Der weite Weg ins Ungewisse. Die Deportation der Deutschen aus Rumänien in die Sowjetunion [1 ed.] 9786065371309, 9783000488818 [PDF]


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Table of contents :
Vorwort / 3
Bildteil / 6
1. Erinnerungen an die Deportation
Lavinia Betea, Cristina Diac, Florin-Răzvan Mihai, Ilarion Ţiu / 13
2. In Reschitza, ein Hindernis im Wege des Vergessens…, Erwin Josef Ţigla / 32
3. Ein Ereignis aus vier Sichtweisen
Reschitz - Zusammenfassung der Erinnerungen, Lavinia Betea / 35
Vom Nazi-Hakenkreuz zum kommunistischen Bekenntnis, Anton Ferenschütz (D) / 38
Die Therapie des Vergessens, Maria Ferenschütz (Deutschland) / 56
Die Bücher der Deportation, Voichiţa Ferenschütz (Deutschland) / 57
Deportation, eine Geschichte ausgegraben nach 1990, Ştefan Raicu (Rumänien) / 57
4. Das Gedächtnis der Deportierten
Dort habe ich meine erste Predigt gehalten, Ignaz Bernhard Fischer / 59
Der Fall Maria Aşembrener, Alexandra Şandru / 62
Für unsere Sünden haben sie uns weggebracht..., Rozalia Buttinger (Rumänien) / 71
Ich wurde in der Sowjetunion geboren und kenne meinen Vater nicht, Ana Szucs (R) / 74
Ich war zwanzig Jahre alt und wusste nicht, wo ich hin komme, Elena Becker (R) / 75
Wir lebten den ganzen Winter in einem Wagon und waren voll
mit Kopfläusen, Maria Frombach (Rumänien) / 77
Ich wurde krank und sie haben mich nach Hause geschickt, Rita Peter (Rumänien) / 78
Ich habe mich für einen Verbleib von zwei Wochen vorbereitet und bin fast
fünf Jahre weggewesen, Ana Zgardea, geborene Feil (Rumänien) / 79
Dort habe ich gelebt und meine große Liebe verloren, Rozalia Bruner (Rumänien) / 82
Ich habe meinen Koffer mit Kleidern dem Arzt gegeben,
damit er mich herzkrank schreibt Ana Mikowz (Rumänien) / 83
Das menschliche Schicksal ist in Gottes Hand, Gabriela Heiveis (Rumänien) / 84
Ein Cousin ist dort gestorben, Alois Weil (Rumänien) / 85
Ich hatte weder Uhr noch Kalender, Magdalena Maria Geier (România) / 87
Die Hunde haben unsere, im hart gefrorenen Boden schlecht begrabenen Toten
angefressen, Rounald Wiest (Rumänien) / 88
Nicht viele mussten das durchleben, was ich erlebt hab, Ianos Krcsmar (Rumänien) / 91
Was habe ich in Rumänien Böses getan, dass man mich aus meinem Land
vertreiben musste?, Ecaterina Coman, geb. Klein (Rumänien) / 96
Sie starben an schlechtem Tabak, Blut im Stuhl und
Schwermut, Victoria Szitka, geb. Netzer (Rumänien) / 105
Mich haben die Rumänen geholt, Elisabeth Hoch, geborene Loris (Deutschland) / 109
Mehr Geld bekam man für Kleidung als für Ohrgehänge, Ana Bauer, geb. Graf (D) / 112
Die Beziehungen zu den Russen waren Glückssache, Barbara Klug (Deutschland) / 114
Fünf Jahre im Donezbecken, Matilda Jica, geb. (Rumänien) / 115
Zurück in die Heimat mit dem ersten Krankentransport, Ana Lungu, geb. Kungl (R) / 125
Wir mussten vom ersten Tag an arbeiten, Anna Leinhardt (Deutschland) / 131
Eine ungewöhnliche Heimkehr, Elisabeth Maltry, geb. Glassmann (Deutschland) / 133
Der Fluch des Volkskommissars: „Er soll hier sterben!”, Johann Noll (Deutschland) / 137
In einer Mine, 320 m tief, Katharina Gillich, geborene Seidl (Deutschland) / 142
Mein Glück war es, dass ich schnell ihre Sprache lernte, Nikolaus Barthold (D) / 146
Ich wurde in ein Straflager gebracht, weil ich Weihnachtslieder
gesungen hatte, Hans Bohn (Deutschland) / 149
Ich kam ins Krankenhaus, nachdem ich in der Kohlengrube mit einem Pferd
zusammengestoßen bin, Franz Engel (Deutschland) / 154
Im Lager fraßen uns die Läuse und die Wanzen fast auf, Mihai Butto (Deutschland) / 160
Während des Transports ist mein Bein erfroren, das mir dann mein ganzes
Leben lang Kummer bereitet hat, Elisabeta Rudolf (Deutschland) / 163
Ein Leben lang von Menschen in Uniform terrorisiert, Anna Frombach (Deutschland) / 165
Im Lager, in dem sie uns untergebracht hatten, glänzte Eis von
den Wänden, Ana Marina (Rumänien) / 165
Wir hatten Angst, die Wölfe kommen und holen die Leichen, Adela Supercean (R) / 166
5. Die Erinnerungen der Söhne
Die Kinder aus dem Ural: geboren im Lager von
Swerdlowsk, Elfrida Chvoika, geborene Ruttar (Rumänien) / 168
Die Eltern sind in die Deportation gegangen und haben zwei Kinder
zu Hause gelassen…, Johann Metzger (Deutschland) / 173
Meine Mutter hat meinen Vater in der Deportation kennengelernt und
ich bin die Frucht ihrer Liebe…, Stefan Mlynarzek (Deutschland) / 175
Meine Eltern haben sich während der Verschleppung
kennengelernt…, Martin Seifer (Rumänien) / 177
Ich war in der Schule, als der Briefträger mir die Nachricht gab,
dass Mutter zurückkommt, Georg Safenauer (Deutschland) / 179
6. Die Erinnerungen der Nachfahren
Brotkrümel, Emanuella-Luisa Schneider Kevelaer (Deutschland) / 181
So oder so wird meine Schwester nicht mehr
aufwachen…, Juliane Becker, geb. Weber (Deutschland) / 184
Das Vertrauen in den rumänischen Staat wurde durch diese
Repressionsmaßnahme erschüttert, Walter Tonţa (Deutschland) / 186
Die ehemaligen Deportierten nannten meine Oma
„Engel von Schimand” / Karin Reinert (Deutschland) / 187
Als meine Großmutter von der Deportation zurückkam,
ging es ihr noch schlechter, Erika Renz (Deutschland) / 191
Die Deutschen aus dem serbischen Banat waren bis 1959 in Sibirien,
Mansfeld Rüdiger (Deutschland) / 192
7. Das Gedächtnis der Interviewer
Lebendes Beispiel, Paula Vesa (Rumänien) / 193
Erinnerungen, Gefühle und Resignation, Andrada Bejan (Rumänien) / 194
Menschen, die die Geschichte weitererzählen, Anamaria Merce (Rumänien) / 194
8. Das Gedächtnis der Dokumente
Leitfaden des Interviews - Anlage 1 / 195
Memorandum - Anlage 2 / 195
Denkschrift - Anlage 3 / 196
Reproduktionen von Entlassungsscheinen / 228
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Der weite Weg ins Ungewisse. Die Deportation der Deutschen aus Rumänien in die Sowjetunion [1 ed.]
 9786065371309, 9783000488818 [PDF]

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Zitiervorschau

Lavinia Betea, Cristina Diac Florin-Răzvan Mihai, Ilarion Ţiu

Der weite Weg ins Ungewisse

Die Deportation der Deutschen aus Rumänien in die Sowjetunion Übersetzung aus dem Rumänischen: „Lungul drum spre nicăieri Germanii din România deportați în URSS“

Banater Bibliothek 14 Herausgegeben von der Landsmannschaft der Banater Schwaben e.V.

Vorwort Lavinia Betea, Cristina Diac, Florin-Răzvan Mihai, Ilarion Ţiu „Lungul drum spre nicăieri Germanii din România deportați în URSS“ Wissenschaftliche Referenten: Universitätsprofessor Dr. Miodrag Milin Universitäts-Dozent Dr. Silviu Miloiu Technoredaktion: Claudiu Florin Stan Redakteur: Dan Margarit Korrektur: Mirela Ivan Nobel Umschlag: Dan Margarit Grafik: Anton Ferenschütz ISBN 978-606-537-130-9 (Originalausgabe in rumänischer Sprache) Editura Cetatea de Scaun, Târgovişte, 2012 Das Buch erschien im Rahmen des Projekts „Die Erinnerung an die Zwangsarbeit der in die UdSSR deportierten Deutschen aus Rumänien“, finanziert von der Europa-Kommission durch das Programm Europa für die Bürger (Projekt Nr. 2011- 3342 / 001-001) Übersetzung in der Buchreihe Banater Bibliothek 14 Übersetzung von Mitgliedern der HOG Billed Koordination: Werner Gilde Übersetzer: Jakob Mager Elisabeth Martini Hermine Schnur Werner Tobias Werner Gilde Lektorat: Elisabeth Martini Umschlaggestaltung, Layout und Satz: Hans Rothgerber Reproduktionen U1, U4: Archiv der Landsmannschaft der Banater Schwaben e.V. ISBN 978-3-00-048881-8 Bestellungen und Kontakt Landsmannschaft der Banater Schwaben e.V. Karwendelstr. 32, D-81369 München Tel.: +49 (0)89 23 55 73–0 Fax: +49 (0)89 23 55 73–10 Email: [email protected] www.banater-schwaben.org

Im Jahre 1995 hatte die Landsmannschaft der Banater Schwaben gemeinsam mit der Landsmannschaft der Siebenbürger Sachsen, dem Haus des Deutschen Ostens München und den anderen Landsmannschaften der Deutschen aus Südosteuropa zum ersten Mal eine große öffentlichen Gedenkveranstaltung organisiert, zu der Tausende von Betroffenen und deren Angehörige gekommen waren. Wissenschaftler diskutierten über die Ursachen der Verschleppung, ehemalige Deportierte erinnerten sich öffentlich, eine Ausstellung mit Zeugnissen der Deportation wurde gezeigt, im Liebfrauendom in München wurde der Opfer gedacht. Die Veranstaltung fand ein breites Echo in der Presse und provozierte eine intensive Beschäftigung mit diesem unbekannten Kapitel Nachkiegsgeschichte. Betroffene fingen an ihre Erinnerungen niederzuschreiben und zu veröffentlichen. Die Kapitel trugen Überschriften wie „Zwei Brote und drei Fische für ein Paar Ohrringe“, „Von der Schulbank in den Schacht“, „Fünf verlorene Jugendjahre“, „Pferde- und Hundefleisch gegessen“, „Für 71 Tote das Grab geschaufelt“ oder „Der Vater in Deutschland, die Mutter in Russland, die Kinder in Rumänien“. Es entstanden dokumentarische Filmbeiträge, erste wissenschaftliche Veröffentlichungen sorgten für Aufsehen, ehemalige Deportierte fuhren zu den Stätten des Leids, sammelten sich nach ehemaligen Lagerorten und auch die Politik besann sich ihrer Verantwortung: Die rumänische Regierung entschuldigte sich offiziell für das an ihren damaligen Staatsbürgern begangene Unrecht und bat die Leidenden von damals um Vergebung. Mit dem Erscheinen des Romans „Atemschaukel“ von Herta Müller, das Buch wurde in über 40 Sprachen übersetzt, erreichte das Thema der Deportation die internationale Öffentlichkeit. Vor drei Jahren traten junge rumänische Wissenschaftler an die Landsmannschaft der

Banater Schwaben heran, um uns als Kooperationspartner eines von der Europäischen Union finanzierten Forschungsprojektes zur Deportation zu gewinnen. Sie suchten Zeitzeugen und führten Interviews mit Betroffenen und deren Nachkommen in Rumänien und in Deutschland. Im Mittelpunkt der Fragen standen die Ereignisse und Abläufe der Deportation, aber auch Einstellungen, mündliche Überlieferungen und Werthaltungen. Den Auswertungen der Interviews folgte eine wissenschaftliche Tagung in Arad sowie ein Band mit einer historischen Einführung und den Interviews in rumänischer Sprache. Hier wird er zum ersten Mal in deutscher Sprache vorgelegt. Seit der ersten großen öffentlichen Veranstaltung von 1995 sind mittlerweile 20 Jahre vergangen und es ist mittlerweile vornehmlich die Generation der Kinder und Enkel jener Gezeichneten, die Fragen nach der Einordnung dieser Ereignisse in ihren Biographien, aber auch in der Geschichte unserer Gemeinschaft stellt. Wir wollen sie zum Anlass nehmen, um stets daran zu erinnern, dass Menschenrechte universale Rechte sind, die nie zur Disposition stehen dürfen. Nicht zuletzt stellen wir fest, dass auch mit diesem Buch an die Großfamilien jener Zeit gedacht wird, die wie ein Netz die zurückgebliebenen Kinder und Alten auffingen und in ihrer Obhut behielten. Die Landsmannschaft der Banater Schwaben bedankt sich bei den Zeitzeugen innerhalb unseres Verbandes, die bereit waren, freimütig über ihre Leidensgeschichte zu berichten. Ebenso sei an dieser Stelle den Angehörigen der Heimatortsgemeinschaft Billed: Werner Gilde, Jakob Mager, Elisabeth Martini, Hermine Schnur, Werner Tobias und Hans Rothgerber gedankt, ohne deren ehrenamtliche Arbeit dieser Band nicht hätte erscheinen können. Peter-Dietmar Leber Bundesvorsitzender

4 Inhalt Vorwort.............................................................................................................................................3 Bildteil...............................................................................................................................................6 1. Erinnerungen an die Deportation Lavinia Betea, Cristina Diac, Florin-Răzvan Mihai, Ilarion Ţiu...........................................13 2. In Reschitza, ein Hindernis im Wege des Vergessens…, Erwin Josef Ţigla.................32 3. Ein Ereignis aus vier Sichtweisen Reschitz - Zusammenfassung der Erinnerungen, Lavinia Betea.............................................35 Vom Nazi-Hakenkreuz zum kommunistischen Bekenntnis, Anton Ferenschütz (D)............38 Die Therapie des Vergessens, Maria Ferenschütz (Deutschland).............................................56 Die Bücher der Deportation, Voichiţa Ferenschütz (Deutschland)...........................................57 Deportation, eine Geschichte ausgegraben nach 1990, Ştefan Raicu (Rumänien).................57 4. Das Gedächtnis der Deportierten Dort habe ich meine erste Predigt gehalten, Ignaz Bernhard Fischer.....................................59 Der Fall Maria Aşembrener, Alexandra Şandru.........................................................................62 Für unsere Sünden haben sie uns weggebracht..., Rozalia Buttinger (Rumänien).................71 Ich wurde in der Sowjetunion geboren und kenne meinen Vater nicht, Ana Szucs (R)........74 Ich war zwanzig Jahre alt und wusste nicht, wo ich hin komme, Elena Becker (R).............75 Wir lebten den ganzen Winter in einem Wagon und waren voll mit Kopfläusen, Maria Frombach (Rumänien)...........................................................................77 Ich wurde krank und sie haben mich nach Hause geschickt, Rita Peter (Rumänien)............78 Ich habe mich für einen Verbleib von zwei Wochen vorbereitet und bin fast fünf Jahre weggewesen, Ana Zgardea, geborene Feil (Rumänien)...........................................79 Dort habe ich gelebt und meine große Liebe verloren, Rozalia Bruner (Rumänien).............82 Ich habe meinen Koffer mit Kleidern dem Arzt gegeben, damit er mich herzkrank schreibt Ana Mikowz (Rumänien)......................................................83 Das menschliche Schicksal ist in Gottes Hand, Gabriela Heiveis (Rumänien)......................84 Ein Cousin ist dort gestorben, Alois Weil (Rumänien)...............................................................85 Ich hatte weder Uhr noch Kalender, Magdalena Maria Geier (România)..............................87 Die Hunde haben unsere, im hart gefrorenen Boden schlecht begrabenen Toten angefressen, Rounald Wiest (Rumänien)......................................................................................88 Nicht viele mussten das durchleben, was ich erlebt hab, Ianos Krcsmar (Rumänien)..........91 Was habe ich in Rumänien Böses getan, dass man mich aus meinem Land vertreiben musste?, Ecaterina Coman, geb. Klein (Rumänien).................................................96 Sie starben an schlechtem Tabak, Blut im Stuhl und Schwermut, Victoria Szitka, geb. Netzer (Rumänien)...............................................................105 Mich haben die Rumänen geholt, Elisabeth Hoch, geborene Loris (Deutschland)..............109 Mehr Geld bekam man für Kleidung als für Ohrgehänge, Ana Bauer, geb. Graf (D)......... 112 Die Beziehungen zu den Russen waren Glückssache, Barbara Klug (Deutschland).......... 114 Fünf Jahre im Donezbecken, Matilda Jica, geb. (Rumänien)................................................. 115 Zurück in die Heimat mit dem ersten Krankentransport, Ana Lungu, geb. Kungl (R)........125 Wir mussten vom ersten Tag an arbeiten, Anna Leinhardt (Deutschland)............................131 Eine ungewöhnliche Heimkehr, Elisabeth Maltry, geb. Glassmann (Deutschland).............133 Der Fluch des Volkskommissars: „Er soll hier sterben!”, Johann Noll (Deutschland).......137 In einer Mine, 320 m tief, Katharina Gillich, geborene Seidl (Deutschland)........................142

5 Inhalt Mein Glück war es, dass ich schnell ihre Sprache lernte, Nikolaus Barthold (D)...............146 Ich wurde in ein Straflager gebracht, weil ich Weihnachtslieder gesungen hatte, Hans Bohn (Deutschland)................................................................................149 Ich kam ins Krankenhaus, nachdem ich in der Kohlengrube mit einem Pferd zusammengestoßen bin, Franz Engel (Deutschland)...............................................................154 Im Lager fraßen uns die Läuse und die Wanzen fast auf, Mihai Butto (Deutschland)........160 Während des Transports ist mein Bein erfroren, das mir dann mein ganzes Leben lang Kummer bereitet hat, Elisabeta Rudolf (Deutschland)........................................163 Ein Leben lang von Menschen in Uniform terrorisiert, Anna Frombach (Deutschland)....165 Im Lager, in dem sie uns untergebracht hatten, glänzte Eis von den Wänden, Ana Marina (Rumänien)......................................................................................165 Wir hatten Angst, die Wölfe kommen und holen die Leichen, Adela Supercean (R)..........166 5. Die Erinnerungen der Söhne Die Kinder aus dem Ural: geboren im Lager von Swerdlowsk, Elfrida Chvoika, geborene Ruttar (Rumänien)...................................................168 Die Eltern sind in die Deportation gegangen und haben zwei Kinder zu Hause gelassen…, Johann Metzger (Deutschland)..............................................................173 Meine Mutter hat meinen Vater in der Deportation kennengelernt und ich bin die Frucht ihrer Liebe…, Stefan Mlynarzek (Deutschland)........................................175 Meine Eltern haben sich während der Verschleppung kennengelernt…, Martin Seifer (Rumänien).............................................................................177 Ich war in der Schule, als der Briefträger mir die Nachricht gab, dass Mutter zurückkommt, Georg Safenauer (Deutschland)..................................................179 6. Die Erinnerungen der Nachfahren Brotkrümel, Emanuella-Luisa Schneider Kevelaer (Deutschland).........................................181 So oder so wird meine Schwester nicht mehr aufwachen…, Juliane Becker, geb. Weber (Deutschland)........................................................184 Das Vertrauen in den rumänischen Staat wurde durch diese Repressionsmaßnahme erschüttert, Walter Tonţa (Deutschland)...........................................186 Die ehemaligen Deportierten nannten meine Oma „Engel von Schimand”…, Karin Reinert (Deutschland).........................................................187 Als meine Großmutter von der Deportation zurückkam, ging es ihr noch schlechter, Erika Renz (Deutschland)............................................................191 Die Deutschen aus dem serbischen Banat waren bis 1959 in Sibirien, Mansfeld Rüdiger (Deutschland)................................................................................................192 7. Das Gedächtnis der Interviewer Lebendes Beispiel, Paula Vesa (Rumänien)..............................................................................193 Erinnerungen, Gefühle und Resignation, Andrada Bejan (Rumänien)..................................194 Menschen, die die Geschichte weitererzählen, Anamaria Merce (Rumänien).....................194 8. Das Gedächtnis der Dokumente Leitfaden des Interviews - Anlage 1.........................................................................................195 Memorandum - Anlage 2............................................................................................................195 Denkschrift - Anlage 3 . .............................................................................................................196 Reproduktionen von Entlassungsscheinen...............................................................................228

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Inhalt

Banater Schwaben und Siebenbürger Sachsen als Zwangsarbeiter im Bergbau Foto: Archiv der Landsmannschaft der Banater Schwaben e.V. Billeder Zwangsarbeiter im Donbass. Oben: Johann Weiß, Josef Ballmann, Wilhelm Krier, Johann Dugonitsch, Karl Packi, Peter Schmidt; Mitte: Anton Hell, Peter Slawik, Elisabeth Schwendner, Heinrich Slawik, Josef Werle; Unten: Anton Vollmer, Jakob Krier, Georg Römer. Foto: Archiv der HOG Billed

Inhalt

7

Schwester und Mutter am Grab von Theresia Frambach (Temeswar) im Sommer 1946 außerhalb des Lagers von Nowotroizk, wo die verstorbenen Zwangsarbeiter verscharrt wurden. Der Familie gelang es, diese Aufnahme in Erinnerung an die Verstorbene erstellen zu lassen. Wenn der Lager-Geheimdienst dahinter gekommen wäre, hätte das schlimme Folgen haben können. Banater Schwaben und Sathmarer Schwaben als Zwangsarbeiter im Bergbau Foto: Archiv der Landsmannschaft der Banater Schwaben e.V.

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Inhalt

Inhalt

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Deportierte aus Jahrmarkt nach ihrer Ankunft im Heimkehrerlager Frankfurt/Oder Die durch Krankheiten und Unterernährung arbeitsunfähigen Zwangsarbeiter wurden von den Sow­jets bis 1948 in die Ostzone (spätere DDR) transportiert. Dieselben Deportierten vor ihrer Entlassung aus dem Lager als Staatenlose in die Ostzone, da sie offiziell nicht nach Rumänien in ihre Heimatorte zurück durften.

Peter Janosch aus Darowa (links) als Zwangsarbeiter zusammen mit einem russischen Arbeitskollegen 1949 im Bergbau. Foto: Archiv der Landsmannschaft der Banater Schwaben e.V.

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Inhalt

Theateraufführung im Juli 1949 in Stalino (heute Donezk). Im 5. Jahr der Deportation hatte sich der gesundheitliche Zustand der Zwangsarbeiter erheblich verbessert und es gab Kulturprogramme - freilich auch mit dem Hintergedanken der kommunistischen Erziehung. Das seltene Foto zeigt Banater und Siebenbürger Deutsche bei einer Inszenierung deutscher Kriegsgefangener. Im Hintergrund das Lagergebäude. Einsender des Fotos: Katharina Fedl, geb. Frambach Ein Tag vor ihrer Heimreise. Deportierte aus dem Lager Volodka. Einsender des Fotos: Ferdi­ nand Pikula - Archiv der Landsmannschaft der Banater Schwaben e.V.

Inhalt

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Mädchen aus Alexanderhausen in ihren Sonntagskleidern in der Deportation 1948 Obere Reihe: Greti Brunner, Lissi Hopfentaler, Mariechen Ballmann, Barbara Assmann. Untere Reihe: Lissi Schmidt, Lissi Kutschera, Barbara Schmidt, Gerti Jakobi, Katharina Thierjung. Einsender des Fotos: Margarethe Ghida, geb. Brunner - Archiv der Landsmannschaft der Banater Schwaben e.V. Bahngleisarbeiterinnen in Stalino am 24.07.1949. Banater- und Siebenbürger Mädchen und Frauen in Sonntagskleidern mit gleichen, von Ana Frambach selbstgeschneiderten Kopftüchern, einige Monate vor ihrer Entlassung. Einsender des Fotos: Katharina Fedl, geb. Frambach

13

Erinnerungen an die Deportation Die Deportationswellen im Spiegel der Geschichtsarchive

D

ie Erinnerung an die Deportation der Deutschen aus Rumänien in die Sowjetunion wurde vorwiegend in deren Gemeinschaft festgehalten. Nach 1990 haben die Lokal-Foren der Rumäniendeutschen, jedoch auch die Vereine aus Deutschland, einige Bücher mit den Erinnerungen der Deportierten herausgegeben1. Weniger in der rumänischen Geschichtsschreibung behandelt, kann das Thema heute neu bewertet werden mittels der in mehreren Archiven bewahrten Dokumente2. In den Jahren 1944-1945 haben die sowjetischen Entscheidungsträger als eine Form der Kriegsschäden-Reparation die Deutschen aus der Sowjetunion, aus Rumänien, der Tschechoslowakei, Jugoslawien, Bulgarien, Ungarn in den Donbas und den Ural deportiert. Trotz der Proteste der Radescu-Regierung wurde die Maßnahme in den Monaten Januar-Februar 1945 auch in Rumänien durchgeführt. Etwa 70.000 Sachsen aus Siebenbürgen und Schwaben aus dem Banat zwang man unter unmenschlichen Bedingungen, ohne ärztliche Fürsorge, schlecht ernährt und geklei1 Doru Radosav „Donbas. O istorie deportata“, Ravensburg, Landsmannschaft der Sathmarer Schwaben, 1994; Hermann Rehner „Wir waren Sklaven. Tagebuch eines nach Russland Verschleppten“, Sibiu, Eigenverlag, 1993; „Russland-Deportierte erinnern sich. Schicksale Volksdeutscher aus Rumänien (1945-1956), Bucuresti, Editura „Neuer Weg“, 1992; George Weber „Die Deportation von Siebenbürger Sachsen in die Sowjetunion 1945-1949, Köln, Böhlau, 1995 2 Arhivele Nationale Istorice Centrale (ANIC): CC al PCR- Sectia Organizatorica, Directia Generala a Politiei, MAI – Directia Administratiei de Stat; Arhiva Consiliului National pentru Studierea Arhivelor Securitatii (ACNSAS), Fond Dokumentar

det, in Kohlengruben, Steinbrüchen, Kolchosen und auf dem Bau zu arbeiten. Die Deutschen in der Sowjetunion die ersten Deportierten Der Leidensweg der Deutschen aus Zentralund Osteuropa wurde angekündigt durch die in der Sowjetunion zeitgleich mit der Eröffnung der Ostfront im II. Weltkrieg durchgeführten Maßnahmen. Am 28. August 1941 haben die Sowjets – als vorbeugende und unkriegerische Maßnahme, wie man behauptete – ein Dekret erlassen, wonach die deutsche Bevölkerung der Sowjetunion, etwa 1,2 Millionen Menschen, nach Sibirien und Kasachstan umgesiedelt wurde. Laut Dekret durften die Deportierten Güter von maximum 200 kg mitnehmen, bzw. 1 Tonne je Familie. In jedem Zug sollte ein Wagen für das medizinische Personal – bestehend aus einem Arzt und zwei Schwestern – vorhanden sein. In der Realität wurden diese Vorgaben nicht respektiert3. Die Deutschen hatten höchstens zwei Stunden zur Verfügung, um Kleidung und Nahrungsmittel von absoluter Dringlichkeit zusammenzupacken. Den Meisten wurde verweigert, Proviant für einen Monat mitzunehmen. Aus der Verbannung, zu der sie der Sowjetstaat zwang, kehrten sie bis zum 13. Dezember 1955 in mehreren Wellen zurück. Gegen Ende des II. Weltkrieges erfolgte die zweite Deportations-Welle der Deutschen aus der Sowjetunion. Leidtragende waren die von den Behörden des III. Reiches in den Westen verfrachteten Deutschen. Sie wurden gegen ihren Willen „repatriiert“ und 3 Irina Mukhina, „The Forgotten History. Ethnic German Women in Soviet Exile,1941-1955, in „Europe-Asia Studies“, Vol.57 Nr.5 (Jul.2005, S. 731-732

14 Die Deportationswellen im Spiegel der Geschichtsarchive zur Zwangsarbeit eingesetzt. Das waren zwi- Der sowjetische Vorschlag wurde im Oktoschen September und Dezember 1941 in La- ber 1944 durch Ivan Mihailovici Maisky, Sogern und Sonderkolonien internierte 203.706 wjet-Botschafter in Großbritannien, auf diSowjetdeutsche4. Gleichzeitig wurden auch plomatischem Wege wieder aufgenommen. die Deutschen aus den unter den Einfluss Seit dem Vordringen der russischen Solder Roten Armee geratenen osteuropäischen daten in den Balkan ergaben sich auch die Ländern deportiert, was als dritte Deportati- Hebel zur Durchführung dieses Beschlusses. onswelle gilt. Am 23. August 1944 hat Rumänien die WafSchon ab 1943 hatten die Sowjets die Ab- fen gegen die Staaten der Achse gekehrt, insicht, die Deutschen beim Wiederaufbau der dem es Marschall Ion Antonescu stürzte. Wirtschaft einzusetzen als WiedergutmaErst in der Nacht vom 12. zum 13. Sepchung der durch die Nazi-Invasion verurs- tember 1944 wurde der Waffenstillstand achten Schäden. zwischen Rumänien und den Alliierten unProfessor Eugen Samuilovici Varga, mar- terzeichnet, durch den dem Kriegsgeschehen xistischer Ökonomist ungarischer Herkunft, zwischen den Unterzeichnern ein Ende geChef eines Moskauer Instituts für Polit-Öko- setzt wurde. nomie, gehört zu den Ersten, die diese HypoGemäß dem unterzeichneten Übereinkom­ these verbreiteten. men wurde durch den Artikel 18 desselben Ähnliche Forderungen wurden auch sei- die Verbündete Kontroll-Kommission (CAC) tens anderer Staaten gestellt, die durch den gegründet, die der Hohen Sowjet-Kommanvon Adolf Hitler ausgelösten Krieg betroffen datur unterstellt war. In der Folge spielte diewaren wie Frankreich, Belgien und Holland. se Institution eine sehr wichtige Rolle bezügSelbst in Fern-Ost, in China und Korea, gab lich der militärischen und politischen Akties Stimmen, die die Japaner zum wirtschaft- onen des rumänischen Staates. lichen Wiederaufbau forderten5. Im Herbst 1944, nachdem die Rotarmisten Am 9. Oktober 1943 erinnerte Maxim Ma- nach Siebenbürgen und ins Banat vorgedrunximovici Litvinov, stellvertretender Volks- gen waren, wurden die Deutschen – je nach kommissar für Äußeres, in der Note „Die ihrer politischen Tätigkeit in der VergangenBeziehungen zu Deutschland und anderen heit – in mehrere Kategorien unterteilt. Die feindlichen Ländern Europas“ an die Mög- Mitglieder der deutschen militärischen Orlichkeit der Kriegsentschädigungen seitens ganisationen (Waffen-SS, die OrganisatiDeutschland durch den Einsatz der deut- on „Todt“) kamen in Gefangenen-Lager, die schen Bevölkerung zum Wiederaufbau6. ohne politische und militärische Tätigkeit wurden zum Gemeinnutz eingesetzt: zum 4 Ibidem, S. 734; J. Otto Pohl, Ethnic Cleansing Ausheben von Schützengräben, Freilegen in the USSR, 1937-1949, West-port, Greenwood bestimmter Orte, im Transport, in der LandPublishing Group, 1999, S. 46 wirtschaft, im Wege- und Schienenbau. In5 Paul Fisher, Reparation Labor. A Preliminary folge der schweren Arbeitsbedingungen erAnalysis, in „The Quarterly Journal of Econo- krankten viele von ihnen. mics“, Vol.60, Nr. 3 (May, 1946) S. 314 „Was jedoch noch schlimmer war, war der Umstand, dass die Familien dieser zur Ar6 Hannelore Baier, „Departe, in Rusia, la Stalino. beit für den Staat Ausgehobenen den größAmintiri si documente cu privire la deportarea in ten Entbehrungen, ja selbst dem Elend ausUniunea Sovietica a etnicilor germani din Romania (1945-1950)“, Bucuresti, Intergraf, 2003, S.19 gesetzt waren, weil der Staat ihre Arbeit nicht

15 Die Deportationswellen im Spiegel der Geschichtsarchive entlohnt hat“7, wird in einer von der Gemein- ster Constantin Visoianu am Vortag greatschaft der Deutschen verfassten Denkschrift ly disturbed (tief ergriffen, schockiert) vom präzissiert. russischen General Vladislav Petrovici Vinogradov, Vizevorsitzender der C.A.C. eine Jugoslawien, Ungarn, Rumänien Anforderung erhielt. Strengstens wurde die Etwa 13.000 Deutsche aus Jugoslawien wur- rumänische Regierung aufgefordert, bis 15. den schon im Oktober-November 1944 in Januar 1945 Listen mit den deutschen Bürdie Sowjetunion deportiert. Rumänien hat gern zusammenzustellen, um diese in die die Deportationen erst im Januar 1945 be- Sowjetunion zu schicken. Für den Transgonnen. In der am 12. September 1944 be- port verlangte Vinogradov 5.000 Waggons. schlossenen Waffenstillstands-Konvention In seinem Telegramm vermerkte Berry, dass war keine gegen die Deutschen gerichtete die rumänische Exekutive gegen diese ForMaßnahme vermerkt, obzwar es Zeitgerüch- derung protestiert hat, die in der Waffenstillte gab, dass die Deportation in einer Geheim- stands-Konvention nicht vorgesehen war. Klausel vorgesehen war8. Am 4. Januar 1945 hat selbst Nicolae RadeAm 16. Dezember 1944 hat das Staats- scu, Vorsitzender des Ministerrats, mittels einer komitee der Sowjetverteidigung die Order persönlichen Mitteilung Berry das Geschehnis Nr. 7.161 erlassen, durch die die deutschen bestätigt9. Anfangs hat sich die rumänische ReMänner zwischen 17 und 45 Jahren bzw. die gierung dieser drastischen Maßnahme widerFrauen zwischen 18 und 30 Jahren aus meh- setzt, indem sie drei Argumente anführte: ökoreren ost- und mitteleuropäischen Ländern: nomische, humanitäre und gesetzliche (sie Rumänien, Jugoslawien, Ungarn, Bulgarien war in der Waffenstillstands-Konvention nicht und der Tschechoslowakei deportiert werden vorgesehen).10 sollten. Am 6. Januar 1945 hat die Alliierte-KontrollDie Forderung der Sowjets bezüglich der Kommission die Order Nr. 031 verabschiedeutschen arbeitsfähigen Bevölkerung hat det, die der Regierung Rumäniens überreicht die rumänischen Behörden überrascht. Ein- wurde, durch die die Mobilisierung zum Arzelheiten über die Reaktion der Nicolae- Ra- beitsdienst der deutschen Bevölkerung (Mändescu-Regierung gibt es aus der Korrespon- ner zwischen 17 und 45 Jahren, Frauen zwidenz der in Bukarest akkreditierten amerika- schen18 und 30 Jahren) gefordert wurde. Eine nischen Diplomaten. einzige Ausnahme wurde gebilligt für die MütAm 4. Januar 1945 schickte Burton Ber- ter, die Kinder unter 1 Jahr in Pflege hatten11 ry, der Gesandte der Vereinigten Staaten von Amerika in Rumänien, dem Staatsse- 9 United States Department of State, Foreign Relakretär ein Telegramm nach Washington. Er tions of the United States: diplomatic papers, 1945. schrieb, dass der rumänische Außenmini- General: political and economic matters, Vol.II, 7 Memoriu asupra situatiei politice, juridice si economico-sociale a minoritatii germane din Romania (sasii si svabii)“, aprilie 1946, A.N.I.C., Sectia Organizatorica, Dosarul 27/1946, f. 23 (Anexa 3) 8 G. Castellan, „The Germans of Rumania“, in „Journal of Contemporary History“, Vol. 6, Nr.1, Nationalism and Separatism (1971), p. 67

1945, S. 1.238. Zu Rate gezogen am 30. 04. 2012, http://digital.library.wisc.edu/1711.dl/FRUS. 10 Ibidem, S. 1.241

11 Mircea Rusnac, Deportarea germanilor in URSS (1945). Cu referire speciala la Banat (II. 2) 22. Juli 2009, http://www.vestul.ro/stiri/1349/ deportarea-germanilor-in-uniunea-sovietica%281945%29-cu-referire-speciala-la-banat%28ii-2%29.htm.

Die Deportationswellen im Spiegel der Geschichtsarchive Formale Proteste Die Durchführung erfolgte gemäß den In dieser Zeit übten die Vertreter der deut- CAC- Vorgaben. In jeder Kreisstadt koordischen Gemeinschaft, Hans Otto Roth und Ru- nierte ein von Polizei und Staatsbehörden undolf Brandsch sowie I.Constantinescu, Vorsit- terstützter Sowjetoffizier das Zusammentreizender der Nationalen Gesellschaft des Roten ben. Die Deutschen wurden den Gendarmen Kreuzes, Druck auf die Regierung aus, die übergeben und zu den Sammelplätzen (SchuAusführung dieser Maßnahme zu verweigern. len, Kulturheime, Lyzeen) in Städten und Am 13. bzw. 15. Januar 1945 ließ sogar der großen Gemeinden, in der Nähe der Eisenrumänische Ministerpräsident, General Nico- bahn-Bahnhöfe geführt. Die örtlichen Kreislae Radescu, General Vinogradov zwei Pro- leiter und Polizisten erstellten Namenslisten test-Noten zustellen. Der hohe rumänische per Ortschaften, die dann dem Staatlichen Würdenträger griff seine Argumente erneut Subsekretariat der Polizei in zweifacher Ausauf: „Diese Arbeiter, deren Zahl heute noch führung per D.G.P. zugeschickt wurden. eine halbe Million beträgt, sind seit langer Den Richtlinien gemäß durfte jede Person Zeit im Land sesshaft (7 Jhd. in Siebenbür- maximum 200 kg an Gütern, bestehend aus gen, 2 Jhd. im Banat), wodurch sie so in den Kleidung, Wäsche, Geschirr und LebensmitLebenskomplex des rumänischen Volkes in- teln für 15 Tage mitnehmen15. Unter strenger tegriert sind, dass sie einen organischen Teil Bewachung wurden die Deutschen per Lastdesselben bilden und demzufolge würde ihr Herausreißen – auch nur zeitweilig – aus ihrem Umfeld in allen Tätigkeitsbereichen des 15 Was die Liste ganz genau festlegte: 1 Wintermantel, 1 Frühjahrsmantel, Sommerhut, WinterLandes zu schweren und oft irreparablen Stömütze, 2 Anzüge, Stiefel, 2 Paar Schuhe, 2 Paar rungen führen12.“ Dank Radescus Interven- Handschuhe, 6 Paar Strümpfe, 4 Handtücher,12 tionen wurden von der Anwendung der Or- Taschentücher für die Männer; für die Frauen: 1 der einige Kategorien der Bevölkerung aus- Wintermantel, 1 Frühjahrsmantel, 2 Kopftücher genommen, so qualifizierte Industriearbeiter, oder Mützen, 2 Kleider, 4x Wechsel-Wäsche, 6 deutsche Frauen, die mit Rumänen verheira- Paar Strümpfe, 2 Paar Stiefel, 3 Paar Schuhe, 2 tet waren, Mönche und Nonnen, Arbeitsunfä- Paar Handschuhe, 4 Handtücher, 12 Taschentücher; hige. In der Wirklichkeit wurden auch diese Bettzeug: 1 Steppdecke, 4-5 Leintücher, 3 Polsterüberzüge, 1 Polster, 1 Matratze; Koch-Zubehör: Ausnahmen nicht vollständig respektiert13. komplettes Besteck (Löffel, Gabel, Messer), 3 Scheinbar haben die ersten Verschleppun­ Teller, 2 Gläser/Becher, 1 Teekanne, 1 Teelöffel, 2 gen am 10. Januar 1945 in Bukarest begon- Schüsseln, 2 Töpfe, 1 Primus-Kocher, 1 Axt für je nen, wo 2.000 Personen ausgehoben wurden. 4-5 Leute; Lebensmittel: Brot /Zwieback, Speck, Am nächsten Tag hat nur „Viitorul“ (Die Zu- Wurst, Käse, Butter, Zucker, Honig, Salz, Bohnen, kunft), das Organ der National Liberalen Par- Erbsen, Zwiebeln, Knoblauch, Kartoffeln. Eigenttei (PNL), einen Leitartikel dieses Thema be- lich haben die meisten Personen in der kurzen, treffend veröffentlicht. Übrigens hatte am ihnen von den Aushebern zugebilligten Zeit, nur Vortag Dinu Bratianu, der Vorsitzende dieser das Allernötigste mitgenommen. http://www.zfl.ro/ Partei, gegen den Beschluss protestiert, den deportationsprojekt/preg_depo.html. Die CNSASDokumente zur Deportation der Rumäniendeuter als „Rassen-Diskriminierung“ einstufte14.

17 Die Deportationswellen im Spiegel der Geschichtsarchive wagen und Wagen zu den Zügen gebracht. derselben waren. In den Archiven wurden In Viehwaggons zu je 30 Personen verladen. solche Listen mit den Angestellten der GriAuf diversen Routen wurden die Depor- vita-Werke, Lokomotiven und Waggone, enttierten nach Fahrten zwischen 2 und 4 Wo- deckt17. Das Dokument wurde am 10. Januar chen - je nach Lagerziel - in die Sowjetuni- 1945 verfasst. Auch haben in den folgenden Tagen Parteiorganisationen dem Zentralkoon verschickt. An der Grenze zwischen Rumänien und mitee der KPR Tabellen vorgelegt von deutder UdSSR wurden die Deportierten in schen „Vertrauensleuten“, die sich als „antifaWaggons mit breiter russischer Spurweite schistische Kämpfer“ bewährt hatten.18 verladen. Deportations-Zahlen Trotzdem haben sich nur wenige Deutsche Übergriffe und Begünstigungen Bei der Listenaufstellung wurde viel Miss- dieser Vergünstigungen erfreut. Im Januarbrauch getrieben. Die Vorschrif­ten bezüg- Februar 1945 wurden aus Rumänien zwilich der Altersgrenze, der ausgenommenen schen 60.000 und 70.000 Deutsche deporso­zia­len Kategorien, ja sogar der Nationali- tiert. Die Zahlen variieren je nach Quelle, tät wurden häufig missachtet. Es gab Fälle, halten sich in diesem Rahmen. Laut Forscher Pavel Polian wurden 155.262 dass 16-jährige Mädchen und Jungen deportiert wurden sowie Rumänen, Ungarn oder Deutsche aus Deutschland und Polen, 67.332 aus Rumänien, 31.920 aus Ungarn, 12.579 Serben mit deutschen Namen. Manchmal haben die rumänischen Gen- aus Jugoslawien, 4.579 aus der sowjetischen darmen die Übergriffe der Sowjetsoldaten Besatzungszone – künftige DDR - deportiert, gemeldet. Der Gendarmerie-Posten von Bod insgesamt 271.672 Personen19. Im Rapport des General-Inspektorats der (Brenndorf, Kreis Kronstadt) hat z.B. ein Protokoll verfasst, durch das die Regelwid- Gendarmerie, Sicherheitsdirektion und Öfrigkeiten gegenüber 52 von der Deportation fentliche Ordnung, vom 14. Februar 1945 ausgenommenen Deutschen (24 Männer, 28 waren auf den Namenslisten 61.716 Personen eingetragen20. Frauen) angezeigt wurden. „Wir haben uns bei den Sowjetsoldaten dafür eingesetzt, dass diese Bewohner nicht 17 „Tabel de personalul minoritar de origine gerausgehoben werden, wurden jedoch abge- mana si maghiara existenti la Atelierele Grivitawiesen16, präzisiert der Chef des Gendarme- locomotive si vagoane, care au avut atitudine antirie-Postens. Als Protest gegen diese Illega- fascista, democratica“, Sindicatul salariatilor CFR, 10.01.1945, ANIC, CC al PCR- Sectia Organizatolität „haben die Rumänen die Russen nicht rica, Dosar 2/1945, f.1-3; Dosar 66/1945, f. 1-16 weiter unterstützt.“ Einer bevorzugten Situation erfreuten sich 18 „Tabel cu oamenii de incredere de origine die deutschen und ungarischen Arbeiter, die etnica germana“, PCR. Organizatia Tulcea catre „eine antifaschistische, demokratische Gesin- Comitetul Central PCR-Bucuresti, 18.01.1945, ANIC, CC al PCR- Sectia Organizatorica, Dosanung“ hatten, mit der Kommunistischen Partei rul 5/1945, f.1-3 Rumäniens sympathisierten oder Mitglieder

12 H. Baier, zitiertes Werk, S. 22

16 Proces-verbal“, intocmit de autoritatile din comuna Bod (Brasov), 13. ianuarie 1945, http://www.zfl.ro/deportationsprojekt/CNSAS/ Desfasurarea_deportarii / Doc1.jpg

16

13 Siehe Interview mit Ianos Krcsmar 14 M. Rusnac, zit. Werk

schen wurden von Florentina Budeanca (Bodeanu) und Liviu Burlacu im Rahmen der Ausstellung „Die Deportation der Deutschen aus Rumänien in die UdSSR. Eine Dokumentar-Geschichte“ wissenschaftlich zugänglich gemacht: http://www.zfl. ro/deportationprojekt/.

19 Pavel M. Polian, Against Their Will. The Historie and Geography of Forced Migrations in the USSR, Budapest, Central European University Press, 2004, p. 295 20 http://www.zfl.ro/deportationsprojekt/cnsas.html

Die Deportationswellen im Spiegel der Geschichtsarchive

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Die Deportationswellen im Spiegel der Geschichtsarchive

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Rapport vom 14. Februar 1945 mit den Namenslisten von 61.716 Personen

21

Kreis Dolj Gorj Mehedinţi Olt Romanaţi Vâlcea Dâmboviţa Ilfov suburban Ilfov rural Muscel Prahova Teleorman Vlaşca Brăila Constanţa Ialomiţa Tulcea Buzău Covurlui Putna R. Sărat Tecuci Bacău Fălciu Iaşi Neamţ Roman Vaslui Baia Botoşani Dorohoi Câmpulung Rădăuţi Suceava Alba Târnava Mică Turda Braşov Făgăraş Sibiu Târnava Mare Arad Bihor Caraş Hunedoara Severin Timiş Torontal Gesamt

Gelistet Männer Frauen 27 19 20 10 11 33 24 293 46 6 130 12 6 27 55 15 13 23 4 1 8 11 142 15 144 56 135 46 58 300 18 68 43 120 2.346 3.544 30 3.433 1.957 8.264 870 3 8.835 37 1.744 927 2.081 18.877 61.716

7 9 8 3 8 11 19 195 24 10 60 8 3 17 27 6 8 9 1 1 5 3 24 2 22 15 24 9 15 95 15 68 23 31 373 1.815 14 1.503 817 2.078 2.090

7 3 4 2

4 5 12 5 4 103 1 52 15 38 539 2.605 6 1.476 764 3.051 3.770

2.450 18 716 469 1.059 6.659 20.830

3.356 9 477 256 1.100 7.937 25.710

9 7 70 6 1 23 3 4 4 2 1 3 3 1 7

AusAusVergehoben nahmen schollen 14 11 12 4 12 4 1 5 4 1 8 3 20 8 26 265 40 26 30 13 3 11 83 28 9 11 3 3 21 6 31 24 8 4 3 9 4 12 5 1 4 1 5 3 4 7 31 98 13 2 13 26 98 20 36 36 92 14 13 19 39 198 89 16 2 17 69 2 38 28 2 69 79 1 912 11 4.420 445 113 20 6 1 2.979 645 155 1.581 448 54 512 1.812 710 586 823 1.043 0 5.806 2.510 519 27 7 3 119 421 155 725 182 19 2.159 206 138 14.596 3.664 617 46.540 11.924 3.604

Selbstmord

Abwesend 2 3 3 5 4 10 2

5

20 7 19 12

2

423 141 3

21 „Situatie de modul cum s-a executat operatiunea de ridicare pentru munca a germanilor etnici, pana la data de 14 februarie 1945“, Raport al Inspectoratului General al Jandarmeriei, Directia sigurantei si ordinii publice, 14 februarie 1945. www.zfl.ro/deportationsprojekt/statistici.html

90 613 977

22 Cristian Troncota, Deportarea etnicilor germani, in Romania (1945-1989) Enciclopedia regimului comunist. Represiunea, Vol A-E, Bucuresti, Institutul National pentru Studiul Totalitarismului, 2011, Seiten 474-480

2339

23 Einige der über 200 Ortschaften/Lager, in die die Deutschen deportiert wurden: Artema, Bulovinka, Celiabinsk, Harkov, Cistiakovo, Ciulkovka, Dimitrova, Dnepropetrovsk, Drujkovka, Elenovka, Gorlovka, Ilianovka, Kapitalnaia, Konstantinovka, Krasnodar, Krivoi Rog, Lenino, Odessa, Orlovka, Ostakova, Romanka, Jitomir,

5 1 12

Zur Zeit der Listenaufstellung waren bereits 46.540 Personen ausgehoben worden21. Eine vom Nationalen Statistik-Institut vorgenommene Umfrage vom 15. August 1949 ergibt eine andere Zahl der deportierten Deutschen: 70.148 Personen22. Als „Sonder-Kollonisten“ (russisch: spetpereselenti) wurden die Deportierten auf verschiedene Lager und Arbeitskolonien des Sowjet-Territoriums verteilt, im Donez-Becken (Ukraine), Kriwoi-Rog, im Ural und selbst in Sibirien23. Trotz prekärer Ernährung

wurden sie zu den schwersten Arbeiten eingesetzt: im Bau, in den Gruben, zu Waldrodungen. In den Jahren 1945-1946 hat infolge unmenschlicher Arbeitsbedingungen, der Hygiene- und Verpflegungsbedingungen die Sterberate alarmierendes Niveau erreicht. Überwacht von den NKVD-Leuten, fügten sich die „Sonder-Kolonisten“ den sowjetischen Arbeitsgesetzen, vorgesehen in der Resolution Nr. 35 („Die Rechte der in Spezialkolonien Festgesetzten“), verabschiedet am 8. Januar 1945 vom Rat der Volks-Kommissare24. Die Deportierten kehrten in mehreren „Wel­len“ in ihre Heimatländer zurück, von denen die vom Dezember 1949 die umfassendste war. Man schätzt, dass 66.456 von den mit Gewalt aus den osteuropäischen Staaten verschleppten Deutschen in den Sowjet-Lagern umgekommen sind. Von den aus Rumänien Deportierten sind rund 10.000 (15%) fern der Heimat verstorben. Smolianka, Stalino, Sverdlovsk, Vetka u.a. Siehe HansWerner Schuster, Walther Konschitzky (Koord.), Deportation der Südostdeutschen in die Sowjetunion (1945-1949), München, Haus des Deutschen Ostens, 1999, Seiten 91-92 24 J. Otto Pohl, zit. Werk, S.46

20 Die Deportationswellen im Spiegel der Geschichtsarchive torium Rumäniens lebten“, ohne in den „ArDie Sorgen der Daheim-Gebliebenen Mit der Situation der in die Sowjetunion Ver- beits-Bataillons“ erfasst zu sein. Laut eines Rapports des Regionalen Inspek­ schleppten setzten sich auch die Köpfe der deutschen Bevölkerung aus Rumänien ausei- torats der Siguranta Temeswar war die Verfasnander. Am 10. Februar 1945, somit einen Mo- sung der deutschen Bevölkerung sehr schlecht. nat nach Beginn der Deportation, richteten, lei- Die Menschen waren besorgt um das Schickder namentlich ungenannte führende deutsche sal der zur Arbeit in die UdSSR verschickten Persönlichkeiten, in einem in den Archiven Verwandten, um die in Deutschland wie auch der Kommunistischen Partei erhaltenen Doku- wegen des Bodenverlusts durch die Agrar-Rement eine Eingabe an die Partei („promemo- form27. rie“) hinsichtlich der schwierigen WirtschaftsDie Integration der Heimkehrer lage der zuhause verbliebenen Mit­bürger. „Es ist der Augenblick gekommen, dass auch wir Gegen Jahresende 1945 haben die Sowjets die objektiv – ohne Lamentieren und Schuldzu- arbeitsunfähigen Kranken und Verunglück­ weisungen – die Lage unseres Volkes prüfen“, ten nachhause geschickt. Bei ihrer Rückkehr heißt es in diesem Dokument. Das erste An- nach Rumänien wurden diese Bürger als reliegen der Autoren bezog sich auf die Korre- patriiert eingestuft. Dazu waren gewisse Prospondenz-Möglichkeit mit den deportierten zeduren unerlässlich. Zuerst mussten sie vor Deutschen: „Die Sachsen und Schwaben Ru- eine Einstufungs-Kommission, die aufgrund mäniens wünschen, sobald wie möglich, den der Order Nr. 5372 vom 11. Mai 1945 der Kontakt zu ihren zur Arbeit in die UdSSR General-Direktion der Polizei einige Tage verschickten Blutsverwandten aufzunehmen, nach dem Ende des II. Weltkrieges ins Levermittels der in diesem Bereich befugten So- ben gerufen wurde. Die Deportierten melwjet-Kreisen.“ Es wurde eine „Anti-Hitleris- deten sich im Rathaus ihres Wohnortes. Die mus-Bewegung“ der Sachsen und Schwaben Beamten rapportierten weiter der Stadt-Polivorgeschlagen, eine Bewegung „des Friedens zei bzw. den Dorfgendarmen, ob der Repatriierte vor dem 30. August 1940 im Natiozwischen den Völkern25.“ Einige Wochen nach der Deportation wur- nalitäten-Register eingetragen war. Danach den die in der Heimat verbliebenen Sachsen wurden sie in die Evidenz des Bevölkerungsund Schwaben durch die Polizei und Gen- Büros der Gemeinde aufgenommen. Auch darmerie zu diversen Arbeiten eingesetzt. wurden persönliche Erklärungen abgegeben Sie bildeten Arbeits-Bataillons oder – Ko- bezüglich des Geburtsjahres und -ortes, des lonnen“ für öffentliche Arbeiten. Im März Familienstandes, des Berufs, der Staatsbür1946 wurde ein solcher Transport von deut- gerschaft, Nationalität, des letzten Wohnorts; schen Männern und Frauen in die Kohlen- wann sie Rumänien verlassen haben, unter gruben von Petrosani geschickt26. Am 19. Fe- welchen Umständen sie dazu bewogen wurbruar 1945 machte die CAC die Regierung den, wo sie wohnten. Zuletzt mussten sie den in Bukarest aufmerksam auf die Deutschen neuen Wohnort anführen28. Nachdem sie aufZivilisten und Soldaten, die der Deportation entkommen waren und „frei auf dem Terri- 27 „Adresa Inspectoratului Regional de Siguranta 25 ANIC, CC. al PCR – Sectia Organizatorica, Dosarul 7/1945, f. 2-3 26 Idem, Dosarul 27/1945, f. 23

Timisoara catre Directiunea Generala a Sigurantei Statului – Bucuresti“, 16 martie 1948

21 Die Deportationswellen im Spiegel der Geschichtsarchive grund dieser Erklärungen und vorgelegten sichtlich der Lage der Minderheit eingereiPapiere „durchleuchtet“ waren, wurden sie cht. So verlangten sie im April 1946 unter anals „Deportiert-Repatriierte“ anerkannt. In- derem die Vermittlung der rumänischen Renerhalb von 15 Tagen mussten sie am Ziel- gierung bei der Sowjet-Regierung, dass die ort bei den Verwaltungs- und Polizeiorganen „zur Zwangsarbeit verschickten Bürger baldvorstellig werden, die ihnen den Personal- möglichst in ihre Heimat zurückkehren31.“ ausweis aushändigten. Jedoch für die Mehrheit der in den DonEine Zeitlang blieben die übermüdeten und bas, den Ural und Sibirien Verschleppten enkranken Heimkehrer in der Obhut der Fami- dete der Leidensweg erst Ende 1949. lien. Die Jugendlichen, die als Lyzealschüler deportiert wurden, konnten nicht weiterlerDie Sowjetunion in der Erinnerung nen/studieren, weil sie arbeiten mussten, um der Deportierten für sich und die anderen Familienmitglieder Jede Lebensgeschichte der deutschen, in die den Unterhalt zu sichern. Erst mit der Zeit UdSSR Deportierten ist einmalig. Sie wurhat sich ihre wirtschaftliche Lage geregelt. den fast wie Verbrecher von zuhause ausgeDie in der UdSSR verbrachte Zeit wurde im hoben, in Viehwaggons in die Sowjetunion Arbeitsbuch vermerkt und zur Arbeitszeit verfrachtet und dann zur Arbeit in Kohlenhin­­zugerechnet. Ohne Hab und Gut verblie- gruben gezwungen. Von dieser tragischen ben, mussten viele persönlichen Besitz ver- Wegstrecke blieben einige Elemente, die in äußern (Kleidung, Bettwäsche, Schmuck, allen Berichten wiederkehren, die eigentlich auch Möbel)29. die Deportations-Erinnerung der Deutschen Es kam zu Spannungen infolge der Über- aus Rumänien in die Sowjetunion darstellt. eignung des Besitzes der Deutschen an die Wir werden kurz die wichtigsten Momente Kolonisten, die sich den Besitz der abwesen- dieses gemeinsamen rumänisch-deutschen den Deutschen zueigen gemacht hatten. Der- Geschichtsabschnittes präsentieren. gleichen wurden z. B. der General-Direktion der Staatssicherheit im Kreis Tarnava Mica/ Die Verhaftung Kleine Kokel gemeldet: „Rumänische Staats­ Die Mehrheit erinnert sich, dass urplötzbürger deutscher Nationalität, die von der lich die deutschen Dörfer von „rumänischen Zwangsarbeit in der UdSSR zurückgekehrt und russischen Soldaten“ umzingelt waren. sind, behaupten bei jeder Gelegenheit, dass Die Männer zwischen 18 und 45 Jahren soihnen bei der Abreise in der Sowjetunion und wie die Frauen zwischen 20 und 32 musswährend der Triage in Focsani gesagt wurde, ten Kleidung und Esswaren in einen Kofdass sie mit ihrer Heimkehr in alle ihre Rech- fer packen und sich dann in der Dorfschule te wiedereingesetzt werden30.“ einfinden. In vielen Fällen wurden auch JuIn den Jahren 1945-1946 hat die Füh- gendliche unter 17 Jahren ausgehoben sowie rung der deutschen Gemeinschaft den rumä- Frauen, die älter als 32 waren, selbst wenn nischen Autoritäten diverse Eingaben hin- sie zuhause Kinder zu erziehen hatten. Die Soldaten drangen in die Dörfer mit den Li29 „Adresa Nr. 8539 a Inspectoratului Regional sten der Auszuhebenden ein. Falls sie die de Politie Sibiu catre Directiunea Generala a Po- Unglücklichen, die am Wiederaufbau der litiei, Directiunea Politiei de Siguranta, Serv.II, UdSSR teilnehmen sollten, nicht zuhause

28 „Fisa-declaratie nr. 1594“, completata de Adalbert Ludwig, 04.12.1945 www.zfl.ro/deportationsprojekt/CNSAS/Revenirea_in_tara/Doc2.jpg

30 Ibidem

Bir.5, 19.10.1945 www.zfl.ro/deportationsprojekt/ CNSAS/Consecintele_deportarii/ Doc2.jpg.

31 „Memoriu asupra...“, ANIC, CC al PCR – Sectia Organizatorica, Dosarul 27/1946, f.24.

22 Die Deportationswellen im Spiegel der Geschichtsarchive vorfanden, nahmen sie Ersatzleute. Wichtig fällig im Bahnhof weilten. Wichtig war nur war einzig die Zahl, nicht unbedingt der Li- die Anzahl der Häftlinge, nicht unbedingt stenname. ihre ethnische Herkunft. Jene unglücklichen Die Verhaftung der Deutschen war ein wah­ Rumänen wurden zusammen mit ihren deutres Drama in den Dörfern und Städten des Ba- schen Landsleuten deportiert. nats und Siebenbürgens. Einige versuchten zu In Jassy (Iasi) angekommen, wurden die fliehen, versteckten sich in Wäldern oder in Deportierten in größere Waggons verladen. rumänischen oder ungarischen Ortschaften. So trafen die Banater Schwaben die SiebenDamit sich alle stellen, drohte man per Mega- bürger Sachsen und verstanden sofort, was fone, die Alten auszuheben. Bis zuletzt haben mit ihnen geschah. Es gab keinen Zweisie sich gestellt. fel mehr, dass man sie in die Sowjetunion schickte. Bei der Pruth-Überquerung hörte Der Weg in die Sowjetunion der Begleitdienst der rumänischen SoldaDie Deportierten erinnern sich, dass ihnen ten auf, es verblieben nur die Sowjet-Soldaniemand sagte, was geschehen wird. Die ru- ten. In der Ukraine war die Bewachung nicht mänischen Soldaten hatten – nach eigener mehr so streng. Die Waggontüren öffneten Aussage – Angst, etwas zu sagen, zumal sie sich öfter, wohin sollte man fliehen? Zum ervon den Sowjets ausspioniert wurden. Sie sten Mal gab es eine warme Mahlzeit. glaubten, dass die Deutschen irgendwohin Am Ziel ließ man sie aussteigen und sich in Rumänien, weit weg von zuhause, zur Ar- nach Arbeitsbefähigung gruppieren. Anhand beit gebracht werden. der Listen der Produktionseinheiten mit ArAus den Dorfzentren wurden sie per Wa- beitskräfte-Mangel wurden die Deutschen gen, Schlitten oder zu Fuß in die nahen Städte gruppiert und in die Lager geschickt. Auf ihre gebracht. Dort wurden sie in Vieh-Waggons Herkunft wurde keine Rücksicht genommen. verladen und mitten im Winter weggeführt. Ihre Zuteilung erfolgte zufällig, sodass die Frauen und Männer waren gezwungen, sich Verschleppten aus demselben Dorf auf zweiauf engem Raum zurechtzufinden. Sie legten drei Arbeitslager verteilt wurden, auch wenn ihre Esswaren zusammen, kauerten eng an- sie im selben Transport waren. Demgemäß einander, damit es ihnen wärmer war, ver- gab es dramatische Fälle, wenn Eltern und richteten ihre Notdurft vor den andern in das Kinder getrennt wurden. Loch im Waggon-Boden. Zum Essen hatten sie, doch es war extrem kalt.. Die ersten DeDas Lagerleben portierten-Toten gab es schon auf dem Terri- Die „Glücklichsten“ blieben in den Ortschaf­ torium Rumäniens. Die Fahrt verlief zäh. Es ten, wo sie „auswaggoniert“ wurden. Andewar noch Krieg und die Züge hielten an fast re Arbeitslager befanden sich zig Kilometer jeder Station, um die sowjetischen Frontsol- entfernt. Nach wochenlanger erschöpfender daten vorbei zu lassen. Fahrt mussten die Deportierten zu Fuß durch Ab und zu wurden die Waggontüren in ei- den Schnee in die Ortschaft gehen, wohin ner Station geöffnet, damit die Verschlepp- sie zur Arbeit zugeteilt waren. Die Erfindeten sich mit Wasser versorgen konnten. Eini- rischsten zogen ihren Koffer am Hosenriege versuchten zu fliehen, indem sie die Un- men hinter sich her. aufmerksamkeit der rumänischen und rusMehrheitlich mussten die deutschen Versischen Soldaten nutzten. Ein Grund für neue schleppten selbst ihre Lager-Baracken erÜbergriffe. Anstelle der Flüchtlinge wurden bauen oder die existierenden reparieren. Jeunschuldige Menschen genommen, die zu- denfalls mussten sie – mitten im Winter - eine

23 Die Deportationswellen im Spiegel der Geschichtsarchive oder mehrere Nächte unter freiem Himmel Die Ernährung schlafen. Etwas Wärme gab es dann doch, Die Ernährung war das größte Problem der Dezumal sie im Allgemeinen in ein Kohleförde- portierten. Die Todesfälle und Erkrankungen rungs- oder Holzverarbeitungsgebiet kamen. derselben wurden mehr durch die schlechWie eine Ironie des Schicksals kamen ei- te Verpflegung als durch die Arbeitsbedinnige in Lager, die von Soldaten der Nazi-Ar- gungen verursacht. Diejenigen, die zu­hause mee zur Zeit ihrer Kantonierung in der So- gut gegessen hatten, Fleisch oder Fleischprowjetunion errichtet wurden. dukte, konnten sich nicht anpassen. Allgemein Die Lager wurden von Sowjet-Soldaten bekamen sie am Arbeitsplatz miserable Kräubewacht. Die meisten waren stacheldraht – tersuppen. Sehr selten Fleisch. Mehr Tiergeumzäunt, obwohl die Deportierten nicht flie- därme oder -innereien. Auch das Brot war wehen konnten, wo doch ihre Heime tausen- nig nahrhaft. Der Weizen war mit Hafer verde Kilometer entfernt waren. Männer und mischt und mit Wasser aufgebläht. Falls man Frauen wurden in getrennten Baracken un- das Stück Brot ausdrückte, blieb nichts mehr, tergebracht. Es wurden hierfür Lagerküchen erinnern sich die Deportierten. ins Leben gerufen, wo deportierte Frauen arDas Fehlen der Nahrungsmittel ist ihre bebeiteten. ständigste Erinnerung. Das Hungergefühl war permanent, so dass sie für etwas EssDie Arbeit bares alles imstande waren. Schon in den Alle interviewten Deportierten beklagten ersten Monaten boten sie den Ortsbewohsich über die schweren Arbeitsbedingungen nern zum Tausch für etwas zusätzliche NahMehrheitlich waren sie Kohlengruben zuge- rung alles an, was sie im Koffer hatten. Als teilt. Ob sie nun in der Mine oder draußen ar- sie Lohn für ihre Arbeit erhielten, um 1948, beiteten, war es eine ganz andere Arbeit als konnten sie sich Lebensmittel kaufen. Jezuhause.Vor allem waren die Jugendlichen doch auch der russische Markt quoll nach nicht mit der Industriearbeit vertraut, denn sie dem Krieg nicht über an Erzeugnissen. Sie waren entweder noch Schüler oder sie arbei- kauften Brot und Polenta (Maismehlbrei). teten in den Dorfwirtschaften ihrer Eltern. Sie wurden von Natschalniks bewacht, die dafür Die Russen sorgten, dass die Arbeitsnormen respektiert Es scheint widersinnig, dass die Deportier­ wurden. Einige hielten nicht durch. Schon in ten mit positivem Eindruck vom russischen den ersten Monaten erkrankten sie und konn- Volk heimkehrten. Anfangs mussten sie sich ten nicht mehr in die Grube. Andere wurden den Vorurteilen der Russen den Deutschen Unfall-Opfer, wurden in der Mine verschüt- gegenüber stellen, die von der öffentlichen tet, von Baumstämmen getroffen usw. 1946 sowjetischen Propaganda genährt wurden. wurden die Arbeitsunfähigen nach Haus ge- Die Soldaten und Natschalniks waren sehr schickt. Viele von ihnen haben sich nicht wie- streng, bestraften alle Regelwidrigkeiten. der erholt, sind an den Krankheiten oder Un- Die Natschalnik-Frauen waren viel schlimfällen während der Deportation gestorben. mer als die Männer in dieser Funktion. WahrDie in der Deportation Verbliebenen ha- scheinlich hatten sie ihre Männer oder Brüben zum „Wiederaufbau“ der UdSSR beige- der an der Front verloren und richteten all tragen. Schwerer waren die ersten drei Jahre. ihre Bitternis gegen die unter ihre Aufsicht Danach hatte man sich an die Arbeitsbedin- gelangten Deutschen. Ebenso schroff wagungen gewöhnt, die Arbeitsnormen wurden ren anfänglich die an der Front verwundereduziert. Um 1948 bekamen sie auch Geld. ten Soldaten.

24 Die Deportationswellen im Spiegel der Geschichtsarchive Mit der Zeit lernten die russischen Solda- besser als denen in den Gruben. Sie konnten ten und Natschalniks die Deportierten ken- ohne strenge Überwachung der Natschalniks nen und sich mit ihnen zu verstehen.Wichtig Kontakt zu der russischen Zivilbevölkerung war dabei, dass die Deutschen die russische aufnehmen, von ihr unterstützt werden. Sprache erlernten (summarisch eben). Anfangs verständigten sie sich mittels „ÜberDie Heimkehr setzer“ aus Bessarabien, die auch deportiert Beginnend mit dem Jahr 1948 kreisten unter waren oder Freiwilligendienst leisteten. den Deportierten Gerüchte, dass sie heimgeDie russischen Ortsansässigen jedoch hat- schickt werden. Die Arbeitsweise hatte sich ten den deutschen Deportierten gegenüber entspannt, sie bekamen Geld, konnten sich keine Vorurteile. Alle Interviewten behaup- Lebensmittel und andere Sachen kaufen, ten, dass sie nicht hätten durchhalten können weil es Zuteilungs-Karten gab. ohne die Hilfe der einheimischen Bevölke- Es gab nun auch neue Kleidung, da auch rung. Diese verstand ihre Nöte und bot Hil- Schneider unter ihnen waren. Einige grünfe an. Auch den Russen ging es schlecht, er- deten in der Deportation Familien, es kamen innern sich die Verschleppten, sie hatten kei- Kinder zur Welt. Die Lager-Wächter gestatnen Grund „neidisch“ zu sein. Die Depor- teten die Bildung von künstlerischen Gruptierten halfen im Haushalt und bekamen zu pierungen; es wurde Akkordeon gespielt, essen. In den Sowjet-Dörfern waren die Al- kleine Feste gefeiert. Besonders anlässig der ten zurückgeblieben, die Jungen waren mo- offiziellen sowjetischen Jahrestage durften bilisiert oder kriegsbezogen beschäftigt. Oft sie allein durch die Städte spazieren. Sie liegingen die Deutschen in die Dörfer der Um- ßen sich fotografieren und brachten die Fogebung Lebensmittel betteln. Die Russen ga- tos mit nach Hause. ben von dem Wenigen, das sie besaßen, lieBezüglich ihrer Rückkehr haben sie weßen sie nicht Hungers sterben, erinnern sich nige Erinnerungen. Sie wussten, dass ihnen die vormals Deportierten. nichts Böses mehr widerfahren wird. Manche sind auch heute noch gerührt, wenn sie Die Sowjetunion zurückdenken an das Glücksgefühl, das sie In der Erinnerung der Deportierten blieb überkam, als sie beim Grenzübergang die ruRuss­land (Sowjetunion) als ein armes Land, mänische Sprache vernahmen. nicht unbedingt rückständig. Sie erinnern Die Züge mit den deutschen Heimkehrer sich, dass dann, als sie in die Kohlengruben aus der Sowjetunion hielten in Sighetul Markamen, Pferde als Zugtiere für die Kipplo- matiei. Dort bekamen sie Fahrausweise, mit ren nach draußen genutzt wurden. Mit der denen sie gratis per Bahn nachhause fahren Zeit begann die Elektrifizierungs-Kampagne konnten. Unterwegs empfingen sie die Ortsund vor der Heimreise wurden die Kipploren ansässigen, die Obst und andere Lebensmitschon elektrisch betätigt. Ebenso blieb ihnen tel in die Züge warfen. Sie wussten, dass sie eingeprägt das Bild der kriegszerstörten Ort- ausgehungert aus der UdSSR kamen. schaften. Als sie 1945 in die UdSSR gebracht Zuhause gelang es ihnen, sich wieder einwurden, sah man noch die Kampfspuren und zugliedern. Diejenigen, die Russisch gelernt die Leichen der toten Soldaten lagen auf den hatten, konnten sogar von der Deportatihartgefrorenen Feldern. on „profitieren“. Zur Zeit wurden Leute mit Einige Deportierte nahmen am Wiederauf- Russischkenntnissen gesucht, wo doch diese bau der Städte teil, arbeiteten auf Baustellen je Sprache in Rumänien erst nach dem Krieg nach zuhause erlerntem Beruf. Es ging ihnen gelehrt wurde.

25 Die Deportationswellen im Spiegel der Geschichtsarchive Die jungen Männer hatten noch eine Hürde men auf die zivilisatorische Rückständigkeit zu nehmen. Da sie ihren Militärdienst nicht der Sowjets. Ihrer Meinung nach wurden geleistet hatten, wurden sie einberufen. Zu- die Schwaben und Sachsen aus ihrem blüfällig - oder auch nicht - wurden viele von ih- henden Lebenskreis gerissen und erniedrigt nen in die Arbeitseinheiten eingereiht, die in durch die Zwangsarbeit in den Kohlengruder Kohleförderung im Schil-Tal arbeiteten. ben der Sowjetunion. Die Schuldigen Danach gefragt, wer für ihre Deportation verantwortlich ist, sind die Meinungen der interviewten Deutschen verschieden. Vor allem die in Rumänien Verbliebenen scheuen sich, Verantwortung zuzuschreiben. Sie behaupten, dass die Umstände der Nachkriegszeit die Deportation bedingte, da Deutschland den Krieg gegen die UdSSR verloren hatte. Sie waren irgendwie unschuldig in diesem Spiel der Großmächte. Andererseits neigen die zur Zeit in Deutsch­ land lebenden vormaligen Deportierten dazu, die Rumänen verantwortlich zu machen. Sie behaupten, dass die Sowjet-Regierung von Rumänien Zivilpersonen zum Wiederaufbau der UdSSR gefordert hat. Es soll aber nie festgelegt worden sein, dass es Deutsche sein müssen. Die Regierung in Bukarest hat angeblich beschlossen, die Deutschen zu deportieren. Danach gefragt, ob sie im Lager auch andere Nationalitäten aus den Verlierer-Ländern angetroffen haben, konnten sie sich an Derartiges nicht erinnern. Getroffen haben sie nur Deutsche aus den Nachbarländern Ungarn, Jugoslawien usw. Die Deportation in der Erinnerung der Nachkommen Die Nachkommen der Deportierten bewahren die Erinnerung an die Leiden der Deutschen in der UdSSR. Sie sind aber nicht mehr so versöhnlich weder mit den historischen Gegebenheiten der Nachkriegszeit noch mit dem russischen Volk. Ihrer Meinung nach war die Deportation ein Racheakt seitens der Sowjetunion für die NaziVerbrechen. Ebenso bestehen die Nachkom-

Lebensgeschichte, Erinnerung der Nachkommen, kollektives Gedächtnis Gemäß dem aktuellen vielgestaltigen Erkenntnisstand ist das erzählende oder schöpferische Interview nicht mehr eine Erforschungsmethode in sich der sozio-humanenWissenschaften und der Historiografie. Beginnend mit den Forschungsarbeiten von Thomas und Znaniecki32 – wo diese Methode zum Paradigma der „Subjektivität“ und zum Fundamentieren der Schule von Chicago führte – und bis heute trachtet man danach, den Methodologie–Wechsel dem Tempo der Neuheiten im sozialen Alltag anzupassen. Als dem Fallstudium untergeordnete Technik, der Mega-Trend-Methode oder ethnobiografischen Methode, bewahrt das Interview seinen Platz im Rüstzeug des Forschers, hält sich aber auch als Basis-Technik der mündlichen Geschichte33. 32 W.I. Thomas (1863-1947) war der erste Direktor des Soziologie-Departements der Universität Chicago. Zusammen mit F. Znaniecki erarbeitete er eine berühmte Studie über die polnischen Einwanderer, die in den Jahren 1918-1920 in vier Bänden veröffentlicht wurde. Ihre Nachforschungen, beruhend auf einer beeindruckenden Gruppe polnischer Einwanderer und polnischer Bauern in Amerika, werden als grundlegend für die „Chicago-Schule“ betrachtet und als Überwindung des damals modernen BehaviorismusParadigmas. Im Gegensatz zum Behaviorismus, der das Verhalten auf die durch einen Stimulus bedingte Antwort reduziert, vertritt Thomas die Rolle der „Subjektivität“ der Individuen in der Entstehung der Entscheidungen und des Verhaltens. 33 Als Alternative oder Ergänzung zum Studium der schriftlichen Dokumente seit längerer Zeit

26 Die Deportationswellen im Spiegel der Geschichtsarchive Was das Erforschungs-Projekt der Erin- eine der vormaligen in die Sowjetunion denerung an die Verschleppung der Deutschen portierten Deutschen und der zum Interview in die Sowjetunion betrifft, wurde das Inter- bereiten Überlebenden war die Differenz enviewen einiger Überlebender von Anbeginn orm35. Egal, ob diese rumänische oder deutals erste und notwendige Etappe betrachtet. sche Staatsbürger waren. Im Sinne der PsyEbenso haben wir von Anfang an die in die- choanalyse ist das Erzählen einer schmerzsem Buch veröffentlichten Ergebnisse als haften Lebenserfahrung ein Schlüssel zur dokumentarisches Reservoir für künftige Trauma-Therapie und gleichzeitig eine BrüForschungen eingeschätzt. cke, um das Ich mit den Gegenwarts-WerWie es jedoch gewöhnlich in einer quali- ten in Einklang zu bringen. Das hohe Maß tativen Forschung geschieht, dass nach dem an psychischem Trauma der DeportationsFestlegen der Ziele/Vorhaben und der Realisie- jahre wird vermutlich am treffendsten deutrung der Konzepte, während des Daten-Sam- lich durch die Weigerung der Mehrheit der melns, haben wir einige unserer Hypothesen kontaktierten Überlebenden, über die Deumformuliert. So schicken wir anschließend portations-Jahre zu berichten. „Denn, wenn einige Überlegungen und Schlussfolgerungen du jeden Augenblick daran denkst, wie voraus bezüglich der laut aufgestelltem Leit- schlimm es war, welche Schande du erlebt faden erfolgten Interviews34 und der nach hast, machst du dich kaputt“, bekannte eine Umformulierung unseres Projektes erfolgten Frau, die Ehefrau und Tochter von vormals Auswärts-Interviews. Deportierten. „Und falls du etwas sagst, sagen die andern, du warst ein Nazi, ein HitleDie Deportation als Lebensgeschichte rist. Besser schweige ich. Am schlimmsten Die Dokumentation und implizite die Unter- war es, dass mein Mädchen starb. Ich schaue, weisung der Interviewer beinhalteten War- ich pflanze Blumen, sehe, wie schön es draunungen hinsichtlich der Schwierigkeiten, die ßen ist...ich bin zu alt und kann so nicht... zu sich aus der Persönlichkeit der Interviewten viel habe ich gelitten, um jetzt zu scherzen... und der Interview-Thematik ergeben. ich kann so nicht... will nicht...36 Die Autoren des Projekts – das kann jetzt Die Berichts-Erfahrung erlangte besondezugegeben werden – waren viel zu optimi- re Akzente auch durch das Verbot der sowjestisch, was die Außenlage betraf. Der er- tischen und rumänischen Offiziellen, über die ste Kontakt war zugleich das erste Hinder- Deportation zu sprechen. Vor der Heimkehr nis: Zwischen der Mitgliederzahl der Ver- wurden den Deportierten die persönlichen praktiziert, begann die Organisierung der systematischen Forschungen in diesem Bereich 1948 mit dem „Mündlichen Geschichts-Projekt der Columbia-Universität“, initiiert durch Allan Nevins. Die amerikanischen Studien der mündlichen Geschichte zielen gegenwärtig ab auf weitläufige Themen und Gruppierungen der Forschung. Sie verfolgen vor allem die Wiederherstellung aufgrund der Teilnehmer-Berichte von einigen Ereignissen, Episoden oder der Profile von geschichtlichen Persönlichkeiten.

35 Dieser Situation gemäß war es im Rahmen des Demokratischen Forums der Deutschen aus Reschitza als Partner dieses Projekts nicht möglich, die ursprünglich vorgesehene Zahl der vormaligen Deportierten zu interviewen. Mit der Hilfe der Herren Erwin Tigla, des Vorsitzenden des Demokratischen Forums der Deutschen aus Reschitza, und Ignatz Bernhard Fischer, des Vorsitzenden des Vereins der Russlandverschleppten aus Rumänien, wurde die Forschung auf andere Ortschaften ausgeweitet.

34 Siehe Anhang 1

36 Bericht von Maria Ferenschutz

27 Die Deportationswellen im Spiegel der Geschichtsarchive Dinge mit Erinnerungswert zerstört. Und die chen Fällen wurde auf den Interview-VorZwangsarbeit-Episode zum „Wiederaufbau“ druck verzichtet und den Erinnerungen „freider Sowjetunion war nach dem Krieg ein en Lauf“ gelassen. Vor Ort fokusierten sich „weißer Fleck“ in der Geschichte Rumäni- die Interviewer vor allem auf die Frage: In ens und ein Tabu-Thema im öffentlichen Ge- welchem Maße wandeln die individuellen spräch. So wollte man aus dem kollektiven Traumata und politischen Verbote die ErinGedächtnis diese „Inseln“ aus dem Leben nerung an die Verschleppung in eine „Epivon zehntausenden Deportations-Überleben- phanie“ ihrer Lebensgeschichte? Unvorsehden, deren Freunde und Familien, löschen. bar war zur Zeit der Planung auch, was man Demzufolge konstituierte sich die zu be- „Muster“ des Überlebenden der Verschlepwertende Gruppe mittels „auf-den-Zahn- füh- pung nennen könnte. Vor allem wegen des len“ und unvorhergesehener Korrekturen. „hohen Alters“. Wenn zur Zeit der DeportaWie jede Lebensgeschichte hat auch das tion die Jüngsten kaum 17 Jahre alt waren, so „Remake“ der Deportationserinnerungen star­ nähern sich die jüngsten Deportierten heute ke Gemütsregungen sowohl seitens der Er- den 84 Jahren oder sie haben sie schon erzähler als auch der Interviewer vorausgesetzt. reicht. Die Eigenheiten des Gedächtnisses Wer bin ich? Was habe ich erlebt? Warum der Menschen über 80 wurden deutlich im wurden gerade mir Leiden, Hunger, Demüti- Verhältnis zwischen Speicherung, Codiegung, Entfremdung auferlegt? Durch welche rung, Wiedergabe, Vergessen und UmdeuVerdienste oder Wunder habe ich überlebt, tung der Informationen und Erinnerungen. als so viele Mit-Deportierte nicht heimkehren Und nicht zuletzt im Gebrauch der rumäkonnten? Solchen Dilemmas war jeder Erzäh- nischen Sprache. Schon viele Jahre in der ler ausgesetzt, indem er die Erfahrung des In- Gemeinschaft der Familie in Deutschland terviewers akzeptierte. „Was uns zu erleben lebend oder in eigens für die Deutschen aus gegeben war, wünsche ich keinem, nicht mal Rumänien geschaffenen Heimen39, maßen den Feinden“, sagt eine Interviewte. „Wir ha- sich die Befragten durch die Interview-Verben schuldlos unvorstellbare Leiden erdul- einbarung explizite die Reaktivierung des rudet, haben in Elend gelebt, Hunger gelitten, mänischen Wortschatzes zu. Einige verweian Kälte37.“ gerten den Dialog dadurch, dass sie nicht Die Deportationsgeschichten wurden ver- mehr rumänisch sprechen können40. schiedenartig erzählt je nach Kontext und Bildlich gesehen, fließen die DeportationsPersönlichkeit der Dialog-Partner38. In man- berichte ein in die öffentliche Kommunikation wie kleine Gebirgsseen mit regelmäßigen Ufern und tiefen Quellen. 37 Bericht von Ana Zgardea (Feil) Der Interviewte und der Interviewer an38 Zur besseren Verwirklichung der Projekt-Ziele kern an diesem ersten „Ufer der Erinnerung“ und die Steigerung ihrer Wirkung wurden 11 In- nach kurzen und ruhigen „Reisen“. Denn die terviews von Studenten der Psychologie, II. Jahrgang der Fakultät für Erziehungswissenschaften, Psychologie und Sozial-Assistenz an der Universität „Aurel Vlaicu“ Arad im Universitätsjahr 2011-2012 durchgeführt. Die Interviews galten als praktische Anwendung der im analytischen Programm des Kurses für soziale und angewandte Psychologie vorgesehenen Themen, gehalten von Universitätsprofessor Dr. Lavinia Betea

39 Teils wurden die Interviews im Adam-MüllerGuttenbrunn-Haus Temeswar und dessen Filiale in Sanktanna (Arad) verwirklicht. 40 In dieser Situation haben die Interviewer mittels der Landsmannschaft der Banater Schwaben e.V. München einen Übersetzer zu Hilfe nehmen können.

28 Die Deportationswellen im Spiegel der Geschichtsarchive Zeit hat das schroffe Relief der Konflikte, Mutter mit einem einige Monate alten Baby Leiden und Demütigungen aus der Jugend im Arm zurückkam“, erzählt die Tochter einer besänftigt. Über sie hat das Leben andere vormals Deportierten. „Der Vater wollte nicht Leiden und Frustrationen gestreut. Durch zusammen mit der Mutter und mir, dem Baby, ihr Alter sind alle geprägt durch den Ver- nach Rumänien kommen. Er kehrte nach Unlust nahestehender Wesen: Kinder, Enkel, garn, zu sich nachhause. Ich weiß nichts über Lebenspartner. Anderseits haben die zu- ihn, habe ihn nie gesehen.“42 rückliegenden Jahre und das Dasein in AlOder dieser Bericht einer Enkelin über ihre tersgemeinschaften ihren Glauben und ihre Großmutter: „Als sie aus der Deportation zufundamentalen Praktiken verändert. Christ- rückkam, war es für meine Großmutter noch liche Gebote wie „Liebe deinen Nächsten schlimmer. Sie erzählte nicht viel darüber, nur wie dich selbst“ oder „Vergib deinen Schul- was ich von meinem Vater erfuhr. Als sie zudigern, dann wird auch dir vieles vergeben rückkam, wollten die Kinder sie nicht mehr. werden“ haben ihre Verhaltensweisen und Zuhause war ja diese Frau. Großmutter hatte Meinungen endgültig verändert. so keine Bleibe. Mit dem Ehemann lief nichts „Schuldig an den Geschehnissen habe ich mehr. Es war ein Desaster. Sie wollte beide niemanden gesprochen“, sagt heute eine De- Kinder, doch keins wollte sie. Sie nahm sie, portierte über ihr Lagerleben. „Ich sagte nicht doch sie konnte sie nicht ernähren. Sie hatte so, noch anders. Als sie uns nahmen, sind wir kein Geld. Bis zuletzt verließ der Junge sie für gegangen. So wie die Männer vor uns in den ein Federmäppchen und lief zu seinem Vater. Krieg gingen. Warum nahmen sie uns? We- Oh weh! Sie hatte nichts zu essen für sie. Bis gen unserer Sünden nahmen sie uns41.“ zuletzt blieb das Mädchen bei ihr. Sie erzählte An diesem Punkt der „Besänftigung“ der nicht. Es war ein Desaster für eine Frau. Stellt Deportations-Erinnerungen angelangt – wie euch vor, die Familie kaputt und die Kinder die Wellen, die sanft auf das Lebensufer tref- mögen dich nicht mehr! Sie mögen die Frau, fen – betrachten wir die Erforschung der le- die nicht ihre Mutter ist, jedoch für sie sorgte, bendigen Erinnerung aus historischer Per- während sie deportiert war.“43 spektive als abgeschlossen. Die Erinnerungen der Nachfahren haben aus den Erzählungen der Eltern und GroßDas zweite Ufer - Das Gedächtnis eltern Informationen und suggestive BilDie Erinnerungen der Nachfahren der gespeichert und noch eindruchsvoller Wir haben den Rahmen des anfänglichen wiedergegeben. Der Hunger, die Kälte, die Projekts gesprengt, indem wir die Befragten- schwere Arbeit, die Demütigungen und die Kategorie auf die Erinnerungen der Familien Entfernung – Konstanten der deutschen Deausweiteten. Anhand von drei Generationen portierten in der UdSSR – werden in diesen verfolgten wir die Deutungs-Mäander der Erinnerungen durch Episoden illustriert, die nahen Vergangenheit im sozialen Denken. sich aus kulturellen und persönlichen DeuIn den Berichten gab es auch Fälle, wo ein tungen und Umdeutungen ergeben. bestimmtes Geschehen aus dem persönlichen „Ich bin so glücklich, dass wir etwas zu Deportationsleben tiefere Folgen im Leben essen haben“, zitiert eine Nichte ihre Tante. des Interviewten und seiner Familie hinterließ „Bei den Russen war es schrecklich – du hatals die Deportation selbst. „Bei der Rückkehr war es ein Schock für die Familie, dass die

29 Die Deportationswellen im Spiegel der Geschichtsarchive test nichts zu essen. Es ist schrecklich, wie dentum“ - nach dem Ausdruck von Tzvetan sehr wir gehungert haben und wie viele ver- Todorov - durch die Wertung der Nachfahren hungert sind. Und wie sollte ich jetzt nicht in exemplarisches Heldentum. essen? Es ist mir egal, wie viel ich zunehme. Dort gab es eine sehr kranke und geschwäch- Das letzte Ufer - Die kollektive Erinnerung te Frau. Und sie bat mich, ihr von meiner EsDas kollektive Gedächtnis sensration zu geben. Niemand wollte von In der klassischen Theorie von Maurice Halbseiner kleinen Ration einem anderen ge- wachs46 wird die Beziehung zwischen der inben. „Gib mir zu essen. Ich sterbe soundso dividuellen und kollektiven Erinnerung durch hier. Du jedoch kannst, wenn du heimkehrst, gewisse soziale Rahmen gewährleistet. Das meinen Mann nehmen.“ „Lass mich in Ruhe, Soziologische dominiert jedoch das Psychosagte ich. Ich brauche deinen Mann nicht! logische, die individuelle Erinnerung bezügUnd als ich von Russland kam, habe ich ge- lich eines Ereignisses oder einer wesentlichen nau den Mann jener Frau genommen...“44 Zeitdauer „passt sich“ den kollektiven DarEin andermal reihen sich die Erinnerungen stellungen an. zu wahren Familien-Biografien, zu ErgänNicht anders sind auch die Deportationszungen für eine mögliche Ethnografie der Ru- Erinnerungen der Deutschen. Siehe eine remänien-Deutschen. „Die Tante meines Man­ levante Antwort bezüglich der schuldigen nes war deportiert, erzählt eine Interviewte. Entscheidungsträger an jenen Kollektiv-LeiSie war dünn, sodass niemand glaubte, dass den: „Wir glaubten zuerst, dass der rumäsie schwanger ist. Sie ging im Januar und im nische Staat Schuld trägt. Man sagt, dass September gebar sie das Kind. Sie erkrankte die Sowjets 100.000 Arbeiter von Rumänien dort an TBC, so geschwächt war sie. Nach der verlangten und dass die Rumänen uns gaben, Russland-Deportation brachte man sie in den die Deutschen aus dem Land. Erst nach 1990, Baragan. Warum? Weil sie aus Großjetscha als die Moskauer Archive öffneten, erfuhren waren und man sie als reich einstufte. Sie hat- wir die Wahrheit. Das deutsche Innenminiten kein Landgut, jedoch viele Hektare Feld. sterium teilte uns dann mit, dass Stalin uns In Russland starb sie nicht, sie starb im Bara- vom rumänischen Staat verlangte. Sie zwangan. 1945 kam sie von Russland, 1947 gebar gen die Rumänen, ihnen zu helfen, und diese sie zuhause noch ein Kind, jedoch 1951 wur- machten die Listen. Es gab keinen Ausweg. de sie in den Baragan deportiert. Als sie starb, Auch sie waren Besiegte des Krieges.“47 war sie nicht mal 30 Jahre alt.“45 Die Meinung aller Überlebender, die auf Diese Erfahrungen kurz zusammenge- die Fragen hinsichtlich der „Lehren“ geantfasst, könnte man sagen, dass die Deporta- wortet haben, ist, dass die Geschichtsbücher tions-Erinnerungen, umgewandelt in Fami- auch die Episode der Verschleppung der Deutlienerinnerungen, dramatischer sind als die schen in die Sowjetunion erwähnen müssen, direkten Berichte der älteren Überlebenden. wenn der II. Weltkrieg dargestellt wird. Die In der Synchronisierung der „Bedeutungen“ zwischen Eltern und Kindern, Großeltern und Enkeln wandelt sich das, was in den Be- 46 Das Werk „Die sozialen Rahmen der Erinnerichten der Überlebenden als „Alltags-Hel- rung“, von Maurice Halbwachs 1925 veröffent-

42 Bericht von Ana Szucs

44 Bericht von Erika Renz

licht, fundamentiert das Studium der sozialen Erinnerung aus der psycho-soziologischen Perspektive.

41 Bericht von Rozalia Buttinger

43 Bericht von Erika Renz

45 Bericht von Karina Reinert

47 Bericht von Ignaz Bernhard Fischer

30

Die Deportationswellen im Spiegel der Geschichtsarchive

Nuancierungen sind dabei abhängig von der Geschichts-Kultur der Interviewten. „Es muss 1933 beginnen“, meint einer, indem er sich auf die Gründe der Deportation bezieht. „Mit Deutschland, nachdem es den I.Weltkrieg verloren hatte. 80% konnten mit den Schulden, die sie hatten, nicht leben. Unmöglich! In dieser Situation wären in jedem Land Bewegungen gewesen. Und durch die Bewegungen wurden Ideen übernommen. Und davon profitierte die National Sozialistische Partei.“48 Mittels impliziter oder expliziter Sozial­nor­ men, Kultur-Modelle, aktueller Ideolo­gien, sozialer Einflüsse bedingten sie die Umdeutung der Kollektiv-Erinnerung und zugleich die individuelle Erinnerung, die zu verallgemeinernden Schlussfolgerungen wie folgt führten: „Damit derartiges Unglück nicht wieder geschehe, sollten die Menschen vor allem an Gott glauben. Hat der Mensch diesen Glauben nicht, sucht er sich andere Götter: das Geld, die Macht. Diese Götter jedoch degradieren ihn. Wenn alle degradiert sind, kommt die Diktatur. Jedoch Gerechtigkeit, Würde und Freiheit müssen das Fundament des Lebens sein.“49 48 Bericht von Anton Ferenschütz 49 Bericht von Ignaz Bernhard Fischer

Ein ergänzendes Zeichen zur kollektiven E­rin­­nerung an die Deportation der Deutschen in die Sowjetunion wünscht auch die­ ses Buch zu sein. Am Ende desselben sprechen die Autoren den Überlebenden der Deportation Dank aus, die die schmerzhafte Rei­se in ihre Vergangenheit genehmigten. Dankbarkeit sprechen wir auch Herrn Erwin Tigla aus, dem Vorsitzenden des Demokratischen Forums der Deutschen aus Reschitza; Herrn Ignaz Bernhard Fischer, dem Vorsitzenden des Vereins der vormals Deportierten aus Rumänien in die UdSSR; der Landsmannschaft der Banater Schwaben e.V. München und besonders dem Vorsitzenden Herrn Peter Leber, die alle unsere Schritte unterstützt und uns die Kontakte zu den Interviewten in Bayern erleichtert haben. Unser Dank geht auch an Herrn Martin Reinholz, den Vorsitzenden der Filiale Sanktanna (Arad) des Demokratischen Forums der Deutschen in Rumänien und natürlich auch an die Studenten und die anderen Interviewer, die sich unseren Bemühungen anschlossen. Lavinia Betea Cristina Diac Florin-Razvan Mihai Ilarion Tiu

Die Deportationswellen im Spiegel der Geschichtsarchive

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Erwin Josef Ţigla

In Reschitza, ein Hindernis im Wege des Vergessens…

Erwin Josef Ţigla1

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on Jahr zu Jahr werden sie weniger; von Jahr zu Jahr gehen sie schwerer, werden buckliger und doch, wenn man von einem Teil ihrer Jugend spricht, atmen sie auf, kommen ungewollt Tränen in ihre Augen. Es geht um die noch lebenden gewesenen rumäniendeutschen Russlanddeportierten, die fast alle gut über 80 sind, einige zwischen 65 und 70 (diejenigen, die dort geboren wurden)!1 Im Januar 2012 waren es 67 Jahre seit dem Beginn der Deportation der Rumäniendeutschen (nicht nur sie wurden deportiert, sondern auch andere Deutschen aus den verschiedenen Ländern Mittel- und Osteuropas, die sich in der sowjetischen Einflusssphäre befanden). Es war und ist zu einer Ehrenpflicht des Demokratischen Forums der Banater Berglanddeutschen und des Kultur- und Erwachsenenbildungsvereins „Deutsche Vortragsreihe Reschitza“ geworden, Jahr für Jahr, seit der Wende, auf Anregung der Russlanddeportiertenvereinigung des Banater Berglands, des Beginns der Deportation vom Januar 1945 zu gedenken. Wenn es bis 1995 auf dem großen deutschen Friedhof (Nr. 2-3), in der unmittelbaren Nähe der damals noch funktionierenden Hochöfen geschah (da stand beim vierten Kreuz eine schlichte Gedenktafel, von Msgr. Paul Lackner geweiht, auf der das Wort Deportation noch nicht erscheinen konnte / durfte) so wurde ab Oktober 1995 zum Mittelpunkt dieser Gedenkveranstaltungen das Denkmal, das in der Nähe des Stadtzentrums von Reschitza, im „Cărăşana“-Park, aufgestellt ist. Seit 15 Jahren gibt es etwas in unserer Stadt, 1 Vorsitzender des Demokratischen Forums der Banater Berglanddeutschen und Leiter des Kulturund Erwachsenenbildungsvereins „Deutsche Vor­ trags­­reihe Reschitza”

umt das wir beneidet werden: das Denkmal zu Ehren der Russlanddeportierten im „Cărăşana“-Park, nicht weit weg vom Südbahnhof, von wo der Großteil der Deutschen Reschitzas, die für den Wiederaufbau der Sowjetunion nach dem Zweiten Weltkrieg zusammengeführt worden waren, in Waggons geladen und ins ferne Russland geschickt wurden. Gerne erinnere ich mich an die Entstehungsgeschichte dieses Denkmals, die gleich nach der Wende, bereits Januar 1990 in meinen Gedanken begann. Warum? Weil auch mein Großvater mütterlicherseits, Josef Wrattny, für fast 5 Jahre deportiert war, am Heiligen Abend 1949 heimkam und mir so manches Mal erzählte, wie es damals, dort, weit im Ural, zugegangen ist. Er hat sich oft mit Tränen in den Augen daran erinnert. In den ersten Monaten des Jahres 1990 wurde auch in Reschitza eine Russlanddeportiertenvereinigung gegründet und hier unterbreitete ich öffentlich zum ersten Mal die Idee eines solchen Vorhabens, ein Denkmal zu errichten, was positiv aufgenommen wurde. Von da an bis im Oktober 1995, als daraus Wirklichkeit wurde, war es aber noch ein langer Weg... In den deutschen Zeitungen aus Rumänien, aber auch in jenen aus Österreich und Deutschland wurde von unserer Initiative berichtet, oft auch mit negativen Äußerungen. Es gab Landsleute von hier und drüben, die das Errichten des Denkmals nicht mit guten Augen gesehen haben, was uns aber nicht entmutigte. Wir machten weiter! Was mich noch heute am meisten in meinem Erinnern rührt, das ist die damalige Solidarität der ehemaligen Russlanddeportier­ten selbst, die von ihren kleinen, in Rumänien bezogenen Renten ein Bröckchen für die Finanzierung des Denkmals spendeten. Ein De-

Erwin Josef Ţigla portierter schenkte sogar seine ganze, zum ersten Mal nach dem Dekret-Gesetz Nr. 118 / 1990 für die Deportationsjahre bekommene Zusatzrente für den Aufbau des Denkmals. Aber ohne die Unterstützung des Heimatverbands der Banater Berglanddeutschen in München, die des Alpenländischen Kulturverbands „Südmark“ zu Graz und der Landesregierung der Steiermark in Österreich wäre alles in der Absichtsphase geblieben. Dazu kamen weitere Organisationen und Institutionen, aber auch viele Privatpersonen aus dem In- und Ausland, die uns verhalfen, dass wir das Denkmal haben. Ein besonderer Gedanke geht in diesem Augenblick auch an den Künstler, der den Entwurf schuf: Univ.-Prof. Dr. Ion (Hans) Stendl, gebürtiger Reschitzarer, heute in Bukarest lebend. Auch seine Eltern wurden verschleppt und er wollte ein mahnendes Zeichen für die Zukunft setzen: Nie wieder! Am 14. November 1992, im Rahmen der II. Auflage der „Deutschen Kulturdekade im Banater Bergland“, folgte, nach dem ökumenischen Lesegottesdienst der beiden Bischöfe Msgr. Sebastian Kräuter (römischkatholischer Diözesanbischof von Temeswar) und D.Dr. Christoph Klein (Bischof der Evangelischen Landeskirche A.B. Rumänien) in der „Maria Schnee“-Kirche, die Segnung des Standorts, wo das Denkmal zu Ehren der verstorbenen Russlanddeportierten errichtet werden sollte. Das rechtzeitige Eintreffen der Granittafeln aus Österreich, die das Denkmal beschmücken, die ebenfalls rechtzeitige Anfertigung des gegossenen Christus und der Inschrifttafeln in den Reschitzaer Werken, dies alles hat, nicht ohne den damit verbundenen Sorgen und Stress, dazu beigetragen, dass das Denkmal bis zum Tag seiner Segnung fertiggestellt werden konnte. Es kam auch der große Tag: der 14. Oktober 1995, der zweite Tag der V. Auflage der „Deutschen Kulturdekade im Banater Bergland“.

33 Nach einem ökumenischen Lesegottesdienst in der römisch-katholischen „Maria Schnee“-Kirche folgte die Feier der Enthüllung und Segnung des Denkmals. Es hielten Ansprachen vor der versammelten Gemeinschaft: Dipl.-Ing. Julius Anton Baumann (Ehrenbundesvorsitzender des Heimatverbands der Banater Berglanddeutschen in Deutschland, mit Leib und Seele für die Errichtung des Denkmals bereits von Anfang an dabei), Dipl.-Ing. Pavel Gheorghe Bălan (Vorsitzender des Kreisrates Karasch-Severin), Ignaz Bernhard Fischer (Vorsitzender der Russlanddeportiertenvereinigung Rumäniens) und meine Wenigkeit, als Leiter des Kultur- und Erwachsenenbildungsvereins „Deutsche Vortragsreihe Reschitza”. Enthüllt wurde das Denkmal durch Dipl.Ing. Julius Anton Baumann, Karl Bereznyak (Vorsitzender der Russlanddeportiertenvereinigung des Banater Berglands) und durch meinen Sohn Alexander Erwin Ţigla (als Vertreter der Zukunft). Danach folgte die Segnung durch Ihre Exzellenzen Msgr. Sebastian Kräuter (Bischof der römisch-katholischen Diözese Temeswar) und D. Dr. Christoph Klein (Bischof der Evangelischen Landeskirche A.B. Rumäniens), im Beisein des Landeshauptmanns der Steiermark, Josef Krainer jr., der extra mit einem Sonderflug aus Graz nach Karansebesch geflogen war, um in Reschitza für einige Stunden bei den Gedenkfeierlichkeiten dabei zu sein. Musikalisch wurde alles vom „Franz Stürmer“Chor aus Reschitza umrahmt. Alle Anwesenden werden diese Augenblicke nie vergessen, dessen bin ich mir sicher! Und ich persönlich, als Initiator und Errichter des Denkmals, schon längst nicht. Der gesamte Einsatz hat sich gelohnt, all die verwendete Energie wurde mit dem Aussehen des Denkmals „bezahlt“! Ja, und seit diesem Datum ist so manche Russlanddeportierten-Gedenkveranstaltung (hauptsächlich ein jedes Jahr im Januar) hier

34 organisiert worden. Blumenkränze und Gebinde, einfache Blumensträuße wurden hier niedergelegt und Kerzen angezündet von Menschen aus Reschitza, aus ganz Rumänien, aus Deutschland und Österreich, aus der weiten Welt. Ein weiteres besonderes Ereignis in Re­ schitza war die feierliche Gedenkstunde am 22. Januar 2005, zum 60. Wiederkehrstag des Russlanddeportationsbeginns. Die Anwesenheit der drei Exzellenzen: Msgr. Martin Roos (Bischof der römisch-katholischen Diözese Temeswar), Msgr. Eugen Schönberger (Bischof der römisch-katholischen Diözese Sathmar) und D. Dr. Christoph Klein (Bischof der Evangelischen Landeskirche A.B. Rumäniens), aber auch die des Karasch-Severiner Präfekten Dr. Gavril Soran, der vielen Vertreter von Russlanddeportierten aus dem ganzen Lande, der Offizialitäten des Kreises Karasch-Severin und des Munizipiums Reschitza, der hohen Vertreter des Demokratischen Forums der Deutschen in Rumänien haben dieser Gedenkstunde einen würdigen Rahmen gegeben! Die erste Landesgedenkfeier der Russlanddeportation fand aber im Jahre 1995, in der Zeitspanne 12. - 14. Januar statt, als sich in Kronstadt zum ersten Mal Russlanddeportierte und ihre Vertreter aus dem ganzen Lande trafen, um sich über dieses Unrecht nach dem Zweiten Weltkrieg auszusprechen, der Toten zu gedenken und ein symbolisches Mahnmal zu errichten. Man wollte für die Zukunft warnen, damit so etwas nie mehr in der Geschichte dieses Landes geschehen möge! Es war nicht von Rache die Rede, sondern von Vergebung! Neben weiteren Gedenkveranstaltungen die damals dort stattgefunden haben, war am wichtigsten der ökumenische Lesegottesdienst in der Schwarzen Kirche im alten Stadtkern der Kreishauptstadt. In Kronstadt haben neben hohen Vertretern des diplomatischen Korps und der da-

Erwin Josef Ţigla maligen politischen Verwaltung des Kreises auch hochrangige Vertreter des Demokratischen Forums der Deutschen in Rumänien und, teilweise, höchstpersönlich, der damalige Staatspräsident Rumäniens, Ion Iliescu, teilgenommen. Fünf Jahre später fand eine zweite Landesgedenkveranstaltung, am 15. und 16. Januar 2000 in Temeswar, im „Adam MüllerGuttenbrunn“-Haus, in der Organisierung von Herrn Ignaz Bernhard Fischer und von Frau Elke Sabiel statt. Sie konnten damals den bekannten rumäniendeutschen, heute in Deutschland lebenden Schriftsteller Richard Wagner als Hauptredner heranziehen. Das Requiem im Temeswarer Dom soll hier auch Erwähnung finden, weil es alle Anwesenden bis aufs Tiefste gerührt hat. Im Jahre 2010 fanden die Landesgedenkveranstaltungen zum 65. Wiederkehrstag des Beginns der Russlanddeportation in Sathmar, im Nordwesten Rumäniens, in der Zeitspanne 19. - 21. März statt. Im Mittelpunkt stand das Gedenken in der römisch-katholischen Kathedrale, wo Herr Ignaz Bernhard Fischer, als Vorsitzender der Russlanddeportiertenvereinigung Rumäniens, der Festredner war. Auch hier nahmen Vertreter des diplomatischen Korps, des Demokratischen Forums der Deutschen in Rumänien, der politischen und administrativen Verwaltung teil. Schon vor der Wende in Rumänien erschienen viele Schriften und Bücher im Ausland, um das Geschehen, welches 1945 begonnen hat, zu widerspiegeln, zu dokumentieren, um darüber zu recherchieren. Erst im Dezember 1989 durfte darüber auch in Rumänien gesprochen, geforscht, geschrieben und gefilmt werden, was auch tatsächlich geschah. Einige Dutzend Bücher wiedergeben das damalige Geschehnis, was sich danach ereignete, wie sich im Laufe der Jahre im Kommunismus die Situation der gewesenen Russlanddeportierten weiter entwickelte bis zum heutigen Tag.

Erwin Josef Ţigla

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Auch der Kultur- und Erwachsenenbildungs­ verein „Deutsche Vortragsreihe Re­schitza“ hat sich die Mühe genommen und drei Veröffentlichungen unter dem Sammeltitel „Russlanddeportierte erinnern sich“ in den Jahren 1995, 1997 und 2005 druckreif gemacht. Sie wiedergeben in erster Reihe Erinnerungen ehemaliger Russlanddeportier­ter aus unserer Region, traumatisierende Erlebnisse, die einen lebenslang prägen. Im Jahre 2010 erschien das Buch-Album „Monumente şi plăci comemorative pentru germanii din România deportaţi în fosta Uniune Sovietică“ („Denkmäler und Gedenktafeln für die ehemaligen deutschen Russlanddeportierten aus Rumänien“). Hrsg.: Erwin

Josef Ţigla. Lektorat: Waldemar König. Re­ schitza: „Banatul Montan”, 2010; ISBN: 978-973-1929-35-4. Zahlreiche Beiträge wurden im Laufe der Jahre auch in unserer Monatsschrift „Echo der Vortragsreihe“ veröffentlicht, genauso wie im Periodikum „împreună, miteinander, egyűttesen“, auch von uns herausgegeben. Die Schilderung der Russlanddeportation der Rumäniendeutschen soll mit Hilfe aller unserer Publikationen ein Mahnmal für die Zukunft darstellen: Nie wieder Krieg, nie wieder Gräueltaten dieser Art, aber auch nie wieder Vertreibung, Verbannung, Hunger und Not. Ein Mahnmal für die kommenden Generationen!

Ein Ereignis aus vier Sichtweisen Reschitz - Zusammenfassung der Erinnerungen

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nton Ferenschütz habe ich vor fast zwei Jahrzehnten in Reşiţa (Reschitz) kennengelernt. Er kam nach Rumänien zur Vorstellung seiner Autobiografie „Generaţia de sacrificiu”/„Die Opfer-Generation“ (Timişoara/ Temeschburg, Helicon, 1995). Unsere Begegnung fand damals beim Sitz des Fernsehsenders TeraSat in Reschitz statt, wo Anton Ferenschütz eingeladen war, seine Erinnerungen aus der Russland-Deportation zu schildern. In den neunziger Jahren des letzten Jahrhunderts erregten solche „weiße Flecken“ der Geschichte Aufsehen und waren Grund für Emotionen und Kontroversen. Die „Brüderlichkeit“ zwischen Rumänen und „mitwohnenden Nationalitäten“ und die Freundschaft zwischen dem „sowjetischen Volk“ und den anderen „sozialistischen Nationen“ waren „Prinzipien“ der kommunistischen Geschichtsschreibung. Somit wurde die Deportation der deutschstämmigen Bevölkerung aus Rumänien in die UdSSR, am

Lavinia Betea

Ende des Zweiten Weltkrieges, bis zum Fall des kommunistischen Regimes nur in der Erinnerung der verschleppten Familien wach gehalten. Die Kinder wurden ängstlich beschworen, unter der Angst, dass sie nicht aus Versehen in der Schule etwas „ausplaudern“. Zum Unterschied von anderen Zeugen und Opfern, die ihre Erinnerungen dadurch verarbeiteten, dass man sich auf Selbsterlebtes konzentrierte, hat Anton Ferenschütz das Drama seiner Deportation in Form eines dramatischen Gemeinschaftsereignisses als Auswirkung des Zweiten Weltkrieges, durch Malen und Literatur ausgedrückt. Am Ende des Krieges sind die Sieger zu verschiedenen Repressalien gegen die Besiegten übergegangen. Die Bestrafung der „Kriegsverbrecher“ und „Kollaborateure“ durch eingerichtete Sondertribunale wurde durch ausführliche Berichterstattung begleitet. In Rumänien war eines dieser Tribunale der „AntonescuProzess“. Durch die Sowjets verhängte Stra-

36 fen für „kollektive Schuld“ wurden allerdings im Stillen vorgenommen. Noch während des Krieges hatte Stalin schon sechs ethnische Gemeinschaften deportieren lassen, unter dem Vorwurf, sie hätten sich nicht der Nazi-Besatzung widersetzt. Im „Sowjetland“ brachte der Frieden das Unglück über die gefangenen Soldaten und all jene, die sich in die Deutsche Armee eingereiht hatten. Im Rahmen der Vereinbarungen zwischen den Alliierten wurden sie in ihre Heimat entlassen. Diejenigen, die zusammen mit den Nazi-Truppen gegen die Rote Armee gekämpft hatten, wurden hingerichtet, die Kriegsgefangenen wurden aus Nazi-Lagern in russische Lager überführt. Als Kriegsverlierer wurde Rumänien zu Reparationsleistungen verpflichtet. Darunter fielen auch Deportationen zur Zwangsarbeit von deutschen Volkszugehörigen in die Sowjetunion. Unter Federführung der Sowjetischen Kom­­ mandantur in Bukarest wurden im Januar 1945 Männer bis 48 und Frauen zwischen 17 und 40 Jahren zum „Wiederaufbau“ in die UdSSR verschickt. Transportiert in Viehwaggons mit unbekanntem Ziel, wurden die Deutschen aus Rumänien dort eingesetzt, wo es am schwersten war, unter Bedingungen an der Grenze des Überlebens. Die Folgen für jeden einzelnen waren, je nach persönlichem Schicksal, recht unterschiedlich. Einer der vielen Deportierten aus Reschitz war Anton Ferenschütz. Seine Vorfahren waren eine der ersten Kolonisten-Familien, die sich als Metallurgie- und Bergbau-Meister in Reschitz angesiedelt hatten. 1941, als die Nazi-Truppen Rumänien erreichten, lebte in Siebenbürgen noch eine zahlenmäßig starke deutsche Gemeinde. Nach den Aussagen von Anton Ferenschütz haben sich die Volksdeutschen hier „deutscher verhalten als die Deutschen“. Die deutsche Minderheit hatte eine stärker ausgeprägte Gruppenidentität als die einheimische Gemeinde und die Mehrheits-

Lavinia Betea bevölkerung im Land. Unter dem Enthusia­s­ mus der Siege der Deutschen Armeen in Europa bedauerte er als 12-jähriger Junge, dass sein größerer Bruder, als Freiwilliger in der SS, ihm etwas voraus hatte. Zusammen mit anderen deutschen Kindern seines Alters hat sich Anti, wie ihn Eltern und Freunde nannten, in die „Hitlerjugend“ eingeschrieben. Eine paramilitärische Organisation, in der die Vorbereitung zum zukünftigen Soldaten in Lagern mit strengem Regime und Disziplin stattfand. Ein Drittel des täglichen Programmes wurde der Nazi-Indoktrination gewidmet. Die Geschichte Deutschlands wurde neu geschrieben, ankernd in der Tradition der Wikinger-Krieger und des „genialen Hitler“, in der Nazi-Propaganda und ... der „Rassenkunde“. Kinder trugen Gürtel, geprägt mit dem Motto „Blut und Ehre“. Nach diesem Manipulationsprogramm be­ gannen Anti Ferenschütz und andere Burschen seinesgleichen, sich einen „Heldentod“ im Dienste des Führers zu wünschen. Die Nazi-Ideologie ist konkreter als die kommunistische, bemerkte er, nachdem er beide probiert hatte. In ihrem Netz wurden noch leichter unschuldige Seelen eingefangen. Das kommunistische Dogma über die Arbeiterklasse, die Weltrevolution oder die objektiven Gesetzte der Geschichte war abstrakter, schwieriger zu verstehen und dran zu glauben. Die arische Rasse, so brachten es die Instruktoren den Jungen von der „Hitlerjugend“ bei, sei von Gott bestimmt, die Welt zu beherrschen. Wer Augen hat, sieht das schon an den genetischen Merkmalen der Deutschen: sie sind schön, wie Engel, mit blondem Haar und blauen Augen. Die Vermischung von Individuen guter „Her­kunft“ mit „Unreinen“ verboten mit Nachdruck sowohl die Nazis als auch die Kommunisten. Der Inspektionsbesuch eines Nazi-Offiziellen bei der Hitlerjugend-Organisation in Reschitz hat die Seele des kleinen Anti völlig

Lavinia Betea verwirrt, der bis dahin überzeugt war, dass auch er einer der „neuen Menschen“ sei, welche die Welt beherrschen werden. Nachdem er auf alle Fragen des Experten in „Rassenkunde“ hervorragend geantwortet hatte, hat der ihm gratuliert. Er sah in die Augen des Jungen und stellte fest - Horror! - sie waren ja gar nicht blau, die Farbe der „reinen Rasse“. Anti hatte schwarze Augen, schwarz, wie die der Juden, schwarz, wie die der Zigeuner, der unreinen Rassen. „Beflecktes Schwein!“ - stigmatisierte ihn sofort der Inspektor des Großen Reiches, indem er ihm angewidert den Rücken zukehrte. Auch bei der Deportation nach Russland glaubten einige Deutsche aus Rumänien immer noch an Hitlers Lügen, der den Endsieg durch neue Wunderwaffen versprach. Aber nach vier Jahren Zwangsarbeit in Sibirien kam er heim, geheilt vom Nazismus, jedoch erkrankt an Kommunismus. Er war nicht der einzige und der Wandel war bestens geplant. Am Anfang empfingen die Einheimischen die „Faschisten“ mit Hass. Viele Sowjetbürger vertraten damals die Meinung, Stalin sollte sie alle ermorden. Junge Deportierte, wie An­ton Ferenschütz, wurden danach auserwählt, für die „Schule des antifaschistischen Kampfes“. Nach der Arbeit folgten sie dem Programm der „Entnazifizierung“ und kommunistischen Indoktrination. Als zusätzlicher Anreiz dafür galt ein Liter Milch pro Kurstag. Für die jungen, von Schwerstarbeit, unzureichender Nahrung und sibirischer Kälte erschöpften Körper, war die Milch ein effizienter „Verstärker“ zum Erlernen des dialektischen Materialismus. Nach der Rückkehr schien ihm die Geburtsstadt geheilt von den Kriegswunden. Nicht aber sein eigenes Leben. Es erwartete ihn weiteres Unheil. Nach einer langen Krankheitsperiode gebar seine Frau Maria das langersehnte Kind. Aber das Mädchen erkrankte unheilbar, ausgerechnet im Krankenhaus. Die Mutter ließ sich aus übergroßer Fürsor-

37 ge wegen einer banalen Erkältung mit ihr ins Krankenhaus einweisen. Das Mädchen wurde durch eine Spritze infiziert, welche die Krankenschwester zum Impfen aller Kinder auf der Station benutzte - daran starb sie und ließ ihre Eltern völlig zerstört zurück. Weitere Schwierigkeiten folgten unaufhörlich. Der Sünde, in der „Hitlerjugend“ gewesen zu sein, folgten mit der Zeit weitere. Nach dem Wandel der Stalinistischen Ideologie in den Nationalkommunismus erschienen die Praktiken im sibirischen Lager den neuen Propagandisten als Beweis für unsere pro-sowjetische Einstellung. Die „Rote Gestapo“, die nun die Securitate (Sicherheitsdienst) war, hat ihn eines Tages zu deren Sitz in Reschitz einberufen. Sie verlangten von ihm, einen Vertrag als Informant zu unterschreiben, um seine Qualitäten als „guter Verteidiger der Errungenschaften des Volkes“ unter Beweis zu stellen. Obwohl nichts in seinem Leben anders aussah, als es sein sollte. Familienmensch, geschätzt von seinen Kollegen im Stahlwerk, wo er als technischer Zeichner arbeitete, die Freizeit seinen zwei Leidenschaften widmend - Malen und Handball - und trotzdem… Nach eigener Aussage gab es nie ein Anzeichen für die Motive, die zu seiner Auswahl geführt haben. Nachdem ich ihn näher kennengelernt habe, würde ich sagen, dass gerade sein persönlicher Charme und seine Kunst, Beziehungen auf Vertrauen aufzubauen, ihn den Anwerbern der Securitate „empfohlen“ haben. 1971 ist Anton Ferenschütz dahin ausgewandert, von wo aus seine Vorfahren zweihundert Jahre zuvor in Richtung Transsilvanien aufgebrochen waren. Albträume und Depressionen belasteten ihn allerdings Tag und Nacht. Zur Abhilfe empfohlen Ärzte ihm, seine Memoiren zu schreiben. Daraus entstand ein erstes Buch - Dokument über die Traumata der „Braunen Pest“ und der „Roten Pest“ - „Die Opfer-Generation“. Im Dezember 1989 brachte die Nachricht über die Veränderungen in Rumänien

38 das Leben der Familie Ferenschütz in Bielefeld durcheinander. Mit einer Kraft, die den Schranken der „Reschitzer“ Seele zu entspringen schien, ging Anton Ferenschütz an die Arbeit und organisierte in Bielefeld eine erste Ausstellung von Kopien nach Gemälden von Nicolae Grigorescu. Er nannte sie „Hilfe für Rumänien“ und so wurde sie angenommen. Durch die rumänische Revolution und den Prozess des Ceauşescu-Ehepaares stark beeindruckt, kauften ihm die Stadtbürger 40 Bilder ab. Von diesem Geld organisierte er einen Hilfskonvoi für Reschitz. Weitere Gemälde-Ausstellungen folgten Jahr für Jahr in Bielefeld und in Reschitz. Den Erlös der Malereien ließ er immer Alten Menschen, Straßenkindern und HIV-Infizierten aus seiner Geburtsstadt zukommen. Danach vermittelte er die Partnerschaft zwischen Reschitz und Bielefeld und Begegnungen von Politikern und Geschäftsleuten. Die Erinnerung an diesen, durch den Reichtum an Lebenserfahrung und persönliche Qualitäten so besonderen Menschen hat mich veranlasst, ihm einen Artikel mit dem Titel „Die gefleckten Schweine“ zu widmen, veröffentlicht von „Jurnalul Naţional“ 2007, im Rahmen der Reihe „Geschichte des Rumänischen Kommunismus“. Auszüge aus diesem Artikel werden auch im Folgenden wiedergegeben. Mit Spannung und Freude habe ich, zusammen mit Cornelia Dunăreanu, Chef-Redakteurin des Reschitzer Fernsehens, Anton Fe-

Lavinia Betea renschütz im Frühjahr 2012 in seinem Haus in Bielefeld wiedergesehen. Er hat uns seine Wahlheimat gezeigt, den „Reschitz-Platz“, nach den durch ihn eingeleiteten Beziehungen zwischen den beiden Gemeinden so benannt. Wir haben ihn auch zu den Gräbern seiner Familie auf den Stadt-Friedhof begleitet. Er und seine Frau haben sich allerdings als letzte Ruhestätte Gărâna (Wolfsberg) ausgewählt. Nahe bei Reschitz gelegen, der schönste und liebste Platz der Welt für ihre Seelen. Vor der Filmkamera von Cornelia Dună­ reanu erinnerte sich Anton Ferenschütz an einige Episoden aus seiner Russland-Deportation. Seine Frau, Maria Ferenschütz und zwei Reschitzer - der Seelenverwandte Ştefan Raicu und Maria Ferenschütz, durch die Heirat mit seinem Neffen ebenfalls in Deutschland lebend - haben freundlicherweise die Fragen zur Erinnerung an die Deportation beantwortet, so wie diese in unseren Tagen in den Familien und bei Angehörigen der Deportierten weiterlebt. Für mich waren diese Gespräche was ganz Besonderes - die Deportation eines Mannes, aus seiner Erinnerung und aus der Erinnerung seiner Angehörigen - sie sind es wert, vollständig wiedergegeben zu werden. Die Illustrationen in diesem Buch sind ebenfalls die Arbeit von Herrn Anton Ferenschütz. Wir danken ihm auf diesem Wege für die freundliche Genehmigung ihrer Reproduktion.

Vom Nazi-Hakenkreuz zum kommunistischen Bekenntnis

Sowjetische Desinformation: Die Rumänen haben die Deutschen weggegeben Anton Ferenschütz (Deutschland)

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ann wurden Sie geboren? 1927 in Reschitz. Ich wurde im Januar 1945 deportiert - in die Stadt Iss, hinter dem Ural. Dort befand sich eine Gold- und Platinmine. Es wurde mit Schwimmbaggern gearbeitet, ein paar Sperren, in denen die Er­de ge-

waschen wurde und das Gold blieb zurück. Es gab Tage, da wurden 3 kg Gold „geerntet“. Von wie vielen Deportier­ten? 20 Mann. Wie lange waren Sie deportiert? Dreieinhalb Jahre.

Anton Ferenschütz Wie haben Sie von der Deportation erfahren? Ich erinnere mich, dass während des Krieges ein paar große Plakate gegen die Sowjets aufgestellt wurden. Denn auch die Rumänen waren damals gegen die Russen. Und es wurden darauf Waggons dargestellt, wie in meiner Zeichnung1. Auf dem letzten Waggon war ein Soldat gemalt, in Form eines Skeletts, mit der Aufschrift „niemals“. Das sollte heißen, wir werden niemals Menschen deportieren. Und trotzdem ist genau das geschehen. Vor der Einpferchung in Waggons wurde angekündigt, alle Deutschen sollten sich bei der Polizei melden. Wer nicht kommt, würde bestraft werden. Und selbstverständlich sind wir, gewissenhafte Bürger, hingegangen, wie eine Herde Schafe. Das war etwa am vierten oder fünften Januar. Nach diesen Listen sind am 16. Januar zwei russische mit einem rumänischen Soldaten gekommen, um uns von zu Hause auszuheben. Ich war mit meinem Vater und meiner Schwester zu Hause, die noch ein kleines Kind hatte. Nur mich haben sie ausgehoben. Mein Vater wollte an meiner Stelle gehen, ich sollte mich stattdessen verstecken, da sie nur nach Ferenschütz Anton gefragt haben, ohne weitere Datenangabe. Er hätte an meiner Stelle gehen können. Aber er war erst kürzlich aus der Gefangenschaft zurückgekommen. Sie nahmen mich mit und brachten mich zur Beton-Schule in dem Alten Viertel von Reschitz. Fast 400 Menschen, Frauen und Männer zwischen 17 und 45, wurden dort versammelt. Haben sie Ihnen gesagt, dass Sie deportiert werden? Sie haben es uns nicht gesagt, aber wir haben es geahnt. Als sie Sie ausgehoben haben, wurde Ihnen gesagt, warum? Um uns zur Beton-Schule zu bringen, damit sie uns überprüfen. 1 Bezieht sich auf seine eigenen Zeichnungen, die nach 1990 ausgestellt wurden

39 Haben Sie keinerlei Vorbereitungen getroffen? Es gab auch Vorbereitungen, denn es verbrei­ teten sich Gerüchte unter den rumänischen Soldaten. Ich, zum Beispiel, ging an diesem Tag zur Schule, da ich Schüler war. Und auf der Brücke kontrollierten Wachen. Wer nicht im deportationsfähigen Alter war, wurde zurück nach Hause geschickt. Die anderen haben sie zum LKW gebracht, der bereitstand. Ich war 17 Jahre alt, etwas dünn, so sah ich jünger aus. Der rumänische Soldat sah zuerst mich an, dann meinen Schulausweis und sagte: „Mein Sohn, geh nach Hause. Pass auf, sie werden euch deportieren, bereite dich darauf vor oder lauf weg und versteck dich!“ Die Russen bemerkten, dass er zu mir spricht, aber sie haben nichts verstanden. Ich ging nach Hause und erzählte meinen Eltern, was vorgefallen war. Wir standen uns nicht sehr gut, wir hatten kein Schwein geschlachtet, wie andere. Mutter buk ein Brot, das war morgens um acht. Um etwa zwei Uhr nachmittags kamen sie, uns abzuholen. Ich trug dünne Kleidung, aus schwachen Stoffen, auch lange Unterwäsche hatte ich nicht. Wer wurde sonst aus Ihrem Familien- und Be­­kanntenkreis deportiert? In unserer Nachbarschaft waren zum Beispiel drei Mädchen. Sie müssen sich vorstellen, alle drei wurden deportiert. Sie waren zwischen 17 und 25 Jahre alt. Ihre Mutter, Witwe, blieb allein. Es war ein Zustand...! Einerseits war ich nicht vorbereitet. Andererseits war ich jung und dachte: „Sie werden uns wieder frei lassen. Wir bleiben ein, zwei Monate und werden wieder nach Hause kommen“. Wenn man jung ist, scheint das Böse weit weg und der Tod lauert in der Nähe von anderen. Das Leben scheint endlos. Wem gaben Sie die Schuld damals, in dem Moment, für das, was passiert ist? Ich war zu jung, um mit den Gedanken so weit zu gehen. Aber es waren unter uns Menschen, die Russisch konnten. Sie fragten die

40 russischen Soldaten, warum sie uns wegbringen. Sie sagten, dass die sowjetische Regierung von Rumänien Kriegsentschädigung for­derte, einhunderttausend Arbeitskräfte. Die Rumänen meinten: warum sollen wir gehen? Und so gaben sie uns, die Deutschen. Teilkompensation... Aber es gab auch andere Gründe. Ein gewisser Ausgleich, vor allem, weil die Deutschen hier auf der Seite von NaziDeutsch­land im Krieg standen, manche gingen als Freiwillige. So habe ich das damals verstanden. Vielleicht war dies eine vorher vereinbarte Erklärung. So wurde die Deportation begründet, erzählte mir auch Herr Ignaz Bernhard Fischer aus Temeschburg. Erst durch Informationen über das Deutsche Innenministerium, nach 1990, erfuhr man, dass Stalin ausdrücklich ethnisch Deutsche aus den besiegten Ländern zum Wiederaufbau der UdSSR angefordert hatte. Wie viele Deportierte waren Sie aus Reschitz? Genaue Informationen darüber gibt es, glaube ich, beim Forum der Deutschen in Reschitz. Die hat Ţigla, wie viele verschleppt wurden und wie viele zurückgekommen sind. Die Reise ins Ungewisse Aber nicht alle hatten das gleiche Deportationsziel, nicht alle kamen nach derselben Zeit wieder aus der Verbannung zurück, und nicht immer dahin, von wo sie weggegangen waren. Wie begann Ihre Reise? Der erste Transport, nachdem sie uns festgenommen hatten, ging am 18. Januar weg. Uns hielten sie bis zum 20. Januar. Aus der Schule konnten wir weder raus, noch hatten wir eine Verbindung nach Draußen. Meine arme Mutter hat versucht, mich in dieser Zeit frei zu bekommen. Sie hatte erfahren, dass Anwälte eine Änderung der ethnischen Zugehörigkeit erwirken könnten und sie besorgte ein Zertifikat, das aussagte, dass ich Magyar sei. Natürlich hat die Russen das Zertifikat

Anton Ferenschütz nicht interessiert. Noch am selben Tag luden sie uns in LKW mit heruntergelassenen Planen. Meine Mutter wollte mich noch umarmen, doch ein Russe von kleiner Statur, mit mongolischem Aussehen, schlug ihr die Kalaschnikow über die Brust. Sie können sich vorstellen, welche Wut ich auf diesen Soldat hatte - meine Mutter so zu sehen! Ich war ja noch ein Kind... Sie wollten wahrscheinlich solche Momente nicht zulassen, aus Angst, es könnten Unruhen entstehen. Sie waren sehr streng. Diese Soldaten waren schon durch den Krieg gegangen, seit vier Jahren. Sie kannten kein Mitleid mehr... Wir wurden in Reihen aufgestellt, die Waggons waren mit Kreide nummeriert - ich war in Waggon Nummer 20 oder 21, ich weiß das nicht mehr so genau. Viehwaggons standen bereit. Also gegenüber der Tür war ein Loch im Boden für die „Bedürfnisse“. Es gab noch einen sehr kleinen Blechofen und etwas Holz - für ein, zwei Tage. Die Mitte war frei. Und darüber, links und rechts, einige Bretter, da man nicht auf dem Boden schlafen konnte. Sie wussten was folgt, daher hatten sie ihn so vorbereitet - wir haben es dann realisiert. Ich legte mein Gepäck ab und... 40 Personen in einem Waggon. Konnten Sie Ihre Reisegenossen auswählen? Nein, wir wurden zwei und zwei aufgestellt. Dann sagten sie uns - die ersten zwei voraus, dann folgen die nächsten zwei… wie die Tiere. Wir stiegen um 6 Uhr abends ein, es war schon dunkel und sie schlossen die Türen. Dieses Geräusch des Waggon-Abschließens höre ich noch heute in meinen Ohren. Beim Zug waren keine Soldaten mehr. Und plötzlich sagt jemand, dass rund um den Zug Menschenmassen waren. Und ich sah meinen Vater. Er war leicht zu erkennen, da er kahl war. Und mein Vater rief mir zu - er war Sozialdemokrat - dass ein paar Vertreter der Sozialdemokraten aus Reschitz bei der Regierung interveniert hätten und man uns

Anton Ferenschütz wahrscheinlich nicht deportieren würde. Ich weiß nicht, welches Parteimitglied aus dem Untergrund das gesagt hat, meinte mein Vater, aber es kann nicht ein Unrecht durch ein anderes Unrecht geheilt werden. Und doch, in der Nacht des 20. Januar verließen wir den Bahnhof: Lugoj (Lugosch), Simeria (Fischdorf), Braşov (Kronstadt). An der Grenze zur Republik Moldau wechselten sie die Räder. Die Waggontüren wurden geöffnet, damit wir für die Zeit des Radwechsels absteigen konnten. Dabei flohen aus unserem Waggon zwei Burschen. Was machten die Russen? Sie zählten jeden Tag, wenn sie uns rausließen, dass es 40 Menschen waren. Und am zweiten Tag waren es 38. Sie hatten 40 Personen zu überbringen. Sie hielten in der Nähe von Jassy an einem Bahnhof. Dort ging ein Bauer mit einem Korb voller Eier zum Verkaufen. Und sie nahmen den Bauern mit dem Eierkorb und steckten ihn zu uns in den Waggon. Der Ärmste konnte nicht einmal Deutsch! Gebürtiger Rumäne zusammen mit uns... sie füllten einfach die Personenzahl auf. Was geschah mit den Flüchtigen? Sie kamen wahrscheinlich davon. Sie waren nicht aus Reschitz, sondern von Bocşa (Bokschan). Wir überquerten die Grenze und hielten auf Transnistrien, Odessa zu. In Odessa hielten wir, um Holz zu laden. Sie brachten uns zu Holzlagern und sagten uns, einfach zu holen. Sie wussten, wie es weiterging. Einige hatten Äxte von zu Hause dabei. Wir nahmen Holz, wir nahmen Wasser... etwa jeden zweiten Tag. Durch Russland durften wir nur selten raus. Ein paar Kilometer vor Moskau, sahen wir zerstörte Panzer... Danach gab es immer größere Schwierigkeiten. Wir, die wir schlecht gekleidet waren, begannen die Kälte zu spüren. Ich hatte einen Mantel von meinem Bruder und eine Decke. Aber wir hatten kein Feuerholz mehr. Auf dem Weg nach Kasan, ga-

41 ben sie uns die erste warme Mahlzeit: Fischsuppe. Sie kamen mit einem Fass auf einem LKW, wie es bei der Armee üblich war. In der Ukraine hielten wir einen ganzen Tag lang an einem Ort. Während ich meine Not verrichtete, auf dieser provisorischen Toi­ lette - es waren Frauen und Mädchen dabei, die eine Decke drum rum hielten, man schämte sich - sah ich, dass sich die gefrorenen Exkremente bis unter den Wagonboden türmten. Und auf einmal sah ich eine Hand. Beim näheren Hinsehen merkte ich, es war ein Kind von sechs oder sieben Jahren, dünn wie ein Skelett. Es suchte nach Nahrung. Denn, wenn wir aßen, warfen wird die Reste auch dorthin. Wer ein Schwein geschlachtet hatte, warf die Knochen hinaus. Dann merkten wir, in welches Land wir einfuhren, wenn dieses russische Kind so aussah. So etwas hatte ich noch nie gesehen! Dann begann ich nachzugrübeln, was uns wohl erwarten würde. Auch in Kasan, ist aus unserem Wagon ein Mann von 42 Jahren gestorben. Er war krank und er war mit uns im Wagon, bis wir nach der Wache riefen. Im Wagen waren es -10 °C und der Tote war ziemlich steif gefroren. Der Russe wies uns an, den Toten auszuladen und ihn an einen Zaun zu lehnen. Am nächsten Tag starb noch einer, auch ein Mann. Auch diesmal sagten die russischen Soldaten „Lass, den werden die Russen schon begraben…“ Wie lange dauerte die Reise? 30 Tage. Wir standen zwei Tage in Moskau, im Rangierbahnhof, in Penza, Magnitogorsk, wo es die großen Fabriken gab. Stalin war klug, sie hinter den Ural zu verlagern. Sie konnten nicht bombardiert werden. Einige Transporte blieben gleich dort - im Donbas, Donezk für die Kohlengruben. Was haben Sie gemacht, wenn der Zug länger hielt? Reich war dort keiner von uns. Wie die Reschitzer sind, Arbeiter eben... Einige hatten mehr bei sich, andere weniger. Jedenfalls

42 werde ich nie vergessen, wie der Zug von Europa nach Asien überwechselte, die Stelle war mit einem Stein in Form eines Dreiecks markiert. Alle schauten neugierig, um zu sehen. Dann Swerdlowsk, eine sehr große Stadt. Wohin auch der letzte Zar deportiert wurde... Und wissen Sie, in Swerdlowsk ließen sie uns aussteigen und wir mussten in kleine Schmalspur-Waggons umsteigen. Schmaler als die rumänischen. Und sie waren sehr gut vorbereitet, diese Waggons - auch mit Lebensmitteln. Es war auch etwas Pastrami ausgebreitet, so zum Trocknen und Heuballen und Stroh zum Schlafen. Zwei Tage und zwei Nächte lang ging es dann Richtung Iss. Und eines Tages, um drei Uhr nachmittags wurde der Zug gestoppt. Um den Zug herum war ein Haufen Soldaten, bereit uns in Empfang zu nehmen. Sie fragten mich, was ich in jenen Tagen gemacht hätte. Ich glaube nicht, dass ich gescheiter war, aber ich machte mich daran, Russisch zu lernen. Ein Nachbar von uns, der bei der Armee war, trieb ein paar Wörterbücher in russischer Sprache auf, ich weiß nicht woher. Aber beide haben wir die Sprache gelernt. Bei der Abfahrt sagte mein Vater zu ihm, er solle sich um mich kümmern. Und wir lernten jeden Tag, ein bis zwei Stunden. Ich fragte ihn, er fragte mich und so haben wir etwas gelernt. Als wir ankamen, fragten sie auf Deutsch nach einem „perevodchik“ wer übersetzen könne. Ich wusste, was es bedeutete. Und sie sagten zu mir, du hast das Kommando über 20 Leute, du verantwortest für sie. „Chef“ auf den ersten Blick. Was heißt „du hast das Kommando“? Damit keiner wegläuft, wenn es einem schlecht wird, bei dem Fußmarsch, der nun folgte, sieben Kilometer. Man kann sich vorstellen, nach dem ganzen Weg im Zug. Einige Leute von uns konnten schon nicht mehr gehen. Wir, die Jüngeren nahmen sie ins Schlepptau. Es waren damals minus 38 Grad. Und die Bevölkerung von Iss emp-

Anton Ferenschütz fing uns mit Steinen und Eisbrocken, mit Flüchen… Sie schrien „Deutsche, Tod den Faschisten…!“ So wurden sie wahrscheinlich vorbereitet. Einige Gruppen riefen, andere schwiegen. Hier mache ich eine Klammer. Seit in der Region um Iss, in den 20er Jahren, Gold und Platin gefunden wurde, ich glaube, es war der zweite Ort der Welt mit einem derartigen Reichtum, wurden aus allen besetzten Ländern Menschen zur Arbeit herangeschafft. Sie nahmen Kriegsgefangene und politische Häftlinge und deportierten sie. Die Menschen hatten keine Ausweise, nur ein Stück Papier. Darauf stand, dass sie sich nicht mehr als 30 km entfernen dürfen. Welche Ausweispapiere hatten Sie? Ich hatte keine Papiere, Ich hatte sie zu Hause gelassen. Wie viele Deutsche sind mit Ihnen in Iss angekommen? Ein Bataillon. Tausend Menschen. Als wir abends im Lager ankamen, waren die Zimmer gut beheizt. In Kantinen bekamen wir heiße Suppe in großen irdenen Schalen und jeder einen Laib Brot. Ich dachte, dass wir immer so behandelt werden würden. Aber so war es nicht. Am nächsten Tag riefen sie uns der Reihe nach. Sie wurden wie in Deutschland genannt, erste Staffel, zweite… Erste Schicht, zweite Schicht… Ich war in der zweiten Staffel. Jenes Lager war nicht für Sie gebaut, sondern wahrscheinlich für politische Gefangene der 30er Jahre. Das Lager war nicht neu. Am nächsten Tag mussten wir uns im Speisesaal versammeln. Die Sowjets riefen Listen auf, die sie hatten. Und sie sagten zu jedem: soundso ist deine Nummer. Sie konnten - nein, sie wollten unsere Namen nicht aussprechen. Ich hatte die Nummer 177. Wenn etwas war, riefen sie mich so. Und jeder musste seinen Beruf nennen. Ich war Schüler an einer technischen Schule gewesen, aber ich arbeitete als Dreher-Lehrling. Und ich sagte zu ihnen, Dre-

Anton Ferenschütz her. Über einen Zeitraum von zwei Wochen wurden wir in der Reihenfolge unserer Nummer aufgerufen. Sie sagten uns, morgen von Nummer 177 bis 200, an der „roten Ecke“ zu erscheinen. Wissen Sie, was „rote Ecke“ bedeutete? Der Ort, wo alles passierte, kulturell, wie politisch. War es denn eine „rote Ecke“ oder irgendein Zimmer, das so genannt wurde? Es war ein größeres Zimmer mit Parolen, eine Bibliothek und ein paar Stühle. Sie gaben uns Papier und sagten uns, jeder solle seine Bekannten aus Schule, Familie, Nachbarn aufschreiben, die mit hier im Lager sind. Jeder soll über fünf bis sechs Personen schreiben. Und was man politisch getan hat, ob man im Krieg war. Wir aus Reschitz hatten viele Bekannte. Und sie werden es sowieso herausfinden, ich habe nichts zu verstecken, dachte ich. Und ich schrieb, dass ich seit der Schule Mitglied der Deutschen Jugend war. Ich schrieb auch, dass mein Bruder als Freiwilliger nach Deutschland gegangen ist und in der SS dient. Mein Vater war Sozialdemokrat. Dagegen, aber was konnte er uns Kindern tun! Dann gaben sie uns ein paar Kleider. Ich bekam eine Watte-Hose. Einen wattierten Mantel habe ich nicht bekommen, auch keine Filzstiefel. Und sie führten uns zur Arbeit. Mich an eine Drehbank, wie bei uns zu Hause, österreichische oder deutsche Drehbänke. Aber ich war kein sehr guter Handwerker, ich war eben erst Lehrling. Anfang Mai war der Krieg zu Ende, wir aber sahen zu, wie man den Frühling in Sibirien verbringt. Bei Nacht war es minus 10 bis minus 15 Grad kalt. Aber morgens kam ein warmer Luftschwall und der dicke Schnee schmolz in drei bis vier Tagen. Es gab keine Bürgersteige wie wir sie kennen, sondern Brücken-Bürgersteige, also einen halben Meter über dem Boden, denn die Schneeschmelze konnte zu Überschwemmungen führen. Und sie riefen uns auf den Hof, der recht groß war. Die Gebäude auf dem Gelände waren

43 Kantine, Schlafsäle und weiter hinten waren Badeanstalt und Krankenhaus. Gegenüber waren die Latrinen - eine lange Hütte von etwa 30 m in zwei Teile getrennt. Eine Seite für Frauen, eine für Männer, etwa zwei Meter tief in den Boden ausgehoben. Und wir wurden auf den Hof gerufen, sie hatten auch einen Übersetzer. Und der politische Kommandant sagte, wenn ihr gut arbeitet, geht ihr schneller wieder nach Hause. Arbeit macht frei! Und wenn ihr nicht arbeitet, werdet ihr hier sterben. Der Kommandant war ein sehr ernster, strenger Offizier. Wenn man ihn nur ansah, bekam man Gänsehaut. Und er sprach mit uns über den Krieg, über den Nazismus, dass das Ganze nur noch ein paar Tage dauert... War es etwa 1. Mai? Nein, ein paar Tage später. Am 1. Mai erhielten wir Weißbrot. Für uns war es wie Zopfkuchen. Und sie hielten uns eine politische Ansprache, dass die Sowjetarmee siegen wird, dass wir frei sein und nach Hause zurückkehren werden. Aber diejenigen, die nicht arbeiten wollen und nicht die politischen Regeln befolgen, werden noch bleiben müssen. Denn wir haben Lager genug, um euch auch 40 Jahre hier zu behalten, sagte er. Er hat uns gedroht. Und dann ist für mich etwas sehr Interessantes passiert. Er sagte: „Wir haben alle Aussagen analysiert, die ihr über euer Wissen gemacht habt und wir haben daraus geschlossen, dass von tausend Menschen nur einer Hitleranhänger war. Und das ist der Jüngste“. Und er sagte: „Nummer 177, einen Schritt nach vorne:“ Ich wusste nicht, ob sie mich nun erschießen werden, ich hatte auch Angst... Idiot, warum hast du all das geschrieben? - dachte ich damals. Andere haben nichts preisgegeben, aber ich habe es geschrieben. Dieser Mann hat die ganze Wahrheit geschrieben, sagte der Kommandeur, das bedeutet, er hat Charakter.

44 Die Indoktrination Guter Charakter! Sehr gut! Nach Beendigung der „roten Ecke“ wurden die jungen Leute unter 20 Jahren zusammengerufen. Genau die Richtigen für die Indoktrination! Ich denke, wir waren ungefähr 30 Personen. Und der politische Kommandant hielt uns eine Ansprache über den dialektischen Materialismus. Er sagte uns dort, und das gefiel mir, dass Deutschland nicht nur faschistisch ist, sondern auch demokratisch. Es hat auch Zukunft. Es sollte kommunistisch werden - ja, ein Teil davon. Dann kam ein junger Lehrer. Wir lernten bei ihm Naturwissenschaften. Es begann mit Dar­win und der Evolutionstheorie. Es war mir damals nicht bewusst, worauf er hinaus wollte, aber es war sehr interessant. Am Anfang war das zweimal im Monat, später jede Woche. Und jedes Mal bekam jeder von uns einen Liter Milch. Ein Stimulus zum verstärkten Lernen. Ich dachte an die Milch, dass sie mir helfen würde. Denn das Essen wurde immer schlechter. Und nicht etwa, dass die Ration schlecht gewesen wäre, aber es wurde gestohlen. Die Köchinnen und der Verwalter waren Russen. Abends gingen sie mit Paketen nach Hause. Und wir fingen an, uns zu organisieren und diese Missstände zu kritisieren. Es ist uns gelungen, unsere Frauen in die Küche zu bekommen. Und in Bezug auf die Schule, nach zwei Monaten wurde mir bewusst, dass ich von zu Hause gewohnt war, Politik zu machen. Ich wusste, wie die Arbeiter gelehrt wurden, einen Tarifvertrag auszuhandeln, ich kannte den Arbeitskampf aus den 30er Jahren… Sie sagten mir, dass auch der Nationalsozialismus keine wissenschaftliche Grundlage hatte, während das, was wir hier machen, auf Wissenschaft fußt. Ich habe Feuerbach gelesen... Er war so geschickt, dieser Lehrer!

Anton Ferenschütz Und Sie waren sehr sensibel und anfällig unter diesen Umständen. Die „Antifaschistische Schule“ wurde das genannt, was Sie gemacht haben. Entgiftung vom Nationalsozialismus und die Vergiftung mit Kommunismus. Dasselbe geschah auch mit den rumänischen Soldaten und Offizieren in den Gefangenenlagern. Die Indoktrinierten traten den Divisionen „Tudor Vladimirescu“ und „Horea, Cloşca und Crişan” bei. Genau. Und nach einem Jahr steckten sie mich auch ins antifaschistische Lager-Komitee. Der Jüngste unter allen. Alle Ideen, an die ich während des Krieges glaubte, waren ausgelöscht. Und aus dem jungen Faschismus-Anhänger haben sie Sie in einen jungen Kommunisten verwandelt. Noch nicht ganz, aber die Neigung war da. Und, da ich auch der Leitung angehörte, übernahm ich im zweiten Jahr eine Gruppe von 80 Leuten. Ich bekam ein anständiges Gehalt. Die Arbeiten der Deportation Gehalt?! Und was haben Sie damit angefangen? Mit dem Gehalt war es etwa so. Auf dem Papier verdiente ich gut. Wir arbeiteten in verschiedenen Unternehmen. Einige kümmerten sich um die Pferde und bekamen, sagen wir, gutes Geld. Aber andere, nicht. Und im Lager wurde der Verdienst unter allen aufgeteilt. Wie im jüdischen Kibbuz. Menschen mit unterdurchschnittlichem Einkommen bekamen Geld dazu. An wie vielen Stellen haben Sie gearbeitet? Ich arbeitete zunächst als Dreher - von März bis August, September. Dann wurden Wettbewerbe gemacht. Das hatte man auch schon in Rumänien gelernt. Freiwillige Arbeit und Wettbewerb der Abteilungsbesten in allen Bereichen. Auch aus Schulen und Fakultäten. Um die Ernte einzubringen. Denn auch dort gab es Ernten. Aber es gediehen nur Kar-

Anton Ferenschütz toffeln gut. Sie wurden im Mai gepflanzt und im September geerntet. Es wurden Rüben, Hafer, Erbsen angebaut. Also, im September wurden wir vom Werk abgeholt und sie brachten uns zum Kolchos - Kolchos 21. Damit sie diese nicht durcheinander bringen, gab man ihnen Namen: 1. Mai, 7. November, Lenin oder Stalin. Aber auch Zahlen. Von der Stadt bis zum Kolchos waren es etwa 20 km. Wir verließen das Lager morgens und kamen gegen Mittag an. Sie gaben jedem eine kleine Sense, um Erbsen zu mähen. Wahrscheinlich Futtererbsen... Wir aßen sie auch. Ich hatte keine Ahnung vom Mähen, in meinem Leben hatte ich noch keine Sense in der Hand. In unserer Gruppe gab es einige Böhmen aus Wolfsberg. Die Böhmen sind Bauern... Vom Semenic-Gebirge. Sie kamen aus Böhmen, im tschechischen Grenzgebiet. Sie konnten arbeiten, und haben uns das auch beigebracht. Ohne Essen ohne alles waren wir an jenem Tag erst gegen sechs Uhr abends fertig. Wir mähten, der Traktor kam und wir beluden ihn. Schließlich wurden wir zu einer großen Kantine gebracht, wo wir eine kräftige, gute Suppe bekamen. Danach wurden wir in einem Kinosaal untergebracht. Der Kolchos hatte ein Kino. Wie Lenin sagte, die beste Bildung wird durch das Kino erreicht. Also hatte jedes Dorf in Russland ein Kino. Für uns wurden die Stühle dort entfernt und wir schliefen auf dem Boden. Wir nahmen uns Stroh von den Haufen aus der Nähe, und dann war da noch der Diesel-Geruch am Boden! Gegen 6 Uhr morgens mussten wir aufstehen. Eine Suppe, ein Stück Brot und auf, raus zum Kolchos. Sie brachten uns auf ein Haferfeld. Und wir stapelten Hafer in Haufen. Danach in die Kartoffeln. Darüber habe ich auch geschrieben. Es war eine interessante Sache, wenn der Traktor kam, der eine Art Sieb hatte, um die Erde abzuschütteln und die Kartoffeln blieben oben liegen. Für uns, um sie zu sam-

45 meln. Mit einem Korb in der Hand trug jeder von uns sie zusammen und brachte sie auf einen Haufen. An diesem Tag arbeiteten auch Russen bei den Kartoffeln. Es waren wahrscheinlich die Bauern aus der Gegend, denn sie wussten am besten, von diesen Dingen zu profitieren. Sie bestimmten unsere Tagesnorm. Mit einem Stock in der Früh, wie ein Kompass. Dann legte einer einen Stock oder etwas Ähnliches als Marke auf die Stelle und sagte: „Dies ist eure Norm. Vorarbeiter, du hast 20 Leute, sieh zu, dass ihr die Norm erfüllt!“ „Aber die Russen waren immer viel schneller als wir. Auch unsere Böhmen aus der Bergregion des Semenic kannten sich mit Kartoffeln aus, denn auch dort wurde mehr Kartoffelanbau betrieben. Hey schau, die arbeiten schneller als wir, sagte ich, das kann nicht sein! Wir werden unsere Norm nicht schaffen, und sie werden uns hier behalten, wer weiß, wie lange. Ich sagte, ich werde mich unter die Russen mischen, ich konnte ja Russisch. Mir wurde klar, dass sie nur einen Teil der Kartoffeln einsammelten. Sie gingen schnell durch und vergruben die restlichen mit den Füßen. Und die Körbe brachten sie fast leer zum Entladen. Aber warum? Gewollt, denn wenn die ganze Fläche abgeerntet war, bekamen sie am nächsten Tag von den Kolchos-Chefs die Erlaubnis, die Reste von dem Feld für sich zu sammeln. Ich nehme an, sie haben den Kolchos um 50 % der Ernte betrogen. Also war das der „neue sowjetische Mensch“. So hat das ganze System funktioniert. Aber zu Ihren Landsleuten haben Sie es geschafft, ein gutes Verhältnis zu bewahren da Sie doch Vorarbeiter waren? Haben die Sie nicht gehasst, da Sie doch zwischen ihnen und den Russen standen? Dies ist eine Sache der Pädagogik oder Psychologie, dass du, wo immer, das Eine mit dem Anderen verbinden kannst. Auch die Russen mussten überzeugt werden, dass wir nicht Feinde sind, sondern unsere Arbeit

46 richtig machen. Und wir alle wussten das. Im Winter, es geschah etwa im Februar. Der Winter war im Februar rau und kalt, schlimmer als im Dezember. Weil der Wind wehte und die Stürme begannen. Es gab eine Frau in meiner Gruppe, die zu Hause zwei Kinder hatte. Sie arbeitete am Schubkarren. Sie transportierte die Erde, da wir Dämme bauten. Und auf einmal stellte ich fest, dass sie fehlte. Dann sah ich, dass sie ihre Filzstiefel ausgezogen hatte und die Füße ins Wasser steckte. Als ich das sah, schrie ich sie an: „Was machst du da?“. Sie sagte: „Ich will mir meine Füße erfrieren, damit sie mich nach Hause schicken“. Ich gab ihr eine Ohrfeige und zog sie aus dem Wasser und habe ihre Füße gut mit Schnee gerieben. Sie schrie und ich sagte ihr, dass ich ihr noch eine herunterschlage, wenn sie nicht aufhört. Und wenn ich das den Russen sage, werden die sie ins Gefängnis stecken. Aber in dem Moment ging es mir um nichts anderes, als dass sie zu Hause zwei Kinder hat und sie kommt heim mit erfrorenen Füßen, wenn sie nicht gar krank in Russland stirbt. Und in der Tat, als ich nach Hause kam, ich hatte gerade geheiratet, da traf ich sie im Bus, als ich mit meiner Ehefrau unterwegs war. Und sie schrie laut: „Er hat uns an die Russen verkauft! Er hat mich geschlagen!“ „... Sie können sich vorstellen, wie ich mich fühlte! Nachdem wir nach Hause kamen, haben sich einige bei mir bedankt, ich war dort sehr beliebt, in Wolfsberg bei den Böhmen… Aber auch das ist passiert. Und wo haben Sie sonst noch gearbeitet? Nachdem ich vom Kolchos weg bin, schickten sie mich in eine private Firma. Ein Amerikaner hatte eine Lizenz bekommen, um Gold auf einem Stück Boden zu schürfen, ich weiß nicht, wie das möglich war. Er hatte eine sehr komplizierte Anlage, mit ein paar Rohren... Wahrscheinlich eine Abmachung, damit sie diese Anlage kopieren können. Wir haben es nicht erfahren. Auf dem Kol-

Anton Ferenschütz chos haben wir uns erholt, das Essen war besser und deshalb überstellten sie uns dorthin. Der Amerikaner aber wusch die Erde mit einem starken Wasserstrahl aus. Diese Erde mit Wasser floss durch Kanäle, die wir gegraben hatten, am Ende mit einem Sieb, wo der gröbere Anteil aufgefangen wurde, vor allem mit Gold. Diese Wäsche wurde in zwei bis drei Stufen durchgeführt und schließlich blieb auf ein paar rudimentären Matten ein Gemisch aus Erde mit etwa 30-40 % Goldanteil. Es war der härteste Job, den ich in Russland hatte. Denn beim Waschen mit diesem Wasserstrahl kamen Äste und Bäume, die das Abfließen der Erde verhinderten. Und wir mussten in den Kanal steigen, um diese heraus zu holen. Und es war Winter, aber wir sind oft ins hüfthohe Wasser gegangen, um diese Wurzeln und Äste zu beseitigen. Dort habe ich drei oder vier Monate gearbeitet. Männer und Frauen Wie waren die Beziehungen zu den Aufsehern und Einheimischen? Die Beziehungen zu den Russen... Da ich wusste, lernte ich gut Russisch, ich wurde selbst von den Russen respektiert. Schwieriger war es, mit dem von den Russen eingesetzten Verwalter auszukommen. Er wurde Kommandant der Deutschen genannt. Er war bestrebt, dass die Küche funktionierte, dass wir Holz hatten. War er auch ein deutscher Deportierter? Ein Deutscher aus Bokschan. Er hielt den Kontakt zu den Russen, er organisierte Feiern für sie in der Stadt, beschaffte die Musiker... So konnte er sich halten. Es war verboten, Frauen aus dem Lager zu Feiern zu bringen. Aber man hörte, dass welche hingingen. Und sie hatten ein besseres Leben, nicht wahr? Bessere Nahrung, bessere Kleidung, denn die bekamen wir von ihnen. Und die Beziehungen zwischen Frauen und Männern, wie waren die Lagerregeln? Die Frauen hatten ein separates Gebäude,

Anton Ferenschütz aber Verheiratete durften sich besuchen. Es gab auch Eheleute. Ich muss Ihnen etwas erzählen. Es ist nicht schön, aber es ist Teil dessen, was ich dort gelernt habe. Denn ich war 17-18 Jahre alt. Gegenüber von meinem Bett war ein Mann aus Bokschan, der eine sehr, sehr schöne Frau hatte. Er war etwa 40 Jahre alt und war lungenkrank. Sie wiesen ihm leichtere Arbeiten zu, trotzdem verbrachte er mehr Zeit zu Hause. Und oft, wenn diese schöne Frau kam, musste ich sie betrachten. Dort fing ich an, die Frauen zu schätzen. Welche intelligent ist, welche schön ist... Für mich war diese wie eine Ikone und von meinem Bett aus konnte ich sehen, wie sie zu ihrem Mann spricht. Und eines Tages, als ich vom Abendessen kam - jeder hatte seinen Topf, in dem er Essen fassen ging. In der Nähe von meinem Bett hatte ich auch eine geschnitzte Schublade, in welcher ich meinen Topf und sonstige Dinge aufbewahrte. Jeden Tag wurde auch der Strom abgestellt. Eine Stunde, manchmal weniger. Sie kam gerade hinter mir her. Und dann fiel der Strom wieder aus. Ich legte meinen Topf weg, doch sie nimmt meine Hand und legte sie in ihren Brustausschnitt. Ich dachte, ich träume - ich war wie elektrisiert. Ich kann es nicht beschreiben. Es war das erste Mal in meinem Leben, dass ich die Hand an die Brust einer Frau legte. In diesem Moment, ich kann es nicht ermessen, was ich damals gefühlt habe. Ab da fing ich an, ihn zu verdammen. Wenn ich ihren kranken Mann sah, wie sie kommt und ihn liebkost… Ich war im Konflikt. Wie soll ich sagen? Ich konnte nicht mehr an etwas anderes denken. Ich möchte nur sagen, sie waren Mann und Frau, aber sie wohnten nicht zusammen. Und sie konnten keinen sexuellen Kontakt haben, wie es sich andere eingerichtet haben. Ich denke, sie haben sich mit Handwerkern arrangiert, die besser verdient haben. Die Geld, Gehalt hatten... andere hatten einen Ehepartner zu Hause, sie lebten

47 dort zusammen, wie es ging und, als sie nach Hause kamen, haben sie sich geschieden. Durften sie das Lager nicht verlassen... Man konnte sich nur auf dem Hof treffen. Wie waren die Beziehungen zu den Russen? Bei der Arbeit hatte ich mit vielen Russen zu tun. Es gab - wie in jeder Nation - große Unterschiede zwischen den Menschen. Einige waren schlecht, andere sehr mitfühlend. Da ich jung war, aber älter aussah, als ich es war, kam es vor, dass jemand mit drei, vier Kartoffeln und Brot zur Arbeit kam und mir auch eine gab. Auch sie konnten nicht mehr geben, sie hatten auch nichts. Sie waren arm. Es war eine kleine Stadt mit 30.000 Einwohnern. Einige hatten auch Höfe, wo sie eine Kuh halten konnten. Es war der 1. Mai, Sie wissen, wie es damals auch in Rumänien war. Sie erhoben Stalin, manchmal auf zwei Meter großen Plakaten. Und ich erwischte einen, der auf Stalin spuckte - ein Russe, von etwas über 50 Jahren. Sie haben ihn nicht angezeigt? Nein, wie könnte ich? Ich habe nie daran gedacht, das zu tun. Im Gegenteil, damals war ich noch überzeugt von der Nazi-Doktrin. Aber dann kam der Russe jeden Tag an meine Drehbank, um mir zu erklären, warum er das getan hat. Ich sah damals gerade darin ein Zeichen, dass der Nationalsozialismus nicht besser war als der Kommunismus. Ich habe etwas Wichtiges vergessen. In den ersten Wochen, als ich ins Lager kam, habe ich mir ein oberes Bett ausgesucht. Und mit dem Erwärmen des Raumes wurden auch die Wanzen lebendig. Diese Insekten können auch ohne Blut und Essen zehn Jahre lang leben. Oben waren Risse in der Decke. Im warmen Raum konnten wir uns nicht mehr vor Wanzen erwehren. Morgens waren wir oft ganz blutig. Eines Tages quälte ich mich, die Wanzen in den Rissen zu bekämpfen und fand ein Papier. Es war eine BrotKarte für einen halben Monat und ein Brief auf Polnisch. Nachdem ich von jemand im

48 Lager erfuhr, der polnisch konnte, wusste ich was da geschrieben stand. Es war ein Zettel mit der Anmerkung von einem Offizier aus gutem Haus, der sich seit zwei Monaten im Lager Iss befinde und die Ruhr habe. Und er glaube, dass er es nicht mehr lange durchhält. Deshalb hinterlässt er diese Brot-Karte für den Unglücklichen, den Kriegsgefangenen, der nach ihm kommt. Und er bittet sehr, dass dieser zu seinen Eltern und zu seiner Schwester gehen möge ... Es war ein sehr tiefgehender Brief. Er war aus Krakau, das weiß ich noch. Es war auch der Name, aber keine Adresse darauf, aber ich werde die schon finden. Und ich behielt diesen Brief, ich habe darüber auch im Journal berichtet… Ohne Spuren Haben Sie im Lager geschrieben? Und haben Sie es nach Hause mitgebracht? Nein. Das steht auch in meinem Buch. Als sie uns den Befehl mitgeteilt hatten, dass wir nach Hause zurückkehren würden, wurden wir nackt ausgezogen. Und es war so angeordnet, dass man die Kleidung und alle Habseligkeiten in einem Raum ablegte und man in einen anderen Raim eintrat, in dem an einem Tisch Offiziere und Ärzte saßen. Sie betrachteten dich, dreh dich um, bücken... sie schauten einem selbst von hinten rein. Und danach ging man ins Bad. In der Zwischenzeit wurden die Kleider von Läusen desinfiziert und ein ganzer Haufen mit unseren persönlichen Sachen - wenn du Briefe von zu Hause hattest, Kruzifixe, Bücher, absolut alles, was man hatte, wurde eingesammelt. Ich bekam den leeren Rucksack zurück, nur mit zwei langen Unterhosen. Da hatte ich auch mein Notizbuch drin, in einem Tuch eingewickelt. Zwischen Leinwand und Deckel hatte ich diesen Brief versteckt. Während wir uns anzogen, sah ich den Haufen mit unseren persönlichen Dingen. Aber sie gaben uns nichts, rein gar nichts davon zurück. Keine Spur von unserem Leben dort blieb uns.

Anton Ferenschütz Aber zu den Eltern konnte man Verbindung halten? Drei Mal durfte ich schreiben. Aber von ihnen bekam ich keinen einzigen Brief. Sie gaben uns eine Art braunes Papier, Packpapier zum Schreiben. Erinnerungsknoten Welcher Vorfall aus diesen Jahren hat Sie am meisten geprägt? Der größte Vorfall geschah zu meiner Zeit als Gruppenleiter. Und wie ich schon sagte, war ich nicht nur bei den Offizieren angesehen, sondern auch bei den Deutschen. Ich wurde in den antifaschistischen Ausschuss gewählt. So war ich einfach... ich hatte keinerlei große Qualitäten, aber ich weiß nicht, warum ich so von anderen protegiert wurde. Ich hatte noch nicht einmal eine Freundin. Ich hätte welche haben können, allein schon weil ich Gruppenleiter war. Es näherten sich mir sehr viele Mädchen, aber abgesehen von Geschichten und Sprüchen, die wir wechselten, war da nichts. Sie fragten an, mir meine Wäsche zu waschen. Ich habe das nicht zugelassen. Hätte ich etwas angenommen, hätte ich auch etwas geben müssen. Man muss sich revanchieren. Deshalb habe ich mir selber gewaschen und genäht. Strümpfe hatte ich keine. Nur Lumpen, in die ich meine Füße gewickelt habe. Aber, das möchte ich sagen, in dieser Beziehung war ich ziemlich unabhängig. Aber mein Kommandant, der mich protegiert hatte, wurde eines Tages, kurz nach Weihnachten, nach Moskau abberufen. Und sein Stellvertreter nahm seinen Platz ein, es war ein Leutnant. Ausgerechnet einer derjenigen, die mit dem Verwalter Feiern organisierten, von dem ich erzählte. Menschlich war er genau das Gegenteil des Kommandanten, der sehr korrekt war. Dieser war eine Drecksau, wie der sich benahm. Er kam mehrmals betrunken ins Lager. Zu Weihnachten brachte jemand aus unserem Raum heimlich eine kleine Tanne, damit ihn nie-

Anton Ferenschütz mand sieht. Und wir feierten Weihnachten, so mit dem kleinen Tannenbaum im Zimmer. Und er kam herein. Als Schmuck hatten wir sternförmig geschnittene Kartoffeln an den Weihnachtsbaum angebracht... Und wir hingen sie einfach so dran, damit es nach etwas aussah... Und plötzlich kam die Drecksau herein, sah den Christbaum, warf ihn zu Boden und begann, ihn zu zertrampeln. Und er schrie uns an. Der wurde dann zum Lagerleiter ernannt. Er hat mir Schwierigkeiten bereitet. Da ich Gruppenleiter war, verantwortete ich für die Menschen, die zur Arbeit kamen. Jeden Morgen gingen wir zur Arbeit. Und wir waren angemeldet - „Die Brigade von Nummer 177 soll sich am Tor versammeln“. Ich aber sah immer zu, dass die Leute mit dem Nötigen bekleidet waren, was sie brauchten, je nachdem, wohin wir zur Arbeit gingen. Und wenn es unter minus 45 Grad kalt war, durften sie nicht hinaus. Brachten sie Euch auch bei so niedrigen Temperaturen zur Arbeit? Die aus der Ukraine wurden nicht zur Arbeit geschickt, wenn die Temperatur unter 23 Grad fiel… Sie logen sehr oft. Sie sagten, es sei weniger kalt, als es wirklich war. Und ich sehe in diesem Moment zu meinen Männern in der Gruppe und weiter hinten bemerke ich eine Frau, ein Mädchen, eingewickelt nur in ein Woll-Kopftuch. An den Füßen trug sie Arbeitsschuhe, aber keine Filzstiefel. Ich frage: „Was ist mit dir?“ „Nun, sie haben mich zur Arbeit geschickt.“ „Wer?“ „Der Lagerleiter - der Deutsche, nicht der Russe.“ Dieses Mädchen war erst kürzlich aus dem Krankenhaus entlassen worden. Aber er konnte - auch wenn der Arzt sagte, dass sie drei Wochen nicht zur Arbeit geschickt werden soll - sie rausschicken, aber mit der entsprechenden Kleidung. Und trotzdem, er hat sie rausgeschickt, zur Arbeit. Dann holte ich sie aus der Reihe und sagte zu dem russischen Wachmann - „Pass auf, sie hier darf nicht mit zur Arbeit, da sie erst vor einer Woche

49 das Krankenhaus verlassen hat, sie hatte vor einer Woche Lungenentzündung.“ Und ich ging. Ich hätte nicht erfahren, was passiert ist, aber ihr Bruder arbeitete in meiner Gruppe als Zimmermann. Böhme aus Wolfsberg. Ich sagte ihm, wenn er nach Hause kommt, mir zu berichten, ob seine Schwester auf Arbeit war. Wir aßen abends in der Kantine, da kam er und sagte mir: „Meine Schwester wurde zur Arbeit geschickt - zu einer anderen Gruppe. Deren Gruppenleiter hat sie mitgenommen. Und sie hat immer noch Fieber. Sie wurde wieder ins Krankenhaus eingewiesen - über 40 Grad.“ Und zwei, drei Tage später ist das Mädchen gestorben. Aber welche Bedeutung hat diese Geschichte für Sie, da es keine Verbindung zu Ihrem Schicksal zu geben scheint? Und ob. Sie verfolgt mich immer noch. Ich hörte, dass das Mädchen gestorben ist. Und dass sie von jenem Lagerverwalter aus Bokschan geschickt wurde. Der bei sich ein sehr schönes Mädchen hielt, ein 18-jähriges Mädchen. Sie lebten in einem Raum mit extra Küche. Und lebten sehr gut für die Verhältnisse, die dort herrschten. Ich ging entschlossen hin, als ich hörte, dass das Mädchen gestorben war, um ihn zur Rechenschaft zu ziehen. Er war schuld. Und ich ging zu ihm. Als ich die Tür öffnete, war nur das Mädchen da, seine Hübsche. Und ich sagte. „Wo ist er?“ „Drüben“; „Hol ihn her!“ Und er kam, angezogen in roter Samt-Jacke, bestickt wie ein... Patron... Ja, mir war es danach, ihn zu erwürgen - bestimmt. Und ich sagte zu ihm: „Pass auf, für das, was geschehen ist, wird dir der Prozess gemacht. Ich bin entschlossen, es nicht auf sich beruhen zu lassen. Denn dies ist nicht das erste Mal. Es gab noch andere Vorfälle.“ Es haben auch andere sowas mit ihm erlebt. Er schrie sonst nicht, aber wenn er sprach, spuckte er so... sehr unangenehm. Und er schrie mich an, ich schrie ihn an. Er packte mich bei der Brust, aber ich wich nicht zu-

50 rück... Und ich sehe, dass seine Augen neben dem Ofen einen Feuerhaken erfassen. Ich bemerke, dass er dahin sieht, diesen zu erfassen, um auf mich einzuschlagen. Aber ich war schneller als er, bekomme ein Stück Holz zu fassen und... Und was kam dabei heraus? Er fällt zu Boden, fällt in Ohnmacht, seine Hübsche schrie wie eine Verrückte: „Er hat ihn umgebracht, er hat ihn umgebracht, Hilfe!“ Für mich war das noch schlimmer, da in der Nähe ein Zimmer mit böhmischen Männern und Frauen war, die alle in meiner Gruppe arbeiteten. Und sie machten mich zum Kriminellen. Auch sie schrien - ich war der Mörder. Und ich sage mir - schau, ich habe versucht, ihnen zu helfen, und siehe, was passiert. Ich aber ging auf mein Zimmer. Nach einer halben Stunde wusste das ganze Lager, dass ich ihn getötet hätte. Zum Glück war es nicht so. Damals aber kam das ganze Lager hin und dachte dies. Es kamen Soldaten vom Lager zu mir und sagten: „Du bist verhaftet.“ Ich solle meinen Strohsack nehmen… Also die Matratze... Ich sollte ihn leeren und nach unten gehen, wo die Soldaten ihren Garderaum hatten, zur Bereitschaft. Am Eingang, wo auch die Wache war. 5 bis 10 Minuten sahen mich alle an, ohne mich etwas zu fragen. Und plötzlich kommt sie zu mir, die Frau, die unsere Ärztin war. Und sie sagte zu den Russen: „Ich darf niemanden aus dem Gefängnis lassen, bis ich ihn nicht untersucht habe. Und ich darf keinen Kranken heraus lassen. Ich nehme ihn mit auf die Krankenstation und werde sehen, was er hat. Wenn er nichts hat, unterschreibe ich und er kann gehen.“ Dieser Offizier, der Nachfolger des Kommandanten, der nach Moskau ging, sagte: „Was willst du befehlen? Willst du etwa was anderes sagen, als ich - wo du von mir bezahlt wirst?“; „Nein“, sagte sie, „ich bin in erster Reihe Ärztin und erst dann bin ich

Anton Ferenschütz deine Untergebene.“ In der Tat brachte sie mich auf die Krankenstation, verlangte, ich solle mich bis zur Taille entkleiden und untersuchte mich - das Herz, die Lunge und sagte der Schwester, die am Tisch saß und schrieb: „Er darf das Lager nicht verlassen.“ Der Kommandant sagte: „Wie willst du mit ihm machen, was du willst, wenn ich das Lager befehlige?“; „Tu, was du willst“, sagt sie, „aber du verantwortest das“. Und in der Tat, er nimmt einen Umschlag, bringt ihn zur Wache und es kam ein Auto, ein Lastwagen. Der Fahrer kam herein, er überreichte dem Fahrer den Umschlag und sagte zu ihm: „Du übergibst ihn dem Aufseher des Lagers Iolkina“. Iolkina war ein Straflager, ein Vernichtungslager. Iolkina bedeutet Tannenbäumchen. Dort aber war das Essen schlecht, die Arbeit sehr schwer, die Norm hoch und eine große Misere. Der Lagerkommandant war ein sehr übler Mensch. Es wurde viel über Iolkina erzählt. Es war so, wie auch Solschenizyn Vernichtungslager beschreibt. Ich habe auch von Iolkina gehört, aber damals hatte ich keine Ahnung, wie es dort wirklich war. Und ich stelle mich an, in das Fahrerhaus des LKW zu steigen. „Nein, wurde mir gesagt, du gehst nach oben.“ Der Fahrer war allein im Fahrerhaus, aber ich musste nach oben gehen. Etwa 9 Uhr abends, es war Winter und kalt... Ich machte mich klein, so wie ich war und was ich bei mir hatte. Ich hatte gute Kleidung für die Verhältnisse dort, neue Stiefel aus Filz... Solange ich Gruppenleiter war habe ich gut verdient. Wäre ich nicht gut eingekleidet gewesen, wäre ich wahrscheinlich auf dem Weg gestorben. Nach einer Stunde hält er auf offenem Feld. Es war nichts da. Aber nachts im Ural war es bitter kalt! Der Fahrer hält und sagt mir: „Steig ab.“ Und gibt mir den Umschlag in die Hand. Sie können sich vorstellen, in welcher Lage ich war - es war kein Haus, es war nichts da. Im Schnee kann man weithin sehr gut sehen, über mir waren Sterne, aber sonst keine Lebensbewe-

Anton Ferenschütz gung. Aber was sollte ich tun? Ich erinnerte mich daran, was mein Vater aus dem Krieg sagte, dass, wenn du einschläfst, während du frierst, stirbst du dort an Ort und Stelle. Und der Schlaf überkam mich. Mir war es zum Weinen und ich habe geweint. Was konnte ich tun? Und ich denke, ich blieb eine halbe Stunde lang auf der Stelle. Wohin sollte ich gehen? Es gab nicht einmal eine Straße. Ich glaube, einmal im Monat kam da mal ein Auto vorbei. Es gab hier nur Schlittenspuren. Plötzlich sah ich in der Ferne ein kleines Licht. Etwas, das wie eine entfernte Kerze aussah. War da etwas oder kam es mir nur so vor? Nun, ich werde dorthin gehen, denn dort gibt es Hoffnung. Und wie ich näher komme, sehe ich, dass es ein Bagger war. Ich wusste sehr wohl, was ich sah, denn ich habe am Bagger gearbeitet. Dieser war hier zur Überholung. Das Straflager Reparatur... Nein, er hat nicht funktioniert. Und doch war ein Wächter dort. Ein alter Mann von über 70 Jahren, mit einer Waffe von 1800, mit aufgepflanztem Bajonett, der stand so da... Er hatte sich drinnen ein Feuer gemacht. Ich trat durch die Eisentür ein und grüßte. Er dachte wahrscheinlich, ich sei Russe. „Hören Sie, sage ich, welches Lager gibt es hier im Umkreis mit Deutschen?“ Er sagt: „Das Lager 20.“ „Wie weit ist das?“ „Fünf bis sechs Kilometer.“ „Wenn ich dahin kommen wollte, in welche Richtung muss ich mich wenden?“ „Oh, sagte er, du gehst und gehst...“ Und ich dachte immer, ich bin nicht so dumm, wenn ich etwas erledigen musste. Er hatte sogar ein Telefon. Ich fragte ihn, ob auch das Lager eins hat. Ja, sagt er - und ich rufe dort an. Jemand von dort, ein Wachposten vielleicht, hat geantwortet. „Es ist ein Mann aus dem zentralen Lager gekommen, mit der Bestimmung Lager 20, sagte ich - es soll unbedingt jemand kommen, ihn abzuholen. Es ist sehr wichtig. Der

51 Schlitten soll kommen!“ Ich sprach all dies in einem befehlenden Ton und er dachte wahrscheinlich, ich sei Russe. Und nach etwa einer Stunde kam der Schlitten. Und ihre Schlitten sind leicht. Es kam ein Junge, der in meiner Gruppe gearbeitet hatte. Robert war sein Name. Das Haus von Fane2 war ursprünglich seines. Fane kaufte ihm das Haus ab. Er dachte, es sei eine Delegation angekommen. Ich stieg auf den Schlitten und wir fuhren ins Lager. Dieses Lager war wie ein viereckiges Haus aus Beton... außerhalb des Dorfes. Es war Menschen zugedacht, die außerhalb der Gesellschaft lebten - Obdachlose und was sie dort noch so hatten. Ohne Wache. Als ich in ihre Räume eintrat, und ich sah diese gebeugten Menschen, zugedeckt mit ihrer Kleidung... die Betten geschweißt, ohne Bezüge. Es gab zwar einen Ofen, aber es gab kein Holz und kein Feuer. Was habe ich getan? Ich setzte mich nieder und schlief ein. Und ich wachte auf - es war noch nicht hell - durch eine Stimme wie eine Trompete: „Aufstehen! Davai! Davai! Nicht mehr schlafen!“ Und ich sagte zu Robert: „Was hat der für eine Funktion?“; „Das ist der Aufseher“. Oh!... Sagt er: „Er hat nur einen Arm. Er hat ihn genau am 9. Mai in Berlin verloren. Er war Soldat und diese Halbstarken von 14 bis 16 Jahren warfen mit Granaten. „Und deshalb war er so schlimm zu uns Deutschen. Und wie lange waren Sie dort? Wir blieben dort bis zu Ende, dem 9.06.1948. Was haben Sie gearbeitet? Wo ich im Polygon beim Abholzen arbeitete, waren wir etwa sechs Kilometer vom Lager entfernt. In der Küche arbeiteten unsere Frauen, so dass es mit dem Essen nicht so schlimm war. Ich arbeitete beim Holz. Wie viele waren Sie im Lager? Etwa 25 Leute, davon 15 Frauen. Dorthin 2 Stefan Raicu, Reschitzer zu Besuch bei Anton Ferenschütz in Bielefeld, während unserer Dokumentation

52 wurden Frauen gebracht, die mit Männern ein Verhältnis angefangen hatten. Oder sie hatten etwas geklaut, als sie in der Küche gearbeitet haben. Eine Art von Straflager. Wie wurden Sie darüber informiert, dass Sie nach Hause gehen werden? Wir arbeiteten im Wald. Auf einmal kam ein Reiter und hat uns mitgeteilt, wir sollen die Arbeit stehen lassen, da wir nach Hause dürfen. Es war ein jugendlicher Russe, selbst glücklich über die Nachricht, die er überbrachte. Ich konnte es nicht glauben, denn es war kein Wort davon gefallen. Es war um die Mittagszeit, als der Reiter uns die Botschaft brachte. Ich vergesse es nicht, ich kam als Letzter. Es war ein ziemlich großer Fluss, wie die Theiß, aber gemächlicher. Und man brachte uns mit dem Boot, es gab keine Brücke. Es waren Boote für 10 bis 20 Personen. Und diejenigen, die vor mir waren, zusammen mit meinem Kollegen - wir waren bei der Vermessung des Poligons. Denn der Förster kam und sagte, 500 m nach rechts und 500 m nach links. Aber wo haben sie Sie hingebracht? Mit Erreichen des Lagers sagten sie uns, wir sollten unsere Strohsäcke leeren unser Gepäck nehmen, denn wir hätten einen 20 km Fußmarsch zum Lager, in dem die Deportierten zusammengefasst werden. Dorthin kamen die Leute aus allen Lagern der Gegend, es war ein strategischer Punkt, wo es auch eine Eisenbahn gab. Es gab noch fünf Lager dort und alle wurden aufgelöst. Und wie viele wurden etwa gesammelt? Wir waren dann etwa 400 Leute. Es standen Waggons für uns bereit. Ebenfalls Viehwaggons, aber gut vorbereitet. Diese warteten, bis sie uns alle zusammengebracht hatten. Auch der Kommandant erschien und hielt uns eine Ansprache. Er hat uns gedankt, dass wir gut gearbeitet hätten und informierte uns, dass wir nach Hause gebracht werden, um den Sozialismus aufzubauen, wie wir es hier ge-

Anton Ferenschütz lernt haben. Und bla, bla, bla... Dann sagte er uns, wir sollen keine Angst haben vor dem, was wir zu Hause vorfinden werden, denn sie würden für uns sorgen. Sie brachten Leute aus dem Dorf ins Lager, die uns alle etwas verkaufen wollten. Egal was, nur damit wir das Geld loswerden. Und Wegzehrung zu kaufen... Nein, das gaben sie uns. Alle habe wir Essen mitbekommen für unterwegs, kalte Speisen. Noch zweimal, zwischen Swerdlowsk und Moskau, bekamen wir warmes Essen. Was haben Sie von den Einheimischen gekauft? Ich kaufte mir einen großen Laib hausgemachtes Weißbrot. Ein runder Laib, nicht wie jene quadratischen, wie Ziegel, die wir im Lager bekommen haben. Es roch so gut! Es kam mir vor wie Schokolade und ich aß es sofort. Auf dem Heimweg Wie lange war der Weg zurück? Zwölf bis vierzehn Tage. Wurden Sie direkt nach Reschitz zurückgebracht? Die Russen brachten uns bis Focsani (Fokschan). Ab Fokschan übernahm uns die Rumänische Armee. Dort gab es ein zweiteiliges Lager. Im ersten Abschnitt, wo ich zugeteilt war, wurde uns ein Brief auf Russisch ausgehändigt, in dem stand, der Insasse Name - verlässt die Sowjetunion gesund und zufrieden. Somit hast du keine Ansprüche gegenüber den Sowjetischen Staat. Und das hat man auch unterschrieben. Wir haben gar nicht erst gesehen, was wir da unterschrieben. Nur, um weg zu kommen. Damit traten wir in das rumänische Lager über. Die Rumänen nahmen uns den russischen Brief weg und gaben uns einen rumänischen. Wir haben nicht ihren Transport abgewartet. Wir nahmen einen Zug von Jassy nach Bukarest und stiegen ein, ohne Fahrkarte. Sie sagten, sie geben jedem von uns eine Fahrkarte, aber

Anton Ferenschütz wir haben nicht mehr gewartet. Wir hatten nur die Freilassungspapiere bei uns. Sie sagten, Sie haben ein Mädchen in Erinnerung behalten... Ein nettes Mädchen, gebildet. Ihre Eltern hat­ten zwei Mädel und sie schickten sie zur Schule nach Temeschburg. Sie merken, was für ein Mädchen! Ein gebildetes Mädel, niedlich, dünn... Und dieses Mädel hackte Holz in dem letzten Lager, in dem ich war. Sie schnitten Holz mit der Säge... Es gab Bäume mit drei Metern im Durchmesser. Sie wog keine 40 kg. Wie konnte sie nur? Woher hatte sie die Kraft? Sie arbeitete lange Zeit im Wald mit einem anderen Mädchen. Sie hatte körperlich nichts Außer­ gewöhnliches, aber psychisch war sie es. Sie war depressiv. Ich musste Äste beseitigen. Die Norm sah vor, Bäume bis 5 cm von Erde zu bereinigen. Ich sollte Schnee räumen. Und der Schnee war über einen Meter hoch vom Boden. Zuerst musste ich kehren, dann mit der Hand. Sie können sich vorstellen, wie viel Arbeit das war! Wenn man einen größeren Baum fand, war man froh. Denn den reinigte man zuerst einmal und mit dem Abschneiden des Baumes hatte man einen guten Teil seiner Norm erfüllt. Und dieses Mädchen nahm sich das Leben. Und ich höre sie nur schreien „Nani!“ Bei ihnen war dieser Name sehr häufig. „Nani, das mache ich!“ Und auf einmal warf sie sich unter den fallenden Baum. Und der hat sie zerschmettert. Wie würden Sie in einem Satz die Deportation beschreiben? Die Deportation?... Zuerst habe ich diese als Unrecht empfunden. Eine Schuld, die anderen zukommt, aber nicht uns. Das heißt, zuerst den Deutschen, dann den Russen. An die Rumänen habe ich nie gedacht, dass die irgendeinen Einfluss gehabt haben könnten. Je älter ich wurde und nachdem ich die Dinge analysiert habe, sagte ich, dass diese Deportation dem Wahnsinn geschuldet ist, der mit dem Polenüberfall begann, mit dem Faschismus - dass

53 Hitlers Paranoia uns dorthin gebracht hat. Das ist auch der Titel meines Buches in deutscher Sprache - „Wahn und Wirklichkeit“. Die Russen waren nicht so wahnsinnig. Sie behandelten uns nicht so schlecht, wie Hitler die Deportierten behandelt hat. Die Russen hatten auch allen Grund dazu, sich gut zu benehmen. Die Deportierten kamen schließlich aus Ländern, die politisch eingenommen werden mussten. Wenn das gelang, wollten sie Sie zu ihren Agenten machen, in den Ländern, die sowjetisiert werden sollten... Das ist, was ich meinte. Als ich zurückkam, hatte ich keinen Beruf, ich hatte keine Ausbildung, ich hatte nichts. Die Schule, die ich vor meinem Abtransport besuchte, wurde aufgelöst, da sie nach deutschem Modell betrieben wurde. Und ich arbeitete. In der Akte von Herrn Ţigla3 finden sich ein paar Worte darüber. Ich besuchte die Abendschule im Fach Spanbearbeitung im Maschinenbau, alles andere wurde aufgelöst. Es war die einzige Schule für Metallurgie, nicht aber Maschinenbau, die ich besucht hatte. Und diese sollte theoretisch vier Jahren dauern. Ich habe aber in nur drei Jahren den Abschluss der Technischen Mittelschule geschafft. Und in dieser Zeit sagte mir der UTC-Werkssekretär (Vereinigung der Kommunistischen Jugend) - sehr korrekt kam er und hat sich vorgestellt - dass für jeden, der in Russland war, eine Akte kam. Und in dieser Akte wurde ich dazu vorgeschlagen, die Politische Schule zu besuchen. In dieser Zeit lernte ich meine Frau kennen und wir verlobten uns, sie war krank und ich wollte nur noch meine Schule beenden. Ich bekam meine Abschluss-Urkunde, fand erst mal eine Stelle als Zeichner in einem Büro, danach als Projektleiter - was mir später in Deutschland zur Anerkennung zum Techniker gereichte. 3 Erwin Ţigla - Vorsitzender des Demokratischen Forums der Deutschen aus Reschitz.

54 Sie haben vier Bücher geschrieben. Die Person Thomas ist ihr Alter Ego. Gibt es eine Überlagerung zwischen dem, was Thomas erzählt und Ihrer Biographie? Vielleicht 10% sind Roman. Die Namen einiger Charaktere sind nicht real. Und ich habe angegeben, dass ich die Namen geändert habe. Zum Beispiel, der Lagerverwalter aus Bokschan hat vielleicht Kinder. Und ich wollte nicht, dass die das erfahren. Ich hatte auch eine interessante Begebenheit im Lager Friedland. Ich fand eine Zeitschrift, darin stand, dass der Vorsitzende der Deutschen aus dem Banat, Stiegel, gleichzeitig Präsident der Deutschen Gemeinschaft in Rumänien war. Wissen Sie, wer Stiegel war? Stiegel war, wie soll ich es ausdrücken, eine Art Bürgermeister der Deutschen in Reschitz, aber Hitler-Anhänger. Er war der Vertreter der Nazis. Er ging in Stiefeln und Uniform... Wir waren gute Kinder und wir waren einmal im Freiwilligen-Einsatz, um Kartoffeln zu pflanzen, auf einem Stück Boden, der nie vorher bebaut wurde. Ich kam von der Schule. Wir hatten Brot mit Schmalz und Zwiebeln bei uns und gingen zum Wald, um zu essen. Und weil wir uns von unserem Arbeitsplatz entfernten, ohrfeigte er uns. Ich bekam zwei Ohrfeigen, eine links und eine rechts. Und manch andere Dinge... Und ich sehe ihn hier auf einem Posten! Und andere... Welche Folgen hatte für Sie die Deportation? Folgen? Eine davon ist, dass ich die Schule nicht beenden konnte. Eine weitere Folge ist die Krankheit, die ich heute spüre. Die kommt auch von dort her. Positive Folgen? Denn es gibt auch positive. Dort wurde ich ein Mensch. Dort wurde ich ein Mann. Wie andere, die zum Militärdienst gehen und sagen, dass sie von dort als Mann zurückgekommen sind. Ich habe vergessen zu sagen, aber es gibt so viele Dinge, und es kommen mir nacheinander die Bilder alle wieder... Eines Tages, als ich im Lager war, schlug mich ein alter Mann. Er war nicht alt, 40 Jah-

Anton Ferenschütz re, aber mir schien das alt damals. Er schlug mich, weil ich den Fußboden aufwusch und wie der Eimer dastand, mit Wasser und dem Lappen mit dem ich reinigte... Absichtlich stieß er mir den Eimer mit Wasser um. Mit dem Lappen, mit dem ich wischte, schlug ich ihm über den Kopf. Und ich war dünn. Er überhäufte mich mit Schlägen und warf mich zu Boden. In jener Nach habe ich die halbe Nacht geweint - mit dem Kopf im Kissen. Und ich dachte darüber nach, wie ich hier überleben wollte. Und ich betete zu Gott, zu entkommen. Ich denke, hundert Mal. Ich glaube, wissenschaftlich gesehen, wurde ich damals ein Mensch. In dieser Nacht, sagte ich mir, dass ich es nicht mehr zulassen werde, dass mich jemand nochmals anrührt. Ich werde zusehen, alles zu tun - zu stehlen, nur um zu überleben. Aber zuerst muss ich stark sein, um andere zu übertreffen. Ich muss schlauer, fleißiger sein als andere. In dieser Nacht hab ich mich verändert. Ich sah, dass das Leben ein Kampf ist. Anders als das, was ich bis dahin kannte. Jeder mit seinen Methoden und Mitteln, mit allem, was er hatte... Aus Ihrem Buch habe ich erfahren, dass die Deportation auch andere Folgen hatte. Sie wurde auch als Erpressung verwendet, als man versuchte, Sie für die Staatssicherheit zu rekrutieren... Warum? Wenn ich Bücher lese, die danach erschienen sind, verstehe ich nicht, warum. Ich hatte viele Freunde, die nicht aufgefordert wurden. Warum haben sie es bei mir versucht? Suchten sie Bastarde, die ihre Freunde verkaufen oder suchten sie Personen, die auf Andere Einfluss haben? Konnten Sie in der Familie über die Deportation sprechen? Ich sprach mit meinem Vater, der sehr, sehr interessiert war. Er wollte jeden Augenblick und jede Geschichte von dort erfahren. Welche Beziehung war zwischen dem Unglück der Deportation und den Hilfstrans-

Anton Ferenschütz porten, die Sie seit 1990 unterstützt haben? Ich glaube, keine. Ich habe zum Beispiel ein interessantes Buch von einem Philosophen, der erklärt, warum Menschen anderen helfen. Warum helfen Sie? Und vor allem, warum den Reschitzern? Der Stadt, die Sie 1971 verließen... Weil ich eben gefunden habe... es fällt mir schwer, dies zu erklären und es würde zu lange dauern. Aber diese Gene, anderen zu helfen, sind angeboren. Wenn schon Elefanten die Kleinsten unter ihnen schützen... Es ist etwas in unserer Natur. Prosoziales Verhalten wird es genannt... Nun, Sie finden einfach die Worte. Auf Deutsch finde ich sie auch. Sofort, als ich von der Revolution in Rumänien erfahren habe. In dem Moment... wenn unser Mitgefühl so entwickelt ist... ich wusste gar nicht, dass das Gefühl so entwickelt ist, aber da merkte ich, dass dies der Zeitpunkt ist, wo du helfen musst - den Menschen zu Hilfe zu kommen, die es nötig haben... Das steht in keinem Zusammenhang mit der Deportation? Ich kann nicht leugnen, ich kann es aber auch nicht bestätigen. Verbindung zur Deportation... seit jenem Tag, als ich sagte, dass ich stärker sein muss als andere, halte ich mich für einen starken Charakter, stärker als der Durchschnitt der Menschen. Ich bin fähig, wenn ich mich gut und gesund fühle - für Gerechtigkeit und Wahrheit würde ich alles geben. Warum lieben Sie weiterhin Reschitz und somit Rumänien? Mit Reschitz verbindet mich die Geschichte meiner Kindheit, die Freunde. Freundschaft ist etwas, was auf Gegenseitigkeit basiert. Man gibt nicht nur, sondern man erwartet auch, nicht unbedingt etwas Bestimmtes. Und Sie lieben es so sehr, dass Sie nach Ihrem Ableben in die Erde von Wolfsberg zurückkehren möchten... Jetzt stelle ich Ihnen mal eine Frage... Warum ich meine Gedichte in rumänischer Sprache

55 geschrieben habe, obwohl ich die deutsche Schule besuchte? Warum wohl, wenn es etwas von der Seele ist - und Poesie kommt von der Seele - warum ich nicht in Deutsch schreibe? Warum? Sie fühlen die Antwort. Deutsche Worte sind nicht so herzlich wie jene in rumänischer Sprache. Es sind seelisch geeignetere Worte, Latein ist näher zur Seele... Ich bin in Reschitz geboren, ich kroch dort durchs Gras, das nach Blumen und Honig roch, man fühlt den Sommer auf der Haut, nur dort habe ich ihn gefühlt... Sie haben über die Deportation geschrieben. Wie würden Sie es sich wünschen, dass die Geschichtsbücher über diesen Moment berichten? Sie müssen mit 1933 starten, mit Deutschland nach dem verlorenen Ersten Weltkrieg. Dem es zu 80 % unmöglich war, mit den Schulden zu leben, die es hatte. Unmöglich! In dieser Situation hätte es in jedem Land zu Unruhen geführt. Und durch Unruhen werden Ideen übernommen. Dadurch hat die Nationalsozialistische Partei gewonnen. Und ein Mann, ein Österreicher, der unzufrieden war... Wollten Sie, dass die Deportation im Kontext mit den Ursachen des Aufstiegs des Nationalsozialismus und Stalins Rache gesehen wird... Wann sind Sie dem Nebel der totalitären politischen Überzeugung entkommen? Wie haben Sie dem Nationalsozialismus und Kommunismus entsagt? Den Nationalsozialismus bin ich in Russland losgeworden. Und den Kommunismus? Als ich merkte, dass die kommunistischen Ideen nicht besser sind als die nationalsozialistischen. Zu der Zeit, als die Staatssicherheit begann, mich aufzusuchen, 1962. Bis dahin habe ich mich nicht mit Politik beschäftigt. Ich kümmerte mich um meine Familie, Sport, Natur, ich hatte andere Gedanken... Das erschien Ihnen erniedrigend... Persönlich... war es eine Enttäuschung.

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Die Therapie des Vergessens

Maria Ferenschütz

Maria Ferenschütz (Deutschland)

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ie war für Sie die sowjetische Besatzung? Ich weiß, dass Sie viel Leid getragen haben... Wie war es?... Wir haben viel erduldet, denn es war Krieg. Und ein Krieg wäre schrecklich für die Jugend heute. Ich könnte auch jetzt weinen... (sie weint). Ich will mich nicht daran erinnern... Aber, damit nie mehr Krieg sein möge, müssen die Menschen freundlicher, verständnisvoller werden. Denn, wir alle haben nur ein Leben. Und es ist sinnlos, sich zu bekriegen. Wir haben eine einzige Welt. Und wir dürfen sie nicht durch Neid und alle Arten Verschmutzung zerstören... Ich kann denken, aber es fällt mir schwer zu reden... Ich wurde nicht nach Russland verschleppt, aber mein Vater. Ich war 15 Jahre alt und kam im Haus bei meinen Großeltern unter. War Ihr Vater Kriegsgefangener oder wurde er nach Russland deportiert? Deportiert, er wurde in den Donbass gebracht. Und ein Jahr später wurde er zurück geschickt, denn er hatte eine große Wunde, die nicht verheilen wollte. Als er zurückkam konnte er nicht arbeiten. Nur meine Mutter arbeitete. Bevor er kam, sendete er einen Brief, eine Nach­richt? Nein, bis er ankam. Und wie sind Sie ohne ihn ausgekommen? Wie schlägt sich ein Kind durch, wenn der Vater stirbt, oder eine Frau, wenn ihr Ehemann stirbt. Und wenn man jünger ist, kommt man einfacher drüber weg. Wir waren sieben Mädchen, die dort gearbeitet haben. Ich bekam die Zustimmung. Was kann ein Kind von 15 Jahren? Denn so alt war ich, als ich zu arbeiten begann. Was haben Sie gearbeitet? Alles, was ich bekam. Ich arbeitete an einer Drehbank - ich weiß nicht, wie das heißt.

Und wir machten Löffel für die Soldaten. Aluminiumlöffel. Aus Aluminium. In einem Raum, der nur von oben her beleuchtet war, Zementboden und Leitungswasser, so kam der Winter. Ich wusch Löffel dort. Aber alle Mädchen, die dort waren, hatten ein Problem zu Hause, jedem fehlte ein Elternteil. Wir arbeiteten wie Sklaven, wie Farbige, die singen und zur Arbeit gehen. Nach einer Zeit aber wurde es immer schwieriger. Mein Vater wurde in Temeschburg operiert und es wurde ihm ein Stück des Magens entfernt und man verlegte ihm dort... wie heißt das noch... die Speiseröhre... Er war ziemlich kränklich... Dann erkrankten Sie... Ja, ich will gar nicht daran denken. Ich möchte positiv denken. Ich versuche, meine Gedanken nur dahin zu lenken, als wir glücklich waren dort. Aber als ich zum Arzt ging, es war ein gewisser Dubovan, als ob ich ihn noch vor mir sehe, so grau, etwas rundlich... Und jeder wollte damals kommunistischer sein als der andere. Er sagte, dass ich mich verstelle, ich könnte nicht meine Hände bewegen, aber einfach nur nicht arbeiten wolle... Und dass ich den Fortschritt des Kommunismus, die Idee verhindern möchte, etwas in dieser Art... Sie wollten die Entwicklung des Kommunismus behindern... Ja, ja. Er schickte mich zur Arbeit. Und ich arbeitete noch sechs Monate. Ich blieb unbehandelt, bis ich nicht einmal den Mund mehr aufmachen konnte. Damals war ich 19 Jahre alt. Nach vier Jahren Arbeit... Ja. Glauben Sie, dass die Deportation Ihren Vater und Ihren Ehemann verändert hat? Vater hat kaum etwas erzählt. Er sagte nur,

Maria Ferenschütz

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es war schwer. Er hatte Angst, dass sein Arm nicht heilen würde. Dann die Operation. Aber er hat nie erzählt, wie es dazu kam, dass er so krank war. Es gibt viele, die nichts erzählen. Sie haben die Tür geschlossen und wollen nicht mehr reden. Ja, ich habe viele Fälle dieser Art gesehen. Wenn Sie jeden Moment denken, wie schlecht es war, was für eine Schande Sie erlebt haben, zerstört man sich nur selbst. Und wenn

andere sagen, dass sie ein Nazi und HitlerAnhänger waren. Besser halte ich den Mund. Das Schlimmste war, dass meine Tochter gestorben ist. Schlimmer als alles andere... Ich schaue, ich pflanze Blumen und genieße, wie schön es draußen ist... ich bin zu alt und kann nicht so... ich habe zu viel gelitten, um zu scherzen... ich kann nicht so... ich möchte nicht...

Die Bücher der Deportation

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as wissen Sie über Deportation? Nun, aus der Reschitzer Gegend, aus einer rumänischen Familie kommend, wusste ich nicht allzu viel. Als ich nach Deutschland kam und Anti kennenlernte... Hier haben Sie ihn kennengelernt? Nein, ich kannte ihn schon in Rumänien, aber nicht so gut. Wir unterhielten uns oft und er erzählte mir sehr viel aus seinem Leben. Und ich habe auch sein Buch gelesen. Ich fand es sehr interessant. Es ist eine andere Welt. Ich konnte mir nicht vorstellen, dass es so viel Leid gab. Dann empfahl er mir ein anderes Buch. Sprechen Sie von „Die Opfer-Generation“... Ja, dann las ich ein anderes seiner Bücher „Kuckucksei“. Darin ist jedes Beispiel ein

Voichiţa Ferenschütz (Deutschland)

unvergessliches. Wie denken Sie, sollten Geschichtsbücher über die Deportation schreiben? Sie selbst sagen, Sie haben in Reschitz gelebt, wo viele deportiert wurden, aber Sie wussten nicht viel darüber... Präsentiert im Detail. Auch eine Situation, die trivial erscheinen mag - im Detail präsentiert, kann sie einen nicht gleichgültig lassen. Ich fand manche Dokumentation hier in Deutschland sehr interessant, die mit Schauspielern nach gewissen Büchern gedreht wurde und dies erschien mir wiederum sehr gelungen. Sie lassen dich jene Momente tiefster Trauer wiedererleben. Du fragst dich, wie konnte es solche Menschen geben...

Deportation, eine Geschichte, ausgegraben nach 1990

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ir lernten uns hier in Bielefeld kennen, bei Herrn und Frau Ferenschütz. Ich möchte Sie fragen, ob Sie etwas über Deportationen aus den Erzählungen Ihrer Mitbürger in Reschitz wussten? Ich bin nicht aus Reschitz. Ich komme aus Oltenien. Als ich neun Jahre alt war, zogen meine Eltern nach Reschitz. Mein Vater war

Ştefan Raicu (Rumänien)

Administrator im Stadion. Herrn Ferenschütz habe ich dort gekannt. Am Stadion war auch die Wohnung meiner Eltern. Ich begann mit zehn Jahren Handball zu spielen und Anti war mein Trainer. Habt ihr nicht über Deportation gesprochen, solang Herr Ferenschütz in Reschitz wohn­te? Nein, nie. So Sachen über Deportationen er-

Ignaz Bernhard Fischer

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fuhren wir erst nach 1990, als Anti zum ersten Mal nach Reschitz kam. Damals begannen wir uns darüber zu unterhalten. Dann fingen auch die Zeitungen an zu schreiben. Danach kamen seine Bücher. Sprechen die Menschen in Reschitz heute noch über die Deportation? Nicht wirklich. Nur wenn es mal eine Aktion mit Deportierten gibt. Wahrscheinlich werden in deutschsprachigen Kreisen solche Dinge mehr diskutiert. Aber, zumal ich nicht gut genug Deutsch kann - nur so viel, dass ich mich in Deutschland nicht verirre...

In Geschichte wurde viel über die Deportation der Ju­den geschrieben. Bis nach 1990 wurde nichts darüber gesagt, dass auch die Deutschen deportiert wurden... Gut, aber auch mein Schwie­ gervater war in Gefangenschaft. Er war im Krieg und wurde in einem Lager in der UdSSR inhaftiert. Aber nur, was ich aus seinen Erzählungen erfahren und in Büchern gelesen habe. Wie sollten die Deportationen in Geschichtsbüchern dargestellt werden? Natürlich muss das nieder­ ge­schrieben werden. Man muss aber auch sagen, dass nicht immer nur diejenigen schuld waren, welche die Leute ausgehoben haben. Und manchmal waren auch die Deportierten selbst die Schuldigen. Denn Deutsche wurden ausgehoben und zur Arbeit in die Sowjetunion gebracht, weil die Deutschen im Krieg das getan haben, was sie getan haben. Und dann war das eine Art von Bestrafung dafür. Kollektivstrafe. Dies ist aber undemokratisch nach heutigem Verständnis… Meiner Meinung nach ist es ein Fehler, ein paar Kinder zu nehmen und sie in einem fremden Land zur Arbeit zu zwingen. Wenn man nur die Älteren nimmt, die beteiligt waren... Aber Kinder? Auch wenn sie etwas gemacht haben - so haben sie es aus dem Schrecken der Zeit heraus getan. Wozu sind Bücher über die Deportation gut? Man erfährt etwas, worüber man sonst nicht informiert worden wäre.

Das Gedächtnis der Deportierten Dort habe ich meine erste Predigt gehalten1

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Ignaz Bernhard Fischer Vorsitzender der Vereinigung der ehemaligen Deportierten aus Rumänien in die UdSSR (Rumänien) s gab einige Gerüchte über die Deporta- gezogen. Mein Bruder ist in Jugoslawien getion aber, wir haben diesen keinen Glau- fallen. Er war Soldat in der deutschen Armee ben geschenkt. Eine Woche, bevor wir de- und wurde gegen Ende des Krieges getötet. portiert wurden, war ich am Bahnhof. Da Meine Schwester war Lehrerin, aber als die habe ich Züge mit Deutschen aus Jugosla- Deportationen stattgefunden haben, war sie wien gesehen, die in die Deportation ge- nach Ungarn gezogen. Sie kam zwar nach schickt wurden. Es war das erste Mal, dass Rumänien zurück, aber sie hatte Glück, weil ich gesehen habe, dass Leute in Güterwag- sich ihre Spur verlor. Meine Mutter hat über gons transportiert wurden. Am 13. Janu- meine Deportation nichts gewusst. Sie kam ar 1945 ging es auch bei uns los. Aber ich ins Internat, um mich zu sehen, und dann hat habe nicht geglaubt, selbst dann nicht, dass man ihr gesagt, dass man mich einige Wosie auch mich nehmen könnten. Ich war im chen vorher deportiert hatte. Als ich wegging, konnte ich nichts mitInternat der römisch-katholischen Kirchengemeinde. Und sie haben mich genommen nehmen. Eine viertel Stunde vor der Abfahrt wurde ich benachrichtigt. Nur ein paar Kleiam Abend des 14. Januar 1945.1 dungsstücke und etwas zu essen, was halt in der Kirchengemeinde so zu finden war. Dort Ohne Reisegepäck Anfangs glaubten wir, der rumänische Staat bereitete ich mich für die Aufnahmeprüsei schuld. Es hieß, die Sowjets hätten von fung an das Loga-Lyzeum am 15. Juni 1945 Rumänien 100.000 Arbeiter verlangt und die vor. Als die Prüfung stattfand, war ich schon Rumänen hätten uns Deutsche aus Rumä- längst in Saporischschja. Mich hatten sie drei Tage vor Beginn der nien zur Verfügung gestellt. Erst 1990, nachdem die Archive in Moskau geöffnet worden Reise abgeholt. Zwei Tage waren wir in sind, haben wir die Wahrheit erfahren. Das einem großen Haus, wo man uns gesammelt deutsche Innenministerium hat uns damals hat. Am Abend wurden wir in den Zug gelamitgeteilt, dass Stalin uns vom rumänischen den, aber dieser ist erst morgens losgefahren. Staat verlangt hat. Die Sowjets haben die Ru- Wir wussten, dass sie uns nach Russland mänen verpflichtet, ihnen zu helfen und die­se bringen werden, aber wohin genau, wussten haben die Listen gemacht. Sie konnten nicht wir nicht. Bis zur russischen Grenze waren ausschließlich Männer in dem Waggon. Vor anders. Auch sie waren Kriegsverlierer. Was wusste meine Familie über die Depor- der Abfahrt haben sie mit der Axt ein Loch in tation? Wir waren eine etwas ungewöhnliche den Fußboden des Waggons gemacht, damit Familie. Mein Vater ist nach Amerika gegan- wir dort unsere Notdurft verrichten konnten. gen, meine Mutter mit drei Kindern in Ba- Auch hatten wir dort einen kleinen Ofen. Am 17. Januar 1945 hat der Zug Temeskowa zurücklassend. Meinen Vater habe ich nicht gekannt - ich war acht Monate alt, als war verlassen. An der Grenze wurden wir er wegging. Die Mutter hat uns allein groß- in einen russischen Zug umgeladen. Am 31. Januar 1945 sind wir in Saporischschja an1 Aufgezeichnet von Lavinia Betea gekommen. Nachdem man uns ausgeladen

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60 hatte, sind wir 5 km zu Fuß in Kolonne losgegangen. Dort am Dnjepr war auf Anforderung von Lenin der erste sowjetische Staudamm errichtet worden. Unser Arbeitslager war circa 3 km von diesem Staudamm entfernt, aber nur circa 100 m weg vom Fluss. Die Region war schön, aber wir waren hinter Stacheldraht und wurden aus Überwachungstürmen überwacht. Aus dem Lager gab es keine Möglichkeit zu fliehen. Wir wurden in eine Fabrik gebracht zur Bauabteilung. In der Gruppe gab es Leute, die einen Beruf erlernt hatten, aber ich war Schüler gewesen, ich hatte keinen Beruf. Solchen wie mir wurden die schwersten Arbeiten zugeteilt. Und immer habe ich draußen gearbeitet, sowohl im Winter als auch im Sommer. Gebet für einen „gerechten Frieden“ Am schwersten war es mit dem Essen. Wenn du Hunger hast, denkst du, dass du dich beim Mittagessen satt essen wirst. Und wenn es beim Mittagessen nicht geht, dann beim Abendessen. Aber wenn du nie genug zu essen bekommst... Das war das Schwerste. Mit jedem Tag hast du abgenommen. Im Winter war es sehr kalt. Minus 15-20°. Fiel die Temperatur unter -23 °C, wurden wir nicht zur Arbeit gebracht. Stieg die Temperatur aber auf -22°, mussten wir sofort hinaus. Aber mehr noch als der Frost machte dir der Wind zu schaffen. Dort wehte immer ein eisiger Wind. Und noch schlimmer als der Wind war der Hunger. Wir haben uns angepasst. Was hätten wir auch tun können? Die einzige Hoffnung war das Überleben. Und wenn wir hier unser Fleisch lassen mussten, so wollten wir doch mit unseren Knochen nach Hause kommen. Wir haben jede Möglichkeit gesucht, um einen Brocken Nahrung zu finden. Wir gingen zu den Russen mit Holz oder Kohle, um ein Stück Brot zu bekommen. Wer das nicht gewagt hat, ist dort gestorben. Mit der einheimischen Bevölkerung sind wir letztendlich gut ausgekommen. Wir ha-

Ignaz Bernhard Fischer ben mit ihnen in der Fabrik gearbeitet. Dadurch hatten wir dauerhaften Kontakt mit ihnen. Anfangs waren sie zurückhaltend uns „Faschisten“ gegenüber. Nach einer gewissen Zeit haben wir uns befreundet. Die ersten, die sich uns annäherten, waren jene Russen, die am Anfang des Krieges nach Deutschland zur Zwangsarbeit gebracht worden waren. Einer von diesen war unser Kommandant. Und er erzählte uns, dass er in Deutschland in einer Art Kaserne gelebt hat. Dort trug er ein Armband, welches den anderen zeigte, dass er auch zur Zwangsarbeit verpflichtet ist, aber darüber hinaus frei war. Es gab auch Frauen, die erzählten, dass sie auf Bauernhöfen gearbeitet hätten. Eine von ihnen erzählte, dass sie nicht mehr nach Hause zurückgekommen wäre, wenn man sie nicht dorthin zurückgebracht hätte. Wenn sie darüber sprach, schaute sie nach rechts und nach links, damit die Sowjets sie nicht sahen, von denen sie wusste, dass sie sich vor ihnen in Acht nehmen musste. Unsere Freunde waren die russischen Soldaten, die aus dem Krieg zurückgekehrt waren, jedenfalls bessere Freunde als die ortsansässige Bevölkerung. Ich erinnere mich an einen, der unser Kommandant war. Er hatte vor kurzem geheiratet und sagte mir: „Ich gehe nach Hause, kümmere du dich um all das hier...!“ Das hätte er nicht tun müssen. Aber mit solchen Menschen ging es uns auch besser. Der herausragendste Moment, den ich erlebt habe, waren die ersten Osterfeiertage. Die katholischen Ostern fielen auf den 1. April. Unter uns war kein einziger Pfarrer und ich habe mir gesagt, dass wir was machen sollten. Ich bin zu unseren Leuten gegangen die, Russisch sprachen, sie sollten mit den Sowjets reden. Wie denn, haben sie gesagt, das sind doch Atheisten. Ich weiß nicht wie, aber der höchste russische Wachkommandant hat mich gehört. Er hat mich zu sich gerufen. Eine Frau hat übersetzt. Nachdem ich mein Anliegen vorgetragen hatte,

Ignaz Bernhard Fischer sagte er: „Macht euren Gottesdienst, aber betet dafür, dass wir den Krieg gewinnen.“ „Wir werden für einen gerechten Frieden beten!“ habe ich entgegnet. „Harascho!“ hat er dazu gemeint. Wir haben Gesangsproben gemacht mit den Frauen und den Männern. Dann habe ich die erste Predigt meines Lebens gehalten. In einem fremden Land, im Krieg... Es sind auch die Kommandanten gekommen um zu sehen, was wir machen. Sie haben sich davon überzeugt, dass alles friedlich war und sind dann gegangen. Im ersten Jahr war ich zu Weihnachten auf Arbeit. Aber im zweiten Jahr, als die Russen erfahren haben, dass es unsere Weihnachten sind, haben sie uns „zu Hause“ gelassen. Die russischen Arbeiter sind zur Arbeit gegangen, aber uns hat man Weihnachten feiern lassen. So sind wir dann von Zimmer zu Zimmer gegangen, haben das Evangelium gelesen und haben gebetet, Gott möge uns Kraft geben, all das zu überstehen. Wer ist schuld? Was haben wir in der Sowjetunion gesehen? In erster Linie, dass ihre Arbeiter fast genauso arm waren wie wir. Wir sahen, dass es dort zwei Klassen gibt: eine, die der Kommandanten, und die andere, die der Arbeiter. Für die Ersteren gab es in der Kantine einen abgetrennten Bereich, ihnen hat man Weißbrot gegeben. Also gab es nicht nur eine Klasse, die der Arbeiter, wie Stalin dies sagte. Wir haben nicht wenige Russen gehört, dass sie Stalin verfluchten. Aber nur in unserer Anwesenheit, nie vor ihren Kommandanten. Das russische Volk war ziemlich arm. Besser wurde es Anfang 1948. Ab Dezember 1947 gab es Brot ohne Essensmarken zu kaufen. Das war ein Segen Gottes. Vorher, wenn ich den Russen Holz verkaufte, konnte ich für die zehn Rubel, die ich dafür erhielt, 300 - 400 g Brot kaufen. Mit dem gleichen Geld konnte ich jetzt aber 3 kg Brot kaufen.

61 Da habe ich mich angestellt und konnte Brot kaufen wie jeder andere Bürger. 1949 haben wir keinen Hunger mehr gelitten. Es ging uns besser. Früher gingen wir in Kolonne ins Lager. Später konnten wir ganz normal gehen. Am 17. Dezember 1949 bin ich nach Hause gekommen. Gerade am 23. August 1949 mussten wir nach der Arbeit zum Appell antreten. Dann kam der sowjetische Offizier in die Mitte des Karrees. Er sagte, dass eine Benachrichtigung aus Moskau gekommen ist, die besagt, dass in dem nächsten Fünfjahresplan, der am 1. Januar 1950 beginnen wird, wir, die Deutschen, dort nicht mehr vorgesehen sind. Stellen Sie sich vor, welche Freudenexplosion dort stattgefunden hat! Danach wurden wir nicht mehr eingesperrt. Und am 5. Dezember haben sie uns in die Züge gesetzt. In Güterzügen sind wir bis Sighet (deutsch: Marmaroschsiget) gekommen. Dort haben uns die Russen den Rumänen übergeben. Die Rumänen haben uns je 200 Lei gegeben, damit sind wir bis nach Hause kommen. Damit ist unser „Abenteuer“ zu Ende gegangen. Welche Folgen hatte die Deportation für mein Leben? In erster Linie habe ich seit dann Essen nie mehr kritisiert. Dort haben wir Futter von den Ziegen gestohlen, wir haben sogar Kartoffelschalen gegessen... In Saporischschja sagte man, wie froh man wäre über jede Art von Essen, hier zu Hause, dass das Essen nicht gut sei. Zweitens haben wir gelernt, nicht über Kleinigkeiten zu klagen. Dem Herrgott hast du zu danken, dass du gesund bist. Und drittens war es eine Schule, die Menschen kennen zu lernen. Zwischen uns jungen gab es viel Solidarität. Es war keine Schule mit vielen Lektionen fürs Leben. Wenn es dir gelungen ist, dort zu überleben, habe ich mir gesagt, dann kannst du alles machen. Und der Glaube an Gott gibt dir seelische Kraft. Abends las ich je 10-15 Minuten aus dem neuen Testament. In cir-

62 ca zwei Monaten hatte ich es ausgelesen. In fünf Jahren habe ich es circa 30-mal gelesen. Das hat mir das Leben aus vielen Gesichtspunkten leichter gemacht. Für das, was geschehen ist, trägt Hitler mit seinem Faschismus die Schuld. Er hat den Krieg begonnen, und er hat Russen zur Arbeit nach Deutschland geholt, und Stalin war ein guter Schüler Hitlers. Er hat das Gleiche getan. Beide waren gottlose Menschen. In meiner Familie war auch die Mutter meiner Frau deportiert. Auch sie weiß genau, was Krieg und Verschleppung bedeuteten. Beide haben wir gewusst, dass es von uns abhängt, uns gemeinsam ein besseres Leben zu machen. Die Deportation der Deutschen Ethnien in die Sowjetunion müsste in den Geschichtsbüchern durch die Diktaturregime erklärt werden. Es war die Diktatur von Hitler und es war die Diktatur von Stalin. In einer Demokratie wäre so etwas nicht möglich gewesen. Jedwelche Diktatur muss eliminiert werden. Die beste Diktatur wäre eine der Philosophen gewesen. Aber diese Philosophen hätten gleichzeitig auch Heilige sein müssen. Eine Diktatur von Heiligen, ja, die wäre gut. Insofern aber

Ignaz Bernhard Fischer alle Menschen sündhaft sind…! Damit solches Elend nicht noch einmal passiert, müssen die Menschen in erster Linie an Gott glauben. Wenn der Mensch diesen Glauben nicht hat, erschafft er sich andere Götter - Geld, Macht... Und diese Götter stufen ihn herab. Und wenn alle herabgestuft sind, kommt die Diktatur. Aber die Gerechtigkeit, die Würde und die Freiheit müssen die Grundlage des Lebens sein. Die Deportation war niemandem von Nutzen. Sie hat sehr viel Leid verursacht. 18-20% der Deportierten sind dort gestorben. Allerdings sind jedes Jahr Krankentransporte nach Hause geschickt worden. Andernfalls wären 50-60 % dort gestorben. Es ist nicht gerecht zu sagen, dass jeder Mensch sein Schicksal verdient hat. Jesus Christus hat es nicht verdient, gekreuzigt zu werden. Das Schicksal des Menschen hängt auch von dem Regime ab, in dem er lebt. Kann ich sagen, dass ich es verdient habe deportiert zu werden? Nein. Es gibt Dinge, die von dir abhängen und es gibt andere Dinge, die dir passieren, weil du von anderen abhängig bist. Aber das Schicksal des Menschen liegt in Gottes Hand.

Der Fall Maria Aşembrener: Vier Jahre Arbeitslager für einen deutschen Namen

Alexandra Şandru

F

ür meine Großmutter Maria Aşembrenner sind die schrecklichen Geschichten aus dem Lager im Alter Gute-Nacht-Geschichten geworden, die sie den Enkeln vor dem Einschlafen erzählte. Dies deshalb, weil sie nach allen Schwierigkeiten, die sie dort hatte, nur eine einzige Sache sah, die ihr widerfahren ist und die über allen anderen Sachen stand. Und zwar, dass sie als eine von 30 Personen im November 1948 das Lager verlassen konnte, gesund und ohne weitere Schäden.

Als sie ihre Geburtsstadt zurücklassen musste um, als Flüchtling nach Bukarest zu gehen, hat sie nicht gewusst, wie das Leben weiter geht, geschweige denn, dass sie mit dem Umzug in die Hauptstadt die Bezeichnung Deutsche bekommen wird. Und hier hat sie keine Gedanken an die Ukraine verschwendet, erst nachdem man ihr mitgeteilt hat, dass sie eine Schuld begleichen muss, die sie gar nicht gemacht hat. Sie hat den Kopf nicht gesenkt, sondern ist weitergegangen, ohne et-

Alexandra Şandru was zu fragen. Und auch nach vier Jahren Lagerhaft hat sie keine Erklärungen gefordert. Sie war zufrieden, dass sie gesund nach Hause gekommen ist. Nachfolgend wiedergebe ich ein Gespräch, das ich mit ihr 2011 geführt habe. Sie haben mir, versehentlich, „deutscher Volkszugehöriger“ in den Personalausweis eingetragen Wo hast du gearbeitet, nachdem du nach Bukarest gegangen warst? Ich arbeitete in einem Kaufhaus auf der Lips­ cani. Mit der Nähmaschine schneiderte ich Wäsche, Unterwäsche und Kleider mit Spitzen. Ich hatte ganz einfach mein eigenes Leben. Oftmals ging ich zu meiner Chefin nach Hause, um mit der Maschine zuzuschneiden. Aber damit ich an der Maschine zuschneiden durfte, musste ich ihr moldauische Gerichte zubereiten, Gerichte mit Kartoffeln und Knoblauch. Ich habe die Gerichte gekocht und sie hat sich gefreut. Danach bin ich durch Cismigiu gegangen, dann auf den Boulevard und durch Dorobanti. Und gleich nach der Straßenecke, im dritten Haus wohnten wir. Gab es Lebensmittel zu Kriegszeiten? Wir mussten Schlange stehen, aber es gab sie. Aber schwieriger war es, als ich von zu Hause in Falticeni wegging Richtung Bukarest, weil es draußen schneite und wir zusammengedrängt auf jener Plattform standen, damit uns der Regen nicht erwischt. Erst in Pas­cani hat man uns hinein genommen und uns Essen gegeben, Brot und Konserven. Dies als wir als Flüchtlinge von Pascani nach Topoloveni gereist sind. Danach haben wir in Ploiesti Halt gemacht. Und so erinnere ich mich, dass es, nachdem wir in Bukarest angekommen sind, oft Fliegeralarm gab und wir Schutz suchen mussten. Ich habe mich neben einer Kirche versteckt, im Schützengraben unten in einem Loch. Und als ich von dort heraus kam, nachdem angekündigt worden war, dass die Ge-

63 fahr vorbei sei, waren auf der Straße nur tote Menschen (ihre Stimme zittert und sie weint). Am zweiten und am dritten Tag immer wieder Fliegeralarme in immer kürzeren Abständen. Ich hatte die Kraft, über diese Tage hinwegzukommen. An einem Tag habe ich mich in einer Papierfabrik versteckt, du verstecktest dich, wo du nur konntest. Ich bin in den Keller hinabgestiegen und habe mich zwischen den großen Papierrollen versteckt. Und auf einmal sind alle Fensterscheiben nach einem heftigen Dröhnen geborsten. Damals habe ich zum ersten Mal geglaubt, dass ich sterben muss. Wahrscheinlich ist eine Bombe explodiert, so dass all diese großen Fenster geborsten sind. Alle. Innen war alles voller Scherben, ein Glück, dass wir gut versteckt waren. Wir haben immer versucht, den Bomben zu entkommen, als diese angekündigt wurden. Wir wussten nicht, wo sie niedergehen werden, an welcher Stelle, so haben wir immer versucht, uns je besser zu verstecken. Sie flogen auch in Richtung Piteşti, das Zentrum wurde bombardiert, man wusste nie genau, wohin die Bomben fallen werden. Aber hat man euch gesagt, warum bombardiert wird? Wir waren damals nicht mit den Russen alliiert, später gab es einen Waffenstillstand. Wir waren auf Seiten der Deutschen und die Russen haben uns deshalb bombardiert. Und hat man Euch das gesagt? Man konnte ja niemanden fragen, man hatte keinen, mit dem man reden konnte. Und als ich nach Bukarest gekommen bin, war noch Krieg, es gab noch keinen Waffenstillstand. Und alle haben unser Land durchquert. Wir hatten einen Nachbarn, der war Kommissar in der Armee, aber ich weiß nicht mehr, wie er hieß. Er hat uns zwar immer gesagt, wir sollen aufpassen, wir sollen uns heraushalten, aber er hat uns nicht gesagt, warum dies alles passiert. Man hatte nicht, woher Erklärungen zu bekommen, lediglich, was man so hörte von einem zum anderen. Wir waren

64 Kinder und uns hat niemand was gesagt. Es war Krieg und da gab es niemanden, der dir mitteilen oder erklären konnte, was passiert. Hat jemand Ruhe gegeben? Nein. Dann haben wir uns, ich glaube es war 1944, mit den Russen alliiert. Und ich, obwohl ich Rumänin war, hatte in meinem Personalausweis, von ihnen eingetragenen bekommen, „deutsche Volkszugehörige“, sie haben mich zur Deutschen gemacht. Ich war getaufte Rumänin, mein Vater war von Hause aus Rumäne, lediglich sein Name schien Deutsch: Aşembrener. Ich wusste nur, dass mein Vater Rumäne ist, Gheorghe Aşembrener, hier getauft, auch den Militärdienst hat er hier geleistet, er hat geheiratet und Kinder gezeugt, ich wusste nicht, dass sein Name einem deutschen Namen ähnelt. Ich wusste lediglich, dass mein Großvater Pole war. Aber es waren auch andere Polen bei uns im Land. So war es mit dem Krieg. Und wie ist es passiert, wie war es, als man Dich ins Arbeitslager genommen hat? Ich bin zur Polizei gegangen, weil ich einen neuen Personalausweis brauchte. Der alte war abgelaufen und ich musste ihn erneuern. Und erst dann hat man mir in den Ausweis „deutscher Volkszugehöriger“ eingetragen. Von allen aus unserer Familie hatte nur ich diesen Eintrag. Nachdem sie mir den Personalausweis ausgewechselt hatten, haben sie mich in das Einwohnerregister des Stadtkreises Nr. 5 Bukarest aufgenommen. Ich habe nicht bemerkt, dass sie mir eine andere Volkszugehörigkeit eingetragen hatten, ich dachte, es sei ein Fehler, dem ich keine Bedeutung beimaß. Konnte ich wissen, dass ich dafür vier Jahre in ein Lager musste? Hätte ich das gewusst, wäre ich hingegangen, um die Sache zu berichtigen, ich konnte nicht deutsch sprechen und war auch noch niemals in Deutschland gewesen. Ein paar Tage später kam ein russischer Offizier zu uns nach Hause, an unser Tor. Zwei Militärs begleiteten ihn. Sie hatten grüne Uniformen an und

Alexandra Şandru sprachen rumänisch. Vielleicht sprach auch einer russisch, aber das weiß ich nicht mehr, weil es hat nur der Offizier gesprochen. Er sagte: „Im Namen des Gesetzes, Sie sind verhaftet. Morgen Früh präsentieren Sie sich beim Stadtkreis 3. Gemäß Personalausweis sind sie Deutsche.“ Und dann sind sie gegangen, ohne mir irgendeine weitere Erklärung zu geben. Personen, die Deutsche waren, begannen jetzt sich zu verstecken. Sie gingen nicht auf die Straße, sie hatten Angst. Ich ging auch nicht hinaus, weil ich wusste, dass ich diesen Eintrag hatte, aber erst spät habe ich bemerkt, wie schwerwiegend die Situation ist. Vor allem, ich war ja gar keine Deutsche. Aber im Personalausweis war etwas anderes eingetragen und ich konnte nichts tun. Aber sie kamen anhand der Adresse, vor allem weil die Polizeidienststelle nur einige Häuser entfernt war. Meine Großmutter hat geweint, ich habe nicht geweint, ich habe mich ihr zuliebe zurückgehalten. Aber ich bin gegangen. Ich habe meine Sachen gepackt und bin nicht mehr zurückgegangen. Ich habe ein paar Kleidungsstücke eingepackt, Unterwäsche, Schuhe, obwohl ich nicht wusste, wohin ich gehen werde. All diese Sachen habe ich mit ins Lager genommen, nur mein Personalausweis blieb bei ihnen, ich weiß nicht, warum sie ihn mir nicht gegeben haben. Nachdem sie an jenem Abend da waren, kamen sie am zweiten Tag, um mich zu holen. Und wie war der letzte Abend zu Hause? Ich bin nirgendwohin gegangen, ich blieb still zu Hause, aber ich konnte nicht schlafen. Ich wusste, sie rufen mich zur Polizei, aber ich wusste nicht, dass mich die Russen mitnehmen werden. Und was geschah als Du zur Polizei kamst? Wir sind dort hingegangen, sie haben uns ein Zimmer gegeben, dann sind sie gekommen und haben uns alle möglichen Fragen gestellt. Ob wir wüssten, warum wir gehen

Alexandra Şandru müssen. Von den Leuten, die dort waren, haben wir niemanden gekannt. Man hat uns erklärt, dass wir deportiert werden für den Wiederaufbau Russlands, aufgrund der zugefügten Kriegsschäden. Danach hat man uns nach Mogosoaia gebracht und in die Züge verladen. Es war ein ganz geschlossener Zug. Am meisten hatten wir Angst davor, dass sie uns umbringen werden, obwohl wir nicht gehört hatten, was die Deutschen mit den Juden angestellt hatten. Später hatte ich Deutsche als Zimmerkolleginnen, es waren gute Mädchen. Und ich habe nicht verstanden, warum wir für die Fehler anderer büßen mussten. Auch sie wussten nicht über Hitler Bescheid und was er getan hat. Aber nach dem Krieg haben wir es erfahren. Aber es gab eine Angst, denn sie waren Telefo­ nistinnen, arbeiteten in der Telekommunikation und sie hatten Angst, dass sie aus diesem Grunde geholt worden sind. Viele von ihnen sind nicht mehr nach Rumänien zurückgekehrt, nachdem man sie aus dem Lager entlassen hat. Manche sind dortgeblieben, andere sind nach Deutschland gegangen. In Rumänien hat sie niemand beschützt und es war nun für sie nichts sicher. Ich bin sofort nach Hause gekommen, nachdem man mich freigelassen hat. Und nachdem uns die Securitate in Sighet übernommen hatte, fühlten wir uns sicher. Auf der Hinfahrt waren die Züge lang, mit vielen schwarzen Waggons, aber wir konnten sie nicht gut sehen, weil wir eingeschlossen waren. Es waren Viehwaggons. Wir hatten gar keine Möglichkeit, unsere Notdurft zu verrichten, dann haben die Männer ein viereckiges Loch in den Boden des Waggons gemacht und eine Decke gespannt, um so einen Intimbereich herzustellen. Ich weiß nicht, wie viele Tage wir auf der Hinfahrt unterwegs waren, ich konnte sie nicht zählen. Wir schliefen auf dem Boden, jeder mit dem, was er hatte. Ich hatte eine Decke und schlief auf dem Koffer. Ich hatte auch Geld

65 bei mir, habe es aber an der Grenze weggeschmissen. Ich hätte dort, wo ich hingebracht wurde, nichts damit anfangen können. Was hätte ich damit tun sollen? Ich hatte genügend Geld bekommen von der Mutter und vom Großvater. Sie hatten mir circa 4 Millionen neues Geld gegeben. Obwohl ich später im Lager mit einer Kennzeichennummer, ich glaub es war die 120, ausgehen konnte, hatte ich doch keine Verwendung für das Geld. In jenem Zug kannte ich niemanden. Sie haben uns alle ins Donezbecken gebracht. Während der Reise haben sie uns kein Essen gegeben, zum Glück hatte ich welches dabei, denn ich hätte auch nirgendwo welches kaufen können. Ich kann mich auch nicht daran erinnern, dass die Russen gekommen wären und uns Essen gegeben hätten. Auch auf dem Rückweg haben sie uns nichts gegeben. Die Fahrkarte für die Heimfahrt haben uns dann die Unsrigen gegeben, die von der Securitate. Die haben uns übernommen, dann in ihr Büro gebracht, sie haben uns Konserven, Brot und Getrocknetes zu essen gegeben, das man damals noch aß. Sie haben uns erlaubt, ein Bad zu nehmen. Als wir im Donezbecken angekommen sind, war es Nacht. Wir haben uns auf dem Boden schlafen gelegt, es war Winter, andere haben sich mit Decken und Mänteln zugedeckt. Später wurden auch Betten hingestellt. Aber hier waren sie vorbereitet, wir hatten Licht und eine Kantine für die Mahlzeiten. Zu essen gaben sie uns ihre Speisen, viele Borschtschsuppen mit grünen Tomaten und mit Gerstengraupen. Wir aßen zweimal täglich. Nachdem wir dort angekommen und in Quarantäne waren, gingen wir mit unserer Kleidung arbeiten. Sie gaben uns keine Lagerkleidung. Die Kennzeichnungsnummer hatte ich mit einer Stecknadel angeheftet, um sie einfach zwischen den Kleidern auswechseln zu können. Aber das Problem, dass wir flüchten würden, gab es nicht, denn zur Mine gingen wir immer in Begleitung der Wache.

66 Wo so viele Seelen hingehen, gehe ich auch hin Was hat Dich an zu Hause erinnert, als Du im Lager warst? Es gab nichts, was mich an zu Hause erinnerte, ich hatte keine Fotos von der Familie, hatte nur die Kleider. Nur das Foto eines Jungen, mit dem ich gesprochen hatte zu Hause, hatte ich. Aber dieses Bild und mein Personal­ ausweis sind in ihrem Büro geblieben, so dass ich es nicht bei mir im Lager hatte. Und wie war es weiterhin? Am zweiten Tag nach unserer Ankunft habe ich den riesengroßen Hof des Lagers gesehen. Männer und Frauen waren voneinander getrennt, aber da kein Zaun vorhanden war, konnten wir uns darin frei begegnen. Die Männer haben Bänke gemacht, Blumenbeete angelegt, die Sauberkeit war vorbildlich, wir hatten eine Schneiderei, einen Sitzungssaal, in den wir gerufen wurden, wenn man uns Neuigkeiten mitzuteilen hatte. Sie sprachen zu uns auf Russisch. Ich begann zu verstehen, weil ich langsam die Sprache lernen wollte, um mich durchschlagen zu können. Später bin ich sehr gut zurechtgekommen. Jeder kümmerte sich um seine Sachen, sei es während der Arbeitszeit oder beim Essen, nachmittags gingen wir baden, wir haben uns Vorstellungen angeschaut, welche von den deutschen Frauen aufgeführt worden sind. Hier war es nicht so, wie wir es später über die jüdischen Konzentrationslager gehört haben. Keine Frage, es war schwer, aber wir haben immer versucht, was zu tun, damit die Zeit schneller vergeht, daran glaubend, dass man uns eines Tages wieder freilässt und wir als freie Menschen nach Hause fahren können. Erinnerst Du Dich noch an den ersten Tag im Lager? Am Anfang war ich in der Quarantäne. Fast einen Monat lang, bis sie unsere Namen aufgenommen und unsere Papiere für den jeweiligen Einsatzort gemacht hatten. Sie ha-

Alexandra Şandru ben alle Dinge erledigt, die Zimmer vorbereitet, sauber gemacht und nachher hat sich jeder dort niedergelassen, wohin er zugeteilt war. Und dann sind wir zur Arbeit gegangen, mit den Wachen neben uns. Hat man Euch später die Situation erklärt? Damit haben sie sich nicht beschäftigt, schlicht und einfach hat man uns dort im Unwissen darüber gelassen, was passiert. Zwei bis drei Tage später sind sie gekommen, um uns in Listen einzutragen und nachzusehen, ob keiner geflohen ist. Und ist jemand geflohen? Ich bin geflohen, aber das brauchst du nicht aufzuschreiben, weil ich wieder zurück gegangen bin. In Tighina (deutsch: Bender) bin ich geflüchtet, nicht in der Ukraine. Als wir dort angekommen sind, hat man uns aus dem Zug gelassen, damit wir Wasser trinken können, ich wollte fliehen, aber ich habe mir gesagt, lieber nicht, bevor mir was Schlimmes passiert. Ich wollte auch fliehen, als der Zug in Jassy anhielt, aber ich bin schnell in den Eisenbahnwagen zurückgekehrt. Und warum hast Du mir gesagt, dass ich nicht niederschreiben soll, dass Du geflohen bist? Damit keiner kommt und mir was vorwirft. Wer soll denn kommen? Ich werde es dir erzählen. Als wir in Tighina anhielten, hat man uns um die Mittagszeit aus den Waggons heraus gelassen. Es waren Viehwaggons. Man hat alle heraus gelassen. Ich, sacht und leise, an einem Brunnen vorbei auf das geradeaus liegende Haus zu. Da stand eine alte Frau und ich lief hinein ins Haus. Als sie mich sah, hat sie mich gefragt, was geschehen ist. Ich habe gesagt, ich will bei ihr bleiben und nach Hause gehen durch die Gärten in Richtung Jassy. Dann habe ich durch das Fenster auf den Zug geschaut, ich wartete, dass er losfuhr, aber die Leute waren noch nicht wieder zusammengerufen worden. Da sagte mir die Alte: „Oh je Mutterliebes, ich rate dir, nicht wegzugehen, hier gibt es Partisanen in den Dörfern

Alexandra Şandru und die bringen alle um, die sie erwischen. Ich rate dir, nicht zu fliehen.“ Da habe ich ihr entgegnet: „Gut, dass du mir das sagst, Tante, wo so viele arme Seelen hingehen, da geh ich auch hin.“ Dann bin ich zum Zug gegangen und wieder zurückgekommen. Auf ihrem Bett lagen Kleider und die Zimmerdecke war durchschossen. Dann hat sie mir gesagt, dass man ihr ihre zwei Söhne weggenommen hat. Und dann bin ich gegangen, während sie mir sagte: „Du sollst nicht fliehen, du bist noch ein Kind und wenn man Dich erwischt, können sie Dir, wer weiß was, antun.“ Ich bin sofort zurückgegangen. Die anderen Mädchen, als sie mich am Brunnen sahen, haben mich gefragt warum ich sie nicht mitgenommen habe. Ich habe ihnen erklärt, was die alte Frau mir gesagt hatte, daraufhin haben auch sie sich beruhigt. Erinnerst Du Dich noch an den Namen eines Mädchens aus dem Lager? Nicht an einen einzigen, wie oft ich auch darüber nachdenke. Einem bin ich mal begegnet, ich kam von Bukarest und sie war im Zug, aber ihr Name ist mir nicht in den Sinn gekommen. Es gab eine Gerda, aber ihren Nachnamen kenne ich nicht mehr. Sie kam aus Roman, war Verkäuferin in einem Gemüseladen und aus den Gesprächen hatten wir den Eindruck, dass wir uns kennen. Und dann sind wir darauf gekommen, dass wir uns im Lager kennen gelernt haben. Ich bin erstarrt. Sie hat mir versprochen, mich zu besuchen, aber dann ist sie nach Deutschland ausgewandert. Und kam nie mehr zurück. Als ich heimgekommen bin, kannte ich ihre Namen, weil ich ihnen ja Briefe schrieb, aber nur den Deutschen, weil die Ungarinnen waren schlecht. Und dann gab es noch eine Frau, sie hieß Jana und war älter als wir. Sie erwartete mich wie eine Mutter, wenn ich von der Mine nach Hause kam. Ich hatte Glück, weil ich wusste, wie ich kräftig bleiben konnte. Ich arbeitete hart, war Arbeiterin 1. Grades, so war mir das Kilo

67 Brot sicher. Wie war Euer Arbeitsprogramm? Die Mine bezahlte uns, wir hatten ein Arbeitsprogramm von 12 Stunden pro Tag. Dafür bekam ich das Kilo Brot, Butter von der Mine, nicht von ihnen. Sie gaben uns ihr Essen, aber das hielt nicht an. Manchmal haben wir auch Essen gekocht in einer Konservendose und zwar mit Gartenmelde, mit der sonst die Schweine gefüttert werden. Wie viel Gartenmelde und wie viel Kürbis ich gegessen habe, das weiß nur ich! Sie gaben uns die Konservendosen in denen Tomatensaft gewesen war, und darin machten wir unser Essen. Aber ich ging auch ab und zu ins Dorf, mir erlaubte man das, weil ich Arbeiterin 1. Grades war und so habe ich auch von dort Lebensmittel gebracht. Und wie hast Du diesen 1. Grad bekommen? Also, sie haben mir den gegeben, ich war gesund und stark. Also haben sie mir den 1. Grad gegeben. Arbeitstage und Feiertage Wie war das Arbeitsprogramm im Lager? Eine Woche arbeitete ich vormittags, eine Woche nachmittags und eine Woche nachts. Wir gingen morgens los, kurz nach sieben, haben um 2:00 Uhr zu Mittag gegessen und kamen abends um sieben nach Hause. Hattet Ihr Freizeit? Ja, wir blieben im Lager, wir gingen nicht zur Arbeit, aber wir haben sauber gemacht und, wenn es hieß irgendwohin zu gehen, wohin sie uns geschickt haben, dann gingen wir hin. Sie schickten uns manchmal aufs Feld. Wir durften außerhalb herumlaufen, durchs Tor gehen und weggehen. In der freien Zeit, wenn das Wetter schön war, haben wir den Hof des Gulags hergerichtet, und auch den Waschraum oder die Schlafzimmer, wir haben uns beim Essen getroffen, es waren Verschnaufpausen. An den Feiertagen haben sie uns auch drinnen behalten, wir blieben. Hinaus durften wir nicht. An Weihnachten

68 machten wir uns gegenseitig Geschenke vor allem jene, welche hinaus konnten zum Einkaufen. Wir hatten ein wenig Geld, weil sie uns bezahlten, aber ohnehin brauchten wir das Geld nicht, wir hatten nicht, was damit anzufangen. Zu Weihnachten schmückten wir einen Tannenbaum und bastelten Weihnachtskugeln. Wir sangen Weihnachtslieder, erzählten, versammelten uns bei Tisch und redeten, rumänisch. Wir arbeiteten auch sonntags, weil der freie Tag fiel nicht immer auf den Sonntag. Und was machtest Du in der Freizeit? Meistens blieb ich allein. Ich erinnere mich daran, dass ich das obere Stockbett hatte und dort saß ich und dachte an meine zu Hause Verbliebenen, und an das, was mit meinem Leben passieren wird. Ich litt, aber ich konnte nichts machen, weil ich nicht hatte wohin zu fliehen. Es wäre ein weiter Weg bis nach Hause gewesen, und, bevor ich tot angekommen wäre, war es besser zu warten, bis man uns frei ließ. Ich habe mir das obere Bett ausgewählt, damit es immer sauber ist, weil auf die unteren Betten fiel der Dreck von oben, der Staub. Bei mir war es immer sauber, da habe ich aufgepasst wie zu Hause. Hat man Euch dort Bettwäsche gegeben? Ja. Wir haben sie nicht gewaschen. Man brachte sie zur Wäscherei. Aber ich hatte auch meine eigene Bettwäsche und diese konnte ich im Waschraum waschen. Es war ein Waschraum mit warmem Wasser, wo wir uns badeten, wenn wir von der Mine gekommen sind. Es gab Wannen mit Wasserhähnen. Die Wanne war klein und somit war es schwer zu baden. In unserem Zimmer war es ziemlich eng, wir wohnten dort zwölf Mädchen. Unser Zimmer befand sich im Erdgeschoss. Es hatte keine Fenster, es war immer dunkel darin, aber wir versuchten, es schön zu machen, obwohl es weit weg war von zu Hause und wir eingesperrt waren ohne irgendeinen Grund. Wenn wir zur Arbeit gingen, hatten wir Blaumänner an, einen Helm

Alexandra Şandru auf dem Kopf, das Kopftuch darunter und eine Petrosinlampe. Darüber hinaus konnten wir im Lager unsere eigenen Kleider tragen. Somit waren wir nicht alle gleich angezogen. Ich war immer gewaschen und hergerichtet. Und nach einem Jahr oder anderthalb Jahren habe ich mir den Ausgehschein besorgt, mit dem ich in den Laden ging um das einzukaufen, was ich brauchte. Aber bis dahin hatte ich meistens nicht genug zu essen. Aber danach bin ich in die Läden gegangen und habe mir dort Strümpfe gekauft und was ich sonst noch brauchte, ich war eine Frau. Aber öfters bin ich in einen Gemüseladen gegangen. Es gab große Schwierigkeiten in anderen Lagern, wie ich gehört habe, nachdem ich nach Hause gekommen bin, aber über die Probleme haben wir nicht gesprochen, weil wir Angst hatten. Wir zogen es vor, über andere Dinge zu sprechen. Die älteren Frauen haben diese Probleme schon angesprochen, oder auch die Männer, aber wir Jungen, wir wollten lediglich unsere Arbeit gut machen, damit man uns nicht zur Verantwortung zieht. Schwierig war, dass wir nie wussten, wohin wir gingen und wie schwer es dort sein wird. Bis sie es uns sagten. Am meisten Angst hatte ich, als wir dort eingesperrt waren in den Waggons und wir nicht wussten, was passieren wird. Es war schwer, weil sie mir die Freiheit geraubt hatten und dies vor allem ohne Recht. Aber mit dem Glauben an Gott bin ich davongekommen. Eingesperrt in den Waggons, haben die Leute schon geredet, sie sagten ihre Meinung und haben uns damit stark erschreckt. Aber wir konnten ja ohnehin nichts machen, wir mussten uns unterwerfen und Geduld haben. Überleg mal. Und dass bis wir am Ziel angekommen sind. Und als wir dort waren, war es Nacht, es war dunkel und es war sehr schwer. Damals hatte ich die größte Angst, sie haben uns zusammengepfercht in die Zimmer gesteckt, ich habe an das Schlimmste gedacht. Danach haben wir die Soldaten kennenge-

Alexandra Şandru lernt, die Kommandanten, die haben uns gesagt, was wir machen werden und haben uns nach einer Zeit eingeteilt, jeden zu seiner Arbeit. Aber bis dahin war es schwer. Und wo hast Du gearbeitet? Anfangs habe ich auf dem Bahnhof gearbeitet, dort wurden die Waggons entladen und die Steinkohle aussortiert. Wir hatten Wachen, die uns begleiteten. Wir hatten den „nacealnic“ und den „perivocic“, den Übersetzer, er konnte Rumänisch und Russisch. Sie bewachten uns am Tor, aber auch auf dem Weg zur Arbeit. Am Tor war ein Wächterhäuschen, da bist du durchgegangen und da wurdest du kontrolliert beim Gehen und beim Kommen, da musstest du deine Nummer zeigen. Die hat man dir genommen beim Gehen und wieder gegeben beim Zurückkommen. Und es war ein Jude Übersetzer dort, er übersetzte für uns. Er war aus Czernowitz, aber ich erinnere mich nicht mehr daran, wie er hieß. Er war von kleiner Statur und hatte immer kakifarbene Kleidung an und eine Mütze auf dem Kopf, wahrscheinlich war er auch deportiert worden und hier geblieben. Und als du in den Laden gingst, ging da jemand mit Dir, um Dich zu bewachen? Wer sollte mich denn bewachen? Dies war gar nicht nötig, weil ich hatte ja nicht wohin zu flüchten. Die Läden waren nahe, auch der Basar. Ich habe nie versucht, aus dem Lager zu fliehen. Ich habe mich um meine Sachen gekümmert, Dienst und Lager. Und in meiner Freizeit ging alles nach den Stunden der Uhr, man sagte mir, wann ich gehen konnte und wann ich kommen sollte. Jeweils eine oder zwei Stunden hat man mir erlaubt. Es war mir vollends bewusst, dass ich zurückkommen musste, wo hätte ich denn schlafen sollen? Da wäre ich in Freiheit schon eher in Gefahr gewesen, in einem fremden Land. Im Lager waren wir frei, aber man hat kontrolliert, ob es überall sauber ist. Ansonsten hat man uns in Ruhe gelassen, möglicherweise war es an anderen Orten schlimmer, aber hier

69 hatten wir Glück. Warst Du jemals in Lebensgefahr? Im Lager, oh Gott, bin ich dreimal fast gestorben, nur so viel. Das erste Mal war ich in der Nachmittagsschicht. Wir mussten Bretter einbringen in die Mine für Sicherungsarbeiten. Über eine Strecke haben wir das Holz in die Mine gebracht, um deren Wände zu verstärken. Ich hatte die Latte noch nicht angefasst, als die, die sprengten, also Löcher bohrten, um Dynamit hineinzugeben, uns hörten, dass wir hinunter gingen, da haben sie schon gerufen, wir sollen sofort nach oben gehen, weil sie die Lunten legten, um die Kohle abzusprengen. Alle sind wir auf der Strecke zurück. Stell dir vor, wir waren zwölf Mädchen und, bis jede oben war, wurde es schwierig. Wir kletterten auf Brettern hoch und stiegen Schritt für Schritt nach oben. Danach mussten wir ein Stück des Weges auf den Knien weiter. Ich bin allein geblieben, weil alle anderen ins Freie gegangen waren, ohne auf mich zu warten. Ich bin geblieben. Ich wusste, wo ich hingehen musste, aber es war dunkel. Dann habe ich ein kleines Licht gesehen und bin draufgekommen, dass das die Strecke war, auf der ich hoch musste. Ich kletterte auf ihr hoch und gelangte so an die Oberfläche. Aber ich war so müde und erschrocken, dass ich nicht weiter wusste. Auch das Petroleum in meiner Lampe war ausgegangen. Draußen angekommen, habe ich mich auf einem Baumstumpf erholt. Nur schwer bin ich dort herausgekommen, wenn ich mich festhielt, gab mal ein Stein und mal ein Holz nach. Wir sind nicht dort hinausgegangen wie sonst, denn dort wurde ja gesprengt, wir sind an einer anderen Stelle hinaus. Nachdem ich mich erholt hatte, wollte ich übers Feld zum Lager, aber es war Winter und es hatte geschneit und ich fiel in ein Wasserloch, auf dem sich eine Eisschicht gebildet hatte. Nur schwer bin ich dort wieder herausgekommen, weil ich auf dem Eis immer wieder ausgerutscht

70 bin. Ich bin dann hinunter ins Tal, um der Eisenbahnlinie bis ins Lager zu folgen. So bin ich ins Lager zurückgekommen, ich hätte auch nicht gehabt, wohin zu gehen. Was haben sie zu Dir gesagt, als sie gesehen haben, dass Du später als die anderen Mädchen angekommen bist? Ja, sie hatten ja nichts was zu sagen. Denen von der Mine habe ich nicht gesagt, was passiert war. Die vom Lager haben mich nicht weiter gefragt, insofern ich gesund angekommen war, ohne Verletzung. Danach sind wir zu Tisch gegangen. Hierher kam die Briefzustellerin, ich glaube, sie hieß Victorita, und sie hat mir einen Brief von zu Hause gebracht. Denn ich hatte meinen Angehörigen, als ich am Bahnhof arbeitete, einen Brief geschrieben und habe diesen dem Lokomotivführer gegeben, damit er ihn nach meinem Zuhause auf den Weg bringt. Er hat ihn etwas weiter weg zur Post gebracht und so ist der Brief zu Hause angekommen. Zu Hause dachte man schon, ich sei tot und deshalb hat man mir ein Requiem lesen lassen. Aber an jenem Tag habe ich einen Brief von ihnen bekommen und ich war darüber sehr glücklich. Ich habe sehr, sehr viel geweint und an die Daheimgebliebenen gedacht. Ich war alleine hier, kannte niemanden und es war nicht leicht für mich. Ich hatte Glück, denn ich war nicht auf den Mund gefallen und legte mich mit den Leuten von hier an, obwohl ich wusste, dass ich mich dadurch in Gefahr begab. Das dritte Mal, als ich fast gestorben wäre, war ich im Bergwerk. Wir fuhren auf der Lore mit der Kohle um aufzupassen, dass die­se nicht herunterfällt. Es waren zwölf Loren, sechs mit Gestein und sechs mit Kohle und ich war oben auf der Kohle. Ich hatte nasses Haar und wegen der elektrischen Spannung wurde ich von der Lore heruntergeschleudert. Auf den Boden gefallen, musste ich erst innehalten, um mich zu erholen, um aufstehen zu können. Das Problem war nur, dass von hinten ein anderer Zug kam.

Alexandra Şandru Und ich konnte mich kaum bewegen. Und meine Beine waren auch immer auf dem Gleis. Gut, dass ich den Zug gehört habe, dann habe ich meine Beine weggezogen. Und danach, wie bist Du von dort wieder weg gekommen? Ich war arg betäubt und, als ich den anderen Zug pfeifen hörte, habe ich die Füße weggezogen und bin dann sitzen geblieben, bis ich mich erholt hatte. Danach habe ich den Aufzug gesucht und bin mit ihm hinaufgefahren. Aber das Schlimmste war damals, als der Aufzug stecken blieb und ich in der Luft hing und beinahe in die Tiefe gestürzt wäre. Damals konnte ich wirklich nichts tun, außer warten. Nur der Herrgott hat mir damals geholfen. Es war Winter. Und wir fuhren mit dem Aufzug nach oben, einer nach dem anderen. Und gerade bei mir ist er hängen geblieben. Und bis sie die Kette repariert hatten, musste ich mich eine Stunde lang an dem Seil festhalten, denn es war kein Aufzug wie heute, sondern so einer, bei dem du dich mit den Händen und Füßen festhalten musstest, damit sie dich hochziehen. Meine Arme und Beine haben dies fast nicht ausgehalten. Aber ich habe mich angepasst, was konnte ich schon tun? Du musstest dich einfach anpassen. Aber noch schwerer war es, als ich bei den Eisenbahngleisen gearbeitet habe, sie wurden von dem Bergwerk zu einer anderen Stadt verlegt. Und die Leute mussten die Schienen auf dem Rücken tragen. Für die Männer war es schwerer, für uns nicht. Und für mich persönlich noch weniger. Mir haben sie einen Wassereimer gegeben und ich musste ständig Wasser tragen. Und von dort auf dem Feld ging ich bis zu einem weit entfernten Brunnen und holte Wasser. Aber es war gut, dass ich alleine war, ich mit meinen Gedanken. Der Brunnen war sehr weit weg und so konnte ich meine innere Ruhe finden. Von der Gleisbaustelle holten sie uns mit den Lastwagen ab und es war schön, wir machten Späße und lachten. Wir freuten uns über

Alexandra Şandru die kleinen Dinge des Lebens, ohne dass ich an zu Hause denken musste, sonst wäre ich traurig geworden. Gab es Strafen, wenn Ihr Euch nicht an die Regeln gehalten habt? Aber wir haben sie doch eingehalten. Was sie uns sagten, das machten wir. Es hat keiner geschimpft. Möglich wäre das schon gewesen, aber, wenn man folgsam war, wurde man nicht bestraft. Die wichtigen Regeln waren: sauber zu sein, beim Kochen zu helfen und die Regeln einzuhalten. Und es gab Leute, die darüber wachten, dass wir dies alles taten. Und wir mussten die Regeln einhalten, sonst kamen wir in die Isolation. Wer aufbegehrte, kam dorthin. Ich war nie dort, ich weiß nicht, wie es dort war. Sie haben uns nicht gedroht, aber sie haben uns empfohlen, das zu tun, was sie uns sagten. Und der Tag, als Du nach Hause gingst, wie war der? Das war an einem Tag, als ich vom Feld zurückkam. Da hat man uns in den Speisesaal gerufen und uns mitgeteilt, dass wir nach Hause fahren werden. Es kam der Politbeauftragte und hat jene Sitzung gehalten und uns gesagt, dass einige von uns heimfahren wer-

71 den. Aber wir wussten nicht, wer und wie. Von einigen Hundert, so viele waren wir, sind nur 30 weggekommen. Er hat uns gefragt, ob wir nicht bleiben oder in ein anderes Land arbeiten gehen wollen. Dann hat er uns gefragt, ob alles gut war, ob man schlecht mit uns umgegangen ist, ob wir geschlagen wurden, und jeder hat was gesagt. Und dann hat er uns je vier hinsetzen lassen. Wir waren von den Ersten. Ich war weiter hinten, so circa die Dritte. Ich wollte nicht die Erste sein, ich hatte Angst. Mich hat er gefragt, ob wir zufrieden waren. Wir haben alle ja gesagt, was sollten wir auch sagen, nein? Auf Russisch haben wir gesagt, dass uns unsere Mütter, Väter, Schwestern und Brüder erwarteten. Als er meinen Namen rief, wurde ich ohnmächtig und die Mädchen klatschten mir ins Gesicht, um mich aufzuwecken. Wir waren die ersten Leute, die aus dem Lager nach Hause fuhren. Und dann hat man kontrolliert, ob wir sauber sind. In der Zeit, als wir bei der ärztlichen Assistentin waren, kamen Laster, die uns zum Zug brachten. Und dann sind unsere Ängste vergangen, dass sie die deutschen und ungarischen Frauen an einen anderen Ort bringen und uns auseinanderreißen. Das war unsere große Angst.

Für unsere Sünden haben sie uns weggebracht...

Rozalia Buttinger (Rumänien)

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ch habe nicht gedacht, dass so etwas passiert. Ich war Schneiderin und ich war 24 Jahre alt. Unverheiratet. Ich war nie verheiratet. Aber ich kann mich nicht mehr erinnern. Ich muss nachdenken... Ich muss zurückdenken. Ich habe dies schon lange nicht mehr getan... Warten Sie, dass ich mich erinnere.1 Es wurde was erzählt im Dorf. Als die Rus­sen kamen und mich mitnahmen, saß ich bei Tisch. Da bin ich mir nicht sicher. Das Al1 Aufgezeichnet von Lavinia Betea

ter… Und ich habe die Vorbereitungen für die Abreise gemacht. Ich habe ein Buch zum Lesen genommen und ein Kleidungsstück, dass ich noch fertig zu nähen hatte. Das wollte ich dort fertig machen. Als meine Mutter gesehen hat, was ich mitnehmen wollte, hat sie mein Bündel weggeworfen und mir ein anderes mit Essen gebracht. Wir sind in einem Viehwaggon gefahren. Die Reise dauerte 14 Tage. Zirka. Wir haben auch Wasser bekommen. Und wenn der Zug hielt, bin auch ich gegangen, mir Was-

72 ser zu holen auf dem Bahnhof. Einmal haben sie uns auch Fleisch gegeben, ich weiß nicht mehr welches. Trockenes. Ich weiß auch nicht mehr, ob wir auch Brot bekommen haben. Ich weiß noch, dass der Boden des Waggons begonnen hat zu gefrieren, als wir nach Russland kamen. Das Brot im Gepäck, wenn man welches hatte, wurde tagsüber von dem Schmelzwasser nass und schmutzig. Wir waren es nicht gewohnt, so etwas zu essen. Und so haben wir das schmutzige Brot aus dem Fenster geschmissen. Eine Russin hat es aufgelesen und so gemacht (Anmerkung: sie saugte ihre Backen ein und zeigte mit den Fingern darauf). Das sollte heißen, dass wir auch so aussehen werden, mit eingefallenen Wangen. Wegen dem, was sich zugetragen hat, habe ich niemanden beschuldigt. Ich habe nicht so und nicht so gesagt. Als man uns genommen hat, sind wir gegangen. So wie die Männer in den Krieg gegangen sind vor uns. Warum haben sie uns hingebracht?... Wegen unserer Sünden haben sie uns hingebracht. Wir sind angekommen. Dort gab es kein Dorf und keine Stadt. Es war ein Lager. Es gab eine Tür, die zu einer unterirdischen Grube führte. Es war eine Art unterirdische Hütte. Nach vorne ging es hinunter. Dort waren die Pritschen zum Schlafen. Drinnen waren wir viele, vielleicht 30. 10 oder 15 auf jeder Seite. Aber wer erinnert sich noch?... Draußen gab es keinen Baum, kein Gebüsch, da ist nichts gewachsen. Nur Erde und Gras. Und wenn es zu regnen begonnen hat, da wollte jeder am schnellsten hineinlaufen. Und die Letzten, die hereinkamen, kamen völlig durchnässt in die Hütte. Und das Wasser lief in die Hütte. In diesem Lager hat man uns nirgendwohin zur Arbeit gebracht. Ich weiß nicht, wie lange wir dort blieben. Später hat man uns in eine Fabrik nach Dnje­propetrowsk gebracht. Ich weiß nicht, welche Fabrik es war. Wir mussten die Steine der eingestürzten Wände einsammeln und

Rozalia Buttinger den Schutt wegbringen. Wir transportierten ihn mit einer Trage. Die eine vorne, die andere hinten. Eine andere Arbeit, die wir dort verrichteten, war das Be- und Entladen von Waggons. Sand, Kalk, Ziegelsteine... Ich kann mich nicht erinnern, wie lange das ging. Morgens gingen wir zur Arbeit und abends kamen wir „nach Hause“. Das Zuhause war das Lager. Es hatte Pritschen und ich weiß nicht mehr was noch. Es ist lange her seit damals bis zu den heutigen Tagen. Es war uns nicht erlaubt, mit den Russen zu reden. Wir haben es trotzdem getan. Wenn du mit jemandem zusammen arbeitest, kann es sein, dass du nicht mit ihm sprichst? Es gab eine Russin, die brachte uns zur Arbeit und wieder zurück. Konnte es sein, dass sie nicht mit uns sprach? Wir richteten Mörtel an zusammen mit den Russinnen. Und wir haben mit ihnen gesprochen. Und sie mit uns. Wie wir eben konnten, mit Zeichen, mit den Augen und den Händen. Ich habe auch russische Wörter gelernt, aber ich habe sie wieder vergessen. Und ich hab nicht viele Wörter gekannt. In Dnjepropetrowsk habe ich eine Zeit lang auch als Schneiderin gearbeitet. In einer Fabrik mit elektrischen Nähmaschinen. Es wurden dort Hosen und Jacken für Männer genäht. Ich und die anderen, die auch schon zu Hause Schneiderinnen waren, haben für den Direktor genäht. All das, was er von uns verlangt hat. Bei mir waren noch eine Schneiderin aus Sanktanna und ihre Schwester. Ich erinnere mich nicht mehr. Es ist lange her... Wenn wir mit anderen aus anderen Lagern zusammen kamen, haben wir erfahren, dass dieser oder jener aus Sanktanna gestorben war. Wir waren viele dort, aber was soll ich euch sagen?!... Es gab Hunger. Wir haben jeden Tag ein Stück Schwarzbrot bekommen, viereckig und klebrig. Mit Tee ohne Zucker. Zu Mittag eine Suppe. In die Suppe wurden Zwiebelblätter und saure Gurken geschnitten. Wir waren zu zehnt an einem Tisch. Und

Rozalia Buttinger jede hat gehofft, ein Stückchen Kartoffel zu finden. Aber auch die Russen hatten keine. Es war Krieg gewesen, und selbst die freien Frauen, die mit uns arbeiteten, hatten auch keine. Die Frauen dort waren gut. Die Russinnen. Ich habe auch in einer Kollektivwirtschaft mit ihnen gearbeitet. Sie haben mit uns gesprochen. Essen aber hatten sie auch keines. Sie bekamen es aus ihrer Küche, ich weiß nicht was, und wir aus unserer Küche. Es war schwer. Aber es ging vorüber. Auch die Erinnerungen sind geschwunden. Gott möge uns vergeben und es möge nie mehr so kommen. Ich erinnere mich, dass sie uns einmal in der Fabrik zwei Tage lang kein Essen gegeben haben. Die „Natschalniks“ haben uns gesagt, wir sollen nicht zur Arbeit gehen, wenn sie uns nichts zu essen geben. Geht in die Stadt, ins Dorf und verlangt was von den Leuten, haben sie uns gesagt. Und so sind wir gegangen. Ich und eine Frau. Wir beide hatten Angst, zu den Russen nach Hause zu gehen. Die, die zuerst losgegangen sind, haben mehr bekommen. Für uns Ängstliche... hatten sie nichts mehr. Wir sind zu einem etwas entfernten Haus außerhalb des Dorfes gekommen. Es war niemand dort, aber das Haus war offen. Es gab keinen Zaun und keinen Garten. Sie hatten zwei Zimmer, davon ein besseres, mit Stahlbetten. In der Tischschublade einen Teller voller gebratenem Fleisch und ein Teller mit Brot. „Tiotinka, tiotinka!“ („Tante, Tante!“ auf Russisch) haben wir gerufen. Aber es hat niemand geantwortet. Dann sind wir zu einem anderen Haus gegangen. Es war leer. Oben war ein Junge, der hat begonnen uns zu verfluchen. Dann sind wir wieder zu dem leeren Haus zurückgegangen, das mit dem Essen. Und wieder haben wir gerufen. Es hat uns niemand geantwortet und wir haben wieder nichts genommen. Wir hatten Angst... Dann sind wir zu einem kleineren Haus gekommen. Dort hatten sie Kartoffeln, Zwiebeln, Gurken. Da-

73 von haben sie auch uns gegeben. Damit sind wir dann zurück in die Fabrik… Man hat uns verpflichtet ins Kino zu gehen, um Filme anzuschauen. Wir sind müde von der Arbeit gekommen und wollten nichts als schlafen. Aber es war Pflicht, ins Kino zu gehen... Der Wind wehte und wir arbeiteten auf den Dächern, um den Schnee weg zu fegen. Wir hatten Wattejacken, aber die Russinnen hatten auch dicke Kopftücher, um sich vor dem Frost zu schützen. Eines Tages hat man uns gesagt, wir sollen uns für die Heimfahrt vorbereiten. Was wir hinterließen, wurde auf einem Haufen gesammelt. Und die Russinnen sind hergegangen und haben sich was ausgesucht aus dem, was wir nicht mehr brauchten. Vor der Abreise hat mir ein Offizier Parfüm und Geld gegeben. Ich hatte für ihn gearbeitet, und für andere auch - Saubermachen, Nähen. Eine Freundin hat bei einem Offizier zu Hause sauber gemacht. Eines Tages konnte sie das nicht und hat mir gesagt, ich solle hingehen. Ich solle keine Angst haben, wenn er hinter mir die Tür zumacht, er wird mir nichts antun. Aber den Tisch mit Papieren und Briefen soll ich nicht anrühren. So war es und so habe ich es gemacht. Dafür hat er mir Parfüm und Geld gegeben vor der Abfahrt. Als wir zu Hause angekommen sind, haben wir über die Verschleppung gesprochen. Aber allzu viel hatten wir nicht zu erzählen... Zu Hause angekommen, bekam ich ein Schreiben, ich solle mich vorstellen, damit man mir Arbeit gäbe. Sie sagten, in Sanktanna würde es keine geben und so habe ich als Schneiderin zu Hause gearbeitet. Ich habe eine Zulassung als Schneiderin bekommen und das ganze Leben als solche gearbeitet. Ich hatte keine Familie. Seit sieben Jahren lebe ich im Altenheim. Warum soll ich jetzt darüber nachdenken? Gott hat es so gewollt...

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Ich wurde in der Sowjetunion geboren und kenne meinen Vater nicht1

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ch wurde am 4. August 1949 geboren. In Kadevka Nicolaevka, einer Ortschaft, die ich nie gesehen habe. Auch wenn ich es gewollt hätte, wäre es doch nicht möglich gewesen, denn diese Ortschaft existiert auf keiner Landkarte.1 Ich war nicht deportiert, ich wurde während der Verbannungszeit meiner Eltern geboren. Wenige Monate vor ihrer Rückkehr nach Hause. Die Ereignisse wurden mir von meiner Mutter erzählt, welche zum Zeitpunkt der Deportation 18 Jahre alt war. Vor der Verschleppung war meine Mutter in einer Schwesternschule. Alles ging sehr schnell, niemand wusste etwas. So sagte die Mutter. Manchmal sage ich, dass für das Geschehene der rumänische Staat verantwortlich ist, weil es ihm so gepasst hat. Andererseits, wie ihr den Pater Fischer sprechen hörtet, denke ich, ist Deutschland verantwortlich, weil Deutschland den Krieg begonnen hat. In der Familie meiner Mutter war die Deportation eine Tragödie. Es wurde auch ihre Schwester deportiert und ein Onkel, welcher auf dem Heimweg verstarb. Nachdem er fünf Jahre in Russland war, hat er es nicht überstanden. Viele Schulfreundinnen und Nachbarinnen meiner Mutter wurden deportiert. Mutter hat mir erzählt, dass man in der Eile, die damals herrschte, nur die nötigsten Dinge mitnehmen konnte. Ich besitze jetzt noch ein altes Gebetbuch von der Mutter, von dem ich weiß, dass sie es in der Verschleppung hatte. Mutter erzählte, dass man sie mit Güterwaggons wegbrachte. Der Transport war tragisch, die Fahrt dauerte zwei Wochen. Es 1 Aufgezeichnet von Andrada Bejan, Studentin 3. Jahrgang, Fakultät für Erziehungswissenschaft, Psychologie und Sozialarbeit, Universität „Aurel Vlaicu“ Arad

Ana Szucs

Ana Szucs (Rumänien) wurden sogar die Züge gewechselt, um die Deportierten zu verwirren. Die ersten Sachen, die Mutter bei der Ankunft sah, waren Gebäude, welche einer Kaserne glichen und wo sie dann untergebracht wurden. Die Leute wurden nicht geschlagen, aber das Essen war sehr elendig. Sie aßen Kartoffelschalen und Schalen von Früchten. Eines Tages dachten sie, sie würden Hühnersuppe mit Grießknödeln bekommen und sie haben sich sehr gefreut. Es war aber nur eine Suppe mit Knödeln aus Maismehl. Mutter hat in einer Mine gearbeitet, 400 Meter untertags, mit Wasser bis zu den Knien. Bei einem Arbeitsunfall hat sie sich den Fuß gebrochen. Wer konnte ihr dort Gips anlegen oder sie behandeln?! Er blieb deformiert. An was Mutter sich erinnert, ist, dass niemand umgebracht wurde, aber sie gezwungen wurden, sehr schwer zu arbeiten. Es war nötig, dass Mutter Russisch lernte, um sich mit den Wächtern verständigen zu können. Als sie schwanger wurde, konnte sie nicht mehr in der Mine arbeiten und sie durfte in der Küche arbeiten. Es wurde von ihr als eine Geste des guten Willens ausgelegt, aber auch von den anderen im Lager. Ich als Tochter kann über die Auswirkung der Deportation nur sagen, dass, wenn Mutter nicht deportiert worden wäre, sie meinen Vater - ebenfall aus Ungarn deportiert - nicht kennen gelernt hätte, es mich nicht gegeben hätte. Bei der Heimkehr war es ein Schock für die Familie meiner Mutter, als diese mit einem Kleinkind nach Hause kam. Vater wollte nicht nach Rumänien, zusammen mit Mutter und Kind. Er ist nach Ungarn zurück. Ich weiß nichts über ihn und habe ihn nie gesehen. Bis Mutter und ich zurückkamen, dachte meine Großmutter, sie wird vor Sehnsucht nach ihren Mädchen sterben.

Ana Szucs

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Nach der Rückkehr wollte meine Mutter als Lehrerin arbeiten, aber sie durfte nicht. Es wurde nicht erlaubt, über das Erlebte in der Sowjetunion zu sprechen. Nachher kam noch die Deportation in den Baragan. Nachdem ihr das alles passiert war, hatte ich in meiner Schulzeit Angst vor den Prüfungen, sie nicht zu bestehen. Wegen diesen Ereignissen hatten Kollegen und Nachbarn zu leiden. Ich kann heute über die Deportation Folgendes sagen: Für die Überlebenden war es ein Tal der Tränen und ein Totental für die Verstorbenen. Wenn man heute davon erzählt, zeigen die Leute Mitgefühl. In den Geschichte-Büchern sollten diese Ereignisse korrekt nieder-

geschrieben werden, damit die Welt die ganze Wahrheit erfährt und Aufmerksamkeit erzeugt, dass so etwas nicht wieder passiert. Die Nutznießer dieser Zwangsarbeit waren die Russen. Hätte man das alles verhindern können? Nein, weil die meisten Betroffenen viel zu jung waren. Die damalige Zeit war wie ein schöner Blumengarten, in den eine Bombe fiel. Nach dieser Katastrophe ist eine Quelle entsprungen. Diese Quelle war der Glaube, der uns am Leben hielt und dafür sorgte, dass wir normal blieben. Unser Schicksal lag in den Händen des Herrn. Über mich glaube ich, dass ich mich nicht hätte anpassen und durchhalten können, als diese Ereignisse passierten.

Ich war zwanzig Jahre alt und wusste nicht, wo ich hin komme1

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m Jahre 1945, an einem kalten Wintertag im Monat Februar, ich war im Haus meiner größeren Schwester. Es war ein Tag wie jeder andere. Ich bin damals öfter zu meiner Schwester gegangen, um mit deren Kindern, meinen Neffen, zu spielen.1 Unsere Mutter kam zur Tür herein und war sehr beunruhigt. Sie hat gesagt, dass ich schnell nach Hause kommen soll, denn ich muss zusammen mit anderen Jugendlichen zur Zwangsarbeit in die Sowjetunion. Meine Eltern waren am Anfang dagegen. Sie wollten es verhindern, aber wurden durch die Umstände gezwungen. Es wurde ihnen gesagt, wenn ich nicht gehe, werden sie den Vater an meiner Stelle holen, der aber gerade 1 Aufgezeichnet von Paula Vesa, Studentin 3. Jahrgang, Fakultät für Erziehungswissenschaft ,Psychologie und Sozialarbeit, Universität „Aurel Vlaicu“ Arad

Elena Becker (Rumänien)

aus russischer Kriegsgefangenschaft heimgekommen war. Als ich zuhause war, habe ich mir einige dicke Kleider in eine Tasche gepackt. Meine Mutter hat das ganze Brot, welches im Haus war, geröstet und als Wegzehr mitgegeben. Ich erinnere mich auch an ein Kissen. Sie hat mir ein Kissen mitgegeben. Wir wurden in einer Schule gesammelt und verbrachten dort eine Nacht. Am zweiten Tag in der Früh hat man uns in Viehwaggons verladen und es ging los. Der Weg war sehr lange, unerwartet lang. Wir waren einen Monat unterwegs. Wir fuhren meistens nachts. Es hat uns niemand Essen gebracht, und wir konnten uns keines besorgen. Nur manchmal durfte an einem Bahnhof eine Person den Waggon verlassen, um Wasser zu holen. Aus meiner Familie war nur ich weg. Ich war damals zwanzig Jahre alt und wusste

76 nicht, wohin ich komme. Ich kann aber nicht sagen, dass ich für das Geschehene jemand als Schuldigen bezeichnen kann. Nicht damals und auch nicht später. Ich war nie an Politik interessiert. Nach einer einmonatigen Zugreise sind wir in der Sowjetunion angekommen. Wir mussten den Zug auf freiem Feld verlassen, wurden zu einer Kolonne zusammengestellt und los ging es bis zu einem Kuhstall. Alles war dort durch den Krieg zerstört. Wir haben mit den Aufräumarbeiten begonnen. Es war uns sehr kalt und unser gesamtes Essen hatten wir verbraucht. Jeden Morgen wurden wir zur Arbeit gebracht. An einigen Tagen habe ich an den Hochöfen, wo Eisen geschmolzen wurde, gearbeitet, an anderen Tagen habe ich Kohle geschleppt. Nach ungefähr sechs Monaten kamen wir in ein Lager in der Region Donbas, in eine Stadt mit dem Namen Makeevka. Hier war das Leben am schwersten. Am Morgen bekamen wir eine Suppe, was man aber nicht als Suppe bezeichnen kann, es war fast reines Wasser und ein Stück Brot dazu. Dann teilten uns die Russen zur Arbeit ein. Sie brachten uns mit dem Zug zum Arbeitsplatz. Wir haben am Bahngleisbau unter der Aufsicht russischer Brigadiere gearbeitet. Und an vielen Arbeitsplätzen gab es tödliche Arbeits-Unfälle. Am Abend, nachdem wir von der Arbeit zurück waren, gab es wieder eine Portion Suppe und ein Stück Brot. Das war mein ganzes Essen für den Tag. Es waren nur Deutsche dort. Die Menschen starben vor Hunger und Krankheit. Ohne ärztliche Hilfe und Medikamente starben sie sehr schnell. Ich erinnere mich genau an einen ganz besonderen Tag aus jener Zeit, der schlimmste Tag aus meiner ganzen Zeit in der Deportation. Es war der Tag, an dem ich an Malaria erkrankte. Ich bekam keine Medikamente und keine ärztliche Hilfe. Mit mir zusammen im Lager war eine Krankenschwe-

Elena Becker ster aus Temeschburg, sie hat mir geholfen. Wir kamen mit demselben Transport. Ohne sie wäre ich dort geblieben, gestorben mit zwanzig Jahren. Nach fast fünf qualvollen Jahren wurden wir verständigt, dass es bald nachhause geht. Ich war im zweitletzten Transport dabei. Die Heimkehr war einer der freudigsten Momente in meinem Leben. Wir sind am Bahnhof von Temeschburg angekommen. Der Bahnsteig war voller Men­ schen, die auf uns gewartet haben. Ich bin aus dem Zug gestiegen und habe eine Bekannte getroffen, welche, als sie mich sah, gleich zu meiner Mutter nach Hause lief, um sie zu verständigen. Ich bin mit großen Schritten nach Hause geeilt und habe schon an der Straßenecke die Mutter getroffen, froh, mich lebendig wieder zu sehen. In den fünf Jahren, welche ich im Lager war, hat meine Mutter nichts von mir gehört. Ich habe zwar Briefe geschrieben, aber diese kamen nie an, also hatte sie keine Nachricht von mir. Mein Leben nach der Deportation nahm einen normalen Verlauf. Ich habe vierzig Jahre in einer Temeschburger Weberei bis zu meiner Rente gearbeitet. Ich habe geheiratet und einen Sohn geboren. Meinem Sohn habe ich über die Zeit in der Deportation nichts erzählt. Ich habe immer gewartet, bis er alt genug sei, um alles zu verstehen. Leider hat er mein Erlebtes nicht mehr erfahren, denn er starb mit 18 Jahren bei einem Autounfall. Im gleichen Jahr starb auch mein Mann. Auch bei einem Verkehrsunfall. In einem Jahr habe ich beide verloren. Mit meinem Schwiegervater habe ich über die Zeit erzählt, denn er war Kriegsgefangener. Nun bin ich Rentnerin und habe niemanden mehr. Alle aus meiner Familie sind verstorben. Ich wohne nun im Altersheim „Guttenbrunn“ mit sehr guten Bedingungen. Meine Freunde von hier haben mich gebeten, dem

Elena Becker Deutschen Demokratischen Forum beizutreten. Wenn ich jemanden für mein erlebtes Leid verantwortlich mache, ist dies das politische Regime der damaligen Zeit. Ein Rat an die heutige Jugend wäre, zu achten wel-

77 che Freunde sie haben und ihre Umgebung. Sie sollen auf die Eltern hören und sich eine Zukunft bauen. Das Schicksal liegt in unseren Händen, in jedem von uns und im Glauben an Gott.

Wir lebten den ganzen Winter in einem Wagon und waren voll mit Kopfläusen1

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ch erinnere mich, dass ich zuhause in Sanktandres bei Mutter und Vater war. Mein Mann und meine Brüder waren beim deutschen Militär. Es waren Gerüchte zu hören, dass man uns am 15. Januar einsammelt und am 14. Januar wurde der ganze Ort von Militär umstellt. Um vier Uhr in der Früh haben sie ans Fenster geklopft, dann habe ich erfahren, dass ich weg muss. Ich habe nicht gewusst, wer Schuld hat oder wer beschlossen hat, dass wir weg müssen. Viele Bekannte wurden verschleppt, unter ihnen auch der Bruder meines Mannes mit der Familie. Eine seiner Töchter ist dort gestorben, auch die Schwester meines Mannes. Da ich von Bekannten erfahren hatte, dass man uns deportiert, wollte ich mich bei meinem älteren Bruder verstecken. Ich habe es aber nicht geschafft. Es waren viele, die versucht hatten sich zu verstecken, aber es wurden alle gefangen, keiner hat es geschafft. Als sie mich von daheim wegbrachten, konnte ich nichts mitnehmen, nur die Kleider, die ich trug. Sie haben uns in der Schule gesammelt und von dort an den Bahnhof gebracht und in Güterwagons verladen. Der Zug hielt 5-6 Tage in Jahrmarkt, einem Nachbarort von unserer Gemeinde. Unsere Eltern und Verwandten 1 Aufgezeichnet von Darina Maris, Studentin im 3. Jahrgang, Fakultät für Erziehungswissenschaft, Psychologie und Sozialarbeit, Universität „Aurel Vlaicu“ Arad

Maria Frombach (Rumänien)

brachten uns Kleider und Lebensmittel. Solange wir dort waren, war der Zug von russischen Wachposten bewacht, damit keiner wegläuft. Wir haben erfahren, dass man uns nach Russland bringt. Wir waren vom 14. Januar bis zum 8. März unterwegs, ohne uns waschen zu können und Essen zu erhalten. Es gab Getrocknetes und Wasser. Einmal hatten wir einen längeren Halt, dann gab es warmes Essen. Wir waren den ganzen Winter im Waggon und voll mit Kopfläusen. Wir haben nicht erfahren, wohin man uns bringt und für wie viel Zeit, keiner wusste etwas. Als wir „dort“ ankamen, sind wir einige Kilometer zu Fuß gegangen, bis an den Ort, wo unsere Bleibe war. Es war eine große Halle, in der 240 Personen untergebracht wurden. Zuerst haben wir uns von den Läusen befreit. Wir waren einige Wochen dort ohne zu arbeiten. In dieser Halle hatte jeder nur eine Matratze. Als wir zur Arbeit eingeteilt wurden, habe ich mit der Schaufel die Erde aus der Mine verladen. Die Leute haben sich untereinander gut verstanden, wir waren wie Brüder. Wir wurden die ganze Zeit von Soldaten bewacht. Diejenigen, die uns bewachten, durften uns nicht schlagen und das ist auch nie passiert. Dort, wo wir waren, waren sehr wenig Russen, sodass wir nicht Russisch lernen konnten. Die Arbeit war sehr schwer und das Essen war wenig und schlecht.

78 Am schlimmsten waren die kräftigen Männer dran, die es gewohnt waren, gut und viel zu essen. Viele von ihnen sind stark abgemagert, haben ihre Kräfte verloren und wurden krank. Die Schwerkranken kamen vor eine Kommission, wurden begutachtet und nach Deutschland oder Rumänien nach Hause geschickt. Ich glaube, es wurde gar nicht kontrolliert, von wo wer herkam. In fünf Jahren sind 75 Personen gestorben. In der ganzen Zeit, welche ich dort verbracht habe, habe ich nichts von meiner Familie erfahren. Ich konnte weder Briefe schreiben noch erhalten. Der einzige Gedenke, der uns alle beschäftigte, war, wann dürfen wir in die Heimat. Niemand kann das Erlebte in der Deportation vergessen, alles, was dort war, war schwer.

Maria Frombach Nicht damals und auch nicht später haben wir die politischen Gründe unserer Deportation erfahren. Auch, dass wir heimfahren, haben wir erst einen Tag vor der Abreise erfahren. An diesem Tag waren wir noch auf der Arbeit und am Tag darauf sind wir heim gefahren. Es war eine riesige Freude. Zuhause habe ich dann meinen Mann getroffen, den ich schon 7 Jahre nicht mehr gesehen hatte. Ich habe einen Arbeitsplatz bekommen, denn es gab den Befehl, dass uns ein Arbeitsplatz zugeordnet wird. Ich hatte keine Schwierigkeiten als Deportierte. Jetzt wird nicht mehr viel über das, was damals passiert ist, gesprochen und die Jugend hat an dem kein Interesse.

Ich wurde krank und sie haben mich nach Hause geschickt1

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ls ich am 14. Januar morgens zur Arbeit kam, wurde uns mitgeteilt, wir sollen nach Hause gehen und Koffer packen, denn wir werden weggebracht.1Schon seit Dezember gab es Gerüchte, die aber stets von den Behörden dementiert wurden. Wir wussten jedoch, dass es nur uns Deutsche betrifft. Ich war mit 18 Jahren zu jung, um mir Gedanken zu machen, wer Schuld an dem Geschehen hat. Die Verschleppten aus meiner Ortschafft kannte ich alle, darunter waren auch meine drei Brüder und weitere Verwandte. Es war angeordnet, Essen für drei Tage mitzunehmen und uns in der Schule zu melden. Eilig packte ich einige Sachen in eine Tasche. Am 15. Januar 1945 sind wir abgefahren und Anfang Februar angekommen. 1 Aufgezeichnet von Darina Maris, Studentin im 3. Jahrgang, Fakultät für Erziehungswissenschaft, Psychologie und Sozialarbeit, Universität „Aurel Vlaicu“ Arad

Rita Peter (Rumänien)

Die Fahrt war anstrengend, wir waren in Güterwagons zusammengepfercht und durften erst in Russland heraus. Im Waggon schliefen wir auf Stroh. Manchmal bekamen wir Wasser und unsere Notdurft verrichteten wir in Eimer. Erst bei bei der Ankunft stellten wir fest, dass wir in Russland waren. Auf einem Bahnhof mussten wir aussteigen und nach einem langen Fußmarsch erreichten wir das Lager. Es war eine Halle, die zur Reparatur von Panzern und Autos gedient hatte. Drinnen Etagenbetten aus blanken Brettern, drei übereinander. Im Zug hatten wir wenigstens Stroh. Erst nach 7 Tagen wurden wir zur Arbeit eingeteilt. Ich arbeitete beim Bau und musste mit einer Schubkarre Baumaterial tranportieren. Wir hatten uns schnell eingearbeitet und stellten fest, dass die russischen Arbeiter ähnliche Arbeitsbedingungen hatten. Obwohl wir rund­um bewacht wurden, war das Verhältnis zu unseren Bewachern nicht feindlich.

Rita Peter Auch mit den russischen Arbeitern verstanden wir uns nicht schlecht. Sie brachten uns bei, nicht zuviel zu arbeiten, damit die Norm nicht erhöht wird und es so keine Probleme mit den Vorgesetzten gibt. Manchmal hatten russische Arbeiter auch körperlich anstrengendere Tätigkeiten zu verichten als so mancher von uns und einige waren auch ärmlicher gekleidet. Für die geleistete Arbeit bekamen wir ein Gehalt, von dem die Kosten für Essen und Unterkunft abgezogen wurden und sogar paar Rubel übrig blieben. Wenn wir krank waren, mussten wir nicht arbeiten. Ich ging aber auch zur Arbeit, als ich mich schlecht fühlte und 39 Grad Fieber hatte. Als sie das festgestellt haben, haben sie mich zur Krankenstation gebracht und interniert. Ich war zwei Tage dort, aber als mein Zustand sich verschlechtert hatte, kam ich ins Spital. Ich weiß gar nicht, wie ich dorthin kam, denn ich war bewusstlos. Da habe ich eine sehr anständige Ärztin kennengelernt, die mich behandelt hat. Sie fragte mich ob ich auf die Russen böse bin. Und ich fragte sie, ob sie auf die Deutschen böse ist. Ich habe ihr gesagt, dass keiner der hier im Raum Anwesenden für das Geschehene was kann, und ich nicht böse sein kann, denn sie behandelt mich ja. Die Wächter und Kommandanten waren mir

79 gegenüber nie gewalttätig. Andererseits war aber auch bekannt, dass Deportierte, die Wertgegenstände besaßen, ausgeplündert wurden. Ich erinnere mich einer außergewöhnlichen Situation am Arbeitsplatz. Ich habe mit dem Meister gestritten, weil ich mit der Arbeit, welche er mir zugemutet hatte, nicht einverstanden war. Das hat ihn so verärgert, dass er die Fäuste hob. Ich habe geschrien und auch die Fäuste gehoben. Er hat mich nicht geschlagen und in Ruhe gelassen. Die Leute haben über uns gesprochen, aber wir wussten, weder was in unserem Heimatland passierte noch in Russland. Ich war nur neun Monate im Lager, da ich am Fuß eine Schwellung bekam und krankheitshalber entlassen wurde. Ich konnte kaum mehr laufen, obzwar ich drei Monate im Spital war. Die Heimfahrt war genau so lange und beschwerlich wie die Hinfahrt. Ich bin mit dem Zug bis Sighetul Marmației und von dort mit dem LKW bis nach Hause gefahren. Zu Hause hatte ich Schwierigkeiten, eine Arbeitsstelle zu finden. Es gab den Befehl, Deportierte nicht einzustellen. Ich habe keinen verurteilt für das, was mir passiert ist. Ich kann auch nicht böse sein auf die Russen, die ich kennengelernt habe, denn sie waren Menschen wie wir und hatten an all dem keine Schuld.

Ich habe mich für einen Verbleib von zwei Wochen vorbereitet und bin fast fünf Jahre weggewesen1

Ana Zgardea, geborene Feil (Rumänien)

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m 14. Januar1945 hat der Trommler im ganzen Dorf verkündet, dass alle jungen Deutschen eine Tasche mit Kleidern und 1 Aufgezeichnet von Darina Maris, Studentin im 3. Jahrgang, Fakultät für Erziehungswissenschaft, Psychologie und Sozialarbeit, Universität „Aurel Vlaicu“ Arad

Lebensmitteln vorbereiten sollen, denn es geht für zwei Wochen zur Arbeit nach Russland. Wir haben uns im Kulturheim versammelt. Dort einmal angekommen, konnten wir nicht mehr weg, denn wir wurden von rumänischen Soldaten, mit Gewehren bewaffnet, bewacht. Ich sage es auch jetzt noch, dass Rumänien die Verantwortung trägt für das,

80 was passiert ist, denn das rumänische Militär hat uns zusammengetrieben und die ganze Zeit bewacht. Wir waren unschuldig, wir hatten niemandem was angetan. Aus meiner Familie wurde nur ich verschleppt. Aber die anderen waren Bekannte aus dem Ort oder aus der Gegend. Viele Deportierte sprachen kein Deutsch. Ihre Familien lebten schon lange in Rumänien und hatten lediglich deutsche Namen. Ich habe mich für zwei Wochen vorbereitet, so wie man es uns gesagt hatte, aber es sind dann rund fünf Jahre geworden. Man hatte uns schon früher zu Arbeiten rekrutiert, um Flugplätze für deutsche Flieger herzurichten. Wie auch meine Bekannte dachte ich, dass es wieder so ähnlich sein wird und machte mir erst gar keine Gedanken über Flüchten oder Verstecken. Am 16. Januar 1945 wurden wir in einen Güterzug verladen und um 20 Uhr ging die Fahrt los. Die Menschen waren in den Waggons zusammengepfercht, es herrschten schreckliche Zustände. Wir bekamen nicht einmal Trinkwasser und auch unsere Notdurft mussten wir in dem verschlossenen Waggon verrichten. Wir hatten nur das Essen von zu Hause. Jedesmal wenn der Zug anhielt, wurden wir gezählt, niemand konnte abhauen. Die Fahrt war grausam, wir haben vor Kälte und Hunger gelitten und es herrschte unbeschreibbares Elend. Die Fahrt dauerte vom 16. Januar bis zum 2. Februar. Angekommen, wurden wir zu einer Kolonne zusammengestellt und von Soldaten bis zum Lager eskortiert. Sie haben uns wie Schwerverbrecher behandelt. Im Lager, in das man uns gebracht hatte, waren viele Verschleppte untergebracht und es war sehr kalt. Am zweiten Tag bekamen wir eine Schaufel, mussten Erde auf einem Feld verteilen. An einem der nächsten Tagen kam jemand und sagte, es sei möglich, woanders hinzugehen, wo auch Bekannte von uns wären. Wir

Ana Zgârdea waren einverstanden und haben uns zu Fuß auf den Weg gemacht. Das Ziel lag 10 km entfernt, aber es war sehr kalt und es lag viel Schnee. Die Nacht kam sehr schnell und so dachten wir, jedes Licht, welches wir sahen, wäre das Ziel, aber wir mussten immer weiter und weiter. Es war ein furchtbar schwerer Fußmarsch und einige sind vor Erschöpfung ohnmächtig geworden. Das Lager, in dem wir schließlich angekommen sind, war ein großer warmer Raum mit Licht. Wir haben uns Betten gesucht und am Morgen war alles weiß von der Kälte. Nach einer Zeit haben wir dann auch Matratzen bekommen. Wir wurden zur Arbeit eingeteilt. Ich kam zum Holzabladen. Es war eine für Frauen besonders schwere Arbeit, denn die Holzstämme waren schwer und lang. Später habe ich in einer Kohlengrube gearbeitet, beim Entladen der Kohle und Abräumen. Es war auch eine schwere Arbeit. Wir haben 360 Meter tief unter der Erde in sehr engen Schächten gearbeitet, auf den Knien und auf dem Bauch oder Rücken liegend. Ich arbeitete bis zu 16 Stunden am Tag, meine Knien waren andauernd mit Wunden übersät. 1948 wurde es allmählich besser, wir wurden in Häusern untergebracht und waren nicht mehr so viele auf einem Haufen. Die Bewachung war auch nicht mehr so streng. Wir wussten ja, dass wir zur Arbeit gehen müssen. Am Anfang war es allerdings bedrückend, ständig von Leuten mit Gewehren bewacht zu werden. Wir fühlten uns wie die größten Räuber und die schlimmsten Menschen auf Erden, obwohl wir doch niemandem etwas getan hatten. Ich habe aber auch anständige Leute unter den Russen kennen gelernt. Der Meister in der Kohlengrube war ein sehr guter Mensch, er nahm uns mit, um seiner Frau bei der Gartenarbeit zu helfen. Seine Frau hat uns dann etwas zum Essen gegeben. Wir hatten einen sehr guten Übersetzer, der uns immer geholfen hat, wenn es Probleme gab. Als er krank

Ana Zgârdea wurde, hat man sich nicht richtig um ihn gekümmert und er ist verstorben. An seine Stelle kam ein anderer Übersetzer, der aber sehr böse war. Sogar russische Offiziere waren herzliche Menschen. Unter den Zwangsarbeitern herrschten gute Beziehungen, es gab sogar Liebespärchen, die nach ihrer Heimkehr heirateten. Es gab aber auch Fälle, wo die Leute sich gegenseitig das Leben schwer machten. So erging es mir auch, als eine Freundin dem Übersetzer sagte, dass ich gesagt hätte, dass wir ab dem 1. Oktober 1949 nicht mehr arbeiten müssen. Er hat mich einen ganzen Tag eingeschlossen gehalten, ohne Wasser und Nahrung, obzwar ich Fieber durch meine entzündeten Knien hatte. Es sind viele Menschen durch die schwierigen Lebensbedingungen ums Leben ge­ kommen. Oft wurden sie in einem Massengrab verscharrt. Weil es an Wasser fehlte, gab es viele Läuse. Obwohl schon viel Zeit seither vergangen ist, erinnere ich mich noch an vieles genau. Ich erinnere mich noch genau an den Tag, als ein Mädchen den Aufzugsschacht hinunter gefallen ist. Wegen einem Stückchen Brot hat sie versäumt, rechtzeitig abzuspringen und ist so abgestürzt. Es gab noch einen Zwischenfall, der mir im Gedächtnis geblieben ist. In der Nähe unseres Lagers gab es ein Feld mit abgeernteten roten Rüben. Mit einem anderen Mädchen habe ich beschlossen, auf das Feld zu gehen, um noch verbliebene Rüben zu ernten. Auf dem Feld haben wir die gefundenen Rüben in unsere Arbeitskleidung verstaut. Plötzlich war ein Mann auf einem Pferd bei uns. Er hat uns aufgefordert, ihm die Arbeitskleidung mit den gesammelten Rüben zu geben. Das konnten wir auf keinen Fall tun, denn sonst hätten wir Ärger am Arbeitsplatz bekommen. Er hat unsere Angst bemerkt und gesagt, wir sollen die Rüben ans Ende des Feldes in ein dort stehendes Haus bringen.

81 Das andere Mädchen hatte Angst, also bin ich allein hingegangen. Es ist mir nichts passiert. Ich erinnere mich, dass wir Rübenscheiben auf der Ofenplatte angebraten haben, die beim Verzehr ein Brennen im Hals verursachten. Wir wussten kaum, was außerhalb des Lagers in Russland passierte. Es kamen aber Briefe von unseren Familien. Am 1. Oktober 1949 kam die Nachricht, dass es bald nach Hause geht. Wir mussten nun nicht mehr zur Arbeit und durften uns erholen, denn wir waren sehr arm dran. Am 22. Oktober wurden wir in Wagons verladen und die Heimfahrt war ähnlich anstrengend wie die Hinfahrt. Man hat uns mit dem Zug bis nach Baia Mare und von dort mit LKWs bis nach Hause gebracht. Ich war froh, dass meine nahen Verwandten überlebt haben. Nach meiner Heimkehr habe ich als Tagelöhnerin in der Landwirtschaft gearbeitet. Der Staat hat sich um uns nicht gekümmert. Ich kann nicht sagen, dass ich Schwierigkeiten wegen der Deportation hatte. Was wir durchleben mussten, wünsche ich nicht einmal meinem größten Feind. Ich ertrug die Leiden, die nicht verstanden werden können, im Elend lebte ich, litt an Hunger und Kälte, ohne Schuld. Auch heute denke ich, der rumänische Staat trägt die Schuld an unserer Deportation. Am meisten ärgert es mich, dass aus anderen Ländern nur Männer deportiert wurden. Warum hat Rumänien auch Frauen geschickt? Ich habe auch nicht akzeptiert, dass man die in Rumänien geborenen Deutschen geschickt hat. Und wie ich schon gesagt habe, auch jene mit deutsch klingendem Namen. Wenn ich jemandem von dem Erlebten erzähle, sind die meisten verwundert und glauben kaum, dass man das alles durchstehen kann. Ich glaube, dass keiner der Deportierten das verdient hat, was er durchmachen hat müssen. Wodurch hatten wir einfache Menschen so ein Schicksal verdient?

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Rosalia Bruner

Dort habe ich gelebt und meine große Liebe verloren1

Rozalia Bruner (Rumänien)

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s wurde im Dorf gesprochen, dass hohe Herren ins Kulturheim kommen, um uns Papiere für die Arbeit zu machen. Aber die Schlaueren unter uns hatten erfahren, dass es um Deportation geht. Wir wussten aber nicht, was das bedeutet. Wir ahnten nur, dass dies nichts Gutes ist.1 Da ich als einziges Kind bei meinen Eltern war und mein Vater mich zu allen Feldarbeiten mitnahm, dachte ich so für mich, dann bin ich endlich diese Feldarbeit los. An einem Sonntag im Januar 1945 wurde durch den Dorftrommler verkündet, dass alle im Kulturheim erscheinen sollen, um Papiere zu machen. Es ging aber niemand hin. So sind sie zu uns nach Hause gekommen und haben uns bemusst, unsere Koffer zu packen. Wir durften 70 kg pro Person mitnehmen: Kleider und Essen. Sie haben uns nach Temeschburg gebracht und in einen Zug nach Iasi einwagoniert. In Iasi kamen wir in russische Züge. Nun ging es los bis in ein russisches Dorf, dessen Name ich nicht mehr weiß. Von diesem Dorf sind wir dann mit dem LKW bis in das Lager von Krivoi Rog gefahren. Bis zum Lager sind wir alle - Männer wie Frauen - zusammen gewesen und dort hat man uns nach Geschlechtern getrennt. Für mich war das kein Problem, denn ich war ja nicht verheiratet. Zweien meiner Nachbarinnen, meinen Cousinen, sind die Kinder bei den Großeltern geblieben und die Männer waren noch im Krieg. Von unserer Straße mussten alle, die 18 Jahre alt waren, nach Russland. Es blieben nur die Alten und Kinder daheim. Ich war 1 Aufgezeichnet von Maria Craciun, Studentin im 3. Jahrgang, Fakultät für Erziehungswissenschaft, Psychologie und Sozialarbeit, Universität „Aurel Vlaicu“ Arad

kleiner und schmächtiger, also arbeitete ich beim Bau. Andere, weniger Glückliche, arbeiteten in der Kohlengrube. Nach einem Jahr, etwa um Weihnachten, wurde ich stark krank und kam ins Spital. Ich war fast sechs Monate dort. Ich kann niemand dafür verantwortlich machen, es hat so sein sollen. Nach meiner Genesung kam ich nicht mehr zum Bau, sondern auf einen Kolchos, um mit den Bauern zu arbeiten. Ich dachte, der Herrgott hat seine Hände über mich ausgebreitet. Hier bekam ich mehr Essen und wenn es mal nicht reichte, bekam ich von den Bauern Milch. Sie hatten Mitleid mit uns. Nur ihre Kinder ärgerten uns noch manchmal, indem sie uns „nemetzki“ nachriefen. Dort habe ich auch einen rumänischen Jungen aus Temeschburg mit deutsch klingendem Namen kennen gelernt, der auch wie ich nicht mehr in der Kohlengrube arbeiten konnte. Es war meine große Liebe. Es hat aber nicht sein sollen. Umsonst sagte er, dass wir nach unserer Heimkehr heiraten werden, auch wenn wir verschiedene Nationalitäten haben. Eines schönen Tages kam er nicht mehr zur Arbeit. Ich habe nie erfahren, was passiert ist. Einige sagten, er wurde nach Hause gebracht, andere wiederum, dass er mit einem Krankentransport nach Deutschland geflohen ist. Eines war mir klar: Wenn du am Morgen kein Glück hast, dann auch nicht am Nachmittag. Ich habe nie verstanden, warum man uns ausgesucht hat und wem es geholfen hat. All das soll nie mehr passieren. Nicht für mich, denn - wie ich schon gesagt habe ging’s mir relativ gut, aber für all die Toten und die schockiert zurück kamen. Ich habe mich mit dem Gedanken abgefunden, dass jeder Mensch ein Kreuz zu tragen hat. Für mich ging alles gut.

Rosalia Bruner Als ich am 2. Julie 1948 in Focsani ankam, hat man mir Akten ausgestellt und von dort bin ich mit dem Zug bis nach Hause gefahren. Was ich bekommen habe? Ich habe nicht mehr das Feld mit meinem Vater bearbeitet, sondern bei der Eisenbahn im Bauwesen gearbeitet. Ich habe eine Rente, aber habe nie geheiratet.

83 Ich habe die Politik nie verstanden, weder vor meiner Deportation nach Russland noch nachher. Ich bin römisch-katholischen Glaubens, aber ich glaube, der liebe Gott ist für alle. In fünf Tagen habe ich Geburtstag und werde 90 Jahre alt. Es wurde mir gegönnt, so lange zu leben, obzwar ich verschleppt war.

Ich habe meinen Koffer mit Kleidern dem Arzt gegeben, damit er mich herzkrank schreibt1

Ana Mikowz (Rumänien)

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ch wurde von daheim ausgehoben, ich lebte damals in Hatzfeld, niemand wusste etwas...1Sie haben uns gesagt, wir sollen uns anziehen und etwas Essen für den Weg mitnehmen. Wir wussten nicht, um was es geht. Man hat uns zum Deutschen Haus in Hatzfeld gebracht. Von dort sind wir in einer Vierer-Kolonne zum Bahnhof. Man hat uns in Viehwagons verladen. Die Mutter ist daheim geblieben. Darf ich das sagen? Als ich und mein Bruder von daheim weg mussten, war mein Bruder Josef 16 Jahre alt und ich war 19 Jahre alt. Ich habe den Schulranzen und einen Koffer mit den besten Kleidern mitgenommen, es war ja Winter. Wir fuhren in diesem Viehwagon zwei Wochen. Wir wussten nicht, wohin es geht. Es waren etwa 40-50 Leute im Wagon. Im Wagon war Heu auf dem Boden. Ich hatte eine Decke, welche mir Mutter noch dazu gegeben hat. Ich saß auf der Decke und musste auf mein Essen aufpassen, damit es nicht wegkommt. Als wir an unserem Bestimmungsort ange1 Aufgezeichnet von Madalina Paunescu, Studentin im 3. Jahrgang, Fakultät für Erziehungswissenschaft, Psychologie und Sozialarbeit, Universität „Aurel Vlaicu“ Arad

kommen sind, haben wir erfahren, dass dies Neprodjinsk ist. Darf ich das sagen? Es wurde wieder eine Vierer-Kolonne gebildet und so zum Lager marschiert. Dort waren wir so 4050 Personen in einem ungeheizten Raum. Es gab Stockbetten. Morgens weckte man uns um 6 Uhr. Zum Frühstück gab es ein Stück Brot und eine Tasse Tee. Wir hatten eine Brotration von 700 Gramm pro Tag. In Vierer- Reihen ging es täglich einen 14 km langen Weg zur Arbeit, bewacht von Russen. Sie riefen: „Come stai, Halca! Davai, davai!” Das bedeutet, du stehst zu viel. „Halca” war der Spitzname, den die Russen mir gegeben hatten. Am Tag habe ich im Steinbruch gearbeitet und am Abend in der Küche beim Abwaschen geholfen. Es wäre ja nicht so schlecht gewesen, wenn es nicht den Hunger gegeben hätte. Abends habe ich Essensreste von den Russen in meinen Kleidern versteckt und Abfälle zum Küchenfenster hinaus meinem Bruder und Vater zugeworfen. Die Russen sahen das, sagten aber nichts. Die Russen, die mit uns arbeiteten, waren anständig, sie haben auch nicht viel gehabt, ich war ihnen aber sympathisch. Es hat zwei Jahre gedauert, dann habe ich mir ein Schriftstück von einem Arzt besorgt, in dem ich herzkrank diagnostiziert wurde. Der Preis dafür war mein Kleiderkoffer.

84 Zuerst kam der Arzt in unser Zimmer und hat sich meinen Koffer angeschaut. Dann hat er mich zusammen mit dem Koffer zu sich gebeten. Als ich bei ihm war, hat er festgestellt, dass ich einige Kleider aus dem Koffer genommen hatte. Er hat Recht gehabt. Er wollte mir nun nicht mehr den Krankenschein geben. Ich habe angefangen zu weinen und den Doktor gebeten, mir doch den Entlassungsschein zu geben. Von dort ging es nach Deutschland, wo ich bei einer Familie als Putzfrau gearbeitet habe. Versteckt in einem Güterzug, bin ich danach nach Hause gekommnen. Meine Mutter hat geweint, als sie mich sah und ich ihr nicht sagen konnte, wie es dem Bruder und Vater geht. Zuhause waren keine jungen Leute mehr. Darf ich das sagen? Über die Deportation... wenn du dich nicht durchschlagen kannst, stirbst du dort. Ich war gesund und wollte zusammen mit Vater und Bruder alt werden... viele sind gestorben. Die Toten wurden entkleidet, auf einen

Ana Mikowz Karren geladen und in ein Erdloch geworfen. Es war schwer... Aber darf ich das sagen? Ich bin eine zu einfache Frau um zu wissen, wer die Schuld hat. Ich weiß nicht... Die Russen haben Arbeiter gebraucht, es wurde auf dem Bau gearbeitet. Meine Kinder wollen nicht über die Deportation sprechen. Sie sagen: Mutter, hör auf, du hast gesagt, es war gut. Höre denen zu, die die Deportation mitgemacht haben. Viele haben das Land verlassen. Aber unsere Vorfahren haben gearbeitet, damit es uns gut geht. Und ich soll alles stehen- und liegenlassen und weggehen? Hier ist mein Heim, hier möchte ich sterben. Rumänien ist ein gutes und reiches Land und hier möchte ich sterben, niemand kann mich zwingen wegzugehen. Ich betreue die Gräber der Verwandtschaft und der Freunde. Der Herrgott sieht, dass ich nur Gutes tue, es tut mir - trotz meiner 87 Jahren - nichts weh. Das menschliche Schicksal ist in Gottes Hand !

Das menschliche Schicksal ist in Gottes Hand1

Gabriela Heiveis (Rumänien)

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s gab Gerüchte vom Bahnhof, dass Züge mit Deportierten durchgefahren sind und noch weitere durchfahren werden. „Sie“ kamen zu uns nach Hause, um uns mitzunehmen, aber unsere Eltern hatten meinen Bruder und mich versteckt und gesagt, wir wären weg. Aber wir waren auf dem Dachboden versteckt. Nachher haben wir uns im Keller versteckt, damit sie uns nicht finden. Drei Tage haben sie uns täglich zu Hause gesucht. Am dritten Tage haben sie den Eltern 1

1 Aufgezeichnet von Alexandra Ungur, Studentin im 3. Jahrgang, Fakultät für Erziehungswissenschaft, Psychologie und Sozialarbeit, Universität „Aurel Vlaicu“ Arad

gesagt, wenn wir nicht erscheinen, werden sie an unserer Stelle geholt. Dann habe ich mit meinem Bruder beschlossen, uns zu melden. Wir wollten nicht, dass man an unserer Stelle unsere Eltern deportiert. Wir wurden zwei Tage in der Schule festgehalten und schliefen auf dem mit Zeitungen belegten Boden. In dieser Zeit haben die Eltern uns Kleider und Essen gebracht. Nach zwei Nächten in der Schule hat der richtige Albtraum begonnen. Wir wurden in Viehwagons verladen - Viehwagons voll tierischer Exkremente - in diesen haben wir unsere 17-tägige Fahrt verbracht. Nach diesen 17 Tagen sind wir in der Ukraine, im Donbecken, in der Nähe von Stali-

Gabriela Heiveis

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no angekommen. Dort angekommen, haben wir in der Kohlengrube und auf dem Bau gearbeitet. Wir haben Steine von da nach dort geschleppt ohne zu wissen, wann diese Tortur zu Ende ist. Als wir erfahren haben, dass wir nach Hause dürfen, war es Mitte August, worauf wir uns sehr gefreut haben. Es hat aber doch bis Dezember gedauert, bis es dann soweit war. Ich werde nie vergessen, dass die Frauen zwischen dem 17.-35. Lebensjahr und die Männer zwischen dem 17.-45. Lebensjahr deportiert wurden. Der einfache Grund, ein Deutscher oder eine Deutsche zu sein, reichte für die Deportation aus. Ich kam als junges Mädchen fort; als ich heil wieder zu Hause war, habe ich dem Herrgott gedankt und ein neues Leben angefangen. Bis zu jenem Zeitpunkt war nur der

Glaube, der mir Kraft gegeben hat, das alles durchzustehen. Ich habe dieses schlechte Kapitel meines Lebens abgeschlossen und von Null neu angefangen, bin meinem Traum gefolgt und habe einen Abschluss am Institut „Maxim Gorki” in Bukarest erzielt. Dann war ich Lehrerin für Russisch und später Dozent an der Philologischen Fakultät in Temeschburg. Jetzt, im Alter von 88 Jahren, kann ich nur sagen, dass ich ein gutes Leben lebte, ich es intensiv lebte, mit einer schönen Karriere. Da meine Deportation anerkannt wurde, habe ich derzeit noch eine Einnahmequelle. Das Schicksal der Menschheit liegt in Gottes Händen und ich kann ihm nur danken, dass es mir gegönnt war, diese schweren Zeiten zu durchstehen!

Ein Cousin ist dort gestorben1,

 

nachdem sie ihm ein erfrorenes Bein ohne Narkose amputiert haben. Eine Cousine starb an einer Lungenerkrankung Alois Weil (Rumänien)

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on1 der Deportation erfuhr ich Samstag, den 13. Januar 1945, 23 Uhr, als ein Kommissar aus Sighet, begleitet von zwei Soldaten, kam um mich abzuholen. Es gab schon zuvor Gerüchte, dass diese Aktion geplant sei, aber niemand wollte das glauben. Wer sind die Schuldigen? In erster Reihe diejenigen, die den Krieg verloren haben. Zweitens, der Rumänische Staat, der uns verkauft hat. Wir waren 60.000 Seelen, laut einer anderen Quelle vielleicht sogar 80.000. Alle Männer geboren bis 1928, wenn sie nicht das 45. Lebensjahr erfüllt hatten, sowie Frauen bis Jahrgang 1928 bis zu 1 Aufgezeichnet von Mărgărit Piţurescu und Alexandra Ungur, Studentin im 3. Jahrgang, Fakultät für Erziehungswissenschaft, Psychologie und Sozialarbeit, Universität „Aurel Vlaicu“ Arad

35 Jahren - ohne Rücksicht darauf, ob sie kleine Kinder hatten. Der Zug, mit dem wir vom Bahnhof Aradul-Nou (Neu-Arad) am 15. Januar abgefahren sind, hatte 40 Waggons. Ich musste in Waggon Nr. 10 einsteigen. Und weil ich von zu Hause einen Eimer mitgenommen hatte, schickten sie mich zum Wasserholen und bewachten mich aufmerksamer als die anderen. Es wurden weitere sieben Verwandte von mir deportiert, alles Cousins ersten Grades, meistens Mädchen - davon sind nur fünf zurückgekehrt. Ein Cousin ist dort gestorben, nachdem sie ihm ein erfrorenes Bein, ohne Narkose, amputiert haben. Eine Cousine starb an einer Lungenerkrankung. Wir wurden ausgehoben, ohne jegliche Vorbereitung. Sie führten uns in die Bahnhofskaserne von Neu-Arad, wo die Russen

86 erlaubten, dass Verwandte uns Sachen brachten, von denen wir dachten, sie könnten uns für die kommende Zeit nützlich sein, zum Beispiel Decken und Nahrungsmittel. Vom ersten Moment an bestand die Befürchtung, das Ziel werde Sibirien sein. Wir waren eine festgelegte Anzahl von 40 Menschen, eingepfercht in einem „Viehwaggon“, Männer und Frauen durcheinander. Wir improvisierten eine Toilette im Waggonboden, mit einem Sichtschutz aus vier Decken. Im Bahnhof Braşov (Kronstadt), als ich wieder Wasser holen ging, stellte ich bei meiner Rückkehr fest, dass der Zug abgefahren war. Auf demselben Gleis fuhr allerdings eine Lokomotive ohne Waggons vor. Ich kam ins Gespräch mit dem Lokführer, der gehört hatte, dass ich aus Arad komme und er schlug mir vor, mich nach Arad zurück zu bringen, indem er mich im Kohletender verstecken würde. Ich habe abgelehnt, denn mein ganzes Hab und Gut befand sich in Waggon Nr. 10 des abgefahrenen Zuges. Dann fragte mich der Lokführer: „Weißt du nicht, dass man in Arad Nahrungsmittel bekommt?“ Da, wo er herkam, war es wahrscheinlich schlimmer. Auf ein Stück Papier schrieb ich einen Brief an meine Eltern und die Adresse meines Onkels, Becker - der Bruder meiner Mutter, dem die Metzgerei neben der Burg gehörte das heutige Forst-Gymnasium. Der Lokführer überbrachte meinem Onkel Becker den Brief, der den Eisenbahner seinerseits mit etwas Essbarem versorgte. Nach vielen Stunden Wartezeit in Kronstadt, kam mein Zug zurück in den Bahnhof, da er zuvor nur auf ein Abstellgleis rangiert wurde. Ich stand immer noch mit dem Eimer gefrorenen Wassers in der Hand, als er zurückkam. Ich stieg in den Waggon Nr. 10 und in dem Grenzort Ungheni stieg der Wachtmeister aus. Da eine Person fehlte - ich war wieder weg, um Wasser zu holen - wurde der Waggon durch einen Zivilisten ergänzt, der auf dem Bahnsteig stand, mit einem Brot in

Alois Weill der Hand. Er wurde einfach in den Waggon gedrängt, um die Personengruppe auf die ursprüngliche Anzahl von 40 zu ergänzen. Der Mann war Jude und hat laut geschrien, dass er nichts in der Verbannung verloren hätte. Auf freiem Feld hielt der Zug plötzlich an und alle Insassen mussten aussteigen, die Männer auf der einen Seite, die Frauen auf der anderen. Vier Männer vergruben sich im Schnee und wurden nicht mehr gefunden. Der Zug fuhr ohne sie weiter. Am 1. Februar 1945 erreichte der Treck die Ukraine. Die Papiere wurden uns abgenommen und erst wieder am 21. Oktober 1949 im Gerichtsgebäude in Sighet zurückgegeben. Bei der Rückkehr stoppte der Zug auf offener Strecke und die sowjetischen Bewacher übergaben uns sorgsam an die rumänischen, damit ja niemand in Russland bleibt. Zuerst brachten sie uns in ein Lager Nr. 12, genannt Edvokievka. Von dort wurden wir nach Budionavka überstellt, ein Städtchen, bekannt durch seine Kohlengrube, die nahezu Anthrazit-Qualität lieferte. Es war eine klassische Mine, ohne Paternoster-Aufzug. Auf sechs bis sieben Kilometern war die Arbeitsfront, die Auffahrt dauerte 1,5 Stunden. Die Unterbringung im Lager war gemischt, sowohl Männer, als auch Frauen. Am Anfang waren nur wir aus Rumänien, dann kamen Polen hinzu und Deutsche aus dem Raum Berlin. Letztere waren Hungernde, Kranke und Alte, ein Großteil von ihnen ist dort auch verstorben. Der erste Gedanke war, die Sprache der Russen zu sprechen und zu schreiben. Innerhalb eines Monats habe ich am Arbeitsplatz zu Schreiben und zu Lesen gelernt. Ich wurde unterstützt, um Übersetzer zu werden und danach wurde ich Adjunkt des Kommandanten Wiişulek, ein 43-jähriger Pole. Wir waren 1.200 Menschen im Lager, die Konversation war direkt - ich war der einzige (und jüngste), der durch die Anrede „Sie“ Respekt erfuhr. Man nannte uns nicht „De-

Alois Weill

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portierte“, sondern „Internierte“. Der Umgang mit den Einheimischen war von allgemeinem Interesse, um unsere laufenden Probleme zu lösen. Wir wurden auf dem Bau und im Wald eingesetzt, in unserer Freizeit arbeiteten wir für Einheimische, die wussten, dass die Deutschen für alles zu gebrauchen sind. Und die Russen waren an fähigen und qualifizierten Arbeitern interessiert. Es gab eine Regel der Entlohnung und Brotverteilung, nach dem Schwierigkeitsgrad der Arbeit. Die Beurteilung des Menschen war vom Brot abhängig, die Entlohnung, je nach Arbeitsleistung. Jemand, der seine Norm an einem schweren Arbeitsplatz erbrachte, bekam 1.200 g Brot. Ich erinnere mich an zwei Lipowaner, die aus Sibirien geflüchtet waren und sich als Rumänen ausgaben, um nicht zurück geschickt zu werden. Die Russen steckten sie in Arbeitslager, wo immer sie sie aufgriffen. Die erste Folge der Deportation für uns war, dass die Internierungszeit nicht anerkannt und somit nicht als Arbeitszeit im Arbeitsbuch eingetragen wurde. Erst in den 60er Jahren hat die Personalabteilung beim MAI

(Innenministerium) eine Bescheinigung erwirkt, über welche die Zeitspanne vom Tage der Internierung bis zum Tag der Rückkehr als Arbeitszeit anerkannt werden soll, ohne weitere Details. Alle Personen anderer Ethnien, ausgenommen Rumänen und Ungarn, wurden vom Militärdienst enthoben und in Arbeitsbataillons (DGSM) überstellt. Nach der Deportation wurde ich für zwei Jahre (1950-1952) für den Militärdienst verpflichtet. Danach besuchte ich das Abendgymna­ sium und war beim Abschluss, 1955, Jahrgangsbester. Von 1958 bis 1964 war ich Florist bei Agrosem und wurde im Anschluss in die Krankenrente entlassen. Heute wird man nicht als Opfer der Vergangenheit betrachtet, sondern man wird zum Opfer der Gegenwart. Es sollte keinen Extremismus und Fanatismus mehr geben, denn hierin liegt der Ursprung allen Übels. Die Deportation hat zu nichts Gutem genützt, sie hat nur Leid, Trauer und Tod gebracht. Sie haben mich nach dem Lebensinhalt des Menschen gefragt… Sein Geschick liegt im Einfluss der Genetik, korrigiert und ergänzt durch Erziehung und Umwelt.

Ich hatte weder Uhr noch Kalender1

Magdalena Maria Geier (România)

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n der1 Nacht vom 15. zum 16. Januar 1945 wurden ich und meine Schwester mit Gewalt von zu Hause mitgenommen. Unseren Vater hatten wir schon als Kinder verloren und so blieb unsere Mutter mit unserem kleinen Bruder allein zurück. Bis zu meinem 18. Geburtstag waren es noch einige Monate. Obwohl es Gerüchte über eine Deportation gab, glaubten wir nicht 1 Aufgezeichnet von Anamaria Merce, Studentin im 3. Jahrgang, Fakultät für Erziehungswissenschaft, Psychologie und Sozialarbeit, Universität „Aurel Vlaicu“ Arad

dass es auch uns betreffen könnte. Es war kalt und wir waren nur leicht angezogen. Nach 2 Tagen in der Schule mussten wir in Viehwaggons steigen. Es waren auch schwangere Frauen unter uns. Der Zug fuhr langsam und nur nachts bis nach Iasi, und danach in die Sowjetunion. Wir wussten zu keinem Zeitpunkt, wohin es geht und was uns erwartet. Zu essen bekamen wir gekochtes Wasser mit einigen Gurken oder eingelegten Tomaten. Es gab keine Toiletten. Die Männer hackten ein Loch in die Mitte des Waggons, in das wir unsere Notdurft verrichteten. Im Lager waren wir 14-15 Personen in einem

88 Raum mit doppelstöcki­gen Betten. 2 mal täglich bekamen wir Essen, meis­tens Suppe von Fischköpfen. Der Winter war schlimm, wir mussten bei Temperaturen bis zu -40° zur Arbeit. Ich musste in einer Ziegelfabrik Waggons beladen. Nach der Arbeit konnten wir vor Erschöpfung nur noch schlafen. Manchmal mussten wir zusätzlich nachts arbeiten. Morgens weckten uns die Wachen immer mit Geschrei. Ich hatte weder Uhr noch Kalender, wusste nicht, wann Feiertage sind und welcher Wochentag es gerade ist. Auch Trinkwasser fehlte uns häufig. Aus Angst vor Krankheiten tranken wir oft aus Regenpfützen. Nach kurzer Zeit erkrankte meine Schwester. Sie wurde mit dem ersten Krankentransport nach Hause verfrachtet und hatte Glück, denn viele Kranke starben. Die Toten wurden nackt ausgezogen und weggebracht, niemand wusste wohin. Nach der Arbeit erlaubten uns die Wachen, bei der einheimischen Bevölkerung für etwas Essbares auszuhelfen. Bei einer erkrankten Frau versorgte ich die Kinder und führte den Haushalt. Danach half ich auch in der Lagerküche und suchte aus Hunger selbst im Abfall noch nach Essbarem. Das Lager war mit Stacheldraht, der unter Strom stand, umzäunt. An allen Ecken des Lagers waren bewaffnete Wachen aufgestellt, eine passte auch auf, dass wir nicht zu

Magdalena Maria Geier viel miteinander redeten... Und wir bekamen auch immer mehr Arbeiten aufgebürdet. Unsere Entlassung wurde uns einige Tage vorher angekündigt. Ich sprang hoch und weinte vor Freude. Man sah es allen an, dass die Lebensfreude zurückgekehrt war. Wir wurden gleichzeitig aber auch gewarnt, ja nichts über das hier Erlebte zu berichten. In Viehwaggons ging es wieder in die Heimat. Das Wiedersehen unbeschreiblich. Es gab kein trockenes Auge, die Tränen flossen nur so aus Freude, wieder mit unseren Angehörigen zusammen sein zu dürfen. Obwohl am 29. Oktober 1949 zu Hause erst angekommen, ging ich am 1. November schon zur Arbeit in die Hutfabrik. Im darauffolgenden Sommer habe ich geheiratet und nach 2 Jahren meine Tochter geboren. 1968 sind wir nach Temeswar umgezogen. Aus Angst um die Sicherheit meiner Familie habe ich nicht über die Deportation gesprochen. Es verschnürt mir die Kehle, wenn ich daran denke, dass niemand wirklich erfahren wird, wie es uns ergangen ist, vor welche Herausforderungen wir gestellt waren, obschon wir darüber zu berichten versuchen. Man kann nicht daran denken, ohne zu Weinen und ohne dass einem die Seele weh tut. Wir fragten „warum“? Und niemand hatte eine Erklärung bis 1990, als bekannt wurde, dass die Sowjetunion uns vom rumänischen Staat angefordert hatte.

Die Hunde haben unsere, im hart gefrorenen Boden schlecht begrabenen Toten angefressen1

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Rounald Wiest (Rumänien)

ch war 17 Jahre und drei Monate alt, als die russischen Soldaten mit den Namens1

1 Aufgezeichnet von Cristina Nistor, Studentin im 3. Jahrgang, Fakultät für Erziehungswissenschaft, Psychologie und Sozialarbeit, Universität „Aurel Vlaicu“ Arad

listen der Deutschen zu uns nach Hause gekommen sind. Seit einer Woche hatten wir gehört, dass Züge mit Deutschen in Güterwaggons durch den Bahnhof fuhren, aber wir dachten nicht, dass sie auch uns verschleppen würden. Am 13. Januar 1945 klopften sie abends um 22 Uhr an die Tür und haben

Rounald Wiest mir gesagt, dass ich auf der Liste bin. Meine Angehörigen haben ihnen gesagt, dass ich zu jung bin, dass ich noch nicht einmal 17 Jahre alt bin… Aber sie haben mir gesagt, ich soll meinen Koffer packen, ich soll die dicken Kleider und Essen einpacken. Und nach einer Stunde haben sie mich abgeholt, um mich irgendwohin nach Russland zu bringen. Von meiner Familie hat man nur mich genommen. Ich habe auch Bekannte gehabt, die geholt worden sind, darunter auch meinen guten Freund, bloß weil sie deutsche Namen hatten. Später habe ich erfahren, dass Stalin der wahre Schuldige war für das, was passiert ist. Bis dahin glaubten wir, dass der rumänische Staat Arbeitskräfte schuldete. Und dass man uns hinschickte, das wieder aufzubauen, was die Deutschen in der Sowjetunion kaputt gemacht haben. So wurde auch ich in einen Güterwaggon eingeladen, in Temeswar. Bis nach Jassy war ich im Zug eingeschlossen mit fremden Männern und zwei älteren Kollegen. Dort standen wir drei Tage lang und danach haben wir unseren Weg in russischen Waggons fortgesetzt, die breiter waren, weil der Gleisabstand ein anderer war. Zwei Wochen lang, bis zum 31. Januar, waren wir im gleichen Waggon eingepfercht, circa 60-70 Leute, diesmal auch Frauen. Wir haben abwechselnd geschlafen, weil die wenigen, so genannten Stockbetten mit Strohhaufen drauf, zu wenige waren für alle. Wir wurden bewacht und waren ausgehungert. Einige sind ohne einen Krümel Essen geblieben. Andere, etwas bedachter, haben immer nur ein wenig gegessen, damit es für möglichst viele Tage reicht. Die Soldaten haben uns Streifen von geräuchertem Schaffleisch gegeben, das konnte aber niemand essen. Wir haben sie im Ofen verbrannt, damit sie uns wärmen. Wir konnten noch nicht ahnen, was uns erwartet. Manchmal hat der Zug angehalten, die Türen wurden geöffnet, die Jungen und die stär-

89 keren Männer sind bei Frost und Schnee ausgestiegen, darunter auch ich, um unsere Wassergefäße zu füllen. Niemand wäre auf die Idee gekommen wegzulaufen, denn die Soldaten hatten ihre Waffen auf uns gerichtet. Am Ziel, in Saporischschja haben sie unsere Koffer hinuntergeschmissen. Wir waren alle steif vor Kälte, der Schnee lag hoch… Und wir hatten 5 km zu gehen bis ins Lager, welches eigentlich ein bombardiertes Haus war. Dort haben wir die Essensreste in der Kantine der Russen gegessen. Unser „Essen“ wurde nach dem ihren serviert: um 9 Uhr, um 12 Uhr und um 1 Uhr nachts. Später brachte man uns in ein richtiges Straflager, mit drei Zäunen aus Stacheldraht, einer 3,5m und die anderen je 2m hoch. Wir wohnten in riesigen Militärzelten, die 40m lang waren, aber nur von zwei Öfen beheizt wurden, obwohl draußen die Steine in der Kälte barsten. Wir hatten alle unsere Kleider angezogen. In meinem jungen Alter hatte ich noch keinen Beruf erlernt und musste daher im Freien und in der Kälte arbeiten. Ich musste Gruben und Kanäle für die Leitungen ausheben, die aus der Aluminiumfabrik in Saporischschja kamen, der größten Bauxitfabrik. Ich habe mich angepasst, ich hatte keine Wahl: entweder du hast dich bemüht standzuhalten oder du bist gestorben, es gab keine andere Option. Umgekommen sind auch zwei Schulfreunde, sie arbeiteten in der Kalkfabrik bzw. im Sägewerk. Nur wenn die Temperatur unter -23°/-24° fiel, was zwei bis dreimal pro Winter passierte, nur dann haben sie uns nicht nach draußen geschickt. Ansonsten, bis -22°, mussten wir leiden und aufpassen, um nicht zu erfrieren. Die Lebensbedingungen im Zelt waren schlimm. Nach der Arbeitszeit mussten wir daher Unterkünfte bauen. Nach einem Jahr war der erste Wohnblock auf dem Lagergelände fertig. Aber die Wände waren feucht. Danach bauten wir den zweiten Block für die Frauen.

90 Nachts haben wir so viel geschlafen, wie es eben ging. Um 5 Uhr wurden wir geweckt, zwischen 12 und 13 Uhr war Essenszeit. Das Essen war furchtbar und nicht nur unauskömmlich, sondern auch furchtbar wenig. Wir mussten mit wenig überleben, unabhängig davon, welche physische Arbeit jeder leistete. Mit Tee, und etwas Suppe, in welche sie aus den beiden Fässern eingelegte Gurken und Kraut hineingaben, und mit einer Ecke abgewogenen Brotes - es sollte kein Gramm zu viel sein - haben wir überlebt. Eine Situation, die mich geprägt hat, war der Friedhof neben dem Lager, welcher wegen des Hinscheidens der Deportierten angelegt werden musste, die aus verschiedenen Gründen nicht überlebt haben. Wie zum Beispiel der Nahrungsmangel, die erlittene Kälte, die geringe Widerstandskraft gegen Stress, und all diese Bedingungen. Aber auch das Fehlen der Familie. Die Menschen die starben, kamen in den Schnee. Denn, in diesem hart gefrorenen Boden konnten wir höchstens eine Handbreit tief graben! Die Leichen haben wir entkleidet, bevor wir sie begruben. Die einen von ihnen waren unsere Freunde, die anderen unsere Kollegen… Nach so viel Zeit haben wir uns schon ziemlich gut gekannt. Und wir haben ausgelost, was jeder bekommen sollte: Kleider, Schuhe, sofern die Größe gepasst hat… Um etwas Wärme zu haben, war jeder Fetzen zum Anziehen gut, nur damit wir nicht froren. Wir schichteten die Leichen aufeinander, so wie sie starben, eine Schicht Menschen, dann eine Schicht gelöschter Kalk, danach wieder Menschen und so weiter… Das war der Aufbau des Friedhofs - ein großes Loch, in welchem im Frühjahr, wenn der Schnee schmolz, es von Hunden wimmelte, die unsere Toten anfraßen.

Rounald Wiest Die Hunde haben jene Toten angefressen, die nicht ordentlich in der gefrorenen Erde begraben waren. Es war nicht leicht, all diese Dinge zu sehen, geschweige sie zu erleben… Dass man keine ganze Nacht zum Ausruhen hat, dass man nur russische Soldaten sieht, Frauen in Uniform... Nur 5 m große Käfige ohne Licht zum Überleben zu haben, im Zimmer zu sitzen, niedergeschlagen zu sein, zu versuchen zu entkommen, im Sommer fliehen zu wollen, wenn der Mais schon groß ist, damit die Wachen dich nicht sehen, die bewaffnet auf Pferden reiten... Und dass dir dies nicht gelingt und du zur Polizei kommst und 3-4 Monate eingekerkert wirst… Und dann alles von vorne, zur Arbeit, ins Lager. Das war‘s… Schuld war der Krieg zwischen den Deutschen und der UdSSR. Und die Umstände. Für das, was uns zugestoßen ist, ist Hitler schuld, wegen der Zerstörung der Fabriken. Er war der Schuldige für das, was uns passiert ist, weil die Fabriken wieder aufgebaut werden mussten. Für diese Arbeiten hat Stalin verlangt, dass wir in die Steinbrüche gehen… wo mit Dynamit oder dem sechs Kilo schweren Hammer gearbeitet wurde. Das war aber auch eine Erfahrung, bei der ich die Menschen kennen gelernt habe. Manche waren so eigennützig, dass sie nur für sich kämpften. Wenn ein Vater und sein Sohn da waren, konnte es sein, dass, wenn der Sohn starb, sich der Vater auf dessen Stück Brot stürzte, nur damit wenigstens er überlebte… Die heutigen Professoren sollten sich auf die aus dem Nationalsozialismus und dem Kommunismus zu ziehenden Lehren konzentrieren, das müsste beim Geschichtsunterricht gemacht werden.

Ianos Krcsmar

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Nicht viele mussten das durchleben, was ich erlebt habe1

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m1 Februar 1945, am Anfang des Monats, den Tag weiß ich nicht mehr genau, sind sie zu mir nach Hause gekommen. Sie haben angeklopft, ich war zu Hause. Ein Herr vom Rathaus hat gesagt: „Guten Tag, guten Tag, Herr Krcsmar, wir sind gekommen, weil Sie auf der Liste sind, in die UdSSR zum Wiederaufbau zu gehen.“ Er hat dann noch gesagt, ich soll mir dicke Kleidung mitnehmen für 2-3 Tage, für den Weg soll ich mir was zu essen mitnehmen und ich soll mich vorbereiten, sie werden dann wiederkommen, um mich abzuholen, zunächst gehen sie noch andere verständigen sich vorzubereiten. Dann sind sie gegangen. Und dann habe ich mich gefragt: „Was soll ich jetzt machen?“ Ja, was sollst du machen? Nichts. Dann haben wir ein Paket gemacht mit Essen. Die, die uns abgeholt haben, haben bestimmt nicht gewusst, wohin man uns bringen wird. Aber auch nicht die, die uns verständigt haben und auch nicht jene aus dem Zug. Die im Zug haben das Ziel wahrscheinlich auch erst erfahren, nachdem wir die Grenze überschritten hatten, erst dann glaube ich, haben sie die Benachrichtigung erhalten, wohin der Zug fährt. Und wenn die nichts wussten, dann können Sie sich vorstellen, dass wir noch weniger wussten. Alles ging sehr, sehr schnell. Meine Frau war im sechsten Monat schwanger, so dass sie der Verschleppung entkommen ist, sie blieb zu Hause. Mich hatten sie aus dem Haus der Schwiegereltern geholt, dort lebte ich zusammen mit meiner Frau. Der jüngste Bruder meiner Frau war der einzige, der davongekommen ist. Auch die Schwester meiner Frau und der mittlere Bruder wurden deportiert. Sie waren schon früher geholt worden, ich ging mit dem letzten Transport. So 1 Aufgezeichnet von Cristina Diac und FlorinRăzvan Mihai

Ianos Krcsmar (Rumänien)

hat man es mir damals gesagt, dass zuletzt die älteren Menschen deportiert werden. Das konnte ich dann auch feststellen, im Durchschnitt waren keine jungen Leute mehr dabei. Auch die Frauen in unserer Gruppe waren schon älter. Als man mich genommen hat war ich 36 Jahre alt, das heißt schon älter als die Mehrheit der Verschleppten. Vorzeigebürger Ich kann es mir nicht erklären, warum sie auch mich genommen haben, ich habe keinem etwas zuleide getan, nicht während des Krieges und auch nicht davor. Ich war von 1923-1927 beschäftigt als Schlosser in der Lokomotivfabrik. Dort hatte ich auch meine Lehre gemacht. Ich war Schlosser bis 1945. Und, nachdem ich aus der UdSSR zurückgekommen bin, habe ich auch dort gearbeitet. Ich wurde bis 1970, als ich pensioniert wurde, in verschiedenen Abteilungen eingesetzt - bei der Qualitätskontrolle und Abnahme, in der Walzabteilung, beim technischen Dienst, im Technologiebüro. Während des Krieges war ich nicht an der Front, ich war eingezogen am Arbeitsplatz, wir stellten Waffen her. Ich habe dauerhaft in der Fabrik gearbeitet, sie war militarisiert und arbeitete für die Front. Ich habe meine Arbeit dort erledigt und wurde von allen geschätzt. Dort gab es einen Hauptmann Zaharescu, der war auf unserer Seite, kannte jeden einzelnen mit vollem Namen, Johann, Rudi, er wusste, wie jeder einzelne hieß. Es ist wahr, dass wir uns nicht mit allen Offizieren so gut verstanden haben. Aber ich bin gewissenhaft meiner Arbeit nachgegangen. Ich habe mit der deutschen Partei nicht sympathisiert. 1927 habe ich mich bei den Sozialdemokraten eingeschrieben. Das war damals, als die ganze Stadt mit den Sozialdemokraten sympathisiert hat. Zwei Jahre lang

92 habe ich die Beiträge bezahlt, aber nachher nicht mehr, weil mir die Politik nicht gefallen hat und auch jene Welt nicht, so dass ich alles fallen ließ, was politisch war. Mit der Nazi-Partei hatte ich überhaupt keine Verbindung. Ich würde auch gerne wissen, warum sie mich genommen haben! Der lange Weg nach nirgendwo Als sie zu mir nach Hause gekommen sind, um mir zu sagen, dass ich mich für die Reise vorbereiten soll, habe ich gehorcht. Ich habe nicht daran gedacht, zu fliehen oder mich zu verstecken… Denn, wenn man dir an die Tür klopft und dir sagt, dass man in zwei Stunden kommen wird, dich zu holen und der Russe steht da mit der Waffe, und so wie die russischen Waffen sind… Ich war, wie soll ich sagen, erschlagen. Ich wusste, dass man die Leute nimmt für die Arbeit in der UdSSR, aber ehrlich, ich habe nicht geglaubt, dass sie auch mich nehmen werden. Somit war alles sehr plötzlich, auf einmal standen ein paar Leute vor mir und sagten mir: „He du, mach dein Gepäck, du bist auf der Liste, sieh mal, auf der vom Rathaus, um 14 Uhr kommen wir, dich abzuholen!“ Und, so wie sie es gesagt hatten, um 14 Uhr, als sie mit den Benachrichtigungen fertig waren, sind sie zurückgekommen und haben mich mitgenommen. Sie haben mich zur Schule gebracht, bei der katholischen Kirche, es war eine große Schule, dort war der Versammlungsort. Der Saal war voll. Sie haben dorthin auch Leute aus der Umgebung gebracht. Als wir dort ankamen, war die Klasse voller Leute, alle mit Gepäck, alle mit… Einige kannte ich, ich sah einen jüngeren Nachbarn, er wohnte in der gleichen Straße wie ich. Wir blieben dort einige Stunden. Zu einem bestimmten Zeitpunkt kamen eine Frau in Zivilkleidung und ein russischer Offizier, sie sagten uns ihre Namen und dass wir auf die Lastwagen aufsteigen sollten. Wir sind dann eingestiegen, drunter und drüber, Leute,

Ianos Krcsmar Gepäck, ohne jegliche Ordnung, wie es eben kam. Man hat uns zum Bahnhof gebracht und uns in Waggons verladen, je 30-40 Leute. Wir waren wie in einem Schuhkarton. Man hat uns dort hinein gesteckt, dann haben sie die Türen verschlossen, und das war‘s dann. Ohne Abschied von niemandem. Die Lokomotive hat gepfiffen und dann ist der Zug losgefahren. Kein Abschied, kein nichts. Das war‘s. Ich erinnere mich, dass meine Frau kam und mir einen Topf mit Essen für die Reise brachte und ich weiß nicht was noch. Gut. Und dann sind wir losgefahren. Und jetzt sag ich Euch, wie es war, wenn man irgendwohin fährt mit Frauen, mit Alten, mit Mädchen, die noch nicht verheiratet sind usw. Für sie war es erniedrigend. Es gab keine Toilette und man hatte nichts, um ein Loch in den dicken Boden des Waggons zu machen. Und das war dann das größte Problem. Glücklicherweise hat dann doch einer eine eigene Axt gehabt. Wir konnten ein Loch in den Boden machen, dann haben wir eine Decke und Kleider hingehängt. In unserem Waggon waren mehr Frauen, aber es waren auch Männer. Und sie mussten alle auf die Toilette. Wir waren so viele, dass du nicht ein bisschen Platz hattest, wie du dich auch gewunden hast, du bist immer an einen anderen angestoßen. Der Waggon war mit zwei Pritschen versehen, eine unten und eine darüber. Mehrmals habe ich jene Frau, die unsere Leiterin war, unsere Chefin, gefragt, wohin wir fahren. „Neznaiu“ hat sie immer wieder gesagt. Dass sie es nicht weiß. Ich glaube, sie hat es wirklich nicht gewusst. Vielleicht durfte sie es auch nicht sagen, aber ich blieb mit der Vermutung, dass sie es nicht wusste. Gewiss war, dass wir nicht wussten, wohin man uns brachte. Wir sind durch Jassy gefahren, durch den Bahnhof, aber wir wussten nicht, welcher Bahnhof es war. Bis dorthin war der Zug nicht einmal stehen geblieben. Die Zugchefin ist gekommen und wir haben gefragt, wohin wir fahren, aber wir haben

Ianos Krcsmar die gleiche Antwort bekommen. Der Zug fuhr an Jassy vorbei, wir haben die Grenze überquert und sind auf russisches Territorium gekommen. Der Zug ist die ganze Nacht durchgefahren, bis zum Morgen. Der Waggon war verschlossen. Ein kleiner Raum wie eine Hundehütte, aber mit Gittern. Und man konnte nicht hinausschauen. Als es Tag wurde, waren wir schon in Odessa. Es wurde Tag und wir haben wieder gefragt, wohin man uns bringt. Dann kam der Soldat zu uns und sagte uns, wir sollten besonnen bleiben, und nicht fliehen, weil sie uns einfangen würden und wir danach mehr arbeiten müssten. Nichts. Und wir fuhren weiter, immer weiter. „Wohin bringt Ihr uns?“ „Neznaiu.“ Immer die gleiche Antwort. Ich weiß es nicht. Dann haben wir gemerkt, dass es Winter ist und wir haben einige Pyramiden gesehen. Dann wussten wir, dass wir im Donezbecken sind, in der Region, in der Kohle abgebaut wird. Und bis zum Abend fuhren wir weiter, immer weiter. Und dieser Ort hatte gar keinen Namen. Zwanzig Tage hat die Fahrt gedauert. Gerettet durch die gute körperliche Verfassung Das war ein Ort, wie soll ich es sagen, nur Kohlebergwerke waren dort, wissen Sie. Meh­rere Bergwerke, nicht nur unseres. Aber unseres war das größte. Vom Bahnhof bis ins Lager war 1 km zu gehen, und es war Winter. Das haben wir nicht gewusst. Wir sind ins Lager gegangen und dort wurden wir eingeteilt. Ich bin registriert worden mit der Nummer 397. Wir waren insgesamt 400 Personen, das Lager war voll. Ich bin eingeteilt worden mit zwei Männern aus Bokschan, drei aus Reschitza und noch einem aus unserer Gegend, mit dem ich früher Schulkollege war. Zu siebt waren wir auf dem Zimmer und keiner von uns musste Kohle fördern, wir alle waren Handwerker im Bergwerk. Ich war Schlosser, ein anderer war

93 Elektriker. Meine Arbeit war die Schlosserei, deshalb musste ich hin. Der Elektriker ebenso. Wenn etwas an der Elektrik zu reparieren war, musste er hingehen. Aber er durfte nicht allein hin, ich auch nicht. Er war vorher noch nie in einem Bergwerk, ich auch nicht. Und das war etwas Neues und wir kannten die Gefahren nicht, die dort lauerten. Wir waren dort untergebracht. Wir haben Kleider bekommen, Essen… Ich wurde für meine Arbeit nicht bezahlt, ich habe nichts bekommen, keinen Groschen habe ich gehabt. Die Wahrheit aber ist, dass du auch mit dem Geld dort nichts hättest anfangen können. Eine Straßenbahn gab es nicht, für die du eine Fahrkarte hättest kaufen können, Läden gab es nicht, nur einen, eine Art Kiosk, mit allem Möglichen drin. Wir haben einen Schlafplatz bekommen, wir haben zu essen bekommen, wir wurden von Kopf bis Fuß von ihnen eingekleidet, wir haben alles bekommen, nur arbeiten mussten wir und durften das Lager nicht verlassen. Und selbst wenn wir hinaus hätten dürfen, es hätte nichts gebracht. Vom Bahnhof bis zum Lager war es circa 1 km, aber auf dem Weg, glaube ich nicht mehr als 5-6 Häuser gesehen zu haben... Wir waren in der Einöde. Also, was sollte ich mit dem Geld anfangen? Zu essen hat man uns dort gegeben, im Lager. Morgens einen Tee und ein Stück Brot, so ein Stück, das war morgens. Und, wenn wir von der Arbeit ins Lager zurückgekommen sind, haben wir Kraut bekommen, Kraut am Mittag, Kraut am Abend, Kraut am Montag, Kraut am Dienstag und so weiter bis zum Sonntag. Alles wurde mit Kraut zubereitet. Und ich habe 14 Monate lang, so lange ich dort war, nur nachmittags gearbeitet, ohne freien Sonntag, ohne nichts. Von der Arbeit konntest du nur fehlen, wenn du hohes Fieber hattest, ansonsten musstest du arbeiten. Es gab keine Ärztin, es gab keine Medikamente, es gab nichts. Ein Kollege hatte einen Unfall - er hat auf ein Brett mit vielen

94 Nägeln getreten. Das Brett war im Bergwerk mit den Nägeln nach oben umgefallen, Steffan hat das nicht gesehen und hat darauf getreten, die Nägel haben seinen Fuß durchbohrt... Die Arbeitskollegen haben ihn aufgehoben, an die Oberfläche gebracht und dann ins Lager. Aber dort, was sollte man mit ihm anfangen? Mit was verbinden, mit was behandeln, wenn es nichts gab, kein einziges Medikament? Sie hatten lediglich einen Raum mit einem Bett, eine Art Krankenstation, und dort ist er geblieben… Ich bin niemals krank geworden dank meiner guten körperlichen Verfassung. Ich hatte früher viel Sport getrieben, war viel gewandert, ich kenne die Hügel um Reschitza herum wie meine Hosentasche, und auch die Berge, ich bin zu Fuß bis nach Sinaia gewandert. Auch Mannschaftssport habe ich gemacht. Dadurch war ich widerstandsfähig. Die Russen, bei häuslichen Arbeiten ungeschickt Den Russen ging es auch nicht besser. Von ihren Häusern waren nur die Schule und das Rathaus in einem besseren Zustand, mehr nicht, denke ich. Alle anderen… waren klein, und schienen neu erbaut. Im Keller hielten sie die Kuh, dann hatten sie einen Raum, in dem auch gekocht wurde, und im gleichen Raum haben sie auch geschlafen, sie hatten nur einen Raum. Mit der Zeit hatte ich auch die Gelegenheit, zu ihnen nach Hause zu gehen. Anfangs konnten wir kein Russisch. Aber ich konnte Slowakisch, das war mir sehr nützlich. So war es leicht für mich, etwas Russisch zu lernen, so dass ich mich mit ihnen verständigen konnte. Sie haben uns gerufen, weil ihre Männer keine Arbeiten im Haus zu verrichten wussten. Wenn etwas zu reparieren war, haben sie uns gerufen. Wenn sich die Tür nicht öffnen ließ, oder nicht schließen ließ, dann haben sie uns gerufen. Die hatten keinen, der das machen konnte. Wir waren überwiegend Handwerker. So ha-

Ianos Krcsmar ben sie uns zu sich nach Hause geholt und wir haben repariert, was kaputt war. Und sie haben gleichermaßen wie wir gelebt. Und auch sie haben dort bekommen, was sie zum Essen brauchten. So lange ich dort war, habe ich nicht ein einziges Mal nach Hause geschrieben und habe auch keinen Brief von meinen Angehörigen bekommen. Von der Abreise bis zur Heimkehr habe ich über nichts Bescheid gewusst. Ich habe die Tür hinter mir zugemacht und das war‘s. Bis ich zurückgekommen bin, habe ich nichts gewusst,gar nichts. Ich nichts von ihnen, sie nichts von mir. Auch die anderen im Lager haben meines Wissens keine Briefe bekommen. Der rasende LKW Die Heimkehr aus dem Lager ist eine andere Geschichte, eine separate. Es war ein Tag wie jeder andere im März 1946. Wir sind nicht bis 1949 geblieben, weil es für die russischen Soldaten, die aus der Gefangenschaft heimgekommen sind, keine Unterkünfte gab. Unser Lager gehörte nicht der Armee, sondern dem Kohleunternehmen. Uns hat man hinausgeworfen, um die Exgefangenen aufzunehmen. Sie wollten uns nach Deutschland bringen, dort wollte man uns aber nicht aufnehmen. Ich arbeitete im Bergwerk, als ein Junge kam. Nach 14 Monaten habe ich dort viele Leute gekannt. Manche waren mit ihren Kindern gekommen, 14-15 Jahre alt. Ein Arbeitskollege hatte einen 14 Jahre alten Sohn, der schwächlich war und nicht arbeiten konnte, meistens arbeitete der Vater für ihn. Und an jenem Nachmittag kam der Sohn des Kollegen und rief: „Krcsmar-Onkel, Krcsmar-Onkel, komm schnell ins Lager, der Kommandant hat mich geschickt“... Ich dachte, er macht Spaß und habe ihm gesagt, dass ich nicht weg gehen kann. Der Junge hat angefangen zu weinen, wenn ich nicht ins Lager käme, würde er Probleme bekommen, er sagte mir, ich soll sofort kommen.

Ianos Krcsmar Ich bin ihm hinterher gelaufen, mein Kollege, der Vater des Jungen, hatte mir gesagt, ich möge gehen um zu sehen, was los ist. Ich komme hoch aus 50m Tiefe unter der Erde. Und auf einmal kommt der Offizier, unser Kommandant, und sagt: „Sieh mal, der Laster steht bereit mit allen anderen und du fehlst...“ Aber ich wusste gar nichts.“ Lauf ins Bad, dort liegt ein Haufen Kleider, zieh dich an, geh zum Lager und hol, was du zu holen hast, aber bleib nicht lange. Der Laster wartet. Ich glaube ich habe mich in 10 Minuten gewaschen, bin ins Lager gegangen und dann hinaus. Der Offizier hat mich gerügt, warum ich mich nicht beeilt hätte. Ich bin hinten am Laster angekommen, als dieser bereits losfuhr. Ich kam aus dem Bergwerk Nummer 9, wir fuhren die ganze Nacht, bis wir in eine Stadt kamen. Als wir dort ankamen, sagte man uns, es sei ein Fehler passiert, es gäbe keine Züge mehr nach Deutschland. Wir sind zurückgefahren nach Odessa. Wir blieben eine Nacht im Bahnhof. Bevor wir nach Rumänien weiterfuhren, blieben wir 8-9 Tage in einer Ferienstation, man gab uns zu essen, wir konnten spazieren, dort in Odessa. Dann kam der Befehl zum Aufbruch. Wir überquerten den Dnjestr und kamen so in unser Rumänien. Das Rote Kreuz brachte uns nach Jassy. Jeder hat ein Schreiben bekommen, ein Stück Papier, zum Ausweisen… ein Personalausweis. In Jassy hat uns das Rote Kreuz in einen Zug geladen, in einen Waggon. Wir hatten kein Geld und keine Fahrkarte. Wir waren acht oder zehn Personen, die nach Reschitza fuhren. In Odessa waren Schweizer, Italiener, Ungarn, die nun in Richtung ihrer Länder fuhren. Das zweigeteilte Schicksal Letztendlich sind wir zu Hause angekommen. Ich bin zu meinem Haus gegangen, eigentlich das meiner Schwiegereltern, von wo man mich geholt hatte, um mein Kind zu se-

95 hen, das zwischenzeitlich auf die Welt gekommen war. Angekommen, fragte mich meine Frau, warum ich nicht zu meinen Eltern gegangen sei. Sie hatte einen anderen, einen Rechtsanwalt, mit dem sie schon die ganze Zeit zusammenlebte. Das war‘s dann. Ich habe noch eine Zeitlang mit ihr unter einem Dach gelebt. Ich konnte nicht weggehen, bevor die Sache mit dem Kind nicht geklärt war. Das musste rechtlich geklärt werden. Das habe ich bis 1951 ertragen, dann bin ich gegangen. Letztendlich mussten wir uns scheiden lassen, 1951 gab es den Gerichtstermin. Dann hat sie den Anwalt geheiratet, später ist er gestorben. Sie hat dann einen anderen geheiratet, mit dem sie bis heute in Deutschland lebt. Ihr Mann war beim Gericht angestellt, er konnte mit den Akten machen, was er wollte. Gerichtlich wurde entschieden, dass ich Unterhalt für das Kind zahlen muss. Das Kind wurde mir in Obhut gegeben und gemäß Gerichtsurteil sollte es selbst sagen, zu wem es wollte, sobald es zehn Jahre alt war. Nach zehn Jahren bin ich wieder vor Gericht gegangen, das Kind wurde ihr zugesprochen. Sie hat ihn in Bukarest zur Schule geschickt. Er ist Professor, heute Rentner, während sie mit dem dritten Mann in Deutschland lebt. Sie ist Jahrgang 1924. Das war es... Nicht jeder muss das erleben, was ich erlebt habe. Mein Sohn kommt nicht zu mir, seit einem Jahr war er nicht mehr hier… Er lebt in Vulcan, wohnt in einem Apartment im zehnten Stock. Mein Sohn hat zwei Kinder, die Tochter ist Lehrerin und ist deutsche Staatsbürgerin. Vom Jungen weiß ich nicht, wo er lebt, seit circa 20 Jahren habe ich ihn nicht mehr gesehen, und die Tochter auch circa so lange nicht mehr. Beide hatten mich einmal besucht. Das war mein Schicksal, durch das ich gegangen bin.

Ecaterina Coman, geb. Klein

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Was habe ich in Rumänien Böses getan, dass man mich aus meinem Land vertreiben musste?1

Ecaterina Coman, geb. Klein (Rumänien)

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ach dem Waffenstillstand, nach dem 23. August, wurde eine Art Zählung der deutschen Bevölkerung vorgenommen. Im Dezember 1944 erhielt ich eine Mitteilung, dass ich mich, falls man mich ruft, bei der Miliz präsentieren soll. Mein Vater war am Bahnhof und sah einen Zug voller Menschen. Und aus einem Fenster sahen drei schöne Mädchen, die nicht wussten, wo sie waren und wohin sie fuhren. Vater schlussfolgerte, dass sie aus Serbien kamen. Etwa am 10.-12. Januar 1945 hörten wir, dass im Bahnhof Viehwaggons bereitgestellt sind, um welche zu deportieren, doch man wusste nicht wen. Und dann kam die Sowjetarmee mit je einem Rumänen oder zwei Rumänen und ein Russe. Wo wir wohnten, in Herendesti, gab es eine einzige deutsche Familie, eigentlich zwei, meinen Vater und meinen Bruder. Mein Bruder wohnt auch jetzt noch dort und kürzlich erfuhr ich, dass es 102 Jahre sind, seit Großmutter und Großvater dorthin kamen. Sie haben in Pietroasa (Wetschehausen) geheiratet, einem deutschen Dorf, und blieben immer in Herendesti. Großvater war Tischler, und jemand sagte ihm: „Komm in unser Dorf, denn bei uns sind keine Handwerker.“ Er kam, kaufte ein Haus von einem Alten, der einen Dorfladen besaß. Sie hatten zwei Söhne, Vater und meinen Onkel. Sie heirateten in Pietroasa, einem deutschen Dorf, nahmen sich Frauen von dort und wohnten immer in Herendesti. Großvater war aus Busiasch, 30 km entfernt. Nicht so weit. Mein Vater hatte zwei Kinder, mein Onkel drei. Ich bin in die rumänische Schule gegangen. An großen Feier­ tagen ging‘s nach Pietroasa in die Kirche, 1

1 Aufgezeichnet von Cristina Diac

weil dort katholischer Gottesdienst abgehalten wurde, wir waren katholisch. Wir hatten Pferde, Wagen, Knecht und stiegen alle aus dem Haus auf den Wagen und fuhren los. Bei rumänischen Familien versteckt Zurück zum Januar 1945... Onkel war an der Front, seine Frau war mit drei Kindern zuhause. Sie, meine Tante, nahmen sie nicht, altersbedingt, ebenso meine Mutter. Meinen Vater hatten sie schon genommen. Ich habe mich versteckt, mal in dem einen, mal in dem andern Haus. Ich wollte mich nicht stellen und beschloss, mich zu verstecken. Mein Bruder war sechs Jahre an der Front. Dann nahmen sie meine Großmutter, meine Mutter, eine Magd und meine Tante. Vier Personen bestellten sie ins Gemeindehaus und sagten ihnen, dass sie, falls ich nicht erscheine, meine Tante nehmen, die jünger war als meine Mutter. Dann beschloss meine Großmutter, angesichts der drei Kinder meiner Tante, dass es am besten wäre, wenn ich mich stellen würde, aber vorher wollte man noch versuchen, mich zu retten. Die Familie wusste natürlich, wo ich war, weil sie mir Essen schickte. Die dort sagten, es reicht, dass sie mich dulden, sie werden mich doch nicht auch noch verköstigen. Ich versteckte mich bei rumänischen Familien, auf dem Dachboden, im Heu. Nach der Heirat mit einem Rumänen könn­ te ich der Deportation entkommen. Meine Mutter kannte einen Anwärter im Dorf den ich formal heiraten, und von dem ich mich nachher wieder scheiden lassen könnte. Selbstverständlich gegen Entgeld. Doch ich hatte Angst, dass der Mann mir zu nahe treten würde, ich wollte mich nicht darauf einlassen.

Ecaterina Coman, geb. Klein Die Absage an ein rettendes Angebot Als sie mich nahmen, war ich 18 und vier Monate. Sieben Klassen hatte ich in Herendesti gemacht. Danach ging ich zu meiner Tante nach Temeswar, die eine Schneiderwerkstatt hatte, erlernte die Schneiderei, besuchte die Fachschule, die drei Jahre dauerte. Anfangs war ich bei den Nonnen in der Schule. Mir gefiel auch jenes Leben, ich wollte Nonne werden. Als ich nachhause kam und meinem Vater sagte, was ich tun will, war er nicht einverstanden. Und dann erlernte ich das Schneiderhandwerk. Ich konnte sehr schön zeichnen und meine Tante setzte mir in den Kopf, Modezeichnerin zu werden, wie es damals hieß, heute heißt es Designer. Das hätte mir gefallen. Aber ich fuhr nach Russland. Mich brachten sie nach Pietroasa in die Schule, wo auch andere Flüchtlinge waren, die gehört hatten, dass man uns deportiert, und sich versteckt hielten. Mich riefen sie nachts in einen Saal, es war ein rumänischer Soldat und ein russischer Offizier. Sie fragten mich, wo ich versteckt war, und sagten mir, falls ich erkläre, mit noch zehn Personen gewesen zu sein, dann werde ich freigesprochen. „Ich kann Ihnen das nicht sagen,“ antwortete ich, „weil ich die Einzige aus Herendesti war, mein Vater wurde vor drei Tagen genommen, ich war allein, ich kann Ihnen das nicht sagen.“ Dann fluchte er russisch, fuchtelte mit der Pistole herum, rotierte sie und auf einmal fragte er: „Was würdest du sagen, wenn ich dich erschießen würde?“ „Ich würde nichts sagen, denn - wie auch immer - erwartet uns alle der Tod. Wenigstens bleibe ich hier beerdigt.“ So mutig war ich, auch sie wunderten sich, dass ich so furchtlos gesprochen habe. Ein Unteroffizier, Zamfir, an den anderen Namen erinnere ich mich nicht mehr, kam zu mir und fragte mich: „Möchtest du mich nicht heiraten, damit ich dich rette?“ Und dann sagte ich ihm, dass ich ein Leben lang sagte, dass

97 man aus Liebe heiraten muss. Nicht dass ich heirate, um davonzukommen und er mir ein Leben lang vorwirft, mich gerettet zu haben. Ich wollte nicht. Ich habe meine Weigerung von damals nicht bereut, auch wenn es in Russland sehr schwer war. Ich habe nicht so gedacht, weil die Personen mir nicht sympathisch waren... dass ich etwa eine Schwäche hatte... Den Offizier habe ich wenigstens zehn Minuten gekannt, nachdem ich aus diesem Saal herauskam, kam er mir nach, hinter dem mit der Pistole. Heimgekehrt hatte ich trotzdem einen Rumänen geheiratet, mein Mann war aus der Umgebung von Bukarest. Öfter sagte ich ihm: „Warum kamst du nicht damals, wenn du mein Schicksal warst, hätten wir uns damals treffen müssen, vor der Deportation...“ Erinnerungssplitter, die dich ein Leben lang verfolgen Von dort ging ich heim, Mutter war mit mir. Sie packte mir Kleidung ein. Scheinbar ahnte ich doch etwas. Vor 60 Jahren trugen die Mäd­chen keine Hosen, doch da mein Bruder an der Front war, hatten wir seine Hosen und ich sagte mir, nimm sie mit, wer weiß, wie kalt es dort sein wird. Ich nahm Hosen, ein Polster und ging zur Normalschule in Pietroasa. Der Saal war voll. In derselben Nacht brachten sie uns mit Lastern zum Bahnhof, die vorgesehenen Waggons standen auf den Rangiergleisen. Wir blieben fast eine Woche im Zug, bis sie noch andere Flüchtlinge wie mich einsammelten. Die ganze Zeit über kam Mutter nach Lugosch, wohnte bei ihrer Schwester. Sie kochte den ganzen Tag und brachte mir warmes Essen zum Bahnhof. Dies ist der schwerste Moment, eine Erinnerung, die mich dann das ganze Leben verfolgte. Eines Tages sagte ich ihr: „Mutter, bring mir gefülltes Kraut (Krautwickel).“ Sie machte sie, kam am nächsten Tag mit dem Krauttopf zum Bahnhof. Doch der Zug war nicht mehr

98 da, wir waren nachts abgefahren. Sie erzählte mir später, dass sie zu weinen, zu schreien begann... Aber es war vergebens. Wir waren in der Nacht losgefahren. Zum Bahnhof kam nicht nur meine Mutter, es kamen auch andere Eltern aus Lugosch. Solange wir im Zug warteten, gab uns niemand zu essen, sodass uns unsere Familien es brachten. Meine Mutter backte sechs große Brote, dass wir unterwegs zu essen haben. Mal fuhren wir, mal standen wir... Mein Vater hatte keinerlei Politik gemacht, sie waren Handwerker, diese Sachen haben sie nie interessiert. In meiner Familie hat niemand irgendwelche Politik gemacht. Übrigens erwarteten die Russen keine Frauen und Mädchen aus Rumänien. Nach dem Waffenstillstand sagten sie, dass so viele Personen zum Wiederaufbau der UdSSR gebracht werden sollen. Und da soll Ana Pauker gesagt haben – wir haben es so gehört – dass in Russland auch die Frauen und Mädchen arbeiten und man könnte auch Frauen zum Wiederaufbau geben. Und so kam es, dass mehr Frauen gegeben wurden, weil die Mehrheit der Männer noch an der Front war. Wenn mein Bruder zuhause gewesen wäre, hätten sie ihn auch genommen. Aber weil er an der Front war, ist er davongekommen. Die russischen Kinder und die verschimmelten Brotkrumen Der Weg dauerte einen Monat. Mal fuhren wir, mal standen wir. Wir waren zu jung, um uns Rechenschaft zu geben, jedoch das Brot begann zu schimmeln, weil wir zu viel hatten. Nicht nur ich hatte, sondern alle dort hatten, wir hatten jeder fast einen Sack Brot. Mit der Zeit verdarb es. Dann schnitten wir Stücke ab und warfen sie aus dem Waggon runter. Wir aßen nicht mehr davon, denn, wer waren wir damals, wir aßen nicht mehr davon, denn wir hatten...Und wir sahen, dass alte Leute und Kinder kamen, um diese Stücke einzusammeln und zu essen. Aber, was wussten wir

Ecaterina Coman, geb. Klein damals, wir waren jung, wussten nicht, was das zu bedeuten hatte. Die älteren Männer unter uns sagten: „Kinder, hier wird blanke Armut sein, wenn die zu uns kommen um einzusammeln, was wir wegwerfen, um es zu essen, wisset, dass hier große Hungersnot sein wird.“ Und wirklich, je weiter wir nach Russland kamen, sahen wir keine Getreidespeicher mehr, nur laubbedeckte Maishaufen, draußen unterm Schnee, sie waren nicht irgendwo gelagert. So wussten sie zu wirtschaften. Im Waggon war oben eine Reihe Bretter und eine unten. Nur unten gab es Stroh, oben nicht. Und wir, die wir so lange drin waren. Wir hatten trotzdem Glück, mein Vater ging ganz ohne etwas. Ich hatte Einbrenn, trocke­ ne Bohnen, Medikamente, Schreibpapier, mehrere Sachen, weil Mutter Zeit zur Vorbereitung hatte, jedoch bei Vater hatte sie keine Zeit, weil er zu schnell weg musste. Wir waren aus mehreren Dörfern. Der Waggon war offen, hier saßen wir Frauen. Mal weinten wir, mal beteten wir, den Rosenkranz und... Die Männer erzählten uns, sie waren nicht im Krieg, die Mehrheit der deportierten Männer waren Handwerker, die mehr zuhause waren. Wir lasen das Gebetbuch und den Rosenkranz, sangen manchmal Kirchenlieder, scherzten auch, wir wussten nicht, wohin sie uns bringen. Sie brachten uns bis Jassy (Iasi) und von dort in russische Waggons, für 20 cm breitere Linien als unsere. Und bis wir am Ziel waren, hatten wir Läuse. Ich fand acht Läuse auf mir. Wir konnten uns nicht waschen, aber ich glaube nicht, dass es deshalb war. Wer weiß, was schon in jenen Waggons war, wer weiß, was sie vor uns damit transportiert hatten? Wie die Heringe in der Dose Als wir dort ankamen, wie die Bahnlinie höher war, sahen wir etwas Helles, etwa 500 m entfernt... Wir waren im Donbas... Wir sagten uns, dass hier eine Fabrik sein muss, wenn es so beleuchtet ist. Als wir uns näherten, sahen

Ecaterina Coman, geb. Klein wir, dass es ein Drahtzaun war, mit drei Reihen Draht, elektrisch beleuchtet, damit wir nicht türmen. Nachdem wir ausstiegen, kamen wir bis zum Nabel in den Schnee. Wir fielen auf die Knie... Ich glaube, dass wir 500 oder 600m in zwei Stunden schafften. Wir zogen das Gepäck hinter uns her, bis zur Mitte im Schnee. Nachdem wir im Lager angekommen waren, haben sie uns auf Zimmer verteilt. Das Lager hieß Volodarka, Lager 1220. Nach einiger Zeit zogen wir 9 km weiter, das neue Lager hieß jedoch auch 1220, weil es mit dem alten zusammengelegt wurde. Voroschilovgrad war die nächste Stadt. Ich weiß es, denn später erlaubten sie jeweils vier Personen, mit dem Laster in die Stadt zu fahren. Zuerst verteilten sie uns je 30 Personen. Dort waren die Pritschen gemacht, aber ich glaube, dass sie erst in den letzten Tagen erfahren hatten, dass wir kommen, denn die Bretter waren vereist. Es gab kein Feuer, es war nichts dort. Wir legten unsere Decken und die Polster ab und was wir sonst noch von zuhause mitgebracht hatten. Oben waren 30 Mädchen wie die Heringe in der Dose, wenn sich eine umdrehte, mussten wir uns alle umdrehen, damit Platz war, anders konntest du dich nicht umdrehen. Am zweiten Tag, wie hoch der Schnee im Lagerhof auch lag, mussten wir raus, damit sie uns zählten. Sie hatten kein Papier um zu notieren, dann schrieben sie unsere Namen zwischen die Zeilen älterer, schon beschriebener Papiere. Nachdem sie aufgeschrieben waren, wurden sie gelesen. Dann war die Katastrophe. Mein Name, Klein, war einfacher zu lesen, es gab aber auch kompliziertere Namen, die sie schrecklich radebrechten. Sie riefen, aber wir wussten nicht, auf wen es sich bezog. Vier Tage dauerte es, bis sie uns alle, die wir dort waren, gezählt hatten, um uns aufzuteilen. Wir waren 1.026 Personen im Lager. Am zweiten Tag begannen wir nachhause zu schreiben. Wir hatten Papier von daheim.

99 Sie sammelten die Briefe ein und steckten sie in einen Sack. Dann durchsuchten sie alles und nahmen uns das ganze weiße Papier, sie nahmen es, um selbst zu schreiben. Dann führten sie uns zur Kohlengrube, damit wir sie sehen. Sie erklärten uns, ein alter Jude war Übersetzer. Nach vier-fünf Monaten brauchten wir keinen Dolmetscher mehr, wir waren alle jung und erlernten schnell die Sprache. Bald geschahen auch Unfälle, die Organisation war eben nicht perfekt. Nach etwa sechs Tagen fiel eine Kipplore um und tötete einen Jungen. Das war etwas Furchtbares... Tränen wie die Eiszapfen am Haus Sie haben uns in Equipen (Arbeitsgruppen) aufgeteilt. Die stärkeren Männer und die Jungs, die einen Beruf hatten, gingen runter in die Mine. Der Rest - oben im Bau, Hölzer schleppen. Einige Mädchen kamen in die Küche, um zwei Russinnen dort zu helfen. Es wurde ununterbrochen gearbeitet, erst nach einiger Zeit gaben sie einen freien Tag in der Woche, jedoch nicht sonntags. Bei dem einen war es Freitag, bei dem andern Donnerstag. Ich arbeitete beim Entladen der Kipploren. Ich habe nicht in der Grube gearbeitet, sondern draußen. Es war da ein großer Kohlehügel. Je zwei Mädchen arbeiteten wir an einer Kipplore. Wir mussten die Kohle, die von Untertag kam, aus den Kipploren schaufeln. Manchmal wankten diese, sprangen fast aus den Schienen. Was die Russen dann imstande waren... Sie schrien uns an, verfluchten uns schlimm... Wir mussten schieben, sie wieder auf die Schienen setzen. Allein die Ladung wog eine Tonne. Sie gaben uns Pufoaikas. Mit der Kleidung von zuhause konnte man nicht arbeiten, es war dort sehr kalt. Unsere Tränen sahen aus wie die Eiszapfen am Haus. Ich war so schwere physische Arbeit nicht gewohnt. Ich erkrankte an Otitis, neun Monate konnte ich überhaupt nichts hören.

100 Die Ohrenkrankheit blieb mir bis heute erhalten. Ich habe überhaupt keine Medikamente bekommen. Wenn du 40° Fieber hattest, musstest du nicht zur Arbeit, mit 39° musstest du jedoch. Hungrig, krank und müde, es war etwas zu viel für uns... Die Krankheiten der Deportation Hungrig waren wir immer. Zu essen gaben sie uns Krautsuppe /Kohlsuppe. In der Küche gab es vier große Kessel in der Wand. In zwei gab man vier-fünf Eimer geschnittene grüne Tomaten, bis zur Hälfte Wasser. Die kochte man, warf einen halben Eimer Gerstengraupen dazu, einen Liter Öl und das war unser Essen. Erster Gang. Hundert Gramm gekochte Gerstengraupen oder Hirse waren der zweite Gang. Im Sommer kamen aus Amerika Hilfspakete, Blutkonserven wie eine Art Blutwurst. Viele wurden davon krank. Entweder haben wir sie mit Ekel gegessen oder sie waren schon zu alt, ich weiß nur, dass viele damals erkrankten. Auch ich. Ich bekam die Gelbsucht, von einem Zwischenfall, der mir Ekel verursachte. Morgens kam das Brot oder das Russen-Mädchen ging um Brot und bis Mittag verteilte sie es. Du batest dann jemanden „Nimm auch mein Brot“, weil wir manchmal auch nachmittags arbeiteten, wir hatten Schichtarbeit, auch nachts. Einmal nahm eine Kollegin auch mein Brot, ich musste es nur bei ihr im Zimmer abholen. Und in diesem Raum war ein Mädchen gestorben, sie war nur noch ein Skelett, sie zogen sie mit dem an, was sie noch im Koffer hatte. Ich nahm das Brot und ging in mein Zimmer. Während ich davon aß, konnte ich nur denken: „O weh, dieses Brot war gerade in jenem Zimmer, wo das tote Mädchen war, und ich esse es.“ Mir wurde übel. Nach einigen Tagen sagten die Kolleginnen: „Ach, wie gelb du bist...“ Müde war ich sowieso immer, müde und hungrig war normal. Einen Spiegel um nachzusehen hatten wir nicht. Ich

Ecaterina Coman, geb. Klein schenkte dem keine Beachtung. Als ich mich sehr schlecht fühlte, ging ich zur Ärztin und sagte es ihr. Sie sagte, dass sie uns keine Medikamente geben kann, Schonkost war auch kein Problem. Meine Leber ist auch jetzt vergrößert. Selbst unter diesen Bedingungen hat sie mich nicht der Arbeit enthoben, ich ging. Es war ansteckend, auch andere konnten erkranken, was dort bedeutungslos war. Ich entlud Kohle mit Hepatitis. Ich war noch mit einem Mädchen und wollte nicht aufgeben, gequält arbeitete ich weiter, damit das andere Mädchen nicht sagt, dass sie auch für mich arbeiten muss. Als es mir besser ging, habe ich weiter mit ihr gearbeitet. Sie konnte mir nicht helfen, denn es war Arbeit für zwei Personen, sie konnte nicht für zwei arbeiten. Was sie noch mit uns machten! Was sie uns in den Tee, ins Essen gaben, kann ich Ihnen nicht sagen, aber wir hatten dort keine Monatsblutung, fünf Jahre, so lang wir dort waren. Etwas gaben sie in den Tee oder ins Essen. Allen Mädchen erging es so, nicht nur mir. Auch heute weiß ich noch nicht, was sie gemacht haben. Am freien Tag Arbeit im Lagergarten Das Arbeitsprogramm war von 6-14 Uhr, von 14 bis 22 Uhr und von 22-6 Uhr morgens, Schichten je 8 Stunden. Nach der Schicht kamen wir schwarz, dreckig nach Hause, wieder etwas, was man nicht ausdrücken kann. Niemand hatte sich eine etwas größere Schüssel oder Waschschüssel mitgenommen, wir hatten kleinere Schüssel, so viel. Und im ersten Winter füllten wir diese kleine Schüssel mit Schnee, da wir nicht einmal Wasser im Lager hatten, wuschen uns mit einem Liter Wasser, obwohl wir wie Rauchfangskehrer aussahen, wenn wir nach der Arbeit heimkehrten. Mit so viel musstest du dich waschen, wie viel da war, es musste reichen. Im Frühjahr teilten sie uns in Mannschaften ein und jeder musste einige Meter graben,

Ecaterina Coman, geb. Klein damit sie Wasser ins Lager brachten. Dann war es etwas besser, sie richteten eine Art Bad mit zwei Kesseln ein, damit wir warmes Wasser hatten. Danach machten uns die Meister, die in Holz arbeiten konnten, je einen kleinen Trog oder Ähnliches. Wenn wir ankamen, durften wir nicht mehr Waschwasser verlangen. Nachdem wir uns wuschen, waren wir theoretisch frei. Jedoch im Frühjahr erhielten die Offiziere ein Stück Land um das Lager. Und dann gaben sie uns am freien Tag ein Stück Blech, mit dem wir die Erde umwühlten. Wie oft sagte ich mir, wenn diese Erde bei uns im Banat wäre... Es war ein sehr guter Boden, schwarz, fruchtbar. Wir wühlten mit dem Blech statt mit einer Hacke. Die Russinnen, denen die Gärten gehörten, pflanzten Kartoffeln. Wir halfen beim Kartoffelsetzen. Im September gab es eine sehr gute Ernte, dass wir, die wir wussten, was es heißt, den Boden zu bearbeiten, uns darüber wunderten, was wir sahen. Somit war der freie Tag doch nicht frei, es war unser Sonntag und sie schickten uns in den Garten. Oder an die Dreschmaschine. Sie hatten keine Säcke; was die Maschine auswarf, kam in eine Kiste, die zwei Mädchen nahmen und 50m weiter ausleer­ ten. Sie hatten sehr guten Boden, konnten aber nicht wirtschaften. Jetzt verstehe ich, die Menschen waren enttäuscht, es war Kommunismus, es war Kollektiv; als ich heimkam, sah ich, dass es zum Bedauern war. Wir durften nicht mit den Russinnen sprechen, uns mit ihnen anfreunden. Anfangs nannten wir sie Genossen, Genosse Hauptmann. Einige Zeit später kamen sie und sagten, dass wir sie nicht „Genosse“ nennen dürfen, weil wir keine Bürger sind und nicht das Recht haben, sie „Genosse“ zu nennen. Kleidung gegen Essbares Ich kam auch nach Voroschilovgrad, der nächstgelegenen Stadt. Ich half in der Schneiderei, sie brauchten dort jemanden und ich

101 sprach mit dem Lagerkommandanten. Wir waren zwei-drei und ein Mann, ein Schuster. Wir durften auch zum Basar gehen. Wir dachten, es sei eine große Stadt, wo sie doch Kreishauptstadt war. Die Schule, das Rathaus waren größer, aber die andern waren klein. Als wir zum ersten Mal ins Lager kamen, wunderten wir uns, dass Rauch aus dem Schnee aufstieg. Wir konnten uns nicht vorstellen, dass dort ein Haus ist, das ganz mit Schnee bedeckt ist. Ihre Häuser waren sehr klein, wenn es schneite, sah man sie unter dem Schnee nicht mehr. Ich konnte mir nicht vorstellen, dass es so niedrige Häuser geben kann. In der Stadt gingen wir auf den Basar, ein Offizier sagte uns, um wie viel Uhr wir beim Laster sein mussten, mit dem wir gekommen waren. Wir spazierten nur auf dem Basar, der wie ein Flohmarkt aussah. In den ersten zwei-drei Jahren hatten wir immer nur Schulden, weil wir nicht so viel Kohle aus der Grube förderten, dass uns noch etwas blieb. Nach drei Jahren hatten wir schon unsere Schulden beglichen, Miete, Wasser und Licht bezahlt. Weil wir das Notwendigste bezahlen mussten, bekamen wir in den ersten drei Jahren keinen Lohn, hatten überhaupt kein Geld. Zuerst verkauften wir von unserer Kleidung. Ans Lager kamen die Ortsansässigen mit Milch und anderen Produkten. Und wir gaben Kleidungsstücke gegen Essbares. Wir verkauften Gewand, um Essen zu kaufen. Von zuhause hatten wir kein Geld mitgenommen, hätten es auch nicht nutzen können. Als wir den ersten Lohn bekamen, sagten sie uns, dass wir, falls wir nicht mehr von der Küche essen wollen, uns dann selber kochen sollen. Dann machten sie in der Küche für den Sommer einen Herd und eine Eisenplatte für Kohleheizung. Man brachte vors Lager zwei-drei Kartoffeln, Spinat. Wir machten uns selber eine Suppe. Maismehl hatten wir und machten einen Maisbrei. Zuhause denke ich jetzt daran, wir hatten keine Vergewal-

102 tigungsprobleme oder dass sie unverschämt gewesen wären, das gab‘s nicht. Wir waren der dritte Transport, es waren welche aus Lugosch, Pietroasa, von neben Arad waren viele. Die Arader Mädchen waren sehr gläubig. Sonntags, wenn wir nachmittags arbeiteten, vormittags Zeit hatten, gingen wir in ein Zimmer, nebeneinander, eine sang, eine andere betete und unsere Gebete erflehten, dass wir gerettet werden, nachhause zurückkehren können. Als ich sehr krank war, 40° Fieber hatte, war ich einige Tage im Lazarett. Und dann sagte ich: „Ich sterbe nicht hier, wie ich diese russische Erde hasse, hier sterbe ich nicht.“ Nachher sagten mir die Mädchen, dass sie das Licht an ließen, weil sie sicher waren, dass ich dort sterbe, damit ich nicht im Dunkeln sterbe... Aber ich sagte ihnen, dass ich nicht dort sterbe, dass ich nochmal nachhause muss, und sollte ich sterben, werde ich ihnen als Skelett nachlaufen, damit sie mich mitnehmen, denn ich bleibe nicht dort. Als ich zuhause meiner Nichte davon erzählte, hat sie das Bild vom Skelett amüsiert, sie sagte mir, dass sie versucht, es sich vorzustellen, wie es möglich wäre. Also ging ich zu den Arader Mädchen, der diensthabende Ofizier kam und schaute uns zu. Er sagte nicht, dass wir nicht beten dürfen. Ich glaube sehr an Gebete. Und ich glaube, dass der Glaube an Gott mir viel geholfen hat. Eine Urgroßmutter hatte sieben Enkel und Urenkel in Russland. Sie wurde 91 Jahre alt, hat viel gebetet und alle sind wir heil nachhause gekommen. Unsere ganze Familie war sehr gläubig, Mutter hatte einen Bruder, der Pfarrer war. Ich bin seit 60 Jahren in Lugosch und nur an wenigen Sonntagen war ich nicht in der Kirche. Kleidchen für das KommandantenTöchterlein Ich war auch in ihren Häusern. Einmal nahm man mich aus der Grube und ich arbeite-

Ecaterina Coman, geb. Klein te eine längere Zeit in der Schneiderei. Als der Natschalnik, der in der Grube war, hörte, dass ich schneidern konnte, sagte er, ich soll zu ihm nachhause gehen, weil seine Tochter ein Kleid braucht. Am nächsten Morgen zog ich die schwarze Arbeitsmontur an, darunter etwas Saubereres, ich ging bis zur Grube, damit die andern sehen, dass ich dort bin, dann ging ich ins Dorf zum Natschalnik. Eine ganze Woche blieb ich dort, beeilte mich, denn ich machte ihm so fünf Kleider. Abends ging ich spät, damit ich dort war, kurz bevor die Schicht zurückkam. Ich schaute auf die Uhr und wusste, wann ich gehen musste. Wenn ich zu ihnen kam, schliefen sie auf ihren unüberzogenen Polster. In einer Woche hatte diese Familie weder einen Tee für mich, noch ein Ei, eine Kartoffel, eine Suppe, nichts, nichts. So arm war sie. Ich glaube, sie hatten nichts, nicht dass sie mir nicht anbieten wollten. Einmal sagten sie, dass sie Brot trocknen, damit sie an schwarzen Tagen welches haben. Wenn sie fünf Eimer Kartoffeln hatten, zwei-drei Kürbisse und Rüben, sie hatten keinen Keller, hielten sie diese wie in einer Art Brunnen. Wenn es schneite, fiel der Schnee auf das Gemüse. Sie waren aber sehr zufrieden, dass sie etwas für den Winter hatten. Kleider konnte ich ihnen machen, weil sie Material hatten, auch eine handbetriebene Maschine. So eine habe ich mir auch nachhause gebracht. Ich habe sie auch jetzt. Mit der Maschine habe ich dieses Haus gemacht. Wenn ich meinen Lohn bekam, wusste ich, wie viel ich täglich brauche, ich war sparsam, legte zur Seite, sie kostete 600 Rubel. Die Jungs verdienten in der Grube doppelt oder dreimal so viel wie ich, aber konnten nicht sparen. Ich sagte auch, dass es ungerecht ist, dass sie so viel verdienen. Es ist wahr, dass dort unten schwierigere Bedingungen waren, aber so wie sie sich unten quälten einzuladen, quälten wir uns oben auszuladen. Der Gewinn hätte ähnlicher sein

Ecaterina Coman, geb. Klein müssen. Die unten arbeiteten, bekamen 1,5 kg Brot, wir nur 0,5 kg, man fand, dass es leichtere Arbeit ist. Die Nähmaschine habe ich im Laden gekauft. Als der Krieg zu Ende war, haben sich unsere Offiziere mit dem Direktor einer Kolchose befreundet. Dieser war vorher an der Front. Daher führten sie uns zum Dreschen. Ich wusste, wie es bei uns zuhause ist, wenn maschinell gedroschen wird, gibt man den Leuten zu essen. Uns gab man eine gelbe Gurke, das war unser Essen, weil wir dort geholfen, gearbeitet haben. Dann hat unser Offizier Bekanntschaften gemacht. Ich weiß nicht, wie sie erfahren haben, dass ich schneidern kann und dann sagte ein Offizier, ich soll zu verschiedenen Leuten gehen. Er ließ mich allein gehen, er wusste, dass ich als Mädchen nirgendwohin weglaufen konnte, ich hatte auch nicht den Mut dazu. Der Kolchose-Direktor, glaube ich, kam mit ei­nem ganzen Waggon Möbeln, Vorhänge... Kriegsbeute. Er hatte auch deutsche Schallplatten... Sie boten an, sie für uns aufzulegen, jedoch deutsche Musik war das Letzte, was ich hören wollte. Er kannte unsere Lager-Offiziere und so kam es, dass ich für ihn arbeitete. Ich habe gehört, dass er diesen je ein Ferkel von der Kolchose gegeben hat. Die Schlauen, wie das auch heute geschieht, eben. Vor Weihnachten fragte mich die Frau des Direktors, ob ich ihr in der Küche helfen kann, weil sie Gäste haben. Ich machte ihr eine Zitronentorte, Vogelsmilch für Silvester. Nachher erzählte sie mir, wie die Gäste das Gebäck bewundert haben. Sie waren rudimentär. Als ich heimfuhr, verlangte sie mir die Schnittmuster, denn sie hatte Material und eine Nähmaschine. Dann raffte ich sie zusammen und gab sie ihr, ich hätte sie doch nicht mitgenommen. Sie sagte nicht, dass sie mir fünf Eier oder ein Glas Marmelade gibt, sie gab mir absolut nichts. Vor Freude, dass ich heimkehre, habe ich damals nicht daran gedacht. Jetzt denke ich dran, wenn

103 ich nachts nicht schlafen kann, wie die mich ohne etwas fortgehen ließ. Weihnachten in der Ferne Dort konnten wir keinen Feiertag halten, weil wir arbeiteten. Auch die Russen feierten nicht. Nur die alten Russen erzählten noch, zündeten eine Kerze an, waren gläubiger. Aus Angst, die Armen. Die Stadtkirche war geschlossen, man konnte nicht hinein. Ich sah, dass der Eingang mit Holzstangen blockiert war. Im letzten oder vorletzten Jahr nahmen wir einen trockenen Ast und schmückten ihn als Weihnachtsbaum. Etwas anderes hatten wir nicht. Wir wussten trotzdem, wann Ostern sind, einige von uns hatten einen Kalender dabei, so einen für 150 Jahre. Und wir wussten. Nach einiger Zeit durften wir nachhause schreiben. Wir hörten, dass sie im Mai 1945 alle unsere Briefe verbrannt haben. Keiner kam an. Den ersten Brief von mir erhielt Mutter nach einem Jahr und sechs Monaten. Von da an durften wir Postkarten schreiben, aber nur 30 Wörter. Ich habe viele Fotos aus den letzten Jahren. Es kamen Fotografen ans Lager, sie machten genug Bilder und verdienten genug. Als es uns besser ging, machten wir uns dort Röcke. Wir haben uns in der Schneiderwerkstatt mit unserem Chef fotografiert. In der letzten Zeit habe ich mehr für die russischen Offiziere gearbeitet. Wir hatten wollene Kopftücher, hatten einen Schuster. Ich sah wie eine Russin aus. Eines Sonntags saßen wir im Lagerhof und da fotografierten wir uns wieder. Die Heimkehr Wir fuhren schnell weg, verteilten in einigen Stunden fast alles, was wir erworben hatten. Wir kehrten auch per Bahn zurück. In der Zwischenzeit hatte meine Mutter erfahren, dass in den Lugoscher Bahnhof Russland-Deportierte kommen. Sie ließ sich bei ihrer Schwester nieder und ging täglich zum

104 Bahnhof, wartete auf mich bei jedem Zug. Ironie des Schicksals, dass sie gerade den Zug, mit dem ich kam, verpasste. Sie hat auf einen Zug gewartet, ich war nicht drin, sie wusste, dass später noch einer folgt und ging zu meiner Tante nachhause, um sich die Zeit bis zum nächsten zu vertreiben. Ich kam im Lugoscher Bahnhof an und ging zum Haus meiner Tante. Als ich in den Hof kam, überlegte ich, mein Gepäck draußen zu lassen, um das Haus nicht mit Wanzen, Läusen und anderen Reise-Mitbringseln voll zu machen. Als ich ankam, kremte meine Mutter ihre Schuhe ein, um wieder an den Bahnhof zu gehen. Als sie mich sah, fiel ihr der Schuh aus der Hand und sie begann zu schreien: „Katja, du bist es...“ Wir begannen beide zu weinen. Damals fuhren mehr Menschen von Herendesti nach Lugosch. Mutter benachrichtigte Vater in Herendesti, dass er den Wagen nach Lugosch schickt, weil ich gekommen bin. Wir hatten Knecht, Wagen, Pferd. Vater war damals schon zuhause. Er war auch deportiert, kehrte aber nach dreieinhalb Jahren zurück. Er war älter und seine Füße schwollen an, er kam in Strümpfen, weil er nichts anziehen konnte, so angeschwollen waren sie. Auf Strümpfen kam er heim... Die Lager-Freundschaften hielten ein halbes Jahrhundert Ich kam am 16. Dezember 1949, an einem Freitag, nachhause. Das halbe Dorf kam, um mich zu sehen. Montag kam ein Mädchen, damit ich ihr eine Bluse nähe. Ich habe noch einiges für Weihnachten gemacht. Am 26. Januar 1950 war Hochzeit bei einem Mädchen. In Mode war Kord (Rippensamt), ich weiß nicht mehr, wie viele Blusen ich im Dorf genäht habe, sie freuten sich, dass sie eine Schneiderin dort hatten. Danach habe ich meinen Mann kennengelernt, am 7. November 1950 haben wir geheiratet. Wir blieben noch ein Jahr in Herendesti, dann zogen wir nach Lugosch. Der Junge wurde gebo-

Ecaterina Coman, geb. Klein ren und das Leben verlief danach normal. Ich ließ mir die Genehmigung für freies Handwerk als Schneiderin ausstellen. Ich wollte ein eigenes Haus, sie wollten mir eine Wohnung geben, aber ich hatte den Ehrgeiz, mein Haus auf dem Erdboden zu haben. Ich schneiderte Tag und Nacht. Die Nähmaschine aus der UdSSR habe ich heute noch. Ich sehe nicht mehr, arbeite nicht mehr damit, aber ich besitze sie noch. Ich hielt 50 Jahre die Freundschaft mit zwei Schwestern aus Arad und mit noch einem Mädchen, deren Tochter ich getauft habe, nachdem sie hier, zuhause, geboren hatte. Wir waren vier Paare, die sich regelmäßig sahen. Ich allein bin geblieben, die andern sind alle gestorben. Wir fuhren nach Arad oder sie kamen zu mir. Nachdem das Haus fertig war, haben wir uns nach einigen Jahren auch ein Auto gekauft und es war nichts Großes, nach Arad zu fahren. Es gäbe viele Erinnerungen von dort, doch fällt es mir schwer, etwas Besonderes auszuwählen. Vielleicht das, als ich bei einer Köchin zuhause war, kehrte ich allein zurück und auf dem Weg warfen Jungs mit Steinen nach mir, schlugen mir den Kopf ein. Sonst hatte ich keinen Ärger wegen der Offiziere, der Russen, der Soldaten der Einheimischen. Oder dass mein Vater,der 60 km von mir entfernt war, aber ich erfuhr das von zuhause. Als man mir schrieb, hörte ich, wo er war, und fragte die Russen, ob sie mir erlauben hinzugehen. Sie versprachen, mich zu lassen, weil ich ein gutes Mädchen bin und zurückkehren werde, doch sollte ich mit einem Soldat mit Gewehr gehen. Sie haben mich belogen, vertröstet und schließlich konnte ich ihn nicht mehr sehen. Nicht einmal korrespondieren mit ihm konnte ich. Anfangs habe ich niemanden beschuldigt, ich verstand gar nicht, was mir geschah. Nach und nach begann ich, mich zu fragen: „Was habe ich in Rumänien Böses getan, dass man mich aus meinem Land vertreiben

Ecaterina Coman, geb. Klein musste? Was habe ich Böses getan?“ Achtzehnjährig, wie ich war, als ich weg bin von zuhause, was hätte ich tun können... Jetzt denke ich viel an jene Jahre. Es überrascht mich, an wie vieles ich mich erinnern kann. Warum? Nachts kann ich nicht schlafen, leide an Schlaflosigkeit. Es heißt, dass diejenigen, die daran leiden weder an die Vergangenheit noch an die Zukunft denken sollen. An welche Zukunft kann ich in meinem Alter noch denken, was kann ich noch planen? Vielleicht nur, wie ich meine Beerdigung organisieren soll, aber das ist scheinbar zu düster. Ratsam ist es, nur an die Gegenwart zu denken. Aber ich kann nicht, und so kehre ich nachts 60 Jahre zurück, mache zeitenüberspringend der herzlosen Offizierin Vorwürfe, die mich ohne ein Stückchen Brot auf

105 den Weg geschickt hat und wie viel anderes noch... Nach mir war Ana Pauker schuld, die Jüdin... Sie sagte, sie würde uns, die Deutschen, los. So hörte ich es nachher, dass sie mit der Idee kam, auch Frauen zu deportieren, weil in Russland auch die Frauen arbeiten. Ich machte noch eine Rechnung. Mein Bruder war sechs Jahre an der Front, hat für Rumänien gekämpft, mein Vater war drei Jahre in Russland, ich und meine Schwägerin je fünf Jahre. Zusammen hat meine Familie neunzehneinhalb Jahre gelitten... ein Viertel eines Menschenlebens, weg von zuhause, verschleppt aus deinem Haus. Und wofür? Das frage ich mich auch jetzt: Was habe ich in diesem Rumänien Böses getan, dass man uns nahm und so verurteilte? Das kann ich nicht verstehen...

Sie starben an schlechtem Tabak, Blut im Stuhl und Schwermut1

W

ir waren eine Familie von Deutschen, mein Vater war Friseur. Eines Tages zog er nach Cavaran um. Wo er vorher gewohnt hatte, wie soll ich Ihnen sagen, gab es keine Möglichkeit mehr, gut zu leben, um es so auszudrücken. Er nahm sein Bündel und ging weg. Wir zogen nach Cavaran (aktuell Constantin Daicoviciu). Dort fing meine Geschichte an. Ich war 16 im Moment der Deportation. In Russland wurde ich 17. Es war eine Überraschung, ohne dass wir irgendwas davor gedacht oder gewusst hätten. Es kamen sowohl Militärs als auch Zivilisten ins Haus. Sie sagten: „Herr Netzer, ab diesem Moment gilt Ihre Tochter als abgeholt“. Sie können sich vorstellen, wir waren arm, wir hatten nichts, alle Leute schrien, sie ka1

1 Aufgezeichnet von Cristina Diac und FlorinRăzvan Mihai

Victoria Szitka, geb. Netzer (Rumänien)

men und brachten uns… Die Nachbarn halfen uns. Bei uns zu Hause gab es nichts im Überfluss… Wir waren arm. Ich nahm Kleidung, eine Decke, etwas zu essen, viel war es nicht… Ich hatte einen um sechs Jahre älteren Bruder, der zu jener Zeit Häftling war. Ich glaube, ein politischer Häftling, etwas mit Legio­ nären, ich weiß es nicht, denn ich war klein. Er war Gefangener in Rumänien. Er war Legionär, glaube ich. Er, ein Deutscher, mit grünem Hemd… Ich glaube, das muss es gewesen sein. Der Vater, die Mutter, sie hatten keine Politik gemacht, sie waren arm. Die Mutter konnte kein Wort rumänisch, ich glaube, sie war auch Analphabetin. Sie kamen und holten mich ab. Sie holten mich am 16. Januar 1945 und zurück kam ich am 17. Oktober 1949. Es waren ich, ein erster Kusin und ein Nachbar aus Cava-

106 ran. Nicht einmal er… also wir waren Deutsche, Deutsche, aber er hatte nur einen deutschen Vater, er war ein Mischling. Nur wir drei waren aus Cavaran. Sie brachten uns schön nach Karansebesch, wo wir zwei Tage und eine Nacht blieben. In der zweiten Nacht brachten sie uns in Waggons nach Lugosch. In Karansebesch waren wir in einem Lager untergebracht, von dort in der zweiten Nacht kamen wir nach Lugosch, mit den LKWs, in der Nacht. Hier wurden wir zum Transport in Viehwaggons verladen. In den Waggons waren Männer und Frauen, alle auf einem Haufen, jeder legte eine Decke auf den Boden, wo er konnte. Es gab ein kleines Loch, da ging das Essen durch, da gingen auch die Probleme durch… Wir waren fast drei Wochen unterwegs. Die Größeren lachten noch, wir weinten. Wir kamen voller Läuse an. Ungewaschen, ich glaube zwei Wochen wechselten wir nur alle drei Tage die Kleider, denn viel Kleidung hatte ich nicht… Bisher war ich nur bis Karansebesch oder Lugosch gereist, nicht weiter. Als sie mich abholten, war ich Lehrling in der Schneiderei, ein Jahr war noch nicht um. Bis im Alter von 14 Jahren war ich Schülerin, dann war ich zu Hause, dann war ich Dienerin bei einer Alten in Lugosch, aber ich hielt es nicht aus, ich war es nicht gewöhnt zu arbeiten. Ich kam nach Hause und wurde Lehrling in einer Schneiderei in der Gemeinde, das war immerhin etwas. Sie nahmen mich aus meiner Lehre heraus. Es gefiel mir nicht besonders zu arbeiten. Arbeit und Schläge Nach zweieinhalb Wochen kamen wir an. Wir wohnten drei Tage in einem großen Gebäude, in einem Theater oder was es war, bis sie uns ein Lager gebaut hatten. Also die Wände existierten bereits, aber es gab keine Betten. Sie fertigten sie, zweistöckig, aus gefrorenen Brettern, so viel Frost gab es. Dort schliefen wir, damit sie auftauten. Sie trennten mich von meinem Kusin und meinem Nachbarn,

Victoria Szitka sie trennten Männer und Frauen, aber die Männer waren noch irgendwo in der Nähe. Im Donbas konnte man, so weit das Auge reicht, nur Kohle sehen. Es war schwer. Ich wohnte in einem einzigen Lager, aber den Arbeitsplatz musste ich wechseln. Ich arbeitete in der Mine. Ich war auf einer Platte, wo ich die Kohle nahm und weitergab zum Transportieren nach oben. Ich arbeitete unten, in der Mine, ich lud Kohle auf zum Transport an die Oberfläche. Dort arbeitete ich etwas mehr als 4 Jahre. Es war Schwerstarbeit, aber mit der Zeit gewöhnten wir uns daran, wir merkten es kaum noch. Es war auch gefährlich. Der Anfang war schwer. Es kamen Waggons von oben… Auf der Plattform arbeiteten ich und eine Kollegin. Oben am Lift waren zwei Leute, eine entlud, die andere belud. Wir arbeiteten in drei Schichten. Am Morgen fingen wir um ca. 6 Uhr an und abends um 22 Uhr. Es wurde so gearbeitet, dass wir 8 Stunden frei hatten. Wenn wir bestraft wurden, mussten wir nachts die WCs putzen, mit Eimern mussten sie geleert und der Inhalt aufs Feld gebracht werden. Es gab ein Becken, das zweigeteilt war, Frauen und Männer. Wir gingen in der freien Zeit auch auf den Kolchos, dort wurden Leute gebraucht. Wir hatten einen freien Tag pro Woche. Dann kamen sie und sammelten die Leute. Soweit das Auge reichte, nur Felder mit Kartoffeln, Mais. Sie hatten uns nicht geholt, damit wir uns ausruhen. Nach vier Jahren und etwas hatte ich einen Arbeitsunfall. Mein Bein kam zwischen zwei Wägelchen und ich verletzte mir das Knie. Ich bekam überhaupt keine Behandlung, sie machten mir einen Verband, und fertig. Außer diesem Unfall beschützte mich der von oben vor anderen Krankheiten. Die Leute starben aufgrund von Mahorka, eine Art schlechter Tabak. Es war eine Art Gift, es starben mehr Männer, aber auch Frauen. Es kam noch eine Krankheit, Blut im Stuhl, viele wurden in jenem Jahr dahinger-

Victoria Szitka afft. Mehr Details weiß ich nicht, ich hatte das nicht. Dann starben sie auch an Schwermut, wie man sagt. Es gab auch Frauen, die zwei, drei Kinder zurückgelassen hatten, eine sogar vier. Diese starb auch im ersten Jahr. Mit dem Seelenschmerz, kleine Kinder zu Hause zurückgelassen zu haben. Sie waren beim Mann zurückgeblieben, ich weiß nicht, warum sie ihn nicht geholt hatten. Sie starben, aber von vielen wusste ich es nicht einmal. Aus meinem Schlafraum starb niemand. Die Toten wurden nach draußen gebracht, aufs Feld, wer weiß noch von ihnen… Nach meinem Unfall und bis ich nach Hause durfte, arbeitete ich an der Oberfläche, beim Schneeräumen, in der Küche. Es gab große Becken mit eingelegten Gurken, Tomaten, Kraut. Wir mussten sie mit Eimern in kleinere Behälter umfüllen. So lange ich nicht in der Mine war, kochte ich, wir gingen stehlen, sie erwischten uns, sie schlugen uns. Wir versuchten, vom Feld zu stehlen. Es gab einige Hütten in der Nähe, sie hatten Gärten, die Einheimischen arbeiteten in der Mine. Wir stahlen Kartoffeln. Und wenn sie uns erwischten, schlugen sie uns. Wir aßen, was wir finden und was wir bekommen konnten. Sie gaben uns ein Essen und ansonsten arbeiteten wir. Wir aßen trockene Erbsen, wir freuten uns, Tomatensuppe, wir freuten uns. Eigentlich war es der Saft von den eingelegten Tomaten mit einigen Tomatenscheiben darin. Das war die Tomatensuppe, über die wir uns freuten. Krautsuppe, Gurkensuppe, Gerste, Nudeln, wir aßen alles, um nicht zu verhungern. Anfangs standen die Russen und wir uns feindlich gegenüber, aber mit der Zeit freundeten wir uns an, sie gaben uns ab und zu auch etwas aus ihrem Garten, was sie so hatten. Man musste sich an sie gewöhnen, mit ihnen sprechen. Unser Lager war mit Stacheldraht umgeben, ca. drei Meter hoch. Die Wächter, die Offiziere, ich hörte nichts, dass sie sich je an einem Mädchen oder einer

107 Frau vergriffen haben. Normalerweise gingen wir mit einem Wächter. Der Soldat hatte nur ein Holzgewehr, er hätte uns nicht erschießen können, aber wir hatten trotzdem alle Angst. Wenn wir aus der Reihe traten, schlugen sie uns mit dem Holzgewehr. Wir hatten im Lager Offiziere, die gerne feierten und sich betranken. Wenn man den Mund nicht halten konnte und man die Sachen erzählte, wie sie waren, bis wir uns daran gewöhnten, am zweiten Tag war es schlimm. Wenn ich erzählte, dass die Offiziere sich betranken, sangen und mit uns tanzten… Wenn ich von diesen Vergnügungen erzählt hätte, wäre es schlimm gewesen. In der Lagerleitung gab es außer den Offizieren auch einige Rumänen. Sie halfen den Offizieren. Es war je einer in einer Gruppe. Mit dem Lagerkommandanten, dem großen Chef, hatte ich zweimal zu tun. Ich ließ mich auch auf den Klatsch ein. Ich erzählte, was passiert war, dass die Offiziere eine Fete gemacht hatten, dass sie uns auch eingeladen, dass sie sich betrunken und mit uns getanzt und wir Spaß gehabt hatten. Der Kommandant schlug mich, er sagte, wenn ich noch weitererzähle, werde ich meine Heimat nicht mehr sehen. Ich war rot von den Ohrfeigen. Traum von der Flucht Als Lohn bekam man in den ersten zwei Jahren etwas Kleingeld. Nach zwei Jahren bekamen wir einen Lohn. In der Mine arbeiteten auch Russen, aber unsere Mannschaften, bestehend aus Deutschen, waren die besseren. Nach den ersten zwei Jahren durften wir auch allein in die Stadt gehen, ohne Bewachung. Wir verdienten auch besser, wir gingen in die Stadt Cistiakova, wir kauften uns ab und zu was zum Anziehen, ein paar Socken. Wir hatten bereits etwas Geld für das Le­bensnotwendige. Cistiakova war eine klei­ ne Stadt, wie Busiasch. Wir hatten nicht den Mut, wer weiß wie weit zu gehen, damit wir uns nicht verlaufen.

108 Mein Kusin schmiedete Fluchtpläne für sich und mich. Ich sagte ihm, dass ich nicht mitkomme, dass ich Angst habe, aber wenn er wolle, könne er gehen. Ich glaube, es gab einen Altersunterschied von 20 Jahren zwischen uns. Bis zuletzt tat er doch etwas: Er schlug sich mit etwas auf die Hand, er brach sich die Hand und sie schickten ihn nach Hause. Zuerst in die DDR, aber nach einem Jahr floh er. Er arbeitete dort bei jemandem auf dem Feld. Er genas und floh nach Rumänien. Er hatte dort eine Frau und zwei Kinder. Nachrichten von zu Hause bekam ich nicht. Ich glaube, nach drei Jahren gaben sie uns eine Postkarte zum Schreiben, dann wussten sie, dass wir am Leben waren. Aber dass ich mal etwas von zu Hause bekommen hätte, niemals. Ich schrieb ein einziges Mal. Mein Kusin bekam ab und zu Briefe. Eines Tages kam er weinend an und sagte in einem fort: „Mutter ist gestorben, Mutter ist gestorben.“ Ich war verzweifelt, ich dachte, meine Mutter sei gestorben. Aber es war nicht meine Mutter, sondern ihre Schwester und seine Schwiegermutter. Es hatte eine Verwechslung gegeben. Liebesgeschichten Im Lager lernte ich meinen künftigen Mann kennen. Er war aus Lugosch. Ich weiß nicht, woher alle diese Leute kamen, sie hatten sie von überall abgeholt. Im Lager gab es welche aus Hermannstadt, aber auch aus Lugosch. Er hatte dort eine Freundin, die fünf Jahre älter war als er. Ich wusste, dass er jemanden hat. Ich war sehr überzeugt davon, dass er sie heiraten würde. Sie kam aus einem Dorf aus der Umgebung, einer rein deutschen Gemeinde. Ich kannte sie, sie war sechs Jahre älter als ich, ich kannte sie vom Sehen, sie war Dienerin. Nachdem wir geheiratet hatten, fragte ich ihn: „Wo zum Teufel habt ihr euch denn nachts getroffen, im grünen Gras?“ Denn im Lager hatten wir Wanzen, im Sommer gingen wir zum Schlafen mit den Decken ins Freie. Aber er sagte mir, dass ihm seine Zim-

Victoria Szitka merkollegen geholfen hatten, sie waren sehr diskret. Wenn sie hereinkam, rannten alle hinaus, um sie allein zu lassen. Einfach so. Als ich nach Hause kam, dachte ich, sie würden heiraten. Aber nach zwei Jahren verließ er die andere und nahm mich. Wir heirateten. Der blonde Junge, Synonym des Todes Übermächtig stark hat mich der Tod eines kleinen Jungen beeindruckt und ist mir im Gedächtnis geblieben. Er kam aus Lugosch und war ungefähr zwei Jahre älter als ich. Ich kannte ihn. Er arbeitete unter der Erde, er setzte Holzpfeiler, damit die Decke der Mine nicht einstürzte. Bei der Arbeit stürzte die Decke auf ihn. Es war ein Unfall. Sie brachten ihn von unten auf einer offenen Lore. Ich war mit meiner Kollegin am Gitter, als die Lore mit dem Leichnam von Niki ankam… Er wurde genau an uns vorbeigefahren, ich sah ihn. Die Zugluft aus der Mine wehte sein Haar durcheinander, es war blond und berührte meine Hand. Ich glaube nicht, dass ich sein Haar auf meiner Hand gespürt habe… Wenn „bald“ in zwei Jahren bedeutet Nach ungefähr drei Jahren, im Mai herum, sagten sie uns, dass Frieden ist, dass wir nach Hause dürfen. Es war Freude, es war Ausgelassenheit, wir küssten uns, aber es dauerte noch zwei Jahre. So vertrösteten sie uns immer, dass wir nach Hause können, über zwei Jahre hinweg. Als wir dann tatsächlich wegfuhren, konnten wir es nicht mehr glauben. Wir nahmen, was wir hatten, viele Sachen blieben aber dort. Der Heimweg dauerte ziemlich lange. In Sighet hielten wir drei oder vier Tage. Im Lager hatten wir ein Papier bekommen, das wir in Sighet vorzeigen sollten. Sighet behielt diese Akte, mit der wir unterwegs waren und stellte uns ein anderes Formular aus, mit dem wir einen Personalausweis bekamen. In Sighet gab es Musik, Freude… Ab Sighet fuhren wir mit dem Personenzug, jeder dorthin, woher er kam.

Victoria Szitka

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Ich fuhr nach Cavaran. Meine Mutter hatte ein Herzleiden, mein Bruder war eingesperrt, ich war deportiert, ich hatte noch einen kleineren Bruder, ungefähr 7-8 Jahre alt. Als ich ankam, hielt ich am Bahnhof inne, ich wusste nicht, wie ich nach Hause kommen sollte. Ich hatte eine Tasche mit Kleidung bei mir. Und wie ich so saß, nicht wissend, was ich machen sollte, sah mich ein Bekannter, der mich auch wiedererkannte. „Also Viki, du weißt doch, dass deine Mutter krank ist, bleib mal hier sitzen oder geh spazieren, wir suchen deinen Vater.“ Mein Vater arbeitete in der Kalkfabrik. Sie fanden ihn und er ging nach Hause, um meine Mutter vorzubereiten. Sie hatten gehört, dass Züge mit Deportierten ankamen, sie waren auch schon am Bahnhof gewesen. Sie hatten gehofft, dass ich auch kommen würde, vielleicht heute, vielleicht morgen. Als ich mit Vater nach Hause kam, gab es Schreie… Es war nur Mutter zu Hause, der Kleine war in der Schule. Ich sagte ihr, dass ich ein Bad nehmen wolle, bis der Kleine kam. Ich wusch mich. Als mein Bruder ankam und erfuhr, dass ich zurück sei, er aber draußen warten musste, schrie von draußen: „Mei-

ne Schwester, meine Schwester…“ Aber ich konnte ihn nicht empfangen. Ich blieb ungefähr ein Jahr zu Hause. Ich ging zur Schneiderei, aus der sie mich rausgenommen hatten. Dann bekam ich eine Stelle im Rathaus, als landwirtschaftliche Beauftragte. Mein Vater war in der kleinen Gemeinde überall bekannt, und so konnte ich die Arbeit finden. Dort fand ich auch meinen Mann. Er kam mit einigen Freundinnen nach Cavaran. Wir sahen uns nach dem Lager wieder, wir heirateten… Mein Mann arbeitete in der Fabrik, er war Webermeister bei „Textila“ und Präsident der Gewerkschaft. In meinem Alter hab ich niemanden beschuldigt dafür, was mir passiert war, für die Deportation, an wen soll ich denken? So lange ich dort war, habe ich gesagt, ich habe nichts mit der Politik zu tun, ich habe keine Politik gemacht, sie haben mich ja fast aus der Schulbank genommen… Ich bin unter Rumänen aufgewachsen, wir waren wie Brüder. Auch heutzutage, auch wenn ich Deutsche bin. Die Hälfte meines Lebens habe ich bei „Munca“ gearbeitet. Die Hälfte meines Lebens habe ich mit den Arbeitskollegen verbracht. Auch heute habe ich immer nur mit Rumänen zu tun.

Mich haben die Rumänen geholt1

Elisabeth Hoch, geborene Loris (Deutschland)

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ch1 wurde am 9. November 1928 in Jahrmarkt, Kreis Temesch, geboren, welches ein deutsches Dorf war, nur 45 rumänische Familien gab es, die restlichen der 5000 Einwohner waren Deutsche. Am 14. Januar 1945 morgens um 8 Uhr haben sie begonnen, die Leute zu sammeln, um sie nach Russ­land zu bringen. Als wir das hörten, meine Schwester und ich, haben wir beschlossen zu fliehen, zunächst in den Garten und aus dem Garten in den Weinberg. 1 Aufgezeichnet von Cristina Diac

Versteckt im Weinberg Ich war 16 Jahre alt und wog 47 Kilo… Ich war klein und schwach. Wahrscheinlich hat man mich anstelle einer anderen genommen, die sie nicht gefunden haben. Ich hatte die Schule beendet, ich war mit den 1929 Geborenen zur Schule gegangen, weil ich im November auf die Welt gekommen bin, so dass ich 14-15 Jahre alt war, als ich mit der Schule fertig war. Ich habe sieben Klassen gemacht. Nach der Schule blieb dich zu Hause bei den Eltern, wo ich im Haushalt half. Mein Vater arbeitete in Temeswar.

110 Meine Schwester war 13 Jahre älter, war verheiratet, und hatte zwei Kinder. Ihr Mann war bei der rumänischen Armee in Bukarest bei der Artillerie. Er ist davon gekommen, er wurde nicht verschleppt. Damals im Januar haben ich und meine Schwester uns im Schnee im Garten versteckt. Nach einiger Zeit wollte unser Vater uns Geld bringen, damit wir Geld haben, wenn sie uns erwischen. Als unser Vater in der Hälfte des Gartens war, rief der Polizist „Halt!“. Unser Vater blieb auf der Stelle stehen. Danach rief er: „Mädels kommt, es hat keinen Sinn, euch zu verstecken!“ Wir sind aus dem Versteck heraus gekommen und sind ins Haus gegangen. Der Polizist hat uns in eine Straße gebracht, die evakuiert worden war von den Leuten, die dort wohnten, zuerst brachte er uns zu einer Kommission, die alle unsere Daten aufnahm. Als ich an die Reihe kam, sagte ich, dass ich nur 16 Jahre alt bin. Und dann hat man mir gesagt ich soll mich zu denen setzen, die aufgeschrieben sind, aber ein Russe hat dies bemerkt und hat mir gesagt, ich solle zur Kommission. Nach alldem hat man uns in die Häuser geschickt, die für uns vorbereitet waren. Dort verbrachten wir ein paar Tage, bis sie uns mit Kleinlastern nach Temeswar gebracht haben. Dort standen die Viehwaggons bereit, wir sind eingestiegen und wurden nach Jassy gebracht. In Jassy haben wir in einem großen Saal geschlafen. Am nächsten Tag brachten sie uns 20 km zu Fuß bis zu einem Bahnhof. Dort sind wir in einen Zug eingestiegen. Eine Toilette gab es nicht, die Männer haben ein Loch in den Boden gemacht. Im Waggon war Stroh auf den Boden gestreut, auf welchem die Mädchen und Jungen, Frauen und Männer schliefen. Ich habe geweint, ich war ein Kind, im Waggon war nur noch eine Frau aus unserem Dorf, ich kannte niemanden, auch diese Frau bis dahin nicht. Von meiner Schwester wurde ich gleich am Anfang getrennt. Wir wurden verschiedenen Häu-

Elisabeth Hoch sern zugeteilt, und der Aufbruch zum Bahnhof wurde häuserweise gemacht. Heute war dieses Haus dran, morgen das nächste. Ich ging mit dem letzten Transport. Ich und diese Frau waren dann die einzigen aus dem Dorf Jahrmarkt. Ich weiß nicht mehr, wie lange die Reise dauerte. Zurück brauchten wir drei Wochen, aber hin weiß ich nicht mehr, wie lange es ging. Gerücht Sibirien Wir sind in Russland angekommen, in Makijiwka, in einem Lager. Man hat uns auf Zimmern mit je 20-30 Personen aufgeteilt. Es lag hoher Schnee, ich hatte nur Schuhe, niemand hatte Stiefel, zu jener Zeit trugen die Frauen kaum Stiefel. Wir waren nicht vorbereitet. Wer war schon vorbereitet, etwas mitzunehmen? Niemand war vorbereitet. Ich habe bei den Maurern gearbeitet, bei den Tischlern, und manchmal stand ich nachts drei Stunden Wache, dann musste ich am nächsten Tag im Zimmer sauber machen. Einige Monate blieben wir im Lager Makijiwka, danach hat man uns an einen anderen Ort gebracht. Dort habe ich meine Schwägerin gefunden. Mein Bruder war beim Militär, sie hatte zwei Kinder, trotzdem hat man sie genommen und die Kinder sind allein geblieben, der Junge war noch nicht einmal zwei Jahre alt, das Mädchen war sieben. Zuerst kamen die Kinder zu der Schwester meiner Schwägerin, dann haben sie meine Eltern genommen. Das Mädchen ist 1946 gestorben, aber der Junge lebt noch. Mein Bruder ist im Krieg gefallen. In ihrem Haus wohnten Kolonisten, Flüchtlinge. Als meine Schwägerin heimkehrte, konnte sie nicht ins Haus einziehen, das Haus war beschädigt, musste instandgesetzt werden, ich glaube, sie haben noch ein ganzes Jahr bei uns im Haus gewohnt, sie und der Sohn. Hier wohnte auch meine Schwester mit ihren zwei Töchtern und ihrem Mann, insgesamt zehn Personen in drei Zimmern.

Elisabeth Hoch Im Lager gaben sie uns Suppe mit sauren Gurken oder mit Sauerkraut, mit Käse, und wenig Fleisch. Man musste arbeiten. Ich habe es überstanden, ich bin nie schwer erkrankt, ich hatte nur eine Erkältung. Andere sind sogar gestorben, eine aus unserem Dorf, die ich nicht kannte, wurde dort beerdigt. In Russland kamen wir nicht aus dem Lager heraus, wir sind nur zur Arbeit gegangen und so viel. Einmal waren wir bei einer alten Frau zu Hause, um bei der Instandsetzung des Hauses zu helfen. Sie hatte Mitleid mit uns und hat uns ein Essen gekocht - eine Kartoffelsuppe mit kleinen Fischen, aber ich konnte nur die Kartoffeln und die Suppe essen, den Fisch habe ich weggeschmissen. Auch sie hatten kaum etwas. Im zweiten Lager, welches auch Makijiwka hieß, es hatte nur eine andere Nummer, hatten wir einen sehr guten Offizier. Er hielt zu uns dieser Mann. An jedem Morgen mussten wir uns versammeln zum Appell, mussten in der Reihe stehen und unsere Nummer sagen. Nach circa neun Monaten haben sie uns zu einer ärztlichen Untersuchung gerufen, zu einer Ärztin. Sie hat uns alle untersucht. Ich kannte kein Russisch, die Ärztin hat mich gefragt, mit wem ich im Lager bin. Ich habe gesagt, dass ich alleine bin. Wir haben nicht gewusst, warum man uns gerufen hat. Nachher hörte man, dass man die Schwachen und Kranken nach Sibirien bringen wird. Eines Morgens rief man uns hinaus zu einer Versammlung. Wer aufgerufen wurde, musste vortreten. Auf einmal hörte ich meinen Namen und ich habe begonnen zu weinen, weil es hieß, dass die Schwachen und Kranken nach Sibirien gebracht werden. Der Offizier hat mich gefragt, warum ich weine und ich habe geantwortet, weil man uns nach Sibirien bringt. Da hat er geantwortet: „Fräulein, du fährst nach Hause, nach Rumänien.“ Die Ärztin hatte mich für den ersten Transport vorgesehen. Wir sind am 7. Oktober

111 1945 losgefahren und sind am 27. Oktober zu Hause angekommen. Wir waren drei Wochen unterwegs. Im Bahnhof von Temeswar habe ich meinen Vater und meinen Bruder getroffen, die mich dort erwarteten. Sie hatten gehört, dass jemand kommt, ich oder meine Schwester, haben aber nicht gewusst wer, weil eine Frau aus unserem Dorf früher zu Hause angekommen ist und ihnen gesagt hat, dass eine von uns kommt, sie wusste aber nicht welche. Wir gingen 12-13 km zu Fuß den Bahngleisen entlang und sind am Morgen zu Hause angekommen. Dort angekommen, blieb ich daheim, ich war geschwächt und hatte keine Kraft. 1948 ging ich nach Temeswar zur Getreideübernahmestelle, Romcereal, Comcereal, sie hat immer wieder ihren Namen geändert. Und dort habe ich gearbeitet, bis ich Rumänien verlassen habe. Andere Konsequenzen aus der Verfolgung hatte ich nicht mehr zu ertragen. Und da, wo ich arbeitete, ist mir nichts widerfahren. Der Partei bin ich nicht beigetreten. Mich hat man zurückgeschickt, weil ich zu jung war und nicht arbeiten konnte. Kein ganzes Jahr war ich dort, von Januar bis Oktober 1945. Aber auch das war schon zu viel. Meine Schwester und meine Schwägerin blieben bis 1948. Meine Schwester war in Metopetrowsk. Und auch dort herrschte Hunger und die Leute begannen hinaus aufs Feld zu gehen, um etwas zum Essen zu suchen. Auch zu den Russen gingen sie. Meine Schwester war mit einer aus unserem Dorf auf Essenssuche, und, als sie auf dem Weg zurück zum Lager waren, kam ein russisches Auto und hat sie mitgenommen und in ein anderes Lager gebracht. Sie kam Juni-Juli 1948 nach Hause. Auch meine Schwägerin ist 1948 zurückgekommen. Die Verschleppung erinnert mich an Kälte, Hunger und Leid. Nicht nur einmal habe ich gedacht: Warum hat man mich genommen, obwohl ich so jung war? Russland hat Hil-

112 fe von Rumänien verlangt, hat aber nicht nur Deutsche angefordert. Mich haben die Rumänen genommen. Manchmal denke ich darüber nach, wie es dort war. Gestern Abend, als

Elisabeth Hoch ich darüber nachdachte, konnte ich bis Mitternacht nicht schlafen. Und ich wünschte, dass das, was uns widerfahren ist, nie mehr geschieht …

Mehr Geld bekam man für Kleidung als für Ohrgehänge1

Ana Bauer, geb. Graf (Deutschland)

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ch1wurde 1926 in Schag geboren. Im Januar 1945 war ich 18 Jahre alt. Ich habe zuhause gearbeitet, mit Vater und Mutter auf dem Feld. Wir waren Bauern. Eines Abends verkündeten die Trommler im Dorf, dass sich alle an einem Restaurant zusammenfinden sollen. Dort warteten sie mit Wagen, trieben uns zusammen und brachten uns nach Kleinsemiklosch in eine Kaserne. Man sagte uns, wir sollen uns Essen für 14 Tage nehmen, für zwei Wochen. Dort, in der Kaserne, blieben wir eine Nacht. Dann brachten sie uns zum Bahnhof und ließen uns in Viehwaggons einsteigen, die Pritschen hatten. Den verstorbenen Vater aus dem Waggon geworfen Zeitgleich mit mir nahmen sie auch meinen Vater, ich fuhr mit ihm im selben Waggon. Ich war im selben großen Lager mit ihm, nur in einer anderen Einheit. Meistens waren wir beisammen. Vater erkrankte im ersten Deportationsjahr. Sie formierten einen Krankentransport, um sie nachhause zu bringen, und er starb unterwegs. Er hat in der Mine gearbeitet, im Untertagebau. Die „Galerie“ war sehr niedrig, kein halber Meter hoch. Er arbeitete nur auf den Knien, die sich infizierten. Es war ein Arzt dort, der ihn untersuchte und sah, dass die Knien entzündet waren, aufgeschwollen. Ich weiß nicht genau, wie es war, ich erfuhr nur, dass sie ihn im letzten Moment in den Transport gaben. Das war 1946. Ich wusste nicht, dass er gestorben 1 Aufgezeichnet von Cristina Diac

ist. Jemand sagte meiner Mutter, dass er unterwegs gestorben ist. Wir wissen nicht mal, wo er beerdigt ist oder überhaupt. Einer der Leute sagte Mutter, dass er, nachdem er im Waggon gestorben war, von den Russen genommen wurde, in einen Kohlenwaggon gebracht und irgendwo rausgeworfen wurde. Tatsächlich wissen wir nicht, was die Russen mit ihm gemacht haben. Mir schrieben sie von zuhause, dass Vater verstorben ist. Mutter, meine Schwester und Großmutter, die zuhause geblieben waren, fanden sich schwer zurecht, hatten nicht einmal zu essen... Mein Onkel, der Bruder meines Vaters, der in Amerika war, schickte ihnen Pakete, dass sie zum Leben hatten. Zurück zur Hinfahrt, wir fuhren in Viehwaggons, Männer und Frauen im selben Waggon. Als wir in Russland ankamen, führten sie uns in eine einstöckige Schule. In den Zimmern waren Stockbetten. Ich erinnere mich, dass es sehr kalt war. Zuerst habe ich in der Grube gearbeitet, aber an der Oberfläche, etwa ein Jahr. Ich lud Kohle in Kipploren. Die Kohle wurde per Lift hochgezogen und von dort entluden wir sie in einen Waggon. Ein Jahr habe ich so gearbeitet. Danach konnte ich den Arbeitsplatz wechseln. Wer Verwandte anderswo hatte, konnte verlangen, dorthin transferiert zu werden. Weil mein Vater in einem anderen Lager war, ebenfalls im großen Lager, das mehrere Arbeitseinheiten hatte, verlangte ich mich zu meinem Vater. Dann haben sie mich ins Lager mit Vater verlegt. Es hieß auch Ciurkovka, aber hatte eine andere

Ana Bauer Nummer. Nach einem Jahr kam ich zu Vater. Dann gelangte ich in den Untertagebau. Wir setzten Balken, damit die Grube nicht einstürzt, das taten wir, legten Steine dorthin, wo die Kohle herausgenommen wurde, damit „Galerien“ blieben. Dabei arbeiteten nur Frauen, um den Raum zu füllen. Nachdem die Kohle herausgeholt war, mauerten wir mit Steinen den Hohlraum zu. Die Männer sprengten mit Dynamit und holten die Kohle raus, die Frauen jedoch luden die Kohle in Kipploren und füllten mit Felsen auf. So habe ich vier Jahre gearbeitet. In den letzten Jahren wurden wir bezahlt, bekamen einen schönen Lohn. Dreitausend Rubel habe ich gespart und Kleidung und Uhren gekauft, mit denen ich nach Rumänien kam. Ich habe auch meine Zähne reparieren lassen. Ich bin zum Zahnarzt gegangen. Ein menschlicher Russe Ich hatte einen anständigen Natschalnik, er war eine Art Meister. Ich war auch bei ihm zuhause, er hatte uns eingeladen. Wir haben uns gut mit ihm verstanden. Ich gehörte zu den Jüngsten, habe auch etwas Russisch gelernt, verstand sie, konnte mich mit den Russen verständigen. Das Haus des Natschalnik war wie die anderen, auch sie hatten kaum etwas. Im Vergleich zu meinem Haus daheim, im Banat, war seins kleiner. Dieser Russe war anständiger als der Lagerkommandant, der ein Deutscher war. Der trieb uns mit der Peitsche zur Arbeit. Er konnte Russisch und erlangte so die Funktion. Anfangs konnten wir nicht Russisch, er jedoch konnte und übersetzte, und wurde so Kommandant. Ich war insgesamt fünf Jahre in Russland. Ich habe widerstanden, war nicht krank. Ich verkaufte alles, was ich hatte, fürs Essen. Kleidungsstücke, etwas Schmuck, Ohrgehänge alles habe ich verkauft, alles. Ich verkaufte den Russen, ging zum Markt und verkaufte spottbillig. Mehr brachten die Kleidungsstücke ein als der Schmuck. Ich be-

113 kam nicht viel Geld für die Sachen. Im Lager bekamen wir Tee, Grütze, Kohl­suppe, Suppe von gesäuerten unreifen Tomaten, Saure-Gurken-Suppe, mehr Wasser als Suppe. Brot, ein Kilogramm für die, die in der Grube arbeiteten, gaben sie uns am Morgen. Wir haben in drei Schichten gearbeitet, wir hatten keine konstante Schicht, es hing davon ab, wie sie Steine zum Auffüllen hatten. Waren viele da, arbeiteten auch wir mehr. Wenn wir nicht zur Arbeit gegangen sind und etwas Zeit hatten, strickten wir. Die Männer hatten aus Holz Stricknadeln gemacht, Häkelnadeln, wir kauften Garn vom Markt und strickten. Ich konnte die Verbindung zu den LagerMädchen nicht halten, wir waren nicht aus derselben Ortschaft, und, nachdem wir heimgekehrt waren, verloren sich unsere Spuren. Als es hieß, dass wir heimfahren, konnten wir es kaum glauben. Sie hatten es schon öfter gesagt, dass wir heimfahren, sodass wir es nicht mehr glaubten. Wir sagten, dass sie uns auch diesmal belügen. Nur dass wir dann, als wir wirklich wegfuhren, zwei Wochen vorher oder eine, ich weiß es nicht mehr genau, nicht mehr zur Arbeit gingen. Sie ließen uns aus dem Lager, Einkäufe machen. Ich glaube, eine Woche haben wir nicht gearbeitet. Dann nahmen sie uns vom Lager und brachten uns zum Bahnhof. Der Rückweg dauerte nicht so lange, ich weiß nicht mehr, wie lange, aber immerhin weniger als bei der Hinreise. Wir kamen nach Sighet, diesmal in Personenwagen. Nachdem ich in Rumänien angekommen war, habe ich geheiratet, ich hatte meinen Mann im Lager kennengelernt. Er war aus Neu-Arad, wir lernten uns in Russland kennen, sind 1949 zusammen heimgekehrt. In Rumänien angekommen, haben wir geheiratet. Nach der Hochzeit zog ich zu meinem Mann nach Neu-Arad. Dann hatten wir ein Kind. Ich arbeitete in der Wirtschaft, wir bauten Gemüse und verkauften es auf dem Markt.

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Barbara Klug

Die Beziehungen zu den Russen waren Glückssache1

Barbara Klug (Deutschland)

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m130. Januar wurde ich am Morgen von Neu-Arad genommen. Unser Dorf war eine Verlängerung von Arad. Fast 60% der Bauern beschäftigten sich mit der Gärtnerei. Ich arbeitete mit meinen Eltern im Garten. Ich war 24 Jahre alt, als man mich genommen hat. Wir haben nicht gewusst, wohin wir kommen. Nur ich, sonst niemand aus der Familie, musste weg. Ich habe eine Freundin gehabt, eine Nachbarin. Sie war mit mir im Zug und im Lager, wir waren immer zusammen. Wir waren auch danach Freundinnen geblieben. Von Arad in den Ural Der Weg dorthin dauerte sechs Wochen. Ich hatte von daheim ein großes Brot dabei, wie es im Banat gebacken wurde. Nachdem sie uns von zuhause mitgenommen hatten, waren wir drei Tage in einer Kaserne bei NeuArad. In der Zeit hat mir meine Familie einiges zum Essen gebracht und für den Weg vorbereitet. Wir konnten nicht mit den Eltern sprechen, aber sie durften Lebensmittel, Medikamente bringen und sagen, für wen diese sind. Auf dem Weg konnten wir nur wenig auf einem Petroleumkocher kochen. Unterwegs ist ein 24 Jahre alter Junge gestorben. Er hat nicht mehr gegessen und nicht mehr gesprochen. Man hat gedacht, er hätte Typhus. Alle hätten baden müssen, aber wo? Im Zug konnten wir uns nicht waschen. Wir sind irgendwo im Ural angekommen. Im Lager hat man uns in einer Baracke aus Lehm ohne Plafond untergebracht. Ein Dach war da, aber kein Plafond. So ist Regen und Schnee durch‘s Dach rein gekommen. Die Baracke war viergeteilt, Männer separat und Frauen separat. Zum Schlafen gab es Strohsäcke. Von zuhause hatte ich ein Kissen und eine Wolldecke. 1 Aufgezeichnet von Cristina Diac

Zuerst habe ich im Wald beim Holzmachen gearbeitet. Es wurden Bäume gefällt und wir mussten helfen. Die Männer haben die Bäume gefällt und wir Frauen mussten beim Abtransport helfen. Das Holz wurde für den Bau von Häusern verwendet, nicht für eine Möbelfabrik. Wir haben auch Baumstämme getragen. Der Baum wurde gefällt. Wir Frauen haben die Äste entfernt, welche für nichts Verwendung fanden. Wir durften sie aber auch nicht zum Feuermachen mitnehmen. Also blieben sie dort. Das haben wir im Sommer gemacht. Im Winter hat man uns in ein anderes Lager gebracht, aber nicht in das Lager, wo wir zuerst waren. Dort haben wir in einer Fabrik gearbeitet, wo Ziegelsteine hergestellt wurden. Welche Verwendung sie fanden, wussten wir nicht, wir vermuteten für einen Rüstungsbetrieb. Wir haben Ziegel auf Ziegel gesetzt und die Haufen in LKWs verladen. Wir waren so weit nördlich, dass es um 11 Uhr Nacht und um 1 Uhr schon wieder hell wurde. Die Nacht hatte nur 2 Stunden. Unser Arbeitstag begann um 6 in der Früh. Wir arbeiteten je nachdem, was anstand. Sonntags kam es manchmal vor, dass wir nicht arbeiteten. Aber wenn ein Kohletransport kam oder etwas anderes, mussten wir auch sonntags arbeiten. Wenn keine Arbeit war am Sonntag oder an Weihnachten, haben wir gebetet und Kirchenlieder gesungen. Nachher hat man uns zu einer Nickelfabrik gebracht. Dort wurden Maschinenteile, aber auch Schmuck hergestellt. Von dort habe ich einen Ring, für Mutter und Vater ein Herz mit ihrem Namen und eine kleine Kanne aus Nickel mitgebracht. Nickel rostet nie. Die Legierung wurde von uns mit Schaufeln vorbereitet und dann weiter verarbeitet. Wir haben in der Fabrik gearbeitet, wir waren Arbeiterinnen.

Barbara Klug

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Entzündungen, Malaria, Allergien Hier habe ich bis zu meinem Unfall am Fuß gearbeitet. Ich habe eine sehr große Entzündung am Knie gehabt. Ich wurde gut betreut und bin davongekommen. Das Lager hatte eine Krankenstation in einer Baracke. Dort hat man mich behandelt. Ich habe auch Malaria gehabt. Man hat mir Tabletten gegen Malaria, aber auch Entzündungshemmer für den verletzten Fuß gegeben. Ich hatte hohes Fieber durch die Malaria. Als ich aus der Krankenstation entlassen wurde, kam ich in einen Kolchos, in der Fabrik war es zu schwer. Es schien, als sei die Arbeit hier leichter. Ich habe hier einen Sommer lang gearbeitet. Sie haben mich nicht nach Hause geschickt, obzwar ich krank war. Meine Krankheiten waren nur von kurzer Dauer. Ich hatte mal dies mal das. Ich war nur einige Tage krank, unzureichend, um nachhause geschickt zu werden. Unter anderem hatte ich auch eine Allergie. Meine Lippen und Augen schwollen an. Zum Essen bekamen wir Tee, saure Suppe aus grünen Toma-

ten oder sauren Gurken. Sie waren in Salz für den Winter eingelegt und daraus wurde eine saure Suppe gekocht. Brot bekamen wir ein halbes Kilogramm pro Tag. Am Anfang bekamen wir kein Gehalt. Man hat uns gesagt, dass unser Essen teurer ist als das Gehalt, welches uns zusteht. Später gab es Gehalt, aber nicht viel. Die Beziehungen zu den Russen waren, wie man Glück hatte. Ich hatte eine sehr gute Brigadeleiterin. Man muss auch sie verstehen. Ihre Männer waren Kriegsgefangene oder Gefallene. Und plötzlich sahen sie sich Deutschen gegenüber gestellt, wo die Verwandtschaft von Deutschen doch getötet worden war. Nach Hause habe ich geschrieben und auch Antwort erhalten. Ich bin bis 1949 dort gewesen, als dann alle nach Hause durften. Nur die Eingesperrten sind noch geblieben, die aus den Straflagern. Ich war nie verheiratetet. Als ich jung war, ging es nach Russland und nachher war eine Entscheidung schwierig. Nach dem Krieg gab es kaum Männer. Es hat so sein sollen.

Fünf Jahre im Donezbecken1

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nfang1Januar 1945 hieß es, dass die Deu­tschen versammelt werden, aber wir glaub­ten nicht, dass uns etwas Schlechtes passieren könnte in unserem Land. Wir erachteten, dass uns so etwas nicht droht in Rumänien, einem Land, das mit den Sowjets, die uns befreit haben, alliiert war. Generell wurde diskutiert, man hörte hin und wieder etwas, wie eine Neuigkeit. Mal aus einer Ortschaft, mal aus einer anderen. Dass manche schon verständigt worden wären, dass wir zur Arbeit gebracht werden würden in Städte, wo es Bombardierungen gegeben hatte oder zu bestimmten patriotischen Arbeitseinsätzen. 1 Aufgezeichnet von Florin-Răzvan Mihai

Matilda Jica, geb. Ehlinger (Rumänien)

Alldem schenkten wir keinen Glauben. In unserer Ortschaft, in dem Ort, wo ich gewohnt habe, in einem rumänischen Dorf, Balinti (im ehemaligen Kreis Severin), gab es nur zwölf deutsche Familien. Und es wurde jene Regel, wie sie in allen Akten steht, dass nur Frauen ab 17 Jahren und Männer ab 18 Jahren geholt werden, nicht respektiert. Ich war in mehreren Lagern. Und ich habe 14-jährige Mädchen gesehen, d.h. es wurden viele Ungerechtigkeiten begangen. Schülerin am Lyzeum, in den Winterferien Ich war noch Schülerin und hatte Winterferien, da wurden wir benachrichtigt - circa am 12. Januar 1945 - dass wir uns in zwei Tagen

116 beim Gendarmerieposten einfinden sollten. Bei uns im Dorf, wo wir wohnten. Man hat uns angekündigt, dass man uns etwas mitzuteilen hatte. Aber von Gepäck haben sie uns nichts gesagt. Und wahrhaftig, wir sind zur angegebenen Zeit nach 10 Uhr vormittags hingegangen. Dort haben wir uns getroffen, wir waren drei junge Mädchen, die wir benachrichtigt worden waren hinzukommen. Geladen waren auch zwei weitere Mädchen, die immer in den Ferien aus Orawitz zu ihren Tanten kamen und mit denen wir die Ferien zusammen verbrachten. Aber die Mädchen aus Orawitz sind nicht erschienen. Später habe ich erfahren, dass sie doch dort waren. Gut, sie wurden auch nicht geholt, ich weiß nicht, warum sie nicht auf der Liste waren. Im August - September 1944 waren Listen mit den Deutschen gemacht worden, eine Art Statistik. Damals gab es die Weisung, dass du im Herbst, wenn du zur Schule zurückkehrtest, eine Bestätigung brachtest, dass du irgendwie für die Gemeinde oder für das allgemeine Interesse aktiv warst, in einer Apotheke, in einer Krankenstation, auf dem Rathaus, auf der Kreisverwaltung. Denn damals gab es noch die alte Kreisverwaltung. Wir haben bei dieser Statistik mitgearbeitet, denn die anderen Dörfer haben dem Kreis Balint zugehört, 16 an der Zahl, sie waren uns als Ortsverwaltungen bekannt. Und immer wieder so geschehen in den Ferien. So auch im September 1944 während des Krieges. Viele Leute waren eingezogen, es gab Gründe dafür. Und wir waren erstaunt, dass wir dort waren, wir durften nicht mehr nach Hause zurückkehren. Aber der Chef des Polizeipostens hat die Familie verständigt, dass wir eine Liste bekommen werden, das heißt, dass er eine Liste diktieren wird mit dem, was wir mitnehmen sollten. Auch Lebensmittel so für circa zwei Wochen. Auch Kleidung, jeder was er wollte, es gab keine Einschränkungen. Also hast du genommen, was du wolltest. Gut.

Matilda Jica, geb. Ehlinger Das wurde gemacht und nachher haben wir noch zwei Tage gewartet, bis die Gendarmen mit den Pferdewagen gefahren sind und die anderen gebracht haben, aus den anderen Dörfern nach Balint. Ins Verwaltungszentrum, so hieß es. Und nach weiteren zwei Tagen, das heißt am dritten Tag, sind wir ebenfalls mit den Pferdewagen nach Lugosch gebracht worden. Wir wurden im Gebäude der ehemaligen Normalschule auf der Karansebeschstraße untergebracht. Wir warteten zwei Tage und zwei Nächte. Es kam eine Ärztekommission, um die Kranken auszusondern, aber grundsätzlich sind nur sehr wenige dort davongekommen. Also nur mit der Zustimmung der Ärzte. Nur wenn man sehr, sehr krank war. In anderen Räumen mag das anders gewesen sein, aber bei uns im Gymnastiksaal war es so. Wir kannten das Gebäude, weil wir früher schon dort waren. Mir sind keine Fälle bekannt, dass Leute mit der Diagnose einer chronischen Krankheit von der Reise verschont geblieben wären. Man musste schon sehr krank sein, sichtlich erkennbar krank. Ein russischer Offizier kam herein, zusammen mit einem Gendarm aus unserem Land, und hat gesagt: „Wer möchte als die Ersten in die Waggons für die Reise anderswo hin?“ Mit dem Zug. Wir, die drei Mädchen und einige weitere Bekannte aus Lugosch, sagten uns, wir sollten die ersten sein, damit wir noch einen Platz am Fenster finden. Wir dachten, so schön reisen zu können. Aus dem Gebäude in Lugosch, in dem wir untergebracht waren, konnte keiner heraus und auch keiner hinein. Aber man konnte sich noch unterhalten, zum Beispiel mit den Bekannten oder mit den Eltern. Meine Eltern sind aus meinem Dorf gekommen, über den Balkon oder durchs Straßenfenster konnte man sich unterhalten, wenn der, der auf uns aufpasste, dies zuließ. Aber nicht in allen Räumen war dies möglich. Nun gut, was mich angeht, so hätte ich mich verste-

Matilda Jica, geb. Ehlinger cken können in der Nachbarschaft, im Garten, weil mir die Örtlichkeit bekannt war, ich kannte die Stelle ziemlich gut, aber nicht einmal in Gedanken dachte ich daran, dass uns etwas passieren könnte. Es wurde auf dem Boden geschlafen. Auf Kleidern oder was du sonst auf den Boden gelegt hast. Ich weiß es nicht mehr genau, aber wir haben fast die ganze Nacht erzählt und gesungen. Das heißt die Jugendlichen, auch wenn wir uns nicht alle gekannt haben in diesem großen Gymnastikraum, der sehr groß war, aber wir haben uns kennen gelernt, das war nicht schwierig. Und wir haben über alles erzählt oder gelesen. Ich habe zwei Bücher verlangt. Das heißt, jeder hat sich was gewünscht. Jeder kam mit einem anderen Gerücht... Dass er gehört hat, dass wir nach Jassy gebracht werden, wo es Bombardierungen gegeben hat; dass man uns nach Transsilvanien bringt, damit wir bei weiß ich was, helfen. Es gab vielerlei Gerüchte. Wir, die Jungen, haben uns gesagt, unabhängig davon, wo wir sein werden, machen wir, was wir können, ohne Angst. Güterwaggons, bewacht von Soldaten Als wir ‚einwaggoniert‘ wurden, haben wir gesehen, dass wir von Aufsehern überwacht werden. Wir haben gesehen, dass sich niemand dem Bahnsteig nähern durfte, nur mit dem Einverständnis der Wache, je nachdem wie man sich verständigt hat. Manche kamen noch mit Paketen, andere ohne. Es gab Lärm, Tränen. Da ist mir bewusst geworden, dass es sich um eine ernste Sache handelt. Trotzdem haben wir uns keine großen Sorgen gemacht. Über Bekannte haben wir den Eltern telefonisch ausrichten lassen, dass wir vom Bahnhof Balint aus durch Elienmarkt1 fahren, das hatten wir erfahren. Und wahrhaftig die Eltern sind gekommen… So. Dort blieben wir den ganzen Tag, denn wir sind sehr früh gefahren, ich weiß nicht um welche Uhrzeit die ersten Busse losgefahren sind, und jemand hat eine

117 Axt verlangt, um ein Loch für die Notdurft zu machen. Wir waren hinter Schloss und Riegel und haben bemerkt, dass die Sache ernst wird. Dann habe ich meine Eltern benachrichtigt, sie sollen mir noch Verschiedenes bringen: eine deutsche Bettdecke mit Daunen, eine Art Decke mit Enten- oder Gänsefedern, so wie wir Schwaben sie seit jeher hatten, gut warm, zwei kleine Kissen, Lebensmittel, ein geräucherter Schweineschinken, verschiedenes, was so möglich war. Wir konnten gar nicht alles unterbringen im Waggon, was wir Mädchen bekommen haben. Alles war voller Russen. Im Bahnhof habe ich keine rumänischen Soldaten gesehen. Vielleicht gab es welche, aber ich habe keine gesehen. Manche sagten, dass es welche gab. Ich habe keine gesehen. Zwei Nächte haben wir im Zug verbracht, bis der Konvoi zusammengestellt war. Dann fuhr er los und wir fuhren durch unser Dorf. Der Zug hielt an, nur die Güterzüge machten keinen Halt, weil es ein recht großer Bahnhof war. Und wir, die wir zusammen waren, haben alles bekommen von zu Hause. Der Zug fuhr Tag und Nacht, oft hielten wir auf der Strecke. In Sinaia hielten wir etwas länger, dort wurde einer, der versuchte zu fliehen, erschossen. Er war sofort tot, und an seiner Stelle wurden zwei Priester mitgenommen. Es hatte damals in Sinaia eine große Priesterversammlung gegeben und die Priester sollten mit den Zügen wegfahren. Es waren dort sehr viele Priester im Bahnhof, zum Wegfahren. Wahrscheinlich war dort eine Versammlung, so haben wir es gedacht. Einer der Pfarrer war mit uns im Lager, er war aus der Umgebung von Klausenburg. Er war Rumäne, er trug eine Soutane. Er war genau in unserem Lager. Ein halbes Jahr oder länger. Er hieß Săpunar. Wir wussten, dass er Pfarrer war und dass man ihn von dort mitgenommen hat. Ach, der Weg war sehr lang. In Jassy wurden wir in russische Waggons umgeladen, wir durften einkaufen gehen in Jassy.

118 Aus jedem Waggon gingen eine oder zwei Personen. Sie haben Geld eingesammelt um, das einzukaufen, was auf den Listen aufgeschrieben war. Ich wollte unbedingt Jassy sehen. Der Kommandant unseres Transportes war ein Jude, ein sehr gebildeter Mensch. Zufällig ist er an unseren Waggons vorbeigekommen. Wie ich damals während der Reise erfahren habe, hatten je zwei Waggons einen russischen Offizier mit Befehlsgewalt. Der Zug war sehr lang, ich weiß nicht, wie viele Waggons er hatte, aber er war sehr lang. Der Kommandant ließ nicht jeden in die Stadt gehen. Vor allem gingen alte Menschen, weil er Angst hatte, dass die jungen flüchten würden. Sie hatten Angst, dass sie weggehen und nicht mehr zurückkehren werden. Und die Leute aus dem Waggon mussten einverstanden sein mit denen, die weggehen. D.h. sie haben sie ausgewählt. Die Russen sind gekommen um festzustellen, ob es gut war oder nicht, wen sie ausgewählt haben. In unserem Waggon haben ich und meine Freundinnen gesagt, dass wir gehen wollen. Wir wurden gefragt warum. Und wir haben geantwortet, dass wir Freundinnen seien, aus der gleichen Ortschaft, und wir unbedingt die Stadt Jassy sehen wollen. Ein menschlicher sowjetischer Kommandant Der Kommandant war anwesend. Später haben wir erfahren, dass er Jude war, sehr gebildet, dass er sieben Sprachen sprach, einschließlich Französisch, Deutsch, Englisch. Und wer von uns Englisch konnte, hat bestätigt, dass er Englisch perfekt sprechen konnte. Er hat sich überaus menschlich benommen. Wie ein Mensch mit einem weiten Horizont, wie ein Mensch bei dem du so viel Weisheit nicht vermutet hättest. Und er sagte: „Mädels, ihr könnt gehen, wir stellen euch einen Wachmann bei, aber ihr kommt zurück oder nicht?“ Dann haben wir gelacht und gesagt: „Warum sollen wir nicht zurück-

Matilda Jica, geb. Ehlinger kehren, wir wollen doch sehen, wohin wir fahren“. Und er sagte: „Ihr fahrt dorthin, wo gearbeitet wird, eine Arbeit, die ihr nicht gewohnt seid, in eine Kohlengrube“. Das hat er gesagt. „Glaubt ihr das nicht?“ „Weil Sie es sagen und es mir gefällt, wie sie sprechen, glaube ich es“ habe ich entgegnet. Meine Kollegin sagte „Ach was, das ist nicht wahr.“ Ich aber sagte: „Ich glaube ihm, er hat keinen Grund, es nicht zu sagen, ein Mensch wie er lügt nicht, zudem ihn gar keiner gefragt hat.“ Und der Kommandant fand uns sympathisch. Schlicht und einfach hat er gesagt: „Ihr fahrt dorthin, aber passt auf, was ihr macht, ihr seid jung und habt das ganze Leben vor euch.“ Ich wusste gar nicht, wie er heißt und weiß es auch heute nicht. Ein Mensch, wie man ihm selten begegnet. Wir sind mit dem Wachmann nach Jassy gegangen. Es war nicht Jassy, wie ich es mir erträumt hatte. Ich weiß bis heute nicht, wo wir in Jassy waren. Denn es gab nur bombardierte Straßen, Keller, gewisse Häuser, etwas abseits gelegen, wo an je einem Fenster Zigaretten verkauft wurden, Papier. Fast nichts war geöffnet. Alle privaten Häuser, alle ehemaligen Läden, absolut alles war mit einem Schloss verschlossen. Hie und da sah man einen Menschen. Kein Verkehr auf den Straßen. Ich dachte, alle Einwohner von Jassy wären gestorben. Und andauernd liefen wir über Schutthaufen. Es lag Schnee. Wir suchten ein Fenster, haben sehr viel Schreibpapier gekauft, Buntstifte, Zigaretten. Was wir eben fanden. Wir kauften, was es zu kaufen gab. Kein Brot, kein Essen, aber wir brauchten auch keines, weil wir welches von zu Hause hatten. Es gab alte Kleider zu kaufen und auch Schuhe, Decken, von diesen rumänischen, gewebten, warmen. Aber das hat uns nicht interessiert. Denn wir damit nichts hätten anfangen können. Weil wir hatten von zu Hause alles mit dabei, wovon wir dachten, dass wir es gebrauchen könnten. Später haben wir das bereut, das ist eine andere Sa-

Matilda Jica, geb. Ehlinger che. Wir haben einen sehr starken Schnaps gekauft, aus Früchten, und unser Wachmann hat sich so sehr betrunken, dass er in einer Ecke stand und wir ihn ziehen mussten. Dann ist uns eine Frau begegnet, die gekommen war, sie hat sehr geweint und hat uns gesagt: „Mädels, ich verstecke euch. Mädels, sie bringen euch, wenn nicht gar nach Sibirien, so doch zu schwerer Arbeit; ihr werdet es nicht aushalten. Ich verstecke euch. Mein Mann wurde erschossen, als die Russen hereinkamen, es ist nicht wahr, was man sagt, dass sie unsere Alliierten sind. Nein. Wenn jemand aus dem Dorf oder der Gemeinde gekommen ist und dies behauptet hat, dann ist er gegen euch. Ohne Diskussion hat man ihn auf der Stelle erschossen.“ Ihr Mann war Oberst in der rumänischen Armee, er wurde erschossen, und ihr großer Sohn war auch Offizier in der Offiziersschule, die Russen haben ihn genommen, sie wusste nichts von ihm. Sie kam zu uns und sah, dass wir einkaufen. Und sogleich hat sie gewusst, dass wir auf dem Transport sind, der uns zur Arbeit bringt. Und sie hat geweint. „Ich verstecke euch, ich weiß wo. Ich bringe euch ins Banat zurück, da wo ihr herkommt“, hat sie uns gesagt. Aber wir wollten nicht. Wir wollten nicht aus zwei Gründen. Meine Kollegin, die zwei Jahre älter war, sagte: „Ich glaube, sie sagt nicht die Wahrheit, aber wer weiß, sieh mal, sie weint, irgendetwas muss ihr schon widerfahren sein. Wer weiß.“ Und ich überlegte so: „Gut, sie sagt, sie bringt uns dahin, aber wenn man uns erwischt und unsere Sachen dort bleiben im Zug und sie bringt uns irgendwohin, wo wir nicht mal so viel haben.“ Mein Vater, der den Weltkrieg mitgemacht hatte, sagte mir, ich solle auf alles aufpassen und so einteilen, dass ich Essen für eine lange Zeit habe. Das war der Rat meines Vaters, als er am Bahnhof war. Und über das hinaus, was er mir gebracht hatte, gab er mir noch drei Schachteln aus weichem Karton

119 mit Soldatenbrot. Und er sagte mir: „Wenn du nichts mehr zu essen hast, lasse dies für zuletzt und teile es so ein, dass du an jedem Tag noch zwei, drei Stücke davon hast, so haben wir es an der Front gemacht.“ Das hat mir gut geholfen. Wir sind nicht mitgegangen mit dieser Frau. Heute sage ich, dass sie uns heimgebracht hätte. Vielleicht wäre sie ihm Banat geblieben. Sie hatte uns kurz erzählt, was die Russen getan haben, als sie als Verbündete hereingekommen sind, sie hat uns furchtbare Sachen erzählt. Die, von denen wir die Waren gekauft haben, haben kein Wort gesagt, sie haben uns nicht einmal gefragt, wer wir sind. Es schien als hätte man ihnen gesagt, sie sollen nicht reden, glaubte ich. Vielleicht täuschte ich mich. Jassy war so leer und verlassen, dass ich es mit Worten nicht beschreiben kann. In Jassy verbrachten wir 8-12 Stunden. Das war sehr viel Zeit. Wir haben den Wachposten mitgeschleppt, wir konnten ihn kaum mit den Händen nach uns ziehen und als wir am Waggon angekommen sind, ist keine Viertelstunde vergangen und der Kommandant ist gekommen. „Mit Tränen in den Augen sage ich euch“, sagte er auf Deutsch, „Mädchen, Mädchen, warum seid ihr zurückgekehrt? Und ihr habt dieses Schwein hergeschleppt!“ „Svinea“ sagte er auf Russisch, aber damals wussten wir nicht, was das bedeutete. Fast alle Leute sind zurückgekommen. Nur zwei sind geflüchtet. Einer wurde gefangen und der andere ist nach Hause zurückgekehrt, er war schon etwas älter. Das war sein Glück, denn auf ältere Menschen hat man nicht so geachtet. Und von hier wurde die Reise fortgesetzt. Sie ging insgesamt fast 3 Wochen lang. Einen oder zwei Tage weniger. Wir sprachen über die Orte, wo wir Halt machten, Halt, weil es kein Wasser in den Waggons gab. Wir hatten etwas Flüssigkeit, weil mein Vater damals gekommen war mit dem Wasser und gesagt hat „Wo Wasser ist, sollt ihr Wasser nehmen“.

120 Entweder hat er was vermutet oder er hat an den Krieg gedacht, an bestimmte Sachen, jedenfalls hatte er Erfahrung. In Sanaia, als man den Mann dort erschossen hat, war es auch wegen des Wassers, weil er kein Wasser mehr hatte. Gelegentlich hat man Schnee durch die Gitterstäbe geholt und ihn geschmolzen. Das Wasser war sehr wichtig. Wir haben oft angehalten. Wir haben Züge mit deutschen Kriegsgefangenen gesehen, welche aus anderen Gebieten kamen, wir haben mit ihnen ein paar Worte gesprochen. Das war zwar verboten, aber selbst die Wachposten waren nicht sehr diszipliniert. Kapitalnia, das erste Lager Und wir sind nach drei Wochen im Donezbecken angekommen. Wir hielten in zwei Bahnhöfen, wir sind aber nicht ausgestiegen. Erst im Bahnhof Kapitalnia sind wir ausgestiegen. Und dort wurden wir in ein Kino gebracht, in einen großen, riesigen Saal mit einer durch eine Bombardierung eingestürzten Trennwand. Dort blieben wir zwei Tage und zwei Nächte, dann hat man uns von dort der Reihe nach herausgenommen und ins Lager gebracht. Man hat sein Gepäck genommen und es getragen. Zu Fuß. Ich blieb im Lager Kapitalnia etwas mehr als ein Jahr, dann wurde ich versetzt. Später wurde ich wieder versetzt nach Tschistjakowa. Und später dann wieder zurück nach Kapitalnia. Eigentlich hatte ich in Tschistjakowa eine dreimonatige Strafe verbüßt, deshalb war ich hin versetzt. Einige waren für die Kohlengruben zugeteilt, ich habe auch in der Mine gearbeitet, solange ich in Kapitalnia war, auch beim Schneefreimachen, einige Monate auf dem Bau, ich blieb also nicht auf demselben Arbeitsplatz. Im Donezbecken waren die Leute so arm, dass sie nichts zu essen hatten. Ich meine die Russen. Dort war der Krieg hinweggezogen. Die größeren Ortschaften waren sehr zer-

Matilda Jica, geb. Ehlinger stört, die Gebäude. Das haben wir sofort gesehen, als wir hingekommen sind. Die ganze Ukraine, wo wir hingekommen sind, in den Ortschaften, sah man sehr gut die Folgen des Krieges. Und auch auf den Feldern… Und wir sind an Erdgruben vorbeigekommen, die Gemeinschaftsgräber sein sollten, aber wo zwischenzeitlich zu wenig Schnee war, sah man je einen Fuß oder anderen Körperteil. Es war schier unmöglich, so viele Menschen zu begraben. Danach ist mir bewusst geworden, wie im Lager gestorben wurde, zu tausenden. Die Lager wurden zusammengeschlossen. Es ging nicht anders, es war so viel Frost. Es waren ganz klar die Folgen des Krieges zu sehen und die Armut der Bevölkerung. Sie hatten gar nichts, nicht einmal Seife… Wir dachten, dass wir nicht lange dort bleiben werden, und sicherlich, wo es ging, haben wir in Bessarabien rumänisches Geld in russisches Geld gewechselt, das ich zum ersten Mal im Leben gesehen habe, weil es mich vorher nicht interessiert hatte. Die ersten zwei Wochen haben wir eine alte Russin, deren Kinder im Krieg gestorben waren, dafür bezahlt, dass sie uns die Kleider wäscht. Sie hat sie sehr schön gewaschen. Sie hatte Seife, was andere nicht hatten. Danach sind wir draufgekommen, dass wir eigentlich unser Essen für ein sauberes Betttuch von zu Hause weggegeben haben. Und bis zuletzt wusste man nicht, was aus dem Leintuch werden würde. Vielleicht Fußlappen für das Schuhwerk, vielleicht ein Röckchen oder eine Bluse. Weil man ja auf Stroh schlief. Dies weil in unseren Baracken früher einige Militäreinheiten untergebracht waren. Es war voller Wanzen und Läuse. Schon im Zug hatten wir Läuse. Aber was in den Baracken war, kann man nicht beschreiben. Selbst heute finde ich keine Worte dafür, für das Elend von dort. Es waren Baracken aus Holz, deren Wände innendrin Glasswolle hatten. Die war 20 cm dick, vielleicht auch

Matilda Jica, geb. Ehlinger etwas mehr. Und dort war es voller Wanzen, ich weiß nicht, was dort noch alles war! Es waren Baracken mit drei Geschossen und Kellergeschoss mit Stockbetten. Sie waren hoch, mit einer Art Balkon oben, sie sahen alle ähnlich aus, aus Hartholz gebaut. Sie waren sehr solide. Überall gab es Öfen, aber nichts zum Heizen. Man arbeitete zwar in einer Kohlengrube, aber es war verboten Kohle mitzunehmen. Die Russen haben Kohle mitgenommen, obwohl es auch ihnen untersagt war. Auch sie hatten ihre Tagesnorm zu erfüllen. Lebendig begraben im Schnee Ich war wegen einer Strafe in Tschistjakowa, wo ich drei Monate verbrachte. Dort habe ich im Hof sauber gemacht und nachts habe ich im Keller geschlafen. Manche waren sehr schlecht zu uns, obwohl wir ihnen erklärt hatten, dass wir keine Schuld hatten. Und nicht mit allen Menschen konnte man reden. Und, solange ich meinen Mund nicht halten konnte, war ich ziemlich aufmüpfig, frech könnte ich sagen. Und wenn einer schlecht mit mir umgegangen ist und übel zu mir sprach, habe ich genauso an seine Adresse geantwortet. Und jedes Mal habe ich hervorgehoben, dass ‚ich nicht alle Russen damit meine‘. Ich war sehr gläubig, mir hat Gott geholfen und ich bin zurückgelangt in das Lager, aus dem ich weggegangen war. Ich hatte Glück, denn ich hätte wann immer sterben können. Schließlich sind so viele gestorben! Ein Beispiel: Es war März, ich hatte Nachtschicht. Man brachte uns in die Mine. Auf dem Weg dahin brach ganz plötzlich ein sehr großer Sturm aus und die Wachleute sind ins Lager gelaufen, um Hilfe zu holen. Sie haben uns im Schnee alleingelassen. Wir haben uns wie eine Kette aneinander gehalten. Von 16 Personen sind drei gestorben, jene, die sich nicht an den Händen gehalten haben. Der Schnee hat sie begraben. Die Wache, die uns zur Mine hätte bringen müssen, ging zurück ins Lager, um Hilfe zu

121 holen und ist mit circa acht Personen zurückgekehrt. Aber die drei waren bereits erfroren. Wir haben gebetet. Solange wir sprechen konnten, haben wir gesagt: ‚Betet und haltet euch an den Händen fest, lasst nicht los‘. Wir haben uns bewegt, so gut es ging. Aber es ist gekommen, wie es kommen musste. Die Arbeitsbedingungen waren furchtbar. Wer physisch nicht widerstehen konnte oder nicht ein bisschen optimistisch dachte, der konnte nicht überleben. Man hatte gar nicht wie. Es war nicht nur der Hunger. Dem Hunger entkommst du irgendwie, indem du egal was isst. Die Russen haben uns ein paar essbare Pflanzen gezeigt, bis heute weiß ich nicht, was das waren, ihre Blätter hatten einen sehr angenehmen Geschmack. Man fand sie in einem einzigen Tal auf dem Weg zur Mine. Und die Russinnen haben sie gegessen, und wir haben sie auch gegessen. Denn sie hatten auch nichts. Im ersten und im zweiten Jahr waren die Russen sehr arm. Ich habe in Kapitalnia zwei Monate in der Mine gearbeitet, genau in dem Stollen, wo die Kohle durch Sprengungen gewonnen wurde. Und wo sie stückweise herausgenommen wurde, weil es anders nicht ging. Die Loren waren verrostet. Nun d.h., es war keine Schachtgrube, sondern ein Stollen. Man ging hinein, trat ins Wasser und wurde nass. Dort unten, wo ich jene zwei Monate gearbeitet habe, war der höchste Tunnel 70 cm hoch. Man lag auf dem Bauch, auch die Russen arbeiteten so, nur dass sie nur 2-3 Leute waren, nicht so viele wie wir. Man arbeitete mit einer Schaufel, die nur so groß war wie deine Hand, sie war kurz, weil man anders nicht die Loren beladen konnte. Und es war sehr schwer. Dort bin ich krank geworden, ich konnte nicht mehr atmen. Wahrscheinlich hat sich das auf mein Herz ausgewirkt, weil ich dauernd ohnmächtig wurde. Zwei Monate habe ich dort gearbeitet und nach der Arbeit ist man hinausgegangen in die Kälte, der Winter begann dort im Okto-

122 ber und der Sommer endete im Juli. Es gab kaum Sommer. Wir waren in circa 100 km Entfernung vom Asowschen Meer. Das haben wir erst später erfahren. Manche hat der Mut verlassen und sie sind schlicht und einfach tot umgefallen. Sowohl aus Angst, als auch vor Hunger und Kälte. Das Essen war nicht ausreichend und schlecht. Angesagt war: Morgens Tee, zu Mittag Krautsuppe und abends Krautsuppe oder Tee, je nach Lager. Der Lagerkommandant arbeitete, das haben wir später erfahren, Hand in Hand mit dem Chef der Mine, mit dem Chefingenieur. Aber es gab auch einen politischen Direktor. Überall. Bestimmte Minen zum Beispiel, die mit der Nummer 105, 103, 102 befanden sich nicht unbedingt nebeneinander, aber die Lager waren um die Minen herum, auf kurzer Entfernung zu diesen, angeordnet. Das Lager Nummer 17, Tschistjakowa, wohin ich strafversetzt war, gehörte zur gleichen Mine, hatte aber einen anderen Eingang, kilometerweit entfernt. Ü­ber­all war der Tee nur heißes Wasser. Er wurde vom NKVD-isten kontrolliert. Die Ausgabe jenes Wassers, welches Tee hieß, war Pflicht. Es war etwas, nicht gerade Wasser, weil es leicht gefärbt war, aber es hatte keinen Zucker. Erst im dritten Jahr konnte man etwas Zucker schmecken. Aber der Tee musste heiß sein. Aber erst die Krautsuppe... Ich kann beschwören, dass ich in drei Monaten keine zwei Schnipsel Kraut gesehen habe. Das waren wirklich die berühmten Tomaten, geschnittene grüne Blaufrüchte, geschnittenes Kraut. Später bin ich gegangen, jemandem zu helfen, von außen Lebensmittel für das Lager zu holen. In der Stadt gab es in einem Keller ein Vorratslager mit Fässern voller Kraut. Von dort wurde das Essen sowohl für die Deportierten als auch für die Einheimischen geliefert. Wir haben auch Brot bekommen je nach Arbeitskategorie. Jene, die in der Tiefe gearbeitet haben, in der Mine, bekamen am mei-

Matilda Jica, geb. Ehlinger sten, 600g bis zu 1kg Brot. Später gab es 1kg. Aber in den ersten drei Jahren war es nass, es hatte keine Konsistenz. Man konnte die Brotlaibe nicht zählen um zu sehen, wie viele geliefert worden waren, weil sie sehr weich waren. Es war schrecklich. Es war etwas Gebackenes mit einer dünnen Kruste. Das Brot, das die Russen bekommen haben, war etwas ausgebackener. Ebenso schlecht, nass, aber etwas ausgebackener. Wir haben uns nicht mit den Russen verglichen, die immerhin auch Essen von zu Hause hatten, auch wenn es nur eine Kartoffel und das ewige Kraut waren. Ein Krankenhaus ohne Medikamente Wegen der schweren Arbeitsbedingungen bin ich einige Male krank geworden. Einmal wurde mein rechter Fuß zwischen zwei Loren eingequetscht und ein Stück Fleisch bis auf den Knochen herausgerissen. Das war sehr übel. Ich wurde sofort in die Sanitätsstation des Lagers gebracht. Die Frau des Kommandanten war Ärztin, obwohl sie nur drei Jahre Medizin studiert hatte. Ich war bewusstlos und nach zwei Tagen wurde ich nach Kapitalnia transportiert in mein ehemaliges Lager, wo auch das Krankenhaus für die ganze Region war. Ein armes Krankenhaus, wie nach dem Krieg. Dort war ein alter Arzt, ein sehr guter, welcher Deutsch und Französisch sprach, circa 70 Jahre alt, ein Chirurg, der mir sagte, dass er außer Jod und Peroxyd nichts hatte. Absolut nichts. Ein paar Aspirintabletten. Er hatte keine Medikamente. Der Arzt sagte mir: „Wenn du sofort gekommen wärest, hätte ich vielleicht mit einem Kollegen aus einem anderen Krankenhaus dir ein Stück Muskel irgendwo herausschneiden kön­nen, wir hätten eine Operation gemacht, aber ich weiß nicht, ob ich die nötigen Utensilien gehabt hätte, um keine Infektion hervorzurufen.“ Und ich habe gesagt: „Herr Doktor, machen Sie, was Sie wollen, nur damit ich weiter lebe“. Er war ein sehr gewissenhafter Mensch. Und er tat,

Matilda Jica, geb. Ehlinger ,,was er tun konnte. Er gab Jod und Peroxyd auf die Wunde. Und dies 2-3 Tage lang, mit viel getränkter Watte. Der Eiter ist herausgekommen, und er hat mir den Fuß in Gips gelegt, damit er heilt. Er hat hingeschaut und gesagt: „Eine Operation kann nicht gemacht werden“. Ich lag drei Monate im Krankenhaus und in diesen drei Monaten hat er den Gips 3-4 mal aufgeschnitten, weil er feucht geworden war vom Eiter. Und dabei sind einige Würmer hervorgekommen, über die jeder Mensch staunen würde. Aber er sagte: „Wenn es diese Würmer nicht gegeben hätte, hättest du sterben können, weil sie haben alles gefressen, was für dich der Tod hätte sein können“. Alle Mikroben. Und sie kamen heraus aus dem Gips. Ich kann euch nicht sagen, was ich gefühlt habe, als ich den ersten Wurm sah, der aus meinem Fuß kroch. Des Weiteren andere Krankheiten: Erkältung, Husten. Niemand hat nachgeschaut, ob du etwas an der Lunge hast. Einige Kommissionen haben gesagt, dass ich etwas am Herzen hätte, dann, als ich fertig war, mit dem Krankentransport wegzufahren. Bei uns hat keiner Selbstmord begangen, aber manche haben nicht mehr gegessen. Sie konnten nicht mehr essen, was ihnen die Russen gegeben haben. Aber das war auch Selbstmord. Das ging so anderthalb Jahre lang. Das war auch eine moralische Ablehnung; seelisch gesehen brauchten die kein Essen mehr. Sie sagten, das sei kein Leben. Das ist auch eine Art Selbstmord. Und so starben viele, weil sie bis zuletzt auch den Tee abgelehnt haben, dieses warme Wasser. Ich zum Beispiel habe nicht ums Verrecken, anders als manche Männer, Katzenfleisch gegessen. Im ganzen Dorf gab es deshalb keine Katzen mehr. Aber Pflanzliches schon gegessen. Und was die Russen gegessen haben, habe ich auch gegessen. Und wenn es nur ein Rest von einem Krautkopf war, ob es der Stummel oder nicht… Wehe mir, wer hat auf so etwas schon geschaut?!

123 Grundsätzlich sind die Russen menschlich mit uns umgegangen. Verbittert waren lediglich zwei Russen. Sie haben uns vor allem seelisch gequält. Ich wurde in den Keller gesperrt, weil ich ihm geantwortet habe, wie ein NKVD-ler nicht sein sollte. Mein Gott, ich konnte nicht anders. Aber er hätte, darauf bin ich erst später gekommen, mir mehr Böses antun können, er hätte mich nach Sibirien schicken können. Viele sind bestraft worden in anderen Lagern, bei uns nicht. Man hörte dass manche geflüchtet sind und sie wurde erschossen, ich weiß nicht wo, ich habe nichts gesehen. So wurde es erzählt. So etwas ist in unserem Lager nicht passiert, dass einer umgebracht worden ist. Wir haben die Russen, die lokale Bevölkerung, nicht gehasst und diese uns auch nicht. Und es ist zwei bis dreimal vorgekommen, in den fünf Jahren, solange ich dort war, dass ein Russe etwas gesagt hat, und wenn ich ihm geantwortet habe, wie es sich ziemt, hat er nicht einmal geflucht. Die Jugendlichen waren etwas unnachgiebiger. Sie haben nicht begriffen, was wir dort suchten und ihnen auch das letzte Gramm Brot wegaßen. Dass wir zu Hause nichts zu essen gehabt hätten, sagte man ihnen bei den Parteisitzungen. „Sie haben nichts zu essen in Rumänien und jetzt kommen sie zu uns.“ Marusia, die Freundin außerhalb des Lagers Wir kannten die Dorfbevölkerung, weil sie ans Lagertor kam, um uns das eine oder andere zu verkaufen. Oder zu kaufen. In den ersten beiden Jahren verkauften wir die Kleider, die wir von zu Hause mitgenommen hatten. Aber, wenn du weise warst, hast du nicht alles verkauft. Ich habe etwas verkauft, als ich schon für den Heimtransport gelistet war. Nachdem mir die Abreise aber abgelehnt worden war, war Marusia, eine Russin, mit der ich mich gut verstand, sehr anständig. Sie sagte: „Du bist noch hier?“

124 Und was hat Marusia dann gemacht? Ich hatte ihr meine Bettdecke für 15 Rubel, was schon eine gewisse Summe für sie war, verkauft. Aber sie hat sie mir zurück gebracht und hat mir auch noch einen Becher Joghurt gegeben, ohne Geld. Sie war sehr anständig. D.h. wir haben uns mit den Dorfbewohnern verstanden. Jeder hatte seine Bekannten. Zum Beispiel hat der Lagerkommandant uns erlaubt, mit einem Ausgehschein das Lager zu verlassen. Wir sind gegangen und haben bei den Dorfbewohnern die Gärten umgegraben. Wir haben in ihren Häusern, auf den gemauerten Backöfen übernachtet, wie es sie auch in unseren Dörfern gab. Dort schliefen wir neben den Ziegen und Ferkeln. Im Haus hatten sie nur eine Küche und einen Eingangsflur. Der Rest war zerbombt. Da, wo ich war, war das eine Art Hütte. Zu den Russen hatten wir sehr menschliche Beziehungen. Cazacioc, so hieß der Lagerkommandant, hat uns einmal erzählt, dass seine beiden Brüder von den Deutschen im Wald erschossen worden waren, weil sie Partisanen waren. Er ist nicht umgebracht worden, weil er einen anderen Auftrag hatte, er war noch jünger und anderswohin entsandt worden. So hat er es uns erzählt. Die Leute waren somit sehr betrübt. Aber er hat uns Deutsche nicht gehasst, im Gegenteil, er hat uns beschützt. Das wollte ich sagen. Schlicht und einfach, der Mann hat es so gesagt: „Die anderen haben es getan, nicht du“. Gut, er war Lehrer, ein Mensch mit Bildung, er sagte nicht Auge um Auge, Zahn um Zahn. Er dachte anders. Wir haben auch andere Lager besucht. Wir haben eine Theatergruppe gegründet. Wir hatten jemanden, einen Ingenieur aus Lugosch. Er schrieb ein paar lustige Stücke, immer lustige, vollgepfropft mit Witzen. Wir waren auf Besuch in Lagern mit deutschen Gefangenen, aus Deutschland. Wir tanzten und spielten Theater. Aber das war erst acht Monate bis ein Jahr, bevor wir nach Hause ka-

Matilda Jica, geb. Ehlinger men. Also in etwa Ende 1948, Anfang 1949. Es wurde gesungen und es wurden Feiern im Lager veranstaltet, wir tanzten. Es gab weniger Männer als Frauen. Wir sangen deutsche Volkslieder und passten auf, dass keines davon die Russen an bestimmte Gräueltaten erinnert. Denn die Mitglieder der SS hatten die Gepflogenheit, überaus bekannte Musik aufzulegen und dabei zu töten. Manche waren sehr unerbittlich. Wir waren auch im Lager Nr. 2, dem SS Straflager, wo es nur höhere Offiziere gab. Dort war auch mein Bruder. Bei denen war die Mine im Lager, aber sie hatten eine besonders schöne Arbeit, weil sie sich durch Arbeit hochgearbeitet hatten und geschätzt wurden. Die Russen brauchten sie. Und dort waren wir mit Sketschen und Volkstänzen. Und man staune, aus jedem Draht, aus jeder Schnur, haben wir Opanken gemacht, haben die Bänder mit allerlei Unkraut gefärbt, damit sie die Farben Rot, Gelb und Blau hatten (auch wenn das Blau eher grün schimmerte), und haben den „Calusarul“ getanzt. Der Saal war voller früherer SS-Männern. Eine Frau aus Lugosch spielte rumänische Volkslieder auf dem Akkordeon. Als die rumänische Musik begann, rumorte es im Saal. Die NKVD-isten, die in der ersten Reihe saßen und auch außen drum herum waren, erschraken. Von der rechten Seite des Saales, wo die Zuschauer saßen, kam Beifall. Manche brachen in Tränen aus. Das waren die SSLeute, die aus Rumänien stammten. Die NKVD-ler wussten nicht, was passiert war. Sie haben uns gefragt: „Was habt ihr gemacht, was habt ihr auf der Bühne?“ Circa drei Mal waren wir dort. „Wascht euch und bereitet euch auf den Weg vor“ Nach Hause sind wir erst nach fünf Jahren zurückgekehrt. Jener Satz, scoro damoi, bald werdet ihr nach Hause fahren, wurde uns eigentlich fünf Jahre lang wiederholt gesagt.

Matilda Jica, geb. Ehlinger Aber plötzlich, bei einem Antritt im Karree, hat der Lagerkommandant uns mitgeteilt: „Ihr geht jetzt nicht zur Arbeit, ihr geht euch waschen, richtet euer Gepäck, weil ihr fahrt nach Hause und wir können euch so nicht nach Hause schicken, wie ihr jetzt ausseht. Verkauft nur das, was ihr überhaupt nicht mehr braucht, oder gibt es her oder macht, was ihr wollt damit. Aber bringt nicht Sachen heim, die ihr zu Hause nicht braucht, all den Müll, ihr habt nicht warum. Und ruht euch aus und bereitet euch für die Reise vor.“ In anderen Lagern kamen die Laster in zwei Stunden und haben die Leute weggebracht. Aber bei uns, in unserem Lager, wurden wir rechtzeitig verständigt, anderthalb Wochen haben wir nicht mehr gearbeitet, sondern uns für die Reise vorbereitet, haben Großputz gemacht und Abschied genommen. Wir haben Adressen ausgetauscht. Wir waren frei. Wir haben nicht mehr gearbeitet. Wir sind ins Dorf gegangen und haben uns von allen verabschiedet, mit denen wir gute Beziehungen hatten und, soweit möglich, sind wir auch in 2-3 umliegende Dörfer gegangen, die nicht weit entfernt waren, in denen wir gearbeitet hatten oder in denen uns jemand einmal zu Essen gegeben hatte. Zum Schluss sind wir mit dem Laster dann zum Bahnhof gefahren, mit dem Gepäck und allem drum herum, wir haben uns verab-

125 schiedet von denen die uns hingebracht hatten. Es sind Leute aus dem Dorf gekommen, um uns nochmal zu sehen, wir haben Adressen ausgetauscht. Ich habe mit niemandem aus dem Dorf korrespondiert. Wir glaubten erst, dass wir wegfahren, als der Zug los fuhr und wir gesehen haben, dass die Waggons nicht verschlossen wurden. Dass wir frei sind. Wir hatten alles, was wir brauchten. Unser ganzer Weg waren Lieder, Frohsinn und Gebete. Zumindest in dem Waggon, in dem ich war. Es war sehr ermüdend, aber angenehm. Als wir in Bessarabien angekommen sind, hat uns ein Bahnhofsvorsteher gesagt: „Hier werdet ihr sechs Stunden halten“, oder an anderer Stelle 2 Stunden oder „Bitte, nicht aussteigen“. Wir wurden andauernd informiert. Sie sind sehr schön mit uns umgegangen. So konnten wir auch in die jeweilige Stadt gehen oder auf den Markt. Wir sind durch den Norden Rumäniens gereist und über Sighetul Marmatiei gekommen. In Temeswar habe ich, ohne aus dem Zug auszusteigen, gewartet. Danach bin ich bis Lugosch weitergefahren. Dort habe ich auf den Zug gewartet, der in unseren Ort fuhr. Meine Eltern waren verständigt worden, dass ich ankomme und so sind sie gekommen, um mich zu begrüßen. Ich war nicht glücklich, sondern sehr glücklich.

Zurück in die Heimat mit dem ersten Krankentransport1

I

ch1war damals Schülerin und 16 Jahre alt; die Schule hatte ich nicht abgeschlossen. Sie nahmen meinen Bruder und meinen Vater mit, sie kamen wieder und holten mich und meine Mutter. Der rumänische Soldat 1 Aufgezeichnet von Florin-Răzvan Mihai und Cristina Diac

Ana Lungu, geb. Kungl (Rumänien)

trat nicht in unser Haus, aber der russische kam herein und sagte: „Aaa, burjui, burjui.“ Mein Vater war Tischler, er hatte schöne Möbel gemacht. Sie sagten, wir wären „burjui“ (von „Bourgeois“, Anm. des Übersetzers). Alle Schwaben waren gut eingerichtet. Wir hatten zwei Zimmer, Küche und Gerätschaften im Hof. Wasser vom Brunnen, Regen-

126 wasserbecken. Schön, sauber. Meine Großmutter, im Alter von 70 Jahren, blieb allein. Ohne Einkommen, ohne etwas, mit nichts. Sie sagten uns, dass wir in einer Stunde reisefertig sein sollten, mit einem Bündel Kleidung, mit Wasser, mit Essen, mit allem Nötigen. Sie sagten uns nicht, wohin wir gehen. Sie brachten uns im Lyzeum Nr. 1 unter, das jetzt in der Bastille ist, bei Tietz. Dort brachten sie uns unter. Meine Großmutter kam noch dorthin, sie stammte aus Panciova und sprach serbisch. Gut, sie war Deutsche, aber sie lebte dort, unter Serben. Und sie sprach mit den Russen und so ließen sie sie herein und sie sprach noch mit uns. Ich nahm warme Kleidung mit, denn es war Winter, es war der 23. Januar, es war sehr kalt. Ich nahm einen Koffer mit Kleidung, ein Bündel Kleidung auf den Rücken, Essen und Wasser. Dann machten die Russen einen Appell und ließen uns eine Nacht dort. Am zweiten Tag wurden wir in Waggons verladen, in Viehwaggons, sie brachten uns bis zum Bahnhof, hier unten, wo es einen kleinen Bahnhof gibt (in Reschitza). Und sie machten keinen Halt bis Orschowa. Und sie gaben uns nichts. Und in Orschowa machten sie den ersten Halt. Es kamen noch Leute mit anderen Waggons und von woanders und so erkannten wir einige wieder, die aus Bocsa Montana waren. Die anderen waren aus Reschitza. Auf einer Seite waren die Frauen, in diesen aufeinander gestellten Bretterbetten. Auf der anderen Seite die Männer. Für die Notdurft gab es ein Loch, man musste mit einer Decke oder einem Leintuch kommen, damit man nicht gesehen werden konnte. Zwei Brote am Bahnhof, in Braila Als Heizung gab es eine Art kleinen Ofen, gefertigt aus einem Fass, mit Kohlen und Holz. Wir gingen immer nach oben, nicht nach unten. Denn oben war es wärmer. Man

Ana Lungu, geb. Kungl saß dort zugedeckt. Man hatte nichts zu tun, manche erzählten, andere sprachen. Die Russen grüßten uns durch das vergitterte Fenster: „Was macht ihr noch?“ Wir waren hinter Schlössern eingesperrt. Dann blieben die Russen stehen. Sie erlaubten den Männern auszusteigen, um Wasser zu holen und dann luden sie uns wieder ein und machten bis Braila keinen Halt. In Braila hielten wir ziemlich lange. Es kamen zwei Eisenbahner. Ich war gerade am Fenster und sie sagten: „Bleiben Sie hier, wir kommen in einer Stunden wieder.“ Und tatsächlich kamen sie nach einer Stunde wieder, sie brachten mir zwei Brote, bis dahin hatte ich noch keine so langen, dünnen Brote gesehen. Sie gaben uns auch Kuchen, nur mir und meiner Mutter. Und es gab keinen Stopp mehr bis Ungheni. In Ungheni übernahmen die Russen uns in ihre Waggons, sehr groß, in die etwa 80-100 Personen passten. Sie gaben uns Schwarzbrot, von diesem runden. Ansonsten gaben sie uns nichts. Und wir fuhren, fuhren… Nach drei Wochen kamen wir im Donbas an. Dort luden sie uns aus, wir mussten uns nochmals in Kolonnen aufstellen, nochmals gab es einen Appell. Sie trennten mich nicht von der Mutter. Absolut nicht. Es gab drei riesengroße Gebäude. Dort waren wir ca. 1.200 Personen. Sie gingen folgendermaßen vor: Frauen und Männer getrennt voneinander. Sie gaben uns Suppe aus sauren Gurken, aus eingemachter Paprika und eingelegten Tomaten. Aber wer konnte das essen? 200 Gramm Schwarzbrot, aber es war voller Wasser. Und etwas Käse, Gerste. Die Frauen schlugen sich noch durch, wir kochten Mamaliga. „Oh, schon wieder Mamaliga, diese Schweine geben uns schon wieder Mamaliga“, sagten alle. Mamaliga kann man ohne etwas essen, Kraut kann man nicht allein essen. Denn die Russen fragten ständig, was mir schmeckte und ich antwortete, dass ich gerne gebratene Kartoffeln esse. „Aha“, sagten sie, „du bist schlau, dir schme-

Ana Lungu, geb. Kungl cken nur die guten Sachen.“ Vom Militär bekam ich noch Konserven: lange, getrocknete Kartoffeln und Fleischkonserven. Aber diese waren nur für Offiziere. Die normalen Russen hatten nur Kraut und Fisch. Im Allgemeinen war es dort sehr kalt. Es gab sogar minus 42 Grad! Manchmal mussten wir Mädchen, wenn wir nicht arbeiteten, Wasser holen. Einer hatte ein Pferd und einen Wagen, und so brachten wir Wasser, in einem Fass und in Flaschen. Aber bis wir ins Lager kamen, zerbrachen die Flaschen, und das Wasser war hinüber, weil gefroren. Sie riefen uns zum Appell, auch bei Kälte. Sie stellten uns alle in die Reihe: „Odin, dva, tri, citiri, piat“. Der, der uns zählte, vergaß, dann fing er von vorne an. Dann sagte er: „Davai, davai, hai, geht weg, geht weg!“ Sie hielten uns dort bis zum Umfallen. Alle zwei Wochen wurden wir ins Bad geführt, es gab dort einen Zuber, in dem wir die Kleidung von Läusen desinfizieren sollten. In Russland wachsen die Läuse sogar im Gras. Sie führten uns in einen Garten, meine Mutter sagte: „Komm auch du mal heraus.“ „Ich kann nicht, mir ist schlecht.“ „Komm schon, komm.“ Ich ging hinaus. Dann sah sie, dass meine Lippen blau angelaufen waren. Als ich nach unten schaute, sah ich, dass Läuse sogar auf dem Gras waren. Trotz alledem, viele aus dem Lager gingen dorthin, sie freundeten sich an, sie verlobten sich, sie heirateten. Uns teilten sie folgendermaßen auf: Meine Mutter, da sie schwach und krank war, musste aufwischen, saubermachen. Und mich teilten sie ein zum Anschieben der Waggons, aber übertage. Bei der Mine. Sie gaben uns Wintermantel, Hose und Handschuhe nur zum Arbeiten, danach wurden sie uns weggenommen. Ich arbeitete dort nicht sehr lange, da ich krank wurde. Danach schickten sie mich in die Küche für die Offiziere. Nach zwei Monaten Arbeit war mein ganzer Körper mit Wunden bedeckt, auch auf den Brüsten, auf dem Rücken und überall. Als ich

127 in der Offiziersküche war, mussten wir Fisch putzen und ich weiß nicht, wie ich mich infiziert hatte, der Feldscher schnippelte an mir herum, weil Arzt war er keiner, aber immer, wenn er mich schnitt, wurde das Blut sofort hart wie Beton. Seit dann konnte ich dort nicht mehr arbeiten. An einer Hand hatte ich 27 Wunden, auf der Brust, auf den Füßen. Dann bekam ich noch Wasser in die Füße, es ging bis zu den Knien. Soweit ich weiß, starben im Lager 3 Frauen und 27 Männer. Einem Alten, der dort im Lager blieb, stieg das Wasser bis zum Herz, so dass er starb. Einige arbeiteten auf dem Kolchoz, andere in der Mine. Ich weiß nicht, was es war. Was soll ich Ihnen sagen? Dann bekam ich eine Art Arthritis, ich konnte kaum gehen. Ich bekam Fieber und der Feldscher sagte: „Wenn das Fieber nicht fällt, bringen wir dich nach Sverdlovsk.“ Dort, in ca. 100 km Entfernung, gab es ein Krankenhaus. Ich hatte 41,3 Grad Fieber; die ganze Nacht wusch meine Mutter mich mit Wasser ab, im Gesicht, die Hände, die Beine, um das Fieber zu senken. Tatsächlich sank die Temperatur. Es kam eine Kommission aus Moskau. Sie sagte: „Anischka, du gehst nach Hause. Aber wann, das können wir dir nicht sagen.“ Die Sibirier, gute Menschen Ich arbeitete in einer Küche, in der nur Offiziere aßen. Dieser Laden war außerhalb des Lagers erbaut worden, aber sie ließen sowohl mich als auch meine Mutter in den Basar gehen. Meine Mutter sagte: „Ich gehe nicht ohne mein Mädchen, habt keine Angst, dass ich abhaue, denn ich weiß nicht, wohin ich gehen sollte.“ In der Zwischenzeit kam einer, Sascha, Student im II. Jahr bei Medizin, zu mir und sagte: „Anischka, sag mir, wie dein Vater heißt, denn ich gehe nach Voroschilowgrad, und dort gibt es viele Lager mit vielen Menschen. Aber du musst mir sagen, wohin sie ihn gebracht haben.“ Und er ging weg. Als er zurückkam, sagte er zu mir:

128 „Es gibt dort 1.200 Akten, aber ich habe ihn nicht gefunden und ich weiß nicht, wo er ist. Aber das macht nichts, du wirst nach Hause fahren.“ Sascha war Sibirier. Und unser Lagerkommandant Ivanov war ebenfalls Sibirier. Es waren außergewöhnlich gute Menschen. Ich beklagte mich nicht. Wenn der politisch Verantwortliche Männer in den Kerker warf, sie im Keller einsperrte, kam Ivanov und sagte: „Komm, geh raus.“ Er war sehr gutmütig. Ein anderes Beispiel. Bei uns gab es eine Schwäbin, die auf dem Kolchos arbeitete. Dort traf sie deutsche Soldaten, die Kriegsgefangene waren. Sie ging zu Ivanov und bat ihn, dass sie die Soldaten besuchen darf, unter denen auch ihr Ehemann war. Er sagte: „Ja, du kannst gehen, wenn du willst, können wir ihn auch hierher ins Lager bringen.“ Dieser Ivanov hat viel Gutes getan. Sie waren auch streng zu ihren eigenen Leuten. Eine Russin vom Lagerpersonal tat immer viel Wasser ins Brot. Nicht einmal 2 Stückchen wogen 200 Gramm! Und die Menschen zeigten sie an. Ich weiß nicht, was passiert ist, vielleicht hat Ivanov eingegriffen, aber am zweiten Tag wurde sie verurteilt. Auch mit den Offizieren hatte ich keine Probleme. Immer sagten sie zu mir malinki fritzki“, kleiner Fritz. Und sie stritten miteinander, ich weiß nicht, was sie machten und sie sagten: „Anischka, habe keine Angst, wir tun dir nichts.“ Aber sie stritten sich. Ich hörte sie, auch wenn sie die Tür zumachten, aber auch in der Küche und im Speisesaal konnte man sie hören. Aber sie waren anständig. Ich verstand ein bisschen Russisch, aber jetzt habe ich alles vergessen. Auch die Russen waren arme Menschen, der Krieg hatte sie auch erreicht. Es war auch für sie nicht besonders angenehm. Hingegen war unser politisch Verantwortliche, Habidulin, ein Mongole, unglaublich bösartig. Er kontrollierte uns ständig. Aber wir hatten mit ihm nichts zu tun.

Ana Lungu, geb. Kungl Die bittere Armut der Russen Die Küchenchefin war eine Russin, Polina, früher Lehrerin. Oft schickte sie mich zu sich nach Hause, um ihr etwas zu holen. Da ich nicht russisch lesen konnte, schrieb sie mir auf einen Zettel, was ich bringen sollte. Wenn ich durch das Dorf ging, erschrak ich. Denn ich sah nur die Mongolen, wie sie aus den Minen kamen. Ich lief wie eine Verrückte! Die Russen hatten kleine Häuser. Jedes Mal, wenn ich zu Polina nach Hause kam, bekam ich Ziegenmilch. Sie gaben mir zu essen, danach gaben sie mir das Päckchen für Polina. Sie waren anständig, ich kann nichts sagen… Polina hatte auch ein Mädchen, Ljuba, mit fünf Jahren. Aber ihr Mann, ein Leutnant, war noch im Krieg. Der Krieg zog auch über diese Gegend, die Menschen waren verbittert. Zu Hause bei den Eltern der Köchin sah ich ein angekettetes Schwein. „Aber warum? Auch der Hund ist frei“, sagte ich. Sie antworteten mir: „Ja, der Hund wird nicht gestohlen, aber das Schwein schon.“ Neben dem Haus war kein Zaun. Er war wohl abgebrannt. Sie hatten einen Eingang, dort lag das Holz, dann eine Art Küche mit einem gemauerten Ofen, sie hatten dann noch eine Art Stockwerk, wo alle schliefen. Im Zimmer hatten sie einen Tisch, ich weiß nicht, ob sie einen Schrank hatten, ich erinnere mich nicht, Stühle, unten Gras, wovon auch die Ziege fraß. Im Haus. So war es halt, die Erde und das Gras auf dem Boden, im Haus! Aber ich sagte nichts, was sollte ich denn sagen? Als ich im Lager ankam, vor dem Aussteigen, hatten viele noch Brot und warfen es auf den Boden. Die russischen Kinder kamen und sammelten es auf. Und ich sagte: „Tatsächlich muss die Armut hier bitter sein.“ Wenn die armen Kinder kommen und das Brot auflesen… Nachdem Polina als Angestellte eingestellt worden war, wurde an ihrer Stelle Ana Tolea ernannt, die Tante des Kommandanten. Eine sehr anständige Alte! Sie ging ins Dorf, um Karten zu spielen und was sie bekam,

Ana Lungu, geb. Kungl brachte sie mir zum Essen mit. Glauben Sie mir? Einige, die Deutsche waren und Verwalter über einen Block, waren schlechtere Menschen. Gut, sie ließen uns in Ruhe. Aber sie stritten sich mit den Frauen. Aber Mutter sagte: „Wenn sie mich nicht in Ruhe gelassen hätten, weiß ich nicht, was ich mit ihnen gemacht hätte.“ Gegenüber von unserem Zimmer gab es einen großen Saal und jeden Abend spielte dort ein Freund aus der Kindheit meiner Mutter, ein Schneider, Schandi, mit dem Akkordeon. Er sagte zu mir: „Komm tanzen, komm tanzen.“ Ich ging nicht, denn ich war krank. Einmal sagte Schandi zu meiner Mutter: „Steffi, komm, schau mal, ein Tanz mit dir und damit haben wir die Geschichte abgeschlossen.“ Es kamen noch Jugendliche, sie unterhielten sich, sie machten sich den Hof. Ich war sehr isoliert, eher verängstigt. Meine Mutter schloss noch einige Freundschaften im Lager. Es gab da einen Offizier, ein russischer Übersetzer jüdischen Ursprungs, ein Markovici, der mich eines Tages fragte, er sprach nämlich deutsch, ob ich niemanden kenne, der ungarisch spricht. Denn er hatte eine Frau aus Budapest, als diese 16 war, zu sich genommen, im Ersten Weltkrieg, und seitdem war er nicht mehr zu Hause in Ungarn gewesen. Er würde so gerne mal wieder seine Muttersprache sprechen. Ich sagte: „Meine Mutter.“ Sie hatte auch die ungarische Schule besucht, sie sprach sehr gut. Sie trafen sich und sprachen sehr oft miteinander. Ihre Jungen waren schon groß, sie hatte noch ein Mädchen, Valea, 6 Jahre alt. Einmal sagte unser Kommandant, dass eine Schneiderei nur für Offiziere und ihre Frauen eingerichtet wird und dass es einen Wettbewerb zur Einstellung von Mitarbeitern geben wird. Er sagte uns, dass sich 200 Frauen angemeldet hatten. Einige behaupteten, dass sie Schneiderinnen seien, einige waren es tatsächlich, andere nicht. Nach einer Art Prüfung wurden vier ausgesucht. Meine Mutter

129 war eine davon. Sie arbeitete dort, zusammen mit drei Männern: Galitzki, Mittelbaum und Schandi, der mit dem Akkordeon. Eines Tages kamen zwei Russinnen ins Lager, die von Deutschen nach Nürnberg deportiert worden waren, wo sie in einer Fabrik gearbeitet hatten. Sie kamen ständig mit Koffern und schöner Kleidung. Ich habe sie gefragt: „Woher habt ihr so viele?“ „Wir haben ihnen Brot gegeben und die Deutschen haben uns Kleidung gegeben.“ Als dies der politisch Verantwortliche erfuhr, wurden sie am nächsten Tag in die Mine gebracht. Fertig, es wurde nicht mehr diskutiert. Sie sagten immer: gui, gui, Stalin. Dass sie sie umbringen. Sie sagten noch, dass wir in Rumänien keine Häuser haben, dass wir so wohnten, wie in einem Keller, in der Erde und dass wir Hörner hätten und wer weiß was noch. So eine Dummheit! Das sagte die Propaganda über die Deutschen. Damit wir nach Hause können, hat meine Mutter bestochen. So kamen wir auf die Liste der Kranken, die abtransportiert werden sollten. Meine Mutter gab Polina, die Angestellte war, ein Kleid aus Stoff. Meine Mutter verkaufte im Basar viele mitgebrachte Kleidungsstücke, die gute Kleidung, die wir noch von zu Hause hatten. Sie verkaufte einen Anzug meines Vaters an einen Lehrer im Dorf. Sie ging eines Tages und der Russe sagte zu ihr: „Jetzt habe ich keine 2.000 Rubel, aber wenn Sie wiederkommen, werde ich sie beschafft haben.“ Und an einem Sonntag bekam sie die 2.000 Rubel. Es blieben uns 1.500. Polina setzte uns auf die Liste. Jeder gab etwas: Akkordeon, Geige, Kleidung, Geld. Auf die Liste kamen auch Leute, die nicht krank waren. Gorlovka, ein fehlgeschlagenes Familientreffen Am 4. Oktober 1945 kündigten sie an, dass wir nach Hause dürfen. Alle waren erstaunt, wie ich 4 km bis zum Bahnhof gehen konnte.

130 Eigentlich war es kein Bahnhof, der Zug war irgendwo neben den Bahnhof gezogen worden. Dort machte man den Appell und meine Mutter und ich fuhren weg. Es war der erste Transport. Man fragte uns: „Wohin wollen Sie, nach Rumänien oder nach Deutschland?“ Die Mehrheit war für Rumänien. Ich sagte: „Ich fahre nirgendwohin, ich will nach Hause, nach Reschitza.“ Sie luden uns in Gorodalka ein und wir hielten erst in Gorlovka, wo wir 5 Tage blieben. Dorthin war mein Vater deportiert worden. Von ihm hatten wir nur einen einzigen Brief bekommen, in dem er geschrieben hatte, dass er in Stalino arbeitet. Aber Gorlovka war sein Lager. Wir sahen uns nicht… So lange wir hielten, stiegen die Männer aus, nahmen einen elenden, ramponierten Eimer, gingen aufs Feld und sammelten Kartoffeln. Im Waggon haben sie die Kartoffeln gekocht und gaben uns auch ein paar. Die Russen gaben uns nichts zu essen für unterwegs, aber wir wussten, dass wir abreisen werden und kauften einiges. Aber auch die Russen hatten nichts, die armen. Wir kamen durch Lemberg, durch Polen. Sehr schön war es, o Gott. Am 4. Oktober, als wir wegfuhren, begann es dort schon zu schneien! Von Lemberg fuhren wir dann bis nach Sighetul Marmatiei und dort haben uns die Rumänen übernommen. Sie machten einen Appell, es kamen einige von einer deutschen Gesellschaft aus Hermannstadt, die uns zu essen gaben. Wir wurden in einer uralten Burg untergebracht. Am Morgen fing ich an zu weinen. Meine Mutter fragte warum. So kamen die Läuse über uns. Wir putzten uns ständig. Von dort brachten sie uns zum Bahnhof. Der Zug hielt in Oradea, wo wir aufgeteilt wurden, einige wollten ins Ardeal, andere ins Banat. Wir fuhren dann ohne Unterbrechung nach Temeschburg. Wir kamen in Waggons für Personentransporte, nicht mehr in Viehwaggons. Ein Mädchen aus Simeria war mit ihrem Bruder unterwegs. Beide

Ana Lungu, geb. Kungl jung, wenn sie überhaupt schon 18 waren. Er war in Russland operiert worden, und er starb im Zug, im gleichen Waggon, in dem ich war. Seine Schwester bat uns alle, dass wir nichts sagten, damit er wenigstens bis ins Land gebracht werden kann. Keiner sagte etwas. Ich weiß nicht, ob sie ihn bis Simeria bringen konnten, aber ich weiß, dass er bis nach Hause kommen konnte. Als wir Richtung Reschitza fuhren, waren im Zug noch ca. 400 Personen. In Temeschburg, wo der Zug ein bis zwei Stunden hielt, wohnte die Schwester meiner Mutter. Sie kam zum Bahnhof und sagte: „Macht eine Zwischenstation bei uns.“ Aber Mutter antwortete: „Nein, ich fahre nach Hause, meine Mutter wartet sicherlich auf mich.“ Und die Tante brachte einen jüdischen Arzt, Schwarz, der ihr eine Salbe für mich gab. Uns luden sie an der Haltestelle „Flacara“ aus, wo sich ein Bahnhof befand. Jetzt gibt es ihn nicht mehr. Dort ist jetzt eine Firma. Dort sah ich meine Großmutter. Ich weiß nicht, woher das Auto kam, man sagte, es gibt ein Rennen, es war eine Karre und meine Mutter trug mich auf den Armen zu diesem Auto. Dann kam ich nach Hause, zog mich aus und nahm die Holzschlappen meines Vaters, die er draußen trug. Nur mit diesen konnte ich gehen. In Reschitza untersuchte Dr. Flatz kostenlos 400 Personen. Er gab mir ein Wasser, damit ich meine Füße damit spülen soll. Er sagte: „Unten an der Fußsohle wirst du immer sehr, sehr nass sein.“ Und tatsächlich, so floss das Wasser aus meinen Beinen ab. Es wurde uns nicht verboten, über die Deportation zu sprechen. Aber, als wir aus den Waggons ausstiegen, kamen einige von der Gewerkschaft oder von der Partei, ich weiß nicht, woher sie kamen. Es waren so vier – fünf, eine Delegation vielleicht. Da waren zwei Frauen, ich weiß nicht, welche Krankheit sie hatten, aber sie hatten nur ein Leintuch um sich gewickelt, keine Kleidung mehr. Die Delegation fragte die Frauen: „Wie war

Ana Lungu, geb. Kungl es in Russland?“ Und eine, da sie fast nackt war, öffnete das Leintuch und sagte:„Schau mal, so gut ist es uns ergangen.“ Dann fingen alle an zu lachen. Viele kamen in Holzschuhen und Holzpantoffeln, denn es gab keine Lederschuhe mehr. Die waren in Russland kaputt gegangen. Diese Delegation verschwand ganz schnell. Ich cremte mich mit der Salbe ein, die ich bekommen hatte. Es sind keine Spuren zurückgeblieben. Auf der Brust hatte ich eine Art Kruste, aber alles ist verschwunden. Nichts ist zurückgeblieben. Das Wasser ging weg. Dr. Flatz sagte: „Vorläufig solltet ihr nicht so viel essen, nicht so reichhaltig, weil ihr dehydriert seid, geschwächt, krank.“ Reschitza, „bei mir zu Hause“ Nach gut drei Jahren kam auch mein Vater zurück. Mein Bruder jedoch erst nach fünf Jahren. Vor Weihnachten musste mein Vater große Holzbalken tragen. Er war der letzte in der Kolonne. Weil Schnee lag, rutschten alle aus und meinem Vater fiel ein Balken auf den Bauch. Er verletzte sich die Blase und bekam Krebs. Aber er wollte nicht ohne meinen Bruder von dort weg und ihn dort allein zurücklassen. Mein Bruder sagte: „Fahr nur nach Hause, denn die sind ohne Hilfe, ohne alles.“ Und er kam nach Hause, über Focsani, nicht über Lemberg. Er lebte bis 1951, als er an Krebs starb. Mein Bruder kam 1950 zurück und er bekam gleich in der neuen Halle Arbeit. Er war Dreher. Er, der Arme, hatte in Russland im Steinbruch gearbeitet. Seine

131 Beine waren voller Narben, wo ihm Steine draufgefallen waren. Er erzählte mir, dass im Jahr 1946 eine grausame Dürre herrschte: „Wir zupften Gras aus und aßen es.“ Nach Ende des Krieges konnten sie auch nach Stalino gehen, wenn sie Geld hatten, denn sie bekamen etwas Geld, aber ich weiß nicht wie viel. Im Steinbruch wurden sie nicht bezahlt. Als er an der Drehbank war, bekam er Geld. Mein Vater machte hier und da ein Stühlchen, er bekam auch noch etwas. Meine Mutter fing mit dem Nähen an bei Nachbarn, bei Bekannten, denn sie war Schneiderin. Ich fand keine Arbeit. Ich war auch keine Schülerin. Ich blieb zu Hause, wir waren bei uns alle in einem Zimmer. Mutter hatte ein anderes Zimmer vermietet, an einen Mann mit seiner Frau. Der Staat gab uns Bons für Holz aus der Fabrik. Und Lebensmittelbons, mit denen wir Mehl bekamen. Nicht kostenlos, im Geschäft. Erst 1952 konnte ich eine Arbeit finden. Es war nicht leicht, ich arbeitete, wie ich konnte. Ich war dann Angestellte bei der Post, bei den Zeitungen. Dann ging ich weg nach Galati. Einige rieten mir, nach Deutschland zu gehen. Ich blieb hier. Ich war neun Jahre in Galati. Alle sagten: „Was willst du in diesem elenden Reschitza?“ „Wie auch immer, mir gefällt es, denn hier bin ich zu Hause.“ Danach heiratete ich, bekam zwei Kinder, meine Tochter ist verheiratet, sie ist Ärztin, ihr Mann ist Arzt. Sie hat eine Tochter, die die Fakultät abgeschlossen hat, sie ist in Tübingen und macht ihren Master-Abschluss.

Wir mussten vom ersten Tag an arbeiten1

Anna Leinhardt (Deutschland)

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ch1wohnte in dem kleinen Dorf Überland (Giarmata Vii). In diesem Kaff lebten Deutsche, Rumänen und einige Ungarn. Die Mehr1 Aufgezeichnet von Florin-Răzvan Mihai

heit jedoch waren Deutsche. Sie nahmen nur die Deutschen. Aus meiner Familie war nur ich allein deportiert. Es gab Gerüchte über die Deportation, aber niemand wollte sie glauben. Und am

132 Morgen um 5 Uhr kamen ein russischer Soldat und ein rumänischer Zivilist und haben uns erklärt, dass die Frauen von 18 bis 35 Jahre sich Lebensmittel für eine Fahrt nehmen sollen, die etwa drei Wochen bis zum Ziel dauert. Nämlich in Russland, dass wir dort arbeiten, wiederaufbauen, was die deutsche Armee im Krieg zerstört hat. Sie sagten uns auch, welche Kleidung wir brauchen. Wir wurden alle in Jahrmarkt versammelt. Wir wurden zum Bahnhof gebracht und in Waggons geladen. Wir fuhren fast zwei Wochen, vom Temeswarer Bahnhof bis wir 20 km vor Krivoi Rog ankamen. Ich weiß nicht mehr, ob wir durch Jassy (Iasi) fuhren. Ich habe so vieles vergessen. Dort nahmen sie uns aus den Waggons. Ich erinnere mich, dass ein Mann unterwegs fortlaufen wollte, aber man wusste nichts mehr über ihn. Ob er noch gelebt hat oder ob sie ihn erschossen haben oder was geschehen ist. Am Ziel erwarteten uns Häuser, die Stockbetten hatten, ohne Bettwäsche. Ohne etwas drauf. Ohne Fenster, ohne Türen. Es war ein neues Haus mit drei Stockwerken, unverputzt. Es war Raum für Fenster, Löcher, aber keine Scheiben. Man konnte somit nicht schließen. Es waren nur Löcher, kein Holz, keine Glasscheibe. Im Raum war ein kleiner Ofen, an dem wir uns mit Kohlen aufwärmten. Diejenigen, die von zuhause Steppdecken hatten, konnten sich zudecken. Die keine hatten, schliefen auf ihren Kleidern. Wir standen und hielten Decken vor die Fenster, jeder reihum, je zwei Stunden. Wir wechselten uns je eine ab, um wenigstens ein bisschen Wärme zu haben. Arbeiten mussten wir schon vom ersten Tag an. Zum Frühstück hatten wir Krautsuppe/Kohlsuppe. Wir bekamen keinen Reis. Wir bekamen Gerste, die man zuhause nicht mal den Pferden, sondern nur den Schweinen gab. Es waren Körner, die von der Mühle blieben. Wenn wir nachhause kamen, waren die Stiefel gefroren.

Anna Leinhardt Ich habe auf dem Bau gearbeitet, beim Gebäude-Abriss, bei Reparaturen. Ich war in der Brigade, die die Mauern niederriss, die sich nur in Eisenstangen hielten, wir warfen sie um und brachten sie weg. Wir säuberten die Steine und stapelten sie auf. Nachdem wir sie einsammelten, mussten wir sie vom Mörtel reinigen. Damit sie wiederverwendet werden konnten. Am 5. April 1945 kam ein Natschalnik und sagte uns, dass wir auf dem Feld arbeiten müssen. Es war ein Garten. Ein Jahr später wohnten wir in einem größeren Saal, mit Fenstern. Danach kam der Natschalnik eines Tages und sagte uns, dass wir ab nächsten Morgen früh in der Grube arbeiten müssen. Wir wurden von einem Laster abgeholt und zur Arbeit gebracht. Es war weiter, in einem Steinbruch. Wir gelangten per Lift an die Arbeitsstelle; wir stiegen in einen Schacht hinab. Dort waren wir bis zu 50 Personen. Wir arbeiteten 212 m tief. Die maximale Tiefe war jedoch 250 m. Drei Personen beluden die Loren. Es war eine sehr gefährliche Arbeit. Die in der Grube arbeiteten, bekamen täglich 1kg Brot. Am Ende des Jahres bekamen wir auch Geld, sehr wenig, aber damit konnten wir etwas kaufen. In der Ortschaft war ein Markt. Manchmal hatten wir Nachtdienst und gingen am Tag auf den Markt, kauften Gemüse, Obst, Zucker, Sonnenblumenöl, Weißbrot. Nur Geld hätte man haben müssen! Für die Frauen, die mit ihren Männern waren, die mehr arbeiteten, vor allem in den Wäldern, beim Roden und mehr Geld verdienten, war es gut. Sie hatten Glück. Wer den Mann nicht bei sich hatte, kam schwerer zurecht. Ein Sonntag freiwillig im Steinbruch Einmal sagte uns ein Natschalnik, dass wir ein einziges Mal freiwillig auch am Sonntag arbeiten müssen. Wir mussten in einem Steinbruch arbeiten, Steine liefern, Steine spren-

Anna Leinhardt

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gen, die Frauen jedoch mussten wegräumen. Freiwillig. Es wurde ein Tunnel geschaffen, die Frauen mussten sich durchzwängen. Sehr eng, dass kaum ein magerer Mensch durchkam. Wir legten Dynamit, um den Fels zu sprengen. Ich habe vier Jahre in der Grube gearbeitet. Den Rest auf dem Feld. Insgesamt war ich fünf Jahre in Russland. Wir, die wir in der Grube arbeiteten, wurden beneidet für das zusätzliche Kilogramm Brot. Niemals habe ich in den fünf Jahren, die ich dort verbrachte, weder Briefe geschickt noch welche von zuhause bekommen. Ich habe nicht erfahren, wann der Krieg zu Ende war, wir bekamen keine Zeitungen, wussten nicht, was draußen geschah. Jedoch Vorteile hatte ich, weil ich in der Grube gearbeitet habe, auch wenn es ermüdend war. Ein einziges Mal gab es einen Unfall. Einer von den Männern, die dort arbeiteten, ein Russe, der die Falltür öffnen und schließen musste, wurde lebendig vom Tunnel verschluckt. Material kam über ihn. Und der Mann starb. Gewiss gab es dort auch schöne Momen­ te... Wir feierten immer Weihnachten und

Ostern; dann sangen wir alle. Mit den Russen haben wir uns verstanden, weil wir immer dieselben Worte sagten. Wir gelangten dahin, dass wir einander verstanden. Wir brauchten die russische Sprache und lernten viele Wörter. Als man uns sagte, dass wir nachhause fahren, konnten wir es nicht glauben. Wir waren schon fünf Jahre in Russland. Doch als wir wegfuhren, haben wir erst gefeiert als, wir sicher waren, dass es heimwärts geht. Meine Eltern wussten gar nicht, wann wir angekommen waren. „Woher kommt ihr?“, fragten sie, als ich ankam. Damals war ich nicht verheiratet. Nach vierzehn Tagen, ohne Arbeit, ließ ich mich in einer Strumpffabrik anstellen, wo ich auch früher gearbeitet hatte. Nahe zu Temeswar. Mit meinen Kollegen hatte ich keine Zeit zu erzählen, was mir in Russland widerfahren war. Wir mussten ständig arbeiten. Es war keine Zeit. Es war selbstverständlich, dass ich nichts erzählt habe. Aus Rumänien bin ich 1975 weg. Ich hatte hier in Deutschland einen Cousin. Ich kam, ohne etwas zu bezahlen.

Eine ungewöhnliche Heimkehr: heimlich, zu Fuß, aus Deutschland1

Elisabeth Maltry, geb. Glassmann (Deutschland)

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ch1wohnte mit meinen Eltern in Jahrmarkt. Ich war 17 Jahre alt. Mein Vater war Zimmermann und meine Mutter war Fabrikarbeiterin. Beide arbeiteten in Temeswar, sie pendelten täglich, fuhren mit dem Zug zur Arbeit, es sind lediglich 10 km Entfernung zwischen den beiden Ortschaften. Aus meiner Familie wurde ich als einzige deportiert. Mein Vater wurde von der Liste gestrichen, weil er Soldat war. Ich hatte noch eine um zehn Jahre jüngere Schwester, 1 Aufgezeichnet von Florin-Răzvan Mihai

aber sie war nicht auf der Liste. Meine Mutter konnte zu Hause bleiben, obwohl sie das passende Alter hatte, weil sie meine Schwester versorgen musste. Es war der 14. Januar 1945, 8 Uhr morgens. Jemand hat ans Tor geklopft, es war ein russischer und ein rumänischer Soldat. In dem Moment war ich gar nicht auf der Liste, nur mein Vater. Ich bin 1927 geboren. Anfangs wurden die 1927 geborenen Frauen nicht genommen. Nach einer Stunde kam ein anderer Soldat, ein Rumäne, der hatte eine Waffe bei sich, und der hat uns auch mitge-

134 nommen. Einige Häuser einer Straße waren evakuiert worden, aber keiner wusste warum. Eine Frau aus unserem Dorf, mit der ich befreundet war, war sehr krank, sie ging mit zwei Krücken, sie ist auch genommen worden. Sie konnte überhaupt nicht arbeiten… Wir wurden alle in diese evakuierten Häuser gebracht und dort hielt man uns, Männer und Frauen, drei Tage lang am gleichen Ort. Und keine der Verwandten ließ man dort hinein. Nicht einmal Essen durften sie uns bringen. Dann kamen Lastwagen, die uns zum Nordbahnhof von Temeswar brachten, wo man uns in den Wartesälen gefangen hielt. Zwischenzeitlich hat man Viehwaggons vorbereitet, mit Stroh auf dem Boden, wo sie uns hinein steckten, Frauen und Männer zusammen. Es gab keine Fenster, es war dunkel und ein Mann hat ein Loch gemacht mit dem Taschenmesser, damit ein paar Lichtstrahlen in den Waggon hereinkommen. Danach wurde ein Loch in den Boden gemacht, damit wir unsere Notdurft verrichten konnten. Man hat eine Decke genommen, zwei Personen hielten sie so, dass du geschützt deine Notdurft verrichten konntest. Uns wurde nicht gesagt, wohin man uns bringen wird. Die Türen wurden verschlossen, keiner konnte mehr hinaus und los ging‘s. Jeder konnte einen Koffer mitnehmen. Darin habe ich eine Decke und Kissen und, was ich mit den Händen tragen konnte, eingepackt. Damals wurden im Winter Schweine ge­schlachtet, also gab es Schinken, Speck, Fleisch. Essen konnten wir mitnehmen. Aber wir hatten keine Ahnung, wohin wir gebracht werden und wie viel Essen wir mitnehmen sollten. In Jassy stand der Zug drei Tage lang. Jeder hatte die Hoffnung, dass die Deutschen kommen und uns befreien werden. Aber der Krieg war verloren! Der Zug ist dann weitergefahren. In Saporischschja war der erste Halt in Russland. Die Männer wurden ausgeladen und blieben dort im Lager. Die Fa-

Elisabeth Maltry, geb. Glassmann milien wurden getrennt, Ehefrauen von Ehemännern, Eltern von Töchtern. Untergebracht im Stall der Kolchose Die Frauen sind in den Waggons zurückgeblieben. Und der Zug ist weitergefahren. 11 Tage lang bis Nowotroizk. Ich habe in einer Kohlengrube gearbeitet, aber die meisten Frauen arbeiteten beim Gleisbau. Drei Jahre lang. Wir waren untergebracht in einem Stall, ich weiß nicht, ob sie dort vorher Kühe oder Pferde für die Kolchose hielten. In der Mitte gab es einen gemauerten Ofen. Rundherum waren Stockbetten aus Holz. Ohne Stroh, ohne etwas. Das Gebäude hatte keine Decke, man sah das Dach, das Holz, die Sparren, die Dachziegel. Es gab auch keine Glasfenster. Wir haben auf den Kleidern und Decken, die wir mitgebracht hatten, geschlafen und uns mit diesen zugedeckt. Wir hatten keine Wäsche. Im Hof gab es einen Brunnen, eine Grube, aus dem wir Wasser holten. Jeden Morgen mussten wir von dort Wasser holen, um uns zu waschen. Alles war voll mit Ratten. Voll! Wir hatten große Waschschüsseln, an denen sich je sechs Frauen wuschen. Abends füllten wir die, aber morgens war kein Wasser mehr drinnen. Die Ratten hatten es nachts gesoffen. Bis zu 13 Ratten waren in einer Waschschüssel. Auch in die WCs, draußen, in die Löcher, in die wir unsere Notdurft verrichteten, trauten wir uns nur hin mit einem Stock. Weil es von Ratten nur so wimmelte. Abends bekamen wir ein Stück Brot, das Essen für den nächsten Tag. Die Ratten fraßen unsere Koffer und unser Brot. So dass wir schon abends unsere Tagesrationen aßen. Es waren viele Sachsen bei uns. Und die Sächsinnen, welche aus kälteren Gegenden kamen, hatten Stiefeln und trugen Wollkleidung. Sie haben in das Holz der Dach­ konstruk­tion Nägel eingeschlagen, um daran ih­re Kleider aufzuhängen.

Elisabeth Maltry, geb. Glassmann Und morgens liefen dort oben die Ratten herum. Es gab auch Wanzen und Läuse. Nach 14 Tagen hatte jeder Läuse. Wir hatten kein warmes Wasser. Ein Friseur musste kommen, um uns kahl zu scheren, uns Frauen. Man hatte so viele Läuse, dass man die Haare nicht mehr auseinander machen konnte. Die Wanzen kamen bei Dunkelheit hervor. Die Finger waren dunkelrot, nachdem wir die Wanzen getötet hatten. Das war unsere Hauptbeschäftigung vor dem Schlafengehen. Ich habe bei den Bahngleisen gearbeitet, wir waren nur Frauen dort. Circa 20-25 Frauen. Wir hatten einen Chef, einen Russen, der ein Fußinvalide war. Ich weiß nicht mehr, wie er hieß, aber er war ein sehr guter Chef. Seine Kinder waren Kriegsgefangene, der Sohn bei den Engländern, die Tochter in Deutschland. Er war ein so guter Mensch! Ich war die Jüngste in meiner Gruppe. Und die Russen waren sehr arm, aber wenn beim Essen eine gekochte Kartoffeln übrig blieb, dann haben sie sie mir und einem anderen Mädchen gebracht. Wir waren die Jüngsten. Sie haben sie geteilt und uns beiden gegeben. Dort habe ich gelernt, dass es keine Feindschaft gibt, nur gute und schlechte Menschen, in jeder Nation. Wir arbeiteten Tag und Nacht Wir erhielten kein Geld. Absolut nichts, kei­nen Cent. Zu essen bekamen wir saure Krautsuppe. Wasser mit Gurken und Wasser mit Sauerkraut. Wir wollten nicht anderthalb Kilometer laufen, um einen Teller von dieser Brühe zu bekommen, welche in der Kantine serviert wurde. Es war zu weit und wir waren sehr müde. Und nach der Mittagspause mussten wir zur Arbeit zurückkehren. So haben wir auf jene Brühe verzichtet. Wir haben tags und nachts gearbeitet. Vor allem nachts war es schwer, weil es sehr kalt war. Und wenn aus den Schiffen die Eisenbahnschwellen entladen wurden, mussten wir arbeiten. In der Nachtschicht. Dort

135 in Nowotroizk gab es keine Kohlengruben, sondern nur Steinbrüche. Nach einem Jahr haben wir Kleidung bekommen, weil es im Winter sehr kalt war, 40-45° minus. Die meisten Frauen sind bei der Monatsblutung gestorben, sie hatten nicht, wie sich zu pflegen, wie sich zu waschen. Sehr viele sind im ersten Jahr gestorben. Man starb auch an Typhus. Man ist spät nachts heimgekommen, deine Kleider waren nass, es gab Hagel, Schnee, es schneite und du hattest nichts über dem Kopf. Und mit diesen nassen Kleidern hast du dich auch zugedeckt. Viele haben sich erkältet. Wenn einer sehr schwer krank war, kam ein Pferdewagen und weg war er. Aber niemand ist je zurückgekommen, ich weiß nicht, wohin man sie gebracht hat. Im ersten Jahr, im Dezember 1945, haben wir Weihnachten gefeiert. Ein Offizier und ein Soldat haben uns bewacht. Wir haben Lieder gesungen, Weihnachtslieder, und haben einen Weihnachtsbaum gemacht aus einem Ast, den wir mit Möhren- und Kartoffelschalen geschmückt haben. Die beiden Männer, die draußen standen, haben mit uns geweint. Und der Offizier sagte mir, dass die Russen keine Frauen, sondern Männer verlangt haben als Arbeitskräfte. Und nicht unbedingt Deutsche. Wir hatten keinen Kontakt mit der russischen Bevölkerung. Aber mein Chef ist sehr schön mit uns umgegangen. Aber die Frauen, die uns beim Ein- und Ausgang mit Gewehren überwachten, waren böse. Sie waren die Härteren, nicht die Männer, diese waren mitleidsvoller. Es gab auch Krankentransporte. Ich bin aber in keinen hineingekommen, weil ich nicht krank genug war. Obwohl sich mein Hals entzündet hatte, wurde ich nicht behandelt, weil es keine Medikamente gab. Aber zwei Frauen sind gestorben und ich habe ihren Platz bekommen, weil ich eine von den Jüngsten war.

136 Von Frankfurt an der Oder nach Arad, zu Fuß, in 14 Tagen Nach drei Jahren wurde ich nach Hause geschickt, aber nicht nach Rumänien, sondern nach Deutschland, nach Frankfurt an der Oder in der sowjetischen Zone. Dort ist der Transport angekommen. Man hat uns gefragt, ob wir zurück nach Hause fahren wollen. Aber wir sind nach Hause zu Fuß gekommen, auf einer Reise, die 14 Tage dauerte. Wir waren 15 Personen. Ein Grenzer mit deutscher Herkunft hat uns geholfen, nachts über die Grenze zu gehen. Danach sind wir in eine Ortschaft gekommen. Dort sind wir in die Kirche gegangen. Der Pfarrer hat die Dorfbewohner gebeten, je eine Person zu sich nach Hause einzuladen, um zu schlafen und zu essen wie die Menschen. Mich haben ein Mann mit beiden amputierten Beinen und seine Frau eingeladen. Ihre Tochter, 17 Jahre alt, war gestorben. Und alle ihre Kleider haben sie in einen Koffer gepackt und mir gegeben. Zu Hause hat niemand gewusst, dass wir kommen, weil wir aus Russland keine Postkarten verschicken konnten. Nach drei Jahren, aus Deutschland, habe ich den ersten Brief geschrieben. Und man hat mir geantwortet und so habe ich erfahren, dass mein Vater nicht mehr lebte. Das war das erste Zeichen, dass ich von zu Hause bekommen habe. Ein anderes Mal haben wir in einem Nonnenkloster Halt gemacht. Wir haben bei der Arbeit geholfen und haben uns satt gegessen, das erste Mal nach drei Jahren! Wir sind nur nachts gereist, heimlich. So sind wir auch über die Grenze zwischen der Ostzone (DDR) und Österreich gekommen, denn anders ging es nicht. Wir kamen durch ein Lager in Wien. In Ungarn gingen wir betteln. In Budapest haben wir einen getroffen, der Richtung Deutschland fuhr und rumänisches Geld hatte, 1000 Lei, und wir hatten Mark, da haben wir getauscht. Bei Curtici sind wir nach Rumänien gekommen.

Elisabeth Maltry, geb. Glassmann Eine Rumänin in einem hohen Wagen, voll mit Geflügel, hat uns versteckt, damit uns die Grenzer nicht sehen. Im Land, nachdem wir die Grenze überschritten hatten, gab es eine Organisation, gegründet von einem Pfarrer, Nischbach, welcher die deutsche Schule in Temeswar leitete. Sie hat denen geholfen, die ins Land zurückgekommen sind. Sie hat sich auch um die Kinder gekümmert, die ohne Eltern geblieben sind. Es war eine lobenswerte Aktion. In Arad sind täglich deutsche Deportierte angekommen. Und sie haben uns von weitem erkannt und haben uns Gulasch zu essen gegeben. In unsere Dörfer fuhren wir mit dem Zug. Ich habe sieben Klassen beendet. Als ich zurückgekommen bin, arbeitete meine Mutter in einer Strickwarenfabrik. Auch ich habe dort zu arbeiten begonnen. Nach einem Jahr habe ich geheiratet. Wir waren eine Opfergeneration. Meine Jugend habe ich in Russland verbracht. Ich hatte keinen einzigen Zahn mehr im Mund, als ich zurückgekommen bin, weil wir keine Vitamine bekommen haben. An der Grenze, als wir losfuhren, hat man uns gesagt, dass wir nichts von dem erzählen dürfen, was uns in Russland widerfahren ist. Ich wundere mich selbst, dass ich heute so reden kann, nach 67 Jahren. Wenn ich über Russland erzähle, rollt sich alles wieder vor meinen Augen ab. Ich bin bis 1971 in Rumänien geblieben. Als ich 40 Jahre alt war, bin ich in die Bundesrepublik gegangen, wo mein Mann zwei Brüder hatte, die sich nach dem Krieg dort niedergelassen hatten. Wir haben 25.000 DM bezahlt, damit wir gehen können. Das ist traurig, aber wahr. Es ist schwer zu sagen, wer schuld ist: der Krieg, Hitler. Aber in erster Linie haben sich die Rumänen nicht korrekt verhalten. Die Sowjetunion hat Arbeitskräfte für den Wiederaufbau verlangt, jeder Nationalität. Aber wir sind geschickt worden, die Deutschen.

Johann Noll

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Der Fluch des Volkskommissars: „Er soll hier sterben!”1

Johann Noll (Deutschland)

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s1war im Januar 1945, in dem Ort Sânandrei (Sanktandres). Das ganze Dorf war versammelt. Wir standen die ganze Nacht, am zweiten Tag um ca. 13 bis 14 Uhr schickten sie uns auf die Straße und von dort geleiteten sie uns zu Fuß, es war Winter und es lag hoher Schnee, nach Giarmata (Jahrmarkt), etwa 12 km entfernt. In meinem Dorf waren 90 % der Einwohner Deutsche. Es gab auch Rumänen, meistes Kuhhirten und Pflüger. Und es gab auch einen Ungarn, der perfekt die schwäbische Mundart sprach. Ebenso die Rumänen. Serben gab es bei uns keine. In Jahrmarkt steckten sie uns in Häuser, die evakuiert waren. Sie hielten uns dort vier bis fünf Tage. Bis Jahrmarkt führten uns rumänische Gendarmen, dort übernahmen uns die russischen Soldaten. Die Häuser waren von Russen umzingelt. Die Mutter kam mit meinem Opa, sie brachten mir Essen und ein paar Sachen zum Anziehen. Ich war der einzige Deportierte, mein älterer Bruder und Vater waren in der Armee. Sie brachten uns in einem amerikanischen Fahrzeug nach Timişoara (Temeschburg). Sie steckten uns in Viehwaggons. Wir waren 60 bis 80 Personen in einem Waggon. Wir verbrachten zwei Tage im Waggon, in der Kälte. Wir hatten zu Essen, aber gegen die Kälte hatten wir keinen Ofen oder sonst was. Wir konnten nicht raus gehen. In der Mitte des Waggons machten wir ein Loch in den Boden, um die Not verrichten zu können. Eine Frau hatte eine Decke, mit der man sie umgeben konnte. Wir erreichten Adjud, wo wir vier bis fünf Tage lang in einer Schule gehalten wurden, wir bekamen warme Mahlzeiten von den Rumänen. Dann steckte man uns wieder in die Waggons bis Iaşi (Jassy). Auch dort waren wir in einer Schule einquar1 Aufgezeichnet von Florin-Răzvan Mihai

tiert und blieben fünf bis sechs Tage. Es kamen die Russen und sagten: Alle raus! Sie zählten uns. Nachdem sie einige mitgenommen hatten, blieben wir noch 200 Personen. Der Zug fuhr nur des Nachts Wir blieben noch ein paar Tage in der Schule und zu Fuß ging es zum Bahnhof, wo uns rumänische Waggons erwarteten. In Russland waren die Waggons etwas breiter. Sie brachten uns bis Nova Ekonomiţki, in der Nähe von Krasnaarmensk, im Donbas. Nur nachts fuhren wir mit dem Zug. Tagsüber wurde nicht gefahren. Wasser - Eiszapfen von den Waggons. Warmes Essen hatten wir keines. Wir bekamen etwas zu essen, Brot, aber ein Jammer. Wir litten Durst. Es gab Läuse, man nahm sie mit dem Finger und ließ sie platzen. In Nova Ekonomiţki war unser Lager, doch wir konnten erst nicht hinein, da dort Gefangene untergebracht waren. Die Nacht verbrachten wir dort, 2.500 Menschen, bis sie die Gefangenen weggeschafft hatten. Drinnen waren Pritschen, eigentlich nur sehr schlechte Bretter. Es gab keine Betten, wir waren sehr eingeengt. Am nächsten Tag nahmen die Russen uns die Kleider und das Essen, das wir von zu Hause mitgebracht hatten und lagerten diese im Magazin ein. Wir kamen am 28. Februar in Nova Ekonomiţki an. Nach einer Woche gab es nichts mehr. Den Mantel, alles, was ich hatte, haben sie mir genommen, alles, was zu etwas zu gebrauchen war. Am nächsten Tag führten sie uns in die Kohlengruben, wir wurden zur Arbeit eingeteilt und bekamen Overalls und ein Paar Pantoffeln, Gummigaloschen. Wir haben keine Handschuhe, Wattejacken, Mützen bekommen. Auch hatten wir lange Unterhosen und ein paar dünnere Hemden, sonst haben wir nichts bekommen. Sie steckten uns in die

138 Mine, wir wurden mit dem Aufzug eingefahren, etwa 100 Meter tief, der Abschnitt, an dem wir arbeiteten, war voll mit Wasser. Nach zehn Minuten war ich nass bis auf die Haut. So habe ich gearbeitet. Die Kohleschicht war 60 cm stark. Ich bekam einen Pickel und einen Meißel, so dünn wie ein Bleistift. Ich habe dort zwei ganze Jahre zugebracht. Aber im Juli ist ein Waggon entgleist, dabei fielen Steine herab und trennten mir einen Finger ab. Nach diesem Ereignis kam ich nach Krasnodar ins Krankenhaus. Ich schlief im Flur, auf einem Strohsack. Sonst hatte ich nichts. Ich war drei bis vier Tage da, sie schnitten mir den Finger bei vollem Bewusstsein, ohne Betäubung, mit der Schere ab, da er nur noch an einer Sehne hing. Die Hand war voller Eiter. Da war ein Mädchen aus Bessarabien, eine Bulgarin, die auch Rumänisch konnte. Sie fragte mich, wo ich herkomme, ich sagte es ihr - dieses Mädchen, ich bin ihr noch heute dankbar, sonst gäbe es mich jetzt nicht mehr, sie putzte im Krankenhaus. Sie sprach mit dem Arzt, denn sie konnte Russisch. Der Arzt schnitt meine Hand auf und entfernte den Eiter. Es gab kein Verbandmaterial, es gab nichts. Sie brachte mir Kamillentee und hat mir die Wunde gewaschen, dann ließ sie mir den Tee, damit ich mich weiterhin reinigen konnte. Ich sage nur eines. Da war ein Junge aus Pencec (Deutschbentschek), der ein Bein verlor, im Bett, nicht wie ich. Sie waren groß, die Maden in seinem Bein. Er starb einen Tag später. Es war ein Rad oben, an der Decke, über eine Schnur war unten ein Stein angebunden, um das Bein zu halten. Es gab keinen Gips, kein Desinfektionsmittel. Er war 17 Jahre alt, während ich 16 Jahre und drei Monate alt war. Ich habe den Finger verloren, ich konnte nicht arbeiten, sie wiesen mir ein Auto zu, mit dem ich Kohlen transportieren sollte, ich belud mit der Hand und fuhr zum Lager. Auf der Kolchose stahl ich schon mal eine Gur-

Johann Noll ke, eine Zwiebel, als Zugabe, wie man sagt. In diesem Lager blieb ich bis Juli 1947. Als Imre Nagy in Ungarn an die Macht kam, verlangte er alle Frauen zurück, auch die in der Kommunistischen Partei forderten von den Russen, die Frauen frei zu lassen. In unserem Lager waren wir von 2.000 Insassen 300 deutsche Landsleute, die restlichen waren Ungarn-Deutsche, die aber nicht mehr Deutsch sprachen, da sie magyarisiert wurden. Und sie durften heim. Es war nicht mehr Rotar, es war jetzt Kerekeş an der Macht. Ich habe auch Ungarisch gelernt, da ich nur mit einem Deutschen, ansonsten nur mit den Ungarn arbeitete. Einmal im November, als ich in Nova Ekonomiţki war, ging ein Transport nach Hause, aber nicht nach Rumänien. Sondern in die Ostzone (spätere DDR). Eine Woche davor hat mich die Ärztin angeschrieben der ich den Hund gestohlen hatte, um ihn zu essen - sie kam ins Lager. Sie hat mich untersucht. Sie hat uns gewogen, mit Steinen als Gegengewicht. Sie hatte einen Messschieber aus Holz, sie nahm deine Haut, zog daran und wenn sie sah, dass noch etwas Fett da war, sagte sie: „Ach, hier ist noch etwas!“ Und fertig. Ich wurde als arbeitstauglich befunden. Es gab einen Offizier, Jude, er sprach Deutsch und wollte mich im Transport unterbringen, aber da war auch ein Volkskommissar, der sagte: „Nein”. Und auf Russisch: „Er soll hier sterben!” Und sie haben mich nicht einsteigen lassen. Der Totengräber des Lagers Als ich den Finger verlor, war ich im Lager und konnte nicht arbeiten, ich war Totengräber. Es war ein Fuhrwerk voll Menschen, die dort starben. Es gab eine Grube, bedeckt mit Schilf und Erde und nachts wurden sie hineingeworfen. Morgens sind wir wieder mit dem Wagen hingefahren, wir waren zwei Personen, und wir fuhren zu dem Platz, wo der Friedhof war.

Johann Noll Die Erde war so zugefroren und, was für eine Kraft hatten wir schon, so konnten wir kein Grab ausheben. Wir haben sie mit Schnee zugedeckt und das war es. Was haben wir gemacht? Es kam ein Hund und wir nahmen uns vor, ihn zu fangen. Wir haben ihn erwürgt und abgezogen, wir warfen ihn in den Wagen und fuhren ins Lager, wir hatten einen Ofen und den Hund gebraten. Und wir haben ihn gegessen. Das nächste Mal war da eine Ziege. Katzen. Wer nie Hunger gelitten hat, weiß nicht, was Hungern heißt! Ich hätte auch Menschen gegessen. Es war entsetzlich. Das war bis 1947. Danach kam auch Pieck aus dem Exil in die Ostzone, sie gaben uns politischen Unterricht darüber, was wir zu Hause vorfinden werden. Recht auf einen Garten, eine Ziege, eine Kuh. Als wir in Jassy waren, konnte ich nicht raus in einen Laden, etwas zu kaufen. Ich habe in Russland eine Taschenuhr verkauft, die mir mein Taufpate zur Konfirmation geschenkt hatte, dafür bekam ich einen Laib Brot. Mehr hatte ich nicht. Ich war zu dumm, ich hätte auch den Pelzmantel geben können, den von meinem Großvater. Den haben die Russen mir weggenommen. Uns brachten sie nach Dimitrova, Lager 1028, ebenfalls in eine Kohlengrube. Das Essen wurde besser. Wir bekamen ein paar Groschen mehr, wir konnten uns noch was zum Essen kaufen. Wir hatten mehr Kraft. Wir waren drei Deutsche, einer aus Recaş (Rekasch, geboren 1926), einer aus Deutschbentschek (1927) und ich aus Sanktandres, Jahrgang 1928 - wir haben den Weg vorangetrieben, wir haben nur in Stein gearbeitet. Wir bauten eine Straße, einen Korridor, damit die Loren durchkamen. Wir mussten diese Felsbrocken einfüllen, die unter der Erdoberfläche noch härter sind als Granit. Wenn du sie an die Erdoberfläche bringst, gehen sie auf, wie Kalk in Wasser. Wir errichteten eine Mauer aus Felsbrocken, wir hatten ein Sieb, das wir mit Kohlen füllten und dann mit Lo-

139 ren durch den Korridor fuhren. So wie wir vorankamen, errichteten wir die Mauer am Korridor. Wenn ich weinte, wer hörte mich schon? Ich musste arbeiten. Ich hatte zwei Cousinen, ebenso 1927 geboren und die waren im Lager Sifcenko. Beide sind dort auch gestorben. Ein weiterer Freund starb im Ural. Ebenfalls 1927 geboren. Ich war noch ein Kind, als ich deportiert wurde. Man ging zum Schalter, gab drei, vier Rubel, man bekam einen Coupon und damit kaufte man sich das Essen. Wenn du keinen Coupon hattest, gab es nichts zu Essen. Morgens gab es ein viereckiges, hartes Brot. Nachdem ich es bekam, noch bevor ich die Baracke erreichte, hatte ich es schon aufgegessen. Im Jahre 1946 bekamen wir eine Zeit lang Gerstenbrot, voller Spreu. Das ging so über 14 Tage. Ein Ungare hat sich erhängt, er sagte: „Ich kann nicht mehr!“. Ich hatte einen Freund aus Ionel (Johannisfeld), er wohnte neben mir, auch in Nova Ekonomiţki. Und er sagte zu mir: „Hans, gib mir etwas zum Essen, ich kann nicht mehr, geh hinaus und hol etwas Gras, ganz gleich was, Brennnesseln“. Ich habe gesagt „Josef, ich gehe, ich bring dir was”. Ich war draußen, ich habe gesammelt, was ich konnte an Brennnesseln und Gras. Aber am nächsten Tag, morgens, als ich aufstand, war er tot. Ein hochgewachsener, blonder, hübscher Junge. Wir waren gute Freunde, wir haben uns prächtig verstanden, wir haben geteilt, was wir konnten. Wir haben in Krasnodar aus der Bäckerei Brot geklaut. Die Frau, die mit uns war, die Bäckerin des Lagers - ich fuhr auch das Auto, wir fuhren nach Krasnodar und holten Brot im Kfz. Tamara sagte zu mir: „Kanz”, da sie nicht Hans sagen konnte, „weißt du, was du machst? Du kommst mit mir zur Bäckerei”. Sie hat mich gelehrt, wie ich Brot klauen soll. Das Brot lag auf einem Regal, da war ein Loch, es stand auch eine Waage dort, sowie eine Kiste, breiter als

140 die Waage und ich brachte das Brot vom Regal auf die Waage. Ich ließ das Brot runterfallen und tat es in die Kiste. Es kam der vom Kaufladen, wog das Brot und ich ging raus. In einer Fuhre ließ ich auf diese Weise 5 bis 6 Brote mitgehen. Mir gab sie eines davon, das ich mit Josef teilte, die anderen nahm Tamara. Ich brachte ihr diese mit dem Auto nach Hause. Sie bereitete ein Mahl, Bohnensuppe mit Maismehl, mit Sauerkraut und sie gab mir zu essen. Ich war damit auch so zufrieden. Es war sehr schwer in der Zeit von 1945 bis 1947. Hunger und Kälte Eine andere Begebenheit. Ich ging in die Kantine, nahm einen Topf voll aus dem Kessel, der Offizier war invalide. Er hatte einen Gummiknüppel, den er mir über den Rücken schlug. Du kannst schlagen, soviel du willst, denn ich hatte gegessen. Er lief mir hinterher, aber ich war schneller, da er behindert war. Er steckte mich für einen Tag in den Arrest. Das war unsere Situation dort. In Ahmatovka war es besser, wir hatten zu essen. Das erste Lager war ein Vernichtungslager. Diejenigen, die auf dem Bau gearbeitet haben oder auf der Kolchose, bekamen eine Suppe und ein Stück Brot. Aber wir in den Kohlengruben mussten unser Essen selbst bezahlen. Und wenn du nicht gearbeitet hast, bist du verhungert! Du hattest nichts, denn es konnte dir niemand Geld leihen oder was von seiner Ration abgeben. Sobald du Brot in Händen hattest, hast du es auch schon vertilgt! Man war acht Stunden auf der Arbeit. Was war das Schwerste? Du kamst aus der Kohlengrube herauf. Es konnten nicht alle gleichzeitig herauskommen. Da war der Wachtmeister, der Milizionär, der uns ins Lager geführt hat, wir mussten warten, bis der Letzte aus der Mine kam. Wir waren vollkommen durchnässt, man hatte nicht die Möglichkeit sich umzuziehen, man ging

Johann Noll zum Lager in nasser, gefrorener Kleidung. Die Menschen erfroren, wenn sie an die Luft kamen, sie fielen hin und erfroren! Im zweiten Lager lebten wir besser, wir arbeiteten auch in der Kohlengrube. Ich kann nicht viel darüber berichten, nur, dass wir fast wie Menschen gelebt haben. Am 29. November 1949 kam ich nach Hause. Es kam ein Befehl, dass wir nach Hause sollen und wir blieben noch etwa vier bis fünf Tage im Lager, wir bekamen zu essen, ohne dafür bezahlen zu müssen. Und sie brachten uns nach Rodovka, es war das Lager, in dem wir gesammelt wurden, bis ein Transport zusammengestellt wurde. Wir wurden nach Sighet verbracht, zur Grenze und hier betraten wir Rumänien. Wir hausten in Sighet in einer Schule, wir bekamen zu essen - zirka drei bis vier Tage. Wir wurden dort registriert. Es kam ein Auto und brachte uns nach Târgu Mureş (Neumarkt), wo sie uns in eine Schule einquartierten. Wir bekamen 200 Lei und einen Papierfetzen, den wir in Temeschburg der Polizei übergaben. Vater tot, der Bruder in der Verbannung Mein Vater ist hier, in Österreich gestorben. Er war amerikanischer Kriegsgefangene. Ich war dort, ich habe mich erkundigt, ich ha­be mit einem Mann gesprochen, der mit meinem Vater in demselben Gefangenenlager war. Was haben die Amerikaner gemacht? Er starb am 4. November 1945. Sie wollten eine Skipiste bauen. Sie fällten die Bäume, aber zu essen gab es auch hier nicht wirklich. Und ein Baum fiel auf ihn. Arbeitsunfall. Er wurde in Linz auf dem Friedhof begraben, er wurde exhumiert, da der österreichische Minis­ terpräsident verlangte, dass alle deutschen Soldaten aus den Linzer Friedhöfen entfernt werden sollten. Sie haben ihn herausgenommen und haben ihn in Freistadt, an der Grenze zur Slowakei, auf einem Heldenfriedhof begraben. Dort sind 1.400 Gefallene vom Er-

Johann Noll sten und etwa 6.000 vom Zweiten Weltkrieg begraben: Rumänen, Ungarn, Serben. Mein Bruder war an der Westfront, in Frankreich. Er war auf dem Tiger-Panzer. Er kam zurück nach Deutschland und in Berlin hat er seine Uniform abgelegt, hat sich Zivilkleidung angezogen und ist zu Fuß nach Hannover gegangen, im Norden Deutschlands. Er war ein aufgeweckter Junge, nicht wie ich. Es war 1945, zu Kriegsende. Er hat bei einem Mann gearbeitet, der einen Laden führte. Der hat ihm gesagt, ich kann dir nicht mehr zu essen geben, da du keinen Ausgabeschein hast, auf den er Brot und Lebensmittel bekam. Du gehst zum Rathaus und lässt dir einen Ausgabeschein ausstellen. Es war dumm von ihm, dass er das damals gemacht hat. Nachts kam die amerikanische Polizei und brachte ihn in ein Lager. Sie sagten ihm, sie würden ihm Papiere ausstellen und ihn nach Rumänien schicken. Sie steckten ihn ins Lager und brachten ihn nach Holland. Es war Herbst auf Winter zu, im Jahre 1945, es war in einem Wald, ohne Dach über dem Kopf, ohne alles. Danach verbrachten sie ihn nach Liverpool in England, wo er in einer Zuckerfabrik arbeiten musste. Er hat eine hübsche junge Frau geheiratet, hat Englisch gelernt und wurde Apo­theker. Nach zehn Jahren ist er mit seiner Frau nach Toronto in Kanada ausgewandert. Im Krankenhaus war ein Jude aus Satu Mare (Sathmar), der aus Kanada gekommen war und dieser schlug ihm vor, nach Kanada zu gehen. Ich hatte sechs Volksschulklassen und die meistens am Pflug und an der Hacke. Denn Vater war bei der Armee. Ich musste arbeiten und nicht zur Schule gehen. Als ich aus Russland zurück war, am 22. November, machte ich meine Papiere - Personalausweis. Danach erhielt ich eine Anstellung in der Lackfabrik „Timiş” in Temeschburg. Ich habe drei bis vier Monate mit Chemikalien gearbeitet, dann war da auch ein Ingeni-

141 eur, der fragte mich, ob ich nicht als Elektriker zu ihm kommen wolle, wir lernen dich schon an. Fertig, sagte ich, ich komme. Da war schon ein Elektriker und ich arbeitete mit ihm. Ich machte einen Fachschulabschluss bei „Elba”, in der Werkstatt. Danach machte ich einen Elektriker-Kurs, abends. Ein Ingenieur vom Kraftwerk hat dort unterrichtet. Ich arbeitete bei der Firma „Timiş” bis Februar 1952, danach kam der Einberufungsbefehl zum Militärdienst. Und wo bin ich gelandet? In den Kohlengruben von Lupeni (Schilwolfsbach). Aber ich hatte die Zulassung, so wurde ich der Elektriker-Werkstatt zugeteilt. Ich war nicht die ganze Zeit untertage. Aber ich war auch dort, ich weiß, wie es da aussah. Eine andere Grube, nicht wie in Russland, es war ein hundertprozentiger Unterschied. Und 1953 kam eine Frau, die sang „Aoleu ce ploaie vine de la Cluj” (Auweh, was für ein Regen kommt von Klausenburg). Es kam Befehl von Bukarest, dass wir die Feinde durch Arbeit besiegen, nicht durch Waffen. Wir sollen froh sein, dass wir drei Jahre beim Militär dienen dürfen. Und ich blieb dort, in Schilwolfsbach. Ich war gut angesehen. Der Ingenieur sagte zu mir „He Deutscher, bleib hier, für das dreifache Gehalt”. Ich sagte „Nein, ich fahre nach Hause”. Am 31. April hatte ich Spätschicht, zusammen mit einem Lehrling. Ein Junge aus dem Ort. Die Schlosser aus der Spätschicht nahmen ein Rohr, schweißten und bohrten ein Loch, füllten Carbid ein und steckten einen Lappen hinein, genau vor unserem Atelier. Und sie knallten. Es war der „1 Mai”. Es kam der Wachhabende mit einem von der Securitate (Geheimdienst) und nahmen uns fest. Sie ssagten: „Du betreibst Sabotage.“ Sie brachten mich nach Schilwolfsbach zur Miliz, sie haben mich untersucht. Nachts hat es geregnet, es donnerte, da war die Rede, ich hätte einen Sabotageakt verübt. Um etwa vier, fünf Uhr steckten sie mich in einen Ka-

142 stenwagen und brachten mich nach Petroşani (Petroschen) zur Securitate. Als ich dort ankam, war da ein Hauptmann. „He, was hast du angestellt?“ „Ich habe nichts gemacht, die Schlosser, nicht ich”. Ich sagte, dass ich nicht beteiligt war. Sie untersuchten mich eine halbe Stunde, sie warfen mich in den Keller, sie traten mir in die Nieren. Alle zwei, bis drei Stunden wurde ich zur Befragung gebracht. Ich bekam nur Brot und Wasser. Und

Johann Noll danach haben sie erfahren, dass ich es nicht war. Zum Schluss sagten sie mir: „Geh nun zurück zu deiner Einheit, aber wenn du erzählst, wo du warst und was mit dir geschehen ist, dann wirst du nicht mehr sehen können um zu lesen”. Wieder zurück, fragte mich weder der Korporal, noch der Sergeant, noch Leutnant Manole, noch der Hauptmann, wo ich denn war. Ich musste erzählen, ich war zu Hause.

In einer Mine, 320 m tief 1

Katharina Gillich, geborene Seidl (Deutschland)

I

ch1wurde im Januar 1945 deportiert. Die ganze Aktion hat am 15. Januar 1945 begonnen. Mein Vater war in der rumänischen Armee. Bei der Gendarmerie. Als man hörte, dass sie mit den Aushebungen von Personen begonnen haben, lebten meine Mutter und meine Großeltern in Schöndorf. Ich habe mich in der Wohnung meiner Großmutter versteckt. Und dann sind zwei Personen erschienen, ein rumänischer Soldat begleitet von einer Person, die in Schöndorf wohnte und auch Deutsch sprach und die Verhältnisse vor Ort kannte, und diese haben meine Auslieferung verlangt. Und sie haben gesagt, dass, wenn das Problem nicht gelöst wird, werden sie meine Mutter mitnehmen. Ich habe die Diskussion aus meinem Versteck gehört, bin herausgekommen und wurde mitgenommen. Uns wurde mitgeteilt, dass wir Essen für 14 Tage mitnehmen sollten, weil wir in die Sowjetunion deportiert werden. Wir wussten nicht, dass wir fünf Jahre lang dortbleiben werden. Der ganze Ort war eingekreist von Soldaten, damit niemand entkommen kann. Ich hatte gar kein Gepäck. Meine Großmutter ging zu meiner Mutter, dort haben sie ei1 Aufgezeichnet von Florin-Razvan Mihai

nen Koffer genommen und die notwendigen Sachen hineingepackt, Kleidung und etwas zum Essen. Dieser Koffer wurde in das Kulturheim von Schöndorf gebracht. Aus meiner Familie war sonst niemand deportiert. Ich war nicht verheiratet. Um 10 Uhr vormittags wurden wir zu einem Sammelplatz gebracht, wo wir bis circa 15 Uhr geblieben sind. Danach wurden wir mit Pferdewagen nach Fîntînele, einem rumänischen Dorf, gebracht. Wir blieben dort bis abends, als man dann um circa 22 Uhr nach Kleinsanktnikolaus in der Nähe von Arad gebracht hat. Die Nacht haben wir in einem Lager einer Militäreinheit, Kaserne, verbracht, ich weiß nicht genau, was es war, wo wir auf Stroh geschlafen haben. Am nächsten Tag um circa 16 Uhr wurden wir in Waggons für Rindertransporte gesteckt und um 18 Uhr ist der Zug losgefahren. Die Reise ging insgesamt zwei Wochen lang. Wir sind am 1. Februar 1945 am Ziel angekommen. Die Reise ging so lange, weil wir nicht die ganze Zeit fuhren. Wir hielten schon mal zwei Tage an einer Stelle, wonach sich der Zug erneut in Bewegung setzte. Vielleicht wegen der freien Gleise, ich weiß nicht aus welchem Grund. So kamen wir an die Grenze zwischen Rumänien und der Sowjet-

Katharina Gillich, geborene Seidl union. Und dort wurden wir in andere Waggons verladen. Ich glaube, das war in Jassy, bin mir aber nicht sicher. Und dann haben wir die Reise fortgesetzt. Wir saßen auf Brettern und haben uns gefreut, als der Zug anhielt und wir uns mit Wasser versorgen konnten. Und das war nämlich ein großes Problem, denn wir hatten Lebensmittel von den Schweineschlachten bei uns. Diese waren gesalzen, der Schinken und der Speck. Dadurch haben wir Durst gelitten. Und als der Zug hielt, hat man uns erlaubt, uns mit Wasser zu versorgen. Im Übrigen schliefen wir. Mein Vater war in Neu­­­­arad bei der Gendarmerie. Er war in einer privilegierten Situation und hatte die Möglichkeit, mir vor der Abfahrt ein großes rundes Brot sowie einen Krug mit 5 l Milch zukommen zu lassen. Danach diente der Krug als Wassergefäß. Bei diesem Transport waren die Männer und Frauen getrennt. In den Waggons waren Bretter und auf denen lagen wir zusammengepfercht. Ich kannte alle Mitfahrenden, sie waren alle aus Schöndorf. Insgesamt waren es 60 Eisenbahnwaggons. Und es gab vier solcher Transporte. Und alle aus meinem Waggon waren aus meinem Dorf. In den Waggons gab es eine Art Öfen, mit denen wir ein bisschen Wärme machten, aber die Waggons waren voller Löcher und die Wärme ging verloren. Wir hatten Maiskolben, die wir aufs Feuer auflegten. Aber diese Wärme war kaum spürbar. Ein bisschen aber konnten wir uns schon erwärmen. Die Situation hat sich etwas verbessert auf dem Gebiet der Sowjetunion, dort waren die Waggons etwas besser. Wir kamen in die Region Stalino, nach Tschulkovka. Bei der Ankunft waren viele von uns krank und hatten wegen des Wassers, das wir getrunken haben, Durchfall. Aber ich war nie krank, kein einziges Mal, in Russland in all den fünf Jahren. Ich war noch jung. Aber ich hatte große Angst und

143 ich fror, der Schnee lag hoch. Es war auch die Angst vor dem Unbekannten. Wir wurden ins Lager gebracht und bekamen eine Art Material, aus dem wir uns Strohsäcke machten, wir haben sie genäht und vom Feld haben wir Stroh geholt und es in die Strohsäcke gefüllt. Es gab zwei Reihen mit Stockbetten. Von zu Hause hatten wir Decken, mit denen wir uns zugedeckt haben, und Kleider. Das war ein großer Schlafraum. Circa 100 Personen oder mehr waren darin. Ein unangenehmes Problem waren die Insekten, Läuse und Wanzen. Und nachts haben wir mit Licht geschlafen wegen der Wanzen. Aber damit hatten wir keinen Erfolg. Wir konnten nicht schlafen. Es wurde ununterbrochen gearbeitet Unsere Aufgabe war es, in den Kohlengruben zu arbeiten. Wir arbeiteten ununterbrochen, hatten aber den Anspruch auf einen freien Tag. Nicht unbedingt der Sonntag. Ich war gefragt worden, ob ich unter Tage oder an der Oberfläche arbeiten möchte. Man hat mir gesagt, dass, wenn ich unter Tage arbeite, es wärmer wäre, die Bedingungen besser wären. Ich und zehn weitere jüngere Personen haben uns entschlossen, unter Tage zu arbeiten. Mit der Zeit kamen wir auf eine Tiefe von 320 m. Am Anfang arbeiteten wir in 70 m Tiefe. Wir haben in drei Schichten gearbeitet. Bis zu einer gewissen Tiefe wurde die Kohle in Loren in einem Aufzug befördert. Die Loren, die von oben kamen, waren leer und wurden in die Tiefe geschickt. Der Arbeitsplatz hieß auf Russisch „tvi­ schenja“. Und die Minen waren durchnummeriert: Mine Nummer eins, Mine Nummer zwei, etc. Insgesamt gab es vier Förderschächte. In drei von ihnen waren die Bedingungen sehr schlecht, mit viel Nässe unten. Wenn die Leute aus der Grube kamen, froren die nassen Kleider auf ihnen ein. Am Anfang habe ich in einem dieser Schächte gearbeitet.

144 Aber nach einer gewissen Zeit habe ich in dem Schacht Nummer vier gearbeitet, wo es etwas besser war. Ich war es gewohnt zu arbeiten, aber nicht in einer Kohlengrube. So etwas hatte ich vorher nie gesehen. Ich musste mich an die Gegebenheiten von dort anpassen. Ich konnte ja nicht wählen. Ein Jahr lang hatte ich keine Möglichkeit, mit denen von zu Hause Kontakt aufzunehmen. Sie wussten nicht, wo ich bin und ob ich überhaupt noch lebe. Danach durfte ich schreiben, es waren doppelte Postkarten. Auf den einen Teil der Postkarte durfte ich 25 Wörter schreiben. Diese Postkarte erreichte ihr Ziel. Auf dem anderen Teil hatte meine Mutter die Möglichkeit zu antworten, auch mit 25 Wörtern, höchstens. Es gab einen Wettbewerb zwischen den Förderschächten. Nicht von Seiten der Deportierten, sondern von Seiten der russischen Verantwortlichen. Jeder von ihnen wollte zeigen, dass er produktiver ist. Ich möchte mich nicht loben, aber ich war sehr fleißig. Und ich bin es auch heute noch mit meinen 88 Jahren. Ich arbeite auch jetzt noch, vor allem in meinem Garten, wo ich viele Blumen habe. Es gab viele Unfälle dort. Einige sogar tödlich. Aber ich war nicht betroffen. Wir waren aus vielen Banater Ortschaften zusammengewürfelt. Die Arbeitsbedingun­ gen waren katastrophal. Nur im Schacht Nr. 4 waren sie etwas besser. Aber über ein ganzes Jahr habe ich nur in der Nachtschicht gearbeitet. Ich wollte an meinen ersten Arbeitsplatz zurück, aber ein Kommandant war nicht damit einverstanden. Auch wenn ich nicht krank war, so war ich doch erschöpft und geschwächt wegen dieser zermürbenden Arbeit. Das Essen war unter aller Kritik. Als Suppe eine dünne Brühe, meistens mit Kraut und einer Art Gerstengraupen. Jene, die unter Tage gearbeitet haben, bekamen 1,5 Kilo Brot pro Tag. Das war schon gut. Aber es war feucht. Am Anfang haben wir kein Geld für die geleistete Arbeit bekommen. Nach einer ge-

Katharina Gillich, geborene Seidl wissen Zeit, ich weiß nicht mehr genau ab wann, haben wir Geld bekommen. Das Gehalt war unterschiedlich, je nach der Art der geleisteten Arbeit, unter Tage wurde besser bezahlt. Mit diesem Gehalt mussten wir das Essen bezahlen. Dank meiner Arbeit ist mir noch Geld übrig geblieben. Aber anderen hat es nicht gereicht und sie mussten sich welches leihen. Wir hatten die Möglichkeit, zusätzlich Lebensmittel zu kaufen von diesem kleinen Basar im Inneren des Lagers oder auf dem Markt, der sich in der Nähe des Lagers befand. Aber um auf den Markt zu kommen brauchtest du die Einwilligung des Kommandanten. Die Aufpasser aus dem Lager haben uns begleitet, wenn wir rausgingen. So war es am Anfang. Wir hatten vor Schichtbeginn in der Mine saubere Kleidung an. Dann hat man uns Arbeitskleidung gegeben und am Schichtende haben wir unsere saubere Kleidung zurückbekommen. Am Ende des Tages waren wir sehr schmutzig. Wir haben gewaschen im Gemeinschaftsbad und unsere Kleider gewechselt. Mit der Zeit waren die Vorschriften nicht mehr so restriktiv. Wir konnten das Lager verlassen um einzukaufen. Es fällt mir sehr schwer zu erklären, wie die Arbeit ab­ lief. Jede Arbeit hatte eine Bezeichnung. 16 Stunden unter Tage Die Erfahrungen mit den Russen waren relativ gut. Mit denen, mit denen ich gearbeitet habe, aber auch draußen mit den anderen habe ich mich gut verstanden. Ich hatte Kontakt zu den Leuten aus der Ortschaft. Von den Leuten aus dem Dorf habe ich Milch gekauft. Die Erfahrung war im Großen und Ganzen positiv. Sie war gut, solange du arbeiten konntest. Problematisch wurde es, wenn die Leute krank geworden sind und nicht mehr arbeiten konnten. Probleme haben aber nicht die Russen bereitet, sondern die Leute aus der eigenen Gemeinschaft, denen man eine gewisse Verantwortung übertragen hatte. Diese haben

Katharina Gillich, geborene Seidl sich schlecht benommen. Manchmal musste ich 16 Stunden unter Tage bleiben und arbeiten, wenn mein Wechsel nicht kam. Und zudem konnte ich auch nichts essen. Die Arbeit hatte schon einen gewissen Sinn. Die Russen mussten so vorgehen, weil sie keine Leute hatten, aber die Kohle brauchten. Anderthalb Jahre später war die Situation etwas besser, wir konnten selber Essen zubereiten, und wir konnten uns in einem gewissen Maß selbst versorgen. Ich habe mir Kleidung und Schuhe gekauft. Dort habe ich auch meinen zukünftigen Ehemann kennen gelernt, im letzten Jahr der Deportation. Vorher kannte ich ihn nicht. Er war drei Jahre jünger als ich. Und er kam auch aus einem Dorf aus Rumänien. Mein Vater ist auch verschleppt worden, mit dem letzten Transport. Bei ihm fand man ein Foto, das ihn als Gendarm zeigte. Die von dort glaubten, dass er zu einer Eliteeinheit des rumänischen Militärs gehörte und so kam er in ein Kriegsgefangenenlager. Er ist erst 1956 aus Russland zurückgekehrt, er war zu 25 Jahren Zwangsarbeit verurteilt worden. Ständig gab es Gerüchte, dass wir nach Hause fahren dürfen. Im Herbst des Jahres 1949 hat man uns mitgeteilt, dass wir nach Hause fahren werden und noch bis zum 1. Oktober arbeiten müssen. Danach würde der Heimtransport organisiert werden. Und so ist es auch gekommen. Vom 1. Oktober an wurde zwei Wochen lang nicht mehr gearbeitet. Und am 16. Oktober ging die Heimfahrt los. Für diesen Transport haben wir nichts bezahlt. Wir mussten alle das Territorium der Sowjetunion verlassen. Vorher wurden wir gefragt, ob wir nach Rumänien zurückkehren oder ob wir uns in Deutschland niederlassen wollen. Und so kam es, dass einige nach Deutschland gekommen sind. Letztendlich gab es insgesamt vier Transporte, davon zwei nach Deutschland. Als sie dort ankamen, wurden sie in die sowjetische Besatzungszone geschickt. Dort haben sie

145 gearbeitet. Manche sind geblieben, andere sind nach Rumänien zurückgekehrt, und andere wieder sind in den Westen gegangen. Im Oktober 1949 bin ich bei Sighet von meinem zukünftigen Mann getrennt worden. Am 25. bin ich in Schöndorf angekommen und zu meinem Geburtstag am 28. Oktober ist auch mein Verlobter angekommen. Aber weil mein Vater nach Russland verschleppt war, habe ich noch eine gewisse Zeit gewartet bis ich dann im Januar 1950 geheiratet habe. Die Schuld trägt die rumänische Seite Ich nehme an, dass die Familien vorzeitig benachrichtigt worden sind. Aber ich weiß nicht genau, wie die Dinge abgelaufen sind. Aber sie haben auf mich gewartet und sich sehr gefreut, meine Mutter und meine Großmutter, als wir uns nach so vielen Jahren wieder gesehen haben. Bis Sighet verlief der Transport in Viehwaggons, aber wir wurden nicht mehr bewacht. Wir waren frei. Von Sighet kam ich nach Baia Mare, wo uns das Rote Kreuz übernommen hat und mit dem Zug bin ich dann nach Hause gekommen. Ich habe nichts von Sterilisationsfällen gehört, die im Lager stattgefunden haben sollen. Mir ist nichts passiert, und auch von anderen Frauen habe ich so etwas nicht gehört. Aber es gab Fälle, in denen die Menstruation gestoppt wurde. Aber ich weiß nicht aus welchem Grund. Wenn die Frauen ihre Periode hatten, bekamen sie zwei freie Tage. Die Haltung der Ärzte und der Verantwortlichen auf der militärischen Linie war gut in diesen Situationen. Sehr roh haben sich die politischen Offiziere benommen, die uns verhörten, manchmal schlugen sie, um verschiedene Dinge von den Deportierten zu erfahren, selbst dort im Lager. Um Informationen über andere Deportierte zu bekommen, damit sie sich gegenseitig denunzierten. In Rumänien, nachdem ich zurückgekehrt war, in einem ländlichen Gebiet, konnte ich in der Landwirtschaft auf einer Staatsfarm

146 oder in der Kollektive arbeiten. 1950 habe ich einen Sohn geboren, so dass es eine Weile gedauert hat, bis ich arbeiten konnte. 20 Jahre lang habe ich in einer Weidenkorbflechterei in Schöndorf gearbeitet. Es gab dort 500 Angestellte. Und noch in der kommunistischen Zeit wurden mir die fünf Jahre Arbeit in der Sowjetunion für die Rente anerkannt. 1985 bin ich nach Deutschland aus-

Katharina Gillich, geborene Seidl gewandert. Mir wurde nicht verboten, über die Zeit in Russland zu sprechen. Aber in der Familie oder mit Freunden konnte man darüber reden. Schuld trägt die rumänische Seite. Die Sowjetunion hat von Rumänien ein Arbeitskontingent für den Wiederaufbau verlangt, aber Rumänien hat nicht die eigenen Landsleute, sondern die deutsche Minderheit geschickt.

Mein Glück war es, dass ich schnell ihre Sprache lernte1

Nikolaus Barthold (Deutschland)

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ch1wurde am 14. Januar 1945 deportiert. Es war an einem Sonntag in der Früh beim Frühstück. Die Gendarmen sind gekommen, heute würde man Miliz oder Polizei sagen, begleitet von einem russischen Soldaten mit Gewehr. Ich habe gerade gegessen. Sie sind ins Haus reingekommen und haben gesagt: „Zieht euch an und kommt mit“. Ich habe mich angezogen. Wir sind mitgegangen: der Vater, geboren im Oktober 1903, ich und mein Bruder, geboren 1927. Aber mein Bruder war nicht auf der Liste, weil er bei einem namens Josif Knecht war. Sie kamen mit Listen, welche vom Rathaus vorbereitet waren. Sie haben uns genommen und gesagt: „Holt euch Lebensmittel für zwei Wochen“. Das war alles, was sie uns gesagt haben. Aus unserer Gemeinde Fodorhausen, welche sich neben der Gemeinde Gad befindet, hat man uns in die Schule von Ghiulvaz gebracht. Dort wurden aus den Gemeinden Peciu, Ivanda, Ionel (Johannisfeld die deutsche Bezeichnung) die Leute gesammelt. Das waren alles Gemeinden mit deutscher Bevölkerung. In Ghiulvaz haben wir Russen angetroffen, die gerade mit dem Ausbreiten von Stroh in Wagons beschäftigt waren. Damit wir uns wohlfühlen. Im Wagon gab es einen Eimer für die Notdurft. Es waren Vieh-Wa1 Aufgezeichnet von Florin-Răzvan Mihai

gons. Jeder hatte eine Decke, um sich zudecken zu können. Es waren Frauen und Männer in einem Waggon untergebracht. Die Kinder vom Notar waren nicht dabei Mein Bruder war nicht auf der Liste. Er ent­ kam nicht. Wir hatten, wie alle Bauern, Pferde und Wagen und, da er nicht auf der Liste war, hat er uns nach Ghiulvaz kutschiert. Dort hieß es dann: „Das ist auch ein Deutscher“. Er war zwar durch die Gemeinde nicht berücksichtigt worden und musste jetzt auch mit. Aber was unbedingt noch als wichtig zu erwähnen ist, ist Folgendes: Wir hatten im Ort einen Notar, Schweizer mit deutschem Namen, seine Kinder hätten auch nach Russland sollen. Sie sind alle zuhause geblieben. Auch in Gad sind die Kinder eines Gemeindebediensteten verschont geblieben. Diejenigen, die Beziehungen im Rathaus hatten, konnten sich von den Listen streichen lassen. Es sollten ja alle Jungen ab dem 18. Lebensjahr zur Zwangsarbeit. Ich bin 1929 geboren. In der Gemeinde Johannisfeld sind auch die Jungen des Jahrgangs 1929 deportiert worden. Wir sind zwei Tage in der Schule und im Schulhof von Ghiulvaz geblieben, bis die Vieh-Waggons vorbereitet waren. Männer und Frauen waren zusammengepfercht. Wir hatten einen Eimer für die Notdurft und einen mit Wasser. Die Wagontür wurde ge-

Nikolaus Barthold schlossen und es ging los. Der Zug hat nur bei Bedarf gehalten, aber nie in einem Bahnhof, immer auf freiem Feld, damit niemand fliehen konnte. Es ist einmal passiert, dass jemand geflohen ist. An dessen Stelle wurde ein Rumäne genommen, der gerade in der Nähe war, damit die Zahl stimmte. Es waren auch einige vom rumänischen Militär mit deutsch klingenden Namen dabei, obwohl sie kein Wort Deutsch konnten. Einer Boschmann, so in etwa hieß er, war mit primitiven Opanken (Bundschuhen) dabei. Die Fahrt dauerte etwa drei Wochen. Bei Cernauti sind wir über die Grenze nach Russland gefahren. Der Umstieg von den rumänischen Viehwagons auf russische Viehwagons hat zwei-drei Tage gedauert. Wir sind im Lager 1013 „Orjonikidze“ in der Stadt Ceasoviar angekommen. In diesem Lager waren am Anfang 1.500 Personen. Wir ahnten, wohin man uns bringt. Wir wurden in verschiedene Arbeitsbrigaden eingeteilt. Ich kam in eine Baubrigade. Wir mussten zerbombte und ausgebrannte Häuser wieder aufbauen. Es waren nur noch die Grundmauern vorhanden. Wir Jungen, wir waren ja noch Kinder, durften, sollten einen Beruf erlernen. Sie sagten immer: „ Die Jugend brauchen wir“. Wir haben den Schutt weggebracht, der 50-60 cm dick herumlag. Nachher kamen wir zu den Wasserinstallateuren. Hier habe ich längere Zeit gearbeitet. Wir haben die alten gusseisernen Rohre abmontiert und dann damit neue Wasserversorgungen gebaut. Es waren Russen bei uns, die uns gezeigt haben, wie man es zu machen hat. Einer der Russen war unser Kapo. Wir haben von in der Früh um 7 Uhr bis am Abend um 19 Uhr gearbeitet. Das war unser Arbeitstag, 12 Stunden täglich. Im März oder April des Jahres 1947 gab es einen sehr starken Schneesturm. Wir mussten alle mit Schaufeln und Stockhacken aus dem Lager ausrücken und einen eingeschneiten

147 Zug freischaufeln. Aber was sollten wir bei so einem Schneesturm freischaufeln!? Es war hoffnungslos. Irgendwann hat einer gesagt, wir gehen zurück ins Lager. Wir haben den Zug so eingeschneit gelassen und sind losgegangen. Die Russen riefen: Halt, halt, halt! Es waren minus 43 Grad Außentemperatur. Man konnte aber nichts machen. Das gleiche Essen täglich Als Essen bekamen wir eine Suppe aus Sauerkraut mit etwas Maismehl, damit sie trüb wird und man so den Löffel nicht sieht. Bei unserer Ankunft haben wir eine warme Mahlzeit bekommen. Es war auch so eine Art Sauerkrautsuppe mit Gerstengraupen. Gerstengraupen waren für die Arbeitenden. Fast täglich gab es das gleiche Essen. Sauerkraut mit Maismehl und Gerstengraupen. Fleisch oder Speck bekamen wir niemals. Ich war nur einmal krank. Ich bin mit einem russischen Traktorfahrer mitgefahren, Eisenbahnschienen zu holen. Ein an einer Kette angebundenes Rind ist vor Schreck vor den Traktor gesprungen und der Fahrer hat eine Vollbremsung gemacht. Ich habe mich am Bein verletzt. Ich hatte furchtbare Schmerzen, aber der Fahrer, ein russischer Jude, er konnte etwas Deutsch, hat gesagt, ich habe keine Verletzung und hat mich ins Lager gebracht. Dort hat mich ein Orthopäde aus Johannisfeld behandelt. Der Knochen in meinem Bein war angebrochen. Ich hatte große Schmerzen. Ich war - so glaube ich - 2-3 Monate krank. Vor Langweile habe ich angefangen Russisch zu lernen. Jemand aus Ceahova, Tremser, sein Vater war Präfekt, hatte ein russisches Alphabet dabei. Ich bat ihn, es mir zu geben. Ich hatte auch ein Heft dabei, um Briefe zu schreiben. Dieses habe ich nun zum Russischlernen verwendet. Ich habe recht schnell gelernt. Mit meinem Bruder und Vater war ich die ganze Zeit zusammen. Wir waren in einem ausgebombten Geschäft untergebracht. Es hatte kein Dach, so dass es rein regnete.

148 Wir schliefen auf Fetzen, Kissen oder Decken, jeder auf dem, was er hatte. Im Allgemeinen kann ich sagen, dass die Russen sehr gutherzig sind. Ja, das kann ich sagen. Zum Beispiel waren wir auf dem Bau beschäftigt. Was war dort? Wir haben den Schutt weggebracht. Es gab auch Holzbretter, die wir manchmal zu Bündel machten und diese zu den Russen brachten. Wenn sie etwas zu essen hatten, gaben sie uns dies als Zahlung. So haben wir uns durchgeschlagen. Da ich Russisch konnte, kam ich im letzten Jahr auf einen Kolchos. Es war schon Oktober und wir mussten Kartoffeln ernten. Die geernteten Kartoffeln wurden zu kleinen Haufen zusammengeschüttet und mit Erde bedeckt, als Schutz gegen den Frost. Im Winter haben wir uns dann welche geklaut. Der Weizen wurde auch auf dem Feld gelagert. Wenn es reinregnete und wir dachten, alles sei kaputt, sagten die Russen, das macht nichts, wir machen Wodka daraus. Da ich besser Russisch sprach, wurde ich zum Brigadier ernannt. Es war mein Glück, dass ich die Sprache schnell gelernt hatte. Auch hier im Heim sind Schwestern aus Russland, mit denen ich russisch spreche. Briefe haben wir jeden Monat bekommen, aber nicht im ersten Jahr. Der Lautsprecher im Lager hat uns immer um 6 Uhr geweckt und etwas über Stalin erzählt. Oh Gott! Wir haben auf dem Bau gearbeitet, aber nicht genug verdient. Es wurde uns gesagt, es reicht nicht mal, um das Essen zu bezahlen. Es sind bestimmt 2-3 Jahre vergangen, bis wir Gehalt bekamen. Als ich Brigadier war, musste ich die Leute zur Arbeit einteilen. Der Russe kam und sagte: Hast 30 Leute, 7-8 zur Dreschmaschine, die anderen zur Sonnenblumenernte. Die Kleidung wurde durch die Sonnenblumen sehr strapaziert. Vom Kolchos ging es wieder ins Lager. Es gab ja schon Gerüchte, dass es nach Hau-

Nikolaus Barthold se geht. Wir haben keine neue Kleidung bekommen. Ich bin mit meiner mit Watte gepolsterten Arbeitskleidung nach Hause gefahren. Wir waren voller Kopfläuse. Wir Männer konnten uns die Haare wegmachen. Sogar unter den Frauen gab es welche, die das auch machten. Es gab nicht einen ohne Kopfläuse. Ich konnte mich nie wiegen. Ich weiß nicht, wie schwer ich dort war. Ich war schwach. Mein Vater ist dort am 28. Februar 1947 gestorben. Mein Bruder und mein Vater haben in einer Schamott-Fabrik gearbeitet beim Entladen von Waggonen. Die Arbeit war sehr schwer. Mein Bruder kam auf die Krankenliste und wurde nach Ostdeutschland gebracht. Er hat 2-3 Mal versucht, über Österreich nach Hause zu fahren, wurde aber immer zurück geschickt. Irgendwann wurde ein Transport nach Kanada organisiert. Er ist dorthin ausgewandert. In Kanada hat er seine Frau kennengelernt, eine Deutsche aus Jugoslawien, die auch deportiert war. Er hat uns nie besucht. Am Anfang sollten Ausländer nur im Hotel wohnen und im Restaurant essen. Das war sehr teuer. Vor drei Jahren ist er gestorben. Nach mir wurde das Lager geschlossen Ich war der Letzte, der das Lager verlassen hat. Warum? Weil ich ein Thermometer vergessen hatte. Wenn man krank ist, benutzt man zum Fiebermessen so ein Thermometer. Ich hatte es vergessen und bin zurück ins Lager. Die anderen waren schon weg. Als ich rauskam, hat man mich kontrolliert und mir das Thermometer abgenommen. Ich bin ohne es geblieben. Ein Mädchen hat mir ein Päckchen zum Verstecken gegeben. Ich hatte es unter meiner Arbeitsjacke versteckt. Es waren Bilder von ihrem Freund als Soldat der Waffen SS. Wenn man mich erwischt hätte, wäre ich erledigt gewesen. Wir sind bei Sighet in der Maramures ins Land gekommen. Ich habe dann noch drei Jahre und sechs Monate Militärdienst ge-

Nikolaus Barthold leistet, auch beim Arbeitsdienst. Ich war 26 Jahre alt, dann habe ich geheiratet. Auf der Heimreise war ich mit meinem Onkel, dem Bruder meines Vaters, im Waggon. Wir haben alle einen Arbeitsplatz zugewiesen bekommen. Ich bin aber nach Sighet, weil ich dort einen Bekannten hatte und habe auf dem Bau als Installateur gearbeitet.

149 Schuldig an unserer Deportation sind der Reihe nach: Hitler zuerst. Als zweiter der Notar und der Sekretär der Gemeinde. Die haben uns auf die Listen geschrieben, obzwar wir viel zu jung waren. Uns hätte man nicht deportieren dürfen. Es sollten ja nur die ab 18 Jahren genommen werden. Ich war 16 Jahre alt, ich war noch ein Kind.

Ich wurde in ein Straflager gebracht weil ich Weihnachtslieder gesungen hatte

Hans Bohn (Deutschland)

Z

u1Weihnachten 1944 fuhren durch unser Dorf Züge mit Deutschen. Es war großer Alarm, denn sie riefen um Hilfe. Es waren Deutsche aus Ungarn, die nach Russland geschickt wurden, erfuhren wir später. Es dauerte nicht lange und zu meinem Geburtstag, am 13.01.1945, begann man uns auszuheben. Die Dörfer waren von rumänischem Mi­litär umzingelt, die Rumänen wurden von Sowjetoffizieren angeführt. Wir wussten nicht, was mit uns geschehen wird. An Russland hat niemand gedacht. Wir haben damals nichts gewusst, als die aus Ungarn durchfuhren. Es hieß, sie fahren an den Donau-Schwarzmeer-Kanal. Oder in Rumänien, auf nationale Baustellen. Niemand wusste etwas. Das Wort Russland fiel noch nicht. Es fiel erst, als die Dörfer umzingelt waren. Mein Dorf war über Nacht, wie aus dem Nichts, umzingelt.Am Morgen konnte niemand mehr aus Kleinsanktpeter hinaus oder hinein. Vom Dorfende gingen 6-7 Gendarmen mit rumänischen Soldaten in die Häuser. Sie hatten vorgefertigte Listen. Man weiß, dass durch Vinogradov die Order erlassen wurde, dass alle ausgehoben werden: die Männer von 18 bis 45 Jahre und die Frauen von 20 bis 32 Jahre. Für den Wiederaufbau der 1 Aufgezeichnet von Ilarion Țiu

Kriegszerstörungen in der Sowjetunion. Das hat man später erfahren. Ich war damals Schüler in der VI. Klasse des Prinz-Eugen-Lyzeums in Temeswar. Ich hatte ein Stipendium, war ein armes Kind, mein Vater war Tagelöhner. Ich hatte ein Stipendium seitens der Kirche und der Schule für das römisch-katholische Seminar in Temeswar. Der Unterricht wurde unterbrochen, alle Kinder wurden heimgeschickt. Im Herbst 1944 war es ein Desaster, die südukrai­nischen Armeen zogen durch das Banat. Die Menschen liefen weg, die Russen stiegen nachts den Frauen nach. Nachts kamen die Serben in Sowjetuniformen. Sie zechten, fuhren mit Wagen und stahlen Schweine, stellten Frauen nach, nahmen den Wein aus den Kellern, nahmen alles aus den Häusern, Kleidung, erschossen den Bürgermeister und verschwanden. Wir standen Wache am Dorfrand. Niemand wusste, was morgen geschehen wird. Es kam die Armee, umzingelte die Dörfer und es konnte niemand hinein. Gruppen von Gendarmen mit Soldaten gingen mit ihren Listen von Haus zu Haus und hoben die Leute aus. Sie banden sie und führten sie zum Rathaus. Einige versuchten zu fliehen, also haben sie uns gebunden. Auch ich ging nachts mit meinem Vater durch die Soldaten-Sperre. Die war so 150m um die Dörfer herum.

150 Wir standen am Gartenrand, schauten und, wenn sie nicht schauten, los. Es war Winter, im Januar, kalt, Schnee... Es waren -20°. Wir liefen und versteckten uns in StrohHau­fen. Wir gingen nach Deutschsankt­peter und versteckten uns in den Ställen der Ungarn, dort war es wärmer. Nachts schlichen 1-2 Leute durch die Gendarmen-Sperre, um uns etwas Essen zu holen. Die Deutschen versteckten sich auch in anderen Dörfern bei rumänischen Familien. Es war jedoch gefährlich, sie wurden auch erschossen. Es geschah viel Schlechtes. Aber bei uns im Dorf waren keine Rumänen. Du darfst nicht den Fehler machen, das politische Regime mit der Landesbevölkerung zu vergleichen. Das ist etwas ganz anderes. Der Rumäne, jahrhundertelang unterjocht, war fle­xi­ b­ler, menschlicher. Am dritten Tag wurde getrommelt und verkündet, dass, falls sich nicht alle von der Liste ausliefern, die Alten an deren Stelle genommen werden. Dann sagte mein Vater: Fertig, wir gehen. Ich lasse nicht zu, dass sie meinen Vater mit 70 Jahren nehmen und zur Schwarz-Meer-Baustelle bringen. Russland war noch nicht in der Diskussion. Erst als sie uns alle versammelt hatten und die Sowjet-Offitiere mit dem roten Stern erschienen, wussten wir, dass sie uns nach Russland bringen. Das war um den 15.-16. Januar. Sie brachten uns versammelt hinaus zur Viehtränke auf die Wiese. Es wurden Wagen für die Leute genommen und in der Kolonne ging‘s nach Vinga. Sie führten uns zum Rathaus, es war ein riesiger Hof. Dort wurden wir offiziell den Russen übergeben. Es war eine sowjetische Kommission. Ausgezogen zogen wir vorbei, es hieß nur: Davai, davai. Es war scheinbar eine Form zu kontrollieren, ob wir arbeitsfähig waren. So wurden wir durch jene Kommission geschleust. Und von dort in die Waggone, vorbereitete Viehwaggone. Mit Brettern und in der Ecke ein Loch. Wir waren fast 3 Wochen unterwegs.

Hans Bohn Einigen gelang es, aus den Zügen zu fliehen Viele starben während des Transportes. Auch zuhause starben welche in der Zeit der Gefangenschaft. Einer, der sich widersetzte, wur­de erschossen. Andere versuchten zu fliehen. Z.B. ein Freund von mir, der später Vorsitzender der LPG Kleinsanktpeter war. Wir waren per Bahn hinter Schässburg angekommen und der Zug hielt. Die Sowjets, die uns begleiteten, öffneten die Waggone und verlangten zwei Leute runter, um Wasser zu holen. Wir gingen um Wasser und standen Schlange. Es war ein Pumpbrunnen. Und dieser Typ stand kurz neben mir, schaute und schaute...Neben dem Brunnen begannen die Dorfzäune. Das Türchen war geöffnet. Und plötzlich, ohne etwas zu sagen, lief er davon. Bis die Wachen, die rauchten, zu sich kamen... Sie schossen, der war aber schon hinter dem Zaun und lief. Er kam davon. Es kam aber ein Rumäne, gut angezogen, mit Hut, elegant, was man im Dorf selten sah. Und „Davai, davai“ haben sie ihn genommen und statt des andern reingesteckt. Die Russen verantworteten nur für die Anzahl der Leute und zum Auffüllen nahmen sie ihn mit. Es starben auch unterwegs. Was geschah? Essen bekamst du nicht. Wir hatten Essen. Sie sagten uns, wir sollen einen Sack mit 30kg mitnehmen. Mit Speck, was wir so im Haus hatten. Jeder nahm Essen, Kleidung, so viel er konnte. Aber einige erkrankten. Verschiedenes Wasser in jeder Region. Sie bekamen Diarrhö. Keine Medikamente. Einige starben. Die Masse jedoch starb eigentlich dort. Sie führten uns nach Russland, wir fuhren durch Regionen, wo es schwere Kämpfe gab, man sah im Schnee Tote, Uniformen. 1945 war noch Krieg, es gab niemanden, der dort Ordnung machte. Sie brachten uns nach Dnepropetrovsk, durchs Donez-Becken bis nach Ufalei in Sibirien, entlang der Front. Ich war in folgenden Lagern: zuerst in Smolianka neben Stalino, das heutige Do-

Hans Bohn nezk. Von dort gelangte ich in das Lager Vietka. Dort war ich in einer StachanovistenKohlen-Brigade. Ich hatte 34 Jugendliche aus Rumänien, Serbien, Ungarn, Polen. Stachanovisten-Brigade. In Smolianka setzten sie uns voll in den Schnee, es waren Ruinen. Sie brachten uns zum Bahnhof. Dort waren Waggone aus Sibirien mit riesigen vereisten Baumstämmen. Wir mussten sie herausnehmen, dann wurden sie in einem Betrieb geschnitten. Von dort brachten sie Bretter ins Lager, in die Ruinen. Allein haben wir das Lager gemacht, es waren Ruinen ohne Dach. Hier und da ein Dachrest. Es waren 4-5 Baracken mit Schnee drinnen. Im Freien lebten wir, bis wir uns die Baracken gemacht hatten. In von ihnen gemachten Schuppen übernachteten wir, auf einem Haufen wie die Gänse. Wir schafften den Schnee hinaus, legten Bretterboden, setzten ein Dach. Es waren da Männer, die es verstanden. Eines Tages wurde mobil gemacht. Kohle war mehr als genug, wir machten Feuer unter freiem Himmel. Dann machten wir auch aus Brettern Betten. Wir waren etwa 700-800. Die ersten zwei-drei Wochen haben wir nicht gearbeitet. Wir bauten das Lager auf. Dann ließen sie uns der Reihe nach antreten und fragten uns nach unseren Berufen. Welchen Beruf sollten wir haben, wir waren Schüler. Die ganze Truppe also in die Grube. Einige liefen davon, wollten nicht hinein. Auch ich wollte nicht in die Grube und versteckte mich. Dann fingen sie mich und schlugen mir mit der Lampe auf den Kopf. Im Lager brauchten sie auch Schuster, Friseure, Schneider. Darum fragten sie, um das Lager zu organisieren. Für die Küche brauchten sie Frauen, die kochten. Der Rest in die Grube, das hieß unter der Erde oder draußen beim Transport. Ich war 52 Stunden verschüttet Ich kam in die Grube. Ich war auch 52 Stun-

151 den verschüttet. Es war eine Kohleschicht von etwa 70 cm. Sie lag auf kristallinem Felsen, breit wie ein Brett. Wir mussten sie mit dem Bohrer herausnehmen. Es war Anthrazit, gute Kohle. Dann steckte man Dynamit hinein und sprengte. Danach gingen wir hinein, es erfolgte aber eine Verschüttung. Sie bestimmten mich und den Alten aus Schlesien, der mein Vater hätte sein können, dass wir um die Verschüttung herum schneiden, die Verbindung herstellen. Dann erfolgte die totale Verschüttung und hat auch uns begraben. Und wir beteten, weinten, schliefen ein. Man hörte nichts. Unser Glück war eine amerikanische Kohlefräse. Die Amerikaner schickten damals Maschinen, Panzer, Lebensmittel nach Russland. Wenn wir unsere Norm machten, bekamen wir einen Löffel mit 30g amerikanischem Schweinefleisch. Dort war auch eine amerikanische Maschine mit Stahlbarren. Wir schlüpften unter die Maschine. Niemand hätte uns da je rausgeholt, aber sie brauchten unbedingt diese amerikanische Maschine. Die Kohle konnte man nicht mit dem Pickhammer schneiden. So kamen auch wir davon. Es war schwer, wenige hielten das aus. Einige starben wegen der Verköstigung. Mein Vater, mein Onkel, die zuhause Speck aßen, sind gestorben. Es ergaben sich viele Krankheiten. Vater arbeitete mit mir in der Grube. Er erkrankte aber und arbeitete danach über Tage. Er wurde in den ersten Krankentransport gesteckt, der nach Rumänien kam. Er hatte Flecktyphus. Er kam heim und Mutter wusste nicht, was er hatte, gab ihm Butter, Brot, das Beste. In wenigen Tagen starb er, man konnte nichts mehr tun. Auch mein Onkel starb und mein Cousin, der so alt war wie ich. Auch die Mutter meiner Frau. Sie erkrankte an Flecktyphus. Cholera, Dystrophie. Wir hatten nichts mehr zu essen. Magerten ab zum Skelett. Die Schwester meiner Mutter hatte vier kleine Kinder zuhause. Sie erkrankte am Hals.

152 Es gab kein Petroleum, nicht mal Salz. Wir waren voller Läuse. Du konntest nichts reinigen. Wir rieben uns mit Schnee ab und doch blieb die Misere. Sie hat sich vergiftet und ist im Lager gestorben. Ich erfuhr auch erst nach über zwei Jahren, dass mein Vater zuhause gestorben ist. Abends saßen die Menschen auch vor den Baracken, diskutierten. Im Vorbeigehen hörte ich im Dunkeln, was die Leute aus meinem Dorf erzählten. Denn Briefe kamen sehr selten über das Rote Kreuz. Eine Frau sagte: „Hast du gehört, dass Bohns Vater gestorben ist?“ Ich bin erschrocken und habe mich umgedreht. „Was ist geschehen?“ „Nein, nein“, versuchte sie mich zu beruhigen. Und so erfuhr ich, dass mein Vater gestorben war. Mein Cousin hatte Kartoffeln gestohlen. Sie haben ihn gefangen, irgendwohin gebracht und dort ist er gestorben. Sache war, dass wir jung waren und die Hungersnot grausam. Wir waren geschwächt, Skelette. Wir stiegen aus der Grube und daneben war eine große Kolchose. Die Russen hatten Wachtürme mit Scheinwerfern. Sie erwarteten, dass gestohlen wird. Wir stiegen um 10 Uhr abends aus der Grube, banden die Hosen unten mit Draht ab. Es war eine Sorte Kartoffeln mit hohen Blüten. Um 10 Uhr abends, wenn die Sirene ertönte, begannen sie zu schießen, zur Abschreckung. Und wir schlüpften durch die Kartoffeln, nahmen sie mit den Händen heraus. Sogleich aßen wir sie, roh. Wir steckten auch noch in die Schuhe, um sie mit nachhause zu nehmen. Einen haben sie einmal verwundet. Aber gewöhnlich schossen sie nicht dorthin, wo wir waren. Es waren Menschen, sie wussten. Sie schossen ziellos. Die Russen sind die Besten unter den Slawen Die Russen waren gute Menschen, die Bes­ ten unter den Slawen, sage ich. Jeder von uns hatte je eine Familie aus diesem BergmannsDorf. Es waren kleine Baracken, blechge-

Hans Bohn deckte Hütten. Wir brachten diesen Leuten Holz, Kohlen. Und sie gaben uns zu essen. Auch ich hatte eine Familie. Ich reparierte ihnen den Zaun, wirtschaftete im Haus. Zwei alte Menschen. Die Russen hatten ein Fässchen, in das sie Äpfel gaben, die gesalzen waren. Und sie gaben uns zu essen. Im Lager war grausame Misere. Sie gaben uns leeres Wasser mit drei Krautblättchen. Die Grubenarbeiter bekamen 1.200g Brot. Das war jedoch Wasser, wenn du es zusammendrücktest, floss Wasser heraus. Und Ähren. Auch die Wächter waren nicht schlecht. Sie waren gleichgültig. Wenn jemand etwas tat, handelten sie sofort. Sie hatten Verantwortung. Wenn jemand fortlief, schwebte der Tod über ihrem Haupt. Sie hatten Angst, verantworteten für uns. Mit der Zeit fingen wir an, uns zurechtzufinden. Auch die Russen hatten es anfangs nicht besser. Erst 1948 wurde das Brot freigegeben, du konntest kaufen. Auf Zuteilungskarten. Bis dann war zwischen Lager und Dorf Basar. Und dort verkauften die Russinnen Maisbrei, Mais gekocht mit roten Rüben, rund geformt, geviertelt. Ein Viertel davon kostete fünf Rubel. Bis die Dinge sich beruhigten, aß ich manch­mal bei dieser Russen-Familie. Sie hatten ein ärmliches Haus, waren arm. Sie gaben mir je eine warme Suppe, die Alte streichelte mich. Ich habe mich gut mit ihnen verstanden. Ich habe russisch gesprochen. Wenn du nur mit Russen bist, lernst du in einem Jahr. Ich schreibe russisch und spreche auch heute mit den Russen. Die Alte kam neben mich und streichelte mich. Und sie zeigte mir ein Foto mit ihrem Rischa, der an der Front erschossen wurde. Sie wussten nicht, ob wir Soldaten waren. Deutsche waren wir. Deutsche aus Rumänien gab es für sie nicht. Und ich dachte, nachdem ich zuhause war, woher wussten sie, dass nicht du ihren Sohn erschossen hast. Sieh an, sie gaben dir zu essen.

Hans Bohn Na gut, am Anfang verfluchten die Leute uns: Faschisten, Nazis. Die Bevölkerung war vollgestopft mit kommunistischer Propaganda. Dass wir Deutsche waren, hieß, dass wir Hitleristen waren. Nachher, im Laufe der Jahre, machten wir Bekanntschaft mit den Menschen. Wir arbeiteten nur mit Russen. Diese sahen, mit wem sie es zu tun hatten, sahen, wie wir uns verhielten, was wir machen. Wir freundeten uns auch mit unseren Wächtern, unseren Natschalniks, an. Der Brigade-Chef sagte uns: Sieh, bald geht ihr heim. Fünf Jahre sagte er uns, dass wir hier sind und zurückkehren. Ich gelangte auch in ein Straflager, nach Vierovka. Anfang 1948 waren die Zeiten, als diese deutschen Kommunisten, Ulbricht, in Moskau waren. 1949 wurde die DDR gegründet. 1948 erließ Stalin eine Order, dass in allen Lagern mit Deutschen, sowohl in Gefangenenlagern als auch in Zivillagern, nach der Arbeit Kulturtätigkeit veranstaltet wird. Dass Lieder gesungen werden. Wir wurden als Brigaden von Offizieren geführt. Es waren auch Mädchen und Frauen dort. Wir hatten einen Offizier, der leitete. Und unser Russe kam und sagte, wir müssen unbedingt ein Programm vorführen. Aber, woher Gedichte, woher Stücke, man konnte keine Stücke schreiben in dieser schrecklichen Misere. Nein, das muss gemacht werden, sagten uns die Offiziere, und, wenn ihr probt, holen wir euch aus der Grube. Seitens der Brigade wurde ich bestimmt, einen Chor zu machen. Aber welche Lieder? Wir kannten Hitler-Lieder, die wir im Ly­ zeum gelernt hatten. So was konntest du nicht singen, dass sie dich erschießen. Es mussten Lieder sein, die auch die Deutschen aus Jugoslawien, Ungarn und Russland kannten. Im Blick auf die nahen Weihnachten ging es mir durch den Kopf, Weihnachtslieder zu singen. Sie lernten, sangen. Am Abend, als wir das Programm vorführten, waren wir 32 Mädchen und Jun-

153 gen. Wir hatten einen Tannenbaum, wo du im gesamten Donbas keinen fandest. Dort waren Staub, Steine, Ruinen, Misere. Unsere Jungs jedoch fanden ein Tannenbäumchen und stellten es auf. Der Lagerkommandant räumte eine Baracke und brachte alle dorthin. Ich leitete den Chor und musste einige Worte zur Eröffnung sagen. Was sagte ich mit meinen 18 Jahren? Es wird Weihnachten und in dieser Zeit sind wir mit unseren Gedanken bei denen zuhause. Wir sangen das erste Lied, das zweite und plötzlich spüre ich, dass mir jemand einen Fausthieb gibt: Pass auf, der Lager-Politruk ist neben dem Kommandanten. Sag nichts mehr, schweig. Ich sagte noch etwas und war fertig. Kaum war ich gut mit den Beinen im Bett, kamen zwei Sowjets: Davai. Sie brachten mich, so wie ich war, hinaus. Da war ein Laster, es waren schon etwa drei drauf. Sie warfen mich auf den Laster und brachten mich in das 60 km entfernte Lager Verovka. Dort brachte uns die Armee zur Arbeit. Es war ein Desaster. Morgens führten sie uns zur Arbeit. Links ging eine Front Offiziere mit Gewehren. Dort waren andere versammelt, die geflohen waren, verschiedene Menschen. Dort blieb ich nicht lange, 1948-1949 beruhigte sich die Lage, wie sie sagten. Das Lager wurde aufgelöst. Wir mussten uns draußen aufstellen. Wir dachten, sie erschießen uns, so geängstigt waren wir. Eigentlich selektierten sie uns. Er fragte jeden, welchen Beruf er hat. Welchen Beruf sollte ich haben, ich war Schüler bei der Abfahrt. Ich fragte einen neben mir, was ich tun soll. Er riet mir, sag ihm, du bist Maler. Ich machte Geld durch den Verkauf des Farbüberschusses So kam ich in eine Mannschaft, die sich mit der Reparatur der durch den Krieg zerstörten Gebäude in der lagernahen Stadt beschäftigte. Es ging mir gut dort. Materialien gab es im Überfluss.. Wir konnten Farbe be-

154 stellen, soviel wir wünschten, es kontrollierte uns niemand. Was uns blieb, brachten wir auf den Basar und verkauften es. So kamen wir zu etwas Geld. Es wurde nicht mehr auf Karten zugeteilt, wir konnten Essen, Kleidungsstücke kaufen. Was soll‘s, wir fanden uns nach Möglichkeiten zurecht. 1948 hörte man schon, dass wir heimfahren, man wusste es. Es erfolgte die „Hygienisierung“: Wir wurden ins Bad gesteckt, reinigten uns, sie verbrannten unser Gewand, desinfizierten. Sie gaben uns neue Kleidung. Bei der Abfahrt gab es eine Sortier-Kommission. Dort mussten wir eine Erklärung abgeben. Es gab eine Liste mit drei-vier Punkten. Wohin du willst usw. Einige fuhren nach Deutschland, kehrten nicht mehr heim. Die Ersten gelangten 1945 nach Deutschland. Was geschah? Anfangs wurden die Kranken heimgeschickt. Der einzige Kranken-Transport, der am Anfang, 1945, nach Rumänien kam, war der mit meinem Vater. Von da an gingen alle Transporte nach Frankfurt/Oder. Ich dachte, die wollen Durcheinander schaffen, dass niemand mehr weiß, woher und was, wie viele gestorben sind. Aus Ungarn, Polen, der Tschechoslowakei, Rumänien, Serbien. Alle waren Deutsche. Ich verlangte nachhause. Wir kamen bei Sighet nach Rumänien, nachdem wir durch Tschernowitz fuhren. Dort waren schon welche, die schon durch waren, es war Triage. Der Zug hielt im Theiß-Tal. Wir stiegen aus, wuschen uns die Hände, das Gesicht. Wir betra­ten Sighet, wurden auf Baracken ver-

Hans Bohn teilt. Nachts kamen Offiziere und fragten uns, ob jemand gut russisch schreiben kann. Und ich, gleich. Ich musste Fahrscheine ausstellen. Ich habe ihn heute noch. Dort haben sie dich gefragt, wohin du willst. Morgens um 4 habe ich auch für mich einen „Wegschein“ geschrieben. Wir fuhren durch Großwardein. Plötzlich erschienen in den Dörfern Bauern mit Körben voller roter Äpfel. Und begannen zu werfen. Es waren Rumänen, die wussten, dass wir ausgehungert waren. Ich kam von Großwardein bis Oradea. Dann nach Arad und nachhause. Zuhause fand ich großes Elend vor... Vater war tot, es regnete ins Haus, zu essen gab es nichts. Meine Mutter war total verarmt. Ich musste sofort etwas tun. Ich ging zur Farm und schrieb mich ein. Dort arbeitete ich einige Monate. Bis in der Zeitung eine Anzeige erschien, dass derjenige, der Russisch kann und die kleine Matura (vier Gymnasialklassen) hat, sich in Temeswar zu einem Wettbewerb für Hilfslehrer in Russisch stellen kann. Ich stellte mich und bekam gleich einen Posten und ab dann konnte ich arbeiten. Ich machte das Maxim-Gorki-Institut in Bukarest per Fernstudium. Aber die Grube blieb mir auch in Rumänien nicht erspart. Die Absurdität der Welt – sie riefen mich nach Temeswar, weil ich nicht mit 18 Jahren meinen Militärdienst geleistet hatte. Aber sie hatten mich doch nach Russland geschickt, wo hätte ich meinen Militärdienst leisten sollen? Ich kam in die Uricani-Grube. Ich war ja qualifiziert!

Ich kam ins Krankenhaus, nachdem ich in der Kohlengrube mit einem Pferd zusammengestoßen war1

Franz Engel (Deutschland)

A

ls1ich 1945 nach Russland gebracht wur­de, war ich 17 Jahre alt. Ich wohnte

1 Aufgezeichnet von Ilarion Țiu

in Lugosch, aber wir waren aus einem deutschen Dorf, Bethausen, im Kreis Temesch. Im Dorf gab es drei Viertel Deutsche und ein Viertel Ungarn und Rumänen. Die Mehrheit

Franz Engel waren Deutsche und somit hatten wir eine Schule mit der ersten und zweiten Klassen in deutscher Sprache. Danach, in der dritten Klasse, lernten wir alles in rumänischer Sprache und nichts mehr auf Deutsch. Und zu jener Zeit gab es keine höheren Klassen als die erste und die zweite. Die restlichen machte man in der Stadt, und unsere Stadt, das Zentrum, war Lugosch. Wir hatten in Lugosch eine Tante und von dort ging ich zur Schule. Dort habe ich das Gymnasium gemacht und 1943 eine Lehre begonnen. Ich habe als Elektroinstallateurlehrling bei einem privaten Meister in Lugosch gearbeitet. In der Stadt gab es eine Militäreinheit. Manche Soldaten wohnten in der Kaserne, andere waren bei den Leuten untergebracht. Ein Unteroffizier war bei uns untergebracht. Er schlief in der Küche. Er hat etwas gehört, dass man eine Razzia in den deutschen Dörfern machen wird, um sie für die Arbeit einzusammeln. Er hat mir gesagt, ich solle nichts weiter erzählen. Ich bin bei dieser Gelegenheit, damit man mich nicht kriegt, zum Bahnhof und bin nach Hause aufs Dorf gefahren, nach Bethausen. Ich habe mich versteckt, und habe mir gedacht, dass ich dort nicht verständigt werden kann und in der Stadt auch nicht verständigt werden kann. Also komme ich nicht durch. Als ich nach Hause gekommen bin, habe ich mich niemandem gezeigt, dass man nicht sagen konnte, dass ich zu Hause bin. Ich wusste, dass man Razzien machen wird. Mein Vater hatte eine Schlossereiwerkstatt, er war bekannt. Um Bethausen herum gab es nur rumänische Dörfer. Dort hatte mein Vater Kunden. So habe ich entschieden, nach Hause und danach in ein rumänisches Dorf, nach Cladova zu gehen und mich dort zu verstecken. Und als ich dort hinging und am Anfang des Dorfes ankam, war dieses schon eingekreist von russischen und rumänischen Soldaten. Und so hat man uns genommen, ich konnte ihnen nicht mehr entkommen.

155 Sie hatten schon eine Liste vom Rathaus. Ich bin 1927 geboren, aber auch von den 1928 Geborenen haben sie einige genommen. Die Mädchen, die bis 1926 geborenen. Und auch Frauen, die kleine Kinder hatten, ab anderthalb Jahre alt, auch die haben sie genommen. Die übrigen waren in der deutschen Armee oder es waren Ältere. Oder in der rumänischen Armee. Wir waren ziemlich auf verlorenem Posten. Also hat man uns festgenommen und zur Sammelstelle gebracht. Ich habe mich mit ihnen gestritten. Denn es stellte sich heraus, dass ich nicht gelistet war. Aber sie registrierten mich und brachten mich zur Kommandantur, zu den Gendarmen. Die sind in die Häuser und haben die Leute mitgenommen. Morgens um 5 Uhr hat man sie aus den Betten geholt. Wir wurden in der Schule des Dorfes versammelt. Unser Dorf war klein, wir waren circa 50 Personen. Männer und Frauen. Die Angehörigen zu Hause haben unsere Sachen gepackt. Mein Vater war beim Militär. Meine Mutter hat mir den Koffer gepackt. Sie hat dort alles hineingepackt, Essen, eine Decke. Als wir versammelt waren, war alles sehr streng, wir konnten nicht einmal auf die Toilette gehen, dort in der Schule. Eine Wache war bei uns. Wir haben nichts gewusst. Wir blieben eine Nacht in der Schule, bis alle beisammen waren, und am nächsten Morgen sind sie mit den Schlitten gekommen. Es war ein harter Winter. Man hat uns je einem russischen und einem rumänischen Soldaten zugeteilt. Wir waren 4 - 5 Leute im Schlitten. Sie haben uns nach Lugosch gebracht, 20-25 km entfernt. Lugosch war das Zentrum, wo der Transport zusammengestellt worden ist. Und aus all den deutschen Dörfern aus der Umgebung von Lugosch haben sie alle Leute dorthin gebracht, in diese Schule, die Mädchenschule. Erst wurden circa 1.400 Menschen eingesammelt. Dies war der erste Transport aus Lugosch, später folgten weitere.

156 Wir wurden in Güterwaggons verfrachtet. Aus unserem Dorf haben sie zehn Leute genommen, um den Waggon zu füllen. Im Waggon waren wir über 30 Leute. Wir wussten nichts Konkretes, was mit uns passieren wird. Es gab Gerüchte. Als wir die Russen sahen, vermuteten wir, dass sie uns nach Russland bringen werden. Wir ahnten, wohin es gehen sollte. Aber Genaues hat man uns nicht gesagt. Von Lugosch sind wir losgefahren in Richtung Deva - Hunedoara - Hermannstadt - Predeal, bis nach Râmnicu Sărat. Es war schrecklich. Neben der Tür war ein Loch für die Notdurft gemacht worden. Anfangs schämten wir uns, es waren auch Frauen zugegen. Wir hielten eine Decke hoch und die Leute verrichteten ihre Notdurft. Mal die Frauen, mal die Männer. Wir hatten auch einen Ofen, zum Heizen. Es gab auch etwas Holz im Waggon. Essen hatten wir von zu Hause in unseren Koffern. Es hieß, der König Mihai wird uns retten In Râmnicu Sărat gab es schon die doppelte Eisenbahnlinie, die der Russen. Und aus drei Waggons haben sie uns umgeladen in einen großen. Einer neben dem anderen saßen wir dort auf den Stühlen. In Jassy haben wir Halt gemacht. Wir konnten die Lage nicht einschätzen. Es hieß, der König Mihai wird uns retten. Drei Tage lang hielt man uns in Jassy. Von den Russen erfuhren wir nichts. Auch die Rumänen sagten uns nichts. Niemand wusste Bescheid. Der rumänische Soldat hatte Angst, vor dem russischen etwas zu sagen. In Jassy hat man uns genommen und in russische Waggons gesteckt. In den russischen Waggons wurden Pferde transportiert und andere Tiere an die Front und vieles mehr, sie waren sehr schmutzig. Und voller Läuse. Wir begannen, uns schon zu kratzen. Wir waren einer dicht neben dem anderen und aßen noch aus unseren Koffern, was wir hatten. Bis nach Jassy fuhren wir circa drei Tage. Wir warteten gelegentlich in Haltestationen,

Franz Engel wenn russische Soldaten Richtung Westen fuhren. Wenn die Strecke frei war, konnten wir weiterfahren. In Jassy begannen sie, die Türen zu öffnen, damit wir Wasser holen konnten. Zu essen hatten wir noch, aber wir hatten kein Wasser. Ich war neben der Waggontür, da hat man mich mitgenommen. Wir hatten ein paar große Konservenbehälter, und damit haben wir Wasser geholt am Bahnhof, wo es eine Wasserzapfstelle gab. Als wir Tiraspol - Tighina durchfuhren, stellten wir fest, dass es keine Zweifel mehr gab, sie brachten uns nach Russland. Irgendwo in Russland haben sie mal die Waggons geöffnet und gesagt, dass vier Leute mitkommen sollen. Es war eine große Kantine und von dort hat man uns in Eimern Suppe gegeben. Die erste warme Mahlzeit. Es war kalt und das Holz war zu Ende gegangen. Irgendwann kam ein Soldat zu mir und hat mich aus dem Zug genommen, damit ich Holz hole. Als ich feststellte, dass ich allein bin, wollte ich fliehen, aber ich hatte keine Kleider dabei und das Gepäck war im Zug. Ich habe überlegt, was mach ich jetzt, es war kalt, der Schnee lag hoch. Ich habe es mir dann doch anders überlegt und bin zurückgegangen. Da hat er gerade die Tür zugemacht. Ich hätte fliehen können, aber ich hatte Angst. Wir sind in der Ukraine angekommen. Dort haben sie hin und wieder die Tür geöffnet, sie wussten, dass wir nicht fliehen werden, wir hatten nicht wohin. Das heißt, man hat uns nicht mehr so stark bewacht. Nach einer gewissen Zeit sind wir stehen geblieben. Auf dem Weg haben sie uns noch circa zweimal zu essen gegeben. Uns hat man ins Donezbecken in der Ukraine gebracht. Wir sind in der Nähe von Stalino, heute Donezk, angekommen. Dort ist der Zug stehengeblieben, bei einem Zentrum, das hieß Kapitalnia. Wir blieben stehen und man hat uns aus dem Zug herausgeholt. Es gab dort ein großes Kulturhaus,

Franz Engel ein Kino. Dort hat man uns alle hinein gebracht, einer neben dem anderen saßen wir auf den Koffern. In dem großen Kino in Kapitalnia blieben wir einen Tag lang. Dort haben wir die Leute aus unserem Dorf, beziehungsweise aus dem Nachbardorf kennengelernt. Dort haben wir geredet, wer bist du, wo kommst du her. Dort hatten sie schon unsere Listen. Sie wussten, wohin die Leute zugeteilt werden mussten. Es gab eine große Mine und es gab eine kleinere Mine. Unsere Kaserne war schon gerichtet. Und sie hatten eine bestimmte Anzahl von Leuten, die benötigt wurden. Sie haben abgezählt. Wir waren beim ersten Transport dabei. So wurde der Vater vom Sohn getrennt, auf die Familie wurde keine Rücksicht genommen. Männer und Frauen. Frauen aus unserem Dorf waren nicht dabei, sie kamen in den zweiten Transport. Wir waren nur zehn Leute in diesem Transport. Wir mussten bis dorthin zu Fuß gehen. Wie viele Kilometer wussten wir nicht. Es lag Schnee bis zu den Knien. Ich habe meinen Hosenriemen genommen und ihn am Koffer befestigt und diesen wie einen Schlitten hinter mir hergezogen. Einige aus unserem Dorf sind in Kapitalnia geblieben. Kapitalnia war das Zentrum, von dem aus die Aufteilung vorgenommen wurde. Wie viele sie genommen haben, je 2, 3, oder 4, wie viele sie für eine kleine Mine brauchten. Wir waren 17 in Stantia­ Tschistjakowa, 30 km von Kapitalnia ent­ fernt. Tschistjakowa war Rayon und StantiaTschistjakowa, wir sind zu Fuß hingegangen, war ein Eisenbahnknotenpunkt. Wir haben zwei größere Baracken vorgefunden. Wir waren circa 250 Personen, Männer und Frauen. Als wir dort ankamen, mitten in der Stadt, war dort ein Stacheldraht­ zaun, nicht weit vom Bahnhof entfernt. Die Baracke war aus Holz. Die Stockbetten hatten drei Ebenen. Zudem gab es einen Ofen. Kohle gab es, es war ja die Mine

157 dort, wir haben Feuer gemacht. Die Frauen wurden anderweitig untergebracht. Ein russischer Kommandant hat uns empfangen. Der hatte seine Leute, die Wache, die auf uns aufpasste. Der Kommandant war ein Reserveoffizier, ein eher besserer Mensch. Er hatte seine Leute. Einer hieß Nicolae, der Lagerchef, er war noch jünger. Es gab auch andere, die älter waren, ungefähr drei. Sie hatten zwei Waffen dort. Sie sind gekommen und haben uns auf die Zimmer verteilt. Es gab auch eine Küche am Ende des Lagers. Für die Küche wurden Frauen gesucht. Die Russen sagten, dass es eine Chefin geben müsse und so haben sie das Küchenpersonal zusammengestellt. Am zweiten Tag haben sie uns genommen und uns schon ins Tal gebracht, zur Kohlengrube Nummer 17. Dort haben wir einen Rumänen getroffen, der aus Bessarabien kam, dieser konnte etwas Russisch und er war unser Übersetzer. Auch sie waren dorthin deportiert worden. Bei der Mine erwarteten uns die Chefs, „Natschalniks“, wie wir sie nannten. Sie haben uns ins Bad gebracht und dort haben sie begonnen, uns für die Arbeit einzuteilen. Zuerst haben sie Handwerker gesucht. Jeder nannte seinen Beruf. Ich sagte, dass ich Elektriker war - fertig. Der nächste, dass der Schmied war - fertig! Die Mechaniker haben ihre Leute genommen. Mich haben die Schmiede genommen. So haben sie uns in die Mechanikerwerkstatt gebracht. Die anderen wurden auf die Sektoren verteilt. Es gab sechs Sektoren in dieser Mine. Jeder Sektor hat Leute bekommen. So wurden sie zugeteilt - Männer, Frauen. Die Frauen trugen Holz bei -30° Die Mechanikerwerkstatt war an der Oberfläche. Man gab uns Arbeitskleidung, Blaumänner. Es gab auch Kleidung mit eingenähter Watte für jene, die sie brauchten - zum Beispiel für die Frauen, die im Bahnhof Holz

158 ausluden. Sie waren dort, mit dem gefrorenen Holz. Kalt war es dort … Bis zu -30°. Sie haben uns Kleider gegeben, danach haben sie uns ins Bad gesteckt. Wir haben geduscht und bekamen dann Straßenkleider. Sie haben uns mitgeteilt, dass wir in drei Schichten eingeteilt worden sind. Wir in der Mechanikerwerkstatt hatten nur Frühschicht. Nach einer gewissen Zeit wurde einer in der Schmiede gebraucht. Sie haben einen Hilfsschmied verlangt. Ich bin dort hingegangen, dort war ein alter Russe. Er hatte einen kleinen Hammer und du musstest mit dem Vorschlaghammer schlagen. Ich kannte mich nicht aus, und als ich zuschlug, flog ihm die Zange aus der Hand, da wollte er mich schlagen. Danach zeigte er mir, wie das zu machen war und wie gearbeitet werden musste. Danach habe ich mit ihm dort gearbeitet, in zwei Schichten. In der Schmiede wurden geschmiedete Schrau­ben hergestellt. Und in der Mechanikerwerkstatt kam das Gewinde drauf. Auf einfachste Weise. Sie hatten nichts. Ich arbeitete in der Mechanikerwerkstatt und machte Aushilfe in der Schmiede, bis ich dann letztendlich auch in die Mine kam. Ich wurde in die Mine versetzt, weil ich Kartoffeln gestohlen hatte, wir hatten Hunger. Ich hatte gesehen, dass die Frauen von der Schmiede einen Zusatzgarten mit verschiedenem Gemüse hatten. So hatten sie auch Kartoffeln. Ich hatte Spätschicht zusammen mit jemandem aus unserem Dorf. Gemeinsam sind wir gegangen und haben die Hände in den Boden gesteckt und ein paar Kartoffeln heraus geholt. Danach haben wir sie in der Schmiede ins Feuer gelegt. Und dann hat mich ein Natschalnik gesehen, er war in die Schmiede gekommen, um seine Zigarette anzuzünden. Und als er das gesehen hat, hat er begonnen zu schreien: „Deutsche, ihr stehlt die Kartoffeln“. Sie haben uns beide mitgenommen und vor die Nachtschichtkonferenz gebracht. Dort wa-

Franz Engel ren alle Chefs versammelt. Und dann haben sie uns zur Arbeit in der Mine versetzt. In der Mine haben wir Loren geschoben. Es gab auch Pferde, die die Loren gezogen haben. Dort war ein Mädchen, das die Lore anhängte, während ich schob mit der Laterne am Kopf. Einmal ist ein Pferd aus dem Stall entwischt und lief allein durch den Stollen. Ich bin mit ihm zusammengestoßen und habe mir das Schlüsselbein gebrochen. Man hat mich ins Krankenhaus gebracht. Sie haben mich nicht voll eingegipst, nur ein paar Ringe gesetzt. Ich blieb zwei Wochen im Krankenhaus zusammen mit Zivilpersonen, mit Russen. Sie wussten, dass wir aus dem Lager sind. Nach zwei Wochen kam der Arzt und sagte mir, ich soll die Arme hochheben. Als er sah, dass ich dies konnte, hat er mich aus dem Krankenhaus entlassen. Ich durfte noch zwei Wochen im Lager bleiben. Weil ich Elektriker war, habe ich in dieser Zeit die Beleuchtung im Lager repariert. Einer aus der Mine, der für die Telefone zuständig war, hat gefragt, als er ins Lager kam, wer die Reparatur gemacht hat. Ich, habe ich gesagt. Gut, komm zu uns! Dann bin ich nicht mehr in die Mine gegangen, ich war für die Telefone zuständig. Sie haben uns eine Leiter gemacht, wir stiegen auf die Telefonmasten. Die Telefonleitungen waren aus dem Kabel, mit dem wir die Loren zogen. Es war verflochten, wir haben es aufgemacht und damit haben wir die Telefonleitungen gezogen. In die vorhandenen Masten haben wir eine Art Nagel geschlagen, und als Isolator haben wir ein Stück Gummi verwendet. Wir haben die Leitung verbunden und so eine Telefon- oder Stromleitung hergestellt. Ich arbeitete dort. Sie schickten mich noch hin und wieder in die Mine, wenn es dort Probleme mit den Telefonen gab. Ich habe mich an sie gewöhnt. Später habe ich Elektroinstallationen gemacht. Die Pferde wurden aus der Mine herausgenommen, deshalb wurden Elektroinstallationen gemacht, alles funktio-

Franz Engel nierte dann auf Knopfdruck. Auf die Pferde wurde verzichtet. Mit der Zeit verstand ich mich besser mit den Russen. Am Anfang durch Zeichen mit den Wärtern. Später mussten wir ein paar russische Wörter lernen. Jeden Tag ein bisschen. Die Russen, d.h. die Bevölkerung, war grundsätzlich sehr nett. Sie hatten es auch schwer. Sie hatten nichts zu essen und lebten auch nicht besser als wir. Nur dass sie frei waren. Sie wussten, dass wir nicht aus Deutschland waren, sondern aus Rumänien. Wenn du gut umgegangen bist mit ihnen, waren sie auch menschlich, ich kann nicht klagen. Die Zivilbevölkerung war gut. Auch die Wärter hatten keinen Ärger mit uns, sie waren uns nicht feindlich gesinnt. Mit dem Essen war es sehr schwer. Wenn du in der Mine gearbeitet hast, d.h. schwere Arbeit verrichtet hast, hast du 1.200g Brot bekommen. Wenn du über Tage gearbeitet hast, hast du nur 700g bekommen. Es war wie Spreu, wenn du es geschnitten hast, ist alles am Messer kleben geblieben. Morgens hat man einen Tee mit Brot bekommen. Wenn du wolltest, hast du es ganz aufgegessen. Zu Mittag gab es zwei Gänge, eine Suppe und Gerstengraupen, wie sie sie nannten. Ein gekochter Brei. Ein wenig Fleisch war auch dabei. Mit meinem Zuhause hatte ich keine Verbindung. Bis auf einmal, als ich im letzten Jahr einen Umschlag vom Roten Kreuz erhalten habe, auf dem auf Russisch und auf Deutsch geschrieben war: Für Rumänien. Ich habe ihn aufgerissen und habe meine Adresse in Rumänien aufgeschrieben. Und an die russische Adresse haben mir meine Eltern geschrieben. Ein einziger Brief. Was dort los war. Meinen Namen, Engel Franz, Lager 1037. Niemand wusste, wo wir sind. Wir haben die ganze Zeit daran gedacht, nach Hause zu kommen. Und daran, von heute auf morgen etwas zu essen zu haben, zu entkommen. Nur ans Essen haben wir ge-

159 dacht. Wir litten Hunger. Und später, nach drei Jahren, im vierten Jahr, haben sie begonnen, die Essensmarken auch bei den Russen abzuschaffen. Man konnte in den Basar gehen und Brot kaufen. Dann habe ich Brot gegessen, bis ich fast platzte. Ich hatte Geld gespart und kaufte auch Maismehl. Ich habe es im Lager zubereitet, wir hatten einen Herd. In unserem Lager waren wir nur wenige und wir waren wie eine Familie. Zum Ende hin haben sich die Dinge beruhigt, die Leute haben versucht, normal zu leben. Wir waren jung und haben auch je ein Mädchen gefunden aus den Reihen der deutschen Deportierten. Sie kochte mal was oder nähte auch. Auch ich hatte ein Mädchen dort. Als wir nach Hause gekommen sind, haben wir uns getrennt. Jeder ist dann seinen Weg gegangen. Manche haben sich gefunden und haben geheiratet. Wir hatten Kontakt zu den Frauen. Selbstverständlich hatten sie ihre eigenen Schlafräume, wir die unseren. Im Geheimen hat man auch andere Dinge dort gemacht… Wir hatten auch schon Kinder dort. Kinder, die dort geboren worden sind. Manche sind nicht mehr nach Hause zurückgekehrt. Einige sind dort gestorben, sie waren erkrankt und man konnte ihnen nicht mehr helfen. Die waren dort nicht mit allem ausgestattet, mit all den notwendigen Medikamenten. Auch für die Russen nicht. Zuerst starben die Alten. Man sagt die Alten, sie waren 40 - 45 Jahre alt. Zuerst starben diejenigen, die nicht an die harte Arbeit gewöhnt waren. Die zu Hause einen Büroarbeitsplatz hatten. Diejenigen die krank waren, hat man in ein separates Lager gebracht. Sie kamen aus allen Lagern und bildeten ein eigenes Lager mit Kranken. Jene, die starben, wurden dort beerdigt. Ich bin durchgekommen. Im vierten Jahr gab es schon Gerüchte, dass man uns freilässt. 1948 hat man die Soldaten abgezogen. Und dann wussten wir, dass auch wir an die

160 Reihe kommen werden. Und 1949 im Sommer waren wir bereit, nach Hause zu fah­ren. Dann haben wir auch Fotos gemacht. Wir hatten auch Schneider unter uns. Wir hatten etwas Geld und haben uns besser eingekleidet. Es gab Schneiderinnen und Schneider. Der 1. Mai war nationaler Feiertag. Wir hatten ein Akkordeon und sangen, es ging uns schon besser. Zwei Jahre waren sehr schwer, das dritte so und so, aber im vierten und fünften Jahr ging es uns schon besser. Sie haben uns bei der Abfahrt verboten, die Fotos mit nach Hause zu nehmen Als wir abfuhren, war alles sehr streng, kein einziges Foto durfte mitgenommen werden. Niemand sollte sehen, was war. Nur versteckt konnten wir die Fotos mitnehmen. Sie haben einen Transport zusammenge­ stellt und uns über die Grenze gebracht. Es war im Herbst, im Oktober 1949. Es war nicht so sehr kalt. Bei Vişeul de Sus sind wir ins Land gekommen. Dort wurden wir Aufgeteilt, es wurden die Papiere gemacht und du konntest heimfahren. In Rumänien, beim Arbeitsamt, haben sie uns die in Russland gearbeiteten Jahre anerkannt. Wir haben ein Gesuch beim Minis­ terium eingereicht und man hat uns dort in den Akten vorgefunden, wer wohin gekommen war. Man hat auch mich gefunden und

Franz Engel mir eine Bescheinigung ausgestellt, dass ich nach Russland deportiert worden war zwischen den Jahren 1945-1950, für den „Wiederaufbau der UdSSR“. Nur so viel stand geschrieben. Und das hat man uns im Arbeitsbuch anerkannt. Zu Hause wusste man schon, dass wir kom­men. Wir haben es vermieden zu sagen, was passiert war, wir wussten, dass im Lande die Kommunisten an der Macht waren und dass wir nicht reden sollten. Nur den Familien haben wir es erzählt. So sollte es nun mal gewesen sein. Ich könnte nicht sagen, wer die Schuld trägt. Das Land, Rumänien. Die Russen haben Leute verlangt für den Wiederaufbau der UdSSR. Und dann haben sie gesagt, ja schicken wir doch die Deutschen, denn diese waren doch... Die hatten aber nicht gesagt, welche Natio­ nalität. Rumänien hat dann uns geschickt. Das war unser Schicksal. Ich bin froh, dass ich das überstanden habe. Zu Hause wurde ich in einer Kooperative für Elektroinstallationen eingestellt. Aber nach einem Jahr wurden wir zum Militärkommissariat gerufen, Militärarbeit zu verrichten, weil wir unseren Militärdienst nicht abgeleistet hatten. Und siehe da, wo ich hingekommen bin: nach Lupeni ins Schiltal zur Kohle. Zweieinhalb Jahre war ich dort.

Im Lager fraßen uns die Läuse und die Wanzen fast auf 1

Mihai Butto (Deutschland)

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ch1wurde zusammen mit meinem Vater in der Ortschaft Bethausen, Kreis Temesch, ausgehoben. Sie nahmen nur die Männer und 1 Aufgezeichnet von Ilarion Țiu. Anmerkung: Mihai Butto wurde zusammen mit Franz Engel verschleppt, die Details der Fahrt in die UdSSR sind auf den Seiten 209-216 beschrieben. Die beiden wurden zusammen interviewt.

brachten sie nach Lugosch. Mich und meinen Vater brachte mein Großvater dorthin. Die Alten waren dazu verpflichtet worden. Ich erinnere mich, dass wir mit dem Pferdewagen gefahren wurden, sie waren dazu gezwungen worden. So viele, wie auf den Wagen passten. Auf dem Wagen waren noch ein rumänischer und ein russischer Soldat. Man konnte nicht weglaufen. Sie hatten Waffen.

Mihai Butto Nachdem wir in Kapitalnja angekommen waren, blieben mein Vater und ich dort. Es gab sechs große, einstöckige Baracken aus Holz. In der Mitte lag Brennholz zum Heizen. Die Baracken waren von den deutschen Soldaten während der Besatzung gebaut worden. Es gab auch deutsche Losungen. Am Anfang war es ziemlich schwer, denn wir schliefen nur auf den Brettern. Zwei Reihen Betten. Bis sie uns Stroh brachten, damit wir es als Matratze verwenden. Wir mussten 10-20 km zu Fuß durch den Schnee gehen, damit wir Stacheldraht von dort nehmen konnten, wo einst die Frontlinie verlaufen war. Wir mussten den Stacheldraht einsammeln, auf ein Holz wickeln und dann in drei Reihen um unser Lager wickeln. Es war kalt, es gab bereits die ersten Kranken. Unsere Kleidung war nicht für diesen Frost geeignet. Und seit damals erkrankten viele. Wir bekamen dort nur Krautsuppe oder Suppe mit sauren Gurken und das Hauptgericht war nur ein Löffel Krümel. Sie hatten nichts, was sie uns zu essen geben konnten, denn die Russen hatten selbst nichts. Mein Vater wurde den Maurern zugeteilt. Er sagte, er sei Maurer und stellte sich geschickt an. Dann arbeitete er auch auf dem Bau. Was zerbombt worden war, wurde wieder aufgebaut. Sogar im Winter, bei der Kälte, wurde das gemacht. Für den Beton wurde heißes Wasser verwendet. Ich wurde zum Brennholz eingeteilt. Ich war auch in der Tischlerei, beim Abladen von Waggons, wir luden Klötze ab. Ungefähr drei Kilometer gingen wir zu Fuß. Dann, am Anfang, standen Wächter mit Waffen. Sie hatten Angst, dass wir flüchten. Und Frost, viel Schnee. Mein Vater wurde krank und konnte nicht mehr arbeiten Mein Vater wurde krank - geschwollene Beine von den sauren Sachen, die wir zu essen bekamen, dann konnte er nicht mehr ar-

161 beiten, er war ständig krank. Im Juni oder Juli, ich weiß nicht mehr genau, wurde eine Liste mit den Kranken für ein kleineres Lager erstellt, wo sie nur die Kranken hinbrachten. Ich sollte allein dort bleiben. Als ich das hörte, beschwerte ich mich, ich war noch ein Kind, schwach, klein. Die Krankenschwester, die aus Bethausen stammte, sprach mit dem Arzt, dass er mich auch mit meinem Vater wegbringen lässt. Sie ließen es zu, was sollte ich allein machen… Sie brachten uns in ein Lager mit Kranken, nach Tuhina, der ganze Bezirk Cistiakova. Bereits dort starben sehr viele. Ich hatte dort Glück, es gab einen Lagerverwalter, der mich ins Lager nahm, damit ich ihm dort helfen konnte. Das Essen war auch dort wie in Kapitalnja, nur Brot. Ich hatte die Gelegenheit, mich im Lager zu wiegen – ich hatte nur 37 kg. Und wir mussten arbeiten. Wir waren nur Haut und Knochen. Der Lagerverwalter gab mir auch was zu essen. Wir fuhren mit dem Auto nach Cistiakova, um Lebensmittel zu holen. Und dort musste man auf die Lebensmittel aufpassen, damit sie nicht gestohlen werden, wenn er in die Kantine zum Essen ging. Dann gab er mir auch eine Essensmarke. So aß ich in der Kantine, in der die russischen Zivilarbeiter aßen. Es gab dort ziemlich gutes Essen, verglichen mit unserem. In einigen Tagen konnte ich mich gut erholen. Wir fuhren alle paar Tage nach Cistiakova, nicht jeden Tag. Nur ca. 3 Wochen hatte ich dieses Glück. Trotzdem, ich konnte genesen. Ich hatte Pech, dass sie mich vom Lager wegnahmen. Einmal kam der Offizier und sah, dass ich nicht arbeitete, sondern im Gebäude war. Oh, wie er den Lagerverwalter anschrie… Am nächsten Tag schickte er mich nach draußen zur Arbeit. Sie brachten mich wieder zum Brennholz. Ungefähr drei Kilometer musste ich zu Fuß gehen. Dort war es nicht mehr so streng mit der Bewa-

162 chung. Jene, die uns bewachten, gingen mit uns, aber sie waren nicht mehr so streng. In Tuhina waren wir nur 80 oder 100 Personen. Es gab zwei Gebäude. Die Männer in einem Zimmer und die Frauen woanders. Wenn wir frei hatten, gingen wir auch aus dem Lager hinaus. Es gab dort ein paar Leute, auch sie waren arm. Mein Glück war, dass ich von zu Hause Kleiderstoff hatte, neue Stoffe. Ein Russe kaufte sie mir für sein Mädchen ab. Sie waren auch arm. Ich bekam 200 Rubel. Mit diesem Geld konnte ich andere Sachen kaufen. Ein Glas mit Maismehl kostete 2 Rubel. Nur wenig konnten wir uns zu essen besorgen. Das Essen war schwach. Am Nachmittag hatte ich frei, aber ich hatte nichts zu essen. Im Sommer arbeitete ich noch einige Zeit an einem bombardierten Gebäude aus der Zeit des Krieges. Es war nur 100-200 m vom Lager. Ich half auf dem Bau. Ich hatte Glück, dass die Russen mit den Ochsen kamen zum Fahren. Ein alter Russe kam mit Gurken, wir rannten, um welche zu bekommen, auch Melonen, und wir konnten essen. Der Russe schrie, aber wir nahmen sie trotzdem. Wir konnten auch Kartoffeln nehmen. Mein Vater war im Lager und machte das Essen. Neben dem Gebäude, das wir reparierten, war ein Maisfeld. Wir aßen auch Mais, aber nur grünen. Täglich starben welche in Tuhina. Die Geschwächten wurden nach draußen gebracht. Dort im Lager fraßen uns die Läuse und Wanzen fast auf. Die Betten waren aus Brettern und waren voller Wanzen, sie kamen nur nachts heraus. Mein Vater arbeitete nicht mehr. Er war dort in der Kaserne, er konnte nicht mehr arbeiten. Wir hatten einen russischen Offizier, der hatte nur ein Auge, das andere hatte er an der Front verloren. Der war sehr streng und schrie sehr viel herum. Mein armer Vater konnte nicht mehr. Es war weit bis zum WC, 100 m. Er konnte nicht mehr und, als er

Mihai Butto herauskam, machte er in die Hose. Der Russe kam und schlug ihn, als er ihn erwischte. Dieser betrug sich schlecht, ich weiß nicht warum, vielleicht weil er an der Front gewesen war und ein Auge verloren hatte. Im Allgemeinen waren es gute Menschen. Ich hatte die Gelegenheit, mit dem ersten Transport zurückzukehren, ich war schwach. Schon ungefähr im Januar 1946 hörten wir Gerüchte, dass wir nach Hause können, wir, die Kranken. Einmal war ich krank, ich hatte sehr hohes Fieber. Mein Vater sagte mir: Gib jetzt nicht auf, willst du sterben? Du musst nach Hause fahren… Eines Tages waren wir bei der Arbeit und jemand sagte uns, dass wir ins Lager gehen sollen, denn wir würden nach Hause fahren. Mit aller Kraft lief ich ins Lager und mein Vater war schon in einem Auto. Er sagte mir, ich solle essen gehen und dann einsteigen. Bis ich Essen bekam, war er schon weg. Ich fuhr mit einem anderen Auto mit und traf meinen Vater wieder. Wir freuten uns sehr, als wir in Iasi rumänisch sprechen hörten… In Iasi übergaben die Russen uns den Rumänen. Wir freuten uns sehr, als wir in Iasi rumänisch sprechen hörten. Wir bekamen dann gutes Essen und Kleidung. Wir erhielten Wegkarten und konnten mit jedem Zug nach Hause fahren. Aber mein Vater erholte sich nicht mehr. Er war geschwächt, auch mit den Nerven. Er, der Arme, wie viel hat er gelitten, denn sie hatten ihm auch sein Feld weggenommen. Er hatte so viel gespart, um ein Stück Land zu kaufen, wo er Reben pflanzte. Und Pfirsichbäume, sehr viele Sorten. Das Land gaben sie einem Rumänen aus dem Nachbardorf. Er ging zu ihm und prügelte sich mit ihm. Dann regte er sich sehr auf, in seinem Kopf platzte eine Ader und er verlor das Gedächtnis. Er landete im Irrenhaus. Danach musste er noch viel leiden. Sie schickten ihn nach Hause, die Mut-

Elisabeta Rudolf ter hielt es nicht mit ihm aus, denn er könnte ihr was über den Kopf hauen. Ich ging nach Lugosch und arbeitete dort. Als Schuster in der handwerklichen Kooperative „Lugojana“. Ich kann niemandem die Schuld geben für das, was mit uns geschehen ist. Allge-

163 mein kann ich sagen, dass die Russen anständige Menschen waren. Ich beschuldige niemanden. Schuldig, wie damals die Zeiten waren, waren die Kommunisten. Die Deutschen hatten den Krieg verloren und wir waren auch schuldig.

Während des Transports ist mein Bein erfroren, das mir dann mein ganzes Leben lang Kummer bereitet hat1

Elisabeta Rudolf (Deutschland)

I

ch1wurde aus dem Haus meiner Eltern deportiert, welches sich in der Gemeinde Slatina Timisului, Kreis Caras-Severin befand. Ich war 1945 verheiratet, mein Mann war zum deutschen Militär eingezogen worden. Ich hieß damals Grasl. Ich hatte keine Kinder, lebte in Caransebeş, wo ich als Dienstmädchen arbeitete. Sie haben mich bei meinen Eltern gefunden, wo ich zufällig an diesem Sonntag war. Ich bin nicht mehr zurück. Am nächsten Morgen kamen sie und haben mich mitgenommen. 1 Aufgezeichnet von Ilarion Țiu.

Wir wurden ohne Grund mitgenommen. Der einzige Grund war nur, dass wir Deutsche waren. Sie haben uns zuerst zur Schule in Slatina Timisului gebracht und von dort dann nach Sladova Veche. In Sladova wurden wir auch in der Schule untergebracht, in der Nähe vom Bahnhof. Alle Frauen waren zwischen 17-35 Jahren alt. Wir Frauen wollten uns nicht von den Männern aus unserem Dorf trennen. Unabhängig davon, ob es der eigene Mann war oder ein anderer. Wir wussten ja nicht, was passiert. Also jeder wollte irgendwie abgesichert sein. Ich kam ins Uralgebirge, in den Ort Berezovska, in der Re-

164 gion Zverlovska oder so ähnlich. Der Transport dahin war schwer. Kälte und kein Wasser. Wir waren 30 Personen in einem Wagon. In Ajud vor der Grenze wurden wir in größere Wagons umgeladen, nun waren wir 60 Personen in einem Waggon. Auf dem Weg wurde ich schwer krank. Mein Fuß ist mir erfroren, so kalt war es. Ab einem gewissen Zeitpunkt wussten wir nicht mehr, was wir vor Kälte machen sollten. Wir haben uns einen an den anderen gekauert und alle vorhandenen Decken über uns gelegt. Und mein Fuß ist draußen geblieben. Er ist erfroren, wurde dann dick und es hat sich eine Wunde gebildet. Aus dieser Wunde floss eine wasserähnliche Flüssigkeit. Wir waren sechs Wochen unterwegs. Als wir ankamen, kam ich sofort in ein Spital, denn es ging mir schon sehr schlecht. Trotzdem musste ich bleiben. Ich war dreieinhalb Jahre in Russland. In Berezovska hat man uns in den Wald zum Bäume-Fällen gebracht. Wir haben große Bäu­me gefällt und zersägt. Ich kannte mich mit dieser Arbeit aus, da ich sie auch zu Hause schon gemacht hatte. Als wir dort waren, hat man uns gesagt: „Warum steht ihr da wie die Kuh vor dem neuen Tor? Schaut her, so wird gearbeitet!“ Als sie uns gezeigt hatten, was zu machen ist, haben wir verstanden. Es sind viele dort gestorben. Über einige fielen Bäume, andere sind krank geworden und gestorben. Jeder hat aber seinen eigenen Sarg bekommen. Die Toten wurden nachts in den Wald gebracht, aus dem Sarg in ein Loch gekippt und mit Erde und Schnee verscharrt. Man weiß nicht genau, wie alles vonstatten ging, denn die Beteiligten durften nicht darüber reden. Wir hatten nicht genügend Essen und waren voller Kopfläuse. Die Menschen sind vor Hunger und Sorgen gestorben. Das Brot war schlecht, manchmal ganz grün oder verschimmelt. Aber auch den Russen ging es nicht viel besser. Das russische Volk ist sehr gut und mitleidig.

Elisabeta Rudolf Wenn wir betteln gingen, ich sage es ganz ehrlich, wir gingen vor Hunger betteln. Wir hatten Hunger. Es gab keine Familie, die uns nicht wenigstens eine Kartoffel gab, obzwar es ihnen auch nicht gut ging. Aber das Management, die Führung, war sehr rau. Wir wussten gar nicht, warum wir da waren. Der Rumänische Staat war doch verbündet mit Russland und er hat uns zum Wiederaufbau geschickt. Ich bin dort fast bis zum Schluss geblieben. Im Jahre 1948, im Monat Juli, bin ich wieder daheim gewesen. Viele sind ganze fünf Jahre geblieben. Mein Fuß war immer noch krank. Mit diesem Fuß konnte ich nicht mehr arbeiten. Bis zum Knie war alles eine Wunde. Erst zuhause ist er nach zwei bis drei Jahren verheilt. Ich habe eine Schwester in Deutschland, in Singen am Bodensee, deren Tochter Apothekerin ist. Sie hat mir ein Medikament geschickt, mit dem der Fuß im vergangenen Jahr gänzlich verheilt ist. Zu Hause habe ich wieder bei meinen Eltern gewohnt. Mein Mann war in Deutschland, ich habe ihn nie mehr gesehen. Er kam nicht mehr zurück. Er hat für Deutschland gekämpft und war nach dem Krieg als Arbeiter bei einer Familie. Die Familie hatte eine Tochter mit vier Kindern. Es gab ja dort nach dem Krieg Männermangel. Diese Frau hat mit meinem Mann zusammengelebt. Nach zehn Jahren habe ich die Scheidung eingereicht und einen anderen Mann geheiratet. In Rumänien habe ich gearbeitet, was ich so konnte, bei meinen Eltern im Haushalt, bis sie gestorben sind. Wir hatten nicht mal einen Hektar Boden. Ich bin spät nach Deutschland gekommen. Meine Männer waren beide schon tot. Ich bin 1991 zu meiner Schwester nach Deutschland gekommen. Mein zweiter Mann hat einen Sohn gehabt und dieser Sohn hat mir geholfen, die Ausreise-Papiere auszufüllen, mit Hilfe des Deutschen Demokratischen Forums.

Anna Frombach

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Ein Leben lang von Menschen in Uniform terrorisiert1

Anna Frombach (Deutschland)

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ch1bin Frau Anna Frombach im Seniorenheim „Josef Nischbach“ in Ingolstadt (Preisserstrasse Nr.66) begegnet. Sie wurde aus der Gemeinde Jahrmarkt mit anderen dutzenden Dorfbewohnern deportiert. Sie kann sich kaum mehr an Details über diese Zeit erinnern. Es ist ihr nur das Bild vom „Mann in Uniform“ im Gedächtnis geblieben, der sie auffordert, Kleider und Lebensmittel für den Weg nach Russland zu packen. 1 Aufgezeichnet von Ilarion Țiu.

Sie kam ins Lager nach Krivoi Rog, das sich heute in der Ukraine befindet. Sie ist dort krank geworden und wurde dann früher nach Hause geschickt. Sie weiß genau den Tag der Ankunft bei ihrer Familie. Es war der 29. Mai 1948. Über die Jahre in Abschiebehaft weigert sie sich zu reden. Sie versteht nicht, warum wir heute über diese tragische Zeit sprechen wollen. Der Hunger, die Kälte, die Zwangsarbeit aus den Jugendjahren haben tiefe Spuren für den Rest ihres Lebens hinterlassen.

Im Lager, in dem sie uns untergebracht hatten, glänzte Eis von den Wänden1

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ich1nahmen sie aus der Wohnung meiner Mutter in Reschitza. Es kamen ein rumänischer Soldat, begleitet von einem Russen. Sie sagten mir nicht dass ich Essen mitnehmen soll, nicht einmal Kleidung. Sie sagten mir nichts. Nur, dass ich mich anziehen, meinen Ausweis mitnehmen und mit ihnen gehen soll. Sie brachten mich ins Kulturhaus, dort verblieben wir längere Zeit, da noch Transporte aus den verschiedenen Dörfern der Umgebung erwartet wurden. Etwa 2 Wochen wurden wir im Kulturhaus festgehalten. Als danach die Eisenbahnwaggons bereitstanden mussten wir einsteigen. Meine Mutter versuchte mich noch herauszuholen. Ich hatte nur meine Mutter, sie war Tschechin und beantragte bei den Behörden eine mich entlastende Unterlage. Als sie jedoch mit dem Dokument ankam war der Zug schon abgefahren. 1 Aufgezeichnet von Ilarion Țiu.

Ana Marina (Rumänien)

Wir waren 2 Wochen unterwegs. In Plo­iesti wurden wir von einem russischen Offizier angesprochen. Er wollte rumänisches Geld in russische Rubel bei uns umtauschen. Ich hatte von meiner Mutter 500 Lei, wollte jedoch das Geld lieber aufbewahren und wieder zurück nachhause mitnehmen. Letztlich war es nutzlos, ist es mir im Lager abhanden gekommen, sowohl das Geld als auch mein Personalausweis. Ich war im Donbas. Als wir ankamen, war dort ein neues Gebäude. Wir hatten keine Heizung, an den Wänden glänzte Eis und wir konnten auch kein Feuer machen, da der Rauch nicht abzog. Somit harrten wir in der Kälte aus. Wir hatten kein Bettzeug, nichts. Ich schlief in Wattehosen, das Kissen war meine Mütze. Ich arbeitete in einem Steinbruch, über ein Jahr lang. Morgens um 4 Uhr wurden wir geweckt, wir waren über 2.000 und mussten in der Kantine zum Essen anstehen. Die Eisenbahn für den Steinbruch fuhr um 6 Uhr ab.

Ana Marina

166 Irgendwann hatten sie in dem Lager nichts mehr zum Essen und wir wurden nach Horlovka, in ein anderes Lager gebracht. Dort ging es uns besser, wir hatten eine Baracke, warmes Wasser, Bettzeug. Es war sehr gut. Zuletzt bekamen wir auch etwas Geld. Sie gaben uns 350 Rubel. Wir mussten allerdings unser Essen kaufen. Das Essen war sehr schlecht. Im ersten Lager gab es nur Krautsuppe mit sauren Gurken und etwas in Salzwasser gekochte Gerste. Aber kein Gemüse, keine Kartoffeln, kein Öl, kein Schmalz, nichts. Im zweiten gab es Suppe, auch Gemüsesuppe. Die Russen haben uns anständig behandelt, man kann nichts sagen. Ein Offizier im mittleren Alter fragte uns einmal, wie wir uns fühlen. Ich sprach mit ihm über einen Dolmetscher. Es gab dort Dolmetscher, die keine Deportierten waren wie wir. Ich sagte ihm „gut“, aber es gab auch einen Übersetzer im Lager, Zoller, der sich grob gegenüber den Mädchen aufführte, er schlug uns. Sie brachten ihn weg. 1949 wurde ich nach Hause geschickt. Ich war im 2. Lager, wir waren gerade dabei, einen Klub zu bauen. Aber wir hatten noch nicht das 2. Stockwerk errichtet, als der Major kam. Er schickte uns in den Hof und sagte uns, dass wir uns gut anziehen sollen. Er hielt eine Sitzung mit uns und erzählte uns einiges.

Unter uns gab es auch schwangere Mädchen die, er etwas vorwurfsvoll ansah. „Was werden wohl eure Eltern sagen, wenn sie euch so sehen? Sie werden die Schuld auf uns schieben.“ Ich hatte jedoch keine Schwierigkeiten mit ihnen. Über eine Stunde hielten sie uns draußen bei diesem Appell. Dann sagten sie „Mädchen, geht in die Baracken, holt euer Gepäck und kommt ans Tor.“ Wir unter uns glaubten, dass man uns an einen anderer Ort bringt. Es kamen Lastkraftwagen, die uns wegbrach­ ten. Zuletzt kamen wir nach Hause, es war der 26. Dezember 1949. Als wir noch in der Nähe von Iasi waren, sagte eine, die von dort war, dass wir in Rumänien sind. Wir waren überglücklich vor Freude und sahen uns an: „Warum hat man uns verschwiegen, dass wir nach Hause fahren?“ Aber wir hielten noch unterwegs, wo sie uns 2 Wochen gut ernährten. Sie haben uns verboten, darüber zu sprechen, wenn wir nach Hause gekommen sind, was dort war, wie es war, absolut nichts sollten wir sagen. Das sagten sie uns schon in Russland, „Ihr dürft nichts sagen!“ Wir, da wir noch Kinder waren, dachten nicht daran, jemandem die Schuld an unserer Zwangsarbeit in Russland zuzuweisen. Wer Schuld ist, weiß ich nicht, der Herrgott hat Mitleid.

Wir hatten Angst, die Wölfe kommen und holen die Leichen1

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ch1habe es einige Tage vorher erfahren, dass es Deportationen geben wird, so wur­ de es in Resita gemunkelt. Ich war noch ein Kind, gerade 18 Jahre alt. Plötzlich waren ein rumänischer und ein russischer Soldat bei uns zu Hause. Wir wussten nicht, was mit uns pas1 Aufgezeichnet von Ilarion Țiu.

Adela Supercean (Rumänien)

siert. Sie haben uns nichts gesagt. Nur soviel, wir sollen warme Kleidung mitnehmen und für drei Tage Essen. Sie haben uns im Kulturheim für einen Tag und eine Nacht eingesperrt. Wir haben auf dem Fußboden geschlafen. Es kamen dann Lastkraftwagen, die uns zum Bahnhof brachten. Wir kamen in Viehwagons. Wir haben in diesen Wagons sechs

Adela Supercean Wochen auf dicken Brettern geschlafen. Es waren 40 Personen, Männer und Frauen, zusammengepfercht. Als der Zug hielt, konnten wir es kaum erwarten auszusteigen. Ihr könnt euch vorstellen, sechs Wochen bei schlechten Bedingungen, kein Wasser, gar nichts. Wir wurden in einem Obstgarten außerhalb der Stadt ausgeladen und mussten zu Fuß bei eisiger Kälte ins Lager gehen. Das Lager war ein Holzbau, kalt und unbeheizt. Wir mussten zuerst Holz besorgen, dieses zersägen und spalten, um Feuer machen zu können. Wir kamen ins Uralgebirge an die Grenze zu Sibirien. Dort war es sehr kalt. Wir mussten bei sehr starkem Frost nicht arbeiten, das haben wir als Glück empfunden. Ich habe an verschiedenen Stellen gearbeitet, in der Kohlengrube und im Kolchos. Man hat uns verschleppt, denn es wurden Arbeitskräfte gebraucht. Die Frauen von 17-18 Jahre alt und bis zum 30. Lebensjahr. Ich kam irgendwann in ein provisorisches Spital, welches in einem Wald lag. Dort kamen die Arbeitsunfähigen hin, viele sind dort verstorben. Wir mussten sie pflegen, die Toten entkleiden und hinaustragen. Eine Ärztin hat das angeordnet. Später bekam sie Angst, dass die Wölfe die Leichen holen und so mussten wir sie wieder in einen Raum bringen. Die Russen haben erfahren, dass ich schneidern kann. Ich habe schon zu Hause als Schnei-

167 derin gearbeitet. Ich habe Schneiderin gelernt. Sie haben mich in ein Kriegsgefangenen Lager gebracht mit deutschen und rumänischen Kriegsgefangenen. Dort waren Schuster und Schneider. Ich habe dort für die Russen gearbeitet. Ich hatte großes Glück, nicht mehr draußen in der Kälte zu arbeiten. Ich habe auch nachts gearbeitet, denn es gab kein Arbeitsprogramm. Im Spital habe ich Tag und Nacht gearbeitet, immer, wenn es etwas zu tun gab. In der Mine war eine sehr böse Russin, sie hat uns bewacht und zur schnelleren Arbeit angetrieben. Das Essen war sehr schlecht. Wenn es Graupen in Wasser gekocht gab, war es ein Festtag. Krautsuppe und Pilzsuppe war sonst unser täglich Essen. Pilzsuppe mit Fleisch oben drauf. (Frau Supercean lächelt) Mit lebender Beilage! Wir haben die Würmer abgefischt, weggeworfen und weiter gegessen, so lange es etwas gab. Ich bin mit einem Gefangenentransport nach Hause gekommen. Ich habe ja im Gefangenenlager gearbeitet, so dass ich 1948 mit den Kriegsgefangenen heim kam. Als wir die Grenze überquerten, gab es dort einen Bahnhof mit Lebensmitteln. Die Wachposten hatten Angst, dass etwas gestohlen wird. Die Männer stritten mit den Wachposten, haben sie beschimpft und gesagt: „Für euch waren wir in Russland und im Krieg. Ihr sagt nun, wir wären Räuber. Schämt ihr euch nicht? Der Vorfall war sehr unangenehm.

Elfrida Chvoika, geborene Ruttar

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Die Erinnerungen der Söhne Kinder aus dem Ural: geboren im Lager von Swerdlowsk1

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ch1habe über die Deportation erst erfahren als ich schon zur Schule ging, denn am Anfang, so klein, wird es dir nicht bewusst. Meine Eltern waren auch 1945 deportiert worden, genau wie andere auch, hat man auch sie genommen. Man hat sie im Kino versammelt, in Reschitza, früher gab es dort ein Kino, dorthin hat man sie gerufen, nachdem man ihnen gesagt hatte, sie sollen etwas Kleidung mitbringen. Und dann sind sie losgefahren. Damals haben sich meine Mutter und mein Vater noch nicht gekannt. Mein Vater war aus Reschitza, meine Mutter ebenso. Beide waren hier geboren. Zwischen meiner Mutter und meinem Vater gab es einen Altersunterschied von zwölf Jahren. Mein Vater war älter, meine Mutter war 18 Jahre alt, als er sie genommen hat. Also war mein Vater 30. Er arbeitete als Schlosser im Werk, zusätzlich war er privat Musiker. Er musizierte, bis ins Alter hat er die Blasmusik von Reschitza geleitet. Nachdem sie die Schule beendet hatte - sie gingen damals auf die evangelische Schule, hat die Mutter auch kurz gearbeitet in einem Laden, wo Strickwaren verkauft wurden. Da gab es eine Patronin, die hatte einen Laden hier in der Stadt. Wir waren nicht evangelisch, aber es war eine solche Schule dort. Auch heute gibt es diese Kirche noch im oberen Teil der Stadt. Dort gab es eine Schule und einen Kindergarten und der Unterricht fand in deutscher Sprache statt. Keiner meiner Eltern hatte Beziehungen zur Politik. Auch ihre Familien grundsätzlich nicht. Mehrheitlich hatten die, die man genommen 1 Aufgezeichnet von Florin-Răzvan Mihai und Cristina Diac

Elfrida Chvoika, geborene Ruttar (Rumänien) hat, weder vorher noch nachher Beziehungen zur Politik. Von der Familie blieb allein die Großmutter zu Hause Als man sie versammelt hat, gab es große Trauer. Meine Mutter war väterlicherseits Halb­waise und so blieb die Großmutter allein zurück. Und sie haben auch den Bruder meiner Mutter genommen, der 17 Jahre alt war. Sie wurden zusammen geholt und zusammen weggebracht. Sie sind zur Großmutter gekommen, sie wussten, dass dort zwei Kinder sind, jung, und sie haben sie mitgenommen. Sie haben sie zum Kulturheim gebracht, wo sie versammelt wurden und dort hat man sie noch einen Tag lang gehalten, bis sie etwas zum Mitnehmen gerichtet hatten. Man hat ihnen nicht gesagt, wie lange genau sie bleiben werden, auch nicht, wie sie untergebracht werden. Man hat sie genommen und das war‘s. Mein Vater war allein. Er hatte eine Schwester, aber diese blieb in Rumänien zurück. Sie war verheiratet, auch mit einem Deutschen, sie war etwas älter als ich und, wer Kinder hatte, ist der Deportation entkommen. Aber der Schwager meines Vaters, der Mann meiner Tante, war auch nach Russland verschleppt worden. Aber nicht zusammen mit meinem Vater, sondern getrennt von diesem. Das heißt, auch er wurde hingebracht. Und meine Tante ist mit ihrer Tochter zurück geblieben, meiner Cousine, welche jetzt 82 Jahre alt ist. Sie ist meine Cousine aber sie ist 20 Jahre älter als ich. Aber der Schwager war nicht so lange in Russland. Ich glaube zwei oder drei Jahre. Dann haben sie ihn

Elfrida Chvoika, geborene Ruttar freigelassen. Denn die, die krank waren, es waren viele, die dort erkrankt sind, hat man zurückgeschickt. Sie konnten nichts anfangen mit ihnen, sie arbeiteten nicht, sie konnten nichts produzieren und man schickte sie zurück. Man hat sie genommen, wie man sagen würde... Ich weiß nicht, was war. „Wiederaufbau in der UdSSR“, so steht es in den Arbeitsbüchern aller. Sie benötigten Arbeitskräfte und sagten sich, sie nehmen die Leute, um sie für sich arbeiten zu lassen. Und sie brachten sie hin mit jenen Eisenbahnwaggons, die, wie sie sie schon nannten, nämlich „Ochsenwaggons“, Waggons waren, mit denen man seinerzeit Vieh transportierte. Es war ein Frost, dass dir das Haar gefror. So sagten wir, als wir Kinder waren, wenn es kalt war. Und meine Mutter sagte zu mir: „Du hast nie diesen Frost kennengelernt, so wie wir ihn hatten“. Und im Zug haben sie Decken benutzt, wenn sie ihre Notdurft verrichten mussten, denn sie waren alle dort auf einem Haufen, Männer und Frauen. Und sie sind im Lager angekommen, in Swerdlowsk. Genau im Herzen des Urals. Meine Eltern haben sich circa im letzten Jahr oder anderthalb Jahre voe Ende getroffen. Also ziemlich gegen Ende ist das geschehen. Von Anfang an waren sie getrennt untergebracht. Frauen mit Frauen, Männer mit Männern. D.h. sie waren nicht zusammen. Am Anfang waren sie im Lager in Bereziwka, kurz vor Swerdlowsk, aber später, gegen Ende hat man sie nach Swerdlowsk gebracht. Meine Mutter hat dort viele Leute gekannt, Nachbarinnen von ihr, Mädchen, die in Dealul Mare gewohnt haben, wo auch das Elternhaus meiner Mutter stand. Und sie war dort mit ihren Freundinnen aus Reschitza zusammen, welche zwischenzeitlich gestorben sind. Sie hat mir erzählt, dass dort, wo man sie hingebracht hat, Baracken aus Holz waren. Am Anfang war das Lager mit Stacheldraht umzäunt. Und sie schliefen in Stockbetten und bekamen täglich je ein halbes

169 Brot, das sie oft ohne etwas gegessen haben. Sie hatten von zu Hause Essen mitgenommen, das war aber nicht ausreichend. Weil die Zeit verging und sie weiterhin dort blieben. Zu essen gab es Krautsuppe, gekochte Gerstengraupen, was man ihnen so gab… Saure Gurken, Borschtschsuppe, solche schreckliche Sachen. Tag für Tag. Als mein Vater zurückkehrte - ich war noch klein - hat er sehr viel Wert auf das Essen gelegt: „Ich habe alles Mögliche gegessen dort, auch Gräser und sonstige Dinge“, sagte er uns. Die Deportierten waren nicht gepflegt; sehr viele hatten Läuse. Die Wanzen liefen nachts durch die Zimmer. Meine Mutter erzählte mir: „Wir hörten, wie je eine getötet wurde, sie knackten.“ Es war ein Elend! Meine Eltern arbeiteten in der Mine. Sie kannten sich nicht gut, sie kannten sich nur aus dem Lager, aber nicht persönlich. Und am Anfang war es ihnen auch nicht erlaubt, untereinander zu kommunizieren. Und dann kamen sie in die Mine. Meine Mutter hat mir erzählt, dass sie 30 m untertage in einer Diamanten- und Goldmine gearbeitet hat. So waren sie irgendwie voller Hoffnung, irgendetwas zu sehen in der Mine. Aber es war ein grausames Elend. Dort unten waren Temperaturen von 35-40° plus. Sehr heiß. Und draußen war ein bitterer Frost… Als Andenken eine russische Wattejacke Und sie bekamen diese Arbeitsjacken mit eingenähter Watte. Die hatten sie auch auf dem Weg nach Hause an. Ich weiß, mein Vater hatte eine schwarze. Er behielt sie zu Hause, er sagte, sie sei warm im Winter. Wenn wir den Schnee aus dem Hof schippten, zog er die Wattejacke an. Und er hatte auch eine Pelzmütze, wie die Russen sie hatten, mit heruntergelassenen Ohrenklappen. Damit ist er nach Hause gekommen, er hatte sie dort bekommen. Er war ein Typ, der sich gut durchschlagen konnte. Nach der Arbeit in der Mine hat er sommers auch bei der

170 Gemüseernte gearbeitet. Er hat verschiedene Arbeiten verrichtet. Was ihm die Russen zu machen gaben. Mein Vater hat sich gut durchgeschlagen, weil er gut Russisch gelernt hat. Sehr gut. Und auch jetzt, nach der Revolution, wenn Russen ins Werk gekommen sind, haben sie ihn immer gerufen, mit ihnen zu sprechen, zu übersetzen, weil er auch dann noch Russisch konnte. Auch ich habe in der Schule Russisch gelernt. Mein Vater hat sich mit der Musik durchgeschlagen. Er sang hin und wieder, wenn ihn die russischen Kommandanten, die für das Lager verantwortlich waren, riefen, ihnen zu singen und sie sich unterhalten haben. Und mit der Zeit haben sie sich befreundet. Meine Mutter sagte, dass, wenn du einen Freund gefunden hast, konntest du dich besser durchschlagen. Manche Russen waren ziemlich brutal. Sicherlich gab es auch gute Menschen, so wie es überall ist. Meine Mutter hat eine Zeitlang in der Mine gearbeitet, später, dem Ende zu, hat sie in der Küche gearbeitet, wo es leichter war. Und da hatte sie auch besseres Essen, wenn du dort arbeitest, isst du auch was dort. Ihr ging es nicht besonders schlecht, als sie schwanger war. Jene, die gut Russisch konnten, wurden gelegentlich auch eingesetzt 2-3 Gruppen dort im Lager zu betreuen. Manchmal sie zu überwachen oder an ihrer Stelle zu antworten, denn viele konnten die Sprache nicht erlernen. Zum Beispiel der Schwager meines Vaters konnte die Sprache überhaupt nicht erlernen. Mein Onkel hat manchmal auch beim Entladen von Schiffen mitgearbeitet, wenn diese in die Docks kamen, sie haben Waren, Lebensmittel u. a. entladen. Sie haben alle Arbeiten verrichtet, mein Onkel war immer mit dabei. Meine Eltern sind nicht erkrankt. Wegen der Kälte schon mal an einer Erkältung, aber an einer schweren Krankheit nicht. Nein. Sie hatten nichts, woraus sie sich hätten informieren können, ab und zu erhielten sie

Elfrida Chvoika, geborene Ruttar mal einen Brief. Am Anfang wurden sie sehr streng gehalten, weil es hieß, sie sind Deutsche und aus ihrer Schuld hat es Krieg gegeben. Sie haben gedacht, dass alle schuld sind an dieser Sache. Sie waren es aber nicht! Von überall her haben sie die Deutschen deportiert. Und es hieß, dass, bevor diese dorthin kamen in den Kellern der Baracken kleine weggeworfene Schuhe und Kleider von Kindern gefunden wurden. Und die Russen von dort, die auch sehr arm waren, vor allem nach dem Krieg, haben ihnen gesagt, dass auch Polen dorthin gebracht worden sind. Auch Rumänen waren im Lager, müsst ihr wissen, nicht nur Deutsche. Sie haben Briefe nach Hause geschickt, diese sind aber nicht angekommen. Am Anfang hat man ihnen gar nichts erlaubt. Nach einer gewissen Zeit haben sie zu Ostern und Weihnachten geschrieben, aber nicht alle Briefe sind angekommen. Meine Eltern haben sich dort kennen gelernt Wie ich schon sagte, haben sich meine Eltern dort kennen gelernt. Und man hat sie zusammen wohnen lassen, dort im Lager, aber in ihrem eigenen Zimmer. Das ist zum Ende hin geschehen. Ich wurde 1949 im August geboren. Und zu Weihnachten sind sie nach Hause gekommen. Sie waren noch nicht verheiratet, erst hier haben sie sich trauen lassen. Und ich hatte zwei Namen: jener meiner Mutter und den meines Vaters in meiner Geburtsurkunde. Ich hatte gar keine Urkunde, nur ein langes Blatt Papier. Viele Kinder sind dort auf die Welt gekommen. Einige von ihnen waren meine Schulkameraden. Mit der Zeit sind viele nach Deutschland ausgewandert. Einer ist schon gestorben. Und viele Kinder sind dort gestorben, weil die Russen sie nicht gepflegt haben. Sie haben Eis geschmolzen, um dir dein Gesicht zu waschen. Es gab keine guten Bedingungen. Es gab kein Krankenhaus dort,

Elfrida Chvoika, geborene Ruttar nur eine Krankenstation. Gegen Ende wurden Krankenstationen eingerichtet, weil es auch noch andere Frauen gab, die dort entbunden haben. Meine Mutter hat mich dort geboren, an einem Sonntag. Und wisst ihr, was man sagt? Die Kinder, die sonntags geboren werden, haben Glück, so sagten es die alten Frauen. Ich hatte keines. Und mein Vater hat mir erzählt, dass die Russen ihnen schon erlaubten, in die Ortschaft zu gehen, nachdem ich geboren war. Nach Swerdlowsk. Dieses heißt jetzt, wie es früher schon hieß, Jekatarinburg. Swerdlowsk war eine große Stadt. Sogar am Fernseher, bei den Deutschen, habe ich was gesehen über das Land, wo ich geboren wurde. Sie haben irgendwo am Stadtrand gelebt, die Baracken sind so geblieben, weil sie sie nicht verändert haben. Sie ließen sie circa einmal in der Woche frei hinausgehen. Dann haben sie verschiedenes eingekauft. Mein Vater sagte mir in meiner Kindheit: „Du sollst wissen, du hast dort nicht schlecht gegessen. Wir haben dort für dich Kondensmilch gekauft, die war sehr nahrhaft. Davon hast du bekommen. So ging es dir besser“. Er hatte Geld, weil er noch Musik machte. Anstelle von Windeln hatte ich Lumpen, Fetzen von dort. Man bekam etwas vom Krankenhaus, aber Lumpen, wie soll ich sie nennen... Damit du dir was machen kannst davon. Ich glaube nicht, dass sie ihnen Saugflaschen gegeben haben. Ich habe auch keine benutzt, das weiß ich, weil ich keine hatte. Und wer Milch hatte, hat sein Kind gestillt, aber das Essen, das dort war, so „gut“ es auch war, war nicht sehr nahrhaft. Grundsätzlich wurden alle Kinder dort 1949 geboren, vorher kamen keine Kinder zur Welt. Erst gegen Ende der Verschleppungszeit wurden Kinder geboren, als man ihnen gewisse Rechte gab. Im Zug auf der Heimfahrt wäre ich fast gestorben. Dort in Russland bin ich nicht gestorben, aber ich wäre fast gestorben bei der Heimfahrt im Zug… Sie kamen mit dem

171 Zug, der hatte schon Bänke, und war nicht mehr so elend, und mein Vater hat mich auf dem Arm spazieren getragen. Hin und her, weil ich weinte. Und in der Mitte des Waggons war eine Lampe, die leuchtete und leuchtete und auf einmal ist sie abgerissen und mir aufs Gesicht gefallen und hat mich hier oben verletzt. Mein Gesicht war voller Blut! Und er sagte: „Sieh, jetzt habe ich sie von dort hergebracht und was wäre, wenn sie geschnitten oder an der Schläfe getroffen worden wäre?“ Seht, ich habe überlebt. Einmal. Und noch einmal. Viele Kinder sind in Russland an dieser Krankheit gestorben. Es waren eine Art Ausschläge, zu Deutsch wurden sie „Vierziger“ genannt, also die 40-er Jahre; die Leute haben ihr diesen Namen gegeben. Sie entstand auch durch die Luftveränderung. Es war sehr kalt dort, hier gab es ein anderes Klima. Sie erkrankten und starben. Man war voller wunder Ausschläge. Voll war ich davon, sie juckten und ich kratzte mich, mir lief Blut über das Gesicht und über die Hände, ich zog Handschuhe an. Die Krankheit wurde nicht vom Wind verbreitet, es war eine spezifische Krankheit, damals mitgebracht aus Russland. Und einigen Kolleginnen mei­ner Mutter, Jugendfreundinnen, sind ihre Kinder dort weggestorben. Hier hatten wir einen Arzt, einen Juden, einen sehr guten Arzt, der mir zwei Salben gab und er hat mich an einem Tag mit der einen und am anderen Tag mit der anderen eingerieben. Und so wurde ich gesund. Ich habe keine einzige Narbe. Nichts ist zurückgeblieben. Also dieser Mann hat mich behandelt. Welche Präparate er hatte, weiß ich nicht. Aber dort sind viele Kinder an dieser Krankheit gestorben. Und es war eine ansteckende Krankheit. Und da war noch das Mädchen meiner Cousine, welches ein Jahr älter war als ich, welches die Krankheit von mir bekommen hat. Und auch dieser jüdische Arzt hat sie behandelt! Es war ganz schlimm, mit

172 Ausschlägen, mit Eiter, Leid und Schmerz! Und dieser Mensch war so sympathisch, und ein guter Arzt und er sagte: „Diese Krankheit, ich werde ihr beikommen.“ Eine Geburtsurkunde bekam ich erst hier, in Rumänien. Wir kamen ins Land bei Sighetul Marmatiei; andere kamen herein bei Suceava. Ich habe das Papier zu Hause, den Reiseschein. Später hat man aufgrund dieses Papiers unsere Ansprüche anerkannt. Mein Vater wurde angestellt, er hat gearbeitet, bis er in Rente ging. Er war auch bei der Blasmusik, wir hatten eine Blasmusik, einen Operettenkreis, es waren sehr viele Deutsche in Reschitza, aber viele sind weggezogen. Meine Mutter blieb zu Hause, sie hat uns großgezogen. Er war ein Kind, als er ging, und ein Mann, als er zurückkam. Meine Großmutter schrieb dauernd meiner Mutter: „Gib Acht auf deinen Bruder!“ Er ist mit ihnen zurückgekommen, groß wie ein Berg. Als er wegging, war er noch klein. Und als er zurückkam, hat er meine Großmutter in die Arme genommen, schon an der Tür, und hat sie in die Höhe gehoben. Er war 22 Jahre alt, als er zurückkam. Er hat die Mechanikerlehre gemacht, war dann Mechaniker auf der Lokomotive, hat hier geheiratet, hat einen Sohn. Sie sind vor 20 Jahren nach Deutschland ausgewandert. Er ist gut angekommen dort in der Fremde. Er ist dort hingegangen, er war schon in Rente, als er ausgewandert ist, und er war Hausmeister dort bei drei Wohnblocks mit je vier Stockwerken. Er war in einem Übergangswohnheim, einige Monate lang, bis man ihn eine Wohnung zugeteilt hat. Alle Leute mussten durch dieses Lager. Danach haben sie sich in Augsburg niedergelassen. Er hat auch Rente bekommen. Meine Schwägerin ging auch putzen. Das machten die meisten am Anfang. Da war eine Projektierungsfirma und nachmittags machte sie sauber bei denen. Oder

Elfrida Chvoika, geborene Ruttar bei Familien zu Hause, da gab es einen Typen, welcher ein großer Ausflügler war und in den Bergen einen Unfall hatte und im Rollstuhl lebte. In Rumänien war sie Buchhalterin und, als sie das Rentenalter erreicht hatte, bekam sie Altersrente. Mein Cousin hat hier ein Hochschulstudium abgeschlossen und dort musste er noch ein Jahr lernen, damit man ihm sein Studium anerkennt. Danach hat er in einem Werk gearbeitet. Ich gehörte zum letzten Jahrgang, der das Lyzeum mit elf Klassen abschloss. Danach waren zwölf Klassen. Zunächst habe ich mich bei der Post anstellen lassen, dort habe ich eine Stelle gefunden beim Telefondienst, und von dort habe ich mich endgültig zum Schalterdienst versetzen lassen. Und dort bin ich 40 Jahre lang geblieben. Nach 1990 gab es das Gerücht, dass jene, die deportiert waren, etwas von Seiten des Staates bekommen werden. Dass sie etwas Geld bekommen werden. Aber man hat nichts bekommen. Und dann ging es bei uns los mit diesen Renten für die Deportierten und mit gewissen Rechten. Das war nach 1990. Vorher ging gar nichts. Ich war nicht sehr materialistisch. Ich arbeitete bei der Post und ich wusste, dass alle ihre Papiere einreichen, all jene, die verschleppt waren in den Baragan und ich habe meine Unterlagen erst eingereicht, als jemand mir dies sagte. Ich habe sie sehr spät eingereicht. Ich bekomme 33 Lei, es ist nicht weiß ich wie viel. Einige bekommen ganz schöne Summen, und zwar die, die fünf Jahre lang deportiert waren. So lange war ich nicht, ein Jahr hat man mir anerkannt. Und ich benötigte jenes Papier zur Einreise ins Land, damit sie sehen konnten, dass ich aus Russland mitgebracht worden bin. Bei uns beim deutschen Forum in Reschitza gibt es Zusammenkünfte einmal im Jahr. Dann wird an die erlittenen Leiden erinnert, mehr nicht. Viele Kinder können diese Dinge gar nicht verstehen, nur die, die dort gelit-

Elfrida Chvoika, geborene Ruttar ten haben, die verstehen das. Bei uns hier in der Forumsbibliothek wird allerdings darüber diskutiert. Da ist eine gekommen und hat uns einen Brief vorgelesen, den ihre Mutter ihr aus Russland geschickt hat. Es war sehr emotional. Es waren noch andere Frauen da, eher ältere. Da wurde so viel geweint! Aber sie wollten nicht reden. Eine hat nur geweint. Nach fünf Jahren Russland wurden einige

173 nach Deutschland geschickt und sie blieben dort weitere 2-3 Jahre als Gefangene. Und erst dann sind sie hierher zurückgekommen. Die Kinder müssten wissen, wie viel ihre Großeltern und Urgroßeltern gelitten haben. Damit solche Dinge nicht mehr geschehen! Die Kleinen würden den Sinn vielleicht gar nicht verstehen und es als eine Geschichte auffassen.

Die Eltern sind in die Deportation gegangen und haben zwei Kinder zu Hause gelassen…1

Johann Metzger (Deutschland)

D

ie1Schwaben in Rumänien hatten während des Krieges eine besondere Situation. Wie auch die Deutschen aus Kroatien, Ungarn, vom Territorium Jugoslawiens hat Hitler sie verpflichtet in den Krieg zu gehen. Von den Unverheirateten hat er verlangt, sich als Freiwillige in die Division „Prinz Eugen“ einzutragen, genannt nach dem Prinzen, der bei Wien gegen die Türken gekämpft hat. Die Division wurde in die SS eingegliedert. Es hieß, sie sei zusammengesetzt aus Freiwilligen, aber die Männer waren keine Freiwilligen. Man hat sie genommen und verpflichtet, gegen die Partisanen auf dem Territorium des ehemaligen Jugoslawien zu kämpfen. Das waren die jungen Unverheirateten. Jene, die verheiratet waren, so wie mein Vater, haben in der rumänischen Armee gekämpft. Die Rumänen waren mit Hitler alliiert. In der Nachkriegsgeschichte hat man diese Dinge nicht mehr so gesagt, wie man es hätte tun müssen. Meine beiden Eltern waren deportiert. Sie waren verheiratet. Sie hatten zwei Kinder eines geboren 1936, das andere 1937. Die Kinder blieben zu Hause bei der Großmutter. Ich kann mich nicht so gut ausdrücken. Ich bin vor 30 Jahren aus Rumänien weg-

gegangen… Unsere Mütter, meine und die von Stefan2, sind zusammen zurückgekommen aus Russland. Er wurde in Deutschland geboren. Meine Mutter hat mir erzählt, dass sie 40 Tage lang gereist sind von Sanktandres bis in die UdSSR. Und sie haben auf Baustellen gearbeitet, sie haben Staudämme gebaut… Weiß ich, welche Staudämme sie dort gebaut haben?… Sie arbeiteten eine Woche am Staudamm, dann kam das Wasser von oben und hat alles mitgenommen. Und wieder mussten sie mit dem Bauen von vorne beginnen. Wie der Meister Manole. Meine Mutter sagte mir, dass mein Vater nichts darüber erzählt hat. Selbst wenn ich gefragt habe, hat er mir nicht geantwortet. Er sagte: „Aus, es ist vorbei.“ Es könnte aber sein, dass er mir nichts erzählt hat, nicht weil sie erachteten, dass es keinen Sinn hat darüber nachzudenken, sondern weil wir Kommunismus hatten. Sie hatten Angst, darüber zu erzählen. Erzählte man etwas den Kindern, so konnten sie, wer weiß was und wer weiß wo etwas erzählen, alles war verwebt... Ich wurde geboren, als meine Eltern aus der Deportation zurückgekommen waren. Meine Eltern waren Bauern. Sie haben Feld gehabt. Nicht sehr viel, aber sie hatten. Als

1 Aufgezeichnet von Lavinia Betea

2 Stefan Mlynarzek, nächstes Interview

174 man sie deportiert hat, hat man sie zusammen weggebracht. Man hat sie genommen und sie fuhren zusammen. Aber ich weiß nicht, wie es ihnen dort erging im Arbeitslager. Als unsere Mütter sich trennten, war es ihnen nicht erlaubt, nach Hause zu fahren. Man sagte ihnen - ihr seid Deutsche, ihr bleibt in Deutschland. Meine Mutter war es nicht erlaubt, nach Hause zu kommen zu ihren Kindern. Damit sie zu Hause erzählte, was dort los war. Sie aber wollte zurück ins Banat. Sie wusste nicht, dass sie kein Feld mehr hatte, und dass sie kein Haus mehr hatte. Sie wollte - wie jede Mutter - zu ihren Kindern zurückkehren. Und man erwischte sie an der Grenze bei Graz, noch bevor sie Rumänien erreichte. „Ich wusste, dass ich Kinder habe, dass ich ein Haus habe, dass ich Feld habe, dass ich eine Bäuerin bin und dass ich arbeiten muss…“, hat sie gesagt. Es waren mehrere, die so wie sie nach Hause kommen wollten. Man hat sie erwischt und nach Deutschland zurückgebracht. Ich weiß, dass sie es dreimal versucht hat. Erst beim letzten Mal ist es ihr gelungen. Ich weiß nicht, wie es damals war, ich weiß nur, dass sie angeben musste, wie und mit wem sie gekommen ist. Ich weiß nicht einmal, in welchem Jahr sie zu Hause angekommen ist. Ich weiß nur, dass mein Vater nachher hier eingetroffen ist. Nicht überall war es so wie bei uns. Den Schwaben aus dem serbischen Banat erging es noch schlechter. Am Ende des Krieges waren die Serben viel gewalttätiger. Sie haben die Deutschen von dort umgebracht. Die, die überlebt haben, haben sie sofort in Arbeitslager gesteckt. Dort bei ihnen. Und die, die nicht in Arbeitslagern waren, mussten sofort fliehen aus Angst umgebracht zu werden. Die Serben haben sie umgebracht, die Partisanen. Und als die Kommunisten siegten, mussten sie auch fliehen. Deshalb sind kaum Deutsche in Serbien geblieben. Aber hier, bei uns, war es nicht so. Hier waren sie nicht so gewalttätig. Es war ein großer Vorteil, als wir nach

Johann Metzger Deutschland ausgewandert sind, dass wir Deutsch sprechen und schreiben konnten. Ich bin 1975 ausgewandert. Die, die aus Russland nach Deutschland ausgewandert sind, konnten dies nicht. Es gibt noch einige, die aus den ehemaligen kommunistischen Ländern kamen und die Deutsch sprechen. Aber sie können nicht schreiben. Für uns war das ein großer Vorteil, dass es so war in Rumänien. Mich hat niemand, weder in der Schule noch sonstwo gefragt, was die Eltern gemacht haben, ob sie deportiert waren oder nicht oder was sie in der Deportation gemacht hätten. In der Schule gab es eine rumänische Sektion und eine deutsche Sektion, aber dort wurde nicht darüber gesprochen, ob die Eltern deportiert waren. Nachdem meine Eltern aus der Deporta­ tion zurückgekommen sind, haben sie in der Kollektivwirtschaft gearbeitet. Feld hatten sie keines mehr. Sie sind geblieben und haben bis zum Ende in der Kollektivwirtschaft gearbeitet. Sie haben keine Weiterqualifizierung mehr gemacht. Mein Vater, der 1911 geboren wurde, hat erachtet, dass dies genügt - man war Bauer fürs ganze Leben. Was sollte er auch tun?! Mit 50 Jahren was willst du da noch machen? Wir haben die Schule gemacht, jeder wie er konnte. Wahrlich, wenn die Eltern Bauern waren, war es ziemlich schwer, dass ein Kind auf die Universität kam. Ich habe die acht Klassen der Allgemeinbildenden Schule gemacht und danach die Berufsschule in Arad. Gearbeitet habe ich in Arad. In Deutschland habe ich die Meisterschule gemacht. Für uns war es gut, dass wir zwei Systeme kennengelernt haben - das kommunistische System und das demokratische Sys­tem. Auch dieses hat seine Probleme. Wenn du Arbeit hast, hast du Geld… Viele Schwaben, die von hier weggegangen sind, konnten sich nicht anpassen. Sie haben immer noch Probleme mit der Anpassung. Manche glauben, dass, wenn sie sich ein großes Auto kaufen, dies ein Zei-

Johann Metzger chen ist, dass sie sich angepasst haben. Andere sind gekommen und haben gesagt: „Ich kann hier nicht mehr den schwäbischen Dialekt oder die rumänische Sprache sprechen.“ Und dies sollte bedeuten, dass sie sich gut angepasst haben in Deutschland. Und wie Herta Müller schrieb - wie scheußlich war es bei uns... Da haben die Arbeitskollegen aus Deutschland gelacht: „Und wie war es bei euch, als ihr die Toten mit dem Ochsenwagen auf den Friedhof gebracht habt?!“ Aber das ist auch so in Deutschland geschehen, in Bayern, im ersten Weltkrieg. Die Zeitungen berichteten, sie veröffentlichten auch Fotos. Ich habe ein Buch über Sanktandres genommen mit einem Foto, welches zeigte, dass es im Dorf einen schönen Bestattungswagen gab mit schwarzen Fenstern, eigens um die Toten auf den Friedhof zu bringen. Jedes Dorf hatte so etwas. Da, wo ich hergekommen bin, war es nicht so, wie Herta Müller schreibt. Aber diese, die Schwaben aus Serbien… Wir haben Schwaben auch in Brasilien. Wir haben fünf Dörfer mit Schwaben aus dem Banat in Brasilien. Es gab Schwa-

175 ben aus Serbien, die nach Österreich geflüchtet waren. Ebenso einige Familien aus dem rumänischen Banat. Und sie haben über das Rote Kreuz ein Land gesucht, das sie aufnimmt. Ein Land, das gute Leute brauchte, um den Boden zu bearbeiten. So wie auch vor ein paar hundert Jahren unsere Vorfahren aus den Herkunftsgebieten in den Osten Europas gekommen sind. Die Brasilianer waren auch in dieser Situation nach dem zweiten Weltkrieg. Und es sind 500 Schwabenfamilien dorthin gegangen, ausgewandert aus dem Osten. Der brasilianische Staat hat ihnen dort Äcker zugesichert. Es war nicht sehr viel, aber die Fläche war ausreichend. Jetzt im Januar waren es 60 Jahre, seit sie dorthin ausgewandert sind. Und sie haben 120.000 Hektar Feld. Ich war drei Mal dort. Die Brasilianer hatten gesagt, dass man dort nichts groß anbauen kann. Und die Schwaben haben gesagt lasst uns nur machen. Und sie haben gemacht. Die Brasilianer trinken auch mal und verkaufen auch mal einen Hektar Feld. Und die Schwaben haben gekauft. Rund 100 km² groß ist die Fläche, die sie gekauft haben.

Meine Mutter hat meinen Vater in der Deportation kennengelernt und ich bin die Frucht ihrer Liebe…1

Stefan Mlynarzek (Deutschland)

W

as1ich darüber weiß, wie die Deportation durchgeführt wurde? Dass Stalin Leute verlangt hat. Und dann haben Petru Groza und Ana Pauker gesagt: „Schaut her, wir haben doch hier diese gemeinen, heimtückischen Deutschen. Lass uns sie hin schicken!“ So hat es mir meine Mutter gesagt, so hat es mir mein Vater gesagt. Beide waren nach Russland deportiert worden. Mütterlicherseits hätte auch mein Großvater gehen müssen. Aber mein Großvater hat sich versteckt. Ihm hätte alles Mög1 Aufgezeichnet von Lavinia Betea

liche passieren können, weil er ein bekannter Mann war. Und dann hat meine Mutter gesagt: Ich gehe. Und sie ist gegangen zusammen mit ihrem Bruder. Die Anzahl musste vollzählig sein. Mein Großvater war Notar. Und von ihm hat man erfahren, dass Leute verlangt worden sind. Niemand hatte gesagt Schwaben, Sachsen oder Rumänen. Aber Petru Groza und Ana Pauker haben gesagt: „All diese Schwaben und Sachsen, die wollen wir hinschicken!“ Der Bruder meiner Mutter hatte in Czernowitz studiert. Mein Großvater und seine Familie stammten aus Sanktandres. Meine

176 Mutter war in den Ural verschleppt worden. Sie hat mir erzählt, wie viele in den Eisenbahnwaggons während der Reise gestorben sind. Und dass sie ihre Notdurft dort im Waggon zwischen den anderen verrichten mussten. Am Anfang fiel es ihnen sehr schwer, dort über dem Loch in dem Boden des Waggons zu sitzen. Für eine 18-Jährige - so alt war sie damals - war es sehr schwer, dies zu tun. Den Älteren, auch den Männern, fiel dies nicht ganz so schwer. Sie ist schon während der Reise an der Ruhr erkrankt. Sie hat im Bergwerk gearbeitet. Dort hat sie meinen Vater kennengelernt. Mein Vater war aus der Bukowina. Sie waren 16 Brüder bei ihren Eltern, von denen fünf verschleppt worden sind. Die Frucht ihre Liebe war ich. Mein Vater ist Aufseher dort geworden. Meine Mutter war Lehrerin, eingestuft als Gutsherrentochter... Meine Mutter ist schwanger geworden, sie war auf dem gleichen Zimmer mit der Mutter von Johann2… Und die Russen wollten sie zum Gebären aus dem Lager hinausschicken. Aber nicht alleine. Und dann hat meine Mutter gesagt: „Lasst doch auch sie mit mir mitkommen.“ Als Begleiterin. Damit sie auf sie aufpasst. Ich war ein Glücksfall für manche, wie Sie sehen (lacht). Ich wurde am 7. Dezember geboren, aber bereits im November haben unsere Mütter Russland verlassen. Sie sind in Deutschland angekommen, neben Leipzig, im östlichen Bereich. Ich bin mit einem unglaublich kleinen Gewicht auf die Welt gekommen. Der Arzt sagte, als er mich sah: „Diesen kannst du wegschmeißen!“ Aber man hat mich nicht weggeschmissen und ich habe überlebt, wie Sie sehen. Ich habe das normale Geburtsgewicht eines Neugeborenen ohne Brutkasten erreicht. Beide Frauen haben mir geholfen zu überleben. Sie haben erzählt, dass sie irgendwo in einem Bahnhof angekommen sind. In jenem Chaos sind 2 Johann Metzger, vorheriges Interview

Stefan Mlynarzek kleine Kinder verloren gegangen. Und Johanns Mutter sagte: „Wir können ihn wiedererkennen an dem Zeichen an seinem Fuß.“ In solchen Fällen hat sich das Rote Kreuz um die Kleinkinder gekümmert. Es hat sie gesucht, wenn die Eltern sie verloren haben. Danach sind wir in Ulm geblieben. Meine Mutter war Lehrerin und sie hat begonnen zu arbeiten. Vier Jahre lang sind wir dort geblieben. In der Zwischenzeit haben sich unsere Mütter, meine und seine, getrennt. 60 Jahre später war ich dort in Ulm und in Trebitz. Das war mir ein Bedürfnis. Ich weiß nicht warum. Meine Mutter konnte diese Stätten nicht mehr mit mir besichtigen. Sie war zwischenzeitlich gestorben. Danach sind wir nach Rumänien gekommen. In der Zwischenzeit ist auch mein Vater aus der Deportation aus Russland nach Hause zurückgekehrt, zu meiner Mutter nach Sanktandres. Und sie haben gelebt. Von ihnen habe ich erfahren, dass die Rumänen uns zur Verfügung gestellt und die Russen uns genommen haben. Sie haben mit anderen Leuten nicht offen über die Deportierung gesprochen. In der Zeit von Gheorghiu-Dej und in der Zeit von Ceausescu musste man aufpassen, was man über den Aufenthalt in Russland sagte, wie man dort hingekommen ist, was man dort gemacht hat, wann und wie man zurückgekommen ist. Erst jetzt kann man offen darüber sprechen. Meine Eltern haben mit mir nicht über die Deportation gesprochen. Meine Geburtsurkunde legt als Ort meiner Geburt Trebitz, Deutschland fest. Als ich aus Rumänien ausgewandert bin, war es für mich einfacher, weil ich in Deutschland geboren war. In Rumänien waren wir Immigranten. Ich musste nachher Erklärungen abgeben. Man hat mich beäugt - auch in der Schule und auch beim Militär - anders als die anderen. Wir waren die „Faschisten“. Sowohl als Jugendlicher, auch als Kind war ich manchmal ein „Faschist“. Und in den sechziger und

Stefan Mlynarzek siebziger Jahren, wenn einem etwas nicht gefiel, sagte man dir: „Geht doch zu eurem Hitler“. Aber die Rumänen waren trotzdem nicht so aggressiv zu den Deutschen wie andere kommunistische Länder. Rumänien war das einzige der kommunistischen Länder, welches den Minderheiten Schulen, Kirchen, Zeitungen zugestanden hat. Es war uns nicht zu sehr erlaubt, in die Kirche zu gehen, trotzdem tat man das. Und keiner hat dich dafür bestraft. Es war ein großes Glück für uns, als wir nach Deutschland ausgewandert sind, dass wir die Sprache sprechen und schreiben konnten. Aber in Rumänien gab es den Genossen Ersten Sekretär, welcher dir sagte, mach das und das und das… Und du hast es gemacht. Und in Deutschland sagst du selbst: ich mach das und das und das… Viele Schwaben sind dieser Differenz wegen hier gescheitert. In den Geschichtsbüchern müsste die Wahr­heit geschrieben werden. Mit Reportagen und Interviews, in denen die Betroffenen erzählen. Mir gefällt es nicht, wie Herta Müller die „Wahrheit“ über die Schwaben aus den Banat erzählt hat. Dies ist nicht die wahre Wahrheit über die Banater Schwaben. Sie waren nicht solche Zigeuner, sie waren nicht so hungernd, nicht so unerzogen und nicht so dreckig, wie sie schreibt. Niemand

177 hat das Recht, sein Volk so in den Dreck, in die Scheiße zu ziehen… Aber dies ist meine persönliche Meinung. Wie sollte über die Verschleppung berichtet werden? Ich habe drei Enkel. Und wenn ich ihnen erzähle, wie und wo ich auf die Welt gekommen bin und wie sich ihre Großeltern, d.h. meine Eltern, kennen gelernt haben, dann sagen sie: „Das kann nicht sein!“ Sie wissen, dass es so war und sie wissen, dass ich nicht lüge, aber es kommt ihnen nicht zu glauben, dass solche Dinge möglich waren. Die Geschichte kann aber nicht so geschrieben werden, wie sie geschrieben worden ist. Dass das russische Volk das gute und das deutsche das schlechte ist. Tatsache ist, dass Stalin in seinen Konzentrationslagern mehr Menschen umgebracht hat als Hitler umgebracht hat. Auch diese waren keine Heilige. Die Verschleppung war keine Erzählung. Die Verschleppung fand von heute auf morgen statt. Die Menschen sind an Hunger gestorben, an Durst gestorben, an Krankheiten gestorben... Unschuldige Menschen. Die Schwaben aus dem Banat wollten keinen Krieg. Von dort hat man sie genommen und die Division „Prinz Eugen“ zusammengestellt. Für die Taten des politischen Menschen - heißt er Stalin oder heißt er Hitler leidet der gemeine Mensch.

Meine Eltern haben sich während der Verschleppung kennengelernt…1

Martin Seifer (Rumänien)

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eine1Eltern waren beide verschleppt. Sie haben mir erzählt, dass sie in Krivoi Rog waren. Sie haben auf dem Bau und in der Landwirtschaft gearbeitet. Es gab aber auch rührige Frauen, die als Haushälterinnen oder Köchinnen bei russischen Offizieren ge1 Aufgezeichnet von Lavinia Betea

arbeitet haben. Offiziere von höherem Rang, vom Hauptmann aufwärts. Meine Eltern waren beide aus Sanktanna, aber sie kannten sich vorher nicht. Sie konnten sich auch nicht kennen, vielleicht nur vom Sehen her, denn zwischen Vater und Mutter gab es ein Altersunterschied von 15 Jahren.

178 Ein Junge von 20 Jahren beachtet kaum ein Mädchen von 5 Jahren. Die erste Frau meines Vaters verstarb schon während des Krieges. Sie hatte Gelbsucht und, da es keine Medikamente gab, ist sie an Leberzirrhose gestorben. Als ich 1951 geboren wurde, war mein Vater 52 Jahre alt. Als er deportiert wurde, war er zwischen 4546 Jahre alt. Meine Mutter war 30 Jahre alt. Sie haben sich im Lager kennengelernt. Meine Mutter hat zuletzt als Haushälterin gearbeitet. Vater hat in der Landwirtschaft gearbeitet. Sie haben sich gesehen, sich kennengelernt und festgestellt, dass beide aus dem gleichen Ort stammen. Jeder hat gestohlen, um sich besser ernähren zu können und hat jeweils dem anderen etwas abgegeben. Damit der jeweils andere durchhält und nicht an Hunger stirbt. Das haben sie mir gesagt. Damals waren sie aber nur Bekannte. Als es in die Heimat zurückging, haben sie sich aus den Augen verloren. Morgens wurden sie verständigt, dass es nach Hause geht. Im Lager hat sich jeder für die Heimfahrt vorbereitet und so ist man sich nicht mehr begegnet. Abends wurden alle zum Zug gebracht. Erst in Sanktanna haben sie sich wieder gesehen. Es war vor der Kirche, als Vater die Mutter wieder sah. „Regine, willst du meine Frau werden?“, hat er damals gesagt. Und sie hat gleich zugestimmt. Sie haben gut zusammen gelebt. Aber von den vier Kindern, die sie hatten, bin nur ich am Leben. Im Jahre 1957 wurde meine Schwester geboren und Anna getauft. Abends hat sie gut gegessen und am Morgen des anderen Tages war sie tot. Sie ist an Kindstod gestorben. Ich bin der Erstgeborene. Nach mir kam eine Schwester tot zur Welt. Im Jahre 1962 kam ein Bruder zur Welt, der nur sechs Monate lebte. Bei ihm war es genau wie bei der einen Schwester, auch er lag morgens tot im Bett. Was für ein großer Schmerz für die Eltern!

Martin Seifer Die Eltern sind in Sanktanna geblieben. Mutter ist 1983 an Herzinfarkt gestorben. Vater ist 1992 mit 87 Jahren verstorben. Er war nur drei Wochen krank. Er hat immer selbstgedrehte Zigaretten geraucht. Er hat immer zu mir gesagt, wenn der Tabak mir mal nicht mehr schmeckt, werde ich in zwei, drei Tagen tot sein. So war es dann auch. Was sie mir aus der Verbannung erzählt haben? Arbeit - so lange es hell war - auf dem Feld. Sie wurden in der Früh um 5 Uhr raus gebracht und abends, wenn es dunkel wurde, ging’s zurück. Sie bekamen Tee und ein Stück Brot beim Weggehen. Manchmal gab es nicht mal Wasser. Sie haben mir erzählt, dass sie manchmal das Wasser aus den Fußspuren der Tiere tranken. Es war nach dem Regen, sie haben gewartet, bis das Wasser klar war und haben es dann aus den Spuren geschlürft. Die Mutter hatte es mehr oder weniger besser. Sie hat mir erzählt, dass sie einmal am Abend schlafen gegangen ist und nachts aufwachte, weil sie etwas Schweres in der Magengegend verspürte. Sie hat die Hand dort hin bewegt und festgestellt, dass sich eine große Ratte dort befand. Sie hat mir erzählt, dass sie pro Tag ein viertel Kilogramm Brot bekam. Sie hat manchmal etwas für später übrig gelassen, aber es nicht mehr gefunden, weil es die Ratten gefressen hatten. Manchmal starben Menschen nachts. Am Morgen wurden die Toten mit von Ratten angefressenen Ohren entdeckt. Ich möchte das russische Volk nicht schlecht machen, aber so war es nun mal. Mir tut es leid, dass Vater nicht mehr ist, damit er es erzählt. Vielleicht finde ich noch Postkarten, welche die Eltern von dort geschickt haben. Ich muss auf den Boden steigen, um sie zu suchen. (Er hat gesucht und mir telefonisch Bescheid gegeben, dass er sie nicht mehr gefunden hat.)

Georg Safenauer

179

Ich war in der Schule, als der Briefträger mir die Nachricht gab, dass Mutter zurückkommt1

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ach1dem Krieg musste Rumänien beim Wiederaufbau helfen. In Rumänien hat man dafür die Deutschen ausgesucht, es waren auch einige Ungarn dabei, aber sehr wenige. Man hat nichts gewusst. Auch meine Mutter wurde genommen, sie war fünf Jahre in Russland. Nachdem sie von Russland zurückgekommen ist, hat sie uns alles erzählt. Die Familie war nicht reich, aber bei der Verschleppung hat man darauf keine Rücksicht genommen. Auch nicht, wenn du Politik gemacht hattest. Sie war Hausfrau und hat zuhause gearbeitet. Ich war acht Jahre alt, als sie weg musste Morgens, es war noch dunkel, so um 5 Uhr kamen sie vom Rathaus und haben sie aus dem Bett genommen, sie hat sich angezogen und wurde ins Rathaus gebracht. Im Januar 1945, ich weiß das genaue Datum nicht, als sie aus dem Haus geholt wurde, aus dem Bett, morgens sind sie gekommen und haben sie mitgenommen. Man hat sie zum Rathaus gebracht, in einen Raum gesteckt, wo man ihnen gesagt hat, dass es nach Arad geht, Kleider für russische Soldaten waschen. Es wurde nicht gesagt, dass es nach Russland geht. Ich war acht Jahre alt, als sie weggebracht wurde. Ich bin bei den Großeltern geblieben, zusammen mit meiner Schwester. Der Vater war im Krieg, er war in Deutschland in amerikanischer Kriegsgefangenschaft. Er ist nicht mehr zurückgekommen, er ist in Deutschland geblieben. Ich und meine Schwester wurden von den Großeltern mütterlicher Seite betreut. Der Vater im Krieg, die Mutter in Russland. Mutter kam nach fünf Jahren zurück. Sie hat fünf Jahre in der Kohlengrube gearbeitet. Sie hat uns erzählt, 1 Aufgezeichnet von Cristina Diac

Georg Safenauer (Deutschland) als sie wieder da war, dass die ersten drei Jahre sehr schwer waren. Die letzten zwei Jahre hat sie bisschen Geld bekommen. Auch Essen gab es wenig, es gab aber Tabak und Zigaretten, welche sie bei den Männern gegen Brot eintauschte. Sie war nicht krank, hat durchgehalten. Sie war Bäuerin und noch nicht alt, 1945 war sie kaum 25 Jahre alt. Sie war jung. Die ersten drei Jahre waren sehr, sehr schwer. Sie hat in der Kohlengrube gearbeitet, nur auf den Knien. Als sie nachhause kam, hat sie auf den Knien Haut wie auf den Fußsohlen gehabt. Russen trinken auch Parfüm Über die Russen hat sie uns erzählt, dass sie Parfüm trinken, wenn sie keinen Wodka haben. Das Parfüm war so billig, so dass sie dieses tranken, erzählte Mutter. Das Parfüm stammte aus den Hilfslieferungen, welche von Amerika kamen. Als Mutter aus Russland zurück kam, hat sie amerikanisches Parfüm und Schokolade mitgebracht. Bei uns fand man so etwas nicht. Im letzten Jahr war der Verdienst so gut, dass sie einiges kaufen konnte und einiges mit nach Hause gebracht hat. Am Anfang haben wir nicht gewusst, wo sie sind, was sie machen, ob sie überhaupt noch leben. Nach einiger Zeit haben wir erfahren, wohin man sie gebracht hat. Die ersten Kranken, die für die Arbeit nicht mehr zu gebrauchen waren und die man nachhause ließ, haben uns erzählt. Ich erinnere mich, dass jemand aus dem Lager, wo auch Mutter war, zu uns kam - eine Frau aus Neu-Arad. Sie hat uns erzählt, wie sie dort leben. Nach einem Jahr oder später haben wir Briefe erhalten. Als wir die erste Postkarte erhalten haben, wussten wir, dass sie noch lebt. Ich war ein Kind, aber ich wusste, dass die Mutter in Russland ist. Auch eine Kusine

180 meiner Mutter war deportiert. Diese ist von einem LKW gefallen und vom selbigen überrollt worden und gestorben. Sonst niemand aus unserer Verwandtschaft. Nur Bekannte und Nachbarn. Es hat mich nicht gestört, ohne Eltern bei den Großeltern aufzuwachsen. Ich hatte noch Freunde mit deportierten Eltern und in der Schule wurde kein Unterschied gemacht. Ich habe sie nach fünf Jahren nicht wieder erkannt Im Jahre 1949 habe ich gehört, dass sie nachhause kommen. Sie sind nicht alle am gleichen Tag gekommen, sondern in Abhängigkeit vom Verbannungsort. Ich war in der VII. Klasse, als Mutter kam. Jetzt erinnere ich mich... Der Briefträger kam in die Schule, hat die Klassentür geöffnet und mir zugerufen: „Deine Mutter kommt heute Abend in Pecica an“ - unsere Nachbargemeinde. Wir wohnten in Sedlac. Wir hatten gerade Geschichtsunterricht, als der Briefträger die Nachricht über Mutter brachte. Die Lehrerin hat mich zur Tafel gerufen. Ich war in einer rumänischen Schule. Ich habe kein einziges Wort raus gebracht, so aufgeregt war ich. Dann hat die Lehrerin mich nach Hause geschickt. Abends bin ich an den Bahnhof von Pecica, 17 km von unserem Ort entfernt. Wir sind mit Großvaters Pferdewagen an den Bahnhof von Peci­ca gefahren. Es war Abend. Wir haben sie nach fünf Jahren kaum erkannt. Auch ich war in dieser Zeit größer geworden. Das Wiedersehen hat uns sehr gefreut.

Georg Safenauer Auf dem Rückweg ist der Wagen kaputt gegangen, weil es dunkel war und der Weg sehr schlecht. Es waren etwa acht Personen im Wagen, wir hatten auch andere Landsleute mitgenommen. Wir konnten den Wagen reparieren und weiter fahren. Die Freude war sehr groß, so dass dies uns nicht gestört hat. Wieder daheim, hat Mutter im Haushalt gearbeitet. Der Großvater hat noch seinen Boden gehabt, er wurde nicht enteignet. Als man die Deutschen enteignete, hat man einen Unterschied zwischen Hitleranhängern und Gegnern gemacht. Großvater konnte seine Pferde, seinen Wagen und Traktor behalten. Er war auch nicht im Baragan. Nach 1951 hat man auch ihm alles genommen, was im Haus war. Vom Getreide auf dem Dachboden bis zum Speck und der Wurst aus der Kammer. Dann ist er weg für etwa zwei Jahre und hat sich neben Deva niedergelassen, bis es ruhiger wurde. Das hat aber mit der Deportation nichts zu tun, das war ja später. Ich habe Rumänien 1972 verlassen. Ich war 30 Jahre in den USA. Nun bin ich in Deutschland. Ich war in Rumänien im Gefängnis, weil ich versucht habe, in einem Möbelwagon das Land illegal zu verlassen. Ich wurde zu acht Monaten verurteilt. Nachdem ich meine Strafe abgesessen hatte, habe ich zwei Wochen später den Pass erhalten. Mein Vater war in Amerika. Ich habe den Ausreise-Antrag ein- oder zweimal gestellt, aber ich wurde immer abgelehnt. An die Deportation meiner Mutter habe ich seit langem nicht mehr gedacht.

Emanuella-Luisa Schneider Kevelaer

181

Die Erinnerungen der Nachfahren Brotkrümel

I

Emanuella-Luisa Schneider Kevelaer (Deutschland)

ch erinnere mich an meinen Großvater, Otata, so wie er nach jedem Essen mit der rechten Handfläche die verbliebenen Brotkrümel vom Tisch in die linke Hand schob. Dann schüttelte er sie in seinen geöffneten Mund und verschluckte sie. Jahrelang habe ich ihn beobachtet und die Szene wurde Teil des Alltags. Einmal fragte ich ihn: „Warum?“ Und er antwortete mir: „Liebes Kind, du weißt nicht und ich will auch nicht, dass du weißt, wie schrecklich weh der Hunger tut und welche Spuren er auf der Seele lässt das ganze Leben...“ So sagte mir der Großvater. Damals. Und ich habe ihn nicht verstanden. Rumänien 1947 Der kommunistische Totalitarismus hatte sich brutal installiert. Die Regierung Dr. PetruGroza und der Sekretär der kommunistischen Partei Gheorghe Gheorghiu-Dej werden durch die stalinistische Macht entmachtet. 30. Dezember 1947. König Michael I. von Hohenzollern wird gezwungen abzudanken. Es beginnt die kommunistisch Stunde. Politiker, Bourgeoisie, Intellektuelle, Firmeninhaber, Adel, die elitären Kategorien eines zivilisierten europäischen Kultur- und Bildungslebens wurden nicht nur marginalisiert, sondern aller ihrer Rechte enteignet. Von allem, was ihnen gehörte, normal, rational. Ihrer sozialen und biologischen Freiheit. Konfisziert, terrorisiert, festgenommen... Ohne Grund, Urteil oder Prozess – Verhaftet, verurteilt, gefoltert, ermordet. Ermordet! Ermordet! Ermordet! „Die Befreiung“ vom „Joch der Freiheit“ war eine große kommunistische Kunst. Leben und Überleben werden eine Kunst, der Willkür unterworfen. Rumänische Brutalität verschmilzt mit der sowjetischen. Die Kul-

tur wird durch Ignoranz und Öde ersetzt, für Jahrzehnte in den Alltag eingeführt. Auf Stalins Befehl beginnt man im November 1944 das Anfertigen von Listen mit den rumänischen Staatsbürgern deutscher Nationalität, die zur Zwangsarbeit in die Sowjetunion deportiert werden sollen als Wiedergutmachung der durch den Krieg verursachten Schäden. Diese unschuldigen Zivilisten werden mit ihrem Leben die Fehler Nazi-Deutschlands bezahlen, einfach nur ihrer ethnischen Zugehörigkeit wegen. Die Deportation begann in Kronstadt am 11. Januar 1945. Bewaffnete Sowjet-Militärs, begleitet von rumänischen Aktivisten, nähern sich den Wohnungen der künftigen Opfer. Gemäß dem Reglement sollten Frauen zwischen 18 und 30 und Männer zwischen 17 und 45 ausgehoben werden. Ausnahmen bildeten Schwangere, Frauen mit Kindern unter einem Jahr und Behinderte. Meistens jedoch wurden Alters-Kategorien nicht respektiert. Es gab Fälle von Deportierten mit 13 oder 55 Jahren. Der Transport erfolgte in Güterzügen, in einen Waggon lud man 30 bis 70 Personen, Männer und Frauen zusammen. Unter solchen Bedingungen mussten sie in der Enge und Promiskuität zwei bis sechs Wochen bis zum programmierten Ziel ausharren. Das Leid war groß, im Winterfrost schwer zu erdulden, bei primitivsten Hygiene-Bedingungen. In einer Waggonecke war ein Loch ausgeschnitten, wo die Deportierten öffentlich ihre Notdurft verrichteten. Nur eine Sichtwand herum, von Frauen oder Männer gebildet. Pestilenzialischer Gestank quälte sie bis zum Erbrechen. Es gab auch schon die ersten Toten. In den Konzentrationslagern erwartete sie ein Sklavenleben, schwere körperliche Arbeit,

182 im Allgemeinen in der Grube, miserable Ver­ köstigung, Brutalität und Demütigungen. Auch mein Großvater, Otata, wurde deportiert, der in der Zuckerfabrik-Kolonie Bod, Kreis Kronstadt, wohnte. Er wurde in den Donbas, Makeevka (Don-Becken), gebracht. Großmutter, Omama, glaubte die ganze Zeit, dass alle deportiert werden und nähte im Hinblick darauf, Ranzen für ihre beiden Mädchen. Meine Mutter war damals 14 Jahre alt und ihre jüngere Schwester 11. In die Ranzen gab die Großmutter Kleidungsstücke und je eine Schachtel Karamellen, damit die Mädchen etwas haben, um unterwegs ihren Hunger illusorisch zu beschwichtigen. Eines Nachmittags gewaltige Schläge an die Tür: Bewaffnete Sowjet-Militärs, begleitet von einem Arbeitskollegen des Großvaters, namens Carstea!. Sie wollten nur ihn, den Otata. Jedoch der beflissene Aktivist: „Nehmen Sie nicht auch die Frau?“ Der Russe jedoch: „Sie nicht, weil sie zwei Kinder hat!“ Jenen Carstea lernte ich kennen, als ich noch klein war. Er hatte auch Kinder ungefähr im Alter meiner Mutter: den Sohn Rica und Lenuta! Das Unheil, das sie traf, wird ihnen zum Mühlenstein. Die Daheimgebliebenen waren allerlei Schikanen der Kommunisten und Parteiaktivisten ausgesetzt. Erstens sollte Großmutter die Mietwohnung verlassen. Sie zogen in die Einzimmerwohnung ihrer Eltern, wo alle fünf in einem Zimmer wohnten. Ihr Privathaus im Dorf Bod, 3 km entfernt, war konfisziert und auf Beschluss des Bürgermeisters ist darin eine Zigeunerfamilie heimisch geworden. Die Zerstörungen waren scheinbar mit Grausamkeit geplant: Der Holzzaun wurde im Ofen verbrannt, das Speisezimmer in „Schlachthof“ verwandelt für ihre Zuchtschweine, die Möbel zerstört. Jahre später, als die Großeltern wieder in ihre Rechte eingesetzt wurden, stellten sie mit Bestürzung das miserable Bild und das hinterlassene Chaos fest. Was sollte es, nach

Emanuella-Luisa Schneider Kevelaer all dem Durchlebten. Die Schikanen seitens der Ortsobrigkeit hielten an: Die Fahrräder wurden konfisziert sowie die Radioapparate des Großvaters und Urgroßvaters. Alle übereinander in einer Halle abgestellt, war es ihnen nach langer Zeit schwer, sie wiederzufinden, rückzugewinnen, so dass jeder nahm, wessen er habhaft werden konnte. Mein Urgroßvater war damals der Einzige, der arbeitete und die Familie unterhielt. Infolge der Deportation von Otata, der Mängel, des Kummers und allerlei Schikanen, des Grauens, mit dem Tag und Nacht gelebt werden musste, verlor er bald sein Leben infolge eines Herzinfarktes. Zwei Jahre war Otata weg. Zwei Jahre, in denen sie keine einzige Nachricht voneinander hatten. Während der Deportation erlebte er und sah allerlei Horror. Wie übrigens alle in Güterwaggons transportierten Verschleppten. Aber jeder auf seine Art, mit Leid, Sehnsucht, Nostalgie und gebrochenem Herzen. Keine Wunde ist schmerzhafter als eine blutende Seele. Otata sprach nicht viel über die Jahre in der Öde, und wenn ich ihn wieder etwas fragte, veränderte sich seine Gesichtsfarbe, Schweißtropfen traten auf seine Stirn, sein Ausdruck war anders, er schaute auf einen entfernten, undefinierten, dunklen Ort der Vergangenheit, den er hasste. Und dann seufzte er. Es war verboten, über jene Jahre zu sprechen. Es war verboten, die Wörter „Deportation“, „Konzentrationslager“, „Zwangsarbeit“ zu erwähnen. Er blieb mit der Angst. Ein ganzes Leben lang blieb er mit jener erniedrigenden, entehrenden, entmenschlichenden Angst. Kälte, Hunger, das Fehlen jedweder Hygiene-Bedingungen, die Qual, verursacht von allerlei Insekten (Flöhe, Läuse, Wanzen), Krankheiten überall (Krätze, Typhus, Ruhr) begleiteten die erschöpften Seelen Tag und Nacht, jahrelang. Der Tod wurde ein täglicher Aspekt und niemand wusste, wie lange es noch dauert, bis er ihm begegnet.

Emanuella-Luisa Schneider Kevelaer Aus dem Dorf Bod und der Kolonie wurde gleichzeitig eine große Anzahl Sachsen deportiert. Sie kannten sich fast alle. Unter ihnen war auch der Dorflehrer, der ein Lied komponiert hat, das mir Otata ab und zu sang. Ich erinnere mich an folgende Strophe: „In Kronstadt wurden wir verladen in einen großen Viehwaggon. Die Fenster wurden zugeschlagen und so ging‘s weiter über‘n Don. Refrain: Wir riefen: ‚Heimat, schöne Heimat! Heimat, liebste Heimat! Wann werden wir uns wieder sehen?‘ So kamen wir nach langem Fahren in das verfluchte Russland an. Hier führten sie uns gleich zum Baden und nachher in ein Läuseheim...“ Otata arbeitete im Donbas beim Wiederaufbau einer Fabrik. Unter anderem machte er für eine Schule Holzbänke für die Schüler. Er war sehr geschickt und mit seiner flexibeln und offenen Art hat er Glück gehabt. Ich erinnere mich, wie er von den Ortsansässigen erzählte, von ihrem Elendsleben, das sie führten, der Armut und der Regimeangst. Viele hatten ihn lieb gewonnen. Die Arbeiterinnen, die nebenan in der Fabrik arbeiteten, brachten ihm heimlich Sauerkraut, das er im Ärmel versteckte und im Lager mit den Leidens- und Hungerkollegen teilte. Eineinhalb Jahre später erkrankte er an Ruhr und wurde ins Lazarett gebracht. Geheilt hätte er wieder zur Arbeit zurückkehren müssen. So hat er sich vorgestellt, dass er den Aufenthalt im Krankenhaus verlängern könnte und rieb das Thermometer, bis das Merkur eine erhöhte Temperatur anzeigte. Manchmal war es zu hoch, dann schüttelte er es, dass es sank. Die Ärztin merkte die Mogelei, aber hat ihn nicht verraten, im Gegenteil, sie erklärte ihn als arbeitsunfähig und setzte ihn auf die Liste derer, die das Lager mit dem nächsten Transport verließen.

183 Nach einigen Verzögerungen seitens der Obrigkeit, Wartezeiten und Hoffnungen erlebte er den Augenblick, in dem er in den Zug einstieg, der in die Freiheit fuhr. Aber er gelangte nicht nach Rumänien, sondern nach West-Deutschland. Viele hielten die Heimfahrt nicht durch, waren krank. Ausgezehrt und kraftlos. Das Leben floss mit jedem Atemzug aus ihren erschöpften Körpern. Während der Haltezeit der Züge auf Äckern und Öden wurden die Toten von ihren entkräfteten Kameraden begraben. Geschwächt und erschöpft, erledigt, übermüdet wurde Großvater in ein Sanatorium im Schwarzwald gebracht. Drei Monate später durfte er es wiederhergestellt verlassen. Die Ärzte und Schwestern, die ihn gepflegt hatten, haben Geld gesammelt, das sie ihm gaben, um ihm auf dem langen Weg nachhause und in die Heimat weiterzuhelfen. Damals gab es in Deutschland hier und da Plakate mit dem Text: „Betteln verboten!“ Trotzdem blieb Otata vor einem Haus stehen, war entschlossen zu klingeln. Die Tür ging auf und ein Mädchen erschrak, als sie ihn sah. Er sah furchtbar aus: unrasiert, müde, schäbig. „Fürchte dich nicht vor mir, ich bin kein schlechter Mensch, aber ich bin hungrig!“ Während er am Tisch saß und aß, kamen auch ihre Eltern nach Hause. Das Mädchen sagte ihnen: „Erschreckt nicht vor ihm, er ist ein guter Mensch, er hatte nur Hunger!“ In seiner Hast, nach Hause zu kommen, ging Otata von Bauerngut zu Bauerngut, wo er zeitweilig Arbeit fand. Eines Tages hielt er bei einem Zahnarzt, der ihm die Goldkronen von den Zähnen nahm, die er dann verkaufte. So näherte er sich immer mehr den Liebsten. Letztens gelangte er zu einer Bauernfamilie bei München. Die Leute von hier mochten ihn und nahmen ihn während des ganzen Aufenthalts in die Familie auf. Diese hatte zwei Mädchen, die ihn an seine

184 eigenen Töchter erinnerten, von denen er absolut nichts mehr wusste, seit dem Augenblick, in dem er von Carstea und den bewaffneten Sowjets eskortiert wurde. Zwei Jahre waren seither vergangen. Otata erzählte den Mädchen täglich von zu Hause und seinen Töchtern. Auch uns später über die Mädchen aus München. Die Kleine hieß Marille. Otatas Heimkehr war eine wahre Odyssee. Meist zu Fuß. Er mied Bahnhöfe, die damals von Militärwachen und Polizei kontrolliert wurden, er hatte jedoch keinen Ausweis. Um nicht noch sein physisches Aussehen zu erwähnen, das ihn sofort desavouiert hätte. Von einer empfohlenen Adresse zur anderen, von einem guten Menschen zu anderen, so verlief die Irrfahrt mit Verstecken und etwas Essen. In Ungarn, nahe der rumänischen Grenze angekommen, verweilt er einige Tage bei einem Hirten. Es war Winter und es schneite ununterbrochen seit mehreren Stunden. Es war hoher Schnee. Der erste Versuch, die Grenze zu überschreiten, war gescheitert. Er hatte schlechte Sicht, keine Orientierung. Der zweite Versuch, auch in der Nacht, aber der Himmel war sternenübersät und außer ihnen sah man in der Ferne eine Vielzahl Lichter leuchten. Der Hirte stand neben ihm mit aus-

Emanuella-Luisa Schneider Kevelaer gestrecktem Arm und zeigte sie ihm: „Siehst du die Lichter von drüben? Dorthin musst du gelangen. Es ist Oradea. Und jetzt lauf und bleib nicht stehen, egal ob du Hundegebell oder Gewehrschuss hörst. Lauf und viel Glück!“ Und es gelang. Die Nacht und die Sterne, der Wille und die Hoffnung, die Sehnsucht und die Liebe zur Familie haben ihm geholfen und ihn nachhause gebracht. Epilog Von Jugendfreunden aus Bod eingeladen, kommt Otata 1976 nach Westdeutschland. So hat er sich eines Tages entschlossen, die letzte Bauernwirtschaft zu suchen, bei der er sich damals aufgehalten hatte, bevor er heimwärts zog: der Bauernhof bei München, wo er die Mädchen kennenlernte, die ihn so sehr an seine eigenen Mädchen erinnerten. Mehrere Gebäude erhoben sich jetzt an dieser Stelle der alten Wirtschaft. In ein Büro geführt, wo am Tisch eine Frau saß, fragte er sie: „Guten Tag! Wenn sie entschuldigen, wie könnte ich Marille finden?“ „Eben haben Sie sie gefunden, das bin ich!“ Sofort hat sie ihn wiedererkannt, sich an ihn erinnert, nach so vielen Jahren. „Deine Stimme ist die­gleiche geblieben, Onkel Däs!“, sagte sie.

So oder so wird meine Schwester nicht mehr aufwachen…1

I

m1Jahre 1945 war ich mit den Kindern in den Weihnachtsferien in Sanktandres. Mein Mann war im Krieg und ich war also zu dem Zeitpunkt dort. Ich war nicht auf der Liste. Ich wohnte damals in Moravita, einer Gemeinde nahe an der Grenze zu Jugoslawien. Ich war dort Lehrerin. Nach Sanktandres zu den Eltern kam ich nur in den Ferien. Also war ich nicht auf der Liste und man 1 Aufgezeichnet von Florin Mihai Răzvan und Cristina Deacon

Juliane Becker, geb. Weber (Deutschland)

hat mich auch nicht gesucht. Aber in solchen Situationen sind die Leute eifersüchtig und neidisch. Warum war ich nicht auf der Liste, nicht in der Schule, wohin man sie alle gebracht hatte, warum hat man nach mir nicht gesucht? Sie sagten, sie gehen nicht weg, bis nicht alle genommen werden. Meine ältere Schwester, Anna Kollmann, war beim rumänischen Pfarrer im Dorf versteckt. Die Pfarrersfrau wollte sie nicht weglassen. Sie hat aber die Dummheit gemacht, sich am Fenster aufzuhalten und hat gehört,

Juliane Becker, geb. Weber wie die Leute da vorbeigingen. Mein Vater war sehr reich. Die Leute, welche vorbei gingen, sagten: „Dem reichen Weber seine Töchter sind nicht dabei“. Meine jüngere Schwester hatte ein drei Monate altes Kind. Sie wurde nicht genommen. Ich war nicht auf der Liste. Meine ältere Schwester war beim rumänischen Pfarrer versteckt. Sie hat den Fehler gemacht, sich am Fenster aufzuhalten. Wenn sie dass nicht gemacht hätte, wäre sie nicht nach Russland deportiert worden. Die Leute sagten: „Wenn die Mütter sich nicht stellen, holen sie die Kinder“. Sie hatte vier Kinder, von denen das jüngste Mädchen drei Jahre alt war. Sie wollte nicht mehr versteckt bleiben. Die Pfarrersfrau hat sie angefleht. „Geh nicht, geh nicht“. Und meine Schwester, Kollmann Anna, hat gesagt: „Ich gehe, sonst holen sie meine Kinder“. Sie ist hingegangen und hat sich gestellt und musste mit in die Deportation. Am 2. November, an Allerseelen, sind wir auf den Friedhof gegangen. Dort ist eine Frau zu uns gekommen, die mit meiner Schwester im Lager war. Sie war schwanger, als sie weg musste. In der Deportation hat sie ihr Kind geboren und durfte dann nach Hause. Sie hat uns die Nachricht gebracht, dass meine Schwester die Erste war, die gestorben ist. Sie war 32 Jahre alt, als sie am 20. August 1945 gestorben ist. Wir hatten das noch nicht erfahren. Im Dorf hat man es schon gewusst, aber niemand hatte den Mut, es uns zu sagen. Als sie mich auf dem Friedhof traf, hat sie angefangen zu weinen und mir die traurige Nachricht zu sagen. Meine Schwester war sehr mutig, als sie weggingen und sagte: „Regine, sie werden es doch nicht zulassen, eine Mutter von ihren vier Kindern wegzunehmen“. So hoffnungsvoll war sie. Hier im Heim war eine Frau, welche mit meiner Schwester in einem Zimmer war. Sie hat mir gesagt, dass meine Schwester ein sehr guter und liebevoller Mensch war. Sie

185 hat im Monat Mai mit einem Chor am Abend Marien­lieder gesungen. Sie war auch bei den Kolleginnen sehr beliebt. Die Vorgesetzte, welche sich mit einem Russen eingelassen hatte, war eine sehr boshafte Frau. Russinnen und Russen waren besser als diese Frau! Auch mein 17-jähriger Neffe wurde deportiert. Er war Student. Er hat zu Weihnachten eine Andacht organisiert und eine Predigt gehalten und wir haben Weihnachtslieder gesungen. Er wurde in ein Straflager versetzt. Statt fünf Jahre ist er sieben Jahre dort in der Kohlengrube gewesen. Der Mann meiner Schwester ist ein Tag vor dem Fall Berlins gefallen. Ich bin mit vier Kindern geblieben. Niemand hat mir geholfen. Wir hatten nichts mehr. Man hat uns alles genommen. Unser Feld, die Tiere, die Kühe, alles, nur die Hühner sind geblieben. Wir waren reich, wir hatten sogar eine Mühle. Die Mühle hatte mein Vater zusammen mit den vier Brüdern gebaut. Er war der Buchhalter. Die Mühle wurde 1933 nach dem neuesten Schweizer Model gebaut. Es war eine Mühle mit zwei Stockwerken mit einer Wohnung für den Müller. Er war der Fachmann im Betrieb. Die Mühle hat sehr viel gekostet, so dass jeder der Beteiligten Feld verkaufen musste, um die Kosten zu tragen. Die Leute vom heutigen Sanktandres sind dumm, denn sie haben erlaubt, dass man die Mühle abgebaut hat und in einem 8 Kilometer entfernten Ort aufgebaut hat. Wenn man heute von Temeschburg kommend nach Sanktandres fährt, kann man auf einer Werbetafel lesen: „Moara Carani“. Die hatten keine Mühle. Von der Mühle ist kein Stein mehr übrig. Alles wurde gestohlen. Die Zigeuner machen sich Häuser aus den Steinen. Unsere Banater Landsleute sind sehr gläubig. Vielleicht hat der Glaube an Gott ihnen geholfen, dies alles durchzustehen. Aber auch der eiserne Wille. Sonst kann ich mir nicht erklären, wie sie das alles überlebt haben.

Juliane Becker, geb. Weber

186 Sie hatten schwere Krankheiten, die schon unter normalen Umständen zum Tode führen, und dann noch in der Verbannung. Ich kann nicht verstehen, wie sie alles durchgestanden haben. Die Großmutter vom König Michael, eine Engländerin, hat sich für uns interessiert. Die Leute hatten große Hoffnung, dass der König etwas macht für sie. Er hatte aber bei den Kommunisten nichts zu sagen. Unser größ-

tes Pech war, dass das Zentralkomitee hauptsächlich aus Juden bestand. Und diese haben sich gerächt, obzwar wir weder mit Hitler noch mit seiner Politik etwas hatten. Die UdSSR hat keine Deutschen von Rumänien verlangt. Ich hatte die Möglichkeit, eine Kopie des Antrags der UdSSR zu lesen. Sie haben Arbeitskräfte verlangt, aber nicht erwähnt welcher Nationalität. Ana Pauker hat das mit beschlossen.

Das Vertrauen in den rumänischen Staat wurde durch diese Repressionsmaßnahme erschüttert1

M

Walter Tonţa (Deutschland)

ein Geschichtsstudium in Klausenburg habe ich 1983 abgeschlossen. Wie Sie wissen, war das Problem der Deportation der Deutschen in die Sowjetunion während des Kommunismus ein Tabuthema. Sicherlich, innerhalb der Gemeinschaft wurde darüber diskutiert, aber offiziell wurde das Thema tabuisiert. Und so konnte ich mich als Historiker in dieser Zeit nicht damit beschäftigen. Das dramatische Ausmaß der Problematik ist mir erst nach meiner Aussiedlung nach Deutschland im Jahr 1991 bewusst geworden. Hier war viel darüber geschrieben worden, und bis heute ist die Russlanddeportation Gegenstand von Veröffentlichungen. Erst hier konnte ich mir die umfangreiche Literatur aneignen. 1995, anlässlich des 50. Jahrestages der Deportation der Südostdeutschen in die Sowjetunion, fand in München eine große Gedenkveranstaltung statt, zu der über 3000 Menschen aus allen Teilen Deutschlands angereist kamen und zu der später auch ein Dokumentationsband erschienen ist. Die „Banater Post“, das Presseorgan der Landsmannschaft, veröffentlichte im Laufe der Zeit etliche Beiträge zu diesem Thema, und auch in den von verschiedenen Heimatortsgemein1

1 Aufgezeichnet von Florin-Răzvan Mihai

schaften herausgegebenen Heimatblättern ist es präsent. Es handelt sich dabei vorwiegend um Erlebnisberichte von Betroffenen, aber erschienen sind auch quellengestützte Beiträge mit wissenschaftlichem Anspruch. Die Problematik der Deportation muss vor dem Hintergrund der Kollektivschuld betrachtet werden, die der rumäniendeutschen Gemeinschaft nach dem 23. August angehaftet worden war. Angehörige der Deutschen wurden allein aufgrund ihrer ethnischen Volkszugehörigkeit deportiert. Auch Sozialdemokraten und Kommunisten waren davon nicht verschont geblieben. Diejenigen, die in der Volksgruppen-Ära Verantwortung trugen, hatten sich in den Westen abgesetzt und entgingen so der Deportation. Betroffen waren also einfache, schuldlose Menschen. Sehr oft wurde darüber diskutiert, wer für die Deportationen verantwortlich war – die rumänische oder die sowjetische Seite – beziehungsweise in welchem Maße die rumänische Regierung in die Verschleppungsaktion involviert war. Aus den in letzter Zeit erschienenen Publikationen geht hervor, dass der Deportationserlass von sowjetischer Seite kam, während die rumänischen Behörden gezwungen waren, an dessen Durchführung mitzuwirken.

Walter Tonţa Die Regierung Rădescu hat zwar offiziell gegen die Deportation protestiert, ihr Protest blieb jedoch ohne Wirkung. Meines Erachtens ist es wichtig, dass in den Geschichtsbüchern dieses Kapitel der Geschichte Rumäniens wie auch der Geschichte der deutschen Minderheit in Rumänien dargestellt wird. Dabei, so glaube ich, ist es weniger von Belang, auf die Ursachen dieser Tragödie einzugehen, sondern auf die Tatsache, dass diese Deportationen stattgefunden haben, dass davon so viele Menschen betroffen waren, zum einen die Deportierten selbst, etwa 70.000 Deutsche aus Rumänien, und zum anderen deren Familien, die zuhause gebliebenen Angehörigen. Und es ist notwendig darauf hinzuweisen, dass die Russlanddeportation eine Zäsur in die Geschichte der Deutschen in Rumänien war – sowohl bei den Siebenbürger Sachsen als auch bei den Banater Schwaben. Das Vertrauen in den rumänischen Staat wurde durch diese Repres-

187 sionsmaßnahme erschüttert. Die Russlanddeportation war die erste umfassende Maßnahme mit repressivem Charakter, von der die deutsche Minderheit nach 1944 betroffen war. Es sollten weitere folgen, schließlich kam es 1951 zur Bărăgan-Deportation. Es hat danach eine Zeit gedauert, bis das Vertrauen in den rumänischen Staat einigermaßen wiederhergestellt war, aber ganz traute man der Sache nicht, zumal das kommunistische Regime all dieses Unheil über die Deutschen gebracht hatte. Von allen Minderheiten des Landes war die deutsche Minderheit nach 1944 am stärksten von Repressions- und Diskriminierungsmaßnahmen betroffen. Die Verschleppung in die Sowjetunion wie auch die Bărăgan-Deportation waren stets im kollektiven Gedächtnis der Gemeinschaft verankert und haben unbewusst auch den Aussiedlungsprozess nach Deutschland beeinflusst.

Die ehemaligen Deportierten nannten meine Oma „Engel von Schimand”…1

M

ein1Großvater war Schuster in Sântana (Sanktanna). Unsere Familie wohnte hier seit 1752. Sie sind die zweite oder dritte Einwanderer-Generation. Ich weiß, dass die ersten 1736 gekommen sind. Aber ich und meine Familie sind 1978 ausgewandert. Ich war damals neuneinhalb und war in der dritten Klasse. Über die Verschleppten in meiner Familie möchte ich von meiner Großmutter erzählen - eine Deutsche aus Şimand (Schimand). Sie starb 1989 in Schimand, wo sie auch begraben ist. Sie hieß Theresia Fitzer, geborene Seiler, am 1 April 1914. Sie hat ein paar Sachen erzählt… ich erinnere mich noch da1 Aufgezeichnet von Lavinia Betea

Karin Reinert (Deutschland)

ran. Allzu viel hat sie aber nicht erzählt. Es haben andere berichtet. Vor allem, da meine Oma sehr viel getan hat für die verschleppten Frauen, obwohl die Gefahr so groß war, dass sie auch hätte erschossen werden können. Die ehemaligen Deportierten nannten meine Oma „Engel von Schimand”. Es wurde mir erzählt, dass sie bei der Eisenbahn gearbeitet hat. Sie hat Gras gemäht und Waggons be- und entladen. Die Russen kamen mit dem Zugwagen und fuhren direkt in die Frauen, die auf den Gleisen arbeiteten. Damals starben zehn Frauen. Zehn Deportierte. Aber die Soldaten, welche die Frauen bewachten, erhoben sofort die Maschinenpistolen und erschossen den Lokomotivführer. Ohne Prozess, ohne alles, auf der Stelle,

188 einfach so. „Die Frauen sind hier um zu arbeiten, nicht damit wir sie umbringen”, haben sie gesagt. Ich weiß auch von ihr, dass sie die ganze Zeit hungerten. Die Nahrung, die sie bekamen, hatte nicht die entsprechenden Kalorienwerte. Schlimmer noch war es mit dem Wasser. Sie hatten kein sauberes Trinkwasser, es gab keine Brunnen. Wenn es regnete, machten sie Gruben und legten den Boden mit Holz aus, so dass der Schlamm sich absetzte und sie etwas Wasser aufsammeln konnten. Im Zimmer machten sie Feuer und kochten das Wasser ab, damit sie nicht daran erkrankten. Ich weiß noch eine Begebenheit im Zusammenhang mit meiner Großmutter. Sie bekamen einmal die Woche je eine Scheibe Salami. Das war sonntags. Da sagte meine Oma zu den anderen Frauen: mit einer Scheibe Salami mehr oder weniger bleiben wir trotzdem hungrig. Es macht uns nur mehr Appetit - mehr schlecht als gut für uns. Wenn ihr wollt, gebt ihr die Salami ab und am Abend gehen wir in den Weingarten, oder Obstgarten. Ich kann nicht mehr allzu viele Wörter auf Rumänisch. Eine stand Wache beim Hund und gab ihm von Zeit zu Zeit von der Salami. Und die anderen aßen derweil Trauben und Obst, bis sie satt waren. Sie nahmen von dort bestimmt drei bis vier Kilo. Das war mehr gegen ihren Hunger als die Salami. Darüber erzählte mir meine Oma. Aber nicht so, als wollte sie sich selbst loben. Sie sagte mir es so, da mit ihr auch eine ihrer jüngeren Cousinen war, 16 Jahre alt. Sie hatten Hunger, Hunger… Und die Cousine und andere aßen auch Katzen. Meine Großmutter fürchtete, sie würden davon erkranken und sterben, ihre Cousine und die anderen Frauen, die Katzen verzehrten. Und dabei sagte sie ihren Nächsten, sie sollten mit ihr in den Weingarten gehen, mit der Salami. Ein großes Problem für die Nachkommen war der Tod eines Angehörigen in der Verbannung. Über die in der Deportation Ver-

Karin Reinert storbenen spricht man heute noch. Aus Schimand starben 22 Menschen in der UdSSR. Diejenigen, die nicht deportiert wurden, waren noch im Krieg. Meine Urgroßmutter blieb mit zwei kleinen Mädchen zurück - eine sechs, die andere sieben Jahre alt. Ihre Mutter war in der Verbannung und der Vater im Krieg. Die Kinder mussten nicht hungern - die Urgroßmutter hatte eine Kuh und andere Haustiere. Aber sie blieben mit der Angst für das ganze Leben, denn sie hätten anders gelebt, wenn dieser Krieg und diese Deportation nicht gewesen wären. Es war ein Trauma für alle. Eine Cousine hat der Oma erzählt, was sie in ChişineuCriş gesehen hat, als die Menschen deportiert wurden. Die Eltern zogen den Handwagen mit ihrem Gepäck für die Deportation zum Bahnhof. Ihre Kinder kamen gerade aus der Schule und sind einander begegnet. Die Soldaten erlaubten den Eltern nicht, sich ihren Kindern zu nähern und die Kinder haben sie mit der Peitsche verjagt. Welcher Schmerz, welches Geschrei und was für ein Weinen, das damals war!... Meine Oma wurde nach Krivoi Rog, in der Ukraine deportiert. Dort arbeitete sie, wie ich schon sagte, bei der Eisenbahn und auf Baustellen beim Wohnungsbau. Die Frauen mussten Beton mischen. Auch die Schwägerin der Großmutter war dabei. Eine schwache und kränkliche Frau, sie konnte auch keine Kinder bekommen. Und auf einmal rutschte ihr der schwere Eimer aus der Hand. Dann kam der Aufseher und gab ihr eine Ohrfeige rechts und eine links. Er hätte sie wohl weiter geohrfeigt, wenn nicht meine Großmutter ihm in den Rücken gesprungen wäre. Der Aufseher war Russe, aber jung - etwa 16 bis 17 Jahre alt. Und er hat die Schläge meiner Oma erduldet. Sie erzählte: „Ich konnte nicht mehr, als ich gesehen habe, sie können uns umbringen wie Flöhe… Ich sagte, ich habe sowieso nichts mehr zu verlieren. Wie sie uns töten, ist auch egal”. Und sie sagte zu

Karin Reinert dem Aufseher: „Wir arbeiten soviel wir können. Es ist Männerarbeit und wir haben nicht einmal mehr die Kraft einer Frau. Diese Frau könnte deine Mutter sein. Vielleicht sogar deine Großmutter. Wer gibt dir das Recht, sie umzubringen?”. Andere haben sie vom Aufseher weggezogen und warnten sie, er würde sie erschießen. Andere Deportierte haben mir erzählt, dass sie sich nicht mehr erinnern, ob dieser Aufseher danach noch mal Deportierte geohrfeigt hat, aber wenn meine Oma im Hof war, ließ er die Frauen in Ruhe. Als die Russen 1944 hier ankamen, kämpf­ ten sie beim Friedhof von Sanktanna gegen unsere Truppen. Danach sind die Russen in die Häuser, sie sagten „Davai cias”2 erzählt man sich. Das war es, was sie wollten. Sie legten sich die Uhr falsch rum an den Arm und konnten sie nicht einmal aufziehen. Die Leute erzählten mir auch von einer anderen deportierten Cousine meiner Großmutter. Sie hatte Bauchtyphus - es gibt mehrere Arten von Typhus. Und die Wunde war offen. Trotzdem musste sie arbeiten. Etwa zwei Tage vor ihrem Tod wurde sie nicht mehr zur Arbeit geschickt. Sie blieb in der Baracke. Doch es kam ein Aufseher und fragte sie, warum sie nicht arbeite. Sie sagte, dass sie keine Kraft mehr hat. Dann hat sie der Aufseher in die Leichenhalle gebracht und hat sie dort gelassen. „Wenn du eh sterben musst, dann geh und stirb am Ort des Todes”, sagte er zu ihr. Die Frau machte Lärm und schrie: „Mir ist kalt, noch bin ich nicht tot”. Und als die Frauen von der Arbeit kamen, hörten sie es. Sie konnten nicht öffnen und riefen den Aufseher. Er sagte, er hätte sie „bestraft”. Und sie lebte noch einen Tag und zwei Nächte. Sie wollte aber nicht einmal mehr im Bett alleine sein. Die Frauen nahmen sie zwischen sich beim Schlafen, um sie mit ihrem Körper zu wärmen und zu beruhigen. Den Aufseher straften sie durch Nichtbeachtung. 2 Gib die Uhr her, auf Russisch

189 Meine Großmutter blieb nicht bis zum Ende ihrer Deportation dort. Sie erkrankte schwer an einer Thrombose. Und sie hatte einen Bauch, wie Unterernährte in Afrika. Ihre Haut wurde schwarz, als ob sie eine Farbige wäre. Irgendwann kam eine Gesundheitskontrolle. Sie prüften die Temperatur der kranken Frauen. Meine Oma legte das Thermometer auf den Ofen, ohne dass es jemand merkte. Als sie es mit 42 °C zurückgab, wurde sie sofort aus der Baracke geholt. Wie es aussah, fürchtete man, sie hätte eine schlimme, ansteckende Krankheit. Und sie kam mit einem Krankentransport nach Leinefelde, eine Stadt in Thüringen, damals in der Ostzone. Sie wurde einer Bauernfamilie zum Arbeiten zugeteilt. Ein Kind hat ihr die Tür geöffnet und, als Oma ihm sagte, dass sie geschickt wurde, um den Eltern bei der Arbeit im Garten zu helfen, lief der Kleine zu seinen Eltern und kündigte an „Hier ist eine schwangere Schwarze!”. Das Kind ließ sie nicht ein. Ich weiß nicht, wie es ihr dort erging. Soweit ich verstanden habe, eine Art Pflichtaufenthalt, denn von Zeit zu Zeit musste sie bei der Polizei erscheinen. Der Bauer sagte an dem Tag, als sie zur Polizei musste, sie solle danach nicht mehr aufs Feld kommen und lieber zu Hause das Essen für alle zubereiten. Meine Oma konnte so vieles. Wir waren hier keine reichen Leute, aber wir waren geschickt. Da wollte Oma was kochen, wonach sie selbst Appetit hatte und was sie schon lange nicht mehr gegessen hatte. Der Bauer hatte viele Hühner auf dem Hof, die sie aber zum Eierlegen hielten. Oma aber wünschte sich, was bei uns „becsinalt leves” hieß – Hühnerfleisch-Suppe mit Nockerln aus Mehl und Ei, Kartoffeln, Möhren, Pastinaken und Sellerie. Eine Art Menü, das sowohl ersten als auch zweiten Gang der Mahlzeit darstellte. Nachdem du diese Suppe gegessen hast, bist du satt, da brauchst du nichts weiter. Nun wollte Oma dem Bauern

190 aber nicht sagen, dass sie eine Legehenne geschlachtet hatte, um „becsinalt leves” zu kochen. Deshalb hat sie erzählt, die Henne sei ins Wasser gefallen. Sie war so gut wie ertrunken, als sie sie geschlachtet hat. Sie hatten fertig gegessen, da sagte der Bauer zum Schluss: „Wenn es nach mir geht, würde ich mich freuen, wenn jeden Tag ein Huhn ertrinkt, damit wir so ein Mahl haben”. Am Abend sagte die Bäuerin zu meiner Großmutter: „Resi, ich würde dich bitten, wenn es dir nichts ausmacht, so gehe ich täglich ins Feld zur Arbeit und du bleibst zu Hause und kümmerst dich ums Essen”. „Das macht mir überhaupt nichts aus“, freute sich Oma, „das mache ich sehr gerne”. So wurde es gemacht und alle waren zufrieden. So zufrieden, dass sie noch lange Jahre in Verbindung geblieben sind. Als aber Oma gestorben war, führte meine Tante den Briefkontakt zu der Familie weiter. Mehr als 50 Jahre hielt diese Beziehung, die so begann, wie ich berichtet habe. 1949 kam Großmutter nach Hause. Ein Jahr später hat sie ihr drittes Kind geboren - meine Mutter. Der Großvater kam 1945 heim, nachdem Oma schon nach Russland verschleppt wurde. Er war an der Front in den Niederlanden. Als die Amerikaner kamen, haben sie die deutschen Soldaten in Lagern interniert. Aber er konnte mit anderen fliehen. Es dauerte drei bis vier Monate, bis er nach Hause kam. Er fand nur seine Schwiegermutter mit den Mädchen vor. Die Ehefrau - in Russland… Die einen wussten nichts von den anderen, bis 1949, als auch meine Großmutter heimkam. Ein Bruder von Großvater war in Budapest gestorben. Großmutters Schwägerin kam auch aus der Verbannung zurück.

Karin Reinert Aber sie war nicht mehr gesund. Sie starb schon 1955. Am schwersten hatte es unsere Urgroßmutter. Sie war eine kleine Frau, von nur 1,50m. Sie verlor ihren Mann schon im Ersten Weltkrieg. Damals wurde mein Urgroßvater bei der Mobilmachung eingezogen. Als die rumänischen Soldaten kamen, wusste niemand mehr, wo die Grenze verläuft. Die Urgroßmutter hatte erfahren, dass ihr Mann in einem ungarischen Dorf, Elek, verwundet wurde. Sie spannte die Pferde vor den Wagen - sie hatten schöne Pferde, Hengste - und hat ihn nach Hause gebracht. Damit er nicht unter Fremden sterben müsse. Es gab auch andere Fälle in der Familie. Die Tante meines Mannes war auch verschleppt. Sie war dünn, so dünn, dass niemand merkte, dass sie schwanger war. Sie wurde im Januar deportiert und im September gebar sie das Kind. Sie erkrankte dort an Tuberkulose, so schwach war sie. Nachdem sie aus der Deportation aus Russland zurückgekommen waren, wurden sie auch noch in die BaraganSteppe zwangsumgesiedelt. Warum? Weil sie aus Iecea Mare3 (Groß-Jetscha) war und man sie als reich einschätzte. Sie waren keine Farmer, aber Bauern mit vielen Hektar Ackerland. Sie starb nicht in der UdSSR, aber dann im Baragan. 1945 kam sie aus Russland, hat ihr zweites Kind geboren, 1947 hat sie ein weiteres Kind zu Hause entbunden und 1951 wurde sie in den Baragan verschleppt. Als sie starb, war sie noch keine 30 Jahre alt. Mit Nachnamen hieß sie Zacharias. Ja, so war ihr Familienname. Ich glaube, sie hatte einen jüdischen Urgroßvater, nach dem biblischen Zacharias. 3 Gemeinde im Kreis Timiş (Temesch)

Erika Renz

191

Als meine Großmutter von der Deportation zurückkam, ging es ihr noch schlechter 1

D

ie1Großmutter wurde deportiert, die Mutter meines Vaters. Sie hatte zwei kleine Kinder, eins mit 7 Jahren, eins mit 4. Meine Tante war 4 Jahre alt, mein Vater 7. Sie deportierten sie, weil aus jeder Familie eine Person deportiert wurde, doch mein Großvater war Kriegsinvalide. Er hatte in der rumänischen Armee gekämpft. Ihn nahmen sie nicht auch noch. Unsere Großmutter erzählte uns ein bisschen, als wir Kinder waren. Aber nicht sehr viel. Denn damals wurde darüber überhaupt nicht diskutiert. Nicht einmal unter Nachbarn. Vor allem, weil wir neugierig waren, wie es bei den Russen war. Wir lasen darüber… Aber sie erzählte immerhin ein bisschen. Sie sagte, dass es schrecklich war, dass sie nichts zu essen hatten. Dass es kalt war und dass sehr viele starben. Bis zuletzt hatte sie Probleme mit den Kniegelenken. Sie sagte, dass sie Glück hatte, weil ihre Mutter Hebamme war, hier, in Sanktanna. Und weil ihre Mutter Hebamme war, hatte sie schon als Kind gelernt, Massagen zu machen. So ging sie auch zu den Russen nach Hause, um Massagen zu machen. Dafür bekam sie etwas zu essen. So gelang es ihr zu überleben. Sie wurde nach Krivoj Rog deportiert. Da ihre Kinder noch sehr klein waren, nahm ihr Mann in der Zwischenzeit eine Frau ins Haus. Mit der er bis zuletzt auch zusammen lebte. Mit einem Mädchen von 4 Jahren und einem Kriegsinvaliden hatte sie keine Möglichkeit sich durchzuschlagen, sie hatte keine Chance. Und auch diese Frau konnte er nicht dort halten, so dass er, von heute auf morgen, ohne sich ihr zu nähern…. Als meine Großmutter von der Deportation zurückkam, ging es ihr noch schlechter. 1 Aufgezeichnet von Lavinia Betea

Erika Renz (Deutschland) Sie erzählte nicht sehr viel davon. Aber einiges hatte ich über meinen Vater verstanden. Als sie zurückkam, wollten die Kinder sie nicht mehr. Und zu Hause war auch diese andere Frau. Sie wusste nicht einmal, wo sie wohnen sollte. Mit dem Mann hatte sie nichts mehr. Es war eine Katastrophe. Sie wollte beide Kinder behalten, doch diese wollten sie nicht mehr. Sie nahm sie, aber sie hatte für sie nichts zu essen. Sie hatte kein Geld. Bis zuletzt verließ der Junge sie für ein Federmäppchen und lief zurück zum Vater. Wie bitter! Sie hatte nicht einmal Essen für sie. Am Ende blieb das Mädchen bei ihr. Ich weiß, dass sie nichts erzählte. Es war eine Katastrophe für eine Frau. Sie können sich vorstellen, eine kaputte Familie und Kinder, die dich nicht wollen! Sie wollten die Frau, die nicht ihre Mutter war, aber die auf sie aufgepasst hatte, so lange die Mutter deportiert war. Dann nahm sie sich einen zweiten Mann. Er hieß Crischan. Er kam aus dem Bihor, war mit den Kolonisten hergekommen. Er hatte eine gewisse Stellung bei der LPG, er war Buchhalter oder ähnlich. Er konnte ihr ein halbwegs normales Leben ermöglichen. Die Frau von Crischan war gestorben und er war mit zwei Kindern zurückgeblieben. Meine Großmutter war eine sehr schöne Frau. Und mein Vater blieb in der Familie des Vaters mit jener anderen Frau. Er wollte von seiner Mutter nichts mehr wissen. Aber im Alter von 14 Jahren schickten sie ihn nach Otelul Rosu, damit er Stahlarbeiter wird. Und dass er von zu Hause weg ist und sie ihn nicht mehr unterhalten müssen. Aber das Kind wollte nicht so weit weg von zu Hause. Dann ging er von zu Hause weg. Zuerst zu seiner Tante, die auch deportiert worden war und jetzt in Temeschburg lebte. Ich weiß von meinem Vater, dass Crischan ihn dann hier-

Erika Renz

192 her geholt und ihm eine Arbeitsstelle verschafft hat. Er wurde Traktorist und so kam das Kind zurück zur Mutter. „Ja, so ist mein Junge“, sagte meine Großmutter, enttäuscht vom Vater, so mit einer Art Bekümmertheit, als er auch Vater war. Also er war ihr nicht so nahe wie einer Mutter. Es war diese Distanz zwischen ihnen geblieben, die aus der Zeit stammte, als er ohne sie aufwuchs. Das Mädchen blieb bei ihr und heiratete mit 19 Jahren. Jener Junge war mein Vater. Das ist die Geschichte über die Deportation – dass es kalt war und Hungersnot herrschte, dass sie sich mit den Massagen durchschlug… Nicht einmal darüber, was geschah, als sie nach Hause kam, erzählte sie mir. Aber ich erinnere mich, dass sie mit mir in einem Kurbad war, in Felix. Sie war da mit einer anderen Frau. Es blieb mir im Gedächtnis, dass ihr Bett in der Mitte stand, ich war 5 Jahre alt, ich auf der linken Seite, die andere Frau auf der rechten… Und sie erzählte dieser Frau, wie sie nach Hause gekommen war. Ich verstand nicht einmal, dass sie von sich selbst erzählte. Aber so wie ein Kind verstand ich, dass sie von etwas Schrecklichem, Beschämenden er-

zählte. Ich fragte mich – warum erzählt sie das? Das ist mir im Gedächtnis geblieben. An so viel erinnere ich mich. Es gab noch viele seltsame Geschehnisse. Mit der Tante meines Vaters. DerSchwester meiner Großmutter. Auch sie war im Lager. Aber nicht in Krivoj Rog, sondern in Dnepropetrovsk. Sie war sehr dick, als ich sie kennenlernte. Sie sagte: „Ich bin so glücklich, dass wir was zu essen haben. Bei den Russen war es schrecklich – wir hatten nichts zu essen. Es ist schrecklich, wie sehr wir Hun­ger litten und wie viele deswegen starben. Und jetzt soll ich nicht essen? Mir ist es egal, wie dick ich werde. Dort war eine Frau, die sehr krank und sehr schwach war. Sie bat mich, ihr von meiner Portion etwas abzugeben. Niemand wollte von seiner, eigenen kleinen Essensportion etwas abgeben.“ „Gib mir was zu essen. Ich werde auf alle Fälle hier sterben. Aber du, wenn du zurückkehrst, kannst du meinen Mann heiraten.“ „Lass mich in Ruhe“, sagte ich. „Ich brauche deinen Mann nicht!“ Und als ich aus Russland zurückkehrte, nahm ich genau den Mann jener Frau…

Mansfeld Rüdiger erfahren. Nur dass sie durch das Rote Kreuz zwischen 1959-1960 zurück durften. Die Deutschen aus dem serbischen Banat sind bis 1959 in Sibirien geblieben.... Die Zeitungen haben geschrieben, dass ein Deutscher aus Ungarn in Sibirien geblieben ist und dort verstorben sei. Seine Familie in Ungarn hat ihn vergessen und die in Russland auch. Ich weiß nicht genau, wann unsere zurückgekommen sind. Aber sie sind zurückgekommen, als keiner mehr daran glaubte, die Deportation überlebt zu haben. Aus meiner Familie war nur die Tante deportiert. Der andere Teil der Familie war schon in Österreich. Sie gingen zuerst nach Wien. Aber als die Russen kamen, sind sie in den Westen Österreichs geflüchtet. Als die Familie flüchtete, haben sie meine Mutter in einem Kinderheim in Wien zurück gelassen. Das Mädchen war zwei-drei Jahre alt. Zwei Jahre war sie dort geblieben. Die Schwester meiner Großmutter ist nach Wien gegangen, sie zu suchen. Die eigene

D

ie1Schwester meines Großvaters war verschleppt worden. Sie war aus Apatin, aus dem serbischen Banat. Eine kleine Stadt am Ufer der Donau. Direkt neben der Donau. Zum Ende des Krieges sind viele Deutsche geflüchtet. Sie sind nach Österreich und Deutschland geflüchtet. Die Serben haben sie vertrieben. Es sind kaum mehr Deutsche da geblieben, obzwar die Schwaben sehr viele waren. Sie haben ein berühmtes Bier hier gebraut. 1 Aufgezeichnet von Lavinia Betea

Nach dem Krieg hat man alle Deutschen, die nicht geflüchtet waren, deportiert. Alle diejenigen, welche für die Arbeit geeignet waren. Nur meine Urgroßmutter und eine Tante, die zu alt waren, sind geblieben. Die Tante, welche im Lager war, hat man nach Sibirien gebracht. Die Deutschen aus Jugoslawien hat man nach Sibirien gebracht. In der Familie wird über das, was dort war, nicht gesprochen. Ich habe nur einige Elemente aus den Erzählungen. Auch auf Fragen antworten sie nicht. Nur von dem, was sie sich gegenseitig erzählen, habe ich etwas

Mutter ging nicht, aber die Tante ist sie suchen gegangen. Es kann sein, dass am Anfang auch die Deutschen aus Jugoslawien in Krivoi Rog, Dnjepropetrowsk zusammen mit den Deutschen aus Rumänien waren. Und sie erst durch den Streit zwischen Stalin und Tito bestraft und nach Sibirien gebracht wurden. Wo sie so lange bleiben mussten, bis Hrusciov und Tito sich versöhnt haben. Man sagt, dass die Tante sehr krank von dort zurück kam und über das Geschehene nicht reden will. Sie lebt noch und ist 82 Jahre alt. Sie wohnt in Salzburg. Sie hat nichts erzählt. Von ihr weiß ich nichts. Nur von ihrem Mann und ihrer Tante habe ich etwas erfahren. Als man sie deportierte, war sie 15 Jahre alt. Von Russland kam sie nach Österreich. Ihr Großvater war Architekt, er hatte in Wien studiert. Sie wusste, dass ihre Familie in Wien war. Sie kam durch das Rote Kreuz. So viel ist aus der Geschichte meiner Familie bewahrt und bei mir angekommen.

Das Gedächtnis der Interviewer

Die Deutschen aus dem serbischen Banat waren bis 1959 in Sibirien1

Mansfeld Rüdiger (Deutschland)

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Lebendes Beispiel

M

eine Begegnung mit Frau Becker Elena fand am 14. März 2012 in Temeschburg im Seniorenheim „Müller-Guttenbrunn“ statt bei der Zusammenkunft der deutschstäm­ migen Deportierten. Während unseres gesamten Gesprächs hatte Frau Elena Tränen in den Augen, was darauf zurückzuführen ist, dass die Erinnerung an jene Zeiten lebhaft und schmerzhaft in ihrer Seele eingebrannt ist. Die Deportation und die Ereignisse im Laufe der nächsten 5 Jahre, die sie dort verbracht hatte, riefen ein Trauma bei ihr hervor, aber die Geschehnisse, die im

Paula Vesa (Rumänien)

Laufe des Lebens sich noch ereigneten, und zwar der Tod des Sohnes im Alter von 18 Jahren, gefolgt vom Tod des Mannes, waren die stärksten Traumata. Für mich war die Begegnung mit diesen Menschen, aber vor allem mit Frau Elena, eine konstruktive Erfahrung und eine Lektion fürs Leben. Trotz der Probleme und der schweren Schicksalsschläge, durch die sie gegangen ist, hatte sie jedes Mal die Kraft, wieder aufzustehen und weiterzugehen. Ich finde, dass diese Menschen ein lebendiges Beispiel für die Jugendlichen von heute sind.

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Das Gedächtnis der Interviewer

Das Gedächtnis der Dokumente

Erinnerungen, Gefühle und Resignation

Das Gedächtnis der Dokumente Leitfaden des Interviews - Anlage 1

Andrada Bejan (Rumänien)

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hne Übertreibung kann ich sagen, dass der Gedenktag, an dem ich an dem Treffen der deutschstämmigen Deportierten teilgenommen habe, der aufwühlendste in meinem Leben war. Die Mischung aus Melancholie, Schmerz, aber auch die Kraft berührte uns sofort, als wir den Saal betraten, als wir Menschen von 85-90 Jahren sahen, von denen einige sich nicht ohne Hilfe fortbewegen konnten, andere krank, aber alle dort versammelt, zum Gedenken an jene, denen aufgrund der Deportation Leid zugefügt worden war. Diese Menschen waren uns gegenüber sehr gastfreundlich, sie waren offen und einige waren sogar damit einverstanden, mit uns zu sprechen. Die Sprache während dieser Veranstaltung war Deutsch und, obwohl wir wörtlich nicht verstanden, was gesagt wurde, konnten wir nicht umhin, den Schmerz in den Augen der Menschen zu sehen, aber auch die Resignation, als ob dies alles sich in einem anderen Leben abgespielt hätte. Am Ende willigte eine gutmütige Dame ein, dass wir ihr einige Fragen stellten. Wir hatten

gesehen, dass sie noch nicht so alt schien wie die Mehrheit der anderen Anwesenden, deshalb fragten wir sie, wie alt sie zum Zeitpunkt der Deportation war. Sie antwortete mir, dass sie nicht deportiert worden war, sondern dass sie dort geboren wurde, in der UdSSR, ihre Mutter war aus Rumänien deportiert worden und ihr Vater aus Ungarn. Die Dame beantwortete meine Fragen sehr ehrlich, aber, was mich am meisten beeindruckte, war ihr Satz: „Wenn die Deportation nicht stattgefunden hätte, würde es mich nicht geben.“ Die Dankbarkeit für ein Ereignis, das sich in die Herzen von vielen als extrem schmerzhaft eingeprägt hat, für diese Dame bedeutete es den Beginn des Lebens, danach das Fehlen einer Familie, als ihr Vater entschied, nach Ungarn zurückzukehren. Nach diesen paar Stunden, die wir in dieser aufwühlenden Stimmung verbracht hatten, stellten wir fest, dass manchmal niemand oder zu viele Seiten Schuld daran haben, was letztendlich nicht mehr zählt, für einige Tragödien, die gesamte Generationen prägen.

Menschen, die die Geschichte weitererzählen

1. Bitte, erzählen Sie uns über den Moment und die Art und Weise, wie Sie den Beschluss zu Ihrer Deportation in die UdSSR zur Kenntnis genommen haben. 2. Wen haben Sie in jenem Moment für verantwortlich (schuldig) an Ihrem Schicksal angesehen? 3. Aus Ihrem Verwandten- und Bekann­­ten­ kreis und mit welchen Reaktionen wurden Sie mit der gleichen Situation konfrontiert? 4. Was für Vorbereitungen trafen Sie im Hin­ blick auf die Abfahrt? 5. Beschreibung der Reise 6. Ankunft am Zielort 7. Anpassung an die Umgebung 8. Opfer, Wächter und Einheimische 9. Erzählung eines besonderen Ereignisses (Situation) während der Deportation 10. Möglichkeiten, sich über die Realität und die Politik der UdSSR zu informieren sowie über die Auswirkung dieser auf Ihr Leben 11. Der Nachhauseweg 12. Direkte und indirekte Auswirkungen der Deportation im Laufe Ihres Lebens 13. Wie würden Sie die Erfahrung während der Deportation in einem einzigen Satz zusammenfassen? 14. Wem geben Sie heute die Schuld an Ihr­­em Leiden?

Anamaria Merce (Rumänien)

D

iese Menschen haben tiefe Wunden in der Seele. Es gibt nur noch wenige, die Zeit rafft alle dahin, der Reihe nach. Aber es wird immer Menschen geben, die die Geschichte weitererzählen…. Es sind Menschen mit überwältigenden Traumata, die man schon in der Zeit des Erwachsenwerdens zugefügt hat

und die das ganze Leben andauern, die dich dazu bringen, die Welt mit anderen Augen zu sehen und dich zu Tränen rühren bei der Erinnerung an sie, die kaum in Worten ausgedrückt werden können. Ohne dass man diesen Geschichten noch allzu viel hinzufügen könnte, aber dies musste auch mal getan werden.

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15. Wie reagieren die Menschen, die Familie, bei der Erinnerung und Ihrer Meinung über die Deportation? 16. Wie würden Sie wünschen, dass die Ur­sachen Ihrer Deportation in den Geschichtsbüchern dargestellt werden? 17. Welche Lehre sollten Kinder und Jugendliche in einer Lektion über die Deportation ziehen? 18. Wie würden Sie jetzt auf die Frage antworten: Wem hat die Deportation der Deutschstämmigen aus den im Zweiten Weltkrieg besiegten Ländern genützt? 19. In welchem Maße sind Sie heute mit der Aussage einverstanden, dass jeder Mensch sein Schicksal verdient? 20. Welches Wort würden Sie wählen, um den Satz zu vervollständigen: „Das Schick­sal des Menschen liegt in der Hand…der Mächtigen, Gottes, der Ge­­schich­te, in wessen Macht?“ 21. Name 22. Wohnort 23. Dauer und Orte der Deportation 24. Geburtsdatum und Geburtsort 25. Berufliches und soziales Umfeld 26. Politische Tätigkeit (vor und nach 1944 sowie jetzt) 27. Religion, praktiziert oder nicht

Memorandum - Anlage 2

I

n der Entwicklung Europas zeichnet sich schon jetzt die entscheidende Rolle ab, die die UdSSR bei der Ausrichtung unseres Kontinents haben wird. Die Ereignisse rechtfertigen die Haltung eines wichtigen Teils unserer Nation, der schon von Anfang an den

Hitlerismus bekämpft hat. Adolf Hitler hat sich als Zerstörer des deutschen Volkes erwiesen, belastet auch mit der Verantwortung für unzählbares Leid, das er über die gesamte Menschheit gebracht hat. Es ist der Moment gekommen, dass auch wir

Das Gedächtnis der Dokumente

196 auf objektive Art und Weise, ohne Klagen und Schuldzuweisungen, die Situation unse­res Volkes untersuchen, aus der folgende Schlussfolgerungen gezogen werden können: 1. Die Sachsen und Schwaben in Rumänien möchten schnellstmöglich Kontakt zu ihren Blutsverwandten aufnehmen, die zu Arbeitszwecken in die UdSSR geschickt wurden. Sie sind sich bewusst, dass eine regel­mä­ßige Korrespondenz, der persönli­ che Kon­takt mit den Weggebrachten und eine eilige Rückkehr nach den für sie vorgesehenen Arbeiten nur möglich sein werden, wenn sie vertrauensvoll an die zuständigen sowjetischen Kreise gerichtet werden. 2. Angetrieben von Gefühlen, die, trotz dem selbstverständlichen Glauben an ihr Land, vergleichbar mit dem Erwecken zur Realität der deutschen Gefangenen, die die Bewegung „Freies Deutschland“ in der UdSSR kreiert haben, hatten die Sachsen und Schwaben den Wunsch, eine ähnliche Aktion zu starten, die selbstverständlich nur die Interessen Rumäniens und ihrer sächsischen und schwäbischen Blutsverwandten im Blick hätten. 3. Die vorgeschlagene Aktion würde mit einer intensiven und systematischen Propaganda in der Presse und im Radio gegen den Hilterismus beginnen und für die Idee des Friedens zwischen den Völkern, die

durch die UdSSR mit so viel Ausdauer gefördert wurde. 4. Sie würde sich stark machen, um durch alle sächsischen und schwäbischen wirtschaftlichen Faktoren und deren Produkte, der Roten Armee und der rumänischen Armee zur Verfügung gestellt, der Sache des Friedens zu dienen. 5. Sie würde in der Innenpolitik freundschaftliche Beziehungen zur F.N.D. suchen. Wir sind sicher, dass wir für dieses Programm die Zustimmung und die Unterstützung unseres gesamten Volkes bekommen können. Die Leiter der Aktion wären bereit, alle politischen, wirtschaftlichen und per­sön­ li­chen Garantien zu geben für die loyale Einstellung unseres Volkes. Das beschriebene Projekt hätte Erfolgsaussichten, aber nur wenn die Durchführung unverzüglich realisiert würde. Wir möchten festhalten, dass bereits am 14. Januar des laufenden Jahres der russischen Vertretung in Bukarest ähnliche Vorschläge gemacht wurden, mit dem Unterschied, dass sie damals im Hinblick auf die Verwendung unserer Landsleute zur Arbeit im Inneren des Landes gemacht worden waren. Bukarest, am 19. Februar 1945 (Zentrales Geschichtliches Nationalarchiv, FondC.C.derR.K.P.–AbteilungOrganisation, Akte 7 / 1945)

Denkschrift - Anlage 3

über die politische, juristische und wirtschaftlich-soziale Situation der deutschen Minderheit aus Rumänien (Sachsen und Schwaben) Geschichte der deutschen Minderheit in Rumänien ie deutsche Minderheit in Rumänien be­steht aus den Sachsen in Transsilva­ nien und aus den Schwaben im Banat. Die Sachsen in Transsilvanien sind schon seit nunmehr 8 Jahrhunderten in dieser Region, in der sie mit den anderen Nationen in den

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bes­ten Beziehungen zusammen leben. Die unga­rischen Könige holten zwischen 1141 und 1161 deutsche Kolonisten vom mittleren Rhein und dem Niederrhein nach Transsilvanien und gaben ihnen unbewohnte und unbebaute Grundstücke als freies, eigenes Land. Die neuen Kolonisten brachten eine Kultur mit, die höher entwickelt war und sie waren

Das Gedächtnis der Dokumente die Vertreter einer besser entwickelten Wirtschaft. Als sogenannte landwirtschaftliche Kolonisten erfreuten sich diese deutschen Bewohner bereits damals eines guten Rufes und die ungarischen Könige erwarteten, dass die anderen Bewohner ihrem Beispiel folgen. Gleichzeitig wollten sie auch größe­ re Siedlungen gründen, wo sich im Laufe der Zeit ein städtisches Leben entwickeln konnte, von denen sie entsprechende Einnahmen erwarteten. Und die Sachsen enttäuschten die Hoffnungen der ungarischen Könige nicht. „Sie brachten eine höhere Kultur mit, pflanzten das städtische Leben auf die beiden Hügel der Karpaten, lenkten das Leben des gesamten Transsilvanien in solide Bahnen, verbanden den Westen mit dem Osten durch wirtschaftliche Beziehungen, übten fruchtbaren westlichen Einfluss auf die rumänische und die ungarische Bevölkerung aus.“ So beschreibt sie der große rumäni­sche Historiker Nicolae Iorga. In kurzer Zeit erblühten viele der sächsischen Niederlassungen und es entwickelte sich ein reiches städtisches Leben. Die Städte Sibiu, Brasov, Sighisoara, Bistritza, Cluj u.a. sind sächsi­ sche Gründungen, in ihnen entwickelte sich ein kulturelles und wirtschaftliches Leben wie in Westeuropa. Die sächsischen Handwerker und Händler brachten das städtische Leben auch im Süden und Osten der Karpaten voran. Die Rechte der Sachsen, die ihnen durch die ungarischen Könige eingeräumt wurden, sind in einem Dokument aus 1224 enthalten. Aufgrund dieses Dokuments bildeten die Sachsen auf „königlichem Grund“ zusammen eine politische, verwaltungstechnische und kirchliche Einheit. An ihrer Spitze stand ein Graf, ernannt durch den König, und die anderen Beamten wurden von ihnen selbst gewählt. Diese Rechte können auch als Vorteile bezeichnet werden, aber sie gewannen sie nicht, wie die Adligen von früher, allein durch

197 das Geburtsrecht, sondern durch ihre Verdienste im Interesse des ungarischen Staates. Die Sachsen aus Transsilvanien teilten die Freuden und die Schicksalsschläge mit den anderen Nationalitäten vor Ort. Sie überlebten die Überfälle der Tataren und der Türken aufgrund des Umstandes, dass die Städte und auch viele ihrer Dörfer befestigt waren und richtige Bollwerke des europäischen Christentums bildeten. Ungefähr 100 ihrer Dörfer gingen unter, nachdem ihre ethnische Substanz viele Male gefährdet worden war. Die Geschichte der Sachsen war ein ständiger Kampf zum Aufrechterhalt ihrer Rechte, bedroht zuerst durch die ungarischen Adligen – die Feinde der freien Bauern – und dann durch die österreichische Regierung. 1867 wurde Transsilvanien endgültig mit Ungarn vereint und die ungarische Regierung löste die politische und verwaltungstechnische Einheit des königlichen Bodens auf. Fortan war die neue seelsorgerische und kulturelle Führungsriege der Sachsen die „Evangelische regnicolara Kirche“. Die Schwaben sind der zweite Zweig der deutschen Minderheit in Rumänien, sie wohnen im Banat. Im Jahr 1716 drang das Heer von Kaiser Karl VI. unter der Führung des Prinzen Eugen von Savoyen in die Festung von Temeschburg ein und der Frieden von Passarowitz, geschlossen im Jahr 1718, bedeutete die Befreiung des Banats vom türkischen Joch. Eine offizielle Statistik zeigt, dass das gesamte Banat damals zwischen Karpaten und Theiß, zwischen Donau und Marosch, nur 40.000 Einwohner zählte. Diese, zum Großteil Rumänen, dann noch Serben und einige wenige Bulgaren, reichten nicht aus, um die immensen Wiederaufbauarbeiten durchzuführen, deshalb rief der Kaiser aus allen Ecken des Reiches Kolonisten in die neue Provinz des Reiches. Die Habsburger waren bei diesem Werk einerseits geleitet durch steuerliche Erwägungen: Die Eröffnung ei-

198 ner Einnahmequelle durch eine intensive und rationelle Ausbeutung der Reichtümer dieser Provinz und andererseits aus politischen Gründen: Die Festigung des Katholizismus gegenüber den ungarischen Calvinisten. Außer den deutschen Kolonisten wurden im Banat auch gerne Italiener, Franzosen und Spanier aufgenommen. Die italienischen und spanischen Kolonisten gingen alle unter, die Franzosen hingegen wurden von den Deutschen assimiliert und behielten lediglich ihre französischen Namen. Obwohl die Kolonisten größtenteils Deu­ tsche waren, kann man die Kolonisierung des Banats nicht als deutschen Expansionswunsch einstufen, das wäre ein Ana­chro­ nismus gewesen, denn die Kolonisierung erfolgte schon vor der Entstehung des Nationalismus, in einer Zeit, als die dynastischen Interessen überwogen. Die Kolonisierung des Banats erfolgte in drei Perioden zwischen 1722-1782. Das Banat war der große Abnehmer für Kolonisten im Laufe des gesamten 18. Jahrhunderts. In den Sümpfen der Tiefebene lauerte der Tod in Form von Malaria, aber auch Cholera und Pest, eingeführt aus der Türkei, dies kostete unzählige Leben. Die hygienische Situation verbesserte sich erst nach der großartigen Kanalisation, die den Zweck hatte, immense überschwemmte und schlammige Landflächen für die Landwirtschaft zu gewinnen. Die Produktivität des Bodens wuchs, die Zahl der menschlichen Niederlassungen wur­de größer, die Bevölkerung begann zu gedeihen und der Fiskus hatte seinen Anteil aus der Ausbeute dieser Arbeiten. Heute zählen die Banater Schwaben 300.000 Einwohner. Ungefähr 80% von ihnen beschäftigen sich mit Landwirtschaft. Sie haben ihre Qualitäten beibehalten, für die ihre Vorfahren ins Banat gerufen worden waren, andererseits haben sie die Anforderungen der modernen Zeiten berücksichtigt: Durch die kooperativenartige Organisation sind sie auf dem

Das Gedächtnis der Dokumente Laufenden mit allen Ergebnissen der modernen Forschung. Sie lesen die Zeitschrift der Landwirtschaftlichen Vereinigung, besuchen spezielle Kurse, organisieren verschiedene Ausstellungen, so dass die schwäbischen Land­­männer als die fortschrittlichsten Bauern aus Rumänien eingestuft werden können. Die Sachsen und Schwaben, genauso respektiert wie in Ungarn, haben mehr als 20 Jahre zum Fortschritt des rumänischen Staates beigetragen, dem Transsilvanien und das Banat im Jahr 1918 angegliedert wurden, ein Ereignis, das mit ausdrücklicher und bedingter Zustimmung der Sachsen und Schwaben erfolgte. Die rechtliche Situation der deutschen Min­derheit im Rahmen des rumänischen Staates, festgelegt durch die Abhandlung zum Schutz der Minderheiten vom 19. Dezember 1919, abgeschlossen zwischen den Alliierten Kräften und Rumänien Die wichtigsten Verfügungen sind: Art. 2: Die rumänische Regierung verpflichtet sich, im weitesten Sinn das Leben und die Freiheit aller Bewohner zu schützen, unabhängig von der Geburt, der Staatszugehörigkeit, der Sprache, von der ethnischen Zugehörigkeit und Religion. Alle Bewohner Rumäniens werden das Recht haben, frei, individuell und öffentlich jede Konfession, jeden Glauben, jede Auffassung auszuüben, deren Ausübung nicht inkompatibel ist mit der öffentlichen Ordnung und den guten Sitten. Art. 8: Alle rumänischen Staatsbürger sind gleich vor dem Gesetz und erfreuen sich der gleichen zivilen und politischen Rechte, unabhängig von der Nationalität, der Sprache oder dem Glauben. Der Unterschied des Glaubens, der Auffassung oder Konfession kann keinem Staatsbürger schaden, der im Besitz seiner zivilen und öffentlichen Rechte ist, vor allem bei seiner Aufnahme in Ämter, Aktivitäten oder öffentliche Würden oder bei der Ausübung der verschiedenen Berufe.

Das Gedächtnis der Dokumente Keinem einzigen rumänischen Staatsbürger kann man die freie Verwendung jedwelcher Sprache verbieten, in seinen persönlichen oder wirtschaftlichen Beziehungen oder im Bereich des Glaubens, der Presse oder Publikationen aller Art, auch nicht bei öffentlichen Versammlungen. Ohne dass das Recht der rumänischen Regierung eingeschränkt wird, eine offizielle Staatssprache festzulegen, müssen den rumänischen Staatsbürgern anderer Sprachen geeignete Vergünstigungen eingeräumt werden, um ihre Sprache auch schriftlich und mündlich vor der Justiz zu gebrauchen. Art. 9: Die rumänischen Staatsbürger, die einer ethnischen, religiösen oder sprachlichen Minderheit angehören, erfreuen sich der gleichen Behandlung oder der gleichen garantierten Rechte wie die anderen Bürger. Sie haben vor allem das gleiche Recht, auf ihre eigenen Kosten wohltätige, religiöse oder soziale Einrichtungen zu gründen, Schulen und andere pädagogische Einrichtungen, sie zu leiten und zu überwachen, mit dem Recht, sich ihrer eigenen Sprache zu bedienen und ihren Glauben frei auszuüben. Art. 10: Im Hinblick auf die öffentliche Belehrung wird die rumänische Regierung in den Städten und Kreisen, die vorwiegend von rumänischen Staatsbürgern mit anderen als der rumänischen Sprache bewohnt werden, geeignete Vergünstigungen einführen bei den Grundschulen, zur Sicherstellung des Unterrichts der Kinder dieser rumänischen Staatsbürger in ihrer Muttersprache. Diese Verfügung soll den rumänischen Staat nicht davon abhalten, an diesen Schulen den Pflichtunterricht der rumänischen Sprache einzuführen. In Städten und Kreisen mit rumänischen Staatsbürgern, die überwiegend einer ethnischen, religiösen oder sprachlichen Minderheit angehören, wird sichergestellt, dass zum Nutzen dieser Gemeinden eine anteilige Quote aus den im Staatsbudget festgelegten

199 Beträgen für Unterrichts-, Glaubens- oder Wohltätigkeitszwecke eingesetzt werden. Art. 11: Rumänien stimmt zu, dass unter Aufsicht durch den rumänischen Staat den Gemeinden der Sekler und Sachsen aus Transsilvanien Lokalautonomie gewährt werden soll in Fragen des Glaubens und der Wohltätigkeit. Art. 12: Rumänien ist damit einverstanden, die Verfügungen der vorhergehenden Artikel zu berücksichtigen, da sie Personen betreffen, die einer ethnischen, religiösen oder sprachlichen Minderheit angehören, als Verpflichtungen mit internationalem Interesse, garantiert durch die Gesellschaft der Nationen. Sie können nur mit der mehrheitlichen Zustimmung des Rates der Gesellschaft der Nationen geändert werden. Im Art. 1 dieses Vertrags über die Minderheiten verpflichtet sich Rumänien ausdrücklich dazu, unter anderem, die prinzipiellen oben erwähnten Verfügungen zu respektieren und sie in die Verfassung des Landes mit aufzunehmen, mit dem Effekt, dass kein Gesetz, keine Regelung und auch kein offizielles Schriftstück diesen Verfügungen widerspricht und dass auch kein Gesetz, keine Regelung und kein offizielles Schriftstück eine höhere Gültigkeit / Wirksamkeit haben soll als diese Verfügung. Es ist nur schade, dass, trotz des verpflich­ tenden Charakters, mit all ihrer außerge­ wöhnlichen Bedeutung, die Bestimmun­ gen dieses Vertrags nicht vollständig angewandt und realisiert wurden. Im Gegenteil, die Minderheiten aus Rumänien führten im Laufe von zwei Jahrzehnten einen ständigen Kampf gegen die Tendenzen, die diesen Verfügungen entsprangen, die versuchten, einen Nationalstaat zu bilden. Als Folge dieser Umstände waren die Minderheiten gezwungen, eine Epoche zu durchleben, die gekennzeichnet war von Diskriminierungen und Missachtungen. Äußerst schmerzhaft für die Minderheiten waren die

200 Einschränkungen im Bereich des Lehrwesens. Die auf das Unterrichtswesen bezogenen Gesetze standen im Widerspruch zu den Verfügungen des Artikels 11 des Vertrags bezüglich der Minderheiten, der den Seklern und Sachsen die lokale Autonomie in allen religiösen und Unterrichtsbelangen garantiert. Außer dem Problem im Unterrichtswe­sen hat vor allem die feindliche Haltung bezüglich der Sprachfreiheit ständig die Unzufriedenheit der Minderheiten hervorgerufen, denn die Behörden zeigten hier wenig Entgegenkommen. Unter der Regierung von Antonescu mussten die Sachsen und Schwaben viele Einschränkungen im wirtschaftlichen Bereich erdulden. Dann wurden das ganze Transsilvanien und das ganze Banat zur „militärischen Zone“ erklärt. Diese Maßnahme wurde ergriffen, nicht zuletzt, um die wirtschaftliche Situation der Minderheiten einzuschränken, die diese Provinzen bewohnten. Am Anfang war es sowohl den Ungaren als auch den anderen Minderheiten des Landes verboten, Land zu kaufen. Später wurde es den Schwaben erleichtert, von anderen Personen der gleichen Minderheit Land zu kaufen, aber nicht von Bewohnern anderer Nationalitäten (Rumänen, Ungaren usw.), aber auch diese Transaktionen waren nur gültig, wenn sie durch das Verteidigungsministerium genehmigt waren. Das Problem des Unterrichtswesens mit Vortragssprache aus Rumänien A. Periode 1919 – 1940 1. In Siebenbürgen bei den Sachsen Bei den Sachsen in Siebenbürgen war das gesamte Bildungswesen: Grundschule, weiterführende Schule, theoretische, wirtschaftliche und normale Bildungsanstalten konfessionell gebunden und unterstand der Lutherischen Bischofskirche von Sibiu. Diese Schulen gab es schon lange und deshalb wa-

Das Gedächtnis der Dokumente ren sie mit Unterrichtsmaterial ziemlich gut ausgestattet, obwohl die verfügbaren Geldquellen ziemlich eingeschränkt waren, da der Staat durch eine ungerechte Verteilungsquote nur wenig aus dem Staats- und Gemeindebudget dazu beisteuerte. Die gut vorbereiteten Grundschullehrer an den normalen Schulen in Sibiu und Sighisoara, wurden durch Zeitschriften und Konferenzen auf dem Laufenden gehalten. Der Lehrkörper an den höheren Schulen war auf der Höhe der Anforderungen, nachdem die Vertreter ihre Studien an den Universitäten des Landes absolviert und an den Universitäten in Österreich, Deutschland und der Schweiz vertieft hatten. Somit ist es nicht verwunderlich, dass es bei den Sachsen in Siebenbürgen keine Analphabeten gab und dass das kulturelle Niveau höher war als jenes der anderen Bewohner. Aus diesem Grunde besuchten viele junge Rumänen die sächsischen Schulen. Die Sachsen waren sich dieser Situation bewusst, aber dies erweckte in ihnen keinen besonderen Stolz und der Nationalismus blieb in einem natürlichen Rahmen und war nicht in Chauvinismus umgeschlagen. Nachdem sie schon über Jahrhunderte mit den Rumänen zusammengelebt hatten, beeinflussten sie sich gegenseitig im kulturellen und wirtschaftlichen Bereich. Alle Sachsen konnten gut Rumänisch und stellten sich als ordnendes Element und als loyale Bürger heraus. 2. Im Banat bei den Schwaben Im Banat und in der Krischana gab es vor 1919 keine Schulen mit deutscher Unterrichtssprache. Deshalb waren die Schwaben aus dieser Gegend einem starken Einfluss zur Magyarisierung ausgesetzt. Ihre Intellektuellen hatten ihre nationale Bindung verloren und waren zu Verfechtern eines stark ausgeprägten ungarischen Chauvinismus geworden. Das Verdienst, den Trend zur Magyarisierung bei den Schwaben zu stoppen, ist dem rumänischen Staat zu verdanken, der nach 1919

Das Gedächtnis der Dokumente alle Schulen mit ungarischer Unterrichtssprache in solche mit deutscher Unterrichtssprache ändern ließ und so das nationale Bewusstsein der Schwaben zu neuem Leben erweckt hat. Das Unterrichtswesen in deutscher Sprache im Banat sah folgendermaßen aus: a). Ein Großteil der Grundschulen war staatlich, der Rest konfessionell, unter der Leitung der Römisch-Katholischen Bischofskirche in Temeschburg. b). Die höheren Schulen: Der rumänische Staat hatte bereits 1918 ein deutsches staatliches Lyzeum in Temeschburg gegründet und je ein Gymnasium in Reschitza, Lugosch, Neu-Arad und Perjamosch. Das Gymnasium in Neu-Arad wurde danach in ein rumänisches umgewandelt und das in Perjamosch aufgelöst. c). Nach 1918 gründete das römisch-katholische Bistum aus Temeschburg ein Lyzeum und eine Schule in Temeschburg und ein Gymnasium in Hatzfeld. Die Lehrer der Grundschule waren von der Zahl nicht ausreichend und ungenügend vorbereitet, die Erhöhung der Anzahl erfolgte sehr langsam. Noch größere Mängel gab es an den weiterführenden Schulen. Die älteren Lehrer kannten die Staatssprache nicht und nicht einmal ihre Muttersprache ausreichend. Die jungen Lehrer, Absolventen der rumänischen Universitäten, konnten gut Rumänisch und entsprachen in jeder Hinsicht ihrer erzieherischen Berufung. Trotz der innewohnenden Schwierigkei­ ten, die für eine neue Periode typisch sind, konnte man wichtige Fortschritte verzeichnen. Durch die Tätigkeit dieser Schulen, die durch den rumänischen Staat gegründet wurden, konnte die Magyarisierung der Schwaben gestoppt werden und es begann sich ein kulturelles nationales Leben zu entwickeln. Die natürliche Folge dieser großzügigen Geste des rumänischen Staates war, dass die Generationen, die durch diese Schulen gingen, sich zu loyalen Staatsbürgern entwickelten.

201 B. Die Zeit zwischen 1940 und 1944 Deutsches Unterrichtswesen unter der Leitung der Deutschen Ethnischen Gruppe 1. Die Deutsche Ethnische Gruppe aus Rumänien, gegründet und als juristische Person anerkannt durch ein Gesetz (Nr. 830 vom 20. November 1940), begann gleich den Kampf, um die deutschen Schulen in Beschlag zu nehmen. Bereits 1941 war es ihr gelungen, die Leitung der sächsischen konfessionellen Schulen zu übernehmen, danach die konfessionellen aus dem Banat und zuletzt wurden auch die staatlichen Schulen der Deutschen Ethnischen Gruppe übergeben, als Folge einer Übereinkunft zwischen dem Kultusministerium und der Deutschen Ethnischen Gruppe. 2. Zur Organisation und Verwaltung der Schulen hat die Deutsche Ethnische Gruppe den Schuldienst der Deutschen Ethnischen Gruppe in Brasov gegründet, mit Inspektoraten und Zweigstellen in den wichtigen Zentren mit deutscher Bevölkerung. 3. Es wurde ein spezielles Amt für das deutsche Unterrichtswesen beim Nationalen Kultusministerium eingerichtet. 4. Die Deutsche Ethnische Gruppe stellte Regularien und spezielle analytische Programme für die deutschen Schulen auf, die vom Nationalen Kultusministerium genehmigt wurden. 5. Die Lehrer und Professoren wurden von Erziehern auf Vermittler von Kenntnissen herabgestuft. Die Devise lautete: „Die Jugend muss durch die Jugend erzogen werden.“ Zur Umsetzung dieser Devise wurde die Organisation „Deutsche Jugend“ gegründet, also deutsche Jugendliche, die ihre eigenen Leiter und Erzieher hatten. C. Die Zeit nach dem 23. August 1944 Aufgrund der militärischen und politischen Ereignisse auf dem rumänischen Territorium hatten die Schulen, egal welchen Typs, ob Grundschulen, weiterführende Schulen, normale Schulen mit deutscher Unterrichtsspra-

202 che, ob staatlich oder konfessio­nell, keinerlei Tätigkeiten im Schuljahr 1944/1945 und die meisten wurden auch nicht 1945/1946 wieder geöffnet. Gleichzeitig funktionierten alle anderen Schulen mit rumänischer, serbischer und ungarischer Unterrichtssprache in den erwähnten Jahren. Die Erklärung für das Nicht-Funktionieren der staatlichen und konfessionellen Schulen mit deutscher Unterrichtssprache war die nicht normale Situation des Lehrkörpers dieser Schulen, der aus rumänischen Staatbürgern deutschen Ursprungs bestand. Um das Bild zu diesem Problem zu vervollständigen, muss erwähnt werden, dass in jener Zeit umfangreiche Säuberungsaktionen des Staatsapparates stattfanden, eine Säuberung, die aber die Diener des rumänischen Staates an den staatlichen und konfessionellen Schulen in deutscher Sprache umging. Während die Beamten, Lehrer und Professoren rumänischer und ungarischer Nationalität ungehindert weiter walten konnten und ihr Rauswurf erst nach dem Urteil des Ausschusses erfolgte, wurden die betroffenen Personen deutscher Nationalität schon vor diesem Entscheid aus ihren Ämtern entlassen, was diese Maßnahmen als rassistisch erscheinen lässt. Obwohl ihre Anträge und Gesuche zur Klärung ihrer Situation, zur Revision von Fall zu Fall eines jeden Beamten aus diesem Lehrkörper, was die politische Haltung des alten Regimes betraf, die Loyalität gegenüber dem Staat und die Verbundenheit zum rumänischen Volk, wurden keinerlei Maßnahmen ergriffen zur „Säuberung“ innerhalb des deutschen Unterrichtswesens. Diese Tatsache kommt einer Gesamtverurteilung aller dieser Staatsdiener gleich, ohne irgendeine Unterscheidung, so als hätte man eine gesamte Kategorie von Bürgern an den Rand der Legalität und außerhalb des Rechts gedrängt, ohne einen einzigen entsprechenden Gesetzestext, der eine solche

Das Gedächtnis der Dokumente Situation mit so schwerwiegenden Konsequenzen geregelt hätte. Diese Lehrer bekamen überhaupt keine Gehälter mehr und waren der Unsicherheit der grundlegenden Probleme der Exis­tenz ausgesetzt: Nahrung und Wohnung. Mit ihnen litten auch ihre Familien, und der Schlag war noch schwerer und unerträglicher, weil sie ihr ganzes Leben der Schule gewidmet hatten und nicht der körperlichen Arbeit, und eher einer Not leidenden Kategorie angehörten. Sie konnten keine andere Arbeit annehmen, so dass sie aus dem Stadium der Armut aller reinen Intellektuellen ins Elend abrutschten. Diese Leiden hatten nicht nur materiellwirtschaftlichen Charakter für die Lehrer und deren Familien, sondern auch einen sozialen Aspekt von großem Ausmaß, durch das Fehlen von rumänischen Staatsbürgern deutschen Ursprungs, rund 500.000 Einwoh­­ ner mit ihrer Kultur, ihrem Unterrichtswesen, ihrer seelsorgerischen und staatsbürgerlichen Fürsorge und mit der Anwendung des Gesetzes der Schulpflicht. Es war noch nötiger, dass die staatlichen und konfessionellen Schulen funktionieren, da der Einfluss des Faschismus bei dieser Bevölkerungsgruppe stärker war. Und tatsächlich wurde genau hier der Kampf gegen den faschistischen Geist vernachlässigt. Obwohl ein komplettes Jahr verging, ohne dass diese Hunderttausende von rumänischen Bürgern die Möglichkeit eines Schul­besuchs hatten, begann das neue Schuljahr 1945/46 ohne Änderung bezüglich der Unterrichtssituation für diese Nationalität. Da es nicht im Sinne der Demokratie und der Menschlichkeit ist, dass man einer Nationalität das Grundrecht eines kulturellen Lebens und der geistigen, moralischen, intellektuellen und religiösen Erziehung raubt, für die Dauer von zwei Jahren, bitten wir dringend um Klärung des Problems des staatlichen und konfessionellen Unterrichtswesens

Das Gedächtnis der Dokumente in deutscher Sprache, um die Schulen wieder zu eröffnen, damit dieses Unterrichtswesen von den hitleristischen und antidemokratischen Elementen gereinigt werden kann und die Rechte der Staatsbeamten, die sich nach der Säuberung als dem rumänischen, demokratischen Staat würdige Bürger erwiesen haben, wieder hergestellt werden. Das wirtschaftliche Leben Die wirtschaftliche Struktur der Sachsen und Schwaben aus Rumänien zeigt eine reiche Differenzierung. Es gibt fast keinen Wirtschafts- oder Berufszweig, der nicht bei ihnen vertreten ist. Eine Vorrangstellung nimmt jedoch die Landwirtschaft ein, sowohl durch die Anzahl der Beschäftigten als auch durch die Bedeutung dieses Produktionszweiges für die breite Masse der Bevölkerung. Von den ungefähr 560.000 Sachsen und Schwaben sind 400.000 in der Landwirtschaft beschäftigt. Auf diesem Fundament erhebt sich der berufliche Überbau, der industrielle und der intellektuelle Bereich. Die Tatsache, dass die Sachsen und Schwaben schon immer frei waren auf ihrem Grund und Boden, erklärt auch, warum es unter ihnen keine Großgrundbesitzer gab. Die Verteilung des Feldes unter ihnen zeigt ein relativ einheitliches Bild. In überwältigender Mehrheit handelt es um kleine oder mittlere Grundbesitzer, die großen Ländereien fehlen komplett, ebenso die breite Masse der Bevölkerung ohne Grundbesitz. In Siebenbürgen gibt es rund 37.000 sächsische Grundbesitzer mit im Schnitt 7-10 Joch Feld. Etwas günstiger sind die Verhältnisse bei den Schwaben im Banat, wo ein mittelständischer Bauer ca. 10-15 Joch besitzt. Die spezielle Bedeutung der sächsischen und schwäbischen Landwirtschaft für das ganze Rumänien beruht auf der größeren Produktivität derselben und an ihrer anregenden und erzieherischen Wirkung auf die anderen mitwohnenden Nationalitäten. Der landwirt-

203 schaftliche Inspektor namens Ciomac bestätigt in einer Studie: „Auf der anderen Seite hat der Kontakt mit den Sachsen und Schwaben, aufgrund deren ausgepräg­tem Organisationssinn, dazu beigetragen, dass das rumänische Element sich deren Arbeitsmethoden aneignet oder nachahmt, ohne die eigenen Qualitäten zu verlieren.“ Gründe für die höhere Produktivität sind: 1. Die rationellere Bearbeitung des Bodens In Siebenbürgen und im Banat konnte die Art der Bodenbearbeitung mit jener der Völker in Westeuropa mithalten. Die kooperativenartige Organisation ermöglichte den Einsatz von großen, modernen Landmaschinen, wie Traktoren, Mähmaschinen, Sämaschinen, Dresch­maschinen usw. Von besonderer Bedeutung ist das Ackern der Stoppelfelder, das tiefe Ackern im Herbst, der häufige Einsatz von Hacke und Egge. 2. Die hohe Produktion von Düngemitteln durch Großvieh (1 Großvieh auf 1,7 ha Ackerland, Durchschnitt in Rumänien 1 Großvieh auf 5 ha) wie auch die Lagerung und rationelle Nutzung des Stallmistes auf Beton-Plattformen. Hinsichtlich des Verbrauchs von chemischen Düngemitteln stehen die Sachsen und die Schwaben ganz vorn. Allein die Sachsen verbrauchen so viel Superphosphat wie alle anderen Bauern zusammen. Der landwirtschaftliche Inspektor Ciomac schreibt: „Das Zeichen ist sehr erfreulich und nur so können die guten Ergebnisse der Sachsen und Schwaben bei der Produktion von Getreide und allerlei Futtermitteln erklärt werden.“ 3. Der Anbau von gut ausgesuchten Sorten, angepasst an das Klima und an den Boden. Das Problem des Saatguts und dessen Vorbereitung ist bei den Sachsen und Schwaben gut gelöst, indem moderne Selektionskriterien angewandt werden. 4. Genaue Einhaltung des Fruchtwechsels „Zur Sache des Fruchtwechsels müssen wir sagen, dass die Sachsen und Schwaben

204 von Anfang an die Vorteile eines normalen Wechsels der Pflanzen auf dem bebauten Boden kennen.“ In den sächsischen und schwäbischen Regionen, wo der wechselnde Anbau von Kulturpflanzen angewandt wird, finden wir einen Fruchtwechsel von 4 und 6 Jahren vor. Der Nutzen des rationalen Fruchtwechsels hat Auswirkungen auf den Boden, die Produktion, die tierische und menschliche Arbeit, den Gebrauch der Maschinen usw. Die Folge dieser günstigen Umstände ist, dass die landwirtschaftliche Produktion bei den Sachsen und Schwaben viel besser ist als im Landesdurchschnitt. 5. Der rationale Gebrauch der landwirtschaftlichen Produkte durch eine intensive Rinderzucht a. Rinderzucht. Als der Getreideanbau einen Einbruch der Rentabilität erlebte, wurde dieser bei den Sachsen und Schwaben viel besser aufgefangen, die zum intensiveren Anbau von Futtermitteln übergingen, wie Luzerne und Klee, was eine ausreichende Ernährung und zugleich die Entwicklung der Rinderzucht mit sich brachte. Durch den Import von hochwertigen Tierrassen aus Westeuropa wurde die systematische Rinderzucht der Rassen Simmental und Pinzgau und deren Anpassung an die neue Umwelt und somit die Produktion von Milch und Fleisch bedeutend vorangebracht. Die Sachsen und Schwaben besitzen die besten reinrassigen Rinder in Rumänien und die Tiere aus ihren Züchtungen sind aufgrund ihrer besonderen Eigenschaften die am meisten geschätzten. Die Rentabilität der Rinderzucht wird vor allem durch die Milchherstellung und die anderen Milchprodukte gesichert, was eine wichtige Einnahmequelle ist. Die Aufzucht und Pflege der Rinder findet unter den günstigsten Bedingungen statt: große, hygienische Ställe, rationelles Futter, hergestellt in modernen Produktionsstätten. b. Schweinezucht. Im Banat gelangte die Schweinezucht zu einem Höchststand und

Das Gedächtnis der Dokumente die Schwaben übertrafen in dieser Hinsicht sogar die Dänen. Während bei den Dänen in den Jahren 1937-1938 ………….(hier fehlt genau die ausschlaggebende Zahl) Schweine auf 1.000 Einwohner kamen, war das Verhältnis bei den Banater Schwaben 1.106 Schweine auf 1.000 Einwohner. Das bedeutet, dass die Schweinezucht bei den Schwaben die intensivste und am meisten entwickelte in ganz Europa war. Allein der Überschuss der Produktion bei den Banater Schwaben wurde auf ca. 230.000 Schweine geschätzt, die die Basis zur Versorgung eines Großteil des Landes (Bukarest) mit Fleisch und Fett bildete, dann wurde ca. die Hälfte exportiert, was dem Land wichtige Einkünfte einbrachte. Aber die Schweinezucht war auch in den von Sachsen bewohnten Regionen sehr intensiv, wo durch die Kreuzung der Rassen Mangalitza und Berk eine neue Rasse namens Bazna entstand, die den Umweltbedingungen in Siebenbürgen wunderbar angepasst war. Es muss noch hervorgehoben werden, dass nur die Schwaben und Sachsen die Schweine Yorkshire in ihrer reinrassigen Form züchten. c. Geflügelzucht. Die Geflügelzucht befand sich in voller Entwicklung und produzierte bereits bedeutende Mengen an Eiern und Fleisch, vor allem für den Export. d. Der Anbau von Industriepflanzen. Die Losung der Landwirtschaft in Siebenbürgen war seinerzeit die Industrialisierung der Landwirtschaft und man konnte feststellen, dass die deutsche Minderheit eine wegbereitende Rolle in dieser neuen Entwicklung hatte. Die sächsischen und schwäbischen Bauern bauten auf ausgedehnten Äckern Zuckerrüben, Tabak, Hanf und Heilpflanzen an wie Pfefferminze, Schneeglöckchen und schwarze Malve. All diese Pflanzen waren für den Export sehr begehrt, aber sie konnten auch eine gute Basis für die nationale Industrie bilden. Viele Dörfer, vor allem im Banat,

Das Gedächtnis der Dokumente spezialisierten sich auf den Gemüseanbau, der nicht nur den lokalen Bedarf deckte, sondern viele wurden auch getrocknet, z. B. in den Fabriken von Neu-Arad und Lowrin. e. Wein- und Obstbau. Ein bedeutender Wirtschaftszweig der deutschen Minderheit in Rumänien war Wein- und Obstbau. Die Entwicklung dieses Zweiges ist nicht erstrangig dem Klima oder dem guten Boden zuzuschreiben, wo die Sachsen und Schwaben lebten, sondern vor allem ihrem Fleiß und ihrer Ausdauer, dann der speziellen Vorbereitung in diesem Zweig. Zu erwähnen sind die erstklassigen Weine von der Tarnava und aus der Bistritzer Gegend. Die Baumschulen aus Transsilvanien liefern ihre Produkte bis weit ins alte Königreich hinein und erfreuen sich eines guten Rufes. Die Produkte aus dem sächsischen und schwäbischen Obstbau sind auch im Ausland sehr begehrt. f. Die Rolle der Kooperativen. Die landwirtschaftliche Organisation der deutschen in Rumänien ist solide. Zur blühenden Entwicklung der Wirtschaft, speziell der Landwirtschaft bei der deutschen Minderheit, hat vor allem die kooperativenartige Organisation beigetragen. Die Volksbanken zur Gewäh­ rung von Krediten an die Bauern, Produktionskooperativen, Vertriebe oder Konsumläden sind ein Netz von seriösen Organisationen, die die sächsischen und schwäbischen Dörfer durchziehen, die überall Vertrauen in die eigenen Kräfte verleihen, die die Rolle der gefährlichen Mittelsmänner untergraben, die noch das Dorfleben ersticken. Aber die Hilfe durch die Kooperativen war nicht nur materieller Art, sondern auch im kulturellen Bereich, indem die Kooperativen verschiedene Spezialkurse organisierten, um die rationellsten Methoden zur Erzielung von hohen Erträgen voranzubringen. Man muss auch die Veröffentlichung von Fachzeitschriften sowohl in Siebenbürgen als auch im Banat erwähnen. All diese sächsischen und schwäbischen Landmänner sind jetzt laut Gesetz

205 und Agrarreform enteignet und aus der Produktion des Landes herausgenommen, ohne dass ihr Beitrag zum nationalen Wirtschaftswachstum in Rumänien berücksichtigt wird. Die Entfernung der progressiven Elemente aus dem Wirtschaftsleben lässt die schlimmsten Befürchtungen für die Zukunft der Wirtschaft im rumänischen Staat aufkommen. Referat über die Agrarreform bei den rumänischen Staatsbürgern deutscher Nationalität DAS GESETZ Nr. 187 zur Durchführung der Agrarreform, veröffentlicht im Bundesgesetzblatt Nr. 68 vom 23. März 1945 erklärt im Artikel 3 folgende landwirtschaftliche Güter mit lebendem und totem Inventar als enteignet: a. Boden und Grundbesitz jedwelcher Art, die rumänischen Staatsbürgern deutscher Nationalität gehören, die mit Hitler-Deutschland kollaboriert haben. b. Boden und andere landwirtschaftliche Besitztümer der Kriegsverbrecher und der anderen an der Katastrophe des Landes Schuldigen. c. Das Land jener, die in Länder geflüchtet sind, mit denen sich Rumänien im Kriegszustand befindet oder die nach dem 23. August 1944 ins Ausland geflüchtet sind. d. Das Land und die landwirtschaftlichen Güter aller Abwesenden. e. Das Land jener, die in den letzten 7 Jahren in Folge ihr Land nicht in Eigenregie bearbeitet haben, mit Ausnahme des Grundbesitzes bis 10 ha. f. Landwirtschaftliche Güter jedwelcher Art der rumänischen Staatsbürger, die sich freiwillig gemeldet haben, um gegen die alliier­ten Kräfte zu kämpfen. g. Die Besitztümer von Verstorbenen h. Grundbesitz von über 50 ha bei physi­ schen Personen ARTIKEL 6. Die Traktoren, Dreschmaschi­ nen, Mähmaschinen, Kombinen usw. von den

206 landwirtschaftlichen Nutzflächen aus Art. 3 gehen in Staatseigentum über. Die anderen landwirtschaftlichen Geräte und die Zugtiere gehen in Staatseigentum über und werden den anderen Bauern übereignet. ARTIKEL 7. Alle landwirtschaftlichen Güter aus Art. 3 und 6 gehen sofort ohne Entschädigung, komplett in Staatseigentum über. Aus Art. 3 Punkt a) geht klar hervor, dass sich die Enteignung vorrangig gegen die rumänischen Staatsbürger deutscher Nationalität richtet, „die mit Hitler-Deutschland kollaboriert haben.“ So wurde bereits von Anfang an das Prinzip der Gleichheit aller Staatsbürger unterdrückt, denn dieses Gesetz hätte die Enteignung von allen Staatsbürgern einschließen sollen, also auch jener rumänischen oder ungarischen Ursprungs, die mit HitlerDeutschland zusammengearbeitet haben. Aber die Härte des Gesetzes trifft nur die rumänischen Staatsbürger deutschen Ursprungs, denn nur sie werden als Kollaborateure eingestuft, während die anderen, auch wenn sie wirklich Kollaborateure waren, vom Gesetz nicht erwähnt werden und somit ungestraft davonkommen. Folglich ist für die Gesetzgeber nicht die politische Haltung der rumänischen Staatsbürger deutscher Nationalität das Kriterium, sondern der ethnische Ursprung. Es ist bedauerlich, dass die demokratische Regierung unter Dr. Petru Groza sich von rassistischen Vorurteilen beeinflussen lässt, nur aufgrund einer technischen Unvollkommenheit der juristischen Sprache, eine Unvollkommenheit, die eine himmelschreiende Ungerechtigkeit verur­ sacht gegenüber der arbeitsamen, patriotischen und dem rumänischen Staat gegenüber loyalen rumänischen Bevölkerung deutscher Nationalität. Die Sachsen und Schwaben vertreten und vertraten keine fortschrittliche Position Deutsch­lands, wie im Falle von Polen, der Tschechoslowakei und Ungarn, sondern bildeten in einem von Deutschland weit ent-

Das Gedächtnis der Dokumente fernten Land nur eine ethnische Insel, die zu keiner Zeit irredentistische Tendenzen, d.h. den Willen zum Anschluss an das Mutterland zeigte. Dieser Ausdruck von bedauerlicher rassistischer Intoleranz ist nicht zu rechtfertigen. Die Verordnung, die im Bundesgesetzblatt Nr. 85 vom 12. April 1945 veröffentlicht wird, erklärt unter Art. 3 folgende Bewohner als Kollaborateure: a. Rumänische Staatsbürger, die der deutschen Armee der SS angehört haben und deren Vorfahren und Nachkommen b. Rumänische Staatsbürger, die mit der deutschen und ungarischen Armee weggezogen sind c. Rumänische Staatsbürger deutschen Ursprungs, die der Ethnischen Deutschen Gruppe angehören und all jene, die für Hitler Propaganda gemacht haben und somit gegen die demokratischen Prinzipien verstoßen haben oder Hitler-Deutschland Beihilfe geleistet haben, in politischer, wirtschaftlicher, kultureller oder sportlicher Hinsicht. Der Ausdruck aus dem Gesetz (Art. 3 Punkt a.) „jene, die mit Hitler-Deutschland kollaboriert haben“ wird in der Verordnung anhand von drei Kategorien von Deutschen erklärt, eine in Wirklichkeit unnötige Einteilung, da der Punkt alle rumänischen Staatsbürger deutscher Nationalität umfasst, ohne jede Ausnahme. Es muss erwähnt werden, dass die ersten beiden Kategorien im Gesetz separat unter den Punkten c. und f. aufgeführt werden, folglich könnten sie durch die Verordnung nicht in Punkt a. des Gesetzes eingegliedert werden. Die Enteignung betrifft nicht, wie bei den Rumänen und den anderen Nationalitäten, nur die großen Gutsherren, sondern die Gesamtheit der rumänischen Staatsbürger deutscher Nationalität. Art. 3, Punkt c. aus der Verordnung beweist eine Unkenntnis der Realität, denn, nachdem bestätigt wird, dass die Enteignung jener er-

Das Gedächtnis der Dokumente folgt, die der Deutschen Ethnischen Gruppe angehört haben, wird noch hinzugefügt, dass auch all jene enteignet werden, „die Hitler-Propaganda gemacht haben und so gegen die demokratischen Prinzipien gekämpft haben oder die Hitler-Deutschland Beihilfe geleistet haben, in politischer, wirtschaftlicher, kultureller oder sportlichen Hinsicht,“ was heißt, dass der Gesetzgeber die Deutsche Ethnische Gruppe als eine Gemeinschaft betrachtet, die nur einen Teil der rumänischen Staatsbürger deutscher Nationalität umfasst, nachdem er auch von anderen Kategorien spricht, die ebenso die Ideen Hitlers hätten propagieren können. Vermutlich hat der Gesetzgeber die Partei N.S.D.A.P., also die National-Sozialistische Partei, mit der Deutschen Ethnischen Gruppe verwechselt. Jedoch das Gesetz zur Bildung der Ethnischen Deutschen Gruppe aus Rumänien versteht unter diesem Ausdruck die Gesamtheit der rumänischen Staatsbürger deutscher Nationalität, ohne wirklichen politischen Inhalt, denn es sollte durch diese Gründung nur die Pflege und Festigung des nationalen Lebens dieser Nationalität erzielt werden. Der Deutschen Ethnischen Gruppe gehörten gemäß Art. 2 des Gesetzes Nr. 830 vom 20. November 1940 alle rumänischen Staatsbürger deutscher Nationalität an, die durch ihr Bekenntnis zum deutschen Volk – jedoch nicht zum Nationalsozialismus – anerkannt wurden als deutschen Ursprungs, von der Leitung der Deutschen Ethnischen Gruppe und dementsprechend registriert wurden in dem nationalen Register der Deutschen Ethnischen Gruppe aus Rumänien. Die Eintragung erfolgte danach völlig automatisch, ohne die Befragung und das Wissen der Betroffenen, aber aufgrund eines Gesetzes des rumänischen Staates. Wer nicht Mitglied der Deutschen Ethnischen Gruppe war, hatte weniger Rechte, war Bürger zweiter Klasse, erhielt z.B. keine Reisegenehmigung, konn-

207 te keine Firma gründen, traf bei allen Behörden auf Schwierigkeiten. Die Gründung der Deutschen Ethnischen Gruppe bedeutete für den Großteil der Deutschen in Rumänien eine neue Regelung ihrer MinderheitenRechte innerhalb des rumänischen Staates. Art. 3 des oben genannten Gesetzes bestätigt die Existenz eines anderen politischen Organs, unabhängig von der Deutschen Ethnischen Gruppe, und zwar die Partei NSDAP. Sie ist „die Vertreterin des nationalen Willens der deutschen ethnischen Gruppe.“ Während die Deutsche Ethnische Gruppe alle rumänischen Staatsbürger deutscher Nationalität einschloss, hatte die NSDAP im Jahr 1944 nur 20.000 Mitglieder. Mitglied der Deutschen Ethnischen Gruppe wurde jeder Deutschstämmige von Geburt aus, Mitglied der NSDAP erst nach politischen Verdiensten. Der Gesetzgeber der Agrarreform dachte ohne Zweifel an die Selektion der faschistischen und hitleristischen deutschen Elemente, aber diese legislative Absicht hätte unter einem anderen Begriff besser definiert werden sollen und nicht unter jenem der „Deutschen Ethnischen Gruppe“. Es wäre der Realität näher gekommen und hätte den demokratischen Ideen eher entsprochen, wenn man von der NSDAP und nicht von der Deutschen Ethnischen Gruppe gesprochen hätte. Andernfalls, man hat es geschafft, ein rassistisches Gesetz zu schaffen, denn nach der Verordnung (Art. 3, Punkt c.) sind alle Bürger mit deutschem Blut von der Sanktion betroffen. Die überwältigende Mehrheit der Kleinbauern hat keine andere Schuld, denn als Deutsche geboren worden zu sein. Auch in der Tschechoslowakei wurden die Bürger deutscher Nationalität mit der totalen Enteignung oder sogar mit der Vertreibung bestraft. Aber das Motiv war nicht national, sondern die Deutschen und Ungaren aus dem tschechoslowakischen Staat wurden wegen Hochverrat und wegen den Verbrechen an den tschechischen Bürgern zur Verantwor-

208 tung gezogen. Die rumänische Regierung bestraft alle rumänischen Staatsbürger deutscher Nationalität durch totale Enteignung, obwohl sie niemals irredentistische Gefühle gehegt oder gegen die Einheit und Sicherheit des rumänischen Staates gewirkt hatten. Es wäre notwendig gewesen, dass es im Gesetz zur Agrarreform eine genauere Beschreibung gegeben hätte, was die rumänischen Staatsbürger deutscher Nationalität betrifft. Bei der Gründung der Deutschen Ethnischen Gruppe waren nämlich alle Deutschen vom rumänischen Staat gezwungen worden, zu dieser Organisation zu gehören, wobei die paradoxe Situation erreicht wurde, dass die alten Kämpfer für Demokratie zur Deutschen Ethnischen Gruppe gehörten. Mit der Agrarreform werden die kommunistischen Kämpfer und die sozialdemokratischen rumänischen Bürger deutscher Nationalität, eingesperrt in Lagern und Gefängnissen, aber immer noch rechtliche Mitglieder der Deutschen Ethnischen Gruppe, nunmehr enteignet, da das Gesetz der Agrarreform oder vor allem die Verordnung keinerlei Unterscheidung machte. Die rumänischen Behörden wachten über den Erhalt und das Funktionieren der Deutschen Ethnischen Gruppe, da die Mitglieder keine Aktionen und juristische Schritte durchführen konnten, als wenn sie den rumänischen Behörden bewiesen, dass sie treue Mitglieder waren und alle Verpflichtungen gegenüber der Gruppe erfüllten. „Mit der Genehmigung des gesetzgebenden Nationalstaates konnte die Deutsche Ethnische Gruppe, zum Erhalt und zur Stärkung des nationalen Lebens, seinen Mitgliedern Anweisungen mit verpflichtendem Charakter geben.“ (Art. 4). Bei aller Politisierung der Leitung der Deutschen Ethnischen Gruppe konnte der rein ethnische Charakter der Gruppe nicht zerstört werden, denn im Grunde waren die Mitglieder unpolitisch. Die große Mehrheit

Das Gedächtnis der Dokumente der Mitglieder der Deutschen Ethnischen Gruppe waren vor allem loyale Bürger des rumänischen Staates und wollten von den übertriebenen Ideen der Nazis nichts wissen. Der Ausdruck „Kollaborateur“ wird nicht angewandt für jene rumänischen Staatsbürger deutscher Nationalität, die tatsächlich den faschistischen Ideen zugetan waren, sondern für alle Mitglieder der Deutschen Ethnischen Gruppe. Es ist absolut notwendig – so wird es auch in allen anderen befreiten Ländern gehandhabt – dass die Schuldigen zur Verantwortung gezogen werden und die wohlverdiente Strafe erhalten. Was auch gesagt wird, die rumänischen Staatsbürger deutschen Ursprungs, mit all ihrer Verschuldung, sind jedoch nicht schuldiger als die Deutschen aus dem Reich, die unter viel stärkerem national-sozialistischen Einfluss standen und die den Krieg geführt hatten mit vereinten Kräften. Trotz alledem werden im von den Vereinten Nationen besetzten Deutschland und auch in Österreich nur die Führer der NSDAP zur Verantwortung gezogen, aus dem Staatsdienst entlassen und vor Gericht gestellt. Auch in der von der Roten Armee besetzten Zone wird eine Agrarreform durchgeführt. Es werden die großen Gutsbesitzer enteignet, nicht als ehemalige Hitler-Anhänger, sondern als Gutsbesitzer, und das Land wird an die landwirtschaftlichen Arbeiter aufgeteilt, ohne Unterschied und ohne Rücksicht auf ihre frühere politische Gesinnung. Die Sowjetische Union lässt sich bei dieser Aktion nur durch die sozialen Notwendigkeiten leiten, nicht aber durch politische und rassistische Kriterien. Die Agrarreform in Rumänien hat einen dreifachen Zweck: Art. 1 des Gesetzes erklärt: „Die Agrarreform ist für unser Land eine nationale, wirtschaftliche und soziale Notwendigkeit.“ Der nationale Zweck wird erreicht durch die

Das Gedächtnis der Dokumente rassistischen Verfügungen des Gesetzes und vor allem der Verordnung. Die Kollaborateure und Feinde der Demokratie werden nur dann enteignet, wenn sie nicht rumänische Staatsbürger rumänischer Nationalität sind. Um die nationale Idee komplett durchzusetzen, erklärt die Verordnung alle rumänischen Staatsbürger deutscher Nationalität zu Kollabo rateuren und enteignet sie, weil sie Deutsche sind und nicht, weil sie schuldig sind. Der wirtschaftliche Zweck erfordert die Erschaffung einer hohen Zahl von starken, gesunden und produktiven Haushalten. Oder ist es wohl die Absicht der Regierung, die bereits existierenden, progressiven Haushalte der Sachsen und Schwaben zu zerstören und sie durch winzige Haushalte mit fragwürdiger Rentabilität zu ersetzen? Der soziale Zweck wird im Rahmen der Möglichkeiten realisiert, durch die Landzuteilung an die landwirtschaftlichen Arbeiter, so dass sie künftig nicht mehr gezwungen sein werden, sich als Tagelöhner auf den großen Gutshöfen zu verdingen. Für die rumänischen Staatsbürger deutscher Nationalität ist der soziale und wirtschaftliche Zweck nicht beabsichtigt oder erreicht, im Gegenteil, durch die Agrarreform verarmen sie vollständig. Es ist noch ungerechter, weil die deutschen Bauern nicht von der Ausbeutung fremder Arbeitskraft lebten, sondern selbst zusammen mit den Familienmitgliedern arbeiteten. Dienstpersonal gab es nur in den größeren Haushalten – nur 0,2 % hatten mehr als 50 ha Land – aber es gab bei ihnen eine beispielhafte Organisation der verschiedenen Kooperativen, eine rationelle und mechanisierte Bearbeitung des Bodens, ein gutes Gefühl für Wirtschaftlichkeit, Fleiß und Ausdauer. Die deutschen Bauern waren also keine großen Gutsbesitzer, sondern zum Großteil Kleinbauern mit einem durchschnittlichen Grundbesitz von kaum 9 Joch (5,1 ha).

209 Das Problem jener, die freiwillig in die SS eingetreten waren Ein spezieller Fall ist der Art. 3 Punkt f) des Gesetzes, der erklärt: „Es werden die landwirtschaftlichen Güter jeder Art all jener rumänischen Staatsbürger enteignet, die sich freiwillig der SS angeschlossen haben, um gegen die Vereinten Nationen zu kämpfen.“ Die Verordnung führt diese Kategorie in Art. 3, Punkt 1, wie folgt auf: Es werden als sogenannte Kollaborateure enteignet: „rumänische Staatsbürger, die in der deutschen Armee SS waren, sowie auch deren Vorfahren und Nachkommen.“ In Übereinstimmung mit der Verfassung werden die Gesetze interpretiert und durch Verordnungen näher bestimmt, um eine einheitliche Durchführung im ganzen Land zu gewährleisten. Die Verordnung kann aber aus dem Gesetzestext nichts weglassen oder hinzufügen. Und trotzdem begeht die Verordnung dieses Gesetzes diesen Fehler, weil in willkürlicher und illegaler Weise hinzugefügt wird: „sowie auch deren Vorfahren und Nachkommen.“ Aufgrund dieser Verordnung werden demnach die Eltern und Vorfahren enteignet, weil ihr Sohn oder nicht volljähriger Enkel der SS angehört hat sowie auch die Kinder, weil ihr Vater gegen die Vereinten Nationen gekämpft hat. Diese willkürliche und illegale Interpretation des Gesetzes stuft die SS-ler schlechter ein als die Kriegsverbrecher, weil letztere nur für sich selbst verantwortlich sind, während ihre Vorfahren und Nachkommen nicht für fremdes Verschulden zur Verantwortung gezogen werden. In keinem einzigen Land gibt es ein solches Strafgesetz, aber auch in Rumänien konnte nur durch einen Fehler und illegale Interpretation des Gesetzes eine solch bedauerliche Situation geschaffen werden. Im Jahr 1943, als ein Abkommen zwischen Deutschland und dem Großen Generalstab Rumäniens geschlossen wurde, hat

210 der rumänische Staat zugestimmt, alle Soldaten deutschen Ursprungs aus der rumänischen Armee freizulassen, außer den Offizieren, Unteroffizieren und Spezialisten, damit sie sich der SS anschließen können. Auf der Grundlage dieser Übereinkunft wurden die Rekrutierungsmaßnahmen für die deutsche Armee SS durchgeführt und jene, die als tauglich eingestuft wurden, wurden in Spezialtransporten nach Deutschland verbracht. In der Zeit der Rekrutierung bis zum letzten Transport, machten die Führer der Deutschen Ethnischen Gruppe eine wahnsinnige Werbung und übten einen unerhörten Terror aus, damit sich ja niemand dieser Aktion entziehen konnte. Wer sich weigerte, vor der Rekrutierungskommission zu erscheinen o­der abtransportiert zu werden, wurde von terroristischen Banden angegriffen, bis aufs Blut verprügelt und mit Gewalt fortgebracht, sein Haus verwüstet. Wer nein sagte, wurde mit dem Tod bedroht. Wenn die dem Terror Ausgesetzten sich an die rumänischen Behörden oder an die Gendarmerie wandten, fanden sie nur selten Schutz. Die meisten militärischen Behörden unterstützten diese Aktion mit allen ihren Kräften, indem sie selbst die rumänischen Soldaten deutscher Nationalität aus ihren Reihen aufforderten, sich der SS anzugliedern. So kamen ca. 50.000 Sachsen und Schwaben zur SS. Und nun werden diese alle als Freiwillige bezeichnet und nicht nur sie, sondern auch ihre Vorfahren und Nachkommen werden enteignet. Die mit der deutschen und ungarischen Armee Weggezogenen Art. 3, Punkt c) aus dem Gesetz erklärt: „Es werden die Ländereien derjenigen enteignet, die in Länder geflüchtet sind, mit denen Rumänien sich im Kriegszustand befindet, oder die nach dem 23. August 1944 ins Ausland geflohen sind.“ Die Verordnung beschreibt diese Kategorie in Art. 3 Punkt b)

Das Gedächtnis der Dokumente wie folgt: „Es werden als Kollaborateure jene Staatsbürger enteignet, die mit der deutschen und ungarischen Armee weggezogen sind.“ Auch in diesem Fall stimmt der Gesetzestext nicht mit der Verordnung überein. Art. 3, Punkt c), Absatz 5 der Verordnung unterstreicht nochmals den rassistischen Charakter des Agrargesetzes. Nicht betroffen vom Artikel 3 Punkt c) des Gesetzes sind die Rumänen, die zur Arbeit abtransportiert worden waren oder von der deutschen oder ungarischen Armee ausgehoben wurden, um nach Deutschland oder Ungarn in die Arbeitslager verbracht zu werden.“ Warum wohl profitieren von diesen mildernden Umständen nur die rumänischen Staatsbürger deutscher oder ungarischer Nationalität? Es gibt zwei Arten von Flüchtlingen: a. Nach dem 23. August 1944 wurde Rumänien Schauplatz der Kämpfe, die die Rote Armee zusammen mit der rumänischen Armee führte, indem die deutsche Armee zurückgedrängt wurde. Dort, wo die Front längere Zeit blieb und Kämpfe stattfanden, von dort flüchtete auch die Zivilbevölkerung aus Angst vor der Front. In sehr vielen Fällen wurden von den kämpfenden Truppen Maßnahmen zur Evakuierung der Zivilisten eingeleitet. In den Grenzregionen in Siebenbürgen und im Banat, bewohnt von rumänischen Staatsbürgern deutschen Ursprungs, hatten die Ereignisse katastrophale Folgen. Die feindlichen Truppen, deutsche und ungarische, führten eine intensive Propaganda gegen die Haltung der sowjetischen Soldaten und konnten die deutsche und ungarische Bevölkerung aus der Region so stark beeinflussen, dass viele aus Angst vor den angeblichen Grausamkeiten der sowjetischen Armee ihre Haushalte verließen und in ein Kriegsgebiet flüchteten. Aber noch schwerwiegendere Folgen hatte die Einschüchterungstaktik einiger Führer der Deutschen Ethnischen Gruppe, die auch vor Terrorakten nicht zurückschreckten, in-

Das Gedächtnis der Dokumente dem den deutschen Bauern sogar mit Erschießung gedroht wurde. Viele Bewohner, eingeschüchtert, verließen auf diese Weise ihre Dörfer, in der Hoffnung auf baldige Rückkehr, aber mit Gewalt wurden sie bis nach Österreich oder in die Tschechoslowakei gebracht. Von hier konnte niemand vor dem vollkommenen Zusammenbruch Deutschlands zurückkehren. Die Unglücklichen aus dieser Kategorie – die Opfer des Kriegsgeschehens – fanden ihre Häuser nach der Rückkehr komplett ausgeraubt vor, die Wohnungen besetzt von angeblichen Kolonisten und das Land enteignet. Diesen ehemaligen Flüchtlingen hatte man die Lebensgrundlage entzogen, sie waren total verarmt, hatten kein Einkommen, da sie viele Monate in sogenannten Arbeitslagern festgehalten worden waren, sie waren ohne Unterkunft und die Kinder und Alten auf die Hilfe der Barmherzigen angewiesen. b. Nach dem 23. August 1944 flüchteten aus Rumänien rumänische Staatsbürger, unabhängig von ihrer Nationalität, jene, die durch ihre Politik kompromittiert waren, als Vertreter des Regimes Antonescu oder als sogenannte Führer der Deutschen Ethnischen Gruppe. Diese flüchteten ins Ausland, da sie Angst hatten, zur Verantwortung gezogen zu werden für die feindliche politische Haltung gegenüber der Sowjetunion und als Kämpfer gegen die demokratischen Ideen. Vor allem diesen gegenüber hätten die Verfügungen des Gesetzes Art. 3, Punkt c) angewandt werden müssen, jedoch unabhängig von der Nationalität. Die Verordnung, die die Weinberge betrifft Das Gesetz dekretiert in Art. 3, Absatz 1, die Enteignung der landwirtschaftlichen Besitztümer mit dazu gehörigem lebenden und toten Inventar aus den Kategorien a – h. In Art. 3, Punkt h. werden die Flächen beschrieben, die wie folgt enteignet werden

211 sollen: „Der urbare Boden, die Obstgärten, die Heuwiesen, die Weiden, die Teiche und die künstlichen Teiche, ob sie für den Fischfang genutzt werden oder nicht, die Moore und die überschwemmbaren Flächen.“ Art. 23 aus dem Gesetz sagt bezüglich der Weingärten aus: „Was die Angelegenheit der Wälder und Weingärten betrifft, so werden diese in einem speziellen Gesetz behandelt.“ Obwohl genau festgelegt wird, dass die Wälder und Weingärten in einem separaten Gesetz behandelt werden, finden wir in der Verordnung, Art. 3, Absatz 6, folgende Anweisungen: „Die Wälder und die Weingärten, die aus der Anwendung des Art. 3, Punkt a. des Gesetzes stammen, gehen in Staatseigentum über, wobei die Wälder dem Register Forstwirtschaft unterstellt sind, die Weingärten hingegen durch das Ministerium für Landwirtschaft und Ländereien verwaltet werden.“ Während das Gesetz nur ein spezielles Gesetz hinsichtlich der Weingärten ankündigt, erklärt die Verordnung die Enteignung der Weingärten und legt deren Verwaltung durch das Landwirtschaftsministerium fest. Diese Verordnung bedeutet eine schwerwiegende Missachtung des Gesetzes und ist völlig illegal. Dieser Absatz verordnet nur die Enteignung der Wälder und der Weingärten, die rumänischen Staatsbürgern deutscher Nationalität gehören, die in Artikel 3 Punkt a. als sogenannte Kollaborateure eingestuft werden. Der letzte Abschnitt des Artikels 3 legt fest: „Die Eingliederung in den vorgesehenen Fällen im Gesetz Art. 3, unter den Punkten a., b., c., d., f. und g. führt zur totalen Enteignung der Grundstücke und der Güter aller Kategorien, einschl. der Wälder und Wein­berge.“ Der vorvorletzte Absatz sieht jedoch folgende Ausnahmen bei der Enteignung der Weinberge vor: „Wenn ein landwirtschaft-

212 licher Besitz in den letzten sieben Jahren in einer anderen Weise genutzt wurde als in eigener Regie, also z.B. verpachtet war, so wird dieser komplett enteignet… außer Wälder und Weinberge.“ Diese Maßnahme erscheint uns ungerecht und unsozial, da sie tatsächlich ein Vorteil ist für alle Weinbergbesitzer, die die Weinberge nur als Erholungsort während des Sommers betrachten, während sie von anderen bearbeitet werden als von ihnen selbst. Hingegen bedeutet die gleiche Maßnahme eine Strafe für all jene deutschen Bauern, für die die Weinberge kein Luxusobjekt sind, sondern Quelle der Arbeit und somit Lebensgrundlage. Aber auch in diesem Fall hat der Autor dieses Gesetzes den nationalen Zweck der Agrarreform verfolgt und aus diesem Grunde hat er ausschließlich die Enteignung der Weinberge in deutschem Besitz verfügt. Folglich unterstreicht die Verordnung erneut den rassistischen Charakter des Gesetzes zur Agrarreform. Obwohl bis dato das spezielle Gesetz zu den Weinbergen nicht erschienen ist, stuft das Landwirtschaftsministerium die Weinberge aus der erwähnten Kategorie als enteignet ein und hat sie in seine Verwaltung übernommen. Bereits im Jahr 1945 wurden die Weinberge der rumänischen Staatsbürger deutscher Nationalität verpachtet und die ehemaligen Besitzer wurden gezwungen, außer der willkürlich festgelegten Pacht auch noch die Steuern zu bezahlen. Im Jahr 1946 wird nach der gleichen legalen Vorgehensweise gehandelt, allerdings wird die Pacht unvereinbar erhöht. Verfügungen bezüglich des lebenden und toten Inventars Der Artikel 3 des Gesetzes legt die Enteignung von „landwirtschaftlichen Gütern und des dazu gehörenden lebenden und toten Inventars“ fest. Die Erklärung und gleichzeitig die Beschränkung des toten und lebenden Inventars

Das Gedächtnis der Dokumente befindet sich in Art. 6: „Traktoren, Dreschmaschinen, Mähdrescher usw. von den landwirtschaftlichen Besitztümern, die in Art. 3 vorgesehen sind, gehen in Staatseigentum über. Die anderen landwirtschaftlichen Geräte und die Zugtiere gehen in Staatseigentum über und werden anderen Bauern zugesprochen. Die Verordnung erweitert auch in diesem Fall die Definition der zu enteignenden Tiere und verletzt somit offensichtlich die kategorischen Gesetzesvorschriften, indem in Art. 3, letzter Absatz, außer den vom Gesetz vorgesehenen Zugtiere auch „die Nutztiere und die Zuchttiere“ aufgeführt werden. Die gleiche illegale Vorgehensweise stellen wir auch in Art. 6 der Verordnung fest: „In Staatseigentum werden die Maschinen des Artikels 6 des Gesetzes übergehen.“ Die Verordnung fügt demnach nicht weniger als 6 Kategorien von landwirtschaftlichen Maschinen hinzu, die im Gesetz nicht vorgesehen sind. Wenn es im Sinne des Gesetzes ist, dass auch diese Gegenstände enteignet und an den Staat gehen sollen, hätte der Gesetzgeber, in Übereinstimmung mit der Verfassung, die Änderung dieses Artikels vornehmen müssen durch einen Änderungsantrag, aber durch die angewandte Methode hat das Ministerium für Landwirtschaft seine Befugnisse und Rechte überschritten, indem das Gesetz willkürlich und illegal geändert wurde. Die Anweisungen der Zentralen Kommission der Agrarreform vom 21. April 1945 umfasst folgende Normen: „Es wird keinesfalls anderes Vieh enteignet, Geflügel usw., da dies gegen das Gesetz ist, außer in den Fällen, in denen eine komplette Enteignung erfolgt gem. Art. 3 des Gesetzes.“ Den enteigneten Großgrundbesitzern können aufgrund der Agrarreform von den damit beauftragten Behörden nur die Zugtiere weggenommen werden, da die gesetzlichen Verordnungen gem. Art. 6 streng befolgt werden, aber diese Anweisungen müssen nicht für die angewandt werden, die „kom-

Das Gedächtnis der Dokumente plett enteignet“ werden und verstoßen nicht gegen das Gesetz. Das Gesetz erwähnt nirgendwo die „totale Enteignung“, denn diese würde nicht dem sozialen Zweck entsprechen. Die Agrarreform hat das Ziel, starke, gesunde und produktive Haushalte zu bilden, was landwirtschaftlichen Boden, Zugtiere und Geräte erforderlich macht, und deshalb sind nur diese enteigenbar. Aus diesem Grund sieht das Gesetz in Art. 3 die Enteignung „von landwirtschaftlichen Gütern sowie des dazu gehörigen lebenden und toten Inventars“ vor, und präzisiert in Art. 6, welche Art von Tieren und Maschinen enteigenbar sind und wem diese enteigneten Gegenstände zugesprochen werden. Erst die Verordnung verwendet in Art. 3 im letzten Absatz den Ausdruck „totale Enteignung“. Diese Verordnungen sind nicht nur illegal, indem sie den Ausdruck der „totalen Enteignung aller Güter jeglicher Art“ einführen, sondern sie erklären außer den Zugtieren auch die Nutz- und Zuchttiere als enteigenbar. In Übereinstimmung mit der illegalen Verordnung schritten die beauftragten Behörden zur illegalen Durchführung der Agrarreform. Das größte Interesse zeigten sie am lebenden und toten Inventar. Zuerst wurden die Zugtiere enteignet, aber die neuen Besitzer verwendeten sie nur in geringem Maße für landwirtschaftliche Arbeiten. Danach gingen sie zur Enteignung der anderen Tiere über und, weil viele von ihnen, Kolonisten und Berechtigte, nicht über die nötigen Ställe verfügten, kein Futter hatten und keine Kenntnisse und Erfahrung in der Viehzucht, verringerte sich die Zahl der Tiere nicht nur durch die Kriegsgeschehnisse, sondern vor allem auch die Zahl der reinrassigen Tiere. Letztendlich wollen wir noch auf die wirtschaftlichen Folgen hinweisen, die eine vor­ schnelle Umsetzung der Agrarreform nach sich zog, durch die totale Enteignung von

213 70.000 bis 80.000 Haushalten mit ca. 40.000 ha, was für die Landwirtschaft Rumäniens von beachtlicher Bedeutung war, da die sächsischen und schwäbischen Bauern zu den fleißigsten und geschicktesten Ackerbauern aus Rumänien gehörten. Ihre Haushalte übertrafen vom Inventar her jene aus dem Rest des Landes, waren mit den neuesten Maschinen ausgestattet, da sie eine intensive Landwirtschaft betrieben, mit ausgewähltem Saatgut, sie verwendeten ziemlich viel künstliche Düngemittel und erzielten somit höhere Erträge als im übrigen Land. Durch die Spezialisierung auf bestimmte Kulturpflanzen, durch die Aufzucht von reinrassigen Rindern brachten sie dem gesamten Land immensen Nutzen. Dieses Memorandum wurde der rumänischen Regierung bereits Ende September 1945 vorgelegt. Gleichzeitig wurde ein Referat eingereicht über „die Bedingungen, unter denen die Agrarreform eingeführt wird bei den rumänischen Staatsbürgern deutscher Nationalität“, das die Ungerechtigkeiten und die Willkür der lokalen Behörden bei der Einführung der Reform beinhaltet. In einem Memorandum vom 19. Februar 1945, in dem bereits auf die illegale Durchführung der Agrarreform hingewiesen worden war, wurden Vorschläge gemacht, um der Idee der Gerechtigkeit nachzukommen und um das Gleichgewicht aufgrund der politischen Schuld wieder herzustellen. Es wurde festgelegt, dass die Benachteiligten ermittelt, die Verantwortlichen gesucht und die Schuldigen bestraft werden. Es wäre also absolut notwendig gewesen, die rumänischen Staatsbürger deutscher Nationalität herauszufiltern, was eine gerechte und zufriedenstellende Lösung der Frage der Verantwortlichkeit dargestellt hätte. Die Anweisungen vom 28. Februar 1946 schufen eine völlig neue Situation. Aus juristischer Sicht kann eine komplette

214 Zuwiderhandlung gegenüber der Verordnung festgestellt werden, da mehrere Punkte abgeändert wurden, die im Widerspruch zum Gesetz standen und dem Gesetz angepasst wurden. So wurden mithilfe einiger Anweisungen, die dazu bestimmt waren, die Verordnung näher zu bestimmen, einige Punkte der Verordnung komplett aufgehoben. Diese Vorgehensweise ist an und für sich legal, aber damit wurde eine willkürliche und falsche Interpretation wieder zurechtgerückt, deshalb sehen wir das mit Genugtuung. Aber die gleichen Anweisungen widersprechen sogar dem Gesetz, indem sie etwas einführen, was weder im Gesetz noch in den Anweisungen steht, nämlich die Evakuierung der Wohnung – also der bäuerlichen Häuser. Die Anweisungen enthalten folglich Präzedenzen der geänderten Verordnung und sogar des Gesetzes, ist es wohl künftig nicht zu befürchten, dass dies sich wiederholt? Die Einteilung, von uns vorgeschlagen, sehen wir mit Genugtuung, da hierdurch eine Unterscheidung zwischen Schuldigen und Unschuldigen möglich ist. Die Bildung der beiden Kategorien der Kollaborateure und Nicht-Kollaborateure ist festgelegt durch Art. 3 Punkt a. des Gesetzes, das „die Enteignung der rumänischen Staatsbürger deutscher Nationalität vorsieht, die mit Hitler-Deutschland kollaboriert haben.“ Die Verordnung erklärt in Art. 3 Punkt c. „all jene rumänischen Staatsbürger deutscher Nationalität zu Kollaborateuren, die der Deutschen Ethnischen Gruppe angehört haben.“ So ist eine Aufteilung nicht mehr erforderlich, indem verantwortliche politische Führer bestraft werden, ebenso wie einfache Mitglieder der Deutschen Ethnischen Gruppe, die weder danach gestrebt hatten, Mitglieder der NSDAP zu werden, noch politisch aktiv waren, auch keine Propaganda gemacht hatten für die Ideen der Nazis und sich teilweise sogar in Opposition befanden zur

Das Gedächtnis der Dokumente Führung der Deutschen Ethnischen Gruppe. Diese Ungerechtigkeit wurde durch die neuen Anweisungen vom 28. Februar 1946 aufgehoben. Punkt 1, Absatz a. der Anweisungen „all jene, die zu den Truppen der SS gehört haben und zu paramilitärischen Gruppen“, beziehen sich in Wirklichkeit nicht auf die Kollaborateure aus Art. 3 Punkt a. des Gesetzes, sondern auf jene, die unter Punkt f. erwähnt werden. Punkt 1 Absatz b. der Anweisungen: „All jene, die mit dem deutschen Heer weggezogen sind“ bezieht sich ebenfalls nicht auf die Kollaborateure des Artikels 3, Punkt a. des Gesetzes, sondern auf jene unter Punkt c. Allein die Abschnitte c. und d.: „Alle ehemaligen Leiter der NSDAP und der deutschen Ethnischen Gruppe sowie anderer Organisationen mit Kollaborateurs-Charakter und alle Mitglieder der NSDAP und alle anderen, die in der Deutschen Ethnischen Gruppe eingeschrieben und dort auch tätig waren“, definieren den Begriff „Kollaborateur“ aus Artikel 3 Punkt a. des Gesetzes. Die Vereinten Nationen und die befreiten Völker haben den Begriff „Kollaborateur“ beschrieben und festgelegt. Als Kollaborateure werden jene Staatsbürger eines befreiten Landes eingestuft, also ehemalige Verbündete Deutschlands, die aufgrund ihrer wichtigen Rolle in politischer, wirtschaftlicher, kultureller und sozialen Hinsicht sich in den Dienst der deutschen Befehlshaber begeben hatten, Hitler-Deutschland unterstützt und ihm geholfen haben, zum Schaden des eigenen Landes und Volkes. Diese Kollaborateure wurden auch Quislingi genannt, nach dem Namen des norwegischen Premierministers während der Zeit der deutschen Besatzung in Norwegen. Die rumänischen Staatsbürger deutscher Nationalität können nicht als Kollaborateure eingestuft werden, da sie nicht unter diese Definition fallen, da der rumänische Staat

Das Gedächtnis der Dokumente ja bis zum 23. August 1944 zu den Verbündeten Deutschlands gehörte und für die damalige Politik nur der damalige Machthaber im Staat mit seinen Ministern verantwortlich gemacht werden kann. Wenn man die Begrifflichkeit erweitert, könnte man als Kollaborateure die Führungsriege der Deutschen Ethnischen Gruppe bezeichnen, an der Spitze mit Andreas Schmidt, da dieser einigermaßen Druck und Einfluss ausgeübt hatte auf die rumänische Regierung. Die anderen rumänischen Staatsbürger deutscher Nationalität hätten nur dann zu Kollaborateuren werden können, wenn sie in irgendeiner Weise nach dem 23. August 1944 mit Hitler-Deutschland gegen ihr Vaterland Rumänien kollaboriert hätten, was aber nicht der Fall war. Denn sogar die rumänischen Staatsbürger deutscher Nationalität, die aufgrund des Abkommens zwischen Rumänien und Deutschland aus der rumänischen Armee befreit wurden, um sich der SS anzuschließen, können bis zum 23. August 1944 nicht als Kollaborateure eingestuft werden, weil sie auch in der rumänischen Armee gegen die Vereinten Nationen gekämpft hätten. Nach dem 23. August 1944 weigerten sich viele von ihnen, gegen Rumänien zu kämpfen und verlangten sogar ihre Entlassung, aber alles war vergeblich. Deshalb können sie als die Opfer von staatlichen Abkommen angesehen werden. Punkt 1 Absatz d. erklärt „all jene, die in der Deutschen Ethnischen Gruppe eingeschrieben und dort tätig waren“ zu Kollaborateuren. Folglich werden die rumänischen Staatsbürger deutscher Nationalität als Kollaborateure eingestuft, die von ihrer nationalsozialistischen Führung aufgrund ihrer Haltung nicht als würdig eingestuft worden waren, in die NSDAP aufgenommen zu werden, die also nicht zu politischen Würden gelangt waren, indem sie die nazistischen Ideen propagiert hatten, weil sie eben „nicht aktiv waren“. Die Anweisungen beschreiben

215 den Ausdruck „aktiv werden“ nicht näher, und so kommt die Frage auf, ob die mit der Agrarreform beauftragten Behörden, als einfache Bauern ohne juristische und politische Bildung, diesen ungenauen Begriff nicht in verschiedenen Arten interpretieren könnten. Der Ausdruck „aktiv werden“ ist sehr vage und es wäre möglich, dass er auf alle Mitglieder der Deutschen Ethnischen Gruppe ausgeweitet wurde. Punkt 2 der Anweisungen führt die Kategorien der rumänischen Staatsbürger deutscher Nationalität auf, die als Nicht-Kollaborateure eingestuft werden können, wenn sie Beweise für die Nicht-Kollaboration vorlegen können. „All jene, die in der Deutschen Ethnischen Gruppe eingeschrieben waren aufgrund des Gesetzes zur Gründung dieser Gruppe, aber keine Beiträge gezahlt haben oder sich den Befehlen oder Bestimmungen dieser Gruppe unterworfen haben, indem sie eine demokratische Haltung gezeigt haben.“ Es ist also gemäß diesen Anweisungen nicht ausreichend, dass man in keiner Weise politisch aktiv war, dass man nur passiv oder gleichgültig war, obwohl das die logische Schlussfolgerung sein müsste aus Punkt 1, Abschnitt d.: Kollaborateure sind all jene, die aktiv waren, folglich sind NichtKollaborateure all jene, die nicht aktiv waren. Die Anweisungen lassen als Beweis des Nicht-Kollaborierens nur einen aktiven Widerstand gelten, also der rumänische Staatsbürger muss beweisen, dass er sich der Deutschen Ethnischen Gruppe widersetzt hat, deren Mitglied er ohne seine ausdrückliche Zustimmung und Wissen geworden war, son­ dern nur aus Prinzip aufgrund eines Gesetzes des rumänischen Staates, da er die Beitragszahlungen abgelehnt und eine demokratische Grundhaltung hatte. Die Beiträge, die Beitragszahlungen in politischem Sinn an politische Parteien (Unterhalt eines Sitzes, die Bezahlung des Per-

216 sonals, Deckung der Kosten für die Werbung usw.) wurden nur von Mitgliedern der NSDAP bezahlt, denn nur sie allein waren Mitglieder einer politischen Partei. Die Mitglieder der Deutschen Ethnischen Gruppe bezahlten am Anfang freiwillige Beiträge zur Deckung der Unkosten, später wurden dann Spenden gesammelt mit karitativem Charakter. Als die Deutsche Ethnische Gruppe jedoch alle Schulen mit deutscher Unterrichtssprache übernommen hat, ob staatlich oder konfessionell, und der Staat somit nur die Gehälter der Lehrkräfte bezahlt hat, musste sich die Deutsche Ethnische Gruppe um die Instandhaltung der Schulgebäude kümmern, um die Unterrichtsmaterialien, andere Gehälter usw. Da die Deutsche Ethnische Gruppe keinerlei Vermögen hatte, auch keine Einnahmequelle, war sie gezwungen, von allen Mitgliedern Beiträge zu erheben zum Erhalt der deutschen Schulen, so wie die Evangelische Kirche bei den Sachsen und die katholische Kirche bei den Schwaben es schon vorher getan hatten. Die Art und der Zweck dieser Beitragszahlungen waren allen bekannt, da niemand sie ablehnen konnte, ohne dass er als Feind der deutschen Schule betrachtet worden wäre. Die Bezahlung dieser Beiträge war folglich keine politische Aktivität, sondern eine rein kulturelle. Die Beiträge an die Deutsche Ethnische Gruppe waren also nicht politisch einzustufen, sondern waren eine Schulsteuer. Den Kindern derjenigen, die sich weigerten, die Beiträge zu bezahlen, wurde der Zugang zu den Schulen verwehrt. Und da es in den meisten Gemeinden keine anderen Schulen gab, wären diese Kinder dann nicht eingeschult worden und die Eltern hätten somit gegen das Gesetz der Schulpflicht verstoßen. Aber auch wenn es eine andere Schule gegeben hätte, kann man von den Eltern verlangen, dass sie ihre Kinder in eine anderssprachige Schule schicken, deren Sprache ihnen unbekannt ist?

Das Gedächtnis der Dokumente Trotz alledem, bereits im Jahr 1942/43, also im ersten verpflichtenden Beitragsjahr, gab es eine beachtliche Zahl an Verweigerern, die diese Beiträge nicht zahlen wollten oder konnten, was eine zweite Steuer bedeutet hätte, denn viele Familienmitglieder, die für den Unterhalt der Familie zuständig waren, waren vom Militär eingezogen. Also wurden allein aus materiellen Gründen die Beiträge verweigert und nicht, um gegen die deutsche Schule zu protestieren. Als die Deutsche Ethnische Gruppe im Jahr 1943/44 versuchte, die Schule in ein politisches Instrument umzuwandeln und gleichzeitig die Beiträge beträchtlich erhöhte, wuchs die Zahl derjenigen, die aus materiellen Gründen oder aus ideologischer Opposition die Bezahlung verweigerten. In vielen Fällen wurden die Kinder aus den Schulen ausgeschlossen und die Beschwerden der Eltern fanden auch im Nationalen Kultusministerium kein Gehör. Gesehen und analysiert hinsichtlich ihres Zweckes, ihrer Einführung und ihrer Nutzung, wurden die sogenannten Beiträge der Deutschen Ethnischen Gruppe nur bedingt durch die Übernahme der konfessionellen Schulen durch den Staat und ausschließlich für schulische Zwecke verwendet, da sie keinen politischen Charakter hatten. Sie gefährdeten in keiner Weise die Sicherheit des rumänischen Staates und dienten auch nicht der Hilfe für Hitler-Deutschland. Die Bezahlung dieser Beiträge kann kein Kriterium sein für die Haltung und den politischen Glauben der rumänischen Staatsbürger deutscher Nationalität, sie beweist nicht das Einverständnis mit den Nazis, sondern nur die Notwendigkeit der deutschen Schule für ihre Kinder. Die Anweisungen geben außerdem Widerstand und Nicht-Unterordnung von Seiten der deutschen Bauern gegenüber den Anordnungen der Deutschen Ethnischen Gruppe vor. Wir denken, dass dies ein übertriebener

Das Gedächtnis der Dokumente und ungerechtfertigter Anspruch ist, da nicht die Rede ist von der Arbeiterklasse mit politischer Bildung und strenger Haltung, sondern von unpolitischen Bauern. Man darf nicht vergessen, dass fast alle Männer eingezogen worden waren, dass Arbeitskräfte fehlten, da die Daheimgebliebenen kaum ihrer Arbeit nachkamen und die Zeit für politische Aktivitäten einfach nicht vorhanden war. Dann geben die Anweisungen noch vor, Beweis für eine demokratische Haltung zu sein. Wer könnte gefragt werden, um ihnen diese Haltung zu bescheinigen, wenn doch alle an ihrer Enteignung interessiert waren und wohl nicht viele der heute Berechtigten nicht noch gestern Gardisten oder Legionäre waren? Aus dem oben Erwähnten geht hervor, dass Punkt 2 Abschnitt a) in seiner aktuellen Formulierung in Widerspruch steht zu Punkt 1 und als Folge der übertriebenen Ansprüche alle einfachen Mitglieder der Deutschen Ethnischen Gruppe, denen man keinerlei politische Aktivität vorwerfen konnte, enteignet werden. Die Einteilung in Kollaborateure und Nicht-Kollaborateure ist also unnötig, da sie nur ein scheinbares Mittel einer gerechten Unterscheidung ist. Die schwere Beschuldigung der Kollaboration sollen nicht jene aufbringen und beweisen, die an der Enteignung interessiert sind, sondern wir verlangen, dass, wie in den anderen Ländern auch, nur die Gerichte berufen sind, in dieser Hinsicht zu entscheiden und wir beanspruchen, dass uns die Möglichkeit zur Rechtfertigung unserer politischen Haltung persönlich gegeben wird, durch Zeugen oder andere Möglichkeiten der Beweisführung. Durch die Anordnung vom 19. März 1946 hat das Ministerium für Landwirtschaft und Landgüter die Verordnungen der Zentralen Kommission zur Durchführung der Agrarreform vom 28. Februar 1946 aufgehoben und hat die dringende Beendigung der Enteignung der rumänischen Staatsbürger deutscher Nationalität verfügt, indem sie in Kol-

217 laborateure und Nicht-Kollaborateure auf­ geteilt worden waren und die Enteignung gemäß dem Gesetz und der Verordnung angeordnet, so dass nur die Kämpfer an der Front, die Witwen, Waisen und Kriegsinvaliden ausgenommen sind. In Wirklichkeit werden auch diese enteignet und danach werden ihnen erneut 5 ha Land zugeteilt. Der Prozentsatz derer, die komplett enteignet werden, liegt, nachdem was bekannt ist, bei 99%, was nochmals den rassistischen Charakter der Agrarreform unterstreicht. Kleine sächsische und schwäbische Bauern werden nicht aufgrund ihrer Schuld enteignet – denn wer könnte schon ernsthaft Anklage wegen Kollaboration mit Hitler-Deutschland gegen sie erheben? – sondern, weil sie Deutsche waren. Es wird ihnen das Land genommen, das lebende und tote Inventar, es werden ihnen die Wohnhäuser weggenommen. Wo werden die Bauern wohl unterkommen, ca. 400.000 an der Zahl? Ihre Situation ist noch viel schlimmer, da die rumänische Regierung bisher keine Maßnahme ergriffen hat, sie in irgendeiner Art in die Produktion des Landes wiedereinzugliedern und ihnen so das Überleben zu ermöglichen. Dieses Problem ist besonders gravierend, da die jugendlichen Kon­ tingente als SS-ler sich teilweise in Gefangenschaft befinden, weit weg von ihren Familien, andererseits sich zur Zwangsarbeit in der UdSSR befinden, so dass in vielen Fällen kleine Kinder und arbeitsunfähige Alte allein und ohne Hilfe sind. Und diese Situation entstand, obwohl das Innenministerium in der Verordnung Nr. 35.890 vom 18. Oktober 1945 die Präfekturen darauf hingewiesen hatte, „dass die vollständige und sofortige Enteignung ein Problem ist, das nicht oberflächlich geprüft und mechanisch ausgeführt werden darf, da diese Aktion die Verpflichtung des Staates nach sich zieht, das Überleben der Enteigneten und deren Familien zu sichern.“

218 Der Ausschluss dieser 70.000 bis 80.000 Bauern mit ihren Familien aus der landwirtschaftlichen Produktion geschieht in einer Zeit mit großer Lebensmittelknappheit in Europa, als die Vereinten Nationen enorme Anstrengungen unternehmen, um den Ausbruch einer Hungersnot unbekannten Ausmaßes in der Weltgeschichte zu verhindern, die Vereinten Nationen ergreifen Maßnahmen zur Steigerung der landwirtschaftlichen Produktion in Europa und versuchen, durch Verringerung des Konsums in ihren Ländern einen Lebensmittel-Überschuss zu erzielen, der in den an Hunger leidenden Ländern bitter notwendig ist. Auch aus diesem Grunde meinen wir, dass Rumänien verpflichtet gewesen wäre, sich als Agrarland anzustrengen, um die Lebensmittelproduktion zu steigern und alle Maßnahmen zu vermeiden, die dieses Ziel gefährden könnten. Die Agrarreform und die Enteignung der Wohnhäuser der rumänischen Staatsbürger deutscher Nationalität An einer anderen Stelle des Memorandums wird darauf hingewiesen, dass die neuen Anweisungen vom 28. Februar 1946 mehrere Punkte aus der Verordnung abändern und auf diese Weise die Ungerechtigkeit verringern, die den rumänischen Staatsbürgern deutscher Nationalität angetan werden. Mit Bedauern müssen wir jedoch das Gegenteil feststellen, da diese Anweisungen zum ersten Mal auch die Wohnungen der Enteigneten behandeln. Hier der Text der Anweisung: „Dem enteigneten Besitzer wird von Fall zu Fall erlaubt, in seiner früheren Wohnung zu wohnen, für eine Zeitspanne, die von den örtlichen Behörden in Übereinstimmung mit den Behörden auf Kreisebene festzulegen ist, so dass der Enteignete eine Möglichkeit zur Unterkunft für sich und seine Familie finden kann.“ Dieser Text der Anweisung ist alarmierend für die, die enteignet wer-

Das Gedächtnis der Dokumente den sollen. Denn bis zum 28. Februar 1946 war die Wohnung, d.h. das Bauernhaus des schwäbischen oder sächsischen Landwirts, nicht Gegenstand der Enteignungsaktivitäten. Konnte es auch gar nicht, denn der Gesetzestext, die einzige authentische Quelle in dieser Hinsicht, erwähnt dies nicht. Die Agrarreform in unserem Land wurde gefordert, um den Bauern ohne Land oder mit weniger als 5 ha, Land zuzuteilen. Die Grundidee dieser sozialen und wirtschaftlichen Reform war demnach, dem absolut besitzlosen landwirtschaftlichen Arbeiter Eigentum zuzusprechen bzw. es bei Kleineigentümern bis auf 5 ha zu erweitern. Die Enteignung der Bauernhäuser wurde vom Gesetz weder gefordert, noch war sie darin enthalten. Das Gesetz zur Agrarreform zeigt die zu enteignenden Güter und beschreibt sie in Artikel 3 und 6 näher: Nach Artikel 3 gehen landwirtschaftliche Besitztümer derjenigen Grundbesitzer, mit lebendem und mit totem Inventar, in Staatseigentum über, die einschränkend unter Punkt a – h dieses Artikels genannt werden. Gemäß dieser Punkte sind enteigenbar „Boden“, „Ackerbesitz“, „landwirtschaftlicher Besitz“ und zuletzt „aller Landbesitz, der 50 ha überschreitet“. Durch alle diese Begriffe werden in der Einleitung über die Gründe für das Gesetz die Arten des Bodens spezifiziert, nämlich Ackerland, Obstgärten, Heuwiesen, Weiden, künstliche Teiche, ob sie dem Fischfang dienen oder nicht, die Sümpfe und überschwemmbaren Flächen (Artikel 3 Punkt h). Der Artikel 6 hingegen benennt die landwirtschaftlichen Maschinen und Geräte, wie auch die Zugtiere, also das tote und lebende Inventar wird einschränkend aufgezählt. In beiden Artikeln findet sich keine Anweisung zur Enteignung von Wohnhäusern der zu Enteignenden, ob es nun Deutsche, Rumänen oder andere Nationalitäten sind. Nur in Artikel 4 werden die Gebäude und Gutsherrenhäuser derjenigen erwähnt, die

Das Gedächtnis der Dokumente mehr als 50 ha Land besitzen, aber auch diese bleiben unangetastet im Besitz des betreffenden Eigentümers. Und wenn diesen Gutsbesitzern ihre Herrenhäuser gelassen werden, umso mehr muss das Haus den sächsischen und schwäbischen Ackerbauern gelassen werden, die weit weniger als 50 ha Land haben. Denn zu allen Zeiten und bei allen Völkern wurde die Agrarreform, also die Enteignung der Großgrundbesitzer und die Zuteilung an die Landarbeiter, als soziales und wirtschaftliches Problem gestellt, im Sinne, dass die großen landwirtschaftlichen Besitztümer die Ursache sind für die Misere einer größeren gesellschaftlichen Schicht und zur Behebung dieser Unzulänglichkeit wurde die Aufteilung der großen Besitztümer und die Verteilung an die landwirtschaftlichen Arbeiter vorgesehen. So wurde die Agrarreform nach 1918 konzipiert, so wurde sie in anderen Ländern umgesetzt und geht sie aus dem Text und dem Geist des Gesetzes vom 23. März 1945 hervor. Die Förderer und Ausführer der Agrarreform bei uns verlangten von den Großgrundbesitzern Land für die landwirtschaftlichen Arbeiter, aber sie verlangten nicht das Wohnhaus des schwäbischen oder sächsischen Bauern. Nicht einmal in der UdSSR wurde das Wohnhaus in den Dörfern enteignet. Diese Immobilie ist und bleibt auch heute Gegenstand des Privatbesitzes und der Erbschaft. Auch die Verordnung des Gesetzes zur Agrarreform enthält keine Verfügung in dieser Richtung. Konnte sie auch gar nicht, denn eine solche Verordnung hätte das Gesetz gebrochen. Die Verordnung eines Gesetzes, wenn auch die Regeln zur Durchführung festgelegt werden, kann nicht im Widerspruch zu diesem Gesetz selbst stehen. Artikel 3 der Verordnung sagt, nachdem die Kategorien der zu Enteignenden aufgeführt worden sind: „Die landwirtschaftlichen Güter dieser, mit allen haushaltlichen Installationen, lebendem und totem Inventar, gehen in

219 Staatseigentum über.“ Die Verordnung gibt aus dem Gesetzestext die Wörter „lebendes und totes Inventar“ wieder, aber zwischen diese beiden Kategorien werden die Wörter „mit allen haushaltlichen Installationen“ eingeschoben. Das Recht, eine Verordnung zu erlassen, ist ein verfassungsmäßiges, herrschaftliches Vorrecht, notwendig zur Durchführung des Gesetzes, ohne jedoch die Gesetze ändern zu können und der obligatorische Charakter der Regelung wird bedingt durch seine Rechtmäßigkeit, die im Verantwortungsbereich des Ministeriums liegt. Die Verordnung des Gesetzes für die Durchführung der Agrarreform enthält mehr Kategorien von zu enteignenden rumänischen Staatsbürgern deutscher Nationalität und mehr Kategorien von zu enteignenden Gütern als das Gesetz selbst, somit ist dies ein illegaler Akt. Folglich kann die Verordnung durch Art. 3, Absatz 2, die „haushaltlichen Installationen“ nicht mehr hinzufügen und außerdem durch den letzten Abschnitt über „die komplette Enteignung des Bodens und der Güter aller Kategorien, einschl. Wälder und Weinberge, lebendes und totes Inventar, einschl. der Nutzund Zuchttiere“ nicht verfügen. Der Verfasser der Verordnung hat nicht genau formuliert, welches diese „haushaltlichen Installationen“ sind und es wird auch nicht festgelegt, welches diese „Böden und Güter aller Kategorien“ sind, die bei den rumänischen Staatsbürgern deutscher Nationalität zu enteignen sind. Obwohl das Gesetz unter Art. 23 angibt, dass die Vorgehensweise bei Wäldern und Weinbergen in einem separaten Gesetz erfasst wird und die Verordnung somit gegen das Gesetz verstößt, erklärt es als enteignet auch jene Güter, wenn sie im Besitz jener Kategorien von Deutschen sind, die in Art. 3 unter den Punkten a, b, c, f. und g. des Gesetzes erwähnt sind. Der Begriff „haushaltliche Installationen“ im üblichen Wortsinn enthält nicht das bäuerliche Wohnhaus, also die Wohnung des zu

220 Enteignenden. Haushaltliche Installationen wären Arbeiten und Gebäude außerhalb des Dorfes auf dem Grund der landwirtschaftlichen Besitztümer, die vor Ort den landwirtschaftlichen Arbeiten dienen und die mit den zu enteignenden Flächen in einem Abhängigkeitsverhältnis stehen. So sind mit diesem Begriff vor allem die großen Ländereien gemeint, mit Installationen großen Ausmaßes wie Ställe, Schweineställe, Scheunen usw. Aber auch diese sind, zusammen mit dem Gutshof des ehemaligen Besitzers, bei einer Fläche von bis zu 50 ha, nicht zu enteignen. Was die Wörter „Güter aller Kategorien“ betrifft, kann auch in diesen Text nicht die Wohnung mit einbezogen werden, da das Gesetz nur Land enteignet, das für die Landwirtschaft benötigt wird und die Einbeziehung eines anderen Immobiliarvermögens eine widerrechtliche Aneignung bedeuten würde und eine Nichtachtung des Gesetzes. Die Anweisung Nr. 993 vom 18. Oktober 1945 der Zentralen Kommission der Agrarreform beschäftigt sich mit der Unterbringung der Neueigentümer aus anderen Regionen des Landes und ordnet an, dass „die Unterbringung der Kolonisten durch die Einschränkung/Einengung der Eigentümer“ zu erfolgen hat. Diese Anweisung, noch im Sinne des Gesetzes verfasst, versteht, das Problem der Unterbringung der Kolonisten so zu lösen, dass die schwäbischen oder sächsischen Dorfbewohner ihnen einen Teil der Räumlichkeiten ihrer Häuser abgeben. Und nun erscheint die letzte Anweisung vom 28. Februar 1946 mit der Verfügung, dass „dem enteigneten Besitzer von Fall zu Fall erlaubt wird, eine gewisse Zeitspanne dort zu leben, ein Zeitraum, der zwischen den Behörden der Gemeinde und jenen auf Kreisebene festgelegt wird und in dem der ehemalige Eigentümer die Möglichkeit hat, für sich und seine Familie eine Unterkunft zu finden“. Dies bedeutet, dass durch eine Anweisung der Kom-

Das Gedächtnis der Dokumente mission das Haus/die Wohnung des schwäbischen oder sächsischen Bauern konfisziert wird und dieser gezwungen ist, das Gebäude zu räumen, innerhalb eines Zeitraumes, der willkürlich von den Gemeindebehörden festgelegt wird. Da das Gesetz die rechtliche Grundlage für die Verordnung der Agrarreform bildet und diese rechtliche Grundlage nicht aufgehoben werden darf durch andere Anweisungen der Behörden, durch Verordnungen und somit umso weniger durch Vorschriften der Zentralen Kommission der Agrarreform und gemäß dem Gesetz die zu enteignenden Besitztümer wie landwirtschaftliche Güter und lebendes und totes Inventar, also Boden und was dringend zu dessen Bearbeitung nötig ist, die bäuerlichen Wohnhäuser nicht dazu gehörend, also jede Maßnahme der mit der Durchführung der Agrarreform beauftragten Behörden, die sich darauf beziehen, ist ein widerrechtlicher und willkürlicher Akt. (Katastrophensatz von 10 Zeilen im Originaltext, wobei ich in Zeile 6 dieses Absatzes die Präposition „la“ zweimal nicht zuordnen bzw. übersetzen konnte, da ich den Sinn in diesem Zusammenhang nicht verstanden habe. Zehntausende von deutschen Landmännern sind davon bedroht, mit ihren Familien aus ihren Häusern und Wohnungen vertrieben zu werden. Das soziale Elend, anstatt es zu beseitigen, wird es noch verstärkt. Die Anzahl jener ohne Heim und Herd wird, anstelle sie zu verringern, große Proportionen annehmen. Wenn wir in einer Zeit der sozia­len Gerechtigkeit leben, dann muss diese Gerechtigkeit auch allen Staatsbürgern zugutekommen, ohne Unterschied zwischen den Nationalitäten, die schon seit Jahrhunderten hier leben und noch weniger dürfen einige enteignet und in die Armut gestürzt werden, um den Besitz von anderen zu vergrößern. Denn was für die einen recht ist, soll auch für die anderen billig sein. Deshalb ist die Annullierung der Maßnahmen und Verfügungen

Das Gedächtnis der Dokumente wie oben erwähnt nur ein Wunschtraum jener, die direkt davon betroffen sind, aber auch im Interesse des rumänischen Staates. Die Bedingungen, unter denen die Agrarreform bei den rumänischen Staatsbürgern deutscher Nationalität (Sachsen und Schwaben) angewandt wird Die Enteignung der Landflächen und der anderen Güter, die den rumänischen Staatsbürgern deutscher Nationalität gehören, wird in einer Ansammlung von Praktiken, Fakten und Ereignissen durchgeführt, die nicht miteinander in Verbindung stehen. Deshalb herrscht eine große Unsicherheit, die sowohl den Besitz von Gütern als auch des Lebens betrifft. Die Enteignung erfolgt, als würde diese nicht eine Agrarreform betreffen, herausgegeben von der Regierung, mit präzise festgelegten Normen und Regeln, sondern ganz einfach wie im Fall einer Agrarrevolution. Die Revolution ist eine gewaltsame und ungleiche Übertragung von Macht und somit von Gütern jenseits der Grenzen der juristischen Ordnung, in einer sozio-ökonomischen Bewegung, die sich Formen und Normen sucht für einen dauerhaften Erhalt der Institutionen, die im sozialen Kampf zerstört werden. Die Reform ist die Handlung der Regierung zur Bestätigung der politischsozialen und juristisch-wirtschaftlichen Realitäten für die theoretische und praktische Vision des Staates. Deshalb ist die Agrarreform ein Akt von großer Weisheit von Seiten der Regierung von Dr. Petru Groza, weil sie den früher ausgebeuteten Landarbeitern einen Reparationsausgleich gibt und die juristischen und ökonomischen Verhältnisse gerecht systematisiert zwischen Landarbeitern und Besitzern von Grund und Boden. Unglücklicherweise fehlt allerdings die Atmosphäre der Rechtsprechung, die doch für die Durchführung einer Agrarreform unerlässlich ist, für die rumänischen Staatsbürger deutscher Nationa-

221 lität komplett. So kommt es, dass bei dieser Bevölkerung der Kreislauf der Güter und der Personen überhaupt keine Sicherheit bietet. Überall in den von rumänischen Staatsbürgern deutscher Nationalität bewohnten Dörfern herrscht Terror, Unordnung und Desaster. Unter diesen Bedingungen sind die Beschlüsse der Regierung unwirksam und es herrscht Willkür. In den meisten Gemeinden des Landkreises Timis-Torontal z.B. sind nicht einmal bis heute die mit der Durchführung der Agrarreform betrauten Gremien gebildet, die sich mit der Einhaltung des Gesetzes und der Verordnungen hätten beschäftigen müssen. Viele Mitglieder sind nicht Bauern aus jener Gemeinde, ohne Boden oder mit Boden bis zu 5 ha, sondern Personen, die die Voraussetzungen des Gesetzes nicht erfüllen, da sie mit der Landwirtschaft nicht vertraut sind, da sie berufsfremd sind, entweder aktive oder pensionierte Beamte, Offiziere oder Unteroffiziere oder andere mit einer nicht genau zu definierenden Beschäftigung. Die Gremien werden oft aufgelöst oder geändert. Die illegal zusammengesetzten Gremien haben illegale Tabellen von Berechtigten zusammengestellt. Unter den Berechtigten gibt es sehr viele Personen, die die vom Gesetz vorgeschriebenen Voraussetzungen nicht erfüllen. So werden betagte Alte oder alte Witwen zu Berechtigten erklärt, dann jene, denen durch die erste Reform Land zugeteilt worden war, und die ihr Land verkauft hatten und andere, obwohl die Anweisungen der Zentralen Kommission vom 21. April 1945 die Kategorien der Berechtigten genau festlegen. Es ist also zwingend erforderlich, eine seriöse und strenge Kontrolle der Zusammensetzung der dörflichen Gremien einzuführen. Nachstehend das, was „Der Banater Kämpfer“, die Zeitung der regionalen R.K.P., in seiner Ausgabe vom 11. März, Nr. 432, geschrieben hat: „Die Gremien zur Agrarreform werden gebildet aus Bauern, die sich

222 nicht auf Verwaltungsarbeit verstehen und die Verwaltungsorgane selbst haben es nicht verstanden, den Bauern bei der Durchführung der Agrarreform zu helfen. So konnte es auch passieren, dass die dörflichen Gremien in vielen Fällen das Gesetz nicht geachtet haben, was zu häufigem Amtsmissbrauch geführt hat.“ Die gleiche Maßnahme wird auch bezüglich der Kolonisten eingeführt. Diese sind nur zum Teil wirkliche Kolonisten, also Landarbeiter ohne Boden, es sind unter ihnen auch Abenteurer, aus allen Teilen des Landes zugezogen, angezogen durch bewegliche Güter und Vorräte, die durch die mit dem deutschen und ungarischen Heer Weggezogenen zurückgelassen worden waren. Dementsprechend benahmen sie sich auch, sie sahen diese Güter nicht als Staatseigentum an, sondern als herrenlosen Besitz. Sie eigneten sich diese an, verkauften sie, brachten sie anderswo hin, zerstörten sie. Wenn die Vorräte in einem Dorf aufgebraucht waren, zogen sie in ein anderes Dorf, wo es noch Vorräte gab. Wenn auch diese Vorräte alle waren, verlangten sie von den Dorfbewohnern Lebensmittel, die bei ihren Haushalten geblieben waren. So kam es zu Hunderten von leeren Häusern, ohne Möbel, ohne Türen und Fenster und die Kolonisten, die später kamen, forderten die Häuser von den Zurückgebliebenen oder von denen, die zur Zwangsarbeit nach Russland verschleppt worden waren. Die Auswahl der Häuser war und ist eine der Hauptbeschäftigungen vieler Kolonisten. Indem sie von einem Haus ins andere umzogen, hatten sie keine Zeit, sich der Landwirtschaft zu widmen. Einige von denen, die im Frühling 1945 angekommen waren, zogen mitten im Sommer von einem Dorf zum anderen. Andere zogen im Herbst um, was beweist, dass diese Kolonisten nichts angepflanzt oder eingesät hatten in den Gemeinden, in denen sie vorher gewohnt hatten, sonst wären sie an dieses

Das Gedächtnis der Dokumente Dorf gebunden gewesen. Die Erklärung ist, dass, nach Aufbrauchen der Vorräte aus den verlassenen Häusern, die Kolonisten in Gemeinden zogen, wo die rumänischen Staatsbürger deutscher Nationalität nicht mit dem deutschen Heer fortgezogen waren und sie dort unter Druck durch das Bürgermeisteramt erneut Lebensmittel, landwirtschaftliche Geräte und Zugtiere forderten und auch erhielten. Selbstverständlich wurden die gesetzlichen Voraussetzungen nicht erfüllt und es wurden auch keine Protokolle über die Enteignung und die Verteilung dieser Gegenstände erstellt. Die „Temesvarer Zeitung“ (unabhängige Linkszeitung) kommentiert den Bericht des Präfekten vom Kreis Timis-Torontal anlässlich des Besuches des Premierministers Dr. Petru Groza und des Ministers Romulus Zaroni in Temeschburg wie folgt: „Ein Teil der Kolonisten, die sich in den bäuerlichen Haushalten der Schwaben eingenistet haben, arbeiten überhaupt nicht, die Aussaat im Herbst interessiert sie nicht, die Güter, die sie als milde Gabe erhalten haben, vergeuden sie, den ganzen Tag spielen sie Karten, verlangen in einigen Dörfern, dass sie wie Herren bedient werden und sind ein Hindernis beim Werk des Wiederaufbaus.“ Zur Beschreibung des Willens und der Arbeitskapazität vieler Berechtigter und Kolonisten geben wir den Text der Konvention wieder: „Konvention, abgeschlossen zwischen dem lokalen Gremium zur Durchführung der Agrarreform und der Delegation der schwäbischen Bauern, um die Durchführung der Arbeiten der Aussaat und der Ernte sicherzustellen. Im Hinblick darauf, dass das lebende Inventar (Pferde) den Schwaben weggenommen und den Berechtigten zugesprochen wurde und dass diese nicht verantworten können, das ganze Land zu bebauen, wie es im Plan vorgesehen ist und gleichzeitig die Ernte vom Feld einzubringen, schlägt Herr Beleanu Petru, Mitglied des Komi-

Das Gedächtnis der Dokumente tees der Agrarreform vor, den Deutschen die Pferde und die Wägen zurückzugeben unter der Bedingung, dass die Deutschen das Feld auch für die Kolonisten ackern und einsäen werden und jene Kolonisten, die kein Saatgut haben, damit beauftragen, den Berechtigten die Maisernte vom Feld nach Hause zu bringen, das Stroh zum Heizen zu bringen und eventuelle Transporte zur Mühle zu machen. Alle diese Arbeiten werden von den Deutschen komplett kostenlos auf den Äckern der Berechtigten durchgeführt, während diese sich verpflichten, zu helfen, wenn die Arbeit auf ihren Äckern durchgeführt wird. Auf Vorschlag des Abgeordneten Beleanu verpflichten sich die schwäbischen Bauern im Namen der gesamten schwäbischen Bevölkerung, die durch die Staatsreserve festgelegte Fläche einzusäen und dass sie die oben genannten Arbeiten für die Berechtigten durchführen werden. Sie verpflichten sich auch zur Einbringung der Ernte. Dieses Abkommen ist eine Transaktion zur Sicherstellung der Herbst-Aussaat, aber die Agrarreform wird nach dem Gesetz weitergeführt. Carani, am 15. September 1945, Unterschriften.“ Abkommen dieser Art wurden in mehreren Gemeinden im Landkreis Timis-Torontal abgeschlossen, in denen sich Kolonisten befanden, so dass wir bestätigen können, dass ein Großteil der Herbst-Aussaat von den Enteigneten ausgebracht wurde. Die Inaktivität vieler Kolonisten wird in der Zeitung „Der Banater Kämpfer“ in der Nr. 453 vom 1. April wie folgt erklärt: „Die Berechtigten vor Ort verfügen noch über Geld, um die Traktoren zu bezahlen, oder sie haben Pferde, um die Aussaat durchzuführen, während die Kolonisten von weit her, nur mit einem kleinen Beutel auf dem Rücken, sich heute mit großen Schwierigkeiten konfrontiert sehen.“ Das Ministerium für Landwirtschaft und Landgüter überzeugte sich von der oben be-

223 schriebenen Situation und verfügte am 10. Januar 1946: Künftig werden nur noch geprüfte Kolonisten geschickt. Den Kolonisten wird zuerst das Eigentum zugesprochen und erst dann können sie dorthin umziehen, wo der Besitz ist. Aber durch eine vorherige Verordnung war die sofortige Einstellung jeglicher Kolonisierung verfügt worden, aber auch diese Verordnung wurde, wie so viele andere auch, von den örtlichen Behörden missachtet. Den ganzen Winter über setzten die Kolonisten ihre Arbeit fort, nun vereint mit vielen lokalen Berechtigten, indem sie lebten ohne zu arbeiten. Folgendes schreibt die „Temesvarer Zeitung“ über diese Aggressoren in ihrem Leitartikel vom 4. März 1946 unter dem bezeichnenden Titel „Ungerechtigkeiten in Serie“. Ein Großteil derer, die vorgeben, Eigentum zu erhalten, halten sich überhaupt nicht an das Gesetz. Sie nehmen bzw. sie stehlen, was sie auf ihrem Weg finden, Nähmaschinen, Hobelbänke, Elektromotoren usw. Und wenn sie in die Häuser eindringen, wenn sie die Bewohner quälen, wenn sie die Möbel zerstören und die Schränke leeren, wer soll sich ihnen widersetzen? Was kümmert sie die soziale Gerechtigkeit, Horia und Closca? Was sie interessiert, ist die freie Beute, die sie sich aneignen, aufgrund der Macht, mit der sie sich selbst ausgestattet haben. Sie produzieren Ungerechtigkeiten in Serie. Die Gemeinden Biled, Neupetsch, Deutschsanktpeter, Warjasch, Hodoni - um nur einige dieser unglückseligen Gemeinden zu nennen - sind in einem schlimmen Zustand, man interessiert sich dort nicht für das Gesetz, man achtet nicht auf den Verkehr, nicht auf die Verfügungen der Behörden, die per Telegraph eintreffen, Elemente, die nur einer höheren brachialen Gewalt weichen würden, die sie nun gegen Personen ohne Schutz einsetzen, gegen Alte und Kinder.“ Wenn jemand glauben sollte, dass die „Temesvarer Zeitung“ nur den deut-

224 schen Lesern zuliebe so etwas in einem solchen Ton schreiben würde, wollen wir nachstehend einige Auszüge aus dem Artikel „Was nicht jeder weiß“ bringen, erschienen in der Zeitung aus Temesvar „Banater Leben“ in der Ausgabe vom 24. März 1946. „Ein Teil der Kolonisten hat nicht völlig seinen Zweck hier verstanden, in der Wirtschaft der Provinz, sie scheinen dazu zu neigen, gegen die andauernden Interessen des Wiederaufbaus und der Produktion zu arbeiten. Die Präfektur des Landkreises führt viele Gerichtsverhandlungen gegen Kolonisten, die ihren Verpflichtungen nicht nachgekommen sind, als sie ehemals blühende Güter übernahmen, die nun, unter ihren Händen, komplett ruiniert sind. Einige haben die Fenster aus den Häusern genommen, die Türen, die Fußböden oder Decken, sogar die Dachziegel vom Haus und haben sie verkauft. Dasselbe ist mit dem Saatgut passiert, das man ihnen zugeteilt hat: Sie haben es verkauft und das Feld wurde nur am Rand eingesät, um den Eindruck zu erwecken, dass die restliche Saat nicht aufgegangen ist. In dieser Aktion steckt nur Abenteuerlust, Profitgier und Unernst. Und alle, die sich als von gleicher Art herausstellen, sollten enteignet und dorthin zurückgeschickt werden, wo sie herkommen, denn anstelle etwas zu leisten, machen sie alles kaputt, sogar der gute Ruf, den der Rumäne hat, wenn es um sein Land und seine Wirtschaft geht.“ In einer Sitzung des Landwirtschaftsministers Romulus Zaroni mit den Gremien zur Durchführung der Agrarreform vom 10. Januar 1946 in der Kreispräfektur Timis-Torontal wurde Folgendes beschlossen: Punkt 3: „Künftig werden nur noch gut geprüfte Kolonisten geschickt… Den Kolonisten wird zuerst Eigentum zugesprochen, erst danach können sie sich zu jenem Ort begeben.“ Nachzusehen in Kopie ein Bericht, der bei der Kreispräfektur Timis-Torontal am 25. Januar 1946 eingereicht wurde:

Das Gedächtnis der Dokumente Das lokale Gremium zur Durchführung der Agrarreform aus der Gemeinde Calacea hat den deutschen Bauern 100-150 mtr1 Mais weggenommen und an die örtlichen Berechtigten verteilt. Diese Ungesetzlichkeit rechtfertigte Pistrui Gheorghe, der Präsident des lokalen Gremiums, wie folgt: Den deutschen Bauern hat man die Pferde weggenommen und sie an die Berechtigten verteilt, folglich haben die Berechtigten das Recht, zu einem gesetzlich festgelegten Höchstpreis auch das Futter (Mais) von den zu Enteigneten zu kaufen. Der Preis für den Mais wird bei der Finanzbehörde in Bukarest hinterlegt. Der Anspruch, diese Maßnahme mit dem Gesetz der Agrarreform oder mit einem Erlass der Behörden zu rechtfertigen, ist zweifellos lächerlich. Diese Maßnahme des örtlichen Gremiums ist in Wirklichkeit nur eine willkürliche und illegale Handlung. Wenn für jedes enteignete Pferd, obwohl nicht in der Verordnung vorgesehen, 1-2 mtr Mais weggenommen worden wären, weil die Berechtigten, bar jeder Mittel, sich ja nur von der Sorge um die Pferde hätten leiten lassen, hätte man die Entschuldigung für dieses Vorgehen noch verstehen können, aber die Berechtigten verfügen größtenteils über die erforderlichen Mittel und auch über Futter für das zur Verfügung gestellte Pferd. Ist es also fair, von den Enteigneten zu verlangen, von Gerechtigkeit ganz zu schweigen, nachdem man ihm das Pferd weggenommen hat, nun auch noch das Futter von nämlich 1-2 mtr zu beanspruchen, in manchen Fällen sogar 10-20 mtr Mais und außerdem auch nicht den maximalen Preis von 6.500 Lei zu bezahlen? Die Behauptung des Gremiums, dass der Preis für den Mais bei der Finanzbehörde in Bukarest hinterlegt wird, scheint wenig plausibel. Aber welches Motiv hätten die Berechtigten und die Mitglieder des Gremiums noch nen1 1mtr=100kg Gewichtseinheit für Getreide

Das Gedächtnis der Dokumente nen können, wenn doch diese vielen Nutznießer diesen Mais zu einem spekulativen Preis von 50.000 bis 60.000 Lei pro Meter weiterverkauft haben? Was aber noch viel schlimmer ist, ist die Tatsache, dass die angeblichen Berechtigten aufgrund des Gesetzes und der Verordnung nicht berechtigt sind, Eigentum zu erhalten, weil viele von ihnen in Familien leben, deren Mitglieder alle zusammen eine größere Fläche als 5 ha an Boden haben, andere sind minderjährig oder arbeitsunfähige Alte. Was die Haltung und Aktivität des lokalen Gremiums aus der Gemeinde Calacea betrifft, dass diese Fehler nur aus Unkenntnis gemacht wurden, nein. In diesem Fall, unter Berücksichtigung der Kette von Fehlern und willkürlichen Maßnahmen, müssen wir von bösem Willen und dem verwerflichen Wunsch ausgehen, dass man die gesetzlichen Verordnungen umgehen wollte, um genau den eigenen egoistischen Interessen zu dienen, oder jenen von Verwandten und Freunden. Der „Banater Kämpfer“ vom 7. April 1946 schreibt: Von den Kolonisten, die hierhergekommen sind, haben sich nur jene aus Bessarabien ernsthaft an die Arbeit gemacht. Diese sind mit Pferden, Wägen und komplettem Inventar gekommen, haben ihr Land in Besitz genommen und arbeiten mit viel Herzblut. Es sind aber auch viele ungerufene „Kolonisten“ gekommen, die nur dem Namen nach Kolonisten sind und sich nur mit Nichtstun beschäftigen, nachdem sie ihr Land und ihr Inventar in Besitz genommen haben. Danach haben sie das Haus abgeschlossen, haben das Inventar mitgenommen und sich aus dem Staub gemacht. Es vergingen zwei Monate und diese Verordnungen des Herrn Minister gerieten in Vergessenheit. Seit Beginn des Monats März kommen immer neue Kolonisten im Landkreis an und setzen sich in den meisten Fällen ohne Wissen der Behörden ab. Kaum angekommen, beginnen sie gleich mit illega-

225 len Enteignungen von Kühen und bebautem Land. Was für einen Sinn ergibt dieser Zulauf von Kolonisten, wenn wir uns an die Verordnung Nr. 993 vom 18. Oktober 1945 erinnern? Damals wurde beschlossen, dass die deutschen Bauern die Herbstaussaat übernehmen und sie haben auch die Frühlingsaussaat durchgeführt, außer dem Mais. Und nun kommen neue Kolonisten nach Beendigung dieser Arbeiten an und beanspruchen Land und nehmen die bebauten Flächen in Besitz. Die Situation muss schnellstens geklärt werden. Entweder kehren die Kolonisten wieder zu ihren Höfen zurück oder sie bekommen das von deutschen Bauern bestellte Land und erklären die vorhergehende Verfügung nur als eine Maßnahme, um die armen deutschen Bauern in die Irre zu führen. Im letzteren Fall jedoch verlieren das Landwirtschaftsministerium und das Innenministerium viel an Autorität, nicht nur in den Augen der rumänischen Staatsbürger deutscher Nationalität, sondern auch bei den alliierten Kräften, insbesondere bei der UdSSR, da die Kommandantur der Roten Armee sich genau über die Wiedereingliederung dieser Personen in die Produktion des Landes aufgrund dieser Verordnung erkundigt hat. So wurde die Enteignung und die Zuteilung jenseits des Willens der Regierung durchgeführt, wie sie legislativ ausgedrückt wurde, durch eine Serie von Übergriffen. So wurden die rumänischen Staatsbürger deutscher Nationalität in unzähligen Fällen widerrechtlich enteignet und in die Verarmung geführt. Es ist klar, dass die Landwirtschaft im Banat einen schlimmen Schock erleidet, indem eine Kategorie von spezialisierten und geschickten Produzenten durch eine Kategorie von Menschen ersetzt wird, die größtenteils mit der Landwirtschaft nicht vertraut ist. Was aber noch viel schlimmer ist, unter den Personen, denen Eigentum zugeteilt wurde, befinden sich viele Zigeuner, eine Bevölke-

226 rungsgruppe, die für ein Leben von und mit der Landwirtschaft und mit der Sesshaftigkeit nicht geeignet ist. Auch wenn die Unterbringung der Kolonisten ein Problem des Staates von zwingender Notwendigkeit ist, ist das Experimentieren mit den Möglichkeiten der Produk­ tion in einer ehemals florierenden Landesregion und mit der bisher besten Rentabilität, eine enorme Beeinträchtigung der nationalen Wirtschaft, vor allem in dem Moment, wo nur eine noch höhere und gesteigerte Produktivität das Land retten kann. Pflichtarbeit für die rumänischen Staatsbürger deutscher Nationalität Der rumänische Staat hat nach dem 23. August 1944 auch noch durch andere Maßnahmen bewiesen, dass er die rumänischen Staatsbürger deutscher Nationalität nicht als gleichwertig mit den anderen Nationalitäten ansieht. Diese Ungleichheit bezieht sich nicht nur auf Rechte, sondern auch auf Pflichten. Nach dem 23. August 1944 und nach dem siegreichen Einzug der Roten Armee in Siebenbürgen und im Banat haben die rumänischen Behörden nur die rumänischen Staatsbürger deutscher und ungarischer Nationalität zu diversen Arbeiten zum Nutzen der sowjetischen Truppen gezwungen (Schützengräben ausheben, Reinigung von Gebäuden, Transporte usw.). Im Monat Oktober wurden dann richtige Arbeitslager eingerichtet für die rumänischen Staatsbürger deutscher Nationalität. Die Männer zwischen 17 und 50 Jahren wurden durch das Militär eingezogen (Behörden zur Musterung) und später benutzt zur Durchführung von landwirtschaftlichen Arbeiten, zur Reparatur der Kommunikationswege und später wurden sie in Lager gebracht, mit dem Zweck, beim Aufbau einer Eisenbahnlinie zu helfen. Über Monate wurden sie dort festgehalten. Die Unterbringung war schlecht, die armen Menschen waren kaum vor Regen, Wind und Kälte ge-

Das Gedächtnis der Dokumente schützt. Die Verpflegung war völlig unzureichend, so dass viele von ihnen krank wurden. Aber was noch viel schlimmer ist, ist die Tatsache, dass die Familien dieser zur Arbeit im Staatsdienst eingezogenen Personen den schlimmsten Entbehrungen ausgesetzt waren, da der Staat diese Arbeiten überhaupt nicht entlohnte. Wenn diese Nötigung zu gewissen Arbeiten zum Wohle des Staates noch einigermaßen bis zum Zusammenbruch von Hitler-Deutschland zu rechtfertigen ist, auch wenn diese beweisen, dass der rumänische Staat sich von rassistischen Motiven leiten ließ, können die­ se Maßnahmen nach Kriegsende nicht mehr rechtfertigt werden. Und trotzdem hat der Staat weiterhin solche Maßnahmen ergriffen. All jene rumänischen Staatsbürger deutscher Nationalität, die nicht aus irgendwelchen Gründen zur Zwangsarbeit in die UdSSR verschleppt worden waren, wurden von der Polizei oder der Gendarmerie ausgehoben und in die Kohlenbergwerke oder woandershin verbracht, um dort zu arbeiten. Und es wurden nicht nur Männer zwischen 17 und 45 Jahren genommen, sondern auch Mädchen und Frauen zwischen 16 und 30 Jahren. Die letzten Transporte dieser Art fanden im März 1946 statt und ihr Ziel waren die Kohlengruben in Petrosani. Folglich betrachtet der rumänische Staat fast ein Jahr nach Ende des Krieges seine Staatsbürger deutscher Nationalität als Staatsbürger zweiter Klasse, denen gegenüber der Staat überhaupt keine Pflichten hat, aber ihnen unterschiedliche Verpflichtungen aufzwingen kann. Aber auch die angewandten Methoden beim Ausheben dieser Menschen unterstreichen deutlich, dass der Staat ihnen überhaupt keine Wertschätzung entgegenbringt. In der Nacht werden sie von der Polizei oder der Gendarmerie wie Schurken aus ihren Familien gerissen, sie werden beschimpft und misshandelt. Der Großteil dieser Sklaven des 20. Jahrhunderts sind Bauern, die, hätte man sie auf ih-

Das Gedächtnis der Dokumente ren Höfen gelassen, durch ihr Wissen und ihre Erfahrung hätten beitragen können zur Durchführung der landwirtschaftlichen Arbeiten und somit zur Steigerung der landwirtschaftlichen Produktion, aber in der neuen Umgebung als Bergarbeiter konnten der Ertrag und die Rendite nicht so groß sein. Die Verschickung der sächsischen und schwäbischen Bauern in die Kohlenbergwerke erinnert uns unfreiwillig an die Bestrafung von einfachen und politischen Verbrechern im zaristischen Russland. Diese wurden jedoch vor Gericht gebracht und durch ein solches verurteilt und bestraft, während in unserem Fall alles aufgrund von geheimen Verfügungen abgewickelt wird, vermutlich geheim, da sie nicht als legale Maßnahmen zu rechtfertigen sind und weil sie den Maßnahmen in totalitären und antidemokratischen Regimen ähneln. Die Wünsche und Forderungen der rumänischen Staatsbürger deutscher Natio­ nalität Die Sachsen und Schwaben waren nie gegen die Einheit und Unabhängigkeit des rumänischen Staates tätig, haben niemals irredentistische (abspalterische) Neigungen gezeigt, sie waren immer loyale Bürger mit einer ehrlichen Verbundenheit dem Staate gegenüber, in dem sie schon seit Jahrhunderten lebten. Durch ihre emotionalen und moralischen Qualitäten stellten sie ein Element der Ordnung dar, indem sie beachtlich zur kulturellen und wirtschaftlichen Entwicklung beitrugen. Die Wertschätzung der deutschen Minderheit darf auf keinen Fall erschwert werden durch politische Anschuldigungen, unter Berücksichtigung ihrer Rechtslage, also eigentlich der Situation des rumänischen Staates vor dem 23. August 1944. Aus diesem Grund fordern wir eine dringende Überprüfung des deutschen Problems, denn diese Behandlung der Sachsen und Schwaben kann nicht begründet oder rechtfertigt werden und widerspricht den demokratischen und sozialen Prinzipien.

227 Die deutsche Minderheit fordert somit: 1. Völlige Gleichheit vor dem Gesetz gemäß der Verfassung und dem internationalen Abkommen zum Schutz der Minderheiten, abgeschlossen am 9. Dezember 1919 zwischen den Alliierten Kräften und Rumänien. Anwendung des Statuts der Minderheiten bezüglich der rumänischen Staatsbürger deutscher Nationalität. 2. Ausfindig-Machen und strenge Bestrafung aller rumänischen Staatsbürger deutscher Nationalität, die sich strafbar gemacht haben durch Kriegsverbrechen oder Straftaten gegenüber dem Staat. Die gesetzmäßige Definierung des Begriffes „Kollaboration mit Hitler-Deutschland“. 3. Revision des Gesetzes und der Verordnungen zur Agrarreform, durch Anwendung der sozialen und demokratischen Ideen, Annullierung der Nachteile für die rumänischen Staatsbürger deutscher Nationalität, die durch rassistische Motive entstanden sind. 4. Wiedereröffnung der Schulen mit deutscher Unterrichtssprache und schnellstmögliche „Säuberung“ unter den Lehrkräften. 5. Der Widerruf und die Annullierung aller Verordnungen bezüglich der Einbeziehung der rumänischen Staatsbürger deutscher Nationalität zu diversen Arbeiten. 6. Die Gleichheit bei Behandlung der rumänischen Staatsbürger, unabhängig von ihrer Nationalität, die durch die deutsche oder die ungarische Armee evakuiert worden waren. 7. Die rumänischen Staatsbürger, die bei der SS waren, sollen nach ihrer Freilassung die gleiche Behandlung erfahren wie die Soldaten aus der rumänischen Armee. 8. Die rumänische Regierung soll bei der sowjetischen Regierung intervenieren, damit die zur Zwangsarbeit verschleppten rumänischen Staatsbürger schnellstmöglich in ihr Vaterland zurückkehren können. (Zentrales Geschichtliches Nationalarchiv, Fond C.C. der R.K.P. ,Abteilung Organisation, Akte 27/1946)

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Entlassungsausweis des Zwangsarbeiters Hans Mayer in die Heimatlosigkeit 1947 Repro: Archiv der HOG Billed Entlassungsausweis der Zwangsarbeiterin Kölzer Maria in die Heimatlosigkeit 1949 Repro: Archiv der Landsmannschaft der Banater Schwaben e.V.

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