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German Pages 250 [238] Year 2007
Eva Barlosius • Daniela Schiek (Hrsg.) Demographisierung des Gesellschaftlichen
Eva Barlosius Daniela Schiek (Hrsg.)
Demographisierung des Gesellschaftlichen Analysen und Debatten zur demographischen Zukunft Deutschlands
VSVERLAG FUR SOZIALWISSENSCHAFTEN
Bibliografische Information Der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothel< verzeichnet diese Publilcutschland 104 ,
Abbildung 1: Bevolkerungspyramide Quelle: Statistisches Bundesamt (2006)
Bei der Bevolkerungspyramide ist bereits in der Benennung ein Ausgangsmodell festgelegt, wodurch alle anderen Bevolkerungsstrukturen tendenziell zu erklarungsbediirftigen Abweichungen bestimmt werden. Bildlich wird dies dadurch verstarkt, dass je starker die Bilder von der Ausgangsform der Pyramide abweichen, umso instabiler die graphische Gestalt der Bevolkerungsstruktur aussieht. Dies ist jedoch ein gestalterischer Effekt. Uber die Stabilitat einer Gesellschaft ist damit zunachst nichts ausgesagt. Fiir modeme Gegenwartsgesellschaften gilt die Glockenform - eine langsam zusammenlaufende Alterstruktur, die sich im hohen Alter abrupt zusam-
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menzieht - als Ideal, well die BevolkerungsgroBe weder sinkt noch steigt. Eine solche Bevolkerungsstruktur wird als Gewahr ftir gesellschaftliche Stabilitat eine Gesellschaft, deren Grundverfassung gleich bleiben kann - angesehen.9 Dass iiberhaupt von der Bevolkerungsstruktur auf die Gesellschaft geschlossen wird und dieser Schluss sich geradezu aufdrangt, liegt ebenfalls in der graphischen Veranschaulichung begriindet. Sie bildet namlich nicht nur die Bevolkerung nach Alter und Geschlecht differenziert ab. Das urspriingliche Balkendiagramm wird so prasentiert, dass es eine gesonderte Form erhalt, die eine eigene Symbolik transportiert. Von dieser Form leitet sich der Name der graphischen Darstellung her: Pyramide, Glocke, Ume. Diese Benennungen erschliefien jeweils ein eigenes Assoziationsfeld. Wird die bildliche Prasentation der deutschen Bevolkerungsstruktur als Ume tituliert, dann scheint die Zukunft besiegelt.
Gesamtbewertung
Abbildung 2: Demographische Landkarte Quelle: Berlin-Institut fiir Bevolkemng und Entwicklung (2006)
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In vielen demographischen Analysen wird diese Hypothese ohne jegliche Begriindung einfach vorangestellt.
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Schauen wir uns nun an, welche nicht explizierten Annahmen in die demographische Landkarte einfliefien. Auch diese geographische Darstellung leuchtet sofort ein, zumal die Veranschaulichung mittels Landkarten allgemein bekannt ist. Die demographischen Unterschiede werden farblich oder durch verschiedene Stricharten markiert. Auffallig ist dabei, dass durch die allgemein bekannte Farbsymbolik die Auspragung der demographischen Indikatoren dargestellt wird: rot steht fiir eine negative, griin fiir eine positive Entwicklung. Bei Schraffierungen gilt in der Regel: Je dunkler die Flachen eingefarbt sind, umso „schlechter " wird die Zukunft in diesen Regionen beurteilt, und umgekehrt. Die demographischen Indikatoren sind insbesondere Kinderzahl pro Frau, Anteil der unter 35-jahrigen Frauen, Wanderungsraten, die Anzahl der Hochbetagten und die Bevolkemngsprognosen (vgl. Berlin Institut fur Bevolkerung und Entwicklung 2006: 182f.). Zusatzlich zu den demographischen Indikatoren werden soziookonomische Merkmale wie Armutsrate, Arbeitslosenquote oder Wirtschaftswachstum erfasst. Letztere bilden die iiberwiegende Mehrheit der Indikatoren, mit deren Hilfe die „demographische Lage" in den Regionen bestimmt wird. Fiir die Bewertung der „demographischen Lage" werden fiir die einzelnen Indikatoren jeweils Durchschnittswerte errechnet, die Abweichungen von Durchschnittswerten in den verschiedenen Regionen ermittelt und daraus eine Gesamtnote berechnet. In der Bezugnahme auf die Durchschnittswerte ist ahnlich wie bei der Bevolkerungspyramide ein Ideal enthalten: die Gleichformigkeit der Lebensverhaltnisse im Sinne von Gleichverteilung. Diese normative Vorstellung rekurriert auf das politische Postulat, einheitliche Lebensverhaltnisse herzustellen, weil sich im Unterschreiten der Durchschnittswerte die „Zuriickgebliebenheit" benachteiligter Regionen gegeniiber den prosperierenden Gebieten dokumentiere und dies als Ungerechtigkeit zu werten sei. Um es mit unumstrittener Legitimation auszustatten, wird immer wieder die Formulierung „Herstellung gleichwertiger Lebensverhaltnisse" des Art. 72 Abs. 2 Grundgesetz zitiert.lO Die demographische Landkarte bildet zumeist das gesamte Territorium der Bundesrepublik Deutschland ab. Auf diese Weise prasentiert sie das Ideal einer sozial-raumlichen Ordnung und damit territorialen Integration, die in einem MindestmaB an Siedlungsdichte und einer Gleichverteilung von Giitem und Zukunftschancen iiber alle Landstriche hinweg besteht, ohne dieses jedoch eigens zu thematisieren oder zu explizieren. Die sozial-raumliche Ordnung - so die Botschaft der demographischen Landkarten - lost sich auf, wenn sich die Lebensverhaltnisse in peripheren Gegenden immer weiter von den durchschnittlichen Standards entfemen, womit
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Ob diese Formulierung tatsachlich die Angleichung der Lebensverhaltnisse reklamiert, ist fraglich (siehe Barlosius 2006; Brandt/Heck 2005)
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diese Form der demographischen Reprasentation signalisiert, dass die territoriale Integration gefahrdet ist. Da jedoch der unterstellte Zusammenhang von Gleichverteilung, sozial-raumlicher Ordnung und territorialer Integration in der Darstellung nicht ausgewiesen wird, sondem in der Darstellungsweise „versteckt" ist, behindert sie eine Debatte dariiber, ob und wie gleichwertige Lebensverhaltnisse jenseits von Gleichformigkeit zu gestalten sind. Dies ist jedoch keine demographische, sondem eine gesellschafts- bzw. regionalpolitische Frage, weil politisch zu entscheiden ist, wie und zu welchem Preis z.B. die Gesundheitsversorgung und die Bildungsangebote in diinn besiedelten Gebieten zu garantieren sind. Die Bevolkemngspyramide wie die demographische Landkarte veranschaulichen nicht nur die Daten, sie deuten diese in einer bestimmten Weise, ohne dass die Deutung nachvollziehbar hergeleitet wird. Daraus resultiert der normative Gehalt der Schaubilder: Sie transportieren ein klares Ergebnis, dass nicht kritisch hinterfragt werden kann, weil sein Zustandekommen weitgehend im Dunkeln Hegt. Zudem ist ihnen wie alien Schaubildem eine gewisse Konventionalitat eigen, die darin besteht, dass sie gewohnte Seh- und Denkgewohnheiten zitieren also eingeiibte Bilder und Sprachmittel verwenden, ohne die die Darstellung nicht sogleich verstanden werden kdnnte. Dies bringt es mit sich, dass sie eingefahrene Sichtweisen und Interpretationen aufhehmen und verstarken. Ansonsten kdnnten sie nicht so schnell und leicht rezipiert werden. Vor allem wiirden sie sich nicht „selbst erklaren". Damit tradieren sie allerdings auch die in diesen Sichtweisen und Interpretationen enthaltenen sozialen Vorannahmen - wie: eine stabile Bevolkerungsstruktur begiinstigt eine stabile Gesellschaft, Gleichverteilung und Gleichformigkeit sind unerlasslich far die territoriale Integration. Beide graphischen Reprasentationen des demographischen Wandels begiinstigen somit den Wunsch nach Erhalt des Uberkommenen und fordem im Gegenzug die Angst vor Veranderungen. Das zeigt sich auch darin, dass sich die aktuelle demographische Debatte vorwiegend auf die gegenwartige gesellschaftliche Verfasstheit bezieht. Ob die beiden Reprasentationen geeignet sind, eine Diskussion iiber Gestaltungsoptionen zu fordem und iiber Zukunftsoffenheit nachzudenken, ist somit fraglich.
3.2 Die Zahlen der Demographic Keine Diskussionsmnde, keine Presseerklamng, kein Gesetzgebungsprozess und kaum ein Zeitungsbericht kommen ohne Hinweis auf die jiingste Statistik aus. Dies trifft fur die demographischen Zukunftsprognosen in besonderer Weise zu, bildet doch die Bevolkemngsstatistik die Geburtsstatte der Statistik iiberhaupt. Etymologisch heifit Statistik die Kenntnis des Staates, worin sich ausdriickt, wie eng die Einrichtung der amtlichen Statistik mit der Herausbildung der modemen
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Staaten und ihrer Verwaltung verbunden war. Sie begann mit dem systematischen Sammeln von Kenntnissen iiber die Bevolkerung: Messung der GroBe, der Mortalitats- und Geburtenrate etc. Alles was aus staatlicher Sicht an der Bevolkerung als wissenswert gait, wurde nach und nach regelmafiig statistisch erfasst. Angesichts der langen Geschichte der Bevdlkerungsstatistik und eingedenk der Tatsache, dass es sich um eindeutige und einfach erfassbare Daten handelt, wie Geburtsjahr, Todesjahr oder Anzahl der Kinder, sollte man meinen, dass in modemen Gegenwartsgesellschaften die Bevdlkerungsstatistik auf gesicherten Daten beruht und zu glaubhaften Ergebnissen kommt. Indes handelt es sich bei der amtlichen Bevdlkerungsstatistik um eine Reprasentationsform, die auf politischen Vorgaben beruht, welche sich aus der Sicht der Wissenschaft als Restriktionen erweisen. Die rechtliche Regelung der amtlichen Statistik umfasst, was, auf welche Weise und wie oft erfasst und ausgewertet werden darf. Fiir die Reprasentationen des demographischen Wandels sind zwei statistische Quellen wichtig: die Geburtenstatistik und der Mikrozensus. Auch sie geben nur in dem rechtlich vorbestimmten Rahmen Auskunft. Dazu exemplarisch zwei Punkte: Die Geburtenstatistik erfasst die Rangfolge des geborenen Kindes nur in der Geburtenfolge innerhalb einer Ehe, womit alle unehelich geborenen Kinder nicht in der Rangfolge auftauchen (s. den Beitrag von Cornelius in diesem Band). Die Gesamtzahl aller von einer Frau geborenen Kinder kann damit nicht bestimmt werden. Der Mikrozensus fragt den Haushaltsvorstand, wie viele Kinder in einem Haushalt leben. Die Anzahl der leiblichen Kinder kann so nicht bestimmt werden; leibliche Kinder, die nicht im Haushalt leben, werden nicht erfasst (s. den Beitrag von Kreyenfeld in diesem Band). Diese Beispiele zeigen, dass durch die politische Reglementierung der amtlichen Statistik deren wissenschaftliche Aussagekraft gehemmt wird. Trotzdem besitzen die statistischen Reprasentationen unbestritten die groBte tlberzeugungskraft, nicht zuletzt deshalb, weil sie aufgrund ihrer Amtlichkeit quasi offiziellen Status besitzen. Hinzu kommt, dass durch die mathematische Fundierung die Statistik als „Garant der Objektivitat" gilt. Das Besondere der Statistik gegeniiber anderen Reprasentationsformen besteht darin, dass sie so wahrgenommen wird, als enthalte sie sich jeden Urteils, als sei sie gegeniiber normativen Bewertungen immun und fungiere wie ein Abwehrschirm gegen subjektive, ideen- oder interessengebundene Sichtweisen. Dies erklart, weshalb eine Zahl - einmal in die demographische Debatte geworfen - immer und immer wieder wiederholt wird, z.B. dass 40 Prozent aller Akademikerinnen keine Kinder bekommen, obwohl die staatliche Statistik wie die Demographic seit langerem darauf hinweisen, dass dieser Zahl nicht zu trauen sei, (siehe den Beitrag von Cornelius in diesem Band).
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3.3 Berichte und Enqueten 1980 erschien der erste Teil des „Bericht iiber die Bevolkerungsentwicklung in der Bundesrepublik Deutschland", den die Bundesregierung in Auftrag gegeben hatte. Dieser Bericht sollte die Ergebnisse, die die „Arbeitsgruppe Bevolkerungsfragen" 1978 geliefert hatte, vertiefen. Die Arbeitsgruppe wurde federfuhrend vom Statistischen Bundesamt, insbesondere dem BiB, geleitet. Ihr gehorten Vertreter beinahe aller Bundesministerien an. Der Bericht beginnt mit denkwiirdigen Satzen, die auch jede aktuelle Bekanntmachung zieren wiirden: „Fragen der Bevolkerungsentwicklung, ihre Ursachen und Folgen werden seit mehreren Jahren in der Offentlichkeit intensiv und zum Teil kontrovers und nicht immer emotionsfrei diskutiert. Die Bundesregierung hat die zunehmende Bedeutung dieser Fragen friihzeitig erkannt, hierzu mehrfach offentlich Stellung genommen und versucht, die Diskussion zu versachlichen." (Deutscher Bundestag 1980: 5)
Eine sachliche Darstellung zeichnet diesen Bericht tatsachlich aus. Inhaltlich sind vor allem zwei Dinge auffallend. Zum einen betrachtet er die Bevolkerungsentwicklung langfristig: von 1871 bis 1979. Auf diese Weise wird, zum anderen, die These, die dem gesamten Bericht zugrunde liegt, iiberzeugend dargelegt. Diese lautet, dass der Geburtenriickgang mit dem Ubergang von der Agrargesellschaft zur Industriegesellschaft einsetzte und sich in der Gegenwart noch fortsetzt. Der Geburtenriickgang „bemht auf einem Wandel des generativen Verhaltens im Sinne einer gezielten Beschrankung der Kinderzahl. Zahlreiche gesellschaftliche Veranderungen, die als Voraussetzung, Folge oder Begleiterscheinung, zum Teil auch als Emingenschaften einer modemen Gesellschaft gelten konnen, schufen Bedingungskonstellationen, denen eher kleinere FamiliengroBen entsprechen." (ebd.: 37)
Bemerkenswert an dieser Darstellung ist, dass erstens der demographische Wandel im Kontext des Ubergangs von einer gesellschaftlichen Epoche in eine andere gesehen, zweitens die gesellschaftliche Dynamik als Ursache begriffen und drittens der Riickgang der Geburten als gesellschaftlich angemessen fiir eine entwickelte Industriegesellschaft - man konnte sagen als „ftinktional" - interpretiert wird. Die gesellschaftliche Einbettung und Verursachung des demographischen Wandels ist in spateren Darstellungen kaum mehr wiederzufinden. Dort wird vielmehr eher eine entgegengesetzte Betrachtungsweise bevorzugt: zu demonstrieren, dass der demographische Wandel zu gesellschaftlichen Veranderungen zwingt. 11
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Gewiss sind beide Perspektiven miteinander zu kombinieren, wobei jedoch zu priifen ist, wie sich jeweils das Verhaltnis von Ursache und Wandel bestimmt.
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Der ,3ericht iiber die Bevolkemngsentwicklung in der Bundesrepublik Deutschland" endet mit Bevolkerungsprognosen fxir die Jahre 2000 und 2030 fiir das Gebiet der „alten" Bundesrepublik Deutschland. Drei Modelle wurden berechnet: Das erste unterstellte eine stabile Geburtenhaufigkeit (Ausgangsjahr 1978), das zweite einen weiteren Riickgang und das dritte eine Zunahme der Geburten. Vergleicht man die Ergebnisse mit denen heutiger Prognosen, so fallt auf, dass die damaligen - und zwar alle drei - Modelle einen viel starkeren Riickgang der jiingeren Jahrgange voraussagten als die heutigen. Einer Bewertung oder Dramatisierung enthielt sich der Bericht dennoch weitgehend. Der zweite Teil des Berichts erschien 1984 und beschaftigt sich mit den Auswirkungen der Bevdlkerungsentwicklung auf die verschiedensten sozialen, okonomischen und staatlichen Bereiche. Dabei wurde nicht eines der oben genannten Modelle zugrunde gelegt, sondem ein neues entwickelt, das den „auslandischen Bevolkerungsteil" mit einberechnete und von einem Riickgang der Gesamtbevolkerung von ca. 60 Millionen im Jahr 1983 auf ca. 45,7 Millionen im Jahr 2030 ausging. Unter dieser Voraussetzung wurde fur jene Bereiche ein Veranderungsdruck identifiziert, in denen die „demographischen Faktoren bestimmende Bedeutung haben", etwa im Bildungsbereich und der Daseinsvorsorge, weil deren Ausstattung pro Kopf festgelegt ist. Fiir die Kranken- und die Rentenversicherung wurde ebenfalls Handlungsbedarf gesehen. Fiir andere Gebiete wie die Entwicklung der offentlichen Finanzen, die gesamtwirtschaftliche Nachfrage oder die Integration der auslandischen Bevolkerung wurde dagegen festgehalten, dass deren Entwicklung primar durch gesellschaftliche und politische Ziele bestimmt ist. Den nachsten „gro6en" Bericht iiber die Bevolkemngsentwicklung in Deutschland gab die Enquete-Kommission „Demographischer Wandel" des Deutschen Bundestages im Jahr 2002 heraus (vgl. Deutscher Bundestag 2002). Die Enquete-Kommission konstituierte sich 2000 - in der 14. Wahlperiode - und schloss zwei Jahre spater ihre Arbeit abA^ Sie sollte laut Beschluss des Deutschen Bundestages ,JHandlungsempfehlungen im Themenbereich 'soziale Sicherungssysteme'" erarbeiten (Deutscher Bundestag 2002: 293; vgl. auch Deutscher Bundestag 1999). Dariiber hinaus sollte sie „das Verhaltnis der Generationen nicht nur unter der Beriicksichtigung okonomischer, sondem vor allem auch gesellschaftlicher und politischer Aspekte analysieren und bewerten" (Deutscher Bundestag 2002: 293).
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Sie fiihrte die Arbeit von zuvor eingesetzten Enqueten fort. Bereits in der 12. und 13. Wahlperiode waren zu diesem Thema Kommissionen berufen worden, die jedoch lediglich Zwischenberichte lieferten (vgl. Deutscher Bundestag 1994, 1998).
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Fiir die Erstellung der „Ausgangslage" werden auch in diesem Bericht Modellrechnungen zur Bevolkerungsentwicklung vorgenommen, wobei allerdings eingestanden wird, dass verlassliche Prognosen kaum moglich sind, weshalb nur mit Tendenzen - wie stagnierende Fertilitat, steigende Lebenserwartung und, daraus resultierend, ein sich waiter verandemder Altersaufbau der Bevolkemng gerechnet wird. Auf dieser Grundlage sollen die Konsequenzen fiir die sozialen Sicherungssysteme und das Generationenverhaltnis aufgezeigt werden. Dabei konzentriert sich der Bericht darauf, zu berechnen, wie angesichts der aus dem „Gleichgewicht geratenen Balance" der Generationsgrofien die Finanzierung der sozialen Sicherung gewahrleistet werden kann. Diese Balance wird auch in Bezug auf den Arbeitsmarkt und die Wirtschaft, im Bereich der Migration so wie am Gesundheits- und Pflegeversicherungssystem erortert. Konsequenzen des demographischen Wandels in den verschiedenen abgehandelten Bereichen werden wie folgt gefordert: Wahrend beim Generationenverhaltnis zunachst lediglich eine Sensibilisierung angestrebt wird, um zu vermeiden, dass es zwischen den Altersgruppen zu einer Polarisierung kommt, werden in den Bereichen Arbeitsmarkt und Wirtschaft deutlichere Einschnitte angemahnt, beispielsweise Flexibilisierung der Ldhne und Arbeitszeiten, Lohnabstand zu sozialen Transferleistungen und Abbau von ,3eschaftigungshemmnissen". Des Weiteren werden eine entlang demographischer Gesichtspunkte gesteuerte Zuwanderung und die bessere Integration von Migranten, die private Erganzung der gesetzlichen Rentenversicherung sowie Kosten- und Qualitatsmanagement bei Gesundheit und Pflege empfohlen.l^
3.4 Ein HdchstmaB an Evidenz Nach Max Weber besitzt einzig die zweckrationale Deutung sozialer Phanomene ein HochstmaB an Evidenz. Bei wissenschaftsgenerierten Reprasentationen bemisst sich der Grad an Evidenz an anderen Kriterien. Hauptsachlich zwei Eigenschaften erweisen sich immer wieder als besonders bedeutsam: prinzipielle Verstandlichkeit im Sinne von leichter NachvoUziehbarkeit und die Ubemahme allgemeiner gesellschaftlicher Uberzeugungen. Prinzipielle Verstandlichkeit meint, dass die Reprasentationen auch auBerhalb der „scientific community" verstehbar - also adressatentauglich - sind. Dies gelingt, indem sie als in sich schliissig und uberpriifbar erscheinen. Die demographischen Reprasentationen erfullen dieses Kriterium hervorragend, speziell die graphischen Veranschaulichungen. So ha-
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Die Pflege - ihre Finanzierung und Qualitat, wozu auch der Ausbau der Pflege als Bemfsbereich gehort - nimmt im Ubrigen den groBten Raum im Schlussbericht ein.
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ben die Betrachter der Bevolkerungspyramide und der demographischen Landkarte den Eindruck, dass sie sich die Fakten selbst erschlieBen und selbstandig interpretieren. Die Anmutung einer eigenen Deutung tragt wesentlich dazu bei, dass die Reprasentationen als schliissig wahrgenommen und ihnen Zustimmung entgegengebracht wird. Die klare und leicht fassliche Darbietung dient insbesondere dazu, dass die Reprasentationen nicht an Verstandlichkeitsbarrieren stoBen. Klar und leicht begreifbar sind sie jedoch nur dann, wenn sie Seh- und Denkgewohnheiten zitieren - also eingeiibte Bilder und Sprachmittel verwenden. Nicht „logische Evidenz" wie bei Max Weber, sondem „praktische Evidenz" im Sinn von Bourdieu sichert den demographischen Reprasentationen ein groBes Zustimmungspotenzial. Beziiglich der Inhalte der Reprasentationen ist zu beachten, dass sie auf breit geteilten gesellschaftlichen Uberzeugungen aufbauen. Ist dies gegeben, ist es selten notwendig, dass die prasentierten Inhalte umfassend hergeleitet und begriindet werden miissen. Bei den gesellschaftlichen Uberzeugungen handelt es sich oftmals um implizites Wissen. So kann man bei den demographischen Reprasentationen beobachten, dass diese ganz selbstverstandlich eine stabile Bevolkerungsstruktur als Ideal zugrunde legen, weil diese als Garant fiir gesellschaftliche Bestandigkeit angesehen wird. Dies wird jedoch weder expliziert noch begriindet. Indem die demographischen Reprasentationen diese gesellschaftliche Uberzeugung zugrunde legen, bestatigen sie die gewohnten Sichtweisen und Argumente. Prinzipielle Verstandlichkeit und die Ubemahme allgemeiner gesellschaftlicher Uberzeugungen sind typische Kennzeichen sozialer Reprasentationen. Die demographischen Reprasentationen zeichnen sich jedoch durch eine Besonderheit aus, die sie von anderen abhebt und zudem erklart, weshalb sie eine so auBerordentliche Erklarungs- und Uberzeugungskraft entfalten. Diese besteht darin, dass sie definitive Aussagen iiber die Zukunft versprechen. Da die kiinftigen Bevolkerungszahlen primar von der GroBe der verschiedenen Altersgruppen bestimmt werden und das veranderliche Verhalten der Menschen nur nachgeordnete Bedeutung hat, nehmen die meisten demographischen Prognosen fiir sich in Anspruch, verlasslicher als alle anderen Vorhersagen zu sein. Begriindet wird dies damit, dass es sich beim demographischen Wandel um einen irreversiblen Prozess handelt, der sich in den nachsten Jahrzehnten weder stoppen noch umkehren lasst. Davon leitet beispielsweise Herwig Birg sein destruktives Urteil her, dass jede Politik, die sich darum bemiihe, die demographische Entwicklung unter Kontrolle zu bringen, letztlich „eine Art Vergangenheitsbewaltigung" betreibe (Birg 2005: 63). Angesichts der steigenden Zukunftsungewissheit, mit der die modemen Gegenwartsgesellschaften konfrontiert sind und die zumeist mit den beiden Schlagworten Globalisierung und Wissensgesellschaft umschrieben wird, sagt die Demographic eine gesicherte Zukunftsausdeutung, ja sogar
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eine Abgeschlossenheit der Zukunft zu. Soziologische, politikwissenschaftliche Oder andere sozialwissenschaftliche Analysen trauen sich dagegen oftmals noch nicht einmal eine gesicherte Gegenwartsdiagnose zu. Nun ist, wie u.a. Niklas Luhmann gezeigt hat, ein zentrales Kennzeichen modemer Gesellschaften, dass sie ihren Orientiemngsschwerpunkt in die Zukunft hineinverlagem und Gegenwart als einen Weltzustand denken, „den es noch nicht gibt" (Luhmann 1997: 998). „Jede Gegenwart bildet immer wieder eine, wieder unbekannte Zukunft" (ebd.: 1007). Dieses Gegenwartsverstandnis grenzt sich von einem traditionellen ab, welches die Gegenwart im Wesentlichen durch die Vergangenheit bestimmt sieht. Indem modeme Gesellschaften die Gegenwart aus der Zukunft betrachten, gelingt es ihnen, die Gegenwart als „Entscheidungsspielraum" aufzufassen, der ihnen verschiedene Altemativen bietet, iiber die sie beschliefien kdnnen. Auf diese Weise nehmen sie die gesellschaftliche Zukunft als weitgehend von ihnen selbst einzurichten wahr. Wird dagegen Zukunft als Vergangenheitsbewaltigung qualifiziert, dann ist ein Entscheidungsoder Gestaltungsspielraum bestritten. Im Hinblick auf den Epochenbruch, in dem sich die modemen Gegenwartsgesellschaften befinden, sowie die groBe Ungewissheit iiber die denkbare und wiinschbare Zukunft erstaunt es nicht sonderlich, dass die Zuriicknahme von Zukunftsoffenheit, selbst wenn sie so dramatisch ausgemalt wird wie in vielen demographischen Reprasentationen, eine so groBe Uberzeugungskraft und Deutungsmacht entfalten kann.
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Demographisch bedingt - bedingt demographisch
Fertigt die Demographic Gesellschaftsdiagnosen und -prognosen an und verbreitet diese als demographische Berichte und Vorhersagen, dann iiberschreitet sie ihre fachdisziplinare Grenze und begibt sich auf das Terrain der Soziologie. Dagegen ist prinzipiell nichts einzuwenden, zumal die Soziologie der Bevolkerungsstruktur oftmals wenig oder gar keine Beachtung schenkt und sich aus der „Abwesenheit der Bevdlkerung in der Gesellschaft" Erklarungsliicken ergeben. Fragwurdig wird dieser Grenziibertritt, sofem soziale, okonomische, politische und kulturelle Phanomene zu demographischen erklart werden, denn damit werden sie demographisiert. Demographisierung meint - um die vome in Anlehnung an Foucault vorgenommene Unterscheidung wieder aufzunehmen -, dass von der „Bevolkerung als Objekt" auf die ,3evolkerung als Subjekt" - sprich auf die Gesellschaft - geschlossen wird, was deterministische Erklamngen von gesellschaftlichen Prozessen begiinstigt. Teilweise wird sogar die zukiinftige Form des sozialen Zusammenlebens geradezu materialistisch von der Zahl der Kinder hergeleitet.
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Besonders haufig lasst sich Demographisiemng bei der Umdeutung sozialer Probleme und Konflikte zu demographisch bedingten Problemen und Konflikten beobachten. Mit dieser Umdeutung ist verbunden, dass jene Charakteristika, die die Demographie fur wesenseigen fiir die Bevolkemngsstruktur erklart, auf originar soziale, okonomische, politische und kulturelle Phanomene iibertragen werden. Dazu gehoren die lange Dauer der Phanomene, weil sich die Zusammensetzung der Bevolkemngsstruktur nicht innerhalb kurzer Zeit verandem lasst, die Unausweichlichkeit, ja Zwangslaufigkeit, weil ohne Bevolkemng Gesellschaft iiberhaupt nicht moglich ist, und insbesondere die geringe Gestaltbarkeit bzw. Beeinflussbarkeit aufgmnd des eingeengten Entscheidungsspielraums, weil die GroBe der verschiedenen Altersgmppen nur wenig vom Verhalten der Bevolkemng verandert werden kann.l^ Diese Eigenschaften werden auf soziale, politische und kulturelle Phanomene iibertragen, obwohl deren Eigenschaften in modemen Gegenwartsgesellschaften just gegenteilig qualifiziert werden. Ansonsten konnte die Gegenwart nicht als „Entscheidungsraum" und die Zukunft als weitgehend offen gedacht werden. Damit schreibt die Demographisiemng die gesellschaftliche Semantik (Luhmann) iiber die Gegenwart und Zukunft von weitgehend offen und unbekannt zu groBtenteils vorbestimmt und bereits bekannt um. Weiterhin ist fur soziale, okonomische, politische und kulturelle Phanomene typisch, dass diese je nach Standort - man konnte auch sagen: je nach Interessenlage und ideellen Uberzeugungen - verschieden wahrgenommen und beschrieben werden. Daraus erklart sich, dass sie im Rahmen der bestehenden Machtkonstellationen kontrovers betrachtet werden. Demographisiemng dagegen argumentiert mit zwangslaufigen Ablaufen, unabwendbaren Folgen, und mit diesen Begriindungen verengt sie den Raum fiir soziale Aushandlungsprozesse. Veranschaulichen wir uns dies anhand einiger Beispiele. Das Berlin-Institut fiir Bevolkemng und Entwicklung (2006: 9) zahlt in seiner Analyse zur Zukunftsfahigkeit Deutschlands vier kiinftige Konflikte auf, die zwangslaufig aus dem demographischen Wandel erwachsen: der zwischen Eltem und Kinderlosen, zwischen Alten und Jungen, zwischen der Bildungselite und den Unqualifizierten sowie zwischen Zugewanderten und Alteingesessenen.15 Bis auf den prognostizierten Konflikt zwischen denen mit und ohne Nachkommen handelt es sich um gesellschaftliche bzw. staatliche Gmndkonflikte, die unabhangig von der demographischen Zusammensetzung oder dem „demographischen Verhalten"
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Dabei zeigt die steigende Geburtenrate in Frankreich bzw. die zeitliche Verschiebung der Geburten nach der Wende in Ostdeutschland, dass gerade das Verhalten von groBer Bedeutung ist (s. auch den Beitrag von Kreyenfeld in diesem Band). In vielen demographischen Untersuchungen wird ein weiterer Konflikt genannt: der zwischen wachsenden und schrumpfenden Regionen (vgl. den Beitrag von Tutt in diesem Band).
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existieren. Aber auch der angekiindigte Konflikt zwischen Eltem und Kinderlosen, bei dem zwar ein unmittelbarer Bezug zum „deniographischen Verhalten" besteht, entsteht nicht aus sich heraus. Erst im sozialen Kontext wird Kinderlosigkeit zu einer konflikttrachtigen Differenz, sofem daran Vorteile bzw. Nachteile gebunden sind, die als sozial ungerecht wahrgenommen werden. Aber auch dieser Konflikt kann gesellschaftlich bewaltigt werden. 16 Allerdings erhalten die vier aufgezahlten Konflikte durch den demographischen Wandel eine spezifische Pragung. So gehdrt die Versorgung von Menschen, die nicht mehr mitarbeiten konnen, zu den existentiellen Grundfragen, mit denen sich jede Gesellschaft auseinanderzusetzen hat: eine Jager-SammlerGesellschaft genauso wie eine Wissensgesellschaft. Ihr jeweiliger Umgang lasst sich nicht von einer Gesellschaft auf eine andere iibertragen. Auch eine „altemde Gesellschaft" ist aufgerufen, sich dieser existentiellen Grundfi-age zu stellen und eine Antwort zu finden. Wie diese aussieht, hangt weit mehr davon ab, welche gegenseitigen Verpflichtungen Menschen bereit sind fiireinander einzugehen, als von der bloBen Kopfzahl der jeweiligen Altersgruppen. Das Verhaltnis zwischen Alten und Jungen ist gerade keine natiirlich-numerische, sondem eine soziale Angelegenheit. Dies ist bereits bei Karl Mannheim in seinem beriihmten Aufsatz „Das Problem der Generationen" nachzulesen (Mannheim 1928). Dort schreibt er, dass Gesellschaft mehr ist als „das Geborenwerden, das Altem und das Sterben" - mehr als diese demographischen Fakten; sie ist bestimmt durch das „Miteinander der Menschen", „eine bestimmt geartete Struktur der Gesellschaft" und „die auf spezifisch gearteten Kontinuitaten beruhende Geschichte" (ebd.: 173). Desgleichen unabhangig von der demographischen Lage ist der mogliche Konflikt zwischen der Bildungselite und den Unqualifizierten. Er rekurriert in modemen Gegenwartsgesellschaften auf Vorstellungen und Forderungen nach Chancengleichheit im Bildungssystem. Zwar wird mit demographischen Argumenten begriindet, weshalb in diinn besiedelten Regionen Schulen geschlossen werden miissen. Aber tatsachlich verbergen sich dahinter oftmals finanzielle Engpasse oder auch ein Mangel an innovativen Losungen. Der gr56te Ausdruck von mangelnder Chancengleichheit im Bildungssystem ist jedoch, dass sozial benachteiligte Schiilerinnen und Schiiler aus bildungsfemen Familien, insbesondere Kinder von Migranten, nur unzureichend gefordert werden. 1'^ Demographische Ursachen hat dies nicht. Dass das Verhaltnis von Migranten und Einheimischen vorwiegend durch Zuwandemngspolitik, soziale Zugehorigkeit, okonomi-
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Viel zu kurz greift eine lediglich okonomische Betrachtung der Vorziige wie Benachteiligungen (siehe den Beitrag von Lang in diesem Band). Siehe dazu insbesondere die Ergebnisse der PISA-Studie (Deutsches PISA-Konsortium 2001, 2002).
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sche Chancen und kulturelle Anerkennung bestimmt wird und weniger von Unterschieden in der Altersstruktur und der Geburtenrate - zumal diese sich bekanntlich angleichen -, versteht sich beinahe von selbst. Was Demographisiemng meint, soil an einem weiteren, besonders anschaulichen Beispiel demonstriert werden. Herwig Birg schreibt: „Wenn das Ziel einer Demokratie darin besteht, das grofite Gluck der groBten Zahl zu erreichen, wird es bei einer schmmpfenden Zahl von Demokraten verfehlt." (Birg 2005: 147)
Demokratie als eine Herrschaftsform wird in diesem Beispiel als demographischer Auftrag verstanden und statistisch uminterpretiert in die ,J*olitik der gro6en Zahl" - so der Buchtitel der feinsinnigen Geschichte der Statistik von Alain Desrosieres (1993). Dieses Zitat soil exemplarisch ftir viele andere demographische Umdeutungen stehen: Kriminalitat, soziale Exklusion und Abweichung, Regierung und Politik etc.l^ Besonders verbreitet ist Demographisiemng auf dem Gebiet von Arbeit und Okonomie. Dies bedeutet, dass die gegenwartige dkonomische Krise sowie die Neuemngen durch die Wissensgesellschaft und die Globalisiemng vorwiegend als demographische Herausfordemngen interpretiert werden. Dabei wird mit erstaunlicher Leichtigkeit die Bev51kemngsgr66e mit okonomischer Starke bzw. Schwache gleichgesetzt und das Szenario heraufbeschworen, dass „demographische Riesen zu okonomischen Riesen werden" (Birg 2005: 62). 19 Und dies, obwohl in der demographischen Forschung Konsens besteht, dass die Gmndannahme von Malthus, dass die BevolkemngsgrdBe die wirtschaftlichen Entwicklungschancen bestimmt, zu verwerfen sei. Ahnlich wie zu der Zeit von Malthus, als der Ubergang von der Agrar- zur Industriegesellschaft stattfand und mit ihm massive demographische Verandemngen einhergingen, ist gegenwartig und zukiinftig zu fragen, wie sich die „globalisierte Wissensgesellschaft" demographisch und wie sie sich gesellschaftlich einrichten wird. Dabei wird es nicht hilfreich sein, den demographischen Wandel, wie es in der gegenwartigen Debatte geschieht, auf die bestehende soziale Verfasstheit zu beziehen. So wie der Ubergang von der Agrargesellschaft zur Industriegesellschaft eine neue gesellschaftliche Verfasstheit erforderte, wird sich auch der Wandel zur Wissensgesellschaft unter den Bedingungen der Globalisie-
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Man sollte die offentliche und politische Wirksamkeit der Demographisiemng nicht unterschatzen. Ein Effekt ist, dass ein bislang randstandiges Thema wie Frauen- und Gleichstellungspolitik zu einem zentralen, ja zum bedeutsamsten Thema uberhaupt befordert wird (s. den Beitrag von Lindecke in diesem Band). Bei dieser Thematisierung ist auffallig, dass abermals nur von Frauen und Miittem die Rede ist, Manner und Vater fehlen weitgehend (siehe die Beitrage von Meuser und Schiek in diesem Band). Siehe insbesondere den Beitrag von Straubhaar/Schroer in diesem Band, die sich kritisch mit diesen Argumenten auseinandersetzen.
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rung nicht mit einem Reformprogramm bisheriger Institutionen bewaltigen lassen. Dies gilt insbesondere fiir die Institutionen der Arbeit und sozialen Sicherung, die angepasst auf die Industriegesellschaft entwickelt worden sind, richtiger: entlang des fiir die Industriegesellschaft typischen Interessenkonflikts „sozial erkampft" wurden. Es ist aber nicht nur eine offene Frage, wie sich die „globalisierte Wissensgesellschaft" demographisch entwickeln wird. Viel grundsatzlicher ist zu fragen, ob es einen Zusammenhang zwischen Bevolkerungs- und Gesellschaftsentwicklung gibt und vor allem ob dieser bereits wahrend einer Ubergangsepoche oder erst im Nachhinein erkannt werden kann. Mitten im Ubergang von der Agrarzur Industriegesellschaft verzeichnete das Deutsche Reich ein betrachtliches Bevolkemngswachstum. Von 1871-1900 wuchs die Bevdlkerung im Deutschen Reich um 20,4 Prozent, im Konigreich Sachsen sogar um 37 Prozent. Insbesondere in den groBen Stadten - den Zentren der Industrialisierung - stieg die Einwohnerzahl sprunghaft an: von 1875 bis 1900 in Berlin um 95 Prozent, in Leipzig um 258 Prozent. Die Stadte profitierten vorwiegend davon, dass es die landliche Bevdlkerung in die neuen Produktionsstatten zog - ein deutliches Indiz fiir die Transformation von der Agrar- zur Industriegesellschaft.20 Die damaligen Zeitgenossen haben das massive Bevolkerungs- und Stadtewachstum nicht als Innovationsschub wahrgenommen, sondem als gesellschaftlichen Zerfall mit ungewissem, ja bedrohlichem Ausgang (vgl. Barlosius 1997). Heutzutage sieht die Geschichtswissenschaft in dem Bevolkerungswachstum einen Grund ftir den schnellen Aufstieg Deutschlands zu einer fiihrenden Industrienation und umgekehrt den Grund fiir das Zuriickbleiben Frankreichs im europaischen Prozess der Industrialisierung in seiner relativ stabilen Bevolkerung im 19. Jahrhundert (vgl. Kaelble 1991). Es scheint somit fraglich, dass Gegenwartsgesellschaften in der Lage sind, die ideale Demographic fiir eine unbekannte gesellschaftliche Zukunft zu antizipieren. Die gesellschaftliche und wirtschaftliche Dynamik und Gestaltbarkeit uberft)rdert sie, besonders in Phasen des gesellschaftlichen Umbruchs, in denen die Gmndlinien noch nicht absehbar sind - wie die der „globalisierten Wissensgesellschaft", falls diese Zukunftsdiagnose iiberhaupt stimmt. Die aktuelle Debatte iiber den demographischen Wandel wird beinahe ausschlieBlich auf die gegenwartige Verfasstheit der Gesellschaft bezogen. Wenn von einer ausreichenden Kinderzahl und einer „altemden Gesellschaft" die Rede ist, dann ist der Mafistab fiir „ausreichend" wie fur „altersideal zusammengesetzt" die Demographic der Nachkriegsgesellschaft mit ihrer industriellen Produktion und ihrer Form der sozialen Sicherung. Um diese zu fixieren, wird eine
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Aber sie wuchsen nicht unbetrachtlich auch durch das eigene natiirliche Bevolkerungswachstum.
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stabile Demographic fiir unerlasslich gehalten; dies klingt iiberzeugend. Eine stabile Demographie jedoch iiber einen gesellschaftlichen Umbruch hinaus fortzuschreiben scheint gewagt. Jedenfalls hatte die Industriegesellschaft mit der Bevolkerungsstruktur der Agrargesellschaft einer anderen gesellschaftlichen Verfasstheit bedurft, um zu einer gewissen Stabilitat zu gelangen.
5.
Erlduternde Worte zum Aufbau des Bandes
Die demographische Diskussion ist nicht nur eine fachwissenschaftliche, sondem auch eine fachpolitische, aber vor allem wird sie in der breiten Offentlichkeit gefiihrt: Es gibt fachwissenschaftliche Analysen, offentliche Debatten und, wie am Beispiel der demographischen Reprasentationen gezeigt, auch einen Zwischenbereich. Zu den wichtigsten Impulsgebem fiir den demographischen Diskurs gehoren Medien, Politik und einige Interessenverbande. Wer iiber die Demographisierung des Gesellschaftlichen reflektiert, kann an diesen Veroffentlichungen jeweils eigener Art nicht vorbeigehen. Ansonsten wiirde er einen wichtigen, einen besonders einflussreichen Teil des Reprasentationsgeschehens ignorieren. Zudem ware er kaum in der Lage, den wissenschaftlichen Diskurs in seiner Eigenart zu verstehen, denn viele fachwissenschaftliche Untersuchungen setzen sich mit den in der Offentlichkeit kursierenden Zahlen und Erklarungen des demographischen Wandels auseinander.21 Weil die medialen und politischen Darstellungs- und Debattierungsweisen so starke offentliche Beachtung finden, sich mehrheitlich auf wissenschaftliche Expertise berufen und weil sie weiterhin Aspekte aufnehmen, Sichtweisen einfuhren und Pointiemngen vomehmen, die in den fachwissenschaftlichen Analysen unterbelichtet sind oder ganzlich fehlen, die aber bedeutsam sind, beginnt das Buch mit zwei Beitragen aus den Medien Susanne Lang und Cordula Tutt - und einem aus der praktischen Politik von Christiane Hug-von Lieven. Diese dffentlichen Standortbestimmungen sollen einerseits in die Thematik einstimmen und andererseits zur kritischen Nachfrage motivieren. Letzteres steht im Zentrum des darauf folgenden Abschnitts iiber die Registrierung. Kaum ein Wissen scheint so gesichert wie statistisches, zumal wenn es sich um Bevolkerungsstatistiken handelt, die sich auf eine lange wissenschaftliche und staatliche Tradition berufen konnen und die iiberdies so „einfache Tatsachen" wie Geburts- und Todesjahr, Anzahl der Geburten etc. erfassen. Bei ge-
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In der aktuellen Debatte iiber demographische Zukunft erfahren die Fachwissenschaften aber auch, wie die von ihnen produzierten Daten und Erklarungen von der medialen und politischen Offentlichkeit aufgenommen, interpretiert und popularisiert werden.
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nauerem Blick zeigt sich jedoch, dass die vorhandenen demographischen Statistiken einige Probleme und Liicken aufweisen. In ihren Beitragen diskutieren Ivar Cornelius und Michaela Kreyenfeld die Moglichkeiten und Grenzen der statistischen Erfassung und der Erklarung durch statistische Daten. Die statistische Erfassung bildet die empirische Grundlage fiir die wissenschaftliche Ursachensuche des demographischen Wandels. Als wichtiger Grund wird in den aktuellen wissenschaftHchen Analysen immer wieder die mangelnde Vereinbarkeit von Erwerbsarbeit und FamiHe in Deutschland benannt. Wenn diese verbessert werden soil, dann werden zunachst und zumeist ausschlieBlich Losungen fiir Mutter gesucht. So wie die Statistik nur die Frauen befragt, um die Geburtenrate zu bestimmen, wird gleichfalls die Aufforderung der Vereinbarkeit nur an Frauen adressiert. Christiane Lindecke ebenso wie Michael Meuser lehnen diese verengte Perspektive ab. In ihrem Landervergleich zeigt Christiane Lindecke, dass in Landem, in denen Familien- eng mit Gleichstellungspolitik verkniipft ist, Familiengriindungen besser gelingen. Und Michael Meuser fragt nach, ob und wie sich die Familiengriindung auf die Lebenslau^lanung von Mannem auswirkt. An die Ursachensuche sollte sich idealerweise die Suche nach Abhilfe anschlieBen, und sie sollte versuchen, praxistaugliche Vorschlage zu unterbreiten. Wer sich dieser schwierigen Herausforderung stellt, begibt sich in den Zwischenbereich von Wissenschaft und Politik - sie oder er hat einen Standpunkt zu beziehen. Und dies bedeutet, wissenschaftliche Analysen zu gewichten und zu bewerten, um zu begriindeten Losungsvorschlagen zu gelangen. ErfahrungsgemaB gelingt es nur so, die Empfehlungen in die offentliche Debatte einzuspeisen. Diese Herausforderung nimmt Kathrin Dressel in ihrem Beitrag an. Ihr Ausgangspunkt ist, dass es vielen Frauen nicht gliickt, ihren Wunsch nach Kindem zu realisieren. Ihr Losungsvorschlag lautet: Familienbildung und berufliche Karriere durch eine breitere Nutzung gewonnener Jahre zeitlich zu entzerren. Vom Standpunkt einer vorherrschend marktwirtschaftlichen Wirtschaftsordnung aus hinterfragen Thomas Straubhaar und Sebastian Schroer, ob die weit verbreitete Gewissheit, dass eine „altemde Gesellschaft" zwangslaufig in eine dkonomische Krise gerat, iiberhaupt stimmt. Ausgehend von marktwirtschaftlichen Argumenten unterbreiten sie Vorschlage, wie das System der sozialen Sicherung, Arbeitsmarkte und Bildungsangebote umzugestalten sind, um sie an die veranderte Altersstruktur anzupassen. Das Buch endet mit drei Aufsatzen, die jeweils eine Facette der Macht der Demographisierung analysieren. Martin Lengwiler demonstriert, dass staatliche Anstrengungen, auf das reproduktive Verhalten der Bevolkerung einzuwirken, eine lange Tradition besitzen, mal mit der Absicht, die Geburtenrate zu steigem, mal, um sie zu verringem. Dabei ist auffallig, dass es selten nur um die Erhohung oder Verminderung der Geburtenrate ging, sondem eher darum, auf das
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Reproduktionsverhalten in bestimmten sozialen Klassen und Schichten einzuwirken. Die Vereinbarkeit von Familie und Beruf, urspriinglich eine frauenpolitische Forderung zur Durchsetzung von mehr Geschlechtergerechtigkeit, wird in der gegenwartigen demographischen Debatte zunehmend mit einer neuen Begriindung ausgestattet: Wenn „Frauen beides wollen - Kinder und Beruf, dann ist es nunmehr ein familienpolitisches Anliegen, die Vereinbarkeit zu erreichen, um auf diesem Weg die Geburtenrate zu steigem. Daniela Schiek zeigt diesen Begriindungswechsel am Beispiel der Teilzeitarbeit auf. Stephan Beetz wendet sich einem sehr aktuellen Thema zu. Zunehmend ist zu beobachten, dass eine wirtschafts- und regionalpolitische Forderung des landlichen Raums - vor allem in strukturschwachen Regionen - mit dem Argument zur Disposition gestellt wird, dass sich dort die Bevolkerungsstruktur bereits zu „ungtinstig" entwickelt habe, sodass eine weitere Unterstutzung nicht Erfolg versprechend sei.
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Offentliche Standortbestimmungen
Die Kinder der Akademikerinnen Familienplanung als eine Frage des Stils Susanne Lang
Sie sitzen in seriosen Abend-Talk-Shows und bekennen sich: „Wir sagen ja zum Kind!" Sie lacheln im Vorwerk-Staubsauger-Werbespot mit Champagnerglas im kleinen Schwarzen und enthiillen das Geheimnis ihres erfiillten HausfrauenDaseins: „Ich leite ein kleines erfolgreiches Familienuntemehmen." Sie strahlen auf den Magazin-Covem der Republik: „Verdammt sexy, dieser Kugelbauch." Sie heiBen zum Beispiel Silvana Koch-Mehrin, Europa-Abgeordnete der FDP, die ihren Bauch im Magazin „Stem" inszenierte - in Hochglanz-Optik. Sie heiBen Heidi Klum, Top-Model, gerade wieder Mutter. Und sie heiBen Verona ehemals Feldbusch, dann Pooth, nun endlich Mutter. Sie haben einen Lebensabschnittspartner und Karriere gemacht. „Sie haben alles erreicht", wie das neue Mutterblatt „Gala" im Friihjahr 2005 titelte, ,jetzt wollen sie Kinder". Und sobald sie Kinder geboren haben, sind sie sofort wieder auf dem Laufsteg so schlank, so rank, so schnell - wie machen sie das bloB? Es war jene Heidi Klum, die zuletzt wochenlang mit diesen bewegenden Fragen die Schlagzeilen bestimmte. Und nur auf Nachfragen ungewollt gestand, eine Nanny zu haben, aber trotzdem 100-prozentig fur ihr Kind da sein zu wollen. „Ich will keine Mutter sein, die ihr Kind an eine fremde Person abgibt", so betonte Klum. Unter Rabenmutter-Verdacht stand sie auf jeden Fall nie. Ebenso wenig wie Verona Pooth, die mittlerweile nicht nur wegen ihres Mutterdaseins einen neuen Medienmarketingwert zugesprochen bekommt, sondem auch mit ihrem Sohn auftritt. Vereinbarung von Beruf, Karriere und Kind? Verona Pooth hat die perfektionierte Losung gefunden: Sie verdient ihr Geld mit dem Kind. Die Mehrzahl der jungen Karrierefrauen hingegen macht sich die Kindentscheidung leider noch sehr schwer. Sie bekommen nicht einfach ein Kind. Nein, Akademikerinnen miissen zunachst jene schwierige Kopfgeburt bewaltigen, die die Pooths und Klums lange hinter sich haben: Wie integriere ich ein Kind in mein individuelles Leben, wie in meine Personlichkeit? Wie passt ein Kind in meinen Entwurf von einem selbstverwirklichten Leben? Und wahrend sie noch mit diesen Gedanken schwanger gehen, leben es die neuen Turbomiitter tagtaglich und die Medien offensiv vor: Mutter sind sexy. Kinder sind cool.
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So viel dffentliches Mutter-Sein war lange nicht mehr - zumindest nicht in Deutschland. Zwischen Gebar-Hype und Wirklichkeit klafft jedoch weiterhin eine Liicke. Obwohl Renate Schmidt, ehemalige hauptamtliche Familienministerin und nebenberufliche Vorbildmama, unermiidlich an die jungen, kinderlosen Akademikerinnen appelliert hatte; obwohl die neue Familienministerin Ursula von der Leyen, hauptberufliche Arztin und nebenamtliche CDU-Supermama, als Speerspitze der Konservativen nicht miide wird, ihre siebenkopfige Kinderschar in Homestories zu prasentieren: Seht her, es klappt doch prima, flir mich als Erfolgsfrau und Mutter. Obwohl bereits die erste Vorhut an unprominenten Turbomiittem im urbanen Grofistadtmilieu den Kinderwagen durch H&M-Filialen schiebt, Spielplatz-Freizeit kultiviert und im Cafe sitzt - mit ihren Vorzeigekindem, elegant in die Selbstinszenierung integriert. Immer im Dienste der deutschen Demographic. Deutschland braucht viel mehr von diesen Miittem, sagt nun auch die neue Familienministerin - und eigentlich meint sie: mehr Kinder aus der gebildeten Mittelschicht, auf die auch die jiingst beschlossene steuerliche Absetzbarkeit von Kinderbetreuung zielt. Deutschland braucht mehr dieser Kinder, sagen auch die Demographen, sagt der Arbeitsmarkt, sagen die Think Tanks. Die magische Zahl 42 Prozent immer mahnend parat - 42 Prozent der Akademikerinnen sollen angeblich laut Statistischem Bundesamt kinderlos sein. Eine alarmierende Zahl das soil sie wohl auch sein - zumindest wird sie so interpretiert, obwohl die Erhebung des Bundesamtes keine durchschnittlichen 42 Prozent ergibt. Wie auch das Deutsche Institut fiir Wirtschaftsforschung (DIW) in Berlin die Zahl weitaus niedriger ansetzt: 25 Prozent - doch darauf beruft sich niemand. Seltsam nur, dass sich die jungen Akademikerinnen trotzdem nicht beeindrucken lassen vom MaBnahmenkatalog der Politik: hoheres Eltemgeld. Mehr Ganztagsschulen, versprochen! Bessere Bildungsangebote, Riickkehrrecht zum Arbeitsplatz. Mehr Chancen und endlich einmal Chancen fiir die gebarfahigen Frauen - sie miissen nur Karriere und Kind endlich vereinbaren wollen. Warum bloB wollen sie immer noch nicht? „Mut" hieB daher zuletzt das Stichwort von Renate Schmidt, die Gesellschaft miisse jungen Frauen und Mannem Mut zum Kind machen. Es miisse dafiir geworben werden, dass „zu einem modemen Lebensstil Kinder gehoren". Das soziokulturelle Umfeld ist also gefragt - Images miissten her, die Trendmaschine musste gestartet werden. Die Vorhut der neuen Werbe-Turbomiitter befindet sich genau auf dieser Mission. Sie zeigen sich iiberall, nur nicht zu Hause. Sie leben offentlich vor, wie aus den deutschen Kopfkindgeburten endlich Kids zum Anfassen werden. Perfekte Working-Life-Balance-Miitter. Wie aufregend, das postmodeme Mutterbild! Die Twen-Moms sind nach wie vor der angesagteste Reformtrend der Republik.
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Mit einem reaktionaren Mutterkult, einer patriotischen, pro-natalistischen Gebarpropaganda hat die neue Faszination fxir Mutter wenig zu tun, obwohl der gesellschaftlich erzeugte Druck - Kinder sind gut fiir den Staat, Eltem sind altruistisch, leisten ihren Anteil am Gemeinwohl, Kinderlose sind unsozial - durchaus einen kritischen Punkt erreicht hat, wenn man die MaBstabe einer freien demokratischen und eben selbstbestimmten Gesellschaft anlegt. Die Faszination fur Mutter folgt in Wirklichkeit weniger familienpolitischen Impulsen - sie fuBt im Feld der Okonomie, die einer kapitalistischen Logik folgt: Kinder haben heute nicht nur einen gesamtwirtschaftlichen Nutzen, sie sind zum begehrenswerten Objekt und Produkt mutiert, sie fungieren nicht nur als „Humankapital", sondem als „emotionales Kapital". Kinder werden heute mit einem symbolischen Lifestyle-Wert aufgeladen, der fiir Deutschland neu ist. Kein Wunder, dass Werbung und Glamourwelt, dass Pop und Mode sich der Mutter annehmen, schlieBlich sind es die Mutter, die als Familienmanagerinnen auch vorrangig iiber den Konsum entscheiden - jenen „Vorwerk"-Staubsauger hoffentlich doch bevorzugen und ganz nebenbei den Sozialstaat demographisch retten mogen. Anleihen fiir die neuen Mutter-Role-Models borgt man sich vom boomenden ,jy[omismus" in den USA, der mit der Weiblichkeits-Ikone Madonna seinen Anfang nahm. Ihr Credo lautet: „Das letzte gesellschaftliche Abenteuer, das man heute erleben kann, ist es, eine Familie zu griinden." Eine exportfahige Philosophic, die von transatlantischen Topacts wie Heidi Klum auch nach Deutschland getragen wurde. Mitten hinein in jene urbanen Lebenswelten, in denen die Turbomiitter dann im Alltag allzu ofl mit ihrer Performance scheitem: Muttersein ist anstrengend. Doch selbst dies ist Teil des Momismus, zumindest wie ihn seit einigen Staffeln die ,J3esperate Housewifes", die verzweifelten Hausfrauen in der US-Serie, auch im deutschen Femsehen leben - Ehe und Kinder sind die Holle - manchmal. Aber eine Holle, die selbst gewahlt ist. Momismus heiBt eben auch, dass iiber all das geredet wird, was friiher „der schonste Schmerz der Welt" war. Mom darf heute sagen, dass Windelnwechseln nicht immer angenehm ist. Dass das selbstgewahlte Hausfrauendasein schon nach kurzer Zeit unbefriedigend ist. Wer Naheres wissen mochte, sei in die Welt der Bestseller verwiesen: Mit einem Hausfrauen-Mutter-Drama hat Autorin und Zweifach-Mutter Susanne Frohlich in ihrem Roman ,JFamilienpackung" ihren jiingsten Volltreffer gelandet. Im nachsten Band, so Frohlichs Ankiindigung, werde ihre Protagonistin selbstverstandlich wieder arbeiten gehen, Teilzeit zumindest doch. In Deutschland wird „momism" nicht von reaktionaren Kulturkampfem (wie sie in den USA agieren) politisch instrumentalisiert, in Deutschland hat der Mutter-Pop ein liberales Antlitz: Zwar greift das konservative Lager geme wieder auf die traditionellen Anleihen zuriick, aber auch das linke Lager hat langst die Kinderliebe fiir sich entdeckt: Kinder sind eine Mdglichkeit der Distinktion. Sie sind „pc", rechts wie links politisch korrekt. Ein Statussymbol von einer
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Bedeutung, wie sie bislang hochstens Auto und Eigenheim fiir sich in Anspruch nehmen durften. Ein Statussymbol vor allem fiir eine Mittelschicht, die zunehmend ihre Schwierigkeiten hat, sich abzugrenzen - von irgendwo diffiis gefiihlt „da unten". Von den Vielzahl-ICindergeldschnorrem. Ein Objekt, um das gute, schone, wahre, erfiillte Leben zu zelebrieren. Ein Kind bei Manufactum - das ware der ultimative Konsumschlager. Wohl ausgesucht, politisch korrekt, ein wenig hedonistisch, vor allem aber: ein Objekt der Selbstinszeniemng und der Selbstverwirklichung, versehen mit edlen Labels wie Laura, Marie und Alexander - am besten mit Manufactum-Umtauschgarantie. Muttersein, das ist vielleicht die gute Nachricht, ist endgiiltig entideologisiert. Die Generation junger Frauen, die Twen-Moms, haben sich in doppelter Weise emanzipiert: von ihren emanzipierten Miittem, die im Zuge der Studentenbewegung Selbstbestimmtheit und Unabhangigkeit (von Mannem und Kindem) als absoluten MaBstab ihrer Lebensplanung durchsetzten. Die GroBmutter sagte noch: „Bring mir bloB kein uneheliches Kind nach Hause." Die Mutter sagte schon: „Gib bloB deine Karriere, deine Selbstandigkeit nicht auf wegen eines Kindes." Und nun? Maximale Mdglichkeiten, die eines gemeinsam haben: den Zwang zur Perfektion. SchlieBlich soil sich die Entscheidung als die richtige beweisen. Das wiegt schwerer als ein fehlender Kitaplatz. Aus der Ideologic ist ein Ideal geworden, aus der Utopie jener pragmatische Familiengeist, der mittlerweile sogar systemtheoretisch eingeordnet ist. „Nachwuchs macht Sinn", so stellt Christian Schuldt etwas lapidar fest in seinem Versuch der Weiterentwicklung von Niklas Luhmanns „Liebe als Passion" (Schuldt 2005). Er erklart die Renaissance der Familie, ihre Sinnhaftigkeit, mit den Pramissen der passionierten, romantischen Liebe: Das (unerreichbare) Ideal der Selbstverwirklichung in der Liebesbeziehung wird heute auch auf die Familie iibertragen. Der Fokus auf familiare Vertrautheit bildet eine romantische Gegenstrategie zur kalt-rationalen Logik des globalen Arbeitsmarkts. Das passende Schlagwort dazu aus der Trendmaschine: Cocooning - einer jeden ihr Nestchen. Der passende Untertitel von Schuldts Arbeit dazu: „Liebe und Sex in den Zeiten maximaler Moglichkeiten". Genau dies ist das eigentliche Dilemma der jungen Frauen: Ideale leben von der Uberhohung, der Aufladung mit Sinn, ein Kind bedeutet aber nun mal: lebenslanglich. Eine Entscheidung, die nicht riickgangig gemacht werden kann. Oder wie es, positiv gewendet, die amerikanische Psychologin Daphne de Marneffe in ihrem Buch ,JDie Lust Mutter zu sein" beschreibt: Eine Entscheidung, Kinder nicht nur kriegen und haben zu wollen, sondem auch fiir sie zu sorgen (Mameffe 2005). Sie lenkt den Blick auf einen Aspekt in der Debatte um Kinderlosigkeit, der in Deutschland vdllig auBer Acht gelassen wird: die urweibliche Libido als Beweggrund fiir ein Kind. Dass sie in den Hintergrund geraten ist, verdanken die Frauen nicht zuletzt der Emanzipationsbewegung. Um kein Miss-
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verstandnis aufkommen zu lassen: De Mameffe steht keineswegs in der reaktionaren Ecke, sie ist vielmehr feministisch gepragt und bricht - wenn iiberhaupt mit einem emanzipatorischen Tabu. Sich zur Lust zu bekennen, eigene Kinder aufzuziehen und zu versorgen, sich zum Gliick zu bekennen, Kinder zu haben, das bedeutet letztlich, einen Teil der egoistisch anmutenden Selbstverwirklichung in Form von Lifestyle-Attitiiden ebenso aufzugeben wie ideologische Kampfe. Es beinhaltet die Bereitschaft, das Anrecht auf weibliche Fiirsorglichkeit zu einem gleichberechtigten Teil auch den Vatem zuzugestehen. Aber iiber Vater beginnen auch Turbo-FamiHenministerinnen erst langsam zu sprechen.
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Das groBe Schrumpfen Von Wohlstandsinseln und Verliererregionen Cordula Tutt
Angeblich verandert sich das Leben auf dem Land weniger als in der Stadt. Manchmal aber merkt man gerade in entlegenen Flecken, wie sich die Republik schleichend wandelt. Bauem im Rheinland oder in Mecklenburg haben neue Nachbam: Biber erobem Land zuriick, sie graben Locher in Damme, fluten Felder und lassen Teiche leer laufen. In Brandenburg und Sachsen sind Wildkatzen, Luchs und Wolf wieder Bewohner in menschenleeren Zonen. In Oberfranken und im Saarland fehlen auf dem Land die Schulkinder. In Kultusministerien wird durchgerechnet, wann welche Schule schliefien muss. Orte leeren sich langsam, weil die Jungen fortziehen und nicht wiederkommen, wenn sie Familien griinden. Ohne Aussicht auf neue Eigner stehen in manchen Dorfem Backereien, Gaststatten und Autowerkstatten zum Verkauf. Schon in fiinf Jahren werden auch etliche GroBstadte Einwohner verloren haben, nicht mehr nur die im Ruhrgebiet oder im Osten. Dann wird nach Aussage der Bundesbeauftragten fiir Integration, Maria Bohmer, in vielen westdeutschen GroBstadten die Halfte der Bevolkerung unter 40 Jahren aus Einwandererfamilien stammen. Bereits seit 2003 nimmt statistisch Deutschlands Bevolkerung ab, erst unmerklich, bald in hoherem Tempo. 2005 wurden in Deutschland nur 676.000 Kinder geboren, so wenige wie zuletzt 1945 am Kriegsende. Seit Jahren werden statistisch gesehen nur knapp 1,4 Kinder von jeder Frau geboren. Das heiBt, dass jede Generation etwa um ein Drittel kleiner ist als die der Eltem. Von nun an wird es wohl fast jedes Jahr neue solche Rekorde geben - allein schon deshalb, weil es immer weniger Junge, weniger potenzielle Eltem, gibt. Auch die Zuwanderung kann inzwischen langst nicht mehr wettmachen, dass seit Anfang der 1970er Jahre im Land weniger Menschen geboren werden als sterben. Gleichzeitig altert Deutschland. Nach mittlerer Prognose des Statistischen Bundesamtes (Destatis) wird 2050 die Halfte der Bevolkerung alter als 48 Jahre alt sein, ein Drittel sogar liber 60 Jahre. Schon bald nach dem Jahr 2010 wird sich der Anteil der Alten stark vergroBem. Die Rede ist von der Altenrepublik Deutschland, ohne weiteres lasst sich auch von der Schrumpfi-epublik sprechen. Zurzeit ist noch ein Fiinftel der Menschen im Land jiinger als 20. Die Kinder und
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Jugendlichen werden in 45 Jahren aber nur noch ein Sechstel der Bevolkerung ausmachen. Dabei soil die Zahl der Menschen in Deutschland insgesamt von heute 82,5 Millionen in 45 Jahren um rund zehn Millionen sinken. Keine dieser Entwicklungen fur sich genommen ist vollig neu, zusammen genommen weist nun vieles in unserem Alltag in eine neue Richtung. Der Wandel verlangt von Einzelnen, schneller und manchmal auch schmerzhafter umzulemen, als das in der westlichen Bundesrepublik bisher notig war. Nicht nur in der Westrepublik, auch in der DDR gait friiher das Postulat fortwahrenden Wachstums - die Uberschiisse des Wohlstands wurden in Ost wie West verteilt. Konflikte lieBen sich losen, bevor sie ausbrachen. Jetzt gilt es nicht nur, Abstriche zu machen, sondem mit den verbleibenden Ressourcen anders und intelligenter umzugehen. Manche Volkswirte sprechen schon vom „Verteilungsstress". Denn Schrumpfen erhoht die Ungleichheit. Je nach Region oder Zugehorigkeit zu einer Gruppe sind die Voraussetzungen zur Anpassung sehr unterschiedlich. Es wird eine starkere Spaltung in Gewinner und Verlierer geben. Grob lasst sich sagen: Wer hat, dem wird noch mehr gegeben. Das gilt fur Menschen mit guter Ausbildung, die sich ihre Arbeitsplatze in einigen Jahren leichter aussuchen konnen. Qualifikation auf neuem Stand wird Mangel ware. Das gilt auch fiir Wohlstandsregionen wie das siidliche Bayem und BadenWiirttemberg, die bereits jetzt die Jungen und Mobilen aus anderen Gegenden anziehen. Dieser Sog wird starker werden, angetrieben von wirtschaftlichen Moglichkeiten, die den Rest der Republik immer armer aussehen lassen. Der Auftrag des Grundgesetzes, gleichwertige Lebensverhaltnisse herzustellen, wird schon jetzt nicht erfiillt. Das Schrumpfen erledigt diesen Anspruch vollends. Schrumpfen bedeutet, dass die Unterschiede nicht nur zwischen den Regionen, sondem insgesamt wachsen: zwischen Mobilen und weniger Mobilen, zwischen einzelnen Firmen und Branchen, zwischen Qualifizierten und jenen ohne Ausbildung, zwischen Familien und jenen ohne Nachkommen, zwischen Stadtem und Landbevolkerung. Nicht der Konflikt zwischen Alt und Jung wird die schrumpfenden Gesellschaflen Europas vorrangig pragen, sondem starker das Auseinanderdriflen zwischen Arm und Reich. Auch der Unterschied zwischen Stadt und Land wird wachsen. Es deutet einiges darauf hin, dass der Konflikt zwischen Arm und Reich kiinflig barter ausgefochten wird. Kinderlose haben mehr Geld als Familien. Wer erbt, steht besser da als der, in dessen Familie kein Geld iibrig ist. Die Alten kdnnen bis zum Jahr 2010 in Deutschland schatzungsweise 2,2 Billionen Euro vererben. Und statistisch gesehen verschenken GroBeltem im Monat etwa 300 Euro an Kinder und Enkel, hat das Deutsche Institut fur Wirtschaftsforschung (DIW) errechnet. Nur fallen solche Wohltaten sehr unterschiedlich aus. Viele Kinder und Enkel werden anders als in vorigen Generationen ihr Erbe nicht mehr mit Geschwistem teilen miissen. Besteht dann ein Erbe auch noch in einer Eigen-
Das groBe Schmmpfen
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tumswohnung in einem prosperierenden Ballungszentrum des Siidens, lasst sich ein Gewiimertyp in der Schrumpfung erkennen. Zwischen den Bundeslandem sind wachsende Unterschiede zu erwarten. Wohltaten wie gute Schulen, Sporteinrichtungen oder modeme Verkehrswege werden sich manche nur noch eingeschrankt leisten konnen. Ohne solche Infrastruktur werden sich Berufstatige und Familien jedoch eher zum Wegziehen entscheiden. Neue Firmen lassen sich ohne eine Umgebung mit „Freizeitqualitat" und ohne passable Anbindung kaum anlocken. Die Aufgabe von PoHtikem wird sein, den Schmmpfungsprozess zu moderieren. Ausgleich wird kiinftig nicht mehr Rundum-Versorgung durch den Staat zum Ziel haben konnen. Es geht darum, die verschiedenen Gmppen gerecht zu beteihgen. Es geht darum, von der SozialversicherungspoHtik zur Sozialbefahigungspohtik zu kommen. Das wiirde z.B. bedeuten, das Kindergeld in seiner heutigen Form aufzugeben und stattdessen Geld ftir die Fdrderung von Kindem aus sozial schwachen Familien einzusetzen. Das bedeutet freilich auch, dass die Mittelschicht kiinftig weniger vom Staat bekommt. Politiker wie Bundesfinanzminister Peer Steinbriick denken langst in diese Richtung, wenn auch aus anderen Griinden; der Bundesetat lasst schon jetzt kaum noch anderes zu. Es wird darum gehen, Schmmpfen nicht nur als Verlust zu betrachten. Schrumpfen kann auch Abschied und Befreiung von Annahmen sein, die langst nicht mehr passen. Raume, Orte und Dinge miissen neu gedacht werden, weil sie ihre bisherige Funktion verlieren. Beispiel Schule: Sind in einem Ort nicht mehr geniigend Schiiler fur eine herkommliche Schule zu finden, gibt es Altemativen zur SchlieBung. Eine neue Form der Zwergschule bietet sich manchmal an. Klasseniibergreifendes Lemen haben innovative Schulen auch anderswo langst fur sich entdeckt. Das andert aber nicht nur Lehrplane, sondem fordert auch von Lehrem ein neues Denken. Starkere Unterschiede zwischen Schulen miissten mit Bildungsstandards abgefedert werden. Die groBere Gestaltungsfreiheit konnte also das Bildungssystem emeuem. Eins ist klar: Nicht die bloBe Bevolkerungszahl ist entscheidend fur den Wohlstand und das Wohlbefinden. Auch heiBt eine Abnahme der Bevolkerung nicht zwangslaufig, dass der Wohlstand pro Kopf oder insgesamt sinkt. Allerdings ist der Ubergang, das Schrumpfen, schwer zu organisieren. An etlichen Stellen fehlt ein wenig, anderes bricht ganz weg. AuBerdem wird es schwerer, Ressourcen zu sammeln und den Biirgem mit dem Hinweis vorzuenthalten, dass mit solchen Investitionen in einem zweiten Schritt zukunftsfahige Einrichtungen entstehen. Diese kommen oft erst der nachsten Generation zugute. Genau das miissten aber jene tun, die vom Schrumpfen schon betroffen sind: Ressourcen biindeln statt in Konkurrenz von jedem gegen jeden zu treten. Das gilt z.B. fiir Dorfer und Kleinstadte in schrumpfenden Regionen. Solche Gegenden werden bald in vielen Ecken des Landes zu finden sein: in Sachsen-
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Cordula Tutt
Anhalt, in Nordhessen, in der Pfalz. Allein ein C-formiger Giirtel von Hamburg liber das westliche Niedersachsen, das RJieinland, das Rhein-Main-Gebiet, Baden-Wiirttemberg und Bayem werden sich entziehen k5nnen, auch auf Kosten der anderen Gegenden, die Menschen verlieren. Biirgermeister, Landrate und Ministerprasidenten reagierten bisher auf den Verlust mit einer unguten Konkurrenz. Kaum eine schrumpfende Kommune gibt einen Hinweis darauf, dass sie Einwohner verliert oder in Zukunft wohl weiter verlieren wird. Viele fiirchten ein Verlierer-Image, keiner geht offensiv damit um. Gemeinden etwa im Saarland verschulden sich zusatzlich, um verbilligtes Bauland anzubieten. Das soil Familien locken - und sei es nur aus dem Nachbardorf. So jagen sich die Biirgermeister die Leute ab, schaffen Infrastruktur, die oft nicht tragfahig ist. Langsam gibt es aber auch ein Umdenken: Professionelle „Dorfplaner" befragen die Bewohner und machen Vorschlage, wo kiinftig ein Laden bestehen bleiben soil und welche Dinge per Nachbarschaftshilfe organisiert werden konnen. Warum sollten Kommunen nicht auch zusammenarbeiten und gemeinsam eine Klaranlage haben? In dem Zusammenhang stellt sich die Frage, welche Rolle der Staat kiinftig ausftillt. Schrumpfen bedeutet auch ein Schrumpfen des Staates. Das fangt damit an, dass die Steuereinnahmen zuriickgehen, wenn die Bevdlkerung und die Zahl der Berufstatigen abnehmen. Es geht aber weiter bei der Frage, wer entscheiden soil, an welchen Ecken geklirzt und umorganisiert wird. Der Staat und seine Stellen sind auch deshalb schlecht aufs Schrumpfen eingestellt, weil wachsende Unterschiede immer differenziertere Losungen verlangen, die oft besser lokal und von den Betroffenen selbst geftmden werden konnen. Dem Staat fallt die Rolle des Moderators zu. Biirger konnen oft besser erkennen und rechtfertigen, welche Buslinien kiinftig noch notig sind, wer die Kinderbetreuung am besten regelt und anderes mehr. Auf dem Land fallt Vereinen kiinftig eine groBere Rolle zu. Sei es die Freiwillige Feuerwehr, die fast iiberall gut organisiert ist, seien es Sportvereine. Andere Phanomene des Wandels sind Biirgerbus-Initiativen, die den Wegfall offentlicher Verkehrsmittel ausgleichen, haufig mit staatlicher Anschubfinanzierung. Allein in Nordrhein-Westfalen gibt es etwa 60 solcher Biirgerbus-Vereine. Damit wird nicht nur ein Mangel ausgeglichen, die Biirger erobem sich auch Einfluss zuriick. Landleben wird mit Internet und anderer Technologic einerseits enger mit den stadtischen Zentren verbunden sein. Andererseits wird der Lebensstil auch wieder dem vergangener Tage ahnlicher - die Wege sind weit, 5ffentliche Verkehrsmittel rar, das Angebot an Kultur gering und die Versorgung durch Arzte eher liickenhaft. In vielen entvolkerten Gebieten werden Jeep und Handy zur Grundausriistung gehoren. Brandenburgs Landesregierung spielt bereits durch.
Das groBe Schmmpfen
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WO kiinftig noch StraBen emeuert werden sollen und wo iiberhaupt im Winter noch der Schnee geraumt werden soil. Wer Landleben will, bekommt es - Abgeschiedenheit inbegriffen. In Ostdeutschland ist Schmmpfen bereits Alltag. Immer wieder entsteht dort bereits neues Leben in den entleerten Regionen. ,JRaumpioniere" entdecken die Leere. Gutshofe werden saniert und zu dorflichen Zentren ausgebaut. Naturtourismus zieht Stadter an. Alte Handwerke werden wiederbelebt. An der Grenze zu Polen und Tschechien gibt es gemeinsame Projekte. Dinge entstehen, die anderswo wegen hoher Kosten oder wegen Mangel an Platz keine Chance hatten Oder gar nicht erst iiberlegt wiirden. Das ist innovativ. Der Riickzug des Staates und das Auseinanderentwickeln von Lebenswelten hat jedoch auch einen gegensatzlichen Aspekt: Manche nennen es die Riickbesinnung auf Familie und auf Netzwerke aus Freunden und Nachbam. Manche erkennen auch einen starkeren Bezug Einzelner auf konservative Werte. Nicht umsonst kommt die Debatte um die neue Biirgerlichkeit in Zeiten des Schrumpfens auf. Das ist per se weder gut noch schlecht. Entscheidend ist, wie gut solche Netzwerke tragen und was mit jenen ist, die nicht daran teilhaben.
Weiterfuhrende Literatur Dienel, Christiane (Hrsg.) (2005): Abwanderung, Geburtenriickgang und regionale Entwicklung. Ursachen und Folgen des Bevolkemngsriickgangs in Ostdeutschland. Wiesbaden: VS Verlag fur Sozialwissenschaften. Kauftnann, Franz-Xaver (2005): Schrumpfende Gesellschaft. Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Raabe, Katharina/Sznajderman, Monika (2006): Last and Lost. Ein Atlas des verschwindenden Europas. Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Ulrich, Bemd (2002): Deutsch, aber gliicklich. Fine neue Politik in Zeiten der Knappheit. Frankfurt a.M.: Fischer.
Kinderlosigkeit in Deutschland Ein Problemaufriss aus ministerieller Perspektive Christiane Hug-von Lieven
Die demographische Entwicklung hat sich spat, aber gewaltig vom Tabuthema zum Medienstar entwickelt. Besonders beliebt sind Horrorszenarien: „Die Gesellschaft vergreist", „Die Deutschen sterben aus", „Krieg der Generationen", „Gesellschaft ohne Zukunft". Aber weder Horrorszenarien noch Bagatellisierung werden diesem entscheidenden Zukunftsthema gerecht. Bezeichnend fiir die Diskussion in Deutschland ist, dass impHzit auch immer nach den Schuldigen fur die Misere gesucht wird. Zuerst wurden die Ahen ins Visier genommen, die auf die Kosten der Jungen leben. Nun geht es um die Kinderlosen, die mit ihrer ,JEgo-Haltung" die Zukunft unseres Landes verspielen.
1.
Die aktuelle Diskussion
Die Griinde ftir den Anstieg der Kinderlosigkeit sind allerdings vielschichtiger. Dabei muss die Kinderlosigkeit im Kontext der gesamtgesellschaftlichen Entwicklung gesehen und zudem zwischen gewollter und ungewollter Kinderlosigkeit unterschieden werden. Zu den wesentlichen gesellschaftlichen Veranderungen zahlen beispielsweise, dass das Bildungsniveau und die Erwerbsbeteiligung von Frauen kontinuierlich gestiegen sind, die Familienstrukturen und Paarbeziehungen an Tragfahigkeit und Verlasslichkeit verloren haben und sich die Anforderungen der Arbeitswelt mit der Globalisierung und dem Umbruch von der Industriegesellschaft zur Wissensgesellschaft verandem. Als Reaktion auf die steigende Bildungs- und Erwerbsbeteiligung von Frauen forderten Frauenpolitikerinnen jahrelang eine Verbesserung der Rahmenbedingungen zur Vereinbarkeit von Beruf und Familie. Erst nachdem deutlich wurde, dass in den sozialen Sicherungssystemen der Generationenvertrag nicht mehr aufgeht und die Wirtschaft auf das Potenzial der hoch qualifizierten Frauen angewiesen sein wird, kam Bewegung in die Sache. Die Forderungen nach besseren Kinderbetreuungsmoglichkeiten, Ganztagsschulen, familiengerechten Arbeitszeiten und familienfreundlichen Kommunen sind unixberhorbar.
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Christiane Hug-von Lieven
Ein Kemproblem wird allerdings noch kaum thematisiert. Das ist die Frage, inwieweit die „Gender-Frage" - die kulturell gepragten Rollenzuschreibungen Auswirkungen auf das generative Verhalten haben. So weisen beispielsweise die skandinavischen Lander und Frankreich ein deutlich hoheres Geburtenniveau auf als die siideuropaischen Lander wie Griechenland, Italien und Spanien. Gemeinsam ist den geburtenarmen Landem ein ausgepragter Traditionalismus in den Geschlechterbeziehungen und Rollenzuschreibungen. Aber auch ein innerdeutscher Vergleich legt Wirkungszusammenhange nahe: In Ostdeutschland ist die Kinderlosigkeit geringer als in Westdeutschland. In Westdeutschland leisten wir uns immer noch eine ideologische Debatte iiber bemfstatige „Rabenmutter", „Nur-Hausfrauen" und kinderlose „Karrierefrauen". In Deutschland wird die demographische Entwicklung hauptsachlich unter dem Stichwort ,JFaniilie" diskutiert. Die grundlegenden Fragen der tatsachlichen Gleichberechtigung und ihr Einfluss auf das generative Verhalten werden dabei weitgehend ausgeblendet. Wenn zwei Drittel der Frauen, aber nur die Halfte der Manner nach einer Umfrage des Instituts fiir Demoskopie Allensbach (2004) angeben, dass Kinder zu ihrem Lebensgliick dazugehoren, dann lauft etwas schief in unserer Gesellschaft. Damit ist auch ein Konflikt in der Fartnerschaft vorprogrammiert, wenn es um das Thema Kinder geht. Untersuchungsergebnisse zu „Gender-Verhaltnissen" und ihren Auswirkungen auf das generative Verhalten lassen sich schlagwortartig wie folgt zusammenfassen: Je geringer die Differenz in der Erwerbsbeteiligung von Mannem und Frauen, desto hoher die Geburtenrate; je „modemer" die Geschlechterverhaltnisse, desto hoher die Geburtenrate; je besser ausgebaut die Kinderbetreuungseinrichtungen und Ganztagschulen, desto hoher die Geburtenrate. Dagegen korreliert der Anteil der Geldleistungen fiir Familien am Volkseinkommen kaum mit der Geburtenrate. In einer Veroffentlichung des Berlin-Instituts fiir Bevolkerung und Entwicklung mit dem Titel „Enianzipation oder Kindergeld?" (Kr5hnert/Klingholz 2005) wird der Riickgang der Geburtenrate als Ergebnis einer gesellschaftlichen Entwicklung gesehen, bei der die Emanzipation der Frau eine wichtige Rolle spielt. Der Riickgang ist in den Landem am starksten ausgepragt, in denen Frauen weitgehend emanzipiert sind, der Rest der Gesellschaft aber noch auf einem vergleichsweise traditionellen Entwicklungstand verharrt. Dazu zahlen neben Westdeutschland auch Griechenland, Italien und Spanien. Gesellschaften, in denen die neue Rolle der Frauen anerkannt und unterstiitzt wird, zeichnen sich hingegen durch relativ hohe Kinderzahlen aus. Dazu gehoren die skandinavischen Lander und Frankreich. Beim Thema Kinderlosigkeit werden fast ausschliefilich Zahlen zu den kinderlosen Frauen in der Presse erwahnt. 30 Prozent der Frauen blieben zeitlebens kinderlos - so die Botschaft. Es ist von „Gebarstreik" die Rede. Als besonders bedenklich werden dabei die 40 Prozent der kinderlosen Akademikerinnen her-
Kinderlosigkeit in Deutschland
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vorgehoben. Diese Zahlen bestimmen die offentliche Diskussion. Einmal in die Welt gesetzt, kommen sie mit grofier Autoritat daher. Da niitzen die FuBnoten der Statistiker und Wissenschaffcler wenig, die auf die eingeschrankte Aussagekrafl hinweisen. Der amtlichen Geburtenstatistik liegen die so genaimten Geburtenzahlkarten zugrunde, mit denen die „Zahl der Kinder in der jeweils bestehenden Ehe" erhoben wird. Dieses Vorgehen hat zur Folge, dass bei einer Frau, die beispielsweise zwei Ehen hat und in jeder Ehe ein Kind zur Welt bringt, zwei „erste Kinder" registriert werden. Da sich die Haufigkeit der Scheidungen und Wiederverheiratungen in den vergangenen Jahren erhoht hat, wird die Zahl der „ersten Kinder" systematisch uberschatzt und der Anteil der kinderlosen Frauen, welcher nur als Komplementarwert ermittelt werden konnte, systematisch unterschatzt. Zudem werden unehelich geborene Kinder ohne Rangfolge erfasst. Vor dem Hintergrund der steigenden Zahl nichtehelich geborener Kinder und der Tatsache, dass rund ein Drittel aller Ehen wieder geschieden wird und viele Geschiedene emeut heiraten, entspricht die Dokumentation nicht der Lebenswirklichkeit. Um Riickschlusse aus der Geburtenstatistik auf die tatsachliche Kinderlosigkeit Ziehen zu konnen, miisste die Geburtenstatistik auf eine biologische Rangfolge umgestellt werden. Damit wiirde auch die Vergleichbarkeit mit anderen europaischen Staaten verbessert, deren Statistik auf der biologischen Rangfolge basiert. Eine andere Datenquelle, aus der Riickschlusse auf die Kinderlosigkeit gezogen werden, ist die amtliche Befragung zur Haushalts- und Familienstruktur: der Mikrozensus. Im Rahmen des Mikrozensus wird allerdings nur erhoben, wie viele minderjahrige Kinder im Haushalt von Frauen leben. Wenn Kinder iiber 18 sind, durch Trennung oder Scheidung nicht mehr im miitterlichen Haushalt leben oder gestorben sind, werden sie nicht erfasst. Die Aussagefahigkeit dieser Daten ist damit ebenfalls eingeschrankt. Nimmt man etwa die Altersgruppe der 30Jahrigen, so sind in Westdeutschland 46 Prozent kinderlos und in Ostdeutschland 27 Prozent. Damit wird allerdings nur verdeutlicht, dass westdeutsche Frauen spater als ostdeutsche ihren Kinderwunsch realisieren. Nimmt man die Altergruppe der 40-Jahrigen, so sind es nur noch 24 Prozent der westdeutschen und zwolf Prozent der ostdeutschen Frauen, die als kinderlos ausgewiesen sind. Fiir Manner gibt es keine amtlichen Statistiken iiber die Zahl der leiblichen Kinder. Nach dem Mikrozensus leben 35 Prozent der Manner im Alter zwischen 40 und 45 Jahren ohne Kind im Haushalt. Daraus lasst sich allerdings keine Aussage zur Kinderlosigkeit von Mannem ableiten, weil bei einer Trennung die ICinder in der Regel bei der Mutter bleiben. Auch uneheliche Kinder kdnnen so nicht beriicksichtigt werden. Ein VorstoB, den Mikrozensus mit entsprechenden Fragen zur tatsachlichen Kinderzahl zu erganzen, wurde im Bundesrat abgelehnt, weil dies als ein zu starker Eingriff in die Intimsphare gewertet wurde.
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Christiane Hug-von Lieven
Deshalb muss zu Aussagen iiber Kinderlosigkeit von Maimem auf andere Quellen zuriickgegriffen werden. Nach einer Studie des DIW (vgl. Schmitt 2004) ist der Anteil an kinderlosen Mannem in alien Altersgruppen hdher als bei Frauen. Die Untersuchungsergebnisse weisen darauf bin, dass fiir Manner eine Familiengriindung erst in Betracht kommt, wenn die okonomische Absicherung einer Familie gewahrleistet werden kann. „Das „male breadwinner"-Prinzip, das eine relativ strikte RoUentrennung einschlieBt, scheint also nach wie vor ein hohes MaB an Verbindlichkeit zu besitzen und eine Familiengriindung fur Vater vielfach bis zur beruflichen Etablierung zu verzogem." (Schmitt 2004: 15) Dies wird auch durch das Ergebnis untermauert, dass der Anteil der kinderlosen Manner bei den vollzeitbeschaftigten Mannem am geringsten ist. Andererseits ist der Anteil der kinderlosen Frauen bei den vollzeitbeschaftigten Frauen am hochsten. Eine weitere Untersuchung kommt zu dem Ergebnis, dass hoch qualifizierte Manner eher Kinder haben als niedrig qualifizierte (vgl. BZgA 2004). Bei Frauen ist es gerade umgekehrt: Frauen mit besserer Ausbildung haben weniger Kinder als solche mit hoherer Qualifikation. Der Anteil der Kinderlosigkeit von Akademikerinnen wird weitgehend liberschatzt. Nach Berechnungen des Max-Planck-Instituts fiir demografische Forschung (2004) auf der Basis des Mikrozensus 2000 waren Akademikerinnen im Alter von 30 Jahren in Westdeutschland zu 73 Prozent und in Ostdeutschland zu 49 Prozent kinderlos. Bei den 35-Jahrigen verringerte sich der Anteil auf 45 Prozent (West) und 19 Prozent (Ost) und bei den 40-Jahrigen auf 35 Prozent (West) und acht Prozent (Ost). Im Alter von 45 Jahren ist ein Abschluss der generativen Phase fiir Frauen wahrscheinlich. Unter den Akademikerinnen dieses Alters liegt der Anteil der Kinderlosen bei 32 Prozent (West) bzw. bei 15 Prozent (Ost). Diese Werte lassen fiir westdeutsche Akademikerinnen den Riickschluss zu, dass mit 32 Prozent weniger Akademikerinnen kinderlos bleiben, als allgemein angenommen wird. Dennoch andert es nichts daran, dass gerade bei Akademikerinnen die gewollte oder ungewollte Kinderlosigkeit hoch ist.
2.
Einflussfaktoren
An vier moglichen Einflussfaktoren lasst sich darstellen, dass bei den Griinden fiir die gewollte oder ungewollte ICinderlosigkeit die Lebensrealitaten von Frauen und Mannem starker beriicksichtigt werden miissen.
Kinderlosigkeit in Deutschland
53
Der Faktor Zeit Der Faktor Zeit gewinnt zunehmend an Bedeutung. Das dritte Lebensjahrzetmt wird fiir Frauen zur , ^ s h hour" des Lebens. In dieser - im Hinblick auf die gesamte Lebenszeit von 80 Jahren - sehr kurzen Zeitspanne fallen hohe berufliche Anforderungen und Familiengriindung zusammen. Lange Ausbildungszeiten und das Verhaltensmuster ,;z:uerst Abschluss der Berufsausbildung, dann Etablierung im Beruf und dann Kinder" fiihren zu einem Geburtenaufschub, der bei Frauen an die biologische Grenze der Realisierbarkeit stoBt. Nicht selten stehen die zeitlichen Belastungen der Lebenswelten Beruf und Familie im Widerstreit. Die Betriebe setzen berufliche Mobilitat insbesondere bei Hochqualifizierten voraus. Die fortschreitende Arbeitsverdichtung und -belastung frisst heute die verbleibende Zeit flir die Familie. Das Ungleichgewicht zwischen Arbeitswelt und Familienwelt verschiebt sich weiter zu Lasten der Familie. Hohe Anforderungen im Beruf, verbunden mit positiver Bewertung langer Anwesenheitszeiten und standiger Verfugbarkeit, reduzieren die Zeit fiir Familienarbeit und beeinflussen die Entscheidung fiir Kinder. Der Faktor Geld Bis zur Familiengriindung sind iiberwiegend beide Partner berufstatig. Mit der Geburt des ersten Kindes verringert sich das Familieneinkommen drastisch, da haufig ein Eltemteil zu Gunsten der Kinderbetreuung ganz oder zeitweise auf Berufstatigkeit verzichtet bzw. die Arbeitszeit reduziert. Dazu kommt, dass das durchschnittliche Einkommen von Frauen erheblich unter den Einkiinften der Manner liegt. Damit wird die Frage, v^elcher Eltemteil Eltemzeit beansprucht bzw. die Arbeitszeit reduziert, nach der Hohe des jeweiligen Beitrags zum Familieneinkommen entschieden. Nur ca. zwei Frozent der Vater nehmen Eltemzeit in Anspmch. Bei der zentralen Frage, ob Frauen gmndsatzlich ihre Erwerbstatigkeit neben den Familienaufgaben fortsetzen (Kontinuitatsmodell) oder aber Erwerbstatigkeit unterbrechen (Drei-Phasen-Modell) oder ganz aufgeben (traditionelles Modell), um sich den Kindem zu widmen, spielt die Form der staatlichen UnterstiitzungsmaBnahmen (direkte Geldleistungen und/oder Infi-astmkturleistungen) eine wichtige Rolle. Diese MaBnahmen konnen die Vereinbarkeit von Erwerbstatigkeit und Familientatigkeit fi)rdem oder behindem. Dabei wird angenommen, dass die Dominanz von Geldleistungen fiir Familien eher das Drei-PhasenModell oder das traditionelle Modell, die Dominanz sozialer Dienstleistungen eher das Kontinuitatsmodell fordert. Wer langer als ein Jahr aus dem Bemf aussteigt, verliert den Anschluss und muss beim Wiedereinstieg KarriereeinbuBen hinnehmen und mit Abstrichen beim Gehalt rechnen.
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Christiane Hug-von Lieven
Der Faktor Unsicherheit Der dramatische Riickgang der Geburtenrate in Ostdeutschland nach der Wende von 1,52 (1990) auf 0,77 (1993) macht deutlich, dass Unsicherheiten der Lebensverhaltnisse einen starken Einfluss auf das generative Verhalten haben. Die derzeitige Fokussierung auf das Thema Kinderbetreuung verstellt den Blick auf andere gesellschaftliche und betriebliche Einflussfaktoren. Die von der Wirtschaft geforderte Flexibilitat und Mobilitat, aber auch die zunehmende Zahl befristeter Arbeitsvertrage stehen im diametralen Widerspruch zu langfristigen Verpflichtungen aus der Eltemschaft. Verlassliche Partnerschaften sind eine Grundvoraussetzung fiir die Ubernahme von Verpflichtungen aus der Eltemschaft. Unsicherheiten beziiglich der „richtigen" Partnerwahl verzogem bzw. verhindem die Realisierung des Kinderwunsches. Der Faktor gesellschaftliches Leitbild Die gesellschaftliche Leitvorstellung von Familie spiegelt die traditionelle Aufgabenteilung in der Partnerschaft wider, die dem Mann primar die Emahrerrolle zuschreibt und der Frau die Verantwortung fiir Betreuung und Versorgung der Kinder sowie pflegebediirftiger Familienangehoriger aufgibt. Die traditionelle Rollenverteilung fiihrt dazu, dass fast ausschlieBlich Frauen Probleme mit der Vereinbarkeit von Beruf und Familie haben. Wahrend die Erwerbsbeteiligung von kinderlosen Frauen sich den Mustem von erwerbstatigen Mannem angleicht, ist Teilzeitarbeit fast ausschlieBlich ein Arbeitszeitmodell, das Frauen mit Kindem nutzen, um beides - Beruf und Familie - bewaltigen zu konnen. Die gesellschaftliche Akzeptanz von berufstatigen Miittem hat einen nicht zu unterschatzenden Einfluss auf das generative Verhalten. So ist beispielsweise in Landem mit einem hoheren Geburtenniveau wie in Frankreich oder den skandinavischen Landem das gesellschaftliche Ansehen der bemfstatigen Mutter hoher als in Deutschland. Auch in diesen Landem ist die Doppelbelastung von Frauen mit Kindem hoch und der Balanceakt zwischen Kindem und Karriere nicht immer einfach, aber in diesen Gesellschaften werden bemfstatige Mutter geschatzt und mit positiven Werten in Verbindung gebracht. Ihr Prestige ist hoher, wenn sie bemfstatig sind und zugleich familiare Aufgaben wahmehmen. Die Enquetekommission ,J3emografischer Wandel - Herausfordemngen an die Landespolitik" des Landtags von Baden-Wiirttemberg (2006: 16) hat in ihrem Abschlussbericht festgestellt: „Die Entscheidung, Kinder haben zu wollen oder auf Kinder zu verzichten, ist in unserem freiheitlich verfassten Gemeinwesen eine personliche, dem privaten Bereich zugehorige Angelegenheit. Gleichwohl fiihrt kein Weg daran vorbei, dass die mittel- und langfristige Zukunftsfa-
Kinderlosigkeit in Deutschland
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higkeit einer Gesellschaft nur mittels einer ausreichenden Zahl von Kindem gesichert werden kann. Vor diesem Hintergmnd ist es eine zentrale staatliche Aufgabe, die Rahmenbedingungen fur die Realisiemng der Kinderwiinsche moglichst vorteilhaft zu gestalten."
Literatur BZgA (Bundeszentrale fiir gesundheitliche Aufklamng) (Hrsg.) (2004): manner leben. Eine Studie zu Lebenslaufen und Familienplanung. Koln: BZgA. Institut fiir Demoskopie Allensbach (2004): „Einflussfaktoren auf die Geburtenrate" Reprasentativbefragung der 18-44-jahrigen Bevolkemng, Marz 2004. Allensbach. Landtag Baden-Wiirttemberg (2006): Abschlussbericht der Enquetekommission „Demografischer Wandel - Herausforderung an die Landespolitik", Kurzfassung. Stuttgart: Landtag von Baden-Wiirttemberg. Internet: http://www.landtag-bw.de/gremien/ Abschlussbericht_EDW-Kurzfassung.pdf (30.10.2006). Max-Plank-Institut fur demografische Forschung (Hrsg.) (2004): Demografische Forschimg Aus Erster Hand, Jg. 1, Nr. 3. Rostock: Max-Planck-Institut fur demografische Forschung. Schmitt, Christian (2004): Kinderlose Manner in Deutschland. Eine sozialstrukturelle Bestimmung auf Basis des Soziookonomischen Panels (SOEP). Materialien des Deutschen Instituts fur Wirtschaftsforschung (DIW), Nr. 34. Berlin: DIW. Krohnert, Steffen/Klingholz, Reiner (2005): Emanzipation oder Kindergeld? Der europaische Vergleich lehrt, was man fiir hohere Geburtenraten tun kann. In: Sozialer Fortschritt, Jg. 54, Nr. 12, S. 280-290.
Registrierung
34
Alter in Jahren
32
Geburt eines dritten Kindes einer Ehe
30 Geburt eines zweiten Kindes einer Ehe
28
26
Geburt eines ersten Kindes einer Ehe
24
22
Geburt eines nichtehelichen Kindes
20 1960
1965
1970
1975
1980
1985 Jahr
1990
1995
2000
2004
Lebendgeborene je 1 000 Frauen1) 140
120
1990 2004
100
80
60
40
20
0 15 16 17 18 19 20 21 22 23 24 25 26 27 28 29 30 31 32 33 34 35 36 37 38 39 40 41 42 43 44 1)Jee wils lgeichen Alters.
Alter der Mutter
Zusammengefasste Geburtenziffern
2400
2200
2000
jahrgangsbezogene Geburtenhäufigkeiten
1800 6
1600
1400
berichtsjahrbezogene Geburtenhäufigkeiten
1200
1000 Jahrgang 1930 1974 Jahr
1932 1976
1934 1978
1936 1980
1938 1982
1940 1984
1942 1986
1944 1988
1946 1990
1948 1992
1950 1994
1952 1996
1954 1998
1956 2000
1958 2002
1960 2004
200
Lebendgeborene auf 1 000 Frauen *) Jahrgang 1935
180 160 140 120
Jahrgang 1960
100 80 60 40 20 0
15 16 17 18 19 20 21 22 23 24 25 26 27 28 29 30 31 32 33 34 35 36 37 38 39 40 41 42 43 44 45 46 47 48 49 *) Jeweils gleichen Alters.
Alter in Jahren
Lebendgeborene auf 1.000 Frauen *) 300 1. Kinder
250
2. Kinder 3. Kinder
200
150
100
50
0 0
1
2
3
4
5
6
7
8
9
10
11
12
Ehedauer in Jahren **) *) Frauen des Heiratsjahrgangs 1980.
**)Ehedauer 0 = Jahr der Eheschließung.
13
14
15
16
17
18
19
20
Prozent 45 41
40
Heiratsjahrgang 1960 34
35
Heiratsjahrgang 1980
30 25
22 19
20 16
18
15
15
14
13
10
7
5 0 0 *) Nach einer Ehedauer von 20 Jahren.
1
2 Zahl der ehelich lebendgeborenen Kinder
3
4 u. mehr
60 51 50
46 42 38
in Prozent
40 29 30
27
27
24 25
24 24 25
37 38 39
40 41 42
27 28
31
34
20 10 0 35 36
43 44 45
Alter in Jahren
46 47 48
49 50
70 60 49
in Prozent
50 40 30
38 32
29 29
28 26 27 26 25 27 28
41
44
32 34
20 10 0 35 36 37 38 39 40 41 42 43 44 45 46 47 48 49 50 Alter in Jahren
70 59
60
52
in Prozent
50
45 39
40
34 26 28
30 19 19 20 17 16 16 13 16 15
21
10 0 35 36 37 38 39 40 41 42 43 44 45 46 47 48 49 50
Alter in Jahren
70 60
in Prozent
50 40 30 25
24 24 23 22 22 21 23
27
30
32 33
36
39
43
45
20 10 0 35 36 37 38 39 40 41 42 43 44 45 46 47 48 49 50 Alter in Jahren
70 60 49
in Prozent
50 38
40 32 30
29 29
28 26 27 26 25 27 28
32
41
44
34
20 10 0 35 36 37 38 39 40 41 42 43 44 45 46 47 48 49 50 Alter in Jahren
60
53 49
50
43 39
in P r o z e n t
40 30
29
32
35
24 25 23 21 22 21 22 23 22
20 10 0 35 36 37 38 39 40 41 42 43 44 45 46 47 48 49 50 Alter in Jahren
60 50 in P r o z e n t
40 30
44
42 37 36
39 38 39 31 33 31 29 30 31 31 31 28
20 10 0 35 36 37 38 39 40 41 42 43 44 45 46 47 48 49 50 Alter in Jahren
1972
39%
2004 29%
19%
23%
ohne Kinder
20% 22%
1 Kind
31% 16%
2 Kinder
3 oder mehr Kinder
Bildungsspezifische Unterschiede im Geburtenverhalten in Ost- und Westdeutschland Michaela Kreyenfeld^
1.
Einleitung
Die Wiedervereinigung ging mit einer weitreichenden Umstrukturierung der wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Bedingungen in Ostdeutschland einher (vgl. WitteAVagner 1995; Bielenski et al. 1995; Lutz/Gninert 1996; Sackmann/Wingens 1996; Briicker 1997). Wahrend in der DDR Frauen mehrheitlich vollzeiterwerbstatig waren und die Vereinbarkeit von Familie und Erwerbsarbeit durch eine Reihe von familienpolitischen Mafinahmen gegeben war, haben sich nach der Wende die Rahmenbedingungen, die das Erwerbsverhalten von Frauen beeinflussen, gmndlegend verandert. Zudem sind die Erwerbsoptionen vielschichtiger geworden. Dies beinhaltet einerseits die Moglichkeit, hdhere Bildung in hoheres Einkommen umzuwandeln, andererseits aber auch ein gestiegenes Risiko, von Arbeitslosigkeit betroffen zu sein. In diesem Beitrag wird die Frage untersucht, welchen Einfluss die Veranderungen in den Erwerbsverlaufen von Frauen auf das Fertilitatsverhalten in Ostdeutschland nach der Wende haben. Der Schwerpunkt der Analyse liegt auf bildungsspezifischen Unterschieden im Ubergang zum ersten Kind. Die zentrale Hypothese lautet, dass die bildungsspezifischen Unterschiede im Fertilitatsverhalten nach der Wende in Ostdeutschland zugenommen haben. Da jedoch die Vereinbarkeit von Kind und Beruf in Ostdeutschland eher gegeben ist als in Westdeutschland, lasst sich vermuten, dass ostdeutsche Frauen mit einem hoheren Bildungsabschluss immer noch eher ein erstes Kind bekommen als vergleichbare westdeutsche Frauen. Als Datenbasis dienen die Scientific-Use-Files der Mikrozensen aus den Jahren 1998, 2002 und 2004. Zunachst werden die institutionellen Rahmenbedingungen in Ostdeutschland im Vergleich mit Westdeutschland sowie die Verandemngen nach der Wende kurz umschrieben (Ab-
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Ich danke Cordula Zabel, Dirk Konietzka und Steffen Ventz fiir hilfreiche Kommentare und Unterstutzung bei der Fertigstellung dieses Beitrags.
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schnitt 2). Danach werden die theoretischen Uberlegungen zum Zusammenhang von Bildung und Fertilitat dargelegt (Abschnitt 3). Im Abschnitt 4 wird der Datensatz vorgestellt. Abschnitt 5 beinhaltet die Ergebnisse der empirischen Analysen, in denen Survivalfunktionen nach Bildungsniveau, Kohorte und Region prasentiert werden. SchlieBlich folgt eine Zusammenfassung der wichtigsten Ergebnisse (Abschnitt 6).
2.
Institutionelle Rahmenbedingungen
2.1 Ostdeutschland vor der Wende In der DDR haben umfassende familienpolitische MaBnahmen die Kosten, die mit der Erziehung von Kindem verbunden sind, reduziert (Gysi/Speigner 1983; Koch/Knobel 1986; Vortmann 1988; Cornelius 1990; Cromm 1998; Trappe/Rosenfeld 2000; Kreyenfeld 2003, 2004; Huinink/Kreyenfeld 2006). Als wichtige familienpolitische MaBnahme wird in diesem Zusammenhang haufig die Zuteilung von Wohnraum genannt, die eng an die Heirat und Geburt eines Kindes gekoppelt war (Frerich/Frey 1993: 427f.). Auch gait der „Ehekredit" als bedeutsame sozialpolitische MaBnahme. Er ermoglichte es verheirateten Paaren, einen Kredit von 5.000 Mark aufzunehmen. Ein Teil dieses Kredits wurde automatisch getilgt, sobald ein Kind geboren wurde; mit der Geburt des dritten Kindes war dieser Kredit komplett „abgekindert". Zentrale Wichtigkeit besaBen dariiber hinaus die sozialpolitischen Bemiihungen der DDR, die darauf abzielten, Frauen mit Kindem in den Arbeitsmarkt zu integrieren. Schon in den 1950er Jahren wurden politische MaBnahmen eingefiihrt, um die Erwerbstatigkeit von Frauen zu fordem (Obertreis 1986: 74ff.). In den 1960er Jahren fokussierten sich die politischen Bemiihungen der DDR-Regierung darauf, geschlechtsspezifische Ungleichheiten im Bildungsniveau und in den Erwerbspositionen zu iiberwinden (Obertreis 1986; Trappe 1995), und in den 1970er Jahren, als bevdlkerungspolitische Uberlegungen eine groBere Relevanz bekamen, versuchte man mittels einer Reihe politischer MaBnahmen die Probleme der Vereinbarkeit von Vollzeiterwerbstatigkeit und Familie konsequenter anzugehen. Am bemerkenswertesten in diesem Zusammenhang war der Ausbau der Kinderbetreuung. Zu Anfang der 1970er Jahre besuchte etwa ein Drittel aller Kinder unter drei Jahre eine dffentliche Kindertageseinrichtung. Bis Mitte der 1980er Jahre war dieser Anteil auf mehr als 70 Prozent angestiegen (Statistisches Amt der DDR 1990). Im Jahr 1976 wurde in der DDR das ,3abyjahr" eingefiihrt, das im Grunde einem einjahrigen bezahlten Erziehungsurlaub gleichkam. Anfangs durften Frauen nur nach der Geburt eines zweiten oder dritten Kindes diese Option wahr-
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nehmen. Seit 1986 konnten dairn auch jene Frauen, die ihr erstes Kind geboren batten, das Babyjahr beanspruchen. Das Babyjahr war jedoch nur fiir Frauen vorgesehen. In diesem Zusammenhang ist vielfach die Kritik erhoben worden, dass die Politik der DDR Fragen der Geschlechtergleichheit nie wirklich thematisierte. Obwohl das offentliche Kinderbetreuungsangebot grundlegende Vereinbarkeitsprobleme zwischen Familie und Beruf zu losen half, blieben Hausarbeit und Organisation der Kinderbetreuung groBtenteils Aufgabe der Frauen (Bockmann-Schewe et al. 1993: 50ff.; Trappe 1995; Pascall/Manning 2000: 254). Abgesehen von dem einjahrigen Erziehungsurlaub wurde von Frauen erwartet, durchgehend vollzeitig erwerbstatig zu sein. Die Gesetzgebung der DDR sah grundsatzlich keine Unterhaltszahlung im Falle der Scheidung vor. Auch hatten alleinerziehende Mutter keinen Anspruch auf zusatzliche soziale Leistungen (Berghahn/Fritzsche 1991: 144ff.; Frerich/Frey 1993: 396). Arbeitslosigkeit existierte praktisch nicht, die Erwerbsverlaufe waren stark vorstrukturiert. Bemfliche Abstiegsrisiken wurden durch das Prinzip der statusadaquaten Beschaftigung minimiert, was bedeutete, dass Erwerbstatige in erster Linie aufgrund ihrer formalen Qualifikation beruflichen Positionen zugewiesen wurden (Huinink 1995a; Solga/Konietzka 1999; Ziihlke 2000; Szydlik 2002). Die Festlegung der Gehalter erfolgte weitgehend zentral. Dazu wurden Erwerbstatige gemaB ihrer Ausbildungsabschliisse verschiedenen Gehaltsgruppen zugeordnet. Neben einem Gmndgehalt, das 70 bis 80 Prozent des Gesamtgehalts ausmachte, zahlten Firmen einen Bonus fiir Uberstunden, Schichtarbeit und auBerordentliche Arbeitsleistungen (Frerich/Frey 1993: 133f.; Szydlik 1994). Im Vergleich zu Westdeutschland war die ostdeutsche Einkommensverteilung dennoch sehr komprimiert (Bird et al. 1994: 391; Frick et al. 1995: 85; Krueger/Pischke 1995: 412).
2.2 Familienpolitische Rahmenbedingungen nach der Wende Der Fall der Berliner Mauer im November 1989 wird oft als Sinnbild des Zusammenbruchs des DDR-Systems verstanden. Elf Monate spater - im Oktober 1990 - wurde der Einigungsvertrag ratifiziert, der im Grunde den Austausch des ostdeutschen gesetzlichen und politischen Systems durch das westdeutsche System vorsah. Dies beinhaltete auch die Ubemahme der westdeutschen familienpolitischen Rahmenbedingungen in Ostdeutschland. Diese Rahmenbedingungen werden im intemationalen Vergleich einheitlich als Ausdruck eines ,Jkonservativen und familialistischen Wohlfahrtsstaatsregimes" charakterisiert (Braun et al. 1994; Gauthier 1996: 155; Gomick et al. 1998; Esping-Andersen 1999: 65; Stier et al. 2001; TreasAVidmer 2000: 1431). Ein Bestandteil dieses Regimes ist das System des „Einkommenssplittings", das verheirateten Paaren erlaubt, die Steuer gemeinsam zu veranlagen. Aufgrund
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des progressiven Steuertarifs setzt dieses System besonders niedrige Arbeitsanreize fiir verheiratete Frauen. Laut Sainsbury (1996: 171) wird in keinem anderen Land die Erwerbstatigkeit von verheirateten Frauen starker bestraft als in Deutschland. Zwar stellt der groBziigige „Hausfrauenbonus" ein besonderes Charakteristikum des deutschen Systems dar, andererseits diirfte dem Steuersystem iiir die Erklarung der Frauenerwerbstatigkeit nur eine untergeordnete RoUe zukommen (Dingeldey 2001: 653). Ebenso wichtig erscheint es, die Unvereinbarkeit von Mutterschaft und Erwerbstatigkeit zu beriicksichtigen, um das Erwerbsverhalten von Frauen zu beurteilen. Trotz einer langen Tradition offentlicher Kinderbetreuung hat sich das Kinderbetreuungssystem in Westdeutschland hauptsachlich als Mittel zur Erziehung und Bildung von Vorschulkindem institutionalisiert, und es dient bislang weniger der Vereinbarkeit von Eltemschaft und Beruf (Kreyenfeld et al. 2001). Betreuungsplatze bieten in Westdeutschland meist nur eine Halbtagsbetreuung fur Kinder im Alter von drei Jahren bis zur Einschulung. Fiir Kinder unter drei Jahre sowie fiir Kinder im Schulalter werden kaum offentliche Kinderbetreuungsplatze bereitgestellt (Deutsches Jugendinstitut 2005). Der Erziehungsurlaub bzw. die Eltemzeit ist momentan sehr groBziigig auf drei Jahre angelegt; fiir zwei der drei Jahre wird ein einkommensabhangiges Erziehungsgeld von monatlich bis zu 300 Euro gezahlt (John/Stutzer 2002; Ziefle 2004).2 Die Ubemahme der westdeutschen Institutionen in Ostdeutschland beinhaltete nicht nur die Ubemahme eines Steuersystems, das geringe Erwerbsanreize fiir verheiratete Frauen setzt. Auch wurde mit der Wiedervereinigung das relativ kurze Babyjahr zu Gunsten des Erziehungsurlaubs abgeschafft, der derzeit eine Freistellung von bis zu drei Jahren ermoghcht. Vor dem Hintergrund der raschen institutionellen Umstrukturierungen war die Annahme weit verbreitet, dass auch das umfassende 5ffentliche Kinderbetreuungssystem der DDR bald auf westdeutsches Niveau zuriickgestutzt werden wiirde (Nauck/Joss 1995: 25; Rindfiiss/Brewster 1996: 273; Rindfiiss et al. 1996; Adler 1997: 44; Kopp 2000: 109). Doch: Das Kinderbetreuungssystem war eine der Institutionen, die durch den Regimewechsel verhaltnismaBig wenig tangiert wurden. Obwohl Kindertageseinrichtungen nach der Wende massiv geschlossen wurden, ist in den ostlichen Bundeslandem immer noch eine relativ breite Versorgung gewahrleistet. Im Jahr 2002 besuchten in Ostdeutschland 40 Prozent aller Kinder unter drei Jahren eine offentliche Kindertageseinrichtung, wahrend dies auf weniger als fiinf Prozent der Kinder jener Altersgruppe in Westdeutschland zutraf Platze in ICinder-
Im Juni 2006 hat das Bimdeskabinett eine Neuregelung der Eltemzeit beschlossen (BMFSFJ 2006). Zudem ist das „Kinderbetreuungsausbaugesetz" verabschiedet worden, das einen Ausbau der Kinderbetreuung fur Kinder unter drei Jahren vorsieht.
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garten werden im Osten mehrheitlich ganztags angeboten. Auch liegt das Angebot an Hortplatzen deutlich liber dem westdeutschen Niveau (Deutsches Jugendinstitut 2005). Auf dieser Grundlage lasst sich festhalten, dass auch nach der Wende Frauen in Ostdeutschland viel bessere Moglichkeiten hatten als Frauen in Westdeutschland, ihr Berufs- und Familienleben zu vereinbaren. Nichtsdestotrotz liegt es nahe, dass die Vereinbarkeitsprobleme nach der Vereinigung auch in Ostdeutschland zugenommen haben. Die Offhungszeiten der Kindertageseinrichtungen sind weniger flexibel geworden. Wahrend offentliche Kinderbetreuung in der DDR im Prinzip kostenfrei war (abgesehen von geringen Gebiihren fur das Mittagessen), miissen nun Eltembeitrage entrichtet werden. Obwohl diese Beitrage meist einkommensabhangig gestaltet sind, ist es moglich, dass diese Kosten einige Eltem davon abschrecken, von offentlicher Kindertagesbetreuung Gebrauch zu machen.^ Dies diirfte insbesondere die Eltem der mittleren Einkommensschicht treffen, die weder von der Freistellung der Eltembeitrage profitieren noch ein geniigend hohes Einkommen haben, um die Kosten der Kinderbetreuung problemlos zahlen zu konnen.'*
2.3 Arbeitsmarkt und Erwerbstatigkeit nach der Wende Der Wechsel des okonomischen Systems ging auch mit einer grundlegenden Umstmkturiemng des ostdeutschen Arbeitsmarkts einher. Im Vergleich zu DDRZeiten waren ostdeutsche Arbeitnehmer nun mit einem Arbeitsmarkt konfrontiert, auf dem sowohl Aufwarts- wie auch Abwartsmobilitat wahrscheinlicher waren. Einerseits beinhaltete dies die Moglichkeit, ein hoheres Bildungsniveau in hoheres Einkommen und bessere Karrieremoglichkeiten umzuwandeln (Bird et al. 1994: 391; BrinkmannAViedemann 1995; Frick et al. 1995: 85; Kmeger/Pischke 1995: 412; Mayer et al. 1999). Andererseits war dies auch mit hoheren Arbeitslosenquoten und, im Vergleich zur Vorwendezeit, weniger vorhersehbaren und weniger stabilen Bemfsverlaufen verbunden. Obwohl die Bundesregiemng groB angelegte, offentlich finanzierte Ausbildungsmafinahmen, Arbeitsbeschaffungsmafinahmen sowie Friihverrentungsprogramme einfuhrte, stieg die Arbeitslosenquote nach der Wende schnell an (Brinkmann 1999; Lutz et al. 1999). Frauen, vor allem jene ohne formale Ausbildungsabschliisse, waren am starksten von Arbeitslosigkeit betroffen und hat-
Die Eltembeitrage soUten nach § 8 KJHG einkommensabhangig gestaltet werden. Die einzelnen Lander und Kommunen gehen mit dieser Vorgabe unterschiedlich um. Einige Kommunen bzw. Lander staffeln die Beitrage nach Einkommen und Kinderzahl. Andere sehen fur einkommensschwache Haushalte eine komplette Beitragsbefireiung vor. Siehe den Beitrag von Lindecke in diesem Band.
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ten die grdfiten Probleme, nach Arbeitslosigkeit wieder in Beschaftigung zu gelangen (Bielenski et al. 1995; Engelbrech/Reinberg 1997: 11). Die neuen institutionellen Rahmenbedingungen in der Bundesrepublik brachten allerdings nicht nur ein hohes Risiko mit sich, arbeitslos zu werden, sie boten auch eine grdfiere Flexibilitat. Als sich die ostdeutsche Arbeitsmarktsituation ftir Frauen verschlechterte, lag die Erwartung nahe, dass einige Frauen von den neuen Moglichkeiten, Teilzeit zu arbeiten oder dem „HausfrauenmodeH" zu folgen, Gebrauch machen wiirden (Dorbritz 1997: 243; Huinink 1999: 129). Ahnlich wie Frauen in Westdeutschland wiirden sie ihren Erwerbsumfang reduzieren oder sich nach der Geburt eines Kindes komplett vom Arbeitsmarkt zuriickziehen.
1991
1996
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2004
Westdeutschland Vollzeit Teilzeit Geringfligig Erwerbslos Erziehungsurlaub/Freistellung Nichterwerbsperson
20,5 20,9 7,6 3,5 2,4 45,1
17,4 20,3 10,8 4,2 7,1 40,2
16,8 23,3 15,7 4,2 7,5 32,5
15,5 23,1 15,3 5,8 8,1 32,2
Ostdeutschland Vollzeit Teilzeit Geringfligig Erwerbslos Erziehungsurlaub/Freistellung Nichterwerbsperson
63,7 8,3 0,9 10,9 10,7 5,6
61,1 7,9 1,4 17,6 3,4 8,7
51,7 9,9 3,7 17,0 5,6 12,1
48,4 10,1 4,3 20,0 5,6 11,7
Tabelle 1:
Erwerbsbeteiligung von Frauen mit Kindem 1991-2004, in Prozent
Anmerkung: Die Stichprobe umfasst Frauen, die zum Interviewzeitpunkt zwischen 18 und 45 Jahre alt sind, in Privathaushalten am Familienwohnsitz leben und mindestens ein Kind haben, das in der Familie lebt. Frauen, deren Kinder jiinger als ein Jahr sind, haben wir aus den Analysen ausgeschlossen, da sich diese Frauen zum Teil noch in Mutterschaftsurlaub befinden. Vollzeiterwerbstatigkeit: tatsachliche Arbeitszeit >= 30 hAVoche Teilzeiterwerbstatigkeit: 15-29 hAVoche Geringfugige Beschaftigung: