Cicero 6.19 [PDF]

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Zitiervorschau

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Nº 6 JUNI 2 019 € 9.80 CHF 14.80

SC DIE H A R ROT T ME Wa rum E we d i e B re f hr n un d e so rm ich ier t ist b ar

Professorenjagd

Wie Political Correctness die Freiheit der Lehre zerstört

AT T I CU S N°- 6

RUCKZUCK PARIA

Titelbild: Le.BLUE; Illustration: Anja Stiehler/Jutta Fricke Illustrators

D

Veranstaltung als Publicity betrachten. Für Professoren an Universitäten aber kann die Jagd auf sie existenziell werden. Akut betroffen davon war die Frankfurter Islamwissenschaftlerin Susanne Schröter, vor ihr waren es Kollegen wie die beiden Humboldt-Professoren Jörg Baberowski und Herfried Münkler. Was ist da im Gange? Und was bedeutet dieser „Kampf um den Kanon“ ( Münkler ) für die Frei­­heit der Wissenschaft und eine plurale Gesell­ schaft? Ohne Wissenschaftsfreiheit auch keine Demokratie? „Wie wunderbar, wenn das richtig wäre!“, sagt der frühere Bildungsminister und SPD-Politiker Mathias Brodkorb und analysiert, wie schnell heute ein Professor zum Paria wird – und jeder, der ihn verteidigt, gleich mit.

as Phänomen ist nicht neu, aber es breitet sich zunehmend aus. Vor fünf Jahren haben wir es bei Cicero am eigenen Leib erlebt: Wir hatten für unser Foyerge­ spräch den umstrittenen Buchautor Thilo Sarrazin eingeladen, um über die Grenzen der Meinungsfreiheit zu sprechen, die er damals schon als „Tugendterror“ bezeich­ nete. Sogenannte Aktivisten hatten sich vor dem Berliner Ensemble zusammen­ gerottet, um Sarrazins Auftritt zu verhin­ dern. Im Saal selbst sorgten sie lärmend und pöbelnd dafür, dass nichts ging. Eine Abstimmung darüber, ob die Veranstal­ tung trotz ihres Protests stattfinden soll, verloren sie, ließen sich davon aber nicht beeindrucken. Das Gespräch kam nicht zustande. Mein Kollege Alexander Marguier, Zeuge des Geschehens damals, befand: „Die Demonstranten haben mit ihrem Verhalten die Tugend­terror-These von Thilo Sarrazin bestätigt.“ Auch der frühere Bundespräsident Joachim Gauck fand sich schon mal mit einem Klebeband vor dem Mund als Illustration auf einem Cicero-Cover wieder. Gauck war immer ein Mann, der sich seines eigenen Kopfes bediente, auch wenn das, was dabei herauskam, nicht allumfassend zustimmungsfähig war. Das unterschied ihn vom derzeitigen Amtsinhaber. Gauck hatte sich erlaubt, in der sogenannten Dirndl-Affäre um den FDP-Politiker Rainer Brüderle einen unguten „Tugendfuror“ ausgemacht zu haben. Und schon brach der Sturm über Schloss Bellevue herein. Ein Bundespräsident ist gewählt, und ein Bestsellerautor kann eine geplatzte

Mit besten Grüßen

C H R I S TO P H S C H W E N N I C K E Chefredakteur

D I E N ÄC H S T E C I C E RO -AU S G A B E E R S C H E I N T A M 27. J U N I

3 Cicero – 06. 2 019

INHALT

TITELTHEMA

14

DER K AMPF UM DEN K ANON

An den Universitäten werden zunehmend missliebige Meinungen unterdrückt und Professoren an den Pranger gestellt. Die Hochschulen werden so zum ideologischen Schlachtfeld, die demokratische Kultur geht verloren Vo n   A L E X A N D E R K I S S L E R , A L E X A N D E R M A R G U I E R u n d CHRISTOPH SCHWENNICKE

Woher kommt die Lust an der akademischen Selbstzerstörung? Vo n   M AT H I A S B R O D KO R B

4 Cicero – 06. 2 019

Illustration: Le.BLUE

28

WISSENSCHAFT ALS CHAR AKTERFR AGE

kfw.de

hhaltigen Mehr zum nac der KfW: Engagement es/plastik kfw.de/stori

Weiterdenker bekämpfen künstliche Feinde: Tüten, Becher, Folien. Die KfW fördert nachhaltige Projekte zur Reduzierung von Plastikmüll. Durch die Finanzierung von Meeresschutzzonen und innovativem Abfallmanagement leistet die KfW einen wichtigen Beitrag gegen die Verschmutzung der Meere. Schließlich bieten sie Nahrung für zwei Milliarden Menschen und sind von elementarer Bedeutung für unser Klima und die Artenvielfalt. Plastik gefährdet dieses sensible Ökosystem – und damit uns alle. Als nachhaltige und moderne Förderbank unterstützt die KfW Weiterdenker, die zukunˆ sweisende Lösungen zur Abfallvermeidung, -verwertung und -entsorgung in die Tat umsetzen. Weitere Informationen unter kfw.de/stories/plastik

BERLINER REPUBLIK

WELTBÜHNE

KAPITAL

30 LAND DER UNGLÜCKLICHEN

54 DER K AMPF UM AMAZONIEN

In keinem anderen Bundesland sind die Menschen unzufriedener als in Brandenburg. Was ist da los?

Mit aller Macht will die neue brasilianische Regierung die Schutzgebiete der indigenen Bevölkerung wirtschaftlich erschließen

76 ILLUSION, TÄUSCHUNG, DESINTERESSE

39 EN PASSANT

Vo n   C H R I S T I N E W O L L O W S K I

Vo n   DA N I E L S T E LT E R

To greta or not to greta Vo n   S O P H I E DA N N E N B E R G

40 SCHNELL IN DER KURVE

Schleswig-Holsteins Bildungsministerin Karin Prien verhehlt ihren politischen Ehrgeiz kaum Vo n   C H R I S T O P H S E I L S

42 SOZI OECONOMICUS

Harald Christ ist Sozialdemokrat und Millionär, seine Partei will er unternehmerfreundlicher machen Vo n   C H R I S T O P H W Ö H R L E

44 DIE SCHROTTARMEE

Nichts fliegt, nichts schwimmt und nichts läuft mehr bei der Bundeswehr Vo n   C O N S TA N T I N W I S S M A N N

64 DANZIGER SCHIMMELREITER

Bald endet Donald Tusks Zeit als EU-Ratspräsident, und viele spekulieren auf sein politisches Comeback in Polen

84 DER STA ATSWIRTSCHAFTSMINISTER

Vo n   PAU L F L Ü C K I G E R

Vo n   F I O N A W E B E R- S T E I N H AU S

Wie Peter Altmaier ins Kreuzfeuer der Kritik geriet

66 VERWANDELT AUS ERFAHRUNG

87 WOHIN MIT IHREM GELD?

Mit harter Migrationspolitik will die dänische Sozialdemokratin Mette Frederiksen Ministerpräsidentin ihres Landes werden

Der Klimawandel macht es nicht leicht, vernünftig zu investieren

Vo n   RU D O L F H E R M A N N

Wie ein altes fränkisches Traditionsunternehmen mit E-Scootern in die Zukunft fährt

70 AUTORITÄRE BEWEGUNG

Vo n   DA N I E L S T E LT E R

90 MOOVER UND SHAKER

Vor 30 Jahren wurden in Peking die Demonstrationen für Demokratie und Freiheit niedergeschlagen – die Folgen sind bis heute spürbar

Vo n   L A R S -T H O R B E N N I G G E H O F F

Vo n   K L AU S M Ü H L H A H N

Mit „New Work“ sollen die Menschen im Zeitalter der Digitalisierung endlich ihre Erfüllung finden

52 GRETAS GENOSSE

Die SPD träumt wieder vom Sozialismus

92 NEUE ARBEIT, NEUES GLÜCK?

Vo n   AYA D A L-A N I

Vo n   F R A N K A .   M E Y E R

44

76

54 6 Cicero – 06. 2 019

Illustrationen: Moritz Wienert, Sebastian König; Foto: Florian Kopp

Vo n   A N TJ E H I L D E B R A N D T

In Deutschland herrscht ein falsches Bild vom Zustand unserer Wirtschaft – weshalb jetzt wieder Phantomdebatten geführt werden

SALON 96 KÜSS DIE HAND

Weltweit boomt Oper im Kino als stiller Protest gegen das Regietheater Vo n   M I C H A E L S TA L L K N E C H T

104 UMZUG IM GALOPP

Julia Draganovic übernimmt die Leitung der Villa Massimo Vo n   R A L F H A N S E L L E

106 R ADIK ALE GESTEN

Johann König ist fast blind und wurde dennoch einer der wichtigsten Galeristen CICERO

Vo n   M A R I E W I L D E R M A N N

STANDARDS

108 LIBER AL, NICHT IDEAL

Zum Verfassungspatriotismus des Jürgen Habermas

3 ATTICUS Vo n   C H R I S T O P H S C H W E N N I C K E

Vo n   P E T E R S T R A S S E R

8 STADTGESPR ÄCH

111 DER FLANEUR

Kunst und Comics und Selbstgefallen im Museum

10 FORUM

Vo n   S T E FA N AU S D E M S I E P E N

12 IMPRESSUM

112 GESÄTZ DES GLAUBENS, GESETZ DER SCHÖNHEIT

122 POSTSCRIPTUM Vo n   A L E X A N D E R M A R G U I E R

Die „Madonna im Blumenkranz“ Vo n   B E AT W Y S S

114 LITER ATUREN

Illustrationen: Jan Rieckhoff, Le.BLUE; Foto: Florian Generotzky für Cicero

Bücher von Jan Wagner und Federico Italiano, Anne Applebaum, Olga Tokarczuk, Rainer Zitelmann 119 DAS POLITISCHE BUCH

Julian Barnes und „Der Lärm der Zeit“

Zum Titelbild

Vo n   A R N O KO M PAT S C H E R

Das hat gesessen. Der Pfeil fand ins Ziel, das Ziel ist der Professor, der Professor war markiert. Das Illustratorenduo Le.BLUE – Matt Blue und Loanne Le aus London – zeichnet vor blutroter Kulisse das Ende einer Jagd. Ins Fadenkreuz mannigfacher Korrektheiten genommen sehen sich immer mehr Frauen und Männer an Universitäten, die den Korridor des angeblich Fraglosen verlassen. Blue und Le, sonst Meister des SchwarzWeißen, griffen zur Signalfarbe. Ein Signal in vielerlei Hinsicht ist, was an Universitäten derzeit geschieht

120 DIE LETZTEN 24 STUNDEN

Erst wird noch rasch umbesetzt und dann Brendels Beethoven gehört Vo n   J O C H E N B U S S E

96

7 Cicero – 06. 2 019

C I C E RO Stadtgespräch

Der BER ist ein Fall fürs Theater, an einer Grundschule kommt ein Goldnest abhanden – und das Einheitsdenkmal könnte sich als Plagiat erweisen Goldraub an Grundschule

Theaterreife Aufführung

Denkmal zur deutschen Einheit

Teures Nest

BER längst eröffnet

Alles nur geklaut?

T

erliner Schulen machen meist von sich reden, wenn die Toiletten de­ fekt sind oder es durchs Dach in die Klassenzimmer regnet. Ein Kriminal­ fall hat jetzt aber die angebliche Un­ terfinanzierung des hauptstädtischen Schulwesens in ein güldenes Licht ge­ rückt: Ausgerechnet im nicht gerade für überbordenden Reichtum bekannten Bezirk Marzahn-Hellersdorf kam an ei­ ner Grundschule ein Objekt aus purem Gold abhanden: Das aus 814 Gramm Feingold gearbeitete „Goldnest“ im Wert von 80 000 Euro, ein Werk des Berliner Künstlers Thorsten Goldberg (sic!), befand sich seit November in ei­ nem gläsernen Wandsafe im Foyer der Fuchsberg-Grundschule – als „Kunst am Bau“. Dort wurde es jetzt trotz po­ lizeilicher Vorwarnung von Einbre­ chern gestohlen. Goldene Zeiten!   mar

8 Cicero – 06. 2 019

B

ürger in Bewegung“ lautet der Name des geplanten Denkmals zur deutschen Wiedervereinigung. Richtig erwärmen kann sich zwar kaum jemand für jene wippenförmige Konstruktion, die neben dem Berliner Stadtschloss entstehen soll – aber beschlossen ist be­ schlossen. Doch jetzt gibt es unerwar­ teten Gegenwind für die bereits 2010 von der Agentur Milla & Partner kon­ zipierte Einheitswippe: Christoph Lau­ enstein, der 1990 einen Oscar für sei­ nen Animationsfilm „Balance“ gewann, wirft Milla & Partner vor, diese hät­ ten seine Idee mehr oder weniger pla­ giiert. Das fällt dem 57 Jahre alten Fil­ memacher zwar reichlich spät ein. Aber es dürfte in Berlin nicht wenige geben, die für jeden Anlass dankbar wären, um die als peinlich empfundene Wippe doch noch zu verhindern.  mar

Illustrationen: Jan Rieckhoff

B

heater, das ist verdichtete Wirklich­ keit mit künstlerischer Überhöhung. Das zeigt sich sogar auf den Rücksei­ ten der Eintrittskarten vom Theater an der Parkaue im Berliner Bezirk Lich­ tenberg. Dort findet sich Werbung des Sponsors, der Flughafen Berlin Bran­ denburg GmbH; zu sehen ist die Zeich­ nung einer munteren Besucherschar, die neben einem Air-Berlin-Jet mit bun­ ten Luftballons die Eröffnung des neuen Hauptstadtflughafens feiert. Air Berlin ist zwar längst pleite, und die Eröffnung des BER dürfte abermals ad infinitum verschoben werden. Ihren Humor ha­ ben die Sponsoren trotzdem nicht verlo­ ren: „Großartige Aufführung: Die Zeit vergeht wie im Flug“ steht neben dem Bild zu lesen. Der ursprüngliche Eröff­ nungstermin liegt ja tatsächlich schon sieben Jahre zurück.  mar

Heinrich August Winkler

Öffentlicher Nahverkehr

Eremitage in Berlin

„003“ gegen Merkel

Kinderwagen-Odyssee

Die Russen kommen

Z

I

ntern nannten sie Heinrich August Winkler „003“, weil er nach der Wie­ dereröffnung der Humboldt-Universität in Berlin die laufende Nummer 3 be­ kam als Professor für Geschichte. Das erzählt die Dekanin der HU bei einem Festakt zu Winklers 80. Geburtstag im Senatssaal der Hochschule. Dann hat der Jubilar das Wort und spricht über den Westen und dessen Krise, beginnt bei den atlantischen Revolutionen von 1776 und 1789 und schlägt den Bogen von Thomas Jefferson bis zu Angela Merkel. Die hat in seinen Augen 2015 ein unabdingbares Demokratiegebot der amerikanischen Unabhängigkeits­ erklärung außer Acht gelassen: den „consent of the governed“, die stille Übereinkunft der Regierten mit den Regierenden. Darauf seien Gesetzgeber und Regierungen angewiesen, wenn es um die praktische Verwirklichung nor­ mativer Selbstverpflichtungen gehe, „etwa im Bereich von Asyl und Migra­ tion, und damit um die Integrationsfä­ higkeit von Gesellschaften“. Die Inte­ grationsfähigkeit und ihre Grenzen im Blick zu behalten, sei „ein demokrati­ scher Imperativ – ein Gebot, das sich aus der Notwendigkeit des ,consent of the governed‘ ergibt“, sagte Winkler und blickte dabei auf den Gast in der ersten Reihe, den früheren Bundesprä­ sidenten Joachim Gauck. Der hatte in diesem Zusammenhang einmal davon gesprochen, unsere Herzen seien groß, aber die Möglichkeiten begrenzt.  swn

u den vielen Veränderungen, die ein Kind mit sich bringt, gehört, dass Fahrten mit den öffentlichen Verkehrs­ mitteln von langer Hand geplant wer­ den müssen. Denn wer die Bahnhöfe der Berliner U- und S-Bahn geplant hat, muss ein Treppenfetischist gewe­ sen sein – unüberwindbare Hinder­ nisse auch für bescheidene Kinderwa­ gen. Zwar haben die meisten Stationen mittlerweile einen Aufzug, aber 53 noch nicht, und auf den vorhandenen ste­ hen oft zwei Worte, die einen Nachmit­ tag schnell zur U-Bahn-Odyssee machen können: „Außer Betrieb“. Laut der Web­ seite www.brokenlifts.org kommen so aktuell acht weitere Stationen dazu, die von rollenden Mitbewohnern nicht ange­ steuert werden können, darunter Kno­ tenpunkte wie Kottbusser Tor. Nun kön­ nen Kinder bald Treppen hochrennen, und für den Wagen findet sich derweil fast immer eine helfende Hand. Aber für viele Menschen, die im Rollstuhl sitzen, gilt beides nicht. Keine Frage, die Situa­ tion hat sich gebessert, und die BVG ar­ beitet angeblich mit Hochdruck daran, bis 2023 alle Bahnhöfe wirklich barrie­ refrei zu machen. Was sagt es aber über unsere Gesellschaft aus, dass immer über Inklusion gesprochen wird, die de­ mokratischsten Beförderungsmittel je­ doch noch lange nicht für alle zugäng­ lich sind? Und was über den Verfasser, dass er darüber erst jetzt nachdenkt, wo er selbst, beziehungsweise sein Nach­ wuchs, betroffen ist? cw

9 Cicero – 06. 2 019

M

ichail Borissowitsch Piotrow­ ski, der Direktor der Eremitage Sankt Petersburg und damit zugleich laut Neil MacGregor „wichtigster Mu­ seumsleiter der Welt“, hatte während eines Kurztrips nach Berlin verhei­ ßungsvolle Neuigkeiten mit im Hand­ gepäck. Bei den „Tagen der Eremitage“, bei denen er die größten Schätze des Museums an der Newa in einem Vor­ trag vorstellte, ließ der seit den Tagen Boris Jelzins amtierende Museumsvoll­ profi einen Blick in die unbestimmtere Zukunft zu: Man denke darüber nach, eine Eremitage-Dependance in Berlin zu eröffnen. Zwar gebe es schon heute einen den Namen des Museums tra­ genden „Art Space“ in Charlottenburg. Auf Dauer sei aber auch eine große Au­ ßenstelle wie in Amsterdam oder Bar­ celona vorstellbar. Nun steht das Fran­ chising großer Museen derzeit ohnehin hoch im Kurs – der Louvre Abu Dhabi hat die globalen Begehrlichkeiten noch einmal ganz neu zurechtgeruckelt. Für die nicht immer einfachen Kulturbe­ ziehungen zwischen Deutschland und Russland aber wäre eine Berlinfiliale des Winterpalais eine echte Sensation. Denn während sich Politiker wohl auch weiterhin an Eigentumsfragen festbei­ ßen werden – seit 1996 mauert Mos­ kau bei der Restitution von kriegs­ bedingt verlagerten Kulturgütern –, findet das Wahre, Schöne, Gute immer auch einen Weg, die Wirklichkeit zu untertunneln.  han

C I C E RO Leserbriefe

FORUM Es geht um das deutsche Drama, einen jungen Politiker von der CDU, die SPD und die Islamisten – und Frank A. Meyer

Zum Titelthema „Das deutsche Drama – 200 Jahre Faust“, Mai 2019

„Im Kinderland“ von Frank A. Meyer, Mai 2019

Gourmettempel für Übersättigte Im Titeltext zeigt sich das Dilemma des heutigen Theaterbetriebs: Sollen im­ mer neue Interpretationen gewagt werden mit fragwürdiger Effekthasche­ rei für ein Publikum, das sich für progressiv und aufgeschlossen hält, oder soll der Bildungsauftrag erfüllt werden mit dem Theatererlebnis „Faust“, das die heranwachsende Generation anzieht und begeistert? Beides zusammen geht nicht, wie der Bericht über sieben aktuelle Inszenierungen deutlich macht. Alle sind flach und bedeutungslos. Dabei kann der Bildungsauftrag nur erfüllt wer­ den, wenn die junge Generation an den Kanon herangeführt wird, zu dem der „Faust“ in Originalfassung gehört. Andernfalls versandet allmählich unsere Kultur. Das Original ist eine unerschöpfliche Quelle für alles, was mit Sprache, dem Leben und der Philosophie zusammenhängt. Müsste der Kulturbetrieb auf eine finanzielle Diät gesetzt werden, damit er sich auf seinen Bildungsauftrag besinnt und nicht nur ein Gourmettempel für Übersättigte ist? Ernst-Dieter Voigt, Gernsbach

Das gegenwärtige Drama Verdienstvollerweise hat Cicero Goethes „Faust“ zum Zentralthema seines Maihefts gemacht. Verdienst­ vollerweise ist „Faust“ immer noch von zentraler Bedeutung für unsere Theater. Als Thema im Zentralabi­ tur oder in den Lehrplänen ist die­ ses Werk eher selten geworden. Dabei gibt es Hunderte Gele­ genheiten, aus dem Werk Gewinn zu ziehen. Meine Lieblingsstelle: Faust klagt Mephistopheles an we­ gen Gretchens Elend: „Mir wühlt es Mark und Leben durch, das Schick­ sal dieser Einzigen; du grinst gelas­ sen über das Schicksal von Tausen­ den hin!“ Mephistopheles antwortet

trocken: „Drangen wir uns dir auf, oder du dich uns? … Wer war’s, der sie ins Verderben stürzte? Ich oder du?“ Ja, so hätten wir modernen Menschen es gerne. Jede Freiheit, zu tun und zu lassen, was wir wol­ len, aber für das, was wir selbst vermurkst haben, im Bedarfsfalle irgendwelchen bösen Mächten die Schuld geben zu können. Der „Ge­ sellschaft“, dem Kapitalismus, der Digitalisierung, den (alten wei­ ßen) Männern, den Migranten, den Rassisten, der EU – um nur einige gerade gängige „Teufel“ zu nennen. Das ist das gegenwärtige deutsche Drama. Rudolf Wedekind, Hamburg

10 Cicero – 06. 2 019

Infantil Der Kommentar von Herrn Meyer zum „Greta“-Hype ist das Beste, was in diversen Zeitungen und Mo­ natsmagazinen dazu bisher erschie­ nen ist. Treffend, bissig, sarkastisch, realistisch und zielgenau in der Analyse und mit Esprit formuliert, stellt Frank A. Meyer die infantile Protestbewegung und das infantile „Fahne in den Wind halten“ vieler Politiker, Kirchenvertreter und Ma­ nager infrage. Wann wird die mehr­ heitliche Meinung zur Erkenntnis gelangen, dass der Kaiser nackt ist und der unkonkrete, teils kindliche und kindische Protest keine wirkli­ chen Lösungsbeiträge bringt? Christian Günthör, Döhlau

Finger in die Wunde Und wieder hat Frank Meyer ge­ konnt den Finger in die Wunde gelegt! Hans-Dieter Höhn, Karlsruhe

Danke, FAM! Vielen Dank, Frank A. Meyer, für diesen Beitrag! Mehr braucht man über den derzeitigen Zustand Deutschlands eigentlich nicht zu wissen. Michael Ermscher, Dresden

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IMPRESSUM

„Genosse Muslimbruder“ von Daniel Fallenstein und Ralf Fischer, Mai 2019 HERAUSGEBER UND CHEFREDAKTEURE

DRUCK/LITHO

Christoph Schwennicke Alexander Marguier

Neef+Stumme premium printing GmbH Schillerstraße 2, 29378 Wittingen Michael Gartzke, Tel.: +49 (0)5831 23-197 [email protected] Gedruckt auf UPM-Papier mit dem EU-Umweltzeichen Registriernummer FI/11/001

CHEFIN VOM DIENST

Kerstin Schröer REDAKTION

Bastian Brauns, Dr. Alexander Kissler, Christoph Seils CICERO ONLINE ­ Constantin Wißmann ASSISTENTIN DER CHEFREDAKTION ­

Claudia Schreiber ART-DIREKTION (PRINT)

Viola Schmieskors (fr) BILDREDAKTION

Antje Berghäuser (fr) PRODUKTION

Jeff Harwell (fr) VERLAG GESCHÄFTSFÜHRUNG

Alexander Marguier, Christoph Schwennicke VERLAGSLEITUNG

Jörn Christiansen ASSISTENTIN DER VERLAGSLEITUNG

Kathy Reymann LEITUNG CORPORATE PUBLISHING

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Janne Schumacher LEITUNG ONLINE-MARKETING

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Franziska Daxer NATIONALVERTRIEB/LESERSERVICE

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Thomas Laschinski (PremiumContentMedia) VERKAUFTE AUFLAGE 60 988 ( IVW Q1/2019 ) LAE 2017 127 000 Entscheider REICHWEITE 565 000 Leser ( AWA 2018 ) CICERO ERSCHEINT IN DER RES PUBLICA VERLAGS GMBH

Fasanenstraße 7-8, 10623 Berlin [email protected] www.respublicaverlag.com REDAKTION Tel.: + 49 (0)30 981 941-200, Fax: -299 VERLAG Tel.: + 49 (0)30 981 941-100, Fax: -199 Alle Rechte vorbehalten. Nachdruck, Aufnahme in Onlinedienste und Internet und die Vervielfältigung auf Datenträgern wie CD-ROM, DVD-ROM etc. nur nach vorheriger schriftlicher Zustimmung des Verlags. Für unverlangt eingesandte Manuskripte und Bilder übernimmt der Verlag keine Haftung. Copyright © 2019, Res Publica Verlags GmbH V.i.S.d.P.: Christoph Schwennicke Printed in Germany

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12 Cicero – 06. 2 019

Rechtzeitig Hier wird mir rechtzeitig zur Euro­ pawahl journalistisch bestätigt, was ich selbst bereits seit längerer Zeit erkenne: Die SPD ist die politische Heimat von Musliminnen und offen­ bar leider auch von „legalistischen“ Islamistinnen (eingeschlossen ist natürlich auch deren männliche Schreibweise). Als bekennender – nicht patri­ otischer – Europäer bin ich An­ hänger der Idee der „Vereinigten Staaten von Europa“, in denen sich die „Gouverneurin“ eines Bundes­ staats 2015 nicht den unabgestimm­ ten Willkommens-Alleingang zum Schaden des ganzen Kontinents hätte erlauben können. Gleichzeitig fühle ich mich nach fast 40 Jahren Entwicklungsarbeit im außereuropäischen Ausland (davon etwa zehn Jahre in musli­ misch geprägten Ländern) endlich wohl und relativ sicher auf mei­ nem christlich-jüdisch geprägten Heimatkontinent. Dieser ist in sich mit seinen Sprachen und Traditio­ nen so bunt und interessant, dass es für mich nicht der durch Deutsch­ land provozierten massenhaften Armutszuwanderung – besonders aus Arabien und Afrika – bedarf. Fachkräfte und tatsächlich individu­ ell politisch verfolgte Personen sind und sollen natürlich weiterhin will­ kommen sein. Harald Erichsen, Hamburg

„Der Schatz der Puna“ von Susanne Götze, Mai 2019

Opfer einer Illusion Wenn man die Schönheit der wei­ ßen Salzpfannen des Altiplano mit seinen rosafarbenen Flamingos und der absoluten Stille vor der Ku­ lisse der schneebedeckten Vulkan­ kegel selbst erlebt hat, kann man

nicht glauben, dass diese einzigar­ tigen Geo-Biotope der politischen Illusion einer allgemeinen E-Mobi­ lität geopfert werden sollen. Abge­ sehen davon, dass die vor mehreren Zehntausenden von Jahren unter ganz speziellen hydrologischen Be­ dingungen entstandenen Lithiumla­ gerstätten bei optimistischer Schät­ zung auf wenige Dutzend Millionen Tonnen Lithium begrenzt sind, so sind doch einige wichtige techni­ sche, ökonomische und ökologische Aspekte einer allgemeinen E-Mo­ bilität noch nicht ausreichend ge­ klärt, wie etwa effektiver Aktions­ radius der Fahrzeuge, steigende Strompreise, Sicherstellung der not­ wendigen Stromerzeugung, reale Nachhaltigkeit der gesamten Para­ meterkette vom Lithium bis zum Strom. Scheinen hier nicht wieder verschiedene Interessen über ei­ ner sachlich rationalen Analyse zu stehen? Stefan Uhlig, Karlsruhe

Muss das sein? Wie doof sieht das denn aus!? Das beeindruckende schöne Foto der Lamahirtin Nieves Gutian wird ge­ radezu entwürdigt durch den un­ passenden Schriftzug mit Logo „KAPITAL“ in der Kopfbedeckung. Muss so was sein? Alfons Heemann, Bellheim

„Warten auf Amthor“ von Moritz Gathmann, Mai 2019

Armes Deutschland Wenn Amthor & Co. die neue Ge­ neration Politiker sind, kann ich nur sagen: armes Deutschland!

Karikatur: Hauck & Bauer

Ingrid Dietz, Saarbrücken

Eifriger Lehrling Herr Amthor ist ein eifriger Lehr­ ling im Beruf Parteipolitiker. Sein Erfolg stimmt mich bedenklich. Gleichwohl muss man feststellen,

dass seine „Karriere“ von zahlrei­ chen Politikern geteilt wird. Wer sich den Parteien lange und intensiv genug andient, wird belohnt. Dazu bedarf es häufig noch nicht einmal einer abgeschlosse­ nen Ausbildung. Ich wünsche mir dagegen Politiker, die eine Berufs­ ausbildung genossen haben. Darü­ ber hinaus sollten sie über Berufser­ fahrung verfügen, die sie außerhalb der Politik erworben haben. Sich in nicht politischen Bereichen bewährt zu haben, um dann „mitreden“ zu wollen, würde mich die „Jungstars“ ernster nehmen lassen. Dies spricht nicht gegen junge, politisch engagierte Menschen. Es spricht gegen ein Berufspolitiker­ tum, das die Freiheit des eigenen Denkens, die dem Volksvertreter unentbehrlich sein sollte, gegen Parteihörigkeit, zwecks Versor­ gung und mangelnder alternati­ ver Berufsmöglichkeit, eintauscht.

13 Cicero – 06. 2 019

Erfahrungswissen außerhalb der Politik sammeln! Gisela Fimiani, per E-Mail

Liederlich Sie sprechen vom Niveau von Face­ book-Kacheln der AfD und benut­ zen damit das Porträt über Amthor, um die AfD ohne Not zu diffa­ mieren. Ich nenne das liederlichen Journalismus. Hanns Schneider, per E-Mail

Richtigstellung: Im Titeltext zu „200 Jahre Faust“ ist uns ein Fehler unterlaufen. Dort steht, Josef Fritzl habe sich jahrelang an Natascha Kampusch vergangen. Fritzl hatte aber seine Tochter über Jahre eingesperrt und missbraucht. Der Täter im Fall Kampusch heißt Wolfgang Priklopil. Die Redaktion behält sich vor, Leserbriefe zu kürzen. Wünsche, Anregungen und Meinungsäußerungen senden Sie bitte an [email protected]

DER KAMPF UM DEN KANON TITE L

Ob in Siegen, Frankfurt oder Köln: An den Universitäten werden zunehmend missliebige Meinungen unterdrückt und Professoren an den Pranger gestellt, wenn sie sich nicht ins Korsett der politischen Korrektheit zwängen lassen. Die Hochschulen verlieren damit nicht nur ihre Funktion als Orte der kritischen Auseinandersetzung, auch die demokratische Kultur geht verloren 14 Cicero – 06. 2 019

Von  ALEX ANDER KISSLER, A L E X A N D E R M A RG U I E R und C H R I S TO P H S C H W E N N I C K E Illustrationen Le. B LU E

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ls die Frankfurter Ethnologie-Profes­ sorin Susanne Schröter eine Konferenz unter dem Titel „Das islamische Kopf­ tuch – Symbol der Würde oder der Un­ terdrückung?“ an der Goethe-Universität plant, war sie sich nicht sicher, ob sie den Raum voll bekommen würde. „Das Thema ist ja nicht ganz neu“, sagt sie ein wenig kokett, „wir diskutieren schon seit 20 Jahren über das Kopftuch.“ Doch dann, wenige Wochen bevor die Konferenz am 8. Mai beginnen soll, bricht über Schröter ein Shitstorm herein. Sie sei eine „antimuslimische Rassistin“, liest sie im Internet über sich, und dass sie mit ihrer Konferenz gegen den Is­ lam hetzen wolle. Auf Instagram und Facebook kur­ siert der Hashtag #schroeter_raus. Sie soll ihre Pro­ fessur verlieren. Die Anfeindungen gegen Schröter haben die Frankfurter Kopftuchkonferenz landesweit in die Me­ dien gebracht. Die Anmeldungen übersteigen die Platz­ kapazitäten um ein Vielfaches, vor der Tür stehen Ein­ satzwagen der Polizei. Kurz vor Beginn lädt Schröter zur Pressekonferenz. Ein wenig verdattert steht sie vor rund 20 Reportern, sechs Mikrofonen und vier Fern­ sehkameras und erklärt, warum ihre Konferenz keine muslimischen Frauen diskriminieren soll. „Wir haben zu der Konferenz auch zwei Frauen eingeladen, die das Kopftuchtragen ausdrücklich befürworten“, sagt Schröter. Man wolle lediglich eine wissenschaftliche Diskussion führen. An ihrer Seite sitzen die Universi­ tätspräsidentin Birgitta Wolff und die AStA-Referentin

Wann immer Schlagwörter wie Gender oder Antifaschismus auftauchen, kann der, der sie im Munde führt, seine eigene Position als alternativlos vorführen

Fatma Keser. Einige Studenten wollten Schröters For­ schung zum Islam grundsätzlich verhindern, glaubt Keser. Wolff appelliert an die Wissenschaftsfreiheit. Vor der Tür halten ein gutes Dutzend Demonst­ ranten im Nieselregen ihre selbst gebastelten Schilder hoch. „No to racism“, steht da drauf. Ist Schröter eine Rassistin? „Von sieben Konferenzteilnehmern sind nur zwei für das Kopftuch“, begründet die Jurastudentin Mariam ihre Wut, das sei diskriminierend. Eine andere Studentin will gehört haben, wie Wolff das Kopftuch mit SS-Uniformen gleichgesetzt habe. Nach der letzt­ lich friedlich verlaufenen Konferenz erklärt einer der Initiatoren des Protests, der Aktivist und Moslem Zu­ her Jazmati, im Gespräch mit der Tageszeitung Die Welt, die Gästeauswahl sei problematisch gewesen: „Es wurden Menschen wie Alice Schwarzer, Necla Kelek und so weiter eingeladen, die ganz klar schon in der Vergangenheit sehr schlimme Aussagen getroffen ha­ ben, die sehr stark ins rechte Lager gespielt haben. Und das wollten wir so nicht lautlos hinnehmen, da wollten wir ein Zeichen dagegensetzen.“ DA S S I N F R A N K F U RT eine Veranstaltung ins Faden­ kreuz politischer Aktivisten geriet, die sich mit Erschei­ nungsformen des Islam beschäftigte, ist symptoma­ tisch. Der Islam hat ein hohes Mobilisierungspotenzial. Islamkritiker treffen auf Islamisten, fromme auf säku­ lare Muslime, Atheisten auf Christen, und die Wissen­ schaft kann, ja darf es keiner Seite recht machen. Wer den Raum des Fragens offenhalten will, gilt schnell als parteiisch. Die Debatte könnte ja „in die rechte Ecke spielen“ (Jazmati). Wo jedoch nicht mehr offen argu­ mentiert wird, schafft Universität sich ab. Daran erinnert der Wiener Philosoph Konrad Paul Liessmann, der im Gespräch neben dem Islam drei wei­ tere neuralgische Felder benennt: den Antifaschismus, den Antirassismus und – „ganz wesentlich“ – Gender. Wo immer diese zu Schlagwörtern herabgesunkenen Begriffe auftauchen, kann der, der sie im Munde führt, seine eigene Position als alternativlos vorführen. „Man weiß dann sofort“, führt Liessmann aus, „auf welcher Seite man zu stehen hat. Das ist das Entscheidende.“ Letztlich werde durch einen solchen hohen morali­ schen Anspruch ein moralischer Diskurs verhindert. „Wenn ich genau weiß, was das Gute ist, hat der andere nur noch die Möglichkeit, sich dazu zu bekennen. Ent­ weder er wird bekehrt, oder er wird ausgeschlossen.“ Deshalb würden Podien oft so besetzt, dass – an­ ders als in Frankfurt – Widerspruch nicht zu erwarten sei. An der Wiener Universität gebe es im Bereich der Philosophie „Forderungen von unten“, durch Leselis­ ten sicherzustellen, „dass in Lehrveranstaltungen ein bestimmter Prozentsatz der Autoren, egal zu welchem Thema, Frauen sein müssen oder außereuropäisch, um

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Fragen“ zu vertreten und „gewalttätige Ausschreitun­ gen gegen Geflüchtete“ zu rechtfertigen. Ein Gerichts­ streit schloss sich an, an dessen Ende der Vorwurf des Rechtsradikalismus als von der Meinungsfreiheit ge­ deckt erklärt wurde, nicht aber die Falschaussage, Ba­ berowski habe Gewalt gegen Flüchtlinge gutgeheißen. Der Gang vor Gericht, sagt Baberowski heute, sei ein Fehler gewesen. Er habe die Justiz falsch eingeschätzt. Das „Claudia-Roth-Milieu“ sei überall.

vermeintliche oder tatsächliche Gerechtigkeit herzu­ stellen.“ In Paris wurde ein Vortrag Alain Finkielkrauts an der Sciences Po verhindert. Der jüdische Philosoph sah sich, ähnlich wie Susanne Schröter, mit dem Vor­ wurf konfrontiert, er propagiere „antimuslimischen Rassismus“. Alles in allem, so Liessmann, sei die Situation in Österreich nicht derart politisiert wie in Deutsch­ land, Frankreich, den Vereinigten Staaten, dienten

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Baberowski sagt es im fünften Stock eines schmuck­ losen Hochhauses an der Berliner Friedrichstraße, wo das Institut für Geschichtswissenschaften untergebracht ist. Unten locken eine Bierwirtschaft und ein Naturkost­ laden typisches Berliner Publikum an. Der Historiker sieht die Universität in einem doppelten Zangengriff. Einerseits werde die universitätsinterne Öffentlichkeit von wissenschaftsfremden Erwägungen geleitet; nicht die Forschung, sondern die „Organisation von For­ schung markiert die Spielräume, die man hat“, das heißt,

die Universitäten nicht Alle derart BP_Corporate_Campaign_2019_Cicero_AF_212x137.indd Seiten

stark als „Probefel­ der für Kulturkämpfe“. Veranstaltungen mit ander­ orts angefeindeten Professoren wie Egon Flaig oder Jörg Baberowski habe er in Wien ohne den „Hauch eines Protests“ durchführen können. Der Berliner Osteuropahistoriker Baberowski konnte im Okto­ ber 2016 nicht in den Räumen der Universität Bre­ men referieren, nachdem der dortige AStA dem Gast per Flugblatt unterstellt hatte, „rechtsradikale Posi­ tionen im politischen Streit um migrationspolitische

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Behauptungen“, „leere Phrasen“ und „Wortschleier“. Im Verfassungsschutzbericht für 2017 erscheint die SGP mit ihren „nach Eigenangaben 261 Mitgliedern“ im Kapitel über Linksextremismus. Die Kleinpartei führt einen Kleinkrieg gegen Baberowski, seit dieser Anfang 2014 den kritischen Trotzki-Biografen Robert Service nach Berlin zu einem Vortrag einlud. Baberowski wird in Büchern, Videobot­ schaften, selbst auf Plakaten an der Uni verunglimpft

„Frauenbeauftragte, Gremien, Gleichstellungsfunktio­ näre lenken die Universität. Darum hat sich deren Au­ tonomie ausgehöhlt.“ Andererseits wirke die außeruni­ versitäre Öffentlichkeit in die Hochschule hinein, und jene sei in Berlin von einem medial bestens vernetzten linken politischen Milieu geprägt. In Berlin werde alles zum Politikum. In Tübingen, Freiburg oder Greifswald krähte kein Hahn danach, welche Vorstellungen vom Weltenlauf eine „trotzkistische Sekte“ habe.

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als „brauner Professor“, der in seinen „verrotteten akademischen Zirkeln“ die Geschichte umschreiben wolle. So sagt und schreibt es Christoph Vandreier von den Trotzkisten. Der Politologe Herfried Münk­ ler wiederum, heißt es ebenfalls in einem Buch des Internet-Journalisten Vandreier über eine gegenwär­ tige faschistische „Verschwörung der herrschenden Eliten“, sei Militarist und Revisionist. Baberowski be­ richtet von körperlichen Bedrohungen gegen ihn und seine Mitarbeiter und bedenklichen Nebenfolgen:

Der Historiker und Stalinismusexperte zieht kurz die Luft ein und schaut auf den Boden. Seit fünf Jahren sieht er sich im Fadenkreuz jener „Sekte“ namens SGP (Sozialistische Gleichheitspartei) und deren Jugendor­ ganisation. In einem Bericht der „Unabhängigen Stu­ dierendenzeitung der Humboldt-Universität zu Berlin“ heißt es, die Trotzkisten forderten die Errichtung ei­ ner sozialistischen Räterepublik, witterten „rechtsex­ treme Verschwörungen hinter jeder Ecke“ und stütz­ ten sich dabei auf „wilde und zusammenhangslose

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konventionelle Armeen systematisch in Panik. Das zugrunde liegende Muster sei „eine um sich greifende Feigheit“ auf verschiedenen Ebenen, die Feigheit „ei­ ner postheroischen Gesellschaft“. Auch ein etablier­ ter Münkler-Begriff. Zur Feigheit der Heckenschützen gesellten sich eine Feigheit der Hochschulleitung, oft auch eine Feigheit der Opfer. Münkler hat sich in den besagten Wochen von der Spitze der Uni und von de­ ren Rechtsabteilung allein gelassen gefühlt. Achselzu­ cken war da: Kann man nichts machen. Dieses Ach­ selzucken reiche bis in die Politik, sagt Münkler. Dass die zuständige Bundesbildungsministerin Anja Kar­ lizcek auf Cicero-Anfrage nichts zum Thema sagen wollte, bestätigt ihn in der Annahme. Obwohl die Po­ litik in seinen Augen einen maßgeblichen Anteil an diesem Phänomen hat – Stichwort: Bologna. Die Ver­ schulung der Uni nimmt den Professoren die Möglich­ keit, auf individuelle Wünsche der Studenten einzuge­ hen wie früher. Der Kanon ist starrer und muss wegen des Kompatibilitätsdrucks starrer sein. Wer sich nicht wehrt, der lebt verkehrt. Der alte Spontispruch war Richtschnur für Münklers Handeln in jener Zeit. Er hat die Sache selbst ironisiert und be­ hauptet, „Münkler-Watch“ sei sein eigener Blog. Weil er eitel und geldgierig sei, habe er ihn eingerichtet. Er hat sich öffentlich gewehrt. Und innerlich immuni­ siert. Entscheidend sei, dass sich die Angegriffenen zur Wehr setzen. Er hat seinerzeit zu seinem Leidensge­ fährten, dem von ihm geschätzten Historikerkollegen

„Professorenkollegen meiden es, sich mit mir sehen zu lassen. Keiner will danach in anklagendem Gestus bei Twitter auftauchen.“ Herfried Münkler treffen wir am Flughafen Ber­ lin-Tegel. Der mittlerweile emeritierte Professor ist sofort an seinem Markenzeichen zu erkennen, dem grauen Spitzbart. Münkler ist ein öffentlicher Intel­ lektueller, der die Debatten mit seinen Meinungsbei­ trägen bereichert, dessen Wort gehört wird bis ins Kanzleramt. Gerade kommt er aus Köln zurück und nimmt sich auf den kargen Sitzen des Terminals Zeit, über sein einschlägiges Erlebnis zu reden. 2015 war Münkler für mehrere Wochen ins Visier von Studen­ ten an der HU geraten. Über einen anonymen Blog warfen sie ihm Rassismus, Sexismus und Eurozentris­ mus vor. Seine Vorlesungen wurden durch diesen Fil­ ter verfolgt und anprangernd protokolliert. Wenn man die Einträge heute liest, wirken die Protokolle lächer­ lich, ungewollt komisch, obsessiv. Selbst das Füllwört­ chen „eigentlich“ geriet einmal zum Beleg des münk­ lerschen Sexismus. kann der Politikwissenschaftler mit Abstand auf diese Wochen blicken und sie ana­ lysieren. „Es ist nicht so, dass das nicht Trefferwir­ kung gezeigt hätte“, sagt er und streicht sich mit der Hand langsam durch seinen Kinnbart. Münkler hielt seine Vorlesungen gerne in freier Rede, was für ihn zur Performance gehört. Sonst könnten die Studen­ ten ja auch einfach nur die Bücher lesen. In den be­ wussten Wochen des Jahres 2015 ließ er sich rheto­ risch nicht von der Leine. Und fand sich trotzdem jedes Mal umgehend am Pranger. Worum es bei dieser systematischen Hatz gegen ihn und manchen Kollegen ginge? „Das ist ein Kampf um den Kanon“, sagt Münkler, um das Sagbare und das Denkbare, genauer: um dessen Eingrenzung. Und damit um die Frage der gesamten politischen Kultur. Bis dahin habe er sich nur theoretisch mit asymmet­ rischer Kriegsführung beschäftigt. Münkler hat viel über Imperien und Kriege geschrieben. Der Begriff „asymmetrische Kriegsführung“ stammt von ihm und ist in den allgemeinen politischen Wortschatz einge­ gangen. „Da habe ich sie ganz praktisch erlebt.“ Die Stärke der Angreifer bestand in deren Anonymität, die sie in seinem Fall auch nie verlassen haben. Eine Einladung Münklers an die Blogger, sich mit ihm bei einem Treffen auseinanderzusetzen, lehnten die Macher von „Münkler-Watch“ ab. Sie gaben ge­ genüber einem Reporter kund, dass sie zu viel Angst vor Münklers rhetorischen Fähigkeiten hätten. Da­ her die Sniper-Attacken aus dem Hinterhalt des Net­ zes. Das sei wie ein paramilitärisches Vorgehen, sagt Münkler, und Beschuss von Paramilitärs versetze V I E R JA H R E S PÄT E R

„Das ist ein Kampf um den Kanon“, sagt Herfried Münkler, um das Sagbare und das Denkbare, genauer: um dessen Eingrenzung

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POLITICAL CORRECTNESS – GLOSSAR

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Jörg Baberowski gesagt: „Warum lassen Sie sich so von denen vor sich hertreiben? Sie waren doch im KBW, dem Kommunistischen Bund Westdeutschland. Sie müssten doch politisch gestählt sein!“ Bei Baberowski erkennt Münkler eine Folgewirkung. Der Kollege habe sich verändert im Zug der Attacken gegen seine Person. Münkler ist gestählt durch die Uni-Revolten der Frankfurter Zeit in den späten Sechzigern: „Münkler, wenn wir an die Macht kommen, dann stehst du als erster an der Wand“, hatten ihm die Trotzkisten an den Kopf geworfen. Nein, habe er entgegnet, „vorher jage ich euch eine Kugel zwischen die Augen“. So sei das damals zugegangen. Im Vokabular härter, aber in der Vorgehensweise ehrlicher. Eine Auseinandersetzung von Angesicht zu Angesicht. Im Unterschied zu heute. Ein Satz seines Lehrers Iring Fetscher aus jener Zeit ist ihm in Erinnerung geblieben, der süffisant staunte, dass hier erstmals „die Produkte gegen die Produzenten“ streikten. In den USA, wo die Bewe­ gung herkomme, kann Münkler dieses Phänomen eher nachvollziehen. Dort zahlen die Studenten erhebliche Gebühren für die Dienstleistung der Professoren. In Deutschland aber, sagt er, sei „die Freiheit der Wis­ senschaft im Grundgesetz besser geschützt als das Ei­ gentum“. Also enorm abgesichert. Ob ihm der Streit geschadet habe? Am Ende sagt er, „wenn ich es ganz kühl betrachte, habe ich davon profitiert“. Seine Be­ kanntheit ist gestiegen, die Angebote für Vorträge sind es im gleichen Maße.

COMFORT ZONE In der „Comfort Zone“ befindet eine Person sich in einem mentalen Zustand, in dem die Dinge sich vertraut anfühlen, sie sich wohlfühlt und die Kontrolle über ihr Umfeld hat. In diesem Status fühlt sie keine Angst oder Stress. Dies ermöglicht ihr angeblich ein gleich bleibendes Leistungsniveau.

CULTUR AL APPROPRIATION „Cultural Appropriation“, also „kulturelle Aneignung“, meint das Übernehmen von Elementen einer anderen Kultur, die meist eine Minderheit darstellt. Mit dem Begriff wird kritisiert, dass dominante Gesellschaftsgruppen sich das Wissen, die Praktiken oder die Symbole von kulturellen Minderheiten aneignen würden, ohne Verständnis dafür zu haben oder den kulturellen Hintergrund und Kontext zu respektieren. Beispiele dafür sind Verkleidungen als Indianer, Mexikaner oder Eskimo.

POLITICAL CORRECTNE SS Auch Worte können verletzen. Auf diese einfache Tatsache geht die Idee der „Political Correctness“ zurück. Deswegen gab es im Rahmen des Sprachgebrauchs viele Vorschläge für neue neutrale Beschreibungen. Zum Beispiel: „beeinträchtigt“ statt „behindert“ oder „Schokokuss“ statt „Negerkuss“.

GENDERN Wer Maßnahmen unternimmt, um Sprache möglichst geschlechtsneutral zu gestalten, der „gendert“. Damit soll eine Benachteiligung in der Sprache aufgehoben werden, damit sich jeder gleichwertig angesprochen fühlt. Statt „Studenten“ heißt es „Studierende“, „Student*innen“ oder „Studentx“; statt „Antragsteller“ „antragstellende Person“ oder „Antragsteller*innen“. Die Begründung dafür lautet, das generische Maskulinum sorge dafür, dass Männer in der Sprache überrepräsentiert seien.

weiß von solchen Distinktionsge­ winnen nicht zu berichten. Wie Münkler unterscheidet auch er zwischen einer aktivistischen Minderheit und einer schweigenden Mehrheit. Für seine eigenen Stu­ denten bricht er eine Lanze. Sie seien „höflich, liberal, offen, tolerant, fast schon zu wenig kritisch, wohler­ zogen, meistens unpolitisch“. Damit fallen sie als Ge­ genlager aus für linke Aktivisten, die sich die „Min­ derheitenregel“ zunutze machen. So benennt Nassim Nicholas Taleb in seinem Buch „Skin in the game“ das universelle Phänomen, dass eine „kompromisslose Minderheit“, eine „kleine Anzahl intoleranter, mora­ lisch überlegener Menschen, die bereit sind, in Form von Courage ihre Haut aufs Spiel zu setzen“, eine Po­ pulation nach ihren Wünschen umgestalten könne. 3 oder 4 Prozent reichten. Der Mehrheit seien die spe­ ziellen Ziele dieser so beschaffenen Minderheit egal. Man lasse sie gewähren, um Ruhe zu haben. Oder – da stimmt Taleb mit Münkler und Baberowski überein – aus Feigheit. Der Aufstieg des Islams habe sich nach diesem Muster vollzogen, schreibt Taleb und kommt zum Schluss: „Der Intoleranteste gewinnt.“ Hätte Taleb recht, wären das bedrückende Aussich­ ten für die von der Ordinarien- zur Gremienuniversität

J Ö RG B A B E ROW S K I

GENDER MAINSTRE AMING Der Begriff bezeichnet Maßnahmen, die die Differenzen zwischen den Geschlechtern aufheben sollen. Ein Beispiel hierfür wären Frauenquoten, die Veränderung der Sprache und Kurse gegen Sexismus. „Gender“ steht hier für das kulturelle Geschlecht. Die Vertreter der Gender-Theorie glauben nicht an ein angeborenes Geschlechtsverhalten von Mann und Frau, sondern halten dies für anerzogen. Frauen ergreifen demnach häufiger

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gewordenen Pflanzschulen des Denkens. Künftig wür­ den die Korridore des Sag- und Denk- und Erforsch­ baren enger. Im Rennen um je neue Sonderrechte, je neuen Sondergruppenstatus setzte sich mit mathema­ tischer Unerbittlichkeit die dreisteste Klientel durch. Wer am lautesten schrie, gewönne. Offen indes muss die Frage bleiben, wie weit die „feste, kieselharte Förmlichkeit des aufeinander abgestimmten Spre­ chens“ (Botho Strauß) noch trägt. Der Blick nach Un­ garn oder Polen zeigt, dass es neben linken auch rechte Formierungsstrategien gibt, die nicht minoritär von unten, sondern majoritär von oben betrieben werden. Der hiesigen Konfliktlage ist sich der Deutsche Hochschulverband (DHV) bewusst. Bei seiner Jahres­ versammlung hat der DHV Anfang April eine Resolu­ tion verfasst, die mit dem Titel „Zur Verteidigung der freien Debattenkultur an Universitäten“ überschrie­ ben ist. Dort heißt es in den ersten beiden Sätzen: „Die Toleranz gegenüber anderen Meinungen sinkt. Das hat auch Auswirkungen auf die Debattenkultur an Univer­ sitäten.“ Wer die Welt der Hochschulen betrete, müsse akzeptieren, „mit Vorstellungen konfrontiert zu wer­ den, die den eigenen zuwiderlaufen“. DHV-Präsident Bernhard Kempen, Staatsrechtsprofessor an der Uni Köln, hebt ausdrücklich hervor, dass die Resolution mit über 90 Prozent Zustimmung verabschiedet wurde: „Damit wird deutlich, dass unser Verband mit seinen Positionen sehr geschlossen auftritt.“ Der DHV vertritt 32 000 Mitglieder, von Professorinnen und Professo­ ren bis zum wissenschaftlichen Nachwuchs – beileibe keine Nischenveranstaltung.

Der Deutsche Hochschulverband hat eine Resolution verabschiedet, in der zur Verteidigung der Debattenkultur an den Universitäten aufgerufen wird

An den Universitäten darf diese Entwicklung aus unse­ rer Sicht keinen Einzug halten.“ Dass ein offener Dis­ kurs häufig mit Totschlagargumenten verhindert wer­ den soll, ist für Kempen besonders ärgerlich: „Es wäre gut, wenn in diesem Bereich nicht ständig mit so dif­ fusen Begriffen wie ,Rassismus‘ operiert würde, son­ dern mit Begriffen, die uns die Rechtsordnung vorgibt.“ Natürlich gebe es Grenzen der Meinungsfreiheit, etwa wenn es um Volksverhetzung geht. „Aber die sind ju­ ristisch auch sehr klar gefasst.“ Dass die Grenzen der Justiz und jene neuen des Diskurses gehörig auseinanderklaffen, zeigte sich auch an der Universität Siegen. Hauptperson ist Dieter Schönecker, seit 2006 Professor für Praktische Philo­ sophie. Kant-Spezialist Schönecker, ein Liberaler, wie er sich selbst nennt, begann im Frühjahr 2018 mit den Vorbereitungen für ein Seminar zu „Philosophie und Praxis der Meinungsfreiheit“, das im darauffolgen­ den Wintersemester stattfinden sollte. Doch der Plan enthielt Sprengstoff, und zwar wegen zwei externer Referenten, die neben etlichen anderen Gästen zum Seminar eingeladen werden sollten: Der AfD-Bundes­ tagsabgeordnete und promovierte Philosoph Marc Jon­ gen sowie Thilo Sarrazin. Kaum waren die beiden Na­ men publik geworden, begann eine Schlammschlacht, die bis heute nachwirkt. Schönecker beruft sich darauf, Jongen und Sar­ razin könnten gerade wegen ihrer umstrittenen Hal­ tungen zum Nationalstaat oder zur Zuwanderung Er­ hellendes zur Frage beitragen, wie es heutzutage um

M A N W E N D E S I C H , sagt Kempen, mit dem Aufruf „auch ausdrücklich an die Leitungen der Hochschulen, die manchmal ein erstaunliches Maß an Unsicherheit erkennen lassen, wenn es darum geht, Flagge zu zeigen und deutlich zu machen, dass es gerade die Aufgabe von Hochschulleitungen ist, sich schützend vor dieje­ nigen zu stellen, die ihre wissenschaftlichen Thesen an der Universität kundtun wollen“. Seltsame Dinge habe man in der Vergangenheit erlebt – „zum Beispiel sollte eine Veranstaltung verhindert werden mit dem Argu­ ment, diese könne polizeilich nicht geschützt werden. Und dann hat sich gezeigt, dass mit der Polizei noch überhaupt nicht gesprochen worden war.“ Der DHV-Präsident erkennt in der Arrondierung des Meinungsspektrums ein angloamerikanisches Phä­ nomen, das über den Atlantik geschwappt sei: „Dort hat sich ja die These, dass Hochschulen gewissermaßen geschützte Räume seien, in denen nur ein bestimmtes Spektrum an Meinungen zulässig ist, sogar an sehr renommierten Universitäten durchgesetzt. Das ent­ spricht womöglich einer Diskursverengung, wie wir sie auch auf dem politischen Feld insgesamt erleben.

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Schönecker, der dieses Vorgehen rechtswidrig nennt. Meinungs- und Redefreiheit bestellt sei; bis auf eine Er kenne „keinen vergleichbaren Fall, in dem ein De­ Ausnahme hätten alle Teilnehmer seines Seminars die kan einem Professor vorgeschrieben hätte, wie dieser Einladung befürwortet. Den Ausschlag zur Idee, ein Seminar zum Thema Meinungsfreiheit abzuhalten, seine Mittel verwenden soll“. Kollegen feindeten Schönecker als „Rassisten“ habe jedoch ein Gespräch mit einem britischen Kol­ und rechten Scharfmacher an, obwohl dieser immer legen Schöneckers gegeben, „der dafür eintritt, dass alles verboten gehört, was rassistisch oder homophob wieder betonte, die Meinungen Sarrazins und Jongens sein könnte. Als ich ihm sagte, dass ich als Libera­ nicht zu teilen, sondern sie an der Universität „vor ler zwar die Gleichberechtigung Homosexueller un­ den Gerichtshof der Vernunft“ zu bringen. Vergeblich: bedingt befürworte, das Konzept der Homoehe aus „Die Fakultät hat sich damals geschlossen auf die Seite des Dekans gestellt. Auch im Senat war eine deutliche semantischen Gründen aber ablehne, bestätigte mein Kollege, dass solche Äußerungen aus seiner Sicht ver­ Mehrheit auf der Seite der Universitätsleitung, ebenso der Hochschulrat.“ Schönecker fragt sich, warum um­ boten gehörten.“ gekehrt Vorträge von linken Politikern wie etwa Sahra Die Geschichte nahm Fahrt auf, als Schönecker im März 2018 den Dekan und den Kanzler der Siegener Wagenknecht oder Jutta Ditfurth an der Siegener Uni­ Uni über die geplante Einladung an Sarrazin und Jon­ versität von niemandem beanstandet würden. Viel­ gen informierte. Die Veranstaltung hätte aus den nor­ mehr sei sogar über Jahre hinweg ein von der linken malen Haushaltsmitteln seines Lehrstuhls finanziert Rosa-Luxemburg-Stiftung finanziertes Graduierten­ kolleg akzeptiert worden. werden sollen, doch das Dekanat widersetzte sich. Es Dieter Schöneckers Seminar fand statt, die Vor­ untersagte Schönecker zunächst, Mittel der Fakultät träge von Jongen (im Dezember) und Sarrazin (im Ja­ oder seiner eigenen Kostenstelle für das Seminar zu nuar) mussten von einem Polizeiaufgebot geschützt nutzen. In einem Brief von Dekan und Rektor habe es geheißen, die Universität sei nicht bereit, für die Se­ werden. Trotz Protesten blieb alles friedlich. Einer minarteilnahme von Jongen und Sarrazin finanzielle von Schöneckers härtesten Kritikern in der Siegener Mittel zur Verfügung zu stellen. „Noch einmal später Professorenschaft, der Medienwissenschaftler Erhard wurde mir dann nur noch die Verwendung von Fa­ Schüttpelz, monierte hinterher, sein Philosophenkol­ kultätsmitteln untersagt, sodass ich zur Finanzierung lege habe mit Thilo Sarrazin und Marc Jongen keine auf andere Töpfe zurückgreifen konnte“, erinnert sich Auseinandersetzung gesucht und sich vielmehr „fein rausgehalten“. Schönecker wiederum wirft Schütt­ pelz vor, „völlig überspannte Definitionen von Begrif­ fen wie Rassismus, Nationalismus oder Homophobie“ zu pflegen. Medientheoretiker würden dazu neigen, „diese Definition derart weit zu fassen, dass der Be­ griff des Rassisten bei sehr, sehr vielen Leuten ange­ wendet werden kann“.

Der Siegener Philosoph Schönecker wirft seinen Kollegen vor, „völlig überspannte Definitionen von Begriffen wie Homophobie, Nationalismus oder Rassismus“ zu pflegen

S C H Ö N E C K E R G E H T N O C H W E I T E R . Ausschlagge­ bend für ideologische Konflikte wie den in Siegen sei „der pure Wille zur Macht“, insbesondere an den philo­ sophischen Fakultäten. „Diese Fakultäten werden ganz eindeutig dominiert von linken Positionen im weites­ ten Sinne – also etwa Postmoderne, Postkolonialismus oder Identitätspolitik. Die spüren aber, dass sich gegen diese Dominanz inzwischen Widerstand regt, ob inner­ halb oder außerhalb der Universitäten. Umso heftiger wird deshalb versucht, Leute wie mich zu diskreditie­ ren, und zwar mit den perfidesten Mitteln. Etwa, indem ich als Nazi oder als Antisemit dargestellt wurde.“ Da­ runter leide der demokratische Legitimationsprozess. Mitunter trifft die neue Unduldsamkeit nicht nur Professoren, sondern auch Studenten. Mario S. studiert Mathematik und Sozialwissenschaften auf Lehramt an der Universität zu Köln. Im vergangenen Wintersemes­ ter nahm der 24-Jährige an einem Seminar teil, in dem

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soziale Berufe, weil die Gesellschaft dies von ihnen erwartet, und Männer interessieren sich mehr für Autos und Fußball, weil ihnen das anerzogen wurde. „Mainstreaming“ bezeichnet das Ziel, die Gender-Theorie in der Mitte der Gesellschaft zu verankern.

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das Thema Rassismuskritik behandelt wurde; unter an­ derem ging es um die Übergriffe am Kölner Hauptbahn­ hof in der Silvesternacht 2015. Mario S. sagt, aus seiner Sicht sei dieser Vorfall von den Seminarteilnehmern, aber insbesondere von der Dozentin selbst, äußerst ein­ seitig behandelt worden: „Als ich aufgezählt habe, aus welchen Herkunftsländern die damaligen Täter stam­ men, wurde ich immer wieder unterbrochen. Denn laut der im Seminar gelehrten Thesen ist es rassistisch, die Herkunft der Täter zu benennen. Man solle in diesem Zusammenhang die Kategorie ,Männlichkeit‘ heraus­ stellen, hieß es.“ Die Dozentin habe auch behauptet, die Medien hätten damals eine rechtspopulistische Be­ richterstattung betrieben – eine Sichtweise, der Ma­ rio S. widersprach: „Ich habe seriöse Quellen zitiert, um die Fakten der Silvesternacht deutlich zu machen.“

MANSPL AINING Der Begriff steht für eine Gesprächssituation, in der ein Mann meint, einer Frau ungefragt etwas erklären zu müssen, obwohl die sich bestens in dem Thema auskennt. Die inhaltliche Grundlage des Begriffs lieferte die amerikanische Publizistin Rebecca Solnit in einem 2008 von ihr veröffentlichten Essay „Men Explain Things to Me; Facts Didn’t Get in Their Way“.

MIKROAGGRE SSIONEN Der Begriff bezeichnet kleine, subtile, alltägliche Beleidigungen, die von dem Sprecher oftmals nicht beleidigend gemeint waren, vom Gegenüber aber als verletzend wahrgenommen werden.

E I N E KO M M I L ITO N I N habe während des Seminars an­ gekündigt, die Veranstaltung zu verlassen, wenn Ma­ rio S. weiterreden dürfe, „weil ich meinen Vortrag angeblich als rechtspopulistische Plattform nutzen würde“. Gegen den Vorwurf seiner Mitstudentin sei die Dozentin nicht eingeschritten, weshalb Mario S. ihr einen Brief schrieb. „Darin habe ich ihr mitge­ teilt, dass ich mich an die Bedingungen ihres Semi­ nars gehalten und lediglich von meinem Recht auf Meinungsfreiheit Gebrauch gemacht hätte. Ich habe mich ihr gegenüber von rechtspopulistischen Positio­ nen klar distanziert, aber auch deutlich gemacht, dass ich enttäuscht darüber gewesen sei, dass sie mich ge­ gen die Vorwürfe der Kommilitonen nicht in Schutz genommen habe.“ Die Dozentin habe ihn daraufhin in ihr Büro gebeten: „In diesem Gespräch sagte sie mir, wenn ich mich nicht an die Spielregeln halten würde, wäre ich in diesem Seminar nicht mehr willkommen. Universitäten seien kein Ort der Meinungsäußerung, was auch die Haltung des Dekanats wäre. Ich müsse sitzen, zuhören und lernen.“ Auf eine erste Bitte um Stellungnahme reagiert die Dozentin gegenüber Cicero nicht. Nach dem zweiten Mal antwortet sie mit einer E-Mail, in der es heißt: „Es versteht sich von selbst, das (sic!) Presseanfragen zu einzelnen Studierenden schon aus juristischen Grün­ den nicht beantwortet werden.“ Die Dozentin ver­ weist auf eine „Arbeitsgruppe“, die sich an ihrer Fa­ kultät gebildet habe, welche sich „in Rücksprache mit dem Dekanat wie Hochschul-Justitiariat“ mit einzel­ nen Konfliktfällen in Forschung und Lehre befasse. Und ergänzt: „Sicherlich könnte man hier über ei­ nen grundsätzlichen Beitrag der Arbeitsgruppe zum Thema ,Gehören antidemokratische, diskriminierende, sexistische, klassistische und rassistische Positionen zum Spektrum eines demokratischen Pluralismus?‘ für Ihre Zeitschrift nachdenken.“

SAFE SPACE „Safe Spaces“ etablierten sich in den USA während der zweiten feministischen Bewegung in den sechziger Jahren. Damals waren es Schutzräume für Frauen, in denen sie ungestört über Geschlechtergerechtigkeit diskutieren konnten. Heute sind „Safe Spaces“ Räume, in die Menschen, die sich diskriminiert oder marginalisiert fühlen, sich zurückziehen können. Dort dürfen keine Aussagen gemacht werden, von denen sich irgendjemand beleidigt oder diskriminiert fühlen könnte – etwa über Religion, Rasse, Geschlecht oder die äußerliche Erscheinung.

TRIGGER WARNINGS „Trigger“ bedeutet „Auslöser“. „Trigger Warnings“ waren ursprünglich dazu gedacht, traumatisierte, unter psychischen Erkrankungen leidende Menschen vor Inhalten in Medien, Büchern, Videos zu warnen, die bei ihnen belastende Erinnerungen und Panikattacken hervorrufen könnten. Heute werden sie genutzt, um vor potenziell verletzenden Inhalten zu warnen. Wie die „Safe Spaces“ werden sie vor allem von Studenten in den USA und in Großbritannien gefordert. So sprechen bereits einige Dozenten an amerikanischen Hochschulen „Trigger Warnings“ aus, bevor sie Themen behandeln, die die emotionale Stabilität ihrer Studenten gefährden könnten. Darunter fallen zum Beispiel Darstellungen von Sex und Gewalt in der Literatur, Darstellungen von Missbrauch oder selbstverletzendem Verhalten. Zusammengestellt von Christine Zinner

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gegen jede binäre Ordnung – und zu einem „Denken ohne Denken“, zur „Philosophie ohne Argumentation“ und zum „Subjekt ohne eigene Handlungen“. So fasst Marco Ebert, bis 2017 Referent für Ökologie am AStA der Humboldt-Universität, in einem Aufsatz Butlers Theoriegebäude zusammen und folgert: „Das Gefühl soll bei Butler die Reflexivität ersetzen.“ Ebert scheint die Erfahrungen eines Mario S. mit seiner Dozentin ge­ radezu vorwegzunehmen: „Die queer-theoretisch in­ formierten Gender Studies haben in den vergangenen Jahren mit dazu beigetragen, dass ‚Reflexion‘ heute in Uni-Seminaren (…) kaum mehr als eine Unterwer­ fungsgeste unter die Autorität von WissenschaftlerIn­ nen, AutorInnen oder ReferentInnen bedeutet.“ Die Emotionalisierung wissenschaftlicher wie politischer Debatten reicht jedoch tiefer zurück, bis in die siebziger Jahre, zu den Ausläufern der Acht­ undsechziger, und, weiter noch, ins späte 18., frühe 19. Jahrhundert. Jörg Baberowski erkennt eine „eigen­ artige Mischung aus Protestantismus und deutscher Romantik“. Der deutsche „Volksgeist“ und die roman­ tische „Innerlichkeit“ seien auf das öffentliche Be­ kenntnis angelegt, verlangten die stete Publizierung eigener Läuterung. Man arbeitet an sich, und will und muss das zeigen. Ein solcher Bekenntniszwang sei den katholischen Kulturen unbekannt. Und in den ehe­ mals sozialistischen Ländern meide man ihn aus his­ torischer Erfahrung. Unterdessen sieht es schlecht aus für ein von Ba­ berowski an der HU beantragtes „Zentrum für ver­ gleichende Diktaturforschung“. Seit rund einem Jahr weigert sich der Akademische Senat, den Antrag auf die Tagesordnung zu setzen. Der AStA hat, angefeu­ ert von Baberowskis liebsten Feinden, ein ablehnendes Votum gegeben. Bei Twitter heißt es aus linken studen­ tischen Kreisen, auf dem Account des AStA-Mitglieds Bafta Sarbo, es solle ein „Institut für Antikommunis­ mus und Holocaustrelativierung“ gegründet werden. Dabei, so der Historiker, würden Diktaturen wissen­ schaftlich verglichen und analysiert, keineswegs gut­ geheißen. Mit solchen Vorwürfen sieht sich der Trä­ ger des Preises der Leipziger Buchmesse 2012 für sein Standardwerk „Verbrannte Erde – Stalins Herrschaft der Gewalt“ noch immer konfrontiert, weshalb Ba­ berowskis Einschätzung nicht überrascht. Die deutsche Universität habe als Stätte freien Denkens abgedankt. Heiter und gelassen gibt sich hingegen Konrad Paul Liessmann: „In meiner Studienzeit musste in je­ dem Seminar Marx zitiert werden, bei Augustinus ebenso wie bei Wittgenstein. Heute muss überall Ju­ dith Butler zitiert werden. Das verschwindet wieder. Marx ist auch verschwunden.“ 

Erst, als das Rektorat der Universität mit der Bitte um eine Stellungnahme konfrontiert wird, kommen konkrete Antworten. Darin widerspricht man der Be­ hauptung von Mario S., wonach die Dozentin gesagt habe, Universitäten seien kein Ort für Meinungsäu­ ßerungen: „Natürlich gelten für alle Angehörigen der Universität die Grundrechte, dazu gehören sowohl Meinungs- als auch Forschungsfreiheit.“ Außerdem heißt es vonseiten der Universitätsleitung: „Zu den Regeln gehört auch, dass man nicht permanent den Lehrbetrieb durch Zwischenrufe und unwissenschaftli­ che Kommentare stört.“ Mario S. bestreitet ausdrück­ lich, das Seminar durch Fehlverhalten gestört zu ha­ ben. Allerdings habe er gesagt, seiner Meinung nach gehöre der Islam nicht zu Deutschland, die hier le­ benden Muslime allerdings schon. „Ich habe meine Aussagen klar begründet.“ Dazu teilt wiederum das Rektorat gegenüber Cicero mit: „Wissenschaftlich ge­ sehen ist eine Aussage wie ,Der Islam gehört nicht zu Deutschland‘ dem Kultur-Rassismus zuzuordnen, da diese Aussage von einer Unvereinbarkeit von Kultu­ ren ausgeht. Somit ist eine Aussage in diesem Sinne zu bewerten, damit findet aber keine Bewertung der gesamten Person statt.“ Mit anderen Worten: Mario S. sei zwar nicht unbedingt ein Rassist, aber seine Äuße­ rungen gingen sehr wohl in diese Richtung. das große Begriffsbesteck für letzt­ lich kleine Auseinandersetzungen um Macht- und Ter­ raingewinne? Äußert sich hier ausschließlich, wie Her­ fried Münkler und DHV-Präsident Kempen mutmaßen, ein geistiger Import aus den Vereinigten Staaten, ge­ nauer: von den Universitäten der amerikanischen Ost­ küste? Hinter dem Kulturkampf steht das an den Uni­ versitäten und in den Gesellschaften des Westens breit propagierte Paradigma von der je einzuklagenden, stets weiter zu verfeinernden Vielfalt. Veranstaltungen sol­ len abgesagt, Leselisten modifiziert, Traditionen ge­ reinigt werden, weil es sonst an Vielfalt mangele. Das Schlagwort geht zurück auf die Evolutionsbiologie des 19. Jahrhunderts, ehe es im 20. Jahrhundert zum Motto der US-amerikanischen Bürgerrechtsbewegung wurde, die tatsächlich benachteiligten Bevölkerungsgruppen Gerechtigkeit widerfahren lassen wollte. Bald entdeckte die Wirtschaft „Diversity“ als ren­ ditesteigernden Faktor der Mitarbeiterführung. Un­ längst plakatierten 50 deutsche Familienunternehmen „Made by Vielfalt“. Konkret erfahrbar wird der uni­ versitäre Vielfaltsdiskurs vor allem unter Genderas­ pekten. Camille Paglia kritisierte schon 1991 („Zur Krise der amerikanischen Universitäten“) jene Einen­ gungen der akademischen Freiheit, die im autoritären Wahrheitsregime der Literaturwissenschaftlerin und Gender-Theoretikerin Judith Butler zum Protest wird W O H E R S TA M M T

Mitarbeit: Yves Bellinghausen

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WISSENSCHAFT ALS CHARAKTERFRAGE Von  M AT H I A S B RO D KO R B

Weise stiften, zum Beispiel durch einen überzeugenden Feind oder bloßen Eigen­ nutz. Letzteres führen seit Jahrzehnten die liberal-pluralistischen Demokratien mit großem „Erfolg“ vor. Parteien ver­ stehen sich selbst nicht als diskursive An­ gebote an das Wahlvolk auf der Suche nach dem Gemeinwohl, sondern als In­ teressenverbände zur zeitweisen Erobe­ rung des Staates. Die immer größer werdende Lücke zwischen der der Wissenschaftsfreiheit verpflichteten deliberativen Demokratie und ihrem real existierenden Zustand ist dabei nicht ohne den gravierenden, auch technisch bedingten Wandel zu erklären. Habermas’ „Strukturwandel der Öffent­ lichkeit“ (1962) müsste unter den Bedin­ gungen der Digitalisierung eigentlich neu geschrieben werden. S E I T D E N A C H T Z I G E R J A H R E N zeich­ net sich ein dramatischer Umbruch in der Art und Weise ab, wie sich der öffent­ liche Raum strukturiert und kollektive Identitäten schafft. Bis dahin gab es ein­ heitliche Kommunikations- und Identifi­ kationsräume, die unter dem steuernden Zugriff kultureller Eliten standen. Wäh­ rend sich Werftarbeiter der BRD mon­ tags über die „Tagesschau“ und den ak­ tuellen „Tatort“ unterhielten, waren es in der DDR die „Aktuelle Kamera“ und der „Polizeiruf 110“. Der Gewinn eines Mangels an Vielfalt bestand somit im Vorhandensein einer Quelle gemeinsa­ mer Identitätsbildung. Mit der Etablierung privater Fern­ seh- und Radiosender in den achtziger und neunziger Jahren wurde dieser einheitlich

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strukturierte öffentliche Raum aufgelöst. Mit ihm verschwand Schritt für Schritt eine wesentliche Grundlage kollektiver Identität und somit gesellschaftlicher Verständigungsräume. Das Internet trieb diese Entwicklung auf die Spitze. Durch die unüberschaubare Vielfalt der Infor­ mations- und Unterhaltungsangebote ist ein einheitlicher öffentlicher Raum end­ gültig zerbrochen. Mit dem Internet 2.0 wurde darüber hinaus die technische Grundlage für die symbolische Entwer­ tung und Ersetzung der herkömmlichen kulturellen Eliten geschaffen: Fortan konnte jeder Internetnutzer bei geringen Kosten selbst zum Autor in den Weiten des Internets werden. Mit dem Internet der sozialen Medien entstand in einem dritten Schritt die Möglichkeit der Ver­ netzung sozial ausgegrenzter und kul­ turell unterprivilegierter Milieus zu po­ litisch mobilisierbaren Gruppen. Aus dem Stammtisch mit seinen katharti­ schen Funktionen in der Epoche der

Foto: Abgeordnetenwatch

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nlässlich des 70. Geburtstags des Grundgesetzes veranstaltet die deutsche Allianz der Wissen­ schaftsorganisationen eine Kampagne zur Würdigung und Verteidigung der durch die Verfassung garantierten Wis­ senschaftsfreiheit. Ihr Angebot und pra­ xisrelevanter Tätigkeitsnachweis an den Rest der Republik: ohne Wissenschafts­ freiheit auch keine Demokratie. Ach wie wunderbar, wenn das denn richtig wäre! Zunächst klingt das ja auch ganz plausibel: Mit der Ablösung des Feuda­ lismus durch die bürgerliche Demokratie sollte eine Verallgemeinerung des Herr­ schaftsanspruchs auf prinzipiell alle Bür­ ger einhergehen. Diese vielen benötigten allerdings etwas Gemeinsames, auf das sie sich verständigen konnten – jenseits aller bisherigen Autoritäten. Vor diesem Hintergrund liegt es nahe, die Aufklä­ rung und mit ihr die Vernunfttätigkeit und Wahrheitssuche zum geistigen Nuk­ leus dieser neuen Epoche zu erklären. Verzichtet man jedoch auf eine nor­ mative Aufladung des Begriffs der Demo­ kratie und begreift sie schnöde als eine auf Mehrheitsentscheidungen gegründete Herrschaftstechnik, ist es vorbei mit der romantischen Verknüpfung von Wissen­ schaft und Demokratie. Die auf Vernunft und Wahrheitssuche gegründete Demo­ kratie erweist sich lediglich als Sonder­ fall. Dieses deliberative Modell lebt von der Vorstellung eines einheitsstiftenden Gemeinwohls, das diskursiv anhand ver­ bindlicher Regeln ermittelt wird. Einheit im Sinne der Mehrheitsbil­ dung lässt sich aber innerhalb eines Wahl­ volks ganz demokratisch auch auf andere

Mathias Brodkorb ist Mitglied der SPD und war von 2011 bis 2016 Minister für Bildung, Wissenschaft und Kultur sowie von 2016 bis April 2019 Finanzminister von Mecklenburg-Vorpommern. Er kam 1977 in Rostock zur Welt, wo er Philosophie und Altgriechisch studierte. Brodkorb ist ein Kenner der rechten Szene und hat sich im Kampf gegen neonazistische Umtriebe in seinem Heimatland engagiert

Vorherrschaft des öffentlich-rechtlichen Rundfunks werden in der Welt des Inter­ nets adressierbare und selbsttätige politi­ sche Subjekte. Die politische Willensbil­ dung findet in den selbstreferenziellen Blasen des World Wide Web vielleicht mehr statt als jemals zuvor. In einer auf Vielfalt, Selbstbezüglich­ keit und Unterkomplexität angelegten Me­ dienwelt wird der Populismus nicht nur zum bestimmenden Modus für das Par­ teiensystem mit allen seinen zentrifuga­ len Konsequenzen, sondern zu einer ge­ sellschaftlichen Lebensform. Er ist in der technischen Struktur des Internets ange­ legt und seine Wirkung ubiquitär. Dass auch das Wissenschaftssystem hiervon nicht unberührt bleibt, zeigen zahlreiche Einzelfälle: Baberowski in Berlin, Schöne­ cker in Siegen, Schröter in Frankfurt am Main. Bei Baberowski geht es um seine ei­ genen Texte, bei Schröter und Schönecker um die Frage, ob es bei der Wahrheitssu­ che an einer deutschen Universität legi­ tim sein kann, Referenten mit unliebsa­ men Meinungen „ein Podium zu bieten“. In all diesen Fällen wirken meist die­ selben Mechanismen. Zunächst wird von einer kleinen, meist anonymen Gruppe im Internet eine virtuelle Kampagnen­ realität erschaffen. Der Schlüssel zum Erfolg liegt hierbei in der Moralisierung, also einem wissenschaftsfremden De­ nunzierungscode. Die typisch deutsche Form der moralisierenden Diffamierung ist dabei die reductio ad Hitlerum, die auch in diesen drei Beispielfällen aus al­ len Ritzen lugt. Was darauf folgt, ist zu­ verlässig prognostizierbar: Regionale Tageszeitungen steigen in die Berichter­ stattung ein; kurz darauf folgt die überre­ gionale Presse. Spätestens das löst an den betroffenen Universitäten Diskussionen aus, schließlich gilt es „Schaden“ von der jeweiligen Institution abzuwenden. Mit anderen Worten: Ohne die technischen Möglichkeiten des Internets und die Be­ reitschaft von Journalisten, das Popu­ lismus-Schwungrad dieses Mediums als Transmissionsriemen anzutreiben, sind die genannten Fälle nicht zu erklären. Aber die Rolle der journalistischen Öffentlichkeit in diesen Fällen ist nicht das eigentlich Betrübliche. Betrüblicher

sind die Reaktionen des Wissenschafts­ systems selbst. Während im Falle Ba­ berowski die ehemalige Wissenschafts­ ministerin und jetzige HU-Präsidentin Sabine Kunst (SPD) den Angegriffenen zumindest öffentlich verteidigte und sich nunmehr mit Rücktrittsforderungen ih­ res eigenen Parteinachwuchses kon­ frontiert sieht, entschloss sich die Uni­ versität Siegen selbst zum Eingriff in die Wissenschaftsfreiheit. Philosophiepro­ fessor Schönecker hatte unter anderen Thilo Sarrazin und Marc Jongen (AfD) als Referenten in ein hochschul­i nternes Seminar eingeladen, auf dass sich die Studenten argumentativ selbst an den Herrschaften erproben könnten. allenthalben mehr Praxisnähe in der Hochschulaus­ bildung gefordert wird (und was könnte das im Fach Philosophie anderes bedeu­ ten als den direkten Diskurs auch mit unliebsamen Autoren?), sahen Hoch­ schul- und Fakultätsleitung es in die­ sem Falle anders: Sie kritisierten das Seminar wegen mangelnder „politi­ scher Neutralität“. Zwar stehe man zur Wissenschaftsfreiheit und wolle das Seminar auch nicht unterbinden, aller­ dings komme in diesem Falle die Nut­ zung der Fakultätsmittel zur Durchfüh­ rung der Veranstaltung nicht infrage. Da sich die Freiheit von Forschung und Lehre allerdings nicht ohne die erfor­ derlichen finanziellen Mittel realisieren lässt, handelt es sich um den Versuch WÄ H R E N D A N S O N S T E N

eines mittelbaren Eingriffs in die Wis­ senschaftsfreiheit – und zwar durch die Wissenschaft selbst. Diese selbstzerstörerischen Ent­ wicklungen sind für das deutsche Wis­ senschaftssystem bedrohlich. Die be­ schriebenen Ereignisse erscheinen vor allem deshalb so bedeutsam, weil sich echte Wissenschaftsfreiheit ja gerade nicht an den lauen Fällen als solche er­ weist. Das Grundrecht auf Freiheit von Forschung und Lehre hat in jenen Fäl­ len seinen Probierstein, in denen Wis­ senschaft an die Grenzen des Com­ mon Sense stößt. Es soll dafür Sorge tragen, dass die Wahrheitssuche nicht durch außerwissenschaftliche Motive in Mitleidenschaft gezogen wird. Es auch und gerade gegen Angriffe von außen zu verteidigen, ist daher die vor­ nehmste Verpflichtung eines jeden Wis­ senschaftlers – auch im wohlverstande­ nen Eigeninteresse. Wissenschaftler sind jedoch nicht nur Wissenschaftler, sondern haben auch eine bürgerliche Existenz und können bei entsprechender Medienlage schnell zum Paria mutieren. Wer einem Paria öffent­ lich beisteht, droht dasselbe Schicksal zu erleiden. Und umgekehrt: Wer auf den Paria eindrischt, darf darauf hoffen, mit einem Fingerschnippen sein Karma­ konto mit symbolischem Kapital aufzu­ füllen. Wissenschaft und Journalismus sind eben immer auch eine Charakter­ frage – gerade im digitalen Zeitalter des Populismus.

Woher kommt die Lust an der akademischen Selbstzerstörung?

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B E R LIN E R R E PU B LIK

LAND DER UNGLÜCKLICHEN Von   A N TJ E H I L D E B R A N DT

Fotos   N I K I TA T E RYO S H I N

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In keinem anderen Bundesland sind die Menschen unzufriedener als in Brandenburg. Für die Landtagswahl im September schwant einem nichts Gutes. Dabei geht es mit der Wirtschaft bergauf. Was ist da los? Hannelore Wodtke am Rand des Tagebaus Welzow-Süd in der Niederlausitz

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in Loch in der Erde. 100 Meter tief. Es gibt kaum ein Bild, das besser beschreibt, was Hannelore Wodtke empfindet, wenn sie an ihre Zukunft denkt. Der Tagebau Wel­ zow-Süd in der Niederlausitz, Wodtke, eine jung gebliebene Endsechzigerin, steht am Rand des Abbaugebiets und starrt in den Abgrund. Eine För­ derbrücke liegt darin wie ein umgekippter Eiffelturm. Ihre Förderbänder stehen heute still. Es ist ein gespens­ tisches Szenario. Hannelore Wodtke kennt den Anblick. Ihr Haus liegt nicht weit von der Kante des Loches entfernt, nur 400 Meter Luftlinie. Noch. Denn wenn es nach den Plä­ nen der Lausitzer Energie Bergbau AG (LEAG) geht, könnte die Abrisskante bedrohlich nahe rücken. Ihre Nachbarschaft soll „plattgemacht“ werden, so formu­ liert sie es. Ihr eigenes Haus bliebe zwar verschont, aber es wäre von drei Seiten umzingelt von Lärm und Dreck. Sie sagt: „Was wäre das für ein Leben?“ Der Südosten von Brandenburg. Es ist eine Re­ gion, die von der Landkarte radiert wird, weil sich der Braunkohletagebau immer weiter ins Land frisst – zumindest so lange, bis der Bund 2038 aus der Kohle aussteigt. Die Braunkohle aus Welzow gilt als eine der besten in ganz Deutschland. Jede zehnte verbrauchte Kilowattstunde wird von den Kraftwerken der LEAG produziert. Sie ist der wichtigste Arbeitgeber in der Region. Mehr als 8000 Menschen arbeiten im Tage­ bau und in den drei Kraftwerken. Und deshalb beginnt

diese Geschichte hier. Brandenburg wählt im September einen neuen Landtag. Und die rotrote Landesregierung steht unter gewaltigem Druck. Denn im Glücksatlas von 2018 – einem Ranking der Bundesländer, das Wirtschaftswis­ senschaftler der Uni Freiburg seit 2011 im Auf­ trag der Deutschen Post erstellen – ist Branden­ burg von allen Bundesländern auf dem letzten Platz gelandet. Daran muss man denken, wenn man mit dem Zug aus Berlin ins Kohlerevier in die Niederlausitz fährt. Und das Erste, was man sieht, wenn man in einem Nachbarort von Wel­ zow aussteigt, ist ein fensterloses Wohnhaus, die Fassade ist noch von Einschusslöchern aus dem Zweiten Weltkrieg übersät. „Das Glück wohnt nicht in Brandenburg“, schrieb die Märkische Allgemeine. Und das wirft Fragen auf. Ein Blick in die Wirtschaftsstatistiken weckt nämlich ganz an­ dere Erwartungen. Brandenburg war schon zu DDR-Zeiten strukturschwach, es gab die Braun­ kohle in der Lausitz, hier und da ein bisschen In­ dustrie, aber sonst nur Landwirtschaft. Das war’s. Jetzt aber geht es bergauf. Die Arbeits­ losenquote hat sich innerhalb der vergange­ nen zehn Jahre halbiert. Sie liegt nur noch bei 5,8  Prozent. Die Wirtschaftsförderung des Landes trägt Früchte. Im Speckgürtel rund um Berlin wird es langsam eng. Das Land hat begonnen, die Städte und Regionen in der zweiten Reihe zu fördern. Das spüren die Bewohner im Portemonnaie. Zwar liegt das durch­ schnittliche Brutto-Einkommen mit 2582 Euro deutlich unter dem Bundesdurchschnitt, aber es ist höher als in allen anderen ostdeutschen Bundesländern. Woher rührt also der Frust? Warum liegt das Land in der Zu­ friedenheit in den Bereichen „Gesundheit“, „Arbeit“, „Wohnen und Freizeit“ ganz hinten? B R A N D E N B U RG H AT VO RT E I L E , von denen Berliner nur träumen können. Das muss sogar der Mann ein­ räumen, der dem Land einst eine Hymne eingebrockt hat, in der sich „Brandenburg“ auf „gegen einen Baum gegurkt“ reimt und „Chanel“ auf „Schlecker“. Flie­ der vorm Fenster, Störche auf dem Dach, eine eigene Wiese hinterm Haus – und dann diese Stille. Rainald Grebe muss es wissen. Schließlich habe er sich vor sieben Jahren ein Wochenendhaus in einem Dorf in der Uckermark gekauft, in der Toskana des Nordens, 40 Einwohner, 1000 Kühe. Besuchen kann man ihn dort nicht. Auch der Name des Dorfes muss geheim bleiben. Er sagt, er wisse ja, dass er sich mit dem Lied keine Freunde gemacht habe. „Erst macht man sich lus­ tig über Brandenburg, und dann kauft man sich eine Hütte von dem Geld.“ Wie hat neulich jemand aus dem

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BERLINER REPUBLIK

Die Förderung zeigt Früchte, im Speckgürtel rund um Berlin wird es langsam eng

Links: Verlassene Häuser allerorten – auch wenn es wirtschaftlich bergauf geht Oben: Die verlassenen Dörfer sind ein fruchtbarer Boden für rechte Parolen Rechts: Besucher aus Berlin verirren sich eher selten in die Niederlausitz

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BERLINER REPUBLIK

Dorf augenzwinkernd gesagt: „Ach, der arme Künst­ ler.“ Nein, Grebe will lieber keine schlafenden Hunde wecken. „Nicht, dass da noch Leute hinkommen, über den Zaun gucken oder was anzünden.“ Man trifft den Entertainer und Liedermacher auf einer Wiese gegenüber einem Einkaufszentrum in Ber­ lin-Pankow, dort, wo er vor ein paar Jahren mal hinge­ zogen ist, als eine Beziehung in die Brüche ging. Bei­ nahe hätte man ihn nicht erkannt in Jogginghose und Hoodie, er ist unrasiert und trägt eine Nickelbrille. Und über Brandenburg verliert er kein böses Wort. Es klingt eher besorgt, wenn er sich fragt, wie hart das Leben für die Menschen ist, die dort an 365 Tagen im Jahr leben. Schlecht bezahlte Jobs. Kein Discounter im Dorf, der nächste Arzt eine halbe Autostunde ent­ fernt. Er sagt, gerade seien wieder zwei alte Bewohner gestorben. Grebe fragt sich, wie lange es wohl noch dauere, bis die Zugezogenen in der Mehrheit sind. Er sagt, noch stehe es 30:10. Der Musiker redet über die Uckermark wie über ein Auto, mit dem man sich zwar nicht fotografieren lassen würde, weil es schon ein bisschen verbeult ist. Das man aber gerade deshalb besonders pflegt, weil dieses Auto schon so viele Unfälle überstanden hat und weil es so ein Auto kein zweites Mal gibt. Er duzt seine Nachbarn. Doch, sagt er, man habe sich arrangiert. Er hat sie auch schon eingeladen in seine Konzerte in Berlin, sie haben ihm geholfen, sein Haus zu renovieren. Eine Hand wäscht die an­ dere. Aber richtig dazu gehöre er nicht. Will er auch gar nicht. Er sagt, es sei der Abstand, der ihm helfe runterzufahren. „Dieses Land scheint irgendwas frei­ zusetzen, dass ich da immer gute Ideen kriege.“ Bran­ denburg als Sehnsuchtsort. G R E B E L E B T I N B E R L I N , im Prenzlauer Berg. Er ist viele Wochen im Jahr unterwegs auf Tournee. Er sagt, früher habe er sich immer lustig gemacht, wenn Kolle­ gen mit glänzenden Augen von ihren Wochenendhäu­ sern mit ihren Sitzrasenmähern in der Pampa erzählt hätten. Er grinst verknautscht. Heute ist er Vater eines zweijährigen Kindes und selber Hausbesitzer. Last exit, Brandenburg. Immer mehr stressge­ plagte Großstädter flüchten ganz aufs Land, in die zweite Reihe. Vom „Badewanneneffekt“ spricht Fried­ helm Boginski (FDP), seit 13 Jahren Bürgermeister von Eberswalde, bekannt für seine Wurst. „Irgend­ wann ist die Wanne in Berlin voll, und dann schwappt das Wasser über, erst in den Speckgürtel – und dann auch ins Umland.“ Dieser Punkt ist längst erreicht. Berlin hat 3,7 Mil­ lionen Einwohner und platzt aus allen Nähten. Auch im Speckgürtel – dem Brandenburger Umland, das man noch per S-Bahn oder Regionalbahn erreichen

kann – wird es mit 978 238 Einwohnern langsam eng. Jetzt sind die Städte in der zweiten Reihe dran. Eberswalde liegt strategisch günstig an der Bahn­ strecke Berlin-Stettin. Das ist sein Vorteil. Deshalb steht die Stadt auf der Liste der 15 Städte, die vom Land gefördert werden. Weg vom Gießkannenprin­ zip, hin zur Bildung von „Wirtschaftskernen“, lautet die Marschroute. Ein Landesentwicklungsplan, ent­ worfen von den Verwaltungen von Berlin und Bran­ denburg, gibt sie vor. Eberswalde wächst. War die Zahl der Einwohner nach der Wende noch von 52 000 auf 39 000 gesunken, so steigt sie seit 2014 wieder leicht an. 42 000 Bürger hat die Stadt heute. Friedhelm Boginski konstatiert es zufrieden. Er ist 63, gebürtiger Brandenburger aus dem Oderbruch. Ein charismatischer Glatzkopf, der Schul­ leiter war, bevor er sich in das Abenteuer Politik ge­ stürzt hat. Jetzt steht er in seinem Büro im Rathaus von Eberswalde und schaut auf den Marktplatz. Familien mit Kinderwagen laufen vorbei. Er sagt, vor ein paar Jahren hätten sie noch überlegt, alte Kitas abzureißen, mangels Nachfrage. Jetzt blühe die Stadt wieder auf. Das Glück, es wohnt also doch in Brandenburg. Aber es kommt nicht von hier. Es sind Neubürger aus dem Speckgürtel oder aus Berlin – und in den östli­ chen Regionen des Landes auch aus Polen. Prallen da nicht Welten aufeinander? Hier die Eingeborenen, die jetzt länger auf einen Kitaplatz warten müssen? Dort die Großstädter, die die Nase ob der würzigen Land­ luft und der Küche rümpfen, die immer noch kalori­ enreicher als in Berlin ist? Boginski fallen keine Probleme ein. Und wenn doch, sagt er das nicht. Aber Eberswalde wachse eben nur langsam. Jedes Jahr ein paar 200 Einwohner mehr, so viele könne man schon verkraften, sagt er mit Blick auf die Nachbarstadt Bernau. Deren Einwohnerzahl hat sich seit der Wende auf 40 000 Einwohner mehr als verdoppelt – zum Leidwesen der Einheimischen. Bauplätze sind auch hier inzwischen Mangelware. Ver­ stopfte Straßen. Und kein Verkehrskonzept in Sicht. Berliner Verhältnisse. Sebastian Fröschke, 32, aus Finsterwalde („Dus­ terbusch“) kennt beide Seiten. Als Zugbegleiter der Ostdeutschen Eisenbahn GmBH pendelt der gelernte Gärtner regelmäßig auf der Strecke Berlin-Cottbus hin und her. Ein Mann mit Hipster-Bart und grün-golde­ ner Designer-Brille, der so gar nicht ins Klischee des bodenständigen Brandenburgers passt. Er fliegt gern in der Weltgeschichte herum. Noch lieber aber unter­ hält er seine Fahrgäste. „Willkommen im Buletten-Ex­ press nach Berlin“, das ist so eine Fröschke-Durchsage. „Wir halten gleich in der Weltmetropole Lübbenau.“ Gelächter in Wagen 1. Solche Sprüche lockern die Atmosphäre. Und das, sagt Fröschke, sei manchmal

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Eberswalde wächst, seit 2014 steigt die Zahl der Einwohner wieder an

Oben: In Neu-Haidemühl leben heute die umgesiedelten Bewohner Links: Halber Brandenburger, halber Berliner – der Musiker Rainald Grebe

Das Glück wohnt nicht in Welzow

Rechts: Bevor die Energiewende nach Welzow kommt, kommen die Braunkohlebagger Unten: Auf dem alten Militärflugplatz könnten Löschflugzeuge starten

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BERLINER REPUBLIK

Wichmann sagt, er habe gar nicht gewusst, wer Andreas Dresen ist. Der habe irgendwann vor seiner Tür gestanden. In Jogginghose. Er sei aus allen Wol­ ken gefallen, als der erste Film ins Kino gekommen sei. Aber die Filme hätten ihm ja nicht geschadet. Im Gegenteil, der Film habe gezeigt, wie sich der Politiker die Hacken für einen Job abgerannt hat, der nicht besonders gut bezahlt worden sei. 4500 Euro für eine 70-Stunden-Woche: Henryk Wichmann nahm das in Kauf. Er passt nicht ins Klischee des notorischen Nörglers. Man darf ihn sich als einen Brandenbur­ ger vorstellen, der für seinen Job brennt. Der, wie es Andreas Dresen in seinem zweiten Film süffisant be­ merkte, dorthin geht, wo es anderen wehtut: „Zu den Bürgern.“ Als Vorsitzender des Petitionsausschusses hat Wichmann jedes Jahr bis zu 1000 Anträge bearbeitet. 80 in zwei Wochen. Viele Bürger hat er persönlich ge­ troffen. Wenn es also in Brandenburg jemanden gibt, der die Frage beantworten kann, was die Brandenbur­ ger so unzufrieden macht, dann ist er es. Wichmann hat Berlin auf der A 11 hinter sich ge­ lassen. Die ersten Windräder tauchen auf. Die Land­ schaft wellt sich sanft, je weiter er nach Norden kommt. Die Uckermark. 5000 Quadratkilometer. So groß wie das Saarland. Hier ist er aufgewachsen. Hier lebt er auch heute noch mit seiner Frau und den vier Töch­ tern. Und hier ist jetzt auch sein Büro. Als Sozialdezernent, sagt er, habe er es mit Men­ schen zu tun, die sich als Bürger zweiter Klasse füh­ len. Hartz-IV-Empfänger zum Beispiel. Dass die Ar­ beitslosenquote auf einen historischen Tiefststand gesunken ist, davon hat er in der Uckermark noch nichts gemerkt und auch nichts von den blühenden Landschaften, die sein Idol, Alt-Kanzler Helmut Kohl, dem Osten einst versprochen hatte. Der Prozess der Wiedervereinigung sei ins Stocken geraten. „Nach 30  Jahren müssten wir die Renten- und Gehälter­ angleichung doch langsam mal hinkriegen.“ Bran­ denburg entwickle sich sehr unterschiedlich. Und das liege auch an dem Landesentwicklungsplan. Der nämlich fördere nur die Regionen, die durch ihre Ver­ kehrslage ohnehin schon einen Vorteil hätten. Was aber sei mit der Peripherie? Er meint natürlich die Uckermark. Dort, so sagt er, wachsen 23,6 Prozent der Kinder in Hartz-IV-Familien auf. In Potsdam-Mittelmark seien es nur 4,8 Prozent. Wichmann seufzt. Viele seiner Sorgenkinder seien bis­ her durch die Maschen der Förderung gefallen, weil es die Eltern nicht geschafft hätten, Anträge beim Ju­ gendamt durchzuboxen. Wichmann hat sich jetzt in Rage geredet. Er will die Fachaufsicht stärken. Sie soll die Förderung für die Kinder einfädeln, wenn es die El­ tern nicht schaffen. Er sagt, früher habe das doch auch

auch nötig. Denn sein Zug fahre nur einmal pro Stunde. So sehen es die Verträge mit den Geldgebern vor, die Länder Berlin und Brandenburg. Mehr gäben deren Zu­ schüsse nicht her. Fröschke seufzt. Er muss die Folgen dieser Sparpolitik ausbaden. Die vier Wagen seines Zu­ ges seien regelmäßig überfüllt, sagt er. „Die Leute sit­ zen dann schon auf der Treppe oder auf dem Boden.“ Die Laune hebe das nicht. Meistens seien es die Berliner, die ihn dann an­ schnauzten. Er sagt, er erkenne sie schon an ihrem Outfit. „Die Business-Kasper aus Mitte tragen Kra­ watte, Hemd und Sakko, die Möchtegern-Berliner aus Falkensee Poloshirts und die Nase hoch.“ Sebastian Fröschke hat seine eigene Strategie entwickelt, um Druck aus dem Kessel zu nehmen. Er gefällt sich in der Rolle als Unterhalter. Manche nerve das vielleicht, sagt er. Aber am Heiligabend habe er auch die ewi­ gen Nörgler überzeugt. „Da habe ich ,Driving Home for Chrismas‘ gespielt und ein Weihnachtsgedicht vor­ gelesen.“ Von Fontane, natürlich. „Ich bin schließlich Brandenburger.“ wo man es am allerwenigsten vermutet. Und bei manchen klopft es auch an die Tür. Henryk Wichmann ist das passiert. Er war bis Ende 2018 stellvertretender Fraktionschef der CDU im Brandenburger Landtag. Dann legte er für viele überraschend sein Mandat und alle Partei­ ämter nieder, weil er ein Angebot bekam, von dem er sagt, er habe es einfach nicht ablehnen können. End­ lich nicht mehr nur reden und Anträge stellen, die dann von der Regierung vom Tisch gewischt werden. End­ lich selber gestalten. Wichmann ist jetzt Sozialdezer­ nent in der Uckermark. Er ist verantwortlich für Kitas, Schulen und Jobcenter. Ein Mann, der das Haar seitengescheitelt trägt und das Herz auf der Zunge. Viele kennen ihn schon aus dem Kino. Er ist „Herr Wichmann von der CDU“ und „Herr Wichmann aus der dritten Reihe“, Protago­ nist zweier Dokumentarfilme, die der mehrfach preis­ gekrönte Regisseur Andreas Dresen („Gundermann“, „Sommer vorm Balkon“) über ihn gedreht hat, auch er ein Brandenburger. Sie zeigen „das ärmste Würstchen, das die deut­ sche Politik aufzubieten hat“, hat der Spiegel mal über Wichmann geschrieben. Einen jungen Mann, der erst schier chancenlos um seinen Einzug in den Landtag kämpfte und dann, als er sein Ziel erreicht hat, mit nicht nachlassendem Schwung von Termin zu Termin hetzte. Dieser Wichmann sitzt jetzt am Steuer seines schwarzen VW Passats und fährt über die Autobahn A 11 zurück von einem Termin in Berlin nach Prenz­ lau, wo sein Schreibtisch steht in einer umgebauten russischen Kaserne. DA S G LÜ C K , E S S TE C K T M A N C H M A L DA ,

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funktioniert. Der Staat habe sich um alle ge­ kümmert. Gleiche Chancen für alle. Er will ein Stück der alten DDR zurück. „Zurück in die Vergangenheit?“ Es ent­ behrt nicht der Ironie, dass das auch das Rezept der AfD im Landtagswahlkampf ist. Eine Partei, von der Henryk Wich­ mann sagt, sie sei nicht koalitionsfähig. Ihr Spitzenkandidat, Andreas Kalbitz, sei „als rechtsextrem einzustufen“. Doch im Land der Unglücklichen fallen die Forderungen auf fruchtbaren Boden. Die AfD will, dass Kinder schon ab der ersten Klasse Noten kriegen. Behinderte sollen wieder auf För­ derschulen gehen. Familien sollen mit ei­ ner Prämie fürs Kinderkriegen belohnt werden. Und die Braunkohle in der Nie­ derlausitz soll weiter gefördert und verfeu­ ert werden. Vom Klimawandel und seinen Folgen will die AfD nichts bemerkt haben. Von den Waldbränden vor ihrer Haustür und der Lieberoser Wüste, die sich in der Niederlausitz inzwischen über fünf Quad­ ratkilometer erstreckt. Klimawandel, wel­ cher Klimawandel? U N D DA M IT S I N D W I R ZU RÜ CK in Welzow, bei Hannelore Wodtke. Der Klimawandel ist ihr Thema. Sollen andere ruhig meckern, sie macht lieber. Sie kämpft dafür, dass der alte Militärflughafen in Welzow zur Start­ bahn für Flugzeuge wird, die Waldbrände aus der Luft löschen. Sie sitzt seit Jahren für die Bürgerinitiative Grüne Zukunft Welzow in der Stadtverordnetenversammlung. Jetzt kandidiert sie zum ersten Mal für den Land­ tag, für die Lausitzer Allianz, eine Klein­ partei ohne Chance. Wodtke hat die Niederlausitz in der Kohlekommis­ sion des Bundes vertreten. Seither reden einige Nach­ barn nicht mehr mit ihr. Oder sie machen es wie die SPD-Bürgermeisterin und brechen Telefonate einfach ab, sobald der Name Wodtke fällt. Denn Wodtke hat etwas getan, was man in den Augen der Kohlekumpel und Klimawandelleugner nicht macht. Sie hat aus Pro­ test gegen den Kohlekompromiss gestimmt. Dabei, sagt sie, während sie in ihrem Ford mit 90  Kilometern die Stunde durch den Ort brettert, wünsche sie sich, dass die Förderbänder lieber heute als morgen stoppen. Sie könnte stundenlang über den Dreck, den Lärm und die gesundheitlichen Gefahren durch den Kohlestaub schimpfen. Aber warum hat sie gegen den Kompromiss ge­ stimmt? Hannelore Wodtke tritt auf die Bremse. Vor

Fontane-Gedichte als Antidepressivum: Zugbegleiter Sebastian Fröschke versöhnt Berlin mit Brandenburg

ihr laufen drei Hühner über die Straße. Sie murmelt etwas von einer „Bestandsgarantie“ für den Wohn­ block 5 in Welzow und für den Nachbarort Proschim. Diese Garantie, sagt sie, sei immer Teil des Vertrags gewesen. Aber in der Endfassung habe sie plötzlich ge­ fehlt. Es habe ihr das Herz herausgerissen. Denn sie weiß ja, was das bedeutet. 470 Menschen müssen damit rechnen, umgesiedelt zu werden. Hannelore Wodtke holt tief Luft: „Sie verlieren ihre Heimat.“ Heimat. Das ist ein Wort, das an diesem Ort schwe­ rer wiegt als die Summe seiner Buchstaben. Und das liegt auch an der Wiedervereinigung. Die Branden­ burger sind Stehaufmänner und Stehauffrauen. Sie ha­ ben die SED-Diktatur, die Wende und den Aufbruch ins neue Deutschland überstanden. Viele haben ihren Job verloren. Das erklärt natürlich auch ihre Unzufrie­ denheit. Sie haben es aufgegeben, auf die blühenden

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Landschaften zu warten. Sie fühlen sich verraten. Auch deshalb hat die AfD im Land der Unglücklichen ein leichtes Spiel. Nach Umfragen liegt die Partei derzeit mit 19  Prozent nur knapp hinter SPD und CDU. Und jetzt will der Staat auch noch ihre letzte Wurzel kappen. Sie sollen ihre Häuser räumen und umgesiedelt werden an einen Ort, der bislang nur in den Köp­ fen der Planer existiert. Bei der LEAG heißt es, die Genehmigung für den Ab­ riss der Häuser liege schon lange vor. Die Entscheidung darüber falle aber erst 2020. Man werde abwarten, wie sich die Politik verhalte und wie sich der Markt für Strom entwickle. bei 50 Prozent. Oder soll man sagen: die Chance? Das Glück, es wohnt nicht mehr in Welzow. Doch ist es möglich, dass die Menschen es woanders finden? Helmut Franz ist da­ von überzeugt. Er ist 66, blassblaue Augen in einem wettergegerbten Ge­ sicht, sonore Stimme. Sein ganzes Be­ rufsleben lang hat er im Tagebau ma­ locht, erst als Elektroingenieur, dann als Betriebsratsvorsitzender. Jetzt ist er im Ruhestand, doch sein Leben kreist noch immer um die Kohle. Er sagt, wo solle denn der Strom herkom­ men, wenn in der Lausitz keine Kohle mehr gescheffelt werde? „Die Energie­ versorgung auf Fingerschnippen umzu­ stellen, das funktioniert nicht.“ Franz müsste seine Doppelhaushälfte in der Bergarbeitersiedlung Glückauf räu­ men, wenn die LEAG ihre Abrissbagger schicken sollte. Er stellt das ganz nüch­ tern fest. Seine Vorstellung von Glück ist eine andere als die von Hannelore Wodtke. Sie klebt an der Scholle. Er schaut nach vorn. Wozu festhalten, was man doch nicht festhalten kann? Die LEAG hat den Bür­ gern versprochen, ihr altes Haus gegen ein neues einzutauschen – am Ufer des Senf­ tenberger Sees. Franz strahlt. Was für eine Aussicht.

Illustration: Anja Stiehler/Jutta Fricke Illustrators; Foto: Antje Berghäuser (Autorin)

DA S R I S I KO L I E GT

A N TJ E H I L D E B R A N DT ist freie Journalistin und schreibt regelmäßig für Cicero online

S O P H I E DA N N E N B E RG S C H R E I BT  …

EN PASSANT To greta or not to greta

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eulich war ich nach langer Zeit in Bonn, um einen Vortrag zu halten. Auf der Stadt lag ein Schatten, nicht nur, weil es reg­ nete. Es war dieser ganz bestimmte Schatten, der sich über ver­ lassene Orte legt und mit der Zeit immer dunkler wird. Ich dachte an die Bonner Republik. Berlin ist ja Wildnis, aber Bonn war damals eine Art politischer Schrebergarten. Man konnte sich da­ rin gemütlich über den politischen Gegner aufregen. Diese Zeiten sind vorbei. Es greift eine Art geistige Vernichtungsangst um sich. Die Leute fürchten, der Gegner würde ihnen das Denken verbieten. Die Veran­ staltung handelte von Ethik im Journalismus, aber bald ging es um al­ les Mögliche, den Kirchentag, den Fernseh-„Tatort“, den Islam. Und schließlich ging es um Greta. Jemand wunderte sich gerade sehr dar­ über, dass ein Berliner Bischof „diese Schulschwänzerin“ in den Rang eines Propheten erhoben hatte, als ich merkte, dass mit mir was nicht stimmt. Greta regt mich einfach überhaupt nicht auf. Das Gleiche gilt für Claas Relotius. Auf der Rückfahrt in der Bahn hatte ich eine Sinn­ krise. Wie, dachte ich, soll es mit mir als Journalistin weitergehen, wenn ich politisch nur noch entspannt in den Bauch atmen kann? So möchte man doch nicht schreiben. Während ich so in die Landschaft döste, dachte ich unvermittelt an Adorno. An ihn und seinen Aufsatz über die „Kulturindustrie“, den er mit Horkheimer geschrieben hatte, 1944, als noch kein Mensch Phä­ nomene wie Greta oder Relotius kannte. Ich fand den Text früher im­ mer zwanghaft auf den Kapitalismus fixiert, der angeblich alles kor­ rumpiert, eben auch die Kultur, egal, wie widerspenstig sie anfangs daherkommt. Jetzt wurde mir klar, wie aktuell der Aufsatz tatsächlich ist. Ja, Aufklärung ist Massenbetrug, Greta ist Massenbetrug. Seit ihr Gesicht das erste Mal über die Bildschirme raste, ist die reale Greta verschwunden. Ihr medialer Schatten wurde längst dem Verwertungs­ prozess zugeführt, so wie alles, das interessant oder skandalös oder tragisch ist. Gar nichts wird Greta darum verändern. Und irgendwann gibt es einen Spielfilm über sie. So wie über Relotius, das Buch über ihn erscheint ja bald, die Filmrechte sind schon verkauft. Utøya ist längst auf Netflix. 9/11 sowieso. Nichts davon ist jemals mehr wahr gewesen. Vor diesem Versinken der Welt in ihre medialen Schatten, nicht vor ir­ gendeinem politischen Gegner, sollten wir uns fürchten. S O P H I E DA N N E N B E RG ist Schriftstellerin und lebt in Berlin. Zuletzt erschien ihr Buch „Teufelsberg“. In Cicero schreibt sie jeden Monat über beiläufige Entdeckungen

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BERLINER REPUBLIK Porträt

SCHNELL IN DER KURVE Schleswig-Holsteins Bildungsministerin Karin Prien verhehlt ihren politischen Ehrgeiz kaum. In der CDU hat sie sich damit nicht nur Freunde gemacht

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Mitte die bessere Klimapolitik machen m Ministerbüro von Karin Prien in Kiel hängt seit ein paar Wochen ein Nolde. kann, dieser Beleg wird derzeit nicht ge­ Noch ist es eine Kopie, aber das Ori­ führt.“ Und: „Die CDU darf nicht nur ginal ist schon bestellt, als Leihgabe der verhindern wollen.“ Es würde nicht über­ Nolde-Stiftung. Schließlich gilt der Ex­ raschen, wenn Prien das innerparteiliche Netzwerk irgendwann als Sprungbrett in pressionist als großer Sohn des Landes Schleswig-Holstein. „Es ist unser Nolde“, die Bundespolitik nutzen sollte. In der großen Politik ist die 54-Jäh­ sagt die Christdemokratin. In Berlin the­ matisiert derzeit eine Ausstellung die Ver­ rige allerdings eine Späteinsteigerin. strickungen des Malers in den National­ Zwar trat Prien schon 1981 mit 16 Jah­ ren als Schülerin in Rheinland-Pfalz in sozialismus. Im Kanzleramt lässt Merkel die CDU ein und engagierte sich in der zwei Noldes abhängen. Prien hingegen warnt vor „hysterischen Moraldebatten“. Jungen Union. Doch dann widmete sie sich ihrem Beruf als Wirtschaftsanwäl­ Sie hat ein Gespür für politische tin in Hamburg sowie ihren drei Söhnen. Symbolik. Längst macht Karin Prien so nicht nur im Norden, sondern auch in Ber­ Erst 2011 nahm Priens politische Karri­ lin von sich reden. Im Sommer vergange­ ere Fahrt auf, mit der Wahl zur Abgeord­ neten der Hamburger Bürgerschaft. nen Jahres initiierte sie die Gründung der „Union der Mitte“, als Antwort der Merke­ lianer auf die „Werteunion“ am rechten I N H A M B U R G engagiert sich Prien zu­ Rand der Partei. Die Gründung sei not­ nächst für ein Volksbegehren gegen die wendig gewesen, um einen Rechtsruck in schwarz-grüne Bildungspolitik, ab 2015 der CDU zu verhindern, sagt sie, „um der tritt sie dann für eine liberale Integrati­ schweigenden Mehrheit in einer existen­ onspolitik ein, verteidigt Merkels Flücht­ ziellen Situation eine Stimme zu geben“. lingspolitik. Als sie auf dem Höhepunkt Die CDU dürfe den Kontakt zur Mitte der Flüchtlingskrise vorschlägt, Flücht­ der Gesellschaft und ihrem Lebensgefühl linge auch privat unterzubringen, wenn nicht verlieren, so Prien, die Partei könne sich die Wohnungsbesitzer dazu bereit rechts gar nicht so viele Wähler hinzuge­ erklären, schlagen ihr Wut und Hass ent­ winnen, wie sie derzeit wieder drohe, in gegen, sie erhält Morddrohungen. der Mitte zu verschrecken. Prien wehrt sich gegen jedes Schub­ Wie groß das liberale Netzwerk in ladendenken. Den Vorwurf, sie habe sich der CDU ist, sei schwer zu beziffern, sagt von einer konservativen zu einer linksli­ Prien, der engere Kreis bestehe aus rund beralen Politikerin gewandelt, nennt sie 100 Mitgliedern, die Zahl der Unterstüt­ „abwegig“, sie habe immer das gemacht, zer gehe in die Tausenden. Von der Mit­ was sie für richtig halte. Wobei Prien ihre teunion wird weiter zu hören sein, in Motivation, sich politisch zu engagieren, die Diskussion um das neue Grundsatz­ aus ihrer Familiengeschichte erklärt. Ihre programm werde man sich aktiv einmi­ beiden Großväter waren Juden, der eine schen. In der Klimapolitik etwa kritisiert musste vor den Nazis fliehen, der andere die CDU-Politikerin die zögerliche Hal­ vor Kommunisten in der Tschechoslo­ tung ihrer Partei zur CO2-Steuer. „Die wakei; geboren wurde Prien in Amster­ dam. „Ich stamme aus einer typischen CDU muss belegen, dass sie mit Maß und

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europäischen Migrantenfamilie, deshalb weiß ich, wie existenziell für eine Ge­ sellschaft Rechtsstaat, Freiheit, politi­ scher Pluralismus sind.“ In der altehrwürdigen Hambur­ ger CDU, die sich nach der kurzen schwarz-grünen Ära unter Ole von Beust wieder in der Opposition einge­ richtet hat, eckt Prien an. Sie twittert und simst, ist immer für einen schnel­ len oder auch zu schnellen Kommentar gut, sie drängelt sich in den Vordergrund und macht sich Feinde. 2017 wechselt Prien nach Kiel, wird Ministerin in der Jamaika-Regierung unter Ministerpräsi­ dent Daniel Günther. Inzwischen ist sie in Schleswig-Holstein auch stellvertre­ tende CDU-Landesvorsitzende. Frisch im Amt, muss Prien erst ein­ mal eine Kurskorrektur vollziehen. In Hamburg kämpfte sie für G 8, in Kiel führte sie das neunte Gymnasialjahr wie­ der ein. Sie habe lernen müssen, wie sehr Bildung in Deutschland einen eigenen Wert habe und dass es nicht nur darum geht, Bildung nach den Anforderungen der Wirtschaft zu konfektionieren. Doch eigentlich will Prien lieber über Schul­ qualität reden, über höhere Bildungsstan­ dards. „Wir müssen aufhören, ständig die Schulstrukturen zu ändern.“ Prien verhehlt ihren Ehrgeiz kaum. Bevor sie von Hamburg nach Kiel wech­ selte, gab ihr allerdings ein Hamburger Parteifreund einen gut gemeinten Hin­ weis: „Wenn man so schnell unterwegs ist wie du, dann fliegt man auch mal aus der Kurve.“ Doch bislang hält sich Prien, auch wenn manche Kurve eng ist.

C H R I S TO P H S E I L S leitet das Ressort Berliner Republik bei Cicero

Foto: Bertold Fabricius

Von  C H R I S TO P H S E I L S

BERLINER REPUBLIK Porträt

SOZI OECONOMICUS Harald Christ ist Genosse und Millionär, er will die SPD unternehmerfreundlicher machen und wirbt für eine Öffnung in die Mitte – in seiner Partei ist er ein Querdenker

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arald Christ möchte nicht der Schwule mit dem Geld sein. Im­ mer wird er auf etwas reduziert. Auf seine sexuelle Orientierung. Auf seinen Hang zur Marktwirtschaft. Oder eben aufs Geld. Journalisten – und auch Parteifreunde  – mögen es, wenn die Dinge einfach sind. Dabei passt Christ in kein Raster. Er ist so wuselig wie eine Tanzmaus, rockt über alle Hochzeiten. Er ist Unternehmer, Politiker, Kämpfer für die Gleichstellung von Minderhei­ ten, Wohltäter, Genussmensch. Doch weil Christ so divers ist, kann man ihn nur schwer greifen. Das ist sein Geheimnis, aber das ist auch sein Prob­ lem. Vor etwa zwei Jahren saß er noch mit dem Reporter in seiner Bibliothek in Westberlin, in einer riesigen Altbau­ wohnung mit allem Schnickschnack. Christ rauchte Kette – wie sein Vorbild Helmut Schmidt, der ihm sehr wohl­ gesonnen war. „Ich glaube, Schmidt mochte mich, weil ich Klartext rede, gerne über Wirtschaft spreche und er in mir die Enkelgeneration verkörpert sah.“ Das Rauchen hat der 47-Jährige inzwischen aufgegeben. „Ich bin kein Suchtmensch. Und mein Zigaretten­ konsum war nahezu suizidal“, sagt er lächelnd. Kevin Kühnert? Man erwartet einen Wutausbruch. Christ bleibt nüchtern, grinst listig. Er möchte kein Anti-Küh­ nert sein, wünschte sich aber, seine Par­ tei würde frei nach Abraham Lincoln an­ erkennen, dass man die Schwächen nicht stärken kann, wenn man die Starken schwächt. Ein Juso-Vorsitzender müsse solche Thesen formulieren dürfen, sagt er, die ja allesamt nicht nur Kühnert zu eigen seien, sondern der Mehrheit in der linken Jugendorganisation. Christ war

selbst Juso, mit 16 trat er bei. In Worms. Er findet: „Der Meinungsdiskurs zeich­ net eine Volkspartei aus. Ich wünsche mir Diskussionen. Enteignung und wirt­ schaftliche Zwangsmaßnahmen kann es ja schon allein qua unserer Verfassung nicht geben. Aber Kühnert hat sein In­ terview genial als PR-Coup genutzt.“ Der Junge könne noch etwas werden. Harald Christ setzt andere Akzente. Er ist Mitgründer des Wirtschaftsforums der SPD, dazu Mittelstandsbeauftragter seiner Partei. Er wirbt für eine Öffnung zur FDP und für eine „Agenda 2030“. Der Staat sei verpflichtet, in Bildung, Forschung, Infrastruktur und Digitali­ sierung zu investieren. Und damit ein nachhaltiges, inklusives Wachstum an­ zuregen. „Es geht um die soziale Markt­ wirtschaft 4.0.“, heißt es in einem Papier des Wirtschaftsforums. H I N T E R VO RG E H A LT E N E R H A N D heißt es bei vielen Sozis: „Der wollte im­ mer was werden. Aber geworden ist er nix.“ Zum Beispiel gehörte er 2009 dem Schattenkabinett des damaligen Kanz­ lerkandidaten Frank-Walter Steinmeier an. Christ winkt ab und wirkt dabei et­ was kokett. Er hätte Ämter und Mandate haben können, sich aber für die Freiheit als Unternehmer entschieden. Es ist dieses „Ich mache alles gleich­ zeitig“, was an Harald Christ verstören kann. Das Wort Tausendsassa mag er nicht. „Ich mache die Sachen ja konse­ quent und richtig“, korrigiert er, wenn man ihn so nennt. Christ kommt aus einfachen Ver­ hältnissen, er war Industriekaufmann, Banker, später Vorstandsvorsitzender der Ergo Beratung und Vertrieb AG, Vorsitzender des Vorstands der Postbank

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Finanzberatung, Generalbevollmächtig­ ter der BHW Bausparkasse AG, Direk­ tor Vertriebssteuerung und Direktor Pri­ vate Banking bei der Deutschen Bank, Geschäftsführer der Hamburger Kapi­ talanlagegesellschaft HCI Capital und der Hammonia Reederei. Er gründete eigene Unternehmen, 2003 die Conomus Treuhand AG und aktuell eine Unternehmensberatung, die er Christ und Company getauft hat. Und damit ist noch lange nicht alles genannt. Christ sitzt in Aufsichtsräten, stiftet Lehrstühle, spendet für alles Mögliche, hat Ehrenämter noch und noch. Und ist eben Politiker, ein bisschen. „Ich habe so viel Energie in mir. Ich brauche diese Vielfalt“, sagt er lapidar. Wenn sein Kör­ per eine Pause nötig habe, fahre er spon­ tan auf eine Städtereise. Mit seinem Lebenspartner. Und so bleibt nach einem Gespräch mit Christ, der auch sagt, dass die Ho­ mophobie weder in der Wirtschaft noch in der Politik schon überwunden sei, vor allem die Frage, wie ein Mensch all dies alleine schaffen kann. Ob er es muss als Sozi oeconomicus? Und ob die SPD derzeit zur unter­ nehmerfreundlichen Partei taugt? Christ sagt, er sei in seiner Partei seit 32 Jahren nicht mehrheitsfähig und schreibt später, er plane aber nicht, die Partei zu verlas­ sen. So klingen Dementis von Fußballern, die sich innerlich schon vom Verein ent­ fernt haben. Später schickt Christ eine Whatsapp. Hinter seine Nachricht setzt er Emoticons. Es sind drei Arme, ange­ winkelt, mit dickem Bizeps.

C H R I S TO P H W Ö H R L E ist freier Journalist und lebt in Hamburg

Foto: Rudolf Wichert/WirtschaftsWoche

Von  C H R I S TO P H W Ö H R L E

BERLINER REPUBLIK

DIE SCHROTTARMEE

Nichts fliegt, nichts schwimmt und nichts läuft mehr bei der Bundeswehr. Die Truppe wird von einer überbordenden Bürokratie gelähmt. Wer daran intern Kritik äußert, wird kaltgestellt 44 Cicero – 06. 2 019

Von  C O N S TA N T I N W I S S M A N N Illustrationen  M O R I T Z W I E N E RT

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m September 2014 war es, da ent­ schloss sich die Nato, ein Zeichen zu setzen. Am östlichen Rand Eu­ ropas hatten die Ukraine und rus­ sische Separatisten gerade einen Waffenstillstand unterschrieben. Der verhinderte aber nicht, dass beide Par­ teien weiter aufeinander schossen. Also wollte das nordatlantische Verteidigungs­ bündnis der sich aufplusternden Militär­ macht Russland zeigen, was es draufhat. 6500  Soldaten aus den verschiedenen Mitgliedsländern nahmen an dem Ma­ növer teil. Mit dabei: ein Bataillon der Bundeswehr. Die Deutschen kamen mit Panzern, aber ohne Waffen. Das sah aber irgendwie nicht so eindrucksvoll aus. Also nahmen die Soldaten Besen­ stiele, malten sie schwarz an und mon­ tierten sie als Kanonenersatz. Als im Fernsehen berichtet wurde, beeilte sich das Verteidigungsministe­ rium zu erklären, dass für die Panzer bei diesem Manöver gar keine Bewaffnung vorgesehen war. Man habe keine Ahnung, warum die Soldaten die Besenstiele mon­ tiert hätten. Trotzdem, das Bild von den Besenstielpanzern blieb bei den Leuten hängen. Es passt einfach zu gut zum Ge­ samteindruck der Bundeswehr. Es vergeht derzeit kaum ein Tag, an dem nicht irgendwo ein Bericht mit neuen Peinlichkeiten aus der Truppe auftaucht. Sie schafft es nicht einmal, die Bundes­ kanzlerin zum G-20-Gipfel nach Argen­ tinien zu fliegen; Angela Merkel stieg auf Linie um. Eine weise Entscheidung, wenn man sich die jüngste Bruchlandung einer Maschine der Flugbereitschaft auf dem Flughafen Berlin-Schönefeld vor Augen hält. Wenn die Bundeswehr ein Segel­ boot erneuern will, erhöhen sich die Kos­ ten um 125 Millionen, und die Werft geht pleite. In die „modernsten Schützenpan­ zer der Welt“ passen nur Menschen un­ ter 1,84 Meter, sodass die Einstellungs­ kriterien einer ganzen Truppengattung geändert werden müssen. Von der deut­ schen U-Boot-Flotte konnte lange kein einziges Boot auslaufen. Vom Eurofigh­ ter, dem teuersten Projekt der Bundes­ wehr-Geschichte, waren teilweise nur vier Kampfjets flugfähig. Tatsächlich kann die Truppe über große Teile ihrer Panzer,

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Schiffe, Kampfflugzeuge und Hubschrau­ ber nicht verfügen. Wenn ein neues Pro­ jekt geplant ist, wird es fast immer teurer und trotzdem nicht rechtzeitig fertig. Der Eindruck: Nichts fliegt, nichts schwimmt, und nichts läuft mehr in der Truppe. Es gibt zahlreiche Erklärungen für die anhaltende Misere der Bundeswehr, vieles hängt miteinander zusammen. Wie so oft aber riecht es vor allem am Kopf der Truppe sehr stark. Im Verteidigungs­ ministerium haben sich Fehlentwicklun­ gen so miteinander verästelt, dass dort Probleme nur selten gelöst werden. Das zeigt sich nicht nur bei der Beschaffung von sündhaft teuren Waffensystemen, sondern schon bei Kleidungsstücken. Die sogenannte Fliegerkombi ist der Dienstanzug der Piloten der Luftwaffe. Dass sie nicht kaputtgeht, ist also eini­ germaßen wichtig. Doch wehe, es pas­ siert trotzdem. Dann bekommen es die Soldaten mit dem widerspenstigsten Geg­ ner zu tun: der Verwaltung. Wenn man eine neue Fliegerkombi braucht, dann, so schildert es ein Soldat im aktuellen Wehrbericht, passiert Folgendes: 1.) Antragsteller erstellt Antrag (digital) 2.) Materialbewirtschaftungsfeldwebel der Einheit prüft Antrag (gem. Bekleidungsund Ausrüstungsnachweis) 3.) S4 Abt [Logistik] Verband prüft Antrag 4.) Division Abt G4 prüft Antrag 5.) Kommando prüft Antrag 6.) Bundesamt für Ausrüstung, Informationstechnik und Nutzung der Bundeswehr (BAAINBw) entscheidet über Antrag 7.) Bundeswehr-Bekleidungsmanagement liefert aus an zuständige Servicestation 8.) Kommando Heer informiert Division Abt G4 9.)Division Abt G4 informiert Antragsteller Und schon ist die neue Fliegerkombi da, knapp drei Monate nach dem Antrag. Für die Streitkräfte ist dieser Wahn­ sinn Alltag, und dieser Wahnsinn hat

BERLINER REPUBLIK

Methode. Er zieht sich durch alle Instan­ zen der Bundeswehr und beginnt ganz oben im Ministerium. Produziert wird vor allem Verwir­ rung. Das fängt schon bei dem Minis­ terium selbst an – es gibt nämlich zwei. Das eine steht auf der Bonner Hardt­ höhe. Es ist so groß, dass es Straßen mit Schildern und Namen hat, einen Teich und einen Tennisplatz; mit seinem Zaun und Wachhaus wirkt es wie eine Gated Community. Das andere befindet sich im Bendlerblock, dieser so undurchdringlich wirkenden Neoklassizismus-Burg in Ber­ lin. Eigentlich sollten schon längst alle Angestellten nach Berlin umgezogen sein. Aber im Verteidigungsministerium geht eben nichts schnell. So teilen sich die 2500 Mitarbeiter auf die zwei Standorte auf. Das sorgt für viele Videokonferenzen und Dienstreisen zwischen Bonn und Berlin. Aber das ist nicht die einzige Doppelstruktur. Verant­ wortlich dafür ist der Paragraf 87b des Grundgesetzes. Er stammt aus der An­ fangszeit der Bundeswehr, als das Ver­ teidigungsministerium noch „Amt Blank“ hieß und dem Militär bewusst Stöcke in die Speichen gelegt wurden, damit sich ja kein Staat im Staate entwickeln konnte. So sollten Militär und Politik in Balance bleiben. Das Verteidigungsministerium und seine zahlreichen Ämter sollten die Truppe kontrollieren, tatsächlich aber lähmen sie diese, heute mehr denn je.

Bei der Bundeswehr ist ein effizientes Management kaum möglich

D I E B U N D E S W E H R I S T ein Bürokratie­ monstrum, in dem ein effizientes Ma­ nagement kaum möglich ist. Die aktuell 179 000 Soldaten werden von 70 000 zi­ vilen Mitarbeitern verwaltet. Da gibt es etwa das klangvolle BAIUDBw, das Bun­ desamt für Infrastruktur, Umweltschutz und Dienstleistungen der Bundeswehr. 21 400 Menschen erstellen dort Vorschrif­ ten von der Campingplatzverordnung über die Mülltrennung bis zur Abgasson­ deruntersuchung eines LKWs in Kabul. Insgesamt gibt es in der Bundeswehr um die 15 000 solcher Vorschriften. Das Pro­ blem: Die gigantische Bundeswehrverwal­ tung scheint darauf bedacht zu sein, sich selbst am Leben zu halten. Niemand fragt sich, warum sie eigentlich existiert.

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Das spielt vor allem beim Thema Beschaffung eine wichtige Rolle, denn wenn die Soldaten etwas brauchen, sei es ein Panzer oder ein Rucksack, dann kön­ nen sie nur einen Antrag stellen. Ob dem aber stattgegeben wird und was dann wo gekauft wird – all das entscheiden die Be­ amten. Diese sehen sich selbst als wich­ tige Kontrolleure, die darauf achten, dass die Wünsche der Soldaten nicht aus dem Ruder laufen. Ein Trick, die Kosten zu drücken, ist es, das zu beschaffende Ge­ rät in verschiedene Bestandteile aufzutei­ len. Einige bestellt man sofort, bei ande­ ren wartet man, damit sie den aktuellen Etat nicht belasten. Natürlich werden die verschiedenen Teile dann auch zu unter­ schiedlichen Zeitpunkten fertig. Das hat manchmal groteske Folgen, wie bei dem eingangs erwähnten Transportpanzer. Es ist nur eines von vielen Beispie­ len, wo die Soldaten sich gegängelt füh­ len von Leuten, die allenfalls ein theo­ retisches Bild davon haben, was wie wo gebraucht wird. Und die von den Ent­ scheidungen auch nie unmittelbar betrof­ fen sein werden. „87b-Mafia“ nennen die Soldaten die Beamten deswegen. Das führt dazu, dass beide Parteien, die sich eigentlich in Balance halten sollen, tat­ sächlich oft gegeneinander arbeiten. Im Jahr 2010 stellte eine Reformkommission unter der Leitung des damaligen Chefs der Bundesagentur für Arbeit, Frank-Jür­ gen Weise, fest: Zahlreiche Schnittstel­ len, heterogene Zuständigkeiten sowie der hohe Koordinierungs- und Abstim­ mungsaufwand stünden in krassem Ge­ gensatz zum Prinzip „Führung und Ver­ antwortung aus einer Hand“ und der Forderung, „Vom Einsatz her“ zu den­ ken. Die allgemeine „Verantwortungsdif­ fusion“ mache eine gezielte, sachgerechte und energische Steuerung unmöglich. In diesem Kampf im Ministerium haben die Beamten die bessere Aus­ gangslage. Bei den Militärs ist es die Re­ gel, dass sie alle zwei Jahre ihren Posten wechseln. Die Zivilen haben also deut­ lich mehr Zeit, im Ministerium persönli­ che Verbindungen aufzubauen und sich mit den formalen Abläufen vertraut zu machen. Außerdem sind fast alle von ihnen gelernte Juristen. Sie beherrschen

dadurch die „Grammatik des Staates“ viel besser als die Soldaten. Das gesamte Repertoire der juristischen Begründun­ gen und Formulierungen geht ihnen lo­ ckerer von der Hand. Den Juristen geht es nicht unbedingt darum, schnelle opti­ mierte Lösungen zu finden, sondern sie streben eher nach Lösungen, die so ab­ gesichert sind, dass ihnen keiner einen Strick daraus drehen kann. Wie lange das dann dauert, ist zweitrangig. Ihr Motto lautet: Bevor etwas falsch läuft, läuft es besser gar nicht. Doch das Militär schwächt sich in diesem Kampf auch selbst, denn die Sol­ daten ziehen keineswegs an einem Strang. Die Karrieren beim Militär spielen sich innerhalb bestimmter Seilschaften ab. Da ist die einzelne Truppen­gattung entschei­ dender als die gesamte Truppe. Wer von der Luftwaffe kommt, macht auch nur in der Luftwaffe Karriere, für Heer und Ma­ rine gilt dasselbe. So kommt es, dass ein Generalstabsoffizier aus der Seilschaft des Heeres die Beamten meist mehr oder

Das Motto lautet: Bevor etwas falsch läuft, läuft es besser gar nicht

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weniger subtil so berät, dass das Heer da­ von am meisten profitieren würde. Denn der Offizier weiß: Wenn er vom Ministe­ rium ins Heer zurückkehrt, bewerten ihn seine Vorgesetzten daran, wie nützlich er seiner Truppengattung gewesen ist. Das geht, so hört man es aus dem Ministerium, bis nach ganz oben. Immer wieder passiert es, dass sogar Generale der Politik Ratschläge geben, die zwar nicht unbedingt unsinnig, aber für die ei­ gene Teilstreitkraft und nicht für die ge­ samte Bundeswehr optimiert sind. Wenn man mit Soldaten spricht, hört man viel Frustration über ihre Vertreter im Ministerium heraus. Sobald die Mi­ litärs dort ankommen – der Dienst im Ministerium ist für Stabsoffiziere zwin­ gend vorgesehen –, scheint sich eine ei­ genartige Verwandlung zu vollziehen. Viele denken dann offenbar nicht mehr wie ein Soldat, sondern übernehmen die Eigenlogik der riesigen Behörde. Das bedeutet: Ausgerechnet in dem Moment, in dem die Militärs den größten Einfluss

BERLINER REPUBLIK

auf den Zustand der Bundeswehr aus­ üben könnten, indem sie sich mit Nach­ druck für militärisch notwendige Ver­ änderungen einsetzen, ausgerechnet in diesem Moment geben sie ihre Mitwirk­ möglichkeit freiwillig aus der Hand. Und wenn sie es doch einmal versuchen, sind es selbst Führungskräfte aus der Truppe gewohnt, dass ihre Anliegen nicht einmal angehört, sondern lapidar mit Sätzen wie „Bekommen wir politisch eh nicht durch“ abgespeist werden. Eine Erklärung für dieses Verhalten findet sich in der alles andere als aus­ geprägten Kritikkultur in der Bundes­ wehr. Schon seit Jahrzehnten beklagen Soldatinnen und Soldaten das vorherr­ schende „Absicherungsdenken“. Offen­ bar sind sie aber selbst zu sehr darin ver­ haftet, um es ändern zu können. Das Prinzip „Befehl und Gehorsam“ regiert, Widerspruch und Kritik werden äußerst ungern gesehen. Früh lernt jeder Soldat, nach oben immer möglichst positiv zu melden.

Erfolge gilt es zu vermelden, Probleme zu verschweigen

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In der Truppe kursiert ein Witz, der dies anschaulich illustriert: Der Gefreite meldet dem Kompaniechef: „Herr Haupt­ mann, vor dem Gebäude liegt ein Hau­ fen Scheiße.“ Der Hauptmann denkt sich, „Mist, so kann ich das unmöglich weiter­ melden“. Also schreibt er dem Bataillon­ chef: „Herr Oberstleutnant, wir haben uns entschlossen, vor unserem Gebäude verstärkt Dünger einzusetzen.“ So geht es weiter, bis die Meldung im Verteidi­ gungsministerium so ankommt: „Der Bo­ den vor dem Gebäude erfreut sich einer besonders ausgeprägten Fruchtbarkeit. Pflanzen und Bäume gedeihen prächtig.“ Erfolge gilt es zu vermelden, Prob­ leme zu verschweigen – diese Haltung setzt sich bis ganz oben fort. Es findet eine „innere Negativauslese“ statt, kon­ statiert Ex-General Erich Vad, der von 2006 bis 2013 im Kanzleramt arbeitete und Angela Merkel in Sicherheitsfragen beraten hat. Die „traurige Konsequenz“ daraus: Absicherungsmentalität, Schön­ rederei und Duckmäusertum – auch und

vor allem bei den höchsten Soldaten, den Generalen. Leider. Denn wenn jemand die Kompetenz hat, den drohenden Zu­ sammenbruch der Bundeswehr zu erken­ nen und öffentlich für eine Kurskorrek­ tur einzutreten, dann die Generale. Von ihnen aber hört man Kritisches, wenn überhaupt, erst wenn sie pensioniert sind. Ein ehemaliger Offizier formuliert es so: „Die wissen genau, wo die Dinge unter dem Teppich liegen, weil sie die ja selbst dort versteckt haben. Damit wollen die sich jetzt profilieren in den Medien. Es sind aber dieselben Schleimer, die früher alles schöngeredet haben und so immer weiter aufgestiegen sind.“ verhalten sich die hohen Tiere ruhig. Kein General­ inspekteur demissioniert, kein Inspekteur der drei Teilstreitkräfte rührt sich öffent­ lich, kein hoher Vorgesetzter stellt sich öffentlich demonstrativ vor die Soldaten, wenn sie Fehler begangen haben. Gerade den wichtigsten Militärs fehlt offenbar der Mut. Zu diesem Schluss kamen auch die Wirtschaftsprüfer von KPMG in ihrem Be­ richt, den Verteidigungsministerin Ursula von der Leyen kurz nach ihrem Amtsan­ tritt in Auftrag gab. Zu viele Entscheidun­ gen würden delegiert, statt sie zu treffen, steht darin, viele Entscheider hätten eine „Risikoaversion“. Der Grund dafür liegt auf der Hand: In der Bundeswehr stehen Gene­ rale knapp unter Göttern. Sie haben Fah­ rer, Adjutanten, einen Stab. Ihr Wunsch ist sehr vielen Leuten Befehl. Das möchte keiner gern freiwillig hergeben. Denn ein Verteidigungsminister kann einen Gene­ ral ohne Angabe von Gründen feuern. „Im Ruhestand stehen die dann aber vor dem S O L A N G E S I E A K T I V S I N D,

Nichts“, verrät ein Insider. „Sie sind es ge­ wohnt, dass sofort ausgeführt wird, was sie verlangen, und auf einmal haben sie niemandem mehr etwas zu sagen. Das ist für die eine Horrorvorstellung.“ Als Ursula von der Leyen ihr Amt antrat, wollte sie ihr Ministerium von Grund auf reformieren, eine „neue Feh­ lerkultur“ etablieren. Gerade bei Be­ schaffungsvorhaben müsse mit Fehlern und Risiken offener umgegangen werden. Dies werde „eine Nagelprobe“ sein für ihr Haus, sagte die Ministerin 2014 im Bundestag. „Die Frage wird sein: Hal­ ten wir es aus, wenn Fehler gemeldet und Probleme aufgezeigt werden?“ Die Antwort kann heute nur lau­ ten: Nein, ganz und gar nicht. Was tat­ sächlich passiert, wenn man „Fehler mel­ det und Probleme aufzeigt“, davon kann Jörg-Michael Horn erzählen. Der Kapitän zur See war bis zum März 2018 Kom­ mandeur des 2. Fregattengeschwaders in Wilhelmshaven. Als er beim Kommando­ wechsel eine Rede halten musste, sah Horn endlich die Gelegenheit, einmal all die Probleme aufzuzeigen, die er, wie er es formuliert, „live am eigenen Leib oder am Leibe meiner Besatzungen erfahren“ habe. Horn hatte zuvor mehrfach ver­ sucht, seinen Vorgesetzten zu erklären, was schiefläuft und wie es besser gehen könnte. Das sah er als seine Pflicht als „Staatsbürger in Uniform“ an. Aber er ge­ wann den Eindruck, als gäbe es da „eine Art Lehmschicht“, die sich nicht durch­ dringen ließ. Da schien der Kommando­ wechsel ein Ausweg. Wenn er die Prob­ leme dort öffentlich ansprechen würde, dachte er sich, würde er nicht mehr ig­ noriert werden.

Von Generalen hört man Kritisches erst nach ihrer Pensionierung – wenn überhaupt

MASTER OF ARTS PHILOSOPHIE POLITIK WIRTSCHAFT

„Zur Bildung gehört ein weiter Horizont. In diesem berufsbegleitenden Studiengang werden unterschiedliche Perspektiven – philosophische, politische, ökonomische – integriert. Das macht ihn so attraktiv.“ Prof. Dr. Dr. h.c. Julian Nida-Rümelin, Staatsminister a.D. Sprecher des PPW-Studiengangs Bewerbungsschluss: 15. Juli Bei Fragen zum Studium wenden Sie sich bitte an: Dr. Nikil Mukerji | [email protected] | www.lmu.de/ppw

Dieser Essay basiert auf dem Buch „Bedingt einsatzbereit  – wie die Bundeswehr zur Schrottarmee wurde“. Es ist Mitte Mai im Riva-Verlag erschienen

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Verschwiegenheitspflicht verletzt habe. Von einer Strafe wurde aber abgesehen. Horn sitzt nun im Bundesamt für Personalmanagement der Bundeswehr in Köln. „Ich weiß, dass ich nicht mehr be­ fördert werde“, sagt er, „aber damit kann ich gut leben. Ich habe jetzt 30 Jahre in den Arbeitgeber Bundeswehr aus Über­ zeugung investiert, und das werde ich auch weiterhin tun. Auf jedem Dienst­ posten versuche ich, meinen Job so gut wie möglich zu machen und für die Bun­ deswehr so gut es geht Verbesserungen zu erreichen. Und da werde ich auch wei­ terhin in meinem kleinen Einflussbereich notfalls mit dem Kopf durch die Wand ge­ hen. Das macht das Leben nicht immer einfach, aber ich kann halt nicht anders.“ Horn ist davon überzeugt, dass es viele Leute in der Truppe gibt, in allen möglichen Positionen, die so denken wie er. Die Tragik der Bundeswehr ist, dass diese Leute bewusst kaltgestellt wer­ den. Das merken natürlich auch andere und halten lieber den Mund. So entsteht eine Kultur der Angst, die sich durch das ganze Spitzenpersonal zieht. Wenn man selbst im kleinen Kreis im Offizierska­ sino keinen Scherz mehr machen kann, ohne befürchten zu müssen, dass man da­ mit seine Karriere ruiniert, dann kann keine gesunde Diskussionskultur un­ ter mündigen Bürgern entstehen. Wenn Fehlentwicklungen immer nur verleug­ net werden, kann es keine Verbesserun­ gen geben. Da können alle Berater der Welt nicht helfen. Die Politik ist nicht allein verant­ wortlich für diese Kultur der Angst, aber sie fördert sie. Jeder kennt die Chefs, die nie schuld sind. So eine Chefin ist die Ministerin offenbar für 180 000 Solda­ ten. Man kann einer Politikerin nicht vorwerfen, dass sie versucht, sich im besten Licht zu präsentieren. Aber in der Bundeswehr zählen altmodische Werte wie Loyalität und Kameradschaft eben doch noch ein bisschen mehr als anderswo. C O N S TA N T I N W I S S M A N N ist Onlineredakteur bei Cicero. Er hat seinen Wehrdienst in Hamburg als Panzerjäger absolviert

Foto: Privat

Eine Kultur der Angst zieht sich durch das ganze Spitzenpersonal

Er sollte recht behalten, aber ganz anders als erwartet. In „materieller Hinsicht“ sei es aus seiner Erfahrung als Kommandeur „später als fünf nach zwölf“, sagte Horn bei seiner Rede zum Kommandowechsel. Dann griff er das Verteidigungsministerium direkt an: „Verrechtlichung ersetzt inzwischen vie­ lerorts Entscheidungen, und Führung wird durch Administration ersetzt. All dies ist aus meiner Sicht vor allem eines: Ausdruck von Mangel an Vertrauen in die Arbeit der Truppe. Wenn im Vertei­ digungsministerium ernsthaft diskutiert wurde, die Disziplinargewalt in Kom­ mandobehörden zu bündeln, statt sie den Truppenführern zu überlassen, dann kann ich nur feststellen, dass aus der Geschichte des Dritten Reiches und der Wehrmacht offensichtlich nichts gelernt wurde. Aus sehr guten Gründen wurde mit der Aufstellung der Bundeswehr ein gänzlich anderer Weg beschritten.“ „Drittes Reich“, „Wehrmacht“: Horn wusste, dass er damit in ein Wespen­ nest stach und sich höheren Orts keine Freunde machen würde. Trotzdem hatte er insgeheim gehofft, dass man sich mit seiner Kritik auseinandersetzen würde. Dass vielleicht jemand käme und mit ihm redete, um gemeinsam zu schauen, wie sich die Lage zumindest für seine Nach­ folger auf Kommandoebene und für die Seeleute auf den Schiffen verbessern könne. Er hätte es auch in Ordnung ge­ funden, wenn man seine Meinung nicht geteilt hätte. „Das ist ja das gute Recht meiner Vorgesetzten, die Sachen anders zu sehen. Ich hätte auch verstanden, wenn mich jemand angerufen und ge­ sagt hätte: ‚Passen Sie mal auf, Sie Spat­ zenhirn, was haben Sie sich denn dabei gedacht? Darüber müssen wir uns mal unterhalten. Sie haben der Marine ge­ schadet.‘“ Aber nichts passierte. Statt mit ihm persönlich sprach der Befehls­ haber der Flotte über ihn im Radio und sagte, Horn hätte sich nur persönlich profilieren wollen, und ohnehin sei das alles nicht neu. Zugleich wurde gegen Horn ein Verfahren wegen Geheimnis­ verrats angestrengt. Er wurde vernom­ men, und letztlich wurde ein Dienst­ vergehen festgestellt, weil Horn seine

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BERLINER REPUBLIK Kommentar

GRETAS GENOSSE In der SPD träumen die Genossen wieder vom Sozialismus. Stattdessen sollten sie Pläne entwickeln, wie der globalisierte Kapitalismus gezügelt werden kann

K

Kühnert seine Thesen zum Besten geben durfte: „Wie kann es eigentlich sein, dass ein 29-jähriger Juso-Chef in einem Interview mit der Zeit ‚Sozialismus‘ sagt und die halbe Republik kopfsteht?“ Die Frage ist falsch ge­ stellt. Die richtige Frage muss lauten: Wie kann es sein, dass die Hamburger Wochenzeitung einen politischen Schwadroneur ganzseitig abfeiert – um sich anschlie­ ßend mit überheblichem Gestus von der Wirkung des Interviews zu distanzieren? Die Antwort ist Die Zeit selbst: das Zentralorgan für Religionen aller Art, vom christlichen Bekenntnis über den Islam bis zu säkularen Spielarten des Glau­ bens wie beispielsweise der veganen Ernährung – nun also auch einer Renaissance der ramponierten Revo­ lutionsreligion Sozialismus. So manche Deutsche dürstet es mal wieder nach einer Lösung ein für alle Mal – nach Erlösung. Erlösung wovon? Eine Erlösung vom Kapitalismus – wer würde da nicht hinhören? Die Winterkorns und Ackermanns und Baumanns und Kaesers schalteten und schalten, wal­ teten und walten, als gehöre ihnen die Republik. Die Asozialen des Industrialismus und die Asozialen des Geldgeschäfts provozieren protzend das Proletariat, das Kommunist Kühnert im Kopf hat, wenn er dekre­ tiert: Enteignet sie – genug ist genug! Genug der Misere? Genug der Erfolge! Erfolge nämlich hat der Kapitalismus deutscher und europäischer Art vorzuweisen: Wirtschafts­ wunder, soziales Netz, gute Löhne, Teilhabe am

evin Kühnert, in dieser Kolumne schon mal als Felix Krull der SPD apostrophiert, hat die Lö­ sung, und er meint das ganz im Ernst: BMW kol­ lektivieren. Was der Juso-Vorsitzende allerdings nur als Beispiel anführt für eine ganz grundsätzlich und umfassend zu kollektivierende Wirtschaft. Die Lösung? Genau, denn alles andere, was die Gesellschaft sonst noch so umtreibt, schrumpft durch diese Hinwendung zu sozialistischen Produktionsver­ hältnissen zum bloßen Nebenwiderspruch, der sich gemäß der marxschen Prophezeiung schließlich von selbst auflösen wird. Wie zum Beispiel der Klimawan­ del, das Artensterben oder die Vermüllung der Ozeane. So gesellt sich der Genosse zu Greta – und das strenge Mädchen aus dem kühlen Norden kann, sollte Kevins Kommunismus Wirklichkeit werden, freitags wieder die Schulbank drücken. Wie sich an derlei Kindereien ablesen lässt, ist Ke­ vin Kühnert leider, leider kein Krull, sondern nur ein Komiker, ein Clown, politisch bunt beschminkt, doch niemand lacht. Der düster dozierende Star in Deutsch­ lands Talk-Show-Manege wird geschmäht, als stehe seine Revolution kurz bevor: „Sozialismus ist keine Meinung, sondern ein Verbrechen“, zürnt beispiels­ weise sein junger Parteigenosse Stefan Hasenclever auf Cicero Online. Was bei aller Verve des Vorwurfs gar nicht so falsch ist, kennt die Geschichte doch kein einziges staatssozialistisches Experiment ohne Men­ schenopfer auf dem Altar der Gerechtigkeit. Im Leitartikel auf Seite eins wundert sich ein stellvertretender Chefredakteur des Blattes, in dem

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Illustration: Anja Stiehler/Jutta Fricke Illustrators

Von F R A N K A .  M E Y E R

für einen sozialen Kapitalismus entworfen – die bisher einzige konzise Antwort auf den ideologischen Infan­ tilismus, der die deutsche Publizistik, pubertär auch sie, über jedes Maß erregt. Doch genügt für das große sozialdemokratische Vorhaben Gabriels sozialpolitischer Ansatz, wie er doch seit Godesberg zum Selbstverständnis der SPD gehört? Wäre da nicht ein weiter gehender Entwurf vonnöten, der die kulturelle Verunsicherung der ka­ pitalistisch ebenso beglückten wie drangsalierten Ge­ sellschaft anspricht? Zum Beispiel Sicherheit statt Auf­ lösung aller Grenzen; zum Beispiel Gemeinschaft statt Segregation; zum Beispiel Freiheit für unbotmäßige Gedanken statt Political Correctness; zum Beispiel Heimat im Sinne von bei sich sein. Man muss den Menschen nur zuhören, um auf die Fragen zu stoßen, die deutsche Normalbürger jenseits ihrer sozialen Situation beschäftigen. Das allerdings kapiert der kapriziöse Kevin nie und nimmer. Da muss erst ein Erwachsener kommen. F R A N K A .  M E Y E R ist Schweizer Journalist und lebt in Berlin

Foto: Claudia Höhne

Kulturleben, am Konsumleben – eine Arbeitnehmer­ schaft, die genießt, was es nur unter kapitalistischen Verhältnissen zu genießen gibt. Ja, er hat die erfolgreichste Gesellschaft der deut­ schen Geschichte hervorgebracht: dieser Kapitalismus westlicher Prägung. Er ist Teil einer offenen, demokra­ tischen, rechtsstaatlichen und, dies vor allem, libera­ len Gesellschaft. Die Verfügung über Eigentum, über privates Kapi­ tal ist Teil der Freiheit. Freiheit aber ist unteilbar. Da­ rum hat der Sozialismus nie funktioniert. Warum funktioniert der Kapitalismus? Warum ist er kreativ? Warum treibt er die technische und wirt­ schaftliche Entwicklung voran? Weil er unter der stän­ digen Herausforderung einer kritischen Politik steht, unter dem Druck einer freien Gesellschaft. Einer Ge­ sellschaft, die seit der zweiten Hälfte des 20. Jahrhun­ derts sozialdemokratisch grundiert ist. Der gezügelte, der verantwortliche Kapitalismus ist ein sozialdemokratischer Kapitalismus – für Gläu­ bige der neoliberalen Religion ist er deshalb bereits das, was Wunderknabe Kühnert fordert: Sozialismus, wenn nicht gar Kommunismus. Wahr ist allerdings auch, dass die Globalisierung dem kapitalistischen Wirtschaften verlockende Flucht­ möglichkeiten in rechtsfreie Räume eröffnet. Wie sind die marodierenden Manager, diese Mas­ ters of the Universe, wieder einzufangen? In Brüssel versucht das zum Beispiel und nicht ohne Erfolg die Wettbewerbskommissarin Margrethe Vestager, eine bekennende Liberale. In der Tat, auch der europäische Liberalismus ist Sozialdemokratismus, wenngleich we­ niger staats- als wettbewerbsorientiert. Ein historischer Prozess läuft ab: Der davongeeilte Kapitalismus wird – wo nötig – sukzessive wieder an die Zügel genommen. Denn er bedarf der Schaffens­ freiheit wie der Kontrolle durch die Gesellschaft, um den Reichtum zu entwickeln, der das soziale Projekt Europa und das sozialdemokratische Projekt Deutsch­ land ermöglicht – die soziale Marktwirtschaft. Ungeachtet dieser erfolgreichen Dialektik ergeht sich die Nation in Krisengerede und in Sehnsucht nach Abbruch der kapitalistischen Übung – nach Endgültig­ keiten statt politischen Mühen. Politische Mühen allerdings sind immer Mühen der Freiheit: demokratische Mühen. Dass der Juso-Youngs­ ter, wie der Spiegel schreibt, geeichten Sozialdemo­ kraten „den Schweiß auf die Stirn“ treibt, geschieht nicht ohne Grund. Aus der BMW-Belegschaft schallt der Partei erzürnt entgegen: „Die SPD ist für Arbei­ ter nicht mehr wählbar.“ Was Kevin Kühnert sicher kaltlässt. Arbeiter war er noch nie. Er ist Avantgarde. Im Schweiße seines Angesichts hat Sigmar Gab­ riel, Ex-Vorsitzender der SPD, einen Fünf-Punkte-Plan

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WE LTBÜ H N E

DER KAMPF UM AMAZONIEN Von  C H R I S T I N E W O L LO W S K I

Mit aller Macht will Brasiliens neue Regierung die Schutzgebiete der indigenen Bevölkerung ökonomisch erschließen. Bodenschätze, Landwirtschaft und Wasserkraftwerke versprechen Milliarden­ gewinne. Viele Einheimische wehren sich – andere sind der Verlockung schon erlegen

Illegal gerodete Waldflächen schaffen Platz für Viehzucht im indigenen Schutzgebiet Apyterewa

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W E LT B Ü H N E

D E R N EU G E WÄ H LTE PR Ä S I D E NT hinge­ gen vertritt eine Meinung, die zuletzt vor 1988 verbreitet war: Dass Indigene in die moderne Gesellschaft integriert und in Städten angesiedelt werden sollten, weil ihre traditionelle Lebensweise rückstän­ dig und überholt sei. In einer offiziellen Erklärung vom 30. November 2018 sagt er: „Der Indio ist ein menschliches We­ sen genau wie wir. Er will, was wir wol­ len, und wir dürfen den Indio, der sich noch in einer unterlegenen Situation befindet, nicht benutzen, um diese im­ mensen Gebiete in Reservate zu verwan­ deln. (…) In Bolivien haben wir einen In­ dio als Präsidenten, warum müssen wir unsere Indios dann einsperren wie im Zoo?“ Bolsonaro will deswegen keine Schutzgebiete mehr zuteilen und bereits bestehende neu überprüfen. Indigene,

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die bislang ihr Land weder verpachten noch verkaufen dürfen, sollen genau dazu ermächtigt werden, um es für den Bergbau, Sojaanbau und Rinderzucht zu öffnen. Amazoniens Bodenschätze mit internationaler Beteiligung zu erschlie­ ßen, soll Brasilien aus der Krise führen, so Bolsonaro. Allein im Bundesstaat Pará befinden sich die größte Eisenmine der Erde sowie das weltweit drittgrößte Bau­ xitvorkommen. Der Bundesstaat ist au­ ßerdem Brasiliens größter Goldprodu­ zent mit Vorkommen von geschätzten 300 Tonnen und besitzt brasilienweit die größten Vorkommen an Kupfer (77 %), Gips (43 %) und Kaolin (43 %). Laut einer Liste des Börsenportals f­ inanzen100.‌de besitzt Brasilien Rohstoffvorkommen im Wert von 19 Billionen Euro – viele davon im Amazonasgebiet. Umweltauflagen und Schutzge­ biete stehen dem Bergbau – und damit in Bolsonaros Augen der Entwicklung – in Amazonien im Weg. Deswegen hat der neue Präsident seit seinem Amtsan­ tritt strategische Posten neu besetzt und Kompetenzen umverteilt. Agrarminis­ terin ist die ultrakonservative Politike­ rin Tereza Cristina, die bisher im Natio­ nalkongress der Agrarfraktion vorstand und im Volk als „Giftlady“ bezeichnet wird. Die Funai untersteht nicht mehr dem Justizministerium, sondern der neuen Familienministerin, der Anwäl­ tin Damares Alves. Sie kündigte an,

Weil sie rückständig seien, sollen Indigene künftig in den Städten angesiedelt werden

Fotos: Florian Kopp (Seiten 54 bis 55), Mauro Pimentel/AFP/Getty Images; Grafik: Cicero

D

ie untergehende Sonne spiegelt sich schimmernd im Wasser des Xingu-Flus­ ses. An seinem Ufer wach­ sen Schlingpflanzen, ragen Urwaldriesen in den goldenen Abend­ himmel. Auf einer Lichtung stehen die Holzhütten von 18 Familien des indige­ nen Volkes der Parakanã. Sie leben hier im Bundesstaat Pará, mehrere Bootsstun­ den von der nächsten Stadt entfernt im gut 770 000 Hektar großen Schutzgebiet Apyterewa, das Präsident Lula im Jahr 2007 mit seiner Unterschrift offiziell re­ gistriert hat. Unter dem Dach des Versammlungs­ platzes sitzen die alten Krieger mit der traditionellen geometrischen Bema­ lung auf Armen, Beinen und im Ge­ sicht. Sie haben Pfeile mit Adlerfedern und bemalte Bogen dabei, um den Ernst der Lage zu unterstreichen. Die jungen Männer tragen kurz rasierte Schläfen und blondierte Strähnen und lassen in einiger Entfernung ihre Motorräder auf­ heulen. Weit kommen sie nicht, denn es gibt nur eine einzige unbefestigte Straße im Schutzgebiet Apyterewa. Der 31-jäh­ rige Chef des größten Dorfes, Kazike Kaworé, blickt in die Runde. Die Dorf­ ältesten und die Anführer haben an die­ sem Tag eine Niederlage eingesteckt. Sie wollten bei der nächstgelegenen Station der Indigenen-Behörde Funai anzeigen,

dass Eindringlinge in ihrem Gebiet hek­ tarweise Bäume umlegen. Doch die Be­ amten des Funai-Stützpunkts haben die Anzeige nicht entgegengenommen. Ihr Kommentar: Sie könnten nichts tun. Am 1. Januar sind schwierige Zei­ ten angebrochen für Brasiliens Indigene. Wenige Stunden nach seinem Amtsantritt bestimmte Brasiliens neuer Präsident Jair Bolsonaro per einstweiliger Verfü­ gung, dass die Indigenen-Behörde Funai fortan weder dafür zuständig sein soll zu analysieren, ob Anträge auf Schutzge­ biete gerechtfertigt sind, noch dafür, sie zu vermessen und offiziell auszuweisen oder sie zu schützen. Das sei jetzt Sache des Landwirtschaftsministeriums. Diese Entscheidung gilt mit sofortiger Wirkung, muss aber irgendwann vom Nationalkon­ gress bestätigt werden. Die Bundesstaats­ anwaltschaft bezeichnet den Schritt als verfassungswidrig, weil die Interessen der Indigenen und die der Landwirt­ schaftslobby nicht vereinbar seien. Ka­ pitel 8, Artikel 231 der Verfassung von 1988 schreibt die Anerkennung der Indi­ genen, ihrer Sozialordnung, Gebräuche, Sprachen, Traditionen, ihres Glaubens sowie ihr Anrecht auf ihre traditionell besiedelten Gebiete fest. Dem Staat ob­ liegt es, diese Gebiete zu vermessen, sie zu schützen und dafür zu sorgen, dass sie respektiert werden.

Ein Dorfvorsteher mit traditionellem Kopfschmuck bei einer Versammlung in der Indigenen-Behörde Funai

die Rechtmäßigkeit bereits registrierter Schutzgebiete zu hinterfragen. Zum Di­ rektor der Funai berief sie den General der Reserve, Franklimberg de Freitas, in­ digener Abstammung und bis vor kurzem als Berater für den kanadischen Bergbau­ konzern Belo Sun tätig. Belo Sun will am Xingu die größte Goldmine Brasiliens an­ legen – und bemüht sich seit sieben Jah­ ren vergeblich um die notwendige Um­ weltlizenz dafür. Freitas wird nun in der neuen Funktion das Projekt begutachten, dessen Berater er zuvor war. Gegenüber der Zeitung Estadão bezeichnete er es als „durchführbar und günstig für die in­ digene Bevölkerung“. Ganz in der Nähe der geplanten Goldmine wurde erst vor drei Jahren ein anderes Großprojekt in Betrieb genom­ men: Das Wasserkraftwerk Belo Monte ist mit seinen zwei Dämmen, zwei Ka­ nälen und zwei Kraftwerken mit insge­ samt 24  Turbinen das viertgrößte der Welt. Allein für die Talsperre beim Dorf Pimentel wurde eine Fläche abgeholzt,

die größer ist als der Bodensee. Wenn in diesem Jahr alle 24  Turbinen ange­ schaltet werden, soll die Anlage mehr als 11 000 Megawatt liefern, genug für 35 Millionen Haushalte. Die Wasserkraft könnte auch für Bergbauprojekte genutzt werden, wie die Goldmine Belo Sun. Jair Bolsonaro berichtete im März in einem Interview mit dem Radiosender Jovem Pan, er habe bereits mit seinem ameri­ kanischen Amtskollegen Donald Trump über gemeinsame Wirtschaftsprojekte in Amazonien gesprochen. DIE

PA R A K A N Ã

VO N

A P Y T E R E WA ,

400 Kilometer von Belo Monte entfernt, haben lange gegen das Kraftwerk ge­ kämpft, das ihre traditionelle Lebens­ weise gefährdet. Etwa, indem es den Fischbestand in den Flüssen dezimiert, die Wassermenge und -qualität beein­ trächtigt und große Teile des Regenwalds vernichtet, um Platz für die riesigen Staudämme, Kanäle und Seen zu schaf­ fen. Die Dorfchefs sind in die Hauptstadt

Oben: Kazike Kaworé, Vorsteher des größten Dorfes im indigenen Schutzgebiet Apyterewa

Links: Ein indigener Bewohner des Schutzgebiets hat zur Versammlung Pfeil und Bogen mitgebracht

Rechts: Ein Dorf der Parakanã im indigenen Schutzgebiet Apyterewa im Bundesstaat Pará

Die meisten der neuen Dorfvorsteher verkaufen den geschenkten Treibstoff weiter und verwenden das Geld für Alkohol

Fotos: Yasuyoshi Chiba/AFP/Getty Images, Florian Kopp (Seiten 58 bis 59, 61)

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Brasília gereist, um von den Politikern angehört zu werden. Sie haben die Trans­ amazonica-Autobahn gesperrt, die einst Brasilien mit Peru verbinden sollte – und im Jahr 2012 haben sie sogar Angestellte des Betreiberkonzerns Norte Energia für ein paar Stunden als Geiseln genommen, um den bereits begonnenen Bau noch zu stoppen. Norte Energia hingegen lud die Dorf­ chefs zu Besprechungen nach Altamira ein und brachte überzeugende Argu­ mente vor: Das Kraftwerk werde Arbeits­ plätze, Wohlstand und Fortschritt für alle schaffen. Außerdem verteilte der Ener­ giekonzern Dutzende Landmaschinen, Motorräder, Jeeps und motorisierte Alu­ boote an die Dorfchefs, die bis dahin in selbst gebauten Holzkanus gefischt hat­ ten und zu Fuß auf die Jagd gegangen wa­ ren. Ebenfalls geschenkte Essenspakete brachten Dinge in die Dörfer, die vorher kaum oder gar nicht zugänglich waren: Waren wie Zucker, Kaffee, Babywindeln und Alkohol. Als die Vertreter von Norte Energia außerdem versprachen, Abwas­ sersysteme, Krankenstationen und Schu­ len für die Dörfer zu bauen, über Jahre monatliche Summen zur Unterstützung zur Verfügung zu stellen und bei der Ver­ treibung der illegalen weißen Siedler zu helfen, stimmten die Parakanã dem Bau von Belo Monte zu. Seitdem hat sich vieles in Apyte­ rewa verändert, berichtet der Dorfchef Kazike Kaworé. Weil Norte Energia die Geschenke vor allem an die Dorfchefs, die Kaziken verteilte, gründeten im­ mer mehr Parakanã neue Dörfer, deren

Satellitenbilder zeigen, dass im Flussbecken über 150 Millionen Bäume gefällt wurden

Oben: Der Staudamm Belo Monte Links: Rinderzucht an den Ufern des Xingu-Flusses

Kaziken sie werden konnten. Die neuen selbst ernannten Chefs fahren mit den neuen Alubooten in die zuvor fast uner­ reichbare 400 Kilometer entfernte Stadt Altamira und holen sich dort Benzingut­ scheine ab. Die meisten verkaufen ei­ nen Teil des Treibstoffs weiter und kau­ fen von dem Erlös vor allem Alkohol. Zu Hause fahren die Männer mit dem Jeep auf einer schlammigen Straße durch den Wald – das Fahrzeug, der Sprit, die Pla­ nierung der Straße: alles bezahlt von Norte Energia. Die Holzbrücke auf hal­ ber Strecke fault bereits bedenklich, eine Reparatur ist nicht vorgesehen. Die un­ gewohnten Nahrungsmittel haben bei manchen zu Diabetes, Bluthochdruck und erhöhten Cholesterinwerten geführt; nach exzessivem Alkoholgenuss gibt es jetzt gelegentlich Schlägereien unter den Dorfbewohnern. Die Pläne des neuen Präsidenten se­ hen die Dorfchefs mit Sorge. Schon vor Bolsonaros Aussagen zur Erschließung des Regenwalds haben sich in ihrem

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Gebiet immer mehr nichtindigene Siedler illegal niedergelassen und riesige Wald­ stücke abgeholzt. Theoretisch ist der Staat dafür verantwortlich, die Frem­ den auszuweisen. D O C H K A Z I K E K AW O R É K L A G T , be­ reits seit der Machtübernahme durch Mi­ chel Temer im Jahr 2017 kümmere sich niemand mehr um die illegalen Land­ nahmen. Satellitenbilder der Nichtre­ gierungsorganisation ISA zeigen, dass 2018 im Flussbecken des Xingu mehr als 150 Millionen Bäume gefällt wurden, ein Drittel davon in indigenen Schutzgebie­ ten. Im Januar fuhr Kaworé mit anderen Dorfchefs zusammen nach Brasília, um von Bolsonaro ein Gespräch über ihre Lage zu fordern. Der schickte ihnen den Minister des Regierungssekretariats, Re­ servegeneral Carlos Alberto Santos Cruz, der 2017 als Sekretär für öffentliche Si­ cherheit die Präsenz des Militärs auf den Straßen von Rio verstärkt hatte und in seiner neuen Funktion unter anderem

weißen Siedlern ganz überließen, damit diese dort weiter tun könnten, was sie oh­ nehin bereits tun: Rinderzucht, Goldmi­ nen und Holzhandel betreiben. Bei dem neuen Geschäftsmodell erhielten die In­ dios dafür künftig eine Gewinnbeteili­ gung. Die Rede war von 25 Prozent für die Indios, 25 Prozent für die Regierung und 50 Prozent für die bislang illegalen Landnutzer. „Das ist ein unlauteres Angebot“, sagt José Cleanton Ribeiro, Projektleiter beim Indigenen Missionsrat der katho­ lischen Kirche in Altamira. Der 45-jäh­ rige Missionar besucht Apyterewa seit 18 Jahren und bietet dessen Bewohnern

Ein indigener Fischer macht sich bereit für eine Ausfahrt auf dem Xingu-Fluss im Bundesstaat Pará

Fotos: Mauro Pimentel/AFP/Getty Images, Natalia Blauth (Autorin)

für die Überwachung von NGOs und in­ ternationalen Organisationen zuständig ist. In Altamira, der dem Schutzgebiet am nächsten gelegenen, 400 Kilometer entfernten Stadt, erklärte der Reservist den Parakanã, dass die Indios künftig ihr Land zu bearbeiten und so für ihren Un­ terhalt zu sorgen hätten. Anschließend bat er drei der Anwesenden zum weite­ ren Gespräch in einen Nebenraum, wo er ihnen einen Vorschlag unterbreitete: Der von Fremden besetzte Teil ihres Landes sei doch ohnehin abgeholzt und somit für das traditionelle Leben wertlos. Da sei es besser, wenn sich die Parakanã damit nicht weiter belasteten, sondern es den

Foto: Gallo Images/USGS/NASA Landsat data/Orbital Horizon/Getty Images

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Seelsorge, Rechtsberatung und prakti­ sche Lebenshilfe. Er erklärt: Indigenes Land gehört dem Staat, die Ureinwoh­ ner haben das alleinige Nutzungsrecht, das sie nicht abtreten dürfen. Zur Um­ gehung dieser Bestimmungen schlug Mi­ nister Santos Cruz vor, die Indios könn­ ten gemeinsam mit den Landbesetzern eine Kooperative gründen. Dorfchef Ka­ woré lehnt das strikt ab: „Wenn wir uns darauf einlassen, behaupten sie in zehn Jahren, das Land gehört ihnen!“ Tatsäch­ lich könnte langfristig durch eine ein­ vernehmliche Bewirtschaftung ein Ge­ wohnheitsrecht entstehen, durch das der Anspruch der Parakanã auf ihr Gebiet

geschwächt würde. Kaworé befürchtet, es könne ein spezielles wirtschaftliches Interesse an Apyterewa bestehen, weil dort Bodenschätze zu finden seien. An­ fang 2019 sah es fast so aus, als würde das Schutzgebiet seinen Status als sol­ ches wieder aberkannt bekommen. Da­ mals verfasste der Abgeordnete Paulo Bengtson einen entsprechenden Geset­ zesentwurf, in dem es unter anderem heißt, das indigene Gebiet behindere Kleinbauern in ihrer Existenz. Ein sozi­ ales Chaos würde drohen, sollten tatsäch­ lich alle weißen Siedler ausgewiesen wer­ den. Außerdem argumentiert Bengtson, die Indigenen hätten zum Zeitpunkt des Inkrafttretens der Verfassung von 1988 nicht in diesem Gebiet gelebt. Ü B L I C H E RW E I S E A N A LY S I E R E N Anth­ ropologen vor der Demarkation, ob ein Volk traditionell das beanspruchte Gebiet besiedelt hat – und berücksichtigen dabei die Tatsache, dass während der Militär­ diktatur zwischen 1964 und 1985 viele Völker von ihren angestammten Lebens­ räumen vertrieben wurden und nicht alle gleich zurückkehrten, als die Verfassung von 1988 ihnen erstmals Gebietsrechte zusicherte. Der Oberste Gerichtshof be­ maß 2009 das Schutzgebiet Raposa do Sol deutlich größer als die traditionell von diesem Volk bewohnte Fläche, mit dem Argument, die Indigenen hätten fak­ tisch bereits 1988 diese größere Fläche besetzt. Auf diesem Gerichtsurteil auf­ bauend, versuchte Bolsonaros Vorgänger, Michel Temer, das Argument der „Zeit­ marke 1988“ per Dekret zur Grundlage aller künftigen Entscheidungen über Ge­ bietszuteilungen zu erheben. Damit hät­ ten die Indigenen keinerlei Anspruch auf vor 1988 verlorene Gebiete, gegen­ teilige Entscheidungen könnten nach­ träglich aufgehoben werden. Bislang ist die „Zeitmarke 1988“ nicht offiziell an­ erkannt, der Gesetzesentwurf wurde nicht ratifiziert. Doch die Stimmung zwischen Indi­ genen und der Regierung bleibt in Brasi­ lien insgesamt gespannt. Ende April tra­ fen sich wie jedes Jahr mehrere Tausend indigene Wortführer in einem Camp in der Hauptstadt Brasília, um Aktionen

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Das Satellitenbild zeigt gerodete Waldflächen im Siedlungsgebiet der Parakanã, Juli 2017

zu planen und ihren Forderungen mehr Sichtbarkeit zu verleihen. Das Staats­ oberhaupt kommentierte die größte Ver­ sammlung der Ureinwohner abschät­ zig als „encontrão de índio“, übersetzt etwa „Indio-Zusammenrottung“, und schimpfte: „Und wer bezahlt das alles? Der Steuerzahler!“ Das sei eine Lüge, antwortete hingegen die indigene Ak­ tivistin Sonia Guajajara und betonte, das Treffen werde nicht staatlich unter­ stützt, sondern vollständig durch private Zuwendungen und von den Teilnehmern selbst finanziert. Eine Woche vor dem Termin ließ Bolsonaro von Justizminis­ ter Sérgio Moro einen Sondereinsatz des Militärs in Brasília genehmigen, „um Ge­ waltausbrüche zu verhindern“. Sonia Gua­jajara meint hingegen: „Sie wollen uns einschüchtern, aber das wird ihnen nicht gelingen.“ Die nationale Indige­ nenbewegung APIB wird in einem im Januar veröffentlichten Dokument noch deutlicher. Darin heißt es: „Wir, die in­ digenen Völker, sind aus Respekt für un­ sere Ahnen und in Verantwortung für die nächsten Generationen bereit, unsere Le­ bensart, unsere Identität und unsere Ter­ ritorien unter Einsatz unseres Lebens zu verteidigen.“ C H R I S T I N E W O L LO W S K I arbeitet seit knapp 20  Jahren als Korrespondentin in Brasilien

W E LT B Ü H N E Porträt

DANZIGER SCHIMMELREITER Bald endet die Amtszeit von Donald Tusk als EU-Ratspräsident, und viele liberale Polen hoffen auf seine Rückkehr aus Brüssel – um die autoritäre Kaczynski-Regierung abzulösen Von  PAU L F LÜ C K I G E R

Foto: Daniel Biskup/Laif

E

r reitet auf einem Schimmel und blickt väterlich, aber entschlossen drein: So präsentierte Ende ver­ gangenen Jahres ein polnisches Nach­ richtenmagazin Donald Tusk. Der bald abtretende EU-Ratspräsident schicke sich an, nach Polen zurückzukehren und dort 2020 Staatspräsident zu werden, hieß es auf dem Titel. Seither wartet Polens Op­ position auf Tusks Rückkehr. Die Titelillustration hat sich längst verselbstständigt, unter den weltoffenen Polen hat das Bild die Hoffnungen ins schier Unerträgliche gesteigert. Die Op­ position indes hat es monatelang gelähmt: Statt sich zusammenzureißen und Jaros­ law Kaczynskis Regierungsmannschaft endlich geeint entgegenzutreten, wartete man auf ein Zeichen des Heilsbringers aus Brüssel. Denn dass dieser die Machtkons­ tellation innerhalb der Opposition auf den Kopf stellen würde, ist unstrittig. Tusk ist damit nicht zum ersten Mal zur Wunder­ waffe gegen Kaczynski auf der einen, aber auch zum Fluch der polnischen Innenpoli­ tik auf der anderen Seite geworden. Am Ende seiner zweifachen Amts­ zeit als Regierungschef hatte er sich 2014 als EU-Ratspräsident nach Brüssel abge­ setzt und aus Sicht vieler Landsleute das sinkende Schiff der proeuropäischen pol­ nischen Mitte verlassen. Er sei in Dan­ ziger Hinterhöfen aufgewachsen, dies habe ihn das wahre Leben gelehrt, be­ tont der Sohn eines Tischlers und einer Krankenschwester immer wieder. Der Warschauer Professorensohn Jaroslaw Kaczynski, Tusks politischer Erzfeind, kapriziert sich hingegen seit mehr als 20  Jahren auf Tusks angebliche Deut­ schenfreundlichkeit. Tusks Großva­ ter war zwangsweise in die Wehrmacht eingezogen worden, zu Hause wurde

Polnisch, Deutsch und Kaschubisch ge­ sprochen. Dies machte ihn für die polni­ sche Rechte suspekt. Heute aber werfen ihm die EU-Skeptiker rund um Kac­ zynski vor, Polen in Brüssel immer wie­ der in den Rücken zu fallen. Konkret geht es um das Rechtsstaatsverfahren, das die EU erstmals gegen ein Mitgliedsland ein­ geleitet hat. Kaczynski setzt die inzwi­ schen völlig regierungshörige Justiz seit Monaten auch gegen Tusk ein, der immer wieder als Zeuge nach Warschau zitiert wird. Dabei geht es um angeblichen Lan­ desverrat gegenüber Russland und einen Bankenskandal, bei dem Zehntausende ihre Ersparnisse verloren haben. DA B E I K E N N E N S I C H Tusk und der zehn Jahre ältere Kaczynski aus dem antikom­ munistischen Untergrund rund um die Ge­ werkschaft Solidarnosc. Kaczynski und sein 2010 bei einem Flugzeugabsturz in Smolensk getöteter Zwillingsbruder Lech galten dort als vor- und umsichtige Intel­ lektuelle, Tusk als Heißsporn. Nach sei­ nem Geschichtsstudium in Danzig konnte der Aktivist nur als Fensterputzer arbei­ ten; in seiner Freizeit publizierte er verbo­ tene liberale Manifeste. Nach der Wende wurde er Vorsitzender der ersten liberalen Partei Polens. Als diese nach den Wirren der Transformation den Wiedereinzug ins Parlament verpasste, machte Tusk nicht wie seine Mitstreiter das große Geschäft, sondern gründete eine Stiftung für Kin­ der aus Alkoholikerfamilien. Heute ist Tusk der wohl einzige pol­ nische Spitzenpolitiker europäischen Formats. Als EU-Ratspräsident hat er nicht nur Englisch, sondern vor allem Kompromissfähigkeit gelernt. Er hat es geschafft, die EU auf Sanktionen gegen Russland wegen der Annexion der Krim

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einzuschwören, und jüngst eine Ver­ schnaufpause im Brexit-Debakel erreicht. So einem traut man nun auch in Polen das Unmögliche zu: die Überwindung des Zweikampfs zwischen Kaczynskis autori­ tär rechtsnationaler PiS und der liberalen proeuropäischen Bürgerplattform (PO) – an dem Tusk übrigens selbst großen Anteil hat. Doch immer mehr Polen haben die Polarisierung satt. Diese hat Tusks Nach­ folger an der Parteispitze, Grzegorz Sche­ tyna, konsequent weiter vorangetrieben. Beide Lager haben sich inzwischen radi­ kalisiert und damit die politische Mitte brachliegen lassen. Deshalb gibt sich Tusk bei seinen Auftritten in Polen konziliant, auch wenn er vehement liberale Werte vertritt. Zwei Auftritte unlängst an den Universitäten von Warschau und Posen haben ihm aber nicht den erwarteten po­ litischen Auftrieb beschert. Auch häu­ fen sich die Anzeichen, dass aus einer für Anfang Juni erwarteten Gründung einer neuen Bürgerbewegung der Mitte in Dan­ zig nichts wird. Tusks Hände seien eben gebunden, so­ lange er noch EU-Ratspräsident ist, sagen Optimisten; seine Amtszeit in Brüssel en­ det erst am 30. November. Viele glauben, der Heilsbringer auf dem weißen Pferd warte immer noch auf ein internationales Angebot, das ihm den Ritt durch den pol­ nischen Politsumpf ersparen könnte. Pes­ simisten schätzen, dass aus dem Zeugen Donald Tusk ein per Haftbefehl gesuch­ ter Angeklagter werden könnte, sobald die Umfragewerte von Kaczynskis PiS fallen. Denn ein normaler Machtwechsel sei nach der Zerstörung des Rechtsstaats in Polen nicht mehr möglich. PAU L F LÜ C K I G E R berichtet seit dem Jahr 2000 als Korrespondent aus Warschau

W E LT B Ü H N E Porträt

VERWANDELT AUS ERFAHRUNG Mette Frederiksen hat gute Chancen, Ministerpräsidentin von Dänemark zu werden. Die einst linke Sozialdemokratin vertritt in der Migrationspolitik einen knallharten Kurs

W

er über dänische Politik im Bild sein will, muss nicht un­ bedingt jeden Tag die ein­ schlägigen Medien verfolgen. Man kann das Geschehen durchaus auch verstehen, wenn man einfach die dänische Fernseh­ serie „Borgen“ aufmerksam genug ange­ schaut hat. Denn dieses zwischen 2010 und 2013 ausgestrahlte brillante Polit­ drama, deutschsprachigen Zuschauern mit dem Untertitel „Gefährliche Seil­ schaften“ bekannt, vermochte nicht nur auf bemerkenswerte Weise manch zu­ künftige Entwicklung in der dänischen Politik verblüffend präzise zu prognos­ tizieren. Es enthält auch zahlreiche De­ tails, die auf die eine oder andere Art bis heute nachhallen. So bringt in einer Szene die fiktive Ministerpräsidentin Birgitte Nyborg ihre eigene Tochter bei Bedarf in einer Privat­ klinik unter, obwohl sie mit Inbrunst die Notwendigkeit eines starken öffentlichen Gesundheitswesens predigt – und muss sich deshalb den Vorwurf der Heuchelei gefallen lassen. Es ist eine Episode, die bei Mette Frederiksen Erinnerungen ge­ weckt haben dürfte. Frederiksen, Chefin der dänischen Sozialdemokraten und eine aussichts­ reiche Anwärterin auf das Ministerprä­ sidentenamt nach den Parlamentswah­ len vom 5. Juni, war in den ersten Jahren nach der Jahrhundertwende ein aufstei­ gender Stern am Himmel der sozialde­ mokratischen Parteipolitik. 2001 war sie im Alter von 24 Jahren ins Folketing, das dänische Parlament, gewählt worden; vier Jahre später saß sie bereits in der engeren Führung der Partei als Spreche­ rin für soziale Angelegenheiten. In die­ ser Funktion hielt sie im selben Jahr eine flammende Rede für die Volksschule und

kritisierte bessergestellte Eltern scharf, die es vorzogen, ihre Sprösslinge auf Pri­ vatschulen zu schicken, anstatt die „ge­ meinsame Verantwortung“ für das öf­ fentliche Schulwesen wahrzunehmen. Sie war damals mit einer kleinen Tochter schwanger. Und siehe da: Als diese schulpflichtig wurde, entschied sich Frederiksen, ihr Kind nicht in der öffent­ lichen Grundschule des Kopenhagener Vororts Ballerup anzumelden, sondern in einer Privatschule mit kleinen Klas­ sen. Sie machte spezielle Umstände gel­ tend und sagte, in diesem Falle stehe das Kindeswohl an erster Stelle. Es sei für sie nicht statthaft, ihre eigenen politischen Überzeugungen höher zu gewichten als die Bedürfnisse und Lebensperspektiven ihrer Tochter. D I E E M P Ö R U N G V O N M E D I E N und po­ litischen Gegnern war ihr dennoch si­ cher. Und die Sache wiederholte sich zwei Jahre später, als Frederiksen auch ihr zweites Kind in die gleiche Schule schickte; diesmal sogar ohne besondere Begründung, wie damals das Massenblatt B.T. zu berichten wusste. Für Frederiksen aber waren diese Er­ lebnisse ein Wendepunkt. Sie habe fest­ gestellt, dass man sich in der Politik nicht dazu versteigen dürfe, anderen vorzu­ schreiben, was gut für sie sei. Jedes ein­ zelne persönliche Leben sei von vielfäl­ tigen Einflüssen bestimmt. Das habe sie an ihrem eigenen Leib und auf die harte Tour lernen müssen. Nun aber sei sie eine andere Politikerin als zuvor. Zuvor: Das waren zwei Jahrzehnte des politischen Aktivismus gewesen, in welchen für Frederiksen die Trennlinien zwischen richtig und falsch klar und scharf waren. In eine Arbeiterfamilie in

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Nordjütland geboren, schrieb sie sich be­ reits als Zwölfjährige bei der Anti-Apart­ heidbewegung ANC Youth Lea­g ue ein und gab ihr Taschengeld für idealisti­ sche Ziele aus, etwa, um einen Pottwal zu sponsern oder ein Stück Regenwald in Südamerika zu retten. Ihr Elternhaus war aus Tradition sozialdemokratisch; so­ wohl ihr Vater als auch ihr Großvater wa­ ren bekannte Figuren in der Partei. Als Teenager trat Frederiksen in die Dänische Sozialdemokratische Jugend­ bewegung ein und erklomm dort rasch die Karriereleiter. Neben einem sozial­ wissenschaftlichen Studium wechselte sie nahtlos zum nationalen Gewerk­ schaftsdachverband als Beraterin für Ju­ gendfragen. Und dann kam auch schon der Einzug ins Folketing. Dort dauerte es nicht lange, bis man sie bemerkte. Weder zeigte sie Respekt vor internen Hierarchien, noch nahm sie ein Blatt vor den Mund. Legendär ist ein Schlagabtausch mit der damaligen – so­ zialdemokratischen  – Innenministerin Karen Jespersen, als diese sich für eine Verschärfung der Einwanderungspolitik einsetzte. „Diese Linie, die sie (Jesper­ sen) da vertritt, ist erledigt. Total erle­ digt“, rief die neue Abgeordnete vom un­ teren Ende der Hackordnung innerhalb der 52-köpfigen sozialdemokratischen Fraktion hinauf an die Spitze der eige­ nen Partei. Wer Mette Frederiksen heute spre­ chen hört, wenn sie als Chefin der So­ zialdemokraten ihre Linie der Einwan­ derungspolitik durchsetzt, traut seinen Ohren nicht. Vom einstigen Heißsporn ist wenig geblieben; die damalige Innen­ ministerin Jespersen dürfte deswegen ei­ nige Genugtuung verspüren. Doch um die Metamorphose Frederiksens von der

Foto: Nicolai Lorenzen

Von  RU D O L F H E R M A N N

W E LT B Ü H N E Porträt

scharfen linken Kritikerin zu einer Poli­ tikerin zu verstehen, der bisweilen sogar von rechts applaudiert wird, ist ein weite­ rer Blick zurück auf eine entscheidende Phase ihres Werdegangs nötig. 2005 verloren die Sozialdemokraten unter Führung ihres politischen Urge­ steins Mogens Lykketoft die Parlaments­ wahlen. Der von der jungen Abgeordne­ ten Frederiksen hoch verehrte Lykketoft stellte seine Position zur Verfügung. Als er seine Rücktrittsrede hielt, fokussier­ ten die Fernsehkameras auf Frederiksen. Nicht nur, weil sie zu Tränen gerührt war und damit ein medienwirksames Bild ab­ gab, sondern vor allem, weil manch ein Kommentator in ihr die Nachfolgerin Lyk­ketofts an der Parteispitze sah. Doch die sonst stürmische Frederik­ sen bewies auf bemerkenswerte Weise politische Klugheit und setzte Kalkül vor Ambition. Sie kandidierte nicht, ob­ wohl sie als die ideale Anwärterin galt: gefestigt in ihren Ansichten, durchset­ zungsfähig, mit dem richtigen Arbeiter­ klassen-Hintergrund und breiter Akzep­ tanz in allen Flügeln der Partei. Doch sie fühlte sich für den großen Schritt nach vorn noch nicht bereit. Stattdessen wurde sie von der Siege­ rin im Kampf um den Parteivorsitz, Helle Thorning-Schmidt, als Vizevorsitzende

Mette Frederiksens politische Metamorphosen dürften an den Erfahrungen liegen, die sie als Mitglied der Regierung gemacht hat

und Verantwortliche für Sozialfragen in die engste Parteiführung geholt. Und dies, obwohl (oder vielleicht gerade weil) sie für Thorning-Schmidts Gegenkan­ didaten gestimmt hatte. „Halte deine Freunde eng bei dir, deine Feinde aber noch enger“, ist eine politische Weisheit, die man auch aus der Fernsehserie „Bor­ gen“ kennt. Durch den Aufstieg in die Führungs­ spitze wurde Mette Frederiksen mit der Notwendigkeit konfrontiert, für ihre po­ litische Linie die notwendige Unterstüt­ zung zusammenzubringen. Das akzen­ tuierte sich, als die Sozialdemokraten 2011 zusammen mit weiteren Links­ parteien die Wahlen gewannen und an­ schließend die Regierung stellten. In Thorning-Schmidts Kabinett übernahm Frederiksen zuerst das Arbeitsminis­ terium; nach einigen Jahren folgte das Justizressort. Und im unvermeidlichen Zusammenprall ihres einstigen ideolo­ gischen Kurses mit den Sachzwängen eines Exekutivamts liegt der Grund für ihre bemerkenswerten Metamorphosen, ob diese nun ihre Positionen zur Arbeits­ markt-, Einwanderungs- oder Integrati­ onspolitik betreffen. Frederiksens Wandlung von der ideologisch getriebenen zur pragmatisch agierenden Politikerin manifestiert sich am deutlichsten in der Migrationspolitik. Argumentierte sie etwa im Jahr 2002 laut der Zeitung Berlingske für Großzügig­ keit beim Familiennachzug von Asylsu­ chenden, so sagte sie 2016 in einem In­ terview für Politiken, sie räume ohne Umschweife ein, dass man in den acht­ ziger und neunziger Jahren den Bürger­ meistern von Kopenhagener Vororten, die eine Begrenzung des Ausländerzu­ stroms gefordert hatten, besser hätte zu­ hören sollen. Bemerkenswerterweise besetzen die Sozialdemokraten unter Frederiksens Führung migrationspolitisch inzwischen Positionen, die denjenigen konservativer Parteien oder sogar der als fremdenfeind­ lich eingestuften Dänischen Volkspartei gar nicht oder nur wenig nachstehen. Da­ bei sollte allerdings nicht vergessen wer­ den, dass auch Frederiksens Vorgängerin

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Es irritiert einige, dass Frederiksen sich mit dem Chef der dänischen Rechtspopulisten gut zu verstehen scheint

an der sozialdemokratischen Parteispitze, Helle Thorning-Schmidt, bis zu ihrer Ab­ lösung 2015 einen vergleichsweise schar­ fen Kurs verfolgt hatte. Doch unter der ehemals stramm lin­ ken Frederiksen hat sich die harte Linie überraschenderweise in einem Maß ver­ schärft, dass darüber sogar die traditi­ onelle Zusammenarbeit zwischen den Sozialdemokraten und den Linkslibe­ ralen von der Partei Radikale Venstre gefährdet ist. Will Frederiksen Minis­ terpräsidentin werden, bleibt ihr damit womöglich nur der Weg über eine Min­ derheitsregierung. Sie dürfte dann darauf spekulieren, die nötige Unterstützung in Migrationsfragen rechts der Mitte zu fin­ den  – bei Bedarf sogar beim Chef der Dänischen Volkspartei, Kristian Thu­ lesen Dahl, mit dem sie sich zur Irrita­ tion manch eines Beobachters persönlich recht gut zu verstehen scheint. Ist Mette Frederiksen damit eine machtorientierte Opportunistin, wie die einen meinen? Oder doch eine Politike­ rin, die durch die Feuertaufe ihrer Regie­ rungsämter hinzugelernt hat? Die Ant­ wort darauf hängt allein davon ab, wen man in Dänemark dazu fragt. RU D O L F H E R M A N N ist Korrespondent der NZZ für Nordeuropa

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W E LT B Ü H N E

AUTORITÄRE Von K L AU S M Ü H L H A H N

Vor 30 Jahren wurden in China die Demonstrationen für Demokratie und Freiheit auf dem Platz des Himmlischen Friedens niedergeschlagen. Die Folgen sind bis heute spürbar – nicht zuletzt in der westlichen Welt 70 Cicero – 06. 2 019

Eine Kette schützt den Flaggenmast auf dem Tiananmen-Platz heute vor allzu neugierigen Besuchern

S

eit langem blickt die chinesische Führung mit großer Sorge auf den herannahenden 30. Jahrestag der gewaltsamen Niederschlagung der De­ mokratiebewegung am 4. Juni 1989. Die drastische Zunahme der politischen Kon­ trolle und das konsequente Vorgehen ge­ gen Kritiker und protestierende Studen­ ten in den vergangenen Monaten haben zweifelsohne ihren Ursprung in Ängs­ ten vor diesem Datum. Die berauschen­ den Monate des Frühlings 1989 auf dem Platz des Himmlischen Friedens sowie

BEWEGUNG

Am Tag der Niederschlagung wirft ein Demonstrant einen Stein auf einen chinesischen Armeepanzer, 4. Juni 1989

Chinesische Soldaten stehen Missfallen erregten. Insgesamt war die Wache in einer Unterführung zum Stimmung im Land Ende der achtziger Tiananmen-Platz, April 2009 Jahre aufgeheizt. Immer öfter meldeten sich bekannte Chinesen zu Wort, die de­ mokratischere Verfahren im Sozialismus verlangten. Schriftsteller, Wissenschaft­ ler und Intellektuelle argumentierten, laut. Die Demonstranten beschlossen, nur durch Reformen und mehr Demo­ sich weiterhin täglich zu versammeln. kratie ließen sich der Machtmissbrauch Zugleich zeigte sich, dass die städtische und die Korruption eindämmen. Und so­ Bevölkerung die Demonstrationen mit gar in der Partei selbst verbreitete sich Sympathie und Unterstützung beglei­ die Ansicht, dass politische Reformen un­ tete. Nach einer Zeit des Zögerns ver­ ausweichlich seien. Wobei die allgemeine öffentlichte das Sprachorgan der Partei, Unzufriedenheit in dem Maß wuchs, in die Volkszeitung (Renmin Ribao), einen dem die Parteiführer einen Erneuerungs­ überaus polemischen Leitartikel, der die prozess verzögerten. Besonders die Stu­ Bewegung als „Tumult“, manipuliert von denten wurden immer rebellischer. „einer kleinen Handvoll Menschen mit Hintergedanken“, bezeichnete. Als Re­ aktion darauf gingen am 27. April rund U N M I T T E L B A R E R A U S L Ö S E R der Pro­ teste war der plötzliche Tod des 1987 ab­ 100 000 Studenten zusammen mit Zehn­ gesetzten Generalsekretärs Hu Yaobang, tausenden Bürgern auf die Straße. Dieser Vorgang war eine beispiellose der als Unterstützer politischer Liberali­ Herausforderung für Deng Xiaoping und sierung galt. Studenten der Universitäten in Beijing kamen am 15. April 1989 auf die anderen Führer der Partei. Die Be­ dem Tiananmen-Platz im Zentrum der wegung wuchs schnell, und die Studen­ Hauptstadt zusammen, um seiner zu ge­ ten verlangten, dass der Leitartikel zu­ denken. Dabei wurden auch Forderun­ rückgezogen würde. Sie baten auch um einen Dialog mit den Parteiführern. Der gen nach mehr Freiheit und Demokratie

72 Cicero – 06. 2 019

Fotos: Stephen Shaver/UPI/Laif (Seite 70), Keystone Pressedienst (Seite 71), Stephen Shaver/UPI/DDP

das abrupte brutale Ende durch den Ein­ satz des chinesischen Militärs sind allen Versuchen der Zensur zum Trotz in der Erinnerung der Bevölkerung weiterhin präsent. Die Ereignisse von 1989 stellen tatsächlich einen tiefen Einschnitt dar, dessen Konsequenzen weitreichend und bis heute spürbar sind – in China selbst, aber auch darüber hinaus. Die Demokratiebewegung von 1989 war die größte spontane Massenbewe­ gung seit Gründung der Volksrepublik China im Jahr 1949. Die Studenten ver­ langten Freiheit und Demokratie, aber ihre Proteste waren auch eine direkte Re­ aktion auf aufkommende soziale Prob­ leme und die wirtschaftliche Unsicher­ heit Ende der achtziger Jahre. Eine außer Kontrolle geratene Inflation hatte damals zum Rückgang der Kaufkraft geführt und vor allem bei Staatsbediensteten sowie bei Akademikern und Studenten Ängste vor einer Verschlechterung ihrer wirtschaftlichen Lage hervorgerufen; sie fühlten sich als die Verlierer der seit 1978 unternommenen Wirtschaftsrefor­ men. Hinzu kamen zunehmend Berichte über Korruption, die großes öffentliches

W E LT B Ü H N E

Wunsch nach politischem Dialog und offizieller Anerkennung der Protestie­ renden am Tiananmen-Platz war für die entsetzte Partei ein Zeichen, dass die Situation außer Kontrolle zu gera­ ten drohte. Während die Regierung von Stimmen aus der Öffentlichkeit und auch aus der Partei gedrängt wurde, begrenzte Zugeständnisse zu machen, begannen ei­ nige Studenten am 13. Mai einen öffent­ lichen Hungerstreik. In der Deklara­ tion vom 13. Mai 1989 erklärten sie ihre Ziele: „Wir wurden von der Polizei ge­ schlagen, als wir marschierten, obwohl wir nur nach der Wahrheit hungerten. Unsere Vertreter knieten sich stunden­ lang nieder und präsentierten unsere Pe­ tition, nur um von der Regierung igno­ riert zu werden. Unsere Bitte um Dialog wurde immer wieder verschoben. Die Sicherheit unserer Studentenführer ist jetzt ungewiss. Die Demokratie soll das höchste allen menschlichen Strebens und die Freiheit ein heiliges Menschenrecht sein, das bei der Geburt gewährt wurde. Heute müssen diese mit unserem Leben gekauft werden.“ Als sich die Situation der Hunger­ streikenden sichtbar verschlechterte, kam es zu einer breiten Solidarisierung unter der städtischen Bevölkerung. Es strömten Hunderttausende Sympathi­ santen auf den Platz des Himmlischen Friedens. Einfache Bürger, oft sogar von ihren Fabriken und Arbeitseinheiten organisiert, gingen auf die Straße und demonstrierten zur Unterstützung der Studenten. Die Bewegung breitete sich flächenbrandartig in insgesamt weite­ ren 83  Städten aus. Je stärker die Ar­ beiterschaft als die tragende Säule des

Sozialismus sich mit den Studenten so­ lidarisierte, desto mehr drohte die Par­ tei, die Kontrolle zu verlieren. Qiao Shi, Mitglied des Politbüros, bezeichnete die Situation als „auf einem Tiger reiten, ohne absteigen zu können“. Die Regie­ rung reagierte, indem sie den Ausnah­ mezustand ausrief. Dieser konnte jedoch nicht sofort durchgesetzt werden. Im all­ gemeinen Glauben, dass das Militär die Studenten auf dem Tiananmen-Platz an­ greifen würde, gingen die Bewohner Bei­ jings in der Nacht vom 19. Mai zu Hun­ derttausenden auf die Straßen, um das Einrücken der Armee zu verhindern. Die Truppen mussten sich daraufhin zurück­ ziehen, und die Besetzung des Tianan­ men-Platzes ging den ganzen Mai hin­ durch weiter. S C H L I E S S L I C H FA S S T E das Politbüro Anfang Juni den Entschluss, den Platz gewaltsam räumen zu lassen. Am 3. Juni marschierte die Armee wieder in Bei­ jing ein. Die Truppen trafen auf gewalt­ samen Widerstand, kämpften sich aber am 4. Juni ihren Weg bis zum Tianan­ men-Platz durch. Bei der gewaltsamen Räumung des Platzes am selben Tag ka­ men viele Hunderte Menschen ums Le­ ben, Tausende wurden verwundet. Durch den Einsatz des Militärs in Beijing und anderen Städten konnte der Bewegung dann ein Ende gesetzt werden. Wobei auch drei Jahrzehnte später die Auswir­ kungen dieser gewaltsamen Unterdrü­ ckung in fast allen Bereichen der chinesi­ schen Gesellschaft spürbar sind. Viele der politischen und wirtschaftlichen Maß­ nahmen der Regierung seit 1989 stehen mit der Niederschlagung der Bewegung

Als die Lage der Hungerstreikenden deutlich schlechter wurde, kam es zu einer breiten Solidarisierung innerhalb der städtischen Bevölkerung

und den sich daraus ergebenden Konse­ quenzen in klarem Zusammenhang. Zum einen führten die Aufstände zu einer Kluft in der Partei. Premierminister und Parteigeneralsekretär Zhao Ziyang trat entschieden für Verhandlungen mit den Studenten ein, die er als „patrio­ tisch“ bezeichnete. Er versuchte, Deng Xiaoping von der Notwendigkeit eines moderaten Kurses zu überzeugen. Deng konnte diese Sicht aber nicht akzeptie­ ren, und nachdem er entschieden hatte, die Armee zur Zerschlagung der Bewe­ gung einzusetzen, verlangte er von Zhao Ziyang Loyalität. Zhaos Weigerung, sich zu fügen, wurde von Deng als Versuch der Spaltung der Partei betrachtet. Als Zhao Ziyang am Abend der Niederschla­ gung der Bewegung unter Hausarrest

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politischen Krise zu verhindern, ent­ schieden sich die chinesischen Führer, angeführt von Deng Xiaoping, zwar da­ für, die wirtschaftlichen Reformen wie­ der aufzunehmen. Um ähnliche Unruhen in Zukunft zu vermeiden, wurden aller­ dings auch Reformen zur Verbesserung des Lebensstandards in den Städten be­ schleunigt. Nach 1989 begann deshalb das Gefälle zwischen den Städten und den ländlichen Gebieten zu wachsen, von 1991 an stagnierte das Einkommen der Bauern. zwi­ schen städtischen und ländlichen Regio­ nen erreichte ein Niveau wie vor 1978. Der Anteil der Bauern, die der Provinz den Rücken kehrten, wuchs schnell. Durch diese Migration stand den städti­ schen Industriebetrieben ein schier un­ erschöpflicher und billiger Vorrat an Arbeitskräften zur Verfügung. Seit 1989 hatte die städtische Entwicklung somit Priorität; oft wurde sie auf Kosten der ländlichen Gebiete vorangetrieben. Au­ ßerdem sollte die staatliche Kontrolle über die Wirtschaft wieder verstärkt D E R E I N KO M M E N S U N T E R S C H I E D

74 Cicero – 06. 2 019

Studenten ziehen am 4. Mai 1989 zum Tiananmen-Platz, nachdem sie eine Polizeisperre durchbrochen haben

und auch die Staatsunternehmen refor­ miert anstatt abgewickelt werden. Ins­ gesamt reagierte die Regierung auf die politische Krise von 1989 mit einer Poli­ tik, die Wirtschaftswachstum als obers­ tes Ziel setzte. Schnell wachsender Wohl­ stand sollte weiteren Unruhen vorbeugen und den Zusammenbruch des sozialisti­ schen Systems nach dem Vorbild Osteu­ ropas verhindern. Der wirtschaftliche Aufstieg Chinas seit den neunziger Jah­ ren ist das Resultat dieser Politik. Schließlich ist der internationale Kontext interessant. 1989 war ein Jahr monumentaler Veränderungen in der ganzen Welt; insbesondere dienten die Ereignisse in China als Inspiration für die Protestbewegung in Ost- und Mit­ teleuropa. Doch die gewaltsame Reak­ tion der chinesischen Führer auf die De­ monstrationen fiel dramatisch anders aus als in Osteuropa: Dort freundeten

Fotos: AKG Images, Privat (Autor)

gestellt wurde, wurden darüber hinaus die durchaus starken und einflussreichen liberalen und prodemokratischen Grup­ pen in der Partei zum Schweigen ge­ bracht. Außerdem verstärkte die Partei ihre Kontrolle über Universitäten, Stu­ dentenorganisationen, Presse und Ver­ leger sowie über Künste und Literatur. Seither sind politische Reformen und De­ mokratie Tabuthemen, über die – anders als in den achtziger Jahren – weder ge­ sprochen noch diskutiert werden darf. Zum Zweiten kamen Chinas Wirt­ schaftsreformen zu einem vorüber­ gehenden Halt. Es wurden konkrete Maßnahmen beschlossen, die auf eine Einschränkung der privaten Wirtschaft und auf eine Stärkung der Unternehmen im Staatsbesitz hinausliefen. Die konser­ vative, gegen die Rolle des Marktes ge­ richtete Politik verursachte (neben den Sanktionen der westlichen Staaten) einen Rückgang der wirtschaftlichen Wachs­ tumsrate in den Jahren 1989 und 1990. Gleichzeitig kühlte sich die überhitzte Wirtschaft ab, und eine stabilere Wirt­ schaftssituation folgte. Um das Ausbre­ chen einer neuen wirtschaftlichen und

sich die meisten Regierungen mit dem Gedanken an, sich vom Autoritarismus zu verabschieden und demokratische Freiheiten anzunehmen. Im Gegensatz zur gewaltvollen Niederschlagung am 4. Juni in Beijing waren die Revolutionen im kommunistischen Europa aufgrund der schnellen Kapitulation der dorti­ gen Regime weitgehend friedlich. Hin­ gegen machte Chinas Regime unmiss­ verständlich klar, dass jegliche Form politischer Liberalisierung außer Frage stand. Obwohl der Fall der kommunis­ tischen Systeme in Osteuropa als wich­ tigste Folge der Protestwelle von 1989 gilt, gingen viele Regionen nach 1989 genau den entgegengesetzten Weg: Sie wandten sich nicht der Demokratie zu, sondern nährten vielmehr neue For­ men des Widerstands gegen die westli­ che liberale Ordnung. Der politische Is­ lam etwa richtete seinen Fokus weg vom kommunistischen Feind hin auf die sä­ kularen Gesellschaften des Westens. In Lateinamerika breitete sich der Populis­ mus aus. In China – später auch in Russ­ land und in vielen ehemaligen Sowjetre­ publiken – entstanden neue Formen der autoritären Herrschaft. Dies war meist eine bewusste Reaktion auf die Krise des Jahres 1989, um eine ähnliche Ent­ wicklung wie in Osteuropa abzuwenden. Die politische Kernstrategie Chinas nach 1989 wurde im Slogan „hart an zwei Fronten“ zusammengefasst – er be­ schreibt die Priorität wirtschaftlicher Re­ form und politischer Stabilität. Die von der Studentenbewegung 1989 aufge­ brachten Forderungen nach Demokratie und Freiheit wurden von der Regierung vehement beiseitegeschoben. Ein neues, autoritäres, aber zunehmend selbstbe­ wusstes China entstand. Die Tragödie des Tiananmen-Platzes sowie die globa­ len Umwälzungen von 1989 waren letzt­ lich also die Geburtsstunde jenes „Chi­ na-Modells“, das den liberalen Westen heute herausfordert. Die Geschichte schlägt manchmal seltsame Volten. K L AU S M Ü H L H A H N lehrt chinesische Geschichte an der FU Berlin und ist Autor des Buches „Making China Modern“

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K APITAL

ILLUSION, TÄUSCHUNG, DESINTERESSE Von  DA N I E L S T E LT E R

Illustrationen  S E B A S T I A N KÖ N I G

In Deutschland herrscht ein öffentliches Bild vom Zustand unserer Wirtschaft, das mit der Realität nichts zu tun hat. Deswegen werden jetzt wieder Phantomdebatten über Enteignungen und noch mehr Umverteilung geführt. Damit steht der Wohlstand auf dem Spiel 76 Cicero – 06. 2 019

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eutschland im Frühsommer 2019: so viele Erwerbstätige wie noch nie in der Geschichte, geringe Arbeitslosigkeit, volle Auftragsbücher – und eine Diskussion um Enteignung von Immobilien und die Kollektivierung von Unternehmen. Blickt man auf die politische Diskus­ sion, muss man feststellen, dass Illusio­ nen, Täuschungen und Desinteresse den Diskurs zur ökonomischen Zukunft un­ seres Landes kennzeichnen. Wir Deut­ schen beheimaten zwar international höchst erfolgreiche Unternehmen, ver­ stehen aber wenig von Wirtschaft. Das hat unter anderem mit der Kommunika­ tion von Politik, Wissenschaft und Me­ dien zu tun. Oft werden komplexe Zu­ sammenhänge vereinfacht dargestellt, was dazu führt, dass die Bürger falsche Schlüsse ziehen und zweifelhaften Lö­ sungsvorschlägen Glauben schenken. Höchste Zeit, dass ökonomisches Wis­ sen und Denken bei uns eine wichtigere Rolle einnehmen. Nehmen wir das Thema Gerechtig­ keit. Folgt man der öffentlichen Diskus­ sion, könnte man glauben, Deutschland sei ein Land, in dem es immer ungerech­ ter zugeht. Dabei ergeben die Fakten ein anderes Bild: Nach Daten der OECD ge­ hört Deutschland zu den Ländern mit der geringsten Ungleichheit der verfügbaren Einkommen und ist das Land mit dem ge­ ringsten Armutsrisiko. Das liegt daran, dass der Staat in erheblichem Umfang umverteilt. Nur Irland und Frankreich nivellieren den Unterschied der Markt­ einkommen stärker, als wir das tun. So liegt der Gini-Koeffizient (Maßstab der Gleichverteilung; 0 = alles gleich; 1 = ei­ ner hat alles, alle anderen nichts) vor Um­ verteilung bei rund 0,5, nach Umvertei­ lung bei 0,29  – und dies seit mehr als zehn Jahren stabil. Rente, Kranken- und Pflegeversiche­ rung, Hartz IV, Bafög, Kindergeld – al­ les zusammengerechnet erreichten die Sozialausgaben 2017 den Rekordwert von 965,5  Milliarden Euro (29,6  Pro­ zent des Bruttoinlandsprodukts) und sind damit so hoch wie noch nie in Nichtrezessionszeiten. Die Bundesre­ gierung plant einen weiteren Anstieg

der Sozialausgabenquote des Bundes­ haushalts bis 2023 von derzeit 50,4 auf 52,9 Prozent. Eine Grundrente ist in die­ sen Zahlen noch nicht berücksichtigt. Die andere Seite dieser Umvertei­ lung ist die zweithöchste Abgabenbe­ lastung aller OECD-Staaten. Nur in Bel­ gien müssen die Arbeitnehmer mehr abgeben. Der deutsche Spitzensteuer­ satz beginnt beim 1,3-Fachen des Durch­ schnittseinkommens. In den sechziger Jahren musste man noch das 15-Fache des Durchschnittseinkommens verdie­ nen, um zu den Spitzensteuerzahlern zu gehören. Die Schweizer NZZ spricht von der „Steuerhölle“ Deutschland. Ein Grund dafür, dass die Marktein­ kommen bei uns vor Umverteilung ge­ nauso ungleich verteilt sind wie in den USA, ist der deutlich gewachsene Nied­ riglohnsektor. Als Niedriglohnbeschäf­ tigter gilt, wer weniger als zwei Drittel des mittleren Lohns (Median) aller so­ zialversicherungspflichtigen Vollzeit­ beschäftigten erhält. 2017 war das in Westdeutschland bei einem Monatsver­ dienst von 2226 Euro und im Osten von 1733 Euro der Fall. Rund 20 Prozent der Vollzeitbeschäftigten arbeiten zu einem

Niedriglohn, wobei die Quote in Ost­ deutschland mit 33,6 Prozent doppelt so hoch ist wie in Westdeutschland. Es war Ziel der Arbeitsmarktrefor­ men unter Gerhard Schröder, mehr Men­ schen in Arbeit zu bringen. Auch wenn es weitere Gründe für den Rückgang der Ar­ beitslosigkeit gibt (schwacher Euro, tiefe Zinsen, Exportboom), hat die Öffnung des Arbeitsmarkts im unteren Lohnbe­ reich dazu beigetragen. Zudem erleich­ tert der Niedriglohnsektor die Integra­ tion der während der Flüchtlingskrise zugewanderten Menschen. So betrach­ tet, ist der Zuwachs im Niedriglohnbe­ reich ein großer Erfolg. E I N W E I T E R E R W I C H T I G E R G RU N D für das Anwachsen des Niedriglohnsektors sind Abgaben und Steuern. Die Erhö­ hung des Mindestlohns führt zu kürze­ ren Arbeitszeiten von Minijobbern, weil diese kein Interesse daran haben, in den Bereich der Abgabenpflicht zu rut­ schen. Anfangs betrug der Mindestlohn 8,50 Euro, und ein Minijobber konnte 53  Stunden im Monat arbeiten, ohne über die kritische Grenze zu kommen. Heute, nach der jüngsten Erhöhung des Mindestlohns, sind es nur noch 49 Stun­ den. Richtig wäre es, die Minijobgrenze direkt anzuheben, wenn der Mindest­ lohn steigt. Dann hätten die Betroffenen mehr in der Tasche. Doch das SPD-ge­ führte Arbeitsministerium sträubt sich dagegen, um mehr Menschen in das So­ zialsystem einzahlen zu lassen. Angeb­ lich, um für das eigene Alter vorzusorgen (was nicht stimmt, ergeben die geringen Beiträge doch keine Altersvorsorge), fak­ tisch, um die Finanzierung des Systems zu verbessern. Bleibt die behauptete zunehmende Armutsgefährdung. Arm ist, wer weniger als 60 Prozent des Durchschnittseinkom­ mens verdient. Man muss feststellen, dass Armut schon vor der Zuwanderungswelle des Jahres 2015 ein Migrationsthema war. Bei Annahme gleicher Armutsquo­ ten der Bevölkerungsgruppen genügt ein Anstieg des Anteils der Bevölkerung mit Migrationshintergrund von 22 Prozent 2005 auf 25,6 Prozent im Jahr 2014, um den Anstieg der Gesamtarmutsquote zu

erklären. Damit ist der Anstieg der Ar­ mutsquote Folge dieser Politik. Fazit: Der Niedriglohnsektor ist ex­ plizit gewollt – Arbeit ist besser als Ar­ beitslosigkeit, leichtere Integration von Migranten  – und bleibt durch die Ab­ gabenpolitik für einen Teil der Arbeit­ nehmer attraktiv. Die Umverteilung re­ duziert die Ungleichheit der am Markt erzielten Einkommen weitgehend, was Deutschland zu einem der Länder mit der gerechtesten Verteilung der verfüg­ baren Einkommen macht. Dafür ist die Belastung der Arbeitnehmer erheblich, was zu der umgekehrten Frage führt: Ist das gerecht? Unsauber ist auch die Diskussion zu Vermögen und Vermögensverteilung. Po­ litiker betonen immer wieder, Deutsch­ land sei ein „reiches Land“ und begrün­ den damit ihre jeweiligen Projekte. Zwar verdienen wir zurzeit konjunkturbedingt gut, aber die deutschen Privathaushalte sind mit einem Medianvermögen von rund 60 000 Euro deutlich ärmer als jene anderer Euromitgliedsländer. Italiener, Spanier, Franzosen und selbst Griechen verfügen über mehr Vermögen. Kriti­ ker führen das auf eine besonders un­ gleiche Vermögensverteilung zurück. In der Tat zeigen Daten der OECD, dass Deutschland in dieser Hinsicht zu den ungleicheren Ländern gehört. Der Gi­ ni-Koeffizient liegt bei 0,8, verglichen mit einem Durchschnitt von 0,7 in der OECD. Doch auch hier lohnt es sich ge­ nauer hinzuschauen. Die Gründe für die geringeren Ver­ mögen der Deutschen sind vielfältig. Da ist zum einen die hohe Steuer- und Ab­ gabenlast, die nur wenig finanziellen Spielraum lässt. Zum anderen senkt das staatliche Rentensystem die Anreize zur privaten Vermögensbildung, wie etliche Studien zeigen. So ist einer der Gründe für das vergleichsweise hohe Vermögen der Griechen deren unzureichende staat­ liche Altersversorgung. Hinzu kommt, dass die Deutschen ihr Geld traditionell in vermeintlich sicheren Formen wie Sparbuch und Lebensversicherung anle­ gen. Die so zu erzielenden Renditen lie­ gen langfristig deutlich unter dem Wert­ zuwachs von Aktien und Immobilien.

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Deutschland ist eines der Länder mit der höchsten Umverteilung weltweit

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Hauptgrund für das relativ geringe Ver­ mögen der Deutschen ist die im Vergleich zu den Nachbarländern sehr geringe Ei­ gentumsquote an Immobilien. Es wäre ein Leichtes für die Politik, dies zu än­ dern: Verringerung der Abgabenlast und andere Anreize für die Vermögensbil­ dung wären notwendig. Doch die Diskussion geht in eine an­ dere Richtung: So werden die Wieder­ einführung der Vermögens- und höhere Erbschaftssteuern gefordert. Was dabei gern vergessen wird, ist, dass in ande­ ren Ländern ein deutlich höherer Anteil des Steueraufkommens aus diesen Quel­ len erzielt wird, dies aber regelmäßig mit wesentlich geringeren Einkommenssteu­ ern einhergeht. Wenn man also diesen Weg geht, müsste er von einer Senkung der Abgaben- und Steuerlast an anderer Stelle begleitet werden. Ein weiteres Problem ist, dass das Vermögen der Reichen überwiegend in Unternehmen gebunden ist. Hier spie­ gelt sich die erfolgreiche mittelständi­ sche, von Familienunternehmen geprägte Wirtschaftsstruktur. Steigt dort die Steu­ erbelastung, hat das unmittelbar Aus­ wirkungen auf den Wirtschaftsstandort, weshalb die Politik sich zu Recht bisher damit zurückhält. Bleiben die Vermögen der Super­ reichen, wie beispielsweise der Eigentü­ mer von BMW, die Kevin Kühnert gerne enteignen möchte. Spielen wir es ein­ mal durch: Wenn wir die 45 reichsten deutschen Familien enteignen, erbringt das nach Zahlen des DIW 214  Milliar­ den Euro – einmalig. Der Bundeshaushalt beträgt in diesem Jahr fast 350 Milliar­ den. Das Geld reicht also für gerade sie­ ben Monate. Klarer kann man nicht zei­ gen, dass diese Diskussion ökonomisch nichts bringt. Vor allem würde es nichts daran än­ dern, dass wir als Land – unabhängig von der Verteilung – weniger Vermögen re­ lativ zum Einkommen haben als unsere Nachbarn. Dies liegt auch daran, dass wir unser Auslandsvermögen falsch anlegen. Allein in der letzten Finanzkrise haben wir 400 bis 600 Milliarden Euro verlo­ ren. Auch in Zukunft drohen empfind­ liche Verluste.

Fazit: Die Verteilung der Vermögen ist nicht das Problem. Auch die schein­ bar einfachen Lösungen zur „gerechte­ ren“ Verteilung von Vermögen erweisen sich bei genauerem Hinsehen als Mogel­ packung. Die Frage ist vielmehr, weshalb wir insgesamt so wenig Vermögen besit­ zen. Dies zu ändern, würde sich lohnen und sollte Ziel der Politik sein. Die „schwarze Null“ gilt als Beweis für solides Wirtschaften unserer Politi­ ker. Seit Jahren werden Überschüsse er­ wirtschaftet, die Schulden sinken – so der Eindruck. Die Wahrheit sieht anders aus: Allein auf Bundesebene wurden in den vergangenen zehn Jahren rund 460 Mil­ liarden zusätzlich ausgegeben. 280 Mil­ liarden Mehreinnahmen, 140 Milliarden gesparte Zinsen und rund 40  Milliar­ den weniger Ausgaben für den Arbeits­ markt. Die Mehrausgaben flossen vor al­ lem in den Sozialbereich. Dabei wurden die Ausgaben nicht nur einmalig erhöht, sondern in Gesetzen festgeschrieben. Würde der Staat wie ein Unternehmen bilanzieren, wäre offensichtlich, dass die Schulden nicht gesunken, sondern im Ge­ genteil durch diese Verpflichtungen ge­ stiegen sind. D I E D I M E N S I O N E N S I N D G E WA LT I G :

Laut Tragfähigkeitsbericht zu den öffent­ lichen Finanzen müssten ab sofort zwi­ schen 36 Milliarden und 115 Milliarden Euro pro Jahr zusätzlich gespart werden, um die finanziellen Folgen der demogra­ fischen Entwicklung, also steigender Ge­ sundheits-, Pflege- und Rentenkosten bei gleichzeitig sinkender Zahl der Beitrags­ zahler, aufzufangen. Nach neuester Steuerschätzung dürfte der Staat bis 2023 insgesamt 124 Milliarden Euro weniger einnehmen als ursprünglich gedacht. Die Politik re­ agiert darauf wie gewohnt: mit Kürzung von Investitionen in die Zukunft, aber die Versprechen für Sozialleistungen bleiben aus Angst vor den Wählern unan­ getastet. Dabei wäre genau das Gegenteil dringend erforderlich. Wir können nur dann die Kosten der alternden Gesell­ schaft schultern, wenn wir die nachfol­ gende Generation befähigen, möglichst hohe Einkommen zu erzielen. Dies setzt

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Allein im Bund wurden in den letzten zehn Jahren 460 Milliarden Euro mehr ausgegeben

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neben herausragender Bildung eine gute Ausstattung mit funktionierender Infra­ struktur und sicherer sowie kostengüns­ tiger Energieversorgung voraus. Fazit: Die „schwarze Null“ ist eine Mogelpackung, der Staat gibt so viel Geld aus wie noch nie, und die geringer als erwartet ausfallenden Zusatzeinnahmen des Staates hat die Politik schon längst für soziale Projekte verplant. Nötig ist ein deutlicher Kurswechsel, weg von Konsum hin zu Investitionen. Doch das traut sich die Politik nicht und gefährdet damit unseren Wohlstand. Ein weiteres Beispiel ist der Woh­ nungsmarkt. Maßnahmen wie Fördern und Erleichtern des Baues neuer Woh­ nungen werden in vielen Städten aus politischen Gründen nicht realisiert. Da bleibt Bauland ungenutzt, da dür­ fen Dachgeschosse nicht ausgebaut wer­ den und Gebäude eine bestimmte Höhe nicht überschreiten. Zugleich wurde der soziale Wohnungsbau jahrelang vernachlässigt. Mit der Mietpreisbremse soll das Versagen der Politik kaschiert werden. Doch wie wirkt diese Bremse? Da der Vermieter die Miete innerhalb eines Zeit­ raums von drei Jahren nur um 15 Prozent erhöhen kann, ist er gezwungen, mögli­ che Mieterhöhungen schnell vorzuneh­ men. Wartet er zu lange, kann es sein, dass er zu einem späteren Zeitpunkt an die Kappungsgrenze stößt. Rational be­ trachtet, erhöht der Vermieter also so­ fort, wenn er die Miete auch nur ein klei­ nes bisschen anheben kann. Damit ist die Mietpreisbremse ein Mieterhöhungsbe­ schleunigungsgesetz. Vermieter, die sich durch die Maßnahmen des Mieterschut­ zes zu sehr eingeschränkt sehen, vermie­ ten nur noch möblierte Wohnungen und dies befristet. In Berlin wird der Anteil der so vermieteten Wohnungen bereits auf 5 bis 10 Prozent geschätzt. Aus Sicht der Vermieter höchst attraktiv und vor allem rational, da für das Vermieten von möblierten Wohnungen die Mietpreis­ bremse nicht gilt. Selbst wenn der Vermieter sich an alle Regeln hält, profitieren nicht die Armen und Bedürftigen, sondern jene, die es am wenigsten brauchen. Eine

Wohnung kostet ohne Mietpreisbremse beispielsweise 15  Euro/Quadratmeter. Wenn sich drei Interessenten beim Ver­ mieter melden, nimmt dieser jenen, der ihm am solventesten erscheint. Wird die Miete durch die Mietpreisbremse un­ ter den Marktpreis auf beispielsweise 10 Euro gedrückt, bewerben sich nicht drei, sondern 103 Interessenten. Der Ver­ mieter jedoch nimmt denselben Miet­ anwärter. Gewinner der Aktion ist also der Interessent, der auch 15  Euro ge­ zahlt hätte (er spart fünf Euro/Quadrat­ meter). Verlierer sind der Vermieter und die 100 Interessenten, die sich unnötig Hoffnungen gemacht haben. Die fehlende Möglichkeit für Ver­ mieter, die Miete anzuheben, führt dazu, dass Mieter, die in einer Wohnung be­ reits seit langem wohnen, deutlich unter Marktpreis zahlen. Zu langsam erfolgt hier der Anpassungsprozess. Die Folge ist, dass langjährige Mieter, zum Beispiel nach Auszug der Kinder oder dem Tod des Partners, trotzdem in einer viel zu großen Wohnung bleiben, weil diese pro Quadratmeter günstiger ist als eine klei­ nere Wohnung. In der Folge fehlt Wohn­ raum für junge Familien. Damit schützt

die Politik die Besitzenden gegen dieje­ nigen, die noch keine Wohnung haben. Fazit: Interventionen am Immobi­ lienmarkt dienen genau den Falschen. Vermieter profitieren von der anhalten­ den Knappheit an Wohnungen, gut ver­ dienende Mieter mieten günstiger – und jene, die bereits eine Wohnung besitzen, profitieren von der Deckelung. Verlierer sind Geringverdiener und Familien, de­ nen der Zugang zu günstigem Wohnraum blockiert wird. Eine Lösung kann nur die Erhöhung des Angebots bringen, und da müsste die Politik ansetzen.

Foto: Robert Recker

Eingriffe am Markt für Immobilien schaden Familien und Geringverdienern

L E T Z T E S B E I S P I E L : D E R E U R O. Regel­ mäßig hören wir von Politikern und Öko­ nomen, dass Deutschland der große Ge­ winner des Euro sei. Basis ist dabei der Vergleich mit anderen Ländern, wobei Japan eine hohe Gewichtung gegeben wird. Aber Japan ist mit einem Wachs­ tum von 6 Prozent im Zeitraum von 1999 bis 2018 ein besonders schlechtes Bei­ spiel. Hintergrund ist der Rückgang der Bevölkerung in diesem Land, eine Ent­ wicklung, die uns erst in den kommenden Jahren bevorsteht. Nimmt man statt der absoluten Zahlen die Entwicklung des Bruttoinlands­produkts pro Erwerbstäti­ gen, ergibt sich ein gänzlich anderes Bild. Da liegt Japan mit einem Zuwachs von über 20  Prozent deutlich vor Deutsch­ land mit 14 Prozent. Trotz der guten Kon­ junktur der letzten Jahre ist Deutschland nicht besonders stark gewachsen. Ein anderer Aspekt, der von den Ver­ tretern der These, wir seien der „Gewin­ ner des Euro“, vorgebracht wird, sind die Exporterfolge der deutschen Indust­ rie. Dabei sind die Exporte in Länder au­ ßerhalb des Euroraums deutlich schnel­ ler gewachsen als innerhalb der Eurozone. Ein wesentlicher Grund dafür dürfte der schwache Eurokurs sein, vor allem ver­ glichen mit dem hypothetischen Wechsel­ kurs einer D-Mark. Dies bedeutet, dass wir letztlich von der ungelösten Eurokrise profitieren, zwingt diese doch die Euro­ päische Zentralbank zu Negativ­zins und Wertpapierkäufen. Deutsche Sparer tra­ gen so durch ihren unfreiwilligen Zins­ verzicht nicht unwesentlich zum Expor­ terfolg der hiesigen Industrie bei.

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Womit wir bei einem anderen As­ pekt wären: Deutschland ist zu einem überhöhten Wechselkurs dem Euro bei­ getreten und musste die eigene Wettbe­ werbsfähigkeit über jahrelange Lohnzu­ rückhaltung wiederherstellen. Eine nicht unwesentliche Folge war die Entstehung des Niedriglohnsektors, wie oben disku­ tiert. Dies führte zu einer Stagnation der Binnennachfrage und verstärkte die Ex­ portabhängigkeit unserer Volkswirtschaft. Fazit: Im Kern ist der Euro ein Sub­ ventionsprogramm für unsere exportori­ entierten Unternehmen, deren Eigentü­ mer und Mitarbeiter, welches wir selber finanzieren. Damit hat die Gemein­ schaftswährung aber auch eine Umver­ teilungswirkung im Inland. Verlierer sind die Beschäftigten durch geringere Löhne und wir alle durch weniger Konsum und Investitionen im Inland. Es gibt offensichtlich einen deutli­ chen Unterschied zwischen der öffent­ lichen und der medialen Wahrnehmung wichtiger wirtschaftspolitischer Themen und den Realitäten in Deutschland. We­ der sind wir reich noch ungerecht oder Profiteur des Euro. Staatliche Maßnah­ men wirken nicht so, wie dargestellt, und die Wechselwirkungen zwischen den ein­ zelnen Eingriffen in das System sind er­ heblich. Experten verbreiten Studien, ohne offenzulegen, dass sie eine eigene politische Agenda verfolgen. Journalisten verbreiten am liebsten jene Nachrichten, die das eigene Weltbild stützen. Und die Bürger interessieren sich nicht wirklich für die wirtschaftlichen Zusammenhänge. All dies führt dazu, dass wir unge­ bremst den Wohlstand dieses Landes ver­ schleudern. Es ist höchste Zeit, dass die Wirtschaft in das Zentrum der Überlegun­ gen zurückkehrt. Nicht, weil sich alles der Wirtschaft unterordnen sollte, sondern damit wir bei den wichtigen Fragestel­ lungen von Umweltschutz bis Sozialstaat nicht vergessen, dass ohne erfolgreiche Wirtschaft unser Wohlstand und der so­ ziale Zusammenhalt riskiert werden. DA N I E L S T E LT E R ist Autor und Strategieberater. Er war viele Jahre Managing Director bei der Boston Consulting Group

K A P I TA L Porträt

DER STAATSWIRTSCHAFTSMINISTER Das Amt des Wirtschaftsministers hätte für Peter Altmaier zur Krönung seiner politischen Karriere werden sollen. Doch plötzlich hagelt es Kritik von allen Seiten Von  F I O N A W E B E R-S T E I N H AU S

Foto: Hermann Bredehorst/Polaris/StudioX

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m Ludwig-Erhard-Saal des Wirt­ schaftsministeriums in Berlin gibt es hohen Besuch. Der Astronaut Alexan­ der Gerst steht auf einer Empore, erzählt von seinen 197 Tagen im All, von seinen Träumen, vom Alltag auf der ISS, Zuver­ sicht und Zukunft. Eine Ministeriumsmit­ arbeiterin blickt verstohlen nach hinten. Dort sitzt der Chef des Hauses, Peter Alt­ maier. Dieser hat die Beine ausgestreckt, die Hände über seiner violetten Krawatte gefaltet, sein Kopf neigt sich nach vorne. Sie tippt den Mann neben sich an. „Guck mal“, flüstert sie. „Der Altmaier schläft.“ Es ist nur ein kurzes Nickerchen, ein Powernap in den womöglich an­ strengendsten Wochen des CDU-Wirt­ schaftsministers. Am Montag muss Peter Altmaier seine Industriepolitik verteidi­ gen. Am Dienstag muss er Kritiker wie die Familienunternehmer bei Riesling und Hühnchen besänftigen. Am Freitag seine Mutter beerdigen. Zwischendurch versucht er, die strategischen Weichen für seine weitere Amtszeit zu stellen. Bislang scheint seine Strategie zu sein: weiterhin nach außen so zu tun, als sei alles in bes­ ter Ordnung. Dabei ist nichts in Ordnung. Nach einem Jahr im Amt wurde Peter Alt­ maier, 60 Jahre alt, zuletzt ungewöhn­ lich hart kritisiert. „Er beschädigt das Wirtschaftsministerium“; „Totalausfall“; „Fehlbesetzung“ – so ließen sich Unter­ nehmer und Industrieverbände öffent­ lich zitieren. Der vermeintliche Auslöser: Im Fe­ bruar dieses Jahres präsentierte Alt­ maier seine Nationale Industriestrategie 2030. Das Ziel: sich den Herausforderun­ gen der deutschen Wirtschaft stellen. Er schrieb darüber, „in welchen Fällen ein Tätigwerden des Staates ausnahmsweise

gerechtfertigt oder gar notwendig sein kann, um schwere Nachteile für die ei­ gene Volkswirtschaft und das gesamt­ staatliche Wohl zu vermeiden“. Er hatte das Papier alleine geschrieben, in Nacht­ schichten, und auch nicht tief schürfend mit seinen Mitarbeitern diskutiert, sagt er. Ein Fehler, wie sich später zeigte. „Staatswirtschaft“ war nicht der ein­ zige Vorwurf. Der Beirat „Junge Digitale Wirtschaft“ im eigenen Ministerium kri­ tisierte, Altmaier habe nur einen Bruch­ teil der im Koalitionsvertrag festgelegten Versprechen zur Unterstützung der Digi­ talwirtschaft umgesetzt. Doch der eigent­ liche Affront schien zu sein: Der Minister hatte die Mittelständler, Kernklientel der Konservativen, nicht genügend wertge­ schätzt. Das Wort Mittelstand hatte Alt­ maier ein einziges Mal in seinem Stra­ tegiepapier getippt, auf Seite 11 von 16. schos­ sen zurück: Altmaier gefährde die sozi­ ale Marktwirtschaft, von einem „Angriff auf das Lebenselixier der Familienunter­ nehmer“ sprach Reinhold von Eben-Wor­ lée, Präsident des Verbands. Der Spre­ cher eines der größten Mittelständler sagte: Es gibt keinen einzigen Unter­ nehmer, der Altmaier wirklich gut findet. Doch nicht alle teilen diese Kritik. Der Bundesverband der Deutschen Luftund Raumfahrtindustrie etwa begrüßt das Altmaier-Papier: „Die ungleichen globalen Rahmenbedingungen können dazu führen, dass die Marktkräfte nicht ausreichen, die Innovations- und Wettbe­ werbsfähigkeit in Deutschland aufrecht­ zuerhalten.“ Staaten wie China, Indien, Russland oder auch die USA unterstüt­ zen ihre eigenen Unternehmen massiv im Wettbewerb. Bei seinem Besuch im D I E U N T E R N E H M E RV E R B Ä N D E

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Wirtschaftsministerium zeigt der Ast­ ronaut Alexander Gerst, wie viele Län­ der, wie viele Menschen an der ISS mit­ gearbeitet haben. Mit dabei: die Bremer Firma OHB. Die kleine Hydraulikfirma hat sich innerhalb von knapp 38 Jahren von einem kleinen Mittelständler zu ei­ nem der Hauptakteure der Raumfahrt entwickelt; zu einem „nationalen Cham­ pion“ im altmaierschen Sinne. Doch bei der Kritik an dem Minister geht es um mehr: Altmaiers Karriere ist eng mit Angela Merkel verknüpft. Wenn die Große Koalition zerbricht, wenn An­ negret Kramp-Karrenbauer die nächste Kanzlerin wird, ist unklar, ob er dann als EU-Kommissar nach Brüssel geht oder was seine zukünftige Rolle sein könnte. Er selbst sagt dazu: „Es ist nicht Sache eines Fachministers, seine eigene Rolle zu definieren.“ Und so beginnt Peter Altmaier die Woche Anfang Mai mit einer Einladung an seine Kritiker. Gegen 10 Uhr versam­ meln sich im Ludwig-Erhard-Saal drei Frauen und 54 Männer. Zwei Verbände haben eigene Positionspapiere gleich mit­ gebracht. Altmaier gibt sich gelassen, er­ klärt, dass sein Papier nur ein Entwurf gewesen, dass er einen Schritt auf die Kri­ tiker zugegangen sei. Doch als er nach­ mittags vor den Fernsehkameras den gu­ ten Dialog betont, wirkt sein Blick müde, der Schnürsenkel seines linken Schuhes ist offen. Später sagt er: „Mit meinem Vorschlag habe ich die wichtigste wirt­ schaftspolitische Debatte seit langem aus­ gelöst. Da ist Kritik ganz normal.“ Der Minister schafft es, gleichzeitig abzuwie­ geln und sich aufzubauschen. Der Präsi­ dent der Familienunternehmer beschreibt den Tag so: „Das Ergebnis war nicht so vielversprechend, wie wir es uns erhofft

K A P I TA L Porträt

hatten.“ Aber Altmaier, der sonst „viel re­ det und wenig zuhört“, habe „viel zuge­ hört und wenig geredet“. Im Herbst will Peter Altmaier eine überarbeitete Version des Strategiepapiers vorlegen. Eigentlich gilt Altmaier als großer Kommunikator. Er schaffte es als Um­ weltminister, selbst den Ausstieg aus der Atomkraft nach Fukushima halbwegs talkshowtauglich zu vermitteln. Doch zuletzt schien ihn das Glück zu verlas­ sen. Im Januar etwa tagt im Ministe­ rium die Kohlekommission. Vor der Tür Demonstrierende. Hopphopphopp-Kli­ mastopp-Rufe hallen über den Platz an der Invalidenstraße. Der Minister steht vor den jungen Menschen und lächelt. Dann dreht er sich um. „Das war echt eine Scheißidee“, blafft er seinen Presse­ sprecher an. Als er sich zurück Richtung Kameras dreht, beginnt Altmaier wieder zu lächeln, so gütig, als würde er einen Faschingsumzug beklatschen. Er wird da­ bei zufällig gefilmt. Der Wechsel seiner Mimik offenbart sein Problem. Altmaier muss weiterma­ chen, das Gesicht wahren, auch wenn alle merken, dass es wohl wirklich eine schlechte Idee war zu denken, dass die Demonstrierenden den Herrn Minister feiern würden. Peter Altmaier ist krisenerprobt, seit 1994 sitzt er im Bundestag, er war Parlamentarischer Geschäftsführer der Bundestagsfraktion, Umweltminister, Kanzleramtsminister, Koordinator der Flüchtlingskrise und interimsweise Bun­ desfinanzminister – ein Mann für alle Fälle, immer verfügbar, immer im Dienst der Partei. „Schon als Jugendlicher be­ stand mein Leben nur aus Junger Union und Politik“, sagte er vor sieben Jahren dem Spiegel. Er reinigte Flussläufe, um zu unterstreichen, dass Umweltschutz alle angeht. Er zersägte Grenzpfosten, um für ein Europa ohne Binnengren­ zen zu kämpfen. In seiner Zeit als Parla­ mentarischer Geschäftsführer erschienen massenweise Porträts über ihn, für die er Journalisten zu sich nach Hause einlud. Zwischen den Zeilen liest man, wie hu­ morvoll, belesen und gleichzeitig ein we­ nig wunderlich Altmaier wirkt: ein Mann,

Peter Altmaier weiß, dass einige in der Wirtschaft und viele Mitglieder seiner Partei lieber Friedrich Merz als Wirtschaftsminister hätten

der mit über 2500 Büchern in einer etwa 250-Quadratmeter-Wohnung nahe des Kadewe zusammenlebt, aber nie mit ei­ nem Partner. Ein Mann, der eine WorkWork-Balance durchaus als ausgewoge­ nes Lebensmodell sieht. Altmaier, der menschgewordene Stammtisch, der Par­ lamentarier zusammenbringt und Kriti­ kern selbst gekochte Klöße auftischt. Das Amt des Wirtschaftsministers hätte die Krönung seiner politischen Karriere werden können. Doch bislang will ihm das nicht gelingen. Er ist nicht mehr Generalist, sondern Fachminis­ ter. Auf seinem Tisch landen mehr Ak­ ten und weniger Themen. Mehr Reisen, weniger Nächte zu Hause. Ein paar Tage nach seinem Amtsantritt flog er nach Wa­ shington, um mit dem amerikanischen Wirtschaftsminister zu frühstücken. Er vermittelte zwischen Moskau und Kiew, in Ägypten traf Altmaier den Präsiden­ ten, besuchte die Pyramiden, bereiste Japan, China, Indonesien. Er forderte gemeinsam mit Bruno Le Maire, dem französischen Wirtschaftsminister, eine europäische Batteriezellenproduktion. Der Gescholtene erklärt die Kritik an seiner Person mit mehreren Ursachen:

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„Wir haben eine wirtschaftliche Situa­ tion, wo die Bäume nicht in den Himmel wachsen.“ Gerade erst hatte Altmaier die Wachstumsprognose für Deutsch­ land deutlich nach unten auf 0,5  Pro­ zent senken müssen. Die Wirtschaft sei beim Koalitionsvertrag zu kurz gekom­ men, erklärt er: „Das Wirtschaftskapi­ tel ist umfangreich, aber im Vergleich zu anderen Kapiteln nicht so konkret. Au­ ßer im Energiebereich.“ Die Unterneh­ mer fordern bessere Rahmenbedingun­ gen: Tatsächlich sind die Stromkosten in Deutschland so hoch wie nirgends in Eu­ ropa. Und der Minister hofft, die Stim­ mung noch wenden zu können. Zwar gebe es im Vergleich etwa zum Finanzmi­ nisterium weniger konkrete Zuständig­ keiten, „man kann aber im Austausch mit der Wirtschaft viel gestalten“. Doch die Frage ist, ob diese das will. Altmaier weiß, dass einige in der Wirt­ schaft und viele Mitglieder seiner Partei lieber Friedrich Merz als Wirtschaftsmi­ nister hätten. Im Wirtschaftsministerium sehnen sich viele nicht nach einem Stra­ tegen oder einem guten Diplomaten. Sie wollen einen Entscheider. Und natürlich weiß auch Altmaier, dass der Erfolg ei­ nes Ministers sich an dem bemisst, was dieser umgesetzt hat. „Aber es wird nicht immer sofort deutlich. Oft sieht man Er­ folge erst nach Jahren.“ Altmaier selbst verweist auf die Pizza-Connection. So nannte sich eine Gruppe junger Abgeordneter von CDU und Grünen. Als sich beide Parteien noch spinnefeind waren, schmiedeten sie im Keller des Bonner Restaurants Sassella bei Rotwein und Pasta politische Uto­ pien. Altmaier, der zum liberalen Flügel der CDU gehört, kämpfte damals für die Liberalisierung des Staatsbürgerrechts oder für die Strafbarkeit von Vergewal­ tigung in der Ehe. Heute sagt er: „Fast alles, was wir damals forderten, wurde durchgesetzt – wenn auch nicht gleich 1995, sondern oft erst 2005 oder 2015.“ Vielleicht zahlt sich sein langer Atem auch diesmal aus. F I O N A W E B E R-S T E I N H AU S ist freie Journalistin und lebt in Hamburg

K A P I TA L Kommentar

DA N I E L S T E LT E R S AGT I H N E N  …

Wohin mit Ihrem Geld? Der Klimawandel und dessen Folgen fürs Portfolio

Illustration: Anja Stiehler/Jutta Fricke Illustrators

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er Klimawandel und die zu erwartenden Reaktionen der Politik stellen Investoren vor große Herausforde­ rungen. In welchen Regionen lohnt es sich zu investie­ ren, welche Branchen sollte man meiden, welche aufstocken? Investieren sollte man in jedem Fall dort, wo die Politik im Kampf gegen den Klimawandel auf Marktmechanismen setzt und nicht mit Verboten und Besteuerung die Grundlagen des eigenen Wohlstands gefährdet. Wenn Deutschland also lieber Atomstrom aus Frankreich oder Kohlestrom aus Polen impor­ tiert, anstatt im eigenen Land ausreichend günstige Energie zu erzeugen, spricht aus Sicht der Anleger vieles dafür, die Aktien dieser ausländischen Anbieter zu kaufen und einen weiten Bo­ gen um den hiesigen Markt zu machen. Schwieriger ist da schon die Frage nach interessanten Bran­ chen zu beantworten. Bereits heute sind erneuerbare Energien trotz tiefer Ölpreise in weiten Teilen der Welt ohne Subventi­ onen wettbewerbsfähig. Die Erfahrung lehrt, dass der Preis­ verfall der neuen Techniken sich weiter fortsetzen wird. Neue Speichertechnologien tragen ihren Anteil dazu bei. Dezentrale Stromerzeugung macht eine andere Infrastruktur nötig und möglich. All dies sind schlechte Nachrichten für Unternehmen, die Kapazitäten in alten Technologien vorhalten, von Stromer­ zeugung bis Ölförderung. Eine Studie der Beratungsfirma Mercer prognostiziert für die nächsten zehn Jahre sehr schlechte Renditen bei Investitio­ nen in Kohle, Öl und traditionelle Energieerzeugung, während die Bereiche der erneuerbaren Energien, Infrastrukturanbieter und generell alle Unternehmen, die auf „Nachhaltigkeit“ set­ zen, zu den Gewinnern gehören sollen. Doch ist es wirklich so einfach? Genügt es, wie der norwegische Staatsfonds einfach keine Aktien von Kohle- und Ölunternehmen im Portfolio zu haben und stattdessen voll auf die Erneuerbaren zu setzen? Wie immer dürfte es weitaus leichter sein, Verlierer zu mei­ den als Gewinner zu finden. Doch selbst bei den vermeintlich offensichtlichen Verlierern lohnt es sich, genauer hinzuschauen.

Ölaktien beispielsweise notieren derzeit recht günstig, was sie wiederum interessant macht. Immer, wenn eine Industrie über Jahre und Jahrzehnte hohe Gewinne gemacht hat, bestehen erhebliche Reserven zur Kostensenkung. Überdimensionierte Zentralen, überzogene Vergütungen und Überkapazitäten kön­ nen abgebaut werden. Dies dürfte den freien Cash Flow der nächsten Jahre stärken, die Firmen können also noch lange Zeit gute Dividenden zahlen und dem Investor Freude bereiten. Umgekehrt müssen die vermeintlich klaren Gewinner der klimabedingten Wirtschaftstransformation ihre Vorschusslor­ beeren erst noch rechtfertigen. Vor allem steht noch lange nicht fest, welche Technologie und welches Unternehmen am Ende die Nase vorn hat. Gerade die Deutschen haben bei der Solarindus­ trie schmerzhaft feststellen müssen, dass es nichts bringt, eine neue Technologie mit Subventionen aufzubauen, wenn diese binnen kürzester Zeit von den Chinesen übernommen wird. Ernüchterndes Fazit: Die Margen der Wirtschaft werden wegen der sich verteuernden Energie und der Kosten des Um­ baus zu mehr Nachhaltigkeit deutlich unter Druck kommen, und mit ihnen die Bewertungen an den Börsen. Gewinner zu finden, ist da Glückssache, weshalb es sich empfiehlt, auf Diver­ sifikation zu setzen. Klingt langweilig, ist aber wohl das Beste. DA N I E L S T E LT E R ist Makroökonom, Strategieberater und Buchautor. In Cicero schreibt er jeden Monat über das Thema Geldanlage

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K A P I TA L Porträt

MOOVER UND SHAKER E-Scooter sollen den Verkehr in Deutschland verändern, gebaut werden die Geräte bisher vor allem in Asien – ein Nachfolgeunternehmen der Fürther Metz-Werke will das ändern

W

er nach Fürth reist, der reist in die Vergangenheit der deut­ schen Industrie. Die fränkische Stadt stand zwar immer ein wenig im Schatten des großen Nachbarn Nürnberg, doch tatsächlich begannen hier viele Er­ folgsgeschichten der deutschen Wirtschaft. Im Vorort Zirndorf entstand bereits 1876 die Brandstätter-Gruppe, heute vor allem bekannt für die Spielzeugserie Playmobil. Der Versandhändler Quelle baute seinen Hauptsitz in Fürth, genau wie die Fern­ sehhersteller Grundig und Metz. Doch Grundig war bereits 2003 insolvent, Quelle trotz Fusion mit der Karstadt AG im Jahr 2009. Metz folgte 2014, der Fernseh- und Fotoblitzgeräte­ produzent war zahlungsunfähig. Was das Ende für ein Traditionsunternehmen zu sein schien, entpuppt sich in der Rück­ betrachtung jedoch als Neubeginn. Die Lichter sind bei Metz nicht ausgegangen. Wie es dazu kam, das kann Lauri Jouhki erzählen. Seit 2015 leitet der 34-jährige Finne die Geschicke von Metz mecatech, einem der zwei Nachfolgeun­ ternehmen der Metz-Werke. Bei meca­ tech ist das Blitzgeräte- und Kunststoff­ geschäft gebündelt, die lokal verwurzelte Daum-Gruppe übernahm die Geschäfts­ felder nach der Insolvenz. Als Jouhki sei­ nen Dienst antrat, musste er sich einer unangenehmen Erkenntnis stellen: Das Fotografiegeschäft lief nicht. „Die Men­ schen kaufen weniger Kameras, dement­ sprechend auch weniger Zubehör“, sagt er. Die Firma musste sich umorientieren, um das Überleben zu sichern, vielleicht sogar ein neues Geschäftsfeld entdecken. Die Überlebensstrategie für Metz ist 16 Kilogramm schwer, hört auf den Namen Moover – und ist ein E-Scooter, einer der motorisierten Kickroller, die

nicht wenige für einen der wesentlichen Treiber der Mobilität der Zukunft hal­ ten. „Der Moover kann bis zu 20 Stun­ denkilometer schnell werden, für Stre­ cken von 500 Metern bis fünf Kilometern ist er ein ideales Fortbewegungsmittel“, berichtet Jouhki stolz. Aktuell ist es einer von lediglich zwei E-Scootern, die man auf deutschen Straßen fahren darf, seit Anfang März gilt eine Sonderzulassung des Kraftfahrtbundesamts. Wie kommt ein Hersteller von Foto­ zubehör dazu, in E-Mobilität zu inves­ tieren? Die Antwort findet man beim Investor. Die Daum-Gruppe verdient ihr Geld mit Antriebstechnik für Ergo­ meter und E-Bikes, hat also Berührungs­ punkte. „Bei der Entwicklung des Moo­ vers hat die Daum-Gruppe definitiv eine Rolle gespielt“, sagt Jouhki. 2 016 B E G A N N M E T Z erstmals damit, die Idee voranzutreiben. Gesetzliche Vorga­ ben für die Zulassung von E-Scootern waren nicht in Sicht. Zunächst wollte Metz den Moover deshalb als E-Bike zulassen. „Darauf haben wir anfangs auch unsere ganze Entwicklung fokus­ siert“, erinnert sich Jouhki. Die Behör­ den machten den Ingenieuren der Firma jedoch einen Strich durch die Rechnung. Anfang 2018 war klar, dass es mit der Straßenzulassung so nichts wird. Also arbeitete man weiter an dem Gerät, bis es nun mit der Sonderzulassung klappte. Gefahren werden darf der Moover auf der Straße, es braucht lediglich ein Versicherungskennzeichen. Eine Helm­ pflicht gibt es nicht. Bisher hat Metz eine niedrige vierstellige Zahl der Roller ver­ kauft, perspektivisch hofft man auf fünf­ stellige Absatzzahlen jährlich. Man ist vorsichtig in Zirndorf, die Konkurrenz

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ist groß, vor allem aus China. Dort ge­ fertigte Roller sind deutlich günstiger als der Moover, den man für 1998 Euro er­ stehen kann. Jouhki verteidigt den hohen Preis: „Wenn Sie einmal auf einem dieser Billigroller stehen und dann auf einem von uns, erkennen Sie den Unterschied.“ Nicht nur Endverbraucher sollen umwor­ ben werden, ein möglicher Absatzmarkt für den Scooter sind auch Unternehmen mit weitläufigen Werksgeländen. Dort könnte der Roller Arbeitswege deutlich verkürzen. Metz argumentiert, dass sich solche Investitionen für die Firmen schon nach kurzer Zeit rechnen würden. Eine Regulierung für die Straßenzu­ lassung von E-Scootern wird noch dieses Jahr erwartet. Jouhki kann sich vorstel­ len, dass Metz dann eine günstigere Vari­ ante des Moovers für die Endverbraucher auflegt. „Da warten wir erst einmal ab, wie die Vorgaben sind.“ In die schwarzen Zahlen will die Firma dieses Jahr aber unabhängig davon kommen. Die letzten Jahre seien schwer gewesen, auch weil sich die Zulassung des Moover so lange hinzog. „Aber 2019 wird sich die Inves­ tition auszahlen“, ist sich Jouhki sicher. Die Lichter bei Metz sollen auch dank der E-Scooter noch lange weiterbrennen. L A R S-T H O R B E N N I G G E H O F F ist freier Wirtschaftsjournalist aus Köln

MYTHOS MITTELSTAND Was hat Deutschland, was andere nicht haben? Den Mittelstand! Cicero stellt in jeder Ausgabe einen mittelständischen Unternehmer vor

Foto: Sonja Och für Cicero

Von  L A R S-T H O R B E N N I G G E H O F F

Schon seit der industriellen Revolution steht die Frage im Raum, wie der moderne Mensch seine Erfüllung bei der Lohnarbeit finden kann. Das viel gepriesene Konzept „New Work“ verspricht im Zeitalter der Digitalisierung endlich den großen Sprung nach vorn. Zu Recht? Von AYA D A L-A N I

NEUE ARBEIT, NEUES GLÜCK?

K A P I TA L

Foto: Colourbox

A

uf kaum einer der vielen „Zu­ kunftskonferenzen“ darf derzeit der Begriff „New Work“ feh­ len  – ob im Mai auf der re:publica in Berlin oder etwa bei der Online Marke­ ting Rockstars in Hamburg. Dort fand im März auch die Veranstaltung „New Work Experience“ des deutschen Karrie­ renetzwerks Xing statt; neben einem Vor­ trag Joschka Fischers zum Thema „Vom Taxifahrer zum Außenminister“ klangen auch die übrigen Referatsthemen durch­ aus vielversprechend: „Zehntausende Mitarbeiter lassen sich ohne Hierarchie führen“, hieß es da etwa. Das sollte wohl einen Vorgeschmack auf künftige Ar­ beitswelten geben. New Work ist der Megatrend einer Zeit, in der sich durch Digitalisierung und Globalisierung vieles ändert oder verschärft. Offensichtlich müssen Un­ ternehmen innovativer, schneller und mutiger werden. Auch Politiker über­ nehmen das Wording. Arbeitsminister Hubertus Heil (SPD) etwa beschwört die New-Work-Ära als Chance „für Quali­ fizierung und Weiterbildung, für agiles Arbeiten, für Zusammenarbeit und Ver­ netzung auf Augenhöhe und über Hier­ archie- und Ressortgrenzen hinweg, für Beteiligung sowie für Flexibilität, Krea­ tivität und Gesundheit“. Tatsächlich aber versprechen solche New-Work-Philosophien meist etwas, das sie gar nicht einlösen können. Sie geben vor, einen altbekannten Widerspruch aufzulösen. Nämlich den zwischen ei­ ner arbeitsteiligen Hierarchie in Firmen mit mäßig enthusiastischen und gestress­ ten Mitarbeitern sowie einem agilen, sich schnell anpassenden und sogar antizipie­ renden Unternehmen, in dem Mitarbei­ ter auf allen Ebenen notwendigerweise innovativ und engagiert sind. Dieses Dilemma der Arbeitsorganisa­ tion beschrieb schon der „Vater der Natio­ nalökonomie“, Adam Smith, im 18. Jahr­ hundert. Demnach sei Arbeitsteilung zwar effizient, degeneriere aber den Menschen. Der Begriff New Work, so wie er heute meist verwendet wird, dient dazu, die­ sen Widerspruch zu übertünchen. Zumal die Aufgabe der Transformation dem In­ dividuum selbst zufällt: Die Arbeitnehmer

Tatsächlich versprechen die meisten New-WorkPhilosophien etwas, das sie nicht einlösen können

sollen eine neue W ­ ork-Life-Balance su­ chen, stets innovativ und engagiert sein und lebenslang lernen. Die notorische Substanzlosigkeit der New-Work-Kon­ zepte lässt sich allerdings daran ablesen, dass sie heikle Themen meist ausklam­ mern  – etwa Macht- und Einkommens­ verteilung, Bildungsgerechtigkeit oder soziale Mobilität. New Work ist so betrachtet eher eine Ablenkung oder ein mobilisierendes Leit­ bild für eine Phase des Übergangs, in der sich eine neue Arbeitsorganisation noch nicht durchgesetzt hat und grundsätzli­ che Themen noch nicht angesprochen werden dürfen. Eine echte Emanzipation und Transformation der gegenwärtigen Strukturen wird in Zukunft vermutlich eher von Maschinen und Algorithmen ausgelöst, die zu neuen Organisations­ formen führen und andere Vorstellungen von Arbeit geradezu erzwingen.

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Adam Smith beschrieb die Arbeits­ teilung als zentrales Prinzip der kapita­ listischen Organisation in seinem zentra­ len Werk „Der Wohlstand der Nationen“ von 1776. Anhand eines Besuchs ei­ ner kleinen Stecknadelfabrik zeigt er die Vorteile auf: In solchen Manufaktu­ ren spezialisiert sich jeder Arbeiter auf eine bestimmte wiederkehrende Tätig­ keit und erlangt selbst als Ungelernter darin bald große Geschicklichkeit. Ar­ beitsteilung und damit auch Hierarchie sowie Management (denn man brauchte ja nun Fachleute, die die einzelnen Ar­ beitsschritte koordinieren) waren von da an so mächtige Prinzipien, dass ein Ökonom erst in den siebziger Jahren die Frage stellte, warum Smith die Arbeits­ teilung für einen Aufgabenbereich vor­ schlug, der keine Komplexität aufwies und genauso gut in Gruppenarbeit hätte geleistet werden können. Weniger be­ kannt ist, dass Smith selbst bereits die Auswirkungen der Arbeitsteilung auf den Menschen kritisch sah, ohne dass er die­ ses Paradoxon auflösen konnte. Im letz­ ten Abschnitt seines Buches erläuterte er fast beiläufig, dass der Mensch in diesem System „verlernt, seinen Verstand zu ge­ brauchen, und so stumpfsinnig und ein­ fältig wird, wie ein menschliches Wesen nur eben werden kann“. demokratischen Gesell­ schaften der Nachkriegszeit wurde ver­ sucht, die politische Konsequenz des smithschen Paradoxons  – wie können sich Gesellschaften demokratisch nen­ nen, wenn Arbeitnehmer in hierarchi­ schen Organisationen arbeiten müssen? – abzumildern. So kam es in Deutschland im Zuge der gesetzlichen Regelung zur Mitbestimmung Mitte der siebziger Jahre zu einem innovativen betriebswirtschaft­ lichen Ansatz: Ziele sollten im Dialog festgelegt und deren Umsetzung den Be­ troffenen selbst überlassen werden. Dieser Ansatz mit dem sperri­ gen Namen „Arbeitsorientierte Ein­ zelwirtschaftslehre“ erinnert an die New-Work-Versprechen von heute. Er hatte aber viel größere politische Am­ bitionen und wurde deshalb als Auf­ tragsarbeit für den DGB abqualifiziert. ERST IN DEN

K A P I TA L

So schlussfolgerte der Arbeitstheoreti­ seine berühmte E-Mail, in der er die Community zur Mitarbeit an einem of­ ker André Gorz in den achtziger Jahren fenen Betriebssystem, das spätere Linux, denn auch, dass eine Überwindung des smithschen Paradoxons unmöglich sei. einlud. Was dabei entstand, war die Gorz schlug stattdessen vor, die Arbeit­ erste wirkliche neue Organisationsform seit der industriellen Revolution: Nach nehmer müssten versuchen, jene Aspekte ihrer Persönlichkeit zu entfalten, die im 17 Uhr versammelten sich „freie Produ­ Unternehmen keinen Platz haben: Kul­ zenten“ (die meisten waren bei den gro­ ßen IT-Konzernen angestellt) und arbei­ tur, Freundschaft, Erziehung. Ende der neunziger Jahre aber ver­ teten zunächst unbezahlt an Projekten, schärfte sich mit der Phase des Hyper­ für die sie sich wirklich interessierten. wettbewerbs die Situation für Unter­ Diese Open-Source-Bewegung nutzte nehmen. Sie verfielen zunächst auf die „neue“ Prinzipien: Selbststeuerung und altbekannte Strategie, Kosten zu senken. -organisation und flüssige Hierarchien. Aber diese Maßnahmen hatten Nebenef­ Die in diesen „Peer-to-Peer-Organisa­ fekte: Die Arbeitszufriedenheit nahm ab, tionen“ entwickelten Produkte (Linux, und der Stress nahm zu. Die „schlanken“ Mozilla, Wikipedia und andere) wurden Unternehmen hatten keine Puffer mehr, zudem kostenfrei zur Verfügung gestellt. Die Technologiekonzerne wurden Arbeitnehmer mussten permanent größt­ hellhörig: Warum waren ihre Mitarbei­ mögliche Energie aufwenden, um keine Fehler zu machen und so den Produkti­ ter in dieser Organisationsform viel in­ novativer als in ihrem Angestelltenver­ onsfluss zu stören. Auf Grundlage einer weltweiten Um­ hältnis? Und könnte man diese benötigte frage vermeldete dann die Personalbera­ tung Towers Watson Anfang dieses Jahr­ zehnts: „Zwei Drittel der Arbeitnehmer sind nicht engagiert.“ Zugleich leide auch die Innovationsfähigkeit. Experimentier­ räume waren den Kostensenkungen ge­ opfert worden, zudem wirkte das smith­ sche Paradoxon fort: Von allen Aspekten einer Persönlichkeit des Arbeitnehmers filtern sich Unternehmen nur bestimmte heraus und negieren andere. Gleichzei­ tig wollen Unternehmen im Hyperwett­ bewerb aber immer den „ganzen“ Men­ schen, seine Motivation und seinen Enthusiasmus. Die Psychologie wurde deshalb als Hilfswissenschaft bemüht, um die Mitarbeiter zu mobilisieren. Was aber kaum gelingen konnte, denn man wollte Menschen, deren Talente und Fä­ higkeiten schlecht genutzt wurden, da­ von überzeugen, eine Arbeit, die sie nicht erfüllte, mit vollem Einsatz zu erledigen. War Gorz noch davon ausgegan­ gen, menschliche Selbstverwirklichung könne nur im Privaten erfolgen, so lösten die neuen sozialen Medien eine wahre Revolution aus. Denn plötzlich konnte der Einzelne sich ohne große Umstände mit Gleichgesinnten zusammentun. So schrieb etwa der Programmierer Linus Torvalds schon Ende der neunziger Jahre

Firmen wollten das Potenzial innovativer Mitarbeiter zurückholen, die sich auf der Flucht selbst organisiert hatten

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Innovationskraft nicht wieder in die Wertschöpfungskette reintegrieren? Es kam zu einer Rückholaktion: Die Inno­ vationskraft des Individuums, das sich auf der Flucht selbst organisierte, musste wieder ökonomisiert werden. So kam es zum Phänomen des Crowdworking: IT-Konzerne machen nun einen großen Teil ihres Umsatzes mit der Beratung um Open-Source-Produkte herum (Linux); freie Produzenten arbeiteten gegen Ent­ gelt für Unternehmen, und diese wiede­ rum zapften Start-ups an, um deren In­ novationskraft zu nutzen. D A S V E R L A N G T N AT Ü R L I C H auch tra­ ditionellen Unternehmen einen Anpas­ sungsprozess ab. Der Axel-Springer-Kon­ zern etwa lancierte Recruiting-Videoclips, deren Episoden sich um das humorvoll präsentierte Zusammenprallen von alter und neuer Arbeitswelt ranken (ein Nerd bewirbt sich bei Springer-Chef Mathias Döpfner). Das sollte deutlich machen: Aus dem traditionellen Konzern muss ein hybrides Unternehmen werden, wel­ ches die Vorteile eines großen Konzerns mit denen eines Start-ups kombiniert. So gesehen ist New Work ein Ausdruck der Davos-Strategie, „alles zu ändern, da­ mit alles so bleibt“. Der smithsche Wi­ derspruch aber kann auf diese Weise nicht aufgelöst, sondern allenfalls über­ spielt werden nach dem Motto: Wer jetzt noch immer keine Erfüllung bei der Ar­ beit findet, ist im Zweifel selbst schuld und muss zum Coach. Dabei wäre längst viel mehr denkbar und auch machbar. Roboter und Algo­ rithmen können Mitarbeiter von körper­ lich anstrengenden, aber auch repetitiven Aktivitäten befreien. Diese „Emanzipa­ tion“ aus dem smithschen Paradoxon führt natürlich zu einem Abbau von Jobs. Allerdings werden im Unternehmen durch die Transformation auch neue Rol­ len geschaffen (neue Dienstleistungen, Datenmanagement, Training von Ma­ schinen, Beratung, Projektmanagement und anderes), die womöglich sogar er­ füllender und anspruchsvoller sind. Die zentrale Frage wird dabei sein, ob die Mitarbeiter der alten Organisation diese Jobs auch ausfüllen können und wollen.

Foto: Tebble

An dieser Stelle ist es sinnvoll, sich den ursprünglichen Ideen und Zielen des New-Work-Konzepts zuzuwenden. Oft wird vergessen, dass der Schöpfer die­ ses Begriffs, der Philosoph Frithjof Berg­ mann, eigentlich erreichen wollte, dass der Arbeitnehmer endlich das tut, „was er/sie wirklich, wirklich will“. Denkbar ist also, dass das Individuum seinen Lei­ denschaften und Talenten folgt und auch außerhalb oder neben seinem bisherigen Tätigkeitsbereich arbeiten will. Der Stadt­ staat Singapur etwa fördert diese (Wie­ der-)Entdeckung der Talente seiner Bürger ganz konkret: Dort wird jeder Arbeitneh­ mer im Zuge eines „Second-Skilling-Pro­ gramms“ dabei unterstützt, sich nicht nur im Rahmen seiner bisherigen Karri­ ere weiterzubilden, sondern auch in jenen Bereichen, in denen Interessen und Nei­ gungen bestehen. So kann etwa ein Soft­ wareingenieur auch Kurse für Schriftstel­ lerei besuchen, wenn er beim Verfassen von Bedienungsanleitungen bemerkt hat, dass Schreiben seine Passion ist. Der Gedanke dahinter ist, dass eine blühende und effiziente Volkswirtschaft vor allem dann entsteht, wenn jedes Indi­ viduum das tut, was es am besten kann und am liebsten macht. Dann bräuchte es auch weniger Anleitungen und externe Motivation, denn diese sind ja nur not­ wendig, wenn wir etwas tun, das uns wi­ derstrebt. New Work sollte also in erster Linie beim einzelnen Menschen und dem Freisetzen seiner Fähigkeiten anknüpfen, die durch die Arbeitsteilung oft verküm­ mert sind. Jenseits dieser sehr persön­ lichen Herangehensweise ist aber auch klar, dass New Work nur funktioniert, wenn die Rahmenbedingungen stimmen: etwa ein kostenfreier Zugang zu jedwe­ den Bildungsinhalten rund um die Uhr, eine gezielte Förderung von Ideen und Talenten statt allgemeiner Trainings- und Beschäftigungsmaßnahmen – und wohl auch eine gewisse Fürsorge für das Indi­ viduum entlang seines zunehmend selbst­ bestimmten Pfades. AYAD AL-ANI ist Mitglied am Einstein Center Digital Future in Berlin

CICERO FOYERGESPRÄCH DRESDEN

Michael Kretschmer © Pawel Sosnowski

Alexander Marguier © Antje Berghäuser

SONNTAG, 23. JUNI 15:30 UHR

Prof. Dr. Andreas Rödder © Bert Bostelmann

Christoph Schwennicke © Antje Berghäuser

Was ist heute konservativ? Über dieses Thema diskutieren der sächsische Ministerpräsident Michael Kretschmer und Prof. Dr. Andreas Rödder, Historiker und Autor des Buches „Konservativ 21.0. Eine Agenda für Deutschland“, mit den beiden Cicero-Chefredakteuren Alexander Marguier und Christoph Schwennicke.

Sonntag, 23. Juni 2019 | 15:30 Uhr (Einlass ab 15 Uhr) Ort: Kuppelhalle der Sächsischen Staatskanzlei Archivstraße 1 | 01097 Dresden | Eintritt frei Begrenzte Sitzplatzanzahl, daher bitten wir um Anmeldung unter [email protected]

SALO N

KÜSS DIE HAND

Von L HAE T MIC ECH N K L L A T S

s Foto IAN Y FLOR TZK ERO GEN

mer m i n I nen: r e l n ivee L f u n a e l boom Töne t i e i e d nten w r t l e f e t Wo n w weit e ung und Kinos s r u h a e m ngen lisier u a g n a o i r t . Reg en sich zum r Über n r e s ind eate nhäu b r r h t e e e p v i g O erung en das Re i s i l a geg Glob t s e t o Pr en, stillen b e ur Kauf e 97 Cicero – 06. 2 019

b al ier in er glo wie h o ch d t ist, d f , u g a e rk htet ellun Ausv geric Vorst ob en je d e t h c h a ic n rn ist kla Trend

D

er Corona Kinoplex in Kaufbeuren ist ein Kino, wie es viele gibt in der Pro­ vinz: Im Industriegebiet des hübschen allgäuischen Städtchens gelegen, dominieren Beton und große Glasflächen die in den späten Neunzigern errichteten Fassaden. Doch die große weite Welt ist an diesem Abend zum Greifen nah. Schließlich hat sich Plá­ cido Domingo angesagt, nicht persönlich, aber immerhin in Echtzeit aus London. Das Royal Opera House überträgt live „La Traviata“, Giuseppe Verdis Oper über die Kurtisane, die ihr Glück auch in der einzigen wahren Liebe ihres Lebens nicht finden kann. Wenn sich im 1000 Kilometer weit entfernten London der Vorhang hebt, wird es auch im Corona mucksmäuschen­ still. Domingo, ein wenig in die Jahre ge­ kommen, singt nicht mehr den Liebhaber der Kurtisane, sondern dessen Vater. Die Begeisterung für ihn ist dennoch groß in Kaufbeuren. „Das sind einfach Sänger, die man sonst hier nicht hört“, sagt ein Besucher. Der pensionierte Rektor einer nahe gelegenen Hauptschule hat auch schon live Opernhäuser und Festspiele besucht, in Kaufbeuren verfolgt er nun regelmäßig die Übertragungen aus dem Royal Opera House oder aus der Metro­ politan Opera in New York. Oper im Kino ist ein Geschäft, das gerade auch im deutschsprachigen Raum inzwischen hervorragend läuft, in der Provinz ebenso wie in größeren Städ­ ten. „Deutschland gehört zu den fünf wichtigsten Abnehmerländern“, sagt Ed­ gar Kampa vom Royal Opera House, das die Übertragungen seit dem Beginn vor zehn Jahren kontinuierlich ausgebaut hat. Inzwischen sind 1500 Kinos in 51 Län­ dern dabei, viele davon live, sofern es die

Zeitverschiebung erlaubt. In den kom­ menden Jahren möchte er vor allem noch mehr Kinos in Australien, Nordamerika und einigen asiatischen Ländern wie Ko­ rea erreichen. Unumstrittener Markt­ führer in dem Bereich bleibt mit aktuell 2200 Kinos in über 70 Ländern dennoch die New Yorker Met, die auch als Erste auf die Idee mit den Übertragungen ge­ kommen ist. Mit dem Abschied vieler Kinos von der analogen Filmspule und dem Umstieg auf digitale Projektion waren solche Op­ tionen erst mit Beginn des Jahrtausends entstanden. Die Besucherzahlen explo­ dierten rasch, inzwischen erreicht die Met allein in Deutschland und Öster­ reich knapp 300 000 Kinobesucher pro

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Der Pionier, die Metropolitan Opera, sendet mittlerweile aus New York in 2200 Kinos in über 70 Ländern

S A LO N

Ganz links: Nach Kaufbeuren und ins Capitol bringt Daniel Fiedler das große Musiktheater Links: Schale ist alles, Service erst recht – unter und vor dem Kinosaal halten die Autos derweil Wacht

Spielzeit. Mit deutlich geringerer Reich­ weite übertragen auch die Pariser Oper und das Moskauer Bolschoi-Ballett ihre Vorstellungen, dazu kommen Einzel­ events wie jährlich im Sommer die Er­ öffnung der Bayreuther Festspiele und sogar einzelne Orchesterkonzerte bei­ spielsweise von den Berliner und den Wiener Philharmonikern. „Wir bringen die Oper zu den Leuten, statt die Leute in die Oper“, sagt Edgar Kampa in London. Er versteht das auch als Teil einer Öffnungspolitik, die die Kunstform Oper stärker demokratisieren will. Die Übertragungen sollen „ein jün­ geres und diverseres Publikum“ anspre­ chen. Glaubt man dem Augenschein in Kaufbeuren, dann erweist sich das frei­ lich eher als eine der zeitgängigen Flos­ keln, wie sie Theatermacher gerne mal äußern. D A S P U B L I K U M im Corona Kinoplex wirkt jedenfalls eher gutbürgerlich, es dominieren die älteren Semester, die auch das Stammpublikum der Opernhäu­ ser stellen. Und gutbürgerlich sind hier auch die Argumente, warum man nicht ins eine Stunde entfernte München oder nach Augsburg fährt, um Oper live zu sehen. „Die Qualität der Sänger ist her­ vorragend, aber der Preis dafür nicht der­ selbe wie live“, sagt der ehemalige Schul­ rektor. 33 Euro kostet der Eintritt für den Opernabend in Kaufbeuren. Dafür be­ kommt man zwar auch im Staatsthea­ ter Augsburg einen ordentlichen Sitz­ platz, aber halt ohne Domingo, und in der Bayerischen Staatsoper muss man sich für das Geld mehrere Monate zuvor um einen Platz im dritten oder vierten Rang kümmern, wenn dort Anna Net­ rebko oder Jonas Kaufmann singen. In Kaufbeuren ist auch noch der Stellplatz

Links: Die Schuhtracht bringt es an den Tag – hier geht es gerade nicht zu „Avengers 4“ oder Til Schweiger Rechts: Mit der Oper hält die Pause Einzug ins Kino und mit ihr das kalte Buffet als Rettung aus selbst verschuldetem Hunger

Den Mythos Oper bedient die alte Traumfabrik hemmungsloser als so manches Opernhaus

fürs Auto direkt unter dem Kinosaal in­ klusive. Für den pensionierten Schullei­ ter sind die Übertragungen zwar „nicht dasselbe wie das Original“, aber dafür eben „unkompliziert“: „Man ist schnell da.“ „Super, dass man in Kaufbeuren so was machen kann“, finden auch zwei an­ dere regelmäßige Besucherinnen. Es sei einfach „eine Gelegenheit, so was zu er­ leben, ohne in die Großstadt zu fahren“. Dabei ist gerade in Deutschland mit seinen vielen Stadt- und Staatsthea­ tern das nächste Opernensemble eigent­ lich nirgendwo länger als eine Stunde Auto- oder Zugfahrt entfernt. Nehmen die Übertragungen den Theatern etwa das Publikum weg? Die Zahlen sprechen bislang eher dagegen. Die Kinoübertra­ gungen laufen überall dort besonders gut, wo es Oper auch live zu sehen gibt. So zeigen in der nahe bei Kaufbeuren

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gelegenen Musikstadt München auch be­ sonders viele Kinos die Vorstellungen aus London, Paris, New York oder Bayreuth. In Österreich, wo das Interesse für Mu­ sik und Theater noch stärker Teil der Le­ benskultur ist als in Deutschland, ist, re­ lativ zur kleineren Einwohnerzahl, auch die Vorliebe für die Übertragungen deut­ lich größer. Nur die Erwartungshaltungen sind tendenziell doch unterschiedlich, wenn man den Publikumsäußerungen in Kaufbeuren folgt. So steht der Sänger­ star schon länger nicht mehr im Fokus der meisten Neuproduktionen an vielen Opernhäusern, auch aus dem schlichten Grund, weil es solche Stars nicht mehr in derselben Zahl gibt wie zu Zeiten von Maria Callas oder Luciano Pavarotti. Do­ mingo ist selbst ein Überbleibsel dieser Ära. An ihre Stelle tritt nicht selten der Regisseur, der nun als der eigentliche Star gehandelt wird. Zwar setzen die großen Häuser noch immer auf große Namen, zwar locken auch die kleinen in jeder Spielzeit mit bekannten Titeln. Aber daneben bedienen sie auch komple­ xere Distinktionsbedürfnisse. Ihnen ent­ spricht zum einen das Regietheater, das die Stücke selbst als bekannt voraussetzt, zum anderen die Vielzahl von Neuentde­ ckungen und Ausgrabungen aus den Wei­ ten des Opernrepertoires, mit denen in­ zwischen viele Häuser ihr Publikum auf weniger ausgetretene Pfade locken. In Kaufbeuren ist das alles kein Thema. Das Publikum wolle „die absolu­ ten Klassiker“ sehen, sagt Daniel Fiedler, der seit 2008 Theaterleiter des Corona Kinoplex ist, am liebsten italienische Opern. Und bei den Mitwirkenden zögen „vor allem die großen Namen, die welt­ weit bekannt sind“. Für den Regisseur dagegen scheint man sich hier wenig zu

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interessieren, wenn man den Publikums­ reaktionen glaubt – oder jedenfalls nur, wenn er allzu offensichtlich stört. „Wir sind schließlich zum Genießen hier, nicht zum Diskutieren“, sagen die beiden be­ reits zitierten Damen. Die eher traditi­ onellen Inszenierungen aus der Metro­ politan Opera funktionieren in diesem Marktsegment deshalb hervorragend, aber auch die moderneren aus London werden angenommen, solange das Büh­ nenbild nur nicht ausschaut wie zu Hause das eigene unaufgeräumte Wohnzimmer, sondern einen Hauch großer, weiter Welt verbreitet. Der Kinobesucher ist auf der Su­ che nach dem Mythos Oper, den die alte Traumfabrik Kino hier hemmungslo­ ser bedient als so manches Opernhaus. „Wir machen es den Leuten ganz ange­ nehm mit einem opernähnlichen Besuch“, sagt Theaterleiter Daniel Fiedler. Wie viele seiner Kollegen setzt er in Kauf­ beuren auf ein „Eventpaket“: Am Ein­ gang nimmt eine Garderobiere die Män­ tel ab, zur Begrüßung gibt es einen Sekt, und in der Pause stehen Häppchen be­ reit. „Die Besucher sollen sich ein biss­ chen wie in der Oper fühlen.“ Fiedlers Publikum spielt denn auch wie an vie­ len anderen Orten mit bei der Inszenie­ rung, indem es sich so anzieht, wie es das auch für eine Fahrt in ein weiter ent­ ferntes Opernhaus täte. Bei den Damen in Kaufbeuren dominieren Kostüm und Rüschenbluse, die Herren tragen gern Anzug mit oder ohne Krawatte. Wo sich in den Opernhäusern manche Besucher ihr Distinktionsbedürfnis beweisen, in­ dem sie sich in der Jeans in den Samt­ stuhl fläzen, da zelebriert die Kinooper gezielt den alten bürgerlichen Habitus der Kunstform. Formen der Demokrati­ sierung sind beide, nur von verschiede­ nen Enden. D I E M A C H E R D E R Ü B E RT R A G U N G E N

fördern den Mythos gerade dort, wo sie ihn ganz gezielt ein wenig entzaubern. Vor Beginn der Vorstellung und in den Pausen von „La Traviata“ warten die Ka­ meras hinter der Bühne, wo Domingo ein Interview gibt und Einblicke in die Pro­ ben der Tanzszenen gegeben werden, die

Links: Zur Hoodie- und Jeans-freien Zone wird die Bar im Kino, wenn auf der Leinwand Verdi gesungen wird Rechts: Die Erwartungen sind so klar wie die Benennungen: keine Oper ohne Schaumwein

Die Kinos haben mit den Übertragungen ein neues Publikum gewonnen

gleich darauf live zu sehen sein werden. „Wir wollen das Publikum dem kreativen Prozess näherbringen“, erläutert Edgar Kampa das Konzept für Covent Garden. „Es soll den besten Platz im Haus bekom­ men.“ Angebracht in unterschiedlichsten Winkeln der Bühne, zeigen die Kameras das Bühnenbild in immer wieder neuen Perspektiven oder zoomen die Gesich­ ter der Sänger bis zum Close-up heran. „Man kommt den Sängern viel näher als im Opernhaus“, schwärmt eine ältere

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D A M I T A B E R W E R D E N gleichzeitig die Kinos als örtliche Versammlungsstätten wieder gestärkt. Finanziell sind die Über­ tragungen für sie sowieso ein Gewinn, weil die Preise hier deutlich höher liegen als die für einen normalen Film. Schließ­ lich läuft das Kerngeschäft seit längerem nicht mehr so gut, weil in der zentralen Zielgruppe der Jungen Internetanbieter wie Netflix und Pay-TV-Kanäle wie Sky zur echten Konkurrenz geworden sind. Damit werden gerade die opernlieben­ den Senioren für die Betreiber inter­ essant. „Die Kinos haben sich mit den Übertragungen ein neues Publikum ge­ holt“, sagt Raths. Anfangs, erinnert sie sich, sei es gar nicht so leicht gewesen, diese Zielgruppe von einem Kinobesuch zu überzeugen. Inzwischen liege die Met in den wöchentlichen Kinocharts nicht selten auf dem zweiten oder dritten Platz

Foto: Privat (Autor)

Besucherin, die sich für den Abend mit einer prächtigen Perlenkette herausge­ putzt hat, „mittendrin“ sei man hier. Die beiden bereits zitierten Damen finden so­ gar, dass der Eindruck „viel direkter“ sei als im Theater. Die Übertragungen nä­ hern die Oper den Rezeptionsgewohn­ heiten an, die der heimische Fernseher vorgeprägt hat. Woran die Kinogänger dennoch festhalten, ist der zeremonielle Rahmen. Schließlich senden viele grö­ ßere Opernhäuser einzelne ihrer Vor­ stellungen auch per Livestream ins Inter­ net, die man sich theoretisch auch allein zu Hause anschauen könnte. „Die Über­ tragungen kosten nicht so viel wie ein Abend in der Oper, sind aber trotzdem ein Gemeinschaftserlebnis“, sagt Katja Raths, die im Rahmen der Produktions­ firma Clasart Classic die Übertragungen aus New York in Deutschland und Öster­ reich betreut.

Goethe, Illustration Maria Gottweis nach dem Gemälde von Johann Heinrich Wilhelm Tischbein, Goethe in der römischen Campagna, 1787

bei den Besucherzahlen für das Wochen­ ende. Raths wählt jetzt aus, welchen Ki­ nos sie die Übertragungsrechte gibt, damit sie sich nicht gegenseitig das Pub­ likum wegnehmen. Zugleich nähert die Oper mit ihrem Habitus das Kino hier wieder der ur­ sprünglichen Idee eines Filmtheaters an. Schließlich kommen die Besucher nicht erst während des Werbeblocks, werfen die Mäntel über den nächsten Sitz und die Hälfte des Popcorns auf den Fußbo­ den. „Alternative content“ heißt in der Branche das Zauberwort für die neuen Erlebnisformen im Kino, die von Thea­ terübertragungen über geführte Muse­ umsrundgänge bis zu Übertragungen von großen Fußballspielen oder, wie in Kaufbeuren, von Auswärtsspielen des örtlichen Eishockeyvereins reichen. Die Klassik ist der Marktführer in diesem Be­ reich, der sich zunehmend zu einem ei­ genen Geschäftsfeld entwickelt. „Es ist eine andere Zielgruppe, die seltener ins

Kino geht und die man mit Live­events erreicht“, beschreibt Daniel Fiedler sein Publikum für die Opernübertragungen. Er erkennt darin einen Weg, „das Kino nicht nur als Filmabspielstätte zu sehen“. Und natürlich hofft er darauf, dass der eine oder andere der Opernbesucher den Weg in einen der Filme findet, die auf den Plakaten im Corona Kinoplex beworben werden. Die Übertragungen sind ein Ge­ winngeschäft für alle Beteiligten. Die Kinos wie die Opernhäuser vergrößern ihre Reichweite und stärken den Ruf ih­ rer Marke, die Kinos in ihrer Region, die beteiligten Opernhäuser weltweit. Genau diese Mischung aus Regionalisierung und Globalisierung macht die Oper im Kino zu einem epochentypischen Phänomen. M I C H A E L S TA L L K N E C H T ist Musikkritiker und Autor und war nicht zum ersten Mal in einer Opernübertragung

GOETHE

Verwandlung der Welt bis 15. September 2019 in Bonn

Kunst- und Ausstellungshalle der Bundesrepublik Deutschland www.bundeskunsthalle.de

zeitgleich:

GOETHES GÄRTEN Grüne Welten auf dem Dach der Bundeskunsthalle

S A LO N Porträt

UMZUG IM GALOPP Im Juli übernimmt Julia Draganovic die Leitung der Villa Massimo in Rom. Bisher war sie Direktorin der Kunsthalle Osnabrück. Will sie darum Erinnerung fruchtbar machen?

K

unst ist die schöne Mixtur aus Form und Chaos. Was wäre die strengste Komposition ohne Schöpfungstaumel, was Struktur ohne Tohuwabohu? Als die heute 55-jährige Julia Draganovic 2014 die Leitung der Kunsthalle Osnabrück übernahm, feierte sie ihren Einstand mit einem geradezu di­ onysischen Gelage: Mit „24/7“ sorgte die gebürtige Hamburgerin für Furore. Eine Woche lang war die in einer alten Do­ minikanerkirche untergebrachte Kunst­ halle für jedermann geöffnet. Wer immer es wollte, durfte werkeln, malen, kreativ zerstören: „Man konnte rund um die Uhr anarchisch sein – vorausgesetzt, man be­ schädigte die Kunsthalle nicht in ihrer Substanz, verstieß nicht gegen das Ge­ setz und störte nicht die anderen Besu­ cher.“ Die zurückhaltende Frau mit der dunklen Bobfrisur muss über diesen un­ gewöhnlichen Anfang noch heute lachen. Statt der klassischen Bilderschauen gab es unter Draganovics Leitung groß­ zügige Installationen. International ge­ fragte Künstler wie Christoph Faulhaber, Felice Varini oder Jan Tichy formten aus der verschlafenen Teilstadt des Westfä­ lischen Friedens einen Hot Spot für die zeitgenössische Szene. Im Sommer dieses Jahres wird damit Schluss sein – vor allem mit dem diony­ sischen Rausch: Julia Draganovic wird staatstragend werden. Vom 1. Juli an, so hat es Kulturstaatsministerin Monika Grütters verkündet, übernimmt sie die Leitung der Villa Massimo in Rom. Joa­ chim Blüher wird nach 17 Jahren erfolg­ reicher Kulturarbeit in den Ruhestand versetzt. In der Stadt der Korinthischen Säulenordnung wird für Julia Dragano­ vic ein lang gehegter Traum wahr: Be­ reits 2002 hatte sich die gut vernetzte

Kunst- und Literaturwissenschaftle­ rin auf die begehrte Stelle am Tiber be­ worben: „Damals war ich wohl noch zu klein“, scherzt sie über die Absage von ehedem und fährt sich verspielt durch die schwarzen Haare. Jetzt, 17  Jahre und zahlreiche Welt- wie Italienreisen später, hat Julia Draganovic das richtige Maß für eine Herausforderung, wie sie die Villa Massimo darstellt. die Vorfreude an: Es sei nicht einmal klassische Italiensehn­ sucht, sie glaube vielmehr, „dass die Auseinandersetzung mit der Geschichte und mit dem, was man in Italien la me­ moria nennt, immer wieder neu für die Gegenwart fruchtbar gemacht werden sollte.“ La memoria – wenn Julia Dra­ ganovic italienisch spricht, erklingt mit jeder Silbe eine große Liebe. Noch wäh­ rend des Studiums lernte sie Italienisch. Ein Studienaufenthalt in Neapel folgte, eine Tätigkeit in Modena, Bologna und wieder Neapel. 2004 arbeitete Draga­ novic als Kuratorin der Galleria d’arte contemporanea della Provincia Modena, 2007 als Leiterin des PAN Palazzo delle Arti di Napoli. Und jetzt Chefin der ruhmreichsten deutschen Herberge jenseits der Alpen: der Accademia Tedesca Roma, eines Or­ tes für jährlich neun Spitzenstipendiaten aus den Bereichen Bildende Kunst, Li­ teratur, Architektur und Musik. Im rö­ mischen Quartier Nomentano erhalten sie die Gelegenheit, ein deutsches Ar­ kadien mit Leben zu füllen. Wer hier­ her eingeladen worden ist, hat seinen Olymp vor Augen: Anselm Kiefer, Uwe Johnson, Herta Müller, Sibylle Lewit­ scharoff; es sind nur einige der erlese­ nen Namen, die im Gästebuch der vom MAN MERKT IHR

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Kulturmäzen Eduard Arnhold errichte­ ten Prachtvilla stehen. Julia Draganovic begegnet ihrer neuen Tätigkeit mit Respekt: „Ich trete die Stelle mit einer Mischung aus Ehr­ furcht und riesiger Neugier an.“ Natür­ lich habe sie sich so manche Idee für Rom durch den Kopf gehen lassen. Sie wolle aber zunächst einmal am Largo di Villa Massimo vorbeischauen, um vor Ort zu erkunden, was davon wirklich realisierbar sei. Und dann müsse sie ja auch noch schauen, wo sie ihr Pferd gra­ sen lasse. Ein treuer Galopper nämlich wird mit ihr über die Alpen reisen. „Eine meiner ersten Handlungen wird darin bestehen, mich mit den Lei­ tern der anderen großen Kultureinrich­ tungen – etwa dem Direktor der Ame­ rican Academy oder der Académie de France – zu treffen.“ Sie freue sich auch auf die Fortführung der unter Joachim Blüher aufgebauten Kooperation mit den italienischen Partnern. Gerade in politisch schwierigeren Zeiten sei Aus­ tausch immens wichtig. „An die Tatsa­ che, dass ich nun erstmals explizit Ver­ treterin der deutschen Kultur sein werde, muss ich mich erst noch gewöhnen.“ Neulich habe ihr ein Freund zur neuen Anstellung gratuliert: „Du bist jetzt Deutschland!“ Für einen kur­ zen Moment habe sie innehalten müs­ sen. Sie? Die Frau mit dem serbischen Nachnamen? Die jetzige Leiterin eines kleinen Ausstellungshauses in der Pro­ vinz? Noch ist Julia Draganovic im Vor­ freudentaumel. Nach dem ersten Rausch aber müssen Form, Plan und auch etwas mehr apollinische Ordnung her. R A L F H A N S E L L E ist Kunstkritiker und teilt Draganovics Begeisterung für Italien

Foto: Rafael Heygster für Cicero

Von  R A L F H A N S E L L E

S A LO N Porträt

RADIKALE GESTEN Johann König ist fast blind und wurde dennoch einer der wichtigsten Galeristen Deutschlands. Die Geschichte seines Lebens hat er nun aufgeschrieben Von  M A R I E W I L D E R M A N N

Foto: Ralf Günther/B.Z.

D

reißig Meter oder mehr ragt der graue Betonklotz in den Berliner Himmel. Brutalistische Architek­ tur, sechziger Jahre. Die katholische Kir­ che St. Agnes in Kreuzberg steht unter Denkmalschutz. Aber das Kreuz auf dem Dach verschwand, als sie vor ein paar Jahren zur Galerie wurde. Sonst blieb au­ ßen alles, wie es war. Auch die schweren Kirchentüren. Die neue Welt beginnt in­ nen, wo Ideen und Gedanken sich in ab­ surden Bildwelten ausdrücken, moder­ nem Design, kryptischen Installationen. Im Foyer ein langer Holztresen mit Laptops, an denen junge Frauen in tren­ digen Outfits arbeiten. An der unver­ putzten Wand gegenüber ein massives Holzregal mit Kunstkatalogen. 39 Künst­ lerinnen und Künstler vertritt die Galerie, darunter viele international bekannte Namen, etwa K. H. Hödicke, Andreas Mühe, Rinus van de Velde. Hinter der Holzregalwand ein Raum mit Betonsäu­ len, dazwischen Computerarbeitsplätze und Skulpturen. Im früheren Altarraum sitzt das Ma­ nagement-Team. Von dort kommt Johann König, streckt die Hand aus: „Hallo!“ Er wirkt jungenhaft, ein bisschen schlaksig. Über eine massive Betontreppe geht es auf die zweite Ebene, in einen rund zehn Meter hohen Raum, die Wände grob ver­ putzt. Denkmalschutzauflagen erlaub­ ten keinen festen Einbau dieser Ebene. Um sie dennoch zu bekommen, wurde sie auf mehrere Säulen gestellt, die wie ein Tisch mit vielen Beinen passgenau in den hohen Kirchenraum hineingescho­ ben wirkt – eine ziemlich geniale Idee des Architekten Arno Brandlhuber. Der „Tisch“ lässt einen handbreiten Spalt an den Seiten frei, ermöglicht Blicke ins Erdgeschoss.

Sein Smartphone meldet eine Whats­ Wirklich interessante Kunst beginne app-Nachricht, er zoomt sie sich nah he­ mit Marcel Duchamp, sagt der 38-Jäh­ ran und vergrößert sie. Und antwortet rige. Duchamp, der Mona Lisa einen Bart mit einer kurzen Sprachnachricht. Die verpasste und ein Pissoirbecken zu Kunst Sehfähigkeit auf seinem linken Auge erklärte. Man müsse Kunst nicht sehen, betrage etwa 20 Prozent, erklärt er, auf um sie zu begreifen, meint Johann König, dem rechten Auge sehe er nichts. Ein „die Geste des Pissoirs ist viel radikaler Unfall mit Plastikpatronen, als er zwölf als das ästhetische Moment des Pissoirs“. Jahre alt war. Unzählige Operationen Und dann zitiert er seinen Kunstlehrer machten es möglich, dass er heute über­ aus der Blindenschule in Marburg: „Se­ haupt wieder etwas sehen könne. hende stehen oft genauso ratlos vor der Mit 20 eröffnet er eine kleine Galerie Kunst wie Blinde.“ in Berlin-Mitte. Ein verwegenes Kunst­ König erinnert sich an viele Künstler, projekt rettet ihn vor der Pleite, Jeppe die er durch seinen Vater kannte, Kasper Heins „360° Presence“. Eine große Me­ König, der etwa Gerhard Richter und Jo­ tallkugel knallt als Abrissbirne gegen die seph Beuys kuratiert hatte. Über Beuys Wände des Galerieraums, sobald ein Be­ erzählt Johann König diese Anekdote: sucher den Raum betritt. In der Kunst­ Der Künstler saß bei ihnen Zuhause am welt wurde diese Installation des Dänen Küchentisch. Beim Aufbruch vergaß er Jeppe Hein rasch zur Chiffre für Globa­ seinen Hut, die Großmutter wollte ihn lisierungs- und Neoliberalismuskritik: hinterhertragen. „Den können Sie behal­ Niemand kann mehr einen Schritt tun, ten und verkaufen“, soll Beuys gesagt ha­ ohne andernorts verheerende Spuren zu ben. Und die Oma: „Och, was soll ich hinterlassen. denn mit Ihrem ollen Hut!“ Wie die Kunst ihn rettete und er es trotz Sehbehinderung schaffte, Gale­ D E R U N E RWA RT E T E E R F O L G gibt dem rist zu werden, darüber hat König nun jungen Galeristen Selbstsicherheit. „Ich wusste, dass es richtig ist, meiner Intui­ ein Buch geschrieben, „Blinder Gale­ tion zu vertrauen.“ Der familiäre Back­ rist“. Die Autobiografie erscheint in ground hilft, sein Vater ist der renom­ diesen Tagen bei Propyläen. 40  Mitar­ mierte Ausstellungsmacher Kasper König. beiter beschäftigt Johann König heute. Schwierig gestaltet sich der Markt. Ber­ Er vertreibt internationale Konzeptkunst, lin hat keine Kunstsammler-Szene. An Videoinstallationen, Skulpturen, Foto­ grafie, Malerei und ist auf allen großen einen Kredit für seine erste Galerie war Kunstmessen der Welt vertreten. Auch nicht zu denken. „Ich hätte mir auch kein Geld gegeben,“ sagt König, „ein Blinder, in London hat er eine Galerie, aber die ist nur eine Galerie. St. Agnes ist Kult. der eine Galerie eröffnen will?“ Und wie kann er als (fast) Blinder Kunst beurtei­ Vielleicht hat sie doch eine sakrale Aura. len? „Man nimmt Kunst nicht nur visuell wahr, das Konzeptuelle ist genauso wich­ tig, die Bezüge zu anderen Kunstrichtun­ M A R I E W I L D E R M A N N studierte Philosogen.“ Bis 2012 führt er die Galerie in der phie und Germanistik und ist vor allem als Dessauer Straße. Dann kommt St. Agnes. Rundfunkjournalistin tätig

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S A LO N

E

s war Jürgen Habermas, der den Begriff des Ver­ bereits wesentliche Umrisse dessen, was man „libe­ fassungspatrioten – er stammt von dem Polito­ rale Demokratie“ nennt. logen Dolf Sternberger  – populär machte. An Es ist daher kein Zufall, dass der Begriff des Verfas­ diesem Begriff nimmt die Neue Rechte besonders An­ sungspatrioten bei jenen, die sich als liberale Demokraten stoß. Wenn Patriotismus dadurch gekennzeichnet sein fühlen, Furore machte. In der Nachkriegswelt des Wes­ soll, dass man sich zu einem tens schien diese Staatsform Volk, einer Nation, einer Hei­ vielen Gebildeten, Bürgern, mat im emphatischen Sinne Intellektuellen und Politikern des Wortes bekennt, dann auch als die beste aller mögli­ hat man vor Augen, was Os­ chen Machtformen, unabhän­ wald Spengler eine „Kultur­ gig von persönlichen Glaubens­ seele“ nannte und mehr der bekenntnissen. Zu gut konnte Romantik verpflichtete Geis­ man sich noch an die erbit­ ter als „Volksseele“ bezeich­ terten Auseinandersetzungen nen – mögen auch die, die so zwischen den verschiedenen reden, sich durch kein reli­ vaterländischen, religiösen und giöses Bekenntnis gebunden linksradikalen Ideologien erin­ fühlen. Es gibt eben den Glau­ nern, welche die Menschen ge­ ben an das „Eigene“, die ei­ geneinander aufbrachten und gene Geschichte und die ei­ bei Schlachtfeldern mit Milli­ gene kollektive Wesensart als onen Toten endeten, von den etwas Letztes, Absolutes, um zivilen Bestialitäten abgesehen. nicht zu sagen: Heiliges. Was mochte da naheliegender Der Verfassungspatriot sein, als sich nun auf eine Ethik des Jürgen Habermas hin­ zu besinnen, die ein Rahmen­ gegen ist eine zugleich ab­ werk des friedlichen Mitein­ gespeckte und anspruchs­ anders bei weltanschaulichen volle Version des Patrioten. und metaphysischen Differen­ Wenn bei Habermas von le­ zen zu gewährleisten schien? gitimer Verfassung die Rede ist, dann als Ergebnis einer D I E JA H R Z E H N T E vergingen, Willenszusammenstimmung neue Generationen wuchsen Von  des idealen Souveräns, der heran, und obwohl der haber­ PETER STR ASSER kein anderer sein kann als massche Verfassungspatriotis­ das Volk, welches den von mus eine ideale Grundlage für Kant geforderten „Ausgang die laufende Globalisierung aus der selbst verschulde­ bereitstellte, die zur mäch­ ten Unmündigkeit“ vollzo­ tigsten Realität des 21. Jahr­ gen hat. Es handelt sich um hunderts in wirtschaftlichen das Volk als aufgeklärtes und kommunikativen, das Kollektivsubjekt. heißt zuallererst: elektroni­ Alle Menschen haben schen Belangen wurde, stand demnach die gleiche Würde bei vielen jungen Feuerköp­ und sind, ungeachtet ihrer fen gerade diese Form des Pa­ ethnischen oder sozialen Her­ triotismus in schlechtem Ruf. kunft, ihrer Religion oder ih­ Wollte man dem Volk etwa das res Geschlechts, hinsichtlich „Patriotische“ verweigern und ihrer Rechte und Pflichten austreiben? Und in einem be­ gleich; für alle Menschen stimmten Sinne ist es ja richtig, gilt die größtmögliche Freiheit, die mit der gleichen dass der Verfassungspatriot mit dem, was die konser­ Freiheit aller anderen vereinbar ist. Fügt man diesen vative Tradition aller Spielarten „patriotisch“ nannte, Grundsätzen das allgemeine und gleiche Wahlrecht nicht einverstanden sein konnte. sowie die Trennung der Staatsgewalten – Legislative, Warum? Weil die Verfassungsprinzipien streng allge­ Judikative, Exekutive – hinzu, dann formieren sich meine Regeln sind, die nicht bloß kulturelle Konventionen

LIBERAL, NICHT IDEAL

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repräsentieren – zum Beispiel Esssitten, Kleidergewohn­ heiten et cetera –, sondern einen ethischen Status ha­ ben, der überdies sanktionsbewehrt, also für die Gemein­ schaft besonders relevant und schwerwiegend ist. Es bildet ein Definitionsmerkmal ethischer Re­ geln, dass sie Anspruch auf Allgemeingültigkeit erheben. Sie gelten allgemein und aus­ nahmslos für alle  – denken wir an den klassischen Kata­ log der Menschenrechte. Man spricht in der Ethik darum vom „Universalitätsanspruch moralischer Regeln“. Wer also entsprechend dem Konzept der liberalen Demokratie Ver­ fassungspatriot ist, bekennt sich im Kern zu Prinzipien, die keinen spezifischen Nati­ onalcharakter widerspiegeln. Solche Prinzipien erheben im Gegenteil den Anspruch, ei­ ner Staatsform anzugehören, die als die bestmögliche zu gelten hat, das heißt, dass sie auch in jeder Verfassung, die sich eine Nation gibt, Geltung haben sollten. An dieser Stelle nun tut sich ein ganzes Problemnest auf. Das ist Jürgen Haber­ mas wohl bewusst, aber hat er auch die Möglichkeit, es zu bereinigen? Erstens hat er die Kulturrelativsten von links und von rechts gegen sich. Indem sie mit der Viel­ falt der Traditionen und Kul­ turen argumentieren, geben sie der Überzeugung Aus­ druck, dass der Anspruch ei­ ner Ethik auf Universalität, und sei es jene unserer libe­ ralen Demokratie, einen geis­ tigen Imperialismus darstelle. Dagegen ließe sich im­ merhin einwenden, dass die Grundbedürfnisse der Men­ schen im Durchschnitt gleich sind, weshalb bestimmte Regeln dazu beitragen, das Wohlbefinden des Einzel­ nen zu befördern, während andere das Gegenteil be­ wirken. Oder möchte jemand unter uns die brutale Unterdrückung der Frauen oder die martialischen Kör­ perstrafen für bürgerliche Unbotmäßigkeiten, die in

vielen muslimischen Ländern noch immer gang und gäbe sind, damit rechtfertigen, dass es sich dabei eben um die geheiligte Tradition des Korans und der Scha­ ria handelt? Doch die heutigen Auseinandersetzun­ gen um das Patriotische werden häufig so geführt, dass derjenige bereits als in­ diskutabel gilt, der im ergeb­ nisoffenen Gespräch heraus­ finden möchte, was gut und was falsch ist. Im Lager der eingefleischten Patrioten  – ob es sich um Deutschlands Neue Rechte oder sonst eine Fraktion der „Identitären“ handelt  – findet ein Kampf zwischen denen, die an die Heiligkeit der Nation, des Blutes, des Volkes appellieren, und jenen anderen statt, die als Kulturzerstörer gelten: de­ nen nämlich, die im Sinne der liberalen Tradition seit John Stuart Mill auf einen Diskus­ sionsprozess setzen, der bei Habermas auf den Diskursho­ rizont einer „idealen Sprech­ situation“ gerichtet ist.

Der von Jürgen Habermas vertretene Verfassungspatriotismus hat mehr Stärken, als seine Verächter meinen. Und mehr Schwächen, als seine Adepten ahnen. Eine Würdigung zum 90. Geburtstag des Philosophen und Soziologen

Situation wird so gedacht, dass sie real nicht einlösbar ist, denn in ihr gel­ ten keinerlei Zwänge, keine Wissens- und Zeitbeschrän­ kungen, keine Autoritätsver­ hältnisse, keine psychischen Disharmonien. Und natürlich sind alle kompetenten Men­ schen virtuell Mitdiskutanten. Für Habermas steht, wie er gerne sagt, „kontrafaktisch“ fest: Würde in einer solchen idealen Sprechsituation über ein ethisches Prinzip Einig­ keit herstellbar sein, bei­ spielsweise über die Gleich­ heit aller Menschen, dann müsste es sich dabei um ein wahres Prinzip handeln. Wir endlichen Wesen können uns indessen nur be­ mühen, eine Annäherung an dieses Ideal herzustel­ len, was bedeutet, dass wir jederzeit der Möglichkeit des Irrtums unterworfen bleiben. Nichtsdestoweniger ist es das Ziel des Verfassungspatrioten, einzig sol­ che Regeln als ethische Normen anzuerkennen, die,

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DIESE IDEALE

S A LO N

bei Kenntnis aller Gründe, welche für sie sprechen, von allen anderen verständigen Menschen ebenfalls als gültig einsehbar sein müssten – egal, aus welchem kulturellen oder religiösen Umfeld sie kommen. Der habermassche Patriot ist, grob gesprochen, zugleich ein Be­ fürworter des küngschen „Weltethos“, projiziert auf die Bausteine der Verfassung des eigenen Landes. Das bringt, außer den Kul­ turrelativisten, die ursprüng­ lich mehrheitlich „links“ waren, die religiösen Funda­ mentalisten auf den Plan. Sie machen nicht völlig zu Un­ recht geltend, dass ein utili­ taristischer Hinweis auf die Wohllebensbeförderung, die durch liberale Lebensregeln ermöglicht wird, noch lange nicht als Begründung aus­ reicht. Der Mensch ist ein metaphysisches Wesen, das sich an Tugenden orientiert, die überzeitlich, aber keines­ wegs immer glücksoptimie­ rend sind. Man denke an den religiösen „Instinkt“, der eine fraglose Hingabe an die je ei­ genen Gottheiten oder an Gott und an das durch den Mund von heiligen Männern über­ mittelte Programm des guten, weil gottgefälligen Lebens fordert. Neben den religiösen Fun­ damentalisten gibt es heute vor allem die Erben der kon­ servativen Revolution, die auf Tiefenkollektivgefühle setzen, aus denen heraus ein Volk seine Identität bezieht. Os­ wald Spengler ordnete dem Abendland, das bei ihm mit der Gotik einsetzt (nicht etwa schon in der griechisch-römischen Antike), den Drang ins Unendliche zu. Realpolitisch bedeutete dies, dass der Abendländer die Welt und den Himmel erobern möchte. Und weil er aber an die Stelle dieser Erobe­ rungslust das technische Titanentum gesetzt hat, ist er nun dazu verurteilt, seine seelenlose Zivilisation weiterzuschleppen, bis zum Weltbrand, entfacht durch moderne Cäsaren.

Obwohl man also Habermas Rechtfertigungsdefi­ zite vorwerfen kann, sofern man bereits eine „patrio­ tische“ Haltung bezogen hat, deren Ursprünge meist in der Zwischenkriegszeit liegen und die ihrem Wesen gemäß antidemokratisch, anti­ egalitär, antiliberal sind, bleibt dann doch die Frage: Und was nun? Was stattdessen? Nach Spengler hat unsere Zivilisa­ tion keine Zukunft, und die Zukunft, die eine neue Kul­ turseele hervortreiben müsste, verharrt vorerst im Dunkeln. Und so finden wir aufseiten der Neonationalisten auch meist das Motto: „Vorwärts – nach hinten!“  – aber wohin: etwa auf das Mittelalter zu? U M G E G E N H A B E R M A S re­ putierlich zu argumentieren, müsste man sich an konser­ vativen Tugenden orientieren, am aristotelischen Ideal einer natürlichen Ordnung und des Mittelmaßes, an Liebe und Hoffnung, an christlicher Hilfs­ bereitschaft und der Förderung all dessen, was in der Welt schön und bewunderungswür­ dig ist. Dass es den neorech­ ten Patriotismen an solchen Tugenden weitgehend zu feh­ len scheint, stattdessen Hass und Mobbinglust den Ton an­ geben, ist die größte Gefahr – eine Gefahr allerdings weni­ ger für den Liberalen, sofern er sich zu verteidigen weiß; Stichwort: Intoleranz gegen­ über den Intoleranten. Gefährdet ist vielmehr der ehrbar-konservative Mensch, dessen verfeinertes Gefühl für  – wie es hieß  – „Sitte und Anstand“, konfrontiert mit dem Universum aus skrupelloser Profitökonomie, enthemmter Eigensucht und liberalistischer Obszönität, ein profundkulturelles Erfordernis wäre.

Bei neorechten Patrioten geben oft Hass und Mobbinglust den Ton an

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P E T E R S T R A S S E R ist Philosoph und schrieb u. a. „Gehirn ohne Geist  – Die Vertreibung des Menschen aus der Wissenschaft“

Fotos: Johannes Simon/SZ Photo/Picture Alliance/DPA, Michaela Vretscher (Autor)

Kritik an Habermas müsste sich an konservativen Tugenden orientieren

S A LO N Kolumne

S T E FA N AU S D E M S I E P E N I S T  …

Der Flaneur Diesmal: Kunst und Comics und Selbstgefallen im Museum

Illustration: Anja Stiehler/Jutta Fricke Illustrators

D

ie Kunstmuseen haben viel Kundschaft. Deutschland gehört zu den Ländern, in denen es laut Statistik mehr Museumsbesucher als Einwohner gibt. Früher hieß es, dass Kunst etwas für wenige sei. Da muss man sich wohl geirrt haben! Oder doch nicht? „In der Tat gleichen die Museen mehr und mehr Leichen­ schauhäusern, die der Ursprungsform auch darin entsprechen, dass es nur noch um mechanische Identifizierungen geht. Die Korridore mit den Bilderstafetten als die Comics für geho­ bene Bedürfnisse, mit den Hinweistafeln als Sprechblasen.“ So sprach, mehr den Holzhammer als das Florett benutzend, Joa­ chim Fest. Immerhin, der große Erfolg der Museen dürfte damit zusammenhängen, dass man in ihnen Bilder sehen kann, nicht Texte lesen muss. Letzteres fällt den Menschen bekanntlich im­ mer schwerer, sofern die Texte länger als drei Zeilen sind. Die Besucher verbringen, wiederum laut Statistik, im Durchschnitt elf Sekunden vor einem Exponat. Das ist ungefähr so viel, wie sie benötigen, um eine Kurznachricht auf Whatsapp zu lesen. Das Tempo der sozialen Medien teilt sich dem Schritt im Mu­ seum mit – die Bilder werden nicht betrachtet, sondern gescrollt. Die Lieblingsbeschäftigung der Besucher ist das Fotogra­ fieren, was sonst. In diesem zwanghaften Akt treffen zwei der zentralen Impulse des modernen Lebens zusammen: Einerseits suchen die Menschen das Authentische, wollen die Blumen­ wiese von Monet, die zu Hause als Ikea-Druck an ihrer Wand hängt, im Original erleben. Doch kaum wird ihnen dies zuteil,

verwandeln sie das Original in eine fotografische Kopie und verschicken es an ihre Freunde. Schließen Authentizität und Kommunikation einander aus? Die Knipser würden wohl nicht einmal die Frage verstehen. Was nicht kommuniziert wird, ist für sie nicht existent. Die Versendung sorgt dafür, dass das Ori­ ginal erst wirklich wird. Das Kunstwerk erzeugt im Betrachter, haben wir bei Kant gelernt, interesseloses Wohlgefallen. Diese Theorie wird durch das Museums-Selfie widerlegt (von dem Kant zu seinem Glück noch nichts wusste, sodass er entschuldigt ist). Wenn der Mu­ seumsbesucher ein Gemälde sieht, wird das Interesse in ihm geweckt, sich selbst darzustellen. Der Glanz des Kunstwerks strahlt auf ihn ab, sein Ego schwillt vor Wichtigkeit und Begeis­ terung an, also hält er sein Gesicht neben die Blumenwiese und knipst. Selbstgenuss statt Kunstgenuss! Dem Gemälde begeg­ net er mit Interesse und sich selbst mit Wohlgefallen. Im „Shop“ des Museums werden immer weniger Bücher angeboten. Das ist folgerichtig, denn die Bücher enthalten Bil­ der, und Bilder machen sich die Leute lieber selbst. Stattdessen findet man immer mehr Nippes, der die Kunst infantilisiert. In der Londoner National Gallery kann man das volkstümlichste Gemälde der Sammlung, die van goghschen Sonnenblumen, als Aufdruck auf T-Shirts, Henkeltassen, Handtüchern, Krawatten, Jutetaschen, Strumpfhosen, Federmäppchen, Tischdecken so­ wie Keksdosen erstehen. Das erinnert an die sekundäre Ver­ wertung von Harry Potter oder Donald Duck – womit wir wie­ der bei Joachim Fest angelangt wären. In der National Gallery konnte ich das Dauerfotografieren nicht ertragen; ich setzte mich auf eine Bank und ließ die Knip­ ser vorüberziehen. Eine Aufseherin kam auf mich zu und fragte freundlich: „Are you well?“ Ich muss angegriffen ausgesehen haben; oder fiel ich dadurch auf, dass ich nicht fotografierte? S T E FA N AU S D E M S I E P E N ist Diplomat und Schriftsteller. Zuletzt erschien von ihm bei dtv „Aufzeichnungen eines Käfersammlers: Unzeitgemäße Erzählungen“

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S A LO N Man sieht nur, was man sucht

GESÄTZ des Glaubens – GESETZ der Schönheit

Von  B E AT W YS S

Rubens und Brueghels „Madonna“ war katholische Stapelware und ist eine Augenpracht, gegenreformatorisch wie wir 112 Cicero – 06. 2 019

Fotos: © Bayerische Staatsgemäldesammlungen/Alte Pinakothek München, Gaetan Bally/Keystone Schweiz/Laif

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er Marienmonat Mai neigt sich dem Ende zu. In katho­ lischen Landgegenden wird der Gottesmutter mit Feld­ blumen gehuldigt. Auch bei uns zu Haus stand ein Madonnenbild auf der Anrichte, dem brachten wir von der Wiese draußen Butterblumen, Marge­ riten und Löwenmäuler dar – nur Pus­ teblume war verboten. Die hätte doch die schneeweiße, von der Uroma geklöppelte Decke gelblich unanständig bestäubt! Weit weg vom schlichten Bildstöck­ lein am Feldweg, in edlere Gefilde führt uns das Gemeinschaftswerk von Peter Paul Rubens und Jan Brueghel dem Äl­ teren. Beide Meister, Angehörige der Malerzunft zu Sankt Lukas, huldigen in diesem Kunstwerk dem Patron der Ma­ ler. Nach einer Legende aus dem fünften Jahrhundert soll der Evangelist die Ma­ donna mit Kind gemalt haben. Jenes Ur­ bild begründete die byzantinische Tra­ dition der Hodegetria, dessen Bildtypus Rubens hier durchaus zitiert: aber wie! Weit weg vom strengen Ernst einer Ikone hat die Madonna, jene „Wegfüh­ rerin“ mit Kind, die lieblich-rosige Ge­ stalt des Barock angenommen. Für Maria stand Rubens’ Gattin Isabella, geborene Brant, Modell, die schöne Endzwanzige­ rin. Als Jesus posiert Albert, der älteste Sohn des Ehepaars. Die Züge des hüb­ schen Knaben spiegeln sich in den Ge­ sichtern der Putti wider, elf an der Zahl, den elf Aposteln entsprechend, denn Ju­ das, der zwölfte, der Verräter, bleibt im artigen Reigen ausgeschlossen. In die­ sem Bild im Bild malte Rubens die Figu­ ren, Brueghel darum herum den prächtig

Peter Paul Rubens und Jan Brueghel d. Ä. malten um 1616/1618 gemeinsam die „Madonna im Blumenkranz“, Öl auf Eichenholz. Das Gemälde hängt in der Alten Pinakothek München

blühenden Kranz. So üppig ist die Blu­ menpracht, dass die geflügelten Bengel die Girlande mit dem roten Band kaum bändigen können. Lilien, Rosen, Malven im Gesteck gelten zwar gemeinhin als Mariensym­ bole, doch die gleichen Bouquets finden sich auch in anderen Werken des be­ rühmten „Blumen-Brueghel“. Blumen, botanisch akkurat gemalt und bevölkert von winzigen Insekten, sind sein Marken­ zeichen. So haben wir vor uns ein erle­ senes Gemeinschaftswerk zweier Meister ihres Faches, Zeugnis der Industrialisie­ rung von Kunst als Luxusproduktion. Von Rubens und Brueghel sind 30 Werke bekannt, die im Team beider Werkstät­ ten entstanden. Das Bildmotiv war gera­ dezu angelegt für Arbeitsteilung: Blumen und Leiber, Motive schönen Begehrens, und jeder schafft das, was er am bes­ ten kann. Wenn zwei Marktführer zu­ sammenarbeiten, geht Konkurrenz in Konkordanz über im Sinne gemeinsa­ men Gewinnstrebens. Das katholische Antwerpen, die damals niederländische Handels- und Hafenstadt an der Schelde, bot dazu die Akteure im Feld der Kunst und eine betuchte Klientel aufseiten der Sammler. Während der Protestantismus sich streng an die Auslegung der Heiligen Schrift in der Landessprache hielt, spielte die römische Gegenreform mit Schwulst zum Welttheater auf, das die Sinne mit Lust zum Frommsein betörte. „Glaubens­ propaganda“ nennen es die Jesuiten, und so modern es tönt, ist es das auch. Ru­ bens war Hofmaler der Infantin Isabella, der Tochter von Philipp II., dem spani­ schen Habsburger Monarchen, und jene regierte das heutige Belgien, das mit dem protestantischen Holland im Krieg stand. Von Bestimmungsort und Auftrag­ gebern ist nichts bekannt. Das deutet da­ rauf hin, dass unser Werk nicht, wie in Italien damals noch üblich, von einem Stifter für eine Kapelle bestellt, son­ dern, gut bürgerlich, als Stapelware für den Kunstmarkt produziert wurde. Das Prachtstück wäre zu schade, um davor schlicht den glorreichen Rosenkranz he­ runterzuleiern. Die Anmut der Blumen­ kranzmadonna steht für den Umschlag

113 Cicero – 06. 2 019

Beat Wyss ist einer der bekanntesten Kunsthistoriker des Landes. Der gebürtige Basler, eme­ ri­tierter Professor für Kunst- und Ideengeschichte, lebt und arbeitet in Berlin und Venedig. Jeden Monat schreibt er in Cicero über ein Kunstwerk und dessen Geschichte. Vom vertrackten Verhältnis zwischen Religion und Kunst handelt sein Buch „Vom Bild zum Kunstsystem“

frommer Andacht in ästhetische Erbau­ ung. Da, wo Frömmigkeit erkaltet, wird’s warm in der Herzkammer des Schönen und Guten. Kunst, die entlaufene Magd der Religion, kommt, heiratsfähig gewor­ den, auf den Markt. Ich nenn es Dialektik der Gegenreform, aktuell auch zu beob­ achten an politisch engagierter Gegen­ wartskunst. Ai Weiwei lässt von chine­ sischen Kunsthandwerkern traditionell anmutendes Blau-Weiß-Porzellan an­ fertigen, dessen Ornamentik allerdings nicht klassische Ming-Motive zeigt, son­ dern Bootsflüchtlinge in Schwimmwes­ ten. Die Kosten der dekorativen Zier­ stücke sind sechsstellig. So setzt die Postavantgarde die Tradition des ästhe­ tischen Ablasshandels fort, bietet, ge­ gen angemessenes Honorar, ein gutes Gewissen, auszustellen im White Cube des Sammlers.  

S A LO N

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Gedichte

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as ist eigentlich junge Ly­ rik? Das ist Lyrik, „die mit Neuentdeckungen der Spra­ che Landschaften zu bewältigen sucht“, eine Lyrik „junger Menschen (zum größ­ ten Teil auch an Jahren jung), die ange­ fangen haben zu schreiben“. So klärt uns Hans Bender auf, Herausgeber des Bänd­ chens „Junge Lyrik 1956“. Der große Ly­ rik-Entdecker Bender wäre am 1. Juli die­ ses Jahres 100 Jahre alt geworden. Die von Bender damals versammelten jun­ gen Autoren (und die eine Autorin) sind heute fast alle tot. Zu den Lebenden und Aktiven zählt Hans Magnus Enzensber­ ger, der bei Bender mit acht Gedichten vertreten ist und 1960 die bis heute um­ fangreichste deutschsprachige Sammlung internationaler Lyrik vorlegt: „Museum

Mit Türkei und Israel: Ein Buch versammelt 427 Lyriker aus 49 europäischen Ländern, oft erstmals auf Deutsch. Dieser Schatz muss geborgen werden

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der modernen Poesie“. Enzensberger prä­ sentiert auf über 800 Seiten, thematisch geordnet, Gedichte aus den Jahren 1910 bis 1945 von fast hundert Dichtern aus aller Welt in 16 Sprachen mit deutschen Übersetzungen. Vergleichbares wagen Jahrzehnte später drei weitere Lyriker: 1991 Harald Hartung mit „Luftfracht“, 1995 Joachim Sartorius in seinem „Atlas der neuen Poesie“ und 1999 Gregor La­ schen mit dem Band „Schönes Babylon. Gedichte aus Europa in 12 Sprachen“. Aber auf die ganz große Lyrik-An­ thologie musste man noch viele weitere Jahre warten. Jetzt liegt sie vor, und sie kommt monumental daher. Der italieni­ sche Lyriker und Literaturwissenschaft­ ler Federico Italiano und der deutsche Dichter und Büchner-Preisträger Jan

Foto: Schapowalow

Alles handelt von dir

Wagner kündigen schon mit dem Titel Großes an: Auf den Spuren deutscher Italienreisender des 18. Jahrhunderts soll eine „Grand Tour“ angetreten werden, die aber nun in die entlegensten Winkel des Kontinents führt: „Reisen durch die junge Lyrik Europas“. 427 Lyriker aus 49 Ländern werden versammelt, die in 46  Sprachen schreiben. Es werden sie­ ben „Reisen“ durch je sieben Länder unternommen, die  – einer Kreuz-undquer-Reise mit dem Interrail-Ticket ver­ gleichbar – durch das Prinzip verbunden sind, dass sie jeweils nichts miteinander zu tun haben. Dass es zahlreiche Span­ nungen und Übergänge zwischen Län­ dern und Sprachen gibt, wird nicht ver­ schwiegen – bis hin zu der Fußnote, dass die russisch schreibende Dichterin Jelena Saslawskaja, die der Ukraine zugeordnet ist, Wert darauf legt, gerade „nicht als Repräsentantin der Ukraine zu gelten“. Die Herausgeber sind durch ihre bis­ herigen Arbeiten gut auf die Herkules­ aufgabe vorbereitet. Italiano hat 2013 mit Michael Krüger eine zweisprachige Anthologie „Italienischer Dichtung der Gegenwart“ vorgelegt: „Die Erschlie­ ßung des Lichts“. Wagner ist Mitheraus­ geber der Anthologien „Lyrik von Jetzt“ (2003/2008) und „Unmögliche Liebe. Die Kunst des Minnesangs in neuen Über­ tragungen“ (2017). Auch der neue Band enthält fast zur Hälfte neue Übersetzun­ gen hierzulande bislang unbekannter Ge­ dichte. Etwa 120 Übersetzerinnen und Übersetzer, viele von ihnen ausgewie­ sene Poeten, kamen zum Einsatz. Leider wird ihre Leistung nicht durch ein eige­ nes Register erschlossen. Auch die Lyri­ ker selbst stehen nicht im Mittelpunkt.

Wir erfahren ihr Geburtsjahr und müs­ man diese Einschränkungen in Kauf, er­ sen uns alles Weitere (in manchen Fäl­ schließt sich ein großer Reichtum gegen­ len selbst das Geschlecht) ergoogeln. Be­ wärtiger europäischer Dichtung. Deutlich wird, dass die Lyrik der rücksichtigt werden nur Schreibende der Jahrgänge ab 1967. Das ist schade, damit Länder, in denen in den letzten Jahrzehn­ ten Krieg oder Bürgerkrieg geherrscht fallen einige nur wenige Jahre Ältere, die hat, noch immer von diesen Erfahrun­ im deutschen Sprachraum ebenfalls noch gen geprägt ist. Das gilt für viele ostnicht bekannt sind, heraus. und südosteuropäische Regionen, aber Es ist erfreulich, dass ein solcher Band in einer Zeit, in der die europäi­ etwa auch für Nordirland. Die Überset­ sche Identität zunehmend gefährdet ist, zung Monika Rincks gibt dem Gedicht Europa in den Mittelpunkt stellt, auch „Der Ulster Weg“ des nordirischen Dich­ wenn dafür auf die Entschlüsselung ei­ ters Alan Gillis bedrohliche Nähe: „Dies ner „Weltsprache der modernen Poesie“ handelt nicht vom Rhythmus / einer Lied­ (Enzensberger) verzichtet werden muss. zeile. Es gilt anderen Pfaden zu folgen. / Europa umfasst für die Herausgeber „all Alles handelt von dir. Jetzt hör zu.“ Ein alle Grenzen überschreitendes jene Länder, die aus geographischen wie historischen Gründen zu Europa gezählt Leitmotiv des Bandes ist die Generati­ oder mit Europa gedacht werden kön­ onenlyrik. Eine kaum zählbare Menge nen und müssen“, also nicht nur Island von Gedichten thematisiert das Altern und den Tod der Eltern, aber auch die und Georgien, sondern auch Israel und die Türkei. Der Islam, so scheint es, ge­ Großeltern und die eigenen Kinder. Am hört nicht zu Europa, selbst aus mehr­ schönsten und traurigsten zeigt sich das in einem Gedicht der estnischen Dich­ heitlich muslimischen Ländern wie der terin Kristiina Ehin (deutsch von Cor­ Türkei und dem Kosovo wird kaum ein Gedicht vorgestellt, in dem diese Welt­ nelius Hasselblatt). Es beginnt mit einer idyllischen Naturszenerie, angesichts de­ religion vorkommt. Da alle vier Länder des Vereinigten Königreichs einzeln auf­ rer zwei Liebende ihre erste gemeinsame genommen sind, enthält der Band 92 Ge­ Tasse Tee trinken, und es endet mit der dichte aus Großbritannien, aber nur 15 Ahnung: „Gleich bist du ein alter Mann / gleich bin ich eine alte Frau / gleich sind aus Frankreich. Begrüßenswert ist, dass die Kinder groß / gleich trinken wir ge­ Osteuropa sehr breit vertreten ist. Erzählende Gedichte stehen im Vor­ meinsam / die letzte Tasse Tee / in den Strahlen der Abendsonne / unter dem dergrund. Experimentelle, überhaupt Dieter Burdorf formbewusste Lyrik interessiert die He­ blühenden Ahorn“. rausgeber weniger. Die von Joachim Sar­ torius übernommene Praxis, die Origi­ Jan Wagner und nale in schmalen Prosaspalten – und in Federico Italiano (Hg.) kleiner, blasser, verpixelter Schrift – zu „Grand Tour. Reisen durch drucken, trägt dazu bei, dass die Form die junge Lyrik Europas“ Hanser, München 2019. 584  Seiten, 36  € der Gedichte kaum erkennbar ist. Nimmt

Thomas Karlauf rekonstruiert auf Basis bisher unbekannter Quellen die Ideenwelt Stauffenbergs und seine Motivation für das Attentat am 20. Juli 1944. Ein völlig neuer Blick auf den Mann, der Hitler töten wollte.

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W E R WA R C L A U S V O N S TA U F F E N B E R G W I R K L I C H ?

S A LO N Literaturen

Kollektivierung tötet Anne Applebaum erzählt vom Holodomor in der Ukraine. Trotz Parteinahme schrieb sie ein lesenswertes Buch

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ie amerikanische Historikerin Anne Applebaum stellt in den Mittelpunkt ihrer Darstellung die große Hungerkatastrophe, die 1931 bis 1934 in der Ukraine wütete, der über vier Millionen Menschen zum Opfer fie­ len und die unter der Bezeichnung Ho­ lodomor (Mord durch Hunger) in die Ge­ schichte einging. Infolge der mit brutaler Gewalt durchgeführten Zwangskollektivierung brach die landwirtschaftliche Produk­ tion 1931 ein. Stalins Wirtschaftspolitik benötigte große Getreideexporte, weil von den Devisen Maschinen, Werkzeuge und Anlagen für das ehrgeizige Indus­ trialisierungsprogramm erworben wur­ den. Hohe Exportraten trafen auf eine angeschlagene Landwirtschaft, die mit einer Dürre und den Folgen der Kollek­ tivierung zu kämpfen hatte. Als Stalin den Rückgang der Erträge nicht mehr verdrängen konnte, behauptete er, dass

Es war keine gute Zeit, Anfang der dreißiger Jahre, für Russen wie für Ukrainer

die Bauern als Konterrevolutionäre da­ ran die Schuld trügen. Von der Regierung gebildete Banden von Aktivisten zogen über das Land, folterten, töteten, erpress­ ten die Bauern, um auch an das Saatgut und den kleinsten persönlichen Vorrat zu kommen. Buchstäblich nahmen sie ihnen das Essen aus den Schüsseln. Applebaum zeichnet anhand der Quellen die Brutalität der Aktivisten und die Auswirkungen der Hungersnot auf den Einzelnen nach, den Kampf ums Überleben, der die Menschen alles essen ließ, auch andere Menschen. Das millio­ nenfache Leid der Familien bekommt Ge­ sicht, Name, Individualität. Doch das Buch will mehr, will einen so tiefgreifenden wie aktuellen Konflikt kommentieren. Die Erinnerung an den

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Holodomor stellt ein politisch hochver­ mintes Feld zwischen Russland und der Ukraine dar. Die Ukraine, einst russische Kolonie, ringt um ihre Eigenständigkeit. Die Streitfrage lautet: Hatte Stalin den Holodomor bewusst benutzt, um den uk­ rainischen Nationalismus auszulöschen? Stellt der Holodomor die Folge einer ver­ fehlten Wirtschaftspolitik dar oder han­ delt es sich um einen Genozid? Während die Russen die Anschauung vertreten, dass der Holodomor infolge der Dürre so­ wie der Zwangskollektivierung entstand und somit als eine gemeinsame Tragödie zu verstehen ist, halten die Ukrainer den Holodomor für Stalins versuchten Geno­ zid an den Ukrainern. Anne Applebaum bettet den Holodo­ mor in die Geschichte des Kampfes der Ukraine um ihre Unabhängigkeit von Moskau ein und betont die Quellen, die belegen, dass der Kampf gegen die uk­ rainischen Bauern mit dem Kampf ge­ gen den ukrainischen Nationalismus be­ wusst von den Bolschewisten verbunden wurde. Der ukrainische Nationalismus sollte ausgehungert werden. Diese Pers­ pektive birgt die Gefahr der Einseitigkeit. Die Zwangskollektivierung fand nicht nur in der Ukraine statt und stellte nur eine blutige Facette des stalinistischen Terrorregimes dar. In diesem Streit kann Geschichtswissenschaft nichts ausrichten, weil die wesentlichen Quellen bekannt sind und deren Einordnung von der Ent­ scheidung abhängt, welcher Bewertung des Holodomors man zuneigt. Der Zwiespalt des Buches gehört je­ doch zu seinen Vorzügen. Der Leser er­ fährt viel über die ukrainische Position, auch darüber, warum durch die Ukraine ein Riss verläuft. Wenn die Autorin die Bolschewiki mit dem modernen Epithe­ ton einer populistischen Partei versieht, führt sie ungewollt den Begriff des Po­ pulismus ad absurdum und verdeutlicht, wie deplatziert er damals war und noch heute ist.  Klaus-Rüdiger Mai

Anne Applebaum „Roter Hunger. Stalins Krieg gegen die Ukraine“ Aus dem Englischen von Martin Richter. Siedler, München 2019. 544  Seiten, 36  €

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Sachbuch

Der neue Roman von

Sonnenschein kann doch jeder Olga Tokarczuk schickt sich auf Reisen und findet im Wandel eine Ewigkeit

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ie Ich-Erzählerin in Olga To­ karczuks Roman „Unrast“, de­ ren einzige Ruhepole Flughäfen und Hotels sind und die nur arbeitet, um zu reisen, ist die einzige Konstante im an­ sonsten fragmentarischen Bündel an Ge­ schichten, die quer durch Zeit und Raum ziehen: Wenn wir einen „Menschen über­ zeugend beschreiben wollen, können wir das nur tun, indem wir ihn in den Kon­ text einer Bewegung setzen – von irgend­ woher, irgendwohin“. Es geht weniger um das Ziel als um das Unterwegssein selbst. An einen welt­ lichen Punkt der Vollkommenheit, nach dem so viele getriebene Reisende ihr Le­ ben lang suchen, glaubt die Ich-Erzähle­ rin nicht. So folgt man der Protagonistin von einem Ort zum nächsten, heiter sind die Beschreibungen – auch ihrer selbst – nicht. „Die Geschichte meiner Reisen ist nur die Geschichte einer Unzulänglich­ keit.“ Hingezogen fühlt sie sich zu Kaput­ tem, Krankem, der Dunkelheit und An­ onymität der Nacht; Sonnenschein kann jeder. „Meine Sensibilitäten sind tera­ tologisch, monstrophil.“ Und beschrei­ ben will sie eigentlich gar nicht, denn: „Beschreiben ist wie benutzen – es ver­ schleißt. Beschreiben heißt vernichten.“ In unterschiedlicher Länge und Textart begegnen dem Leser Schicksale von Menschen aus den vergangenen Jahr­ hunderten, aber auch aus dem Jetzt: Vom holländischen Anatomen und Entdecker der Achillessehne über die verzweifelt aus ihrem Habitat ausbrechende Ehefrau bis hin zur Schwester Chopins scheint alle Geschichten nur ein Faden zu verbin­ den: die Vergänglichkeit des menschli­ chen Lebens, das sich am besten dadurch beschreiben lässt, wie es sich durch die

Zeit bewegt, sich stets auf einer Reise be­ findet, von der es kein Zurück gibt. Aber warum gerade diese Personen und ihre Geschichten? „Es gibt zu viel Welt, bes­ ser konzentriert man sich auf Einzelhei­ ten anstatt auf das Ganze.“ Reiseliteratur ist das nicht, eher Rei­ sepsychologie: „Als ich also in den An­ blick der Strömung versunken auf dem Flutwall stand, wurde mir klar, dass aller Gefahren zum Trotz das, was in Bewe­ gung ist, immer besser sein wird, als das, was ruht, dass der Wandel edler ist als die Stetigkeit, dass das Unbewegliche Zer­ fall und Auflösung anheimfallen muss und zu Schutt und Asche wird, während das Bewegliche sogar ewig währen kann.“ Hier hat die 1962 geborene Olga To­ karczuk biografische Elemente eingebun­ den, indem sie ihr Psychologiestudium in Warschau, die Arbeit als Therapeutin in der Suchthilfe und das Dasein als Schrift­ stellerin auf ihre Protagonistin überträgt. Diese begegnet der Reisepsychologie auch auf Flughäfen, wo sie Vorträgen von Reisepsychologen lauscht: „Wohin wir auch reisen, wir reisen immer dar­ auf zu. Es ist nicht wichtig, wo ich bin. Es ist egal, wo ich bin. Ich bin.“ Die Erzählerin verzichtet auf Reise­ führer, weil keine Bücher schneller ver­ alten. Doch ein einziges Buch, das ihr als probater Reiseführer gilt, empfiehlt sie ausdrücklich: „Moby Dick“. Sie fragt: „Ist es gut, dass ich erzähle? (…) Erzäh­ lungen haben eine eigene Trägheit, die sich nie ganz unter Kontrolle bringen lässt. Sie brauchen Leute wie mich, die unsicher sind, unentschieden, leicht an der Nase herumzuführen. Naive.“ Die Ich-Erzählerin ist vieles. Fremd, einsam, besessen. Aber eines ist sie nicht: naiv. „Unrast“ erschien 2007 und wurde mit dem Nike-Literaturpreis, Polens be­ deutendster literarischer Auszeichnung, geehrt. Im vergangenen Jahr erhielt der Roman internationales Lob durch den Man Booker Price.  Anna Schneider

Olga Tokarczuk „Unrast“ Aus dem Polnischen von Esther Kinsky. Kampa, Zürich 2019. 464  Seiten, 24  €

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Ian McEwan Maschinen wie ich

Roman

Foto: © Dominik Butzmann/laif

Ian McEwan

Ian McEwan Maschinen wie ich

Roman · Diogenes

416 Seiten, auch als eBook und Hörbuch

Eine moderne Dreiecksbeziehung: Mann, Frau und Roboter. Künstliche Intelligenz und ihre Folgen – einer der großen Autoren der Gegenwart über eines der großen Themen unserer Zeit.

Diogenes

MONOPOL DAS MAGAZIN FÜR ZEITGENÖSSISCHE KUNST

S A LO N Literaturen

Sachbuch

Wo die dicken Zigarren glühn Rainer Zitelmann verteidigt die Reichen und untersucht die Stereotype der Medien

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ie wissenschaftliche Vorurteils­ forschung sowie die von ihr an­ gestoßenen öffentlichen Debat­ ten nehmen in der Regel marginalisierte gesellschaftliche Gruppen in den Blick. Anders im neuen Buch des Historikers und Soziologen Rainer Zitelmann, der sich mit „den Reichen“ einer „beneide­ ten Minderheit“ annimmt, die – zumin­ dest sozioökonomisch – kaum besser in der Gesellschaft dastehen könnte. Dass eine solche Betrachtung den­ noch ihre Berechtigung hat, legen nicht nur vereinzelte linksextreme Gewaltta­ ten gegen Reiche oder das teilweise Zu­ sammengehen von Kapitalismuskritik und antisemitischen Stereotypen nahe. Vielmehr scheint es mithin angemessen zu sein, in Zeiten intensiver Debatten um unbestreitbare sozialpolitische Kri­ senerscheinungen – und Wohnungsent­ eignungen – kritisch jedwede Position im öffentlichen Diskurs zu reflektieren; dies gilt auch für etablierte Haltungen gegen­ über Reichen. Hierfür gibt Zitelmann – bekennender Reicher, was gewisse apolo­ getische Argumentationsmuster erklären mag – einen ersten Anstoß. Dabei kann der Autor auf einen um­ fangreichen Datenbestand zurückgreifen, der sich von ihm beauftragten Erhebun­ gen der Meinungsforschungsinstitute Al­ lensbach und Ipsos Mori verdankt und einen Vergleich zwischen Reichen-Ste­ reotypen in Deutschland sowie Frank­ reich, Großbritannien und den USA er­ möglicht. Zitelmann arbeitet einzelne grundsätzliche Beobachtungen über das Phänomen „Sozialneid“ heraus: etwa dessen Abhängigkeit von einem „Null­ summendenken“, dem zufolge der Ge­ winn von Reichen exakt dem Verlust

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der ärmeren Bevölkerung entspreche, ebenso wie die konkrete Stereotypisie­ rung von Reichen, die sich – insbesondere in Deutschland – durch die Zuschreibung hoher Kompetenzwerte, jedoch geringer moralischer Werte auszeichnet. Zudem bietet „Die Gesellschaft und ihre Reichen“ neben einer umfangrei­ chen Einführung in Theorien und Me­ thoden der Vorurteilsforschung erkennt­ nisreiche Analysen zu Reichen-Bildern in den Medien. Bei der Auswertung von Beiträgen aus der Yellow Press, Online­ diskussionen über Reiche und einschlägi­ gen Darstellungen in Hollywood-Filmen tritt freilich die Reflexion hinter die Prä­ sentation des Datenmaterials zurück. Die Stärke dieses Abschnitts liegt in den Analysen zur Gerechtigkeitsde­ batte sowie der Presseberichterstattung über die Panama und Paradise Papers. Insbesondere das ausgehend von letzt­ genannten Datenleaks entworfene pau­ schalisierende Bild von Reichen als De­ linquenten, vor allem Steuerhinterzieher, war – so vermag Zitelmann zu plausibi­ lisieren – in problematischer Weise von Vorverurteilungen jenseits des Prinzips der Unschuldsvermutung geprägt. Zitelmann leistet – indem er in aus­ führlicher Weise Vorurteile gegenüber Reichen als Klassismus identifiziert, die Stereotypen in den verschiedenen Län­ dern miteinander vergleicht und gemein­ same Strukturmerkmale herausarbei­ tet – Pionierarbeit. Im Zuge von hieran anknüpfenden Untersuchungen und Re­ flexionen sollte jedoch eine wesentliche Verengung bedacht werden: Diese be­ steht darin, dass Zitelmanns Studie na­ helegt, jegliche Kritik an Reichtum und Kapitalismus ausschließlich, gleichfalls stereotyp auf Neid zurückzuführen. Dies desavouiert notwendige sozialpolitische Reformbemühungen und bestärkt Vorur­ teile über Kreise aus Unter- und Mittel­ schicht, die per se als sozialneidisch er­ scheinen. Tilman Asmus Fischer Rainer Zitelmann „Die Gesellschaft und ihre Reichen. Vorurteile über eine beneidete Minderheit“ Finanzbuch-Verlag, München 2019. 464  Seiten, 34,99  €

S A LO N

gesellschaftlicher Anspruch und persönliche Erwar­ tungshaltung und Ambition mit einem Menschen ma­ chen und wie sie sein Leben beeinträchtigen können. Angesichts des Wiederauflebens von autoritären Herr­ schaftsformen, wie wir sie allenthalben – selbst in Eu­ ropa – erleben, sollten wir aus der Biografie von Dmitri Schostakowitsch unsere Schlüsse ziehen. Die Geschichte, die ich in der 2017 erstmals er­ schienenen deutschen Ausgabe gelesen habe, fesselte mich von Beginn an. Dazu gibt es auch einen persön­ lichen Bezug: Als Organisator eines Kammermusikfes­ tivals lernte ich vor rund 15 Jahren einen ehemaligen Rostropowitsch-Schüler kennen, der auch ein leiden­ schaftlicher Schostakowitsch-Interpret war. Mstis­ law Rostropowitsch, einer der größten Cellisten des 20. Jahrhunderts, kommt in dem Buch mehrfach vor. Der mir bekannte armenisch-russische Künstler war am Moskauer Konservatorium Schüler von Mstislaw Rostropowitsch und hat ihn persönlich gut gekannt. So wurden mir über den Umweg meines Bekannten interessante Erzählungen über den großen Schosta­ kowitsch zuteil, die mich faszinierten und neugierig machten, auch weil mich dessen Musik längst in ihren Bann gezo­ er 2016 unter dem Originaltitel „The Noise gen hatte. of Time“ erschienene Roman von Julian „Lärm der Zeit“ ist keineswegs Barnes erzählt die Lebensgeschichte des 1975 verstorbenen russischen Komponisten Dmitri „nur“ die Geschichte eines unver­ Schostakowitsch. In dem Buch werden die Lebens- gesslichen Künstlers. Es ist die Ge­ schichte eines großen Mannes, der und Arbeitsbedingungen eines Künstlers in einer Diktatur, besonders in der Zeit des Stalinismus, in jungen Jahren zum Volksfeind avanciert und das Schlimmste be­ thematisiert. fürchtet – um sich dann selbst un­ An „Lärm der Zeit“ interessierte mich – am treu zu werden und die Gnade des Beispiel des großartigen Komponisten Dmitri Schostakowitsch erzählt – vor allem, was ein au­ Systems zu erarbeiten – und letzt­ endlich als umfeierter Künstler die toritäres Regime, in diesem Fall eine Diktatur, mit den Menschen, mit dem Einzelnen, mit seinem Um­ hohen Meriten des Staates erntet. War Dmitri Schostakowitsch feld, mit seiner Familie und mit den Beziehungen zwischen den Menschen macht. Julian Barnes be­ also ein Opportunist, ein Opfer, ein Feigling? Diese Frage muss schreibt in einem spannenden Bogen, was im Klima und darf der Leser für sich selbst der Repression mit einer ganzen Gesellschaft und den Beziehungsgeflechten zwischen den Perso­ beantworten. nen passiert. In dieser Situation der Angst und des gegenseitigen Misstrauens funktioniert prak­ Julian Barnes tisch nichts mehr richtig. Am Beispiel der Person „Der Lärm der Zeit“ Schostakowitschs zeigt der englische Schriftsteller Aus dem Englischen von dieses ständige Ringen mit sich, den inneren Kon­ Gertraude Krueger. btb, München 2018. flikt vom Widerstand bis hin zur Selbstaufgabe. 256  Seiten, 10  € Die Zerrissenheit des Künstlers, zwischen dem ei­ genen Anspruch, korrekt sein zu wollen und sei­ nen Werten getreu zu handeln, und dem Wunsch, weiterhin künstlerisch agieren zu können, ist meis­ terhaft dargestellt. Das Thema ist absolut aktuell, wird doch in „Lärm der Zeit“ beschrieben, was politischer Druck,

ARNO KOMPATSCHER LIEST …

Das politische Buch

Foto: Privat

ARNO KO M PAT S C H E R ist seit 2014 Landeshauptmann von Südtirol und gehört der Südtiroler Volkspartei SVP an

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S A LO N Die letzten 24 Stunden

Die letzten 24 Stunden



BUSSE

JOCHEN

Erst wird noch rasch umbesetzt und dann Brendels Beethoven gehört

Jochen Busse Der 1941 in Iserlohn geborene Kabarettist und Schauspieler trat in allen renommierten Kabaretts auf und gehörte der Münchner Lach- und Schießgesellschaft an

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ch liebe es, wenn die Zuschauer im Theater über mich lachen, aber es ist wirklich kein Gag, wenn ich sage, dass ich mich nicht vor dem Tod ängstige. Ich kann über ihn spre­ chen und an ihn denken, ohne mich zu fürchten, und das sollte ich auch, schließ­ lich steht die 80-Jahre-Marke schon dicht vor mir. Seit vielen Jahren vergeht kein Tag, an dem ich nicht an den Tod denke. Ich könnte jederzeit abtreten. Mag sein, dass diese Gelassenheit mit dem Yoga zu tun hat, das ich regel­ mäßig mache. Ich betreibe es ohne esote­ rischen Hintergrund, einfach als den mir gemäßen Sport. Yoga erlaubt es mir, den Dingen entspannt ins Gesicht zu blicken. Seit Jahren absolviere ich nahezu täglich meine Übungen, mindestens eine halbe Stunde und konsequent immer, wenn ich mit einem Stück auf Tournee bin. Man benötigt für Yoga bloß ein großes Bade­ handtuch, das man auf dem Boden aus­ breitet. Es hält mich zum einen mental fit, ich bin dadurch im Kopf locker und gelöst. Zum anderen hilft es mir, gelen­ kig und bei Kräften zu bleiben, denn für die Kunst der Komödie braucht man sehr viel Kraft. Wenn ich dereinst zu wenig Kraft haben werde, höre ich mit dem Thea­ terspielen auf, ich will nicht nur so in­ szeniert werden, dass ich dauernd sitze oder mich stets irgendwo festhalten kann. Und ich muss gut hören können, sowohl auf die Kollegen wie auf das Publikum. Wird gelacht? Nein? Was habe ich falsch gemacht? Wenn ich nämlich drei Poin­ ten abschieße und die zünden alle nicht, liegt es natürlich an mir. Es gibt erkleckliche Unterschiede beim Lachen aus dem Saal, wie das herz­ liche, das hämische, das überraschte La­ chen. Das schlimmste Lachen ist das aus Mitleid oder Pflichtschuldigkeit, wenn die Leute einem alten Komödian­ ten zeigen wollen, dass sie ihn noch mö­ gen, selbst wenn er sie nicht mehr richtig amüsiert. Nein, wenn ich das irgendwann feststelle, höre ich auf. Ein erheblicher Teil meiner letzten 24 Stunden ginge für Umbesetzungspro­ ben drauf, weil ich ja meinen Nachfolger in die Feinheiten der Aufführung und die

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Abläufe einweisen müsste. Zuerst würde ich ausgiebig frühstücken und dann ab ins Theater. Ansonsten würde ich weiter­ leben wie bisher. Ein kluger Mann sagte einmal, dass wir von der Natur aus eine hormonelle Veranlagung bekommen haben, im Angesicht einer ungeheuren Katastrophe – Flugzeugabsturz, Brand, Überschwemmung – ganz ruhig zu wer­ den. Ich glaube an nichts, aber daran glaube ich. Wenn meine Zeit fast abge­ laufen ist, würde ich nach Hause zurück­ kehren, mich hinlegen und den Blick ins Grüne genießen, mir dazu Beethovens fünftes Klavierkonzert mit Alfred Bren­ del auflegen und mich fragen: Was wird wohl gleich passieren? Ich rudere gern mit meinem Boot über einen See in Brandenburg, wo ich eine Wochenendbleibe habe. Vielleicht rudere ich so auch heiter hinüber ins Pa­ radies, wo ich die Leute wieder zum La­ chen bringen kann. Auf der Bühne will ich auf gar keinen Fall sterben, denn die Zuschauer haben bezahlt und das Recht auf einen schönen, vergnüglichen Abend. Als letale Spaßbremse und womöglich erste Leiche, die sie sehen, möchte ich ihnen nicht in Erinnerung bleiben. Aufgezeichnet von IRENE BAZINGER

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Foto: Thomas Meyer/Ostkreuz für Cicero

POSTSCRIPTUM N°- 6

MATTEO Weltrevolution beschworen wurde. Bei dieser Gelegenheit wiederum kamen sämtliche Lebensmittel auf den Tisch, die der Hausmeister von den Professoren wegen der Kursräume eingefordert hatte. Dieses Umverteilungssystem war gewissermaßen Matteos IndividualKommunismus: Er beanspruchte ein öffentliches Gut als sein Privateigentum, um hinterher die Erlöse im Freundeskreis zu verteilen und sich selbst als großen Gönner feiern zu lassen. Genau daran musste ich denken, als ein Berliner Jungsozialist unlängst die Vergesellschaftung eines bayerischen Automobilherstellers forderte. War aber bestimmt nur ein Zufall.

A L E X A N D E R M A RG U I E R ist Chefredakteur von Cicero

D I E N ÄC H S T E C I C E RO -AU S G A B E E R S C H E I N T A M 27. J U N I

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Illustration: Anja Stiehler/Jutta Fricke Illustrators

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itte der neunziger Jahre verbrachte ich ein Sommersemester in Italien, genauer gesagt an der Universität Bari. Unter akademischen Gesichtspunkten war das zwar eher Zeitverschwendung, aber für ein Studium des wahren Lebens im Mezzogiorno durchaus lehrreich. Da gab es zum Beispiel Matteo, den stets gut gelaunten Instituts-Hausmeister, einen gewichtigen Mittfünfziger mit beeindruckendem Schnauzbart und hohem Sendungsbewusstsein. Matteos sonniges Gemüt war sicherlich auch Ausdruck seiner Stellung an der Bareser Uni, denn als Pedell fiel nicht zuletzt die Zuteilung der Räume in seine Verantwor­ tung. Damit besetzte er im wahrsten Sinne eine Schlüsselposition: Wenn Professoren für ihre Kurse ein ausrei­ chend großes Klassenzimmer zu einer vernünftigen Uhrzeit benötigten, mussten sie sich Matteos Gunst erkaufen – mit Würsten, Käse, Wein oder kleinen Geld­ geschenken. Jeder wusste das. Außerdem war Matteo ein glühender Kommunist, seine Wohnung hatte er bis unter die Decke mit unzähligen LeninDevotionalien ausgestattet. Und weil damals gerade Wahlkampf war in Italien, platzte der allmächtige Matteo nach Belieben in alle möglichen Vorlesungen, um lauthals für die Kommunistische Partei zu werben: „Mi raccomando, votate Comunisti!“ Auch das galt an der Universität Bari als völlig normal. Weil Matteo noch dazu ein geselliger Typ war, lud er regelmäßig Studenten auf seine Dachterrasse ein, wo dann im Rahmen lustiger Saufgelage die

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