„Das bist Du!“ Das Selbst (ātman) und das „Andere“ in der Philosophie der frühen Upaniṣaden und bei Buddha [1 ed.] 3826032705, 9783826032707 [PDF]

Die Frage nach dem „Selbst“ und dem „Anderen“ ist eine der zentralen Fragen der indischen Philosophie. In der Philosophi

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German Pages 130 [137] Year 2006

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Table of contents :
INHALT:
Schrift und Aussprache der indischen Laute
Siglenverzeichnis
1. Einleitung
1.1 Das „Selbst“ und das „Andere“: Eine Einführung in den Gegenstand der Untersuchung
1.1.1 Das Ende des Veda
1.1.2 Die Upaniṣaden
1.1.3 Der Übergang
1.1.4 Der Buddha
1.2 Spezielle Probleme des Gegenstands
1.2.1 Urheberschaft und mündliche Überlieferung
1.2.2 Die Sprachbarriere: Quellen und Übersetzungen
1.2.3 Philosophie oder Weltanschauung? Oder beides? Oder ... ?
1.2.4 Das Orientalismusproblem: methodologische Vorüberlegungen
2. Der Ātman in der Philosophie der frühen Upaniṣaden
2.1 Terminologisches: Was ist „ich“?
2.1.1 Ātman
2.1.2 Brahman
2.1.3 Der Leib
2.1.4 Jīva
2.1.5 Puruṣa
2.1.6 Kognitive Prozesse
2.1.7 Noch einmal: Was ist „ich"?
2.2 Diskussion zentraler Textstellen
2.2.1 So'ham asmi- Das bin ich. Der weltschaffende Ātman
2.2.2 Svapiti, svam hy apito bhavati- Er schläft, er ist zu sich gegangen
2.2.3 Tat tvam asi- Das bist Du. Die Einheit von Ātman und Brahman
2.2.4 Neti neti- „Nicht nicht“: Negative Bestimmung des Ātman
2.3 Die Bedingtheit des Ātman der Upaniṣaden
2.3.1 Karma - Die Lehre von den Tatfolgen
2.3.2 Sarṃsāra - Fluß der Existenzen
3. Buddhas Philosophie des Nicht-Selbst: Abgrenzung zu den Upaniṣaden
3.1 Terminologische Innovationen
3.1.1 Anātman (anattā)
3.1.2 Anicca
3.1.3 Skandhas (khandhas)
3.1.4 Dharmas (dhammas)
3.2 Diskussion zentraler Textstellen
3.2.1 Die Skandhas (Mahāpunnamasutta (MN109))
3.2.2 Warum die Skandhas nicht das Selbst sind (Alagaddūpamasutta (MN 22))
3.2.3 Buddhas Ablehnung von Spekulationen (Aggi-Vacchagottasutta (MN 72))
3.3 Die Bedingtheit der Existenz nach Buddha: pratitya samutpāda
Fazit und Ausblick
Literaturverzeichnis
Index
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„Das bist Du!“ Das Selbst (ātman) und das „Andere“ in der Philosophie der frühen Upaniṣaden und bei Buddha [1 ed.]
 3826032705, 9783826032707 [PDF]

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Zitiervorschau

Das „Selbst" (atman) und das „Andere" in der Philosophie der fr ühen

·

_

Upani$aden und bei Buddha

Seele - „DAS BIST DU!"

Katrin Seele

,,DAS BIST DU!'' DAS „SELBST' (ÄTMAN) UND DAS „ANDERE'' IN DER PHILOSOPHIE DER FRÜHEN UPANI$ADEN UND BEI BUDDHA

Königshausen & Neumann

Bibliografische Information Der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar.

© Verlag Königshausen &. Neumann GmbH, Würzburg 2006 Gedruckt auf säurefreiem, alterungsbeständigem Papier Umschlag: Hummel / Lang, Würzburg Bindung: Buchbinderei Diehl+Co. GmbH, Wiesbaden Alle Rechte vorbehalten Dieses Werk, einschließlich aller seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt.

Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsg esetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen,

Ü bersetzungen,

Mikroverfilmungen und die Einspeicherung

und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

Printed in Germany ISBN 3-8260-3270-5 www.koenigshausen-neumann.de www.buchhandel.de www.buchkatalog.de

INHALT:

Schrift und Aussprache der indischen Laute

3

Siglenverzeichnis

6

Einleitung

1.

7

Das „Selbst" und das „Andere": Eine Einführung in den

1.1

Gegenstand der Untersuchung

7

Das Ende des Veda

10

1.1.2

Die Upani�den

12

1.1.3

Der Übergang

14

1.1.4

Der Buddha

15

1.1.1

1.2

Spezielle Probleme des Gegenstands Urheberschaft und mündliche Überlieferung

1.2.1

17 17

1.2.2

Die Sprachbarriere: Quellen und Übersetzungen

21

1.2.3

Philosophie oder Weltanschauung? Oder beides? Oder ...?

23

1.2.4

Das Orientalismusproblem: methodologische Vorüberlegungen Der Ätman in der Philosophie der frühen Upani�aden

2. 2.1

Terminologisches: Was ist "ich"?

2.1.1 2.1.2

Ätman Brahman

2.1.3

Der Leib

2.1.4

Jiva

2.1.5 2.1.6

Puru�a Kognitive Prozesse

2.1.7

Noch einmal: Was ist „ich"?

2.2

Diskussion zentraler Textstellen

25 30 30 31 34 37 39 41 41 43 44

2.2.1

So'ham asmi- Das bin icfr. Der weltschaffende Ätman

44

2.2.2

Svapiti, svam hy apito bhavati- Er schläft, er ist zu sich gegangen

48

2.2.3

Tat tvam asi- Das bist Du. Die Einheit von Ätman und Brahman

60

2.2.4

Neti neti- „Nicht nicht'� Negative Bestimmung des Ätman 67

Die Bedingtheit des Ätman der Upani�aden

74

2.3.1

Karma - Die Lehre von den Tatfolgen

74

2.3.2

Sarilsära - Fluß der Existenzen

78

2.3

3.

Buddhas Philosophie des Nicht-Selbst: Abgrenzung zu den Upani$aden 3.1

Terminologische Innovationen

82 82

3.1.1

Anätman (anattä)

83

3.1.2

Anicca

86

3.1.3

Skandhas (khandhas)

88

3.1.4

Dharmas (dhammas)

92

Diskussion zentraler Textstellen

93

3.2

3.2.1

Die Skandhas (Mahäpunnamasutta (MN109))

3.2.2

Warum die Skandhas nicht das Selbst sind

3.2.3

Buddhas Ablehnung von Spekulationen (Aggi-

(Alagaddüpamasutta (MN 22)) Vacchagottasutta (MN 72)) 3.3

93 98 103

Die Bedingtheit der Existenz nach Buddha: pratitya samutpäda 107

4.

Fazit und Ausblick

118

5.

Literaturverzeichnis

124

Index

129

Schrift und Aussprache der indischen Laute Aus Gründen der besseren Lesbarkeit werden die Sanskrit- und Päli-Texte in dieser Untersuchung nicht in der Devanägari-Schrift, in der sie eigentlich verfaßt sind, sondern in der gebräuchlichen Umschrift in die lateinische Schrift mit einigen diakritischen Zeichen wiedergegeben. Folgendes ist für die Aussprache der einzelnen Laute zu beachten: a, ä

kurzes oder langes a

i, i

wie in Fall, Aal kurzes oder langes i

u, ü

kurzes oder langes u

wie in Hit, Stil wie in Butter, Hut r, f

kurzes oder langes vokalisches r (silbischer vorderer gerollter Laut, Zunge am harten Gau­ men, meist kurzes nachklingendes 1) keine deutsche Entsprechung kurzes vokalisches I (silbisch hell, meist kurzes nachklingendes 1)

e, ai

e (immer lang), ai (immer lang)

wie in Meer, Maike o, au

k

o (immer lang), au (immer lang) wie in Hof, Maus

velarer stimmloser Verschlußlaut, nicht aspiriert wie in Kakadu

kh

velarer stimmloser Verschlußlaut, aspiriert

g

velarer stimmhafter Verschlußlaut, nicht aspiriert

gh

wie in Gegend velarer stimmhafter Verschlußlaut, aspiriert

ri

velarer Nasal

wie in Eckhardt

wie in taghell wie in Inka c

palataler stimmloser Verschlußlaut, nicht aspiriert wie in Kutsche

eh

palataler stimmloser Verschlußlaut, aspiriert wie in Matschhaufen palataler stimmhafter Verschlußlaut, nicht aspiriert wie in engl. Jeans

jh

palataler stimmhafter Verschlußlaut, aspiriert wie in engl. hedgehog

3

palataler Nasal wie in Anja t

retroflexer stimmloser Verschlußlaut, nicht aspiriert

th

retroflexer stimmloser Verschlußlaut, aspiriert (s.v.) retroflexer stimmhafter Verschlußlaut, nicht aspiriert

(Zungenspitze am harten Gaumen) c;! c;!h

retroflexer stimmhafter Verschlußlaut, aspiriert (s.v.)

retroflexer Nasal r:i Zu dieser Gruppe hat das Deutsche keine lautlichen Entsprechungen. t

dentaler stimmloser Verschlußlaut, nicht aspiriert

th

dentaler stimmloser Verschlußlaut, aspiriert

d

wie in Gottheit dentaler stimmhafter Verschlußlaut, nicht aspiriert

dh

wie in Dada dentaler stimmhafter Verschlußlaut, aspiriert

n

dentaler Nasal

wie in Tartufo

wie in Endhaltestelle wie in Nanometer p

labialer stimmloser Verschlußlaut, nicht aspiriert

ph

wie in Papa labialer stimmloser Verschlußlaut, aspiriert

b

labialer stimmhafter Verschlußlaut, nicht aspiriert

bh

wie in Barbara labialer stimmhafter Verschlußlaut, aspiriert

m

wie in abholen labialer Nasal

wie in Schlapphut

wie in Mama

y

palataler Halbvokal

r

gerollter Alveolar wie in Rarität, aber gerollt („Zungen-r") heller Lateral

wie Jagd, bejahen

wie in Last V

Labiodental wie in Wasserwerk

s, sh

4

palataler Sibilant ähnlich wie Schauer

retroflexer Sibilant ähnlich wie Gesche s

dentaler Sibilant wie in Sensation

h

stimmhafter laryngaler Hauchlaut wie in herholen Anusvära, ähnlich französ.

n

(vorhergehende Vokale werden nasaliert), oder wie

m

Visarga, stimmloser Hauchlaut. Vorausgehender Vokal hal nach

„all'

In Anlehnung an die Schriftlehre von Stenzler

(2003. 1-6).

Siglenverzeichnis s·IQ 1 e

BG

BUo

Text

[Buddhas] Rede im Tierpark von Benares Brhad-Äranyaka Upani$ad

BUR

Brhad-Äranyaka Upani$ad

CUo

Chändogya Upani$ad

CUR

Chändogya Upani$ad

MNN

Majjhima Nikäya

MNT bzw. MNc

Majjhima Nikäya

MNH

Majjhima Nikäya

6

A usga be

Gunser, Ilse-Lore: Reden des Buddha. Mit einer Einleitung von Helmuth von Glasenapp. Stuttqart: Philioo Reclam iun. 1957. Deussen, Paul [Hrsg.]: Sechzig Upanishads des Veda. Aus dem Sanskrit übersetzt und mit Einleitungen und Anmerkungen versehen von Paul Deussen, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 1963 [Nachdruck der 3. Aufl. Leipzig: F.A. Brockhaus 1921 l. Radhakrishnan, Sarvepalli [Hrsg]: The Principal Upani$ads. Edited with Introduction, Text, Translation and Notes. New Delhi: HarperCollins, 1994 (zuerst 1953). Deussen, Paul [Hrsg.]: Sechzig Upanishads des Veda. Aus dem Sanskrit übersetzt und mit Einleitungen und Anmerkungen versehen von Paul Deussen, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 1963 [Nachdruck der 3. Aufl. Leipzig: F.A. Brockhaus 1921]. Radhakrishnan, Sarvepalli [Hrsg]: The Principal Upani$ads. Edited with Introduction, Text, Translation and Notes. New Delhi: HarperCollins, 1994 (zuerst 1953). Neumann, Karl Neumann [Hrsg.]: Die Reden Gotamo Buddhos. Aus der Mittleren Sammlung Majjhimanikayo des Pali-Kanons. Zum erstenmal übersetzt von Karl Eugen Neumann. Karl Eugen Neumanns Übertragungen aus dem Pali-Kanon, Bd. 1, 4. Auflage, Zürich: Artemis; Wien: Paul Zsolnav. 1956 (zuerst 1895). Pali Text Society, London/ Trenckner, V. (Bd. 1)/ Chalmers, Robert (Bd. 2-3) [Hrsg.]: The Majjhima Nikäya. 3 Bde. London: Messrs. Luzac & Companv, 1960. Pali Text Society, London [Hrsg.]: The Collection of The Middle Length Sayings (Majjhima Nikäya). 3 Bde. Aus dem Pali übersetzt von 1. B. Homer. London: Luzac & Companv, 1954-1959.

1.

Einleitung

1.1

Das "Selbst" und das "Andere": Eine Einführung in den Gegenstand der Untersuchung

lt wou/d be easy to show how all Indian phi/osophy was a mere scheme for getting rid of the bugbear of metempsychosis { . .]. (Monier Williams, 1889. 99) Diese Untersuchung nimmt sich einer zentralen Fragestellung der frühen in­ dischen Philosophie an: der Frage nach dem Wesen des ätman (etwa: Selbst) in der Philosophie der frühen Upani$aden auf der einen und in der Philosophie Buddhas auf der anderen Seite. Damit werden zwei Hauptströ­

mungen indischer Philosophie untersucht. Alle weiteren Lehren sind nach Barua

(1974. 276) entweder der einen oder der anderen unterzuordnen1•

Selbst wenn diese Aussage Baruas simplizistisch erscheint, zeigt sie doch, daß sowohl die aus den Upani$aden erwachsende Philosophie als auch der Buddhismus philosophische und weltanschauliche Hauptströmungen sind, die, obwohl sie über

2500 Jahre in der Vergangenheit liegen, ihre Relevanz

bis in die Gegenwart bewahrt haben - nicht nur in ihrer Ausformung als Weltreligionen (Hindu-Dharma2 und Buddha-Dharma), sondern auch als phi­ losophische Denktraditionen.

1

Gemeint sind dabei nicht die Upani�den als isolierte Schriftgruppe, sondern das

aus dem Veda erwachsende und auf ihm aufbauende philosophische Schrifttum (v.a. Upani�den, Vedänta). Daß sich diese Untersuchung auf die frühen Upani�den und nicht schon auf die Veden stützt, liegt daran, daß sie einem philosophischen Forschungsinteres­ se folgt. Die Upani�den, auch schon die hier betrachteten frühen Upani�den, sich durch einen schwerpunktmäßig philosophischen Gehalt aus. Sie stellen eine philosophische Aus­ deutung und Erweiterung der Veden dar. 2

Die Verwendung der Bezeichnung „Religion" für Hinduismus, Buddhismus, Jainis­

mus und andere indische Weltanschauungssysteme ist eigentlich falsch, da „Religion" ein Begriff ist, der nicht in die indischen Sprachen übersetzbar ist. Die aktuelle indische Ver­ fassung verwendet in ihrer Version auf Hindi, einer der beiden meistgesprochenen leben­ den indischen Sprachen, an den Stellen beispielsweise , wo sie das „westliche" Modell der Religionsfreiheit auch für Indien formulieren möchte, den Begriff dharma, der eine Vielzahl von Bedeutungen hat, neben Religion vor allen Dingen auch Gesetz und Regel Apte gibt als Hauptbedeutungen an: 1) „religion, the customary observances of a caste, sect [

.

. . ",

]

2) „law, usage, practice, custom, ordinance, statute", 3) „religious or moral merit, virtue, righteousness, good works (regarded as one of the four ends of human existence)". 4) „duty, prescribed course of conduct", propriety, decorum",

7)

5)

„right, justice, equity, impartiality", 6) „piety,

„morality, ethics", 8)„nature, disposition, charakter",

9)

„essential

quality, peculiarity, characteristic property, (peculiar) attribute", 10) „manner, resem­ blance, likeness", 11) „sacrifice", 12) „good company, associating with the virtuous", 13) „devotion, religious abstraction", 14) „manner, mode" (Apte, 2000. 268). Angebracht ist es daher, nicht von Hinduismus, Buddhismus und Jainismus, sondern von Hindu-Dharma, Buddha-Dharma und Jaina-Dharma zu sprechen.

7

Die Aussage Baruas impliziert auch die landläufige Auffassung, daß Phi­ losophie der Upani�aden und Buddhismus in ihren zentralen Ansichten ge­ gensätzlich sind. Die schwerwiegendste Meinungsverschiedenheit zwischen den beiden philosophischen Systemen wird dabei in der Auffassung vorn Wesen des

ätman verortet: „The point at which Buddhisrn parted frorn the 1922. 110). Doch

Upani�ads lies in the experiences of the seif' (Dasgupta, 1,

bei der Lektüre der Upani�aden und der dem Buddha zugeschriebenen Lehr­ reden ist eher die Verwandtschaft als die Gegensätzlichkeit der Gedanken augenscheinlich: So räumt auch Barua

(1974. 276) ein, daß einem unvorein­

genommenen und kritischen Leser auffallen wird, daß bestimmte Texte der Upani�aden-Philosophie sich beinahe wie buddhistische Texte lesen und be­ stimmte Gedankengänge vorwegnehmen, so daß die buddhistischen Schrif­ ten manchmal nur wie Verfeinerungen der Upani�aden erscheinen. Diese Untersuchung nimmt sich zum Ziel, den für beide philosophischen Systeme zentralen Begriff des

ätman (Selbst) zu charakterisieren, um Ge­

meinsamkeiten und Unterschiede festzustellen und die Komplexität des Übergangs von der Philosophie der Upani�aden zur Philosophie Buddhas herauszustellen. Warum nun aber die leitende Frage nach dem „Selbst" und dem ,,Ande­ ren"? Warum das

mahäväkya, das ,große Wort' „Das bist Du", tat tvarn asi,

als Titel für dieses Buch? Dieses Buch hat nicht nur den Anspruch, einen Ausschnitt der indischen Philosophiegeschichte aufzuarbeiten, sondern will auch das Verständnis phi­ losophischer Grundbegriffe und zusammenhänge in der frühen indischen Philosophie verbessern, und zwar für eine Leserschaft, die primär im philo­ sophischen Vokabular der „abendländischen" und nicht der indischen Tradi­ tion geschult ist. Das ist keine leichte Aufgabe, denn solches Verständnis muß in einem Buch notwendigerweise mit dem Instrument der Sprache er­ reicht werden, obwohl Sprache oft zu kurz greift. Gerade bei der Beschäfti­ gung mit Texten der indischen Philosophie ist eine Übersetzung oft nicht ein­ fach möglich (vgl. Kap.

1.2.2), obwohl die Texte in indoeuropäischen Spra­

chen (Sanskrit, Päli) verfaßt sind. Dies liegt daran, daß hinter den Begriffen, die teilweise sogar mit entsprechenden lateinischen, griechischen oder auch deutschen Begriffen etymologisch verwandt sind (z.B. skr. gan', lat.

manas, ,Denkor­ mens, ,Verstand, Denkkraft'), doch ganz unterschiedliche philoso­

phische oder religiöse Konzepte liegen, die auf die spezielle kulturelle Tradi­ tion eines bestimmten Lebensraums und einer bestimmten Zeit verweisen. Aus diesem Grund ist gerade bei abstrakten philosophischen Begriffen eine Übersetzung problematisch, da oft durch die Übersetzung mit einem be­ stimmten philosophischen Terminus auch das zugrundeliegende philosophi­ sche Konzept stillschweigend als übereinstimmend gesetzt wird. Wie diese Untersuchung im Detail mit diesem Problem umgehen will, wird in Kap. dargestellt.

8

1.2.4

Gerade der zentrale Begriff, dem sich dieses Buch annehmen will, ätman, hat im „abendländischen" philosophischen Sprachgebrauch keine etymologisch verwandte Entsprechung. Das Gleiche gilt weiterhin für seinen Komplementärbegriff, brahman. Der nicht mit der indischen Tradition und Sprache vertraute Leser der Upani$aden ist also darauf angewiesen, sich die Konzepte von ätman und brahman durch ihre philosophischen und religiösen Verwendungskontexte wie auch durch gängige Übersetzungen kritisch zu er­ schließen. Eine Einführung in diese Begriffe wird in Kap. 2.1.1 bzw. 2.1.2 gegeben. Hier sei nur so viel gesagt: ätman wird häufig mit den Begriffen ,Selbst' oder ,Seele' ins Deutsche übersetzt, brahman mit ,All' oder ,Allseele'. Es ist jedoch lohnenswert, sich nicht auf e i n e begriffliche Entspre­ chung der Termini im Deutschen zu versteifen, sondern eine gewisse Varia­ bilität zuzulassen, und aus diesem Grund ist eine Diskussion des „abendlän­ dischen" Konzepts und komplementären Begriffspaares vom ,Selbst' und vom ,Anderen' hier nützlich, und zwar nicht zuletzt deswegen, weil unsere ,,abendländische" Annahme der prinzipiellen Unterschiedenheit des Selbstes vom Anderen in der indischen Philosophie zu gravierenden Mißverständnis­ sen führen kann. In den von mir behandelten Texten der Upani$aden, in denen es um den ätman geht, geht es gleichzeitig oft um etwas anderes, das häufig mit brahman benannt, oft aber auch nur mit dem Adjektiv sarva, ,alles, jeder', beschrieben wird. Aus einem von der „abendländischen" Philosophie gepräg­ ten Verständnis des Selbstes heraus liegt es nahe, all das, was nicht das Selbst ist, als das Andere zu begreifen, und dabei das ,Selbst' und das ,Ande­ re' als Begriffe aufzufassen, die einander entgegengesetzt sind und sich in­ haltlich ausschließen. So führt Waldenfels zum Thema ,Andersheit' und ,Selbst' aus: „Als Andersheit meiner Selbst greift die Andersheit auf mich über; denn als Ich fasse ich mich nur, indem ich identifizierend auf mich zu­ rückkomme und mich in meiner leiblichen Zentrierung zugleich exzentrisch zu mir selbst verhalte" (Waldenfels, 1999. 65). Das Ich, indem es seine Auf­ merksamkeit auf sich selbst richtet und sich selbst betrachtet, wird sich also im Moment dieser Reflexivität selbst zu einem Anderen, da - so häufig die Annahme in der modernen „abendländischen" Philosophie - es quasi von außen distanziert auf sich zurückblicken muß. In dem Moment, in dem der Mensch über sich reflektiert, indem er sich selbst zum Objekt seiner Überle­ gungen macht, entsteht eine Distanz zwischen dem unreflektierten ich und dem reflektierten mich. Diese Prämisse wird von der Philosophie der Upani$aden nicht geteilt, vielmehr wird eine solche Haltung als illusionär verurteilt. Es gibt - jenseits dieser Illusion - kein von der Welt abgesondertes, eigenständiges „Selbst", sondern vielmehr nur ein In-einander-übergehen von Eigenem und Ande­ rem. Es geht den Lehren nicht darum, die Abgesondertheit des „Selbst" vom „Anderen", und in der Steigerung sogar noch die Andersheit des „Selbst" ge­ genüber seiner selbst in der Reflektion zu demonstrieren, sondern es geht

9

umgekehrt darum, die Einheit des „Selbst" mit dem „Anderen" aufzudecken. So wollen Badrinath zufolge die Upani$aden zu allererst die zusammenhän­ gende, in Wechselwirkung stehende Natur aller menschlichen Attribute zei­ gen, die zwar jedes seinen eigenen Platz und Wert hat, aber nur in seiner Verbundenheit mit dem Anderen von Bedeutung ist: es geht den Upani$aden also nicht um eine fragmentierende Betrachtung des „Selbst", sondern um eine Betrachtung in Relationen: „Fragment one from the rest, and assign it an overriding place, to the pursuit of pleasure and wealth for example, and it will soon turn into its own negation, as it must, which is a state of violence to one's seif. The violence in the outside world is a natural extension of both" (Badrinath, 4, V, a). Demnach betrifft also alles, was das "Selbst" be­ trifft, gleichzeitig auch das „Andere", das „Außen". Und alles, was das „An­ dere" betrifft, betrifft auch das „Selbst". Gewalt gegen außen ist gleichzeitig Gewalt gegen innen, Gewalt gegen den Anderen ist Gewalt gegen sich selbst. Das „Selbst" und das „Andere" sind im Verständnis zwar nicht im lo­ gischen Sinne identisch. Aber sie sind eine Einheit, sie sind Eins, nur mit Be­ tonungen anderer Aspekte. Und beide sind sie wiederum eins mit allem, dem ganzen All. In diesem Buch werde ich mich - wo möglich - einer Übersetzung von brahman enthalten, da ,All', ,Allseele', ,das Absolute' und ,das Andere' zwar ansatzweise Übersetzungsmöglichkeiten sind, alle diese deutschen Termini jedoch am Ende das Ziel der umfassenden Übersetzung von brahman ver­ fehlen. Die deutschen Termini beschreiben Aspekte dessen, was mit brah­ man gemeint ist, und in unterschiedlichen Kontexten mögen unterschiedliche Aspekte durch unterschiedliche Übersetzungen wiedergegeben werden. Oben wurde in Kürze das ätman-brahman-Konzept der Upani�den dar­ gestellt, und damit die Hauptthese, gegen die sich Buddha in seinen Lehren wendet. Buddhas Lehre bildet aber nicht nur Gegenargumente aus, sondern bildet auch gleichzeitig einen sehr komplexen, aber nachvollziehbaren Über­ gang aus der Philosophie der Upani$aden heraus zu einem eigenen neuen Lehrsystem. Um jene Komplexität zu verdeutlichen, sind einige Bemerkun­ gen zur Chronologie und zur philosophiegeschichtlichen Situation ange­ bracht. 1.1.1

Das Ende des Veda

Dem Vedänta (Ende des Veda) geht philosophiegeschichtlich der Veda, des­ sen Texte als älteste Zeugnisse indoeuropäischer Philosophie gelten, voraus, wobei auch beim Übergang vom Veda zum Vedänta von einem graduellen Wandel gesprochen werden muß, da die Upani$aden aus der Perspektive des Veda noch Teil des Veda sind und erst im nachhinein als eine neue Leh­ re bezeichnet werden. Die Upani$aden liegen genau zwischen Veda und Vedänta, und sie werden teilweise dem Veda, teilweise dem Vedänta zuge­ rechnet.

10

Stietencron benennt die wesentlichen Innovationen des Vedänta gegen­ über dem Veda: „Zunächst wurde deutlich, daß die Götter nur untergeordne­ te Figuren sind. [

. . .

] Was sich hier ganz unspektakulär im forschenden Den­

ken einer gelehrten Oberschicht ereignet - Brahmanen und Fürsten waren an diesem Diskurs beteiligt -, ist der Beginn einer neuen Religion. Der Poly­ theismus verlor seine herrschende Position, und an seine Stelle trat der Mo­ nismus. Es fand ein Systemwechsel statt, der die weitere Religionsgeschichte Indiens entscheidend prägen sollte. Die entmachteten Götter verschwanden nicht, so wie auch die Pflanzen, Tiere und Menschen nicht verschwanden, weil man das Brahman [vgl. Kap. 2.1.2] als herrschendes Prinzip erkannt hatte. Aber der gesamte Polytheismus wurde dem Brahman untergeordnet, die einst frei herrschenden vedischen Götter sanken zu Dienstboten einer höheren Macht herab" (Stietencron, 2001. 22-23). Mit der Verdrängung des Polytheismus durch den Monismus gerät der ätman als Komplement zum brahman ins Zentrum der Betrachtung, und Ansichten über das Wesen und die Bedingtheit des ätman werden formuliert: „Die Seelenwanderungslehre, die Lehre von der Identität von Einzelseele (ätman) und dem Absoluten (brahman), das asketische Ideal vom Leben als Waldeinsiedler und anderes mehr findet seinen erstmaligen Ausdruck" (Michaels, 1998. 70). Aber laut Nakamura ist diese philosophische Erneuerung um

1000 v. Chr. nur Zeichen

eines viel größeren, ethnologischen Umbruchs in der indischen Geschichte: Im Rahmen der Wanderung des arischen Volksstamms nach Südosten er­ reicht dieser die Gangesebene, und es kommt zur Durchmischung der Arier mit den in der Gangesebene ansässigen Volksstämmen, sowohl ethnisch als auch in bezug auf die zugrundeliegenden Weltanschauungen: Nakamura ist der Meinung, daß die Entstehung der Philosophie der frühen Upani$aden in diese Zeit des demoskopischen Wandels fällt (Nakamura,

1973. 77).

Global betrachtet ist der Gegenstand dieser Untersuchung also in der von Karl Jaspers so genannten „Achsenzeit" zu lokalisieren: Der Gegenstand arbeitet der These eine „Achsenzeit" insofern zu, als er mit der indischen Philosophie und dem zwischen 1000 und 500 v. Chr. auf dem indischen Sub­ kontinent stattfindenden philosophischen und religiösen Wandel vom Poly­ theismus des Veda zum Monismus der Upani$aden und zur Negation eines höchsten Prinzips im Buddhismus im Allgemeinen, sowie dem Wandel vom ätmatr zum anätmatrKonzept im Speziellen ein Beispiel für die Jaspersche These liefert. Jaspers lokalisiert seine imaginäre „Achse der Weltgeschichte [

. . .

wo geboren wurde, was seitdem der Mensch sein kann" (Jaspers,

] dort, 1960.

19f), in dem Sinn, daß ab dieser Achsenzeit sich alle Völker der Erde zu einer gemeinsamen und ineinander verwobenen Geschichte bekennen könnten. Es soll an dieser Stelle keine Jaspers-Forschung und -Deutung betrieben wer­ den. Was zählt ist das Staunen, daß tatsächlich im Zeitraum zwischen und

800 200 v. Chr., den Jaspers als „Achsenzeit" bezeichnet hat, weltweit

bahnbrechende kulturelle, geistesgeschichtliche Neuerungen einsetzen, in

11

Griechenland, China - und eben auch in Indien. Und auch Jaspers These, daß zu der Zeit „der Mensch, mit dem wir bis heute leben" (Jaspers, 1960. 20) entstanden ist, scheint· angesichts der Vorgänge in Indien zu dieser Achsenzeit nicht ganz aus der Luft gegriffen: Immerhin konstituieren sich in der geistigen Auseinandersetzung der Gelehrten um 500 v. Chr. zwei Weltre­ ligionen - das Hindu-dharma (das in gewisser Weise auch im Veda schon vorhanden ist, aber um diese Zeit sein Profil schärft und durch die Bünde­ lung der vielen Einzelgottheiten zu einem Monismus seine intellektuelle Form gewinnt), und das Buddha-Dharma, sowie auch noch das Jaina-Dharma, das eigentlich eine eigene religiös-philosophische Weltanschauung darstellt, je­ doch aus „westlicher" distanzierter Perspektive häufig unter dem Hindu­ Dharma subsumiert wird. Alle diese neu entstandenen oder geschärften Weltanschauungen, die gleichzeitig auch philosophische Traditionen mit sich gebracht haben, beste­ hen bis heute. Aus dieser Perspektive ist es nachvollziehbar, daß Jaspers der Meinung ist, „der Mensch, mit dem wir bis heute leben" (Jaspers, 1960. 20) sei in der und durch die Achsenzeit entstanden. 1.1.2

Die Upani,aden

Das Wort Upani$ild ist zusammengesetzt aus dem Präfix upa-, das in seiner Hauptbedeutung Nähe zu jemandem oder etwas ausdrückt (s. Apte, 2000. 108), der Indeklinable ni- mit der Hauptbedeutung unter (s. Apte, 2000. 285) und der Verbform -$ild, eines Partizips, das sich von der Wurzel sacf (sitzen) (vgl. Whitney, 2003. 183) herleitet. Diese Zusammensetzung wird interpretiert als bezugnehmend auf die Situation, wenn Studenten um ihren Lehrer (guru) herum saßen und seine Lehre verfolgten (Wood, 1964. 196) die altindische Form des Philosophiestudiums. Entsprechend des schon in der Wortbedeutung von upa-ni-$ild enthaltenen Bildes schildern die Upanisaden oft Lehrer-Schüler-Dialoge, in denen eine Belehrung stattfindet: „The basic definition of the Upani�adic story - as conceived by Sänkara implies the existence of two parties; one eager - or made eager - to learn, the other transmitting the vidyä [ Wissen(-schaftjJ. The one who knows enlightens the one who does not" (Grinshpon, 1998. 380). Die Schüler, die sich in der Nähe ihres Lehrers niedergesetzt haben, um seiner Lehre zuzuhören, waren vermutlich in einer sehr exklusiven Situation, denn nicht jeder konnte zuhören: Nakamura zufolge wird angenommen, daß das Wort Upan�sad auf „heimliches Lehren" oder „esoterische Lehre" ange­ spielt hat (Nakamura, 1973. 79). Saeverin (2004. 156ff) beschreibt den Zu­ sammenhang von Studium und ritueller Praxis im alten Indien und bezeich­ net den Ritus als „Ort des Lernens", da ohne ihn das Lernen nicht stattfinden k a n n. Stietencron zufolge lernt der Schüler zunächst die philosophischen Texte auswendig, ohne daß ihm der Inhalt erklärt würde. Da diese Lehrtexte nicht nur inhaltlich sehr anspruchsvoll und hoch abstrakt, sondern auch for­ mal unzugänglich sind, da sie „mehr aus Kürzeln und Chiffren als aus Text" -

12

(Stietencron, 2001. 95) bestehen, lernt der Schüler zunächst annähernd ver­ ständnislos. Dieser Didaktik liegt folgende Annahme zugrunde: „[.„] Verstehen geht von der Ganzheit aus: Erst wenn alle Details im Gedächtnis des Schülers so gespeichert sind, daß mit jeder Chiffre auch ihr Kontext, die Gruppe anderer Chiffren, der sie zugehört, greifbar ist - erst dann beginnt unter Anleitung des Lehrers ein ganzheitliches Verständnis, das alle Teile sinnvoll verknüpft. Dann allerdings bricht dieses Verständnis um so schneller und intensiver ein, weil kein Detail zum Verständnis fehlt" (Stietencron, 2001. 95). Es leuchtet ein, daß diese Art des Studiums ein immenses Maß an Vertrauen nicht nur in den Lehrer, sondern auch in das Werte- und Glaubenssystem insgesamt voraussetzt, denn der Moment, in dem der Lehrer auf einmal alle Verknüp­ fungen des Gelernten herstellt, ist nicht einfach das Ende des Studiums, sondern gleichzeitig eine rituelle Initialisierung, die metaphysisch überhöhte Einweihung des Schülers ins „heilige" Wissen: Es ist „entscheidend, dass der Schüler nicht weiß, was er lernt, aber ein Vertrauen, ein religiös fundiertes Vertrauen, haben muss, dass das Erlernte seinen spezifischen Sinn und Zweck hat" (Saeverin, 2004. 159). Die Lehren wurden ausschließlich von Priestern, Brähma!Jen, 3 an ihre Schüler weitergegeben, eine Exklusivität, die durchaus ihre Neider gehabt haben muß: „Such secrecy inspired members of the royal clans and the or­ dinary citizenry who did not have access to Upanishadic wisdom but none­ theless wanted to solve the great problems of human existence to abandon secular life and go in search of enlightenment on their own" (Mizuno, 1980. 6f). Der prominenteste Vertreter nicht-brähmar:iischer Abstammung, der sich von den Lehren der Brähmar:ienpriester absetzte um eigene philosophische und lebenspraktische Wege zu gehen, war wohl Gautama Buddha, der der Krieger- und Fürstenkaste der K_satriya angehörte und von dem später zu sprechen sein wird. In der Forschungsliteratur wird immer wieder betont, daß die Erklärung des Selbst ein zentrales Anliegen der Philosophie der Upani$aden ist (z.B. Radhakrishnan, 1999. 162), neben und im Rahmen der Beschäftigung mit dem Ende des Lebens, dem Tod und der Wiedergeburt. Insofern bietet die wissenschaftliche Aufarbeitung der upani$adischen Lehren über das Selbst nicht nur einen zentralen und notwendigen Zugang zur Philosophie der Upani$aden selbst, sondern auch zu den auf dieser philosophischen Tradition aufbauenden Systemen, die sich in ihrer Ausbreitung keineswegs auf den in­ dischen Subkontinent beschränken: „Their thought by itself and through Buddhism influenced even in ancient times the cultural life of other nations far beyond the boundaries of India, Greater India, Tibet, China, Japan and Korea and in the South, in Ceylon, the Malay Peninsula and far away in the

3 Das Wort Brahma(Je bezeichnet die Zugehörigkeit zur höchsten der vier hinduisti­ schen Kasten, der Brahma(Je� (=Priester-)kaste.

13

islands of the Indian and the Pacific Oceans. In the West, the tracks of In­

dian thought may be traced far into Central Asia, where, buried in the sands of the desert, were found Indian texts" (Radhakrishnan, 1.1.3

1953. 17).

Der Übergang

Gautama Buddha, auch Säkyamuni genannt, war bereits ein Kind der neu

bevölkerten Gangesebene, in die die arischen Volksstämme von Nordwesten kommend eingewandert waren: zwei oder drei Jahrhunderte vor seiner Ge­

burt war das Zentrum der indischen Kultur von den oberen Indus-Ebenen

südostwärts in die höheren und mittleren Gangesgebiete gewandert (s. Abb.

1). Buddha kam bereits zur Zeit der Blüte dieses „neuen" Zentrums der indi­ 1980. 5). Was zu Zeiten der Niederschrift der

schen Welt zur Welt (Mizuno,

Upani$aden also gerade neu erschlossenes Territorium gewesen ist, hat sich

im laufe weniger Jahrhunderte zum kulturellen Kerngebiet entwickelt, und

mit dieser Entwicklung geht wiederum eine Entwicklung der Philosophie ein­ her.

Der Zusammenhang von Bevölkerungswanderungen, soziokulturellen

Bedingungen und dem Wandel philosophischer Systeme in Indien wäre mit

Sicherheit eine eigene Forschungsarbeit wert, 4 kann hier aber nur am Rande thematisiert werden. So interagieren und konkurrieren in der indischen Phi­

losophie und Religion, die Buddhas unmittelbares Vor- und Umfeld gebildet

haben, verschiedene zum Teil sehr gegensätzliche geistige Strömungen, und

die Zeit um

500 v. Chr. wird von Gowans (2003. 20) als „period of spiritual 1922. 80) zufolge wird Jaspers' „Ach­

unrest" charakterisiert. Dasgupta (I,

senzeit" in Indien von wenigstens drei konkurrierenden philosophisch­

religiösen Strömungen beherrscht: zunächst dem „Opfer-karmd', das noch den alten vedischen Opfertraditionen verbunden ist und demzufolge der Mensch durch „magische Rituale" sein Schicksal bestimmen kann. Zweitens der Philosophie der Upani$aden mit der Lehre, daß die Einheit von All (brahman) und Selbst (ätman) die ultimative Realität ist. Und schließlich „ni­ hilistischen Konzeptionen" (Dasgupta, 1, 1922. 80), die vertreten, daß es kein Gesetz, keine endgültige Realität gibt, sondern daß alles nur durch zu­

fälliges zusammentreffen von Umständen oder durch ein unbekanntes Schicksal gesteuert wird. „In each of these schools, philosophy had probably come to a deadlock" (Dasgupta, 1, 1922. 80). Diese „Sackgasse", dieser Stillstand in den überkommenen Denktradi­

tionen, hat möglicherweise Innovationen, wie die von Buddha, begünstigt.

„Wir stehen bei den Anfängen des Buddhismus in einer Zeit, wo die alte my­

stisch-bildhafte Form des Denkens und Vorstellens, von der uns im Veda und in der alten Brähmar:ia-Literatur noch bemerkenswerte Überreste erhalten

4

Einen wichtigen Schritt in diese Richtung unternimmnt Elmar Holenstein: Philoso­

phie-Atlas. Orte und Wege des Denkens. Zürich: Ammann Verlag, 2004.

14

sind, den Übergang sucht zu einem mehr begrifflich-abstrakten Denken" (Beckh,

1958. 206-207). Das Alte mußte eine neue Form finden, damit es

weiterbestehen konnte: „lt was at this juncture that we find Buddha erecting a new superstructure of thought on altogether original lines which thence­ forth opened up a new avenue of philosophy for all posterity to come" (Das­ gupta, I,

1922. 80). So wie die Upani$aden, wie oben angeführt, als erste

philosophische Texte im strengeren Sinne bezeichnet werden, so kommt laut Beckh Buddha und seinen Zeitgenossen die erstmalige Begründung unter­ schiedlicher, konkurrierender philosophischer Systeme in Indien zu (Beckh,

1958. 207). In der Forschungsliteratur wird immer wieder betont, wie viel Buddha

karmcr 1980. 6). Laut Ma­

von der Upani$aden-Philosophie übernommen hat, beispielsweise die Lehre und die Idee von der Wiedergeburt5 (vgl. Mizuno,

nier Williams zeigen sogar die zentralen Lehren Buddhas, die Lehre vom

pratitya samutpäda (Entstehen in Abhängigkeif'J und von den sogenannten Vier edlen Wahrheiten deutlich „Gautama's sympathy" mit dem Ideengut der Upani$aden (Monier Williams, 1889. 102). Die buddhistische „Wahrheit" vom Leben als Leiden findet sich ebenfalls bereits in den Upani$aden (vgl. Trive­ di,

1997. 31).

Dennoch sind der Zugang, den Buddha zum alten Gedankengut findet, und die Schlüsse, die er aus den alten Lehren zieht, etwas Neues. In seiner Position als nicht-Brähmar:ie ist Buddha das brähmar:iische Studium der Ve­ den und Upani$aden verwehrt, als Waldeinsiedler,

samana, kann er sich je­

doch, wie jeder andere freie Mensch auch (Angehörige der untersten Hindu­ Kaste,

SOdra, werden ausgeschlossen), der Suche nach der Weisheit durch

Meditation oder laienhafte Beschäftigung mit den philosophischen Texten hingeben. Aus diesem externen Zugang ist die Geburt des Buddhismus zu verstehen, der bis in die Gegenwart - zumindest theoretisch - keinen Unter­ schied zwischen den Kasten macht. Mizuno zufolge war es nicht unüblich, daß unorthodoxe

samanas den pfad der brähmar:iischen Lehre verlassen ha­ 1980. 6f).

ben und eigene philosophische Theorien entwickelten (Mizuno,

1.1.4

Der Buddha

Was aber ist die zentrale Neuigkeit, die die früheste buddhistische Philoso­ phie von der Philosophie der Upani$aden unterscheidet? Die Forschungslite­ ratur betont immer wieder, daß es die Haltung zum

ätman, zum Selbst, ist.

Während in den Upani$aden ein substantieller, einheitlicher und kontinuierli­ cher

ätman angenommen wird, wird diese Sichtweise in den Lehren des ätman ist kein Unteilbares, keine dauerhafte Einheit,

Buddhas kritisiert; der

5 Angemessener ist es, nicht von Wiedergeburt, sondern von bedingter Existenz zu sprechen, da es im buddhistischen Modell des Menschen nichts gibt, das wiedergeboren

werden könnte.

15

und es stellt sich daher die Frage, ob es dann überhaupt noch einen gibt (Buddha spricht vom

ätman an-ätman (anattä'), vom nicht-Selbst). Eine Person

ist demzufolge kein Individuum, sondern ein zusammengesetztes, Syntheti­ sches oder - mit buddhistischem Ausdruck - ein

samskära. Die Bestandteile

dieser Zusammensetzung sind in ständigem Wandel begriffen, und so ist auch der Mensch niemals auch nur für zwei Augeblicke derselbe, obwohl er dennoch - als wechselhaftes Kontinuum - fortbesteht (vgl. Radhakrishnan,

1999. 383). Diese Position steht der Lehre der Upani$aden diametral gegenüber und ist wohl die zentrale Innovation, mit der Buddha sich gegen die überlieferten alten Lehren absetzt. Radhakrishnan ist jedoch der Meinung, daß sich Budd­ ha selbst dieser Innovation und damit dem Bruch mit den Lehren der Upani�den gar nicht bewußt gewesen sein mag, sondern daß er seine Er­ kenntnisse eher als eine moderne, aber konforme Interpretation angesehen hat: „Buddhism shared with the rest of Aryan India the belief in the law of karma and the possibility of attaining nirvär:ia.

[...] Buddha himself was not

aware of any incongruity between his theory and that of the Upani$ads. He feit that he had the support and sympathy of the Upani$ads and their fol­ lowers.

[„.] Buddhism, in its origin at least, is an offshoot of Hinduism" 1999. 361). Diese sehr radikale Interpretation mag dem

(Radhakrishnan,

hinduistisch-brähmar:iischen Hintergrund Radhakrishnans geschuldet sein, denn aus der Perspektive eines Hindus ist der Buddhismus ebenso wie der Islam oder das Christentum letztlich

Hindu-dharma, da das Hindu-dharma

inklusivistisch ist und Jesus und Mohammed gleichermaßen verehrt werden wie die unzähligen Hindu-Gottheiten, die letztlich aber alle unter dem moni­ stischen Prinzip

brahman zusammengefaßt werden können. Dennoch ist

Radhakrishnans These von der inhaltlichen Verbundenheit und organischen Aufeinanderfolge von Upani$aden-Philosophie und Buddhismus eine These, die auch dieser Untersuchung als Prämisse dienen kann und wird. Manier Williams bringt Upani$aden-Philosophie und Buddhismus in einen größeren gemeinsamen Kontext, wenn er von der Abhängigkeit der indi­ schen Philosophie vom Erlösungsgedanken spricht, der seine Ursache im verbreiteten alten Glauben an die Seelenwanderung und Reinkarnation hat: „lt would be easy to show how all Indian philosophy was a mere scheme for getting rid of the bugbear of metempsychosis, and how common was the doctrine that everything is for the warst in the warst of all possible worlds" (Manier Williams,

1889. 99). Aus dieser Perspektive ist das eigentliche Er­

kenntnisinteresse der frühen indischen Philosophie laut Manier Williams völ­ lig neu zu bewerten. Demnach wäre das gemeinsame Interesse aller frühen indischen philosophischen Strömungen (die Rede ist einmal mehr von der sogenannten „Achsenzeit") nicht die Suche nach der Wahrheit, sondern die Konstruktion eines Mechanismus zur Elimination des Leidens und des Übels, das mit der wiederholten körperlichen Existenz und mit guter wie schlechter

16

Handlung zu allen Zeiten verbunden zu sein schien (Monier Williams,

1889.

101). 1.2

Spezielle Probleme des Gegenstands

1.2.1

Urheberschaft und mündliche Überlieferung

When we pass from the Upani_sads to ear/y Buddhism, we pass from a work of many minds to the considered creed of a single individual. In the Upani_sads we have an amazing study of an atmosphere, in Buddhism the concrete embodiment of thought in the /ife of a man.

(Radhakrishnan,

1999.

347)

In tabellarischer Form oder auf einem gedachten Zeitpfeil angeordnet sieht die Geschichte der indischen Literatur (Dichtung, Philosophie und Religion sind zumindest im Frühstadium noch nicht klar getrennt) aus wie jede ande­ re Geschichte auch: Es gibt unterschiedliche Strömungen, „Epochen", es gibt Sprachwandel, Schriftwandel, aber alles in allem scheint die indische Litera­ tur gut darstellbar und untersuchbar zu sein. Dieser Schein täuscht jedoch: denn wer sich auf das Feld indischer Texte begibt, muß auf zwei Dinge, de­ rer moderne Wissenschaft so sehr bedarf, verzichten: Eindeutige Datierung und eindeutige Autorschaft. So stellt Geldsetzer fest: „Wenn es so etwas wie Zeitbewußtsein gibt, so ist es nicht auf mathematisch-messende Zeitbe­ stimmung, sondern auf qualifizierende Wertbestimmung zeitlicher Verhält­ nisse aus. Das Alte und überkommene genießt als solches höchste Achtung und Wertschätzung - mag es, chronologisch bestimmt, so alt und so weit überkommen auch gar nicht sein" (Geldsetzer,

1999. §6). Dies hat nach

Geldsetzer die Auswirkung, daß die scheinbare Chronologie der Ereignisse in Indien „im wesentlichen von abendländischer Wissenschaft" stammt (Geld­ setzer,

1999. §6).

Wie schon in Kap.

1.1 beschrieben, bedeutete Studium im alten Indien,

daß Schüler sich um einen brähmar:iischen Lehrer herum setzen um seiner Lehre zuzuh ö r e n. Die Lehre wurde also in erster Linie mündlich weiterge­ geben und nicht schriftlich niedergelegt. Und wenn sie schriftlich niederge­ legt wurde, dann meist nicht vom Lehrer selbst, sondern von Schülern, manchmal erst Generationen später. Dies ist sowohl bei den Upani�aden als auch bei den Buddha zugeschriebenen Lehrreden der Fall. Der Unterschied ist: die buddhistische Lehre ist personenfixiert: obwohl die Urheberschaft unklar ist, werden bestimmte Texte, die Lehrreden enthalten, einem histori­ schen Buddha zugeschrieben, obwohl nicht einmal Einigkeit darüber besteht, daß es überhaupt einen historischen Buddha gegeben hat. So spricht man anerkanntermaßen nicht von der „Lehre des Päli-Kanons", sondern von der „Lehre Buddhas". Umgekehrt ist die upani�adische Lehre textfixiert. Obwohl man - wie im Päli-Kanon den Buddha - mögliche Urheber des Gedankenguts identifizieren kann, wie beispielsweise Yäjnavalkya oder Uddälaka Ärur:ii, die beide bedeutende brähmar:iische Lehrer gewesen sein müssen, spricht man im Allgemeinen nicht von der Philosophie Yäjnavalkyas oder Uddälaka

17

Ärur:iis, sondern allgemein von der „Philosophie der Upani�den". Was der

buddhistischen wie der upani$adischen Literatur jedoch wiederum gemein ist, ist daß eine Kanonisierung stattgefunden hat und stattfindet. So ist die Lehre Buddhas laut Glasenapp

(1946. 12) im 1. Jahrhundert vor Christus im

sogenannten „Päli-Kanon" im heutigen Sri Lanka schriftlich fixiert und sy­

stematisiert worden: die bis heute überkommene Aufteilung sieht drei „Kör­ be" ( Tipitaka) vor, den „Korb der Mönchsdisziplin" ( Vinaya-pitaka), den

„Korb der Dogmatik" (Abhidamma-pitaka) und den „Korb der Lehrreden" (Sutta-pitaka), zu dem der in dieser Untersuchung behandelte Majjhima

Nikäya gehört.

Die Upani$aden haben ebenfalls eine Art Kanonisierung hinter sich,

wenngleich nicht in so einer abschließenden und endgültigen Form, wie es bei den dem Buddha zugeschriebenen Lehrreden der Fall ist. So gibt Radha­

krishnan eine Zahl von über zweihundert Upani$aden an, „though the Indian tradition puts it at one hundred and eight" (Radhakrishnan,

1953. 20-21);

man hat es also im Fall der 108 Upani$aden mit einer unpersönlichen, schlichtweg der „indischen Tradition" zugeschriebenen Kanonisierung zu tun. Eine weitere Unterscheidung betrifft die sogenannten wichtigsten {„princi­

pal") Upanisaden, von denen oft die Rede ist. Diese Kanonisierung ist ganz klar auf Sarhkara, den „großen Scholastiker des Brahmanismus"

(8. oder 9. 1987. 43) zurückzuführen, der elf Upani�den aus­ wählte und kommentierte, darunter auch die Brhad-Ära(lyaka Upani?ad und die Chändogya Upani?ad, die von zentraler Bedeutung für diese Untersu­

Jh. n. Chr., Schweitzer,

chung sind. Die anderen Upani$aden sind Radhakrishnan zufolge „more reli­ gious than philosophical" (Radhakrishnan,

1953. 21). Wie schon gesagt, sind

die Upani$aden nicht autor- sondern textfixiert, und es fällt gemeinhin leich­

ter, etwas einer bestimmten Texttradition zuzuordnen als einer speziellen Person.

Sequeira

{1996. 28) zufolge sind die Upani$aden ganz allgemein be­ 800 und 600 v.u.Z.)" entstanden, Nakamura (1973. 77) gibt eine ähnliche Zeitspanne (800-500 v

trachtet in einem „relativ kurzen Zeitraum (zwischen

Chr.) an mit der Betonung, daß sich diese Zeitspanne auf die älteren Upani$aden bezieht. Diese Information gewinnt Gewicht, wenn man sich

vergegenwärtigt, daß die jüngeren Upani$aden laut Dasgupta erst geschrie­

ben wurden, als der Islam schon auf dem Subkontinent Einzug hielt, was ab ca.

1000 n. Chr., spätestens aber mit der Eroberung Nordindiens durch Mu­ 1192 der Fall war (vgl. Rothermund, 1995. 611-612). Nakamura {1973. 77) gibt die B(had-Ära(lyaka Upani?ad als die älteste Upani$ad an, Deussen (1920. 22) die B(had-Ära(lyaka Upanfsad und die Chändogya Upanfsad. Radhakrishnan (1953. 22) datiert diese beiden Texte

hammad Ghuri von Ghor im Jahr

auf das achte oder siebte Jahrhundert v. Chr„ Deussen

{1920. 22) weist allerdings darauf hin, daß die genaue Datie­

rung schwierig ist, da die Upani$aden „durch die Tätigkeit der verschiedenen

18

Vedaschulen und im Wechselverkehr derselben untereinander entstanden sind", so daß es keine exakt nachvollziehbare chronologische Reihenfolge gibt; „Jede der großen Upanishad's enthält ältere und jüngere Texte neben einander, daher das Alter jedes einzelnen Stückes für sich bestimmt werden muß, soweit dies aus der Stufe der Entwicklung, auf der die in ihm enthalte­ nen Gedanken stehen, möglich ist" (Deussen, 1920. 22). Dies ist zum Beispiel anhand der Philosophen oder Lehrer, deren Lehre in bestimmten Passagen wiedergegeben wird, möglich, so daß man zumin­ dest annähernd das Alter des Gedankens ermessen kann: So sind beispiels­ weise in der auch für diese Untersuchung grundlegenden Brhad-Ära(1yaka Upani?ad der Brähmar:ie Yäjnavalkya und seine Lehren von größter Bedeu­ tung, wobei seine Lebensdaten mit der Zeitspanne 650-550 v. Chr. angege­ ben werden (Nakamura, 1973. 77). Somit könnten die Texte unmöglich frü­ her als im siebten Jahrhundert v. Chr. entstanden sein. Es ist an dieser Stelle aber auch noch einmal wichtig zu betonen, daß die Upani$aden vor allen Dingen durch ihre mündliche Überlieferung tradiert wurden, und daß zumin­ dest in dieser frühen Zeit die schriftlichen Fassungen nicht von zentraler Be­ deutung waren. Uddälaka Ärur:ii gilt als etwas älter als Yäjnavalkya, da „nach der Traditi­ on der Yäjnavalkya-Schule ihr Meister ein Schüler Uddälakas gewesen sein soll" (Ruben, 1947. 156). Ebenfalls durch Niederschrift in den Upani$aden verbürgt ist die Existenz des Sohnes von Uddälaka Ärur:ii, Svetaketu, sowie der beiden Ehefrauen Yäjnavalkyas, Maitreyi und Kätyäyani, wobei Maitreyi der Philosophie nahe stand, Kätyäyani dagegen eher die Rolle der Hausfrau innegehabt haben soll (siehe BU IV. 5. 1). Ruben ordnet die beiden wichtig­ sten Denker der Upani$aden, Uddälaka Ärur:ii und Yäjnavalkya, grob schema­ tisch mit Begriffen der „westlichen" Philosophie ein: demnach begründete Uddälaka Ärur:ii in Indien eine naturphilosophische, realistische Tradition (die sich beispielsweise im Särnkhya-System fortsetzt), wohingegen Yäjnavalkya der Vater der idealistischen Tradition ist (Ruben, 1947. 156); Nakamura zeichnet einen Hauptunterschied der beiden Lehren anhand der Einschät­ zung der Reichweite von Sprache nach: „According to Uddälaka, phenomena are the products based on words. Yäjnavalkya expressed the mystical opin­ ion, according to which eternal truth cannot be put into words" (Nakamura, 1973. 78). Die Autorschaft der Upani$aden liegt noch mehr im Dunkeln als das Le­ ben und Vermächtnis der in ihnen beschriebenen Philosophen. Laut Radha­ krishnan (1953. 22) ist fast die gesamte frühe Veda-Literatur anonym über­ liefert. Das hat auch damit zu tun, daß das in ihnen vermittelte Wissen gar nicht unbedingt als menschliche Erkenntnis, sondern eher als Offenbarung galt, und die Inhalte als sanätana, zeitlos (Radhakrishnan, 1953. 22). Er­ kenntnis wurde zumeist nicht durch kognitive Prozesse im heutigen Ver­ ständnis gewonnen, sondern wurden von Sehern (rsi-s) „gesehen". Weder bei den Sehern noch bei den Priestern oder den Schülern wird jedoch Zwei-

19

fel über die Relevanz und Wahrheit des „gesehenen" Wissens bestanden ha­ ben.

Auch über Buddhas Leben besteht, wie schon angedeutet, keine Einigkeit: Lamotte

(2002, 33) nennt die Zeit „um 566 v. Chr." als Buddhas Geburts­ (1996. 58) datiert sein Leben auf um 566-486 v. Chr. Rothermund (1995. 154) führt zwei Datierungsmöglichkeiten auf; eine ent­ sprechend derjenigen von Sequeira, und eine mit den Lebensdaten 448-368 v. Chr. Einigkeit besteht laut Rothermund dagegen darüber, daß Buddha 80 zeitpunkt, Sequeira

Jahre alt wurde, und daß er ein Fürstensohn aus dem Clan der Sakyas war, der Kaste nach also ein

K?atriya (Rothermund, 1995. 154). Sein Name war

Siddhattha Gotama (Sanskrit: Siddharta Gautama), und sein Geburtsort lag

in der Nähe der Stadt Kapilavastu im heutigen Nepal (Dasgupta, 1,

1922. 81). Ferner gilt als verbürgt, daß er verheiratet war und einen Sohn hatte, eh er im Alter von 29 Jahren seine Heimat verließ und auf Wanderschaft ging (vgl. Glasenapp, 1957. 3). Sein Lehrerdasein begann angeblich sechs

Jahre später, nach der „Erleuchtung", d.h. nachdem er „die vier edlen Wahr­

heiten" des Daseins als Leiden, der Entstehung des Leidens, der Aufhebung des Leidens und des Wegs zur Aufhebung des Leidens geschaut hatte (vgl.

Sequeira,

1996. 59), und währte für ca. 45 Jahre, bis zu seinem Tod (vgl. 2003. 13). Die Unterweisungen fanden, Glasenapp (1946. 12) zufolge, in Magadi,

Gowans,

statt, der Sprache der Landschaft Magadha. Sie wurden von den Schülern zunächst mündlich überliefert und dann zu einem Kanon - vermutlich eben­

falls in Magadi, zusammengefaßt. Dieser „Urkanon", auf dem die heute vor­

liegenden Übersetzungen ins Sanskrit und Pali und andere mittelindische Dialekte beruhen, ist jedoch nicht erhalten (Glasenapp,

1946. 12). „Da die

mitgeteilten Dialoge und Predigten nicht in der Magadi-Sprache, die der Er­

habene selbst verwendet haben soll, vorliegen, nicht auf stenographischen Nachschriften beruhen und unverkennbar das Gepräge literarischer Überar­ beitung tragen, bleibt es in jedem einzelnen Fall unsicher, wie weit die über­

lieferten Worte und Gedanken auf den Buddha selbst zurückgeführt werden

können oder erst der Arbeit seiner Schüler und Anhänger zu danken sind" (Glasenapp,

chung

1946. 13). Der Pali-Kanon, auf dessen Auszügen diese Untersu­

basiert,

Vibhajyavadins

ist

die

Übersetzung

ins

Pali

durch

die

„Sekte

der

(Analytikef) der Schule der Theravadins (Anhänger der Lehre der alten Mönche)". Sie gilt als die „am besten überlieferte und wissen­ schaftlich am eingehendsten erforschte" (Glasenapp, 1946. 12) Zusammen­

stellung. Dennoch bleiben viele Unsicherheiten, und Gowans' Hinweis: „the

story is intended to speak to us in universal terms that do not depend on the specifics of particular personal relationships" (Gowans, angebracht und klug zu sein.

20

2003. 24), scheint

1.2.2

Die Sprachbarriere: Quellen und Übersetzungen

Die Reden stammen zwar aus dem 6. Jahrhundert vor Christus: aber sie machen zu­ weilen den Eindruck als gehörten sie ins 6. Jahrhundert nach Schopenhauer.

(Neumann (I), 1895. 33) Diese Untersuchung hat es mit Texten zu tun, die in den folgenden alten in­ dischen Sprachen verfaßt sind: Die Sprache der Upani$aden, so wie sie uns heute vorliegen, ist Sanskrit. Von der sprachlichen Entwicklung her setzt et­ wa mit der Zeit der Upani$aden das klassische Sanskrit ein und löst das ve­ dische Sanskrit ab. Das vedische Sanskrit geht auf das Altindische zurück, das möglicherweise bis ins 2. Jahrtausend v. Chr. zurückgeht (vgl. Schmidt, 1996. 33). Bechert bezeichnet das Sanskrit und das Vedische zusammenge­ nommen als das Altindoraische, das dem Altiranischen, der Sprache Zara­ thustras also, eng verwandt ist: „Beide haben sich aus dem Indoiranischen oder Arischen, einem Zweig des indogermanischen Sprachstamms, entwik­ kelt"6 (Bechert, 1979. S. 16). Die Sprache des Pali-Kanons ist das Pali, ebenfalls der indoeuropäischen Sprachfamilie, und zwar den mittelindoarischen Sprachen (Bechert, 1979. 27), zugehörig. Über die geographische Lokalisierung des Pali gibt es laut Bechert Uneinigkeiten, und zwar zum einen in Form eines Disputs über die Frage, ob das Pali die Sprache Buddhas war und zum anderen über die Fra­ ge, wo sich das Pali entwickelt hat. Bechert führt aus: „ Als bisheriges Er­ gebnis der langen Kontroverse über den sprachlichen Charakter des Pali darf man festhalten, daß Pali ein Dialekt des westlichen Zentralindien, und zwar wohl der Dialekt von Vidisa im heutige Madhya Pradesh, der Heimat des Ceylon-Missionars Mahinda gewesen ist" (Bechert, 1979, S. 26). Jener Ma­ hinda, ein Sohn des großen indischen Herrschers ASoka (Regierungszeit: ca. 268-233 v. Chr.), hat die Sprache Zentralindiens zusammen mit dem Budd­ ha-Dharma, so wie er es in Zentralindien vorfand, im 3. Jahrhundert v. Chr. nach Sri Lanka gebracht (Bechert, 1979. 120). Dort sind denn auch die er­ sten Niederschriften buddhistischer Lehren verfaßt worden, und zwar in der neu importierten und nun dem Buddha-Dharma zugeordneten Sprache Pali, verfaßt worden (Holenstein, 2004. 75) gesprochen. Diese kurze Analyse der sprachlichen Situation führt zu dem Fazit, daß den deutschen Leser des 21. Jahrhunderts gleich mehrere Sprachbarrieren von den ursprünglichen upani$adischen und buddhistischen Texten trennen: zum ersten die oben schon genannte Hürde der Autorschaft und Nieder­ schrift, die eine Lücke von in einigen Fällen über hundert Jahren zwischen mündlicher Aussprache und schriftlicher Fixierung eines Gedanken klaffen läßt. Zum zweiten die Hürde der altindischen Übersetzungen: so hat sich das Sanskrit im laufe der Niederschrift der Upani$aden gewandelt, und die

6

Für vertiefende Informationen zu den altindischen Sprachen siehe Bechert (1979) und

Thumb/ Hauschild (1958).

21

buddhistischen Lehren mußten vom Mägadi ins Päli und andere indische Dia­ lekte übertragen werden. Schließlich muß der deutsche Muttersprachler sich die Texte durch

Ü bersetzungen

ins Deutsch oder Englisch zugänglich ma­

chen, was selten reibungslos möglich ist, wie der Vergleich unterschiedlicher

Ü bersetzungen

zeigt. Viele der Sanskrit- oder Päli-Begriffe sind nur im Kon­

text des indischen Denkens verständlich, wie das oben beschriebene Beispiel

dharma gezeigt hat. Ü bersetzungsschwierigkeiten,

des Sanskrit-Begriffs Mit diesen

vor allen Dingen den

Ü berset­

zungsschwierigkeiten, die die zeitliche und kulturelle Distanz des „westli­ chen" Lesers des 21. Jahrhunderts zum indischen Autor des 5. bis 8. Jahr­ hunderts v. Chr. ausmachen, steht das Problem der Interpretation der Texte ebenfalls schon im Raum, da die Kontexte von Leser und Autor so weit aus­ einander liegen, daß

j ede Ü bersetzung

schon eine massive Interpretation

beinhaltet. Die Interpretation wird zusätzlich dadurch erschwert, daß die Texte teilweise nur formelhaft sind: verfaßt eher als Merksätze denn als philoso­ phische Abhandlungen, setzen sie ein breites Kontextwissen des Schülers voraus, das auf die zeitliche und kulturelle Distanz hin verloren geht. Selbst der berühmteste Kommentator der Upani$aden,

Samkara,

ist über tausend

Jahre von der Autorschaft der Texte entfernt. Inhaltlich gesehen besteht die Schwierigkeit schließlich darin, daß es in den Texten nicht so sehr um die Vermittlung kognitiven und erlernbaren Wissens geht, sondern eher um mit der Lehre einhergehende Evidenzerleb­ nisse, über die man im Wittgensteinschen Sinne gar nicht sprechen kann, was sich daran zeigt, daß auch die indischen Texte auf die Unzulänglichkeit der Sprache bei der Beschreibung etwa der Identität des dem

brahman (Al�,

ätman (Selbst)

mit

hinweisen. Für den Leser und Forscher stellt sich da­

durch oft lediglich eine Art „Meta-nicht-sprechen-Können" ein, also die Unfä­ higkeit, den Gegenstand, der nicht beschrieben werden kann als Nicht­ Versprachlichtes in Worte zu fassen. Da diese Untersuchung aber durch das Medium der Sprache funktionieren muß, sind mitunter komplexe grammati­ sche und semantische Konstruktionen sowie Neologismen nicht zu vermei­ den. Manchmal mag die Wortwahl unpassend erscheinen; die Herausforde­ rung besteht aber zuweilen darin, überhaupt Worte zu finden, und insofern sind Kooperationsbereitschaft und Zuversicht des Lesers dieser Untersu­ chung gefordert, damit der große Bogen, der gespannt werden soll, am En­ de klar und deutlich dargestellt ist. Schließlich ist auch die Länge dieser Ein­ leitung den kulturellen, historischen und sprachlichen Differenzen geschuldet und als Versuch der Vermittlung anzusehen.

22

1.2.3

Philosophie oder Weltanschauung? Oder beides? Oder „.?

The results of intellect will

be du// and empty, unfinished and fragmentary, without

the help of intuition, while intuitional insights will be blind and dumb, dark and strange, without inte//ectual confirmation.

(Radhakrishnan, 1999. 179) Nowadays, philosophy is primarily thought of as an academic discipline that involves university departments, professional societies, Journals, conferences, and the like. Philosophy so understood looks rather remote from the Buddha's concerns: he did not intend to inaugurate a field of academic study, and contemporary philosophers typica//y do not regard their primary aim as anything so practical as overcoming suf­ fering. But this is only one form philosophy can take, and there are other forms in the traditions of the West far more congenial to the Buddha's concerns.

(Gowans, 2003.42)

Ein Hauptvorwurf, der gegen das Thema dieser Untersuchung vorgebracht werden kann, ist der Vorwurf, daß der Gegenstand des Themas unphiloso­ phisch sei. Und die Diskussion, ob der

dharma (Lehre, GesetZ), den die Leh­

ren der Upani$aden und des Buddhas zu vermitteln versuchen, philosophi­ schen oder religiösen Inhalts ist, findet sich auch in der Forschungsliteratur wieder. Diese Diskussion soll hier kurz mit den wesentlichen Argumenten skizziert werden. Darüber, daß die Upani$aden im weitesten Sinne als philosophische Texte zu bezeichnen sind, herrscht relative Einigkeit. Nakamura

(1973. 77)

zufolge wird von mehreren Forschern die Meinung vertreten, daß die indi­

(1998. 376) sieht vidyä (Wissen) über „man's potential for selftransformation and truth". Auch Monier Williams (1889. 10 5) bezeichnet sche Philosophie mit den Upani$aden beginnt. Grinshpon

in den Upani$aden ein verborgenes

die Upani$aden als Philosophie, wenngleich er einräumt, daß es zur Zeit der Upani$aden noch keine klar formulierten philosophischen Systeme gibt, die scharf von einander getrennt werden könnten. Die Upani$aden sind für ihn aber unmittelbare Vorgänger dieser Systeme. Dasgupta (I,

1922. 36) ist der

Meinung, daß die logische Präzision noch nicht ausgebildet ist. Radhakrish­ nans

(1999. 179) Position ist dagegen, daß Intuition und Kognition kein Wi­

derspruch in der Philosophie sein müssen, da Intuition Einsicht in Bereiche gewähren kann, in die die logische Analyse nicht vordringt. Gowans

(2003. 5f) widmet sich einer eingehenden Erörterung der Fra­

ge, ob die Lehre Buddhas Philosophie ist oder nicht und kommt zu dem Schluß, daß sie auf jeden Fall a u c h Philosophie ist, vor allen Dingen, was Reflexionen über die Unbeständigkeit des Selbst und der pratltya samutpäda (Bedingtes Entstehen) betrifft, die ihrerseits wiederum explizite

die

philosophische Reflexionen in den asiatischen Kulturen hervorgerufen haben. Es gibt in der Lehre Buddhas, so wie sie im Päli-Kanon überliefert ist, viele Hinweise darauf, daß Buddha der verstandesmäßige Zugriff wichtig war: so gibt es Gowans

(2003. 57) zufolge Dialoge, in denen Buddha die Ar-

23

gumentation eines Gesprächspartners zurückweist, weil sie inkonsistent ist, und an anderen Stellen verteidigt er sich selbst argumentativ gegen diesen Vorwurf. Laut Gowans (2003. 57) sind sogar auf dem Wege zur „Erleuch­ tung" vernünftige Reflexionen notwendig. Radhakrishnan (1999. 372) ist der Meinung, daß es Buddha weniger um philosophische Erklärung als um wis­ senschaftliche Beschreibung geht: „So Buddha answers the question of the cause of any given state of a thing by describing to us the conditions of its coming about, even in the spirit of modern science". Aber auch die gegenteilige Position, die Upani�aden und die Lehren Buddhas seien keine Philosophie, sondern Religion oder Weltanschauung, wird vertre­ ten. So sind Radhakrishnan (1953. 23) zufolge die Texte der Upani�aden von „Sehern" im Zustand der Inspiration geschrieben worden; Inspiration wird dabei als „joined activity of which man's contemplation and God's revelation are two sides" verstanden, d.h. die Vision an sich ist eine Art Evidenzerlebnis im Sinne der in Kap. 2.2.3 zu behandelnden Einheit von atman und brah­ man, und damit nicht der ratio zugänglich. Radhakrishnan (1953. 24) betont weiterhin, daß die Texte einen praktischen Zweck verfolgen und weniger spekulativ sind, und daß daher der „westliche" Terminus Philosophie nicht wirklich paßt. Eine ähnliche Position vertritt Gelder (1957. 2). In bezug auf die Lehre Buddhas sind die Stimmen noch deutlicher: Gla­ senapp (1946. 35) bezeichnet sie als „praktische Heilslehre" und führt aus: „eine theoretische Weltdeutung gibt sie nur so weit, als diese ihrem eigentli­ chen Ziele, der Erlangung des Nirvär:ia als des summum bonum dient". Go­ wans (2003. 6) führt aus, daß Buddha vor allen Dingen eine Praxis vermit­ teln wollte, und daß es eine Mißinterpretation seiner Lehre wäre, sie als blo­ ße Theorie zu verstehen. Buddha habe den Nutzen der ausschließlich ratio­ nalen Reflexion für sehr gering gehalten. Die Lehrreden, die auf Konsistenz der Argumentation insistieren, seien eher die Ausnahme als die Regel und haben nur dazu gedient, möglichen Gegnern zu zeigen, daß Buddha auch zu einer rationalen Argumentation in der Lage sei (Gowans, 2003. 57). Es zeigt sich also bereits hier, daß die Erörterung, ob es sich bei den Texten um Philosophie oder Religion handelt, ins Spekulative läuft. Doch es sind auch noch andere Positionen als die Extreme möglich. So hält Beckh (1958. 195) die Lehre Buddhas weder unter dem Begriff Philoso­ phie noch unter dem Begriff Religion für gut eingeordnet, weil die Erkennt­ nis, die Buddha lehre, vor allen Dingen durch Meditation zu erreichen sei, die Beckh keiner der beiden Klassen zuordnen möchte. Gowans (2003. 7) zufolge lehrt Buddha zwei Arten von Meditation, um die Konzentrations- und Beobachtungsfähigkeit der Schüler zu steigern: sa­ matha-bhavanä, „serenity meditation", und vipassana-bhavanä, „insight me­ ditation". Erstere soll dazu dienen, den Geist von Hindernissen der Erkennt­ nis zu reinigen, so daß der Schüler die größtmögliche Konzentration errei­ chen kann. Die darauf aufbauende vipassana-bhavanä, „insight meditation",

24

soll helfen, satyam, die Wirklichkeit/ Wahrheit, direkt zu erkennen, und ist daher eher eine Erfahrung hoher Aufmerksamkeit als intellektuelles Denken (Gowans, 2003. 58). Gowans betont jedoch, daß Meditation nicht mit sub­ jektiven Gefühlen, Wünschen oder traumähnlichen nicht-kognitiven Zustän­ den zu verwechseln ist, sondern im Gegenteil die durch Meditation gewon­ nene Erkenntnis als eine Form des objektiven Wissens über die Realität gilt (Gowans, 2003. 58). Die Meditationstechniken waren Gowans zufolge dazu gedacht, die Schüler über die normalen kognitiven Arten des Verstehens hinaus, jedoch keinesfalls vollständig jenseits des Verstehens zu bringen. Dieses Argument, daß die Lehre Buddhas Meditation und damit ein Drittes neben Philosophie und Religion oder Weltanschauung ist, läßt sich insofern stark machen, als es Gowans (2003. 57-58) zufolge im „westlichen" episte­ mologischen Diskurs kein Korrelat zur Meditation gibt. Schließlich gibt es noch die Position, die Texte Buddhas seien alles - Philo­ sophie, Religion und Meditation, weil alle drei Zugänge in unterschiedlichen Textpassagen zum Tragen kommen. Die Argumente dafür wurden im Einzel­ nen in der Besprechung der vorhergenannten drei Positionen bereits ge­ sammelt, so daß sie hier nicht wiederholt zu werden brauchen. Was diese Position von den anderen genannten Positionen unterscheidet, ist die Fähig­ keit, Widersprüche auszuhalten und von präzisen Einordnungen abzusehen. Diese Position erfordert Vertrauen, weil sie nicht auf das methodische Re­ gelwerk einer bestimmten Fachdisziplin als Ordnungs- und damit Bewer­ tungskriterium zurückgreifen kann, sondern ein Stück weit Glauben oder Hoffnung (am besten trifft es wohl das nicht ins Deutsche übersetzbare eng­ lische Wort faith) investieren muß, daß die altindischen Lehren, welcher Dis­ ziplin sie auch immer zuzuschreiben sein mögen, aus sich heraus lehren. Mit diesem Ansatz kommt man möglicherweise der buddhistischen Methodik so­ gar am nächsten, da Buddha die Position vertreten haben soll, daß ohne saddhä, „confidence, trust, conviction" (Warder, 1974. 411), ein Studium nutzlos sei, da ein Lehrer, dem man nicht mit saddhä begegnet, einem nichts vermitteln könne (Gowans, 2003. 55-56). Diese Untersuchung will versuchen, sich dieser Haltung anzuschließen in dem Sinne, daß sie versucht, die in den Schriften zweifellos vorhandenen Widersprüche ebenso wie die unterschiedlichen Positionen der Forschungsli­ teratur und ihrer Disziplinen auszuhalten, um sie für das Erkenntnisinteresse fruchtbar zu machen. Dies ist - einem liberalen Verständnis der Disziplin fol­ gend - ein philosophisches Anliegen. 1.2.4

Das Orientalismusproblem: methodologische Vorüberlegungen

Eine wissenschaftliche Untersuchung ist nur auf den ersten Blick ein „stilles", monologisches Werk. Eigentlich ist sie viel eher ein Dialog, ein Dialog mit den Quellen, mit der Forschungsliteratur, aber auch mit den potentiellen und

25

aktuellen Lesern. Innerhalb dieser Dialoge gibt es notwendigerweise nicht nur Konsens, sondern auch heftige Dissonanzen, Kritik, Angriffe und Ausein­ andersetzungen, die manchmal vorhersehbar und manchmal überraschend sind. Die hier zur Diskussion gestellte Untersuchung bietet - wie jede wissen­ schaftliche Arbeit - Angriffspunkte und Reibungsflächen. Dies kann und soll nicht verhindert werden. Eine komplette argumentative Absicherung gegen mögliche Einwände vorab würde den Rahmen dieser Einleitung nicht nur sprengen, sondern würde Gefahr laufen, die gesamte Untersuchung unmög­ lich zu machen. Dennoch gibt es einen Vorwurf, dem sich Arbeiten wie die hier inten­ dierte, die sich mit dem Gedankengut „fremder", „östlicher" Kulturen ausein­ andersetzen, regelmäßig zu stellen haben: dem „Orientalismusvorwurf', den Edward Said

1978 mit folgenden Worten formuliert hat: „Anyone who tea­

ches, writes about, or researches the Orient - and this applies whether the person is an anthropologist, sociologist, historian, or philologist - either in its specific or its general aspects, is an Orientalist, and what he or she does is Orientalism. [„.] Orientalism as a Western style for dominating, restructur­ ing, and having authority over the Orient" (Said,

1995. 2-3).

Wissenschaftler, die sich mit Gegenständen asiatischer oder nordafrika­ nischer Kultur, oder sogar mit deren Komparation mit der europäischen Kul­ tur auseinandersetzen, neigen laut Said dazu, vom „Orient" in Abgrenzung zum „Okzident", vom „Morgenland" im Vergleich zum „Abendland" oder vom „Osten" im Vergleich zum „Westen" zu sprechen. Tatsächlich scheint es et­ was zu geben, wonach man die beiden unterscheiden kann. Said hält diese Unterscheidung aber für eine „westliche" Konstruktion: „such locales, regi­ ons, geographical sectors as 'Orient' and ,Occident' are man-made. There­ fore as much as the West itself, the Orient is an idea that has a history and a tradition of thought, imagery, and vocabulary that have given it reality and presence in and for the West" (Said,

1995. 5). Daraus ergibt sich das Pro­

blem der Zirkularität der Forschung: der Orientalist folgt in seinem For­ schungsinteresse einem Bild vom „Orient" (den es eigentlich - laut Said nicht gibt), das er (oder seinesgleichen) aber selbst konstruiert haben. Er findet also immer wieder die über d e n „Orient" herrschenden Klischees be­ stätigt, weil der Orient außerhalb dieser Klischees gar nicht existiert. Für Said sagt das Ergebnis, zu dem ein Orientalist kommt, daher mehr über den Orientalisten als über seinen Forschungsgegenstand, den Orient (dessen Existenz Said abstreitet) aus: „Psychologically, Orientalism is a form of para­ noia" (Said,

1995. 72).

Neben der Entlarvung des orientalistischen Forschers als „paranoid'' hat Saids Kritik aber auch noch eine politische Dimension: seiner Meinung nach ist Orientalismus eine Form der Machtausübung im sogenannten Orient: „1 myself believe that Orientalism is more particularly valuable as a sign of the European Atlantic power over the Orient than it is a veridic discourse about

26

the Orient (which is what, in its academic or scholarly form, it claims to be)" (Said,

1995. 6). Dieser Vorwurf scheint unbegründet und unangemessen

schwerwiegend, erschließt sich jedoch laut Said bei historischer Betrachtung des Umgangs des „Okzidents" mit dem „Orient": Jedem „westlichen" For­ scher heftet laut Said seine nationale Herkunft an und bestimmt sein Vorge­ hen: „he comes up against the Orient as a European or American first, as an individual second", und als Europäer oder Amerikaner ist er Teil einer kom­ plexen Geschichte der Auseinandersetzung seiner Heimat mit dem „Orient", die seit Homer andauert (Said,

1995. 11).

Said zufolge sind die Interessen des „Okzidents" am "Orient" - auch bei rein wissenschaftlicher Beschäftigung - vielfältig: „scholarly discovery, phi­ lological reconstruction, psychological analysis, landscape and sociological description

[„.]; it is, rather than expresses, a certain will or intention to un­

derstand, in some cases to control, manipulate, even to incorporate, what is a manifestly different (or alternative and novel) world" (Said,

1995. 12). Die­

se Interessen führen (bzw. haben (Said zufolge) geführt) in ihrer Umsetzung zu einer Machtausübung des „Okzidents" gegenüber dem „Orient": auf poli­ tischer Ebene (durch Kolonialisierung), auf intellektueller Ebene (durch die Vorgabe der herrschenden Paradigmen in Wissenschaft und Forschung), auf kultureller Ebene (durch die Vorgabe des Werke- und Geschmackskanons) und schließlich auf moralischer Ebene (durch die Vorgabe des Wertekanons) (Said,

1995. 12). Auf diesen Erwägungen basiert Saids Hauptargument „that

Orientalism is - and does not simply represent - a considerable dimension of modern political-intellectual culture, and as such has less to do with the Ori­ ent than it does with 'our' world" (Said,

1995. 12).

Aus Saids Vorwürfen müßte sich notwendigerweise ergeben, daß Betrach­ tungen zur Philosophie und Kultur einer Gesellschaft, die dem „Orient" an­ gehört, nur noch von Mitgliedern dieser Gesellschaft selbst durchgeführt werden könnten, und zwar nach eigenen intellektuellen Paradigmen und Präferenzen. Da auch wissenschaftliche Studien wie die hier zu schreibende eine Ausdrucksform des „Okzidents" sind, dürfte es konsequenterweise keine Forschungsarbeiten des „Okzidents" über den „Orient" geben. Doch dies war vermutlich nicht einmal Saids Intention. Es geht vielmehr um eine Sensibili­ sierung dem „Orientalismusproblem" gegenüber, und im Rahmen der Einlei­ tung in diese Untersuchung um einige methodische Überlegungen, wie die Studie zum einen gerechtfertigt und zum anderen bestmöglich durchgeführt werden kann. Die Rechtfertigung ergibt sich meiner Meinung nach schon daraus, daß es aus Sicht der „okzidentalen" und nach „okzidentalen" Paradigmen for­ schenden „orientalen" Wissenschaft ein Forschungsinteresse gibt (vgl. Kap.

1.1). Insofern ist diese Untersuchung kein geistig-imperialistischen Akt, son­ dern eine Art Übersetzungsleistung: nimmt man einmal an, daß es gewisse philosophische Fragen gibt, die Menschen ungeachtet ihrer ethnischen und

27

geographischen Herkunft interessieren - beispielsweise die Frage, ob es ein Leben nach dem Tod gibt oder ob es eine nicht-materielle Substanz im Men­ schen gibt, die den physischen Tod überdauert - so ist es fruchtbar, sich über die verschiedenen Ansichten auszutauschen und zu informieren, zum einen, um Anregungen für die eigene Problemlösung zu erhalten, zum ande­ ren, um das friedliche Zusammenleben auf diesem Planeten zu sichern oder zu verbessern. Die hier dargebrachte Forschungsarbeit versucht den Einwänden Saids aber dennoch methodisch auf verschiedenen Ebenen Rechnung zu tragen: Zum einen werden philosophische Texte der indischen Tradition -die Upani!?aden sowie die Lehrreden Buddhas - nicht nur in der Übersetzung, sondern auch im Original gelesen und zitiert. Dies mag für den Leser, der kein Sanskrit oder Päli beherrscht, irritierend und müßig wirken, ist aber die einzige Möglichkeit, die Texte uninterpretiert darzustellen, da jede Überset­ zung sich bereits in Interpretationen verwickelt. Darüber hinaus bemühe ich mich um eine nachvollziehbare und kritische Lektüre der Texte: teilweise wird angemerkt, wenn sich die zitierten Übersetzungen weit vom Original entfernen, wobei ich im Fall der Upani!?aden mit der Übersetzung Paul Deussens eine relativ eng am Originaltext bleibende Übersetzung ausge­ wählt habe und im Fall des Majjhima Nikäya die etwas stärker interpretative Übersetzung Neumanns durch die sich sehr eng an die Vorlage haltende englische Übersetzung von Chalmers und Trenckner überprüfe (aus Gründen der Lesbarkeit wird jedoch meist Neumann zitiert, um die Sprachverwirrung nicht noch durch zusätzliche englische Zitate zu steigern). Dem Vorwurf der Zirkularität der Forschung (indem sie sich ein Bild vom Forschungsgegenstand selbst konstruiert und dann erforscht) begegne ich, indem ich sowohl europäische/ nordamerikanische als auch indische For­ schungsliteratur einbeziehe. Besonders wertvoll sind in dieser Hinsicht die Arbeiten von Radhakrishnan, der bewußt eine Vermittlung zwischen indi­ schem

und

„westlichem"

Ideengut

anstreben,

auch

wenn

seine

brähmar:iische Herkunft immer kritisch zu berücksichtigen ist. Eine Homogenisierung der Begriffe und Ideen wird an keiner Stelle an­ gestrebt; endgültige Definitionen werden vermieden zugunsten von Be­ schreibungen und hermeneutischen Auslegungen. Schließlich sei auf einen rein äußerlichen Aspekt hingewiesen: Begriffe wie „westlich" oder „abendländisch" werden hier nicht prinzipiell zu vermei­ den versucht, da sie praktische Sammelbegriffe für „europäisch", „nordame­ rikanisch", „australisch" etc. sind, die eigentlich sogar treffender sind als die geographischen Bezeichnungen. Diese Begriffe werden jedoch, sofern sie nicht geographisch gemeint sind, in Anführungszeichen verwendet um zum Ausdruck zu bringen, daß sie zur Bezeichnung kultureller und philosophi­ scher Phänomene willkürliche Konstruktionen sind.

28

Im Fall der Philosophie der Upani�aden wurde die Quellenmenge begrenzt, indem zwei Upani�aden, die Brhad-Ära(1yaka-Upan(sad und die Chändogya­ Upani.?ad stellvertretend ausgewählt wurden. Diese Auswahl kann damit ge­ rechtfertigt werden, daß diese beiden Texte als die ältesten, umfangreich­ sten und zum Thema der Philosophie der Person relevantesten gelten. So konstatiert Sequeira:

„Zusammen

mit

der

Brihadäranyaka-

gehört

die

Chändogya-Upanishad zu den wichtigsten und bekanntesten Upanishaden und enthält viele der Hauptlehren" (Sequeira,

1996. 36). Auch Dasgupta be­

zeichnet die Brhad-Ära(1yaka-Upan(sad und die „earliest and most important" (Dasgupta, I,

Chändogya-Upan(sad als

1922. 39). Dem entspricht die

Bewertung Deussens: „Brihadära(1yaka und Chändogya sind, wie die um­ fangreichsten, so auch im allgemeinen die ältesten der uns erhaltenen Upa­ nishad's; unter ihnen wiederum zeigt [...] Brihadäranyaka fast überall in der Haltung der Texte die größere Ursprünglichkeit [„.]" (Deussen, Auch Nakamura

1920. 23). (1973. 77) und Gelder (1957. lf) bestimmen die Brhad­

Ära(1yaka-Upani.?ad und die Chändogya-Upan(sad als zur frühesten Periode der Philosophie der Upani�aden gehörig und damit repräsentativ für diese Zeit. Gelder baut eine komplette Untersuchung über den ätman auf dem Text der Brhad-Ära(1yaka-Upani.?ad auf. Aus diesem Grund scheint es mir hinreichend gerechtfertigt zu sein, sich auf gerade diese beiden Texte zu be­ ziehen. Auch was die buddhistischen Texte anbelangt, scheint eine Eingrenzung notwendig. Hier tritt bei der Textauswahl zusätzlich das bereits in Kap. besprochene

Problem

der

Urheberschaft

der

Texte

bzw.

der

1.2.1 Nicht­

Urheberschaft Buddhas (der keine Schriften hinterlassen hat) auf. Ich habe mich daher entschlossen, mich in den Textanalysen nach dem Päli-Kanon zu richten, der als die Autorität der buddhistischen Lehren verstanden wird. Ei­ ne Eingrenzung erfolgt auf die Texte, die sich schwerpunktmäßig mit den philosophischen Lehren befassen. Diese Funktion kommt innerhalb des Päli­ Kanons ( Tipitaka, drei Körbe) vor allen Dingen dem Sutta Pitaka, dem Korb

der Lehren, zu. Doch auch der Sutta Pitaka wäre ist ein sehr umfangreiches Textcorpus. Gowans bezeichnet den Text als „incredibly long", „repetitious" und „not user-friendly", da er in weiten Teilen nicht systematisch aufgebaut oder thematisch gegliedert ist (Gowans,

2003. 15). Gowans gibt daher eine Emp­

fehlung, der in dieser Untersuchung, die sich eher als einen ersten Einstieg in die Fragestellung nach der Entwicklung des ätman-Konzepts in der indi­ schen Philosophie versteht, gefolgt wird: die Empfehlung der Eingrenzung auf den Majjhima Nikäya, einem Teil des Sutta Pitaka, der von Gowans als d e r substanzielle Text bezeichnet wird, sofern es denn überhaupt einen ein­ zelnen Text gibt, dem diese Rolle zukommt (Gowans, 2003. 15).

29

2.

Der Atman in der Philosophie der frühen Upani,aden

2.1

Terminologisches: Was ist "ich"?

The struggles, the contradictions and the paradoxes of life are the signs of imperfect evolution, whi/e the harmony, the delight and the peace, mark the perfection of the process of evolution. The individual is the battlefield in which the fight occurs.

(Radhakrishnan, 1999. 204) Bereits die Kombination der Überschrift des

2. Kapitels mit dem vorangestell­

ten Zitat Radhakrishnans zeigt die Problematik der in dieser Untersuchung zu verwendenden Terminologie: Der Begriff

ätman in der Überschrift stammt

aus der indischen philosophischen Tradition, deren Terminologie sich vor al­

individual dagegen gehört in (individuum) bzw. griechischen (atomos) Ter­

len Dingen aus dem Sanskrit speist. Der Begriff den Bereich der lateinischen

minologie und damit der „westlichen", europäischen Philosophie an. Das heutige psychologische Verständnis des Individuums als „Subjekt, das in seinen

idiosynkratischen

Eigentümlichkeiten

bzw.

in

seiner

historisch­

sozialen Vereinzelung betrachtet wird", geht auf Aristoteles zurück, der „in

625). Doch Individuum in seiner philosophischen, psycholo­

den individuellen Wesen die erste Substanz" sieht (Seve, 1999. eine Diskussion des Begriffs

gischen, soziologischen und biologischen Verwendung wäre ein eigenes um­ fangreiches Forschungsprojekt und kann nicht Ziel und damit nicht Gegen­ stand dieser Untersuchung sein. Insofern muß als Faktum hingenommen werden, daß nicht nur das indische und das europäische philosophische Be­ griffsinventar teilweise nicht zur Deckung zu bringen sind, sondern auch, daß weder die indischen Primärtexte noch die heterogene Forschungslitera­ tur, die unterschiedliche Erkenntnisinteressen verfolgt, eindeutige Begriffe verwendet. So gilt Radhakrishnan als ein idealistischer Denker, der sich mit der Frage nach der „Einheit des Geistes und der Vielheit der Religionen" vor allen Dingen der Verbreitung und Protegierung der indischen Philosophie in den „Westen" gewidmet hat (vgl. Sequeira,

1996. 203), und somit wird ein­ individu­

sichtig, warum er auch „westliches" Vokabular (eben den Terminus

a� in seinen Untersuchungen über die Upani$aden verwendet. Um trotz dieser terminologischen Unklarheiten das Thema dieser Unter­ suchung - den

ätman und seine Bedingtheit - sinnvoll bearbeiten zu können

ist es meiner Meinung nach notwendig, die terminologischen Inkongruenzen zu einem gewissen Grad auszuhalten, zu tolerieren, daß es keine abschlie­ ßenden Definitionen geben kann und wird, aber daß eine Verständigung und ein in-Beziehung-Setzen der konkurrierenden Begriffe und Denkmodelle dennoch fruchtbar ist. Um den Begriffsinhalt von

ätman, Selbst oder Individuum und die damit

verbundenen Konzepte vom Ich und der eigenen Identität zu problematisie­ ren, muß man gar nicht erst den Vergleich zur „westlichen" Philosophie zie­ hen; er ergibt sich bereits innerhalb der Philosophie der Upani$aden: so gibt es auch im Sanskrit das Personalpronomen „ich"

30

(aham), aber die alltägliche

Verwendung des Pronomens ist auch hier unproblematischer als die philoso­ phische Reflexion über dessen Inhalt: „Students do weil to take care when using the words Seif (ätman) and I (aham), because when thinking of the Seif we are philosophizing about a topic. Even if we say that the seif is be­ yond thought, because beyond all comparison in any particular with any not­ seif, it is still, so to say, a noun, the name of something" (Wood,

1964. 84).

Was bedeutet es, wenn - zur Zeit der Vedänta-Philosophie, die das Thema Woods ist - Menschen „ich" sagen? Laut Wood spielt die (philosophische) Verwendung des Pronomens „ich" auf das Bewußtsein an, dessen Inhalt un­ sere Existenz ist, „that consciousness which we are conscious that we are." Durch diese Selbstreferenzialität sei der Gedanke „ich" nicht der Gedanke an irgendeinen Gegenstand, sondern eine reine Erfahrung, ohne irgendein Ob­ jekt (Wood,

1964. 84). Dies bedeutet, Wood folgend, daß es zwar eine Auf­

fassung vom „Ich" gibt, jedoch keine Reflexivität, die die Eindrücke vom „Ich" bündeln oder endgültig definieren könnte. Radhakrishnan führt ver­ gleichbar aus: „the seif of man consists in the truly subjective, which can never become an object. lt is the person that sees, not the object seen. lt is not the bundle of qualities called the 'me,' but the I which remains beyond and behind inspecting all these qualities" (Radhakrishnan,

1999. 152).

In den Upani$aden werden dieser Vorsicht dem Begriff „Ich" und noch mehr seiner reflexiven Verwendung gegenüber entsprechend verschiedenste Begriffe verwendet, die bestimmte „Teile", „Organe" oder „Tätigkeiten" des

ätman beschreiben sollen, und auch der zentrale Begriff ätman hat mehrere Bedeutungsschichten.

2.1.1

Ätman The nature of the seif is declared to be being, consciousness and happiness. (Wood, 1964. 165)

Apte7 bestimmt ätman als

1) „soul", „individual soul", 2) „Seit'', 3) „Supreme 4) „essence", „nature", 5) „character", 6) „natural tem­ perament or disposition" 7) „whole body", 8) „mind", „intellect", 9) „under­ standing", 10) „thinking faculty", 11) „spirit", „vitality", 12) „form", „image", 13) „son", 14) „care", „efforts", 15) „sun" 16) „fire" und 17) „wind" (Apte, 2000. 78). Die Untersuchung des ätman in den Upani$aden wird zeigen, wie Soul", „Brahman",

diese sehr heterogenen Bedeutungskomponenten korrelieren und Teile eines Ganzen bilden. Dennoch ist festzuhalten, daß der Begriff ätman in der Regel als Selbst oder Seele ins Deutsche übersetzt wird (entsprechend mit Seif oder Soul ins Englische), und daß diese deutschen Begriffe seinem zentralen Begriffsinhalt vermutlich am nächsten kommen, obwohl Gelder sich gänzlich

7

Im Student's Sanskrit-Eng/ish Dictionary, einem Wörterbuch, das die Provenienz

der Termini in der Sanskritliteratur, Geographie und der indischen Frühgeschichte berück­ sichtigt.

31

gegen eine solche Übersetzung des Begriffs weigert: „Eine Übersetzung des Wortes Ätman gebe ich absichtlich nicht. Die bekannten Übersetzungen durch „Selbst" und „Seele" sind teilweise richtig, schränken den Begriff aber ein, und bringen westliche, ebenfalls sehr Vieles umfassende Vorstellungen mit hinein, die von einer prinzipiell anderen Art des Denkens ausgehen" (Gelder, 1957. 2). Dennoch soll hier umrissen werden, welche Vorstellung sich hinter dem Begriff ätman in der Philosophie der Upani$aden verbirgt. Wood übersetzt ätman allgemein mit „Seif' und führt aus, daß der ätman das höchste Prinzip im, eigentlich aber über dem oder jenseits des Menschen ist. Wood schränkt jedoch ein: „This is beyond all that could be called mind, including his will, his highest intelligence or wisdom or intuition, which includes love of the lives in the forms, and his mental operations re­ lating to all his bodily activity and environment" (Wood, 1964. 16). Damit ist - mit Radhakrishan gesprochen - das Selbst „the subject which persists throughout the changes" (Radhakrishnan, 1999. 152). Das Wort ätman leitet sich von der Wurzel an- (atmen) ab. „lt is the breath of life. Gradually its meaning is extended to cover life, soul, seif or essential being of the individ­ ual" (Radhakrishnan, 1953. 73). Von dieser Grundbedeutung des Atmens aus abgeleitet beschreibt Radhakrishnan ätman als „principle of man's life" und als solches im weiteren Sinne verstanden als „soul that pervades the being" (Radhakrishnan, 1953. 73). In seiner weitesten Ausdehnung des Begriffs entspricht ätman dem brahman, dem allumfassenden, höchsten Prinzip (vgl. Kap. 2.1.2). Diese Einheit von ätman und brahman ist eine Neuheit in der indischen Philoso­ phie, die zuerst in den Upani$aden auftaucht und diese von der vedischen Philosophie unterscheidet (vgl. Michaels, 1998. 70). Sie ist gleichzeitig das höchste Erkenntnisziel und als solches der Weg zum mok$a (Erlösung, Be­ freiung).

Die Introspektion, die Konzentration auf das Innere des Menschen, un­ terscheidet die Philosophie der Upani$aden von ihren Vorgängern, und so rückt der ätman in den Mittelpunkt der Betrachtungen: „Nachdem schon in den älteren Vedatexten spärliche aber interessante Andeutungen darüber vorkommen, ist der Begriff zum ersten Male ausführlich überdacht und phi­ losophisch dargestellt worden in der Zeit der Upani$aden, die in Texten, welche untereinander wieder sehr verschieden sind, den Begriff mehr konso­ lidierten, und eine grosse Zahl von Aussagen darüber vorbrachten" (Gelder, 1957. 1). Dasgupta führt aus, daß das Wort ätman im �g-Veda auf der ei­ nen Seite die ultimative Essenz des Universums („the ultimate essence of the universe"), auf der anderen Seite den Lebensatem des Menschen („the vital breath of man", vgl. Kap. 2.1.3) bezeichnete, dann aber - in den Upani$aden - einen Bedeutungswandel vollzog: „Later on in the Upani$ads we see that the word Ätman is reserved to denote the inmost essence in man, and the Upani$ads are emphatic in their declaration that the two are

32

one and the same" (Dasgupta, 1, 1922. 45-46). Dasgupta zufolge zeichnet sich die Philosophie der Upani$aden durch eine Suche nach einer konstan­ ten, unveränderlichen Essenz im Menschen aus, die - wie es der oben zitier­ ten Definition Radhakrishnans des ätman entspricht - im Wandel persistiert. „This inmost essence has sometimes been described as pure subject-object­ less consciousness, the reality, and the bliss. He is the seer of all seeing, the hearer of all hearing and the knower of all knowing. He sees but is not seen, hears but is not heard, knows but is not known" (Dasgupta, 1, 1922. 47). Diese Bestimmung des ätman übersteigt in der Tat bei Weitem das, was mit "Selbst" oder "Seele" übersetzt werden kann und gibt dem Gelder'schen Einwand der Nichtübersetzbarkeit recht. Auch Dasgupta bemerkt, daß eine solche Bestimmung des ätman den Begriff auflöst: "in truth this Ätman has no inner or outer" (Dasgupta, 1, 1922. 47). Bei genauer Betrachtung zeigt sich also, daß ätman eigentlich verschie­ dene, nahezu antinomische Bedeutungen hat, die in der Forschungsliteratur als „Ambiguität" (Dasgupta) des Selbst, als „individueller Ätman" und „alle­ sumfassender Ätman" (Gelder), als „individueller Ätman" und „kosmischer Ätman" (Deussen), als „false Seif' oder „not-seif' und „real Seif' (Wood), als „individual Seif' und „ultimate Reality" (Radhakrishnan) oder auch als „bodily seif', „empirical seif', „transcendental seif' und „absolute seif' (Radhakrish­ nan) beschrieben werden. Dabei unterscheidet sich der „individuelle Ätman"/ das „false Seif'/ „individual Seif' vom „kosmischen Ätman"/ „real Seif'/ der „ultimate Reality" vor allen Dingen dadurch, daß jener noch in einer Illusion über sich selbst und die Welt lebt und sein als jenseits von Täuschungen als wirklich angenommenes Wesen noch nicht erkannt hat: „The selfness of the false seif is called reflection of the pure consciousness into the unconscious not-seif, or objective world. The world is thus like a mirror, and there is no reflection in a mirror without some distortion by the mirror itself" (Wood, 1964. 166-167). „Not-seif" meint hier den zuvor von Wood als „false Seif' bezeichneten ätman, der eine falsche Wahrnehmung von sich und der Welt

hat, also einer Täuschung über sich und seine Umwelt aufsitzt, indem er beispielsweise seinen Körper oder seinen manas (Denkorgan, entspr. lat. mens) für seinen - vom Rest der Welt unterschiedenen - ätman hält. Aber

genau diese Teilaspekte (wie z.B. der manas) des ätman können - so die in den Upani$aden vertretene Auffassung - als „Nicht-Selbst" beschrieben wer­ den. Laut Radhakrishnan gehört alles, was dem Menschen ein Objekt wer­ den kann, nicht zum „wahren" Selbst: „Much of the content of the seif as ordinarily used can become an object. The argument assumes that whatever becomes an object belongs to the not-seif" (Radhakrishnan, 1999. 152). Die Illusion, von der Wood spricht, ist jedoch kein kompletter Falschein­ druck eines Menschen über seine Existenz (weswegen der Begriff „false Seif' als irreführend zu verwerfen ist), sondern eben eine Spiegelung der „wah­ ren" (also illusionslos betrachteten) Realität in den begrenzten (weil Illusio­ nen habenden) ätman hinein. „So, for a reflection there has to be a world.

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But as there is a false world face to face with a false seif - neither is what it seems. lt is these two falses that are called subject (false seif) and object (false world), while the real seif, the pure consciousness remains undimin­ ished in a 'state' beyond or other than either subject or object" (Wood,

1964. 166-167). Eine Diskussion, ob die in den Upani$aden vertretene Beur­ mäya, Illusion, schlüssig ist oder nicht,

teilung des Selbst und der Welt als

würde den Rahmen dieser Untersuchung sprengen. Die Ambiguität innerhalb des Begriffs

ätman hat jedoch noch eine weitere

Dimension, die das Ergebnis der Illusion bzw. Desillusionierung ist: dabei hat der Begriff

ätman, je mehr ein Mensch noch Illusionen über sein Wesen auf­

sitzt, einen um so engeren Gegenstandsbereich und löst sich - wenn diese Illusionen abgebaut werden - immer weiter werdend schließlich ganz auf. Die Aspekte Körper, Lebensatem das Selbst,

(prä(la), Geist und Intellekt sind nicht ätman, sondern seine äußeren Erscheinungsformen. Ihnen

zugrunde liegt ein verbindendes Element, das als ungeboren und daher auch unsterblich bezeichnet wird: „There is an unborn and so immortal element in man, which is not to be confused with the body, life, mind and intellect. These are not the seif but its forms, its external expressions. Our true seif is a pure existence, self-aware, unconditioned by the forms of mind and intel­ lect" (Radhakrishnan,

1953. 73). In diesem Sinne ist ätman die zugrunde­

liegende Realität: „As Brahman is the eternal quiet underneath the drive and activity of the universe, so Ätman is the foundational reality underlying the conscious powers of the individual, the inward ground of the human soul. There is an ultimate depth to our life below the plane of thinking and striv­ ing. The Ätman is the super-reality of the

jiva, the individual ego" (Rad­ 1953. 73f). Dies ist gemeint, wenn von „kosmischem" oder „uni­ versalem" ätman die Rede ist. Dem steht der individuelle ätman gegenüber, der sich „speziell im Men­ schen offenbart" (Gelder, 1957. 108). Doch abschließend muß auch Gelder hakrishnan,

eingestehen, daß die starke Kontrastierung der Begriffe „individueller" und „kosmischer"

ätman nicht haltbar ist (Gelder, 1957. 108). Gerade in ihrer

konsequentesten Ausprägung nähern sich die beiden Auslegungen des

ätman mehr und mehr an und fallen schließlich wieder in eins zusammen: „The Upani$ads make out that of finite objects the individual seif has the highest reality. lt comes nearest to the nature of the absolute, though it is not the absolute itself" (Radhakrishnan, 1999. 204). 2.1.2

Brahman

Wie schon im vorangegangenen Kapitel deutlich wurde, ist griff, der nicht ohne das Gegenüber des

ätman ein Be­ brahman auskommt, teils als Ab­

grenzung, teils aber auch als Affirmation der Identität. Daher gehört in diese Untersuchung auch eine Beschreibung des brahman, der nur indirekt Ge­ genstand der Fragestellung nach dem

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ätman und seiner Bedingtheit ist. Al-

lerdings ist auch an dieser Stelle wieder an die begrenzte Zielsetzung dieser Untersuchung zu erinnern: Eine Analyse des brahman-Begriffs der Upani�aden wäre wiederum ein ganz eigenes Forschungsfeld, das den Rah­ men dieser Untersuchung bei weitem sprengen würde. Daher soll hier nur konzise und thematisch motivierte Begriffsbestimmung versucht werden. Aus dem vorhergegangenen ergibt sich bereits, daß der ätman in der weitestmöglichen Auffassung des Begriffs (die gleichzeitig in den Upani�aden als die erkenntnistheoretisch fortgeschrittenste gilt) als Einheit mit dem brahman gedacht werden kann: „The Seif (Ätman) is described as in some manner, even essentially, one with Brahman, as an unseparated part or sha­ re of Brahman, and so it has the same characteristics of self-existence, consciousness or self-cognition and innate joy and, in fact, absoluteness and non-relativeness" (Wood, 1964. 16). Der brahman ist also als Entität zu ver­ stehen, die „[i]n der ganzen Welt, in allen Dingen und in allen Wesen, auch im Menschen, [...] vorhanden" ist (Stietencron, 2001. 22). Laut Radhakrish­ nan (1953. 52) bezeichnet brahman in den Upani�aden die höchste Realität. Später verlagerte sich dann die Bedeutung des Wortes brahman auf „wis­ dom or Veda" (Radhakrishnan, 1953. 53). Laut Dasgupta bezeichnete das Wort brahman ursprünglich mantras, magische

Verse

(Dasgupta,

1, 1922. 36). Apte gibt folgende Über­ 1) „The Supreme Being", 2) „hymn of praise", 3) „sacred text", 4) „the Vedas", 5) „the sacred and the mystic syllable Om", 6) „the priestly or Brähmar:iical8 caste", 7) „the power or energy of a Brähmar:ia", 8) „religious penance or austerities, 9) „celibacy, chastity", 10) „final emancipation or beatitude", 11) „theology", 12) „Brähmar:iical portion of the Veda", 13) „Wealth" (Apte, 2000. 394). Dabei wird „Supreme Being"

setzungsmöglichkeiten an:

von ihm folgendermaßen charakterisiert: The Supreme Being is „regarded as impersonal and divested of all quality and action. [.„] according to the Ve­ däntins9 Brahman is both the efficient and the material cause of the visible universe, the all-pervading soul and spirit of the universe, the essence from which all created things are produced and into which they are absorbed" (Apte, 2000. 394). Wie schon beim Begriff ätman ist also auch beim Begriff brahman eine Bedeutungsverschiebung in der Upani�denphilosophie zu verzeichnen: „When the main interest of sacrifice was transferred from its actual perform­ ance in the external world to certain forms of meditation, we find that the understanding of particular allegories of sacrifice having a relation to par-

8

Das Wort Brähma(la bezeichnet die Zugehörigkeit zur höchsten der vier hinduisti­

schen Kasten, der Brähma(lerr (Priester-) kaste. 9

Vedäntins werden die Vertreter der

Vedänta-Philosophie genannt.

Das Wort

Vedänta ist gebildet aus veda (das Wissen; ursprünglich aus vid-, sehen) und arita (letz­ te/r/s), und bezeichnet die Philosophie, die die Veden abschließt. Zur Vedäntaphilosophie gehören auch die Upani$aden. Vgl. Kap. 1.1.

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ticular kinds of bodily functions was regarded as Brahman, without a knowl­ edge of which nothing could be obtained" (Dasgupta, 1, 1922. 37). Laut Dasgupta findet in den Upani�aden eine Abstraktion vom Ritual und den dem Opfer zugerechneten magischen Kräften statt. �ta,

10

das unveränderli­

che Gesetz, wird nun abstrakter als höchste Macht wahrgenommen, und in den Upani�aden finden sich viele Versuche, diese Macht zu erforschen oder begründen, wofür sich das brahmarrKonzept als hilfreich erwiesen hat (Das­ gupta, 1, 1922. 37). An dieser Stelle verschwimmen, wie bereits oben aus der Perspektive des ätman dargestellt, die Begriffe ätman und brahman. Diese Form, in der die beiden verschwimmen, wird von Radhakrishnan als „wahres unendliches Selbst" bezeichnet. Ohne diese ebenfalls sehr vage Beschreibung hier disku­ tieren zu wollen, sei festgehalten, daß es Radhakrishnan hier um die Erläute­ rung des „infinite" geht, das sich nicht nur durch Nicht-Begrenztheit aus­ zeichnet: „lt is none of the limited things, but yet the basis of all of them" (Radhakrishnan, 1999. 156). Als solches ist brahman allem immanent, trans­ zendiert jedoch diese allgegenwärtige Immanenz als höchstes Prinzip (Rad­ hakrishnan, 1999. 156). Aufgrund dieser Eigenschaft wird es als „nicht er­ kennbar, aber präsent" beschrieben (Stietencron, 2001. 22). Radhakrishnan begründet die Nichterkennbarkeit des brahman folgendermaßen: „The sub­ ject of all experience cannot itself be an experience. lf it is experience, the question arises, by whom is it known? Knowledge always works dually. This seif, therefore, is indefinable. Like all ultimate principles, it has only to be accepted" (Radhakrishnan, 1999. 159). Aus anthropologischer Perspektive sieht Radhakrishnan in der Konstruk­ tion des brahman in den Upani�den einen Versuch, die Frage, worin die Welt letztendlich wurzelt, zu lösen (Radhakrishnan, 1953. 52). Mit brahman wird ein universal gültiges Prinzip oder Gesetz angenommen, das allem Sei­ enden einschließlich des Menschen zugrunde liegt. Diese Annahme verbürgt, daß der Wunsch, das „Weltprinzip" zu erkennen, auch theoretisch möglich ist, da es sowohl im als auch außerhalb des Menschen existiert. „The wish to know the Real implies that we know it to some extent. [„.] If we know the Real, it is because the Real knows itself in us" (Radhakrishnan, 1953. 53). Wieso aber ist es so naheliegend, ein allem Sein zugrundeliegendes, ord­ nendes

Prinzip

anzunehen?

Laut

Radhakrishnan

wird

in

der

Vedäntaphilosophie angenommen, daß die Welt nicht aus sich selbst heraus entstanden sein kann, und daß die Welt sich auch nicht aus sich heraus er­ halten kann, da sie nicht von sich selbst abhängig ist. Unter diesen Prämis-

10

1) „fixed or settled rule, law (religious)", 2) „sacred 3) „divine law, divine truth", 4) „Water", 5) „Truth (in general)" 6) „Livelihood by picking or gleaning grains in a field (as opposed to the cultivation of ground) (Apte, 2000. 120). Ursprünglich aus r-, (gehen, senden). Bei Apte ist 8ta verzeichnet als

custom",

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sen muß ein äußeres höchstes Prinzip angenommen werden: „The theolo­ gian accepts the first principle of being as an absolute one; the philosopher comes to it by a process of meditation" (Radhakrishnan,

1953. 54). brahman in al­

Wenn - wie die Denker der Upani�aden annehmen, der

lem ohne Ausnahme präsent ist, also auch im Menschen, hat das aber auch die Konsequenz, daß er schwerlich auf rein kognitivem Weg zu erschließen ist. Denn wenn der

brahman höchstes, herrschendes Prinzip im Menschen,

dann ist es - so würden jene Denker argumentieren - gleichzeitig erkennen­ des Subjekt selbst. Und das erkennende Subjekt kann sich selbst nicht zumindest nicht mit Mitteln der Sprache und Logik - als Objekt selbst erken­ nen. Aus diesem Grund werden in der Forschungsliteratur immer wieder die Unzulänglichkeit der Sprache und der Kognition für die Erkenntnis des

brahmans/ ätmans betont (Radhakrishnan, 1953. 53). 2.1.3

Der Leib The conception of the seif as the physical body is inadequate. (Radhakrishnan, 1953. 74)

Zur Bezeichnung des Leibes kommt in den Upani�aden kein einheitlicher Be­ griff vor, manchmal wird sogar

ätman verwendet.11 Dem deutschen Wort sthüla12

„Körper" entspricht in der Philosophie des Vedänta am besten der

5arira, der zehn Organe13 beinhaltet, die in zwei Gruppen aufgeteilt werden: 5 action organs (karma­ indriyas)" (Wood, 1964. 28). Die Jfiäna-indriyas sind Ohren, Haut, Augen, Mund und Nase, die karm