechtsnormen der westlichen Industriegesellschaften zu bejahen und ge120
gen (vermeintliche) Angriffe zu verteidigen, ähnelt stark dem von Anita Kalpaka und Nora Räthzel beschriebenen Konstitutionsprozess einer deutschen Identität durch Abgrenzung von anderen Kulturen.« In der deutschsprachigen Muslim-Zeitschrift »alFadschr/Die Morgendämmerung« des iranischen Islamischen Zentrums Hamburg wird Konvertitin Pinn von der postmodernen Differenzialistinnen-Front hymnisch als vorbildliche Funktionärin des »Muslimischen FrauenForums« (eMeFEF) mit Sitz in Aachen gefeiert. Pinn engagiert sich zudem in der »Gesellschaft Muslimischer Sozial- und Geisteswissenschaft lerinnen« (GMSG) mit Sitz in Köln-Nippes, Osterather Straße 7. In dem schäbigen Gebäude haust auch das »Institut für vergleichende Sozial- und Wirtschaftsforschung«. Und zwar – welch ein Zufall! – in den Räumen von »SLM-Immobilien und SLM-Liegenschaftsmanagement«. Und noch ein Zufall? Chef der beiden Firmen ist der Araber Ibrahim El-Zayat! Zudem ist der Diplom-Betriebswirt Vorstandsmitglied in der »Gesellschaft muslimischer Sozial- und Geisteswissenschaft lerinnen« (GMSG), der auch Konvertitin Pinn angehört. Und last but not least: Er ist der Gatte von Hanna Amina Erbakans Tochter und Mehmet Sabri Erbakans Schwester Sabiha El-Zayat. Das fällt durch ihren angeheirateten arabischen Namen gar nicht auf. Es sei denn, man interessiert sich nicht nur für die Heiligen Krieger, sondern auch für Frauen- und Kopftuchfragen. Dann ist man sofort alarmiert, wenn man irgendwo liest, dass eine Frau El-Zayat ein »Zentrum für Islamische Frauenforschung« (ZIF) an der Merheimer Straße 229 in 121
Köln-Nippes betreibt: früher Sitz der europäischen Milli Görüs-Zentrale und immer noch Sitz des IGMG-Moscheebauvereins und des IGMG-Regionalverbands Köln – sowie der »Deutsch-Islamischen Frauengemeinschaft« (DIF) unter Führung der Konvertitin Hanna Amina Erbakan. Und so schließt sich mal wieder der Kreis.
Sonntag, 16. Dezember 2001 Am letzten Tag des Fastenmonats Ramadan – nach mohammedanischer Zeitrechnung der 30. 9. 1422 – kommen wir auf unserer nur vermeintlich frommen, doch in Wahrheit hoch politischen Reise pünktlich zum Fastenbrechen bei Sonnenuntergang um 16.43 Uhr in Mannheim an. Dort ist die größte Moschee Deutschlands mit 2.500 Gebetsplätzen auf 1.500 Quadratmetern zu Hause. Die Yavus-Sultan-Selim-Moschee, die im Stadtteil Jungbusch neben einer katholischen Kirche steht und am 4. März 1995 feierlich eröffnet wurde, ist eine preisgekrönte Begegnungsstätte für den interreligiösen Dialog. Doch die Mannheimer Moschee soll den faschistischen »Grauen Wölfen« in der Türkei gehören, die neuerdings auch unter islamischer Flagge segeln. Bei der feierlichen Eröffnung im März 1995 wurde laut Verfassungsschutz Adolf Hitlers hierzulande verbotene antisemitische Hetzschrift »Mein Kampf« auf Türkisch verkauft. Aber das merkte mal wieder keiner. Doch als es dann am 11. September 2001 in Amerika krachte – das merkten alle, sogar die Deutschen. Bis 122
dahin war der Blick der demokratischen SchläferInnen durch bedingungslose Fremdenliebe getrübt, mit der man der Mehrheit der in Deutschland lebenden MuslimInnen alles andere als einen Gefallen tut. Im Gegenteil, denn die meisten von ihnen achten – im Gegensatz zu ihren Möchtegern-Vertretern – das deutsche Grundgesetz, das in interreligiöser und interkultureller Dialogkultur so gewieft geübten Fundamentalistinnen abschaffen wollen. »Es wäre an der Zeit«, mahnte auch der Fundamentalismus-Experte und baden-württembergische Verfassungsschützer Herbert L. Müller jüngst wieder, »dass man in Deutschland die Islamisten und ihre Ambitionen endlich ernst nimmt. Dass für sie Religion und Staat als untrennbar gelten, sollte nicht unter die Rubrik ›Folklore‹ fallen. Mit Islamisten sollte man ›nicht spielem. Es geht darum, dass wir unsere verfassungsmäßigen Vorstellungen, die uns nach der nazistischen Barbarei als notwendiges Korrektiv willkommen waren, gegen heutige Adepten totalitärer Strömungen verteidigen.« Und wenn das nicht bald geschieht – na dann, armes Deutschland gut’ Nacht! Als die Mannheimer Islamisten am Abend des letzten Tages im Monat Ramadan in der Yavus-Sultan-Selim-Moschee ihr drei Tage dauerndes Fastenbrechen-Fest zu feiern beginnen, geht in Hamburg der Mond auf und auf der Reeperbahn in St. Pauli das Nachtgeschäft los. Am Vorabend des 11. September besuchten auch drei der 19 Muslimbrüder, die am nächsten Morgen durch ihre Selbstmordattentate 4000 Menschen den Tod brachten, in Las Vegas ein Bordell – als Vorübung für himmlisches Vergnügen, das ihnen die am Anfang unserer frommen 123
Reise zitierte Paradies-Sure mit »reinen Partnern« verheißt. Diese Paradiesjungfrauen sollen nämlich »Huris« mit üppigen Brüsten, immerwährender Geilheit und ständig nachwachsenden Jungfernhäutchen sein. Nein, dann schon lieber so irdisch vergnügt und so selbstbestimmt frei sein wie die Elbe in dem Lied »Mond über Hamburg«: »Diese alte Dame schleppt die Pötte sehr genau, und sie ist nur manchmal blau. Doch wenn sie kommt die Nacht der Nächte, legt sie an bei Blohm & Voß, trägt ein Kleid mit Glitzersternen, raucht und macht die Leinen los.«
Die deutsche verordnete Fremdenliebe Von Bassam Tibi
Im Gegensatz zu den politischen Diskussionen außerhalb Deutschlands – gleich ob im Westen oder in der islamischen Welt – über den Krieg in Afghanistan, ist die in Deutschland geführte Debatte nicht nur spezifisch deutsch, sondern sogar exklusiv innenpolitisch geprägt. Dabei entsteht der Eindruck, als würde der Krieg mitten in Deutschland stattfinden. Dies liegt nicht am Gegenstand selbst, sondern an der politischen Kultur dieses Landes, die von politischen Tabus negativ beein-flusst wird. Totgeschwiegen wurde vor dem 11. September 2001 auch der islamische Fundamentalismus. Wenn Deutsche über den Islam sprechen, dann nicht über den eigentlichen Gehalt dieser Religion, denn die deutsche Weltanschauung und das, was gemäß dieser erlaubt oder verboten ist, legt jeder inhaltlichen Auseinandersetzung über diesen Gegenstand Grenzen auf. Hinzu kommt die deutsche (Un)Sitte der Bildung von Pro und Contra ohne Sachkenntnis. Auf diese Weise bilden sich die Fronten der deutschen »Feinde und Freunde des Islam« (Siegfried Kohlhammer). Beide wissen zwar, wie sich das Wort Islam buchstabieren lässt, doch darin erschöpft sich ihre Kenntnis bereits. Es scheint allerdings so, als wären deut125
sche Frauen für uns liberale Muslime bessere Verbündete als deutsche Männer. Zu den in Deutschland dominierenden Tabus gehört, dass Deutsche andere Kulturen nicht kritisieren dürfen. Um meine Kritik an der Mentalität des deutschen Gutmenschen zu veranschaulichen, ein Erlebnis aus den Niederlanden. Auf einer Veranstaltung im Rahmen der »Kulturhauptstadt Europas« in der Rotterdamer Erasmus-Kirche hielt ich neben der britischen Islam-Expertin Karen Armstrong das Referat über den islamischen Fundamentalismus. Der holländische Fernsehmoderator, der die anschließende Diskussion zwischen Armstrong und mir moderierte, fragte ironisch: »Verbietet uns denn nicht die alte Toleranztradition dieses Landes, sich über den marokkanischen Imam der Moschee von Rotterdam zu empören, der den Koran zitierend das Schlagen der Frauen befürwortet?« Die Niederländer lassen sich solche Sitten unter dem Deckmantel des Respekts vor den Fremden nicht gefallen. Warum aber bewahren die Deutschen selbst in Sachen »Toleranz« ihre alte Tradition der Sonderwege? Nachdem die Welt jedoch weiß, dass die als Kriegserklärung an die westliche Zivilisation gemeinten Terrorakte vom 11. September 2001 in der deutschen Islam-Diaspora vorbereitet wurden, können sich gerade die Deutschen keine Sonderwege mehr leisten. Bleiben wir bei den Fakten: Der Koran erlaubt tatsächlich, dass Männer »widerspenstige« Frauen bestrafen. Wenn eine Frau nicht gehorcht, dann »Fa ihdjuruhina fi al-madadji’i/Verlasse sie im Schlafgemach!«, heißt es im Koran, sprich: verweigere ihr die Sexualität. Nutzt 126
dies nichts, dann lautet die Vorschrift »Fa idrubuhinna/ Schlage sie!« (Koran: Sure 4/Vers 34). Zuvor heißt es an derselben Stelle »Die Männer stehen über den Frauen, weil Gott sie so ausgezeichnet hat« (4/34). Ist es politisch inkorrekt, über diese Stellung der Frau im Islam zu reden? Ist es fremdenfeindlich, solche Sitten in Europa – trotz des Grundrechts auf Religionsfreiheit – abzulehnen? Als aufgeklärter Reform-Muslim erlaube ich mir, meine Sicht der Dinge zu bekunden: Die Ablehnung der Demokratie halte ich für noch schwerwiegender als das Schlagen von Frauen, welches ich bereits grenzenlos verabscheue. Zwischen beiden besteht jedoch ein Zusammenhang: Keine Demokratie kann eine Inferiorisierung der Frauen zulassen. Der Fundamentalismus ist antidemokratisch. Es gibt zwei geistige Führer des Fundamentalismus im Islam: Sayyid Qutb (gehängt in Kairo 1966) und Abu A. al-Maududi (1903–1979). Beide haben zahlreiche Katechismen geschrieben, die sich gegen die Demokratie richten. Bei der Gehirnwäsche junger Muslime (auch beim Islam-Unterricht in der Diaspora, sogar in Großbritannien) dienen diese Katechismen als »Lektüre«. Der Islamismus ist die islamische Spielart des religiösen Fundamentalismus als globales Phänomen. In einem seiner Katechismen schreibt Maududi, dass Islam und Demokratie unvereinbar seien. Im Umgang mit dem totalitären Islamismus gibt es zwei Modelle: das britische und das französische. In Frankreich verpflichtet der demokratische Staat auf dem Boden der Verfassung alle Bürger, gleich welcher Religion – also auch die Muslime –, 127
zur Akzeptanz der Leitkultur, der laïcité, das heißt der Trennung von Religion und Politik. In Großbritannien verbietet es sich der Staat, sich in die Angelegenheiten der Muslime einzumischen. Dies änderte sich, als bekannt wurde, dass zirka 600 britische Muslime auf Seiten der Taliban für bin Laden kämpfen. Das deutsche Modell ist nicht so stark säkular ausgerichtet wie die beiden anderen. In Deutschland unterlässt man es, den Imamen der Moscheevereine demokratische Vorschriften zu machen. So kann eine fundamentalistische Organisation, beispielsweise die Islamistische Föderation, mit Hilfe der deutschen Justiz weisungsfrei Islam-Unterricht als islamistische Lehre indoktrinieren. Ein Berliner Gericht verbot dem Berliner Senat, in dieser Angelegenheit mitzubestimmen. Ist das deutsche Grundrecht auf Religionsfreiheit ein Freibrief für rechtsradikale Aktivitäten? Nach dem Ende der totalitären NS-Herrschaft wurden die Deutschen von den Amerikanern und den anderen westlichen Alliierten durch Umerziehung in das demokratische Denken eingeführt. Dieses Unterfangen war nur teilweise erfolgreich, denn die Neigung der Deutschen zu Extremen ist ihnen noch immer eigen. An die Stelle der Mentalität der Nazis, die alles Fremde dämonisierten, ist nun als entgegengesetztes Extrem der deutsche Gutmensch getreten, der alles Fremde heroisiert. Von meinem deutsch-jüdischen Lehrer Max Horkheimer habe ich gelernt, das Europa der Freiheit zu lieben und kompromisslos gegen seine Feinde – nach Horkheimer Hitlers Faschismus und Stalins Kommunismus – zu 128
verteidigen. Ich füge als dritten Feind den islamischen Fundamentalismus hinzu. Warum teilen meine deutschen Mitbürger diese Einsicht in die neuen Gefahrenquellen nicht mit mir? Immer wieder fällt es mir auf, wie einige, in den Medien teilweise sehr einflussreiche Deutsche mehr Angst vor dem »Feindbild Islam« haben als vor dem Feind Islamismus. Warum? Die Gesinnungsethik des deutschen Gutmenschen rangiert höher als die Informationsbereitschaft. In diesem Geist wird nicht zwischen dem Islam als Religion und dem Islamismus als politischer Ideologie unterschieden. Die Feinde des Islam verteufeln ihn in Kontinuität mit den christlicheuropäischen Feindbildern, wohingegen die Freunde denn, wie Annemarie Schimmel, im Islam nur das Gute sehen. Im gleichen Atemzug wird der totalitäre Islamismus zu einer positiven Geisteshaltung der vom Westen Unterdrückten, sozusagen zu einer Spielart des »Tiers-Mondisme«, hoch stilisiert. Dabei ist der Islamismus nichts anderes als eine Spielart des Rechtsradikalismus und des Totalitarismus. Es besteht eine Neigung unter gesinnungsethischen deutschen Intellektuellen, alle Vorgänge in unserer komplexen Wirklichkeit monokausal zu erklären und weltfromm zu moralisieren. Zur Rechtfertigung wird auf sozialökonomische Auswirkungen der Globalisierung hingewiesen. Jede Differenzierung zwischen der Religion des Islam und der totalitären Ideologie des Islamismus wird unterbunden. Die kriegerische Bedrohung der demokratischen Werte der westlichen Zivilisation wird als eine Reaktion der vom Westen Unterdrückten verniedlicht. Die129
se Unart hat nach den jüngsten Terrorakten in den USA Ausmaße angenommen, die ich als Muslim und Fremder unter Deutschen nicht mehr nachvollziehen kann. So war im Feuilleton der »Süddeutschen Zeitung« vom 12. November 2001 zu lesen: »Der Terrorismus ist unmoralisch (…) und entspricht einer Globalisierung, die selbst unmoralisch ist«. Die Globalisierung steht im Zusammenhang mit dem um 1500 herum begonnenen Aufstieg des Westens und dessen parallel verlaufender »europäischen Expansion«; sie ist also nicht neu. Zuvor haben die Muslime vom 7. bis zum 16. Jahrhundert ihre eigene Djihad-Globalisierung betrieben. Sicherlich ist der jahrhundertelange Wettkampf zwischen dem islamischen und dem westlichen Globalisierungsmodell der Hintergrund für die Geschehnisse am 11. September 2001. Aber was hat dies mit Moral zu tun? Globalisierung und Terrorismus auf dieselbe Stufe zu setzen, ist eine bis zur Erblindung getrübte Sichtweise. Selbst die Unterdrückung der Frauen im Islam, also ein Unrecht, dass weder mit der Ökonomie der Globalisierung noch mit dem Westen zu tun hat, wird in diesem Zusammenhang heruntergespielt. Ist es wirklich ein Zufall, dass sich die logistische Basis des terroristischen, von islamischen Fundamentalisten als Djihad-Krieg gegen den Westen legitimierten Anschlags vom 11. September 2001 in Deutschland befand? Gibt es nicht vielleicht doch eine Verbindung zwischen den deutschen Sonderwegen und der Wahl Deutschlands als Basis für islamische Fundamentalisten? Arabische Nationalisten, die säkular waren, hatten eine 130
Vorliebe für Deutschland, worauf die deutschen Demokraten nicht stolz sein können. Diese germanophile Haltung gegenüber Deutschland war die geistige Grundlage für ein Bündnis zwischen arabischen Nationalisten und dem NS-Regime und Quelle des arabischen Antisemitismus. Die Islamisten sind wie die arabischen Nationalisten Antisemiten, aber ihre heutige Vorliebe für Deutschland ist pragmatischer und nicht romantischer Natur: Sie beruht auf Berechnung. Ihre »Aktion USA« wurde in Deutschland vorbereitet. Die Fakten stehen fest: Der Terrorpilot und Islamist Mohammed Atta, der die Operation anführte, sowie zwei weitere Selbstmord-Flugzeugführer kamen aus der deutschen Islam-Diaspora. Das amerikanische Magazin »Newsweek« stellte zu recht die Frage, warum islamische Fundamentalisten Europa mögen und speziell Deutschland für ihre Operationen als logistische Basis bevorzugen, und gibt die Antwort: »Tolerating the Intolerable/ Das Intolerierbare wird toleriert«. Der säkularisierte deutsche Glaube an die Nächstenliebe kommt vor allem Fundamentalisten und Terroristen sowie Frauenfeinden zugute; er ist als »verordnete Fremdenliebe« in Deutschland auch nach dem 11. September ungebrochen und konnte durch die Kriegserklärung nicht erschüttert werden. Diese Liebe ist genauso unecht wie der Philosemitismus, der nur die andere Seite der Medaille Antisemitismus widerspiegelt. Heute ist die Parallele hierzu die Verwandlung der Fremdenfeindlichkeit in verordnete Fremdenliebe bzw. die der Islamophobie in Islamophilie. Eine Normalität 131
im Umgang mit dem Fremden als Ausdruck des Anderen erfordert eine demokratische und weltoffene politische Einstellung, welche die Offenheit für andere Kulturen mit der Pflicht zu den Prinzipien der Aufk lärung zu stehen, verbindet. Doch es ist gleichermaßen Ausdruck von Normalität zu erkennen, dass es, ebenso wie es demokratische und rechtsradikale Deutsche gibt, ähnliches für die Anderen, hier die Muslime, gilt. Muslime bilden keine monolithische Gesamtheit. Der Fremde kann sowohl Demokrat als auch Rechtsradikaler sein. Die Protagonisten der »verordneten Fremdenliebe« machen sich mehr Sorgen um die »Gefahr eines Feindbild Islam« als um die Bedrohung der demokratischen Freiheit durch den islamischen Fundamentalismus. Das von Islamisten gepflegte »Feindbild Westen« ist für sie kein Thema. In diesem Sinne suchen diese deutschen Gutmenschen die Schuld für die Attentate nicht bei den Tätern, sondern im Westen und in der Globalisierung. Hier erweisen sich die deutschen Gesinnungsethiker unter den Kirchenleuten als naive Helfer, weil sie letztendlich den Fundamentalismus im Islam legitimieren. Wie kommen sie dazu? Der Islamismus in Deutschland kann nicht nur bei den meisten Intellektuellen mit uneingeschränkter Toleranz rechnen. In einem »Spiegel-Report« wird berichtet, dass selbst der »Finanzminister« von bin Laden bei seiner Verhaftung 1998 angab, »er wolle eine deutsche Frau heiraten, und zwar sehr dringend«. Später lesen wir in diesem Bericht, dass bei den Islamisten in Deutschland folgende Devise gelte: »Finde eine deutsche Frau. Die Vorteile: Ar132
beitserlaubnis, unbegrenztes Bleiberecht nach zwei Jahren Ehe und die Möglichkeit einen deutschen Pass zu beantragen, mit dem es sich problemlos reisen lässt. Die so funktionalisierten Frauen geraten selbst dabei freilich oft in moderne Sklaverei … deutsche Ehefrauen dienen als perfekte Tarnung«. Es werden zahlreiche Beispiele für solche Frauen angeführt, von denen nur »wenige den Absprung schaffen: Sie müssen kochen, beten, putzen und sich mit langen Gewändern bedecken«. Den Islamisten stört vieles an der Demokratie, vor allem die Gleichstellung der Frauen. Wann begreifen deutsche Gutmenschen den Grundsatz: Wer Demokratie beanstandet, stößt auf die Grenzen der Toleranz? Die Problematik der deutschen Identität nach dem Holocaust ist mir bekannt. Aus den Schandtaten von 1933– 45 erwächst für viele Deutsche eine moralische Verpflichtung, sich für andere Kulturen zu öffnen. Es muss aber Kriterien für diese Öffnung geben. Oft habe ich Schwierigkeiten, beispielsweise in der Parteinahme bestimmter Deutscher für die Palästinenser gegen Israel, eine Öffnung zu sehen. Wie oft musste ich dahinter einen blanken Antisemitismus entdecken, der die Palästinenser und ihre Leiden instrumentalisiert. Hinter dem Ruf nach Verständnis für die islamischen Fundamentalisten versteckt sich dagegen der wahre Antiamerikanismus. Der Sonderweg Deutschlands war stets mit einem Höchstmaß an Provinzialismus gegenüber dem Rest der Welt verbunden. Der Islam ist eine spirituelle Religion, keine politische Angelegenheit. Im Gegensatz dazu ist der Islamismus als 133
Spielart des religiösen Fundamentalismus eine totalitäre Ideologie mit rechtsradikalen Zügen. Man darf es ihm nicht erlauben, Kapital aus dem Bedarf nach einer Öffnung Deutschlands für andere Kulturen zu schlagen. In Bezug auf die Integration islamischer Einwanderer, die eine Herausforderung an die deutsche Demokratie stellt, ist die Unterscheidung von höchster Relevanz: Eine aufgeklärte Deutung des Islam lässt die Integration in westliche Gesellschaften zu, während der Islamismus diese zu verhindern sucht. Der islamische Fundamentalismus fordert die Integrationsunwillig-keit islamischer Zuwanderer in Deutschland. Der Fundamentalismus existiert in allen Weltreligionen und nicht nur in der Welt des Islam. Die islamische Spielart des Fundamentalismus bietet allerdings weit mehr Stoff für die Analyse von Konfliktpotentialen als irgendeine andere fundamentalistische Strömung. Dafür gibt es eine Reihe von Gründen, der bedeutendste ist die Tatsache, dass diese neue Ideologie eine weltpolitisch relevante Form einer politisierten Religion angenommen hat. Denn der Fundamentalismus im Islam kann sich darauf berufen, eine Religion zu sein, die universelle Gültigkeit, das heißt Weltgeltung beansprucht. Daraus entwickelt sich ein Anspruch auf eine islamische Weltordnung. Doch in keiner der autoritativen islamischen Quellen finden wir ein politisches Weltordnungskonzept. Der islamische Fundamentalismus dagegen vollbringt die Leistung einer Neuschöpfung mit seinem neo-islamischen Konzept der Gottesherrschaft/Hakimiyyat Allah als 134
Grundlage für ein Herrschaftsmodell, das für die ganze Welt gültig ist. Dieses Konzept wurde vom geistigen Vater des islamischen Fundamentalismus, Sayyid Qutb, zur Weltanschauung erweitert. Bin Laden hat sich diese politische Ideologie angeeignet und propagiert sie. In Deutschland behaupten die Vertreter des organisierten Islam, die zugleich den politisierten Islam repräsentieren, dass es nur einen Islam gäbe; den Unterschied zwischen Islam und Islamismus leugnen sie. Doch der Islamismus als eine islamische Spielart des religiösen Fundamentalismus ist eine neuere Erscheinung. Fairerweise muss ich einräumen, dass nicht jeder Fundamentalist ein Terrorist ist. Es gibt friedliche Islamisten, zum Beispiel in der Türkei. Aber die Mehrzahl von ihnen befürwortet Gewalt und verbrämt sie als Djihad. Historisch betrachtet haben die Muslime nach der islamischen Religionsstiftung Eroberungskriege als »Futuhat/Öffnungen« (Öffnung der Welt für den Islam), also als Djihad geführt. Christen und Europäer übersetzen das Wort Djihad mit Gewaltanwendung und Krieg, ähnlich wie heutige Islamisten dies tun. Dennoch ist es falsch, Djihad mit »heiliger Krieg« zu übersetzen, weil Djihad laut Koran »Anstrengung« (nicht Gewaltanwendung) bedeutet. Redlicherweise muss eingeräumt werden, dass der praktizierte Djihad immer Gewaltanwendung einschloss. In der islamischen Geschichte ist Djihad der Eroberungskrieg zur Islamisierung der Welt. Die Islamisten verstehen unter Djihad ausschließlich den gewaltsamen Kampf als Instrument zur Durchsetzung ihrer politischen Ziele; sie legitimieren ihre Gewaltanwendung islamisch. Isla135
mismus, Terror und Gewalt gehen daher bei der Einführung der »Gottesherrschaft« Hand in Hand. Es gilt für Fundamentalisten aller Schriftreligionen, dass sie die Trennung zwischen Religion und Politik, welche die kulturelle Moderne mit sich gebracht hat, vehement ablehnen. Die Gottesherrschaft soll durch Gewalt und durch Entsäkularisierung verwirklicht werden. Gegenüber politisierten Religionen darf nicht unbegrenzt Toleranz im Namen eines religiösen Pluralismus geübt werden. Stattdessen ist Aufk lärung über die Gefahren für das friedliche Zusammenleben von Menschen unterschiedlicher Religionen und Kulturen notwendig. Auch der Islam in Deutschland muss sich mit einer säkularen Gesellschaft anfreunden. Dies gehört zur europäischen Kultur, die Pluralismus, aber keine Wertebeliebigkeit zulässt. Wenn die Islamisten in Deutschland Religion und Politik in ihrem Sinne definieren, sollten die Europäer sich der Lehren aus den Religionskriegen und der historisch auch für andere Kulturen relevanten Erfahrungen des Westfälischen Friedens erinnern. Aus diesen Erfahrungen wissen wir, dass Säkularität ein Bestandteil des Religionsfriedens ist, der wiederum die Basis für den Weltfrieden schuf. Islamische Entsäkularisierung beinhaltet die Ablehnung alles Westlichen, ist also gleichzusetzen mit dem Bestreben nach einer Entwestlichung der Welt, und ist somit eine Gefahr für den Frieden. Der Gegenentwurf der Fundamentalisten ist der Gottesstaat, der keine Glaubensfreiheit zulässt. Das Konzept der Hakimiyyat Allah/Gottesherrschaft ist eine Erfindung der 136
Islamisten und kommt im Koran nicht vor. Solange die Muslime in Europa in der Minderheit sind, beschränken sich die Islamisten darauf, innerhalb von Parallelgesellschaften zu agieren und somit die Integration von Muslimen in ein europäisches Gemeinwesen zu behindern. Nun gibt es deutsche Islam-Experten, die behaupten, dass der Fundamentalismus im Islam nicht einmal als Wort in der arabischen Sprache existiere. Die Wahrheit ist jedoch, dass im Arabischen Usuliyya/Fundamentalismus ein in den Schlagzeilen der arabischen Presse tagtäglich anzutreffender Begriff ist. Andere Termini zur Bezeichnung dieses Phänomens sind al-Islam al-siyasi/der politische Islam oder al-Islama-wiyya/Islamismus. All diese Bezeichnungen dienen dazu, die Ideologie des Islamismus von der Religion Islam zu differenzieren. Der Islam ist 14 Jahrhunderte alt, der islamische Fundamentalismus hingegen eine Erscheinung der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Die erste fundamentalistische Bewegung im Islam – die Bewegung der Muslimbrüder – wurde 1928 in Kairo gegründet. Diese Strömung wird in zwei Großmoscheen in Deutschland vertreten. Bis heute ist deren Bewegung erheblich gewachsen und in der deutschen Islam-Diaspora stark repräsentiert. Abu al-A’la al-Maududi, der von deutschen Islamisten in den Moscheevereinen regelmäßig gelesen wird, schreibt: »Ich sage es Euch Muslimen in aller Offenheit, dass die säkulare Demokratie in jeder Hinsicht im Widerspruch zu Eurer Religion und zu Eurem Glauben steht (…) Der Islam, an den Ihr glaubt und wonach Ihr Euch Muslime nennt, unterscheidet sich von diesem hässlichen System 137
total (…) Selbst in Bagatellangelegenheiten kann es keine Übereinstimmung zwischen Islam und Demokratie geben, weil sie sich diametral widersprechen. Dort, wo das politische System der Demokratie und des säkularen Nationalstaates dominiert, gibt es keinen Islam. Dort, wo der Islam vorherrscht, darf es jenes System nicht geben.« Wie andere Fundamentalismen ist auch das Phänomen des islamischen Fundamentalismus in sich vielfältig. In der Mittelmeerregion etwa unterscheidet sich der algerische Fundamentalismus erheblich vom türkischen, selbst innerhalb Algeriens sind die FIS (Front Islamique du Salut)-Fundamentalisten nicht mit den Terroristen der GIA (Groupes Islamiques Armées) gleichzusetzen. Doch im Prinzip befürworten alle Islamisten die Gewaltanwendung, dennoch neigen einige unter ihnen aus Opportunitätsgründen zur Anpassung und zur Mitarbeit in den Institutionen. Sie versuchen über den »westlichen«, sprich demokratisch-institutionellen Weg auf lange Sicht eine politische Richtungsänderung zu bewirken. Generell verhält sich der Islamismus zur Demokratie allerdings wie Feuer zu Wasser. Arabische Regierungen, vor allem die ägyptische, werfen den westlichen Staaten eine Doppelmoral vor, wenn sie einerseits den Fundamentalismus verdammen und andererseits Islamisten und ihren Führern Asyl gewähren. In London gibt es eine institutionelle Zentrale, die »Internationale der Islamisten«. Auf der Terrorismus-Konferenz des Bundeskriminalamtes (BKA) identifizierte dessen Präsident die Internationale der Islamisten als »Internationalen Kampfbund gegen Kreuzzügler und Ju138
den«. Erst mit dem Erlass des britischen Anti-TerrorismAct vom Frühjahr 2001 begann man in Großbritannien die Islamisten zu verfolgen. Islamisten sind untereinander stark zerstritten und fallen ihrer eigenen Intoleranz zum Opfer. So nennen sie Andersdenkende auch in ihrem eigenen Kreis Kuffar/Ungläubige und trachten ihnen mitunter nach dem Leben. Algerien, Afghanistan und Ägypten bieten dafür die besten Beispiele. Besonders in Algerien fällt auf, dass die Fundamentalisten zwar den Kampf gegen »die Feinde Gottes«, das heißt gegen den Westen und seine islamischen Verbündeten proklamieren, in Wirklichkeit aber keine Westler, sondern vorwiegend die Frauen und Kinder ihrer muslimischen Gegner töten. Dennoch sind sie als Terroristen effizient, wie es uns ihr Anschlag vom 11. September 2001 veranschaulicht hat. Ihre Existenz in der Diaspora ist ihre Stärke. Der Hinweis, dass sie innerhalb der Welt des Islam eine Minderheit sind, darf weder als Entwarnung dienen, noch zu ihrer Unterschätzung verleiten. Die Fundamentalisten waren zwar bisher meist nicht in der Lage, die Macht in ihren Ländern zu erobern, aber sie stellen einen erheblichen internationalen Destabilisierungsfaktor dar. Bin Laden wollte polarisieren. Ein Versuch, dem wir nicht erliegen dürfen. Die Integration muslimischer Migranten in ein demokratisches Gemeinwesen ist die beste Friedenspolitik und die geeignetste Waffe, gegen die Islamisten in der Diaspora vorzugehen. Die Integrationsfeindlichkeit und Ghetto-Bildung sind eine Gefahr für die Demokratie und das friedliche Zusammenleben. Die Propaganda vom »Feindbild Islam« darf nach dem 139
11. September 2001 nicht länger als Camouflage für islamische Fundamentalisten dienen. Präsident Bush hatte Recht, als er unmittelbar nach den Anschlägen zutreffend feststellte: Sie »haben uns den Krieg erklärt«. Militärisch handelt es sich um eine neue Form, den irregulären Krieg, der kein Guerilla-Krieg ist. Anders als bei den bisher bekannten Formen des Guerilla-Krieges, zum Beispiel den des Vietcong, ist das Hinterland bei diesem neuen Kriegstyp vielfältig und global vernetzt. Die Vietcong hatten Nord-Vietnam als Hinterland, das die Amerikaner bombardieren konnten. Die Bombardierung Afghanistans ist damit nicht vergleichbar, weil dieses Land nur sehr bedingt ein Hinterland ist. Die wichtigste logistische Basis islamischer Fundamentalisten befindet sich in Europa, vorrangig in Deutschland. Was tun? Man vermutet, dass 60 Länder – darunter in einer Spitzenposition die Bundesrepublik Deutschland – der alQaida-Organisation als logistisches Hinterland dienen. Drei der 19 Islamisten, die als Todespiloten den Kriegsakt am 11. September 2001 ausführten, kamen aus Deutschland: Mohammed Atta, Marwan al-Schehhi und Ziad Jarrah. Weitere drei steckbrieflich gesuchte Hintermänner kamen aus Hamburg; sie sind islamische Zuwanderer, von denen zwei sogar die deutsche Staatsangehörigkeit besitzen, wie der Marokkaner Said Bahaji. Die »New York Times« kritisierte zu recht, dass die Deutschen sich hinter den Schandtaten ihrer Vergangenheit versteckten, um ihre grenzenlose Toleranz zu begründen, die bisher auch die Duldung von Terroristen einschloss, und dass sie damit einen »safe haven/Frei140
raum« für terroristische Aktivitäten böten. Es sei den Deutschen überlassen, wie sie mit ihrer Vergangenheit umgehen, doch es gehe ebenso die anderen an, wenn von dieser neuen deutschen Art von Toleranz andere Länder betroffen sind. Diese hätten dann das Recht, bei Sicherheitsfragen mitzureden. Es ist Experten bekannt – und dies wird auch von den deutschen Sicherheitsbehörden nicht explizit bestritten –, dass es vor dem 11. September 2001 eine Art »stillschweigende Übereinkunft« gab, auf deren Grundlage die deutschen Behörden bei Islamisten ein Auge zudrückten und dafür die Gewähr erhielten, dass in Deutschland keine Terroranschläge verübt werden. Es geht also gar nicht nur um »deutsche Toleranz«, sondern vielmehr um Eigennutz. Deutschland und Hamburg können die USA nicht bombardieren. Was man aber tun kann ist, die logistischen Basen der Terroristen in Deutschland auszumachen und die Quellen ihrer Unterstützungsnetze auszutrocknen. Das beabsichtigt Bundesinnenminister Schily und erntet dafür den Vorwurf, »polizeistaatliche Methoden« einführen zu wollen. Doch Schily hat Recht, wenn er ermitteln lässt, woher Fundamentalisten ihr Geld und ihre Ausbildung erhalten und wo sie sich aufhalten. Wenn es ihnen nicht möglich gewesen wäre, sich in den Niederlanden, in Schweden und vor allem in Deutschland uneingeschränkt zu bewegen, hätten sie eine solche Tat wie die am 11. September 2001 nicht ausführen können. Wären die deutschen Sicherheitsbehörden nicht selbst »Schläfer«, hätten die Dinge einen anderen Verlauf genommen. Man 141
muss versuchen, die Logistik der terroristischen Islamisten mit rechtsstaatlichen Mitteln lahm zu legen. Das ist eine langfristige Strategie, aber sie ist viel versprechender und substantieller als eine Politik der Polarisierung und der Bombardierung. Kurz: Das deutsche Gutmenschentum mit der verordneten Fremdenliebe, kombiniert mit diesen deutschen Schläfern, schufen den Islamisten einen Freiraum für ihre Aktivitäten. Nachdem bekannt wurde, dass die Täter nach Deutschland Zugewanderte waren, fließend Deutsch sprachen und zum Teil deutsche Pässe hatten, wird man nicht mehr sagen können, dass Integration allein auf Erlernen der deutschen Sprache und auf Einbürgerung basieren kann. Ohne die Sozialisierung innerhalb einer europäisch-westlichen Leitkultur, die auch für islamische Migranten gelten muss, gibt es keine wirkliche Integration. An dieser Erkenntnis werden die Multikulturalisten nicht vorbeisehen können. Es besteht die Gefahr, dass ein Krieg der Religionen beziehungsweise der Zivilisationen entfacht wird und ein reales »Feindbild Islam« entsteht. Es gilt dies zu verhindern, aber wir dürfen den Islamisten nicht erlauben, das »Feindbild Islam« als propagandistische Waffe zu verwenden. Die Aufk lärung über den Islamismus darf nicht zu einer Ausgrenzung muslimischer Migranten in Deutschland führen. Dennoch muss man an diese Zuwanderer anders als bisher Forderungen stellen, an deren erster Stelle die Loyalität zur säkularen Demokratie als Identität Europas steht. 142
Die Terroristen von New York und Washington waren alle arabische Islamisten, die ebenso wie ihre Hintermänner zudem als Mitglieder der »bin Laden-Connection« identifiziert wurden. Dies zwingt uns dazu, das deutscharabische Verhältnis neu zu bewerten. Eine versöhnliche Version stammt von den ReformMuslimen, sie lautet: Islam und Demokratie sind vereinbar. Der Autor dieses Beitrags gehört zu diesem Kreis von Muslimen, die das Konzept des Euro-Islam entwickelt haben. Dessen Schlussfolgerung lautet: Im Interesse der Sicherheit der Demokratie in der Bundesrepublik sowie des friedlichen Miteinanders von Muslimen und Deutschen, sollte man in Zukunft eine Doppelstrategie verfolgen: Toleranz gegenüber dem offenen europäischen Islam und wehrhafte Demokratie gegenüber dem Islamismus. Und was ist mit dem »Kampf der Kulturen«? Der ist eine falsche Formel, weil die Urheber des Begriffes, nämlich Huntington mit »Clash of Civilizations« und der Autor dieses Artikels (mein Buch: »Krieg der Zivilisationen«) von Wertekonflikten, die die Form eines weltanschaulichen Zusammenpralls annehmen, sprechen, und nicht von einem Krieg. Wenn ich vom »Krieg der Zivilisationen« spreche, meine ich weltanschauliche Konflikte. Es ist Fakt, dass Menschen unterschiedlicher Zivilisationen nicht dieselben Werte verinnerlicht haben. Der Islam ist eine einheitliche Zivilisation – ebenso wie der Westen –, die jedoch in zahlreiche Kulturen mit jeweils eigenen Weltanschauungen unterteilt ist. Es ist blind und töricht zu behaupten, zwischen westlichen und isla143
mischen Weltanschauungen gebe es weder Unterschiede noch Konflikte. Dies wäre weltfremd. Mein Plädoyer ist ein Brückenschlag zwischen den Kulturen, der eine friedliche Konfliktaustragung einschließt. Zur Toleranz gegenüber dem Islam gehört das Bestehen auf der Demokratie und auf der Trennung zwischen Religion und Politik. Ist dies nicht gewährleistet, können die Brücken nicht geschlagen werden. Doch wenn selbst die Kriegserklärung der Islamisten vom 11. September viele deutsche gesinnungsethische Intellektuelle nicht erschüttert hat – was muss dann noch geschehen, damit sie verstehen?
Die halbierte Aufklärung Ein Gespräch mit Wilhelm Heitmeyer, geführt von Eberhard Seidel
Frage Ihr Institut untersucht seit Jahren ethnisch-kulturelle Konflikte, religiösen Fundamentalismus und politische Gewalt. Stehen wir am Beginn einer neuen terroristischen Ära? Wilhelm Heitmeyer Wir haben es insofern mit einem singulären Ereignis zu tun, als ab jetzt alles möglich scheint. Da von den Tätern keine Forderungen erhoben wurden, soll ganz offensichtlich die Tat die Botschaft sein. Ob nun der gewalttätige Islamismus, ob die Situation insgesamt unkontrollierbar wird, hängt auch von den Reaktionen und den ideologischen Aktivitäten der USA und ihrem alttestamentarisch unterfütterten Selbstverständnis ab, das eine Vergeltungslogik präferiert. Frage Besteht also die Gefahr, dass die US-Bombardements in Afghanistan Sympathien für den Terrorismus erst provozieren? Heitmeyer Dies kann in der Tat so sein, wenn in islamischen Gesellschaften und Gemeinschaften auf Grund der militärischen Aktionen Solidarisierungseffekte erzeugt und liberale Gruppen an den Rand gedrückt werden, obwohl dieser Terror letztlich zerstörerisch ist für diese Religion. Verschärfend kommt hinzu: Jeder Form von Gewalt wohnt eine spezielle Regelhaftigkeit inne, 145
auch der terroristischen. Diese ist jetzt außer Kraft gesetzt. Durch diese unberechenbare Dynamik verlieren wir die Möglichkeit zur Sicherheitsgebenden Antizipation dessen, was passieren kann. Frage Wodurch unterscheiden sich die Täter vom 11. September von früheren Terroristengenerationen? Heitmeyer Es handelt sich nicht mehr um eine klassische Internationale des Terrors mit Menschen aus unterschiedlichen kulturellen Herkünften, wie es noch in den 70er Jahren der Fall war. Damals waren das Erlernen der radikalen ideologischen Formeln und die Bewährung durch eine Tat die Eintrittskarte in die Gruppen. Dies scheint jetzt verändert. Die Rückkehr von Traditionen und der kulturelle Habitus stehen im Vordergrund bei Ausweitung internationaler Ziele. Damit verschlechtern sich die Chancen der Unterwanderung, es sei denn, die Täter sind käuflich. Bisher galten Traditionen für den Terrorismus als hinderlich, jetzt werden sie zu einer entscheidenden Voraussetzung für den Erfolg, hinter die das von jedermann erlernbare Handwerk des Terrors weit zurücksteht. Frage Wie ist das Angebot der Islamischen Gemeinschaft Milli Görus zu bewerten, die der Bundesregierung kürzlich angeboten hat, mäßigend auf Muslime einzuwirken, wenn sie im Gegenzug gesellschaft liche Anerkennung erfährt? Heitmeyer Damit wird eingeräumt, dass es in den eigenen Reihen problematische Gruppen gibt. Ansonsten brauchte man solche Angebote nicht zu machen. Aber ein quasi moscheeinterner Verfassungsschutz ist eine absurde Idee. 146
Frage Aber was sollen solche Gruppen denn machen, die beklagen, die Muslime stünden nun unter einem Generalverdacht? Heitmeyer Zumindest bis vor dem 11. September gab es keine generelle Islamfeindlichkeit und wahrscheinlich auch jetzt nicht. Aber: Unsere Befragung von fast 800 Muslimen türkischer Herkunft hat gezeigt, dass gerade die intensiven Moscheebesucher keinen Kontakt mit den Deutschen wünschen. Gleichzeitig gibt es einen engen Zusammenhang von Moscheebesuch und Selbstethnisierung. Das heißt, die Bedeutung der Gruppengrenzen wird besonders hervorgehoben. Solche abgedichteten Milieus stellen aber erst dann ein besonderes Problem dar, wenn zum Beispiel nicht klar ist, was in den Freitagsgebeten gepredigt wird. Frage In der deutschen Öffentlichkeit entsteht der Eindruck, dass dort gegen sie gehetzt wird, dass dort eine Gefahr lauert, die man nicht so richtig einschätzen kann. Was könnten die Muslime zur Beruhigung beitragen? Heitmeyer Dagegen hilft nur Öffentlichkeit, ein alljährlicher Tag der offenen Moschee ist eher ablenkend. In einer offenen Gesellschaft muss sich jede Religion mit politischen Ansprüchen öffentlich präsentieren, um die Trennung von Religion und staatlichen Machtambitionen zu verdeutlichen. Allerdings muss diese Gesellschaft auch die Gelegenheit dazu bieten. Frage Die Muslime verweisen immer wieder darauf, dass der Islam eine friedliche und keine aggressive oder gar mörderische Religion sei. 147
Heitmeyer Es ist reichlich irritierend, dass ständig etwas dementiert wird, was so niemand behauptet. Und warum wird ständig wiederholt, dass es den Islam nicht gebe, aber der Islam eine friedliche Religion sei? Die Forderungen nach Differenzierung und Einheit des Islam werden so je nach Interessenlage hin- und hergeschoben. Frage Inzwischen scheinen sich die bundesdeutschen Eliten zu Islamkennern fortgebildet zu haben. Hochrangige Politiker und Intellektuelle – sie alle klären die deutsche Bevölkerung über den wahren Charakter des Islam auf. Sollten wir uns nicht über so viel interreligiöse Offenheit freuen? Heitmeyer Interreligiöse Offenheit ist etwas anderes als das, was wir seit längerem beobachten. Teile der Eliten erteilen dem Islam vielmehr eine Generalabsolution. Davon werden vor allem islamistische Gruppen profitieren, zumal wenn sie auch noch von Wissenschaft lern in eine Opferrolle hineingeschrieben werden und so selbstkritische Debatten vermeiden können, was stabilisiert oder gar ihren Einfluss erhöht. Deshalb muss man die liberalen Muslime stützen. Öffentliche selbstkritische Debatten über die Instrumentalisierbarkeit der eigenen Religion würde die Glaubwürdigkeit erhöhen. Frage Instrumentalisierbar ist auch das Christentum. Muslime verweisen zu Recht gerne auf das Beispiel Nordirland. Heitmeyer Unbestritten hat jede Religion ihre abgründigen Seiten. Insofern gibt es keine prinzipiellen Unterschiede, aber amputierte Vergleiche. Man kann nicht die 148
prinzipiell gleiche Ausbeutbarkeit betonen und die ungleichen Ausmaße unterschlagen. Wenn Kinder wie in Nordirland von politischen Religionsfanatikern verletzt und traumatisiert werden, ist das ein Desaster. Im Unterschied zum Islamismus ist dieser Konflikt allerdings regional begrenzt und soll auch nicht in andere Gebiete transferiert werden. Ich habe den Eindruck, dass in machtvergessenen Analysen die Probleme des politischen Islam in mehreren Weltregionen aus Angst oder Paternalismus heruntergespielt werden. Dass zum Beispiel Islamwissenschaft ler in der Öffentlichkeit nicht gerade mutig über die internen Widersprüche in Koranaussagen aufk lären, ist kaum zu bestreiten. Frage Zum Beispiel? Heitmeyer Nehmen Sie die heute viel zitierte Sure 5, die besagt: »Wenn jemand einen Menschen tötet, ohne dass der einen Mord oder eine Gewalttat im Lande begangen hat, so ist es, als hätte er die ganze Menschheit getötet.« Daneben steht aber gleichzeitig in Sure 9: »Der Gläubige hat auf dem Wege Allahs zu töten und sich töten zu lassen.« Da hilft es nun wenig, wenn lapidar darauf verwiesen wird, man müsse die letztere Sure im Lichte der eindeutigen Erstgenannten interpretieren. Wieso muss man dieses? Ob und inwieweit Teile des Korans instrumentalisierbar sind, hängt von den Ausdeutungen ab, bleibt aber eine aufk lärungsbedürftige Frage. Frage Die allerdings in der Debatte gerne unterdrückt wird … Heitmeyer Richtig. Stattdessen wird immer nur vor Islamfeindlichkeit gewarnt. Zum Abbau von Verunsiche149
rungen trägt das nicht bei. Wissenschaft ler haben gerade dann eine kritisch aufk lärende Bringschuld für die Gesellschaft, wenn es unkomfortabel wird. Frage In den letzten Jahren wurden Gruppen des politischen Islam von deutscher Seite hofiert. War das eine besonders kluge Integrationsstrategie oder Naivität? Heitmeyer Das Verhalten relevanter Teile politischer und kultureller Eliten wie auch religiöser Amtsträger gegenüber Gruppen wie Milli Görus, dem Prototyp eines taktierenden Islamismus, deren Zeitung auch den Terror als Vergeltung betitelt hat, ist zum Teil von bodenloser Naivität und Opportunismus. Die Ausländerbeauftragte von Berlin, Frau John, hat einen besonderen Beitrag geleistet. Sie sagte: »Der Islamismus ist eine gedankliche Konstruktion. Es hat keinen Sinn, über so etwas zu reden.« Frage Aber das ist doch wohl gemeint im Dienste der Toleranz. Heitmeyer Wir haben es in weiten Teilen mit einem schwärmerischen Dialog zu tun, der die Interessen, Machtansprüche, Einflusssphären nicht zur Debatte stellt. Es ist eine halbierte Aufk lärung. Es wird auch vielfach penibel umgangen, welches Verhältnis Muslime zum säkularen Rechtsstaat haben. So gab etwa der Vorsitzende des Zentralrats der Muslime, Nadeem Elyas, auf dem letzten Katholikentag auf die Frage, ob der säkulare Rechtsstaat die unumstößliche Grundlage sei, die einschränkende Antwort: »Ja, so lange Muslime in der Minderheit sind.« Frage Wollen Sie behaupten, die Muslime hätten Schwierigkeiten, das Grundgesetz zu akzeptieren? 150
Heitmeyer Eine Befragung des Islamarchivs ergab, dass
zirka 50 Prozent der Muslime in Deutschland den Koran mit dem Grundgesetz für vereinbar halten. Was ist mit den anderen 50 Prozent? Haben sie aus bloßer Unkenntnis diese Frage zurückgewiesen? Es bleiben wichtige Fragen offen, die nur in öffentlichen Debatten zu klären sind. Frage Nun kann man einwenden, dass jeder Dialog, egal wie mangelhaft er sein mag, Kontakt fördert. Heitmeyer Kontakte führen nicht automatisch zum Kennen und schon gar nicht zum wechselseitigen Anerkennen. Dazu bedarf es komplizierter Voraussetzungen, vor allem eines angstfreien Klimas für alle Seiten. Dies ist nicht gewährleistet, solange es Versuche gibt, Kritiker islamistischer Organisationen einzuschüchtern. Frage Politiker verschiedener Parteien befürchten nun, dass die derzeitige Entwicklung die Bildung parallelgesellschaft licher Strukturen begünstigen könnte. Heitmeyer Der Verweis wird von interessierter Seite instrumentalisiert, weil es diesen Politikern schon reicht, wenn Menschen einfach anders leben. Dies ist ein fatales Kriterium, das strikt zurückzuweisen ist. Man muss stattdessen sehr differenziert herangehen. Man darf nicht übersehen, dass etwa islamistische Gruppen die islamische Identität zur kollektiven Identitätspolitik nutzen. Wenn zweitens zunehmende soziale Desintegrationsprozesse in Gang kommen, das heißt, Zugänge von jungen Migrantengruppen zu den Funktionssystemen dieser Gesellschaft sich als Problem darstellen und etwa nachlassende Bildungsbeteiligung erzeugen, 151
dann sind dies gravierende Probleme. Wir haben auf die Sympathisantenprobleme bei Jugendlichen mit Integrations- und Anerkennungsproblemen in unserer Untersuchung von 1997 hingewiesen. Drittens ist auf ein Misstrauen bei Migranten türkischer Herkunft im öffentlichen Raum aus zum Teil wohlbegründeten Sorgen hinzuweisen. In unserer Städtestudie von 1998 war das Misstrauen bei 75 Prozent der Befragten außerordentlich hoch, und das gibt natürlich Anlass zur Sorge, wenn jetzt neue Kontrollpolitiken aufgebaut werden, die spaltungsfördernd sind. Und wenn jetzt Forderungen nach der Scharia im Sinne eines separaten Erb- und Familienrechts aufkommen, dürften massive Probleme entstehen. Dagegen hilft nur eines: Es müssen andere öffentliche Debatten geführt werden als jene zwanghaften Reflexe. Wenn sich die Gräben vertiefen, muss man von einer verheerenden Fernwirkung des islamistischen Terrors sprechen. Wir kennen den Effekt der Dynamik einer unkontrollierbaren Gewaltspirale nicht genau, aber die Theorie sozialer Identität belehrt uns, dass bei tiefer Verunsicherung die gesellschaftsinternen Konflikte stillgelegt und stattdessen Großkollektive mit scharfen Grenzziehungen und Betonung von Unterschieden hervorgehoben werden: Das Gute gegen das Böse; die Gläubigen gegen die Ungläubigen etc. Terrorismus der erlebten Grenzenlosigkeit bombt nun diese Verunsicherung herbei und setzt Dynamiken in Gang. Ob sie sich verstetigen, ist offen. Zuerst erschienen in der »tageszeitung«, 24. 10. 2001
DIE FRAUEN ZUERST
Der Fall Ludin Von Alice Schwarzer – 1999
Jetzt hat auch Deutschland seinen »Kopftuch-Streit«. Ausgelöst wurde die Kontroverse von Fereshta Ludin, einer 26-jährigen Deutschen afghanischer Herkunft. Ludin war Lehramtsanwärterin in Baden-Württemberg, unterrichtete an der Hohbergschule in Plüderhausen und begehrt, nun ins Beamtenverhältnis übernommen zu werden. Da sie jedoch ihr Kopftuch auch im Klassenzimmer tragen will, hat Kultusministerin Annette Schavan (CDU) ihr dieses Ansinnen abgeschlagen, denn: »Das Tragen des Kopftuches gehört nicht zu den religiösen Pflichten einer Muslimin. Die Mehrheit muslimischer Frauen trägt weltweit kein Kopftuch. Vielmehr wird das Kopftuch in der innerislamischen Diskussion auch als Symbol für politische Abgrenzung und damit als politisches Symbol gewertet.« Nun klagt Ludin, unterstützt vom Lehrerverband VBE und von der Lehrergewerkschaft GEW, die von einem »Berufsverbot« spricht, auf Einstellung. Die entscheidende juristische Frage dabei ist, ob Ludin das Kopftuch aus »persönlichen« Gründen trägt, oder ob sie es als »religiöse« bzw. »politische« Demonstration versteht. Im ersteren Fall könnte sie nach deutschem Gesetz eingestellt werden, im zweiteren nicht. Dabei geht es um mehr als um eine Referendarin: Ludin ist zum Präzedenzfall geworden. 155
Wer also ist Fereshta Ludin? Ist sie, wie es »Die Zeit« vermutete, eine naive junge Muslimin, die ganz einfach das »ihr vom Islam auferlegte Kopftuch« so tragen möchte, wie eine Christin ihr »Kreuzlein an der Kette?« Ist sie dieses »sonnige Gemüt«, die »zierliche Frau mit den großen braunen, kajalumrandeten Augen aus Afghanistan«, die der Reporter der »Süddeutschen Zeitung« traf, und die »ganz verletzt« darüber ist, »reduziert zu sein auf ein Stück Stoff«? Kann ihr »kein islamisches Missionieren vorgeworfen werden« und hat sie darum »ein Recht auf Toleranz«, wie es die Anwältin Brigitte Laubach in der »taz« forderte? Oder weiß Fereshta Ludin nur zu genau, was sie da tut? Ist ihr Kopftuch keine persönliche Sache, sondern eine politische Provokation und Teil einer Strategie, die Menschenrechte von Frauen – auch und gerade die von Musliminnen in Deutschland – zu unterwandern? Wer also ist Fereshta Ludin? Hier das, was bisher bekannt geworden ist: Fereshta Ludin ist 1972 in Afghanistan geboren und hat die deutsche Staatsangehörigkeit, weil sie mit einem Deutschen verheiratet ist. Ihr Vater war bei ihrer Geburt Innenminister in Kabul und dann Botschafter in Bonn. Ihre Mutter war Lehrerin und trägt bis heute kein Kopftuch. Fereshta kam als kleines Mädchen nach Bonn und hat in Schwäbisch Gmünd Abitur gemacht. Als der Vater nach der sowjetischen Besetzung Afghanistans seine Stelle als Diplomat verlor, zog Fereshta als junges Mädchen mit ihrer Familie für einige Jahre nach Saudi-Arabien (in das Land, das als Haupt-Financier des 156
weltweiten islamistischen Terrors gilt). Dort begann sie plötzlich, den Schleier zu tragen, »weil es mir gefallen hat«. Ab 13 hat sie das Kopftuch nicht mehr abgelegt. Mit 18 heiratete Fereshta Ludin in Schwäbisch Gmünd den fünf Jahre älteren Raimund Proschaska, einen Vollbart tragenden, zum Islam konvertierten, arbeitslosen deutschen Lehrer. Dem TV-Magazin »Mona Lisa« erklärte das Ehepaar, dass sie fünf Mal am Tag beten, zum ersten Mal morgens um fünf. Raimund Proschaska verabschiedet sich auch von seinen Eltern nur noch mit »Salemaleikum«. Hinter der Hand wird in der schwäbischen Kleinstadt geflüstert: »In Schwäbisch Gmünd ischt die Milli Görüs sehr stark.« Die Milli Görüs ist nach Erkenntnis des Verfassungsschutzes eine als »verfassungsfeindlich« eingestufte Gruppe. Ab dem Wintersemester 1993 studierte Fereshta Ludin an der Pädagogischen Hochschule Schwäbisch Gmünd, wo Studienrat Erich Pommerenke die Ex-Studentin als »sehr emanzipiert und sehr selbstbewusst« in Erinnerung hat. Er fand es besonders sympathisch, dass »Frau Ludin etwas tut gegen den Werteverfall der Sitten in Deutschland«. Pommerenke war es auch, der es durchsetzte, dass die Studentin Ludin im Rahmen ihres Studiums drei »Fortbildungsveranstaltungen« für Lehrerinnen machen konnte. Eine von Pommerenkes Kolleginnen – die ihren Namen nicht nennen will, wie die meisten, wenn es um die Kritik am Kopftuch geht – erinnert sich gut: »Ich habe da völlig unvoreingenommen teilgenommen. Aber was die Frau Ludin da erzählt hat, das hat mir die Sprache ver157
schlagen. Sie hat unter anderem gesagt, deutsche Frauen seien unrein, und nur muslimische Frauen seien rein. Muslimische Frauen hätten auch mehr Rechte als deutsche und stünden höher als die Männer. Also, da hat mich etwas angeweht, was mir regelrecht Angst gemacht hat … Ich hatte den Eindruck, da wird unterwandert. Es waren auch deutsche Musliminnen aus Freiburg da, die Ludin unterstützt haben. Ich war so empört, dass ich mitten in der Veranstaltung raus gegangen bin.« Irgendwann beginnt die Studentin Ludin sich zu weigern, Männern die Hand zu geben. Das ist um 1995. An der Pädagogischen Hochschule wundert man sich. Heute ist Fereshta Ludin laut den Schwäbisch Gmünder »Stadtinformationen« die offizielle Anlaufstelle des »Deutschsprachigen-muslimischen Frauenkreises«. Für die Frauen ihres Kreises ist »Fereshta der Kopf«, denn: »Sie ist sehr schlau und weiß viel mehr als wir anderen«. In den Stadtinfos gibt der Frauenkreis als »Zielsetzung« an: »Islamische Weiterbildung, Dialog zwisehen Muslimen und Nicht-Muslimen, Abbau von vorhandenen Vorurteilen«. Schwäbisch Gmünd hat mehrere Moscheen, Ludins Stamm-Moschee ist die am Bahnhof, die als besonders konservativ gilt. Da macht sie regelmäßig Führungen. Bei dieser Gelegenheit spricht Ludin immer wieder auch über die Rechte der Frauen und betont, der Schleier sei für sie »ein Schutz vor der westlichen Dekadenz« und »Ausdruck der Würde der Frauen«. Nach ihrem 1. Staatsexamen macht Fereshta Ludin zusammen mit ihrem Mann Urlaub in Afghanistan, wo 158
inzwischen die Talibane an der Macht sind. Bei ihrer Rückkehr wird die Referendarin 1997 vom Schulamt Schwäbisch Gmünd der Uhland-Schule zugeteilt; doch die Schule weigert sich, eine Lehrerin mit Kopftuch in die Klassen zu schicken. Darauf wird sie an die Rauchbeinschule geschickt, auch die lehnt ab. Jetzt geht Fereshta Ludin in die Offensive. Unterstützt von der Lehrergewerkschaft und dem Deutschen Gewerkschaftsbund, die von »Toleranz« und »gleichen Rechten« reden, droht sie mit Klage. Auch islamische Organisationen ergreifen nun öffentlich Partei für Ludin, darunter der »Zentralrat der Muslime in Deutschland«. Dieser muslimische Zentralrat wurde von Murad Wilfried Hofmann gegründet, einem pensionierten deutschen Botschafter, der zuletzt in Marokko auf Posten war und der sich offen zum islamischen Fundamentalismus und zur »Scharia als Grundgesetz eines Staates« bekennt. Für den Zentralrat ist das Tragen des Kopftuches eine »religiöse Pflicht« aller Muslimas. In Plüderhausen, dem Nachbarort von Schwäbisch Gmünd, springt nun ganz plötzlich der katholische Rektor der Hohbergschule, Skobowsky, ein und bietet Ludin ein Referendariat für das Schuljahr 1997/98 an. Die Referendarin unterrichtet mit Kopftuch die Fächer Englisch, Deutsch, Gemeinschaftskunde sowie »Familien- und Geschlechtserziehung«. Als EMMA im April 1997 (unter anderem Namen) mit Fereshta Ludin telefoniert und die gebürtige Afghanin nach ihrer Meinung zu der Unterdrückung der Frauen durch die Talibane und der Todesstrafe für unverschlei159
erte Frauen in ihrer Heimat fragt, antwortet die: »Dazu möchte ich mich nicht äußern.« Als EMMA die engagierte Muslimin fragt, was sie denn von der Einführung der Scharia in den von Fundamentalisten beherrschten Ländern halte, da antwortet die angehende Lehrerin erneut: »Dazu möchte ich mich nicht äußern.« Als EMMA nachhakt, erklärt sie: »Solche Fragen möchte ich nicht beantworten, weil ich im Beamtenverhältnis bin.« – Würde Ludins Antwort ihrem Beamtenverhältnis widersprechen, weil sie nicht auf dem Boden des Grundgesetzes steht? Am Ende des Referendariats wird Fereshta Ludin auf das Grundgesetz vereidigt. Da zögert die Referendarin und bittet um Bedenkzeit. Ausbilder Müller gewährt sie und Ludin entschließt sich nach einer halben Stunde nun doch zum Eid. Aber Ludin besteht weiterhin auf dem Tragen des Kopftuches im Klassenzimmer. Klingt das alles wie der Leidensweg einer unpolitischen, naiven jungen Frau, für die das Kopftuch eine rein persönliche Angelegenheit ist? Fereshta Ludin kämpft weiter um eine Anstellung als Lehrerin. Sie hat schon jetzt angekündigt, dass sie mit ihrer Klage, wenn es sein muss, »bis zum Bundesverfassungsgericht« gehen wird. Und sie kann sich auf diesem Weg vielfältiger Unterstützung sicher sein: von der als links geltenden Lehrergewerkschaft bis hin zu islamischen Organisationen wie dem Zentralrat, die auch hierzulande für Kopftuchzwang plädieren, während die Frauen im Iran für einen verrutschten Schleier 74 Peitschenhiebe kriegen oder ins Gefängnis kommen und unverschleierte Frauen in Algerien oder Afghanistan ermordet werden. 160
In der Lehrergewerkschaft, die zunächst stramm auf Ludin-Kurs war, ist inzwischen ein Streit über das Kopftuch ausgebrochen. Während der baden-württembergische GEW-Vorsitzende Rainer Dahlmen »Verbote für die falsche Reaktion« hält (»die führen zu Ausgrenzungen«), hält Dorothee Wetzel von der GEW-Frauenpolitik dagegen: »Auf dem Weg in eine demokratische Gesellschaft der Gleichberechtigung ist ein solches Symbol hinderlich.« Auch der »deutsche Philologenverband« warnt vor einer falsch verstandenen Toleranz. Verbandsvorsitzender Volker Stich lobt die Schavan-Entscheidung als eine »zugunsten der Integration islamischer, junger Menschen in unserer Gesellschaft«. Und er ist einer der wenigen, die über den Einzelentscheid hinaus eine »prinzipielle, klare Regelung« fordern, »denn es darf nicht sein, dass religiöse oder politische Symbole von Lehrern getragen werden«. Wir haben damit in Deutschland also heute eine ganz ähnliche Front wie die, die Elisabeth Badinter beim »Kopftuch-Streit« 1989 in Frankreich ausgemacht hat: einen Schulterschluss zwischen religiösen Fundamentalistinnen und weltlichen Differenzialistlnnen quer durch alle Lager, die beide nichts halten von den universellen Menschenrechten, sondern im Gegenteil auf die »Unterschiede« zwischen den Menschen pochen, vor allem auf die zwischen Frauen und Männern. Doch der deutsche Staat kennt nicht dieselbe scharfe Trennung von Staat und Kirche wie Frankreich. Denn nach der Nazizeit gelang es dem Adenauer-Regime nicht 161
nur, die weltweit einzigartige Kirchensteuer einzuführen, sondern auch, im deutschen Grundgesetz eine kirchenfreundliche »Glaubensfreiheit« zu verankern. Vor diesem Hintergrund ließ der Direktor des Max-PlanckInstituts für Europäische Rechtsgeschichte, Prof. Stolleis, EMMA wissen: Das Kopftuch könne seiner Meinung nach durchaus im Unterricht getragen werden, solange es »eine persönliche Marotte ist« oder auch »Ausdruck einer religiösen Überzeugung«. Im Falle Ludin fände er das »in meinen Augen harmlose Kopftuch« sogar positiv und verstehe es sogar als »pädagogische Chance«. Denn an »diesem Beispiel kann praktische Toleranz eingeübt werden«. Weltweit gehen Musliminnen gegen den Schleier auf die Barrikaden – aber es gibt auch solche, die den Schleier für einen Ausdruck ihrer »muslimischen Identität« und für besonders emanzipiert halten, gerade unter jungen Musliminnen. Nilüfer Göle, türkische Soziologin in Berlin, beklagt, dass diese jungen Frauen vom Fundamentalismus instrumentalisiert werden, »sie sich das aber oft gar nicht klarmachen«. »Kollektiver Selbstmord« ist laut »Spiegel« für die Schriftstellerin Ece Temelkuran der freiwillige Rückzug mancher junger Musliminnen unter den Schleier: »Sie glauben an das Paradies – und werden in der Hölle enden.« Doch während die Nation den Fall Ludin im Ländle der tapferen Ministerin Schavan noch für einen Präzedenzfall hält, sind die Kopftuch-Lehrerinnen in anderen Bundesländern schon längst im Klassenzimmer ge162
landet, allen voran in Bayern (»Wir haben nichts gegen ein Kopftuch«) und in zwei der SPD-regierten Länder: in Hessen und NRW. Die 44-jährige deutsche Konvertitin Ulrike Thoenes kann sich also gratulieren, dass sie in Wuppertal Lehrerin ist. Dort, mitten in Nordrhein-Westfalen, hat die strikte Schleierträgerin es in der Schule Narather Straße sogar schon zur Konrektorin gebracht, gefördert von ihrer katholischen Rektorin. Thoenes ist eine von über 5.000 konvertierten deutschen Frauen, die die »Deutschsprachige Islamische Frauengemeinschaft«, Sitz Köln, gründeten. Wie viele Konvertitinnen glänzen auch die islamischen durch besonderen Eifer. Inzwischen geht es den muslimischen Schülerinnen an den Kragen. Im Gegensatz zu Frankreich ist es nämlich überall an deutschen Schulen selbstverständlich, dass Schülerinnen mit Kopftuch an die Schule kommen dürfen – was sie keineswegs immer freiwillig tun. Mehrere deutsche Gerichte bestätigen klagenden muslimischen Eltern auch das Recht auf »Unterrichtsbefreiung« ihrer Töchter, zum Beispiel vom Sportunterricht. Und auch da scheint es sich keineswegs immer um »persönliche« Wünsche zu handeln. So weiß Cornelia Hein-Behrens, Lehrerin an der Dortmunder Anne-Frank-Gesamtschule, wo jede zweite Schülerin Muslimin ist, zu berichten: »Das Verhalten der Mädchen hat sich in den letzten sechs bis acht Jahren grundlegend geändert, das war ein schleichender Prozeß. Früher haben sie ihr Kopftuch an der Ecke vor der Schule abge163
setzt und nach dem Unterricht wieder aufgesetzt. Heute kommen die Mädchen im vollen Ornat: Kopftuch, langer Mantel und lange Hose. In der Oberstufe wird das noch extremer. Da weigern sich inzwischen manche Mädchen bei der Übergabe des Abiturzeugnisses, einem männlichen Kollegen die Hand zu geben.« Für die Dortmunder Lehrerin ist ganz klar, dass »das ganze System hat«: »Sobald es Probleme in der Schule gibt, laufen die Mädchen grundsätzlich mit Unterstützung auf: Brüder oder Cousins, die blendend Deutsch sprechen und rhetorisch entsprechend geschult sind. Die reden nicht frei Schnauze, die argumentieren sehr gewandt. Oder diese vorgefertigten Schreiben, die anscheinend irgendwelche Hodschas anfertigen – zur Befreiung vom Schwimmunterricht. Das sind ganz offensichtlich Standardvordrucke.« Der Lehrerin fällt auch auf, dass »die ausländischen Kinder kaum mehr Deutsch sprechen – das war mal anders. Der Wunsch, die Sprache zu lernen, der Integrationswille, ist heute nicht mehr so stark. Und der Einfluss der Koranschulen wächst spürbar.« Das kann nur schlimmer werden. Denn jetzt gehen die Islamisten auch noch mit dem »islamischen Religionsunterricht« in die Offensive. Gerade wurde von einem Berliner Gericht die Verantwortung dafür in die Hände der »Islamischen Föderation« gelegt, dessen Leiter in führender Position bei der vom Verfassungsschutz wegen fundamentalistischer Umtriebe überwachten Organisation Milli Görüs in Köln ist. Verfassungsschutzpräsident Peter Frisch (SPD): »Das rückwärts gewandte Islam-Verständnis von Milli Görüs 164
wird zum Beispiel deutlich, wenn sie sich damit brüstet, gerichtlich durchgesetzt zu haben, dass deutsche Lehrer mit Disziplinarstrafen belegt worden sind, weil sie Schülerinnen das Tragen von Kopftüchern in der Schule verboten hatten. Milli Görüs beschäftigt eine eigene Rechtsabteilung, die den getrennten Sportunterricht für Jungen und Mädchen in Deutschland erstreiten will, der unter ›Achtung der mohammedanischen Kleiderordnung‹ durchgeführt wird.‹ Der Widerstand formiert sich: an der Spitze aufgeklärte Türkinnen. Und auch im Fall Ludin beginnen Muslime, offensiv zu werden: »Ich trete für die Rechte der Schülerinnen ein«, erklärte die grüne Bundestagsabgeordnete Ekin Deligöz, eine in Deutschland geborene Türkin. Für sie ist »das Kopftuch eindeutig ein Zeichen der Unterdrückung der Frauen«. Zuerst erschienen in EMMA 1/1999
Der verschleierte Verstand Von Elisabeth Badinter – 1991
Die Debatten, die die sogenannte Schleieraff äre im Herbst 1989 in Frankreich auslöste, erinnerten in ihrer Heftigkeit an die Diskussion um die Abtreibung oder die Todesstrafe. Mehr noch: die Schleieraff äre löste erstmals eine ideologische Teilung der Linken aus, innerhalb von Zeitungen, Universitäten und unter Mitgliedern von Parteien und Gewerkschaften. Sogar die feministische Front hatte Einbrüche zu verzeichnen. Ein Teil der ausländischen Presse berichtete breit darüber, aber oft, ohne wirklich zu verstehen, warum wegen drei junger Mädchen, die im Hijab zur Schule kamen, das gallische Blut so in Wallung geriet. Ich sehe noch den fassungslosen Blick einer jungen dänischen Journalistin, die mich fragte: »Warum machen Sie ein solches Theater um die drei Kopftücher? Hat man in Frankreich nicht das Recht, anzuziehen, was man will?« Um zu verstehen, warum drei Mädchen in Kopftüchern so ein Sprengsatz sind in diesem gemächlichen Land, muss man daran erinnern, dass diese drei armen Unschuldigen, ohne es zu ahnen, an die explosivsten Probleme der französischen Gesellschaft gerührt haben, als da sind: das Hochschnellen des Fundamentalismus, das Ansteigen des Rassismus, sowie die erneute Infragestel167
lung der Gleichheit der Geschlechter und des republikanischen Prinzips der Weltlichkeit. Durch ihre sture Entschlossenheit, sich nicht dem allgemeinen Gesetz zu beugen, zerrten diese drei jungen Mädchen – oder besser: ihre Väter – einen tiefen philosophischen Konflikt ans Licht, der schon seit einiger Zeit unter der Asche schwelte: den zwischen den Differenzialisten und den Universalisten. Anders gesagt: den Konflikt zwischen den Anhängern eines Rechts auf den Unterschied und denen des Rechts auf Gleichheit. Worum ging es damals? Nach den großen Ferien kamen drei junge Marokkanerinnen und Tunesierinnen plötzlich mit islamischem Kopftuch in die Klasse. Der Rektor der staatlichen Schule versuchte, den Mädchen und ihren Vätern – Mütter bekam man nie zu Gesicht – klarzumachen, dass die staatliche Schule in Frankreich weltlich ist und ostentative Zeichen einer Religion (oder der Ungleichheit der Geschlechter) innerhalb der Schule nicht gebilligt werden können – auch wenn außerhalb jeder das tun kann, was er möchte. Reaktion gleich null. Die Väter weigerten sich hartnäckig, sich der Regel zu beugen und erklärten öffentlich, sie würden nicht zurückweichen: Entweder gingen ihre Töchter mit Hijab zur Schule oder sie blieben zu Hause. Nun forderte die rechte Opposition die linke Regierung auf, das Problem zu lösen, das anfing, Aufsehen zu erregen. Der sozialistische Erziehungsminister ergriff in der Nationalversammlung das Wort. Jeder erwartete, er würde an die republikanischen Prinzipien des Laizismus (der Weltlichkeit) erinnern und den von den muselma168
nischen Vätern bedrängten Schuldirektor unterstützen. Doch der Minister tat etwas ganz anderes. Aus »Toleranz mit Minderheiten« und aus Angst vor einer Verhärtung des Fundamentalismus in Frankreich entschied er sich für die verschleierten Mädchen. »Wenn es wirklich nicht möglich ist, sie davon zu überzeugen, ihren Hijab auszuziehen – ja dann werden wir abwarten, ob sie ihn später ausziehen.« Das war der Moment, wo die Polemik losging. Die Schlagzeilen beherrschten zwei Monate lang die Zeitungen, Radios und das Fernsehen. Fünf Philosophen, darunter ich, appellierten feierlich an die Lehrer, die Prinzipien der Weltlichkeit der Schule und der Gleichheit der Geschlechter zu verteidigen! Daraufhin erschienen zahlreiche Manifeste, die uns heftig angriffen und des Rassismus gegen die Araber beschuldigten. Sie waren oft unterzeichnet von unseren ältesten Freunden … Dennoch: Auf den ersten Blick waren wir uns einig in den Zielen und unterschieden uns nur in den Mitteln. Halten wir fest, dass die Mehrheit der Franzosen gegen einen religiösen und für einen weltlichen Staat ist und den steigenden Fundamentalismus, egal welchen, eher befremdlich finden. Und trotzdem haben wir es seit etwa zehn Jahren mit einem rasanten Anstieg diverser religiöser Fundamentalisten zu tun, die sich gegenseitig unterstützen, sobald es nötig ist. Sie bilden die »heilige Allianz der Religionen«, wie es Alain Finkielkraut so treffend gesagt hat. Sie sind katholisch, muselmanisch oder jüdisch. 169
Sie sind es, die mit einer einzigen Stimme »Die letzte Versuchung von Christus« von Martin Scorsese oder »Die satanischen Verse« von Salman Rushdie verurteilen. Oder die begrüßen, dass junge Muselmaninnen den Schleier tragen (der nicht zufällig auch das Zeichen ihrer Unterdrückung unter das Gesetz des Mannes ist!). Auch der große Rabbiner von Frankreich unterstützte den muselmanischen Fundamentalismus und forderte bei der Gelegenheit das Recht für seine Schäfchen, in der Schule die Kippa zu tragen und schulfrei Freitag nachmittags und samstags, um den Sabbat heiligen zu können. Ebenso hielt es das katholische Epikopat, das nie aufgehört hat, den Katechismusunterricht im Rahmen der staatlichen Schulen zu fordern. Ob sie es zugeben oder nicht: die Republik ist in ihren Augen immer noch eine Hure, die sich eigentlich den vier Willen der orthodoxen Religiösen unterzuordnen hat, denn ein Bürger ist allemal weniger wert in den Augen eines Gläubigen. Diese Religiösen verstehen es, zunächst einmal zusammenzuhalten, um ihre Sache voranzutreiben – ohne zu sehen, dass sie letztendlich so auch die Auflösung ihrer eigenen Werte fördern, sowie das Prinzip der Universalität aller Bürger. Sie sehen auch nicht, dass sie sich in einer zweiten Phase untereinander zerreißen werden, um ihren Glauben den jeweils anderen aufzuzwingen. Man sollte glauben, dass die gesamte Linke und auch das republikanische Frankreich das durchschaut. Aber nein, offizielle Stimmen vertraten die Auffassung, dass dieses weltliche Verständnis von der Gesellschaft überholt sei, und dass das heilige Recht auf den Unterschied 170
(ich komme darauf zurück) jedem Menschen erlauben sollte, jederzeit und an jedem Ort seine religiösen Präferenzen auszuleben – ohne Rücksicht auf die für alle geltenden Gesetze. Die Mehrheit der Feministinnen versuchte, ihre linken Freunde davon zu überzeugen, dass das Tragen des Kopftuchs unvereinbar sei mit der in unseren Ländern geltenden Gleichheit der Geschlechter. Diese Gleichheit ist uns heute nicht weniger teuer als klassische Menschenrechte, die ja selbst Teil dieser Menschenrechte sind. Die Frauen argumentierten dabei allerdings nicht mit dem grundsätzlichen Prinzip der Weltlichkeit. Ich hingegen versuchte, den jungen Leuten, die von »Toleranz« sprachen (»Man soll anziehen können, was man will«), zu erklären, dass der Schleier alles andere als nur ein Kleidungsstück sei: Er ist das Symbol der Unterdrückung eines Geschlechts! Eine zerfetzte Jeans anziehen, sich die Haare gelb oder blau färben, das sind Befreiungsakte gegen die geltenden Konventionen. Aber seine Haare unter einem Kopftuch verstecken, das ist ein Akt der Unterwerfung. Er überschattet das ganze Leben einer Frau. Ihr Vater oder ihr Bruder werden ihr ihren Mann aussuchen, der polygam sein, mehrere Frauen heiraten darf. Sie wird ins Haus eingeschlossen werden, verurteilt zur Hausarbeit … Es muss einem klar sein, dass die Frauen nicht zufällig die Hauptzielscheibe der Fundamentalisten sind. Denn sie sind diejenigen, die sich als erste in die französische Demokratie integriert haben. Das ist kein Zufall: Sie profitieren am meisten davon: Schule, Verhütung, Abtrei171
bung … Ist es ein Zufall, dass sich die Fruchtbarkeitsrate der Gastarbeiterinnen, vor allem der arabischen, auch in Frankreich (und Deutschland, Anm. d. Red.) mehr und mehr dem französischen Durchschnitt nähert? Auch bekommen die Emigrantinnen jetzt weniger Kinder und gehen mehr zur Schule, sie wollen teilhaben an dieser Art von Freiheit und der Gleichberechtigung der Geschlechter. Sie sind darum die ersten, die die Fundamentalisten unterwerfen wollen – und genau das ist der Knackpunkt bei der konzertierten Schleieraffäre. Die Tatsache, dass ein linker Minister, der doch eigentlich Feminist sein müsste, klein beigibt bei einer solchen Provokation, ist in meinen Augen ein schrecklicher Verrat an all den muselmanischen Frauen, die sich seit Jahren hart für die Gleichberechtigung der Geschlechter in ihren Ländern schlagen. Unterstützt wurde der Minister dabei von der antirassistischen Vereinigung SOS Racisme. Beide argumentierten: Lasst die Mädchen doch mit Kopftuch in die Schule gehen – in zwei, drei Jahren werden sie es, angesteckt von den anderen, sowieso ausziehen. Mir scheint dieser Kalkül unmoralisch, weil er gegen unsere fundamentalsten Prinzipien verstößt. Und es scheint mir außerdem absurd, dieses Risiko einzugehen. Denn unter dem Druck der Fundamentalisten stieg die Zahl der verschleierten Frauen auch in Frankreich in den letzten Jahren rapide an. Und die Lehrerinnen lassen es hilflos geschehen – aus Angst, sonst für rassistisch gehalten zu werden. Aber wenn die französische Schule das zulässt, entwaffnet sie alle diejenigen, die sich 172
nicht unterwerfen wollen. Denn noch kann ein junges Mädchen, das den Schleier nicht tragen will, ohne Problem Nein zu ihrem Vater sagen, weil sie sich dabei auf das weltliche Gesetz beruft. Ohne öffentliche Regeln aber steht sie ihm allein gegenüber – und verliert. Doch wenn die Schleieraff äre heftige Reaktionen ausgelöst hat, so liegt das auch daran, dass der Schleier das Symbol des muselmanischen Fundamentalismus an sich ist. Dabei haben die einen ein politisches Interesse daran, den Islam mit dem Fundamentalismus gleichzusetzen, um so den immer stärker werdenden Rassismus der Rechtsextremen anzuheizen. Die anderen, darunter auch engagierte Antirassisten, leugnen einfach die Existenz des muslimischen Fundamentalismus in unseren Ländern und beschuldigen alle, die von dem Problem reden, den Rassisten in die Hände zu spielen. Wieder andere, die mit Muslimen zusammenarbeiten, die gegen den Schleier sind, haben versucht, gegen die rassistischen Rechten und gegen die blinden Linken zu kämpfen. Zu ihnen gehöre ich. Wir sind der Meinung, dass man den Rassismus nicht bekämpfen kann, ohne dem Fundamentalismus Einhalt zu gebieten. Es ist schwer, aber der einzig mögliche Weg. Folgen wir ihm nicht, verlieren wir ganz den Boden unter den Füßen. Denn wir sind dann einerseits Komplizen der fundamentalistischen Offensive und aller ihrer furchtbaren Folgen, vor allem für Frauen. Und wir unterstützen andererseits die rassistischen Rechtsextremen, die, um die Angst zu schüren, den ganzen Islam gleichsetzen mit dem Fundamentalismus. Die gefährlichste Antwort auf diese fa173
schistische Demagogie ist das heftige Leugnen der Existenz des Fundamentalismus. In Wahrheit steckt hinter diesem Streit eine tiefe grundsätzliche Meinungsverschiedenheit. In ihr stehen auf der einen Seite die 68er, die Differenzialisten, die Söhne von Michel Foucault und Levi-Strauss. Sie fordern das Recht auf den Unterschied, auf die Differenz. Auf der anderen Seite stehen die Universalisten, die Erben der Aufk lärung und der Französischen Revolution. Für sie kommt eine Aufweichung der weltlichen und republikanischen Prinzipien, die für alle, unabhängig von Religion und Geschlecht, gelten, nicht infrage. Die einen hüten sich vor dem Gesetz, das sie für normativ, konformistisch, ja sogar imperialistisch halten. Die anderen setzen auf dieses Gesetz, weil sie gegen die Ghettos, gegen das Isolieren und gegen das Spalten von Menschen in Geschlechter und Rassen sind (wie es zum Beispiel in Amerika praktiziert wird). Im Namen des Rechts auf den Unterschied, im Namen des Differenzialismus ergriff auch Madame Mitterand Partei für den Schleier in der Schule. Die Franzosen sollten tolerant genug sein, sagte sie, die Sitten der ausländischen Minderheiten zu tolerieren. Dieser gut gemeinten Erklärung widersprachen viele Feministinnen heftig. Wenn alle »Sitten« zu respektieren sind, müssen wir dann auch die Polygamie und die Klitorisbeschneidung in Frankreich einführen? Auf diese Frage antworteten die Differenzialisten nicht. Aber sie hörten auch nicht auf, die Universalisten als »überholt« und »intolerant« zu beschimpfen. 174
Wir Angegriffenen erklären umsonst, dass hier nicht die religiöse Freiheit bedroht ist, sondern die Weltlichkeit der staatlichen Schule, sie soll allen BürgerInnen dieselben republikanischen Werte vermitteln. Es ist gefährlich, religiöse oder politische Minderheiten zu ermutigen, Einfluss auf die Schule zu nehmen. Die staatliche Schule kann in ihren Räumen nicht Mädchen mit den Insignien der Unterdrückung akzeptieren. Man antwortete uns, der Hijab sei nur ein Kleidungsstück von vielen, er habe nichts mit Unterdrückung zu tun. Von aktiven Vertretern der Menschenrechte bekamen wir sogar das ungeheuerliche Argument zu hören: Und wenn die jungen Mädchen ihre Unterwerfung signalisieren wollen, in wessen Namen sollten wir sie daran hindern? Auf feministischer Seite bezog eine Mehrheit gegen den Schleier Stellung. Doch zögernd. Denn seit Mitte der 70er Jahren gibt es in Frankreich eine starke feministische Strömung, die sich für die Philosophie des Unterschieds, für den Differenzialismus, also das Recht auf die Differenz einsetzt. So gibt es unter der Führung von Luce Irigaray zahlreiche Frauen, die gegen die Gleichheit der Geschlechter sind. Sie interessieren sich nicht für das, was den Menschen gemein ist. Im Gegenteil, sie halten das Streben nach Gleichberechtigung für eine bedauerliche Verarmung »der Weiblichkeit« und glauben, dass es den Männern nützlich, also eine List des Patriarchats sei. Diese Differenzialistinnen fürchten in Wahrheit nichts so sehr wie das Ähnliche, das Gleiche, das Universelle. Das ist der Grund, warum sie in der Schleieraffäre nicht 175
wirklich Position bezogen – obwohl ihnen der Schleier als Zeichen der Frauenunterdrückung nicht geheuer ist. Nur die Erbinnen von Simone de Beauvoir protestierten laut, die Universalistinnen und Rationalistinnen, die weiter uneingeschränkt für die Gleichheit der Geschlechter und die aller Menschen sind. Und die Schleieraff äre? Unter dem Druck der Botschaften ihrer Heimatländer legten die Mädchen schließlich den Schleier in der Schule ab. Die wesentlichen Fragen, die dahinter stehen, sind zurückgefallen ins Schweigen. Die Ausländerinnen der zweiten Generation aber sagen immer lauter, wie sehr sie der staatlichen Schule eine Verstärkung ihrer sozialen Position in der Familie verdanken. In dieser Schule haben sie viel über Gleichberechtigung und Menschenrechte gelernt, und sie haben begriffen, dass ihre Eltern ihnen diese Rechte nicht immer freiwillig gewähren. Zuerst erschienen in dem EMMA-Sonderband »Krieg«, 1991
Tage in Algier Von Bettina Flitner – 1991
2. Januar 1991 Es ist 14 Uhr 30. Ich sitze auf dem Genfer Flughafen vor Schalter 24. Destination Algier. Auf dem Monitor blinkt ständig derselbe Satz auf: »Wir werden pünktlich abfliegen«. Das klingt wie eine Beschwörung. Um mich herum Männer, algerische Männer. Der vor mir blättert in einem Aktenordner und tippt dabei auf seinem Taschenrechner. Der neben mir hat sich schon vorhin bei mir, der einzigen Frau, über seine Kopfschmerzen beklagt und sich gerade gequält »Le Monde« über die Augen gelegt. Die beiden dahinter, in Anzug und Krawatte, haben die Arme umeinander gelegt und sind in eine Unterhaltung vertieft. Ich blättere ein letztes Mal meine Zeitungsartikel durch, überfliege die Schlagzeilen: Nieder mit dem Schleier! Frauen gegen den Tschador! Die Fundamentalisten im Vormarsch! Ich denke an die algerischen Grenzbeamten und werfe diskret Artikel für Artikel in den Mülleimer neben mir. Das Buch über die Geschichte des weißen Kolonialismus will ich noch zu Ende lesen. Ich fange erst jetzt an zu begreifen, in welchem Ausmaß Algerien als ein Land von vielen, seit Jahrhunderten ausgeplündert und fremdbestimmt war durch die weißen Herren … 177
Zwei Stunden später bin ich in Algier. Während ich am Zoll warte, sehe ich hinter der Absperrung schon Abida und Djamila, die beiden algerischen Journalistinnen, mit denen ich die nächsten zehn Tage verbringen werde. Obwohl wir uns noch nie zuvor gesehen haben, erkennen wir uns sofort. Djamila hat schwarz gelocktes, halblanges Haar, trägt lange Ohrringe und ein Kostüm, sie arbeitet als Redakteurin bei der algerischen Presseagentur. Abida trägt kurzes braunes Haar und einen Anzug, sie ist Reporterin bei einer großen Tageszeitung. Als wir uns begrüßen, habe ich das Gefühl, sie schon Jahre zu kennen. Wir fahren mit dem Auto durch Algier, die Vier-Millionen-Stadt. Mich befällt ein unwirkliches Gefühl. Der Platz dort, mit seinen Parkbänken und kleinen Bäumen, den abgeschrägten Häuserecken und den großen Fenstern mit schmiedeeisernen Balkonen, das könnte genauso Paris sein. Hier, zusammen mit der Palme und unter der gleißenden Sonne, sieht alles unwirklich aus. Es ist fünf Uhr nachmittags. Die Straßen sind voll. Voll mit Männern. Wie sehr ich mich auch umschaue, es ist fast keine Frau zu sehen. Und die wenigen sind fast alle verschleiert. Sie gehen schnell, haben es eilig, ihr Ziel zu erreichen. Die Männer bummeln oder stehen. Mit einem Bein angewinkelt an der Hausmauer, am Laternenpfahl, halb auf der Straße. Sie haben Zeit. Sie gucken erstaunt in unseren Renault, in dem, ganz ungewöhnlich, drei Frauen sitzen. Die meisten der Männer sind sehr jung. Abida erklärt mir, dass heute drei von vier Algeriern unter 30 Jahren 178
sind und knapp jeder dritte arbeitslos ist. Und da sie oft zu zehnt in einem Zimmer wohnen, sind sie eben lieber auf der Straße. Abida hat Glück. Sie hat, zusammen mit ihrem Mann, eine große Zwei-Zimmer-Wohnung in einem Neubauviertel, das gerade erst fertig geworden zu sein scheint, aber schon lange steht. Die Wege sind nicht asphaltiert. Inzwischen ist es schlagartig Nacht geworden. La nuit tombe, die Nacht fällt, sagen die Algerier, und sie fällt hier wirklich herunter wie ein schwarzes Tuch. Wir tasten uns durch das dunkle Treppenhaus in den dritten Stock. »Es gibt Stromleitungen, es gibt Lampen, alles ist installiert, warum nur funktioniert es nie?«, wettert Djamila. In Abidas Badewanne stehen Eimer mit Wasser. Reserve. Das Wasser wird tagsüber oft abgedreht. 21 Uhr. Wir kochen seit drei Stunden. »Ein gutes CousCous dauert fünf Stunden, damit die Frauen zu Hause auch was zu tun haben«, höhnt Djamila. Zur Feier des Tages hat Abida aus dem Kleiderschrank eine Flasche Rotwein herausgeholt. Wein, Alkohol überhaupt, ist immer schwieriger zu haben. Die FIS möchte ihn eigentlich ganz verbieten. Ich bin jetzt erst seit wenigen Stunden in Algerien, habe aber schon hundert Mal das gleiche Wort gehört: FIS. Die FIS verbietet den Frauen das Rauchen. Die FIS will die Kinos schließen. Die FIS verbietet Tanz, Musik, Literatur. Denn all das ist in den Augen der FIS »haram«, ist schlecht. FIS ist die Abkürzung für: Front islamique du Salut (die islamische Heils-Front). Die FIS ist die Partei der Fundamentalisten, und sie scheint schon jetzt mehr 179
zu sagen zu haben als die Regierung. Die FIS ist, belehren mich die beiden, die Verbündete der iranischen Fundamentalisten. Bei den letzten Kommunalwahlen kassierte die FIS 53 % und zog in fast jeder Stadt ins Rathaus ein. Es klopft an der Wohnungstür. Abida öffnet. Sie wirft einen schnellen Blick zu uns in die Küche, sagt etwas zu dem Mann vor der Tür und lässt ihn warten. Djamila reißt die Weinflasche vom Tisch und versteckt die Gläser hinter dem Kühlschrank. Es ist der Klempner, der nach Feierabend einen Wasserhahn reparieren kommt. »Wenn der gesehen hätte, dass wir hier Wein trinken, hätte es morgen die ganze Nachbarschaft gewusst«, sagt Djamila. Gerade vorgestern hat die FIS ein Lokal in die Luft gesprengt, in dem Alkohol ausgeschenkt worden war. Die Anhänger der FIS sind leicht zu erkennen am Vollbart und langen Gewand, sie werden »les Barbues«, die Bärtigen genannt. Der Klempner trägt westliche Kleidung und keinen Bart. »Trotzdem kann er sympathisieren, man weiß es nicht«, flüstert Djamila. Für den Abend hat Abida Gäste eingeladen. Das ist mutig, denn ihr Mann macht zur Zeit seinen Militärdienst und ist nicht da. Und es gehört sich nicht für eine Algerierin, »alleine« Gäste einzuladen. Die Gäste sind fast alle Journalisten und Journalistinnen in Zeitungen, Radio und Fernsehen. Wieder gibt es nur ein Thema: die FIS. Ein großer Teil des Abends vergeht mit Witzen über die FIS, die ich gar nicht komisch finde, zum Beispiel: »Abas Madani (Chef der FIS) befiehlt: Ihr dürft die Mädchen zwar angucken, aber nicht anfassen, bevor ihr sie 180
geheiratet habt. Also, denkt sich Mohammed, guck’ ich sie nur an. Er steht so auf der Straße und sieht ein Kopftuch nach dem anderen vorbeigehen. Eines Tages heiratet er eine. In der Hochzeitsnacht entdeckt er auf dem Arm seiner Angetrauten ein tätowiertes Herz. ›Vor der FIS war ich Nutte‹ gesteht die Braut.« – Alle biegen sich vor Lachen. Minuten lang. Mich erinnert es an das, was ich über die Funktion des Witzes im Faschismus gelesen habe. Aber die FIS ist doch noch gar nicht an der Macht, denke ich. Nach allem, was ich heute erlebt habe, spüre ich, dass sie es eigentlich doch schon ist.
3. Januar Ich liege lange wach. Eine Geschichte, die ich heute gehört habe, will mir nicht aus dem Kopf. Die Geschichte von Chalida Sennec. Sie ist 30 Jahre alt und seit mehreren Jahren Direktorin des psychologischen Zentrums in Setif, einer kleinen Stadt 300 km östlich von Algier. Bisher hatte sich noch nie jemand über ihre Arbeit beklagt. Dazu bestand wohl auch kein Anlass, sie hatte sogar die Fenstervorhänge für das Zentrum selbst genäht. Doch Ende November, drei Monate nach dem Sieg der FIS in den Kommunalwahlen, geht ein Brief im Bürgermeisteramt ein, der sich über Chalida beschwert. Der Brief, geschrieben von Kollegen, allesamt Erzieher, prangert Chalidas Privatleben an. Sie sei nicht verheiratet, sie lebe allein und führe daher gewiss ein unmoralisches Leben. Sie solle darum entlassen werden! 181
Chalida kann nicht vom Bürgermeister entlassen werden, da das Zentrum (noch) dem Ministerium unterstellt ist. Chalida geht weiter zur Arbeit. Eines Morgens werden dem Chauffeur des Zentrums, der sie zur Arbeit fährt, die Wagenschlüssel weggenommen. Als Chalida trotzdem zur Arbeit kommt, wird sie vor ihrem Büro von den anderen Erziehern zusammengeschlagen. Sie beschwert sich darüber beim Minister. Der aber ist so machtlos, dass er nicht etwa den Erziehern kündigt, sondern Chalida rät, nicht mehr zur Arbeit zu gehen, er werde sich schon um eine neue Stelle für sie kümmern. Sie geht weiter zur Arbeit und wird ein zweites Mal zusammengeschlagen. Jetzt hat sie begriffen. Chalida verlässt aus Angst das Haus nicht mehr, eine Freundin kauft für sie ein. Vor einer Woche hat sie Algerien verlassen.
4. Januar »Alors, mes chères amies, on y va«, sagt Djamila aufmunternd. Es ist Freitag, der islamische Sonntag. Wir sind wieder mal in Djamilas weißem Renault unterwegs. Djamila, ihre Freundin Rachida, Abida und ich. Wir haben Kurs auf Bab-el-Oued genommen, ein Viertel von Algier, bekannt als Hochburg der FIS. Heute spricht in der Moschee Bei Hadj, nach Madani der zweite Kopf der FIS. »Der sagt doch immer das Gleiche«, schimpft Abida, »die Frauen sind an allem schuld. Die Frauen sind ›haram‹. Zieht den Frauen den Schleier über! Das ist 182
eine einzige Hasstirade, die will ich gar nicht hören.« Sie zuckt betont gleichgültig mit den Schultern. Djamila sagt auf der ganzen Fahrt kein Wort. Ich habe die drei dazu überreden müssen, mit mir nach Bab-el-Oued zu fahren. Rachida geht immerzu den Plan X durch. Den hatte sie mir gestern Nachmittag in den Sandstrand von Algier gezeichnet. »Also hier ist die Moschee. Von hier gehen drei kleine Straßen ab. Wir stehen punkt 12 Uhr mit dem Auto hier. Alle tragen Sonnenbrillen. Du springst raus, fotografierst, tschak, tschak. Dann geben wir Gas.« Als wir Bab-el-Oued erreichen, helfen auch die Plan-XWitze nicht mehr, die Stimmung im Auto zu heben. Die Straßen sind schwarz von Bärtigen. Mit dem Auto ist kein Durchkommen mehr. Abida und ich steigen aus. Soweit das Auge reicht nur Männer. Abweisende bis feindselige Blicke. Als wir die Straße überqueren, weichen die Männer zurück. Ich spüre, dass dies aus Abscheu geschieht und bin froh, dass wir den Bürgersteig erreichen, der durch eine blaue Plastikwäscheleine von der Straße abgetrennt ist. Hier dürfen die Frauen gehen. Der Bürgersteig ist ziemlich leer. Vor uns gehen fünf Frauen, in braunen und schwarzen Tschador, zwei haben auch das Gesicht schwarz verhängt. Wir reihen uns hinter ihnen ein. Aber wir kommen nicht weit. Nach wenigen Metern werden wir von den Ordnern der FIS angehalten. Erstens sind wir nicht verschleiert und zweitens darf nicht fotografiert werden. Männliche Kollegen haben wir vorher durch die Absperrung laufen sehen, aber wir werden aufgefordert, die Umgebung der Moschee sofort zu ver183
lassen. Während der FIS-Ordner mit uns spricht, schaut er an uns vorbei. So, als existierten wir gar nicht. Auf unserem hastigen Rückweg bleiben wir einen Moment an einem Spielplatz stehen. Da fliegen auch schon Steine, geworfen von etwa achtjährigen Jungen. »Hijab, Hijab« (Schleier, Schleier), rufen sie. Noch ein paar Mal werden wir auf dem Weg zum Auto angehalten, immer von kleinen Jungen, die uns auffordern, nach Hause zu gehen oder den Schleier zu tragen. Am besten beides. Das Gebet ist zu Ende. Wir kämpfen uns gegen den Strom der Verschleierten und Bärtigen. Hunderte und Hunderte kommen uns entgegen. Abida wird es langsam zu viel. Sie hat sich, in Gedanken, nach Paris abgesetzt: »Da setze ich mich in ein Straßencafe und bestelle mir erst mal ein Bier. Dazu lese ich die Zeitung. Und zünde mir eine Zigarette an. Einfach so.« An uns vorbei geht ein Mann mit einem etwa einjährigen Mädchen auf dem Arm, es ist vollständig verhüllt mit einem schwarzen Tschador. »Und dann gehe ich auf dem Boulevard spazieren und guck mir die Schaufenster an, ganz alleine, und mache, was ich will«, setzt Abida ihren Tagtraum fort. Abida, Tochter algerischer Eltern, ist in Frankreich geboren und dort bis zum Abitur in die Schule gegangen … Endlich haben wir das Auto erreicht. Djamila und Rachida sind sehr erleichtert. Sie wollten schon die Polizei holen. Wir sind alle ganz froh, hier wegzukommen.
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5. Januar Was für eine idiotische Idee! Ich bin eine Frau, ich bin Europäerin, ich bin Fotografin. Und das in Algerien. Ich laufe durch die Straßen von Algier und habe den ganzen Tag nichts als Schwierigkeiten. Wenn ich nur irgendjemanden ansehe, wird dies gleich von 20 herumstehenden Männern beobachtet und kommentiert. Und wenn ich gar irgendwo stehen bleibe, um zu fotografieren, kommen gleich zehn Männer auf mich zu und wollen wissen, was ich da tue. Und diese Frage ist nicht immer freundlich gemeint. Die Algerier sind keine Touristen gewöhnt, und sie sind stolz. Sie wollen sich nicht einfach so fotografieren lassen. Auch nicht, wenn man sie fragt. Zumindest nicht, wenn ich sie frage. Auf der Straße treffe ich einen Kollegen, leicht zu erkennen an seiner Ausrüstung. Er ist erstaunt über meine Probleme. Er bewegt sich hier so frei wie überall. Um fünf Uhr mache ich mich auf den Heimweg. Höchste Zeit. Es wird bereits dunkel, die Nacht fällt, und ich muss zusehen, dass ich nach Hause komme. Der erste Taxifahrer ist ein Bärtiger, er fährt natürlich vorbei. Der zweite hält zwar an, hat aber keine Lust, so weit zu fahren und lässt mich stehen. Kurz nach Einbruch der Dunkelheit habe ich Glück. Der Dritte nimmt mich mit.
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6. Januar Ich bin zum Essen in der Familie von Rachida eingeladen. Sie wohnt etwas außerhalb von Algier in einem Haus mit Garten. Das Haus ist von französischen Kolonisatoren gebaut und vor 20 Jahren verlassen worden. »Vorher durften wir in so etwas Feinem gar nicht wohnen, sondern nur in speziellen arabischen Vierteln.« Rachida ist 35 Jahre alt und wohnt noch zu Hause. Das ist für Algerierinnen nicht ungewöhnlich. Rachida hat zwei Mütter. Ihr Vater hat zweimal geheiratet, die Polygamie ist erlaubt, ein Mann kann bis zu vier Frauen heiraten. Sie hat vier »richtige« und zwei Halbschwestern. Der Vater starb, als Rachida elf Jahre alt war. Die beiden Ehefrauen blieben zusammen wohnen. Rachidas beiden Brüder sind verheiratet und leben woanders. Jetzt ist es ein reines Frauenhaus. Rachida arbeitet als Sprachtherapeutin. Ihre Schwester Najat, 24, ist Erzieherin in einem Kindergarten. Beide sind nicht gläubig und lehnen den Hijab ab, sie tragen westliche Kleidung. Rachidas leibliche Mutter, Zohra, Mitte 50, ist Hausfrau und Mutter von fünf Kindern. Sie trug früher den Haik, den traditionellen weißen Körperschleier und ein weißes Spitzentuch vor Mund und Nase. Heute trägt sie »nur noch« ein Kopftuch. Sie sagt: »Im Koran steht nichts davon, dass man das Gesicht verstecken soll.« Messouda, die zweite Frau ihres Vaters, ist Anfang 40. Sie ist gläubige Muslimin und arbeitet in der Verwaltung einer Bank. »Bis vor kurzem trug ich noch schöne Ko186
stüme und Kleider. Ich sah aus wie Mireille Mathieu«, erzählt sie stolz. Seit einem Jahr trägt Messouda den Hijab. Die Kolleginnen in der Bank haben Druck gemacht. Inzwischen tragen fast alle weiblichen Angestellten in ihrer Bank das Kopftuch. Wir sitzen beim Essen, auf niedrigen Schemeln um eine silberne Tischplatte herum. Im (französischen) Fernsehen erzählt ein Showmaster dem Publikum einen Witz. Seine Assistentin steht im Minirock daneben und kichert. Plötzlich springt Rachida auf, reißt einen Nylonstrumpf, einen Wintermantel und Wollhandschuhe aus dem Schrank und stülpt sich alles bis zur Unkenntlichkeit über. »Wenn die FIS gewinnt, dann sehen die nichts von mir, gar nichts!«, brüllt sie. »Das einzige, was die von mir zu hören kriegen, ist: ›Ja, mir geht es gut, danke, ja schönes Wetter heute, ja das Leben macht mir Spaß, und wie.‹« Wir lachen alle über diesen spontan improvisierten FIS-Witz. Mehrere Minuten lang.
8. Januar Das habe ich mir auch nicht träumen lassen, dass ich mal mit dem Taxi in die Wüste fahre … Rachida hat mich eingeladen, mit ihr, ihrer Mutter und ihrer Schwester Najat nach Djelfa zu fahren. Djelfa liegt 400 km Richtung Süden, im Landesinneren, kurz vor der Sahara. Wie kommen wir dahin? Wir haben kein Auto, in den Süden gibt es keine Eisenbahnschienen und keine Busse. »Na, mit dem Taxi«, erklärt Rachida. Ach so, ja klar, mit dem Taxi. 187
Vor der Abfahrtstelle der Sammeltaxen, in die maximal sieben Personen reinpassen, entspinnt sich eine größere Diskussion zwischen Rachida und ihrer Mutter. Wie könnten wir vier sitzen, ohne dass eine während der langen Fahrt neben einem Mann sitzen muss? Rachida beschließt, ich solle neben den Fahrer (weil ich, in ihren Augen, eh fast wie ein Junge aussehe). Hinter uns steigt ein Mann zu, der dem Fahrer erklärt, dass sein »Haus« auch noch mitkäme. »Das Wort Frau«, erklärt mir Rachida, »wird bei uns inzwischen nicht mehr ausgesprochen. Wenn ein Mann seine Frau vorstellt, dann sagt er: ›Das ist meine Familie‹ oder ›Das ist mein Haus‹.« Später erfahre ich, dass demnächst auch die Passbilder in den Ausweisen abgeschafft werden sollen. »Wir werden«, sagt Rachida deprimiert, »Schritt für Schritt langsam unsichtbar: unterm Schleier, im Haus, ohne Worte, ohne Bilder …« Endlich geht es los, durch die Berge. Ich sehe Kamele, Schafe und sogar Affen im Freien. Mitten auf einer schnurgeraden Straße, rechts und links Felsen, jagen wir durch die Landschaft. Um 12 Uhr sind wir da. Djelfa ist eine sehr arabische Stadt auf einem Hochplateau. Kleine weiße Häuser, Männer mit Turban und Frauen im weißen Körperschleier. Die Sonne ist heiß, und gleichzeitig weht ein eiskalter Wind. Am Abend sind Rachida und ich bei Mohammed eingeladen. Mohammed ist irgendwie mit Rachida verwandt. Das Haus von Mohammed hat zwei Eingänge. Ein stattliches Holzportal für Männer und eine kleine Eisentür für Frauen. Das Männerportal führt, nach ein paar Stu188
fen, zum Männersalon. Wohin die Tür für Frauen führt, sehen wir zunächst nicht. Mohammed bittet uns in den Männersalon, wo bereits einige Männer sitzen. Es sind Freunde von Mohammed, die dort jeden Abend verbringen. Wir werden höflich, aber nicht besonders erfreut begrüßt. Wir stören. Der Fernseher läuft, wie üblich. Wie immer schwappt ganz ungefiltert die westliche Welt herein. Gerade wird ein japanischer Bösewicht von einem amerikanischen Baugerüst gestoßen. Über dem Fernseher ein gerahmtes Foto von Saddam Hussein. Durch die Milchglasscheibe der Eingangstüre sehe ich eine verschwommene Gestalt aus dem Frauentrakt kommen. Sie stellt etwas auf dem Fensterbrett neben der Tür ab und klopft dreimal auf das Fensterbrett. Mohammed reibt sich die Hände, ruft seine Freunde zum Essen und holt das Tablett herein. Es ist das leckerste Cous-Cous, das ich je gegessen habe. Sieben Stunden, schätze ich. Als wir fertig sind, stellt Mohammed das Tablett wieder raus. Sofort, so als hätte sie gewartet, taucht die verschwommene Gestalt wieder auf und holt das Tablett ab. Das Ganze wiederholt sich noch ein paar Mal. Die Orangen, der Kaffee, die Kuchen, alles wird mit dem dreimaligen Klopfen vor der Tür abgestellt. Nach dem Kaffee werden wir zu den Frauen geführt. In dem Raum, der etwa halb so groß ist wie der Salon der Männer und vollgestopft mit Bügelwäsche und Nähzeug, sitzt Mohammeds Mutter auf einem Schemel und guckt vor sich hin. Es kommt die Gestalt von vorhin dazu, Mohammeds kleine Schwester, etwa 16 Jahre alt. 189
Ich versuche, mit der Mutter zu reden. Aussichtslos. Sie sitzt da, wie versteinert. Nach einer Stunde gehen wir wieder hinüber, in die Männerwelt. 9. Januar Wir fahren zu einem berühmten Magier, außerhalb von Djelfa. Er soll seit neun Jahren sein Zimmer nicht mehr verlassen haben. Dafür ist das Zimmer den ganzen Tag über voll mit Frauen, die Rat suchen. Wir müssen draußen warten, zusammen mit all den anderen Frauen, in Tracht mit dem Turban, im weißen Körperschleier, mit Hijab-ähnlichem Kopftuch. Da betritt ein junger Mann den Vorraum. Er hat, auffallend für diese Gegend, ganz westliche Kleidung an und trägt ein kleines Kind auf dem Arm. Keine der Frauen reagiert. Ich schaue genauer hin und entdecke, dass es kein Mann ist, sondern eine Frau. Aicha. Aicha erzählt uns ihre Geschichte. Sie hat sich schon immer so angezogen wie ein Mann. »Weil ich so freier bin.« Dafür ist sie etwa mit 15 Jahren von zu Hause rausgeworfen, auf der Straße aufgegriffen und in ein Erziehungsheim gesteckt worden. Mit 18 wurde sie in eine Familie nach Djelfa geschickt. Hier streunt sie jetzt verloren herum. Später, in Algier, erfahre ich von einer Sozialarbeiterin, dass 80 % der Mädchen im Erziehungsheim so aussehen wie Aicha. Alles garçons manques, verpasste Jungs. Die meisten landen in der Pubertät, mit 14, 15 im Erziehungsheim. Dort leben sie eingeschlossen wie im Gefängnis. – Glück für mich, dass ich nicht hier lebe … 190
10. Januar Ich bin in Tipasa, einem Städtchen etwa anderthalb Autostunden von Algier. Hier wohnt und arbeitet Djamila seit mehreren Jahren. Sie ist verantwortlich für die örtliche Redaktion der Presseagentur. Wir fahren mit dem Auto durch den Ort. Ich möchte gerne zu Fuß laufen. Djamila findet das komisch. Sie zögert: »Die werden blöd gucken, die haben mich noch nie auf der Straße gesehen, immer nur im Auto vorbeifahren.« Die, das sind die Männer, die auch hier, wie überall, auf der Straße stehen. Tatsächlich, sogar die Zeitung um die Ecke holt Djamila mit dem Auto. Der kleine weiße Renault ist ihr Schutzpanzer, den sie immer mit sich herumträgt. Djamila wohnt allein, im 5. Stock eines Hauses mit Aussicht auf die Moschee, von der in dieser Sekunde der Ruf für das Nachmittagsgebet ertönt. Was sie anginge, sagt Djamila, habe sie wirklich Glück. Ihr Muezzin sei ganz freundlich, er würde nie die Frauen vom Turm aus beschimpfen. Die meisten würden ja inzwischen vom Turm herunterrufen, die Frauen seien das größte Übel, aber er, wirklich nett, ein Glücksfall. Trotzdem wacht Djamila seit einiger Zeit immer Schlag fünf auf, gequält von einem schrecklichen Alptraum. Schlag fünf ruft auch der nette Muezzin zum ersten Mal zum Gebet. Auch bei Djamila läuft wie üblich der Fernseher, französischer Sender. Gerade küsst eine französische Urwaldforscherin einen französischen Urwaldforscher. Tipasa wurde, so erzählt mir Djamila, 1989 ein Jahr 191
lang von einer Welle von Erdbeben heimgesucht, manchmal so stark, dass sogar Häuser einstürzten. Die FIS war gleich mit Essen, Decken, und Zelten zur Stelle. Und mit einer einleuchtenden Erklärung für das Unglück: Dies ist – eindeutig! – die Strafe Allahs dafür, dass noch nicht alle Frauen in Tipasa verschleiert sind. Erst wenn sich alle Frauen verschleiern, wird sich auch der Zorn Allahs legen. Der Druck wurde so groß, dass Djamilas Nachbarinnen, »eigentlich gar keine FIS -Anhängerinnen«, in der Hausversammlung beschlossen, dass alle Frauen des Hauses ab sofort den Hijab zu tragen hätten. Das taten auch alle, außer Djamila und ihre Nachbarin. Aber: »Dann, eines Tages, traf ich meine Nachbarin im Treppenhaus.« Djamila guckt mich mit aufgerissenen Augen an, dazu macht sie ihre typische Bewegung mit der Hand: halb als wolle sie unterm Kinn ein Kopftuch festzurren, halb als würde sie erwürgt. »Im Hijab! Da habe ich ihr aber gesagt: Wenn du den nicht sofort wieder ausziehst, rede ich kein Wort mehr mit dir.« Wieso, ich habe doch nur Ohrenschmerzen, hat sie geantwortet – aber nach ein paar Tagen hat sie den Hijab dann wieder ausgezogen. Djamila hat Angst. Zu Recht. Sie gehört zu der Gruppe Menschen, die am häufigsten von der FIS attackiert werden: zu den allein stehenden, berufstätigen Frauen. Die FIS macht allen Ernstes die Frauen für die hohe Arbeitslosigkeit verantwortlich (obwohl die Frauen überhaupt nur vier Prozent der berufstätigen Bevölkerung ausmachen). Allerdings, und das wird die Laune der Männer nicht gerade heben, arbeiten diese wenigen Frauen sehr 192
oft in hochqualifizierten Berufen. 70 % aller Ärzte und Pharmazeuten zum Beispiel sind Frauen. In letzter Zeit häufen sich die Anschläge auf Frauen. Das geht von Drohbriefen, über körperliche Angriffe bis hin zu Mord. Djamila kennt etliche solcher Fälle. Ihr Auto, ihren rollenden Schutzpanzer, für den sie eine Unsumme hingeblättert hat, kettet sie nachts mit einem Lenkradschloss unter ihrem Schlafzimmerfenster fest. »Wenn sie mein Auto anzünden, kann ich nicht mehr raus …«
11. Januar Freitag, 11 Uhr. Abida und ich stehen auf dem Vorplatz der Moschee von Kouba, einem Stadtteil von Algier. Bel Hadj soll sprechen. Die Straße ist wieder einmal voll von Bärtigen, für mich kein so ungewöhnliches Bild mehr. Rechts neben der Moschee ist ein Teil des Vorplatzes mit großen braunen und schwarzen Plastikbahnen zugehängt. »Dahinter sind die Frauen«, erklärt Abida. Vor uns verhandeln vier Männer miteinander, ob wir fotografieren dürfen. Jetzt kommt einer der Männer zu uns herüber. Ja, wir dürfen, aber … Ich müsse den Tschador anziehen. Ich unterdrücke ein Glucksen. Ich und verschleiert … Aber ich habe keine Wahl. Eine FIS-Frau wird gerufen. Hinter dem Plastikvorhang umringen uns Dutzende von Frauen. Eine stülpt mir lächelnd den Tschador über und ruft die anderen. Allgemeines Entzücken macht sich breit: »Das steht Ihnen aber gut! Sie sehen süß aus! Das sollten Sie immer tragen!« 193
Draußen wartet bereits ein FIS-Mann, der uns zu der für uns ausgesuchten Ecke bringt. Die dürfen wir während der nächsten zwei Stunden nicht mehr verlassen. Er steht vor uns und bewacht uns. Abida hält es nur zehn Minuten lang aus, vor Beginn der Rede geht sie schnell weg. Ich bleibe allein. Zwar verstehe ich nicht, was Bel Hadj sagt, aber ich spüre doch, dass er ein geschulter Rhetoriker sein muss. Ruhige Rede, lange Pausen, kurzes Aufpeitschen, dann wieder Ruhe. Das erinnert mich an den Tonfall der Nazi-Reden. Die Männer um mich herum hören alle tief versunken zu. Von mir nimmt nun niemand mehr Notiz. Ich kann ganz ungestört beobachten und fotografieren. Allerdings: In dem Tschador kann ich mich kaum bewegen. Als alles vorbei ist, werde ich wieder zurückeskortiert. Wieder hinter dem Plastikvorhang, frage ich die Frauen, ob sie nicht ein Erinnerungsfoto von mir machen könnten, mit dem Hintergedanken, dass so vielleicht ein paar Frauen im Hintergrund mit draufkommen, denn das Fotografieren von Frauen ist streng verboten. Meine Frage nach einem Foto von mir löst keine große Verwunderung aus. Natürlich will ich von mir in diesem wunderbaren Hijab ein Foto. Es wird gemacht. Kaum bin ich ohne Hijab und Körpergewand wieder auf der Straße, gehen die Aggressionen wieder los. »Bedecke dich«, schreit ein Junge mir zu.
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12. Januar In drei Tagen wird es vielleicht Krieg geben am Golf. Hier sind alle pro Saddam Hussein. In vielen Wohnungen habe ich sein Bild an der Wand hängen gesehen. Er scheint schon jetzt ein halber Heiliger zu sein. Wenn er im Fernsehen auftaucht, heben die Männer begeistert die Faust und rufen: Du bist stark! Du schaffst es! Du verteidigst unsere Ehre. Heute sind Männer vom FIS zu Tausenden Richtung Irak abgeflogen. Sie wollen dabei sein, wenn es losgeht. Sie sind entschlossen, für Saddam Hussein und die heilige Sache zu sterben. Und schon im Oktober/November haben Schiffe mit Tausenden von algerischen Frauen und Kindern Richtung Irak abgelegt.
13. Januar Es regnet. Und wenn es hier regnet, dann regnet es. Ich schleppe meine Fototasche durch die Innenstadt. Sie werden sich ja eh nicht fotografieren lassen, aber versuchen kann ich’s ja. Für den Termin habe ich mir extra einen seriösen dunkelblauen Mantel von Djamila ausgeliehen und gegen meine übliche kurze Jacke ausgetauscht. Gleich neben der zur Moschee umgewandelten Kirche ist das Haus, das ich suche. Ein altes französisches Kolonialhaus mit Fahrstuhl in der Mitte und Conciergerie. Ich gehe zu Fuß in den ersten Stock, wo die »Association 195
des femmes du FIS«, die fundamentalistische Frauenorganisation, residiert. »Klopfen Sie an und sagen Sie: Ich bin’s, die Journalistin«, hatte mich die Chefin der Organisation, Schwester Karim, am Telefon angewiesen. »Ich bin’s, die Journalistin«, rufe ich durch das kreisrunde Loch unterhalb des Türschlosses. Ein Auge überzeugt sich davon. Dann geht die Tür auf. Zwei Schwestern, in Hijab und Körpergewand, begrüßen mich. Sie sind von der gleichen Freundlichkeit wie ihre Kolleginnen am Freitag. Ich ziehe die Schuhe aus und betrete das Zimmer der Chefin. Sie ist um die 50 und sitzt an ihrem Schreibtisch. Ich lasse mir von Schwester Karim von der alltäglichen Arbeit erzählen und staune nicht schlecht über das, was ich da zu hören kriege: Die FIS hat im ganzen Land ein komplettes soziales Netz aufgebaut. Schwester Karim: »Unser Ziel ist es, den Menschen den Islam näher zu bringen. Wir sind in den Schulen, in der Moschee, in den Wohnvierteln. Wir gehen zu den Armen, in die Krankenhäuser, zu Beerdigungen. Wir haben psychologische Beratungsstellen.« Auf meine Frage, ob die FIS sich auch um die Erziehung der kleinen Mädchen kümmert, antwortet mir Schwester Karim sehr freimütig: »Wir gehen in die Familie und bringen für die Kleine erst mal Geschenke mit. Dann fragen wir sie, was sie in der Schule gelernt hat. Wenn wir mit dem Ergebnis nicht zufrieden sind, zitieren wir den Lehrer zu uns. Wenn er gläubiger Moslem ist, wird er dieser Aufforderung nachkommen. Wenn nicht, haben wir zahlreiche andere Möglichkeiten, das Mädchen selbst zu erziehen, in der Moschee oder in den Wohnvierteln. Wir haben 196
in jedem Viertel Appartements gemietet, wo wir Kurse abhalten. Da holen wir nach, was in der Schule oder im Elternhaus versäumt wird.« Und wenn eine geschlagene Frau zu Ihnen kommt? »Wir geben ihr immer Ratschläge, die sich auf den Koran stützen. Wir sagen ihr, sie solle Geduld haben. Allah wird sich schon ihrer annehmen.« Aber bei praktizierenden Moslems gäbe es zwischen Ehepartnern sowieso keine Probleme. Der Mann kenne seine Rechte. »Und sie hat natürlich auch welche.« Sœur Karim lächelt: »Wir haben einfach nie Probleme. Wir sind glücklich. Wir sind im Paradies.« Mir kommt Khalida Messaoudi in den Sinn. Khalida ist Vorsitzende der unabhängigen Frauenorganisation. Sie hatte, als ich sie vor drei Tagen traf, gesagt: »Wenn die FIS die Wahl gewinnt, gehe ich in den bewaffneten Widerstand!« Khalida, die Feministin, hat sich auch Gedanken darüber gemacht, warum der Fundamentalismus so verführerisch ist für viele Frauen: »In unserem Land gibt es zwei Arten von Frauen: die modernen (die meist französisch sprechen) und die traditionellen (die meist arabisch reden). Die traditionellen Frauen hatten bisher fast überhaupt keine Rechte. Jetzt kommen die Fundamentalisten und geben ihnen wichtige Aufgaben und scheinbare Freiheiten. Früher durfte die traditionelle Frau kaum das Haus verlassen. Jetzt darf sie sich als Teil einer Gemeinschaft fühlen und dient einer großen Sache. Sie darf auch arbeiten und studieren. Und dann kommt noch etwas dazu: der Hijab verdeckt die Armut.« Schwester Karim und ihre Mitschwestern sind in der 197
Tat optimistisch. »Wir sind nicht unsichtbar, das sehen Sie doch. Wir laufen auf der Straße, wir gehen beten, wir arbeiten.« Noch. Wenn ich nicht sicher wäre, dass die Moslembrüder die Frauen noch zum Kinderkriegen brauchen, würde ich meinen, dass sie dabei sind, gezielt die physische Ausrottung der Frauen vorzubereiten. Fotografiert werden sie nicht mehr. Das Wort Frau wird nicht mehr ausgesprochen, und eines Tages könnten die Brüder sagen: Frauen, was für Frauen? Die hat’s doch nie gegeben.
14. Januar Der Tag meiner Abreise. Ein letztes Mal sind wir in Djamilas weißem Renault unterwegs. Wir fahren durch Algier. Richtung Flughafen. Erstaunlich, wie erschreckend schnell man sich an alles gewöhnt. Die Straßen voller Männer, die verschleierten Frauen, das alles kommt mir jetzt gar nicht mehr so ungewöhnlich vor. Ich frage Djamila und Abida, was sie tun werden, wenn die FIS bei den bevorstehenden Parlamentswahlen gewinnt. Viele ihrer Freundinnen und Freunde haben schon das Land verlassen und sind ins Exil nach Frankreich gegangen. Djamila, die in Algerien geboren ist und nie woanders gelebt hat, sagt: »Ich habe immer einen Koffer über dem Bett, fertig gepackt, mit allen Papieren drin.« Vor zwei Wochen ist das Gesetz zur »Arabisation« verabschiedet worden. Bis 1995 soll schrittweise die französische Sprache verboten und durch die arabische ersetzt 198
werden. An den Schulen und Universitäten soll nur noch Arabisch gelehrt, in den Zeitungen nur noch Arabisch geschrieben werden. Ab sofort ist die Herstellung und Einführung von Schreibmaschinen und Computern mit nichtarabischen Schriftzeichen verboten. Djamila kann Arabisch verstehen, aber nicht schreiben. Abida versteht und spricht kaum Arabisch. Für die beiden Journalistinnen ist dies eigentlich der Todesstoß – wie für die meisten algerischen Intellektuellen und vor allem die emanzipierten Frauen. Trotzdem sind sie eigenartig lethargisch. Sie wagen gar nicht, zu Ende zu denken … Als ich durch den Zoll gehe, winken wir uns über die Absperrung ein letztes Mal zu. Bei meiner Landung in Genf bin ich erleichtert. Ich hatte es mir selbst nicht zugegeben. Aber in den letzten Tagen hatte ich Angst. Noch weiß ich nicht, dass übermorgen Krieg sein wird. Und dass drei Tage später Algerien alle ausländischen Journalisten ausweisen wird. Begründung: Ihre Sicherheit könne nicht mehr garantiert werden. Ich denke an Abida und Djamila – wie sollen sie bloß weiterleben?
Zuerst erschienen in dem EMMA-Sonderband »Krieg«, 1991
Die Kulturfalle Von Khalida Messaoudi – 1999
Wir Algerierinnen, Marokkanerinnen, Iranerinnen und Sudanesierinnen haben uns zusammengetan, um etwas zu fordern, was im Westen selbstverständlich ist: die Universalität der Menschenrechte, die unabhängig von Geschlecht, Hautfarbe oder Religion für alle gelten. In meinem Land jedoch verbinden die Feinde der Frauen mit dem Begriff Universalität immer auch das Attribut »international«, was für sie gleich »westlich« ist. Auch die Abgeordneten der Vereinten Nationen scheinen in ihrem tiefsten Innern zu glauben, die Unterdrükkung der algerischen Frauen läge in der Kultur unseres Landes begründet – und unter dem Vorwand des »Respekts vor anderen Kulturen« müsse man eben auch die Unterdrückung der Frauen respektieren und akzeptieren. Wir Algerierinnen nennen das »die Kulturfalle«. In diese Falle sind die westlichen Länder voll getappt. Sie glauben, unsere Unterdrückung sei eine kulturelle Frage – und wollen nicht verstehen, dass sie eine rein politische Frage ist. Aus unserer Geschichte und Kultur lässt sich die Unterdrückung der Frauen ebenso wenig ableiten wie aus der der westlichen Länder – auch wenn das so mancher algerische Mann gerne hätte. Jedes Mal, wenn eine algerische Frau aufsteht, um ihre Rechte zu verteidigen, steht ein Mann hinter ihr, 201
der fragt: Was willst du eigentlich, willst du etwa wie die Europäerinnen werden? Unsere Antwort lautet: Wir wollen wie Kahina werden! Kahina war eine algerische Herrscherin im siebten Jahrhundert. Sie hat ihr Land nicht in Angst und Schrecken geführt, wie es die Männer heute tun. Wir wünschten, die Völker des Abendlandes lernten wenigstens unsere Geschichte, bevor sie über uns richten. Wir leiden unter der rassistischen Sichtweise, Universalität sei geographischen Grenzen unterworfen und habe nicht überall Gültigkeit. So habe ich im französischen Fernsehen Prozesse gegen Beschneiderinnen gesehen, die ihren afrikanischen Töchtern und Enkelinnen die Klitoris verstümmeln. Da standen doch tatsächlich weiße Männer, Anwälte und Journalisten, die erklärten, das sei nun einmal ihre Kultur. Doch seit wann sind Verletzungen der Menschenrechte und Verbrechen gegen die Menschlichkeit relativ und eine Frage der Kultur? Natürlich kann es keine Lösung für die Opfer des islamischen Fundamentalismus sein, den Westen zu bitten, die Sache für uns zu regeln. Aber wir brauchen bei unserem Kampf gegen die Unterdrückung der Frauen in den islamischen Ländern die Hilfe und Unterstützung der europäischen Länder. In Algerien hat es in den letzten Jahren Hunderttausende von Toten gegeben, darunter viele Frauen, Journalisten, einfache Leute; und Tausende von vergewaltigten und gefolterten Frauen. In den letzten acht Jahren wurden 2.084 Frauen von islamistischen Gruppen verschleppt, ohne dass irgendein internationales Gremium 202
dagegen protestiert hat. Schlimmer noch: Eine algerische Frau hat auch in Deutschland kein Recht auf politisches Asyl, wenn sie von der GIA, den bewaffneten »Gotteskriegern«, verfolgt wird, denn sie wird ja nicht vom Staat bedroht. Dafür erhalten ihre Verfolger Asyl, denn ihnen droht nach all den Verbrechen in ihrer Heimat ja die Todesstrafe. Damit nicht genug. Selbst Frauen, die in einem etablierten »Gottesstaat« verfolgt werden, verweigert man das politische Asyl; ebenfalls unter dem Vorwand, diese Verfolgung sei kulturell und nicht politisch bedingt. Eines Tages musste ich in »Le Monde« lesen, Taslima Nasrin verdiene ihr Schicksal, denn sie habe es ja geradezu darauf angelegt, indem sie sich in einem Entwicklungsland gegen die Religion gewandt habe. Das alles kann die Welt nicht länger ignorieren. Die Grenzen der internationalen Menschenrechtserklärung müssen angesichts der neuen Totalitarismen und der terroristischen Bewegungen im Iran, in Algerien, im Sudan und Afghanistan dringend erweitert werden. Wir Algerierinnen fordern, dass die Verbrechen an den 2.084 Frauen, die in einem kriegerischen Akt in den letzten Jahren verschleppt und vergewaltigt wurden, als Menschenrechtsverletzungen angesehen werden. Wir fordern, dass auf internationaler Ebene Maßnahmen gegen solche Verbrechen ergriffen werden. Ich bin Algerierin, ich lebe in Algier und bin heute Abgeordnete der Nationalversammlung. Ich bin stolz darauf, von meinen Landsleuten mit dem Wissen gewählt wor203
den zu sein, dass ich Demokratin und nicht religiös bin. Darauf hatte ich meine Kampagne aufgebaut. Doch ich kann zwar gewählt werden, aber ich habe noch nicht einmal die elementarsten Menschenrechte. Denn nach dem herrschenden Gesetz – das nicht von den Fundamentalisten gemacht wurde, sondern von der algerischen Republik – bin ich als Frau eine Unmündige. 1984 verabschiedete das algerische Parlament das neue Familienrecht, den »code de la famille«, den algerische Feministinnen nur »code de l’infamie« nennen. Danach kann ich als algerische Abgeordnete im Parlament zwar die Gesetze mitmachen, im Privatleben aber bin ich eine Minderjährige. Die Polygamie ist gesetzlich erlaubt, und ein Ehemann kann seine Frau noch immer quasi verstoßen. Wollte ich heiraten, dürfte ich das nicht selbst entscheiden, sondern mein 74-jähriger Vater müsste es für mich tun. Gäbe es ihn nicht mehr, entschiede ein Bruder oder Onkel, ja sogar ein Sohn für mich; auch, ob ich ins Ausland reisen darf oder nicht. Wir haben in Algerien dank unserer Geschichte und des gemeinsamen Kampfes von Männern und Frauen gegen die französische Kolonialmacht eine relativ starke Frauenbewegung. Doch auch sie konnte die Entrechtung der Frauen 20 Jahre nach der Befreiung unseres Landes nicht verhindern. 1993 verhängte die GIA ihr Todesurteil über mich. Bis 1998 habe ich fünf Jahre lang jede Nacht meinen Aufenthaltsort gewechselt. Mittlerweile ist es besser geworden, ich ziehe nur noch alle zwei bis drei Monate um. Das ist 204
schlimm. Es ist allerdings einfacher, zum Tode verurteilt zu sein und zu wissen warum, als zu den Tausenden Frauen und Menschen aus dem algerischen Volk zu gehören, die hingerichtet wurden, ohne zu wissen warum. Es gibt nichts Schrecklicheres als die Morde an diesen Mädchen und Frauen, die niemals politisch aktiv waren, niemals öffentlich aufgetreten sind und die einsam und hilflos starben. Meine allererste Rede im Ausland gegen den Terror der islamischen Fundamentalisten habe ich 1992 hier in Deutschland gehalten, auf Einladung von Alice Schwarzer. Damals wusste ich noch gar nicht, wie man eine Rede hält, und nun vertrete ich seit acht Jahren die algerischen Frauen im Ausland. Ich werde darum mein ganzen Leben lang den europäischen Feministinnen dankbar dafür sein, dass sie sich nicht täuschen ließen und gleich verstanden haben, worum es in Algerien wirklich geht. »Was wollt ihr Frauen eigentlich?«, werden wir im Inund Ausland immer wieder gefragt. »Die Fundamentalisten sind doch gewählt worden.« Seit acht Jahren werde ich nicht müde zu erklären, dass auch Hitler damals gewählt wurde und nicht durch einen Staatsstreich an die Macht kam. Der Abbruch der Wahlen nach dem ersten Durchgang 1991 war in der Tat absolut undemokratisch. Die religiösen Fanatiker der FIS aber hatten in Algerien keinesfalls eine überwältigende Wählermehrheit hinter sich wie Hitler damals in Deutschland. Wir haben es mit einer einflußreichen fundamentalistischen Internationalen zu tun, die eine klare Strategie hat. Um die Frauenrechte zu sichern, brauchen auch wir 205
eine demokratische Internationale der Frauen – sonst haben wir keine Chance gegen das Ungeheuer. Nicht nur die algerischen, auch die sudanesischen, iranischen und afghanischen Frauen wissen, wovon ich rede: Sie kennen das Grauen der »Gottesstaaten« nur zu gut. Doch allein, ohne eure Unterstützung, ohne die der Frauenund Menschenrechtler der westlichen Länder, verlieren wir diesen Kampf um Leben und Tod. Übersetzung: Antje Görnig Diese Rede wurde gehalten auf dem Kölner Kongress »Simone de Beauvoir« des FrauenMediaTurm, 1999.
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Tage in Teheran Von Alice Schwarzer – 1979
Die jungen Männer strahlen. Guerilla-Look mit Blumen in den Gewehrläufen – so ziehen sie vorbei: Helden der Revolution, zu Tausenden auf dem Weg zum ersten großen Militäraufmarsch. Die alte Diktatur ist tot, die neuen Herren demonstrieren ihre Macht. Ganz ähnlich muss das ausgesehen haben in Portugal, in Kuba, in Algerien. Sie waren meine erste Begegnung auf dem Weg vom Teheraner Flughafen zum Hotel. Als ich sie sah, musste ich daran denken, dass es noch vor wenigen Wochen Frauen waren, die bei Demonstrationen in den vordersten Reihen gingen. Tief verschleiert. So auch am 8. November 1978, dem berüchtigten »Schwarzen Freitag«, wo allein an diesem Tag 4.000 Schahgegner auf der Straße erschossen wurden, darunter 700 Frauen. Damals waren Menschenrechtsverstöße des prowestlichen Schahs, waren Folter und Benachteiligung kein Thema für weite Teile der westlichen Presse. Nun machen die »armen iranischen Frauen« und ihr »verzweifelter Protest« plötzlich Furore. Der Schleier wurde rasch zum tragischen Symbol: Einst Zeichen des Kampfes gegen die Zwangsverwestlichung, ist er jetzt Zeichen einer neuen Unterwerfung. So kommt es, dass Frauen, die früher aus Protest gegen den Schah den Schlei207
er trugen, jetzt aus Protest gegen den Schleier auf die Straße gehen. Das haben wir in diesen drei Tagen begriffen. Wir: die 18 Frauen des zu diesem Anlass hastig in Paris gegründeten »Komitees zur Verteidigung der Rechte der Frauen«. Eingeladen von niemandem, gekommen aufgrund der Hilferufe einiger iranischer Frauen. Bereits am Flughafen empfing uns eine Gruppe erstaunter Auslandskorrespondenten. Bis zuletzt hatten sie nicht damit gerechnet, dass wir überhaupt ins Land gelassen würden. Plötzlich wurden wir auffallend zuvorkommend behandelt – bis hin zum Empfang bei den politischen und religiösen Führern des Landes, bei Ajatollah Taleghani, Khomeini und dem Ministerpräsidenten Bazargan. Was uns denn die Herren gesagt hätten, wurde ich nach meiner Rückkehr gefragt. Nun, was Herren so sagen. Wobei es zwei Sorten von Patriarchen gibt im Iran: die Hemmungslosen, nämlich die Religiösen, die uns wie Taleghani auf die Frage nach den Rechten der Frau schlicht antworteten: »Das erste Recht der Frau ist das auf einen Ehemann, das zweite das auf die Mutterschaft«; und die Taktischen wie Ministerpräsident Bazargan, der grundsätzlich »selbstverständlich« für die Gleichberechtigung ist, konkret in allem ausweicht und sich ansonsten gern auf den »natürlichen Unterschied« beruft: »Mann und Frau sind komplementär«. Das klingt in Teheran nicht anders als in Bonn. Das Bemerkenswerte an diesen Begegnungen waren weniger die gewechselten Worte, sondern war die Tat208
sache, dass sie überhaupt stattfanden: dass Regierungschefs in bewegten Krisenzeiten 18 Ausländerinnen empfangen, die öffentlich im Ausland verkündet hatten, sie kämen aus Sorge um die Lage der Iranerinnen. Eine Geste, die ohne Zweifel nicht nur der ausländischen Imagepflege, sondern auch der inländischen Beruhigung galt. Denn die neuen Herrscher waren ein wenig voreilig gewesen, hatten gar zu rasch Platz genommen im Herrensattel und den Frauen die Steigbügelhalter-Position zugewiesen. Und sie, die iranischen Frauen selbst? Nur eine Minderheit ist beunruhigt, die Mehrheit vertraut den neuen Machthabern. Das war unübersehbar in diesen drei Tagen, in denen wir zahlreiche Frauen aus verschiedensten politischen Lagern trafen. Da ist Kateh, die Feministin, die schon jetzt Angst hatte, in unser von Khomeini-Garden bewachtes Hotel zu kommen. Wir trafen sie und ihre Freundinnen versteckt, in wechselnden Wohnungen. Diese Frauen sind fast ausnahmslos vor wenigen Wochen oder Monaten aus dem Exil zurückgekommen, ihre Vorstellung von Emanzipation ist importiert. Und dennoch sind auch sie pro Khomeini (»Wir verehren ihn alle sehr«) und halten auch sie die Befreiung der Frau und den islamischen Glauben für vereinbar (»Im Koran steht nichts gegen Frauen«). Da ist die europäisch gekleidete Studentin, der wir auf dem Universitätsgelände begegneten und die uns auf die Frage nach dem Schleier antwortet: »Na und? Wenn’s den Frauen gefällt … Was jetzt zählt, ist die Revolution und sonst nichts.« 209
Da ist die persische Französischlehrerin, zufällig auf der Straße kennen gelernt, deren Mutter schon keinen Schleier mehr getragen hatte und die selbst den Tschador nur bei Protestdemonstrationen gegen den Schah trug. Am 8. März war sie eine der Frauen, die spontan auf die Straße gingen: gegen den Schleierzwang und die neue Einschränkung von Frauenrechten. Nun aber sagt sie zögernd: »Das ist jetzt alles nicht mehr so wichtig. Wir müssen erst unser Land aufbauen.« Da sind die kichernden jungen Mädchen auf der Straße, unter deren knöchellangem schwarzen Tschador gerade noch die Jeans und die bunten Tennisschuhe vor blitzen. Daneben in der Zeitung die Meldung, die Ehefrauen der Minister Bazargans hätten erklärt, sie hätten den Schleier nie getragen und hätten auch in Zukunft nicht die Absicht, es zu tun. Und da sind die tief verschleierten Frauen der gerade gegründeten Islamischen Frauenunion. Auch sie erkämpften den Umsturz, nicht selten mit der Waffe in der Hand. Auch sie hoffen auf volle Gleichberechtigung im politischen und beruflichen Leben. Und dennoch halten sie, ganz nach der offiziellen Männerversion, die Frauenproteste des 8. März für Komplotte der Savak (Geheimdienst des Schahregimes) und der CIA. Und sie alle – egal ob sie jetzt für oder gegen den Schleier kämpfen –, sie alle werden betrogen werden. Sie werden ein weiteres tragisches Exempel liefern dafür, dass Menschen, die nicht für ihre eigenen Rechte kämpfen, vergessen werden. Doch wenn sie es merken, wird es zu spät sein. Denn sie haben sich ihren Protest zu gutgläu210
big wieder ausreden lassen. Und sie haben keine eigene Organisation, ihre Ohnmacht zeigt sich schon jetzt. Bereits Wochen vor dem endgültigen Sturz des Schahs stellten Perserinnen öffentlich die Frage: Was wird danach mit uns Frauen? Die Antwort ließ nicht lange auf sich warten. Vor dem Machtwechsel noch um diplomatische Formulierungen bemüht, verloren die Ajatollahs danach keine Zeit mehr. Ajatollah Schiriat Madari, als »liberal« bekannt, führte den ersten Schlag: Im »Kayhan« erklärte er, in einer islamischen Republik könnten Frauen nicht mehr Richter sein, denn sie seien bekannterweise zu emotional. 24 Stunden später widersprachen zehn Richterinnen in derselben Zeitung energisch. Und wenige Tage danach veröffentlichte die winzige Teheraner Feministinnengruppe eine Anzeige im »Kayhan«. Zum »internationalen Tag der Frau« suchte das frisch gegründete »Komitee zur Organisation des 8. März« Mitstreiterinnen. Kateh: »Wir dachten, das könnte ein Anfang sein.« Reaktion: zirka 40 Briefe, 300 Frauen beim ersten Treffen am 24. Februar und – die ersten Schwierigkeiten. Für eine zweite Versammlung bekamen die Frauen schon keinen Raum mehr. Argument: »Der Koran verbiete den 8. März.« Und schon folgte der nächste Schlag. Aus der »heiligen Stadt« Chom verkündete Khomeini erneut den Schleierzwang, die Aufhebung der Koedukation und die Annullierung des Familiengesetzes. Das hatte unter dem Schah theoretisch die Scheidung möglich gemacht, die Vermögensverhältnisse zwischen den Geschlechtern einigerma211
ßen gerecht geregelt und dem Mann statt vier »nur noch« zwei Frauen zugestanden. Von diesem Tag an sprachen die Ansagerinnen im Fernsehen die Nachrichten verschleiert … Zur Explosion fehlte nur noch ein Funke. Der flog am Morgen des 8. März. Ausgerechnet. Tausenden von weiblichen Bankangestellten wurde an diesem Tag der Zugang zu ihren Arbeitsstellen verweigert: »Geht erst mal nach Hause und zieht euch anständig an, statt so nackt herumzulaufen.« Nackt meint: ohne Schleier. Manche Frauen wurden auch tätlich angegriffen. Eiferer schnitten ihnen die Haare ab. Schon einige Stunden später zogen 20.000 bis 30.000 Frauen durch die Straßen Teherans. Sie skandierten: »Wir sind Iranerinnen und lassen uns nicht länger an die Kette legen!« und »Ohne die Frauenbefreiung ist die Revolution sinnlos gewesen!« und »Wir haben nicht gegen die alte Diktatur gekämpft, um uns einer neuen Diktatur zu beugen!« Die Khomeini-Garden schossen. Allerdings nicht auf die Frauen, wie in der Presse fälschlicherweise behauptet wurde, sondern in die Luft und zum Schutz der Frauen, die von einzelnen Männern angegriffen, geschlagen und an den Haaren gezerrt wurden. Die Antwort: »Wir haben keine Angst!« Dieser erste Protest war noch ganz euphorisch: heiter in der Sicherheit, dass sie, die alten Kampfgefährtinnen, Gehör finden würden. Am nächsten Morgen, Freitag, Sit-in im Universitätsgelände. Trotz Regen trägt keine Frau ein Kopftuch. Am 212
Samstag 50.000 Frauen bei der Demonstration. Viele rauchen, auch Nichtraucherinnen. Protest gegen Ajatollah Khomeinis Ermahnung: »Eine iranische Frau raucht nicht auf der Straße« (vertraute Töne in deutschen Ohren …) Am Montag, dem 12. März, hat der Frauenprotest bereits die Provinzstädte erreicht, bis hin in den Kurdistan. Und siehe da, dieselben Männer, deren Differenzen sich in den ersten Wochen nach der neuen Machtverteilung rasch gezeigt hatten, sie alle, vom Mullah (islamischer Priester) bis zum Fedayin (nichtreligiöse Revolutionäre), waren sich plötzlich einig: »Der Frauenprotest muss aufhören! Er schadet der islamischen Revolution und nutzt nur der Savak und dem CIA.« Und die Frauen? Sie gehorchten. Wieder einmal. Sie, die Kampfgewohnten, waren überzeugt oder eingeschüchtert. Einige auch verzweifelt. So wie die Schülerin, die sich am Morgen des 13. März die Pulsadern aufschnitt. Oder die geschiedene Sekretärin, die auf dem Rückflug neben mir saß und mir über Athen anvertraute: »Ich bin auf der Flucht. Ich gehe nicht zurück. Ich habe Angst.« Nur eine verschwindende Minderheit, ein paar Tausend Frauen vielleicht, begreift die Hoffnungslosigkeit der Lage. Sie lassen sich auch von der taktischen Abwiegelung der vom heftigen Protest überraschten Ajatollah keinen Sand in die Augen streuen: Nicht nur der Schleier sei Zwang, sondern auch »die züchtige Kleidung« – was immer das sein mag. Hunderttausende sind, wie die Französischlehrerin, halb optimistisch, halb resigniert. Die weite Mehrheit 213
der Perserinnen aber ist tief im islamischen Glauben verwurzelt und hat volles Vertrauen zu den neuen Herren. Noch. Sie werden repräsentiert von der Islamischen Frauenunion, mit deren Vertreterinnen wir uns einen Vormittag lang unterhielten. In diesem Kreis gehört den Traditionellen das Wort. Wortführerin ist die Tschador-gewandete Azam Taleghani, Tochter des Ajatollah und Heldin des bewaffneten Widerstandes. Zahrah Hejazi, Tochter Bazargans, die im Gegensatz zu den meisten Iranerinnen in dieser Runde europäisch gekleidet ist und das bunte Kopftuch sichtbar improvisiert umgeschlungen hat, ist auffallend zurückhalten und ergreift das Wort nur zum Übersetzen. Fast alle diese Frauen sind übrigens berufstätig, sind Ärztinnen, Lehrerinnen, Chemikerinnen. Auch das wurde deutlich: bei der Frauenfrage teilen sich die Lager im Iran weniger nach Gebildeten und Analphabeten oder nach Stadt und Land, sondern eher nach westlich Infizierten und im Orientalischen Verhafteten. In so vielem haben sie mir imponiert, diese Frauen der Union, so wie sie vor mir saßen mit ihren würdigen und starken Gesichtern. Sie glauben an die Verwirklichung einer klassenfreien Gesellschaft im Iran, an das Ende von Unterdrückung und Ausbeutung. Sie glauben an ihre maßgebliche gesellschaft liche Beteiligung auch in der Zukunft. Tahez Labaf, Ärztin und Mutter zweier Kinder, beruft sich bei ihrer Definition von der Freiheit des Menschen dreimal auf Jean-Paul Sartre. Gleichzeitig aber verteidigt 214
sie ungebrochen das Recht des Mannes auf Polygamie (Stil: Wenn nach einem Krieg weniger Männer … Oder: Alternde Frauen sind nicht so einsam …) Tahez ist es auch, die uns freundlich die Exekution der ersten Homosexuellen bestätigt. »Homosexualität verstößt gegen den Islam, weil sie gegen die Gesellschaft gerichtet ist: Sie ist nur Begierde und nicht Ausdruck eines Kinderwunsches.« Diese Frauen, die nicht selten in den Kerkern des Schahs gefoltert wurden, erläutern uns detailliert, wie in Zukunft »beim einmaligen Vorkommen« von Homosexualität die Prügelstrafe angewandt wird, und »wenn es zur Gewohnheit wird«, die Todesstrafe. Bei Männern und Frauen. Ganz gleichberechtigt. »Die Unterdrückung des Schah kam für uns Iraner von außen und war so offensichtlich und gewalttätig, dass man sich dagegen wehren konnte. Die religiöse Unterdrückung kommt vom Volke selbst und wird von der Mehrheit der Iraner selbst blindwütig gut geheißen, denn sie fanden nur diese Form der Auflehnung gegen die Schreckenstyrannei.« Das schrieb die Iranerin Anoucha Hodes in der April-EMMA 1979. Wie Recht sie hat. Sie glauben sich so fest auf der Seite der Gerechten, dass sie Unrecht noch nicht einmal mehr erkennen. Und sie haben vom Westen nie Alternativen geboten bekommen. Die scheinbare Liberalisierung unter dem Schah-Regime war nicht mehr als eine Fratze. Wenn der Schah-Vater den Frauen einst durch Soldaten gewaltsam den Tschador vom Körper reißen ließ, so ist das nicht besser als Khomeinis neues Diktat. Wie überhaupt die Arroganz 215
der Christen, die alles Islamische schlicht als »mittelalterlich« abtun wollen, schwer erträglich ist. Farideh Ahmadian von der Frauenunion erzählt mir von ihren Erfahrungen in Frankreich, wo sie zusammen mit ihrem Mann vier Jahre lang gelebt hat. Die tief gläubige 26-Jährige hat auch dort ihren Tschador nicht abgelegt. Zum Hohn und Spott ihrer Umwelt. »In der Mensa haben sie mir sogar einmal Joghurt auf den Kopf gegossen und an meinem Schleier gerissen.« Warum Farideh so daran fest hält? »Weil Allah es so will« – eine Antwort, der wir an irgendeinem Punkt der Gespräche immer wieder und überall begegneten … Farideh: »Und weil ich kein sexuelles Objekt sein will! Ich möchte von den Männern respektiert werden!« Bei Farideh bin ich am nächsten Tag, dem islamischen Neujahrstag, zum Mittagessen eingeladen. Ihr Mann, ein Physiker, ist auf Dienstreise. Sie ist Hausfrau und Mutter zweier Kinder. Ihr einstöckiges lichtes Haus liegt im pvivilegierten Norden der Stadt. Sie muss nicht, wie so viele in diesem Land, zu acht, zwölf Personen in einem 20-Quadratmeter-Raum hausen. Farideh ist sehr heiter an diesem Tag. »Das ist unser erstes islamisches Neujahrsfest! Vor einem Jahr sprach zu dieser Stunde noch der Schah, und mein Bruder war im Gefängnis …« Farideh war eine der Frauen, die am Schwarzen Freitag in der ersten Reihe gingen – im Arm ihre kleine Tochter, und unter dem Tschador ein Küchenmesser. Farideh sagt: »Mein Haus ist ein Paradies« und – ich glaube es ihr. Sie glaubt so tief und ist so unberührt von 216
Zweifeln, dass sie wahrscheinlich ihr Leben in Hingabe und Demut und dennoch auf ihre Weise glücklich verbringen wird. Oder wird sie zu denen gehören, die eines Tages aufwachen, erkennen werden, dass sie betrogen wurden? Und sich dann auf ihre alte Kampftradition besinnen? Farideh glaubt an das Recht von Frauen auf Berufstätigkeit und würde doch nie darauf drängen. Sie sieht auch nicht die ökonomischen Interessen des Irans, der schon jetzt drei Millionen Arbeitslose hat und schon darum versuchen wird, die Frauen ins Haus zu drängen. Das Sagen haben in diesem Land heute weder die Frauen, noch die Arbeiter, noch die Intellektuellen. Das Sagen haben die Baazaris – die kleinen Kaufleute – und die Religiösen. Mullahs besetzen alle strategischen Posten, Mullahs sind auch Vorsitzende der neu gegründeten Arbeiterzellen, in denen übrigens ausschließlich Männer sind, versteht sich. Obwohl es heute zwei Millionen Arbeiterinnen im Iran gibt. Ich verbringe trotz alledem heitere Stunden mit Farideh. An der Tür sagt sie mir zum Abschied dreimal »Allah ist groß« – Allah o Akbar. Und ich weiß, dass auch sie von Allahs Jüngern betrogen werden wird. Denn Farideh und ihre Schwestern waren gut genug, um für die Freiheit zu sterben. Sie werden nicht gut genug sein, in Freiheit zu leben.
Zuerst erschienen in EMMA 5/1979
Der Demon Lover Von Robin Morgan
Es heißt, Frauen seien die Kanarienvögel im Bergwerk der Gesellschaft, also lebende Gefahrenwarnungen. Und es stimmt, dass man eine Kultur am Status ihrer weiblichen Bevölkerung messen kann. Aber Bergleute achten auf die Verfassung und die Reaktionen der Kanarienvögel, sie wissen, dass davon auch ihr Leben abhängt. Aber die Warnungen von Frauen wurden auch nach 35 Jahren Frauenbewegung noch nicht genügend beachtet, denn die meisten Männer verstehen nicht, dass auch ihr Leben davon abhängt. Seit 1995 haben Feministinnen immer wieder lautstark auf extreme Menschenrechtsverletzungen gegenüber Frauen in Afghanistan hingewiesen. Geschlechterapartheid haben wir es genannt, in Wirklichkeit ist es eine »ethnische Säuberung« in neuer Form, eine »Geschlechtersäuberung«. Wenn ein Staat Minoritäten ermordet, nennt man das Genozid; wenn ein Staat einen Teil seiner Bevölkerung ermordet, nennt man das Demozid; wenn ein Staat seine weibliche Bevölkerung ermordet, nennen wir es Femizid. Also haben wir uns bemerkbar gemacht, haben an Türen getrommelt. Postmodernisten haben uns mit modischen Argumenten wie »Kultureller Relativismus« abgespeist. Die USA hat uns ignoriert, weil der Dialog mit 219
den Taliban aus Ölpipeline-Interessen weitergeführt werden musste. Die UN hat Frauen dem geopfert, was sie für wichtiger hielt: einen Deal mit den Taliban über die Beendigung des Schlafmohnanbaus. Die Welt hat sich mehr über die Zerstörung der beiden antiken Buddhas aufgeregt als über die Zerstörung der Frauen. Doch: Wenn sie uns bei Nacht auflauern und ihr nichts tut, werden sie euch am nächsten Morgen auflauern. Ich sitze an meinem Schreibtisch in Lower Manhattan, kaum zwei Kilometer von dort entfernt, wo einst die Twin Towers standen, und schreibe einen Monat nach den verheerenden Selbstmordattentaten von Mohammed Atta und Marwan al-Shehhi auf das World Trade Center in New York und das Pentagon in Washington dieses Vorwort zur Neuauflage von »Demon Lover«, erschienen 1989. Ich wünschte mir, dass dieses Buch überholt wäre, aber dem ist nicht so. 1994 wurde der berüchtigte »Carlos, der Schakal« (Ilich Ramirez Sanchez), nach einer weltweiten Jagd endlich gefasst und zu lebenslanger Haft verurteilt; er folgte damit mehreren bereits im Gefängnis sitzenden Mitgliedern seines »Harems«, seiner vielen Geliebten. Carlos soll für 90 Morde im Namen revolutionärer Ziele verantwortlich sein; alle Gruppen, mit denen er in Verbindung stand, haben seit seiner Verhaftung weitere Gewalttaten begangen. In diesem Jahr verkündete der inzwischen 52jährige Carlos, er wolle seine Anwältin Isabelle CoutantPeyre im La Sante Gefängnis in Paris heiraten; sie bestätigte diese Pläne und sagte, es sei »eine Vereinigung des Herzens und des Geistes«. Und mal etwas Neues. 220
Gewaltakte, begangen von wegen Armut, Unkenntnis und Unterdrückung verzweifelten Männern, erklären nicht die von wohlhabenden, gebildeten und mächtigen Männern begangenen Gewalttaten. Hier spielt sich noch etwas anderes ab. Und dem müssen wir ins Auge blicken: dem Schnittpunkt von Gewalt, Erotik und »Männlichkeit«. Wir müssten diese Definition von »Männlichkeit« verändern, die für Männer toxisch und für Frauen tödlich ist. Der Terrorist – oder, je nach Gesichtspunkt, der Freiheitskämpfer – ist das ultimative Sexidol einer nur auf Männer bezogenen kulturellen Tradition, die aus vorbiblischen Zeiten bis in die Gegenwart reicht: Er ist die logische Erweiterung des patriarchalen Helden/Märtyrers. Er ist der Demon Lover, und die Gesellschaft ist, heimlich oder offen, von ihm fasziniert. Der Demon Lover ist ein Idealist, aber ein Mann der Tat, fanatisch in seiner Hingabe und ein Archetyp der Selbstaufopferung, eine Mischung aus Impulsivität, Reinheit und strenger Disziplin. Er ist verzweifelt und tapfer, gibt sich ganz einer Idee hin. Seine Intensität ist glamourös. Frauen, heißt es, begehren ihn. Männer, heißt es, sehnen sich danach, so wie er zu sein. Er ist sexy, weil er tödlich ist; er erregt durch Angst. Der Demon Lover wird seit Jahrhunderten gefeiert und beschworen. Jetzt befindet er sich wieder unter uns. Während ich dies schreibe, lebt die Bevölkerung der Vereinigten Staaten in ständiger Angst. Flugzeuge. Hohe Gebäude. Anthrax. Auch andere Völkergruppen kennen Angst. Terror ist normal für ganze Völker, die in akuter 221
Armut, unter militärischer, theokratischer oder totalitärer Herrschaft oder als Flüchtlinge und Vertriebene zu überleben versuchen. Aber für die USA ist es eine neue Erfahrung. Die amerikanische Bevölkerung leidet unter dem posttraumatischen Stresssyndrom. Die Menschen schlafen schlecht, haben Albträume, verlieren den Appetit oder haben irrationale Hungergefühle, brechen ohne ersichtlichen Grund in Tränen aus, versinken in Depressionen, scheinen das Leben nicht mehr zu genießen und können – trotz der beruhigenden Kommentare der Regierenden – nicht aufhören, sich zwanghaft mit Gewalt zu beschäftigen. Genau so wird das Verhalten von Vergewaltigungsopfern beschrieben, der Alltag geschlagener Frauen, die Erfahrung missbrauchter Kinder. Weit über 80 Prozent der Terroristen sind Männer; ihr Durchschnittsalter liegt zwischen 22 und 25 Jahren. Weibliche Terroristen sind selten, sie sind fast immer »Alibifrauen« und ausnahmslos beteiligt wegen ihrer Liebe zu einem bestimmten Mann, ihrem persönlichen Demon Lover, der sie mit hineinzieht. In den 60er und 70er Jahren waren es die politischen Revolutionäre. Heute sind es die religiösen Fundamentalisten. Der Fundamentalismus, wo immer man ihm begegnet, ist eine politische Bewegung. Er ist nicht aus dem Nichts entstanden. Die Wahrheit ist, dass es bei organisierten Religionen immer um Macht ging und daher immer um Politik. Das gilt für Muslime wie für Christen. Während der letzten 30 bis 40 Jahre hat sich auch die christliche äußerste Rechte in den USA organisiert und 222
mobilisiert. Schon 1991 prahlte Ralph Reed, ehemaliger Verwaltungsdirektor der »Christian Coalition«: »Ich führe einen Guerillakrieg. Ich male mir das Gesicht an und reise nachts. Keiner weiß, wann es vorbei ist, bis er in einem Leichensack landet.« Die modernen Verführer begreifen, wie schon die Pharaonen, dass das Versprechen auf ein herrliches Leben im Jenseits besonders anziehend ist, wenn die Bedingungen in diesem Leben erbärmlich sind. Also verquickt sich Religion mit Nationalismus, ethnischem Stolz und Rebellion gegen koloniale und neokoloniale Mächte. Sie wird zur Bestätigung kultureller Integrität, zur persönlichen Identität. Aber ob global oder national, die fundamentalistischen Programme aller Religionen sind verräterisch austauschbar. Ein gemeinsamer Refrain ist die Forderung nach hohen Geburtsraten. Ein weiterer ist die Klage über die unersättliche Fleischeslust der Frauen und die Versuchung hilfloser Männer. Für religiöse Extremisten waren Frauen vom Anfang der Geschichte bis heute immer die erste Zielscheibe. Warum? Weil Frauen am politischen, wirtschaftlichen und psychologischen Schnittpunkt grundlegender gesellschaft licher Belange stehen: Sexualität, Reproduktion und Familie. Wenn man die Bevölkerung beherrschen will, muss man den weiblichen Körper beherrschen. Von dort aus geht man zur Beherrschung der Sexualität aller über: Homophobie, Genitalverstümmelung, Zwangsehen, Purdah etc. Aber das chaotische, dynamische, ungeordnete Leben lässt sich letztlich nicht beherrschen. Doch wenn man das 223
Leben nicht beherrschen kann, dann vielleicht wenigstens den Tod? »Es gibt Tausende junger Männer, die sich auf den Tod freuen«, prahlte ein Sprecher von al-Qaida am 10. Oktober 2001. Stimmt, Menschen, die nichts haben, wofür es sich zu leben lohnt, fällt es leicht zu sterben. Der Tod ist dann anziehender als das Leben. Manchmal wird das pragmatisch geregelt, zum Beispiel, wenn Gruppen wie die libanesische Hisbollah und die palästinensische Hamas lebenslang eine Unterstützung für die Familien gestorbener Märtyrer garantieren – junge Männer, die sich, gebildet oder nicht, »unmännlich« gefühlt haben, weil sie ihre Familien nicht ernähren konnten. Und gewöhnlich wird das mit dem Versprechen auf den unmittelbaren Einzug ins Paradies verbunden, wo ganze Harems jungfräulicher Odalisken auf die Helden warten. Immer geht dem jenseitigen Heldentum irdischer Respekt, ja Berühmtheit innerhalb der Gemeinde voraus. Angehende Märtyrer tragen weiße Kleidung, schnallen sich zum Üben Spielzeuggranaten um, verteilen Autogramme an Kinder, die sie als »lebende Märtyrer« verehren, doch sie sind im wahrsten Sinne wandelnde Leichen. Ihre Gesichter werden auf Plakaten abgebildet, kleine Jungs tauschen Märtyrer- und Mullah-Bildchen aus. Sind sie dann tot, wird bei den Begräbnissen ihre Männlichkeit gepriesen. Die Mütter müssen heimlich weinen und vorgeben, sich über den Tod ihrer Söhne zu freuen, solange Ehemänner und Mullahs in der Nähe sind. Auch für Kiramat Ullah, ein Mujaheddin aus Peschawar, ist der Krieg das Höchste: »Wenn der Kampf beginnt und die Kugeln fliegen und wir auf die Feinde schießen 224
und sie schreien und in Schwierigkeiten sind und wenn einige meiner Männer getroffen sind und Märtyrer werden – das ist der Höhepunkt!« Die Ranger, Green Berets und Elite-GIs von Delta Force in Fort Bragg singen während des Kampftrainings ihre traditionelle Hymne: »Halleluja, Halleluja, was für eine glorreiche Art zu sterben!« Und genau so war es auch für den 33-jährigen Mohammed Atta, der der Anführer der Anschläge auf das World Trade Center gewesen sein soll. Er war das jüngste Kind und der einzige Sohn einer ägyptischen Mittelschichtsfamilie und wuchs, wie seine älteren Schwestern, in ständiger Furcht vor dem Vater auf. Mohammed al-Amir Atta sen., ein Anwalt, hat Interviews gegeben, in denen er sich damit brüstet, ein so strikter Zuchtmeister gewesen zu sein, dass seine Kinder »das Haus fast nie verließen, außer um zur Schule zu gehen … Das ist der Grund, warum meine beiden Töchter und mein Sohn akademisch und moralisch herausragend sind.« Aber der Junior war eine Enttäuschung. »Er war so sanft. Ich habe ihm immer wieder gesagt: ›Du musst härter werden, Junge!‹« Der Vater stritt sich mit seiner Frau besonders, wenn es um den »Weichling« von Sohn ging. »Ich habe ihr oft gesagt, sie würde ihn wie ein Mädchen erziehen. Ich sagte ihm, ich wolle das Wort ›Doktor‹ vor seinem Namen hören … deine Schwestern haben einen Doktor und ihre Männer haben einen Doktor und du bist der (vermeintliche) Mann in der Familie.« Der schmächtige Junge wurde schüchtern und introvertiert, wie es bei missbrauchten Kindern oft der Fall 225
ist, und hatte keine Freunde: »Ich habe ihn nie spielen sehen«, erinnert sich ein früherer Klassenkamerad. »Sein Vater verlangte stets, dass er sich in der Schule hervortat.« Das tat Atta, der Perfektionist und akribische Student. Seine einzige Rebellion bestand darin, religiöser als der Rest der Familie zu werden – etwas, das sein Vater kaum kritisieren konnte. Ansonsten befolgte er das Geheiß seines Vaters und wurde Ingenieur. Aber sein Diplom nützte ihm nichts in Ägypten, wo es kaum Arbeit gibt. Und obwohl er seine Mutter und seine Schwestern nur ungern verließ, gehorchte er wieder dem Befehl seines Vaters und ging zum Weiterstudieren nach Deutschland. Nach seiner mit Bravour bestandenen Abschlussprüfung in Stadtplanung an der Hamburger Technischen Universität weigerte er sich, die Hand einer Prüferin zu schütteln, weil sie eine Frau war. Sein ganzes Leben lang war er Mädchen gegenüber sehr schüchtern gewesen, behauptete, er würde wahrscheinlich nie heiraten, weil Frauen »nicht fromm genug« seien. 1996, nachdem er sich mit dem al-Qaida Netzwerk eingelassen und seinen Lebenszweck (und eine Anstellung) als »Djihadi« gefunden hatte, schrieb Atta sein Testament, in dem er ein strikt muslimisches Begräbnis verlangte: »Derjenige, der meinen Körper rund um meine Genitalien wäscht, sollte Handschuhe tragen, damit ich dort nicht berührt werde«. Und: »Frauen sollen weder bei der Beerdigung zugegen sein, noch sich irgendwann später an meinem Grab einfinden.« Nur einmal ließ ihn seine Selbstbeherrschung anscheinend im Stich, zwei Abende vor dem Tag, an dem 226
er, wie er wusste, sterben würde. Da begab er sich mit zwei Kameraden zum »Pink Pony Strip Club« in »Red Eyed Jack’s Sports Bar« in Daytona Beach/Florida. Dort tranken die drei, schworen Amerika ein großes Blutvergießen, spielten Videospiele und gaben jeder an die 300 Dollar für Wodka aus – und für Mädchen, die sich ihnen auf den Schoß setzten. Drei Maximen von Vater Atta wiederholen sich in den nach den Anschlägen bei den persönlichen Sachen seines Sohnes gefundenen Anweisungen für seine Mitverschwörer: »Widersprecht nicht, sondern gehorcht«, »Angst ist der beste Lehrmeister« und »Widmet das Blutbad euren Vätern«. Allein die Existenz von Frauen wird als Bedrohung dieser Art von Männlichkeit empfunden, die darauf mit zwei grundsätzlichen Möglichkeiten reagiert: Die eine ist Ablehnung oder Auslöschung. Als die Taliban die Macht ergriffen, verhüllten sie die Frauen unter der Burka und verkündeten, dass sie die kleinen Jungen in die Madrassas (religiöse Schulen) schicken, »um sie der Einflussnahme von Frauen zu entziehen«. Die andere Reaktion ist Inbesitznahme (Abschottung, Purdah). Hafiz Sadiqulla Hassani, der nach Pakistan ging, nachdem er als Religionspolizist für die Taliban und als Bodyguard von Osama bin Laden gearbeitet hatte, berichtete, dass Soldaten von Mullahs unterschriebene Blanko-Heiratsformulare bekamen und ermutigt wurden, »sich während der Schlacht Frauen zu nehmen«, eine Lizenz zur Vergewaltigung. In beiden Fällen ist sexuelle Besessenheit der Kern dieses Maskulinismus. 227
Wenn ein Mann sich darüber definiert, keine Frau zu sein, dann muss er sich entweder von Frauen fern halten (Reinheit) oder sie versklaven (Beherrschung). Eigentlich aber sind Frauen nur ein Hindernis für die Protagonisten, die in einen leidenschaft lichen Machtkampf zwischen Vater und Sohn verwickelt sind. Osama bin Laden wandte sich triumphierend gegen jeden seiner drei Väter: gegen seinen leiblichen Vater, gegen sein Land und gegen die Vereinigten Staaten, die ihn finanziert und ausgebildet hatten, damit er in Afghanistan gegen die Sowjetunion kämpft. Bin Laden, das jüngste von 52 Kindern eines Vaters, der vier Frauen hatte, ist das einzige Kind seiner Mutter. Al-Kalifa, eine Syrerin, die sich nie vollständig an die strenge Religiosität Saudi-Arabiens anpasste und im Ausland die Burka ablegte und Chanelkostüme trug, lebt Berichten zufolge in Syrien und Frankreich, wo sie sich im amerikanischen Krankenhaus in Paris einer Krebsbehandlung unterzog. Bin Laden entspricht dem Bild des mythischen Helden: das einstmals verwöhnte Prinzchen, das den Luxus für die heilige Sache aufgibt. Bin Laden mit seinem sorgenvollen Blick, der an das wunderliche Bild des Turiner Grabtuchs erinnert, braucht nicht zu brüllen. Er kann sich die leise Stimme, das traurige Lächeln und die fromme Haltung desjenigen erlauben, der begreift, dass er sowohl Symbol als auch König ist. Er kann seine Vorhaben durch Aktienhandel finanzieren, kann mit den neuesten Satellitentelefonen, den besten Verschlüsselungsapparaten und der modernsten Kriegsausrüstung 228
aufwarten, während er gleichzeitig zur Rückkehr zu den guten alten Zeiten des Mittelalters aufruft. Sicher, er ist wütend über den korrupten Despotismus der saudischen Königsfamilie und die Stationierung amerikanischer Truppen in Saudi-Arabien. Aber bin Laden hat selbst gesagt, dass der eigentliche Wendepunkt für ihn der Anblick eines Fotos von zwei Frauen gewesen sei, zwei amerikanischen Soldatinnen, die innerhalb ihres Stützpunktes in kurzärmeligen Hemden bei 40 Grad Wüstenhitze in einem Jeep saßen. Trotz seiner vier Frauen lebt bin Laden in einem männlichen Universum, in dem Frauen nebensächliche, fremde Wesen sind. In einem 1998 gegebenen Interview sagte er ausdrücklich: »Unser Feind ist jeder amerikanische Mann, egal, ob er direkt gegen uns kämpft oder nur Steuern zahlt.« Diese bizarre Ritterlichkeit betrachtet auch die Tausende von Frauen und Kindern, die dabei getötet werden – ob in Amerika, Afghanistan oder sonst wo – als beiläufige Kollateralschäden. Aber das Männlichkeitsthema wird am deutlichsten im Fall von Zacarias Moussaoui, einem angeblichen al-Qaida-Mitglied französisch-marokkanischer Herkunft, der in Minnesota verhaften wurde und dem zahllose Vergehen in den Vereinigten Staaten, Frankreich, Afghanistan, Pakistan, dem Kosovo und Tschetschenien zur Last gelegt werden. Beweise deuten daraufhin, dass er, wäre er nicht verhaftet worden, am 11. September der, zwanzigste Flugzeugentführer hätte sein können. Seine Mutter wurde in ihrer Wohnung in Narbonne interviewt und war entsetzt. Sie hatte nichts mehr von 229
ihm gehört, seit er ihr vor mehr als einem Jahr erklärt hatte, er wolle nichts mit einer Mutter zu tun haben, die ihre täglichen Gebete versäumte und sich weigerte, ein Kopftuch zu tragen. »Wie kann er sich an so etwas beteiligen?«, meinte sie weinend. »All meine Kinder hatten ein eigenes Zimmer. Sie hatten Taschengeld. Sie fuhren in Ferien. Ich könnte es verstehen, wenn er unglücklich oder in Armut aufgewachsen wäre. Aber sie hatten alles.« Im Alter von 14 Jahren in einer arrangierten Ehe mit einem Mann verheiratet, den sie nach eigener Aussage nie geliebt hat, kam sie von Marokko nach Frankreich. Zehn Jahre und vier Kinder später gelang es ihr, sich von ihm scheiden zu lassen. Sie arbeitete als Näherin und Putzfrau, besuchte die Abendschule, wurde Verwaltungsbeamtin und zog mit den Kindern in einen Vorort von Narbonne, weil »ich sie von der Stadt und den Drogen und all den Problemen dort fern halten wollte. Ich wollte nur, dass sie einen Beruf ergreifen.« Ihr jüngerer Sohn Zacarias, der sich in der Oberschule etwas schwer tat, war »ein liebenswerter Junge, hartnäckig« und »voll guten Willens«; später gelang es ihm, mehrere technische Abschlüsse zu machen. Alle vier Kinder, Jungen wie auch Mädchen, waren dazu erzogen, sich an der Hausarbeit zu beteiligen: ihre Betten zu machen, abzuspülen, Staub zu saugen. Die Schwierigkeiten begannen, als eine Cousine zu Besuch kam, ein Mädchen, das den Töchtern islamische Weiblichkeit predigte und Zacarias und seinem Bruder sagte, sie dürften niemals Hausarbeit machen. »Sie sagte, sie würden sich nicht wie Männer benehmen. Sie sagte, muslimische Männer sollten vier 230
Frauen haben. Sie kritisierte mich, weil ich kein Kopftuch trug. Den Jungs gefiel das, was sie hörten.« Die Mutter wiegt sich vor und zurück und weint. Den Jungs gefiel das, was sie hörten. Also wiegen auch wir uns vor und zurück und weinen. Jetzt zittern wir in einem neuen Krieg, einem Krieg, den die eine Seite »heilig« nennt und die andere »gerecht«. Die Eskalation hatte einen langen Vorlauf. Hier ein paar Beispiele von vielen möglichen: • Iran 1979: Farrokhrou Parsa – Ärztin, ehemaliges Parlamentsmitglied und Feministin – wird im Iran wegen »Verbreitung der Prostitution und Widerstreit gegen Gott« angeklagt, verurteilt, in einen Sack gesteckt und mit Maschinengewehrsalven durchsiebt. Bürgerwehr-Mullahs übernehmen es, Frauen zu bestrafen, deren Tschador nicht weit genug ins Gesicht gezogen ist – sie drücken ihn mit Reißzwecken in den Kopf. • Ägypten 1983: Die Autorin Nawal el Sadaawi kommt ins Gefängnis und wird in einer fatwa (religiöses Edikt) zum Tode verurteilt; ihre Bücher kommen auf den Index. • 1989 wird Kim Hyon-hui, genannt die »jungfräuliche Terroristin«, in Korea zum Tode verurteilt, weil sie 1987 mit einer an Bord eines südkoreanischen Flugzeugs geschmuggelten Bombe 115 Menschen getötet hat. In der Presse als »schön« und »bezaubernd« beschrieben, gibt sie die perfekte »Alibiterroristin« ab; in Zeitungsberichten über ihren Prozess ist zu lesen, dass ihre »Schönheit, Bescheidenheit, angebliche Jungfräulichkeit und ihr bedingungsloser Gehorsam auf koreanische Männer anziehend wirkt.« 231
• Januar 1989. Ted Bundy, geständiger Serienmörder von 36 Frauen, wird in Florida hingerichtet. Gut aussehend, redegewandt, mit dem Charme des Jungen von nebenan und einer Vorliebe für Gewaltpornografie, wird Bundy zum Volksheld für viele Männer. Es gibt T-Shirts, die seine Taten preisen, und Songs über seine »Romanzen«. Im selben Jahr zeigen Statistiken die Zunahme von Serienmorden in den USA. • 6. Dezember 1989. »Ich habe es auf die Frauen abgesehen. Ihr seid alle Feministinnen. Ich bin gegen den Feminismus. Darum bin ich hier.« Das sind die letzten Worte, die 14 junge Ingenieurstudentinnen hören, bevor sie sterben, erschossen von einem 22-jährigen Mann, der noch 13 andere – darunter neun Frauen – bei seinem Amoklauf durch die Gänge der Universität von Montreal mit einem halbautomatischen Gewehr verwundet. Als Schlussakt tötet Marc Lepine, Vater Algerier, sich selbst. Er hat das Gewehr legal erworben, weil er nicht vorbestraft war – trotz zahlloser Beschwerden früherer Freundinnen und Nachbarinnen über sein gewalttätiges Verhalten. Er war süchtig nach Zeitschriften wie »Soldier of Fortune«, nach Pornografie, Kriegsfilmen, Waffengeschäften und Kampfanzügen. Der Abschiedsbrief, den man bei seiner Leiche findet, gibt Frauen die Schuld an allem, was in seinem Leben schiefgelaufen ist. Weil Lepine von einer Frau großgezogen wurde, muss sie die Schuldige sein. Weil er aus einer »zerbrochenen« Ehe stammte und geschlagen wurde, schüttelt man den Kopf über den »Untergang der Familie«. Jede mögliche Erklärung wird verbreitet – nur nicht die auf den gesproche232
nen und geschriebenen Worten Lepines selbst basierende. Der Vater, Richid Ghabri, hatte seine Frau und die Kinder jahrelang geschlagen, bis sie sich von ihm scheiden ließ und er nach Algerien zurückkehrte. Monique Lepine nahm ihren Mädchennamen wieder an, zog ihre beiden Kinder als allein stehende Mutter groß und arbeitete hart. Im Scheidungsprotokoll gab sie an, dass Ghabri darauf bestanden hatte, Frauen seien Männern nicht gleichgestellt, sondern dazu geboren, Männern zu dienen. Der Sohn – erst sieben Jahre alt, als der Vater, den er fürchtete, die Familie verließ – hatte seine Lektion bereits gelernt. • 1989. Die palästinensische Intifada, die 1987 in den besetzten Gebieten begann, ist auf dem Siedepunkt angelangt. Als ich in die Flüchtlingslager zurückkehre, die ich zum ersten Mal 1986 besucht hatte, haben sich die trostlosen Verhältnisse vom Unaussprechlichen zum Undenkbaren gewandelt. Die Männer und Jungen sind jetzt vom Märtyrertum besessen. Die Frauen nennen ihren Kampf »die Intifada innerhalb der Intifada, die Frauen-Intifada«, und treffen sich heimlich, um den jetzt verbotenen Lese- und Schreibunterricht fortzusetzen, sich gegen die »Ehrentötungen« zu wehren und mit den israelischen Friedensaktivistinnen zu reden. Palästinensische Feministinnen erzählen mir voller Stolz, dass sie bereits Artikel für die Konstitution ihres zukünftigen Staates entworfen haben, einschließlich der Bestimmungen, dass Frauen unter säkulares Recht fallen, nicht unter religiöses (Scharia). Die Palästinenser waren das säkularste Volk in der arabischen Welt, doch 233
jetzt grassiert der Fundamentalismus. Ironie der Geschichte: Die israelische Besatzungsbehörde hat alle säkularen Zusammenkünfte von mehr als fünf Palästinensern verboten, ist aber stolz darauf, religiöse Freiheit zu gewähren. Jetzt treffen sich Hunderte straflos in den Moscheen (zur Freude von Hamas und anderen fundamentalistischen Gruppen). • 1989. Der amerikanische Footballstar O. J. Simpson wird wegen häuslicher Gewalt und Körperverletzung angezeigt, begangen an seiner Frau Nicole Brown Simpson. Die Polizisten, die ihn verhaften, bitten um sein Autogramm. Die Sache wird für den Star mit dem Besuch von »Wutbewältigungskursen« aus der Welt geschafft. 1994 wird Nicole Brown Simpson tot aufgefunden, zusammen mit Ron Goldman, einem jungen Kellner, der ihr eine Brille zurückbrachte, die sie versehentlich im Restaurant hatte liegen lassen. Nach einem langen, kostenaufwändigen Prozess wird O. J. Simpson 1995 von den Morden an Nicole Brown Simpson und Ron Goldman freigesprochen. • Seit den 80er Jahren macht das »Christian Reconstructionism Movement« Propaganda für die Einführung der Todesstrafe in allen Fällen von Ehebruch und Abtreibung (sowohl der Ärzte als auch der Frauen), Homosexualität und »unverbesserliche Kinder«. Da die Gruppe einräumen muss, dass eine derartige Zunahme von Hinrichtungen für den Steuerzahler zu teuer würde, schlägt CRM vor, die öffentliche Steinigung als billigste, effektivste und von der Bibel gutgeheißene Methode der Todesstrafe wieder einzuführen. Feministinnen, die auf 234
diese Gruppe aufmerksam machen, werden als »Panikmacherinnen« verlacht. • 1990 stellen neue Untersuchungen über die Gewalt gegen Frauen in den Vereinigten Staaten fest, dass alle sechs Minuten eine Vergewaltigung begangen wird und häusliche Gewalt der größte Faktor für weibliche Verletzungen ist. Andere Indikatoren: 55 Prozent aller weiblichen Opfer häuslichen sexuellen Missbrauchs sind Kinder unter elf Jahren; 51 Prozent der Collegestudenten geben an, dass sie vergewaltigen würden, wenn sie straffrei ausgingen; 52 Prozent der wegen Vergewaltigung verurteilten Männer werden innerhalb von drei Jahren wegen desselben Delikts erneut verhaftet. In diesem Jahr werden die Regierungszuschüsse für Frauenhäuser um 35 Prozent gekürzt. • 1990 marschiert der Irak in Kuwait ein; der Golfkrieg beginnt. Die eine Seite ruft nach Flüssen von Blut in der »Mutter aller Schlachten.« Die andere Seite benutzt Football-Metapher und phallozentrische Rhetorik (»ihre zähe Abwehr penetrieren«). Die US-Marine gibt zu, dass sie den Piloten vor dem Einsatz Gewaltpornos zeigt, »damit ihr Adrenalin in Gang kommt«. In Riad missachten 47 Saudi-Araberinnen das Gesetz, das ihnen verbietet, Auto zu fahren; sie werden ins Gefängnis gesteckt, viele verlieren ihren Arbeitsplatz, ihre Reisepapiere, ihr Zuhause. In den USA ergibt eine Harris-Umfrage, dass 48 Prozent der Männer dafür sind, die irakischen Besatzungstruppen in Kuwait anzugreifen, die Frauen sind zu 73 Prozent dagegen. In der Zwischenzeit verlässt ein millionenschwerer saudischer Playboy 235
sein Land aus Protest gegen die Stationierung amerikanischer Truppen. Sein Name ist Osama bin Laden. Um dieselbe Zeit wird ein junger amerikanischer Soldat an den Golf verlegt, wo er seine Fähigkeiten verbessert und »richtig hartgemacht« wird. Sein Name ist Timothy McVeigh. In Oklahoma City geschieht 1995 der bis dahin schlimmste Terroranschlag in der amerikanischen Geschichte. Durch eine Bombe fliegt das Alfred P. Murrah-Verwaltungsgebäude in die Luft. Regierungsbeamte vermuten, dass die Täter muslimische Extremisten sind, bis Timothy McVeigh und seine Mitverschwörer verhaftet werden. McVeigh, ein Golfveteran, war zeitweise Mitglied einer rechtsgerichteten Miliz, ist Anhänger des »Christian Identity Movement«, versäumt keine Waffenausstellung und hat »Schwierigkeiten mit Frauen«. Während seines gesamten Verfahrens, seiner 1997 erfolgten Verurteilung und seiner Hinrichtung im Jahr 2001 bleibt er »stolz darauf, wie ein Mann gehandelt zu haben« und »resolut« zu sein. Den Tod von Frauen und Kindern bei dem Bombenanschlag nennt er einen bedauerlichen »Kollateralschaden«. Das Wort hatte er im Golfk rieg gelernt. • 1991–1993. Mehr als 50.000 Frauen und Mädchen aus demehemaligen Jugoslawien werden vergewaltigt (mehr als 20.000 allein in Bosnien, laut der zurückhaltenden Schätzung der Europäischen Gemeinschaft), und mindestens weitere 100.000 getötet. Obwohl die überwiegende Zahl von Vergewaltigungen und erzwungenen Schwangerschaften von serbischen Männern an bosnischen Musliminnen begangen wurden, vergewaltigen 236
alle Männer der gegnerischen Seiten – Serben, Kroaten und bosnische Muslime – die Frauen »der anderen«. Das ist genau der Punkt: Frauen sind Briefumschläge, um die Botschaft der Eroberung von einer Männergruppe zur anderen zu tragen. Ermittlungen werden später herausfinden, dass die UN-Schutztruppen in Kroatien und Bosnien dort regelmäßig die Bordelle/Todeslager aufgesucht haben. • 1992. Bei der UN-Übergangsverwaltung in Kambodschagehen Proteste über das Verhalten der Soldaten ein. Der UNTAC-Chef Yasushi Akashi reagiert darauf mit der Bemerkung, dass »18-jährige, heißblütige Soldaten« das Recht hätten, zu trinken und »junge, hübsche Geschöpfe des anderen Geschlechts« zu jagen. Im gleichen Jahr gibt es Berichte über Vergewaltigungen durch Soldaten der UN-Friedenstruppe in Somalia. Islamische Fundamentalisten bezeichnen die somalischen Vergewaltigungsopfer als Ehebrecherinnen. Fünf Frauen werden zu Tode gesteinigt. • Februar 1993. Auf das World Trade Center wird ein Bombenanschlag verübt. • März 1993. Dr. David Gunn, ein Abtreibungsarzt, wird beim Betreten einer Klinik in Pensacola, Florida, erschossen. • April 1993. Das FBI greift nach einer 51 Tage dauernden Belagerung das Lager der »Branch Davidian« in Waco/ Texasan, bei der Schießerei werden vier FBI-Agenten und sechs Davidians getötet. Der Untergangsprophet und Führer der Gruppe, einer abgespaltenen Sekte der apokalyptischen »Adventisten des Siebten Tages«, ist
der 33-jährige Vernon Howell – der sich in David Koresh umbenannt hat –, ein kaum des Lesens fähiger, gut aussehender, durchgefallener Möchtegern-Rockgitarrist, der das apokalyptische biblische Buch der Offenbarung auswendig zitieren kann. Nach eigenen Angaben ist er scharf auf Harley Davidsons, Marlboro Zigaretten und Sex mit kleinen Mädchen. Er zeugt Dutzende von Kindern für ein neues Haus Davids und erzählt: »Frauen werden mich anflehen, mit ihnen zu schlafen. Stell dir vor, Jungfrauen ohne Zahl, Mann, so werden wir es machen«. Eine Zeugin berichtet, dass sie zwangsweise mit Koresh »verheiratet« und von ihm als Zehnjährige vergewaltigt wurde. Von allen männlichen Anhängern wird verlangt, dass sie auf Sex verzichten und ihre Frauen und Töchter Koresh übergeben. Unter den 75 Menschen, die umkommen, als Waco in Flammen aufgeht, befinden sich 36 Frauen und Kinder. • August 1993. Randall Terry, Gründer von »Operation Rescue«, weist seine Anhänger an: »Ich will, dass ihr eine Welle der Intoleranz, des Hasses über euch fluten lasst … Wir haben die biblische Pflicht, dieses Land zu erobern.« Im selben Monat wird Dr. Wyne Patterson ermordet, der Besitzer der Klinik, vor der Dr. David Gunn erschossen wurde. • 1994. Die frühesten Berichte aus einem kleinen afrikanischen Land namens Ruanda konzentrieren sich auf eine offenbar organisierte Kampagne von Vergewaltigungsmorden an Tutsifrauen, begangen von jungen Hutumännern, die sich Interahamwe (»unsere heroischen Jungs«) nennen. Der kanadische Kommandeur der klei-
nen UN-Truppe in Ruanda, Lt. Gen. Romeo Dallaire, warnt das Hauptquartier, dass die Situation ernster werden könnte – aber bisher scheinen sie es nur auf Frauen abgesehen zu haben. Also wartet die Welt auf einen Genozid, der ihre Aufmerksamkeit wert ist. • 1994. Islamistische Kleriker schlagen in Bangladesch einen Mann fast tot, weil er sich ihrem Befehl widersetzt hat, Dorffrauen nicht mehr das Lesen beizubringen. Im selben Jahr werden in Algerien zwei 18 und 19 Jahre alte Studentinnen an einer Bushaltestelle erschossen, weil sie unverschleiert sind. Als Vergeltungsmaßnahme und als Reaktion auf die Drohung der Fundamentalisten, weitere unverschleierte Frauen zu erschießen, veröffentlicht eine säkulare Bürgerwehr, die »Freien Jungen Algerier«, ein Traktat, in dem sie schwört, 30 verschleierte Frauen zu ermorden. • Bangladesch 1994: Die Autorin Taslima Nasreen flieht aus ihrem Land unter der Drohung einer fatwa wegen ihrer »erotischen« Schriften. • Algerien 1994: Die 28-jährige Dirouche Mimouna wird wegen »unislamischer Ansichten und Gehorsamsverweigerung« angeklagt und vor ihren fünf Kindern enthauptet. Algerien 1997: Radikale Islamisten hacken bei einem nächtlichen Überfall auf ein Dorf 43 Frauen und Mädchen zu Tode, weil sie sich »weigerten, zu kooperieren«. • 1994. Dr. John Bayard Britton und sein Bodyguard Lt. Col. James Barret werden in der Auffahrt zur Klinik in Pensacola/Florida von selbst ernannten »Lebensrechtlern« erschossen. Im selben Jahr werden in Brookline/ 239
Massachusetts die Angestellten Shannon Lowney und Leanne Nichols am Empfang ihre jeweiligen, nicht weit voneinander entfernt liegenden Kliniken erschossen. • 1995. Frauengruppen stellen fest, dass die saudische islamische Rechtsprechung einen Rekord gebrochen hat: Elf Frauen sind in weniger als drei Jahren öffentlich enthauptet worden. Keine einzige Botschaft soll gegen die Enthauptungen protestiert haben, auch nicht gegen die zunehmenden öffentlichen Auspeitschungen ausländischer Arbeiterinnen im Golfstaat für kleinere Vergehen. • 1995. In Afghanistan (einem Land, dem niemand im Westen viel Aufmerksamkeit gewidmet hat, seit die Russen abgezogen sind) kommt eine neue Gruppe an die Macht. Sie nennt sich Taliban. Im November mobilisieren die Taliban ganze Banden, die Frauen auf dem Weg zur Arbeit bei internationalen Hilfsorganisationen angreifen. Die UN drückt zunächst ihre Besorgnis über dieses »Dilemma« aus, entlässt dann aber die Mitarbeiterinnen. • 1995. Die Aum Shinrikyo (Höchste-Wahrheit-Sekte) setzt Saringas in der Tokyoter U-Bahn frei, worauf zwölf Menschen sterben und fast 5.000 verletzt werden. Die buddhistisch-fundamentalistische Sekte (später in Aleph umbenannt, um ihren Ruf wiederherzustellen) bekennt sich zu dem Anschlag und entschuldigt sich dafür. Sie bietet an, 1,1 Millionen Dollar pro Jahr als »Entschädigung« zu zahlen. Das Geld wird aus dem Vermögen der Sekte kommen, die so erfolgreiche Unternehmen unterhält wie Baufirmen und Verlage, Computerfirmen, die als Zulieferer und Dienstleister von Ja240
pans 100größten Unternehmen fungieren, und eine Kette von Discountläden, die allein 66 Millionen Dollar im Jahr einbringen. Drei Jahre später wird Fumihiro Joyu, der 38-jährige Stellvertreter des Sektenführers, aus dem Gefängnis entlassen. Er beginnt offen, die Organisation wieder aufzubauen. Der gut aussehende und charismatische Joyu ruft eine Rockstar-ähnliche Bewunderung bei Horden von Teenagern hervor, sowohl Mädchen wie Jungen; genannt »Joyu-Jäger«, warten sie darauf, ihn zu sehen und Autogramme zu bekommen. Sein Spitzname ist »Mörderischer Sexy-Guru«. • 1995. Der »Million Man March« bringt Hunderttausende afroamerikanischer Männer nach Washington. Es geht um »die Wiedererlangung von Männlichkeit«. • Während der gesamten 90er Jahre verstärkt sich der Mode-Soldaten-Trend, der in den späten 80ern begonnen hatte: Hosen aus Armeebeständen, Jacken im Militärstil, Tarnanzüge und Kleidungsstücke mit besonders »radikalem Chic« – »Rüstung für den Städter«, kugelsichere Westen, von Rappern »vesting up« genannt. Der Verkauf von Jeeps und Landrovern steigt, obwohl die Käufer sicherlich nicht erwarten, auf der Fahrt zum Supermarkt in Kämpfe verwickelt zu werden. Der »Gangsta Look« ist in. • Während der 90er Jahre nehmen Massaker in Schulen, meist mit Gewehren oder automatischen Waffen, ständig zu. Die fettesten Schlagzeilen erhält die Columbine High School in Colorado: der 17-jährige und der 18-jährige Mörder, 14 Schüler und ein Lehrer tot. Die folgen241
den Schulschützen sind nur noch kleinere Schlagzeilen wert. Ein 17-Jähriger in Tennessee. Ein 16-Jähriger in Mississippi und einer in Alaska. 15-Jährige in Oregon, Georgia, Kalifornien. 14-Jährige in Kentucky, Washington, Arkansas, Pennsylvania, Virginia. 13-Jährige in Oklahoma und Florida. Ein Zwölfjähriger in New Mexico. Ein Elfjähriger und ein 13-Jähriger in Arkansas. Ein Sechsjähriger in Michigan. Diese Schießereien werden als »Kinder, die Kinder töten« beschrieben und beklagt. Aber diese Morde wurden ausschließlich von Jungen begangen, oft absichtlich an kleinen Mädchen und Lehrerinnen. Michael Kimmel, Professor der Soziologie an der SUNY in Stonybrook: »Experten suchen immer noch nach der tieferen Wahrheit hinter den Gewalttaten in der Schule (…) Aber sie übersehen, was direkt vor ihrer Nase liegt: Das sind keine aufgewühlten ›Teenager‹, ›Jugendliche‹ oder ›Kinder‹, es sind Jungen. Männer und Jungen sind für 95 Prozent aller Gewaltverbrechen in diesem Land verantwortlich (…) Solange wir uns nicht mit der tödlichen Gleichung von Männlichkeit und Gewalt auseinander setzen, werden uns die tieferen Wahrheiten über Gewalt in der Schule verborgen bleiben.« • 1996. Die ein Jahrzehnt andauernde Suche nach dem »Unabomber« endet mit der Verhaftung von Ted Kaczynski, durch einen Hinweis seines Bruders nach dem Selbstmord des Vaters. Kaczynski, ein Harvardabgänger mit einem Doktor in Mathematik, veröffentlichte ein Manifest, in dem er Modernität und Technologie anprangert. Er bekennt sich schuldig für 13 Bombenanschläge und Mordversuche und wird 1998 zu vier 242
Mal lebenslänglich verurteilt. Im psychiatrischen Bericht wird er als wahnhaft-paranoider Schizophreniker diagnostiziert, mit einer »fast vollständigen Abwesenheit zwischenmenschlicher Beziehungen«. Es wird festgestellt, dass seine »Unfähigkeit, mit Frauen umzugehen, ihn seit dem 15. Lebensjahr verfolgt, als ihm eine ältere Frau sagte, er sei ein ›hübscher Junge‹.« Doch Kaczynski selbst führt in seinen Tagebüchern seine akuten Depressionen auf zwei einschneidende Ereignisse zurück: Das erste, als er in der Schule zwei Klassen übersprang, sich nicht anpassen konnte und tyrannisiert wurde. Das zweite im Alter von 25 Jahren, als er psychiatrische Hilfe suchte nach »dem Erleben starker, intensiver und ständiger sexueller Erregung bei der Vorstellung, eine Frau zu sein.« Er zog eine Geschlechtsumwandlung in Betracht, schreibt er, wurde aber davon abgehalten durch Gefühle von »Wut, Scham und Demütigung« bei der Vorstellung, eine Frau zu sein. • Sudan 1996: Khartum erlässt ein Gesetz zur »öffentlichen Ordnung«, das bei allen öffentlichen Veranstaltungen eine Geschlechtertrennung durch Barrieren vorschreibt. Gleichzeitig tun sich in Indien und Pakistan fundamentalistische Hindus mit Angriffen, Überfällen und Attentaten auf Nicht-Hindus hervor. Indische Feministinnen glauben, dass dieser Trend mit der Wiedereinführung der sati (Witwenverbrennung) begann – aber die betrifft ja nur Frauen, also wurde dem kaum Aufmerksamkeit geschenkt. • 1997. In einem Zivilverfahren wird O. J. Simpson für schuldig befunden und dazu verurteilt, 33,5 Millionen 243
Dollar Schmerzensgeld an die Hinterbliebenen von Nicole Brown Simpson und Ron Goldman zu zahlen. Er meldet Konkurs an und zahlt keinen Pfennig. Drei Jahre später erhält er das alleinige Sorgerecht für seine und Nicoles beiden Kinder. Nicoles Tagebuch wird veröffentlicht. Darin schreibt sie, sie wüsste, dass ihr Mann sie eines Tages töten – und straffrei ausgehen würde. • 1997. »Agudath Israel of America« sponsert eine Zusammenkunft für 70.000 Männer im Madison Square Garden inNew York. Wie beim afroamerikanischen »Million ManMarch« und bei den christlichen evangelischen »Promise Keepers« sind auch hier nur Männer zugelassen (in diesem Fall männliche Thora-Leser). • 1998. Aufeinander abgestimmte Autobombenanschläge gegen die amerikanischen Botschaften in Nairobi, Kenia, und Dar es Salaam, Tansania, töten 224 Menschen und verwunden Tausende. • Am 18. August 1998 berichtete die »New York Times« von einer neuen Studie über Vietnamveteranen, in der sich herausgestellt hat, dass 20 bis 30 Prozent an posttraumatischen Stresserkrankungen leiden, von denen wiederum die Hälfte nachhaltige psychologische Probleme hat. In dem Artikel wurde auch berichtet, dass weniger als fünf Prozent der Gesamtbevölkerung, aber zwei Drittel aller Prostituierten ebenfalls unter diesen Symptomen leiden. • 1999. Eine irische Regierungskommission berichtet, dass sich von 100.000 Männern zwischen 15 und 24 Jahren 19 das Leben nehmen, eine sehr viel höhere Rate als in anderen europäischen Ländern und offenbar im Stei244
gen begriffen. Seit 1987 hat sich die Anzahl verdoppelt (auf etwa 500 im Jahr); Männer sind verantwortlich für vier von fünf solcher Todesfälle. Psychologen glauben, dass die steigende Selbstmordrate bei jungen Männern an der »Unsicherheit über ihre Rolle« liegt, weil jetzt erstens Frauen gleichgestellter sind, zweitens die politische Gewalt in Nordirland abnimmt und drittens Waffen nicht mehr so leicht zu bekommen sind. • 1999. Mehr als 12.000 Männer füllen eine Basketballarena in Hartford/Connecticut bei einer weiteren Massenversammlung von »The Promise Keepers«. Die evangelisch-christliche Bewegung TPK, zu der nur Männer zugelassen sind, hat einemilitärische Struktur und ein Jahresbudget von 115 MillionenDollar und kann bei ihren Gebetsveranstaltungen mit bis zu 40.000 Männern rechnen. »Promise Keeper« reden über die männliche Verantwortung, aber verbinden die mit der Stärkung männlicher Autorität in der Familie. Sie rufen dazu auf, den Frauen »die Macht abzunehmen«, fordern »Familiengehorsam« und lehnen »Abscheulichkeiten« wie selbstbestimmte Schwangerschaft und Rechte für Lesben und Schwule ab. • 2000. Verärgert über den fortschreitenden Friedensprozess unternimmt der erzkonservative Israeli Ariel Sharon den Versuch, sich noch weiter rechts zu positionieren als sein Likud-Rivale Benjamin Netanyahu. Er besucht einen brisanten Ort, der sowohl den Juden wie auch den Muslimen heilig ist:Israelis nennen ihn den Tempelberg, die Palästinenser Haram al-Sharif. Die Provokation gelingt. Sharons Anwesenheit in der Nähe 245
der al-Aksa-Moschee – begleitet von fast 1.000 israelischen Soldaten und Polizisten – wird als absichtliche Provokation verstanden. Die Friedensgespräche brechen ab. Sharon wird Premierminister. Die zweite Intifada beginnt. • 2000. George W. Bush wird während des Präsidentschaftswahlkampfes gefragt, was er von den Taliban hält. »Ist daseine Rockgruppe oder was?«, fragt er zurück. • In den Jahren von 1991 bis 2001 finden wiederholte Terrorangriffe auf amerikanische Kliniken und medizinisches Personal statt, die Verhütungsmittel ausgeben und Abtreibungenvornehmen, wobei es acht Tote und 33 Schwerverletzte gibt. Zusätzlich haben 20 Brandanschläge und zehn Bombenanschläge stattgefunden, und Kliniken in 23 Bundesstaaten haben Drohungen für Angriffe mit Anthrax und chemischen Waffen bekommen. Im Kielwasser der Anschläge vom 11. September 2001 druckt die »Washington Times« eine Anzeige der »American Life Leage« mit einem Angriff auf »Planned Parenthood«, in der zu lesen ist: »Abtreibung ist die schlimmste Form des Terrors«. Die lange Zündschnur der Männlichkeit, die seit Jahrhunderten glimmt, ist im Zeitalter der Globalisierung zu einer Feuersbrunst von Helden/Märtyrern/Mördern geworden. Doch auch wir Frauen könnten über alle Grenzen dieses kleinen, gefährdeten Planeten hinweg kommunizieren. Auch wir könnten einander unterstützen. Auch wir könnten Veränderungen bewirken. Terrorismus beginnt in den tiefsten Winkeln des menschlichen Herzens, und bis dorthin müssen wir vordringen. Wer 246
hat mehr Chancen zu überleben: Die in den Tod Verliebten? Oder diejenigen, die das Leben lieben? Aktuelles Vorwort zur Neuauflage des Buches »Demon Lover« (1989), November 2001, leicht gekürzt Übersetzung: Susanne Aeckerle
ZU DEN AUTORINNEN
Prof. Elisabeth Badinter ist Schriftstellerin und Philosophin und lehrt an der Pariser Ecole Polytechnique. Ihr zentrales Thema ist die Geschlechtsidentität. Sie gehörte 1989 zur Minderheit der Intellektuellen, die gegen das Kopftuch an der säkularen Schule protestierte. Johannes von Dohnanyi, 49, ist seit 1985 Auslandskorrespondent der Schweizer »Weltwoche«, zuletzt in Asien, am Balkan und in Brüssel. Über die Gefahr des islamischen Fundamentalismus berichtete er erstmals 1990. Cornelia Filter, 47, ist freie Autorin und Ex-EMMA-Redakteurin. Sie berichtet seit 1990 über den islamischen Fundamentalismus. 2000 erhielt die Katholikin für einen Beitrag über den christlichen Fundamentalismus, »Die Vatikan-Connection«, den Journalistinnenpreis. Bettina Flitner, 40, ist Fotografin und Filmerin. Das Tagebuch entstand während ihrer Foto-Reportage im Januar 1991 in Algerien. – Von B. Flitner ist auch das Titelfoto dieses Buches. Rachida, die in der Wüste unter dem Hijab mit der Dornenkrone verborgene algerische Lehrerin, musste zwei Jahre später ins Exil fliehen. Prof. Wilhelm Heitmeyer, 56, ist Leiter des »Instituts für interdisziplinäre Konflikt- und Gewaltforschung« an der Universität Bielefeld. Veröffentlichungen zum The249
ma u. a. »Verlockender Fundamentalismus«, 1997 und »Politisierte Religion« 1998 (beide Suhrkamp). – Eberhard Seidel ist Leiter des Inlandressorts der »taz«. Er veröffentlichte u. a. »Politik im Namen Allahs«. Wolfgang Günter Lerch, 54, ist seit 1978 politischer Redakteur der »FAZ«, zuständig für den Nahen Osten und die islamische Welt. Über die Gefahr des islamischen Fundamentalismus berichtete er erstmals 1979. Khalida Messaoudi ist Mathematikerin, Menschenrechtlerin und neuerdings auch Abgeordnete. Sie ist eine der Galionsfiguren des algerischen Widerstandes gegen die Islamisten und wurde von der »Islamischen Heilsfront« am 12. Juni 1993 durch eine Fatwa zum Tode verurteilt. Robin Morgan, 60, ist Autorin und feministische Aktivistin. Die New Yorkerin veröffentlichte u. a. 1989 den Essay »The Demon Lover: Roots of Terrorism«. 1970 gab sie den Sammelband »Sisterhood is powerful« heraus und 1984 »Sisterhood is global«. Alice Schwarzer, 59, schreibt seit 1979 über den islamischen Fundamentalismus. Als EMMA-Herausgeberin verantwortet sie eine kontinuierliche Berichterstattung über 22 Jahre zum Islamismus, seiner Rolle in Deutschland und die internationale Vernetzung. Prof. Bassam Tibi, 57, wurde in Damaskus geboren, lehrt seit 1973 in Göttingen Internationale Politik und seit 1988 auch in Harvard. Er ist Mitbegründer der »Arabischen Organisation für Menschenrechte«. Seit 1990 250
zahlreiche Artikel und Bücher zum Islam, zuletzt »Kreuzzug und Djihad« (TB Goldmann). Gabriele Venzky, 59, ist seit 20 Jahren Asienkorrespondentin für die »ZEIT« und diverse deutsche Tageszeitungen. Über die Gefahr des islamischen Fundamentalismus berichtet sie seit Anfang der 80er Jahre.